Sturm über der Steppe
Erzählungen Herausgegeben von Ursula Krause • Illustriert von Rainer Schwalme 372 Seiten • Ganz...
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Sturm über der Steppe
Erzählungen Herausgegeben von Ursula Krause • Illustriert von Rainer Schwalme 372 Seiten • Ganzleinen 14,80 M
Verlag Neues Leben Berlin ISBN 3-355-00766-8
32 706
Hans-Peter Höschel
Perfekte Kontrolle
Verlag Neues Leben Berlin
s
Illustrationen von Werner Ruhner
ISBN 3-355-00766-8
© Verlag Neues Leben, Berlin 1988
Lizenz Nr. 303(305/121/88) LSV 7503
Umschlag: Werner Ruhner Typografie: Walter Leipold Schrift: 9 p Timeless Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland, Berlin Bestell-Nr. 644 521 6
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„Bert, brühen S' mir doch bitte oan Freitagnachmittagfeierabendkaffee." „Stark wie immer? Aber denken S' an ihr Herz, Chefin!" Die letzten Worte vernahm sie nur noch leise vom Gang her. Ihr jüngerer Mitarbeiter eilte zum Heißwasserhahn. Ach ja, ihr Herz, sie gehörte eben nicht mehr zu den jungen Durchreißern. Entspannt lehnte sie sich auf dem harten Bürostuhl zurück, Freitagnachmittag, das Wochenende in Sicht. Von den kleineren Fällen standen immerhin drei vor dem Abschluß, die zwei, drei größeren schleppten sich - in Detailarbeit versandet - dahin, Routine, wie üblich, Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr, bis zu Pension. Sie sah sich schon im Garten ihres Bungalows die letzten Herbstarbeiten verrich ten. Für sie verband sich der Übergang vom Sommer zum Herbst immer deutlich mit dem ersten naßkalten Wetter des Oktobers, das meist recht ab rupt hereinbrach und dann innerhalb weniger Tage das welke Laub triefend von den Bäumen fallen ließ. In Gedanken versunken, nahm sie kaum die an ihr Ohr dringenden PIC-Rufzeichen* wahr. „Hier Büro Staatssekretär von Graustedt, ich verbinde", und noch bevor sie hätte ja oder nein sagen können, vernahm sie die bekannte zurückhaltend vornehme, aber eindringliche Stimme: „Frau Kollegin Fuchs? Guten Abend." Graustedt, nein, das durfte nicht sein, alles, nur das nicht. Das Wochen ende war hinüber. Saß er da auch wirklich? Die kurze Codeprüfung besei tigte jede Hoffnung. Er benutzte den teuren Sonderkanal, anzapfgeschützt und mit Bild. Gesichter verändern sich während eines langen Lebens, die Stimme kaum. Er war es, kein Zweifel, etwas ergraut, hager wie eh, das kleine Bild glättete sicher etliche Falten, aber das war er leibhaftig, weswegen nur? „Mein Gott, von Graustedt!? Was verschafft mir die Ehre nach zwanzig Jahren? Muß ich Sie jetzt mit Herr Staatssekretär anreden?" Es klang mit nichten ironisch, eher hilflos, wie sie das sagte. „Lassen Sie das und hören Sie mir bitte zu." Ungeheuerliches mußte geschehen sein. Nie hätte er sich, nach Auflösung der Fahndungsgruppe damals, ihrer erinnert und vielleicht nur mal einfach so angerufen. Einige der Kollegen aus der alten Truppe hatten das drauf ge habt, der nicht, cool, absolut cool. Der brauchte keine Karriere zu machen, der hatte eine. „Frau Fuchs, vor einer Stunde ist Ministerialdirektor Aubach", eine Stö rung flackerte durchs Hologramm, „...letzt, ...ortet, word... Dann war Schluß ... Vor einer halben Stunde setzte mich der Kanzler als Chef der Son derkommission ein." * PIC: Personenintegrierter Computer und Communicator. Normalausführung als Reif am Handgelenk. Funktionen: Tele-Video-Kommunikation, Speicherung persönli cher Daten und Texte, Verbindung zu Bibliotheken (Direktausleihe), Sparkasse, Post, Großrechnern usw., medizinische Dauerüberwachung mit Teil-EKG und -EEG und Signalgebung bei Notfällen, laufende automatische Standortbestimmung von Peilrech nem aus (Delta-Navigation), fälschungssichere Personenidentifikation durch Abgriff der xl2-Herzwelle und Vergleich mit deponierten Eichmustern. Bio-mikroelektroni sche Weiterentwicklung von PC, Armbanduhr, Telefon und Videotext mit natürlicher Spracheingabe. 3
„Moment, Herr von Graustedt, die Verbindung war gestört. Der Sonderka nal wird bei uns in der Provinz wenig in Anspruch genommen. .Verletzt und ermordet' sagten Sie, ,Schluß mit ihm'?" Sie hatte ihn sehr wohl verstanden, wollte aber Zeit gewinnen, eine Galgenfrist, um dem Schatten ihrer Vergan genheit, der sie jetzt wieder einzuholen drohte, zu entrinnen. Sie hatte sich sicher geglaubt, hier, auf diesem Absteigeposten für einen ruhigen Übergang in den Lebensabend. Aber offensichtlich war das seit zwanzig Jahren als un durchführbar Geglaubte eingetreten: Man hatte die PIC-Ortung unterlaufen. Und nun brauchte man sie wieder, die altgediente Terroristenjägerin aus der Vor-PIC-Ära. „Nein, zuletzt geortet, sagte ich", Graustedt spitzte prüfend seinen schmal lippigen Mund. „Und ziehen Sie die Ihre Knastbrüder in der Provinz viel leicht leimende Ich-bin-ja-so-begriffsstutzig-Masche bei mir nicht ab. So gut kennen wir uns doch noch, Füchsin, oder? Auch wenn es schon einige Win ter her ist." Seine Stimme wurde noch leiser, die Aussprache hochdeutscher, die Wortwahl dagegen eine Winzigkeit gröber. Er wollte genau verstanden werden. „Aubach leitet doch das PIC-Ressort im Innenministerium?" Sie stellte sich wieder unwissend. „Stimmt. Seine Sicherheitsortung für Personen der Gefährdungsgruppe Ic brach ab, plötzlich, kein Notruf, keine Vorwarnung, nichts. Nach dem Ab bruch schaltete sich wie vorgesehen die flächendeckende Totalortung ein. Keine Personenberührung! Keinerlei Spuren am Abbruchort, absolute Funk stille. Als ob er sich in Luft aufgelöst hätte. Niemand in seiner Umgebung. Fahrer und persönlicher Referent natürlich tot, erschossen. Gespenstisch!" Ihr stieg die Unheimlichkeit des"Vorgangs ins Bewußtsein. Graustedt kam zum Abschluß: „Also, ich kann auf Sie zählen in der Son derkommission? In zwei Stunden PIC-Zentrale Frankfurt?" Eine Wahl hatte sie kaum. Sie kannte die Machtkanäle im Staatsfilz und fügte sich. „Gut, ich nehme den nächsten Intercity." Sein Bild verlosch, wortlos flog der Graue Uhu ab. Bert brachte gerade den Kaffee und verhielt wartend in der offenen Tür, weil er den Schrecken in den Augen seiner Chefin erkannte. Sie schaute durch ihn hindurch, nahm ihn kaum wahr. Aubach, ausgerechnet Aubach, es war zum Kotzen. Der verschlossene, schlanke Holsteiner mit seiner zwingenden Logik, seinem analytischen Ver stand, dieser sympathische Junge. Damals hatte er in der Fahndungsgruppe bei ihr als junger Inspektor begonnen, etwas älter als jetzt Bert. Dort nahm man allerdings nur die Besten, schon mit einschlägigen Erfahrungen. Betrof fen irrten ihre Blicke durch den kahlen Raum. Absolut integer der Mann, bei Beamten eigentlich beförderungshemmend so was. Dennoch stieg er steil auf, wegen seiner überragenden Fähigkeiten. Auch mit Graustedt kollidierte er einigemal, in der leisen Art, die beiden eigen war, aber nicht weniger vehe ment. Irgendwie ähnelten sich beide, wobei Aubach wohl nicht ganz so per fekt das Intrigenspiel beherrschte. Und nun das. Sie schreckte hoch, sah Bert, faßte sich. „Bert, i' brauch S' heut nit mehr." Hastig sammelte sie einige Sachen zu sammen. Bert schüttelte nur den, Kopf wegen all der Aufregung. „Heißes Wochenende in Sicht, Frau Hauptkommissar?" Locker, wie es auch sonst seine Art war, fragte er sie. Bei ihr brauchte er sein Rückgrat 4
nicht so zu verbiegen wie bei seinem vorigen Dienstherrn. Der persönliche Draht zu ihr funktionierte. Die Frau hätte seine Mutter sein können - zwei große Söhne, gute Partien beide, Führungskräfte in der Wirtschaft -, trotz dem, im Dienst zeigte sie sich knochenhart, auch zu ihm, gerade zu ihm, an ders konnte man den Wettbewerb schließlich nicht überstehen. „Gemach, gemach, Sie halten hier die Stellung. Der Chef wird Sie schon mit Beschlag belegen, schätz i', ist aber bereits im Wochenende. Der Herr Kriminaldirektor wird vom Kanzleramt benachrichtigt." „Klingt ja wahnsinnig exotisch. Was liegt denn an?" „Merken S' sich eins, Bert, hier bei uns in diesem Provinzkriminalamt ist der Hausklatsch die Seele vom Geschäft. Da, wo i' jetzt hinmuß, pfeif-f-f-t ein eiskalter Wind, und die Münder sind mit Eis verschlossen, klaro? Übri gens lassen S' den Kaffee nit kalt werden, es ist jetzt Ihrer." Sie warf sich den Herbstmantel über, zog schnell noch etwas Lippenrot nach, in ihrem Alter mochte man es kräftiger. „Vielleicht sehen Sie von heute an mal öfter die Nachrichten - gegen Ihre sonstigen Gewohnheiten -, könnte sein, es sickert was durch." » „Aye aye, Lady. Übrigens, haben Sie die Nachrichten schon gesehen? Die Gewerkschaften hatten sich doch massiv gegen die Vorstöße zur Dauerauf zeichnung von Bewegungsbildern mit PIC-Dauerortung ausgesprochen. Am Wochenende sollen wahnsinnige Anti-PIC-Demos steigen, vor allem bei der Frankfurter Zentrale. Mann, werden die Kollegen dort wieder stinken." „Jetzt wird mir einiges klar. Aber merken S' sich eins, Bert, wenn S' hier im Freistaat - ich zitiere unseren größten Bayern aller Zeiten: ,der weiß-blauen 5
Festung gegen den roten Anprall' - Beamter werden wollen, dann legen Sie endlich Ihren Studentenjargon ab, Sie sind jetzt schließlich Kriminalassi stent im Beamtenstatus, verstanden? Anderenfalls sehe ich mich genötigt, Ihre Beförderung um ein halbes Jahr zu verschieben." „Gefaßt, Frau Hauptkom!" Schon wieder Jargon, sie winkte ab, sinnlos, noch ein Wort zu verlieren, diese Jugend. Mit wehenden Mantelschößen eilte sie davon. Eine halbe Stunde später sank sie in die Polster des Intercity nach Frankfurt, außer Atem - das Alter -, mit Sorgenfalten auf der Stirn. Beim Dahindon nern des Zuges über die Brücken, im herbstlichen Abenddämmer verfingen sich ihre Blicke in den matten Spiegelbildern der Abteilfenster, in den da hinter blitzenden Irrlichtern der Autoschlangen, die sich im Freitagabend stau dahinquälten. Dämmerung und Berufsverkehr, beste Zeit für Entführungen, registrierte ihre professionelle Wahrnehmung. Vom Zugservice ließ sie sich einen gro ßen Kaffee kommen, der nun kein Feierabendkaffee mehr war. Ach, ErnstHerbert mußte sie auch noch benachrichtigen. Er war Kummer gewöhnt, saß zu Hause, schon in Pension. Eine knappe Stunde Zeit blieb ihr zum Ver schnaufen. Die hätten ihre Enkel nicht mehr, wenn erst die neue Vakuum bahn die dreihundert Kilometer durchrasen würde. Manchmal wurde ihr bange vor all diesem neumodischen Zeugs. Sicher, es brachte auch sein Gu tes. Seit Einführung der PIC-Notortung gingen althergebrachte Einbrüche und Straßenüberfälle zurück. Obwohl nicht gerade billig, ergaben die neuen Alarmanlagen selbst für kleinere Läden unter dem Strien noch ein Plus, ge messen am sonstigen Risiko. Natürlich nahmen Wirtschaftsdelikte zu, und bei den großen Gangstersyndikaten kamen derzeit gerade Morde mit halbin telligenten zielsuchenden Mini-Cruise-Missiles in Mode - zwar viel teurer als die Killerprofis, dafür aber ohne Erinnerungsvermögen. Doch die nor male PIC-Flächenortung im Alarmfall hatte für den Hausgebrauch vieles er leichtert, man befand sich schließlich auf deutschen Sofas und nicht in Chi cago oder der Bronx. Damals mit Einführung der neuen Technik löste man auch ihre Fahndungsgruppe ATA - Anarchisten, Terroristen, Alternative auf. Als Vizechefin erhielt sie selbstredend einen guten Anschlußposten, der bis zur Pension ihr Auskommen sichern würde. Daß es sie dabei gerade wie der in ihre ungeliebte Heimat, die konservative Südmetropole, zurückver schlug, hatte sie hinnehmen müssen. Von den angebotenen Hauptkomis sarstellen war dies die beste, und sie behielt ihr Gehalt als Kriminaldirektor mit Sonderregelung. Und „Beamter in gehobener Position", das gab trotz al lem Wenn und Aber ein beruhigendes Gefühl, obschon man noch hier und da die Dreckarbeit miterledigen mußte. Augenscheinlich stand ihr unter von Graustedt wieder ähnliches bevor. Was der angedeutet hatte, wäre, wenn wahr, eine Katastrophe für die innere Sicherheit. Während der Zug in Frankfurt einfuhr, verebbte gerade der Abendverkehr auf den nun vollends dunklen Straßen, die nur hier unmittelbar in der City die grelle Schminke der Reklamelichter trugen. Schon im Zug hatte man ihr über PIC einen Wagen angekündigt, wie üblich eine kleine Aufmerksamkeit des Grauen Uhus, unnahbar, aber Gentleman durch und durch. So in Selbst betrachtungen versunken, die einen nur auf einsamen Zugfahrten durch die Dunkelheit einholen, wenn die eigene Verlorenheit über die vorbeihuschen 6
den Lichtpunkte draußen irrt, um sich dann in den Schatten der dahinzie henden Landschaften zu verlieren, öffnete sie die Waggontür zum Bahnsteig. Als sie die kalte Plastklinke faßte, die Tür mit leisem Zischen zur Seite glitt, drängte sich ihr das vertraute Bild der pneumatisch schließenden Gitter in den Haftanstalten auf, und sie fragte sich resigniert, ob sie in ihrem Leben eigentlich mehr in Bewegung gebracht hatte außer Zellentüren und zwei Söhnen. Nicht mehr außer Atem, wie vor einer Stunde, aber eher noch sorgenvoller stieg sie in die schwarze Limousine. Ohne jeden Laut flog der Wagen auf sei nen Luftkissen leise wie ein Reptil durch den Dschungel der Innenstadt und tauchte schließlich in die elektronisch abgeschirmte Einsamkeit der weitläu figen PIC-Zentrale. Von Graustedt empfing sie nach der Sitzung des Sicherheitsausschusses. In solchen Fällen, wenn es wieder einmal richtig brenzlig wurde, holte man ihn aus seiner Höhle und stellte ihn den anderen Politclowns vor die Nase, das wußte sie. Da blieb er unersetzlich, dieses Zwitterwesen: Erbe riesiger Vermögen, in jungen Jahren aus Abenteuerlust beim Bundeskriminalamt hochgedient, aus Passion dabeigeblieben, in führender Position selbstver ständlich. Von sich aus mied er das politische Rampenlicht, konnte mit sei nem Einfluß die sensationslüsternen Massenblätter von sich fernhalten, ein unbeschriebenes Blatt, konturenlos, verschwommen, farblos, grau. „Gestat ten, Graustedt, von Graustedt, wenn beliebt", reserviert überlegenes Lächeln, „die Minister kommen und gehen, die Staatssekretäre bleiben, haha!" Ihn schien dieses Powerplay zu reizen, wenn er seine wirkliche Geldmacht an den Unwägbarkeiten des Fädenziehens hinter der Politbühne ausprobierte. „Grauer Wolf" nannten ihn die meisten. Die ihn genauer kannten, zogen „Grauer Uhu" vor. Leise, das war sein Markenzeichen, ein dahinhuschender nächtlicher Schatten, plötzlich herabstoßend auf die schutzlose Mäuseherde - eine der wenigen wirklichen grauen Eminenzen, wie es sie in jeder Staats hierarchie gibt. Nun hatte er einmal mehr das Zepter übernommen. Er ging ihr entgegen. „Kollegin Fuchs, ich freue mich, Sie nach so langer Zeit wiederzusehen. Der Anlaß allerdings ...", er breitete seine Arme aus, „leider. Nun, der Sicherheitsausschuß tagte bereits. Angesichts der fatalen Dimension des Vorgangs versteht sich von selbst: zunächst keine Medien, kein Aufsehen, keine Polizeikräfte, keine Ringfahndung. Die Täter sind oh nehin, bestens vorbereitet, abgetaucht. Darf ich bekannt machen, Doktor Kont, Chef der PIC-Ortung und Stellvertreter von Herrn Aubach", danach wandte er sich Dr. Kont zu, „Frau Hauptkommissar Fuchs, die beste Kenne rin der ATA-Szene, muß ich wohl sagen, unbeugsame Hüterin von Recht und Gesetz. Doktor Kont, zur Lage bitte!" „Nach Artikel 17 a der PIC-Notstandsverordnung läuft derzeit die großflä chige Aufzeichnung aller Personenbewegungen, bei uns allerdings nur über die nichtssagenden fälschungssicheren PERSID, die Personenidentifikato ren. Einige tausend Fälle von Unortung", der kleine Dr. Kont lächelte spöt tisch, die runden Äuglein verschwanden hinter den dicken Brillengläsern, „wurden von lokalen Polizeibehörden geklärt. Nach unseren bisherigen Er fahrungen aus der PIC-Zentrale nehmen die meisten Bundesbürger die Mög lichkeiten zum Ablegen des PIC in delikaten Situationen kaum in Anspruch. Sonst ergeben sich in Fällen wie heute zuviel Schwierigkeiten bei der Bestä tigung des eigenen Alibis." 7
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Graustedt unterbrach sinnierend: „Es. mußte ja eines schönen Tages so weit kommen. Die Gesetzgebung war dilettantisch lückenhaft. Jedermann hat die Freiheit, seinen PIC zu tragen oder nicht!', ,Keine Dauerortung!' diese butterweichen Freiheitsapostel haben den Skandal selber verschuldet." Diensteifrig fügte Dr. Kont hinzu: „Wäre die Dauerortung nicht nur in Notfällen zugelassen, hätten wir jetzt die kompletten Bewegungsbilder der gesamten Terrorszene", er winkte enttäuscht ab. „Beschränkte Vollmachten, wo man hinsieht. Und wer hat darunter zu leiden? Wir Fahnder an der Ba sis." „Weitergehende Vollmachten", Frau Fuchs sah Dr. Kont prüfend an, „wür den doch das freiheitliche Grundprinzip unserer Ordnung in Frage stellen, die Unantastbarkeit des einzelnen, oder?" Graustedt musterte sie kurz. So liberal hatte er sie gar nicht in Erinnerung. Ohne sichtbare Regung schloß er scheinbar gelangweilt ab: „Selbstverständ lich, selbstverständlich. Und die Mehrheit der Wähler weiß unsere Anstren gungen in dieser Hinsicht auch zu würdigen. Also Frau Fuchs, ich darf Sie nunmehr als Chefin der wiedergegründeten Fahndungsgruppe ATA einset zen. ATA - nomen est omen - für jede Hausfrau", konsterniert blickte die Fuchs, wußte nicht, ob er es ernst meinte oder den Massenplebs aus seiner abgehobenen Position bespöttelte, „Inbegriff für Sauberkeit und Hygiene. Möge dieses Markenzeichen auch wieder für Sauberkeit, Ruhe und Ordnung auf unseren mit dem heutigen Tag wieder gefährlich unsicher gewordenen Straßen sorgen! Ich danke Ihnen." Er entließ beide, und sie begaben sich in die innere Zone der PlC-Zen trale. Dort erwartete sie bereits Oberreferent Winger von der Bewegungsbild analyse. Winger, fiel Frau Fuchs auf, war für diese Position bemerkenswert jung, Mitte Dreißig, ein dynamischer gepflegter Mann, schlank, hochgewach sen, sportlich, der fast einem Modejournal für Topmanager entstiegen sein konnte, wenn ihm nicht die plattgedrückte Boxernase einen Hauch von Ver wegenheit verliehen hätte. Der dagegen schwächlich wirkende Kont, merklich älter und unschein barer aussehend, begann das Gespräch mit energischem Ton: „Von mir wurde schon vor der Sitzung des Sicherheitsausschusses alles Notwendige zur Dauerortung eingeleitet. Herr Winger hat in meinem Auftrag bereits gehandelt." „Das hatte ich auch erwartet", erwiderte Frau Fuchs ohne jeden Unterton. „Wie meinen Sie das?" fragte er hastig zurück. Frau Fuchs ließ sich nicht beirren. „Von guten Fachleuten erwartet man einfach, daß sie die politischen Entscheidungen ihrer Chefs vorausahnen. Herr Winger, wie viele Bewegungsanalysen könnten Sie bearbeiten?" „Einige tausend, den Erfahrungen der bisherigen Einsatzfälle nach. Für die Langzeitanalyse gilt das wegen der Speicherprobleme leider nicht. Die um fangreichen Datenmassive übersteigen schon nach kurzer Zeit unsere weiß Gott nicht kleine Kapazität." Abschätzig fügte er hinzu: „Aber Besserung ist nur noch eine Frage der Zeit, nicht wahr, Doktor?" Frau Fuchs übernahm jetzt die Führung. „Wann liegt das erste Material vor mit den Ausgesiebten unserer Rasterfahndung?" „Nicht vor morgen früh. Die Raster bearbeitet jedoch Doktor Kont." Wieso betonte Winger die Verantwortung von Kont? „Danke. So lange werden wir Sie also nicht behelligen. Sie können sich zu 8
Hause in Bereitschaft halten. Es ist schon spät. Doktor Kont und ich treffen die erforderlichen Vorbereitungen." Nachdem Winger sich verabschiedet hatte, benötigten sie geraume Zeit, um sich eine konkrete Vorstellung vom Tatort und den zeitlichen Zusam menhängen zu verschaffen und das Raster für die Fahndung zu konzipieren. Konts Team arbeitete fieberhaft. Gegen Mitternacht kam unerwartet Graustedt in die Zentrale. „Sie entschuldigen, Herr Doktor", er nahm Frau Fuchs beiseite, „Frau Fuchs, ich habe Anlaß zu folgender Feststellung: In diesem Fall ist jeder ver dächtig, einschließlich von Graustedt." Er lächelte. „Sie haben alle Voll machten, alle." Aus alten Zeiten wußte sie, was das bedeutete - Totalüberwachung aller Beteiligten. Das hieß zunächst volle Ausschöpfung der Gesetzeslücken. Da bei konnte man - wegen der hohen Geheimhaltung - den legitimen Rah men oft sogar verlassen. „Unbeugsame Hüterin von Recht und Gesetz" hatte der Graue vorhin gesagt. Eigenartig, früher hatte sie sich nie gefragt, wie bei des zusammenpasse. Heute stieg ihr das zum erstenmal ins Bewußtsein. Vielleicht, so versuchte sie diesen Gedanken zu verdrängen, hatte sie der Provinzkleinkram schon zu lange geprägt, und sie mußte erst wieder in bun desweiten Dimensionen denken lernen. Sie war älter geworden und mithin wohl etwas schwerfälliger. Eigentlich hatte sich doch soviel nicht verändert, das alte Räuber-und-Gendarm-Spiel ging weiter, wenn auch mit neuem Spielzeug. Nichts da, verscheuchte sie die hinderlichen Gedanken. Sie hatte eine Position, eine gute, eine Pension, auch eine gute, zwei Söhne, ein Haus und einen annehmbaren Mann, und im übrigen versucht jeder mit dem ver längerten Rücken an die Wand zu kommen, kleine Gesetzesübertretungen eingeschlossen. Das gehörte zu den Spielregeln, seit alten Zeiten, immer und überall. Gestrafft ging sie auf Dr. Kont zu. Als von Graustedt aus dem Gebäude der PIC-Zentrale in die naßkalte Nacht hinaustrat, mußte er wieder an Aubach denken. Dieser schlappe Intelligenz ler hatte vor einiger Zeit kalte Füße bekommen, als die Gewerkschaften ernstlich gegen die Vorstöße zur Daueraufzeichnung der PIC-Bewegungsbil der Sturm zu laufen begannen. Dabei boten die rechtsstaatlichen Mittel alle Möglichkeiten der Absicherung. „Rechtsstaat heißt Rechts-Staat!" provozier ten zwar einige Extremisten. Aber kein Unbefugter besaß Zugang zu den in timen Personendaten. Der Durchschnittsbürger sah das Ganze ohnehin nicht so verbissen, wußte seine Angaben bei den Behörden in guten Händen. Der deutsche Beamte genoß noch immer einen gewissen Ruf, im Guten wie im Schlechten. Sein Wagen gelangte an die gut gesicherte Ausfahrt, schob sich in die Kontrollschleuse, verharrte geduckt unter den gleißenden Halogenstrahlern. Im abgeschotteten Schleusenraum hörte man das leise Zischen aus den Luft kissen der schwarzen Limousine. Surrend glitt das gepanzerte Wagenfenster nach unten, öffnete ein Loch in die Außenwelt oder das, was in dieser Stahl kammer davon noch übrig war. Als Graustedt seinen Unterarm mit dem PICRing aus der Fensteröffnung streckte und in die Kontrollapparatur hinein schob, fragte er sich, wer Aubach derzeit wohl unter Kontrolle haben mochte. 9
„Na, Aubach, du Kapitalistenarsch, das hättest du mit deinem Scheiß-PIC nicht gedacht, was?" Aubach richtete sich auf. Finsternis umfing ihn. Er stöhnte. „Was wollen Sie von mir?" „Deinen Laden in die Luft jagen. Vorher wirst du uns aber noch ein wenig zur Hand gehen müssen", die scharfe Frauenstimme lachte grell, „das mit der Hand meine ich wörtlich, nur damit du klar siehst, ehe wir dich den Bach, den Aubach, hinunterschicken." Er war noch zu benommen, als daß er seinen Bedrängern hätte etwas ent gegnen können. Mit verbissenem Schmerz sank er zurück auf den harten Fußboden, hörte beide aus dem Raum gehen. Dann betäubte ihn wieder diese wahnsinnige Stille. Irgend etwas war ihm bekannt vorgekommen. Die Stimme der Frau? Des Mannes? Dessen Geruch? Ein Wort? Er sah nichts, und die Stimmen tönten elektronisch verzerrt. Selbst mit größter Anstren gung konnte er nicht herausfinden, wo er eine Ähnlichkeit bemerkt hatte. Der blecherne Klang des Schlußsatzes hallte im schmerzenden Schädel lange nach: den Aubach hinunter, den Aubach hin, den Aubach, Aubach, Aü - ach, ach, ach, ach ... In der Dunkelheit krochen die Erinnerungen in ihm hoch. Morgen wollte er mit Lina und den Mädchen nach Schleswig ins Wochenende. Lina ..., die Mädchen ..., das Wattenmeer. Was soll nun werden? Sein logischer Verstand sagte ihm, daß seine Chancen schlecht standen. Sah so das Ende aus? Dabei hatte er noch soviel vor, sein Lebenswerk - die PIC-Zentrale. Seine Gedan ken begannen zu kreisen, immer um diese Punkte, immer schneller, doch ohne Ziel. Im Nebenraum drängte sich die kleine Gruppe. Alle trugen Masken. Keiner sollte den anderen erkennen, nicht einmal an der Stimme. Von Nero - dem Anführer - erfuhren sie, daß jetzt überall die Totalüberwachung mit Dauer ortung lief. Offensichtlich arbeiteten die Informanten ihrer Organisation bestens. Auch hatten die Bullen ihre wirklich gefährlichen mobilen PICKontrollen nicht verstärkt. Die Herrschaften wollten, wie vorausgesehen, je des Aufsehen vermeiden. Chris, der Techniker der Gruppe, konnte sie beru higen. Jemand, der ihren Aufenthalt von der PIC-Zentrale aus überprüfte, hätte sie an unauffälligen Orten geglaubt, im Bett, im Wohnwagen, ir gendwo. Aubachs PIC lag auf dem Tisch, in einem Metallkästchen abstrahl sicher eingeschlossen. Nero ergriff das Wort. „Freunde! Der Zeitpunkt ist nun endlich gekom men, da wir dem totalitären Überwachungsstaat der Bourgeoisie, diesem fa schistischen Technozyklopen, sein elektronisches Auge ausstechen. Die Kampfeinheit Rote-Arbeiter-Schwadron marschiert!" Leise riefen die anderen spontan: „Zustimmung, weiter!" Nero fuhr fort: „Heute abend spielen wir der PIC-Zentrale unser Ultima tum zu: sofortige Abschaltung der PIC-Überwachung oder Hinrichtung Au bachs und Fortsetzung unseres gerechten Kampfes mit allen Mitteln." Rma, die Vordenkerin der Gruppe, fügte hinzu: „Mit unserer Aktion wer den wir die trage Masse der Basis-Gewerkschafter wachrütteln. Die Nach richt von unserer PIC-ungeorteten Entführung wird auf der Anti-PIC-Demo einschlagen wie eine Bombe. Sie könnten alle frei sein von ihrem Metallring, wenn sie nur wollten. Mehr noch aber wird sie unsere dann folgende Aktion 10
mitreißen. Niemand will die revolutionäre Hinrichtung Aubachs, dieser Ma rionette des Großkapitals. Auch wir nicht. Deshalb werden sich die Basis-Ge werkschafter bei ihrer Kaffeekränzchendemo hinter unsere harten Forderun gen stellen, anstatt den müden Antipickeleien ihrer korrupten Bosse zu folgen. Ab heute keine banale Kleinarbeit mehr! Aktion!" „Nieder mit den gelben Gewerkschaften und ihren fetten Bossen!" Chris hob die geballte Faust. „Kampfeinheit Rot-Ar-Sch, vorwärts!" Zu Hause auf dem Sofa saßen seine Alten und plempten sich vor der Hologlotze mit Alk voll. Doch hier bewegte sich wenigstens etwas. Hier konnte er seine Fähigkeiten voll ausspielen. Hier war er wer, er gehörte zum Kern. Noch kannte sie kaum jemand. Aber morgen würden sie die Spitzen meldungen der Medien beherrschen. Nero zischte eindringlich: „Ab morgen zeigen wir es diesen Großmuftis und Goldärschen, wir, die Rotärsche. Ab morgen wird gekämpft." Hinter den Sehschlitzen blitzten die Augen. „Von nun an vergeßt eure Herkunft. Nehmt eure Masken ab, ihr braucht sie nicht mehr." Nur er behielt seine Tarnung bei. Dann verteilten sie sich in der Wohnung. Chris hantierte an seiner Elek tronik. „Wie klappt die xl2-Übernahme von Aubach?" Rina näherte sich ihm. „Halbwegs. Er ist aber so geschockt, daß ich nur wenige Minuten verwen den kann. Mit dem anderen Wellensalat würde sofort der Notarzt alarmiert." „Es muß reichen. Wir brauchen nur die Überbrückung der entscheidenden Momente mit deinem genialen Trick. Daran werden diese Haie sich die 11
Zähne ausbeißen." „In Ordnung, ich zaubre das an seinen PIC ran." Rina wollte mehr. „Kannst du zur Sicherheit nicht eine halbe Stunde daraus zusammenschneiden?" „Dann muß ich aber wie bei uns Wiederholungsschleifen einbauen. Wieso brauchen wir überhaupt Aubachs xl2-Kennung?" „Als Ablenkung, weil wir fest damit rechnen, daß sie nicht auf unsere For derungen eingehen. Sie sollen ihn orten und suchen." „Damit wäre doch das Ultimatum sinnlos?" „Wieso? Sie haben doch die reale Möglichkeit, es zu erfüllen. Aber sie wer den es nicht tun. Niemand würde an ihrer Stelle so handeln. Sie werden darauf spekulieren, daß wir das Ultimatum verlängern. Und in diesem Mo ment, wenn keiner mehr damit rechnet, wenn alle denken, wir haben aufge geben und Aubach freigelassen, verwandeln wir uns mit deinem Trick in Au bach und schlagen los, aber in eine ganz andere Richtung." Chris schluckte. Da offenbarte sich ihm eine neue Taktik. Er hatte sich zwar immer gefragt, weshalb unter Rinas Leitung eine Angreifergruppe ne ben den Entführern gebildet wurde. Doch aus Nero und Rina konnte er nichts herausbekommen. Was hatten sie vor? Ihm blieb vorerst nur seine Technik. Gegen Mitternacht setzte er das Ultimatum ab. Der Weg des Infopaketes programmierte er so, daß sich dessen Spur im dichten Gestrüpp der Rechner netze und Kommunikationszentralen verlor. Plötzlich fühlte er sich so verlo ren, wie diese umherirrende Computerbotschaft. Als Frau Hauptkommissar Fuchs den Inhalt überspielt bekam, ging sie sofort in Konferenz mit Graustedt und führte ihm das Ultimatum vor. Im PIC-Ho logramm blinkte in der Mitte ein roter Stern, der sich drehte, umwunden vom rotierenden Kranz des Textes und sprühenden Feuerwerkssternen. Dazu die Klänge von afrikanischen Tänzen. „An alle! An alle! Hier ist die Kampfeinheit Rote-Arbeiter-Schwadron. Ei ner von euren Kapitalistenvasallen ist unser Kriegsgefangener. Bis morgen früh zehn Uhr ist die PIC-Zentrale abzuschalten und eine öffentliche Erklä rung an die Anti-PIC-Demo der Gewerkschaften abzugeben. Stop der PICÜberwachung! Anderenfalls fließt Blut den Aubach hinunter - die erste re volutionäre Hinrichtung der Nach-PIC-Ära. Antwort unter beigefügtem Code in öffentlichem Infospeicher ablegen. Leckt uns an unserer Abkürzung." Graustedt überlegte einen Blitzschlag lang, was die Abkürzung bedeuten könne, und sein Gesicht verfinsterte sich. „Frau Fuchs, wir hatten schon in der Vergangenheit geheime Informationen aus der Extremistenszene, daß da eine Gruppe Rot-Ar-Sch existieren soll. Alle dachten an einen der üblichen spätpubertären Studentenscherze. Daraus ist offensichtlich blutroter Ernst geworden. Ihr Anführer nennt sich wahrscheinlich Nero. Weiß Gott, viel leicht erblickt der in der Schreckensherrschaft dieses wahnsinnigen Impera tors sein Vorbild." „Aber abgesehen davon, Herr von Graustedt, können wir ihr Raster aus der Vor-PIC-Ära fast unverändert übernehmen." „Nicht ganz. Hier scheint eine besondere Spielart entstanden zu sein. Die Wahl der Bezeichnung ,Schwadron' erinnert an die Todesschwadronen unse rer ungeliebten lateinamerikanischen Verbündeten." 12
„Also müssen wir mit besonderer Brutalität rechnen?" „Ja, Frau Kollegin, alles Bisherige deutet darauf hin." „Herr Staatssekretär, erlauben Sie mir noch eine Bemerkung. Ist nicht die Wahl des Namens und der Abkürzung auch Hinweis auf ein Verlorenheitsge fühl, gemischt mit Selbstironie, von der es ja bis zur Selbstaufgabe nur ein kleiner Schritt ist? Vielleicht hat das Folgerungen für unsere Lageeinschät zung und Verhaltensprognose." „Füchsin, mit weiblicher Spürnase riechen sie wieder einmal den Braten", er konnte sich erlauben, sie so anzureden, dieses siebzigjährige verwitterte Reptil, „schlimmstenfalls müssen wir also mit einem wildgewordenen Schwärm roter Kamikaze-Abenteurer rechnen. Arbeiten Sie das, wenn möglich, ins Raster mit ein." „Noch eine Frage: Was wird aus dem Ultimatum?" „Deren Forderungen sind völlig unakzeptabel, und diese Banditen wissen das auch. Ich glaube, wir müssen Aubach abschreiben. Ich versuche, sie we nigstens bis nach der Anti-PIC-Zusammenrottung hinzuhalten. Diese breite Massenbewegung stört mich viel mehr als die paar Terroristen. So lange zu keinem ein Wort. Löschen Sie ihre Aufzeichnung des Ultimatums." Er blen dete sich aus. • Sie begab sich in die innere Zone, das Allerheiligste. Dr. Kont trat ihr ent gegen. Die erworbene Sehschwäche aus den vielen Nächten in der PlC-Zen trale ließ sich auch mit den modernsten Kontaktlinsen und bester Augen chirurgie nicht mehr korrigieren. Deshalb trug er eine altmodische Brille, blinzelte oft, auch jetzt. „Doktor Kont, Sie hatten mehrere Stunden Zeit. Was haben Sie herausge funden?" Mit seiner eckigen Stimme antwortete er: „Um ehrlich zu sein, nichts. Ich habe deshalb soweit wie möglich die Rasterfahndung vorbereitet. Uns ist noch völlig unklar, auf welche Weise mit der xl2 unser System unterlaufen wurde. Die xl2 kann nicht gefälscht werden. Und sie muß immer dasein, wie das zugehörige Herz." „Überlegen Sie weiter auf dieser Strecke. Jetzt geben Sie bitte mit mir das neue Fahndungsraster ein." „Sie werden verzeihen, Frau Hauptkommissar, wenn dies einige gedankli che Vorbereitungen erfordert. Dieser Fall scheint nicht gerade übliche Rou tine zuzulassen. Wir müssen zuerst den PIC-Fahnder instruieren." Bis dahin klang seine Stimme betont entgegenkommend und servil. Nun teilte er mit fast militärischer Schneidigkeit seine Befehle aus: „Kont ruft PIC-Fahnder!" Es erschien ein Phantom, eine Hologrammfigur: ein Diener in einer Li vree aus den Zeiten des letzten deutschen Kaisers. Er verneigte sich. „Be rechtigung erkannt. Erwarte Ihre Weisungen." Frau Fuchs räusperte sich. „Wir suchen zunächst im Umfeld des Rasters der ehemaligen Fahndungsgruppe ATA." „Raster nicht auffindbar", entgegnete der PIC-Fahnder, „Fahndungsgruppe ATA: Zugang nur über BKA-Speicher." Frau Fuchs wurde ärgerlich. Die Zeit jdrängte. „Ziehen Sie gefälligst den Speicher ran, aber schnell, Sie PIC!" „Liegt an", entgegnete monoton der Livrierte, „Aufzeichnungen nur zu gänglich über Herrn Staatssekretär von Graustedt." „Dann holen Sie die Genehmigung ein, verdammt noch mal!" Je wütender 13
sie selbst wurde, um so ruhiger schien ihr dieser Maschinenmaxe. „Schon geschehen. Kommentar: Fahndungsgruppe ATA vor zwanzig Jah ren aufgelöst. Nach Archivordnung besaß Suchraster nur Aufbewahrungska tegorie 3b. Löschung vor zehn Jahren." „Mist, verfluchter! Hätten wir weniger von unserer vielgelobten Ordnung, könnten wir jetzt losschlagen." Sie überkam ein Zornesausbruch. Die von der Elektro-Hydro-Kosmetik geglätteten Fältchen brachen in ihrem Gesicht hervor wie Vulkane. Sie mußten das alte Raster aus dem Gedächtnis nachbil den. Das ging nur unvollkommen. „PIC-Fahnder zuhören!" fauchte sie jetzt voller Konzentration. Der Geisterdiener verneigte sich ehrfurchtsvoll. „Raster: Personen mit Kontakten zu linken Extremistengruppen, die aber nach einiger Zeit schlagartig aufhörten. Wahrscheinlichkeit vor Schulab schluß weniger als zehn Prozent. Dann hoch bis Alter Mitte Zwanzig. Dann abnehmend. Teilnahme an linken Demos, vor allem Gewaltdemos. Zuneh mend halblegale linke Gruppen ..." Danach folgten, von ihr exakt wiederge geben, das Sozial- und Bildungsraster, Familien- und Charakterprofil. Es dauerte seine Zeit, die Millionen Daten zu durchforsten. „PIC-Fahn dung ATA: Rund zehntausend mit 99 %iger Wahrscheinlichkeit." „Mehr gibt das grobe Raster nicht her", entschuldigte sich Dr. Kont. „Ist ja auch schon zwanzig Jahre alt." „Wir müssen weiter einschränken, koste es, was es wolle", Frau Fuchs sprang von ihrem luftgefederten Drehstuhl auf. Dr. Kont trat einen Schritt beiseite und starrte durch den PIC-Geist hindurch. Sie stierte dieses leblose Phantom ebenso an. Plötzlich fegte sie mit ihrer Hand durch das Bild wie bei einer Kerzenflamme. Etwas mußte doch die heutigen ATAs von ihren normalen Mitbürgern noch unterscheiden. Plötzlich stieß sie mit ihrem Fin ger wie mit einem Florett durch den Diener. „Doktor Kont, kommen Sie über die Fahndungsrechner an die Leserkarteien der öffentlichen Bibliothe ken heran und an die Schularchive?" „Im Prinzip ja, wir haben da unsere Möglichkeiten ..., nicht nur Amateure spielen in Rechnernetzen. Aber nach dem Datenschutzgesetz ist das nicht gestattet, Sie wissen ..." „Merkt das jemand? Nein, also! Das hier ist ein absoluter Sonderfall. Fil tern Sie alle raus, die sich in den letzten Jahren Literatur über PIC, PIC-To talortung, Waffen, Sprengstoff, Elektronik und so weiter, na, Sie wissen schon, ausgeliehen haben." „Sehr wohl, doch es wird seine Zeit dauern. In den öffentlichen Netzen ver deckt herumzuoperieren ist selbst für uns Profis kein Spaziergang ..." Sie unterbrach ihn: „Außerdem suchen Sie in den Archiven der Schulen und Lehranstalten. Finden Sie in den Zeugnisbeurteilungen besonders agile, trotzige, auch eigenbrötlerische oder zurückgezogene Herrschaften. Verlo renheitsgefühle, Sadismus und ähnliches nicht vergessen, klar! Beraten Sie das mit Ihren Fahndungspsychologen." Dr. Kont sagte nichts weiter. Er überlegte, kein Muskel zuckte in seinem Gesicht. Seine Augen blickten konzentriert. Mit seinen Experten benötigte er geraume Zeit für den Coup. Dann weckte er Frau Fuchs, die zwischen durch eingenickt war. „Frau Hauptkommissar, vorhin erwähnte der Fahnder die Archivkategorien im BKA, das alte Fahndungsraster sei gelöscht." 14
„Sehen Sie da Ansatzpunkte?" fragte sie noch ganz verschlafen. „Nicht direkt. Aber wenn solche operativen Arbeitsmittel verständlicher weise gelöscht werden, dann gilt das doch sicher nicht für Personendossiers von gesuchten ATAs?" „Personalunterlagen haben immer höchste Aufbewahrungsstufe." „Eine unserer Routineaufgaben ist, gemeinsame Unterscheidungsmerk male von bestimmten Personengruppen herauszufinden." „Bitte, was zögern Sie noch?" „Sofort. PIC-Fahnder: Suchraster modifizieren. Erstens: Unterschiede fest stellen aller Alt-ATAs gegenüber letzter Verdächtigengruppe mit mathemati schen Standardverfahren. Zweitens: Bisheriges Raster zu einem Drittel da mit umbewerten." „Personendaten BKA höchste Sicherheitsstufe", sagte der Fahnder, „Zu gang nur über Herrn Staatssekretär." Frau Fuchs geriet an den Rand der Verzweiflung. Zornig fuhr sie den PICAffen an: „Herrgott noch mal, anfordern!" „PIC-Fahnder an Frau Fuchs: Wer ist Herr Gott? Wieso noch mal anfor dern? Anforderung lag bisher nicht vor." Fassungslos starrte sie diesen Blödmann von Computergeist an. Dr. Kont fluchte, schließlich fielen solche Pannen auch auf ihn zurück: „Damned PIC-pig*!" Dann besänftigte er sie mit einer Handbewegung, wie derholte unbewegt, Kummer mit Computern gewöhnt, etwas umformuliert die Anfrage. Nach einer Weile kam das Ergebnis. Es blieben immer noch fast tausend 90%ig Verdächtige. Sorgenvoll konstatierte er: „Zumindest ein Fortschritt." „Wie bitte, Fortschritt sagen Sie? Haben Sie schon mal tausend Verdächti gen nacheinander in die Gesichter geschaut? Das ist fast ein ganzes Re giment." „Nein, tut mir leid, ich sitze nur am Computer." „Aber ich nicht! Die defilieren an Ihnen vorüber, und jeder lächelt Sie an und beteuert mit treuherzigem Augenaufschlag seine Unschuld, er sei's be stimmt nicht gewesen." „So kommen wir also auch nicht weiter, Frau Hauptkommissar. Sie sehen auch ganz schön mitgenommen aus. Spät geworden." „Schlafen ist nicht drin, jedenfalls für Sie nicht und bis morgen nicht. Mor gen ist Ultimo: die Demo. Lassen Sie die kompletten Bewegungsbilder aller Verdächtigen aufzeichnen. Vielleicht haben wir Glück." Die Uhr zeigte eine Stunde nach Mitternacht. „Ich lege mich kurz aufs Ohr. Veranlassen Sie das Nötige. Überprüfen Sie auch das letzte noch einmal." Unschlüssig blieb sie stehen. „Sehr wohl, Frau Hauptkommissar." Blinzelnd bestätigte er ihren harten Auftrag. Wiriger schlief schon, als ihn Konts PIC-Ruf erreichte. „Herr Winger, Sie müssen in die Zentrale." „Wann?" Man glaubte Wingers spöttisches Lächeln zu sehen. „Sofort, Sie Schlafmütze!" Dr. Kont konnte nicht an sich halten. „In einer halben Stunde, sonst ist der Teufel los!" „Nicht so aufgeregt, Herr Kollege." Winger blieb lässig, selbst seinem Chef * engl.: Verdammtes PIC-Schwein! 15
gegenüber. „Gibt es denn neuere Erkenntnisse?" J a , aber nicht über diesen Kanal. Beeilen Sie sich! Natürlich. Die PIC-Zentrale hat mich mal wieder aus meinen Traumen ge rissen" Seine doppeldeutigen Worte klangen dem schwindenden Bild nach. Nachdenklich gelangte die Fuchs zu einem der Ruheraume im Amt. Wieso hatte Graustedt die Überwachung der PIC-Zentrale angeordnet? Be saß er einen Verdacht von seinen Agenten, oder verfolgte er noch andere Ziele? Oder beides? Trieb der überhebliche Winger etwa doch ein Doppel spiel oder der kühl kalkulierende Kont gar ein dreifaches? Dann fiel sie übergangslos in einen unruhigen Schlaf. Chris schreckte von einem grausigen Schrei hoch. Im ersten Moment glaubte er, einer seiner Alpträume hätte ihn heimgesucht, wie so oft in den letzten Tagen. Dann lokalisierte er - noch halb benommen -, daß der Schrei aus Rinas Praxiszimmer gekommen sein mußte. Er sprang auf und taumelte zur Tür. Sie gab seinem heftigen Rütteln nicht nach. „Rina, Nero, was ist los? Macht auf!" Von drinnen hörte er leises Stöhnen. „Bleib, wo du bist. Versuch nicht, hier einzudringen!" Rinas Stimme peitschte ihn zurück. Wenig später stand Nero in der Tür. Drohend wirkte er jetzt mit seiner Ka puze, da man hinter ihm Aubachs Stöhnen vernahm. „Halt dich da raus, Chris! Rina übernimmt das Kommando. Ich muß weg, was vorbereiten." Er verschwand. Leise schnappte die Flurtür hinter ihm zu. Chris versuchte zu begreifen. Da kam Rina aus der Praxis, mit einem medizinischen Präparat, wie Chris zunächst meinte. Sie trug Arzthaube und Operationskittel. Kaum hörbar summte die magnetische Umwälzpumpe am gläsernen Behälter. Chris wurde schwindlig, als er den Inhalt erkannte. Hinter dem dicken Glas starrten ihn, gespenstisch verzerrt durch die zylindrische Rundung, wie in einem Spiegel kabinett auf dem Rummel, zwei Augen an - Aubachs Augen. „Was habt ihr getan, Rina?" Mit schwindenden Sinnen vernahm er Rinas verächtlichen Anwurf: „Ver dammter Schwächling!" Ohnmächtig sackte er weg. Als er wieder zu sich kam, bearbeitete Rina ihn sofort. „Reiß dich zusam men, du Schlappschwanz. Das ist unser Einlaßschein für die Zentrale - revo lutionärer Terror ist unvermeidbar." Wie betäubt versuchte er zu begreifen. Diese Furie ging über Leichen, si cher auch über seine, wenn es sein mußte. Schlimmer, sie folterte und ver stümmelte. Noch brauchte sie ihn. Aber was würde morgen sein? Seine Ge danken verwirrten sich. Rina riß ihn aus seinen Ängsten. „Chris! Du baust an Aubach einen PICNotsender an, der fünf nach zehn aktiv wird. Die BKA-Jäger müssen abge lenkt werden." Ja, jetzt erkannte er es, das große Ablenkungsmanöver. Mechanisch klemmte er die Manschette um Aubachs Unterarm. Bewußtlos lag der Ge fangene vor ihm mit Kopfverband und umwickelten Händen. Rina wollte etwas Besänftigendes sagen, sie merkte, Motivation war von nöten. „Du siehst, Chris, wir tun unser möglichstes. Fünf Minuten nach Ab lauf des Ultimatums finden sie Aubach, nicht tot! Das war vielleicht früher so üblich." 16
„Schlimmer als tot! Krüppel, blind, ohne Fingerkuppen!" Ihm standen die Tränen in den Augen. „Und du, du nennst dich Ärztin!" „Die Revolution verlangt Opfer!" Sie wandte sich brüsk ab und den Wa chen zu, die gerade hereinkamen. „Schafft ihn weg", sie wies auf Aubach, „zum Zwischenlager!" Stumm befolgten die vier den Befehl. „So, bis fünf noch Ruhe möglich", sagte sie, während sie ihre Arzthaube abstreifte. Langsam kehrte Ruhe ein. Chris sank in einen wirren Traum. Da schälte sich aus Aubachs Augenhöhle ein Auge heraus, wuchs, riesig, verzerrt, wie hinter dem dicken Rundglas schwebte es plötzlich ähnlich einem Ballon in die Lüfte, er mitten darin, die Wälder und Flüsse, Städte und Fabriken unter sich. Dort, die Frankfurter City, sein Zuhause. Durch diese Straßen schluchten waren sie als Kinder unzählige Male mit dem E-Rad gejagt. Und über der PIC-Zentrale verharrte der tränennasse Ballon, in ein großes elek tronisches Auge verwandelt. Schweißgebadet erwachte er. Worauf hatte er sich da eingelassen? Er mußte raus hier. Als er sich niederlegte, umschlich ihn müde die Hoffnung einer Chance, die, wenn überhaupt, vielleicht nur morgen im tobenden Tumult bestünde. Zur selben Zeit meldete sich Winger wieder im Amt bei Dr. Kont. Unbeein druckt stieß er mit seinem englischen Schirm die Tür auf und stellte sich vor seinem Chef in Positur. Der hämmerte los. „Herr Winger! Sie bekommen von mir etwa tausend PERSIDs. Ab sofort führen Sie eine vollständige Aufzeichnung der Bewegungsbilder und die Vorbereitung der Analyse durch." Dr. Kont befand sich in seinem Element. 17
Für einen Moment durchströmte ihn wieder der Stolz auf seine große Erfin dung, den PERSID, dieses verschlungene, graphische Zeichen - ein codier tes Brandzeichen im Computer, perfekten Datenschutz und automatische Überwachung ermöglichend. Er sah den größeren Winger überlegen an. „Das ist, wie Sie wissen", Winger zögerte einen Moment, blickte seinerseits abschätzig, „eine nicht ganz unumstrittene Maßnahme. Ich gehe auf Grund Ihrer Anweisung davon aus, daß dieser Schritt rechtlich - oder besser: von oben - abgesichert ist." „Selbstverständlich, Herr Winger, Sie wissen doch selbst, die Personenda ten zu den PERSIDs kommen ohne Genehmigung vom BKA nicht raus." Winger übernahm die Daten und brachte sie mit einigen Befehlen an den richtigen Platz im Internen Central-Computer - ICC genannt. Dann instru ierte er den Bewegungsbildaufzeichner. Es erschien ein Maler mit bekleck stem weißen Kittel und Pinseln in der Hand. Er gehörte zu den vielen Ulks, die man den Leuten in dieser neonbeleuchteten Bunkerkammer zugestand ebenso wie jährlich zur Faschingszeit den „Karneval im ICC". Winger über flog die PERSIDs im Hologramm. Lesen konnte er sie nicht, diese verschlun genen kalligrafischen Symbole. Niemand konnte sie lesen. Nicht einmal den eigenen PERSID hätte man erkannt. Dr. Kont verfolgte die Verrichtungen Wingers von seinem Drehstuhl aus, schlief schließlich darüber ein, mit dem Gedanken, was für eine schamlose Niedertracht es bedeutete, dieses herrliche, absolut perfekte System überli stet zu haben. Frau Fuchs hatte sich früh von ihrem Lager hochgequält. Die Nacht war kurz gewesen. Ein Wachtmeister brachte ihr einen Imbiß aus der Kantine, dazu einen guten Kaffee. Allmählich regten sich in ihr die Lebensgeister. Als sie allein war, musterte sie flüchtig die Geheimaufnahmen der letzten Nacht. Was sollte aus dem Bereich der Zentrale auch schon kommen an Unerwarte tem, da alle Mitarbeiter sorgfältigst überprüft wurden, laufend. Doch bei dem, was sie plötzlich vernahm, blieb ihr der Bissen des knusprigen Bröt chens im Halse stecken. Ihre Blicke bohrten sich in den PIC-Bildvergrößerer. Dort sah und hörte sie Dr. Kont. „Jawohl, Herr von Aufritsch, das scheint durchaus möglich." „Was heißt möglich, Herr Doktor Kont, Sie müssen! Unbedingt! Das ist eine einmalige Gelegenheit, vergessen Sie das nicht!" „Doch diesmal ist es gefährlich, sehr gefährlich sogar. Bisher brauchte ich Ihnen nur Daten aus unserem Hause zu überspielen. Diesmal sind es aber Personenangaben aus dem BKA, und das BKA ist schließlich nicht irgend wer. Wieso genügen Ihnen denn die bisherigen PERSID-Listen von den Fahndungen nicht?" „Spielen Sie doch nicht den Dummen, Doktor Kont. In letzter Zeit hat die Zahl der erfaßten Personen rapide zugenommen. Die unserem Verband an geschlossenen Unternehmen können nicht mehr jeden wackligen Bewerber ablehnen. So viele Arbeitslose haben wir denn doch nicht. Wir wissen ja oft nicht einmal mehr, ob der nur mal an einer Demonstration der Tierschützer teilgenommen hat oder ob da gerade ein orthodoxer Kommunist den Betrieb unterwandern will, selbst wenn wir Ihre Rasterlisten von unseren besten Leu ten kombinieren lassen. Bei Personalentscheidungen spielen schließlich auch andere Gesichtspunkte eine Rolle als bei Ihren Fahndungen. Sie müs 18
sen uns einfach die Entschlüsselungsverfahren und sämtliche Personenanga ben Ihrer Großfahndung liefern." „Ich sagte bereits, die Gefahr ist diesmal besonders groß, da höchste Secu rity draufüegt - also kurz und gut: zwei Millionen!" „Unverschämt! Denken Sie daran, daß wir es waren, die Ihnen das Know how und die Absicherungsgarantie gaben. Sie sind nur ein Ausführender zum angemessenen Preis ..." „Herr von Aufritsch, darf ich Sie daran erinnern, daß Sie mindestens das Zehnfache an Streikkosten und ähnlichem Trödel einsparen, wenn ich hier mitspiele." Frau Fuchs schaltete erblaßt den Apparat ab. Auch sie, wie alle anderen Kollegen, war jahrelang der festen Überzeugung gewesen, daß niemand etwas mit den unlesbaren PERSIDs anfangen könne. Ihr stand der Mechanismus jetzt deutlich vor Augen. Kont mußte im Laufe der Zeit nur diese, einzeln genommen, fast belanglosen Fahndungsergebnisse mit den unlesbaren PER SIDs übergeben. Das blieb unauffällig. Der Verband konnte daraus nach Be lieben seine eigenen Raster zusammenzimmern und die Fangnetze knüpfen. Man besaß zwar die Angaben zur Einzelperson nicht, konnte diese auch nicht identifizieren, aber sobald jemand vorstellig wurde und seinen PER SID angeben mußte, wurde der in die vorhandenen Rastersiebe gesteckt. Nun wollte man sogar noch mehr, ein Skandal! Sie grübelte weiter. Wenn Kont in der Zentrale für den Arbeitgeberver band zockte, weshalb sollte nicht auch jemand von den Terroristen hier sit zen? Anlaß, das wurde ihr jetzt klar, gab es genügend. Es brauchte nur mal einer von den jungen, naiven Idealisten einige der Schweinereien mitbekom men zu haben ... In diesem Moment stürzte Dr. Kont herein. „Sie verzeihen, Frau Haupt kommissar", er keuchte atemlos. „Wir haben sie, wenigstens einen Teil. Die ATAs haben eine raffinierte Täuschung inszeniert. Deren xl2 ist echt und unecht zugleich." „Aber das ist doch ein Widerspruch in sich. Der Vorteil der xl2 ist, daß sie im Gegensatz zu äußeren Merkmalen - wie dem Gesicht beispielsweise unveränderlich bleibt, besser als der Fingerabdruck immer vorhanden und lokalisierbar ist und in medizinischen Notfällen sogar erste diagnostische Hinweise liefert." „Ja, aber der Herzrhythmus ändert sich über Tag. Deshalb müssen wir die eingehenden Herzwellen auf die Standardlänge von einer Sekunde transfor mieren, je Herz ein Hertz sozusagen, ehe wir sie mit unseren Eichmustern vergleichen können. Wenn die uns nun eine alte, genügend lange xl2-Auf nahme vorspielen, können wir das zunächst nicht erkennen. Derweilen tur nen die sonstwo herum." „Habe ich Sie recht verstanden, Herr Doktor, es ist wie in alten Räuberzei ten? Jemand hält uns anstelle seines wahren Gesichts einen Abguß als Maske vor die Kontrollkamera. Wenn man nur kurz hinsieht, glaubt man, die Maske sei schon derjenige, welcher dazugehört? Nur wenn man länger hinschaut, erkennt man, daß die Maske starr bleibt." „Schlimmer, Frau Hauptkommissar, schlimmer! Die Maske bewegt sich jetzt, wie sie sich bei dem Betreffenden innerhalb des kurzen Aufzeich nungszeitraumes echt bewegt hat. Nur führt sie, wie eine mechanische Puppe, nach einer gewissen Zeit immer die gleichen Bewegungen aus. Und 19
das ist kompliziert herauszufinden." „Wieso soll denn das so schwierig sein?" „Weil wir überprüfen müssen, ob sich irgendwann einmal der Wellenrhyth mus wiederholt, die Wellenzüge gleichen, und das bei unbekannter Länge. Wie schwer das ist, merken Sie am einfachsten Beispiel. Nehmen Sie die PIC-Zeitansage, die wiederholt sich auch, aber sie wissen nicht, nach wie vie len Silben. Probieren Sie es mit ihrem Gehirncomputer versuchshalber mal mit einer Suchbreite von drei Silben." Frau Fuchs begann widerstrebend, „Acht-Uhr-Fünf, Zehn-Mi-nu, ten Acht-Uhr, Fünf-Zehn-Mi, Nu-ten-Acht, Uhr-..." Als sie wenig später begrif fen hatte, flüsterte sie erschrocken: „Alles verschieden. Und doch wissen wir, es wiederholt sich. Das ist ja fatal, Doktor Kont. Wieso bringen das unsere Riesenrechner nicht, was wir so nebenbei raushören, daß sich die Folge nach einigen Silben wiederholt?" „Weil es bei digital aufgelösten Wellen eben nicht nur sieben Silben sind, sondern Millionen. Außerdem sind noch Wellenlänge und Phasenlage unbe kannt. Die Unzahl möglicher Kombinationen ist schwerer durchzuprüfen als beim Computerschach. Und darüber hinaus müssen wir von alldem Lang zeitaufzeichnungen besitzen. Das ist selbst mit unseren Riesencomputern und humanoiden Intelligenzsystemen schwer. Um die Wiederholungsschlei fen zu erkennen, mußte ich heute nacht sogar die Kollegen von der Daktylo skopie wegen deren Spezialwissen aus dem Bett holen." „Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem Erfolg." „Danke ergebenst. Leider konnten wir erst wenige ATAs enttarnen." Er wies auf eine PERSID-Liste im Hologramm. O „Dennoch erstaunlich, daß dieses System nicht schon früher unterlaufen wurde. Zwanzig Jahre sind eine lange Zeit", murmelte sie. Dann verständigte sie Graustedt. „Doktor Kont hat das Geheimnis der ATA-Tarnkappen gelüftet. Der Trick ist, die spielen uns uralte xl2-Aufnah men vor. Wie sie in die geheime PIC-Bio-Mikroelektronik einsteigen konn ten, wissen wir noch nicht. Damit ist die xl2-Kennung praktisch wertlos. Wir haben auch erst einige der ATAs im Visier, da die Analyse sehr aufwendig ist, wissen aber nicht, wo sie sich derzeit wirklich aufhalten. Wir können nur abwarten, was sie tun werden." Nach einem Moment des Schweigens äußerte sich der Graue: „Möglicher weise wird Aubach also doch Opfer dieser Verbrecher" - hier horchte sie kurz auf -, „klären Sie die Logistik dieser Truppe auf, so gut es eben geht. Nach Ablauf des Ultimatums werden diese Herrschaften ja ihre Karten auf decken müssen, also bald. Danach müßten sie wieder zu ihren richtigen PICs zurückkehren, um sich später irgendwo zu treffen." „Eine Ärztin und ein paar andere haben wir schon. Wenn Sie gestatten, Herr von Graustedt, veranlasse ich die Dauerüberwachung der enttarnten ATAs." Sie nickte Dr. Kont zu. „Erledigen Sie das - und lassen Sie uns bitte für einen Moment ungestört." Nachdem er gegangen war, wandte sie sich an Graustedt, der sie ange sichts des ungewöhnlichen Vorgangs erwartungsvoll anblickte. „Etwas Besonderes?" Er zog seine rechte Augenbraue etwas hoch. „Sperren Sie alle Überspielungen von Personendaten aus dem BKA für die PIC-Zentrale. Ich habe Anlaß zu der Vermutung, daß neben Rasterlisten auch Personenangaben weitergegeben wurden, nicht nachweisbar und zu 20
hoch angebunden." „Wer?" Seine Augenlider verengten sich kaum merklich. „Doktor Kont an Herrn von Aufritsch. Ein Sack voll Geld durchlöchert je den Datenschutz." Sie spielte ihm die Aufzeichnung vor. „Bedenklich. Sie erhalten die erforderlichen Angaben jetzt über mich di rekt aus unserer Zentrale." „Was mir auffiel, Herr von Graustedt, ist die Absicherungsgarantie, die Aufritsch geben konnte." „Das wird noch zu prüfen sein. Aber erst einmal haben wir dringenderes. Wir hören noch voneinander." Er verschwand sofort. Als sie sich danach zu Dr. Kont begab, regte sich in ihr ein ungutes Ge fühl. Sie wußte viel. Zuviel? Der Graue Uhu hatte „bedenklich" gesagt. Warum? Meinte er den Datenskandal oder ihre Kenntnis der Kont-Auf ritsch-connection. Graustedt kannte doch Aufritsch bestens. Und das BKA kontrollierte den Zugriff auf die Datenbanken der PIC-Zentrale und bei sich perfekt. Sollte Kont nur ein Strohmann des BKA sein, von Graustedts etwa, ohne es zu ahnen? Sie fand keine Zeit, darüber nachzudenken, denn in die sem Augenblick schrillte das Alarmzeichen ihres PIC. Es war fünf nach zehn. Ein Beamter meldete: „Notruf eines unbekannten Senders mit PlC-ähnli cher Kennung aus der weiteren Umgebung. Text: ,Hier liegt der für seine Dienste an der Kapitalistenklasse bestrafte Kollaborateur Aubach. Seine Herren verließen ihren Knecht und schalteten die PIC-Zentrale nicht ab.' Dazu wird Aubachs PERSID übermittelt." Frau Fuchs sprang auf. „Stellen Sie sofort einen Wagen mit Eskorte bereit. Wir müssen durch das Gewühl der Demonstration fahren." Dann befahl sie Dr. Kont: „Sie ermitteln, ob unter den ausgerasterten Verdächtigen irgend welche Beziehungen zur PIC-Zentrale bestehen." Ihr erschien in diesem Fall Dr. Kont vertrauenswürdig genug, da er mit der anderen Seite - mit von Auf ritsch - zusammenarbeitete. Er würde kaum zu den Linksterroristen gehö ren. „Aber Frau Hauptkommissar, das ist doch sinnlos. Wir sind alle bis auf die Knochen durchleuchtet. Keine Zugehörigkeit oder auch nur entfernte Ver bindung zu extremistischen Organisationen zählt zu den unabdingbaren Voraussetzungen." Sein Einwand bestärkte sie in der Annahme, daß er nicht verdächtig war. So raffinierte Winkelzüge traf man nur in Kriminalromanen. Schon im Ge hen, bestimmte sie scharf: „Sie haben mich wohl nicht verstanden? Das ist eine Weisung! Alle indirekten Verbindungen zum Kreis der Tarnkappenträ ger, und wenn es über die Großtante des Gemeindepfarrers ist. Zeigen Sie jetzt mal, daß Sie wirklich zur Creme unserer Wissenschaft gehören!" Sie eilte aus der Zentrale, orderte auf der Treppe einen Notarztwagen. Dr. Kont drehte sich mürrisch dem Fahndungsdiener zu. Allein gelassen mit diesem Gespensterbild, entlud er jetzt seinen ganzen Frust. „Hör zu, du alte Schlampe: Raster wie gestern. Einige zehntausend Vollverdächtige, da mit wir uns verstehen. Prüfen auf Verbindungen zur PIC-Zentrale. Und spuck mir nicht allen Schrott aus, nur das Wichtigste, sagen wir sortiert nach Anzahl der Zwischenpersonen und dem bereits vergangenen Zeitraum." Nicht gerade blechern, aber auch nicht sehr menschenähnlich antwortete der Diener nach geraumer Zeit: „Bestätige Verbindung vierten Grades, zehn 21
Jahre zurück." „Genauer!" Aufgeregt umkreiste Dr. Kont den Fahnder. „Mitarbeiter - Mutter - Arzt der Mutter - Tochter." „Und, und, und?" Völlig aufgelöst wollte er auch das letzte erfahren. „Wie heißt Verdächtiger?" Dr. Kont fühlte plötzlich Ohrensausen und Herzklop fen. Was wäre, wenn das einen völlig Unschuldigen traf, einen der besten Fachleute, vielleicht sogar ihn selber? Dann wäre er ein für allemal gebrand markt. Dies gehörte zum Los der Unschuldigen in einer Rasterfahndung. Das PIC-System war ein totalitäres Machtwerkzeug, fand er jetzt, wie alles, was die Menschen nach Fragebogen ohne Berücksichtigung der Individuali tät in Klassen einteilte. Beim Jäger würde immer der Rest Mißtrauen blei ben, ob im Befragungsergebnis nicht doch ein Körnchen Wahrheit steckt. Die Antwort des Dieners riß ihn aus seinen Befürchtungen. „Personenda ten direkt nicht mehr verfügbar. BKA-Speicher gesperrt. Zugang nur für Hauptkommissarin Fuchs." „Scheiße!" schrie er im Moment des Begreifens, schluckte, den Tränen nahe. „Verschwinde, du PIC-Sack!" Das Geschäft mit Aufritsch war geplatzt, ein Millionenverlust. Wieso machte das BKA plötzlich die Schotten dicht? Er ahnte, daß die Fuchs ihn durchschaut hatte, wie damals Aubach. Nun konnte ihn nur noch Aufritsch decken, dieser wirklich Allmächtige. Hoffent lich brauchten die ihn noch. Mit seinen Forderungen würde er zurückstek ken müssen. Da meldete sich Winger. „Herr Doktor Kont, kommen Sie doch eben mal bei mir vorbeigeschlendert, und sehen Sie sich die Bewegungsbilder an." Als Dr. Kont bei Winger eintrat, zog der ihn sofort zum Holobild der City. Man konnte alle Einzelheiten ausmachen, Straßenzüge, Häuser. Wie in dem Hubschrauber, der die Satellitenaufnahmen regelmäßig aktualisierte, glitten sie über diese Puppenstadt hinweg, konnten tiefer fliegen oder wieder in den Himmel aufsteigen. „Sehen Sie sich das an", Winger schien aufgeregt, „von den paar hundert Verdächtigen sind eine große Anzahl bei der Anti-PIC-Demonstration." In der Projektion ließ er die Pünktchen im Zeitraffer tanzen. Als die Projek tionszeit sich zehn Uhr näherte, bewegten sich alle sternförmig auf die Zen trale zu. „Na schön", Dr. Kont verbarg seine Enttäuschung nicht, „das konnte man von diesen linken Brüdern schließlich nicht anders erwarten." Dann richtete er sich auf, seine Augen blinzelten, und er wies Winger an: „Sie haften mir persönlich für die Rundumsicherung der Zentrale vor den ATAs. Ich prüfe nochmals den Einlaß für die innere Zone." Als er sich daraufhin entfernen wollte, hielt Winger ihn wieder zurück, um ihm die Außenaufnahmen von der unmittelbaren Umgebung der Zentrale zu zeigen. Dr. Kont wurde ungehalten, ließ ihn aber gewähren. Im weiteren Um kreis drängten sich Zehntausende. Absperrketten der Polizei hielten sie je doch in gebührender Entfernung. Auf einer der Holoprojektionen schwebten plötzlich vier schwarze Li mousinen heran. Winger schaltete die Tonübertragung auf diesen Bereich. Nun folgte auch Dr. Kont mit wachsendem Interesse dem Geschehen. „Halt!" der Straßenposten beugte sich zum Wagenfenster hinunter, „Pas sage nur für Angestellte." Aus dem Wagenfenster streckte sich ein Unterarm heraus und schob sich 22
samt PIC in die Kontrolleinrichtung. Beim diensthabenden Wachtmeister leuchtete die Ausschrift: „Ministerialdirektor Aubach. Person kann Zentrale in beliebiger Begleitung betreten. Kategorie: Bundesministerialführungsper sonal Ic." In diesem Moment stieg ein junger Beamter aus dem dritten Wagen und verabschiedete sich vernehmlich. „Geht in Ordnung, Herr Ministerialdirek tor, wird sofort erledigt." Unter den Augen der Polizisten drängte er sich so fort in das Gewühl der Menschen. Der Kontrollierende nahm das nur eben beiläufig noch wahr und gab die Durchfahrt frei. Winger verfolgte das Bild zunehmend gespannter. „Wer kann da kommen?" fragte Dr. Kont erstaunt. „Das kann doch nur ab Aubach aufwärts sein." Winger überprüfte die Einlaßdaten. „Es ist Ministerialdirektor Aubach, mit großem Begleitschutz." „Was, doch Aubach?" Dr. Kont erschrak. „Wie ist das möglich? Vor kurzem erhielten wir doch erst einen Notruf von ihm." In diesem Augenblick fiel ihm wieder ein, daß die Fuchs ja von einem Verdächtigen aus der PlC-Zen trale gesprochen hatte. Aubach? Winger? Oder gar er selber - unschuldig im Raster hängengeblieben? Winger riß ihn aus seiner Schrecksekunde. Kühl erklärte er: „Ich nehme an, das war vorhin nur ein Ablenkungsmanöver der Terroristen. Die werden gemerkt haben, daß sie mit ihrem Ultimatum nicht durchkommen. Da ha ben sie Aubach eben kurzerhand freigelassen. Für ihr Image besser so als eine ermordete Geisel. Nun ist unser Chef wieder auf dem Wege zu seinem Büroschlafplatz." Dr. Kont bemerkte die kleine Frechheit am Schluß schon kaum noch. Die Fuchs konnte er jetzt praktisch nicht mehr erreichen, möglicherweise befand sie sich auf einer Irrfahrt. Oder kam Aubach direkt von ihr? Er hockte hier allein mit Winger - absolut vertrauenswürdig der Mann, altes Akademiker geschlecht, Mediziner, wenn er sich recht erinnerte. Aubach schien bester Gesundheit und unbeschadet im Anmarsch zu sein, jetzt mit Begleitschutz. Doch was wäre, wenn Aubach der Verdächtige war? Winger und er sahen, wie die Beamten der Sicherungsgruppe, alle auffällig unauffällig und zünftig mit untertassengroßen Sonnenbrillen, Aubach in die Mitte nahmen und zum Eingang der inneren Zone gelangten. Kalt tönte die Automatik: „Eingang in nere Zone, bitte identifizieren!" In einer Holoprojektion des Kontrollraumes erkannte man Aubachs Ge sichtszüge. Er war bleicher als sonst, aschfahl, verzog keine Miene. Mit der Anstrengung des letzten Tages erklärte sich Dr. Kont die angegriffene Ge sundheit Aubachs und die maskenhafte Starre des Gesichts. „Bitte Daktyloskopie!" Aubach drückte seine Fingerkuppen auf das Prüfge rät. Im ICC jagten sich die Bits bei den Vergleichsoperationen für diese lo gisch kaum faßbaren Ornamente der Fingerlinien. „Netzhautspiegelung!" Aubach hielt seine Augen an die Optik. Das unver wechselbare Retinamuster hielt der Prüfung stand. „Passieren, mit Begleitung!" Unhörbar öffnete sich die Stahltür. Dr. Kont fiel ein Stein vom Herzen. Der Begleitschutz nahm zackig an der Tür Auf stellung. Kont eilte Aubach entgegen. Dieser schritt - unbewegten Gesichts - auf ihn zu, zur Begrüßung. Kont wollte ja selbst immer Chef werden. Wenn er es sich aber in diesem Moment recht überlegte, hatte er sogar Glück 23
gehabt, daß nicht er an Aubachs Stelle gesessen hatte. Sonst wäre ihm das Übel geschehen. So ging er ihm mit aufrichtiger Erleichterung entgegen, die wenigen Meter im Sicherheitsraum, vorbei an den Holoprojektoren mit dem Raumbild der. Innenstadt, den sich darin bewegenden Lichtpünktchen der befahndeten Personen, den Aufnahmen der Menschenmassen aus der Umge bung, flirrenden Lichtern, in denen Myriaden von Koordinaten aufleuchte ten und verloschen, vorbei an diesen unerläßlichen Utensilien des bio-mi kroelektronischen Zeitalters, seines Zeitalters, in dem er zu Hause war. Die ausgestreckte Hand erstarrte Kont, als er in Aubachs tote Augen blickte. Von einem Moment auf den anderen verlor er sein bißchen zur Schau getragene Selbstsicherheit, glich jetzt dem Kaninchen vor der Schlange. Da stand er, ein kleiner Beamter - nie gewalttätig gewesen, immer strebsam, ein fleißiger Fachmann - und ihm gegenüber: da stand der Tod. Fast erleichterte es da Dr. Kont, als er plötzlich einen Pistolenlauf im Rük ken spürte, weil ihn der Druckschmerz aus seiner Erstarrung riß. Der tödli che Laserstrahl hätte das angstvoll dahingaloppierende Herz in Millisekun den gelähmt und in einen schlaffen Sack verwandelt. Konts Gegenüber griff sich an den Hals, würgte und riß am Kragen, zog die Aubach-Maske mit ei nem schmatzenden Gummigeräusch vom Gesicht. Kurze Bürstenhaare rich teten sich über einem Frauengesicht mit glutvollen Augen auf. Rina musterte Dr. Kont kurz. „Sie sind das also." Sie warf das eher hin wie die Feststellung über einen neuen Patienten. Dann blickte sie an ihm vorbei zu Winger. „Nero, an der Kontrollstelle ist Chris abgesprungen. Ohne Ge fährdung der Aktion hätten wir ihn nicht halten können." „Mist!" schimpfte Winger, noch immer dem völlig verstörten Kont die Pi stole in den Rücken pressend. Kont fühlte, wie ihm schwindlig wurde. Da waren sie in eine groß ange legte Falle dieser Banditen geraten. Nero-Mero-Winger, daß er nicht gleich darauf gekommen war! Egal, jetzt hieß es klaren Kopf bewahren, doch Kont fürchtete, sein Leben war keinen Pfifferling mehr wert. Nero ließ die Eingangstür öffnen, und das als Begleitschutz getarnte Kom mando stürmte herein. „Alles fertigmachen!" befahl Rina. „Ladungen anbringen, Rückzug si chern!" In diesem Moment meldete sich Frau Fuchs bei Dr. Kont. Nero gebot den anderen innezuhalten, griff von hinten an Konts Arm und schaltete die Bild übertragung ab. Dann stieß er Kont antreibend in die Rippen. „Ja, Frau Hauptkommissar?" brachte dieser gequält, aber beherrscht hervor. „Hören Sie! Sofort alles abbrechen! Sind Sie allein?" Eine überflüssige Frage, fand er. „Ja, Moment", kam es dann stockend von seinen Lippen, „was gibt es Wichtiges?" „Beordern Sie Kollegen Winger unter einem Vorwand aus der inneren Zone. Er wird festgenommen!" Rina und Nero erkannten in diesem Augenblick, daß sie entdeckt waren. Ihre Tarnkappen hatten aus unerfindlichen Gründen nicht funktioniert. Ir gendwie hatten die ihre xl2-Vorspiegelung durchschaut. Aber wie? Nero ahnte jetzt, daß Kont schon lange an einer geheimen Entwicklung mitgear beitet hatte, die selbst ihm als Insider verborgen geblieben war. Doch was zählte das jetzt noch? Sie saßen ihrerseits in der Falle, verwehrt der sorgfältig geplante Rückzug. Es blieb ihnen nur, die Aktion bis zum bitteren Ende zu 24
führen. Zu verlieren gab es nichts mehr außer dem nackten Leben oder dem Hochsicherheitstrakt. Nach Sekunden des Schweigens, unterbrochen vom mehrmaligen Rufen der Fuchs, meldete sich mit schwerer Stimme Nero. „Hier spricht die Kampfeinheit Rote-Arbeiter-Schwadron. In wenigen Mi nuten wird die PIC-Zentrale gesprengt!" Mit Handzeichen bedeutete er den Angreifern, ihre Arbeit schneller zu beenden. „Zünder auf zehn Uhr zwölf Minuten stellen!" Die Angreifer stoben über die Gänge, die wenigen überraschten Wachen in der Kernzone, die einen Angriff aus dieser Richtung nie erwartet hatten, niederschießend, um ihre Ladungen anzubringen. Frau Fuchs meldete sich nochmals: „Hören Sie, Winger, die Zentrale ist umstellt. Geben Sie sich keinen falschen Hoffnungen hin. Geben Sie auf! Retten Sie das Leben Unschuldiger!" „Wir werden hier sterben für unsere Sache: die Befreiung der Menschheit von der Totalüberwachung durch die PIC-Zentrale!" Die Fuchs raste noch im Wagen in Richtung von Aubachs Notrufsender. Jetzt erst alarmierte sie Graustedt. Der handelte kurz entschlossen. „Frau Hauptkommissar, die Zentrale lasse ich sofort stürmen. Ihnen schicke ich schnellstens einen Notarzt und Spezialisten von uns, wenn Sie zu Aubach fahren. Halten Sie alle Fremden von ihm fern, auch Ihre PolizeiUnfallhilfe, bis unsere Leute ihn untersucht und die Spuren gesichert ha ben." In der Zentrale heulten die Sirenen. Die Angreifer verteidigten sich nun bis zum letzten. Erbarmungslos feuerten sie in die anrückenden Polizisten. Von den Sprengkommandos kamen kurz nacheinander die Bestätigungen: „Ladungen scharf!" Nero trieb seine Leute an: „Nehmt so viele von diesen Sohwachköpfen mit in den Tod, wie ihr könnt!" Dr. Kont lag neben ihm am Boden. Um sie herum spritzten die Splitter der Detonationen. Nero schrie in den Feueror kan: „Freunde! Die Sprengung ist nicht mehr rückgängig zu machen. Lebt wohl, für eine PIC-freie Welt!" Die Einschläge der Kampflaserstrahlen ließen glühende Metallfunken "sprühen. Rauch und Staub verklebten die Atemwege. Da hob Dr. Kont den Kopf, richtete seinen schwächlichen Oberkörper ein Stück auf, blickte mit seinen blinzelnden Augen durch die zersplitterte Brille den wild um sich feu ernden Winger an, und ein hysterisches Lachen brach aus ihm heraus. „Win ger, Sie Narr, Sie! Ihr Narren! Alle!" schrie er in das Kampfgetöse. Er lachte, hysterisch, irre, die Tränen liefen ihm über das verzerrte Gesicht. „Es gibt noch eine zweite PIC-Zentrale, eine vollständige Kopie dieses Sarges hier." Er rang nach Luft, lachte weiter, stützte sich auf seine dünnen Arme, die langsam erlahmten. Winger sah ihn entgeistert an. Rina kam zu ihnen gekrochen mit schreck geweiteten Augen. So sehen Verlierer aus. Dr. Kont schrie ihr seinen ganzen Haß ins Gesicht, immer noch lachend, schwächer schon: „Vielleicht gibt es sogar noch eine dritte Anlage oder eine vierte", er keuchte, dann stieß er un ter verebbenden Lachzuckungen hervor: „Habt ihr Narren geglaubt, unsere Demokratie ließe sich von euch lausigen Wanzen in die Suppe spucken? Nero - wahnsinniger römischer Kaiser, untergegangen! Nero-Mero-Winger, ha, untergegangen, diese lausewanzigen Germanenkönige, Narrenvolk! Ihr 25
verfluchten, miesen, kleinen Narren", jetzt schluchzte er nur noch hem mungslos, raffte «ich aber nochmals empor, kreischte: „Auch ihr geht unter, i-h-r N-a-a-r-r-r-e-n-n!" Sein letzter hysterischer Aufschrei wurde emporge tragen vom Donner der Sprengungen. Sie versanken in dem Sturm aus Feuer und Staub, ihre sterblichen Hüllen zerfielen zu Asche, zerstoben im kalten Wind. Sie vernahmen die Sprech chöre von draußen nicht mehr. Frau Fuchs fragte sich, was sie falsch gemacht hatten. Sicher, Aubachs Son derbefugnisse hätten sofort nach Bekanntwerden seiner Entführung zurück genommen, seine elektronische Einlaßerlaubnis hätte gesperrt werden müs sen. Doch wer denkt in der allgemeinen Aufregung schon an solche Details, zumal Aubach selbst überhaupt nicht in der Lage gewesen wäre, diese Son derrechte zu mißbrauchen. Dies nutzte Winger aus. Winger, ein Maulwurf in derPIC-Zentrale - ein Novum in der unseligen Geschichte des Terrorismus. Damit konnte niemand rechnen, denn diese Möglichkeit lag weit außerhalb des Denkbaren. Kurze Zeit darauf entdeckten sie Aubach. Er saß, als Bettler ausstaffiert, inmitten der hochaufragenden Glitzerfassaden, auf einem Lumpenpäckchen, daneben die übliche Blechbüchse, in der windgeschützten Ecke einer Ge schäftspassage, umrahmt vom Glanz und Glimmer der chromgefaßten Schaufensterscheiben, hinter denen sich unübersehbar Geräte der neuesten 3D-Holo-Video-Technik stapelten. Niemand aus dem vorbeihastenden Samstagseinkaufspublikum schenkte diesem Häufchen Unglück Beachtung. 26
Wenige Häuserecken weiter ballte sich die mächtige Anti-PIC-Demonstra tion zusammen, währenddessen hier das Leben wie gewohnt seinen unerbitt lichen Konsum-Takt schlug. Ließ man sich nur von den Medien-Nachrich ten beeinflussen, glaubte man, das ganze Land sei in Aufruhr. Doch es bewegten sich nur Tausende dort vorn. Ansonsten gingen Millionen wie ge wohnt ihren Geschäften nach. Und dieser Bettler gehörte dazu. Frau Fuchs trat an Aubach heran. Er schien noch bewußtlos. Die Binden um Kopf und Hände wurden notdürftig von einigen alten Kleidungsstücken verdeckt. Sie ahnte dunkel, daß diese Verbände nicht nur dem Lumpenko stüm dienten. Zögernd beugte sie sich zu ihm hinunter, er lebte. Da Aubach in eine der vielen gläsernen Nischen dieser Schaufensterpassage gesetzt wor den war, konnte niemand aus dem Laufpublikum genau sehen, wie er zu sich kam. Hauptkommissarin Fuchs ließ den Absperrkordon in genügend weiter Entfernung ziehen. So hörte auch niemand von den anderen Beamten, ob Aubach sprach und was er sagte. Stöhnend flüsterte er: „Wo bin ich? Die Schmerzen, helft mir!" Sie neigte sich behutsam an sein Ohr und redete leise, um ihn nicht zu er schrecken: „Herr Aubach, ich bin's, Ihre alte Fuchs. Sie sind in Sicherheit. Halten Sie aus, ein Arzt ist unterwegs. Wir befinden uns in einer Innenstadt passage." Mit matter Stimme hauchte er unter Anstrengung: „Ich habe nicht mehr viel Zeit. Es ist aus mit mir. Ich vertraue Ihnen." Um seine Lippen schien das für ihn typische ironische Lächeln zu spielen. „Im Häuflein der auf rechten Liberalen sucht man immer nach Gesinnungsfreunden. Hören Sie mir ... gut zu ..." „Bleiben Sie ruhig, Herr Aubach." „Ich muß Ihnen etwas mitteilen, bevor ich woanders hingelange." „Leise, Herr Aubach, nicht anstrengen." Sie näherte sich ihm auf Hand breite, fühlte seinen Atem über ihr Haar fächeln. Kaum noch hörbar flüsterte er: „Vor einem halben Jahr wurden Daten aus der Zentrale unberechtigt an Dritte überspielt. Ich entdeckte es bei einer Routinekontrolle." „Hören Sie auf, mein Gott!" Sie wollte nicht noch mehr wissen. „Nein, hören Sie mir zu!" Er atmete schwer. „Ich wollte den parlamentari schen Datenschutzausschuß verständigen." „Wer wußte davon?" „Niemand. Ich ließ nur einmal vorsichtige Andeutungen gegenüber Partei freunden fallen, wollte prüfen, ob die hinter einer Verschärfung des Daten schutzes stehen würden." „Und?" fragte sie unruhig. Sie hörte aus dem allgemeinen Lärm das noch entfernt tönende Sondersignal des zweiten, von Graustedt geschickten Un fallwagens. Seitdem Aubach sie in sein Unglück als Mitwisserin hineingezo gen hatte, arbeitete ihr Spürsinn - dieser in vielen Ermittlungen geschärfte Instinkt - mit der Geschwindigkeit eines heißlaufenden Computers. Sie ver mutete einen furchtbaren Zusammenhang. Es gab kein Zurück mehr in den betulichen Alltag ihres Landeskriminalamtes in der Provinz. Es stimmte, was sie gestern abend ihrem Mitarbeiter mehr so dahin gesagt hatte: Hier pfiff ein eiskalter Wind, ein tödlicher Jetstream. „Wer kannte Ihre Fahrtroute?" Jetzt wollte sie es wissen. Aber Befürchtetes und Erhofftes bestätigt sich meist nicht. Aubach hauchte nur: „Niemand, 27
nur ich selbst bestimmte die Route erst beim Einsteigen in den Wagen." Es blieb keine Zeit mehr für weitere Fragen. Der von Graustedt geschickte Vertrauensarzt sprang gerade aus der Hecktür seines als Samariter-Hilfe ge tarnten BKA-Fahrzeuges. „Still!" befahl sie Aubach. „Sie haben nie etwas gesagt, verstanden!" Au bach nickte nur noch schwach. Sie überlegte kurz, richtete sich auf und winkte den Weißkittel durch die Polizeikette heran. Dann wandte sie sich von dem Verstümmelten ab, ihr Blick lief, ohne Haltepunkte zu finden, am gegenüberliegenden Glaspalast empor, verirrte sich im Grau der Wolken dar über. Graustedts Stimme aus dem PIG holte sie wieder auf den harten Boden der Tatsachen: „Frau Fuchs, wie ist Aubachs Zustand?" Müde antwortete sie: „Sehr ernst, soweit ich es beurteilen kann, Herr Staatssekretär." „Und, konnte er schon etwas sagen?" Wenn diese harmlose Frage eine Falle sein sollte, dann war sie gut gestellt, als Frage und als Falle. Eine momentane Eingebung ließ die Hauptkommis sarin verneinen. „Geben Sie mir den Arzt bitte!" verlangte Graustedt. Sie hatte eine uner klärliche Furcht vor dem Grauen Uhu bekommen. Der fragte jetzt auch den Arzt über PIC: „Wie schätzen Sie den Zustand von Ministerialdirektor Au bach ein?" „Bedrohlich." „Gut, sorgen Sie für bestmögliche Behandlung. Sie haften mir für ihn!" 28
Die Krankenträger schoben Aubach in das Rettungsfahrzeug. Frau Fuchs prüfte noch routinemäßig den Fundort. Dabei jagten sich ihre Gedanken. So stand sie, vielleicht zehn Atemzüge lang. Unvermittelt riß der Arzt die Wa gentür nochmals auf und rief sie zu sich. „Frau Hauptkommissar, Herr Ministerialdirektor Aubach ist soeben ver storben." Fassungslos sah sie in die blaßblauen Augen des Arztes. Und ganz tief un ten, dort, wo die Kruste ihrer Hemmungen und Verbote am dicksten lag, barst plötzlich ein Riß auf, und hervor kroch wie glühende Lava der bis da hin inquisitorisch unterdrückte Verdacht gegenüber der für sie bis dahin un geliebten, aber unanfechtbaren Autorität: Graustedt! Da fügten sich alle un geordneten und verwirrenden Details zusammen, wie von Geisterhand geführt, wie wenn man einen Film, in dem ein geordnetes Puzzle auseinan derfällt, rückwärts laufen läßt und sich die chaotisch verstreuten Teilchen, bewegt von unsichtbaren Kräften, von selbst zusammensetzen. Für andere wäre es nur eine Nebensächlichkeit am Rande geblieben, diese Freudsche Fehlleistung von Graustedts, als er auf die Zustandsfeststellung „bedrohlich" seine Erwiderung mit „gut" anstelle von „schlimm" oder etwas Ähnlichem begann. Deshalb auch haftete der Arzt nicht für „Aubachs Le ben", sondern für „ihn". Doch ihr untrügliches frauliches Gespür für feine Nuancen - Grandlage ihrer Erfolge als Polizistin - ließ sie auch hier auf das Verborgene stoßen. Wichtiger als diese Eingebungen, die aber den auslösen den Impuls formten, wogen Tatsachen. Nummer eins war, daß Aubach niemandem seine Fahrtroute vorher mitge teilt hatte. Es gab aber nur drei Ausfallstraßen, und Aubach befand sich als Ic-Person in Dauerortung. Den Tätern wäre es ein leichtes gewesen, nach entsprechender Information schnell an die richtige Straße zu gelangen. Win ger leitete zwar die Dauerortung, jedoch standen ihm nur die für ihn unles baren PERSIDs zur Verfügung. Graustedt besaß als einziger unauffälligen Zugang. Fakt zwei: Wenn überhaupt jemand, dann konnte aus diesem Kreis nur Graustedt die Information dem Kern der Rot-Ar-Sch-Gruppe zuspielen, wahrscheinlich durch seine Undercoveragenten, von denen er auch die er wähnten geheimen Informationen bekam. Fakt Nummer drei: Aubach verfolgte - aus welchen Gründen auch immer - eine konsequent liberale Politik: Respektierung des einzelnen, weniger persönliche Angaben an die Behörden, strenger Datenschutz. Graustedt ge hörte insgeheim zu den alten Verfechtern einer hart konservativen Linie: „mehr Staat", Überwachung aller rund um die Uhr. Damit hatte sie das Mo tiv. Und wem nützte es? Den oberen Zehntausend, dem Verband, solchen wie Aufritsch - für schwarze Listen: Am Werktor hört die Demokratie be kanntlich auf. Der Graue hatte so zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Aubach beseitigt und mit der Aktion Rot-Ar-Sch die „öffentliche Meinung" für die härteren Überwachungsgesetze angeheizt Aber beweisen würde sie es nie können. Sie wußte trotzdem zuvielCGraustedt hatte von der Kont-Aufritsch-Ver bindung durch sie selbst erfahren, schlimmer noch, daß sie von der Absiche rungsgarantie wußte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der Graue Uhu zu der Ansicht gelangte, daß sie auf ihn als den einzig möglichen Garantiegeber im Hintergrund schließen könnte. Er würde kein Risiko mehr eingehen. Sie 29
mußte ihre eigene Haut retten. Aber wie? Sie blickte in die kalten Augen von Graustedts Arzt, der sie bis jetzt skep tisch betrachtet hatte. Da wurde ihr klar, als liberale Einzelgängerin besaß sie nicht die Spur einer Chance zu entkommen. Noch blieb ihr eine Frist zum Überdenken. Wie lange noch? Erst einmal mußte sie Zeit gewinnen, auf Di stanz gehen, abtauchen. Sie verständigte kurz den Arzt, der sie weiterhin fra gend ansah, sie müsse auf dem Weg zu Graustedt noch etwas erledigen. Dann begab sie sich in Richtung der Zentrale. Die Menschenmenge verdich tete, sich. Allgemeine Aufregung zog durch die Reihen, seit auf dem weitläu figen Gelände der abgesperrten PIC-Zentrale mehrere Explosionen die Mau ern zum Beben gebracht hatten. Nach einer kurzen Wegstrecke drückte sie sich in einen Hauseingang. Im Dunklen verglich sie über PIC die Fahndungsergebnisse mit der Totenliste aus der Zentrale. Der Techniker, er lief noch frei herum! Der letzten Ortung nach mußte er hier in der Gegend untergetaucht sein. Fest stand, daß er ab gesprungen war - kurz vorher. Also hatte er sich losgesagt. Wo konnte er sich aufhalten? In der Menschenmasse bot sich ihm zunächst elementarer körperlicher Schutz. Sie vermutete ihn vorn, in Richtung der Rednertribüne, wo die Menge am dichtesten stand. Dort versagte nämlich auch die PlC-Or tung, wegen des immer noch merklichen Meßfehlers von einigen Metern. Als Spezialist wußte er natürlich um die Schwächen des Systems. Ebenso konnte sie selbst sich deshalb eine gewisse Zeit unkontrolliert bewegen. Und darüber hinaus bestand die Gefahr einer lückenlos durchorganisierten PlC-Überwa chung in der Aufregung nach dem Zusammenbruch der Zentrale kaum. Sie drängte sich durch die Menge, zunehmend in Schweiß gebadet, mit ja gendem Herzen. Ihr fotografisches Gedächtnis ließ sie nicht im Stich. Er war da. Hoffentlich macht der jetzt keinen Blödsinn, dachte sie, drückte ihm im Gedränge unauffällig die im Mantel verborgene Pistole in die Seite. „Ruhig bleiben, keine Bewegung!" zischte sie leise. „Sie sind der Abgesprungene?" Chris drehte sich nicht um, vor Schreck erstarrt über die unerwartete Entdek kung seiner Flucht. „Sie wissen ...? Wer sind Sie?" „Ich will Ihnen helfen. Warum sind Sie ausgestiegen?" Chris konnte nach dieser durchlittenen Nacht nicht mehr an sich halten, als ihn diese beherrschte, warme Frauenstimme erreichte. Er zitterte, die Hände in den Manteltaschen vergraben. „Die, die haben unsere Ideale verra ten. Das hätten sie Aubach nicht antun dürfen!" Tränen traten ihm in die Augen, sein Mund bebte. „Was? Was hätten sie nicht ...? So reden Sie schon!" „Ihn blenden, seine Augen rausoperieren, die Fingerkuppen wegschneiden, hur um in die Zentrale zu kommen." Nun wurde ihr auch die Bedeutung von Aubachs Mullverbänden klar. Sie mußte aber noch etwas erfahren, etwas, was ihre Entscheidung vielleicht noch beeinflussen konnte: War Graustedt in die Sache verwickelt oder nicht? „Woher kannte Nero Aubachs Weg?" „Ich weiß nicht." Er wußte es also auch nicht. Es stand wie eine unüberwindliche Wand vor ihr. Ganz würde sie das Komplott wohl nie aufklären können. War es nun ei ner von Graustedts V-Leuten gewesen oder Winger allein oder beide gleich zeitig? Zu gern hätte sie angenommen, daß Graustedt sauber war. Doch es gab Hinweise für seine Schuld, etliche Anzeichen. Jedes einzelne hätte als 30
Zufall gelten können, aber alle zusammen? Sicher, kein Gericht würde sol che Verdachtsmomente als Beweise anerkennen. Doch sie konnte nicht mehr an Zufall glauben. Und dann gab es neben diesen Fakten noch ihre Intui tion, die sich aus den unzähligen, unmeßbaren, unwiederholbaren Sinnes eindrücken aufbaute, aus der hieraus gefilterten Information, deren Konzen trat nicht mehr auf ihre logischen Urbestandteile rückführbar war. Sie saß in einer Zwickmühle, einer möglicherweise tödlichen, fühlte sich schwach, verbraucht, ausgelaugt. Die Augen geschlossen, versuchte sie, kon zentriert zu überlegen. Das Gesumm der vielen Menschen ringsum wich aus ihrer Wahrnehmung. Blieb sie bei Graustedt, gehörte sie zu den Mitwissern, den gefährlichen sogar. Sicher könnte sie wie bisher weiterarbeiten, die Fahndungsgruppe ATA würde ja nun wieder als Dauereinrichtung erforder lich sein. Aber sie behielte wenigstens ihre liebgewordene Umgebung, das Heim, ihre Söhne, ihren Mann. So schnell beseitigt man unbequeme Mitwis ser unter den engsten Vertrauten auch nicht, und sie war schließlich nicht ir gendwer. Doch die Drohung, daß man auch sie liquidierte, hing dann wie ein Da moklesschwert ständig über ihr. Dabei würde man sich nicht einmal soviel Mühe geben müssen wie bei Aubach. Sie sah schon die Schlagzeilen: „Auto unfall - schärfste ATA-Jägerin verbrannt" oder „Unbekannter Hecken schütze aus der Unterwelt rächte sich an Polizeikommissarin" oder, oder, oder ... Den einzigen Hoffnungsschimmer demgegenüber konnten nur ihre her vorragenden Fähigkeiten geben und ihre jetzt mehr denn je benötigten Er fahrungen. Doch diese Hoffnung mußte trügen, denn jeder ist ersetzbar, wenn auch nicht ohne Verlust. Das wußte sie. Man würde sie - ja müßte sie - früher oder später kaltstellen. Die konnten gar nicht anders handeln. Aber der andere Weg, wo führte der hin? Sie wußte es nicht. In der Ver gangenheit hatte es ab und zu Aussteiger gegeben, auch unter gehobenen Militärs, sogar Generäle. Sie gehörten jedoch nicht zu Mitwissern solcher Aktionen, die man zwar nie zu beweisen vermochte, bei denen aber die In itiatoren annehmen mußten, man könne es doch. Die einzige Möglichkeit, ihre Haut und ihre Gesinnung zu retten, bestand also in einer sofortigen Flucht in die Öffentlichkeit. Das hatte sie nicht ge wollt. Es gab keinen Ausweg. Ihr traten die Tränen in die Augen. Sie hatte die Gesetzlichkeit mit ihrem Scharfsinn verteidigt, auch mit Zähnen und Klauen. Nun mußte sie erkennen, daß die immer wieder einmal ans Licht gekommenen Rechtsbrüche kleiner Politiker und Geldmacher keine Einzel fälle waren, sondern sich bis auf höchste Ebene fortsetzten. Und was das Niederträchtigste war: auf Grund nichtiger persönlicher Um stände, individueller Zufälle, saß gerade sie in dieser abwärts rasenden Ach terbahn stufenweiser Gewissensaufgabe gefangen. Sie mußte aussteigen. Zitternd vor Wut und Zorn faßte sie ihren einsamen Entschluß, blickte vor zur Tribüne und sagte dabei zu Chris: „Merken Sie sich, was ich Ihnen nun sage. Ich bin die einzige, die Ihnen noch gefährlich werden kann. Nur ich be sitze die elektronischen Fahndungsergebnisse. Ihre Daten werde ich löschen. Und Sie können sich anhören, was ich von da oben", sie wies zur Tribüne, „noch zu sagen habe." Es gelang ihr nicht ohne weiteres, die Veranstalter davon zu überzeugen, daß sie das Wort nehmen durfte, nachdem sie sich mit schwindender Kraft 31
zum Rednerpult durchgekämpft hatte. Sie wurde als Hauptkommissarin Fuchs angekündigt, Chefin der neuen ATA-Fahndung. „Kolleginnen! Kollegen! Das Spinnennetz der PIC-Totalüberwachung zieht sich über uns zusammen. Mächtige Interessengruppen haben einen Weg ge funden, den PERSID-Datenschutz zu unterlaufen. Listen von Rasterfahn dungen wurden aus der PIC-Zentrale weitergegeben. Zehntausende von PERSIDs unbescholtener Bürger stehen so auf unkontrollierbaren Geheimli sten der Arbeitgeberverbände. Ministerialdirektor Aubach, Chef der PICZentrale, wurde heute nacht von Terroristen entführt. Ein Vorwand für har tes Eingreifen. Aubach mußte sterben, weil er zuviel wußte und nicht länger schweigen wollte. Über vieles, was mir bekannt ist, darf ich nicht sprechen, da ich der Schweigepflicht unterliege. Aber eines kann man mir nicht ver wehren: Ich kündige, Herr PIC-Staatssekretär von Graustedt." Dann bluffte sie. „Meine Erkenntnisse habe ich mehrfach gesichert abgespeichert und stelle sie einem unabhängigen parlamentarischen Untersuchungsausschuß zur Verfügung. Im Falle meines plötzlichen Ablebens erhalten unabhängige Medien das Dossier." Erschöpft wankte sie vom Mikrofon zurück. Man setzte sie auf einen der harten Plaststühle, reichte ihr einen Pappbecher mit Kaffee, den sie dankend annahm. Was würden ihre Söhne jetzt sagen? Deren Karriere war zu Ende, wenn sie sich nicht merklich von ihrer Mutter distanzierten. Was würde ihr Mann dazu meinen? Sie verlor mit Sicherheit einen Teil ihres Pensionsan spruches. Der Traum von dem bescheidenen Wohlstand für ihren gemeinsa men Lebensabend - sie schmiedeten in letzter Zeit immer häufiger Pläne würde sich damit wohl kaum mehr erfüllen. Chris applaudierte mit sorgenvollem Gesicht in der Menge. Ob er seine Tarnkappe irgendwann wieder aufsetzte? Wieso hatte sie ihn nicht festge nommen, eigenmächtig, entgegen allen Dienstvorschriften? Wollte sie ihn etwa noch einmal aufsuchen? Ja, denn sie brauchte ihn noch, mußte versu chen, mehr herauszufinden, insbesondere ob Graustedt die Gruppe über Mittelsmänner beeinflußt hatte. Aber wozu? In diesem Augenblick ahnte sie, wie tief sie bereits drinsteckte, daß sie diese Sache wohl nie mehr los würde. Aber sie ahnte auch, daß sie nun ein eigenes, nicht nur von außen aufgetra genes Ziel besaß, sondern ein aus ihr selbst von innen erwachsenes, für das sich auch zu kämpfen lohnte, vielleicht sogar mehr als für die Pension, und daß sie sich unter all diesen Menschen hier nicht mehr allein fühlte. Ein scharfer Schmerz stach ihr plötzlich ins Herz. Auf ihrer Brust lastete bleischwerer Druck, schnürte sie wie mit Stahlbändern ein. Die Finger krib belten, wurden gefühllos. Sie konnte ihre Arme nicht mehr heben. Entsetzt betrachtete sie das taube Fleisch, das ihrem Willen nicht mehr gehorchte. Angst, graue, neblige Angst kroch ihr die Kehle hoch. Sie schluckte, rang tapfer nach Atem. Dann wurde sie ohnmächtig.
Er war so jählings in ihr Leben getreten, daß es Alda noch immer nicht begreifen konnte. Aber im Krieg blieb keine Zeit, um zu wägen, man mußte sich einfach entscheiden. Wenn sie den verwundeten Raimonds nicht versteckt, nicht in die Korndarre gelassen hätte, so wäre er gestorben. Sie war zu allem bereit, um ihn zu retten, nicht, weil sie vertraut miteinander waren und er versprochen hatte, sie zu heira ten ... Wenn aber nun irgend etwas Schlimmes passierte? Wegen Raimonds, einem Menschen, dessen richtigen Namen sie nicht einmal kannten, konnte das Vorwerk niederge brannt und Aldas nächste Angehörigen erschlagen werden, zumal ihr Bruder Karlis gerade desertiert war und sich im Wald verkriechen mußte. Der Vater des jungen Mädchens widersetzte sich entschlossen ihren Plänen und versuchte, den Verwundeten zu vertreiben, denn zwei Flüchtlinge auf dem Vorwerk waren ein unvertretbares hohes Risiko. Und ist das Leben des eigenen Sohnes nicht viel wertvoller als das eines von Alda geliebten Fremden? Als dann endlich Frieden war, lastete auf der lettischen Bauernfamilie dumpf ein Verhängnis ...
Im Teufelskreis
der Angst
Roman von
Vladimirs Kaijaks Aus dem Russischen von Thea-Marianne Bobrowski 176 Seiten • Ganzleinen 6,30 M
Verlag Neues Leben Berlin