Herbert Günther
Ole und Okan Zeichnungen von Petra Probst
Verlag Friedrich Oetinger • Hamburg
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Herbert Günther
Ole und Okan Zeichnungen von Petra Probst
Verlag Friedrich Oetinger • Hamburg
© Verlag Friedrich Oetinger, Hamburg 1990 Alle Rechte vorbehalten
Einbandgestaltung: Manfred Limmroth Titelbild und Illustrationen: Petra Probst Satz: R. Himmetheber & Co. Hamburg Herstellung: Ebner Ulm Printed in Germany 1990 ISBN 3-7891-1004-3
Seit Okan da ist, dreht sich alles nur noch um ihn. Mama und Papa kaufen ihm Sachen, als wenn Weihnachten ist, sie fragen ihn, was er gern essen will, und dann lassen sie ihn auch noch beim Menschärgere-dich-nicht gewinnen. Dabei hat Okan, seit er aus dem Kinderheim zu ihnen gekommen ist, noch kein einziges Wort zu Ole gesagt. Und Skateboard gefahren ist er auch noch nicht mit ihm. Einen großen Bruder hat Ole sich wirklich anders vorgestellt!
Ole bekommt einen Bruder
Ole ist sieben Jahre alt. Sein großer Bruder heißt Okan. Seit vierzehn Tagen sind sie Geschwister. Vorher haben sie sich gar nicht gekannt. Als Ole fünf Jahre alt war, haben Mama und Papa zum erstenmal davon gesprochen. „Hör zu, Ole“, hat Papa gesagt. „Wir wollen ein Kind adoptieren.“ Damals hat Ole noch nicht gewußt, was das Wort „adoptieren“ bedeutet. Mama hat es erklärt: „Wir nehmen ein Kind zu uns, das keine Eltern mehr hat. Und das ist dann deine Schwester oder dein Bruder.“ „Woher nehmen wir das?“ hat Ole gefragt. „Aus einem Kinderheim.“ „Ist es älter als ich?“ „Vielleicht.“ „Ich will einen älteren Bruder“, hat Ole gesagt. „Das wäre ganz gut.“ Damals hatte er Angst vor dem SchwarzmüllerSchorsch und seiner Bande. Der SchwarzmüllerSchorsch hat ihn oft ins Bein gekniffen und verlangt, daß Ole jeden Tag Kaugummi oder Schokolade zum Spielplatz mitbringen sollte.
„Wenn nicht, lassen wir die Luft aus deinen Rollerreifen.“ Da wäre es ganz gut gewesen, einen großen Bruder zu haben. Nicht nur für Ole, auch für viele andere auf dem Spielplatz. Ole war nicht der einzige, der Angst hatte vor der SchwarzmüllerBande. Aber „adoptieren“ ging viel schwerer, als Mama es erklärt hatte. Es hatte viel mit Formularen zu tun, mit Briefeschreiben, Wegfahren, Telefonieren, Sich-untersuchen-lassen und Besuch kriegen. Und es dauerte sehr lange. Zwei Jahre. So lange, daß Ole es fast schon vergessen hatte.
Dann, vor vierzehn Tagen, war es doch soweit. Mama und Papa fuhren mit dem Auto in eine andere Stadt. Da war das Kinderheim, aus dem sie den großen Bruder holen wollten. Okan hieß er, so viel hatten sie ihm vorher gesagt. Als Ole an diesem Tag aus der Schule kam, waren Oma und Opa da. Opa hatte Bratkartoffeln und Spiegeleier gemacht, Oles Lieblingsessen. Am Nachmittag spielten sie „Mensch-ärgere-dichnicht“, Mikado, „Fang-den-Hut“ und warteten. Aufgeregt waren sie alle drei. „Es ist doch immer wieder spannend“, sagte Oma, „das Kinderkriegen.“ Gegen Abend – es wurde schon dunkel – kamen sie endlich. Buffo, der Rauhhaardackel, hatte sie zuerst bemerkt. Bellend und schwanzwedelnd lief er zur Haustür. Ole stürzte hinterher. Auf der Straße vor dem Haus stand das Auto. Die Türen gingen auf. Papa stieg aus. Mama stieg aus. Eine Weile kam nichts. Dann kam er. Schwarze Haare, gar nicht viel größer als Ole. In beiden Händen hielt er ein Modellflugzeug, gelbe Flügel, blauer Rumpf, Spannweite mindestens ein halber Meter. Er sah sich kurz um, dann blieb er einfach stehen, wo er war.
Mama schob ihn zur Gartenpforte. Er drückte das Modellflugzeug gegen seine Brust. Dann gab er Oma die Hand, dann Opa, dann Ole. Ganz schnell machte er das und sah dabei auf die Erde. Buffo beschnupperte ihn kurz. Dann sprang er weiter zu Papa. Wahrscheinlich dachte Buffo, der neue Junge ist nur Besuch. Ole war mächtig enttäuscht. Der große Bruder sagte den ganzen Abend kein Wort.
Alle zusammen räumten sie seine Sachen in das neue Kinderzimmer, das vorher Mamas Arbeitszimmer war. Er stellte das Modellflugzeug auf den Tisch und machte selber keinen Handschlag. Er stand nur da und ließ alles geschehen. Wenn Mama ihn etwas fragte, zog er bloß immer die Schultern hoch. Sie saßen beim Abendbrotessen, und Papa versuchte, nett und witzig zu sein und alle zu unterhalten. Aber Opa und Oma und auch Ole sahen immer nur auf den neuen Bruder und warteten darauf, daß er etwas sagte. Aber er sagte nichts, aß keinen Bissen und sah immer nur vor sich hin auf den Tisch. Schließlich stand Mama auf und sagte: „Es war ein bißchen zuviel für Okan. Die weite Fahrt. Und alles ist ganz neu für ihn.“ Mama legte Oles neuem Bruder den Arm auf die Schulter. Dann ging sie mit ihm die Treppe hinauf. Alle sahen hinter ihnen her, aber keiner sagte etwas. Vielleicht kann er noch überhaupt kein Wort Deutsch sprechen, fiel Ole ein. Er ist doch ein Türke. Als die Tür hinter Mama und dem großen Bruder zuging, seufzte Opa ganz tief. Und Oma sagte: „Da habt ihr euch viel aufgeladen.“ Aber Papa lächelte. Und komisch, er legte die Hand auf Oles Hand und sagte: „Wir werden das schon schaffen.“
Ole wußte nicht genau, was Papa meinte. Aber er wußte, daß es richtig war, wenn er Papa jetzt half. Ole nickte, und Papa drückte ganz fest seine Hand. Mama blieb lange weg. Papa und Oma und Opa sprachen miteinander. Sie waren aufgeregt und benutzten viele Fremdwörter, die Ole nicht verstand. Als Mama die Treppe herunterkam, mischte sie sich gleich in das Gespräch ein. Niemand achtete auf Ole. Er schlich die Treppe hinauf. Lange stand er vor der Tür und überlegte. Ob der große Bruder schon schlief? Kein Mucks war aus dem Zimmer zu hören.
Vorsichtig drückte Ole die Klinke hinunter und schlich sich in das Zimmer. Der große Bruder saß noch angezogen am Fenster und sah hinaus. Das Modellflugzeug hatte er auf den Knien. Langsam ging Ole auf ihn zu. „Laß mich in Ruhe!“ sagte der große Bruder plötzlich. Ole erschrak und blieb auf der Stelle stehen. Der sah ihn nicht einmal an! Der würdigte ihn keines Blickes! Wie sollte das bloß weitergehen? Die ganze kribbelige Freude war weg. Ole war ratlos. Er drehte sich um. Er schlich aus dem Zimmer, so wie er hineingekommen war. Er brachte keinen Ton über die Lippen.
Wie das mit dem Adoptieren war
Mit dem Adoptieren war es in Wirklichkeit noch mal ganz anders. „Wir nehmen ein Kind zu uns, das keine Eltern mehr hat“, hatte Mama damals gesagt. Das stimmte jetzt gar nicht mehr richtig. Okan hatte eine Mutter. Als Okan in ihrem Bauch war, hatte seine Mutter Angst vor ihren Eltern und vor ihren Brüdern. In der Türkei gilt es als große Schande, wenn eine Frau ein Kind bekommt und nicht verheiratet ist. Okans Mutter und Vater wollten aber nicht heiraten. Seine Mutter hat sich – mit Okan im Bauch – heimlich in ein Flugzeug gesetzt und ist nach Deutschland geflogen. In Deutschland ist Okan auf die Welt gekommen. Seine Mutter hat ihn gleich nach der Geburt in ein Kinderheim gegeben. Sie mußte viel und schwer arbeiten, um Geld zu verdienen. Niemanden hat sie gekannt, und keiner hat ihr geholfen. Eine Zeitlang hat sie Okan oft besucht. Einmal hat sie ihm das Modellflugzeug geschenkt. Dann ist sie immer seltener gekommen. Zum Schluß gar nicht mehr. Zum Schluß hat sie ein Formular unterschrieben, in dem steht, daß sie Okan freigibt. Jetzt konnten ihn andere Leute als Kind annehmen.
„So ist das gewesen“, erzählte Mama an diesem Abend in Oles Zimmer. „Deshalb ist Okan sehr traurig.“ Sie schwiegen eine Weile. Dann fragte Ole: „Warum haben wir nicht ein Zimmer zusammen?“ „Für die erste Zeit ist es besser so“, sagte die Mutter. Eigentlich hatte Ole sich beschweren wollen, daß der neue große Bruder nichts von ihm wissen wollte. Aber darüber sagte er jetzt kein Wort.
Als seine Mutter gegangen war, kamen ihm auf einmal seltsame Gedanken. Wie wäre das, wenn Mama ein Formular unterschreibt, in dem drinsteht, daß sie Ole weggibt? Das mochte er sich gar nicht vorstellen. Ganz schwindlig wurde ihm bei diesem Gedanken. „Okans Mutter ist keine böse Frau“, hatte Mama gesagt. „Sie hat immer wieder darauf gehofft, daß sie ihn eines Tages aus dem Heim zu sich nach Haus holen kann. Aber statt besser ist es ihr immer
schlechter gegangen. Zum Schluß hat sie gedacht, es ist das Beste so, auch für Okan.“ Ole stellte sich vor, er wäre an Okans Stelle. Was hätte er dann gemacht? Wahrscheinlich hätte er nicht nur gesagt: „Laß mich in Ruhe.“ Vielleicht hätte er sich auf der Erde gewälzt und geschrien. Vielleicht hätte er alles kurz und klein geschlagen vor Wut.
Ole und Okan – aber es stimmt nicht
Der nächste Tag war ein Samstag und schulfrei. Am Vormittag gingen sie in die Stadt zum Einkaufen. Hemden für Okan, Hosen für Okan, Schuhe für Okan. Und Schulbücher, Hefte und Mappen für die vierte Klasse. Wenn Mama ihn fragte, sagte Okan „ja“ oder nickte. So ging das Einkaufen ganz schnell. Von sich aus sagte Okan überhaupt nichts. Auch zu Ole sagte er weiter kein Wort. Gleich beim Frühstück hatte Ole gefragt: „Lassen wir heute nachmittag mal dein Flugzeug fliegen?“ Als Antwort war nur ein Kopfschütteln gekommen. „Dann könnten wir Skateboard fahren.“ Wieder Kopfschütteln. „Wollen wir ins Freibad gehen?“ Kopfschütteln. Nichts als Kopfschütteln. Da hatte Ole es aufgegeben und nichts mehr gesagt. Er hatte einen großen Bruder, der nicht mit ihm reden wollte. Nach dem Einkaufen gingen sie in Peppinos Eisdiele am Marktplatz. Dort trafen sie Papas Arbeitskollegen und seine beiden Kinder. Sie setzten sich zu ihnen an den Tisch.
Papa stellte sie vor. Zuerst Mama. Und dann sagte er: „Das sind unsere beiden Söhne. Ole und Okan.“ Komisch, wie sich das anhört, dachte Ole. Es ist richtig, aber es stimmt überhaupt nicht.
Der Arbeitskollege nickte, und dann redeten die Erwachsenen über das Wetter und über den Chef von Papa und seinem Kollegen. Die beiden Kinder, ein Mädchen und ein Junge, löffelten in ihren großen Eisbechern und musterten Okan und Ole, als wären sie vom Mond. „Wieso heißt du Okan?“ fragte das Mädchen. „Das ist doch ein türkischer Name.“
Okan schwieg. Ole wurde heiß und kalt. Die wollen uns aushorchen, dachte er. Das geht die überhaupt nichts an. „Heißt er eben!“ platzte Ole heraus. „Aha“, sagte das Mädchen. Sie war wahrscheinlich schon älter als zehn und lächelte so überlegen, als wisse sie alles. Sie redeten kein Wort mehr miteinander, und Ole war froh, als der Arbeitskollege und seine Kinder aufstanden und gingen. Ole sah ihnen nach. Durch die große Glasfensterscheibe der Eisdiele konnte er sehen, wie sie die Köpfe zusammensteckten. Das Mädchen redete auf ihren Vater ein, als würde sie ihm die neueste Sensation berichten.
Der stolze Ritter vom Einzelberg
Am Nachmittag gingen sie alle zusammen im Stadtwald spazieren. Wenn Mama und Papa etwas vorschlagen, sagt er immer nur ja, dachte Ole. Aber so war es nicht. „Nimm doch dein Flugzeug mit“, sagte Papa. „Nein“, sagte Okan. Papa wunderte sich, aber er sagte nichts weiter. Am meisten freute sich Buffo. So oft kommt es nicht vor, daß die ganze Familie mit ihm spazierengeht. Buffo hat es am liebsten, wenn alle um ihn herum sind. Er dackelte von einem zum anderen, kugelte sich im Laub und war ganz aufgeregt vor Wichtigtuerei. Mama und Papa waren vorausgegangen, Ole und Okan gingen schweigend zehn Schritte hinter ihnen her. „Ich muß mal“, sagte Ole und blieb stehen. Als er fertig war, lief er ein paar Schritte. Okan war schon hinter der Kurve im Wald verschwunden. Ole kam um die Ecke herum, und da saß Okan in der Hocke und streichelte Buffo über den Rücken. Als er
Ole sah, sprang Okan auf, als hätte Ole ihn gerade bei einer verbotenen Sache erwischt. „Du kannst ihn doch ruhig streicheln“, sagte Ole. „Das hat er doch gern.“
Okan drehte sich schnell weg und ging weiter. Buffo umkreiste Ole und rannte dann zu Mama und Papa nach vorn. Sie gingen durch den Stadtwald und noch ein Stück durch die Felder.
„Das Wetter ist so schön, wir könnten bis zum Einzelberg gehen“, sagte Mama. Papa nickte. „Von mir aus“, sagte Ole. Okan schwieg. Buffo hatte sowieso nichts dagegen. Unterwegs erzählte Papa die Geschichte vom Ritter auf dem Einzelberg. Ole kannte sie längst und Mama auch. „Der Ritter auf dem Einzelberg“, erzählte Papa, „war so stolz und unbeugsam, daß er nicht einmal dem Kaiser gehorchte. Als der Kaiser einen Krieg machen wollte, befahl er auch dem Ritter vom Einzelberg, sich seinem Heer anzuschließen und gegen das Heer des Kaisers im Nachbarland zu kämpfen. Da schickte der Ritter vom Einzelberg einen
Boten zum Kaiser, der mußte bestellen, daß der Ritter Besseres zu tun habe, als für den Kaiser in den Krieg zu ziehen. Der Kaiser war darüber so wütend, daß er dem Boten gleich den Kopf abschlagen ließ. Dann schickte er sein Heer zum Einzelberg und ließ die Burg stürmen. Es gab eine große Schlacht mit Pfeil und Bogen, mit Schwertern und Lanzen. Aber bevor die Soldaten des Kaisers den Ritter vom Einzelberg fangen konnten, sprang er in ein tiefes Brunnenloch, und darin ist er ertrunken.
Später, so erzählten die Leute, immer wenn der Kaiser wieder zu einem Krieg aufrief, stieg der Geist des Ritters vom Einzelberg aus dem Brunnen und
sagte den Menschen, daß es Besseres gibt, als für den Kaiser in den Krieg zu ziehen. – Was an der Geschichte wahr ist und was nicht“, sagte Papa wie jedesmal zum Schluß, „das weiß heute keiner mehr genau. Das muß jeder für sich selbst herausfinden.“ Sie gingen über den Schotterweg bergan, und Papa wischte sich den Schweiß von der Stirn. Der Einzelberg ist ein Hügel mitten in flacher Landschaft. Bei klarem Wetter hat man einen weiten Blick über Wälder, Dörfer und über die Stadt. Oben, rings um den Hügel, wachsen Sträucher und Bäume. Von weitem sieht er aus wie eine Punkerfrisur.
Versteckt hinter Gestrüpp und von Gräsern und Moos überwachsen, stehen die zerfallenen Mauerreste der Burg. Buffo schnupperte neugierig herum. Im Burghof buddelte er ein Loch und bellte es an. Papa erklärte. Da ist die Burgmauer gewesen. Hier der Rittersaal. Dahinter der Pferdestall. Zusammen mit Mama stand er am Brunnenrand und sah hinunter. Sie waren so vertieft, daß sie gar nicht merkten, daß Okan fehlte. Ole sah sich um. Ein Stück weiter oben entdeckte er ihn. Okan saß auf einem Mauerrest und kehrte ihnen den Rücken zu. Langsam ging Ole zu ihm hinüber. Da wo er saß, konnte man weit hinuntersehen in die
grüne Landschaft. Ein paar Schritte hinter Okan blieb Ole stehen. Nein, Okan sah gar nicht in die Landschaft hinunter. Er sah hinauf. Er hielt die Hand über die Augen. Am Himmel war ein weißer Streifen, der immer länger wurde. Und vorn blinkte silbern ein Flugzeug in der Sonne.
Sieben Runden bis Izmir
Am Sonntag regnete es. Statt des geplanten Ausflugs zur Talsperre saßen sie zu Hause und spielten „Mensch-ärgere-dich-nicht“. Okan hatte drei Steine im Haus und Ole auch. Beide waren mit ihrem letzten Stein unterwegs. Papa und Mama waren weit hinten nach. Das lag vor allen Dingen daran, daß sie sich nur gegenseitig oder nur Ole rauswarfen. Kein einziges Mal hatten sie Okan geworfen. Darüber ärgerte sich Ole im stillen schon die ganze Zeit. Bisher hatte er noch kein Wort gesagt. Papa stand mit einem Stein drei Felder hinter Okan. Er würfelte. Drei. Und tatsächlich tat er wieder so, als sehe er es gar nicht und setzte einen anderen Spielstein. „Das ist gemein!“ rief Ole und sprang auf. „Ole!“ rief Mama erschrocken. „Na gut“, sagte Papa. „Wenn es dir Spaß macht, werfe ich ihn eben raus.“
„Macht mir überhaupt keinen Spaß!“ rief Ole. „Ich spiele nicht mehr mit!“ Bevor jemand noch ein Wort sagen konnte, drehte er sich um, rannte zum Wohnzimmer hinaus, die Treppe hoch, und in seinem Zimmer warf er sich auf sein Bett. Okan, immer nur Okan! Seit er da war, drehte sich alles nur noch um ihn. Sie kauften ihm Sachen wie wenn Weihnachten wäre. Sie fragten ihn, was er gern essen will. Sie faßten ihn mit Samthandschuhen an, damit er sich ja wohlfühlte. Okan hinten, Okan vorn! Und dabei sagte er kein Wort zu ihm. Der große
Bruder, wie Ole ihn sich gewünscht hatte, war er überhaupt nicht. Unten im Flur bellte Buffo. Ole hörte Schritte auf der Treppe. Wahrscheinlich kam Mama oder Papa und sagte wieder, daß er Geduld haben muß. Jetzt wurde seine Zimmertür geöffnet. Ole drückte sein Gesicht ins Kopfkissen. Er wollte nichts sehen und nichts hören. Jemand stand neben seinem Bett, das spürte er. Aber der Jemand sagte kein Wort. Langsam drehte Ole den Kopf und blinzelte zwischen den Kissenfalten hindurch.
Es war nicht Mama. Es war nicht Papa. Okan stand da. Ole richtete sich auf und starrte ihn an. Okan lächelte. Ole schwang die Beine von der Decke und saß jetzt auf der Bettkante. Dann wischte er sich mit dem Ärmel über die Augen. „Machen wir was anderes?“ fragte Okan. Ole nickte. „Na klar“, sagte er. Seit dem Sonntagnachmittag sprachen sie miteinander. Sie gingen mit Buffo im Regen spazieren und fuhren Skateboard auf den Wegen im Stadtpark.
Okan war noch nie Skateboard gefahren. „Im Heim war das verboten“, sagte er. Ole machte ihm vor, wie man auf den Kanten steht und das Gewicht verlagert. Leichtfüßig drehte er ein paar Kurven, fuhr durch Pfützen und spritzte den empört bellenden Buffo naß. Okan versuchte es nur zweimal. Dann gab er es auf. Zu Hause spielten sie mit der elektrischen Eisenbahn im Keller. Okan bediente den Trafo, und Ole belud die Güterwagen mit Holzbündeln und die Containerwagen mit kleinen Kisten. „Was ist drin in den Kisten?“ fragte Okan. „Gold“, sagte Ole. „Wo fahren wir hin?“ „Nach Izmir“, sagte Okan. Izmir, das stand auch an dem Flugzeug, das auf dem Tisch in seinem Zimmer stand. „Izmir, wo liegt das?“ fragte Ole. „In der Türkei“, sagte Okan. „Vorsicht am Bahnsteig!“ rief Ole. „Der Zug fährt ab!“ Okan drehte am Trafo-Knopf. Langsam setzte sich der Güterzug in Bewegung und fuhr sieben Runden bis Izmir.
Das Geheimnis
Am Montagmorgen ging Mama mit Ole und Okan zur Schule. Ole ging in seinen Klassenraum, zweite Klasse, und Mama ging mit Okan zu Frau Lohmeier, der Direktorin. Ole hatte überlegt, ob er Okan sagen sollte, wer in seine Klasse geht. Aber komisch, seit sie miteinander sprachen, faßte auch er Okan mit Samthandschuhen an. Er hatte ihm nichts vom Schwarzmüller-Schorsch und seiner Bande gesagt. Die gingen allesamt in die vierte Klasse. In den ersten beiden Stunden paßte Ole nicht gut auf. Frau Sandmann, seine Klassenlehrerin, ermahnte ihn zweimal. „Wo hast du heute nur deine Gedanken, Ole?“ fragte Frau Sandmann, als er wieder nicht wußte, was sie ihn gerade gefragt hatte. Nach dem Klingelzeichen zur großen Pause stürmte er als erster auf den Schulhof. Als die Viertkläßler rauskamen, beobachtete er sie genau. Der SchwarzmüllerSchorsch und seine Bandenmitglieder steckten die Köpfe zusammen und tuschelten. Das hatte er befürchtet.
Okan kam als einer der letzten. Ole winkte. Aber Okan sah schnell weg und ging am Rand des Schulhofs entlang bis in die Ecke, in der die Turngeräte stehen. Da war er ganz allein. Er lehnte sich gegen einen Eisenpfosten und schielte über die Schulter zu den anderen auf dem Schulhof. Ole lief zu ihm hin. „Der Schwarzmüller-Schorsch“, keuchte er aufgeregt, „auf den mußt du aufpassen. Der ist ein Fiesling. Und Henner, Flori, Volker, Udo, Conni und Jette, die gehören alle zu seiner Bande!“
Okan sah ihn finster an. „Weiß ich schon selber!“ fauchte er abweisend. „Ich brauche deine Hilfe nicht, Kleiner!“ Ole starrte ihn ungläubig an. „Was stehst du hier rum? Geh zu deinen Babys!“ Ole blieb der Mund offen stehen. Warum war er auf einmal wieder so? Sie hatten doch geredet miteinander gestern. Sie waren doch Skateboard gefahren und hatten mit der Eisenbahn gespielt.
Ole zog den Kopf zwischen die Schultern und schlich davon. Als er nach der Pause im Gedränge
durch die Schultür ging, hörte er den SchwarzmüllerSchorsch sagen: „Noch ein Kümmeltürke auf unserer Schule!“ Am liebsten wäre Ole hingegangen und hätte dem Schwarzmüller-Schorsch vor das Schienbein getreten. Vielleicht hätte er das auch wirklich getan. Aber Okan wollte sich ja nicht helfen lassen. Der war ja so stolz. Stolz wie der Ritter vom Einzelberg. Zu Hause tat Okan so, als wäre überhaupt nichts gewesen. Ole hatte nicht auf ihn gewartet und war allein nach Haus gegangen. Als Okan kam, fragte Mama ihn, wie es an seinem ersten Tag gewesen sei. „Wie Schule so ist“, antwortete Okan nur. Nach dem Essen fragte Okan Ole: „Gehen wir mit Buffo raus?“ „Keine Lust“, sagte Ole. Ole hatte auch seinen Stolz. Gegen Abend spielten sie wieder mit der Eisenbahn. Aber es war nicht so gut wie am Sonntag. Irgendwie konnte Ole nicht vergessen, wie anders Okan auf dem Schulhof gewesen war. Eine Woche lang ging das so. Sie sprachen nicht viel miteinander, gingen manchmal mit Buffo spazieren, spielten mit der Eisenbahn, und am Wochenende fuhren sie alle zusammen zur Talsperre.
Auf dem Schulhof ging Ole Okan aus dem Weg. Aber er beobachtete ihn immer. In jeder Pause stand Okan gegen die Reckstange gelehnt und redete mit keinem. Am Mittwoch in der nächsten Woche passierte es dann. In der zweiten großen Pause auf dem Schulhof stand plötzlich der Schwarzmüller-Schorsch vor Ole und zog ihn am Hemd.
„He, Kleiner“, sagte der Schwarzmüller-Schorsch. „Der Kümmeltürke da hinten behauptet, er wäre dein Bruder!“ Ole riß sich los. Die Hemdennaht krachte. „Er ist kein Kümmeltürke!“ schrie Ole. „Ist er wohl!“ Der Schwarzmüller-Schorsch grinste. „Ist er nicht!“ „Du bist ja vielleicht auch einer!“ rief jemand. „Wenn er dein Bruder ist, dann bist du auch einer!“ Ole sah sich um. Henner, Flori, Volker, Udo, Conni und Jette, die ganze Schwarzmüller-Bande stand um sie herum. „Ihr Blödmänner!“ schrie Ole. „He, he!“ sagte der Schwarzmüller-Schorsch und packte ihn wieder am Hemd. Ole schlug und trat um sich, was er nur konnte. Aber der Schwarzmüller-Schorsch hielt ihn am ausgestreckten Arm, ließ ihn zappeln, und alle lachten. „Laß ihn sofort los!“ Auf einmal stand Okan hinter dem SchwarzmüllerSchorsch und packte ihn im Schwitzkasten. Das Lachen brach ab. Der Schwarzmüller-Schorsch stieß Ole weg. Ole stolperte nach hinten, knallte dem langen Henner direkt auf die Füße, und der schrie: „Aua!“
Okan und der Schwarzmüller-Schorsch rollten über den Schulhof. Nicht nur die von der Bande standen jetzt um sie herum und schrien und johlten. Frau Direktorin Lohmeier, die Pausenaufsicht hatte, bahnte sich einen Weg durchs Gedränge. „Aufhören! Sofort aufhören!“ rief sie. Die beiden Kampfhähne hörten es nicht und rollten weiter über den Asphalt. Mal war Okan oben, mal der Schwarzmüller-Schorsch.
Die Direktorin sprang zu ihnen hin, bückte sich, packte sie an den Hemden und zog sie hoch. „Ihr kommt beide mit mir in mein Zimmer!“ sagte Frau Direktorin Lohmeier. „Und zwar sofort!“ „Der hat angefangen!“ maulte der SchwarzmüllerSchorsch. Frau Lohmeier achtete nicht darauf und schob beide vor sich her über den Schulhof. Niemand der Umstehenden sagte ein Wort.
An diesem Tag hatte Okan sechs und Ole fünf Stunden. Ole wartete die ganze letzte Stunde vor dem Schulhof. Als Okan endlich kam und Ole am Schultor stehen sah, lächelte er wieder. Er kam direkt auf Ole zu, und die neugierigen Blicke der anderen Schüler schienen ihm überhaupt nichts auszumachen. „Wie war’s?“ fragte Ole. „Strafarbeit“, sagte Okan. „Zwei Seiten was abschreiben.“ „Du auch?“ fragte Ole. Okan nickte. „Das finde ich ungerecht“, empörte sich Ole. „Ich mach’s auch nicht.“ Okan nickte entschlossen. „Würde ich auch nicht“, sagte Ole. Sie waren schon fast zu Hause, da blieb Okan stehen. Er faßte Ole am Arm. „Sag keinem was, ja?“
Ole zögerte. „Also gut. Wenn du willst.“ „Das ist unsere Sache“, sagte Okan. „Ja gut“, sagte Ole. „Das ist unsere Sache.“
Ole und Okan
Jetzt hatten sie ein Geheimnis zusammen. Als Mama beim Abendessen fragte, woher Okan die Schramme am Arm hat, zog er nur die Schultern hoch. Kaum sah Mama weg, zwinkerte Okan heimlich Ole über den Tisch zu, und Ole zwinkerte zurück. Zum Glück fragte Mama nicht weiter. Das zerrissene Hemd hatte Ole gleich nach der Schule in den Wäschekorb gesteckt und ein neues angezogen. Aber am Donnerstag nach der Schule war Okan plötzlich wieder verschlossen und schweigsam. Auch Ole konnte nicht herausfinden, was ihn bedrückte. Ole war sicher: Es gab noch viele Geheimnisse, die Okan ganz allein für sich behielt.
Am Freitagnachmittag fuhr Ole mit Mama zum Zahnarzt. Es dauerte ziemlich lange. Erst um halb sieben waren sie wieder zu Hause. Papa kam ihnen entgegen. Er war ganz aufgeregt. „Okan ist weg!“ rief Papa. „Ich habe schon alle Nachbarn gefragt. Keiner hat ihn gesehen.“ Mama und Ole erschraken.
Ole rannte ins Haus. Die Treppe hinauf und in Okans Zimmer. Es war nur so eine Ahnung. Aber wenn er an Okans Stelle wäre, vielleicht würde er dann… Tatsächlich. Das Flugzeug war weg. Ole rannte die Treppe hinunter. Mama und Papa standen im Wohnzimmer und redeten aufgeregt durcheinander. „Vielleicht weiß ich, wo er ist!“ rief Ole im Flur. Dann lief er zur Haustür hinaus, holte sein Fahrrad und fuhr los.
Im Stadtwald war es schon dämmrig. Klar, daß Mama und Papa sich Sorgen machten. Auf dem Schotterweg hinter dem Wald knirschte es unter den Reifen. Ole sah sich nach allen Seiten um. Da wo die Steigung zum Einzelberg beginnt, bremste er plötzlich so scharf, daß das Hinterrad wegrutschte. Er stieg ab und warf das Fahrrad ins Gras neben dem Weg. Unterhalb der Sträucher und Bäume am Hang des Einzelbergs saß Okan auf einem umgefallenen Baumstamm. Mit beiden Händen hielt er das Flugzeug auf seinen Knien. Er rührte sich nicht. Erst lief Ole auf ihn zu, dann wurde er immer langsamer.
Zwei Schritte vor ihm blieb er stehen. „Okan“, sagte Ole. Okan schwieg. Dann sagte er leise und trotzig: „Ich mache die Strafarbeit nicht. Auch nicht, wenn sie zu Hause anruft. Da kann sie machen, was sie will.“ „Ach so“, sagte Ole. „Die Strafarbeit.“ „Sie sagt, es interessiert sie überhaupt nicht, wer schuld ist. Kannst du dir das vorstellen?“ Ole schüttelte den Kopf. „So ist es immer“, sagte Okan. „Keiner will wissen, wie es in Wirklichkeit gewesen ist.“ Sie schwiegen eine Weile und sahen beide vor sich hin auf die Erde. „Deshalb bist du weggelaufen?“ fragte Ole. Okan sah ihn erstaunt an. „Wieso weggelaufen? Ich bin doch nicht weggelaufen.“ „Du bist gar nicht…“ Ole lachte erleichtert. „Warum sollte ich weglaufen?“ fragte Okan. „Ich war fliegen.“ Er nickte zum Flugzeug auf seinen Knien. „Und wir haben solche Angst gehabt“, sagte Ole. „Wir haben gedacht, du bist weggelaufen.“ Okan sah ihn nachdenklich an. „Weglaufen?“ sagte er. „Im Heim habe ich manchmal daran gedacht. Im Heim war das auch so. Keiner hatte richtig Zeit. Keiner wollte wissen, wie was genau gewesen ist. Da habe ich manchmal gedacht, ich fliege einfach weg. Aber sie haben mich nur ausgelacht…“
„Jetzt bist du weg vom Heim“, sagte Ole. Überrascht sah Okan ihn an. „Ja komisch“, sagte er lächelnd. „Jetzt bin ich weg.“ Langsam stand Okan auf. Er ging auf Ole zu und hielt ihm das Modellflugzeug hin. „Willst du mal?“ Ole starrte ihn an. Dann nahm er den Flugzeugleib vorsichtig zwischen die Finger. „Mit der Spitze leicht nach unten beim Start“, sagte Okan. Ole nahm ein paar Schritte Anlauf. Dann beugte er sich zurück und schwang den Arm nach vorn.
Die blaugelbe Izmir flog hinaus in den Abendhimmel, segelte einen ruhigen weiten Bogen und landete sanft im Gras, nicht weit von der Stelle, an der sie standen. „Du kannst es!“ rief Okan. Ole nickte stolz. „Toll, dein Flugzeug!“ sagte er. Dann gingen sie nebeneinander über den Schotterweg zurück. Ole schob sein Fahrrad, und Okan trug das Flugzeug in einer Hand. Sie hatten den Stadtwald noch nicht erreicht, da sagte Ole: „Vielleicht sollten wir Mama und Papa doch von unserer Sache erzählen. Dann kann die Frau Lohmeier ruhig anrufen. Mama und Papa werden ihr schon das Richtige sagen.“ Statt zu antworten, legte ihm Okan die Hand auf die Schulter. Da fühlte sich Ole auf einmal so leicht, als würde er schweben. Er streckte den linken Arm aus und legte ihn auf Okans Schulter. Das war ganz einfach. Er brauchte sich überhaupt nicht zu recken. Der große Bruder war nicht viel größer als er.