Sighard Neckel · Hans-Georg Soeffner (Hrsg.) Mittendrin im Abseits
Analysen zu gesellschaftlicher Integration und Des...
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Sighard Neckel · Hans-Georg Soeffner (Hrsg.) Mittendrin im Abseits
Analysen zu gesellschaftlicher Integration und Desintegration Herausgegeben von Wilhelm Heitmeyer
Die Schriftenreihe ist hervorgegangen aus dem in Bielefeld von Wilhelm Heitmeyer geleiteten und von Peter Imbusch koordinierten Forschungsverbund „Gesellschaftliche Desintegrationsprozesse – Stärkung von Integrationspotenzialen moderner Gesellschaften“ und präsentiert dessen zentrale Forschungsergebnisse. Mit der Leitformel „Stärkung von Integrationspotenzialen“ wird signalisiert, dass moderne Gesellschaften einerseits auf Grund ihrer Entwicklung und Ausdifferenzierung über erhebliche Integrationspotenziale verfügen, um Existenz-, Partizipations- und Zugehörigkeitschancen zu bieten; andererseits verweist sie bereits auf eine Reihe von Problemzusammenhängen. Zielsetzung des Forschungsverbundes war es, durch seine Analysen gravierende Problembereiche moderner Gesellschaften differenziert empirisch aufzuarbeiten, so dass Maßnahmen identifiziert werden können, die zur Stärkung ihrer Integrationspotenziale beitragen können.
Sighard Neckel Hans-Georg Soeffner (Hrsg.)
Mittendrin im Abseits Ethnische Gruppenbeziehungen im lokalen Kontext
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Frank Engelhardt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-14710-9
Inhalt
Vorwort ................................................................................................................................................. 7 Sighard Neckel und Hans-Georg Soeffner Einleitung: Mittendrin im Abseits. Ethnische Gruppenbeziehungen im lokalen Kontext...................... 9
A. Negative Klassifikationen in urbanen Nachbarschaften
I.
Sighard Neckel und Ferdinand Sutterlüty Negative Klassifikationen und die symbolische Ordnung sozialer Ungleichheit .......................... 15
Ferdinand Sutterlüty, Sighard Neckel und Ina Walter II. Klassifikationen im Kampf um Abgrenzung und Zugehörigkeit................................................... 27 Ferdinand Sutterlüty III. Ethnischer Verwandtschaftsglaube – ein generatives Klassifikationsprinzip ................................ 91
B. Soziale Teilhabe in der Welt des Fußballsports Hans-Georg Soeffner und Dariuš Zifonun I. Integration und soziale Welten .................................................................................................... 115 Hans-Georg Soeffner und Dariuš Zifonun II. Fußballwelten: Die Ordnungen ethnischer Beziehungen............................................................. 133 Dariuš Zifonun III. Stereotype der Interkulturalität: Zur Ordnung ethnischer Ungleichheit im Fußballmilieu .......... 163 Dariuš Zifonun IV. Exkurs über den Hooligandiskurs................................................................................................ 177 Dariuš Zifonun V. Das Migrantenmilieu des FC Hochstätt Türkspor ....................................................................... 187 Andreas Göttlich VI. König Fußballs neue Kleider: Die Integrationsvorstellungen deutscher Sportverbände.............. 211 Hans-Georg Soeffner und Sighard Neckel Fazit: Integration und Desintegration ................................................................................................ 235 Literatur ............................................................................................................................................. 239 Autorenverzeichnis............................................................................................................................ 253
Vorwort
Die gegenwärtigen sozioökonomischen und politischen Entwicklungen in den westlichen Industriegesellschaften sind von unübersehbaren Ambivalenzen geprägt. Soziale und politische Umbrüche der letzten fünfzehn Jahre und die damit einhergehenden Umstellungszumutungen haben für zahlreiche Menschen neue Chancen eröffnet, gleichzeitig aber auch vielfältige wirtschaftliche und politische Risiken (Zugangsprobleme zum Arbeitsmarkt, mangelnde positionale und emotionale Anerkennung, Teilnahmeprobleme an einzelnen gesellschaftlichen Subsystemen, Sinnlosigkeitserfahrungen im politischen Alltag, abnehmende moralische Anerkennung, exklusiver werdende Leistungs- und Verteilungsstrukturen sowie labile oder fragile Gemeinschaftszugehörigkeiten) heraufbeschworen, welche die Integrationsproblematik moderner Gesellschaften verschärfen und Desintegrationsprozesse befördern. Nicht nur in Deutschland ist in den letzten Jahren die soziale Ungleichheit größer geworden; Ideologien der Ungleichwertigkeit, Menschenfeindlichkeit und menschenverachtende Gewalt sind deutlich hervorgetreten. Damit gehören Fragen nach der Integrationsfähigkeit moderner Gesellschaften wieder ganz oben auf die gesellschaftspolitische Agenda. Die sich in einer Vielzahl von Aspekten zeigenden Desintegrationstendenzen in den westlichen Gesellschaften haben zum Aufbau eines interdisziplinären Forschungsverbundes zum Thema »Desintegrationsprozesse – Stärkung von Integrationspotentialen einer modernen Gesellschaft« an der Universität Bielefeld geführt, der über mehrere Jahre vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziell gefördert wurde. Ziel der Forschung im Rahmen dieses Programms war es, wichtige Erkenntnisse zu Integrationsproblemen moderner Gesellschaften beizusteuern und jenen Entwicklungen auf den Grund zu gehen, deren negative Folgen zentrale normative Kernelemente dieser Gesellschaft gefährden. Die Identifizierung problematischer Entwicklungsverläufe und die Beschreibung und Erklärung von Einflussfaktoren für die Stärkung der Integrationspotentiale dieser Gesellschaft wurden auf unterschiedlichen Ebenen und in verschiedenen Projektzusammenhängen thematisiert. Der von Sighard Neckel und Hans-Georg Soeffner herausgegebene Band untersucht die paradoxe Spannung, einerseits mittendrin zu sein und andererseits doch im Abseits zu stehen. Der Titel spielt darauf an, dass ethnischen Minderheiten in Bezug auf ihre Partizipationschancen oft nur ein randständiger Platz in der Gesellschaft zukommt, sie jedoch in hohem Maße sichtbar sind, das daraus resultierende Integrationsproblem also zentral für die Gesellschaft ist. Im ersten Teil des Buches stehen der Gehalt und die Wirkungsweise negativer Klassifikationen im Mittelpunkt. Negative Klassifikationen bewirken, dass zugeschriebene oder reale Unterschiede zwischen Gruppen einer Gesellschaft sich zu einer symbolischen Ordnung sozialer Ungleichheit fügen, die Integration erschweren und Desintegration zur Folge haben kann. Im zweiten Teil des Buches wird deutlich, dass auch der Fußballsport ein höchst ambivalentes Feld ist. Hier gibt es einerseits eine Vielzahl integrativ wirkender interkultureller Kontakte und Kontaktformen, auch und gerade dort, wo man dies zunächst nicht erwarten würde. Andererseits jedoch existieren auch segregierte soziale Welten mit je eigenen Handlungsregeln und typischen Stilisierungen von Unterschieden. Beide Fälle haben eines ge-
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Wilhelm Heitmeyer und Peter Imbusch
meinsam: Die Konflikte bleiben unabgeschlossen und die erreichte Integration bei genauerer Betrachtung störanfällig. Hinsichtlich dieses – ursprünglich aus zwei Projekten bestehenden – Forschungszusammenhangs geht es nicht zuletzt immer auch um die Frage nach dem Konfliktpotential weltanschaulich und ethnisch gemischter moderner Gesellschaften und die bis heute virulente Frage nach dem Integrationspotential sozialer Konflikte.
Bielefeld, im Mai 2008
Wilhelm Heitmeyer / Peter Imbusch
Einleitung: Mittendrin im Abseits. Ethnische Gruppenbeziehungen im lokalen Kontext Sighard Neckel und Hans-Georg Soeffner
»Mittendrin im Abseits« – das ist eine paradoxe Situation. Wer im Abseits steht, bewegt sich in der gegnerischen Hälfte jenseits der Grenze des erlaubten Spielgeschehens, weil sich bei Ballabgabe kein oder nur ein Spieler der Gegenmannschaft näher an der Torlinie befindet als man selbst. Im Abseits stehen, heißt gleichsam randständig zu sein, da man eine äußerste Position eingenommen hat und alle anderen buchstäblich hinter sich ließ. »Mittendrin« im Abseits wiederum bedeutet, bei aller Randständigkeit eine derart zentrale Position innezuhaben, dass sie weithin sichtbar ist und so von den Zuschauern und dem Schiedsrichter auch wahrgenommen wird. »Mittendrin im Abseits« ist daher zweierlei zugleich: Randständigkeit und hohe Sichtbarkeit, Zentralität und Marginalität. Ethnische Minderheiten erfahren ihren Platz in der modernen Gesellschaft der Gegenwart nicht selten nach einem Modus, der der fußballerischen Situation, mittendrin im Abseits zu sein, nicht unähnlich ist. Oft genug randständig, was die eigenen Teilhabe- und Teilnahmechancen betrifft, konzentriert sich dennoch die öffentliche Aufmerksamkeit auf sie, wenn es gilt, die Verwerfungen der modernen Gesellschaft in einem grellen Licht erscheinen zu lassen. Vor allem die »Integrationsprobleme« in den Sozialordnungen der Gegenwart werden mit der Existenz und den Lebensformen ethnischer Minderheiten assoziiert, sei es, dass ihnen eine Tendenz zur Bildung von »Parallelgesellschaften« nachgesagt wird, Gewaltprobleme entdeckt werden oder der deutsche PISASchock auf bildungsschwache Ausländerkinder zurückgeführt wird. Die öffentlichen Debatten um die Integration von »Menschen mit Migrationshintergrund«, wie die offizielle Sprachregelung nunmehr lautet, tendieren gewiss nicht selten zur Dramatisierung vergleichsweise »normaler« Konflikte zwischen Einheimischen und Zugewanderten. Gleichwohl weisen die Auseinandersetzungen um die gesellschaftlichen Konstruktionen einer multiethnischen Wirklichkeit in den Sozialordnungen der Gegenwart auf einen der entscheidenden zeitgenössischen Wandlungsprozesse hin. Mit der Gültigkeit des neuen Staatsbürgerschaftsrechts sehen sich autochthone Mehrheitsgruppen mit der Herausforderung konfrontiert, auch Staatsbürger anderer ethnischer Herkunft als im vollen Sinne »gleich« anzuerkennen. Und nur allzu oft scheint die Mehrheitsgesellschaft gerade wegen dieser neuen Offizialregeln über die nationale Zugehörigkeit umso mehr nach einer gleichsam naturalistischen Differenzversicherung zwischen sich und den Fremden zu verlangen. Ethnische Minderheiten ihrerseits nutzen rechtliche Garantien und das höhere Maß an gesellschaftlicher Anerkennung, das ihnen heute zuteil wird, bisweilen dazu, kulturell, sozial und politisch einen ethnischen Separatismus zu betreiben, der seinerseits zu einer Intensivierung ethnischer Konflikte beiträgt anstatt die Beziehungen ethnischer Gruppen demokratisch zu pazifizieren. Eine Folge hiervon ist etwa der soziale Zwang zur »Selbstethnisierung«, der den Zuwachs individueller Optionen bei der Artikulation sozialer Zugehörigkeiten nachhaltig unterlaufen kann und der seine Entsprechungen in den ethnischen Stigmati-
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Sighard Neckel und Hans-Georg Soeffner
sierungen von Mehrheiten sowie in der zunehmenden »Ethnisierung« sozialer Ungleichheiten findet. In Zeiten verallgemeinerter und rechtlich legitimierter Gleichheitsansprüche sind Ungleichheiten, zumal, wenn sie ethnisch konnotiert sind, aber nicht ausschließlich politischinstitutionell oder ökonomisch zu bestimmen. Mehr denn je verlegen sie sich heute auf die symbolische Ebene gesellschaftlicher Wahrnehmungen und Bewertungen, von der aus sie den sozialen Alltag im interethnischen Gruppenleben strukturieren. Keine soziale Sphäre ist für die Erforschung dieses Alltags besser geeignet als die lokale Lebenswelt von Stadtvierteln und städtischen Nachbarschaften. Städtische Lebenswelten sind heute die maßgeblichen Bewährungsfelder, Gestaltungsräume und Konfliktzonen multiethnischer Prozesse – bisweilen jenseits der Ordnungsmacht von Staat und Nation, was vor allem daran deutlich wird, dass lokale Identitäten dabei sind, sich ethnisch übergreifend herauszubilden, während die nationalen Selbstverständnisse mitunter in ziemlich resoluter Weise weiterhin auf einem Abstammungsglauben beruhen. Städte und Gemeinden werden heute bis weit in regionale Provinzen hinein dem Problemdruck der Integration heterogener Bevölkerungsteile und Kulturformen ausgesetzt, was es notwendig werden lässt, die bestehenden Formen lokaler Identitäten neu zu konstruieren. Eine zentrale Rolle kommt hierbei dem Verhältnis von lokalen Zugehörigkeitsgefühlen und multiethnischen Konfliktlinien zu. Eine Beobachtung in diesem Zusammenhang ist die Wiederbelebung eines »lokalen Nationalismus« und die Betonung einer ortsgebundenen Identität, die Fremdes ausschließen will. Lokale Identität ist dann vor allem von dem Bedürfnis nach sozialräumlicher Distinktion getragen. Allerdings sind heute auch Formen lokaler Identifikationen festzustellen, welche die Integration des Fremden fördern und nicht verhindern. Das Muster der Integration besteht dann genau darin, in das eigene Viertel sozial, familiär und ökonomisch zu »investieren«. Die lokale Lebenswelt wäre dann eine Sozialsphäre, an der sich die Tendenzen ethnischer Diskriminierung auch brechen und auflösen könnten. Unter welchen Bedingungen und Voraussetzungen moderne Formen lokaler Sozialprozesse zur Integration der multiethnischen Gesellschaft beitragen oder möglicherweise Desintegrationsprozesse noch vertiefen, welche Verlaufsformen ethnische Interaktionsprozesse in kleinräumigen Sozialsphären annehmen und welche verschiedenen Folgen mit Konflikt, Konsens oder Gleichgültigkeit untereinander für die interethnischen Beziehungen verbunden sind, dies war das gemeinsame Interesse der beiden Forschungsprojekte, deren Erträge in diesem Band abgedruckt sind. Als Dach beider Forschergruppen fungierte der von Wilhelm Heitmeyer am Institut für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld geleitete Forschungsverbund »Desintegrationsprozesse. Analysen zur Stärkung von Integrationspotentialen einer modernen Gesellschaft«, der von 2002 bis 2005 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert wurde. An diesem Forschungsverbund waren insgesamt siebzehn Einzelprojekte aus den Fächern Soziologie, Psychologie, Politikwissenschaft und Pädagogik beteiligt. Das Gemeinsame der beiden hier dokumentierten Forschungsprojekte war, dass sie sich in je eigener Weise auf der »Mesoebene« sozialer Gruppenprozesse für die lokalen Verhältnisse ethnischer Beziehungen interessierten. Das Projekt »Negative Klassifikationen. Ideologien der Ungleichwertigkeit in den symbolischen Ordnungen gegenwärtiger Sozialgruppen«, dessen Forscherteam aus dem Pro-
Einleitung: Mittendrin im Abseits
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jektleiter Sighard Neckel sowie Ferdinand Sutterlüty und Ina Walter bestand, wurde vom Juni 2002 bis zum Mai 2005 am Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main durchgeführt. Anhand der Analyse exemplarischer Fälle von stigmatisierenden Zuschreibungen, die sozialräumlich benachbarte Gruppen aneinander richten, forschte das Projekt dem Gehalt und der Wirkungsweise »negativer Klassifikationen« nach. Am Beispiel verschiedener Sozialgruppen in zwei lokalen Nachbarschaften westdeutscher Großstädte rekonstruierte es die innere Struktur symbolischer Abwertungen und die soziale Dynamik von Klassifikationskämpfen. Besondere Aufmerksamkeit galt dabei jenen negativen Klassifikationen, die als Überzeugungen von der Ungleichwertigkeit einzelner Bevölkerungsteile zu verstehen sind und auf den »kategorialen Ausschluss« bestimmter Gruppen von der sozialen Teilnahme und Teilhabe abzielen. Die Bedingungen, unter denen solche Klassifikationskämpfe desintegrierende Folgen haben oder aber den sozialen Prozessen »konfliktvermittelter Integration« noch zugänglich sind, standen schließlich im Mittelpunkt des Interesses. Das Forschungsprojekt »Integration und Assimilation im Milieu des Fußballsports« wiederum wurde unter der Leitung von Hans-Georg Soeffner von Dariuš Zifonun, Anna Rain und Andreas Göttlich an der Universität Konstanz durchgeführt. Die zentrale Frage war jene nach den unterschiedlichen Formen des »interkulturellen Kontaktes« in der Fußballwelt, wobei zwischen interkulturellen Milieus, Migranten-, Assimilations-, Segregations- und Marginalisierungsmilieus unterschieden wurde. Insbesondere sollten jene Faktoren herausgearbeitet werden, die sich an den Schnittstellen ihrer jeweiligen sozialen Welten für die Gestaltung des Kontaktes zwischen Migranten und der autochthonen Bevölkerung als besonders wichtig erweisen. Der Untersuchung geteilter Stereotype und Handlungsregeln kam dabei ebenso große Bedeutung zu wie der Stilisierung von Unterschieden. Im Ergebnis konnte eine tiefe Kluft zwischen den Integrationsideologien und -politiken maßgeblicher Sportverbände und der Praxis in der Fußballwelt festgestellt werden. »Exemplum docet, exemplae obscurantrum« – ein Beispiel ist lehrreich, viele Beispiele verwirren. Dieser Einsicht folgend, finden die hier publizierten Forschungsprojekte nicht nur im gemeinsamen Interesse an den lokalen Prozessen des interethnischen Gruppenlebens ihr verbindendes Element, sondern auch in der methodischen Herangehensweise, mittels ethnographischer und wissenssoziologischer Erkenntnisinstrumente vergleichende Fallstudien zu erstellen, die sich hinsichtlich der Zahl der untersuchten Settings bewusst auf die kleine Zahl beschränken. Exemplarische Fallstudien beanspruchen bekanntlich, über die Darstellung und Analyse konkreter Beispiele hinaus generelle Entwicklungsmuster zu entdecken, die in strukturell gleich gelagerten Fällen zu typischerweise ähnlichen Resultaten im Sozialleben führen. In diesem Sinne wollten die in diesem Band versammelten Sozialforscher aus lokalen Prozessen Erkenntnisse gewinnen, die auch in einem allgemeinen Sinn erhellend für die Gehalte und Verlaufsformen interethnischer Beziehungen sind.
A. Negative Klassifikationen in urbanen Nachbarschaften
Negative Klassifikationen und die symbolische Ordnung sozialer Ungleichheit Sighard Neckel und Ferdinand Sutterlüty
Es ist ein allgemeines Phänomen unseres Alltags, dass soziale Interaktionen mit Bewertungen verbunden sind, mit denen sich die beteiligten Akteure ihre jeweiligen Einschätzungen signalisieren, subjektive Nähen oder Distanzen erzeugen, Anerkennung, Gleichgültigkeit oder Missachtung zum Ausdruck bringen. Wie persönlich auch immer ein solcher Austausch geprägt sein mag, stets gehen soziale Elemente in ihn ein, die sich vor allem am gesellschaftlichen Status der betreffenden Personen festmachen lassen. Ob Akteure einander über- und untergeordnet sind oder ob sie sich als Gleiche begegnen, bestimmt Inhalt und Verlauf des gegenseitigen Handelns wesentlich mit. Die Sozialstruktur einer Gesellschaft schlägt sich daher in den alltäglichen Begegnungen nieder, und bis in die kleinsten lebensweltlichen Episoden hinein werden Interaktionen durch die jeweilige Verteilung sozialer Positionen geprägt. Die Bewertungen wiederum, die soziale Interaktionen begleiten, treffen immer auch Aussagen über die soziale Stellung, die Akteure inmitten größerer gesellschaftlicher Zusammenhänge einnehmen, und über das Ausmaß an Anerkennung und Wertschätzung, das Akteure in diesen sozialen Zusammenhängen jeweils genießen. In der modernen Gesellschaft, die soziale Wertschätzung oder Missachtung nicht per se schon nach den Mustern ständischer Privilegien vergibt, sind derartige soziale Bewertungen mit den Veränderungen und den Verwerfungen der Sozialstruktur auf das Engste verknüpft. Versteht man die moderne Sozialstruktur mit Pierre Bourdieu als einen sozialen Raum in sich beweglicher Positionen (vgl. Bourdieu 1992), lassen sich zwei aufeinander verweisende Prozesse identifizieren, in denen die Hierarchie sozialer Positionen praktisch ausgehandelt wird. Die Aneignung von materiellen Ressourcen und verwertbarem Wissen bestimmt die jeweilige Ausstattung mit ökonomischem und kulturellem Kapital. Deren Rangordnungen ergeben sich jedoch nicht allein aus sich selbst heraus, sondern entstehen im Zusammenhang gesellschaftlicher Bewertungskämpfe, in denen das symbolische Kapital sozialer Anerkennung erzeugt, verwehrt, akkumuliert oder transferiert wird. Die daraus entstehende Hierarchie der Wertschätzung, die Individuen und Gruppen zuerkannt wird, begründet die symbolische Ordnung einer Gesellschaft, die sich nach der »Logik des differentiellen Abstands« (ebd.: 146) organisiert. In der Sozialstruktur repräsentiert sich mithin nicht nur eine Verteilungsordnung materieller Güter, sondern zugleich ein gesellschaftliches System von Klassifikationen, welches wiederum Rückwirkungen auf die materiellen und kulturellen Aneignungschancen sozialer Gruppen hat (vgl. dazu auch den Beitrag B.III). »Negative Klassifikationen«, mit deren soziologischer Analyse die folgenden Beiträge bekannt machen möchten, sind als die stigmatisierenden Elemente der symbolischen Ordnung sozialer Ungleichheit in einer Gesellschaft zu verstehen. Mit der Erforschung ihrer alltäglichen Erzeugung im wechselseitigen Bezug sozialer Gruppen erschließen wir uns die diskriminierenden Aspekte der symbolischen Ungleichheitsordnung – jene Bewertungs-
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Sighard Neckel und Ferdinand Sutterlüty
muster also, die einen restriktiven Einfluss auf die Handlungschancen und die Bedürfnisverwirklichung von Sozialgruppen haben. So macht es etwa einen bedeutenden Unterschied, ob materielle Armut mit Bewertungen verbunden ist, die Solidarität einfordern, oder mit solchen, die Armut zum Anlass von Diffamierungen werden lassen. Dieselbe Soziallage hat dann möglicherweise ganz unterschiedliche soziale Konsequenzen. Klassifikationen sind also keineswegs nur ephemere Aspekte der Sozialordnung und sie bewohnen auch nicht allein die Welt flüchtiger Diskurse und Zeichen. Vielmehr sind sie mit objektiven Handlungsfolgen verbunden. Darin liegt die soziologische Relevanz sozialer Klassifikationsakte, denen die folgenden Ausführungen gelten. Nach einer Erläuterung des Begriffs der »Klassifikation« (1.) und einer Differenzierung verschiedener Arten negativer Einstufungen (2.) richtet sich schließlich der Blick auf einige typische Konstellationen und Verlaufsformen sozialer Klassifikationskämpfe (3.).
1. Klassifikationen und gesellschaftliche Ordnungen Soziale Klassifikationen und damit verbundene positive und negative Wertungen sind universelle menschliche Phänomene. Als ein Begriffssystem von Unterscheidungen, die hierarchisch geordnet werden, stellen Klassifikationen eine unvermeidliche und notwendige Orientierung im sozialen Raum dar. Ohne sie könnten Akteure zu keiner Ordnung ihrer Wahrnehmungen und Handlungsweisen gelangen. Klassifikationen strukturieren also die soziale Umwelt und sind damit eine unabdingbare Voraussetzung für die Handlungsfähigkeit von Personen und Gruppen. Anderseits stellen sie ein Orientierungssystem bereit, das es Akteuren erlaubt, ihren Platz in der Gesellschaft zu bestimmen (dazu insbes. Strauss 1974; Douglas 1974; Tajfel 1975; Bowker/Star 2002). Die kognitiven und evaluativen Kategorien, welche diese Orientierung steuern, variieren jedoch in vielfältiger Weise mit historischen Kontexten und den unterschiedlichen Formen der sozialen Praxis. Es entspricht einer zentralen soziologischen Einsicht, die bereits Emile Durkheim und Marcel Mauss herausgearbeitet haben, dass die Kategorien der Wahrnehmung und Bewertung eng mit der jeweiligen Sozialordnung einer Gesellschaft verflochten sind. Der soziale Gehalt all unserer Kategorien begründet deren grundlegendste Eigenschaft: nämlich »kollektive Vorstellungen« zu sein, die an bestimmte gesellschaftliche Strukturen gebunden sind und von einer konkreten sozialen Handlungspraxis hervorgebracht werden (siehe Durkheim 1981; Durkheim/Mauss 1987). In jeder Gesellschaft sind es stets verschiedene Instanzen, die Klassifikationen erzeugen. Oft wenig sichtbar, sind Institutionen mit der »Arbeit des Klassifizierens« befasst (vgl. Douglas 1991: 149 ff.), weshalb gerade institutionell geprägte Einteilungen und Bewertungen im lebensweltlichen Austausch verschiedener Sozialgruppen eine wichtige, weil weitgehend unbewusste Rolle spielen. Ein Beispiel hierfür ist etwa der moderne Arbeitsbegriff, der sich im ausgehenden 19. Jahrhundert herausgebildet hat. Er ging zunächst aus juristischen Definitionen hervor, wurde zur institutionellen Grundlage von Bildungsanstalten und Sozialversicherungssystemen, und schuf die Voraussetzungen für die Unterscheidung von Arbeit und Müßiggang, an die dann vielfältige normative Wertungen anschließen konnten (Conrad et al. 2000). »Arbeitslosigkeit« verwandelte sich jetzt zum sozialen Problem, das
Negative Klassifikationen und die symbolische Ordnung sozialer Ungleichheit
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erzieherischer und sozialstaatlicher Interventionen bedurfte. Noch heute basieren die abwertenden Zuschreibungen, die sich auf Arbeitslose richten, auf der institutionellen Sortierung von Lebenspraxis nach den Begriffen von Arbeit und Nichtarbeit. Aber Institutionen sind nur eine der gesellschaftlichen Arenen, in denen sich die »Macht der Klassifikation« bei der sozialen Herstellung von Ungleichheiten erweist (vgl. Bourdieu 1982: 741 ff.; Neckel 2003). Auch mediale Wirklichkeitskonstruktionen und politische Deutungsangebote tragen dazu bei, indem sie Zeichen öffentlicher Wertschätzung oder Stigmatisierung erzeugen. Wir kennen das aus der »Faulenzer«-Debatte, die Bundeskanzler Schröder seinerzeit losgetreten hatte, um einzelne Sozialgruppen als negative Beispiele unzulänglicher Anpassung an den sozialökonomischen Strukturwandel zu diskreditieren – medial unterstützt von Personalisierungen wie »Florida-Rolf«, »Pool-Harry« oder »Thailand-Angelika«, die als Verdichtungssymbole für den vermeintlichen »Missbrauch von Sozialleistungen« konstruiert worden sind. Unterhalb dieser Arenen findet die Aushandlung von Anerkennung und Missachtung jedoch vor allem in den alltäglichen und lokalen Bezügen sozialer Gruppen statt, in denen sich die symbolische Ordnung des sozialen Raumes anhand der Verwendung plastischer Benennungen konkretisiert. Beispiele hierfür sind die wechselseitigen Charakterisierungen von Sozialgruppen als »Schmarotzer«, »Neider«, »Trittbrettfahrer«, »Abschaum«, »Assis«, »Versager«, »Sesselfurzer«, »Bankrotteure«, »Kriminelle« oder »Verlierer«. Derartige Klassifikationen nehmen mediale und politische Deutungsangebote gewiss in sich auf, ohne jedoch in Entstehung, Gestalt und Valenz dadurch vollständig erklärbar zu sein. Offizielle Bezeichnungen, mediale Botschaften und institutionelle Klassifikationen erfahren im Nahbereich sozialer Akteure stets spezifische Interpretationen und werden zur Ressource lokaler Anerkennungskämpfe, die eigenen Semantiken und Konfliktlogiken folgen. In den Kontexten alltäglichen Handelns entscheidet sich schließlich auch, ob und wie negative Klassifikationen konterkariert werden und welche Auswirkungen sie auf die sozialen Integrationschancen der jeweils beteiligten Akteure haben. Lokale Klassifikationskämpfe, in denen sich aber auch langlebige Widerstandspotentiale gegen vorherrschende Stigmatisierungen manifestieren können, werden beispielsweise zwischen Eltern auf Kinderspielplätzen, zwischen deutschen Lehrern und ausländischen Schülern, in der Nachbarschaft von Asylbewerberunterkünften und im Umfeld von Moscheen, in den Geschäften und Kneipen multiethnischer Wohnquartiere, zwischen sozial und ethnisch unterschiedlichen Sportvereinen, beim Bewerbungsgespräch im Betrieb oder auch bei der Kreditvergabe einer Bank ausgetragen. Häufig sind es Momente der »unfreiwilligen« Kommunikation zwischen verschiedenen Sozialgruppen, in denen sich negative Klassifikationen artikulieren. Derartige Momente ergeben sich etwa aus der gemeinsamen Nutzung von Einrichtungen und Institutionen, in denen auch praktische Entscheidungen etwa über den Schulbesuch von Kindern gefällt werden müssen, und in denen der Handlungsdruck solcher Entscheidungen die kommunikative Zurückhaltung diskreditierender Äußerungen suspendiert. Solche alltäglichen Klassifikationskämpfe sind stets soziale Auseinandersetzungen um die »Durchsetzung der legitimen Weltsicht« (Bourdieu 1992: 147); sie sind Kämpfe um symbolische Macht. Der Umstand, dass die Durchsetzung einer Weltsicht von der Anerkennung anderer abhängig ist, unterscheidet die symbolische Macht aber von jenen Machtformen, die auf anderen Ressourcen, etwa ökonomischem oder kulturellem Kapital beruhen
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Sighard Neckel und Ferdinand Sutterlüty
(Bourdieu 1998: 108 f.). Die Anerkennung einer Weltsicht und der mit ihr gegebenen sozialen Grenzziehungen stellt sich in der Theorie Bourdieus weitgehend als eine stillschweigende Zustimmung zu den Verhältnissen einer eingelebten Ordnung dar, die ihre arbiträren Grundlagen im Nimbus des Natürlichen zu kaschieren sucht. Jedoch bekommt Bourdieus Begriff der symbolischen Macht nur dann einen spezifischen Sinn, wenn er die Abhängigkeit des »wahrgenommenen Seins« von der Zustimmung anderer hinreichend zum Ausdruck bringt und er eine relative Autonomie des symbolischen Kapitals gegenüber materiellen und kulturellen Ressourcen begründet (vgl. Schwingel 1993: 103 ff.). Der Bereich des Symbolischen ist somit niemals gesichert und besonders offen für die unterschiedlichen Gebrauchsweisen, die Klassifikationen in den Auseinandersetzungen zwischen Sozialgruppen erhalten. Klassifikationssysteme, um deren Durchsetzung oder Zurückweisung Akteure alltäglich ringen, sind Bourdieu zufolge jedoch »mehr oder weniger offen auf die Erfüllung spezifischer Gruppeninteressen hin ausgerichtet« (1982: 744). Auch wenn sich in seinem Werk immer wieder gegenläufige Formulierungen finden lassen, legt Bourdieus Theorie doch nahe, Nützlichkeitskriterien als letztlich maßgeblich für »kollektive Vorstellungen« zu verstehen. In symbolischen Kämpfen können aber ebenso gut normative Handlungsgründe von Bedeutung sein, weil sich in ihnen auch die Wertvorstellungen, Lebensstile und kollektiven Identitäten sozialer Gruppen artikulieren. Ob empirische Klassifikationskämpfe unter der Ägide einer zweckrationalen Verfolgung von Interessen stehen oder ob es sich dabei um normenorientierte Kämpfe um Anerkennung handelt, kann soziologisch nicht mit einer Vorentscheidung für eine bestimmte Handlungstheorie präjudiziert werden. Das analytische Instrumentarium Bourdieus bedarf deshalb einer Erweiterung, sodass es auch die Analyse von Klassifikationskämpfen erlaubt, denen eine »normative Grammatik« innewohnt (Honneth 1992). Solche Kämpfe gehen aus Erfahrungen der Missachtung hervor und begründen aus der Sicht der betroffenen Akteure einen legitimen Anspruch auf soziale Anerkennung (ebd.: 256 ff.). Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass soziale Kämpfe, die aus Missachtungserfahrungen entstehen, immer emanzipatorische Prozesse befördern und per se etwas Positives darstellen. Vielmehr können sie etwa auch die Form gewalttätiger Bewältigungsversuche annehmen (Honneth 2000: 107 f.; Sutterlüty 2002: 103 ff.).
2. Negative Klassifikationen: graduelle und kategoriale Semantiken »Negative Klassifikationen« sind abwertende Zuschreibungen, die Sozialgruppen in alltäglichen Interaktionen, aber auch in organisierten Diskursen aneinander richten. Vielfach stützen sie sich auf institutionelle Semantiken, die Ordnungs- und Einteilungsbegriffe generieren. Zumeist in sprachlicher Gestalt – wenn auch nicht notwendigerweise an diese gebunden –, beabsichtigen sie die Hervorbringung und Durchsetzung einer legitimen Weltsicht, die andere Akteure als unterlegen erscheinen lässt, sie abwertet und symbolisch aus dem Kreis anerkannter Gesellschaftsmitglieder ausschließt. Klassifikationsprozesse finden vermittels offizieller Bezeichnungen und medialer Berichte statt, doch vor allem in der soziologisch stets schwer fassbaren Sphäre flüchtiger Begegnungen und alltäglicher Interaktionen, privater Gespräche und symbolischer Zeichen. Als Indikatoren für die Zugehö-
Negative Klassifikationen und die symbolische Ordnung sozialer Ungleichheit
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rigkeit zu starken oder schwachen Gruppen dienen vor allem äußerlich gut erkennbare Merkmale wie Hautfarbe, Alter, Körperschema, Habitus und Geschlecht, denen unterschiedliche Werte zuerkannt werden. Das Individuum wird dann solchen allgemeinen Kategorien subsumiert und in der Skala der sozialen Rangordnung auf die entsprechende Stelle gesetzt. In der Folge derartiger Bewertungen, die den sozialen Austausch konstant begleiten, sich häufig aber auch nur mit einzelnen »Schlüsselsituationen« verknüpfen, vollzieht sich der je gültige Statusaufbau sozialer Gemeinschaften nicht durch Güterverteilung oder das Rechtssystem, sondern durch Kommunikation. Akteure erfahren Anerkennung oder werden bewundert, finden kaum Beachtung oder werden auf ihre Plätze verwiesen. Soziale Ungleichheit, sofern sie den Erfahrungsraum unserer Lebenswelt durchzieht, wird maßgeblich erst durch solche kommunikativen Akte der Einstufung erzeugt und nimmt in ihnen eine konkrete Gestalt im Erleben an. Derartige Klassifikationen sind daher immer raumzeitlich gelagert, was auch heißt, dass sie in ihrer Wirksamkeit von den praktischen Aushandlungen und den sozialen Gebrauchsweisen von Akteursgruppen abhängig sind. Gleichwohl lassen sich bestimmte Strukturmuster negativer Klassifikationen rekonstruieren, die sich vor allem hinsichtlich ihrer inneren Distinktionslogik unterscheiden. In der soziologischen Forschung wird hierfür grundlegend zwischen zwei Ungleichheitssemantiken differenziert, in denen sich entweder »graduelle« oder »kategoriale« Unterschiede zwischen Personen und Gruppen manifestieren (vgl. Berger 1989; Neckel 2003; Neckel/ Sutterlüty 2005), was letztlich bedeutet, zwischen der Zuschreibung von Ungleichheit und der Zuschreibung von Ungleichwertigkeit zu unterscheiden. Graduelle Klassifikationen beurteilen Akteure unter dem Gesichtspunkt von »quantitativen« Differenzen. Die damit verbundenen Bewertungen haben eine ordinale Struktur: Wahrgenommene Merkmale oder Eigenschaften werden nach den Maßstäben von »größer/kleiner« oder »mehr/weniger« vermessen und in eine kontinuierliche Rangfolge verbracht, welche die prinzipielle Vergleichbarkeit der Bewertungsobjekte zur Voraussetzung hat. Negative Klassifikationen, die einer graduellen Semantik folgen, sind somit zwar vertikal und hierarchisch; die »Logik der Differenz« aber, die durch sie symbolisch zum Ausdruck kommt, ist trotz aller Rangstufen prinzipiell »konjunktiv« (Mannheim 1980: 211 ff.) organisiert, weil sie auf der Annahme sozial geteilter Erfahrungsräume, gemeinsamer Eigenschaften und auf der Zuschreibung grundlegender Zugehörigkeit beruht. Typischerweise sind es in der modernen Gesellschaft erworbene Merkmale wie Bildung, Einkommen oder beruflicher Status, die für graduelle Bewertungen kandidieren, weil sie in sich veränderlich und in ihrer sozialen Wertigkeit verhandelbar sind. Klassifikationen hingegen, die kategoriale Unterscheidungen artikulieren, fällen über Personen und Gruppen »qualitative« Urteile der Andersartigkeit. Die entsprechenden Bewertungen haben eine nominale Struktur: Wahrgenommene Merkmale oder Eigenschaften werden nach dem Maßstab »gleich/ungleich« oder »ähnlich/verschieden« sortiert, sodass keine Rangfolge auf einem Kontinuum zustande kommt, sondern eine »mentale Landkarte« sich wechselseitig ausschließender Kategorien. Vor allem askriptive Merkmale wie Ethnizität, Religion und Geschlecht kandidieren hierfür, weil sie als unveränderlich gelten und als Gegensatzpaare auftreten: »Frau« oder »Mann«, »christlich« oder »muslimisch«, »schwarz« oder »weiß«. Da kategoriale Semantiken sozialer Unterscheidungen vorausge-
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setzter Gemeinsamkeiten entbehren, bieten sie sich in besonderer Weise dafür an, dass soziale Gemeinschaften die Ungleichheit von rangniederen und mindermächtigen Akteuren als deren Ungleichwertigkeit interpretieren. Die »Logik der Differenz«, die sich in kategorialen Unterscheidungen artikuliert, ist dann prinzipiell »disjunktiv« organisiert. Negative Klassifikationen, die graduelle Unterscheidungen ausdrücken, nehmen schwächere Personen und Gruppen zwar als unterlegen, aber nicht als minderwertig wahr und gestehen ihnen prinzipiell die Fähigkeit zur Veränderung zu. Werden mindermächtige Akteure aber als kategorial ungleich eingestuft, beruht dies stets auf der abwertenden Zuschreibung unveränderlicher Zustände und essentialistisch gedeuteter Eigenschaften. Schwächeren Gruppen wird dann bereits die Anerkennung verwehrt, gleiche Lebenschancen überhaupt beanspruchen zu können. Auch schwerwiegende Benachteiligungen können solche Gruppen kaum bekämpfen, weil die Öffentlichkeit für sie nicht die gleichen Maßstäbe anwendet wie für jene Bevölkerungsteile, die ihr natürlicherweise als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft gelten. Kategorial als ungleichwertig beurteilte Gruppen laufen Gefahr, von der Teilhabe an anderweitig garantierten Rechten ausgeschlossen zu werden oder zumindest eine Absenkung etablierter Standards erfahren zu müssen. In der extremsten Form derartiger Exklusionsprozesse wird soziale Ungleichheit symbolisch dem Geltungsbereich moderner Gleichheits- und Gerechtigkeitsideale vollständig entzogen und von jeglichem Begründungs- und Veränderungsdruck befreit. Klassifikationen der Ungleichwertigkeit gehen somit über die Etikettierung gradueller Unterschiede in der Verwirklichung von Werten oder Handlungszielen hinaus. Sie errichten »kategoriale Exklusivitäten«, die auf der Vorstellung beruhen, bestimmte Akteure verdienten keine soziale Wertschätzung, und rechtfertigen damit die Missachtung ihrer Ansprüche und Bedürfnisse; bisweilen auch die Anwendung von Gewalt. Graduelle Klassifikationen sozialer Ungleichheit sind in der Regel konfliktreich, aber deshalb nicht an sich schon sozial desintegrativ. Vielmehr sind sie aufgrund der »konjunktiven« Gemeinsamkeiten, die sie zur Voraussetzung haben, dafür geeignet, jenen Integrationschancen zugänglich zu sein, die die Soziologie seit Georg Simmels berühmter Analyse des »Streites« als die »assoziativen«, also die letztlich vereinigenden Dimensionen sozialer Konflikte kennt (vgl. Simmel 1992e: 284 ff.). Die symbolischen Rangordnungskämpfe, die mittels solcher negativer Klassifikationen ausgetragen werden, bergen jedenfalls die prinzipielle Chance in sich, gerade durch den Kampf um die Bewertung der jeweiligen Existenzweise sich der umstrittenen »Werte« selbst gemeinsam innezuwerden. Die moderne Gesellschaft der Gegenwart verfügt in diesem Mechanismus der »konfliktvermittelten Integration« über einen zwar stets fragilen, doch letztlich entscheidenden Modus dafür, den sozialen Zusammenhalt verschiedenster gesellschaftlicher Gruppen trotz ihrer Gegensätze zu stabilisieren (vgl. Dubiel 1995). Anders im Fall kategorialer Klassifikationen, die auf die Ungleichwertigkeit negativ bewerteter Akteure und Gruppen abzielen. Da es ihnen an »teilbaren« Werten mangelt, repräsentiert ihre Gebrauchsweise die »dissoziative«, also die Gegensätze hervorbringende Dimension von Konflikten, die Georg Simmel mit dem Konflikttypus gewaltträchtiger Kämpfe bis hin zum Krieg verbunden hatte. Dies ist der Grund, weshalb negative Klassifikationen, die Ungleichwertigkeitsurteile zum Ausdruck bringen, dem für den Zusammenhalt einer modernen Gesellschaft zentralen Mechanismus der »konfliktvermittelten Integra-
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tion« nicht zugänglich sind. Sie zielen nicht auf soziale Konflikte – obgleich ihr praktischer Gebrauch solche zur Folge haben kann –, sondern auf Exklusion, um Konflikte möglichst gar nicht austragen zu müssen. Die innere Differenzierung negativer Klassifikationen lässt sich auch im Anschluss an die Soziologie Bourdieus näher bestimmen. In seiner Analyse symbolischer Auseinandersetzungen hebt er hervor, dass die Logik der sozialen Distinktion »nur die bereits ›Distinguierten‹ und die ›Aspiranten‹ auf Distinktion« (Bourdieu 1982: 391) betrifft. Deren Kämpfe um »den Wert des jeweiligen Seins« sind symbolische Kämpfe gradueller Natur: Distinktion. Alle symbolischen Kämpfe um die ordinale Rangordnung bedürfen aber eines kategorialen Kontrastbildes »kultureller Unwürdigkeit« (ebd.: 390), jenseits dessen die symbolischen Auseinandersetzungen erst den Charakter eines Kampfes um distinktive Werte annehmen können. Daher treiben symbolische Auseinandersetzungen um Distinktion immer jene davon »Ausgeschlossenen« hervor, die die Basis aller Distinktionen bereitstellen sollen. Die Abgrenzung von ihnen erscheint wie eine »ontologische Erhöhung«, und die entsprechenden Klassifikationen nehmen den Charakter an, einen »Sprung von der Natur in die Kultur«, von der »Animalität in die Humanität« (ebd.: 391) zu markieren. Soziale Ungleichheit wird naturalisiert. Die genannten Binnendifferenzierungen sozialer Klassifikationen sind als eine soziologische Idealtypik zu verstehen. Welche Merkmale von Personen empirisch im Rahmen einer graduellen bzw. kategorialen Ungleichheitssemantik interpretiert werden, ist damit nicht festgelegt. Will man die »Praxis der Logik« nicht mit der »Logik der Praxis« (Bourdieu 1998: 146 ff.) verwechseln, muss man die sozialen Gebrauchsweisen negativer Klassifikationen in Rechnung stellen, die vielfältige Übergänge zwischen den beiden Semantiken kennen (vgl. Kreckel 1997: 107 ff.). In ihren realen sozialen Gebrauchsweisen sind graduelle und kategoriale Bewertungen vielfach miteinander verknüpft. So können sich graduelle in kategoriale Ungleichheitssemantiken transformieren. Ein Beispiel hierfür ist etwa die Verwendung von Intelligenzquotienten zur Rechtfertigung ethnischer Über- und Unterlegenheit. Intelligenzquotienten haben an sich eine »graduelle« Struktur, da sie auf einer Relation des Mehr oder Weniger beruhen. Werden Intelligenzquotienten jedoch aus vermeintlich genetischen Gründen mit ethnischen Unterscheidungen verknüpft – wie in den USA etwa hinsichtlich der amerikanischen Schwarzen (vgl. Herrnstein/Murray 1994) –, nehmen sie eine kategoriale und ausschließende Gestalt an: Wenn Schwarze durchschnittlich eine niedrigere Intelligenz haben und Intelligenz genetisch bedingt ist, haben sie minderwertige Gene, sodass man sich mit ihnen nicht vermischen sollte. Jenseits bestimmter Schwellenwerte tragen »graduelle« Einstufungen einen »kategorialen« Charakter. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn Armut ein solches Ausmaß erreicht, dass sie nicht allein Kennzeichen großer quantitativer Unterschiede zu anderen Einkommensklassen ist, sondern ihr auch der Makel des Ausschlusses von allen durchschnittlichen Lebenschancen anhaftet und die Verwendung des Begriffes »Armut« zu beherrschen beginnt (vgl. Gans 1991). Eine strukturelle Entsprechung findet dieses Phänomen, wenn länger anhaltende Arbeitslosigkeit in den Sog einer kategorial ausschließenden Semantik gerät, wie dies bei der Rede von »nicht vermittelbaren« Arbeitslosen, »nicht beschäftigungsfähigen« Sozialhilfeempfängern oder von Arbeitslosen als »gesellschaftlichem Ballast« festgestellt werden kann (vgl. Zilian 2000). Ebenfalls ist der Sozialforschung gut
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bekannt, dass soziale Kämpfe im Bildungswesen – also um eine ordinale Rangordnung – faktisch kategoriale Grenzen errichten können, wenn einzelne Gruppen als »nicht beschulungsfähig« gelten und es bevorteilten Akteuren durch eine Mikropolitik der sozialen Schließung gelingt, schwächere Schüler in den sogenannten »Pisa-Schulen« zu konzentrieren.
3. Soziale Determinanten von Klassifikationsprozessen Derartige Semantiken und die ihnen zugrunde liegenden Klassifikationsprozesse sind immer raumzeitlich gelagert und beziehen sich stets auf jene Unterschiede zwischen Personen und Gruppen, die in der gesellschaftlichen Wahrnehmung aufgrund aktueller Vorgänge oder tradierter Einstellungsmuster besondere Relevanz besitzen. Sie sind daher untrennbar mit der Sozialstruktur einer Gesellschaft verwoben, stellen sie doch Deutungen und Bewertungen bestehender sozialer Ungleichheiten dar. Das Verhältnis zwischen der Sozialstruktur und ihrer Deutung ist freilich kein deterministisches, weil soziale Tatsachen nicht auch schon die Muster ihrer eigenen Interpretation mitliefern. Klassifikationen sind eben keine »Dinge«, sondern symbolische Formen der Wirklichkeitskonstruktion, die – wie alles sinnhafte Deuten und Handeln – von eigendynamischen sozialen Prozessen abhängig sind. Das Verhältnis zwischen der Sozialstruktur und ihrer Deutung ist überdies nicht als ein einseitiges zu begreifen. Sozialstrukturelle Entwicklungen haben Auswirkungen auf die symbolische Ordnung sozialer Ungleichheit, während umgekehrt Wirklichkeitsdeutungen auch die Herstellung und Aufrechterhaltung sozialer Ungleichheiten beeinflussen. Auch wenn Klassifikationsprozesse keinen raumzeitlich unabhängigen Gesetzmäßigkeiten unterliegen, so schließt dies nicht aus, »typische Konstellationseffekte« (Mayntz 1996: 149) zu identifizieren, die Auswirkungen auf die Richtung, den Verlauf und den Ausgang von Klassifikationsprozessen haben können. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang der figurationssoziologische Ansatz von Norbert Elias, der sich auf die Analyse veränderbarer Machtbalancen zwischen interdependenten Gruppen konzentriert. Am empirischen Beispiel von Beziehungen zwischen Etablierten und Außenseitern haben Elias und Scotson (1990) ein typisches Muster aufgezeigt, bei dem sich die überlegene Gruppe ein Gruppencharisma zuschreibt, während sie die unterlegene Gruppe mit stigmatisierenden Zuschreibungen in den Stand der Gruppenschande versetzt (ebd.: 15 ff.). Elias und Scotson führen vor Augen, dass in sozialen Kämpfen zwischen ungleichen Gruppen negative Klassifikationen als Machtmittel eingesetzt werden – so zum Beispiel, wenn eine Etabliertengruppe im Medium des »Schimpfklatsches« eine Außenseitergruppe als anomisch und kriminell brandmarkt, um sie als ein Kollektiv »minderwertiger Menschen« erscheinen zu lassen (ebd.: 8). Weiterhin kann der figurationssoziologische Ansatz darüber Auskunft geben, dass allein schon die Beziehungskonstellation von Gruppen die Dynamik ihrer Auseinandersetzungen in entscheidender Weise prägt. Und schließlich zeigen Elias und Scotson, dass der Grad der inneren Kohäsion von Gruppen starken Einfluss auf ihre Fähigkeit nimmt, eine Machtstellung zu erringen oder zu verteidigen. Ihre Analysen sind aber insofern ergänzungsbedürftig, als sich das Machtgefälle bei Klassifikationskämpfen zwischen Mehrheiten und Minderheiten, Einheimischen und Fremden nicht nur aus dem
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Maß der Kohäsion innerhalb dieser Gruppen ergibt, sondern auch aus dem unterschiedlichen Zugang zu staatlichen Ressourcen (Bauböck 1993: 155).1 Machtunterschiede zwischen Gruppen tendieren in aller Regel dazu, dass neben den öffentlich zutage tretenden negativen Klassifikationen untergründige, nur innerhalb der Eigengruppe geäußerte Stigmatisierungsmuster entstehen. In Kontexten, in denen die Interaktion zwischen Gruppen durch ein großes Machtgefälle gekennzeichnet ist, maskieren alle Seiten in der direkten Kommunikation ihre aufeinander bezogenen Haltungen, während in der Binnenkommunikation sowohl die unterlegene als auch die überlegene Gruppe abschätzige Diskurse über die jeweils andere Seite pflegt. Mit James C. Scott (1990) muss man bei der Analyse von Klassifikationskämpfen daher sowohl die »hidden« als auch die »public transcripts« der jeweiligen Gruppen berücksichtigen, will man ein vollständiges Bild ihrer Ungleichheitssemantiken gewinnen. Aus der Spannung zwischen diesen beiden Formen, in denen Klassifikationen in den sozialen Austausch eingehen, kann sich bei subordinierten Gruppen eine »Infrapolitik« (Scott 1990: 18 ff. und 183 ff.) des niedrigschwelligen Widerstands entwickeln. Typisch dafür ist, dass vorherrschende Gruppen von untergeordneten Akteuren öffentlich mit irreführenden und doppeldeutigen Attributen ausgestattet werden. Zu solchen Infrapolitiken darf man auch die Praxis des »symbolic reversal« (Needham 1969: xxxix) rechnen, in der die sozialen Kategorien eine strikte Umkehrung erfahren. Dies ist etwa der Fall, wenn delinquente Jugendliche, die ethnischen Minderheiten angehören und aus der Unterschicht stammen, ihre Herkunft ironisieren und sich symbolisch zur Elite machen, indem sie sich mit aristokratischen Insignien ausstatten, sich feudale Selbstbezeichnungen geben und entsprechende Verhaltensformen zur Schau stellen (Katz 1988: 157 ff.). Besonders interessant für die Dynamik von Klassifikationskämpfen ist jener Fall, in dem bislang untergründige Transkripte öffentlich werden und die unterlegene Gruppe ihre negativen Klassifikationen direkt an die überlegene Gruppe adressiert – und umgekehrt. Dieser Umschlag verborgener in öffentliche Transkripte ist ein Einfallstor für Klassifikationskämpfe, in deren Folge die Machtbalance zwischen den vormaligen Etablierten und Außenseitern auf den Kopf gestellt werden kann. Die Konturen eines solchen Konflikts zeichnen sich gegenwärtig etwa in lokalen Auseinandersetzungen zwischen der deutschen Bevölkerung und »avancierenden Fremden« (Hüttermann 2000) ab. Während die deutschen Bewohner entsprechender Stadtteile gewohnt waren, sich als Angehörige einer überlegenen ethnischen Gruppe wahrzunehmen, und sich nun etwa türkischen Hausbesitzern und Geschäftsleuten gegenübersehen, können sich diese aus einer überlegenen Position heraus verständnisvoll herablassend über das niedrige Bildungsniveau Einheimischer äußern, das ihnen kein schnelles Begreifen der neuen Lage erlaube. In solchen symbolischen Auseinandersetzungen zwischen türkischen Aufsteigern und verarmten Teilen der deutschen Be1
Ungeachtet dessen hat Dieter Karrer (2002) in seiner Untersuchung über einen Züricher Stadtteil die Fruchtbarkeit des figurationssoziologischen Ansatzes zur Analyse wechselseitiger Kategorisierungen zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen erneut aufgezeigt: Die etablierten Gruppen, Schweizer und Italiener, distanzieren sich von anderen Ethnien, während zwischen den verschiedenen Außenseitergruppen eine rigorose Abgrenzung das Verhalten bestimmt und die eine Gruppe im Medium stigmatisierender Zuschreibungen auf die andere herabschaut. Zwischen Türken, Jugoslawen und Albanern entsteht so eine symbolische Ordnung des abgestuften Außenseitertums, bei der im Wesentlichen die Aufenthaltsdauer im Land das Regime der Stigmatisierung führt (vgl. ebd.: 107 ff.).
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völkerung treten bisher verborgene Transkripte über die Schwelle der Öffentlichkeit. Eine neue symbolische Ordnung sozialer Ungleichheit beginnt sich abzuzeichnen, über deren Auswirkungen wir bisher noch wenig wissen. Wesentlich für die Dynamik und den Verlauf von Klassifikationskämpfen zwischen Bevölkerungsgruppen sind schließlich auch »Dritte« (vgl. Simmel 1992d: 114 ff.). Einerseits kann das Vorhandensein unterlegener Dritter eigene Missachtungserfahrungen abmildern und notdürftig bewältigen helfen, wenn etwa eine Außenseitergruppe eine noch machtlosere Gruppe stigmatisiert (Karrer 2002). Andererseits kann der Wechsel machtvoller Dritter Außenseiter fast schlagartig zu Etablierten machen und umgekehrt (Neckel 1997b). Ferner lehrt die interaktionistische Etikettierungstheorie, dass das Vorhandensein politischer Akteure, die »moralische Kreuzzüge« initiieren, eine entscheidende Rolle für den Verlauf und den Ausgang von Klassifikationskämpfen spielt (Becker 1966). Lokale Konflikte um die symbolische Ordnung sozialer Ungleichheit werden auch durch das Verhältnis zwischen Alltagsmediatoren und Konflikttreibern sowie durch die Beschaffenheit der Institutionen bestimmt, in denen verschiedene Gruppen aufeinandertreffen. Klassifikationskämpfe haben weder notwendig desintegrierende Folgen, noch müssen sie zwangsläufig zur sozialen Exklusion einer der Konfliktparteien führen. Vielmehr können sie dafür sorgen, dass zwischen Konfliktparteien erst kommunikative Kanäle errichtet werden und sich damit Möglichkeiten der Integration zuvor randständiger Gruppen eröffnen.2 Zwar dürfen Konflikte, wenn sie integrativ wirken sollen, eines minimalen Hintergrundkonsenses nicht entbehren, doch stellen sich explizite Aussprachen über normative Prinzipien eben nicht selten erst im Verlauf sozialer Konflikte ein. Gerade die Austragung von Konflikten um die symbolische Ordnung sozialer Ungleichheit bildet eine notwendige Bedingung für die Integration bisher marginalisierter Bevölkerungsgruppen. Die Alternative hierzu besteht in sozialer und mentaler Isolation, durch die sich die Reichweiten sozialer Beziehungen drastisch reduzieren und Sozialkontakte auf die jeweilige Eigengruppe zusammenschrumpfen. Klassifikationskämpfe bieten freilich keine Gewähr für soziale Integration, da sie stigmatisierte Gruppen der sozialen Ausgrenzung anheim stellen können, wenn diese nicht über geeignete Gegenstrategien verfügen. Dennoch geht es in modernen demokratischen Gesellschaften nicht darum, ob sich Klassifikationskämpfe vermeiden lassen. Die Frage ist vielmehr, wie sie ausgetragen, reguliert und »eingehegt« werden. Die symbolische Ordnung sozialer Ungleichheit ist stets umstritten und zwischen gesellschaftlichen Gruppen umkämpft. Welche Gefährdungen daraus für den sozialen Zusammenhalt und insbesondere für interethnische Beziehungen erwachsen, aber auch welche Integrationschancen sich im
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Selbst kategorial-exkludierende Klassifikationen können in ihrem sozialen Gebrauch dazu führen, dass sich die Kontrahenten wechselseitig zumindest als Widerpart anerkennen, mit dem Kommunikation und sozialer Ausgleich sich lohnen. Ein schlagendes Beispiel für die potentiell integrative Kraft von Konflikten, bei denen es um ethnische und religiöse, also um kategoriale Unterschiede geht, stellen lokale Auseinandersetzungen um den Bau von Moscheen in multiethnischen Wohnvierteln dar. In einer Typologie verschiedener Moscheekonflikte haben Leggewie et al. (2002: 50 ff.) gezeigt, dass Konfliktvermeidung nicht nur den Bau geplanter Moscheen verhindert, sondern die Muslime auch weiter in die soziale Isolation treibt. Werden Moscheen hingegen unter anhaltenden Konflikten gebaut, können die oft hart geführten Auseinandersetzungen letztlich bewirken, dass die Muslime von der Mehrheitsgesellschaft in ihrer religiösen Besonderheiten anerkannt und als zugehörig betrachtet werden.
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Verlauf von Klassifikationskonflikten ergeben, ist das maßgebliche Interesse bei unseren empirischen Untersuchungen gewesen, über deren Durchführung und Ergebnisse wir im nächsten Beitrag berichten.
Klassifikationen im Kampf um Abgrenzung und Zugehörigkeit Ferdinand Sutterlüty, Sighard Neckel und Ina Walter
Unsere Studie beruht auf einem ethnographisch angelegten Forschungsprojekt, das von 2002 bis 2005 in benachteiligten Stadtteilen zweier deutscher Städte durchgeführt wurde. Gegenstand der Untersuchung waren die Semantiken und die sozialen Gebrauchsweisen »negativer Klassifikationen«, das heißt abwertender Zuschreibungen zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen, die sich in den beforschten Stadtteilen als Nachbarn begegnen. Das vorrangige Ziel der empirischen Forschung war es, die desintegrativen Wirkungen von solchen Klassifikationen und Klassifikationskämpfen zu ermitteln, aber auch nach den integrativen Potentialen lokaler Konflikte Ausschau zu halten.
1. Das Untersuchungskonzept: Fragestellungen, Methoden, Untersuchungsgebiete Interessiert man sich in dieser Weise für die Wirkungen sozialer Klassifikationen in ihrem realen Gebrauch, so ist keine Sphäre der Wirklichkeit besser für eine soziologische Untersuchung geeignet als die lokale Lebenswelt. Insbesondere in benachteiligten Stadtgebieten haben die wechselseitigen Klassifikationen zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen viel direktere Auswirkungen auf ihre Partizipations- und Aneignungschancen als anderswo, weil die sozialräumliche Nachbarschaft für schlechter gestellte Sozialgruppen den entscheidenden Ort der gesellschaftlichen Teilnahme darstellt und die soziale Integration in besonders ausgeprägter Weise an das Lokale gekoppelt ist (vgl. Keupp 1987: 39 f.; Kronauer/ Vogel 2004: 236 ff.). Benachteiligte Stadtteile sind nicht an sich schon desintegrierter als wohlhabende und privilegierte. Aber im Unterschied zu den gut situierten und mitunter hochmobilen Bewohnern besserer Viertel sind schlechter gestellte Gruppen auf die lokale Ebene der Sozialintegration angewiesen. Negative Klassifikationen haben in solchen Stadtteilen sichtbare Handlungsfolgen, die sich etwa in der Beschränkung von Sozialkontakten und im Abbruch von Kommunikationen zeigen. Die Untersuchung sozialer Klassifikationskämpfe in benachteiligten Stadtteilen ist daher nicht nur von besonderer gesellschaftlicher Relevanz; auch methodisch bieten sich solche Viertel an, da Klassifikationskämpfe dort gut von außen beobachtbar sind. Klassifikationen in ihren tatsächlichen Verwendungskontexten zu untersuchen, heißt, Interaktionen zwischen sozialen Gruppen in ihren alltäglichen Bezügen aufeinander zu rekonstruieren, um die Auswirkungen abwertender Zuschreibungen analysieren zu können. Unsere Untersuchung zielt dem entsprechend auf drei systematische Ebenen ab: Zunächst einmal rekonstruiert sie Strukturmuster negativer Klassifikationen. Auf dieser ersten Ebene geht es darum, den materialen Gehalt jener stigmatisierenden Semantiken zu erfassen, die das Zusammenleben zwischen sozialräumlich benachbarten Bevölkerungsgruppen in unterprivilegierten Stadtvierteln gegenwärtig bestimmen. Die Frage lautet: Wer klassifiziert wen in welcher Weise? Mit der Beantwortung dieser Frage soll die Studie in Erfahrung bringen, ob sich negative Klassifikationen heute eher auf Merkmale vertikaler
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Ferdinand Sutterlüty, Sighard Neckel und Ina Walter
Ungleichheit (Bildung, Einkommen, beruflicher Status) oder eher auf Merkmale horizontaler Ungleichheit (Geschlecht, Generation, Ethnizität) beziehen. Es werden, in anderen Worten, jene negativen Klassifikationen herausgearbeitet, die in benachteiligten Stadtteilen die »symbolische Ordnung sozialer Ungleichheit« prägen. Bei der Rekonstruktion von semantischen Mustern negativer Klassifikationen wird die Analyse der inneren Logik, der die einzelnen Klassifikationsmuster jeweils folgen, eine entscheidende Rolle spielen. Denn es macht einen Unterschied, ob Klassifikationen einfach nur abwertend sind oder ob sie die Adressaten zudem symbolisch von der vollwertigen Zugehörigkeit zur lokalen Gesellschaft ausschließen. Der Differenz von graduellen und kategorialen Klassifikationen (siehe Beitrag A.I) kommt in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle zu. Die zweite Analyseebene betrifft die Austragungsformen von Klassifikationskämpfen, das heißt von Konflikten um die Bewertung sozialer Ungleichheiten. Hiermit ist die Untersuchung der Prozessdimensionen negativer Klassifikationen angesprochen. Dabei interessiert vor allem, in welcher Weise stigmatisierende Zuschreibungen in die Interaktionen zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen eingehen und welche Kontextbedingungen für unterschiedliche Austragungsformen von Klassifikationskämpfen verantwortlich sind. So werden jene sozialen Bedingungen analysiert, unter denen negative Klassifikationen nicht nur als solche bestehen, sondern an bestimmte Sozialgruppen aktiv adressiert werden und sich »hidden transcripts« in »public transcripts« (Scott 1990) verwandeln. Dabei soll allerdings der Umstand nicht aus dem Blickfeld geraten, dass neben der direkten Zuschreibung abwertender Attribute mit verborgenen »Strategien der Herablassung« und mit Ausdrucksformen zu rechnen ist, die Verachtung auf subtile Weise zu verstehen geben (vgl. Bourdieu 1982: 737; Bourdieu/Wacquant 1996: 177 f.). Von großer Bedeutung auf dieser zweiten, prozessbezogenen Analyseebene sind die Chancen der symbolischen Gegenwehr, über die negativ klassifizierte Akteure verfügen. Die dritte Ebene der Untersuchung widmet sich den Integrationsfolgen von negativen Klassifikationen und Klassifikationskämpfen. Welche Wirkungen haben diese auf die Integrationschancen der beteiligten Personen und Sozialgruppen? Inwiefern schränken negative Klassifikationen in lokalen Kontexten die Handlungs- und Verhandlungsmacht der betroffenen Gruppen und Individuen ein? Vermindern sie die Möglichkeiten zur Repräsentation ihrer Bedürfnisse und schmälern sie die Aussichten auf die Durchsetzung ihrer Interessen? In welchem Maße tragen sie dazu bei, Sozialbeziehungen zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen zu unterbinden und den sozialen Austausch auf die jeweilige Eigengruppe zu beschränken? Prozesse der Generierung und Adressierung negativer Klassifikationen in den alltäglichen Interaktionen zwischen verschiedenen Sozialgruppen lassen sich nur mit einem explorativen Design untersuchen. Daher stützt sich die Studie auf die Methoden ethnographischer Feldforschung und sozialwissenschaftlicher Hermeneutik. Sie knüpft dabei an die Vorgehensweise der »aufsuchenden Sozialforschung« an, die aus der Chicago School of Sociology hervorgegangen ist und soziale Gruppenprozesse unmittelbar in ihren »natürlichen« Handlungskontexten untersucht (vgl. Burgess 1995; Hammersley/Atkinson 1995; Amann/Hirschauer 1997; Neckel 1997a und 1999). Gemäß dieser methodologischen Grundorientierung legt die Untersuchung lokale Fallstudien vor, die unter Anwendung der formal am weitesten entwickelten Methodologie ethnographischer Feldforschung, der
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Grounded Theory, entstanden sind. Die Fallstudien folgen dem Prinzip des »theoretischen Sampling«, bei dem Erhebung und Auswertung untrennbar miteinander verwoben sind. Bei diesem Vorgehen hängt der Einschluss je weiterer Fälle vom jeweils erreichten Reflexionsstand der soziologischen Analyse ab, bis eine »theoretische Sättigung« erreicht ist. Die Datenerhebung kann nach diesem Prinzip dann als abgeschlossen gelten, wenn vom Einbezug weiterer Vergleichsfälle auf der konzeptionellen Ebene keine neuen Erkenntnisse mehr zu erwarten sind (vgl. Glaser/Strauss 1967; Strauss 1994; Strauss/Corbin 1996). Die Untersuchungsfelder der Studie sind lokale Settings, in denen alltägliche Bezüge zwischen unterschiedlichen Sozialgruppen bestehen und sich die Interaktionen in dichten städtischen Räumen vollziehen. Solche lokalen Settings wurden in zwei sozial benachteiligten Stadtteilen untersucht. Das erste Untersuchungsgebiet liegt in Barren, einer Stadt im Ruhrgebiet, die etwas mehr als 120.000 Einwohner zählt. Als Stadtteil wurde Barren-Ost ausgewählt, ein traditionelles Arbeiterviertel mit gut 13.000 Einwohnern. Der Stadtteil erlebte einen über Jahrzehnte sich hinziehenden, erst kurze Zeit vor Beginn der Untersuchung abgeschlossenen Rückzug des Steinkohlebergbaus und hat nun mit den typischen Strukturproblemen des Ruhrgebiets zu kämpfen. Der am Rande Barrens gelegene Stadtteil, dessen Sozialgeschichte seit seiner Entstehung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von einer Monostruktur des Bergbaus bestimmt war, gilt als ein soziales Problemgebiet. Zwei wichtige Zahlen bestätigen dies: Die Arbeitslosenrate lag im Mai 2004 bei 16,9 Prozent, die Sozialhilfedichte betrug 9,9 Prozent der Wohnbevölkerung. Der Ausländeranteil belief sich zum gleichen Zeitpunkt auf 10,6 Prozent und lag damit nur knapp über dem Durchschnitt der Gesamtstadt. Dennoch wird Barren-Ost als ein Stadtteil angesehen, der besonders stark von türkischen Migranten geprägt ist. Diese von den objektiven Zahlen abweichende Wahrnehmung liegt insbesondere darin begründet, dass in diesem Stadtteil mehrere Moscheegemeinden und türkische Geschäfte ihren Sitz in gut sichtbarer Lage haben. Es geht hier, wie ein Bewohner im Interview einmal sagt, um »gefühlte Zahlen«. Der zweite Stadtteil liegt im baden-württembergischen Raisfurth, das mit seinen über 300.000 Einwohnern durchaus großstädtischen Charakter hat. Beim innenstadtnahen Untersuchungsgebiet, Iderstadt-Süd, handelt es sich wie bei Barren-Ost um ein altes Arbeiterviertel, das in den Gründerjahren vor der Wende zum 20. Jahrhundert im Zuge der Errichtung von Industriebetrieben entstand, die hier allerdings von Anfang an eine recht diversifizierte Branchenstruktur aufwiesen. Der Stadtteil zählt heute etwas mehr als 19.000 Einwohner und zeichnet sich durch einen hohen Anteil sozial schlechter gestellter Bevölkerungsschichten aus. Auch hier sind die Folgen der Deindustrialisierung deutlich zu spüren. Iderstadt-Süd wies Mitte des Jahres 2004 mit 13,8 Prozent eine für die regionalen Verhältnisse hohe Arbeitslosenrate auf und rangierte auch bei den Sozialhilfeempfängern mit 11,8 Prozent auf hohem Niveau. In ethnischer Hinsicht ist der Stadtteil sehr heterogen: Der Ausländeranteil lag im Mai 2004 bei 42,7 Prozent. In dem wesentlich höheren Anteil von Migranten an der Wohnbevölkerung besteht hinsichtlich der Sozialdaten auch der größte Unterschied zwischen Iderstadt-Süd und Barren-Ost. Zu Iderstadt-Süd gibt es zwei sich überlagernde Beschreibungen: Von außen wie von innen wird der Stadtteil oft als schillerndes »Multikulti-Viertel« mit »urbanem Flair« beschrieben. Gleichzeitig gilt Iderstadt-Süd allgemein als ein Stadtteil mit multiplen sozialen
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Problemen (»Raisfurther Bronx«), dessen soziales Gleichgewicht aufgrund seines hohen Anteils sozial benachteiligter Bevölkerungsschichten und seiner ethnisch heterogenen Bewohnerschaft gefährdet ist. Durch das Rotlichtviertel am Rande des Stadtteils und den fortwährenden Zuzug von Migranten fühle man sich, so war im Verlauf der Untersuchung zu hören, als die Raisfurther »Entsorgungsanlage«; ein Stadtteilbewohner berichtet wiederum, dass Wohnungssuchende von außerhalb fragen, ob man »automatisch einen Waffenschein« bekomme, wenn man sich hier niederlasse. Zwischen dem liberalen Stadtteil, der von einer friedlichen Koexistenz von Kulturen, Schichten und Milieus geprägt ist, und dem problembeladenen »Revolverviertel« liegen also die oft weit auseinander liegenden Beschreibungen von Iderstadt-Süd. Abb. 1: Bevölkerungsstrukturen in den Untersuchungsgebieten Barren-Ost
(Stadt Barren) Iderstadt-Süd
(Stadt Raisfurth)
Einwohnerzahl
13.474
(124.815)
19.375
(325.202)
Arbeitslosenrate
16,9 %
(12,4 %)
13,8 %
(8,3 %)
Sozialhilfedichte
9,9 %
(5,6 %)
11,8 %
(6,1 %)
Ausländeranteil
10,6 %
(9,8 %)
42,7 %
(20,2 %)
Quellen: Statistikstellen der Städte Barren und Raisfurth. Bis auf die Arbeitslosenraten von Iderstadt-Süd und Raisfurth, die sich auf Juni 2004 beziehen, geben alle Daten den Stand vom Mai 2004 wieder.
Punktuell erstreckte sich die Datenerhebung in beiden Untersuchungsgebieten über deren engere Grenzen hinaus. In Barren-Ost wurde eine gehobene Einfamilienhaussiedlung in die Untersuchung einbezogen, die zwar formal zum Stadtteil gehört, sich aber deutlich von diesem abhebt. Die Siedlung am Stielmusfeld, wie sie genannt wird, befindet sich in unmittelbarer Nachbarschaft zum ärmlichsten Teil des Stadtteils, von dem sie sich durch einen hohen Sichtschutz und Abwehrzaum deutlich abgrenzt. Vom Rest des Stadtteils unterscheidet sich die Siedlung insbesondere durch ihre gut situierte Bewohnerschaft, die von der Führungskraft in Industrie und Handel bis zu Lehrberufen reicht. Analog dazu wurden im Raisfurther Untersuchungsgebiet ausgewählte Akteure und Gruppen aus dem unmittelbar angrenzenden Stadtteil, Iderstadt-Nord, in das Sample aufgenommen. Iderstadt-Nord ist in seinem Kernbereich von einer Dienstleistungsmittelschicht geprägt und wird zu den gehobenen Wohnlagen gerechtet. Der Stadtteil trug schon um 1900 den Beinamen »Musebrotviertel« und wurde seit jeher von besser situierten Bevölkerungsgruppen bewohnt, die sich »Mus« (Marmelade) auf dem Brot leisten konnten. Die Berücksichtigung der Stadtrandsiedlung in Barren-Ost sowie von Iderstadt-Nord erfüllt für die Studie zwei Funktionen: Erstens sollen die damit erfassten strukturtypischen Zuschreibungen, die Akteure aus privilegierten sozialen Lagen an benachteiligte Bevölke-
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rungsgruppen aus den beiden eigentlichen Untersuchungsgebieten richten, die Datenbasis ergänzen. Zweitens erlaubt es die Einbeziehung von Bewohnern der beiden benachbarten Gebiete, den Blick von außen auf die untersuchten Stadtteile insgesamt zu erfassen. Dies ist nicht zuletzt deswegen von Bedeutung, weil das negative Image, das ihre Außenwahrnehmung prägt, einen Gegenstand negativer Kategorisierungen innerhalb der beiden Stadtteile darstellt. Die beiden Stadtteile, in denen die Untersuchung durchgeführt wurde, erwiesen sich schließlich als ideale Kontrastfälle – und dies nicht nur aufgrund des großen Unterschieds hinsichtlich des Anteils von Migranten an der Statteilbevölkerung. Darüber hinaus können die völlig anders gearteten Austragungsformen von Klassifikationskämpfen in Barren-Ost und Iderstadt-Süd als paradigmatische Fälle für zwei verschiedene Modi der Integration gelten, denen wiederum spezifische Desintegrationsgefahren entsprechen. Die Datenerhebung zielte darauf ab, die negativen Klassifikationen und Klassifikationskämpfe zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen zu erfassen, die sich hinsichtlich vertikaler und horizontaler Ungleichheiten unterscheiden. Was ethnische Zugehörigkeiten betrifft, beschränkte sich die Untersuchung weitgehend auf die autochthone und die türkischstämmige Bevölkerung. Für die Auswahl der türkischen Migrantengruppe sprachen von vornherein nicht nur forschungspragmatische Gründe: Sie bildet in beiden Untersuchungsgebieten die weitaus größte Ausländergruppe. Im Mai 2004 waren in Barren-Ost 47 Prozent, in Iderstadt-Süd 44 Prozent aller Nichtdeutschen türkische Staatsangehörige. Bald sollte sich zudem herausstellen, dass die türkischstämmige Bevölkerung in beiden Untersuchungsgebieten ganz besonders häufig zur Zielscheibe stigmatisierender Zuschreibungen wird (vgl. auch Weiss 2002). Die türkischstämmige gilt bei der deutschen Bevölkerung als eine aufgrund ihrer kulturellen und religiösen Andersartigkeit besonders schwer integrierbare Einwanderergruppe und als Synonym für »Fremde« an sich. Vor der eigentlichen Datenerhebung wurden in Barren-Ost und Iderstadt-Süd je vier Experteninterviews durchgeführt, die der Erschließung der Untersuchungsgebiete und der Anbahnung wichtiger Feldkontakte dienten. Nach dieser ersten Sondierungsphase, die auch das Studium sozialgeschichtlicher Quellen und sozialstruktureller Daten umfasste, kamen unterschiedliche Erhebungsmethoden zum Einsatz. Ein bedeutender Teil des empirischen Materials stammt aus Beobachtungsdaten. Die Feldforscher haben »natürliche Situationen« aufgesucht, in denen Klassifikationspraktiken zu beobachten waren, ohne erst initiiert werden zu müssen. So wurden eine ganze Reihe von Situationen in zahlreichen Feldaufenthalten erkundet und in Gesprächs- oder Beobachtungsprotokollen festgehalten, in denen Angehörige verschiedener Sozialgruppen unmittelbar – und teilweise »unfreiwillig« – miteinander kommunizierten oder kollektiv über andere sprachen. Um auch jene Klassifikationen zu erfassen, die Akteure nicht öffentlich äußern und sich daher nicht direkt beobachten lassen, wurden insgesamt sechs Gruppendiskussionen und 45 leitfadengestützte Einzelinterviews durchgeführt. Die drei in beiden Untersuchungsgebieten abgehaltenen Gruppendiskussionen fanden bei lokalen Organisationen statt, deren Mitglieder oder Klienten vor dem gesellschaftlichen Hintergrund zunehmender sozialer Ungleichheiten oder bereits vorhandener Informationen aus dem Feld in besonderer Weise als Adressaten oder Urheber stigmatisierender Zuschreibungen in Frage kamen. So nahmen Besucher von Arbeitslosenzentren sowie Mitglieder von Kirchengemeinden, Sport- und Migrantenvereinen an den Gruppendiskussionen teil; die natürlichen Gruppen wurden dabei nicht
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gemischt, sondern blieben – gemäß dem Zweck der Gruppendiskussionen – unter sich. Bei der Auswahl der Interviewpartner waren zwei Kriterien entscheidend: Zum einen wurden Personen ausgewählt, die in den direkt beobachteten Situationen als Akteure auftraten, also in Klassifikationsvorgänge involviert waren und dazu weitere Informationen oder Vertiefungen aus je spezifischen Perspektiven liefern konnten. Zweitens ging es darum, bei den Interviews eine Streuung auf den Ebenen vertikaler und horizontaler Ungleichheiten, also eine sozialstrukturelle Varianz zu erreichen: Die Interviewpartner reichten vom mittelständischen Unternehmer bis zum Sozialhilfeempfänger und gehörten damit verschiedenen sozialen Schichten an; des Weiteren wurden Personen unterschiedlicher ethnischer Zugehörigkeit, verschiedenen Alters und Geschlechts interviewt. Eine Sammlung relevanter schriftlicher Dokumente vervollständigte die Datenbasis der Untersuchung. Zu diesen Dokumenten zählten Artikel und Leserbriefe aus Lokalzeitungen, Konzepte und Informationsmaterialien sozialer Einrichtungen, Dokumente der Stadtverwaltungen zu lokalpolitischen Entscheidungen, Korrespondenzen der Akteure im Feld sowie Protokolle von Zusammenkünften lokaler Parteigremien und Interessengruppen. Die Auswertung der Gesprächsprotokolle und Beobachtungsdaten aus der Feldforschung, der transkribierten Gruppendiskussionen und Einzelinterviews sowie der archivierten Dokumente erfolgte nach dem dreistufigen Kodierverfahren der Grounded Theory (Strauss/Corbin 1996: 39 ff.). Im Zuge der Auswertungsstufen des offenen, axialen und selektiven Kodierens wurden sukzessive die analytischen Konzepte entwickelt, die es erlaubten, Klassifikationen und Klassifikationskämpfe auf ihre innere Struktur und Dynamik, ihre gesellschaftlichen Ursachen und Wirkungen hin systematisch zu untersuchen. Mit dem Ziel, eine gegenstandsbezogene Theorie der Integrationsfolgen negativer Klassifikationen in sozial benachteiligten urbanen Quartieren zu entwickeln, bediente sich die Untersuchung der »constant comparative method« (Glaser/Strauss 1967: 101 ff.). Dabei bezogen sich die vergleichenden Analysen auf unterschiedliche Klassifikationsvorgänge sowohl innerhalb der beiden Stadtteile als auch zwischen den Stadtteilen mit ihren jeweils verschieden gelagerten Ausgangsbedingungen. Die auf diese Weise erstellten exemplarischen Fallstudien, die im Folgenden vorgestellt werden, können freilich keinen Anspruch auf Repräsentativität in Bezug auf eine bestimmte Population reklamieren. Gleichwohl beanspruchen unsere Fallstudien, verallgemeinerbare Forschungsergebnisse zu präsentieren, indem sie auf die Entdeckung von Zusammenhängen abzielen und Strukturgesetzmäßigkeiten der klassifikatorischen Praxis in urbanen Nachbarschaften freilegen wollen. Der Fallvergleich ermöglicht es, die Auswirkungen bestimmter Faktoren – objektiver struktureller Gegebenheiten, quantitativer Gruppenkonstellationen, kultureller Deutungsgewohnheiten, normativer Bewertungsmuster und bestimmter Prozessdynamiken – anzugeben, um schließlich für alle Phänomene, die hinsichtlich ihrer Entstehung und Transformation strukturell vergleichbar sind, die spezifischen Möglichkeiten ihrer Entwicklung aufzeigen zu können. Die Generalisierbarkeit der hier dargestellten Forschungsergebnisse beruht demnach nicht auf der Repräsentativität des Samples, sondern auf der Anwendbarkeit der entwickelten Konzepte auf Klassifikationsvorgänge gleicher Art. In diesem Sinne spricht die Grounded Theory von einer »Repräsentativität der Konzepte« (Corbin/Strauss 1990: 9; Strauss/Corbin 1996: 161 f.), die auch die folgenden Ausführungen für sich beanspruchen.
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Unserer Fragestellung entsprechend, werden die empirischen und konzeptionellen Ergebnisse der Studie in zwei Schritten dargestellt. Der erste widmet sich einer systematisierenden Rekonstruktion jener Semantiken, die in den beiden Untersuchungsgebieten die wechselseitigen Negativbewertungen zwischen verschiedenen Bewohnergruppen bestimmen (2.). Der zweite Schritt geht auf verschiedene Austragungsformen von Klassifikationskämpfen ein und arbeitet deren Auswirkungen auf die Integrationschancen der beteiligten Akteure und Gruppen heraus (3.).
2. Semantiken negativer Klassifikationen Die Systematik der Darstellung der in Barren-Ost und Iderstadt-Süd vorherrschenden Klassifikationsmuster folgt der Unterscheidung zwischen »graduellen« und »kategorialen« Klassifikationen: Bewertungen der Differenz bzw. der Andersartigkeit (vgl. Beitrag A.I). Diese grundlegende Unterscheidung betrifft die formale semantische Struktur von Klassifikationen und bezieht ihre soziologische Relevanz daraus, dass graduelle und kategoriale Semantiken der Klassifizierung die Integrationschancen der betroffenen Sozialgruppen in ganz unterschiedlicher Weise tangieren. »Graduelle« Klassifikationen sind konfliktreich, aber nicht notwendigerweise desintegrativ. »Kategoriale« Klassifikationen hingegen tendieren zum sozialen Ausschluss.
2.1 Zentrale Rolle von Ethnizität Ein erstes – und in dieser Weise unerwartetes – Ergebnis der Studie besteht darin, dass in beiden Untersuchungsgebieten negative Klassifikationen den Ton angeben, die sich an ethnischen Merkmalen orientieren. Die ethnische Zugehörigkeit bildet sowohl in BarrenOst als auch in Iderstadt-Süd das, was Everett Hughes (1971) als den »master status« von Personen bezeichnet hat. Deutschsein oder Nichtdeutsch- bzw. Türkischsein sind die bestimmenden Merkmale der wechselseitigen Wahrnehmung. Bei negativen Klassifikationen zwischen Mitgliedern der deutschen und der türkischen1 Bevölkerung treten andere Merkmale hinter die ethnische Zugehörigkeit zurück. Die Ethnizität der Akteure wirkt wie ein Filter für andere Klassifizierungen, und die Bewertung weiterer Merkmale hängt von der jeweiligen ethnischen Zugehörigkeit ab. Bestimmte Ausprägungen vertikaler Ungleichheiten erfahren erst dann eine negative Bewertung, wenn sie mit gewissen ethnischen Gruppen verbunden werden. Dies ist etwa dann der Fall, wenn ökonomisch erfolgreiche türkische Migranten als »dubiose Geschäftemacher« angeschwärzt werden oder wenn der angeblich so »fordernde« Umgang von türkischen Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern mit dem Sozialstaat problematisiert wird. An diesen Beispielen lässt sich bereits erkennen, dass innerhalb ethnisierender Zuschreibungen Merkmale vertikaler Ungleichheiten eine durchaus große Rolle spielen. Der Bewertung aller Unterschiede in Bildung, Einkommen und beruflichem Status ist demnach auf der 1
Die Bezeichnungen »deutsch« und »türkisch« stehen hier und im Folgenden nicht für die Staatsangehörigkeit von Personen, sondern für ihre ethnische Fremd- und Selbstdefinition.
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Ebene urbaner Nachbarschaften in benachteiligten Stadtteilen – und nur davon ist hier die Rede – eine Sortierung nach ethnischen Kriterien vorgelagert. In beiden Untersuchungsgebieten sind allerdings auch negative Klassifikationen gebräuchlich, die sich ausschließlich auf vertikale Ungleichheiten beziehen. So kennen die Bewohner von Barren-Ost die Figur des »Sesselpupsers«. Darin ist eine Reminiszenz an das alte Bergarbeitermilieu zu sehen, in dem harte physische Arbeit eine Quelle sozialer Respektabilität war und white-collar-Berufe mit scheelem Blick betrachtet wurden. Bisweilen werden, wie erwartet, auch Arme, Sozialhilfeempfänger und Arbeitslose negativ klassifiziert. Während aber bei ethnischen Klassifikationen stets bestimmte Gruppen aus der Nachbarschaft als Adressaten genannt werden, bleiben Klassifikationen, die sich auf sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen beziehen, meist im Abstrakten und Ungefähren. So stellen sowohl deutsche als auch türkischstämmige Stadtteilbewohner unter Verweis auf mediale Berichte – etwa über »Florida-Rolf«, »Pool-Harry« oder »Thailand-Angelika« – verschiedentlich fest, dass es unrechtmäßige Empfänger von Sozialleistungen gebe. Die entsprechenden Zuschreibungen werden aber recht selten auf konkrete Personen oder Gruppen aus der sozialräumlichen Nachbarschaft bezogen – es sei denn, es handelt sich bei den Klassifizierten um Migranten und bei den Klassifizierenden um Einheimische. Abgesehen von diesem speziellen Fall werden diejenigen, die von sozialstaatlichen Leistungen abhängig sind, nicht stigmatisiert. Denn in beiden Untersuchungsgebieten ist das Bewusstsein weit verbreitet, dass prekäre soziale Lagen gegenwärtig in starkem Maße eine Folge ökonomischer Entwicklungen sind. Eine individualisierende und mit abwertenden Attributen versehene Zuschreibung der Verantwortung für solche Soziallagen ist im Verlauf der Untersuchung nur selten erkennbar geworden. Lokale Zuschreibungen unterscheiden sich demnach von medialen und politischen Diskursen, die in regelmäßigen Abständen »Sozialschmarotzer« oder »arbeitslose Faulenzer« in die Schlagzeilen bringen (Uske 1995; Oschmiansky 2003). In urbanen Nachbarschaften existiert ein klassifikatorischer Eigensinn, der eine symbolische Ordnung eigener Art konstituiert. Hier bildet die Ethnizität – gewiss im Unterschied zu anderen gesellschaftlichen Kontexten – die klassifikatorische Leitdifferenz der Alltagskommunikation. Symbolische Ordnungen haben stets eine Vielzahl von Elementen, die eine selbstverständliche und unhinterfragte Geltung besitzen. Gegenstand von Klassifikationskämpfen indes können nur jene Aspekte sein, die zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt und in einem bestimmten gesellschaftlichen Kontext – wie sozialräumliche Nachbarschaften – umstritten sind und daher thematisiert werden. In sozial benachteiligten Quartieren werden derartige Bewertungskämpfe gegenwärtig von interethnischen Klassifikationen dominiert. In ihnen wird ein Kampf darum ausgetragen, inwieweit türkische Migranten zur gleichberechtigten und gleichwertigen Teilnahme und Teilhabe an der lokalen Gesellschaft zugelassen werden sollen. Es geht um die legitime Deutung des Fortbestands oder der Auflösung interethnischer Disparitäten und damit um einen Teil der symbolischen Ordnung sozialer Ungleichheit, dessen Beschaffenheit für die gesellschaftliche Entwicklung der nächsten Jahrzehnte ganz entscheidend sein wird. Die folgenden beiden Abschnitte stellen nun die Semantiken dar, die jene Auseinandersetzungen um die symbolische Ordnung interethnischer Ungleichheit beherrschen.
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2.2 Interethnische Klassifikationen des graduellen Typs Wenn von »interethnischen« Klassifikationen die Rede ist, liegt der Gedanke nahe, dass diese prinzipiell keinen graduellen Charakter besitzen können. Werden ethnische Kategorien nicht immer in einer kategorialen Weise verwendet? Die Attribute »deutsch« und »türkisch«, so könnte man annehmen, werden doch stets im Sinne eines exklusiven Entwederoder gebraucht, wenn man von zusammengesetzten Formen wie »deutsch-türkisch« einmal absieht. Dem ist durchaus zuzustimmen: Die Bewohner der untersuchten Stadtteile sprechen, wenn es nicht gerade um Personen aus ethnisch gemischten Familien geht, in einer Weise von »Deutschen« und »Türken«, die kein Mehr oder Weniger zulässt. Sie berichten auch kaum von irgendeinem Zweifel darüber, ob ein Individuum mehr der türkischen oder der deutschen Seite zuzuschlagen sei. In der alltäglichen Wahrnehmung ist die zugeschriebene ethnische Zugehörigkeit, und nicht etwa die erworbene Staatsbürgerschaft entscheidend. Wenn Ethnizität als solche in der Klassifikationspraxis der Akteure ein kategoriales Merkmal ist und bleibt, so trifft dies noch nicht automatisch auf alle Semantiken interethnischer Zuschreibungen zu. Wenn hier von »interethnischen« Klassifikationen die Rede ist, geht es um Zuschreibungen, die sich auf ethnische Gruppen beziehen, und nicht eo ipso um Zuschreibungen, die einen ethnischen Inhalt haben. Die drei graduellen Klassifikationsmuster, die in diesem Abschnitt präsentiert werden und sich allesamt auf türkischstämmige Akteure beziehen, haben denn auch bestimmte Verhaltensmerkmale oder die quantitative Zahl der Türken im Stadtteil zum Gegenstand. Ihre Semantik ist intern also nicht durch ein ethnisches Merkmal bestimmt, sondern sie richten sich lediglich – aber keineswegs zufällig und durchaus systematisch – gegen eine bestimmte ethnische Gruppe.
2.2.1 »Protestantische Ethik im türkischen Gewand« In beiden Untersuchungsgebieten verweisen autochthone Bewohner immer wieder auf die arbeitsame und verzichtbereite Lebensführung der türkischstämmigen Bevölkerung. Deren Handeln sei von einer familiären Disziplin und Sparsamkeit bestimmt. Sie attestieren ihren Nachbarn damit, wie man in Abwandlung eines Ausdrucks von Monika Wohlrab-Sahr (1998) sagen kann, eine »protestantische Ethik im türkischen Gewand«.2 Diese Ethik, die immer schon eine Affinität zu den »erst im Aufsteigen begriffenen Schichten« hatte (Weber 1988b: 195), fassen die deutschen Betrachter als einen in der eigenen Geschichte verblassten Traditionsbestand auf, von dem nun besonders türkische Geschäftsleute geprägt seien und der ihnen einen unverdienten ökonomischen Vorteil verschaffe. In den einschlägigen Aussagen erscheint der unternehmerisch agierende Teil der türkischen Bevölkerung als 2
Im Folgenden dürfte deutlich werden, dass es hier nicht im wörtlichen Sinn um protestantische, ja überhaupt nicht um religiöse Vorstellungen geht. Vielmehr werden Facetten eines Zuschreibungsmusters aufgezeigt, das bei türkischen Akteuren eine innerweltliche Askese mit einer starken Orientierung auf das Berufs- und Wirtschaftsleben verbunden sieht. Genau diese Verbindung hat Max Weber (1988b) als ein Spezifikum protestantischer Glaubensrichtungen zur Zeit der Entstehung des modernen Kapitalismus beschrieben. Von einer »protestantischen Ethik« ist hier also lediglich in einem übertragenen Sinn die Rede; etwa in der Weise, in der man auch von einer »Protestant Ethic analogy in Asia« (Bellah 1970) sprechen kann.
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rückständig und zugleich als gefährliche Konkurrenz (vgl. Semyonov/Raijman/Gorodzeisky 2006: 428). Ein rigoroses Arbeitsethos zu haben und zum Bedürfnisaufschub fähig zu sein, sind dabei Eigenschaften, die keineswegs als generell negativ beurteilt werden. Unabhängig von ihrer jeweiligen Bewertung transportieren solche Zuschreibungen kein kategoriales Bewertungsschema, zumal es nicht nur auf türkische, sondern auch auf deutsche Unternehmer angewandt werden kann. Es geht dabei um graduelle Abstufungen prinzipiell gemeinsamer Eigenschaften, und die negative Wertung bezieht sich auf ein Übermaß an Fleiß und Geschäftstüchtigkeit, asketischer Disziplin und Sparsamkeit. Ein Beispiel dafür liefert Herr Klausner, ein Monteur Mitte 40 aus Barren-Ost, der in einem Gespräch am Tresen einer Gaststätte über »die Türken« im Stadtteil sagt: »Sie legen alles zusammen, auch die Kinder arbeiten für ihre Eltern, bis sie 30 Jahre alt sind. Das geht in deutschen Familien nicht.« Der Nachwuchs in deutschen Familien, so seine Erläuterung, wolle früh eine eigene Wohnung haben und belaste dadurch die Familienkasse. Seine eigenen Kinder werde er sicher nicht dazu anhalten können, »erst einmal für das gemeinsame Familieneinkommen zu arbeiten«. Außerdem stellt er fest, dass türkische Familien »wenig Geld für Konsum ausgeben« und »viel besser sparen können«. Hier bietet Herr Klausner eine gewissermaßen kulturalistische Deutung des ökonomischen Vorteils, den die türkische gegenüber der deutschen Bevölkerung besitzen soll und den er vorrangig in einem traditionell geprägten Familienmodell begründet sieht. Innerweltliche Askese und Disziplin, so seine Vorstellung, paaren sich bei türkischen Familien mit einer wenig zimperlichen unternehmerischen Tüchtigkeit. Wie in Barren-Ost ist diese höchst ambivalente Zuschreibung, die Einheimische aus unterschiedlichen Bildungs- und Berufsschichten bewundernd mit »Familiensinn« oder auch despektierlich mit »Clanzusammenhalt« in Verbindung bringen, auch in Iderstadt-Süd anzutreffen. Der 41-jährige Herr Athanassios sieht in den solidarischen Unterstützungsstrukturen den entscheidenden ökonomischen Vorteil türkischer Familienbetriebe, deren Zahl im Stadtteil er gerne reduziert sähe. Der Mann mit einem griechischen und einem deutschen Elternteil ist Inhaber eines Onlineshops für Produkte einer bestimmten Heilpflanze und versteht sich als »waschechten Iderstädter«, dessen Lokalismus sich etwa auch im Stolz auf seinen breiten Raisfurther Dialekt niederschlägt. Bedauernd spricht er von einer althergebrachten und dennoch einträglichen Beschaffenheit türkischer Familienstrukturen: »Da hilft der eine dem andern. Und wenn das gemacht ist, dann wird’s nächste Geschäft aufgemacht und dann hilft der, dem er schon geholfen hat, wieder seinem Bruder oder Schwester oder wie auch immer. Das ist halt eben bei uns nicht. Das ist also ein Hundertprozent-Vorteil bei Türken, also: bei türkischen Familien.« Frau Blattwitz – eine 43 Jahre alte Hausfrau, Mutter von drei Kindern und Mitglied des SPD-Bezirksbeirats von Iderstadt-Nord – sieht den ökonomischen Vorteil der türkischstämmigen Bevölkerung weniger in einem unternehmerischen Geist, als in familiärer Disziplin und Genügsamkeit. Sie berichtet im Interview von einem alteingesessenen Gemüseladen, den »eine junge türkische Familie jetzt übernommen hat«. Laut denkt sie darüber nach, dass »die ganze Familie mit einem Verdienst auskommt, während in einer deutschen Familie, da werden Angestellte genommen, die bezahlt werden müssen. Von daher sind die nicht mehr rentabel und müssen zumachen, zum Teil, oder haben Probleme mit dem Überleben, während in türkischen Familien eben Opa, Tochter, alle mit anpacken. Und dann
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kann so ein Geschäft auch überleben.« Sie persönlich, erklärt Frau Blattwitz, habe damit keine Schwierigkeiten und sie ergänzt: »Ich weiß aber, dass es Mitbürger gibt, die ein Problem darin sehen.« Dieses »Problem«, das Frau Blattwitz anderen zuschreibt, erklärt sie mit der »Angst, dass die Fremden einen überlaufen« und »dass man irgendwo übernommen wird und dann nachher das ein türkischer Stadtteil wird«. In solchen Zuschreibungen, die Frau Blattwitz aus eigener Anschauung kennt, verbindet sich die naturwüchsige Vorteilnahme, die sich aus der familiären Zusammenarbeit und der Genügsamkeit türkischer Geschäftsinhaber ergibt, mit der Vision einer fremden Übernahme (vgl. Abschnitt 2.2.2). In Iderstadt-Nord, wo Frau Blattwitz wohnt, gilt der südliche Nachbarstadtteil als warnendes Exempel. Auch Herr Bachstein, der 63-jährige Besitzer einer traditionsreichen und stadtbekannten Konditorei in Iderstadt-Süd, führt die ökonomischen Erfolge der türkischstämmigen Bevölkerung auf eine bestimmte Arbeitsethik zurück: auf Strebsamkeit und Fleiß, wie sie sprichwörtlich mit einem gewissen Menschenschlag süddeutscher Provenienz verbunden werden. Im Interview behauptet Herr Bachstein, dass sämtliche Häuser im Stadtteil, die auf dem freien Markt angeboten werden, von Türken gekauft würden, und erklärt dies mit »Wertvorstellungen«, die den Einheimischen abhanden gekommen seien: »Die wollen zuallererst ’n Haus haben, wenn sie ein klein bisschen zu Vermögen kommen. Das ist in Deutschland nimmer so. Das war früher so, früher war’s den Schwaben nachgesagt: Schaffe, schaffe, Häusle baue. Aber bei den Ausländern ist das ganz stark.« Diese gleichsam altschwäbische Einstellung ist Herrn Bachstein zufolge der Grund dafür, dass gerade die »Türken« bei Hausverkäufen in Iderstadt-Süd »zum größten Teil zum Zug kommen«. Eine solche Entwicklung hält er ihrer Folgen wegen für wenig begrüßenswert. Dadurch verändere sich, so Herr Bachstein, die Struktur der Kundschaft im Stadtteil in einer Weise, die den deutschen Geschäften zum Nachteil gereiche. Dem 64-jährigen Inhaber der Gärtnerei und Blumenhandlung Freiligrath in Barren-Ost wiederum ist die Zunahme türkischer Stadtteilbewohner ein Ärgernis, weil diese Blumen, wie er erklärt, als verwerflichen »Luxus« betrachten. Diese asketische Haltung kontrastiert er mit deutschen Bergleuten alten Schlages, die am Zahltag immer große und recht kostspielige Blumensträuße für ihre Frauen gekauft hätten. Einzelne Akteure wie Herr Freiligrath oder Herr Bachstein haben je besondere Gründe, das asketische Arbeitsethos der türkischstämmigen Stadtteilbewohner zu kritisieren; teilweise hängen diese unmittelbar mit Geschäftsinteressen zusammen, lassen sich aber keineswegs darauf reduzieren. In vielen Fällen hat das Klassifikationsmuster, welches türkischen Stadtteilbewohnern im Allgemeinen, insbesondere aber Geschäftsleuten und dem Personal von Familienbetrieben despektierlich eine »protestantische« Ethik bescheinigt, mit unmittelbaren ökonomischen Interessen gar nichts zu tun. Herr Loschkat, ein 66-jähriger ehemaliger Sozialarbeiter, sagt in einem Gespräch mit drei Mitgliedern eines Barrener Tauschrings über die ökonomischen Vorzüge türkischer Geschäfte: »Und jetzt mit diesen Geschäften, um weiter bestehen zu können, ich denke einfach, das sind Familienbetriebe, die haben nicht so hohe materielle Vorstellungen wie wir. (…) Und die leben in größeren Familien. Das sind Familienbetriebe größtenteils und können dann auch die Preise niedriger machen. Eben Personal aus dem Familienkreis. Oder die bringen alle Jahre frisches Blut aus der Türkei mit.« Eine gewisse Anerkennung des
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ökonomischen Beharrungsvermögens geht hier mit der subtilen Abwertung der türkischen Familienstruktur als einer kollektiven wirtschaftlichen Einheit einer. Herr Loschkat nimmt dieser gegenüber paternalistisch den Standpunkt des modernen Individualisten und des hedonistisch Aufgeklärten ein. Die Zuschreibung einer »protestantischen« Arbeitsethik und Familienmoral besitzt ein Pendant bei ihren Adressaten. Auf der kognitiven Ebene sehen sich viele türkische Aufsteiger durchaus so, wie sie von den deutschen Nachbarn betrachtet werden. Aber sie werten ihr Ethos ohne jede Ambivalenz positiv. Mehr noch, sie bedienen sich dieses Maßstabs, um die Lebensführung und Mentalität der ortsansässigen deutschen Bevölkerung abzuqualifizieren (vgl. dazu Abschnitt 2.3.1).
2.2.2 »Expansiver Übernahmewille« Ein weiteres graduelles Klassifikationsmuster fußt auf einer Wahrnehmung, die bei türkischstämmigen Stadtteilbewohnern expansive Machtansprüche am Werk sieht. »Die wollen alles von uns übernehmen« ist eine gängige Aussage, mit der ihre deutschen Nachbarn diese Wahrnehmung zum Ausdruck bringen. Zuschreibungen dieser Art richten sich gegen türkischstämmige Personen, die zuvor von Deutschen betriebene Geschäftslokale bewirtschaften oder ehemals in deutschem Besitz befindliche Immobilien erworben haben; sie können aber auch den türkischen Fußballclub treffen, der einen maroden deutschen Traditionsverein beerbt, oder die türkische Moscheegemeinde, die mit einem Minarettbau eine selbstbewusste Präsenz im Stadtteil zeigt und eine kommunale Anerkennung ihrer Jugendarbeit einfordert. Die Einheimischen kritisieren nicht nur die Aneignung dessen, was sie als ihr angestammtes Terrain betrachten, sondern sie beschuldigen die erfolgreichen türkischen Geschäftsleute und aktiven Migrantenvereine zugleich, von einem raumgreifenden Expansionsdrang geleitet zu sein. Dieses Klassifikationsmuster schießt in seinem konkreten Gebrauch jedoch oft weit über seine primären Adressaten hinaus. Es speist sich aus Ängsten der deutschen Bevölkerung, von den türkischstämmigen Migranten insgesamt überflügelt und deklassiert zu werden. Daher wird das Agieren einzelner Personen oder Gruppen häufig auf die türkischstämmige Bevölkerung insgesamt übertragen. Der »Übernahmewille der Türken« wird zwar negativ beurteilt, aber es scheint dabei meist auch eine Bewunderung für ihre ökonomische Courage durch. Bemäkelt oder auch auf das Schärfste kritisiert wird wiederum ein Zuviel davon. Nur bestimmte Ausprägungen innerhalb eines nichtexklusiven, graduell abgestuften Merkmals fallen der verfemenden Nachrede anheim. Die Zuschreibung eines »expansiven Übernahmewillens« ist bei der einheimischen Bevölkerung quer durch die sozialen Schichten verbreitet und tritt in verschiedenen Ausdrucksformen auf. Der Terraingewinn der türkischstämmigen Bevölkerung wird mitunter nur indirekt und recht subtil mit einer negativen Wertung versehen. Die 41-jährige Frau Dudek, eine alleinerziehende Mutter und zum Interviewzeitpunkt arbeitslose Betriebswirtin, spricht etwa von einem sich erhöhenden »Ausländeranteil an Geschäften« in der Hauptgeschäftsstraße ihres Stadtteils Barren-Ost. Sie begrüßt diese Entwicklung ausdrücklich; aber in der Art und Weise, in der sie dies tut, schwingen auch Obertöne der Missbilligung mit. Wehmütig berichtet sie vom Aussterben kleiner Geschäfte im Stadtteil sowie von
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der vormaligen Schließung des Gemüseladens ihres Vaters, um dann zu sagen: »Ich bin froh, dass überhaupt Ausländer diese Geschäfte übernehmen, dass die nicht auch noch leer stehen.« Die schlechte Alternative des Leerstandes ist der Grund, weshalb Frau Dudek die türkische »Übernahme« von Geschäften billigt und weshalb die in ihrer Formulierung sich mitteilende Abwehr in einem latenten Zustand verharrt. Wo das Klassifikationsmuster explizit wird, zeigt es eine recht große Bandbreite verschiedener Artikulationsweisen. Akademisch gebildete Akteure sprechen etwa von einem »ethnischen Verdrängungswettbewerb«, den türkische Gruppen heraufbeschwörten, indem sie gezielt bestimmte Wohngebiete zu dominieren suchten; aus der Sorge um die Entstehung einer »Mehmetmeile« oder eines »Klein Istanbul« im Stadtteil wird dann unversehens die Gefahr, dass »die eigene Identität überrollt« werde. Vertreter höherer Bildungsgrade wissen dies bisweilen mit einem durch Koranzitate untermauerten »islamischen Herrschaftsanspruch« oder der »typischen Ellenbogenstärke« junger türkischer Männer zu verknüpfen. In der weniger gebildeten Variante dieses Klassifikationsmusters lauteten die Vorwürfe an die türkischstämmige Bevölkerung etwa so: »Die wollen Deutschland aufkaufen«, »Bald müssen wir uns integrieren«, oder einfach: »Die schaffen uns!« Frau Spitz vermag diesen Übernahmewillen unmittelbar am Verhalten der türkischstämmigen Bewohner von Iderstadt-Süd zu beobachten. Die 62-jährige Verwaltungsangestellte der Stadt Raisfurth und langjährige Beauftragte für Sicherheit und Sauberkeit in Iderstadt erzählt in einem Gespräch zunächst missbilligend, dass türkische Wohnungssuchende meist Iderstadt-Süd bevorzugen, weil dort bereits »Brüder, Onkel oder die ganze Familie« wohnten. Frau Spitz wird dann mit dem Hinweis offensiv, in Iderstadt-Süd würden »alte Frauen von den Türken bedrängt«. »Sehr subtil« laufe das ab: »Die machen sich im Treppenhaus extrabreit, damit eine alte Frau kaum vorbeikommt. Und sie fragen diese Frauen: ›Wollen Sie nicht ausziehen?‹« Schließlich bemerkt Frau Spitz mit Blick auf die oft schon verwitweten Frauen, denen ihre türkischen Nachbarn angeblich den Auszug nahelegen: »Ist doch ihre Wohnung und die Wohnung ist ihre Heimat! Und das alles wollen die Türken nicht sehen!« Das Stichwort »Heimat« und dessen befürchteter Verlust scheinen den Horizont der Übernahmegerüchte zu bilden, die aus beobachteten Einzelfällen einen türkischen Generalangriff werden lassen. Den Umstand, dass es in Iderstadt-Süd bereits türkische Banken und viele Geschäfte gebe, in denen man kein Deutsch reden müsse, deutet Frau Spitz in ebendieser Weise: »Man hat sein türkisches Dorf in der deutschen Großstadt oder seine türkische Kleinstadt in der deutschen Großstadt. Und da sind wir doch alles Gäste – geduldet, aber mehr nimmer, das kriege ich immer wieder mit.« Für Herrn Windig, einen 46 Jahre alten Inhaber eines Fotogeschäfts in Iderstadt-Süd, gewinnt die Entwicklung im Stadtteil schon Züge eines sich ankündigenden Ausgrenzungswettlaufs. Er sieht die Gefahr, dass sich der Stadtteil in ein »Ghetto wie ein kleines eigenes Land« verwandelt, »wo alle anderen Menschen, die nicht Türken sind, als Feinde, als Ausländer angesehen werden«. Dieser Aussage lässt er im Interview die Behauptung folgen: »Wenn drei türkische Geschäfte nebeneinander sind, denken die, ihnen gehört der komplette Stadtteil. Und das ist das Problem.« Evident wird dieser Verdrängungskampf für Herrn Windig beispielsweise an der alltäglichen Beobachtung, dass sich die türkischen Obstgeschäfte nicht nur an die Stelle der italienischen und deutschen gesetzt haben, sondern dass sie sich auch »Rechte herausnehmen«, die sie gar nicht haben – etwa indem sie mit
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ihren Ständen den ganzen Gehweg einnehmen und dem »alten Mütterchen« oder der »Mutter mit Kinderwagen« das Passieren erschweren. Mit solchen angeblich beobachtbaren Details will Herr Windig seine Sichtweise als Ergebnis vorurteilsloser Tatsachenfeststellung ausgeben und damit ein Klassifikationsmuster untermauern, dem zufolge die türkischen Bewohner sich über Gebühr und in kecker Manier im Stadtteil breit machen. Vorstellungen eines türkischen Übernahmewillens und drohender Gefahr für die deutschen Eingesessenen sind gerade auch in der am Rande von Barren-Ost gelegenen Siedlung am Stielmusfeld verbreitet. Herr Hofstätter, ein 50-jähriger Industriekaufmann, der vor kurzem arbeitslos geworden ist und nun – wie er sagt – »privatisiert«, berichtet im Interview von der allgemein geteilten Befürchtung eines Einzugs von Türken in der Siedlung. Diese Angst erkläre sich durch den Umstand, dass neuerdings auch türkische Kinder den in der Siedlung gelegenen Kindergarten besuchen. Erst nach dem Interview sagt er dazu in geharnischtem Ton: »Dann dauert es nicht mehr lange, und die Türken werden hier auch wohnen.« Im Interview selbst berichtet er von einem Gespräch, das er kürzlich bei einem Bier mit einem Nachbarn geführt habe, und gibt dazu folgende Erläuterung: »Diese Siedlung hat, sagen wir mal, deutschen kleinbürgerlichen Charakter. Punkt. So. Nicht nur vom Äußeren her, sondern wahrscheinlich auch vom Gedankengut der meisten, die hier sind. Spruch, kurz Klammer auf: ›Kauft hier ein Türke ein Haus, verkaufe ich mein Haus, sofort ziehe ich hier raus.‹ Klammer zu. Punkt.« Dies sage er nur, um »die Mentalität hier darzulegen«, versichert Herr Hofstätter, aber der gesamte Kontext des Interviews lässt unschwer erkennen, dass er einen Soziologen am liebsten mit seiner Haltung konfrontiert, indem er von anderen erzählt, die aussprechen, was er selbst denkt – was keineswegs untypisch ist. Besonders beliebt sind Zitate von türkischstämmigen Stadtteilbewohnern, die andere »Türken« negativ klassifizieren. Der Barrener Monteur Klausner, der bereits einmal zu Wort kam, erklärt: »Die Türken machen uns alle platt. Ich möchte beim Ende von Deutschland nicht dabei sein. Meine Kinder haben hier keine Chance. Die werden nicht drei Kinder haben, damit die dann Sozialhilfeempfänger werden.« Die assoziative Verbindung zwischen der türkischstämmigen Bevölkerung im Stadtteil und der Chancenlosigkeit seiner eigenen drei Kinder erläutert er mit dem lakonischen Satz: »Die Türken warten nur, bis ein Geschäft zumacht und kaufen dann alles auf.« Derart »übernahmewillige Türken« stellen für Herrn Klausner Schreckgespenster dar und lösen bei ihm offenbar massive Zukunftsängste aus, die bis hin zu der Befürchtung reichen, der eigene Nachwuchs werde sich in der Rolle von Sozialhilfeempfängern einer türkischen Übermacht gegenübersehen, die sich zunehmend alle ökonomischen Ressourcen aneignet. Das hier in Rede stehende Klassifikationsmuster entwirft das Szenario einer feindlichen Landnahme, und in den extremeren Varianten kippt es vom Graduellen ins Kategoriale. Dies ist der Fall, wenn die Zuschreibung eines »Übernahmewillens« – wie bei Herrn Klausner oder bei Herrn Windig – in ein Ihr-oder-Wir mündet und sich in ein kategoriales Freund-Feind-Schema transformiert. Die Tatsache, dass mittlerweile viele Häuser und Geschäfte in türkischer Hand sind (vgl. hierzu allgemein Kapphan/König 2005: 271 ff.), wird als Argument gegen Teilnahmeund Teilhabeansprüche der türkischen Bevölkerung verwendet. Ein Beispiel aus Barren-Ost mag dies veranschaulichen. Der Stadtteil gehört zu den Fördergebieten des urbanen Ent-
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wicklungsprogramms Soziale Stadt NRW. In diesem Rahmen hatten verschiedene türkische Vereine auf die Aufforderung des aus Vertretern der Stadtverwaltung und lokalen Interessenverbänden bestehenden Lenkungsgremiums hin öffentlich ihre »Vorschläge und Anregungen« vorgetragen, die im Stadtteil viel Staub aufwirbeln sollten. Auf einer gut besuchten Veranstaltung im Gasthaus Silberling, zu der das CDU-Stadtteilbüro eingeladen hatte, diskutierten dann mehr oder weniger ausschließlich deutsche Stadtteilbewohner über jene Vorschläge. Bei diesen Diskussionen, die ein Feldforscher verfolgte und protokollierte, wurde unter anderem der Vorschlag türkischer Moscheevereine hitzig kritisiert, im kommunal verwalteten Hallenbad Barren-Ost möge ein Sichtschutz eingebaut werden, damit Muslima unbeobachtet und an einem speziellen Frauentag den religiösen Vorschriften gemäß baden können. Als diese Angelegenheit verhandelt wurde, stand ein Mann auf und rief laut: »Die sollen das Bad doch selber bauen, denen gehört ja schon die halbe Essener Straße«! An diesem heftig beklatschten Ausruf, der die Haltung der großen Mehrheit der Anwesenden in knapper Form wiedergab, sind zwei Punkte hervorzuheben. Zum einen nimmt er den türkischen Hausbesitz an der Hauptgeschäftsstraße von Barren-Ost zum Anlass, Ansprüche der muslimischen Bevölkerung auf öffentliche Fördermittel insgesamt zurückzuweisen. Zum anderen hat er einen Unterton, der diejenigen, die auf Seiten der türkischen Migranten Ansprüche erheben, als »rationale Schmarotzer« diskreditiert (siehe Abschnitt 2.3.3).
2.2.3 »Übermäßige Zahl« Ein drittes Klassifikationsmuster problematisiert die Zahl von Migranten, insbesondere von Türken im Stadtteil. Viele Einheimische zeigen sich ob der schieren Anzahl türkischstämmiger Einwohner tief beunruhigt. Es gebe »zu viele Türken«, ist in beiden Untersuchungsgebieten eine unter deutschen Bewohnern weithin geteilte Ansicht. Das Klassifikationsmuster ist demnach recht unabhängig von der objektiven Zahl des türkischstämmigen Bevölkerungsanteils, die in Iderstadt-Süd ja ungefähr viermal höher als in Barren-Ost ist.3 Es handelt sich dabei um eine graduelle Klassifikation: Sie beschreibt eine Relation des Mehroder-Weniger und bezieht sich auf ein abgestuftes Zahlenverhältnis zwischen zwei Bevölkerungsgruppen. Dieses Verhältnis kann allerdings, wie sich zeigen wird, auch in einer Art und Weise in den konkreten Sprachgebrauch Eingang finden, dass aus einer graduellen Relation eine kategoriale Unterscheidung wird. Zunächst einmal fällt im gesamten empirischen Material auf, dass von türkischstämmigen Bewohnern in beiden Untersuchungsgebieten häufig in einer Weise gesprochen wird, als gäbe es »Türken« nur im Plural und als wären singuläre türkische Subjekte kaum anzutreffen. Die türkischstämmigen Stadtteilbewohner werden einmal als eine Ansammlung verschworener »Clans« oder »Clubs« dargestellt, ein andermal ist die Rede von »Trupps«, welche die heimischen Straßen unsicher machen. Der eine meint, bei den Türken lebe im3
Dieses etwas erstaunliche Ergebnis steht im Einklang mit der Erkenntnis, dass gerade in Deutschland das Verhältnis der autochthonen Bevölkerung zu Migranten und diskriminierende Einstellungen nicht von der tatsächlichen, sondern von der wahrgenommenen Größe der Migrantenpopulation abhängen (Semyonov et al. 2004: 696; Semyonov/Raijman/Gorodzeisky 2006: 429).
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mer gleich »der ganze Stamm« im Stadtteil, die andere spricht von »jungen Türken, die sich zuhauf zusammenrotten«. Ein dritter beteuert, in Mietshäusern mit türkischen Bewohnern gehe es »wie im Taubenschlag« zu. Weiterhin sprechen Deutsche aus Barren-Ost und Iderstadt-Süd von einem unerträglichen Auftreten »im Rudel« wie auch von »Scharen« und »türkischen Horden, die uns überrennen«. Alle diese Zuschreibungen verbinden mit den türkischstämmigen Nachbarn die Eigenheit, nur in einem gesichtslosen Kollektiv in Erscheinung zu treten. Die den Türken nachgesagte kollektivistische Verhaltensorientierung steht in einem impliziten Kontrast zur individualistischen Gesellschaft der Autochthonen und färbt auf das Klassifikationsmuster der »übermäßigen Zahl« ab. Die oft beiläufige Verwendung von »Massensymbolen« (Canetti 1960: 82 ff.) und kollektivierenden Verhaltensattributen kann fließend in die Aussage übergehen, es gebe »zu viele Türken« im Stadtteil. Ein Beispiel für einen solchen Übergang findet sich im Interview mit dem Iderstädter Konditormeister Bachstein. Er sagt über die Türken im Stadtteil: »Wissen Sie, es ist halt einfach zuviel. Wir kommen immer wieder auf dasselbe Ding: Es ist einfach zuviel. Wenn’s weniger wären, wär’s besser.« Diese Aussage verbindet Herr Bachstein mit dem Hinweis: »Zu mir hat einmal ein Türke gesagt: ›Vor Wien waren wir schon einmal gestanden, aber diesmal kriegen wir euch schon ganz.‹« Die Assoziationskette, die hier zum Tragen kommt, verknüpft die seines Erachtens zu große Zahl von türkischen Stadtteilbewohnern mit dem Angriff des Osmanischen Reiches auf Mitteleuropa, der immer mit Vorstellungen von Massen, Horden und Bienenschwärmen verbunden wurde (vgl. Said 1978: 59). Weiterhin zeigt Herrn Bachsteins Hinweis exemplarisch, dass das Klassifikationsmuster der zu großen Zahl eine starke Affinität zum Klassifikationsmuster eines feindlichen türkischen Übernahmewillens besitzt. Manchmal wird bereits die bloße Zahl der türkischen Stadtteilbewohner als Zeichen ihrer Bereitschaft interpretiert, den Stadtteil einnehmen zu wollen. Der 55-jährige Herr Freilich, der letzte von einst zahlreichen Metzgern in Iderstadt-Süd, kommentiert den Umstand, dass in seiner Nachbarschaft viele Türken Häuser gekauft haben, mit den Worten: »Aber irgendwann, wenn es mal zu viel wird, dann beginnen die Probleme. Es ist einfach das Zuviele.« Die erreichte Zahl der türkischen Stadtteilbewohner scheint für Herrn Freilich per se inakzeptabel zu sein, ohne dass dies einer weiteren Begründung bedürfte. So sagt er etwa im Interview weiter: »Nicht, ob die jetzt mal die Musik lauter haben, das haben wir Deutschen auch, ob die jetzt ihre Türkenmusik haben oder visà-vis ein Junge eine Hip-Hop-Musik, das ist das Problem nicht. Einfach weil’s zu viel ist.« Dass dies keine isolierte Einzelmeinung ist, zeigen auch Aussagen von Herrn Athanassios. In seiner Eigenschaft als Mitbegründer und Vorsitzender der Iderstädter Bürgerinitiative Unsere Hauptstraße, von der noch zu reden sein wird, möchte er nicht direkt sagen, es gebe zu viele Türken; gerne aber kokettiert er mit dem, »was die Leute sagen«, oder zitiert Nichtdeutsche, die ihre Auffassung kundtun, dass im Stadtteil zu viele »Türken« oder »Ausländer« leben. In einem Gespräch über eine öffentliche Versammlung seiner Bürgerinitiative mit dem Thema »Wie kaputt ist unser Stadtteil wirklich? Nennen Sie uns Ihre Probleme«, sagt Herr Athanassios: »Wobei wir natürlich schon so weit sind, dass die Türken sagen, die hier wohnen: ›Es sind zu viele Ausländer.‹ Das finde ich besonders klasse. Sagen wir mal, da wir ja Versuchsgebiet oder Versuchslabor der Stadt Raisfurth sind, das
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wollen die [Stadtpolitiker] nicht so hören, aber die Leute sagen: ›Ja.‹ Und die klatschen so laut, dass Ihnen der Zement von der Decke fällt.« Die vermeintlich zu große Zahl von Türken im Stadtteil stellt aber nur eine von mehreren Begründungsvarianten dar. Ein zweites, insbesondere bei der älteren Generation recht häufiges Argumentationsmuster findet sich etwa bei Herrn Freilich, der sich an einer Stelle im Interview darüber beklagt, dass man sich »im eigenen Stadtteil manchmal richtig fremd fühle«. Ein türkischer Busfahrer aus Barren-Ost, der 35-jährige Herr Dostluk, berichtet von Gesprächen unter Deutschen, die er während der Arbeit gehört hat: »Das verstehen die überhaupt nicht, dass die Türken überall sich ansiedeln, Häuser kaufen. ›Danach wird das hier total überfremdet‹, sagen die. Ganz offen.« Die Furcht vor einer drohenden Überfremdung kann eine sehr aggressive Färbung annehmen. So schildert Herr Dostluk im Interview die Sprüche der Mitglieder einer Zechenkapelle, die von einer Feier zurückkehrten und in seinem Linienbus mitfuhren; man habe sich dabei ungeachtet der Anwesenheit türkischer Fahrgäste zugerufen, man müsse sich wechselseitig helfen, den eigenen Stadtteil von Türken zu »säubern«. Ein drittes Argumentationsmuster hebt darauf ab, dass der hohe Migrantenanteil den »Ruf« des Stadtteils schädige. Sowohl in Barren-Ost als auch in Iderstadt-Süd geben eine Reihe von deutschen Bewohnern an, die Zahl der Migranten sei der Grund dafür, dass andere über ihre Wohngegend die Nase rümpfen. Dadurch gerieten sie ob ihres Wohnorts oft in Begründungsnot gegenüber Dritten. Dass dem tatsächlich so ist, machen Aussagen von Bewohnern von Iderstadt-Nord und der Barrener Siedlung am Stielmusfeld sehr plausibel. Frau Walcker, eine 57-jährige, im Personalwesen tätige Industriekauffrau aus IderstadtNord sagt über ihre Mutter: »Und die ist schon in der Iderstadt geboren und wohnt schon immer in Iderstadt-Süd, und die kriegt man da auch nicht mehr weg mit über 80 Jahren, ist ja klar, sagt zwar immer: ›Ich komme mir vor, wie wenn ich im Ausland lebe.‹« Aus dem gesamten Kontext geht hervor, dass Frau Walcker einen Umzug Ihrer Mutter allein aufgrund des hohen Anteils türkischer Stadtteilbewohner in Iderstadt-Süd für wünschenswert hielte. Frau Hofstätter – eine knapp 50-jährige, in der Barrener Siedlung am Stielmusfeld wohnende Sonderschullehrerin – erklärt in einem Gespräch nach dem Interview mit ihrem Mann: »Als wir vor einigen Jahren das Haus gekauft haben, damals habe ich zu meinem Mann gesagt: ›Wenn Barren-Ost, dann nur hier!‹ – Freunde, Bekannte und Kollegen reagieren überrascht, wenn man sagt, dass man in Ost wohnt.« Dies sagt sie im Rahmen einer Gesprächssequenz, in der sie und ihr Mann erklären, dass in Barren-Ost fast nur zur »Ghettobildung« neigende Türken leben, die »aus der untersten Schicht in der Türkei« kämen und für die sich die Leute in ihrem Herkunftsland »schämen« würden. Diese Art der Mitteilung ist keineswegs atypisch: Die Akteure sprechen über die hohe Zahl von – mit negativen Attributen versehenen – Türken und bringen mit diesen das Negativimage des Stadtteils in eine assoziative Verbindung, ohne es direkt auszusprechen. Innerhalb des Kernbereichs der beiden untersuchten Stadtteile nun wird die beschriebene Außenwahrnehmung für viele Deutsche zum Grund dafür, die Zahl türkischstämmiger Bewohner für zu hoch zu halten. Der Umstand, dass Außenstehende Barren-Ost und Iderstadt-Süd aufgrund der allzu zahlreichen »Türken« als verabscheuenswürdige Wohngebiete deklarieren, fällt innerhalb der Stadtteile auf die türkischstämmige Bewohnerschaft zurück.
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Weitere Begründungen für die Ablehnung einer größeren türkischen Population ergeben sich aus der spezifischen Perspektive bestimmter Berufe, sozialer Positionen und Rollen: Hausbesitzer beklagen, dass die Präsenz von Migranten zu sinkenden Immobilienpreisen führe. Deutsche Gewerbetreibende – etwa der Blumenhändler Freiligrath aus Barren-Ost und der Konditor Bachstein aus Iderstadt-Süd – sehen aufgrund des wachsenden Anteils türkischer Stadtteilbewohner ihre Kundschaft schwinden. Eltern schulpflichtiger Kinder sehen die Zahl der Ausländer mehr oder weniger unisono für zu hoch an, weil sie aufgrund der Häufung von Migrantenkindern mit Sprachproblemen die Bildungschancen des eigenen Nachwuchses gefährdet sehen. In beiden Stadtteilen, massiver aber in Iderstadt-Süd berichten die Leute davon, dass die deutschen Eltern mit ihren Füßen über den Migrantenanteil abstimmen und, wenn sie können, den Stadtteil verlassen, sobald ihr Nachwuchs das Kindergarten- oder Schulalter erreicht. Das gleiche Phänomen kann, wie Hinweisen von Türkischstämmigen und Einheimischen zu entnehmen ist, auch bei bildungsbewussten türkischen Eltern beobachtet werden. Bisweilen wird das quantitätsbezogene Klassifikationsmuster mit der höheren Geburtenrate der türkischstämmigen Bevölkerung in Verbindung gebracht. Besonders rabiat formuliert dies ein Pamphlet mit der Überschrift »Wir gebären Euch kaputt«, das ein CDUPolitiker in Barren-Ost vorfand, nachdem er an der Beerdigung von drei türkischen Männern teilgenommen hatte, die bei einem tragischen Verkehrsunfall ums Leben gekommen waren (vgl. Barrener Zeitung vom 23. März 2000). Wird der Fertilitätsvorsprung der türkischstämmigen Bevölkerung in die Zukunft projiziert, erscheinen die gegenwärtigen Zahlen umso bedrohlicher. Quantität kann dann in Qualität umschlagen, und das Klassifikationsmuster nimmt eine kategoriale Form an. Dies ist der Fall, wenn die türkischen Stadtteilbewohner als unerwünschter Bevölkerungsteil dargestellt werden, der durch politische Maßnahmen »reduziert« werden solle. Dazu gibt es zahlreiche Aussagen im empirischen Material, die dem Gewerbeaufsichtsamt gerne die Aufgabe übertragen würden, die »Welle« türkischer Geschäftsansiedlungen »zu stoppen«, oder von der städtischen Wohnungspolitik erwarten, türkische Bewohner in andere Stadtteile »zu verlagern« oder den Erwerb von Häusern durch türkische Interessenten »nicht mehr zu bewilligen«. Manche wollen indes nicht auf die Politik vertrauen. Der bereits genannte Fotograph aus Iderstadt-Süd, Herr Windig, sagt in einem Gespräch, in dem er sich bitter über das Missverhältnis zwischen seinem Arbeitseinsatz und seinem sinkenden Verdienst beklagt: »Wenn ich nicht so starke Wurzeln hier hätte, ich bin ja praktisch hier geboren, wäre ich schon vor fünf Jahren weg. Es gibt hier nur ein Problem – und das sind unsere lieben türkischen Mitbürger. Wenn’s wenigstens ›Mitbürger‹ wären! Hier müsste man mal mit der Stahlbürste durchgehen!« Wie die Mitglieder der Zechenkapelle, von denen Herr Dostluk berichtet, macht Herr Windig die türkischen Stadtteilbewohner zu »Überzähligen«, denen der Bürgerstatus abgesprochen und das Recht auf zivile Behandlung entzogen werden sollte. Er schlägt sie symbolisch einer kategorial anderen Klasse von Menschen zu.
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2.3 Interethnische Klassifikationen des kategorialen Typs Bei zwei der drei beschriebenen graduellen Klassifikationsmuster lässt sich in beiden Untersuchungsgebieten auch ein kategorialer Gebrauch beobachten, der bestimmte Merkmale in distinktiver Weise nur einer ethnischen Gruppe zuweist. Mit umgekehrten Vorzeichen könnte es sich bei kategorialen Klassifikationen genauso verhalten. Der Gedanke liegt nahe, dass sie in der konkreten Verwendungspraxis einmal als exklusives Merkmal einer bestimmten Bevölkerungsgruppe gelten und ein andermal graduelle Unterschiede innerhalb eines Merkmals benennen, das einheimische und türkischstämmige Akteure prinzipiell gemeinsam haben. Die in diesem Abschnitt vorgestellten vier kategorialen Klassifikationsmuster könnte man prima facie sogar von vorneherein als graduelle verstehen. Die vier Merkmale, auf die sie sich beziehen – im Folgenden: »Dissozialität«, »kriminelles Geschäftsgebaren«, »Schmarotzertum« und »Dreckigsein« –, kennen alle den Komparativ: Eine ethnische Gruppe kann mehr oder weniger dissozial, kriminell, schmarotzerhaft oder dreckig sein. Die entsprechenden Klassifikationsmuster werden aber, wie sich zeigen wird, nicht im graduellen Sinne verwendet. Vielmehr liegt ihnen die Zuschreibung prinzipieller Unterschiede zugrunde, die Eigenschaften oder Verhaltensweisen türkischer und deutscher Stadtteilbewohner dichotomisch voneinander scheiden. Wenn Einheimische türkischstämmigen Gewerbetreibenden »kriminelle Machenschaften« unterstellen, geht es, um nur ein Beispiel zu nennen, nicht um die Frage, inwieweit sie sich von ihren deutschen Kollegen im Ausmaß nicht ganz legaler Geschäftspraktiken unterscheiden, sondern um eine Entgegensetzung von gesetzestreuer Rechtschaffenheit und auszumerzender Illegalität. Neben der Eindeutigkeit in ihrer formalen Struktur ist bei den empirisch beobachteten kategorialen Klassifikationen ein weiterer wesentlicher Unterschied zu den graduellen Klassifikationsmustern in Barren-Ost und Iderstadt-Süd festzustellen: Während alle drei graduellen Klassifikationsmuster der türkischstämmigen Bevölkerung gelten, gehen die kategorialen Muster in beide Richtungen.
2.3.1 »Deutsche Dissozialität« In beiden Untersuchungsgebieten kursieren unter den türkischstämmigen Bewohnern negative Klassifikationen, die Teile ihrer deutschen Nachbarn oder die »deutsche Mentalität« im Ganzen als »dissozial« abqualifizieren. Derartige Klassifikationen beziehen sich auf eine kategorial andere Lebensführung und schreiben der deutschen Bevölkerung unterlegene, ja minderwertige Geisteshaltungen und Handlungsdispositionen zu. Drei Ausprägungen von Semantiken der Dissozialität lassen sich dabei unterscheiden. Die erste klassifiziert die deutschen Unterschichten als dekadente Nörgler und Neider. Die benachteiligten Gruppen aus der deutschen Bevölkerung, die der Zuschreibung zufolge aus Gefühlen der Unterlegenheit heraus Front gegen Migranten machen, erhalten den Makel einer Verderbtheit, die sie zu Recht an die unteren Regionen der sozialen Schichtung verweist. Derartige Klassifikationen finden sich vor allem bei türkischen Geschäftsleuten und Aufsteigern, die das Zurückbleiben vieler deutscher Stadtteilbewohner auf permanente Kneipengänge, auf eine konsumorientierte Lebensführung sowie auf ein Sexualverhalten
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zurückführen, das Familien zerstöre und ein finanziell ruinöses Durcheinander mit sich bringe. Die deutschen Unterschichten werden als niveaulos, ungebildet und trunksüchtig dargestellt und rücken damit in die Nähe des »Asozialen«. Die zugeschriebene Dissozialität nimmt hier den Charakter der Verwahrlosung an. Prototypisch zeigt sich dieses Klassifikationsmuster beim 36-jährigen Herrn Kedi. Der Sohn eines Bergmanns betreibt in Barren-Ost einen Autohandel mit mehreren Mitarbeitern und ist Vorsitzender des Barrener Ausländerbeirats sowie Mitglied eines Moscheevereins – der Islamischen Kulturgemeinschaft. Herr Kedi berichtet von den »Problemen«, die deutsche Nachbarn mit den zahlreicher werdenden türkischen Hausbesitzern hätten. Dabei äußert er seine Vermutung, die entsprechenden »Probleme« wären auf die »soziale Schwäche« derjenigen zurückzuführen, die sie haben. Die Problemdefinition dieser Leute paraphrasiert Herr Kedi im Interview mit den Worten: »Toll, die Türken sind hergekommen, die haben uns unsere Arbeit weggenommen. Die haben uns, entschuldigen Sie den Ausdruck, die haben uns unsere Frauen weggenommen, kommt auch, der Begriff. Jetzt nehmen die uns noch unsere Häuser weg.« Dies versieht Herr Kedi mit dem Kommentar: »Das ist Ruhrgebiet, hier Essener Straße in Barren-Ost, ist auf dem letzten Niveau, sage ich mal so, das Bildungsniveau.« Weiterhin beschreibt er die »Probleme«, die deutsche Mieter damit hätten, einem ausländischen Vermieter Geld zu zahlen. Er sei, versichert Herr Kedi, mit diesem Phänomen aus eigener Erfahrung vertraut, seit er vor zehn Jahren ein Haus gekauft und sein Moscheeverein auf dem neu erworbenen Areal an der Essener Straße in Barren-Ost Wohnungen zu vermieten habe. Herrn Kedis Erklärung hebt darauf ab, dass die deutschen Querulanten »überwiegend sozial schwache Personen« aus dem ehemaligen Bergarbeitermilieu seien und es daher der neidische Blick Benachteiligter wäre, dem die Ressentiments gegen türkische Hauseigentümer entspringen. Herr Kedi artikuliert eigene Überlegenheitsvorstellungen, wenn er verständnisvoll darauf verweist, dass diejenigen aus der deutschen Bevölkerung, die den sozialen Aufstieg ihrer türkischen Nachbarn missbilligen, aus den untersten und ungebildeten Schichten kämen. Dabei gibt er zu verstehen, dass es nicht überraschen könne, wenn es für diese Schichten schwierig sei, sich von türkischen Migranten überholt zu sehen. Über eine niveaulose und ungebildete Unterschicht hinaus zielen Herrn Kedis Einlassungen auf die Lebensweise »der Deutschen« insgesamt. So äußert er sich abfällig über die deutsche Sitte, vor allem an den Wochenenden »in den Kneipen rumzuhocken«. Seinen Widerwillen bettet er in sein islamisch geprägtes Weltbild ein und versucht damit, sein Negativbild von den Deutschen gegen jede Anfechtung zu immunisieren. Auch wenn nicht alle gut situierten türkischen Akteure sich derart auf islamische Gefühle berufen und nicht alle ihre Kulturkritik verallgemeinern, so ist unter ihnen doch eine ausgeprägte Neigung zu beobachten, verwahrloste deutsche Familien zu beschreiben. Beispiele hierfür enthält das Interview mit Frau und Herrn Aydin, einer 39-jährigen Krankenschwester und einem 40-jährigen Vorarbeiter in der Chemieindustrie, die in Iderstadt-Nord wohnhaft sind und zwei Kinder haben. In ihrer »Elitegegend«, so Frau Aydin, wohne auch eine deutsche Familie, die den »sozialen Unterschichten« angehöre, »jedes Jahr ein Kind« bekomme, durch ein »derbes Vokabular« auffalle und manchmal »randaliere« und »schlage«. »Solche Familien«, sagt Frau Aydin süffisant, »neigen auch sehr
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gerne dazu, auf Ausländer mit dem Finger zu zeigen, gell, und uns dann quasi als Pöbel anzugucken.« Sie berichtet davon, dass sie im Kindergarten einmal Türkisch gesprochen habe, woraufhin Mitgliedern der besagen deutschen Familie erstmals ihre Herkunft aufgefallen sei. »Und dann: ›Was? Ausländer? Kommt ihr hierher, nehmt uns den Arbeitsplatz weg. Geht wieder nach Hause!‹ Aber mit den schlimmsten Wörtern und so haben sie uns dann beschimpft.« Diese Reaktion auf die türkische Sprache hätten sie und ihre Tochter Selda, so Frau Aydin, wie folgt pariert: »›Weißt du gar nicht, ob wir Ausländer sind‹, habe ich dann gesagt. ›Also, ich bin Deutsche, ich hab’ meinen deutschen Pass‹, und die Selda, die auch gleich: ›Ich bin hier geboren. Ich bin Deutsche, ja.‹ Dann haben wir gesagt: ›Ja, und viele Sprachen können, ist ja gut eigentlich. Man kann später viel Geld machen mit den Sprachen.‹« Nachdem sie dies erzählt hat, kann sich Frau Aydin vor Lachen kam halten. Es ist das Lachen der Überlegenheit. Der eigenen Sprachgewandtheit und Weltläufigkeit stellt Frau Aydin das dumpfe Ressentiment der deutschen Familie gegenüber, die sie mit deren eigenen Waffen schlägt: Sie lässt jene, die in den Ausländern den »Pöbel« sehen, ihrerseits als chancenarme und bemitleidenswerte Kreaturen ohne Sinn für Gesittung und Bildung erscheinen. Die zweite Ausprägung der Dissozialität, die den Deutschen qua Mentalität und Kultur eigen sein soll, besteht für die türkischen Akteure in einem Egoismus, der sich in einer erbarmungslosen Kälte gegen die eigenen Angehörigen manifestiert. Solchen Zuschreibungen zufolge ist das deutsche Familienleben von einem possessiven Individualismus geprägt. Dieser Individualismus, so die Vorstellung, macht buchstäblich unfruchtbar und beraubt die Deutschen jener Zukunft, die aufgrund ihrer familienmoralischen Superiorität der türkischen Bevölkerung gehören wird. Die zugeschriebene Dissozialität bekommt hier die Bedeutung einer innerfamiliären Rücksichtslosigkeit. Von der Haltung der deutschen Bevölkerung zu Kindern und vom deutschen Familienleben zeigen sich türkischstämmige Bewohner beider Untersuchungsgebiete zutiefst abgestoßen. Herr Kedi aus Barren-Ost bezeichnet deutsche Eltern als »unmenschlich«, weil ihre Kinder keinen Lärm machen dürften. Er stellt deutsche Mütter und Väter als abgestumpfte Despoten hin, indem er darauf verweist, dass sie mit ihren Kindern meist »nichts machen«, sie zu Hause »einsperren« und »vor den Fernseher setzen«. In dasselbe Horn bläst Frau Sahan, eine 34-jährige, mit einem Bergmann verheiratete Hausfrau und Mutter von drei Kindern. Sie spricht von »niveaulosen Sendungen«, die tagsüber im Fernsehen liefen, und »nicht gesund für die Kinder« seien. Ihre alleinstehende und arbeitslose Freundin, die 30jährige Frau Gür, empört sich darüber, dass es »keine Tabuthemen« mehr gebe, und fragt: »Was gewinne ich dabei, wenn man über so einen Blödsinn redet?« Frau Sahan und Frau Gür lassen keinen Zweifel daran, dass es für Muslime ganz undenkbar sei, ihre Kinder nachmittags vor dem Fernseher verkommen zu lassen. Sie sagen es nicht, lassen es aber unschwer erraten, von welchen Kindern sie sprechen, die von ihren Eltern einem »ungesunden« Fernsehkonsum überlassen werden. Das deutsche Familienleben ist auch bei Herrn Saribas Gegenstand negativer Klassifikationen. Der 42 Jahre alte Familienvater ist praktizierender Muslim und Chef einer Elektronikfirma in Iderstadt-Süd, die im Großhandel tätig ist und über Internetbestellungen Satellitenschüsseln und Empfängeranlagen vertreibt. Im Interview spricht Herr Saribas immer wieder von familienbezogenen »Mentalitätsunterschieden« zwischen Türken und Deut-
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schen. In seinen Ausführungen nimmt er die eigene Familie zum Vergleichsmaßstab, vor dem sich negativ abhebt, was er in der deutschen Nachbarschaft beobachtet haben will. Seine Herkunftsfamilie, so Herr Saribas, habe »viel Schweres erlebt«. Da sein Vater als einfacher Arbeiter in einer Raisfurther Gießerei wenig verdient habe, hätten er und seine vier Geschwister schon früh etwas zum Familieneinkommen beitragen müssen. Er kommt dann auf die solidarische Verteilung der knappen finanziellen Ressourcen innerhalb der Familie und die starke Zurückhaltung zu sprechen, die er und seine Geschwister sich auferlegt hätten, um mit ihren Wünschen das Familienbudget nicht unverhältnismäßig zu belasten. Diese Haltung des Teilens und der altruistischen Bescheidenheit habe sich auf seine Kinder übertragen. Auch in seiner eigenen Familie gelte der Grundsatz: »Gibt’s nicht: deine, meine, seine. Gibt’s nur: unsere.« Diesen Grundsatz kontrastiert Herr Saribas scharf mit den Gepflogenheiten in deutschen Familien. »Bei den Deutschen«, sagt er, »ist das anders. Wenn die Leute 18 Jahre alt geworden sind, da ist es für die egal, ob das jetzt ihre Mutter ist oder ob es dem Vater schlecht geht, die gehen einfach weg.« Zu den hohen Taschengeldern, die deutsche Jugendliche von ihren Eltern einfordern sollen, bemerkt er: »Denen ist es egal, ob es jetzt daheim schlecht geht. Die wollen ihr Geld. Wenn sie 18 sind sowieso. Dann erkennen sie keine Eltern mehr.« Er selbst, bekennt Herr Saribas, fühle sich in seiner ganzen inneren Haltung dazu verpflichtet, für seine Eltern zu sorgen und sie nicht allein zu lassen; er könne, wie er ergänzt, nicht »irgendwie weggehen und die [Eltern] lassen für das Sozialamt, dass sie vom Sozialamt was bekommen können«. In dieser Aussage, die wiederum auf die Verhältnisse in deutschen Familien gemünzt ist, kreuzen sich zwei semantische Aspekte von Dissozialität: eine mangelnde familiäre Solidarität sowie ein Hang dazu, sich in verantwortungsloser Weise auf den Sozialstaat zu verlassen. Herr Dostluk, Busfahrer aus Barren-Ost, hält eine recht düstere Diagnose für das deutsche Familienleben bereit. Zunächst stellt er fest: »Es fehlt sowieso in der deutschen Gesellschaft, die hat keine Moral, durch Unmoralisierung passiert ja sehr vieles in Deutschland.« Nachdem er diesen Zustand als völlig inakzeptabel kritisiert hat, erklärt er: »Dafür kämpfen wir, auch hier die Islamische Kulturgemeinschaft. Wir wollen, dass die Gesellschaft sehr nahe zur Religion kommt, damit sie diese Moral behält, auch die Familien, damit zum Beispiel das Familienleben weiterläuft.« Dabei ausdrücklich zuvorderst den nichtchristlichen Teil der deutschen Bevölkerung meinend, fährt Herr Dostluk fort: »Bei unmoralisierten Gesellschaften sieht man ja schon, dass die Ehen sehr schnell kaputt gehen, dass die Kinder auf der Straße sind.« Er berichtet von einer türkischen Nachbarin, die mit einem deutschen Mann zehn Jahre lang zusammengelebt und zwei Kinder gehabt habe, bis sich das Unvermeidliche ereignete und sie geschieden wurden. Herr Dostluk bemerkt dazu: »Aber der Deutsche war ein sehr vernünftiger, anständiger Mann, aber trotzdem hat er im Endeffekt sein deutsches Gen wieder benutzt, die Frau zu verlassen und zur zweiten Frau zu gehen.« Später erklärt er auf Nachfrage, dass er das mit dem »deutschen Gen« nicht wörtlich meine. Auch wenn der Ausdruck nicht auf einen biologischen Unterschied hinweisen soll, gibt Herr Dostluk seine Ansicht unzweideutig zu erkennen, dass er zwischen der türkischen Familienmoral und der deutschen Unmoral, ja familiären Brutalität einen kategorialen Unterschied sieht. Mit hartherziger Verantwortungslosigkeit ließe sich wohl überschreiben, was er dem besagten deutschen Mann vorhält, über den er abschließend bemerkt:
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»Letztendlich nach zehn Jahren, nach zehnjähriger Ehe hat er auch diesen Fehler gemacht, seine Frau mit zwei Kindern liegen lassen, und ist mit einer deutschen Frau abgehauen.« Herr Saribas erhebt sich endgültig über seine deutschen Nachbarn, wenn er über sie sagt: »Sie haben lieber Hunde als Kinder. Wie soll das weitergehen mit den Deutschen? (…) Wie soll das dann irgendwann mit dem deutschen Staat werden, die ganzen Ausländer weggehen, soll das dann ein Hundestaat sein? Oder die Deutschen werden dann irgendwie so wie ein Hund aussehen? Ich weiß es nicht. Also da sehe ich auch schwarz.« Hier wird die deutsche Bevölkerung zum Gegenstand einer gespielten Sorge, die aus der sicheren Gewissheit heraus sich artikuliert, dass die eigene ethnische Fertilität einen Vorsprung garantiert. Herrn Saribas’ Ansicht zufolge hat die gesellschaftliche Zukunft in der »deutschen Mentalität« eine prekäre Basis, zumal sie die biologische Existenz der einheimischen Bevölkerung gefährdet. Da Hunde im Islam als »unreine« Tiere gelten, muss es einem muslimisch geprägten Akteur wie Herrn Saribas auch als eine Perversion erscheinen, sie Kindern vorzuziehen. Der weniger religiöse Herr Toktaz, ein 40-jähriger türkischer Gemüsehändler aus Iderstadt-Süd, bringt den interkulturellen Unterschied in der Einstellung zu Kindern und Hunden etwas moderater zum Ausdruck: »Die Ausländer kapieren nicht, warum die Deutschen alle Hunde haben, und die deutschen Familien kapieren nicht, warum die Ausländer so viele Kinder haben.« Herr Dostluk aus Barren-Ost greift auf das rhetorische Mittel des offenkundig bereits sprichwörtlichen Vergleichs zwischen Hunden und Kindern zurück, wenn er erklärt: »Ich sag’ zu den Deutschen immer: ›Wenn ihr den Ausländer nicht leiden könnt, bitte macht Kinder. Ein Kind mehr – ein Ausländer weniger. Nicht zwei, drei Hunde zu Hause füttern, sondern zwei, drei Kinder zu Hause erziehen.‹« Die »neue Generation der Deutschen« wiederum portraitiert Herr Dostluk in wenig freundlichen Farben: als eine Kohorte nie zufriedener, vom Wohlstand verdorbener Individualisten ohne soziales Bewusstsein. Sie verstehe nicht, »wie die Armut ist«; andere seien ihnen »scheißegal« und auf ihren Autos wären »Sprüche« zu lesen wie: »Eure Armut kotzt mich an«. Mit dieser Generation ist Herrn Dostluk zufolge die Zukunft Deutschlands gefährdet: »Wenn es so weiter läuft natürlich, wenn der deutsche Staat irgendwie nicht was unternimmt, dann wird’s nach zwanzig, dreißig Jahren in Deutschland anders aussehen. Dann haben wir hier nur Omas rumlaufen, Opas rumlaufen, keine neue Generation, weil die keine Kinder machen wollen.« Diese Entwicklung führt Herr Dostluk auf eine Geistes- und Lebenshaltung der jungen Deutschen zurück, die er folgenderweise persifliert: »Die wollen ja ihren Wohlstand leben, das sind alles Egoisten, die wollen ja nur ihr Leben irgendwie – ohne Kinder, ohne Belastungen, ohne was zu schaffen, danach ihre Rente, sterben.« Hier klingen bereits Elemente der dritten Variante des Klassifikationsmusters an. Diese dritte Semantik, mit der türkischstämmige Stadtteilbewohner ihre deutschen Nachbarn als dissozial desavouieren, zielt auf deren mangelndes Arbeitsethos sowie auf deren Bequemlichkeit und die Unfähigkeit zum Verzicht. Insbesondere ökonomisch erfolgreiche Türken zeichnen ein Bild korrumpierter und saturierter deutscher Dauerfernsehgucker, die bei der Arbeit nur an ihren Urlaub oder den pünktlichen Feierabend denken und darüber hinaus auch mit ihrer Ängstlichkeit denkbar wenig Eignung zu unternehmerischem
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Handeln zeigen.4 Die der deutschen Bevölkerung zugeschriebene Dissozialität zielt hier auf deren Verweichlichung oder Verwöhnung. Ein solcherart dissoziales Verhalten nennt Herr Saribas als Grund dafür, dass er in seiner Firma seit einiger Zeit nur noch türkische Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen eingestellt hat. Deutsche Angestellte seien »weniger verständnisvoll«, sagt er und verweist darauf, dass diese – im Unterschied zu türkischen – nicht damit einverstanden seien, wenn er ihnen aufgrund der Geschäftslage einmal das monatliche Gehalt nicht gleich auszahlen wolle. Überdies könne er seine türkischen Angestellten auch an Sonntagen kurzfristig in die Firma bestellen, wenn etwa eine neue Warenlieferung eingelagert werden müsse; diese Angestellten wären stets einsatzbereit, ohne gleich zu fragen, ob er die Sonntagsschicht auch entsprechend bezahle. Sein Neffe hingegen, der zu seinen sieben Angestellten zählt und, wie er sagt, »halb Deutscher, halb Türke« ist, frage in solchen Situationen immer, ob er dafür an einem anderen Tag frei bekäme. Das hinterlasse bei ihm einen »negativen Eindruck«, und so etwas erlebe er nie bei Mitarbeitern, bei denen »Mutter und Vater Türken sind«. Diesem diametralen Gegensatz zwischen den »Mentalitäten« fügt Herr Saribas weiteres Anschauungsmaterial hinzu. »Unsere Leute«, sagt er, sind »viel fleißiger, den Deutschen gegenüber.« Besonders die jüngere Generation der deutschen Bevölkerung hätte weniger »Unternehmergeist«5 und »viel mehr Angst« davor, Fehler zu machen. In der Manier eines Selfmademan vergleicht er die jungen Deutschen mit seinem eigenen Aufstieg, den er dem Umstand verdanke, »aus Fehlern gelernt« und für sie »bezahlt« zu haben. Dem Thema der Mentalitätsunterschiede gibt Herr Saribas dann noch eine andere Wendung, indem er darauf hinweist, die Deutschen wollten »viel bequemer leben als wir«, um dann zu erklären: »Bei den Deutschen ist es so: Sie wollen zum Beispiel im Jahr zweimal, dreimal in Urlaub gehen, und die wollen bestimmte Stunden arbeiten und danach, wenn die Karte gestochen ist: passé für sie. Bequem leben. Also daheim im Sessel hocken, Fernsehen gucken, oder was weiß ich.« Schließlich komplettiert Herr Saribas seine Darstellung der Unterschiede zu den Deutschen mit der Feststellung: »Und wir können auch verzichten!« Herr Dostluk vergleicht den deutschen »Neid« mit dem türkischen »Mut«, einen Kredit für einen Hauskauf aufzunehmen. Wenn deutsche Kollegen ihn neidisch darüber ausfragten, wie er sich als Alleinverdiener mit vier Kindern eine größere Immobilie leisten könne, 4
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Aus der deutschen Forschung über »ethnische Ökonomien« ist bekannt, dass gerade unter türkischen Migranten in den vergangenen Jahren eine besonders starke Zunahme der Selbständigenquote zu verzeichnen war: Im Jahr 1991 waren 23.000 Türken in Deutschland selbständig beschäftigt, im Jahr 2002 erreichten die türkischen Selbständigen die Zahl von 43.000 (Özcan 2004: 20). Gerade der Anteil der bereits in Deutschland geborenen ausländischen Selbständigen ist von 1996 bis 2002 von 5,6 Prozent kontinuierlich auf 14,6 Prozent gestiegen; bei den türkischen Vertretern dieser Gruppe liegt die Quote mit 21,2 Prozent recht weit über dem Durchschnitt (Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration 2005: 52). Dabei fällt in der Tat auf, dass türkische im Vergleich mit deutschen Geschäftsgründern besonders hohe wirtschaftliche Risiken einzugehen bereit sind und dass türkische Betriebe mit ihrer Konzentration auf Handel und Gastgewerbe in sehr wettbewerbs- und arbeitsintensiven Wirtschaftszweigen angesiedelt sind (Zentrum für Türkeistudien 2003: 14 ff.; Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration 2005: 52 f.; Institut für Mittelstandsforschung 2005: 9 und 14 f.; Schuleri-Hartje/Floeting/Reimann 2005: 25 f. und 46 ff.). Fast dieselbe Formulierung wählt Herr Kedi, der auf die Bedeutung der »Migrantenwirtschaft« für Barren-Ost hinweist und erklärt: »Also, was wichtig ist: Viele Migranten sind ja viel risikofreudiger als die Deutschen. Ist so. Und so unternehmerische Ziele oder auch Unternehmergeist ist bei den Migranten ausgeprägter als bei den Deutschen.«
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bekäme er von jenen zu hören: »Ich würde das nicht schaffen.« – »Obwohl«, so Herr Dostluk, »die Leute, die Deutschen sind ja immer zu zweit am Arbeiten: Frau und Mann, die arbeiten gern beide. Sie haben vielleicht ein Kind oder zwei Kinder. Die haben immer noch Angst, ein Haus zu kaufen. Aber die Türken – egal, wenn eine Person arbeitet im Haushalt, die kaufen ein Haus, die renovieren die Häuser. Und die haben vier Kinder zu Hause.« Herr Aydin aus Iderstadt-Nord erzählt von vergleichbaren Unterschieden zwischen Türken und Deutschen, die er an Erfahrungen in seiner Firma festmacht. Einerseits wollten die Deutschen »dreckige Arbeit« nicht machen, während »Ausländer«, wie er sagt, »alle Arbeit machen, weil sie wissen schon ganz genau, sie haben nicht so viel Chancen«. Über die Deutschen, die sich am großen Auto eines Türken stießen oder der Ansicht seien, diese hätten ihnen den Arbeitsplatz weggenommen, bemerkt Herr Aydin: »Die vergessen aber, dass wir sehr fleißig sind.« Betrachtet man die drei Varianten, in denen türkischstämmige Aufsteiger den Deutschen dissoziale Verhaltensweisen zur Last legen, fällt zunächst auf, dass sie in einigen Facetten wie das positiv gewendete Gegenstück zur »protestantischen Ethik« wirken, die der türkischen von der deutschen Bevölkerung missgünstig und verächtlich zugeschrieben wird. Es ist, als betrieben die türkischen Akteure einen »symbolic reversal« (Needham 1969: xxxix): Sie invertieren die ihnen nachgesagten Eigenschaften, indem sie zwar den deskriptiven Gehalt der entsprechenden Klassifikationen annehmen, diesen aber evaluativ vom Negativen ins Positive wenden. Die negativ konnotierten Merkmale der ihnen angesonnenen Arbeitsethik und Familienmoral erfahren eine strikte Umwertung. Mehr noch, sie werden zu einer Richtschnur, an der gemessen bestimmte Einstellungen und Lebensformen der deutschen Nachbarn als dissozial erscheinen. Bei der Feststellung einer »deutschen Dissozialität« handelt es sich teilweise in der Tat um eine direkte Gegenstigmatisierung derjenigen, die am Aufstieg türkischer Stadtteilbewohner Anstoß nehmen. Teilweise entspringen die Wertungen einer genuin türkisch-islamischen Migrantensozialisation sowie einem Dünkel von Aufsteigern aus der Arbeiterschicht. In den beschriebenen drei Ausprägungen von Dissozialität läuft ein Großteil der negativen Bewertungen zusammen, die türkischstämmige Akteure an die deutsche Bevölkerung richten. Die darin sich zeigende Wahrnehmung des sozialen Zusammenlebens unter Deutschen ist ein wesentlicher Grund dafür, dass die türkische Bevölkerung die oft weitreichenden, an sie adressierten Integrationsforderungen ablehnt. Während die deutschen Stadtteilbewohner von Barren-Ost und Iderstadt-Süd gerne den mangelnden Integrationswillen ihrer türkischen Nachbarn beanstanden, werfen diese ihren Kritikern vor, stets Assimilation zu meinen, wenn sie von Integration sprechen. Ebendieses Ansinnen, sich eine Kultur einzuverleiben, die in ihren Augen von sozialer Kälte und einem rücksichtslosen Individualismus geprägt ist, weisen die türkischen Stadtteilbewohner größtenteils weit von sich. Sie wollen nach ihrer eigenen Fasson am gesellschaftlichen Leben teilnehmen.
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2.3.2 »Kriminelle Machenschaften« Das nächste Klassifikationsmuster führt wieder zu den Zuschreibungen zurück, die Einheimische an bestimmte Teile der türkischstämmigen Bevölkerung richten. Es versetzt diese in den Stand der Strafwürdigkeit. In Iderstadt-Süd und Barren-Ost werden insbesondere türkischen Unternehmern und Immobilienbesitzern kriminelle Machenschaften unterstellt. Sie seien durch illegale Geschäfte zu Geld gekommen, lautet ein in der deutschen Bevölkerung verbreitetes Pauschalurteil, das türkische Geschäftsleute inkriminiert und damit symbolisch aus dem ökonomischen Wettbewerb ausschließt. Die Zuschreibung »krimineller Machenschaften« beruht auf einer kategorialen Unterscheidung zwischen legitimen und illegitimen Wettbewerbern. In Iderstadt-Süd spielen solche Klassifikationen im Umfeld der Bürgerinitiative Unsere Hauptstraße eine große Rolle. Die Initiative hat sich eine Verbesserung von Sicherheit, Ordnung und Sauberkeit im Stadtteil auf die Fahnen geschrieben. Ihre Aktivisten perhorreszieren die Zustände im Stadtteil und bringen diese manchmal suggestiv, manchmal expressis verbis mit der türkischen Bevölkerung in Verbindung. Dabei heben sie gerne »die Türken« negativ von anderen »Ausländern« wie Italienern, Griechen und Spaniern oder auch Indern und Schwarzafrikanern ab. Einer der Initiatoren, Herr Athanassios, illustriert die Funktionsweise des kriminalisierenden Klassifikationsmusters in beispielhafter Weise. Er sagt im Interview über den Moscheebau eines türkischen Vereins im Stadtteil: »Und die haben soundso viel Millionen gesammelt, um die [Moschee] zu bauen. Dann hat jeder gesagt: Ah ja, das sind die Drogengelder.« Wenn Herr Athanassios empört feststellt, dass weder Behörden noch Polizei solchen Aussagen weiter nachgingen, kann man unschwer erkennen, dass der Vorwurf, die Geldmittel der Moscheegemeinde seien illegal erworben worden, einer Hermeneutik des Verdachts geschuldet ist. Der 49-jährige Geisteswissenschaftler Dr. Schallhauser, der ebenfalls ein Mitglied der Bürgerinitiative ist, bezeichnet türkische Geschäfte als »Treffpunkte für Hehler und Diebe«. Türkische Familienbetriebe verdächtigt er, durch fingierte Pleiten und Wiedereröffnungen unter dem Namen anderer Familienmitglieder gleich mehrfach Mittel aus Töpfen der öffentlichen Wirtschaftsförderung einzustreichen, an die deutsche Gewerbetreibende niemals herankämen.6 Im gleichen Stil wundert er sich darüber, wie sich die »kleinen Trödelläden« im Stadtteil »halten können«. Die etwa 60-jährige Frau Watzmann, ein weiteres Mitglied der Bürgerinitiative, mutmaßt, dass die vielen türkischen »Basare« im Stadtteil 6
Wissenschaftliche Erkenntnisse weisen in die entgegengesetzte Richtung. Eine einschlägige Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, dass türkische Selbständige weithin losgelöst von den Instanzen der Wirtschaftsförderung agieren. Lediglich 6,7 Prozent der türkischen Betriebsgründer in Deutschland haben Beratungsmöglichkeiten in Anspruch genommen oder von öffentlichen Fördermaßnahmen Gebrauch gemacht (Zentrum für Türkeistudien/Türkisch-Deutsche IHK 2005: 23); auch bei der Förderung von Betriebsneugründungen durch Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik – insbesondere Überbrückungsgeld und Ich-AG – sind Migranten deutlich unterrepräsentiert (Kontos/Haferburg/Sacaliuc 2006: 10 f.). In einer Studie des Deutschen Instituts für Urbanistik heißt es: »Anders als deutsche leihen sich ausländische Gründer das nötige Gründungskapital meist von Freunden und von der Familie, nicht von Banken und Förderinstitutionen« (Floeting/Reimann/SchuleriHartje 2005: 5; bestätigend dazu: Täuber 2003: 31; Gesellschaft für innovative Beschäftigungsförderung 2004: 9). Gerade türkischstämmige Unternehmer können im Unterschied zu ihren Kollegen aus anderen Migrantengruppen häufig auf Mittel aus dem Familienverband zurückgreifen (siehe Zentrum für Türkeistudien/Türkisch-Deutsche IHK 2005: 23; Schuleri-Hartje/Floeting/Reimann 2005: 70 und 118 f.).
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ohnehin nur »zur Tarnung« bestünden; »man weiß ja nicht, was die unter dem Ladentisch verkaufen«, sagt sie weiter und gibt damit den Blick auf eine denunziatorische Grundhaltung gegenüber türkischen Geschäftsleuten frei. In ähnlicher Weise ist auch außerhalb des Umfelds der Bürgerinitiative Unsere Hauptstraße wiederholt von »halbseidenen« türkischen Geschäften, von »Geldwäsche« und Ähnlichem mehr die Rede. Besonders einschlägig sind die Äußerungen von Herrn Horn, dem stellvertretenden Vorsitzenden des Iderstädter Gewerbevereins. Der 39-jährige Inhaber eines Gas-Wasser-Installationsbetriebs stutzt in scheinbar unverfänglicher Weise über den Wohlstand türkischstämmiger Gewerbetreibender: »Wenn Sie sehen, wie die Leute leben, mit was die ihr Geld verdienen. Das kann nicht sein, dass dort, ich sag’s jetzt mal übertrieben, einer Gemüse verkauft und Mercedes fährt.« Diese Sätze vervollständigt Herr Horn an anderer Stelle, wo er von türkischen Geschäften spricht, bei denen »krumme Dinge laufen«. In geradezu prototypischer Weise empört er sich darüber, was diese Händler sich alles herausnehmen: »Da wird Gemüse auf die Straße gestellt, Verkaufsstände haben sie einfach auf die Straße gestellt. Und wenn Sie was gesagt haben, werden Sie noch der böse Deutsche, der Nazi, und wenn dann die Polizei gekommen ist, dann haben die das reingeräumt.« Gemäß dieser Schilderung agieren türkische Geschäftsleute offen am Rande der Legalität, sind aber verschlagen genug, um sich der Ordnungsmacht zu entziehen. In anderen Fällen läuft die Anschuldigung darauf hinaus, dass diese Geschäftsleute bestens getarnt sind und fernab jeglicher Kontrolle dunkle Geschäfte machen. In beiden Untersuchungsgebieten sind diese Varianten kriminalisierender Klassifikationen im »Schimpfklatsch« (Elias/Scotson 1990: 9) von Einheimischen quer durch die Professionen und Schichten anzutreffen. In Iderstadt-Süd tritt es jedoch besonders massiv bei deutschen Gewerbetreibenden auf, von denen die meisten in wirtschaftlichen Schwierigkeiten stecken und mit der Veränderung der ethnischen Zusammensetzung der Stadtteilbevölkerung auch Einnahmeverluste hinnehmen mussten. In Barren-Ost wiederum sind türkische Hauseigentümer ein bevorzugtes Objekt des Kriminalitätsverdachts. Hier tritt auch ein interessantes Detail zutage. In Barren-Ost gehört nämlich die Diskriminierung auf dem Mietwohnungsmarkt (vgl. auch Halm/Sauer 2004: 552; Kapphan/König 2005: 282 und 287) zu den wesentlichen Triebkräften dafür, dass größere Teile der türkischen Minderheit damit anfingen, Hauseigentum zu erwerben. Der Busfahrer Herr Dostluk, der vor sechs Jahren ein Haus in Barren-Ost gekauft hat und darin vier Wohnungen vermietet, erzählt von der kollektiven Erfahrung türkischer Wohnungssuchender, bei Telefonaten mit deutschen Vermietern gesagt bekommen zu haben: »Tut mir leid. Wir nehmen keine Ausländer, also wir geben Ausländern keine Wohnung.« In diesem Zusammenhang bemerkt er: »Dadurch sind wir gezwungen natürlich, Häuser zu kaufen.« Wenn Herr Dostluk hier – in Übereinstimmung mit anderen türkischstämmigen Stadtteilbewohnern – von einer Notwendigkeit spricht, selbst zum Hauseigentümer zu werden, um auf dem Wohnungsmarkt einer Benachteiligung gegenüber deutschen Mitbewerbern zu entgehen, weist er auf eine paradoxe Dynamik hin: In der türkischen Teilhabe am Wohnungseigentum im Stadtteil zeigt sich eine Wirkung vorangegangener Stigmatisierungs- und Ausgrenzungsprozesse. Dieselben materiellen Erfolge stehen bei der Zuschreibung »krimineller Machenschaften« Pate. Herr Dostluk kann etwa davon berichten, dass er einmal eine deutsche Mutter
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und ihre Tochter tuscheln hörte, als sie eine Wohnung besichtigten, die er zu vermieten hatte. Die Tochter, so erzählt er, habe der Mutter zugeflüstert: »Nein, ich will bei den Türken nicht wohnen. Scheiße. Wer weiß, was die machen.« Ähnliches habe er schon mehrmals erlebt, sagt Herr Dostluk und erläutert dann den Grund: »Das ist die Vorstellung: Das sind jetzt Türken. Die sind ja kriminell. Die sind ja hinterhältig. Denen kann man nicht vertrauen.« Dass Herr Dostluk das alles nicht nur so dahersagt, lässt sich an den Auswirkungen auf sein Verhalten ermessen. Er erzählt, dass er sich von »den Deutschen« zu sehr beobachtet fühlen würde, wenn er »einen Mercedes oder BMW 500er Serie« führe; daher bevorzuge er »einen Passat, so ‘n Volkswagen, der nicht so auffällig ist«. Dazu gibt es in der Tat eine Entsprechung auf Seiten der deutschen Bevölkerung. Frau Hofstätter, die Sonderschullehrerin aus der Barrener Siedlung am Stielmusfeld, sagt beispielsweise im Interview: »Und ich habe auch das Gefühl, dass die Kriminalität oder auch so dieses halb Illegale, was alles so abläuft in den Geschäften, in diesen Familien, in den Clans, die da zusammenkommen, dass da also vieles nicht mit rechten Dingen zugeht. Und ist ja auch schon das Schlagwort: Ein schwarzer BMW, ein neuer, da sitzt ein Türke drin.« Solche Klischees setzen türkische Geschäftstätigkeit mit dubiosen Strukturen und machohaftem Gebaren gleich. Frau Hofstätter bringt dies exemplarisch zum Ausdruck, wenn sie von »Clans« spricht, »die da so in ein Halbdunkel abrutschen oder in die Kriminalität«. In einer Gruppendiskussion beim Männerverein der Evangelischen Trinitatisgemeinde in Barren-Ost raunt Herr Murawski – ein 64-jähriger, pensionierter Kraftwerksingenieur – von »schwarzen Geschäften«, aus denen junge, »großkotzig« sich in der Öffentlichkeit verhaltende Türken ihr zur Schau getragenes Geld bezögen. Sein gleichaltriger Vereinskollege, der ehemalige Polizist Schreiner, schöpft aus dem bereits bekannten Arsenal von Unterstellungen, wenn er von einer Wohnungsbesichtigung in einem zum Verkauf angebotenen Sechs-Familien-Haus erzählt: »Mittags hat er [der Inhaber] dann die Leute kommen lassen. Dann kamen natürlich etliche türkische Familien und die kommen dann als ganzer Clan an. Da standen zwei Wohnungen leer. Die wollten sofort. Der Preis spielte also wirklich keine Rolle. Woher haben sie das Geld?«
2.3.3 »Rationales Schmarotzertum« Ein weiteres Klassifikationsmuster, das in der deutschen Bevölkerung verbreitet ist, schreibt türkischen Stadtteilbewohnern zu, sich wie »rationale Schmarotzer« (Zilian/Moser 1989) zu verhalten. Wer immer andere des Schmarotzertums bezichtigt, verweist sie symbolisch auf einen Platz außerhalb der ehrenwerten Gesellschaft. Die Figur des Schmarotzers steht in einem prinzipiellen Gegensatz zu demjenigen, der rechtschaffen ist und nur das nimmt, was ihm zusteht. Es handelt sich also um ein Klassifikationsmuster des kategorialen Typs. Zwei Ausprägungen dieses Klassifikationsmusters sind zu unterscheiden: Die erste, die wiederum in beiden Untersuchungsgebieten vorkommt, bezieht sich auf den Umgang mit den Leistungen des Sozialstaates, welche die türkische Bevölkerung mit allen Finessen zu nutzen wüssten. Die zweite Ausprägung der Schmarotzer-Semantik ist in Iderstadt-Süd nur in Spuren festzustellen, spielt aber in Barren-Ost eine umso größere Rolle. Sie bezieht sich
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vornehmlich auf politisch aktive, in der lokalen Öffentlichkeit sehr präsente Migrantengruppen, insbesondere auf die örtlichen Moscheevereine und den Barrener Ausländerbeirat. Ihnen wird vorgeworfen, ihre Partizipation an den Vorgängen im Stadtteil sei rein strategischer Natur und nur dem eigenen Vorteil verpflichtet. Diese Ausprägung der Zuschreibung eines rationalen Schmarotzertums ist in Iderstadt-Süd deswegen kaum anzutreffen, weil dort kaum vergleichbare Partizipationsversuche türkischer Gruppen zu verzeichnen sind (vgl. dazu Abschnitt 3). Die erste Variante des Klassifikationsmusters bezieht sich auf das vorgeblich parasitäre Verhalten türkischstämmiger Stadtteilbewohner gegenüber dem – wie mehrere Einheimische unabhängig voneinander sagen – »deutschen« Sozialsystem. Das Klassifikationsmuster erhält dadurch deutlich einen ethnischen Index. So werden denn auch deutsche Arbeitslose in beiden Untersuchungsgebieten kaum stigmatisiert (vgl. auch Abschnitt 2.1). Der Iderstädter Lokalaktivist und Online-Händler Athanassios ist ein Musterbeispiel für diese ethnisch differenzierende Haltung, die in beiden Untersuchungsgebieten vorherrscht. Auf die Frage, wie die Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger in Iderstadt-Süd angesehen werden, antwortet Herr Athanassios: »Da wird eigentlich nicht drüber gesprochen. Muss ich Ihnen ganz ehrlich sagen. Es wird nie auf der Straße irgendwo mit dem Finger auf jemand gezeigt und gesagt: ›Der ist arbeitslos, der ist Sozialhilfeempfänger.‹ Das werden Sie hier nicht sehen. Wie gesagt, es gibt bestimmt Ausnahmen. Gibt’s immer. Aber das gibt’s hier eigentlich nicht.« Unmittelbar nach diesen Aussagen beginnt Herr Athanassios über türkische Autobesitzer zu räsonieren, die »diesen Monat in einen nagelneuen BMW und in einem halben Jahr in einen nagelneuen Mercedes einsteigen«. In diesen Fällen könne es schon sein, dass gefragt werde: »Wie macht denn der das?« Auf Nachfrage des Interviewers, ob es denn solche Fälle in Iderstadt-Süd gebe, antwortet Herr Athanassios, er müsse leider sagen, es sei meistens »bei den Türkischen« so. Er wolle aber »nichts unterstellt« haben, so Herr Athanassios, der dann ironisch auf die Möglichkeit verweist, dass die meist jungen türkischen BMW- und Mercedesfahrer, die tagsüber im Café säßen, »nachts schwer arbeiten« oder »reich geboren wurden«. Dann erklärt er jedoch, für ein nicht näher definiertes Kollektiv sprechend: »Wobei wir denken natürlich schon was anderes, ist klar.« Auch der 58-jährige Direktor einer Bankfiliale in Barren-Ost, Herr Ruppold, bringt eine wenig zögerliche Haltung türkischer Stadteilbewohner zum Sozialstaat gedanklich mit großspurigen Luxusautos in Verbindung. Im Interview behauptet er, es gebe in Barren-Ost »viele Türken, die mit 52 in den Vorruhestand gehen wollen, so wie früher in den 60er Jahren die faulen Deutschen«, um direkt im Anschluss daran anzumerken: »Der einzige, der hier in Ost einen Ferrari fährt, ist ein Türke in der Labanstraße!« Die generationsspezifische Diagnose, mit der Herr Ruppold seine Assoziationen verknüpft, besitzt Berührungspunkte mit dem bereits beschriebenen Bild des »verweichlichten« und in diesem Sinne »dissozialen« Deutschen. »Dann, Ende der 60er Jahre, kamen die Türken in Kohlebergwerke. Die haben hier die Arbeit gemacht, die haben richtig gerackert und geschuftet, und die Deutschen sind faul geworden, haben sich dann früh, schon mit 50 pensionieren lassen. Mittlerweile sind sie wie die Deutschen geworden, sie sind faul geworden. Sie ruhen sich auf dem Wohlfahrtsstaat aus. Vorher hatten sie unsere Arbeit, die Drecksarbeit getan, wo sich unsere Leute zu fein für waren, und jetzt sind sie verdeutscht.«
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Wenn Herr Ruppold an dieser wie auch an anderen Stellen davon spricht, die türkischen Stadtteilbewohner seien »verdeutscht«, nimmt er dies keineswegs zum Anlass, die Einstellung zu Arbeit und Sozialstaat bei »Deutschen« und »Türken« gleichermaßen zu geißeln. Aus Herrn Ruppolds Äußerungen spricht die Auffassung, Deutsche und Türken hätten prinzipiell nicht die gleichen Ansprüche auf Leistungen des Sozialstaates. Er redet nur mit Bezug auf die letzteren über »Auswüchse« und fährt das Beispiel eines türkischen Mannes auf, »der selbst immer die Witwenrente für seine Frau abholt«. Er tut so, als könnte er unzählige solcher Beispiele nennen, winkt aber mit den Worten ab: »Ich will jetzt nicht zu kriminalistisch werden.« Für Herrn Ruppold scheint nicht nur klar zu sein, dass die türkischstämmige Bevölkerung den Sozialsystemen mit einer schmarotzerhaften, wenn nicht auch betrügerischen Haltung begegnet, sondern auch, dass sie dabei viel schlauer und informierter zu Werke geht. »Wir haben einen Wohlfahrtsstaat, keinen Sozialstaat«, moniert Herr Ruppold und setzt hinzu: »Und den deutschen Witwen fällt es viel schwerer, Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen, auch wenn sie ihnen mit ihrer ganz kleinen Rente zustünde. Die Ausländer, die Türken holen die Sozialleistungen und die Deutschen sind zu zurückhaltend. Die Türken haben die Gesetzgebung voll im Griff!« Ähnliche Auffassungen vertritt Herr Matysik, der als stellvertretender Knappschaftsältester bereits mit Rentenanträgen von Mitgliedern der Bergbaugewerkschaft zu tun hatte. Er berichtet nicht nur davon, dass türkische Antragsteller mit Bestechung und allen anderen zu Gebote stehenden Mitteln das Maximale zu erreichen suchten, sondern auch von ihrem fordernden Auftreten und ihrem perfekten Kenntnisstand: »Und die wissen dann aber ganz genau, welche Rechte die haben und wo sie was kriegen können, ob das dann hier Schwerbehindertenausweis ist oder Sozialämter, da kommen sie und sagen: ›Helft mal eben.‹« Auch Herr Matysik versichert, nur »ein verschwindend kleiner Teil« türkischer Antragsteller verhalte sich auf diese Weise, um kurz darauf wieder generalisierend zu sagen, im Unterschied zu ihren deutschen Kollegen würden »unsere ausländischen Mitbürger versuchen, auf alle Art und Weise, egal wie, an die Rente zu kommen«. Das einzig positive Bild des türkischstämmigen Mitbürgers ist hier mit der Vorstellung des bescheidenen Gastarbeiters verknüpft, der duldsam seiner Arbeit nachgeht und an die Aufnahmegesellschaft oder vielmehr an die Gesellschaft, in die er hineingeboren wurde, keinerlei weitergehende Ansprüche stellt. In Barren-Ost tritt dieses Bild mit einer solchen Persisenz zutage, dass man es geradezu kanonisch nennen kann. In Iderstadt-Süd ist dieses Bild vom guten Gast und anspruchslosen Arbeiter ebenfalls anzutreffen; und auch dort wird es als Kontrastfolie für die angebliche türkische Mitnahmementalität gegenüber dem Sozialstaat gebraucht. Beispielhaft dafür ist Frau Spitz, die mehrere Jahre für Sicherheit und Ordnung in Iderstadt zuständige Verwaltungsangestellte der Stadt Raisfurth. Weil sie eine beratende und koordinierende Funktion mit viel Publikumsverkehr innehat, kann Frau Spitz von Episoden und Erfahrungen mit Antragstellern und Empfängern kommunal verwalteter Sozialleistungen berichten. Besonders junge Türken stellten gerne »Forderungen« und legten mit Vorliebe ihre »Ansprüche« dar. Das Verhalten der jüngeren türkischen Generation nennt sie »besonders rabiat« und »besonders massiv«. Diese Haltung bringt sie in einen scharfen Gegensatz zu den ersten türkischen Einwanderern: »Die erste Generation war noch anders als die zweite und dritte Generation. Das waren ja noch die Gastarbeiter – die haben gearbeitet, haben sich angestrengt, die haben ihr eigenes Geld verdient und nicht nur Sozial-
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leistungen gefordert.« Frau Spitz hat von Fällen überhöhter und erschwindelter Ansprüche an den Sozialstaat bei Akteuren aus einer Vielzahl ethnischer Gruppen – darunter auch die deutsche Bevölkerung – zu erzählen, aber ihre Verallgemeinerungen beziehen sich vornehmlich auf »die Türken«. So präsentiert Frau Spitz den Fall eines türkischen Hauseigentümers, der von der Stadt zu den günstigsten Konditionen ein denkmalgeschütztes Haus gekauft habe und nun versuche, dieses »zu entmieten mit allerhand Methoden und Methödchen«: »Auf der anderen Seite haben wir den gleichen als Beschwerdeführer, und jetzt kommt der Hammer, beim Wohnungsamt und bei der kommunalen Wohnungsbaugesellschaft, weil seine Söhne, die gleichzeitig das Haus mit gekauft haben, das habe ich gesehen, die wollen ganz schnell eine Sozialwohnung haben. Fällt Ihnen dazu noch was ein? Diese Schlitzohrigkeit! Auf die Idee käme doch unsereins gar nicht. Die sind mit allen Wassern gewaschen, da bin ich immer wieder mal baff.« Frau Spitz’ – von den Zahlen nicht unterstützte7 – Behauptung, dass in Iderstadt ein viel höherer Anteil ausländischer als deutscher Bewohner arbeitslos sei, begründet sie mit dem »Arbeitsunwillen« der zugewanderten Bevölkerungsgruppen. Das Beispiel, das sie dafür anführt, ist wiederum ein türkischer Mann. Er sei, wie sie sagt, ein »Stammkunde« bei ihr, und sie sehe ihn, wenn sie dienstlich unterwegs sei, »spazieren gehen«. »Da hat er mir erklärt«, fährt Frau Spitz fort, »wir seien ja im Krieg die Nazis gewesen und wir seien verpflichtet, ihn zu versorgen, und er würde hier nicht arbeiten. Das hat er konsequent durchgezogen bis heute.« Einmal habe ihr der Mann etwas von einem Nierenkrebs erzählt, um vier Wochen später plötzlich eine Arbeitsaufnahme zu melden. Da habe sie ihre »detektivische Tätigkeit« aufgenommen und in Erfahrung gebracht, dass das Sozialamt über die örtliche Diakonie sämtliche Arbeitskosten übernommen habe. Später habe sich herausgestellt, dass der türkische Mann genau ein Vierteljahr und aus ganz bestimmtem Grund gearbeitet hat: »Und in diesem Vierteljahr ist er eingebürgert worden, und seitdem schafft er nimmer.« Frau Spitz: »Und das habe ich bei vielen inzwischen festgestellt. Wissen Sie, da kommt man sich schon sehr blöd vor. Also unsere deutsche Bevölkerung ist in unserer Gesetzgebung viel, viel weniger informiert und nützt sie viel, viel weniger aus als diese Leute. – So, jetzt geht er wieder spazieren.« Eine besondere Rolle schreibt Frau Spitz den Moscheen zu. Sie ist davon »überzeugt, dass in den Moscheen ein reger Austausch von Tipps ist, wie man unser Sozialsystem nutzt«. Die Rede von »unserem« Sozialsystem verweist erneut auf die untergründig wirksame Vorstellung, dass die nichtdeutsche oder die muslimische nicht die gleichen Anrechte auf Sozialleistungen wie die autochthone Bevölkerung besitze. Die Überzeugung, dass die türkischstämmige Bevölkerung von den Sozialsystemen besser behandelt wird als diejenigen, für die diese Systeme vermeintlich eingerichtet wurden, zieht sich auch durch die Aussagen weiterer Bewohner von Iderstadt-Süd. Der Metzger Freilich wendet die bereits bekannte Zitatmethode an und lässt bei dieser Gelegenheit Türken vorrangig als Sozialhilfeempfänger erscheinen: »Zu uns kommt eine Frau, die trägt 7
Im Mai 2004 lag die Sozialhilfedichte in Iderstadt-Süd, das heißt der Anteil der Bezieherinnen und Bezieher von »Hilfe zum Lebensunterhalt«, bei der wohnberechtigten deutschen Bevölkerung mit 12,1 Prozent leicht höher als bei den Ausländern, von denen 11,4 Prozent Sozialhilfe bezogen. Bei der Arbeitslosenquote verhält es sich umgekehrt: Im Juni 2004 lag sie bei den ausländischen Einwohnern zwischen 20 und 60 Jahren bei 14,9 Prozent, bei den Deutschen etwas niedriger, nämlich bei 13,0 Prozent (Quelle: Statistikstelle der Stadt Raisfurth).
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irgendwelche Zettel vom Sozialamt aus, an Sozialhilfeempfänger. Die hat gesagt: ›Das glaubst du nicht, wie viele Sozialhilfeempfänger in Iderstadt wohnen und unterstützt werden. Und für jeden Dreck Geld kriegen. – Wenn das die Deutschen wüssten, die täten verrückt werden.‹« Der Fotograph Windig wiederum fürchtet sich vor den Moscheen im Stadtteil. Er sieht »bei den Türken oder Muslimen eine ganz große Gefahr, dass sich nicht nur normales Leben darin [in den Moscheen] abspielt, sondern dass man – in Anführungszeichen – irgendetwas gegen uns ausheckt«. Was das sei, erklärt er folgendermaßen: »Die Vorteile. Vorteile jetzt aus der Sicht eines Unternehmers, Mietvorteile, Mietzuschüsse von Seiten der Stadt, dass es Eingliederungsgeld oder Anpassungsgeld oder wie auch immer tituliert gibt, die wir meines Wissens nicht bekommen. Dann: Jede Menge Zuschüsse halt im weitesten Sinne, wo wir als normale Europäer gar nicht wissen, Mensch, dass es so was gibt.« Herr Zenser schließlich, ein 77-jähriger Rentner und ehemaliger städtischer Beamter aus Iderstadt-Süd, spricht wörtlich von einem »Parasitentum«, gegen welches er »wie ein Bluthund vorgehen« würde. Als einziges Beispiel dafür nennt er einen Mitarbeiter der Verwaltungsabteilung, welcher er früher vorgestanden hat. Seinen ehemaligen Mitarbeiter qualifiziert er nur als »Ausländer« und erzählt, dass dieser sich über längere Zeiten krank gemeldet hatte, bis er ihm eigenhändig auf die Schliche gekommen sei: Er habe die Zeiten der Krankmeldung genutzt, um sich im Hausbau zu betätigen. Der Barrener Bankdirektor Ruppold stellt mit dem gleichen Vokabular wie Herr Zenser die rhetorische Frage: »Wann kann man was bekommen – als Parasit oder als Engagierter?« Er suggeriert, dass »Engagement« vergleichbare Eigenschaften wie »Parasitentum« hat. Er bezieht sich dabei auf den Vorgang, dass türkische Vereine Vorschläge zur Vergabe von Fördermitteln des Stadtteilerneuerungsprogramms Soziale Stadt NRW in Barren-Ost unterbreitet haben, womit er ein Thema anspricht, das die lokale Öffentlichkeit während des Untersuchungszeitraums stark beschäftigt hat. Hiermit kommt die zweite Variante des Klassifikationsmusters »rationale Schmarotzer« ins Spiel, die weitgehend auf Barren-Ost beschränkt ist. Sie taucht insbesondere im Kontext der politischen Aktivitäten des türkisch dominierten Barrener Ausländerbeirats und der Migranten- und Moscheevereine in Barren-Ost auf, die das Rückgrat des Beirats bilden. In der Startphase des erwähnten Förderprogramms für Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf forderte der Ausländerbeirat eine Beteiligung am Lenkungsgremium, und bei der Diskussion um Konzepte und die Verteilung der finanziellen Mittel wurden die ortsansässigen Migrantenorganisationen aufgefordert, ihre Vorstellungen zu präsentieren. Die einheimische Bevölkerung empörte sich dann allenthalben über die daraufhin erarbeiteten Vorschläge, die von Deutschkursen in den Räumen von Moscheegemeinden über den besagten Sichtschutz im kommunalen Hallenbad (vgl. Abschnitt 2.2.2) bis hin zur Einrichtung eines Antidiskriminierungsbüros in Barren-Ost reichten. Die Kritik an diesen Vorschlägen zielte darauf, dass die türkische Bevölkerung bisher keinerlei Interesse am Stadtteil gezeigt hätte und nun, da »etwas zu holen« sei, plötzlich »unverschämte Forderungen« stelle (vgl. Abschnitt 3.2). Symptomatisch für den Vorgang im Ganzen ist, dass die vom Ausländerbeirat auf der Grundlage von schriftlichen Eingaben dreier Moscheegemeinden, eines türkischen Kulturvereins sowie einer islamischen Elterninitiative gebündelten »Vorschläge und
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Anregungen«, die im Bürgerhaus Barren-Ost öffentlich vorgestellt und heftig diskutiert wurden, in der lokalen Öffentlichkeit bald nur noch als »Forderungen« tituliert wurden. Dies ist auch der Tenor bei der von der örtlichen CDU ins Leben gerufenen Versammlung im Gasthaus Silberling, die sich als Gegenmaßnahme zu der gut zwei Monate vorher durchgeführten Veranstaltung im Bürgerhaus Barren-Ost versteht. Im Einladungsschreiben des CDU-Ortsverbands heißt es, die Veranstalter wollten wissen, welche »Wünsche und Forderungen« die Bürger und Verbände von Barren-Ost »einerseits an das Stadtteilprojekt sowie andererseits an die unter uns lebenden ausländischen Mitbürger stellen«. Gleichwohl schreckt der 67-jährige Herr Hawlitzky, welcher dem Aktionsbündnis Ost – einem Zusammenschluss von Bürgern sowie von Vereins- und Verbandsvertretern – vorsteht, nicht davor zurück, in seiner Rede polemisch zu bemerken, dass der Vorsitzende des Ausländerbeirats, Herr Kedi, keinen Vertreter geschickt habe. In diesem Zusammenhang stellt er fest: »Es ist nicht damit getan, Forderungen zu stellen. Man muss sich einbringen!« Dafür erntet der ansonsten umstrittene Mann viel Zuspruch unter den Zuhörern. Mahnend fährt Herr Hawlitzky mit den Hinweis fort, das Aktionsbündnis Ost habe die Sprecher türkischer Vereinigungen oft eingeladen, es sei aber fast nie jemand gekommen. »Erst als klar war, dass das Stadtteilprogramm kommt und es zusätzliche Gelder gibt – dann erst, ab diesem Zeitpunkt haben die sich dafür interessiert. Und plötzlich lag der Forderungskatalog auf dem Tisch. Man kann nicht nur Forderungen aufstellen! Ich hätte es besser gefunden, wenn sie schon vorher mitgemacht hätten.« Eine der Initiatorinnen der Veranstaltung, die CDU-Stadträtin Margarethe Mimouni, die ihre Ausführungen mit einem Verweis auf ihren syrischen Ehemann eröffnet und sich ihren ausländischen Partner als moralisches Kapital zurechnet, bringt das eigentlich Anstößige jener ominösen »Forderungen« schließlich auf den Punkt, indem sie verkündet: »Die wollen unsere deutschen Gelder haben!« Diese mit der Schmarotzersemantik verbundene Vorstellung zeigt sich auch beim Gärtnereibesitzer Freiligrath besonders deutlich: »Was natürlich mich aufregte auch an dem Abend beim Silberling, das war diese Forderung, dass wir, sagen wir mal, 16 Millionen kriegen sollen und 14 haben die Türken schon verplant. Also, so was finde ich unverschämt. Sie sind Gäste hier, und wir müssen doch sagen: ›Erst mal die Einheimischen.‹« Auf diese Weise wird der türkischstämmigen Bevölkerung mit sachlich unzutreffenden Behauptungen eine maßlose Aneignungsstrategie unterstellt. Darüber hinaus schreibt er den »Türken« im Stadtteil den Status von »Gästen« zu, die gegenüber den »Einheimischen« nur nachrangige Anrechte haben sollten. Die angeblich parasitäre Haltung des Ausländerbeirats und dessen Vorsitzendem ist auch Herrn Ruppold ein Dorn im Auge. »Diese Art der Anspruchstellung ist eine Katastrophe.« Unter den Beispielen, die Ruppold für verfehlte Ansprüche der vom Ausländerbeirat vertretenen türkischen Vereinigungen vorbringt, ist das folgende besonders aufschlussreich: »Die Forderung einer Hochzeitshalle können sie stellen, aber es ist unverschämt, die Halle ausgerechnet an der Bruchhagenstraße haben zu wollen – im Herzen von Ost!« In das lokale Zentrum darf die türkischstämmige Bevölkerung demnach nicht vordringen. Ihre Ansprüche auf eigene Einrichtungen beschränken sich auf die Peripherie. Durch die Schmarotzersemantik werden entweder diejenigen türkischstämmigen Personengruppen klassifiziert, die von sozialstaatlichen Leistungen abhängig sind, oder jene, die bestimmte Anrechte auf politische Mitbestimmung und Ansprüche auf materielle Teil-
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habe geltend machen. Wenn diese beiden in sich sehr unterschiedlichen Gruppen von Deutschen als Schmarotzer dargestellt werden, so ist dies ein besonders deutliches Zeichen dafür, dass in benachteiligten Nachbarschaften die Ethnizität den »master status« von Akteuren ausmacht (vgl. Abschnitt 2.1). Merkmale auf der Skala vertikaler Ungleichheit werden erst in Verbindung mit der Ethnizität von Personen zum Gegenstand negativer Klassifikationen. Das gilt sowohl für Türkischstämmige, die das Schicksal deutscher Arbeitsloser teilen, als auch für jene, die sich in gehobene gesellschaftliche Positionen vorarbeiten konnten oder in der Lage sind, ihre politischen und ökonomischen Interessen zu artikulieren. Die oft sehr weitreichenden Assimilationsforderungen seitens der Einheimischen sind untrennbar an die Auffassung gekoppelt, die türkische Bevölkerung könne weder gleiche Teilhaberechte beanspruchen noch überhaupt eine legitime Interessenpolitik in eigener Sache betreiben. Was bei den Deutschen als die »Tugend« der engagieren lokalpolitischen Interessenvertretung angesehen wird, gilt bei den Türkischstämmigen als »Laster« des Schmarotzertums (zu diesem Mechanismus vgl. auch Merton 1968b: 480 ff.).
2.3.4 »Dreckigsein« Die vierte und letzte kategoriale Klassifikationssemantik unterscheidet zwischen »Dreckigen« und »Sauberen«. Sie begegnet dem Beobachter sowohl in Barren-Ost als auch in Iderstadt-Süd auf Schritt und Tritt. Die entsprechenden Klassifikationen werden auf verschiedene Adressaten und Lebensbereiche angewandt und kennen sowohl wörtliche als auch metaphorische Verwendungsweisen. Zuschreibungen, die mit Kategorien des Dreckigseins operieren, schließen die so Klassifizierten symbolisch aus dem Bereich möglicher Sozialkontakte aus, weil sie mit einem zivilisatorisch eingeimpften Abscheu vor dem Unhygienischen verbunden sind und oft mit der Vorstellung einhergehen, dass man sich durch eine Berührung selbst verunreinigt (vgl. Elias/Scotson 1990: 18 ff.). Daher handelt es sich um ein kategoriales Klassifikationsmuster. Es tritt sowohl bei einheimischen als auch bei türkischstämmigen Akteuren auf – allerdings in zwei völlig unterschiedlichen Ausprägungen. In der ersten Spielart des Klassifikationsmusters stigmatisieren deutsche Stadtteilbewohner die türkischstämmige Bevölkerung im Wortsinn, also im Sinne mangelnder Reinlichkeit, als »dreckig«. Mit dieser Klassifizierung ist die Vorstellung einer zivilisatorisch begründeten Ungleichwertigkeit türkischer Migranten verbunden. Unter Deutschen existiert eine ganze Reihe eingelebter Redensarten, die »Türken« mit einer Semantik des Dreckigseins typisieren. Der Gärtnereibesitzer Freiligrath beispielsweise kommentiert die lange von der türkischen Community geforderte Einrichtung eines muslimischen Gräberfeldes auf dem in seiner Nachbarschaft gelegenen Ostfriedhof mit den Worten: »Man hat immer gesagt: Alles, was Mist ist, kommt nach Ost.« Als wolle er unmissverständlich klarstellen, dass er die Gegenwart von Türken in Barren-Ost als eine Beschmutzung empfindet, fügt er hinzu: »Die Stadt bleibt rein davon.« Frau Schachner, die Geschäftsführerin des Bildungsträgers Aufbruch in Barren-Ost, spricht im Interview von »vielen Alteingesessenen«, die sich im Stadtteil »sehr unwohl fühlen inzwischen«, und führt dies auf ein »zunehmendes Befremden über Vermüllung und auch irgendwelche Schlachtmethoden« zurück. Wenn sie Schlachtungen »im Hinterhof« und die Beschwerden
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von Anwohnern »über irgendwelche blutigen Reste« anführt, ist ihre Anspielung auf die islamische Praxis des Schächtens nicht zu verkennen. Der Gewerkschafter Matysik wiederum hält es für problematisch, wenn zu viele Türken in einem Haus wohnen, weil sie durch den Umgang mit deutschen Bewohnern »ein bisschen erzogen werden« müssten. Er verweist nicht nur auf das bei türkischen Familien angeblich notorische Problem unterlassener Mülltrennung, sondern auch auf das fehlende Bewusstsein von der Verbindlichkeit einer »Hausordnung«, die einschließe, »dass man auch putzen muss«. Herr Freiligrath berichtet, dass er einem türkischen Autohändler, der in seiner Nachbarschaft ein Geschäft eröffnete, gleich erklärt habe: »Wir machen hier die Straße sauber.« In dieser pädagogischen Haltung gegenüber Türken artikuliert sich das Bewusstsein einer zivilisatorischen Überlegenheit. Von diesem in der deutschen Bevölkerung verbreiteten Bewusstsein besitzen türkische Akteure in Barren-Ost durchaus Kenntnis. So zählt der Busfahrer und Hauseigentümer Dostluk die Ansicht, dass sie »sehr dreckig« seien, ausdrücklich zu den »Vorstellungen«, die sich deutschen Stadtteilbewohner von den Türken machten. Herr Yussuf, der als ABMKraft beim Arbeitslosenzentrum Barren-Ost angestellt ist, beschreibt die vergeblichen Versuche seiner 18-jährigen Tochter, eine Ausbildungsstelle zu bekommen. In diesem Zusammenhang berichtet er davon, dass er seiner Tochter gesagt habe, sie brauche sich nicht zu schämen, weil ihre Familie ja »sauber und anständig« sei. Darin ist ein Widerhall existierender Klassifizierungen zu erkennen. Auch bestätigt sich, dass »die Etabliertengruppen gewöhnlich einen Verbündeten in einer inneren Stimme der Unterlegenen selbst haben« (Elias/Scotson 1990: 19). In Iderstadt-Süd lassen sich ebenfalls zahlreiche Redeweisen und Ausdrücke feststellen, die Türken semantisch mit Dreck und Schmutz assoziieren. So berichtet der 37 Jahre alte Herr Lobkühn vom sprichwörtlichen »Dreckskanaken«, der zum alltäglichen Sprachgebrauch gehöre. Der freiberufliche, in Iderstadt-Süd wohnhafte Journalist gibt sich im Interview als ein Zeitgenosse, der dem Volk aufs Maul schaut. So sagt er über seine Nachbarn: »Da will man immer eigentlich das Gespräch oder den Kontakt völlig abbrechen, weil die halt schon sagen: ›Die Dreckskanaken, seit die da sind, geht gar nichts mehr.‹« Genüsslich jedoch gibt Herr Lobkühl im Interview folgende stereotype Situation wieder: »Da auf der Straße, wenn sie nicht fahren können, und so: ›Hier du Dreckskanake, mach’ dich von der Straße, in Anatolien Esel reiten und bei uns die Straße vollstellen‹, und so.« Herr Athanassios wiederum degradiert die Besucher der nahe an seinem Wohnhaus gelegenen Al-Madina Moschee zu »Müll« und verbirgt sich dabei hinter der Aussage eines Dritten: »Zu mir hat mal jemand gesagt, aber das ist jetzt ein Zitat, das ist nicht von mir: ›Aus allen Ländern der Müll, den man in einer Moschee nicht haben will, der geht da rein beten.‹« An einer anderen Stelle des Interviews spricht Herr Athanassios in der derselben Manier von der möglichen Beteiligung türkischer Stadtteilbewohner an den Bemühungen seiner Bürgerinitiative, die Sauberkeit im Stadtteil zu verbessern. Seinen Ausführungen dazu gibt er eine pädagogische Wendung: »Ich bin halt der Meinung, als allererstes sind hier die Deutschen gefragt, müssen es zeigen, den Leuten, und dann auch mal ansprechen und nicht sagen: ›Hey, du Kanake, du musst hier kehren‹, sondern sagen: ›Hey, Leute, guckt einmal, wir machen sauber.‹«
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Die bisher vorgesellten Beispiele der Semantik des Dreckigseins liegen mehr auf der Ebene einer habitualisierten Rhetorik; aber auch bei diesem Klassifikationsmuster gilt, dass seine Verwendung meist an Gewohnheiten und Verhaltensweisen festgemacht wird, die deutsche Stadtteilbewohner an ihren türkischen Nachbarn beobachtet haben wollen. Herr Horn, Inhaber eines Gas-Wasser-Installationsbetriebs und stellvertretender Vorsitzender des Iderstädter Gewerbevereins, spricht von einer recht heruntergekommenen Gegend in der Nähe des Rotlichtviertels am Rande von Iderstadt-Süd. Wenn dort die öffentliche Hand Baumaßnahmen ergreife, »müssen wir aufpassen, dass der Platz nicht zum türkischen Teehaus wird«, sagt er und ergänzt: »Wenn da bloß ein paar Bäume drauf kommen und ein paar Bänke zum Sitzen, gebe ich Ihnen heute schon schriftlich, wer da draufsitzt. Und dann ist der Platz ruckzuck zugemüllt.« Auf die Nachfrage des Interviewers, wer denn auf den Bänken sitzen würde, antwortet Herr Horn prompt: »Die, die jetzt in den Straßen rumlaufen. Das sind Türken, die Rosenkranzbeter, die sitzen dann da drauf rum. Weil, die haben ja Zeit, die haben nichts zu tun.« Schon bei der ersten telefonischen Kontaktaufnahme mit den Feldforschern spricht Herr Horn davon, Iderstadt-Süd sei zu einem »Schandfleck« verkommen und erklärt dies dann im Interview mit der Präsenz der türkischen und muslimischen Bevölkerung. In ähnlicher Weise meint der Barrener Bankfilialleiter Ruppold über die hygienischen Verhältnisse in von Türken bewohnten Häusern Bescheid zu wissen: »Die bekommen ihre Hütten nicht einmal so hin, dass du dort auf den Pott gehen kannst!« Mit derartigen Zuschreibungen hat Frau Sahan, türkische Mutter von drei Kindern aus Barren-Ost, ihrerseits Bekanntschaft gemacht. Sie erzählt, dass die Eltern von deutschen Mitschülern ihrer Kinder mehrfach Einladungen nicht angenommen hätten. Als einmal doch zwei Mütter gekommen seien, um für eine Schulveranstaltung bei ihr zu Hause türkische Pizza zu backen, bemerkten diese ihrem Bericht zufolge erstaunt: »Wir haben uns das nicht so vorgestellt bei Ihnen zu Hause.« Und auf Nachfrage von Frau Sahan: »Ach, bei Ihnen ist doch alles picobello, alles in Ordnung, sauber, ordentlich und schön eingerichtet.« Weiterhin berichtet Frau Sahan – in Übereinstimmung mit anderen Mitgliedern der Islamischen Kulturgemeinschaft, der sie angehört –, dass Lehrer der örtlichen Realschule Kopftuch tragende Schülerinnen mit den Worten beleidigen würden: »Du trägst Kopftuch, weil deine Haare nicht gewaschen sind.« Oder: »Du trägst Kopftuch, weil du Läuse hast.« Vorstellungen einer zivilisatorischen Höherwertigkeit der deutschen Kultur gegenüber der türkisch-islamischen, die sich im Kontrast von Reinlichkeit und Schmutz zum Ausdruck bringen, sind auch in Iderstadt-Süd anzutreffen. Ein recht extremes Beispiel dafür ist Herr Windig, der bereits erwähnte Inhaber eines Fotogeschäfts. Er identifiziert eine türkische Bäckerei in seiner Nachbarschaft als jenen Ort der Unordnung und des Drecks, wo die »vierbeinigen Ratten« nisten und brüten, die nachts auf den Straßen des Stadtteils zu sehen seien, womit er zu verstehen gibt, dass es für ihn auch »zweibeinige Ratten« gibt. Entmenschlichende Zuschreibungen, die türkische Stadtteilbewohner mit schmutzigem Ungeziefer assoziieren oder gar mit diesem gleichsetzen, bilden semantisch gewiss die schärfste Form des in Rede stehenden Klassifikationsmusters. Die Türken werden jedoch nicht nur als eine Bevölkerungsgruppe beschrieben, die »dreckig« ist und »unhygienisch« wirtschaftet und daher aus bestimmten Bereichen der Gesellschaft und der Ökonomie ausgeschlossen werden sollte.
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Bisweilen wird ihnen ihr »Dreckigsein« auch als ein aggressiver Akt gegen ihre einheimischen Nachbarn ausgelegt. Ein Beispiel aus Barren-Ost liefert Frau Kalamitrow, die zu einer Gruppe von Anwohnern gehörte, die gegen den Moschee- und Minarettbau der Namaz Gemeinde in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft Sturm lief. Über ihre ehemaligen Nachbarn vom Namaz Verein sagt sie: »Die spucken dir vor die Tür, das ist bei denen üblich, da liegen nach dem Freitagsgebet ein Haufen Zigaretten rum. Was haben die für eine Kultur!« Weiter erklärt sie mit Bezug auf ihr allwöchentliches Saubermachen: »Oft habe ich schon gewartet bis nach dem Freitagsgebet, weil wenn Sie vorher schon vor dem Haus gekehrt haben, haben die dann wieder alles vollgespuckt! Es war nicht mehr auszuhalten, es gab nur noch Ärger.« Herr Fochler, ein Bestattungsunternehmer aus Iderstadt-Süd, spricht gar von einem »Kleinkrieg«, den er gegen türkische Anwohner führe, die seine Schaufenster und Leichenwagen wiederholt »bespuckt« hätten. »Den Kleinkrieg habe nicht ich angefangen. Ich stelle lediglich fest, dass das Dreckspack mir die Scheiben und Autos vollrotzt, überwache mit Video und erstatte Anzeige. Mein gutes Recht, und es gibt außer Baseballschläger keine Alternative. Solange ich es nicht mit normalen gesprächsbereiten Türkenkurden zu tun habe, sondern mit inländerfeindlichem Gesocks, wehre ich mich.« Und weiter: »Die wollen keinen Frieden und suchen Streit, bis sie die Oberhand haben. Ich re-agiere. Agieren tun die anderen, die ›lieben ausländischen Mitbürger‹. Nur komisch, dass es außer mit denen aus der Türkei, wo sie niemand haben will, mit keiner anderen Nationalität Ärger gibt.« Was Herr Fochler über den Konflikt sagt, ist gewiss wenig aussagekräftig für die Haltung, die in Iderstadt-Süd über die Türken allgemein vorherrscht. Aber weder bei so konfrontativen noch bei weniger schroffen Diffamierungen finden sich hier türkischstämmige Akteure, die hörbar dagegen aufbegehren. In Barren-Ost hingegen, wo die türkische Bevölkerung überhaupt ein viel klareres Bewusstsein davon zu haben scheint, was die deutsche Bewohnerschaft über sie denkt, werden entsprechende Erfahrungen der Stigmatisierung sofort von den türkischen Organisationen öffentlich thematisiert. Weil Türken der einheimischen Bevölkerung als »dreckig« gelten, initiierte der Barrener Ausländerbeirat in den Jahren 2001 und 2002 zwei Putzaktionen, die von den Kindern der beiden größten türkischislamischen Moscheevereine in Barren-Ost – dem Namaz Verein und der Islamischen Kulturgemeinschaft – durchgeführt wurden: Sie reinigten in dem einen Jahr mit der Essener Straße die Hauptverkehrsader und Geschäftsmeile des Stadtteils, im anderen den Ostpark, der außer Schrebergartenanlagen und dem Ostfriedhof die einzige größere Grünfläche im Stadtteil darstellt. Diese Putzaktionen sollten, wie Herr Kedi, der Vorsitzende des Ausländerbeirats, im Interview sagt, »ein Zeichen setzen« gegen das Vorurteil »Türken machen alles dreckig«. In diesem Zusammenhang berichtet er von einer »städtischen Veranstaltung in einer Gaststätte hier«, auf der es geheißen habe: »Wenn man sich die Häuser anguckt, dann sieht man, wo ein Türke wohnt, wo das Haus einem Türken gehört.« Er erklärt, dass dies den Anstoß für die Putzaktionen gegeben habe, und versichert gleichzeitig, dass er selber ein Haus in Barren-Ost besitze und »keine Probleme« mit der Sauberkeit habe: »Da mache ich mein Haus, also vor meinem Haus alles sauber. Das ist ein Vorurteil.« Herr Günay vom Vorstand der Islamischen Kulturgemeinschaft bezeichnet die Reinigungsaktionen der Kinder der Moscheegemeinde als eine »Gebetsform« und setzt hinzu:
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»Kinder müssen lernen, den eigenen Ort, wo sie wohnen, sauber zu halten.« Mit den religiösen Begründungen für die Aktionen, bei denen jeweils etwa 70 Kinder mit Greifzange und Müllsatz im Stadtteil unterwegs waren, geben Herr Günay und Herr Kedi zu verstehen, dass vom Islam geprägte Türken von Haus aus immer schon größten Wert auf Reinlichkeit gelegt hätten und sogar einer religiösen Verpflichtung unterliegen würden, Heim und Hof sauber zu halten. Ihre deutschen Nachbarn können jedoch nur strategische Winkelzüge und Ablenkungsmanöver darin erkennen, wenn die Moscheevereine ihre Kinder Putzaktionen im Stadtteil durchführen lassen und – wie bei der ersten Aktion – auch noch Fernsehkameras dazubestellen (vgl. Abschnitt 3.1.1). Herr Matysik von der Bergbaugewerkschaft sieht in den Putzaktionen bloße Maßnahmen zur Öffentlichkeitsarbeit des Ausländerbeirats und meint, es wäre besser, wenn die türkischen Gewerbetreibenden »ihre Geschäfte sauber halten würden und den ganzen Müll da nicht herumliegen lassen würden«; dann, so meint er weiter, bräuchte man nicht »schaubildhaft« solche Aktionen durchzuführen. Selbst Putzaktionen können demnach als Eingeständnis des Dreckigseins gedeutet werden. Umgekehrt wiederum sind Teile der türkischstämmigen Bevölkerung nicht frei davon, ihre deutschen Nachbarn als »schmutzig« zu betrachten. Die zweite Spielart des Klassifikationsmusters, das zwischen Dreckigen und Sauberen scheidet, ist insbesondere bei islamischen Akteuren anzutreffen, insgesamt im empirischen Material jedoch weit weniger ubiquitär als die erste Spielart. Wo sie vorkommt, brandmarken Muslime die deutsche Bevölkerung aufgrund der ihnen zugeschriebenen Promiskuität in einem moralischen und sexuellen Sinn als »unrein«. Die aus streng islamischer Sicht »unnatürliche« sexuelle Freizügigkeit ist mit Gefühlen des Ekels verbunden und begründet die Vorstellung, eine vom Islam geprägte Sexualmoral sei jener der deutschen Nachbarn überlegen. Die deutsche Bevölkerung erhält das Odium einer moralischen Ungleichwertigkeit. Frau Sahan, die Mitglied der Islamischen Kulturgemeinschaft ist, erklärt im Interview, ihre Toleranz gegenüber der »deutschen Lebensweise« ende bei den »unreinen Sachen«. Damit meint sie insbesondere außereheliche sexuelle Aktivität und führt dazu aus: »Unrein heißt für mich, so überall Sex treiben.« – »Das kann ich nicht akzeptieren«, stellt sie fest und unkt: »Aber für eine Deutsche Sex treiben: Ach, das macht denen nichts, das ist doch deren Freund, das hat sich.« Offene Empfindungen des Abscheus treten beim 55-jährigen Herrn Akbar zutage, promovierter Ingenieur und Mitglied der arabischsprachigen Al-Madina Moschee in IderstadtSüd: »Der Deutsche ist nichts verpflichtet! Zum Beispiel die Frau des Kollegen zu küssen, wenn sie sich treffen, da ist für die Deutschen nichts dabei. Wir meiden deswegen gesellschaftliche Treffen, denn dieses Verhalten ist uns zuwider.« Er versichert, dass die Mitglieder seiner Gemeinde solchen Treffen nicht deswegen aus dem Weg gehen, »weil wir die Deutschen nicht mögen«. Der Grund dafür bestehe vielmehr in einer »Unberechenbarkeit der gesellschaftlichen Verhaltensweise« bei den Deutschen, deren Gesellschaft völlig »durcheinander gekommen« sei. »Wir haben Angst, dass unsere Frauen auf einmal an falschen Stellen berührt werden. Das ist für uns unmöglich, das ist für uns abstoßend.« Herr Akbar erklärt, dass ihm und seinen Glaubensbrüdern in einem solchen Fall »sofort das Blut hochsteigt«, und gibt kund, dass die in der deutschen Gesellschaft verbreiteten Verhaltens-
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weisen zwischen Mann und Frau »dem menschlichen Instinkt widersprechen«. »Eine fremde Frau zu küssen, das ist für uns unrein, das ist unglaublich für uns.« Darüber hinaus spricht er von einer »absolut regellosen« deutschen Gesellschaft und führt darauf den Radikalismus junger Muslime zurück: »Manche von unseren Jugendlichen, die sich den Deutschen angepasst haben, haben sich danach absolut verwandelt. Sie haben das Gefühl, verführt worden zu sein. Wenn jemand das denkt, verachtet er die Gesellschaft. Diese neigen dann zum Fanatismus, das sind Überreaktionen. Sie revanchieren sich dafür, von der Gesellschaft in den Dreck gezogen worden zu sein.« Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass Herrn Akbars Al-Madina Gemeinde sich abschottet und fast jeder Berührung mit der deutschen Umgebung aus dem Weg geht: Jeder Kontakt kann verunreinigend sein.8 Frau Mantelhoff, die Leiterin des Ider-Zentrums – einer Art Bürgerhaus mit dem Charakter einer interkulturellen Bildungs- und Begegnungsstätte –, erzählt eine Geschichte, die sich folgenderweise zusammenfassen lässt: Sie nahm eine türkische Putzfrau, die von ihrem Mann misshandelt wurde, bei sich zu Hause auf. Nach erfolglosen Versuchen der Familie, die Frau wieder zu ihrem Mann zurückzuholen, meldete sich der Hodscha der türkischen Moschee in Iderstadt-Süd und brachte das Argument vor, die Frau werde »verunreinigt«, da sie jetzt so dicht mit einer deutschen Familie zusammenlebe. Eine Freundin, so Frau Mantelhoff weiter, arbeite in einer Einrichtung der Schwangerenberatung und habe ihr von jungen türkischen Mädchen erzählt, die im Beratungsgespräch als erstes sagen: »Aber nicht, dass Sie denken, ich bin wie eine Deutsche.« Auf die Frage, ob das Kind denn nicht in der gleichen Weise wie bei den Deutschen in ihren Bauch gekommen sei, würden die Mädchen antworten: »Na ja, aber ich benehme mich nicht so.« Alle diese Beispiele zeigen, dass zumindest ein Teil der muslimischen Bevölkerung subjektiv inmitten einer Nachbarschaft lebt, die sie als schmutzig, sexuell besudelt und moralisch verderbt empfindet. Daraus resultiert für sie eine Minderwertigkeit der Deutschen und ihrer Lebensweise, auf die man nur mit einem strengen Berührungsverbot reagieren kann.
8
Deutlich weniger radikale, aber strukturell ähnliche Vorstellungen, die auf einer Dichotomie zwischen der »reinen« Welt des Islam und einer »unreinen« Außenwelt basieren, beschreibt Nikola Tietze (2001: 60 f.) auch bei türkischen Muslimen.
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Abb. 2: Strukturmuster negativer Klassifikationen im Überblick materialer Gehalt
formale Struktur
adressierende Gruppen
adressierte Gruppen
»protestantische Ethik im türkischen Gewand«
graduell
deutsche Nachbarn, Kunden und Geschäftsinhaber
ökonomisch erfolgreiche türkische Gewerbetreibende, besonders Familienbetriebe
»expansiver Übernahmewille«
graduell; auch kategorialer Gebrauch
Deutsche quer durch die sozialen Schichten und Professionen
türkische Geschäftsinhaber und Immobilienbesitzer; oft auf alle Türken übertragen
»übermäßige Zahl«
graduell; auch kategorialer Gebrauch
weite Teile der deutschen Bevölkerung
türkische Stadtteilbewohner
»deutsche Dissozialität«
kategorial
türkische Bevölkerung, besonders ausgeprägt bei Aufsteigern
deutsche Stadtteilbewohner und Familien
»kriminelle Machenschaften«
kategorial
Deutsche quer durch die Schichten und Professionen
türkische Gewerbetreibende, Moscheegemeinden
»rationales Schmarotzertum«
kategorial
in der deutschen Bevölkerung allgemein verbreitet
türkische Sozialhilfeempfänger und Arbeitslose
bestimmende Gruppen der stadtteilbezogenen Öffentlichkeit
politisch aktive türkische Kulturvereine, Ausländerbeirat
weite Teile der deutschen Bevölkerung
im Stadtteil ansässige Türken
vom Islam geprägte Stadtteilbewohner
säkulare Deutsche
»Dreckigsein«
kategorial
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2.4 Zwischenfazit: Ethnische Konkurrenz Betrachtet man nun die vorgestellten Klassifikationsmuster im Überblick, fällt auf, dass sich einige davon speziell gegen türkische Aufsteiger, insbesondere gegen erfolgreiche Geschäftsleute und auch gegen lokalpolitisch aktive Migrantenorganisationen richten. Die deutschen Bewohner der beiden untersuchten Stadtteile diffamieren jenen Sozialtypus, den Jörg Hüttermann (2000) als »avancierenden Fremden« bezeichnet hat. Dies gilt für folgende vier Klassifikationsmuster: »protestantische Ethik im türkischen Gewand«, »expansiver Übernahmewille«, »kriminelle Machenschaften« und »rationales Schmarotzertum« im Sinne eines bloß strategischen, nur dem eigenen Vorteil verpflichteten Engagements im Stadtteil. Bei diesen Klassifikationen geht es um die Abwertung einer Gruppe, die strukturell an einer spezifischen Schnittstelle zwischen vertikalen und horizontalen Ungleichheiten angesiedelt ist. In ihr verbindet sich ökonomischer Erfolg oder auch politischer Einfluss mit dem Merkmal der türkischen Herkunft. Angehörige einer ethnischen Gruppe, die als Personal einer »ethnischen Unterschichtung« (Hoffmann-Nowotny 1973: 22 ff.) kaum für Konfliktstoff sorgten, treten plötzlich in verbesserten Positionen auf und irritieren damit alte Ungleichheitsrelationen und Statushierarchien. Nachkommen von Einwanderern, die den Status subalterner Gastarbeiter innehatten, treten nun in der Rolle des erfolgreichen Unternehmers oder des stadtpolitisch engagierten Migrantenvertreters in das Alltagsbewusstsein der einheimischen Bevölkerung. Zum Ausgangspunkt negativer Klassifikationen gegen avancierende Türken wird somit das partielle Bröckeln einer lange zementierten »Etablierten-Außenseiter-Figuration« (Elias/Scotson 1990). Diese strukturelle Veränderung ist der Grund für das stets wache Auge, mit dem deutsche Stadtteilbewohner Beispiele des Fehlverhaltens bei ihren Nachbarn suchen und finden. Dies lässt sich nicht nur aus der sozialstrukturellen Konstellation der ethnischen Gruppen ableiten, sondern reflektiert sich auch in ihrem Sprachgebrauch. Die Rede autochthoner Akteure von deutschen »Eingesessenen« und türkischen »Neubürgern«, deutschen »Einheimischen« und türkischen »Gästen« legt davon in beiden Untersuchungsgebieten Zeugnis ab. Insbesondere in Barren-Ost haben türkischstämmige Aufsteiger und Adressaten negativer Klassifikationen ein klares Bewusstsein ihrer Position. Herr Dostluk sagt trocken über die Einheimischen: »Die wollen keinen Türken, der über die Deutschen kommt.« Herr Kedi kennt diese Haltung aus seinem beruflichen Alltag als Autohändler, von dem er berichtet: »Es gibt natürlich im bestimmten Sozialbereich immense Probleme. Das ist vielleicht auch ein bisschen der Neid. ›Der Ausländer, der Türke, dessen Vater mit mir in der Zeche war und der den Handlanger gespielt hat für mich, ist jetzt hier Inhaber einer Firma und ich muss jetzt da bei dem Autos kaufen‹, oder so.« Frau Sahan beschreibt die soziale Position, die den türkischen Stadtteilbewohnern aus Sicht ihrer deutschen Nachbarn gebührt, folgenderweise: »Ausländer sollen nicht so hoch hinaus.« Gemäß einer figurationssoziologischen Sichtweise ist die Abwertung türkischer Aufsteiger darauf zurückzuführen, dass die Etabliertengruppe ihre Position gegenüber den ehemaligen Außenseitern sichern will. Und gewiss kann der Umstand, dass sich negative Klassifikationen auf türkische Newcomer im Geschäftsleben, erfolgreiche Gewerbetreibende, Immobilienbesitzer und politisch Aktive konzentrieren, bis zu einem gewissen Punkt durch
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eine sich abzeichnende Verschiebung der alten sozialstrukturellen Ordnung erklärt werden.9 Eine solche Erklärung stößt jedoch auch an Grenzen. Die türkischstämmigen Geschäftsleute sind ja nicht einfach und in jedem Fall die Spätergekommenen, auf deren Verhältnis zu den Alteingesessenen sich jedoch die Theorie der Etablierten-Außenseiter-Figuration bezieht. Nach dem Kriterium des »sozialen Alters« müssten türkischstämmige Akteure, die in Iderstadt-Süd oder Barren-Ost ihr ganzes Leben verbracht haben, zu den Etablierten zählen und deutsche Neuzugezogene zur Außenseitergruppe gehören. Dies ist aber offensichtlich nicht der Fall. Spezifischer auf ethnische Gruppenbeziehungen zugeschnitten ist indes das »competitive threat model« (Blumer 1958; Quillian 1995; Bobo/Hutchings 1996). Diesem Theoriemodell zufolge sind negative Einstellungen und Vorurteile gegen ethnische Außenseitergruppen als defensive Reaktion von dominanten Gruppen zu verstehen, die ihren vorrangigen Zugang zu Ressourcen und Privilegien bedroht sehen: »Fear of competition or perception of threat is likely to prompt negative sentiments against out-group populations.« (Semyonov/Raijman/Gorodzeisky 2006: 428) Einzelne Klassifikationsmuster scheinen die Grundthese dieses Modells zu bestätigen. Die Wahrnehmung, dass türkische Migranten durch ihre asketische Lebensführung und disziplinierte Arbeitsethik einen unverdienten Vorteil besitzen, fügt sich ebenso zwanglos in diese These ein wie Klassifikationen, die sich aus der Furcht vor einer fremden Übernahme speisen. Auch die Vorstellung, die deutsche Bevölkerung würde von einer größer werdenden Zahl türkischer Stadtteilbewohner mehr und mehr an den Rand gedrängt, sowie die Idee, die Türken wüssten sich im Stile von rationalen Schmarotzern und Kriminellen die Vorteile des Sozialstaates und der Wirtschaftsförderung zunutze zu machen, passen in das Raster, mit dem das »competitive threat model« interethnische Beziehungen erklärt. Es gibt jedoch Fragen, die auch mit diesem Modell nicht schlüssig zu beantworten sind: Warum werden die Grenzen zwischen den ethnischen Gruppen so scharf gezogen, wie es tatsächlich der Fall ist? Und warum ist gerade der Aufstieg türkischer Migranten ein so virulentes Problem? Die Antwort auf diese Fragen liegt in einer kulturell tief verankerten Vorstellung, die ethnische Zugehörigkeit als Verwandtschaftsverhältnis auffasst. Die deutschen Stadtteilbewohner agieren bei der Stigmatisierung des ökonomisch erfolgreichen und politisch aktiven Teils der türkischstämmigen Bevölkerung auf der Grundlage der naturalistischen Idee, sie seien mit anderen Mitgliedern ihrer ethnischen Gruppe »verwandt« und mit der türkischstämmigen Bevölkerung »nicht verwandt«. Diesem »Verwandtschaftsglauben« (Weber 1980: 240), der eine symbolische Tiefendimension interethnischer Ungleichheit darstellt und als generatives Prinzip negativer Klassifikationen fungiert, widmet sich ein späterer Beitrag in diesem Band (A.III).
9
Auf diese Weise liest sich auch der Befund von Möller und Heitmeyer (2004: 504 ff.), dass unter türkischen Schülern gerade diejenigen, die sich auf einem hohen Ausbildungsniveau bewegen, von einem gravierenden Einbruch der Anerkennung berichten, die ihrer ethnischen Gruppe entgegengebracht wird.
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3. Klassifikationskämpfe zwischen konfliktvermittelter Integration und sozialer Ausgrenzung Nachdem in den vorherigen Abschnitten die Struktur der von uns in den genannten Stadtteilen aufgefundenen negativen Klassifikationssemantiken rekonstruiert und einige ihrer Entstehungsgründe skizziert wurden, stellt sich die Frage nach den Folgen dieser jeweils abwertenden Zuschreibungen für die Integrationschancen der betroffenen Bevölkerungsgruppen. Will man wissen, inwiefern negative Klassifikationen exkludierende Wirkungen zeitigen, muss man zunächst zwischen symbolischem und sozialem Ausschluss unterscheiden. Klassifikationen als solche liegen auf der symbolischen, das heißt auf der Ebene von Deutungen und Bewertungen, während sozialer Ausschluss auf der Ebene von Handlungen und Handlungsfolgen angesiedelt ist. Auf dieser Ebene lassen sich negative Klassifikationen dann als desintegrativ bezeichnen, wenn sie die materiellen Aneignungschancen einer ethnischen Gruppe einschränken, wenn sie zum Ausschluss von der Teilnahme am politischen Willensbildungsprozess führen und wenn sie der Grund dafür sind, dass sich Sozialkontakte auf Mitglieder der ethnischen Eigengruppe reduzieren. Auch soll an Unterschiede zwischen graduellen und kategorialen Klassifikationen auf der symbolischen Ebene erinnert werden, die nicht ohne Einfluss auf desintegrative Prozesse sind: Während negative Klassifikationen des graduellen Typs nur abwertend sind, fixieren kategoriale Klassifikationen prinzipielle Unterschiede und schließen die negativ bewerteten Personen oder Gruppen symbolisch von der vollwertigen gesellschaftlichen Zugehörigkeit aus. Kategoriale Klassifikationen kandidieren daher besonderes dafür, auch auf der sozialen Ebene exkludierend zu wirken. Weil sie in sich schon einer exkludierenden Semantik folgen, können sie besonders leicht dazu führen, dass den betroffenen Personen oder Gruppen die materielle Teilhabe, die politische Partizipation und die soziale Teilnahme verwehrt werden. Graduelle Klassifikationen hingegen wirken in der Regel nicht exkludierend. Die Zuschreibung einer »protestantischen Ethik im türkischen Gewand« führt beispielsweise nicht dazu, dass die Adressaten keine Häuser mehr kaufen oder keine Geschäfte mehr betreiben können. So macht es evidenterweise auch auf der sozialen Ebene einen entscheidenden Unterschied, ob den türkischstämmigen Migranten nur ein »expansiver Übernahmewille« attestiert und ihre »schiere Zahl« problematisiert wird, oder ob diese graduellen Klassifikationen eine kategoriale Wendung erfahren und in einer Weise gebraucht werden, dass das Verhältnis zwischen der einheimischen und der türkischstämmigen Bevölkerung als ein Verdrängungswettbewerb erscheint, in dem letztere den Status unerwünschter Nachbarn erhalten. Kategoriale Klassifikationen hingegen tendieren zu sozial exkludierenden Folgen. Herr Saribas, Inhaber eines türkischen Elektronikgroßhandels in Iderstadt-Süd, trifft, indem er aus Gründen vermeintlich fehlender Arbeitsmoral prinzipiell keine deutschen Angestellten mehr einstellt, eindeutig ausschließende Entscheidungen, die auf der Zuschreibung einer »dissozialen Verweichlichung« bei der deutschen Bevölkerung beruhen. Dass auch die Zuschreibung »krimineller Machenschaften« ausschließende Folgen hat, zeigt sich wiederum an Episoden, von denen der türkische Vermieter Dostluk aus Barren-Ost berichtet. Deutsche Wohnungssuchende wollen Herrn Dostluks Erzählungen zufolge keinen »kriminellen« und »hinterhältigen« Türken als Vermieter. Aufgrund solcher Zuschreibungen haben tür-
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kischstämmige Hausbesitzer in Barren-Ost Schwierigkeiten, Mieter aus der deutschen Bevölkerungsmehrheit zu finden, weshalb die inkriminierenden Klassifikationen eindeutig ausschließend wirken. Ebenso geht der Gebrauch von Klassifikationen, welche die jeweils anderen zu »Schmutzigen« oder »Schmarotzern« stempeln, stets mit Praktiken der Exklusion, der Kooperationsverweigerung und Kontaktvermeidung einher. Nur bei kategorialen Klassifikationssemantiken ist der konkrete Gebrauch mit der Intention verbunden, den Klassifizierten den Zugang zu bestimmten Bereichen des sozialen Lebens zu entziehen oder zu verwehren. Dennoch wäre es ein Kurzschluss, die desintegrativen Wirkungen negativer Klassifikationen einfach direkt aus ihrer formalen Struktur abzuleiten. Denn neben ihrer graduellen oder kategorialen Strukturbeschaffenheit spielen zwei weitere Faktoren eine entscheidende Rolle: die Austragungsformen von Klassifikationskämpfen, die eine Wahlverwandtschaft zu je unterschiedlichen Integrationsmodi besitzen (3.1), und die gesellschaftlichen Teilbereiche, auf die sich negative Klassifikationen beziehen können (3.2).
3.1 Austragungsformen von Klassifikationskämpfen und Integrationsmodi Eine Analyse der desintegrativen Folgen von interethnischen Klassifikationskämpfen tut gut daran, zunächst zu fragen, welches Bild von Integration man an das Zusammenleben verschiedener ethnischer Gruppen berechtigterweise herantragen kann. Diese Frage erfordert für Barren-Ost und Iderstadt-Süd zwei divergierende Antworten, da beide Stadtteile Kontrastfälle darstellen, in denen interethnische Klassifikationskämpfe jeweils auf sehr unterschiedliche Weise ausgetragen werden.
3.1.1 Offene Klassifikationskämpfe In Barren-Ost besteht eine hohe Responsivität zwischen der einheimischen und der türkischstämmigen Bevölkerung. Die türkischen Migranten vertreten ihre Interessen recht vehement und kämpfen um materielle Teilhabe, politische Partizipation und die volle Zugehörigkeit zur lokalen Gesellschaft. Die deutschen Bewohner und die Entscheidungsträger im Stadtteil beziehen wiederum ihrerseits zu den Anliegen und Ansprüchen der türkischen Bevölkerung Stellung. Die daraus sich ergebenden Interaktionen lassen sich als einen von der türkischen Seite initiierten Kampf um Anerkennung verstehen. Insbesondere die stadtteilbezogenen Aktivitäten des Ausländerbeirats und der türkischislamischen Vereine, die auch untereinander vielfältige Kooperationsbeziehungen pflegen, haben das Gepräge eines Kampfes um Anerkennung. Ihr Handeln gegenüber der deutschen Bevölkerung und ihren politischen Repräsentanten folgt dem normativen Anspruch, dass die kulturelle und religiöse Eigenart der türkischen Stadtteilbewohner positiv anerkannt werden (vgl. Honneth 1992: 196 ff.; Taylor 1993: 56 ff.). Stellvertretend für viele erklärt Herr Kedi die Konfliktlinie, an der er in seiner Funktion als Vorsitzender des Barrener Ausländerbeirats um Anerkennung kämpft: »Der Deutsche sagt: ›Wenn ihr integriert sein wollt, müsst ihr so sein wie ich.‹ Als Assimilation könnte man das auch bezeichnen. Also
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Kopftuch zum Beispiel bei Frauen: ›Kopftuch ab.‹ – ›Am besten abends mitten in der Kneipe, einen stoßen, ein Bierglas in der Hand, zusammen reden, zusammen unterhalten, besoffen nach Hause gehen. Das ist Integration für mich. Wenn du so bist wie ich, bist du integriert.‹ So verstehen es oder so wollen es die meisten Deutschen haben.« Das Integrationsverständnis Herrn Kedis und derer, die er vertritt, steht in einem diametralen Gegensatz dazu und zielt auf die Anerkennung von Differenz: »Wir, ich als Ausländer, ach, als Ausländer von mir aus10, verstehe die Integration eigentlich so: So, wie ich bin, mit meinem Anderssein, mit meinem religiösen und vielleicht auch kulturellen Anderssein mich in der Gesellschaft wohlfühlen können wie ein Deutscher. Also die Gesellschaft muss mich mit meinem Anderssein akzeptieren. Also wenn ich, als Beispiel jetzt, einen Vollbart aus religiöser Überzeugung habe, muss mich die Gesellschaft so akzeptieren. Wenn meine Frau Kopftuch trägt, muss mich oder meine Familie die Gesellschaft so akzeptieren wie ich bin.« Solche Akzeptanzforderungen und Anerkennungsansprüche werden von vielen türkischen Akteuren in Barren-Ost erhoben und reichen von der Berücksichtigung des Umstandes, dass der eigene Nachwuchs auf dem Kindergeburtstag kein Schweinefleisch isst, bis hin zu der Vorstellung, dass die politische Artikulation von Partikularinteressen türkischer Stadtteilbewohner nicht nur als selbstverständlich hingenommen, sondern begrüßt werden sollte. Die türkischstämmigen Migranten kämpfen um die soziale Wertschätzung ihrer Lebensform – auch ihrer islamischen Orientierung – und reagieren auf entsprechende Missachtungserfahrungen. Dies lässt sich an verschiedenen öffentlichen Aktionen des Barrener Ausländerbeirats und der türkischen Moscheevereine aufzeigen, die als »Integrationsstrategien« im Kampf um die Anerkennung als gleichwertiger Teil der lokalen Gesellschaft zu verstehen sind. Dazu gehören die erwähnten Putzaktionen des Namaz Vereins und der Islamischen Kulturgemeinschaft ebenso wie zwei Blutspendeaktionen, die das Rote Kreuz auf Initiative des Ausländerbeirats bei der Islamischen Kulturgemeinschaft durchgeführt hat. Diese Aktionen reagierten einerseits auf Stigmatisierungen und sind damit ein Dokument der Responsivität zwischen der türkischstämmigen und der deutschen Bevölkerung im Stadtteil. Die Putzaktionen wurden als Maßnahmen gegen das Bild vom »dreckigen« Türken auf den Weg gebracht. Die Blutspendeaktionen wiederum sollten der Intention der Initiatoren zufolge den Vorwurf widerlegen, die türkischstämmige Bevölkerung rühre keinen Finger für die Allgemeinheit und zeige – in der Manier von »Parasiten« – nur dann Interesse an den Vorgängen im Stadtteil, wenn sie sich einen unmittelbaren materiellen Gewinn davon verspricht (vgl. dazu die ausführliche Darstellung im Beitrag A.III). Weiterhin geht es bei diesen Aktionen um den Nachweis, dass die türkische Bevölkerung es auch verdient hat, als Partner reziproker Austauch- und Anerkennungsbeziehungen betrachtet zu werden. In diese Richtung weisen weitere Aktionen: Die guten Wünsche zu christlichen Feiertagen, die der Barrener Ausländerbeirat regelmäßig in der Lokalausgabe des Ruhranzeigers und der Barrener Zeitung lanciert; die Teilnahme der lokalen Moscheevereine am christlich-islamischen Arbeitskreis Barren; die als Signum der »Solidarität und Dialogbereitschaft über religiöse Grenzen hinweg« (Barrener Zeitung vom 12. Dezember 2001) belobigten Spenden der Islamischen Kulturgemeinschaft an die traditionsreiche Bar10 Herr Kedi ist deutscher Staatsbürger und spielt mit dieser Äußerung darauf an, dass Migranten mit einem deutschen Pass in den Augen der einheimischen Bevölkerung »Ausländer« bleiben.
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rener Armenkirche, die sich um Obdachlose kümmert; die Einladung der nicht-muslimischen Nachbarn zu Sommer- und Kinderfesten, zum Fastenbrechen nach dem Ramadan und zum Opferfest; die »Tage der offenen Moschee«, die von den islamischen Gemeinden im Barren-Ost dazu genutzt werden, die Gemeinsamkeiten zwischen dem Christentum und dem Islam hervorzuheben und beide als Religionen des Friedens zu apostrophieren. Alle diese öffentlichkeitswirksamen Aktionen haben die Anerkennung der wesentlich religiös verstandenen Andersartigkeit der türkischen Bevölkerung und deren verbesserte Verankerung im sozialen Leben des Stadtteils zum Ziel. Doch ist dieser Anerkennungskampf, in dem die Integrationsstrategien die Position der türkisch-islamischen Bevölkerung verbessern sollen, von einer grundlegenden Asymmetrie geprägt: Die türkischen Akteure müssen um ihre Wertschätzung kämpfen, während die einheimischen Adressaten diese gewähren oder verwehren können. Zwar verweigern die deutsche Bevölkerung und die lokale Politik die eingeforderte Anerkennung nicht generell. Auch lassen sie die Ansprüche ihrer türkischen Nachbarn nicht einfach ins Leere laufen. Typisch für Barren-Ost ist vielmehr, dass diese Ansprüche als Problem betrachtet werden, wobei sich die Einheimischen mit den »Forderungen« ihrer türkischen Nachbarn und mit deren zuweilen allzu offensichtlichen Zeichen des guten Willens häufig derart auseinandersetzen, dass sie negative Klassifikationen an die türkischen Protagonisten des Anerkennungskampfes adressieren. Klassifikationskämpfe zwischen der türkischstämmigen und der deutschen Bevölkerung werden dadurch in Barren-Ost relativ offen ausgetragen. Beide Seiten finden vergleichsweise direkte Wege, die jeweils andere mit den ihr zugedachten negativen Klassifikationen vertraut zu machen. Hier herrschen, wie man mit James Scott (1990) sagen kann, »public transcripts« in den Klassifikationskämpfen vor. Der Integrationsmodus der konfliktvermittelten Integration ist genau auf derartige Konstellationen zugeschnitten. Georg Simmel (1992e: 284 ff.) zufolge stellt der Konflikt selbst eine »Vergesellschaftungsform« dar, weil er Wechselwirkungen zwischen den Konfliktparteien hervorbringt und dauerhafte Austauchbeziehungen zwischen den Konfliktparteien zu stiften vermag. Die vielfältigen, öffentlich ausgetragenen Auseinandersetzungen der Moscheevereine und des Ausländerbeirats mit der einheimischen Bevölkerung und ihren Entscheidungsträgern in Barren-Ost weisen auf die potentielle Integrationskraft von offen ausgetragenen Klassifikationskämpfen hin. Doch treten gleichwohl auch desintegrative Gefahren auf. Diese zwei Seiten des Barrener Falles lassen sich an fünf verschiedenen Aspekten anschaulich machen. (1) Solange die Konfliktparteien miteinander im Streit stehen und um die Legitimität bestimmter Zuschreibungen oder um das rechte Verständnis von Integration streiten, behalten sie füreinander Relevanz und können sich nicht gleichgültig werden. Die Forderung des Ausländerbeirats, dass sein Vorsitzender in das Lenkungsgremium des Programms Soziale Stadt NRW in Barren-Ost aufgenommen werden müsse, und die keineswegs freundlichen Reaktionen seitens der Mitglieder des Gremiums11 sind ein gutes Beispiel dafür. 11 Die zwölf – ausschließlich deutschen – Mitglieder des Lenkungsgremiums setzen sich zusammen aus dem Bürgermeister der Stadt Barren; Vertretern der Fraktionen im Barrener Stadtrat; dem Vorsitzenden des Aktionsbündnisses Ost, einem Zusammenschluss von Bürgern sowie von Vereins- und Verbandsfunktionären; dem Vorsitzenden der Wirtschafts- und Werbegemeinschaft Barren-Ost, einer Interessengemeinschaft von Gewerbetreibenden; und schließlich einem Repräsentanten der sozialen Träger im Stadtteil.
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Zwar werden der Ausländerbeirat und die von ihm de facto vertretene türkischstämmige Bevölkerung in Barren-Ost als »rationale Schmarotzer« stigmatisiert, aber der öffentlich ausgetragene Klassifikationskampf lässt den Ausgang dieses Kampfes immer wieder offen. Dieser stets unabgeschlossene Vorgang und die wechselseitigen Vorwürfe, denen zufolge »Schmarotzer« auf »Ausländerfeinde« treffen, bringen immer eine Seite in Zugzwang. Der Klassifikationskampf erzeugt längere Handlungsketten und verhindert, dass interethnische Kontakte ephemere und isolierte Einzelereignisse bleiben. (2) Ein solcher Konflikt zwischen der deutschen Bevölkerungsmehrheit und einer ethnischen Minderheit bietet die Chance, dass der moderierende Einfluss von universalistischen Normen eintreten und die Folgen negativer Klassifikationen mildern kann. Nur wenn es zum Konflikt kommt, hat die machtschwächere Gruppe die Chance, sich wirkungsvoll auf inklusive Normen zu beziehen, die über ethnischen Grenzziehungen stehen und diese delegitimieren. Auch wenn unter den Einheimischen untergründig wirkende, essentialistische Vorstellungen einer ethnischen Verwandtschaft verbreitet sind (vgl. den Beitrag A.III), gemäß denen solidarische Verpflichtungen an den Grenzen der Eigengruppe enden, sind sie auf der Ebene öffentlicher Zuschreibung und Interaktion durchaus allgemeinen Normen zugänglich, die für alle Mitglieder der lokalen Gesellschaft gelten und von allen Unterschieden abstrahieren. Dazu gehört die Norm, dass niemand aufgrund seiner Herkunft und ethnischen Zugehörigkeit diskriminiert werden darf. Diese Norm ist der Grund dafür, dass die meisten Deutschen es weit von sich weisen würden, türkische Akteure schlecht zu behandeln, »weil sie Türken sind«. Stattdessen wird auf Verhaltensmerkmale wie kriminelles Geschäftsgebaren oder Überambitioniertheit verwiesen, die Einheimische bei ihren türkischen Nachbarn beobachtet haben wollen und die sie in Überstimmung mit allgemein geteilten kulturellen Überzeugungen bei jedem anderen Mitglied der Gesellschaft auch kritisieren würden. Die dahinter stehende Norm des Antirassismus fungierte in Barren-Ost als Appellationsinstanz für die türkischen Protagonisten, die am Programm Soziale Stadt NRW beteiligt werden wollten. Es zeigte Wirkung, als die Barrener Zeitung unter der Überschrift »Ausländerbeirat klagt über Ausgrenzung« vom Konflikt um die Zusammensetzung des Leitungsgremiums berichtete, das bei der Umsetzung des 16 Millionen Euro schweren Programms eine wichtige Rolle spielte. Am darauf folgenden Tag zitierte die Barrener Zeitung den Bürgermeister der Stadt mit den Worten: »Alle Bevölkerungsgruppen sind aufgerufen, sich in das Stadtteilerneuerungsprogramm mit ihren Ideen einzubringen.« Daraufhin kam es zu einer Einbindung des Ausländerbeirats in das Lenkungsgremium des Programms: Der Vorsitzende erhielt einen beratenden Sitz ohne Stimmberechtigung im nunmehr 13-köpfigen Gremium, woran jener wiederum die verweigerte Entscheidungskompetenz kritisieren sollte. Auf der anderen Seite wurde die öffentliche Präsentation der Vorschläge türkischer Vereine von der einheimischen Bevölkerung wenig freundlich aufgenommen und brachte neue Stigmatisierungen hervor. Gleichwohl verpufften die türkischen Partizipationsbemühungen keineswegs folgenlos: Es wurden Deutschkurse und Fassadensanierungen beim Namaz Verein und bei der Islamischen Kulturgemeinschaft realisiert. Ohne den Dauerkonflikt um das Stadtteilerneuerungsprogramm hätten die aktiven Migrantenvereine in Barren-Ost die Semantik der »Ausländerfeindlichkeit«, die implizit an universalistische Normen appelliert, gar nicht in Anschlag bringen können.
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(3) Bevor Migrantengruppen jedoch in einer derart aktiven Weise auftreten können, müssen sie Konfliktfähigkeit erreichen, also eine anerkannte Verhandlungsmacht, um Konflikte überhaupt aufnehmen und bestehen zu können. Um diese Verhandlungsmacht zu gewinnen und aufrecht zu erhalten, bedürfen sie, zumal sie den machtschwächeren Bevölkerungsteil darstellen, bedeutsamer »Dritter« (Simmel 1992d: 114 ff.; Neckel 1997b), die ihnen als Koalitionspartner und Mobilisierungsagenten zur Seite stehen. In Barren-Ost erfreuen sich die aktiven Migrantenvereine der Unterstützung durch wirkmächtige Dritte, vor allem in Gestalt der lokalen Presse, die ihnen als Sprachrohr zur Verfügung steht. Aber auch Akteure aus den örtlichen Kirchengemeinden und aus den gewerkschaftlichen Ortsverbänden können sie bisweilen als Fürsprecher und Anwälte für ihre Anliegen mobilisieren. (4) Das Beispiel von Barren-Ost zeigt jedoch auch, dass Anerkennungskämpfe von Migrantengruppen das Risiko in sich bergen, dass sich eine Minorität nie genug anerkannt fühlt und überall Missachtung wittert. Klassifikationskämpfe, die einer Anerkennungslogik folgen, können leicht zu »unteilbaren Konflikten« (Hirschman 1994) werden – zu Konflikten also, bei denen es um die vorbehaltlose Wertschätzung von Identitäten und Lebensformen geht und die daher Kompromissen nur schwer zugänglich sind. So quittiert Herr Kedi seine Aufnahme in das Lenkungsgremium des Stadtteilerneuerungsprogramms mit einer Kritik daran, dass er dort als Vertreter des Ausländerbeirats kein Stimmrecht erhielt, und lässt sich von der Barrener Zeitung (vom 12. Februar 2003) mit den Worten zitieren: »Der ganze Vorgang kommt mir so vor, als hätte man einem kleinen schreienden Kind einen Schnuller gegeben, damit es endlich ruhig ist.« Herr Talbach vom städtischen Bürgerbüro Barren-Ost berichtet von einer »Beschwerde« eines türkischen Klienten, dem ein Kollege erklären musste, dass er die Voraussetzungen für eine höhere Rente nicht erfüllt. Die Beschwerde, erklärt Herr Talbach, habe gelautet, »dieser Kollege hätte sich nicht irgendwie negativ verhalten oder irgendwas Böses gesagt, sondern hätte mit seiner ganzen Körpersprache eine anti-türkische Haltung an den Tag gelegt«. Die Kritik an der »mangelnden Anerkennung« und der »Degradierung«, wie sie etwa auch ein an die städtische CDU adressiertes Konzept des Ausländerbeirats für eine »interkulturelle Integrationsperspektive in Barren« formuliert, lässt sich durch kaum eine Reaktion oder Geste des Wohlwollens durch das einheimische Gegenüber entkräften. Überall scheint neue Missachtung zu lauern und alle Unbilden des Lebens und Zusammenlebens scheinen auf ausländerfeindliche Ressentiments oder auf Vorbehalte gegen Türken oder den Islam zurückzuführen zu sein. Unter der Ägide des gesteigerten Bedürfnisses nach Wertschätzung vermag die tatsächlich gewährte Anerkennung entweder nicht zu zählen oder scheint unzureichend zu sein. Symptomatisch dafür ist Herrn Kedis Erklärung dafür, weshalb die erwähnten Putzaktionen nicht mehr stattfinden: »Da hat uns keiner drum gebeten. Das kam von uns, dass die Kinder so was machen. Da hat es ein bisschen gefehlt an Anerkennung. Nicht bisschen – sehr viel gefehlt. Bei den Kindern. Man hätte den Kindern, weiß ich nicht, Mut machen müssen: ›Das ist gut so, das ist schön, richtig.‹ Aber juckt die nicht. Stellen Sie sich mal vor: Wir reißen uns den Arsch auf für Sie, hätte ich beinah gesagt, wir machen so viele Sachen. Und man guckt da, was ist die Resonanz? Null. Man muss Anerkennung zeigen.
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Wenn es hapert, ein-, zwei-, dreimal: ja, aber beim vierten Mal, sage ich mir auch: ›Leck mich doch.‹ Entschuldigen Sie den Ausdruck jetzt, aber das ist das, was man fühlt.« (5) Charakteristisch für die türkischen Organisationen und ihrer Vertreter in Barren-Ost sind jedoch nicht Tendenzen eines völligen Rückzugs aus allen öffentlichen Aktivitäten, sondern ein Verhalten, das Robert K. Merton (1968b: 488) als »curious performances« bezeichnet hat und welches spezifische Desintegrationsgefahren mit sich bringt. Die gekränkten türkischen Aktivisten betonen in einem fort ihre anerkennungswürdigen Leistungen und verweisen vorwurfsvoll auf die ihnen beigebrachten Missachtungserfahrungen, während die befremdeten deutschen Interaktionspartner aus ihrem Verhalten neue Nahrung für Zurückweisungen gewinnen. Dieser Teufelskreis bestimmte während des Zeitraums unserer Untersuchung über weite Strecken das Agieren der türkischen Organisationen in Barren. Ein Beispiel dafür sind die wiederholt vom Ausländerbeirat und von den Moscheevereinen in Barren-Ost entfachten Diskussionen über die Gründung einer eigenständigen »Ausländerliste« für die Barrener Kommunalwahlen 2004. Die türkischen Protagonisten weisen mehrfach darauf hin, dass die Migranten in der städtischen Politik »nicht ernst genommen« würden, dass man ihnen nicht den nötigen »Respekt« entgegenbringe und dass sie ihre Interessen eben selbst vertreten müssten, wenn dies die etablierten Parteien im Stadtrat nicht täten. Die Pläne, eine solche »Ausländerliste« zu gründen, werden zwischen März 2001 und Januar 2004 mehrfach zurückgenommen und dann wieder auf die lokalpolitische Agenda gebracht. Die türkischen Moscheevereine und ihre Vertreter tragen das Anerkennungsbegehren so ostentativ und vehement vor, dass die Anerkennungsbekundungen der Einheimischen nichts mehr wert sind oder gar die Grenze zur Erniedrigung überschreiten. Denn »ein positives Urteil, das auf Verlangen abgegeben wird«, ist, wie Charles Taylor (1993: 67 f.) schreibt, »ein Akt von atemberaubender Herablassung«. Worin die Folgen von »curious performances« bestehen, lässt sich auch an den besagten Putzaktionen gut demonstrieren. Sie sollten ein Zeichen setzen gegen das Vorurteil, dass »Türken alles dreckig machen« und, wie Herr Kedi erklärt, gegen die unter Deutschen weit verbreitete Vorstellung: »Die Türken kümmern sich gar nicht um das Wohl der Gesellschaft und denen geht’s nur ums Geldverdienen.« Diese Putzaktionen sind in gewisser Weise ein Akt der Erniedrigung der eigenen Kinder, der die Mehrheitsbevölkerung ins Unrecht setzen soll. So ist es auch wenig verwunderlich, dass sich trotz eines entsprechenden Aufrufes keine deutschen Kinder an den Putzaktionen beteiligt haben. Die Putzaktionen bestätigen nur bereits vorhandene Wahrnehmungsmuster. Der Kampf um Anerkennung erreicht sein Ziel nicht und die Integrationsstrategie, deren Teil die Putzaktionen sind, stößt auf Ablehnung. Die Anerkennungskämpfe vermögen die in den interethnischen Konflikten virulenten negativen Klassifikationen nicht zu korrigieren und die in den Auseinandersetzungen gestifteten Austauchbeziehungen können sich nur teilweise von den exkludierenden Wirkungen dieser Klassifikationen befreien.
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3.1.2 Verdeckte Klassifikationskämpfe In Iderstadt-Süd liegt eine völlig andere Konstellation vor. Sie ist komplizierter und unübersichtlicher als die in Barren-Ost. Gleichwohl lässt sich sagen, dass das Verhältnis zwischen der deutschen und der türkischstämmigen Bevölkerung insgesamt durch eine geringe Responsivität gekennzeichnet ist. In Iderstadt-Süd gibt es keine Migrantengruppen oder Migrantenvertreter, die auf Stigmatisierungen durch ihre deutschen Nachbarn antworten. Die türkischen Organisationen nehmen am lokalpolitischen Geschehen kaum Anteil, sie artikulieren ihre Interessen gegenüber keiner Instanz im Stadtteil und lassen weder Integrationsbemühungen noch Integrationsstrategien erkennen, die über die Eigengruppe hinausweisen. Für Konflikte, wie sie in Barren-Ost anzutreffen sind, fehlen hier auf türkischer Seite schlicht die Akteure. Ein schlagendes Beispiel für den großen Unterschied zwischen Barren-Ost und Iderstadt-Süd sind die konträren Rollen, die der Ausländer- bzw. der Migrationsbeirat in den beiden Stadtteilen jeweils spielen. Darin alles andere als ein Unikum unter deutschen Kommunen darstellend (vgl. Hoffmann 2002), hat Raisfurth einen mehr oder weniger untätigen Migrationsbeirat, wie das Pendant zum Barrener Ausländerbeirat hier heißt. Im Bewusstsein der türkischen Bevölkerung in Iderstadt-Süd ist er, wie in der lokalen Öffentlichkeit überhaupt, kaum präsent. Im Raisfurther Tagblatt erscheint einmal ein Artikel über den Migrationsbeirat, in dem, wie in Barren-Ost, viele türkische Mandatsträger vertreten sind. Der Anlass zu diesem Artikel ist, dass der Beirat drei Jahre nach seiner Konstituierung ein Büro im Rathaus bekam, um zweimal in der Woche eine Sprechstunde abzuhalten; ansonsten berichtet der Artikel von der weitgehenden Erfolglosigkeit des Beirats und seiner Klage, im Integrationsausschuss des Stadtrates kaum Einfluss zu haben. Im Kommentar dazu heißt es: »Der Migrationsbeirat erfüllt eine Alibifunktion, dient Stadtspitze und Politikern lediglich als Stichwortgeber für Sonntagsreden. Mitbestimmung ist kaum gewollt, die Wertschätzung gering. Eine starke Ausländervertretung, die an der Basis präsent ist, wäre da durchaus hilfreich. Doch nach vier Jahren im Amt wissen viele der in Raisfurth lebenden Ausländer rein gar nichts über ihre gewählten Vertreter.« Dies gilt auch für die türkischen Bewohner von Iderstadt-Süd. Nun ist ein Migrationsbeirat nicht direkt auf der lokalen Ebene von Stadtteilen angesiedelt, und der desolate Zustand des Gremiums in Raisfurth hat auch mit speziellen kommunalen Machtverhältnissen und Strukturen zu tun, zu denen etwa die starke Position des Raisfurther Ausländerbeauftragten gehört. Dessen ungeachtet ist es bezeichnend, dass die türkische Bewohnerschaft von Iderstadt-Süd die institutionell vorhandene Gelegenheitsstruktur, über den Migrationsbeirat ihren Einfluss geltend zu machen und ihre Interessen zu vertreten, völlig ungenutzt lässt. Aber nicht nur der Migrationsbeirat spielt in Iderstadt-Süd keine Rolle. Auch ansonsten gibt es keine türkischen Gruppierungen, die auf der stadtteilpolitischen Bühne Präsenz zeigen. Die Moscheegemeinden haben keine Kontakte zu Kirchen oder anderen Institutionen im Stadtteil. Abgesehen von Polizeirazzien, die nach illegalen Einwanderern und eventuellen Terroristen fahnden, erfahren sie keine öffentliche Aufmerksamkeit und verfügen kaum über wirkmächtige Koalitionspartner. Starke »Dritte« fehlen den türkischen Bewohnern von Iderstadt-Süd fast vollständig. Das Ausbleiben von Kooperationsbeziehungen zu sozialen Einrichtungen, politischen Organisationen und Kirchen hat wesentlich damit zu
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tun, dass die islamischen Einrichtungen des Stadtteils auf Abgrenzung aus sind und eine zum Teil extreme, nur im eigenen Binnenraum artikulierte Verachtung gegenüber der Kultur der Aufnahmegesellschaft hegen (vgl. dazu die Ausführungen im Abschnitt 2.3.4). Da erscheint es nur als folgerichtig, dass sich die Moscheegemeinden zurückziehen und nicht um die Anerkennung ihrer Lebensform durch ihre deutschen Nachbarn kämpfen, deren Kultur sie als durch und durch verderbt betrachten. Mit den Moscheegemeinden fallen, wie der Vergleich mit Barren-Ost zeigt, wichtige Organisationen weg, die den sozialen und institutionellen Unterbau für die lokalpolitische Vertretung eines großen Teils der türkischstämmigen Bevölkerung bilden könnten. Die islamischen Vereine fungieren weder als Sprachrohre ihrer Mitglieder nach außen noch besitzen sie Rezeptoren für das soziale Leben in Iderstadt-Süd. Herr Horn sagt dementsprechend auf gut Raisfurtherisch, der Gewerbeverein Iderstadt habe sich »schon einmal die Schnut’ verbrannt«, als man »die ausländischen Vereine und Gruppierungen« im Stadtteil angeschrieben und zum Gespräch gebeten habe, um Veranstaltungen und den verkaufsoffenen Sonntag gemeinsam zu planen. Er erklärt: »Und speziell von den Türken hat sich keiner gemeldet, nicht einmal gemeldet, nicht einmal abgesagt, gar nichts.« Besonders aussagekräftig für die Situation in Iderstadt-Süd ist der Umstand, dass es auf die erwähnten Invektiven der Bürgerinitiative Unsere Hauptstraße gegen die türkischen Migranten zu keinen vernehmbaren Reaktionen von deren Seite kam. Vergleichbares wäre in Barren-Ost völlig undenkbar. In Gesprächen mit türkischstämmigen Akteuren aus Iderstadt-Süd zeigte sich indes vielfach, dass sie bestenfalls von der Existenz der Bürgerinitiative, jedoch nur selten etwas über deren Aktivitäten und die negativen Zuschreibungen wussten, die seitens der Bürgerinitiative an sie selbst adressiert waren. Klassifikationskämpfe werden auf Distanz ausgetragen; Konfliktvermeidung ist das oberste Ziel. Herr Athanassios macht dies recht deutlich, wenn er über das Verhältnis zwischen türkischen und einheimischen Stadtteilbewohnern sagt: »Die sind alle aufeinander irgendwie nicht gut zu sprechen. Aber keiner getraut sich, was zu sagen oder offen zu sagen, vielleicht auch Gott sei Dank.« Die Deutschen im Stadtteil, so Herr Athanassios weiter, »haben keine Lust, sich irgendwas nachsagen zu lassen, wenn die Leute sagen: ›Die Türken sind schuld.‹ Wir kriegen privat, unter uns als Bürgerinitiative auch schon mal was anderes gesagt, nur es wird kaum einer aufstehen.« Dann spricht er von einem »Pulverfass«, das daraus entstehe, dass »jeder über den anderen schilt« und man »gegeneinander, aber nicht miteinander spricht«. In Iderstadt-Süd dominieren in den Gruppenbeziehungen »hidden transcripts« (Scott 1990): Abwertende Zuschreibungen zwischen den ethnischen Gruppen werden meist nur in der Binnenkommunikation der Eigengruppe artikuliert. Wo negative Klassifikation nur hier und dort die Mauern der ethnischen Eigengruppen verlassen, stellt sich die Frage nach Integrationspotentialen und Desintegrationsgefahren völlig anders als in Barren-Ost. Iderstadt-Süd ist für den Integrationsmodus urbaner Indifferenz (Häußermann/Siebel 2004: 10 ff.) prädisponiert. Nach diesem sehr modernen, großstädtischen Leitbild ist Integration kein kollektives Unterfangen von Gruppen, sondern ausschließlich eine Aufgabe von Individuen, deren Kontakt sich auf funktionale Rollen beschränkt: Man begegnet sich als Kunde und Verkäufer im Geschäft oder als Eltern in der Schule, hält ansonsten jedoch Distanz zueinander. Unter welchen Bedingungen in einem
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solchen Fall ein gelungenes Zusammenleben zwischen ethnischen Gruppen vonstatten gehen kann und welche Desintegrationseffekte negative Klassifikationen hervorrufen, sollen die folgenden vier Punkte beleuchten. (1) Die Voraussetzung für den Integrationsmodus urbaner Indifferenz ist eine Respektierung von Fremdheit, weniger eine substanzielle Anerkennung von Differenz, von unterschiedlichen kulturellen Orientierungen und Lebensformen. Im Einzelnen gibt es diese Respektierung von Fremdheit in Iderstadt-Süd durchaus, was auch dem Image des Stadtteils als buntes und tolerantes Multikulti-Viertel entspricht. So muss es überhaupt kein Problem darstellen, wenn zwischen der deutschen und der türkischstämmigen Bevölkerung eine wechselseitige Distanz besteht und die jeweiligen Lebenswelten voneinander separiert sind. Ganz in diesem Sinn äußert sich etwa der Journalist Lobkühn im Interview: »Es ist so, mit dem Wort ›Integration‹ tu’ ich mich ein bisschen schwer, weil ich nicht glaube, dass die hier irgendwie so ganz hundertprozentig stattfindet. Aber es ist eher so eine Attraktivität von vielem Nebeneinander, die mir hier Spaß macht, und ich denke, was diesen Stadtteil für mich auszeichnet: Es ist so ein Exil-Viertel.« Herr Lobkühn hebt dann die »Aufnahmebereitschaft« hervor, die den Stadtteil schon bei den weitgehend innerdeutschen Wanderungsbewegungen nach den beiden Weltkriegen geprägt habe, um dann über die Gegenwart zu sagen: »Hier gibt’s so viel Verschiedenes, dass man hier leichter unterkommt als in einem schicken oder superbürgerlichen Wohnviertel. Weil hier ist man gewohnt, dass es eben fremde Gesichter gibt. Und das finde ich eigentlich eine Stimmung, die mir gefällt und die schon auch was mit Toleranz zu tun hat.« Ähnliche Wahrnehmungen finden sich auch bei Frau Blaudorn, einer 68-jährigen Rentnerin, die ihr Berufsleben als Laborantin in einem Unternehmen der pharmazeutischen Industrie zugebracht hat. Sie erklärt, dass sie trotz des schlechten Rufs des Stadtteils, trotz der vielen Arbeitslosen und des Drecks »freiwillig« in Iderstadt-Süd wohne, weil es hier so »bunt« sei. Sie sagt: »Ich brauche nur vor die Haustür zu gehen und bin praktisch schon im Ausland sozusagen.« Frau Blaudorn lässt Assoziationen an einen exotischen Urlaub anklingen, was dafür spricht, dass sie die Migranten im Stadtteil eher als attraktive Kulisse denn als Nachbarn sieht, mit denen man viel zu schaffen hat. (2) Wo, wie in Iderstadt-Süd, eine Kultur der Konfliktvermeidung vorherrscht, führen negative Klassifikationen viel direkter zu Abgrenzung und Ausschließung als dort, wo fortwährend Auseinandersetzungen zwischen den ethnischen Gruppen ausgetragen werden. Weil hier die wechselseitigen Zuschreibungen »hidden transcripts« bleiben, fällt die Möglichkeit einer konfliktvermittelten Korrektur negativer Klassifikationen aus. Die Vielzahl schimpflicher Klassifizierungen, die in Iderstadt-Süd das stumme und latent feindselige Nebeneinander zwischen der türkischen und der deutschen Bevölkerung prägen, spricht kaum für eine Respektierung von Fremdheit. Die schmählichen Fremdbilder hintertreiben, was für den Integrationsmodus der urbanen Indifferenz notwendig wäre, und die mit ihnen verbundenen Entwertungen führen dazu, dass sich Sozialkontakte hauptsächlich auf die je eigene ethnische Gruppe beschränken. Paradoxerweise fordert gerade die Bürgerinitiative Unsere Hauptstraße von den Migranten eine Beteiligung am Geschehen im Stadtteil und wirft ihnen Abschottung, Ghettobildung und mangelnden Integrationswillen vor. Anderseits sieht sie die Migranten, besonders die türkischen, nur als »Problem« an; als diejenigen, die ohnehin »zu viele sind« und
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ganz andere sein müssten, als sie tatsächlich sind, um akzeptiert zu werden. »Integration« spielt vornehmlich als Vorwurf an die Adresse der Migranten eine Rolle. Die türkischen Migranten sind Objekt von Integrations- und Anpassungsforderungen und nicht, wie in Barren-Ost, auch Subjekt ihrer eigenen Partizipationsbemühungen und Integrationsstrategien. Vom Leitbild urbaner Indifferenz, in der ethnische Unterschiede hinter individualisierenden Orientierungsmustern verblassen, ist Iderstadt-Süd allerdings ebenso weit entfernt wie von einer Ideologie der ethnischen Separierung. Die im gesellschaftlichen Bewusstsein verbreitete und auch von der lokalen Politik vertretene Integrationsideologie sieht getrennt lebende ethnische Enklaven nicht vor. Die ethnischen Fronten sind in Iderstadt-Süd wiederum so verhärtet, dass auch die Vielzahl von Projekten und Förderprogrammen, die hier existieren und den interethnischen Austausch voranbringen sollen, an der Realität der wechselseitigen Separierung wenig ändern kann. Vielfach setzt sich diese de facto in ihnen fort. Frau Mantelhoff etwa, die Leiterin des Ider-Zentrums, leitet die Beschreibung ihrer Tätigkeit im Interview mit den Worten ein: »Ja, und dann ist das hier, diese Arbeit mein Kind geworden, dieses Zentrum mit Leben zu füllen. Und in diesen vierzehn Jahren, gerade wenn wir jetzt auf den Begriff der Vermischung oder Integration oder Assimilation kommen, es ist mir eigentlich nicht gelungen, bis auf wenige Sachen, Leute verschiedener Nationen zusammenzubringen. Also dieses Wort ›Multikulti‹ ist ein Fremdwort.« Und sie fährt fort: »Wenn die Türken ein Fest machen, dann kommt sonst keiner; wenn es nicht gerade privat schon irgendwelche Verbindungen gibt, dann bleiben Türken unter sich.« Sie wollen, wie Frau Mantelhoff einmal karikierend sagt, durch die Nähe zu Deutschen und anderen Migrantengruppen »nicht unrein werden«, während das Zentrum von der deutschen Bewohnerschaft als »türkischer Hochzeitspalast« diffamiert und als verlorenes Territorium wahrgenommen wird. Die Schilderungen von Frau Mantelhoff lassen sich als eine Allegorie auf das gesamte deutsch-türkische Verhältnis in Iderstadt-Süd verstehen. In den Augen des deutschen, exklusiv sich als einheimisch verstehenden Bevölkerungsteils wollen die türkischen Zuwanderer Schritt um Schritt die ihm zustehende Hausmacht an sich reißen. Die unter den Deutschen weitgehend unangefochtene Integrationsideologie sieht indes weitgehend eine kulturelle Annäherung vor, die vor allem die türkischen Migranten vollziehen müssten. Diese jedoch halten ihrerseits die deutsche Kultur und Lebensweise für nicht sehr nachahmenswert oder sogar für kompromittierend, schmutzig und verachtungswürdig. (3) Unter solchen Bedingungen erhöhen die nur in der jeweiligen Binnenkommunikation gebrauchten negativen Klassifikationen die interethnischen Barrieren. Ethnische Unterschiede werden essentialisiert, egalitäre Normen außer Kraft gesetzt. Die bereits zitierten Injurien der Bürgerinitiative Unsere Hauptstraße belegen dies ebenso wie die angeführten negativen Klassifikationen türkisch-islamischer Akteure gegen ihre deutschen Nachbarn. Zumindest der muslimische Bevölkerungsteil, der den Iderstädter Moscheegemeinden angehört, hat für die deutsche Lebensweise und die säkulare westliche Kultur nur Verachtung übrig. Normen, die diese Differenzen überbrücken und einen kooperativen oder auch konflikthaften Austausch mit den Einheimischen befördern könnten, sind nicht zu erkennen. Gleichheitsnormen erreichen keine handlungspraktische Relevanz. (4) Der fehlende interethnische Konflikt in Iderstadt-Süd vereitelt jede Chance darauf, dass negative Klassifikationen sich an der Realität des jeweils anderen abschleifen und ihre
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ausschließenden Wirkungen sich am Einfluss universeller Gleichheitsnormen brechen können. Von verdeckten Klassifikationskämpfen, wie sie in Iderstadt-Süd vorherrschen, sind wenig integrative Wirkungen zu erwarten. Sie sind in sich ein Indiz dafür, dass der Respekt gegenüber dem Fremden fehlt, dem auch Austauschbeziehungen zwischen Angehörigen verschiedener ethnischer Gruppen, die sich auf funktionale Rollen reduzieren, nicht entraten können. Ein Konflikt, in dem die wechselseitigen »hidden transcripts« zu »public transcripts« werden, böte hier gewiss neue Chancen, zumal das friedliche und schiedliche Nebeneinander ethnischer Enklaven weit davon entfernt ist, sich in Iderstadt-Süd kulturell und politisch als Idealbild einer integrierten Gesellschaft durchzusetzen. Gerade dieses Idealbild ist mit verdeckten Klassifikationskämpfen kaum vereinbar. Es scheint vielmehr so zu sein, dass interethnische Klassifikationskämpfe entweder – wie in Barren-Ost – offen ausgetragen werden müssen, um integrativ wirken zu können, oder – wie bei einzelnen geübten Multikulturalisten in Iderstadt-Süd – gänzlich zugunsten einer Betrachtung von Individuen anstatt von Gruppen überwunden werden müssen, um dem interethnischen Kontakt und Austausch nicht im Wege zu stehen. Auch wenn dies nicht die dominierende Tendenz in Iderstadt-Süd ist, handelt es sich damit noch lange nicht um einen völlig desintegrierten Stadtteil. Die beobachtbaren Ansätze einer interethnischen Integration gehen vielmehr stärker über Kooperation denn über Konflikte vonstatten und weisen eher auf einzelne Individuen zurück als auf Gruppen, die sich um Teilhabe bemühen. Aber die mannigfaltigen negativen Klassifikationen in Iderstadt-Süd machen auch diese Form der Integration vielfach zunichte und lassen interethnische Kontakte meist gar nicht aufkommen.
3.1.3 Zur Bedeutung quantitativer Gruppengrößen Die beschriebenen Unterschiede zwischen Barren-Ost und Iderstadt-Süd haben zum Teil gewiss damit zu tun, dass in beiden Stadtteilen unterschiedliche Ausrichtungen des Islam vorherrschen und die Moscheegemeinden nur im einen Fall als mobilisierungsfähige und konfliktbereite Akteure in Erscheinung treten. Während die Moscheegemeinden in BarrenOst öffentliche Anerkennung suchen und sich mit ihren deutschen Nachbarn auseinandersetzen wollen, ziehen sich die schlecht beleumundeten islamischen Einrichtungen in Iderstadt-Süd hinter ihre Mauern zurück und scheuen jede Berührung mit dem als verdorben wahrgenommenen säkularen Umfeld.12 Außerdem hat Raisfurth im Unterschied zu Barren einen – autochthonen und einflussreichen, aber durch sein Amt auch von stadtpolitischen Zielvorgaben abhängigen – Ausländerbeauftragten, dessen Büro die interkulturelle Arbeit der Stadt in starkem Maße bestimmt und kanalisiert. Schließlich verfügt Iderstadt-Süd im innerstädtischen und erst recht im Vergleich zu Barren-Ost über eine ungewöhnlich hohe Dichte an Einrichtungen, die interethnische Kontakte initiieren und fördern sollen. In Barren-Ost sind die türkischen Migranten daher mehr Subjekt ihrer eigenen Integration, wäh12 Aus dem Vergleich mit den Moscheevereinen in Barren-Ost lässt sich der Schluss ziehen, dass die politische Einbindung islamischer Gruppierungen nicht zuletzt deswegen von großer Bedeutung ist, weil sich diese dann nicht nur öffentlich, sondern auch intern mit den kulturellen Normen und Lebensformen der Aufnahmegesellschaft auseinandersetzen müssen.
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rend sie in Iderstadt-Süd mehr Objekt zersplitterter einzelner Maßnahmen, Einrichtungen und Initiativen sind. Entscheidender noch für die Erklärung der unterschiedlichen Klassifikationskämpfe in den beiden Stadtteilen sind aber die jeweiligen quantitativen Verhältnisse zwischen den untersuchten Bevölkerungsgruppen (vgl. auch Simmel 1992d: 63 ff.). Ein Ausländeranteil in Iderstadt-Süd, der fast die Hälfte der Wohnbevölkerung ausmacht, lässt kaum eine Notwendigkeit entstehen, sich intensiv mit der deutschen Bevölkerung auseinanderzusetzen. Das gilt insbesondere für die türkischstämmige Bevölkerung, die rund ein Viertel aller Stadtteilbewohner ausmacht und in Iderstadt-Süd eine ethnisch bestimmte Infrastruktur besitzt, die Züge einer »institutional completeness« (Breton 1964) aufweist: Man kann fast alles bei Türken und auf Türkisch kaufen, für fast alle Probleme und Bedürfnisse gibt es türkische Ansprechpartner. In Barren-Ost, wo die Nichtdeutschen nur gut zehn Prozent, die türkischen Staatsangehörigen etwa fünf Prozent der Wohnbevölkerung stellen, ist die Situation eine völlig andere. Hier sind auch die türkischstämmigen Migranten auf die Kooperation mit den Einheimischen angewiesen, um ihren Anliegen und Bedürfnissen Geltung zu verschaffen.
3.2 Integration und Ausgrenzung in verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen In modernen, funktional differenzierten Gesellschaften haben Integrationsprozesse ihren Ort stets in bestimmten gesellschaftlichen Teilbereichen, sodass »sich Integration jeweils nur partiell als ökonomische, politische, kulturelle oder soziale vollzieht, ohne dass zwischen den verschiedenen Dimensionen ein notwendiger Zusammenhang bestünde« (Häußermann/Siebel 2004: 12 f.). Auch negative Klassifikationen zwischen ethnischen Gruppen betreffen nicht notwendigerweise alle Lebensbereiche der adressierten Akteure und haben nicht unbedingt in allen gesellschaftlichen Sphären dieselben Auswirkungen. Die Bereiche der Wirtschaft, der Politik und der sozialen Lebenswelt weisen gerade auf der lokalen Ebene urbaner Quartiere vielfältige Interdependenzen auf und lassen sich daher nicht immer trennscharf voneinander separieren. Dennoch lässt sich zeigen, dass negative Klassifikationen in diesen drei gesellschaftlichen Teilbereichen unterschiedliche soziale Folgen haben. (1) Im wirtschaftlichen Bereich sind die ausschließenden Wirkungen auch kategorialer Ausprägungen negativer Klassifikationen begrenzt, weil Märkte offene Systeme sind und eigene Gesetze haben. Hier zählen die Mechanismen von Angebot und Nachfrage dem Prinzip nach mehr als die Ethnizität der Akteure. Wenn der türkische Bäcker die billigeren oder besseren Brötchen anzubieten hat, kaufen Einheimische auch gegen ihre sonstigen Überzeugungen bei diesem Bäcker. So beklagt Herr Athanassios im Interview, dass die älteste Bäckerei in Iderstadt-Süd und ganz Raisfurth »nach 112 Jahren zugemacht« habe und dass es überhaupt fast keine deutschen Geschäfte mehr im Stadtteil gebe. Es herrsche eben »freie Marktwirtschaft«, erklärt er und fährt mit den Worten fort: »Türkische Geschäfte gibt’s auch, Bäcker, und die verkaufen natürlich ein Brötchen fünf oder zehn Cent billiger. Und dass die Leute, auch die, die immer schimpfen: ›Die Türken, es gibt so viele!‹, die gehen dann trotzdem zum Türken einkaufen und wenn dann das deutsche Geschäft
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zumacht, dann sagen sie: ›Ja, das verstehen wir auch nicht. Warum machen die jetzt zu?‹ Das sind halt Sachen, das ist ein bisschen zweischneidig.« Kaufentscheidungen folgen eben ökonomischen Kriterien und können ethnische Voreingenommenheiten überdecken. Auch Frau Bultermann vom Barrener Tauschring lässt ihrer Auskunft zufolge beim Einkaufen nur ökonomische, aber keine ethnischen Kriterien gelten. »Hauptsache, ich kann da günstig einkaufen«, lautet ihre Devise, auch wenn sie die türkischen Stadtteilbewohner, insbesondere die Männer, als Bedrohung beschreibt. Herr Freilich, der Inhaber der letzten Fleischerei in Iderstadt-Süd, bedauert den zunehmenden türkischen Immobilienbesitz im Stadtteil, sagt im Interview jedoch, dass er sein Haus auch an einen Türken verkaufen würde, wenn er mehr böte als die deutschen Interessenten. Negative Klassifikationen im ökonomischen Bereich münden nicht direkt in eine Ausgrenzung türkischer Marktteilnehmer, weil hier Geldwerte gegenüber der ethnozentrischen Moral die Oberhand behalten können. Berichte aus Barren-Ost über den Auszug deutscher Mieter aus Häusern, die in türkischen Besitz übergegangnen sind, zeigen allerdings, dass auch ökonomische Rationalität keinen sicheren Schutz gegen ausschließende Folgen negativer Klassifikationen bietet. Wenn Herr Dostluk, wie er berichtet, eine Wohnung nicht an deutsche Interessenten vermieten kann, weil diese ihn krimineller Umtriebe verdächtigen, werden seine ökonomischen Chancen durch eine negative Klassifizierung geschmälert. Der stellvertretende Vorsitzende des Gewerbevereins Iderstadt, Herr Horn, wird vom Raisfurther Tagblatt mit den Worten wiedergegeben, dass besonders in der Hauptstraße »immer mehr alteingesessene Geschäftsleute aufgeben, ausländische Unternehmer das Terrain übernehmen, ohne sich für das gesellschaftliche Zusammenleben zu interessieren«. Im Interview erklärt Herr Horn zu dieser aus seiner Sicht bedauerlichen Entwicklung, es sei das »gute Recht« von Türken, Häuser zu kaufen. Sie hätten gespart wie jeder andere auch. Er möchte zwar einen weiteren Vormarsch türkischer Geschäfte in Iderstadt-Süd verhindern, weil diese nur »eine Klientel ohne Kaufkraft« anzögen und deutsche Mittelständler sie »gar nicht unbedingt vor der Tür haben« wollten. Er sieht dabei aber nur den Weg über das Gewerbeaufsichtsamt, das eventuelle Verfehlungen feststellen könne, oder über das Stadtplanungsamt, das steuernd auf die Gewerbeansiedlungen in Iderstadt-Süd einwirken solle. Herr Horn anerkennt damit die Tatsache, dass die von ihm beklagten »Übernahmeaktivitäten« türkischer Akteure nicht direkt unterbunden, sondern allenfalls unter Einhaltung institutionalisierter Normen und rechtsstaatlicher Verfahren beeinflusst werden können. Im ökonomischen Bereich herrschen also einerseits die alltagspraktischen Regeln einer ethnisch neutralen ökonomischen Rationalität und andererseits institutionalisierte Rechtsnormen, die das freie Geschehen auf Märkten in Absehung von ethnischen Merkmalen der Akteure schützen und dem Handeln auf der Basis ethnisierender Klassifikationen durch klare Verfahrensregeln Grenzen setzen.13 Beide Arten von Regeln mäßigen die Effekte symbolischer Ausgrenzung und wirken Prozessen der sozialen »Schließung« (Weber 1980: 201 ff.) entgegen. (2) In der politischen Sphäre existieren ebenfalls institutionalisierte Regeln, die die ausschließenden Wirkungen auch kategorialer Zuschreibungen eindämmen: normative Regeln 13 Im Bereich des Fußballs erfüllen die sportliche Leistungsordnung und die Regeln, die diese normative Ordnung vor dem Eindringen leistungsunabhängiger – etwa ethnischer – Bewertungsmaßstäbe schützen sollen, ein vergleichbare Funktion (siehe Beitrag B.II).
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der Fairness, der Gleichheit und der Gerechtigkeit, die notfalls auch eingeklagt werden können. In der Politik können Migranten, die sich im Rahmen ihrer gesetzlichen Möglichkeiten engagieren, daher nicht einfach marginalisiert werden, weil demokratische Werte und ihre Institutionalisierung einer solchen Praxis entgegenstehen. Ein Paradebeispiel dafür ist der bereits mehrfach erwähnte Konflikt um die Mitsprache des Barrener Ausländerbeirats im lokalen Programm Soziale Stadt NRW. Obwohl bei der deutschen Bevölkerung in Barren-Ost und bei den maßgeblichen Personen im Stadtteilprogramm die Meinung überwiegt, der Ausländerbeirat vertrete »rationale Schmarotzer«, die es »nicht verdient« hätten, in irgendeiner Form beteiligt zu werden, erhält der Beiratsvorsitzende im Lenkungsgremium des Programms einen beratenden Sitz ohne Stimmberechtigung (siehe Abschnitt 3.1.1). Die erwähnten skeptischen Äußerungen einheimischer Entscheidungsträger zeigen vor allem dies: Ein institutionalisiertes Gremium wie ein Ausländerbeirat kann nicht völlig ausgegrenzt werden, ohne demokratische Normen zu verletzen. Mögen diese Normen auch nur aus strategischen Gründen – etwa, um dem Vorwurf der Ausländerfeindlichkeit zu entgehen – eingehalten werden, so bleiben sie doch nicht wirkungslos. Der mäßigende Einfluss politischer Regeln lässt sich auch an den Vorgängen studieren, die in Barren-Ost dem im Jahr 2000 fertiggestellten Bau eines Minaretts durch die türkischislamische Namaz Gemeinde vorausgegangen und im Untersuchungszeitraum immer noch sehr präsent waren. Die Gemeinde hatte bereits im Jahr 1991 das Gelände einer Getränkelagerhalle gekauft und das vorhandene Gebäude weitgehend unbehelligt zu einem Gebetshaus umgebaut. Erst als Jahre später Verschönerungsmaßnahmen geplant wurden, die den Hallenbau zu einer Moschee aufwerten sollten und die muslimische Einrichtung damit sichtbarer machten, regte sich Widerstand im Stadtteil. Nachdem erste Pläne des Minarettbaus publik geworden waren, kam es zu Protesten aus der Nachbarschaft und bald machten auch Politiker gegen das Bauvorhaben Front. Deutsche Anwohner warnten vor Lärmbelästigungen durch den Gebetsruf des Muezzins und starteten eine Unterschriftenaktion gegen den Bau. In einer überregionalen Zeitung ließ sich ein Nachbar mit den Worten zitieren: »Wissen Sie, so eine Moschee mit so einem Türmchen daneben, die passt einfach nicht in unseren alten Stadtteil.« (Seifert 1999) Lokalpolitiker aus der SPD wiesen auf ein angeblich unlösbares Parkplatzproblem hin und schlugen der Gemeinde vor, ihre Moschee aus dem Zentralbereich des Stadtteils in ein Gewerbegebiet zu verlegen. Die drei SPDOrtvorsitzenden aus der Barrener Oststadt beriefen sich auf einen »großen Unmut« in ihren Ortvereinen über den geplanten Minarettbau und erklärten: »Wenn sich bei uns in Ost immer mehr solcher Einrichtungen ballen, führt dies nicht zu einem friedlichen Miteinander, sondern zu Konfrontationen.« Daher, so forderten sie, müsse der Bauantrag des Namaz Vereins »aus Sicht des Planungs- und Baurechts geprüft werden«. Kurze Zeit später erklärte ein SPD-Ortsvorsitzender vor laufender Kamera eines regionalen Fernsehsenders: »Wir lehnen diese Pläne ab, weil wir befürchten, dass ein solches Projekt die Anziehungskraft der Oststadt auf ausländische Mitbürger erhöht.« Diese Ablehnung, die sich aus dem semantischen Arsenal der Klassifikationsmuster »türkischer Übernahmewille« und »türkische Überzahl« speiste, steigerte sich im lokalen Diskurs zu der Befürchtung, dass die Moschee durch den Minarettbaus »eine Art Mittelpunktsfunktion« erhalten und »Gleichgläubige« nicht nur aus dem Stadtteil, sondern auch
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aus anderen Stadtteilen und Städten anziehen würde. Die türkisch-islamische Moschee würde durch den Minarettbau, so lässt sich der Standpunkt resümieren, zu einem Hort sich etablierender Fremder und zu einem Anziehungspunkt für eine Personengruppe, die auf keinen Fall weiter anwachsen sollte. Der oft feindselige Widerstand führte aber nicht dazu, dass die Namaz Gemeinde auf ihr Minarett verzichten musste, was einer symbolträchtigen Verbannung aus dem Bereich der Sichtbarkeit im Stadtteil gleichgekommen wäre. Interessant ist hier die Argumentation der Gemeinde. Ihr Kassierer, Herr Özünal, nahm in einer der ersten Stellungnahmen auf den Protest den deutschen Nachbarn implizit den Gleichbehandlungsgrundsatz in Anspruch, indem er einen Vergleich mit Kirchengebäuden anstellte: »Schließlich machen wir aus einer hässlichen Halle ein ansehnliches Gebäude und ein Minarett gehört als Symbol zu unserem Glauben wie der Turm einer christlichen Kirche.« Herr Demirel, der Vorsitzende des Namaz Vereins, argumentierte in ähnlicher Weise: »Wir bauen doch keine neue Moschee an einer Stelle, wo bisher keine war. Das ist doch bloss ein Umbau. Wir wollen nur in einem schönen Haus beten, so wie die Christen das doch auch wollen!« (Seifert 1999) Etwas schärfer im Ton war Herr Cukur, der damalige Vorsitzende des Barrener Ausländerbeirats, selbst Mitglied des Namaz Vereins und – wie Herr Demirel – Inhaber eines deutschen Passes. Er brandmarkte die »ausländerfeindliche Haltung« der Barrener SPD und verwies auf das Recht der freien Religionsausübung: »Ich bin doch Deutscher wie die Nachbarn auch. Ich habe nur eine andere Religion, aber das Grundgesetz garantiert doch Religionsfreiheit.« Mit Bezug auf die Vorschläge der örtlichen SPD erklärte er: »Die schlagen uns vor, in ein Gewerbegebiet zu gehen. Das würde man keiner christlichen Kirche zumuten.« Wie Herr Cukur rekurrierten auch die einheimischen Befürworter des Minarettbaus auf das allgemeine Recht auf die Ausübung der Religionsfreiheit und das Prinzip der Gleichbehandlung von Religionsgemeinschaften. Der Vorsitzende der Barrener CDU-Ratsfraktion kritisierte in einer frühen Phase des Konflikts die Umsiedlungsvorschläge aus den Reihen der SPD mit den Worten: »Gotteshäuser gehören dorthin, wo die Menschen leben.« Als im Verlauf der Diskussion die geplante Höhe des Minaretts von 21 Metern problematisiert wurde, meldete sich der katholische Pfarrer von der örtlichen Meersternkirche zu Wort und erklärte: »Schließlich ist mein Kirchturm 75 Meter hoch.« Bald sprach sich auch eine Pfarrkonferenz der evangelischen Kirche in Barren offiziell für den Minarettbau aus und begründete dies damit, dass »die Muslime in Übereinstimmung mit den geltenden Gesetzen ihren Glauben frei ausüben können«. Daraufhin erklärte der stellvertretende Bürgermeister und Vorsitzende des Barrener Bauausschusses von der SPD: »Mein Gewissen sagt mir, daß die freie Religionsausübung ein sehr hohes Gut ist.« Eine Genehmigung des Bauantrags der Namaz Gemeinde durch den Stadtrat könne er sich »durchaus vorstellen« – was im Juli 1999 dann tatsächlich geschehen sollte. Nachdem der Besitzer des Nachbarhauses die Zulässigkeit des Antrags auf den Minarettbau angefochten hatte, wurden die Baupläne der Namaz Gemeinde überarbeitet, das Minarett auf 14 Meter gestutzt und an eine andere Stelle versetzt. Als sich dann die Erteilung der Baugenehmigung abzeichnete, erklärte der Vorsitzende der Barrener SPD-Ratsfraktion auf einer eigens anberaumten Pressekonferenz, die intensive rechtliche Prüfung des Bauantrags durch die Verwaltung habe ergeben, dass die Genehmigung »unabweisbar« sei. »Die SPD-Fraktion«, verkündete er enttäuscht, »nimmt zur Kenntnis, daß es für Ausschuß
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und Rat dabei keinen Entscheidungsspielraum gibt.« Der Umbau des Bethauses zu einer Moschee mit Minarett sei »kein hilfreicher Beitrag zur Integration« und aufgrund seiner »symbolischen Bedeutung« erzeuge das Bauvorhaben »große Spannung in der Bevölkerung«, hieß es in der offiziellen Erklärung der SPD-Fraktion. An den ursprünglichen Vorbehalten gegen den Moschee- und Minerettbau bei maßgeblichen Politikern aus der Partei, die den Bürgermeister und die Mehrheit im Stadtrat stellte, hatte sich im Verlauf der Auseinandersetzungen also nichts Wesentliches geändert. Aber viele Argumente wurden hinfällig, nachdem der Grundsatz der Gleichbehandlung von Kirchen- und Moscheegemeinden in die politische Diskussion eingeführt wurde und die geplanten Baumaßnahmen des Namaz Vereins erfolgreich mit dem Grundrecht auf freie Religionsausübung verknüpft worden waren. Dieses Recht den Muslimen zu bestreiten, hätte eine für alle geltende Norm verletzt. Bald blieb nur noch der Weg über das Baurecht, das jedoch ebenfalls für alle in gleicher Weise gültig ist und das nur sachlich relevante Regeln kennt. So bemerkte denn auch der damalige Bürgermeister in einem Interview ganz nüchtern: »Die Verwaltung hat sich darauf zurückgezogen, hat gesagt: ›Wir sind religiös und weltanschaulich neutral. Hier gelten nur die Vorschriften des Baurechtes. Ihr könnt keine 21 Meter bauen, sondern nur 14 Meter.‹ Das fanden die Türken einen nicht besonders schönen Kompromiss, haben’s aber dann so gebaut.« Ebenso wichtig war, dass das Baurecht in der politischen Auseinandersetzung nicht beliebig manipuliert werden konnte, weil es institutionalisierten Regeln gehorcht, die von der ethnischen und religiösen Zugehörigkeit der Antragsteller unabhängig sind. Die negativen Klassifizierungen gegen die Moscheegemeinde und ihre Mitglieder waren nicht verschwunden, aber die Regeln der politischen Auseinandersetzung haben dafür gesorgt, dass die Gemeinde sich nicht im Hinterhof unsichtbar machen musste und nicht aus ihrer Umgebung vertrieben wurde. Auch in Iderstadt-Süd, wo solche Anerkennungskämpfe kaum stattfinden und türkische Gruppierungen die Bühne der lokalen Politik meiden, lässt sich dennoch beobachten, dass Regeln der politischen Auseinandersetzung als ein moderierender Faktor in den öffentlichen Diskurs über Migranten eingehen. Auf einer Bürgerversammlung der Initiative Unsere Hauptstraße erklärte die Moderatorin der Veranstaltung gleich nach der Begrüßung, sie wolle vorab »ein paar Spielregeln bekannt geben« und um »Fair Play« bitten. Dies konkretisierte sie dann mit den Worten: »Ich bitte darum, keine diskriminierenden Äußerungen zu tätigen, also bitte keine ausländerfeindlichen Statements hier abzugeben.« Als sich im 400köpfigen Publikum kräftige Buhrufe in den Applaus mischten, hob die Moderatorin noch einmal an: »Also Ziel unserer Initiative darf es nicht sein und war es auch nie, Menschen auszugrenzen. Vielmehr soll die Bürgerinitiative dazu beitragen, Lebensräume zu schaffen, in denen auch Integration möglich ist.« Die Bemerkungen der Moderatorin stellten eine paradoxe Intervention dar, zumal sie das unfreiwillige Eingeständnis enthielten, dass die anwesenden Stadtteilbewohner mit der – von der Bürgerinitiative genährten – Erwartung gekommen sein könnten, die Bürgerinitiative wolle in der Veranstaltung Stimmung gegen Ausländer machen. Und gewiss bedienten sie auch eine Diktion, die den Charakter einer offiziellen Verlautbarung hat und eine in der politischen Sphäre weitgehend akzeptierte Zielvorgabe benennt. Die Bürgerinitiative setzte ihrer Veranstaltung einen Rahmen, der von
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dem Bewusstsein getragen war: Wer sich in der Politik außerhalb dieses Grundkonsenses stellt, manövriert sich an den Rand. Die Beispiele zeigen, dass negative Klassifikationen gegen türkische Stadtteilbewohner in der Sphäre der öffentlichen Rede umso stärker zurückgedrängt wurden, je mehr die maßgeblichen Akteure der Bürgerinitiative Unsere Hauptstraße Ambitionen auf der politischen Bühne entwickelten. Die interne vox populi wurde aus der Agenda der öffentlichen Selbstdarstellung ausgeschlossen, weil dies der Bürgerinitiative politische Optionen entzogen hätte. Für allzu schlichte, als »Ausländerfeindlichkeit« kritisierbare Klassifikationen mochte die Bürgerinitiative in Kenntnis der in der Politik geltenden Regeln nicht einstehen; sie disziplinierte ihre Mitglieder dort, wo sie das politische Handeln hätten gefährden können. Im öffentlichen Raum vertrauten die Akteure der Bürgerinitiative auf die Mittel der Politik und akzeptierten deren Regeln und Verfahren. Negative Klassifikationen gegen Türken wie die der »kriminellen Machenschaften«, des »Dreckigseins« oder des »Übernahmewillens« verschwanden durchaus nicht aus dem lokalen Denken. Aber insofern die Protagonisten der Bürgerinitiative den zivilisierenden Weg durch die politischen Instanzen der kommunalen Verwaltung wählten, mussten sie auch die dort geltenden Regeln akzeptieren. Wie in der Ökonomie bremsen also gewisse Regeln und Verfahrenswege auch im Bereich der Politik die sozial ausgrenzenden Wirkungen negativer Klassifikationen – auch solcher, die an sich einer kategorialen und symbolisch exkludierenden Logik gehorchen. (3) In der sozialen Lebenswelt hingegen kann die Ausgrenzungslogik kategorialer Klassifikationen besonders durchschlagend zur Geltung kommen, weil dieser Bereich kaum funktionale Zwänge und normative Verpflichtungen beim interethnischen Austausch kennt. Es gibt hier lediglich performative Regeln des wechselseitigen Umgangs. Diese Regeln sind informeller Natur, weshalb ihre Verletzung kaum erwartbare Sanktionen hervorbringt. Wenn man andere etwa als »dreckig« ansieht, schafft dies nur schwer überwindbare Kontakthindernisse. Die kategoriale Klassifikation kann in der sozialen Lebenswelt ungebremst wirken und soziale Schranken zwischen ethnischen Gruppen errichten. Der bereits erwähnte Bericht von Frau Sahan aus Barren-Ost ist ein Beispiel dafür. Eltern der Mitschüler ihrer Kinder haben Einladungen zum gemeinsamen Kochen für Schulveranstaltungen mehrfach nicht angenommen, weil sie davon überzeugt waren, dass in türkischen Haushalten Unordnung herrsche und die Sauberkeit zu wünschen übrig lasse. Sie kamen einfach nicht, und erst als dies einmal doch geschah, stellte sich die Vorstellung, Türken seien weniger zivilisiert und hygienisch, als der Grund für das vormalige Wegbleiben heraus. Umgekehrt verhält es sich bei Herrn Akbar von der Al-Madina Moschee in IderstadtSüd. Er nimmt nicht an gesellschaftlichen Veranstaltungen von Deutschen teil, weil er diese für »unrein« und in ihrem Verhalten für »unberechenbar« hält: Sie könnten, wie er erklärt, seine Frau berühren und damit beschmutzen. Deswegen weicht Herr Akbar, der beruflich jeden Tag mit Deutschen zu tun hat, jenen sozialen Situationen weiträumig aus, in denen sich seine privaten Lebenskreise mit denen seiner deutschen Nachbarn und Kollegen kreuzen könnten. Anders als in Fällen, in denen die Zuschreibung des Dreckigseins den Grund für interethnische Kontaktbarrieren in der sozialen Lebenswelt darstellt, reicht bisweilen das Türkischsein als solches und ohne jede beobachtbare Evidenz negativer Verhaltensmerkmale aus, um bei Einheimischen eine Sperre für soziale Austauschbeziehungen zu errichten. Im
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Begriff des »Türken« scheinen sich für sie Negativbilder so zu verdichten, dass es gar nicht mehr die Zuschreibung einer einzelnen negativen Eigenschaft ist, auf die sich die soziale Grenzziehung zurückführen lässt. Frau Aydin aus Iderstadt-Nord berichtet etwa davon, dass ihre ältere Tochter Selda, auf deren gutes Deutsch zu Hause immer großer Wert gelegt wurde, öfters mit einem deutschen Kind spielte, bis dessen Mutter eines Tages erfuhr, dass sie »Türken« seien. »Aufgrund dessen hat man sich dann vermieden«, erklärt Frau Aydin. »Das war dann plötzlich so: Man hatte keine Zeit mehr.« Etwas direkter, aber auf ebenso unbestimmte Weise musste Herr Kedi erfahren, dass Einheimische mit »Türken« in ihrer Freizeit lieber nichts zu tun haben wollen. Er berichtet im Interview davon, dass er beim Barrener Sportschützenverein Viktoria mehrmals probehalber zum Training ging und dann nach der Möglichkeit fragte, eine Mitgliedschaft zu erwerben: »Was ist? Ich möchte Mitglied werden. Man muss ja sicher hier Formulare ausfüllen und Kontonummer und Geld, Mitgliedsbeiträge. Ja, was ist jetzt damit? Oder braucht ihr kein Geld? Da hat mich der Vorsitzende von dem Laden zur Seite gezogen und mir gesagt: ›Hör mal, bei uns sind Türken nicht gerne gesehen. Also es ist besser, wenn du dir noch ein bisschen Zeit lässt. Also wir können dich jetzt hier nicht aufnehmen.‹ Das hat wirklich sehr, sehr wehgetan, weil, ich hab’ mich eigentlich nie in der Gesellschaft mit Deutschen zusammen als Türke gefühlt.« Sein Zugehörigkeitsgefühl unterstreicht Herr Kedi mit dem Hinweis darauf, dass er fast sein ganzes Leben in Barren verbracht habe und »ein Barrener« sei. »Und wissen Sie«, fährt er fort, »was das Schlimmste ist: Dieser Vereinsvorsitzende, dieser Herr, ist ein sehr wichtiger Funktionär bei einer Partei hier in Barren, einer sehr großen Partei. Und das ist für mich sehr, sehr, sehr traurig.« Wie sich im weiteren Verlauf des Interviews herausstellt, handelte es sich um einen CDU-Vertreter im Stadtrat, um ein Mitglied einer Fraktion also, die in Barren eine Politik der Integration im Sinne einer kulturellen Anpassung von Migranten betreibt. Nur keine kulturellen Sonderräume und sozialen Parallelstrukturen für Migranten lautet auf der politischen Bühne das Credo der Barrener CDU-Fraktion. In der lebensweltlichen Sphäre von Sportvereinen indes wird dieses Credo plötzlich suspendiert, wie das beschriebene Beispiel zeigt. Mehr noch, die Ausgrenzung führt gerade zu dem, was nach einem breiten Konsens in der deutschen Politik immer perhorresziert wird: Die Bildung von ethnischen Parallelwelten. Herr Kedi: »In einer Sitzung habe ich dieses Thema auch angesprochen, hab’ ich gesagt: ›Man beschwert sich, warum türkische Vereine hier sich bilden.‹ Ich sag’: ›Wenn ihr die Türken nicht in eure Vereine lasst, was sollen wir dann machen?‹ Und was hab’ ich dann gemacht? Mich interessiert diese Sportart. Da hab’ ich in der Nachbarschaft, in Erinhausen, mit zwei anderen Leuten so einen Verein gegründet, wo ich rein wollte.« Herr Freiligrath wiederum schildert eine interne Auseinandersetzung um die prinzipielle Frage der Zulassung türkischer Mitglieder zur traditionsreichen Bürgerschützengilde Barren-Ost, deren Vorsitzender der Gärtnereibesitzer ist. Besonders »die Alten«, so berichtet er jedenfalls, hätten zu einer möglichen Aufnahme türkischer Schützen sofort gesagt: »Das kommt nicht in Frage«! Unter anderem sei dies mit der Möglichkeit begründet worden, dass ein Türke »den letzten Span vom Holzvogel schießt«, damit Schützenkönig wird und bei diversen Anlässen und Festen repräsentative Funktionen ausübt. Auch Freiligrath als Vorsitzender ist persönlich eigentlich gegen die Aufnahme von Türken, überzeugt aber die Mitglieder der Schützengilde dennoch davon, dass man entsprechende Anträge auf Mit-
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gliedschaft nicht ablehnen darf. Nach innen weiß er zwei Argumente in Anschlag zu bringen, bei denen, wie er sagt, den Gegnern »die Luft ausgegangen« sei. Zum einen: »Wir sind eine Bürgerschützengilde« und »die [Türken] sind doch jetzt auch Bürger«. Zum anderen habe er auf einen »Perser« verwiesen, der in verschiedenen Barrener Vereinen Mitglied, auch schon »Karnevalsprinz« gewesen und »immer hochgejubelt und hochdekoriert« worden sei. Im ersten Argument weist Herr Freiligrath türkischen Interessenten am Schützenverein den Status von »Bürgern« zu, die ein Verein, der sich »Bürgerschützengilde« nennt, nicht ablehnen kann. Er hebt den Konflikt damit auf eine politische Ebene, auf der die türkischstämmige Bevölkerung in ihrer Eigenschaft als Bürger soziale Zugangsrechte besitzt. Als Träger solcher Rechte stehen sie unter dem Schutz durch Regeln, die in der Sphäre des Politischen eingeklagt werden können, und sind somit der xenophoben Willkür der Lebenswelt enthoben. Das zweite Argument bringt das ebenfalls politisch relevante Prinzip der Gleichbehandlung aller Migrantengruppen zur Sprache. »Ich kann doch nicht sagen: ›Hier, den Engländer, den nehmen wir; einen Holländer nehmen wir. Einen Spanier nehmen wir, einen Portugiesen nehmen wir, aber keinen Türken.‹« Auch die unliebsame Gruppe der Türken, so seine implizite Botschaft, darf man nicht ausschließen, solange man Mitglieder anderer Migrantengruppen im Verein akzeptiert. Als er den Vereinskollegen seinen Standpunkt kundgetan habe, seien »die Stimmen immer leiser« geworden. Herr Freiligrath kennt und akzeptiert demnach die normativen Prinzipien, die gegen einen Ausschluss von Türken aus seiner Bürgerschützengilde sprechen, und vertritt sie vereinsintern. Allein, er beruft sich nur aus strategischen Gründen auf sie. Den »Alten« der Schützengilde habe er erklärt, dass es von der Presse »doch ganz negativ aufgefasst« werde, wenn die Schützengilde »Türken nicht zum König« haben will. »Was meinen Sie, wie oft es Sachen gibt, wo 90 Prozent sagen: ›Hat ja auch recht.‹ – Nur, Sie dürfen das nicht sagen. Und so ist das genau bei den Türken. Gibt genug, die drauf schimpfen. Aber ich sag’ nix. Könnte ja. Aber sobald es im Schützenverein der Vorsitzende ist, dann steht ja in der Zeitung nicht: ›Herr Freiligrath hat das und das gesagt‹, sondern: ›Der Vorsitzende des Schützenvereins hat gesagt: Wir wollen hier keine Türken haben.‹« Letztlich war es die Furcht davor, dass ein Ausschluss türkischstämmiger Bewerber aus der Schützengilde in der Öffentlichkeit zum folgenreichen Skandal hätte werden können, die Herrn Freiligrath seine Vereinskollegen zur Räson rufen ließ. Ein formaler Ausschluss von Türken hätte dem Vorgang eine politische Dimension verliehen. Aber ein formaler Nichtausschluss ist noch keine Integration. Einen Türken »zum König zu haben«, muss die Bürgerschützengilde vorerst jedenfalls nicht befürchten. Die politischen Normen, die ins Spiel gebracht werden mussten, verhinderten zwar einen formalen Ausschluss türkischstämmiger Schützen. Doch lebensweltlichen Ausgrenzungsmechanismen scheinen dennoch gewirkt zu haben. Auf die Frage des Interviewers an Herrn Freiligrath, ob die Schützengilde denn nun türkische Mitglieder habe, antwortet er lapidar: »Wir haben keine.« Rückfrage: »Kommen keine?« Antwort: »Kommen keine.« In der sozialen Lebenswelt, so lässt sich zusammenfassen, schlagen negative Klassifikationen direkt in Separierung und Ausschließung um. Die Einheimischen wissen sehr genau, dass es illegitim und meist wenig opportun ist, Migranten und ihre Nachkommen von der Ausübung politischer Rechte sowie von der Teilhabe am ökonomischen Wettbe-
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werb auszuschließen. Dies muss aber keineswegs dazu führen, in den informellen Zonen des Alltags und im privaten Bereich Zugewanderte und ihre Lebensführung zu akzeptieren. Der türkischstämmige Sozialpädagoge und Künstler Ünal aus Iderstadt-Süd bringt dies aus seiner Sicht auf den Punkt: »Es ist halt so bei Leuten, ich meine Deutschen, die mit Migranten zu tun haben, in irgendwelchen Machtpositionen sind oder irgendeinen Schreibtisch besetzen: Wenn diese Leute Feierabend haben, dann haben sie Feierabend, dann sind sie in Deutschland. Sobald die arbeiten, sind sie in der Realität. Arbeiten viel mit Migranten, haben viel mit Migranten zu tun, aber privat sind sie Deutsche.« Zuallerletzt werden ethnische Minderheiten, wie die Soziologie seit langem weiß (vgl. etwa Blumer 1965), im Bereich privater Kontakte respektiert, auch wenn sie schon längst über politische und ökonomische Rechte verfügen. Die Ergebnisse der hier dargestellten Untersuchung zeigen jedenfalls, dass politische Rechte von Migranten und deren ökonomische Teilhabegewinne neue Ausgrenzungsversuche hervorbringen, welche die Idee gleichberechtigter Beziehungen nach wie vor hintertreiben.
Ethnischer Verwandtschaftsglaube – ein generatives Klassifikationsprinzip Ferdinand Sutterlüty
»Integration« ist in Barren-Ost nicht nur ein viel gebrauchtes Zauberwort, sondern auch ein Kampfbegriff. Während die meisten deutschen Bewohner des Stadtteils unablässig den mangelnden Integrationswillen ihrer türkischen Nachbarn beanstanden, werfen diese ihren Kritikern vor, stets Assimilation zu meinen, wenn sie von Integration sprechen. Das Ansinnen, sich eine Kultur einzuverleiben, die in ihren Augen von sozialer Kälte und einem rücksichtslosen Individualismus geprägt ist, weisen die türkischen Stadtteilbewohner größtenteils weit von sich. Ihre Sprecher fordern eine Anerkennung kultureller und religiöser Besonderheiten, während die deutsche Bevölkerung die Respektierung von Differenz weithin als Zumutung empfindet. Wittert die türkische Minderheit hinter allen Widrigkeiten, die ihren Mitgliedern im sozialen oder beruflichen Leben begegnen, sogleich ausländerfeindliche Ressentiments und Türkenhass, finden ihre Integrationsbestrebungen, worin sie auch immer bestehen, bei der deutschen Bevölkerungsmehrheit wenig Anklang (vgl. den Beitrag A.II, auf den sich auch die unmittelbar folgenden Ausführungen stützen). Türkischstämmige Geschäftsleute und Hauseigentümer werden eilfertig dem Vorwurf ausgesetzt, von einem expansiven Übernahmewillen geleitet zu sein und gleich den ganzen Stadtteil an sich reißen zu wollen. Weiterhin wird in den Reihen der deutschen Bevölkerung offen darüber räsoniert, dass der ökonomisch aufstrebende Teil ihrer türkischstämmigen Nachbarn durch illegale Machenschaften zu Geld und Besitz gekommen sei. Das Bemühen türkischer Organisationen um politische Partizipation fällt dem Generalverdacht anheim, nur einem schmarotzerhaften Eigeninteresse zu dienen. Integrationserfolge münden in Versuche der Verfemung und des Ausschlusses. Immer bleibt ein Makel an den türkischstämmigen Stadtteilbewohnern haften – insbesondere dann, wenn sie sich in exponierten Positionen befinden und höhere Ränge der lokalen Ungleichheitsskala besetzen. Umgekehrt versuchen die politisch und religiös organisierten Türken, die keineswegs um Gegenstigmatisierungen verlegen sind, ihrem Negativimage durch öffentlichkeitswirksame Aktionen zu begegnen. Gemeinnützige, von der lokalen Presse begleitete Aktivitäten sollen nicht nur ihre Rechtschaffenheit, sondern auch ihre Bereitschaft unter Beweis stellen, sich vorbehaltlos auf die Belange des lokalen Gemeinwesens einzulassen und einen gebührenden Beitrag zu erbringen. Beide Seiten, die türkische und die deutsche, sprechen sich unisono für Integration und gegen ethnische Separierung aus. Gleichzeitig herrschen wechselseitiges Misstrauen und abwertende Fremdbilder vor. Alle Bemühungen, zwischen den ethnischen Gruppen dauerhafte Austauschbeziehungen in die Wege zu leiten, erfahren immer wieder empfindliche Rückschläge. Woran liegt es nun, dass in Barren-Ost allenthalben zu hören ist, zwischen der deutschen und der türkischen Bevölkerung gebe es letztlich nur ein mehr oder weniger friedliches »Nebeneinander«? Weshalb wird überhaupt eine so rigorose Scheidelinie zwischen »Türken« und »Deutschen« gezogen? Welche Mechanismen und Interpretationsmuster sind für die hartnäckige Persistenz ethnischer Grenzziehung und Stigmatisierung verantwortlich? Diese Fragen soll die folgende Fallstudie beantworten (zur Bedeutung von Fallstudien für die soziologische Theoriebildung vgl. Ragin/Becker 1992; Soeffner/Hitzler
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1994; Katz 2001/2002; Snow/Morrill/Anderson 2003). Sie beruht auf zwei Blutspendeaktionen, die das Rote Kreuz bei der Islamischen Kulturgemeinschaft, einem türkischen Moscheeverein in Barren-Ost, durchgeführt hat.
1. Blutspenden in Barren-Ost In einem Expertengespräch im Juli 2002 erwähnt Herr Latal, Redakteur der Barrener Zeitung, dass die Islamische Kulturgemeinschaft dem Deutschen Roten Kreuz angeboten habe, eine Blutspendeaktion in den eigenen Räumen an der Essener Straße – der Hauptverkehrsund Geschäftsstraße von Barren-Ost – durchzuführen. Der Moscheeverein, sagt Herr Latal, sei gut durchorganisiert und könne gewiss viele Spender mobilisieren. Der zuständige Blutspendedienst des Roten Kreuzes wolle sich auf das Angebot jedoch mit etwas undurchsichtigen Argumenten nicht einlassen. Schließlich sollte die Blutspendeaktion doch zustande kommen, und die von Herrn Latal angedeuteten Unregelmäßigkeiten im Vorfeld ließen einen interessanten Fall für die Erforschung interethnischer Beziehungen erwarten. Schließlich ist Blut, wie alte Redensarten sagen, »ein ganz besonderer Saft«, der »dicker als Wasser« ist. Als der Verfasser im September 2002 das Gelände der Islamischen Kulturgemeinschaft betritt, begegnet er im Innenhof einer Mitarbeiterin des Rotkreuz-Ordnungsdienstes1, die ein Schild mit der Aufschrift »Schwester Genoveva« an ihrer Arbeitsuniform trägt. Sie trifft gerade Vorbereitungen für die Blutspendeaktion, während die Mitglieder der Moscheegemeinde im Gebetsraum das Freitagsgebet verrichten. Auf die Frage, wie es dazu gekommen sei, dass das Rote Kreuz bei der Islamischen Kulturgemeinschaft eine Blutspendeaktion durchführt, sagt Schwester Genoveva: »Wir können da nicht nein sagen. Sonst heißt es, wir seien ausländerfeindlich.« Dann korrigiert sie sich sogleich und stellt in Abrede, dass das Rote Kreuz mit der Aktion lediglich dem Vorwurf der Ausländerfeindlichkeit entgehen will. »Wir wollen auch nicht nein sagen«, sagt sie und ergänzt: »Wir nehmen alles, was sich anbietet.« Mit diesem Nachsatz gibt Schwester Genoveva unfreiwillig zu erkennen, dass sie durchaus einen Unterschied zwischen verschiedenen Spendergruppen macht. Mehr noch, in der Bemerkung kommt eine subtile Abwertung zum Ausdruck, denn sie suggeriert, dass es sich beim Blut der Mitglieder des Moscheevereins um minderwertige Ware handelt. Schließlich bringt Schwester Genoveva nicht näher genannte Dritte ins Spiel und erklärt: »Viele haben etwas gegen die Blutspendeaktion. Sie sagen: ›Das sind ja Ausländer!‹« Das merkwürdige Changieren der Aussagen Schwester Genovevas ist ein untrüglicher Hinweis darauf, dass eine Blutspendeaktion bei der Islamischen Kulturgemeinschaft für das Rote Kreuz ein – wie auch immer geartetes – Problem darstellt. Als das Freitagsgebet beendet ist und die Spendenaktion pünktlich in Gang kommt, ist von Vorbehalten jedoch nichts zu spüren. Zwei Männer aus dem Vorstand der Islamischen Kulturgemeinschaft, der Geschäftsführer des örtlichen DRK-Kreisverbandes und je ein Redakteur der beiden großen 1
Der ehrenamtliche Ordnungsdienst wird vom DRK-Kreisverband Barren vor Ort organisiert, während der Blutspendedienst, der das medizinische Fachpersonal zur Verfügung stellt und die Blutspendetermine koordiniert, seinen Sitz in Domkirchen – einer Stadt im weiteren Umkreis Barrens – hat.
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Lokalzeitungen sitzen einträchtig an einem Tisch im Hof des Vereinsgeländes und beglückwünschen sich gegenseitig zum Zustandekommen der Aktion. Herr Fährmann vom DRKKreisverband erklärt, dass es sich im Einzugsgebiet des regionalen Blutspendedienstes, womöglich auch weit darüber hinaus, um die erste Blutspendeaktion handle, die bei einem Moscheeverein durchgeführt wird. Er spricht geradezu euphorisch vom »kulturellen Miteinander«, das sich darin manifestiere. Herr Kedi, der nicht nur Vorstandsmitglied der Islamischen Kulturgemeinschaft, sondern auch Vorsitzender des Barrener Ausländerbeirates ist, bemerkt mit Blick auf die Pressevertreter, dass die Idee zur Blutspendeaktion im Ausländerbeirat entstanden sei, um dann auf den Sinn hinzuweisen, der dieser Veranstaltung von Beginn an zugedacht war.
2. Integrationsstrategie »Wir wollen mit der Blutspende zeigen, dass wir uns integriert haben«, verkündet Herr Kedi feierlich. Aus dem gesamten Kontext geht unzweideutig hervor, dass die deutsche Bevölkerung der primäre Adressat der öffentlichkeitswirksamen Veranstaltung ist. Sie soll den deutschen Nachbarn die Zugehörigkeit der türkisch-islamischen Minderheit zur lokalen Gesellschaft in einem performativen Akt vor Augen führen. So formuliert Herr Kedi denn auch die Botschaft, die mit der Aktion transportiert werden soll: »Wir machen nicht gezwungenermaßen mit. Die Ausländer gehören der Gesellschaft an.« Diese Botschaft sowie Herrn Kedis Aufforderung: »Alle sollen kommen, auch Deutsche« gehorchen der Logik eines Kampfes um Anerkennung, dem es zuallererst gelingen muss, die eigene Qualifikation für eine gleichwertige Zugehörigkeit zur lokalen Gesellschaft sichtbar zu machen (vgl. Honneth 2003). Auf die Frage, warum der – türkisch dominierte – Ausländerbeirat die Blutspendeaktion initiiert habe, antwortet Herr Kedi in einem drei Wochen später stattfindenden Interview: »Ja, keine Frage, warum. Es ging eigentlich mir oder dem Ausländerbeirat darum, dass wir ein Zeichen setzen wollen, dass wir uns hier in der ›deutschen Gesellschaft‹ – in Gänsefüßchen – zu Hause fühlen. Wir sind ein Teil dieser Gesellschaft, und wir möchten mit allen Rechten und Pflichten auch an den ganzen Sachen dieser Gesellschaft teilnehmen, ob das jetzt Blutspenden ist oder auch was anderes. Wir gehören zu dieser Gesellschaft; infolgedessen müssen wir alles Soziale auch mitmachen, mitwirken, mitarbeiten. Darum ging es eigentlich.« Diese Ausführungen zeigen, dass die Blutspendeaktion Teil einer regelrechten Integrationsstrategie ist: Durch einen generösen Akt sollen die Deutschen im Stadtteil dazu gebracht werden, die vom Ausländerbeirat vertretenen Gruppen als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft zu betrachten. Die signifikante, von Herrn Kedi gebrauchte Wendung, der Ausländerbeirat habe mit der Blutspendeaktion »ein Zeichen setzen« wollen, weist auf einen Missstand hin: Zu Unrecht nämlich, so die unterschwellige Mitteilung, sollen die türkischstämmigen Migranten in Barren-Ost noch den Beweis dafür erbringen müssen, dass sie es verdient haben, als Einheimische betrachtet zu werden. Dies kann Herrn Kedis Darstellung zufolge nur auf ein fragwürdiges Wahrnehmungsmuster der deutschen Bevölkerung zurückgehen.
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Ganz in diesem Sinne berichtet er im Interview von den Schwierigkeiten im Vorfeld der Blutspendeaktion. Der Rotkreuz-Blutspendedienst habe das Angebot der Islamischen Kulturgemeinschaft verbal stets begrüßt, aber trotz gegenteiliger Versprechungen nicht weiter reagiert und die Initiatoren auf mehrmaliges Nachfragen hin immer wieder auf spätere Entscheidungen vertröstet. »Das Kuriose dabei ist«, erzählt Herr Kedi weiter, »in der Zwischenzeit habe ich in der Zeitung mehrmals gelesen, dass das DRK die Leute aufruft, Blut zu spenden. Die Blutreserven sollen am unteren Minimum sein.« Er sei sehr enttäuscht darüber gewesen und habe die Verantwortlichen beim Roten Kreuz auf den »Widerspruch« zwischen diesen Spendenaufrufen und dem Umstand hingewiesen, dass kein Spendetermin bei der Islamischen Kulturgemeinschaft zustande kam. Zur gleichen Zeit war der DRKBlutspendedienst, wie Mitarbeiter am Tag der Aktion erklären, speziell in Barren-Ost auf der Suche nach einem neuen Standort. Dennoch gelingt es dem Ausländerbeirat erst nach langem Hin und Her, ein Vorgespräch mit Vertretern des Roten Kreuzes in den Räumen der Islamischem Kulturgemeinschaft zu vereinbaren. Bei dieser Gelegenheit bestellt Herr Kedi ohne Wissen der Gesprächspartner gleich die Presse dazu. Ab diesem Zeitpunkt geht alles sehr rasch, wie Herr Kedi im Interview feststellt: »Als die Presse hier war, haben die natürlich sehr vorsichtig sich ausgedrückt und dann: ›Oh, super Idee. Sehr gut. Machen wir auf jeden Fall‹, und sofort den erstbesten Termin ausgesucht.« Das Rote Kreuz sieht sich förmlich gezwungen, das Angebot der Islamischen Kulturgemeinschaft anzunehmen. Den plötzlichen Sinneswandel und die durchschlagende Wirkung der Pressepräsenz nimmt Herr Kedi aber nicht zum Anlass für zynische Bemerkungen. Herr Bicioglu, der für die Organisation der Blutspendeaktion auf Seiten der Islamischen Kulturgemeinschaft verantwortlich ist, gibt sich ebenfalls konziliant und diplomatisch: »Als wir das erste Mal mit dem Roten Kreuz Kontakt aufgenommen haben, war das für die fremd. Das Rote Kreuz hatte so etwas noch nie gemacht.« Herr Kedi wiederum verweist auf »Berührungsängste« beim Roten Kreuz, um gleich klarzustellen: »Das ist jetzt nicht böse gemeint von mir, das ist so in dieser Gesellschaft. In der deutschen Gesellschaft ist es nämlich so, ob das jetzt in Barren ist oder in Dortmund oder in München von mir aus: Es gibt immer noch Berührungsängste zwischen verschiedenen Gesellschaftsgruppen.« Unter Berufung auf Informationen eines langjährigen Rotkreuzmitarbeiters behauptet Herr Kedi schließlich, mit Sicherheit sagen zu können, dass es nicht nur beim Blutspendedienst, sondern auch beim Barrener DRK-Kreisverband bis in den Vorstand hinein Personen gegeben habe, die »dagegen waren, dass man diese Aktion macht«. Hier endet der exkulpierende Diskurs, und Herr Kedi beschließt das Thema mit den Worten: »Also es gibt da Leute, die beim DRK dagegen waren, vielleicht immer noch sind. Auf jeden Fall ist es Tatsache, dass ein paar Leute da Probleme mit haben.«
3. »Türkisches Blut« Womit aber hängt das Ungemach des Roten Kreuzes angesichts des Angebots der Islamischen Kulturgemeinschaft zusammen und wodurch lassen sich die Unregelmäßigkeiten im Vorfeld der Blutspendeaktion erklären? Ein wichtiges Indiz dafür, worin der offenbar höchst gefährliche und kaum aussprechbare Punkt der delikaten Angelegenheit bestehen
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könnte, liefert Herr Kedi im Interview. Als »Hintergrundinformation« zum Verhalten des Roten Kreuzes sowie zu seinem Schachzug mit der Presse weist er auf eine Begebenheit im Rahmen einer Blutspendeaktion hin, die das Rote Kreuz in einer städtischen Einrichtung im Nachbarstadtteil Klaraberg durchgeführt hat: »Einige türkischstämmige Leute wollten da Blut spenden. Sie haben schon einen Blutspendeausweis gehabt und da soll gesagt worden sein: ›Wir müssen nicht unbedingt türkisches Blut haben.‹ Das hört sich ein bisschen doof an, also, ich will sagen: wirklich blöd. Aber das gehört sich eigentlich nicht, dass irgendeiner so einen Satz von sich gibt, zumal nicht einer christlich orientierten Gruppierung – und das DRK ist eben christlich orientiert. Und das hat uns eigentlich, auch mich persönlich sehr traurig gemacht, dass ich so was hier in Barren zu hören bekomme. Das hat unter anderem auch dazu beigetragen, dass wir diesen Termin haben wollten.« Wie Herr Kedi an dieser Stelle insinuiert und Herr Nurettin, der Vorstandsvorsitzende der Islamischen Kulturgemeinschaft, einige Monate nach der Durchführung der Blutspendeaktion in einem Gespräch ganz explizit sagt, soll die Ablehnung »türkischen« Blutes der Grund dafür gewesen sein, dass das Rote Kreuz ein Zustandekommen der Blutspendeaktion zunächst hintertrieben hat. Herr Nurettin empört sich darüber mit den Worten: »Bei Katastrophen würden wir auch nicht sagen: ›Das ist deutsches Blut, das ist türkisches Blut.‹ Wir von der Kulturgemeinschaft haben ja auch für die Flutopfer gespendet, als die Flut da in Dresden war. Und wir haben auch die Spende für die Armenkirche gemacht.«2 Herr Nurettin will hier nicht nur das universalistisch orientierte Engagement der Kulturgemeinschaft hervorheben. Vielmehr bringt er die Praxis der Gemeinde, ohne Ansehen von Status, Religion und Ethnizität für Hilfsbedürftige karitativ tätig zu werden, in einen größtmöglichen Gegensatz zur Unterscheidung zwischen »türkischem« und »deutschem« Blut, die er dem Roten Kreuz als den wahren Grund seiner Befangenheit zuschreibt. Er misst das ethnozentrische Verhalten des Roten Kreuzes am eigenen Handeln, das er als moralisch überlegen darstellt und mit einem universalistischen Nimbus versieht. Am exkludierenden Impetus, den die Kategorie des »türkischen Blutes« mit sich führt, nimmt auch Herr Kedi Anstoß. In der oben zitierten Passage sagt er, eine solche Redeweise gehöre sich gerade bei einer »christlich orientierten Gruppierung« nicht. Es ist keineswegs ein nebensächliches Detail, dass Herr Kedi das Deutsche Rote Kreuz »christlich« nennt. Denn er gibt damit zu verstehen, dass die Organisation ihrem eigenen universalistischen Anspruch nicht gerecht wird, wenn sie unter der Hand ethnische Differenzierungen zwischen verschiedenen Spendergruppen einführt. Herrn Kedis Unterstellung eines solchen Anspruchs ist, wie man Dieter Riesenbergers (2002) umfassender Darstellung der Geschichte des Deutschen Roten Kreuzes entnehmen kann, durchaus nicht unberechtigt: »Seit der Internationalen Rotkreuzkonferenz von 1963 in Wien gelten die Prinzipien der Menschlichkeit, Neutralität, Unabhängigkeit, Freiwilligkeit, Einheit und Universalität als Grundsätze der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung.« (Ebd.: 11) Dies gilt gerade auch für die Blutspendedienste des Deutschen Roten Kreuzes, die nur mit freiwilligen 2
Es handelt sich in beiden Fällen um eine Geldspende. Im ersten Fall bezieht sich Herr Nurettin auf das große Elbehochwasser im Sommer 2002, im zweiten Fall geht es um eine vorweihnachtliche Spende für die Obdachlosen, um die sich die traditionsreiche katholische Armenkirche in Barren kümmert.
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Spendern, ohne finanzielle Vergütung für Blutspenden und ohne eigene Gewinnabsichten nach dem Prinzip der Kostendeckung arbeiten (vgl. ebd.: 542 ff.). Von einem solchen Blutspendedienst kann man in der Tat erwarten, dass die Entscheidung darüber, wessen Blut für lebenserhaltende Maßnahmen verwendet wird, allein von der medizinischen Eignung und nicht von der ethnischen Zugehörigkeit des Spenders abhängt. Wenn die türkischen Initiatoren der Blutspendeaktion die Fahne universalistischer Regeln hochhalten, müsste sich das Rote Kreuz also dafür empfänglich zeigen. Gleichzeitig macht die Argumentation des Ausländerbeirats und der Islamischen Kulturgemeinschaft deutlich, dass eine ethnische Minderheit, die um Zugehörigkeit und die Anerkennung ihrer gesellschaftlichen Leistungen kämpft, ein Interesse an der alltagspraktischen Geltung universalistischer Normen haben muss.
4. Universalismus mit partikularem Ziel In einem Gespräch, das im Oktober 2002 anlässlich des Tages der offenen Tür bei der Islamischen Kulturgemeinschaft stattfindet, trägt Herr Sükran eine religiöse Deutung des Universalismus vor, den die Blutspendeaktion zu realisieren beansprucht. Herr Sükran, der sein Geld mit Deutschkursen verdient, kurz vor dem Abschluss eines Germanistikstudiums steht und Mitglied der Gemeinde ist, weist darauf hin, dass der Islam nicht auf »Blut« oder »Abstammung« gegründet sei. Als Ausdruck dieser islamischen Haltung versteht er die Blutspendeaktion, an der auch er teilgenommen hat. »Der Bedürftige hat keine Religion«, zitiert Herr Sükran aus der mündlichen Überlieferung und erläutert die Sentenz dann dahingehend, dass Religion und Herkunft irrelevant seien, wenn jemand der Hilfe bedürfe. Herr Günay, ein weiteres Mitglied der Gemeinde, beschreibt die religiöse Bedeutung der Aktion mit den Worten: »Wenn man jemandem helfen kann, ist es Pflicht.« Der Islam verstehe das Leben als »Prüfung«, erklärt er weiter und ergänzt: »Wenn ich helfen kann und es nicht tue, habe ich die Prüfung nicht bestanden.« Diese religiös fundierte Haltung deckt sich nicht nur mit dem universalistischen Zug, durch den sich Blutspendeaktionen, wie das DRK sie durchführt, an sich schon und unabhängig von den Intentionen der Akteure auszeichnen. Sie steht auch in Übereinstimmung mit der biologischen Kompatibilität des Blutes verschiedenster Menschengruppen (vgl. Davis 2001: 20; Brown 2001). Jeder heute existierende Mensch kann prinzipiell jedem Verletzten oder Kranken mit derselben Blutgruppe das nach wie vor nicht künstlich herstellbare Lebenselixier spenden – unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, religiösem Glauben, politischer Überzeugung, kultureller Prägung und persönlichem Charakter. Richard M. Titmuss schreibt (1970) in seinem Buch über die normativen und sozialpolitischen Implikationen des Blutspendens: »Never varying in temperature more than five or six degrees, composed of 55 per cent water, the life stream of blood that runs in the veins of every member of the human race proves that the family of man is a reality.« (Ebd.: 15) In der Praxis des Blutspendens steckt demnach immer schon ein universalistisches, zwischenmenschliche Unterschiede jedweder Art transzendierendes Moment. Darauf beziehen sich die Protagonisten der Islamischen Kulturgemeinschaft ausdrücklich, und darin ist auch eine moralische Provokation zu sehen. Gegenüber solch hehren Mo-
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tiven können sich die lokale Mehrheitsbevölkerung und das Rote Kreuz nur ins Unrecht setzen, wenn sie der Durchführung einer Blutspendeaktion bei der Islamischen Kulturgemeinschaft mit Skepsis begegnen. Die Moscheegemeinde unterzieht ihr Gegenüber einem Test. Sie arrangiert eine Bewährungsprobe für den Universalismus, dem sich das Rote Kreuz als Organisation verpflichtet hat und den sich die deutsche Mehrheit gerne zugute hält, wenn es darum geht, die rechtliche Anerkennung kultureller Besonderheiten von ethnischen Minoritäten abzuwehren. Die Provokation, die ein solcher Test darstellt, wird dadurch verstärkt, dass die Islamische Kulturgemeinschaft mit einem generösen Akt – einer Blutspende für die Allgemeinheit – in Vorleistung tritt und die deutschen Adressaten dadurch in Zugzwang zu bringen sucht. Die Moscheegemeinde setzt den moralischen Universalismus als »weapon of the weak« (Scott 1985) ein. Und diese Waffe ist keineswegs stumpf, zumal das Rote Kreuz mit der offenen Zurückweisung die eigenen normativen Ansprüche verraten würde, die in seinem organisationskulturellen Selbstverständnis verankert sind. Blutspenden ist nicht nur eine universalistische, sondern auch eine Praxis mit stark altruistischen Zügen, zumal die Spender ihr Blut prinzipiell jedem anonymen Anderen ohne die Erwartung einer unmittelbaren Gegenleistung überlassen (vgl. Titmuss 1970: 224 ff.). Strukturell handelt es sich, wie man mit Claude Lévi-Strauss (1984) sagen kann, um einen »verallgemeinerten Tausch«, der im Unterschied zum »eingeschränkten Tausch« nicht nur zwei Parteien umfasst, die wechselseitige Austauschbeziehungen unterhalten. Der Spender kann vom Empfänger seines Blutes keine Gegenleistung erhoffen. Die Struktur der Transfusionsmedizin beschreibt einen komplexen Austauschzyklus, an dem eine Vielzahl von Personen beteiligt ist. Die von Lévi-Strauss beschriebenen, auch in verallgemeinerten Tauschbeziehungen obwaltenden Reziprozitätserwartungen sind beim Blutspenden jedoch weitgehend suspendiert. Sie sind allenfalls sehr abstrakt und nicht sanktionierbar. Der Spender wird auch nie in Erfahrung bringen, wer der konkrete Andere ist, der sein Blut bekommt. Blutspenden, für die es keine Vergütung3 gibt, lassen sich daher als altruistische Akte gegenüber einem »verallgemeinerten Anderen« (Mead 1968: 194 ff.) beschreiben. Der altruistische und universalistische Gehalt des Blutspendens, auf den sich der Barrener Ausländerbeirat und die Islamische Kulturgemeinschaft berufen, hat eine Kehrseite. Einerseits wuchern sie mit dem normativen Gehalt, der schon in der Struktur jeder freiwilligen und unentgeltlichen Blutspende angelegt ist. Andererseits erwarten sie zwar nicht von den Empfängern ihres Blutes, dafür aber von ihren deutschen Nachbarn eine Gegenleistung. Denn die Aktion ist, wie zuvor gesehen, an die anderen Stadtteilbewohner adressiert. Blut gegen Integration lautet der bilaterale Tausch, den die Moscheegemeinde mit der deutschen Bevölkerung anzubahnen versucht. Damit macht sie aus einem »verallgemeinerten« einen »eingeschränkten« Tausch, und aus einem altruistischen Akt eine strategische Operation im »Kampf um Zugehörigkeit« (Neckel 2003), ohne es gleichzeitig aufzugeben, die universalistische Bedeutungsebene des Blutspendens der deutschen Mehrheit gegenüber in Anschlag zu bringen. Nur so können die Vertreter der türkisch-islamischen Minderheit als universalistisch motivierte »moralische Unternehmer« (Becker 1966) auftreten und dabei 3
Das deutsche Transfusionsgesetz lässt zwar »Aufwandsentschädigungen« für die Spender zu, folgt ansonsten aber aus Sicherheitserwägungen, das heißt damit keine »unerwünschten Spendewilligen angelockt werden«, dem »Grundsatz der Unentgeltlichkeit« (Gesetz zur Regelung des Transfusionswesens vom 1. Juli 1998, § 10).
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zugleich in eigener Sache agieren. Ihr partikulares Integrationsbestreben verfolgen sie strategisch geschickt unter Berufung auf universalistische Normen, die gut zu bestimmten Traditionsbeständen des Islam passen, in deren Licht ethnische Unterscheidungen keine Rolle spielen dürfen. Warum aber will das Rote Kreuz die Blutspendeaktion zunächst nicht durchführen, wenn doch die normativen Hürden einer Zurückweisung so hoch sind? Trifft es wirklich zu, dass das Zögern des Roten Kreuzes auf die Ablehnung »türkischen Blutes« zurückgeht? Diese Fragen lassen sich nur beantworten, wenn man sich den gesamten Ablauf der Blutspendeaktion und der Folgeveranstaltung, die ein halbes Jahr später im Mai 2003 stattfinden sollte, vergegenwärtigt.
5. Dynamik des Scheiterns Nach dem bereits erwähnten Ortstermin des DRK-Blutspendedienstes bei der Islamischen Kulturgemeinschaft im Juni 2002 wurden der Termin für die erste Aktion und alle weiteren Einzelheiten festgelegt. Vor ihrer Durchführung im September 2002 werben zahlreiche Plakate des Roten Kreuzes in Barren-Ost für die Blutspendeaktion, und am Vortag weist die Barrener Zeitung in einem Artikel noch einmal auf die »bundesweit bisher wohl einmalige Aktion« hin (Barrener Zeitung vom 19. September 2002). Sie verläuft völlig reibungslos. Auf dem Gelände der Islamischen Kulturgemeinschaft herrscht ein buntes Treiben, das der Veranstaltung Züge eines fröhlichen Festes verleiht; die Spender sitzen beisammen und unterhalten sich zwischen den einzelnen Schritten im Procedere des Blutspendens und später beim Döner, den die Islamische Kulturgemeinschaft allen Spendern kostenlos anbietet. Die führenden Mitglieder der Moscheegemeinde zeigen sich besonders erfreut über die – allerdings nur vereinzelt anzutreffenden – deutschen Teilnehmer, die aber eher irritiert und distanziert auf das ihnen entgegengebrachte Interesse reagieren. Als der Verfasser, der als teilnehmender Beobachter den ganzen Vorgang des Blutspendens durchläuft, in der Schlange für die medizinische Untersuchung steht, geht Schwester Genoveva durch die Reihen, um zu überprüfen, ob die Formulare richtig ausgefüllt sind. Dabei fällt dem Beobachter auf, dass sie die türkischen Wartenden – und nur diese – in einer infantilisierenden Weise behandelt. Gleichwohl können die beiden Lokalzeitungen die Blutspendeaktion tags darauf als gelungenes Exempel deutsch-türkischer Integration rühmen (Ruhranzeiger und Barrener Zeitung vom 21. September 2002). Herr Kedi bringt drei Wochen später im Interview seine Zufriedenheit mit der Blutspendeaktion zum Ausdruck. Er sagt unter anderem: »Ich hab’ mich auch bei den Leuten vom DRK bedankt. Das war wirklich sehr gut organisiert, sehr gut geklappt, war eine wunderbare Aktion. Und wir haben also wirklich Termine klargemacht, im nächsten Jahr sofort weiterzumachen.« Die zweite Blutspendeaktion hat zunächst wenig Auffälliges, und die Islamische Kulturgemeinschaft scheint sich als Ort turnusmäßig durchgeführter Veranstaltungen dieser Art etabliert zu haben. Ina Walter, die diesmal als teilnehmende Beobachterin dabei ist, und der Verfasser finden die gleiche Szenerie wie bei der ersten Aktion vor. Später, als die beiden Feldforscher an einem Tisch im Hof des Geländes mit Mitgliedern der Islamischen Kulturgemeinschaft sprechen, kommen plötzlich drei jüngere, Kopftuch tragende Frauen aufge-
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regt schimpfend aus dem Gebäude, in dem die ärztliche Untersuchung durchgeführt wird. Herr Nurettin und Herr Bicioglu stehen sofort auf und gehen den drei Frauen entgegen. In kurzer Distanz zum Tisch sprechen die beiden auf Türkisch mit den Frauen, die sich kaum beruhigen lassen und bald darauf gehen. Herr Bicioglu erklärt den Forschern den Grund der Aufregung: »Die drei Frauen wollten Blut spenden. Eine davon wollte dolmetschen, weil die anderen nicht so gut Deutsch können. Die Ärztin hat gesagt: ›Geht nicht.‹ Da hat die Dolmetscherin auch nicht gespendet. ›Wer nicht Deutsch kann, kann nicht spenden‹, hat die Ärztin gesagt. Dann hat die eine gesagt: ›Wir haben das letzte Mal auch gespendet, und wir haben einen Blutspendeausweis.‹ Die Frauen haben erzählt, dass die Ärztin dann gesagt hat, dass letztes Jahr von denen das Blut weggeschüttet wurde.« Etwas schärfere Töne schlägt Herr Nurettin an: »Das nächste Mal – entweder ein türkischer Doktor oder ein Dolmetscher! Die Frauen fühlen sich beleidigt. Die hatten ja schon einen Blutspendeausweis!« Er hebt dann noch einmal an und sagt: »Das ist eine Beleidigung! Das werde ich an die Presse weiterleiten. Wir können woanders hingehen, nicht zum DRK, woanders geben die mir sogar noch für jede Person Geld. – Die sagen das erst jetzt! Erst als die Frau, die bei den anderen dolmetschen wollte, gesagt hat: ›Das letzte Mal ging’s auch‹ hat die Ärztin gesagt, dass sie das Blut weggeschüttet haben. (…) Wenn es kein Entgegenkommen vom DRK gibt, machen wir das nächstes Mal nicht mehr!« Herr Nurettin betont hier erneut den uneigennützigen Charakter der Blutspendeaktion, indem er auf die nicht wahrgenommene Alternative verweist, sich das Blutspenden von einer anderen Organisation vergüten zu lassen.4 Damit lässt er das, was die drei Frauen bei der Ärztin erlebt haben, als umso verurteilenswerter erscheinen. Der Subtext seiner Ausführungen lautet: Die selbstlos gebende Hand wurde gebissen. Später stellt sich heraus, dass noch eine erhebliche Anzahl anderer türkischer Spenderinnen und Spender aufgrund mangelnder Deutschkenntnisse von der Ärztin – so die Diktion der Kulturgemeinschaft – »weggeschickt« wurde. Das hatte sich herumgesprochen und hielt weitere Spendewillige von der Teilnahme an der Aktion ab, sodass diesmal weniger als vierzig Personen Blut spenden sollten, während es beim ersten Mal knapp hundert gewesen waren. Da es weder zu der erwarteten »Entschuldigung« noch zu einem »Entgegenkommen« des Roten Kreuzes kommt, entscheidet die Gemeinde schließlich von sich aus, die Zusammenarbeit mit dem Roten Kreuz aufzukündigen, und die kurze Tradition der Blutspendeaktionen bei der Islamischen Kulturgemeinschaft findet ihr Ende. Die wissenschaftliche Interpretation darf sich die Sichtweise der Kulturgemeinschaft jedoch nicht zueigen machen, ohne der Perspektive des DRK-Blutspendedienstes Rechnung zu tragen. Die Tatsache, dass Frauen, die kaum Deutsch sprechen, nicht zur Blutspende zugelassen werden und dass das Blut von der ersten Spendenaktion nicht in Umlauf gebracht wird, darf nicht vorschnell als absichtsvolle, womöglich rassistisch motivierte »Beleidigung« gewertet werden. Die Verantwortlichen beim Blutspendedienst begründen die als Missachtung aufgefassten Vorkommnisse ganz anders als die Mitglieder der Islami4
Er kann damit nur die erwähnten, gesetzlich zugelassenen »Aufwandsentschädigungen« meinen.
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schen Kulturgemeinschaft. Den Vertretern des Roten Kreuzes scheint es überhaupt nicht darum zu gehen, gute oder auch fadenscheinige Gründe dafür zu finden, »türkisches« Blut zurückzuweisen. Die von ihnen vorgebrachten Argumente beziehen sich nämlich auf rechtliche Vorgaben, denen jede Blutspende zu genügen hat. Sie speisen sich aus einem medizinischen Ethos, das darauf verpflichtet ist, die gesundheitlichen Risiken für die Empfänger zu minimieren. Schon bei der ersten Blutspendeaktion erklärt Herr Fährmann vom DRK-Kreisverband, dass in bestimmten Regionen der Osttürkei Malaria verbreitet sei und dass diejenigen, die sich in diesen Risikogebieten aufgehalten haben, kein Blut spenden dürften. Dies sei eine Vorgabe des Gesetzgebers.5 Damit liegt auf der Hand, dass es ein Problem darstellt, wenn Spender die entsprechenden Fragen nicht verstehen, weil sie kaum Deutsch sprechen. Mitarbeiterinnen des Roten Kreuzes klären die Forscher weiterhin darüber auf, dass man in bestimmten Fällen absolut auf die Verlässlichkeit der Angaben der Spender angewiesen sei, um diejenigen ausschließen zu können, die sich kurz vor einer Blutentnahme mit Hepatitis-, AIDS- und HTLV I/II-Erregern infiziert haben; denn im Frühstadium seien diese Ansteckungen im Labor noch gar nicht nachweisbar (so auch nachzulesen bei Preuß 2004: 51 ff.). Der Entnahmeleiter beim zuständigen DRK-Blutspendedienst, Dr. Korte, verweist auf wichtige Vorgaben des Infektionsschutzgesetzes, demzufolge die Spender bei kritischem Befund informiert werden müssen. Wenn man sich mit ihnen nicht verständigen könne, führe dies zu erheblichen Schwierigkeiten; das gelte in besonderem Maße für Fälle, in denen das Gesundheitsamt einschreiten und eine Desinfizierung der Wohnung in die Wege leiten müsse.6 Allerdings räumt Dr. Korte auf Nachfrage ein, dass weder das Transfusionsgesetz noch irgendein anderes Gesetz, das die Durchführung von Blutspendeaktionen berührt, Deutschkenntnisse der Spender vorschreibe7; die DRK-Spenderichtlinien hätten sich jedoch auf Deutsch und Englisch als die einzigen Verkehrssprachen bei Blutspendeaktionen festgelegt. Dann erklärt er mit Blick auf die gekränkten und wütenden Reaktionen der Islamischen Kulturgemeinschaft: »Dolmetschen ist verboten. Das Problem ist die Qualität des Dolmetschers. Sie wissen ja nicht, ob der alles versteht und richtig übersetzt. Der nimmt ja vielleicht auch nicht alles so ernst. Ein bisschen Gelbsein [also an Hepatitis erkrankt zu sein, F.S.] ist in Südostanatolien kein Problem, bei uns eben schon. Das sieht der Dolmetscher vielleicht nicht so.« Eine Mitarbeiterin des DRK-Ordnungsdienstes führt das Verbot von nichtprofessionellen, den Spendern persönlich bekannten Dolmetschern auf das Prinzip der Vertraulichkeit und den Schutz der Intimsphäre der Spender zurück.8 Es gibt also gute Gründe dafür, dass 5 6 7
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Vgl. dazu Abschnitt 2.2.2 der Richtlinien zur Gewinnung von Blut und Blutbestandteilen und zur Anwendung von Blutprodukten (Hämotherapie) vom Juli 2000, aufgestellt vom Wissenschaftlichen Beirat der Bundesärztekammer und vom Paul-Ehrlich-Institut. Neuformulierungen und Kommentare 2001. Vgl. Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen vom 20. Juli 2000, §§ 18 und 25 ff. Es ist vielmehr umgekehrt: Der Gesetzgeber erwartet von Blutspendediensten, dass sie sich den Spendern verständlich machen. Das Transfusionsgesetz verlangt, dass die Spender »vorher in einer für sie verständlichen Form über Wesen, Bedeutung und Durchführung der Spendeentnahme und der Untersuchungen sachkundig aufgeklärt« werden (Gesetz zur Regelung des Transfusionswesens vom 1. Juli 1998, § 6). Dieses Argument wird allerdings dadurch relativiert, dass nach der Blutentnahme jedem Spender die Möglichkeit eines »vertraulichen Selbstausschlusses« gegeben wird, den das Transfusionsschutzgesetz wie folgt
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das Rote Kreuz dafür sorgen muss, nur Blutspenden von Personen anzunehmen, die der deutschen Sprache in ausreichendem Maße mächtig sind. Aber selbst wenn man der darauf zielenden Argumentation so weit wie irgend möglich folgt, bleiben drei Punkte, die mit der Begründungslogik des Roten Kreuzes nicht vereinbar sind: Erstens bestand keine Notwendigkeit, den Mitgliedern der Islamischen Kulturgemeinschaft die erniedrigende Auskunft zu erteilen, ihr Blut sei nach der ersten Spendenaktion »weggeschüttet« worden. Diese Mitteilung hätte gar nicht erfolgen müssen oder hätte zumindest etwas schonender vorgetragen werden können, heißt es doch im Transfusionsgesetz, dass das »Verdienst« und das »uneigennützige Engagement« der spendenden Personen »durch eine anerkennende Spenderbetreuung gewürdigt« werden müsse (Gesetz zur Regelung des Transfusionswesens vom 1. Juli 1998, § 3). Das Rote Kreuz hätte sich entschuldigen und auf den eigenen Fauxpas bei der ersten Blutspendeaktion hinweisen können, den Dr. Korte durchaus konzediert. »Beim ersten Mal«, sagt er dem Verfasser gegenüber, »sind uns Fehler unterlaufen. Die Ärztin hat [nichtprofessionelle, F.S.] Dolmetscher zugelassen. Wenn Dolmetscher zugelassen wurden, müssen wir dann sagen: ›Blut vernichten.‹« Dabei ist nicht einmal sicher, ob dies im Falle der ersten Blutspendeaktion bei der Islamischen Kulturgemeinschaft zwingend notwendig war. Daraus ergibt sich eine zweite Unstimmigkeit in der Argumentation des Roten Kreuzes. Die Frage, ob nach der ersten Aktion unbedingt gleich alle Blutspenden hätten aus dem Verkehr gezogen werden müssen, verneint Dr. Korte und erklärt, dass jeder Blutbeutel mit einem Vermerk über die Deutschkenntnisse des Spenders versehen worden sei. Die Erklärungslücke, die sich hier öffnet, kann oder will der Entnahmeleiter nicht schließen und antwortet ausweichend auf entsprechende Nachfragen. Nicht mit der Begründungslogik des Roten Kreuzes in Übereinstimmung bringen lässt sich drittens schließlich der Umstand, dass einige türkische Spenderinnen und Spender, die bei der zweiten Aktion abgewiesen wurden, zuvor mehrmals Blut gespendet hatten und im Besitz eines Blutspendeausweises waren. Herr Nurettin erklärt mit Bezug auf einige Männer, auf die dies zutrifft: »Die Herren haben vor sechs Monaten beim Montankrankenhaus gespendet. Das ist ein öffentliches Krankenhaus. Nur wenn’s bei uns ist, geht das nicht. Wegen schlechtem Deutsch! Nur wenn’s bei uns ist, können sie zu schlecht Deutsch.« Damit benennt Herr Nurettin in der Tat einen Widerspruch im Umgang des Roten Kreuzes mit den Deutschkenntnissen potentieller Spender. Er zieht daraus den Schluss, dass der eigentliche Grund für den Affront mit der Durchführung der Blutspendeaktion bei der Islamischen Kulturgemeinschaft zu tun haben müsse: Den Verantwortlichen beim Roten Kreuz sei hier viel deutlicher als anderswo sichtbar geworden, dass sie es mit »türkischem Blut« zu tun hätten. Nicht nur Herr Nurettin sieht es so, sondern dies wird zur allgemein geteilten Deutung unter den Mitgliedern der Islamischen Kulturgemeinschaft. Als Beispiel sei Frau Sahan angeführt, eine der drei genannten Frauen, die in Erfahrung gebracht hatten, was mit dem Blut der ersten Spendenaktion geschehen war; im Interview, das ein paar Tage nach der zweiten Aktion stattfindet, berichtet sie von ihrem Telefonat mit der besagten Ärztin:
begründet: »Der vertrauliche Selbstausschluß wird zugelassen, um Personen, deren Spende nicht verwendet werden darf, die aber in einer Gruppe zur Entnahme kommen, vor Diskriminierung zu schützen.« (Ebd.)
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»›Wissen Sie was‹, habe ich [zur Ärztin, F.S.] gesagt, ›das ist unmöglich, was ich hier höre. Wenn Sie unser Blut entnehmen, dann dürfen Sie das auch nicht mehr wegschmeißen, das ist das erste‹, habe ich gesagt, ›und das zweite, das ist doch für die Gesundheit, für die Menschen. Müssen denn eigentlich Menschen überhaupt Deutsch sprechen? Es wäre schön‹, sagte ich, ›wenn die auch Deutsch sprechen könnten, aber die können es eben nun mal nicht! Müssen sie denn eigentlich Deutsch sprechen können, um Blut zu spenden, um anderen Leuten zu helfen? Steht denn eigentlich im Blut irgendwo dran, wenn das für die anderen Leute gebraucht wird: Ist ein türkisches Blut oder ausländisches Blut, die kann kein Deutsch sprechen? Steht da irgendwas drauf?‹« Frau Sahan spricht wieder von ethnisch differenziertem Blut und greift damit ein Thema auf, das sich wie ein roter Faden durch die beiden Blutspendeaktionen zieht. Aber was soll das genau heißen – »türkisches« oder »ausländisches« Blut? Hier gibt es eine semantische Leerstelle, eine Bedeutungsschicht des Vorgangs, die von keinem der Akteure angerührt wird. Um diese Leerstelle herum scheinen die wechselseitigen Zuschreibungen und Verdächtigungen zwischen der Islamischen Kulturgemeinschaft und dem Roten Kreuz organisiert zu sein. Verwandtschaft und Gabentausch, so die nun zu begründende These, sind die beiden zentralen Begriffe, mit deren Hilfe sich die bislang verborgen gebliebenen Aspekte der Barrener Blutspendeaktionen verstehen lassen. Schon die beiden Bestandteile des Wortes Blutspende und deren »Kulturbedeutung« (Weber 1988b: 30 ff.) legen nahe, dass man dem Rätsel auf diese Weise beikommen kann: »Blut« weist vielfältige semantische Verknüpfungen mit Verwandtschaftsbeziehungen auf, und »Spenden« ist per se ein Akt des Gebens.
6. Blutsverwandtschaft Blut ist eine symbolisch aufgeladene Substanz. Sie besitzt einen Bedeutungshorizont, der auf verwandtschaftliche Verhältnisse verweist. In der Alltagssprache reden wir von »Blutsverwandtschaft« und von »Blutsbande«, um biologische Abstammungsverhältnisse und daraus hervorgehende soziale Beziehungen zu kennzeichnen. Diese Ausdrücke stehen für Zugehörigkeit zu einer Gruppe und für ein enges soziales Band zwischen Menschen, wie auch die Rede von der »Blutsbrüderschaft« zeigt, die ein symbolisches, ex post gestiftetes Verwandtschaftsverhältnis bezeichnet. Das Wort vom »blauen Blut« wiederum steht für die zwischen Adeligen bestehenden, nach außen abgegrenzten Bindungen, während vom »eigenen Fleisch und Blut« vor allem in Kontexten gesprochen wird, in denen die besonderen moralischen Verpflichtungen auf der Agenda stehen, die Verwandten gegenüber gelten. In der türkischen Kultur ist Verwandtschaft ebenfalls durch eine Semantik des Blutes geprägt, auch wenn es in der Türkei – wie im ganzen Raum zwischen dem Balkan und dem Kaukasus – neben der Blutsbande auch Verwandtschaftsverhältnisse gibt, die durch Mutterbzw. Ammenmilch symbolisiert und nicht durch biologische Abstammung, sondern durch die Ernährung von Kindern konstituiert werden (Parkes 2004a und 2004b). Ebenso kennt die türkische Kultur – wie auch die mitteleuropäischen Gesellschaften – auf Adoption und Patenschaft beruhende Verwandtschaftsverhältnisse (ebd.; Magnarella/Türkdogan 1973). Diese sind aber, wie auch das Milch- und Ernährungsmodell, von nachrangiger Bedeutung und haben lediglich eine Ergänzungs- oder Ersatzfunktion. Im Islam und der türkischen
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Kultur hat Blut weithin die gleiche Bedeutung wie in Mitteleuropa: Soziale Verwandtschaftsbeziehungen sind untrennbar mit der Idee der Konsanguinität verknüpft. Beim Blutspenden wird die partikulare Logik der verwandtschaftlichen Zugehörigkeit universalisiert. Titmuss’ Aussage, beim Blutspenden werde offenbar, dass die Menschheit tatsächlich eine »Familie« sei (1970: 15), lässt sich als Hinweis darauf lesen, dass selbst beim Bluttransfer zwischen anonymen Personen etwas von der verwandtschaftsbezogenen Kulturbedeutung des Blutes präsent bleibt. So scheint es sich auch den Akteuren der beiden Barrener Blutspendeaktionen darzustellen, nur dass die deutsche Seite offenkundig nicht bereit ist, die familiale Sphäre so weit auszudehnen, wie Titmuss dies tut. Wenn Herr Kedi davon spricht, die Vertreter des Roten Kreuzes hätten im Vorfeld der ersten Blutspendeaktion »Berührungsängste« gehabt, zielt er genau auf diesen Punkt: auf eine in der deutschen Bevölkerung verbreitete Furcht vor einem gewissermaßen illegitimen Verwandtschaftsverhältnis, vor einer allzu großen sozialen, ja körperlichen Nähe zur türkischen Bevölkerung. Diese somatisch verankerten Gefühle von Nähe und Ferne gehen mit der Phantasie einher, dass sich vermischen könnte, was einer dunklen Empfindung zufolge nicht zusammengehört. Das Geflüster über »deutsches« und »türkisches Blut« legt Zeugnis davon ab. Ganz offensichtlich spielen bei den Barrener Blutspendeaktionen »primordial sentiments« in dem von Clifford Geertz (1963) beschriebenen Sinne mit. Es handelt sich dabei um ursprüngliche Gefühle der Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit, um Gefühle einer als natürlich empfundenen Nähe und Distanz zwischen Gruppen, deren Existenz als unmittelbar gegeben betrachtet wird. Solche primordialen Gefühle spiegeln sich in der fraglosen Unterscheidung zwischen einem Wir und den Andern wider, die sowohl die Wahrnehmung beim Roten Kreuz als auch bei der Islamischen Kulturgemeinschaft in Beschlag nimmt. Die starken Außengrenzen, die mit »primordial bonds« (ebd.: 109 ff.) stets verbunden sind, werden durch die Initiative des Ausländerbeirates und der Islamischen Kulturgemeinschaft überschritten. Die Protagonisten versuchen nichts weniger, als den tribalistisch bestimmten Binnenraum der Mehrheitsbevölkerung so umzudefinieren, dass sie ihm auch selbst angehören. Sie wollen Verwandtschaft stiften. Dieser Versuch tritt mit althergebrachten primordialen Bindungen der deutschen Gegenseite in Konflikt. Die mit der eigenen ethnischen Gruppe verbundenen Gefühle sind es auch, die das Handeln des Roten Kreuzes untergründig beherrschen. Nur auf diese Weise lässt sich die besagte semantische Leerstelle im Diskurs der Akteure füllen. Nur so ergibt sich ein geschlossenes Bild der letztlich gescheiterten Kooperation zwischen dem Roten Kreuz und der Islamischen Kulturgemeinschaft: Während die einen im Dienste ihres Versuchs, die volle Zugehörigkeit zur lokalen Gesellschaft zu erwirken, einen Austausch des Blutes in Gang setzen, wollen die anderen kein türkisches Blut in deutschen Adern fließen lassen, um sich mit den Türken nicht verwandt zu machen (vgl. dazu auch Myrdal 1962: 97 ff.). Abgesehen von Grenzfällen, die sich aus entfernten Verwandtschaftsgraden ergeben, ist man mit jemandem verwandt oder eben nicht. Es handelt sich um ein askriptives Merkmal. Gemäß diesem Verständnis interethnischer Verwandtschaft und Nichtverwandtschaft stellt sich die Initiative der Islamischen Kulturgemeinschaft als ein paradoxes Unterfangen dar: Sie will sich verwandtschaftliche Zugehörigkeit durch ein altruistisches, universalistischen Regeln gehorchendes Verhalten verdienen. Aus einem prinzipiell zugeschriebenen Merkmal, das einem qua Geburt zufällt, will sie ein erwerbbares Merkmal machen. Dies versucht
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sie zu bewerkstelligen, indem sie mit den Blutspenden eine Offerte darbietet, die auf eine adäquate Antwort des Gegenübers zählt. Daraus gewinnen die Blutspendeaktionen den Charakter eines Gabentausches.
7. Gabentausch unter Gleichen Die Barrener Blutspendeaktionen sind von Beginn an überdeterminiert. Der Islamischen Kulturgemeinschaft geht es nicht einfach nur darum, ihr Blut zu geben, wie es andere Spender auch tun. Die deutsche Bevölkerungsmehrheit im Stadtteil ist der Adressat der symbolischen Bedeutung der Aktionen. Die mit ihnen verbundene Integrationsstrategie bezieht sich eindeutig auf den lokalen Kontext, nicht auf die anonymen Empfänger des Blutes. Die deutschen Stadtteilbewohner sollen die türkische Minderheit in den Kreis ihrer Verwandten aufnehmen. Die Beteiligten auf Seiten der Moscheegemeinde erwarten also eine immaterielle Gegengabe, die in der Anerkennung ihrer Zugehörigkeit besteht (zur Verschiedenheit von Gabe und Gegengabe vgl. Simmel 1992f: 664 ff.). Mehr noch, indem die Gabe des Blutes performativ zum Ausdruck bringt, wen die deutschen Nachbarn zu den Ihrigen zählen sollen, vermittelt sie eine Auffassung dessen, wie diese Nachbarn sich selbst verstehen sollen. Die Blutspendeaktionen besitzen eine Eigenschaft, die dem reziproken Gabentausch stets latent innewohnt, nämlich die, dem Anderen eine Identität aufzunötigen (vgl. Schwartz 1967: 1 ff.; Henaff 2003: 308). Daher kann Barry Schwartz schreiben: »Gift exchange influences group boundaries by clarifying them.« (1967: 11) Just um diese Frage des interethnischen Grenzverlaufs geht es bei den Barrener Blutspendeaktionen. Mit der Gabe des Blutes will die Islamische Kulturgemeinschaft die Grenzen zwischen der türkischen und der deutschen Bevölkerung verschieben. Sie will ihre Zugehörigkeit erwirken. Die Gabe ist daher keineswegs umsonst, obgleich sie mit einer altruistischen Symbolik ausgestattet ist und in einigen Momenten als »reine« Gabe (Malinowski 1979: 217 ff.; Laidlaw 2002) daherkommt. Das Altruistische vermischt sich, wie es für den Gabentausch typisch ist (Gouldner 1973: 276 f.; Vandevelde 2000: 7 f.; Caillé 2005: 174 ff.), mit Reziprozitätserwartungen und der strategischen Durchsetzung partikularer Interessen, indem die Islamische Kulturgemeinschaft das Blutspenden in den Dienst ihrer Integrationsziele und Zugehörigkeitsaspirationen stellt. Beim Blutspenden als solchem, wie es beim Deutschen Roten Kreuz praktiziert wird, handelt es sich um die moderne Gabe par excellence, da sie an völlig fremde und anonyme Empfänger geht, auf einem Akt der Freiwilligkeit beruht und für den Empfänger nicht mit einer Verpflichtung zur Gegengabe verbunden ist (Titmuss 1970: 70 ff. und 209 ff.; Godbout/Caillé 1998: 52 ff.). Das Blutspenden suspendiert gerade das, was für den Gabentausch in traditionalen Gesellschaften, aber auch für viele nach wie vor existierende Praktiken des Tausches konstitutiv ist: Eine Verpflichtung, die Gabe zu erwidern, besteht beim Blutspenden nicht, und der Gabe kommt auch nicht die Funktion zu, soziale Bindungen zwischen Personen und Gruppen herzustellen oder aufrechtzuerhalten. Die von Marcel Mauss (1989) beschriebene Reziprozitätsnorm wird beim Blutspenden weitgehend außer Kraft gesetzt. Höchstens eine ganz und gar unpersönliche, generalisierte Erwartung der Erwiderung ist dabei im Spiel.
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Die Islamische Kulturgemeinschaft indes verknüpft mit ihren Blutspendeaktionen eine konkrete Reziprozitätserwartung. Gleichzeitig ist ihr Handeln von der Vorstellung getragen, durch die Gabe des Blutes gestaltend in die Struktur ihrer Beziehung zur lokalen Gesellschaft eingreifen zu können. Aus der unilateralen Gabe des Blutes an anonyme Andere soll eine zweiseitige Austauschbeziehung unter symbolisch Verwandten erwachsen. Genau wie Titmuss (1970: 237 ff.) scheint die Islamische Kulturgemeinschaft davon auszugehen, dass das Blutspenden Gefühle der Partizipation und der Zugehörigkeit hervorbringen und solche der Entfremdung heilen kann. Im Unterschied zu Titmuss aber bindet die Islamische Kulturgemeinschaft diese Wirkungen an eine anerkennende Reaktion der deutschen Mehrheit. Von unbekannten Fremden, an welche die Gabe des Blutes de facto gehen wird, wandert die Erwartung einer Gegengabe in das nähere soziale Umfeld. Der Islamischen Kulturgemeinschaft geht es um die Anerkennung als Tauschpartner unter prinzipiell Gleichen, um die Etablierung symmetrischer Austauschbeziehungen. Freilich kann mit dem Gabentausch gerade die Hervorbringung von Asymmetrien und Ungleichheiten verbunden sein, zumal die Normen der Reziprozität, wie Peter M. Blau (1964: 115 ff.) hervorgehoben hat, dauerhafte Ungleichgewichte, Abhängigkeiten sowie Verhältnisse der Über- und Unterordnung hervorbringen können, wenn die Tauschpartner mit ungleichen Ressourcen ausgestattet sind. Einen solchen Gabentausch zwischen Akteuren, die aktuell oder potentiell ungleich sind, hat Pierre Bourdieu (1998: 170) von dem abgegrenzt, der zwischen Gleichen stattfindet. Beim Bluttransfer nun geht es gerade nicht um den Austausch von Gütern, die ungleich verteilt sind; vielmehr wird die gemeinsame und gleichartige Kreatürlichkeit zwischen Spender und Empfänger betont. Es handelt sich um einen Tausch zwischen Gleichen. In einem solchen Fall kann eine Gegengabe nur dann vom Empfänger erwartet werden, wenn dieser den Gebenden als jemanden betrachtet, der im Rang eines Tauschpartners steht, das heißt gleichwertig ist und Gleichwertiges anzubieten hat (vgl. Bourdieu 1976: 21 ff.). Die Verantwortlichen beim Roten Kreuz scheinen es durchaus verstanden zu haben, dass die Islamische Kulturgemeinschaft mit den Blutspenden in eine reziproke Austauschbeziehung mit ihren deutschen Nachbarn eintreten will. Die Zurückweisung der Gabe des Blutes lässt sich als direkte Reaktion auf diesen Anspruch verstehen. Dafür spricht der gesamte Handlungskontext: Blut soll gegen die Anerkennung von quasi verwandtschaftlicher Zugehörigkeit getauscht werden. Dieses und kein anderes Spiel wird gespielt. Das teilt sich auch in einigen sprachlichen Wendungen mit, die deutlich machen, dass die Rotkreuzmitarbeiter das Spiel verstanden haben, es aber nicht mitspielen wollen. Ein Beispiel dafür ist eine markante Aussage, von der Herr Nurettin zu berichten weiß: »Vor dem ersten Mal haben die vom DRK gesagt: ›Von türkischen und islamischen Leuten möchten wir keine Spenden annehmen.‹« Zur Logik des verweigerten Gabentauschs passt auch die Rede vom »Wegschmeißen« und vom »Wegschütten«, mit der die Ärztin des Roten Kreuzes in recht drastischer Weise artikuliert, wie sie den Wert der Gabe einschätzt. Der Blutspendedienst des Roten Kreuzes fragt ja von Anfang an, ob es sich bei dem, was er von der Islamischen Kulturgemeinschaft bekommen kann, um eine gute Gabe handelt. Er will sich davor hüten, ein Danaergeschenk anzunehmen. Das vermeintliche Übel, das mit dem Geschenk hätte verbunden sein können, erwartet das Rote Kreuz nicht nur auf medizinischem, sondern auch auf sozialem Terrain: Eine Annahme der Gabe hätte die Is-
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lamische Kulturgemeinschaft als gleichwertigen Tauschpartner anerkannt. Während die ihr angehörenden Spender mit den Blutspendeaktionen in symmetrische Austauschbeziehungen mit der Mehrheitsbevölkerung treten und als vollwertige Mitglieder »mit allen Rechten und Pflichten« am sozialen Leben teilnehmen wollen, ist es den maßgeblichen Vertretern des Roten Kreuzes darum zu tun, bestehende Asymmetrien aufrechtzuerhalten. In deren Auflösung hätte das »Unglück« bestanden, das aus einer Erwiderung der Gabe erwachsen wäre (vgl. Bourdieu 1998: 164).
8. »Verwandtschaft« als symbolische Tiefendimension sozialer Ungleichheit Will man das Handeln des Roten Kreuzes begreifen, muss man sich vergegenwärtigen, dass die Islamische Kulturgemeinschaft die universalistischen Implikationen des Blutspendens in die Waagschale wirft. Indem die Sprecher der Gemeinde darauf verweisen, dass beim Blutspenden ethnische Differenzen nicht gelten dürften, richten sie einen im Grunde unabweisbaren moralischen Anspruch an das Rote Kreuz. Auf die universalistische Zumutung der ethnischen Neutralität reagiert dieses mit einer bürokratischen Spielart des Universalismus. Die Verantwortlichen beim Blutspendedienst berufen sich auf gesetzliche Vorschriften und die Richtlinien der eigenen Organisation. Die Verwerfung des Blutes beruht, so die Argumentation, auf Vorsichtsmaßnahmen, die dem Schutz der Empfänger dienen und im Sinne einer medizinischen Sorgfaltspflicht ohne Ansehen der Spender eingehalten werden müssen. Aber der bürokratische Universalismus, der häufig als Waffe der autochthonen Mehrheit gegen ethnische Minderheiten fungiert (vgl. Hüttermann 2003: 83 ff.), wird nicht konsequent durchgehalten und zeigt innere Widersprüche im Verhalten des Roten Kreuzes. Hier und dort ist im Verlauf des Geschehens zwar von »deutschem« und »türkischem« Blut die Rede, aber die Interaktion zwischen der Islamischen Kulturgemeinschaft und dem Roten Kreuz lässt sich mit den explizit vorgetragenen Argumenten und Zuschreibungen allein nicht erklären. Sie schleppt sich auf weite Strecken in einem Treibhaus doppelbödiger Zuschreibungen dahin, ohne dass es zum offenen Konflikt kommt. Ein tieferes Movens, das sich aus der verwandtschaftsbezogenen Kulturbedeutung des Blutes ableitet, steuert den Vorgang und bestimmt dessen Ausgang. Es gründet in der essentialistischen Vorstellung, man sei mit der eigenen ethnischen Gruppe »verwandt« und mit anderen »nicht verwandt«. Diese Verwandtschaftsidee bildet eine Tiefendimension sozialer Ungleichheit. Die Idee der ethnischen Verwandtschaft hat zwei Aspekte. Erstens bezieht sie sich auf die diffuse, aber umso wirkmächtigere Annahme, die eigene ethnische Gruppe zeichne sich durch eine gemeinsame biologische Herkunft aus. Diese Annahme wird bei den Barrener Blutspendeaktionen unmittelbar tangiert. Die Islamische Kulturgemeinschaft knüpft an die Verwandtschaftsidee an, wenn sie die volle Zugehörigkeit zur lokalen Gesellschaft durch einen Bluttransfer erwerben will. Sie bestätigt diese Idee gerade dadurch, dass sie die ethnischen Grenzen durch eine Vermischung des Blutes neu ziehen will. Folgt nun das Rote Kreuz dieser naturalistischen Idee, indem es eine ethnische Grenzverschiebung verhindert, handelt es jedoch nicht auf der Basis einer rassistischen oder völkischen Gesinnung. Das ethnische Verwandtschaftsmodell stellt überhaupt keine explizite Ideologie dar und kann
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damit gar nicht meinen, was landläufig »Rassismus« genannt wird. Um die Handlungsmotive der deutschen Beteiligten an den Barrener Blutspendeaktionen zu beschreiben, wäre die Kategorie des Rassismus zu grob und unpräzise. Vor allem deswegen, weil es einen zweiten Aspekt des ethnischen Verwandtschaftsmodells gibt, der sich mit dem Begriff des Rassismus überhaupt nicht fassen lässt. Neben »Verwandtschaft« als biologische Abstammungsgemeinschaft geht es bei den Blutspendeaktionen nämlich auch um Verwandtschaft im Sinne eines familialen oder quasifamilialen Interaktions- und Solidarsystems, das weit über den Rahmen essentialistischer oder biologistischer Vorstellungen hinausgeht (vgl. Müller 1984: 249 ff.). Die Barrener Blutspendeaktionen scheitern, weil eine Annahme des »türkischen Blutes« reziproke Austauschbeziehungen zwischen der deutschen und der türkischstämmigen Bevölkerung gestiftet hätte. Der Bluttransfer hätte zum Ausdruck gebracht, dass Türken und Deutsche ungeachtet ihrer ethnischen Herkunft gleichermaßen füreinander verantwortlich sind. Dies wird abgewehrt, um damit die Reziprozitätserwartungen und Solidaritätsverpflichtungen, wie sie für den Gabentausch unter Verwandten charakteristisch sind (Sabean 1998: 127 ff.; Godelier 1999: 291 ff.), für die autochthone Eigengruppe zu reservieren. Die türkischen Blutspender und ihre ethnische Gruppe werden aus dem Geltungsbereich einer quasifamilialen Binnenmoral ausgeschlossen. Gegenüber der eigenen Familie haben die Mitglieder wohl aller Kulturen eine viel weiter reichende Verantwortung und Verpflichtung als Außenstehenden gegenüber. Beherrscht eine solche familiale Moral die interethnischen Wahrnehmungen und Beziehungen, können solidarische Austauschbeziehungen nur auf die »Angehörigen« der eigenen ethnischen Gruppe beschränkt sein. Dieses Solidarprinzip, das sich an einem idealisierten Bild familialer Interaktion orientiert, verschmilzt mit der Vorstellung einer konsanguinalen Gemeinsamkeit. Das doppelseitige Verwandtschaftsmodell der Ethnizität begründet nun insofern eine Tiefendimension sozialer Ungleichheit, als die verwandtschaftsbezogene Betrachtungsweise interethnischer Beziehungen den Akteuren nicht bewusst ist. Sie wirkt hinter ihrem Rücken und ist ihnen reflexiv nicht verfügbar. Das archaisch anmutende Verwandtschaftsmodell der Ethnizität zeigt sich in seinen Wirkungen und setzt sich im sozialen Handeln unerbittlich durch. Die Unterscheidung zwischen Verwandten und Nichtverwandten basiert auf einer kulturell tief eingelagerten Vorstellung, die in vorbewusste und affektiv stark besetzte Schichten des Verhältnisses zwischen ethnischen Gruppen hinabreicht. Die interethnischen Beziehungen werden von einer verwandtschaftsbezogenen Tiefenstruktur, einem »tacit knowledge« (Altheide/Johnson 1992) regiert. Dieser implizite Wissensbestand bezieht sich offensichtlich nicht auf ein objektives Verhältnis zwischen ethnischen Gruppen. Vielmehr geht es dabei um ein Muster der sozialen Wahrnehmung, das auf einer starken Deutung beruht – auf einer »geglaubten Blutsverwandtschaft«, wie Max Weber (1980: 240) es nennt. Dieser Verwandtschaftsglaube berührt zutiefst die Ungleichheitsrelationen zwischen der türkischen und der deutschen Bevölkerung. Gerade weil die Blutspendeaktionen als Integrationsstrategie angelegt sind und damit interethnische Disparitäten verkleinern sollen, werden sie von den Einheimischen abgelehnt. Die Annahme des Blutes und des Integrationsbegehrens der Islamischen Kulturgemeinschaft hätten den Status quo ante, die überlegene Position der deutschen gegenüber der türkischen Bevölkerung weiter gefährdet, nach-
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dem deren Vertreter ohnehin schon in zuvor undenkbaren Positionen auftreten und eine selbstbewusste Verhandlungsmacht demonstrieren. Die drohende Einebnung interethnischer Ungleichheiten ist es, worauf die deutschen Beteiligten reagieren. Sie macht das interethnische Verwandtschaftsmodell für die Situationen des Blutspendens erst relevant. Die Gleichheitsaspiration markiert den neuralgischen Punkt, an den die türkischstämmigen Protagonisten der Barrener Blutspendeaktionen rühren, wenn sie der deutschen Bevölkerung das Angebot einer symbolischen Blutsbrüderschaft unterbreiten und dieses mit der moralisch armierten Erwartung einer entsprechenden Gegenreaktion verbinden. Das klandestin sich Geltung verschaffende Interpretament der Blutsverwandtschaft definiert das Handlungsproblem, in dessen Zentrum mögliche Verschiebungen interethnischer Ungleichheiten stehen.
9. Erweiterter Nepotismus und negative Klassifikationen Die besondere Relevanz der verwandtschaftlichen Tiefenstruktur interethnischer Beziehungen besteht darin, dass sie ihre Auswirkungen auch in Situationen entfaltet, die mit Blutaustausch und dergleichen nichts zu tun haben. Negative Klassifikationen gegen die türkische Bevölkerung im Stadtteil sind von dieser Tiefenstruktur beeinflusst, insbesondere jene, die sich gegen die sozialen Aufsteiger richten: gegen türkische Geschäftsinhaber und Immobilienbesitzer sowie gegen politisch aktive Migrantengruppen und -organisationen (zum Folgenden vgl. den Beitrag A.II). Der Ausländerbeirat und die Moscheegemeinden in Barren-Ost werden aufgrund ihres politischen Engagements vielfach als strategisch geschickte »Schmarotzer« klassifiziert. Auf die publik gewordenen Bemühungen des Ausländerbeirats um eine Mitsprache im Lenkungsgremium des Stadtteilerneuerungsprogramms Soziale Stadt NRW, zu dessen Fördergebieten Barren-Ost gehört, war in den Reihen der deutschen Bevölkerung allenthalben zu hören, dass die türkischen Bewohner bisher keinerlei Interesse am Stadtteil gezeigt hätten und nun plötzlich »unverschämte Forderungen« stellen würden. Im Rahmen einer eigens anberaumten Bürgerversammlung, auf der diese »Forderungen« des Ausländerbeirats und verschiedener türkischer Vereine im Stadtteil diskutiert werden, sagt eine deutsche Stadtteilbewohnerin, CDU-Stadträtin und Mitorganisatorin der Veranstaltung: »Die wollen unsere deutschen Gelder haben!« Diese Behauptung attestiert der türkischen Bevölkerung und ihren Vertretern eine schmarotzerhafte Haltung und spricht ihnen damit die Berechtigung zur Partizipation an den Segnungen des Stadtteilprogramms ab. Wenn weite Teile der türkischen Bevölkerung Steuern entrichten, kann man schwerlich sagen, dass die aus öffentlichen Kassen stammenden Gelder für das Stadtteilprogramm in einem distinktiven Sinne »deutsch« seien. Ungeachtet dessen geht die zitierte Stadträtin wie selbstverständlich davon aus, dass zuerst die Interessen einheimischer Gruppen zu bedienen und die Ansprüche türkischstämmiger Vereinigungen außen vor zu halten sind. Ihre allgemein beklatschte Aussage über die »deutschen Gelder« beruht auf dem beschriebenen verwandtschaftlichen Denkmuster. Es besagt: Das Geld muss in der Familie bleiben. Für die nichtdeutschen Anderen im Stadtteil sind wir nicht verantwortlich.
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Demselben Muster folgen negative Klassifikationen, die bei den erfolgreichen Türken einen »expansiven Übernahmewillen« am Werk sehen. Der Vorwurf, sie würden »alles von uns Deutschen übernehmen« wollen, richtet sich in Barren-Ost gegen türkische Ladeninhaber und Immobilienbesitzer, Sportvereine und Moscheegemeinden. Demnach macht die Ethnizität bei der Bewertung von ökonomischem Erfolg und sozialem Aufstieg für weite Teile der deutschen Bevölkerung einen Unterschied ums Ganze; nur nichtdeutsche, insbesondere türkischstämmige Aufsteiger werden Gegenstand schlechter Nachrede. Ihre deutschen Nachbarn beklagen eine feindliche Landnahme und unterstellen türkischen Stadtteilbewohnern, sich in strategisch geplanter Weise dessen bemächtigen zu wollen, was sie als ausschließlich ihnen zustehend betrachten. Auch darin lässt sich die Strukturlogik des ethnischen Verwandtschaftsmodells erkennen: Die deutschen Stadtteilbewohner wollen nicht hinnehmen, dass die eigene, als Verwandtschaftsverband definierte Hausmacht zugunsten von Fremden an Boden verliert. Die soeben skizzierten und die weiteren Klassifikationsmuster, mit denen in Barren-Ost jene türkischen Nachbarn abgewertet werden, die eine selbstbewusste Präsenz im Stadtteil zeigen, ökonomisch erfolgreich sind oder politischen Einfluss besitzen, tragen untrüglich Anzeichen des ethnischen Verwandtschaftsmodells. Es ist als verborgenes Axiom interethnischer Ungleichheitsrelationen dafür verantwortlich, dass die ethnische Zugehörigkeit in urbanen Nachbarschaften wie Barren-Ost und nicht etwa die Klassenzugehörigkeit oder bestimmte soziale Lagen der bevorzugte Ausgangspunkt negativer Klassifikationen sind. Dies ist in einer meritokratischen und dem Prinzip der Chancengleichheit verpflichteten Einwanderungsgesellschaft ein erstaunlicher Befund. Es ist hochgradig erklärungsbedürftig, weshalb gerade der Aufstieg von Türkischstämmigen für die Einheimischen ein so virulentes Problem darstellt und weshalb sich nicht etwa Geschäftsleute, gleich welcher Herkunft, gegen die Armen, Sozialhilfeempfänger und Arbeitslosen im Stadtteil verbünden – oder umgekehrt. Stattdessen beherrscht ein ethnisch erweiterter Nepotismus die Szenerie. Dies scheint die These zu bestätigen, dass moderne Gesellschaften, in denen traditionale und primordiale Identitäten verloren gehen, ein gegenläufiges Bedürfnis erzeugen, nämlich, wie Nathan Glazer (1983: 250) es formuliert, »the need in the individual for some kind of identity – smaller than the state, larger than the family, something akin to ›familistic allegiance.‹« Gleichwohl trifft Donald R. Horowitz’ (1985: 57) Diktum: »The language of ethnicity is the language of kinship« auf unsere Barrener Beobachtungen nicht zu; jedenfalls nicht in dem Sinne, dass die ethnischen Gruppen in ihrer Selbstverständigung eine Semantik der Verwandtschaft verwenden. Das verwandtschaftsbezogene Wahrnehmungsmuster ist gerade nicht mit einem spezifischen sprachlichen Code verbunden, wie Horowitz es bei afrikanischen und asiatischen Populationen feststellt. Die Oberflächenstruktur expliziter Klassifikationen gegen türkische Aufsteiger lässt keine verwandtschaftsbezogene Semantik erkennen. Die durchgreifende Wirkung der familialistischen Auffassung von Ethnizität verdankt sich gerade ihrer Unsichtbarkeit. Sie kehrt jedoch in der Struktur interethnischer Zuschreibungen wieder, ohne eine eigenständige Semantik der Klassifizierung zu konstituieren. Sie hinterlässt in der Anwendung expliziter Klassifikationsmuster, wie einzelne Beispiele gezeigt haben, zwar einschlägige semantische Spuren und verrät sich bisweilen durch einzelne Wendungen, die zum »Sprachspiel« (Wittgenstein 1984: 241 ff.) des Unterscheidens zwischen Verwandten und
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Nichtverwandten gehören. Jenseits aller sprachlichen Manifestationen aber befördert die verwandtschaftsbezogene Tiefenstruktur eine »subtile Distinktion« (Richter 1989), die ungleichheitsrelevante Zuschreibungen erst hervorbringt. Sie ist aufgrund ihrer Unkenntlichkeit der Kritik entzogen, während sich explizite Klassifikationen gegenüber den weithin geltenden Normen des Antirassismus, der Chancengleichheit und der meritokratischen Statuszuweisung bewähren müssen; sie unterliegen der folgenreichen Erwartung, sich nach Maßgabe dieser Normen als legitim und politisch korrekt ausweisen zu können. Daher ist es wenig verwunderlich, dass negative Zuschreibungen nicht in ihrer Eigenschaft als »Türken« an die entsprechenden Akteure adressiert werden. Vielmehr orientieren sich die klassifikatorischen Semantiken an prinzipiell beobachtbaren und angeblich beobachteten Verhaltensmerkmalen, die im Lichte verbreiteter Moralvorstellungen kritisiert werden können: Wer mag schon eine Gruppe stützen, die am liebsten gleich den ganzen Stadtteil einnehmen würde? Wer will sich kriminellen Geschäftemachern gegenüber loyal zeigen? Wer möchte schon mit Leuten zusammenarbeiten, die der Allgemeinheit gegenüber nur den eigenen Vorteil suchen? Diese pauschalierenden Klassifikationen, die nicht nur gegen avancierende Personen gerichtet sind, sondern im Modus pars pro toto das Bild der türkischen Bewohnerschaft von Barren-Ost prägen, lassen die familialistische Loyalität und Solidarität nur innerhalb der ethnischen Eigengruppe gelten – oder besser gesagt: die Geltung dieser Normen wird plötzlich und mitunter kontrafaktisch unterstellt, sobald andere sie beanspruchen. Die motivationalen Quellen für jene abwertenden Zuschreibungen entspringen dem verwandtschaftlichen Primordialismus. Das unausgesprochen wirksame Verwandtschaftsmodell der Ethnizität führt dazu, dass eine ethnisch neutrale Verteilung materieller Güter bekämpft wird. Erst muss die Solidarität, so die Logik dieses nepotistischen Modells, der eigenen, als Verwandtschaftsverband gedachten ethnischen Gruppe gelten. Die gleichwertige Teilhabe und Partizipation von Migranten passt nicht in dieses partikularistische Bild. Daher ruft der aufwärts mobile Teil der türkischstämmigen Bevölkerung ein spezifisches Handlungsproblem des interethnischen Austausches auf den Plan, das die Suche nach kritisierbaren Verhaltensmerkmalen anleitet. Es bringt die beschriebenen negativen Klassifikationen gegen türkische Aufsteiger hervor. Die Tiefenstruktur des ethnischen Verwandtschaftsmodells ist ihr wesentlichstes generatives Prinzip, das an der Oberfläche expliziter Klassifikationen kaum wiederzuerkennen ist. Bei den Barrener Blutspendeaktionen wird dem egalitären Austausch zwischen Deutschen und Türken ein Riegel vorgeschoben. Es kommt zu einer »sozialen Schließung« (Weber 1980: 201 ff.; Parkin 1983), zum Ausschluss einer ethnischen Gruppe von den Gratifikationen einer quasiverwandtschaftlichen Zugehörigkeit und den daraus resultierenden Solidaritätsverpflichtungen. Die Mitglieder der Islamischen Kulturgemeinschaft, die angetreten sind, ihre Blutspende als Unterpfand der gleichwertigen Zugehörigkeit zur lokalen Gesellschaft zu geben, werden hinter die Grenzen ihrer Ethnizität zurückgeworfen. Die abgewiesene Gabe bedeutet nicht nur eine massive Missachtung der Kulturgemeinschaft, sondern auch einen symbolischen und sozialen Ausschluss. Gerade weil die Initiatoren die Blutspendeaktionen als Integrationsstrategie verstehen, enden sie mit einem Affront. Der Umstand, dass sich negative Klassifikationen in Barren-Ost gerade gegen jene Türkischstämmigen richten, die bereits Integrationserfolge errungen haben, weist in die gleiche
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Richtung. Das Verwandtschaftsmodell der Ethnizität wirkt strukturbildend auf die symbolische Ordnung interethnischer Ungleichheiten und kann, wie die Barrener Blutspenden belegen, in eine Mikropolitik der sozialen Ausschließung münden. Gesellschaftlich institutionalisierte Normen – etwa die der ökonomischen Rationalität oder der Gleichwertigkeit aller Menschen – können dieser Dynamik bisweilen Einhalt gebieten. Oft jedoch werden die zivilen Regeln im sozialen Alltag von einem primordialen Verwandtschaftsglauben zu Fall gebracht.
B. Soziale Teilhabe in der Welt des Fußballsport
Integration und soziale Welten Hans-Georg Soeffner und Dariuš Zifonun
Eine Forschergruppe, die es sich zur Aufgabe macht, alltagsweltliche Interaktionsprozesse zu untersuchen, wird sich, ganz gleich, in welchem Milieu sie ihre Untersuchung lokalisiert, zu Beginn der empirischen Forschung sowohl ihres methodischen Instrumentariums als auch einiger (grundlagen-)theoretischer Annahmen versichern müssen. Tut sie dies nicht, läuft sie nicht nur Gefahr, soziologische Begriffe unterschiedlich zu verwenden und so im Forschungsprozess fortlaufend Missverständnisse zu produzieren. Vor allem werden die Forscher, oft ohne es zu bemerken, die ›Ethnotheorien‹ der von ihnen untersuchten Handelnden übernehmen und sie an die Stelle des fehlenden analytischen Begriffsinstrumentariums stellen. Diese Gefahr droht bei einer Untersuchung der Fußballwelt in verschärftem Maße. Wenn es um Fußball geht, reden (fast) alle mit, hält sich (fast) jeder für einen Experten, verstellen zu Klischees geronnene Alltagstheorien von der ›Natur der Sache‹, eine medial produzierte oder verstärkte Metaphorik, gesellschaftspolitische Funktionszuweisungen und in den allgemeinen Sprachschatz eingegangene Redewendungen und Spruchweisheiten den analytisch distanzierten Blick. Zugleich müssen die dringend notwendigen Vorannahmen hinreichend flexibel und offen formuliert werden, um im Forschungsprozess falsifiziert, revidiert und angepasst werden zu können. Schließlich stellt sich die Aufgabe, die empirisch gewonnenen Erkenntnisse über Interaktionsprozesse strukturtheoretisch zu verdichten und gesellschaftstheoretisch zu verallgemeinern. Welche gemeinsamen Strukturmuster die Interaktionen aufweisen, welche typischen Unterschiede vorliegen und welche gesellschaftlichen ›Rahmen‹ die Interaktionen formen und in ihnen geformt werden ist dabei genauso von Interesse wie die Frage, welche über den empirischen Untersuchungsraum hinausweisenden Hypothesen sich in zeitdiagnostischer Sicht formulieren lassen. In diesem Sinne werden wir im Folgenden mit Blick auf die Problematik gesellschaftlicher Integration einige grundlagen-, struktur- und gesellschaftstheoretische Implikationen unserer Forschungsarbeiten benennen, die in einer Soziologie sozialer Welten konvergieren. Wir abstrahieren dabei weitestgehend von den Spezifika der Fußballwelt, die in den anschließenden empirischen Fallanalysen umso deutlicher hervortreten sollen. In den gegenwärtigen Theoriedebatten innerhalb der Migrationsforschung (Hirschman/ Kasinitz/DeWind 1999; International Migration Review Special Issue, Jg. 38, H. 3, Herbst 2004), spielen interaktionistische Ansätze, also solche, die Beziehungen zwischen Menschen fokussieren, keine prominente Rolle. Auch wenn anerkannt wird, dass die Interaktionisten der Chicago School die ersten gewesen sind, die sich systematisch mit den Folgen von Migration im Einwanderungsland beschäftigten, erfährt deren analytische Perspektive heute kaum Aufmerksamkeit. Einer der Gründe für diese Nichtbeachtung dürfte in der hartnäckigen Persistenz des »mikrosoziologischen Missverständnisses« liegen, demzufolge die Analyse alltagsweltlicher Interaktions- und Kommunikationsprozesse, wie sie auch im Zentrum unseres wissenssoziologischen Interesses stehen, es nicht erlaubt, Rückschlüsse auf gesellschaftsstrukturelle Phänomene zu ziehen, weshalb diese Ansätze dem Bereich der
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›Mikrosoziologie‹ zuzurechnen seien. Die Selbstbeschränkung der Wissenssoziologie auf Fragen ›interkultureller Kommunikation‹ hat ihrerseits zur Aufrechterhaltung dieses falschen Bildes beigetragen. Wir werden hingegen argumentieren, dass ein wissenssoziologischer Zugang zur Migrationsforschung sich keineswegs auf ›Mikrostudien‹ beschränken muss, sondern im Gegenteil dazu geeignet ist, sozialstrukturelle Phänomene zu rekonstruieren, da mit ihm gesellschaftliche Institutionalisierungen aufgedeckt werden können. In der Tat halten wir die Unterscheidungen zwischen Mikro und Makro, Struktur und Interaktion, Kultur und Gesellschaft, die in zahllosen sozialwissenschaftlichen Diskussionen noch immer gebräuchlich sind, für wenig fruchtbar. Im Folgenden fragen wir aus der Perspektive der Wissenssoziologie nach einem Begriff gesellschaftlicher Integration, der den Bedingungen moderner pluraler Gesellschaften angemessen ist. Zu diesem Zweck ist es zunächst (1.) notwendig, einige der Ausgangsüberlegungen der Wissenssoziologie ins Gedächtnis zu rufen. Ausgehend von der Wissenssoziologie Peter L. Bergers und Thomas Luckmanns entwickeln wir ein differenziertes Verständnis von Integration als, erstens, fortlaufenden Prozess, der, zweitens, charakteristische Formen der Institutionalisierung erfährt. Zu diesen Institutionalisierungen rechnen wir die relativ stabilen Handlungsräume, die wir im Anschluss an Anselm Strauss als soziale Welten bezeichnen und die ihrerseits durch Prozesse der Legitimation, Segmentierung und Kreuzung immer wieder hergestellt und verändert werden (2.). Wir schlagen vor, fünf Idealtypen sozialer Welten zu unterscheiden, wie sie sich aus der Perspektive von Migranten darstellen (2.1). Des Weiteren (2.2) weisen wir auf die transnationale Reichweite sozialer Welten sowie auf personale Bewältigungsstrategien hin. Wir betonen die Bedeutung von Konflikten, wie sie sich in und zwischen sozialen Welten vollziehen (2.3) und beleuchten einige Strategien öffentlicher symbolischer Integration sowie die mit diesen Strategien zusammenhängenden Probleme (2.4). Wir benennen zentrale institutionalisierte kulturelle Formen und soziale Modi, die die lebensweltlichen Interaktionsprozesse zwischen Migranten und autochthoner Bevölkerung entscheidend prägen: Kategorisierung, Stereotypisierung, Stilisierung und Grenzziehung, Verhandeln, Konflikt und Dauerreflexion. Schließlich (3.) explizieren wir, worin wir den spezifischen Beitrag unseres Ansatzes zur aktuellen Theoriediskussion in der Migrationsforschung sehen und fassen unser Argument zusammen.
1. Wissen, Gesellschaft und Integration Berger und Luckmann haben sich in ihrer 1966 erstmals erschienenen »Theorie der Wissenssoziologie« die komplementären Perspektiven Max Webers und Emile Durkheims zu eigen gemacht: »Wie ist es möglich, daß subjektiv gemeinter Sinn zu objektiver Faktizität wird? Oder, in der Terminologie Webers und Durkheims: Wie ist es möglich, daß menschliches Handeln (Weber) eine Welt von Sachen hervorbringt?« (Berger/Luckmann 1980: 20; Herv. im Original). Die Antwort auf diese Frage liegt nach Berger und Luckmann in der ›gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit‹. Mittel wie Inhalt dieser Konstruktion ist Wissen: Als ›instinktreduziertes‹ Wesen ist der Mensch darauf angewiesen, sein Verhalten selbst zu steuern und Ordnung selbst herzustel-
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len. Er bedient sich dazu kollektiver Wissensbestände, die in Interaktionen hergestellt und reproduziert werden. Individuell eignet er sich Wissen – und damit Gesellschaft – im Sozialisationsprozess an, in dessen Verlauf sich auch die persönliche Identität jedes einzelnen Menschen ausbildet. Schon Alfred Schütz hat entsprechend unterschieden zwischen subjektivem und gesellschaftlichem Wissensvorrat (vgl. zum folgenden Schütz/Luckmann 2003). Der subjektive Wissensvorrat umfasst »Lösungen zu Problemen meiner vorangegangenen Erfahrungen und Handlungen« (ebd.: 37). Er ist insofern rückwärtsgewandt. Ich bediene mich seiner aber fortlaufend für die Bewältigung neuer Erfahrungen und ich mache das solange problemlos, wie sich diese im Rahmen meiner bisherigen Erfahrungen bewegen. Entscheidend für die Zukunftstauglichkeit des Wissens ist, dass es in Form von Typisierungen vorliegt, d. h. abgelöst ist von seinem ursprünglichen Entstehungs- und Verwendungszusammenhang. Ich eigne mir neues Wissen an, sobald ich feststelle, dass ich neue Situationen nicht mehr zu bewältigen in der Lage bin. Daraus folgt, dass ich mir Wissen nicht willkürlich aneigne, sondern in pragmatischer Weise, d. h. nur insofern, als es relevant ist, um sich in der Welt zu orientieren und in ihr zu handeln. Lebensweltliches Wissen ist nicht notwendigerweise optimal. Solange es von ausreichender Qualität für die Bewältigung meiner Probleme ist, werde ich mich damit begnügen. Vor allem ist lebensweltliches Wissen nicht widerspruchsfrei. Da das jeweils pragmatisch eingesetzte und erworbene Wissen unterschiedlichen Erfahrungsbereichen zugeordnet ist, kommt es nicht zur Kollision widersprüchlicher Wissenselemente. So sehr Wissen also einerseits mein eigenes, subjektives ist, so stark ist es andererseits geprägt vom Wissen anderer. Ich bediene mich zur Lösung meiner Probleme der bereits vorhandenen Handlungsmuster, die andere vor mir entwickelt haben und die sich im gesellschaftlichen Wissensvorrat vorgefertigt und abrufbereit vorfinden. Dieser gesellschaftliche Wissensvorrat gliedert sich in Allgemeinwissen, das für jeden relevant und frei verfügbar ist und in Sonderwissen, das nur für bestimmte ›soziale Typen‹ von Belang ist. Im Falle einer einfachen sozialen Verteilung des Wissens existieren keine institutionellen Schranken, die dem Einzelnen den Zugang zu den Sonderwissensbeständen verwehren würden. Zudem ist das Wissen über die existierenden Formen des Sonderwissens selbst Bestandteil des Allgemeinwissens. »Bei einfachen sozialen Verteilungen des Wissens bleibt daher die Wirklichkeit, vor allem aber die Sozialwelt, noch für ›jedermann‹ verhältnismäßig überschaubar« (ebd.: 419). Im Falle komplexer sozialer Verteilung des Wissens verändert sich jedoch die Situation: Zum einen wird es, aufgrund der weiteren Differenzierung und Spezialisierung des Sonderwissen, für den Einzelnen unmöglich, dieses in seiner Gesamtheit zu überblicken oder gar zu erwerben. »Die Tatsache, daß es verschiedene Bereiche des Sonderwissens gibt, gehört zwar zum Allgemeinwissen. Die faktische soziale Verteilung des Sonderwissens gehört jedoch nicht mehr zum Bestand des ›gleichmäßig‹ verteilten Allgemeinwissens. Außerdem wird im Allgemeinen die Kenntnis auch nur der Umrisse der Struktur des Sonderwissens und dessen Grundgehalts verschwommener« (ebd.: 419). Zum anderen differenziert sich auch das Allgemeinwissen in unterschiedliche ›Versionen‹ aus (ebd.: 427). Berger und Luckmann haben diese Unterscheidung von subjektivem und gesellschaftlichem Wissensvorrat in ihrer Handlungs- und Prozesstheorie aufgegriffen. Demzufolge
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entstehen aus subjektivem Handeln, im Prozess der Externalisierung von Sinn, sowohl Verfestigungen und Reproduktionen als auch Veränderungen des gesellschaftlichen Wissensvorrates. Von der Habitualisierung über die Institutionalisierung bis zur Legitimation von Handlungen entsteht so ein objektiviertes gesellschaftliches Wissen, das die Welt mit Sinn versieht und zur geteilten Wirklichkeit der Gesellschaftsmitglieder werden lässt. Hinsichtlich der sozialen Wirklichkeit bedeutet dies, dass auch die Ausprägung und Wahrnehmung der Sozialstruktur als objektiviertes Wissen zu verstehen ist. Die Konstruktion von Gruppen, Schichten, Positionen und personalen Handlungstypen (Rollen) basiert ebenfalls auf vorgegebenem Wissen. Zugleich werden die Konstruktionen ihrerseits zu elementaren Bestandteilen des Wissens der Gesellschaft über sich selbst. Umgekehrt verfügen die jeweiligen Gesellschaftssegmente über typisches, eigenes Wissen. Im Prozess der (primären und sekundären) Sozialisation werden diese kollektiven Wissensbestände schließlich von den Individuen internalisiert, d. h. zur Bewältigung individueller Erfahrungen dem subjektiven Wissensvorrat eingegliedert. Da also die Konstruktion und Reproduktion der Wirklichkeit ausgeht von den individuellen Konstruktionsleistungen aller Beteiligten und da letztere ihre situativen Interessen und Bedürfnisse in den Konstruktionsprozess einbringen, ist dieser Prozess auch als Auseinandersetzung um die Durchsetzung von Wirklichkeitsdeutungen zu verstehen. Mit anderen Worten: durch die Institutionalisierung von Wissen werden auch Machtverhältnisse institutionalisiert, die, sobald sie sich Geltung verschafft haben, im Prozess der Legitimation an nachfolgende Generationen weitervererbt werden. Integration, zunächst ganz allgemein verstanden als Teilhabe an ›der Gesellschaft‹ und Einfügung in gesellschaftliche Ordnungen, ist dem Menschen gattungsmäßig auferlegt. Mit Berger und Luckmann muss Integration dementsprechend als umfassendes soziales Phänomen verstanden werden. Sie stellt sich keineswegs als passive Aufnahme vorgegebener Strukturen (Normen, Werte etc.) dar, sondern wird im doppelten Prozess der Externalisierung und Internalisierung von Wissen epi-prozessual mit der Konstruktion von Wirklichkeit vollzogen. Unser Integrationsbegriff stellt damit eine Reformulierung des Begriffs der Vergesellschaftung bei Georg Simmel (1992a: 18 f.) dar. Gesellschaftliche Teilhabe ist nicht Resultat eines Prozesses, sondern selbst ein Prozess. Mit Berger und Luckmann kann zwischen zwei Ebenen der Integration unterschieden werden. Integration in die und innerhalb der Welt des Alltags vollziehe ich fortlaufend im Handeln: (1) Personal integriere ich mich in die Gesellschaft, indem ich dem gesellschaftlichen Wissensvorrat Lösungen für meine Probleme entnehme und mein Wissen dem gesellschaftlichen Wissensvorrat einfüge. (2) Positional integriere ich mich, indem ich soziale Rollen einnehme, die die Gesellschaft zur Verfügung stellt. (3) Sozial integriere ich mich, indem ich mein Handeln mit dem anderer – durch die Anwendung geteilten Wissens – abstimme. Symbolische Integration dagegen entzieht sich zu gutem Teil meinem persönlichen Tun. Symbolisches Wissen dient der Erklärung und Rechtfertigung der institutionellen gesellschaftlichen Ordnung und liegt in verschiedenen Graden der Abstraktion und Reichweite vor. Auf niedriger Stufe finden sich »theoretische Postulate in rudimentärer Form«, etwa in Form von »Lebensweisheiten, Legenden und Volksmärchen« (Berger/Luckmann 1980: 101). Darüber sind explizite Legitimationstheorien angeordnet, die einen größeren Ausschnitt der institutionellen Ordnung umfassen. Zu ihrer Formulierung etablieren sich nun
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eigene Expertenkreise und es entstehen eigenständige Institutionen, die dieses Wissen tradieren und verwalten. Von den vorausgegangenen Stufen lässt sich die Ebene symbolischer Sinnwelten unterscheiden. Auf ihr vollzieht sich die Integration der verschiedenen Sinnprovinzen und die Überhöhung der institutionellen Ordnung als »symbolische Totalität« (ebd.: 102). Symbolische Integration stellt die Ereignisse im Leben des Einzelnen ebenso wie gesellschaftliche Tatsachen in den Zusammenhang einer umfassenden Ordnung: (1) Die Integration meiner Biographie, meine symbolische Sinnwelt, lässt mein Leben insgesamt sinnvoll erscheinen, meine Teilhabe an unterschiedlichen, nicht zusammengehörenden Tätigkeiten genauso wie die Brüche in meinem Lebenslauf. (2) Die Integration der Gesellschaft als ganzer in ein umgreifendes Sinnsystem legitimiert soziale Unterschiede und Ungleichheiten zwischen verschiedenen Gruppen einer Gesellschaft sowie die Existenz von Sonderwissensbeständen und institutionellen Zugangsbeschränkungen zu diesen.1 Zentrale Institutionen symbolischer Integration mit ihren je eigenen Modi der Integration sind neben Politik (vgl. Zifonun 2004b) und Religion die (Massen-) Medien. Gemeinsam ist ihnen ein integrativer ›Überschuss‹ gegenüber der Ebene der Alltagsintegration: Neben ihrer Fähigkeit, alltagsweltliche Probleme auf ›höherer‹ Ebene zu lösen, konstruieren bzw. perpetuieren sie Probleme, die es im Alltag gar nicht (so) gibt und liefern Wirklichkeitsdefinitionen, die im Alltag (so) nicht gebraucht werden, aber dennoch auf ihn zurückwirken. Dabei gilt generell: Je weiter sich diese Konstruktionen von der Alltagswelt entfernen, d. h. je geringer die Interaktionsdichte ist, desto mehr verabsolutieren sich die mit ihnen verbundenen Vorstellungen.2 An der institutionellen Ordnung der Gesellschaft teilzuhaben bedeutet für die Individuen nicht allein, Handlungs- und Deutungsmuster zu übernehmen und im Rollenspiel der Institutionen mitzuwirken, sondern auch am affektiven Haushalt der Gesellschaft zu partizipieren. Die Integrationsbemühungen kommen dabei nie zum Abschluss. Denn zum einen geht der Einzelne nie auf in der Gesellschaft: Alltagsweltlich bleibt eine Differenz zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen subjektivem und gesellschaftlichem Wissensvorrat immer erhalten (vgl. Berger/Luckmann 1980: 144). Zum anderen bilden symbolische Sinnwelten immer widersprüchliche Einheiten: In ihnen werden strukturelle Widersprüche symbolisch harmonisiert, aber nicht ›aufgehoben‹ (vgl. Soeffner 2000: 180 ff.). Entsprechend ist die Spannung zwischen Integration und Desintegration kennzeichnend für menschliches Zusammenleben. Von einer ›integrierten Gesellschaft‹ zu sprechen ist letztlich eine unzulässige Verdinglichung von prinzipiell dynamischen Zuordnungsprozessen, mit der dieser Zusammenhang unsichtbar gemacht wird.
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Die Unterscheidung zwischen Alltagsintegration und symbolischer Integration ist eine handlungstheoretische Reformulierung der funktionalistischen Unterscheidung zwischen sozialer Integration und Systemintegration. Zur wissenssoziologischen Kritik am Funktionalismus vgl. Berger/Luckmann 1980: 67 ff. Für eine Analyse der politisch-symbolischen ›Integrationsideologien‹ der Sportverbände vgl. Kapitel B.VI in diesem Band, dem medial erzeugten Bild des Hooligans widmet sich der Kapitel B.IV.
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2. Soziale Welten und Integrationsprozesse Die Trennung von Alltag und symbolischen Sinnwelten ist, dies muss betont werden, eine analytische. Tatsächlich erfährt der Mensch Wirklichkeit in der ›Lebenswelt‹, verstanden als »das Insgesamt von Sinnwelten« (Honer 1999: 64). Die Lebenswelt wird vom Einzelnen nie in ihrer Totalität erfasst. Er lebt vielmehr in unterschiedlichen ›sozialen Welten‹ (Anselm Strauss) oder ›kleinen sozialen Lebens-Welten‹ (›Small Life-Worlds‹, Benita Luckmann), in Figurationen aus Alltagswelt und symbolischen Sinnwelten. Das Ensemble dieser Figurationen wird von ihm als Wirklichkeit erfahren. Bei sozialen Welten (Strauss 1978b; Strauss 1993: 215 ff.) handelt es sich um »relativ dauerhafte, durch relativ stabile Routinen ›arbeitsteilig‹ abgesicherte, d. h.: ›institutionalisierte‹ Wahrnehmungs- und Handlungsräume« (Soeffner 1991: 6), die sich als verhältnismäßig eigenständige Sonderwissensbereiche darstellen. Soziale Welten sind keineswegs notwendigerweise territorial organisiert, sondern können ein hohes Maß an ›geographischer Streuung‹ aufweisen. Entscheidend für ihre Konstitution ist die Teilhabe ihrer Mitglieder an einem gemeinsamen Interaktionszusammenhang, nicht die Festsetzung territorialer Grenzen. Der Strauss’sche Begriff sozialer Welten überschneidet sich mit dem Milieu-Begriff, wie er in der Phänomenologie Anwendung findet (vgl. Gurwitsch 1977; Grathoff 1989).3 Was aus phänomenologischer Sicht ein soziales Milieu ausmacht bzw. erhält, ist im Wesentlichen ein gemeinsamer Fundus an geteilten Wissensbeständen, Routinen und Interaktionsmustern oder mit anderen Worten ein Einverständnis darüber, was als ›normal‹ gilt. Eine wechselseitige Normalitätsunterstellung der sozialen Akteure liegt dem Handeln ›im Milieu‹ zugrunde. Dass diese Unterstellung funktioniert, verdankt sich der Verfestigung milieutypischer Handlungsmuster durch reziproke Verhaltenserwartungen, welche das Handeln sowohl von ego als auch von alter leiten. Die Integration in ein Milieu, d. h. die Herstellung einer gemeinsam verbindlichen Regel- und Weltdeutung, ist eine Aufgabe, die sich den Angehörigen des Gesamtmilieus praktisch fortlaufend stellt. Die Grenzen des Milieus sind entsprechend dort zu suchen, wo eine Unterstellung gemeinsamer Deutungsund Handlungsrepertoires nicht mehr erreicht wird, wo typisierte Verhaltenserwartungen nicht wechselseitig erfüllt werden. Am Umschlag von Fremdheit und Vertrautheit lassen sich dementsprechend Milieugrenzen empirisch lokalisieren.4 Die Mitglieder – idealtypisch gefasster – weithin vergangener ›einfacher‹ Gesellschaften bewohnten eine einzige solche ›soziale Welt‹, mit einem gemeinsamen Relevanzsystem und geteiltem Wissen. Moderne Gesellschaften dagegen gliedern sich in eine Vielzahl von verselbständigten sozialen Welten5, in deren Zentrum zumeist eine Tätigkeit oder soziale Rolle steht. »Instead of being a full-time member of one ›total and whole‹ society, modern man is a part-time citizen in a variety of part-time societies. Instead of living within one meaningful world system to which he owes complete loyalty he now lives in many differently structured ›worlds‹ to each of which he owes only partly allegiance« (Luckmann 3 4 5
Die Begriff ›soziale Welt‹ und ›Milieu‹ werden von uns synonym verwendet, wobei wir ›soziale Welt‹ bevorzugen und die konzeptionellen Differenzierungen (›Submilieu‹, ›Arena‹ etc.) von Strauss übernehmen. Zum anders gelagerten Milieu-Verständnis in der Sozialstrukturanalyse vgl. etwa Hradil 1992; Matthiesen 1998. Bei Schütz ist noch die Rede von ›der Sozialwelt‹ bzw. ›der sozialen Welt‹ im Singular (vgl. Schütz 1972b: 86; Schütz/Luckmann 2003: 419).
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1978: 282). Meist wählen Menschen eine soziale Welt aus als »nucleus around which his other life-worlds can be arranged« (ebd.: 285). Integration findet also zunächst allein in eine soziale Welt statt, so etwa in die Welt des Sports. Integration z. B. durch Sport, d. h. Integration in die Gesamtgesellschaft durch die Teilhabe am Sportmilieu, ist dagegen äußerst voraussetzungsreich. Sie ist nur solange möglich, wie die Welt des Sports selbst in die Gesamtgesellschaft integriert ist und hängt ab von der Stellung des Sports im Gesamtgefüge der Gesellschaft. In hochdifferenzierten Gesellschaften mit verselbständigten Subsinnwelten, die über ihre je eigene Logik verfügen, ist Integration durch Sport nur schwer denkbar. Alfred Schütz ging davon aus, dass im menschlichen Leben vier Grundannahmen in aller Regel Gültigkeit besitzen: dass alles bleibt, wie es ist; dass wir uns auf das überlieferte Wissen verlassen können; dass Wissen über den allgemeinen Typus von Ereignissen ausreichend ist; schließlich, dass ein von allen geteiltes Allgemeinwissen existiert, das die zuvor genannten Grundannahmen einschließt (vgl. Schütz 1972a: 58 f.). Schütz sah die Lage des Fremden dadurch definiert, dass diese vier Grundannahmen für diesen als ›Außenseiter‹ keine Gültigkeit besitzen. Moderne ›interkulturelle‹ Gesellschaften scheinen nun aber das Schützsche Konzept zu sprengen und geradezu durch eine »Generalisierung der Fremdheit« (Hahn 1994: 162) gekennzeichnet zu sein: der Bestand an gemeinsamem Wissen, mit dessen Hilfe Interaktion routinemäßig bewältigt werden könnte, wird für alle Gesellschaftsmitglieder zunehmend prekär; es treten vermehrt ›Wissensasymmetrien‹ auf, deren Überwindung sich zusehends schwierig gestaltet (vgl. Günthner/Luckmann 2002); es kommt zu einer Ausdehnung der Zonen, über die ich nichts weiß, bei gleichzeitig gegebenen (oder zumindest potentiellen), vielfältigen Abhängigkeiten und Verflechtungen; ich suche immer öfter vergebens im gesellschaftlichen Wissensvorrat nach Lösungen für meine Probleme und finde dabei widersprüchliche Lösungen. Oder anders gesagt: Mir wird zunehmend unklar, was ›meine Gesellschaft‹ eigentlich ist, das ›Normale‹ erweist sich zusehends als krisenhaft. Die Segmentierung der sozialen Welt in gesellschaftliche Teilwelten und die Entwicklung vielfältiger alltagsweltlicher und symbolischer Ordnungsmuster und personaler Bewältigungsstrategien innerhalb und an den Rändern sozialer Welten kann geradezu als Reaktion auf die durch den Modernisierungsprozess ausgelösten Desintegrationserfahrungen verstanden werden. Die sozialen Welten moderner Gesellschaften lösen – in unterschiedlichen Graden der Öffnung und Schließung – das Problem der Integration auf je eigene Weise. Im Folgenden schlagen wir vor, die bisher gemachten Annahmen für die Analyse von Migrationsprozessen zu nutzen, indem wir fünf Idealtypen sozialer Welten unterscheiden, wie sie sich aus der Perspektive von Migranten darstellen. Wir interpretieren diese sozialen Welten als typische Institutionalisierungen des Integrationsprozesses, d. h. als gesellschaftliche ›Lösungen‹ des modernen Integrationsproblems von Migranten.
2.1 Typen migrantischer sozialer Welten Die Bildung von Idealtypen ist eine methodologische Vorbedingung der empirischen Rekonstruktion sozialweltlicher Prozesse, zu denen Strauss (1993: 215 ff.) vor allem die Seg-
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mentierung (in Teilwelten), die Kreuzung (unterschiedlicher sozialer Welten) und die Legitimierung (sozialer Welten gegenüber ihren Angehörigen und ihrer Umwelt) zählt. Vorliegende Typologien, beispielsweise von Castles (2000: 134 ff.), Esser (2004: 1128) oder Portes/Rumbaut (2001: 52) sind insofern problematisch, als sie statische Realtypen oder Modelle darstellen und nicht Idealtypen. Bei letzteren handelt es sich lediglich um analytische Konstruktionen, die dazu dienen, durch den Abstand, den sie zur empirischen Wirklichkeit aufweisen, diese klarer hervortreten zu lassen.6 Fallstudien stellen eine ideale Möglichkeit für die Rekonstruktion alltagsweltlicher Konstruktionen (Schütz 1971) dar, da sie bei den von den Alltagshandelnden selbst vorgenommenen Unterscheidungen sozialer Welten ansetzen, um die je verschiedenen Formen alltagsweltlicher (personaler, positionaler, sozialer) und symbolischer Teilhabe in ihrer lebensweltlich wahrgenommenen Einheit erkennbar zu machen. Einzelfälle dienen daher im Rahmen unserer Methodologie nicht lediglich der Illustration deduktiv gewonnener analytischer Unterscheidungen, sie sind zentrales Erkenntnismedium. (1.) Migrantenmilieu7 Wenn Einwanderung nicht individuell, sondern in Form von Masseneinwanderung aus derselben Herkunftsregion erfolgt, erwerben Migrantenmilieus nicht selten die Funktion einer Kernwelt (vgl. Heckmann 1992: 96 ff.). Sie dienen ihren Bewohnern als Mittel zur Bewältigung der Migrationssituation und ihrer Folgen. Damit unterscheiden sich Migrantenmilieus strukturell sowohl von der Herkunftsgesellschaft als auch von den restlichen sie umgebenden sozialen Welten. In solchen nur relativ geschlossenen Milieus werden überkommene Kulturmuster transformiert und angepasst, genauso wie neu erworbenes Wissen umgeformt und eingepasst wird. In Migrantenmilieus schaffen sich Einwanderer neue Institutionen, es entstehen eigene Muster ökonomischer und sozialer Reproduktion sowie interne soziale Differenzierungen mit eigenen Status- und Rangordnungen, die zu einer Stabilisierung dieser sozialen Welt führen. Andererseits stellt sich für Nachfolgegenerationen die Frage, inwieweit diese Transformationsmilieus noch ihren, gegenüber der ersten Migrantengeneration veränderten Problemlagen angemessen sind.8 Migrantenmilieus weisen, wie alle soziale Welten, über sich hinaus (vgl. Soeffner 1991: 6 ff.). Ihre Angehörigen sind zugleich Mitglieder anderer sozialer Welten, denen sie ebenfalls Loyalität schulden und zu deren Gunsten sie ihr milieuspezifisches Engagement ruhen lassen oder gar beenden können. Durch solche Austauschprozesse werden die Migrantenmilieus ständig mit neuem Wissen versorgt. Soziale Welten können so die in den Mehrfachmitgliedschaften ihrer Mitglieder angelegte Dynamik aufgreifen und den Wandel vollziehen (sich also letztlich selbst überwinden) oder sie können auf diese zentrifugalen Kräfte mit Schließung reagieren.
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Vgl. zur soziologischen Typenlehre Weber 1988a. Vgl. die Fallstudie in Kapitel B.V dieses Bandes. Insbesondere die Teilhabe an anderen sozialen Welten innerhalb der Aufnahmegesellschaft (Schule, Arbeit etc.) führt zu solchen Verschiebungen.
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(2.) Segregationsmilieu Wo Beziehungen und wechselseitige Abhängigkeiten zwischen den Angehörigen unterschiedlicher Gruppen bestehen, gibt es auch ein Minimum an Wissen, mit dem diese Beziehungen koordiniert werden. Migranten sind insofern, wie der Fremde bei Georg Simmel, »ein Element der Gruppe selbst« (Simmel 1992c: 765), also nicht lediglich eine abstrakte Größe. Autochtone Bevölkerung und Einwanderer werden sich allerdings dann wechselseitig zu Unbekannten, wenn sie füreinander irrelevant werden, d. h. wenn die sozialstrukturelle Differenzierung so weit geht, dass keinerlei Beziehungen zwischen beiden Seiten hergestellt werden. Bezogen auf Migrantengruppen vollziehen sich solche Abgrenzungsprozesse tendenziell dann, wenn entschiedene ethnische Selbstorganisation zur Schließung der Gruppe führt. Eine solche ethnische Schließung wird besonders wahrscheinlich, wenn ›Ethnie‹ und Schichtzugehörigkeit deckungsgleich sind und die Gruppe zugleich ethnisch und sozialstrukturell in Differenz zur sie umgebenden Gesellschaft steht.9 Der Versuch der Verortung in einer sich derart abschließenden sozialen Welt kann dann in die Suche nach einer totalen Sinnwelt umschlagen: die Entstehung sogenannter ›ethnischer Minderheiten‹ (Castles/Miller 2003: 32 f.) oder ›Parallelgesellschaften‹ ist eine mögliche Folge. (3.) Assimilationsmilieu In diesen Milieus vollzieht sich Assimilation im Sinne einer Übernahme des vorhandenen Wissensvorrates der Mehrheitsgesellschaft durch die Migranten bei gleichzeitigem Ausbleiben eines Eindringens von Wissen aus dem Wissensvorrat der Einwanderer in die Aufnahmegesellschaft. Voraussetzung für die Etablierung solcher Assimilationsmilieus ist, dass nur einer verhältnismäßig geringen Zahl von Migranten Zugang gewährt wird und dass wirksame Abwehr- und Kontrollmechanismen eingerichtet werden, die das Eindringen ›fremden Wissens‹ verhindern. Selbst in diesem Fall verändert sich jedoch der Wissensvorrat, da ihm zumindest Wissen darüber zugeführt wird, welche Formen fremden Wissens existieren und welche Migrantentypen assimilierbar sind (also: ›das ist ein Fundamentalist‹ etc.). Voraussetzung für die Teilhabe von Migranten an einem solchen Assimilationsmilieu ist die Aufgabe ethnisch-kulturell kodierten Alltagspraktiken bei gleichzeitiger Bereitschaft zur Teilhabe an den Kulturstereotypen der gesellschaftlichen Mehrheit. (4.) Marginalisierungsmilieu Das Marginalisierungsmilieu kontrastiert nicht nur mit dem Migrantenmilieu, sondern auch mit dem Assimilationsmilieu. Das Marginalisierungsmilieu ist, hierin dem Segregationsmilieu ähnlich, sozial dezidiert partikularistisch. In diesem Fall gehen die Segregationsbestrebungen allerdings von der Mehrheitsgesellschaft aus. Das Milieu ist auf eine Weise geformt, die es der autochthonen Bevölkerung erlaubt, die Ethnizität der Migranten als unhinterfragbaren abweichenden ›master status‹ (Hughes 1971; Becker 1966: 32 f.) zu institutionalisieren. Dies hat zur Folge, dass Migranten selbst im Falle ihrer kulturellen Assimilation von zentralen Stellen des Positionensystems ausgeschlossen bleiben. Assimi-
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Hartmut Esser hat wiederholt darauf hingewiesen, dass dauerhafte ethnische Differenzierung – empirisch nachweisbar – regelmäßig mit ethnischer Schichtung einhergeht, die allein durch ›strukturelle Assimilation‹ vermieden werden kann (vgl. Esser 2000: 292-306).
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lation zieht also nicht Integration nach sich. Im Gegensatz dazu eröffnet sich im Fall des Assimilationsmilieus durch die kulturelle Anpassung der Migranten an die Kultur der Mehrheitsgesellschaft auch die Möglichkeit der strukturellen Assimilation, d. h. die Übernahme von gehobenen Positionen und Funktionen in der sozialen Hierarchie. Während Migranten- und Segregationsmilieus auf die Bewältigung von Migration zielen und Assimilationsmilieus die Irrelevanz kultureller Differenz zumindest anstreben, sind Marginalisierungsmilieus dezidiert auf den Erhalt von Kulturmustern ausgerichtet, die als der ›Mehrheitsgesellschaft‹ zugehörig kodiert sind. Sie sind daher Migranten gegenüber kaum aufgeschlossen. (5.) Interkulturelles Milieu Eine andere Möglichkeit ist die Entstehung einer Interkultur im engeren Sinne. Wir sprechen von einer Interkultur, wenn als Resultat eines Kultursynkretismus, soziale Praktiken und kulturelle Bedeutungen unter den Mitgliedern des Milieus gleichmäßig verteilt sind. Des Weiteren existieren keine stabilen, langfristigen Zuschreibungen ethnischer Differenz unter den Mitgliedern des Milieus und auch keine soziale Ungleichheiten entlang ethnischer Kategorien. Mit anderen Worten: Ethnizität ist im Milieu irrelevant. Ein solcher Kultursynkretismus ist allerdings nicht allein eine Folge von Migration, sondern eine Konsequenz des globalen Kulturkontaktes insgesamt. Die lokale Aneignung global verfügbarer Stile und Waren spielt dabei eine herausragende Rolle. Inwieweit sich im bundesdeutschen Fall die Folgen der Arbeitsmigration der vergangenen 50 Jahre in der institutionellen ›Tiefenstruktur‹ des gesellschaftlichen Wissensvorrats niederschlagen werden,10 wird man allerdings frühestens in weiteren 50 Jahren beurteilen können.
2.2 Transnationale und individuelle Reaktionen Soziale Welten sind nicht notwendigerweise Teil einer umfassenden Gesamtgesellschaft (eines Staates oder einer Nation). Transnationale soziale Welten partizipieren vielmehr an unterschiedlichen Gesellschaften und überschreiten damit die territorialen Grenzen nationaler Gesellschaften.11 Dabei spielt neben den regelmäßigen Reisebewegungen der Angehörigen solcher sozialer Welten zwischen den involvierten Regionen der Einsatz von interaktiven Medien und Massenmedien eine wesentliche Rolle (vgl. Appadurai 1996; Portes et al. 1999: 229). Waren bei der Herausbildung des nationalen Bewusstseins neben nationalsprachlichen Medien, allen voran Zeitung und bürgerlicher Roman (vgl. Anderson 1983), Institutionen wie Schule und Armee von zentraler Bedeutung, hat sich im Fall des transnationalen Bewusstseins das Gewicht deutlich in Richtung anonymer bzw. mittelbarer Kommunikation verschoben. Auf der Ebene personaler Bewältigungsmuster der globalisierten Integrationsproblematik findet kulturelle ›Hybridisierung‹ ihre Entsprechung in Form von individualistischen 10 11
Davon könnte dann die Rede sein, wenn etwa sprachliche Hybridbildungen Eingang in den Alltagswortschatz und in den offiziellen Sprachgebrauch finden. Für eine Diskussion der verwandten Konzepte transnationaler sozialer Räume und transnationaler sozialer Felder vgl. Roudometof 2005: 119 f.
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Mischidentitäten. Bei ihnen handelt es sich weniger um spezifische Formen einer neuen »Bastelexistenz« (Hitzler/Honer 1994), in denen versucht wird, die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen sozialen Welten biographisch zu integrieren (vgl. Luckmann 1978: 285), als vielmehr um jenes Phänomen, das Georg Simmel schon früh als Kennzeichen moderner, plural organisierter Gesellschaften gesehen hatte: um die Überschneidung verschiedener ›sozialer Kreise‹, an denen ein Individuum teilhat, in eben diesem Individuum (vgl. Simmel 1992b). Es ist gerade diese Vervielfältigung internalisierter sozialer Welten, die – auf scheinbar paradoxe Weise – die Einheit persönlicher Identität in Frage stellt und als Reaktion auf diese ›Krise‹ Individualisierungsprozesse auslöst (vgl. Luckmann 1979). Anders als es das Klischee will, sind Kinder von Migranten nicht verloren zwischen zwei Kulturen, sondern pflegen oftmals (und unabhängig von ihrer sozialen Statuszugehörigkeit) einen ›ethnisierten Individualismus‹: Die Erfahrung, in keiner (National-) Kultur aufzugehen, nährt ein distanziertes Verhältnis zu kollektiven Zugehörigkeiten und kann Prozesse der Selbstcharismatisierung in Gang setzen, in denen die subjektive Wahrnehmung und Betonung außergewöhnlicher personaler Qualitäten und Leistungen eine zentrale Rolle spielt (vgl. die Beispiele in Kapitel B.II und B.V).
2.3 Konflikt und Arenen Die vorgestellte Typologie (2.1) könnte den Eindruck erwecken, als produzieren soziale Welten relativ reibungslos operierende Antworten auf die kulturelle Dynamik einer sich globalisierenden Welt. Tatsächlich ist es jedoch so, dass soziale Prozesse in und zwischen sozialen Welten hochgradig konflikthaft sein können: »Während die für die traditionelle Moderne typischen direkten Verteilungskämpfe an Bedeutung verlieren […], werden allenthalben mannigfaltige indirektere, unreguliertere Verteilungskämpfe aller Art um materielle Güter, um Weltdeutungen, um Kollektiv-Identitäten, um Lebensgewohnheiten und -qualitäten, um soziale Räume, Zeiten und Ressourcen, um Gestaltungschancen, um Grundsatz- und Detailfragen ausgetragen […]. D. h. die gesellschaftliche Normalität besteht […] aus einer Vielzahl kleiner, im alltäglichen Umgang aber sozusagen permanenter Querelen, Schikanen und Kompromisse, die sich zwangsläufig im Aufeinandertreffen und Aneinanderreiben kulturell vielfältiger Orientierungsmöglichkeiten und individueller Relevanzsysteme ergeben« (Hitzler 1999: 479 f.). Was – oberflächlich gesehen – als Tendenz zur Anomie, als scheinbar unumkehrbarer Verlust gesellschaftlicher Ordnung erscheint, erweist sich – bei genauerer Beobachtung – allerdings als Beginn der Ausprägung neuer Ordnungen, selbst auf der Ebene der Entstehung und Austragung von Konflikten. Diese entstehen nicht zufällig und wahllos, sondern in Zonen spezifischer Interessenkollisionen, für die nach einer Lösung gesucht wird. Wenn an den Schnittstellen sozialer (Teil-)Welten Handlungs- und Deutungsprobleme auftreten, entstehen was Anselm Strauss Arenen genannt hat (Strauss 1993: 225 ff.), in denen Konfliktbearbeitung möglich ist (vgl. Kapitel B.V). Derartige Konflikte entzünden sich oftmals in klassischen sozialen Welten wie Schule, Arbeit oder Wohnquartier. Sie werden zu jenen Kontaktzonen, in denen soziale Welten aufeinander stoßen und Grenzziehungskämpfe ausgefochten werden. In solchen Kämpfen müssen die Fragen: »Wer bin
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ich?« und »Wer sind wir?« beständig neu beantwortet werden. Zugleich sind Konflikte Anzeichen für Formen neuer Integrationsprozesse. In ihnen drückt sich die wechselseitige Relevanz der Akteure füreinander aus. Mehr noch: Norbert Elias hat darauf hingewiesen, dass es die Veränderung des Machtgefälles zwischen Gruppen – zugunsten der Außenseiter – ist, die zu ständigen Konflikten, aber auch neuen Ordnungsmustern führt (vgl. Elias/Scotson 1990: 27 f.). Kennzeichnend für diese Situation ist u. a., dass die herkömmliche Form ethnischer Stereotypisierung (vgl. Allport 1979; Luckmann/Luckmann 1983; Nazarkiewicz 1997) Stereotypen der Interkulturalität Platz macht (vgl. Kapitel B.III): Im Gegensatz zu herkömmlichen Etablierte-Außenseiter-Konstellationen, in denen erstere ihre negativen Stereotype weitgehend ungehindert setzen können und letztere (zumindest öffentlich) relativ sprachlos bleiben, werden in der geschilderten Konstellation wechselseitige Stereotypisierungen vorgenommen. Die verwendeten Stereotype konstituieren überdies zwar eine Ungleichheit der Interaktionspartner, jedoch keine Ungleichwertigkeit. Sie zielen nicht auf ›kategorialen Ausschluss‹ (vgl. Kapitel A.I, Abschnitt 2, in diesem Band) der jeweils anderen Gruppe. Für ein weiteres Abschleifen von Stereotypen müssen jedoch zusätzliche Voraussetzungen vorliegen: »Nur wenn es Kontakte von Personen mit gleichem Status in für beide Seiten problematischen Situationen gibt und wenn diese das nachhaltige Erlebnis einer gemeinsamen Problemlösung sind, ändern sich die (negativen) Stereotype und machen sympathischen Gefühlen Platz« (Esser 2000: 298 f.). Ein weiterer Modus der Ordnungskonstruktion, der genannt werden muss, ist die Stilisierung (vgl. Kapitel B.V in diesem Band). Moderne Lebensstile sind expressive Darstellungsformen mittels derer Individuen ihre Lebenshaltung und ihre soziale Position zum Ausdruck bringen. In ihnen wird gerade nicht primär Mitgliedschaft in einer ›Gemeinschaft‹ angezeigt. Vielmehr sind sie individuelle Zuordnungs- und Abgrenzungsformen, mittels derer Individuen eine gewisse soziale Zugehörigkeit zu bzw. Abgrenzung von anderen Stilen erkennbar machen und zugleich ihre individuelle Stellung innerhalb bzw. ihre individuelle Haltung gegenüber ihrer eigenen ›Gruppe‹ anzeigen (Soeffner 2005: 20). So sind auch ethnische Lebensstile Mechanismen der individuellen Zuordnung und Abgrenzung, die angenommen, abgelegt und ausgetauscht werden und nicht Ausdruck von Kollektivität und ›primordialer‹ Ethnizität.
2.4 Symbolische Integration in der öffentlichen Sphäre In der Öffentlichkeit, in den einzelne soziale Welten übergreifenden ›Arenen‹ (Anselm Strauss; vgl. Soeffner 1991: 8 ff.) der Auseinandersetzung um die Gültigkeit konkurrierender Problemdefinitionen und Gestaltungsoptionen für die Bearbeitung geteilter Problemlagen, treten die charakteristischen Züge moderner Einwanderungsgesellschaften besonders deutlich zu Tage. (Mediale) Auseinandersetzungen um die Verteilung knapper Ressourcen, um den Zugang zu Positionen im öffentlichen Raum, um Teilhaberechte und -chancen gleichen selten dem Ideal vernunftorientierter Konsensfindung. Sie nehmen vielmehr die Form von (unlösbaren) Konflikten um Symbole (›Kopftuchstreit‹), emotionalisierten ›Ausländerdebatten‹ (›Mehmet‹) oder (akademischen) ›Identitätsdiskursen‹ (einschließlich des unvermeidlichen Rassismusvorwurfes) an, die sie als Bestandteil einer Inszenierungs- und
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Geschwätzigkeitskultur ausweisen, mittels derer moderne Gesellschaften die Fragwürdigkeit, Offenheit und offen gelegte Ambivalenz ihrer Ordnungsmuster und Vergesellschaftungsformen bewältigen. Es sind Konflikte, die bisweilen – in den cultural studies zu Formen des ›Widerstands‹, von Soziologen zur ›reflexiven Moderne‹ – verklärt werden. Wenig beachtet wurde dabei bisher, dass diese Auseinandersetzungen hochgradig durchstrukturiert sind und in weitgehend vorgegebenen Bahnen verlaufen, dass also die kollektive ›Dauerreflexion‹ durchaus eine Institutionalisierung erfahren hat (vgl. Schelsky 1965), die der Gesellschaft, auf neue Weise, Sicherheit und Ordnung verleiht. Grundlegende Fragen der (Neu-) Verteilung bzw. Sicherung von Machtanteilen werden allerdings in dieser Form öffentlicher Auseinandersetzung in den Bereich des ›Kulturellen‹ verschoben und damit unsichtbar gemacht. Diese neuartigen (medialen) Ritualisierungen und Strukturierungen des öffentlichen Austauschs können überdies nicht über die grundlegenden Schwierigkeiten symbolischer Integration in hochmodernen Gesellschaften hinwegtäuschen: »Die Vielfalt der Perspektiven erschwert es […], die gesamte Gesellschaft unter ein Dach, das heißt unter ein integriertes Symbolsystem zu bringen« (Berger/Luckmann 1980: 91). Dennoch existieren solche Versuche einer gesellschaftsübergreifenden symbolischen Integration, von denen vier genannt werden müssen. Die ›geglaubte Gemeinsamkeit bzw. Gemeinschaft‹ (Weber) der Nation war ein Produkt der kapitalistisch-bürgerlichen Revolution in Europa. Der Nationalstaat war von Anbeginn durch das Paradox gekennzeichnet, einerseits die Besonderheit der eigenen Nation zu behaupten, andererseits aber – als Ordnungsmuster – zum geteilten Wissensbestand Europas und später der Welt zu gehören. In ihrer formalen Offenheit lag die Voraussetzung für den Erfolg der Idee der Nation. Musste die nationalstaatliche Ordnung zu Beginn gegen vielfältige Widerstände (insbesondere lokaler und religiöser Mächte und der ›transnationalen‹ Aristokratie) durchgesetzt werden, so ist die Bindekraft nationaler Integration heute erneut in Frage gestellt. Selbst wenn wir von den Folgen transnationaler Migration absehen, ist dies offensichtlich: Die Gesellschaft ist gegliedert in Lebensstilmilieus, die sich über eine ›kollektive Identität‹ als gemeinsamem Besitz nicht mehr zu verständigen in der Lage sind. Besonders deutlich wird dies bei dem Bemühen um die Konstruktion von ›Nationalitätsbewusstsein‹ durch den Rückbezug auf die Geschichte, der weltweit Konjunktur hat (vgl. Levy/Sznaider 2001). Gegenwärtige Erinnerungspolitiken unterscheiden sich deutlich von früheren. An die Stelle triumphaler Heldenerzählungen tritt das Eingeständnis der historischen Schuld der Nation. Diese Schulddiskurse können identitätsbildende Effekte erzeugen, da die Nation durch die Zurschaustellung ihres Schuldbewusstseins auf der internationalen Bühne das Image moralischer Integrität und Reife erwerben kann. Nationale Selbststigmatisierung – oftmals gepaart mit Diskursen, in denen die Nation selbst als Opfer inszeniert wird – kann entsprechend, erstens, als Versuch neo-nationaler Schließung durch Erinnerungspolitik interpretiert werden (Soeffner 2005: 103 ff.; Zifonun 2004a). Dieses reaktive Muster scheint zumindest tendenziell dazu in der Lage zu sein, integrative Wirkung zu entfalten. In ähnlicher Weise lassen sich, zweitens, religiöse Radikalismen interpretieren, die ja gerade nicht Ausdruck des Fortbestandes traditioneller Formen der Frömmigkeit sind. Vielmehr verbindet religiöser Fundamentalismus religiöse Totalitätsansprüche mit politischen Herrschaftsbestrebungen und spezifisch modernen Sozialformen, insbe-
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sondere was die Nutzung von Medien, Staatsorganisation und Gesellschaftsstruktur betrifft (vgl. Kurzman 2002). Neben nationalen Erinnerungsdiskursen und religiösen Heilsverkündigungen sind, drittens, die bereits erwähnten ›Ausländerdebatten‹ zu nennen, die als symbolische Abwehrdiskurse Einheit und Identität dort zu schaffen versuchen, wo beides nicht (mehr) existiert. Das Bild vom imaginären ›Ausländer‹ dient so zur Konstruktion eines imaginären Bildes vom ›Deutschen‹, auf das sich die Gesellschaft sonst, d. h. ohne ›Ausländer‹, nicht zu verständigen in der Lage wäre. Die mediale Verdinglichung (etwa des Islam) produziert einen symbolischen Überschuss in Form von Stereotypen, der im Alltag kaum eingeholt, korrigiert und aufgefangen werden kann. Wir verlassen uns dementsprechend weitgehend auf das symbolische Wissen über ›fremde‹ Gruppen, das von den Massenmedien zur Verfügung gestellt wird. Viertens ergeben sich komplementäre Probleme aus der Verkündigung humanistischer Ideale mit dem Ziel der Versöhnung der Menschheit. Konzepte wie die einer ›humanen Gesellschaft‹, die Aufforderung zu ›Toleranz und Akzeptanz‹, zu ›menschenwürdiger Behandlung‹ und zu ›Solidarität zwischen allen Menschen‹ (vgl. z. B. Küng/Kuschel 1993) leiden an ihrem ungeheueren Grad an Abstraktion. Eine Übersetzung dieser ebenso wolkigen wie abgehobenen Ideale der ›Fernstenliebe‹ in die gesellschaftliche Alltagspraxis ist kaum möglich. Größerer Erfolg scheint da der ›unsichtbaren Hand‹ des Marktes beschieden zu sein: Die transnationalen Symbole der Massen- und Konsumkultur lassen Teilhabe allein als Fragen des Geschmacks und vor allem des Geldes erscheinen.12
3. Prozess, Sinnkrise, Lebenswelt: Der Beitrag der Wissenssoziologie zur Migrationsforschung Die aktuelle Theoriedebatte in der Migrationsforschung wird dominiert von der Assimilationstheorie und der Transnationalismusthese. Beide Theorieschulen argumentieren strukturtheoretisch: Konzepte wie »ethnic community«‚ »ethclass« oder »ethnic mobility trap«, genauso wie »segmented assimilation« oder »transnational social spaces« entwerfen relative statische Bilder gesellschaftlicher Wirklichkeit. In diesem mit Hilfe soziologischer Strukturkonzepte geordneten Gesellschaftsbild erscheint Gesellschaft als horizontal und vertikal klar geordnete Einheit, in der sich Gruppen, Schichten oder Ethnien gegenüber stehen. Unser Ansatz nimmt eine andere Perspektive ein: Anstatt sich auf die Veränderung der Sozialstruktur der aufnehmenden Gesellschaft durch Migration zu konzentrieren und dabei immer wieder sozialstrukturelle Phänomene zum Ausgangspunkt zu machen, schlage wir vor, die »lebensweltliche« Perspektive handelnder Individuen zum Ausgangspunkt der Analyse zu machen. Entsprechend wäre nach den Strukturierungsprinzipien lebensweltlicher Integrationsprozesse zu fragen, die sich als Folge von Migration etablieren. Zu diesen Prozessen zählen insbesondere die Konstruktion, Aufrechterhaltung und Transformation alltagsweltlicher Kulturmuster und Zuschreibungsprozesse (Klassifikation, Kategorisierung, Stereotypisierung, Othering) sowie die symbolischen Grenzziehungen im ›interkultu12
Es dürfte deutlich geworden sein, dass die genannten Modi symbolischer Integration selbst erst performativ die gesellschaftlichen Einheiten erzeugen, die sie dann zu integrieren versprechen – sei es die Nation, die religiöse Gemeinschaft der Gläubigen oder die universelle Weltgesellschaft.
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rellen‹ Kontakt (etwa durch Stilisierung). Das Interesse an diesen Prozessen und ihren Strukturierungsprinzipien ist jedoch nicht allein theoretisch begründet. Es richtet sich auch auf die spezifische Strukturlage moderner Gesellschaften, in denen soziale Strukturen keineswegs mehr die Stabilität, Dauerhaftigkeit und Selbstverständlichkeit genießen, wie dies für andere Gesellschaftstypen charakteristisch gewesen sein mag. Der modernen »Pluralisierung der sozialen Lebenswelten« (Berger/Berger/Kellner 1975: 59) und der mit ihr einhergehenden »Sinnkrise« (Berger/Luckmann 1995) – den in der Lebenswelt erfahrbaren Paradoxien und Ambivalenzen – begegnen Gegenwartsgesellschaften – individuell wie kollektiv – mit der Intensivierung von Aushandlungsprozessen zwischen den verschiedenen separierten und doch aufeinander verwiesenen sozialen Sphären. Es war nicht zuletzt die Diagnose gesellschaftlicher Pluralisierung und ihrer Folgen die bereits Max Weber und Georg Simmel dazu veranlasste, die Soziologie als prozessanalytische Disziplin zu konzipieren, was sich sichtbar in ihrer Bevorzugung des Begriffs ›Vergesellschaftung‹ gegenüber ›Gesellschaft‹ niederschlug. Das Gesellschaftsbild, das sich aus dieser Perspektive ergibt ist ein anderes, als es die traditionelle soziologischen Begriffslehre suggeriert: Gesellschaft erscheint dann nicht als in eindeutigen Gruppen, sozialen Hierarchien, Positionen etc. organisiert. Statt dessen werden Paradoxien und Inkonsistenzen, multiple und widersprüchliche Zugehörigkeiten, Heterogenität und Widersprüchlichkeit genauso erkennbar, wie die Konstruktionsprozesse und Zuordnungsarbeiten der Alltagsmenschen sichtbar werden, die wir hier diskutiert haben. Andreas Wimmer hat jüngst anhand der Frage von Ethnizität und ethnischer Selbstorganisation eindrücklich die Erklärungsprobleme der aktuellen Migrationsforschung dargestellt (Wimmer 2002). Wimmer hat darauf hingewiesen, dass in der Forschungsliteratur äußerst umstritten ist, welche Rolle ethnische Zugehörigkeit als quasi natürliche, alltagsweltliche Kategorie überhaupt spielt und wie und warum Ethnizität als symbolische Zuschreibung von den Alltagshandelnden relevant gemacht wird (vgl. auch Berking 2003).13 Aus methodologischer Perspektive kritisiert Wimmer sowohl die Ethnisierungsthese, der zufolge Ethnizität lediglich ein sekundärer Effekt der Übernahme öffentlicher Diskurse und damit ›uneigentlich‹ sei als auch die Assimilations- und Transnationalismusforschung, die beide die Relevanz von Ethnizität voraussetzen (Wimmer 2002: 4 f., 24). Für seine eigene Untersuchung der Relevanz von Ethnizität für Gruppenbildungsprozesse unternahm er eine Quartierstudie um »in der Untersuchungsanlage nicht bereits die Existenz von ethnischen Gruppen vorauszusetzen« (Wimmer 2002: 23). Wimmer beschreibt eindrücklich die Komplexität und Vielschichtigkeit von Gruppenbildungsprozessen, erkennt aber auch, dass es notwendig ist, über eine rein deskriptive Herangehensweise hinauszugehen. Wimmer war es auch, der zusammen mit Nina Glick Schiller auf den impliziten methodologischen Nationalismus hingewiesen hat, den nicht nur die Assimilationsforschung, sondern auch deren Gegenpart, die Transnationalismusforschung kennzeichnet, wenn diese in der Vorstellung von ›transnationalen Gemeinschaften‹ die Annahme der Homogenität and Geschlossenheit des Nationalstaates auf diese überträgt (Wimmer/Glick Schiller 2003: insb. 598). Auch hier 13
Wir greifen mit der Unterscheidung zwischen Ethnizität als quasinatürlicher Kategorie und als symbolischer Zuschreibung die oben getroffene Unterscheidung zwischen alltagsweltlicher und symbolischer Integration wieder auf. Sie korrespondiert mit der zwischen den symbolischen und den sozialen Aspekten der Grenze zwischen ethnischen Gruppen, die jüngst getroffen worden ist (vgl. Alba 2005: 22).
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wird betont: »Going beyond methodological nationalism requires analytical tools and concepts not colored by the self-evidence of a world ordered into nation-states« (Wimmer/Glick Schiller 2003: 599). Ein solcher Analyserahmen steht mit dem Konzept ›sozialer Welten‹ zur Verfügung. Anselm Strauss hat dieses Konzept, ganz im Sinne Wimmers, eben dazu entwickelt, um über ein Instrument zu verfügen, mit dem man soziale Prozesse analysieren kann ohne eine »asserted or presumed dominance of social class, race, gender, and other social units« (Strauss 1993: 210) vorauszusetzen und ohne sie ins Korsett einer imaginierten nationalstaatlichen Differenzierung- und Schichtungsstruktur zu pressen.14 Mittlerweile scheint sich die Debatte zwischen Assimilationstheorie und Transnationalismusforschung erschöpft zu haben. Es liegen zwei große Monographien vor (Alba/Nee 2003; Portes/Rumbaut 2001). Die Widersacher haben die Argumente ihrer jeweiligen Gegner in ihre eigenen Konzeptionen integriert, andere haben breiter angelegte theoretische Entwürfe formuliert (Esser 2004; Levitt/Glick Schiller 2004). Keiner der Beteiligten hat jedoch den strukturtheoretischen Konsens der Debatte verlassen. Wir betonen, dass der interaktive Charakter von Gesellschaft, die von ihren Angehörigen in Konstruktionsprozessen kontinuierlich hergestellt wird, in der Analyse erhalten werden muss. Wir schlagen eine Theorie des Alltagshandelns vor, die die Erfahrungen der Alltagshandelnden Ernst nimmt, statt die Akteure als Positionsträger in einem hyperstabilen ›System‹ zu verstehen. Ihrem ursprünglichem Wortsinn nach meint ›Integration‹ die Vervollständigung eines Ganzen, die Wiederherstellung einer Gesamtheit durch das Einfügen ihrer notwendigen Bestandteile. In diesem Sinn verwendet auch die Integrationsforschung den Begriff, etwa wenn Hartmut Esser Integration definiert als den »relativ gleichgewichtigen Zusammenhalt der Teile eines Ganzen und dessen Abgrenzung gegen eine unspezifische Umgebung« (Esser 2000: 285). Wenn wir also vorschlagen, theoretisch nicht von der Gesellschaft, aber auch nicht vom isolierten Einzelnen auszugehen, bedeutet dies eine Umformulierung der Frage der Integrationsforschung. Diese Umformulierung erlaubt es, die gesellschaftliche Totalitätsvorstellung aufzugeben, stattdessen danach zu fragen, an welchen Vergesellschaftungen der Einzelne teilhat (lokal, national, transnational, zeitlich befristet, dauerhaft etc.)15 und diese Frage zu verstehen als eine nach den lebensweltlichen Vergesellschaftungsprozessen und Integrationsmechanismen.16 Das bedeutet selbstverständlich keineswegs, die Relevanz der Fragestellungen und Ergebnisse der Integrationsforschung in Abrede zu stellen. Insbesondere die ›Mannheimer Schule‹ der Integrationsforschung hat analytische Differenzierungen und empirische Ergebnisse zu Tage gebracht, die für eine Wissenssoziologie der Migration von größter Bedeutung sind (vgl. z. B. Diehl 2002; Diehl/ Schnell 2006; Esser 2000: 261 ff.; Kalter 2003). Beispielhaft genannt sei nur Essers strukturelle Erklärung ethnischer Ungleichheit und Differenzierung (Esser 2004: 1147 ff.). Die ›lebensweltliche‹ Erforschung von ›Integration‹ verhält sich somit komplementär zur (quantitativ verfahrenden) Strukturanalyse gesellschaftlicher Integration, beide ergänzen sich wechselseitig. 14 15 16
In ihrer Beschränkung auf nur eine Ebene der Vergesellschaftung, reproduziert die Transnationalismusforschung den ›Monismus‹ des methodologischen Nationalismus auf ›höherer‹ Ebene. Eine aufschlussreiche Ausnahme bildet Weiß 2005. Das Konzept sozialer Welten ist analytisch offen für alle Ebenen der Vergesellschaftung, vgl. Unruh 1980. Für eine glänzende Kritik des ›Holismus‹ vgl. Appadurai 1986.
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Alfred Schütz und seine Schüler gehen – bei aller Betonung, die sie auf die Anonymisierung sozialer Beziehungen, die ungleiche soziale Verteilung von Wissen und die Schwierigkeiten symbolischer Integration legen – noch von einem nationalstaatlichen Ordnungsrahmen, von einer gesellschaftlichen ›Binnenlage‹ aus, d. h. von der Begrenztheit und Abgeschlossenheit des gesellschaftlichen Wissensvorrates. Sie stellen die Gültigkeit dieses Rahmens nicht in Frage. Tut man dies jedoch, so verändert sich die Perspektive. Einerseits wird dann die Ausweitung der Problemsituation sichtbar. Andererseits stellt sich manches Integrationsproblem, das Schütz noch gesehen hat, (so) nicht (mehr). Transnationale und lokale Integration in soziale Welten schließen Lücken, die eine verringerte nationalstaatliche Integrationsfähigkeit hinterlassen hat. Die Frage, ob der Mensch die ihm auferlegte Notwendigkeit zur Integration in eine gesellschaftliche Ordnung als Zwang zur Subordination unter einen fremden Willen, zur Aufgabe eigener Erfahrungen und eigenen Wissens, erfährt oder ob er sie als Mittel für die Ausbildung eigener Identität und als Quelle für Freiheit nutzen kann, ist weniger eine Grundsatzfrage der philosophischen Anthropologie als vielmehr eine Aufgabenstellung, derer sich die historischen Sozialwissenschaften empirisch anzunehmen haben. Die im Verlauf der Menschheitsgeschichte erprobten Integrationsmuster erweisen sich – je nach historisch gegebenen Gesellschaftsstrukturen – als äußerst variabel. Inwieweit Integration als Zwangsmechanismus oder als Aushandlungsprozess mit Freiheitsräumen gestaltet wird, ist auch im ›globalen Zeitalter‹ nicht durch die freie Imagination phantasievoller Zeitdiagnostikessayisten zu beantworten, sondern durch systematische Beobachtung, sorgfältige Diagnose und vorsichtige, bedingte Prognostik. Bisher finden sich beide Integrationsvarianten in unterschiedlichen Mischungen in Form von interkulturellen Vergesellschaftungen der verschiedensten Arten wieder. Dahinter verbergen sich Prozesse der Ausbildung neuer Ordnungen. Ihrer Beobachtung und Diagnose widmen sich die folgenden Kapitel.
Fußballwelten: Die Ordnungen ethnischer Beziehungen Hans-Georg Soeffner und Dariuš Zifonun
1. Integration und ethnische Gruppenbeziehungen Wer sich der Fußballwelt nähert, gewinnt leicht den Eindruck, Ethnizität sei in diesem Milieu ein ubiquitäres Phänomen. Die Unterscheidung zwischen Deutschen und Türken, die Zuschreibung unterschiedlichen Temperaments, moralisierende Vorwürfe gegen ›die Ausländer‹, Rassismusvorwürfe gegen ›die Deutschen‹ genauso wie die Pflege milieuspezifischer Praktiken scheinen zum Fußball zu gehören wie vergleichbare Zuschreibungen und Stilisierungen zum Leben im städtischen Quartier. Ethnizität ist jedoch keineswegs eine Frage genetisch determinierter Unterschiede zwischen Menschengruppen. Derartige Thesen ersetzen lediglich den (diskreditierten) Begriff der Rasse mit dem (scheinbar neutralen) der Ethnie. Folgt man Max Webers Unterscheidung verschiedener Typen der Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung, so zeichnen sich ethnische Gruppen durch »einen subjektiven Glauben an eine Abstammungsgemeinschaft« (Weber 1980: 237) aus. Anders als bei der »Sippe, zu deren Wesen ein reales Gemeinschaftshandeln gehört«, ist die ethnische Gruppe jedoch »nur (geglaubte) ›Gemeinsamkeit‹, nicht aber ›Gemeinschaft‹« (ebd.). Wiederum anders verhält es sich mit der ›politischen Gemeinschaft‹, die ein bestimmtes Territorium und die auf ihm lebenden Menschen der »geordneten Beherrschung durch die Beteiligten« vorbehält (ebd.: 514). Wie bereits in Kapitel B.I erwähnt, handelt es sich bei derartigen Typenunterscheidungen um begriffliche Hilfsmittel der empirischen Analyse. Es wird uns also nicht daran gelegen sein, die von uns untersuchten Gruppen als ›reine‹ Formen ›ethnischer Vergemeinschaftung‹ darzustellen, deren vermeintlicher kollektiver Abstammungsglaube offen gelegt werden könnte. Vielmehr stellen wir Fragen wie die Folgenden: Wie wird Ethnizität relevant gemacht und thematisiert? Welcher Stellenwert wird ihr eingeräumt? Wie wird Ethnizität irrelevant gemacht? Welche symbolischen Grenzziehungen zwischen ›Abstammungsgemeinschaften‹ existieren? Neben diesen auf den symbolischen Aspekt ethnischer Gruppenbeziehungen zielenden Fragen interessieren uns aber auch deren alltagsweltliche Implikationen. Wie bestimmen ›ethno-kulturell‹ kodierte Praktiken das Alltagshandeln? Welche verschiedenen Interaktionsformen zwischen ethnischen Gruppen gibt es? In welchem historisch konkreten Verhältnis stehen ›ethnische Gemeinsamkeitsbeziehungen‹ zu anderen Formen der Vergemeinschaftung, etwa zu politischen oder religiösen Gemeinschaften, zu Familie oder Nachbarschaft? Oder mit anderen Worten: Es stellt sich die Frage nach dem empirischen Verhältnis von Ethnizität sowie ethnischer Gruppe und gesellschaftlicher Teilhabe. Im Folgenden werden wir die zentralen Ergebnisse unserer empirischen Untersuchung im Mannheimer Fußballkreis diskutieren, die sich genau diesen Fragen widmete (4.). Zunächst jedoch ist zu klären, wie sich der Untersuchungsbereich auf sinnvolle Weise eingrenzen lässt, d. h., was unter der Welt des Fußballsports verstanden werden kann (2.) und
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wie sich die alltagsweltliche Relevanz von Ethnizität untersuchen lässt, ohne die Existenz unterschiedlicher Ethnien oder Kulturen analytisch bereits vorauszusetzen (3.).
2. Sport, Fußballwelt und Migration Beim Sport handelt es sich um einen zentralen gesellschaftlichen Teilbereich moderner Gesellschaften (Lüschen/Weis 1976; Plessner 1985). An ihm sind, sei es als aktiv Sport treibende oder als ›passive‹ Zuschauer, nicht nur eine Vielzahl von Menschen beteiligt, sondern diese schreiben ihm auch eine herausgehobene Bedeutung für ihr Leben zu. Sport ist durch einen intensiven zwischenmenschlichen Kontakt gekennzeichnet und er ist oft noch vor der Arbeitswelt, der Bereich, in dem Einheimische und Migranten am ehesten und regelmäßigsten in direkten Kontakt treten. Wenn sich Sozialwissenschaftler mit Sport beschäftigen, bedienen sie sich charakteristischer Weise zweier Metaphern. Ihnen ist Sport entweder ›Spiegel‹ der Gesellschaft (vgl. Weiß 1999) oder aber ›Gegenwelt‹, die Raum für alternative Handlungsweisen zur sonstigen gesellschaftlichen Realität bietet bzw. den Ausgleich von Defiziten erlaubt, die dort auftauchen (vgl. Bette 1998; aber auch bereits Plessner 1985). In beiden Fällen wird Sport zu einem ›uneigentlichen‹‚ bestenfalls ›sekundären‹ Wirklichkeitsbereich erklärt, der einem anderen, ›primären‹ gesellschaftlichen Bereich (vor allem der Arbeit) gegenübersteht, diesen bestätigt und ihm (als Spiegel) Identität verleiht oder in Frage stellt. Diese Metaphorik hat natürlich ihre Stärken, besonders wenn man vom organisierten Sport spricht und besonders, wenn man sie nicht dichotomisiert, sondern in der Gleichzeitigkeit beider Bezugsverhältnisse des Sports zu seinen sozialen Kontexten die Besonderheit des Sports ausmacht. Oder in der Sprache von Berger, Berger und Kellner (1975): Sport ist durch eine eigentümliche Mittellage zwischen der bürokratisch und technisch gestalteten institutionellen Welt einerseits und der Privatsphäre andererseits gekennzeichnet. Einerseits kennzeichnet den Sport eine Übertragung des Denkstils technologischer Produktion, d. h. der Grundannahme der Maximierung und ihrer Leitformeln »größer und besser«, »mehr und billiger«, »stärker und schneller« (ebd.: 38). Dies gilt insbesondere hinsichtlich der Leistungs- und Wettbewerbsorientierung im aktiven Sport. Gepaart ist dies mit der Übertragung des bürokratischen Denkstils, der klare Unterscheidungen der Zuständigkeit vorsieht und die Anonymität von Entscheidungen ansetzt (ebd.: 44 ff.). Dieses bürokratische Element kennzeichnet die Aufbau- und Ablauforganisation der Institutionen der Sportwelt. Andererseits aber will die Sportwelt Gemeinschaft sein, die eben nicht dem Diktat rationaler Abwägung und anonymer Behandlung unterliegt, sondern ein Raum emotionaler Vergemeinschaftung und sozialer Nähe ist, der von persönlichen Beziehungen beherrscht wird. Diese doppelte Strukturlage des Sports hat, seit seiner ›Erfindung‹ im England des 19. Jahrhunderts, ›eigenweltliche‹ Institutionalisierungen erfahren (Eisenberg 2001; Eisenberg 2004). Es war vor allem Norbert Elias, der in seinen Studien die Entstehung des Sports als ›soziale Welt‹ (Strauss 1993) nachgezeichnet hat (vgl. Elias 1984; Elias/Dunning 1984; für die Entwicklung in Deutschland vgl. Digel 1988). So erscheint Sport als eigener gesellschaftlicher Wirklichkeitsbereich, der, den pragmatischen Erfordernissen des Alltags entzogen, über seine eigene Ordnungs- und Regulie-
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rungsstruktur und über eine starke Binnendifferenzierung verfügt (Honer 1995; vgl. auch Hitzler 1995). Sportliches Handeln ist wiederum auf die unterschiedlichsten Weisen kulturell geformt, nicht nur in unterschiedliche Sportarten differenziert, sondern auch jeweils von individuellen und kollektiv geteilten Sportstilen geprägt, die als Ausdrucks- oder Darstellungsleistungen verstanden werden können und unter dem pragmatischen Vorbehalt der jeweiligen sportlichen Aktivität stehen (vgl. dazu allgemein: Goffman 1983; Hitzler 1992; Soeffner 1992: 76 ff.; Soeffner 2005: 17 ff.). Um diesen Handlungskern lagern sich weitere Aspekte des Sports, deren wichtigste der ›rezeptive Sport‹, d. h. der Konsum sportlicher Aktivitäten als Zuschauer (Messing/Lames 1996) und die soziale Organisation des Sports durch Mannschaften, Clubs, Vereine und Verbände (Horch 1989) sowie im Rahmen von Festen, Wettkämpfen oder Wettkampfserien (Guttmann 1979) sind. Generell vermittelt Sport einen »subsinnweltlichen Interpretationsrahmen zur Bewältigung zunächst spezieller, grundsätzlich aber auch allgemeiner ›Probleme‹ des Einzeldaseins in der modernen […] Gesellschaft« (Honer 1995: 53). Ein Verständnis von Sport als »mittels Symbolen, Bedeutungen und sozialen Regeln konstruierte Teilzeit-Wirklichkeit« (Honer 1995: 53) macht ihn der kultursoziologischen Analyse zugänglich. Phänomene der Sportwelt lassen sich entsprechend nicht durch Verweis auf dem Sport äußerliche Bereiche der Öffentlichkeit (Politik, Medien, Wirtschaft) oder des Privatlebens (Familie, Freundschaft) erklären, sondern aus den der Sportwelt eigenen Ausprägungen sozialer Beziehungen. Diese Perspektive eröffnet sich insbesondere, wenn man sich – statt dem multi-medialisierten Profisport – den ›kleinen Lebenswelten‹ (Luckmann 1978) des Sports zuwendet und diese hinsichtlich ihrer ›doppelten Gestalt‹ als spielerischer Praxis und von den Handelnden selbst ausgedeuteter symbolischer Sinnwelt befragt. Sport wird dann als ›soziale Welt‹ (Strauss 1993) erkennbar, in der sich ›Gesellschaft‹ ereignet. Allerdings hat sich ein neues Sportverständnis entwickelt, das das beschriebene zwar nicht ersetzt, aber ergänzt. Die Suche nach dem ›Kick‹ in den neuen Risiko-, Extrem- und Erlebnissportarten steht im Gegensatz zur – für die ›klassische‹ Moderne charakteristischen – »aktiven Askese des Sports, die semantisch mit Leistung, Konkurrenz und Disziplin verknüpft ist« (Knoblauch 2002: 238) und das sportliche Gegenstück zur innerweltlichen Askese der protestantischen Ethik bildet. Das Ziel der an der neuen ›ekstatischen Kultur‹ Beteiligten ist »nicht mehr die Leistung. Vielmehr dient Leistung der Grenzerfahrung« (Knoblauch 2002: 240; vgl. Bette 1989; Knoblauch 2001a). Wir gehen auf dieses Phänomen im ›Exkurs über den Hooligandiskurs‹ genauer ein. Eine herausgehobene Bedeutung kommt in Deutschland dem Fußball zu. Fußball ist die bei weitem beliebteste Sportart. Die im DFB organisierten Vereine haben zusammen mehr als 6 Millionen Mitglieder, die in etwa 26 000 Vereinen organisiert sind, hinzu kommt noch eine unbestimmbare Zahl nicht organisierter ›Freizeitspieler‹. Auch hinsichtlich des Zuschauerzahlen nimmt Fußball eine Sonderstellung ein. Fußball ist darüber hinaus auch weltweit die am weitesten verbreitete Sportart und in den Herkunftsländern der größten in Deutschland lebenden Migrantengruppen die wichtigste Sportart. Fußball weist dabei einige Spezifika auf. Bröskamp hat Fußball, im Anschluss an Simmels Erörterungen zum Streit (Simmel 1992e), als »Kampfspiel nach Regeln« charakterisiert (Bröskamp 1998: 54), das durch eine Einheit von Kooperation und Regelkonsens einerseits und Konflikt andererseits gekennzeichnet ist. Aus diesem Blickwinkel handelt es sich bei der sozialen Welt des
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Fußballs um einen verhältnismäßig eigenständigen Sonderwissensbereich, für dessen Konstitution die Teilhabe seiner Mitglieder an einem gemeinsamen Interaktionszusammenhang entscheidend ist. Eine solche Definition des Fußballsports über seine Handlungspraxis setzt damit einen anderen Schwerpunkt als dies etwa bei Christiane Eisenberg der Fall ist (vgl. Eisenberg 2001; 2004). Eisenberg betont den Eigenweltcharakter und die Eigengesetzlichkeit, die der (Fußball-) Sport im Laufe seiner Entwicklung zu einem geschlossenen sozialen System erworben hat. Aus dieser Perspektive ist die ›Eigenweltlogik‹ des Fußballs ›systemisch‹ vorgegeben, während aus unserer handlungstheoretischen Sichtweise diese ›Logik‹ fragwürdig ist und der beständigen Herstellung durch die Akteure bedarf. Der Blick eröffnet sich damit auf die Frage, wie die Akteure im Handeln die Fußballwelt immer wieder neu erschaffen, indem sie – situationsabhängig – die Regeln der Fußballwelt auslegen und die Außengrenzen des Milieus sowie seine interne Differenzierung bestimmen. Jenseits seiner allgemeinen Struktur als Kampfspiel, die dem Fußballsport den Charakter eines umfassenden Milieus verleiht, weist der Fußballsport zudem selbst eine Binnendifferenzierung in unterschiedliche (Teil-) Milieus auf. So lassen sich etwa Amateur- bzw. Freizeitfußball und Profi- bzw. Showfußball unterscheiden, die sowohl Spieler als auch Anhänger sehr unterschiedlichen Handlungszwängen unterwerfen (vgl. Hortleder 1978) und verschiedenartige Formen der Integration nach sich ziehen. Das gemeinsame Fußballspiel schafft, mit Blick auf das Verhältnis von Einheimischen und Migranten, durch seine Kooperations- und Regelbindungsdimension strukturell bereits ein Minimum an Integration in den gemeinsamen Spielbetrieb und an die grundlegenden Regeln des Spiels. Durch seine Konfliktdimension ermöglicht es aber auch eine über den Körper des Sportlers vermittelte »symbolische […] Darstellung sozialer Differenzen« (Alkemeyer/Bröskamp 1996: 13) zwischen autochthoner Bevölkerung und Einwanderern. In welcher Form dieses komplexe Verhältnis von Regelung und Konflikt ausgestaltet wird, unterliegt einem breiten Spektrum an empirischen Variationen, dem wir in unserer empirischen Studie nachgegangen sind. Fragen der Integration im Sport sind erstmals in der angelsächsischen Forschung diskutiert worden (vgl. z. B. Day 1981; Pooley 1972). Heute liegen zahlreiche empirische Studien vor, die sich mit Fußball und Integration in Deutschland beschäftigen (genannt seien Abel 1984; Schwarz 1987; Bröskamp 1994; Bröskamp/Gebauer 1986; Frogner 1985; Gebauer 2006b; Hellriegel 1999; Jütting/Lichtenauer 1995; Kalter 2003; Klein/Kothy/Caba dag 2000; Kothy 1999; Pilz 2002). Bröskamp/Gebauer (1986) haben in ihrer mittlerweile mehr als 20 Jahre alten Berliner Studie eine Reihe von kulturell bedingten Differenzen zwischen türkischen und deutschen Sportlern ausgemacht. Dabei handelt es sich um solche grundlegenden Differenzen, die immer wieder zu Konflikten beitrugen und eine Assimilation nicht erkennen ließen. Hierzu zählen die kulturabhängige, unterschiedliche Betonung von persönlicher Vertrautheit und Nähe im Sport, die differente Bewertung von Stolz und Härte im Spiel und die Bedeutung von Ehre für das Sportverhalten. In Folgeuntersuchungen (Bröskamp 1994) konnte gezeigt werden, dass der Kontakt im Sport zu wechselseitiger Fremdheitswahrnehmung (auf der Grundlage der symbolischen Deutung der Körper des anderen als fremdartig) führt und Konflikte nach sich zieht. In einer jüngsten Untersuchung von Fußballbegegnungen zwischen ethnischen und deutschen Vereinen wird ein hohes Gewaltniveau konstatiert, das
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damit erklärt wird, daß »kulturell differierende Sportverständnisse, -einstellungen und -stile aufeinandertreffen« (Bröskamp 1998: 52). Hinsichtlich der Integrationsdimension hat Klein (1998: 8) festgehalten, dass Ausländer weniger als 1 % der Mitglieder in Sportvereinen ausmachen. Aus konflikttheoretischer Perspektive befassen sich Klein et al. mit gewaltförmigen interkulturellen Konflikten in drei Städten in Nordrhein-Westfalen und stellen, wie Bröskamp für Berlin, eine Vielzahl gewalttätiger Konflikte und einen »Prozeß der Reethnisierung« fest (Klein/Kothy/Cabadag 2000: 344). Die Autoren untersuchen sowohl gemischte Mannschaften, als auch ethnisch homogene. Auch Heckmann (1998) sieht in der Entstehung ethnischer Sportvereine ein Zeichen von Desintegration bzw. Binnenintegration im Bereich Sport.
3. Zur Methodologie 3.1 Untersuchungsfrage und Forschungsdesign Die angeführten Untersuchungen verweisen auf ein grundlegendes Problem der Untersuchung sozialer Teilhabe: Wo ethnische Vereine, ethnische Minderheiten, Ausländersport etc. zum Untersuchungsgegenstand gemacht werden, droht die Gefahr, dass Differenzen vorausgesetzt werden, wo deren Existenz und Relevanz erst zu untersuchen wären. Wir haben bei der Formulierung von Untersuchungsfrage und Forschungsdesign einige methodologische Vorkehrungen getroffen, um dieses Problem in unserer Untersuchung zu umgehen. Leitfrage der Studie ist, welcher Deutungsmuster und Handlungsschemata sich Migranten und autochthone Bevölkerung im Fußballsport bedienen, um ihre Interaktion zu bewältigen.1 Damit wird erstens zwar zunächst analytisch zwischen Einwanderern und Alteingesessenen unterschieden, jedoch nicht präjudiziert, dass diese sich in ihrem Handeln und Deuten unterscheiden. Ob dies der Fall ist und damit, ob die Unterscheidung dieser Gruppen sinnvoll und relevant ist, ist vielmehr offen für die empirische Untersuchung. Zweitens wird die Unterscheidung nicht als eine ethnisch-kulturelle konzeptualisiert. Welcher Art Unterschiede sind, so sie denn existieren, wird also ebenfalls der empirischen Untersuchung anheim gestellt. Bei der Auswahl des Forschungsdesigns haben wir uns für eine kontrastive Untersuchung unterschiedlicher Teilmilieus der Fußballwelt entschieden. Damit sollte der Möglichkeit Rechnung getragen werden, dass in unterschiedlichen Teilwelten je eigene Interaktionsmuster existieren. Wir sind auf Grundlage einer explorativen Vorstudie zur Unter-
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Unter Handlungsmustern sind »im Prinzip gleichbleibende, zeichenhaft repräsentierte Reaktionen innerhalb von Interaktionsprozessen» (Soeffner 2004: 23) zu verstehen. Deutungsmuster werden begriffen als »die Weltsicht und ›Lebenstheorien‹ von Einzelnen, Gruppen, Gemeinschaften usw.», die »die Details des alltäglichen Erfahrungsbestandes in einem Interpretationsnetz unter[bringen]» (Soeffner 2004: 24). »Handlungsmuster repräsentieren Deutungsmuster, und Deutungsmuster generieren ihrerseits Handlungsmuster» (Soeffner 2004: 24).
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scheidung folgender ›Integrationssphären‹ gelangt, die im Verlauf der Forschung modifiziert und weiter differenziert wurde (s.u):2 Fußball im Rahmen des Schulsports Fußball ist auch und gerade ein Phänomen männlicher Jugendlicher. Das Fußballspiel nimmt im Rahmen des Schulsports großen Raum ein. Alle am Unterricht Beteiligten sind zur Teilnahme gezwungen, die Aufteilung der Mannschaften erfolgt i.d.R. durch die Wahl der Schüler. D. h. es nehmen auch Spieler teil, die an Fußball kein Interesse haben, deutsche und ›ausländische‹ Kinder spielen miteinander, die Zusammensetzung der Mannschaften liegt auch in ihrer Hand. Im Schulsport ist daher ›Kontaktzwang‹ tatsächlich gegeben. Amateurfußball in Regelvereinen Aktivensport: Anders als im Profifußball finden sich im Amateurbereich, insbesondere in niedrigeren Spielklassen, fast ausschließlich solche Migranten, die ihren dauerhaften Lebensmittelpunkt in Deutschland haben. Die Spieler sind an den Verein und den Ort oder Ortsteil gebunden. Hier ist Fußball Freizeitvergnügen. Zuschauer: Die Zahl der Zuschauer beträgt i.d.R. maximal einige Hundert. Im Kern handelt es sich um die Familien und Freunde der Vereinsangehörigen und Spieler. Die Trennung zwischen Mannschaft/Verein und Publikum ist hier schwach ausgeprägt. Der Verein ist oftmals Mittelpunkt sozialer Kontakte. Ethnische Vereine: Migrantische Selbstorganisation Aktivensport: Seit Beginn der 80er Jahre kam es in deutschen Städten verstärkt zur Gründung ethnischer Sportvereine, die jedoch gemeinsam mit Regelvereinen im Ligabetrieb des DFB und seiner Gliederungen aktiv sind. Diese ethnischen Sportvereine sind allesamt im Amateurbereich tätig und teils ›geschlossen‹ national (türkische, kroatische, griechische Vereine etc.), teils gemischt-ethnisch organisiert. Mitunter sind in solchen Vereinen auch deutsche Spieler als Minderheit aktiv. Zuschauer: Wie im Fall der gemischten Amateurvereine rekrutieren sich die Zuschauer fast ausschließlich aus den entsprechenden lokalen ethnischen Gemeinschaften, deren soziales Zentrum der Verein oftmals selbst darstellt. Integrationspolitik: Ideologie und Praxis Deutungsmuster und Handlungsschemata werden nicht allein im sozialen Feld produziert. Vielmehr existieren institutionell formulierte Integrationspolitiken, die Auswirkungen auf die Deutungen und Handlungen der Akteure haben. Hier ist insbesondere die Integrationspolitik der Spitzenverbände zu nennen. Daher ist die Analyse der offiziellen Integrationsideologie, ihrer medialen Verbreitung und ihrer praktischen Umsetzung durch Landesverbände, auf kommunaler Ebene und in Vereinen notwendig.
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Die ebenfalls geplante Untersuchung eines Profivereins musste aufgrund des Zwangsabstiegs der vorgesehenen Mannschaft des SV Waldhof Mannheim in die 4. Liga entfallen. Zu einigen Aspekten der Fanszene des SVW vgl. den ›Exkurs über den Hooligandiskurs‹.
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Als stadträumlicher Untersuchungsraum wurde die Stadt Mannheim ausgewählt. Mannheim ist mit 320.000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt Baden-Württembergs. Der ›Ausländeranteil‹ liegt mit 20,5 % im Vergleich zu anderen westdeutschen Großstädten sehr hoch. Dies erklärt sich aus dem Umstand, dass noch immer ein relativ hoher Anteil der Beschäftigten im produzierenden Gewerbe (38,8 %) tätig ist, also in dem Arbeitsmarktsegment, in dem nach wie vor viele ›ausländische‹ Arbeitskräfte beschäftigt sind. Mit einem Anteil von 34 % (Bundesdurchschnitt: 28 %) bilden ›Türken‹ die größte Gruppe unter den ›Ausländern‹ (vgl. Stadt Mannheim 2000; alle Zahlen 1999). Im Fußballkreis Mannheim beträgt der Anteil von ›Ausländern‹ im Seniorenbereich etwa 30 % (vgl. Kalter 2003: 48). Unter den 115 Mannschaften, die in der Spielzeit 2003/04 am Ligenbetrieb des Fußballkreises teilnahmen, waren 14 ethnische Mannschaften. Das über die letzten Jahre konstant relativ hohe Maß ethnischer Konzentration lässt sich daran ablesen, dass auf Ebene der niedrigsten Klassen (Kreisliga) etwa 60 % der ›Ausländer‹ den Verein wechseln müssten, um eine gleichmäßige Verteilung herzustellen (vgl. ebd.: 48 f.). In Mannheim sind alle oben angesprochenen sozialen Welten vorhanden.
3.2 Methodik Statt der Untersuchungsfrage nun mittels eines deduktiv gewonnenen Kategoriensystem von Handlungs- und Deutungsformen nachzugehen, das dann empirisch aufzufüllen wäre, haben wir uns für ein rekonstruktives Verfahren entschieden, das sich an den Prämissen einer hermeneutischen Wissenssoziologie orientiert (vgl. Soeffner 2004; Hitzler/Reichertz/ Schröer 1999). Diese Theorietradition sieht Gesellschaft als von den sozialen Akteuren in Interaktionsprozessen fortlaufend konstruiert an (vgl. Berger/Luckmann 1980). Die Handelnden bedienen sich dafür gesellschaftlicher Wissensbestände, die sie zur Lösung ihrer Handlungsprobleme aufgreifen, modifizieren, verwerfen und erneuern. Die Handlungs- und Deutungsmuster, nach denen das Projekt fragt, werden in diesem Sinne als Lösungen für Probleme interpretiert, denen die Akteure in der Fußballwelt begegnen. In methodischer Hinsicht folgt aus diesen Grundannahmen, dass diese sozialen Konstruktionen am besten mittels qualitativer Fallstudien rekonstruiert werden können (vgl. Soeffner/Hitzler 1993). Ausgehend von detaillierten Einzelfallanalysen schreitet der Forschungsprozess über den Fallvergleich zur Bildung von Typen voran und endet in der Formulierung in der Empirie begründeter theoretischer Aussagen. Bei der Datenerhebung bedient sich das Projekt der ethnographischen Methode der teilnehmenden Beobachtung von Interaktionsprozessen und räumlichen Milieus. Die Daten werden – soweit möglich – technisch aufgezeichnet (Audio- oder Videoaufnahmen) und in Feldnotizen protokolliert (vgl. Strauss 1994; Knoblauch 2001b). Für die Ermittlung biographischer und historischer Daten werden mit den unmittelbar betroffenen Akteuren fokussierte bzw. narrative Interviews durchgeführt. Strukturdaten der Fußballwelt werden aus amtlichen Quellen, Dokumenten der Verbände, der vorliegenden Fachliteratur und durch Experteninterviews erhoben. Ergänzend wird eine Presseauswertung durchgeführt, um aktuelle Prozesse und ›Diskurse‹ innerhalb der sozialen Teilwelten und ihre öffentliche Bewertung ›von außen‹ genauer zu erfassen.
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Bei der Datenauswertung bedient sich das Projekt einer Kombination hermeneutischer Verfahren. Der Methodenmix basiert jedoch auf einer einheitlichen methodologischen und theoretischen Konzeption: Die Analyse zielt in allen Fällen auf die Ermittlung der zugrunde liegenden Sinnstrukturen (Deutungs- und Handlungsmuster) und der in sie eingelassenen Strukturprobleme sowie auf die kontrastive Analyse der Ergebnisse und auf deren typologische Zuspitzung. Für die Interpretation größerer Mengen (nicht nur) ethnographischer Daten und für die systematische Fallauswahl dient die von Anselm Strauss entwickelte grounded theory (Glaser/Strauss 1967; Strauss 1994). Ziel dieser Methodologie und Methodik ist es, durch ein dreistufiges Kodierverfahren (offenes, axiales, selektives Kodieren) innerhalb eines Datenkorpus’ Schlüsselkategorien zu identifizieren, um die herum eine empirisch begründete Fallinterpretation formuliert werden kann. Die Auswahl der zu interpretierenden Daten ergibt sich gemäß der Prinzipien des theoretical sampling sukzessive aus dem laufenden Erhebungs- und Analyseprozess (vgl. Strauss/Corbin 1996). Leitend ist dabei das Ziel, andersartige, in vorherigen Interpretationen nicht hervorgetretene Sinndeutungen zu identifizieren und zu interpretieren, um durch diese Kontrastierung das Spektrum der relevanten Deutungen zu ermitteln und letztlich zu einer Typologie zu gelangen. Für die im Rahmen der grounded theory notwendigen Detailinterpretationen von Schlüsselstellen wird das Verfahren der Sequenzanalyse herangezogen (vgl. Oevermann et al. 1979; Soeffner 2004; Soeffner/Hitzler 1993). Bei der Sequenzanalyse handelt es sich um eine Schritt-fürSchritt- (Wort für Wort-) Rekonstruktion des Sinngehaltes von Daten: Handlungs- und Deutungssinn entwickelt sich (vgl. auch die Analyse von ›Um-zu-‹ und ›Weil-Motiven‹ bei Schütz (2004: 195 ff.) und Schütz/Luckmann (2003: 471 ff.) als Abfolge von Selektionen aus einem zunächst offenen Spektrum möglichen Sinns. Die Sequenzanalyse erlaubt somit die detaillierte Rekonstruktion des Prozesses der Sinngenese. Anhand ausgewählter Schlüsselstellen können so Strukturhypothesen über den Sinngehalt einer Äußerung oder Handlung formuliert werden. Diese Hypothesen werden, immer wieder kontrastiv, anhand der restlichen Daten überprüft. Schließlich kommt das Verfahren der dichten Beschreibung zum Einsatz (Geertz 1987). Es handelt sich dabei weniger um eine Interpretationsmethode, als vielmehr um eine Form der Vertextung ethnographischer Daten, die es dem Feldforscher ermöglicht, jenseits ethnographischer Beobachtungsprotokolle das Datenmaterial in ausgedeuteter Form (eben dicht beschrieben) darzustellen. Insgesamt wurden von den Projektmitarbeitern etwa 50 Dokumente der Sportverbände analysiert, 40 Interviews geführt, bei mehr als 150 Spielen bzw. sonstigen Fußballveranstaltungen teilnehmende Beobachtungen durchgeführt (rund 20 davon wurden auf Video aufgezeichnet) und 20 Spiele als Schiedsrichter geleitet. Während des gesamten Forschungszeitraums wurden zudem regelmäßige Interpretationssitzungen der Arbeitsgruppe und Projektpräsentationen durchgeführt. Wie sich das methodische Vorgehen des Projektes in der Praxis gestaltete, soll anhand zweier Teilforschungsbereiche dargestellt werden. Die Analyse eines ländlichen ›gemischten‹ Vereins nahm ihren Ausgang bei einem Spiel, das ein Mitarbeiter des Projektes als Schiedsrichter leitete. Der Mitarbeiter fertigte im Anschluss an das Spiel ethnographische Feldnotizen an und verfasste in den folgenden Tagen ein ausführliches Protokoll der Ereignisse. Dieses Protokoll wurde Grundlage einer detaillierten, schrittweisen Gesamtinterpretation des Ereignisses, die in einer dichten Beschreibung des Falles endete. Durch das Ein-
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nehmen einer Feldteilnehmerposition wurde der Forderung nach einem »existentiellen Engagement« nachgekommen, wie es im Rahmen soziologischer Ethnographie für die Phase der Datenerhebung als zwingend notwendig erachtet wird (Honer 1993; Hitzler 1999). Die Teilnahme am Geschehen impliziert jedoch keine gezielte Beeinflussung des Untersuchungsfeldes durch den Forscher, wie dies in der Aktionsforschung der Fall ist. Diese zielt auf die Stimulierung sozialen Wandels, stellt ihre empirische Arbeit in dessen Dienst und beabsichtigt die Beeinflussung des Untersuchungsfeldes in Richtung einer gewünschten Veränderung oder eines erwünschten Verhaltens. Im Gegensatz dazu dient der soziologischen Ethnographie die Übernahme der für das untersuchte Milieu typischen Perspektiven allein dem Verstehen des Handlungssinns der Akteure. Der Forscher agiert hier als Teil des Handlungsfeldes, entsprechend der dort herrschenden Regeln, die durch die Teilhabe am Feld erlernt werden. Reflexion und Kontrolle des subjektiven Zugangs zum Feld durch den Forscher und dessen Feldeingriff sind dann integraler Bestandteil der Datenauswertung. Durch die Bildung und den Ausschluss von Lesarten wird eine Interpretation des Geschehens formuliert, die anschließend durch Kontextualisierung (Ermittlung von Strukturdaten, nachfolgende Experteninterviews, ergänzende Feldforschungen) überprüft und erweitert wird. Im konkreten Fall des untersuchten ländlichen ›gemischten‹ Vereins wurden einzelne Abschnitte des beobachteten Spiels anhand des ethnographischen Protokolls mittels Sequenzanalyse interpretiert. Außerdem wurden zusätzlich Zeitungsberichte über das Spiel und den Verein herangezogen, weitere Spiele der betroffenen Heimmannschaft beobachtet, Interviews mit Experten und Beteiligten geführt und eine knappe Gemeindestudie des Heimatortes des Vereins durchgeführt. Im Laufe der Interpretation wurden dann theoretische Konzepte aus der Literatur hinzugezogen und die Interpretation mit Blick auf die Bildung eines Integrationstyps immer weiter verdichtet. Auf diese Weise war es möglich, den Einfluss des Mitarbeiters auf das Spielgeschehen zu ermitteln, diesen Einfluss als einem Akteurstypus zurechenbar zu charakterisieren und Abweichungen von diesem Typus herauszuarbeiten. Die Interpretation wurde dadurch differenzierter und reichhaltiger. Für die Dokumentenanalyse der Integrationsvorstellungen der Sportverbände wurde ein Kodierparadigma gewählt, welches von Strauss und Corbin (Strauss/Corbin 1996) erarbeitet wurde und das im Projekt fallspezifisch erweitert wurde. Dieser Kodierungsschritt stand am Ende einer Reihe von Analysestufen, wie sie im erwähnten Kodierschema der grounded theory vorgesehen sind. Ausgehend von ›natürlichen‹ Kategorien, wie sie in den Dokumenten zu finden waren, erlaubte die wiederholte Sichtung der Daten nach und nach die Zuordnung von Unter- und Überkategorien, welche auf diese Weise zu einem Kategoriengefüge verdichtet wurden. Um in dieses Gefüge Struktur zu bekommen, wurde aus zentralen Dokumenten eine fiktive ›Feldüberschrift‹ entnommen. Daraufhin wurden sieben auf diese Feldüberschrift bezogene Fragen formuliert, auf die hin dann das axiale Kodieren der Dokumente vorgenommen wurde. Ergänzt wurde das beschriebene Vorgehen durch zu verschiedenen Forschungszeitpunkten im Gruppenverband durchgeführte Sequenzanalysen, die kleinere Schlüsselpassagen der Texte zum Gegenstand hatten, welche vor dem Hintergrund des bis dahin erworbenen Wissens um den Fall ausgewählt wurden. Weiterhin wurden neben den Textdokumenten Interview- sowie Bilddaten aus dem Feld analysiert. Dar-
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über hinaus wurde ein Experteninterview mit der Leiterin des Programms ›Integration durch Sport‹ des DSB geführt, dessen Transkript innerhalb des Projekts in Form von Sequenzanalysen einzelner Schlüsselstellen ausgewertet wurde. Die Untersuchung hat sich überdies dem in der Literatur bislang stiefmütterlich behandelten Problem der Analyse von Sportstilen gewidmet (vgl. Kapitel B.V). Von besonderer Bedeutung war dafür die Entwicklung einer Analysematrix Fußball. In methodischer Hinsicht bietet Sport als in wesentlichen Bestandteilen nonverbales, körperliches Handeln ein hervorragendes Forschungsfeld für die immer noch ausstehende Formulierung einer sozialwissenschaftlichen »Hermeneutik nichtsprachlichen Ausdrucks« (Plessner 1982: 461). Ausgehend von der empirischen Projektarbeit wurde ein exemplarisches Verfahrensmodell für die Auswahl, kontrastierende Interpretation und Integration von nonverbalen und verbalen Daten entwickelt. Jedes ethnographisch verfahrende Forschungsprojekt ist mit der Problematik konfrontiert, die Fülle lebensweltlicher Erfahrungen, die die Forscher als Teilnehmer am Forschungsfeld machen, in ein begrenztes Sample sozialwissenschaftlich interpretierbarer Daten umzuwandeln. Ein erster Schritt der Datenreduktion ergibt sich aus den methodischen Implikationen der oben dargestellten Theorie sozialer Welten. So gilt es, statt den Versuch zu unternehmen, den ›whole way of life‹ einer Gruppe zu rekonstruieren, eine umgrenzte soziale Welt auszuwählen, die dann – als Teilzeitwelt mit Teilzeitzugehörigkeiten – von ihrer Kernaktivität her, auch in ihren Beziehungen zu angrenzenden oder übergreifenden Welten, rekonstruiert werden kann. Im konkreten Fall unseres Forschungsprojektes bedeutet dies, einzelne Teilmilieus der Fußballwelt zu untersuchen und als Ausgangspunkt der Interpretation die Kernaktivität Fußballspiel in ihren beiden Dimensionen des ›aktiven‹ und ›rezeptiven‹ Sports zu wählen. Den nächsten Arbeitsschritt bildet die Auswahl des ersten Untersuchungsfalls, an die sich die Erstellung einer Heuristik falltypischer Handlungssituationen anschließt. Diese Handlungssituationen werden audio-visuell aufgezeichnet, getrennt voneinander analysiert und anschließend kontrastiv interpretiert. Schließlich wird die Heuristik am Gesamtdatenmaterial überprüft, um festzustellen, ob die Situationen tatsächlich falltypisch sind oder ob z. B. weitere Situationen zusätzlich aufgenommen werden müssen. Anhand der exemplarischen Heuristik eines Teilfalls kann dies genauer dargestellt werden: Im Fall des untersuchten ethnischen Vereins erwies es sich in einer frühen Phase der Feldforschung als sinnvoll zwischen Handlungen zu unterscheiden, die sich vor allem auf die Binnenbeziehungen, die interne Struktur und das Selbstbild des Teilmilieus beziehen und solchen, die primär Rückschlüsse auf das Außenverhältnis des Teilmilieus erlauben. Entsprechend wurden Situationsheuristiken für beide Handlungsfelder erstellt. Im Binnenverhältnis wurden die Situationen ›Angriffsspielzug‹, ›Streit auf dem Spielfeld‹ und ›Zuschauerzurufe‹ unterschieden, im Außenverhältnis ›Umgang mit Gegenspielern‹, ›Umgang mit dem Schiedsrichter‹ und ›Verhalten gegenüber gegnerischen Zuschauern‹. Diese Kernaktivitäten wurden mithilfe sequenzanalytischer und anderer hermeneutischer Interpretationen ausgewertet. Zur Interpretation wurden theoretische Konzepte sowie Ergebnisse anderer Studien hinzugezogen. Nachdem die zentralen Deutungs- und Handlungsmuster erschlossen worden waren, wurden zusätzliche Daten herangezogen, darunter Beobachtungen im Vereinsheim, bei Mannschafts- und Vereinsbesprechungen, beim Training und auf Fahrten zu Spielen.
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Ergänzt wurden diese ›natürlichen‹ Daten durch Hintergrundinformationen, die in Interviews abgerufen wurden.
4. Ergebnisse 4.1 Einzelfälle Es wurden Einzelfallstudien in insgesamt neun Untersuchungsbereichen durchgeführt, deren Ergebnisse im Folgenden zusammengefasst werden. Ethnischer Verein: FC Hochstätt Türkspor Der FC Hochstätt Türkspor ist ein lokaler türkischer Fußballverein. Gegründet wurde er 1993 von Einwanderern der ersten Generation. Folgende Merkmale sind charakteristisch für diesen Untersuchungsfall (vgl. Kapitel B.V, vgl. auch Zifonun/Cndark 2004). (1.) Die Dominanz der türkischen Sprache: Im Gegensatz zu den oftmals behaupteten Sprachproblemen mit dem Türkischen in der zweiten Generation, konnten wir feststellen, dass diese sehr gutes Türkisch sprechen, in das aber typische Begriffe und Redewendungen der deutschen Fußballsprache eingebaut werden. (2.) Ein sehr höflicher Umgangston: Gerade zwischen den Generationen, was sich insbesondere an der Verwendung von Anredeausdrücken zeigt. (3.) Die Aufgabe und Ablehnung von als ›typisch türkisch‹ identifizierten Handlungsmustern im Fußball. Das betrifft sowohl die Unterwerfung der Jüngeren unter die Älteren als auch das Verächtlich-Machen von türkischen Fußballidealen. (4.) Die Übernahme typischer Deutungs- und Handlungsmuster des Fußballmilieus. (5.) Der Verein als Knotenpunkt im Mannheimer türkischen Migrantenmilieu und als Heiratsmarkt: Türkische Geschäftsmänner engagieren sich finanziell und in der Organisation des Vereins, der Verein bietet ihnen die Möglichkeit des Prestigeerwerbs und der Statusaufwertung. Der Verein bringt die türkischen Migranten aus dem Stadtteil Hochstätt zusammen ohne Rücksicht auf deren politische oder religiöse Orientierung, deren ethnokulturelle oder regionale Herkunft und Bildungs- oder Sozialstatus. Er fungiert als Heiratsmarkt über diese, die türkische Gesellschaft (in der Türkei) durchziehenden, Barrieren hinweg. Im untersuchten Verein zeigt sich damit eine Form ethnischer Selbstorganisation, die ›türkisch‹ in neuem Sinne ist: sie entspricht keiner innertürkisch spezifischen lokalen Kultur, sondern ist Ausdruck einer türkischen Migrantenkultur. Besonders bemerkenswert ist, dass sie einerseits ›türkischer ist als in der Türkei‹: sie basiert nicht auf einer lokalen türkischen Kultur, sondern auf türkischer Mainstreamkultur, wie sie so in Reinform in der Türkei nicht vorkommt. Gleichzeitig ist sie aber durchzogen von den in Deutschland erworbenen und deutsch gefärbten Deutungs- und Handlungsmustern der Fußballwelt. Neben den genannten Elementen interner Gruppenformierung ermöglicht der Verein eine Grenzziehung nach außen und die Etablierung eines geregelten Kontaktes zur deutschen Mehrheitsgesellschaft. Das wird erkennbar z. B. bei Spielen: man kennt sich, begrüßt sich, bewegt sich sicher auf fremden Plätzen, wird mit Respekt behandelt. Nach dem Spiel unterhält man sich miteinander über Schiedsrichterentscheidungen, über die mangelhafte
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Pflege der Sportanlagen durch die Stadt Mannheim u. ä. Auch die Interaktion mit dem Verband verläuft in geregelten Bahnen: man stellt Schiedsrichter, man geht zur Geschäftsstelle des Fußballkreises, wenn es Probleme zu diskutieren gilt, hält sich an die Vorgaben des Verbandes, unterhält sich mit Verbandsvertretern, wenn diese zu Spielen kommen, entschuldigt sich bei Konflikten etc. Die Türken der Hochstätt haben zusammengefasst keinen reinen Fußballverein gegründet, sondern einen, der neben der Ermöglichung fußballerischer Aktivitäten auch eine ganze Reihe anderer Funktionen erfüllen soll: die Sozialisation junger türkischer Männer, die Gemeindebildung ›in der Fremde‹, die lokale Verortung in der Mannheimer Stadtgesellschaft und die Teilhabe am ›türkischen‹ Migrantenmilieu in Mannheim. Der Verein wird von ihnen als Mittel der Integration im Sinne einer Binnenintegration in die deutsche Gesellschaft als gleichberechtigte Gruppe verstanden. Entsprechend erscheint der Verein und der Zusammenhalt hier als Selbstzweck, er wird nicht in Bezug auf etwas Übergeordnetes legitimiert oder transzendiert. Der Verein verfügt nur über eine ›flache‹ Allerweltsphilosophie, wird nicht etwa durch eine türkisch nationalistische Ideologie oder religiösen Extremismus überwölbt. Intern wird zwar eine Vielzahl divergierender symbolischer Orientierungen zugelassen, keine von ihnen darf jedoch einen Alleinanspruch reklamieren. Die Vermeidung von internen Konflikten ist entscheidend, weshalb Politik und Religion nicht thematisiert und Streitigkeiten sofort unterbunden werden. Nach außen kann man sich dadurch als geschlossene Einheit darstellen und den eigenen Platz in der Gesellschaft (hier der Fußballwelt) einfordern. Sportlicher Erfolg ist damit für den Verein eine zwiespältige Sache. Einerseits will man ihn: er ist Selbstzweck des Spiels und wichtig, wenn man sich nach außen darstellen und eine respektable Position erlangen möchte. Andererseits drohen mit sportlichem Erfolg die anderen Vereinsziele in den Hintergrund zu geraten, müssen dem Sport andere Ziele untergeordnet werden. Städtischer ›gemischter‹ Verein: SpVgg Sandhofen 03 Die SpVgg Sandhofen 03 ist ein traditioneller Stadtteilverein im Norden Mannheim. Das ehemals eigenständige Dorf Sandhofen wurde 1913 eingemeindet und besitzt noch heute ein hohes Maß an Distinktionsbewusstsein gegenüber anderen Stadtteilen. Der Grund dafür liegt nicht zuletzt am hohen Anteil ›Alteingesessener‹, die eine besonders starke Bindung an den Stadtteil aufweisen (vgl. Mamier 1999). Die Spielvereinigung Sandhofen entstand 1919 aus dem Zusammenschluss dreier Fußballvereine. Noch heute bildet die Fußballabteilung den Kern des Vereins. Die erste Mannschaft zählt einige türkische Spieler in seinen Reihen. Hinsichtlich ethnischer Selbst- und Fremdzuschreibungen ist das Bild hier uneindeutig: Einerseits spielt im Verein Ethnizität in vielen Situationen und Kontexten keine Rolle. D. h. mit Blick auf unsere Ausgangsfrage: »Mit welchen Deutungsmustern und Handlungspraktiken begegnen Deutsche und Migranten dem interkulturellen Kontakt im Milieu des Fußballsports?«: Nicht jeder Kontakt wird als ›interkultureller‹ Kontakt kodiert. Gerade im sportlichen Alltag, im Training, beim Aufwärmen, bei Mannschaftsbesprechungen, im Spiel ist Ethnizität irrelevant. Es herrscht eine Dominanz der Fußballkultur mit ihren Relevanzen und Regeln. Dies erklärt, dass es Migranten möglich ist, in der Mannschaftshierarchie hohe Positionen einzunehmen, wie
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etwa der Spieler E., der Mannschaftskapitän ist und auch in der informellen Rangordnung weit oben rangiert. Andererseits haben die türkischen Spieler der SpVgg Sandhofen kaum eigene Kontrolle über ihre ethnische Typisierung als Türken. Die Zuschreibungsmacht liegt hier bei der deutschen Seite. Man muss sich als »unser Türke« bezeichnen lassen, sich anhören man sei »anders als die anderen Türken«, kein »typischer Türke« oder sich ethnisierte Späße anhören: »Hast du zu viel Döner gegessen?« etc. Oder es wird beispielsweise von den türkischen Spielern der SpVgg Sandhofen erwartet, dass sie zum »Kabinenfest«, das den Zusammenhalt der Mannschaft stärken soll, ›türkisches‹ Essen und Musik mitbringen. Sie müssen sich also dem deutschen Klischee ›türkischer‹ Kultur fügen. Eine Vielzahl ›türkischer‹ Spieler bevorzugt Vereine wie die SpVgg Sandhofen und hat kein Interesse, in ethnischen Vereinen zu spielen. Sie sind dann allerdings neben vielfältigen Situationen der ethnischen Stereotypisierung auch dem Zwang zur Teilhabe an ›deutschen‹ Praktiken ausgeliefert. Hier spielt bei der SpVgg Sandhofen insbesondere die ausgeprägte Vereinkultur eine zentrale Rolle: Der Teilhabe an ›deutschen‹ Formen der Geselligkeit (Gesänge, Stammtisch, Alkoholkonsum) können sich die Spieler nur schwer entziehen. Türkische Spieler, die dies versuchen, werden ausgegrenzt, wie im Untersuchungsfall am Beispiel des Spielers S. deutlich wurde. Neben der Orientierung an den Relevanzen der Fußballwelt und der Vereinskultur ist der Stadtteil von zentraler integrativer Bedeutung. Der Verein definiert sich stark als Sandhofener Verein. Er bemüht sich, Spieler aus dem Stadtteil zu rekrutieren und langfristig an sich zu binden, engagiert sich in stadtteilhistorischen Aktivitäten und ist im sozialen Leben des Stadtteils präsent. Der Verein wird getragen von einer Gruppe alteingesessener Familien, die seit langer Zeit miteinander verbunden sind. Migranten haben bisher noch keine Positionen in der Vereinsorganisation gewinnen können. Aber auch für Spieler von außerhalb, egal ob sie Deutsche oder Migranten sind, ist es schwer, sich im Verein zu etablieren. Vielfach überdeckt die lokale Konkurrenz zu anderen Stadtteilvereinen ethnische Differenzen. Ländlicher ›gemischter‹ Verein: SG Hohensachsen Der untersuchte Verein befindet sich in einer Gemeinde, die ihre dörfliche Autonomie 1973 im Zuge der Eingemeindung in die die Stadt Weinheim verloren hat. 17 km von Mannheim entfernt gelegen, ist Hohensachsen dem Fußballkreis Mannheim zugehörig. Bei der Sportgemeinde Hohensachsen, 1946 aus dem Zusammenschluss zweier Turnvereine entstanden, handelt es sich um einen großen Mehrspartenverein, in dem Handball eine deutlich wichtigere Rolle spielt als Fußball. Der Ort stellt für einen großen Teil der Bevölkerung weder deren Lebenszentrum dar, noch erfüllt er umfassend die sozialen Funktionen einer dörflichen Gemeinde. Bei der alteingesessenen Bevölkerung entwickelten sich als Folge des Autonomie- und Funktionsverlustes der Gemeinde und des Zuzuges von Neubürgern Gefühle der Identitätsbedrohung und der Marginalisierung. Diesem Personenkreis dient insbesondere die Fußballabteilung der SG Hohensachsen als Rückzugsraum vor den Anderen und Fremden (Neubürger, Stadtbewohner), die als Eindringlinge und Bedrohung erfahren werden. In Lokalderbys mit Vereinen aus Nachbargemeinden bietet sich die seltene Chance, dörfliche Identität darzustellen und diese auf ›traditionelle‹ Weise zu refigurieren. Dabei bringt sich ein dörflicher
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Habitus zum Ausdruck, der sich beim Spiel in Form einer rohen und aggressiven Spielweise und im derben persönlichen Umgang Ausdruck verleiht. Als besonders prekär erweist sich dabei die Position des Schiedsrichters. Wenn dieser sich an den gleichen Handlungsmustern orientiert – aggressiv, maskulin, ›bodenständig‹, hart und autoritär auftritt – wird ihm Regelungskompetenz zugebilligt. Tut er dies nicht (erwartet er Selbstbeherrschung, Fähigkeit zu Ironie und Distanz, Spaß am Sport; erwartet er, schlicht als Autorität qua Amt akzeptiert zu werden), wird er als Repräsentant einer fremden Ordnung verstanden, der prinzipiell das Dorf benachteiligt. Er wird herabgewürdigt, bedroht, unter Druck gesetzt, man zahlt ihm symbolisch heim, was man selbst als Marginalisierung erfährt. Ähnlich werden Partien gegen Mannschaften städtischer Vereine zu Stellvertreterauseinandersetzungen mit der urbanen Ordnung. Dieser Vereinstypus ist dazu in der Lage, eine kleine Zahl ortsansässiger, assimilationsbereiter Migranten aufzunehmen, die sich mit subalternen Positionen begnügen. Dies gilt sowohl für Spieler, denen die Rolle ›unser Ausländer‹ zugewiesen wird, als auch für Personen im Vereinsumfeld. Diese paternalistische Annahme von ›Ausländern‹ paart sich mit der rassistischen Abwehr von Migranten, etwa in Begegnungen gegen ethnische Vereine, die von Angehörigen solcher Vereine als deutlicher ausgeprägt beschrieben wird, als dies bei ›innerstädtischen‹ Aufeinandertreffen der Fall ist. Die Welt der Schiedsrichter Die Welt der Schiedsrichter liegt quer zu den genannten Fußballmilieus. Schiedsrichter werden zwar von den Vereinen gestellt, sind jedoch unabhängige Regulierungsinstanz. Ihr Milieu verfügt über eine eigene Regel- und Normstruktur, die stark männerbündisch und kameradschaftlich orientiert ist. Weder die Integration von Frauen noch die von männlichen Migranten in dieses Milieu ist weit fortgeschritten. Dies zeigt sich sowohl in der formalen Organisation der Schiedsrichtervereinigung als auch in der Interaktion bei Treffen der Schiedsrichtervereinigung. In ihrer Selbstwahrnehmung sind Schiedsrichter ›die Macht‹, sie verfügen über eine hohe Selbstbewertung, sowohl was ihr Leistungsvermögen, als auch was ihre Bedeutung betrifft. Funktionäre und Ausbilder der Schiedsrichtervereinigung bemühen sich, ihren Kollegen ein Image des Schiedsrichters als ›Amtscharismatiker‹ zu vermitteln, der als mit umfangreichen Mitteln ausgestattete und von einer ›Idee‹ vom regelgerechten Sport beseelte Machtperson auftritt. Dabei können zwei ideale Handlungsmodelle unterschieden werden: Im ›autoritären Modell‹ spielt der Schiedsrichter seine Macht aus und stellt sich expressiv als Autorität dar. Er vermeidet verbalen Kontakt zu den Spielern und ›lässt Karten sprechen‹. Zentrale Ordnungskategorie ist ›Disziplin‹. Im ›diskursiven Modell‹ kommuniziert, erklärt, ermuntert der Schiedsrichter. Seine Sanktionsgewalt bleibt im Hintergrund. Er steuert das Spiel im Modus der ›Fairness‹. Deutlich wurde die große Bedeutung von Schiedsrichtern (und bei Veranstaltungen des LSV: ›Teamern‹) für den Verlauf von Fußballspielen. Das Aufkommen einer aggressiven Stimmung sowohl unter den Spielern als auch unter den Fans hängt stark von der Spielleitung durch den Unparteiischen ab. So sind Schiedsrichter oftmals selbst Verursacher von Konfliktsituationen, derer sie in der Folge nicht mehr Herr zu werden in der Lage sind. Dies geschieht insbesondere, wenn Schiedsrichter sich der Spielsituation und den Mannschaften nicht anpassen, sondern umgekehrt versuchen, das Spiel ihrer Regelauslegung zu unterwer-
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fen. In solchen Fällen schlägt das ›Charisma der Macht‹ um in das ›Stigma des Machtmissbrauchs‹. Einerseits impliziert die Position des Schiedsrichters als neutraler Autorität ein Konfliktbewältigungspotential im interethnischen Kontakt. Andererseits ist der Vorwurf oft zu hören, Schiedsrichter seien parteiisch und bevorzugen die eine oder andere Seite aufgrund ihrer eigenen ethnischen Zugehörigkeit. Schulsport: Uhland-Hauptschule und Integrierte Gesamtschule Mannheim Im Bereich des Schulsports ist die besondere Bedeutung einer sportiven Selbstemblematisierung der Jugendlichen, insbesondere mit Fußballtrikots, für die Zugehörigkeit zum Fußballmilieu und die Anerkennung durch die Gruppe auffällig. Die Emblematisierung mit internationalen Trikots aktueller Fußballikonen (z. B. das brasilianische Nationaltrikot des Spielers Ronaldo oder das Madrider Vereinstrikot des Spielers Zidane) befördert zudem die transkulturelle Integration. Diese sowie sich überkreuzende Zugehörigkeiten zu unterschiedlichen Gruppen (Schulklasse, Klassenstufe, Nationalität, abhängig von der Spielstärke etc.) scheinen zu einer Dämpfung von Konfliktpotentialen beizutragen. Die für den Umgang zwischen männlichen Jugendlichen typische Hänseleien und Beschimpfungen rekurrieren nur in Ausnahmefällen auf ethnische Kategorien und bewegen sich ansonsten im Spektrum allgemeiner Herabwürdigungsmuster. Insgesamt ist bei den untersuchten Jugendlichen eine ausgeprägte Alltagskompetenz im Umgang mit kultureller Differenz zu beobachten, die sich beispielsweise in ihrer lexikalischen, Sprachgrenzen überschreitenden Offenheit wie selbstverständlich manifestiert. Gestützt wird dies durch eine bei den Lehrern im Laufe der Jahre gewachsene Erfahrung im Umgang mit multiethnischen Gruppen (s. auch hierzu den Abschnitt ›Integrationspotentiale‹). Integrationsvorstellungen der Dachverbände: DSB und DFB Grundlegend für die Konstellation ist die dilemmatische Situation des Deutschen Sportbundes (DSB), der einerseits die vorbehaltlose Zusammenarbeit mit der Politik scheut, da er sich selbst in Abgrenzung zu Staat und Gesellschaft definiert. Andererseits ist der Verband angewiesen auf Zuwendungen aus der Politik sowie auf anhaltenden Mitgliederzulauf aus der Gesellschaft, um seine Größe und damit seinen gesellschaftspolitischen Einfluss aufrecht zu erhalten (vgl. Kapitel B.VI). Der DSB versucht dieses Problem zu lösen, indem er seine Unersetzbarkeit für das Gemeinwesen zum Ausdruck bringt, und zugleich betont, dass er sich ohne äußeren Zwang oder politischen Auftrag, allein auf der Grundlage seiner Ideale, zur Erfüllung seiner nützlichen Funktion entschlossen hat. Insofern der DSB vor diesem Hintergrund die Partnerschaft mit Politik und Gesellschaft als spezifische Form der Interessenvertretung (im Gegensatz etwa zum Lobbying) wählt, kommt es nicht von ungefähr, dass sich viele der ausgewerteten Dokumente einer Sprache bedienen, wie sie in der Werbebranche üblich ist. Dies gilt auch für diejenigen Dokumente, in denen der DSB zum Thema Integration Stellung nimmt. Integration, so der DSB, stellt einen der wesentlichen, sozial nützlichen Aspekte des Sports dar. In den Dokumenten des DSB nimmt die Behauptung, dass Sport integriere, fast schon den Status eines Allgemeinplatzes ein. Die Äußerungen sind durch ein hohes Maß an Diffusität und pathetischer Aufladung gekennzeichnet (z.
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B.: »Ziel ist es, bestehende Spannungen zwischen sogenannten sozialen Problemgruppen abzubauen und das Verständnis untereinander zu fördern«; »Angesichts zunehmender Vereinzelung und des Rückgangs wertevermittelnder Erziehung kommt dem Sport eine immer größere Bedeutung zu«; »Sport spricht alle Sprachen«), während über den spezifischen Modus dieser integrativen Leistung vergleichsweise wenig zu finden ist. Letztlich lassen sich in dieser Hinsicht zwei Positionen des DSB extrapolieren: 1) Die pädagogisch orientierte Annahme, dass im Sport – ›per se‹ – spezifische Werte vermittelt würden, die den Umgang miteinander erleichterten. Dieses Moment rekurriert auf Regelkenntnis und Regelanerkennung, also auf eine rationale, bewusste Ebene von Sozialität. Im Gegensatz hierzu steht 2) die Sichtweise, dass beim gemeinsamen Sporttreiben eine Art körperlicher, irrationaler Vergemeinschaftung stattfinde, die potentieller Eingliederung Vorschub leiste. Speziell die Ausführungen zu 2) sind – quantitativ wie qualitativ – beim DSB wenig ausgearbeitet. Aus soziologischer Sicht liegt die Vermutung nahe, dass die inhaltliche Unterbestimmung der behaupteten Integrationsleistung selbst eine vergemeinschaftende Funktion erfüllt. Mit der plakativen Darstellung des Integrationsvermögens des (organisierten) Sports (z. B. »Sport tut Deutschland gut«) können sich potentiell mehr Personen identifizieren als mit einer detailliert ausgearbeiteten. Insgesamt beinhalten die Integrationsvorstellungen der Spitzenverbände, gerade aufgrund des erwähnten Fehlens von schlüssigen Aussagen zum Integrationsmodus, kaum handlungsrelevante Vorgaben für die Ebene des Vereinssports. Wohl aber sind in ihnen symbolische Integrationsvorstellungen abgelagert, auf die die Akteure des Fußballmilieus in ihren alltagsweltlichen Auseinandersetzungen um Zugehörigkeit zurückgreifen (vgl. exemplarisch Kapitel B.V). Integrationskonzepte auf Landesebene: LSV Baden-Württemberg Es lassen sich zwei Strukturmomente unterscheiden, an welchen die Trennlinie zwischen den offiziellen Integrationsvorstellungen des Deutschen Sportbundes (DSB) und der Landessportverbände festgemacht werden kann: Zum einen zeichnen sich die Texte der Landesebene durch einen stärkeren Praxisbezug aus, zum anderen wechselt mit dem Adressaten der Texte zugleich deren Legitimationsstrategie. Beides lässt sich beispielhaft an einem Moment verdeutlichen, das in der Selbstdarstellung des DSB eine zentrale Rolle spielt, in den Dokumenten der Landesebene jedoch in den Hintergrund rückt: der Wertebezug des Sports. Weder definieren sich die Landesverbände als Wertegemeinschaften, noch stellen sie den Aspekt der Wertevermittlung im Sport besonders heraus. Das ist einerseits durch eine vergleichsweise pragmatische Sichtweise zu erklären, welche aus Erfahrung um das ausschließende und gerade nicht integrativ wirkende Potential einer Betonung kulturspezifischer Werte weiß, und andererseits darauf zurückzuführen, dass die Landesverbände dem eigenen Dachverband gegenüber ihre moralische Integrität nicht unter Beweis zu stellen haben, sondern vielmehr ihre finanziellen Ansprüche durch den Verweis auf konkrete Erfolge ihrer Integrationsmaßnahmen vor Ort legitimieren müssen. Für die Theorieebene bedeutet dieser empirische Befund, dass die Rede von einer »Integrationsideologie«, wie sie für den DSB zutrifft, nicht ohne weiteres auf die Landesverbände übertragen werden kann. Nach der gewählten Definition bezeichnet »Ideologie« 1)
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eine von einer sozialen Gruppe geteilte Wirklichkeitsbestimmung, welche 2) von einer sozialen Elite typischerweise praxisfern ausformuliert wird und 3) zum Zwecke der internen wie externen Legitimierung und somit der Durchsetzung gesellschaftspolitischer Machtinteressen 4) die Realität auf eine spezifische, eigene Art und Weise widerspiegelt. Offenbar treffen die Aspekte 2) und 3) dieser Definition bloß bedingt auf die LSVe zu, so dass hier – mit Hinblick auf die durchaus bestehenden Gemeinsamkeiten mit dem DSB besser von »ideologischen Zügen« in den Integrationsvorstellungen zu sprechen ist. Integrationspolitik auf lokaler Ebene: ›Modellprojekt Mannheim‹ Die vom LSV Baden-Württemberg initiierte Etablierung eines Mannheimer Modellprojekts ›Integration durch Sport‹ stößt auf Probleme. Verantwortlich dafür sind die unterschiedlichen Interessen und Orientierungen der Akteure (städtische Dienststellen, Polizei, LSV, Caritas, Sportverband etc.). So lassen sich das Interesse an Kriminalprävention, sozialer Integration, Ressourcenbeschaffung und Rekrutierung von Sportlern nicht einfach im Rahmen derselben Maßnahmen konzipieren, geschweige denn verwirklichen. Ausgeprägte Besitzstandswahrungsinteressen und divergierende Situationseinschätzungen erschweren zudem bei den beteiligten städtischen und parastaatlichen Institutionen die Einsicht in die Notwendigkeit neuer Maßnahmen. Gemeinsam ist diesen Akteuren jedoch die Ablehnung ethnischer Selbstorganisation, die als integrationshemmend erachtet wird. Zudem ist ein geringer Wirkungsgrad dieser Integrationsförderungsmaßnahmen zu konstatieren. Hauptgrund dafür dürfte die Eigenständigkeit des Milieus Fußball sein, das sich gegen äußeren Zugriff sperrt. Die Handlungslogik der Akteure zielt auf die Integration in den Sport und die symbolische Integration des Milieus, nicht auf ›Integration durch Sport‹ in die Gesellschaft. Man kann bei diesem Fall insofern von »erfolgreichem Scheitern« (Seibel 1996) sprechen, als den beteiligten Institutionen zwar einerseits – aufgrund der Steuerungsresistenz des Fußballmilieus – die Integrationsförderung weitgehend misslingt, es andererseits den korporativen Akteuren jedoch gelingt, ihre organisationale Stabilität, ihren Rang und die Ressourcenzufuhr sicherzustellen. Möglich ist dies, weil die Öffentlichkeit vor allem an einer ›symbolischen‹ (Schein-)Lösung des Integrationsproblems im Fußballmilieu interessiert ist und an einer Offenlegung der Integrationsprobleme in dieser scheinbar ›heilen Welt‹ nur geringes Interesse hat.
4.3 Ambivalentes Milieu und Ambivalenzmanagement Die von uns untersuchten Handlungs- und Deutungsmuster lassen sich unterschiedlichen Ordnungszusammenhängen zurechnen: Das Fußballmilieu verfügt über eine moralische Ordnung, in deren Zentrum neben dem Fairnessgebot die Idee der Kameradschaft und Freundschaft steht. Die sportliche Erfolgsordnung wird bestimmt durch Ideale der Leistung, des Siegs und des Aufstiegs. Zur rechtlichen Ordnung sind neben dem Regelwerk des DFB auch Absprachen im Fußballkreis zu zählen. Den Kern der materiellen Ordnung machen die Haushalte der Vereine aus, die Einnahmen aus Mitgliedsbeiträgen, Eintrittsgeldern und Sponsoring erwirtschaften und zu deren Ausgaben insbesondere Aufwandsentschädi-
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gungen und das Zur Verfügung Stellen von Ausrüstung für die Spieler zu rechnen sind sowie Ausgaben für den Spiel- und Trainingsbetrieb und Gebühren an Verband und Gemeinde. Schließlich weist das Milieu eine ethnische Ordnung auf, die durch soziale Schließung und ethnische Selbstorganisation gekennzeichnet ist. Charakteristisch für die Fußballwelt ist nun, dass diese Ordnungen zum einen in sich widersprüchlich sind und sich zum anderen überlagern, was die Ambivalenz des Milieus weiter steigert. Dies zeigt sich zum einen in der Grundstruktur der Fußballwelt. Als ›Kampfspiel nach Regeln‹ (s.o.) ist sie durch die widersprüchliche Einheit von Kooperation und Regelkonsens einerseits und Konflikt andererseits gekennzeichnet. Der Norm des Siegens steht die Gegennorm des Fairplays gegenüber. Für den Einzelnen schlägt sich dies in »Rollenambivalenz« nieder, den einander widersprechenden Anforderungen, die etwa ein Spieler erfährt. Es war genau dieses Phänomen der Rollenambivalenz, das Robert K. Merton (Merton/Barber 1976) ins Zentrum seiner Erörterung ›soziologischer Ambivalenz‹ stellte. Merton und in seiner Nachfolge Rosa Coser (1966) bezeichneten damit Formen der Doppelwertigkeit und Gleichzeitigkeit, deren Ursachen sie nicht in mentalen Prozessen, sondern in sozialen Strukturen verorteten. Aus psychologischer Perspektive erscheint Ambivalenz als innere Erfahrung und psychischer Mechanismus, der ausgelöst wird, wenn wir versuchen, mit widersprüchlichen Gefühlen, Gedanken oder Handlungen umzugehen. Sie bezeichnet das Nebeneinander von entgegen gerichteten Gefühlen. Im Gegensatz dazu argumentiert Merton, dass Ambivalenz nicht nur eine innere Angelegenheit des Einzelnen ist, nicht nur im Gefühlshaushalt des Individuums angesiedelt ist, sondern in die Sozialstruktur der Gesellschaft eingebaut ist, in die sozialen Positionen und sozialen Rollen, die wir als Mitglieder der Gesellschaft einnehmen. Ausgehend von Mertons Überlegungen werden im Folgenden nicht nur zentrale Aspekte der Ambivalenzerfahrung im Fußballmilieus benannt, sondern auch die charakteristischen Strategien nachgezeichnet, derer sich die Angehörigen des Milieus bedienen, um Ambivalenz zu bewältigen. So reagieren Spieler auf die erwähnten gegensätzlichen Anforderungen, die sich aus den Anforderungen zentraler Normen und Gegennormen ergeben mit »oscillation of behaviors« und »alternation of subroles« (Merton/Barber 1976: 8, 18). Das Shake-hands vor Spielbeginn, der Wimpelaustausch der Mannschaftskapitäne und freundliche Gespräche am Spielfeldrand sind keineswegs Ausdruck von Heuchelei, sondern Ausdruck situativen, rollengerechten Verhaltens. Auch zuerst zu foulen und sich dann zu entschuldigen, ist keineswegs, wie von Außenstehenden immer wieder vermutet, ›scheinheilig‹, sondern zeigt lediglich, wie schnell Verhalten auf dem Platz oszillieren kann und darf. Die Verweigerung der Entschuldigung wird zum Problem, nicht das offensichtliche Spannungsverhältnis, in dem sie zum absichtlichen Foul steht. Das abrupte Abwechseln bzw. die raum-zeitliche Nähe von Handlungen, die sich an Norm und Gegennorm orientieren, sind im Fußballmilieu durchaus üblich und selbst Normalität. Und auch die Ambivalenz des zweiten Grundaspekts der Fußballwelt, den wir beschrieben haben, hat eine stabile Form der Institutionalisierung erfahren. Gemeint ist damit die ›Mittellage‹ des Sports zwischen technisch-bürokratischer ›Logik‹ einerseits und Orientierung an ›gemeinschaftlichen‹ Handlungs- und Deutungsmustern andererseits. Es ist die Organisationsform des Vereins, die diese Spannung aufnimmt und die ihr einen stabilen Handlungsrahmen gibt. Der Verein vereint das zweckrationale Handeln,
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wie es in Vorstandsbüro oder im Training die Regel ist, mit dem affektiven und wertrationalen, das die Vereinsgaststätte, die Vereinsfeier oder das Zuschauerverhalten auszeichnet. Wenden wir uns aber der Ambivalenz im Kontext der ethnischen Ordnung des Fußballmilieus zu. Hier können wir zunächst zwei Aspekte der Ambivalenz im ethnischen Verein unterscheiden, bevor wir uns der Ambivalenz gegenüber Einwanderern im Fußballmilieu zuwenden.
4.3.1 Ambivalenz und Ambivalenzmanagement im ethnischen Verein ›Kulturelle Ambivalenz‹ Wir können zunächst auf etwas zu sprechen kommen, was man ›kulturelle Ambivalenz‹ nennen könnte. Hier kann man wiederum zwei Aspekte unterscheiden. Zum einen die Existenz widersprüchlicher Werte im ethnischen Milieu, zum anderen den Widerspruch zwischen der Orientierung an Normen der Fußballwelt einerseits und der Gültigkeit ethnisch-kultureller Deutungsschemata andererseits. Zunächst zu den widersprüchlichen Werten im ethnischen Milieu. Widersprüchliche Werte im ethnischen Milieu Diese Problematik lässt sich gut illustrieren anhand des Beispiels des FC Hochstätt Türkspor, das in Kapitel B.V genauer dargestellt wird. Der Verein besitzt ein Clubhaus, in dem er, was nicht unüblich ist, ein Lokal betreibt, in dem Alkohol ausgeschenkt wird. Erstaunlich ist jedoch, dass Tür an Tür mit dem Café ein Gebetsraum untergebracht ist. Wir haben es hier mit zwei Teilwelten dieser lokalen Sozialwelt zu tun, die ganz unterschiedliche Wertorientierungen und Relevanzen implizieren und sich um Aktivitäten geformt haben, die aus der Sicht der Handelnden i.d.R. unvereinbar sind und die üblicherweise streng getrennt werden. Es drängt sich nun unmittelbar die Frage auf, wie es dem Verein gelingt, diese Pluralität und Widersprüchlichkeit zu stabilisieren und zu erhalten. Die Antwort ist: durch einen geteilten kollektiven Mythos besonderen Typs, den die Akteure selbst als ›Hochstätt-Philosophie‹ bezeichnen. Die Schlüsselelemente dieser Weltanschauung, die uns während der Feldforschung in den unterschiedlichsten Kontexten begegnet ist, sind Offenheit, Ehrlichkeit, Friedfertigkeit und gegenseitige Achtung. All das sind, wie man sofort erkennt, keine kulturspezifischen oder handlungskontextuellen Werte. Im Gegenteil: Die Hochstätt-Philosophie rekurriert auf Orientierungen, die sehr, sehr weit und unspezifisch sind und die im Allgemeinen als universell verstanden werden. Es handelt sich mit anderen Worten um einen Ordnungsrahmen, der so weit gespannt ist, dass darunter prinzipiell jeder und alles Platz findet, unabhängig von den jeweiligen Aktivitäten und Wertorientierungen. In diesem Sinne ist diese Moral integrativ und offen für Vielfalt. Wenn man es nun bei einer Diskursanalyse dieser höchsten symbolischen Sinnschicht beließe, käme man zu dem – falschen – Ergebnis, in diesem Milieu existierten keine sozialen Ausschlüsse. Wenn wir uns also die soziale Handlungspraxis anschauen, stellen wir fest, dass diese Idealisierungen immer nur dann aktiviert werden, wenn es um die Erfahrun-
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gen einer historisch ganz spezifischen Gruppe geht: der männlichen türkischen Migranten der Fußballwelt ›auf der Hochstätt‹ (vgl. Kapitel B.V). Orientierung an Normen der Fußballwelt vs. Gültigkeit ethnisch-kultureller Deutungsschemata Die zweite Form ›kultureller Ambivalenz‹ im ethnischen Milieu, auf die wir eingehen möchten, ist die doppelte Orientierung an der Fußballwelt und an der ethnischen Welt. Wir haben es mit zwei Welten zu tun, die gegenüber ihren Angehörigen i.d.R. einen Totalitätsanspruch haben: Also zum einen: Wenn du Fußballer bist, bist du nur Fußballer und sonst nichts. Zum anderen: wenn du Deutscher (Türke, Amerikaner, etc.) bist, bist du Deutscher (Türke, Amerikaner, etc.) und sonst nichts. In der Handlungspraxis des Fußballmilieus zeigt sich jedoch, dass sich die Akteure sowohl an den Normen der Fußballwelt orientieren als auch ethnisch-kulturelle Deutungsschemata Gültigkeit besitzen. Wieder ist der Fall des FC Hochstätt Türkspor illustrativ (vgl. Zifonun/Cndark 2004). Der Verein ist zum einen ins ›türkische‹ Migrantenmilieu eingebettet. Das zeigt sich unmittelbar in der Verwendung des Türkischen als uneingeschränkte Interaktionssprache bei Vereinstreffen. Das Deutsche wird in diesem Kontext lediglich zum Zitieren, Hervorheben oder in Form von Insertionen einzelner lexikalischer Ausdrücke verwendet. Diese Form des Code-switchings oder -mixings kommt aber bei Mannschaftssitzungen, bei denen auch Vorstandsmitglieder (in der Regel Angehörige der ersten Migrantengeneration) anwesend sind, seltener vor als bei Interaktionen zwischen Spielern oder im Internetgästebuch des Vereins. Des Weiteren zeigt sich die Orientierung der Akteure auf ›türkische‹ Werte und Normen in Verwendungsweisen von türkischen Deutungsmustern und Anredeformen auch im Kontext des Fußballs. Eine zentrale Rolle spielt hier die Relevanz des Alters in der Hierarchisierung der kommunikativen und sozialen Praxis. In der alltäglichen Vereinskommunikation – auf und neben dem Fußballplatz – befolgen Jüngere relativ strikt die Regel, Ältere mit der Anredeform »NAME + abi« (älterer Bruder) oder nur mit »abi« anzusprechen. Eine türkische Verhaltensmaxime, die bezüglich dieser Hierarchisierung nach Alterszugehörigkeit im Verein immer wieder aktiviert wird, lautet – so der Präsident zur Mannschaft: küçük büyüünü sayacak büyüüde küçüünü sevecek (der Jüngere wird seinen Älteren respektieren und der Ältere wird seinen Jüngeren lieben). Diese Maxime kommt in den unterschiedlichsten Sprechhandlungen in verschiedenen Variationen vor. Neben diesen Leitbildern aus der (lokalen) ethnischen Sozialwelt existieren aber auch Deutungs- und Handlungsmuster aus der Fußballwelt. In der kommunikativen Praxis ist eine eindeutige Dominanz der fußballerischen Leitbilder des sozialen Handelns festzustellen. Nahezu alle Metaphern, soziale Kategorisierungen und Orientierungsrahmen stammen aus der Fußballwelt. Nur in Ausnahmefällen und ganz selten wird diese Regel des Sprechens durchbrochen und mit ethnischen Kategorien ergänzt. Trotz dieser Dominanz des Fußballwissens besteht hier aber eine gewisse Spannung. Wie lösen die Angehörigen des Vereins diese Uneindeutigkeit und Unentschiedenheit? Die Antwort lautet: Indem sie »›Versionen‹ des Allgemeinwissens« (Schütz/Luckmann 2003: 427) artikulieren: Es werden türkische Versionen der universellen Fußballsprache verwendet und die eigene, türkisch kodierte Praxis als Ausprägung von etwas allgemeinem behan-
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delt. Ein wichtiges Beispiel ist hier das Konzept ›arkadalk‹, Freundschaft, das einen spezifischen, ethno-kulturellen Erfahrungshorizont transportiert (vgl. Kapitel B.V). ›Arkadalk‹ besitzt einen hohen Stellenwert im Deutungshaushalt der sozialen Welt von Hochstätt Türkspor. Das gilt für die Bedeutung von ›Freundschaft‹ in der ›Hochstätt-Philosophie‹ wie für die alltagsweltliche Verwendung des Konzeptes. Aber Freundschaft ist jenseits der kulturell spezifischen Kodierung ein Wert der Fußballwelt schlecht hin, den es auch in einer deutschen Version gibt: »11 Freunde sollt ihr sein« ist einer der zentralen Sinnsprüche von Sepp Herberger. Freundschaft bezieht sich in der Herbergerschen Version auf die Opferbereitschaft, die man aufbringen soll für die Mannschaft, fürs Ganze. Freundschaft soll Egoismus eindämmen, der – vermeintlich – den Erfolg der Mannschaft gefährdet. Ein zweites Beispiel für solche Versionen des Allgemeinwissens ist die türkische Kategorie ›kabaday‹ (vgl. Kapitel B.V). Kabaday lässt sich paraphrasiert als »furchtloser, rauflustiger Angeber« übersetzen. »Kabaday Verhalten« wird von der Vereinsführung explizit abgelehnt und von den Spielern als lächerlich und ›dumm‹ disqualifiziert. Das spannende an dieser Kategorie ist, dass sie zum einen eine Version des Allgemeinwissens darstellt: Es ist ein geteiltes Wissen in der Fußballwelt, dass Schläger auf dem Platz nichts zu suchen haben. Zum anderen wird die Ablehnung dieses Verhalten, das in seiner türkischen Version diskutiert wird, in der universellen Fußballsprache vollzogen: Es wird kontrastiert mit Verhaltenserwartungen, die dem englischen Ideal des Sportmanships entspringen und dabei wird explizit die Fairnessregel benannt. Für den Begriff »fair« gibt es im Türkischen wie im Deutschen keine Übersetzung. Anders gesagt: Indem Deutungsschemata verwendet werden, die beiden Welten angehören, der ethnischen wie der Fußballwelt, wird Ambivalenz mit Ambivalenz bekämpft. Es ist unentscheidbar, ob ›arkadalk‹ ein türkisches Konzept ist oder eines der Fußballwelt. Wer wen ›kolonisiert‹ bleibt offen. Und auch in ›interkultureller Perspektive‹ gilt: Deutsche und Türken meinen Dasselbe und doch etwas Unterschiedliches. Versionen des Allgemeinwissens konstituieren ein sowohl als auch, das Differenz nicht auflöst, aber die beiden Bereiche aufeinander bezieht. Gegensätzliche Stats in einer Position Das nächste schließt unmittelbar an das eben über ›kulturelle Ambivalenz‹ gesagte an, bezieht sich aber nicht auf ›globale‹ Kulturunterschiede innerhalb des ethnischen Milieus, sondern darauf, wie diese den Einzelnen in einer ganz konkreten Position betreffen. Wir beschränken uns wiederum auf die Position des Spielers und die Ambivalenz, die sich aus dem doppelten Status als ›ethnischer Spieler‹ ergibt und bedienen uns des Beispiels des Spielers H. Dieser klagt darüber, dass er und die anderen Spieler vom Vereinsvorstand als Repräsentanten der Türkei bzw. des Türkisch-Seins verstanden werden. Der Trainer will, dass sie stolz und geschlossen, selbstbewusst als Türken auftreten, weist immer wieder darauf hin, dass sie eine Verantwortung dafür haben, wie Türken in Deutschland wahrgenommen werden. Demgegenüber sei er selbst vor allem an sportlichem Erfolg interessiert. Auch der ethnisierenden Zuschreibungen von deutscher Seite ist er sich bewusst: Sie werden als ›die Türken‹ wahrgenommen, nicht als Sportler.
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Anders als im von Merton (1957) diskutierten Fall des Lehrers ist der Position ›ethnischer Fußballer‹ Ambivalenz strukturell inhärent. Sie ergibt sich nicht erst aus den unterschiedlichen Verhaltenserwartungen im Rollensatz der Position. Vielmehr ist die Position selbst doppelwertig: In ihr überschneiden sich der Status ›Türke‹ der ethnischen Sozialordnung mit dem des ›Spielers‹ aus der sportlichen Erfolgsordnung. Indem Spieler H die ethnische Rollenerwartung dem Trainer und den deutschen Zuschauern zuschreibt, sich selbst aber die sportliche, schafft er eine Differenzierung, die es ihm erlaubt, Ambivalenz subjektiv zu bearbeiten. In der öffentlichen Rollenperformanz sind derartige Segmentierungen jedoch ungeeignet, da die zu erbringende Leistung ›ethnischer Spieler‹ gerade darin liegt, die widersprüchliche Einheit expressiv zum Ausdruck zu bringen. So berichtet Spieler H nach einem Spiel, bei dem ein Mitspieler den Linienrichter niedergeschlagen hatte, Folgendes: Seine erste Reaktion war, sich auf das Spielfeld zu legen und in den Himmel zu starren. Dabei dachte er: »Oh nein, jetzt geht das wieder los, warum macht der nur so einen Scheiß, ich will damit nichts mehr zu tun haben, jetzt heißt es wieder ›die Türken‹«. Nach dem Spiel dann ging er zu Bekannten, die Anhänger der gegnerischen Mannschaft waren und das Spiel am Spielfeldrand verfolgt hatten und entschuldigte sich für den Zwischenfall, worauf diese antworteten, das müsse er nicht, denn es sei ja die Tat eines Einzelnen gewesen, die er nicht zu verantworten habe.
H tritt in dieser Szene als Individuum in Erscheinung, das in der Antizipation der ethnisierten Wahrnehmung der Handlung seines Mitspielers durch das Publikum zunächst deren Erwartungen unterläuft, indem er sich aus der Situation heraus nahm und weder mit seinen Mitspielern sprach noch den Schiedsrichter bedrängt, also gerade nicht ›typisch türkisch‹ reagierte. Mit seiner Entschuldigung allerdings präsentiert es sich dann als Repräsentant des türkischen Spielers und des türkischen Vereins, von denen er sich zuvor distanziert hatte. In dieser Stellvertreterrolle vertritt er nicht nur ›die Türken‹, sondern auch die verletzte moralische Ordnung des Fußballsports, die er durch die Entschuldigung wieder herzustellen trachtet. Es handelt sich bei derartigen Darstellungen von Ambivalenz in Form eines ›expressiven Individualismus‹ um prekäre inszenatorische Balanceakte, die in die eine (›ich will einfach nur Fußball spielen‹) oder (häufiger) die andere (›die Türken‹) Richtung kippen können. In gelungenen Fällen allerdings erlangen Spieler, die die Spannung zwischen beiden Ordnungen in sich aufzunehmen und auszudrücken in der Lage sind, die Anerkennung der Fußballwelt.
4.3.2. Ethnische Ambivalenz in der Fußballwelt Es gibt aber neben der Ambivalenz, die auf Seiten von Migranten existiert, auch eine Ambivalenz gegenüber Einwanderern, die im letzten Abschnitt bereits anklang und die am Beispiel der Einstellungen gegenüber Türken sichtbar gemacht werden soll. Türkische Spieler werden in der Fußballwelt von deutscher Seite, wenn man es etwas pathetisch ausdrücken möchte, sowohl gehasst als auch geliebt, wie sich in den unterschiedlichen Zuschreibungen, die sie erfahren, ausdrückt: sie gelten als besonders gewalttätig, reizbar und empfindlich, als hinterlistig und unkontrolliert. Türkische Spieler gelten aber auch als im
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positiven Sinne leidenschaftlich, man sagt sie spielen einen besonders attraktiven, anspruchsvollen Fußball und seien im Gegensatz zu den deutschen Spielern nicht so ›verhätschelt‹. Schließlich sind sie faktisch unverzichtbar und aus diesem Grund auch relativ einflussreich und dessen ist man sich in der Fußballwelt auch bewusst. Zwei Reaktionsmuster auf diese Ambivalenz gegenüber Migranten sind besonders charakteristisch. Zum einen bedienen sich die Angehörigen der Fußballwelt ambivalenter Deutungsmuster, unter denen das Stereotyp vom ›heißblütigeren Südländer‹, das wir in Kapitel B.III ausführlich diskutieren, besondere Bedeutung hat. Dieses Deutungsmuster wird sowohl von deutscher Seite als auch von Seiten ›südländischer‹ Migranten verwendet. Mehr noch als das Stereotyp an sich, dienen die verschiedenen Arten seines Gebrauches der Regulierung der Spannungen im interethnischen Kontakt: Das Deutungsmuster kommt mal als Erklärung, mal als Entschuldigung oder auch als Vorwurf sowie auf ironisch-distanzierte Weise zum Einsatz und bringt so die unterschiedlichen Zuschreibungen, Beziehungsaspekte und situativen Relevanzen in von den beteiligten Akteuren akzeptierter Weise zum Ausdruck. Zum anderen ergeben sich als Folge dieser Ambivalenz Konflikte in der Fußballwelt, die in der Regel nicht eskalieren, sondern auf niedrigem Niveau dauerhaft vorhanden sind und nach relativ klaren Mustern ablaufen (vgl. nochmals Kapitel B.V). Ein kurzes Beispiel eines solchen milieutypischen geregelten Dauerkonflikts, soll dies illustrieren: Eine Partie der SpVgg Sandhofen gegen einen türkischen Verein wurde mit zunehmender Spieldauer immer hektischer und aggressiver. Das Geschehen auf dem Spielfeld mündete in gegenseitigen Vorwürfen und Beschuldigungen der Zuschauer. Nach Spielende stürmte der Trainer der 2. Mannschaft der SpVgg Sandhofen auf den Schiedsrichter zu und beschuldigt diesen lauthals, den türkischen Verein aus Angst bevorteiligt zu haben. Die Platzordner der türkischen Heimmannschaft schreiten ein, es kommt zu Gerangel und Geschubse, das sich erst legt, als der Kapitän der türkischen Mannschaft die beiden Hauptstreithähne, einen türkischen Ordner und einen Zuschauer aus Sandhofen, trennt und letzten beiseite nimmt. Die beiden Männer kennen sich aus der Zeit als sie gemeinsam in der Jugendmannschaft eines anderen Mannheimer Vereins spielten. Es ist diese in der Fußballwelt begründete Jugendfreundschaft, die im Kapitän der Gegenmannschaft den ambivalenten ›ethnischen Spieler‹ hervortreten lässt, der dann zum Konfliktmoderator werden kann. Spieler, Zuschauer und Vereinsvertreter beider Mannschaften bleiben danach noch längere Zeit auf dem Sportgelände, diskutieren die Vorkommnisse, bringen nochmals ihre Verärgerung zum Ausdruck, wehren sich gegen Vorwürfe und verabschieden sich dann, noch immer sichtlich erregt. Es handelt sich beim beschriebenen Ereignis um keinen Einzelfall. Vielmehr knüpft es an frühere Vorkommnisse zwischen den Vereinen an, und steht darüber hinaus im Kontext von Spannungen zwischen türkischen und deutschen Vereinen, zwischen Vereinen aus dem Norden und aus dem Süden der Stadt wie aktuellen Spannungen innerhalb der Spielklasse, der beide Mannschaften angehören.
Eskalation wie Deeskalation folgen relativ festen Interaktionsmustern, die sich im Laufe vieler Jahre im regelmäßigen Aufeinandertreffen ausgeprägt haben. Im Konfliktzyklus bringen sich Distanz wie Nähe zum Ausdruck, die nicht in eine der beiden Richtungen aufgelöst werden, sondern im Streit ihre Arena erhalten.
4.3.3 Zusammenfassung: Das Management ›soziologischer Ambivalenz‹ Was wir hier als widersprüchlich beschrieben haben, ist keineswegs nur theoretisch widersprüchlich. Das wäre der Fall, wenn wir es hier entweder mit Wirklichkeiten zu tun hätten, an denen zwar ein und dieselbe Person teil hat, diese aber im Bewusstsein des Einzelnen
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per se getrennt sind, also ohnehin nicht in Kontakt kommen und somit wechselseitig irrelevant sind (Schütz/Luckmann 2003: 216 ff.). Oder aber, wenn hier Wirklichkeitsbereiche sozial streng separiert wären, so dass je geschlossene Personenkreise an ihnen partizipierten, ohne dass sie in Kontakt miteinander kämen. Tatsächlich aber haben wir es bei dem Fußballmilieu, von dem wir hier sprechen, mit einem ambivalenten Milieu zu tun, in dem sich unterschiedliche soziale Welten notwendigerweise kreuzen und diese Kreuzung von den Handelnden alltagsweltlich fortlaufend erfahren wird, weil sie entweder an den unterschiedlichen Welten personal teilhaben oder mit ihnen und ihren Ansprüchen in der Interaktion mit anderen Angehörigen des Milieus konfrontiert werden oder eben beides.3 Es stellt sich also die Frage, wie die Handelnden mit diesen Ambivalenzerfahrungen umgehen. Die Antwort lautet nicht Vernichtung oder Zerstörung von Ambivalenz. Es werden keine eindeutigen Welten geschaffen. Vielmehr wird die Ambivalenz aufrechterhalten und auf unterschiedliche Weise gemanagt. Zusammenfassend lassen sich die folgenden Formen des Ambivalenzmanagements im Mannheimer Fußballmilieu unterscheiden (vgl. auch die Zusammenfassung am Ende von Kapitel B.V): (1.) Die Segmentierung der Lebenswelt in soziale Welten (hier: Fußball-, Migrantenund Lokalwelt) und Subwelten (Vereine, Mannschaften, Café, Gebetsraum, etc.). Die Bedeutung der Segmentierung liegt gerade darin, in einer Situation strukturell bedingter Kreuzung die Trennung von Wissensbereichen zu gewährleisten. (2.) Die Sequenzialisierung von Tätigkeiten und Rollen. Die Rhythmisierung widersprüchlicher Orientierungen und Einstellungen leistet in zeitlicher Dimension, was durch Segmentierung in räumlicher und institutioneller Hinsicht vollzogen wird. (3.) Die Intensivierung von Aushandlungsprozessen zwischen den verschiedenen separierten (›segmentierten‹) und doch aufeinander verwiesenen (›gekreuzten‹) sozialen Sphären. Strauss hat hierfür den Begriff der Arena verwendet (vgl. Strauss 1993: 225 ff.): wenn an den Schnittstellen sozialer (Teil-)Welten Handlungs- und Deutungsprobleme auftreten, entstehen Arenen, in denen Konfliktbearbeitung möglich ist. Spannung, Konflikt und Uneindeutigkeit werden also nicht durch Segregation bewältigt, sondern durch Verhandeln und Dauerreflexion, wobei im Fall der Fußballwelt deren Grundstruktur einer regelgeleiteten Konfliktaustragung diesen Aushandlungsprozessen eine besonders klar konturierte Form gibt und die Institutionalisierung des Dauerkonflikts mit einer Aura der Normalität versieht. (4.) Flache symbolische Überhöhung. In unserem Fall erwies sich die diskutierte ›Hochstätt-Philosophie‹ nicht als geschlossene, handlungsleitende Weltanschauung. Entscheidender für die Gestaltung des Alltags sind Deutungs- und Handlungsmuster der Akteure, die einer Vielzahl unterschiedlicher Wissensbestände (Fußball, türkische Kultur, Jugendkultur etc.) entstammen. Nicht in der Formgebung des Alltagshandelns liegt ihre Bedeutung, sondern in dessen nachträglicher Transzendenz: im ›Management‹ des Alltags durch die Bewältigung von Krisen und die Überbrückung von Grenzen zwischen den Teilmilieus. Die flache symbolische Überhöhung bildet das symbolische, der Reflexion sich gerade entziehende Gegengewicht zum Modus der Konflikt regulierenden Dauerreflexion.
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Rein (system-)theoretischer Natur sind dagegen die »Ambivalenzen«, die Bernd Schulze (2004) beschreibt.
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(5.) Versionen des Universalismus. Wie die universalistische Weltanschauung dienen die ambivalenten Deutungsmuster – indem sie eindeutige kulturelle Zuordnung verweigern – der symbolischen Überformungen unauflösbarer Differenzen. Sie erscheinen universell und zugleich unübersetzbar und ermöglichen dadurch die Regulierung des Grenzkontakts zwischen den Welten und ihren Rollenanforderungen. (6.) Selbstcharismatisierung als außergewöhnliches Individuum. Die Ambivalenz der Doppelrolle ›ethnischer Spieler‹ wird bewältigt durch die expressive Darstellung individueller Transzendenz der Widersprüche in der eigenen Person. (7.) Ambivalente Stereotype. Im Austausch von Selbst- und Fremdklassifikationen erlaubt die widersprüchliche Stereotypisierung auf der Grundlage eines Konsenses über die Geltung des Stereotyps die Stabilisierung von Differenz wie deren kommunikative Bewältigung. In der Konsequenz zeichnet sich das Mannheimer Fußballmilieu durch ein relativ niedriges Niveau ›expressiver‹ Gewalt aus, d. h. der Einsatz von Gewalt zur Herstellung und Darstellung individueller Identität oder kollektiver Zugehörigkeit ist nicht stark ausgeprägt. Dies paart sich mit einer eher geringen Eskalations- und Skandalisierungsneigung innerhalb des Milieus: Wo es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen oder anderen Formen ›abweichenden Verhaltens‹ kommt, wird dieses von den Akteuren der Fußballwelt in der Regel nicht in moralisierender Weise gegen die betroffenen Personen oder Gruppierungen gewendet, sondern in seiner Bedeutung eher verharmlost oder gar ignoriert. Kennzeichnend ist ein ausgeprägtes Harmoniestreben, gerade in ›interethnischen‹ Beziehungen. Gleichwohl basiert der ›interkulturelle‹ Kontakt im Mannheimer Fußballmilieu ganz wesentlich auf (geteilten) Stereotypen. Die Mannheimer Fußballwelt ist weniger von dramatischen Desintegrationsprozessen, als vielmehr von einer ›stillschweigenden‹ Integration (insbesondere in Schule und Verein) bestimmt. Die verbandlichen Akteure stehen der ostentativen Thematisierung von Integration eher skeptisch gegenüber, erachten individuelle Assimilation in Regelvereine als Königsweg der Integration. Ethnische Selbstorganisation wird jedoch, da sie und solange sie im Rahmen der Verbandsstrukturen des DFB aufgehoben ist, paternalisistisch toleriert. Das Mannheimer Fußballmilieu ließe sich mit einem Begriff als Konfliktarena bezeichnen. In ihm ist der Dauerkonflikt institutionalisiert und zugleich durch formalisierte Stoppregeln (Regelwerk des DFB, Absprachen im Fußballkreis) sowie geteilte Deutungsmuster (›Harmonie‹) begrenzt. Zygmunt Bauman (1991) hat die Moderne als Zeitalter charakterisiert, das sich durch das Ausschalten von Ambivalenz, durch Dichotomisierung und Vernichtung des Unentscheidbaren auszeichnet. Damit ist allerdings nur die halbe Wahrheit gesagt. Das stimmt, wenn man sich die Selbstbeschreibungen der Moderne und ihre ideologischen Programme anschaut. Zwischen diesen und der lebensweltlichen Wirklichkeit besteht aber nicht notwendigerweise Übereinstimmung. Unser Beispiel hat gezeigt, dass die Handelnden die Unentscheidbarkeit ihrer Situation angenommen haben. Sie haben sich eine Welt geschaffen, die eine widersprüchliche Einheit bildet, die mit ihren und durch ihre Widersprüche lebt und deren Angehörige diese Widersprüche selbst bewältigen. Das Sowohl-als-auch von Integration und Segregation, Alltagsbewältigung und Ideologie, Fußball-, lokaler und ethnischer Welt verweigert sich einer Vereindeutigung. Die Ambivalenzbewältigungsstrategien lösen Differenz nicht auf. Sie beziehen die zueinander in Spannung stehenden Berei-
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che aufeinander, statt sie voneinander zu trennen. Die Analyse stellt damit auch die soziologische Frage nach der Integration in Frage, die sich nicht als Alternative zwischen Assimilation und ›Parallelgesellschaft‹, zwischen Teilhabe und Segregation stellt, sondern als unentscheidbar, als Gleichzeitigkeit und Doppeltheit. Aus theoretischer Sicht erscheint es sinnvoll, in Anlehnung an Goffmans Studie des Stigmamanagements (Goffman 1967) eine umfassende Analyse und typologische Differenzierung des ›Ambivalenzmanagements‹ durchzuführen.4 Zudem verdeutlicht die Differenzierung in Teilwelten die Perspektivik der Integration: was als Integration oder integriert gilt, hängt wesentlich vom Standpunkt der Akteure ab. Es gibt nicht ›die Integration‹, weil es nicht ›die Gesellschaft‹ oder auch ›die Fußballwelt‹ gibt. Wo diese unterschiedlichen Perspektiven aufeinander treffen, kommt es zu Konflikten, in denen die Frage der Integration verhandelt wird.
4.5 Integrationspotentiale und Integrationsperspektiven Im Sinne der eben beschriebenen konfliktvermittelten Integration existieren nach unserer Einschätzung Integrationspotentiale insbesondere im Bereich des Schulsports und im Vereinswesen. In der Auseinandersetzung mit den alltäglichen Problemen in ihrem Tätigkeitsbereich hat sich bei Lehrern, Trainern und Betreuern im Laufe der vergangenen Jahre eine interkulturelle Kompetenz herausgebildet, die diese Personengruppen zu wesentlichen Trägern interkultureller Arbeit macht. Ihre interkulturelle Arbeit ist dabei nicht explizit als solche ausgewiesen und wird von den Ausführenden auch nicht als solche empfunden. Gerade darin, dass es sich bei ihren Handlungen um ›stillschweigende Integrationsarbeit‹ handelt, liegt jedoch die Stärke ihrer Tätigkeit: Sie wird von den betroffenen Jugendlichen nicht als Kontrolle und Bevormundung wahrgenommen und daher bereitwilliger akzeptiert. Das Engagement dieser Personen gilt es anzuerkennen und zu fördern. Darüber hinaus bieten die Bereiche Schulsport und Verein den sportlich Aktiven aber auch die Möglichkeit, eigenständig Erfahrungen im interkulturellen Umgang zu sammeln. Der regelmäßige Kontakt in diesen Bereichen bietet die besten Voraussetzungen für selbstbestimmte und tragfähige Formen des interkulturellen Kontaktes und auch der Konfliktaustragung. Hinsichtlich der Integrationspotentiale des organisierten Sports ergibt sich eine teils paradoxe Situation. Wenig überraschend ist zunächst, dass Marginalisierungsmilieus Integration eher verhindern als befördern. Höher einzuschätzen sind dagegen die integrativen Effekte des Sports in Assimilationsmilieus, die unter den genannten Bedingungen zur gleichberechtigten Aufnahme von Migranten in der Lage sind. Überraschend ist, dass Migrantenmilieus, die sich einerseits durch einen ethnischen Separatismus auszeichnen, gerade dadurch gewisse Integrationspotentiale aufweisen können. Dies gilt insbesondere im Fall gewalttätiger oder auf andere Weise abweichender Jugendlicher. Migrantenmilieus bewerten ihre soziale Funktion höher als den sportlichen Erfolg und halten auch dann an jungen Spielern fest, wenn diese durch gewalttätiges oder undiszipliniertes Verhalten gegen die Normen des Fußballmilieus verstoßen und aus Regelvereinen ausgeschlossen würden. 4
Goffman selbst hat in den frühen 60er Jahren Ambivalenzerfahrungen beschrieben (Goffman 1961; Goffman 1967: 133 ff.; vgl. auch Coser 1966).
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Durch diese Vereinspolitik werden Migrantenmilieus zwar einerseits zum Rückzugsbereich ›desintegrierter‹ Jugendlicher, sie verhindern jedoch andererseits ein weiteres Abgleiten der betroffenen Jugendlichen und deren Herausfallen aus sozialen Bezugsrahmen. Gefährdungen der genannten Integrationspotentiale gehen allerdings von drei Seiten aus. So ist gerade bei Jugendlichen zu beachten, dass es weniger ethnische Differenzen als vielmehr solche des sozialen Prestiges sind, die Anerkennungsprozesse blockieren. Wenn allerdings in der Folge einer Verschlechterung der ökonomischen Lage einer Gruppe auch deren sozialer Status sinkt, sind Kämpfe um Anerkennung vorprogrammiert und die Ethnisierung sozialer Differenzen ist nicht selten die Folge. Zum zweiten bedroht eine Verschlechterung der materiellen und personellen Ausstattung von Schulen und Vereinen direkt die Qualität der Arbeit und damit auch deren integrationsfördernde Wirkung. Schließlich nimmt eine Funktionalisierung von Schule und Verein durch politische Integrationsprogramme diesen Institutionen ihre Eigenständigkeit. Die Integrationsperspektiven der Fußballwelt hängen ganz wesentlich davon ab, inwieweit diese Gefährdungen abgewehrt werden können. Ein bisher zu wenig genutztes Integrationspotential birgt das Schiedsrichterwesen. Als neutrale Akteure auf dem Spielfeld können Schiedsrichter drohenden Konflikten und Auseinandersetzungen wirksam entgegentreten. Gerade erfahrene und bekannte Schiedsrichter genießen bei Mannschaften und Trainern eine solche Anerkennung, dass Fußballspiele, die unter anderen Umständen als problematisch einzuschätzen wären (etwa solche zwischen unterschiedlichen ethnischen Vereinen), ohne Probleme verlaufen. In diesem Sinne gilt es, das Amt und die Funktion des Schiedsrichters weiter zu stärken und die Schiedsrichterausbildung zu verbessern. Das Wirken der Schiedsrichter innerhalb ihrer eigenen Vereine stellt einen weiteren, bisher gänzlich ungenutzten integrationsfördernden Faktor dar. Hier wäre insbesondere an eine Einbindung der Schiedsrichter in die Trainingsarbeit mit Jugendlichen zu denken. Geringe Integrationspotentiale scheinen dagegen verbandliche und politische Integrationsinitiativen zu bieten. Diese werden zum einen eher punktuell durchgeführt, so dass ihre Wirkung schnell verpufft. Zum anderen werden diese Maßnahmen im Hintergrund von den organisatorischen Eigeninteressen und den politischen Integrationsvorstellungen der Trägerorganisationen und öffentlicher Stellen bestimmt und sind kaum abgestimmt und ausgerichtet auf die Lebensbedingungen und Integrationsbedürfnisse der betroffenen Menschen. Daran ändert sich auch durch die neuerdings praktizierte, ›netzwerkförmige‹ Organisation und Durchführung derartiger Maßnahmen nichts, zumal hierbei allein die altbekannten Akteure (öffentliche und freie Träger, Vereine) aktiv sind.
5. Schluss Bei der Fußball-WM 2002 in Japan und Korea erhielt die ohnehin große Begeisterung für die türkische Mannschaft unter den türkischen Migranten in Mannheim eine besondere Note. Einer der Stars der Mannschaft, Ümit Davala, wurde in Mannheim geboren und hatte seine Karriere bei Türkspor Mannheim begonnen, ehe er Profi in der Türkei, Italien und in der Bundesliga wurde. ›Es zu schaffen wie Ümit‹ ist seither eine häufig geäußerte Wunsch-
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vorstellung unter türkischen Fußballern in der Region. So wichtig solche Phantasien für das Denken und Fühlen von Spielern auch sein mögen, dem Alltag des Amateursports entwachsen die wenigsten der Spieler. Und die Wirklichkeit des Profisports unterscheidet sich in vielem von den Realitäten in den niedrigen Klassen des Ligenbetriebs des DFB. Je niedriger die Spielklasse und damit das fußballerische Können, so lässt sich generell sagen, desto mehr mischen sich unter professionelle Leistungsanforderungen und Organisationsformen andere Vorstellungen und Kriterien, die die Orientierungen und das Handeln von Aktiven, Zuschauern und Funktionären bestimmen. Zur Normalität des Amateurfußballs gehören insbesondere die ethnische Gruppenbildung von Migranten und Auseinandersetzungen zwischen autochthoner Bevölkerung und Einwanderern. Ethnische Selbstorganisation und interethnische Konflikte lassen in der öffentlichen Wahrnehmung die Vorstellung aufkommen, dass nicht friedlicher Wettbewerb und Integration, sondern Segregation und ›Fremdenfeindlichkeit‹ das Verhältnis zwischen Deutschen und Einwanderern im Amateurfußball beherrschen. Insbesondere türkische Vereine gelten als ethnische ›Rückzugsräume‹, die desintegrativ wirken und Abschottungstendenzen verstärken. Berichte über gewalttätige Auseinandersetzungen bei Spielen zwischen Migrantenvereinen und der Umstand, dass manche Vereine von politischen und religiösen Organisationen tatsächlich für die Rekrutierung und Mobilisierung von Anhängern genutzt werden, scheinen das zu bestätigen. Allerdings kommt man der Wirklichkeit wohl näher, wenn man ethnische Vereine als zugleich segregierend und integrativ begreift und ethnische Stereotypisierung als Ausdruck von sowohl Nähe als auch Distanz. Wenn man sich von der ›Mehrheitsgesellschaft‹ abschotten will, ist Fußball die denkbar schlechteste Weise, das zu tun, ist man doch beim Fußballspielen auf einander angewiesen. Ohne die deutsche bzw. türkische Mannschaft, die am Sonntag auf dem Spielplan steht, kann das Spiel nicht stattfinden. Dabei findet das Zusammentreffen zwischen Migranten und autochthoner Bevölkerung in einem explizit und genau geregelten Rahmen statt. Das Regelwerk des DFB und die Bestimmungen der Kreisverbände stellen dabei keine abstrakten Vorgaben dar, sondern werden im Aufeinandertreffen jedes Mal neu eingeübt und – wenn die Gegenseite sich nicht daran hält – eingefordert. Fußball ist eine Klatsch- und Meckerwelt. Die anderen werden peinlich genau beobachtet. Wer sich ungerecht behandelt fühlt, beschwert sich. Das ist ein ganz wesentliches Handlungsregulativ im Fußball. Viele der ethnischen Vereine existieren bereits seit zwanzig Jahren und mehr. Ihre Vorstände und Mitglieder kennen das genau und wissen mitzuspielen. So ist es auch zu erklären, dass selbst dort, wo Probleme auftauchen und Konflikte ausbrechen, diese in der Regel nicht eskalieren und von den Beteiligten – nach der ersten Erregung – deeskaliert werden. Wenn Einwanderer sich dazu entscheiden, sich gerade im Fußballbereich selbst zu organisieren, hat das Folgen für die Art ihrer Selbstorganisation. Die ›Logik‹ des Fußballs liegt gerade in der Einheit aus Konflikt (man tritt gegeneinander an und will den anderen besiegen) und Konsens (man ist sich einig über die Regeln, die ein Eskalieren des Konflikts verhindern sollen). Abschotten im ethnischen Verein geht also gerade nicht. Selbst diejenigen, die das intendieren, sehen sich zu einem Minimum an Austausch gezwungen. Eine Mehrzahl der Verantwortlichen in ethnischen Vereinen wissen, dass Fußball ein ›Kontaktmedium‹ ist, und wählen ihn nicht zuletzt auch deshalb für sich aus.
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Auch die Tatsache, dass es beim Fußball regelmäßig zu Auseinandersetzungen zwischen Deutschen und Migranten kommt, muss nicht unbedingt als Anzeichen von Desintegration gedeutet werden, sondern eher als ein Zeichen von Normalität. Wenn es in pluralistischen Gesellschaften zwischen Gruppen keine Konflikte gibt, dann in der Regel, weil die Machtunterschiede zwischen beiden zu groß sind: Die überlegene Gruppe kann die unterlegene problemlos kontrollieren, die unterlegene hat nicht die notwendigen Ressourcen zur Gegenwehr. Konflikte treten dann auf, wenn sich die Positionen angleichen und das scheint bei Einwanderern im Bereich des Fußballs der Fall zu sein. Wir verstehen diese Auseinandersetzungen besser, wenn wir sie nicht als Abweichung interpretieren, sondern zu den normalen Streitigkeiten rechnen, die wir aus unserem Leben in allen Bereichen kennen, wo unterschiedliche Interessen und Orientierungen aufeinander treffen. So verlockend die Unterscheidung zwischen Integration und Desintegration ist und so klar beides analytisch geschieden werden kann, so sehr scheint beides in der Welt des Amateurfußballs aufeinander zu verweisen. Die Einheit von Teilhabe und Segregation, von universellen Normen und partikularistischen Zuschreibungen, scheint diese Welt geradezu auszuzeichnen. Die Akteure der Fußballwelt setzen sich dieser sozialen Ambivalenz freiwillig aus und schaffen – jenseits der ideologischen Selbstbeschreibungen moderner Gesellschaften – alltagsweltliche Lösungen für die Widersprüche, in denen sie leben. Die Fußballwelt lehrt uns, dass nicht allein (individuell) erworbenes ›Kapital‹ über den sozialen Ort eines Menschen bestimmt, sondern auch soziale Zuschreibungen, die über eine lange Geschichte verfügen und im Wissenshaushalt der Gesellschaft entsprechend tief verankert sind sowie ganz gezielt eingesetzte strategische Zuschreibungen in Klassifikationskämpfen. Der Blick in die Fußballwelt ermöglicht uns darüber hinaus, unsere Vorstellungen davon, was Integration in modernen pluralen Gesellschaften überhaupt heißen kann, zu überdenken.
Stereotype der Interkulturalität: Zur Ordnung ethnischer Ungleichheit im Fußballmilieu Dariuš Zifonun
1. Fußball, Ethnizität, Stratifikation In Kapitel B.II wurde der Fußballsport als eine Welt beschrieben, in der sich unterschiedliche soziale Ordnungen (moralische, ethnische, rechtliche, materielle und sportliche Erfolgsordnung) kreuzen. Diese Überlegungen werden hier unter einem anderen Aspekt erneut aufgegriffen: unter dem einer diese Ordnungen überlagernden Ordnung ethnischer Ungleichheit. Es soll gefragt werden, inwieweit sich die ethnische Differenzierung in der Fußballwelt nicht allein als horizontales Nebeneinander von Gruppen, sondern vielmehr als vertikale Stratifikation interpretieren lässt. Dabei fokussiert das Kapitel die Rolle des Stereotyps ›heißblütigere Südländer‹ im symbolischen Klassifikationssystem der Fußballwelt. Es wird darum gehen, den Bedeutungsgehalt des Stereotyps abzuklären, seine unterschiedlichen kommunikativen Verwendungsformen zu ergründen, herauszuarbeiten, in welchem Verhältnis es zu anderen ethnischen Zuschreibungen steht und schließlich die sozialstrukturellen Bedingungen darzustellen, unter denen die Stereotypisierung vollzogen wird. Die Schichtung und Hierarchisierung nach Leistung und Erfolg ist eines der Grundprinzipien des Fußballsports. Individuell drückt sich das für den einzelnen Spieler etwa darin aus, ob er einen Stammplatz hat oder auf der Bank sitzt, hohe Prämien erhält oder sich mit niedrigen zufrieden geben muss. Auch die Frage seines Prestiges in der Fußballwelt hängt ganz wesentlich von der individuell zugerechneten Leistung ab. Auf Mannschaftsebene drücken Sieg oder Niederlage in einem Spiel ganz unmittelbar ein Über-Unterordnungsverhältnis aus. Die kategoriale Unterscheidung »Gewinner-Verlierer«, die dabei aufgerufen wird, ist allerdings eingebunden in die Struktur des fortlaufenden Wettbewerbs in der Fußballwelt, die als ›Leistungsgesellschaft‹ ihrem Selbstverständnis nach »nur graduelle und veränderbare Maßstäbe der Statusverteilung« (Neckel 2003: 166; vgl. Beitrag A.I, Abschnitt 2, in diesem Band) kennt. Im Saisonverlauf kommen solche graduellen Unterscheidungen in der Tabellenplatzierung zum Ausdruck. Stabiler schlagen sie sich in der Zugehörigkeit zu einer Spielklasse nieder, die jedoch durch Auf- bzw. Abstieg veränderbar ist. Der organisierte Fußballsport ist ganz explizit ein Handlungsfeld, in dem die Akteure den Wettbewerb suchen, sich der Unterscheidung aussetzen und in dem Ungleichheit als Strukturprinzip institutionalisiert ist. Wenn sich Migranten als ethnische Gruppen organisieren und am Spielbetrieb des organisierten Sports als ethnische Mannschaften teilhaben, beteiligen sie sich an diesem sportlichen Klassifikationsprozess, bei dem es dann aber nicht allein um sportliche Leistungsungleichheit geht. Der Wettbewerb erhält eine zweite, ethnische Komponente. Im Aufeinandertreffen, im Kampf um Sieg und Niederlage, Tabellenplatzierung, Auf- und Abstieg wird zusätzlich um gesellschaftliche Teilhabe als ethnische Gruppe gekämpft. So gesellen sich zum sportlichen Wettstreit kommunikative Zuschreibungskämpfe, die das Handeln auf und neben dem Platz in ethnischen Kategorien interpretieren und eine Ordnung symbolischer Ungleichheit (vgl. Weiß 2001) etablieren.
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2. Gedächtnis, Medien, Eliten Allerdings entstehen ethnische Zuschreibungen nicht lokal im Aufeinandertreffen von Gruppen. Sie werden vielmehr elitär konstruiert, im Gedächtnis einer Gesellschaft abgelagert und medial verbreitet (vgl. Blumer 1958: 6).1 Die Überzeugung, ›Südländer‹ seien ›heißblütig‹, hat einen festen Platz im Wissensvorrat westlicher Gesellschaften. So findet sich beispielsweise, wie Edward Said gezeigt hat, im orientalistischen Diskurs vom Araber die Vorstellung »that there is a ›powerful sexual appetite … characteristic of those hotblooded southerners‹« (Said 1978: 311). Ein »undifferentiated sexual drive« zeichnet die heißblütigen Südländer aus und ist Ursache ihrer ›rassischen‹ Unterlegenheit. Für den aktuellen deutschen Fußballdiskurs vom Südländer ist zum einen kennzeichnend, dass mit dem ›Südländer‹ keine klar umgrenzte Personengruppe gemeint ist. Südländer ist vielmehr Sammelbegriff für all diejenigen, die nicht zur Wir-Gruppe gerechnet werden. Franz Beckenbauer, einer der wichtigsten Sprecher der deutschen Fußballöffentlichkeit, rechnet zu ihnen beispielsweise Afrikaner und Südamerikaner (Beckenbauer 2001: 7). Nach Beckenbauer unterscheiden sich Südländer durch »angeborene Geschmeidigkeit« und »Ballfertigkeit« von den »Nordländern«. In diesen Zuschreibungen kulminieren eine ganze Reihe differenzierterer Nationalstereotype (vgl. Parr 2003)2, an die auch die in der Fußballwelt gehegte Vorstellung anschließt, es ließen sich nationale Fußballstile unterscheiden (vgl. Eisenberg et al. 2004: 151 ff.). Diese von Beckenbauer genannten, unmittelbar körperlichen Eigenschaften bilden jedoch nur die eine Seite der Zuschreibung an ›Südländer‹. Auf der anderen Seite finden sich Vorstellungen einer für ›Südländer‹ typischen geistigen Disposition. So äußerte Günter Netzer, wie Beckenbauer Ikone des deutschen Fußballs, in einem Gespräch mit dem Journalisten Gerhard Delling: »Die südländische Mentalität ist das generell, die überreagieren in manchen Situationen, wenn sie provoziert werden« (Netzer 2006). Die Autorität, für die Fußballwelt relevantes und gültiges Wissen zu produzieren und zu verbreiten, kommt Beckenbauer und Netzer aufgrund ihrer über viele Jahre und wechselnde Funktionen erworbenen herausragenden Position zu. Franz Beckenbauer war als Spieler und als Trainer der deutschen Nationalmannschaft Fußballweltmeister und zuletzt Präsident des Organisationskomitees der Fußball-WM 2006. Beckenbauer ist heute Präsident des FC Bayern München sowie Vize-Präsident des DFB und überdies Kolumnist der Bild-Zeitung. Günter Netzer war mit der deutschen Nationalmannschaft 1972 Europameister, nach Ende seiner Spielerkarriere Manager des Hamburger SV, ist als Rechtehändler an der Vermarktung des Fußballs in den Medien beteiligt und seit 1996 als Moderator bei der ARD aktiv. Allerdings sind die von elitären Sprechern wie Netzer und Beckenbauer verbreiteten medialen Deutungsvorlagen nicht unverrückbar festgeschrieben. Zum einen sind sie innerhalb des medialen Diskurses Wandlungen unterworfen. So hat Rolf Parr gezeigt, wie sich das System fußballerischer Nationalstereotype, wie es in der deutschen Medienberichterstattung produziert wurde, im Verlauf der WM 2002 veränderte (vgl. Parr 2003). Zum anderen werde sie von den Alltagshandelnden nicht passiv rezipiert. Vielmehr werden sie von 1 2
Für die mediale Konstruktion des ›gewalttätigen, rechtsradikalen Hooligans‹ und einige Grundzüge ihrer Verbindung zum in diesem Kapitel berührten Thema des Alltagsrassismus in der Fußballwelt vgl. den Exkurs über den Hooligandiskurs. Marion Müller sei für den Text von Rolf Parr sowie das Zitat von Franz Beckenbauer gedankt.
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diesen modifiziert und entsprechend ihren Deutungsbedürfnissen realisiert. Dem wollen wir uns jetzt zuwenden.
3. Das Stereotyp ›heißblütigere Südländer‹ im Feld symbolischer Klassifikationen Hinsichtlich der ethnischen Selbst- und Fremdwahrnehmung von Angehörigen südeuropäischer Vereine (gemeint sind vor allem Türken, Spanier, Griechen, Portugiesen) ist das Stereotyp vom ›heißblütigeren‹ Südländer von besonderer Signifikanz: Wenn es zum Beispiel bei einem Spiel zu mehreren roten Karten gegen Spieler einer griechischen Mannschaft kommt, wenn das Spiel zwischen zwei türkischen Mannschaften vom Schiedsrichter abgebrochen wird, weil sich die Spieler auf dem Spielfeld prügeln, wenn es zwischen türkischen Zuschauern zu gewalttätigen Auseinandersetzungen nach dem Spiel kommt, wenn die hohe Zahl an gelb-roten Karten für spanische Spieler im Laufe einer Saison kommentiert wird, ist die Erklärung, die sowohl von deutscher Seite, als auch von Seiten der ethnischen Vereine selbst dafür vorgebracht wird, Südländer seien ›heißblütiger‹ (im Komparativ). Kann man aber im vorliegenden Fall überhaupt von einem Stereotyp sprechen? Aus sozialpsychologischer Sicht würde man die Frage möglicherweise verneinen. Sozialpsychologen konzentrieren sich in der Regel auf die Aspekte der Negativität der Zuschreibung, der Unveränderlichkeit der Kategorisierung und ihrer sachlichen, kollektiven (statistischen) Inakkuranz (unangemessene Objektbezogenheit, vgl. Nazarkiewicz 1997: 183). Wissenssoziologisch gesehen ist es aber sinnvoller, Stereotype als spezifische Form von Typen zu verstehen, die sich von Typen als solchen erstens durch ihre Erfahrungsresistenz (oder die ihrer Bestimmung) unterscheiden. Gordon Allport (1979: 191) spricht von einer »fixed mark upon the category«. D. h., auch wenn im Einzelfall die klassifikatorische Bestimmung einer Eigenschaft bei einem Individuum mittels ihrer Kategorisierung zu einer bestimmten Gruppe misslingt, bleibt die Kategorisierung erhalten: ihre individuelle situative Inadäquanz oder Irrelevanz wird nicht wahrgenommen oder mit Verweis auf die allgemeine Gültigkeit der Klassifikation zur Ausnahme erklärt. Ein solches Verhalten hat Allport (1979: 23) als »re-fencing« bezeichnet. Oder im Beispiel: auch wenn ein Südeuropäer sich nicht als ›heißblütiger‹ erweist, wird er als ›heißblütiger‹ wahrgenommen, oder: auch wenn eine Situation ohne Verweis auf die ›heißblütigere‹ Natur des Südeuropäers verstanden und erklärt werden könnte, wird die Stereotypisierung vorgenommen, oder: der ›coole‹ Südeuropäer ist ›nicht so wie die anderen‹. Stereotype unterscheiden sich also in zwei Richtungen von gewöhnlichen Typen: Im Fall des Stereotyps kommt es zur Verwechslung des Typs mit der lebendigen Person (vgl. Luckmann/Luckmann 1983: 62 f.) – dies betrifft die individuelle Seite: ›dieser Südländer‹ – und: ein Stereotyp schließt sich, im Gegensatz zum Typ, »gegen korrigierende Wahrnehmungen starr ab« (Luckmann/ Luckmann 1983: 74) – dies betrifft die kollektive Seite: ›die Südländer‹. Stereotype schreiben Eigenschaften zu, die aus der Sicht der Handelnden fix und unveränderlich sind. Demgegenüber verändern sich Stereotype historisch durchaus (wenn auch in der Regel hinter dem Rücken der Beteiligten) und zwar insbesondere dann, wenn das Verhältnis der Gruppen zueinander sich wandelt. Das bedeutet aber keineswegs, dass dabei das Stereotyp als
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solches notwendigerweise in Frage gestellt würde, es ändert sich oftmals lediglich seine Bestimmung. Zweitens unterscheiden sich Stereotyp und Typus hinsichtlich ihrer Funktion: Das Stereotyp legitimiert oder delegitimiert ein Verhalten durch Verweis auf (vermeintlich) vorgegebene, starre Eigenschaften, während der Typus – als Alltagsheuristik und Instrument der Verhaltensprognose – Verstehenshilfe auf Widerruf ist, vorhersehbar macht, aber nicht (retrospektiv) rechtfertigt. Die dritte Besonderheit von Stereotypen liegt in ihrem Bewertungsakzent. Stereotype haben moralische Implikationen. Sie weisen den Stereotypisierten moralische, d. h. ›gute‹ oder ›böse‹ Qualitäten zu (Nazarkiewicz 1997). Erst durch diesen Bewertungsaspekt erlangt die stereotype Kategorisierung eine Über-/ Unterordnungsdimension.3 Ob nun ein Stereotyp oder ein Typ vorliegt, oder besser gesagt: ob eine stereotype Form tatsächlich auch interaktiv als Stereotyp realisiert wird, ist nach diesem Begriffsverständnis nur am sozialen Gebrauch, in der Stereotypisierung, zu erkennen (vgl. Nazarkiewicz 1997). Es ist also notwendig, sich die alltagsweltliche Stereotypenkommunikation nochmals genauer vorzunehmen. Dabei zeigt sich (1.), dass die hier aufgemachte Differenz als eine graduelle (›Heißblütigere‹ hier, weniger ›Heißblütige‹ da) und nicht als eine kategoriale klassifiziert wird (›Heiße‹ im Gegensatz zu ›Kalten‹). Damit wird eine Ungleichheit der Interaktionspartner, jedoch keine Ungleichwertigkeit nahe gelegt (vgl. Neckel/Sutterlüty 2005). Während im historischen Beispiel die Bestimmung (›hot-blooded‹) der Kategorie (›southerners‹) noch eindeutig ist und auch im medialen Diskurs die ›südländische Mentalität‹ klar von der eigenen unterschieden wird, löst sich in der Alltagswelt die Eindeutigkeit im Komparativ auf. Des Weiteren (2.) fallen Auto- und Heterostereotyp hier – zumindest teilweise (s.u.) – zusammen. Das Stereotyp wird von der stereotypisierten Seite angenommen und selbst formuliert. Es herrscht ein geteiltes Wissen über ethnische Differenzen. Eng damit hängt zusammen (3.), dass das Stereotyp in Kontaktsituationen kommuniziert wird und nicht allein unter Abwesenheit von Mitgliedern der stereotypisierten Gruppe. Die Differenz wird (4.) als natürliche, nicht als soziale formuliert. Durch die Naturalisierung wird die Differenz zum einen für unveränderlich, zum anderen für nicht unmittelbar sozial relevant erklärt. Zugleich wird sie (5.) für das soziale Zusammenleben mittelbar dadurch relevant, dass sie als ursächlich für bestimmte soziale Verhaltensweisen angesehen wird. Dabei dient das Stereotyp einerseits der Skandalisierung von vermeintlich schlimmeren Abweichungen von der moralischen Ordnung der Fußballwelt auf Seiten von ›Südländern‹. Das höhere Maß an Aggressivität, Unehrlichkeit oder Betrug muss nicht bewiesen werden, sondern gilt als Faktum, da es sich aus der natürlichen Anlage der ›Südländer‹ ableite. Das moralische Defizit wird nicht nur von deutscher Seite behauptet, sondern im Kontext von Diskussionen um ›ethnische Vereine‹ auch von solchen Migranten, die sich gegen eine ethnische Selbstorganisation im Fußballsport aussprechen. Andererseits sind es gerade Vertreter solcher 3
Ich fokussiere die moralische Abwertung, die eine Unterordnung der stereotypisierten Seite impliziert. Tatsächlich ist aber auch moralische Aufwertung und stereotype Überordnung möglich. So etwa in den für den amerikanischen Sport gebräuchlichen Klassifikationen schwarzer Athleten als körperlich überlegen – eine positive Stereotypisierung, die allerdings diskursiv mit Vorstellungen geistiger und moralischer Verdorbenheit verkoppelt ist (vgl. Hartmann 2002: 409 f.).
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Vereine die, wenn sie mit Vorwürfen konfrontiert werden, derartige Verhaltenweisen durch den Verweis auf ihre natürliche, im Blut liegende Ursache rechtfertigen: »Wir Südeuropäer sind heißblütiger«. Andere Repräsentanten ethnischer Vereine sind zur Stigmaannahme nicht bereit. Stattdessen (6.) weisen sie die Behauptung, ›heißblütiger‹ und deshalb moralisch abweichend zu sein teils vehement zurück und verweisen auf die schädigende Wirkung des Stereotyps: So würden deutsche Schiedsrichter – in der Überzeugung ›Südländer‹ seien ›heißblütiger‹ und deshalb aggressiver – ›südländische‹ Migranten für dieselben Vergehen härter Bestrafen als deutsche Spieler. Die Abwehr des Stereotyps geht also einher mit einer Gegenstigmatisierung der deutschen Seite als rassistisch. Durch die Forderung »alle müssen gleich behandelt werden« wird die Fairness-Regel des Fußballsports aufgerufen und die Gegenseite in Schuld gesetzt. Überdies (7.) wird das Stereotyp sowohl von deutscher als auch von ethnischer Seite häufig in spielerischer oder ironischer Modalität verwendet. Dies verweist darauf, dass die Sprecher sich einerseits dem Stereotyp aufgrund seiner Persistenz nicht entziehen, andererseits die moralische Konnotation die es trägt, nicht ungebrochen kommunizieren können. Allerdings (8.) ist das Stereotyp von den ›heißblütigeren Südländern‹ bei weitem nicht das einzige ethnische Deutungsmuster, das sich in der Fußballwelt im Umlauf befindet. Verhaltenszuschreibungen wie ›die ziehen sich zurück‹, ›die halten immer zusammen‹ u. ä., die nicht vom Stereotyp ›heißblütiger‹ gedeckt sind, sondern generellere ethnisch-kulturelle Differenzen betreffen, werden von deutscher Seite artikuliert. Die damit bezeichneten kulturellen Unterscheidungspraktiken und ethnischen Zusammengehörigkeitsgefühle, so z. B. die ›türkische Solidarität‹, werden als problematisch erachtet und kritisiert. Darüber hinaus (9.) sind Spieler und Zuschauer ethnischer Vereine Rassismus als Weltanschauung ausgesetzt. Diese Weltanschauung versieht ihre Anhänger mit einem Schlüssel zum Interpretieren und Verstehen der Welt. Sie ist als implizites Wissen handlungsleitend und ermöglicht quasi-›natürliche‹ und ›automatische‹ rassistische Handlungen. Insbesondere bei Spielen in ländlichen Gegenden sind die Spieler türkischer Vereine mit einem ganzen Kosmos der Fremdheit konfrontiert. Er setzt sich zusammen aus der Art, wie ihre ›Gastgeber‹ sie betrachten, dem viel sagenden Ausdruck auf ihren Gesichtern, subtilen Andeutungen und scheinbar ›unkontrollierten‹ Ausbrüchen rassistischer Beschimpfungen. Schließlich (10.) lässt sich der weit verbreitete instrumentelle Einsatz von Rassismus, der auf einer rassistischen Ideologie ruht, beobachten (vgl. Taguieff 2001). Im Gegensatz zur rassistischen Weltanschauung ist ideologischer Rassismus nicht eigentlich handlungsleitend. Mit ihm lassen sich, aus reflexiver Distanz, rassistische Handlungen begründen. Er wird gezielt instrumentell eingesetzt zur Handlungsauslösung bei sich und anderen. Auf dem Spielfeld verwenden deutsche Spieler rassistische Stereotype und beleidigende Ausdrücke (»Scheiß Türke«, »Kümmeltürke«, etc.). Derartige Äußerungen zielen darauf, türkische Spieler zu provozieren, denen unterstellt wird, auf Verletzungen ihres ›Ehrgefühls‹ äußerst sensibel zu reagieren. Es wird erwartet, dass diese Spieler auf die Provokation entweder mit einer Tätlichkeit reagieren und dann des Feldes verwiesen werden oder aber zumindest ihre Konzentration auf das Spiel verlieren.
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4. Positionskämpfe und Statusambivalenz im Fußballmilieu Wie lassen sich diese Stereotypisierungen nun erklären? Aufschluss gibt der soziale Kontext, innerhalb dessen sie kommuniziert werden: Stereotypenkommunikation ist nicht frei schwebend, Stereotype werden nicht willkürlich angebracht. Wo sie sich verfestigen, dauerhaft und stabil werden, stehen sie in Wechselwirkung mit der Sozialstruktur, die sich im städtischen Fußballmilieu wie folgt darstellt: Das Milieu ist geprägt durch einen ständig wiederkehrenden Kontakt zwischen den beteiligten Gruppen, wo diese sich als Gruppen organisieren. Darüber hinaus ist die Fußballwelt gekennzeichnet durch wechselnde Mitgliedschaften. Ein ›südländischer‹ Spieler, der heute noch beim Gegner spielt, kann morgen Teil der eigenen Mannschaft sein. Der Erfolg der Mannschaft kann somit von dessen Kooperation abhängen. Charakteristisch sind auch überschneidende Mitgliedschaften in den Subwelten des Milieus: Mitglieder ›südländischer‹ Vereine sind zugleich z. B. als Schiedsrichter Mitglied der Schiedsrichtervereinigung. Es besteht eine wechselseitige Abhängigkeit zur erfolgreichen Durchführung der Kernaktivität der sozialen Welt. Man ist darauf angewiesen, dass die ethnische bzw. deutsche Mannschaft auch tatsächlich am nächsten Sonntag antritt, wenn das Spiel angesetzt ist. Aber auch intern sind die ›deutschen‹ Vereine abhängig von Migranten: viele Vereine könnten ohne ›ausländische‹ Spieler keine Mannschaften stellen. Schließlich ist man auch auf Verbandsebene (und kommunaler Ebene) auf die ethnischen Vereine und Spieler angewiesen: Der Spielbetrieb würde ohne ›Südländer‹ zusammenbrechen. Kennzeichnend ist außerdem, dass Migranten innerhalb des Milieus prestigeträchtige Positionen einnehmen: Migranten sind erfolgreiche Sportler, sie sind in ihren Mannschaften wichtige Spieler. Ethnische Mannschaften sind sportlich erfolgreich, steigen auf, gewinnen Pokale und Meisterschaften. Schließlich erlaubt die relative Ressourcenstärke, ihre über die Jahre gewachsene Position im Milieu und die Kenntnis der formellen und informellen Regeln des Milieus den ›Außenseitern‹ in Krisensituationen die Gegenwehr: die Gegenstereotypisierung wurde bereits genannt, erwähnt werden soll noch, dass bei Konflikten auch juristischen Auseinandersetzungen von Seiten der Migranten nicht aus dem Weg gegangen wird. Diese Strukturlage korrespondiert mit einem Set unterschiedlicher Beziehungsverhältnisse zwischen ›südländischen‹ Migranten und Deutschen: (1.) Aus deutscher Sicht erscheinen ›Südländer‹ zum einen als Konkurrenten, auf deren Auftauchen man mit sozialer Schließung reagiert. Max Weber hat darauf hingewiesen, »daß irgendein äußerlich feststellbares Merkmal eines Teils der (aktuell oder potentiell) Mitkonkurrierenden: Rasse, Sprache, Konfession, örtliche oder soziale Herkunft, Abstammung, Wohnsitz usw. von den anderen zum Anlaß genommen wird, ihren Ausschluß vom Mitbewerb zu erstreben« (Weber 1980: 201). Die begrenzte Zahl an Positionen in einer Mannschaft, die eingeschränkte Chance zu Titelgewinn oder Aufstieg bedingt ein Interesse, Konkurrenten vom Wettbewerb auszuschließen. (2.) Allerdings sind die Konkurrenten auch (potentielle) Kollegen. Weber hat auch darauf hingewiesen, dass dort, wo die Beteiligten sich von einer sozialen Beziehung Vorteile erwarten, nicht Schließung, sondern Offenheit der Beziehung zu erwarten ist (vgl. ebd.: 23). Der Fremde rückt näher und nimmt Positionen ein, die mit einer eindeutigen ethnischen Unterordnung nicht vereinbar sind.
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(3.) Zudem ist ein formaler und unbegründeter Ausschluss von Migranten aus dem Fußballmilieu nicht möglich. Migranten können ihr Zugangsrecht nutzen, die Teilhabe einfordern und damit den Kontakt erzwingen. Im Lichte dieser ambivalenten Struktur- und Beziehungslage erklären sich die verschiedenen Arten der sozialen Schließung gegenüber ›südländischen‹ Migranten wie die oben dargestellten, widersprüchlichen Formen der Kategorisierung im interkulturellen Kommunikationshaushalt. Neuankömmlinge im Milieu, die aufsteigen und Positionen einnehmen, die zuvor für andere reserviert waren, begegnen charakteristischen Reaktionen, die Everett Hughes bereits 1945 in Grundzügen charakterisiert hat. Von zentraler Bedeutung ist dabei, dass Rassenzugehörigkeit bzw. Ethnizität in modernen Gesellschaften als master status institutionalisiert sind (Hughes 1971: 147).4 Ethnizität bietet sich den Alltagshandelnden damit unmittelbar, vorreflexiv als Ausschlusskriterium an. ›Südländer‹ zu sein überschreibt die anderen Differenzdimensionen, die es im Alltag gibt. Diese als fundamental erachtete Differenz wird allerdings situativ unterschiedlich ausformuliert: Die krasseste Form der Ungleichheit in der Fußballwelt besteht darin, vom Spielbetrieb (dauerhaft) ausgeschlossen zu sein. Die Verweigerung des Wettbewerbs bedeutet an Klassifikationskämpfen nicht teilnehmen zu können, nicht als Konkurrent anerkannt zu sein. Wer von Unterscheidungskonflikten ausgeschlossen ist, kann noch nicht mal verlieren. Die soziale Schließung, beispielsweise durch die Weigerung, gegen ethnische Vereine anzutreten oder ›Südländer‹ in die Mannschaft aufzunehmen, wird kommunikativ legitimiert durch kategoriale Unterscheidungen, etwa wenn es über die Spielweise einer türkischen Mannschaft heißt, sie habe ›nichts mit Fußball zu tun‹ und gleiche eher einem ›Straßenkampf‹ (vgl. Kapitel B.V). Wo nicht Versuche des Ausschlusses ablaufen, sondern Teilhabe ausgehandelt wird, müssen sich Südländer beweisen. Sie werden Zugangstests unterzogen, die die Form eines »sparring match of social gestures« (Hughes 1971: 146) annehmen. Die Neuankömmlinge müssen sich provozieren lassen und die Provokationen meistern; Fouls einstecken, ohne sich zu revanchieren; Konflikte annehmen, sich aber wieder versöhnen. Entscheidend ist in diesen symbolischen Auseinandersetzungen also die Eskalationsvermeidung: Wenn sie den Kampf zu Ernst nehmen, disqualifizieren sie sich und der Zugang wird verwehrt. Allerdings ist bei ›Südländern‹ Zugehörigkeit aufgrund des alle anderen Merkmale dominierenden master status ›Rasse‹ immer prekär. Gerade in der Fußballwelt, in der Konflikt institutionell auf Dauer gestellt ist, wird der Zugangstest zum Dauertest: Bei jedem Aufeinandertreffen muss man sich neu beweisen, Zugehörigkeit kann jederzeit entzogen, der ›Sportkamerad‹ wieder zum ›Ausländer‹ werden.5 Der einzelne ›Südländer‹ mag Zugang zur »informal brotherhood« (Hughes 1971: 146) erlangen, der ›Südländer an sich‹ nicht. So impliziert auch die von deutscher Seite fortlaufend gestellte Forderung, Ausländer müssten sich integrieren ein andauerndes Hervorheben der Unintegriertheit, das Differenz betont und den Ausnahme- und Außenseiterstatus der anderen aufrechterhält. 4 5
Auf die unterschiedlichen Begriffsverwendungen von ›Rasse‹ und ›Ethnizität‹ kann hier nicht eingegangen werden. Einen Überblick liefern Cornell/Hartmann 2007. Gamal Abdel-Shehid (2005) hat gezeigt, wie im kanadischen Fall der Sprinter Ben Johnson, nachdem er des Dopings überführt worden war, den Status des ›kanadischen Helden‹ zugunsten der Stigmatisierung ›jamaikanischer Einwanderer‹ verlor.
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Gemeinsam ist den unterschiedlichen Klassifikationsformen eine grundlegende Übereinstimmung hinsichtlich der Einschätzung des Statusverhältnisses zwischen Deutschen und ›südländischen‹ Migranten. Diese Statuseinschätzung weist den Einwanderern eine untergeordnete Position zu und impliziert ein Gefühl der Bedrohung der etablierten Gruppenordnung (vgl. Blumer 1958: 4 f.). Dieses Bedrohungsgefühl speist sich nicht allein aus dem ›objektiven‹, beobachtbaren Aufstieg von Migranten in der sportlichen Erfolgsordnung der Fußballwelt, sondern auch aus der kollektiv geteilten Wahrnehmung einer wachsenden Zahl von ›Südländern‹ im Fußballmilieu und einer verstärkten Selbstethnisierung und ethnischen Gruppenbildung. Stereotypisierung ist eine charakteristische Reaktion auf derartige Gefühle der Bedrohung der etablierten Statusordnung von Gruppen. Wenn nun tatsächlich Außenseiter in höhere Statuspositionen eindringen, hat dies nicht das Ende der Stereotypisierung zur Folge, sondern lediglich deren Modifikation. Der Aufstieg einer Gruppe, die aufgrund ihres Unterordnung festschreibenden master status ›an sich‹ am unteren Ende der gesellschaftlichen Rangordnung platziert sein müsste, hat ein Statusdilemma zur Folge, das die beteiligten Gruppen bewältigen müssen (vgl. Hughes 1971: 147). Die Verschiebung zur graduellen Klassifikation ›heißblütigerer‹, das Spiel mit dem Stereotyp und sein ironisch-distanzierter Einsatz können in diesem Sinne als Bewältigungsstrategien ambivalenter Statuspositionen nicht nur von Seiten der übergeordneten Gruppe interpretiert werden. In einer Situation, in der die stereotypisierte Seite nicht dazu in der Lage ist, die Fremdzuschreibung zu löschen oder außer Kraft zu setzen, fungieren Aneignung und Umdeutung der Fremdzuschreibung wie ihr ironischer Gebrauch als Strategien mit der Stigmatisierung zu leben, ohne in ihr aufzugehen. Sie erlauben eine Existenz ›hinter‹ dem Stigma, versteckt und geschützt von der Annahme der Fremdzuschreibung.6 Allerdings ändert sich dadurch strukturell nichts an der symbolischen Ungleichheit im Milieu: Diese Asymmetrie ist schon daran erkennbar, dass ein vergleichbar starkes und verbreitetes geteiltes Stereotyp wie ›heißblütigere Südländer‹ für Deutsche nicht existiert. Wo Gegenstigmatisierungen vorgenommen werden, geraten diese schnell zum Beweis dafür, dass ›Südländer‹ überempfindlich sind, überreagieren, keinen Spaß verstehen: sie fallen durch beim Zugangstest. Situationen, in denen es zu »gegenseitigen Stigmatisierungsspielen« (Neckel 2003: 165; Hervorh. D.Z.) kommt, in denen für die beteiligten Gruppen dieselben Rechte gelten und nach denselben Regeln gespielt wird, sind entsprechend selten. Teilhabe steht unter dem Vorbehalt, die etablierte Asymmetrie nicht zu berühren. Eine weitere Reaktion auf das Statusdilemma ist die Bildung segregierter Teilwelten (vgl. Hughes 1971: 149): Sowohl Segregationsmilieus als auch Marginalisierungsmilieus (vgl. Kapitel B.I) schränken die Häufigkeit und Intensität des ›interethnischen‹ Kontakts ein und reduzieren dadurch die Virulenz des Problems. Gleichzeitig erlaubt der Kontakt zwischen Migrantenmilieus und Assimilationsmilieus (vgl. ebenfalls Kapitel B.I) den Angehö-
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Was hier im konkreten Fall als Besonderheit stereotypisierter, marginalisierter Gruppen beschrieben wird, ist zugleich allgemeines Phänomen: Rollenübernahme ist jedem auferlegt, man kann sich den Rollenerwartungen nicht entziehen, muss aber auch nicht in ihnen aufgehen, sondern kann »Rollendistanz« wahren (vgl. Goffman 1961; für eine Diskussion von Rollendistanz im Kontext ›soziologischer Ambivalenz‹ vgl. Coser 1966).
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rigen ethnischer Vereine die Inszenierung wirkungsvoller eigener Provokations- und Stigmatisierungsspiele. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Bei einem Auswärtsspiel des FC Hochstätt Türkspor sind zahlreiche Anhänger des Vereins anwesend, neben einigen älteren Männern vor allem eine Gruppe von ca. 20 jungen Männern. Diese sind allesamt auffallend gepflegt und modisch gekleidet: sie tragen Jeans und Sportschuhe, Freizeit- und Sportkleidung, vorwiegend deutlich sichtbar Markenprodukte, die Haare mit Gel frisiert. Insgesamt sind mehr Zuschauer der Gastmannschaft als des heimischen FV 03 Ladenburg zu dem Spiel erschienen. Die jugendlichen Türken, zum Teil Spieler der zweiten Mannschaft, sind bereits beim letzten Spiel Heimspiel des FC Hochstätt gegen den SV Schriesheim durch folgendes Verhalten aufgefallen: Sie haben sich hinter der Bank der Gastmannschaft positioniert und die Kommentare und Anweisungen des Schriesheimer Trainers (»auf jetzt!«, »wir sind dran«, »Aufstellung!«) auf ironisierende Weise wiederholt und sich so über diesen lustig gemacht. Beim Spiel gegen Ladenburg variieren sie dieses Verhalten: Anders als die älteren Hochstätt-Anhänger haben sie sich direkt hinter die Zuschauer der Heimmannschaft gestellt und greifen diesmal deren Zurufe auf. Insbesondere ein Ladenburger Zuschauer ist äußerst ungehalten darüber, dreht sich mit hochrotem Kopf ständig nach der Gruppe um. Er ist es auch, der den Spielern ›seiner‹ Mannschaft am lautesten und häufigsten ›Anweisungen‹ zuruft, etwa »aufrücken«‚ »nach vorne Spielen«, »auf Florian«. Auch feuert er seine Mannschaft bei Freistößen und Eckbällen an und beschwert sich über den Schiedsrichter und seine Assistenten. Diese Zurufe werden von den Hochstätt-Anhängern wiederholt und in Übertreibung der dialektalen Färbung des Ladenburger Zuschauers auch bei späteren, unpassenden Situationen ausgerufen. Immer wieder bringen sich die Jugendlichen dadurch selbst zum Lachen. Als Reaktion auf ihr Verhalten werden sie von umstehenden Ladenburger Zuschauern auf Fouls der Spieler der türkischen Mannschaft und auf Fehlentscheidungen des Schiedsrichtergespanns angesprochen. Auch diese Gesprächsangebote werden von der Gruppe aber nicht angenommen, sondern die Äußerungen lediglich ironisierend wiederholt und auf entsprechende Situationen ihrer eigenen Mannschaft übertragen. Als sich die Jugendlichen erneut gespielt über das Foul eines Ladenburger Spielers erregen, dreht sich ein anderer, älterer Zuschauer, leger gekleidet und offensichtlich sehr aufgebracht, um und zischt: »Vergast keert ihr dohinne« (»Vergast gehört ihr dahinten«), was von den jungen Türken nicht aufgegriffen wird. Das Spiel, das die jungen Türken in dieser Situation treiben, ist formal nicht exklusiv für ›interethnische‹ Auseinandersetzungen. Die symbolische Herausforderung des anderen ist typisch für das Fußballmilieu und auch vereinsintern häufig zu beobachten. Auch sind Provokationsspiele charakteristisch für das Verhalten von jungen Türken untereinander (vgl. Schiffauer 1983). Hier allerdings spielen es junge Türken gegen ältere Deutsche, was eigentümlich ist, da diese an sich keine adäquaten Gegner sind. Diese spielen dann auch nicht mit, sondern fordern das Ende des Spiels, wollen ihre Ruhe. Die jungen Türken brechen hier also die Regeln des Fußballmilieus. Sie zeigen in ihrer Befähigung zur Karikatur ihre überlegene kulturelle Kompetenz (›ihr könnt kein hochdeutsch‹, ›ihr seit Bauern‹, ›wir kennen eure Sprüche, reden nicht mit euch, machen uns lustig über euch, wir sind ästhetischkulturell überlegen, so wie unsere Spieler fußball-kulturell‹). Die jungen Türken nutzen das Ethnische als Ressource des Spiels. Die Antwort »Vergasung« ist dann die symbolisch-kommunikative Reaktion, die auf die ethnische Provokation entsprechend ethnisch reagiert.
Offener Rassismus und ein direktes Moralisieren gegen ›Ausländer‹ ist im Fußballmilieu eher rar. Die Zurückhaltung speist sich zum einen aus der Angst vor dem Rassismusvorwurf. So werden Vorwürfe und Beschuldigungen moralischer Abweichung in der Regel an konkrete Adressaten (die Mitglieder eines türkischen Vereins) gerichtet und nicht explizit aus der Zugehörigkeit zu einer Kategorie (›die Türken‹) abgeleitet (vgl. Kapitel B.V). Zum anderen aus dem Wissen darum, auf die Gegenseite angewiesen zu sein. Wo es zu offenem Rassismus kommt, wird er oftmals mit Empörung oder Gegenstigmatisierungen (›Nazi‹, ›Bauer‹) beantwortet. Die letzte Form der Reaktion auf das Statusdilemma, die genannt werden soll, besteht darin, dass Migranten in formalen Organisationen auf solche Positionen verwiesen werden, auf denen sie für ›ihresgleichen‹ zuständig sind (vgl. Hughes 1971: 149): so sind ›Südländer‹ in den Gremien des DFB und seiner Gliederungen fast völlig abwesend. Wenn, dann
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besetzen sie die Position des ›Integrationsbeauftragten‹ wie z. B. im Berliner Fußball-Verband oder seit neustem (als beratendes Mitglied) im Vorstand des DFB. Es lässt sich, zusammenfassend, kein linearer Verlauf der Veränderung symbolischer Klassifikationen in der Fußballwelt ausmachen. Vielmehr existieren heute verschiedene Konstruktionsmuster symbolischer Ungleichheit, die situativ zum Einsatz gebracht werden. Auch ändert die Vorherrschaft konsensueller Stereotypisierungen nichts an der Asymmetrie interkultureller Beziehungen.7 Die Angehörigen ›ethnischer Minderheiten‹ erscheinen immer im Spiegel der ›Mehrheitsgesellschaft‹ und als Abweichung vom Normalzustand, da sie grundsätzlich ethnisch definiert sind. Im Gegensatz dazu bleiben Deutsche – mit Ausnahme von Situationen ethnisierender Gegenstigmatisierung – ethnisch unsichtbar.8 Angehörige der ›Mehrheitsgesellschaft‹ sind nicht ethnisch, sondern durch individuelle, sozialstrukturelle oder lebensstilspezifische Merkmale definiert.9 Stereotypenkommunikation und symbolische Klassifikation finden sich innerhalb und zwischen den Teilmilieus der Fußballwelt in je unterschiedlichen Ausprägungen. Insider nutzen ihre soziale Position, um Outsider mit hierarchisierenden Klassifikationen zu belegen und so die eigene soziale Überordnung zu legitimieren. Die Fähigkeit, ihrerseits negativ zu klassifizieren und Stigmatisierung abzuwehren, ist zugleich wichtige Voraussetzung beim Versuch von Außenseitern, sozialen Aufstieg zu bewerkstelligen. Stereotypisierungsprozesse können als symbolische Kämpfe der Abwertung und des Anspruches auf Anerkennung verstanden werden. Wo Abhängigkeitsverhältnisse der Etablierten von den Außenseitern hervortreten, soziale Hierarchien durch Auf- und Abstiegsprozesse in Bewegung geraten und Aufstieg nicht mehr als Ausnahme kategorisiert werden kann, soziale Hierarchisierungen aber dadurch nicht grundsätzlich und umfassend außer Kraft gesetzt sind, entstehen ambivalente Klassifikationen wie ›heißblütigere Südeuropäer‹. Das geteilte Stereotyp gedeiht in einer Situation potentieller und aktueller wechselseitiger Relevanz und relativer Interaktionsdichte und sozialer und personaler Nähe, bei gleichzeitig aufrechterhaltener ethnisch-kultureller Selbstorganisation und -zuschreibung von Differenz. Geteilte Stereotype wie ›heißblütigere Südländer‹ dienen dazu, in einer solchen Situation, wie sie typisch ist für das städtische Milieu des Amateurfußballsports, feste Selbstund Fremdbilder sowie klare ethnische Grenzen zu konstituieren und aufrechtzuerhalten. Sie eignen sich als Medien der Regulierung interkultureller Beziehungen gerade weil eine eindeutige Bestimmung ihres Bedeutungsgehalts nicht möglich ist und sie auf vielfach verschiedene Weise eingesetzt werden.10 Diese Form der Grenzziehung erleichtert 7
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Michèle Lamont (2000: 95 f.) hat hinsichtlich der Asymmetrie der Klassifikationen zwischen schwarzen und weißen Amerikanern darauf hingewiesen, dass Schwarze erstens nicht über die gleichen Mittel verfügen, ihre Zuschreibungen durchzusetzen und zweitens die negativen Zuschreibungen oftmals selbst internalisiert haben. Vgl. zur amerikanischen ›hidden ethnicity‹ Diskussion Doane 1997. »In categorizing other people – identifying them as an ethnic or racial group, for example – we emphasize what we see as the similarities among ›them‹ and their differences from ›us‹. In addition, there is a good deal of evidence, for example, that people tend to assume that more homogeneity exists in out-groups (those of which they are not members) than in in-groups (those of which they are members), stereotyping the ›other‹, while remaining attuned to the subtle differences among themselves« (Cornell/Hartmann 2007: 218). Die Unmöglichkeit einer eindeutigen Bedeutungsbestimmung ist nicht einem Mangel an hermeneutischer Auslegung geschuldet, sondern liegt im Wesen der Stereotypisierung: sie ist ambivalent und genau darin liegt ihre Kulturbedeutung. Genauso wenig lässt sich eindeutig bestimmen, ob ethnische Selbstorganisation
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kommunikative Verständigungen zudem gerade unter der Bedingung eines Zwangs zu politischer Korrektheit: Im Rückgriff auf ein Stereotyp, dass die ›Natur‹ des Menschen, sein natürliches Temperament beschreibt, liegt (vermeintlich) nichts Abwertendes. Überdies hat das Stereotyp seine ursprüngliche, sexuelle Ladung im Kontext des Fußballmilieus weitestgehend eingebüßt, nicht zuletzt, da der Zuschreibung sexueller ›Hitze‹ in der Fußballwelt nichts Negatives mehr anhaftet. Im Gegenteil: Bei der WM 2006 betonte Bundestrainer Jürgen Klinsmann, wie »geil« seine Mannschaft sei. Die Bild-Zeitung griff dies auf und stellte ihre WM-Berichterstattung unter den Slogan »schwarz, rot, geil!« Geil, umgangssprachlich im Sinne von »toll« verwendet, hat den Bedeutungsaspekt »lüstern, geschlechtlich erregt« (vgl. Etymologisches Wörterbuch des Deutschen 1989: 524) bei weitem noch nicht abgelegt.
5. Kommunikationszusammenbruch oder kommunikative Festschreibung von Ungleichheit? Das Fußballmilieu ist eine eigenständige soziale Welt. Ihre Angehörigen verfügen über einen geteilten Sonderwissensbestand, der nur für sie und nur für die Dauer ihrer Teilhabe an dieser Welt relevant ist und der ihnen die Regelung ihrer milieuspezifischen Interaktion erlaubt. Wie korrekterweise der Ball eingeworfen wird, wie sich Zuschauer zu verhalten haben, welche Umgangsform mit dem Schiedsrichter angebracht ist, zählt nicht zum Allgemeinwissen unserer Gesellschaft, wohl aber zum geteilten Wissen der Angehörigen der Fußballwelt. Ein Teil dieses Wissens liegt in unterschiedlichen Versionen vor. Es existieren unterschiedliche Fankulturen, sowie verschiedene Schiedsrichtertypen und Fußballstile. Im großen Bereich des Amateurfußballs spielt insbesondere die ethnische Differenzierung von Wissensbeständen eine nicht unerhebliche Rolle. Beispielhaft für ethnische Versionen des Allgemeinwissens werden in Kapitel B.V die türkischen Deutungsmuster ›arkadalk‹ und ›kabaday‹ beschrieben. In diesem Kapitel konnte gezeigt werden, dass diese Entstehung ethnischer Versionen von der Entstehung eines die Subwelten übergreifenden Allgemeinwissens – in Form von geteilten Stereotypen und symbolischen Klassifikationen – begleitet wird, die der horizontalen Differenzierung im Fußballmilieu eine vertikale Schichtungsdimension beifügen. Nun findet sich bei Alfred Schütz und Thomas Luckmann, deren theoretische Prämissen, wie in Kapitel B.I dargelegt, unsere Überlegungen anleiten, in Strukturen der Lebenswelt am Ende des Kapitels über Die Struktur des gesellschaftlichen Wissensvorrates folgende Bemerkung der Autoren, die mit dem hier geschilderten Fall nicht zusammenpassen will: »Die Differenzierung von ›Versionen‹ des Allgemeinwissens kann unter bestimmten sozialhistorischen Voraussetzungen so weit fortschreiten, daß weite Bereiche des Allgemeinguts schließlich zum Sonderbesitz sozialer Gruppen, Schichten usw. werden, oft integrativ oder segregativ ist, wie in Kapitel B.IV gezeigt wird. Migranten leben in dieser Spannung und Uneindeutigkeit. Eher ist es ein Mangel soziologischer Analysen, die untersuchten Phänomene vereindeutigen zu wollen. Die migrantische Lage ist ambivalent und so sind es auch ihre soziale Praxis und ihre kulturellen Hervorbringungen.
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in der Form von ›Ideologien‹. Wenn, im Grenzfall, der Bereich des gemeinsamen Wissens und der gemeinsamen Relevanzen unter einen kritischen Punkt zusammenschrumpft, ist Kommunikation innerhalb der Gesellschaft kaum noch möglich. Es bilden sich ›Gesellschaften innerhalb der Gesellschaft‹ heraus« (Schütz/Luckmann 2003: 427). Eine solche Differenzierung des Wissens tritt nach Schütz und Luckmann insbesondere in »modernen industriellen Gesellschaften« (ebd.) auf.11 Die Anführungszeichen um ›Gesellschaften innerhalb der Gesellschaft‹ deuten darauf hin, dass die Autoren mit ihrer Formulierung selbst nicht völlig zufrieden waren. Die Passage kann daher eher als ein Hinweis auf ein ungelöstes Problem bei der theoretisch-konzeptionellen Fassung einer spezifischen gesellschaftlichen Konstellation verstanden werden, dessen Lösung die Autoren hingegen ihren Lesern als Arbeitsauftrag mitgegeben haben. Wir können uns aus dieser gesellschaftstheoretischen Perspektive nochmals das Fußballmilieu ins Gedächtnis rufen: Fußball ist ein ›Kampfspiel nach Regeln‹ (Bröskamp), gekennzeichnet durch eine Einheit von Konkurrenz einerseits und Regelkonsens und Kooperation andererseits, durch ein hohes Maß an Wechseln zwischen den Sub-Gruppen, also durch hohe horizontale Mobilität, aber auch durch Sieg und Niederlage, Auf- und Abstieg, also durch hohe vertikale Mobilität. Gruppenzugehörigkeiten können abgelegt werden. Die Zugehörigkeit zum Milieu stellt ohnehin lediglich eine Teilzeitzugehörigkeit dar, die Teilnehmer am Milieu haben also auch noch an anderen sozialen Welten (mit ihren eigenen Relevanzstrukturen) teil. Fernerhin ist die Fußballwelt in hohem Maße eine Beobachtungs-, Darstellungs- und Kommunikations- (oder wenn man so will Klatsch-) Welt. Dieser Befund deckt sich mit den Ergebnissen neuerer Studien über andere soziale Welten (oder ›kleine Lebenswelten‹), auch in solchen Fällen, in denen nicht speziell das Verhältnis zwischen Migranten und Einheimischen untersucht wurde. Es muss jedoch zwischen zwei Formen sozialer Welten unterschieden werden: solchen, in denen sich die Angehörigen gegen den Rest der Welt indifferent verhalten oder abschotten und solchen, die – wie das Fußballmilieu – den Gesellschaftsmitgliedern ein Forum des Kontaktes und der Austragung von Konflikten bieten. In Gesellschaften, die über solche Arenen verfügen, ist die Folge ihrer Differenzierung nicht die von Schütz und Luckmann beschriebene Segmentation und auch nicht der Kommunikationszusammenbruch. Der Konflikt ist dort auf Dauer gestellt, er findet permanent statt, er ist institutionalisiert, weist bestimmte Regelmäßigkeiten auf, ist vorhersehbar und wird routiniert bearbeitet. Zugleich wird im Konflikt das Ungleichheitsverhältnis zwischen ›südländischen‹ Migranten und autochthoner Bevölkerung verhandelt und festgeschrieben. Schütz und Luckmann weisen darauf hin, dass das von ihnen beschriebene Problem von Gesellschaften »durch die Schaffung hochspezialisierter Vermittlungsinstitutionen« versucht wird zu lösen. Diese Institutionen – so zum Beispiel Schule oder Armee – sollen »eine ›gleichmäßige‹ Vermittlung wesentlicher Bereiche des Allgemeinguts und den ›gleichen‹ Zugang zu den verschiedenen Bereichen des Sonderwissens« bewerkstelligen (Schütz/Luckmann 2003: 427). Vieles deutet darauf hin, dass es nicht (primär) solche 11
Schütz und Luckmann hatten insbesondere die Differenzierung zwischen Laien und Experten und die vertikale Schichtung als Folge fortschreitender Arbeitsteilung (vgl. Schütz/Luckmann 2003: 433, 437, 439) im Sinne, nicht eine in Ethnien, Subkulturen, Szenen etc.
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staatlich geschaffenen Spezial- und Zwangsinstitutionen sind, sondern bestimmte selbst organisierte Welten mit freiwilliger Zugehörigkeit (nämlich ›Arenen‹), die in potentiell konfliktreichen Auseinandersetzungen zwischen Angehörigen symbolisch separierter Sonderwelten etwas produzieren, das vielleicht nicht ›Allgemeinwissen‹, aber doch ›geteiltes Wissen‹ genannt werden kann. Die vorgestellten Ergebnisse legen nahe, dass mehrfache und wechselnde Mitgliedschaften und Teilzeitzugehörigkeiten in unterschiedlichen ›sozialen Welten‹ und ihren ›Subwelten‹ den Verpflichtungscharakter des Sonderwissens relativieren und die Entstehung geteilten Wissens bedingen. In Gesellschaften, die in weiten Bereichen durch interkulturelle Kontaktsituationen geprägt sind, fällt es schwer, Menschen eindeutig mit gesellschaftlichen Teilgruppen innerhalb einer hierarchisch geordneten ›Gesamtgesellschaft‹ zu verrechnen. Die Forschungsergebnisse (auch anderer Studien) können demgegenüber dahingehend interpretiert werden, die ›Kreuzung sozialer Kreise‹ (Simmel 1992b) analytisch stärker in Rechnung zu stellen. Die Wissenssoziologie in der Nachfolge von Schütz und Luckmann hat ein begriffliches Instrumentarium entwickelt, das hier teilweise in Zusammenhang mit dem Fußballmilieu verwendet wurde, wobei der Strauss’sche Begriff der ›sozialen Welten‹ (vgl. Strauss 1978b; Soeffner 1991; Schütze 2002) an Stelle der ›kleinen Lebenswelt‹ (vgl. Hitzler/ Honer 1984; Honer 1999; Luckmann 1978) zentral gesetzt wurde, um damit auf eine eng verwandte Forschungsperspektive zu verweisen. Dieses Begriffsrepertoire scheint geeignet, die Lage von pluralistischen Gegenwartsgesellschaften zeitdiagnostisch und gesellschaftstheoretisch zu erfassen. Es wurde allerdings bisher primär unter methodologischen oder aber grundlagentheoretischen Gesichtspunkten diskutiert. Die vorliegenden einschlägigen Fallstudien wurden oftmals lediglich als Mikrosoziologien skurriler Milieus angesehen. Das theoretische Potential einer solchen Soziologie sozialer Welten wurde bisher noch nicht ausführlich diskutiert (vgl. aber Hitzler 1999 und Kapitel B.I in diesem Band): Die um die Schlüsselbegriffe ›soziale Welten‹ und ›kleine Lebenswelten‹ gebauten Begriffsschemata scheinen indes viel versprechend, wenn es darum geht, die ›irritierten Wissensordnungen‹ (vgl. Nazarkiewicz 1997: 198) von Gegenwartsgesellschaften, ihre Ordnungsmuster, Ungleichheitsstrukturen und Grenzen sowie die Verteilung des Wissens in ihnen zu theoretisieren.
Exkurs über den Hooligandiskurs Dariuš Zifonun
1. Vorbemerkungen Anders als die lokalen Amateurmannschaften, die im Fokus der vorherigen Kapitel stehen, genießen zwei der Mannheimer Fußballvereine bundesweite Bekanntheit: Der VfR Mannheim, Deutscher Meister des Jahres 1949, und der SV Waldhof Mannheim, der seine größten Erfolge vor dem 2. Weltkrieg feierte. Zwischen 1983 und 1990 gehörte der Verein der 1. Bundesliga an. In dieser Zeit erwarb er sich den Ruf, nicht nur eine äußerst hart spielende Mannschaft zu haben, sondern auch über eine rechtsradikal geprägte und gewalttätige Anhängerschaft zu verfügen. Im Mai 1999, der SV Waldhof gehörte zu dieser Zeit der 3. Liga an, kam es anlässlich einer Partie gegen die Mannschaft aus dem benachbarten Offenbach zu heftigen Auseinandersetzungen. Bereits vor der Begegnung richteten Hooligans und Neonazis, die aus verschiedenen Teilen Deutschlands angereist waren, auf dem Weg vom Bahnhof zum Stadion in einem Wohngebiet Verwüstungen an und attackierten Polizeifahrzeuge. Während des Spiels griffen Mannheimer Neonazi-Fans Anhänger der Offenbacher Kickers direkt an. Einige von ihnen rissen im abgesperrten oberen Teil des Gästeblocks Holzplanken aus der Tribüne und schleuderten diese in den darunter gelegenen Zuschauerbereich der Heimmannschaft. Bei den Auseinandersetzungen, die sich nach Spielende weiter zuspitzten, wurden 130 Personen verletzt. Über die Ereignisse, die schließlich zum Rücktritt des Offenbacher Polizeichefs führten, wurde bundesweit in den Medien berichtet. Zur Zeit der Vorkommnisse waren führende Mitglieder der regionalen Neonaziszene in Fanclubs des SV Waldhof organisiert. Die Kader versuchten durch ihr massives Auftreten, durch nazistische Gesänge und Banner sowie T-Shirts, Aufnäher und Buttons symbolisch die Hoheit über das Stadion zu gewinnen. Ihr Auftreten zielte darauf, die Aufmerksamkeit junger Fußballfans zu erregen, um diese dann für Neonaziorganisationen zu mobilisieren und rekrutieren. Angesichts der Tatsache, dass Ereignisse wie die in Offenbach und Situationen wie die beim SV Waldhof Mannheim Teil der gegenwärtigen Fußballwirklichkeit sind, ist nicht verwunderlich, dass rechtsextreme Aktivitäten im und um den Fußballsport die Aufmerksamkeit von Öffentlichkeit und Wissenschaft erfahren haben. Allerdings liegen die Dinge komplizierter, als es zunächst den Anschein haben mag. Die ›Logik‹ von gewalttätigem Rechtsextremismus und Rassismus in der Fußballwelt genau wie die ›Logik‹ und Struktur der Fanszene ist wesentlich komplexer, als dies vielfach wahrgenommen wird. Im Folgenden soll zunächst (2.) gezeigt werden, dass Hooliganismus und Ultrabewegung in keinem systematischen Zusammenhang mit Rechtsextremismus stehen und anschließend (3.) nachgezeichnet werden, wie im medialen Hooligandiskurs das Stereotyp des rechtsradikalen und gewalttätigen Hooligans produziert wird.
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2. Hooligans, Ultras und Rechtsextremismus In der Vergangenheit wurde der harte Kern der Fußballfanszene, ikonographisch verdichtet in der Figur des Hooligans, oftmals als geschlossene, homogene Gruppe dargestellt, die Fußballspiele für rassistisch oder politisch motivierte Gewaltexzesse ›missbraucht‹. Ich möchte im Folgenden zeigen, dass weder Rassismus noch rechtsradikale Einstellungen oder unkontrollierte Gewalt im Zentrum dessen stehen, was die soziale Welt des Hooliganismus konstituiert. Anhand eines Beispiels sollen zunächst die Regelhaftigkeit des Hooliganverhaltens und die Gewaltkontrolle dargestellt werden. Bei einem Zweitligaspiel des SV Waldhof Mannheim gegen die Mannschaft aus dem benachbarten Frankfurt konnten im November 2002 nicht alle angereisten Hooligans Plätze im Fanblock der Gastmannschaft erhalten. Einige bezogen einen Stehplatzbereich, der vor allem von solchen Mannheimer Fans genutzt wurde, die sich weder in der Fankurve noch im Sitzplatzbereich aufhalten wollten. Unter diesen Frankfurter Fans waren auch drei ›Jung-Hools‹, die gleich bei ihrem Eintreffen damit begannen, eine Gruppe älterer Mannheimer Fans durch beleidigende Äußerungen zu provozieren. Die Männer reagierten empört und mussten von anderen Zuschauern davon abgehalten werden, eine Schlägerei mit den drei Jugendlichen zu beginnen. Nach einigem Hin und Her griff plötzlich ein aufgebrachter ›Alt-Hool‹ aus Frankfurt ein und drängte die Teenager mit Gewalt zur Seite. Er erklärte ihr Verhalten für unangemessen und ehrlos, da man sich in einem ruhigen, nicht von Mannheimer Hooligans besetzten Stehplatzbereich der Heimmannschaft befinde. Dort habe man sich wie ein Gast zu benehmen und das Vorrecht der Gastgeber zu respektieren, die sich im Gegenzug ebenfalls respektvoll benähmen. Wenn sie Streit wollten, sollten sie in den Fanblock der Mannheimer gehen. Schließlich drohte er ihnen damit, sie zu verprügeln, sollten sie sich weiter mit den Mannheimer Fans anlegen. Wäre Gewaltausübung Ziel und Zweck des Hooliganismus, gäbe es für den Frankfurter Hooligan keinen Anlass, sich gegen die Angehörigen seiner eigenen Fanszene zu wenden. Anhand seiner Äußerungen wird erkennbar, dass sich das Gewalthandeln von Hooligans an klar bestimmbaren Verhaltenregeln orientiert. Dies sind zunächst ganz allgemein die den Handlungsnormen der Fußballwelt entstammenden Regeln des respektvollen Umgangs zwischen Gastgeber und Gast und die Fairnessregel sowie spezifischer der Ehrenkodex des Hooliganmilieus. Dieser gebietet es Hooligans sich bei ihren ›fights‹ mit ebenbürtigen Gegnern aus dem eigenen Milieu zu messen. Eine Schlägerei mit älteren Fußballfans, die dem Hooliganmilieu offensichtlich fern stehen und die über Schmähungen ihrer Mannschaft und persönliche Beleidigungen erst zum Streit provoziert werden müssen, statt diesen bereitwillig und um seiner selbst Willen anzunehmen, widerspricht eklatant der Maxime ›Hooligan gegen Hooligan‹.1 Darüber hinaus war das expressive Potential der Situation im Mannheimer Heimblock niedrig: Gary Armstrong hat Hooliganismus als umfassendes Drama der Darstellung von 1
Die Fairnessregel des Fußballsports wird von Hooligans allerdings außer Kraft gesetzt, wenn es doch zu Auseinandersetzungen mit Gruppen kommt, die nicht der Fußballwelt angehören bzw. wenn sich die Gegenseite, in der Wahrnehmung der Hooligans, nicht an die Regeln hält (vgl. Bohnsack 1995: 223; Bohnsack et al. 1995: 31; Findeisen/Kersten 1999: 134).
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Rivalität, Konkurrenz und Wettbewerb beschrieben (vgl. Armstrong 1998: 233 ff.). Nicht Gewaltausübung, sondern die Erniedrigung eines als ebenbürtig erachteten Gegners und die damit erreichte Darstellung eigener Überlegenheit bilden den Kern der Hooligankultur. Ralf Bohnsack (1995: 223) konnte in seiner Untersuchung Ost-Berliner Hooligans sogar feststellen, dass »eine im ›fight‹, im ›Sich-Klatschen‹ mit einem respektablen Gegner sich allmählich konstituierende und bewährende ›Freundschaftsbereitschaft‹ angestrebt [wird]« (vgl. auch Bohnsack et al. 1995; Bohnsack 1997). Wie Armstrong in seiner Untersuchung der Sheffield ›Blades‹ gezeigt hat, kann Überlegenheit auf viele unterschiedliche Weisen inszeniert werden. Eine solche »expressive performance« (Armstrong 1998: 247) kann etwa darin bestehen, auf dem Gelände des Gegners (in dessen Stadtteil, auf dessen Tribüne etc.) aufzutreten, auch wenn dabei die Anwesenheit und Aufsicht der Polizei, die eine Gewaltanwendung unmöglich macht, von vorne herein einkalkuliert werden. Derartige Auftritte gelten Hooligans – trotz fehlender physischer Auseinandersetzung – als gelungene Aktionen. Das ausdrucksstärkste und deshalb wohl wichtigste Element im Inszenierungssystem der Hooligans ist es, die gegnerische Gruppe in die Flucht zu schlagen (›running opponents‹), egal, ob dem eine Schlägerei vorausgegangen ist oder nicht. Insgesamt bekommt die Hooligankultur ihren eigentlichen Sinn erst durch die Beobachtung und Kommentierung ihrer Handlungen durch andere. Dabei kommen eine Vielzahl von Publika in Frage, zu denen neben den Gegnern und unbeteiligten Fußballfans auch die Polizei und – medial vermittelt – die breite Öffentlichkeit zählen, vor allem aber Hooligans aus dem eigenen Bekanntenkreis, die mit selbst gemachten Videos und Fotographien versorgt werden. Hier zeigt sich in der Hooliganszene ein Charakteristikum spätmoderner Gesellschaften: diese sind Inszenierungsgesellschaften, in denen nur das als wirklich erscheint, was medial für wirklich erklärt wird. In einer solchen sozialen Situation erscheint es Gesellschaftsmitgliedern nicht als ausreichend, als Zuschauer ›passiv‹ am medialen Handeln anderer teilzuhaben und damit ›unexistent‹ zu bleiben. Vielmehr streben sie danach, selbst Teil medialer Inszenierungen zu sein. Dagegen ist die beschriebene Szene im Mannheimer Stadion ohne inszenierungsrelevantes Publikum und daher nach den Kriterien der Hooliganwelt ohne expressiven Wert. Hooliganismus kann entsprechend nicht als regelloser Kampf verstanden werden, sondern als (medial) inszenierter Wettstreit, bei dem sich die Teilnehmer an Normen und stillschweigend vereinbarte Regeln halten (vgl. Armstrong 1998: 234 f.). Tatsächlich sind, wie Armstrong gezeigt hat, das Ausmaß und der Grad der Gewalt begrenzt. Armstrong hat des Weiteren die von ihm untersuchten Hooligans als egalitär und individualistisch charakterisiert (vgl. Armstrong 1998: 231). Klare Hierarchien sind demnach in Hooligangruppierungen nicht möglich. Dies würde zum einen die Gefahr von Positionsstreitigkeiten und Lagerbildungen mit sich bringen. Interner Konflikt jedoch widerspricht dem Hooliganselbstverständnis. Zum anderen – und wichtiger – widerspricht eine hierarchische Ordnung dem »Mob«-Charakter von Hooliganaktivitäten:2 Derartige Meuten »bestehen«, wie Hans-Volkmar Findeisen und Joachim Kersten (1999: 134 f.) unter Verweis auf Wolfgang Sofsky argumentieren,
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»Mob« ist eine in Hooligankreisen verbreitete Selbstbezeichnung von Hooligans in Aktion.
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»nur in Bewegungen, sie haben keine festgefügte Rang- und Befehlsordnung. Sie haben etwas Ichentgrenzendes, Gleichmacherisches, das unsere Kultur ansonsten nicht zur Verfügung stellt. Wir-Gefühle entstehen in der Aktion, man muß sich nicht kennen, um Mitglied zu sein. Im Stürmen agiert man gemeinsam und kann doch für sich allein scoren, sogar zum Anführer werden, wie Sofsky darlegt: ›Auch während der Jagd ist die Zusammenarbeit nur wenig ausgeprägt. Arbeitsteilung erfolgt spontan, Hierarchien werden in der Bewegung abgebaut. Die Meute kann durch Befehle losgelassen werden. Aber geführt wird nicht durch Vorschicken, sondern durch Vormachen. Einer stürmt vorweg und reißt die andern mit. Denn jeder will so schnell sein wie der erste. Die Meute bringt selbst die Anführer hervor, die ihr den Weg bahnen‹«. Der Lebensstil der Hooligans ist durch ein »highly controlled decontrolling of emotions and expressions« (Armstrong 1998: 295) gekennzeichnet. Wenn der Mob in Aktion ist, stellt sich beim Einzelnen ein rauschhaft erfahrendes ›Gefühl der Intensität‹ und der ›Unbesiegbarkeit‹ (vgl. Kersten 2001: 251) ein. Dieser ›Kick‹ ist auch typisch für Risiko-, Extremund Erlebnissportarten und »riskantes Flipverhalten«, zu dem Hubert Knoblauch (2001a: 160) U-Bahnsurfen, Car Racing und Bungee-Jumping zählt. Statt Hooliganismus als abweichende Kultur der Gewalt zu verstehen scheint es angemessener, sie als Teil einer spezifisch ›postmodernen‹ ›ekstatischen Kultur‹ (Knoblauch 2001a) zu interpretieren. Das Ziel der an der neuen ekstatischen Kultur Beteiligten ist »nicht mehr die Leistung. Vielmehr dient Leistung der Grenzerfahrung« (Knoblauch 2002: 240). Die Erfahrung von Grenzen (des eigenen Körpers und seiner Belastbarkeit genauso wie die des Rechts) zielt auf die Konstruktion persönlicher Identität in einer Gesellschaft, in welcher der leistungsfähige männliche Körper als Träger harter physischer Arbeit und Symbol männlicher Herrschaft und Überlegenheit entwertet worden ist. Die ekstatische Kultur bemächtigt sich des ›problematischen‹ Körpers und wertet ihn auf neue Weise wieder auf. Tatsächlich spielt die Frage körperlicher Männlichkeit im Hooliganismus eine tragende Rolle. Armstrong hat das Selbstverständnis der Hooligans als das einer »élite masculine entity« (Armstrong 1998: 243) beschrieben. Dabei haben wir es jedoch nicht mit einer ›gesättigten‹ Männlichkeit zu tun, bei der sich patriarchalischer Status und maskuline Darstellung in Einklang befinden. Vielmehr ist die Inszenierung von Männlichkeit in der Hooligankultur als Reaktion auf die Krise der sozialen Dominanz von Männern im Nachkriegskapitalismus zu verstehen. In diesem haben Frauen mehr und mehr erfolgreich Positionen im zuvor fast exklusiv von Männern besetzten öffentlichen Raum eingenommen. Von dieser Einbuße an sozialer Vorherrschaft sind Männer aus Mittelschicht und Arbeiterklasse auf je eigene Weise betroffen. Für erstere gilt: »Rebellions of masculinity occur […] because hitherto taken-for-granted access to dominance and privilege go forsaken for a larger part of the male population. The carriers of the rebellion are in the case of hooliganism not down and out underclass or ghetto kids, but middle class youths« (Kersten 2001: 253). Für letztere kann festgehalten werden: »The current underclass and former working class youth are presently – at best – booked for tertiary sector jobs, feminized work that they deeply detest and find unmanly. This fuels their hate and their aggression« (Kersten 2001: 249). Als
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Reaktion kommt es zu einer Klassen übergreifenden3 Inszenierung und Überzeichnung von Männlichkeit und Status, die nicht im Alltag gelebt, sondern bei rituellen Anlässen ausgedrückt und inszeniert wird. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Hooliganismus tief eingelassen ist in die Kultur des Spätkapitalismus: Der Hooligan-Lebensstil ist agonal ausgerichtet, d. h. bestimmt von einem kulturellen Primat des Wettkampfes mit offenem Ausgang und dabei rational angelegt (geplante, regelgeleitete Gewaltanwendung, kontrollierte Ekstase), was das tatsächliche Risiko des Wettstreits reduziert. Des Weiteren ist er durch (mediale) Selbstdarstellung und eine Inszenierung und Übersteigerung von Maskulinität charakterisiert. Insofern als Hooliganismus die Strukturen kapitalistischer Gesellschaften reproduziert und auf sie reagiert, steht er also in gewisser Weise ›mitten in der Gesellschaft‹. 4 Indem er diese Strukturen herausfordert, macht er sie sichtbar und provoziert Reaktionen moralischer wie politischer Eliten. Von der Ultra-Bewegung wird dieses Streben nach Ekstase, das Verlangen nach öffentlicher Selbstdarstellung und die Selbstcharismatisierung der Gruppe im Angesicht (staatlicher) Autoritäten geteilt. Die Ausübung physischer Dominanz (oftmals mit territorialen Ansprüchen und mit wechselnden Gewaltimplikationen) und deren kommunikative Verbreitung zählen demgegenüber nur zu den Kernaktivitäten innerhalb der Hooliganszene. Während diese Gewaltausübung der sozialen Welt der Hooligans Bedeutung gibt, wahrt die Ultraszene eine engere Verbindung zum Fußballsport selbst. Ultras inszenieren im Stadion aufwendige Choreographien mit selbst hergestellten Transparenten, die bisweilen einen ganzen Stadionblock abdecken oder setzen (illegal) Rauchbomben und Feuerwerkskörper ein, um das Stadion in eine scheinbar unkontrollierte und unkontrollierbare Gegenwelt zu verwandeln. Derartige Handlungen sind primär auf massenmediale Aufmerksamkeit ausgerichtet. Während Hooligans miteinander in körperliche Konflikte verwickelt sind, ist der Wettstreit zwischen Ultragruppierungen symbolischer Natur. Ultras weisen eine starke Bindung an ›ihren‹ Verein auf. Diese Hingabe führt eine Vielzahl von Ultragruppierungen zu quasipolitischen Aktivitäten, um ihre Interessen und die ihres Vereines zu fördern. Die »Ultras Mannheim« etwa beteiligten sich an der bundesweit koordinierten Faninitiative ›Pro 15:30‹, deren Ziel es war, die Anspielzeit von Fußballspielen in den höheren Spielklassen verbindlich und einheitlich auf den ›fanfreundlichen‹ Samstagnachmittag festzulegen. Ultras besetzten Schlüsselstellen bei dem Verein »Pro Waldhof«, der sich gegen die (später tatsächlich gescheiterte) Fusion des Vereins mit dem erwähnten Lokalrivalen VfR Mannheim engagierte. Des Weiteren übernahmen die Ultras Mannheim den Ordnerdienst im Stadion des SV Waldhof, als der Verein in eine finanzielle Krise geriet. Schließlich ist der Fan- und Sicherheitsbeauftragte des Vereins Gründungsmitglied der Ultras Mannheim. Neben dem Vorwurf ›sinnloser Gewalt‹ lässt sich Hooligans auch der des Rassismus und des Rechtsextremismus leicht anheften. Wer würde daran zweifeln, dass jemand, der an 3 4
Armstrong hat darauf hingewiesen, dass die von ihm untersuchte Gruppe von Hooligans sozialstrukturell gemischt ist und die Hooligankultur sich nicht auf niedrigere Schichten der Sozialstruktur beschränkt (vgl. Armstrong 1998: 150 f.). Meine primär modernitätstheoretische Perspektive lässt sich durch adoleszenz-, gender- und gewalttheoretische Argumente ergänzen, was ich hier nur selektiv unter Bezugnahme auf die Arbeiten Bohnsacks und Kerstens tue. Zu verweisen wäre außerdem auf die Arbeiten von Michael Meuser (2005) und Ferdinand Sutterlüty (2002).
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Auseinandersetzungen wie denen in Offenbach teilnimmt, auch Schlachtrufe wie ›He, he, he NSDAP‹ brüllt und ein Rassist ist? Allerdings schränken die von Hooligans und Ultras geteilte Orientierung an den Zielen der Selbstdarstellung und der Selbstcharismatisierung die Erfolgsaussichten der Übernahme- und Politisierungsversuche durch rechtsextreme Organisationen stark ein. Zwar sind, wie das Offenbacher Beispiel belegt, kurzfristige Koalitionen durchaus möglich: Hooligans kämpften gegen Hooligans, Neonazis griffen gewöhnliche Zuschauer an, Ultras sorgten für Rauch, Feuer und Chaos und gemeinsam attackierte man die Polizei. Allerdings scheint es neben dem Widerstand gegen (staatliche) Autorität und dem Denken in eindeutigen Freund-Feind-Kategorien keine weiteren Gemeinsamkeiten zwischen einerseits Hooligans und Ultras und andererseits politischen Extremisten zu geben. Eine genauere Betrachtung offenbart, dass Ultras und Hooligans jeweils eigene Ziele und Orientierungen verfolgen, die sich von denen politischer Organisationen deutlich unterscheiden. Für jene ist Politik ein gefährliches Unterfangen, da sie die Gefahr der Fraktionierung mit sich bringt und damit den inneren Zusammenhalt bedroht. Für Hooligans stellt die Gruppe eine Opportunitätsstruktur für individuelles Handeln und einen Schutz vor Verletzung und Verfolgung dar. Die Sanktionierung der Provokationen der jüngeren Hooligans gegenüber den Mannheimer Fans durch den ›Alt-Hool‹ aus Frankfurt im obigen Beispiel zeigt die Orientierung am fairen Fight auf, nach dessen Eigenlogik es widersinnig ist, einen möglichen Kampfpartner wegen dessen linker Orientierung oder dunkler Hautfarbe, also aus ideologischen Gründen, auszuschließen. Im Rahmen der Ultrakultur spielt die Unterstützung ›ihres‹ Verein und ›ihrer‹ Mannschaft eine überragende Rolle. Ultragruppierungen bemühen sich, möglichst viele Anhänger ›ihrer‹ Mannschaft zu integrieren, um mit deren Unterstützung die Inszenierung ihrer aufwendigen Choreographien zu ermöglichen. Jede Bedrohung des ›Teamsupport‹ wird von ihnen als gefährlich wahrgenommen. Aus diesem Grund begegnen Ultras dem Eindringen linker wie rechter Politik in die Fußballwelt mit Ablehnung. Es zeigt sich also, dass Rechtsextremisten strukturell nicht in der Position sind, anderen ihre Relevanzen aufzuzwingen. Im Gegenteil sind diese gezwungen, sich dem modernen Fußballmilieu und dem in ihm gültigen Diktat medialer (Selbst-) Darstellung zu beugen. Auf Seiten der Ultras und Hooligans besteht kein Bedarf an politischer Ideologie oder Identität. In ihrem Streben nach Sichtbarkeit und Selbstinszenierung bedürfen sie eines Publikums, sei es die mediale Öffentlichkeit oder die Gruppe ihrer Peers. Wie rechtsextreme Organisationen auch, wissen sie, dass in der medialen Inszenierungsgesellschaft ein Tabubruch der beste Garant für Aufmerksamkeit ist. Rechtsradikale Gruppen, Hooligans und Ultras sind daher weniger Partner als vielmehr Konkurrenten im Kampf um öffentliche Aufmerksamkeit. Berührungspunkte finden sich zwischen Hooligans und neonazistischen Mobs. Diese Mobs zeichnen sich weniger durch ein geschlossenes rechtsradikales Weltbild und eine straffe politische Organisation aus als durch einen emblematisch zur Schau gestellten neonazistischen Lebensstil (vgl. Findeisen/Kersten 1999: 111). Es sind solche Lifestyle-Rechten, mit denen für Hooligans Koalitionen möglich sind. Bohnsack hat in seiner sozialisationstheoretischen Untersuchung der Adoleszenzentwicklung bei jugendlichen Hooligans gezeigt, dass deren rechte Selbststilisierung als Pro-
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vokation interpretiert werden kann, mit der die Jugendlichen auf den »Verlust kommunikativer Verständigung« in der Familie reagieren: »Die nicht-offene Kommunikation ist es, die den Jugendlichen zum Problem geworden ist. Und Erfahrungen einer nicht-offenen Kommunikation sind es, auf die die Jugendlichen in der öffentlichen Begegnung mit Provokation reagieren. Provokation ist darauf gerichtet auszuloten, welche (moralischen) Prinzipien und Grenzen dem Handeln der anderen ›eigentlich‹ oder ›wirklich‹ zugrundeliegen. Dies vollzieht sich allerdings eben nicht nach Art einer Verständigung über diese Regeln und Prinzipien, sondern die Stellungnahme des Anderen soll aktionistisch erzwungen werden« (Bohnsack 1995: 224). Zur oben beschriebenen Inszenierung von Männlichkeit als Reaktion auf die Krise männlicher Rollenmuster tritt hier also, adoleszenzspezifisch, die Inszenierung politischer Radikalität als Reaktion auf die Verweigerung von für die Sozialisation notwendigen Auseinandersetzungen in der Familie. Allerdings betonen Findeisen und Kersten (1999: 135): »Hools sind keine Adressaten für rechtsextreme Parteien«, da ihnen das Interesse an Macht, an organisatorischer Einbindung und an Parteimitgliedschaft abgeht (vgl. Kersten 2001: 253). Das Hooliganmilieu ist eine »Teil- und Freizeitszene« (Findeisen/Kersten 1999: 130), deren Angehörige nicht nach einer ihre ganze Persönlichkeit umfassenden rechten Identität oder nach der Geborgenheit der völkischen Gemeinschaft streben. Umfassender persönlicher und kollektiver (rechter) Identität stellen Hooligans die »episodale Schicksalsgemeinschaft« (Bohnsack et al. 1995: 25 ff.) des Mobs entgegen, die den erstrebten ›Kick‹ ermöglicht.
3. Der Hooligandiskurs Trotz dieser deutlich erkennbaren Widersprüche, Differenzen und Verwerfungen zwischen den diskutierten Gruppierungen herrscht im öffentlichen Diskurs eine enge Verknüpfung zwischen Rechtsradikalismus, Rassismus und Hooligans. Ich möchte nochmals zum Mannheimer Fall zurückkehren, um die Struktur des öffentlichen Diskurses beispielhaft nachzuzeichnen. Bei den Zwischenfällen in Offenbach im Mai 1999 wurden 28 Personen vorläufig festgenommen und in der Folge mehrere Angehörige des rechtsextremen Milieus zu Haftstrafen verurteilt. Der Vereinsvorstand, dem in der Vergangenheit vorgeworfen worden war, Neonazi-Aktivitäten unter den Fans heruntergespielt zu haben, belegte rechtsradikale Aktivisten mit Stadionverboten und startete eine Antigewalt- und Antirassismuskampagne, für die man sich u. a. Lautsprecherdurchsagen und eines Banners mit der Aufschrift »Gegen Gewalt und Rassismus« bediente. In lokalen wie überregionalen Zeitungen brachten Kommentatoren ihre Abscheu angesichts der Ausschreitungen zum Ausdruck und erklärten, Derartiges bis dahin für unmöglich gehalten zu haben. Solche Taten seien nicht tolerierbar und müssten scharfe Konsequenzen nach sich ziehen. Linke Gruppierungen aus der Region nahmen die Vorfälle in Offenbach zum Anlass, im September 1999 in Mannheim einen »antifaschistischen Aktionstag gegen Rassismus und Neonazis auf der Straße und beim Waldhof« zu veranstalten. Das Erstaunliche an diesen Reaktionen ist aber, dass Rassismus bei den Vorfällen in Offenbach keine Rolle gespielt hatte. Die Gewalt richtete sich gegen die Polizei und gegen die
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Fans des Offenbacher FC. Tatsächlich hatten, wie oben erwähnt, zu dieser Zeit organisierte Rechtsextreme vermehrt versucht, unter den Fans des SV Waldhof zu agitieren und rekrutieren. Davon aber auf eine vermeintliche rechte Dominanz in der Fanszene zu schließen, erscheint verkürzt. Heute ist von den Rechten im Umfeld des SV Waldhof Mannheim nicht viel übrig geblieben. Ihre Zahl wird auch von linken Fangruppen auf etwa 30 Personen geschätzt. Ihr Einfluss auf die Fanszene und auf das Geschehen im Stadion ist gering. Allerdings wird man dafür weder die Gesinnungskampagnen des Vereins noch die massenmediale Empörung oder den linken Aktivismus verantwortlich machen können. Rechtsextreme haben aus Gründen, die in den Szenen der Hooligans und Ultras liegen, keine Chance, dort bleibend und nachhaltig Fuß zu fassen. Wenn überhaupt äußere Einflüsse dafür verantwortlich sind, dann ist dies die Tatsache, dass die Mannschaft mittlerweile in der vierten Liga spielt und damit als Rekrutierungs- wie Inszenierungsfeld (keine Kameras, wenige Zuschauer) für politische, nicht-sportliche Gruppierungen uninteressant geworden ist. Insgesamt ergibt sich ein differenzierungsbedürftiges Bild. So verstörend Vorkommnisse wie die in Offenbach sein mögen, so sind sie doch nur ein Element im weiten Feld der Handlungspraktiken von Fußballfans. Dieses Handlungsfeld erweist sich als umkämpft und widersprüchlich. Das Mannheimer Beispiel wirft aber vor allem auch ein Licht auf das, was ich den Hooligandiskurs nennen möchte. Die mediale Wahrnehmung der Fußballwelt konzentriert sich auf außergewöhnliche und drastische Ereignisse wie die in Offenbach oder den Angriff deutscher Hooligans5 auf einen französischen Polizisten bei der Weltmeisterschaft 1998, bei dem dieser fast getötet worden wäre (vgl. dazu Lau 1999).6 Die medial hergestellte Öffentlichkeit ruft wiederum professionelle moralisch-pädagogische Eliten auf den Plan. Hand in Hand mit den Medien produzieren Politiker, Pädagogen, Psychologen, Soziologen und andere Wissensexperten Deutungen solcher Ereignisse. In diesen Deutungen erscheinen die Taten als das gefährliche Werk rechtsradikaler, rassistischer, gewalttätiger Hooligans. Die Bedrohlichkeit dieser Ereignisse wird darin gesehen, dass in der scheinbar unkontrollierten, exzessiven und vermeintlich politisch unterfütterten Gewalt exemplarisch und unvermittelt ein sonst verborgenes gesellschaftsgefährdendes Potential zu Tage tritt. Auf diese symbolische Bedrohung reagieren die Eliten auf gleichermaßen symbolische Weise. In der Skandalisierung der Ereignisse bestätigen sie sich und dem Publikum ihre Aufmerksamkeit für gesellschaftlich bedrohliche Ereignisse, ihre Kompetenz für die Deutung der Ursachen solcher Vorkommnisse und ihren Willen zur Bewahrung gesellschaftlicher Ordnung. In der Moralisierung wird die moralische Verfehlung der ›abweichenden Subjekte‹ durch moralische Empörung erwidert und ausgeglichen. Am Ende des Zykluses steht die Selbstbestätigung der moralischen Eliten und die Affirmation der Gültigkeit der bestehenden sozialen Ordnung.7 5 6
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Ob die Täter als Hooligans zu klassifizieren sind, ist in Hooligankreisen umstritten. Dieser Vorfall dient als Referenzereignis im deutschen Hooligandiskurs. Auch Gunter Gebauer wählt als Bezugspunkt seiner Diskussion des Hooliganphänomens die Gewalttat bei der WM in Frankreich (Gebauer 2006a: 153) und betont: »Die Differenzen zwischen dem Fußball und dem Spiel der Hooligans könnten nicht größer sein» (Gebauer 2006a: 158). Dieser moralische Zyklus konstituiert, so meine These, die implizite Struktur (zumindest) des deutschen Hooligandiskurses, unabhängig von den historischen Wandlungen, die er hinsichtlich des expliziten Inhalts erfährt. Die Medienberichterstattung vor und während der Fußballweltmeisterschaft 2006 lieferte zahllose
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Die Skandalisierung und Moralisierung des ›Hooliganproblems‹ hat eine weitere Folge. Durch sie entsteht der Eindruck, als seien Probleme im Fußballsport wie Gewalt und Rassismus das Resultat einer Politisierung ›von außen‹ und hervorgerufen und beschränkt auf marginale Gruppe wie die der Hooligans. Der Rest der Fußballwelt erscheint im Gegensatz dazu – implizit wie explizit – als Hort friedfertigen Wettstreits und harmonischer Geselligkeit. Empörung einerseits, Romantisierung andererseits führt zu einer Verniedlichung des einen Phänomens, das zwar im Zusammenhang mit Hooligans immer wieder herbeigeredet, aber nicht wirklich prominent wird: Rassismus im Sport. Die Stigmatisierung von Hooligans (und von einzelnen Vereinen wie dem SV Waldhof) lenkt die Aufmerksamkeit weg von den Orten innerhalb der Fußballwelt, an denen Rassismus tatsächlich zum Standardwissens- und -handlungsrepertoire der Akteure zählt (vgl. Kapitel B.III).
4. Schluss Hooligans beziehen sich in ihrem Handeln nicht auf die institutionelle Welt der Politik, sie zielen nicht auf gesellschaftlichen Wandel und sind damit in einem strengen Sinne nicht politisch.8 Ihre politischen Einstellungen mögen zum Teil rechts sein9, als Hooligans betätigen sie sich nicht im politischen Handlungsfeld. Politisch sind Hooligans und Ultras lediglich im Sinne eines erweiterten Politikbegriffes. Sie betreiben ›life politics‹, indem sie das – für ›postmoderne‹ Gesellschaften charakteristische – Fehlen verbindlicher institutionellpolitischer Handlungsvorgaben und den Zwang, die individuelle Lebensführung selbst zu gestalten, als Chance nutzen, die existenziellen Fragen ihres Alltagslebens selbst zu beantworten. Indem sie dies tun, greifen Hooligans, deren Aufmerksamkeit in besonderem Maße der Frage nach dem Umgang mit dem eigenen Körper und dem anderer gilt, selbst gestaltend in die Welt ein (vgl. Beck/Giddens/Lash 1994; Giddens 1991).10 Für die Ordnung moderner demokratischer Gesellschaften stellt Rechtsextremismus ein Problem dar. Indem er auf die Errichtung einer anderen Ordnung zielt, stellt er die bestehende Gesellschaft als Ganze in Frage. Als in besonderer Weise prekär erscheint Rechtsextremismus in Deutschland, wo er immer im Lichte der nationalsozialistischen Vergangen-
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Variationen des Hooligandiskurses. Für Beispiele der aktuellen Diskussion der ›Hooligangefahr aus dem Osten‹ vgl. FAZ, 2. April 2006: 17; FAZ, 16. April 2006: 8; FAZ, 2. Juni 2006: 3. In ihrer Darstellung des britischen Medienkonstrukts des ›notorischen Hooligans‹ betonen Richard Giulianotti und Gary Armstrong (1998) die Bedeutung von Akademikern in der Produktion dieses Konstrukts. Der britische Diskurs scheint sich vom deutschen durch die stärkere Betonung der Gewalt sowie der Bedeutung von Hooligananführern und durch den geringeren Stellenwert des Rassismusvorwurfs zu unterscheiden. Back/Crabbe/Solomos (1999) zeigen, wie in England die ›Hooligandebatte‹ das »racist/hooligan couplet« hervorgebracht hat, das »makes it possible to both establish a moral pariah [the ›racist hooligan‹], and then in contrast to this image of deviance promote new codes of propriety and ›acceptable behaviour‹ inside football stadia [anti-racism]« (Back/Crabbe/Solomos 1999: 427). Für eine Rekonstruktion des Politikbegriffs vgl. Zifonun 2004b. Wie groß der Anteil von Hooligans mit rechtsextremer Gesinnung ist, ist in der Literatur umstritten. Armstrong hält ihn für gering (vgl. Armstrong 1998: 153 ff.), Lösel et al. schätzen ihn höher ein. Lösel stellt aber auch fest, dass sich die von ihm untersuchten Hooligans selbst zum überwiegenden Teil (63 %) als apolitisch einschätzen (vgl. Lösel et al. 2001: 119). Eine solchermaßen apolitische Alltagspolitik ist kennzeichnend für die sozialen Bewegungen der Post-68er Zeit.
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heit interpretiert und ängstlich beäugt wird. Im Gegensatz dazu stellt Alltagsrassismus nicht den Bestand der gesellschaftlichen Ordnung in Frage. Er bleibt beschränkt auf die Welt des Alltags und zielt nicht auf die Veränderung der institutionellen Ordnung. Wenn ethnische Selbstorganisation und wechselseitige Zuschreibung von Differenz von weiten Teilen der Gesellschaft aufrecht erhalten werden – trotz aller wohlmeinenden Versuche, sie darüber aufzuklären, dass wir doch alle gleich seien –, erlauben Stereotype und Vorurteile die Regulierung und Organisation des ›interkulturellen‹ Kontaktes. Dieser gestaltet sich teils konflikthaft, teils in wechselseitigem Einverständnis, grundsätzlich jedoch zu Gunsten der ›Mehrheitsgesellschaft‹. Damit schränkt Alltagsrassismus auch die Lebenschancen von Migranten ein und stabilisiert zugleich die bestehende Hierarchie gesellschaftlicher Gruppen. Alltagsrassismus erscheint hier gesamtgesellschaftlich – aus der Perspektive der Mehrheitsgesellschaft wie des Ordnungserhalts – eher stabilisierend als problematisch. Aus diesem Grund existiert für den realen Kreisligarassismus keine Öffentlichkeit, sehr wohl aber für imaginierte Horden rechtsradikaler Hooligans, die sportliche Großereignisse bedrohen.11 Die Skandalisierung und Moralisierung der »Hooliganschande« (Lau 1999) durch akademische, politische, pädagogische und mediale Eliten erlaubt diesen Eliten die Aktivierung und Legitimierung ihrer selbst wie der gesellschaftlichen Ordnung. Hooligandiskurs wie Alltagsrassismus im Amateurfußball fungieren, auf unterschiedlichen Ebenen, als Mittel gesellschaftlicher Stabilisierung und Befriedung und erlangen so Kulturbedeutung. Darüber hinaus ermöglicht der Hooligandiskurs, indem er Rassismus und Gewalt als Probleme einer randständigen Gruppe darstellt, die symbolische Reinigung dessen, was als friedliche Welt des Sports imaginiert wird, die alle Sprachen spricht, wie es jüngst in einer Medienkampagne des DSB hieß. Auf diese Weise verdeckt der Hooligandiskurs den Alltagsrassismus und sichert die Diskursherrschaft der moralischen Eliten sowie ihr mediales Repräsentationsmonopol des ›Bösen‹ im Sport gegenüber denjenigen, die durch Rassismus tatsächlich zu Schaden kommen und denen eine eigene Stimme verwehrt bleibt.
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Es dürfte klar geworden sein, dass mir keineswegs an einer Verharmlosung des Rechtsextremismus oder der Gewalt bei großen Fußballevents gelegen ist. Beide fallen jedoch in den Zuständigkeitsbereich der einschlägigen Strafverfolgungsinstitutionen und erfahren im Elitendiskurs die von mir beschriebene Verzerrung.
Das Migrantenmilieu des FC Hochstätt Türkspor Dariuš Zifonun
1. Annäherung Wer sich, von Süden her kommend, auf der A6 Mannheim nähert, kann, wenn er denn den Blick nach links wendet, zwischen der Autobahnböschung und dem Sichtschutz einer Brücke einen kurzen Blick auf eine unscheinbare Häuserreihe werfen. Die größtenteils zweistöckigen Ein- und Zweifamilienhäuser aus den 50er und 60er Jahren bilden die bauliche Begrenzungslinie der Mannheimer Großwohnsiedlung Hochstätt. Michael Lung hat in einer knappen Sozialraumanalyse den Stadtteil1 als »ein Stereotyp einer Stadtrandsiedlung« (Lung 1996: 305) bezeichnet, in der »typische sozioökonomische Probleme der Großwohnsiedlungen der 60er und 70er Jahre festzustellen sind« (Lung 1996: 320). Die Arbeitslosenquote liegt im Quartier bei 29,1 % und ist damit die höchste aller Mannheimer Stadtteile (vgl. Stadt Mannheim 2006: 30, Stand: 2005) (Durchschnitt Mannheim: 14,1 %). Auch der Anteil derjenigen, die Hilfe zum Lebensunterhalt (HLU) beziehen ist mit 18,9 % der höchste der Stadt, im Vergleich zu 5,7 % im Mannheimer Schnitt (Stadt Mannheim 2006: 38 f., Stand: 2004) und zudem seit 2000 von 17,2 % gestiegen (vgl. Stadt Mannheim 2001: 25). Hochstätt hat bei 3.000 Einwohnern einen für Mannheim überdurchschnittlichen Anteil von so genannten ›Ausländern‹ von fast 35 % (Mannheim insgesamt: 20,5 %) (vgl. Stadt Mannheim o.J.: 3), unter denen Türken mit 64 % die deutlich größte Gruppe ausmachen, während ihr Anteil an der Ausländerbevölkerung in der Gesamtstadt bei einem Drittel liegt (vgl. Stadtjugendamt Mannheim 2000: 13). Die ersten Wohngebäude auf dem Gelände des heutigen Siedlung Hochstätt wurden vor dem ersten Weltkrieg als Siedlung für Bedienstete des im Süden gelegenen Rangierbahnhofs errichtet. Erst in den 1960er Jahren entstand dann das heutige Quartier. Es besteht zum größten Teil aus einfachen und einfachsten mehrgeschossigen Wohnblöcken, die sich im Besitz öffentlicher Baugenossenschaften befinden. Während gerade in diesen Sozialbauten, die der Siedlung ihr eigentliches Gepräge geben, der Anteil von Migranten weit über dem Mannheimer Schnitt liegt und in manchen Wohnblöcken bis zu 86 % beträgt, liegt er in anderen Baublockseiten, zu denen auch die eingangs erwähnten frei finanzierten Wohnhäuser zählen, zwischen Null und 15 % (vgl. Lung 1996). Die infrastrukturelle Ausstattung des Stadtteils wird von den Bewohnern als schlecht eingeschätzt: es gibt eine Kirche, eine Grundschule, ein Gemeinschaftszentrum, das vor allem Kinder- und Jugendarbeit betreibt, einen türkischen Supermarkt und einen Imbiss. Während sich allein in Richtung des sieben Kilometer entfernten Stadtzentrums von Mannheim offene Felder erstrecken, wird der Stadtteil ansonsten durch die Autobahnen A6 im Osten sowie A656 im Norden und im Süden durch den Rangierbahnhof scharf umgrenzt. Den einzigen Verkehrszugang bildet eine Landstraße, die zwei andere Stadtteile Mannheims verbindet und Hochstätt am Rande berührt. Die Ferntransportwege, die Mannheim zum Knotenpunkt in einem international ausgedehnten Beziehungsgeflecht machen, trennen 1
Verwaltungstechnisch ist Hochstätt kein eigenständiger Stadtteil, sondern ist Seckenheim angegliedert.
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Hochstätt damit von seinem lokalen Umfeld ab. Genauso wenig wie der vorbeifahrende Fremde auf der Autobahn die Häuserreihe wahrnehmen, geschweige denn erinnern wird, ist »die Hochstätt« im Alltagsbewusstsein der Mannheimer Bevölkerung präsent. Weder um zu arbeiten, noch zum Einkaufen oder zum Vergnügen wird man sich jemals in den Stadtteil begeben. Zur alltagsweltlichen Irrelevanz gesellt sich der schlechte Ruf des Stadtteils: er gilt als hässlich, heruntergekommen und gefährlich. Wer ›von der Hochstätt‹ kommt, ist stigmatisiert. Was Hochstätt aber von anderen Stadtrandsiedlungen unterscheidet, ist die Tatsache, dass die neben der nur wenige Mitglieder zählenden ›Bürgerinitiative Hochstätt‹ einzige freiwillige Vereinigung im Stadtteil ein türkischer Fußballverein ist: Der FC Hochstätt Türkspor, dessen Vereinsheim sich im ehemaligen Gebäude des Jugendzentrums befindet. Das Gebäude weist damit eine Kontinuität der Nutzung durch ›randständige‹ Gruppen auf: nach dem Umzug der betreuungsbedürftigen Adoleszenten in größere Räumlichkeiten wurde es durch eine ethnische Minderheit übernommen. Allerdings vollzog sich mit diesem Austausch auch ein bemerkenswerter Funktionswandel. Von der sozialpädagogisch regulierten und kontrollierten Freizeitgestaltung einer ›Problemgruppe‹ zum lokalen Zentrum einer sozialen Welt, deren Angehörige sich gerade der Selbstbewältigung der Probleme verschrieben haben, mit denen sie sich konfrontiert sehen: den Folgen von Migration. Dieses Kapitel zielt darauf, anhand der exemplarischen Rekonstruktion der vielfältigen Sinnschichten des Handelns und Deutens in der sozialen Welt des FC Hochstätt Türkspor einige der Strukturmerkmale ethnischer Selbstorganisation in der Fußballwelt offen zu legen, wie sie typisch sind für Migrantenmilieus2. Dafür ist zunächst (2.) auf die Legitimationsstrategien einzugehen, mittels derer die Vereinseliten den Verein als eigenständigen Akteur in der Fußballwelt verorten. Im Anschluss (3.) wird der Stil des Hochstätt Türkspor als spezifische Form der Aneignung und Auslegung der Regeln des Fußballspiels interpretiert. Der folgende Abschnitt (4.) kehrt nochmals zurück zur Frage der Legitimation, indem er die Bedeutung von ›Stilbrüchen‹ für Reflexionsprozesse innerhalb der Fußballwelt betont. Anschließend (5.) wird neben der internen Segmentierung der lokalen Sozialwelt und der internalisierten Rollenvielfalt ihrer Mitglieder gezeigt, dass die Außengrenzen des Milieus äußerst unscharf sind, da sich in der lokalen Welt des Hochstätt Türkspor eine Reihe sozialer Welten kreuzen und überschneiden. Abschließend (6.) wird die ›Kulturbedeutung‹ von Segmentierung, Biographie, Stilisierung, Arenenbildung und ›flacher‹ Überhöhung zusammengefasst und auf den ›modernen‹ Charakter der lokalen ethnischen Selbstorganisation eingegangen. 2. Die »Hochstätt-Philosophie« Augenfällig ist die Existenz einer symbolischen Sinnschicht, die von den beteiligten Akteuren als ›Hochstätt-Philosophie‹ bezeichnet wird. Artikuliert und getragen wird diese ›Philosophie‹ von den Führungspersonen des Vereins, dem Vorstand, insbesondere dessen Vorsitzenden und dem Trainer der ersten Mannschaft. Sie wird in gruppeninternen Gesprächen immer wieder explizit und implizit artikuliert, aber auch in Gesprächen und Interviews 2
Für eine typologische Unterscheidung migrantischer sozialer Welten (Migrantenmilieu, Segregationsmilieu, Assimilationsmilieu, Marginalisierungsmilieu, interkulturelles Milieu) vgl. Kapitel B.I.
Das Migrantenmilieu des FC Hochstätt Türkspor
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formuliert, die im Zuge der beobachtenden Teilnahme am Mannheimer Fußballmilieu geführt wurden. Die Hochstätt-Philosophie umfasst im Wesentlichen die drei Elemente Geschichtsinterpretation, Problemdefinition und Lösungsmodell. Ausgangspunkt der Interpretation der Präsenz türkischer Migranten ›auf der Hochstätt‹ ist die Feststellung, die erste Generation türkischer Migranten sei aus rein materiellen Gründen nach Deutschland gekommen und sei in ihrer Lebensorientierung in den ersten Jahren ihres Aufenthaltes in Deutschland allein an die Türkei gebunden gewesen. Heute jedoch käme ein Leben in der Türkei für keinen von ihnen mehr in Frage, insbesondere nicht für die zweite Generation der in Deutschland Aufgewachsenen. Völlig ausgespart wird dabei das Leben in der Türkei vor der Migration. Die Analyse konstituiert ein kollektives Kurzzeitgedächtnis. Obwohl als Hochstätt-Philosophie tituliert, wird überdies nicht die Entwicklung des Stadtteils und seiner Gesamtbevölkerung reflektiert, sondern allein die seiner türkischen Einwanderer. Aus dieser Analyse folgt die Identifikation eines doppelten Problems: Das der Umorganisation der Orientierung der ersten Generation und das der Sozialisation der zweiten Generation unter den Bedingungen der Migration, wobei ausschließlich die männlichen Jugendlichen gemeint sind. Insbesondere dieses zweite Problem steht im Focus der Philosophie: Die jungen Männer »wissen nicht, wo sie hingehören«, sie »wissen nicht, wie sie sich benehmen sollen«. In dieser Problemdefinition spiegelt sich die Selbstwahrnehmung der Angehörigen der ersten Generation, es geschafft zu haben, d. h. das erste Problem gelöst zu haben. Der Verein steht dabei exemplarisch für ihre Erfolgsgeschichte: Der Verein wurde 1993 von einer Gruppe türkischer Migranten gegründet, die Mitte der 70er Jahre in den Stadtteil gekommen waren. Einige von ihnen hatten bereits zuvor versucht, einen Fußballverein zu etablieren, waren jedoch damit gescheitert. Mehr Erfolg hatten sie, als sich ihnen einige Mitglieder des seit 1978 existierenden FC Türkspor Mannheim anschlossen. Nachdem der Verein zunächst für ein Jahr an der vom türkischen Konsulat organisierten türkischen Liga teilgenommen hatte, wechselte er 1994 in die unterste Spielklasse innerhalb des Ligenbetriebs des Badischen Fußballverbandes und konnte schnell einige sportliche Erfolge erzielen. Die erste Mannschaft des Vereins spielt seit 1999 in der Kreisliga, d. h. der viertniedrigsten Spielklasse. Neben dem sportlichen Erfolg ist es aber insbesondere der Erwerb und die Nutzug des Vereinsheims, den man als Erfolg bewertet. Das Lösungsmodell für die Bewältigung von Migrationsfolgen liegt in der HochstättPhilosophie also in der ethnischen Selbstorganisation. Tatsächlich waren in den ersten Jahren ca. 90 % der Spieler des Vereins aus dem Quartier, noch heute liegt die Quote bei etwa 80 %. Bis auf einzelne Ausnahmen gehören sowohl den Fußballmannschaften als auch dem Verein und seinem Vorstand ausschließlich türkische Migranten an. Auch bei den Fußballzuschauern des Vereins und bei den Besuchern des Vereinsheims handelt es sich fast durchweg um männliche türkische Migranten. Ethnische Selbstorganisation im Stadtteil erscheint als Lösung des zweiten Problems: die Sozialisation junger Männer durch Integration in das Migrantenmilieu. Die diagnostizierte Handlungsunsicherheit und Identität gefährdende Ortlosigkeit soll durch die Teilhabe am Fußballverein behoben werden. Dabei spielt zum einen die Vermittlung von Fähigkeiten oder Orientierungen mit Hilfe des Sports selbst eine Rolle: Die Fähigkeit, unter Druck Ruhe zu bewahren, Niederlagen einzugeste-
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hen und zu verarbeiten, Probleme zu diagnostizieren und gezielt zu bearbeiten oder auch Freude kollektiv (d. h. kollektiv gesteuert und kontrolliert) zu erfahren und zu erleben. Zum anderen ist es die Internalisierung türkischer Kultur, die in der Migrationssituation Verhaltenssicherheit und Identität begründen soll. Den ›Gefährdungen‹ eines deutschen Lebensstils (Genusssucht, Drogenkonsum, Disko, schlechte Freunde, Computerspiele, TV und Video) und den Verunsicherungen, die sich daraus ergeben, ›zwischen zwei Welten‹ zu leben, wird die kulturelle Vereindeutigung entgegengestellt. Dabei wird türkische Kultur als Alltagskultur verstanden. Neben der Beherrschung der türkischen Sprache spielen hier Verhaltensmuster, die als der türkischen Kultur entsprechend und ihr entspringend erachtet werden, eine zentrale Rolle. Immer wieder genannt werden hier ein ›anständiges‹ und achtungsvolles Auftreten gegenüber Älteren, die Einhaltung ›islamischer‹ Schamgrenzen, etwa durch das Duschen mit Slip, das Erlernen einer Selbstbewusstsein ausdrückenden Körpersprache (aufrechte Haltung, in die Augen schauen). Diese alltagskulturelle Einbindung wird explizit von einem ideologischen ›Türkentum‹ abgegrenzt und die Distanz zu nationalistischen oder religiösen Ideologien betont. Was sind nun die konkreten Inhalte der Hochstätt-Philosophie‹?3 Ihre Hauptbestandteile bestehen in den Prinzipien »Offenheit« und »Aufrichtigkeit«. Beides wird von den Angehörigen des Vereins im Umgang miteinander erwartet. Dazu kommen die Prinzipien »Freundschaft«, »Friedfertigkeit« und »gegenseitige Achtung«. Es handelt sich also bei der Hochstätt-Philosophie um eine universalistische Allerweltsmoral. Sie ist weder fußballspezifisch, noch ethnisch geprägt, sondern bezieht sich auf abstrakte Werte. Sie expliziert keine Handlungsvorgaben und sieht keine dogmatischen oder sozialen Ausschlüsse vor, verlangt lediglich, dass man sich ›anständig verhält‹. Das Spezifische dieser Philosophie ist also ihre Allgemeinheit. Gerade ihr unspezifischer Charakter ermöglicht es, den Verein von allen pragmatischen Vereinnahmungen frei zu halten und als reinen Selbstzweck zu imaginieren. Allerdings wird die Hochstätt-Philosophie immer nur dann aktiviert, wenn die Erfahrungen einer historisch ganz spezifischen Gruppe betroffen sind: der männlichen türkischen Migranten der Fußballwelt ›auf der Hochstätt‹. Nur für diese Gruppe besitzt sie Gültigkeit,4 nur innerhalb dieser Gruppe und für ihre Handlungszusammenhänge zielt sie auf Integration. Die ›Hochstätt-Philosophie‹ ist darauf ausgerichtet, möglichst jedem Angehörigen der lokalen Gemeinde die Teilhabe zu ermöglichen, und lässt entsprechend Raum für die unterschiedlichsten Orientierungen und Präferenzen, solange diese keinen Anspruch auf alleinige und allgemeine Gültigkeit reklamieren. Es bleibt also zunächst festzuhalten, dass die Hochstätt-Philosophie die Welt des FC Hochstätt mit einem weiten – weil universalistischen und inklusiven – und dabei flachen – weil von ideologischen Überhöhungen weitgehend freien – Baldachin überwölbt. Durch ihre Prinzipien soll die ethnische Selbstorganisation stabilisiert und gesichert werden. Nun ist die Existenz einer derartigen symbolischen Sinnschicht die eine Sache. Ob sie jedoch allein als nachträgliche Legitimation und symbolische Überhöhung, als ›Ideologie‹ fungiert 3 4
Vgl. zum folgenden genauer Zifonun/Cndark 2004. Zwar existieren zu dieser Gruppe keine formellen Zugangsbeschränkungen. Allerdings ergibt sich durch die spezifische Form der Zugehörigkeit zu verschiedenen sozialen Welten, die in den folgenden Abschnitten expliziert werden, eine faktische soziale Schließung, die die Zugehörigkeit zum Verein fast ausschließlich auf Träger der beschriebenen Merkmalskombination beschränkt.
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oder als ›Weltanschauung‹, die in Form kleingliedrigerer Deutungsmuster handlungsleitend ist, kann allein eine Analyse der Handlungspraxis der Akteure in den unterschiedlichen Handlungsfeldern zeigen, die im Verein eine Rolle spielen und denen wir uns im folgenden zuwenden.
3. Der Hochstätt-Stil Sportliches Handeln ist auf die unterschiedlichsten Weisen kulturell geformt, nicht nur in unterschiedliche Sportarten differenziert, sondern auch jeweils von individuellen und kollektiv geteilten Sportstilen geprägt. Steht dieses Handeln zunächst unter dem pragmatischen Vorbehalt der jeweiligen Sportart, bietet diese zugleich ein (abhängig von der Regelstruktur der Sportart: mehr oder weniger) weites Spektrum unterschiedlicher Interpretationsmöglichkeiten und Realisierungsformen. Der Sportstil stellt ein Auswahlprinzip dar, eine Wahlentscheidung, so und nicht anders zu spielen. Für den Fußballsport haben Christoph Biermann und Ulrich Fuchs den Stil einer Mannschaft charakterisiert als die Auslegung eines generellen Spielsystems durch eine Mannschaft und die für die Mannschaft typische Auswahl taktischer Handlungsmöglichkeiten, die das System eröffnet (Biermann/Fuchs 2004: 39 ff.). Stil ist insofern als eine reflexiv entworfene und der Reflexion zugängliche Ausdrucks- oder Darstellungsleistung zu verstehen. Die Handelnden können sich somit der Stilisierung nicht entziehen. Jedoch macht erst die performative und diskursive Inszenierung des Stils diesen zu ›meinem‹ oder ›unserem‹ Stil und damit zum Identitätskennzeichen.5 Erst in der reflexiven Zuwendung entsteht aus dem diffusen Konglomerat von Handlungs- und Deutungsmustern ein gebündelter, klar umrissener Stil nicht zuletzt, indem man ihn von anderen Stilen abgrenzt. Im Folgenden wollen wir den Stil des FC Türkspor Hochstätt in mehreren Einzelschritten rekonstruieren. Den Ausgangspunkt soll eine idealtypische Rekonstruktion bilden. Als materiale Grundlage dient uns dabei ein erfolgreicher Spielzug der ersten Mannschaft aus der Spielzeit 2002/03. Der anhand dieses Spielzugs gebildete reine Stiltypus ist entsprechend ein analytisches Konstrukt und sagt noch nichts über die Selbst-Stilisierung der Handelnden aus. Erst im zweiten Schritt wird in der Kontrastierung mit diesem Konstrukt die Spezifik des Hochstätt-Stils erkennbar werden. Dabei wird zu beachten sein, (1.) welche pragmatischen Züge dieser aufweist, (2.) welche symbolischen Überhöhungen er erfährt und (3.) wie er perspektivisch von den Akteuren interpretiert, verglichen und bewertet wird. Der von uns analysierte Spielzug nimmt seinen Ausgang in einem Freistoß in der Hälfte der angreifenden Mannschaft von Hochstätt Türkspor. Spieler 1 spielt den Ball vom rechten Rand des Mittelkreises über sechs Meter nach vorne rechts zu Spieler 2. Dieser überquert Ball führend mit fünf Schritten die Mittellinie. Ein Gegenspieler stellt sich ihm in den Weg, worauf Spieler 2 einen Pass mit dem rechten Fuß nach links antäuscht. Der Gegenspieler reagiert auf diese Finte mit einer Abwehrbewegung in Richtung der Spielfeldmitte, wodurch sich für Spieler 2 ein Freiraum nach rechts außen eröffnet. Er nutzt diesen Raum für einen Neun-Meter-Pass in Richtung rechter Außenlinie. Dieser Pass wird von Spieler 3
5
Vgl. für eine Diskussion von Stil im Kontext aktueller Trendsportarten Gebauer et al. 2004.
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aufgenommen, der sich zur Ballannahme entlang der Außenlinie zurückbewegt. Spieler 3 nimmt den Ball mit links an und spielt ihn an einem Gegner vorbei unmittelbar mit rechts über vier Meter in Richtung Spielfeldmitte in die Füße des entgegenlaufenden Spielers 4. Dieser streicht mit dem linken Fuß über den Ball und dreht dabei seinen Körper in Richtung des gegnerischen Tors, so dass er nach Vollendung der 180 Grad Drehung den Ball vorbei an seinem Gegenspieler erneut mit dem linken Fuß nach vorne ins Zentrum spielen kann. In der Zwischenzeit ist Spieler 2 von seiner Position an der Mittellinie geradeaus ins Zentrum vorgerückt und nimmt den Ball von Spieler 4 nach sieben Metern mit dem rechten Fuß auf. Er verlangsamt seinen Lauf und kommt mit sechs Trippelschritten zum Stillstand. Sodann spielt er den Ball am Verteidiger vorbei über sechs Meter als Aufsetzer gerade aus nach vorne an die rechte Strafraumecke. Dorthin ist Spieler 3 über die rechten Seite nach vorne gelaufen. Von einem Gegenspieler verfolgt, misslingt ihm die genaue Ballannahme. Der Ball springt in einem 2,5 Meter hohen Bogen über fünf Meter in Richtung des rechten Torpfostens. Spieler 3 und sein Gegenspieler eilen dem Ball nach, wobei der Gegenspieler unter Druck von Spieler 3 den Ball erneut in einem Bogen in die Mitte des Strafraums spielt. Der Ball springt zweimal auf, bevor er von Spieler 5, der von links kommend seinem Gegenspieler enteilt, mit dem Außenrist des linken Fuß vorbei an zwei Gegenspielern und dem Torwart in der Tormitte unter die Latte geschossen wird. Bemerkenswert an diesem Spielzug ist nun zunächst, dass die Mannschaft lediglich 27 Sekunden benötigt, um den Ball von hinter der Mittellinie ins gegnerische Tor zu bewegen. Sie bedient sich dabei keines langen Balls. Im Gegenteil: Fünf Spieler der angreifenden Mannschaft sind an diesem Spielzug beteiligt, die fünf gezielte Kurzpässe zum Einsatz bringen. Der Ball wird nur einmal, von Spieler 2, über mehrere Schritte am Fuß geführt. Ansonsten dominiert das unmittelbare Passspiel. Entscheidend an diesem Spielzug ist der hohe Laufeinsatz der Spieler. Nur durch ihre gezielten Laufbewegungen kommen die Spieler 2 und 3 erneut in Ballbesitz, nur durch sein Nachsetzen kann Spieler 4 seinen Gegner zum unkontrollierten Ballspiel nach innen zwingen, nur dank seiner schnellen Laufreaktion gelangt Spieler 5 in Ballbesitz und kann einschießen. Genauso wenig wie lange Pässe findet sich in diesem Spielzug ein Dribbelspiel. Die Spieler bemühen sich nicht individuell um Raumgewinn. Keiner versucht, seinen Gegenspieler zu umspielen. Im Zentrum des Spielzuges befindet sich vielmehr ein in Bewegung befindliches Dreieck, bestehend aus den Spielern 2-3-4. Der hier beschriebene Spielzug weist große Ähnlichkeiten mit dem auf, was von Biermann und Fuchs als ›moderner Stil‹ charakterisiert wurde. Die Autoren betonen, dass sich bis zur WM 1958 alle Systemoptionen, die der Fußballsport kennt, entwickelt hatten (Biermann/Fuchs 2004: 103). Sie zeichnen nach, wie es zu einer Auflösung starrer Systeme kam, die einen Bedeutungsgewinn des Stils zur Folge hatte. Je größer die Auswahlpalette an möglichen Formen und deren Mischungen, desto entscheidender ist die Interpretation, die Formgebung auf dem Platz, die Praxis ihrer Umsetzung. Als modernen Stil bezeichnen sie einen seit den 1970er Jahren sich entwickelnden Stil der sich auszeichnet durch »ständige Bewegung der Spieler, kollektive Aktionen der Spieler in hoher Geschwindigkeit, hohe individuelle Fähigkeiten, die aber nur auf Basis von Zusammenspiel stattfinden«
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(Biermann/Fuchs 2004: 114)6 Das entscheidende Stilmittel im modernen Offensivspiel ist der Kurzpass. »Der Ausdruck, den es auf dem Platz findet: ein Kombinationsspiel auf engstem Raum, bei dem die Beteiligten jeweils nur kurz in Ballbesitz sind« (Biermann/Fuchs 2004: 139). 7 Biermann und Fuchs betonen des Weiteren, dass es sich bei Stil nicht allein um eine Körpertechnik handelt, sondern sich im Stil eine »Idee von Fußball« (Biermann/Fuchs 2004: 44) ausdrückt: »Ist er temperamentvoll oder unterkühlt, destruktiv oder kreativ, flexibel oder eher statisch, kämpferisch oder verspielt, elegant oder hölzern« (Biermann/Fuchs 2004: 44). Wenn wir uns fragen, welche Idee sozialer Beziehungen jenseits der eher fußballspezifischen und psychologischen Qualitäten, die Biermann und Fuchs nennen, sich mit dem modernen Fußballstil verbinden, zeigt sich, dass der global verfügbare Stil (Handlungsmuster) eine hohe Affinität zum Deutungsmuster ›arkadalk‹, Freundschaft, aufweist, das in der sozialen Welt des Hochstätt Türkspor prominent ist: Werner Schiffauer (1983: 108-124) hat auf den besonderen Stellenwert von ›arkadalk‹ innerhalb der traditionellen ländlichen Kultur der Türkei hingewiesen. Diese zeichnet sich durch eine strenge Trennung zwischen innerer und äußerer Sphäre aus. Die Familie bildet die innere Welt ökonomischer Reproduktion. Dem steht die äußere Welt gegenüber, die bereits die Dorfgemeinschaft einschließt und sich nach außen über Nachbardörfer, die Bezirksverwaltung usw. erstreckt. Diese Außenwelt wird als feindselig und als Bedrohung für die Aufrechterhaltung und das Überleben der Familie erachtet. Soziale Beziehungen sind hierarchisch geordnet, abhängig von Familienstatus, Geschlecht und Alter und gründen auf den Verpflichtungen gegenüber Familie und Dorf. Außenbeziehungen beschränken sich fast ausschließlich auf das männliche Oberhaupt der Familie. Innerhalb dieser sozialen Formation bildet ›arkadalk‹ und insbesondere die Freundschaft zwischen jungen Männern eine Gegenwelt. Diese ermöglicht enge Beziehungen zwischen jungen Männern außerhalb der Familie. Diese Beziehungen zeichnen sich (im Gegensatz zu denen innerhalb der Familie) durch Freiwilligkeit, Statusgleichheit und Reziprozität aus. Hierarchie, Führerschaft und die Durchsetzung individueller Interessen werden in diesen Freundschaftsbeziehungen nur zeitlich begrenzt zugelassen und bedürfen der Anerkennung und Zustimmung durch die ganze Freundesgruppe. Diese Prinzipien der Freundschaftsbeziehungen lassen sich im oben diskutierten Spielzug wieder erkennen. Dieser wird nicht von einem Spielmacher dominiert und zeichnet sich auch nicht durch eine klare Rollenverteilung aus. Vielmehr agieren die Spieler äußerst flexibel und geben ihre Positionen auf, um so eine zahlenmäßige Überlegenheit in Ballnähe zu schaffen. Das in Bewegung befindliche Dreieck konstituiert ein horizontales Bezie6 7
Biermann/Fuchs weisen ausdrücklich darauf hin, dass Stil keine Frage von Professionalität ist, sondern sich auf den unterschiedlichen Ebenen fußballerischer Praxis allein durch die Qualität und Konstanz ihrer Umsetzung unterscheidet. Selbstverständlich ist die Umstellung von Dribbling- auf Passspiel nichts ›Neues‹ im ›modernen Stil‹ und auch keine ›Innovation‹ des Hochstätt Türkspor. Historisch vollzog sie sich bekanntlich erstmals als der englische Fußball sich vom Spiel bürgerlicher Gentlemen, denen er nicht zuletzt zur performativen Darstellung ihrer Individualität diente, zum Massen- und Zuschauersport entwickelte (vgl. Eisenberg 2001; Eisenberg 2004; Weiss 1999: 41 ff.). Nicht eine vermeintliche Novität, sondern die historische ›Kulturbedeutung‹ des Stils ist für uns das Entscheidende. Hinsichtlich der Form zunächst identische kulturelle Erscheinungen können im Sinnhorizont der Akteure je unterschiedliche Bedeutungen annehmen. Die von Roland Robertson (1995) als ›glocalization‹ bezeichnete lokale Aneignung global verfügbarer Kulturmuster zeigt sich im Falle des Fußballsports auf besonders eindrückliche Weise.
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hungsgeflecht, das ohne Zentrum oder Schaltzentrale auskommt. Gestaltungsprinzip ist nicht der individuelle Ballbesitz (des ›Stars‹), sondern die möglichst schnelle Ballabgabe an den Mitspieler, der nach demselben Prinzip operiert. Diese Interpretation wird durch den hohen Stellenwert von ›arkadalk‹ im Deutungshaushalt der sozialen Welt gestützt. Bereits erwähnt wurde die Bedeutung von ›Freundschaft‹ in der ›Hochstätt-Philosophie‹. ›Arkada‹ ist die häufig gewählte Anrede des Trainer für seine Spieler. Freundschaft wird auch von den Spielern häufig angeführt. Spieler von außerhalb des Stadtteils nennen als Grund, warum sie gerade für diesen Verein spielen, die Freundschaft, die in türkischen Mannschaften herrsche, Spieler aus dem Stadtteil wiederum die Tatsache, dass man schon von Kind an befreundet sei. Der Vorstand schließlich verweist darauf, dass die Spieler bei Hochstätt Türkspor deutlich geringere Aufwandsentschädigungen erhielten als bei anderen Vereinen und erklären die Bereitschaft der Spieler, das in Kauf zu nehmen mit dem Freundschaftsund dem Generationenverhältnis, das man im Verein pflege. Wie lässt sich nun der Hochstätt-Stil typisieren, wenn man ihn mit dem Idealtypus des ›modernen Stils‹ (als globalem Handlungstypus) und seiner Deutung im Sinne von ›arkadalk‹ (als idealtypischem Deutungsmuster türkischer Migranten) kontrastiert? Nimmt man das Angriffsspiel der Mannschaft in den Blick, so stellt man fest, dass es oftmals von dem Muster abweicht, das im oben diskutierten Spielzug zu erkennen war. Dies gilt insbesondere für das Spiel im Mittelfeld, von dem ausgehend Angriffsspielzüge regelmäßig zentral organisiert werden: ein vom Trainer in der Mannschaftsbesprechung vor Spielbeginn dazu bestimmter Spieler (zwei Spieler kommen dafür in Frage) übernimmt dabei die Rolle eines klassischen Spielmachers. Über ihn wird das Umschalten von Abwehr auf Angriff vermittelt, er zieht die meisten Spielzüge auf. Zentral positioniert schränkt er die Flexibilität und Positionsfreiheit seiner Mitspieler ein, wird er vom Gegner ausgeschaltet (Manndeckung, ›Doppeln‹), kann sich ein bewegliches Dreiecksspiel kaum etablieren. Der Zentralismus in der Offensive findet sich auch in der Defensive wieder. Oftmals spielt die Mannschat mit Libero. Dieser agiert als freier Mann hinter der Abwehr und fungiert damit als Sicherheitsposten. Seine Beweglichkeit und Freiheit basiert darauf, dass die Innenverteidiger ihre Positionen relativ starr halten. Er schränkt damit die Beweglichkeit der Abwehr ein und macht ein Querverschieben der Abwehr unmöglich. Im Gegensatz zum modernen Stil steht auch die Vernachlässigung der Deckungsarbeit durch Mittelfeld und Offensivspieler. Offensivpressing, notwendige Voraussetzung für eine schnelle Rückgewinnung des Balls und damit einen hohen Anteil am Ballbesitz, findet nur selten statt. Die Stürmer verstehen sich primär als ›Vollstrecker‹, die offensiven Mittelfeldspieler als ›Gestalter‹, die von Abwehraufgaben weitgehend befreit sind. Als Zwischenbilanz könne wir also festhalten, dass sich die Mannschaft des FC Hochstätt Türkspor i.d.R. eines relativ konventionellen und konservativen Spielstils bedient, wie er in den niedrigen Amateurligen weit verbreitet ist. Entscheidend ist allerdings, dass die Elemente ›modernen Stils‹, die ebenfalls vorhanden sind, in der Wahrnehmung der Akteure stark überbewertet und überhöht werden. Wenn sie die Spielweise der Mannschaft auch nur in eingeschränktem Maße prägen, werden sie dennoch als das eigentliche Charakteristikum interpretiert und immer dann, wenn sie zum Vorschein kommen, besonders hervorgehoben sowie als ›eigentlicher Stil‹ der Mannschaft und kollektives Erkennungsmerkmal beschrieben. Dabei fallen zwei Dinge auf. Zum einen
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wird der ›eigene Stil‹ mit Elementen eines als ›typisch türkisch‹ bezeichneten Stils kontrastiert, zum anderen offenbart sich eine eigentümliche Interpretation des arkadalk-Prinzips. Eisenberg et al. (2004: 151 ff.) argumentieren, dass nationale Fußballstile im Lauf der Entwicklung des internationalen Fußballsports als Handlungsmuster weitgehend verschwunden und heute »Unterschiede geglättet sind« (Eisenberg et al. 2004: 168). Sie betonen aber, dass im Fußballdiskurs, in der Art und Weise, wie über Fußball gesprochen wird, nationale Stile weiterhin als (stereotype) Interpretations- und Unterscheidungsfolien dienen. Dies zeigt sich auch in der Art und Weise, wie die Angehörigen des Hochstätt Türkspor Bezug nehmen auf den türkischen Fußballstil. Dieser wird erstens mit einer rüden, überharten Spielweise in Verbindung gebracht. Diese gilt im Verein als charakteristisch für einen Handlungstypus der im Türkischen als »kabaday« bezeichnet wird (vgl. Zifonun/Cndark 2004: 284 f.). Der Begriff lässt sich nur schwer ins Deutsche übersetzen. Wörtlich übersetzt bedeutet er »der harte Onkel«, paraphrasiert aber etwa »furchtloser, rauflustiger Angeber«. Eine der kategoriendefinierenden Eigenschaften dieser explizit maskulinen Kategorie ist u. a. ›seinem Kontrahenten gegenüber furchtlos auftreten‹. Ein solches Verhalten wird von der Vereinsführung explizit abgelehnt und von den gegenwärtigen Spielern als lächerlich disqualifiziert. Ehemalige Spieler des Vereins weisen allerdings darauf hin, dass »kabaday« in früheren Jahren durchaus charakteristisch für das Spiel der Mannschaft gewesen sei. Insbesondere während der ersten Jahre im deutschen Ligenbetrieb, als der Verein der B-Klasse angehörte, sei es zu zahlreiche gewalttätige Zwischenfällen gekommen, die nicht zuletzt durch ihre teils brutale Spielweise ausgelöst worden seien. Sie verweisen allerdings auch darauf, dass Schlägereien während und nach dem Spiel oftmals durch gezielte Provokationen von deutscher Seite ausgelöst worden seien. Hier kommt nun ein weiteres, ebenfalls nicht fußballspezifisches Interpretament, das der ›türkischen Ehre‹, ins Spiel,8 das durch eine charakteristische Perspektivik der Wahrnehmung gekennzeichnet ist. Tatsächlich gilt vielen deutschen Akteuren das ›typisch türkische Ehrgefühl‹ als Ursache für gewalttätiges Verhalten seitens türkischer Spieler, die sich – so die deutsche Wahrnehmung – sehr leicht und aufgrund verschiedenster Anlässe, etwa durch eine drohende Niederlage, in ihrem ›Stolz‹ verletzt fühlten und dann handgreiflich würden. Dem stellen die ehemaligen Spieler entgegen, in der Vergangenheit, vornehmlich bei Spielen gegen deutsche Mannschaften aus ländlichen Gegenden, durch Beleidigungen zu Schlägereien provoziert worden zu sein. Insbesondere die Beschimpfung als ›Hurensohn‹ sei, im Wissen um die tiefe Verletzung, die diese bedeute, häufig verwendet worden. ›Hurensohn‹ trifft nun in der Tat ins Zentrum des traditionellen türkischen Ehrverständnisses. Die ländliche Lebensweise ist, wie bereits erwähnt, um die Familie als Zentrum organisiert. Allein ihre Geschlossenheit und die unbedingte Verpflichtung aller Familienangehörigen auf familiale Solidarität sind dazu in der Lage, unter den schweren Bedingungen, die sich in weiten Teilen der Türkei für die Landwirtschaft bieten, das Leben zu garantieren (vgl. Schiffauer 1983: 65 ff.). In diesem Kontext ist die Beschimpfung ›Hurensohn‹, also die Behauptung sexuellen Verkehrs der Mutter mit anderen Männern als dem Vater, eine
8
Vgl. für eine frühe Thematisierung Bröskamp/Gebauer 1986.
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schwerwiegende Attacke auf die Integrität der Familie, deren ›Ehre‹ es verlangt, diesen Angriff entschieden zu beantworten. Nun wird aber beides, ›kabaday‹ und gewalttätiges Verhalten als Reaktion auf ›Provokationen‹, als der Vergangenheit angehörig bezeichnet bzw. wenn es auftritt, als ›dumm‹ gebrandmarkt, da es den Zwängen und Möglichkeiten des organisierten Fußballs widerspricht. Von den Spielern wird dagegen erwartet, sich ›schlau‹ zu verhalten.9 Damit ist zum einen gemeint, ›wie die Deutschen‹ Fouls nur im Kampf um den Ball zu riskieren und nicht aus ›Rauflust‹.10 Als ›schlau‹ gilt zum anderen, den ›Provokateuren‹ mit sportlichen Mitteln, mittels der eigenen fußballerischen Überlegenheit zu begegnen. Genauso ablehnend wie gegenüber einer ›dummen‹ Spielweise äußern sich die Spieler der Mannschaft über einen Stil, den sie als ›Kümmelgetümmel‹ bezeichnen und damit auf ironische Weise als ›typisch türkisch‹ identifizieren. Gemeint ist damit eine auf den Ball fixierte Spielweise, bei der eine Vielzahl von Spielern gleichzeitig an den Ball drängt. Diese wird kritisiert, da sie kein Zusammenspiel erlaubt, den zur Verfügung stehenden Raum nicht für den Aufbau eines eigenen Spielzuges nutzt und Lücken entstehen lässt, die der Gegner für einen Angriff nutzen kann. Sie erscheint damit als ungeplant, unkoordiniert, nicht vorausschauend, wenig Erfolg versprechend und damit letztlich als irrational. Der implizite Irrationalismus-Vorwurf trifft schließlich eine letzte von den Spielern als ›typisch türkisch‹ erachtete Spielweise, die zu nennen ist. Gemeint ist der Einsatz technischer Fertigkeiten zum Selbstzweck, der bei den Spielern verpönt ist. Dies zeigte sich insbesondere, als sich dem Verein ein Spieler aus der zweiten türkischen Liga anschloss. Die Spieler registrierten dessen ballverliebtes Spiel mit Kopfschütteln und bezeichneten den Spieler als ›typischen Türken‹. Seine ›Selbstdarstellerei‹ und ›brotlose Kunst‹ sahen sie als unvereinbar mit dem von ihnen gepflegten Stil und als Störung ihres Spiels an und spielten ihn, wenn er auf dem Feld war, nicht an, auch wenn er in aussichtsreicher Position war. Der Spieler verließ den Verein nach wenigen Wochen wieder. Indem die Spieler irrationales Verhalten mit ›typisch Türkischem‹ identifizieren, zeigt sich, wie sehr sie sich selbst nicht nur an einem rationalen Weltbild (oder zumindest ›Sportbild‹) orientieren, sondern auch den Diskurs vom ›irrationalen Orientalen‹ internalisiert haben (vgl. Nandy 1983; Said 1978). Für die Wahrnehmung einer Spielweise als ›unser Stil‹ erweist sich damit die Grenzziehung als entscheidender Mechanismus. Sie vollzieht sich in den Modi der diskursiven Abgrenzung vom ›türkischen Stil‹ und der performativen Ausgrenzung ›stilfremder‹ Spieler. Die Kontrastierung mit den als ›typisch türkisch‹ interpretierten und abgelehnten Spielweisen zeigt auch, dass die Spieler das türkische arkadalk-Prinzip auf dem Spielfeld nicht einfach ›anwenden‹, sondern auf spezifische Weise interpretieren. Nimmt man nämlich die diskutierten ›typisch türkischen‹ Handlungsmuster ›kabaday‹, ›Kümmelgetümmel‹ und ›Selbstdarstellerei‹ zusammen, lässt sich daraus ein idealtypischer Stil konstruieren, der in Einklang steht mit dem Deutungsmuster ›arkadalk‹. In diesem Idealtypus existieren keine klaren und eindeutigen Führungsspieler und keine festgelegten Spielerpositionen. Vielmehr orientieren sich die Spieler am Ball und bewegen sich individuell über den Platz. Dabei bemüht sich jeder Spieler darum, möglichst lange und oft selbst in Ballbesitz zu sein und 9 10
Vgl. die Beispiele in Zifonun/Cndark 2004. Vgl. die Unterscheidung zwischen expressiver und instrumenteller Gewalt bei Pilz 1982.
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dabei seine Fähigkeiten zum Ausdruck zu bringen. Individuelle Leistungsfähigkeit ist der höchste Wert. Gerät ein Spieler aufgrund seiner ›Rauflustigkeit‹ in Streitigkeiten, wird er sofort und ohne Rücksicht auf Konsequenzen von seinen Mitspielern/Freunden unterstützt. Der ausgeprägte Individualismus dieses Stiltypus speist sich aus der Beziehungslogik von ›arkadalk‹. Auch wenn diese enge Beziehungen zwischen Gleichrangigen ermöglicht (und damit auch die Solidarität zwischen den Individuen, die den bedingungslosen Einsatz für den Freund bedingt), so ist sie nichtsdestoweniger bestimmt von der Logik außerfamiliärer Beziehungen in der traditionellen türkischen Kultur: die Darstellung individueller Stärke und Leistungsfähigkeit zielt auf die Demonstration des Willens und der Fähigkeit, wenn nötig Konflikte einzugehen, also immer dann, wenn die Gleichheit in Frage gestellt wird. Diese Demonstration ist auch den Freunden gegenüber notwendig, da diese, wegen ihrer Nichtzugehörigkeit zur Familie, als Angehörige der Außenwelt und damit als potentielle Bedrohung erscheinen. Dieser Typus eines arkadalk-Stils kontrastiert nun deutlich mit dem oben beschriebenen arkadalk-Typus (dem ›Ideal‹), in dem nicht der einzelne, sondern das Beziehungsnetzwerk im Zentrum steht. Er kontrastiert auch mit dem realen Stil des FC Hochstätt, den wir im Kontrast zum Ideal gebildet haben und der sich insbesondere durch klar bestimmte Spielpositionen und eine Hierarchisierung innerhalb der Mannschaft auszeichnet. Möglich wird dieser Stil des Hochstätt Türkspor nicht zuletzt, weil Familie, Ehre und Freundschaft in der Lebenswelt der Akteure nicht die zentrale Rolle spielen, wie das in traditionellen türkischen Gemeinden der Fall war. In der Migrationssituation der HochstättTürken sind die Familienbeziehungen und die intergenerationalen Beziehungen der Akteure weniger hierarchisch und weniger wichtig, da die Familie ihre Position als Zentrum ökonomischer Reproduktion verloren hat. Damit schwindet auch die Bedeutung der traditionellen Freundschaftsbeziehungen im Sinne einer als ›Gegenwelt‹ zur Familie wahrgenommenen Sphäre. Positions- und Rangunterschiede in der Freundschaftsbeziehung, die zuvor undenkbar waren, werden nun möglich, was sich eben auch in ihrer Interaktion in der Fußballwelt zeigt. Vor allem aber verweist der Stil des FC Hochstätt Türkspor auf den ›interkulturellen‹ Charakter dieser Sozialwelt und die Integration des Vereins in die Fußballwelt. Die Vereinsmitglieder nutzen Sport und das der englischen Kultur entstammende Ideal des Sportsmanship – durch Regeln kontrollierte physische Aggression, aggressionsfreie Akzeptanz des Ergebnisses etc. (vgl. Gorer 1967: 77) –, um bestimmte Elemente traditioneller türkischer Kultur gegen andere Elemente dieser Kultur zu stärken. Insofern ist die Sportkultur des FC Hochstätt Türkspor in der Tat interkulturell. Die Kritik an als ethnisch klassifizierten Spielweisen, der Bedeutungsrückgang bzw. die Transformation nicht fußballspezifischer Handlungsmuster wie ›arkadalk‹ und ›kabaday‹ und ihre Anpassung an die Handlungszwänge und die herrschenden Handlungslogiken innerhalb der deutschen Amateurfußballmilieus erweisen sich als Ausdruck der Bindung an Regeln und Pragmatik der Fußballwelt, innerhalb derer sie sich bewegen.
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4. Der Fall D und Legitimationsprozesse Aus analytischer Perspektive lässt sich Integration jedoch nicht als ein schlichtes Internalisieren objektiver Norm- und Wertstrukturen der Gesellschaft verstehen. Ein anspruchsvoller Integrationsprozess hat vielmehr zu berücksichtigen, dass Integration einen Prozess darstellt, der gekennzeichnet ist durch die spannungsreiche Auseinandersetzung mit und subjektive Aneignung von gesellschaftlichem Wissen und damit einhergehend durch die Veränderung des gesellschaftlichen Wissensvorrates (vgl. Kapitel B.I). Dass in diesem Prozess gerade ›Desintegration‹ eine zentrale Rolle spielt, zeigt ein Zwischenfall, der im Folgenden diskutiert werden soll. Er demonstriert, welchen Stellenwert die ›Abweichung‹ für die Reproduktion des Selbstverständnisses des Vereins hat und wie sie zur Bestätigung der legitimen Teilhabe des Vereins an der Fußballwelt beiträgt. Im März 2003 wird der Spieler D gegen Ende einer Auswärtspartie des FC Hochstätt Türkspor des Platzes verwiesen. Beim Verlassen des Spielfeldes bringt er mit einem Schlag den Linienrichter zu Fall. Soweit die unumstrittenen Tatsachen. Was den genauen Verlauf der Ereignisse betrifft, existieren allerdings unterschiedliche Versionen. Einige behaupten, ein Zuschauer habe – als Reaktion auf die andauernde Benachteiligung seiner Mannschaft – die Linienrichterin mit »du Fotze« beschimpft. Daraufhin habe diese dem Schiedsrichter Bericht erstattet und dieser habe den schuldlosen D des Feldes verwiesen. D verließ daraufhin das Feld auf der Gegenseite beim zweiten Linienrichter. Als Antwort auf die in türkischer Sprache gestellte Frage des Trainers, was vorgefallen sei, habe D auf türkisch geantwortet, »die behaupten, ich habe ›du Fotze‹ [auf Deutsch] gesagt«, worauf der Linienrichter gesagt habe »schon wieder« und das als erneute Beleidigung notiert habe. Zudem habe sich der Linienrichter in aufdringlicher Weise D genähert und gesagt »geh duschen, du Kümmeltürke«. Daraufhin habe D ihn geschlagen. Diese von Vorstandsmitgliedern des Vereins verbreitete Version wird auch von einigen Spieler bestätigt. Dieser Version schließt sich auch Spieler D an, wobei er zudem betont, den SR lediglich leicht berührt zu haben, worauf hin dieser auf theatralische Weise zu Boden gegangen sei. Andere Spieler hingegen behaupten, D habe die Linienrichterin selbst als »Fotze« bezeichnet und den Linienrichter mit »du Schwuchtel« beleidigt und dann, als dieser das notierte, auf türkisch gesagt‚ »so, und wenn ich nie mehr spielen darf«, bevor er zuschlug. Der betroffene Lienenrichter betont, er sei an seinem Platz an der Mittelinie gestanden, weshalb er das Gespräch des Spielers mit seinem Trainer genau gehört habe. Er habe lediglich notieren wollen, was der Spieler zu seinem Trainer gesagt hat, von beleidigenden Äußerungen des Spielers ihm gegenüber oder eigenen Beleidigungen berichtet er nicht. Allerdings spricht er von einem Schlag auf die Halsschlagader, während der Spieler lediglich eine leichte Ohrfeige erinnert. Nicht er habe sich dem Spieler genähert, sondern dieser sei direkt an ihm – der sich an vorgeschriebener Position befand – vorbei gelaufen. Uns interessiert im Folgenden nicht, wessen Version nun die richtige ist, sondern vielmehr die Bewältigung des Zwischenfalls und die Art und Weise, wie mit den Perspektivunterschieden sowohl innerhalb des Vereins als auch im Fußballkreis umgegangen wurde. Der Vorstand des Vereins wird drei Tage nach dem Vorfall zu einem Gespräch beim Fußballkreis Mannheim einbestellt. Den Verantwortlichen wird nicht nur mitgeteilt, dass
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die verbleibenden Saisonspiele des Vereins unter der Aufsicht des Verbandes stehen, sondern angekündigt, dass im Wiederholungsfall der Ausschluss des Vereins aus dem Spielbetrieb droht. Der Spieler D erhält einer Sperre von neun Monaten. Der Verein akzeptiert diese Entscheidungen und entschuldigt sich in einem Schreiben an den Verband und den Schiedsrichter für das Verhalten des Spielers und veröffentlicht die Entschuldigung auf seiner Internetseite. Am selben Tag veröffentlicht die Lokalzeitung einen Bericht über den Zwischenfall, in dem der Trainer der gegnerischen Mannschaft ankündigt, nicht mehr gegen den FC Hochstätt spielen zu wollen.11 Im Übrigen seien Partien gegen »türkische Vereine« »von vornherein problematisch«. »Es ist eine Unverschämtheit, was von Seiten der türkischen Vereine passiert«. »Das geht ständig in Richtung Straßenkampf«, »solche Mannschaften versauen uns den Spaß am Fußball«. Der Trainer des FC Hochstätt erwidert, angesprochen auf diese Äußerungen: »Wir sind keine Asozialen« und nennt die Aussagen seines Kollegen »nicht fair«. »Am Besten sage ich dazu gar nichts«. Zwei Tage später äußern sich, erneut in der Lokalzeitung, Trainer anderer Mannschaften und ein Vertreter des Fußballkreises zu diesen Aussagen. Ein Trainer schließt sich den Äußerungen an und spricht davon, die »gleichen Probleme« bei Spielen gegen »türkische Vereine« erlebt zu haben (»immer wieder Nickligkeiten«) und meint: »Am besten wäre es, wenn sich die türkischen Spieler deutschen Vereinen anschlössen, dann wäre auch eine bessere Integration gewährleistet«. Ein Kollege bezieht sich direkt auf den FC Hochstätt und erklärt, in der Vergangenheit »keinerlei Probleme« gehabt zu haben. Ein anderer kann »nicht bestätigen, dass Spiele gegen türkische Mannschaften grundsätzlich problematisch sind«. Andere sprechen von einem »Einzelfall« und finden es nicht akzeptabel, »die Türken allgemein« zu kritisieren. Am Abend desselben Tages findet beim FC Hochstätt Türkspor eine interne Besprechung statt, an der Spieler und Vereinsführung teilnehmen (vgl. Zifonun/Cndark 2004). Als »Krisensitzung« angekündigt, werden bei diesem Treffen nicht etwa die unterschiedlichen Versionen des Tathergangs vorgebracht oder der Fall selbst diskutiert. Vielmehr wird das Ereignis zum Anlass, eine Vielzahl anderer Vorkommnisse zu diskutieren. Insbesondere die ständigen Diskussionen und gegenseitigen Beschimpfungen der Spieler auf dem Spielfeld, die mangelnde Trainingsteilnahme und andere Formen der Disziplinlosigkeit und die Respektlosigkeit einzelner Spieler werden als Verstoß gegen die Prinzipien der ›Hochstätt-Philosophie‹ gebrandmarkt. Der niedergeschlagene Linienrichter empfindet die vom Verband verhängte Sperre als zu mild und erstattet Anzeige wegen Körperverletzung. Allerdings schließt sich die Richterin in ihrem Urteil der Darstellung des Spielers an, die von Vorstand bestätigt wird, und verurteilt den Spieler lediglich zu einer Geldstrafe von 100.- Euro. In der Folgezeit wird der Linienrichter mehrfach bei Spielen des FC Hochstätt als Schiedsrichter eingesetzt. Er erklärt den Verantwortlichen gegenüber, für ihn sei der Fall ›erledigt‹ und diese bestätigen, dass er die Spiele ›ganz normal‹ geleitet habe. Die Interaktion zwischen Schiedsrichter und Vereinsvertretern am Spielfeldrand gestaltet sich, wie dies üblich ist. Auch tritt die gegnerische Mannschaft in der folgenden Spielzeit wieder regulär
11
Die folgenden Zitate entstammen MM, 26. März 2003, MM, 28. März 2003.
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gegen den FC Hochstätt an. Von einem Vorstandsmitglied des FC Hochstätt auf sein Kommen angesprochen, legt deren Trainer seinen Arm um dessen Schulter und äußert, »die Sache« sei »längst vergessen«, zumal er von der Zeitung falsch zitiert worden sei. Trainer und Vorstand der beiden Vereine pflegen einen freundlichen Umgang, tauschen spaßhafte Bemerkungen aus und führen Insidergespräche. Nach dem Ende der Sperre wird Spieler D wieder in die Mannschaft des Hochstätt Türkspor aufgenommen. Schon zuvor war er regelmäßig Gast im Clubhaus und nahm am Training teil. Die Vereinsführung begründet ihr Verhalten D gegenüber damit, dass dieser »sonst nichts hat«, man ihm gegenüber als türkischem Jungen aus dem Stadtteil verpflichtet sei und verhindern wolle, dass dieser Jugendliche noch weiter abgleite. Es wurde erkennbar, dass der Zwischenfall im Fußballmilieu intensive Interpretationsprozesse auslöste und von den Beteiligten nicht etwa neutral, objektiv, nüchtern oder rational behandelt wurde. Zunächst dominiert die Auseinandersetzung mit dem Ereignis selbst. Die Äußerungen sind unterlegt mit einer Schicht der Rechtfertigung und Erklärung bzw. der Delegitimation, die sich zu diesem Zeitpunkt jedoch noch auf die Person des Spielers D beziehen. Dies gilt erstens für die unterschiedlichen Versionen des Tathergangs. In der ersten, vom Vorstand und dem Spieler vertretenen Version erscheint D als Opfer, das zum Täter wird: Zunächst wird er für einen Zuruf, den nicht er, sondern Zuschauer getätigt haben, des Feldes verwiesen, dann meint der Linienrichter, er wiederhole die Beleidigung, obwohl er nur die Beschuldigung wiedergab – ein ›interkulturelles Missverständnis‹ – schließlich wird er vom Linienrichter durch dessen Beleidigung zu einem Schlag provoziert, der im übrigen kaum der Rede wert war. In der Darstellung einiger der Spieler erscheint D als hoffnungsloser Fall, dem der Sport nur als Ventil seiner übersteigert maskulinen Emotionen dient und dem letztlich nichts am Fußball liege. Sie verweisen darauf, dass D bereits zuvor bei Fußballspielen in eine Reihe gewalttätiger Zwischenfälle verwickelt war, die immer wieder die Mannschaft schädigten und den Verein in Misskredit brachten und somit sie in ihrer Sportausübung beeinträchtigen. D erscheint hier als isoliertes Individuum und Einzelfall, der für die anderen eine Last darstellt. In der Version des Linienrichters kontrastiert sein eigenes, streng an den Regeln des Schiedsrichterhandwerks orientiertes Verhalten – er nimmt seine Position ein, notiert alle Ereignisse – mit dem durch und durch abweichenden Verhalten des Spielers – Beleidigung, auf ihn Zulaufen, Nicht-Anerkennen seiner Arbeit, harter Schlag. Zweitens finden sich (De-)Legitimierungsstrategien in den öffentlichen Äußerungen der Beteiligten: So wählt die eine Seite eine Sprache moralischer Empörung und persönlicher Betroffenheit (»Unverschämtheit«, »versauen uns den Spaß am Fußball«) und skandalisiert den Zwischenfall, der als Ausdruck einer weiter reichenden, grundsätzlichen Abweichung türkischer Vereine von den Standards (»Straßenkampf«, »von vornherein problematisch«, »die gleichen Probleme«, »immer wieder Nickligkeiten«) gewertet wird. Die Äußerungen zielen zu diesem späteren Zeitpunkt auf die Delegitimation türkischer Vereine insgesamt, die als Integrationshindernis und eigentliches Problem erscheinen (»Am besten wäre es, wenn sich die türkischen Spieler deutschen Vereinen anschlössen, dann wäre auch eine bessere Integration gewährleistet«). Auffällig ist, dass keiner der Sprecher eine Kausalbeziehung zwischen der moralischen Verfehlung und türkischer Ethnizität herstellt. Stattdessen werden lediglich empirische Regelmäßigkeiten behauptet und eine Empfehlung ausge-
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sprochen (›Mitgliedschaft in Regelverein ermöglicht bessere Integration‹). Auf diese Weise verhindern die Sprecher, der »Ausländerfeindlichkeit« bezichtigt zu werden, ein Vorwurf, der ihre moralische Überlegenheit empfindlich verletzen könnte. Auf der anderen Seite zielen die öffentlichen Handlungen des FC Hochstätt von Anfang an auf Versachlichung und Entemotionalisierung. Durch die öffentlich gemachte Entschuldigung demonstriert der Verein, dass er Verantwortung übernimmt für das Handeln seines Spielers und bestrebt ist, das moralische Ungleichgewicht wieder auszugleichen. Der Trainer dramatisiert die von der Gegenseite vorgenommene Moralisierung weiter, indem er einen Vorwurf, den niemand gemacht hat, zurückweist (»Wir sind keine Asozialen«), um die Empörung seiner Kollegen dann selbst als moralisch anstößig und den Regeln der Fußballwelt widersprechend zurückweisen zu können (»nicht fair«). Im Gegensatz dazu stellt er sich selbst als vernünftig und besonnen dar (»Am Besten sage ich dazu gar nichts«). Indem der Verein allen Forderungen des Kreisverbandes entspricht und sich öffentlich entschuldigt, demonstriert er, dass er sich unumschränkt der Autorität des Fußballverbandes unterstellt, den von außen (implizit wie explizit) herangetragenen Erwartungen entspricht und auch in der Krisensituation ein verlässlicher Partner ist. Aus Sicht des Vereins ist D’s Tat keineswegs Anzeichen türkischer Desintegration, sondern bestätigt die Notwendigkeit der Arbeit des Vereins und seiner Existenz. Er inszeniert sich so gegenüber den anderen Akteuren im lokalen Fußballmilieu demonstrativ als Institution, die mehr ist als nur ein Sportverein, sondern darüber hinaus Sozialarbeit leistet und dadurch zur Integration jugendlicher Migranten beiträgt. Dadurch tritt er den Delegitimierungsversuchen entgegen, die durch die Krise ausgelöst wurden. Intern nutzt der Vereinsvorstand den Zwischenfall zur Bestätigung seiner Legitimation, indem er die Vereinsphilosophie aufruft und bestätigt. Der Vorstand lenkt die Aufmerksamkeit auf die schlechte Verfassung und die internen Probleme von Verein und Mannschaft und präsentiert die Vereinsphilosophie als Lösung dieser Probleme. Der Vereinsvorstand zieht von Anfang an die Konsequenzen, die der Fall für den Verein haben kann, mit in Betracht. Er weiß, dass er nur durch ›kluges Verhalten‹, langfristigen Schaden für den Verein verhindern kann. Der Vorstand erkennt daher die Tat und die Strafe durch den Verband an, versucht sie jedoch in ihrer moralischen Tragweite zu reduzieren (D als Opfer, das zum Täter wird) und in der zivilrechtlichen Auseinandersetzung so weit wie möglich in ihren Konsequenzen abzumildern. Situationsdeutung und Handlungsstrategie des Vereins treffen sich mit denen von Verband und anderen Trainern im Fußballkreis (»keinerlei Probleme«, »Einzelfall«). Für den Verband hat der reibungslose Ablauf des Spielbetriebes absolute Priorität. Wo Probleme auftreten, sieht er in seiner Regelungskompetenz, institutionalisiert in der Gerichtsbarkeit des Verbandes und der ›Unterwerfungsklausel‹ (die die Vereine zur Anerkennung der Urteile des Sportgerichts verpflichtet), den einzigen wirkungsvollen Lösungsmechanismus. Für ihn ist wichtig, dass sich die Beteiligten dieser Kompetenz unterwerfen. Da der FC Hochstätt dies tut und auch in der Folgezeit, während der der Verein unter Beobachtung steht, keine weiteren Vorkommnisse auftreten, ist der Fall für ihn erledigt. Der Linienrichter ist enttäuscht vom Urteil der Spruchkammer. Es ist sicherlich kein Zufall, dass bei der Gerichtsverhandlung der vom Linienrichter als Zeuge berufene Verbandsvertreter, der beim Vorfall zugegen war, nicht erscheint: verstößt es doch gegen das
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Selbstverständnis des Fußballmilieus, eine außerfußballerische Regelungsinstanz anzurufen. Als der Linienrichter auch zivilgerichtlich verliert, ist auch für ihn der Fall abgeschlossen: er kehrt zurück zu den etablierten Interaktionsmustern der Fußballwelt. Dasselbe gilt für den Trainer der gegnerischen Mannschaft, der mit seiner Umarmungsgeste den Verein symbolisch reintegriert. Zusammenfassend lässt sich folgendes festhalten: der Niederschlag des Linienrichters durch Spieler D wird im Fußballkreis nicht als individuelle Fehlleistung diskutiert, sondern hinsichtlich seiner Bedeutung für den Verein, dessen Stellung im Fußballkreis und der türkischer Vereine insgesamt befragt. Er aktiviert intensive Aushandlungsprozesse, in denen Legitimierungs- und Delegitimierungsstrategien zum Tragen kommen, mittels derer die Zugehörigkeit von ›Türken‹ zur Fußballwelt verhandelt wird. In diesen ›Verhandlungen‹ stellt der FC Hochstätt seine Besonnenheit, Verlässlichkeit und Regelorientierung heraus – betont also demonstrativ seine ›Integration‹ – und unterstreicht gerade dadurch seinen Anspruch auf ›Anerkennung‹12. Da sich die Beteiligten an den etablierten Verfahrensregeln der Konfliktlösung in der Fußballwelt orientieren, eskaliert der Streit nicht, sondern kann innerhalb kurzer Zeit beigelegt werden. Der Fall zeigt, dass die symbolische Einheit aus Konflikt und Regelkonsens, die wir einleitend als kennzeichnend für die Fußballwelt bezeichnet haben, nicht nur das Handeln der Akteure auf dem Spielfeld bestimmt, sondern auch sonst, wenn sie als Angehörige der Fußballwelt handeln. Die gelungene Konfliktbeilegung als Ausdruck einer moralischen Orientierung oder der höheren Vernunft der Akteure zu sehen, wäre jedoch verfehlt. Das Handeln der Akteure ist vielmehr eine Reaktion auf die sozialstrukturellen Bedingungen, die in der Fußballwelt bestehen: Das Fußballmilieu zeichnet sich durch eine wechselseitige Abhängigkeit der Akteure aus, um die alle Beteiligten wissen, wenn sie ihnen im Handeln auch nicht ständig bewusst ist. Anders als etwa in Stadtteilkonflikten, in denen ›negative Klassifikationen‹ bisweilen in Situationen weitestgehender Kontaktvermeidung vorgenommen werden (vgl. Teil A dieses Band), hat die Teilhabe am Fußball einen Kontaktzwang zur Folge – sei es innerhalb ›gemischter‹ Vereine oder beim Aufeinandertreffen mit ethnischen Mannschaften. Mannschaften und Verbände sind im Amateurbereich auf die Teilnahme von Migranten zwingend angewiesen – im Fußballkreis Mannheim beträgt der Anteil von ›Ausländern‹ im Seniorenbereich etwa 30 % (vgl. Kalter 2003: 48 f.). Aber nicht allein die Aufrecherhaltung des Spielbetriebs zwingt zum Kontakt mit Fremden: Deren Anspruch, »Sportkamerad« zu sein, kann, selbst wenn man das wollte, nicht einfach zurückgewiesen, die Anmeldung eines ethnischen Vereins beim Verband nicht einfach abgelehnt, der Kontakt nicht einseitig abgebrochen werden. Während in anderen Lebensbereichen der Kontakt zu Migrantenorganisationen auf direkte oder indirekte Weise abgelehnt oder beendet werden kann – exemplarisch gezeigt hat dies Ferdinand Sutterlüty (vgl. Beitrag A.IV in diesem Band) anhand des symbolträchtigen Wettschüttens von gespendetem Blut, das dem Deutschen Roten Kreuz von einem türkischen Kulturverein ›geschenkt‹ worden war –, in der Fußballwelt ist man sich ausgeliefert. In einer solchen Situation des in Kauf genommenen, regelmäßig wiederkehrenden Kontaktes und unter der Bedingung prinzipieller – einklagbarer – Chancengleichheit und
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Zur Anerkennungsthematik vgl. Sitzer/Wiezorek 2005.
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Gleichbehandlung ist keiner der Akteure dazu in der Lage, seine Interessen oder Weltsichten einseitig durchzusetzen. Es herrscht Einigungszwang und ein Zwang, dem anderen in Konflikten so zu begegnen, dass dieser ohne Demütigung oder Gesichtsverlust, dauerhaften Imageschaden oder Statusaberkennung aus diesen Auseinandersetzungen hervortreten kann. Allerdings verhalten sich die Akteure keineswegs zwangsläufig ›strukturgerecht‹, wie ein anderes Beispiel verdeutlicht13: Ein anderer türkischer Verein im Kreis Mannheim wird am Ende der Spielzeit 2004/05 beschuldigt, zwei Ligakonkurrenten die Manipulation von Spielen angeboten zu haben, wenn diese dafür zahlen. Der Verein wird vom Verband daraufhin mit dem Zwangsabstieg bestraft. Der Verein erkennt das Urteil der Spruchkammer jedoch nicht an. Nachdem das Urteil durch das Verbandsgericht des Badischen Fußballverbandes bestätigt wird, erstattet der Verein seinerseits Gegenanzeige und zieht vor das Landgericht. Es kommt zum Vergleich zwischen Verein und Verband. Die Mannschaft darf in der Liga verbleiben, wird aber mit einem Neun-Punkte-Abzug und einer Geldstrafe belegt. Diesen Vergleich lehnt jedoch eine Großzahl der anderen Vereine ab. Sie weigern sich in der Folgesaison gegen den Verein anzutreten. Es kommt zu gegenseitigen Beschimpfungen, ein Treffen der Vereine endet im Eklat, Vermittlungsversuche des Verbandes scheitern, der Verband droht den Boykotteuren mit Strafen, was diese wiederum empört. Erst zu Beginn der Rückrunde erklären sich die Vereine auf Druck des Verbandes dazu bereit, wieder zum normalen Spielbetrieb zurückzukehren. Der Fall verdeutlicht die Bedeutung der Anerkennung der formalen Stoppregeln für Konflikte: Indem der türkische Verein den Beschluss des Verbandes nicht akzeptiert und vor Gericht zieht, verletzt er die Geschäftsbedingungen des Kontaktes: den Regelkonsens. Der Konflikt wird entregelt und eskaliert. 5. ›Die Kreuzung sozialer Kreise‹14 In der Darstellung der Hochstätt-Philosophie, des Hochstätt-Stils und der (De-) Legitimierungen im Fall D wurde immer wieder erkennbar, dass und wie die Angehörigen der sozialen Welt des FC Hochstätt in vielfache Bezugssysteme und Referenzgruppen eingebunden sind. Im Folgenden soll dies expliziert, ergänzt und systematisiert werden. Dabei wird sich zum Einen zeigen, dass sich in der sozialen Welt des Hochstätt Türkspor (mindestens) drei soziale Welten kreuzen: das Fußballmilieu, in dessen Zentrum das Fußballspiel steht (vgl. Kapitel B.II); das Migrantenmilieu mit der Kernaktivität der Bewältigung von Migrationsfolgen; und das lokale Milieu, in dem die Gestaltung der Alltagsinteraktion im städtischen Quartier vollzogen wird sowie die Vertretung der Interessen der Bewohner und die Darstellung lokaler Identität (vgl. Kallmeyer 1995).15 Zum Anderen wird erkennbar, dass 13 14 15
Vgl. zum folgenden MM, 8. Oktober 2005. Simmel 1992b. Unsere Ergebnisse bestätigen insofern, dass es sich bei Sportvereinen um ›multifunktionale‹ Institutionen handelt, die eben nicht nur eine ›manifeste‹ Funktion – hier: das Fußballspiel – haben, sondern darüber hinaus auch zahlreiche ›latente‹ (vgl. Merton 1968a: 114 ff.). Wir präziseren diese Feststellung allerdings und interpretieren sie aus der Sicht einer interpretativen Soziologie um, indem wir als Ursache für die Existenz multipler Sinnbezüge die mehrfache Einbettung des Vereins in unterschiedliche soziale Welten benennen und auf die komplexen Beziehungen zwischen den einzelnen Bedeutungsebenen hinweisen.
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derartige ›Kreuzungen‹ sich in den beteiligten Personen vollziehen und von diesen bewältigt werden.
5.1 Die Kreuzung und Segmentierung sozialer Welten Über die Kernaktivität des Fußballspiels ist der FC Hochstätt in die soziale Welt des Fußballs und deren Teilwelten eingebettet. Am Interaktionszusammenhang des regionalen Fußballkreises partizipiert der Verein durch die Teilhabe am Ligenspielsystem und am Kreispokal, durch die Stellung von Schiedsrichtern für den Fußballkreis, durch den ›Kauf‹ und ›Verkauf‹ von Spielern, durch die Kommunikation mit dem Vorstand des Fußballkreises und des Badischen Fußballverbandes und durch die Unterwerfung unter deren Gerichtsbarkeit. In die Sinnwelt des Amateursports und des Vereinswesen ist er eingebunden durch den Erwerb und Betrieb eines Vereinsheimes, durch die Durchführung des Spielbetriebs mitsamt der dafür notwenigen Terminplanung und Spielerführung, durch die vereinsförmige Organisation mit ihren Gliederung und Rollenverteilung zwischen Vorstand, Geschäftsführer, Spielausschuss, Trainer und Betreuer, Pressesprecher, Sponsoren, etc. In die Fußballwelt türkischer Migranten in Deutschland ist der Verein durch die Teilnahme am ›Atatürk-Pokal‹ des türkischen Generalkonsulates und durch das Konkurrenz- und Vergleichsverhältnis zu anderen türkischen Vereinen integriert. Dabei werden neben dem Lokalkonkurrenten auch andere Vereine aus der Region als Maßstab des eigenen Erfolges genommen, sowohl was die sportlichen Leistungen als auch was den Erfolg beim Aufbau einer Vereinsorganisation, die Zuschauerzahlen oder das Verhältnis zur ›deutschen‹ Bevölkerung betrifft. Schließlich partizipiert der Verein auch an der Welt des Profifußballs: Insbesondere die erste türkische Liga ist Gegenstand vieler Gespräche im Vereinsheim und am Rande von Spielen. Die Mitglieder des Vereins lassen sich entlang ihrer Anhängerschaft insbesondere für Beikta JK und Galatasaray SC unterscheiden. Die Spiele beider Mannschaften sind Hauptereignisse im Jahreskalender des Vereins und werden gemeinsam im Clubhaus verfolgt. Aber auch die zweite türkische Liga ist von Belang, da sie ein potenzieller Arbeitgeber für Spieler des Vereins ist und eine Brücke zur türkischen Fußballwelt bildet. So unterhält der Verein Beziehungen zu einem türkischen Profiverein, für den er beispielsweise Testspiele veranstaltet, bei denen türkische Spieler der Region sich vorstellen können. Mehrere Spieler des Vereins haben in der Vergangenheit versucht, in der Türkei in der zweiten Liga einen Profivertrag zu erhalten. Schließlich nehmen Profispieler als symbolische Repräsentanten für bestimmte Leistungen, Fähigkeiten und Möglichkeiten eine wichtige Rolle ein. Von besonderer Bedeutung ist hier der aus Mannheim stammende türkische Nationalspieler und Bundesligaprofi Ümit Davala als Idol: ›es zu schaffen wie Ümit‹ ist eine häufig geäußerte Wunschvorstellung. Als türkischer Verein ist die soziale Welt des Hochstätt Türkspor in die türkische Migrantenwelt und insbesondere in die Welt männlicher türkischer Migranten eingebunden. Hier spielen insbesondere die Vereinsgaststätte und der Gebetsraum eine Rolle, aber auch die Nutzung des Vereinshauses für andere Aktivitäten wie gemeinsames Musizieren. Die Gaststätte hat den Charakter eines türkischen Männercafés. Hier treffen sich türkische Männer vor allem aus dem Stadtteil zum Kartenspielen und Tee- bzw. Alkoholtrinken.
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Unterschiedliche Altersgruppen sind vertreten, Jung und Alt sitzen allerdings zumeist getrennt voneinander an Tischen. Die Jugendlichen nutzen die Gaststätte am Wochenende als ersten Anlaufpunkt, bevor sie dann gemeinsam ausgehen. Im Café sind junge Frauen aus Osteuropa als Bedienungen beschäftigt. Dies entbindet die türkischen Männer von der Aufgabe, ihresgleichen zu bedienen, d. h. nachgeordnete Aufgaben zu übernehmen, die nicht mit ihrem Status als gleichwertige Angehörige der Männergruppe vereinbar sind. Sowohl türkische als auch deutsche Frauen würden die männliche Interaktion weitgehend hemmen, während Osteuropäerinnen als den Türken in der gesellschaftlichen Hierarchie ethnischer Gruppen in Deutschland noch untergeordnet wahrgenommen werden. Allerdings werden auch durch die Anwesenheit dieser Frauen die Grenzen der türkischen männlichen Welt aufgebrochen. Zum einen bedingt ihre Anwesenheit eine sprachliche Mischung: zum Türkischen tritt das Deutsche, das gemischt wird mit polnischen oder tschechischen Versatzstücken. Zum anderen herrschen den Frauen gegenüber andere Interaktionsregeln und -muster. Insbesondere die Darstellung eines maskulinen Habitus und die Sexualisierung der Kommunikation ist hier zu nennen. Unmittelbar neben dem Café befindet sich ein im Jahr 2004 eingerichteter Gebetsraum, in dem während des Jahres ein Vorbeter aus Mannheim ehrenamtlich tätig ist. In der Fastenzeit organisiert und finanziert der Verein den Aufenthalt eines Vorbeters aus der Türkei. Der Gebetsraum wird vor allem von den älteren türkischen Migranten im Stadtteil genutzt. Beide Einrichtungen verweisen darauf, dass im Migrantenmilieu des FC Hochstätt die öffentlichen, außerfamiliären Beziehungen weitgehend in den Händen der Männer liegen. Ausnahmen bilden hier türkische Feste wie eine Feier anlässlich des 10jährigen Bestehens des Vereins. Zu dieser hatte der Verein seine Mitglieder und Freunde in eine eigens angemietete türkische Diskothek eingeladen. Hier nahmen auch Frauen und Kinder teil, allerdings nicht als eigenständige Akteure, sondern als Familienangehörige der eigentlichen Handelnden. Als lokale Sozialwelt ist der Verein in den Stadtteil und die Stadt eingebunden. So tritt er als Akteur in den Beziehungen der türkischen Migranten zur ›deutschen‹ Bevölkerung im Stadtteil auf. Im Stadtteil ist der Verein Ansprechpartner für ›Deutsche‹, etwa wenn es um Probleme mit türkischen Jugendlichen aus dem Stadtteil geht. Der Verein sieht seinerseits in anderen Akteuren aus dem Stadtteil potenzielle Unterstützer. So wendet sich der Verein immer wieder an die Bürgerinitiative Hochstätt oder die Mitarbeiter des ›Gemeinschaftszentrums‹, wenn er Hilfe braucht, etwa beim Versuch, mit der Forderung nach einem eigenen Sportgelände im Stadtteil an Kommunalpolitiker heranzutreten oder um Veranstaltungen zu organisieren. Dabei sind die Statusunterschiede zwischen deutscher und türkischer Bevölkerung im Quartier geringer als dies in anderen Stadtteilen der Fall ist. Dies liegt zum einen daran, dass beide in sozialstruktureller Hinsicht sehr nah beieinander liegen. Mit Ausnahme einer kleinen Schicht ›bürgerlicher‹ Einwohner, die in den Randlagen des Quartiers wohnhaft sind, setzt sich die Bevölkerung größtenteils aus Angehörigen der Unterschicht und der unteren Mittelschicht zusammen. Hinzu kommt, dass der Stadtteil aufgrund seiner jungen Geschichte keine ausgeprägte Etablierten-Außenseiter-Struktur aufweist (vgl. Elias/Scotson 1990). Niemand kann reklamieren, alteingesessen zu sein. Die ›deutsche‹ Bevölkerung verfügt keinesfalls über den Vorteil gewachsener Familiennetz-
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werke und ausgeprägter interner Kommunikationsnetzwerke, mittels derer sich kommunikativ ein Über-Unter-Ordnungsverhältnis herstellen ließe. Der FC Hochstätt operiert als wichtiger Akteur in der Organisation des türkischen Lebens im Stadtteil, wie am Beispiel der Hochzeit des Mannschaftskapitäns illustriert werden kann. Bei dieser trat der Verein als eigentlicher Veranstalter auf. Der Festsaal war mit einem Banner des Vereins geschmückt, der Tisch des Hochzeitspaars mit einer großen Tischkarte des Vereins dekoriert, im Laufe der Veranstaltung wurden mehrmals Fußballgesänge angestimmt. Der Verein fungierte aber nicht nur als sichtbarer Veranstalter, sondern – in der Anbahnung der Ehe – als Heiratsmarkt: bei der Braut handelt es sich um die Schwester des Co-Trainers und früheren Spielers des Vereins. Ihre Familie kam aus einem anderen Teil der Türkei, beide Familien sind seit den 70er Jahren auf der Hochstätt wohnhaft. Diese Beziehung wäre nach Aussage eines Informanten noch vor wenigen Jahren kaum vorstellbar gewesen und ist erst als Folge der lokalen Gemeindebildung möglich geworden, die der Verein wenn nicht initiiert, so doch wesentlich befördert hat. Die Eheschließung indiziert die Auflösung der primären familiären Bindungen an die türkischen Heimatregionen und ihre Umstellung auf den lokalen Migrationsraum Mannheim bzw. ›die Hochstätt‹. Zugleich ist der Verein selbst stark durch seine eigene Stadtteilorientierung geprägt. ›Türken‹ von außen werden misstrauisch beäugt und haben es schwer, Zugang zu finden, da es sich bei der lokalen Sozialwelt um einen Alltagsinteraktionszusammenhang mit lang währenden personalen Beziehungsgeflechten handelt, der seine eigene Geschichte und seine eigenen Mythen ausgeprägt hat und auf die spezifischen Problemlagen des Vereins und der türkischen Migranten ›auf der Hochstätt‹ abgestimmt ist. Die drei Welten – Sport, türkische Migrantenwelt, lokale Alltagswelt – kreuzen sich in der lokalen Welt des FC Hochstätt. Als Konsequenz dieser Überlagerung ist sie kulturell nicht einheitlich, sondern durch eine Heterogenität von Deutungs- und Handlungspraktiken gekennzeichnet. Die Widersprüche und Unvereinbarkeiten dieser Situation werden allerdings von den Angehörigen nicht ständig und vor allem nicht unvermittelt erfahren, da der Verein in eine Vielzahl von ›Subwelten‹ (vgl. Strauss 1982) segmentiert ist. Erste Mannschaft und zweite Mannschaft, Vorstand, Café, Gebetsraum bilden Teilwelten mit ihren je eigenen Relevanzstrukturen und Handlungsräumen aus. Individuell nehmen die Angehörigen nicht alle im gleichen Maße an den Teilwelten teil, sondern erfahren deren Aufeinandertreffen immer nur punktuell als Träger einer spezifischen Rolle. Dies ist etwa der Fall, wenn Jugendliche und Angehörige der ersten Generation gemeinsam das Café nutzen, wenn Vorstand und Spieler sich mit der fußballerischen Situation des Vereins befassen, wenn Spieler der ersten Mannschaft im Training auf Spieler der zweiten Mannschaft treffen, wenn Angehörige der erste Generation im Vorstand mit Angehörigen der zweiter Generation zusammenarbeiten. Durch die Kreuzung der Segmente potenziert sich zwar objektiv die Komplexität der kulturellen Lage im Verein, sie wird aber subjektiv nicht in ihrer Totalität erfahren, sondern als Aufeinanderfolge von Differenzen, mit denen ›lokal‹ umzugehen ist.
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5.2 Die Vielfalt ›innerhalb‹ von Individuen und deren ›Integration‹ Das ›Problem‹ kultureller Vielfalt weist neben seiner sozialen Dimension, auf deren Seite es eine sozialstrukturelle ›Lösung‹ in der Segmentierung erfährt, eine sozialpsychologische Dimension auf. Gemeint ist damit die Erfahrung des Einzelnen, dass sich die ›sozialen Kreise‹, an denen er partizipiert, in seiner Persönlichkeit kreuzen. Genannt sei hier ein Beispiel aus einem biographischen Interview mit einem türkischen Trainer des FC Hochstätt: Im selben Interview identifiziert sich der Sprecher als ›Türke‹, also mittels einer ethnischen Kategorie, als Besitzer der deutschen Staatsangehörigkeit, also in staatsbürgerlichen Begriffen und als etablierter Angehöriger der deutschen Gesellschaft und jemand, der das soziale Sicherungssystem stützt (von dem er als »unser System« spricht). Darüber hinaus identifiziert er sich als Mitglied des Sportvereins und als Bewohner des Stadtteils. Die unterschiedlichen Kategorien, Rollen und Selbstzuschreibungen sozialer Identität (vgl. Goffman 1967), die er in unser Gespräch einbrachte, entwerfen teils implizit, teils explizit, eine Vielfalt unterschiedlicher Selbstbilder. Allerdings schlägt sich diese Vielfalt weder in diesem Interview noch in den Gesprächen mit anderen Fußballern, in einer Identitätsambivalenz, in Desorientierung oder in psychischer Labilität nieder. Im Widerspruch zum wohlbekannten Klischee, demzufolge Migranten ›zwischen den Kulturen‹ verloren seien, vermitteln die Sportler durchaus den Eindruck, als haben sie sich gefunden. Sie bedienen sich bei dieser Selbstfindung, oder besser: Selbsterfindung eines in der soziologischen Literatur durchaus bekannten Mittels: Sie integrieren die vielfältigen, teils widersprüchlichen Aspekte ihres Lebens, indem sie eine Biographie konstruieren, es entsteht eine imaginierte personale Einheit (vgl. Berger 1963: 54 ff.). Dies kann anhand eines anderen Beispiels aus dem Verein illustriert werden: ein Spieler der ersten Mannschaft des FC Hochstätt präsentiert in einem narrativen Interview ein Vierstufenmodell seines Lebens, indem er sich selbst in einem Stadium der Reife wähnt, nachdem er zuvor Phasen des Ausprobierens, des Spielens und des Suchens durchlaufen habe. Er konstruiert mit großer Virtuosität eine narrative Identität, indem er die Kontinuitätslinien seines bisherigen Lebens und die Lehren nachzeichnete, die er aus Krisen gezogen habe. Das Beispiel zeigt, dass es erst die Brüche im Lebenslauf sind, die die Konstruktion einer individuellen Biographie notwendig machen. Die ›Lösung‹ zu der der Spieler gelangt, liefert ihm das Konzept ›individueller Authentizität‹. Auf die Idee, er sei ein einzigartiges Individuum, das erfolgreich die Antworten auf die Fragen seines Lebens finden kann, ist der Spieler allerdings nicht von allein gekommen. Sie ist auch nicht traditionelles Element seiner ›ethnischen Kultur‹, sondern vielmehr zentrales, konstitutives Element von Modernität (vgl. Trilling 1974). Ein anderes Lösungsmuster wurde in Kapitel B.II im Fall des Spielers H beschrieben. In der ›interethnischen‹ Kontaktsituation bewältigt dieser die ›soziologische Ambivalenz‹ der widersprüchlichen Stats, die sich in seiner Rolle treffen, durch ›expressiven Individualismus‹. Diese Strategie ist auf die situative Bewältigung einer Interaktionskrise gerichtet, während in der Biographie die Bewältigung der Kreuzung auf Dauer gestellt ist und sowohl dem Einzelnen zur Identitätsarbeit dient als auch im öffentlichen Austausch zum Einsatz kommt.
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In der Sportsoziologie ist der Sportverein historisch als Ort beschrieben worden, an dem sich Menschen ganz unterschiedlicher (Klassen-) Zugehörigkeit begegnen, die sonst getrennt voneinander leben. Diese Funktion des Vereins als Kontaktarena separierter sozialer Welten hat sich bei ethnischen Vereinen heute nicht einfach erhalten oder umgekehrt, sondern verkompliziert: Der Verein selbst ist im Falle von Migrantenmilieus ein geschlossene Welt geworden, in der sich ethnische Vergemeinschaftung vollzieht. Er ist also einerseits Separationsraum in der Kontaktgesellschaft. Andererseits bringen die Mitglieder erstens ihre sonstigen Mitgliedschaften, die sie ja internalisiert haben, mit in den Verein. Diese Mehrfachmitgliedschaften brechen die vermeintliche ethnische Einheit auf. Ethnizität wird im Verein ständig diskutiert, interpretiert und kritisiert. Zum zweiten ist der separierte Verein zudem Teil der Kontaktwelt Fußball, in der der Fremdkontakt zwangsläufig zustande kommt.
6. Schlussbemerkungen Im Migrantenmilieu des FC Hochstätt Türkspor finden sich in fallspezifischer Ausprägung einige der charakteristischen Strukturprobleme und Lösungsmuster moderner Gesellschaften, wie sie in Kapitel B.I theoretisch und in Kapitel B.II für die Fußballwelt zusammengefasst sind. Ergänzend zu den dort angeführten und auch in diesem Kapitel diskutierten Phänomenen der Segmentierung der Lebenswelt, der Konstruktion einer individuellen Biographie, der Intensivierung von Aushandlungsprozessen in Arenen und der flachen Überhöhung sei hier auf die Bedeutung der Stilisierung hingewiesen. Stilisierung dient als Medium kollektiver Selbstbeschreibung, durch die die Handelnden ihrer sozialer Position (in unserem Fall: als Migranten) expressiv Ausdruck verleihen. Der jeder Handlung beigegebene Bedeutungsakzent wird von den Handelnden reflexiv angeeignet, eine ›überdeterminierte‹ Spielweise zum Stil geformt und als Identitätsakzent interpretiert. Besonders hinzuweisen ist auf die Wechselbeziehung zwischen Stilisierung und ideologischer Überhöhung: die ideelle Transzendenz zur Wertegemeinschaft (›Hochstätt-Philosophie‹) ist selbst ein problematisches Unterfangen und ihrerseits auf stabile, symbolische (Handlungs-) Formen angewiesen (vgl. dazu Soeffner 1992: 102-120). Aus dieser Perspektive ist der Hochstätt-Stil zwar einerseits Verkörperung der Werte der Hochstätt-Philosophie (Freundschaft, Friedfertigkeit, gegenseitige Achtung) und deren materialer Ausdruck. Die Spielpraxis der Mannschaft, die, wie gesagt, oftmals so gar nicht mit der Stilisierung in Einklang sein will, wird durch die Philosophie nochmals überhöht und symbolisch abgesichert. Andererseits ist aber der Stil vor allem auch Stütze der Idee, die ohne die wiederholbare und wiederholte Sichtbarkeit des Stils bald ihre Bindekraft verlöre. Die Koppelung von ›flachem‹ ideellem Sinnhorizont und expressiver Darstellungsform verweist auf deren Isomorphie: in Stilisierungen drückt sich weniger umfassende Gruppenzugehörigkeit und dauerhafte Gemeinschaft aus, als vielmehr eine von Individuen, die sich als Einzelne verstehen, getragene Lebensweise und Lebenshaltung (vgl. Soeffner 2005: 20). Nur eine integrative und universalistische Allerweltsmoral wie die Hochstätt-Philosophie ist damit verträglich, eine auf Gemeinschaft zielende (religiöse oder politische) Ideologie wäre es nicht.
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Die soziale Welt des FC Hochstätt Türkspor lässt sich nicht als traditionale Gemeinschaft verstehen, wie der in der Migrationssoziologie gebräuchliche Begriff ›ethnic community‹ suggeriert. Sie ist nicht ein nach außen geschlossenes, intern kulturell homogenes, sozial klar strukturiertes und in eine umfassende Ethnie integriertes lokales Milieu, sondern vielmehr typisch modern. Im Falle der Welt des Fußballsports kann die Existenz ›eigenethnischer‹ Vereine nicht von vorne herein als Ausdruck ethnischer Segregation erachtet werden, da die Bildung konkurrierender Gruppierungen (Vereine, Mannschaften) für den Fußballsport konstitutiv ist.16 Entscheidend für die Frage der Integration ist vielmehr die Orientierung an der Ordnungsstruktur der Fußballwelt. Der FC Hochstätt Türkspor richtet sich in hohem Maße an dieser Ordnungsstruktur aus, während dies in anderen Fällen – auch im Fußballkreis Mannheim – offenbar weit weniger ausgeprägt ist. Die reine Teilnahme am Ligenbetrieb kann für sich genommen nicht als Integration interpretiert werden, genauso wenig wie ethnische Selbstorganisation gleichbedeutend mit Segregation ist. Die soziale Welt des FC Hochstätt Türkspor bildet einen Fall ethnischer Differenzierung17 bei gleichzeitiger Integration sowohl in Form der alltagsweltlichen Integration der Individuen in die Welt des Hochstätt Türkspor, als auch der symbolischen Integration der Gruppe in mehrere soziale Welten.18 So ist der FC Hochstätt zwar einerseits lokale ethnische Gemeinde, aber andererseits nicht in den größeren Kontext eines umfassenden ›ethnischen Gemeinsamkeitsglaubens‹ (Weber) eingebunden. Ethnizität weist nicht den normativen Verpflichtungscharakter einer geschlossenen nationalen oder sonst wie gearteten Gemeinschaft auf, in der unter dem Dach einer transzendenten Ordnungsfiktion alles und jeder seinen festen Platz hat. Nicht auf ein fiktives Türkentum, sondern auf die Teilhabe an den umgebenden sportlichen, migrantischen und lokalen Kontexten ist der Verein ausgerichtet. Die Integration seiner Mitglieder vollzieht der Verein, indem er Handlungs- und Deutungsangebote offeriert, die für männliche türkische Migranten attraktiv sind: aktiver und rezeptiver Fußballsport, der Gebrauch der türkischen Sprache, sozialer Verkehr in einem türkischen Café, Religionsausübung im Gebetsraum, Gelderwerb (für Spieler), Positionen im Vorstand (für die Angehörigen der ersten und zweiten Generation), Prestige und Positionen im lokalen türkischen Milieu (für Sponsoren). Diese Form sozialer Integration seiner Mitglieder und die Art der ethnischen Minderheitenorganisation, die der Verein praktiziert, erweisen sich als typische Reaktionen auf die Bedingungen individualisierter, pluralistischer Gesellschaften. Der Verein offeriert Produkte auf der sozio-kulturellen Angebotspalette, von der sich die (türkischen) Angehörigen der »Multioptionsgesellschaft« (Gross 1994) bedienen können. Mit seinen Angeboten beteiligt sich der Verein an der marktförmigen Konkurrenz um Mitglieder. Er gleicht damit strukturell seinen Konkurrenten auf dem Markt sozialer Welten und Weltanschauungen (vgl. Berger 1980). Er unterscheidet sich von ›fundamentalistischen‹ und nationalistischen Konkurrenten auf dem Markt eigenethnischer 16 17
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Vgl. Kapitel B.II. Auf die Frage ethnischer Stratifikation (klassisch beschrieben von Shibutani/Kwan 1965), auf Status- und Rangunterschiede zwischen Migranten und Angehörigen der autochthonen Mehrheitsbevölkerung, auf Prozesse der Statusumkehrung und damit zusammenhängende Anerkennungskämpfe und Missachtungsprozesse wird in Kapitel B.III eingegangen. Für die begriffliche Unterscheidung zwischen alltagsweltlicher und symbolischer Integration vgl. Kapitel B.I.
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Organisationsangebote dadurch, dass er keine Vollinklusion anbietet und keine Totalitätsansprüche stellt. So sind die soziale Welt des FC Hochstätt Türkspor und ihre Angehörigen nicht nur symbolisch und alltagsweltlich integriert, darüber hinaus partizipieren sie an der normativen Anforderungs- und Aufforderungsstruktur moderner Gesellschaften.
König Fußballs neue Kleider: Die Integrationsvorstellungen deutscher Sportverbände Andreas Göttlich
»Wie er nun alle drei Stücke hatte, da wünschte er sich auf den goldenen Berg, und alsbald war er dort, und die Riesen verschwunden und war also ihr Erbe geteilt.« (Gebrüder Grimm; Der König vom goldenen Berg)
Die folgenden Ausführungen fassen die wesentlichen Ergebnisse einer empirischen Teilstudie zusammen, welche die vorherrschenden Ansichten und Vorstellungen der maßgeblichen Sportverbände in Deutschland zum Zusammenhang von Integration und Fußball im Speziellen bzw. von Integration und Sport im Allgemeinen zum Gegenstand hatte – im Gegensatz zu den Integrationsvorstellungen und -praktiken der Fußballaktiven, die im Fokus der anderen Teilstudien standen (vgl. Kapitel B.II bis B.V). Im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses standen Ethnotheorien, d. h. innerhalb der sozialen Realität auffindbare Wirklichkeitskonstruktionen – im vorliegenden Fall bezüglich der (behaupteten) integrativen Wirkung des Fußballspiel(en)s bzw. des Sporttreibens überhaupt.1 Infolge dieses Forschungsansatzes wurden bestehende sozialwissenschaftliche Festlegungen des Integrationsbegriffes zu Beginn bewusst ausgeklammert, um nicht den Blick auf die in der vortheoretischen Praxis auffindbaren Deutungen von vornherein zu verstellen. So soll auch an dieser einleitenden Stelle auf eine terminologische Debatte verzichtet werden.2 Im Fokus dieses empirisch orientierten Beitrags stehen die im analysierten Feld zutage geförderten Integrationsvorstellungen als Konstruktionen erster Ordnung, wie sie im erhobenen Datenmaterial enthalten sind. Im Laufe der Datenauswertung stellte sich schon bald heraus, dass es in erster Linie die soziale Verwendung von Integrationsvorstellungen – und weniger der substantielle Kern derselben – ist, die eine analytische Differenzierung innerhalb des empirischen Feldes erlaubt. Infolgedessen konzentriert sich die Falldarstellung stärker auf die wissenssoziologische Zurechnung der erhobenen Vorstellungen denn auf deren Inhalt. Zum Prozess der Datenerhebung ist zu sagen, dass zu Beginn ausschließlich der Zusammenhang von Fußball und Integration fokussiert wurde, weshalb eingangs speziell nach Material gesucht wurde, dem entsprechende Vorstellungen des Deutschen Fußballbundes (DFB) zu entnehmen gewesen wären. Diese Suche endete in der Erkenntnis, dass offizielle Verlautbarungen des DFB zum in Frage stehenden Themenkomplex in nur sehr geringer Zahl vorliegen. Statt1
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Die Studie befasst sich m. a. W. mit expliziten, soll heißen in kommunikativer Absicht ausformulierten Integrationsvorstellungen, weniger mit Formen von tacit knowledge im Sinne Polanyis oder praktischen Wissens im Sinne Bourdieus (vgl. Polanyi 1985; Bourdieu 1999). Allerdings kann in expliziten Vorstellungen durchaus auf implizite Wissensformen Bezug genommen werden (vgl. 2.1). Einen Überblick bietet bspw. Friedrichs/Jagodzinski 1999.
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dessen verwies der DFB selbst als Antwort auf eine diesbezügliche Anfrage auf den Deutschen Sportbund (DSB)3 als Dachverband, innerhalb dessen er als Einzelsportverband organisiert ist und in dessen Zuständigkeitsbereich die gesuchten Aussagen fielen. Tatsächlich zeichnet der DSB für zahlreiche Veröffentlichungen zur Thematik verantwortlich, die zusammen mit eigens erhobenen Interviewdaten als Datenbasis der Studie dienten.4 Dieser Hinweis auf die Herkunft der ausgewerteten Daten ist insofern von Bedeutung, weil in ihnen meist vom Sport im Allgemeinen und weniger vom Fußball im Speziellen die Rede ist, d. h. es wird hinsichtlich der integrativen Wirkung des Sports nicht zwischen Individual- und Mannschaftssportarten differenziert, was es bei der Lektüre der folgenden Ausführungen stets zu beachten gilt. Ausgewertet wurden die Daten vornehmlich anhand der Methode der Grounded Theory (vgl. Glaser/Strauss 1967), diverse Schlüsselstellen wurden zusätzlich sequenzanalytisch interpretiert. Der Text gliedert sich folgendermaßen: Einer Beschreibung des untersuchten Feldes (1.) schließt sich die Darlegung der Fallstruktur (2.) an, wie sie die empirische Arbeit aufdeckte. Diese empirischen Ergebnisse werden im darauf folgenden Abschnitt theoretisch eingeordnet (3.), woraufhin zwei sich als Konsequenz der empirischen Auswertung ergebende Probleme der wissenssoziologischen Theoriebildung bzw. Methodologie diskutiert werden (4.). Abschließend erfolgt ein kurzes Resümee (5.).
1. Feldbeschreibung Zum besseren Verständnis des Nachstehenden beginne ich mit einer kurzen Feldbeschreibung, die sich auf eine Darstellung des Deutschen Sportbundes konzentriert, also desjenigen Sportverbandes, auf den die überwiegende Mehrheit der ausgewerteten Daten zurückgeht. Diese Darstellung beschränkt sich gezwungenermaßen auf einige wenige Sätze zur Struktur und Geschichte dieser Organisation.5 Der DSB versteht sich selbst als Interessenvertretung des gesamten organisierten Sports in Deutschland, die er als Dachverband der verschiedenen Einzelsportverbände wahrnimmt. Die oberste Organisationsebene stellt der Hauptsitz in Frankfurt am Main dar, wo die nationalen Richtlinien der Verbandspolitik bestimmt werden. Der politischen föderalen Struktur der Bundesrepublik Deutschland entsprechend existieren untergeordnet insgesamt 16 Landessportverbände (LSVe)6, welche die Programmatik der Organisation auf Länderebene umsetzen. Direkt vor Ort wirken schließlich die unzähligen Vereine, die in den Landes3 4
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Am 20. Mai des Jahres 2006 – nach Abschluss der Datenerhebung – fusionierte der DSB mit dem Nationalen Olympischen Komitee (NOK) zum Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB). Besagte Dokumente wurden vom DSB überwiegend via Internet, aber auch in Form von Informationsbroschüren u. ä. veröffentlicht. Neben reinen Textdaten wurden zudem Bilddaten in Form von Werbepostern ausgewertet. Als weitere Datengrundlage diente ein Experteninterview mit einem verantwortlichen Mitarbeiter des DSB-Programmes »Integration durch Sport«. Schließlich wurden Daten des Deutschen Fußballbundes (DFB), der Deutschen Sportjugend (DSJ), der Deutschen Olympischen Gesellschaft (DOG), des Nationalen Olympischen Komitees (NOK) sowie des Bundesministeriums des Inneren (BMI) zur Analyse herangezogen. Leser mit tiefer gehendem Interesse seien verwiesen auf die instruktive Studie von Schröder 1989 sowie auf die Veröffentlichungen von Eisenberg (1999), Düding (1997), Mevert (2000) oder des DSB selbst (1990). Gelegentlich auch als Landessportbünde (LSBe) bezeichnet.
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sportverbänden organisiert sind. Mit rund 27 Millionen Mitgliedschaften7 stellt der DSB die größte Personenvereinigung Deutschlands dar. Gegründet wurde der DSB im Jahre 1950. Als Vertreter der deutschen Turn- und Sportbewegung vereint die Organisation zwei sehr unterschiedliche Traditionslinien: Zum einen die auf den so genannten »Turnvater« Jahn zurückgehende deutsche Turnbewegung, die in der Gründung der Berliner Turngesellschaft im Jahre 1811 ihren Anfang nahm und sich von Beginn an auch als politische Vereinigung definierte. Die Geschichte ihrer politischen Inhalte ist die Geschichte eines Nationalismus, der in so mancher Hinsicht parallel zu demjenigen des deutschen Burschenschaftswesens verlief. Ursprünglich v. a. in demokratischer Absicht auf die Einheit Deutschlands abzielend, zeigte dieser Nationalismus von Beginn an zugleich frankophobe wie antisemitische Züge, welche im Laufe der Zeit bestimmend wurden und es den Nationalsozialisten in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ermöglichten, die deutsche Turnbewegung in ihrer Ideologie zu vereinnahmen. Die andere historische Säule des DSB bildet die aus dem Angelsächsischen stammende, durch Kaufleute nach Deutschland importierte und zumindest nicht explizit politische Tradition des Sports als Freizeittätigkeit. Ursprünglich auf verschiedenste Vergnügungsformen gemünzt, bezeichnete der Begriff »Sport« im England des beginnenden 19. Jahrhunderts spezielle Ruder-, Fecht-, Box- oder Ringwettkämpfe innerhalb der Oberschicht (gentry). Die Termini sportsman und gentleman wurden annähernd synonym verwendet, insofern sich das Regelverhalten im Sport nach allgemein anerkannten gesellschaftlichen Normvorstellungen richtete bzw. richten sollte, was unter dem Begriff des fairplay gefasst wurde. Mit diesen beiden sehr unterschiedlichen Traditionen, die »sich länger als ein halbes Jahrhundert erbittert befehdet« (Grupe 1990: 19) hatten, übernahm der DSB auch eine charakteristische innere Gespanntheit in sein Verbandswesen. Heute nimmt der DSB für sich allein die Vertretung des gesamten organisierten Sports in Deutschland in Anspruch. In strategischer Hinsicht geschieht dies weniger durch LobbyTätigkeit denn vielmehr durch Kooperation mit verschiedenen Partnern aus Politik und Gesellschaft. Gleichzeitig ist für das Selbstverständnis des DSB traditionell die Idee der Autonomie und politischen Neutralität handlungsleitend: Selbstständig, d. h. unabhängig von anderen gesellschaftlichen Gruppierungen, sollen Werte, Normen und Handlungsorientierungen festgelegt werden; in organisatorischer wie ethischer Dimension zugleich soll der Sport als autonome Einheit auftreten.
2. Fallstruktur Als oberstes Strukturierungsprinzip des Feldes im Hinblick auf die dort auffindbaren Integrationsvorstellungen wurden (a) die unterschiedlichen Handlungsbezüge der verschiedenen Organisationsebenen des Deutschen Sportbundes erkannt. Dessen Ausdifferenzierung in verschiedene Verwaltungseinheiten mit unterschiedlichen Handlungsfeldern bedeutet zugleich (b) eine unterschiedliche Nähe zur praktischen Ausübung des Sports in den Vereinen vor Ort – zwei Momente, die bedeutende Konsequenzen haben für die auf den jewei-
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Diese Ziffer bezieht sich auf den Zeitraum der Datenerhebung im Jahre 2003.
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ligen Organisationsebenen vertretenen Vorstellungen von der Rolle des Sports für die gesellschaftliche Integration. Die hier vertretene These lautet, dass der DSB unterschiedliche Wirklichkeitskonstruktionen bezüglich der integrativen Wirkung des Sports errichtet. Diese Konstrukte changieren mit der jeweiligen Organisationsebene, d. h. in Abhängigkeit vom vorgegebenen sozialen Setting, und das bedeutet wiederum: in Abhängigkeit von verschiedenen Sozialpartnern und damit Praxisbezügen. Hierbei lässt sich von einer Vermischung und somit Schwächung einer vorgegebenen Wirklichkeitsbestimmung durch divergierende Handlungsorientierungen sprechen, insofern die auf dem obersten, weisungsbefugten Verwaltungsniveau errichtete Konstruktion einerseits eine Bindungskraft für die untergeordneten Ebenen aufweist, d. h. in irgendeiner Form von diesen adaptiert werden muss, andererseits diese Bindungskraft jedoch mit zunehmender »Entfernung« von der Verwaltungszentrale schwindet. Konkret ist hinsichtlich der jeweiligen typischen Strukturmomente zwischen der Ebene der Länder und des Bundes zu differenzieren sowie bezüglich Letzterer zwischen der Außendarstellung, sprich der veröffentlichten Meinung, und der Innenperspektive, wie sie sich in der verwaltungstechnischen Praxis konstituiert. Der zu Idealisierungen neigende Charakter der veröffentlichten Meinung vermischt sich sowohl hinsichtlich der Verwaltungspraxis auf Bundesebene als auch auf der Landesebene mit Orientierungen an den Sachzwängen unterschiedlicher Praxisformen. Typisierend zugespitzt kann man formulieren, auf den verschiedenen Organisationsstufen des DSB manifestiere sich (1) eine ideologische, (2) eine bürokratische sowie (3) eine pragmatische Vernunft. Entsprechend dieser Differenzierung gliedert sich die folgende Darstellung des empirischen Feldes, in deren Verlauf sich die Angemessenheit der gewählten Begriffe erweisen muss, in drei Teile: Zunächst gehe ich auf die vom DSB auf Bundesebene veröffentlichte Meinung zum Zusammenhang von Integration und Sport ein, anschließend auf die Innenperspektive des Bundesverbandes, wie sie von bürokratischen Sachzwängen geprägt wird, und am Ende auf die Integrationsvorstellungen der Landessportbünde, die einen stärkeren Bezug zur Sportpraxis in den Vereinen reflektieren.
2.1 Ideologische Vernunft: Die Außendarstellung des DSB Bezüglich der auf der Bundesebene erhobenen Daten lassen sich die gewonnenen Ergebnisse in zwei Bereiche unterteilen: (A) Erkenntnisse über die spezifische Funktion, welche die Hervorbringung bzw. Verbreitung einer Integrationsideologie für das soziale Gebilde Sportverband erfüllt; (B) Aussagen zur integrativen Wirkung des Sports in der Gesellschaft überhaupt. Der erste Themenkomplex hebt ab auf den formalen Aspekt der internen wie externen Legitimationsfunktion, welche die vom DSB verbreitete Integrationsideologie erfüllt. Der zweite zielt auf die geistigen Gehalte dieser Ideologie, gewissermaßen auf die inhaltliche Begründung der behaupteten Gemeinnützigkeit des Sports.8 8
Im Anschluss an den wissenssoziologischen Ansatz von Peter Berger und Thomas Luckmann soll »Ideologie« hier meinen: 1) eine von einer sozialen Gruppe geteilte Wirklichkeitsbestimmung, welche 2) zum Zwecke der internen wie externen Legitimierung und somit der Durchsetzung gesellschaftspolitischer Machtinteressen 3) die Realität auf eine spezifische, eigene Art und Weise, der eine Tendenz zu Idealisierungen inhärent ist, widerspiegelt (vgl. auch unten Abschnitt 3).
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(A) Legitimation durch Gemeinnützigkeit Im Hinblick auf das Moment der Legitimation ist die grundlegend dilemmatische Situation des Deutschen Sportbundes strukturbildend, die eng mit der Art und Weise der Interessenvertretung dieser Organisation verknüpft ist. Entsprechend dem oben erwähnten Autonomieideal begreift der DSB die Gesamtheit der Sporttreibenden als eine Wertegemeinschaft, welche ihre normativen Vorstellungen unabhängig von Staat und Gesellschaft formuliert und notwendigenfalls gar gegen diese einklagt. So ist im Datenmaterial z. B. zu lesen von einer »Sportbewegung, die auf Emanzipation des Individuums ausgerichtet ist – politisch unabhängig, weltanschaulich neutral und offen für alle gesellschaftlichen Gruppen«9. Vor dem Hintergrund einer solchen Selbstcharakterisierung kann der Sport dann an anderer Stelle als »Faktor der Zusammenführung der verschiedensten Gruppierungen unserer multikulturellen Gesellschaft«10 definiert werden. Ausgestattet mit diesem Potential begegnet der Sport Problemlagen, die nicht endogener Natur sind, sondern vielmehr von außen an ihn herangetragen werden und welche im Jahr 2001 vom damaligen Vizepräsidenten des DSB, Prof. Dr. Kapustin, wie folgt umschrieben wurden: »Der organisierte Sport steht heute vor anderen Herausforderungen: Virtualisierung, Entkörperlichung, wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, multinationale Zusammensetzung, Ausbreitung von Gewalt, Seniorisierung, Gesundheitskosten, Globalisierung«11. Auf diese Weise inszeniert sich der organisierte Sport in Deutschland als im Dienste der Allgemeinheit wirkendes, gleichzeitig jedoch unabhängiges Korrektiv gesellschaftlicher Fehlentwicklungen. So bemühe man sich nicht zuletzt »um Menschen, die außerhalb unserer Gesellschaft stehen: Ausländer, Aussiedler, Behinderte, straffällig gewordene Menschen«12. Derartige Selbstbeschreibungen, welche den organisierten Sport nach innen wie nach außen zu legitimieren suchen, stehen nun in einem Spannungsverhältnis zur Eigendefinition des DSB als Partner von Gesellschaft, Wirtschaft und Politik, denn als Partner gilt es eher gemeinsame Interessen zu betonen, als durch das Insistieren auf absoluter Eigenständigkeit Gefahr zu laufen, mögliche Kooperationspartner zu verprellen. Derart entsteht ein prinzipielles Strukturdilemma zwischen Autonomievorstellung und Kooperationszwang, aus dem sich wiederum eine doppelte Aufgabenstellung hinsichtlich der Selbstpräsentation ergibt: Die eigenen Tätigkeiten müssen derart kommuniziert werden, dass sie einerseits den eigenen tradierten Wertvorstellungen entsprechen und andererseits möglichen Partnern konsensfähig wie profitabel zugleich erscheinen. Dementsprechend ist Werbung um Zustimmung, Mitarbeit und Unterstützung ein durchgehender Topos sämtlicher untersuchter Daten, was sich in der ungenierten Adaption gängiger Werbejargons widerspiegelt. Der ehemalige DSB-Präsident Willi Weyer formulierte den Sachverhalt vor bereits über 20 Jahren folgendermaßen: »Gerade in einer Zeit der leeren öffentlichen Kassen darf er [i.e. der Sportverein; A.G.] nicht nur Gutes tun, sondern er muß auch laut davon reden.«13 Da aufgrund des beschriebenen Dilemmas internes wie externes Publikum in der Bewertung übereinstimmen müssen, wann eine Tat als gut gelten kann, dürfen hierbei die 9 10 11 12 13
So im »Leitbild des deutschen Sports« aus dem Jahr 2000. Aus der Konzeption des Programms »Integration durch Sport«, 2001. Aus der Rede »Der Sport und die wiedergefundene Gemeinschaft«. Zitat aus einer Selbstporträtierung des DSB, 2002. Zit. nach Schröder 1989: 136.
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vertretenen Ansichten den allgemein verbindlichen Boden des gegebenen gesellschaftlichen Wertekonsenses nicht verlassen. Derart rückt der Aspekt der Gemeinnützigkeit ins Zentrum der Außendarstellung der Bundesorganisation, wobei der Hinweis auf die eigene moralische Integrität wesentlich ist. Als Hauptantrieb der eigenen Tätigkeiten wird das Bewusstsein sozialer Mitverantwortung respektive das Bewusstsein einer Pflicht zum moralischen Handeln angeführt. Nach eigener Aussage will sich der organisierte Sport »in den Dienst der Gesellschaft stellen«, »sich für eine nationale Aufgabe einsetzen« oder seiner »politischen Mitverantwortung«14 entsprechen. Der organisierte Sport in Deutschland sieht sich selbst bevorzugt in der Rolle des Wohltäters anstatt derjenigen des Dienstleisters. Die Selbstinszenierung des DSB als gemeinnützige Organisation hat zur Folge, dass in seiner Öffentlichkeitsdarstellung die eigenen wirtschaftlichen Interessen unthematisiert bleiben. Man ist stattdessen bemüht, symbolisches Kapital, sprich: gesellschaftliches Ansehen, anzuhäufen, das dann in weniger öffentlichen Kanälen in ökonomisches Kapital, sprich: Geldmittel, verwandelt werden kann.15 (B) Gemeinnützigkeit durch Integration Wie begründet der Verband seine behauptete Gemeinnützigkeit nun inhaltlich? Analysiert man das Datenmaterial genau, so kann man verschiedene Ebenen der behaupteten integrativen Wirkung des Sports unterscheiden. Diese lassen sich auf einer ansteigenden Ordinalskala abbilden. Nach Aussage des Datenmaterials kann der Sport zunächst einmal ganz einfach »Kontakte fördern«. Darüber hinaus kann er »helfen, Vorurteile abzubauen« oder auch »Gelegenheit bieten, sich kennen zu lernen und näher zu kommen«. Offensiver wirkt die Behauptung, der Sport überwinde »problemlos soziale und kulturelle Unterschiede«, und schließlich wird ihm gar das Vermögen zugeschrieben, »die Beteiligten zu einem Ganzen«16 zu integrieren. Geht es – jenseits solch allgemein gehaltener Formulierungen – konkreter inhaltlich um die integrative Wirkung des Sports, so hat der DSB eine zweigleisige Antwort parat: Als körperliche Tätigkeit sei der Sport (a) zunächst imstande, ein emotionales, irrationales oder auch vorrationales Zusammengehörigkeitsempfinden unter den Beteiligten zu kreieren. Er »schafft ein Gefühl der Verbundenheit, der Gemeinsamkeit«. Sport verbinde und stifte Identität. Diese vornehmlich auf das Moment der Leiblichkeit im Sport bezogene Form der Vergemeinschaftung leiste potentieller Eingliederung Vorschub. Nähere Auslassungen darüber, wie dies genau vonstatten gehen soll, sucht man in den DSB-Veröffentlichungen indes vergeblich. Anstatt den Versuch einer rational nachvollziehbaren Herleitung dieses Gemeinsamkeitsgefühls zu wagen, wird auf eine unbestimmte Form von Evidenz verwiesen, deren Erfahrung jeder Sporttreibende schon gemacht habe. Daneben fördere der Sport (b) die Herausbildung und Akzeptanz demokratischer Werte und Verhaltensnormen, welche das Miteinander auf dem Sportplatz und auch über diesen 14 15 16
Zitate aus einem Statement des damaligen DSB-Präsidenten von Richthofen anlässlich der Vorstellung der Kampagne »Sport tut Deutschland gut« (2002), aus einem Selbstporträt des DSB aus dem gleichen Jahr sowie aus dessen Grundsatzerklärung aus dem Jahr 1981. Zur Theorie der Kapitalsorten sowie deren Transformation vgl. Bourdieu 1990 (spez. Kap. II) sowie 1999 (spez. 1. Buch, Kap. 7). Diese Zitate (einschließlich des folgenden) wurden sämtlich diversen Internet-Veröffentlichungen des DSB entnommen.
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hinaus erleichtere. Vorzugsweise genannt werden in diesem Zusammenhang Akzeptanz, Toleranz, Regelkonformität und gegenseitiger Respekt. Dieses Moment rekurriert auf Regelkenntnis sowie -anerkennung, also auf eine rationale, bewusste Ebene von Sozialität, und steht im Gegensatz zu demjenigen eines tendenziell unbewussten Gemeinschaftsgefühls.17 Der aus dem untersuchten Datenmaterial herauszulesende Grundtenor tendiert dabei zu dem Standpunkt, dass die rationale Wertevermittlung auf einer gleichsam »niedrigeren« Stufe anzusiedeln ist als die behauptete emotionale Verbindung unter Sporttreibenden. Dieser Hierarchisierung entspricht ein unterschwellig kulturpessimistischer Zug, der sich in vielen der untersuchten Daten finden lässt. Ein Beispiel hierfür liefert die oben zitierte Äußerung Kapustins, in welcher vornehmlich negativ konnotierte Gesellschaftsentwicklungen aufgeführt und zur Herausforderung für den organisierten Sport, gleichsam als Verteidiger traditionaler Werte, stilisiert werden. Umso bemerkenswerter erscheint eine – wie ich sie nennen möchte – »Strategie der Leerstelle« in den Äußerungen des DSB zur Integrationsthematik. Der Begriff zielt darauf ab, dass in den offiziellen Materialien des DSB eine Thematisierung von negativ konnotierten, bspw. desintegrativen Wirkungen des Sports durchgehend unterlassen wird, von Wirkungen also, von denen beinahe tagtäglich in den Medien berichtet wird und die wesentlich auf das im Sport enthaltene kompetitive Moment zurückzuführen sein dürften. Dementsprechend werden soziale Probleme im Sport nie dessen inhärenten Strukturen zugeschrieben, sondern stets auf Einwirkungen von außen zurückgeführt. Man darf sagen, die Darstellung der den Sport betreffenden sozialen Realität weist nur an ganz wenigen Stellen selbstkritisches Potential auf und wird vielmehr idealisiert. Bezeichnend in dieser Hinsicht ist eine Passage im Internet-Auftritt des Programms »Integration durch Sport«, wo auf der positiven Wirkung des Sports bestanden wird, gleichgültig »ob wissenschaftlich nachgewiesen oder nicht«. Aus soziologischer Sicht liegt die Vermutung nahe, dass die inhaltliche Unterbestimmung der behaupteten Integrationsleistung selbst eine integrative Funktion erfüllt. Mit der plakativen Darstellung des Integrationsvermögens des Sports (wie z. B. im Slogan: »Sport tut Deutschland gut«) können sich potentiell mehr Personen identifizieren als mit einer detailliert ausgearbeiteten. So läuft denn die mediale Vermittlung dieses Vermögens in der Öffentlichkeit weniger über Diskurse denn vielmehr über Symbole, welche aufgrund ihrer »Eigenschaft, Paradox und Ambivalenz zu betonen, aber zugleich auch auszuhalten und die Dissonanzen des Gegensätzlichen in ästhetische Konsonanzen umzuformen« (Soeffner 2000: 199), eine spezifische soziale Bindungskraft aufweisen.
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In der soziologischen Theoriesprache erinnert das an Tönnies’ klassische Unterscheidung der »Normaltypen« Gemeinschaft und Gesellschaft (Tönnies 1979).
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2.2 Bürokratische Vernunft: Die Perspektive des Programms »Integration durch Sport« Einen Blick »hinter die Kulissen« der Integrationsideologie des DSB ermöglichte ein Interview mit einem Mitarbeiter des bundesweit agierenden DSB-Programms »Integration durch Sport«. Dieses Programm stellt eine Verlängerung des 1989 initiierten Projekts »Sport mit Aussiedlern« dar und geht in seiner heutigen Form auch auf eine Anregung aus der Politik, genauer: aus dem Bundesministerium des Inneren (BMI), zurück. Ziel ist die »Integration der Zuwanderer in die Aufnahmegesellschaft und in den organisierten Sport«18. Erreicht werden soll dies durch die Arbeit in so genannten »Stützpunktvereinen« vor Ort, deren zentrale Koordination der Programmleitung in Frankfurt am Main obliegt. Inhaltlich richtet sich die Aufmerksamkeit »in Sport und Bewegung auf das Erleben, Erfahren und Verstehen des Selbst und des Anderen«. Die Analyse ergab, dass im Programm »Integration durch Sport« ein stark von bürokratischen Zwängen geprägter Problemzugang zum Tragen kommt. Im Relevanzsystem des Interviewpartners stand die reibungslose verwaltungstechnische Umsetzung bürokratischer Vorgaben oben an; von Vorgaben, die teils aus der eigenen Organisation, teils vom BMI stammen, welches das Programm finanziell fördert. Von der spezifischen Warte der Verwaltungspraxis aus gesehen ergeben sich offenbar zwangsläufig Reibungspunkte mit einer gleichsam »im Elfenbeinturm« ersonnenen Idealvorstellung von Integration im Sport. So war etwa von den hehren moralischen Motiven, auf welche der organisierte Sport laut veröffentlichter Meinung seine Maßnahmen gründet, im Interview nichts zu vernehmen. Vielmehr sei der Sport angesichts einer bestehenden und unleugbaren gesellschaftlichen Problematik schlicht deshalb gefordert, weil er über die notwendige Infrastruktur verfüge, weniger aufgrund eines spezifischen, dem Sport inhärenten Ethos. Das in den vom DSB veröffentlichten Materialien dargestellte Verhältnis von Sport und Gesellschaft kippt hier in sein Gegenteil: War es dort der gesellschaftliche Teilbereich Sport, der aus eigenem Antrieb der Gesamtgesellschaft zu Hilfe eilt, so bedient sich hier die Gesamtgesellschaft der spezifischen Kompetenzen des Teilbereichs Sport für ihre Zwecke. Im Interview wurde offenbar, dass es die Politik war, welche den Anstoß für das Programm »Integration durch Sport« gab, nicht umgekehrt. Aus diesem Entstehungszusammenhang erklären sich Ansprüche des Bundesinnenministeriums gegenüber dem DSB, die sich in einem detaillierten Kontrollsystem niederschlagen. Zwischen den vermeintlichen Partnern besteht ein Hierarchiegefälle. Zudem sind auch ihre Interessen keineswegs identisch. Bedient sich die Politik (oder genauer: die Bundesregierung) der DSB-Aktivitäten als einer Art Darstellungsplattform beim Werben um die Wählergunst, so betont der DSB neben der Integration durch den organisierten Sport zugleich diejenige in den organisierten Sport: »Fernziel … für den DSB … ist der Sportverein, dass der das Geld bekommt«19. Der Nutzen der Zielgruppe, deren Eingliederung in die Gesellschaft, ist demnach zumindest nicht das einzige Ziel der DSB-Aktivitäten. Man will auch selbst von der ganzen Angelegenheit profitieren, nicht zuletzt im Hinblick auf den Alleinvertretungsanspruch des Verbandes für den gesamten Sport in Deutschland. Auf der Verwaltungsebene kommt derart ein symbiotisches Verhältnis wechselseitigen Vorteils zwischen dem Deutschen Sportbund und dem Bundesministerium des Inneren zum 18 19
Dieses (wie auch das folgende) Zitat entstammt der Internet-Homepage des Programms. So eine Äußerung im Interview.
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Vorschein, während die veröffentlichte Meinung das Bild zweier ausschließlich am Allgemeinwohl orientierter Kollektivakteure zeichnet. Das spezifische Verhältnis zwischen dem BMI und dem von ihm geförderten Programm »Integration durch Sport« bestimmt die Vorstellungswelt des Letzteren. Das intern als »Zuwendungsgeber« titulierte BMI repräsentiert aus der bürokratisch geprägten Perspektive des Programms die Restgesellschaft. An dieser Institution richtet sich das Angebot aus, nicht an bestimmten Bevölkerungsteilen als der offiziell verlautbarten Zielgruppe. Dabei gelte es, so der Befragte, überzogenen Anforderungen des BMI bereits im Vorfeld zu begegnen. Indem die aktive Rolle eines Anbieters eingenommen wird, soll von vornherein klargestellt werden, was geleistet und umgesetzt werden kann. Der Interviewpartner sprach metaphorisch von seinem »Bauchladen«, aus dessen Sortiment ausgewählt werden könne. Eine pragmatische Haltung der Machbarkeit wird derart deutlich, welche inhaltliche Aspekte in den Hintergrund drängt. Im bürokratischen Austausch zwischen DSB und BMI steht der Kommunikationsakt selbst und weniger dessen materialer Gehalt im Mittelpunkt. Tatsächlich vermag ja die von Frankfurt aus operierende Programmleitung selbst nichts »Greifbares« zu liefern, die eigentliche Integrationsarbeit leisten die Stützpunktvereine vor Ort. Das reibungslose Funktionieren des bürokratischen Apparats gewinnt auf diese Weise ein Übergewicht über die Erreichung der inhaltlichen Ziele. Die Vorstellungswelt der durch das Programm »Integration durch Sport« vertretenen Innenansicht des DSB verdichtet sich in einem Satz, aus dem klar wird, dass man sich hier eher mit bürokratisch-formalen denn inhaltlichen Problemen beschäftigt: »Es gibt keine ausländischen Mitbürger mehr, es gibt jetzt diese Migranten«.20 Kontrolle wird jedoch vom Programm »Integration durch Sport« nicht bloß erfahren, sondern zugleich ausgeübt, und zwar auf die untergeordneten Organisationsebenen, v. a. auf die »Stützpunktvereine« vor Ort, denen finanzielle Unterstützung gewährt wird. In den Berichten dieser Stützpunktvereine über die Verwendung der Gelder kommen zwangsläufig Probleme in der praktischen Umsetzung des Programms zur Sprache. In vermittelter Form hat also auch die auf Bundesebene operierende Programmleitung teil an der Praxiserfahrung, was sich an einigen Stellen des Interviews widerspiegelte. Der Interviewpartner sprach selbst von einem prinzipiellen Auseinandertreten der Perspektive von Theorie und Praxis, d. h. derjenigen der Programmleitung in Frankfurt sowie derjenigen der Mitarbeiter in den Vereinen. Des weiteren wurde eingeräumt, dass man über die genaue Bestimmung der eigenen Zielgruppe noch einmal nachdenken müsse, da man selbst nicht so genau wisse, wer mit den vom Programm als Hauptzielgruppe angesprochenen »benachteiligten Jugendlichen« eigentlich genau gemeint sei, soll heißen, wer an den angebotenen Veranstaltungen eigentlich teilnehmen dürfe und wer nicht. Schließlich wurden gar leise Zweifel am Integrationswillen der zu Integrierenden angedeutet. Vor diesem Hintergrund war der Interviewpartner bemüht, das in der Außendarstellung des DSB idealisiert dargestellte Integrationspotential des Sports zu relativieren. In dieser Absicht wurden Dialog und Akzeptanz zwischen Aufnahmegesellschaft und Zielgruppe als realistische Ziele angeführt. Ganz allgemein dürfe die Leistungsfähigkeit einer Freizeitveranstaltung, wie der Sport nun einmal eine sei, im Hinblick auf ihre sozialintegrative Wirkung nicht überschätzt werden, denn von größerer Bedeutung sei letztlich die Berufs- oder auch die Wohnsituation der zu In-
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Ebenfalls ein Interview-Zitat.
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tegrierenden. Festzuhalten bleibt also eine bemerkenswerte Relativierung der in der veröffentlichten Meinung des DSB vorherrschenden Einstufung des Integrationspotentials des Sports durch den interviewten Experten.
2.3 Pragmatische Vernunft: Die Landessportverbände Letztere Ausführungen leiten bereits über zu den Integrationsvorstellungen auf der Landesebene. Diese zeichnet ein dezidiert pragmatischer Problemzugang aus, geprägt von der tatsächlichen Integrationsarbeit vor Ort. In den untersuchten Veröffentlichungen der Landesverbände wird das Zupacken angesichts bestehender Probleme thematisiert anstatt deren theoretischer Erörterung. In den auf der Landesebene untersuchten Texten handeln konkrete Personen zugunsten einer klar definierbaren Zielgruppe mit eindeutig rekonstruierbaren Interessen. Zwei Aspekte sind es, an denen sich die Spezifik des auf der Landesebene erhobenen Datenmaterials festmachen lässt. Erstens bewegen sich die Landessportverbände näher an der Praxisebene vor Ort. Sie sind damit unmittelbarer mit Erfahrungen konfrontiert, die dem von der Bundesorganisation gezeichneten Idealbild des Sports widersprechen können, was eine tendenzielle Loslösung von idealisierten Gehalten bedingt. Das äußert sich z. B. darin, dass in den von den Landessportverbänden veröffentlichten Dokumenten nirgends eine derart weitgehende und schwer zu belegende Behauptung aufgestellt wird wie diejenige, dass der Sport die an ihm Beteiligten zu einem Ganzen integriere, wie sie in dieser oder vergleichbarer Form in den Texten der Bundesorganisation immer wieder zu finden ist. Auch bleibt der Wirkungsradius der eigenen Tätigkeit auf die engere lokale bzw. regionale Umgebung der jeweiligen Maßnahme beschränkt, während die entsprechenden Formulierungen auf der Bundesebene oftmals eine Art räumlicher Entgrenzung unterstellen – so etwa im Slogan »Sport tut Deutschland gut«. Mit der größeren Praxisnähe geht das zweite für die Landesebene konstitutive Strukturelement einher: der Wechsel resp. die Spezifizierung der Zielgruppe. Die konkreten Integrationsbemühungen vor Ort betrachten nicht die breite Öffentlichkeit als Adressat des eigenen Tuns, sondern die eigentliche Zielgruppe der zu Integrierenden. Statt der Gesellschaft steht hier etwa eine »gemischte Gruppe von 10 Jugendlichen aus dem TV Derendingen« oder stehen »400 Esslinger und Ostfilderner SchülerInnen der 5. und 6. Klasse« im Fokus. Die somit klar umrissene Zielgruppe der so genannten »benachteiligten Jugendlichen« wird über konkrete Attraktionen wie bspw. nächtliche Basketball-Turniere inklusive musikalischer Untermalung angesprochen. Es rücken zwangsläufig die konkreten Interessen der Zielgruppe in den Fokus, wohingegen das vergleichsweise abstrakte Allgemeininteresse der Gesamtgesellschaft tendenziell aus dem Blick gerät, ist es doch in der praktischen Arbeit vor Ort schlecht greif- und noch weniger erfüllbar. Eine weitere Folge des genannten Aspekts liegt darin, dass statt von Wertevermittlung verstärkt von Persönlichkeitsförderung die Rede ist, was nicht bloß einen terminologischen Unterschied markiert. Im Zentrum der Betrachtung stehen offenbar weniger abstrakte Werte als vielmehr deren konkrete Träger, mithin die Menschen, denen die in den Vereinen tätigen Mitarbeiter in ihrem täglichen Umgang begegnen. Dem entspricht auf der anderen
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Seite, dass anstelle des Abstraktums »der Sport« vermehrt Einzelpersonen bzw. einzelne Vereine auch namentlich genannt werden, wenn es um die Frage geht, wer den behaupteten Nutzen des Sports verursacht. Von zentraler Bedeutung dürfte weiter der Umstand sein, dass die Landessportverbände auf eine Selbstdefinition als Wertegemeinschaft verzichten. So setzt die Betonung geteilter Werte und damit Verhaltensvorschriften, welche im Innenverhältnis verbindend wirken mag, eine gewisse Eintrittsschwelle gegenüber Außenstehenden und kann somit geradezu zum Integrationshindernis mutieren. In diesem Zusammenhang ist auf die, vom DSB nicht eben gern gesehene, Gründung eigenethnischer Vereine hinzuweisen, in denen die zu Integrierenden weitestgehend unter sich bleiben. Inhaltlich verbindet sich mit der Selbstdarstellung als Wertegemeinschaft auf Bundesebene die ständige Betonung einer helfenden Absicht, die sich in der Praxis vor Ort ebenso als kontraproduktiv erweisen kann, denn sie setzt jemanden voraus, der sich helfen lassen möchte. Es ist jedoch durchaus fraglich, ob eine solche Selbstzuschreibung der anvisierten Zielgruppe der »benachteiligten Jugendlichen« unterstellt werden kann. Auf der Landesebene scheint dieses Problem erkannt worden zu sein, denn in deren Veröffentlichungen inszeniert man sich nüchtern eher als Dienstleister denn als vorwiegend moralisch motivierten Gesinnungstäter. Doch noch von einem zweiten Adressatenwechsel kann gesprochen werden. Die Eigendarstellung der Landessportverbände wendet sich auch an den eigenen Dachverband, d. h. an den DSB, insofern dieser über die interne Vergabe von Finanzmitteln entscheidet. Der Unterschied zum entsprechenden Verhältnis zwischen DSB und BMI liegt darin, dass die Landessportverbände ihrem eigenen Dachverband gegenüber nicht in der Verpflichtung stehen, die eigene moralische Integrität belegen zu müssen, wie dieser (der DSB) es gegenüber dem Bundesinnenministerium praktiziert. Die Landessportverbände wetteifern um eine Beteiligung an Finanzmitteln, deren Gesamtrahmen bereits anderweitig festgelegt wurde. Aufgrund dieser Situation sehen sich die Landessportverbände offenbar nicht unter dem Zwang, den Nutzen bzw. gar die Unverzichtbarkeit des Sports für die Gesamtgesellschaft nachweisen zu müssen. Daher verzichten sie auf umfassende und kritische Gesellschaftsdiagnosen, wie sie von der DSB-Zentrale aufgestellt werden. Vielmehr kommen aufgrund des pragmatischen Sachbezugs in den Veröffentlichungen Einzelprobleme zur Sprache, die an konkreten Orten von benennbaren Personengruppen erfahren werden. Auf diese Art kommen gar, wenn auch nur vereinzelt, Probleme innerhalb des Bereiches Sport zur Sprache, die in der veröffentlichten Meinung verschwiegen werden.
2.4 Fazit Betrachtet man die oben beschriebene Feldstruktur im Zusammenhang, so mag es nahe liegend erscheinen, von einer Art »Ideologiegefälle«21 zu sprechen. Die auf der Bundesebene des DSB ersonnene, veröffentlichte Meinung weist ausgeprägt ideologische Züge auf, die mit steigender Nähe zur Sportpraxis in den Vereinen abnehmen. So traten im Ge21
Karl Mannheim spricht in seinen theoretischen wissenssoziologischen Überlegungen vergleichbar von einem »›Abfallen‹ des ideologiebestimmten Handelns vom vorgestellten Gehalte« (1995: 171), das sich unweigerlich dann einstelle, wenn das subjektive Handlungsmotiv sich nicht in der objektiven Gesellschaftsstruktur verwirklicht findet.
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spräch mit dem Mitarbeiter des Programms »Integration durch Sport« Sachzwänge zu Tage, welche die idealisierten Darstellungen der veröffentlichten Meinung auf das Maß des bürokratisch Machbaren zurückzuschneiden suchen. Und auf der Ebene der Landessportverbände ist ein pragmatischer Problemzugang strukturbildend, der sich an der praktischen Umsetzung des Integrationsauftrags orientiert, in dessen Kontext die Interessen ganz konkreter Zielgruppen von entscheidender Bedeutung sind, die mit dem auf Bundesebene anvisierten Gemeinnutzen keineswegs identisch sein müssen. Doch unterstellt der Begriff »Ideologiegefälle« eine Kontinuität, die dem Feld so nicht eignet. Es ist zwar nicht falsch zu sagen, dass die untersuchte Wirklichkeitskonstruktion der Landesebene weniger ideologisch ausfällt als diejenige der Bundesverwaltung, allerdings darf man nicht versäumen, den Grund hierfür zu nennen, was dann das Bild komplexer werden lässt. So orientieren sich die verschiedenen Organisationsebenen innerhalb unterschiedlicher Handlungsfelder und das bedeutet auch: an unterschiedlichen Publika. Damit fallen die errichteten Wirklichkeitsbestimmungen zwangsläufig unterschiedlich aus, denn sie sollen die Aktivitäten des DSB verschiedenen Interaktionspartnern gegenüber legitimieren: (a) Die vom DSB veröffentlichte Meinung steht unter dem übergeordneten Motiv, eine möglichst breite gesellschaftliche Zustimmung für das eigene Tun zu erhalten. Speziell finanzielle Zuwendungen seitens der Öffentlichen Hand sind erwünscht, es geht aber auch um Mitgliederwerbung oder strategische Kooperation(en). Dabei bleibt der Ansprechpartner abstrakt: Adressiert wird die Öffentlichkeit, die Politik, die Wirtschaft. Der Sozialpartner ist ein generalized other (vgl. Mead 1968), wobei ein Fall besonders hoher Generalisierung desselben vorliegt. Dieses Moment der Abstraktion von konkreten Individuen resp. Gruppen vermag die Unverbindlichkeit und tendenzielle Inhaltslosigkeit der untersuchten Daten zu erklären, die oftmals an solche der Werbebranche erinnern, welche vor einem strukturell ähnlich gelagerten Problem steht.22 (b) Im Falle der bürokratisch geprägten Wirklichkeitskonstruktion des Programms »Integration durch Sport« zeigt sich der Interaktionspartner nicht mehr derart abstrakt. Es handelt sich um den so genannten »Zuwendungsgeber«, das Bundesministerium des Inneren. Diesem gegenüber sind die eigenen Aktivitäten nicht mehr unbedingt als im Dienste eines amorphen Allgemeininteresses stehend darzustellen, vielmehr ist die Perspektive einer Kosten-Nutzen-Rechnung maßgeblich, hinter welcher seitens des BMI die Frage stehen dürfte, wie sich die Unterstützung entsprechender Aktivitäten politisch »verkaufen« lässt. (c) Schließlich haben es die DSB-Vertreter in den Vereinen mit der Zielgruppe selbst bzw. mit ganz konkreten, individuellen Repräsentanten derselben zu tun. Sich diesen gegenüber zu legitimieren, d. h. um deren Mitwirken zu werben, bedeutet, einen konkreten, unmittelbar begreiflichen und dem jeweiligen Individuum zukommenden Nutzen benennen können zu müssen, weshalb hier andere Realitätsdeutungen gefordert sind als etwa bei dem bereits erwähnten, schlagwortartigen Werbeslogan »Sport tut Deutschland gut«. Nun interagieren die Verwaltungsebenen des DSB nicht im Sinne eines reibungslosen Miteinanders, vielmehr produzieren die unterschiedlichen Ausrichtungen Widersprüchlich22
Auch eine faktische Verbindung besteht, insofern der DSB im Zusammenhang seiner Gesellschaftskampagnen Aufträge an Werbefachleute und -firmen vergibt.
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keiten, die sich in internen Spannungen äußern. Beispielhaft hierfür mag das Verhältnis zwischen der Leitung des Programms »Integration durch Sport« und den Stützpunktvereinen stehen. Der – seinerseits durch die Kontrolle seitens des BMI mitverursachte – Zwang einer Kontrollierung der Verwendung der den lokalen Sportvereinen gewährten Gelder führt zu einer Evaluation von deren Arbeit. Für diese Effizienzüberprüfung müssen vermeintlich objektive, quantifizierbare sowie standardisierbare Kriterien ausgearbeitet werden, die dann in eigens erstellten Formularen abgefragt werden können. Deren Auswertung wiederum ermöglicht eine Legitimierung nach außen, indem »Erfolgszahlen« veröffentlicht werden können. Doch entspricht eine solche Operationalisierung der Integrationsarbeit in den Vereinen nicht unbedingt den vor Ort gemachten Erfahrungen. Im Kontakt mit der Zielgruppe der »benachteiligten Jugendlichen« sind Erfolge schlecht messbar, lassen sich nicht einfach an der Anzahl der angebotenen Veranstaltungen oder deren Frequentierung festmachen. Ob ein Betroffener im Hinblick auf seine gefühlte Gemeinschaftszugehörigkeit oder seine Werteakzeptanz besser integriert ist als ohne die Programmmaßnahmen, lässt sich oft nur im direkten Austausch, ja mit absoluter Sicherheit schlechterdings gar nicht feststellen. Auf diese Weise kann dem Mitarbeiter vor Ort eine Aktion als erfolgreich erscheinen, die der bürokratischen Leitung angesichts der nackten Zahlen ineffizient vorkommen muss, und aus solch unterschiedlicher Wahrnehmung entstehen zwangsläufig interne Reibungspunkte. Im Hinblick speziell auf die von der Bundeszentrale des DSB veröffentlichte Meinung zum Thema Integration und Sport möchte ich daher die These vertreten, dass bei der Darstellung der Integrationspotentiale des Sports oftmals weniger die praktische Erfahrung als vielmehr der Wunsch (oder genauer: das Eigeninteresse) Vater des Gedankens war. Als Partner von Politik und Gesellschaft muss der organisierte Sport versuchen, seine eigenen Anliegen in andere Gesellschaftsbereiche, von deren Zuwendung er abhängt, zu übersetzen, sie diesen kompatibel zu machen. Die Behauptung einer integrativen Wirkung des Sports ist dabei ein Mittel unter mehreren. Unstimmigkeiten im gezeichneten Selbstbildnis wären diesbezüglich kontraproduktiv und so verbirgt denn die auf Hochglanz polierte Oberfläche die tiefer liegenden Probleme. Die Integrationspotentiale des Sports werden idealisiert, Programmatik und Praxis treten zwangsläufig auseinander. Dieses Ergebnis ist insofern bemerkenswert, als es der ursprünglichen Intention der DSB-Gründer widerspricht, der gemäß nach 1945 »Ideologisierung und Politisierung des Sports zukünftig überhaupt verhindert werden« (Grupe 1990: 21; Hervorhebung A.G.) sollten. Die auch in der wissenschaftlichen Betrachtung durchaus gängige These, die Entwicklung im Sport sei analog zur allgemeingesellschaftlichen verlaufen, erscheint vor diesem Hintergrund als unterdifferenziert. Im Hinblick auf die Integrationsideologie des DSB möchte ich mich vielmehr der Diagnose von Steffen Bahlke, Franz Bockrath und Elk Franke anschließen, die formulieren: »Kennzeichnend für den Sport … ist demnach, dass er den gesamten Spannungsbogen der vorherrschenden gesellschaftlichen Wertvorstellungen in sich zu vereinigen und insofern umfassende Identifikationsmöglichkeiten anzubieten in der Lage war. Eben aus diesem Grund konnten und können ihm bis heute unterschiedlichste Bedeutungen zugewiesen und Aufgaben übertragen werden, in denen sich – auf Seiten des Sports – nur scheinbar die jeweils eigenen Wertpräferenzen spiegeln« (Bahlke/Bockrath/ Franke 1990: 268).
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Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass in der Öffentlichkeitsdarstellung des DSB Problembereiche, welche aus der Sicht der Sozialwissenschaften mehr oder weniger nahe liegend erscheinen, wenig oder überhaupt keine Beachtung finden. Und doch ist diese Diagnose mit dem Vorbehalt zu versehen, dass sie aus einer ursprünglich rein synchronen Perspektive heraus entstand, d. h. einen zeitlichen Entwicklungsverlauf nicht in den Blick nahm. Zieht man hingegen den Faktor Zeit in Betracht, so deutet sich eine Tendenz an, ohne deren Erwähnung die Untersuchung unvollständig wäre und auf die ich an dieser Stelle deshalb noch kurz eingehen möchte.
2.5 »Sport und Zuwanderung« – ein neuer Weg? Im Dezember des Jahres 2004, also nach Abschluss der ursprünglichen Datenerhebung, beschloss der Bundestag des Deutschen Sportbundes eine neue Grundsatzerklärung mit dem Titel »Sport und Zuwanderung«. Diese ersetzte die aus dem Jahre 1981 stammende Grundsatzerklärung »Sport und ausländische Mitbürger«, die in der Datensammlung der Studie enthalten war. Die ergänzend im Nachhinein vorgenommene Interpretation des neuen Dokuments deutet darauf hin, dass bezüglich der Integrationsvorstellungen des DSB das eine oder andere in Bewegung geraten ist bzw. in Zukunft noch geraten könnte. Die Auswertung des genannten Dokuments erlaubt – obwohl es sich um ein singuläres Datum handelt – hypothetisch gültige und verallgemeinerbare Schlüsse, weil es als Grundsatzerklärung eine repräsentative Funktion im Hinblick auf das gesamte institutionelle Gebilde Deutscher Sportbund zu erfüllen beansprucht. Grundsatzerklärungen werden typischerweise beschlossen von einem zuständigen und legitimierten Gremium, das, mit dem Anspruch der Repräsentation der gesamten Körperschaft auftretend, eine bestimmte Orthodoxie durchzusetzen sucht. Bei ihnen handelt es sich nicht um Thesenpapiere oder Diskussionsvorlagen vorläufigen Charakters, sondern um Fest-Stellungen im wörtlichen Sinne. Als solche »reinigen« sie gewissermaßen das Selbstverständnis der sich erklärenden Gruppierung und bieten durch diese Fixierung zugleich eine Orientierungshilfe für Außenstehende. Dementsprechend ist die neue Grundsatzerklärung des DSB auch an ein außenstehendes Publikum gerichtet und stellt insofern einen Teil von dessen veröffentlichter Meinung dar. Als solchem kommt ihr ein Großteil jener Elemente zu, welche oben23 als typisch für die Veröffentlichungen der Bundesebene dargestellt wurden. Doch finden sich daneben divergierende Momente, die Konturen einer leicht veränderten Struktur erahnen lassen und auf die ich mich in den folgenden Ausführungen konzentrieren werde. Grundlegend standen die Verfasser der neuen Grundsatzerklärung vor dem gleichen Dilemma, das sämtliche Daten der vom DSB veröffentlichten Meinung zum Thema Sport und Integration charakterisiert. Dieses Dilemma lässt sich an der Verwendung des Begriffs »Integrationspotentiale« verdeutlichen. Die hierunter zusammengefassten Möglichkeiten des Sports müssen derart vermittelt werden, dass einerseits deren Verwirklichung als unproblematisch und praktikabel erscheint, andererseits zugleich aber so, dass die Ausschöp-
23
Vgl. 2.1.
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fung derselben nicht »von selbst« stattfinden kann, d. h. ohne Zutun der Kooperationspartner, um deren Unterstützung geworben wird. Verfehlt man eine dieser beiden Anforderungen an die Selbstpräsentation, so erscheinen die eigenen Aktivitäten nicht förderungswürdig und die Folge ist ausbleibende Zuwendung. Nun wird die Rede von den Integrationspotentialen des Sports in der Erklärung eigentümlicherweise nicht durch Konjunktivkonstruktionen (wie etwa: der Sport könnte, vermöchte, wäre in der Lage o.ä.) gerahmt, wie es für die Beschreibung von Möglichem eigentlich angemessen wäre. Stattdessen wählen die Verfasser den Indikativ (der Sport fördert, unterstützt, entwickelt etc.), sodass das Potential zwar einerseits als realistisch, zugleich jedoch andererseits tendenziell als bereits erschöpft erscheinen mag. Letztere Auslegung würde dann die Frage aufwerfen, weshalb man dessen Träger überhaupt unterstützen sollte. Es wird klar, welche Risiken eine verfehlte Sprachverwendung in einer solchen Situation birgt. Der DSB ist angehalten, einen Mittelweg zwischen den genannten Extremen zu finden. Die These, die sich aus der Interpretation des Dokuments ergab, lautet, dass sich in ihm eine andere Schwerpunktsetzung findet als in früheren Veröffentlichungen des DSB; dieser scheint auf einen Strategiewechsel zu setzen. Festmachen kann man das etwa an der Bestimmung von Integration als »dauerhafte gesellschaftliche Aufgabe mit vielen Facetten«24. In zeitlicher wie sozialer Dimension wirkt eine solche Definition entgrenzend. Integration ist nicht nur hier und da, sondern stets gefordert, was ein Verständnis von Integration im Sinne einer bloßen Krisenreaktion von vornherein ausschließt. So verzichtet denn die vorliegende Grundsatzerklärung auf kritische Gegenwartsdiagnosen, wie sie in anderen Dokumenten des DSB anzutreffen sind. Zurückhaltend und eher neutral ist von »Wandlungsprozesse[n] in Deutschland« als Anlass gebendem Hintergrund die Rede. Auch mindert die genannte Integrationsauffassung die Rolle einzelner gesellschaftlicher Akteure, denen jeweils nur ein vergleichbar geringer Part bei der Bewältigung einer derart umfassenden Aufgabe zukommen kann. Dem entspricht die oben angesprochene, zentrale Verwendung des Terminus »Potentiale«, die auf eine sich bescheidende Absicht schließen lässt. Eine weitere Begriffsumschreibung liefert das Schlagwort »Integration als gelebter Alltag«, welches in der Erklärung als Zwischenüberschrift, mithin an herausgehobener Stelle verwendet wird. »Alltag« ordnet Integration in einen Kontext von Normalität ein; es handelt sich nicht um einen Vorgang, der in außergewöhnlichen Zusammenhängen stattfindet, sondern der um den Lebensmittelpunkt der Menschen kreist. Das Partizip »gelebt« fügt dem lediglich insofern eine zusätzliche Sinndimension hinzu, als hier Aktivität und Praktikabilität im Gegensatz zu bloß theoretischer Erörterung ins Spiel kommen. Zudem lässt sich die Verwendung des Begriffs »Alltag« auch dahingehend deuten, dass von Integration im strengen Sinne nur gesprochen werden kann, wenn sie in sämtlichen gewohnten Zusammenhängen der Betroffenen stattfindet. In diesem Sinne lässt sich eine Tendenz dahingehend beobachten, das Integrationsziel recht hoch zu hängen und vor diesem Hintergrund diesbezügliche Maßnahmen – einschließlich der eigenen – zu relativieren. Eine solche Relativierung zeigt sich etwa, wenn vergleichsweise bescheiden der »Dialog zwischen Einheimischen und Migranten« als Effekt der eigenen Aktivitäten deklariert wird, oder auch in der Zurückhaltung, einen über den Bereich des Sports hinausgehenden 24
Dieses Zitat (wie sämtliche Zitate in diesem Abschnitt) entstammt dem Papier »Sport und Zuwanderung. Grundsatzerklärung des Deutschen Sportbundes und seiner Mitgliedsorganisationen«.
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Nutzen des Sportbetriebs für die Gesamtgesellschaft zu behaupten. Anstelle einer pauschalen Gesellschaftskritik werden – ausgehend von der Diagnose, Migranten seien in den Sportvereinen unterrepräsentiert – Probleme bei sich selbst gesucht. So kommt es zu der bemerkenswerten Feststellung, es bedürfe »einer bewussten interkulturellen Sensibilisierung« der in den Sportvereinen tätigen Personen, um bessere Erfolge bei der Integration von Immigranten erzielen zu können. Dementsprechend enthält sich die aktuelle Grundsatzerklärung der Prätention und inszeniert sich eher als Dienstleister denn als Berater der umgebenden Gesellschaft. Zwar wird auf einer »führende[n] Rolle des Sports« insistiert, allerdings könne ein Gelingen nur bei einem gesamtgesellschaftlichen Zusammenspiel gelingen. Die Pointe liegt in einer Feststellung, die manches von dem, wofür in diversen früheren Veröffentlichungen des DSB argumentiert wurde, geradezu konterkariert: »Sport wirkt nicht per se integrativ!« Die genannten Punkte lassen zusammenfassend eine Tendenz deutlich werden, die sich von einem zentralen Topos anderer, älterer DSB-Dokumente zu verabschieden scheint. Wird dort der Sport idealisiert als ein Handlungsfeld, in welchem ethisch-moralische Vorstellungen infolge einer inhärenten Struktur eins zu eins umgesetzt werden und das derart eine Vorbildfunktion zu erfüllen vermag, so stellt die Grundsatzerklärung »Sport und Zuwanderung« den Gesellschaftsbereich Sport mit der Restgesellschaft gleichsam »auf Augenhöhe«: Beide sind mit ähnlich gelagerten Problemen konfrontiert, in beiden bedarf es Anstrengungen, um das Integrationsziel zu erreichen, und beide erfahren auf diesem Weg Rückschläge. Ob die beschriebene Tendenz, über deren Gründe und Ursachen an dieser Stelle aufgrund fehlender Daten lediglich spekuliert werden könnte, sich innerhalb der veröffentlichten Meinung des DSB durchzusetzen vermag, muss die Zukunft zeigen – zumindest wird sie in der analysierten Grundsatzerklärung erkennbar.
3. Theoretische Einordnung des Falles Das wesentliche unter den herausgearbeiteten Strukturmomenten des untersuchten Feldes besteht darin, dass die im Datenmaterial stattfindende Hervorhebung eines vermeintlichen Integrationspotentials des Sports in einem Kontext der Rechtfertigung steht und von diesem geprägt wird. Daher erscheinen die inhaltlichen Aussagen zum Zusammenhang von Sport und Integration verzerrt, oder besser: unterbestimmt, sowie infolge der Aussparung faktischer Probleme gerade auch in praktischer Absicht unterreflektiert. Für die theoretische Einordnung der empirischen Ergebnisse bedeutet dies zunächst, dass von den im untersuchten Feld vorgefundenen Ethnotheorien keine Befruchtung für den komplexen und vielschichtigen soziologischen Theoriediskurs zum Thema Integration zu erwarten ist. Dass die Analyseergebnisse dennoch in einer bestimmten Weise Erkenntnisse zum soziologischen Theoriediskurs beisteuern können, möchte ich in diesem und dem folgenden Abschnitt zu zeigen versuchen. Als ein Stück angewandter oder empirischer Wissenssoziologie analysiert die vorliegende Studie die gesellschaftliche Konstruktion einer spezifischen, sozio-historisch eingrenzbaren Bestimmung von Wirklichkeit innerhalb eines festgelegten Untersuchungsfeldes. Den wesentlichen Bezugsrahmen der theoretischen Einordnung des Falles bietet der
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wissenssoziologische Ansatz von Peter L. Berger und Thomas Luckmann, welche die Konstruktion von Wirklichkeit als einen grundlegend sozialen Vorgang betrachten. Ihr Augenmerk richten sie auf die Alltagswirklichkeit,25 wie auch das in dieser Studie untersuchte empirische Phänomen im Bereich des Alltagswissens angesiedelt ist. Es handelt sich um »Allerweltswissen« über im Sport ablaufende Sozialprozesse. Letztere bilden gewissermaßen die Objekte der untersuchten Wirklichkeitsbestimmung, die – wenn man so möchte – Realität, die beschrieben bzw. konstruiert wird. »Konstruiert« bedeutet dabei in erster Linie, dass diese Phänomene in ihrer Sinnhaftigkeit vom Prozess der Konstruktion abhängen, wie er in sozialen Interaktionen vollzogen wird. Umgekehrt beeinflussen diese Sinndeutungen das soziale Handeln, insofern sie von handelnden Personen »gewusst« werden und deren Aktionen disponieren, ja bestimmen. Als Beobachter von Olympischen Spielen kann ich bspw. »wissen«, dass sich dort die Jugend der Welt zum friedvollen Kräftemessen in einer Atmosphäre interkultureller Verständigung trifft, oder auch, dass es sich bei diesem Ereignis um eine gigantische Werbeveranstaltung der Sportartikelindustrie handelt. Beides sind – in diesem Fall konkurrierende – Konstruktionen ein und derselben Wirklichkeit, wie sie dem Alltagsverstand geläufig sind. Die Wirklichkeitsbestimmung des sozialen Handlungsfeldes Sport durch den DSB bewegt sich nun, wie gesagt, überwiegend in einem Kontext der Legitimation. Legitimierung – so Berger und Luckmann – »läßt sich als ›sekundäre‹ Objektivation von Sinn bezeichnen. Sie produziert eine neue Sinnhaftigkeit, die dazu dient, Bedeutungen, die ungleichartigen Institutionen schon anhaften, zu Sinnhaftigkeit zu integrieren. Die Funktion dieses Vorganges ist, ›primäre‹ Objektivationen, die bereits institutionalisiert sind, objektiv zugänglich und subjektiv ersichtlich zu machen« (Berger/Luckmann 1980: 98 f.). Integration wird damit zum »übliche[n] Motiv für die Legitimatoren« (ebd.: 99). Der empirische Fall DSB weist – folgt man dieser Definition – typische Elemente von Legitimationsphänomenen auf. Innerhalb dieser Organisation kämpften lange Zeit zwei scheinbar unversöhnliche Lager, die sich auf verschiedene Sporttraditionen beriefen und vor ihrem jeweiligen Hintergrund der Institution »Sport« unterschiedliche Sinndeutungen beimaßen. Der organisierte Sport in Deutschland war so betrachtet »ungleichartig«. In jüngerer Zeit setzte sich dann eine der beiden Traditionen durch und mit ihr bestimmte Normvorstellungen, welche die Umdeutung des Sports zum gesellschaftlichen Integrationsfaktor ermöglichten. In dieser Neuauslegung besteht die neue Sinnhaftigkeit, die sekundäre Sinnobjektivation im untersuchten Feld, die der Institution Sport bereits vordem »anhaftete«. Gemäß der Theorie von Berger und Luckmann kann eine Wirklichkeitsbestimmung ferner als Ideologie eingestuft werden, sofern »sich ein konkretes Machtinteresse mit ihr verbindet« (ebd.: 132). Dies ist bezüglich derjenigen des DSB der Fall, der als Massenorganisation einen nicht zu unterschätzenden gesellschaftspolitischen Einfluss ausübt, den es zu wahren und mehren gilt. Diverse, wissenschaftliche wie nichtwissenschaftliche, Veröffent-
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Diese – bereits im Werk von Luckmanns Lehrer Alfred Schütz (vgl. Schütz 1971) angelegte – Verschiebung des wissenssoziologischen Interesses weg von einer vornehmlich als Ideengeschichte verstandenen Wissenssoziologie markiert die Ausweitung der Wissenssoziologie zu einer allgemeinen Sozialtheorie: »Allerweltswissen, nicht ›Ideen‹ gebührt das Hauptinteresse der Wissenssoziologie, denn dieses ›Wissen‹ eben bildet die Bedeutungs- und Sinnstruktur, ohne die es keine menschliche Gesellschaft gäbe« (Berger/Luckmann 1980: 16).
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lichungen befassen sich mit der Interessenpolitik dieses Sportverbandes.26 Eine Formulierung Ilja Srubars (1997) aufgreifend kann man konstatieren, dass es sich bei der Welt des (organisierten) Sports keineswegs um einen »harmlosen Ort« handelt.27 Die vom DSB vertretene Ideologie bzw. deren verschiedene Doktrinen dienen (in toto) dem Zweck der Legitimation des eigenen Machtinteresses, welches v. a. durch die Strategien der Mitgliederwerbung, der Akquirierung von Geldern der Öffentlichen Hand sowie der Kooperation mit so genannten »Netzwerkpartnern« durchgesetzt werden soll. Übergeordnet ist hierbei die Grundidee, die eigenen Aktivitäten durch den Hinweis auf deren vermeintlichen Nutzen für eine übergeordnete Instanz als unterstützenswert erscheinen zu lassen – ein nach Lemberg (1971: 182) für die Außendarstellung von Ideologien typisches Merkmal. Eine derartige Strategie setzt nun einen, mehr oder weniger umfassenden, Wertekonsens mit der umgebenden Gesellschaft voraus, der gegenüber legitimiert wird. Dieser Umstand allein macht bereits klar, dass es sich bei der Wirklichkeitskonstruktion des DSB um keine Subsinnwelt im Sinne von Berger und Luckmann handelt, wie sie sich dadurch auszeichnet, dass ihr die Tendenz zur hermetischen Sinnschließung innewohnt. Umgekehrt ist es auch keine symbolische Sinnwelt, die »als Matrix aller gesellschaftlich objektivierten und subjektiv wirklichen Sinnhaftigkeit zu verstehen« ist (Berger/Luckmann 1980: 103; Hervorhebung im Orig.), d. h. die gesamte Gesellschaftsordnung sowie das gesamte Dasein des Individuums umfasst. Die Ideologie des DSB lässt sich innerhalb der von Berger und Luckmann erarbeiteten Skala von Legitimationsebenen eine Stufe tiefer verorten, als eine jener »explizite[n] Legitimationstheorien, die einen institutionalen Ausschnitt an Hand eines differenzierten Wissensbestandes rechtfertigen« (ebd.: 101). Eine besondere Eigentümlichkeit solch spezialisierter Legitimationstheorien, die auch im untersuchten Fall vorliegt, ist deren Eigendynamik. Ist die Theorie, die ursprünglich als Antwort auf bestimmte Probleme ins Leben gerufen wurde, erst einmal da, so beginnt sie schon bald, »über die Verwendbarkeit für die Praxis hinauszugreifen« (ebd.: 102), d. h. sie erfindet praktische Probleme, wo im Grunde gar keine gegeben sind. Eine solche Tendenz wohnt diversen DSB-Veröffentlichungen inne, in denen der gesellschaftliche Bedarf an den Segnungen des Sports vor dem Hintergrund kritischer Zeitdiagnosen als auffallend hoch dargestellt wird.
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Empfehlenswert v. a. die bereits erwähnte Studie von Schröder (1989). Damit ist selbstverständlich nicht behauptet, dass es sich beim DSB ausschließlich oder hauptsächlich um eine zum Zwecke gesellschaftspolitischer Machtausübung gegründete Organisation handelt. Allerdings stellt das Moment einer solchen Einflussnahme einen für den Untersuchungskontext wesentlichen Aspekt derselben dar.
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4. Theoretische Probleme So weit kann der untersuchte Fall adäquat mittels der bergerschen und luckmannschen Konzeption theoretisch abgebildet werden. Doch lässt sich auch eine bedeutende Inkongruenz feststellen: Bei der Anwendung auf das empirische Feld wird eine Besonderheit des Ansatzes von Berger und Luckmann deutlich. Sprechen die beiden Autoren von Legitimation, so haben sie »die Frage der subjektiven Einsichtigkeit« (ebd.: 99) im Blick, d. h. die »horizontale« wie »vertikale« Integration der »an verschiedenen institutionellen Prozessen Beteiligten« (ebd.). Diese Ausrichtung bringt für das vorliegende Untersuchungsfeld ein Problem mit sich. Sie bedeutet eine thematische Engführung, welche die Breite des untersuchten Falles nicht zur Gänze zu fassen vermag. So heißt es in der Gesellschaftlichen Konstruktion: »Das Problem der Legitimation entsteht unweigerlich erst dann, wenn die Vergegenständlichung einer … institutionalen Ordnung einer neuen Generation vermittelt werden muß« (ebd.: 99 f.). Im wissenssoziologischen Theorieaufbau Bergers und Luckmanns taucht die Legitimationsproblematik modellhaft am Übergang von dyadischer zu triadischer Sozialbeziehung auf: Gilt eine bestimmte Form sozialer Praxis zwischen denjenigen, welche sie ins Leben gerufen haben, als wechselseitig anerkannt und damit legitim, so ist diese reziproke Anerkennung im Hinblick auf eine dritte, hinzukommende Person, welche am Prozess der ursprünglichen Habitualisierung nicht beteiligt war, erst noch zustande zu bringen. Bezeichnenderweise wählen Berger und Luckmann das Kind als paradigmatischen Typus eines solchen Dritten, d. h. sie ordnen die Thematik in den Zusammenhang intrakultureller Generationenbeziehungen ein. Speziell mit Rücksicht auf den untersuchten empirischen Fall könnte man demgegenüber fragen, wie es um den Typus des Fremden, also bspw. des Migranten bestellt ist?28 Doch liegt darin nicht dasjenige Versäumnis, auf welches ich spezifisch im Hinblick auf das vorliegende Phänomen hinweisen möchte: Wie steht es um solche Fälle, in denen sich eine Institution gegenüber Außenstehenden, an der institutionalisierten Praxis nicht Teilhabenden zu legitimieren sucht, also z. B. die politische Partei, die um Wählerstimmen buhlt, die karitative Einrichtung, die um Spendengelder wirbt, oder eben der DSB, der sich um finanzielle Unterstützung des Bundes bemüht? Derartige Fälle besitzen in der Theorie von Berger und Luckmann keinen systematischen Ort. Die Legitimationsfrage wird in deren Werk ausschließlich thematisiert im Hinblick auf Individuen, die an einer Institution beteiligt sind bzw. werden sollen. Hingegen wirbt der DSB nicht bloß um neue Mitglieder für seine Vereine, sondern auch um Kooperation und finanzielle Zuwendung seitens anderer gesellschaftlicher oder politischer Organisationen. Neben das Ziel, die Institution Sport den Sporttreibenden selbst »subjektiv einsichtig« zu machen, tritt derart dasjenige der Zustimmung und Unterstützung von außen. Integration mag vielleicht das übliche, nicht jedoch das ausschließliche Motiv von Legitimatoren sein. Wie der hier untersuchte Fall zeigt, gerät der Theorie von Berger und Luckmann eine Reihe empirischer Phänomene aus dem Blick. Der Grund mag im Argumentationsaufbau liegen, in dessen Verlauf in anthropologisierender Absicht der Genese institutionaler Ord28
Man prüfe versuchsweise das jeweilige Vorgehen auf den von Berger und Luckmann ausdifferenzierten Legitimationsebenen (1980: 100 ff.) dahingehend, ob es dem Typus des Fremden gegenüber praktikabel erscheint. Zumindest auf den ersten beiden Stufen wird man auf erhebliche Probleme stoßen.
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nungen überhaupt nachgespürt wird. Das geschieht stets vor dem Hintergrund der dialektischen Beziehung zwischen Mensch und Gesellschaft, wobei die Trias von Externalisierung, Objektivation und Internalisierung (vgl. ebd.: 65) als zentral angenommen wird. Doch scheint die letzte Stufe auf eine Person, die sich einer Institution gegenüber zwar zu verhalten hat (etwa als Geldgeber), an deren Praxis jedoch nicht selbst teilhat, nicht zwangsläufig anwendbar zu sein. Einer solchen Person gegenüber eine institutionelle Ordnung zu rechtfertigen, kann nicht bedeuten, die vermeintlich zerbrochene »Einheit von Lebenslauf und Geschichte« (ebd.: 100) wieder zu kitten – eine Einheit, die weder jemals bestanden hat noch angestrebt wird. Es ist hier nicht der Raum, das mit dem Gesagten aufgeworfene theoretische Problem eingehend zu erörtern. Fraglich im Hinblick auf die Theorie Bergers und Luckmanns bleibt, ob die zu konstatierende thematische Engführung auf tiefer liegende Voraussetzungen verweist. Wenn die beiden Autoren schreiben: »[M]an weicht eher von Programmen ab, die einem andere aufgestellt haben, als von solchen, an deren Aufstellung man selbst beteiligt war« (ebd.: 66), so leuchtet dies nur unter bestimmten, historisch kontingenten Prämissen ein, die es auszuführen gälte. Innerhalb des Rahmens einer anthropologischen Herleitung der sozialen Bedeutung von Institutionen erscheint die Aussage jedenfalls durchaus fragwürdig. Eine zweite theoretische Problematik ergibt sich aus der empirischen Studie hinsichtlich der wissenssoziologischen Forschungsmethode, wie sie paradigmatisch von Karl Mannheim formuliert wurde. Bekanntlich unterteilte dieser (Mannheim 1995: 229) die Wissenssoziologie in Theorie auf der einen und historisch-soziologische Forschungsmethode auf der anderen Seite.29 Er sah die »Grundaufgabe der wissenssoziologischen Forschung … im Fixieren jener Standorte, die in der Denkgeschichte allmählich entstehen und stets in Abwandlung begriffen sind« (ebd.: 263). Sieht man vom Begriff der »Denkgeschichte« ab, der
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Mannheim selbst unterscheidet hinsichtlich des theoretischen Teils der Wissenssoziologie noch einmal zwischen einer Lehre, die bloße Tatsachen feststellt, und einer solchen, die erkenntnistheoretische Fragestellungen behandelt. Er vertritt die Auffassung, man könne jene sehr wohl ohne diese betreiben. An diesem Punkt besteht ein wesentlicher Unterschied zu dem jüngeren wissenssoziologischen Theorieansatz von Berger und Luckmann. Nach deren Ansicht dürfen die beiden theoretischen Teile der Wissenssoziologie nicht bloß getrennt betrieben werden, sondern müssen dies sogar. Genauer: Sie gliedern den von Mannheim intendierten epistemologischen Teil konsequent aus einer als Wirklichkeitswissenschaft verstandenen Soziologie aus: »Wenn man erkenntnistheoretische Erwägungen über den Wert soziologischer Erkenntnisse in die Wissenssoziologie miteinbezieht, so ist das, als wenn man einen Bus schieben will, in dem man fährt« (Berger/Luckmann 1980: 14). Für den vorliegenden Text kann festgehalten werden, dass die Geltung der dargestellten empirischen Betrachtungen zwar von gewissen theoretischen Grundüberlegungen zur sozialen Konstitution von Wissen abhängt, nicht jedoch von einer bestimmten Haltung zur Problematik der Erkenntnistheorie. Am Rande sei bemerkt, dass das gegen Mannheim gerichtete Argument Bergers und Luckmanns selbst wissenssoziologisch einzuordnen ist, insofern es die arbeitsteilige Ausdifferenzierung der akademischen Wissenschaften reflektiert. Die Metaphorik wäre vor diesem Hintergrund zu verbessern: Die Einbeziehung epistemologischer Betrachtungen in die wissenssoziologische Arbeit kommt weniger dem Schieben des Busses gleich, in welchem man zeitgleich sitzt, denn vielmehr der vorgängigen, eigenhändigen Planierung der Straße, auf der man anschließend zu fahren gedenkt – ein in Entwicklungsländern nicht unübliches Verfahren. Der Streit gälte so gesehen der Frage, ob es sich bei der (Wissens-)Soziologie um ein »Entwicklungsland« handelt, und hierauf können zu verschiedenen Zeiten durchaus verschiedene Antworten gegeben werden.
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einem mittlerweile überholten, oder besser: eingeholten, Verständnis entstammt,30 gilt der Kerngehalt der Aussage doch nach wie vor: Wissenssoziologische Forschung dreht sich wesentlich um das Aufdecken von Verbindungen zwischen einem konkreten Wissensphänomen und dessen sozialem Ort; sie beschäftigt sich mit sozialen Bedingungen sowohl der Genesis als auch der Geltung von Wissen. In einer solchen Funktionalisierung von Wissen auf ein außerhalb Liegendes besteht das Spezifikum einer soziologischen im Gegensatz zu einer ideologischen, der inhärenten Logik folgenden Interpretation von Wissensphänomenen (vgl. Mannheim 1964). Für den vorliegenden Fall bedeutet das bspw., dass die Wirklichkeitskonzeption des DSB nicht auf ihre innere Stimmigkeit, sondern auf sozio-historische Bedingungen ihrer Entstehung und Geltung hin untersucht wird. Besagtes »Fixieren« geschieht nach Mannheim mittels der Methode der Zurechnung, die in sinngemäße und Faktizitätszurechnung zerfällt. Jene »rekonstruiert Denkstileinheiten und Aspektstrukturen«, diese »besteht … darin, daß man die in sinngemäßer Zurechnung gebildeten Idealtypen als … Forschungshypothese nimmt, um sie dann daraufhin zu befragen, inwieweit … [sie] in der Tat gedacht« wurden (Mannheim 1995: 264). Eine soziologische Zurechnung findet schließlich statt, indem die herausgearbeitete Grundstruktur und Entwicklungstendenz erklärt wird aus der Zusammensetzung der Trägergruppe sowie aus der Strukturproblematik des diese umgebenden sozialen Raumes. Mit einem Blick auf die der Auswertung zugrunde liegenden Daten könnte man nun zu der Ansicht gelangen, dass eine Faktizitätszurechnung im Sinne Mannheims im vorliegenden Fall unmöglich ist. Die Datenlage scheint keine verlässliche Aussage darüber zu erlauben, ob die mit ihrer Hilfe idealtypisch gewonnene Wirklichkeitskonstruktion von den Mitgliedern der in Frage stehenden Organisation tatsächlich so vollzogen wird. Entsprechend würden die empirischen Ergebnisse in dem von Mannheim benannten hypothetischen Status verbleiben. Nach meinem Dafürhalten griffe eine solche Diagnose jedoch zu kurz. Zwar kommt den Resultaten in einem prinzipiell falsifikationistischen Wissenschaftsverständnis tatsächlich »nur« der Status von Hypothesen zu, doch gestaltet sich das Problem anders, als von Mannheim beschrieben. Dessen Trennung zwischen sinngemäßer und Faktizitätszurechnung ist m. E. nicht so klar, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mag. Eine verstehende Rekonstruktion eines Denkphänomens – die sinngemäße Zurechnung in den Worten Mannheims – bezieht sich notgedrungen auf vorhandenes Datenmaterial, auf Lebensäußerungen oder Ausdrucksgestalten der untersuchten Gruppe, der man nicht einfach »in die Köpfe« schauen kann. Um einer Interpretation zugeführt werden zu können, müssen solche Daten in irgendeiner Form fixiert und damit »reell« sein, mithin ist Faktizität bereits im Prozess der Sinnrekonstruktion unweigerlich gegeben. Damit stellt sich jedoch die Frage, was Mannheim meint, wenn er von einer »geistigen Ebene« spricht, die er in Differenz zum »tatsächlichen Verlauf« sieht (vgl. ebd.)? Wie sollte der Sozialforscher zu einer solchen Zugang gewinnen, wenn nicht über historische Daten, sprich Fakten? Diese Beobachtung hebelt selbstverständlich nicht die Problematik aus, die Mannheim unter dem Stichwort »Faktizitätszurechnung« behandelt, allerdings stellt sie sich anders dar, als von Mannheim präsentiert. In dem von ihm angeführten Beispiel der Zurechnung
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Vgl. Fußnote 25.
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politischer Denkstile habe der Forscher etwa zu fragen, ob »Konservative und Liberale in diesem Sinne in der Tat gedacht haben« (ebd.), und »in diesem Sinne« kann nur heißen: so, wie es die untersuchten historischen Daten belegen. Doch wie sollte der Forscher die Frage beantworten, ohne erneut auf Daten Rückgriff zu nehmen? Somit droht man in einen circulus vitiosus zu geraten, denn dann stellt sich das Problem der Faktizitätszurechnung erneut.31 Auch bleibt offen, auf welcher Grundlage der Forscher eine Entscheidung treffen könnte für den Fall, dass das eine Datum eine andere Sprache spricht als das andere? Nehmen wir an, ein historisch interessierter Wissenssoziologe der Zukunft würde versuchen zu erforschen, wie deutsche Sozialdemokraten zu Beginn des 21. Jahrhunderts »gedacht« haben, und er würde die Agenda 2010 als Datengrundlage wählen. Mit gutem Grund würde man ihm bestreiten können, dass dieses Papier für die gesamte Sozialdemokratie dieser Zeit steht, vielleicht noch nicht einmal für ihre Mehrheit. Doch läge das Problem des Forschers wirklich in einer mangelnden Faktizitätszurechnung des rekonstruierten Denkstils? Im Unterschied zu Mannheim bin ich der Meinung, dass es genau genommen weniger auf eine Faktizitätszurechnung des erarbeiteten Idealtypus als vielmehr auf eine Validitätsprüfung der analysierten Daten ankommt. Welche Schlüsse lässt das Datenmaterial tatsächlich zu und v. a. auch: über wen? Als empirisch Forschender muss ich soziale Ausdrucksphänomene zunächst einmal als authentische Äußerungen jener Trägergruppen nehmen, welche sie in der Realität hervorgebracht haben – es sei denn, ich habe Grund dies zu bezweifeln. Als Urheber darf ich allerdings vorderhand nur diejenigen betrachten, welche an der Entstehung tatsächlich beteiligt waren, und nicht gleich all jene, für die zu sprechen möglicherweise proklamiert wird. Dazwischen tritt mit dem Phänomen der Repräsentation ein ganz eigenes soziologisches Problemfeld. Analog stellt sich im vorliegenden Fall die Frage: Vollziehen sämtliche Mitglieder des DSB die in den offiziellen Dokumenten dieser Organisation vorfindbare Wirklichkeitskonstruktion, wie von diesen Dokumenten nahe gelegt? Eine Vernachlässigung dieses allgemeinen Problems hat Melford Spiro dem von ihm so genannten »cultural symbol approach« – vertreten etwa von Clifford Geertz – vorgeworfen (Spiro 1993: 117 ff.). Spiro zielt auf die als Sozialforscher zu vermeidende Konfusion der gesatzten, »von oben« gewünschten oder aufoktroyierten Symbolik einer Kultur mit der tatsächlich gelebten symbolischen Sinnwelt der Masse.32 Diese Gefahr betrifft je-
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Man könnte Mannheims Vorschlag für die wissenssoziologische Forschungsmethodik auch als Antwort auf ein altes wissenschaftstheoretisches Problem lesen: Einen wissenschaftlichen Satz (hier: die Aussage, dass ein bestimmter Denkstil herrscht) begründet man durch Hinweis auf die Erfahrung (hier: Zurechnung von Faktizität). Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hat Jakob F. Fries analoge Positionen als Psychologismus bezeichnet und als die gangbare Alternative zu Dogmatismus und unendlichem Begründungsregress markiert (vgl. Fries 1967; ferner Poppers Kommentar zu Fries in: Popper 1994: 60 ff.). Die dieser Sichtweise zugrunde liegende strikte Trennung zwischen theoretischen und Erfahrungssätzen übersieht jedoch die Kontinuität zwischen beiden, die Albrecht Wellmer überzeugend in seiner Kritik des popperschen Forschungsprogramms herausgearbeitet hat (vgl. Wellmer 1967). Demnach sind sowohl theoretische als auch Beobachtungssätze allgemeiner Natur und unterscheiden sich lediglich im Grad ihrer Allgemeinheit, nicht jedoch sind jene allgemein und diese konkret. Vor dem Hintergrund dieser Einsicht stellt sich das Begründungsproblem in veränderter Form, nämlich in derjenigen einer zirkulären Verweisstruktur (vgl. etwa Habermas 1993). Bereits Karl Marx und Friedrich Engels bemerkten in der Deutschen Ideologie: »Während im gewöhnlichen Leben jeder Shopkeeper sehr wohl zwischen dem zu unterschieden weiß, was jemand zu sein vorgibt, und dem, was er wirklich ist, so ist unsre Geschichtschreibung noch nicht zu dieser trivialen Erkenntnis gekom-
König Fußballs neue Kleider
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doch nicht die Frage der Faktizität eines rekonstruierten Denkstils, sondern die Frage von dessen sozialer Verbreitung. In dieser Hinsicht ist die Aussagekraft der Daten, buchstäblich deren Trag-Weite kritisch zu prüfen.
5. Schluss In einem Märchen der Gebrüder Grimm33 begegnet der Protagonist einer Gruppe von Riesen, welche sich um die Verteilung gemeinsamer Beute streiten und den Vorbeikommenden um Hilfe in ihrer festgefahrenen Situation ersuchen. Dieser löst das Problem, indem er sich die Beutestücke leihweise aushändigen lässt – darunter einen Mantel, der es ihm ermöglicht, eine andere Gestalt anzunehmen. U. a. durch dessen Benutzung gelingt es dem Helden, die zu verteilenden Güter allein für sich zu gewinnen.34 Ähnlich wie der Held in Grimms Märchen versucht auch der DSB, einen gesellschaftlichen Verteilungskampf zu seinen Gunsten zu beeinflussen, indem er seine »wahre« Gestalt verändert.35 Als Tarnmantel dient dabei eine öffentliche Selbstinszenierung, die ihn nach außen als eine der allgemeinen Unterstützung werte Organisation erscheinen und somit einen größeren Anteil bei der Distribution der gesellschaftlichen Güter gewinnen lässt. Eingewoben in den Mantel ist eine Wirklichkeitskonstruktion, die den organisierten Sport als Wohltäter der Gesellschaft und die Praxis des Sports als Heilmittel für eine in sich gespaltene Gesellschaft beschreibt. Die Hervorhebung dieses angeblichen Integrationspotentials steht in einem Kontext der Legitimation, was zur Folge hat, dass die inhaltlichen Aussagen zum Zusammenhang von Sport und Integration den Interessen des DSB angepasst und somit einseitig dargestellt werden sowie zugleich unterdifferenziert wirken. Diese Diagnose gilt grundsätzlich für sämtliche der drei differenzierten Ebenen des untersuchten Feldes, wenn auch im Programm »Integration durch Sport« sowie im Bereich der Landessportverbände ein »abweichender« Einfluss bürokratischer bzw. pragmatischer Orientierungen festgestellt wurde, welcher diese von der Bundesebene und deren gleichsam »reinen« Idealisierungen unterscheidet. Indessen konnte im Hinblick auf die jüngst erschienene Grundsatzerklärung des DSB »Sport und Zuwanderung« eine gegenläufige Tendenz erkannt werden, wie sie sich auch in informellen Gesprächen mit in der praktischen Integrationsarbeit tätigen Mitgliedern dieser Organisation zeigte und die es in künftigen empirischen Erhebungen zu überprüfen gälte: Die Wirklichkeitsdarstellung bezüglich des Zusammenhangs von Integration und Sport erscheint hier differenzierter sowie selbstkritischer, vermutlich in Folge einer von praktischen Problemen ausgelösten Selbstdistanzierung.36 Ob dieser Entwicklungstrend anhalten wird und ob für ihn stärker innere oder äußere Einflüsse
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men. Sie glaubt jeder Epoche aufs Wort, was sie von sich selbst sagt und sich einbildet« (Marx/Engels 1962: 49). »Der König vom goldenen Berg« (Grimm 2004). Ähnliche Motive finden sich bereits in der griechischen (die Tarnkappe des Perseus) wie der nordischen Mythologie (Siegfrieds Tarnkappe). Die Riesen stellen entsprechend die Allegorie der Öffentlichen Hand dar. Im Märchen bedarf es des distanzierten wie interessefreien (wenn man so will: wissenschaftlichen) Blicks des kleinen Jungen um zu erkennen: »Aber der hat ja gar nichts an!«
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verantwortlich zeichnen, sind Fragen, deren Beantwortung an dieser Stelle offen gelassen werden muss.
Fazit: Integration und Desintegration Hans-Georg Soeffner und Sighard Neckel
Die Ergebnisse unserer empirischen Analysen führen zurück zu den theoretischen Überlegungen, die einerseits diese Analysen leiteten und andererseits durch die Empirie überprüft werden sollten. Die Frage nach Integrations- und Konfliktpotentialen in weltanschaulich und ›ethnisch durchmischten‹, pluralistischen Gesellschaften wurde im Verlauf der Studie bald zu der Frage, welches Integrationspotential gerade in der Entstehung, Austragung und im Aushandeln von Konflikten liegt. Für Georg Simmel, den Analytiker ausdifferenzierter, durch zunehmende Anonymität gekennzeichneter, (groß)städtischer Gesellschaften – und mit ihm für uns – gilt, dass Menschen nicht etwa deshalb miteinander kommunizieren, weil sie sich verstehen, sondern weil sie sich nicht verstehen – wobei sie zwar hoffen, aber nicht sicher sein können, dass die Kommunikation erfolgreich sein und man sich am Ende verstehen wird. Ebenso ist auch der Dialog ein Kommunikationsmuster, das, worauf der Ausdruck selbst hinweist, zwei (unterschiedliche) Logiken enthalten kann und – anders als schon die antiken Philosophen es gern gehabt hätten – im Alltag zunächst oft nicht mehr ist als ein Zeichen des Dissenses. Auch die Annahme, dass im Hintergrund jedes Dialoges das Ziel angelegt sei, ein Einverständnis unter den Kommunikationspartnern zu erreichen, wird im Alltag durch Ehestreitigkeiten ebenso praktisch widerlegt wie durch politische Debatten. Ähnliches gilt bei Simmel für den ›Streit‹ und für Konflikte (Simmel 1992e). Sie können, müssen aber nicht im Kompromiss enden. Zwar kann die Furcht vor der eigenen totalen Niederlage die Streitenden zu Kompromiss und Verständigung führen. Ob sich aber eine starke oder sich stark fühlende Partei nicht doch durch die Hoffnung auf einen totalen Sieg zur Kompromisslosigkeit verführen lässt, ist nicht von vornherein ausgemacht. Dagegen gilt für strittige Dialoge ebenso wie für Konflikte, dass sie, anders als die Ruhe des Konsenses, Veränderungen bewirken können und ein hohes gesellschaftliches Innovationspotential aufweisen – auch wenn die Gefahr des Scheiterns der Kommunikation, selbst der wechselseitigen Vernichtung der Interaktionspartner und der ›Nichtregierbarkeit‹ von Gesellschaften ebenfalls zum ›Konfliktpotential‹ zählen. Wie auch immer das Resultat von Konflikten aussieht: Strukturell sind sie grundsätzlich gekennzeichnet durch ›Wechselwirkungen‹, denen die Interaktionspartner und Konfliktparteien ausgesetzt sind. Keine von beiden Seiten ist immer und in allen Belangen allein ›Herr im Haus‹ – wie Hegel und Diderot (Jacques le fataliste et son maître), auf jeweils besonderem Anschauungsniveau, am Beispiel des ›Herr-Knecht-Verhältnisses‹ gezeigt haben. Kurz und ebenso allgemein: Die Analyse gesellschaftlicher Integration und Desintegration ist und muss immer sein die Analyse gesellschaftlicher Wechselwirkungen – strukturell gegebener gesellschaftlicher Relationen und konkreter Interaktionen. Anders ausgedrückt: Individuen, Gruppen, Gemeinschaften, ›Ethnien‹, Nationen und Gesellschaften sind keine Substanzen, deren jeweilige ›Essenz‹ sich erfragen, beschreiben und festschreiben ließe, sondern sich ständig ändernde und Änderungen bewirkende Elemente gesellschaftlicher Relationen und Austauschprozesse.
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Simmels Bild von der »Kreuzung sozialer Kreise« (1992b) veranschaulicht – insbesondere am Beispiel des Individuums, soweit es gesellschaftliches Wesen und Rollenträger ist – wie stark der Einfluss sozialer Wechselwirkungen jedes Element der Gesellschaft prägt. Nicht nur ist das Individuum Teil unterschiedlicher ›sozialer Kreise‹, vielmehr ›schneiden‹ sie sich sogar in ihm. Was später mit der Metapher von der ›partizipativen Identität‹ umschrieben wird, ist für Simmel angelegt in der Grundstruktur sozialer Differenzierung: Ihre Teilhabe an unterschiedlichen sozialen Kreisen zwingt den Individuen nicht lediglich ›äußere‹ Rollen oder Etikettierungen auf, sondern spiegelt sich auch in den Verhältnissen und in der ›inneren Kommunikation‹ wider, durch die sich das Individuum mit sich selbst verständigt, sein Selbstverständnis entwickelt. Was Helmuth Plessner als ›exzentrische Positionalität‹ des Menschen herausgearbeitet hat, brachte Kierkegaard zuvor auf die prägnante Formel, der Mensch sei ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhalte: Das Individuum, sofern es sich an einem gesellschaftlichen ›Außen‹ orientiere, habe »sich selbst außer sich selbst in sich selbst« (Kierkegaard 1956: 56 f.). Es ist nicht zu verkennen, wie sich, bis hin zu George Herbert Meads Identitätstrias von »I, me, self«, der Grundgedanke durchhält, die durch Interaktion entstehende, aufrecht erhaltene und sich permanent verändernde soziale Relationierung sei in allen Formen der ›Gesellung‹ (Simmel) bis hinein in ihr Basiselement, das Individuum, nachweisbar. Wenn dies so ist, geht es bei der Frage um gesellschaftliche Integration oder Desintegration nicht darum, ob Individuen oder andere Gesellungsformationen sich ›in eine Gesellschaft‹ integrieren, sondern darum, ob es ihnen gelingt, die Überschneidung sozialer Kreise und die damit verbundenen Wechselwirkungen in sich selbst und im Austausch mit anderen in eine Balance zu bringen oder zumindest (über)lebensfähig zu gestalten. Jede Gesellschaft muss das Problem des Zusammenspiels von Nähe und Ferne, Vertrautheit und Distanz, ›Eigengruppe‹ und ›Fremdgruppe‹ lösen. Als Binde- und Abstoßungsmittel gleichermaßen fungieren Institutionen (z. B. rechtlicher, religiöser, ökonomischer, politischer Art), Kollektivrituale und Kollektivsymbole, Traditionen und Großerzählungen. Moderne pluralistische, städtische Gesellschaften sind – anders als traditionale Gemeinschaften – gekennzeichnet durch strukturelle Anonymität, also durch eine »Generalisierung der Fremdheit« (Hahn 1994: 162) und zugleich durch Stil-, Symbol-, Ritual-, Glaubens- und Institutionenkonkurrenzen. Das Problem der mehrfachen Zugehörigkeit (Mitgliedschaft) und ebenso des strukturellen Ausgeschlossenseins, das Spannungsverhältnis von Exklusion und Inklusion, werden verlagert auf die Individuen, die ihre Wahl für oder gegen eine Mitgliedschaft auch dann treffen oder bestätigen müssen, wenn sie (zunächst und scheinbar ›natürlich‹) als Mitglied einer Gemeinschaft, Schicht, Religion, ›Ethnie‹ geboren werden. Eine ›natürlich gegebene‹ und gesichert beständige Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gesellungsform (Gemeinschaft, Nachbarschaft, Milieu, Verein, ›Ethnie‹, Nation etc.) wird in modernen Gesellschaften immer unwahrscheinlicher. Gerade weil der ›Zwang zur Häresie‹ (Peter L. Berger 1980) und struktureller Illoyalität in modernen Gesellschaften zunimmt, entsteht der Wunsch der Individuen nach dauerhaft gesicherter, sozialer Einbettung. Hochgradige Individualisierung auf der einen und fundamentalistische Gemeinschaftsentwürfe auf der anderen Seite bilden die Extrempositionen, die sich aus dieser Gesellschaftsstruktur ergeben.
Fazit
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Simmel hat in seiner »Soziologie«, bezeichnenderweise in das Kapitel über die »räumlichen Ordnungen der Gesellschaft«, den berühmten »Exkurs über den Fremden« (Simmel 1992c) eingefügt. Was Simmel 1908 aus der Perspektive des europäischen Juden schrieb, gilt heute tendenziell für jedes Mitglied einer modernen Gesellschaft: zum Fremden innerhalb der ›eigenen‹ Gesellschaft werden zu können/zu müssen und damit zwangsläufig ein distanziertes Verhältnis zu ihr einzunehmen. Dabei ist der Verlust an Einbettung für das Individuum verbunden mit dem Gewinn eines objektiven Blicks auf die eigene Gesellschaft. Gleichzeitig konstatiert Simmel, dass der Fremde nicht allein durch die Distanz zu einer Gesellschaft charakterisiert ist, sondern durch jene »Einheit zwischen Nähe und Entferntheit, die jegliches Verhältnis zwischen Menschen enthält«. Es ist eine Einheit, die beim Fremden zu einer »am kürzesten so zu formulierenden Konstellation gelangt: die Distanz innerhalb des Verhältnisses bedeutet, dass der Nahe fern ist, das Fremdsein aber, dass der Ferne nah ist. Denn das Fremdsein ist natürlich eine ganz positive Beziehung, eine besondere Wechselwirkungsform« (ebd.: 765). Der Fremde, nicht als der »Wandernde, der heute kommt und morgen geht, sondern als der, der heute kommt und morgen bleibt« (ebd.: 764), wird auch dann ein Element der jeweiligen Gesellschaft, wenn er sich nicht (vollständig) assimiliert: Fremde sind, auch wenn sie wie Arme, Verbrecher oder ›innere Feinde‹ als Außenseiter empfunden und etikettiert werden können, Elemente und Mitglieder dieser Gesellschaft, obwohl diese Zugehörigkeit und strukturelle Inklusion grundsätzlich zugleich auch ein »Außerhalb und Gegenüber einschließt« (ebd.: 765). Auch Alfred Schütz stellt in seinem Aufsatz »Der Fremde« (1972a) fest, dass der Fremde, indem er zwangsläufig zwei Relevanzstrukturen, die eigenen und die der ›Aufnahmegesellschaft‹ miteinander konfrontiert, jemand sei, der einerseits durch eben diese Konfrontation fast alles, was den Mitgliedern der für ihn neuen sozialen Welt, der er sich nähert, als selbstverständlich und fraglos gegeben zu sein scheint, in Frage stelle. Andererseits zeigt die Wirkung, die er durch diese Haltung erzielt, dass er nicht nur mit, sondern auch in dieser sozialen Welt agiert: dass er also als ihr ›Außerhalb‹ und ›Gegenüber‹, zugleich aber auch als ihr (nicht assimiliertes) Element verstanden werden muss. Zwangsläufig führt dieses Spannungsverhältnis zur Steigerung und Intensivierung jenes Kampfes um Anerkennung, der menschliches Zusammenleben immer schon mitprägt. Eine der Strategien dieses Kampfes besteht darin, das alltagsweltlich fundierte Potential an wechselseitigen Typisierungen, Etikettierungen und Stereotypisierungen, ohne die ebenfalls keine menschliche Gesellungsform auskommt, für die Herabsetzung vermeintlicher oder tatsächlicher Gegner und gleichzeitig für die Überhöhung der eigenen Lebensform zu instrumentalisieren. Auch hier lässt sich die Wechselwirkung von gegenseitiger Zugehörigkeits- oder Fremdheitszuschreibung, von Negativ- und Positivklassifikationen gut beobachten. Anders ausgedrückt: Was aus der Teilnehmerperspektive als Kampfgeschehen und Dauerkonflikt zwischen unterschiedlichen sozialen Kreisen gesehen wird, erscheint dem (soziologischen) Außenbeobachter als ein – insbesondere für moderne, pluralistische Gesellschaften bezeichnender – ›Mechanismus‹ gesellschaftlicher Interaktion. Durch ihn ergibt sich die Chance, dass durch die wechselseitigen Abgrenzungsprozesse wegen der in ihnen wirksamen, reziproken Bezugnahme der kämpfenden Parteien aufeinander so etwas entsteht wie ›konfliktvermittelte Integration‹. Es ist eine Integration, in der die Gegensätze
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zwischen den Streitenden nicht verschwinden, ja nicht einmal ›vermittelt‹ oder ›aufgehoben‹ werden müssen, sondern weiter bestehen können, sofern, wie bei der Auseinandersetzung zwischen ethnischen und einheimischen (autochthonen) Sportvereinen, ein Regelsystem vorliegt oder entwickelt wird, auf das man sich konsensuell einlässt und mit dessen Hilfe aktuelle Konflikte gelöst werden können. Luhmanns Formel vom »Konsens durch Verfahren« findet hier ihren konkreten Anwendungsbereich, weil sie den Prozess des interaktiven Aushandelns von Regeln und Verfahren als eine Form gesellschaftlichen Zusammenlebens erkennen lässt, in der ein Dissens über Normen, Werte, Lebensstile weiter bestehen kann, ohne dass eine Gesellschaft auseinanderbricht. Ein Blick auf die Hintergrundstruktur moderner demokratischer Verfassungen zeigt, dass diese Formel in ihnen bereits weitgehend umgesetzt wird. Aber selbst der – für die »Weltgesellschaft« vielleicht typische – Fall, in dem nicht einmal ein Konsens durch Verfahren erzielt werden kann, weil kein Konsens über Verfahren erreichbar ist, lässt nicht unbedingt das Schreckgespenst Durkheims, gesellschaftliche Anomie, entstehen. So groß hier diese Gefahr auch ist, auch gegen sie haben moderne Gesellschaften etwas entwickelt, das Normen-, Werte-, Regel- und Verfahrenskonflikte verhandelbar macht: die Schaffung von Arenen (Anselm Strauss). Sie sind Orte, an denen das, was eine Gesellschaft oder mehrere der in ihr vorhandenen sozialen Welten für relevant, streit- und entscheidungsbedürftig halten, ausgetragen wird.1 Natürlich gibt es kleinere und größere Arenen: Familien- oder Gruppendarbietungen, Provinzbühnen und zentrale Schauplätze, Bolzplätze und zentrale Stadien, lokale Sendestationen oder nationale und weltweite Inszenierungen, nationale und internationale Parlamente. Sie alle sind jedoch gekennzeichnet einerseits durch sektorenübergreifende Problemsituationen, Macht-, Positions-, Status- und Anerkennungskämpfe, Meinungs-, Glaubensund Normendifferenzen etc., andererseits durch die in den Arenen ›zugelassenen‹ und ›erprobten‹ Kampfweisen: durch Taktieren, Manövrieren, Täuschen, Überreden, Angreifen und Verteidigen im Dienste eines erwarteten, erwartbaren oder erhofften Sieges, der damit verbundenen Niederlage der Gegner, der Furcht vor der eigenen Niederlage oder des Erreichens eines ›ehrenvollen‹ Unentschiedens. Auch hier gilt, dass die in den Arenen Streitenden den Eindruck haben können, sie bewegten sich in Chaos und Anomie. Strukturell gesehen bieten Arenen dagegen den Rahmen für nicht enden wollende Auseinandersetzungen, die – und das ist entscheidend – die Gegensätze aufeinander wirken lassen, ohne dass es schon zu Krieg und Zerstörung kommt. Für moderne Gesellschaften gilt also, dass in ihnen jedes einzelne ihrer Mitglieder die Chance hat, irgendwann einmal im Zentrum einer sozialen Welt zu stehen, oder aber sich »mittendrin im Abseits« wiederzufinden. Gesellschaftliche Wesen bleiben sie dennoch, selbst wenn sich ihre sozialen ›Bindungen‹ in leere und damit nicht mehr lebenswerte Relationen auflösen.
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Vgl. hierzu und zu den folgenden Ausführungen Soeffner 1991: 9.
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Autorenverzeichnis
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Sighard Neckel, Prof. Dr., geb. 1956. Professor für Allgemeine Soziologie und Analyse der Gegenwartsgesellschaft an der Universität Wien und Mitglied der Leitung des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt am Main.
Hans-Georg Soeffner, Prof. Dr., geb. 1939. Professor em. für Allgemeine Soziologie an der Universität Konstanz und Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS).
Ferdinand Sutterlüty, Prof. Dr., geb. 1962. Professor für Soziologie an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen, Abteilung Paderborn, und Mitglied der Leitung des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt am Main.
Ina Walter, Mitarbeiterin am Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main.
Dariuš Zifonun, Dr., geb. 1968. Permanent Fellow am Kulturwissenschaftlichen Institut (KWI) Essen und Dozent am Institut für Soziologie der TU Berlin.