KLEINE
B I B L I O T H E K
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NÄTUR-UND
KULT U R K U N D L I C H E
HEFTE
HANS HARTMANN
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KLEINE
B I B L I O T H E K
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NÄTUR-UND
KULT U R K U N D L I C H E
HEFTE
HANS HARTMANN
MAX VON LAUE ATOME W E R D E N SICHTBAR
VERLAG
SEBASTIAN
LUX
MURNAU•MÜNCHEN•INNSBRUCK•BASEL
Mitten wir im Leben . . . A.vus ... Berlin . . . in aller "Welt bekannt als die Stätte großer Rennen. Rausch des Rasens, Sinnbild des Tempos unserer Z e i t . . . Höchstes Entzücken der Zuschauer, wenn alles gut geht, Entsetzen, •wenn der lauernde Tod sich ein Opfer g r e i f t . . . Am 9. April 1960 lesen die Berliner, und bald darauf die Menschen in allen Kulturländern der Erde in den Zeitungen: „Achtzigjähriger Atomforscher gestern auf der Avus verunglückt. Der Tod streifte Max von Laue: Der achtzig Jahre alte Physiker und Nobelpreisträger Max von Laue ist bei einem Unglück auf der Berliner Avus schwer verletzt worden. Auf der regennassen Straße prallte er mit seinem selbst gesteuerten Wagen mit einem Motorradfahrer zusammen. Der Motorradfahrer wurde getötet. Von Laue mußte mit schweren Kopfverletzungen ins Krankenhaus Wannsee eingeliefert werden."
Wie jeden Morgen war Max von Laue über die Avus zu seiner Arbeitsstätte, dem Atomreaktor in Wannsee, gefahren. Auch an jenem 8. April hatte der Gelehrte auf den Chauffeur verzichtet und laß selbst am Lenkrad seines schweren Wagens. Zweihundertfünfzig Meter vor der Avus-Ausfahrt Nikolassee, am Kilometerstein 8,5, geschah das Unglück. Beide Fahrzeuge gerieten von der Fahrbahn und stürzten eine drei Meter hohe Böschung hinab. Der Wagen des Nobelpreisträgers, den seine Freunde seit Jahrzehnten als einen erfahrenen und gewissenhaften Sportsmann kannten, überschlug sich mehrmals und blieb schließlich an einem Baum 2
liegen. Wie es zu dem Zusammenstoß gekommen war, konnte die Polizei nicht klären. Ein einziger Zeuge hatte den Unfall von fern beobachtet, aber auch er konnte nur aussagen: „Ich sah plötzlich eine große Staubwolke — dann waren beide Fahrzeuge von der Straße verschwunden." Mehrere Tage herrschte Schweigen um den Schwerverletzten, der bewußtlos in der Klinik lag. Tausende in Berlin und in aller Welt bangten um sein Leben. Professor Dr. Max von Laue erlag am 24. April 1960 im Krankenhaus Wannsee seinen Verletzungen. Der Gelehrte entschlief, wie die Traueranzeige kundgab, im festen Vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit. Von Laue gehörte zusammen mit Einstein, Röntgen, Planck und Bohr zu den Wegbereitern der modernen Atomphysik. Er hatte im Jahre 1912 das Verfahren entdeckt, wie die jedem Menschenauge verschlossenen Atome im Innern fester Stoffe auf indirektem Wege sichtbar und in ihrer Anordnung erkennbar gemacht werden können. Tragisch endete dieses reiche Leben. Nicht wenige dachten, als sie von den Todesumständen erfuhren, an das ebenso tragische Ende eines anderen Nobelpreisträgers der Physik, an das Ende Pierre Curies, der mit seiner Frau, Marie Curie, das Radium entdeckt hatte. Pierre Curie war am 19. April 1906, während er sich noch mit großen Plänen befaßte, in Paris von einem Pferdefuhrwerk überfahren und getötet worden. Solange Menschen Physik treiben, werden sie diese beiden schmerzlichen und sich so ähnlichen Todesfälle nicht vergessen. Als Pierre Curie starb, stand er kurz vor Vollendung seines 47. Lebensjahres; Max von Laue hatte wenige Monate vor seinem Unfall unter größter Anteilnahme seinen 80. Geburtstag feiern dürfen, aber auch er war, wie Curie, noch unermüdlich in seiner Arbeit und bei neuen Plänen, als der Tod ihn rief. Die Leitung des Fritz-HaberInstituts für Physikalische Chemie und Elektrochemie in BerlinDahlem, eines der vierzig Institute der Max-Planck-Gesellschaft, hatte Max von Laue zwar nach achtjähriger, hingebungsvoller Tätigkeit aufgegeben, aber seine Kraft hatte er dem neu gegründeten Hahn-Meitner-Institut in Berlin-Wannsee zur Verfügung gestellt. Man wartete auf seine Gegenwart bei der Lindauer Nobelpreis3
träger-Tagung, die er fast jedes Jahr besuchte und wo er sich durch seine Vorträge und Diskussionsbeiträge der gleichen Beliebtheit erfreute wie in anderen physikalischen und kulturellen Verbänden. Sein umfassendes Wissen, der große Ernst, mit dem er alle Probleme, nicht nur die physikalischen, anpackte und voreilige, nicht sicher fundierte Schlüsse ablehnte, waren gepaart mit einem feinen, stillen Humor, der ihn schon von früher Jugend an ausgezeichnet hatte.
Eindrücke der Jugend entscheiden Diese humorvolle Art durchzieht auch Max von Laues kleine Selbstbiographie. Immer wieder lugt da der Schalk hervor, manchmal kaum spürbar, aber doch so, daß wir ein Lächeln nicht unterdrücken können. Einsichtige Leute, so beginnt er da, müßten wohl früh erkannt haben, daß er zum Büchermenschen ausersehen sei. Jedenfalls schenkte ihm, als er eben lesen konnte, sein Großvater Theodor Zerrenner, der ihn sehr lieb hatte, zu Weihnachten die dickleibige, zehn Bände umfassende Ausgabe von Brehms Tierleben. Noch im hohen Alter erinnerte er sich, die schönen Bilder oft durchblättert und so schon früh eine lebendige Anschauung von den hauptsächlichen Tierarten gewonnen zu haben. Aber es entstand daraus noch keine besondere Neigung zum Studium der Biologie. Vielmehr gab es schon in seiner frühen Jugend von Zeit zu Zeit kleine Ereignisse, die ihn gleichsam zwangsläufig oder magisch, wie man es nennen will, auf das Studium der Physik und der Mathematik hindrängten. Max von Laue, der am 9. Oktober 1879 in Koblenz-Pfaffendorf geboren wurde, zog schon früh mit den Eltern nach Posen und im Jahre 1891 nach Berlin. Der Zwölfjährige kam dort ins Wilhelmsgymnasium und hörte in einem Zusammenhang, an den er sich später nicht mehr erinnerte, daß man aus Kupfersulfatlösungen mit Hilfe des elektrischen Stromes Kupfer abscheiden könne. Während die meisten anderen Schüler die Tatsache ziemlich gleichgültig aufnahmen, muß diese allererste Berührung mit der Physik auf von Laue einen gewaltigen Eindruck gemacht haben. Ein paar Tage ging er, wie er selber erzählt, gedankenvoll umher und war für nichts zu gebrauchen. Seine Mutter wußte gar nicht, was los war, und fragte 4
ihn besorgt, was ihm fehle. Natürlich offenbarte er sich ihr. Mit dem sicheren Gefühl einer Mutter richtete sie es ein, daß der Junge öfter in die „Urania" gehen konnte, eine heute noch bestehende populärwissenschaftliche Gesellschaft, die damals in der Taubenstraße im Zentrum Berlins ein eigenes Gebäude besaß und dort physikalische Apparate in großer Zahl aufgestellt hatte. Auch Schüler konnten dort einfache Versuche machen. Man brauchte nur nach der beigegebenen Erläuterung auf einen Knopf zu drücken, zu beobachten und nachzudenken, und schon hatte man auf anschauliche Weise Einblick in irgendein physikalisches Geschehen oder Gesetz erhalten. Der Junge hantierte nicht nur an diesen Apparaten herum, sondern hörte auch Vorträge im Versammlungsraum der „Urania", oder er besuchte die Sternwarte der Gesellschaft, die ihm die ersten Eindrücke von den Sternen und den Weltalltiefen vermittelte. Nur eineinviertel Jahr blieb die Familie in Berlin, der Stadt, in der Max von Laue später einen großen Teil seiner Lebensarbeit leisten sollte. Wieder wurde der Vater versetzt: nach Straßburg im Elsaß. Dort besuchte der Knabe das altberühmte Protestantische Gymnasium, und er empfand es als ein großes Glück, daß der Schulleiter, obwohl er Altphilologe war, der Mathematik und den Naturwissenschaften eine besondere Vorliebe entgegenbrachte. Der Direktor nahm den jungen Max von Laue, dessen Interesse und Begabung für Physik und Mathematik offensichtlich war, oft in Schutz, wenn Lehrer anderer Fachrichtung an seinen Neigungen Anstoß nahmen; denn die Naturwissenschaften wurden in der damaligen Zeit allzu oft noch als minderwertig betrachtet. r>as auf einen engen Gitterspalt auftreffende Röntgenstrahienbündel wird hinter dem Spalt nach allen Seiten gebeugt. Trifft das Bündel auf mehrere Spalte nebeneinander, so überlagern sich die abgebeugten Strahlen, und es entstehen „Interferenzen", helle und dunkle Stellen auf dem Röntgenbild (vgl. den Text Seite 19 ff.).
Gilter
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Aber noch in einer anderen Beziehung waren von Laues Jugendeindrücke in diesem Gymnasium von Bedeutung. Der Direktor hatte Verständnis für di« Schwierigkeiten des Grenzlandes Elsaß, das erst vor zwei Jahrzehnten, nach dem Kriege von 1870/71, dem jungen deutschen Kaiserrei«he angegliedert worden war und dessen Bewohner sich nur langsam an die neue, nicht immer geschickt verfahrende Verwaltung gewöhnen konnten. Wenn einer der elsässischen Lehrer am Gymnasium Gewissensbedenken hatte, die vorgeschriebene Rede zu Kaisers Geburtstag zu halten, entband er ihn ohne weiteres von dieser Verpflichtung. Das hat auf den jungen Max von Laue einen nachhaltigen Eindruck gemacht, so daß er in seinen Memoiren bemerkt: Politischen Druck hatte der Direktor an seiner Schule nie geduldet, geschweige denn ausgeübt. Wenn sich von Laue später mit großem Eifer und nicht ohne persönliche Gefahr gegen politische Bedrückung gewandt hat, wie wir noch erfahren werden, so hat gewiß auch dieser Eindruck aus der Jugendzeit in ihm nachgewirkt. Für die Freiheit der Überzeugung einzutreten, wurde zu einem Motto in Max von Laues Leben. Mit Freude erinnerte er sich auch an einen Ausspruch seines Deutschlehrers: „Wer sich für eine große Sache begeistert, kann nicht ganz zu Grunde gehen." Die Art, wie am humanistischen Gymnasium in Straßburg der Unterricht in den alten Sprachen, in Deutsch und in deutscher Kulturgeschichte gepflegt wurde, hat von Laues pädagogische Ideen für sein ganzes Leben entscheidend mitbestimmt. Er hielt die Kenntnis der griechischen und lateinischen Sprache für einen großen Vorteil gerade auch beim Studium der Naturwissenschaft und forderte auch vom Naturforscher die Beschäftigung mit der deutschen Sprache und Dichtung. Gern zitierte er einen Ausspruch von Ludwig Boltzmann, dem großen Wiener Physiker und Vorläufer von Max Planck, der im Vorwort zu seinen populären Schriften gesagt hatte: „Ohne Schiller könnte es wohl einen Mann von meiner Nasen- und Bartform geben, aber nicht mich." Die imponierendste Erscheinung an der Straßburger Schule war für Max von Laue Professor Göhring, der Mathematik und Physik unterrichtete: „Er war ein alter Junggeselle und Sonderling mit tausend Wunderlichkeiten, die jeden anderen vor einer Klasse von Gymnasiasten unmöglich gemacht hätten. Dies wurde aber mehr wie 6
ausgeglichen durch die geistige Überlegenheit, welche selbst den ärgsten Schlingel der Klasse — wir waren wirklich keine ,Musterschüler' — in ihren Bann zwang. Bei ihm Unfug anstellen — unmöglich! Nie kam jemand auf den Gedanken. Daher brauchte er auch nie zu strafen, kaum einmal zu schelten. Das Äußerste, dessen ich mich bei ihm erinnere, waren die an einen recht unnützen Jungen gerichteten Worte: ,Huber lächelt, ja, Huber lächelt.' Huber lächelte sobald nicht wieder. Jugend hat eben ein feines Empfinden für geistige Bedeutung und ungeheure Ehrfurcht vor ihr; nur muß sie auch vorhanden sein." Bei diesem Erzieher lernte der junge Max die ersten Grundzüge der Mathematik: Algebra bis zu den quadratischen Gleichungen, Geometrie nach Euklid, logarithmisches und trigonometrisches Rechnen. Hier begriff er, was methodisch und wissenschaftlich denken heißt, ein Vorzug, der sich später bei seinen großen Lebensleistungen herrlich bewährt hat. Bei der größten dieser entscheidenden Taten kam es nämlich weit weniger auf die Menge des Wissens an, das er im Augenblick gegenwärtig hatte, als darauf, mit wenigen einfachen Grunderkenntnissen und nach klaren Gesichtspunkten das Tor zu einer ganz neuen Tatsachenwelt zu finden. In diesem Sinne hatte sein Lehrer Göhring unterrichtet, der schon bald die physikalisch-mathematische Begabung seines Schülers erkannte, ihn durch gelegentliche Aufmunterungen anspornte und immer wieder an seinen Ehrgeiz appellierte. Doch sei nicht verschwiegen, daß von Laue oft Schwierigkeiten mit dem zahlenmäßigen Rechnen hatte, wie das auch von anderen Sternen erster Größe am Himmel der mathematischen Physik bekannt ist. Damals wäre es für Max von Laue schwierig gewesen, den tieferen Grund für ein solches Versagen zu erkennen. Aber später wurde er sich darüber klar. In seiner geistigen Haltung war er auf das Greifbare, auf die Wirklichkeit gerichtet, und er bekannte, daß ihn irgendein Gebiet der Mathematik nur dann interessierte, wenn er eine physikalische Anwendung dafür wußte. Sonst kam ihm die Beschäftigung mit reinen Zahlen vor wie ein „Schwimmen im leeren Raum", wie eine Kraftanstrengung ohne Gegenstand, an dem die Kraft angreifen konnte. Soweit die Mathematik nur ein Gedanken7
spiel mit Zahlen war, fand er zeitlebens kaum Zuneigung zu ihr, und er suchte sie auch nicht. Sein Lehrer Göhring hatte nicht nur das Interesse für die anwendbare und angewandte Mathematik, sondern auch die Liebe zur Physik in ihm geweckt. Bis in sein hohes Lebensalter sah Max von Laue die primitiven und mangelhaften Apparaturen des Straßburger Physiksaales vor sich, mit denen man sich damals am humanistischen Gymnasium zufrieden geben mußte. Göhring hatte versucht, aus dieser Not eine Tugend zu machen. Was er wegen des Mangels an Experimentiergeräten nicht demonstrieren konnte, das ließ er seine Schüler durch gedankliche Überlegungen selber herausfinden. Immer wieder regte er sie so zum wissenschaftlichen Denken an und öffnete ihren Geist auch für den Sinn der Naturgesetze. Er empfahl seinen Jungen gute Bücher, unter anderem die Vorträge und Reden von Helmholtz, und erklärte dazu: „Es sind populäre Schriften, aber für einen Populus (einen Leserkreis), der nicht ganz auf den Kopf gefallen ist." Mit zwei anderen Gymnasiasten schloß sich Max von Laue zu einem Team zusammen. Sie lasen gemeinsam mathematische und naturwissenschaftliche Bücher. Sie trieben ganz für sich und mit einer gewissen Heimlichkeit höhere Mathematik, die nicht im Unterrichtsplan stand. Sie wagten sich an Experimente, kauften sich kleine Induktionsapparate und konnten damit einigermaßen hohe elektrische Spannungen erzielen. In dieser Zeit erlebte der künftige Nobelpreisträger einen jener „prophetischen" Augenblicke, wie sie im Leben fast jedes Großen eintreten. Schon einige Wochen nach der Entdeckung der Röntgenstrahlen, an denen von Laue unsterblichen Ruhm gewinnen sollte, Anfang 1896, erhielt das Dreigestirn von einem befreundeten Buchhändler die berühmten Broschüren zugesandt, die Röntgen über die Entdekkung geschrieben hatte. Die drei Primaner verschafften sich primitive Entladungsröhren, um nach den geheimnisvollen X-Strahlen zu suchen, wie man die Röntgenstrahlen damals noch nannte. Aber sie hatten keinen Erfolg, obwohl sie sich mit ihren Chromsäure- und Bungen-Elementen die größte Mühe gaben und mit den dazugehörigen scharfen Chemikalien manchen Schaden anrichteten. Aber durch solche noch mangelhaften Versuche lernten sie vieles, was in S
den Schulexperimenten nicht vorkam, zum Beispiel, daß der Entladungsstrom einer Leidener Flasche die Magnetnadel ablenkt, daß Licht, wenn es durch einen feinsten Spalt hindurchstrahlt, „gebeugt" wird, oder daß Lichtwellen, die aufeinandertreffen „Interferenzerscheinungen" hervorrufen, d. h. sich verstärken oder ganz erlöschen, je nachdem wie sie sich überlagern. Das alles wurden Bausteine, ohne die von Laue in der entscheidenden Stunde seine größte Lebenstat nicht hätte durchführen können. Die Drei waren aber alles andere als Stubenhocker. Oft verließen sie den Studier- und Experimentierraum, radelten über die Wege und Umwege der Rheinebene oder schwammen im kleinen oder großen Rhein bei Kehl und überquerten ihn dutzende Male. Die Drei studierten vor jedem sportlichen Unternehmen genau die örtlichen Gegebenheiten, die Landkarten und das Kursbuch und machten sich bei Bergtouren deutliche Vorstellungen von ihrer Leistungsfähigkeit, um Gefahren, die durch Nebel oder Schneestürme eintreten konnten, zu vermeiden. Die rein sportliche Leistung reichte ihnen nicht aus, es kam ihnen ebenso auf Selbsterziehung und Charakterbildung an. So sah Max von Laue dem Abiturientenexamen mit Gelassenheit, ja mit einer gewissen Heiterkeit entgegen. Als er das Reifezeugnis in Händen hielt, freute ihn am meisten das „Sehr gut" in Physik, deren Studium er als Lebensaufgabe vor sich sah. In diesem Fach kam es nur auf Tatsachen an, auf die Sicherheit, mit der man das Wichtige vom Unwichtigen unterscheidet, und auf die Klarheit, mit der man es mathematisch oder begrifflich formulieren kann. Weniger
So sah das Röntgenbild (Laue-Diagramm) aus, auf dem Max von Laue entdeckte, daß die Schwärzungen durch die Atomabstände in dem durchröntgten Kristall entstanden waren. Atome waren also keine Hirngespinste, und die Schwärzungen verrieten, wie die Atome in den Kristallen angeordnet sind (vgl. den Text Seite 9). 9
befriedigte ihn die Note in Deutsch, weil ihr die Bemerkung beigefügt war: „Laue hat sich den Anforderungen des deutschen Unterrichts gewachsen gezeigt und mitunter gute Leistungen aufgewiesen. Sein geistiger Bildungsstand ist höher als seine Fähigkeit im schriftlichen und mündlichen Ausdruck." Von Laue hatte sein Leben lang die Schwierigkeit empfunden, die Klarheit einer Erkenntnis und die Vollkommenheit ihres sprachlichen Ausdrucks so miteinander zu verbinden, daß er jedem verständlich wurde. Wenn er gar auf einem internationalen Kongreß in einer fremden Sprache reden mußte, so wurde ihm das geradezu zur Qual, und es gelang ihm nie, wie er einmal schrieb, bis zu einem fließenden und ausspracherichtigen Vortrag zu kommen. Mit der Erlernung einer Sprache hatte er überhaupt immer seine Not, und er hat daraus auch seinen Freunden gegenüber keinen Hehl gemacht.
Vom Studenten zum künftigen Nobelpreisträger Wenige Tage nach der Reifeprüfung begann für Max von Laue die Militärdienstzeit, er wurde Einjähriger, dessen Vorzug es war, daß er nur ein Jahr zu „dienen" brauchte. Schon im zweiten Halbjahr gestattete man dem Hochbegabten, in Straßburg Physik zu hören, und er hatte das große Glück, gleich einen bedeutenden Mann als Lehrer zu bekommen: Ferdinand Braun, uns allen bekannt als Erfinder der Braunschen Röhre, ohne die Rundfunk und Fernsehen undenkbar wären. Mit Spannung wartete er auf jede Vorlesung, und er erinnerte sich zeit seines Lebens nicht nur an Brauns glänzende Versuche, sondern auch an seinen flüssigen, manchmal witzigen Vortrag. Gelegentlich hinderte ihn der Militärdienst am pünktlichen Erscheinen im Hör- oder im Experimentiersaal. Er hatte keine Zeit mehr, sich umzukleiden. In seiner Uniform war er dann nicht zu übersehen, und er erzählt, daß das einmal nicht ganz ohne Nutzen war: „Am Ende des Semesters mußten die Studenten abtestieren; das sollte eigentlich die Bescheinigung ihres regelmäßigen Vorlesungsbesuches abgeben. Bei den Hunderten seiner Hörer aber war Braun selbstverständlich nicht in der Lage, darüber ein Urteil abzugeben. Er saß also in einem Nebenraum zum Hörsaal an einem Tisch, die Studenten traten einer nach dem anderen heran und legten ihre 10
Manni Hesse
Digital unterschrieben von Manni Hesse DN: cn=Manni Hesse, c=DE Datum: 2006.12.28 10:16:37 +01'00'
Testierbücher vor, und er schrieb mechanisch und fast ohne aufzusehen seinen Namen hinein. Nur wie ich in meiner Uniform an die Reihe kam, blickte er ein wenig auf und sagte mit einem leichten ironischen Seufzer: ,Ja, daß Sie da gewesen sind, das kann ich bescheinigen.'" In den ersten Semestern suchte der Student sich eine gute Grundlage in den Fächern Physik, Chemie und angewandter Mathematik zu verschaffen. Er hörte alle einschlägigen Vorlesungen und war der eifrigste bei den experimentellen Übungen, zunächst an der Universität Straßburg, dann an der Universität in Göttingen. Auf allen drei Gebieten erlangte er ein so gründliches Wissen, daß er für sein ganzes Leben selbst vor kleinen Irrwegen bewahrt blieb. In Göttingen reifte auch der Entschluß zur theoretischen, mathematisch unterbauten Physik. Im Rückblick auf die Bedeutung dieses Entschlusses hat er als alter Mann Sätze geschrieben, die nicht nur für ihn, sondern für die Stellung aller großen Physiker zur Mathematik charakteristisch sind: „Der entscheidende Eindruck war das Staunen, wie viel man mit mathematischen Methoden über die Natur auszusagen vermag. Mit höchster Ehrfurcht habe ich der Theorie manchmal gegenübergestanden, wenn sie ein unverhofftes Licht auf eine bislang unverständliche Tatsache geworfen hatte." Aber nicht nur diese ehrfürchtige Haltung der Naturordnung gegenüber, die sich hier offenbarte, hat ihn zu seinen Leistungen befähigt, sondern auch eine fein ausgeklügelte Methode, wie er die Arbeit im Hörsaal und im Experimentiersaal, also in der Gemeinschaft mit anderen Menschen, zu verbinden wußte mit dem Selbststudium, der Arbeit in der Einsamkeit. Gesprochenes hat ihm niemals so nachhaltig Eindruck gemacht, als was er schwarz auf weiß vor sich hatte. Beim Lesen konnte er abbrechen, wo er wollte, und den eigenen Gedanken über das Gelesene nachhängen. Bei den Vorlesungen, so gewissenhaft er sie auch besuchte, fühlte er sich an den Gedankengang des Sprechenden gebunden und empfand ständig die Gefahr, abzuschweifen und damit den Faden zu verlieren. Oft waren ihm die Vorlesungen nur der Ansporn, sich in die entsprechenden Fachbücher zu vertiefen. Im Herbst 1901 wechselte von Laue an die Münchner Universität über. Er lernte dort Röntgen kennen, der im allgemeinen sehr zu11
So stellt man sieh das „Raumgitter" eines Steinsalzkristalls mit seinen Atomen vor. Der Abstand zwischen den Atomen beträgt jedoch nur millionstel Millimeter; die winzigen Abstände wirken beim Durchgang von Röntgenwellenstrahlen wie feinste Spalte, in denen die Wellen gebeugt werden (vgl. den Text Seite 20). rückhaltend war, aber sich doch einmal eingehend mit ihm unterhielt. Wie die meisten Münchner Studenten machte Laue Winterfahrten ins Hochgebirge — auf Fußwanderungen, denn es gab damals in Deutschland noch keinen Skisport. So mußte er mit seinen Kameraden manchmal bis zu den Hüften im weichen Schnee der Berge herumstapfen. Erst mit siebenundzwanzig Jahren lernte er Ski laufen; zwei bekannte Physiker machten ihn im Jahre 1906 am Feldberg im Schwarzwald mit den Kniffen und Tücken der „weißen Kunst" vertraut. Er wurde ein vielbestaunter „Schneehase". Im Sommer 1902 siedelte Max von Laue von München nach Berlin über und wurde Schüler von Max Planck*), von dessen eigentlicher Großtat, der Begründung der heutigen Atomwissenschaft durch die Entdeckung der Quanten im Jahre 1900, er jedoch noch kaum etwas wußte. Mit einem gewissen Stolz vermerkt er, daß er im physikalischen Seminar gleich zu Anfang durch die besonders elegante Lösung einer Aufgabe die Aufmerksamkeit Plancks auf sich ziehen konnte. Aber keiner von beiden ahnte in dieser Stunde, daß sie einmal in engster Freundschaft verbunden sein sollten, einer Freundschaft, die bis zu Plancks Tode währte. Bei Planck machte von Laue auch sein Doktorexamen, und zwar, wie es Vorschrift war, mit Philosophie als Nebenfach. *) Vergleiche Lux-Lesebogen 281, „Max Planck". 12
Die Doktorpromotion erfolgte damals noch in sehr feierlicher Form. Sie vollzog sich in lateinischer Sprache, und der Doktorand mußte ein Gelöbnis ablegen, das der Dekan vorsprach und das in deutscher Übersetzung lautete: „Ich frage Dich feierlich, ob Du das feste Versprechen abgeben und es treu und gewissenhaft halten willst, daß Du die hohen Wissenschaften pflichtgemäß unter Deinen Schutz stellen, sie ehren und fördern wirst, nicht um des Gewinnes willen und um eitlen Ruhm zu erwerben, sondern damit das Licht der göttlichen Wahrheit in immer weiterem Umfang erstrahle." Von Laue hat dieses Gelöbnis ernst genommen und hat sich sein Leben lang bemüht, es zu erfüllen. Obwohl von Laue sich einige Zeit später in Göttingen noch auf das Staatsexamen für das höhere Lehramt vorbereitete, war er entschlossen, nicht in den Lehrberuf zu gehen, sondern die akademische Laufbahn einzuschlagen. Nicht ganz unbesorgt ging er in die Prüfung, weil er Chemie als eines der Prüfungsfächer gewählt hatte und deshalb nach der Prüfungsordnung auch ein Examen in Mineralogie und Kristallkunde ablegen mußte. „Mit Mineralogie hatte ich mich nun nie befaßt", so gesteht er in seinen Lebenserinnerungen. „Einen zaghaften Versuch, in meinen ersten Göttinger Semestern darüber Vorlesungen zu hören, hatte ich bald wieder aufgegeben. Aus Büchern hatte ich mir dann die allerelementarste Kenntnis der Kristallographie, das heißt die Kenntnis der Kristallklassen angeeignet, das war alles. Diese Prüfung nahm der Geologe Professor Konen ab, und ich erinnere mich noch, wie seine Heiterkeit angesichts meiner gar nicht verhohlenen Unkenntnis mehr und mehr wuchs, bis er das Gespräch abbrach. Ich verdanke es meinen für einen Staatsexamenskandidaten ungewöhnlichen Kenntnissen in der Chemie, daß die Kommission die Prüfung doch als bestanden erklärte." Dieses Versagen hat von Laue jedoch schon nach wenigen Jahren mehr als wettgemacht, als er durch seine Entdeckung der Wellennatur der Röntgenstrahlen die Lehre von den Kristallen, das heißt die Lehre von den Bausteinen der meisten festen Körper, auf eine völlig neue Grundlage stellte, ja sie erst zu einer Wissenschaft im modernen Sinne erhob und damit auch der Technik ungeheure Möglichkeiten eröffnete. 13
Max Planck bot Max von Laue im Herbst 1905 die frei werdende Assistentenstelle an seinem Institut für theoretische Physik an. Mit Freuden griff der junge Gelehrte zu. Planck setzte schon bald großes Vertrauen in ihn, er durfte die schriftlichen Arbeiten der Studenten durchsehen und Max Planck darüber Bericht erstatten. Dadurch lernte von Laue alle möglichen Fehler und Mißverständnisse in diesen Arbeiten kennen, konnte sich darüber mit Planck aussprechen und gelangte so in allen Fragen immer wieder an die beste Quelle, die er sich für seine weitere wissenschaftliche Ausbildung nur denken konnte. Bald hatte er Gelegenheit, einen ersten wirklich selbständigen Gedanken in einer physikalischen Frage zu fassen und ihn mit Planck durchzusprechen. Es handelte sich um eine für weitere Kreise kaum noch verständliche fachliche Frage, in der selbst Max Planck damals noch nicht klar sah, aber durch das Gespräch mit seinem Assistenten zur Klarheit gelangte. Daß ihm ein solcher Erfolg beschieden war, muß von Laue geradezu erschüttert haben, so daß er als alter Mann darüber schrieb: „Als ich nach der entscheidenden Besprechung darüber mit Planck dessen in Grunewald gelegenes Haus verlassen hatte, fand ich mich eine Stunde später am Zoologischen Garten, ohne zu wissen, was ich da suchte oder wie ich' dorthin gekommen. So überwältigend war dieses Erlebnis." In diesem Jahre 1905 gab Einstein*) der Welt seine umwälzende Relativitätstheorie bekannt. Sofort befaßten sich sowohl Planck als auch von Laue eingehend mit dieser neuen Theorie. Von Laue konnte bereits 1907 einige eigenständige Ideen beisteuern und erhielt von einem großen Verlag den Auftrag, eine Gesamtdarstellung der Relativitätstheorie zu schreiben. Er tat es mit größtem Verständnis und wurde so der Autor der ersten zusammenfassenden Darstellung über die Relativitätstheorie, da Einstein seine grundlegenden Erkenntnisse nur in ganz knappen Aufsätzen niedergelegt hatte. Laue, der inzwischen Dozent an der Universität in München geworden war, zog sich zur Abfassung dieser Schrift in ein kleines Bootshaus zurück, das am Ufer des Wittelbachischen Parks in Feldafing auf Pfählen im Wasser des Starnberger Sees stand und einen *) Vergleiche Lux-Lesebogen 303, „Albert Einstein". 14
herrlichen Blick auf die Alpenkette, auf Herzogstand, Heimgarten, Benediktenwand und die Berge des Karwendeis, gewährte. Trotz aller dieser Arbeiten und des sicher unterbauten Wissens, auf denen sie beruhten, kam die entscheidende Stunde, die ihm den Nobelpreis einbrachte, wie ein Blitz aus heiterem Himmel; alle anderen Nobelpreise der Physik und Chemie waren bisher für Leistungen verliehen worden, an denen die damit Ausgezeichneten lange gearbeitet hatten. Aber bevor wir davon berichten, möchten wir den Leser bitten, uns auf einen kurzen Abstecher in eine ziemlich entlegene Vergangenheit zu folgen . . .
Herr Lukrez aus Pompeji meinte . . . Unter den Bewohnern der Hafen- und Villenstadt Pompeji machte in der ersten Hälfte des ersten Jahrhunderts v. Chr. der Dichter Titus Lucretius Carus viel von sich reden. Der Poet, dessen Haus man in neuerer Zeit in Pompeji wiedergefunden hat, galt den römischen Zeitgenossen nicht nur durch die Lebhaftigkeit seiner dichterischen Phantasie, sondern auch durch die Tiefe seiner Gedanken über viele hervorgehoben. Lukrez konnte zum Beispiel den Aufstieg der Sonne hinter den Bergflanken des Vesuvs in den zaubervollsten Versen jubelnd beschreiben; er konnte aber angesichts des gleichen Sonnenaufgangs die ganz nüchterne Frage stellen, was sich da abspiele, wenn die Sonne nach der Pause der Nacht in der Frühe des Tages wieder ihr Licht leuchten lasse. Von dem Dichter und Denker Lukrez besitzen wir in dem philosophischen Lehrgedicht „Über die Natur der Dinge" die anschaulichste Zusammenfassung dessen, was sich die Alten unter dem Licht vorgestellt haben. Was geschieht eigentlich, so fragte er sich, sobald die Sonne ihr Licht am Morgen wieder über den Osthorizont sendet oder wenn am Abend ein öllicht in der Kammer entzündet wird? Und Lukrez antwortete: Alles besteht aus kleinsten, nicht mehr teilbaren Körperchen, wie es der verehrte Demokrit schon vor Jahrhunderten gelehrt hat. So muß auch eine Lichtquelle aus solchen Körperchen oder Körnchen — Corpuscula — bestehen. Wird ein 15
Licht entzündet oder geht die Sonne auf, so entströmen der Lichtquelle die Lichtkörnchen, wie die Hagelkörner aus der Wolke hervorbrechen oder wie die Pfeile von den Bogen schnellen. Die Lichtkörnchen, die Korpuskeln, fliegen, so sagte Lukrez, mit „unaussprechlicher Geschwindigkeit durch die Räume, eine Kraft wirkt auf sie, die sie vorantreibt". Prallen die Körnchen auf einen Gegenstand, so lösen sie hautdünne Teilchen von der Oberfläche ab und tragen sie in unser Auge, wo die Teilchen sich wie Mosaiksteinchen zum Bilde des Gegenstandes wieder zusammensetzen: So sehen wir die Dinge der Außenwelt.
• Immer, wenn in der Folgezeit über das Licht nachgedacht wurde, tauchte diese Lichtkörnchenvorstellung wieder auf, die man heute Korpuskulartheorie des Lichtes nennt. Auch der große englische Physiker und Mathematiker Isaak Newton glaubte, daß die Körnchen-Theorie am besten alle Lichterscheinungen erkläre: die gradlinige Fortpflanzung der Lichtstrahlen, die Schattenbildung, die Reflexion an einem Spiegel und die Brechung der aus Korpuskeln bestehenden Lichtstrahlen im Wasser oder im Glasprisma. Newtons Ansehen war zu seiner Zeit so groß, daß sich mit wenigen Ausnahmen alle Physiker, die sich mit optischen Erscheinungen befaßten, zu seiner Korpuskulartheorie bekannten. Zu den wenigen Ausnahmen zählte der holländische Gelehrte Christian Huygens, ein jüngerer Zeitgenosse Newtons, der sich seine eigenen Gedanken über das Licht machte und die Lichtkörnchentheorie ablehnte. Wenn eine Lichtquelle Licht ausstrahlt, so sagte er, fliegen nicht Lichtspritzer durch den Raum. Es findet vielmehr eine von der Lichtquelle ausgehende Erschütterung im Äther statt, der nach • der Meinung des Holländers und vieler anderer unsichtbar, unwägbar, ungreifbar das ganze Weltall anfüllt und alle Dinge durchdringt. Wie ein Steinwurf auf einer ruhigen Wasserfläche Wellen verursacht, so pflanzt sich die von der Lichtquelle bewirkte Erschütterung durch den Äther fort*); die Wallung breitet sich wellen*) Durch James Maxwell und Heinrich Hertz wurde später erkannt, daß es sich bei dieser „Erschütterung" um elektromagnetische Schwingungen handelt (vgl. Lux-Lesebogen 306, „Heinrich Hertz"). 16
Der Apparat mit dem im Jahre 1912 nach der Anweisung Max von Laues die beiden Physiker Friedrich und Knipping die Wellennatur der Röntgenstrahlen entdeckten (vgl. den Text Seite 23). förmig nach allen Seiten im Raum aus, ohne daß Lichtteilchen selber befördert werden. Unser Auge ist so eingerichtet, daß es diese Wellen aufnehmen kann, wobei das Gehirn sie als Licht erfaßt. Newton, der alles prüfte, was andere vorzutragen hatten, erwog auch Huygens' Lichtäther- und Lichtwellentheorie und verwarf sie. Um so leidenschaftlicher bekannte sich der französische Physiker Augustin Jean Fresnel zu der Idee der Lichtwelle, da nur sie imstande sei, jene Erscheinung zu erklären, auf die vor kurzem der Engländer Thomas Young aufmerksam gemacht habe: die Tatsache der Interferenz. Die Interferenz ist einer der merkwürdigsten Natur. Es ergibt sich nämlich, daß Licht zu Licht stimmten Voraussetzungen nicht zu vermehrter sondern zur Lichtauslöschung und zur Dunkelheit. 17
Vorgänge in der addiert unter beHelligkeit führt, Völlig unmöglich
wäre das, wenn Lichtstrahlen aus Lichtkörnchen beständen. Lichtkörnchen zu Lichtkörnchen gehäuft, das müßte wie die Anhäufung glühender Kohlen in jedem Falle größere Helligkeit erbringen. Ganz anders aber ist es, wenn man sich die Lichtstrahlen als aus Wellen mit „Bergen" und „Tälern" bestehend vorstellt. Solche wellenförmigen Lichtstrahlen können so zusammentreffen, daß sich „Berge" und „Täler" überlagern und daß sich die Aufwärtsbewegung und die Abwärtsbewegung der Wellenkurve gegenseitig aufheben. Die so neutralisierten Wellen liefern, wenn sie irgendwo auftreffen, kein Licht mehr, sondern Schatten, Dunkelheit. Überlagern sich aber „Berg" und „Berg" einer Welle, so muß sich entsprechend die Lichtfülle vergrößern. Das ist die Erscheinung der Interferenz, der „Überlagerung", mit der sich Young und Fresnel in Versuchen und in der Theorie eingehend befaßt hatten und die ihnen den Beweis lieferte: Licht ist ein Wellenvorgang; Lichtkörnchen, Lichtkorpuskeln, wie man sie bis dahin angenommen hatte, gab es offenbar nicht.*) Daß es Interferenz beim Licht gab, konnte Fresnel zunächst durch einen glänzend ausgedachten Spiegelversuch nachweisen. Interferenz trat aber auch auf, wenn Lichtwellen durch „Beugungsgitter" strahlten, das sind dicht nebeneinander angeordnete feine Spalte. Solche Gitter stellt man aus hauchdünnen Drähten her oder durch Ritze in Goldfolien oder durch feinste Furchen, die man parallel nebeneinander mit einer Diamantspitze auf eine Glasplatte graviert. Die moderne Technik bringt es heute auf etwa 1800 Gitterlinien je Millimeter. Nach einem optischen Gesetz, dessen Erklärung hier zu weit führen würde, wird ein Wellenbündel einfarbigen Lichtes, das auf einen feinen Spalt trifft, hinter dem Spalt nach allen Richtungen hin gebeugt. Trifft das Lichtwellenbündel auf zahlreiche Spalte nebeneinander — auf ein „Beugungsgitter" —, so gehen hinter dem Gitter die Strahlen von den zahlreichen Spalten aus in die Runde, und immer wieder wird es vorkommen, daß sich dabei Lichtwellen so überlagern, daß „Wellenberge" auf „Wellentäler" treffen und sie einebnen, und wieder andere, bei denen „Wellenberge" auf „Wellenberge" fallen und sie erhöhen. Auf einem Schirm sieht man *) Heute weiß man, daß, um ein Bild zu gebrauchen, auf dem Rücken der Wellen Lichtquanten, Photonen, mitschwingen. 18
dann helle bzw. dunkle Interferenzstreifen. Der Abstand der Streifen auf dem Schirm, die öffnungsbreite der Spalte und die Wellenlänge des gebeugten Lichtes stehen in einem zahlenmäßigen Zusammenhang. Aus alledem ließ sich der Schluß ziehen, daß es sich dort, wo Interferenzerscheinungen auftreten, um Wellenstrahlung handelt und daß Form und Anordnung der Interferenzstreifen Rückschlüsse auf die Zwischenräume der Beugungsspalte und auf die Wellenlänge der Strahlen zulassen.
Die X-Strahlen Außer den Lichtstrahlen waren gegen Ende des 19. Jahrhunderts noch andere Strahlenarten bekanntgeworden: die X-Strahlen Röntgens und die radioaktiven Strahlen, deren Nachweis man den Forschungen Henri Becquerels und des Ehepaares Pierre und Marie Curie verdankte. Noch vor der Jahrhundertwende war es dem Engländer Ernest Rutherford gelungen, die Natur der radioaktiven Strahlen aufzuhellen. Er stellte fest, daß ein Teil — die Alphaund Betastrahlen — aus stofflichen Teilchen bestand, also Korpuskularstrahlung war, ein anderer Teil sich aber wie das Licht als Wellenstrahlung zu erkennen gab: die Gammastrahlen, deren Wellenlänge man messen kann. Auch mit der Natur der Röntgenstrahlen befaßten sich seit ihrer Entdeckung im Jahre 1895 viele Forscher. Aber obwohl inzwischen mehr als fünfzehn Jahre vergangen waren, wußte niemand, ob sie zu den Korpuskularstrahlen oder zu den Wellenstrahlen gehörten. Auch von Laue experimentierte mit diesen geheimnisvollen, gefährlichen und unerhört nützlichen Strahlen. Laue hatte sich dabei schon manchmal die Frage gestellt, warum Röntgen selber nicht eifrig daran mitwirkte, das Wesen seiner X-Strahlen aufzuklären. Von Laue hat im Gespräch mit anderen Physikern manche Gründe dafür erwogen und kam schließlich zu der Auffassung, Röntgen sei von dem Eindruck seiner Entdeckung, die er als Fünfziger machte, so überwältigt worden, daß er sich nicht mehr davon erholte, so daß in dieser Hinsicht seine schöpferischen Kräfte erlahmten und er 19
die weitere Beschäftigung mit den Röntgenstrahlen anderen überlassen mußte. Die Erforschung des Wesens der Röntgenstrahlen war die eine Seite der Laueschen Arbeit in jener Zeit. In der entscheidenden Stunde wirkte aber noch ein zweiter Gedanke mit. Er betraf den inneren Aufbau fester Stoffe. Daß sie im letzten aus Atomen aufgebaut waren, daran zweifelten nur wenige. Aber wie kam es, daß der eine Feststoff dieses Gefüge und diese Eigenschaften hatte und jener völlig andere. Es gab schon ziemlich klare Vorstellungen davon, warum das so war: Es mußte an der verschiedenartigen Anordnung der Atome in den Feststoffen liegen, die man sich mit wenigen Ausnahmen alle aus „Kristallen" zusammengesetzt dachte, wobei in jedem Kristall die Atome in mehreren Schichten hinter-, über- und nebeneinander — in sogenannter „Raumgitterform" — aufgebaut sein sollten (s. Abb. Seite 12). Modelle zu solchen „Raumgittern" gab es damals viele in den Universitätsinstituten von München. Der Münchner Professor der Mineralogie Paul von Groth hielt sogar Vorlesungen über die Raumgitteranordnung der Atome, ohne einen bündigen Beweis dafür zu besitzen. Groth „packte mich um so mächtiger", so erklärte von Laue in seinem Nobelvortrag vom 3. Juni 1920, „als ich gegenüber allen Zweifeln, welche zu meiner Zeit allerdings wohl nur noch manche Philosophen an der Wirklichkeit der Atome hegten, mir schon früher klar gemacht hatte, daß stichhaltige Gründe dagegen nicht aufzufinden waren". Im Februar 1912 erhielt der Privatdozent Max von Laue den Besuch eines jungen Mannes namens Peter Paul Ewald. Ewald war ein Schüler des damals schon weit bekannten theoretischen Physikers der Münchner Universität Arnold Sommerfeld und hatte von ihm für seine Doktorarbeit die Aufgabe gestellt bekommen, wie sich wohl Lichtwellen in einem aus Atomen bestehenden Raumgitter verhalten würden. Ewald kam mit diesem Auftrag aber nicht zurecht, und suchte Max von Laue auf, der kurz zuvor eine größere Arbeit über die mathematischen Voraussetzungen für eine derartige Untersuchung veröffentlicht hatte. Doch auch von Laue wußte ihm nicht zu helfen, aber bei der Besprechung kam ihm die Idee, ob man nicht Kristalle einmal mit Röntgenstrahlen durchleuchten solle. 20
Max von Laue (rechts) im Gespräch mit (von links nach rechts) Walther Nernst, dem großen Physiker und Chemiker; Albert Einstein, dem Begründer der Relativitätstheorie; Max Planck, dem Begründer der Quantentheorie, und Robert Andrews Millikan, dem Erforscher des Elektrons. „Wenn die Atome wirklich Raumgitter bildeten, müsse das Interferenzerscheinungen ergeben, ähnlich den Lichtinterferenzen an optischen Gittern." Diese Idee, die er sofort seinem Besucher mitteilte, war die Geburtsstunde für die große Entdeckung von Laues und die daraus erwachsende gesamte Kristallphysik. Aber zunächst empfindet wohl jeder einen kleinen Widerspruch. Wir sprachen davon, daß sich die Physiker damals noch im unklaren waren, ob die Röntgenstrahlen Wellen- oder Korpuskularstrahlen seien und daß sie auch noch nicht wußten, ob es wirklich kristallförmige Raumgitter in den Festkörpern gab. Auch von Laue wußte das nicht sicher. Und so muß man 21
seinen knapp gefaßten Satz dahin erläutern: Wir wollen einmal annehmen, daß die Röntgenstrahlen Wellenstrahlen sind und daß es Raumgitter in den festen Stoffen gibt; wenn das der Fall ist, dann müssen die Atomzwischenräume in den Raumgittern der Kristalle wie die Spalte eines Beugungsgitters wirken, und es müssen dunkle und helle Interferenzbilder auf der Röntgenplatte auftreten. Und so kam es, daß, wie der Volksmund es ausdrückt, zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen wurden. Das war eben das Geniale an dieser plötzlich im Geiste Laues aufblitzenden Idee: Je nach den Erscheinungen — Interferenzen genannt —, die sich beim Hindurchsenden von Röntgenstrahlen durch Kristalle ergeben und von denen man natürlich Röntgenbilder machen konnte, würde sich dann feststellen lassen, ob die Röntgenstrahlen Wellenstrahlen sind. Diese Interferenzerscheinungen, diese Beugungsbilder, ließen sich dann vielleicht benutzen, um Rückschlüsse auf die Anordnung der Atome in den durchleuchteten raumgitterartigen Kristallen zu ziehen. So erhielte man zugleich Auskunft über die Röntgenstrahlen selbst und über die Atome und ihre Anordnung in den festen Körpern. Und nun nahm alles ganz rasch seinen Lauf. Eine Gruppe jüngerer Physiker Münchens kam täglich nach Tisch im Cafe Lutz zusammen. Einer von ihnen war Walther Friedrich, der kurz zuvor bei Röntgen promoviert hatte und daraufhin Sommerfelds Assistent geworden war. Das war der richtige Mann, der nicht nur die großartige Idee von Laues in ihrer Tragweite erfaßte, sondern sich auch sofort bereit erklärte, sie im Experimentiersaal nachzuprüfen. Es war jedoch noch eine kleine Schwierigkeit zu überwinden. Sommerfeld hielt zunächst nichts von der Idee des Privatdozenten von Laue und hatte vor, Friedrich eine andere Arbeit aus dem Gebiet der Strahlungsforschung zu übertragen. Als sich dann ein zweiter Doktorand Röntgens, Paul Knipping, zur Hilfe anbot, gab Sommerfeld den Experimentierraum frei, und so konnten die Versuche gegen Ostern 1912 beginnen . . .
Der Schlüssel paßt Einige Zeit später, an einem Frühlingstag, ging Max von Laue in Gedanken durch die Straßen Münchens. Walther Friedrich hatte ihm soeben ein Foto von dem Versuch mit den Röntgenstrahlen gezeigt. 22
Die beiden jungen Physiker Friedrich und Knipping hatten nach der genauen Anleitung Max von Laues ein Stück Kupfersulfat, ein blaues Salz, das offensichtlich aus Kristallen bestand, unter eine Röntgenröhre gelegt und es von einem Röntgenstrahlenbündel durchstrahlen lassen. Laue sah auf dem Röntgenfoto neben dem geradlinig durchgehencten Hauptstrahl einige seltsam geschwärzte Muster (s. Abb. Seite 9 und 17). „Tief in Gedanken ging ich durch die Leopoldstraße nach Hause, als mir Friedrich diese Aufnahme gezeigt hatte", so erinnerte sich später von Laue an diese denkwürdige Stunde. „Schon nahe meiner Wohnung, vor dem Hause Siegfriedstraße 10, kam mir der Gedanke für die mathematische Theorie der Erscheinung. Als ich ein paar Wochen später an einer anderen, übersichtlicheren Aufnahme diese Theorie prüfen konnte und sie bestätigt fand, da war das für mich der entscheidende Tag." Die geschwärzten Muster auf dem Röntgenbild waren tatsächlich Interferenzen. Sie verrieten, daß ein Teil der Röntgenstrahlen beim Durchgang durch die Salzkristalle des Kupfersulfats an irgendwelchen Spalten von der geraden Linie abgebeugt worden waren; die Schwärzungsspuren waren gleichsam die Anwesenheitszeichen für diese Spalte, die nichts anderes sein konnten als die Zwischenräume zwischen den Atomen, aus denen sich die Raumgitter der Salzkristalle aufbauten. Die unendlich kleinen Zwischenräume wirkten wie Gitter, in denen die Strahlen gebeugt wurden. Wo aber eine Strahlung Interferenzerscheinungen zeigte, konnte es sich nur um wellenförmige Strahlung handeln. Es gab keinen Zweifel: Die Röntgenstrahlen waren keine Korpuskularstrahlen, sondern bewegten sich als Wellen fort. Sie benahmen sich also genau wie Lichtstrahlen, nur daß sie eine unvergleichlich kleinere Wellenlänge haben mußten, die so gering war, daß die Wellen durch die winzigen Zwischenräume zwischen den Atomen noch durchschlüpfen konnten. Atome hatten also in Schwärzungsspuren ihre Anwesenheit auf deutlich sichtbare Weise kundgetan. Von diesem Zeitpunkt an konnte niemand mehr an der Wirklichkeit der Atome zweifeln. Die Anordnung der Spuren auf dem fotografischen Beugungsbild — man nannte es später Laue-Diagramm — mußte zudem aufschluß23
reich für die Anordnung der Atome in dem durchstrahlten Raumgitter sein. Der atomare Schlüssel in die Innenwelt der meisten Festkörper war gefunden, und er hat in der Folgezeit auch wundervoll „gepaßt". Für die Industrie vor allem wurden die Laue-Diagramme ein unentbehrliches Mittel zur Materialprüfung. Die Nachricht von der Entdeckung, die Laue und seine Mitarbeiter gemacht hatten, ging wie ein Lauffeuer durch die wissenschaftliche Welt. Laue trug seine neue Erkenntnis, gegen die von keiner Seite Bedenken erhoben wurden, in der Berliner Physikalischen Gesellschaft vor, und zwar an der gleichen Stelle, an der Max Planck im Herbst 1900 zum ersten Male seine Strahlungsformel und acht Wochen später seine Quantentheorie bekanntgegeben hatte. Es dauerte nur zwei Jahre, bis Max von Laue den Nobelpreis dafür erhielt, und zwar, wie die wörtliche Formulierung lautet: „Für die Entdeckung der Beugung von Röntgenstrahlen bei ihrem Durchgang durch Kristalle".
Meilensteine in der Geschichte der Physik Will man die wissenschaftliche Persönlichkeit Max von Laues als Gesamtbild erfassen, so wird man zweierlei unterscheiden müssen: seine Arbeit, durch die er selbständige, bahnbrechende, ja epochale Leistungen vollbrachte — wie die Entdeckung des Wellencharakters der Röntgenstrahlen mit ihren Folgen und sein Beitrag zur Erklärung der Supraleitfähigkeit — und anderseits das, was er zu den umwälzenden Ergebnissen der Physik des 20. Jahrhunderts zu sagen hatte. Dazu gehörte vor allem die Relativitätstheorie, über die er das erste zusammenfassende Buch schrieb und die er weiterentwickelte. Auch in zahllosen anderen Arbeiten hat er zu den heute schon unübersehbaren Forschungen und Gedanken der Physik Stellung genommen. Es war für seine Freunde immer eine Freude, wenn er im kleineren oder größeren Kreise in seinem eigenen Institut oder auf großen Kongressen die neuesten Ergebnisse mit klärenden Gedanken, geistvollen Fragen und oft auch humorvollen Bemerkungen kommentierte. Jeder fühlte da, wie das von anderen Vorgetragene durch ihn noch einleuchtender wurde oder wie es ihm 24
gelang, kritische Punkte ausfindig zu machen und, wo er es für erforderlich hielt, Bedenken anzumelden. Über die Anwendung der Raumgitteridee auf feste Körper hat sich von Laue ständig weitere Gedanken gemacht. Er unterschied sich hier von Röntgen, der das Interesse an dem Fortgang der Röntgenstrahlenforschung fast ganz verloren hatte. Aber immer blieb von Laue seiner eigenen Leistung gegenüber selbstkritisch und tat alles, damit seine entscheidendste Tat nicht etwa überschätzt oder gar in übertriebenen Formen ins Bewußtsein der Nachwelt aufgenommen wurde. Bescheiden erklärte er: Selbstverständlich wären die abgebeugten Strahlen beim Fortschritt der Technik zu immer kräftigeren Röntgenröhren auch bei anderen Forschern auf die Dauer der Beobachtung nicht entgangen. Irgendein Zufall hätte sicher einmal auf sie geführt. Wann dies geschehen wäre, läßt sich aber nicht abschätzen, und ganz sicher kann behauptet werden, zur Erklärung des Auftretens der abgebeugten Strahlen hätte auch jeder andere Forscher auf die Raumgitteridee zurückgreifen müssen. Von Laue wirft in diesem Zusammenhang auch die Frage auf, worin eigentlich die wahre Leistung und das wahre Verdienst eines erfolgreichen Forschers bestehe. Die Antwort, die er gibt, ist ebenso bescheiden: Irgendwann kommt es immer zur Lösung eines umstrittenen oder noch ganz offenen wissenschaftlichen Problems, es ist undenkbar, daß ein ganzer Wissenschaftszweig auf die Dauer in einer Sackgasse steckenbleibt. Der geniale Forscher nimmt in einem glücklichen Augenblick, in einer „Sternstunde", das, was aus innerer Notwendigkeit und Logik doch einmal kommen muß, voraus. Er verlegt also den Zeitpunkt, der nach menschlichem Ermessen der wahrscheinlichste wäre, in eine frühere Zeit. — Das müssen auch die Beurteiler der Entdeckung Laues empfunden haben. Sonst hätten sie dem jungen Manne, der in seiner Laufbahn noch keineswegs eine hohe Stufe erreicht hatte, nicht schon nach zwei Jahren den Nobelpreis zuerkannt. Max von Laue war sich bewußt, daß in der Erforschung der atomaren Innenwelt der festen Stoffe noch vieles zu tun sei. Seine Entdeckung hatte zwar erkennen lassen, daß aus den Interferenzbildern auf den Atomaufbau der Kristalle geschlossen werden könne. Wie groß die Entfernungen zwischen den Atomen des Raum25
gitters war — in Bruchteilen von Millimetern gemessen — darüber gab es nur Vermutungen; auch die Länge einer Röntgenwelle stand noch nicht fest. Auf all das aber kam es an, wenn man den wirklichen Aufbau der Hunderte und Tausende von Kristallarten auch in Zahlen erfassen wollte. Max von Laue hat offen und neidlos ausgesprochen, daß den beiden englischen Forschern William Bragg und seinem Sohn Lawrence Bragg, die dafür ebenfalls den Nobelpreis erhielten, das Verdienst zufalle, seine Entdeckung erst für die Praxis der Kristallforschung fruchtbar gemacht zu haben. Sie begannen damit im Jahre 1913, also ein Jahr nach der Laueschen Entdeckung; er nennt das „den ersten großen Schritt über meine in der Bayerischen Akademie erschienenen Veröffentlichungen hinaus". Den beiden Braggs war das möglich durch eine glückliche Verkettung von Umständen und auch durch Einzelforschungen, die in England gemacht worden waren. Ein Gelehrter namens Barlow hatte Modelle vom Aufbau des Steinsalzes und ähnlicher Verbindungen errechnet und dargestellt, und die beiden Braggs hatten in einer genialen Kombination daraus die Röntgenwellenlängen bestimmen können und mit deren Hilfe dann die tatsächlichen Entfernungen zwischen den Atomen der Kristalle, die sogenannten „Gitterkonstanten", gemessen. An der Stelle, an der von Laue über die Erfolge der beiden Braggs berichtet, spricht er auch vom Wert der wissenschaftlichen Hypothese, das heißt der wissenschaftlichen Vermutung, die ein Arbeitsmittel sei, das der Forschung oft den Weg gewiesen habe: „Das scheint mir das Wesentlichste an den vielen großen Leistungen der beiden Braggs. Nie trat der Wert der wissenschaftlichen Hypothese klarer zu Tage als in diesem Fall. Ohne die zunächst ganz vage scheinende Idee Barlows wäre man wohl nicht so bald zur absoluten Messung von Röntgenwellenlängen und von Kristallgitterkonstanten gekommen." Und weiter sagt er: „Diesen Schritt, der im wesentlichen auf die Durchforschung einzelner Kristallstrukturen hinauslief, hätte ich kaum tun können. Mich interessieren auf allen Gebieten der Physik vor allem die großen, allgemeinen Prinzipien — deshalb hatten mich auch Plancks Vorlesungen, welche gerade diese betonten, so sehr angesprochen —, und die prinzipiellen Fragen nach der Natur der Röntgenstrahlen einerseits, der Kristalle 26
andererseits, waren durch die Versuche wohl entschieden. Die Braggs brachten die Liebe zum Einzelstoff mit, sie vermochten sich mit Hingebung in die Strukturen von Natriumchlorid, von Diamant und so fort bis zu den verwickeltsten Silikaten zu vertiefen. Die Physik braucht Forscher verschiedenartigster Begabung und geriete bald ins Stocken, wären alle Physiker von gleichem geistigem Typus." Darüber kann man lange nachdenken. Alle Physiker von Bedeutung stellen einen bestimmten Typus dar, kaum einer gleicht dem anderen, und wenn sie auch alle an die exakten Methoden der Naturwissenschaft gebunden sind, so ist doch die Art, mit der sie zu Werke gehen, recht verschieden. Die einen denken über die letzten Grundbegriffe der Physik, wie die Energie oder die Bewegung oder die Relativität nach, andere aber, denen es mehr liegt, möglichst viele einzelne Naturerscheinungen zu erforschen, sudien die bisher unbekannten Tatsachen und Eigenschaften aufzuhellen, und zwar auf Grund sorgfältiger und nachkontrollierbarer Messungen. Max von Laue war nach seinem großen Erfolg Professor in Zürich geworden. Im Jahre, da er den Nobelpreis erhielt, übernahm er eine Professur in Frankfurt am Main. Nach dem Ende des ersten Weltkrieges, im Jahre 1919, ging er nach Berlin, wo er sich der wissenschaftlichen Forschung und Lehre widmete und Generationen von Physikern heranbildete.
Kämpfer für die Menschenwürde Hier in Berlin mußte er auch die Entwürdigung der deutschen Wissenschaft erleben, die schon bald nach der „Machtergreifung" Hitlers im Jahre 1933 einsetzte. Bis in seinen engsten Freundesund Mitarbeiterkreis drangen die Schergen. Wer ihnen unbequem war oder wer ihren rassischen Vorstellungen nicht entsprach, den brachten sie, ohne Rücksicht auf Alter und Verdienst, ins Konzentrationslager oder trieben ihn über die Grenze in die Fremde. In von Laues Tagebuch aus dieser Zeit lesen wir: „Gleich vielen anderen zitierte ich damals im stillen häufig den Vers Heines: Denk ich an Deutschland in der Nacht, So bin ich um den Schlaf gebracht. 27
Oftmals fragte ich mich, wenn mir beim Aufwachen die Schrecknisse des letzten Tages einfielen, ob ich sie nicht nur geträumt habe. Leider waren sie Wirklichkeit, harte Wirklichkeit." Das waren jedoch nicht Stimmungen, die ihn hätten lähmen können. Es waren vielmehr aktive Kräfte in ihm, die ihn drängten, den unmittelbar Betroffenen zu helfen. Einige warnte er rechtzeitig, so daß sie flüchten konnten. Den ihrer Stellung beraubten Kollegen half er, wo er nur konnte. In einigen wenigen Fällen gelang es ihm und einigen Freunden, daß sich solche Kollegen die ganze Zeit hindurch verborgen in Deutschland aufhalten konnten. Denen aber, die auswanderten, ebnete er die Wege zu neuen Stellungen, indem er den ausländischen Hilfsorganisationen Mitteilungen über ihre Persönlichkeit, ihre Familienverhältnisse, ihre besonderen Fähigkeiten und Wünsche zugehen ließ. Er selber stand unter Postzensur, und da er sicher damit rechnen mußte, daß sie bestimmte Briefe unterschlug, benützte er andere, heimliche, aber sichere Wege, auf denen die Post ihren Empfänger erreichte. Einmal hat er sogar einen, der sich verfolgt glaubte, mit seinem Auto ins tschechische Gebiet gebracht. Neben dieser heimlichen Tätigkeit wider die Schänder des deutschen Namens wagte er aber auch, öffentlich gegen sie zu demonstrieren. Auf dem Physikertag zu Würzburg hielt er am 18. September 1933 eine Rede, in der er die Entdeckung Röntgens würdigte, auf die Würzburg besonders stolz sein durfte. Laue war damals Vorsitzender der Deutschen Physikalischen Gesellschaft. Mit besonderer Betonung sprach er in dieser Rede von der Freiheit der Wissenschaft, über der sich bereits im Herbst 1933 drohende Wolken zusammengezogen hatten. Laue ging nicht zum direkten Angriff über, das hätte der Sache der Freiheit nur geschadet. Trotzdem erfaßten seine Zuhörer sofort, was er meinte, als er an Galilei erinnerte, dem man das berühmte Wort „Und sie bewegt sich doch!" — nämlich die Erde um die Sonne — in den Mund legt. Laue stellte die Frage, warum diese Legende noch heute als wahr empfunden werde: „Worauf beruht ihre Lebenskraft? Doch wohl darauf, daß Galilei ja bei den ganzen Prozeßverhandlungen innerlich die Frage gestellt haben muß: .Was soll das alles? Ob ich, ob irgendein Mensch es nun behauptet oder nicht, ob politische, ob kirchliche Macht dafür ist 28
oder dagegen das ändert doch nichts an den Tatsachen! Wohl kann Macht deren Erkenntnis eine Zeitlang aufhalten, aber einmal bricht die Erkenntnis doch durch.' Und so ist es ja auch gekommen. Der Siegeszug der kopernikanischen Lehre war unaufhaltsam... Auch später gab es für die Wissenschaft manchmal schlechte Zeiten, so in Preußen unter dem sonst so verdienten König Friedrich Wilhelm I. Aber bei aller Bedrückung konnten sich ihre Vertreter aufrichten an der sieghaften Gewißheit, die sich ausspricht in dem schlichten Satze: ,Und sie bewegt sich doch!'" Dieses trutzige Wort wurde in dem großen Kreis der zuhörenden Physiker und Mathematiker richtig begriffen, um so mehr, als damals eine ebenso naive wie politisch gefährliche Richtung ihr Haupt erhob, die eine „Deutsche Physik" und eine „Deutsche Mathematik" propagierte. Ihre Vertreter nannten Einsteins Relativitätstheorie einen „jüdischen Weltbluff", Plancks geniale Quantentheorie wurde als Hirngespinst bezeichnet. Zwar haben nur wenige Physiker und Mathematiker solche Gedanken vertreten, aber sie saßen zum Teil schon an den Schalthebeln der nazistischen Kulturpolitik. Von Laues Glaube, daß die Unterdrückung des Geistes in absehbarer Zeit wieder aufhören müsse, war trotzdem sehr stark, obwohl es damals gar nicht danach aussah. Ein zweites Dokument, das Laues charaktervolle Haltung in jenen wildbewegten Tagen und Jahren offenbart, ist sein Nachruf auf den nach dem damaligen Sprachgebrauch „nichtarischen" Professor und Nobelpreisträger Fritz Haber, einen der größten Chemiker unseres Jahrhunderts, dem es mit Bosch zusammen gelungen war, Stickstoff aus der Luft zu gewinnen. „Seine Absetzung und Vertreibung gehört", so erklärte von Laue ironisch, „zu den besonderen Ruhmesblättern des Hitlertums". Den Nachruf auf den Vertriebenen veröffentlichte er im Frühjahr 1934 in der führenden Zeitschrift „Naturwissenschaften". Nach der Würdigung der wissenschaftlichen Tätigkeit von Professor Haber rühmt von Laue darin das von Haber geleitete Kaiser-Wilhelm-Institut für Physikalische Chemie: „Solange es bestand, bildete sein Institut eine weitberühmte Stätte vieles umspannender Naturforschung." Und er fährt lapidar und unmißverständlich fort: „Am 2. Mai 1933 reichte Haber sein Abschiedsgesuch ein. Themistokles ist in die Geschichte einge29
gangen nicht als der Verbannte am Hof des Perserkönigs, sondern als der Sieger von Salamis. Haber wird in die Geschichte eingehen als der geniale Erfinder desjenigen Verfahrens, Stickstoff mit Wasserstoff zu verbinden, das der technischen Stickstoffgewinnung aus der Atmosphäre zugrunde liegt, als der Mann, der auf diese Weise, wie es bei der Überreichung des Nobelpreises an ihn hieß, ,ein überaus wichtiges Mittel zur Hebung der Landwirtschaft und des Wohlstandes der Menschheit' schuf, der Brot aus Luft gewann und einen Triumph errang ,im Dienste seines Landes und der ganzen Menschheit'."
Der Internierte Bis Mitte April 1944 erlebte Max von Laue in Berlin die verheerenden Bombenangriffe mit. Einen besonders tiefen Eindruck machte es auf ihn, als er in der Nacht vom 15. auf den 16. Februar 1944 das Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie, in dem Otto Hahn die Möglichkeit der Atomspaltung entdeckt hatte, bis zur völligen Vernichtung brennen sah. Als dann das Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik von Berlin-Dahlem nach Hechingen am Fuß der Burg Hohenzollern verlagert wurde, ging er mit dem Institut dorthin, zumal sein Haus in Berlin-Zehlendorf stark durch Bomben gelitten hatte und unwohnlich geworden war. Die letzten Kriegstage brachten auch in dem Evakuierungsgebiet noch manche unangenehmen, ja gefährlichen Augenblicke. Als die Front näherrückte, ruhte zwangsläufig alle wissenschaftliche Arbeit. Hechingen wurde von einem englisch-amerikanischen Stoßtrupp besetzt und Max von Laue mit einer Reihe anderer Physiker zum Internierten erklärt. Der Stoßtrupp hatte den Auftrag, die in Hechingen und dem nahe liegenden Haigerloch arbeitenden Kernphysiker mit nach England oder den USA zu nehmen. Da von Laue sich nicht als eigentlicher Kernphysiker ansehen durfte, bemerkt er humorvoll dazu, daß ihm die völlig unwürdige Ehre zuteil geworden sei, zu den Kernphysikern gerechnet zu werden. Durch einige weitere Verhaftungen unterwegs wuchs die Gruppe schließlich auf zehn Köpfe an. Sie wurden erst nach Heidelberg, dann nach Reims, dann in einen Pariser Vorort, von dort in ein Landschloß in Belgien und zuletzt nach Huntinton in England ge30
bracht. Über die Behandlung hatten sie sich nicht zu beklagen. Laue erzählt, die Militärverpflegung habe allen nach den Entbehrungen der Kriegszeit über die Maßen wohlgetan. Mit ihm zusammen teilten u. a. auch Hahn, Heisenberg und Weizsäcker die Haft. Die Soldaten, die sie bewachten, waren nicht davon unterrichtet, wen sie zu betreuen hatten. Sie wußten nur, daß es „sehr wichtige Persönlichkeiten" waren. Einer der Wärter glaubte eines Tages zu wissen, wer Max von Laue war. Er trat auf ihn zu und erklärte: „Sie sind der Marschall Petain!" Niemand in der weiten Welt wußte, wo diese Männer der deutschen Forschung geblieben waren. Selbst die Königlich Schwedische Akademie, die Otto Hahn für den Nobelpreis vorgeschlagen hatte, suchte lange Zeit vergebens nach ihm. Allmählich durften sich die Gelehrten freier bewegen. Sie konnten englische und amerikanische Zeitungen lesen, man gab ihnen wissenschaftliche Werke, besorgte ihnen ein Radiogerät, damit sie den Londoner Rundfunk hören konnten. Englische Offiziere nahmen sie gelegentlich zu Ausflügen mit, zur Besichtigung der großen Kathedralen der Umgebung, ja bis nach London. Laue spürte sehr deutlich die zwiespältige Haltung bei den englischen Bewachern: Sie schätzten sichtlich den hohen wissenschaftlichen Rang ihrer Gefangenen, sie fürchteten sie aber auch als vielleicht sehr gefährliche Leute. Laue fand die Situation reichlich komisch, aber sie bedrückte ihn auch. Der Fünfundsechzigjäbrige suchte in sportlicher und geistiger Betätigung Entspannung von den trüben Gedanken. Jeden Tag sah man ihn bei einem Dauermarsch von zehn Kilometern durch den Garten eilen. Otto Hahn berichtet: „Das bedeutete etwa fünfzig Runden in dem uns zugewiesenen Garten, wobei jede Runde durch einen Kreidestrich an der Mauer angezeigt wurde." Die Internierten begannen in größerem Umfang mit gemeinsamen wissenschaftlichen Forschungen und gründeten „Seminare", in denen Max von Laue Vorträge über sein spezielles Arbeitsgebiet hielt. Man hinderte ihn auch nicht, eine Arbeit über die Röntgenstrahlen zu schreiben. Die Überwachung lockerte sich. Schon am 2. Oktober 1945 wurde er mit Otto Hahn und Werner Heisenberg von dem Präsidenten einer Londoner wissenschaftlichen 31
Akademie zum Tee eingeladen. Dort sollten die deutschen Forscher mit maßgebenden englischen Physikern und Offizieren über die Fortführung der Forschung in der deutschen Heimat beraten. Später durfte er an mehreren wissenschaftlichen Tagungen teilnehmen — durch einen glücklichen Zufall sogar an der 300-Jahr-Feier des Todestages des bahnbrechenden englischen Physikers Isaac Newton. An sich war von deutschen Wissenschaftlern nur Max Planck eingeladen worden, der trotz seiner achtundachtzig Jahre auch gekommen war. Aus Versehen hatte ein unverheiratetes englisches Mitglied der Akademie für seine nicht existierende Frau eine Einladung erhalten, und er riskierte es, Max von Laue auf diese Karte hin mit zu dem Geselligkeitsabend zu nehmen, der mit der Newton-Ehrung verbunden war. Gelehrte aus allen Nationen waren beisammen. Sie begrüßten Max Planck und Max von Laue, und auf beide machte es einen unauslöschlichen Eindruck, daß schon im Sommer 1946, ein Jahr nach,dem Ende des zweiten Weltkrieges, der „eiserne Vorhang" zwischen den deutschen und den nichtdeutschen Wissenschaftlern ein wenig in die Höhe gegangen war — im Gegensatz zu der Zeit nach dem ersten Weltkrieg, als es bis zu zehn Jahre dauerte, bis die Verfemung der deutschen Forscher überwunden war. Auf dem Boden der Wissenschaft trafen sie sich: Engländer und Amerikaner, Franzosen, Polen, Tschechen, Ungarn, Skandinavier, Italiener, Belgier, Holländer und andere. Bald danach wurde von Laue nach Deutschland entlassen und konnte in Göttingen, wo auch Max Planck seine letzten Lebensjahre verbrachte, als Honorarprofessor an der Universität lehren und als stellvertretender Direktor des Max-Planck-Instituts für Physik wirken. Im Jahre 1951 ging er dann nach Berlin, seiner letzten Wirkungsstätte. Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky Bilder: Deutsches Museum und Ullstein-Bilderdienst Lux-Lesebogen
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