Leben im Plattenbau
Carsten Keller, Dr. phil., ist Sozialwissenschaftler und promovierte an der Humboldt-Universität ...
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Leben im Plattenbau
Carsten Keller, Dr. phil., ist Sozialwissenschaftler und promovierte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zurzeit ist er Fellow am Fachbereich Soziologie und Sozialforschung der Universität Milano Bicocca, Italien.
Carsten Keller
Leben im Plattenbau Zur Dynamik sozialer Ausgrenzung
Campus Verlag Frankfurt/New York
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-593-37844-2 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Copyright © 2005 Campus Verlag GmbH, Frankfurt/Main Umschlaggestaltung: Guido Klütsch, Köln Umschlagmotiv: Berlin-Marzahn, Foto: Carsten Keller Druck und Bindung: PRISMA Verlagsdruckerei GmbH Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier. Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.campus.de
Inhalt
Danksagung ............................................................................................................ 9 Einleitung .............................................................................................................. 11
Transformation des Plattenbaus 1. Soziales Milieu und Alltagsleben in Plattenbausiedlungen der DDR – ein fordistisches Integrationsmodell ................................. 19 Der Betrieb als Zentrum, die Siedlung als Peripherie ................................. 21 Wolfen und Eisenach: zwei industrielle Mittelstädte im Kontext ..... 23 Soziale Schichtung: Arbeitermilieus und das Programm der sozialen Mischung .................................................................................... 27 Vergabepolitik und interne Segregation ................................................ 31 Respektable Milieus im städtischen Kontext ............................................... 33 Privileg oder Arbeiterschließfach? ......................................................... 37 Kollektivierung versus Kleinfamilie oder Die Legende von Haus und Gemeinschaft .......................................... 39 Fazit: Halbierter Fordismus und Plattenbau ................................................ 44 2. Abstieg und Verinselung der Siedlungen ............................................... 46 Soziale Entmischung ....................................................................................... Entleerung ins Umland ............................................................................ Markt- und staatlich gesteuertes Auffüllen ........................................... Belegungspolitik ....................................................................................... Bilanz: Abstieg mit unterschiedlicher Intensität ..................................
48 50 52 55 57
Interne Segregation .......................................................................................... 58 Sozialräumliche Milieus: Etablierte Ältere, MigrantInnen und Arme ......................................................................... 59
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Verinselung als Geschichte von Wohnungseigentümern: Eisenach-Nord ......................................................................................... 62 Segregation nach Bebauungsalter: Wolfen-Nord ................................. 68 3. Krise des Zusammenlebens – Kampf um Respektabilität ................. 74 Wahrnehmungen des Umbruchs ................................................................... Sozialer Rückzug und Abstieg der Siedlungen ..................................... Etablierte und Außenseiter – Sichtweisen der WohnungswirtschaftlerInnen ................................................................. Statusvergleiche und Abgrenzungen – Sichtweisen der BewohnerInnen ............................................................
76 77 79 81
Bewohnertypen und Milieukonflikte ............................................................. 83 Jugendliche: Ambivalenter Ortsbezug und Cliquenbildung ............... 85 Etablierte Ältere: Biographische Bindung und Distanz ...................... 90 Arme und Prekäre: Im Zentrum der Konflikte ................................... 94 MigrantInnen: Zwischen Diskriminierung und Integration ............. 102 Kampf um Respektabilität ............................................................................ 104 Status-Legitimation durch symbolisch-kulturelle Ressourcen .......... 104 Soziokulturelle Fraktionierung in den Unterschichten ...................... 108
Soziale Exklusion und Alltagspraxis im Quartier 4. Armut und Ausgrenzung im Postfordismus ........................................ 113 Gesellschaftliche Transformation und neue Armut .................................. Diskurse über die neue Armut ............................................................. Pauperismus und die Optik staatlicher Fürsorge ............................... Die Underclass-Debatte ........................................................................
115 116 119 121
Ursachen und Dimensionen von Armut und sozialer Exklusion ........... Risikogruppen der Armut ..................................................................... Von der relativen Armut zur sozialen Exklusion ............................... Leben im Quartier ..................................................................................
123 125 127 131
5. Dynamiken sozialer Exklusion: Eine Typologie ............................... 133 Theoretische und methodische Genealogie ............................................... 134 Hauptmerkmale der Typen ........................................................................... 137
INHALT
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Multiple Deprivation ............................................................................. 138 Exklusionsdynamik und soziales Alter ................................................ 140 Lebensweltliche Portraits .............................................................................. Hängen-Bleiben ...................................................................................... Adaption an Armut ................................................................................ Isolation und Entfremdung .................................................................. Erzwungene Mobilität ...........................................................................
142 144 150 156 162
6. Alltagsstrategien und Quartierseffekte ................................................. 168 Soziale Netzwerke .......................................................................................... 170 Armut und Nachbarschaftshilfen ........................................................ 170 Kontaktverhalten und soziale Nahbeziehungen ................................ 174 Alltagsstrategien ............................................................................................. 177 Formelle versus improvisierende Strategien ....................................... 178 Lebensweltliche versus institutionelle Exklusionseffekte ................. 182 Quartierseffekte .............................................................................................. 186 Vier Mechanismen der Benachteiligung .............................................. 187 Schutzraum oder Ghetto? ..................................................................... 194 Soziale und politische Perspektiven für die Plattenbausiedlungen ..... 196 Anhang: Methode .............................................................................................. 202 Literatur ............................................................................................................... 210
Danksagung
Unter den vielen Personen, die mich von den mehrjährigen Forschungsarbeiten bis hin zur Entstehung des Buches unterstützt haben, möchte ich besonders denen danken, die Auskunft über ihre Lebensverhältnisse, Sichtweisen und Biographien gegeben haben. Die Perspektiven der Bewohnerinnen und Bewohner der untersuchten Plattenbausiedlungen stehen im Zentrum dieser Arbeit, und eines der größten Bemühen war es, mit ihren Geschichten und Ansichten respektvoll und distanziert – im Sinne eines verstehenden Zugangs – umzugehen. Dann bedanke ich mich bei den zahlreichen Personen, die mir als ExpertInnen Zugänge zur sozialen Realität der Siedlungen verschafft haben. Ohne die engagierte Kooperation einzelner unter ihnen wäre die Studie so nicht möglich gewesen. Die Neugierde an den Lebensverhältnissen und Entwicklungen in den ostdeutschen Großsiedlungen teilend, hat Olaf Groh-Samberg die empirischen Erhebungen von Anfang an mit durchgeführt. Die teilnehmenden Beobachtungen, das Wohnen in den Siedlungen, der Zugang zu den Personen und die Interviews wurden auf diese Weise zu einer gemeinsamen Erfahrung und Arbeit. In zahlreichen Diskussionen haben er und Ullrich Bauer die Arbeit bis hin zu den letzten schriftlichen Versionen kritisch verfolgt, kommentiert und inspiriert. An sie beide geht deshalb mein größter Dank. Dank bin ich zudem Hartmut Häußermann verpflichtet, der als Doktorvater die Arbeit begleitet und ihr zahlreiche Impulse gegeben hat. Auch den MitarbeiterInnen des Lehrstuhls für Stadtsoziologie an der HumboldtUniversität bin ich für Diskussionen und Unterstützung verbunden, unter ihnen besonders Christine Hannemann. Auch in Durststrecken hat sie mir mit Sachkompetenz und Ratschlägen beigestanden. Franz Schultheis schließlich hat es ermöglicht, dass ich Ergebnisse und Interviews in ein weiteres Forschungsprojekt einbringen und in einem außergewöhnlichen kooperativen Rahmen weiterentwickeln konnte. Er und sein Forscherteam haben mir entscheidende Anregungen gegeben, besonders bei der Analyse der qualitativen Daten. Last but not least geht ein großes Dankeschön an Michael Maschke für seine inhaltliche und freundschaftliche Unterstützung.
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Díe Arbeit wurde durch die komfortablen Förderbedingungen eines von der Friedrich-Ebert-Stiftung gewährten Graduiertenstipendiums ermöglicht. Mein abschließender Dank gilt meinen Eltern für ihre Unterstützung und Geduld.
erstellt von ciando
Einleitung
Die Plattenbausiedlungen gehören zu den städtebaulich charakteristischsten Hinterlassenschaften der realsozialistischen Gesellschaften. In Architektur und Masse der Siedlungen spiegeln sich die Bestrebungen, gesellschaftliche Ungleichheiten aufzuheben und einen relativ homogenen Lebensstandard für die breite Bevölkerung zu schaffen. Zugleich freilich sind die Siedlungen Ausdruck von politischem Pragmatismus und Kompromissen. Schon der durch Chruschtschow eingeleitete Kurswechsel im Städtebau, die Geburtsstunde des industriellen Wohnungsbaus in der Sowjetunion, verfolgte den Zweck, möglichst schnell viele Wohnungen herzustellen. Angesichts der extremen Wohnungsnot erschien es als untragbar, weiterhin Arbeiterpaläste für wenige zu bauen. Unter dem Leitsatz »Besser, billiger und schneller bauen« wurde dieser Kurswechsel 1955 in der DDR rasch nachvollzogen. Die Hauptphase des Plattensiedlungsbaus in der DDR setzte allerdings mit dem Machtantritt Honeckers ein. Das unter ihm verabschiedete große Wohnungsbauprogramm war Bestandteil einer Politik, die die standardisierte Massenproduktion stärker mit dem Konsumgütersektor verzahnen und den Übergang in eine fordistische Gesellschaft vollziehen wollte. Ironischer Weise geschah das zu einem Augenblick, als der Fordismus im Westen erste Risse zeigte. Die Plattenbausiedlungen, die jetzt in nie zuvor erreichter Geschwindigkeit entstanden, folgten eben diesem Integrationsmodell: Eine breite soziale Schicht, die durch Vollbeschäftigung, einen standardisierten Alltag und die Parzellierung in Kleinfamilien charakterisiert war, sollte an den Früchten des Wohlstands und der Modernität teilhaben.1 Was aber wird aus den Plattenbausiedlungen in der wiedervereinigten Gesellschaft? Welche Bedeutung und Funktion kann ihnen, in denen zu Wende-Zeiten ein Viertel der ostdeutschen Bevölkerung lebte, im flexiblen, postfordistischen Kapitalismus zukommen? Mit dem Fall der Mauer setzte eine Debatte über die ostdeutschen Großsiedlungen ein, bei der auch die unterschiedlichen Erfahrungen und Perspektiven aus Ost und West aufeinan-
—————— 1 Das Konzept des »Fordismus« wird im ersten Kapitel genauer expliziert.
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der stießen: Eine Perspektive, die die Errungenschaft einer modernen Wohnungsversorgung für die breite Bevölkerung hervorhob, stieß auf eine Perspektive, die in den Siedlungen soziale Problemgebiete entstehen sah, zu denen sich die Großsiedlungen im Westen bereits entwickelt hatten. Die eingeschlagene Politik der Modernisierung der Siedlungen basierte dann auf dem Konsens, dass es diese sozialen Abstiege zu verhindern gelte. Doch trotz der umfangreichen Bemühungen der baulichen Aufwertung sind die randstädtischen Plattenbausiedlungen von einem sozialen Abstiegsprozess erfasst worden. Dieser Abstieg vollzieht sich in verschiedenen Stadttypen mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten, und auch innerhalb der Gebiete schlägt sich der Abstieg unterschiedlich nieder. Generell aber haben sich in den Siedlungen sozialräumliche Milieus herausgebildet, in denen Arbeitslosigkeit, Prekarität und Armut dominieren. Die »neue Armut« ist mit der gesellschaftlichen Transformation in Ostdeutschland angekommen, und sie ist es in besonderem Maße in den randstädtischen Großwohnanlagen. Dieser Trend der Segregation der Armut hält an. Die soziale Entmischung der Siedlungen hat eine Eigendynamik entwickelt, der mit der gegenwärtigen Politik der Leerstandsbekämpfung nicht beizukommen ist. Thema dieser Arbeit sind die sozialen Entwicklungen und Ausgrenzungsprozesse in den Plattenbausiedlungen. Seit der Wende sind zahlreiche Studien zu städtebaulichen und architektonischen Aspekten der Siedlungen entstanden. Dagegen existieren kaum Arbeiten, die sich mit der sozialen Entwicklung, dem Alltagsleben und Bewohnerperspektiven beschäftigen. Selbst wenn man die in den letzten Jahren im Rahmen des Bund-LänderProgramms »Soziale Stadt« entstandenen Untersuchungen zusammenzählt, übertrifft das Wissen, das über Plattenbautypen, Grundrisse, über den Leerstand oder Sanierungsformen existiert, bei Weitem das über die sozialen Entwicklungen und Verhältnisse.2 Welche sozialen Milieus und Bewohnergruppen leben in den Plattenbausiedlungen? Wie sehen diese das Leben in der Platte, und wie verhalten sie sich gegenüber dem sozialen Abstieg? Welchen Einfluss hat die Segregation auf die Alltagspraktiken und Netzwerke der BewohnerInnen, und üben die Gebiete exkludierende Effekte aus? Wie beeinflusst schließlich der soziale Wandel die weiteren Perspektiven der Siedlungen? Diese Fragen leiteten eine
—————— 2 Zu einem Überblick über die Literatur bis 1997 vgl. Rietdorf (1997). Besonders im Rahmen des Programms »Stadtumbau Ost« sind inzwischen zahlreiche weitere Studien und Broschüren entstanden. An sozialwissenschaftlichen Studien, die sich auch mit den sozialen Entwicklungen in den Plattenbausiedlungen beschäftigen, sind die von Harth/Herlyn/Scheller (1998), Hunger/Wallraf (1998), Hannemann (2000) und Kahl (2003) zu nennen. Zum BundLänder-Programm »Soziale Stadt« vgl. Walther (2001) und DIfU (2002a).
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empirische Untersuchung an, die in den randstädtischen Siedlungen zweier Mittelstädte, Eisenach und Wolfen, durchgeführt wurde. Die Auswahl fiel auf Mittelstädte, da sie durch ihren hohen Anteil an industriellem Siedlungsbau einen besonderen Stadttyp bilden, und da in ihnen die Siedlungen Vorreiter des sozialen Abstiegs sind. In drei Wellen wurden ExpertInnen und BewohnerInnen befragt: 1997 in Eisenach, 2001 in Wolfen und 2003 noch einmal in Eisenach. Unter der Annahme, dass arme und materiell prekäre Haushalte besonders von benachteiligenden Effekten der Quartiere getroffen werden, wurden zwei Drittel materiell deprivierte im Vergleich zu einem Drittel materiell gesicherten Haushalten interviewt. Die qualitativen Befragungen wurden jeweils im Rahmen mehrwöchiger Aufenthalte in den Siedlungen durchgeführt und durch teilnehmende sowie nicht-teilnehmende Beobachtungen ergänzt. Darüber hinaus wurden Strukturdaten zu den beiden Siedlungen gesammelt. Die Ergebnisse dieser soziographischen Studie, bei der 81 Haushalte zu Sichtweisen, Lebenslagen, Alltagsstrategien und biographischen Verläufen sowie 77 ExpertInnen befragt wurden, stehen im Zentrum dieser Arbeit. Anhand von Studien und Expertengesprächen zur Entwicklung weiterer Plattenbausiedlungen werden die beiden Fallstudien kontextualisiert und vergleichend beurteilt. Als Dynamiken der sozialen Exklusion werden Prozesse beschrieben, bei denen ökonomische Armut mit Deprivationen in der sozialen und kulturellen Dimension zusammen wirken. Solche Exklusionsdynamiken konnten bei etwa einem Viertel der interviewten Haushalte festgestellt werden. Die lebensweltliche Portraitierung und typologische Differenzierung sozialer Exklusion bildet einen Schwerpunkt der Arbeit. Es wird gezeigt, wie neben den ökonomischen Ressourcen auch die sozialen Netzwerke und Alltagsstrategien der BewohnerInnen sowie die kulturellen Abgrenzungen und Statuskämpfe zu biographischen Flugbahnen der Exklusion beitragen. Damit soll die anhaltende theoretische Diskussion um das Exklusionskonzept empirisch unterfüttert und diese Diskussion auf empirischer Basis weiterentwickelt werden. Wesentliche Merkmale des Samples sowie methodische Verfahren werden im Verlauf der Arbeit dargestellt. Eine Beschreibung der Feldarbeit und der Auswertung findet sich im Anhang, wo auch die Leitfäden und das Auswahlverfahren erläutert werden. Methodisch ist lediglich vorwegzuschicken, dass die ökonomische Armutsgrenze bei 50 Prozent des durchschnittlichen Nettoäquivalenzeinkommens anlegt und gesamtdeutsche Durchschnittseinkommen
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zu Grunde gelegt werden. 3 Als materiell prekär werden in Anschluss an Hübinger (1996) Haushalte bezeichnet, die zwischen 50 und einschließlich 75 Prozent des durchschnittlichen Nettoäquivalenzeinkommens zur Verfügung haben.
Zum Aufbau der Arbeit Die Arbeit gliedert sich in zwei Teile. In einem ersten Teil wird die Transformation der Plattenbausiedlungen seit der Wende beschrieben (Kapitel 1–3). Die These ist, dass sich die Siedlungen von fordistisch integrierten zu intern segregierten Quartieren entwickeln, in denen sich sozialräumliche Milieus von etablierten Älteren und benachteiligte Milieus von Armen, Prekären und MigrantInnen herausbilden. Mit diesem Prozess des Abstiegs und der internen Segregation einher geht eine Krise des Zusammenlebens: Abgrenzungen und Kämpfe um Respektabilität in den unteren sozialen Schichten entwickeln in den Siedlungen eine besondere Intensität. Zunächst wird das fordistische Integrationsmodell der Plattenbausiedlungen in der DDR rekonstruiert (Kap. 1). Anspruch und Wirklichkeit des realsozialistischen Systems lagen in den stets als Fortschritt gepriesenen Neubaugebieten dicht beieinander, und die Rekonstruktion beleuchtet beides, um Widersprüche herauszuarbeiten. Dabei zeigt sich, dass die These einer ehemals hohen sozialen Mischung in den Gebieten relativiert werden muss. Die wesentliche Errungenschaft des industriellen Siedlungsbaus bestand darin, einfache und qualifizierte Arbeitermilieus in eine sozialistische Mittelschicht integriert und respektable Milieus geschaffen zu haben, die einen Status materieller Sicherheit sowie sozialer und kultureller Einbindung genossen. Anschließend wird der Prozess des Abstiegs und der internen Segregation seit der Wende beschrieben (Kap. 2). Es sind vor allem makrosoziale Ursachen, die den generellen Abstiegstrend der Plattenbausiedlungen bedingen. Allerdings beeinflussen kommunale Faktoren wie die Eigentümerstruktur und die Intervention der städtischen Akteure die Formen der internen Segregation. Die sich mit der internen Segregation bildenden sozialräumlichen Milieus werden im dritten Kapitel portraitiert (Kap. 3). Neben ihren Sichtweisen und Bezügen zu den Siedlungen werden die Krise des Zusammenlebens und die symbolischen Abgrenzungen und Aneignungen der Siedlungswelt in den Vor-
—————— 3 Verwendet werden arithmetische Mittelwerte, und die Haushaltsbedarfe werden nach der neuen BSHG-Skala gewichtet. Vgl. zur Armutsmessung und Armutskonzepten Becker/ Hauser (1997) und Andreß (1999).
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dergrund der Betrachtung gestellt. Die Konflikte lassen sich als ein Kampf um Respektabilität interpretieren, als ein symbolisch überformter Statuskampf, bei dem Distinktionen und Fraktionierungen in den unteren sozialen Schichten aufbrechen, die durch die fordistische Integration gerade überwunden werden sollten. Die Darstellung der Kämpfe um Respektabilität bilden den Übergang zum zweiten Teil, in dem die soziale Exklusion und Alltagspraktiken der BewohnerInnen untersucht werden (Kapitel 4–6). Im Zentrum steht hier die These, dass die Siedlungen exkludierende Effekte ausüben, die zwar keineswegs alle, aber doch bestimmte Bewohnergruppen treffen. Diese Gruppen bestehen primär aus statusschwachen und sozial abgestiegenen Haushalten. Darüber hinaus sind Personen mit fragilen sozialen Nahbeziehungen und einseitig »formellen« oder »improvisierenden« Alltagsstrategien für negative Quartierseffekte anfällig. Soziale Exklusion bedeutet dabei nicht allein eine materielle Armut und Deprivation, sondern sie liegt bei Haushalten vor, die in materieller, sozialer und kultureller Hinsicht, also mehrdimensional, benachteiligt sind. In einem einleitenden Kapitel wird die international verzögerte Entstehung der »neuen Armut« und sozialen Exklusion in Ostdeutschland zum Anlass genommen, die Diskurse über die im Westen bereits seit den 70er Jahren wachsende Armut und deren Ursachen zu rekapitulieren (Kap. 4). Armut ist im Postfordismus zu einem strukturellen und kollektiven, wesentlich durch die kapitalistischen Arbeitsmärkte verursachten Phänomen geworden. Auch in Ostdeutschland stellt sie keine Übergangserscheinung der Transformation dar. Bemerkenswert ist an den Diskursen über die neue Armut gleichwohl, dass besonders die Heterogenität, Individualisierung und das Vorübergehende der Armut hervorgehoben werden. Diese Sichtweise, so wird anhand eines historischen Exkurses gezeigt, korrespondiert einer sozialstaatlichen Optik auf Armut, die in der postfordistischen Ära die Debatten um Armut und Exklusion nachhaltig prägt. Die anschließenden beiden Kapitel stellen die Ergebnisse der empirischen Erhebungen dar. Zunächst wird eine Typologie entwickelt, die Formen und Dynamiken sozialer Exklusion bei unterschiedlichen Bewohnergruppen fokussiert (Kap. 5). Anhand der portraitierten Typen wird deutlich, wie sich soziale Exklusion im Plattenbau lebensweltlich darstellt. Die Typologie dient im Weiteren als Analyseinstrument, um herauszuarbeiten, auf welche Weise das Quartier negativ in die soziale Laufbahn der BewohnerInnen interveniert. Auf ihrer Grundlage stellt das letzte Kapitel die Ergebnisse zu den Netzwerken und den Alltagsstrategien vor und untersucht deren Zusammenwirken mit den Quartierseffekten (Kap. 6). Dabei zeigt sich, dass die Netzwerke zwischen den
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BewohnerInnen einerseits eine positive Rolle bei der Armutsbewältigung spielen, andererseits bei einer bestimmten Qualität jedoch für soziale Exklusion anfällig machen. Bezüglich der Alltagsstrategien sind die BewohnerInnen mit einem Dilemma konfrontiert, dem sie nur durch ein situationsgerechtes Umstellen zwischen verschiedenen Handlungsstrategien entgehen können. Während sie bei bestimmten – formellen – Strategien Gefahr laufen, im lebensweltlichen Kontext des Quartiers ausgegrenzt zu werden, verlieren sie bei einer ausschließlichen Übernahme von als improvisierend bezeichneten Alltagspraktiken den Anschluss an die gesellschaftliche Integration. Abschließend werden vier Mechanismen der Benachteiligung identifiziert, die von den Siedlungen ausgehen. Dabei gehen negative Effekte vom Quartier nicht nur als einem lebensweltlichen Kontext aus, sondern ein wichtiger Mechanismus der Benachteiligung besteht auch in der institutionellen Diskriminierung, die sich mit dem Quartier verbindet. Den Charakter eines Schutzraumes für die Armen und Ausgegrenzten verlieren die Plattenbausiedlungen durch die anhaltende Verschärfung der Segregation, die auch intern die Quartiere spaltet, zunehmend. Bestehende Solidaritäten in den benachteiligten Milieus werden gerade auch durch die sich fortsetzende Sozialpolitik der Leistungskürzung und des Zwangs zur Annahme von Niedriglohnjobs aufgerieben und die Kämpfe um Respektabilität angeheizt. Der Trend weist in Richtung einer Ghettoisierung, wenn den Siedlungen nicht eine soziale Perspektive geschaffen wird, die jenseits eines bloßen Wohnsegments für untere soziale Schichten liegt. Auf der Folie dieser Diagnose wird im Schlussteil diskutiert, welche sozialen und politischen Entwicklungsperspektiven für die Plattenbausiedlungen bestehen.
Transformation des Plattenbaus
1. Soziales Milieu und Alltagsleben in Plattenbausiedlungen der DDR – ein fordistisches Integrationsmodell
»Aber das Zusammenleben selber müssen síe sich so vorstellen (...): meistens unten rechts eine Zweiraumwohnung und alles andere Dreiraumwohnungen drüber weg. Unten rechts wohnte eine Oma, die zu Hause blieb, und alle anderen sind im Berufsleben gewesen. Die sind also früh morgens, ich sage um halb sieben war Arbeitsbeginn, da standen die Muttis mit den kleinen Kindern um sechse an der Kindergrippe – und haben die 16 Uhr 30, 17 Uhr wieder abgeholt. Die sind also früh morgens geschlossen ausgerückt, geschlossen ausgerückt, sind überall ihrer Arbeit nachgegangen, und sind zum Feierabend alle wieder eingeflogen. Da waren die froh, dass die Oma unten rechts aufgepasst hat, dass da alles seine Ordnung hat. Da hatten die auch keine Probleme mit den Nachbarschaften oder sonst was. Die haben ihre Kinder versorgt, die haben Abendbrot gegessen, 18 Uhr waren die Läden hier überall zu, also mussten sie sich noch beeilen, die Versorgung zu sichern. Ja gut, dann waren vielleicht Mutti und Vati noch ein bisschen aktiv, ja. Aber dann war eben 22 Uhr Ruhe, die meisten ham eben ganz normal sich zur Nacht begeben und sind früh morgens wieder raus. Und da war nicht viel so mit Krach und irgendwer ist zu Hause und der macht hier die Nacht zum Tage oder irgendwie, das gab’s hier nicht.« (WN01-E-5)4
Mit diesen Worten schildert der langjährige Angestellte einer Wohnungsbaugesellschaft in Wolfen-Nord den Alltag, wie er sich in der Siedlung, die vor der Wende 32.000 BewohnerInnen zählte, abgespielt hat. Zusammenleben und Alltag folgten einem kollektiven, betrieblich taktierten Rhythmus, die Struktur der Bewohnerschaft spiegelte eine in Belegungskriterien und Architektur festgeschriebene Normierung, und die kulturellen sowie materiellen Standards waren für die BewohnerInnen relativ homogen. Das Funktionieren der Plattenbausiedlungen in der DDR wurde durch verschiedene Elemente gewährleistet, die zusammen ein bestimmtes soziokulturelles Integrationsmodell formten. Drei Elemente lassen sich unterscheiden: die funktionalistische Ausrichtung des Wohnens auf standardisierte Erwerbsarbeit in großen Betrieben und Verwaltungen, die Etablierung einer aufsteigenden, respektablen Mittelschicht und die Kollektivierung von Kleinfamilien. Mit diesen Elementen
—————— 4 Die Kodierung der Experteninterviews beinhaltet die Erhebungswelle und eine Nummerierung der Interviews (WN01 = Wolfen-Nord 2001 + E = ExpertIn + Nummer).
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folgten die Plattenbausiedlungen im Kern einem fordistischen Integrationsmodell (vgl. Hannemann 1993; 2000).5 Im Unterschied zu den kapitalistischen können die realsozialistischen Gesellschaften der Nachkriegszeit zwar nur eingeschränkt fordistisch genannt werden, da die Massenproduktion in geringerem Ausmaß auf Konsum- und schwerpunktmäßig auf Investitionsgüter angewandt wurde (Maschinen, Fabriken, Energie).6 Der halbierte Fordismus des Ostens (Altvater 1992) sollte aber in der DDR mit dem Machtantritt Honeckers und dem zuvor auf Parteitagen angemahnten Übergang von einer »extensiven zu einer intensiven Akkumulation«, sprich einer Anwendung der Massenproduktion auf die Konsumgüter, überwunden werden (vgl. Merkel 1999: 43). Kernstück dieses Übergangs, den Honecker 1971 auf dem VII. Parteitag mit der Doktrin einer »Einheit von Sozial- und Wirtschaftspolitik« und dem großen Wohnungsbauprogramm verkündete, sind die seit dem in extremer Standardisierung und Masse errichteten Plattenbausiedlungen. Drei Viertel der 2,2 Millionen Wohnungen, die in der DDR bis 1989 in industrieller Bauweise entstanden sind, wurden seit 1971 produziert (BMBau 1994: 132). Im Platten- und Großsiedlungsbau hat das fordistische Paradigma des Realsozialismus gewissermaßen seine reinste Umsetzung gefunden. Im Folgenden wird das Integrationsparadigma der Plattenbausiedlungen am Beispiel von Eisenach und Wolfen rekonstruiert. Verbunden mit den Fallstudien wird ein Fokus auf die Mittelstädte der DDR. Durch ihren hohen Anteil an industriellem, betriebsbezogenem Siedlungsbau bilden die Mittelstädte einen besonderen Stadttyp. Ebenso wie die zentrale Stellung der Betriebe kommt in ihnen die hohe Standardisierung des Alltags plastisch zum Ausdruck, beides Phänomene, die abgeschwächt auch für andere Stadttypen gelten. Die analysierten Daten zeigen, dass das soziale Milieu in den Siedlungen
—————— 5 Vgl. zu den Entstehungsbedingungen des fordistischen Großsiedlungsbaus in Westdeutschland Schöller 2005. 6 Die Unterscheidung zwischen Konsumgütern und Investitionsgütern folgt hier der Terminologie von Marx, der im Kapital diese als die zwei Hauptsektoren der wirtschaftlichen Produktion definiert. Unter Konsumgüter fallen dabei nicht allein die Waren des täglichen Bedarfs, sondern alle sozialen, kulturellen und materiellen Versorgungsgüter für die Bevölkerung. In Bezug auf die Stadtentwicklung vertritt Szelenyi (1996) die These, dass das im Ostblock vorherrschende Modell einer extensiven Akkumulation, einer Vernachlässigung des Konsumgütersektors zugunsten der Investitionsgüter, um aufzuholen und zu überholen, zu einer »under-urbanization« geführt hat: Städte sind generell langsamer gewachsen, da es in ihnen einen beständigen Mangel an Versorgungsgütern – Wohnungen, sozialer und kultureller Infrastruktur, Konsumgütern des täglichen Bedarfs – gegeben hat. Zu den kulturellen Hintergründen und Konsequenzen der »sträflichen Vernachlässigung der Konsumgüterindustrie« in der DDR – unter anderem eine verbreitete Konsumkritik – vgl. Merkel 1999.
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relativ homogen war und das Programm einer hohen sozialen Mischung lediglich in einigen Großstädten realisiert werden konnte. In historischer Perspektive integrierten allerdings auch die mittelstädtischen Plattenbausiedlungen eine breite soziale Schicht. Durch die Integration einfacher Arbeitermilieus trugen sie zur Konstitution einer respektablen Mittelschicht bei, die sich ebenso von den Wohnlagen der innerstädtischen Altbauten und »Asozialen« abgrenzte, wie sie von den Privilegierten der DDR gemieden wurde. In der Verkopplung von Kollektivierung und Kleinfamilie im Plattenbau zeigt sich, wie abschließend ausgeführt wird, eine markante realsozialistische Überformung des fordistischen Paradigmas. Im Unterschied zum Westen wurden die in Kleinfamilien parzellierten Haushalte wesentlich dichter, sowie über- und nicht nebeneinander in Einfamilienhäusern aufgereiht. Damit wurde ein interner Widerspruch des Fordismus, die standardisierte Normierung individuellen Glücks (vgl. Hirsch/Roth 1986), gewissermaßen in Zement gegossen. Trotz der Wohnzufriedenheit der BewohnerInnen und einer hohen sozialen Kohäsion im Plattenbau trug dieser, als Programmpunkt einer Wohlstand versprechenden, aber zunehmend Mangel, Standardisierung und Kontrolle produzierenden Gesellschaft, mit zum Scheitern des realsozialistischen Projekts bei.
Der Betrieb als Zentrum, die Siedlung als Peripherie In Erinnerung an den Alltag vor der Wende sagt ein Meister, der sein Leben lang im Chemie-Kombinat-Bitterfeld gearbeitet hatte: »Aber wir waren wie aufgezogen. Was ham wir denn... sind früh aufgestanden, Kaffee getrunken, schnell auf Arbeit. Wir waren doch wie ein Uhrwerk, war das doch früher bei uns. Tag für Tag, wa. Das ist nicht so wie heute.« (75, m., ges., WN01-25)7
Die funktionale Bezogenheit der Siedlung Wolfen-Nord auf ein sich zwischen Wolfen und Bitterfeld erstreckendes Industrierevier, wo in zwei Großbetrieben – dem Chemiekombinat CKB und der Filmfabrik ORWO –, dem Braunkohletagebau und diversen kleineren Betrieben einmal rund 60.000 Menschen gearbeitet haben, prägte dem Alltag in der Siedlung seinen Rhythmus auf. Zum überwiegenden Teil waren die Plattenbausiedlungen in mittleren und kleinen
—————— 7 Bei zitierten BewohnerInnen werden stets das Alter (Jahre), Geschlecht (m./w.), der materielle Status (arm/prekär/gesichert) sowie ein Kode angegeben, der aus der Erhebungswelle (EN97/WN01/EN03) und einer Nummerierung der Interviews besteht.
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Städten der DDR auf große Betriebe bezogen und als Werkssiedlungsbau entstanden, und je mehr Menschen in den gleichen Betrieben arbeiteten, desto kollektiver war der Ablauf des Tages, der Woche und des Jahres. Der Betrieb bildete das Zentrum des Lebens (vgl. Kaelble/Kocka/Zwahr 1994; Lindenberger 2000). Dieser für die DDR allgemeine Befund fand sich in besonderem Maße in der Stadt Wolfen, wo die Betriebe zugleich das Zentrum der Stadt darstellten: Wolfen ist mit der Ansiedlung der Greppiner Farbenfabrik und dem Bau der AGFA-Kolonie Wolfen 1895 sowie der schrittweisen Ausweitung der chemischen Industrie in verschiedenen Siedlungsabschnitten gewachsen. Die größte, von 1960 bis zur Wende gebaute Siedlung dieser Siedlungsstadt ist Wolfen-Nord (Stadt Wolfen 1995).8 Mit der Ausrichtung des Wohnens auf die Betriebe entstanden für die BewohnerInnen gleiche oder sehr ähnliche Wege. Viele der Befragten in Wolfen-Nord erwähnen die Kolonnen von Fahrrädern, die sich morgens in Richtung »Film« und »Chemie« in Bewegung setzten, ein Hausmeister beschreibt eindrucksvoll das Bild der »Lichterketten von Fahrrädern im Winter«. Sequenziert durch das Schichtsystem pendelten die Beschäftigten zu ihren nahe liegenden Arbeitsstätten und Versorgungseinrichtungen, um am Feierabend in den Kreis der Familie und Wohnung zurückzukehren. Bei allen gemeinschaftlichen Veranstaltungen im Wohngebiet – von Hausabenden im Keller über Grillfeste bis hin zu spontanen Treffen mit Nachbarn –, die von den BewohnerInnen rückblickend akzentuiert werden, muss man sich das Leben nach der Arbeit als recht privatistisch vorstellen. Ein jeder suchte seine Nische. Dieser Privatismus entsprach freilich nicht dem offiziellen Ideal des im Plattenbau lebenden und zu erziehenden sozialistischen Menschen. Ein Wolfener Abgeordneter machte im Januar 1980 genau diese Beobachtung, die er in der Hallenser Regionalzeitung Freiheit wiedergab: »Dieser Tage spazierte ich nach Feierabend wieder einmal durch mein Wohngebiet. Beim Anblick der vielen flimmernden Mattscheiben in den Wohnungen ging mir die Frage durch den Kopf: ›Was machen eigentlich die Einwohner von Wolfen-Nord nach Feierabend?‹ Man könnte den Eindruck gewinnen, daß das Fernsehen tatsächlich die einzige kulturelle Betätigung vieler ist. Sicher kann man nicht bestreiten, dass so mancher mit der Kultur, die durch Funk und Fernsehen ins Wohnzimmer gesendet wird, zufrieden ist. Als echte Bedürfnisbefriedigung läßt sich das aber wohl kaum bezeichnen.« (Stadt Wolfen 1984: 94)
Nach dem Arbeitstag noch einmal den Weg zum Kulturhaus bei der Filmfabrik zurückzulegen oder, wie der Abgeordnete vorschlägt, gemeinschaftlich kultu-
—————— 8 Vgl. dazu die Studie von Bittner (1998: 41-67), die die zentrale Stellung der Betriebe im Sozialleben der DDR am Beispiel der Wolfener Chemie und Filmfabrik beschreibt.
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relle Ereignisse im Wohngebiet zu organisieren, passte den meisten BewohnerInnen von Nord aber offenbar nicht in das Alltagskonzept. Organisierte Vergemeinschaftungen gab es viele im Realsozialismus, der Rückzug in die private Nische und Wohnung war eine oft beschriebene Reaktion (vgl. Herlyn/Hunger 1994: 75, 184). Als zentrale Instanz der Vergemeinschaftung fungierten die Betriebe: Die hier durch Schichten und Brigaden9, Versammlungen und Betriebsfeiern, Urlaubs- und Ausflugsfahrten entstandenen Bekanntschaften überkreuzten sich vielfältig mit den Nachbarschaften. Und wenn an Sommerwochenenden, wie der eingangs zitierte Angestellte des Wohnungsunternehmens fortfährt, »alle ins Grüne und in die Datschen ausflogen«, dann war selbst die Freizeitgestaltung eine kollektive Sache. Ein Antriebsmoment für den Flug ins Grüne bildete aber sicherlich auch die Suche nach dem privaten Glück jenseits der Gemeinschaft.
Wolfen und Eisenach: zwei industrielle Mittelstädte im Kontext Wenn man sich eine horizontale Linie denkt, auf der links das Ausmaß der Betriebsbezogenheit einer Siedlung gering und rechts stark ausschlägt, dann liegt Wolfen-Nord am rechten Ende dieser Linie. Die Ziele des sich knapp 30 Jahre hinziehenden Siedlungsbaus bestanden in der Ansiedlung und Anwerbung von Arbeitskräften aus der Region und der ganzen Republik für die chemische Industrie. Die Region Bitterfeld-Wolfen war als ein industrieller Schwerpunkt der DDR bestimmt worden, Wolfen war eine Stadt des industriellen Wachstums. Von 11.750 EinwohnerInnen im Jahr 1950 wuchs die Stadt auf 45.652 EinwohnerInnen im Jahr 1989, wobei sie 1957 das Stadtrecht erhielt (Stadt Wolfen 1995; SZS 1990: 11). Siedlungsbau war in Wolfen Städtebau, und 72 Prozent der Wolfener Bevölkerung wohnte 1990 in den 13.500 Wohneinheiten von Nord (GdW 1999: 11). In den Großstädten der DDR waren die Plattensiedlungen nicht so oft auf wenige große Betriebe bezogen wie in den mittleren Städten, und das Ziel einer Versorgung der Bevölkerung mit modernem Wohnraum stand hier stärker im Vordergrund. Ihr Anteil an Plattenbau ist beträchtlich, denn bis auf Leipzig und Zwickau waren alle 15 Großstädte der DDR Wachstumsstädte (vgl. Tab. 1.1; SZS 1990: 7–12). Gewachsen sind die Großstädte aber nicht allein als wirtschaftliche Zentren, sondern auch in ihrer Funktion als Bezirks-
—————— 9 Die Bildung von Brigaden in den Betrieben war in Bitterfeld-Wolfen besonders stark ausgeprägt, vermutlich als Kontrollmaßnahme gegenüber einer in dieser Region historisch streitbaren Arbeiterschaft (vgl. Roesler 1994; Niethammer/von Plato/Wierling 1991; Stenbock-Fermor 1980).
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städte. Groß- und Bezirksstädte waren in der DDR nahezu deckungsgleich.10 In ihnen arbeitete ein höherer Anteil der Bevölkerung in Verwaltungen und Angestelltenverhältnissen, und diese Klasse der Intelligenz galt es mit Wohnraum zu versorgen (Hannemann 1998: 96). Tabelle 1.1: Bevölkerungsentwicklung in Groß-, Mittel- und Kleinstädten von 1950–1989
Bevölkerung 1950 Bevölkerung 1989 Verhältnis 1989/50
Kleinstädte (zwei bis unter 20 tsd. EW) 5.757.600 4.343.700 75%
Mittelstädte (20 bis unter 100 tsd. EW) 3.380.100 3.777.300 112%
Großstädte (ab 100 tsd. EW) 3.485.200 4.459.800 128%
Quelle: SZS 1990: 8, eigene Berechnungen
Tabelle 1.2: Verteilung der Wohneinheiten (WE) in Großsiedlungen (ab 2500 WE) nach Gemeinde- und Städtegrößen
WE (abs.) WE (%)
Kleinstädte/ Gemeinden (unter 20 tsd. EW) 22.500 2,2
Mittelstädte (20 bis unter 100 tsd. EW)
Großstädte (ab 100 tsd. EW)
343.200 33,7
361.900 35,7
Berlin
Gesamt
288.600 28,4
1.016.200 100
Quelle: BMBau 1991: 17, eigene Berechnungen
Während die Großstädte in den 40 Jahren DDR den größten Bevölkerungszuwachs verzeichneten, verloren die Kleinstädte an Bedeutung (vgl. Hannemann 2002). Entsprechend blieben sie vom industriellen Wohnungs- und Siedlungsbau am stärksten ausgespart, wiewohl es eine Reihe von Kleinstädten gab, in denen Betriebsansiedlungen oder Ausweisungen als Armeestandorte zu einem hohen Anteil des Plattenbaus am Wohnungsbestand geführt haben (vgl. Tab. 1.2; Rietdorf 1996; Liebmann 1997; TMWI 1998). Im Unterschied zu fast allen westeuropäischen Gesellschaften, wo sich der industrielle Siedlungsbau auf
—————— 10 Von den 14 Bezirksstädten der DDR waren nur drei Städte – Frankfurt/Oder, Neubrandenburg und Suhl – keine Großstädte. Zugleich gab es nur drei Großstädte neben Ostberlin, die nicht Bezirksstädte waren, nämlich Jena, Dessau und Zwickau. Eine auf Großstädte konzentrierte Regionalpolitik war also, wie hier unzweideutig klar wird, bereits mit der Wahl der Bezirksstädte verbunden. Fünf Bezirksstädte haben erst durch die Wachstumspolitik der DDR die Marke von 100.000 EinwohnerInnen überschritten – Dessau, Jena, Cottbus, Schwerin und Gera. Umgekehrt gab es nur eine Stadt, die zu DDR-Zeiten den Status einer Großstadt verlor und unter die 100.000 schrumpfte: Görlitz. (Vgl. SZS 1990: 7-12.)
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Großstädte konzentrierte, wurde aber ein Drittel der Wohnungen von Großwohnanlagen in ostdeutschen Mittelstädten errichtet. Dieser hohe Anteil macht sie zu einem besonderen Städtetyp. Wie Großstädte bildeten sie einen Wachstumspol, kennzeichnend sind in ihnen aber betriebsbezogene Siedlungen. Zum Teil sind Mittelstädte freilich auch in ihrer Funktion als Ober/Mittelzentren oder Armeestandorte mit Plattenbausiedlungen bestückt worden (vgl. Hunger/Wallraf 1998: 178). Von den 101 Mittelstädten (1989) verzeichneten knapp die Hälfte in den 40 Jahren Realsozialismus ein deutliches Wachstum an EinwohnerInnen (mindestens 10 Prozent), und die Plattenbausiedlungen konzentrieren sich auf diese als ökonomische und/oder strategische Schwerpunkte ausgewiesenen Städte. In ihnen liegt der Anteil des Siedlungsbaus am gesamten Wohnungsbestand oft über 40 oder 50 Prozent. Insgesamt lassen sich, bezogen auf die Zeit der DDR, drei Kategorien von Mittelstädten unterscheiden: – 30 schrumpfende Städte mit geringer ökonomischer Bedeutung und/oder relativ deprivierten Lebensverhältnissen wie Meißen, Naumburg oder Bitterfeld (zehn unter ihnen verloren mehr als 10.000 EinwohnerInnen), – 25 Städte mit einer nahezu stabilen Einwohnerzahl (± 10 Prozent) wie Eisenach, Halberstadt oder Neustrelitz und – 46 Städte des Wachstums mit ökonomischer und/oder strategischer Bedeutung wie Ilmenau, Greifswald oder Wolfen, die einen deutlichen Zuwachs an Bevölkerung und Infrastruktur erfuhren (23 unter ihnen gewannen mehr als 10.000, neun mehr als 20.000 EinwohnerInnen) (SZS 1990: 9–11, eigene Berechnungen). Auch in den Städten mit einer stabilen Bevölkerungszahl und teilweise selbst in geschrumpften Städten (z.B. Plauen) ist der Anteil der Großsiedlungen am Wohnungsbestand beachtlich. Die ehemalige Kreisstadt Eisenach, deren Bevölkerung sich von 51.777 im Jahr 1950 auf 47.027 1989 entwickelte und die damit unter die zweite Kategorie fällt, hatte 1989 einen Anteil an industriellem Wohnungsbau von ca. 30 Prozent. In der größten Siedlung, Eisenach-Nord, die von 1976 bis 1988 errichtet wurde, versammelten sich mit 3.600 Wohneinheiten knapp 20 Prozent der städtischen Wohnungen und 21 Prozent aller EisenacherInnen (SAE 1996). Die Siedlung ist wesentlich für die Anwerbung und Versorgung der Beschäftigten des Automobil-Werk-Eisenach (AWE) sowie zwei weiterer Betriebe (Mikroelektronik und Fahrzeugelektrik) gebaut worden (Bodenstein 1993: 9). Auf der horizontalen Linie, die die Betriebsbezogenheit einer Plattenbausiedlung anzeigt, ist Eisenach-Nord aber weiter links einzutragen als Wolfen-Nord. Die Beschäftigtensituation war hier diversifizierter und in der Siedlung wohnte ein nicht unbedeutender Teil von
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Staatsbediensteten, die in der Grenzstadt stationiert waren (Grenztruppen, NVA, Polizei, MitarbeiterInnen von Ministerien). Das Ausmaß der Betriebsbezogenheit beeinflusste die Koinzidenz von Tagesabläufen und Wegen sowie die auf Arbeit gemachten Bekanntschaften in einer Plattenbausiedlung. Wolfen-Nord ist ein Extremtyp, arbeiteten hier doch nahezu alle BewohnerInnen »auf der Film« oder »in der Chemie«, die zusammen 33.000 Beschäftigte zählten (Empirica 1999: 8). Aber auch in EisenachNord wurde der Alltag wesentlich durch das Automobilwerk bestimmt. Ein Ehepaar, das 22 Jahre in der Siedlung gewohnt hat, beschreibt das Alltagsleben wie folgt: Frau B.: »Wir haben morgens alle Not gehabt, in die Busse reinzukommen. Das war zum Brechen voll.« Herr B.: »Die Türen gingen kaum zu.« Frau: »Also man hat immer gesagt, früh morgens in dem Bus kannst du schwanger werden, und du weißt nicht von wem.« Herr: »Also ich sag mal die Normalschicht, die Normalschicht. Und ganz Eisenach wurde damals vom AWE bestimmt, mit den 10.000 Beschäftigten. Und die Normalschicht begann so gegen sieben. So, und da sind dreiviertel der ganzen Mannschaft in die Stadt gefahren.« Frau: »Mit Kind und Kegel!« Herr: »Mit Kind und Kegel.« Frau: »Die Kinder kamen in die Kindergärten, und die Mütter stiegen in den Bus rein, so.« Herr: »Und dann kam die ganze Horde um vier, halb fünf wieder zurück. So, und der Rest ging über Schichtbetrieb, da war’s ein bisschen differenzierter. Die Busse waren ja auf die Schichten abgestimmt.« Frau: »Und ich kann Ihnen sagen, die Kaufhalle war am Vormittag leer – nachmittags um vier standen Sie eine halbe Stunde an der Kasse. (...)« Herr: »Und damals um sechs wurden die Fernseher angemacht und die Bürgersteige hochgeklappt.« Frau: »Ich will noch sagen, vielen ist Neubaugebiet ja zu anonym, und das fand ich das Angenehme in Nord. Es gab keinen Klatsch und Tratsch.« (53, m., 53, w., ges., EN03-9)11
Dass es keinen Klatsch und Tratsch in den Neubaugebieten gab, lässt sich gewiss nicht verallgemeinern. Charakteristisch ist aber die beschriebene, durch die Erwerbsarbeit taktierte Nutzung von Wegen und Einrichtungen, von Bus, Kindergrippen, Schulen, Kaufhalle und Wohnung. Charakteristisch ist darüber hinaus ein bestimmtes Verhältnis von Kollektivität und Privatheit. Bevor dieses Verhältnis weiter betrachtet wird, soll auf die soziale Schichtung und Milieukonstitution in den Siedlungen eingegangen werden.
—————— 11 Sämtliche Namen der interviewten Personen wurden geändert.
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Soziale Schichtung: Arbeitermilieus und das Programm der sozialen Mischung In den Plattenbausiedlungen wohnte eine soziale Schicht, die überwiegend als FacharbeiterInnen qualifiziert war. Eine ausgesprochene soziale Mischung der Bevölkerungsschichten, die der offiziellen Programmatik und Ideologie zufolge in den Neubausiedlungen existierte, scheint es nur in einigen großstädtischen Gebieten gegeben zu haben. So lebten in Leipzig-Grünau, Berlin-Marzahn und dem Gebiet Fritz-Heckert, Chemnitz, ein Anteil von 40–50 Prozent Hochschul- und FachschulabsolventInnen in räumlicher Mischung mit den als ArbeiterIn Qualifizierten (vgl. Diagramm 1.1). Die Daten für die Mittelstädte weisen dagegen einen Anteil von Arbeiterabschlüssen zwischen 70 und 90 Prozent in den Siedlungen aus (einschließlich der Personen ohne Abschluss). Trotz der Variationen, die im Diagramm für die ehemalige Bezirksstadt Frankfurt/Oder und die Kreisstadt Wittenberg auffallen, lässt sich verallgemeinern, dass in den Plattenbausiedlungen der Mittelstädte ein Milieu von FacharbeiterInnen und einfachen Angestellten klar dominierte. In Großstädten und Städten mit Verwaltungsfunktion gab es generell einen größeren Anteil an Höherqualifizierten. Vergleicht man die im Diagramm angeführten Berufsqualifikationen in der DDR mit denen der verschiedenen PlattenbaubewohnerInnen, liegt der Schluss nahe, dass die Sozialstruktur in den randstädtischen Großsiedlungen der gesamtstädtischen Sozialstruktur jeweils sehr nahe kam. So lag beispielsweise im Jahr 1991 in Marzahn, ebenso wie in den Ostberliner Großsiedlungen Hellersdorf und Hohenschönhausen, der Anteil der HochschulabsolventInnen im städtischen Durchschnitt von 17 Prozent. Eine klare Überrepräsentation von AkademikerInnen gab es lediglich im innerstädtischen Plattenbau von Ostberlin (Kapphan 2002: 79–80). Das selbe Muster zeigt die Erhebung von Harth/Herlyn/Scheller (1998: 88) für Magdeburg, wo in den randstädtischen Siedlungen 1996 ein geringfügig kleinerer Anteil von Höherqualifizierten als im städtischen Durchschnitt und ein signifikant kleinerer als in der Innenstadt lebte.
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Diagramm 1.1: Berufsabschlüsse in Plattenbausiedlungen ausgewählter Groß-, Mittel- und Kleinstädte in Prozent* 100% 90% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% Ost
Südstadt
Weststadt
Berlin Leipzig Chem- Rostock Schwe- Cottbus Frank- Stral- Witten- Güstrow Parnitz rin furt/O. sund berg chim
Uekkerm.
Leinefelde
DDR
1991
1997
1995
1988
1995
1996
1997
1997
1998
Südstadt
Trajuhnscher Bach
Grünhufe
Neuberesinchen
Madlow
Mueßer Holz
Groß Klein
Fritz-Heckert
Grünau
Marzahn
0%
M i t t e l s t ä d t e
1998
1997
1998
1997
1997
Fachhoch-/Hochschule Fachschule Facharbeiter/Meister o. Abschluss/Teil-Facharbeiter o. Angabe/in Ausbildung
Quellen: Hunger 1999: 69; Kahl 2003: 74; Kapphan 2002: 80; MfBLU 1998: 31; Schulz 2002: 25; SZS 1989: 124; ZWS Lf 1995: 7 * Die im Diagramm dargestellten Anteile der Berufsabschlüsse der BewohnerInnen beziehen sich auf unterschiedliche Zeitpunkte nach der Wende, was ihre Vergleichbarkeit geringfügig einschränkt, da sich der soziale Entmischungsprozess bereits unterschiedlich bemerkbar macht. Allerdings setzt die soziale Entmischung aller Erfahrung nach erst Mitte der 90er Jahre ein, und die für verschiedene Siedlungen vorliegenden Prozessdaten zeigen, dass sich, auch bei gravierenden sozialen Abstürzen, die Qualifikationsstruktur nur sehr allmählich verändert. Für die Kleinstadt Leinefelde hat die Wiederholungsstudie für 2001 beispielsweise eine Zunahme von nur 2 Prozent an Arbeiterqualifikationen ergeben (WuP 2002: 15; für Leipzig vgl. Kahl 2003: 74). Weiter ist zu bemerken, dass die dargestellte Population für Berlin, Leipzig, Chemnitz, Cottbus, Frankfurt/Oder, Wittenberg und Leinefelde in den Studien nicht genauer definiert wird; nur für die restlichen Städte sind explizit »Auszubildende, Studenten, Schüler und Kinder« ausgenommen. Es ist anzunehmen, dass es sich bei den Städten um die selbe Population handelt, während lediglich für Leipzig, Chemnitz, Cottbus und Frankfurt/Oder diese Fälle unter der Kategorie »ohne Angabe/in Ausbildung« erscheinen. Die zum Vergleich angeführten Daten der Berufsabschlüsse in der DDR beziehen sich wiederum nicht auf die Wohn-, sondern die berufstätige Bevölkerung. Insgesamt dürften die hieraus rührenden Abweichungen gering ausfallen. Die Statistik zur sozialen Schichtung in Plattenbausiedlungen vor der Wende ist äußerst begrenzt: Größere Erhebungen hat es lediglich in einigen Großstädten gegeben (vgl. BMBau 1991: 115ff.; Hannemann 2000: 133). Erst die im Zusammenhang mit der Weiterentwicklung der Großsiedlungen erstellten Fallstudien nach der Wende erlauben, ein umfassenderes Profil der Sozialstruktur zu zeichnen, wobei die unterschiedlichen Auftragnehmer der Studien meist verschiedene Indikatoren erheben, was die Möglichkeit von Vergleichen einschränkt. So präsen-
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tiert die bisher umfassendste Studie von Hunger/Wallraf (1998) lediglich Daten zur Einkommensstruktur, andere (z.B. Empirica (2002) zu Halle-Silberhöhe) machen nur Angaben zur jetzigen Beschäftigtensituation der Bewohnerschaft. Eine weitere Hürde bei sozialstrukturellen Vergleichen besteht in der Kooperationsunwilligkeit von städtischen Akteuren, die in den Schubladen liegenden Sozialstudien – von denen es mittlerweile viele geben dürfte (BMBau 1999: 21 ff.) – herauszugeben, da Angst vor Imageschäden existiert.
In betriebsbezogenen Siedlungen waren und sind die ArbeiterInnen allerdings auch in Großstädten deutlich überrepräsentiert. Das zeigen Daten für Sachsendorf-Madlow, das für die Beschäftigten zweier Cottbusser Energiebetriebe gebaut wurde und wo die Arbeiterqualifikationen um 13 Prozentpunkte höher, der Anteil von Fachschul- und Hochschulabsolventen um 13 Prozentpunkte niedriger liegen als in der Innenstadt (Hunger 1999: 69). In Halle-Silberhöhe, das als Wohnstandort für die Beschäftigten der chemischen Kombinate BUNA und LEUNA konzipiert wurde, liegt der Anteil der als ArbeiterInnen Beschäftigten im März 2000 mit 53 Prozent um 13 Prozentpunkte höher als in der Gesamtstadt. Für den Stadtteil ergibt sich ein Arbeiteranteil von ca. 72 Prozent, wenn man berücksichtigt, dass unter den 28 Prozent Arbeitslosen 67 Prozent zuvor als ArbeiterInnen beschäftigt waren (Empirica 2002: 12–13, eigene Berechnungen). In Wolfen-Nord liegt der Anteil der ArbeiterInnen noch höher. 59 Prozent sind hier 1999 als ArbeiterInnen beschäftigt, und innerhalb der Siedlung gibt es ein zusätzliches Gefälle von Ost nach West, von den ältesten zu den jüngsten Bauabschnitten (vgl. Tab. 1.3). Berücksichtigt man hier die Arbeitslosen, ergibt sich sogar ein Anteil von ca. 84 Prozent ArbeiterInnen im Stadtteil.12 Der Kontrast gegenüber dem städtischen Durchschnitt ist geringer als in Halle, was natürlich auch auf das Gewicht der Siedlung in der Stadt zurückzuführen ist, wo Ende 2002 noch 58 Prozent aller Wolfener leben (Stadt Wolfen 2003a: 7). Interessant ist, dass in den betrachteten zweieinhalb Jahren der Anteil der ArbeiterInnen im Verhältnis zur Gesamtstadt zunimmt. Hierin spiegeln sich soziale Entmischungsprozesse, die bereits Mitte der 90er Jahre einsetzten und auf die später einzugehen sein wird. Der Rückschluss auf die Sozialstruktur in der Siedlung vor der Wende muss diesen Prozess mitdenken, und er unterliegt dabei der Schwierigkeit, dass in den Jahren der großen Entlassungen viele derjenigen, die nicht oder nur vorübergehend arbeitslos wurden, in ein Ange-
—————— 12 Für Wolfen existieren lediglich Angaben des Anteils der Arbeitslosen an der erwerbsfähigen Bevölkerung (Arbeitslosendichte). Diese werden für die verschiedenen statistischen Gebiete gesondert ausgewiesen (vgl. Stadt Wolfen 2003a: 30ff.). Die Berechnung geht hier von einer Arbeitslosenquote von 38 Prozent in Wolfen-Nord aus (Arbeitslosendichte liegt bei 22,5 Prozent), wobei 66 Prozent der Arbeitslosen ArbeiterInnen sind (ebd.). Erfahrungsgemäß liegt die Arbeitslosenquote um etwa das doppelte höher als die Arbeitslosendichte.
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stelltenverhältnis wechselten. Als Indikator für die Sozialstruktur in den Siedlungen vor der Wende scheinen deshalb Angaben zu Berufsabschlüssen aussagekräftiger als zu Beschäftigungsverhältnissen, die allerdings weder für Wolfen noch für Eisenach vorliegen. Tabelle 1.3: Arbeiteranteil in Wolfen nach Stadtteilen 1999/2002 (Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte am Wohnort) Sept. 1999 OT Reuden Wolfen-Süd Steinfurth Krond.Geb./West Altstadt Wolfen-Nord davon: Wolfen-Nord (Ost) Wolfen-Nord (Mitte) Wolfen-Nord (West) Gesamtstadt
März 2002 Anteil in % 48 50 46 55 48 59 52 58 62 56
Sept. 1999 40 47 41 48 44 57
März 2002 Anzahl 56 76 101 97 233 203 447 364 920 860 3.923 2.885
52 56 62 52
446 2.026 1.451 5.951
394 1.471 1.020 4.508
Quellen: Arbeitsamt Halle und Statistisches Amt Wolfen
Größere Erhebungen zur Sozialstruktur in Neubaugebieten sind zu DDRZeiten in Gebieten wie Berlin-Marzahn, Leipzig-Grünau und Halle-Neustadt durchgeführt worden, kurz, in großstädtischen Prestigeprojekten. Die wissenschaftliche Bestätigung der offiziell proklamierten sozialen Mischung kann von daher nicht sonderlich verwundern. Erstaunlicher ist dagegen, dass auch die befragten BewohnerInnen der Siedlungen in Wolfen und Eisenach, sofern sie sich zu der Sozialstruktur vor der Wende äußern, meist dezidiert mit dem Bild der sozialen Mischung beginnen.13 Exemplarisch sagt ein Arbeiter aus WolfenNord: »Hier hat der Doktor nebenan gewohnt, also das war gemischt. Das war gemischt. Meister, Ingenieur, alles hat nebeneinander gewohnt.« (46, m., arm, WN01-19) Oder ein einfacher Angestellter aus Eisenach-Nord sagt: »Früher bei der Wende hat hier gewohnt, der bei AWE an der Presse gearbeitet hat bis zum Doktor. War alles da.« (34, m., prek., EN97-5)
—————— 13 24 Prozent der befragten Haushalte (19 von 81) kommen auf dieses nicht explizit im Leitfaden abgefragte Thema zu sprechen, meist im Zusammenhang mit der Frage nach der Entwicklung der Siedlung. Auch unter den ExpertInnen gibt es eine Reihe, die die ehemals große soziale Mischung hervorheben.
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Das Bild der sozialen Mischung verdankt sich offenbar nicht allein den zu DDR-Zeiten immer wiederholten Proklamationen in Politik und Medien, sondern hat eine reale Erfahrungsgrundlage. Zu dieser Erfahrungsgrundlage gehört, dass der Bezug einer Komfortwohnung für die meisten ein Element sozialen Aufstiegs war. Gegenüber den vernachlässigten, mit Kohleöfen und Außenklos ausgestatteten Altbauten war der Plattenbau eine Standardverbesserung, die zu erleben von den Vergabestellen gerne als besondere Auszeichnung dargestellt wurde. Gerade für die aus einfachen Verhältnissen stammenden Familien war das ideologisch unterstrichene »Glück« der Neubauwohnung verbunden mit der Erfahrung, nun auf einer Wohnstufe zu stehen, die man mit Meistern, Ingenieuren und sogar Doktoren teilte. Auf die Frage allerdings, ob in Wolfen-Nord zum Beispiel auch Funktionäre lebten, fährt der Arbeiter fort: »Die ham anders, die ham ihre Diensthäuser, ihre Häuser gehabt. (...) Also wir ham gesagt, was über dem Abteilungsleiter ist (...) Abteilungsleiter ging’s so im Schnitt los. Da war aber Ingenieure und Meister und so was, die ham dort auch gewohnt, die war’n mit im Haus drinne [in der Platte]. Die waren überall mit drinne. Aber dann die wirklich Höhergestellten, wo du ganz schlecht dran kamst, die warn...« (46, m., arm, WN01-19)
Solche auf Nachfrage gemachten Einschränkungen sind bei den Befragten ebenso typisch wie die anfängliche Betonung der sozialen Mischung. Das Bild wird korrigiert; ein Hausmeister aus Eisenach-Nord prägt schließlich die Formel: »Weil hier oben alle Schichten wohnen, meistens sind’s Arbeiter.« (41, m., prek., EN97-4), und der schon einmal zitierte Meister der Chemie aus Wolfen antwortet auf die Frage nach dem Anteil der Ingenieure und Doktoren: »Na [es waren] überwiegend Arbeiter. Wenn man so im Telefonbuch schaut, meistens. Da mal ein Doktor und da mal ein Doktor, ja. Da haben sie eine neue Arztstation gemacht damals.« (75, m., ges., WN01-25)
Vergabepolitik und interne Segregation Die Vergabe der Wohnungen wurde organisiert von der kommunalen Wohnungsbehörde und den Genossenschaften, die enger mit den Betrieben zusammenarbeiteten. Während die städtischen Wohnungsgesellschaften stärker Staatsbedienstete wie LehrerInnen, Polizei, NVA etc. bedienten, haben die Genossenschaften vorrangig die Beschäftigten der Betriebe versorgt, die bei ihnen Kontingente hatten. In Eisenach-Nord, wo 48 Prozent der 3.600 Wohneinheiten in genossenschaftlichem Eigentum waren, erhielten neben dem AWE ca. 15 weitere Betriebe Kontingente. Das höchste freilich hatte das
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Automobilwerk, aus dessen betriebseigener Wohnungsgenossenschaft die Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft Eisenach 1979 erst hervorgegangen ist (AWGE 2002). Von den 13.500 Wohnungen in Wolfen-Nord waren 2/3 in genossenschaftlichem Eigentum, und die Kontingente waren hier bei der Filmfabrik und dem CKB konzentriert. Waren die im Zivilgesetzbuch der DDR und verschiedenen (Wohnraumlenkungs-)Verordnungen festgelegten Vergabekriterien von Wohnungen auch drei Kriterien verpflichtet, indem sie erstens der Arbeitskräftesicherung, zweitens der Familien- und Bevölkerungspolitik und drittens der Stabilisierung des politischen Systems durch Bevorzugung von verdienstvollen Personen dienen sollten (Hinrichs 1992: 21), so ist es doch eine verbreitete Erfahrung unter den AntragstellerInnen, dass zuerst einmal die »Personen mit Beziehungen« und Statushöheren in die Neubauwohnungen einziehen durften. Auch diese Erfahrung mag, im Kontext einer Vergabepraxis, die ganze Belegschaften mit Neubauwohnungen versorgte, dazu beigetragen haben, dass bei vielen Befragten ein so lebendiger Eindruck von der ehemaligen sozialen Mischung besteht. In beiden Siedlungen gab es eine interne Segregation, die mit der Vergabepraxis der Wohnungen zusammenhing. Besonders beliebt waren Randlagen mit schönem Ausblick. In dem am Hang gelegenen Eisenach-Nord (Am Kuhgehänge lautet ein weiterer Name der auf ehemaligem Weidegrund und Mülldeponie gebauten Siedlung) wurden die zuerst gebauten Blöcke, die einen Ausblick auf die Stadt und Wartburg eröffnen, an höhere Statusgruppen vergeben. Ähnlich kamen diese in den Genuss des solide und noch weniger dicht gebauten Typs Brandenburg in Wolfen-Nord. Zwischen einzelnen Häusern und Blöcken bestanden teilweise markante sozialstrukturelle Kontraste, da, wenn ein Gebäude fertiggestellt war, es gleich bezogen wurde und dabei unterschiedliche Belegungsrechte, Dringlichkeiten und Grundrisse vorlagen. So gab es in Eisenach-Nord einen »Stasi-Block«, es existierte eine Häuserreihe mit Grenztruppen, NVA und weiteren MitarbeiterInnen aus Ministerien, zwei Blöcke waren mit Gastarbeitern aus Kuba und Mozambique belegt. In Wolfen-Nord konzentrierten sich die Beschäftigten einer Betriebseinheit, der Armee oder BewohnerInnen eines gerade dem Braunkohletagebau zum Opfer gefallenen Dorfes in bestimmten Häusern. Die Siedlungen waren Flickenteppiche, in denen sich kleine Zonen homogener Sozialmilieus unter den gemischteren heraushoben. Neben der kleinräumigen Segregation existierte ein sozialstrukturelles Gesamtgefälle von den ältesten hin zu den jüngsten Bauabschnitten. Für Wolfen-Nord ist dieses Muster schon deutlich geworden, für Eisenach liegen zwar keine vergleichbaren Daten vor, die auf Grundlage der Interviews er-
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stellte Kartographie weist jedoch in dieselbe Richtung.14 Es ist anzunehmen, dass es sich dabei um ein verbreitetes Muster handelt, zumindest bei den ab den 70er Jahren gebauten Siedlungen. Die These von Hannemann (2000: 135), dass die Großsiedlungen der 50er und 60er Jahre ein niedrigeres Qualifikationsniveau als die ab den 70er Jahren gebauten aufweisen, lässt sich auf die internen Muster der Siedlungen ab den 70er Jahren nicht übertragen. So zeigt sich auch für Sachsendorf-Madlow (Hunger 1999: 69) und die Großsiedlungen in Magdeburg (Harth/Herlyn/Scheller 1998: 88), dass in den jüngsten Bauabschnitten der Anteil der Arbeiterabschlüsse höher und der Höherqualifizierten niedriger liegt. Weiterhin sprechen der allgemeine Rückgang von Fach- und HochschulabsolventInnen in der DDR seit den 70er Jahren (SZS 1989: 58) sowie die heutige Konzentration von sozialer Misere in den jüngeren Bauabschnitten für dieses Muster. Für Leipzig-Grünau allerdings stellt Kahl (2003: 81–82) zwar eine interne Segregation, aber nicht jenes Gesamtgefälle fest.
Respektable Milieus im städtischen Kontext Die Errungenschaft der Plattenbausiedlungen besteht sicherlich darin, aus einfachen Verhältnissen stammende Arbeiterfamilien mit modernem Wohnraum versorgt und sie in eine breite Mittelschicht integriert zu haben. Weder in Eisenach noch in Wolfen existierten bis dahin Siedlungen, die eine derartige Diversität an Berufsgruppen zusammenbringen und dabei die Trennungslinie zwischen un-/angelernten und qualifizierten Arbeitermilieus abmildern konnten. In Wolfen war der Siedlungsbau lange den FacharbeiterInnen und höheren Berufsgruppen gewidmet, die als Stammbelegschaft an die Werke gebunden werden sollten. Extreme Wohnungsnot gab es für die einfachen ArbeiterInnen, die bis in die 50er Jahre in Hütten um die Film- und Farbenfabrik oder in wild gebauten Siedlungen außerhalb Wolfens lebten (Stadt Wolfen 1995: 6ff.). Die heute unter Denkmalschutz stehende Wohnkolonie, das Akademiker- und das Beamtenviertel blieben auch zu DDR-Zeiten privilegierte Wohngebiete, sowie insgesamt eine Distinktionslinie zwischen »Wolfen-Stadt« und »WolfenNord« bestand, die durch die räumliche Distanz unterstrichen wurde (vgl.
—————— 14 Zur Rekonstruktion der Sozialstruktur in Eisenach- und Wolfen-Nord wurden Kartographien erstellt, auf denen die Angaben der befragten ExpertInnen und BewohnerInnen zur internen Verteilung von Statusgruppen in den Siedlungen verzeichnet wurden.
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Abb. 1.1). Historisch neu war die Integration der aus dem dörflichen Umland und der ganzen Republik zuziehenden Arbeiterschichten, die Mischung unqualifizierter und qualifizierter Arbeitermilieus zusammen mit einigen höheren Berufsstrati im modernen Plattenbau. Abb. 1.1: Die Stadt Wolfen und ihre Siedlungen
Quelle: Stadt Wolfen 1995: 7
Historisch besteht nach Vester (1998) zwischen den qualifizierten, so genannten »traditionellen« und den unqualifizierten »traditionslosen« Arbeitermilieus die Trennungs- und Distinktionslinie der Respektabilität. Sie bedeutet, dass die
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aus städtisch-handwerklichen Traditionen stammenden FacharbeiterInnen sich von den aus ländlichen Regionen kommenden Tagelöhnern und einfachen ArbeiterInnen abgegrenzt haben, indem sie ihr Leben und ihre Arbeit als verdienst- und ehrenvoll gegenüber deren unsteter und unterprivilegierter Lebensweise darstellten. Die unterschiedlichen, segregierten Wohnformen in Wolfen spiegeln deutlich die Fraktionierung in der Arbeiterschicht wider. Mit dem Bezug des Plattenbaus wurden die traditionslosen Arbeitermilieus dann gewissermaßen in den Stand der Respektablen gehoben. Allerdings war es nicht nur der Aufstieg in der Wohnform, der die Trennung zwischen den Arbeiterfraktionen abbaute. Darüber hinaus bestanden für die Ungelernten vielfältige Möglichkeiten zur Qualifizierung. Das sozialistische Projekt startete in Ostdeutschland ja nicht zuletzt mit einer umfassenden Bildungsoffensive, und dabei war die Qualifizierung und Besserstellung der Ungelernten zentrales Element. Kam die Bildungsexpansion Ende der 60er Jahre für die höheren Bildungssegmente auch zum Erliegen, so blieben für die Ungelernten Möglichkeiten zur Weiterqualifizierung in den Betrieben bestehen (vgl. Solga 1995: 102–107; Geißler 1994: 128–131; SZS 1989: 58). Entsprechend hoch war der Qualifizierungsstand der ostdeutschen ArbeiterInnen Ende der 80er Jahre (vgl. Tab. 1.4). Tabelle 1.4: Entwicklung der Berufsabschlüsse von Beschäftigten der DDR (%) 1955 Un-/Angelernte Facharbeiter/Meister Fachschule Hochschule
1970 70 26 3 1
1988 35 48 7 4
10 65 14 8
Quellen: SZS 1989: 124; Voigt/Voß/Meck 1987: 128
Anzumerken ist, dass der Qualifizierungsstand den veralteten Produktionsmethoden in den Betrieben oft nicht entsprach. So gab es in der Filmfabrik ORWO einen hohen Anteil von höchst mechanischen und simplen Arbeitsprofilen, die überwiegend von Frauen ausgeführt wurden. Diese Arbeiterinnen hatten, so unterstreicht ein Experte aus dem jetzigen Industriemuseum, fast alle Facharbeiterbriefe oder zumindest Teilfacharbeiterqualifikationen. Das Tätigkeitsprofil entsprach aber ganz offensichtlich rasch zu erlernenden, vor allem Ausdauer erfordernden Abläufen (vgl. Bittner 1998: 53). Ebenso gab es in der Eisenacher Automobilindustrie und den Zulieferbetrieben stets einen Anteil einfacher, körperlich belastender Arbeiten, wenn auch insgesamt die Anforderungen hier höher als in der Wolfener Industrie gewesen zu sein scheinen. Mit einer 500 Beschäftigte zählenden Spinnereifabrik existierte in
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Eisenach auch nur ein größerer Betrieb, der fast ausschließlich Frauen beschäftigte, während bei ORWO unter den knapp 15.000 Beschäftigten ca. 8.000 Frauen arbeiteten (vgl. LEG 1992: 7). Frauen hatten in der DDR generell schlechtere Qualifikations-, Berufs- und Lohnchancen als Männer (Adler 1991; von Below 1997: 149). Während sich in den Plattenbausiedlungen ein respektables Sozialmilieu konstituierte, in denen die während der Industrialisierung gezogenen Gräben und Abgrenzungen zwischen den Arbeiterfraktionen sich einebneten, wurde die Grenze zur Irrespektabilität in der DDR allerdings keineswegs überwunden. Mit der Kategorie der Asozialität, die 1976 Eingang in das Zivilgesetzbuch fand, wurde sie vielmehr auf rigide Weise staatlich neu installiert. Wer sich den Normen von Arbeitsmoral und Disziplin scheinbar hartnäckig widersetzte, wurde als Asozialer klassifiziert und Maßnahmen unterzogen, die den Kanon der Sozialdisziplinierung von Anstalten bis hin zu Zwangsarbeit und Gefängnis ausmaßen (vgl. Zeng 2000; Lindenberger 1999; Sachse/Tennstedt 1986). Mit dem Status der Asozialität waren auch, wie die Studie in Eisenach ergeben hat, bestimmte Wohnlagen verbunden, wo Haushalte von der Wohnungsbehörde konzentriert wurden. Sie bestanden in heruntergekommenen Altbauten vor allem im Eisenacher Osten, die zusätzlich noch Emissionen ausgesetzt waren. So berichtet ein Haumeister von dem »Fischerstädtchen«, in dem vor der Wende die »Asis« gewohnt hätten und wo sie nicht so aufgefallen wären. In der Biographie einer kinderreichen Frau taucht dieser Ort unter dem Namen Fischweide auf: »Man hat uns einfach abgeschoben in die Fischweide. Das ist ein Viertel, also das wünscht man niemanden, das, da zu wohnen. Das war ein Elendsviertel. Da hat man alle Leute abgeschoben praktisch in dieses Gebiet, die keine Miete zahlen konnten. (...) Da ist gleichzeitig der Mühlgraben. Ich mein der Mühlgraben stinkt heute auch schlimm, also damals hat er viel schlimmer gestunken. Also es war unzumutbar die Wohnung.« (37, w., arm, EN03-4)
Die gesteuerte Konzentration asozial kategorisierter Haushalte betraf nur kleine Ausschnitte eines in Eisenach großen Altbaubestandes, der insbesondere in der Oststadt und entlang des verschiedene Industriegebiete verbindenden Mühlgrabens unterprivilegiert war (vgl. Abb. 1.2). Dagegen boten Teile der gründerzeitlichen Bebauung im Norden und zumal die bis 1945 entstandenen Villenkolonien im Süden Wohnlagen, die zusammen mit kleineren Einfamilienhausgebieten zu den bevorzugtesten gehörten. Eisenach-Nord rangierte in der Skala der Wohngebiete also keineswegs an vorderster Stelle, auch wenn der Wohnkomfort von so vielen aus Altbauten und beengten Wohnverhältnissen kommenden Haushalten als deutliche Verbesserung erfahren wurde. Das selbe gilt für Wolfen-Nord. Ein Unterschied zwischen den
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Städten besteht in dem größeren Anteil an defizitären Altbauwohnungen in der historischen Stadt Eisenach, gegenüber dem sich Nord als »privilegiert« abhob. In Wolfen waren diese Altbauanteile stärker in den Gemeinden und Städten des Umlands lokalisiert. Darüber hinaus wurden sie offenbar nicht durch eine Zuweisungspolitik degradiert, die »asoziale« Haushalte in besonders deprivierte Bestände abschob. Abb. 1.2: Flächennutzung und Gebietstypen in Eisenach 1989
Quelle: Bodenstein 1993: 53
Privileg oder Arbeiterschließfach? Das »Privileg« der Neubauwohnung wurde in den 80er Jahren relativiert, als der gesellschaftliche Fortschritt ins Stocken geriet und sich Krisensymptome bemerkbar machten. Nicht nur, dass am Plattenbau gespart und, ausgenommen Prestigeprojekte in Großstädten, jetzt noch schneller und kompakter gebaut wurde (Topfstedt 1999: 533 ff.). Auch Mängel in der wirtschaftlichen Produktion, Versorgungsengpässe und die Herausbildung feiner und grober Unterschiede wurden unübersehbar (vgl. Merkel 1999: 327ff.; Solga 1995: 119–
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124). Nach Flierl (1991) manifestierte sich die Krise des Systems als eine Krise der Stadt und des Städtebaus. Eine prominente Rolle spielte dabei die wachsende Kritik an den als »Arbeiterschließfächern« oder gar »Karnickelbuden« titulierten Plattenbauten (vgl. auch Dähner/Nieszery/Seiler 2001). Vor diesem Hintergrund wird dezidierte Kritik am Plattenbau unter den in Eisenach und Wolfen befragten Personen überraschend selten formuliert. Hervorgehoben werden die Errungenschaften des »Zweckwohnungsbaus«. Nur die ExpertInnen, die weder mit der Verwaltung oder Vermarktung der Neubausiedlungen etwas zu tun haben, noch in ihnen leben, äußern teilweise scharfe Kritik. Umgekehrt ist die vorbehaltslose Würdigung des Plattenbaus ebenfalls selten und fast nur bei professionell mit den Wohnungsbeständen betrauten ExpertInnen anzutreffen. Insgesamt überwiegt eine Einstellung, die den biographisch oft selber erfahrenen Zweck des besseren Wohnstandards unterstreicht und, ohne bestimmte Nachteile unerwähnt zu lassen, gegenüber Abwertungen wie Arbeiterschließfach verteidigt.15 Die Wahrnehmung von Versorgungsengpässen und wachsenden sozialen Ungleichheiten in den 80er Jahren ist bei den Befragten gleichwohl verbreitet. Sie wird jedoch nicht mit einer Kritik am Neusiedlungsbau verknüpft, selbst wenn bei vielen im Hinterkopf das Wissen besteht, dass es sich dabei nicht um die besten Quartiere handelte. Entsprechend ist die Sichtweise des im Folgenden zitierten, 20 Jahre im AWE beschäftigten Industrieschmieds eher ungewöhnlich. Seine Ausführungen verdeutlichen noch einmal viele Aspekte der Milieukonstituierung in den Plattenbausiedlungen: »Als das hier gebaut worden ist, da haben die dir gesagt, hey, wenn die dir so ne Wohnung geben, da musst du aber ordentlich, musst dafür die Leistung bringen. Das musst du irgendwie bezeugen, indem du in die Partei gehst oder was weiß ich, also irgendwelche Bedingungen wurden daran geknüpft, um hier ne Wohnung zu kriegen. (...) Hat sich dann auch ne sozialistische Oberschicht gebildet. Sieht man ja am Stadtrand die ganzen Villen, die wurden ja damals von irgendwelchen Leuten von der Partei und denen bewohnt, ne. Und da hat man eben gesagt, na ja gut, wir bauen uns da ne Villa, da bauen wir denen n Block. Ich lass mir meinen Hof mit was weiß ich pflastern, da machen wir denen ein bisschen Teer auf die Straße. Also in Eisenach-Nord wohnten nicht die wirklich Privilegierten?
—————— 15 Nach einer Auswertung des SOEP durch Hinrichs (1997) bezeichnen rückblickend 68 Prozent der Ostdeutschen den Verfall und Niedergang der Städte und 76 Prozent den Bau großer Wohnsiedlungen als kennzeichnend für das Leben in der DDR. Die Kritik am Städtebau bezog sich mithin stark auf den Verfall der Altbauten bei gleichzeitig sturem Festhalten am Paradigma des Plattenbaus, und sie wurde offenbar besonders von BewohnerInnen des Altbaus geäußert.
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Ne. Die natürlich nicht. Ach, die Privilegierten haben in Süd gewohnt, Tennisanlage und so was. Hier haben eigentlich zum größten Teil Arbeiter, und wenn mal einer Meister, dann war’s gut. Es war eben, derjenige, der von oben, hat’s vorher gekriegt. Waren es mehr einfache oder qualifizierte Arbeiter? Ist auch wieder so ein Ding. Ne, wir haben eigentlich alle eine Chance gehabt. Wie gesagt, hast du deine Arbeit gemacht und hast nicht aufgemuckt, bist da hingekommen [zur Wohnungsvermittlungsstelle], hast gesagt, wieviel du brauchst. Na ja, das wird diesen Monat noch nischt oder nicht gleich, komm in nem halben Jahr wieder. Und wenn du dann wirklich so ne Wohnung gekriegt hast, oh, was sie für dich gemacht haben.« (50, m., arm, EN03-16)
Kollektivierung versus Kleinfamilie oder Die Legende von Haus und Gemeinschaft Im Plattenbau verbinden sich auf eigentümliche Weise Elemente von Standardisierung und Kollektivierung mit dem Zuschnitt auf bürgerliche Privatheit und Intimität im Kreis der Zwei-Generationen-Familie. Das Nebeneinander von Kollektivität und Kleinfamilie, von Standardisierung und individueller Privatsphäre bildet ein Spannungsverhältnis, das in der DDR austariert werden konnte. Ein Neben- und Miteinander ergab sich aus der relativen Homogenität des Alltags und der Lebenslagen und wurde darüber hinaus durch Mechanismen sozialer Kontrolle hergestellt. Die viel berufenen Bekanntschaften und Hausgemeinschaften bildeten einen Puffer zwischen Kollektivität und Privatheit und gewährleisteten eine relativ hohe Kohäsion des sozialen Milieus. In der Verschmelzung von Kollektivierung und Kleinfamilie im Plattenbau verkörpert sich ein pragmatischer Kompromiss zwischen sozialistischen und bürgerlichen Wohnreformmodellen.16 Die Kollektivierung der Bevölkerung in Gemeinschaftsbauten steht in der Tradition sozialistischer Wohnmodelle, während das kleinfamiliale Wohnen ein genuin bürgerliches Modell ist. Die Frühsozialisten Owen und Fourier hatten in ihren Architekturentwürfen eine Vergemeinschaftung der Hausarbeit zur Emanzipation der Frauen aus ihrer bürgerlichen Rolle anvisiert, ebenso sollten Gemeinschaftsräume ein neues Verhältnis zwischen öffentlicher und privater Sphäre entstehen lassen. Von diesen Ideen sind im Plattensiedlungsbau letztendlich nur die Versorgungsund Erziehungseinrichtungen für Kinder und Jugendliche übrig geblieben, die
—————— 16 Zu den Traditionslinien bürgerlicher und sozialistischer Wohnungsreformen vgl. Häußermann/Siebel (1996: 87ff.).
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die Integration der Frauen in die Erwerbsarbeit ermöglichten. Damit war zweifellos ein Stück Emanzipation aus der bürgerlichen Frauenrolle verbunden, und im Unterschied zu den westlichen Großsiedlungen hat es die »grünen Witwen« – Mütter, die tagsüber in den Quartieren blieben, um auf die Kinder aufzupassen – in der DDR nicht gegeben (vgl. Herlyn 1990; Herlyn/Hunger 1994: 27). Gleichzeitig wurde jedoch mit der Normierung der Grundrisse, der klaren Dominanz von Drei- und Vierraumwohnungen sowie einer Belegungspolitik, die verheirateten Paaren mit Kindern Priorität einräumte, das kleinbürgerliche Familienmodell festgeschrieben. Der Anteil der Familien in den Plattenbausiedlungen variierte unmittelbar mit dem Anteil der Drei- und Vierraumwohnungen, deren Grundrisse mit großem Wohnzimmer, Essecke, kleinen Schlaf- und Kinderzimmern funktional auf das Familienleben zugeschnitten waren. Während Fünfraumwohnungen kaum existierten, wurden die Einund Zweiraumwohnungen in der Regel an ältere Einzelpersonen oder kinderlose Ehepaare vergeben (Hunger/Wallraf 1998: 196). In Tabelle 1.5 wird deutlich, dass in Eisenach-Nord der Anteil an Familien mit ca. 60 Prozent etwas unter, und in Wolfen-Nord mit ca. 67 Prozent aller Haushalte etwas über dem ostdeutschen Durchschnitt von 63 Prozent lag. Wie groß darunter der Anteil Alleinerziehender war, lässt sich nicht rekonstruieren. Tabelle 1.5: Verteilung der Wohnungsgrößen in Plattenbausiedlungen insgesamt (%), Eisenach-Nord und Wolfen-Nord 1989
Ostdeutschland* EN WN
1Raum 17 12 8
2Raum 20 28 25
3Raum 46 46 59
4Raum 16 12 8
5Raum 1 2 0
* Zugrunde liegt keine Totalerhebung, sondern Studien zu 380 Großsiedlungen ab 1000 WE in sämtlichen Bezirken, die zwischen 1971 und 1989 gebaut wurden. Quellen: BMBAU 1991: 62; Bodenstein 1993: 10; Stadt Wolfen 1996: 2.8
Eine soziale Konsequenz des Familienmodells lag in dem bereits beschriebenen Rückzug der BewohnerInnen in die Privatsphäre am Feierabend und in der Freizeit, darüber hinaus darin, dass die Hauptlast der Haus- und Familienarbeit den Frauen zufiel. Bei einer 90-prozentigen Berufsintegration waren die Frauen so fast alle einer Doppelbelastung ausgesetzt (Gerhard 1994: 395; Merkel 1994). Beides scheint die Wohnungspolitik der DDR mehr oder weniger bewusst in Kauf genommen zu haben, erfolgte die Installierung der Familie als kleinster, stabilisierender Zelle der Gesellschaft im Neubau doch
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intentional (Hannemann 2000: 113ff.). Die gesellschaftsstabilisierende Funktion kleinfamilialen Wohnens im Eigentum ist eine Grundidee bürgerlicher Philosophen und Sozialreformer, und der Rückgriff auf diese Tradition im sozialistischen Wohnungsbau ließ selbst den Eigentumsgedanken nicht aus.17 So sind 40 Prozent des Plattenwohnungsbaus in der DDR als genossenschaftliches Eigentum entstanden, wobei die BewohnerInnen ihre Pflichtanteile meist in Form von Eigenleistungen abbezahlten (BMBau 1991: 131). Der standardisierte Kollektivwohnungsbau spiegelt zugleich das fordistische Produktionsparadigma wider. Die ideengeschichtliche Fundierung im sozialistischen Wohnreformmodell hat dazu beigetragen, dass nicht wie in den USA oder Frankreich Einfamilienhaus-, sondern ausschließlich Geschosswohnungssiedlungen vom Band produziert wurden, deren Größe ja zugleich stilles Abbild der vorherrschenden Großbetriebe und -verwaltungen war. Hier wie dort aber hat die standardisierte Massenproduktion den Wohnungssektor ergriffen, und es wurden in Kleinfamilien parzellierte Haushalte neben- oder übereinander aufgereiht. Freilich ist gegenüber dem Einfamilienhaus die Privatsphäre im Plattenbau deutlich eingeschränkt: durch die Nutzung gemeinschaftlicher Güter sowie die hohe gegenseitige Wahrnehmung. Für das Harmonieren von Kollektivität und Privatheit sorgten hier die Standardisierung von Lebenslagen und Lebensstilen sowie Mechanismen sozialer Kontrolle, was sich in den »Eingängen« als Konstituierung der Hausgemeinschaften verdichtete. Herr T.: »Und als wir dann damals drinne waren, da waren wir dann so eine anfänglich verschworene Truppe. Das hieß also auf deutsch gesagt, dass wir uns zusammengefunden haben. Und wir haben dann unten im Keller Feste gefeiert. [Zeigt Photos.] Waren also Sylvester unten im Keller.« Frau T.: »Da hat jeder ein bisschen was gemacht, Heringssalat und so. Die Kinder haben extra gefeiert. Denn damals, überall war ein Kind. Jetzt sind sie ja 35, 33.« Herr: »Wir haben uns hier jede Woche einmal in den Keller gesetzt, haben ein Kasten Bier geholt und haben da unten...« Frau: »Aber das ließ dann später nach.« (60, m., 55, w., ges., WN01-3)
Bei der »verschworenen Truppe«, von der hier ein seit 1976 in Wolfen-Nord lebendes Facharbeiterehepaar berichtet, ließ mit den Jahren zwar die Feier-
—————— 17 Prägnant vertritt der Philosoph G.W.F Hegel (1989) die Idee, dass die sich durch Ehe, Kinder und Eigentum konstituierende Familie tragender Pfeiler des Staates und der Sittlichkeit ist. Bürgerliche SozialreformerInnen unterschiedlichster Couleur haben diesen Gedanken immer wieder gepredigt. Für den Wohnungsbau vertritt paradigmatisch Victor Aimé Huber (1846) das Konzept: Durch kleinfamiliales Wohnen in Eigentum soll die bedrohlich anwachsende Arbeiterklasse zumindest in ihren qualifizierteren Teilen der Sittlichkeit zugeführt werden (vgl. auch Häußermann/Siebel 1996 und Ronneberger 1999).
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laune nach, die Kontakte blieben angesichts einer bis zur Wende nahezu fehlenden Wohnmobilität jedoch bestehen. Die geringe Wohnmobilität bildete ein konstitutives Element für den hohen gegenseitigen Bekanntschaftsgrad, von dem die befragten BewohnerInnen und ExpertInnen fast durchgängig berichten, sowie für die in den Eingängen bzw. in Hochhäusern auf der Ebene von Fluren gebildeten Hausgemeinschaften. Die Befragten stellen diese sozialen Beziehungen überwiegend als zwanglos sich ergebendes Miteinander dar. Ausschlaggebend für diese rückblickend-harmonisierende Darstellung ist sicherlich, dass deren Funktion einer Vermittlung, eines Puffers zwischen Kollektivität und Privatheit nach der Wende wegbrach. »Kannten sie viele Leute in Eisenach-Nord?« Herr B: »Sehr viele.« Frau B: »Unheimlich viele.« Herr: »Wir sind beide Eisenacher, und das Gross der Leute kam aus der Innenstadt.« Frau: »Ich kannte bestimmt aus jedem Block jemand.« Herr: »Hängt auch mit der Arbeit zusammen.« Frau: »Die waren auch alle in unserem Alter und hatten kleine Kinder. In unserem Block waren bestimmt acht, neun Familien. Sind dort zusammen alle groß geworden.« Herr: »1980 tobten da 100 Kinder im Innenhof rum.« Frau: »Wenn ich runter guckte, habe ich immer gedacht, ist ja bei uns wie in der Schule.« (53, m., 53, w., ges., EN03-9)
Gegenseitige Kontakte und Einverständnis ergaben sich gleichsam von selbst, da zahlreiche Anknüpfungspunkte über das gemeinsame Wohnen hinaus bestanden. Neben schon bestehenden Bekanntschaften, von denen das etablierte Ehepaar aus der Eisenacher Innenstadt berichtet, konnten neue geknüpft werden im Betrieb, auf den alltäglich zurückzulegenden Wegen und in Einrichtungen. Der geteilte Erfahrungshorizont der BewohnerInnen war immens und reichte von der Arbeits- über die Wohnwelt bis in die durch eine ähnliche Stellung im Familienzyklus gekennzeichnete Privatsphäre. Für Familien waren die Kinder natürlich ein weiterer Anknüpfungspunkt zu den NachbarInnen. Auch für die aus anderen Regionen Zugezogenen stellten sich so Bekanntschaften leicht her, wie eine selber drei Jahre vor der Wende nach Wolfen-Nord gezogene Frau berichtet: »Viele, die hier gelernt haben, kamen ja aus dem Harz, aus Dresden, die kamen wegen Arbeit, nicht direkt aus der Umgebung. Was zählte, war eine Wohnung in Nähe der Arbeit. Der Zusammenhalt war gut, man kannte sich im Eingang und Haus. Die Alterstruktur war ja ähnlich, die Neuen sind immer zusammengezogen, immer eine Generation. Im Eingang waren dann fünf Familien mit Kindern. Man hat sich unterhalten, getroffen mit dem Nachbar. Nicht immer konnte jeder jeden leiden, klar, aber.« (30, w., prek., WN01-16)
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Dass auch Alleinstehende sich in das Milieu integrieren konnten, illustriert die lakonische Antwort einer seit 1981 in Eisenach-Nord wohnenden Frau: »Kannten sie viele Leute? Ich kannte niemanden. Wir waren uns ja alle einig. Es war ordentlich. Hatten Blumen vorne, die sind vom Altersheim gekommen, und haben sich die Gärten angeschaut.« (72, w., prek., EN03-19)
In das sich aus der Standardisierung der Lebenslagen ergebende Einverständnis gingen allerdings auch Momente des Zwangs ein. Außerhalb des Wohnmilieus übten Versammlungen und Betriebsfeste, Gewerkschaft und Partei einen Anwesenheitszwang aus, der sich über die in den Siedlungen wiederfindenden Netzwerke auf das Leben dort übertrug. Die Konstituierung der Gemeinschaften in den Häusern wurde jedoch vor allem durch die hier geltende Hausordnung sowie die zur Kontrolle ernannten so genannten Hausvertrauenspersonen erwirkt. Neben der im Geschosswohnungsbau ohnehin gebotenen Rücksicht mussten im Turnus von jeder Wohnpartei die so genannte kleine und große Woche, sprich Reinigungs- und Pflegearbeiten im Treppenhaus und unmittelbaren Wohnumfeld durchgeführt werden. Die in den Eingängen ernannten Hausvertrauensleute zeichneten für ein funktionierendes Zusammenwohnen verantwortlich und konnten bei Problemen den Weg über die Abschnittsbevollmächtigten bis hin zum Betrieb und der Partei einschlagen, um aus der Reihe fallende BewohnerInnen zu einem sozial erwünschten Verhalten zu bewegen. Den Wegfall der hohen Kontroll- und Zugriffsmöglichkeiten gegenüber BewohnerInnen nach der Wende beklagen bezeichnenderweise vor allem jene ExpertInnen, die als Angestellte der Wohnungswirtschaft heute mit den scheinbar katastrophalen Effekten einzelner Störenfriede in den Häusern zu tun haben. Dass dagegen die BewohnerInnen die Zwangsaspekte gegenüber der Erinnerung an eine zwanglose Gemeinschaftlichkeit zurückstellen, mag auch damit zusammenhängen, dass gegenüber anderen gesellschaftlichen Sphären der Kollektivierungsdruck im Wohnbereich noch gering ausfiel (vgl. Herlyn/Hunger 1994: 75, 184; Lepsius 1994). Allerdings unterstreichen Einzelne auch das Verordnete der Gemeinschaftsbildung, so ein ehemalig einfacher Arbeiter des AWE, der deren Triebkraft im »Vitamin B« identifiziert. Auf die Frage nach den heutigen Nachbarschaften in der Siedlung antwortet er: »Hier so wie ich das mitkrieg, fast jeder ist für sich beschäftigt. Nachbarschaft so nicht mehr ganz so in der Art, wie’s mal gewesen ist. Das waren auch andere Gründe, hab immer gesagt, Nachbarschaftsverhältnisse früher waren eben das gewesen: Ich kannte einen, der kannte einen, wo ich mein Zeug herkrieg und so. Also das Zusammenleben zu DDR-Zeiten, dieses Verordnete, das war nicht so, wie sie’s mal gehört haben. Beziehung, Vitamin B: Hab ich
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eine Beziehung zu dem gehabt, also hab ich mich zu dem gut gestellt. Der andere will zu dem, da hab ich eben mein Sack Zement nicht für hundert Mark gekriegt sondern für fünfzig. So war das gewesen, also dieses Zusammenhalten war nicht so, war zu DDR-Zeiten ein bisschen geheuchelt.« (41, m., prek., EN97-4)
Fazit: Halbierter Fordismus und Plattenbau Wie in vielen anderen Plattenbausiedlungen der DDR dominierte in Eisenach und Wolfen ein Milieu von FacharbeiterInnen und einfachen Angestellten. Wesentlich für die Beschäftigten der großen Industriebetriebe gebaut, versorgten die Siedlungen ihre BewohnerInnen mit vergleichsweise komfortablen Wohnungen und der für den Alltag notwendigen Infrastruktur. Zwar lebten auch höhere Statusgruppen wie Ingenieure, Forschungspersonal und Staatsbedienstete in den Siedlungen, dennoch muss die These einer hohen sozialen Mischung relativiert werden. Denn in betriebsbezogenen Siedlungen waren die einfachen Sozialmilieus überrepräsentiert, und selbst in Groß- und Verwaltungsstädten lag der Anteil hoher Statusgruppen in den randstädtischen Siedlungen kaum über dem städtischen Durchschnitt. Die Privilegierten konzentrierten sich in der DDR dagegen in innerstädtischen Neubauten oder kleineren Mehr- und Einfamilienhäusern (vgl. Werner 1981; Hinrichs 1992). Für die aus Dörfern und städtischen Altbauten Zuziehenden war das Wohnen in der Neubausiedlung gleichwohl ein Element des Aufstiegs. Sie lernten den wie immer auch als Zweckwohnungsbau wahrgenommenen Plattenbau schätzen, und angesichts des Mangels und einer Belegungspolitik, die das knappe Gut gratifizierend verteilte, war die Neubauwohnung etwas Besonderes. Es scheint, dass der Zweck einer Herstellung von Loyalität mit dem sozialistischen System, den Honecker mit der proklamierten Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik und dem großen Wohnungsbausprogramm verband, für die BewohnerInnen der Plattenbausiedlungen nicht gänzlich fehlgeschlagen ist. Insgesamt folgte die gesellschaftliche Integration hier einem fordistischen Modell, in dem auch unqualifizierte ArbeiterInnen Aufstiegsmöglichkeiten, kulturelle und soziale Güter seitens der Betriebe geboten bekamen, und wo nach Feierabend die auf die Kleinfamilie zugeschnittene Privatsphäre Erholung und Muße spenden sollte. Indem der Plattenbau den ArbeiterInnen zu einem Status von sozialer Sicherheit und Respektabilität verhalf, trug er entscheidend zu jener Entproletarisierung bei, die Mooser (1983; 1984) für die Arbeitermilieus in der BRD beschrieben hat. In dem stärker durch Partizipation an Konsum geprägten Integrationsmodell des Westens
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spielte der soziale Wohnungsbau eine vergleichbare Rolle wie der Plattenbau im Osten (vgl. Saldern 1997; Herlyn/Saldern/Tessin 1987). Der architektonische Zuschnitt auf Kleinfamilien im Plattenbau konterkarierte freilich das allgemein proklamierte Ziel, in Kollektiven denken- und handelnde Persönlichkeiten zu erziehen (vgl. z.B. Neuner 1978). Die Kollektivierung im Plattenbau ist fast nur noch eine Zweckkollektivierung gewesen. Allerdings war die Kohäsion des sozialen Milieus hoch: Durch das Neben- und Übereinander von Haushalten mit standardisierten Biographien, Alltagsrhythmen und Lebenslagen stellte sich ein Stück weit tatsächlich jene Gemeinschaftlichkeit her, wie sie von Pädagogen und Politikern immer anvisiert worden war. Doch der sich zwischen Privatheit und Kollektivierung sedimentierende Widerspruch war Ausdruck eines Systems, das immer weniger zwischen dem Versprechen von individuellem Glück und Wohlstand sowie einer Wirklichkeit vermitteln konnte, die durch wachsenden Mangel, Standardisierung und Kontrolle gekennzeichnet war. Letztlich blieb der Fordismus in der DDR halbiert und der Übergang zu einer intensiven Akkumulation scheiterte. Der Konsumgütersektor wurde, einschließlich des Wohnungsbaus, wesentlich auf Pump finanziert und die Modernisierung der Produktionsstätten vernachlässigt (vgl. Altvater 1992; Merkel 1999). Der Realsozialismus verlor in den 80er Jahren seine Legitimation: durch Versorgungsengpässe und wachsende soziale Ungleichheiten, durch den einseitigen Städtebau, ökologische Deprivationen und die steigenden ökonomischen und moralischen Kosten des Überwachungsapparats (vgl. Flierl 1992; Offe 1994: 31ff.; Joas/Kohli 1993). Mit der Wende zerbrach dann das durch Standardisierung, Respektabilität und Kleinfamilie integrierte Modell der Plattenbausiedlungen. Der Fortschritt und Aufstieg, für den die Siedlungen standen, endete endgültig mit dem ökonomischen Strukturbruch sowie der Wegzugswelle in den Westen und die neuen Häuschen im Grünen. In dem sich ausdifferenzierenden Milieu setzte sich für die einen eine Aufstiegsbewegung fort, während sich für andere die Siedlungen in Abstiegsstationen verwandelten. Zum Vorreiter des Abstiegs wurden die betriebsbezogenen Siedlungen. Denn der im osteuropäischen Vergleich besonders scharfe wirtschaftliche Einbruch in der ehemaligen DDR bedeutete vor allem eine Deindustrialisierung (vgl. Spéder/Schultz/Habich 1997: 350). Ende der 80er Jahre war die DDR noch eine Industriegesellschaft, ihre Wirtschaftsstruktur entsprach der der BRD von 1965 (Strubelt 1996: 28), während Ostdeutschland heute zu den industrieärmsten Regionen Europas zählt.
2. Abstieg und Verinselung der Siedlungen
Mit dem Fall der Mauer erfasst die randstädtischen Plattenbausiedlungen in Ostdeutschland im Kern eine Entwicklung, wie sie sich in den meist als sozialer Wohnungsbau entstandenen Großsiedlungen Westeuropas seit den 70er und 80er Jahren bereits vollzogen hat (vgl. Power 1999; Oberti 1996; Herlyn/Saldern/Tessin 1987). Wesentlich für Kleinfamilien der neuen Mittelschichten gebaut, kehren eben diese der Siedlung den Rücken zu, die ihnen als Durchgangsstation zum privateren Wohnen im Umland der Städte diente. Ein Wandel der Bewohnerstruktur setzt ein, der durch sozial selektive Umzüge, eine Deprivation von Lebenslagen und Diversifizierung der Lebensstile markiert ist. Die Abwanderung der Kleinfamilien, für welche die Plattenbausiedlungen wesentlich konzipiert waren, steht in einem direkten Zusammenhang mit der nachholenden Suburbanisierung in Ostdeutschland. Der Bau von kleineren Mehr- und Einfamilienhäusern im städtischen Umland spielte in der DDR auch aus ideologischen Gründen eine stark untergeordnete Rolle, Suburbanisierung vollzog sich hier gewissermaßen durch den Bau von randstädtischen Plattensiedlungen (Werner 1981; Häußermann 1996a). Das nach der Wende nahezu explosionsartig entstehende suburbane Marktsegment lief den Komfortwohnungen im Plattenbau schnell den Rang ab, und wer es sich leisten konnte, bildete Eigentum oder zog in die steuersubventionierten Mietwohnungen im Umland. Als erstes wurden die betriebsbezogenen Plattenbausiedlungen vom sozialen Abstieg erfasst. Durch die Abwicklung der Großindustrien wurden mit einem Schlag ganze Belegschaften in die Arbeitslosigkeit entlassen, die sich gerade in Mittelstädten wie Hoyerswerda, Guben oder Schwedt in den für die ArbeiterInnen gebauten Siedlungen konzentrierten. Noch bevor Mitte der 90er Jahre der große Trend der Umlandwanderung begann, kündigte sich die Massenarbeitslosigkeit in den sozialen Milieus der Plattenbausiedlungen an, und für viele wurde sie zum Antrieb, sich in einer anderen Region eine Arbeit zu suchen. Da allerdings insgesamt in den randstädtischen Siedlungen eine Arbeiterschicht dominierte, wurde die besonders ArbeiterInnen treffende
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Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland zu einem generellen und langfristigen Abstiegsfaktor im realsozialistischen Neubau. Schließlich sind die Plattenbausiedlungen hinter vorgehaltener Hand als sozialer Wohnungsbau belegt worden. Die Zuweisung von Klienteln des Sozialstaats, von AussiedlerInnen und BezieherInnen von Sozialleistungen, ergab sich aus der Logik der Privatisierung des ostdeutschen Wohnungswesens, da die Kommunen vor allem in den Plattenbausiedlungen Belegungsrechte behielten. Durch den rapide wachsenden Leerstand zeigten sich allerdings auch die Wohnungsunternehmen daran interessiert, zumindest in den Beständen, die am schwersten vermietbar waren, eine transferabhängige, aber zahlungsfähige Mieterschaft unterzubringen, und sie gingen belegungspolitische Bündnisse mit dem kommunalen Staat ein. Strukturelle Arbeitslosigkeit, nachholende Suburbanisierung und Belegungspolitik sind die drei Hauptursachen eines sozialen Abstiegs, der sich in den Plattenbausiedlungen unterschiedlicher Stadttypen zwar mit verschiedener Intensität und Geschwindigkeit vollzieht, der aber zu einem generellen Trend geworden ist. In der Konsequenz verändert sich das soziale Milieu in den Siedlungen von einer vollbeschäftigten hin zu einer Bewohnerschaft, bei denen reguläre Beschäftigungsverhältnisse in die Minderheit geraten. Es dominieren BezieherInnen von Transfereinkommen, wozu einerseits die finanziell abgesicherten RentnerInnen, andererseits finanziell prekäre und arme Haushalte zählen. Neben diesen Klienteln des Sozialstaats konzentrieren sich zunehmend Haushalte mit niedrigen Einkommen, prekärer Beschäftigung und in Ausbildungsverhältnissen in den Plattenbausiedlungen. Kurz, einkommens- und statusschwache Haushalte nehmen zu, und es vollzieht sich eine Homogenisierung von Arbeitermilieus in den Siedlungen. Darüber hinaus kommt es durch die Abnahme der Kleinfamilien zu einer Polarisierung in große und kleine sowie junge und alte Haushalte. Die Bemühungen, durch Sanierung und Umfeldverbesserung die Plattenbausiedlungen zu vitalisieren und ihr soziales Milieu zu erhalten, können so nur als begrenzt erfolgreich bilanziert werden.18 Ihr wesentlicher Erfolg besteht darin, viele der älteren BewohnerInnen, die durch ihre Wohndauer und Biographie eine enge Bindung an die Siedlungen hatten, in den sanierten Bereichen gehalten zu haben. In den später oder noch immer nicht von der Sanierung erreichten Bereichen, meist den jüngsten Beständen, wo auch eine jüngere und mobilere Bevölkerung wohnte, stellten sich dagegen teilweise gravierende soziale Abstiege ein. Während sich hier durch die stärkste Abwanderung
—————— 18 Zur Strategie der Vitalisierung und den verschiedenen Fördermaßnahmen in Plattenbausiedlungen vgl. BMBau (1991b), Rietdorf (1997) und BMBau (1999).
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die höchsten Leerstände ergaben, wurden die Bereiche durch sozialstaatliche Belegung zusätzlich abgewertet. Die soziale Entmischung der Siedlungen geht entsprechend mit einer internen Segregation und Verinselung einher. Der Prozess der Verinselung knüpft an die überkommenen Muster der internen Segregation an und wird durch die Wohnungseigentümer und städtischen Akteure überformt. Im Folgenden wird in einem ersten Abschnitt der generelle Trend der sozialen Entmischung in den Plattenbausiedlungen dargestellt, und in einem zweiten Abschnitt werden die Muster der internen Segregation beschrieben. Im Zuge der internen Segregation kristallisieren sich in den Siedlungen drei sozialräumliche Milieus heraus: das der etablierten Älteren, der MigrantInnen und der Armen. Die soziale Krise in den Gebieten, die im Verlauf der sozialen Entmischung selber zu einem Push-Faktor des Wegzugs wird, lässt sich besonders in den Milieus der Armut ausmachen, wo bauliche Verwahrlosung und soziale Prekarität kumulieren. Auch die wesentlich hier ansetzende Abrisspolitik stellt, so wird ausgeführt, kein Lösungsmittel dar, den Abstieg und die interne Segregation in den Siedlungen zu stoppen.
Soziale Entmischung Allgemein kann der soziale Abstiegsprozess in Wohnsiedlungen durch zwei Entwicklungen verursacht werden: die Deprivation von Lebenslagen innerhalb der Siedlung und sozial selektive Umzüge (vgl. Kronauer 2004). Beide Entwicklungen greifen beim Abstieg der Plattenbausiedlungen ineinander. Die entstehende strukturelle Arbeitslosigkeit ist dabei die wesentliche Ursache für Deprivationen innerhalb der Siedlungen, während die Suburbanisierung und die administrative Belegung Hauptursachen bei den sozial selektiv verlaufenden Umzügen darstellen. Im Zeitverlauf lassen sich zwei Abstiegswellen der Plattenbausiedlungen unterscheiden. Dabei ist die erste, unmittelbar nach der Wende einsetzenden Welle vor allem durch die entstehende Massenarbeitslosigkeit und altersselektive Umzüge charakterisiert, während die zweite, Mitte der 90er Jahre einsetzende Welle durch die nachholende Suburbanisierung eingeleitet wird, in dessen Verlauf das Schwungrad der sozialen Entmischung seine eigentliche Dynamik gewinnt. Die erste Welle ist auf der Ebene von Stadtteilen schlecht dokumentierbar, da sich die statistischen Ämter der Städte nach der Wende erst etablieren mussten. Aber die Daten für die neuen Bundesländer insgesamt und für einzelne Städte zeigen, was die ExpertInnen in Eisenach und Wolfen für die
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Plattenbaugebiete beschreiben: eine gleich nach dem Mauerfall einsetzende Wegzugswelle in die alten Bundesländer sowie eine durch Deindustrialisierung entstehende Arbeitslosigkeit (vgl. StBA 2000: 51, 98; Stadt Eisenach 1999: 7; Stadt Wolfen 2003a: 19). – Die Wanderungen in die alten Bundesländer, die ab 1993 durch Zuzüge aus diesen ausgeglichen wurden und seit 1998 wieder einen Überhang haben, verlaufen vor allem altersselektiv. Sie stellen neben dem Geburtenknick den Hauptgrund für den Alterungsprozess im Osten dar, wo das zu Wendezeiten jüngere Durchschnittsalter den Westen mittlerweile überholt hat (42,4 gegenüber 41,4 Jahren im Jahr 2000; Winkler 2002: 39). »Die Jugend ging, das ›Mittelalter‹ kam«: Abgewandert ist am stärksten die Altersgruppe von 18 bis 24 Jahren (ebd.). Es ist anzunehmen, dass bereits in der Zeit direkt nach der Wende überproportional viele Personen aus den Neubaugebieten in den Westen zogen. – Sicher ist, dass die Deindustrialisierung die Arbeitslosigkeit in den betriebsbezogenen Plattenbausiedlungen bereits schneller als in anderen Quartieren steigen ließ. Strukturell sind ArbeiterInnen am stärksten von Arbeitslosigkeit betroffen: Sie machen 62,5 Prozent der Arbeitslosen in den neuen Bundesländern und Ostberlin aus (im September 2000; StBA 2002: 108). Die Entwicklungen in den Plattenbausiedlungen wurden allerdings bis Mitte der 90er Jahre einhellig als unproblematisch beschrieben. Der Hauptgrund dafür war sicherlich, dass leer werdende Wohnungen wieder bezogen wurden. So gab es in Eisenach- und Wolfen-Nord bis Mitte der 90er Jahre kaum Leerstände, die Gebiete blieben besonders für die in unsanierten und schlecht ausgestatteten Altbauten wohnenden Haushalte attraktiv. Die Gebäude- und Wohnungszählung bestätigt diesen Befund für die neuen Länder insgesamt, derzufolge 1995 in den ab 1949 gebauten Wohnungen nur 5 Prozent leer standen (Haller 2002: 15). Was den Anstieg der Arbeitslosigkeit betrifft, so haben bei der Abwicklung von Großbetrieben Auffang- und Beschäftigungsgesellschaften die Massenentlassungen zumindest über einige Jahre verteilt, indem sie Teile der Belegschaft in ABM-Maßnahmen überführten. Auch hierin sind Eisenach und Wolfen nicht untypisch, dass sich die Entlassungen aus den Großbetrieben erst im Verlauf der Jahre voll bemerkbar machten. Lässt sich mithin von einer ersten Abstiegswelle unmittelbar nach der Wende reden, die durch die heraufziehende Massenarbeitslosigkeit und in erster Linie alterselektive Umzüge markiert ist, so setzt die eigentliche Abstiegs-
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welle Mitte der 90er Jahre ein. 19 Zu den sozialen Abstiegen innerhalb der Siedlungen, die mit der ostdeutschen Rezession seit 1996 nochmal forciert werden, gesellt sich Mitte der 90er Jahre ein umfangreiches, sozial selektives Umzugsgeschehen. Bei den markt- und administrativ gesteuerten Umzugsprozessen wandern finanzkräftige Haushalte vor allem ins Umland ab, während statusschwache Personen zuziehen, ohne die rapide wachsenden Leerstände wieder zu füllen. Die soziale Entmischung verfestigt sich in bestimmten Siedlungsbeständen zu Abwärtsspiralen, denen mit primär baulichen Maßnahmen – sei es Modernisierung, sei es Abriss – nicht beizukommen ist, da die soziale Krise in den Gebieten jetzt selber zu einem Push-Faktor des Wegzugs wird.
Entleerung ins Umland Als Mitte der 90er Jahre eine erste Serie von Wohnhäusern in Umlandgemeinden bezugsfertig wird, deren Bau stimuliert wurde durch Sonderabschreibungen auf Investitionen, großzügige Flächenausweisungen der selbständig gewordenen Kommunen und damit einhergehenden geringen Bodenpreisen, beginnt die nachholende Suburbanisierung der ostdeutschen Städte (vgl. Empirica 1999: 3; Herfert 1997; Brake/Dangschat/Herfert 2001). Aus Eisenachund Wolfen-Nord, wo Ende 2002 Leerstände von 33 und 38,5 Prozent existieren, ist der Hauptteil der MieterInnen in neue Wohngebiete im städtischen Umland abgewandert (Stadt Eisenach 2002a: 8–10; Stadt Wolfen 2003b: 5; Empirica 1999; ebd. 2000: 2). Die Einwohnerverluste in den beiden Plattenbausiedlungen liegen signifikant über anderen Gebieten: Die restliche Stadt gewinnt sogar jeweils leicht an Bevölkerung, so dass sich der gesamtstädtische Schrumpfungsprozess statistisch auf die großen randstädtischen Siedlungen reduzieren lässt (vgl. Tab. 2.1). Der geringere Einwohnerverlust in Eisenach ist neben einer gesamtstädtisch schwächeren Abwanderung als
—————— 19 Ein Hausmeister aus Eisenach-Nord berichtet, im Dezember 1997: »Vor drei Jahren wollt im Prinzip keiner mehr nach Nord. Vorher nie ne Leerwohnung, ne Leerwohnung in Nord gab´s nicht, hier oben ne Neubauwohnung zu kriegen war wie ein Fünfer im Lotto. Sie sind nicht rangekommen an die Wohnungen. Selber hab ich hier ne Wohnung [1990] nur unter der Bedingung gekriegt, dass ich hier den Hauswart mache. Heute, wer sich´s leisten kann, zieht auf die grüne Wiese, hat nen Haus gebaut oder nimmt sich ne Eigentumswohnung. (...) Jetzt sind aber Mieter drin, die ich als Privatmann jederzeit rausschmeißen würde, weil das nicht tragbar ist im Privathaus Mieter, die die ganze Nacht saufen, randalieren und was weiß ich nicht alles. Aber das Sozialamt ist in die Pflicht genommen, die können wir ja da drinnen reinstecken. Da haben wir vor drei Jahren wahnsinnig viele an solchen Leuten hier hoch gekriegt nach Nord.« (EN97-E-9)
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in Wolfen vor allem darauf zurückzuführen, dass die Stadt 1994 in der Lage war, einen großen Teil der wachsenden Umlandgemeinden einzugemeinden. Tabelle 2.1: Bevölkerungsentwicklung und Leerstände in Eisenach-Nord und Wolfen-Nord im Vergleich zur Gesamtstadt 1994–2001 Eisenach Eisenach Nord
Leerstand
Wolfen
restl. Stadt
Gesamtstadt
WolfenNord
Leerstand
restl. Stadt
Gesamtstadt
1994
8.400
3%
37.608
46.008
31.177
3%
10.709
41.886
1997
6.800
12%
37.933
44.733
25.467
15%
11.197
36.664
2001
5.092
29%
38.456
43.548
17.095
34%
11.716
28.811
94–01
-39%
+26
+2%
-5%
-45%
+31
+9%
-31%
Quellen: SAE 1997; Stadt Eisenach 1999: 6; Stadt Eisenach 2002d; Expertenaussagen und Dokumente zu Leerständen in Eisenach-Nord; Empirica 1999: 28; Stadt Wolfen 2002: 18; Stadt Wolfen 2003a: 19; eigene Berechnungen
Mit den Umzügen verschieben sich in beiden Städten die Wohnungsleerstände auf eine auch für andere ostdeutsche Städte charakteristische Weise: Sie weiten sich vom Altbaubestand auf die randstädtischen Großsiedlungen aus. Von den mittlerweile 1,3 Millionen unbewohnten Wohnungen in Ostdeutschland standen ca. 500 tsd. bereits vor der Wende leer (GdW 2002: 78ff.). Dabei handelt es sich um Altbauwohnungen, ein Erbe der DDR-Altbaupolitik, das sich 1995 durch den höchsten Leerstand von 45 Prozent in Gebäuden darstellte, die bis 1900 gebaut wurden (Haller 2002: 15). Noch die von der Bundesregierung eingesetzte Expertenkommission entdramatisierte den Leerstand in den sozialistischen Neubaugebieten, in dem sie sich, für 1998, auf eine Leerstandsquote von unter 10 Prozent in Plattenbauten sowie Ein- und Zweifamilienhäusern, aber von einem Drittel in innerstädtischen Altbauten berief (vgl. Kommission 2000). Aktuelle Studien zeigen jedoch, dass der Leerstand auch nach 1998 vor allem in den Plattensiedlungen wächst: Es sind die randstädtischen Plattenbaugebiete, die sich entleeren, und in Städten mit einem hohen Anteil von Plattenbau liegen die Leerstandsquoten im gesamten Plattenbaubestand bereits deutlich über dem städtischen Durchschnitt (GdW 2002: 78ff.; BMBau 2001: 40, 88). In dieses Bild passt, dass im Jahr 2000 in Eisenach, einer nicht überdurchschnittlich mit Plattenbau bestückten Stadt, der Leerstand im gesamten Plattenbaubestand mit 17,6 Prozent ebenso hoch ist wie in den AltbauMehrfamilienhäusern. 1995 war im Altbau der Leerstand noch drei mal so hoch wie im Plattenbau. Dieser hat sich freilich differenziert entwickelt: In den kleineren Siedlungen und innerstädtischen Beständen liegt auch im Jahr 2000
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der Leerstand unter 10 Prozent (Stadt Eisenach 2002d: 76–77). In Wolfen ist nur noch eine ältere, von ungeklärten Restitutionsansprüchen betroffene Siedlung von hohen Leerständen geprägt. Der gesamtstädtische Leerstand von 24 Prozent Ende 1999 ist hier wesentlich Effekt der Großsiedlung Wolfen-Nord (Stadt Wolfen 2000a: 16; BMBau 2001: 88).
Markt- und staatlich gesteuertes Auffüllen Die sozial selektiven Wegzüge zielen zum überwiegenden Teil ins städtische Umland. Wegzüge in die Innenstadt und die seit 1998 wieder zunehmenden Fernwanderungen vor allem junger Personen spielen demgegenüber eine untergeordnete Rolle (vgl. Harms/Jacobs 2002: 26; Winkler 2002). Gleichzeitig ziehen untere Statusgruppen und WendeverliererInnen in die leer gewordenen Wohnungen ein. Sie werden angezogen durch die geringen Mietpreise, die angesichts der kleinen Grundrisse auch in einfach sanierten Wohnungen, besonders aber im noch unsanierten Bestand bestehen, und die durch die hohen Leerstände weiter gedrückt werden. Zweitens werden Statusschwache durch kommunale Belegungsregime, die sich zwischen Stadt und Wohnungseigentümern etablieren, in die Siedlungen eingewiesen. Tabelle 2.2: Einkommenstypen ein- und ausziehender Haushalte in sechs Siedlungen Mecklenburg-Vorpommerns (%), Juni–September 1997 reiner Erwerbs-Haushalt reiner Transfer-Haushalt reiner Renten-Haushalt Sonstige Gesamt
Ausziehende 57,0 8,1 17,4 17,5 100,0
Einziehende 40,8 34,2 13,2 11,8 100,0
Bestand 42,8 8,2 23,7 25,3 100,0
Quelle: MfBLU 1998: 112
Tabelle 2.2 und 2.3 zeigen am Beispiel von sechs Mecklenburgischen Siedlungen, dass überproportional viele Transfer-Haushalte zuziehen, während gleichzeitig reine Erwerbs-Haushalte in die Minderheit geraten. Außerdem ziehen BewohnerInnen mit Berufsabschlüssen weg, die oberhalb des Meisterabschlusses liegen, während vor allem FacharbeiterInnen und unqualifizierte ArbeiterInnen zuziehen. Damit nehmen in den Siedlungen genau die Qualifikationsgruppen ab, die schon vor der Wende die Minderheit ausmachten, und es vollzieht sich eine Homogenisierung von Arbeitermilieus.
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Tabelle 2.3: Berufsabschluss Ein- und Ausziehender in sechs Siedlungen MecklenburgVorpommerns (%), Juni–September 1997 Ausziehende 6,5 0,6 36,4 4,5 24,0 11,7 16,2 100,0
in Ausbildung ohne Abschluss/ Teilfacharb. Facharbeiter/ Geselle Meister/ Techniker Fachschule/ Berufsfachschule Fachhochschule Hochschule/ Universität Gesamt
Einziehende 8,0 16,1 51,7 8,0 6,9 1,1 8,0 100,0
Bestand 7,7 8,2 64,2 4,3 9,5 1,5 4,6 100,0
Quelle: MfBLU 1998: 110
Unter den verbleibenden und zuziehenden erwerbstätigen Haushalten gibt es wiederum einen bedeutenden Anteil mit prekärer Beschäftigung und niedrigen Einkommen. So ermittelt die Sozialstudie für Sachsendorf-Madlow 1998 bei einem Drittel aller Bewohner-Innen ein Einkommen, das nur wenig über dem Sozialhilfesatz liegt (IRS 2002: 9). Unter den zwischen 1996 und 1998 Zuziehenden verfügen hier die Hälfte der Haushalte über ein Einkommen von weniger als 2000 DM, ein Trend, der sich auch für Plattenbausiedlungen in sächsischen Kleinstädten dokumentieren lässt (vgl. Diagramm 2.1). Diagramm 2.1: Einkommensveränderung in Plattenbausiedlungen (%), Fallstudie zu Kleinstädten in Sachsen 2002 Alteingesessene (bereits vor 1990 ansässig) 2
14
36
33
15
Zugezogene (nach 1998 zugezogen) 14
50
unter 500 €
500 bis unter 1000 €
1500 bis unter 2000 €
2500 € und mehr
18
14
4
1000 bis unter 1500 €
Quelle: Winkler FWB 2002: 6
Bei der Befragung 1997 in Eisenach gab es ExpertInnen bei den Wohnungsbaugesellschaften und der Stadt, die den sozialen Abstieg und die steigenden Leerstände in Nord mit Hinweis auf die im Gange befindlichen Sanierungsmaßnahmen relativierten oder in Abrede stellten. Bei den späteren Befra-
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gungen gab es dann sowohl in Eisenach als auch in Wolfen einen Konsens bei der Beschreibung der Prozesse, die sich trotz der Sanierung von knapp zwei Drittel der Wohnungen, was dem durchschnittlichen Sanierungsstand in Plattenbausiedlungen entspricht, eingestellt haben. Eine Angestellte der städtischen Wohnungsgesellschaft in Wolfen beschreibt exemplarisch die Entwicklung: »Wolfen-Nord war bis zur Wendezeit eigentlich das beliebteste Wohngebiet. Gab’s keinen Leerstand, man hat sich gefreut, wenn man eine Wohnung gekriegt hat. Nach der Wende, Betriebe geschlossen, Arbeitslosigkeit, viele sind weggezogen, der Leerstand wird immer größer. Viele haben sich Eigentum angeschafft, viele junge Leute. Viele junge Leute ziehen weg, wegen Arbeitsplätzen. Die Leute, die nach Wolfen-Nord ziehen, wie kann man das günstig ausdrücken, sind sozial schwächer, würd ich mal sagen. Viele kommen mit Wohnberechtigungsschein, die die Wohnung vom Sozialamt gezahlt kriegen. Viele kommen, weil sie sich finanziell ne andere Wohnung nicht mehr leisten können.« (WN01-E-8)
Die Gruppen, die aus den Siedlungen wegziehen, sind nach Aussagen der ExpertInnen vor allem jüngere und finanzkräftigere Haushalte und Familien. Dagegen ziehen status- und finanzschwache Haushalte zu, worunter sich ebenfalls viele junge – Haushaltsgründer, Personen in Ausbildungsverhältnissen –, dann kleine und große Haushalte sowie AussiedlerInnen befinden. Durch die Abnahme der Kleinfamilien, die zu DDR-Zeiten auch mit zwei Kindern großenteils in Dreiraumwohnungen gelebt haben, konzentriert sich der Leerstand zunehmend auf diesen, in den Siedlungen vorherrschenden Wohnungstyp. Die städtischen Wohnungsgesellschaften in Eisenach und Wolfen geben ihren Leerstand sogar als nahezu begrenzt auf Dreiraumwohnungen an. Da sie stärker als die Genossenschaften mit dem Sozialamt zusammenarbeiten, können sie die Vier- und wenigen Fünfraumwohnungen mit großen Familien belegen, während bei den Ein- und Zweizimmerwohnungen ohnehin eine große Nachfrage durch Singles, Alleinstehende und Pärchen besteht. In der neuen Belegungsstruktur spiegelt sich die Polarisierung der Bewohnerschaft in große und kleine sowie junge und alte Haushalte, da unter den Verbleibenden Ältere dominieren. Diese Polarisierung wird für viele, seit den 70er Jahren entstandene Plattenbaugebiete dokumentiert und alles weist darauf hin, dass es sich dabei um einen generellen Trend handelt.20
—————— 20 Sozialstudien, die die hier beschriebenen Entwicklungen darstellen, existieren für Sachsendorf-Madlow, Cottbus (Hunger 1999), Südstadt, Leinefelde (ZWS Lf 1995; WuP 2002), sechs Siedlungen in Mecklenburg-Vorpommern (MfBLU Meck-Pom 1998), Halle-Silberhöhe (Empirica 2002), Marzahn Nord-West (Schulz 2002), Neu-Zippendorf, Schwerin (DIfU 2002b) und Siedlungen in sächsischen Kleinstädten (Winkler FWB 2002). Darüber hinaus zeigt eine umfassende Kommunalbefragung zu 142 Plattenbaugebieten von 1998 viele der beschriebenen Trends auf (BMBau 1999: 213ff.). Die jüngsten Erkenntnisse zur Entwicklung
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Belegungspolitik Der Zuzug respektive die Zuweisung von AussiedlerInnen aus dem ehemaligen Ostblock scheint ebenfalls ein generelles Phänomen darzustellen (vgl. BMBau 1999: 259–265). In der Zuweisungspolitik kommt ein Interessenbündnis zwischen Wohnungsunternehmen und kommunalem Staat zum Ausdruck, dass auch für die Versorgung anderer statusschwacher Gruppen mit Plattenbauwohnungen verantwortlich zeichnet. Obwohl im Einigungsvertrag festgelegt wurde, dass Plattenbausiedlungen nicht als sozialer Wohnungsbau fungieren sollen, folgte aus der Logik der Transformation des Wohnungswesens in Ostdeutschland, dass die Kommunen vor allem in ihnen Belegungsrechte behielten. 21 Denn der rechtliche Zugriff auf die Altbauten wurde, wenn nicht durch Privatisierung, so durch ungeklärte Restitutionsansprüche bis Mitte der 90er Jahre massiv eingeschränkt (vgl. Glock/ Häußermann/Keller 2001). Die Belegungsrechte der Städte weiteten sich dann mit dem Altschuldenhilfegesetz 1993 von dem kommunalen auf den genossenschaftlichen Bestand aus, da sämtliche Wohnungsunternehmen, die Altschuldenhilfe in Anspruch nahmen, zur zehnjährigen Belegungsbindung von 50 Prozent ihres Bestandes verpflichtet werden konnten (vgl. Borst 1997: 132). Dabei waren die Belegungskriterien, die 1995 durch Gesetze auf Länderebene konkretisiert wurden, zwar weiter als die des sozialen Wohnungsbaus gefasst, sie ließen der kommunalen Praxis jedoch großen Gestaltungsraum. Diese Praxis sah in Eisenach und Wolfen so aus, den Großteil bzw. alle der belegungsgebundenen Wohnungen in den nördlichen Großsiedlungen und dort noch einmal in bestimmten Abschnitten zu lokalisieren. So wurden in Wolfen die belegungsgebundenen Wohnungen zunächst auf zwei Siedlungsabschnitte des jüngsten Wohnkomplexes beschränkt (Stadt Wolfen 1996: 2.12). In Eisenach gab lediglich die städtische Wohnungsgesellschaft 1997 Auskunft, 70 Prozent aller belegungsgebundenen Wohnungen ihres über die Stadt verteilten Bestandes in Nord konzentriert zu haben. Dass es sich bei dieser Politik um keine Ausnahme handelt, haben die Gespräche mit ExpertInnen, die für eine Reihe von Plattenbausiedlungen Begleitforschungen durchgeführt haben, bestätigt.22 Mit den steigenden Leerständen – besonders in den jüng-
—————— der Plattenbausiedlungen verdanken sich zu einem großen Teil dem Bund-Länder-Programm »Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – die soziale Stadt« (vgl. DIfU 2002a), in das bis 2002 301 Stadtteile aufgenommen wurden, darunter 54 aus den neuen Bundesländern (ohne Berlin), bei denen es sich überwiegend um Plattenbausiedlungen handelt. 21 Vgl. zur Transformation des ostdeutschen Wohnungswesens Häußermann (1996b). 22 Die Gespräche wurden mit je einer/m MitarbeiterIn von Weeber und Partner, Stadtbüro Hunger, IRS Erkner, Empirica und dem DIfU geführt (vgl. Anhang).
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sten Bauabschnitten, in denen die jüngste und mobilste Bevölkerung wohnte – wird das Interesse der Wohnungsgesellschaften an dem Bündnis mit der Stadt nochmal befestigt. Die genaue Festlegung belegungsgebundener Wohnungen in den Siedlungen verliert gleichzeitig an Bedeutung, da die Mietkosten ohnehin gering sind und die subjektbezogene Förderung (Bezahlung der Miete durch das Sozialamt, Wohngeld) gängige Praxis ist. Die lokalpolitischen Akteurskonstellationen haben sich eingespielt, und als Regel gilt, dass das Sozialamt die Kosten für die günstigsten Wohnungen übernimmt. So berichten ExpertInnen der Sozialämter, dass Personen mit Wohnungsberechtigungsschein überwiegend nach Wolfen- und Eisenach-Nord verwiesen werden, auch wenn ihnen formell das Recht zukommt, drei Wohnungsangebote zu machen, die sich innerhalb der festgesetzten Kosten- und Grundrissgrenzen bewegen. Während der Zuzug von AusländerInnen in die Plattenbausiedlungen bisher recht gering ist, fällt der von AussiedlerInnen, die von der deutschen Bevölkerung allerdings auch als Ausländer bezeichnet werden, stärker ins Gewicht. In Wolfen-Nord ist ein weiterer Abschnitt des jüngsten Wohnungskomplexes zum Auffangbecken der aus dem städtischen Wohnheim kommenden AussiedlerInnen geworden. In Eisenach wurde deren Wohnheim vor einigen Jahren kurzerhand nach Nord verlegt, und von dort ziehen viele weiter in andere Teile der Siedlung. Während der Ausländeranteil mit 1,7 Prozent in Wolfen-Nord im städtischen Durchschnitt liegt und auch in Eisenach-Nord nicht weit über dem Mittel von 2 Prozent liegen dürfte (Stadt Wolfen 2003a: 11; Stadt Eisenach 2002b: 4 und 2002e), gibt es eine deutliche Segregation von AussiedlerInnen in den Siedlungen. Ihr Anteil liegt nach vorsichtigen Schätzungen bei 10 Prozent in Wolfen- und 9 Prozent in Eisenach-Nord. Dass für den Zuzug der AussiedlerInnen in Plattenbausiedlungen auch die Wohnungsbaugesellschaften das Zugpferd bilden können, die in dieser Gruppe eine Kundschaft nicht zuletzt für die Dreiraumwohnungen erkennen, zeigt ein Beispiel aus Berlin. So hatte die Wohnungsbaugesellschaft für Marzahn-Nord, wo sich heute mit ca. 15 Prozent der Bewohnerschaft die größte Konzentration von AussiedlerInnen in Berlin befindet (Kapphan 2002: 147), bei dem regionalen Auffanglager extensiv mit preisgünstigem Wohnraum geworben. Bei den AussiedlerInnen sind kleinfamiliale Haushaltsstrukturen noch die Regel, was im übrigen neben ihrer Segregation in den Plattenbausiedlungen mit dazu beitragen dürfte, dass diese Zuzugsgruppe in quantitativ markant übersteigerter Weise von den Ansässigen wahrgenommen wird.
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Bilanz: Abstieg mit unterschiedlicher Intensität Der soziale Abstieg in den randstädtischen Plattenbausiedlungen verläuft in verschiedenen Stadttypen mit unterschiedlicher Geschwindigkeit und Intensität. Allgemein lässt sich sagen, dass in den betriebsbezogenen Siedlungen der Abstieg am frühsten und radikalsten einsetzt, was eine besondere Betroffenheit der Mittelstädte impliziert. In den Plattenquartieren der Großstädte, die sozial gemischter waren und in der Regel größer sind, macht sich der Abstieg später und bisher weniger durchgreifend bemerkbar. Stärker betroffen sind die betriebsbezogenen Siedlungen in Großstädten, wie auch an den Arbeitslosenquoten in Cottbus Madlow und Halle-Silberhöhe im Vergleich zu Rostock Groß Klein deutlich wird (vgl. Tab. 2.4). Weiter sind die ältesten Siedlungsbestände aus den 50er und 60er Jahren, in denen ein Milieu etablierter SeniorInnen dominiert, sozial am stabilsten, die jüngsten dagegen am instabilsten. Tabelle 2.4: Arbeitslosigkeit in Plattenbausiedlungen von Groß-, Mittel- und Kleinstädten im Vergleich zur Gesamtstadt (%) Rostock Groß Klein Siedlung
Cottbus Madlow*
21,3
26,0
HalleSilberhöhe
28,3
Güstrow Südstadt 24,0
Parchim Weststadt 28,6
EisenachNord
25,0
WolfenNord*
Ueckermünde Ost
Leinefelde Südstadt
28,3
33,6
20,0
Stadt
18,5
16,9
22,6
20,1
18,2
13,8
23,9
24,0
15,0
Jahr
1997
1998
2000
1997
1997
2001
2002
1997
2000
* Arbeitslosenquoten bis auf Cottbus und Wolfen, wo Arbeitslosendichten (Erwerbslose im Verhältnis zur erwerbsfähigen Bevölkerung) angegeben werden Quellen: Empirica 2002: 13; Hunger 1999: 71; MfBLU 1998: 34; Stadt Eisenach 2002c: 7; Expertenaussagen Eisenach; Stadt Wolfen 2003b: 19; WuP 2002: 16
Unter den regionalen Faktoren, die die soziale Entwicklung der Plattenbausiedlungen moderieren, sind die Strategien und die Abstimmung von städtischen Akteuren und Wohnungseigentümern hervorzuheben. Insbesondere eine gemäßigte und geographisch gestreute Belegung des Plattenbaus als sozialer Wohnungsbau sowie eine konzertierte Weiterentwicklung der Siedlung mit den BewohnerInnen können das Ausmaß des Abstiegs eindämmen.23 Auch die regionale wirtschaftliche Entwicklung spielt ein Rolle.
—————— 23 Vergleiche zu unterschiedlichen Strategien der Weiterentwicklung der Plattenbausiedlungen BMBau 1999, MAB 1999, TIM 1999 sowie die Arbeit von zur Gathen (2001), die das oft zitierte Beispiel von Eggesin mit Schwerin und Wolfen vergleicht.
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Dabei zeigt allerdings der Vergleich zwischen Eisenach und Wolfen, dass sowohl unter den Vorzeichen von einer wirtschaftlich eher positiven wie negativen Entwicklung der Region die grundlegenden Trends identisch sind. Insgesamt fügt sich das Puzzle der zur Verfügung stehenden Studien und Daten zur sozialen Entwicklung der Plattenbausiedlungen zu einem unerfreulichen Bild. Die Maßnahmen der Wohnumfeldverbesserung und Sanierung konnten die Siedlungen nicht vor sozialem Abstieg und einer Ghettoisierung bewahren. Zwar konnten viele der älteren BewohnerInnen in den sanierten, zumeist älteren Siedlungsbeständen gehalten werden. Ein Abstieg in anderen, meist den jüngeren Bauabschnitten, hat sich jedoch mit teils gravierender Schärfe vollzogen. Die hier in Gang gekommenen Abwärtsspiralen bedrohen die Zukunft der Siedlungen im ganzen. Denn wer zieht in die stabileren Bestände ein, wo inzwischen der Abgang durch Sterbefälle den Leerstand täglich wachsen lässt? Auch wenn sich die Abwärtsspiralen auf bestimmte Teile konzentrieren, so beeinträchtigen sie doch mindestens durch ein negatives Image die gesamte Siedlung und halten, auch angesichts eines breiten Wohnungsangebots, ressourcenkräftigere Haushalte vor einem Zuzug ab. Wenn unter den Wegzugsmotiven, den ExpertInnen in Eisenach und Wolfen sowie zwei weiteren Studien zufolge (Hunger 1999: 105; Winkler FWB 2002: 7), die Unzufriedenheit über das soziale Umfeld bereits dominiert, dann werden bauliche Maßnahmen allein diesen Abstieg nicht aufhalten können.
Interne Segregation Die strukturelle Arbeitslosigkeit, die Entleerung der Siedlungen in die neu entstehenden Marktsegmente im städtischen Umland und die aus der Logik der Privatisierung folgende Belegungspolitik verursachen weitgehend unabhängig von regionalen Besonderheiten den Abstiegsprozess der Plattenbausiedlungen. Wie schlagen sich diese makrosozialen Trends nun aber innerhalb der Siedlungen, auf mesosozialer Ebene nieder? Es ist deutlich geworden, dass die Siedlungen keineswegs flächendeckend absteigen. Der Abstieg geht vielmehr mit einer internen Segregation bzw. einer Verinselung sozialer Milieus einher, wobei sich drei sozialräumliche Milieus in den Siedlungen kristallisieren. Im Folgenden werden nach einer knappen Skizze der sich bildenden drei sozialräumlichen Milieus die Faktoren diskutiert, die auf mesosozialer Ebene die Segregation gestalten. Abschließend wird am Beispiel von Eisenach- und Wolfen-Nord das jeweilige Zusammenwirken der Faktoren sowie das Ausmaß der internen Segregation veranschaulicht.
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Sozialräumliche Milieus: Etablierte Ältere, MigrantInnen und Arme Im Zuge der internen Segregation bilden sich unterschiedliche sozialräumliche Milieus in den Siedlungen. Den größten Raum nimmt dabei das Milieu der etablierten Älteren ein, unter denen sich viele RentnerInnen, aber auch erwerbstätige Haushalte befinden, und die in den am aufwendigsten sanierten Blöcken wohnen. Daneben haben sich kleinere Inseln von MigrantInnen, meist AussiedlerInnen, gebildet, die eher in den einfach sanierten Beständen leben. Schließlich ist ein wachsendes Milieu der Armut und Prekarität entstanden, das sich in den teil- und unsanierten Bereichen konzentriert. Die drei sich in den Siedlungen kristallisierenden Milieus sind auch durch unterschiedliche Niveaus an Leerständen und Fluktuation charakterisiert: In dem Milieu der Armut gibt es neben den höchsten Leerstands- zugleich die höchsten Fluktuationsquoten, während diese bei den etablierten Älteren am geringsten sind.24 Die drei sozialräumlichen Milieus der etablierten Älteren, MigrantInnen und Armen konturieren sich in den Siedlungen bereits erstaunlich scharf, wie an Eisenach- und Wolfen-Nord deutlich wird. Bemerkenswert ist die Verknüpfung zwischen Status und sichtbarer Wohnqualität. Mit dieser Verknüpfung, besonders der von Armut und Desinvestition, kündigt sich eine Qualität sozialer Ungleichheit an, deren Überwindung als eine Errungenschaft des 20. Jahrhunderts gilt. Benachteiligungen im Wohnbereich wurden hier durch sozial orientierte Stadterneuerung und sozialen Wohnungs- und Plattenbau immer weniger sichtbar und verschoben sich zunehmend auf Merkmale der Wohnlage und des -umfelds.25 Die drei entscheidenden Faktoren, die die entstehenden Muster der internen Segregation bestimmen, bestehen erstens in der überkommen Sozialstruktur und internen Segregation, zweitens in den Entwicklungsstrategien der Wohnungseigentümer und der Stadt sowie drittens in den Abgrenzungen zwischen den BewohnerInnen. Darunter ist die geerbte Sozialstruktur das einflussreichste Moment. Denn die überkommene Verteilung von sozialen Milieus, die verschiedene Lebenslagen und Bindungen an die Siedlung hatten, übersetzte sich nach der Wende in Bleibe- und Umzugsentscheidungen. In den jüngeren Bauabschnitten war die Mobilitätsbereitschaft der jungen Bewohnerschaft höher und auch die Verunsicherung ihres Status im Zuge der
—————— 24 Auch der Vergleich zwischen Siedlungen zeigt eine Korrelation zwischen sozialer Deprivation und Leerständen: Die Arbeitslosigkeit liegt, wie die Kommunalbefragung zu 142 Plattenbausiedlungen 1998 ergeben hat, in Siedlungen mit höheren Leerständen ebenfalls höher (BMBau 1999: 140). 25 Vgl. dazu verschiedene Beiträge in dem Band von Harth/Scheller/Tessin (2000), besonders die von Saldern (2000) und Häußermann/Siebel (2000).
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Transformation durchgreifender. Wer nicht wegzog, bei dem war die Chance arbeitslos zu werden, besonders hoch. Die in den älteren Siedlungsabschnitten wohnenden FacharbeiterInnen hatten allein schon durch den absehbaren oder sich vollziehenden Übergang in eine sichernde Rente weniger mit ihrer Lebenslage zu kämpfen. Ihre durch jahrzehntelanges Wohnen hohe Bindung an das Quartier beeinflusste die Entscheidung zu bleiben oder innerhalb der Siedlung in einen gesicherten Bereich umzuziehen. Da die Sanierungen in der Regel bei den älteren Siedlungsbeständen begannen, wurde damit zusätzlich das dort alt gewordene Milieu an FacharbeiterInnen stabilisiert. In den jüngeren Bauabschnitten ist dagegen die Sanierungswelle meist gar nicht angekommen. Neben der stärkeren Abwanderung der mobileren Bewohnerschaft ist hier durch die vernachlässigte Instandhaltung und die Konzentration der »sozialen« Belegungspolitik der Abstieg typischer Weise am stärksten. Dieses Muster der internen Segregation, das im Kern dem Bebauungsalter folgt, zeigt sich deutlich in großen Plattenbaugebieten wie Wolfen-Nord, Berlin-Marzahn oder Magdeburg Neu-Olvenstedt, da hier die Alterssegregation sehr signifikant war und ist und die Aufwertung der ältesten Gebäudeabschnitte schon aus bautechnischen Gründen besonders nahe lag.26 Mit einer Entwicklungsstrategie, die die älteren Bestände privilegiert, sind Wohnungseigentümer und Stadt den sozialstrukturellen Mustern gefolgt und haben ihre wichtigsten Klienteln bedient, womit sie den Prozess der internen Segregation forciert haben. Wie schwierig es andererseits war, gegen die sich verstärkende, auch durch interne Umzüge vorangetriebene Verinselung anzugehen, zeigt neben der Bilanzierung der Wohnumfeldmaßnahmen in zahlreichen Siedlungen ein Beispiel aus Wolfen-Nord. Mitte der 90er Jahre visierte man hier mit einem Entwicklungskonzept, das auch im Rahmen der Weltausstellung EXPO 2000 gefördert wurde, die Aufwertung des jüngsten Siedlungsabschnittes an (vgl. Stadt Wolfen 1996). Die aufwendigen Umfeldverbesserungen und Luxussanierungen von einzelnen Häusern konnten die Abwanderung und soziale Entmischung dort aber kaum eindämmen. Heute stehen die PlanerInnen vor dem Problem, die umfangreichen Investitionen nicht dem Abriss preisgeben zu wollen, der vor allem für die jüngsten Bauabschnitte vorgesehen und bereits begonnen ist. Der aufgewertete Bereich soll deswegen als eine Insel erhalten werden. Da aber mittlerweile die Zuweisung von AussiedlerInnen und die Lage im problematischen jüngsten Siedlungsbereich ressourcenstärkere Haushalte vor einem Zuzug abschreckt und diese im Gegenteil von dort in die älteren Teile der Siedlung um- oder
—————— 26 Zur Altersegregation in großen Plattensiedlungen vgl. Hunger/Wallraf 1998: 183-184.
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ganz wegziehen, scheint der Erhalt der Insel nur um den Preis einer Ghettoisierung möglich. Die Muster der internen Segregation werden durch die Struktur und Strategien der Wohnungseigentümer aber auch überformt. Generell sind die Bestände der Genossenschaften stabiler, da diese weniger als die städtischen Wohnungsgesellschaften mit dem Sozialamt zusammenarbeiten und durch die Notwendigkeit einer finanziellen Einlage eine soziale Eingangsbarriere existiert. Allerdings gehen auch sie eine Kooperation mit dem Sozialamt für ihre vom höchsten Leerstand geprägten Bestände ein, wozu auch in ihrer Lage oder Architektur besonders unattraktive Gebäude zählen. Die interne Segregation wird durch die Eigentümer um so stärker überformt, je kleiner die Siedlung ist und je mehr Eigentümer konkurrierend die Siedlung entwickeln. Denn in kleinen Siedlungen ist die Alterssegregation geringer ausgeprägt und der Anteil der beliebteren am Rand gelegenen Bestände größer, die unterschiedliche Eigentümer konkurrierend entwickeln können. Die meisten Eigentümer folgen in ihren Strategien offenbar eher den sich schon abzeichnenden Trends, als grundlegend andere Akzente zu setzen, so in Neu-Olvenstedt und Eisenach-Nord, wo sich neben Genossenschaft und städtischer Gesellschaft – in der Regel den Haupteigentümern der Siedlungen – eine Vielzahl von Eigentümern die Siedlung teilen. 27 Für die zukünftige Entwicklung und Schärfe der internen Segregation sind die Eigentümer und die städtischen Akteure aber nicht zu unterschätzen. Die Frage ist, ob sie sich mit ihren Strategien von Aufwertung und Desinvestition, von Erhalt, Abriss und Belegung den internen Segregationsprozessen entgegenstellen oder den bestehenden Mustern folgen. Mit ihrer Politik, die in einer Wechselwirkung mit den sozialen Prozessen steht, entscheiden sie wesentlich darüber, welche Wohnungssegmente sich innerhalb der Siedlungen ausbilden und wie tief die Gräben sind, die zwischen ihnen verlaufen. Neben der überkommenen Sozialstruktur und den Strategien der kommunalen Akteure sind schließlich die Abgrenzungsprozesse zwischen den BewohnerInnen ein Einflussfaktor für die entstehenden Muster der internen Segregation. Diese Abgrenzungen werden im dritten Kapitel genauer beschrieben, und hier genügt der Hinweis, dass sich dieselben in interne Umzüge übersetzen, bei denen insbesondere ressourcenstärkere und ältere BewohnerInnen aus abgestiegenen Beständen in die Milieus der etablierten Älteren umziehen. Der folgende Vergleich von Eisenach- und Wolfen-Nord veran-
—————— 27 Einsicht in eine aktuelle und unveröffentlichte Studie zur Entwicklung von Neu-Olvenstedt habe ich im Stadtbüro Hunger erhalten. Die Entwicklung der internen Segregation war ein zentrales Thema der durchgeführten Experteninterviews.
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schaulicht das jeweilige Zusammenspiel der drei Einflussfaktoren und das bisher erreichte Ausmaß der internen Segregation. Es zeigt sich, dass die sozialräumlichen Milieus in der kleineren Siedlung von Eisenach schärfer aufeinander stoßen, was neben der Größe der Siedlung auch mit der stärkeren Überformung der internen Segregation durch die Eigentümer zusammenhängt. In der Siedlung Wolfen-Nord verteilen sich die sozialen Milieus großräumiger. Der Einfluss des Bebauungsalters für die interne Segregation ist besonders offensichtlich, wiewohl auch hier die kommunalen Akteure das Muster überformt haben.
Verinselung als Geschichte von Wohnungseigentümern: Eisenach-Nord Ein Bild von der internen Segregation und Verinselung in Eisenach-Nord vermittelt Diagramm 2.2. Es gibt die Sozialstruktur wieder, wie sie in den Beständen der drei wichtigsten von mittlerweile sechs Wohnungseigentümern in Nord vorliegt: der Allgemeinen Wohnungsgenossenschaft (AWG), der Städtischen Wohnungsgesellschaft (SWG) und dem privaten Eigentümer Eichsfeld. Die Sozialstruktur der darüber hinaus existierenden Eigentümer lassen sich im Fall der Treuhand-Liegenschaft-Gesellschaft (TLG) mit der SWG und im Fall der Genossenschaft Sonnenschein mit der AWG vergleichen. Ein sechster Eigentümer von nur zwei Blöcken ist in dem bunt gescheckten Feld an Eigentumsstrukturen vernachlässigbar. Das Milieu der etablierten Älteren dominiert in den Wohnungsbeständen der Genossenschaften, in der AWG sowie in der 1998 ausgegründeten, kleineren Genossenschaft Sonnenschein, die zusammen mit 1704 Wohnungen fast die Hälfte der Siedlung ausmachen. Hier lebt zugleich der größte Anteil an erwerbstätigen Haushalten. Die Genossenschaftsbestände sind die am aufwendigsten sanierten und verzeichnen den geringsten Leerstand in der Siedlung. Im Kontrast dazu wohnen bei dem privaten Eigentümer Eichsfeld, dessen Häuser den höchsten Leerstand aufweisen und komplett unsaniert sind, überwiegend arme Haushalte. Während die finanzielle Situation der RentnerInnen und erwerbstätigen Haushalte bei den Genossenschaften sich weitgehend als gesichert und gut darstellt, herrscht unter den Armen, die bei Eichsfeld wohnen, vielfach extremer Mangel. Circa 50 Prozent der Haushalte haben Mietschulden, nicht wenige mit Summen zwischen 3.000 und 5.000 Euro. Die Inseln der MigrantInnen finden sich bei der städtischen Wohnungsgesellschaft SWG sowie der bundeseigenen TLG, die 1997 1000 Wohneinheiten von der SWG erwarb. Bei der SWG sind 22 Prozent der BewohnerInnen AussiedlerInnen, und sie konzentrieren sich noch mal auf wenige
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Blöcke. Die Sozialstruktur in den Beständen der SWG und TLG liegt zwischen den Extremen der Genossenschaften einerseits und des privaten Eigentümers Eichsfeld andererseits, was den Anteil von RentnerInnen, Armen und Erwerbstätigen betrifft. Bei beiden Gesellschaften sind überwiegend einfache Grund- und Fassadensanierungen durchgeführt worden, und auch der Leerstand liegt mit ca. 40 Prozent zwischen den Extremen. Allerdings gibt es auch innerhalb dieser Bestände starke Kontraste. Die Auszählung der städtischen Wohnungsgesellschaft hat ergeben, dass nahezu jedes Haus sich einem der drei Milieus zuordnen lässt: In den Eingängen dominieren entweder Ältere neben noch relativ vielen Erwerbstätigen, MigrantInnen oder Arbeitslose und SozialhilfeempfängerInnen. Von diesen internen Kontrasten berichtet auch die AWG, wo in den unsanierten Beständen ein höherer Anteil Armer lebt, nur MigrantInnen bisher keinen Wohnraum fanden. Diagramm 2.2: Verinselte Sozialstruktur in Eisenach-Nord: Anteil RentnerInnen, Arbeitslose/HLU und Erwerbstätige bei drei Wohnungseigentümern 2003 (%)* 100% 23 80%
45
41
20
30
35
29
40
60%
Rente arbeitslos/HLU erwerbstätig
40% 20%
57
28
32
20
0% AWG Wohneinheiten: Leerstand:
1221 25%
SWG
Eichsfeld
Siedlung
900
485
3600
40%
50%
33%
* Bis auf den Bestand der SWG, für den das Wohnungsunternehmen eine Auszählung vorgenommen hat, basieren die sozialstrukturellen Angaben auf einer Kombination von Dokumenten (zu Altersstruktur, Erwerbsstruktur, Anteil MietschuldnerInnen u.a.), Expertenaussagen und Erfahrungen vor Ort, die sich zu fundierten Schätzungen zusammenfügen. Quellen: Dokumente AWG, Eichsfeld, Stadt Eisenach, SWG, Expertenaussagen, alle 2003
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Das Bild der Verinselung erscheint komplex, und in der Tat ließen sich noch weitere Differenzierungen in Eisenach-Nord herausstellen. Zugleich zeigt sich jedoch ein klares Muster: Das Milieu der etablierten Älteren dominiert in den am frühsten und aufwendigsten sanierten Beständen der Genossenschaften, die nur in geringem Ausmaß mit dem Sozial- und Wohnungsamt zusammenarbeiten. Demgegenüber konzentrieren sich Arme und MigrantInnen in den einfach sanierten und unsanierten Beständen der übrigen Eigentümer, die eine stärkere Zusammenarbeit mit den städtischen Ämtern eingegangen sind und dabei in bestimmte Bereiche bevorzugt Bedürftige einwiesen. Der private Eigentümer Eichsfeld ist nur die Spitze dieser Entwicklung: Er kaufte 2001 die letzten unsanierten Blöcke der TLG zu einem Schleuderpreis und belegt diese offensiv durch Werbung mit geringen Mieten und durch Vermittlung des Sozialamts. Auf diese Weise konnte er den Leerstand wieder senken, der anfangs über 60 Prozent betragen hat. Die Geschichte der internen Segregation erscheint in Eisenach-Nord als eine Geschichte von Eigentümern, ihren Maßnahmen und Strategien, welche die überkommene, mit dem Baualter einhergehende Sozialstruktur überformen. Das Moment der geerbten internen Segregation verschwindet aber nicht wirklich, denn die Sanierungen setzten zuerst bei den ältesten Beständen ein, während die Belegung durch finanziell schwache Haushalte sich auf die jüngeren, immer weiter privatisierten und schlechter instand gehaltenen Bereiche konzentriert. So liegen etwa Eichsfelds Bestände im jüngsten Siedlungsabschnitt, und er setzt deren Belegung durch geringe Mieten und über das Sozialamt nur rigoroser fort, als das zuvor die TLG bereits getan hatte. Umgekehrt vermietet in einem älteren, früher privatisierten und sanierten Bereich der private Eigentümer von nur zwei Blöcken diese erfolgreich an etablierte ältere Haushalte. In einer Wechselwirkung mit den Strategien der lokalen Akteure stehen die innerhalb der Siedlung verlaufenden Umzüge. Einen zentralen Auslöser des Umzugsgeschehens bildeten die Sanierungen, die Mitte der 90er Jahre bei der Genossenschaft und ab 1997 bei SWG und TLG einsetzten. Gerade die älteren Haushalte, die sich nicht allein aus finanziellen Gründen für ein Bleiben entschieden, zogen von den noch unsanierten Blöcken in frisch sanierte um. Daneben bildete freilich das Motiv, in sozial stabile Eingänge zu ziehen, wenn sich im Haus eine Erosion der Hausgemeinschaft und sozialer Abstieg vollzogen hatte, einen Motor für das interne Umzugsgeschehen. Vor diesem Hintergrund konnte die Genossenschaft den größten Zulauf verzeichnen, nicht nur weil sie Vorreiter der Sanierungen war, sondern auch, weil sie durch eine bessere Mieterbetreuung und die Eingangsbarriere einer finanziellen Einlage eine größere soziale Stabilität in ihren Häusern versprach.
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Mit dem Ende der großen Sanierungswelle ist das interne Umzugsgeschehen inzwischen geringer geworden, aber nicht abgebrochen. Weiterhin sortieren sich die Milieus, die sozialen Veränderungen weisen eine hohe Dynamik auf, und es konturieren sich unterschiedliche Wohnungssegmente in der Siedlung. Mit dem Beschluss der Abrisspolitik um die Jahrtausendwende ist sogar ein neuer Umzugsimpuls hinzugekommen. Die Genossenschaft, in EisenachNord der agilste und engagierteste Akteur, handelte sich diesmal mit ihrem raschen Engagement Nachteile ein: Ende 2000 kündigte sie den Abriss bestimmter Blöcke an und organisierte Anfang 2001 den Leerzug einer ganzen Häuserzeile (vgl. TLZ 20.3.01). Zwei Jahre später stand diese noch immer, weil die Gelder nicht bewilligt waren. Doch ebenso wenig wie die Genossenschaft alle Haushalte der leergezogenen Häuserzeile in ihrem Bestand halten konnte, sind in Häusern, die erst später zum Abriss vorgesehen sind, alle Mietparteien geduldig verblieben. Die Planungsunsicherheit konterkariert die Abrisspolitik, da sie sich auf die MieterInnen überträgt. Das im Rahmen des »Stadtumbau Ost« vorgelegte Entwicklungskonzept für Nord (vgl. Stadt Eisenach 2002a und 2000d) wurde vorerst sogar ganz auf Eis gelegt, da die Stadt gegenwärtig keinerlei Kofinanzierung leisten will. Nachdem diese in den letzten Jahren viel Geld in Sanierungsmaßnahmen der Altstadt gesteckt hatte, beschließt sie für den Haushalt 2003, in Nord nicht zu investieren. Auch bei der Abrisspolitik liefert der Eigentümer Eichsfeld ein aufschlussreiches Detail für das Verständnis der Geschichte der internen Segregation in Eisenach-Nord. Rund ein Jahr hatte sich die Stadt um den Rückkauf von 700 Wohnungen bei der TLG bemüht, an die sie diese im Rahmen des Altschuldenhilfegesetztes erst privatisiert hatte. Inzwischen visierte sie aber den Abriss der am oberen Rand der Siedlung gelegenen Blöcke an. Schließlich erhielt, zu günstigeren Konditionen, Eichsfeld im Oktober 2001 den Zuschlag von der TLG – für 485 unsanierte Wohnungen (vgl. TA 6.10.2001). Die Stadt hatte das Nachsehen, und kurz darauf wies auch Eichsfeld ihr Kaufgesuch ab. Die städtische Wohnungsgesellschaft und die TLG liegen nun im Rechtsstreit um die Frage, ob letztere sich mit dem Verkauf an Eichsfeld auch von der Sanierungsverpflichtung entbunden hat, die sie einmal für sämtliche erworbenen Wohnungen nach Altschuldenhilfegesetz eingegangen ist (vgl. TLZ 13.11.02). Ein Streit, der sich hinziehen wird. Schlaglichtartig wird deutlich, dass die größte Last der Planungsunsicherheit bei der Entwicklung der Plattenbausiedlung auf die ressourcenschwachen Haushalte abgewälzt wird. Wird saniert, wird abgerissen, geschieht überhaupt nichts? Im Gegensatz zu finanzkräftigen können arme Haushalte auf diese Fragen nicht einfach mit einem Umzug reagieren.
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Abb. 2.1: Hinter der Autobahn: Schmuckvoll sanierte Genossenschaftshäuser, Eisenach-Nord (EN)
Abb. 2.2: Eingangsbereich der Siedlung: links »Sonnenschein«, rechts sanierte AWG-Häuser, EN
Abb. 2.3: Bestände von »Eichsfeld«, die den Spielplatz eines Kindergartens umrahmen, EN
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Abb. 2.4: Blick über den selben Spielplatz zum Hochhaus im Zentrum
Abb. 2.5: Kreuzungsbereich von Milieus, EN
Abb. 2.6: Im Hinterhof trennt ein Zaun die Grundstücke Quelle: Eigene Aufnahmen
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Segregation nach Bebauungsalter: Wolfen-Nord In Wolfen-Nord verläuft die interne Segregation vor allem zwischen den verschiedenen Bauabschnitten, was wie in anderen großen Siedlungen mit dem einflussreichen Erbe der Altersverteilung zusammenhängt. Im Jahr 2002 liegt das durchschnittliche Alter in dem Anfang der 60er Jahre gebauten ersten Wohnkomplex noch fast 20 Jahre über dem im zuletzt errichteten vierten Wohnkomplex, der sich noch einmal in vier Bauabschnitte untergliedert (vgl. Tab. 2.5). Dort, wo die jüngste und zudem schlechter qualifizierte Bevölkerung wohnte, gab und gibt es auch die stärkste Abwanderung und Mobilität, während die Einwohnerverluste signifikant geringer werden und stärker auf Sterbefälle zurückgehen, je mehr man in die älteren, östlich gelegenen Teile der Siedlung geht. Tabelle 2.5: Wohnkomplexe in Wolfen-Nord: Einwohnerentwicklung und Alter, 2002
Wohneinheiten Leerstand Einwohnerentwicklung seit 1993 Altersdurchschnitt
I.WK
II.WK
III.WK
IV.WK 1
IV.WK 2
IV.WK 3
IV.WK 4
Siedlung
1.921
1.524
3.417
13%
21%
30%
1.276
673
1.412
2.757
12.990
60%
66%
56%
50%
39%
-10%
-24%
-38%
-61%
-77%
-60%
-56%
-49%
55,5
47,9
44,6
37,9
44,6
34,3
37,8
44,4
Quellen: Stadt Wolfen 2003a: 10 und 19; Stadt Wolfen 2003b: 11, 12 und 24; eigene Berechnungen
Auch durch die in den ersten Wohnkomplexen am frühsten einsetzenden und umfangreichsten Sanierungen und Umfeldmaßnahmen wurde das dort eingesessene Milieu an FacharbeiterInnen stabilisiert. Im vierten Wohnkomplex ist dagegen, bis auf einige Teilsanierungen, der Großteil der Gebäude bis heute im alten Zustand verblieben. Lediglich im vierten Bauabschnitt des vierten Wohnkomplexes sind die im Rahmen der EXPO geförderten Aufwertungen konzentriert worden: Es wurden Spielplätze und ein größerer Park geschaffen, die Grünanlagen wurden gestaltet und einzelne Häuser umfangreich saniert, in denen man auch ein Internet-Cafe und Bürgertreff eingerichtet hat. Diese Aufwertung, die freilich erst spät, nämlich Ende der 90er Jahre, voll umgesetzt und von der 1996 ins Leben gerufenen Erneuerungsgesellschaft WolfenNord (EWN) koordiniert wurde, mag zu dem im vierten Wohnkomplex geringsten Leerstand in diesem letzten Bauabschnitt geführt haben (vgl. Tab. 2.5). Andererseits werden aber gerade hier auch die aus dem städtischen Wohnheim kommenden AussiedlerInnen konzentriert, so dass auch das der
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Grund für den geringeren Einwohnerverlust sein kann, der mit 56 Prozent seit 1993 ja noch immer immens ist. Ein recht erstaunliches Phänomen ist, dass der Anteil der SozialhilfeempfängerInnen in Richtung des vierten Wohnkomplexes deutlich, die Arbeitslosigkeit jedoch nur vergleichsweise gering zunimmt und im ersten Wohnkomplex sogar eine überdurchschnittliche Arbeitslosendichte verzeichnet wird (vgl. Tab. 2.6). Arbeitslosigkeit ist normaler Weise der wichtigste Grund, Sozialhilfe zu beanspruchen (vgl. Hübinger/Neumann 1998: 116ff.). Das Phänomen lässt sich jedoch dadurch erklären, dass in den älteren Wohnkomplexen ein hoher Anteil von FrührentnerInnen lebt, die in der Statistik als erwerbsfähige Bevölkerung zählen und so in die Arbeitslosendichte eingehen. Zweitens mag auch die so genannte verschämte Armut eine Rolle dabei spielen, dass in den älteren Wohnkomplexen arbeitslose Personen keine Sozialhilfe beantragen. Aus der Armutsforschung ist bekannt, dass besonders ältere Personen vor dem Gang zum Sozialamt zurückschrecken, auch wenn sie einen berechtigten Anspruch auf Sozialhilfe haben (vgl. Neumann 1999; Geißler 1996: 184). Tabelle 2.6: Arbeitslosigkeit (Al) und Sozialhilfebezug (HLU) in Wohnkomplexen Wolfen-Nords 2002 (%)* I.WK
II.WK
III.WK
IV.WK 1
IV.WK 2
IV.WK 3
IV.WK 4
Siedlung
Wolfen
Al 2002
29,7
23,3
27,8
31,5
34,4
29,0
28,3
28,3
23,9
HLU 2002
1,4
2,9
6,7
15,3
17,6
11,7
11,4
7,7
6,1
HLU: 0–17
5,5
9,0
20,0
36,6
40,9
17,9
22,0
21,1
16,5
18–64 Jahre
1,9
3,0
5,6
10,5
16,3
10,4
10,0
6,8
5,5
* Bei der Arbeitslosigkeit werden Arbeitslosendichten (Erwerbslose im Verhältnis zur erwerbsfähigen Bevölkerung) angegeben. Die letzten beiden Spalten geben die Anteile von HLU-EmpfängerInnen unter 0 bis 17-Jährigen sowie 18 bis 64-Jährigen im Jahr 2002 an. Quellen: Stadt Wolfen 2003b: 16–21
Die höchste Konzentration von Arbeitslosen und SozialhilfeempfängerInnen lässt sich in den ersten beiden Bauabschnitten des vierten Wohnkomplexes verzeichnen, worin sich eine Überformung der Segregation nach Bebauungsalter durch die beiden Wohnungseigentümer und die Stadt spiegelt. Genossenschaft und städtische Wohnungsgesellschaft kamen Mitte der 90er Jahre darin überein, sämtliche belegungsgebundenen Wohnungen in diesen beiden Abschnitten zu konzentrieren, da hier der unbeliebtere Wohnungstyp P2 mit
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innen gelegenem Treppenhaus, fensterlosem Bad und Küche steht (Stadt Wolfen 1996: 2.12). Über die Hälfte der dortigen Wohnungen (1.392 von 2.487) wurden als sozialer Wohnungsbau belegt. Die im Jahr 2002 auffallend hohe Segregation von minderjährigen SozialhilfebezieherInnen in diesen Bauabschnitten zeigt, dass arme und finanziell prekäre Familien, meist Alleinerziehende und große Familien, eine Haupt-Zuweisungsgruppe darstellten (vgl. Tab. 2.6). Das werden sie sicherlich auch weiterhin sein, nur dass im Zuge der Abrisspolitik die sozial belegten Bestände auf Wanderschaft gehen. Tabelle 2.7: Entwicklung von Arbeitslosigkeit (Al) und Sozialhilfebezug (HLU) in Wohnkomplexen Wolfen-Nords 1999–2002, (Veränderung Prozentpunkte (PP) und Veränderungsrate (VR) in %)* I.WK
II.WK
III.WK
IV.WK 1
IV.WK 2
IV.WK 3
IV.WK 4
Siedlung
Wolfen
Al PP
+2,4
+2,2
+4,1
+5,9
+7,8
+6,4
+2,8
+3,2
+0,7
Al VR
+8,8
+10,4
+17,3
+23,0
+29,3
+28,3
+11,0
+12,7
+3,0
HLU PP
+0,2
-0,5
+2,0
+3,0
+7,7
+6,4
+3,1
+1,7
+1,2
HLU VR
+16,7
-14,7
+42,5
+24,4
+77,8
+120,8
+37,3
+28,3
+24,5
* Bei der Arbeitslosigkeit werden Arbeitslosendichten (Erwerbslose im Verhältnis zur erwerbsfähigen Bevölkerung) angegeben. Quellen: Stadt Wolfen 2000a: 12–14; Stadt Wolfen 2003b: 16–21; eigene Berechnungen
Dass der sich schwerpunktmäßig in den jüngsten Siedlungsbeständen niederschlagende soziale Abstieg selbstverstärkende Effekte hat, indem er nach außen und innerhalb der Siedlung verlaufende Umzüge antreibt, indem er Wahrnehmungsschablonen und Abgrenzungen bei den BewohnerInnen verfestigt, legen die Daten zur Entwicklung zwischen 1999 und 2002 nahe (vgl. Tab. 2.7). Neben einer zunehmenden Segregation von Wolfen-Nord gegenüber der Stadt hat sich in dieser Periode gerade die interne Segregation beträchtlich verstärkt. Sowohl die Arbeitslosigkeit als auch der Sozialhilfebezug nahmen besonders im vierten Wohnkomplex zu. Angesichts des hohen Leerstands haben die kommunalen Akteure für Wolfen-Nord frühzeitig einen Teilabriss erwogen und bereits im Jahr 2000 150, 2001 dann 410 Wohneinheiten der Abrissbirne preisgegeben. Was aus wirtschaftlichen Gründen nahe liegt, die am wenigsten sanierten und am stärksten leerstehenden Bereiche abzureißen, geht nahezu eins zu eins in das aktuelle Entwicklungskonzept für Wolfen-Nord ein: Bis auf die im Rahmen der EXPO aufgewertete Insel soll der vierte Wohnkomplex weitgehend verschwinden,
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und im dritten Wohnkomplex sollen Teilabrisse zu einer Entdichtung beitragen. Von den insgesamt 5.143 Wohnungen, die zum Abriss projektiert sind, sollen in den ersten beiden Wohnkomplexen lediglich 49 Wohnungen rückgebaut werden (vgl. Stadt Wolfen 2000b). Noch klarer als in Eisenach zeigt sich, dass die Abrisspolitik vor allem in den Milieus der Armut und Prekarität durchgeführt wird und die damit verbundene Planungsunsicherheit die hier wohnenden Haushalte trifft. Genau in den ersten beiden Bauabschnitten des vierten Wohnkomplexes, wo man zuvor die statusschwachen Haushalte konzentrierte, wird seit 2000 abgerissen. Wie lange der Abriss dauert, weiß angesichts des steigenden Leerstands, bereits mehrfach nach oben korrigierter Abrissziffern und einer nach der Wende Steilkurven vollziehenden Politik der Weiterentwicklung von Plattenbausiedlungen niemand. Die damit befassten ExpertInnen in Wolfen-Nord schätzen zwanzig Jahre. Diese Planungsunsicherheit impliziert, dass langfristig weitere Umzugsimpulse für Haushalte geschaffen werden, die sich eine Wohnung nicht als bloße Durchgangsstation suchen und leisten können. Kurz, eine wesentlich wirtschaftlichen Kriterien folgende Abrisspolitik trägt weiter zur Verinselung und sozialen Entmischung der Siedlungen bei, und sie entfaltet darüber hinaus ausgrenzende Effekte. Die Perspektive, dass mit dem Abriss auch die Armut aus den Siedlungen verschwinden wird, ist angesichts einer wesentlich durch die soziale Krise angeschobenen Entmischung abwegig. Eine weitere Belegung der Siedlungen als sozialen Wohnungsbau wird dagegen zu einer Schaffung von Ghettos führen, die nichts mehr mit dem sozialen Wohnungsbau des 20. Jahrhunderts zu tun haben.
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Abb. 2.7: Blick in Richtung des vierten Wohnkomplexes, Wolfen-Nord (WN)
Abb. 2.8: Schlichte Sanierungsvariante, WN
Abb. 2.9.: Aufwendige Sanierung im Expo-Gebiet
Abb. 2.10: Blick auf den dritten Wohnkomplex, WN
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Abb. 2.11: Umfeldverbesserungsmaßnahmen im »Quartier 44« (IV. WK 4, WN)
Abb. 2.12: Kreuzungsbereich, WN
Abb. 2.13: Vierter Wohnkomplex, WN Quelle: Aufnahmen von Marion von zur Gathen
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3. Krise des Zusammenlebens – Kampf um Respektabilität
Die interne Sortierung und Verinselung der sozialen Milieus ist Ausdruck einer Krise des Zusammenlebens, die sich mit dem Zerbrechen des fordistischen Integrationsmodells in den Siedlungen einstellt. Mit der gesellschaftlichen Transformation entstehen soziale Unsicherheiten und Mobilitäten, und die standardisierten Lebenslagen der BewohnerInnen entwickeln sich auf dichtem Raum auseinander. Während sich für die einen eine Aufstiegsbewegung fortsetzt, die an den Wegzügen und Konsolidierungen der Milieus der etablierten Älteren ablesbar ist und wahrgenommen wird, werden andere Teile der Bewohnerschaft prekarisiert, steigen ab und sehen sich in die Nachbarschaft von zuziehenden Armen gerückt. Durch die Prekarität und Armut bricht die Grenzlinie der Respektabilität in den Siedlungen auf, die durch die kollektive Integration zuvor gerade überschritten werden sollte, und mit dem Kampf um Statussicherung kommt es zu symbolischen Abgrenzungen zwischen den BewohnerInnen. Die Krise des Zusammenlebens manifestiert sich zuerst auf der Ebene der einzelnen Häuser, wenn die Hausgemeinschaften und Hausordnungen in den Eingängen nicht mehr funktionieren. Sensibel registrieren Ansässige, wie Zuziehende die zuvor normierte Ordnung durcheinander bringen und den Status absenken. Es kommt zu Spannungen und Konflikten, die wiederum Wegzüge befördern. Die Konflikte in den Häusern übersetzen sich mit der Verinselung in großräumige Wahrnehmungs- und Abgrenzungsmuster, bei denen die unterschiedlichen Teile der Siedlung symbolisch kodiert werden. Gerade die Jugendlichen, die häufig ihre Zeit im Außenraum, in sozialen und Freizeiteinrichtungen der Siedlungen verbringen, artikulieren expressiv diese Topographie von besseren und schlechteren Teilen des Wohngebiets. Bei ihren Cliquenbildungen und Aneignungen der Siedlungswelt reproduzieren sie auf ihre Weise die allgemein kommunizierten Abgrenzungen, und in den konjunkturellen Auseinandersetzungen etwa zwischen Rechten- und Migrantencliquen spielen sie eine nicht zu unterschätzende Rolle. Wie die BewohnerInnen den Umbruch in den Siedlungen wahrnehmen, wie sie sich gegenüber den Prozessen des Abstiegs und der Verinselung
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positionieren und verhalten, ist Thema dieses Kapitels. Die Wahrnehmungen des Umbruchs, so wird auf Grundlage der soziographischen Erhebung von 1997 in einem ersten Teil gezeigt, sind überwiegend negativ. Beschrieben wird von den BewohnerInnen ein Zerfall der Gemeinschaften, an deren Stelle im Zuge des Abstiegs und der sozialen Mobilitäten gegenseitiger Rückzug und Abgrenzungen treten. Tatsächlich sind es immer wieder drei Formen von Konflikten, die den Befragten zufolge das Zusammenleben seit der Wende in Bewegung bringen: Konflikte zwischen alten und jungen, zwischen einheimischen und ausländischen sowie zwischen statusgesicherten und statusschwachen BewohnerInnen. Hier schließt sich die Frage an, ob in den Wohngebieten eine dominante Konfliktachse existiert? Zunächst ist es aufschlussreich, die Sichtweisen der BewohnerInnen und der ExpertInnen aus der Wohnungswirtschaft gegenüberzustellen. Denn während erstere die gegenseitigen Abgrenzungen überwiegend in den Kontext der Statusmobilitäten stellen, diagnostizieren die ExpertInnen aus der Wohnungswirtschaft vor allem einen Konflikt zwischen alten Eingesessenen und jungen Neuankömmlingen. Damit zeichnen sich zwei Interpretationen der Krise des Zusammenlebens ab: einmal eine Interpretation als Statuskonflikt, ein andermal als Konflikt, der an die Konfrontation zwischen Etablierten und Außenseitern im Sinne von Elias/ Scotson erinnert. In einem zweiten Teil werden die Sichtweisen unterschiedlicher Bewohnertypen auf die Siedlung und deren Entwicklung portraitiert. Die Differenzierung von Sichtweisen fällt in den Erhebungen nach 1997, als die Turbulenzen des Umbruchs sich geglättet und mit der Verinselung klarere Konturen angenommen haben, umso stärker auf. Nicht zuletzt spielt die Wohnlage eine Rolle bei dem Blick auf die Siedlung. Denn während sich in den Milieus der etablierten Älteren die Gemeinschaften rekonstituieren und das Miteinander funktioniert, bleibt die Krise des Zusammenlebens insbesondere in den Milieus der Armut und Prekarität bestehen und verschärft sich sogar. Freilich prägen neben der Wohnlage auch das Alter und der soziale Status die Sichtweisen der BewohnerInnen, wie in der Gegenüberstellung von Jungen und Alten, von Armen und Etablierten gezeigt wird. Bei der Portraitierung der Bewohnertypen wird schließlich deutlich, dass die Abgrenzungen und Konflikte, die sich mit der Verinselung in großräumige Wahrnehmungsmuster transponieren, als symbolisch überformte Statuskämpfe zu interpretieren sind, die nicht zufällig in den Milieus der Armut und Prekarität ihren Hauptort haben. Die Befunde sollen abschließend historisch-theoretisch reflektiert werden. Es wird ausgeführt, dass im Zentrum der Milieukonflikte ein Kampf um Respektabilität steht. Bei dem Kampf um Respektabilität handelt es sich um
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einen Statuskampf, bei dem die Akteure sich mit symbolisch-kulturellen Ressourcen voneinander abgrenzen respektive einander anerkennen, und dessen umkämpftes Gut in einer legitimen, materiell und sozial integrierten Lebensweise besteht. Der Kampf um Respektabilität übersetzt sich in den Siedlungen in einen sich räumlich sedimentierenden Fraktionierungskampf der unteren sozialen Schichten. Dieser Fraktionierungskampf bricht in Ostdeutschland vergleichsweise verzögert auf, da die Dynamiken der Exklusion und Prekarisierung hier erst seit der Wende einsetzen und die historischen Phase der Entproletarisierung und des Fordismus bis in die 80er Jahre prolongiert worden war.
Wahrnehmungen des Umbruchs »Die Wende ist durch die Treppenaufgänge gegangen. Jeder war sehr stark mit sich beschäftigt, kaum noch Kontakt, nicht um sich abzugrenzen, man war scheuer, beschäftigt. (...) Es haben vor allem Arbeiter gewohnt in Eisenach-Nord. Letztlich rutschen die nun in eine andere soziale Kategorie, das heißt ja Wende. Es fanden Abgrenzungen statt, wer hat Arbeit, wer keine, wer hat ein Auto, ach die rote Socke schon wieder, wer hat keins. Man hat sich aufgeregt, dass die Kinder so laut auf dem Spielplatz waren zu DDR-Zeiten. Mit der Wende waren dann die Kinder größer. Und wenn die Jugendlichen morgens früh Diskussionen führen, das schallt unheimlich, und da entstanden Aversionen.« (43, m., ges., EN97-11)
So fasst ein Angestellter, der mit seiner Familie 17 Jahre in Nord gewohnt hatte und 1997 gerade ins Eisenacher Südviertel gezogen war, die Entwicklung der Siedlung seit der Wende zusammen. Rückzug der BewohnerInnen voreinander und Rückgang der Kontakte, sozialer Abstieg und gegenseitige Abgrenzungen, Konflikte im Haus und Umfeld – im Wesentlichen sind das die Themen, die den BewohnerInnen 1997 zur Siedlung und deren Entwicklung in den Sinn kommen. Zwar werden mit dem Hinweis auf die Sanierungen, die Umfeldmaßnahmen und besseren Einkaufsmöglichkeiten auch positive Entwicklungen benannt. Gerade in der ersten Erhebung provozierte der soziale Umbruch, als sich dieser in Nord erst seit einigen Jahren voll bemerkbar machte, aber überwiegend negative Urteile (vgl. Tab. 3.1).
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Tabelle 3.1: Verteilung der Antworten (positiv, ambivalent oder negativ) der BewohnerInnen zur Siedlung allgemein, ihrer Entwicklung und ihrem Ansehen, (%)* Einstiegsfrage pos. EN 97 (N=30) EN 03 (N=22) WN 01 (N=29)
amb.
neg.
Entwicklung Siedlung pos. amb. neg.
Ansehen des Gebiets pos.
amb.
neg.
13
20
67
7
17
70
3
27
60
23
41
36
9
23
55
18
18
47
17
28
45
3
41
48
3
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* Die qualitativen Antworten wurden, um ein quantitatives Stimmungsbild zu gewinnen, als positiv, ambivalent oder negativ kodiert. Eine »ambivalente« Antwort z.B. auf die offene Einstiegsfrage – »Einmal ganz offen gefragt, was fällt ihnen zur Siedlung X-Nord ein?« – bedeutet, dass der/m Befragten positive wie negative Dinge zur Siedlung einfallen, und dass sie/er diese in etwa gleich gewichtet. Bei einer »negativen« Antwort können auch positive Seiten erwähnt werden, nur überwiegt insgesamt klar eine negative Sichtweise etc. Sofern sich die prozentuale Verteilung der Antworten nicht zu hundert addiert, entfällt der Rest auf »keine Antworten«, die nicht eigens dargestellt werden. Die Grundgesamtheiten N beziehen sich auf Haushalte. Vgl. zu den Fragen den Leitfaden im Anhang.
Sozialer Rückzug und Abstieg der Siedlungen An erster Stelle wird von den BewohnerInnen 1997 bemerkt, dass die Leute jetzt stark mit sich selbst beschäftigt und die gegenseitigen Kontakte im Haus und der Siedlung zurückgegangen sind. Diese nahezu bei allen, auch den ExpertInnen, angetroffene Wahrnehmung ist auch für andere Wohngebiete beschrieben worden (vgl. Herlyn/Hunger 1994). Schmidt/Schönberger (1999) haben die Erfahrung, dass jeder mit sich selbst zu tun hat, sogar als eine generelle Wendeerfahrung bezeichnet, und in der Tat ist das Zurückgeworfensein auf die eigene Situation und der Rückgang von Gemeinschaft eine Erfahrung des Umbruchs, wie sie nicht nur im Wohngebiet, sondern in vielen gesellschaftlichen Bereichen gemacht wurde. An die Stelle der kollektiv standardisierenden Vergesellschaftung trat eine Diversifizierung und soziale Polarisierung der Lebenslagen. Die Erosion sozialer Sicherheiten vollzog sich zuerst in der Sphäre der Erwerbsarbeit, und gerade in den ersten Wendejahren drehte sich das Karussell der sozialen Mobilitäten schnell (Vogel 1999; Diewald/ Mach/Solga 2000; Hofmann 2003). Studien zur sozialen Mobilität zeigen, dass eine stärkere Selbstbezogenheit auch als subjektive Voraussetzung und neue Qualität beschrieben wird, sich auf dem kapitalistischen Arbeitsmarkt zu
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behaupten (Cornelsen 2000). Aber auch in der Freizeitgestaltung eröffnete sich ein neuer Markt an Möglichkeiten, der auf die bestehenden gemeinschaftlichen Freizeitbeschäftigungen konkurrierend einwirkte (Schmidt/Schönberger 1999). Tabelle 3.2: Wohndauer der befragten Haushalte in den drei Erhebungswellen Erhebungswellen EN 97 EN 03 WN 01 Gesamt
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