PHILIPP VANDENBERG
DAS PHARAO-KOMPLOTT ROMAN
Scanned by Binchen71
GUSTAV LÜBBE VERLAG
TM 1990 by Gustav Lübbe Verl...
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PHILIPP VANDENBERG
DAS PHARAO-KOMPLOTT ROMAN
Scanned by Binchen71
GUSTAV LÜBBE VERLAG
TM 1990 by Gustav Lübbe Verlag GmbH, Bergisch Gladbach Die Zitate aus dem Koran sind der Übertragung von Ludwig Ullmann, neu bearbeitet von L. W. Winter, im Goldmann Verlag, München, entnommen. Schutzumschlag: Klaus Blumenberg, Bergisch Gladbach Satz: IBV Satz- und Datentechnik GmbH, Berlin Druck und Einband: May & Co., Darmstadt Alle Rechte, auch die der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten Printed in West Germany ISBN 3-7857-0589-1
INHALT
Spurensuche 7
1 Mena House und Winter Palace 23
2 Luxor 59
3 Berlin, Unter den Linden 101
4 Sinai 119
5 London im Herbst 159
6 Von Kairo nilaufwärts 171
7 Ein Konsulat in Alexandria 187
8 Auf der Flucht 200
9 Berlin, zwischen Gendarmenmarkt und Urania 240
10 Vom Tal der Könige nach Sakkara 252
11 Berlin - London - Berlin 281
12 Sidi Salim 306
13 Im Schatten der Pyramide 346
Wo die Spuren enden 380
SPURENSUCHE Bastet, die ägyptische Göttin der Liebe und Freude, wird von alters her in Gestalt einer hockenden Katze dargestellt. Auftrag Nr. 1723 im Münchner Hermes-Institut, einem weltweit anerkannten Forschungslaboratorium zur Prüfung und Datierung von Kunstwerken, war reine Routine. Eine altägyptische Bas-tetKatze sollte für ihren Besitzer, einen privaten Sammler, mit Hilfe der Thermolumineszenzmethode auf ihre Echtheit untersucht werden. Für die vorgesehene Prüfung war es notwendig, drei Gramm Material an einer möglichst unsichtbaren Stelle abzuschaben. Wie üblich nahm die zuständige Assistentin die Probe von der Unterseite des Sockels, in diesem Fall von der Innenseite ei-nes fingerdicken, etwa zehn Zentimeter tiefen Loches, um die Beschädigung so unauffällig wie möglich zu halten. Dabei entdeckte die Wissenschaftlerin in der Höhlung einen eingerollten Zettel mit der Aufschrift »MURDERER No 73«, welchem sie zunächst keine Beachtung schenkte, den sie dann aber im Kuriositätenkabinett des Instituts ablegte, wo allerlei Fälschungen und Merkwürdigkeiten aufbewahrt werden. Die wissenschaftliche Untersuchung der Bastet-Katze bestätig-te zweifelsfrei deren Echtheit, und das Objekt konnte mit ei-ner Genauigkeit von ± 100 Jahren in die dritte Dynastie datiert werden. Mit Datum 7. Juli 1978 wurde das Stück dem Sammler samt Expertise und Rechnung zurückgegeben und im Band 24/78 des Auftragsbuches archiviert. Bei einem Besuch des Hermes-Instituts in der Münchner Meiserstraße, wo ich im September 1986 ein Stück aus meiner eigenen kleinen Sammlung ägyptischer Altertümer prüfen lassen wollte, wurde ich auf den seltsamen Zettel mit der Aufschrift »MURDE-RER No 73« aufmerksam, und ich erhielt auf Befragen die geschilderte Auskunft. Meinem Einwand, der Besitzer des Kunstobjekts müsse doch eine Erklärung für den Zettelfund haben, begegnete man mit dem Hinweis, dieser sei von dem Zettel in Kenntnis gesetzt worden. Er habe jedoch nur gelacht und sich dahingehend geäußert, irgendein Vorbesitzer 7
des Kunstobjekts habe sich wohl einen Scherz erlaubt; im übrigen interessiere ihn nur die Echtheit des Stückes. Daraufhin bat ich, mir Namen und Adresse des Besitzers des Kunstobjektes bekanntzugeben, was man aber aus prinzipiellen Erwägungen ablehnte. Ich hatte mich jedoch inzwischen gedanklich so in den Fall - das heißt, ob es ein Fall sein würde, wußte ich damals noch gar nicht - ich hatte mich so in den Fall verbissen, daß ich nicht locker-ließ und vorschlug, dem Besitzer der Bastet-Katze meinen Wunsch vorzutragen; vielleicht sei er bereit, sich mir zu offenbaren. Das Institut versprach, meinem Wunsch nachzukommen. Ich war damals im Zweifel, welche Wege ich gehen sollte, falls sich der Eigentümer nicht meldete, ich dachte sogar an Bestechung im Institut, um so an den Namen des Besitzers der Katze mit der mysteriösen Inschrift heranzukommen; denn je mehr ich mich mit der Angelegenheit auseinandersetzte, desto mehr wurde ich überzeugt, daß sich hinter dem Zettel mit der Aufschrift »MURDERER No 73« alles andere als ein Scherz verbarg. Ein weiterer, erfolgloser Versuch beim Direktor des Instituts, mir den Namen preiszugeben, endete immerhin mit dem Versprechen, man wolle den Zettel (den man dort gewiß insgeheim längst verflucht hatte), einer wissenschaftlichen Analyse unterziehen. Zu meiner großen Überraschung wurde mir drei Wochen später über das Institut ein Brief zugestellt, in dem sich ein Dr. Andras B., ein Wirtschaftsanwalt aus Berlin, als rechtmäßiger Besitzer der Katzenskulptur ausgab; er habe von meinem Interesse Kenntnis genommen, müsse mich jedoch leider enttäuschen, das Objekt sei, da ein Erbstück, unverkäuflich. Daraufhin rief ich Dr. B. in Berlin an, erklärte, daß es mir nicht um die Katze an sich ginge, sondern allein um den Zettelfund mit der mysteriösen Aufschrift »MURDERER No 73«, was bei meinem Gesprächspartner eine gewisse Skepsis erkennen ließ, so daß ich alle Überredungskunst aufbringen mußte, ihn zu bewegen sich mit mir im Hotel Schweizer Hof in Berlin zu treffen. Ich flog nach Berlin, und bei einem gemeinsamen Abendessen in dem genannten Hotel, zu dem Dr. B. einen Bekannten als Zeugen mitbrachte, was mich in meinen Verdächtigungen nur bestärkte, erfuhr ich, jedenfalls behauptete das mein Gesprächspartner, daß der derzeitige Besitzer die Katzenskulptur von seinein Vater Ferenc B., 8
einem bekannten Sammler ägyptischer Antiquitäten, geerbt habe. Ferenc B. sei vor drei Jahren im Alter von sechsundsiebzig Jahren gestorben. Über die Herkunft des Objektes wußte Dr. B. nichts zu sagen, sein Vater Ferenc B. habe bei Händlern und auf Auktionen in aller Welt gekauft. Auf meine Frage, ob nicht Kaufunterlagen existierten, wie das bei Sammlern üblich sei, wiegelte mein Gesprächspartner ab, alle diese Unterlagen halte seine Mutter in Verwahrung, die auch noch über den größeren Teil der Sammlung verfüge und sich in Ascona am Lago Maggiore bester Gesundheit erfreue. Die Unterredung dauerte insgesamt vier Stunden und endete, nachdem ich den beiden Gesprächspartnern versichert hatte, daß steuerliche Aspekte des Themas außerhalb meines Interesses lägen, unerwartet freundschaftlich. Auf diese Weise hatte ich erfahren, daß Dr. B.s Mutter in der Zwischenzeit wieder geheiratet hätte und nun E. hieß. E. war ein etwas dubioser Charakter, und niemand in der Gegend wußte so recht, womit er sein Geld gemacht hatte, aber das ist in dieser Gegend nicht selten. Es erschien angebracht, Frau E. unangemeldet zu überraschen, denn ich mußte befürchten, sie würde ein Gespräch mit mir rundweg ablehnen. Ich ließ keine Zeit verstreichen und reiste umgehend nach Ascona, wo ich Frau E. alleine antraf, etwas verhärmt und leicht versoffen, was mir allerdings sehr entgegenkam, weil sich Frau E. sehr aussagefreudig zeigte. Zwar war Frau E. nicht bereit, die Kaufunterlagen der Bastet-Katze preiszugeben, sie erklärte, diese Unterlagen existierten nicht mehr, doch gab sie mir, ohne es zu ahnen, einen wertvollen Hinweis über die Herkunft des Stückes: Ja, sie erinnere sich gut, im Mai 1974 sei die Katze des Hausherrn auf rätselhafte Weise verendet und zu eben dieser Zeit habe Ferenc B. die Bastet-Katze in einem Auktionskatalog entdeckt und erklärt, er wolle das Stück zum Andenken an seine Lieblingskatze erwerben, was dann auch geschehen sei. Zu meinem Bedauern wurde unser Gespräch jedoch unterbrochen, weil Frau E.s Mann plötzlich erschien und mir und meinem Anliegen mit größtem Mißtrauen begegnete und mich nicht unhöflich, aber sehr bestimmt hinaus-komplimentierte. Immerhin war ich nun schon so weit, daß die Dinge eine gewisse Eigendynamik entwickelten. Ein gleichlautender Brief an alle führenden Auktionshäuser mit der gleichlautenden Frage, ob ihre ge9
schätzte Firma im Mai 1974 eine Auktion ägyptischer Kunst durchgeführt habe, hatte folgendes Ergebnis: Drei antworteten mit nein, zwei antworteten überhaupt nicht, eine Antwort war positiv. Christie's in London vermeldete eine Auktion ägyptischer Kunst am 11. Juli 1974. Ich fuhr nach London. Das Head Office von Chiistie's in der King Street, St. James's, macht einen sehr vornehmen Eindruck, jedenfalls was die öffentlich zuganglichen Räume (vornehm in Rot gehalten) betrifft; die internen Räumlichkeiten vermitteln eher einen heruntergekommenen Eindruck. Vor allem das Archiv, in dem Kataloge und Ergebnislisten aller Auktionen aufbewahrt werden. Ich wies mich als Sammler aus und erhielt so bereitwillig Zutritt zu dem verstaubten Raum mit den alten Katalogen. Miss Clayton, eine sehr vornehme, bebrillte Dame, die bezaubernd ihrem Alter entgegen lächelte, begleitete mich und war mir behilflich mich zurechtzufinden. Wie dem Katalog Ägyptische Skulpturen vom 11.Juli 1974 zu entnehmen war, stammte ein großer Teil der Einlieferung aus dem Nachlaß eines New Yorker Sammlers, darunter ein Apis-Stier aus der VI. Dynastie und eine Horus-Statue aus Memphis. Unter Los Nr. 122 stieß ich schließlich auf die gesuchte Bastet-Katze, III. Dynastie, vermutlich aus Sakkara stammend. Ich gab vor, das Kunstobjekt befinde sich in meinem Besitz, und mir sei an einem lückenlosen Besitzernachweis gelegen; ob sie mir nicht Einlieferer und Käufer des Stückes nennen könne. Das aber lehnte die resolute Dame ab, sie schlug den Katalog zu, stellte ihn an seinen Ort zurück und fragte unwillig, ob sie noch etwas für mich tun könne. Ich verneinte und bedankte mich für die Hilfe, weil ich merkte, daß ich so in der Angelegenheit nicht weiterkam. Beim Hinausgehen verwickelte ich Miss Clayton in ein Gespräch über die Londoner Gastronomie, die für einen Kontinentaleuropäer, gelinde gesagt, ein Buch mit sieben Siegeln darstelle, und ich blieb nicht ohne Erfolg. Jeder Engländer, auf die angelsächsische Kochkunst angesprochen, beginnt diese heftig zu verteidigen — so auch Miss Clayton. Man müsse, und dabei funkelten ihre Brillengläser heftig, nur die entsprechenden Lokale kennen. Die Diskussion endete mit einer Verabredung im Four Seasons, South Kensington. Um es gleich vorwegzunehmen: Das Dinner wäre nicht der Rede wert gewesen, hätte sich nicht zwischen Horsd'oeuvre und Sweets ein 10
äußerst interessantes Gespräch ergeben, in dessen Verlauf sich mehrmals Gelegenheit bot, Miss Claytons profunde Kenntnisse der internationalen Auktionsszene zu belobigen. Mit weiteren Komplimenten, die über ihre berufliche Tätigkeit hinausgingen, erschlich ich Miss Claytons Vertrauen und die Zusicherung, mir entgegen der Vorschrift des Hauses und unter dem Siegel der Verschwiegenheit Einlieferer und Käufer von Los Nr. 122 zu nennen. Als ich Miss Clayton tags darauf in ihrem Büro aufsuchte, wirkte sie sichtlich nervös, und sie schob mir einen Zettel zu mit zwei Namen und Adressen, von denen ich einen bereits kannte: Ferenc B. Sie beeilte sich jedoch hinzuzufügen, ich möge das Gespräch am gestrigen Abend vergessen; sie habe mehr ausgeplaudert, als ihr zu sagen erlaubt sei, der vorzügliche Wein habe ihre Zunge gelöst, sie bedauere. Auf meine Frage, ob wir uns nicht noch einmal sehen könnten, entgegnete Miss Clayton mit einem strikten Nein und bat, sie zu entschuldigen. An der Bar des Gloucester, wo ich in London abzusteigen pflege, machte ich mir Gedanken, was Miss Clayton ausgeplaudert haben könnte, und obwohl ich den gesprächsreichen Abend minutiös Revue passieren ließ, fand ich keinen Ansatzpunkt. Immerhin hatte ich nun den Namen des Verkäufers, offenbar eines Ägypters mit Namen Gemal Gadalla, Wohnsitz Brighton, Sussex, Abbey Road 34; es war Sommer, und ich beschloß, von London nach Brighton zu fahren, wo ich im Hotel Metropol, King's Road, abstieg. Der Portier, ein weißhaariger, freundlicher älterer Herr, den ich mir einfach nicht anders vorstellen konnte als im Cut, hob, als ich nach der Abbey Road fragte, indigniert die Augenbrauen und artikulierte umständlich vornehm, so wie es dem Ambiente des Hotels der Jahrhundertwende entsprach, bedaure, eine Straße gleichen oder ähnlichen Namens habe Brighton nicht aufzuweisen; nein, auch im Jahre 1974 habe es eine Straße dieses Namens nicht gegeben, das wüßte er. Daraufhin rief ich Miss Clayton in London an, ob sie sich vielleicht nicht geirrt habe, aber Miss Clayton war sehr aufgebracht, beteuerte, ein Irrtum sei ausgeschlossen, und beschwor mich, die Ermittlungen in der Angelegen heit einzustellen. Auf meine eindringliche Frage, ob sie mir etwas verheimliche, blieb sie stumm, und dann legte sie auf. Damit war für mich die Geschichte an einem »point of no return« angelangt, und wenn ich - ich muß gestehen - vorher nur Ahnungen 11
oder eine ausgeprägte Phantasie gehabt hatte, so wuchs die Vermutung zur Gewißheit: Hinter dem unscheinbaren. Zettel mit der Aufschrift »MURDERER No 73« verbarg sich irgendein Geheimnis. Mich trieb es nach London zurück. In der Fleet Street stattete ich dem Daily Express einen Besuch ab, von dem mir bekannt war, daß er über ein ausgezeichnetes Archiv verfügt. Ich ließ mir den Zeitungsband Juli 1974 vorlegen; denn, so überlegte ich. Auktionsberichte erfreuen sich in London seit jeher großer Beliebtheit, vielleicht würde ich dort einen Hinweis finden. Ich fand ihn nicht, jedenfalls entdeckte ich in dem Bericht vom 13. Juli 1974 nichts, was über die nüchterne Berichterstattung der Ergebnisse hinausging; aber ich gab nicht auf und begab mich zu einer weiteren Londoner Zeitung, wobei mir der Zufall zu Hilfe kam. The Sun hatte vor vielen Jahren über mein erstes Buch in großen Lettern berichtet. Also suchte ich die Redaktion auf und bat ebenfalls um den Band Juli 1974, und ich wurde fündig. Am 12. Juli 1974 berichtete The Sun unter der Überschrift »Ein Toter saß im Auktionssaal« folgendes (ich ließ mir die Meldung fotokopieren) : »Bei einer Auktion ägyptischer Skulpturen bei Christie's, St. James's, kam es gestern zu einem tragischen Zwischenfall. Ein Sammler mit der Bieternummer 135 wurde während der Auktion vom Herztod ereilt. Der Vorfall blieb unbemerkt. Angestellte des Hauses Chnstie's entdeckten den Mann nach Ende der Auktion um neun Uhr p.m. zusammengesunken auf seinem Stuhl in der vorletzten Reihe und glaubten, er sei eingeschlafen. Als ihre Versuche, den Mann aufzuwecken, erfolglos blieben, wurde ein Arzt gerufen. Der stellte den Herztod des Mannes fest. Bei dem Toten mit der Bieternummer 135 handelt es sich um den deutsch-ägyptischen Kunsthändler Omar Moussa aus Düsseldorf.« Für mich stellte sich damit natürlich die Frage, ob Moussa eines natürlichen Todes gestorben war. Immerhin gab es da einen wenn auch unscheinbaren Zettel mit der Aufschrift »Mörder«. War es Zufall, daß sich gerade dieser Zettel in einem Kunstobjekt befunden hatte, das auf der Auktion mit dem Toten versteigert worden war? Eine Rückfrage beim Hermes-Institut in München, das das Papier inzwischen analysiert hatte, brachte folgendes Ergebnis: Das Papier war Anfang der siebziger Jahre hergestellt worden, mit hoher Wahrscheinlichkeit außerhalb Europas. 12
Hatte der Mörder - falls es sich um einen solchen handelte – die Bieternummer 73 ? Wer verbarg sich hinter No 73 ? Um diese Frage zu klären, suchte ich Christie's auf, wo ich mit Staunen zur Kenntnis nahm, Miss Clayton habe überstürzt ihren Schreibtisch verlassen; sie habe familiäre Probleme geltend gemacht. Ich ließ mich nicht abweisen und suchte den Deputy Chairman Christopher Thimbleby auf. The Hon. Christopher Thimbleby empfing mich in einem beengten, dunkel gehaltenen Büroraum und zeigte sich ganz offensichtlich wenig erfreut über meinen Verdacht, in den geheiligten Hallen seines altehrwürdigen Hauses - immerhin seit 1766 - habe sich ein Mord zugetragen. Vor allem, wandte er ein, und ich konnte ihm kaum etwas entgegnen, welches Motiv sollte dieser Mann gehabt haben? Den Namen des Bieters No 73 bekanntzugeben wies Thimbleby mit Entrüstung von sich; ich hatte das nicht anders erwartet. Das, beteuerte ich, würde mich jedoch nicht von weiteren Recherchen abhalten, ja, er müsse damit rechnen, daß ich mit meinen Recherchen an die Öffentlichkeit ginge, auch wenn sich die ganze Geschichte vielleicht als ein Windei erweise. Mein Gesprächspartner wurde nachdenklich. Also gut, meinte Thimbleby schließlich, in Anbetracht der außergewöhnlichen Situation erkläre er sich bereit, meine Nachforschungen zu unterstützen. Er stelle jedoch zur Bedingung, ständig auf dem laufenden gehalten zu werden und jede Öffentlichkeit zu vermeiden, solange ein Verbrechen nicht erwiesen oder nach Lage der Dinge wahrscheinlich sei. Ich verschwieg meine vorausgegangene Kontaktaufnahme zu Miss Clayton und tat, als wir gemeinsam das Archiv aufsuchten, als sei ich zum ersten Mal hier, was mir schwerfiel, weil Thimbleby umständlich und an falscher Stelle nach den Akten suchte, die ich schon gesehen hatte. Thimbleby entschuldigte sich, die zuständige Dame sei nicht verfügbar, stieß nach nervösem Suchen jedoch auf das richtige Fach und - auf eine Lücke im Archiv. Ich traute meinen Augen nicht. Die gesuchte Akte, die ich vor wenigen Tagen noch gesehen hatte, war verschwunden. Mir erschien die Sache nun einfach zu durchsichtig. Ich hinterließ meine Hoteladresse für den Fall, daß man doch noch fündig würde,und verabschiedete mich - ich muß gestehen ziemlich verärgert. Überall wo ich suchte, tat sich vor mir eine Wand auf. In solchen Augenblicken der Ratlosigkeit, des Einfach-nichtwei13
ter-Wissens pflege ich ein Museum aufzusuchen und mit Exponaten Zwiesprache zu halten. Dies geschah im British Museum, und das Objekt meiner Gedanken war der Stein von Rosette, jene schwarze Basaltplatte, die von einem Offizier Napoleons nahe der gleichnamigen ägyptischen Stadt gerunden wurde und auf der ein dreisprachiger Text geschrieben steht, vierzehn Zeilen Hieroglyphen, einunddreißig Zeilen demotischer und vierundfünfzig Zeilen griechischer Schrift, welcher einem französischen Gelehrten einst als Vorlage diente zur Entschlüsselung der Hieroglyphen. Als Ergebnis meiner Überlegungen vor dem Stein von Rosette traf ich die Entscheidung, den ganzen Weg meiner Recherchen noch einmal von Anfang an zu gehen; das jedenfalls hatte Champollion seiner Lösung näher gebracht. Vor meiner für den folgenden Tag geplanten Abreise kam mir plötzlich die Idee, nach Miss Juliet Clayton zu forschen. Ihre Adresse entnahm ich dem Telefonbuch: Queensgate Place Mews, Kensington. Schmale, einstöckige, weißgetünchte Häuser, im Parterre meist eine kleine Autowerkstätte oder ein Lagerraum, die Straße mit Kopfsteinen gepflastert. Ob er Miss Clayton kenne, fragte ich den Automechaniker, der in regelmäßigen Abständen aus der Kühlerhaube eines alten Autos auftauchte. Selbstverständlich, ja, aber Miss Clayton sei verreist, nach Ägypten, wann sie wiederkomme, wisse er nicht, sorry, Sir. Ich gab mich als alter Freund von Miss Clayton aus, fragte, ob er ihren Aufenthaltsort in Ägypten kenne. Der Automechaniker hob die Schultern. Ihre Mutter vielleicht, die betagte alte Dame wohne im Norden, in Hanwell, Uxbridge Road; am beste nähme ich den Zug von Victoria Station, man führe eine volle Stunde. Ich war sicher, Miss Clayton dort zu finden, und machte mich umgehend auf den Weg. Auf der Fahrt nach Hanwell begann es zu regnen, und Regen macht die trostlosen Londoner Vororte noch trostloser. Ich war der einzige Fahrgast, der in Hanwell ausstieg, ein alter verlassener Bahnhof, zur Straße hin ein verglastes Häuschen: Taxi. Uxbridge Road. Ein Pfund fünfzig. Mrs. Clayton, eine kleine, weißhaarige Dame, über deren faltiges Gesicht ständig ein Lächeln huschte, freute sich sichtlich über den unerwarteten Besuch und setzte Tee auf. Ich gab vor, ein Freund ihrer 14
Tochter zu sein, und Mrs. Clayton begann bereitwillig über Juliet zu plaudern. Viel wichtiger war jedoch die Information, daß Miss Clayton sich im Sheraton in Kairo aufhalte, wo sie regelmäßig abzusteigen pflege. Regelmäßig? Nun ja, ein-, zweimal im Jahr, ich wisse doch um ihre Vorliebe für Ägypten oder etwa nicht? Aber natürlich, beteuerte ich. Im Lauf des Gespräches erfuhr ich auch, daß Juliet Clayton mehrere Jahre in Ägypten zugebracht hatte, fließend Arabisch sprach und mit einem Ägypter, den Mrs. Clayton Ibrahim nannte, in näherer Beziehung gestanden hatte. Als sich das Gespräch dem Londoner Wetter zuwandte, zog ich es vor, mich höflich zu verabschieden. Zurückgekehrt erwartete mich in meinem Hotel eine Überraschung. Der Portier überreichte mir eine Message von Christopher Thimbleby: No 73 sei ein Mann namens Gemal Gadalla. Wohnsitz Brighton, Sussex, Abbey Road 34, jenes Phantom, das ich bereits als Besitzer der Bastet-Katze gesucht hatte. Damit war wieder einmal eine Situation eingetreten, die entweder den Besuch eines Museums oder einen längeren Pub-Aufenthalt erforderlich machte, und da es schon spät war, entschied ich mich für das Magpie and Stump' Old Bailey, und fand einen jener Fensterplätze, die früher bei öffentlichen Hinrichtungen für teures Geld vermietet wurden. Ich trank »Lager« und »Stout«, ja, ich soff meine ganze Ratlosigkeit in mich hinein, und ich weiß nicht, wie der Abend geendet hätte, hätte nicht auf einmal mein Gegenüber, ein rotblonder Engländer mit unzähligen Sommersprossen auf den Handrücken, einen demonstrativen Seufzer ausgestoßen und, mit seinem breiten Gesicht mir zugewandt, geschimpft: Verdammte Weiber, gottverdammte! Höflich erkundigte ich mich, was er damit meine, und der Angeredete erwiderte mit einer verächtlichen Handbewegung, ich müsse mich doch nicht schämen, aber man sehe es mir sogar in der Schummrigkeit von Old Bailey an, daß ich Kummer mit den Weibern hätte - ja, so pflegte er sich auszudrücken -, und augenzwinkernd und mit vorgehaltener Hand, so als ob es niemand hören sollte, fügte er hinzu, in Wales gebe es die besten Frauen, ein bißchen altmodisch, aber handsam und treu, und dann streckte er mir die sommersprossige Hand entgegen und sagte, er heiße Nigel. 15
Nigel vernahm mit Staunen, daß ich zum einen kein Brite und zum anderen weit entfernt sei von Liebeskummer oder dergleichen, worauf er glaubte, vom Krieg zu erzählen beginnen zu müssen. Ob es das Bier war oder meine Aversion gegen derlei Erzählungen, ich weiß es nicht, jedenfalls unterbrach ich Nigels martialischen Redeschwall mit der Frage, ob er wirklich interessiert sei, meinen Kummer zu erfahren, und als er bejahte und seinen Kopf zwischen die Fäuste steckte, begann ich mit meiner Geschichte. Während ich redete, sagte Nigel kein Wort, ab und an schüttelte er nur verständnislos den Kopf, und er schwieg auch noch, lange nachdem ich geendet hatte. Ich müsse, begann er schließlich, ein Schriftsteller sein, und die Geschichte sei wirklich gut erfunden, aber wahr sei sie nicht, jedenfalls könne er nicht daran glauben, nicht an so etwas. Es kostete mich einen hohen Aufwand an Redekunst und ein halbes Dutzend »Stouts« mindestens, um meinen Freund vom Wahrheitsgehalt meiner Erzählungen zu überzeugen, bis er schließlich einwilligte; also gut, vielleicht gebe es wirklich verrückte Begebenheiten wie diese - was ich nun zu tun gedenke. Wüßte ich das, erwiderte ich, so hätte ich die ganze Geschichte wahrscheinlich nicht erzählt. Nigel dachte nach, und dabei klopfte er mit der flachen Hand auf die schwarz gebeizte Tischplatte und murmelte irgend etwas von Verwirrspiel oder was immer entanglement auf deutsch bedeuten mag. Meine Begegnung im Magpie and Stump wäre überhaupt nicht erwähnenswert, hätte nicht Nigel plötzlich aufgeblickt und gesagt, wenn es schon diesen rätselhaften Gemal Gadalla nicht gebe, dann sei vielleicht auch der Kunsthändler Omar Moussa nur ein Phantom, was meinen Sie? Zwei Tage später in Düsseldorf ging ich dieser Frage nach, und zunächst schien es, als würde sich alles zu meiner Zufriedenheit entwickeln, denn ich entdeckte im Telefonbuch den Namen Omar Moussa und den Hinweis: Antiquitäten, Königsallee die feinste Adresse. Ich erwartete natürlich, in Moussa den Sohn jenes bei Christie's umgekommenen Omar Moussa zu finden, wurde jedoch, nachdem ich das feine Ladengeschäft mit erlesenen Altertümern betreten und dem gebildeten älteren Herrn den Grund meines Kommens verraten hatte, eines Besseren belehrt. 0 nein, er selbst sei jener Moussa, den man in London tot aufgefunden habe, das könne er beschwören, und 16
dabei hob er die Schultern und kicherte in sich hinein. Was blieb mir anderes übrig, als selbst ein bißchen verlegen zu grinsen, glaubte ich doch an einen Scherz des Alten. Schließlich wurde er ernst, brummelte, er wolle mit der Sache nichts mehr zu tun haben, und er muß dann wohl die Ratlosigkeit in meinem Gesicht gelesen haben, und als ob er sich meiner erbarmte, begann er plötzlich zu reden. So erfuhr ich, daß jener Mann, den während der Auktion der Tod ereilte, eine Art Doppelgänger gewesen war, offenbar ein Geheimagent, ausgestattet mit Personalpapieren, die sich von den seinen nur durch das Paßfoto unterschieden. Paß, Führerschein, sogar Kreditkarten auf seinen Namen lautend habe der Doppelgänger mit sich geführt, und er wisse auch wie das möglich war: Bei einem Autoeinbruch in der Düsseldorfer Innenstadt sei zwar sein Radio entwendet, die Brieftasche im Handschuhfach aber unbeachtet gelassen worden, was ihn, Moussa, damals fraglos gefreut hatte. Später sei ihm dann klar geworden, daß der Autoeinbruch nur als Vorwand gedient habe, um seine Personalpapiere zu kopieren und zu fälschen. Aber das alles habe er erst viel später erfahren. Zunächst sei er von der Angelegenheit überhaupt nicht behelligt worden — bis zu jenem Tag, an dem er und sein Doppelgänger, ohne es zu bemerken, einander begegnet seien; jedenfalls seien bei der Auktion in London zwei Männer mit dem Namen Omar Moussa im Saal gesessen, er, der echte Omar Moussa, und der andere, falsche eine verrückte Situation. Ich unterbrach meinen Gesprächspartner und fragte, ob es Zufall gewesen sei, daß Moussa gerade diese Auktion besucht habe. Zufall? Moussa kehrte die Handflächen nach außen. Nichts sei Zufall im Leben; er habe im Kundenauftrag versucht, verschieden Stücke zu ersteigern, nichts weiter. Er schwieg, und mir schien es, als dächten wir beide das gleiche, und da Moussa noch immer nicht weiterredete, stellte ich kurzerhand die Frage, wer, falls es sich wirklich um ein Verbrechen gehandelt habe, nun Ziel des Anschlages gewesen sei, der echte oder der falsche Moussa. Der alte Mann holte tief Luft, verschränkte die Arme auf dem Rücken und ging auf dem großen Seidenteppich, der die Mitte des Ladens schmückte, auf und ab, und betont umständlich begann er zu erzählen, daß ein Arzt den Herztod des Mannes festgestellt hatte, und daß er, Moussa, makaber genug, bei seiner Heimkehr aus England von seinem eigenen Ableben unterrichtet worden sei. Auf sein Le17
benszeichen habe Scotland Yard den Fall übernommen; er selbst sei nach London gebeten worden, und er habe der Aufforderung bereitwillig Folge geleistet, lag es doch in seinem eigenen Interesse, den Fall aufzuklären. Viele Stunden habe er am Victoria Embankment, dem Sitz von Scotland Yard, zugebracht, und ihm seien zahllose Fragen gestellt worden, bis er sich schon selbst schuldig fühlte, nicht der tote Moussa zu sein. Von Mord sei im übrigen nie die Rede gewesen, ein Arzt hatte ja den Herztod des Mannes festgestellt. Auch die Identität des Toten sei nie geklärt worden. Scotland Yard habe den Fall zu den Akten gelegt mit dem Ergebnis, der Doppelgänger sei Agent eines Geheimdienstes gewesen und bei der Beobachtung irgendeines Vorganges vom Tode ereilt worden. Unser Gespräch wurde von einem Kunden unterbrochen, der sich für zwei chinesische Balustervasen interessierte: ob es sich um Wucai handele? Und während die beiden fachsimpelten, hatte ich Gelegenheit, mir diesen Moussa näher zu betrachten. Er war orientalisch-hellhäutig, mindestens eins achtzig groß, und seine schlanke Figur, der korrekte Zweireiher und eine gewisse Vornehmheit seines Auftretens verliehen ihm etwas Adeliges; kurz, er sah so aus, wie ein seriöser Antiquitätenhändler aussehen mag, und es fiel schwer, sich diesen Mann verstrickt in irgendwelche Geheimdienstangelegenheiten vorzustellen. Aber ehrlich gesagt erschien mir die Geschichte, die er mir zunächst schmunzelnd, dann mit einer gewissen Leidensmiene aufgetischt hatte, reichlich dubios; ja, sie hörte sich so an, als wolle Moussa unbedingt beweisen, daß er nichts mit dem Fall zu tun habe. Als der Kunde gegangen war, fragte ich ihn unvermittelt, ob ihm der Name Gemal Gadalla bekannt sei. Nein, erwiderte er unwillig, im übrigen liege das alles weit zurück, worüber er froh sei. Und er ersuchte mich höflich, aber bestimmt, die Geschichte auf sich beruhen zu lassen, er habe genug darunter gelitten, guten Tag. Ich wollte noch fragen, ob ihm der Name ]uliet Clayton etwas sage, aber dazu kam ich nicht, denn Moussa hielt mir wortlos die Tür auf. Die Situation, in der ich mich befand, war wie beim Poker, da muß man auch mit schlechten Karten versuchen zu gewinnen, und ich muß gestehen, ich hatte denkbar schlechte Karten; aber ich war gepackt von dieser Geschichte, und um eine solche handelte es sich ohne Zweifel. 18
Fassen wir zusammen, was bisher geschah und lassen wir dabei alle Namen und Schauplätze außer acht: Eine Zufallsentdeckung deutet auf einen Mord hin. Zugegeben, die Entdeckung ist so absurd, daß sie zunächst niemand ernst nimmt. Doch schon die ersten Nachforschungen lassen sie in anderem Licht erscheinen. Da stirbt ein Mann während einer Kunstauktion. Herztod wird amtlich bestätigt. So weit, so gut. Der Name des Toten wird bekannt, es stellt sich heraus, daß dieser ein Doppelgänger war und daß sein Pendant sich zur selben Zeit im selben Raum aufhielt. Will man dem Hinweis glauben, so wurde dieser Mann auf hinterlistige Weise umgebracht, vielleicht durch Gift oder eine herzlähmende Injektion. Aber der Mann, der dieser Tat beschuldigt wird, ist ein Phantom, es gibt ihn nicht, jedenfalls nicht unter diesem Namen und dieser Adresse. Und was die Nachforschungen nicht gerade vereinfacht: Alle, die mit dem Fall irgendwie in Verbindung stehen, versuchen den Vorfall zu bagatellisieren, alle verhalten sich so, als verberge sich hinter dieser Tat eine ganz andere Geschichte. In dieser Form aneinandergereiht machte die Kette der Indizien keinen Sinn, und ich kam zu dem Schluß, daß, wollte ich erfolgreich sein, die asphaltierten Wege der Logik verlassen werden mußten; denn wenn ich mir es recht überlegte, entbehrte eigentlich alles, was ich bisher zu dieser Geschichte erfahren hatte, der Logik. Um über Moussa mehr in Erfahrung zu bringen, suchte ich andere Antiquitätenhändler auf, wobei ich mich als Anleger ausgab, der von der Sache weniger verstand, aber eine erhebliche Summe Geldes steuerfrei anzulegen gedenke. Das ersparte mir größere Kenntnisse in antiken Teppichen, barockem Mobiliar und fernasiatischer Keramik und ließ mein Auftreten dennoch glaubhaft erscheinen. Beiläufig ließ ich in den Verkaufsgesprächen einfließen, daß ich bei Moussa zwei chinesische Balustervasen, Wucai, gesehen hätte; ob diesem Moussa zu trauen sei? Ich stieß die beiden ersten Male auf große Reserviertheit, man ignorierte meine Frage, und auch auf nochmaliges Nachfragen erhielt ich nur ein zurückhaltendes Lächeln; bekanntlich hackt eine Krähe der anderen kein Auge aus. Ein dritter, weit weniger vornehmer Händler, was schon die Lage seines Geschäftes in einer Seitenstraße der Königsallee andeutete, gab sich gesprächig und hielt mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg. Alle Zeitungen hätten doch darüber 19
berichtet, daß dieser Moussa zwei mittelalterliche Refektoriumstische für fünfstellige Summen veräußert habe, die in Wahrheit noch keine zehn Jahre auf dem Buckel gehabt hätten, und aufgedeckt worden sei die Fälschung von einem kundigen Sammler, der noch die Schrotkugeln entdeckte, mit welchen die Wurmlöcher in das »alte« Holz geschossen worden seien. Ich hakte sofort ein und kam auf die mysteriösen Umstände um den Tod seines Doppelgängers in London zu sprechen, und das veranlaßte den Kunsthändler zu einer abwiegelnden Handbewegung und einer abfälligen, ja verunglimpfenden Bemerkung über Moussa, die ich hier nicht wiedergeben will, die mich aber in der Erkenntnis bestärkte, daß dieser Mann Moussa nicht zu seinen Freunden zählte. Haß macht gesprächig. Insofern erwies sich der Mann als Glücksfund, und ich erfuhr in kürzester Zeit Dinge, die mich zwar in meinem Fall nicht weiterbrachten, die mir aber den Menschen Moussa plastisch vor Augen führten. Der Grund für diese Feindschaft lag in einer weit zurückliegenden Freundschaft der beiden begründet und dem gescheiterten Versuch, vor Jahren eine gemeinsame Geschäftsbeziehung aufzubauen. Er, meinte Kassar so hieß der Enttäuschte -, glaube, daß sich hinter dem Vorfall in London mit dem mysteriösen Doppelgänger eine Riesenschweinerei verberge, an der Moussa beteiligt sei. Auf meine Frage, was man sich darunter vorzustellen habe, erwiderte Kassar, ich hätte ja keine Ahnung, was sich auf dem internationalen Antiquitätenmarkt abspiele, da herrsche Mord und Totschlag. Nun schien es mir an der Zeit, den wahren Grund meines Kommens zu nennen. Ich erläuterte und begründete meinen Verdacht, daß der Doppelgänger ermordet worden sei, und berichtete, was ich bisher in Erfahrung gebracht hatte. Kassar war fasziniert und versprach sofort, mir bei weiteren Recherchen behilflich zu sein. Jetzt hatte ich einen Verbündeten. Gegenüber der Rennbahn liegt ein von außen unscheinbares Lokal, Zum Trotzkopf genannt. Dort traf ich mich mit Kassar zum Abendessen und erfuhr den kompletten Lebenslauf Moussas in allen Details, von denen mir am interessantesten erschien, daß dieser mit einer Ägypterin verheiratet war. Die Art, wie er sie beschrieb, vermittelte den Eindruck, daß Kassar insgeheim in diese Frau verliebt war. Vorsicht war also angebracht bei allen Informationen über 20
Moussa, doch schien festzustehen, daß jener weit über seine Verhältnisse lebte. Ein Haus auf Ibiza, eine Wohnung auf Sylt und ein Appartement samt Yacht am Las Olas Boulevard in Fort Lauderdale waren nur einige Dinge, von denen Kassar wußte und von denen er sagte, alle zusammen seien für einen redlichen Antiquitätenhändler unerreichbar. Irgendwelche dunklen Geschäfte? Kassar hob die Schultern. Nachzuweisen sei Moussa nichts, obwohl er dessen Geschäfte seit Jahren beobachte. Auch meine Vermutung, daß er seine Firma nur zur Tarnung unterhalte und in Wirklichkeit ganz anderen Geschäften nachgehe, ließ Kassar nicht gelten. Moussa sei Experte auf seinem Gebiet, er gehe auf in seinem Beruf, und man könne ihm profunde Kenntnisse nicht absprechen; viele bezeichneten ihn sogar als allerersten Experten für ägyptische Antiquitäten in Europa, obwohl er nie studiert habe. Kassar sagte das nicht ohne eine gewisse Bitterkeit, die erkennen ließ, daß er wohl ein Studium aufzuweisen hatte. Als wir das Lokal verließen, wußte ich zwar vieles über diesen Mann, und ich war mir ganz sicher, daß Moussa eine Schlüsselrolle in diesem Fall spielte, aber einer Lösung nähergebracht hatte mich der Abend nicht. In der Hoffnung, Miss Clayton zu treffen, flog ich nach Kairo, doch erwies sich dieser Schritt als Fehlschlag. Miss Clayton war bereits abgereist, ob ins Landesinnere oder zurück nach London, vermochte man mir im Hotel nicht zu sagen. So nahm ich meinen Ägyptenaufenthalt zum Anlaß, nach Spuren von Moussa zu forschen. Bei Antiquitätenhändlern und Ausgräbern in Kairo blieb ich erfolglos; ja, ich erntete so viel Mißtrauen, daß ich mich nach ein paar Tagen aus dem Staub machte und nach Minia in Mittelägypten weiterreiste, wo ich vor Jahren eine Familie kennengelernt hatte, Vater, Mutter und drei Söhne, die von der Grabräuberei im Gebiet von Teil el-Amarna lebten. Aber auch hier war der Name Moussa unbekannt, so daß ich unverrichteter Dinge nach Hause zurückkehrte. Ich hatte nun schon eine Menge Zeit investiert, ohne einen wesentlichen Schritt weiterzukommen, und da mir der Termin eines Buches im Nacken saß, legte ich diesen Fall fürs erste beiseite, ohne verhindern zu können, daß meine Gedanken immer wieder um dieses Thema kreisten. Darüber verging beinahe ein Jahr, als mich ein Brief von Kassar 21
erreichte, Moussa sei verstorben - diesmal wirklich, wie er sich auszudrücken beliebte -, und in seinem Nachlaß sei ein Fund gemacht worden, der mich interessieren würde. Ich reiste sofort nach Düsseldorf. Zu meinem Erstaunen fand ich Kassar mit Moussas Witwe in harmonischer Eintracht. Von dem Verblichenen war keine Rede. Dafür überreichte mir Kassar ein Bündel bräunlicher, mit arabischer Schrift versehener Papiere, die schmutzig und zerfleddert, das Ergebnis einer langwierigen Arbeit waren. Dies sei in einem Schließfach gefunden worden, das Moussa unterhalten habe. Ich sah Kassar fragend an, doch der meinte nur, ich solle lesen, dann würden sich alle Fragen von selbst beantworten, und dabei grinste er vielsagend. Ich konnte nicht Arabisch und meinte, ich würde erst einen Dolmetscher engagieren müssen. Ja, meinte Kassar, das sei wohl angebracht. Ob er denn wisse, was in diesen Blättern enthalten sei. Gewiß, meinte Kassar, zwar nicht alles, aber zumindest wisse er so viel, daß ihm Moussa und die Vorfälle um ihn herum nun weit weniger rätselhaft erschienen. Natürlich brannte ich darauf zu erfahren, was es mit diesen Papieren auf sich hatte; aber Kassar weigerte sich hartnäckig, beinahe sadistisch, auch nur eine Andeutung zu machen. Ich könne die Papiere haben, meinte er, vermutlich sei ich ohnehin der einzige, der den Inhalt dieser Schrift in seiner ganzen Tragweite begreife, und er zweifle nicht, daß daraus ein Buch entstehen würde, Kassar behielt recht. Ich betraute Frau Shirin, eine in München lebende Ägypterin, mit der Aufgabe, mir täglich drei Stunden aus dem arabischen Text vorzulesen, aus dem Stegreif, so wie es der Unbekannte niedergeschrieben hatte, und dabei machte ich mir Notizen. Bisweilen war das, was ich zu hören bekam, so aufregend, daß ich meine Notizen vergaß, so daß ich später das Gehörte mühsam aus dem Gedächtnis rekonstruieren mußte. Vieles mußte ich ohnehin zum besseren Verständnis umformulieren, doch bemühte ich mich soweit wie möglich, die Ausdrucksweise des Tagebuchschreibers — denn um eine Art Tagebuch handelte es sich bei den Papieren - beizubehalten, anderes habe ich aus unabhängigen Quellen, die sich mir im Laufe der Arbeit erschlossen, ergänzt. Dies also ist die Geschichte des Omar Moussa, eines Mannes, der sich dem Unbegreiflichen genähert hat wie noch kein Mensch vor ihm. 22
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MENA HOUSE UND WINTER PALACE Einem jeden Menschen haben wir sein Geschick bestimmt, und am Tage der Auferstehung werden wir ihm das Buch seiner Handlungen geöffnet vorlegen und zu ihm sagen: »Lies selbst in diesem Buche, deine eigene Seele soll dich an jenem Tage zur Rechenschaft ziehen.« Koran, Siebzehnte Sure (14) »Im Namen Allahs, des Allbarmherzigen«, so beginnen die Aufzeichnungen des Omar Moussa. »Dies sind die Worte eines gealterten Frevlers, dem vielleicht ein paar Wochen verbleiben, ein paar Monate, wenn es denn sei, und dem die Pein seines Gewissens die Gedärme quält in schlaflosen Nächten. Dies sind die Worte des Omar Moussa, die er bisher keinem anvertraut hat, zum einen, weil es unnötig ist mit lauter Stimme zu sprechen, da Allah das Geheimste und Verborgenste kennt, zum anderen aber, weil niemand meine Worte glauben würde. Gewiß habe ich Schuld auf mich geladen in meinem Leben, doch war es ein vorgezeichnetes Schicksal nach dem Willen des Allerhöchsten, der, wie er selbst sagt, alle Sünden verzeiht außer jener, ihm ein anderes Wesen zur Seite zu setzen. Dies habe ich nie getan. Auch habe ich nie die Fastenvorschriften gebrochen im neunten Monat und stets der ungeraden Nacht gedacht, in der der Koran zur Erde herabkam. Ich war zur großen Pilgerfahrt in Mekka, die täglichen Gebete und Waschungen waren mir Pflicht, und als es mir besser ging, habe ich die Armensteuer bezahlt aus freien Stücken. Wein, Schweinefleisch, Blut und Verendetes entlockten mir Ekel. Frauen, denen ich begegnete, hatten nie Grund zur Klage, und jene, die ich ehelichte, wird mich mit Sicherheit überleben.« Omar Moussa hätte zufrieden sein können mit seinem Schicksal, das namenlos wie das des Moses begann, und mit einem Auge dem Garten der Ewigkeit entgegenblicken können, der den Frommen zur Belohnung und Wohnung versprochen ist, wäre da nicht jene Bürde gewesen, die ihm vor beinahe einem halben Jahrhundert auferlegt wurde, als er Dinge sah, die noch niemand geschaut hat, und sein armseliges Leben sich änderte von einem Tag auf den anderen. 23
Um zu verstehen, wie dies alles geschah, soll hier sein Leben ausgebreitet werden, so wie er sich erinnerte oder wie es ihm selbst über sich erzählt wurde: Dunkel wie der Sandsturm war seine Geburt, er kannte weder Vater noch Mutter; denn er wurde, ein paar Tage alt nur, in einem Ledersack an die Klinke des Tores zur Karawanserei gebunden, die dem Mena House-Hotel gegenüber gelegen ist. Der alte Moussa, der über sieben Kamele verfügte und ebenso viele Kinder, sagte, bei so vielen Mündern komme es auf einen mehr oder weniger nicht an, und nahm ihn an Kindes Statt auf wie sein eigenes. Mehrmals im Jahr hing an der Klinke, an der man ihn gefunden hatte, ein Beutel mit Geld, dessen Herkunft niemand kannte, um dessen Bedeutung aber jeder wußte. Seine ersten Erinnerungen gingen zurück, als er drei war, kaum älter, und als der alte Vater Moussa, ein hagerer, faltiger Mann mit schwarzem Bart und schwarzen Brauen über den tiefliegenden Augen, ihm einen gewaltigen Nabut in die kleinen Hände drückte — kaum war er in der Lage, ihn mit beiden Armen zu halten. Diese hölzerne, mit Nägeln beschlagene Keule, sagte Moussa, versinnbildliche die Macht des Mannes - ein Gerede, das er damals nicht verstand; aber er verstand sehr wohl mit ihr umzugehen, indem er sie mit aller ihm zur Verfügung stehenden Kraft gegen die Knie von Moussas Kamelen drückte, so wie er es oft gesehen hatte, daß die hohen Wüstenschiffe erst mit den Vorder-, dann mit den Hinterläufen einknickten. So ist es noch heute Brauch, um den Reiter aufsitzen zu lassen. Die Fremden vom Mena House-Hotel, die Moussa auf diese Weise zu den großen Pyramiden transportierte, fanden sein Treiben allzu drollig und sparten nicht mit Bakschisch, wenn er ihnen so auf den Rücken der Tiere und wieder herunter half. Ein oder zwei Piaster waren damals viel Geld für einen Jungen der Wüste, nicht selten aber kam er mit fünf oder sechs nach Hause. Das schaffte Neid unter seinen Stiefbrüdern, weil er, der Jüngste, mehr verdiente als die anderen. Also grub er sich ein Versteck hinter dem Abtritt, wo es fürchterlich stank, wo er jedoch sicher sein konnte, daß nur selten jemand hinkam. Es ist merkwürdig, obwohl er beinahe im Schatten der großen Pyramiden lebte, nahm er sie nicht wahr. Für ihn waren sie Berge, deren Gipfel bis zu den Wolken reichten. Von Menschenhand geschaffene Bauwerke erkannte er in den Pyramiden nicht. Darin lag auch der 24
Grund, warum Omar die Ehrfurcht nicht verstand, mit der die Frem den vor die Pyramidenberge traten. Vor allem waren es Engländer, sauber und vornehm gekleidete Herren, bisweilen auch in Begleitung ihrer weiß geschminkten Damen, die den Weg in die Wüste fanden, um die Pyramiden zu besichtigen. Sie stiegen im vornehmen Mena House ab, das kein Fellache betreten durfte, nicht einmal der alte, allseits geachtete Moussa, von dem die Rede ging, er habe Lord Cromer persönlich auf die Spitze der großen Pyramide geführt. Zwar gab es Eingeborene, die in dem verbotenen Hotel einer geregelten Arbeit nachgingen, doch war es ihnen bei Strafe untersagt, darüber zu berichten, was hinter den ockerfarbenen Mauern vorging. Während die Alten sich weniger für die verbotene Ausländerherberge interessierten — jeder Erwachsene konnte sich ausmalen, wie die reichen Ausländer lebten -, wurde das Hotel für die Jungen der Umgebung zum Objekt unstillbarer Neugierde, und allein die Behauptung, schon einmal bis zur Portiersloge vorgedrungen zu sein, sei es als Kofferträger oder unter dem Vorwand, eine Botschaft zu überbringen, zog allgemeine Bewunderung nach sich. Deshalb hatte Omar keinen sehnlicheren Wunsch, als einmal einen Fuß in das verbotene Mena House zu setzen. Mehr als einmal kletterte er an einer verwachsenen Stelle über die Mauer und schlich an Gärtnern und Hauswächtern vorbei zum Eingang, wo er einen Blick in das verbotene Reich zu erhaschen hoffte; aber ein jedesmal entdeckten ihn die beiden langen weißgekleideten Türsteher, noch bevor er das unbekannte Treiben im Inneren zu Gesicht bekam, und jagten ihn mit Peitschenhieben davon. So grub sich der Tag, an dem Omar zum ersten Mal die Hotelhalle betreten durfte, fest in sein Gedächtnis ein. An diesem Tag, den er auch später nicht zu datieren wußte, kam Sultan Fuad, der Sohn des Khediven Ismail, Enkel von Ibrahim Pascha und Urenkel des großen Mohamed Ali, in einer schwarzen Kutsche gefahren, um auf der großen Pyramide die ägyptische Flagge zu hissen. Der Sultan trug einen dunklen Anzug und unterschied sich auch sonst in keiner Weise von den Engländern, die im Mena House abstiegen. Omar war irgendwie enttäuscht: den Sultan hatte er sich anders vorgestellt. Aber der alte Moussa hatte am Morgen dieses Tages seine Kinder um sich geschart und eine Rede gehalten, die Omar im Ge25
dächtnis blieb. Dies sei, so hatte er mit heftigen Armbewegungen gesagt, ein stolzer Tag in der Geschichte Ägyptens, und jeder einzelne von ihnen könne stolz darauf sein, ein Ägypter zu sein; und einmal werde der Tag kommen, an dem nicht die Engländer über die Ägypter herrschten, sondern die Ägypter über die Engländer. Also empfand Omar Stolz, noch mehr freilich interessierten ihn die bewaffneten Soldaten, die, anders als der Sultan, orientalisch gekleidet und mit Säbeln und Flinten bewaffnet waren und jeden mit finsteren Blicken straften, der der Begleitung des Sultans zu nahe kam. Omar stand mit seinem Kamel abseits der großen Pyramide, so wie Moussa es ihm aufgetragen hatte, und winkte den Besuchern zu. Fuad sah es und ging auf Omar zu, der in diesem Augenblick am liebsten fortgelaufen wäre, aber er stand wie angewurzelt und klammerte sich an seinen Nabut. »Wie heißt du?« erkundigte sich der Sultan lächelnd. »Omar«, sagte der Junge artig, »der Sohn des Moussa.« »Und du bist ein Kameltreiber?« »Ja«, erwiderte Omar kleinlaut. Der Sultan lachte laut, denn er hatte einen lustigen Einfall: »Könnte ich wohl auf deinem Kamel zurückreiten?« Die Aufpasser in der Umgebung des hohen Herrn sahen sich betreten an. Omar nickte heftig. Inzwischen war der alte Moussa hinzugekommen. Er entschuldigte sich beim Sultan wegen der Wortkargheit des Jungen. »Er ist schüchtern, hoher Herr, ein Findelkind, das ich aufgezogen habe mit meinen eigenen Kindern!« In diesem Augenblick fühlte sich Omar klein und armselig. Warum mußte der alte Moussa seine dunkle Herkunft erwähnen? Omar schämte sich. Nach der Besteigung der Pyramide, bei der ein gutes Dutzend Leibwächter den wohlbeleibten Sultan unter Schieben und Ziehen auf die Plattform transportiert hatten, kam Fuad auf Omar zu; der zwang sein Kamel in die Knie, und der Sultan nahm auf dem Rücken des Tieres Platz. »Zum Mena House!« rief er Omar zu, und Omar führte sein Kamel mit dem Sultan zum Hotel. Soldaten bahnten ihm einen Weg durch die Menge, Menschen an beiden Seiten jubelten und klatschten 26
in die Hände. Vor dem Eingang ließ Omar den Sultan absitzen. Aus der Begleitung Fuads drückte jemand dem Jungen ein paar Piaster in die Hand, und Omar wollte sich mit seinem Kamel zurückziehen, da rief der Sultan dem kleinen Kameltreiber zu, ob er nicht mit ihm eine Limonade trinken wolle. Omar wollte eigentlich ablehnen, er hatte keinen Durst, aber da trat Moussa hinzu, nickte und schob Omar vor sich her auf den hohen Gast zu. An der Hand des Sultans betrat Omar die Halle des Hotels. Kühle schlug ihnen entgegen. Auf dem Steinfußboden lagen Teppiche. Obwohl es Tag war, waren alle Fensterläden verschlossen, dafür leuchteten rote und blaue Messingampeln an der Decke. Ornamentkacheln schmückten die Wände. Vornehm gekleidete Damen und Herren bildeten eine Gasse, durch die Omar an der Hand des Sultans schritt. »Eine Limonade für mich und meinen kleinen Freund!« rief der Sultan, und sogleich trat ein Hoteldiener in einer langen schneeweißen Galabija hervor. Er trug ein blitzendes Messingtablett und auf diesem standen zwei tulpenförmige Gläser mit grüner Limonade. Nie hatte Omar so grüne Limonade gesehen. Die Getränkeverkäufer bei den Pyramiden verkauften roten Malventee, aber grüne Limonade? Omar zweifelte, ob etwas Grünes überhaupt trinkbar sei. Aber dann griff Sultan Fuad nach seinem Glas, setzte es an die Lippen und wartete, bis der Junge es ihm gleichtat. Was blieb Omar anderes übrig, er nahm das andere Glas und trank. Der Geschmack des zuckerigen Wassers war nicht nur unbekannt, er widerte Omar an, so daß es ihn würgte, und hastig rannte er, sich mit den Armen einen Weg durch die dichtgedrängten Menschen bahnend, ins Freie, wo er die grüne Limonade ausspie. Von diesem Tage an war Omar bei seinen Stiefbrüdern verhaßt, und oft bezog er Prügel für Dinge, die ihm zur Last gelegt wurden, mit denen er jedoch nichts zu tun hatte. Der alte Moussa war ein ebenso frommer wie weiser Mann, auch wenn er nie eine Schule besucht hatte, und eines Abends scharte er seine große Familie vor der Hütte um sich, um eine Sure aus dem Koran vorzutragen. Wie jeder gute Gläubige konnte Moussa alle 114 Suren auswendig hersagen, und an diesem Abend entschied er sich für die Zwölfte. 27
»Im Namen Allahs, des Allbarmherzigen«, begann er bedächtig und dann erzählte er von Joseph, der seinem Vater Jakob berichtete, er habe im Traum elf Sterne und die Sonne und den Mond gesehen, und alle hätten sich vor ihm verneigt, und der Vater habe den Sohn ermahnt, den Traum nicht den Brüdern kundzutun, weil sie Neidgefühle gegen ihn hegten, was auch geschah! Die Brüder hätten Joseph in einen Brunnen gestoßen, wo er von einer Karawane entdeckt und für ein paar Dirhem an einen Mann namens Potiphar verkauft worden sei. Während Moussas Vortrag erhob sich einer nach dem anderen, weil die Söhne die Absicht ihres Vaters erkannten, und als nur noch Omar dem Alten gegenübersaß, hielt dieser inne. Vom Kanalufer drang das millionenfache Zirpen der Zikaden, bisweilen nur gestört von Musikfetzen aus dem Park des Mena House. Feuer flackerten vor den Türen der Häuser der Karawanserei, und hier und da verlor sich ein kurzes lautes Lachen in der warmen Nacht. »Du kennst den Fortgang der Geschichte?« beendete Moussa sein langes Schweigen. Omar schüttelte den Kopf. Da nahm Moussa seinen Vortrag wieder auf und er rezitierte die Sure allein vor dem Jungen. Er erzählte vom Aufstieg des Joseph zum Verwalter des Hauses, von den Nachstellungen der Frau Potiphars, seiner Verurteilung aufgrund falschen Zeugnisses und seinen Erfolgen als Traumdeuter für den Pharao, der ihn daraufhin zu seinem Vertrauten machte. Moussa erzählte von dem Großmut Josephs, als seine hungernden Brüder zu ihm kamen und um Getreide baten und dieser ihnen verzieh. Es war spät geworden, als Moussa geendet hatte, aber Omar war hellwach, denn er begann zu begreifen, warum sein Vater gerade aus dieser Sure zitiert hatte. Er, Omar, war ein Außenseiter, einer, der wohl nie von seinen Stiefbrüdern akzeptiert werden würde. Aber lehrte nicht diese Sure, daß gerade die Geächteten großer Taten fähig sind? In seinen Träumen sah er sich als Berater des Sultans, der europäische Kleidung trug und in einer schwarzen Kutsche spazierenfuhr, und in dieser Nacht faßte Omar den Entschluß, es Joseph gleichzutun. Aber Omar war ein Kameltreiber, der Fremde für zwei Piaster vom Mena House zu den großen Pyramiden transportierte, und er 28
trug eine lange Galabija statt der ersehnten Beinkleider, und seine Brüder nannten ihn Omar Effendi, was der respektvollen Anrede eines Herrn entsprach, ihn, den Halbwüchsigen, jedoch verächtlich machen sollte. Es gab nur einen einzigen Menschen, dem Omar vertraute, er hieß Hassan und war ein Mikassah, ein Krüppel, wie sie Kairo zu Tausenden bevölkerten. Hassan war alt, uralt, sein wahres Alter kannte er nicht, denn er wußte nicht, wann und wo er geboren wurde, und er hatte keine Unterschenkel. Seine Knie steckten in abgeschnittenen Autoreifen; so bewegte er sich fort, indem er ein mit Glasperlen und Spiegelscherben besetztes Holzkästchen vor sich herschob, mit dem er seinen Lebensunterhalt verdiente. Hassan war Schuhputzer, und in dem Holzkästchen, das seinen Kunden als Fußpodest diente, befanden sich Schuhcreme, Bürsten und Lumpen. So sah man ihn tagein, tagaus vor dem Mena House kauern, wo er den ein und aus gehenden Gästen seine Dienste anbot, indem er mit einer Schuhbürste lautstark gegen seinen Kasten schlug und das einzige englische Wort rief, das er kannte: »Polishing, polishing!« Hassan pflegte das Leben aus der Schuhperspektive zu betrachten; das heißt, der Mensch endete für den Mikassah an der Gürtellinie, für alles Darüberliegende hatte er kein Auge. Über die Fesseln einer Dame konnte Hassan schwärmen wie über eine laue Mondnacht, und die Wade einer Französin in einer hohen Stiefelette erregte seine Sinne. Er war es gewohnt, zu Menschen aufzublicken, und es machte ihm nichts aus. Es störte ihn auch nicht, mißachtet zu werden, wenn sich die Menschen in seiner Anwesenheit über Dinge unterhielten, die eigentlich für keines anderen Ohr bestimmt waren. Aber Hassan war ein Niemand, und so kam es, daß er mehr wußte als alle anderen. Er kannte die meisten Gäste des Hotels mit Namen, wußte den Grund ihrer Anwesenheit, und wem er einmal die Schuhe geputzt hatte, den vermochte Hassan auch gesellschaftlich einzuordnen; denn, so behauptete Hassan: »Den Menschen erkennt man an seinem Schuhwerk!« Staunend vernahm man die Botschaft des Alten, staunend vor allem deshalb, weil es nach Hassans Worten keinesfalls erstrebenswert erschien, neue Schuhe zu tragen, im Gegenteil. Nur Emporkömmlinge trügen stets neues Schuhwerk, ein wahrer feiner Mann pflege 29
seine kostbaren gebrauchten Schuhe mit großer Achtsamkeit, vielmehr - er lasse pflegen, und das sehe man dem Schuhwerk einfach an. Schuhe müßten immer so aussehen, als habe sie schon der Vater bei seiner Hochzeit getragen, so gepflegt und gut erhalten; das verrate Stil, vor allem aber beweise es, daß sein Träger weder schmutzige Arbeit noch lange Wege nötig gehabt habe wie unsereins. Und dabei sah er auf seine untergeschnallten Autoreifen, und Omar blickte auf seine nackten Füße. In einem Krüppelheim in Ain el Sira hatte Hassan lesen und schreiben gelernt, und wenn es die Zeit erlaubte, ließ der Alte den Jungen an seiner Fähigkeit teilhaben, indem er vor dem Mena House Suren des Koran mit einem Stock in den festgetrampelten Boden ritzte. Als Omar zehn war, konnte er die erste Sure schreiben und lesen, die mit den Worten beginnt: al-hamdu lillahi rabbi l-alamima r-rahmani r-rahimi - Preis sei Gott, dem Herrn der Welten, dem Barmherzigen, dem Erbarmer. Omar war von dem Wunsch beseelt, eine Schule zu besuchen, aber der alte Moussa lehnte strikt ab; er selbst habe auch keine Schule besucht, trotzdem sei er etwas Rechtes geworden und immerhin so wohlhabend, daß er es sich leisten könne, einen wildfremden Jungen namens Omar Effendi aufzuziehen. Die Bemerkung traf Omar schwer, und er lief weinend zu Hassan, der vor dem Mena House mit »polishing« beschäftigt war. Als er sein Werk an einer feinen Engländerin beendet hatte, winkte er Omar herbei indem er mit der Bürste auf seinen Holzkasten klopfte und scherzhaft rief: »Polishing, Sir! Ein Piaster!« Da erkannte er, daß sein junger Freund weinte und er sagte: »Ein Ägypter kennt zwei Arten von Tränen, Tränen der Freude und Tränen des Schmerzes. Ich müßte mich sehr täuschen, wenn ich Tränen der Freude in deinem Gesicht erkennen würde.« Der Junge wischte mit dem Handrücken über sein Gesicht und schüttelte den Kopf; dann kauerte er sich neben dem Mikassah auf die Erde. »Ich habe«, begann er stockend, »ich habe Moussa gefragt, ob er bereit sei, mich zur Schule zu schicken...« Hassan fiel ihm ins Wort: »Ich kann mir denken, was er geantwortet hat«, und dabei spuckte er in weitem Bogen in den Sand. »Er hat gesagt, wozu brauchst du Schule; er selbst habe auch keine Schule besucht und sei etwas Rechtes geworden, stimmt's?« 30
Omar nickte. Und unter einem Schwall von Tränen brach es aus ihm heraus: »Und er hat sogar gesagt, daß er es sich leisten könne, einen wildfremden Jungen namens Omar Effendi aufzuziehen. Hörst du, Omar Effendi hat er gesagt!« Und weinend vergrub er sein Gesicht in den Armen. »Hör zu. Junge.« Der Alte legte Omar seine schmutzigen, braunen Hände auf die Schultern. »Du bist jung, du bist gescheit, und du hast zwei Füße, die dich tragen, wohin du willst. Sei geduldig. Allah wird dir deinen Weg weisen. Dein Leben ist vorgezeichnet wie die Bahn der Gestirne. Wenn es Allah gefällt, dich in eine Schule zu schicken, so wird er dich schicken. Hat er aber in seinem Herzen beschlossen, daß du ein Kameltreiber bleibst, so wirst du es bleiben ein Leben lang. Malesch - einerlei.« Die Worte des weisen Mikassah trösteten Omar für kurze Zeit, und gewiß hätte er mit seinen Träumen gewartet, bis Allah ihm den vorgezeichneten Weg gewiesen hätte, wäre da nicht jener heiße, windige November gewesen, an dem der Chamsin den Sand in die Lüfte peitschte, daß der Himmel sich verdunkelte wie beim Jüngsten Gericht - sieben Tage ohne Unterlaß. Die Augen tränten, und ohne Tuch vor dem Mund, das den Sand von der Lunge fernhielt, wagte sich niemand ins Freie. Die Menschen beteten um Regen; aber Allah kannte nur den heißen, stickigen, gnadenlosen Wind, der einem den Atem raubte. Am achten Tag endlich, als der Chamsin abflaute und Menschen und Tiere wie benommen aus ihren Hütten hervorkrochen und nach Luft rangen wie an Land gespülte Fische, da wurde einer nicht mehr gesehen: der alte Moussa. Sein Herz hatte dem tobenden Wetter nicht standgehalten. Sie zogen ihm ein weißes Laken über den Kopf, und so saß er in seinem hohen Lehnstuhl zwei volle Tage mit dem Gesicht nach Mekka wie ein Gespenst, weil für eine Bahre kein Platz war in dem Haus, und der Leichenbestatter erst später Zeit fand für sein Werk. Zu viele Opfer hatte der Chamsin gefordert. Es war das erste Mal, daß Omar so unmittelbar mit dem Tod konfrontiert wurde, und der unter dem weißen Tuch verstorbene tote Moussa erschreckte ihn so, daß er sich zu Hassan flüchtete und schwor, das Haus des toten Moussa nie mehr zu betreten. »Du Dummkopf!« wetterte der Mikassah. »Glaubst du, er wird 3l
sich nachts, wenn in der Wüste die Schakale heulen, erheben und durch die Türe verschwinden oder in den Himmel fahren, wie es die Ungläubigen verkünden?« Und dabei spuckte er in hohem Bogen in den Sand. Omar schämte sich; er schämte sich, weil er sich fürchtete, und er fürchtete sich vor etwas Unbekanntem. »Was verkünden die Ungläubigen?« fragte er unvermittelt. »Ach was!« Hassan reagierte unwillig und wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn; dann machte er mit dem Kopf eine Bewegung hin zum Mena House: »Alles Ungläubige, die Engländer, die Deutschen und die Franzosen. Alles Juden und Christen!« Und dabei spuckte er ein zweites Mal aus, als empfinde er allein bei der Aussprache Ekel. »Aber du lebst von diesen Ungläubigen!« rief Omar. »Wie kannst du sie verachten?« »Allah weiß, was ich tue«, erwiderte Hassan, »und er hat bisher nicht zu erkennen gegeben, daß es ihm nicht recht wäre.« »Also ist es ihm recht.« Der Mikassah hob die Schultern und drehte die Handflächen nach außen. »Was soll ich machen? Wenn Allah nicht will, daß ich bettle und stehle, dann muß er damit einverstanden sein, daß ich Ungläubigen die Schuhe putze.« Bei diesen Worten begann er auf einmal lautstark mit der Bürste auf seinen Kasten zu schlagen. »Polishing, polishing, Sir!« Ein großer, in eine sandfarbene Khakiuniform gekleideter Herr trat aus dem Hotel und blinzelte in die diffuse Sonne im Westen. Dann sah er an sich herab, ging geradewegs auf Hassan zu und stellte wortlos seinen rechten Fuß auf den Kasten. Hassan begann sein Werk mit theatralischen Bewegungen wie ein Säbeltänzer. »Ein feiner Herr«, sagte der Mikassah zu Omar, ohne von seiner Arbeit aufzusehen, »das sieht man am Schuhwerk.« »Ein Ungläubiger mit feinem Schuhwerk!« korrigierte Omar. Da lachte der feine Herr laut auf, und die beiden erschraken, weil er offensichtlich ihre Sprache verstand, und aus seiner Brusttasche fingerte er eine geschwungene Pfeife und nachdem er sie liebevoll entzündet hatte, sagte er zu Hassan: »Du kennst viele Leute, Alter?« Hassan nickte devot: »Viele, ya Saidi.« 32
»Hör zu. Alter«, begann der feine Herr, »ich bin Professor und werde die nächsten Jahre in Ägypten verbringen. Ich suche einen Diener, einen kräftigen jungen Mann, der für mich Botengänge erledigt, meine Frau auf den Markt begleitet, einfach ein Faktotum, verstehst du?» »Ich verstehe, ya Saidi.« »Kennst du jemanden, der für diese Aufgabe in Frage käme?« »Man muß nachdenken, ya Saidi; aber ich bin sicher, daß ich jemanden finde.« »Gut«, antwortete der feine Herr und warf dem Mikassah eine Münze zu. »Vielleicht findest du zwei oder drei zur Auswahl. Sie sollen morgen um diese Zeit hier im Hotel sein. Es soll dein Schaden nicht sein.« Grußlos ging er auf eine der schwarzen Droschken vor dem Hotel zu und verschwand. Omar setzte sich auf Hassans Schuhputzkasten und zeichnete mit dem Finger Schlangenlinien auf das Holz. »Ob er mich nehmen würde, der ungläubige Said?« »Dich? Ya salaam - du lieber Himmel!« Omar ließ den Kopf hängen. Hassans Reaktion kränkte ihn, und er war den Tränen nahe. Als er sah, was er angerichtet hatte, faßte der Mikassah den Jungen bei den Schultern und schüttelte ihn wie einen jungen Baum: »He, ist ja gut, ist ja gut!« Am nächsten Tag döste Hassan vor dem Eingang des Mena House, als der vornehme Herr in Begleitung einer Dame auf ihn zutrat: »Ich hoffe, du warst erfolgreich. Alter?« »Inscha'allah - so Gott will!« erwiderte Hassan. »Geht in die Hotelhalle. « In der Hotelhalle trat den beiden Omar entgegen. Er machte eine eckige Verbeugung und sagte: »Ya Saidi, ich bin Euer Diener. Ich heiße Omar.« Der feine Herr sah die feine Dame an, dann betrachteten beide den Jungen, der etwas verlegen vor ihnen stand und sich sichtlich mühte zu lächeln. »Du bist der einzige?« fragte die Dame in feinstem Arabisch. »Ich bin der einzige, ya Sitti.« »Wie alt bist du?« »Vierzehn, ya Sitti.« 33
»So, vierzehn, und du glaubst alt genug zu sein für diese Aufgabe?« »Das glaube ich, ya Sitti.« Der feine Herr entzündete umständlich seine Pfeife. »Und was sagen deine Eltern zu diesem Entschluß?« »Ich habe keine Eltern«, erwiderte Omar, »mein Stiefvater, der mich an Kindes Statt annahm, ist gestorben, und meine Stiefbrüder haben mich davongejagt. Zum Glück hat mir Hassan Unterkunft gewährt; ich hätte nicht gewußt, wo ich bleiben soll.« Die beiden murmelten etwas in englischer Sprache, das Omar nicht verstand, und dabei schüttelte die feine Dame immer wieder den Kopf. Omar hatte noch nie eine so schöne Dame aus der Nähe gesehen. Sie trug ein langes, purpurlilafarbenes Kleid mit einem ockerfarbenen Spitzenkragen. Die Taille war so eng geschnürt, daß die Hände eines ausgewachsenen Mannes sie umspannen konnten. Unter den Rüschen am Saum des Kleides schauten die geknöpften Stiefeletten in der Farbe des Kleides hervor. Was ihn jedoch am meisten beeindruckte: Ihr Gesicht war weiß und zart und nicht so von der Sonne gegerbt wie das ägyptischer Frauen. »Also gut«, sagte der feine Herr, »du erhältst zwanzig Piaster Lohn, dazu Kost und Logis. Mach dich bereit, wir brechen morgen nach Luxor auf. Pünktlich um zehn am Hoteleingang.« Und ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand das Paar. Inscha'allah. Omar stand festgewurzelt wie ein knorriger Mangrovenbaum, er glaubte zu träumen, und seine Gedanken purzelten durcheinander und er hörte die Worte des Mikassah: »Dein Leben ist vorgezeichnet wie die Bahn der Gestirne.« »He, du, verschwinde da!« Die rauhe Stimme des Hoteldieners holte Omar in die Wirklichkeit zurück. Der baumlange Kerl versetzte ihm mit einem Rohrstock einen Schlag auf den Rücken. Es schmerzte nicht; was weh tat, war die Geste, mit der man ihn vertrieb wie einen lästigen Hund. Vor dem Hoteleingang wartete der Mikassah. »Hassan«, rief Omar, »sie haben mich genommen!« »Ich weiß«, antwortete dieser und grinste über das ganze Gesicht. In der Hand hielt er zehn Piaster. »Für die Vermittlung.« In der Nacht schlich Omar zu seinem Versteck hinter Moussas Haus, um das Geld, das er dort gehortet hatte, abzuholen. Das Tuch, 34
in das er die Münzen, Lohn jahrelanger Arbeit, geknotet hatte, wog schwer, und ihn überkam ein Gefühl des Stolzes. Am nächsten Morgen stand er schon früh vor dem Mena House und wartete. Zehn Uhr, das war für Omar kein Begriff. Kein Kameltreiber der Welt kennt eine Uhr oder richtet sich danach. Omar kauerte im Schatten der Mauer, die das Hotel umgab und wartete geduldig, neben sich ein Bündel, in dem seine Habseligkeiten und sein Münzenschatz verstaut waren. Eine Droschke fuhr vor, und der Said erschien. Hoteldiener brachten Kisten und Koffer mit bunten Bildern darauf und begannen die Droschke zu beladen. Omar trat hinzu und wünschte einen guten Morgen; kaum daß ihn der neue Herr eines Blickes würdigte. Als das gesamte Gepäck verstaut war, erschien die feine Dame in einem enganliegenden Reisekostüm und einem Schirm in der Hand, und der Said half ihr in die Droschke. Omar nahm mit seinem Bündel neben dem Kutscher Platz. Der schnalzte mit der Zunge, und die Pferde trabten los. Die lange Straße nach Kairo schien endlos, und der Staub, den Kutschen und Fuhrwerke aufwirbelten, färbte die Palmen zu beiden Seiten grau. Lärmend liefen fliegende Händler neben der Droschke her, sprangen auf die Trittbretter und versuchten den Insassen Ketten, Tonfiguren oder Sesamgebäck aufzudrängen, bis der Kutscher mit der Peitsche auf sie einschlug. Und je mehr sie sich der Stadt näherten, desto lauter wurde der Lärm. Bei den Gärten des Ismail bog die Droschke in die Nilpromenade ein, und Omar sah zum ersten Mal den großen grünen Strom und die Fellukas mit ihren hohen dreieckigen Segeln und Raddampfer, deren Schlote sich nach oben öffneten wie im Blühen begriffene Blumen, und ein Staunen übermannte ihn, daß er kein Wort hervorbrachte. Er nickte nur heftig, ohne sich abzuwenden, als der Kutscher lachend fragte, ob er denn zum ersten Mal Masr-elKahira sehe. Omars Welt hatte bisher geendet, wo der Horizont sich mit dem Himmel vereinigte, einen Tagesmarsch um Gizeh herum, und er hatte sich noch nie Gedanken gemacht, was wohl hinter dem Horizont liegen konnte. Als die Droschke den Nil überquerte, zeigte der Kutscher mit der Peitsche auf die Hotels zur Rechten, vielstöckige Paläste, ganz anders als das Mena House, das von Palmen überragt wurde. Überhaupt 35
wiesen hier auf dem rechten Nilufer alle Gebäude mehrere Stockwerke auf. Der Kutscher schien plötzlich verängstigt und stemmte sich mit voller Kraft in die Zügel. »Ein Automobil«, rief er mit einer heftigen Vorwärtsbewegung des Kopfes. Omar stand auf und reckte den Hals, um das leibhaftige Wunder, das ihnen entgegenkam, besser zu sehen. Er hatte schon gehört, daß es jetzt Kutschen gab ohne Pferde, aber gesehen hatte er so ein Wunderding noch nie. Behäbig, sich schüttelnd und schnaufend näherte sich das Automobil auf niedrigen Rädern. Statt Zügeln hatte der Kutscher ein Lenkrad in den Händen. Bei Allah, es bewegte sich in der Tat ohne Pferde, wie von Geisterhand gezogen. Kinder liefen lärmend nebenher, andere stellten sich dem Automobil mit ausgebreiteten Händen in den Weg, als wollten sie es mit jener Zauberkraft aufhalten, die das Fahrzeug bewegte. Der Kutscher des Automobils bahnte sich einen Weg, indem er Knallkörper auf die Straße warf, so daß die Kinder schreiend reißaus nahmen. Das aber machte die Droschkenpferde scheu, und der Mann auf dem Kutschbock hatte alle Mühe, sie am Zügel zu halten. »Es wird noch die Zeit kommen«, knurrte er unwillig, als das Vehikel vorbei war, »da wird man keine Pferde mehr brauchen. In Amerika, da gibt es heute schon Automobile, die haben soviel Kraft wie hundert Pferde. Hundert Pferde, hörst du? Weißt du was hundert Pferde fressen ? In ganz Kairo findest du keinen einzigen Droschkenbesitzer mit hundert Pferden!« Omar nickte. Das alles ging über seine Vorstellungskraft: hundert Pferde vor einer Kutsche. »In Amerika«, begann der Kutscher von neuem, »in Amerika stellt einer dreihunderttausend Automobile her - jedes Jahr. Kannst du dir das vorstellen ?« - Omar schwieg, er konnte sich weder vorstellen, wo Amerika lag, noch konnte er sich die Zahl von dreihunderttausend Automobilen vorstellen; es machte ihm Schwierigkeiten genug, das, was er sah, zu begreifen. Auf dem Platz vor dem Bahnhof drängten sich die Wagen, dazwischen feingekleidete Menschen in Eile, in der Hauptsache Europäer. Ägypter in heimischer Tracht oder livrierte Diener mit Koffern, Kisten und Truhen bahnten sich einen Weg, indem sie laute Schreie ausstießen wie Kamele, die mit dem Nabut gezüchtigt werden. Wo kein Weiterkommen war für die Fremden, nahmen Diener kleine 36
Stöckchen zu Hilfe und schlugen auf die Drängenden ein. Es roch nach Staub, Pferdemist und süßlichem Gebäck, das von kleinen Jungen auf eisernen Öfchen gebacken wurde. Kaum war die Droschke zum Stehen gekommen, umringte sie ein gutes Dutzend Kofferträger, und ein jeder versuchte sich ein Gepäckstück zu angeln, so daß die Kutsche im Nu entladen war. Erst jetzt stiegen die Herrschaften aus. »Platz da für den Professor aus England!« rief der Kutscher und schwang, während er vorausging, seine Peitsche. »Platz da für Professor Shelley und seine Frau.« Doch weder das Rufen noch die Peitsche zeigten Wirkung, so daß es eine ganze Weile dauerte, bis die Reisegesellschaft sich einen Weg zum Bahnhofsgebäude gebahnt hatte. Der Bahnhof aus weißen und roten Steinen sah aus wie ein Schloß. Türmchen, Erker und spitze Fenster mit rot-blauen Glasscheiben vermittelten den Eindruck als ob hier ein mächtiger Pascha residierte. »Platz da für Professor Shelley und seine Frau!« wiederholte der Kutscher immer wieder, und Omar erfuhr auf diese Weise zum ersten Mal den Namen seines neuen Herrn, den er bis dahin noch nicht gekannt hatte. Da wurde gedrängt und geschubst und geschoben, und die Sitti stieß in unregelmäßigen Abständen spitze Schreie aus und rief: »O Gott, o Gott!« Dort, wo das Drängen und Schieben noch an Heftigkeit zunahm, trennte ein eisernes Gatter den für jedermann zugänglichen Teil des Bahnhofs von den Bahnsteigen, welche den Reisenden vorbehalten blieben. Rot und grün uniformierte Bahnbeamte, denen goldene Kordeln auf der Brust eine gewisse Würde verliehen, versperrten die schmalen Durchlässe und gewährten nur dem Zutritt, der ein Billett vorweisen konnte; und zum ersten Mal betrat Omar einen Bahnsteig. Ein Ungetüm aus Eisen, schwarz, hoch wie ein Haus und mit roten Rädern dampfte, zischte und spuckte vor sich hin und ließ bisweilen einen Wasserstrahl zwischen die Geleise schießen wie ein breitbeiniges Kamel nach der Tränke. Dabei gab das Gerät metallische Laute von sich, wie sie Omar noch nie gehört hatte. Gleich hinter dem Kohlenwagen der Lokomotive waren die gelb und rot bemalten Coupes erster Klasse. Herren in weißen Anzügen und mit breitkrempigen Hüten und feine Damen in bunten Kleidern standen davor und parlierten, während von den Dienern das Gepäck verstaut wurde. Zei37
tungshändler riefen Schlagzeilen aus. Nüssehändler priesen ihre Kerne, und Losverkäufer riefen, immer wieder von den uniformierten Kondukteuren verscheucht, Gewinnchancen aus bis einhundert Pfund. Omar raffte seine Galabija und kletterte in das Coupe, das dem Professor von einem Uniformierten zugewiesen wurde. Die Kofferträger reichten das Gepäck durch das Fenster. Das alles geschah ganz ohne Hektik, denn wie auf jedem Bahnhof der Welt gab es auch in Kairo festgesetzte Abfahrtszeiten, aber die galten nur als Anhaltspunkt; ein Zug fuhr erst dann, wenn wirklich alle Fahrgäste Platz genommen hatten. In dem Coupe roch es nach lackiertem Holz, nach Samt und frischgestärkten Spitzendecken. Spiegel mit silbernen Knöpfen zierten die Holzwände in Kopfhöhe, unter dem Fenster war ein Tisch herausklappbar, ein Schrank in der Ecke entpuppte sich, wenn man dagegen tippte, als drehbares Waschbecken, weiße Spitzenvorhänge standen zu den roten, mit tiefen Knöpfen versehenen Polstern in starkem Kontrast. Omar konnte sich gar nicht sattsehen, und er erwachte wie aus einem Traum, als ihm der Kondukteur in den Rücken buffte und eine abwiegelnde Handbewegung machte: »Ab nach hinten, die letzten beiden Wagen sind die Coupes vierter Klasse.« Einen Augenblick hatte Omar geträumt, wie ein Said im Coupe erster Klasse zu reisen; aber er war nicht traurig, auch die Reise im Coupe vierter Klasse schien aufregend genug. Beim Aussteigen trat ihm der Professor entgegen, er hielt eine lange schwarze Zigarre und blies eine große graue Wolke von sich. »Und vergiß nicht«, rief er hüstelnd, »in Luxor aussteigen. Sonst landest du in Assuan!« Omar nickte. »Schon gut, ya Saidi.« Der letzte Waggon war überfüllt mit Kisten und Bündeln. Käfige mit Kleingetier und Geflügel hingen an den Wänden und verbreiteten ätzenden Gestank. Glücklich, wer auf einer der Holzbänke Platz fand. Die meisten hockten auf ihrem Gepäck, und es gab kein Durchkommen zur Mitte hin. So blieb Omar nichts anderes übrig, als sich neben der Tür auf seinem Bündel niederzulassen. Türenschlagen und laute Abschiedsrufe entlang des Bahnsteiges kündigten die Abfahrt des Zuges an. Ein schriller Pfiff gellte durch die Bahnhofshalle, und langsam, kaum merklich zuerst, unter Äch38
zen und Schnaufen, nahm die Eisenbahn Fahrt auf. Durch die offenen Fenster zog stickige Luft. Omar war aufgeregt wie noch nie in seinem Leben, weil der Zug immer schneller wurde und der zerbrechliche hölzerne Waggon in den Geleisen hin und her geworfen wurde wie ein Spielball und die Häuser der großen Stadt vorbeiflogen, leicht wie Vögel. Omars Hauptinteresse galt den Geleisen der Dampf eisenbahn. Er konnte es sich einfach nicht vorstellen, daß diese Geleise endlos seien und bis ins ferne Luxor, ja bis nach Assuan reichten und zu den Stromschnellen des Nils, von denen er schon gehört hatte; nein, er befürchtete, irgendwo am Rand der Wüste würden die Geleise enden und der Zug würde umstürzen und alle unter sich begraben. Schließlich gewann die Dampfeisenbahn so schnell an Fahrt, daß ein Reiter zu Pferd ihr nicht hätte folgen können und daß ein Bremsen außerhalb jeder Möglichkeit lag, falls ein Kamel oder ein Büffel die Geleise blockierte. Inscha'allah. Um der rasenden Fahrt zu entgehen, verbarg der Junge den Kopf in seinen auf die Knie gestützten Unterarmen. So dämmerte er verängstigt vor sich hin. Nur einmal blickte Omar kurz auf, als im Waggon ein vielfaches »Ah« und »Oh« zu hören war, weil die Dampfeisenbahn sich dem Nilufer näherte und die Menschen auf den Schiffen, die stromauf und stromab kreuzten, den Reisenden mit bunten Tüchern zuwinkten. Irgendwann mußte Omar wohl eingeschlafen sein. Das monotone Rattern und Schaukeln des Zuges half dabei nach, so daß er unerwartet hochschreckte, als die eisernen Bremsen kreischten, und die Dampfeisenbahn in eine Station einfuhr. »Beni Suef! Beni Suef!« rief der Kondukteur am Bahnsteig laut wie ein Muezzin, während Menschentrauben die Eingänge stürmten. Kaum jemand hatte die Eisenbahn verlassen, aber Hunderte drängten in den überfüllten Zug. Vor allem die Coupes dritter und vierter Klasse waren dicht umlagert, und Omar rückte sein Bündel noch dichter an das seines Nachbarn. Gestank und Hitze raubten ihm den Atem, aber die rauhen Burschen, kräftige Männer mit sonnengegerbter Haut, schoben und drückten, bis der letzte die Plattform erklommen hatte, darunter viele Halbwüchsige. Der Zug hatte bereits seine Fahrt wieder aufgenommen, da fühlte Omar einen Stoß in der Seite. Er drehte sich um und blickte in das Gesicht eines hellhäutigen Mädchens. 39
»Hier, nimm«, sagte das Mädchen, und Omar griff nach dem Stöckchen, mit dem ihn das Mädchen angestubst hatte. Dann zog es ein weiteres Stöckchen aus ihrem Gewand hervor und begann zur Demonstration darauf herumzubeißen. »Was ist das?« erkundigte sich Omar. »Zuckerrohr«, erwiderte das Mädchen und spuckte ein paar Fasern des Zuckerrohrs von sich. Omar versuchte das Unbekannte. Es schmeckte säuerlich-süß und löschte vorzüglich den Durst. Er nickte. »Gut«, sagte er. »Danke.« »Kannst mehr haben, wenn du willst, ich habe genug davon.« Und damit zog es das lange Tuch beiseite, das es um Hals und Kopf geschlungen hatte und das von der Brust bis zum Boden reichte. In einer Art Schürze befand sich ein ganzes Bündel Zuckerrohr. »Wir kommen von der Zuckerrohrernte. Alle hier kommen von der Zuckerrohrernte. Sie zahlen drei Piaster am Tag, Kindern die Hälfte.« Omar betrachtete das Mädchen, und das Mädchen merkte, was im Kopf des Jungen vor sich ging. »Jetzt willst du wissen«, sagte es, »ob ich drei oder nur eineinhalb Piaster Lohn bekommen habe, stimmts ?« Und ohne Omars Antwort abzuwarten, fuhr es fort: »Drei Piaster. Ich habe in diesem Jahr zum ersten Mal drei Piaster bekommen. Macht zweiundvierzig in zwei Wochen. Und zusammen mit meinem Vater vierundachtzig Piaster.« Und dabei zeigte es mit dem Finger auf einen glatzköpfigen Mann, der an einer eisernen Haltestange schwitzend vor sich hindöste. »Ich bin sechzehn«, sagte das Mädchen, »und du?« »Vierzehn.« »Ich heiße Halima, und du?« »Omar.« Halima zog das Tuch von ihrem Kopf, und Omar sah ihr glattes, schwarzes Haar. »Woher kommst du?« fragte Halima. Omar antwortete: »Ich komme aus Gizeh und fahre nach Luxor...« »Nach Luxor!« Halima klatschte in die Hände. »Ich bin aus Luxor, genauer aus El-Kurna. Was tust du in Luxor?« »Ein englischer Said hat mich aufgenommen. Er braucht einen Diener.« 40
»Ein Diener bist du also.« Das Mädchen schob die Unterlippe vor und nickte anerkennend. »Und was macht der englische Said in Luxor?« Omar hob die Schultern: »Ich weiß nicht, er ist Professor.« Da begannen Halimas Augen wild zu funkeln, und auf ihrer Stirne bildete sich eine senkrechte Falte. »Ganz Luxor ist voll von Ausgräbern. Sie kommen von überallher, aus England, aus Deutschland, aus Frankreich, sogar aus Amerika. Sie tragen alles fort, diese Halunken.« Der Junge verstand Halimas Aufregung nicht. In Gizeh waren Ausländer sehr beliebt. Sie brachten Geld ins Land. Alle Kameltreiber in Gizeh lebten von den Ausländern. Omar konnte sich nicht erinnern, jemals einen Ägypter auf seinem Kamel zu den Pyramiden gebracht zu haben. So hielt er es für besser zu schweigen. Die Sonne näherte sich dem Mittag, und die Hitze im Waggon wurde unerträglich. Zur Linken wälzte sich der Nil lindgrün und träge, zur Rechten pflügten Bauern ihre staubbraunen, abgeernteten Felder, dahinter flimmerte die endlose Weite der Wüste. In Minia, wo der Zug zum zweiten Mal hielt, bot sich das gleiche Bild von Geschäftigkeit. Händler priesen Seife und Ölkuchen an, mit großen Trageschildern wurde für das Hotel Savoy und die Pension Ihn Khasib geworben. Wer das Glück hatte, nahe den Türen zu sein, stieg aus, um sich die Beine zu vertreten oder eine Handvoll Wasser aus dem dicht umlagerten Bahnhofsbrunnen zu schöpfen. Omar war jedoch so in der Mitte des Waggons eingekeilt, daß an Aussteigen nicht zu denken war. »Wie lange ist es noch bis Luxor?« fragte Omar, als die Eisenbahn sich wieder in Bewegung setzte. Halima lachte. »Du wirst dich gedulden müssen. Die nächste Station heißt Assiut, das ist etwa die Hälfte.« Omar wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. Er war hundemüde, und es fiel ihm schwer, die ständigen Fragen des Mädchens zu erwidern, bis auch Halima nachgab und beide mit den Schultern aneinandergelehnt einschliefen. In der Abenddämmerung überquerte die Eisenbahn bei Nag Hammadi den Nil. Das Gitterwerk der Brücke dröhnte laut, und Omar und Halima fuhren hoch. Der Fluß und die Kühle der Nacht machten den Aufenthalt erträglicher. Endlich, gegen Mitternacht, erreichte der Zug Luxor. 41
Jetzt, wohlig an Halima gelehnt, hätte Omar noch weiterfahren wollen, aber nun drängten die Fahrgäste ungestüm ins Freie. »Du besuchst mich doch?« rief Halima im Gedränge beim Aussteigen. »Aber ich weiß doch gar nicht wo du wohnst, Halima!« »In Schech abd el-Kurna, auf der anderen Seite des Flusses. Frage nach Yussuf. Meinen Vater kennt jeder!« Dann war das Mädchen verschwunden. Omar bahnte sich einen Weg nach vorne zu den Coupes erster Klasse. Immer wenn der Nachtzug in Luxor eintraf, schien es, als wäre die ganze Stadt auf den Beinen. Schwarzgekleidete Mütter wiegten ihre Kinder in den Armen, Halbwüchsige boten sich als Kofferträger an. Hoteldiener mit Glöckchen priesen ihre Herbergen, ein Blinder entlockte seiner Kamanga mit dem Bogen klagende Töne, ohne daß ihm jemand eine Münze zusteckte; es gab kaum ein Durchkommen, und selbst die Geleise waren von Menschen, von Eseln und Handkarren belagert. Vorne an den Waggons erster Klasse war das Gedränge erträglich, und das Hotel in dem der Professor abstieg, hatte Träger geschickt, die sich um das Gepäck kümmerten. Der Said befahl Omar mit den Trägern zu gehen, sie würden ihm seine Unterkunft anweisen. Er selbst und die Sitti bestiegen eine Kutsche. »He, pack an!« Einer der beiden Träger puffte Omar in die Seite. »Oder ist der Effendi zu fein dazu?« »Nein, nein«, brummte Omar und wuchtete das Gepäck des Professors in einen zweirädrigen Karren, vor den ein Esel gespannt war. Obenauf warf er sein eigenes Bündel, und schließlich tat er es den beiden anderen gleich und stieg zu. In den Straßen von Luxor herrschte Dunkelheit. Es gab keine Straßenbeleuchtung, und die Eseltreiber und Kutscher stießen in Abständen spitze Schreie aus, um Entgegenkommende zu warnen. So erreichten sie wohlbehalten das Hotel Winter Palace. Der Professor und seine Frau logierten im linken Seitentrakt, und nachdem Omar das Gepäck abgeliefert und den Herrschaften angenehme Ruhe gewünscht hatte, ging er durch den finsteren Park des Hotels zu einem von hohen Oleanderbüschen verdeckten Holzhaus, das dem Hotelpersonal und dem Personal der Gäste als Unterkunft diente. 42
Der winzige Raum, in den Omar eingewiesen wurde, bot, soweit man das in der Dunkelheit erkennen konnte, sechs doppelstöckigen Betten Platz; kaum daß er sein Bündel Gepäck unterzubringen vermochte. Aber Omar war todmüde, er kroch auf eines der Lager und schlief sofort ein. Der nächste Morgen. Luxor leuchtet, wenn die Sonne über der östlichen Hügelkette aufgeht. Dann werfen die Bäume lange Schatten, und am jenseitigen Ufer des Nils glühen die Felswände rot wie Feuer. Den schönsten Blick hat der Reisende von der Terrasse des Hotels Winter Palace. Dort traf sich die feine Gesellschaft zum Frühstück, man las die Zeitungen, empfing Post und tauschte Neuigkeiten aus, die Herren im weißen Anzug, die Damen in pastellfarbenen Reisekostümen und breiten Hüten. Neuankömmlinge wie Professor Shelley und seine Frau boten anregenden Gesprächsstoff, vor allem für die große Zahl der wohlhabenden Nichtstuer, die in Luxor wegen des milden Klimas Herbst und Winter verbrachten. Beinahe täglich gab irgendwer irgendwo eine Gesellschaft, und wer auf sich hielt, mußte dort erscheinen. Einmal im Monat pflegte Mustafa Aga, der britische Konsul in Luxor, ein Fest zu feiern, das an diesem Abend stattfand - Aufregung genug für den Tag. Professor Shelley grüßte höflich, als er vielbeachtet einem Tisch zustrebte, an dem ein Mann Platz genommen hatte, der sich von der übrigen Herrschaft sichtbar unterschied. Er trug einen ausgebeulten grauen Anzug und eine schwarze Fliege. Sein kurzes schwarzes Haar wirkte ebenso ungepflegt wie der kraftvolle Schnauzbart, und sein Gesicht war von der Sonne gebräunt wie das eines Einheimischen, was als äußerst unvornehm galt zu dieser Zeit. »Mr. Carter?« fragte Shelley. Der Gefragte erhob sich: »Howard Carter.« »Ich bin Professor Shelley, und das ist meine Frau Claire.« Nach dem Austausch britischer Höflichkeiten und allgemeiner nichtssagender Bemerkungen über die anstrengende Reise und das Wetter zog Shelley einen Brief aus der Tasche und legte ihn vor Carter auf den Tisch. Der las den Absender »Highclere Castle», und als kenne er den Inhalt des Schreibens, schob er es unbeachtet in seine Jackentasche. 43
»Ich will es kurz machen«, sagte Shelley, ohne auf den Vorgang zu achten, »ich komme im Auftrag des Egypt Exploration Fund.« Carter nickte. »Und der Grund, Professor?« Shelley rückte näher und redete mit leiser Stimme: »Man ist ungehalten in London. Es wurde auch harte Kritik gegen Sie laut, Mr. Carter.« »Sie glauben doch nicht, daß ich...« »Was ich glaube, ist nicht maßgebend, Mr. Carter«, unterbrach der Professor, »ich bin nur vom Fund geschickt, um die Angelegenheit — wenn möglich aufzuklären. Sie müssen Verständnis zeigen für die Herren, schließlich haben sie eine Menge Geld investiert ...« »Geld!« Carter lachte verächtlich. »Tatsache ist, daß Pläne im Umlauf sind, die aufs Haar jenen gleichen, die Sie im Tal der Könige erstellt haben.« »Ich habe auch in Teil el-Amarma gezeichnet.« »Und eben diese Pläne kann man ebenfalls auf dem schwarzen Markt kaufen!« Carter erstarrte. Er blickte ungläubig, dann schlug er die Hände vors Gesicht. »Das wußte ich nicht«, stammelte er resigniert. »Verstehen Sie jetzt das Mißtrauen im Fund?-Nun lassen Sie den Kopf nicht hängen, schließlich gibt es noch keinen Beweis gegen Sie. Ihre Pläne sind einfach zu gut, Carter. So gut, daß sie den Grabräubern als Wegweiser dienen.« »Das ist doch verrückt«, erregte sich Howard Carter. »Hätte ich ungenaue Pläne gezeichnet, so hätte man mich wegen schlechter Arbeit entlassen. Nun sind meine Karten zu präzise, und nun übt man ebenfalls Kritik. Verrückt ist es, hören Sie!« »Von Kritik kann keine Rede sein«, unterbrach der Professor. »Vielleicht gelingt es mir, die Sache aufzuklären. Ich wünsche es uns beiden.« »Was wollen Sie tun?« »Ich komme nicht als Ausgräber. Ich bin ein Reisender, der in Luxor seinen Urlaub verbringt, und ich werde mich verstärkt für antike Funde interessieren, vielleicht sogar etwas kaufen. So etwas spricht sich schnell herum. Habe ich erst einmal die nötigen Kontakte geknüpft, werde ich zu erkennen geben, daß ich auch an größeren Objekten interessiert bin.« 44
Carter sah auf: »Das ist gut!« sagte er nachdenklich. »Und deshalb sollten wir uns möglichst nicht kennen, verstehen Sie?« Carter nickte und rührte in seinem Kaffee. »Es ist wirklich grotesk. Noch vor ein paar Jahren sollten alle Ausgrabungen im Tal der Könige eingestellt werden. Die Deutschen behaupteten, alles, was dort entdeckt werden könne, sei bereits entdeckt worden. Aber dann kamen die Franzosen und sie entdeckten gegenüber, in jenem Seitental, wo Belzoni vor achtzig Jahren auf das SethosGrab gestoßen war, das Amenophis-Grab mit den Mumien von Amenophis, Thutmosis, Sethos, Merenptah und Siptah, und seither ist dort drüben der Teufel los. Beinahe täglich gibt es neue Gerüchte von unglaublichen Entdeckungen, von Schätzen und Reichtümern. Und diese ziehen allerlei Gesindel an. Ich gehe nie ohne Gewehr durch das Tal. Sehen Sie sich doch hier einmal um.« »Sie meinen...« »Die gepflegten Anzüge und die feinen Manieren täuschen, Sir, ich möchte nicht wissen, wie viele Jahrzehnte Gefängnis hier auf der Terrasse herumsitzen.« Howard Carter pflegte stets eine sehr direkte Sprache, was ihm, man kann sagen, nicht gerade Freunde schaffte; ja, er galt deshalb als Sonderling und Einzelgänger und war auch nicht sehr beliebt. Mrs. Shelley jedoch faszinierte der wilde Engländer, und sie begann ungeniert die Gäste auf der Hotelterrasse auf mögliche Vorstrafen zu mustern. »Liebste, bitte!« ermahnte der Professor seine Frau, und an Carter gewandt fuhr er fort: »Und Sie, sagen Sie Ihre ehrliche Meinung, erwarten Sie im Tal der Könige noch einen spektakulären Fund? Ich meine, die Altertumswissenschaft lebt nicht von Gerüchten...« »Aber auch nicht von Akten und klugen Aufsätzen!« entgegnete Carter blitzschnell. »Der Egypt Exploration Fund mag zwar erlauchte Köpfe in seinen Reihen haben, aber ägyptische Geschichte wird nicht in London gemacht, nicht in Paris oder in Berlin« — Carter wies mit dem Daumen über die Schulter»Geschichte wird, wenn überhaupt, da drüben gemacht, im Dreck, im Geröll und bei vierzig Grad im Schatten — wenn Sie verstehen, was ich meine.« Und unvermittelt fragte er: »Sie sind zum ersten Mal hier?« »Ja«, erwiderte Shelley, und Carter fuhr fort: »Sehen Sie, ich war 45
siebzehn, als ich zum ersten Mal hierherkam, und seither hat mich dieses Land und seine Vergangenheit nicht mehr losgelassen. Ich habe seither hier gelebt, gearbeitet und ich habe Erkenntnisse gewonnen, die Ihnen weder Oxford noch Cambridge vermitteln kann. Das Leben hier macht nicht reich, höchstens reich an Erfahrungen. Die Altertumswissenschaft ist eben ein schönes Mädchen ohne Mitgift.« Der Professor lächelte: »Sie haben meine Frage nicht beantwortet. « Carter wurde nachdenklich: »Ob ich noch einen spektakulären Fund erwarte?« Er blickte auf, sah hinüber zum anderen Ufer des Nils, und über seine Mundwinkel huschte ein süffisantes Lächeln. »Ich müßte«, sagte er ohne den Professor anzusehen, den Blick nach drüben gewandt, »ich müßte verrückt sein, wäre ich nicht überzeugt, daß dort etwas liegt, das mich mit einem Schlag berühmt macht.« Shelley sah seine Frau an, und die rief entzückt: »Erzählen Sie, Mr. Carter, erzählen Sie, bitte!« Für einen Augenblick hatte Howard Carter die Selbstbeherrschung verloren, eine Andeutung gemacht, die ihm schon wieder leid tat; aber nun hatte er sich sofort in der Gewalt und versuchte die Bemerkung herunterzuspielen: »Wissen Sie, ein Ausgräber wie ich nährt seine Hoffnung mit Mosaiksteinchen. Je mehr Mosaiksteinchen er findet, desto näher kommt er seinem Ziel. Das Schlimme ist, daß Mosaiksteinchen zunächst mehr Fragen aufwerfen als Erkenntnisse vermitteln. Doch dann macht man einen Fund, um im Bild zu bleiben, man findet ein weiteres Steinchen, unscheinbar zunächst wie alle anderen, aber dieses unscheinbare Mosaiksteinchen liefert auf einmal die notwendige Erkenntnis, aus der ein Ganzes zu rekonstruieren ist.« Mrs. Shelley sah Carter angestrengt an. »Ich will Ihnen ein Beispiel erzählen. Der Eingang zum Grab der Königin Hatschepsut war seit hundert Jahren bekannt. Aber es gab keine Inschriften, keine Reliefs, keine Zeichnungen, so daß niemand ahnen konnte, wohin der Zugang führte. Das Gestein war brüchig und der Gang mit Schutt angefüllt, zudem wand er sich wie eine Schnecke. Napoleon begann den Schutt wegzuräumen, nach sechsundzwanzig Metern gab er auf. Dann kamen die Deutschen, sie gruben zwanzig Meter weiter, dann kapitulierten auch sie. Für eine 46
Höhle, deren Zweck man kannte, schien der Aufwand zu hoch. Als ich das Grab Thutmosis IV. fand, entdeckte ich im Schutt einen blauen Skarabäus mit dem Namen der Königin Hatschepsut. Das machte mich neugierig. Ich beschäftigte mich mit der legendären Königin und kam zu der Gewißheit, daß auch ihr Grab irgendwo in dieser Gegend zu finden sein müsse. Aber wo sollte ich ansetzen? Eines Tages stocherte ich mit meinem Stock im Geröll herum. Ich befand mich unmittelbar vor dem Höhleneingang, an dem sich schon Napoleon versucht hatte. Und was sehe ich da? Einen abgeflachten Stein mit dem Namen Hatschepsuts. Für mich gab es keinen Zweifel, daß dieser Stein mit dem Schutt aus dem unbekannten Grabgang geräumt worden war. Also mußte es sich um das Grab der Königin Hatschepsut handeln.« »Und«, fragte Mrs. Shelley ungeduldig, »hat sich Ihre Vermutung bestätigt?« Howard Carter klopfte unsichtbaren Staub von seinem Anzug, als wollte er den Eindruck vermitteln, es habe sich dabei um eine belanglose Sache gehandelt. Schließlich antwortete er: »Ja, meine Vermutung erwies sich als richtig, wenn auch das Resultat meiner Entdeckongen den Aufwand in keiner Weise rechtfertigt. Wir mußten Luftschläuche legen und uns durch drei Vorkammern hindurcharbeiten, bis wir nach über zweihundert Metern endlich auf die Grabkammer stießen.« »Und?« »Nichts und. Sie war leer, wie alle Pharaonengräber, die bisher entdeckt wurden. Inscha'allah.« »Sie sagen das, als machte es Sie traurig«, wandte Claire Shelley ein. »Traurig?« Carter stellte ein gequältes Lächeln zur Schau. »Ich habe meinen Posten verloren. Wie würden Sie empfinden, wenn Sie von heute auf morgen auf der Straße stünden?« »Verzeihen Sie, das habe ich nicht gewußt!« »Schon gut«, knurrte Carter, »Sie können mir glauben, es war kein Vergnügen. Ich habe mich jahrelang über Wasser gehalten, in dem ich Postkarten malte für die Touristen, einen Piaster das Stück. Hier vor dem Hotel stand ich Tag für Tag wie ein Bettler, und an manchem Tag ging ich mit zwei Piastern nach Hause. Das war kein Honiglecken.« 47
Von Süden her wehte ein warmer Wind, der die rot-weißen Markisen, mit denen die Hotelterrasse gedeckt war, zum Flattern brachte. Flußaufwärts zog ein weißer Nilsegler mit hohem dreieckigem Segel; er steuerte die Anlegestelle an, die unmittelbar vor dem Hotel lag, und erregte höchste Aufmerksamkeit bei der vornehmen Gesellschaft. »Sicher wieder so ein schrulliger Amerikaner«, bemerkte Howard Carter, »sie kommen über das Land wie die Heuschrecken, und jeder, der auf sich hält, chartert bei Thomas Cook eine Dahabija. So ein Hausboot kostet hundert Pfund im Monat. Dafür muß einer wie ich ein Jahr lang im Dreck wühlen und bis zur Selbstaufgabe Scherben zusammentragen.« Shelley nickte zustimmend: »Die Amerikaner scheinen Ägypten entdeckt zu haben, seit Amelia Edwards auf Vortragsreise in den USA war. Wissen Sie eigentlich, daß es sogar eine amerikanische Sektion des Egypt Exploration Fund gibt?« »Ich weiß. Mein Lehrmeister Flinders Petrie hat oft von Lady Amelia erzählt. Sie war auf ihre Weise genial, verstand sie es doch, ihre Forschungen bestmöglich zu vermarkten.« »Ein Talent, das Ihnen abgeht«, stellte der Professor nüchtern fest. »Sie sagen es. Sie sagen es.« Von Süden näherte sich mit hoher Geschwindigkeit der Postdampfer aus Assuan. Er stieß schwarze Rauchwolken und unregelmäßige Heultöne aus, damit die weiße Dahabija, die soeben anzulegen im Begriff war, den Steg freimache. »Sehen Sie«, sagte Carter und zeigte auf die Flagge am hinteren Mast des Schiffes. »Amerikaner!« Das Schiff hatte einen Aufbau mit schmalen hohen Fenstern und achtern eine verglaste Galerie, hinter der man einen Bibliotheksraum erkennen konnte. »Seven Hathors«. stand in goldenen Lettern am Heck zu lesen. »Das Schiff hat sich Henry Sayce bauen lassen«, bemerkte Howard Carter. »Es hat eine eigene Bibliothek an Bord mit zweitausend Büchern. So viele Bücher gibt es in ganz Oberägypten nicht!« Und zum ersten Mal lachte der sonst so ernste Mann herzlich. Auch Shelley lachte: »Viele meinten, Sayce schenke dem Luxus mehr Aufmerksamkeit als der Wissenschaft, aber ich frage Sie, Carter, wo steht geschrieben, daß Ausgräber wie Maulwürfe leben müssen ? Oder gibt 48
es einen Beweis dafür, daß der Erfolg eines Ausgräbers abhängig ist von seiner Armut?« »O nein!« rief Carter verbittert, »gewiß nicht, denn dann müßte ich wohl einer der erfolgreichsten sein.« Während die Seven Hathors am Ufer vertäut wurde und der Postdampfer sich mit heftigen Schlägen der Schaufelräder dem Anlegesteg näherte, wurde es vor dem Hotel Winter Palace lebendig. Gepäckträger drängten mit Handkarren durch die Menge, Tee- und Limonadenverkäufer priesen Getränke an, und wie auf ein Kommando preschten alle Pferdedroschken von Luxor gleichzeitig heran. Zerlumpte Betteljungen, jeden Europäer mit hohler Hand um Bakschisch anstoßend, und schwarzgekleidete Mütter mit auf den Rükken gebundenen Kindern, dunkelhäutige Straßenmädchen, die sich mit einem Zungenschnalzen den Männern anboten, der Postmeister in gelber Uniform mit Goldknöpfen, und Hoteldiener in weißer Galabija und rotem Fez, sie alle riefen laut durcheinander, drängten, stießen und pufften, als spielte sich hier das wichtigste Ereignis ihres Lebens ab. »Sehen Sie«, sagte Carter an Mrs. Shelley gewandt, »das ist Ägypten, das ist das Leben. Sie werden das vielleicht nicht verstehen, aber ich könnte mich nicht mehr in der Londoner Oxford Street in eine Schlange stellen und auf eine Droschke warten. Ich glaube, ich würde sterben. Ich lebe zwanzig Jahre in diesem Land, ich brauche diesen Trubel, das Geschrei und den Gestank von Kamelmist. Gewiß, die Themse ist ein respektabler Fluß, aber was ist sie gegen den Nil! Ist er nicht der aufregendste Strom der Welt, wild und träge, ungestüm und gezähmt, Kloake ebenso wie Traumstrand? Man kann dieses Land nur lieben oder hassen, und ich liebe es.« Wie der sonst so trockene, beinahe spröde Mann auf einmal ins Schwärmen geriet, das war faszinierend, und irgendwie konnten Shelley und seine Frau ihn auch verstehen: Das Land und seine Menschen schlagen jeden Europäer in seinen Bann, und Europa, Großbritannien, schienen weit weg auf der anderen Seite der Erde. »Haben Sie überhaupt mitbekommen, daß seine Majestät, der König, verstorben ist?« fragte Shelley unvermittelt. Carter lachte: »Sie dürfen nicht glauben, daß wir hier auf einem anderen Stern leben! Der Postdampfer aus Kairo kommt zweimal die Woche und bringt die neuesten Zeitungen aus aller Welt. Es lebe 49
seine Majestät, König Georg der Fünfte.« In Carters Worten lag ein Hauch von Ironie, der erkennen ließ, daß er gewiß kein Monarchist war. »Es sind unruhige Zeiten in Europa«, bemerkte der Professor, »und niemand weiß, wie die Deutschen auf unsere Annäherung an Frankreich reagieren werden.« »Vermutlich genauso negativ wie die Ägypter«, erwiderte Carter. »Die Einigung zwischen Frankreich und Großbritannien, Marokko den Franzosen und Ägypten den Engländern zu überlassen, wurde hier als Kuhhandel aufgefaßt und hat den Nationalismus nur noch mehr geschürt. Ich glaube, es ist nur eine Frage der Zeit, wann es zu einem erneuten Aufstand wie unter Arabi Pascha kommt. Der Mord an Premierminister Boutros Pascha Ghali zu Beginn des Jahres kann nur ein Alarmzeichen sein. Er wurde das Opfer ägyptischer Nationalisten. « »Aber wir haben einen Generalkonsul in Kairo, er hat die Oberaufsicht über Ägypten!« Carter lachte: »Das mag vielleicht für Lord Cromer gegolten haben, aber seit Sir Eldon Gorst dieses Amt innehat, herrscht hier das Chaos.« »Sir Eldon ist ein schwerkranker Mann.« »Das ist bekannt und sehr bedauerlich; aber im Vertrauen, Gorst hat weder die Autorität wie Cromer, noch verfügt er über dessen Einfluß, der nötig wäre, um die Gegensätze in diesem Land zu ÜberbrÜcken. Bedenken Sie, bis vor wenigen Jahren herrschte in Ägypten noch das Gesetz der Peitsche. Mit der Karbatsche wurden die wahnwitzigen Steuern eingetrieben und Aussagen vor Gericht erpreßt. Offiziell ist die Peitsche abgeschafft, aber in entlegenen Gegenden, wo sich die arme Bevölkerung nicht zu beklagen wagt, gebrauchen die Beamten die Peitsche noch immer. Das ist ein offenes Geheimnis.« »Man muß diese Fälle publik machen!« rief Professor Shelley empört, und seine Frau, die Carters Worten atemlos zugehört hatte, nickte zustimmend. »Publik machen, wozu? Es weiß ohnehin jeder, und viele meinen, es sei sogar ein Fehler gewesen, die Peitsche abzuschaffen. Viele sahen darin ein Zeichen von Schwäche der Regierung. Die Mudirs, die Provinzgouverneure, und ihre Polizisten haben an Autorität verloren, die Zahl der Verbrechen steigt ständig, und die Steuermoral ist, 50
seit nicht mehr mit der Peitsche nachgeholfen wird, auf dem Tiefpunkt. Wer dieses Land regieren will, braucht die Kraft eines Elefanten, die Dickhäutigkeit eines Wasserbüffels und die Sensibilität einer Eidechse.« »Und alle diese Eigenschaften fehlen Sir Eldon?« Carter hob die Schultern und drehte die Handflächen nach außen: »Wie ich schon sagte, er ist kein Cromer. Der britische Generalkonsul ist nicht da, um das Land zu regieren, er ist da, um dem Land zu helfen. Von Lord Cromer erzählt man sich die verrücktesten Geschichten. Er protestierte gegen die Entlassung des englischen Kutschers der Khediven, setzte sich für ein männlichs Mitglied der Familie des Khediven ein, weil seine Frau ihm täglich mit dem Pantoffel auf den Mund schlug, er half einem jungen britischen Offizier, der beim Kartenspiel betrogen wurde, aus dem Schlamassel, und dem Herrn eines Sklavenmädchens, das heiraten wollte, trotzte er seine Zustimmung ab. Alles Aufgaben fern seines Amtes - aber Cromer kannte keine Hemmungen, und das schaffte ihm viele Sympathien.« »Und der Khedive Abbas Hilmi?« »Der Vizekönig von Ägypten unter Cromer war ein anderer als der heutige Vizekönig, obwohl er denselben Namen trägt. Als Abbas Hilmi vor beinahe zwanzig Jahren den Thron bestieg, war er ein Jüngling; er kam frisch von der Militärakademie in Wien und konnte natürlich dem erfahrenen Generalkonsul Lord Cromer in keiner Weise das Wasser reichen. Aber das änderte sich mit den Jahren, und heute ist es umgekehrt, heute ist der britische Generalkonsul dem Khediven nicht mehr gewachsen. Jedenfalls ist das Verhältnis der beiden sehr gespannt.« »Ich habe den Eindruck«, meinte Professor Shelley, »daß wir Engländer in diesem Land nicht besonders beliebt sind.« »Ja, das sehen Sie richtig; aber das gilt für alle Ausländer, nicht nur für Untertanen Seiner Majestät. Man muß das verstehen: Ausländer unterliegen in Ägypten eigenen Gesetzen, die Polizei darf nicht einmal das Haus eines Ausländers betreten, und - was die meisten Neider schafft - Ausländer zahlen keine Steuern. Sehen Sie die Schiffe da, wunderschöne Yachten und Dahabijas. Und jetzt betrachten Sie die Flaggen. Amerikanische Flaggen, britische Flaggen, eine deutsche, eine italienische Flagge aber keine einzige ägyptische Flagge.« 51
»In der Tat. Und was ist der Grund dafür?« »Ganz einfach: es gibt keine ägyptische Flagge. Und Schiffe sind hierzulande hoch besteuert; Ausländer jedoch brauchen überhaupt keine Steuern zu zahlen.« »Ich verstehe.« »Und dennoch, als Ausgräber können Sie hier nicht reich werden.« Howard Carter stützte den Kopf in beide Hände. »Manchmal weiß ich wirklich nicht, wovon ich im nächsten Monat leben soll. Ich habe schon für alle möglichen Leute gearbeitet, zuerst für den Fund, dann für die Altertümerverwaltung, für Davis, den amerikanischen Kupfermagnaten, und nun für Carnarvon.« Nach einer langen Pause meinte Shelley: »Ihr Verhältnis zu Lord Carnarvon ist nicht das beste?« »Wer sagt das?« fuhr Carter hoch. »Carnarvon.« »Nun ja, wenn er das sagt... Wissen Sie, Seine Lordschaft ist ein Abenteurer, und ich bin ein Ausgräber. Abenteurer sind die Feinde jeder Wissenschaft.« Und dabei fingerte er den Brief aus seiner Jackentasche, den der Professor ihm übergeben hatte. »Ich weiß ohnehin, was drin steht«, sagte Carter mit einem bitteren Unterton, während er die Zeilen überflog. Der Professor und seine Frau sahen Carter fragend an. »Das übliche, er möchte die Arbeiten einstellen, das Ergebnis meiner Ausgrabungen rechtfertige den Aufwand in keiner Weise, keine Funde - kein Geld.« Wütend zerknüllte er den Brief und steckte das Papierknäuel in die Tasche. Dann erhob er sich, machte eine kleine Verbeugung und sagte, indem er vorsichtig nach beiden Seiten blickte: »Wie gesagt, es wäre für Ihre Arbeit besser, wenn man uns nicht allzu oft zusammen sähe. Aber wenn Sie meinen Rat brauchen - Sie können mir jederzeit hier im Hotel eine Nachricht hinterlassen. Ich hole zweimal in der Woche meine Post ab.« Und hastig lief er über die Freitreppe des Motels hinunter zur Anlegestelle und verschwand in der Menge. Shelley und seine Frau sahen sich wortlos an. Sie dachten beide das gleiche: Er war schon ein eigenartiger Mensch, dieser Howard Carter. 52
Omar hatte den Besuch des fremden Herrn aus der Ferne beobachtet. Er wurde Zeuge der Aufregung bei der Ankunft des Postdampfers, ohne jedoch seine Herrschaft aus den Augen zu lassen. Ein Wink des Professors genügte, und Omar war zu Stelle. »Ya Saidi?« »Besorge uns ein Boot. Wir wollen auf die andere Seite des Flusses!« Wenig später lag das Boot am Nilufer bereit, und ein langer hagerer Fährmann setzte den Professor, seine Frau Claire und Omar über. Noch bevor das kleine Schiff anlegen konnte, lief am Ufer eine Traube schreiender Menschen zusammen, die allesamt ihre Dienste anboten, und als der Professor verlauten ließ, er suche einen Führer und zwei Esel zum Tal der Könige, da balgte sich ein gutes Dutzend Halbwüchsiger und älterer Männer um den Auftrag. Und selbst als die Fremden ihre Entscheidung getroffen hatten, ging das Feilschen weiter, so daß sich auf dem groben Schotterweg zum Tal eine Prozession in Bewegung setzte, voran der Professor, rittlings, seine Frau seitlings auf einem Esel, und Omar, der hinter ihnen hertrottete. Auf dem beschwerlichen, steinigen Weg ergab sich ein scheinbar belangloses Gespräch zwischen Ibrahim, dem Führer, und Professor Shelley, in dessen Verlauf Shelley ganz harmlos die Frage stellte, ob er, Ibrahim, nicht ein geheimes Grab kenne, er sei an Funden interessiert. Da aber stieß der Professor auf Unverständnis, beinahe auf Empörung; beim Leben seines kranken, alten Vaters, beteuerte Ibrahim, er sei ein ehrlicher Mensch und habe noch nie ein Unrecht getan, und Grabräuberei sei ein großes Unrecht. Dabei senkte er mehrmals heftig den Kopf, als müßte er allein für den Gedanken Abbitte leisten. Vorbei am Sethostempel und dem Dorf Drah Abul Naga erreichten sie nach zwei Stunden das Tal der Könige, und Shelley äußerte den Wunsch, die beiden am besten erhaltenen Pharaonengräber Sethos I. und Amenophis II. zu besichtigen. Während die Engländer in dem ersten Grab verschwanden, wachte Omar über die beiden Esel. Es mochte gut eine Stunde vergangen sein, als der Professor und seine Frau zurückkehrten. An dem Amenophis-Grab wartend, setzte sich Omar auf die schattigen Stufen, und er muß wohl eingeschlafen sein, als er plötzlich einen Puff gegen die rechte Schulter verspürte: »He, aufwa53
chen!« Vor ihm stand ein stämmiger Junge, nicht viel älter als er, der eine Wassernuß zwischen den Zähnen hin und her schob und dabei grinste: »Du bist der Diener von dem englischen Said?« »Ja, ich bin Omar, sein Diener.« Der Junge ließ die Nuß von einer Backe in die andere gleiten, und dabei musterte er Omar vom Kopf bis zu den nackten Füßen. »Dein Herr sucht nach irgendwelchen Ausgrabungen, he?« Omar war verwirrt. Er hatte das Gespräch zwischen Shelley und Ibrahim mitbekommen, aber er wußte nicht, wie er sich verhalten sollte. Der andere überging das Schweigen grinsend, er neigte sich zu Omar herab und sagte nahe an seinem Ohr: »Bestelle deinem englischen Said, er könne Schätze erwerben, wie er sie noch nie in seinem Leben gesehen hat. Sage deinem Herrn, er soll sich nach Einbruch der Nacht am Fuße der Memnonkolosse auf dem Weg nach Gurnet Murrai einfinden, aber allein, verstehst du? Und wenn er dort ist, soll er zur Erkennung den Namen >Yussuf< rufen. >YussufIch bin einer von euch!< Er ist und bleibt ein Brite, und alle Briten sind Feinde. - Hörst du mir überhaupt zu?« Mustafa Aga Ayat hatte sich auf das zugedeckte Hotelbett gelegt, die Hände im Nacken verschränkt und blickte zur Decke. Er hörte wirklich nicht zu, was jedoch nicht als Unhöflichkeit, schon gar nicht als Gleichgültigkeit ausgelegt werden durfte, nein, alles, was der Sub-Mudir von sich gab, war bei den geheimen Zusammenkünften der Nationalisten tausendmal gesagt und für richtig befunden worden. »Ich überlege gerade«, sagte Mustafa, ohne den Blick von der Decke zu wenden, die an den Rändern mit einem voluminösen Stuckrahmen versehen war, »ich überlege gerade, wo die undichte Stelle liegen könnte. Ich meine, Lady Dawson war doch nicht hinter irgendeinem schwarzen Stein her. Sie suchte wie wir nach dem Bruchstück, das der Schlüssel sein könnte für eine große Entdeckung. Ich frage dich, Ibrahim, woher weiß das die Lady?« »Die Frage ist berechtigt«, erwiderte el-Nawawi. »Sie muß nicht nur erstaunlich gut informiert sein, sie muß auch Verbindungen zu Archäologen haben, und nicht nur zu englischen!« »Was weiß man eigentlich über diese Dame?« »Sie ist Engländerin und unterliegt nicht der Meldepflicht. Außerdem lebt sie, wie du weißt, auf einem Schiff. Auf diese Weise ist sie allen ägyptischen Gesetzen und Vorschriften entzogen. Eigentlich müßtest du mehr über sie wissen als ich.« Der Aga brummelte unwillig vor sich hin und gab schließlich zu verstehen, daß er auch nicht mehr wisse als das, was ihm Lady Dawson anvertraut habe, und das könne stimmen, aber auch nicht, und nach Lage der Dinge halte er alle ihre Aussagen eher für zweifelhaft. Aber bei den Festen, zu denen sie geladen gewesen sei, habe sie nur den besten Eindruck hinterlassen. »Aber«, fügte Ayat hinzu, »vielleicht habe ich mich auch von ihrer Schönheit blenden lassen, vielleicht steckt hinter der schönen Maske ein Teufel.« Während Mustafa so redete, wirkte sein Ausdruck auf seltsame Weise verändert, ja verträumt. Die senkrechten Falten, die seinem 111
Gesicht sonst etwas Herrisches gaben, schienen sich auf einmal in nichts aufgelöst zu haben, und die schwarzen Brauen, die gewöhnlich tief über den Augen hingen, hatten sich keck aufgerichtet. »Darf ich mir die Frage erlauben, wie du das meinst?« erkundigte sich el-Nawawi, dem die Wandlung des Aga keineswegs entgangen war. Mustafa kaute auf irgend etwas herum, was es gar nicht gab, eine Angewohnheit, die bei ihm Verlegenheit andeutete. »Ich glaube, die Lady ist eine große Märchenerzählerin«, meinte er dann, »und besser als unsere besten im Basar. Jedenfalls habe ich ihr die Geschichte von dem Ehemann, der auf der Hochzeitsreise verstarb, nie recht geglaubt.« Die Suche nach Nagib ek-Kassar gestaltete sich komplizierter als erwartet. Ek-Kassar studierte Archäologie im fünfzehnten oder siebzehnten Semester und war mindestens dreißig Jahre alt. Er nahm das Studium nicht sonderlich ernst, was weniger an seinem Desinteresse als an der Aussichtslosigkeit seines Vorhabens lag, das ihm nicht die geringste Chance für eine Anstellung in Ägypten bot. Deshalb studierte er mehr oder weniger vor sich hin und bestritt seinen Lebensunterhalt durch Gelegenheitsjobs, bei denen er nicht wählerisch war. In einem Cafe an der Friedrichstraße, das nur so hieß, um der Konvention genüge zu tun, verdingte er sich bisweilen als Eintänzer für Damen gesetzteren Alters. Er war schlank und hochgewachsen, und seine dunklen Augen versetzten manche Kommerzienratswitwe in Entzücken. Pro Tanz bekam Nagib fünf Pfennige, und nicht selten wurde ihm eine Adresse zugesteckt mit dem Versprechen, es solle sein Schaden nicht sein. In dem genannten Cafe war ek-Kassar nicht zu finden, und eine blonde, beleibte Matrone, die hinter einem mit grünen Jugendstilscheiben versehenen Schalter Tanz-Marken verkaufte, reagierte auf eine entsprechende Frage ziemlich unwillig und schimpfte über Nagib, er sei ein Betrüger, der besonders schlau zu sein glaube und in die eigene Tasche gewirtschaftet habe, und das sei der Grund, warum sie ihm Hausverbot erteilt habe. Nein, wo er wohne, ob er überhaupt eine feste Wohnung habe, wisse sie nicht, es interessiere sie auch nicht, und höflich aber bestimmt komplimentierte sie Ayat und el-Nawawi hinaus. 112
Die beiden wandten sich gerade der wuchtigen Drehtüre aus rotem Mahagoni zu, als ein junger Mann den Aga am Ärmel zupfte und fragte, was ihm der Aufenthaltsort Nagibs wert sei. Mustafa sah den Jüngling an. Er trug einen enganliegenden Anzug mit kurzer, taillenlanger Jacke. Kragen und Manschetten waren aus weißer Pappe mit Leinenstruktur, und seine Augen waren dunkel geschminkt. Er heiße Willi, sagte der Junge, und kenne Nagib gut. Der Aga schob dem Eintänzer eine 5-Mark-Note in die Brusttasche, darauf drängte dieser die beiden Besucher in eine Ecke hinter der Türe und erklärte, daß Nagib ek-Kassar beim Zirkus Busch anzutreffen sei, nur eine Station von hier mit der Stadtbahn Richtung Alexanderplatz. Nagib arbeite dort vorübergehend als Assistent eines Feuerschluckers und Schlangenbeschwörers. Und im Gehen rief Willi den beiden noch nach, wenn Nagib dort nicht zu finden sei, sollten sie bei Aschinger, GeorgenEcke Friedrichstraße nachsehen. Der Zirkus Busch war eine Berliner Institution und residierte in einem festen Haus am Ufer der Spree. Vor der Nachmittagsvorstellung in sein Inneres zu gelangen war beinahe ein Kunststück für sich. Für ein fürstliches Trinkgeld erwies sich ein Platzanweiser-Girl mit runder roter Kappe bereit, die Freunde zu Ali Pascha zu bringen – wie sich der Feuerschlucker mit klangvollem Namen nannte. Dieser erwies sich schließlich als waschechter Berliner mit italienischer Großmutter und dem exotischen Namen Kalinke, und die erste Frage, die er den Besuchern stellte, war, ob sie von der Polizei seien; alle, die bisher nach Nagib gefragt hätten, seien von der Polizei gewesen. Ali Pascha studierte vor seinem Wohnwagen gerade eine neue Nummer ein und ließ sich dabei durch die beiden nicht abhalten. Es stank nach Petroleum, das Ali Pascha Kalinke schluckweise in den Mund nahm und in den verrücktesten Variationen brennend in die Luft spuckte. Dabei ging ihm ein zierliches Mädchen mit langen schwarzen Haaren zur Hand. Es trug eine weite graue Männerhose und eine rote Bluse, und der Künstler nannte das Mädchen Emma. Es habe, erklärte der Feuerschlucker lachend, Nagibs Stelle angetreten. Nagib sei mehrmals betrunken zur Arbeit erschienen, außerdem habe Emma schönere Beine. Auf dem Weg zu Aschinger gab el-Nawawi zu bedenken, ob ein Mann wie Nagib ek-Kassar nicht ein erhöhtes Risiko bedeute, falls man ihn mit der Angelegenheit vertraut mache. Der Einwand war 113
nicht von der Hand zu weisen; man einigte sich, Nagib nur soweit wie unbedingt nötig einzuweihen. Nagib saß bei Aschinger vor einem Krug Schultheiss, kaute an einem Brötchen und döste mit glasigen Augen vor sich hin. Es gab in dem Lokal keine Vorhänge und keine Tischdecken, dafür war es laut. Nagib war so voll, daß es eine Weile dauerte, bis Ayat und elNawawi ihm klargemacht hatten, wer sie überhaupt waren, und als er es endlich begriffen hatte, stellte er ihnen anheim, morgen wiederzukommen, am besten vormittags, wenn er - vielleicht nüchtern sei. Den Grund ihres Kommens verrieten sie nicht. Als Ayat und el-Nawawi am Vormittag des folgenden Tages bei Aschinger erschienen, machte Nagib einen etwas nüchterneren Eindruck. Jedenfalls erkannte er sie auf Anhieb wieder, und er konnte auch ihrem Ansinnen folgen, den Text auf einem Steinfragment zu übersetzen, das sie in ihrem Hotel aufbewahrten. Der Frage, warum sich die beiden in Berlin aufhielten und woher der schwarze Stein stamme und ob die Angelegenheit etwa mit dem Museumsraub am Lustgarten in Verbindung stehe, kam der Aga mit einer braunen Banknote zuvor, die er Nagib mit dem Hinweis zusteckte, es sei besser, keine Fragen zu stellen, aber es gehe um ihre gemeinsame Sache. Ayat und el-Nawawi hatten beschlossen, Nagib in ihre Pension am Königsgraben gegenüber dem Kaufhaus Tietz zu bringen, mit einigen Flaschen Schultheiss zu versehen und in ihr Zimmer einzuschließen, bis er seine Aufgabe erfüllt habe. Ek-Kassar erklärte sich einverstanden. Er erkannte den Text sofort als demotisch und gab zu bedenken, ob Wortfetzen aus dem Zusammenhang heraus überhaupt zu entschlüsseln seien. Die Bedenken schienen sich zu bestätigen; denn als der Aga gegen mittag nach Nagib schaute, hatte der zwar alle Flaschen geleert, aber noch keine Zeile zu Papier gebracht. Er kündigte jedoch an, umgehend mit der Arbeit zu beginnen, falls ihm noch einige Flaschen Schultheiss zur Verfügung gestellt würden. Als Ayat und el-Nawawi am Nachmittag das Zimmer öffneten, lag ek-Kassar auf dem Bett und schlief. Der Aga war über diesen Anblick so erregt, daß er mit bloßen Händen auf den Schlafenden einschlug, ihn als Trunkenbold beschimpfte, der die Gebote des Islam verletze und ihre gemeinsame Sache verraten habe. Nagib ek-Kassar 114
schrie wie am Spieß und war nicht in der Lage, sich verständlich zu machen, bis el-Nawawi sein wildes Fuchteln erkannte und zum Tisch ging, auf dem der schwarze Stein lag. »He, laß ihn los!« rief Ibrahim, aber Ayat war so in Rage, daß er weiter auf den Betrunkenen einschlug und erst wieder zu sich fand, als el-Nawawi ihn mit Gewalt von seinem Opfer fortzog. »Hier!« sagte er und deutete auf das braune Papier auf dem Tisch, in das der Stein gewickelt war. Nagib hatte sechzehn schmale Zeilen mit Kopierstift untereinandergeschrieben. --------------| Jauchzen | | weilt. | | des Ra und | | empfangen, | / das Grab | / das der heiße | / Djoser vom Sand | -- und Gold | | der Menschen. | | Ra flüssig | | Nacht auf | | dieses | | und wer es | | Deshalb | | der Stelle | | Arme des | ---------------Ayat und el-Nawawi sahen sich wortlos an, während Nagib vor sich hin winselte wie ein geprügelter Hund. Nachdem er es ein zweites und drittes Mal gelesen hatte, baute sich der Aga vor dem Bett auf, stemmte die Hände in die Hüften und ließ seinen Bauch unheilvoll wachsen wie eine Gewitterwolke. 115
»Nagib«, sagte er in bedrohlichem Tonfall und machte eine lange Pause, »bist du sicher, daß das stimmt?« Ek-Kassar setzte sich auf, dann nickte er und antwortete mit schwerer Zunge: »Was heißt schon sicher in diesem Zusammenhang. Solche Texte kann man nur im Zusammenhang interpretieren; aber die Übersetzung ist auf jeden Fall korrekt.« »Ich befürchte nur«, wandte Ibrahim el-Nawawi ein, »das hilft uns nicht viel weiter.« Nagib hob die Schultern und ließ sich wieder auf das Bett fallen. »He, Kerl, nicht einschlafen!« Ayat sprang auf Nagib zu und schüttelte ihn. »Angenommen, deine Übersetzung stimmt, fällt dir irgend etwas daran auf?« Ek-Kassar erhob sich mühsam, tapste schweren Schrittes zum Tisch, stützte sich auf, starrte auf das braune Papier, und ohne aufzusehen erwiderte er: »Klar fällt mir etwas auf!« »Und?« fragte Ayat drohend. Nagib lachte und blickte auf, als wollte er sagen, so besoffen, wie ihr glaubt, bin ich noch lange nicht. Dann pochte er mit dem Finger auf das Papier und sagte: »Das ist möglicherweise eine Fälschung - ist das...« und er machte eine lange Pause. Dem Aga dauerte das alles viel zu lange, er packte Nagib bei den Schultern, stieß ihn zu dem Wandtisch neben der Tür, drückte seinen Kopf über die Porzellanschüssel und goß Wasser aus einem Krug über seinen Kopf. Nagib prustete und schüttelte sich, daß das Wasser durch das Zimmer spritzte, und der Aga warf ihm ein Handtuch zu. »Wieso Fälschung?« rief er erregt. »Antworte!« Nagib trocknete sich ab. Das kalte Wasser hatte ihn von einem Augenblick auf den anderen ernüchtert. Er ging zu dem Tisch zurück, und deutete auf das Papier: »Hier ist von Djoser die Rede. Pharao Djoser regierte in der dritten Dynastie, also vor viereinhalbtausend Jahren.« »Ja, und?« »Zur Zeit des Königs Djoser war die demotische Schrift noch gar nicht bekannt, sie kam erst zweitausend Jahre später auf. Und deshalb glaube ich an eine Fälschung. Fälschungen dieser Art waren gar nicht so selten. In der Spätzeit machten sich die Priester oft einen Spaß daraus, Urkunden zu fälschen.« »Und der Grund? Gibt es dafür eine Erklärung?« ll6
»Es gibt Vermutungen. Eine ist die, daß auf diese Weise falsche Spuren gelegt werden sollten, um von irgendwelchen geheimen Dingen abzulenken.« Mustafa Aga Ayat unterbrach das Gespräch. Er riß Nagibs Aufzeichnungen aus dem Papier, und Nagib spürte, daß die beiden von einer plötzlichen Erregung gepackt waren, aber er wagte nicht, irgendeine Frage zu stellen. Auch als Ayat überraschend zum Abschiednehmen drängte, hielt sich Nagib zurück. Am nächsten Tag traten die beiden die Heimreise an. Sie nahmen den Nachtzug nach München mit Kurswagen nach Ascona, von wo eine Schiffspassage nach Alexandria gebucht war. Ayat und el-Nawawi teilten sich im Zug eine komfortable Schlafkabine. Sie lagen in voller Kleidung auf ihren Betten, an Schlaf war nicht zu denken, nur ihre Gespräche waren hinter Leipzig eingeschlafen. Es mußte nachts gegen zwei gewesen sein, als der Aga im endlosen Singsang der Eisenbahn ein fremdartiges Geräusch zu vernehmen glaubte. Es kam von der Tür, die sie von innen verschlossen hatten, und hörte sich an, als hantierte jemand mit unpassendem Werkzeug um Türschloß. Mustafa setzte sich auf. Das gedämpfte grüne Nachtlicht an der Decke warf einen dunklen Schatten auf den Eingang. »Ibrahim«, zischte der Aga leise. Der reagierte mit einem unwilligen Knurren. »Hast du nichts gehört?« El-Nawawi verneinte und schimpfte, Mustafa solle ihn in Ruhe lassen. Der döste im Halbschlaf vor sich hin. Ihm kamen Zweifel, ob die Berlin-Reise den Aufwand gelohnt habe, ob die Spur, die sie verfolgten, überhaupt zum Ziel führte. Mustafa zweifelte auch, ob ek-Kassar der richtige Mann für diese Sache gewesen war. Gewiß, er hatte sich schon in jungen Jahren ihrer Bewegung angeschlossen, aber er lebte nun schon beinahe acht Jahre im Ausland. Was, wenn er sie an der Nase herumführte, wenn er sie betrog wie ein ausgebuffter Kamelhändler? Die Probleme, die Fragen, alles erschien auf einmal so riesenhaft, unlösbar, und darüber schlief Mustafa ein. Er erwachte - das heißt, erwachen kann man den Zustand nicht nennen, in dem er sich im nächsten Augenblick befand, eher das Gegenteil - jedenfalls spürte er einen furchtbaren Schlag auf den Kopf, 117
der gleichzeitig Schmerz, aber auch eine lähmende Ohnmacht verur sachte, und von nun an nahm er alles, was um ihn vorging, nur skizzenhaft und wie aus weiter Ferne wahr: das Durchsuchen ihres Gepäcks, eine plötzliche Flamme, Qualm, Rauch, schreiende Menschen und die kreischenden Räder der Notbremse. Bewußtlos wurden Mustafa Aga Ayat und Ibrahim el-Nawawi ausdem qualmenden Abteil gezogen. Als sie hustend und keuchend erwachten, lagen beide auf den Bahndamm gebettet. Über ihren Köpfen fauchte die Lokomotive. Mitreisende hatten das Feuer erstickt. Auf die Frage, was geschehen sei, erklärte ein blauuniformierter Kondukteur, vermutlich habe sich eine Achse heißgelaufen. Der Zug werde langsam bis zur nächsten Station fahren, dort werde der Waggon abgekoppelt, selbstverständlich erhielten sie ein neues Abteil; ob sonst alles in Ordnung sei? Die Fahrt ging langsam weiter. Das Abteil bot einen verheerenden Anblick: durchwühlte und angesengte Gepäck- und Kleidungsstücke. Ayat suchte zuallererst nach dem schwarzen Stein, aber - was er vermutet hatte, bewahrheitete sich - die Stemplatte war verschwunden. »Inscha'allah«, bemerkte Ayat trocken, er zog aus der Hosentasche ein braunes Papier und hielt es el-Nawawi unter die Nase. Ibrahim el-Nawawi, der sich noch immer die Lunge aus dem Leibe hustete, lachte: »Ya salaam!« 118
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SINAI O Gläubige, erinnert euch der Gnade Allahs. Als die Heere der Ungläubigen gegen euch heranzogen, da schickten wir ihnen einen Wind entgegen und ein Heer von Engeln, das ihr nicht sehen konntet, und Allah beobachtete damals euer Tun. Als nun die Feinde von oben und von unten gegen euch herankamen und ihr eure Augen vor Angst abwandtet und vor furcht euch das Herz bis an die Kehle stieg, da erdachtet ihr mancherlei Gedanken über Allah. Koran, dreiunddreißigste Sure (10, 11,) Die Zeit in Luxor wurde für Omar zu einer Zeit des Lernens. Omar lernte bei Taha lesen und schreiben und deklamierte schon bald die Suren wie ein Koranrezitier in der Moschee. Claire, die Frau des Professors, lehrte ihn die englische Sprache, und zu Omars täglichem Vergnügen gehörte es, die Todesanzeigen und Nachrufe auf der ersten Seite der Times zu studieren und auswendig zu lernen, was zur Folge hatte, daß Omar sich auch in der täglichen Umgangssprache recht schwülstig auszudrücken pflegte. Zur Verblüffung Shelleys zeigte der Junge nicht nur großes Interesse an seinen archäologischen Forschungen, er erwies sich sogar als ausgesprochenes Talent, und die einunddreißig Dynastien bis zu Alexander dem Großen hatte er auswendig im Kopf. Professor Shelley hatte nach langwierigen Recherchen insgesamt vier Forschungsprojekte ausgearbeitet, um sie dem Egypt Exploration Fund vorzulegen, darunter die Suche nach zwei Pharaonengräbern im Tal der Könige, veranschlagt auf je zwei Grabungssaisonen mit je 120 Arbeitskräften. Vergessen war das schreckliche Erlebnis seiner Entführung; Omar hatte es zwar aufgegeben, weitere Nachforschungen anzustellen, aber bei der Forschungsarbeit des Professors, an der er sich mit wahrer Begeisterung beteiligte, stieß er zwangsläufig immer wieder an Grenzen, die zu überschreiten nicht ratsam erschien. Intrigen, Betrug, Mord und Totschlag gehörten im Ägypten dieser Zeit zur Tagesordnung, und Luxor machte da keine Ausnahme. 119
Staat und Regierung befanden sich in beklagenswertem Zustand; nur die wenigsten wußten zu sagen, wer wen zum Freund, wer wen zum Gegner hatte. Offiziell war Ägypten noch immer ein Teil des Ottomanischen Reiches unter der Oberhoheit des Sultans. Sein Statthalter am Nil war der Khedive Abbas Hilmi, ein Vizekönig mit bescheidener Macht. Regiert wurde das Land von einem Premierminister, doch sowohl er als auch der Khedive unterstanden einem britischen Generalkonsul, der das eigentliche Sagen hatte, denn Ägypten war seit dreißig Jahren ein britischägyptisches Kondominium. Man hätte meinen können, der Generalkonsul, Lord Kitchener, wäre in Ägypten im selben Maße verhaßt gewesen, wie der Khedive beliebt war. Aber das Gegenteil war der Fall. Der stolze Ire mit dem weit ausladenden Schnauzbart hatte sich schon als Sirdar, als Oberbefehlshaber der ägyptischen Armee, äußerst beliebt gemacht. Als Generalkonsul zeigte er viel Verständnis für die Belange der kleinen Leute, vor allem der Fellachen, die nicht wagten, einen Turban oder ordentliche Gewänder zu tragen, weil sie fürchteten, gnadenlose Beamte würden sie mit Steuern belegen, die zu bezahlen sie außerstande waren. Der Khedive hingegen, trotz oder gerade wegen seiner europäischen Erziehung ein selbstsüchtiger, eigennütziger, despotischer Intrigant mit gewissenlosen Geschäftsinteressen, fand bei seinem Volk nur wenig Zuneigung. Abbas Hilmi unterstützte alle erdenklichen politischen Gruppierungen und Parteien, wenn sie nur in irgendeiner Form gegen die Engländer gerichtet waren. Daß viele dieser Parteien sich untereinander befehdeten wie Todfeinde, trug zur Brisanz der politischen Situation bei. Vor allem die Nationalisten machten von sich reden. Unter ihnen gab es Gemäßigte und Radikale, Extremisten und Terroristen. Premierminister Boutros Pascha Gali wurde erschossen. Ein Komplott zur Ermordung seines Nachfolgers Mohamed Pascha Said und des Khediven sowie Lord Kitcheners konnte in letzter Minute vereitelt werden. Bewaffnete Horden zogen durch das Land, und niemand war vor ihnen sicher. In diesen Tagen wünschte Omar nichts mehr, als daß sich die vielen Nationalisten unterschiedlichster Anschauungen einigten und für ihr gemeinsames Ziel kämpften, für ein freies Ägypten, in dem alle vor dem Gesetz gleich wären. Professor Shelley hatte keine hohe Meinung von diesen Leuten, nannte sie tückisch, korrupt und welt120
fremd, Marionetten des Khediven, und prophezeite, es werde mit ihnen ein schlimmes Ende nehmen. Omar widersprach nicht; aber in seinem Herzen wuchs die Liebe zu seinem Land, ja, er fühlte eine sonderbare Wärme in seinem Herzen, wenn er an die Zukunft Ägyptens dachte, die auch seine Zukunft war. Es traf ihn sehr, wenn im Kaffehaus Kom Ombo hinter dem Bahnhof, wo nur Einheimische verkehrten, Kaffee, Tee und grüne Limonade tranken und zu zweit oder zu viert die hohen Wasserpfeifen rauchten, wenn er dort keine Beachtung fand, man ihm sogar mit Mißtrauen begegnete und hinter vorgehaltener Hand flüsterte, als wäre er ein Fremder und nicht einer von ihnen. Dazu trug auch bei, daß er eines Tages beim Teetrinken die Times las, was hier als Provokation empfunden wurde wie das Hissen der britischen Fahne. Eines Tages kam das Gespräch auf Yussuf, den die Cholera dahingerafft hatte und von dem alle in Hochachtung redeten, und auf einmal fiel der Name Halima. Der Name des Mädchens traf Omar wie ein Keulenschlag, und mit gespielter Gleichgültigkeit rief er über den Tisch, ob jemand ihren Aufenthaltsort kenne. Da verstummten plötzlich alle Gespräche, und alle blickten auf Omar. Ein schwammiger, dicklicher Jüngling, von dem bekannt war, daß er das eigene Geschlecht favorisierte, erhob sich, trat auf Omar zu, grinste und sagte in unverschämtem Ton: »Sieh einer an, er hat Sehnsucht nach Halima.« Und dabei kam er mit seiner fetten Visage ganz nahe an Omar heran. Omar stieß den Schwulen zurück; er spürte, wie ihm vor Wut das Blut in den Kopf schoß, dennoch beherrschte er sich, und er erwiderte scheinbar gelassen: »Wo steckt Halima? Weiß das jemand? Wir kennen uns« - und fast entschuldigend fügte er hinzu - »flüchtig.« »Er kennt Halima flüchtig!« rief der Dicke ein paarmal hintereinander, klatschte rhythmisch in die Hände, und die anderen stimmten ein und riefen immer wieder: »Er kennt sie flüchtig, er kennt sie flüchtig!« Nachdem das Grölen geendet hatte, baute sich der Dicke vor Omar auf, machte ein paar unbeholfene Bewegungen wie eine Bauchtänzerin und prustete heraus: »Wir alle kennen Halima ziemlich gut, diese kleine Houriyat. Wir haben ihr alle schon zwischen die Beine gefaßt.« 121
In diesem Augenblick verlor Omar die Beherrschung, er stürzte sich wütend wie ein verletztes Tier auf den Dicken, versetzte ihm einen Schlag in die Magengrube, daß dieser aufschrie, und würgte ihn, bis seine wulstigen Augen hervortraten. Die anderen johlten, aber als sie erkannten, daß Omar dabei war, den Dicken umzubringen, daß er auch dann nicht von seinem Gegner abließ, als dessen Kopf blau anzulaufen begann, da stürzten sich ein paar Mutige auf ihn und versuchten ihn mit Gewalt von seinem Gegner zu trennen. Aber wie eine Schlange, die sich in ihre Beute verbissen hat, gab Omar nicht auf, obwohl drei erwachsene Männer an ihm zerrten, und er hätte seinen Gegner erwürgt, wäre nicht unverhofft etwas eingetreten, auf das niemand gefaßt war: Einer der zu Hilfe eilenden Männer zerrte an Omars Ärmel, der derbe Stoff riß wie ein Segel im Sturm und entblößte den rechten Arm, wo, deutlich sichtbar, das Brandmal zum Vorschein kam. Dieser Vorgang hatte unerwartete Wirkung. Sowohl Omar wie die zu Hilfe geeilten Schlichter des Streites ließen vom jeweils anderen ab und verharrten einen Augenblick in einem Zustand der Fassungslosigkeit. Und während der Dicke unter krächzenden Lauten nach Luft rang und zu Boden sank, starrten alle wie versteinert auf das Katzen-Mal. Im Lokal wurde es ganz still. Omar erwartete irgendeine Reaktion, eine Bemerkung, eine Frage, irgend etwas, das die verhängnisvolle Situation erklärte; aber dazu kam es nicht. Endlich wandte sich Omar dem Ausgang zu und ging ohne ein Wort, aber mit dunklen Gedanken im Herzen. Von diesem Tag an wurde Omar Moussa in Luxor geächtet. Jedenfalls kam es ihm so vor, denn die, deren Freundschaft er suchte, weil ihnen, wie er glaubte, das Schicksal Ägyptens am Herzen lag, mieden ihn nun noch mehr als früher. Was sollte er tun? Alle Versuche, mit irgendeinem Menschen wegen des Mals ins Gespräch zu kommen, scheiterten; alle, die er darauf ansprach, wandten sich ab, als sei er von einer furchtbaren Krankheit befallen, und selbst jene, mit denen er zuvor wenigstens freundlichen Umgang gepflegt hatte, die aber nicht Zeuge des Vorfalls waren, ließen ihn nun links liegen. In dieser Zeit der Isolation, die ihn mehr mit Ausländern zusammenbrachte als mit seinesgleichen, verlegte sich Omar auf private 122
Studien, wobei ihm Professor Shelley und seine Frau jede nur erdenkliche Unterstützung zukommen ließen. Lange Zeit verschwieg er den Vorfall im Kaffeehaus Kom Ombo, als er jedoch nach Wochen des Nachdenkens von einer Lösung weiter entfernt war als je zuvor, vertraute sich Omar dem Professor an. Shelley wollte zunächst nicht glauben, daß das Brandmal die Ursache allen Mißtrauens sei, aber Omar blieb dabei, er sei sich seiner Sache ganz sicher. Die Vermutung lag nahe, daß das Katzen-Mal einer nationalistischen Gruppe als Erkennungszeichen diente, doch erklärte dies noch lange nicht, wie gerade Omar dazu kam. Er hatte sich politisch nie geäußert, und seine Entführung war damals erfolgt, als er - jedenfalls hatte es den Anschein gehabt - mit irgendwelchen Leuten ein Geschäft machen wollte. Der Sub-Mudir von Luxor hatte die Ermittlungen nach einem Jahr eingestellt - ergebnislos, versteht sich. Wollten sie weiterkommen, so mußten sie den Fall selbst in die Hand nehmen, was Shelley nicht ganz ungefährlich erschien. Auf der Suche nach einem Ansatzpunkt brachte Omar die Gruft zur Sprache, in der er gefangengehalten wurde. Sie müsse, sagte er, in einem bestimmten Umkreis des Steinschleifers liegen, denn er habe in seiner Einsamkeit das typische Geräusch vernommen, das die rotierenden Steine verursachen. Nach Rücksprache mit Howard Carter, der das Dorf el-Kurna archäologisch und kartographisch erfaßt hatte, kamen im Umkreis von dreihundert Fuß um die Steinschleifern sieben Gräber in Frage, drei hatten einen freien Zugang, vier lagen unter Häusern verborgen, alle sieben waren bekannt und wissenschaftlich ausgewertet. Omar beteuerte, sein Gefängnis blind wiederzuerkennen, auch wenn er es bei Licht nie richtig gesehen habe. Bei den frei zugänglichen Grüften handelte es sich um die Gräber des Amun-Priesters Antef, des Weisen Hapuseneb und des Generals Perreseneb. Von diesen Gräbern hatte keines die Ausmaße oder die Architektur, die für Omars Versteck in Frage kam. Sie mußten von der Liste gestrichen werden. Die vier überbauten Eingänge führten zu den Gräbern von Ipuemre, einem Hohenpriester unter Amenophis III., Imseti, einem Wundarzt, Duamutef, einem Haushofmeister unbekannter Zuordnung, und Teta-Ky, einem Weisheitslehrer der 18. Dynastie. Aber auch nach Untersuchung dieser Grabstellen mußte Omar eingestehen, daß er in keinem dieser Gräber gefangen gewesen sein konnte. 123
Natürlich machte Professor Shelley bei den Nachforschungen in el-Kurna wissenschaftliche Interessen geltend, aber dennoch begegneten die Dorfbewohner dem Eindringling mit großem Mißtrauen, und das Unternehmen hätte beinahe erfolglos abgebrochen werden müssen, wäre ihnen nicht der Zufall zu Hilfe gekommen. Ein streunender Hund jagte eines Morgens ein Kaninchen durch das Dorf. Das Kaninchen schien sich seiner Sache sicher, schlug wilde Haken und gab dem Köter immer wieder das Nachsehen. Omar beobachtete die Jagd mit Vergnügen und lief hinter dem Hund her. Plötzlich waren Hund und Kaninchen verschwunden, und Omar befürchtete schon das Schlimmste, da fand er den Köter hinter einem Haus vor einer Grube, die mit dicken Balken abgedeckt war. Knurrend starrte der Hund in einen Spalt, durch den ihm das Kaninchen entwischt war. Omar verscheuchte den Köter, hob einen Balken hoch und spähte nach dem Kaninchen. Er sah es nicht, dafür entdeckte Omar eine in den Sandstein geschlagene Treppe. Die Stufen waren verwittert, zum Teil verfallen, und führten gut zwanzig Fuß steil nach unten zu einer Holztür, aus rohen Brettern gezimmert und mit grüner Ölfarbe bemalt, so wie in el-Kurna die meisten Haustüren aussehen. Ein einfacher Riegel verschloß den Zugang von außen. Shelley schob ihn zurück und leuchtete mit einer Karbidlampe in das Innere. Der anschließende, roh behauene Gang machte eine Wendung nach rechts, nach wenigen Schritten abermals nach rechts und leitete zu einem Absatz, von dem aus eine weitere Steintreppe in die Tiefe führte. Omar konnte sich schwer vorstellen, daß dies der Zugang zu seinem Versteck sein sollte. Er erinnerte sich gut an die Reliefs und Malereien an den Wänden, bisher begegneten sie jedoch nur rohem Felsgestein. Am Fuße dieser Treppe hielt Shelley inne, denn die Stufen endeten geradewegs vor einem senkrechten Schacht, etwa zehn Fuß imQuadrat und so tief, daß der Schein der Lampe den Grund nicht erreichte. Der Weg ging unerreichbar auf der gegenüberliegenden Seite weiter. Das also war der Grund, warum der obere Zugang nur mit einem einfachen Riegel verschlossen war. Es stank süßlich nach Fledermäusen, die Karbidlampe fauchte. Omar schlug vor, eine der Bohlen von oben zu holen, mit denen der Zugang abgedeckt war, aber der Professor überzeugte ihn, daß die 124
Bretter viel zu kurz waren und längere nicht durch die Windungen des engen Korridors transportiert werden konnten. Ratlos leuchtete Omar in den unüberwindbaren Schacht, da fiel der Lichtschein nach oben, und er erkannte ein mächtiges Gewölbe, von dem ein Seil herabhing, dessen Ende seitlich hinter einem Mauervorsprung vertäut war. Das Seil war neu und machte einen kaum benützten Eindruck. Der Professor knotete es los, prüfte es auf seine Festigkeit und ließ es ein paarmal von der einen Seite des Schachtes zur anderen schwingen, um es wieder aufzufangen. Omar sah Shelley an, sie dachten wohl beide dasselbe: Würde das Seil halten? Oder war das Pendel eine Falle? Gefahr macht Mut. Wortlos nahm Omar dem Professor das Seil aus der Hand, prüfte es noch einmal auf seine Festigkeit, zog sich mit den Armen hoch und schwang sich über den Abgrund. Dann schickte er das Seil zurück, und Shelley befestigte die Karbidlampe an seinem Gürtel und tat es ihm gleich. Nachdem sie das Seil an einem offensichtlich dafür vorgesehenen Haken festgezurrt hatten, wandten sie sich dem weiterführenden Weg zu und gelangten in einen größeren Raum. In der Mitte des Bodens klaffte ein Loch, daneben lag ein aus Holz gezimmerter Deckel, darauf eingerollt eine Strickleiter, und Omar befiel eine Ahnung. Er erinnerte sich, wie sich nach endlosen Tagen einsamer Finsternis die Decke geöffnet hatte, wie eine Strickleiter nach unten gefallen war, und der zitternde Schein einer Laterne die Wände der Gruft furchterregend erleuchtet hatte. Omar klinkte die Strickleiter an dem hölzernen Deckel ein, nahm den Henkel der Lampe zwischen die Zähne und begann vorsichtig den Abstieg, Shelley folgte nach. Unten angelangt hielt Omar die Karbidlampe in die Höhe. »Ja«, sagte er leise, »ich erkenne alles wieder, die Göttergestalten, den Streitwagen mit den sechsspeichigen Rädern und hier« - er leuchtete nach unten - »den Sarkophag mit den Überresten einer Mumie. Ja, hier war ich gefangen, auf diesem Schilfbündel habe ich gelegen. Allein Allah weiß, wie ich hier wieder herausgekommen bin.« Professor Shelley nahm Omar die Karbidlampe aus der Hand, um die Hieroglyphen näher zu begutachten. »Wenn mich nicht alles täuscht«, meinte er, nachdem er die Zeichen eingehend geprüft hatte, 125
»befinden wir uns im Grab eines Edlen namens Antef, der als Rossebändiger für den Pharao tätig war.« Fasziniert von der unerwarteten Entdeckung, nahm Shelley nicht wahr, daß Omar wie vom Fieber befallen am ganzen Körper zitterte. Erst als er eine Frage stellte und keine Antwort erhielt, richtete er die Lampe auf den Jungen. Omar klammerte sich an der Strickleiter fest. Die Erinnerung an die endlose Zeit im Verlies war zuviel für ihn, und er drängte zum Aufbruch. Als sie das Tageslicht erreicht hatten, ging Omar um das Haus herum, hinter dem sie auf den Grabeingang gestoßen waren, und was Omar vermutet hatte, wurde zur Gewißheit: Es war das Haus des alten Yussuf. In den Tagen nach dieser Entdeckung lag Omar darnieder ohne ersichtlichen Grund. Sein Körper verweigerte jede Nahrung, und während alle seine Gedanken um das Mädchen kreisten und die unselige Verquickung der Verhältnisse, fragte er sich in seinen Wachträumen, ob das Leben für ihn überhaupt noch einen Sinn habe, ja, er litt mit einer Lust, die für gewöhnlich nur geheime Laster verschaffen. Zu Unrecht hatte Omar sich, wenn er zurückblickte, für eine starke Natur gehalten. Ya salaam, er war das Gegenteil, ein Schwächling, zwar fähig, körperliche Schmerzen mit Heldenmut zu ertragen, aber wenn es um Seelenleid ging, ein Hasenfuß. Der Sommer war gnadenlos heiß wie seit Menschengedenken nicht mehr, und der Nil führte, trotz regelmäßiger Wasserzufuhr aus dem Stausee des Dammes von Assuan, nur noch die Hälfte seines Wassers. Dankbar nahm Omar feuchte Tücher entgegen, die ihm Nunda in regelmäßigen Abständen auf die Stirn legte. Sie hatten kaum ein Wort gewechselt seit jenem denkwürdigen Vorfall im Garten; und obwohl er seine Grobheit längst bereut hatte, war er seinem harten Verhalten treu geblieben. Nun aber, in einem kaum erklärbaren Kurzschluß der Gefühle, riß Omar Nunda, als sie gerade dabei war, das Handtuch auf seiner Stirn zu wechseln, an sich, daß sie einen kleinen Schrei ausstieß. Ihr sanftes Gesicht, die Wölbungen ihrer Brüste und Schenkel steigerten sein Verlangen, und flink, wie es einem Kranken überhaupt nicht zukam, wand er sich unter Nunda hervor, bestieg sie mit einem unanständigen Blick des Triumphes und nestelte das dünne Kleid von ihrem Körper. Als Nunda lustvoll entblößt vor ihm lag, da nahm er sie wild und 126
ungestüm wie ein Reitknecht, der der Stute die Peitsche gibt, und mit dem unwiderstehlichen Zwang, ihr Schmerz zuzufügen; und jenes Erlebnis machte ihn Halima vergessen. Auf diese seltsame Weise gesundete Omar unerwartet von einem Tag auf den anderen, so unerwartet, daß er vor sich selbst erschrak und, von trüben Gedanken befreit und befreit von Gefühlen, nicht verstehen konnte, warum er all seine Gedanken für Halima verschwendet hatte. Ein treuer Hund, ein treues Pferd, bedeuten mehr als tausend Weiber. Omar war nun sechzehn, hellhäutig, stattlich hochgewachsen und von kräftiger Statur, und er befand sich gerade in jener Phase des Lebens, in der ein Mann zum ersten Mal glaubt, daß er alles Erlebenswerte auf dieser Erde erlebt hat, einer Mischung aus Dummheit und Hochmut, welche Männer im Laufe eines Lebens in steter Regelmäßigkeit befällt. Und so wurde auch Omar bald eines Besseren belehrt. Seit Wochen gab es Gerüchte, es werde Krieg geben, irgendwo in Europa: Österreich gegen Serbien, Deutschland gegen Rußland und Frankreich, Großbritannien gegen Deutschland und die Türkei. Europa schien weit, und Ägypten zeigte das Antlitz einer Sphinx. Es war am ersten Freitag im August, als Professor Shelley alle im Hause zusammenrief und ernst wie ein Koranprediger bekannt gab, der ägyptische Premierminister habe am 5. August ein Dokument unterzeichnet, das Ägypten praktisch zur Kriegserklärung gegen die Feinde Großbritanniens verpflichte. Kein Ägypter dürfe mit Untertanen eines mit Großbritannien im Krieg befindlichen Staates Verträge schließen, kein ägyptisches Schiff dürfe einen feindlichen Hafen anlaufen, britische Streitkräfte seien ermächtigt, in ägyptischen Häfen und auf ägyptischem Boden das Kriegsrecht auszuüben. Claire faltete die Hände, als wollte sie ein Gebet sprechen, aber sie schluckte nur und sagte: »Was soll nun werden. Christopher?« Shelley hob die Schultern; er saß steif wie eine Puppe in seinem Korbstuhl, den Blick an die Decke gerichtet, und ohne die Augen abzuwenden, sagte er leise: »Ich muß jeden Tag gefaßt sein, daß man mich ruft.« »Heißt das...« »Ja, das bedeutet, daß wir zurück nach England müssen.« Shelley 127
sagte müssen; denn nun, da seine Einberufung drohte, empfand er dieses Land, diesen Ort als wahres Paradies. Als er vor zwei Jahren hierhergekommen war, da hatten er und Claire im Kalender die Tage abgehakt und gezählt, wie lange sie noch bleiben wollten; aber das hatte sich schnell geändert. Seit sie das Haus bezogen hatten, fühlten sie sich hier zu Hause. Und wie es schien, dachten sie in diesem Augenblick beide das gleiche. »Ya Saldi«, fragte Omar kleinlaut, »wenn Sie zurück nach England müssen, was wird dann aus mir?« Der Professor schwieg. Omar konnte sich denken, was das bedeutete. Der Krieg hatte ihn bisher nicht berührt; aber nun war er auf einmal selbst betroffen, er mußte fürchten, von heute auf morgen auf der Straße zu stehen, ohne Arbeit, ohne Dach über dem Kopf, und er verfluchte den Krieg. Wochenlang lebte Omar so dahin, versunken in der Monotonie von Hoffen und Bangen und dem Bewußtsein eigener Ohnmacht. Der Professor hatte ihm zwar fest versprochen, für sein Fortkommen Sorge zu tragen, falls er Ägypten verlassen müßte, aber Omar wußte z u genau, daß in Zeiten der Not jeder sich selbst der Nächste ist. Inzwischen verschärfte sich die Lage; und in den Kaffeehäusern und auf den Straßen stellten sich die Menschen die Frage: Wie soll das weitergehen ? Am 18. Dezember hingen an allen öffentlichen Plätzen der Stadt, vor Ämtern und Behörden gelbe Plakate: »Der Staatssekretär für auswärtige Angelegenheiten Seiner Britannischen Majestät gibt bekannt, daß Ägypten angesichts der sich aus dem Vorgehen der Türkei ergebenden Kriegslage unter den Schutz Seiner Majestät gestellt und hinfort einen Teil des britischen Protektorates bilden wird. Die Souveränität der Türkei über Ägypten hat damit aufgehört. Die Regierung seiner Majestät wird alle Maßnahmen zur Verteidigung Ägyptens und zum Schutz seiner Bewohner und Interessen ergreifen.« Am folgenden Tag wurde der Khedive Abbas Hilmi, der sich in Konstantinopel aufhielt, von den Engländern abgesetzt, Prinz Hussein Kemal, der älteste lebende Prinz aus dem Hause Mehmet Alis, trat die Thronfolge an und durfte sich fortan Sultan von Ägypten nennen. 128
Auf dem Weg nach Der el-Medine erreichte den Professor ein Stellungsbefehl nach Syrien. In Syrien konzentrierten sich türkische Armeen, und die Engländer mußten einen feindlichen Vorstoß zum Suezkanal befürchten. Da traf es sich gut, daß Omar und Shelley auf dem Nachhauseweg, den sie schweigend zurücklegten, einem Lautsprecherwagen der britischen Armee begegneten. Auf dem Dach des Automobils, das im Schrittempo durch die Straßen rollte, war ein großer schwarzer Trichter befestigt, aus dem, lauter als der Ruf des Muezzins, schrille Musikfetzen ertönten, unterbrochen von einem unsichtbaren Rufer, der zum Eintritt in das ägyptische Arbeiterkorps aufforderte. Zwei Tage später saß Omar in der Eisenbahn nach Kairo. Er hatte, wie er glaubte, nichts weiter als seine Arbeitskraft feilgeboten, in Wirklichkeit jedoch hatte Omar seine Seele verkauft. Aber das wußte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Geld läßt sogar den Teufel tanzen, und zwei Pfund die Woche waren viel Geld für einen Jungen von sechzehn Jahren. Der Zug bestand nur aus Coupes vierter Klasse, was Omar nicht weiter störte - er war noch nie dritter Klasse gereist -, störend wirkte eher, daß die Freiwilligen in die Waggons gepfercht wurden wie Kälber auf dem Weg zum Schlächter. Guter Lohn, freie Kost und Unterkunft hatten Tausende angelockt; sie kamen von überall her aus Assuan, Kom Ombo, aus Edfu und Armant, Kus und Kena, und ihr Ziel hieß Ismailia am Suezkanal. Von dort, so lautete ihr Auftrag, sollte eine Eisenbahnlinie durch die Sinaiwüste getrieben werden. In den zwei Tagen, die der Zug nach Ismailia brauchte, verließen die Freiwilligen ihre Coupes nur zweimal, jeweils auf freier Strecke zur Verrichtung der Notdurft. Während der Fahrt wurde Zwieback verteilt. Fladenbrot aus schlechtem Mehl und Tee in Blechtassen, vier Stück pro Coupe. An Schlaf war nicht zu denken, weder bei Nacht noch bei Tag. Die einen grölten markige Lieder, andere erzählten Zoten. Abgestumpft und seiner Umgebung ausgeliefert, hockte Omar auf seinem Bündel und versuchte trübe Gedanken zu vertreiben. Er war versucht, in Ismailia die Eisenbahn zu verlassen und eigene Wege zu gehen; aber wohin sollte dieser Weg führen? Früh am Morgen, im Osten dämmerte rötlich das Licht, erreichte die Eisenbahn Ismailia. Britische Colonels in khakifarbenen Uniformen brüllten Kommandos mit schneidenden Stimmen, die niemand 129
verstand. Unter heftigen Bewegungen gelang es ihnen jedoch, die Freiwilligen vor dem Bahnhof zu Aufstellungen von jeweils dreihundert Mann zu formieren. Durch die schmalen Gassen der Stadt, deren niedrige Häuser halb zerfallen waren, fegte ein schneidender Wind. Vor den Häusern standen Becken mit glühenden Kohlen, Berge von Unrat türmten sich auf, es stank erbärmlich. Verschleierte Frauen mit auf den Rücken gebundenen kleinen Kindern huschten verängstigt vorbei und verschwanden in niedrigen Türen, andere traten vor die Häuser und machten sich über die Männer lustig und begegneten ihnen mit obszönen Gesten. Kleine Jungen hüpften neben den Kolonnen her und versuchten ihren Gleichschritt nachzuäffen. Straßenköter kläfften, und Hühner stoben aufgeregt auseinander. So erreichten die Männer das riesige Zeltlager am Rande der Stadt. Um einen Fahnenplatz, den eine unübersehbare Reihe britischer Flaggen säumte, waren schachbrettartig Zeltstraßen angeordnet, schmutziggrüne längliche Zelte, wohl dreitausend an der Zahl, dazwischen Vorrats- und Lagerzelte, offene Pferche mit Kamelen, Maultieren und Eseln, Jauchewagen als Trinkwasser-Reservoire und mit senkrechten Zeltplanen abgezäunte Bezirke, Latrinen. Der Sinai zwischen Suez und dem Golf von Akaba ist eine steinige, steppenartige Wüste, im Süden zu hohen Gebirgen aufragend, nach Norden hin karstig und mit weiten Ebenen, in denen nur selten ein Wadi oder eine Oase Dattelpalmen, Malven, Stechginster und Saxaul Nahrung bietet. Dafür gibt es viele wilde Tiere, Steinböcke und Gazellen, die nachts von Hyänen und Schakalen gejagt werden, und gefährliche Schlangen. In dieser menschenfeindlichen Gegend fallen die Temperaturen zur Winterzeit nachts bis auf den Gefrierpunkt, während tagsüber die Sonne stechendheiß vom Himmel brennt. Lärmend stürmten die Männer die Zelte, als hätte nicht eines dem anderen geglichen in seiner primitiven Ausstattung: Planen auf dem sandigen Boden, pro Mann eine Decke, in der Mitte ein zerlegbares Eisengestell mit Blechgeschirr, mit Filz bezogene Feldflaschen. Und unversehens befand Omar sich in Gesellschaft von neun anderen, die meisten gut doppelt so alt wie er. Omar nahm den Schlafplatz gleich neben dem Eingang in Beschlag, indem er sein Bündel auf die Decke am Boden warf, doch das mißfiel einem hochgewachsenen, hageren Alten, er drängte den Jungen, ohne ein Wort zu sagen, zur Seite und 130
zeigte mit dem Kopf in die hintere Ecke. Omar gehorchte. Der Mann hieß Hafiz, mehr war aus ihm nicht herauszulocken, zumindest nicht in den ersten Tagen. Der erste Tag verging mit einer Ansprache von Oberst Robert Salt auf dem Fahnenplatz, in der er, unterstützt von einem ägyptischen Dragoman, die Arbeitsbedingungen bekanntgab: zehn Stunden täglich mit Schaufel und Hacke, Arbeitsziel eine Meile Geleise pro Tag. Ein paar Männer murrten. Salt griff sie wahllos aus der Menge, brüllte sie an, daß der Dolmetscher Mühe hatte, seinen Worten zu folgen, und trieb sie eigenhändig mit einer ledernen Reitpeitsche, die er für gewöhnlich dazu benutzte, seine Rede mit Schlägen auf seine linke Handfläche zu unterstreichen, aus dem Lager. Der Vorgang machte Eindruck, Salt war von diesem Augenblick an gefürchtet. Noch während er, auf einem kleinen Holzpodest stehend, umgeben von einem Dutzend britischer Soldaten, redete, erhob sich von Norden ein Sturm. Zuerst fegte er zaghaft kleine Wirbel Sand und Staub über den Boden, dann, als er heftiger wurde, begannen den angetretenen Männern die Augen zu tränen. Salt schien dies nicht zu bekümmern, er schrie gegen den Wind an und verkündete, daß die Eisenbahnlinie durch den Sinai eigentlich keine britische Angelegenheit sei, sondern vor allem dem ägyptischen Volk zugute komme, und es sei eine Ehre für jeden Ägypter, in dieser Pioniertruppe arbeiten zu dürfen. Als ein paar Männer Anstalten machten, sich den Sand aus den Augen zu wischen, da fuhr er sie mit drohender Haltung an, es sei ihre Pflicht, regungslos an Ort und Stelle zu verharren, und noch sei Gelegenheit, die Truppe zu verlassen für den Fall, daß sie nicht bereit seien, sich britischer Zucht und Ordnung zu fügen. Aber nicht einer folgte der Aufforderung, und Salt hatte das auch gar nicht anders erwartet. Salt, ein eleganter Endvierziger mit maßgeschneiderter Uniform und einem schmalen Oberlippenbärtchen nach Art eines Dandys, war ein alter Fuchs, der es verstand, mit Söldnern umzugehen. Der Sohn eines walisischen Buchhändlers hatte nach dem Wunsch des Vaters Pfarrer werden sollen, doch im Alter von achtzehn Jahren vor die Entscheidung gestellt, nahm er statt der Soutane die Uniform. Seine Noten auf der Kadettenschule waren bescheiden bis schlecht, doch Robert tat sich von Anfang an durch Wagemut und Härte hervor. Und weil Schlachten nicht mit dem Kopf, sondern mit der Faust entl31
schieden werden und weil er zunächst weder mit Weibergeschichten noch durch den Genuß von irischem Whisky auffiel — zwei Eigenschaften, welche in der Armee sehr verbreitet waren -, machte Salt eine erstaunliche Karriere. Als Neunzehnjähriger hatte er mit Gordon erfolglos in Khartum gekämpft, später unter Lord Kitchener mit mehr Erfolg als Kommandeur einer Einheit, und sein Aufstieg hätte ungeahnte Höhen genommen, wäre er nicht einer mysteriösen Krankheit zum Opfer gefallen, die allen Ärzten ein Rätsel blieb. Jedenfalls hatte Salt zwei Monate im Fieber verbracht, unfähig, sich auf den Beinen zu halten, und resistent gegen alle Medikamente. Als er sich wieder erhob - von Genesung konnte keine Rede sein -, da war Robert Salt ein anderer geworden, seine Persönlichkeit schien sich verändert zu haben. Whisky und Weiber wurden zum Lebensinhalt, vor allem aber verfolgte ihn die Spielleidenschaft bis in die Truppe. Bei jeder Gelegenheit, die sich ihm bot, zockte er mit Karten, und seine Spielschulden in Casinos und bei seinen Soldaten überstiegen sein Monatsgehalt bei weitem. Für den Einsatz beim ägyptischen Arbeiterkorps, so hieß es, habe er sich freiwillig gemeldet, doch die Aufgabe kam einer Degradierung gleich; nicht nur das, sie war das Ende seiner Karriere. Salt brüllte seine Rede zu Ende und befahl jenen, die lesen und schreiben könnten, vorzutreten. Es waren etwa zweihundert. Dann fragte er, wer von ihnen so gut die englische Sprache spreche, daß er Befehle an die Arbeiter weitergeben könne. Omar meldete sich. »Wie heißt du?« »Omar Moussa, Sir.« »Wie alt bist du?« »Achtzehn, Sir«, log Omar. Der Oberst ging einmal um den Jungen herum, musterte ihn von oben bis unten, schlug sich mit der Reitpeitsche in die Hand und fragte: »Schule?« »Keine, Sir.« Und als er den verwunderten Blick des Obersten sah: »Ich habe vier Jahre für einen englischen Professor gearbeitet. Er wurde eingezogen in die Armee Seiner Majestät, Sir.« Omar stand steif, die Hände an die Oberschenkel gelegt, als trüge er nicht seine Galabija, sondern eine britische Uniformhose, dazu hielt er das Kinn hoch, wie es militärischer Haltung entsprach - oder 132
besser: wie er glaubte, daß es militärischer Haltung entsprach , und er rührte sich auch nicht vom Fleck, als Salt sich den anderen zuwandte und die selben Fragen stellte. Etwa zwanzig waren übriggeblieben, zwanzig, die lesen und schreiben und Englisch konnten. Von ihnen hatte einer einen Holzstumpf statt des Unterschenkels, ein anderer war krumm und konnte sich nur auf einen Stock gestützt fortbewegen. Salt musterte sie mit einer unwilligen Handbewegung aus, als wären sie lästiges Ungeziefer. Während die übrigen zu Tausenden in ihre Zelte drängten, um vor dem Sandsturm Schutz zu suchen, hielt der Oberst die Auserwählten fest und unterwies sie in ihrer Aufgabe als Vorarbeiter, in Disziplin und Anstand, und wiederholt betonte Salt, daß auch im Arbeitslager Grußpflicht gegenüber den Soldaten Seiner Majestät bestehe. Der Sturm heulte und zerrte an den Zeltwänden, um den Platz knatterten die Fahnen wie geschundene Motoren, und Omar fühlte, wie Sand zwischen seinen Zähnen knirschte. »Stillgestanden!« brüllte Salt gegen den Sturm an, als er sah, daß sich einer aus der Reihe bewegte. Dann verlas er unter Schwierigkeiten die Dienstverordnung, welche von den Vorarbeitern dem Arbeiterkorps weitervermittelt werden sollte, vierzehn einzelne Punkte, die das Leben im Lager und bei der Arbeit regelten und die den Wachposten Fußtritte und Stockschläge zugestanden. Die Geschwindigkeit, mit der der feine Wüstensand auf die Haut traf, schmerzte im Gesicht, und Omar wünschte, er hätte sich zurückgehalten und seine Fähigkeiten verschwiegen. Er fühlte, wie sein Gesicht rot anlief, wie seine Augen hervortraten und zu tränen begannen, daß er den starrsinnigen Oberst nur noch schemenhaft erkennen konnte. Einen Augenblick schoß es ihm durch den Sinn, aufzuschreien und sich auf den Engländer zu stürzen, ihm mit der Faust ins Gesicht zu schlagen, damit der Wahnsinn ein Ende fände, aber dann hielt ihn sein Verstand zurück und irgend etwas in ihm weigerte sich, dem Oberst diesen Triumph zu gönnen. Der stand da mit einem Gesichtsausdruck provozierender Überlegenheit, die bisweilen zu einem sadistischen Lächeln ausglitt, und Omar konnte sich denken, daß er nur darauf wartete, bis einer in der Reihe aufgab. Salt indes fuchtelte wie ein Wahnsinniger mit seiner Peitsche herum, um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen, er gefiel 133
sich sichtlich in der Heldenrolle, die selbst dem Sandsturm auf dem Sinai trotzte, und er brüllte sich in einen Rausch, wie ihn irischer Whisky nicht nachhaltiger hätte bewirken können. Doch Allah straft den Hochmut. Ganz unerwartet geschah, worauf keiner gefaßt war: Die schneidende, stechende Stimme des Obersten Salt erfuhr auf einmal eine seltsame Wandlung, sie wurde leiser, er stieß nur noch unverständliche Laute hervor, stockte, und wie ein Baum, der lange dem Sturm standgehalten hat, aber irgendwann am Ende seiner Wurzelkraft angelangt ist, wankte er mit letzter Kraft und stürzte, selbst im Fallen noch militärische Haltung bewahrend, zu Boden. Offiziere schleppten ihn in sein Zelt. Auch am folgenden Tag kam der Sandsturm nicht zur Ruhe. Die Arbeiter rebellierten in ihren Zelten, weil der Verpflegungsnachschub ausgeblieben war. Es gab nur Wasser und gekochten Reis, und auch von diesem nur einen Blechnapf pro Mann und Tag. Untätig lagen die Männer in ihren Zelten herum, würfelten, redeten oder versuchten zu schlafen. Omar hatte von Anfang an einen schweren Stand, er hockte im hintersten Winkel des Zeltes und studierte die Arbeitspläne, die man ihm ausgehändigt hatte. Die anderen mochten ihn nicht. Kein Wunder, wenn sie sich vorstellten, daß er, der Jüngste, ihnen Befehle geben durfte. Vor allem bei Hafiz, dem hageren Alten, spürte Omar Haß in den Augen, wenn dieser ihn lange und durchdringend ansah. Am folgenden Tag flaute der Sandsturm ab, und vom Hafen bewegte sich ein endloser Zug von Karren und Maultiergespannen, welche Schwellen und Schienen herantransportierten. Britische Ingenieure begannen damit, Pfähle in den Schotterboden zu rammen, welche die Trasse der Eisenbahnlinie markierten. Die Ausgabe der Werkzeuge, Schaufeln, Hacken und Körbe, verzögerte sich, weil das Magazinzelt zum großen Teil mit Sand zugeweht war. Oberst Salt hatte wieder zu sich gefunden und kommandierte seine Offiziere, die wiederum ihre Vorarbeiter kommandierten. Ziemlich wahllos wurden die Arbeitskräfte in Gruppen von je dreihundert Mann eingestellt. Omar diente einem Offizier namens Clarendon, von seinen Kameraden wegen des langen Namens einfach Claire genannt, Sohneines reichen Schaffarm-Besitzers in Shrewsbury, mehr Abenteurer als Soldat, was er in Indien unter Beweis gestellt hatte. Claire gab den 134
Tagesauftrag bekannt, und Omar übersetzte seine Worte ins Arabische. Das Tagessoll eines Arbeiters betrug einen Kubikmeter; nur in schwierigem Gelände wurden Maschinen eingesetzt. Nach Berechnung der Briten mußten jeden Tag eine Meile Geleise gelegt werden. Der erste Lohn wurde bei sieben Meilen in Aussicht gestellt. Mit übermütigem Geschrei stürzten sich die Ägypter auf die Arbeit; aber schon nach wenigen Stunden erkannte Omar, daß seine Arbeitskräfte zwar wild herumschaufelten, daß aber der Bahndamm auf der abgesteckten Strecke von hundert Fuß um keine Elle wuchs, weil den Männern der Gebrauch von Schaufeln fremd war. Was sie auf ihre Schaufeln luden, verloren sie unter großem Amüsement, noch bevor die Schaufelladung ihr Ziel erreicht hatte. Omar lief zurück zum Magazin und forderte 150 Körbe an, die ihm jedoch verwehrt wurden; jeder Einheit stünden nur dreißig Körbe zu. Nach zehn Stunden Arbeit hatten sie nicht einmal die Hälfte des Tagessolls bewältigt, und wie es aussah, stand zu befürchten, daß sich die Bauarbeiten doppelt so lange wie veranschlagt hinziehen würden. Oberst Salt rief Offiziere und Vorarbeiter zu einer Krisensitzung zusammen, er brüllte und tobte, nannte seine Offiziere hirnloses Gesindel und die Arbeiter faules Pack und kündigte an, jeden, der sein Soll nicht erfüllte, eigenhändig auszupeitschen. »Sir!« Omar trat aus der Reihe der Vorarbeiter hervor. »Gestatten Sie mir eine Bemerkung.« Salt baute sich vor ihm auf, in gewohnter Manier mit seiner Peitsche hantierend. »Sir!« begann Omar. »Ich habe die Arbeiter beobachtet, sie können nicht schneller arbeiten...« »Sie können nicht, sie können nicht!« Salt lachte hämisch. »Ich werde dem faulen Pack Beine machen.« »Nein«, beharrte Omar, »die Ägypter sind den Umgang mit Schaufeln nicht gewöhnt. Ich weiß das von vielen archäologischen Allsgrabungen. Geben Sie den Männern Körbe, flache und breite Körbe, in die sie mit den Händen Sand und Geröll schaufeln können, und sie werden die Leistung verdoppeln.« Oberst Salt sah Omar an. Sein Vorschlag schien ungewöhnlich, wber einleuchtend. Nach einigem Zögern meinte er: »Angenommen, du hättest recht, wie viele Körbe brauchten wir dann?« 135
»Mindestens fünfzehntausend. Für je zwei Mann einen Korb.« Einer der Offiziere, dem das Magazin unterstellt war, wandte ein: »Wir haben nur tausend Körbe zur Verfügung.« Salt brüllte: »Dann besorgen Sie die restlichen vierzehntausend, Mann!« Zwei Tage später waren die notwendigen Körbe da, die Arbeit ging sichtlich schneller voran, und die Offiziere meinten, das Arbeitssoll könne nun ohne weiteres heraufgesetzt werden, zunächst auf eineinhalb, später auf zwei Kubikmeter. Omar protestierte, gab zu bedenken, ob die Arbeitskräfte nicht rebellierten, außerdem müsse der Lohn heraufgesetzt werden; aber seine Einwände blieben ungehört bei den Oberen. Der Schienenstrang wuchs. Nach einer Woche lagen acht Meilen Geleise, über die mit Zugtieren bereits Nachschub transportiert werden konnte. Salt gab Befehl, ein neues Lager zu errichten, damit An- und Abmarschwege verkürzt und die eingesparte Zeit der Arbeit zugeschlagen werden konnte, was bei den Arbeitern, die sich inzwischen an die weiten Wege gewöhnt hatten, Proteste hervorrief. Was die Eisenbahnlinie betraf, die für Omar anfangs nur ein verschwommener abstrakter Begriff war, beinahe ein Traum, den Schienenstrang schnurgerade durch die Wüste zu legen, so erfüllte ihn das Unternehmen nun auf einmal mit Stolz; ja, das Wachsen der Geleise in Richtung Osten stärkte sein Selbstbewußtsein, weil er mit seinen Leuten jeden Tag dazu beitrug. Auf einer Karte, die jeder Vorarbeiter mit sich führte, zeichnete er täglich mit blauem Kopierstift den erstellten Gleisabschnitt ein und ließ das Papier unter den Arbeitern herumgehen. Omar hatte die Galabija abgelegt und trug nun einen olivbraunen Arbeitsanzug der britischen Armee, der ihm mit seinen vielen Taschen praktischer erschien. Hätte er geahnt, was er damit auslöste, er hätte es nie getan. Denn nun unterschied er sich schon in der Kleidung von den übrigen Ägyptern, er erschien ihnen als ein anderer, mehr noch, als habe er sie verraten. Eines Nachts träumte Omar, das Zelt, in dem er schlief, stehe in Flammen. Der stinkende Qualm von versengtem Gummituch drohte ihn zu ersticken. Er schlug verzweifelt um sich und erwachte und merkte, daß der Traum kein Traum war, sondern furchtbare Wirklichkeit. Das Zelt war leer. Übereinandergestapelte Werkzeugkisten 136
verstellten den Ausgang, die Zeltwände um ihn herum brannten, der stechende Schmerz in seinen Lungen wurde unerträglich, und Omar fühlte, wie ihn das Bewußtsem allmählich verließ. Mit dem Mut der Verzweiflung rannte er halbnackt gegen die in Flammen stehende Zeltwand. Feuer schoß ihm ins Gesicht, verbrannte seine Waden, aber im selben Augenblick riß die lodernde Plane mit einem zischenden Geräusch, Omar landete im Freien und wälzte sich schreiend auf dem Boden. Sein Körper schmerzte, und als er mühsam die Augen öffnete, erkannte er über sich den alten Hafiz und eine Handvoll Manner aus seiner Mannschaft. Wütende, böse, kranke Augen starrten im Feuerschein auf ihn herab. Er konnte gerade noch erkennen, daß einer der Männer seine Schaufel erhob, daß er mit beiden Armen ausholte, mit irrem Blick auf ihn zielte, und in einem Reflex, wie ihn nur Menschen in Todesangst kennen, rollte Omar blitzschnell zur Seite, stürmte auf allen vieren durch die Beine der Umstehenden, rappelte sich hoch und rannte mit letzter Kraft zum Hauptplatz, wo die Zelte der Offiziere standen. Ein paar Engländer kamen ihm schreiend entgegen. Omar stammelte irgend etwas von Brandstiftung und Männern, die ihm nach dem Leben trachteten, dann verlor er das Bewußtsein. Seine Brandwunden erwiesen sich als nicht so gefährlich, wie es zunächst den Anschein gehabt hatte. Oberst Salt bekam einen Wutunfall, tobte durch das Lager, schlug mit seiner Peitsche gegen die Zelte und brüllte: »Sabotage! Niederträchtiges Gesindel! Ich bringe euch alle vor das Kriegsgericht!« Den britischen Offizieren gelang es nur mit Mühe, ihn zu beruhigen. Am folgenden Morgen mußte Omars Einheit auf dem Fahnenplatz antreten, dreihundert Männer in Reih und Glied. Zusammen mit Omar schritt Salt die Reihe ab. Er stieß mit dem Griff seiner Peitsche jedem einzelnen gegen die Brust und sah Omar fragend an, Omar schüttelte den Kopf. Als Hafiz an die Reihe kam, zögerte er einen Augenblick, aber dann verneinte er, ging weiter, und bei den übrigen, die er erkannte, verhielt er sich ebenso. Er sei, verteidigte sich Omar, viel zu aufgeregt gewesen, als daß er sich die Gesichter der Männer eingeprägt hätte. Mit dieser Haltung, die er instinktiv einnahm, ohne zu wissen, warum er so handelte, bewirkte Omar einen unerwarteten Stim137
mungsumschwung. Aus dem abgrundtiefen Haß, der selbst vor dem Töten nicht zurückschreckte, wuchs auf einmal Respekt und Bewunderung, ein Vorgang, der seltsam erscheinen mag, der einem Ägypter aber keineswegs fremd ist. Abends vor dem Feuer studierte Omar seine Pläne, als wäre nichts gewesen, da trat Hafiz an ihn heran. Der alte Hafiz, der in den drei Wochen, die sie nun zusammen waren, noch kein Wort mit ihm gewechselt hatte, blickte teilnahmslos in die Flammen und fragte: »Warum hast du das getan?« Omar tat, als wäre er in seine Pläne vertieft, und ohne aufzusehen entgegnete er: »Warum hast du das getan?« Das Feuer, mit trockenem Kamelmist geschürt, verbreitete penetranten Gestank, es verursachte zischende, singende Geräusche, die nun, da keiner dem anderen eine Antwort gab und sich langes Schweigen breitmachte, besonders auffielen. Die Geschwindigkeit, mit der Hafiz die Perlen seiner Gebetsschnur durch die Finger gleiten ließ, verriet Unruhe. »Wir hielten dich für einen Verräter«, begann er zögernd, »für einen Verräter an unserem Volk.« »Weil ich Hosen trage und ihre Sprache spreche?« ereiferte sich Omar und wies mit dem Kopf in Richtung der Offizierszelte. »Ich stamme aus Gizeh, wo die großen Pyramiden stehen, ich war Kameltreiber bis zu meinem zwölften Lebensjahr. Dann bekam ich die Chance, einen britischen Professor nach Luxor zu begleiten, als Diener, ich habe lesen und schreiben gelernt und die englische Sprache. Was — beim Barte des Propheten - ist daran verräterisch?« Immer mehr scharten sich, als das Gespräch in Gang kam, um Omar und Hafiz, sie hockten mit angewinkelten Beinen im Sand und verfolgten jedes Wort der beiden Kontrahenten. »Über unser Land«, begann Hafiz, »herrscht Kriegsrecht. Das bedeutet, wir, die Söhne Ägyptens, haben nichts mehr zu sagen im eigenen Land. Das ist furchtbares Unrecht. Man hat uns in einen Krieg hineingezogen, den wir nicht wollen, man hat uns Völker zum Feind gemacht, denen wir Freund waren. Die Briten behandeln uns wie dumme, unmündige Kinder, denen der Lehrer mit dem Schlagstock droht. Dabei lebten wir schon in kultureller Blüte, noch ehe Britannien auf irgendeiner Landkarte verzeichnet war.« Omar erwiderte: »Dem kann ich nicht widersprechen, und mich schmerzt es nicht minder, wenn ich sehe, wie mit unserem Land und 138
unserem Volk umgegangen wird. Nur scheint es mir besser, auf der Seite Großbritanniens zu stehen als auf der Seite des Osmanischen Reiches. Die Briten haben uns zumindest einen Sultan gegeben und uns die Unabhängigkeit nach dem Krieg versprochen...« Diese Worte brachten Hafiz in Wut, seine Augen funkelten wild,er griff hektisch mit der Hand in den Sand, schleuderte mehrere Handvoll in das Feuer und rief: »Alles leere Versprechungen, und du bist dumm genug, ihnen zu glauben. Was ist ein Sultan, der von Christenhunden eingesetzt wird! Eine erbärmliche Erscheinung. Wie sprach Mohammed, der Prophet, als einige Araber von ihm verlangten, er solle ein Jahr lang ihre Götter verehren, dann wollten sie Allah verehren? Er sagte: >0 ihr Ungläubigen, ich verehre nicht das, was ihr verehrt, und ihr verehrt nicht, was ich verehre, und ich werde auch nie das verehren, was ihr verehrt, und ihr wollt nie das verehren, was ich verehre. Ihr habt eure Religion, und ich habe meine!< So und nicht anders sprach er. Ein Engländer wird nie orientalische Religion und Politik verstehen, und Religion und Politik der Briten sind für einen Orientalen unbegreiflich.« Die Umsitzenden nickten zustimmend, und Hafiz fragte an Omar gewandt: »Begreifst du das, du britischer Knecht?« Omar sprang auf, als wollte er sich auf Hafiz stürzen, aber zwei von den Männern stellten sich ihm in den Weg, und so schrie er den Alten nur an: »Ich weiß nicht, wer von uns beiden verwerflicher handelt, ich oder du! Ich habe den Briten meine Arbeitskraft freiwillig verkauft, aber ich handelte nicht gegen meine Überzeugung. Du, Hafiz, bist eine jämmerliche Kreatur, nimmst Geld aus einer Hand, die du lieber heute als morgen abschlagen würdest.« Nach diesen Worten erhob sich ein aufgeregtes Geschrei, dem man entnehmen konnte, daß Omar mit seiner Meinung keineswegs alleine dastand. Er hatte sich jedenfalls mit seiner festen Haltung Respekt verschafft. Zwar traten ihm die Arbeiter nun nicht freundlicher gegenüber, aber Omar hatte, im Gegensatz zu vorher, nicht mehr das Gefühl, um sein Leben fürchten zu müssen. Die Gleisarbeiten schritten zügig voran, schneller sogar als vorausgeplant, weil der Nachschub über das neue Gleis herbeitransportiert wurde. Zweimal am Tag befuhr eine kleine Dampf und Feuer speiende Lokomotive, ein Dutzend Güterwagen im Schlepp, den Wüstenweg von der Baustelle nach Ismailia und zurück. 139
Eines Tages im Februar tauchten am Horizont im Nordosten dunkle Staubwolken auf, sie wurden größer und kamen näher, und unter den Arbeitern machte sich Unruhe breit. Britische Offiziere verkündeten schließlich, es seien türkische Gefangene auf dem Weg nach Kairo. Die Begegnung inmitten der Wüste Sinai wurde zu einem denkwürdigen Ereignis. Schweigend, entmutigt und gequält von derFurcht vor der Zukunft trotteten Tausende zerlumpter, ausgemergelter Türken an den gaffenden Ägyptern vorüber. Hie und da ein scheuer Blick, die meisten ließen die Köpfe hängen, viele trugen schmutzige, verkrustete Verbände. Britische Soldaten zu Pferde hielten sie mit harten Kommandos in der Reihe. So zogen sie willenlos am Bahngleis entlang in Richtung Westen und verschwanden am Horizont wie das Erscheinungsbild einer Fata Morgana. Omar empfand Mitleid, weil er vom Gefühl her auf Seiten der Schwächeren stand - war er doch selbst immer einer der Schwächeren -, und es fiel ihm schwer, das seltsame Erlebnis zu verdrängen. Obwohl die Türken Ägyptens Feinde waren und die Engländer auf ihrer Seite standen, brachte er mehr Sympathie für die Feinde als für die Freunde auf, vielleicht weil die Feinde zu Feinden und die Freunde zu Freunden gemacht worden waren, von einem Tag auf den anderen. Omar kämpfte mit der Vorstellung, daß es genau umgekehrt hätte kommen können, daß die Briten Ägyptens Feinde und die Türken ihre Freunde hätten sein können, und es dauerte Tage, bis er jenes Stadium erreicht hatte, in dem Gleichgültigkeit seine Gedanken besiegte. Entlang der Eisenbahnlinie wurden im Abstand von fünf Meilen Zeltlager aufgeschlagen, von denen aus die Männer ihre Arbeit aufnahmen. Nach weiteren fünf Meilen errichteten sie wiederum ein neues Lager, doch bauten sie von den vorhergehenden nur jedes zweite ab, so daß entlang des Bahndamms alle zehn Meilen eine kleine Zeltstadt angetroffen wurde, die als Magazin und Nachschublager diente. Kleine Mannschaften hielten die Bewachung aufrecht. Dort, wo der schnurgerade verlaufende Bahndamm die Hügel von Gebel el-Kasr kreuzt, wurde die größte Baustelle errichtet. Oberst Salt zog das gesamte Arbeiterkorps zusammen und teilte es in drei Gruppen. Ein britisches Sprengkommando legte mit Hilfe von drei 140
Tonnen Dynamit eine Schneise durch den Gebel el-Kasr. Die erste Gruppe räumte das Bruchgestein beiseite, die zweite planierte den Damm, die dritte legte Schwellen und Geleise - nach zwei Wochen war das Hindernis überwunden, und das Arbeiterkorps bewegte sich weiter nach Osten. Von Salt hatte Omar den Auftrag erhalten, zusammen mit Gerry Buxton, einem britischen Offizier, das Lager el-Kasr zu bewachen, eine durch und durch langweilige Aufgabe, für die ihnen zehn britische Soldaten und doppelt soviele ägyptische Arbeiter zur Verfügung standen. Zum ersten Mal in seinem Leben hielt Omar ein Gewehr in der Hand, und zum ersten Mal wünschte er, er hätte im Korps keine Verantwortung übernommen. In drei Schichten sicherten jeweils zehn Mann das Lager rund um die Uhr. Mehr als die Hitze des Tages und die Kälte der Nacht, mehr als die schwere Arbeit am Bahndamm quälte die Männer die Einsamkeit des unendlichen, steinigen Sinai und die Langeweile, wenn sie tatenlos in ihren Zelten herumlagen, Tabak qualmten und sich, entgegen strenger Verbote, aus den Whisky-Vorräten bedienten. Buxton deshalb zur Rede zu stellen erwies sich als sinnlos, weil Buxton sich selbst an dem Übelstand beteiligte. Beinahe täglich kam es zu Reibereien zwischen Ägyptern und Briten, wer wem Anweisungen zu geben habe, und zu Schlägereien, deren Schlichtung bald mehr Aufwand erforderte als ihre eigentliche Aufgabe. Und weil der Koch krank wurde und von den übrigen keiner in der Lage war, seine Arbeit zu übernehmen, gab es seit Tagen zu allen Mahlzeiten nur Tee, Kastenbrot und Sardinen, was die Stimmung nicht gerade förderte; man kann sagen, die Stimmung war explosiv, und nach massiven Drohungen erklärte sich Gerry Buxton bereit, mit der nächsten Dampfeisenbahn nach Osten zu fahren, wo sich Salt aufhielt, um ihn über die Lage zu informieren und Abhilfe zu schaffen. Inzwischen hielt Omar die Stellung. Als Buxton nach zwei Tagen noch immer nicht zurück war, verweigerten Briten und Ägypter gemeinsam den Dienst, und auch Omars beschwörende Reden halfen nichts. Das Lager lag Tag und Nacht offen und unbewacht, und Karawanen und Ziegenhirten, die zufällig des Weges kamen, konnten sich nach Bedarf bedienen. Am dritten Tag entschloß sich Omar, Buxton zu suchen. Er fuhr am Morgen mit der Eisenbahn in östlicher Richtung und fand ihn am Ende 141
der Strecke in angeregter Unterhaltung im Kreise britischer Offiziere, als hätte er seinen Auftrag vergessen. Noch während der anschließenden Unterredung mit Oberst Salt hörte man in der Ferne eine gewaltige Detonation. Kurz darauf quoll im Westen ein schwarzer Rauchpilz in den Wüstenhimmel. »Sabotage! Sabotage!« Salt schrie wie ein angestochener Stier, rannte aufgeregt durch das Lager und sammelte bewaffnete Soldaten um sich. Noch wußte niemand, was eigentlich geschehen war, aber der Oberst drohte, falls das Pulvermagazin am Gebel el-Kasr in die Luft geflogen sei, werde er Omar und Buxton vor ein Kriegsgericht stellen. Das tatsächliche Geschehen übertraf alle Vermutungen. Als die Dampfeisenbahn sich dem Gebel näherte, gab der Lokomotivführer aufgeregte Zeichen nach hinten, wo Salt, Buxton und Omar und eine Handvoll bewaffneter Offiziere auf den Holzbänken eines offenen Güterwaggons Platz genommen hatten. Omar lehnte sich weit aus dem Waggon heraus, um irgend etwas erkennen zu können, aber der Dampf der Lokomotive nahm ihm die Sicht, jedenfalls solange bis das stählerne Ungetüm unerwartet und kreischend auf freier Strecke anhielt. »Endstation!« rief der Lokomotivführer, während er über eine Eisenleiter seinen Führerstand verließ. Salt und die anderen folgten ihm nach und näherten sich vorsichtig einem verwüsteten Krater, der sich vor ihnen auftat. Wie Schilfrohre geknickt hingen die Geleise über dem Erdtrichter, der zwanzig Fuß in der Breite maß, in der Tiefe nicht weniger. Die Gewalt der Explosion hatte die Eisenbahnschwellen von den Schienen gerissen und zusammen mit Geröll und Felsgestein in das angrenzende Lager geschleudert und dabei Zelte und Gehege zerfetzt wie ein tobender Chamsin. Die Männer überfiel lähmendes Entsetzen. Vor allem die unheimliche Stille und das Fehlen jedes Lebenszeichens ließ sie erschauern, und sie schienen geistesabwesend, bis Salt begann, umständlich den obersten Knopf seiner Uniformjacke zu öffnen und nach Luft zu schnappen. »Das ist Sabotage!« sagte der Oberst leise, beinahe flüsternd, und mehr als einmal wiederholte er diesen einen Satz: »Das ist Sabotage!« Es schien, als verschafften ihm die Worte auf eigentümliche Weise Beruhigung in einer Situation höchster Erregung, als sam142
melte er Kraft für einen gewaltigen Zornesausbruch, wie er allen aus seiner Umgebung geläufig war. Aber nichts von all dem geschah. Salt schlich schweigend um den Erdkrater, zog zerfetzte Zeltbahnen beigeite und stocherte im Unrat herum, mit dem das Lager übersät war. Von der Besatzung fehlte jede Spur. Es lag nicht allein an den winzigen Ausmaßen des Fensters, daß kaum Licht in die Zelle drang: Das vergitterte Fenster führte in einen Lichtschacht, der zu ebener Erde mit einem weiteren Gitterrost versehen war. Die Zellen, ein Stockwerk unter der Erde, gehörten zu einer ehemaligen Kaserne am Rande von Ismailia, die dem britischen General Sir Archibald Murray als Hauptquartier diente. Omar war am Gebel el-Kasr verhaftet und von zwei bewaffneten Soldaten nach Ismailia gebracht worden. Oberst Salt beschuldigte ihn des Hochverrats; er hatte Omars Beteuerungen, das Komplott habe sich hinter seinem Rücken und ohne sein Wissen abgespielt, keinen Glauben geschenkt. Salt fehlten zwar Beweise, er kündigte jedoch an, beim anstehenden Kriegsgerichtsverfahren Zeugen zu benennen. Die Zelle, zehn Schritte in der Länge, in der Breite weniger als die Hälfte, wobei an jeder Wand eine Pritsche stand, verbreitete einen säuerlichen, ekelerregenden Geruch, daß Omar am Anfang kaum zu atmen wagte. In den ersten Tagen, die er allein in dieser beklemmenden Umgebung verbrachte, überkam Omar das panische Gefühl seines unabwendbaren Endes. Er wußte, was ein Prozeß vor dem Kriegsgericht bedeutete und daß jeder Schuldspruch den Tod durch Erschießen zur Folge hatte. In seiner Verzweiflung über das Unabwendbare, das jede Widerstandskraft schwinden läßt, steigerte er sich in eine Art Wahnsinn, der ihn dazu brachte, mit theatralischen Ge sten laute Verteidigungsreden zu führen und Verse des Koran herauszuschreien, welche die Gerechtigkeit Gottes zum Inhalt hatten, so wie es Taha ihn gelehrt hatte. Nahrung, zweimal am Tage durch eine Klappe in der Tür geschoben, verweigerte er, nicht aus Trotz oder Protest, sondern aus Unfähigkeit, in dieser Situation irgend etwas zu sich zu nehmen. Am vierten Tag seines Aufenthaltes, als sein klares Bewußtsein zu zerbrechen drohte, erhielt Omar unerwartet einen Zellengenossen, Im fahlen Licht, das durch das hohe Milchglasfenster einfiel, erkannte er die dunklen, verhärmten Züge eines Ägypters, gewiß 143
keines Bauern oder Hirten, eher eines lesensund schreibenskundigen Beamten aus einer Behörde. Omar streckte dem Neuen die Hand entgegen und sagte freundlich : »Ich heiße Omar.« Aber der andere mißachtete die Anbiederung und drehte ihm wortlos den Rücken zu. In der Nacht schreckte Omar hoch, er konnte nichts sehen, der Neue hatte ihn am Arm gepackt und schüttelte ihn heftig. »He!« rief er leise. »He, du hast geträumt, du redest wirres Zeug.« Omar stammelte irgendeine Entschuldigung und starrte angstvoll in die Dunkelheit. »Was faselst du von Dynamit?« erklang die Stimme aus der Dunkelheit. »Du hast gerufen: >Ich sprenge euch alle in die Luft!« »Ich weiß nicht«, log Omar. »Ich heiße Nagib ek-Kassar«, kam es von gegenüber. »Omar Moussa«, entgegnete dieser, dann entstand eine lange Pause. Schließlich nahm Omar allen Mut zusammen und sagte in leisem Ton: »Die Briten werfen mir Sabotage vor. Sie machen mich für die Sprengung der neuen Eisenbahnlinie durch den Sinai verantwortlich ...« Nagib pfiff durch die Zähne, und es klang beinahe anerkennend. »Und?« »Was und?« »Ich meine, hast du es getan?« »Natürlich nicht!« rief Omar entrüstet, und im selben Augenblick überfiel ihn der Gedanke, der andere könnte ein Spitzel sein, um ihn auszuforschen. »Und du?« fragte er neugierig. »Spionage«, antwortete ek-Kassar, und wieder entstand eine endlose Pause. »Was hast du ausspioniert?« erkundigte sich Omar. »Nichts, überhaupt nichts«, erregte sich Nagib ek-Kassar. »Ich habe in Raschid und Sakkara Karten gezeichnet, archäologische Karten. Ohne es zu wissen, wurde ich von Briten wochenlang beschattet.« »Archäologische Karten, sagst du?« »Ja. Ich bin Archäologe. Ich habe in Berlin studiert. Bei Ausbruch des Krieges mußte ich zurück nach Ägypten.« Omar setzte sich auf, und während er ins Dunkel starrte, überlegte er, ob er sich dem Fremden anvertrauen und ihm sagen solle, 144
daß er bei Professor Shelley gearbeitet habe, aber sein Mißtrauen war zu groß, er schwieg. »Sie haben kein Recht, uns so zu behandeln«, polterte der andere los. »Kolonialistenpack! Aber die Zeit wird kommen, da...« »Leise!« mahnte Omar. »Die Wachen lauschen nachts vor den Türen.« Im Verlauf des Gespräches, das die ganze Nacht andauerte, gewann Omar den Eindruck, daß ek-Kassar die Wahrheit sagte, daß er keineswegs ein britischer Spitzel war, dennoch entschloß er sich zu allergrößter Vorsicht. Der Haß, mit dem Nagib gegen die Briten redete, konnte eine Falle sein. Nach einer Woche gemeinsamen Schicksals begannen Omar und Nagib allmählich Zutrauen zueinander zu fassen. Es war ein behutsames gegenseitiges Abtasten, und dabei erwiesen sich die endlosen Nächte, in denen keiner den anderen sehen, nur hören konnte, dieser Entwicklung am dienlichsten. Im Dunkeln gesprochene Worte, ohne jede Geste und Mimik, gewinnen an Intensität. Und Nagib redete sich, wenn er des Nachts zu sprechen begann, jedesmal in eine ungezügelte Wut gegen die Briten und alle Kolonialisten, und er gebrauchte dabei so überzeugende Argumente, daß Omars Zweifel an der Lauterkeit seines Zellengenossen schwanden. Nagib schien, im Gegensatz zu Omar, der in immer größere Mutlosigkeit verfiel, aus seiner radikalen Überzeugung Kraft zu beziehen, eine Haltung, die Omar Bewunderung abnötigte. Er beruhigte Omar, er müsse keine Angst vor der Zukunft haben, er, Nagib, habe viele Freunde, und die würden niemals zulassen, daß ihm auch nur ein Haar gekrümmt würde, und er, Omar, könne sich ganz auf ihn verbissen. Omar schenkte den beschwichtigenden Worten Nagibs keinen Glauben, er hielt sie für einen billigen Trost in auswegloser Situation. Dann aber, eines Nachts, kam es zu einer seltsamen Begebenheit: Omar erwachte; ihm schien es, als klopfte jemand gegen das vergitterte Zellenfenster. »Nagib, Nagib!« flüsterte Omar. »Hörst du?« »Ja«, erwiderte Nagib. »Was bedeutet das?« »Bin ich Allah?« fragte Nagib zurück. Das Klopfen wurde lauter. 145
»Steh auf!« flüsterte Nagib. »Stelle dich mit dem Rücken zur Wand und verschränke deine Hände.« Omar tastete sich in der Dunkelheit zur Wand und tat, wie ihmgeheißen. Mit dieser Hilfestellung konnte Nagib das Fenster erreichen und den Querriegel öffnen, so daß sich zwei Fensterhälften nach außen öffneten. »Was ist los, Nagib?« rief Omar von unten ungeduldig. Das Gewicht des Zellengenossen schmerzte in seinen Fingern. Er hörte, wie Nagib mit irgend etwas herumhantierte, und fragte bange: »Wie lange muß ich dich noch so halten?« Nagib kicherte, und Omar hätte am liebsten losgelassen, damit Nagib heruntergefallen wäre, weil er nicht antwortete, aber dann hörte er seine Stimme: »Gar nicht so einfach, eine Flasche durch das Eisengitter zu kriegen. Runter!« »Was ist los?« wiederholte Omar, während er Nagib auf den Boden gleiten ließ. »Jemand schickt uns was zu trinken für die Nacht?« »Was?« »Ja, vor dem Fenster hing an einer Schnur diese Flasche.« Er drückte sie Omar in die Hand. »Eine Flasche? Was hat das zu bedeuten?« Omar gab die Flasche zurück. Und während Nagib mit den Zähnen den Korken entfernte, sagte er selbstbewußt: »Ich habe dir doch gesagt, daß ich viele Freunde habe.« In der Dunkelheit war zu hören, wie Nagib aus der Flasche trank. »Whisky«, zischelte er zufrieden, »irischer Whisky.« Omar war sprachlos. Auch als Nagib ihm die Flasche in die Hand drückte mit der Aufforderung, einen tiefen Schluck zu nehmen, brachte Omar kein Wort hervor. Er roch an der Flasche, aber ihn ekelte vor dem Inhalt; er gab sie zurück, ohne auch nur daran genippt zu haben, und legte sich auf seine Pritsche. Nagib genoß den Whisky wie eine lange entbehrte Droge, er gab wohlig grunzende Laute von sich und führte, weil Omars Schweigen ihn störte, Selbstgespräche, in denen er im Überschwang die Freundschaft und Ägyptens Zukunft pries. Wenn er dabei bisweilen zu euphorisch-laut wurde, mahnte Omar zur Ruhe. Er glaubte schon, der Alkohol habe ihn eingeschläfert, da begann Nagib im Flüsterton eine flammende Rede zu halten auf Sa'ad Zagh146
lul, den Führer der ägyptischen Nationalisten, und ihre gemeinsame Sache. Und jedesmal wenn auf dem Zellengang die Stiefelschritte der Wachposten erschallten, sah sich Omar gezwungen, dem betrunkenen Zellengenossen den Mund zuzuhalten. Zurück auf seiner Pritsche, die ein Teil seines Lebens geworden war, hörte er Nagib zu, der selbst im Suff durchaus vernünftige Dinge predigte, daß Ägypten den Ägyptern gehöre und niemandem anderen auf der Welt und daß den Briten das Schicksal Ägyptens in diesem Krieg ganz egal wäre, ging es nicht um den Suezkanal und den Seeweg nach Indien. Gegen Morgen, als durch das hohe Fenster das erste Licht fiel, wurde Nagibs Zunge immer schwerer, die Pausen seiner Rede immer länger, und irgendwann - Omar hatte es zunächst gar nicht bemerkt - schlief Nagib ein. Noch vor dem Morgenappell versuchte Omar die leere Flasche zu verstecken, er dachte daran, sie in dem Zinkeimer zu versenken, der für die tägliche Notdurft in einer Ecke stand. Dabei betrachtete er die eckige Flasche von allen Seiten und machte eine seltsame Entdeckung: Auf der Rückseite des Etiketts, die nur zu erkennen war, wenn man durch die Flasche hindurchsah, waren mit flinken Strichen die Umrisse einer Katze gezeichnet, geradeso wie das Brandmal auf seinein Arm. Omar erschrak. Was hatte das zu bedeuten? Er betrachtete den schlafenden Zellengenossen und lauschte seinem schweren Atmen. Omar war nicht leicht in Angst zu versetzen, aber in diesem Augenblick wünschte er, er hätte sich nie zum Arbeiterkorps gemeldet. Die Flasche in seinen Händen zitterte, und Omar spürte kalten Schweiß im Nacken. Durch die Zellentür drangen die Schritte der Wachsoldaten, danach die Rufe »Morgenappell Morgenappell!«, so wie er es nun schon seit einem Monat gehört hatte. Nagib schlief tief. Als der Schlüssel sich im Schloß der Zellentür drehte, steckte Omar die Flasche blitzschnell unter seine Matratze. Dem Wachoffizier erklärte er, Nagib sei krank, er habe die ganze Nacht mit Magenkrämpfen zugebracht, man möge ihn in Ruhe lassen. Nach dem kargen Frühstück - Tee und dunkles, trockenes Stangenbrot – und dem Morgenappell kehrte Omar in seine Zelle zurück. Nagib röchelte vor sich hin, ein ziemlich unangenehmes Geräusch. Die Hände hinter dem Kopf verschränkt, starrte Omar auf seiner Pritsche zur Decke, wo sich vergilbte Ölfarbe in kleinen Dreiecken 147
löste. Beinahe fünf Jahre waren seit jener seltsamen Entführung verstrichen, die ihn um ein Haar das Leben gekostet hatte, deren genaue Hintergründe jedoch nie geklärt worden waren. Omar hatte das mysteriöse Ereignis, das so viele Spuren hinterlassen hatte, die jedoch allesamt keinen Sinn gaben, schon vergessen, oder besser: verdrängt, aus seinem Gedächtnis getilgt; alle weiteren Nachforschungen waren ihm reichlich sinnlos erschienen, ja, gefährlich, und Unwissenheit hatte sich als das beste Heilmittel erwiesen. Möglicherweise war er das Opfer eines Irrtums geworden, einer Verwechslung, was freilich nicht die Rolle erklärte, die Yussuf und seine Tochter Halima dabei spielten. Halima — noch immer hatte er dieses Mädchen nicht vergessen. Er hatte lange mit der Enttäuschung gelebt, Halima habe ihn hintergangen, sie habe ihn mit ihrer Zuneigung von einem Geschehen ablenken wollen, das hinter seinem Rücken ablief. Gewiß, er war damals jung und unerfahren gewesen, aber er wollte nie an eine derartige Hinterhältigkeit glauben. Ganz gleich, aus welchen Gründen sie über Nacht verschwinden mußte, sie hatte es nicht freiwillig getan. Vielleicht war sie auf ebenso unerklärliche Weise in ein Komplott verwickelt wie er, jedenfalls rechtfertigte ihr Verschwinden nicht, sie zu verurteilen. Das alles kam Omar in den Sinn, während er dalag und Nagibs schwerem Atmen lauschte. Daß ihn ausgerechnet hier, in dieser Gefängniszelle, die Vergangenheit einholen würde, das hatte er am allerwenigsten erwartet. Welche Zusammenhänge gab es zwischen den britischen Besatzern und der Gruft unter Yussufs Haus, zwischen ihm und Nagib? Gab es überhaupt solche Zusammenhänge? Oder hatte der Zufall die Hand im Spiel? Er erinnerte sich an Worte des Professors, der einmal bemerkt hatte, die bedeutendsten Entdeckungen verdanke die Menschheit nicht der Wissenschaft, sondern dem Zufall. Wie sollte er sich in dieser Situation verhalten? Sollte Omar die Flasche verschwinden lassen und seine Entdeckung verschweigen? Oder sollte er Nagib darauf ansprechen und von ihm eine Erklärung fordern, welche Bedeutung das Katzensymbol habe ? Omar fand keine Antwort, und je mehr er sich bemühte, das Knäuel von Fakten, Fragen und Ungereimtheiten zu entwirren, desto weniger schien er imstande, klare, logische Gedanken zu fassen. 148
Es war eine momentane Eingebung, und der Gedanke wäre ihm noch einen Augenblick vorher fremd gewesen: Omar erhob sich, ergriff den rechten Arm seines schlafenden Zellengenossen und schob den Ärmel seines grauen Kittels hoch. Es gibt Situationen im Leben, da flößt das Erwartete mehr Angst ein als das Unerwartete. Erwartet hatte Omar auf Nagibs Arm das gleiche Brandmal wie auf seinem. Aber nun, da er es deutlich vor Augen sah, überkam ihn ein Schauer. Ängstlich, als hätte er irgend etwas Verbotenes entdeckt, ließ er seinen Arm sinken. Dabei erwachte Nagib. Am liebsten wäre Omar davongelaufen, er hätte sich am liebsten irgendwohin verkrochen, wo er sicher sein konnte, aber daran hinderten ihn die Zelle, die eisenbeschlagene Tür und die Wachen, die den langen Korridor auf- und abgingen. Er fühlte sich zu schwach, zu unterlegen, als daß er nur abwarten wollte, was nun geschehen würde. Deshalb zog er mit einer schnellen Bewegung die Flasche unter seiner Matratze hervor und hielt sie Nagib vor das Gesicht. Der schrak zurück, er wußte nicht, was das zu bedeuten hatte, aber mit einer auffordernden Bewegung, die ihm bedeutete, sich die Flasche näher anzusehen, zwang Omar den anderen, das Ding in Augenschein zu nehmen. Nagibs Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen. All die Wochen, in denen die beiden nun zusammen waren, hatte Omar seinen Zellengenossen nie lachen gesehen. Aber Nagib schwieg, und dieses Schweigen brachte Omar beinahe zur Raserei. Er beugte sich entschlossen zu Nagib hinab, schob seinen Ärmel hoch und hielt ihm das Brandmal auf seinem Oberarm vor die Nase. Der fuhr hoch, als hätte ihn der Blitz getroffen, als erwachte er aus einem bösen Traum, und so, als mißtraute er seinen Augen, wischte er sich mit der flachen Hand über das Gesicht und rang nach Luft. Es dauerte eine Weile, bis Nagib Worte fand. Schließlich stammelte er: »Das ist doch nicht möglich. Das kann nicht sein.« Omar musterte Nagib mit festem Blick. Obwohl er nicht wußte, was im nächsten Augenblick geschehen würde, schwand seine Angst mit einem Mal. Er genoß die Unsicherheit, in die er seinen Zellengenossen gebracht hatte, obwohl das alles andere als logisch war; denn Nagib wußte um die Zusammenhänge, Omar nicht. Sollte er eingestehen, daß er keine Ahnung hatte, wie das Brand149
mal auf seinen Arm gelangt war? Das schien wenig glaubhaft in diesem Augenblick. Also schwieg er und nahm sich fest vor, dieses Schweigen so lange wie möglich durchzuhalten. Nagib schüttelte den Kopf. »Da sitzen zwei wochenlang in einer Gefangenenzelle und wissen nicht, daß sie beide dem Tadaman angehören.« Tadaman? Omar hatte nie davon gehört, aber er hütete sich, dies gerade jetzt einzugestehen. Erst wollte er mehr erfahren, was es mit dieser Organisation auf sich hatte. »Woher, sagtest du, kommst du?« fragte Nagib. »Luxor«, erwiderte Omar knapp. »Sehr gut. Der Tadaman braucht überall seine Leute. Du wirst sehen, die holen uns hier heraus.« »Bist du sicher?« Nagib nickte. »Ganz sicher. Das mit der Flasche war doch ein Zeichen. Sie wissen genau, wo wir uns aufhalten, und wollten uns nur signalisieren, daß wir uns keine Sorgen machen.« »Mit einer Flasche Whisky?« »Nun ja.« Nagib blickte verlegen zu Boden. »Es ist beim Tadaman nicht unbekannt, daß ich lieber Whisky trinke als Tee, verstehst du?« Omar verstand. Doch er zweifelte an Nagibs Optimismus. Wem sollte es gelingen, sie aus dem britischen Hauptquartier zu befreien, und wie sollte das geschehen? Vor allem aber beschäftigte ihn die Frage, wie die Tadaman-Leute reagieren würden, wenn sie plötzlich zwei von ihrer Sorte entdeckten. »Ich habe dir von Anfang an nicht geglaubt«, begann Nagib von neuem. »Die Sprengung der neuen Eisenbahnlinie - alle Achtung, ein Meisterstück.« Omar schwieg. »Ein Meisterstück«, wiederholte Nagib anerkennend. »Es würde dich, wenn unsere Leute nicht handelten, den Kopf kosten. Aber du kannst sicher sein: Sie werden handeln!« »Mit der Güte Allahs!« murmelte Omar, und um das unangenehme Gespräch abzulenken, meinte er: »Ich habe dir auch nicht geglaubt, als du sagtest, du habest archäologische Karten gezeichnet. Archäologische Karten, daß ich nicht lache!« Nagib machte ein ernstes Gesicht. »Du kannst ruhig lachen; aber 150
dein Lachen wird dir im Hals steckenbleiben, wenn du erfährst, worum es sich handelt.« »Ya salaam.« Omar ging zur Tür und lauschte. »Die Luft ist rein, du kannst reden.« »Schwöre bei Allah, dem Allbarmherzigen, daß du nie ein Wort ausplaudern wirst von dem, was ich dir jetzt sage, du würdest es mit deinem Leben bezahlen.« »Ich schwöre es bei Allah, dem Allbarmherzigen.« »Du bist ein Tadaman, und als Tadaman hast du das Recht, alles zu wissen.« Omar nickte, und Nagib begann mit ernster Miene zu sprechen: »Um die Jahrhundertwende kam ein britischer Professor nach Ägypten, er hieß Edward Hartfield und war ein bekannter Archäologe. Ihm ging der Ruf eines Sprachgenies voraus, denn Hartfield sprach nicht nur alle modernen Umgangssprachen, er war auch perfekt in Hieroglyphen, Hieratisch, Demotisch, Hebräisch, Hethitisch, Babylonisch und Aramäisch, ein Genie, wie es nur alle paar Jahrzehnte zur Welt kommt. Dieser Hartfield forschte mit Erlaubnis der Regierung in Sakkara nach dem Grab des Imhotep...« »Des Imhotep?« Bei Nennung des Namens durchfuhr Omar ein Blitzstrahl, er spürte, wie ein Strom, vom Gehirn ausgehend, in seinen Körper fuhr und ihn für Augenblicke lahmte. Als ob der Wind in die Seiten eines aufgeschlagenen Buches führe, tauchten Erlebnisfetzen in seiner Erinnerung auf: Der Zettel in dem von William Carlyle, dem Journalisten, verlassenen Hotelzimmer trug die Aufschrift »Imhotep« (zweimal unterstrichen, sonst nichts), und Professor Shelley hatte ihm ausführlich über die Suche nach Imhotep berichtet. Was, beim Barte des Propheten, hatte Nagib, was hatte er, Omar, mit Imhotep zu schaffen? Welch verschlungene Wege ging das Schicksal bei den Erklärungsversuchen unerklärlicher Ereignisse? »Du weißt um die Bedeutung Imhoteps?« fragte Nagib. Omar bejahte. »Zu Beginn«, fuhr Nagib fort, »erregten Hartfields Forschungen nicht mehr Aufsehen als die Arbeit anderer Archäologen. In diesem Beruf verbringt man oft ein ganzes Leben auf der Suche nach etwas Bestimmtem, um dann etwas zu finden, was niemand erwartet hat, und die meisten geben sich damit zufrieden. Bei Hartfield war das al151
les anders. Er machte zahlreiche Entdeckungen, so bedeutsame Funde wie Mariette, Maspero und Petrie, aber sie schienen den eigenwilligen Forscher nicht zu interessieren. Gerüchteweise hörte man, er sei auf Gräber der 3. Dynastie gestoßen, habe sie jedoch aus Furcht, sie könnten ihn von seinen eigentlichen Forschungen abhalten, wieder zugeschüttet. Natürlich blieb dieses eigentümliche Verhalten nicht verborgen. Die Kairoer Altertümerverwaltung, sogar die Polizei stellten Nachforschungen an, aber weder die eine noch die andere konnten Hartfield irgend etwas Illegales nachweisen. Und als Carter ihn zur Rede stellte und nach dem eigentlichen Grund seiner Aktivitäten fragte, antwortete dieser, er suche das Grab des Imhotep, das sei wohl Grund genug. Die Männer, die für Hartfield arbeiteten, verdienten gut, jedenfalls besser als bei allen anderen Ausgrabungen im Lande, und deshalb war es auch beinahe unmöglich, von den Arbeitern nähere Angaben über die Tätigkeit des Professors zu erhalten. Keiner wollte seine Arbeit verlieren. Im Laufe der Zeit sickerte jedoch durch, warum Hartfield sein ganzes Interesse auf das Grab des Imhotep richtete. Genaugenommen gab es drei verschiedene Versionen: Die erste besagte, im Grab des Imhotep sei der größte Goldschatz der Menschheit gehortet; nach einer zweiten Version berge Imhoteps Gruft Dokumente mit dem gesamten damaligen Wissen der Menschheit, darunter Kenntnisse, die unserer Zeit längst entschwunden sind und die ihrem Entdecker Macht über die ganze Welt verleihen.« »Und die dritte Version?« fragte Omar aufgeregt. »Die dritte Version besagt, daß Imhotep beides mit ins Grab genommen hat, alles Gold und alles Wissen der Menschheit.« Omar schien bestürzt, er versuchte mit Mühe seine Gedanken zu ordnen und das eben Gehörte mit seinem eigenen Erleben in Zusammenhang zu bringen, doch er erntete nur noch mehr Verwirrung. »Aber das alles«, wagte er zu bemerken, »sind doch nur Vermutungen. Oder gibt es dafür Beweise ? Welche Beweise hat dieser Professor Hartfield in Händen? Er soll sie vorlegen!« »Dazu ist Hartfield leider nicht mehr in der Lage.« »Wieso nicht? Was soll das heißen?« »Hartfield ist verschwunden. Es ist, als hätte er sich in Luft aufgelöst. « »Quatsch!« entgegnete Omar verärgert. »Ein britischer Professor 152
kann nicht einfach verschwinden. Er ist nach England zurückgekehrt, vielleicht, weil er sein Unternehmen aufgegeben hat, vielleicht ist er aber auch fündig geworden und will seine Entdeckung verheimlichen. Auf jeden Fall kann ich mir nicht vorstellen, daß sich ein Professor gleichsam in Luft auflöst. Er hatte doch eine Grabungsmannschaft, diese Männer müssen doch Auskunft geben können, wo er sich zuletzt aufgehalten hat.« Mit einer Handbewegung dämpfte Nagib Omars aufgeregte Stimme, »ja, natürlich, der Tag von Hartfields Verschwinden ist genau bekannt. Er wurde zuletzt am Abend des 9. Ramadan in der Nähe von Raschid gesehen. Das bezeugen zwei seiner Leute. Seither fehlt von ihm jede Spur.« »Wieso in Raschid? Raschid liegt über hundert Meilen von Sakkara entfernt. Was suchte Hartfield in Raschid?« »Hör zu, mein Freund. In Raschid sind Ausgräber vor langer Zeit auf ein altes Priester-Archiv gestoßen. Zu diesem Archiv gehörte unter anderem auch der Sprachenstein, der von Soldaten Napoleons entdeckt und zum Schlüssel für die Entzifferung der Hieroglyphen wurde. Die meisten der zahllosen Steintafeln waren jedoch zerbrochen, von manchen existierten nur noch fingergroße Bruchstücke, und es wäre eine Sisyphusarbeit, aus Zehntausenden Scherben historisch wichtige Dokumente zusammenzusetzen. Aber selbst wenn sich irgendein Institut bereit erklärt hätte, diese Aufgabe zu übernehmen, wären die Aussichten sehr gering gewesen, weil sich in Raschid inzwischen Ausgräber aus aller Welt versucht und scheinbar wertlose Bruchstücke mit nach Hause genommen haben. Diese Fragmente befinden sich inzwischen in Museen und Magazinen in London, Berlin, Paris, vielleicht sogar in New York; und die darüber wachen, wissen vermutlich nicht einmal, welchen Schatz sie hüten. Zurück zu Hartfield: Er hatte vermutlich das wichtigste Bruchstück in Händen, das ihm den Hinweis auf das Grab Imhoteps und seinen mysteriösen Inhalt gab; aber die Informationen reichten nicht aus, um ihn an den Fundort heranzuführen. Und das ist auch der Grund, warum er in Raschid nach weiteren Bruchstücken forschte.« »Mein Gott!« Omar schien sichtlich betroffen. Er schwieg, erließ Nagibs Erklärungen noch einmal vor sich ablaufen, und dabei kam in ihm ein Gefühl der Bewunderung für diesen versoffenen Nationalisten auf. Seine Darlegungen waren durchaus einleuchtend und 153
glaubhaft, wenngleich er die Zusammenhänge zwischen dem Geheimbund und der Suche nach Imhoteps Grab nicht verstand. Beides widersprach sich zwar nicht, aber es machte auch keinen Sinn, und deshalb meinte Omar: »Ich verstehe nur eines nicht. Was hast du mit der Sache zu tun? Ich meine, wie kommst du zu deinem Wissen?« Nagib lachte. »Eine berechtigte Frage, obwohl sich die Antwort eigentlich aufdrängt. Omar, wenn die Erkenntnis des Professors stimmt, daß der, der das Grab des Imhotep findet, Macht über die ganze Welt gewinnt, dann dürfen wir, die Ägypter, die Nachfahren Imhoteps, diese Entdeckung keinem anderen auf der Welt überlassen. Dieser Schatz gehört uns, den Söhnen des Nils, und nicht den Engländern, Deutschen, Franzosen oder Amerikanern; uns allein, verstehst du?« »Da gebe ich dir recht, Nagib. Aber sind denn überhaupt andere hinter dem Geheimnis her?« »Wie viele es wirklich sind, vermag niemand zu sagen. Ich bin sicher, daß die Briten verstärkte Anstrengungen machen. Nur so ist meine Verhaftung zu erklären. Der Vorwurf der Spionage ist doch nur ein Vorwand, um mich von Sakkara fernzuhalten. Daneben gibt es aber auch eine Gruppe professioneller Grabräuber in Luxor, die auf irgendeine geheimnisvolle Weise auf Imhoteps Spuren gestoßen sind.« »Wer sind die Männer?« »Ihre Köpfe heißen Mustafa Aga Ayat und Ibrahim el-Nawawi, der eine ist der britische Konsul, der andere Polizeichef und SubMudir von Luxor.« »Die?« »Du kennst sie?« »Ja, ich kenne sie nur zu gut. Bist du sicher?« »Ganz sicher. Sie haben die Unvorsichtigkeit begangen, mich zu unterschätzen; sie haben geglaubt, Nagib ek-Kassar ist ein dummer, versoffener Taugenichts, den man für seine kriminellen Machenschaften mißbrauchen kann. Versoffen - mag ja sein, aber dumm ist Nagib nicht, bei Allah. Jedenfalls ist es uns mit Hilfe dieser Clique gelungen, an ein Fragment der ominösen Tafel heranzukommen. Ayat und el-Nawawi haben sich in Berlin auf rücksichtslose Weise in den Besitz dieses Teilchens gebracht, eines schmalen schwarzen Steines mit demotischen Schriftzeichen. Ich lebte damals in der preu154
ßischen Hauptstadt, und für ein paar lumpige Mark ließen sie mich den Text übersetzen. Ich habe korrekt gearbeitet, es schien mir viel zu riskant, eine falsche Übersetzung zu liefern. Früher oder später wäre das ohnehin aufgekommen und hätte nur den Verdacht gegen mich geschürt. Aber was die beiden nicht bemerkt haben: Ich habe mir selbst eine Abschrift angefertigt.« »Wenn ich dich recht verstehe, Nagib, sind bisher also drei Fragmente von jenem Dokument, das auf Imhotep hinweist, aufgetaucht: Eines befand sich in Hartfields Besitz und ist - sagen wir einmal - verschollen, ein zweites befindet sich im Besitz des Aga Ayat und ein drittes wurde in Berlin aufbewahrt, ist inzwischen jedoch ebenfalls in den Besitz des Agas übergegangen. Das bedeutet: Der britische Konsul besitzt derzeit die meisten Informationen.« »Das ist logisch, aber falsch. Bedenke, Mustafas einziges Motiv ist das Geld; es geht ihm nur darum, einen riesigen Goldschatz zu entdecken, von dem ihm nach den Gesetzen des Landes die Hälfte zustünde. Die Motive des Tadaman aber sind ehrenhaft. Keiner von uns wird je einen materiellen Vorteil aus der Entdeckung ziehen. Wenn wir Imhotep finden, soll unser Land, unser Volk davon profitieren. Wir alle arbeiten unter Einsatz unseres Lebens für die gemeinsam Sache: Mustafa Aga Ayat befindet sich schon lange nicht mehr im Besitz seines Fragmentes. Wir bewahren es an geheimem Ort auf.« »Aber er kennt den Inhalt, vermutlich hat er irgendwo eine Abschrift. « »Daran besteht kein Zweifel. Aber um deine Frage zu beantworten : Der Tadaman hat nicht weniger Kenntnisse als Konsul Ayat.« »Und was geht aus den beiden Fragmenten hervor, von denen du Kenntnis hast?« »Zu wenig, um daraus Schlüsse zu ziehen. Es werden die Priester von Memphis erwähnt, das Grab des göttlichen Imhotep und Pharao Djoser; im übrigen sind es nur einzelne Wörter ohne Zusammenhang, die folglich keinen Sinn ergeben. Da ist von Sand die Rede, von Geheimnissen der Menschheit, von der Nacht und einer Flüssigkeit. Das alles stiftet mehr Verwirrung, je länger man sich damit beschäftigt.« »Waren diese Fragmente Professor Hartfield bekannt?« »Das halte ich für unmöglich. Hartfield muß ein eigenes Fragment gehabt haben, das ihn auf Imhoteps Fährte brachte.« 155
»Aber das bedeutet doch, wer auf welche Weise auch immer in den Besitz von Hartfields Bruchstück gelangt, der hat die größten Chancen, Imhotep zu finden.« »So könnte man sagen. Man könnte aber auch davon ausgehen, daß Hartfields Dokument verloren ist.« Omar ereiferte sich: »Daran will ich nicht glauben. Das Verschwinden Hartfields ist gewiß kein Zufall. Es ist doch nur logisch, daß sein Verschwinden im Zusammenhang mit diesem Dokument steht. Irgend jemand hat es an sich gebracht und mußte dazu den Professor beseitigen. Also existiert das Fragment noch; mehr noch, es wird vermutlich irgendwo wie ein Schatz bewahrt.« Nagib dachte lange nach, dann meinte er: »Du bist ein kluger Kopf, Omar, du bist des Tadaman würdig.« »Für mich gibt es da keinen Zweifel«, erwiderte Omar, »Hartfield wurde das Opfer von Leuten, die sein Geheimnis kannten, und um in den Besitz der Steinplatte zu kommen, haben sie den Professor beseitigt. Nun stellt sich allerdings die Frage, wer könnte das gewesen sein? Wer wußte von Hartfields Vorhaben?« Omar sah Nagib an. Der verstand seinen Blick und fuchtelte wild mit der flachen Hand: »Ich weiß, was du jetzt denkst; aber das ist ein Irrtum: Der Tadaman hat mit Hartfields Verschwinden nichts zu tun. Steckten unsere Leute dahinter, dann wären wir ja im Besitz dieses Fragments, und wir wären ein gutes Stück weiter.« Nagibs Erklärung klang überzeugend. Was Omar jedoch nicht begreifen wollte, war, daß es nicht einen Hinweis auf Hartfield geben sollte. Omar bohrte nach: »Der Tag, sagst du, an dem Hartfield verschwand, ist bekannt. Es muß doch noch Leute geben, die mit ihm zusammengearbeitet haben.« »Natürlich gibt es die.« »Sind sie jemals befragt worden?« »Ja. Von einem unserer Männer.« »Und was hat er herausbekommen?« »Nichts.« »Nichts! Das ist unmöglich. Er muß doch irgend etwas, irgendeinen Hinweis, ein auffälliges Verhalten, eine Spur, die der Professor hinterlassen hat, herausgefunden haben.« »Nein.« »Und damit habt ihr euch zufrieden gegeben?« 156
»Ja. Was sollten wir tun?« Omar schüttelte den Kopf. »Weitersuchen. Wer war dieser Mann?« »Ich weiß es nicht, ich habe seinen Namen vergessen, aber es ist ein verläßlicher Mann, dem Tadaman treu ergeben.« Das Gespräch der beiden zog sich bis in die Nacht hin. Sie lagen im Dunkeln auf ihren Pritschen und redeten, unterbrochen nur von den Schritten der Posten, die sich in regelmäßigen Abständen und mit dem präzisen Klang eines Uhrwerks ihrer Zellentür näherten und leiser werdend entfernten. Aber während die Regelmäßigkeit eines Uhrwerks für gewöhnlich ein Gefühl wohltuender Harmonie vermittelt, erzeugte die Präzision der britischen Wachposten im Gefängnis des Hauptquartiers von Ismailia das genaue Gegenteil. Es waren jede Nacht dieselben Posten mit denselben Stiefeln und denselben Beschlägen, die im selben Tempo denselben Weg gingen, was regelrecht Unbehagen verursachte. Man konnte die Schritte zählen, die durch den Gang hallten, siebenundvierzig nach der einen, sechsundzwanzig nach der anderen Seite von ihrer Zellentüre aus. Dieser Rhythmus wurde, Gott weiß warum, nur selten unterbrochen, und dies erregte in schlaflosen Nächten dergestalt Aufsehen, daß Omar jedesmal neugierig in die plötzliche Stille lauschte, was sich wohl ereignet haben könnte. Dabei gibt es nichts Ereignisloseres als den Korridor eines britischen Gefängnisses bei Nacht, und der plötzliche Einhalt der Schritte wurde vielleicht von einem abseitigen Gedanken oder einem Kribbeln im Knie verursacht. Omar war geneigt, Nagib und den Befreiungsplänen des Tadaman zu glauben, doch je länger sich sein Aufenthalt in der Zelle hinzog, desto mehr wuchs seine Angst. Er wußte um die Verfahren vor dem Kriegsgericht, die so schnell abliefen, daß kaum Zeit für die Ladung von Zeugen blieb, und dessen Urteile, falls es zum Schlimmsten kam, noch am selben Tag vollstreckt wurden. Nagib hatte gut reden; wenngleich der Spionage beschuldigt, hatte seine vermeintliche Tätigkeit den Streitkräften Seiner Majestät keinen meßbaren Schadenzugefügt, wohingegen das Verbrechen, welches Omar zur Last gelegt wurde - so ein Beweis erbracht werden konnte oder mußte -, durchaus in die Kategorie Kapitalverbrechen eingeordnet werden konnte. Zudem war beim täglichen Hofgang zu hören, daß der Krieg sich dem Ende nähere, daß Deutschland, Rußland, Österreich-Ungarn und das 157
Osmanische Reich vor dem Untergang, die Briten aber vor einem großen Sieg stünden, was in Omars Augen die Gefahr mit sich brachte, der Tadaman könnte seine Befreiungspläne aufgegeben haben, während die Briten noch alle Gefangenen der »gerechten« Strafe zuzuführen versuchten. Zu einem Zeitpunkt, da er bereits fast alle Hoffnung aufgegeben hatte, erwachte Omar des Nachts, weil die Tritte des Wachhabenden derart aus dem monotonen Rhythmus der Gefangenenbewachung fielen, daß er einfach hochschrecken mußte. Omar vernahm, entgegen aller Gewohnheit, ein paar heftige, kurze Schritte, eine geräuschlose Pause und Sekunden später einen dumpfen Fall, an den sich jenes unnachahmliche Geräusch anschloß, das ein gut bestückter Schlüsselbund verursacht. Die Intensität, mit der er dieses Ereignis wahrnahm, war nur mit der totalen Dunkelheit erklärbar, in der Omar den Vorgängen lauschte. Kurz darauf drehte sich ein Schlüssel in der Zellentür, und unkenntlich gegen das eindringende Licht, erschienen zwei kleinwüchsige Gestalten. Es schien, als hätten sie Säcke über die Köpfe gestülpt, und der eine rief leise: »Nagib, komm, schnell!« Nagib, den Omar schlafend wähnte, sprang auf, flüsterte den Eindringlingen irgend etwas zu, das Omar nicht verstand und womit er offensichtlich auf strikte Ablehnung stieß, denn sie riefen beide, beinahe gleichzeitig: »Nein!« und versuchten Nagib aus der Zelle zu zerren. Der aber widersetzte sich, trat auf Omar zu, schob seinerseits ihn durch die Türe, riß ihm den Ärmel seines grauen Kittels herunter und zeigte auf das Brandmal auf Omars Arm. Einen Augenblick standen die beiden Männer starr. Nagibs Vorgehen traf sie unerwartet; sie sahen sich durch die Löcher in ihren Kapuzen an, dann zischte der eine: »Im Namen Allahs, des Allbarmherzigen, kommt!« 158
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LONDON IM HERBST Heuchlerische Männer und Frauen sind sie, die einen wie die anderen, sie halten zueinander. Sie gebieten nur, was böse, und verbieten, was recht und billig ist, und verschließen den Armen ihre Hände. Sie haben Allah vergessen, darum vergißt er auch sie; denn Heuchler sind Frevler. Koran, neunte Sure (67) Was das mächtige Haus mit seinen neun Stockwerken und dem Säulenportal, zu dem man über eine breite Freitreppe gelangte, von allen anderen Gebäuden dieser Art am Victoria Embankment in der City of London unterschied, waren die scheinbar unscheinbaren Menschen, die dort ein und aus gingen - nicht wenige übrigens. Anders als vor den Ministerien, Versicherungen und Schiffahrtsgesellschaften zwischen Charing Cross und Blackfriars Bridge, wo Chauffeure die Lords und sorgfältig gebürsteten Beamten unter Anteilnahme des Pöbels der gegenüberliegenden Stadtteile Lambeth und Southwark zu ihren Dienststellen karrten, steuerten das Gebäude des Intelligence Service nur schwarze Cabs an; meist aber lösten sich die Besucher zu Fuß aus der Menge, um hurtig über die Steintreppe in einer der beiden Drehtüren zu verschwinden. Die Melancholie, welche die Themse sogar in den Sommermonaten nie ganz ablegt, hatte in diesem Herbst schon früh vernebelter Witwentrauer Platz gemacht, ein Zustand, der den richtigen Briten nicht ab- oder umstößt - im Gegenteil, beginnt doch mit der Zeit der Überschuhe und Wachstuchkragen im Westend die Theater- und Gesellschaftssaison, die einzige Jahreszeit, die ein Mann von Stand in London zu verbringen hat, von König Georgs Geburtstag am 3. Juni einmal abgesehen. In diesem Jahr übertraf der Gegenstand der Konversation alles bisher Dagewesene, denn Großbritannien war, God Save the King, aus dem verheerenden Krieg als Sieger hervorgegangen, und in den Clubs an der Pall Mall und der Old Brompton Road gab es ein nicht enden wollendes Brüsten und Großtun in nicht enden wollenden Re159
den. Gewiß, der Krieg hatte zahllose Opfer gerordert, in der Hauptsache aber im Ausland, London hatte als Folge deutscher Luftangriffe mit Flugzeugen und Zeppelinen »nur« 670 Opfer zu beklagen, viele, aber doch weit weniger, als man seit den Zeiten König Edwards befürchtet hatte. Hatte doch der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Motorballonflug prophezeit, man werde mit Graf Zeppelins Flugmaschinen zuwegebringen, was Napoleon mißlungen sei, und könne mit tausend Luftkreuzern einhunderttausend Soldaten auf einmal absetzen. Jetzt erzählte man sich schenkelschlagend die Märe, der Urheber dieses Alptraums sei im Irrenhaus geendet. Die Arbeit des Nachrichtendienstes der Regierung Seiner Majestät war deshalb nicht geringer geworden, sie verlagerte sich nur auf andere Gebiete. Colonel Geoffrey Dodds stand der Behörde seit sieben Jahren vor, was bei der Brisanz dieser Aufgabe auf eine ungewöhnliche Begabung schließen ließ - wenn man im Zusammenhang mit nachrichtendienstlicher Tätigkeit (ohnehin nur eine euphemistische Umschreibung für Spionage) von Begabung sprechen kann. Dodds näher zu beschreiben hieße jeden Rahmen sprengen, weshalb hier nur auf das Wesentliche seiner Haltung eingegangen sei. Colonel Geoffrey Dodds gehörte zu jenen Menschen, die andere nach ihren Lastern beurteilen. Tugenden, meinte er, können vorgetäuscht sein, Laster nie. Dodds hätte das Ansinnen, sein Leben hinter einem viktorianischen, mit Karyatiden versehenen schwarzen Schreibtisch zu verbringen, entrüstet von sich gewiesen, wäre er nicht bei der Annektion Oberbirmas auf eine eigene Mine getreten, die ihm schweren körperlichen Schaden zufügte. So war der Colonel aus Indien mit einem steifen Bein zurückgekehrt und der Überzeugung, wollte er dem Vereinigten Königreich auch weiterhin dienen, so müsse er diesen Dienst in sitzender Haltung verrichten. Seine volle Bewunderung galt den Worten des sterbenden Königs Edward, der meinte, was nütze es, am Leben zu sein, wenn man nicht arbeiten könne. Man hätte Dodds, weißhäutig, rothaarig und in einer Laune der Natur mit einem dunklen, seitlich abstehenden Schnurrbart ausgestattet, für den Türsteher eines Etablissements in Soho halten können - es gab auch Anzeichen für eine ehedem kurze Tätigkeit als Zuhälter ebendort -, wäre da nicht seine überaus korrekte Kleidung gewesen, für die Dünn & Co verantwortlich zeichnete und die jedem, 160
der ihm begegnete, Bewunderung abverlangte. Es gibt Männer, die Tweed und Cashmere anziehen und solche, die es tragen. Dodds gehörte zu letzteren; er trug seine vornehme Kleidung mit der Selbstverständlichkeit eines Landedelmannes, so als wäre er damit zur Welt gekommen, wenngleich er aus seiner Herkunft aus Lambeth, gleich hinter Waterloo Station, kein Geheimnis machte. Dem vornehmen Äußeren lief nur bisweilen seine Ausdrucksweise zuwider, welche mit Obszönitäten nicht geizte oder sich in sprachliche Niederungen verirrte. Davon abgesehen, hatte man es mit einem hochgebildeten Mann zu tun, der sein Wissen im Selbststudium erworben hatte, gegen den Willen des früh verwitweten Vaters, der einen Gewürzstand am Covent Garden unterhielt, was gerade zum Leben reichte, aber weit davon entfernt war, eine höhere Bildung zu ermöglichen. Heute lebte er wohlmöbliert in Kensington Gardens, samt wertvoller Büchersammlung und Pferdegemälden aus dem vergangenen Jahrhundert, war Mitglied der Bibelgesellschaft und zweier Klubs, denen auch Rudyard Kipling und Claude Johnson, der Manager von Rolls-Royce, angehörten, und pries den Krieg als den Vater aller Dinge (frei nach Heraklit). Die Unternehmungen des Intelligence Service liefen allesamt unter einem Codenamen, den Colonel Dodds herausgab, und in diesem Zusammenhang pflegte er seinen Agenten die Geschichte des russischen Außenministers Alexander Iswolskij zu erzählen - gleichsam als Warnung, um zu demonstrieren, wie wichtig Codewörter seien: Iswolskij, damals noch russischer Gesandter in Kopenhagen, hatte Kunde erhalten von einer Umbildung im gesamten diplomatischen Dienst des Zaren und machte sich Hoffnungen auf den wichtigen Botschafterposten in Berlin. Deshalb schickte er seinen Kammerdiener, einen klugen, gewitzten Deutschen, nach St. Petersburg, um in gewissen gut informierten Kreisen Nachforschungen anzustellen, wie seine Chancen stünden. Um unentdeckt zu bleiben, vereinbarten der Botschafter und sein Diener, er solle, je nach Lage, nur ein Codewort telegraphieren, Sauerkraut, falls er als deutscher Botschafter ausersehen sei, Makkaroni, falls ihn das Schicksal nach Rom verschlage. Das Telegramm aus St. Petersburg enthielt jedoch ein ganz anderes, rätselhaftes Codewort: Kaviar. An dieser Stelle seiner Erzählung ließ Dodds es sich nicht nehmen, 161
jedesmal in heftig schüttelndes Gelächter auszubrechen. Er ging dabei bis an die Grenze der Belastbarkeit seiner weit ausladenden Bartspitzen, und nachdem er sich beruhigt hatte, pflegte er zu beteuern, Iswolskij sei ein begabter Diplomat gewesen, aber ein unbegabter Spion. Denn sein Diener habe das einzig richtige Codewort für seinen neuen Posten gebraucht: Iswolksij wurde russischer Außenminister. Das Codewort der Aktion, die an diesem Tage zur Debatte stand, lautete Pharao, und Dodds hatte unter dieser Tarnung ein junges Team aufgeboten, um eine undurchsichtige Affäre zu erhellen, die in der Londoner Öffentlichkeit Aufsehen erregt hatte. Der Premier persönlich hatte unter dem Siegel der Verschwiegenheit man wußte ja nie, ob geheimdienstliche Ermittlungen mit einer Blamage endeten - den Auftrag für dieses Unternehmen gegeben. Anlaß war ein ungezeichneter Bericht in der Times vom 4. September 1918, in dem vom mysteriösen Verschwinden Professor Edward Hartfields in Unterägypten berichtet wurde. Hartfield galt als Eigenbrötler, aber auch als Koryphäe auf seinem Gebiet, seit er die Fayum-Tafeln, eine Ansammlung hieratischer Texte der 18. Dynastie, entschlüsselt hatte. Die Zusammenkunft fand im Kartenraum des Intelligence Service, im obersten Stockwerk, statt: holzgetäfelte Wände und beleuchtbare Landkarten des Britischen Königreichs und seiner Kolonien, die dem Raum den Namen gaben, in der Mitte ein langer, dunkel gebeizter Tisch und Armstühle, für die Thomas Chippendale gewiß widerwillig Pate gestanden hätte. Geoffrey Dodds hatte an der schmalen Stirnseite Platz genommen, auf die beiden Längsseiten verteilten sich insgesamt sechs Agenten, ein Protokollführer, der bei Begegnungen dieser Art grundsätzlich anwesend war, sowie ein älterer, den meisten Anwesenden unbekannter Herr, der mit dem Habitus eines Gelehrten zerstreut in einem Stapel Papiere blätterte. An einer Tafel hinter dem Rücken des Colonels waren Photographien und Zeichnungen angeheftet, und Dodds begann seine Erklärungen mit einem Zeigestock aus Schilfrohr. »Dies ist das einzig existierende Lichtbild von Professor Edward Hartfield, 54 Jahre alt, zuletzt wohnhaft in Bayswater, 124 Gloucester Terrace, Angehöriger der protestantisch-pietistischen >low church