Bad Earth
Die große Science-Fiction-Saga
DAS KOMPLOTT DER JAY'NAC
von Manfred Weinland Die irdischen Astronauten J...
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Bad Earth
Die große Science-Fiction-Saga
DAS KOMPLOTT DER JAY'NAC
von Manfred Weinland Die irdischen Astronauten John Cloud, Scobee, Resnick und Jarvis verschlägt es in eine düstere Zukunft, in der die Menschen Erinjij genannt werden und sich zur verhassten Geißel der Galaxis entwickelt haben. Die Gestrandeten geraten zwischen alle Fronten und schließen sich mit dem Außerirdischen Darnok zusammen. Als sie von Erinjij-Raumschiffen gejagt werden, können sie mit knapper Not in den Aqua-Kubus flüchten, einem geheimnisumwitterten Objekt von einer Lichtstunde Kantenlänge, das vollständig mit Wasser gefüllt zu sein scheint. Auf der Flucht vor den Vaaren, den Beherrschern des Kubus, finden die Menschen und Darnok ein Artefakt, das auf die ominösen Sieben Hirten zurückzugehen scheint: ein rachenförmiges, gewaltiges Raumschiff. Ihnen gelingt die Inbesitznahme, sie taufen es RUBIKON II. Mit diesem Schiff gelingt ihnen die Flucht aus dem Kubus. Endlich wieder im freien All, lüftet Darnok das Geheimnis seiner Herkunft - und die beiden GenTecs Jarvis und Resnick verschwinden an Bord der neuen RUBIKON. Die Suche nach ihnen beginnt... 1 Imre Vereb, Kommandant des irdischen Schlachtschiffs der Trägerklasse HAMM, konnte den Blick nicht von dem hoch auflösenden 3-D-Panoramafeld wenden. Die Bordzentrale war nur schwach erhellt, sodass es den Anschein hatte, als würde sich die Sternenflut förmlich in den domartigen Raum »ergießen«, wo alle Fäden zusammenliefen. Über drei Decks erstreckte sich die Brücke der HAMM. Die Grundfläche bildete ein Oktaeder, und an jeder Wand lief ein Expresslift, der die einzelnen Ebenen miteinander verband, senkrecht nach oben. Das Gehirn bildete den Mittelpunkt des Achtecks. Es schwamm in Nährlösung, und in seinen Ganglien glomm die fahle Elektrizität, von der es am Leben erhalten wurde - unter anderem. Rund um die Säule, die einen Durchmesser von knapp fünfzig Zentimeter und eine Höhe von ein Meter zwanzig hatte, waren Konsolen mit der Technik aufgestellt, die benötigt wurde, um Gedanken in Sprache umzuwandeln. Vereb hatte längst jede Scheu vor dem Gehirn verloren. Der Grund seines Schauderns, das sich in diesem Moment wie ein in Zeitraffer wachsender Gletscher unter seiner Haut entlang schob, war ein anderer. Es hatte mit dem unmöglichen Gebilde zu tun, das sie beobachten sollten. Ein gigantisches Etwas, von dem der Großteil der in diesen Sektor verlagerten Erdflotte vernichtet worden war - und das nun begonnen hatte zu beschleunigen. Im Holofeld erschienen unablässig Daten, die Aufschluss über die dramatische Entwicklung bei dem wassergefüllten Riesenwürfel gaben. Er war eine Abstrusität. Eine regelrechte Unmöglichkeit, die sich zehn Astronomische Einheiten entfernt - an der äußersten Reichweite der Langstreckentaster - durch den Weltraum bewegte. Schon die Ausmaße waren mit einer Lichtstunde Kantenlänge so gigantisch, dass sich das Objekt menschlichem Begreifen fast
entzog. Welche Supermacht hatte dieses bizarre Objekt einst erschaffen, diese eigenständige Welt inmitten des Kosmos, den sie bereiste? Welche Supermacht lebte - auch heute noch - darin? Imre Vereb würde den Moment, in dem die irdische Flotte von rochenförmigen Fahrzeugen aus dem Inneren des Würfels heraus beschossen und fast restlos vernichtet worden war, zeitlebens nicht vergessen. Dessen war er sich sicher. Und noch eine weitere Überzeugung setzte sich mehr und mehr in ihm durch: Waren wir nur Versuchskaninchen? Sollten wir nur herausfinden, wozu der Würfel im Ernstfall fähig ist? Über welche Waffen er verfügt? Und welches Interesse haben die Master überhaupt an dem kleinen Raumschiff, das wir verfolgten und das auf seiner Flucht vor uns in den Kubus eindrang - wo es sich seither verbirgt? Es ist bis ins Zentrum vorgedrungen, bis in einen Bereich, der für unsere Ortungen nicht »lesbar« ist... Er war nicht in der Position, um Entscheidungen auf Master-Ebene zu kritisieren oder gar in Frage zu stellen. Niemand innerhalb der irdischen Streitkräfte war das. Die Hierarchie war klar gestaffelt, und einsam an der Spitze thronten die... »Kampfhandlungen, Sir!« Die Stimme des Offiziers im Rang eines Saphirs riss Vereb, als Kommandant selbst mit Platin geschmückt, aus seinen Gedanken. »Konkret?«, wandte er sich an seinen asketisch wirkenden Untergebenen. Torre Holm war jünger als er und besaß alle Fähigkeiten, um einmal selbst ein Kriegsschiff wie die HAMM zu befehligen. Ihr Verhältnis war in Ordnung. Holm war ein Mann der klaren Worte, nicht der Intrigen, was Imre Vereb zu schätzen wusste. »Zentrumsbereich«, erwiderte Holm, auf dessen Konsole detailliertere Daten einliefen, als sie in die Holovergrößerung flossen. »Es handelt sich um den Einsatz artgleicher Waffen, wie sie unseren Einheiten zum Verhängnis wurden, allerdings ohne die Verstärkerleistung der Trägerwände.« Ein Außenstehender hätte nicht verstanden, was Holm damit meinte. Für Vereb hingegen war die Aussage klar: Die Nachanalyse der verlustreichen Schlacht durch den Bord-Quantencomputer hatten ergeben, dass die unbekannten Kampfstrahlen, mit denen die Rochenschiffe aus dem Kubus herausgefeuert hatten, beim Passieren der Energiewand, die eine der Grenzen des Würfels markierte, von dieser noch zusätzlich potenziert worden war. Aus dieser Beobachtung ergab sich die These, dass die Rochenschiffe es aus eigener Kraft wahrscheinlich nicht so spielerisch einfach vermocht hätten, die Schutzschilde der irdischen Flotte zu überwinden. »Ist feststellbar, wer gegen wen kämpft? Wenn ja, Daten auf den Schirm!« Holm reagierte mit der Souveränität, die Vereb an ihm schätzte. Nur wenige Augenblicke später wuchs der Wasserwürfel auf dem Hauptschirm zu einer Größe heran, die ihn völlig ausfüllte. Eine Ausschnittvergrößerung drang bis ins Kerngebiet vor - bis zu jener kugelförmigen Barriere, deren Innenverhältnisse sich auch weiterhin jedem Scan-Versuch entzogen. Aber das, was Holm beschrieben hatte, spielte sich noch außerhalb der Kugel ab. Die Fernortung bot nur unscharfe Echos, aber aus denen erschuf der Computer eine Simulation, die auf den Kampf mehrerer Objekte gegen ein einzelnes schließen ließ. Gleichzeitig entfernten sich sämtliche Echos aus dem Zentrumsbereich, strebten der Grenze des Kubus entgegen. Vereb zögerte nur drei Sekunden, dann befahl er: »Kurskorrektur...« Über seine Lippen sprudelten Anweisungen, die der Bordrechner der HAMM unverzüglich umsetzte und das Schiff jener Würfelseite entgegensteuerte, auf den sich der innerhalb des Kubus kämpfende Pulk zu bewegte. »Sie beschleunigen mit extremen Werten...«, murmelte Holm. »Wie ist das möglich? Das Wasser... der Widerstand...« Vereb ging nicht darauf ein. Zumal auch der Würfel selbst den Gesetzen der Physik Hohn sprach. »Saphir, Master-Verbindung und -Information!«, ordnete er an. Holm salutierte knapp, dann begab er sich in das Aurenfeld des Zuchtgehirns. Der zeitlose Nachrichtentransfer begann - und blieb nicht ohne Folgen. Immer neue Befehlsketten erreichten die HAMM. Während sich die Situation im und um den Würfel herum dramatisch zuspitzte.
Die sich bekämpfenden Parteien waren nun klar zu erkennen. Mehrere der bereits bekannten Rochen-Einheiten verfolgten ein von der Grundform her ähnliches, sich aber in den Details und der Größe unterscheidendes Objekt. Es schien, als würde es das Feuer nicht erwidern, sondern sich einzig auf Flucht und Defensive konzentrieren. Gebannt starrte Vereb auf die imposante Konstruktion, die ihm wirklicher vorkam als die kleineren Rochen-Schiffe, deren Glätte und Künstlichkeit fast schon ans Irreale grenzten. Der Riesenrochen hingegen schien aus Metall zu bestehen, aus dunklem, zernarbtem Stahl, der ein Alter ausstrahlte, das Vereb fast den Atem raubte. Aus den wenigen vorhandenen Fakten setzte sich in seinem Kopf ein Bild - ein mögliches Bild der Ereignisse zusammen, deren Zeuge er wurde. Auch das kleine Fahrzeug, dem seine Flotte zum Kubus gefolgt war, hatte sich der Verfolgung durch Rochenschiffe er wehren müssen und letztlich bis in den Kernbereich des Kubus zurückgezogen - von wo dieser Riesenrochen nun kam. Es musste einen Zusammenhang geben. Verebs Verstand arbeitete auf Hochtouren, und den Schluss, zu dem er kam, leitete er unverzüglich an Holm und das Zuchthirn weiter, das die PsiVerbindung zur Erde herstellte. Der Master akzeptierte und unterstützte seine Schlussfolgerungen. Und dann kam der Moment, in dem der Riesenrochen die Wand des Kubus durchbrach, als existierte diese Barriere, die die irdische Flotte vor unlösbare Probleme gestellt hatte, überhaupt nicht...
Die Verfolger-Rochen bleiben im Kubus zurück, dachte Vereb. Gleichzeitig fiel ihm auf, dass die Einheiten wesentlich schlechter organisiert waren als zum Zeitpunkt der Schlacht gegen die Menschen. Was ist vorgefallen, dort im zentralen Bereich, der für unsere Taster uneinsehbar ist? »Befehle?«, wandte er sich an Holm.
»Weiter passiv beobachten«, vermittelte der Saphir zwischen ihm und dem Master, mit dem
Zuchthirn als Relais.
Vereb war nicht sicher, ob es das war, was er selbst wollte. Obwohl er geduldig sein konnte,
entsprach übertriebene Zurückhaltung nicht seinem Naturell. Gleichzeitig merkte er, wie stark das
im freien Raum aufgetauchte Gebilde ihn in seinen Bann zog.
Ein Raumschiff?
Während es bei den Rochen, die sonst im Kubus beheimatet waren, immer noch fraglich war, ob
sie überhaupt den Bedingungen des Alls gewachsen wären, schien diese Konstruktion dafür
geschaffen zu sein.
»Daten!«, wandte er sich an sämtliche relevanten Stationen. »Ich brauche jedes ermittelbare Detail
über dieses Objekt! Altersbestimmung! Antriebsart! Material...« Er hakte den ganzen Katalog von
ragen ab, die ihm auf der Zunge brannten.
Und auf der Seele.
Ihm war bewusst, dass sie historische Momente erlebten.
Sie, die Erinjij, waren erstmals bei ihrem Vorstoß in die Galaxis auf ernsthaften Widerstand
getroffen.
Der Kubus stellte einen nicht zu unterschätzenden - und weithin unbegreiflichen - Machtfaktor dar.
Und damit war automatisch alles, was ihn verließ, von extremem Interesse.
»Scannerstrahl wird von unbekanntem Kraftfeld um das Rochenobjekt abgelenkt«, erhielt er
Antworten, mit denen er sich größtenteils nicht abfinden wollte, aber offenbar musste.
»Altersbestimmung daher unmöglich. Antriebsart: unbekannt. Größenbestimmung erfolgreich:
254,6 Meter lang, 303,4 Meter breit, Dicke schwankend zwischen Maximum 53,9 Meter und
Minimum 2,2 Meter. Oberfläche zernarbt wie nach Meteoriteneinschlag, an einer Stelle
Beschädigung, offenbar Folge von Beschuss mit... Korrektur!«
Vereb zuckte unmerklich zusammen. »Korrektur?«
»Oberfläche verändert sich, Leck schließt... siehe Schirmeinblendung.«
Das Holofeld, in dem in diesem Augenblick nichts anderes mehr zu sehen war als das Schiff
unbekannter Herkunft und Bedeutung, zeigte in allen Einzelheiten, was der Kommentator meinte.
Stahl veränderte sich.
Stahl glättete sich.
Dort, wo sich ein beachtliches Loch von etwa fünf Meter Durchmesser befunden hatte - ausgefranst
und an den Rändern wie mit einer weißen Schicht überzogen...
Es verschwand einfach, machte makelloser, anthrazitfarbenem Metall Platz, in dem sich glitzernde
Einschlüsse unbekannter Funktion befanden - ohne die Glätte der Oberfläche zu unterbrechen. Die
Einschlüsse waren unter der Oberfläche, traten nirgends erhaben hervor, und sämtliche
Altersspuren verschwanden wie... wegpoliert.
Das Schiff regeneriert sich selbst, dachte Vereb. Laut rief er: »Saphir! Geben Sie jede
Beobachtung, jede Erkenntnis weiter. Wir...«
»Master ist informiert. Master ordnet weiterhin Passivität an.«
»Schiff entfernt sich. Weg vom Kubus, der ebenfalls, allerdings in eine andere Richtung,
beschleunigt«, sagte Vereb. »Master-Anfrage: Wem folgen?«
Er hoffte, dass die Antwort »dem Schiff!« lauten würde - aber der Rochen beantwortete die Frage
selbst.
Er beschleunigte, und das ohne sichtbaren Triebwerkausstoß. Dafür geriet die Konstruktion in eine
Bewegung, die Vereb - wenn überhaupt - eher innerhalb des Kubus erwartet hätte, nicht hier
draußen unter Vakuumbedingungen.
Die Schwingen des Mantas begannen auf und ab zu schlagen. Nicht heftig - aber sichtbar. Als glitte
der Rochen auf einer imaginären Thermik dahin.
Ein Bild, das neben allem anderen, was es an Gefühlen in Vereb weckte, auch regelrecht
unheimlich war.
Für einen Moment hielt er es für möglich, einer Finte der Kubus-Bewohner aufzusitzen. War das
Gebilde gar nicht real? War es eine Projektion - mit allen Möglichkeiten einer solchen -, die sich
schon deshalb jeder näheren Analyse entzog?
Unsinn, dachte er. Es ergibt keinen Sinn. Für wen sollte eine solche Finte inszeniert werden? Für
die HAMM? Der Kubus hat eine ganze Flotte nicht ernst genommen, er wird es auch nicht nötig
haben, ein Beobachterschiff zu täuschen. Mit welchem Hintersinn auch?
Zumal er beschleunigte.
Mit vergleichbaren Irrsinnswerten wie der Rochen - nur dass dieser lediglich einen Bruchteil von
dessen Masse besaß!
»Geschwindigkeit des Rochen bei 0,736 LG - die des Kubus nähert sich ebenfalls relativistischem
Bereich...«
»Antrieb des Kubus?«, fragte Vereb.
»Unbekannt. Ursprung bei den Eckstationen des Würfels, die offenbar auch die Wände erzeugen,
die den Kubus zusammenhalten. Unser Versuch, während des Kampfes gegen die Eckstationen
vorzugehen, endete in einem Fiasko. Sie scheinen die am stärksten gesicherten Bereiche des Kubus
zu sein. Dass sie neben Waffen auch über Triebwerke verfügen, wurde erst durch die jüngste
Entwicklung klar.«
Vereb war sichtlich erschüttert. Dass menschliche Technik einer außerirdischen Technologie fast
hilflos gegenüberstand, hatte er nie zuvor erlebt. Normalerweise diktierten die Erinjij das Maß aller
Dinge... Umso unverständlicher, dass der Master die Zerschlagung einer kleinen Kriegsflotte
unbeantwortet ließ.
Der Gedanke, nur Mittel zum Zweck zu sein, schob sich wieder in den Vordergrund von Verebs
Denken. All die Schiffe wurden geopfert, ihr Verlust billigend in Kauf genommen, nur in der
Absicht auf diese Weise endlich mehr über den Kubus herauszufinden?
Er wollte es nicht akzeptieren, dass Menschenleben so wenig bedeuten sollten.
Menschenleben!
In diesem Augenblick schlugen sämtliche Automatiksicherungen der Ortungstaster durch.
Alarmtöne schrillten durch die HAMM.
Für Sekunden war das Schiff der Trägerklasse - einem konventionellen Flugzeugträger der Prä-
Master-Ara nicht unähnlich und für Atmosphäreeinsätze völlig ungeeignet - bis auf das rein
visuelle Wahrnehmen der Umgebung völlig seiner präziseren »Sinne« beraubt.
Dann war der Schock überwunden, den die Erschütterung des Raumzeitgefüges in den
Instrumenten bewirkt hatte.
»Was ist passiert? Status?«, forderte Vereb.
»Es war der Kubus«, meldete Holm, der sich aus der Aura des Zuchthirns heraus bewegte, Vereb
fast entgegentaumelte. »Er...«
»Fassen Sie sich!«
»Aye, Sir! Er... ist verschwunden. Wenn wir den Charakteristika der Schockwelle glauben dürfen,
ist er transitiert - mit einer beispiellosen Gewalt. Wir... wir können froh sein, dass es nur die Ortung
vorübergehend lahm legte... «
Vereb hatte den Saphir noch nie so fassungslos erlebt. Und er selbst schwankte zwischen dem tief
greifenden Wunsch, sich irgendwo zu verkriechen... und dem Drang, das gerade erlebte Ereignis
weiterzuverfolgen.
»Rematerialisations-Koordinaten?« Er versuchte, seiner Stimme die eigene Unsicherheit nicht
anmerken zu lassen.
»Ermittelt. Distanz: 304 Lichtjahre. Sektor...«
Er hörte kaum noch hin. 304 Lichtjahre! Ein solcher Koloss transitierte gerade Mal eben über eine
Distanz von mehreren hundert Lichtjahren...
Es wurde immer bizarrer - und immer offensichtlicher, dass sie alles daransetzen mussten, um den
Kubus in ihre Gewalt zu bekommen.
»Master-Spruch! «, meldete Holm, der zur Säule mit dem Zuchtgehirn zurückgekehrt war. »Die
Erde ist besorgt über die Unterbrechung des Berichts. Ich kümmere mich umgehend...«
Weiter kam er nicht.
Denn in diesem Augenblick kam es zu einem zweiten Ereignis, kaum weniger mysteriös als das
erste.
Es betraf das Rochenschiff.
Es verschwand, ohne zu transitieren.
Es... verschwand einfach...
»Auswertung!«, schnarrte Vereb. »Ein uns unbekanntes Tarnverfahren?« »Unwahrscheinlich, Sir.«
»Erde ist informiert«, meldete Holm. »Neue Befehle: Verfolgung aufnehmen.«
»Verfolgung wovon?«, fragte Vereb. »Wir können den Rochen erst verfolgen, wenn... «
»Verfolgung des Kubus«, fiel Holm ihm ins Wort. Der Saphir war kreidebleich. Und hatte sich
offenbar nicht unter Kontrolle.
»Die letzten Bilder des Rochens vor seinem spurlosen Verschwinden einspielen - Analyse«,
verlangte Vereb. »Parallel: sofort Fahrt aufnehmen und Sprungcomputer mit den Daten abgleichen,
die wir vom Wiedereintrittspunkt des Kubus ermittelt haben.«
»Aye, Captain!« Die Plasmatriebwerke der HAMM beschleunigten das Trägerschiff mit seinen 108 Raumjägern und seiner Besatzung von 365 Männern und Frauen auf die für den problemlosen Eintritt in den EvertRaum erforderlichen 0,6 LG. Die Konverter dröhnten ob der Belastung so stark, dass nur Dämmfelder ein Ertauben der Besatzung verhinderten. Andruckneutralistoren verhinderten überdies, dass die Mannschaft zerquetscht wurde. Welche Neutralisatoren müssen erst bei einem Ding wie dem Kubus um Ausgleich bemüht sein, dachte Vereb. Warum hatten die Master nicht schon früher entschieden, gegen den Kubus vorzugehen, ein Gebilde, das über unvorstellbare Ressourcen verfügte... Kurz darauf veränderte sich das Licht in der Kommandozentrale schlagartig. Das Holofeld gab plötzlich nicht mehr das sternfunkelnde, samtschwarze All wieder, sondern die verwirrenden Farben und Muster des Evert-Raums - ein Kontinuum, das der Mathematiker und Physiker Charles Evert erstmals nachgewiesen und damit den Grundstock für die spätere Nutzung gelegt hatte. Evert war ein herausragender Bürger der Erde gewesen, der zu jung gestorben war. Gerüchten zufolge aber existierte er weiter - als Lohn für seine Leistung und in einer Form, die sich Vereb gar nicht erst vorzustellen versuchte. Die Zeit bis zum Ende der Sprungetappe schien sich endlos zu dehnen - ein rein subjektives Phänomen. Die Uhren der Hamm zeigten nur wenige Sekunden Fortschritt an, als das All die surrealen Farben und Schleier wieder ablöste, und selbst diese wenigen Sekunden bezifferten nicht die wahre Dauer des Aufenthalts im übergeordneten Medium, sondern kamen in der Übergangsphase des Ein- und Austritts zustande. »Ortung!«, rief Torre Holm. Im 3-D-Panoramaschirm zeichnete sich klein inmitten des Sternengewimmels das kurzzeitig verlorene Objekt ab: der Kubus. Er hatte seine Fahrt bereits wieder gedrosselt, aber mit Bestürzung erkannte Vereb, wo sie gelandet waren - an der Grenze eines Sonnensystems. »Ist der Stern katalogisiert?« »Positiv.« Die Antwort beunruhigte ihn zusätzlich. »Daten auf Schirm!« Sein Befehl wurde unmittelbar ausgeführt. In der Holofläche leuchtete das komprimierte Wissen, das über dieses System in den Nav-Bänken des Schiffes existierte. Ein bewohntes System! Keine Raumfahrt, aber... In einem Segment des Hologramms tauchte das spurlos verschwundene Rochenschiff auf - eine Einspielung der Sequenz, die Vereb vor dem Sprung der HAMM gefordert hatte. Sie brachte wenig neue Aufschlüsse: Um den Rochen herum schien sich plötzlich ein rötlicher Schimmer von nur Sekundenbruchteilen Dauer aufzubauen - dann war nur noch der Hintergrund des Alls zu sehen. »Und es wurde sicher kein Transitionsschock angemessen?«, wandte sich Vereb an die Ortung. »Negativ.« »Das kann bedeuten, dass keine Transition stattfand - aber auch, dass ihr Wiedereintritt in einer Entfernung erfolgte, der außerhalb der Reichweite unserer Taster liegt.« »Es gab auch keine Eintrittserschütterung«, erinnerte Holm, der immer noch nahe dem Zuchtgehirn stand, mit dem die Psi-Verbindung zur Erde aufrechterhalten wurde. Die einzige abhörsichere Kommunikationsart, die ihnen bekannt war. Es sollte sogar raumfahrende Völker geben, die glaubten, die Erinjij betrieben überhaupt keine Kommunikation untereinander, verständen sich blind - oder folgten ausschließlich vorher festgelegten Missionsplänen. Wer immer dies tatsächlich für möglich hielt, beleidigte damit die Intelligenz der Menschen. »Rochendaten an Erde leiten«, ordnete Vereb an, blendete das außergewöhnliche Gebilde aus dem Holoschirm aus, um sich voll und ganz dem anderen, noch außergewöhnlicheren Objekt zu widmen.
Dem Kubus.
Der unaufhaltsam und unverkennbar Kurs auf den einzigen bewohnten Systemplaneten genommen
hatte.
Imre Vereb und die Besatzung der Zentrale der HAMM wurden Zeuge der Vernichtung einer
kompletten Planetenpopulation.
Zeuge, wie der Kubus die von Myriaden Einzelwesen bewohnte Welt regelrecht assimilierte. Diese
Lebewesen starben entweder durch den Schock oder durch das Wasser, das nicht ihrem
Lebensmedium entsprach.
Nicht nur die intelligenten Spezies des Planeten - laut Verzeichnis zwei -, sondern auch sämtliches
Getier, die komplette Flora...
Vereb war nicht in der Position, ein solches Vorgehen zu verachten oder gar grausam zu bewerten.
Die Erinjij hatten mehr Wesen auf dem Gewissen. Es war die Art, die Vorgehensweise, die ihn tief
und nachhaltig beeindruckte.
Ein entsprechender Bericht ging sofort an den Master.
In dieser Zeit nahm der Kubus - mit dem assimilierten Planeten, der seiner äonenalten Bahn um das
Muttergestirn entrissen worden war - wieder Fahrt auf.
»Folgen?«, wandte sich Vereb an die Erde.
Die Antwort ließ auf sich warten.
Der Kubus transitierte erneut - dieses Mal jedoch ohne die Ortung zu beschädigen. Rechtzeitig
waren ausreichende Filter zwischengeblendet worden.
Die Wiedereintrittskoordinaten waren ebenso leicht zu ermitteln wie beim ersten Mal - diesmal
betrug die Entfernung nur 106 Lichtjahre, und die Position markierte keine bekannte Zivilisation,
die Eingang in die Sternkarten gefunden hatte.
»Folgen?«, wiederholte Vereb seine Anfrage an den Master.
In diesem Augenblick erschien ein fremdes Schiff innerhalb des Systems. Die
Strukturerschütterung entging den Tastern beinahe, da die Filter noch nicht wieder
zurückgenommen waren.
»Zuordnung?«, fragte Vereb.
Saphir Holm antwortete: »Allianz. Diplomatische Signatur.«
Das angekommene Schiff besaß annähernd Kugelform und einen Durchmesser von knapp achtzig
Meter. Auf halber Höhe umlief eine Scheibe den Kugelkörper, ihr Eigendurchmesser betrug sechs
Meter, die Dicke zwei. Offenbar war die Äquatorialscheibe Bestandteil des Antriebs. Die HAMM
maß Gravo-Emissionen aus diesem Bereich an, während der Hauptantrieb für UL-Geschwindigkeit
offenbar aus einem im unteren Bereich der dort offenen und konvex nach innen laufenden Kugel
platziert war. Blauer Glanz trat dort hervor, die typische Optik eines Tachyonenbeschleunigers.
»Diplomatische Signatur«, wiederholte Vereb. »CLARON... Gibt es Anzeichen, dass sie uns
bemerkt haben?«
»Negativ«, sagte Holm. »Deflektoren arbeiten weiterhin auf Maximum. Eintreffende
Ortungsstrahlen werden um die HAMM geleitet. Falls sich der Technikstandard der Allianz in
jüngster Zeit nicht erheblich verbessert hat, müssten wir unsichtbar für das Schiff sein.«
»Aus der Signatur geht hervor, dass es den Eigennamen des Bundes trägt: CLARON.
Ungewöhnlich. Wir werden...« Vereb unterbrach sich selbst, als neue Ortungsmeldungen
eingingen.
Aus dem Nichts heraus erschienen weitere Körper in dem System, das einen seiner Planeten
verloren hatte.
Zunächst glaubte Vereb, dass es sich dabei um Begleitschiffe der CLARON handelte, doch die
Raumer - die Taster erfassten acht unscharfe Echos - eröffneten fast augenblicklich das Feuer auf
das Allianzschiff.
Dessen Schild flammte in allen Farben des Spektrums auf. Energiebahnen zerplatzten daran und
gebaren kurzlebige Blüten von grausiger Schönheit.
»Der Schild ist ungewöhnlich belastbar«, kommentierte Holm. »Das spricht für die Bedeutung des
Schiffes. Jetzt... jetzt erwidert es das Feuer...«
»Auf Sprunggeschwindigkeit beschleunigen«, befahl Vereb.
»Sir? Rückzug, Sir? Aber der Master...«
»Wir müssen für alle Eventualitäten gewappnet sein.« Es war tatsächlich keine Angst, die Vereb
diese Vorsorge treffen ließ - und niemand innerhalb der Schiffszentrale unterstellte ihm dies. »Ich
sagte nicht, dass wir springen, ich sage nur: Wir bereiten uns darauf vor.«
Er war nicht Captain geworden, weil er nicht in der Lage war, selbst Entscheidungen zu treffen.
Die HAMM beschleunigte auf 0,65 LG - wodurch sie zugleich aber auch geortet werden konnte.
Die Tarnkappe funktionierte im freien Fall, aber nicht bei einer solchen Energiefreisetzung.
Doch die kämpfenden Einheiten schienen ihre Aufmerksamkeit ausschließlich dem Gegner zu
widmen.
»Identifizierung des Verbandes«, verlangte Vereb.
»Identifizierung läuft, aber die Signaturen werden verhüllt. Es könnten...«
Der Holoschirm hatte immer noch das CLARON-Schiff im Fokus. Die angreifenden Einheiten
waren verschwommene Schemen, diffuse Flecken, aus denen immer wieder Lanzen purer Energie
hervorbrachen und gegen den Schild des Kugelraumers brandeten.
Dann änderte sich die Taktik schlagartig. Waren die Einschläge zunächst in unregelmäßigem Takt
und weit über die Schirmhülle verstreut erfolgt, bündelten sie sich warnungslos an einem einzigen
Punkt - außerdem wurde der Salventakt synchronisiert.
Dem hatte der energetische Schutzwall nichts entgegenzusetzen.
Zunächst bildete sich ein feiner, kaum wahrnehmbarer Haarriss, der sich jedoch plötzlich
explosionsartig ausweitete.
Das war der Anfang vom Ende der CLARON.
Vereb beobachtete kühl, wie das gegnerische Feuer zur Schiffshülle durchschlug, sie umwaberte -
und auseinander platzen ließ wie einen bis über das Limit hinaus aufgeblasenen Ballon.
Für Sekunden entstand eine zusätzliche Sonne im System, wie zum Ausgleich für den verlorenen
Planeten.
Aber dieses Fanal verlosch fast ebenso schnell wieder, wie es aufgeflammt war. Und schon im
nächsten Augenblick geschah das, was Vereb befürchtet hatte.
Ein Ziel war ausgeschaltet, jetzt widmeten sich die fremden Einheiten dem nächsten.
»Registriere Scannerfeld«, meldete die Ortung.
Zeitgleich schossen Kampfstrahlen auf die HAMM zu, streiften den im Tarnmodus aktivierten
Schirm, als gäbe es das Laurin-Feld gar nicht, und veranlassten den Bordrechner dazu, es
automatisch zu modifizieren.
»Ziehe Energie aus den Triebwerken«, meldete der Quantencomputer. »Verstärke damit...«
»Nein! «, brüllte Vereb. »Autorisierung Vereb, Captain der HAMM... Stimmanalyse... Keine
Drosselung der Geschwindigkeit! Durchstarten und absetzen! Das ist eine A-1-
Dringlichkeitsorder!«
Für einen Moment fürchtete er, die KI des Schiffes könnte seine Autorität in Frage stellen -
während die gegnerischen Schiffe immer näher rückten.
Als sie ihr Feuer in gleicher Weise bündelten, wie es der CLARON zum Verhängnis geworden
war, schloss Vereb kurz die Augen und versuchte, sich auf den Moment des Todes vorzubereiten.
Als er sie wieder öffnete, erloschen gerade die Farben des Evert-Raums.
»Sprung bestätigt«, meldete die KI.
»Blindsprung«, bestätigte Holm.
Vereb atmete tief aus. »Identifizierung des Waffentyps?«
»Positiv.«
Vereb drehte Saphir Holm das Gesicht zu. Sein Blick war fragend, ungeduldig.
Und die nächsten Worte von Holm versetzten ihm einen Stich.
Es geht also los, dachte er. Die Master-Prophezeiung tritt ein. Dies ist der Beginn einer völlig
neuen Epoche... auf die wir uns seit langem vorbereiten.
Alles davor waren nur Geplänkel gewesen.
Taktische Manöver.
Vorbereitungsmissionen.
Von heute an würden all die sich korrigieren müssen, die das rücksichtslose Expansionsbestreben
der Erinjij bereits als kriegerischen Akt bezeichnet hatten.
Krieg war etwas anderes.
Die Erinjij waren bereit, es dem Rest
der Milchstraße zu beweisen.
Vereb holte tief Atem und straffte
sich.
Kein Zweifel. Die Galaxis würde brennen!
Schon bald...
2. Die RUBIKON trieb im Niemandsland fremder Sterne. Der nach einem unbekannten Prinzip funktionierende Antrieb war erloschen und der Ort, von dem sie geflohen waren, verschwunden. Tovah'Zara... Ob Königin Lovrena tatsächlich tot ist?, dachte John Cloud. An Scobee gewandt sagte er: »Ich werde mit ihm sprechen. Wir müssen etwas tun, die Initiative ergreifen! Ich kann nicht glauben, dass er ebenso hilflos, ebenso ratlos ist wie wir.« Die Frau, die sich mit ihm innerhalb des zentralen Raumes an Bord des Artefaktes aufhielt, zuckte die Achseln. »Ich habe Vertrauen zu ihm. Ich glaube nicht, dass er uns länger Böses will - vielleicht wollte er das nie. Vielleicht musste er nur mit seinem Schmerz fertig werden. Und da kamen wir ihm gerade recht.« Er sah sie an. Er hatte sich über den Außerirdischen Darnok wahrscheinlich mehr Gedanken gemacht als über irgendein anderes Lebewesen jemals zuvor - seinen verschollenen Vater ausgenommen. Aber ganz gleich wie lange und intensiv er über die Beweggründe des Keelon auch grübelte, es blieben selbst nach dessen Bericht über den Untergang seines Volkes und wie er ihn erlebt hatte noch eine Unzahl an Fragen offen. »Zugegeben, er ist rätselhaft.« Wenn Scobee lächelte, verzauberte sie einen Raum - selbst einen Raum wie diesen. Die Grundfarbe ihrer Augen war grün, jadegrün, dies änderte sich nur, wenn sich ihre Sehweise änderte, wenn sie auf Infrarotsicht umschaltete. Sie war kein normal geborener Mensch, sondern in vitro gezeugt worden - im Reagenzglas. Was genau alles von irdischen Wissenschaftlern in die Wege geleitet worden war, um einen Menschen zu erschaffen, die dem rein äußerlichen Idealbild einer Frau so erschütternd nahe kam, entzog sich Clouds Kenntnis. Er wusste nur, dass die GenTecs von einer gleichfalls geklonten Matrix »kopiert« worden waren - und dass es mehr als ein Dutzend Ebenbilder von Scobee gegeben hatte. Bis zu den verhängnisvollen Minuten, als die Schwarze Flut über das Sonnensystem hereingebrochen war. Die anderen Scobees hatten dies, im Staseschlaf ruhend, ebenso wenig überlebt wie die Ebenbilder von Resnick und Jarvis. »Findest du es nicht auch erstaunlich, dass wir hier eine atembarer Atmosphäre vorgefunden haben?«, fragte Cloud. »Obwohl die RUBIKON wie ein verworfener Prototyp der im Wasserwürfel manövrierenden Jadeschiffe aussieht? Wenn es eigentlich den Vaaren gehört, warum ist es dann nicht mit Wasser geflutet? Warum ist es allem Anschein nach für die Reise im freien All ausgelegt,
während alles andere im Würfel nur auf das Element Wasser abgestimmt war? Und in welchem
Verhältnis stehen die ominösen Sieben Hirten dazu, von denen ich bei Lovrena erfuhr?«
Die Sieben Hirten: Sobek, Mont, Mecchit, Sarac, Ogminos, Epoona, Siroona...
»Ich kann dir all diese Fragen nicht beantworten. Ich wünschte, ich könnte es. Aber offenbar bist
du fest überzeugt, dass sie in engem Zusammenhang zu diesem Schiff standen. Falls dem so ist,
waren sie selbst offenbar keine im Wasser lebenden Geschöpfe, erst recht keine Vaaren. Nur:
Ergibt das Sinn? Immerhin werden sie von den Vaaren auch heute noch wie Heilige verehrt.«
»Was ergibt schon Sinn bei alldem?« Er seufzte. >Jedenfalls werde ich mit Darnok sprechen.
Vielleicht kommt ihm hier ja doch einiges bekannt vor. Er hatte Kontakt mit vielen Völkern der
Milchstraße. Vielleicht ist ihm dabei etwas untergekommen, das...«
In diesem Augenblick betrat Darnok die Zentrale durch einen von insgesamt Zu- und Ausgängen.
»Ich muss euch sprechen«, sagte er ohne Grußfloskeln. »Aber nicht hier - nicht in dieser
Umgebung.«
»Worum geht es?«, fragte Scobee.
»Um eure verschollenen Freunde. Um deren Schicksal. Ich fürchte, es sieht nicht gut aus...«
Die Stimmung war nicht schlecht. Sie war katastrophal. »Kein Zweifel möglich?«, fragte John Cloud erschüttert. Das schwarze, molluskenartige Wesen, zu dem er sprach, ruhte in einem kreisrunden, im Boden eingelassenen Becken und ähnelte in dieser Größe und Ausprägung nichts, was auf der Erde existierte. Aber Darnok war auch nicht auf der Erde geboren, sondern auf einem Planeten, der aufgehört hatte zu existieren - weil Menschen ihn samt seinen Bewohnern vernichtet hatten. Menschen! Oder Erinjij, wie die Völker der Galaxis sie nannten - hasserfüllt, voller Zorn und Verachtung. Die Erinjij galten wegen ihrer skrupellosen Expansionspolitik als Geißel der friedliebenden Rassen der Milchstraße. Das zumindest hatte Darnok die vier Menschen wissen lassen, die er mit in seine Zeit, mit in eine Zukunft genommen hatte, in der es keinen Platz mehr für die Gestrandeten zu geben schien. Und die plötzlich auch nur noch zu zweit waren. Zumindest an Bord des rätselhaften Schiffes, das sie im Herzen des Aqua-Kubus Tovah'Zara gefunden hatten. Und das auch Darnoks kleines Fahrzeug, das Karnut, aufgenommen hatte. Wohl fühlte sich der Keelon aber offenkundig nicht im Innern jenes Artefakts, das dem Anschein nach eine halbe Ewigkeit im Heiligen Bezirk von Tovah'Zara geruht hatte. Seit sie das Rochenschiff aus dem Einflussbereich der Vaaren gelenkt hatten, war er fast nur noch an Bord seines eigenen Schiffes anzutreffen. Etwa ebenso lange waren Jarvis und Resnick bereits verschwunden. »Ich habe sie mit ihrem Einverständnis untersucht - bevor sie verschwanden«, erklang Darnoks künstlich modulierte Stimme aus den Wänden. Cloud musste daran denken, dass er Darnok noch niemals mit eigener Stimme sprechen gehört hatte - obwohl es keinen Zweifel daran gab, dass er dazu in der Lage war. Im Umgang mit den irdischen Astronauten bediente er sich jedoch ausschließlich technischer Hilfen, die entweder fest in seinem Karnut installiert waren oder Bestandteil des Anzugs, mit dem er sich bei seinen Ausflügen im Lebensbereich der Vaaren, Heukonen und Luuren geschützt hatte. »Darum geht es nicht«, warf die Frau mit dem blauschwarzen Haar ein, die auf der anderen Seite der Bodenmulde stand. Sie klang angespannt, aber beherrscht. Scobee würde nie die Fassung verlieren, dachte Cloud. Obwohl es interessant werden könnte, wenn sie es täte. Wirklich interessant.
Laut sagt er: »Nein, darum geht es nicht. Es geht nicht um die Untersuchung, sondern um das Resultat. Darnok, wenn es irgendwelche Zweifel gibt - oder anders ausgedrückt - irgendwelche Hoffnung, dass dir ein Diagnosefehler unterlaufen sein könnte, dann...« »Ich verstehe«, unterbrach ihn der Außerirdische. »Aber ich bin mittlerweile mit eurem Metabolismus vertraut. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich mich irre - gleich in zwei Fällen irre - ist so gering, dass... nun, die Möglichkeit ist auszuschließen.« »Dann werden sie also tatsächlich sterben, wenn wir sie nicht schnellstens ausfindig machen?«, fragte Cloud. Darnok schwieg eine Weile. Als er endlich wieder die Stimme erhob, tat er es mit Worten, wie sie drastischer kaum hätten ausfallen können. »Ich fürchte, es gibt auf eurer Seite immer noch ein Missverständnis: Resnick und Jarvis werden sterben - ganz gleich, ob wir sie nun finden oder nicht. Für sie gibt es keine Rettung, nicht einmal mit Keelon-Mitteln. Ihre zellulare Schädigung ist irreparabel - und sie schreitet voran.«
Das Entsetzen wich nur zögerlich. Scobee lauschte in sich hinein. Aus irgendeinem Grund misstraute sie Darnoks Aussage. Und sie fragte sich, was für einen Grund er haben könnte, ihr nicht die Wahrheit - die ganze Wahrheit - zuzumuten. Sie spürte, dass Cloud ähnliche Gedanken durch den Kopf schossen. »Wenn das stimmt«, sagte er zu ihr, »und du davon nicht betroffen bist, wie Darnok gerade behauptet, dann sollten wir uns fragen, welchen Einflüssen sie ausgesetzt waren - und du nicht... « Das Wesen im Becken geriet in Bewegung. Seine Extremitäten, die wie unterarmlange, gekappte Adern aus seinem Körper hervortraten und zeitweilig mit der Innenwandung der Mulde verschmolzen zu sein schienen, zogen sich mit einem leisen, schmatzenden Geräusch aus dem Metall zurück. Der Keelon richtete sich auf und kletterte mit unerwarteter Eleganz aus der Bodenvertiefung heraus. Dann stand er neben Scobee. Er reichte ihr gerade einmal bis zur Brust. Vergeblich, wie schon viele Male vorher, suchte sie etwas, das an ein Gesicht oder auch nur einen Kopf erinnerte. Stattdessen hatte sie einmal mehr das Gefühl von einer Unzahl Augen, die in der dunklen, ölig glatten Haut verborgen waren, angestarrt und gemustert zu werden. Unverändert drang Darnoks Stimme aus den Wänden, als er zu ihr - nur zu ihr, wie es ihr vorkam sagte: »Nach Auswertung aller Ergebnisse kann ich es ausschließen, dass der Verfall der Zellstruktur bei Jarvis oder Resnick auf äußere Einwirkungen zurückgeht, etwa während unseres Kubus-Aufenthalts. Die Ursache wurzelt tiefer. Es scheint seinen Ursprung in etwas zu haben, das mit eurer ganzen Art der Entstehung zusammenhängt. John Cloud sagte mir, dass ihr, anders als er, Produkte einer >hoch entwickelten< Klontechnologie seid. Dazu muss ich leider feststellen, dass das angewendete biotechnologische Vervielfältigungsverfahren keineswegs den Anforderungen gerecht wurde. Jarvis und Resnick sind zweifellos Opfer einer noch unausgereiften Biotechnologie, eines unausgereiften Klonverfahrens. Schon bei ihrer Entstehung wurden eklatante Fehler gemacht, zunächst aber offenbar übersehen - oder billigend in Kauf genommen.« Er schwieg kurz, bevor er fortfuhr. »Das kann ich von meiner Warte aus nicht entscheiden. Zumal ich nichts über die Ethik eurer Wissenschaft weiß. Fakt ist jedenfalls: Jarvis und Resnick wiesen bereits bei ihrer Erschaffung Mängel auf, die sich unbemerkt ausweiteten, bis sie nun kürzlich offen zu Tage traten. Die beiden werden die Fehler ihrer Erzeuger mit dem Leben bezahlen, ganz gleich, ob wir sie finden oder nicht.« Er klang so kalt, so roh und gefühllos - er sprach von Jarvis und Resnick wie von Dingen, nicht wie von denkenden, fühlenden Menschen. Aber das täuschte. Scobee kannte Darnok inzwischen gut genug, um zu wissen, dass dem Keelon seine Eröffnungen nicht leicht fielen.
»Aber du widersprichst dir selbst«, warf Cloud ein. Er wirkte ehrlich erschüttert, rang sichtlich um Argumente, mit denen er Darnoks niederschmetternde Diagnose vielleicht doch noch entkräften konnte. »Scob wurde doch mittels haargenau desselben Verfahrens geklont wie G.T. und Resnick. Wäre tatsächlich ein Mangel an Können, ein unausgereiftes Verfahren, die Ursache für den Befund, müsste auch sie betroffen sein.« Scobee spürte einen gallebitteren Geschmack im Mund, als ihr klar wurde, dass dies ein berechtigter Einwurf gewesen wäre - wenn es da nicht etwas gegeben hätte, wovon weder Cloud noch Darnok ahnten. Der Keelon ließ eine Weile vergehen, bevor er sagte: »Ich wollte euch nur darüber informieren, was die Untersuchung ergeben hat. Warum das Weibchen nicht betroffen ist... Möglicherweise liegt es am Geschlecht. Die Helix von Männern und Frauen unterscheidet sich in eurem Volk. Die Chromosomenzahl...« »So kommen wir doch nicht weiter«, unterbrach sie ihn. »Es geht jetzt vorrangig darum, die beiden zu finden. Selbst wenn...«, sie schluckte, »selbst wenn sich das Todesurteil in vollem Umfang bestätigen sollte, haben sie ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren - und selbst zu entscheiden, wie sie die letzte Phase ihres Lebens verbringen wollen.« Sie räusperte sich, wandte sich an Darnok und mied jede Blickbegegnung mit Cloud: »Kannst du hochrechnen, wie lange ihnen noch bleibt?« »Noch einige Tage. Im günstigsten Fall noch wenige eurer Wochen.« Verdammt, dachte Scobee. Ich hasse den Tod. Gleichzeitig musste sie an die GenTecs denken, die auf der Erde geblieben waren. Eine davon war besonders eng mit ihr verbunden gewesen. Und wovon Resnick und Jarvis - oder auch Cloud nicht einmal etwas ahnten, das wusste sie: Es gab ganz spezielle, telepathisch begabte Ebenbilder von ihr und den GenTecs. Cronenberg und Hays hatten dieses Unterprojekt der Marsmission initiiert, und sie, Scobee, hatte sich von ihnen überreden lassen... Verdammt, verdammt, verdammt! Ihr wurde bewusst, wie sinnlos es war. Die inzwischen verstrichene Zeit - die real verflossene Zeit -
relativierte jeden Schuldvorwurf. Auch den an sich selbst.
Wahrscheinlich lebte kein Hays und kein Cronenberg mehr.
Wie viele Jahre hatte Darnok ihnen mit seiner Manipulation gestohlen? Fünfzig? Hundert?
Tausend?
Ihr wurde kalt. Der Kontakt, den ihr Klon über Monate hinweg gehalten hatte, war in dem Moment
abgerissen, als das Askulap-Schiff mit ihnen durch die Jupiter-Passage gegangen...
... und in die Zukunft katapultiert worden war.
»Vielleicht sollte ich mich auch untersuchen lassen.« Clouds Worte rissen sie aus ihren Gedanken.
»Du?« Jetzt musste sie ihn anblicken, und wie stets letzter Zeit hatte sie das Gefühl, dass er es ihr
ansehen müsste. Dass sie ihm etwas verschwieg.
»Nun, wenn es tatsächlich am Geschlecht liegen könnte...« John sah blass aus. Blasser als all die
Tage davor. Aber die Angst gewann nicht die Oberhand über ihn. »Ich möchte Klarheit, Darnok.«
»Es ist deine Entscheidung, John Cloud.«
Cloud nickte. Dann fragte er, an den Keelon gerichtet: »Versteh mich nicht falsch. Es geht hier
nicht um Schuldzuweisungen, sondern einzig um Ursachenforschung...«
»Was beschäftigt dich?«
Cloud strich sich durch sein Haar, das merklich an Länge gewonnen hatte. Es bedeckte inzwischen
die Ohren. Scobee bemerkte jedoch, das von Bartwuchs hingegen - wie bei den GenTecs - keine
Spur auszumachen war. Zweifellos hatte er sich einer nachhaltig wirkenden Laserbehandlung
unterzogen.
»Das, was du mir über dein Magoo... und die Problematik von Zeitreisen gesagt hast...«
»Und was konkret?«
»Du sagtest, dass du dich nicht dauerhaft in unserer Zeit hättest halten können.«
»Das ist korrekt. Es hätte mich... umgebracht.«
Das kurze Stocken bewies Scobee, dass Clouds Einwand den Keelon ins Grübeln gebracht hatte.
Auch sie selbst ahnte, worauf der ehemalige Kommandant der zweiten Marsmission hinauswollte.
»Das meine ich«, sagte Cloud.
»Du befürchtest, dass es sich mit euch ebenso verhalten könnte«, sprach Darnok aus, worüber
Scobee nun ebenfalls nachsann. »Ich habe euch in eine für euch fremde Zeit entführt.«
Cloud bestätigte mit einem knappen Nicken.
Scobee merkte, wie ihr kalt wurde. »Wie würde es sich bei einem Keelon äußern, wenn er von
>fremder Zeit< umgebracht würde?«, fragte sie mit belegter Stimme. »Ich begreife, worauf John
hinaus will. Ist da etwas dran, Darnok? Sag die Wahrheit? Könnte G.T.'s und Resnicks Erkrankung
mit unserer unfreiwilligen Zeitreise zusammenhängen?«
Durch den Keelon schien ein Zittern zu laufen. Seine schwarze Hautoberfläche kräuselte sich, als
würden Wellen darunter entlang rollen.
»Mir ist kein Fall bekannt«, sagte er endlich, »dass ein Keelon ein lebendes Wesen aus seiner
angestammten Zeit riss. Ich habe mehr als ein Tabu meines Volkes gebrochen. Würde es noch
existieren, könnte ich vor Scham und Schuld nicht weiterleben. Es ist bizarr, aber nur seine
Vernichtung ermöglicht es mir, mich mit meinen Vergehen zu arrangieren.«
»Gäbe es dein Volk noch«, sagte Scobee, »wärst du nie in diese Misere geraten.« Sie hatte das
Gefühl, etwas Tröstliches sagen zu müssen, weil sie spürte, dass Darnok auf einem schmalen Grat
wandelte. Sie hatte es nie so betrachtet, aber Cloud hatte ihr in knappen Worten vermittelt, was
Darnok ihm über den Untergang der keelonischen Zivilisation erzählt hatte, und seither betrachtete
sie das herzförmige Wesen mit anderen Augen.
Darnok war eine tragische Figur.
Der Letzte seiner Art.
Kaum vorstellbar, was es für sie bedeutet hätte zu wissen, die Letzte ihrer Art zu sein.
Du bist die Letzte - weil du auch die Einzige bist, machte sie sich im nächsten Augenblick klar. Du
bist ein Unikat. Das Original. Es mag etliche Kopien von dir gegeben haben, aber du... du warst
und bleibst einzigartig.
Sie dachte es ohne jeden Hang zur Selbstverliebtheit.
Es weckte Trauer in ihr, eine tiefe Traurigkeit, die sie sich Darnok noch näher fühlen ließ.
»Mag sein«, sagte er. »Aber dieser krankhafte Zellverfall müsste auch Scobee betreffen, falls er mit
der Zeitversetzung zusammenhinge. Er ist definitiv nicht an das Geschlecht gebunden.«
Cloud wiegte skeptisch den Kopf. »Du hast mir immer noch nicht gesagt, wie ein Keelon sterben
würde, dem es durch Schwächung seines Magoos oder aus anderen Gründen nicht gelänge, wieder
in seine Eigenzeit zurückzukehren.«
»Er würde sich verflüchtigen«, sagte Darnok. »Er würde binnen kürzester Frist zu einem
substanzlosen Schemen, einem Geist, der keinen Halt mehr in diesem Kosmos fände. Und
schließlich würde er in Dimensionen verweht werden, aus denen es keine Rückkehr gibt.«
»Die Hölle«, hörte Scobee Cloud flüstern. »Du meinst die Hölle...«
Mit rauer Stimme sagte sie: »Ich muss mit dir reden, John. So bald wie möglich. Wir müssen G.T
und Resnick finde, ich weiß, aber das, was ich dir sagen muss, ist auch wichtig. Für mich.«
Er blickte sie an.
Verwundert.
Beinahe bestürzt.
In diesem Moment wünschte sie, das
Gesagte zurücknehmen zu können. Aber dafür war es zu spät.
»Okay«, sagte er. »Darnok soll mich
scannen - danach können wir reden.
Hier?«
»Nicht hier«, sagte sie. »Und nur wir beide. Was ich zu sagen habe, betrifft Darnok nicht - er darf
es gern erfahren... nachdem ich mit dir im Reinen bin.«
Sie wusste, was ihre Worte anrichteten. Clouds Blick flackerte kurz, dann nickte er und wiederholte: »Okay. Darnok? Wie lange wird es dauern, bis du mir sagen kannst, ob sich bei mir auch eine Zellschädigung abzeichnet?« »Nicht lange«, sagte er. »Ich habe Resnicks und Jarvis' Daten als Vergleichswerte.« »Dann fang an. Und denk dran, du hast dein Soll als Überbringer von Hiobsbotschaften für heute schon übererfüllt. Niemand ist dir böse, wenn du zur Abwechslung auch mal etwas Gutes zu berichten hast.« Darnok schwieg eine Weile. Die Irritation war ihm anzumerken. »Ich verstehe«, sagte er schließlich. »Du möchtest ein positives Resultat. Ich werde es berücksichtigen.« Cloud seufzte kopfschüttelnd, blickte dann hilfesuchend zu Scobee. »Was macht man mit so einer Type?« Sie zuckte die Achseln. »Man spricht verständlich mit ihr?«
Darnok war eigenartig berührt, wie nahe ihm selbst das Schicksal der beiden Verschwundenen
ging. Sie würden sterben, und er, Darnok, war ein ausgewiesener Experte in Sachen Tod. Er hatte
millionenfache Erfahrung darin.
Und eine sehr spezielle...
Lisee.
Es gab keine Aussicht, sie jemals zu vergessen - oder auch nur die Bilder, die sich in seinen Geist
gegraben hatten. Die Bilder ihres Sterbens...
Er gab sich einen Ruck.
Cloud und Scobee hatten das Karnut verlassen, und nun würde auch er sich ausschleusen. Zuvor
aber formulierte er klare Befehle an die Nano-Koordination seines Schiffes.
Es dauerte nicht lange, bis sich eine entsprechende Masse abgesondert hatte und deren Atome sich
so gruppiert waren, wie er es von ihr gefordert hatte. Die so gewonnene Ausrüstung bestand aus
mehreren Komponenten, unter anderem einem Gürtel, der sich bei Bedarf zu einer schützenden
Ganzkörperhülle ausweiten würde. Und ein Gravoaggregat, nicht größer als die Faust eines
Menschen. Darnok hatte sich dafür entschieden, obwohl an Bord des Artefakts eine Schwerkraft
herrschte, die sowohl für ihn als auch für die Menschen nahezu ideal war.
Während er das Karnut verließ, fragte er sich, ob das immer schon so gewesen war - oder ob sich
die Verhältnisse ihnen erst angepasst hatten.
Er nahm Letzteres an.
Was ebenso wie der ominöse Ruf, der an Cloud ergangen war, dafür sprach, dass sie hier an Bord
unter permanenter Beobachtung standen.
Aber durch wen?
Handelte es sich um ein bloßes Programm? Oder um lebendige Wesen, die aus dem Verborgenen
heraus beobachteten und lenkten?
Wir müssen es herausfinden, dachte Darnok. Wir müssen es schleunigst herausfinden, sonst kann
dieser Ort zu unserem ärgsten Widersacher werden. Ich scheine der Einzige zu sein, der dies sieht.
Die Menschen sind zu sehr auf die Möglichkeiten fixiert, die sich ihnen unerwartet eröffnet haben.
Dabei übersehen sie die immense Gefahr. Wir wissen nichts über diese unbekannte Macht - und
das ist eindeutig zu wenig.
Er merkte, wie sehr er sich bereits mit den Zielen der Menschen identifizierte, die vor allem eines
wollten: zurück zu dem Ort, dem sie entstammten und zurück in die Zeit, der sie entsprangen und
aus der er, Darnok, sie ohne zu fragen entrissen hatte.
Ansonsten wären sie längst tot, dachte er.
Aber das wusste er nicht sicher. So wenig wie er, John Cloud oder Scobee wussten, was »damals« wirklich geschehen war - wer jene Askulap-Schiffe erbaut und befehligt hatte, die Kurs auf die Erde genommen hatten, um sie zu erobern. Darnok hatte geglaubt, mit Hilfe seines Magoos und den interferierenden Energien des Wurmlochs zur Wurzel des Übels gelangen zu können, dass die Erinjij darstellten. Aber er hatte nur Menschen gefunden, keine Erinjij. Menschen, die selbst in größte Bedrängnis durch die Eroberer in den blitzumtosten Raumschiffen geraten waren. Und mehr denn je stellte sich die Frage, wie es nach der Invasion dazu hatte kommen können, dass aus der moralisch intakten Spezies, der Cloud und Scobee angehörten, etwas so Amoralisches wie die Erinjij hatte erwachsen können. An Bord des Artefakts schien es - abgesehen von einem schweren Schleusenschott, das man passieren musste, um den Hangar des Karnuts zu verlassen - keine einzige normale Tür zu geben. Für Darnok war ein Durchschreiten der stattdessen über das Schiff verteilten Energievorhänge nicht nur mit einem Ortswechsel in Nullzeit verbunden, sondern jedes Mal auch mit einem zwar kurzen, aber heftigen Gefühl der Desorientierung. Menschen schienen darüber hinaus sogar mehr oder weniger ausgeprägt Schmerz zu empfinden. Die Energie, die sich zwischen diesen Türrahmen spannte, war eindeutig dimensional übergeordneter Qualität. Erste Messungen hatten dies bestätigt. Warum aber ein solches in Krisensituationen gewiss auch anfälliges Beförderungssystem auf einem Objekt vonnöten war, das nicht wirklich als riesig bezeichnet werden konnte, entzog sich Darnoks Verständnis. Auf der anderen Seite wusste er nichts über die Mentalität der Erbauer. Fakt war: diese einerseits zwar bequeme, andererseits aber auch Unbehagen weckende Form der Fortbewegung innerhalb des Schiffes existierte - und sie mussten sich damit arrangieren. Wie noch mit vielem anderen mehr. 3. Sie hatten sich in die Zentrale der RUBIKON II zurückgezogen. Es war ein Ort besonderer Kälte - zumindest aus Scobees Sicht. Cloud hingegen schien davon wie von einem Magneten angezogen zu werden. Er hatte ohnehin die zweifellos innigste Bindung zu dem Schiff, und er war der Einzige, dem es - zumindest bedingt - gehorchte. Er hat uns aus dem Kubus herausgebracht, dachte Scobee. Und neben Dankbarkeit schwang auch noch anderes in ihr mit, wenn sie die Zeit fand, sich mit Cloud gedanklich und emotional auseinander zu setzen. Da war, sie konnte es nicht verhehlen, etwas, das über normale Sympathie hinausging. Aber dies war weder der Ort noch die Zeit, sich dem zu stellen. Sie hatte andere Probleme. Und eines, das ihr besonders auf der Seele lastete. »Schieß los«, sagte er. Er hatte auf einem der sieben Sitze Platz genommen, die das Zentrum der Kommandozentrale markierten. Darüber hingen in etwa fünf Meter Höhe sieben leere Hohlröhren, von unsichtbaren Kräften gehalten. Sie bestanden aus dem gleichen Material wie das gesamte Schiff, aus einer unbekannten Metalllegierung. Keine Protomaterie, wie im Aqua-Kubus üblich, woher das Artefakt immerhin stammte. Die hier etablierte Technik entsprach keiner Darnok bekannten, und dennoch gab es Gesetzmäßigkeiten, an denen keine raumfahrende Rasse, ganz gleich wie sie selbst im Detail beschaffen sein mochte, vorbeizukommen schien. Zumindest keine humanoide raumfahrende Rasse, dachte Scobee, die ihre Beklemmung abzustreifen versuchte. Unruhig ging sie vor Cloud auf und ab. Ihre Schritte verursachten kein hörbares Geräusch. Was sowohl an der von Darnok erhaltenen Kleidung liegen mochte, die kein echtes Schuhwerk beinhaltete - sondern eher etwas Strumpfartiges, dessen Sohlen leicht verstärkt waren -, oder auch am Boden selbst, der jedes Gehgeräusch zu absorbieren schien. »Setz dich, bitte«, sagte John, »du machst mich noch nervöser, als ich es schon bin.«
Sie hielt inne, schrak aus ihren Gedanken auf und begriff, dass sie immer noch nach dem besten
Einstieg für die Beichte suchte. Sie gehorchte schließlich fast mechanisch.
Zu Clouds Rechten nahm sie Platz.
»Sobek«, sagte Cloud.
»Sobek?« Sie blinzelte irritiert und nun völlig aus dem Konzept gebracht.
»Das war Sobeks Platz«, sagte Cloud mit einer Stimme, die ihm nicht selbst zu gehören schien.
Sein Blick war hart, fast gläsern.
Dann, übergangslos, kehrte die Wärme und Weichheit zurück.
»Was hast du gerade gesagt?« Sie versuchte, das Frösteln zu unterdrücken, aber es gelang ihr nicht.
»Ich sagte: Setz dich, du machst mich...«
»Ich meine danach: Sobek... Was du über Sobek gesagt hast.«
Der Name war ihm geläufig. Er selbst hatte seinen Gefährten erstmals von den wie Götter verehrten
Sieben Hirten der Vaaren erzählt - nach seiner Rückkehr aus Lovrenas Gefangenschaft. (siehe Heft
8 „Für Menschen Verboten“)
»Ich soll...?«, setzte er an.
Er war kein Schauspieler, erst recht kein so begnadeter, wie es nötig gewesen wäre, um diese
Verblüffung nur zu imitieren. Er erinnerte sich tatsächlich nicht.
»Du hast, nachdem ich mich hierhin setzte, gesagt: >Das war Sobeks PlatzVorlagen< - entstanden anders als die GTs. Die befruchteten Eizellen echter Menschen wurden lediglich genetisch manipuliert... optimiert... so lange, bis das Resultat herauskam, das die Wissenschaftler unter Professor Hays anstrebten. Ich bin reale zwanzig Jahre alt, und ich hauste diese zwanzig Jahre nicht ausschließlich in Labors. Ich kenne die Welt, ich kenne das Leben. Im Gegensatz zu G.T. und Resnick.« »Du meinst >unsere< beiden.« »Natürlich.« »Was ist der Unterschied?« Er stutzte. »Moment... Wenn du zwanzig Jahre alt bist - und die beiden anderen Matrizen ebenfalls - dann können G.T. und... « »... dann können die GenTecs höchstens ein, zwei Jahre alt sind - richtig«, bestätigte Scobee seinen Gedanken. Einen Gedanken, so bizarr, dass er sitzend das Gefühl hatte zu fallen. Nur schwer bekam er seine Emotionen wieder in den Griff. »Die >Kopien< der Matrizen«, sagte Scobee, »wurden mit speziell entwickelten Wachstumsbeschleunigern binnen weniger Monate in den Zustand hochgepuscht, dass sie rein optisch ihren Vorbildern und Originalen entsprachen.« »Das ist möglich?«, fragte er ungläubig. »Offenbar.« »Aber... G.T. und Resnick müssten das wissen. Sie würden wissen, wenn sie erst ein, zwei Realjahre alt wären, und es ist unvorstellbar, dass sie damit nicht längst herausgerückt sind. Es müsste sie doch belasten. Es...« »Es belastet sie mit Bestimmtheit - aber eher unterbewusst. Davon abgesehen wissen sie nichts von ihrem Babyalter. Sie glauben erwachsen zu sein. Und - wie ich - vor zwanzig Jahren in einem Labor gezeugt worden zu sein.« Cloud stemmte sich mit den Armen vom Podest ab und kam in den Stand. Er blickte auf Scobee hinab. Kopfschüttelnd. »Unmöglich...« »Du müsstest selbst am besten wissen, was ihnen alles möglich war. Denk an deine Probleme. An die Implantate. An das Fremdwissen, das dir aufoktroyiert wurde. Und dem auch nicht ganz unbedeutende Nebenwirkungen anhaftete, auf das sie dich nie vorbereitet haben. Wahrscheinlich sogar, weil sie es selbst nicht wussten, was alles mit ihren Manipulationen einhergehen konnte. Sie haben Gott gespielt, haben hier und da an den Grundfesten der Schöpfung gerüttelt... und wussten doch nicht wirklich und in letzter Konsequenz, was sie alles anrichteten.« »Stob...« »Ich weiß, es ist starker Tobak. Aber ich will unser Verhältnis nicht länger auf einer Lüge aufbauen, die einen ganzen Rattenschwanz neuer Lügen hinter sich herzieht. Wir haben uns zusammengerauft - notgedrungen wahrscheinlich, anfangs zumindest, aber mittlerweile ist es mehr.
Wir sind... « Sie sah ihn an. Sie öffnete jede Deckung, als wollte sie ihm signalisieren: Verletze
mich! Wenn du denkst, ich habe es verdient, dann zahl es mir heim!
Aber er war wie betäubt.
»... wir sind Freunde geworden.« Sie schluckte. Wartete. »Oder?«
Er fuhrt sich über den Nacken. Die Umgebung, dieses unfassbare Konstrukt einer unfassbar
überlegenen Zivilisation, schien völlig zu verblassen. In diesem Moment gab es nur sie und ihn.
»Wenn ich...« Er räusperte sich. Seine Stimmbänder waren belegt wie nach einem langen Schlaf.
»Wenn ich dich richtig verstehe, meinst du, der Zellschaden, den Darnok an den beiden GenTecs
diagnostiziert hat, ist auf diese so genannten... Wachstumsbeschleuniger zurückzuführen?«
»Ich habe keine andere Erklärung.«
Er nickte, nagte nun selbst an seiner Unterlippe, aber wesentlich vorsichtiger als Scobee. »Das
könnte die Erklärung sein.«
»Und?«
»Was und?«
»Wird das, was ich dir gerade eröffnet habe, etwas ändern? Zwischen uns?«
»Mich würden die Hintergründe interessieren, die dazu führten, dass du und nicht deine Kopie an
Bord des Marsschiffes ging. Ich verstehe offen gestanden nicht...«
»Es war eine Verschwörung«, sagte sie offen - und mit einer Direktheit, die ihm jeden Wind aus
dem Segel nahm. »Initiiert von Reuben Cronenberg, den du ja auch kennen gelernt hast. Als er dich
deiner Kommandantur enthob.«
»Cronenberg?« Cloud spürte bei dem Gedanken an diesen Mann kalte Wut in sich aufsteigen. Und
zum ersten Mal richtete sich diese Wut auch klar erkennbar gegen Scobee.
»Mit ihm hast du gemeinsame Sache gemacht? Wie genau? Was waren Cronenbergs Absichten -
und was deine? Immerhin... hast du diese Farce sehr glaubwürdig mitgespielt.«
»Cronenberg ist machtbesessen. Wie machtbesessen, habe ich selbst erst spät erkannt - und dann
gab es für mich kein Zurück mehr.«
»Konkreter«, forderte Cloud. »Das will ich genauer wissen. Eine Verschwörung... gegen wen?«
»Gegen die Präsidentin. Gegen den Staat. Gegen die... Welt.«
Er lachte auf. »Das ist nicht dein Ernst.«
»Doch.«
»Es hört sich wie die Inhaltsangabe eines schlechten Politthrillers an.«
»Du kennst Cronenberg nicht... zumindest nicht so gut wie ich.«
»Was soll das heißen?«
»Das soll heißen, dass er damals, als dein Vater und die drei anderen Astronauten unter nicht
erklärbaren Umständen auf dem Mars verschwanden, sofort seine Chance erkannte.«
»Welche Chance?«
»Er war es, der das Klon-Projekt und die zweite Marsmission anleierte und sie dem damaligen
Präsidenten schmackhaft machte.«
»So lange ist er schon im Amt?«
Sie nickte. »Ohne ihn wäre dieses gewaltige Geheimprojekt wahrscheinlich niemals in die Gänge
gekommen - und durch die Instanzen gegangen.«
»Welche Chance?«, wiederholte Cloud. »Welche Chance, zur Hölle, meinst du?« Die Erinnerung
an seinen Vater war wieder hochgespült worden. Und alles in ihm weigerte sich, in Nathan Clouds
Tod etwas so Banales wie eine Chance - für wen auch immer - zu sehen.
»Er hatte Machtgelüste, die er nie offen aussprach, aber verklausuliert.«
»Damit wäre er nie durchgekommen. Amerika ist keine Bananenrepublik oder eine Diktatur, in der
man mal eben erfolgreich putschen kann.«
»Das sehe ich anders.«
»Stob, ich weiß nicht, in was du dich da verrannt hast... Aber egal auch, was spielt es noch für eine
Rolle. Wir haben andere Probleme als Cronenberg... Friede seiner Asche.«
Ein Schatten huschte über ihr Gesicht, und für einen Moment hatte Cloud ein ganz ungutes Gefühl.
»Stob?«
»Du hast Recht«, sagte sie. »Er ist wahrscheinlich nicht mehr am Leben. Aber... das ändert nichts
daran, dass du Bescheid wissen sollst, wie damals alles zuging., Er und Hays... Hays war sein
Werkzeug... zogen mich auf ihre Seite, weihten mich in ihre Absichten, den Mars betreffend ein.«
»Und die waren?«
»Sicherung aller Funde, die wir machen würden.«
Cloud schüttelte den Kopf. »Was soll das? Natürlich hätten wir etwaige Funde, die auf eine
mutmaßliche außerirdische Macht zurückgehen, sichergestellt und... «
»Für ihn«, unterbrach Scobee. »Für ihn und die NCIA.«
Er stemmte die Fäuste in die Hüften. »Du meinst...?«
»Die Art und Weise wie dein Vater und die anderen verschwanden, lässt keinen Spielraum für ein
natürliches Phänomen - darin sind sich alle Eingeweihten einig. Und wer immer dahinter steckt, er
muss über ungeheuerliche Mittel verfügen...«
»... denen ihr, die GenTecs...« Er korrigierte sich nicht, obwohl sie gerade erklärt hatte, keine
GenTec zu sein - zumindest keine x-beliebige. »... Paroli hättet bieten sollen.«
»Korrekt. Unter meiner Führung hätten wir einen kleinen Krieg dort entfesselt - wir hätten alles
getan, um uns in den Besitz außerirdischer Technologie zu bringen.«
»Alles?« Er kniff die Augen zusammen.
»Zumindest musste ich das Cronenberg versprechen. Und ich hätte die Erde nie wieder lebend
betreten, wenn er auch nur den geringsten Zweifel gehabt hätte, dass ich ihn betrüge.«
»Wie konnte er sich sicher sein?«
»Zwei Gründe«, sagte sie mit unveränderter Stimme. »Zum einen gab einen Kontrollmechanismus
in Person einer mit mir gekoppelten Telepathin...« Sie erklärte die Details. »... und zum anderen...«
»Ja?« Er musste erst Punkt eins verdauen, fragte fast mechanisch.
»Waren wir lange Zeit ein Paar.«
Der Riss erreichte schnell eine Größe, die es dem Keelon mühelos gestattet hätte hindurch zutreten. Dahinter glomm Licht, das dunkler und andersfarbig war als das, von dem er umgeben war. Eine Art Wind streichelte über ihn hinweg. Warm. Sanft. Keinerlei Gefahr signalisierend. Und doch wurde er rasch stärker, rauer. Darnok wusste nicht, wie viel Zeit ihm zur Verfügung stand. Deshalb handelte er, wie er es sich bereits vor Erreichen dieses Ortes vorgenommen hatte. Er schickte eine Nanosonde ins Innere der Kapsel. Noch während ihn die ersten Daten erreichten, registrierte er, wie das Gravoaggregat an seinem Gürtel plötzlich hörbar arbeitete. Ein eindeutiges Indiz für seine Belastung, die rapide angestiegen war. Aus einer ruppigen Brise, die an Darnok zerrte, wurde ein fauchender Sturm. Alles binnen weniger Augenblicke. Jetzt erhielt er am eigenen Leib einen Eindruck, warum es Scobee und Cloud nur mit allerletzter Anstrengung durch das Transporterfeld in Sicherheit geschafft hatten. Obwohl das Innere der Kapsel lockte, initiierte Darnok Gegenschub und glitt auf den Energievorhang zu, durch den er gekommen war. Das Licht im Raum veränderte sich schlagartig, wurde so düster, so grau, dass die zuvor schwächere Helligkeit im Kapselinnern mit einem Mal wie eine Sonne erstrahlte. Der Lichtbogen waberte Darnok entgegen, gleichzeitig meldete die Anzeige seines Instrumentengürtels, dass sich die Atmosphäre innerhalb des Raumes verflüchtigte. Er aktivierte den Anzug, der sich augenblicklich, vom Gürtel um die Körpermitte ausgehend, um die Konturen seines Körpers zu schließen begann. Ein Vorgang, so schnell, dass der Verstand ihm
kaum folgen konnte. Im nächsten Augenblick war das System geschlossen, die Nanokonfiguration
stabil.
Die Hülle, die den Restsauerstoff des Raumes assimilierte, verdichtete und speicherte, um ihn für
Darnok verfügbar zu machen, war von außen betrachtet ebenso schwarz wie die Haut des Keelon.
Die Innenseite jedoch verwandelte sich in eine Übertragungsfläche, die Darnoks vielen Augen eine
Sicht ermöglichte, die sich kaum von der natürlichen unterschied.
Im Gegenteil. Der Anzug stellte Funktionen zur Verfügung, die sein Spektrum visueller
Wahrnehmung erweiterten.
Darnok sah plötzlich auf Ebenen, die seinen Sinnen sonst verschlossen waren. Gleichzeitig gingen
weitere Sondendaten ein, bis...
Der Kontakt brach jäh ab.
Das war der Moment, in dem der Orkan, der an dem Keelon zerrte, noch einmal eine Steigerung
erfuhr- obwohl sich bereits kein einziges Luftmolekül mehr im Raum befand und jede Art von
atmosphärischem Aufruhr damit ausgeschlossen werden konnte.
Es bestätigte, dass die Kraft, die an Darnok rüttelte, nichts mit Wind zu tun hatte. Andere Kräfte
waren am Werk, und gegen sie kämpfte das Gravopack nun immer vehementer an.
Und immer aussichtsloser.
Darnok spürte, wie er, obwohl sein Aggregat bereits mit Höchstleistung arbeitete, sich wieder von
der fast erreichten »Tür« entfernte und auf den Kapselspalt zugetragen wurde.
Langsam, aber unaufhaltsam.
Er versuchte, den Zeitablauf zu beeinflussen, scheiterte aber.
Das Gravoaggregat sandte Warnsignale aus. Es stand kurz vor der Überlastung, die im Extremfall
zu Explosion führen und Darnok zerreißen konnte.
Und wenn ich abschalte, lande ich womöglich dort, wohin auch Jarvis und Resnick geschafft wurden. Zwei Möglichkeiten, wobei die zweite dem sicheren Tod eindeutig vorzuziehen war...
Darnok war fast erleichtert, als er seinen offenbar immer noch funktionierenden Überlebenswillen
registrierte.
Es gab vielleicht noch eine dritte Möglichkeit, entschied er.
Und nahm sie wahr.
»Ein Paar...« Es kam ihm so absurd vor. So unwirklich. Im Raumschiff einer unbekannten Rasse er und Scobee, die gerade erklärt hatte, die Matrix, die Vorlage aller identisch aussehender Klone gewesen zu sein, keine beliebige Kopie... und die nun noch einen drauf gesetzt hatte, indem sie eingestand, mit dem Chef der NCIA ein Verhältnis gehabt zu haben... Irrwitz pur. Cloud bezweifelte, dass es dazu noch eine Steigerung geben konnte. »Was stört dich daran mehr?«, fragte sie, und ihm entging keineswegs, dass sie im Gegensatz zu allen vorherigen Enthüllungen an diesem Punkt Abwehrhaltung einnahm. »Dass ich mich auf Cronenbergs... auf Reubens Plan einließ... oder dass ich nicht das jungfräuliche Wesen bin, das du vielleicht bislang in mir gesehen hast?« Er wusste es nicht. Er sah sie an und wusste es nicht. Aber ein einziger Satz hatte genügt, irgendetwas zwischen ihnen zu verändern. Sie spürte es, aber er tat ihr nicht den Gefallen, es auszuräumen. Er war nicht dazu in der Lage. Nicht sofort und nicht spontan. Nach einer Weile sagte er: »Wenn er diesen telepathischen Aufpasser hatte... bedeutet das doch auch, dass du ihm nichts vormachen konntest. Du hättest ihn mit dem bedient, was wir gefunden hätten. Ganz egal, wie er es anschließend hätte verwenden wollen...«
»Ja«, sagte sie. Ihre Offenheit bestürzte ihn noch zusätzlich. »Wobei ich nicht weiß, wirklich nicht,
wie umfassend die Gedankenkontrolle durch die telepathische GenTec ist. Mir wurde gesagt, sie
könne durch meine Ohren hören und durch meine Augen sehen - es war nie die Rede davon, dass
sie explizit meine geheimsten Gedanken lesen könne.«
Das, dachte Cloud, ist auch nicht das Problem.
Er war hin und her gerissen, umso mehr, da er sich in letzter Zeit eingestanden hatte, Scobee nicht
unsympathisch zu finden - im Gegenteil.
Ihre Eröffnungen kamen wie eine kalte Dusche.
»Was ich jetzt sage«, ergriff sie wieder das Wort, »sage ich nicht, um mich wieder als moralisch
besseres Wesen bei dir anzubiedern, sondern weil... es die Wahrheit ist.«
Er sah sie nur an, wartete, was jetzt noch kommen würde.
»Ich weiß nicht, wie ich im Ernstfall auf dem Mars wirklich gehandelt hätte - ob mir jedes Mittel
recht gewesen wäre, Cronenbergs Plan durchzusetzen. Diese Frage wird sich wahrscheinlich nie
mehr klären lassen. Aber ich weiß, dass die zurückliegenden Ereignisse nicht spurlos an mir
vorbeigegangen sind. Ich...« Sie erhob sich und stellte sich genau Cloud gegenüber. Ihre Augen
befanden sich fast auf gleicher Höhe. Ihre leuchtend grün, seine eisgrau. »Ihre Mundwinkel
zitterten, als sie ansetzte zu sprechen, dann wieder stockte, um gleich darauf erneut anzusetzen. »...
ich bin nicht mehr die Frau, die zum Mars startete. Erst recht nicht mehr die Marionette, die
Reuben in mir sah.«
»Warum sollte ich das glauben?«, fragte er kalt.
Sie schluckte. »Ich verstehe dich. Irgendwo verstehe ich dich, und irgendwo hatte ich genau diese
Reaktion befürchtet, sonst wäre ich wohl schon eher mit der Wahrheit herausgerückt. Aber...
Verdammt! Du hast dich doch bestimmt auch schon mal im Leben zu Dingen verleiten lassen, die
du hinterher bereut hast! «
Bevor er etwas erwidern konnte, ertönte in ihren Köpfen eine Stimme.
Ein - Schrei.
Er war so laut, dass sie sich beide krümmten und fast stürzten.
Als er wieder klar denken konnte, keuchte er: »Hast du das auch gehört?«
Sie war nicht fähig zu antworten, nickte nur.
»Dann komm!«
»Was... hast du vor? Wir wissen nicht...«
»Du hast ihn gehört! «
Sie nickte. »Aber wir...« Ihre Stimme sank zu einem Stöhnen herab.
Denn wieder dröhnte Darnoks Stimme wie Donnerhall durch ihre Schädel...
5. Sie rannten auf das Portal zu, während die Stimme des Keelon in ihren Köpfen immer leiser wurde.
Darnok war kein Telepath. Oder doch?
Wie konnte er also...
»Der Chip! «, keuchte Scobee. »Er muss sich des Chips bedienen, den er uns eingesetzt hat, damit
wir die Sprachen des CLARON verstehen. Dieses... Übersetzungsgerät... «
Etwas veränderte sich. Cloud blieb abrupt stehen. Scobee prallte gegen ihn.
»Was ist...?«
Cloud zeigte auf das Portal. Das erloschen war.
Ein langer, matt erhellter Gang gähnte dort, wo sich gerade noch der Energievorhang gespannt
hatte, das bordinterne Transportsystem...
»Darnok!«, rief Cloud. »Kannst du mich hören? Ist diese Form der Chip-Kommunikation, die du
uns verdammt noch mal verheimlicht hast, eine Einweggeschichte - oder funktioniert sie in beide
Richtungen?«
Er erhielt keine Antwort. Entweder war Darnok außerstande, ihn zu empfangen, oder bereits in
solch prekärer Lage, dass ihm keine Erwiderung mehr möglich war.
»Hörst du ihn noch?«, wandte er sich an Scobee.
»Nein... Doch! Aber schwach, ganz schwach. Keine klar verständlichen Worte, nur noch fernes
Wispern... «
Cloud löste sich aus seiner Erstarrung, trat auf den Eingang zum sichtbar gewordenen Korridor zu -
der sich in weiter Entfernung verlor und immer wieder abzweigte.
»Wie konnte das passieren?« Scobee trat so dicht hinter ihn und blickte über seine Schulter, dass er
ihren warmen Atem im Nacken spürte.
»Darnok«, sagte Cloud.
»Du meinst, er könnte durch sein unbedachtes Vorgehen...?«
»Ich weiß es nicht. Momentan fällt mir keine andere Erklärung ein. Aber ich bin fest entschlossen,
es herauszufinden. Und immer noch genauso entschlossen, ihm zu helfen. Falls es nicht schon zu
spät ist. Falls dieses verdammte Ding ihn nicht. auch schon... entführt hat! « Er mied das Wort
»getötet«. Er mied es wie die Pest.
Cloud warf sich herum, schob Scobee zur Seite, und eilte auf die Mitte der Zentrale zu, wo sich die
Sitze befanden. Auch der Sitz, von dem aus er die RUBIKON aus dem Aqua-Kubus
herausgesteuert hatte, was ihm immer noch wie ein Traum vorkam. Als hätte er niemals wirklich
agiert. Als hätte das Schiff ihm nur vorgegaukelt, das Kommando innezuhaben.
Ein unhaltbarer Zustand.
Erst recht in einer Situation wie dieser.
Und während er auf den Sitz sank, die Augen schloss und mentalen Kontakt zur RUBIKON suchte,
schwor er sich, klare Verhältnisse zu schaffen: Er würde dieses Schiff zwingen, ihm zu gehorchen.
Es hatte ihn akzeptiert - nun musste es sich ihm unterordnen!
Er würde nicht zulassen, dass es auch noch Darnok von ihnen trennte... oder den Keelon
umbrachte.
Nein, verdammt!, dachte er. Und dann: HÖRST DU MICH! DU MUSST ES SOFORT STOPPEN!
Er fing Scobees Rufe nicht länger auf.
Rufe, aus denen Sorge nicht nur um Darnok sprach, sondern auch... um ihn.
Er konzentrierte sich nur noch auf die geheimnisvolle Instanz des Schiffes, mit der er schon einmal
kurz in Kontakt gestanden hatte.
Ein Computer? Ein lebendes Wesen, das sich in den unerforschten Tiefen des Rochens verborgen
hielt? Ein...
Ihn schwindelte.
Und dann merkte er, dass er sich nicht mehr bewegen konnte.
Nur noch die Lider heben.
Und sehen.
Sehen.
Cloud verschwand vor ihren Augen. Verschwand hinter einem Ding, das sie nie zuvor erblickt hatte. Nicht einmal, als sie Cloud erstmals an Bord des Rochens vorgefunden hatten. Er hatte davon erzählt, ja - von seinem Eindruck, in einem sarkophagähnlichen Gegenstand eingeschlossen gewesen zu sein. Sie hatte es für ein Hirngespinst, das Resultat überreizter Nervenstränge, gehalten - doch nun sah sie dieses Gebilde, diesen Panzer, diese Rüstung - was immer es War - selbst! Und es war real! Wie aus dem Nichts heraus hatte es sich um Clouds sitzenden Körper herum aufgebaut.
Das Material ähnelte dem Metall, aus dem das ganze Schiff gefertigt war. Aber es war eine Spur dunkler. Eine Spur glänzender.
Instinktiv wich sie davor zurück. Darnoks Stimme in ihrem Kopf war völlig verstummt.
Er ist dort, wo auch G. T und Resnick sind, dachte sie dumpf. Sie ballte die Hände zu Fäusten. Dann überwand sie sich. Sie trat vor und hämmerte gegen die Schale, die sich um Cloud geschlossen hatte. Auf der sich fremdartige, stilisierte Gesichtszüge abzeichneten, die nicht denen Clouds entsprachen.
Sondern?
Denen eines Hirten, dachte Scobee betroffen. Denen eines längst zu Staub verfallenen Wesens.
Sie zuckte zusammen, als ihr Gehirn wie eigenständig einen Gedanken nachschob: Falls es zu Staub verfallen ist.
Aber sie gab dem nicht nach. Sie fröstelte, aber sie gab ihm nicht nach.
Ihre Fäuste verursachten einen hohlen Klang auf der Oberfläche des »Sarkophags«...
... mehr bewegte sie nicht.
Er wusste nicht, ob sie ihn gehört hatten. Und der unsichtbare Moloch - der Sog, der aus dem innern der Kapsel kam, zerrte mit immer stärkerer Wucht an ihm. Das Gravomodul stand kurz vor dem Kollaps. Und die Distanz zum Spalt, aus dem der unselige Einfluss kam, schmolz immer mehr dahin. Wenn ich hineinrutsche, dachte der Keelon, wird sich die Kapsel sofort schließen, und dann... Er hatte keine Vorstellung, was dann mit ihm geschehen würde. Und er spürte auch keinerlei Verlangen, das Geheimnis der Hülsen auf diese Weise zu lüften. Als er nur noch zwei Keelonlängen von der Öffnung entfernt war, schien sich das Umgebungslicht zu verändern. Es wurde fahler, düsterer. Rottöne mischten sich hinein, als nähere er sich dem Boden eines aktiven Vulkans. Nur die Hitze fehlte. Der Anzug registrierte den Verlust der Atmosphäre und einen Anstieg an Strahlung, die jedoch kein lebensbedrohliches Ausmaß annahm. Gammastrahlung, die von der aus Karnut-Substanz geformten Kleidung des Keelon abgehalten wurde. Ihre bloße Präsenz jedoch verriet, dass hier Kräfte am Werk waren, die kaum aufgewendet worden wären, wenn es sich tatsächlich um ein schiffsinternes Transportmittel gehandelt hätte. Wo immer es mich hin befördern wird, falls es mich nicht vorher umbringt, dachte er, es wird aller Wahrscheinlichkeit nach eine Reise ohne Wiederkehr sein. Sonst wären Resnick und Jarvis wieder aufgetaucht. Er wusste natürlich, dass es viele Faktoren gab, die genau dies im Fall der Menschen hätten verhindern können - sie mussten nicht auf ihn zutreffen. Er war weitaus geübter im Umgang mit Hochtechnologie... Er versuchte erneut, sich auf sein Magoo zu konzentrieren. Aber es war vollständig blockiert und bot keine Hilfe. Ebenso wenig, dachte er, wie der Ruf, den ich ausgesandt habe.
Sie werden mich hören - aber sie können nichts für mich tun. Wie konnte ich es auch nur einen
Moment lang glauben?
Eine Keelonlänge.
Darnok leitete sämtliche verfügbare Energie in sein Gravopack. Es blieb trotzdem hoffnungslos
überfordert.
Vor ihm war es so hell, dass er keine Einzelheiten im Innern der Kapsel erkennen konnte. Das
Licht löste alles auf.
Auch ihn?
Er würde es erfahren.
Gleich.
Er glaubte Töne zu hören. Sphärenhaften Gesang.
Ich halluziniere.
Und dann musste alle Keelon-Technik gegen den Sog kapitulieren.
Darnok tauchte in die Kapsel ein. Das Licht, seltsam tot, erreichte den Höhepunkt seiner Intensität,
und der letzte, fiebrige, nur noch mit äußerster Anstrengung formbare Gedanke des Keelon war:
Aus. 6. Es war wie beim ersten Mal: Er wurde das Schiff. Anders war es nicht zu beschreiben. Es war, als würde ein Teil seines Bewusstseins aus seinem Körper aus Fleisch und Blut und Knochen herausströmen - und sich des kalten Stahls ebenso bemächtigen wie der »Nervenbahnen«, die darin verborgen eingebettet waren. Vor seinem geistigen Auge entstand ein Bild der RUBIKON, wie sie menschliches Auge nicht zu sehen vermochte. Es war schematisiert, stilisiert - eine Art Muster, das er erst durchschaute, seit die Stimme zu ihm gesagt hatte: »Du bist akzeptiert.« Nach wie vor wusste er nicht, was genau zu ihm gesprochen hatte, aber es musste eine Art Rechnerinhalt, ein Programm der einstigen Erbauer dieses Fabelschiffs sein. Es hatte ihn akzeptiert... ... als hätte er auf einem irdischen Computer zufällig das richtige Passwort eingetippt, und sich so Zugang zu einer geschützten Datei verschafft. Es liegt an den Protoresten in mir. Diesen Verdacht hegte er, seit Darnok die rapide Vermehrung dieser winzigen Partikel in seinem Körper diagnostiziert hatte. Bei den GenTecs hatte Rurkka sie vor seinem Tod noch restlos beseitigen können - in ihm, Cloud, waren Spuren verblieben, über deren Gefahren und Konsequenzen er keinerlei Vorstellungen hatte. Aber irgendwie schienen sie... Identifizierungsund Autorisierungscharakter für das Schiff zu besitzen. Nach reiflichem Überlegen war er zu dem Schluss gekommen, dass die RUBIKON - oder wie auch immer das Artefakt von seinen ursprünglichen Besitzern getauft worden war - im Zentrum von Tovah'Zara geschlummert hatte. Als wäre sie dort vor unbestimmbarer Zeit »eingemottet« und geparkt worden. Das Auftauchen des Karnuts und der Jadeschiffe hatte es aus diesem Schlaf geweckt. Automatismen waren erwacht, und etwas... ... etwas hat mich an Bord des Karnuts lokalisiert, die Protomaterie in mir... und mich irrtümlich für »würdig« befunden, an Bord zu gehen - mehr noch: die RUBIKON aus Tovah'Zara zu entführen... Seine Gedanken stockten. Nein. So ganz stimmig waren seine Thesen nicht. Auch das Karnut samt seiner übrigen Insassen war danach aufgenommen worden. Und weder Darnok noch Scobee, Jarvis oder Resnick konnten die Proto-ID - falls es sie überhaupt in der vermuteten Form gab nachweisen. Hörst du mich?, dachte Cloud. Er hatte das Bedürfnis, tief Atem zu holen, aber er spürte seinen Körper nicht mehr, nur noch das Schiff. Seinen Puls. Seine stählernen Gebeine. Seine Sektionen. Die Eindrücke wechselten: mal sah er die RUBIKON wie eine dreidimensionale Aufrisszeichnung, dann wieder meinte er, im Geist durch Gänge und Räume zu eilen - so rasend schnell, dass sein Verstand kaum fassen konnte, was er alles sah. HÖRST DU MICH? Er erhielt keine. Antwort und kam sich vor wie ein Narr. Aber es ging nicht um ihn - es ging um Darnok, dessen verzweifelter Hilferuf nun völlig verstummt war. »Du musst ruhiger werden.«
Er hätte nicht zu sagen vermocht, ob tatsächlich »etwas« zu ihm sprach, oder ob seine eigene Vernunft ihn ermahnte, planvoller, unaufgeregter vorzugehen. Vielleicht waren es auch die Stimmen derer, die ihn seit kurzem in Frieden ließen. Die »Gespenster«, wie er sie genannt hatte: Splitter fremder Bewusstseinsinhalte, die dem Wissen angehaftet hatten, das ihm auf der Erde implantiert worden war, um ihn, Darcy und Seymor zu Allroundern zu machen. Seymor war davon in den Wahnsinn getrieben worden. Darcy hatte nicht lange genug gelebt, um die Symptome in gleicher Dramatik entwickeln zu können. Und er... er hatte das Trauma überwunden. Nicht aus eigener Kraft, sondern mit Unterstützung der Bewusstseinssplitter selbst.(siehe Heft 10 „Jenseits der Grenze“) Verdammt! Hör auf zu träumen! Tu endlich etwas! Tu das, was du vorhattest zu versuchen! Darnok! Es geht um Darnok! Wieder wurde sein Geist von einem Sog erfasst und durch die Korridore geschleift. Mit äußerster
Anstrengung fokussierte er alle Gedanken auf den Keelon...
... und sah ihn so plötzlich vor sich, dass er zusammenschrak.
Sah ihn... wie er gegen Windmühlen kämpfte.
Gegen eine Kraft, der er nichts entgegenzusetzen hatte. Und gegen die er dementsprechend auch -
verlor.
Verlieren musste.
Neeeiiiinnnnnn!
Etwas veränderte sich. Er fühlte sich gepackt.
Es wurde finster. Es wurde kalt.
Darnok spürte einen herben Aufprall, der sich durch seinen ganzen Körper pflanzte.
In diesem Moment war er überzeugt, das Ende zu erleben. Umso größer dann die Verblüffung, als
er seine Benommenheit abstreifte und die Augenknospen den jähen Übergang von blendend hellem
Licht und... normaler Helligkeit verarbeitet hatten.
Vielleicht hatten nur die Filter seines Anzugs verhindert, dass er dauerhaft erblindete, aber nun...
Er fand sich am Boden vor der Kapsel wieder - die sich geschlossen hatte. Und ganz allmählich
wurde ihm klar, was passiert war, auch wenn unbeantwortet blieb, warum.
Die Kapsel hat mich abgestoßen. Im letzten Augenblick abgestoßen. Langsam richtete er sich auf. Das Gravopack war zerstört; die Überlastung hatte sein
Leistungsvermögen überstiegen.
Und doch war er noch hier.
Ist die Kapsel noch hier..., wurde ihm der vielleicht noch verblüffendere Umstand bewusst. Sie ist
nicht verschwunden. Als könnte sie ihre Reise ohne Passagier nicht antreten.
Und ihn als Passagier hatte sie verweigert?
Oder war schon der Gedankenansatz, es handele sich um den Teil eines Transportsystems, falsch?
Hatte er Resnicks und Jarvis' Fährte falsch gelesen? Waren sie in Wirklichkeit sonst wo an Bord
verschwunden?
Darnok hatte sich selbst selten so ratlos erlebt. Die auf die Innenseite seines Anzugs projizierten
Anzeigen seiner Instrumente verrieten, dass der Raum blitzartig wieder mit Luft gefüllt worden
war, mit atembarer Atmosphäre, einem sowohl für Keelon als auch für Menschen verträglichen
Sauerstoff-Stickstoff-Gemisch. Auch die Schwerkraft hatte wieder Normalwerte erreicht.
Darnok hielt seinen Anzug dennoch geschlossen.
Und dann bemerkte er es.
Das Verschwinden des Tür-Energiefeldes. Und er dachte: …war das etwa ich?!
Der Sarkophag bildete sich vor Scobees Augen zurück.
Es erinnerte an die rückwärts laufende Zeitrafferwiedergabe des Baus eines solchen Objektes.
Menschliche Augen hätten vielleicht nur den Wechsel zwischen geschlossenem und offenem Sitz
wahrgenommen - ihre genetisch optierte Sehweise bemerkte den Übergang. Und ihr Gehirn war in
der Lage, ihn zu verarbeiten.
Cloud saß in derselben Haltung vor ihr, wie sie ihn nach dem vermeintlichen Verlust in der
Vakuumzone des Aqua-Kubus hier an Bord wieder gefunden hatten - nur sein Mienenspiel war
noch verkniffener, nicht nur konzentriert, sondern von einem Grauen gezeichnet, das Scobee fast
zurückprallen ließ.
»John? Hörst du mich, John?«
Seine Arme lagen auf Lehnen, seine Fingerkuppen - aber nur vier an jeder Hand, die Daumen
blieben davon unberührt - wurden von Miniaturblitzen umzüngelt.
Aber der Grund für das Entsetzen, das sich auf seinem Gesicht spiegelte, waren sie nicht.
Mit geschlossenen Augen saß er da. Jeder Muskel seines Körpers schien angespannt zu sein.
Und dann...
... sprangen seine Lider auf. Die Elektrizität - oder was immer es war - um seine Finger erlosch. Die
Anspannung wich schlagartig. Er sank regelrecht in sich zusammen, bemerkte Scobee und seufzte:
»Gott sei Dank.«
»Gott sei Dank?«
Am ganzen Körper zitternd nickte er. »Ich glaube... er hat es überstanden.«
Und wie zur Bestätigung klangen in ihrer beider Köpfe die Worte auf: Ich bin noch da. Ich beginne
jetzt mit der Erforschung dieses unmöglichen Labyrinths.
Hinter dem Türrahmen gähnte ein Korridor, dessen Länge Darnok zunächst als Täuschung einstufte. Er übertraf, glaubte der Keelon seinen anzugeigenen Instrumenten, die vom Karnut ermittelte Länge der RUBIKON um mindestens das Doppelte - war also faktisch unmöglich. Eine Täuschung. Gezielte Irreführung. Aber warum wurde das Transportfeld deaktiviert? Soll ich dazu veranlasst werden, mich in diesen trügerischen Korridor zu begeben, und wenn ja, warum? Eine Falle? Unwahrscheinlich. Im Gegenteil. Etwas scheint mich im letzten Moment vor dem Verschwinden in der Kapsel gerettet zu haben. Sie hat mich nicht ohne Grund wieder abgestoßen... Ihm wurde bewusst, dass er nicht einmal seine Position innerhalb des Rätselschiffs kannte. Nach Verlöschen der Pseudotüren war es ihm völlig unklar, wie er zurück in die Zentrale oder auch nur in den Hangar kehren sollte, wo sein Karnut stand. Selbst wenn keine optische Täuschung hinzugekommen wäre, hätte es ihn enorme Anstrengung gekostet, einen von beiden Orten zu Fuß zu erreichen. Dennoch würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als genau dies zu versuchen. Er traf eine Entscheidung. Weder Cloud noch Scobee hatten es geschafft, ihm zu Hilfe zu eilen, und nach Abschaltung des Tores würde es ihnen vorerst wohl auch kaum mehr gelingen. Er wusste nicht einmal sicher, ob sie sein Ruf, an die Chips in ihren Köpfen adressiert, überhaupt erreicht hatte. Für den Fall, dass es
gelungen war, schickte er ihnen nun einen Nachsatz, in dem er sie über seine Befinden und seine
nächsten Schritte informierte.
Dann lauschte er tief in sein Innerstes, wo sein Magoo nach wie vor nur ein Schatten seiner selbst
war und keine Hilfe darstellte...
... und setzte sich schleppend in Bewegung.
Die nächste Veränderung spürte er nicht einmal.
Anderenorts hingegen...
»John, verdammt!«
»Scob...«
»Was ist passiert? Du warst plötzlich weg und...«
»Weg?«
Sie erzählte ihm von dem geschlossenen, sarkophagähnlichen Gebilde, hinter dem er für kurze Zeit
verschwunden war. Du hast nichts davon bemerkt?
»Diesmal nicht... beim ersten Mal - ja... Wie sah diese... Maske aus? Was waren das für Züge, die
in diesen Panzer geprägt waren? Sahen sie... menschlich aus?«
»Nein.«
»Wie dann?«
»John, zur Hölle mit dir! Ich warte hier auf Antworten„ auf Erklärungen. Was kümmert mich
dieses verdammte Ding. Es ist wieder verschwunden. Was ist mit Darnok? Was war mit ihm? Was
hast du getan, um ihm zu helfen? Du warst fest entschlossen...«
»Nichts«, sagte er. »Nicht wirklich.«
»Das glaube ich nicht.« Sie schüttelte den Kopf. Das Grün ihrer Augen schien ihm entgegen
zuspringen. »Das glaube ich nicht«, wiederholte sie.
»Ich kann den Zustand nicht beschreiben. Ich war wie... wie mit dem Schiff verschmolzen. Es
zeigte mir Darnok... Versteh mich nicht falsch, ich weiß nicht, wo er sich konkret an Bord befindet.
Klar: in dem Raum mit den Kapseln. Aber ohne die Energietore wissen wir doch gar nicht, wo das
ist.« Er schüttelte den Kopf, barg kurz das Gesicht in den Händen. Dann sah er wieder auf.
»Trotzdem... sah ich ihn plötzlich. Als wollte das Schiff ihn mir präsentieren. Als wollte es mir
zeigen, wozu es fähig ist...«
»John, du...«
»Ja, ich weiß. Ich höre mich an wie ein Irrer. Aber genau so habe ich es empfunden. Das Schiff
zeigte ihn mir. Er war kurz davor, in dieser Kapsel zu verschwinden. Du hast es am eigenen Leib
erlebt, du und ich wären fast auch von diesem Phänomen verschlungen worden. Aber Darnok
glaubte ihm offenbar gewachsen zu sein. Er floh nicht rechtzeitig. Er war fast verloren, und
dann...«
»Dann?«
»Dann brach es aus mir hervor. Ich wollte nicht, dass er auch noch verschwindet. Und es war, als
würde das Schiff... es akzeptieren.«
»Wie es dich im Kubus akzeptiert hat?« Die Tattoos, der Brauenersatz, gerieten in Bewegung,
rutschten etwas nach oben, womit sie ihre Zweifel ausdrückte.
»Es waren andere Umstände.«
»Und dann? Was geschah mit Darnok?«
»So weit ich es sehen konnte erlosch der Sog. Er stürzte zu Boden. Die Kapsel schloss sich.
Danach... war ich wieder hier. Fand mich hier wieder.«
»Du warst nie weg. Du warst nur hinter diesem...« Ihre Stimme versagte. »O John... «
Er stand auf, wankte leicht, fasste sich aber und trat zu ihr. Sie sank fast selbstverständlich gegen
seine Brust. Er strich ihr über das blauschwarze, glatt fallende Haar, was er noch nie getan hatte,
und spürte eine Woge widersprüchlicher Gefühle über sich hereinbrechen. Er wartete, dass sie den
Kopf hob, ihn ansah - oder sich einfach brüsk von ihm löste und so tat, als hätte es diesen kurzen
Moment der echten Nähe nie gegeben.
Sie hob tatsächlich den Kopf, sah aber an ihm vorbei und rief: »Das glaube ich nicht!«
Er konnte nicht anders, als sich von ihr zu lösen und halb umzudrehen. Dorthin, wo sich die ganze
Zeit dunkler, von fernen Sonnen gesprenkelter Weltraum über eine Wandseite der Zentrale
erstreckt hatte.
Er begriff sofort, was Scobee mit solchem Unglauben quittierte.
Die Sterne bewegten sich - rasend schnell:
Für ihn selbst gab es keinen Zweifel: Die RUBIKON hatte Fahrt aufgenommen.
Eigenmächtig.
Seine unteren Extremitäten bestätigten, was schon die Instrumente an Aberwitz dokumentiert hatten, dem er aber misstraut hatte. Also doch keine wie auch immer geartete Täuschung, dachte Darnok. Die Strecke, die ich vom Raum mit den Kapseln aus zurückgelegt habe, ist länger als es die ganze RUBIKON nach Karnut-Aussage sein dürfte. Er wusste es sicher, denn sein Gehirn war mühelos in der Lage, eine Strecke anhand der aufgewendeten Schritte zu messen, selbst ohne dass er sich darauf konzentrierte. Eine Eigenart, ein Talent der Keelon: zurückgelegte Wege waren aufgrund dieser unbewussten »Zählung« jederzeit abrufbar. Es kann natürlich auch sein, dass mein Schiff in der Vakuumsphäre getäuscht wurde. Er glaubte es nicht. Aber wenn dieser eine Korridor schon die angenommene Länge und Breite der RUBIKON übertraf, welche Ausmaße besaß das Schiff dann tatsächlich? Darnok war immer geradeaus gegangen, hatte keine der etlichen Abzweigungen genommen. Und dieser Weg sah bislang überall gleich aus. Keine Details. Keine Farbunterschiede. Boden, Wände und Decke sahen aus, als wäre das Schiff gerade erst fertig gestellt worden. Von der Alterspatina, von den Narben, die die Außenhülle des Artefakts beim Auffinden geprägt hatten, keine Spur. Und - nirgends auch nur ein Krümel Staub. Darnok hatte das Material, das zum Bau des Artefakts verwendet worden war, mehr als einmal einer eingehenden Analyse zu unterziehen versucht, es war ihm jedoch bislang nicht gelungen, die Zusammensetzung der Legierung zu ermitteln. Sie war und blieb unbekannt. Sie blockte jeden Scannerstrahl ab. Ein völliges Novum für den Keelon. Selbst die Protomaterie von Tovah'Zara war in ihrer Struktur durchschaubar gewesen. Weder Scobee noch Cloud waren gegenwärtig mit Geräten ausgestattet, die eine Kommunikation mit ihnen ermöglicht hätten. Und die Chips waren dazu nicht geeignet, da sie nur in einer Richtung funktionierten. Von mir zu ihnen. Irgendwann blieb er stehen. Akzeptierte, dass er so nicht weiterkam. Und erinnerte sich der Nanomaschine, mit der er die Verhältnisse im »Kapselraum« sondiert hatte. Sie befand sich wieder in seinem Besitz, und obwohl sie eine größere Beweglichkeit als er selbst ohne die Unterstützung seines Magoos besaß, war sie in der momentanen Beschaffenheit auch nicht ideal für den Zweck geeignet, den Darnok ihr nun zudachte. Es bedurfte gewisser Modifikationen, die ihm mittels der Steuerelemente seines Gürtels jedoch möglich sein sollten. Wieder löste sich ein »Tropfen« von vermeintlich öliger Konsistenz. Diesmal aber formte sich daraus kein einzelnes Gebilde von Daumengröße, sondern ein ganzer Schwarm von Geräten, die ihrer Winzigkeit wegen nicht über etwas so Komplexes wie einen Antigravantrieb verfügten...
... und deshalb auch zunächst zu Boden regneten, wo sie quecksilbrig hin und her rollten, bevor sie
zur Ruhe kamen.
Aber nur kurz.
Darnok nahm weitere Manipulationen über die Steuereinheit des Gürtels vor, stellte eine
Verbindung zu sämtlichen »Tröpfchen« her, schuf ein funktionierendes Netzwerk und gab dann
über den Internrechner seiner Ausrüstung die letzten Befehle, die nötig waren, um das zu
erschaffen, wovon er sich ein baldiges Entkommen aus dem Labyrinth erhoffte.
Wenig später erklang ein sirrendes Geräusch.
Auf gerade erst entstandenen, hauchdünnen Flügeln erhob sich ein bizarrer Schwarm vom Boden,
teilte sich und verschwand - etwa so schnell wie Darnok einmal Scobee hatte rennen sehen - in
beide Richtungen des Ganges.
An Kreuzungspunkten würde sich der Schwarm neuerlich teilen, wiederum alle möglichen
Richtungen einschlagen, dabei unentwegt Informationen über das Wegenetz sammeln und dabei die
RUBIKON kartographieren.
Soweit die Theorie, dachte Darnok - nur mäßig optimistisch.
Eine neuerliche Veränderung der Bedingungen konnte die Sonden jederzeit ausbremsen.
Der Keelon misstraute dem Schiff mehr und mehr. Er hatte es von Beginn an nicht als »Geschenk«
betrachtet. Doch nun gesellte sich mit wachsender Eindringlichkeit der Eindruck hinzu, dass es mit
ihnen spielte.
Und es gab nichts, was ihm in ihrer Situation weniger gefallen hätte...
... zumal es ihn verdächtig daran erinnerte, wie anfänglich er mit den Menschen sein »Spiel«
getrieben hatte...
7. Die Stunden vergingen, ohne dass Darnok zu ihn zurückgefunden - oder die Fahrt der RUBIKON
geendet hätte.
»Wohin bringt es uns?«
Es - das Schiff.
Cloud blickte Scobee ratlos an. Sein Magen knurrte. Er hatte Durst. Seit Verlassen des Karnuts
hatte er nichts mehr zu sich genommen, und besonders der Mangel an Flüssigkeit machte sich
zunehmend negativ bemerkbar.
Scobee ging es besser - aber nicht viel besser.
Was für eine Ironie, dachte er. Im Wasserwürfel der Vaaren gab es mehr »Trinkbares«, als uns allen lieb war. Und nun... nun sieht es aus, als könnten wir an Bord dieses Wahnsinnsschiffs verdursten! »Ich weiß es nicht. Aber wenn Darnok nicht bald auftaucht und einen Plan hat, wie wir sein Karnut
finden...«
»Vielleicht sollten wir uns mehr auf uns als auf ihn verlassen«, fiel sie ihm ins Wort. Ihre Augen
blitzten.
Sie hat Recht. Aber woher nimmt sie diese Energie? Er selbst fühlte sich regelrecht ausgelaugt, und
seine Theorie dazu war, dass dies nicht allein an dem Mangel lag, den sie beide litten.
Ein anderer Faktor schien ihm der Sitz zu sein.
Der Sarkophag.
Schon nach der erfolgreichen Flucht aus dem Kubus hatte er eine Weile gebraucht, um wieder zu
sich selbst zu finden und die nachfolgende Schwäche abzuschütteln.
Diesmal war es fast noch schlimmer gewesen.
Als würde meine Verschmelzung mit dem Schiff an mir zehren. Er bedauerte es nicht, dies für Darnok getan zu haben, im Gegenteil. Darnok hatte ihn aus der
Gefangenschaft Lovrenas befreit. Die Revanche war überfällig gewesen.
Aber sein Widerwille gegen das Artefakt wuchs.
Ich muss dagegen ankämpfen. Es bringt uns nicht weiter.
Aber es fiel ihm schwer. Der Gedanke, sich jemals wieder so eng auf das Schiff einzulassen, wie
nun schon zweimal geschehen, widerte ihn in manchen Momenten regelrecht an.
Ekel.
Das war blanker Ekel!
»Es muss Einrichtungen geben«, sagte Scobee, die wie ein eingesperrtes Raubtier auf und ab ging.
»Hier, innerhalb der Zentrale. Alles andere ergäbe keinen Sinn.«
»Einrichtungen?«, fragte er.
»Die Erbauer müssen meiner Meinung nach keine Sauerstoffatmer gewesen sein. Die Schwerkraft,
unter der sie lebten, muss nicht der entsprochen haben, die für uns ideal ist. Ich bin vielmehr zu der
Überzeugung gelangt, dass sich das Schiff grundlegend an uns angepasst hat. Alles andere wäre ein
zu unwahrscheinlicher Zufall. Aber ebenso klar ist es für mich, dass diejenigen, für die all dies
einst erbaut wurde, nicht ohne Nahrung, nicht ohne Flüssigkeit auskamen. Es muss hier Lager
geben. Vorräte. Irgendwo. Wir müssen sie nur finden.«
»Selbst wenn du Recht hättest«, schränkte er ein, »und es diesen Proviant einst gab, bezweifele ich,
dass er auch für uns genießbar wäre und zudem nicht längst verschimmelt ist. Himmel, dieses
Schiff ist wahrscheinlich noch viel älter, als wir annehmen. Ich tippe nicht auf Jahrhunderte,
sondern auf noch wesentlich mehr!«
Sie widersprach: »Ich bin völlig anderer Auffassung. Zumindest was den Schimmel angeht. Wenn
das Artefakt sich in Sachen Umweltbedingungen so perfekt unseren Bedürfnissen anpassen kann,
dann >weiß< es auch, was unsere Körper sonst noch benötigen, um zu überleben.«
»Wer sagt, dass es uns überleben lassen will?«
»Seit wann bist du so ein Fatalist?«
»Bin ich gar nicht. Es ist nur...«
»Was?«
»Um all das herauszufinden, müsste ich wahrscheinlich in noch weit engere Kommunikation mit
dem Schiff treten als bislang geschehen. Und dazu müsste ich mich erneut in den Sitz begeben... «
»Wo liegt das Problem?« Sie war nicht ganz so ahnungslos, wie ihr Ton es zu vermitteln versuchte.
Dazu war sie viel zu feinfühlig. Sie hatte seine instinktive Abneigung gegen das, was in dem
Sarkophag mit ihm geschah, längst erkannt. Dass sie es überging, verriet nur, wie ernst sie die Lage
einstufte.
»Das Problem bin vermutlich ich«, sagte er. Dann gab er sich einen Ruck. »Okay«, sagte er. »Es
gibt noch andere Gründe, über meinen Schatten zu springen und es zu versuchen.«
Sie wirkte erleichtert. »Zum Beispiel.«
»Da Darnok offenkundig nicht uns findet, müssen wir ihn finden. Verbunden mit der Schiffsseele
sollte mir dies...«
»Schiffsseele?«
Sie warf ihm einen seltsamen Blick zu.
Im Nachhinein wunderte er sich selbst, wie ihm der Begriff über die Lippen hatte kommen können.
Er wollte etwas erwidern, aber in diesem Augenblick kamen die Sterne auf dem riesigen
Bildschirm jäh zur Ruhe.
Standen - von einem Herzschlag zum anderen - wieder scheinbar still.
Die Frage für Cloud war dabei nicht, ob die RUBIKON ihre Fahrt beendet hatte - daran gab. es für
ihn ohnehin nicht den leisesten Zweifel -, sondern warum.
»Es macht mit uns, was es will«, sprach Scobee aus, was er dachte.
Und damit reifte endgültig der Entschluss in ihm, dies zu ändern. Er konnte es.
Himmel, das Verrückte war, dass er die feste Überzeugung in sich trug, dazu tatsächlich in der
Lage zu sein!
Er wusste nur nicht, um welchen Preis...
Noch bevor er Scobee über seinen Entschluss in Kenntnis setzen konnte, geschah zweierlei.
Zum einen geriet die Sternenfront, die der Bildschirm wiedergab, abermals in Bewegung. Aber nur
kurz. Weil sich der Ausschnitt veränderte. Weil etwas dort draußen näher herangezoomt wurde.
Und zum anderen tauchte eine Gestalt in der Zentrale auf. Durch einen der drei Zugänge, durch
einen der drei Korridore, in die sich die ehemaligen flirrenden Energietüren verwandelt hatten.
»Darnok! «
Cloud konnte den Ruf nicht unterdrücken. Da brach sich so viel Erleichterung Bahn, dass er das,
was der Schirm ihnen zeigte, fast vergaß. Zumindest aber rückte es in den Hintergrund.
Auch von Scobees Schultern schien eine Zentnerlast zu fallen. Sie eilte dem Keelon entgegen.
Es musste der Keelon sein - auch wenn der Anzug ihn komplett verhüllte. Auch wenn er wie ein
wandelnder High-Tech-Kartoffelsack aussah...
Die Hülle fiel und brachte endgültige Gewissheit.
»Ich hätte nie geglaubt, jemals so froh zu sein, Menschen zu sehen«, sagte Darnok.
»Wir dachten schon...« Cloud spürte das regelrechte Verlangen, ihn zu umarmen. Dabei wurde ihm
bewusst, dass er den Keelon noch niemals berührt. Er wusste demzufolge nicht einmal, wie sich der
Außerirdische anfühlte - und noch weniger, ob Darnok eine solche Geste zugelassen hätte.
»Wir dachten, dass du irgendwo eine Attraktion entdeckt hast«, sagte Scobee, »von der du dich
nicht losreißen kannst. Das Schiff ist sicher voller Sehenswürdigkeiten.«
»Es ist voller Gänge«, erwiderte Darnok trocken. »Aber das dürftet ihr auch schon bemerkt haben.
Die Türen sind weg.«
»Ja«, bestätigte Cloud. »Das haben wir bemerkt. Wie ist es dir ergangen? Erzähl. Es war sicher
nicht einfach, hierher zurückzufinden.«
»Nein«, sagte der Keelon. »Und ich bin müde. Sehr, sehr müde. Ich vermisse mein Karnut. «
»Wir werden es finden. Ganz bestimmt.« Scobee nickte Darnok aufmunternd zu. »Ich würde sogar
sagen, wir müssen es finden. Schon, um nicht jämmerlich zu verdursten und zu verhungern.«
Das schwarze Wesen, dessen Haut matt geworden war, nicht mehr glänzte wie gewohnt, schwieg
eine Weile. Dann sagte es unvermittelt: »Wir müssen es nicht suchen. Ich weiß, wo es ist.«
»Aber... «
Scobee war so sprachlos wie Cloud. »Du weißt...?«
In diesem Moment schien Darnok zu realisieren, was sich auf dem wandfüllenden Bildschirm an
Veränderung abzeichnete. »Das sind die Trümmer einer Station - oder eines Raumschiffs«, sagte
er. »Was ist geschehen?«
Was ist geschehen? Cloud wusste, dass jede Antwort von ihm auf diese mehr als berechtigte Frage nur an der
Oberfläche hätte kratzen können. Deshalb sagte er: »Wir wissen es nicht. Nicht wirklich. Das
Schiff nahm selbständig Fahrt auf - und stoppte hier. Fast zeitgleich mit deiner Rückkehr.«
Scobee war auf den Wandschirm zugegangen, schien das, was Darnok als Trümmer erkannt hatte,
zu studieren.
»Es könnte alles Mögliche gewesen sein, oder?«, fragte sie. »Was mir aber noch weniger gefällt als
diese Zeugnisse brachialer Zerstörung, ist der Umstand, dass wir vom Regen in die Traufe
gekommen sind.«
»Traufe?«, reagierte Darnok verständnislos. Seine sonst lackschwarze Haut wirkte fast aschfarben.
Hatte der hinter ihm liegende Marsch ihn tatsächlich so verausgabt? Welche Strecken waren
Keelon gewohnt zurückzulegen?
»Eine Redensart.« Scobee winkte ab.
»Und sie bedeutet?«
»Von einem Schlamassel ins nächste zu geraten.«
Erstaunlicherweise schien die zwischengeschaltete Übersetzungseinheit mit dem Begriff
»Schlamassel« keine Schwierigkeiten zu haben.
»Was war das erste... Schlamassel?«, fragte Darnok.
»Du«, erwiderte Scobee. »Du erinnerst dich sicher, dass du uns ähnlich gegängelt und an der Nase
herumgeführt hast wie es jetzt wieder - diesmal ohne dein Zutun, wie ich hoffe - geschieht. Die
Situation war sogar verflucht ähnlich - auf dem Äskulap-Schiff. Du warst als Phantom unterwegs
und hast dafür gesorgt, dass die Bildschirme uns genau das zeigten, was du uns zeigen wolltest.«
»Das hieße, dass du auch hier ein >Phantom< vermutest«, sagte Darnok ruhig.
»Irgendetwas ist da - daran zweifelt wohl niemand«, sagte sie. »John verhielt sich mehr als einmal
komisch, seit wir das Schiff betreten haben. Manchmal lässt er beiläufig Sätze oder Begriffe fallen,
von denen er Sekunden später abstreitet, sie ausgesprochen zu haben. Ich fürchte fast...« Sie stockte
kurz, schien zu überlegen, ob es loyal und angebracht war, dies so drastisch zu formulieren. »... er
ist nicht immer Herr seiner selbst.«
Cloud protestierte. »Unsinn! Du...«
»Sesha«, sagte sie.
Durch Darnok schien ein Ruck zu gehen. »Das Seelenschiff.«
Verblüfft sahen sie ihn an. Fragend.
»Ich wollte es für mich behalten«, sagte er. »Ich war im Kubus noch nicht so weit, euch voll zu
vertrauen.«
»Wovon zur Hölle redest du?«, herrschte Cloud ihn an. Seine Nerven waren überreizt. Die
Erleichterung über die Rückkehr des Keelon verlor an Wirkung. Die Sorgen traten wieder in den
Vordergrund. Und plötzlich war da wieder das Gefühl, dass Darnok immer noch Erinjij in ihnen
sah - keine Menschen, geschweige denn... Freunde.
»Ich konnte den Inhalt, der geborgenen Tafel, von denen es unzählige an den Grenzen des Heiligen
Bezirks gab, weitaus umfassender dechiffrieren als ich euch sagte.«
Eine Weile sagte niemand etwas. Scobee war ebenso baff wie er. Vielleicht auch ebenso enttäuscht.
»Schade«, sagte Cloud schließlich. »Ich hatte wirklich gehofft, dass uns die Ereignisse
zusammengeschweißt haben. Du wirktest in letzter Zeit nicht mehr so fremd und... unnahbar.
Offenbar habe ich mich von Wunschdenken leiten lassen.«
Darnok ging nicht darauf ein. Stattdessen sagte er: »Die Tafeln enthielten Hinweise auf etwas, das
>Sesha< oder >Seelenschiff< genannt wurde - und die letzte Ruhestätte der Hirten sein sollte. «
Cloud starrte ihn an. Dann Scobee, die genauso perplex wirkte wie er. »Dann... wusstest du von
Anfang an, was wir in der Vakuumsphäre finden würden?«
»Nein«, widersprach Darnok. »Ich hielt es für Legende. Und der Begriff >Seelenschiffauf dem
Spiel stehen