Kleine Jugendreihe
6. Jahrgang, 1. Juniheft
Russischer Originaltitel: HaдТиссой
Der deutschen, stark gekürzten Fassu...
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Kleine Jugendreihe
6. Jahrgang, 1. Juniheft
Russischer Originaltitel: HaдТиссой
Der deutschen, stark gekürzten Fassung liegt eine Übersetzung von Götz
Barndt zugrunde
Copyright 1955 by Verlag Kultur und Fortschritt, Berlin Printed in Germa ny • Alle Rechte vorbehalten • Lizenz-Nr. 3
Einband und Illustrationen: Adelhelm Dietzel
Satz und Druck: (III/9/1) Sächsische Zeitung, Verlag und Druckerei,
Dresden N 23, Riesaer Straße 32 5742
285/76/55
JAGD AN DER GRENZE
Von A. Awdejenko 2. TEIL
Smoljartschuk untersuchte sorgfältig die Spuren und ging zu Witjas zurück. Der Hund hatte inzwischen Zeit gehabt, zu verschnaufen. Der Oberfeldwebel nahm ihn wieder an die Leine und befahl ihm mit ruhiger, fester Stimme, die Spur zu suchen. Witjas beschnupperte erregt die Fußspuren und stürzte los. „Gut! Gut!“ lobte der Oberfeldwebel das Tier. Er hielt es nur noch locker an der Leine und lief hinter ihm her. Stepanow folgte in Sichtweite. Neben ihm schritt Kablukow. Blinder Eifer hätte bei der Verfolgung nur geschadet. Smoljartschuk war ruhig, und seine Ruhe übertrug sich auch auf Witjas. Der Hund lief sicher der Spur nach – zuerst durch ein kleines Tal, dann über einen Bergabhang und darauf durch eine be waldete Schlucht. Der dichte Nebel hinderte ihn nicht. Wit jas angeborene Fähigkeiten – der besondere Geruchssinn und das gute Gehör – waren in der Dressuranstalt für Diensthunde weiterentwickelt und verfeinert worden. Au ßerdem hatte man ihm viele Eigenschaften, wie Mut und
Ausdauer, anerzogen. Er verschmähte Futter aus fremder Hand, kletterte auf Leitern, sprang über Zäune usw. Schon weite Strecken war Smoljartschuk mit Witjas in den Übungsstunden gelaufen, durch Wälder und Schluchten, durch Steppe und Sümpfe, tagsüber und nachts. Bis zu hun dert Kilometern nach Norden, Osten und Nordosten hatten sie die Umgebung von Jawor durchstreift. Auch diesen Grenzabschnitt hier kannten sie gut. Jetzt verzog sich der Nebel, und der Mond trat aus den Wolken hervor. Smoljartschuk blickte um sich. Kablukow hatte mit ihm Schritt gehalten. Neben dem Gefreiten sah er das gerötete entschlossene Gesicht Stepanows. Parallel zu den dreien arbeitete sich die andere Suchgruppe vor. Und
berittene Grenzsoldaten sprengten zu den Straßenkreuzun gen und Pässen in den Bergen, um den Agenten den Weg abzuschneiden. Smoljartschuk wußte, daß der Kommandeur ihm bei der Verfolgung in jeder Weise half. Schon der Ge danke, daß seine Waffenbrüder, seine Freunde, die ganze fünfte Grenzwache, auf den Beinen war, daß alle ihn unter stützten und die Verantwortung mit ihm teilten, stärkte Smoljartschuks Zuversicht und Selbstvertrauen. Witjas lief immer noch im gleichen Trab, die kräftige spitze Schnauze dicht am Boden. Zwischen den dunklen trockenen Lefzen des Hundes schimmerten weiß die großen Hauer. Immer wieder schnellte der buschige Schwanz hoch. Die Ohren waren wachsam gespitzt, die grauen Haare an dem mächti gen Hals gesträubt. Die Pfoten hinterließen auf dem feuchten Boden tiefe Abdrücke. In einer sumpfigen Talniederung hör ten auf einmal die Spuren auf. Nein, sie konnten nicht aufhö ren, das wußte Smoljartschuk genau, sie waren noch da, aber Witjas fand sie im Wasser nicht mehr. Er lief mehrere Male im Kreise herum, reckte den Hals und schnupperte in die Luft. Smoljartschuk rief ihn zu sich heran. Wahrend er den Hund streichelte und beruhigte, überlegte er, wo die Männer den versumpften Bach durchwatet haben könnten. Am be sten wäre es für sie gewesen, im Birkenwäldchen, am entge gengesetzten, trockenen Ende der Talniederung, zu ver schwinden. Und wirklich fand Witjas dort die Spuren auf der anderen Seite des Baches schnell wieder. Sie gingen in Ser pentinen einen Berg hinauf, führten zu einer Lichtung und wieder in dichten, feuchten Wald, wo fast kein Mondlicht durchdrang. Witjas strebte winselnd vorwärts. Gewöhnlich bedeutete dies, daß der Feind nahe war. Smoljartschuk machte aber nicht halt. Er wußte, daß sich eine Spur auf feuchter, bemooster Walderde und bei unbeweglicher Luft
sehr lange „frisch“ hält. Witjas war eben deshalb erregt, weil die Spur „frischer“ wurde. Fest stand, daß die illegalen Grenzgänger alle Kräfte aufbieten und jede Minute ausnut zen würden, um so schnell wie möglich aus der verbotenen Zone ins Hinterland zu gelangen. Deshalb war es nicht nötig, kostbare Zeit für Vorsichtsmaßregeln zu vergeuden. Der Hund lebt in der Welt der Gerüche. Im Wald sind sie beson ders zahlreich, und der Mensch vermag nicht ein Hundertstel dessen zu erfassen, was ein Hund wahrnehmen kann. Auf Witjas’ Weg roch es nach ätherischen Ölen, Wurzeln, mehr jährigen Pflanzen, Moosen, nach aufgebrochenem Erdreich, verfaulten Blättern und den verschiedensten Tieren des Wal des. Er aber suchte zwischen ihnen nur den einen Geruch, den er am Kontrollstreifen gewittert hatte. „Gut! Gut!“ Mit diesen Worten feuerte Smoljartschuk sei nen vierbeinigen Freund von Zeit zu Zeit an. Plötzlich blieb Witjas stehen. Der Oberfeldwebel ließ die Leine los. Der Hund stürzte zur Seite. Nach einigen Metern machte er unter einem Baum halt, neben dem ein Tornister deutscher Her kunft lag. Smoljartschuk hob ihn auf, gab ihn Kablukow und lief weiter, hinter dem Hund her Eine Straße! „Seine“ Spur auf der breiten Fahrbahn inmit ten vieler anderer Spuren nicht zu verlieren, ist die schwerste Aufgabe für einen Hund. Witjas blieb unschlüssig stehen. Schon mit bloßem Auge konnte man sehen, daß viele Menschen, Kühe und Pferde die Straße entlanggegangen waren. Schuhsohlen, Hufe und Wa genräder hatten auf der feuchten Erde deutliche Abdrücke hinterlassen. Zeigte der Oberfeldwebel jetzt Nervosität, wäre auch der Hund unruhig geworden. Er hätte augenblicklich die Spur „vergessen“.
„Such, such die Spur!“ befahl Smoljartschuk. Und Witjas lief aufs neue voraus, die Straße entlang. Nach etwa zweihundert Metern blieb er stehen und schnup perte heftig. Dann bog er nach rechts ab, zog den Oberfeld webel in den Wald hinein und führte ihn auf eine Lichtung, wo Stapel Birkenholz aufgeschichtet lagen. Hinter der wind geschützten Seite eines Holzstoßes stieg Rauch auf, und von dorther klangen auch Stimmen. Da sind sie! dachte Smoljartschuk, sah sich nach Stepanow und Kablukow um und legte den Zeigefinger an den Abzug seiner Pistole. Aber seltsam, Witjas zeigte keine besondere Unruhe. Das machte den Oberfeldwebel stutzig. War der Hund auf einer falschen Spur? „Ich vertraue deiner Spürnase, mein Freundchen, aber ich will trotzdem nachsehen“, sagte Smoljartschuk entschieden. Mit einer Handbewegung befahl er Witjas, bei Fuß zu fol gen. Das Tier gehorchte widerstrebend. Lautlos ging Smoljartschuk um den Holzstoß herum, in der ausgestreckten Hand hielt er die Pistole. „Hände hoch!“ Zwei ältere Männer, die am Lagerfeuer saßen, sprangen auf und hielten Brotstücke, Speck und gebratene Kartoffeln über den Kopf. Sie zeigten keine Angst. Smoljartschuk merkte, daß diese Leute mit den nächtlichen Vorfällen an der Grenze nichts zu tun haben konnten. Trotzdem prüfte er eingehend ihre Papiere. Es waren Saisonar beiter, die in dieser Gegend als Holzfäller beschäftigt waren. Wo und wann war der Hund von der Spur abgekommen? Smoljartschuk stellte mit Hilfe der beiden Männer fest, wo ihr Weg den der Grenzgänger auf der Lichtung gekreuzt ha ben konnte. Witjas nahm die alte Spur wieder auf und lief aufs neue voran. Ein Mordskerl, dachte Smoljartschuk. Auch diese schwere Prüfung hatte das Tier bestanden. Sogar ein
gut ausgebildeter Hund verliert in ähnlichen Fällen oft die Spur und weigert sich dann, sie wieder aufzunehmen. Wit jas’ Fähigkeiten waren zwar groß, aber nicht unbegrenzt. Auch merkte Smoljartschuk, daß der Hund mit der Zeit mü de wurde. Das machten nicht die sieben oder acht Kilometer, die er schon gelaufen war; für einen kräftigen Hund ist das eine Kleinigkeit. Aber Witjas hatte seine Kräfte verausgabt, weil er sich unter der verwirrenden Vielzahl fremder Gerü che auf einen bestimmten konzentrieren mußte. Das war nicht leicht. Wenn man dem Tier keine Ruhepause gönnte, würde sein Geruchssinn nachlassen. Smoljartschuk hieß Witjas stehenbleiben und sich unter einem Nußstrauch ins Gras legen. Der Oberfeldwebel hatte vorsorglich kleine Scheiben kalten Fleisches und Zuckerstückchen mitgenom men. Er setzte sich nun neben den Hund, fütterte ihn mit einem ermunternden „Gut, gut!“ und drückte ihm dabei wie einem guten Freund kräftig die vom Morgentau feuchte Pfo te. Kablukow und Stepanow lagen indessen auf einem Hau fen vertrockneter Blätter und beobachteten schweigend und wachsam das Gelände. Bald ging die Verfolgung weiter. Es begann schon zu dämmern. Zögernd wich die feuchte, finstere Nacht dem Morgen. Jetzt konnte man wenigstens wieder eine Espe von einer Erle, eine Eiche von einem Ahorn und eine Buche von einer Birke unterscheiden. Der Tau glitzerte auf dem Moos, auf dem sich jetzt die Fußabdrücke der Diversanten dunkel abhoben. Sie kamen auf ein kahles Bergplateau, über das der Wind pfiff. Witjas lief langsam und unsicher weiter. Von Zeit zu Zeit reckte er sich kerzengerade empor. Schließlich wurde es klar, daß er die Spur verloren hatte. Der Hund ließ den Kopf hängen und wandte sich unentschlossen bald nach der einen, bald nach der anderen Seite. Zum erstenmal wäh
rend der Verfolgung verlor der Oberfeldwebel wirklich seine Ruhe. Der Feind konnte ja inzwischen wer weiß wie weit vordringen! Smoljartschuk nahm den Hund kurz an die Leine und blick te sich um. Welche Richtung konnten die Männer einge schlagen haben? „Wenn du an ihrer Stelle wärst“, fragte er Stepanow, „wo lang wärst du gegangen?“ Stepanow sagte, das kleine, mit dichten Tannen bestandene Tal zu ihrer Seite böte einen verlockenden Unterschlupf; es führe allerdings von den Pässen weg. Nach Kablukows Mei nung mußten die Grenzgänger am ehesten den Weg gerade aus, durch die Schlucht, gewählt haben. Smoljartschuk sei nerseits deutete auf den abschüssigen südlichen Berg abhang, der vom ersten Frühlingsgras zartgrün schimmerte. Dieser Weg schien nur auf den ersten Blick ungünstig zu sein. Aber einen Hang abwärts konnte man doch leichter und schneller bewältigen als steinige, steile Wege. Und was man an Entfernung verlor, holte man durch Zeit- und Kräfteer sparnis rasch wieder auf. Von der Windseite her erklang kaum wahrnehmbar das Läuten eines Glöckchens, Nur Kablukow wurde darauf auf merksam. „Hörst du?“ fragte er Smoljartschuk. Doch der hörte nur das Rauschen des Bergwaldes und das drohende dumpfe Getöse des Frühlingswassers auf dem Grund der Schlucht. „Eine Herde!“ Da bemerkte auch Smoljartschuk das Glöckchen. „Wir ha ben sie gesehen, die Hundsfötter, wir haben sie gesehen!“ rief ein Berghirt, ohne zu warten, bis die Grenzsoldaten he rangekommen waren und ihre Fragen stellten. „Wir haben unseren Wassil schon zur Grenzwache geschickt. Seid ihr
ihm nicht begegnet?“ „Wir müssen wohl aneinander vorbeigelaufen sein“, ant wortete Smoljartschuk. „Und wo sind die Hundsfötter lang gegangen?“ „Gehen Sie nur in Richtung dieser Krüppelkiefer, und Sie werden sie bald einholen.“ Der Hirt hatte recht. Unter der Bergkiefer fand Witjas die verlorene Spur wieder. Der Hund führte die Grenzsoldaten in einen Hochgebirgs wald mit sehr alten und düsteren, fast schwarzen Tannen, mit dichtem Unterholz, grauem Moos und einer Feuchtigkeit und Stille wie in einem unterirdischen Gewölbe. Diese Stille wirkte unheimlich. Hinter jedem Baum, unter jedem Strauch konnte sich ein Feind, die Maschinenpistole im Anschlag, verborgen halten. Wenig später gab Smoljartschuk seinen Kameraden ein Zeichen, sich vorsichtig von Baum zu Baum weiterzuarbei ten. Witjas wurde immer ungebärdiger, er fühlte, daß er nahe am Ziel war. Eine Tannenschonung erregte Smoljartschuks Aufmerksamkeit. Der Oberfeldwebel versteckte sich hinter einem dicken Stamm und befahl auch dem Hund, sich hinzu legen. Die beiden Grenzsoldaten gingen gleichfalls in Dek kung. „Horch!“ kommandierte Smoljartschuk flüsternd. Wit jas spitzte böse seine Ohren und blickte knurrend und sprungbereit zu dem Tannenwäldchen hin. Sein Fell sträubte sich. „Ruhig, Freundchen, ruhig!“ Smoljartschuk stülpte seine Mütze auf einen Stock und ließ sie hinter dem Baum sichtbar werden. Prompt ratterte eine Maschinenpistole los. Kablukow und Stepanow antworteten sofort mit einem doppelten Feuerstoß. Es entspann sich ein heißes Feuergefecht. Smoljartschuk sah, daß die Diversanten
nicht daran dachten, sich zu ergeben. Er befahl Kablukow, ihre Aufmerksamkeit durch Feuer auf sich zu lenken. Stepanow sollte den Tannenwald von links umgehen, er selbst wechselte unauffällig nach rechts hinüber, indem er sich sprungweise vorarbeitete. Die Umzingelung wurde von Kablukows pausenlosen Schüssen begleitet. Witjas kroch dicht hinter Smoljartschuk. Die Schlinge um die Feinde zog sich enger zusammen. Das Feuer auf ihrer Seite ließ plötz lich nach, dann hörte es ganz auf. Was bedeutete das? Das Tannengehölz lichtete sich, und die Soldaten konnten jetzt auf der Erde zwei dunkle, unbewegliche Gestalten er kennen. Nur zwei. Wo war der dritte? Sollte er entkommen sein? Smoljartschuk lief als erster zu den Gefallenen hin. An ih ren Soldatenkoppeln hingen Handgranaten und Maschinen pistolentrommeln. Ihre Hände hielten noch die Waffen um klammert. „Was ist mit dir?“ rief Smoljartschuk, der sah, wie Stepa nows frisches Gesicht blaß wurde. „Ich glaube… mich hat’s erwischt. Am Bein.“ Stepanows Zähne schlugen aufeinander. „Mich hat’s erwischt“, wieder holte er leise, schon mit geschlossenen Augen. Smoljart schuk nahm Stepanow die Maschinenpistole ab, befahl Ka blukow, den Verwundeten zu verbinden und bei den Leichen zu bleiben. Er wollte die Verfolgung allein fortsetzen. Man durfte keine Zeit verlieren. Er lief hinter Witjas her, bereit, jeden Augenblick das Feuer auf den Feind zu eröffnen. Die feuchten Tannenzweige schlugen ihm in das erhitzte Ge sicht. Der Schweiß rann ihm in die Augen. Seine Füße sack ten in Wasserlöcher ein oder verfingen sich in Wurzeln und Sträuchern. Er stolperte über Steine, stand aber schon wie der, ehe Witjas an der Leine zerren konnte. Smoljartschuk
vergaß ganz die Gefahr. Erst ein unerwarteter Feuerstoß er innerte ihn wieder daran. Er warf sich hinter einer dicken Kiefer zu Boden und bestrich das Gebüsch davor mit Ku geln. „Leg dich!“ befahl er dem Hund. Witjas gehorchte, aber mit einem seltsamen, bei ihm ungewöhnlichen Zögern. Er ließ sich zuerst auf die Knie nieder, dann wühlte er die Schnauze in die Erde und fiel plötzlich hilflos auf die rechte Seite. Das Moos um seinen Kopf färbte sich dunkelrot und begann in der kühlen Luft zu dampfen. Smoljartschuk verlor für einen Augenblick die Gewalt über sich. Er legte die Ma schinenpistole beiseite und blickte in Witjas weit aufgerisse ne Augen, auf seine spärlichen grauen Barthaare, seine hän genden Ohren, die innen so seidenblank und rosa waren, und auf seine blendendweißen Hauer. Als der Oberfeldwebel sich wieder gefaßt hatte, war der Diversant entflohen. Nur noch sein Rücken war weit vorn zwischen den Bäumen zu sehen. Von Zeit zu Zeit blickte er sich um. Smoljartschuk vermutete, daß der Diversant ihn und den Hund jetzt tot glaubte. Das war gut so. Dann wähnte sich der Feind in Sicherheit. Höchstwahrscheinlich würde er versuchen, in die nächste Ortschaft zu gelangen. Die lag nach rechts herüber. „Du kommst mir nicht bis dahin!“ Smoljartschuk nahm hastig seine Mütze ab, zog Jacke und Stiefel aus und stürzte erneut los, um dem Diversanten den Weg abzuschneiden. Er hatte sich nicht verrechnet. Der Mann schlug die vermutete Rich tung ein. Schwer atmend eilte er über einen Bergpfad, das Gesicht dunkelrot vor Anstrengung, mit tief herunterge rutschtem Gürtel und einem weit geöffneten Hemd, das eine stark behaarte Brust frei ließ. In den Händen hielt er eine Maschinenpistole. Es war fast unmöglich, einen so bewaff neten Menschen lebend zu fangen, aber man mußte es versu
chen. Der Mann lief Smoljartschuk, der sich hinter Sträu chern verborgen hielt, direkt in die Arme. „Waffe weg! Hände hoch!“ rief der Oberfeldwebel. Der Diversant reagier te mit einem langen Feuerstoß in Richtung der Stimme. Smoljartschuk schickte ihm als Antwort eine Geschoßgarbe in die Beine. Der Mann stolperte und fiel hin. Obwohl er schon von einem Dutzend Kugeln getroffen war, ließ er sei ne Waffe nicht los. Smoljartschuk mußte ihm den Rest ge ben. Darauf verließ er sein Versteck und trat auf den Berg pfad hinaus. Er nahm die Maschinenpistole des toten Fein des an sich, setzte sich erschöpft auf einen Baumstumpf und wischte sich mit dem Ärmel seiner Feldbluse die feuchte Stirn und das Gesicht. Auf einem schaumbedeckten Pferd kam der Kommandeur der Grenzwache in Begleitung berittener Soldaten ange sprengt. Hauptmann Schaposchnikow sprang ab, trat zu dem Toten und blickte ihn schweigend und finster an. Smoljart schuk lächelte schuldbewußt. „Ich habe dieses Mal versagt und meinen Auftrag nicht bis zu Ende durchgeführt, Genosse Hauptmann. Wenigstens einen hätten wir lebend bekommen müssen.“ Obwohl Scha poschnikow es auch bedauerte, den Feind nicht mehr verhö ren zu können, sagte er: „Sie haben Ihren Auftrag ausgezeichnet durchgeführt, Ge nosse Smoljartschuk, ausgezeichnet!“ General Gromadas Befürchtungen hatten sich bestätigt: au ßer den ersten drei Spuren der Grenzgänger wurde noch eine einzelne Spur gefunden. Hauptmann Schaposchnikow kam zu dem Schluß, daß der Hauptspion, wie auch General Gro mada vermutet hatte, an der linken Flanke der Grenzwache entlanggegangen war, während sich an der rechten nur die Ablenkungsgruppe betätigt hatte.
Schaposchnikow nahm mit einer verstärkten Patrouille und einem Suchhund sogleich die Verfolgung auf. Daß die Spu ren dieses neuen illegalen Grenzgängers ebenfalls getarnt waren, hatten die Untersuchungen ergeben, obwohl die Gummidecke nur einen sehr schwachen Abdruck hinterlas sen hatte. Doch dann hatte der Mann offenbar keine Vorsicht mehr geübt. Im Hinterland begannen seine Fußabdrücke. Dem nach trug er schwere Schuhe mit dicken Sohlen und Gum miabsätzen. Er war oft stehengeblieben. Seine Spuren führ ten in die Weinberge der Kolchose „Morgenröte über der Theiß“. Hier hatte ihn wahrscheinlich jemand gestört, und er mußte sich in einer Scheune verstecken. Die windschiefe Scheune stand an einem Berghang, an den andern drei Seiten von der weichen Erde eines Weinberges umgeben. Auf dem schwarzen Boden waren die Abdrücke großer Schuhe noch genau zu erkennen. Sie führten zu dem leicht angelehnten Scheunentor hin, aber nicht zurück. Dem nach hatte der Mann seinen Unterschlupf noch nicht wieder verlassen. Der Soldat mit dem Suchhund blieb unschlüssig stehen. Ging er mit dem Schäferhund in die Scheune, lief er Gefahr, in eine Feuergarbe hineinzulaufen. Sollte er das Tier allein hineinlassen? Schade darum, es würde auch dran glauben müssen. Am, besten, man umzingelte die Scheune und nahm sie dann im Sturm. „Und wenn der Mann gar nicht drin ist? Bis wir die Scheu ne umzingelt haben, kann er schon über alle Berge sein! Lassen Sie den Hund los!“ befahl der Grenzkommandeur. „Aber Genosse Hauptmann…“ „Den Hund loslassen!“ wiederholte Schaposchnikow leise. Der Soldat löste die Leine, und der Schäferhund lief mit
hocherhobenem Kopf und gespitzten Ohren zur Scheune hin. Schaposchnikow und alle Grenzsoldaten hielten ihre Ma schinenpistolen schußbereit und blickten schweigend dem Hund nach. Dieser steckte erst seine spitze Schnauze durch den dunklen Torspalt und schlüpfte dann in das Innere der Scheune. „Sehen Sie, nichts“, sagte Schaposchnikow, als alles ruhig blieb. Der Hund kam zurück, setzte sich dem Soldat zu Füßen, blickte ihn an und wedelte mit dem Schwanz. Der verstand und streckte die Hand aus. Der Hund öffnete die Schnauze und ließ eine Patrone hineinfallen. „In Amerika hergestellt… Er hat seine Waffe neu geladen.“ Als Schaposchnikow die Scheune untersuchte, entdeckte er in der Hinterwand eine schadhafte Stelle. Nachdem sich der Grenzgänger ausgeruht hatte – es wurden Streichhölzer und Zigarettenstummel gefunden – , war er durch diese Öffnung entwichen. Mit zunehmender Entfernung von der Grenze verwischten sich die Spuren immer mehr, weil die Erde härter wurde. Sie führten schließlich auf einen steinigen Fußweg und waren dann mit dem bloßen Auge nicht mehr zu erkennen. Der Hund, jetzt auf die blinde Spur gehetzt, führte die Grenzsol daten auf die Chaussee und weigerte sich hier, weiterzusu chen. Es war möglich, daß der Mann an dieser Stelle ein Auto bestiegen hatte. Aber vielleicht war er auch die Chaus see ein Stück entlanggegangen, um seine Spur zu verwi schen, hatte sie dann wieder verlassen und lief jetzt, so schnell er konnte, auf Seitenwegen nach Jawor. Schaposchnikow zog sich mit einer heftigen Handbewe gung den Mützenschirm über die Augen. „Du entkommst mir doch nicht, du entkommst mir doch nicht. Komarow, suchen Sie weiter nach der Spur!“ Der Hund lief noch zwei Kilometer die Chaussee entlang. Dann
suchte er ein größeres Gebiet zu beiden Seiten der Straße ab, aber er konnte die Spur nirgends entdecken. „Ach, wenn doch Witjas da wäre“, sagte einer der Soldaten. „Der würde dieses Knäuel schon entwirren.“ Ja, dachte Schaposchnikow, ohne Witjas geht’s schlecht. „Suchen Sie weiter, Komarow, ich bin bald wieder zurück. Remisow, Martschuk – aufge sessen!“ Die Pferdehufe schlugen Funken, als sie den steinigen Feldweg entlang in die Berge zurückpreschten. Bei Tagesanbruch entschloß sich Gromada, selbst der Spur des geheimnisvollen Mannes nachzugehen. Mit ihm kam Major Subawin, den er telefonisch zur Grenze gerufen hatte. Eine Patrouille folgte ihnen. Die Blicke auf den Boden geheftet, durchquerten Gromada und Subawin die Grenzzone. Sie gingen an den Kolchosgär ten vorbei, stiegen den Weg durch die Weinberge hinauf und erreichten an der gleichen Stelle die Chaussee wie Scha poschnikow und seine Leute. Schweigend betrachteten sie die Straße. „Er hat genauen Kurs eingehalten, der Schurke!“ sagte Gromada nach einer Weile. „Ja, als ob er hier zu Hause wäre!“ erwiderte der Major. „Das ist es eben. Er muß die Gegend gut kennen. Entweder ist er aus Jawor, ein Emigrant, oder…“ „… oder er ist gut orientiert“, führte Subawin Gromadas Gedanken weiter. „Er hat seine Marschroute genau studiert, bevor er über die Grenze kam.“ „Möglich“, stimmte ihm Gromada zu. „Er hat die Straße eben nur betreten, um seine Spuren zu verwischen…“ „… und ein zufällig vorbeifahrendes Auto zu benutzen.“ „Vielleicht auch kein zufällig vorbeifahrendes, sondern ein ganz bestimmtes?“
„Ja“, antwortete Subawin ergänzend, „es ist nicht ausge schlossen, daß irgendwo in der Nähe, an einer vorher verab redeten Stelle, ein Wagen auf den Diversanten gewartet und ihn fortgebracht hat. Aber wohin? Sehen Sie da auf der an deren Seite der Chaussee das Häuschen mit dem roten Dach, Genosse General? Dort wohnt der Streckenwärter. Gehen wir doch mal hin!“ Der bejahrte Eisenbahner stand gerade am Brunnen und nahm den vollen Wassereimer von der nassen Kette ab. „Gu ten Tag!“ Der General streckte dem Mann die Hand entge gen. „Würden Sie uns bitte einen Schluck Wasser geben?“ Nachdem sich Gromada und Subawin erfrischt, mit dem Mann eine Zigarette geraucht und ihm dabei einige Fragen gestellt hatten, ohne jedoch den Grund zu verraten, erfuhren sie, daß der Streckenwärter am vergangenen Abend bei sei nem Kontrollgang einen parkenden Lastwagen auf der Chaussee bemerkt hatte. Genau neun Uhr hatte er ihn das erstemal gesehen, und als er eine Stunde später wiederum seine Strecke abschritt, wunderte er sich, daß das Auto im mer noch da war. Das linke Hinterrad war abmontiert, und unter der Achse stand eine Winde. Was im Wagen war? Der war voller Bretter. Und Menschen? Menschen hatte der Mann nicht gesehen. Ob das Auto aus Jawor gekommen war? Nein, es stand in Richtung der Stadt. Gromada und Subawin bedankten sich bei dem Streckenwärter und fuhren mit der Patrouille nach Jawor. Unterwegs nahm der Funker einen Funkspruch entgegen. Hauptmann Schaposchnikow meldete: „Alle drei illegalen Grenzgänger im Gebiet des Berges Barani Lob im Schwarzen Wald vernichtet. Erwarte Ihre Befehle.“ Gromada antwortete nur mit zwei Worten: „Ich komme.“ In Jawor befahlen Gromada und Subawin dem Fallschirmspringer Karel Grontschak, auf dem Rücksitz
des geräumigen Geländewagens Platz zu nehmen, und fuh ren in die Berge zurück. Die Leichen der Diversanten lagen unter einer Tanne. „Na, wer von diesen da war Ihr Chef?“ fragte Subawin und blick te aufmerksam in das bleiche, gespannte Gesicht des Fall schirmspringers. Karel Grontschak trat vor und schaute auf die Erschossenen. Während sein Blick von einem zum ande ren wanderte, konnte er die Freude, die unwillkürlich in sei nen Augen aufleuchtete, nicht vor dem forschenden Blick Subawins verbergen. Der Major lächelte. „Nicht der, nicht der andere und auch nicht der dritte, stimmt’s?“ Karel Grontschak nickte. „Diese Leute habe ich…“ „Lassen Sie sich Zeit, sie zu verleugnen“, unterbrach Su bawin den Mann. „Denken Sie in Ihren Mußestunden dar über nach Vielleicht erinnern Sie sich doch noch, wo und wann Sie diese Leute schon einmal gesehen haben.“ Subawin gab den Begleitsoldaten ein Zeichen, den Fall schirmspringer wieder abzuführen. „Ihre Vermutungen haben sich bewahrheitet, Genosse Ge neral“, sagte Subawin, der sich die Sachen ansah, die man den Banditen abgenommen hatte. „Grontschaks Chef ist wahrscheinlich der, dessen Spuren verlorengegangen sind, und die da… die hatten auch nur Nebenrollen.“ Außer den Waffen und Giftampullen hatten die Toten bedeutende Geld summen in sowjetischer und ausländischer Währung sowie Kompasse und Karten vom Karpatengebiet bei sich. „Genosse General, das Geld, das diese Gauner da bei sich hatten, ist von derselben Serie wie das der Fallschirmsprin ger. Auch die ganze Ausrüstung ist vom gleichen Typ.“ „Ja, die stammen alle aus einem Nest.“
Subawin legte die Beweisstücke sorgfältig in einen kleinen Koffer. „Gestatten Sie, Genosse General, daß ich dieses Zeug einstweilen mitnehme!“ „Nehmen Sie es mit.“ Nachdem Gromada ein Protokoll unterschrieben hatte, be fahl er, die Leichen zu fotografieren und dann zu bestatten. Zu seiner Dienststelle zurückgekehrt, machte sich Major Subawin unter der Mitarbeit der Autoinspektion sofort auf die Suche nach dem Wagen, den der vierte Spion benutzt haben konnte. Die Durchsicht der Listen in den Wagenparks und Garagen ergab, daß am vergangenen Tag mehr als zweihundert Last wagen zwischen Jawor und dem Nordbezirk der Karpaten verkehrt hatten, achtundvierzig davon nur mit Holz beladen. Nun war zu klären, wieviel von diesen spätabends und mit einem beschädigten Rad nach Jawor zurückgekommen wa ren. Darauf konnten wiederum nur die Listen eine klare und schnelle Antwort geben. Doch Subawin fand keinen einzi gen Lastwagen, auf den dies zutraf. Die Sache wurde schon schwieriger, aber Subawin war dar auf gefaßt. Der Helfershelfer des Spions war schließlich kein Trottel und hatte seine Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Er mußte natürlich seine abendliche Fahrt zu verheimlichen suchen. Entweder stand sie also gar nicht in seinem Fahrbe fehl, oder er hatte sie auf eine andere Art verschleiert. Wer von den achtundvierzig Fahrern hatte das getan? Subawin schickte wiederum Autoinspektoren zu den Garagen. Er selbst fuhr in die Berge zurück. In den Sägewerken stellte er fest, wer am vergangenen Ta ge Bretter geladen hatte. Darauf verglich Subawin seine Er mittlungen mit denen der Inspektoren und fand die Unstim migkeit leicht heraus. Der Fahrer des Trusts „Ukraino“ hatte
fünf Kubikmeter Bretter geladen, im Bericht der Auto inspektoren aber hieß es, der Wagen des Trusts hätte laut Fahrbefehl und Order den ganzen Tag Sand und Kies gefah ren. Eine erneute sorgfältige Überprüfung ergab, daß der Fahrer wirklich Bretter bekommen hatte. Aber sie waren nicht in den Trust, sondern auf den Hof eines Jaworer Einwohners gelangt. Wie Augenzeugen berichteten, wurde die Fracht spätabends ausgeladen, etwa eineinhalb Stunden nach dem geheimen Grenzübertritt, wie Subawin ausrechnete. Es schien, als befände sich der Major auf dem richtigen Wege. Er jedoch blieb skeptisch. Warum hatte der erfahrene Agent einer ausländischen Spionageorganisation seine so wichtige Tätigkeit mit einem unbedeutenden Diebstahl verwickelt? Natürlich schreckte der Feind vor keinem Mittel zurück, wenn er dadurch sein Ziel erreichen konnte. Doch wozu sollten ihm die gestohlenen fünf Kubikmeter Holz nützen? Das Verhör des betreffenden Fahrers ergab denn auch, daß Subawin nur einen ganz gewöhnlichen Dieb gefaßt hatte. Den Helfershelfer des Spions mußte man woanders suchen. Und Major Subawin setzte die Suche fort, unauffällig und vorsichtig, um den Feind nicht zu warnen. Zwei Stunden waren Clark und Grab nun schon auf sowje tischem Gebiet. Sie gingen durch die Weinberge und stießen nach einem großen Umweg auf die Bergchaussee, die bereits außerhalb der Grenzzone lag. Clark setzte sich auf einen Stein und holte einen mit Machorka gefüllten Tabaksbeutel aus der Tasche. „Das Schlimmste haben wir hinter uns, Gott sei Dank! Ma chen wir eine Rauchpause!“ Er wollte den starken Mann spielen, aber seine Stimme zit
terte verräterisch, und auch seine sonst so geschickten Finger konnten keine Zigarette drehen. Grab freute sich schweigend über den Erfolg. Schwer at mend trocknete er seinen schweißnassen Kopf und massierte ächzend den schmerzenden Rücken. Wie verabredet, wartete unweit des Bahnwärterhäuschens ein Lastauto. Die frisch gesägten Bretter im Wageninnern zeigten an, daß es nicht ein zufällig dort haltender Wagen war, sondern der, den Clark brauchte. „Guten Abend!“ sagte Clark. Das war gleichzeitig der Anfang der vereinbarten Pa role. „Für den einen ist er gut, für den anderen…“, brummte der Fahrer und klopfte mit einem Hammer an den vollgepump ten Reifen. „Was habe ich mich mit dem verfluchten Rad abgequält! Schon zwei Stunden montiere ich daran herum.“ „Ist jetzt alles in Ordnung?“ „Ja.“ „Fährst du uns nach Jawor, Freundchen? Du kannst dir zweihundert Gramm Echten aus der Hauptstadt verdienen.“ „Steigen Sie ein.“ Als Clark und Grab in der geräumigen Fahrerkabine Platz genommen hatten, musterte der Fahrer Skiban die beiden mit einem abschätzenden Blick: Wer von seinen Fahrgästen war nun der Chef? Wahrscheinlich der jüngere. Er fand in der Dunkelheit seine Hand und drückte sie kräftig. „Willkom men!“ Clark antwortete so ruhig und spöttisch wie möglich: „Sieh mal an, wie gefühlvoll! Du freust dich mehr als ich.“ „Auch Sie haben allen Grund zur Freude“, gab der Fahrer leise zurück. „Solche Sperren zu durchbrechen, bedenken Sie nur!“ „Fahren wir endlich, ich möchte schlafen.“ Clark gähnte.
„Na, na!“ Skiban, selbst ein ausgekochter Spion und Mord bube, betrachtete seinen neuen Chef mit ehrfurchtsvoller Neugier von der Seite.
Spätabends kamen sie von Norden her, von wo die Spione nach ihren Berechnungen am wenigsten erwartet wurden, nach Jawor. In einer stillen und schlecht beleuchteten Straße hielt der Fahrer und sagte zu Grab: „Um die Ecke ist eine Bierstube, die früher Imre Warge ge hörte. Erinnerst du dich? Dort ist jetzt dein Gevatter Tsche kanjuk.“ Skiban öffnete die Wagentür. „Geh zu ihm!“ „Aber wenn er nicht da ist?“ fragte Grab zweifelnd. Skiban
schaute auf die Uhr. „Er ist da, sei unbesorgt. Jeden Abend um diese Zeit trinkt er dort sein Glas Bier.“ Grab stieg aus und gab Clark unschlüssig die Hand. Der er griff sie rasch und schüttelte sie mit betonter Liebenswür digkeit. „Bleib gesund, mein Lieber. In drei Tagen treffen wir uns wieder. Ich werde dich selbst abholen. Ich selbst, hörst du? Gute Nacht!“ Watschelnd verschwand Grab in der Tiefe der dunklen, menschenleeren Straße. Clark blickte ihm nach und sagte: „Skiban, du zeigst ihn morgen an.“ „Ich?… Anzeigen?“ fragte Skiban erschrocken. „Ja du.“ „Warum machen Sie solche Witze, Herr…“ „Ich habe keine Zeit, Witze zu machen. Ich meine es ganz ernst: Du mußt ihn ausliefern. Ist Tschekanjuk dein Nach bar?“ „Ja.“ „Na gut. Du hast zufällig gesehen, wie Tschekanjuk einen verdächtigen Mann mit nach Hause gebracht hat, na, und so weiter. Klar?“ „Sie können mich totschlagen, Herr… Genosse Belograi, ich habe nichts verstanden.“ „Grab ist jetzt gefährlich. Er hinterließ eine Spur, auf der… Außerdem brauchen wir ihn nicht mehr. Jetzt klar?“ „Aber… wenn sie Grab verhaften, kann er uns doch auch ‘reinlegen.“ „Er wird es nicht, sei überzeugt. Dafür haben wir bereits gesorgt.“ „Ach so. Jetzt habe ich wirklich alles verstanden.“ Bin ich vielleicht eines Tages auch überflüssig? dachte Skiban.
Er lächelte. Aber mit wem arbeiten sie dann? „Fahren wir weiter. Laß dir Zeit. Passe es so ab, daß wir ge rade genau zum Zug kommen.“ Nachdem Skiban Clark in einer stillen Nebenstraße unweit des Jaworer Bahnhofs abgesetzt hatte, fuhr er weiter. Er hat te die Scheinwerfer und das Schlußlicht ausgeschaltet, bevor er um die Ecke gebogen war. Er hat Angst, ein zufällig vorbeikommender Passant könnte sich die Wagennummer merken. Tüchtig! Der kennt seine Sache, dachte Clark und glättete sorgfältig die Aufschläge seines abgetragenen Mantels. Die Bahnhofstraße mündete direkt auf eine steile Eisen treppe. Clark sah diese Treppe zum erstenmal in seinem Le ben, aber er stieg die Stufen so sicher hinauf, als hätte er es schon tausendmal getan. Oben angelangt, stand er auf einer hohen Fußgängerbrücke, die über die vielen Gleise des Ja worer Bahnhofs führte. Während er unbekümmert ausschritt, steckte er sich eine dicke „Selbstgedrehte“ an. Seine eisenbeschlagenen Stiefel dröhnten auf dem hölzernen Brückenbelag. Die Orden und Medaillen auf seiner Brust klirrten. Von der Theiß wehte ein frischer Wind herüber und zerrte an seinen Mantelschößen. Ein feiner Sprühregen setzte ein. Als Clark die Brücke überquert hatte, sauste gerade die lange Wagenreihe des Moskauer Zuges vorbei. Er blickte auf die Uhr: pünktlich! Alles, aber auch wirklich alles war so gegangen, wie er es geplant hatte. Der „demobilisierte Oberfeldwebel“ trat unbemerkt aus der Dunkelheit in der Nähe des Bahnhofs heraus und tauchte auf dem erleuchteten belebten Bahnsteig zwischen den lärmen den Urlaubern unter, die zu ihren Truppenteilen im Ausland zurückfuhren. Er schaute sich fröhlich um und sagte laut:
„Hier ist das Sowjetland zu Ende. Noch eine Stunde oder zwei – und man ist wieder im fremden Land. Ach ja, das ist Soldatenschicksal…“ Clark hatte die Wirkung seiner Worte auf die jungen Leute neben ihm gut berechnet. Einer von ihnen, ebenfalls Oberfeldwebel, entgegnete: „Sprich jetzt nicht davon, lieber Freund.“ „Verstehe.“ Clark blinzelte ihm zu. „Hast wohl deine junge Frau zu Hause gelassen?“ „Ja. Aber warum bist du ohne Achselklappen?“ fragte der Oberfeldwebel, als sie auf einer Bank im Wartesaal Platz genommen hatten. „Weil’s davon Schwielen auf den Schultern gibt!“ Clark lachte. „Ich habe mit meinen Achselklappen ehrlich gedient. Jetzt bin ich de-mo-bi-li-siert. Da beneidest du mich, was?“ Der Oberfeldwebel der Artillerie seufzte. „Wenn ich doch nur noch eine Woche Urlaub gehabt hätte!“ „Und wenn du noch einen Monat länger gehabt hättest, Freundchen, wäre es nicht genug gewesen. Die glücklichen Tage zählt man nicht. Wie heißt denn deine Frau?“ „Klawa.“ Der Artillerist lächelte verlegen. „Und du?“ „Grizko.“ „Also Grischa.“ Clark holte eine blaue Packung „Wercho wina“ hervor. „Da, rauche, Bruder Grigori, das ist ein siche res Mittel gegen Sehnsucht.“ Der Artillerieoberfeldwebel nahm mit seinen dicken runden Fingern eine Zigarette, knetete sie sorgfältig weich und steckte sie ohne Eile an. Dann tat er einen tiefen Zug und blickte freundlich auf seinen Gesprächspartner. „Bist du schon lange demobilisiert?“ „Seit Februar.“ „Und wo hast du Dienst getan?“
„Da-a.“ Clark nickte in Richtung Westen. „Bei den Besat zungstruppen. Sind noch Fragen, Genosse Untersuchungs richter?“ „Wohin willst du jetzt?“ Der „demobilisierte Oberfeldwebel“ senkte verlegen den Kopf und zog seine Mütze über die Augen. „Ich habe ein bestimmtes Ziel, aber man weiß nie, was noch alles kommt“, antwortete er ausweichend. „Auch der Blinde sagt da: Mal sehen.“ „Schon gut, aber wo willst du nun hin?“ forschte der Artil lerist neugierig weiter. „Ja, es gibt für mich einen lang ersehnten Ort auf der Welt…“ Clark hob den Kopf und blinzelte dem andern zu. „Ich will zur Kolchose ,Morgenröte über der Theiß’, Freund chen, zur Gogolstraße Nr. 92, wo Theresia Simak wohnt. Hast du gehört? The-re-si-a!“ „Wer ist denn diese Theresia?“ fragte der Artillerist, als ha be er nicht verstanden. „Deine Tante? Oder deine Großmut ter?“ „Ach, ich weiß nicht, was ich dir von ihr erzählen soll. Vor läufig ist die Hoffnung groß.“ „Aber weshalb sitzt du dann hier und gehst nicht zu ihr?“ fragte der Artillerist verwundert. Clark blickte sehnsuchtsvoll auf das nachtdunkle Fenster. „Ich würde gern ins Paradies eilen, doch meiner Sünden we gen darf ich noch nicht hinein.“ Er schwieg und fügte mit ernstem Gesicht hinzu: „Wo soll man denn mitten in der Nacht hin? Ich kenne diese Gegend kaum, und ehe man sich’s versieht… ist man schon an der Grenze. Ich warte lieber bis zum Morgen.“ Er klopfte mit den Fingernägeln auf sein Uhrglas. „Ach, wie langsam doch die Zeit vergeht. Wollen wir eine Tasse Tee trinken gehen? Leistest du mir
Gesellschaft, Freund?“ Der Oberfeldwebel kehrte die Taschen seiner Pumphosen nach außen. „Ich glaube, ich bin kein guter Gesellschafter für dich“, antwortete er lachend. „Macht nichts, gehen wir!“ Clark-Belograi ergriff den Artilleristen beim Arm und zog ihn hinter sich her. Während sie die Treppe zum Restaurant im zweiten Stock hinaufstiegen, blickte sich Clark verstoh len um: War auch keiner auf ihn aufmerksam geworden? Nein, es sah nicht so aus. Der geräumige Saal war voller Menschen. Sie setzten sich an einen freien Tisch, bestellten Wodka, Bier und einen Imbiß und aßen und tranken gemüt lich. Der „Demobilisierte“ erzählte jetzt, wer Theresia war, wie und wann er sich in sie verliebt und beschlossen hatte, zu ihr zu fahren. Der Artillerieoberfeldwebel hörte lächelnd zu und nickte zustimmend. Eine Grenzstreife kam an den Tisch. Ein junger Leutnant in Begleitung zweier Soldaten bat um die Ausweise. Clark trank sein Bier aus, wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab und faßte langsam in die Tasche. Bis er die dicke Brieftasche hervorgeholt hatte – die Orden und Medaillen an seiner Uniform schlugen dabei leise aneinander – , fand der Artillerieoberfeldwebel Zeit, dem Leutnant ein kleines Büchlein in einer braunen Hülle und den Urlaubsschein entgegenzuhalten. Der Offizier sah sich die Papiere aufmerksam an. Inzwischen hatte Clark die abgegriffene Lederbrieftasche herausgeholt. Er legte sie auf die Tischkante und schlug sie so nachlässig auf, daß ihr ganzer Inhalt auf den Fußboden fiel. Was barg auch diese Soldatenbrieftasche nicht alles: Da waren Zeitungsausschnitte aus der Zeit des Großen Vater ländischen Krieges, Dankschreiben des Obersten Befehlsha bers, Privatbriefe, Bescheinigungen, Adressen, Postemp fangsscheine, ein Kamm mit Spiegel, Geld, das Ordensbuch
und verschiedene Fotos. Meist aber waren es – wie die Grenzsoldaten bemerkten – Bilder eines hübschen Mädchens in ukrainischer Tracht, mit Bändern in den dicken blonden Flechten. Clark bückte sich und sammelte lächelnd die Sachen vom Fußboden auf. „Entschuldigen Sie, Genossen!… Vor Eifer habe ich meinen ganzen Kram herunterfallen lassen… Einen Augenblick!“ „Warum sind Sie ohne Achselklappen?“ fragte ein Grenz soldat streng. „Bitte zeigen Sie Ihre Ausweise!“ „Die Ausweise? Aber bitte schön!“ Clark reichte dem Leutnant einen Packen Papiere. „Lesen Sie, dort steht, war um der Oberfeldwebel Iwan Belograi ohne Achselklappen ist. Er hat ausgekämpft! Er hat ehrenhaft gedient, gebe Gott, daß jeder das getan hätte.“ „Wann haben Sie den Passierschein für die Grenzzone er halten?“ fragte der Leutnant. „Wann… Dort steht ja alles klar und deutlich in russischer Sprache. Lesen Sie doch! Am fünften März.“ „Aber jetzt haben wir doch schon April. Der Schein ist nur noch eine Woche gültig.“ „Keine Sorge, Herr Leutnant! Ich lasse ihn verlängern, wenn… wenn ich nicht vor verschlossener Türe stehe.“ Der Grenzsoldat legte die Papiere auf den Tisch zurück. „Mit welchem Zug sind Sie gekommen?“ „Mit diesem da, dem Moskauer.“ „Haben Sie Ihre Fahrkarte aufgehoben?“ „Fahrkarte? Möglich, daß ich sie noch habe…“ Clark schüttelte ein Stückchen Pappe aus seinem Taschentuch. „Moskau – Jawor, Platzkarte. Gültig zweiundsiebzig Stun den… Kosten…“ „Ich rate Ihnen, Genosse, ein Hotel aufzusuchen und sich
schlafen zu legen“, sagte der Leutnant dem angetrunkenen und übermäßig redseligen „demobilisierten Oberfeldwebel“ zum Abschied. „Hotel… Und wo ist eins?“ „Hier im Bahnhof. Im ersten Stock.“ Der Leutnant grüßte und entfernte sich. Die beiden Männer aßen weiter. Jeder, der sie beobachtet hätte, mußte denken, daß sie zu sammen im Zug gefahren waren, sich unterwegs angefreun det hatten und hier jetzt Abschied feierten. Und gerade das wollte Clark. Spät abends kehrte Gromada von der Grenze zurück und beschloß, nach Hause zu fahren. Als er die Treppe hinauf stieg, sah er die breiten Schultern und den wohlbekannten Lockenkopf Subawins vor sich. „Jewgeni Nikolajewitsch, Sie?“ rief er dem Major mit sei nem mächtigen Baß zu. „Was treibt Sie denn so spät noch hierher?“ „Ich kann nicht schlafen, Kusma Petrowitsch.“ „Na gut, essen Sie bei uns Abendbrot.“ Subawin war oft Gast im Hause Gromadas, und auch dessen Familie sah den Major gern. Doch Kusma Petrowitsch erriet, daß der uner wartete Besuch Subawins einen besonderen Grund hatte. „Also, Jewgeni Nikolajewitsch, was gibt’s Neues?“ fragte er, als sie einander im Sessel gegenübersaßen. Subawins Nachrichten kamen Gromada nicht unerwartet. Nach den neuesten Berichten, die er aus zwei verschiedenen Quellen bekommen hatte, war der illegale Grenzgänger tatsächlich nicht ins Innere des Landes weitergewandert, sondern hielt sich in Jawor verborgen. Ein gewisser Tschekanjuk, Meister im Eisenbahndepot der Stadt, war der Beihilfe zur Spionage überführt worden. Gromada fragte, wie es herausgekommen
war. Subawin nannte die Namen mehrerer Einwohner. Einer von ihnen, Fjodor Stepnjak, Schlosser im Eisenbahndepot, war vom Nachtdienst nach Hause gekommen und hatte am Ende seiner stillen, vom Mondlicht erhellten Straße zwei Passanten gesehen. Sie waren schnellen Schrittes gegangen und hatten sich im Schatten der Weichselkirschen gehalten, die den Bürgersteig säumten. Sein plötzliches Erscheinen hatte sie zweifellos erschreckt, denn sie waren eilig in die nächste Gasse eingebogen und dort verschwunden. Fjodor Stepnjak hatte sich darüber gewundert. Warum waren diese Leute fortgelaufen? Woher kamen sie? Wenn es ehrliche Menschen waren, weshalb versteckten sie sich dann? Und wenn es Fremde waren, was wollten sie um diese Zeit in der kleinen Straße, in der es weder eine Bierstube noch Apothe ke, weder eine Telefonzelle noch Imbißhalle gab? Fjodor Stepnjak hatte sich alle ins Gedächtnis zurückgerufen, die in der Straße des Ersten Mai wohnten; aber er fand keinen ein zigen Mann, der zu so später Stunde nach Hause kommen oder zur Arbeit gehen mußte. Auf die Frage, in welches Haus die verdächtigen Passanten vermutlich hineingegangen wären, wenn er sie nicht gestört hätte, gab Fjodor Stepnjak keine bestimmte Antwort. Anscheinend wollte er niemand beschuldigen. Subawin hatte alle Angaben des Schlossers sorgfältig notiert. Der Bericht, den man von einem gewissen Skiban bekommen hatte, dem Nachbarn von Meister Tsche kanjuk, schien die unklare Geschichte des Schlossers etwas aufzuhellen. In der vergangenen Nacht hatte der Fahrer Ski ban schlecht geschlafen, Kopfschmerzen und ein Stickhusten quälten ihn. Gegen Morgen zog er sich den Mantel über und trat in seinen kleinen Garten hinaus, um die frische Morgen luft einzuatmen. Bald fühlte er sich wieder wohler und woll te ins Haus zurückkehren. Er hatte noch nicht zwei Schritte
getan, als er an der Hinterfront seines Gartens hinter einem Himbeergebüsch zwei männliche Gestalten erblickte. Die eine hatte er noch nie gesehen, in der anderen erkannte er den hochaufgeschossenen Meister Tschekanjuk. „Bist du es, Nachbar?“ rief Skiban. Die beiden waren schnell auf den Zaun zugegangen, blie ben aber sofort stehen. Tschekanjuk lachte gepreßt auf. „Was erschrickst du, Nachbar? Sei unbesorgt, mein Täub chen, deine Hühner und Truthähne sind noch alle da.“ Ski ban lachte ebenfalls und wollte näher kommen, aber der Nachbar schwang sich über den Zaun, der Fremde sprang hinterher. Erst von der Treppe seines Hauses rief Tschekan juk: „Entschuldige, daß ich mit meinem Freund quer durch dei nen Garten gegangen bin und daß wir dabei deine Himbee ren ein bißchen zertreten haben. Morgen werde ich den Schaden wiedergutmachen. Gute Nacht!“ Am Morgen kam Tschekanjuk zu Skiban ins Haus, bot ihm eine Zigarette an, bat nochmals für die nächtliche Störung um Entschuldigung und sagte vertrauensvoll: „Du weißt ja, Nachbar, es ist bald Ostern. Na ja, und zu diesem schönen Feiertag kam nun ein lieber Gast, mein gu ter, alter Freund, und nicht etwa mit leeren Händen, sondern in jeder brachte er einen Liter Selbstgebrannten Schnaps mit. Deshalb sind wir hinterher so in den Gärten umhergeirrt.“ Tschekanjuk räusperte sich und leckte seine Lippen: „Prima Ware… Komm doch Ostern auch zu uns, Nachbar, wir wol len dann so richtig schmausen. Aber, mein Lieber“, fügte er hinzu, „erzähle niemand, daß wir das Staatsmonopol verletzt haben. Auf Wiedersehen!“ Das alles war Skiban verdächtig vorgekommen, besonders aber die Bitte, nichts weiterzuerzählen. Gromada sah Suba
win fragend an. „Dieser Skiban ist Fahrer? Hat er an dem Tag gearbeitet?“ Subawin nickte. „Ja, er ist spätabends nach Jawor zurückgekommen. Aber Bretter hat er nicht gefahren.“ „Und was ist sonst veranlaßt worden?“ fragte Gromada. „Bis jetzt nichts, außer daß Tschekanjuks Haus bewacht wird. Wie wir festgestellt haben, hält sich der Verdächtige auf dem Heuboden verborgen, Wir können ihn sofort verhaf ten, wenn wir über seine Beziehungen zu anderen Personen der Stadt Bescheid wissen.“ „Aber sind Sie denn fest davon überzeugt, daß er ,unser’ gesuchter illegaler Grenzgänger ist?“ „Es kann nicht anders sein, Genosse General! Wir haben die Fußabdrücke von der Grenze mit denen hier im Garten verglichen.“ Die Schlinge um den Feind schien immer enger zu werden. Es lag jetzt an dem Grenzkommandeur, sie so bald wie mög lich völlig zusammenzuziehen. Nach einigen durchwachten Nächten war Gromada heute fest eingeschlafen. Drei Stunden später weckte ihn das hart näckige Läuten des Telefons. Subawin war am Apparat: „Neue Nachrichten, Genosse General.“ Gromada verstand. Er bestellte einen Wagen, zog sich an und war eine halbe Stunde später im Arbeitszimmer des Ma jors. Bei seinem Eintritt sprang ein Mann in Eisenbahneruni form von seinem Sessel auf und blickte verlegen auf den General. Auch Subawin erhob sich. „Darf ich bekannt machen, Genosse General: Meister Tschekanjuk.“ „Guten Tag.“ Gromada neigte leicht den Kopf. Sein ge bräuntes Gesicht war undurchdringlich.
Nach dem, was der General über den Meister wußte, klang dieses höfliche „Darf ich bekannt machen“ seltsam und be fremdete ihn. Aber er erriet schnell, daß sich das Urteil des Majors über Tschekanjuk geändert haben mußte. Subawin übergab dem General ein Protokoll. Darin stand, warum Tschekanjuk zu Subawin gekommen war. Er wollte, wie es einleitend hieß, seine Pflicht als Sowjetbürger erfüllen. In der vergangenen Nacht, genauer gesagt, spätabends, war er aus dem Kino gekommen. Auf dem Heimweg hatte er noch die Bierstube in der Ushgoroder Straße besucht, die früher Imre Warge gehörte. Dort bestellte er – wie er es schon eini ge Jahre lang jeden Abend tat – bei der ihm bekannten Kell nerin eine Flasche Bier, hundert Gramm Wodka und ein be legtes Brot. Kurze Zeit später kam ein Mann in einer grauen Jacke an seinen Tisch und bestellte ebenfalls ein Bier. „Auf Ihr Wohl, Pjotr Petrowitsch!“ rief der Fremde halblaut, be vor er trank. „Danke“, erwiderte Tschekanjuk: er war wegen seiner Gutmütigkeit weithin in der Stadt bekannt. Doch er interes sierte sich sogleich dafür, woher der Unbekannte seinen Namen wußte. „Erkennst du mich denn nicht? Ich bin doch dein Gevatter“, sagte der Mann leise. Tschekanjuk blickte lange in das schlaffe Gesicht mit den zottigen Augenbrauen. Und langsam entdeckte er darin be kannte, längst vergessene Züge. Das Muttermal auf der Wange, die großen Zähne, die Pockennarben auf der breiten Nasenspitze, das eigensinnige Kinn – Jaroslaw! Ja, das war Jaroslaw Grab, der während des Krieges die SS-Uniform getragen hatte! Als er sich erkannt fühlte, zog Grab die Au genbrauen zusammen: Sei still, frage nichts, schien sein Blick zu sagen, hier ist jetzt nicht Zeit und Ort dazu. Sie
tranken aus, nahmen noch einen Imbiß, bezahlten und traten auf die Straße hinaus. Hier gestand Grab leise, daß er nir gends übernachten könne und Meister Tschekanjuk ihm aus alter Freundschaft Obdach gewähren müsse. Sie gingen dann zur Straße des Ersten Mai, aber über Gemüsefelder und durch Gärten. Warum? Der Meister ahnte schon, welcher Wind seinen lang vergessenen Gevatter in das Transkarpa tengebiet geweht hatte. Als sie zu Hause waren, bestätigte Grab Tschekanjuks Vermutungen. Er sagte geradeheraus, daß er illegal über die Grenze gekommen sei, und verlangte vom Meister, ihn für ein paar Tage zu verstecken. Die Gast freundschaft bezahlte er großzügig: er legte ein dickes Bün del Hundertrubelscheine in Tschekanjuks Hand. Der Meister nahm das Geld und versteckte seinen Gevatter auf dem Heu boden. Das war alles. General Gromada las Tschekanjuks Aussagen ein zweites, ein drittes Mal durch. „Warum kam der ,Gevatter’ gerade zu Ihnen?“ fragte er und warf einen schnellen Blick auf den Meister. „Darüber, Genosse General, habe ich selbst schon die ganze Zeit nach gedacht. Warum?“ Er senkte den Kopf und blickte auf seine dunklen, sehnigen Hände. „Unter dem alten Regime… war ich… Man kann jetzt eben alles von mir denken.“ „Wir beurteilen einen Menschen nach seinen jetzigen Lei stungen.“ „Er ist der beste Meister im Depot von Jawor“, sagte Su bawin. Gromada reichte Tschekanjuk die Hand. „Ich danke Ihnen, Pjotr Petrowitsch, übrigens, ist der Mann bewaffnet?“ „Sieht nicht danach aus, aber wer kann das so genau wis sen…“ „Hat er Ihnen seine Pläne verraten?“
„Bis jetzt nicht.“ „Wir müssen dafür sorgen, daß wir weder Pjotr Petrowitsch noch seiner Familie durch Grabs Verhaftung Scherereien machen“, sagte Gromada zu Subawin. „Kein Bewohner der Straße des Ersten Mai darf wissen, daß Meister Tschekanjuk gezwungen war, einen Spion zu beherbergen.“ „Denkt Grab, daß Sie jetzt arbeiten?“ fragte Subawin Tschekanjuk. „Ja. Heute morgen sagte ich ihm, daß ich ins Depot gehe.“ „Sagen Sie, Pjotr Petrowitsch, als Sie mit Grab zusammen tranken, hat ihm da der Hausbranntwein nicht die Zunge gelöst?“ „Was für Hausbranntwein?“ fragte Tschekanjuk verwun dert. „Na ja, in der Bierstube gab es keinen, aber vielleicht hatte Ihr Gast welchen mitgebracht?“ fragte Subawin lä chelnd und durchblätterte das Protokoll mit den Aussagen des Fahrers Skiban. „Nein, zu Hause haben wir nichts mehr getrunken.“ „Wie sind Sie mit Grab in das Haus gegangen?“ „Wir sind nicht gleich ins Haus gegangen, sondern zuerst in die Scheune.“ „Sind Sie von der Hinterfront herangekommen?“ „Nein, von der Straße. Wir gingen durch die Pforte.“ „Hat Sie jemand gesehen, als Sie hineingingen? Zum Bei spiel einer Ihrer Nachbarn?“ „Nein.“ Subawin wechselte mit Gromada einen Blick, klappte die Mappe mit den Protokollen zu und entließ Tschekanjuk. „Was sagen Sie dazu, Genosse Major?“ Der General runzel te die Stirn und stopfte sich seine Pfeife. „Bis dieser vierte illegale Grenzgänger nicht festgenommen und verhört ist, kann ich weder Tschekanjuks noch Skibans
Aussagen trauen.“ „Ja.“ Gromada begann kräftig zu rauchen und schloß die Augen. „Wenn der Fahrer Skiban die Wahrheit gesagt hat“, meinte er nachdenklich, „warum ist dann Tschekanjuk zu Ihnen gekommen? Oder“, der General erhob sich und be gann im Arbeitszimmer hin und her zu laufen, „oder Tsche kanjuk ist aufrichtig. Aber warum mußte Skiban ihn dann verleumden?“ „Möglich, daß er daran interessiert ist, uns auf eine falsche Fährte zu lenken“, antwortete Subawin. „Dieser Skiban ge fällt mir nicht. Vielleicht täusche ich mich, aber mir scheint, daß er nicht ohne Grund zu uns gekommen ist. Er scheint irgendwie in die Sache verwickelt zu sein.“ „Worauf gründet sich Ihr Verdacht?“ „Bis jetzt habe ich noch keine klaren Beweise, Genosse General. Ich muß erst alle Tatsachen zusammentragen.“ Am Abend desselben Tages fuhr Subawin in Begleitung mehrerer Grenzsoldaten zum Ausgang der Straße des Ersten Mai, Hier ließen sie den Wagen stehen und gingen zum Haus Meister Tschekanjuks. Kaum hatten sie die Garten pforte hinter sich geschlossen, kam Pjotr Petrowitsch ihnen schon entgegen. Er hatte offenbar bereits auf die Gäste ge wartet. Subawin blickte über den Hof auf die Scheune. „Klopfen Sie dort. Sagen Sie, daß Sie das Abendbrot brin gen.“ Vorsichtig ging Tschekanjuk zur Scheune hinüber und blickte sich dabei zaghaft um. Subawin folgte ihm leise, die Hände müßig in die Taschen gesteckt. Neben ihm ging je mand mit schwarzem Hut und in einem unscheinbaren Re genmantel. Meister Tschekanjuk wurde plötzlich ängstlich und blieb stehen. Subawin stieß ihn freundschaftlich mit dem Ellbogen an und ermunterte ihn so, weiterzugehen. Aber der Meister hatte keine Kraft mehr, an das Scheunentor
zu klopfen. Subawin mußte es selber tun. „Grab, ich bin es… Es ist Zeit zum Abendbrot…“, flüsterte Tschekanjuk durch eine Ritze in der rauhen Bretterverschalung. Keine Antwort. Auch nicht das leiseste Rascheln war aus dem Innern der Scheune zu hören. Subawin klopfte noch einmal und, nachdem er etwas gewartet hatte, ein drittes Mal. In der Scheune blieb alles ruhig. Subawin wandte sich um und winkte mit der Hand. Mehrere Männer kamen heran, zwei von ihnen ergriffen schweigend den hölzernen Riegel am Scheunentor und zogen kräftig daran. Eine Taschenlam pe flammte auf. Ihr heller Lichtstrahl traf Jaroslaw Grab ge rade in dem Augenblick, als er die Ampulle mit dem Gift zwischen seinen Zähnen zerbiß… Wieder wurde ein illegaler Grenzgänger nur tot geborgen. Da lag er mit seinem schlaffen, groben Gesicht, dem Gesicht eines elenden Trinkers… Karel Grontschak konnte auch dieses Mal seinen Chef nicht identifizieren. Am Ufer der Theiß standen die Soldaten der fünften Grenzwache mit Hauptmann Schaposchnikow in Reih und Glied vor ihrem General. Es war ein freundlicher, klarer Tag, die Sonne schien warm, und ein leichter Wind trug die frische, herbe Bergluft heran; aber auf den Gesichtern der Grenzsoldaten lag keine Freude über den Frühling, sie waren vielmehr ernst und angespannt. „Genossen! Ich will einige Schlußfolgerungen aus Vorfäl len hier an der Grenze ziehen.“ Gromada suchte mit seinem Blick den Gefreiten Kablukow. „Also, an diesem Punkt hat Ihre Patrouille mit der Kontrolle des Streifens begonnen?“ „Jawohl, Genosse General.“ „Sie sind etwa so gegangen…“ Kusma Petrowitsch ging langsam den Patrouillenpfad entlang. Die Grenzsoldaten
folgten ihm. „Ein Jahr lang sind Sie diesen Streifen schon abgeschritten und haben noch kein einziges Mal die Spur eines illegalen Grenzgängers entdeckt, nicht wahr? Nicht eine. Und hier“, fuhr der General fort, „auf diesem bemoo sten Stein beschlossen Sie, Genosse Kablukow, sich auszu ruhen. Sie schalteten während dieser Zeit die Taschenlampe aus. Der Soldat Stepanow folgte Ihrem Beispiel. Wie lange haben Sie Pause gemacht? Das wissen Sie nicht mehr. Ja, wenn man sich unterhält, vergeht die Zeit wie im Fluge… Während Sie auf dem Stein saßen, wurde die Grenze über schritten. Als Sie weitergingen, hatten Sie keine Ahnung, daß illegale Grenzgänger durchgebrochen waren…“ „Genosse General, gestatten Sie, daß ich etwas sage!“ Smoljartschuk stand sichtlich aufgeregt vor Gromada und hielt mehrere Päckchen in der Hand. Der General nickte nur. „Genosse General, gestatten Sie, zu melden… Eben habe ich eine verdächtige Spur entdeckt! Natürlich, ich kann mich auch irren, aber mir scheint…“ „Wo? Von welcher Spur reden Sie?“ „Dort im Hinterland“, Smoljartschuk wies mit der Hand in Richtung der Weinberge. „Was ist denn das wieder für eine Spur?“ ,,Genau die… von dem illegalen Grenzgänger, der sich vergiftet hat… sechsundzwanzig Zentimeter!“ „Ach, von Grab?“ fragte Gromada enttäuscht. „Nun, was ist denn damit?“ Schweigend und ruhig breitete Smoljartschuk verschiedene Gipsabdrücke auf der Erde aus. Auf dem einen waren die Abdrücke zweier Handflächen, auf dem andern die zweier Füße zu erkennen. „Hier, Genosse General, sehen Sie… der illegale Grenz gänger stand auf allen vieren. Er hat sich sicherlich ausge
ruht.“ „Ja. Und weiter?“ „An einer anderen Stelle, nach hundertzweiundneunzig Me tern“, fuhr Smoljartschuk fort, „entdeckte ich die gleiche Spur, die dritte fand ich nach zweihundertundzehn Metern. Man muß sich fragen, was für eine Last die Schultern des Mannes drückte, daß er sich mehrmals ausruhen mußte!“ „Stimmt, Genosse Smoljartschuk.“ Gromada reichte dem Oberfeldwebel die Hand. „Sie haben da eine wichtige Ent deckung gemacht. Wir müssen sofort…“ „Genosse General, gestatten Sie, daß ich noch etwas hinzu füge, ich bin noch nicht fertig.“ Der Oberfeldwebel zeigte dem General einen anderen Gipsabguß. „Und was ist das?“ „Der Abdruck der Handflächen von dem – von dem fünften Mann, der auf Grabs Rücken gesessen hat. Den ganzen Weg über hat er sich wie ein Unsichtbarer fortbewegt, nur an ei ner Stelle wurde er sichtbar und hinterließ eine Spur.“ Clark übernachtete im Bahnhofshotel. Nach dem Frühstück ging er in die Stadt, um seine „Angelegenheiten zu regeln“. Tatsächlich, Clark hatte in Jawor eine Menge zu tun, aber für jede Sache Stunde, Tag und Ort genau festgesetzt. Mit The resia wollte er sich, erst in ein oder zwei Wochen treffen, wenn er sich im Sowjetland gut eingelebt hatte. Mit der Werbung von Agenten und ihrer Ausbildung zu Sabotageak tionen würde er bedeutend später, vielleicht Mitte des Som mers, beginnen, wenn er mit einigen wichtigen Leuten be kannt geworden war und Freundschaft geschlossen hatte. Jetzt durfte er nur an die Dinge denken, die keinen Aufschub duldeten. Den ersten, den Clark „aufs Korn nehmen“ wollte, war Major Piroshnitschenko, der Jaworer Kriegskommissar.
Mit seiner Hilfe beabsichtigte er in der Stadt Fuß zu fassen. Jawor interessierte Clark vor allem als Eisenbahnknoten punkt, weil er in der Spionageschule auf Gebirgseisenbahn linien spezialisiert worden war. Er mußte hier eine Gruppe von Agenten organisieren, die im Kriegsfall die wichtigsten Anlagen außer Betrieb setzten. Obwohl Clark die Möglichkeit hatte, sich in der Wohnung irgendeines alten Agenten des amerikanischen Spionage dienstes – wie es zum Beispiel Skiban einer war – zu ver stecken, zog er es vor, sich frei zu bewegen und von den Grenzpatrouillen und dem Bahnschutz kontrollieren zu las sen. Mit solchen Papieren, wie Clark sie hatte, in dieser Uni form und so gründlich ausgebildet, brauchte er sich nicht zu verstecken. Je sicherer er auftrat, desto weniger Verdacht erregte er. Und nachdem die verantwortlichen Stellen seine Papiere eingehend überprüft hatten, waren sie sicherlich überzeugt, daß Iwan Belograis Besuch in Jawor harmlos war. Die Be kanntschaft mit dem Kriegskommissar Piroshnitschenko war die erste Stufe jener großen Treppe, auf der Clark emporzu steigen gedachte. Major Piroshnitschenko ahnte natürlich nicht, was für eine Rolle er in Clarks Spiel übernehmen sollte. Er hatte sein Le ben lang nichts getan, was unehrenhaft gewesen wäre oder Feinden des Sowjetlandes hätte nutzen können. Kurz, Major Piroshnitschenko hatte, bis Clark seinen Weg kreuzte, ruhig und friedlich, ohne jegliche Gewissensbisse gelebt und we der seine Pflichten gegenüber der Heimat noch der Armee, weder gegenüber seiner Familie noch den Freunden vernach lässigt. Und so wollte er auch bis ans Ende seiner Tage wei terleben. Ich, Iwan Belograi, der ich von Stalingrad bis Berlin mar
schiert bin, ich, Iwan Belograi, Soldat vom Scheitel bis zur Sohle, war so ein Dummkopf und habe mich demobilisieren lassen, was ich jetzt schon bitter bereue. Mit einem Gesicht, auf dem sich diese Gedanken widerzuspiegeln schienen, klopfte Clark an die Tür zum Arbeitszimmer des Kriegs kommissars, drückte die bronzene Klinke herunter und öff nete sachte, aber zugleich auch selbstbewußt die Tür. Mit der ganzen Kraft seiner sonoren Stimme stieß er, ohne die Schwelle überschritten zu haben, hervor: „Gestatten Sie, Genosse Major?“ Der Kriegskommissar saß in seinem Sessel am Schreibtisch und frühstückte. Clark mit seiner geschulten Beobachtungs gabe sah vieles, was ein gewöhnliches Auge nicht sofort wahrnahm. Er hatte es gelernt, eine Situation sofort zu erfas sen. Der Major schnitt sich gerade ein Stück Hausmacher speck ab, legte es auf eine Scheibe Brot und wollte dazu ein Gläschen Schnaps trinken. Clark begriff, daß er im unrech ten Augenblick gekommen war. Er mußte sich sofort wieder zurückziehen. „Guten Appetit!“ Clark lächelte liebenswürdig, doch ohne Unterwürfigkeit. „Entschuldigen Sie, Genosse Major, ich wollte nicht stören!“ Und ohne eine Antwort abzuwarten, legte er die Hand an den Mützenschirm, machte kehrt und entfernte sich schnell. „Halt, warte mal!“ rief der Major hinter ihm her. Seine Stimme klang gar nicht ärgerlich. „Zu Befehl, Genosse Major!“ sagte Clark, kehrte in das Ar beitszimmer zurück und blieb in respektvollem Abstand vor dem Kriegskommissar stehen. Piroshnitschenko hatte einen massiven, völlig kahlen Schä del, eine knochige Stirn und eine breite, fleischige Nase. Hinter ihm an der Wand hing eine Karte vom Transkarpa
tengebiet. Clark erriet, daß die roten Fähnchen darauf den Weg markierten, den die Abteilung des Majors während der Befreiung dieses Gebietes zurückgelegt hatte. Einige Sekun den brauchte Clark, um sich darüber klarzuwerden, daß hier ein alter Haudegen vor ihm saß, der keinen leichten Weg vom einfachen Soldaten bis zum Major zurückgelegt hatte. Deshalb gefiel ihm wohl auch die Schüchternheit des „de mobilisierten Oberfeldwebels“. „Nun, warum hast du dich erschreckt?“ fragte er und lä chelte gutmütig. „Du siehst, ich frühstücke nur.“ Clark schaute wie befreit auf den Kriegskommissar. „Frontsoldat?“ fragte der kauend. „Jawohl. Stalingradkämpfer. Gardist Iwan Fjodorowitsch Belograi. Demobilisiert. Oberfeldwebel. In Berlin gedient.“ Clark legte das Soldbuch und den Passierschein für die Grenzzone auf den Schreibtisch. Der Kriegskommissar sah die Papiere aufmerksam durch. „Warum demobilisiert?“ Der ehemalige „Oberfeldwebel“ senkte den Kopf und sagte leise: „Die Dienstzeit war abgelaufen, Genosse Major, und dann noch… eine Herzensangelegenheit.“ „Verstehe. Verliebt? Hast wohl Appetit aufs Familienle ben?“ „Jawohl, Genosse Major.“ „Deine Braut wohnt hier in der Gegend?“ Der „demobili sierte Oberfeldwebel“ nickte erfreut. Dem Kriegskommissar schien das Ausfragen Spaß zu machen. „Du willst also im Transkarpatengebiet Wurzeln schlagen?“ „Jawohl, Genosse Major“, antwortete Clark wiederum nach Soldatenart, exakt, zurückhaltend und respektvoll. „Im Va terländischen Krieg habe ich für dieses Stück Erde mein Blut vergossen.“ „Du hast im Transkarpatengebiet gekämpft? Bei welcher
Truppe?“ „Im Gardekorps von General Gastilowitsch.“ „Ist das möglich?“ rief der Major erfreut aus. Clark nickte und blickte zur Karte mit den Fähnchen hinüber. „Diesen ganzen Weg habe ich auch zurückgelegt, vom Jablonizkipaß bis zum Talkessel von Marmorosch.“ Er nannte das Re giment, in dem Belograi gedient hatte. „Ist das ein Zufall! Dann sind wir ja Landsleute, Iwan Fjodorowitsch, Re gimentskameraden! Ich habe ein Bataillon kommandiert.“ Der Major schaute jetzt schon ganz freundlich auf den ehemaligen „Oberfeldwebel“. „Nun, für Landsleute tut man doch alles. Wir besorgen dir eine Wohnung in Jawor, mel den dich an und verschaffen dir Arbeit. Wo möchtest du am liebsten hin – ins Mühlenkombinat, in die Möbelfabrik, in die Verwaltung oder ins Eisenbahndepot?“ Clark-Belograi zuckte mit den Schultern und machte eine unschlüssige Handbewegung. „Wissen Sie, Genosse Major, mir ist alles gleich. Ich werde überall mein Bestes tun, um Ihr Vertrauen zu rechtfertigen.“ „Ich rate dir, das Depot zu nehmen. Du fängst als Heizer oder Schlosser an und kannst nach zwei Jahren Lokomotiv führer werden.“ „Gut, Genosse Major, dann gehe ich ins Eisenbahndepot“, sagte Clark dankbar. Was für ein Glück er doch hatte! Um den Regimentskameraden vollends von seinem Wohl wollen zu überzeugen, fragte der Kriegskommissar: „Paßt denn deine Braut überhaupt zu dir? Ist sie nicht vielleicht krumm oder pockennarbig? Wirst du dich mit ihr auch auf der Straße sehen lassen können?“ Auf diese Frage hatte Clark lange gewartet. Im stillen freu te er sich darüber, daß sie kam. Er zog die Brieftasche heraus und zeigte dem Major die Bilder Theresias, die aus Zeitun
gen und Zeitschriften ausgeschnitten und liebevoll auf Pappe geklebt worden waren. „Warte mal, mein Lieber…“, unterbrach ihn der Kriegs kommissar, „das ist doch unsere Theresia, Theresia Simak, Heldin der Sozialistischen Arbeit. Ein feines Mädel! Na, Bruder, du hast ja hochfliegende Pläne!“ Clark-Belograi seufzte. „In meinen Träumen, Genosse Major, hatte ich natürlich hochfliegende Pläne, aber jetzt… Ich weiß nicht recht… Vielleicht erlebe ich noch einen Reinfall.“ „Ihr habt noch nicht miteinander gesprochen?“ „Nein, Genosse Major. Sie weiß noch nicht einmal, daß ich…“ „Daß du sie heiraten willst?“ unterbrach ihn der Kriegs kommissar und lachte laut. „Bist mir ja ein schöner Bräuti gam! Weißt du was? Wir fahren sie besuchen. Jetzt, sofort.“ Clark überlegte blitzschnell. „Ach, danke, Genosse Major“, sagte er. „Sie wissen doch, wenn man verliebt ist, bleibt man gern unter vier Augen.“ „Nun, wie du willst.“ Major Piroshnitschenko rief sofort den Chef des Jaworer Eisenbahndepots, Ingenieur Masepa, an, der ein guter Freund von ihm war. Er bat, dem Lokomotivschlosser und Helden des Großen Vaterländischen Krieges Iwan Fjodoro witsch Belograi so schnell wie möglich eine Arbeit zu ver schaffen. In Clarks Gegenwart rief der Major noch einen anderen Freund an, den Chef der Jaworer Miliz, und erhielt die Zusicherung, daß „Genosse Belograi, Oberfeldwebel außer Dienst, Regimentskamerad und verdienter Gardesol dat, der sein Blut für die Befreiung des Transkarpatengebie tes vergossen hat“, seinen ständigen Wohnsitz in Jawor nehmen könne. Außerdem schrieb der Kriegskommissar
einen Brief an das Wohnungsamt mit der Bitte, „dem demo bilisierten, mehrmals ausgezeichneten Soldaten Iwan Fjodo rowitsch Belograi“ möglichst schnell eine Wohnung zuzu weisen. So hatte Clark im Laufe eines Tages in Jawor Fuß gefaßt. Am folgenden Mittwoch Punkt zwölf, zu der vorher mit Dsjuba vereinbarten Zeit, betrat Clark den Friseurladen an der Ecke Ushgoroder und Kiewer Straße. In dem kleinen Vorraum saßen an einem runden, mit alten Zeitschriften be deckten Tischchen die Kunden und warteten, bis sie an die Reihe kamen. Unter ihnen war auch Clarks nächster Gehilfe Dsjuba, Vor sitzender der Produktionsgenossenschaft für Stilmöbel. Er warf über seine Hornbrille hinweg einen gleichgültigen Blick auf den Eintretenden, gähnte und vertiefte sich erneut in eine Illustrierte. Wie geschickt Dsjuba sich aber verstellte, Clark konnte aus Gesicht und Blick doch dessen wahre Ver fassung herauslesen: er war beunruhigt. Was konnte passiert sein? Clark setzte sich auf den freien Stuhl neben Dsjuba, drehte sich eine Zigarette und bat um Feuer. Mit der Streich holzschachtel reichte ihm Dsjuba einen kleinen Zettel. Hin ter einer Zeitung versteckt, las Clark ihn durch, zerknüllte dann den Zettel und verschluckte ihn unbemerkt. Drin stand, daß die Sicherheitsorgane sich für den Lastwagen des Artels interessiert hatten. „Weiß der Fahrer davon?“ fragte Clark flüsternd, als sie al lein am Tisch saßen. „Bis jetzt weiß Skiban nichts.“ „Gut…“ Clarks Gesicht verfinsterte sich. Er trommelte mit den knochigen Fingern auf dem Tisch, stoßweise ging sein Atem, die bleich gewordenen Nasenflügel blähten sich weit. Auch Dsjuba schwieg und wartete geduldig auf das ent scheidende Wort seines Chefs. Er ahnte schon, was kam,
und war bereit, jeden Auftrag sofort auszuführen. Er fand sogar noch Zeit, einen genauen Plan zu entwerfen, wie Ski ban aus dem Wege zu schaffen sei. „Wird er dichthalten, wenn…?“ fragte der Chef. Dsjuba zuckte die Achseln, und sein Gesicht drückte Erstaunen aus: Wozu ein Risiko eingehen, wenn man alles viel sicherer und einfacher haben konnte? „Ich möchte nicht einmal für mich selbst bürgen…“, sagte er. „Kann er heute oder morgen über die Theiß abgeschoben werden?“ „Das geht jetzt nicht.“ „Schade, solch einen Jungen zu verlieren, aber… was hilft’s? Es muß sein.“ Clark sah seinen Komplicen forschend an. Dsjuba nickte kurz mit dem großen, kahlgeschorenen Kopf. „Der Nächste!“ rief es in diesem Augenblick von ne benan, und zwischen den Falten des Türvorhangs erschien der wohlgepflegte Kopf des Friseurs. Dsjuba sprang auf und verbeugte sich leicht zu Clark hin: „Bitte sehr, Genosse Gardist, ich lasse Ihnen den Vortritt.“ „Ich nehme gern an, denn ich habe es sehr eilig. Danke!“ Würdevoll erhob sich der „demobilisierte Oberfeldwebel“ und begab sich ins Nebenzimmer. April in den Bergen! Subawin genoß alle Schönheit dieses Frühlingstages, obwohl er nicht zu einer Spazierfahrt in die Karpaten unterwegs war, sondern sich auf der Suche nach dem Fahrer Stefan Skiban befand. Zahlreiche Wagen kamen die schmale Gebirgsstraße herun tergefahren. Hinter einer Kurve hörte man einen Lastwagen hupen. Subawins Fahrer bremste den Pobeda und fuhr an den Straßenrand. Der Major beobachtete schon die ganze Zeit über die entgegenkommenden Wagen, weil er hinter jedem Steuerrad Skibans Gesicht zu erblicken hoffte. An
dem Tag, an dem die Grenze von den illegalen Grenzgän gern überschritten wurde, war Skiban laut Fahrbefehl mit einer Leerfracht aus Lwow zurückgekehrt. Er hatte eine Mö belfuhre dorthin gebracht. Subawin hatte Skibans Strecke Kilometer für Kilometer studiert und genau festgestellt, wo er gewesen war und was er getan hatte. Es war erwiesen, daß ein leerer Dreitonner mit der Nummer 23 – 13 an der Mineralquelle Studenez gestanden hatte. Der Fahrer wusch die Karosserie. Zwei Stunden später wurde derselbe Wagen, diesmal mit Brettern beladen (der Lager verwalter des Sagewerks hatte sie ohne Frachtbrief heraus gegeben), gesehen, als er in das Dorf Kljutschari fuhr. Spät abends war Skiban ohne Bretter in seine Garage zurückge kehrt. Es war Subawin auch bekannt, daß Skiban sich vor seiner Rückkehr von Lwow nach Jawor im Grenzgebiet aufgehal ten hatte; denn er war es ja, dessen Dreitonner mehrere Stunden lang gegenüber dem Haus des Streckenwärters ge standen hatte, angeblich wegen einer Reifenreparatur, in Wirklichkeit aber, um auf die „Fahrgäste“ vom anderen Ufer zu warten. Der Autoinspektor, der Skibans Wagen unauffäl lig untersuchte, stellte nämlich fest, daß alle fünf Reifen un versehrt waren. Jetzt wurde Subawin auch klar, weshalb Skiban Meister Tschekanjuk verleumdet hatte. Der Fahrer sollte sofort ver haftet werden, aber daraus wurde nichts, weil er zu einem, entfernten Holzverarbeitungsbetrieb in den Karpaten ge schickt worden war. Subawin wartete einen, wartete zwei Tage – Skiban kehrte nicht zurück. Da fuhr der Major selbst in die Karpaten. Der Fahrer des Pobeda wandte sich zu Subawin um: „Da, hinter der kleinen Kirche ist das Büro des Holzverarbei
tungsbetriebs…“ „Fahren wir in die Garage“, sagte Subawin. Dort stand Ski bans Lastwagen nicht. Der „23 – 13“ war am Morgen weiter in die Berge gefahren. Der Vorsitzende der Produktionsge nossenschaft, der sich dort oben bei den Holzfällern aufhielt, hatte Skiban rufen lassen. Eine schmale, holprige Straße, die Subawin noch aus der Kriegszeit gut bekannt war,
führte in starken Windungen zu dem Revier der Holzfäller hinauf. Vorsichtig fuhr der Pobeda eine Schlucht entlang.
„Halt!“ Subawin riß plötzlich den Wagenschlag auf. Unten, in der Schlucht, lag ein Lastwagen, die Räder nach oben. Subawin konnte seine Nummer noch nicht erkennen, zwei felte aber keinen Augenblick daran, daß es der gesuchte Wa gen war. Er kannte die Ursachen dieses Unfalls noch nicht, aber er war davon überzeugt, daß er kein Zufall war, sondern von denjenigen herbeigeführt, für die Skibans Verhaftung eine tödliche Gefahr bedeutete. Ja, sie hatten auf ihren Mann gut aufgepaßt! Ein unvorhergesehenes Ereignis zwang Clark, seinen Ent schluß zu ändern und Theresia schon früher aufzusuchen, in der Zeitung hatte er eine kurze Notiz gelesen, daß die Heldin der Sozialistischen Arbeit Theresia Simak zusammen mit anderen Kolchosbauern aus dem Transkarpatengebiet in Kürze zu den Maifeiern nach Budapest fahren würde. Noch am gleichen Tag lieh sich Clark ein Fahrrad, kaufte auf dem Markt einen Armvoll Flieder, band die Blumen an der Lenk stange fest und fuhr aus der Stadt hinaus zur Theiß hinunter. Jawor ertrank in Flieder. Seine schweren, duftenden Dolden bogen die Zweige der Bäume im Stadtpark und auf den Straßen tief herab. Ein Feldweg führte zu den Gärten am Fluß. Clark fuhr den Uferdamm entlang und schaute neugierig zur ungarischen Seite hinüber. Dort, an einem Brunnen, stand eine Gruppe Frauen in bunten Kleidern. Es war der Brunnen, an dem Clark in jener nebligen Nacht vorbeigegangen war. Ein Traktor pflügte gerade den Hohlweg, in dem er damals gele gen und den entlang er sich zur Theiß hinuntergeschlichen hatte. „Bürger, halten Sie mal an!“ Zwei Grenzsoldaten traten auf Clark zu. Einer von ihnen war Oberfeldwebel Smoljartschuk. Clark bremste scharf, sprang vom Fahrrad und zeigte seine Ausweise.
„Wo wollen Sie denn hin?“ fragte Smoljartschuk und durchblätterte den Wehrpaß. „Dorthin, zur Kolchose .Morgenröte über der Theiß’, in die Gogolstraße Nummer zweiundneunzig, zu Theresia Simak. Haben Sie von diesem netten Mädchen schon gehört?“ Smoljartschuk antwortete nicht, sondern fuhr fort, ClarkBelograis Papiere zu prüfen. Sie waren vollkommen in Ord nung. Wie kam es nur, daß ihm dieser Mann nicht gefiel? Lag es an seinem Witzeln? Oder daran, daß er mit Theresias Bekanntschaft prahlte? Oder weil das Haus Nr. 92 unmittel bar an der Grenze stand? „Ist in meinen Papieren vielleicht etwas unklar?“ fragte Clark, leicht lächelnd. „Bitte, stellen Sie Fragen.“ Smoljart schuk gab wieder keine Antwort. Warum ist er so zapplig? dachte er und sah sich den Wehrpaß noch aufmerksamer an. „Habt ja wirklich eine reizende Beschäftigung, ihr Grün mützen!“ sagte Clark spöttisch. „Wenn ihr eurer eigenen Mutter begegnen würdet, ihr glaubtet nicht, daß es die Mut ter ist, solange sie euch nicht ihren Personalausweis gezeigt hat.“ Er holte einen Tabaksbeutel mit Machorka hervor und drehte sich eine dicke Zigarette. „Hier, dreht euch auch eine. Ihr möchtet nicht? Wie ihr wollt. Bitte, Jungens, haltet doch einen ungeduldigen Kerl nicht unnötig auf und verkürzt nicht sein Glück!“ Clarks Worte waren wohlberechnet. Sollten die Grenzsol daten nur merken, daß er einer von ihnen war und keine Angst vor Kontrollen hatte. „Was für ein Glück meinen Sie?“ fragte Smoljartschuk. Dabei hatte er Zeit, Clark noch einmal von Kopf bis Fuß zu mustern. „Das, was in den Liedern so schön besungen wird.“ „Ach so… Sie können weiterfahren“, sagte Smoljartschuk
und gab ihm seine Papiere zurück. Clark reichte ihm zum Abschied die Hand. Darauf fuhr er vom Uferdamm herunter auf den Weg, der ins Dorf führte, und war schon nach drei Minuten auf Theresias Hof. Mit der Zigarette im Mundwinkel, die Mütze in den Nak ken geschoben, jungenhaft fröhlich lief Clark die Treppe hinauf und klopfte an die Tür. „Darf ich eintreten?“ Am offenen Fenster erschien Theresia. Braune Flechten la gen um ihren Kopf. Sie hatte frische rote Wangen. In der einen Hand hielt sie ein blaues Seidenkleid, in der anderen ein Bügeleisen. Verwundert und ein wenig neugierig blickte das Mädchen auf den unerwarteten Besuch. „Guten Tag, Theresia!“ Clark nahm die Mütze ab und fuhr sich nachlässig durch seine lockigen Haare. „Guten Tag!“ Das Mädchen war verlegen. „Erkennst du mich denn nicht?“ Clark betrachtete Theresia mit aufrichtigem Wohlgefallen. Sie schüttelte den Kopf. „Sieh mich mal an, sieh mich einmal richtig an, vielleicht erkennst du mich doch!“ Theresia wandte kein Auge von ihrem Gast. Nein, diesem Mann war sie noch nie begegnet. Wenn sie ihn schon einmal irgendwo gesehen hätte, würde sie sich bestimmt wieder erinnert haben. Einen tapferen Krieger mit so vielen Orden und Medaillen vergißt man doch nicht so bald. Clark merkte genau, welchen Eindruck er auf das Mädchen machte. „Darf ich mich vorstellen?“ Er legte die Hand an den Müt zenschirm und meldete, als stände er vor seinem Komman deur: „Gardeoberfeldwebel außer Dienst Iwan Fjodoro witsch Belograi.“ Theresia stellte das Bügeleisen auf das Fensterbrett, warf das Kleid fort und schlug die Hände zusammen. „Iwan! Iwan Belograi! Du?“
Natürlich, das war er, ihr Berliner Freund. Daß sie nicht gleich daraufgekommen war! Clark nahm behutsam das hei ße Bügeleisen vom schwelenden Fensterbrett und stellte es auf die steinernen Treppenstufen. Darauf sagte er leise und bescheiden: „Ja, ich bin wirklich Iwan Belograi.“ Theresia eilte auf die Treppe hinaus und streckte ihm ihre sonnengebräunten Hände entgegen. Clark drückte sie kräftig. Dann schaute er um sich und atmete aus voller Brust. „Schön ist es hier bei euch…“ Die Sonne stieg über der ungarischen Tiefebene auf. Die langen kühlen Schatten der Berge reichten bis zum Fluß hin unter. Morgendliche Kühle wehte herüber. Saatkrähen schrien von den Wipfeln der Schwarzpappeln. In den Apfelgärten sangen die Vögel. „Wie kommst du hierher, Iwan?“ fragte Theresia. „Du warst doch in Berlin 1“ „Ich habe in Berlin ausgedient, und jetzt…“, er hob den Kopf und blickte vielsagend auf Theresia, „jetzt bin ich hier hergekommen, um dir zu dienen. – Ja, weshalb bittest du mich denn nicht ins Haus, Mädel?“ „Oh“, stotterte Theresia. „Bitte… bitte komm doch herein!“ Feierlich trat Clark über die Schwelle und überreichte There sia den Fliederstrauß. „Wie oft schon bin ich in Gedanken über diese Schwelle gegangen! Glück und Frieden euerm Hause!“ Clark blickte sich um. „Aber vielleicht ist hier gar kein Platz mehr für mein Glück, wie?“ „Wir stehen deinem Glück nicht im Wege“, antwortete Theresia lachend. „Du hast dich also demobilisieren lassen?“ „Erraten. Ein Soldat mit verwundetem Herzen ist kein Sol dat mehr.“ Diese Anspielung war ziemlich eindeutig, aber Theresia lä
chelte unbekümmert. „Hast du heute schon etwas gegessen, Iwan? Möchtest du frische Milch trinken?“ Hehe, mein Täubchen, dachte Clark, du gehörst mir ja nicht zu den Schlaubergern. Mit dir brauche ich keine Umstände zu machen. „Milch?“ antwortete er. „Aus deinen Händen? Gern!“ The resia lief hinaus. Clark lächelte zynisch und trat zu dem ge öffneten, schon für die Reise nach Ungarn gepackten Koffer. Er konnte sich nicht enthalten, seine Hand hineinzustecken, obwohl er wußte, daß er nichts für ihn Wertvolles darin fin den würde. Theresia kam mit einem dunklen, von der warmen Luft be schlagenen Milchkrug zurück. Sie lief barfuß und hatte einen so leichten Gang, daß Clark ganz überrascht war, als sie die Tür öffnete. Aber er geriet nicht in Verlegenheit. „Mich interessiert das Gepäck der Auslandsreisenden“, sag te er und blinzelte dem Mädchen freundschaftlich zu. „Mit deinen schönen Kleidern wirst du alle Ungarn betören… Das heißt, du fährst doch nach Ungarn? Ich habe es in der Zei tung gelesen und beneide dich ja so! Ungarn! Dort kenne ich jedes Fleckchen Erde!“ Clark trank mit Behagen die frische Milch. „So“, sagte er nach einer Weile, „jetzt habe ich dich also gesehen…“ Er verstummte und kniff die Augen zu sammen. „Dann kann ich ja wieder abfahren.“ Clark waren nicht nur Belograis Papiere, sondern auch The resias Briefe übersandt worden. Er hatte sie genau studiert und war zu der Überzeugung gelangt, daß er das Vertrauen und die Liebe dieses Mädchens sehr schnell gewinnen kön ne. Theresia und der ermordete Belograi hatten sich auf brieflichem Wege schon recht gut kennengelernt. Er mußte
es nur verstehen, die dort angeknüpften Beziehungen zu fe stigen. Theresia mit ihren zweiundzwanzig Jahren glaubte die Menschen schon gut zu kennen. Es war auch nicht leicht, sich ihr zu nähern, aber sprach erst einmal ihr Gefühl, dann vertraute sie restlos. Die ersten Briefe Belograis hatte sie mit spärlichen Postkarten beantwortet. Mit der Zeit ließ ihre Zu rückhaltung ein wenig nach. Und dann begann Iwan aus sei nem Leben zu erzählen. Theresia wußte alles von ihm. Er schrieb offenherzig und einfach, und sie antwortete ihm wie eine Schwester oder ein Freund. Iwan gefiel ihr sehr. Und der Mann, der sie heute besuchte, gefiel ihr ebenso gut wie der Iwan Belograi, den sie aus den Briefen schon kannte. „Weshalb willst du so schnell wieder fort?“ fragte Theresia beunruhigt. „Bleib doch bei uns, bis die Weichselkirschen und die Beeren reif sind.“ „Ich würde ja nicht nur bis zur Kirschen- oder Weinernte hierbleiben, sondern so lange, bis aus einer Eichel eine Eiche herausgewachsen ist. Das hängt nur von dir ab, Theresia, ob ich nach zwei Tagen wieder abfahre oder für immer hier bleibe.“ Er schwieg, senkte den Kopf und ordnete sorgfältig seine Feldbluse unter dem neuen, knarrenden Koppel. Ob das Mädchen nun ja oder nein sagte, war ihm im Grunde gleichgültig. Ging sie auf seine Werbung ein, war es gut; tat sie es nicht, war es auch kein Unglück. Auf jeden Fall würde sich in der ganzen Umgebung das Gerücht verbreiten, daß Iwan Belograi, Held des Vaterländischen Krieges, nur we gen Theresia ins Transkarpatengebiet gefahren war und sich nur um ihretwillen in Jawor niedergelassen hatte. Das, und nur das wollte Clark mit seiner Werbung erreichen. Er nahm Theresias Hand, und seine Stimme wurde zärtlich und schmeichelnd. „Verstehst du denn nicht, warum ich von Ber lin hierher geeilt bin? Verstehst du es wirklich nicht?“
forschte Clark und blickte das Mädchen flehend an. Sie schwieg, zupfte am Gürtel ihres Kleides und wurde abwech selnd blaß und rot. „Sag mir doch, ob ich hierbleiben oder wieder abfahren soll.“ Clarks Lippen zitterten, seine Stimme schien zu versa gen. „Was fragst du nur, Iwan? Wenn es dir hier gefällt, dann bleib doch!“ sagte Theresia und lachte. „Es gefällt mir“, antwortete Clark. „Es gefällt mir sogar sehr.“ „Nun, dann bleibst du eben hier. Komm, ich will dich mit meiner Mutter bekannt machen.“ Nein, dachte Clark, vorläu fig ist das noch nicht nötig. Besser, ich warte eine passende Gelegenheit ab, bis ich ganz sicher bin, einen guten Ein druck auf ihre Mutter zu machen. „Ich werde deine Mutter schon noch kennenlernen, Theresia. Heute bin ich in Eile. Ich will mich im Eisenbahndepot als Schlosser anstellen las sen. Und die vielen Formalitäten vorher! Jetzt…“, er schaute Theresia zärtlich an, „jetzt habe ich erst wirklich das Recht, hier in den Transkarpaten zu leben und zu arbeiten.“ Er drückte die Hand des Mädchens: „Also, bis morgen, There sia!“ Die Ländereien der Kolchose „Morgenröte über der Theiß“ zogen sich längs der ungarisch-sowjetischen Grenze hin. Die weißgetünchten Häuser der Siedlung lagen dicht hinter dem Steilufer des Flusses. Theresia eilte zu ihrer Mutter, um mit ihr die unerwartete Freude zu teilen. Auf ihrem geröteten Gesicht lag ein strah lendes Lächeln. Noch nie war Theresia die Transkarpaten welt so herrlich vorgekommen wie heute. In die Täler, an die abschüssigen Ufer der Theiß, auf die Wiesen, zu den Bäu men an den Straßenrändern, auf die Felder – überall war der
Frühling mit seiner Blütenpracht hingekommen. Das Feld, auf dem die Brigade Maria Wassiljewnas arbeitete, lag un mittelbar an der Theiß. Ein Raupenschlepper ratterte lustig auf der Uferhöhe und zog eine lange Reihe eiserner Eggen hinter sich her. Theresia erkannte schon von weitem die Gestalt der Mutter. Die stattliche Frau in dem langen schwarzen Rock und der hellen, gemusterten Bluse stand mit anderen Kolchosbäue rinnen auf der Uferböschung, hatte die Augen mit der Hand abgeschirmt und blickte auf die Theiß. Theresia schlich sich von hinten an die Mutter heran, umfaßte sie und bedeutete den anderen Frauen mit lachenden Augen, zu schweigen. Die Mutter sah die kräftigen, schönen Mädchenhände auf ihren Schultern. „Theresia!“ sagte sie und lächelte. „Wie hast du mich nur erkannt, Mama? Du hast wohl in die Theiß wie in einen Spiegel geschaut, wie?“ „Wie ich dich erkannt habe?… Ja, wenn du erst einmal ei nen Iwan oder einen Pjotr, eine Stefani oder eine Hanka zur Welt gebracht hast, wirst du deine Kinder auch mit ge schlossenen Augen erkennen können,“ Die Kolchosbäuerinnen lachten. Die Mutter betrachtete aufmerksam das gerötete Gesicht und die glänzenden Augen ihrer Tochter. „Nun, warum freust du dich denn heute so?“ fragte sie. Theresia schwieg. Sollte sie es sagen, daß Iwan Belograi gekommen war? Nein, auf keinen Fall. Sie wollte es ihr spä ter, heute abend, sagen, wenn sie zu Hause waren. Aus dem Schlehengebüsch am Straßenrand traten zwei Grenzsoldaten. Der eine war Oberfeldwebel Smoljartschuk, der andere der Soldat Stepanow. Sie kamen heran und begrüßten die Frau en. Der Oberfeldwebel war im Dorf gut bekannt. Die Kol chosbäuerinnen hatten sich schon lange daran gewöhnt, daß
Andrej Smoljartschuk sich für alle Kolchosangelegenheiten interessierte. Theresia zog ihre Jacke aus und lief in ihrer leichten wei ßen Bluse hinter dem Traktor her. Behende sprang sie auf den Führerstand. Der krausköpfige Traktorist überließ ihr bereitwillig für ein Weilchen das Steuer. Sicher führte sie die Maschine. Nachdem sie bis zur unteren Grenze des Feldes gefahren war, nahm der Fahrer wieder seinen Platz ein. The resia sprang vom Traktor herunter und lief in einer Furche zu Smoljartschuk und der Mutter zurück. Hochrot vom Hals bis zu den Haarwurzeln und erhitzt kam sie dort an. „Da, sieh mal an, du kleiner Irrwisch, wie du außer Atem gekommen bist“, sagte die Mutter lachend. „Setz dich hin und erhol dich erst einmal.“ „Nein, wir müssen jetzt gehen“, sagte Smoljartschuk und blickte Theresia an. „Wohin denn?“ fragte das Mädchen verwundert. „Wir ha ben ja gar nicht denselben Weg!“ Der Oberfeldwebel schüttelte den Kopf und sagte leise: „Doch, Theresia, heute haben wir denselben Weg. Der Grenzkommandeur will dich sprechen.“ „Geh nur, wenn man dich bittet“, sagte die Mutter. „Die Grenzsoldaten werden schon wissen, was sie machen.“ „Weißt du nicht, warum euer Vorgesetzter mich sprechen will?“ Theresia sah Smoljartschuk unbekümmert an. „Ja. – Sag mal, hat dich heute jemand besucht?“ „Allerdings. Aber nicht irgend jemand, sondern ein ganz Bestimmter.“ „Wer war’s denn?“ Theresia blieb stehen. „Iwan Belograi!“ antwortete sie und fragte verwundert: „Warum?“ „Nur so… Er interessiert uns…“
„Zerbrecht euch seinetwegen nicht den Kopf. Er ist Gar dist! Aus Berlin! Die ganze Brust voller Orden und Medail len.“ Smoljartschuk blickte vor sich hin. „Kennst du ihn schon lange, Theresia?“ „Ziemlich lange, über ein Jahr.“ „Wo hast du ihn das erstemal gesehen?“ „Wir haben uns bis heute noch nie gesehen.“ „Noch nie?“ fragte Smoljartschuk verwundert. „Wie habt ihr euch denn kennengelernt?“ „Aus Briefen.“ „Habt ihr euch oft geschrieben?“ Theresia lachte: Sie glaubte endlich begriffen zu haben, warum der Oberfeldwebel sich für Iwan Belograi interessier te. „Wer viel fragt, wird früh alt, mein Lieber“, sagte sie, um dem Gespräch eine scherzhafte Wendung zu geben. Smol jartschuk nahm Theresia bei der Hand. „Weißt du auch be stimmt“, fragte er ernst, „daß dein Gast Iwan Belograi heißt?“ „Wie denn sonst? Iwan. Iwan Fjodorowitsch Belograi.“ „Das sagt er so…“ Theresia antwortete nicht gleich auf Smoljartschuks Einwand und sah den Oberfeldwebel beun ruhigt an. Aber auf einmal mußte sie wieder an den unbe kannten Ermordeten denken und an ihr Gespräch mit Major Subawin. Hunderte von Menschen waren Smoljartschuk über den Weg gelaufen, seit er erfahren hatte, daß ein fünfter Agent über die Grenze gekommen war und frei herumging. Jeden Unbekannten hatte er mit durchdringendem Blick ge mustert, aber es war eigentlich nur Iwan Belograi gewesen, der seinen Verdacht erregt hatte, obwohl Smoljartschuk bei der Überprüfung der Papiere nichts Verdächtiges gefunden hatte. Auch die Stiefel, die Belograi trug, hatten keine Ähn lichkeit mit den Abdrücken in der Scheune: es waren keine
neuen, sondern schon ziemlich abgetragene Schaftstiefel aus grünem Stoff. Da Smoljartschuk aber wußte, wie geschickt sich die Feinde tarnen konnten, hatte er sich den Unbekann ten genau angesehen und endlich das entdeckt, was er such te. Wie fröhlich Theresias Gast auch gelächelt hatte – sein verkrampfter Gesichtsausdruck blieb dem scharfen Auge des Grenzsoldaten doch nicht verborgen. Was ist los, hatte Smoljartschuk gedacht, warum ist er so zapplig? Er entdeck te auch in der Stimme des Gardisten eine gewisse Anspan nung und Befangenheit. Aus den Augen Belograis – obwohl er sich bemühte, ruhig und heiter auszusehen – sprach doch Unruhe. Und die Hände, die die Lenkstange des Fahrrads umklammerten und die Brieftasche mit den Papieren auf schlugen – die hatten kaum merklich gezittert. Vor allem sah sich Smoljartschuk in seinem Verdacht dadurch bestärkt, daß er damals beim Durchsuchen der Gegend am Nachtberg, wo der Unbekannte ermordet worden war, mit Witjas’ Hilfe ein halb in den Schnee getretenes Foto von Theresia gefun den hatte, aus einer Zeitung ausgeschnitten. Es war auf Glanzpappe aufgeklebt. Genau dieselbe Pappe mit Theresias Bild hatte Smoljartschuk nun auch in den Händen des demo bilisierten Oberfeldwebels Iwan Belograi gesehen. Wie war dieses merkwürdige Zusammentreffen zu erklären? Smol jartschuk kam zu dem Schluß, daß die Fotografie, die er in den Bergen nicht weit vom Tatort gefunden, und die, welche er in den Händen Iwan Belograis gesehen hatte, ein und demselben Menschen gehören mußten. Aber wem nun? Dem demobilisierten Oberfeldwebel oder jenem anderen, dem Unbekannten? Theresia hatte angegeben, daß sie Iwan Belo grai nur aus dem Briefwechsel kannte. Das half Smoljart schuk, diese schwierige Frage zu lösen. Es war klar, daß alle Fotos des Mädchens Belograi gehörten. Ja, das konnte nicht
anders sein. Aber wie kam dann Theresias Bild in die Karpa ten, zu dem Ermordeten, wenn Iwan Belograi damals nicht einmal in der Nähe war? Oder war er vielleicht doch dort? Wenn ja, dann war er also in jene dunkle Sache verwickelt. Aber – ist er denn auch wirklich Iwan Belograi? An einem gewöhnlichen Arbeitstag fuhr Major Subawin in Begleitung Karel Grontschaks zum Jaworer Depot und such te den Leiter in seinem Arbeitszimmer auf. Vom Fenster aus waren alle Gruben, auf denen die Lokomotiven repariert wurden, gut zu sehen. Auf der ersten Grube arbeitete der Schlosser Belograi. In seiner blauen Arbeitsbluse, fröhlich und unbekümmert pfeifend, saß der blonde „demobilisierte Oberfeldwebel“ auf dem Dach des Führerstandes einer Lo komotive und montierte ein glänzendes Kupfersignal. Nach langem, mühevollem Suchen war Subawin auf diesen blonden, so harmlos wirkenden Burschen gestoßen. Mit dem Tod des Fahrers Skiban, dessen Leiche in der Nähe des zer schellten Lastwagens gefunden wurde, hatte der Major den Faden zum Hauptagenten verloren. Die Suche mußte ganz von vorn begonnen werden. Subawin hatte darauf die Perso nalien jedes Mannes, der seit dem Tag der Grenzverletzung nach Jawor gekommen war, feststellen lassen. Es kamen recht viele Leute zusammen. Unter ihnen interessierten ihn in erster Linie sieben Männer: alle, die im Depot und bei der Eisenbahn untergekommen waren. Es waren zwei Lokomo tivschlosser, ein Heizer, ein Weichensteller, ein Rangiermei ster, ein Telegrafist und ein Kellner des Bahnhofsrestaurants. Einer dieser Männer konnte sich womöglich als Karel Grontschaks Chef entpuppen. Natürlich konnte er, Subawin, sich irren. Er war auf alles gefaßt Ein Eisenbahnsaboteur mußte nicht unbedingt bei der Eisenbahn unterzukommen suchen. Er konnte ebensogut als Friseur, Buchhalter oder
Verkäufer irgendwo in der Stadt arbeiten. Der Feind war erfahren und vorsichtig genug. Unter den sieben Männern, auf die Subawin seine Aufmerksamkeit konzentriert hatte, fiel der Lokomotivschlosser und ehemalige Oberfeldwebel Iwan Fjodorowitsch Belograi zunächst durch nichts auf. Sei ne Papiere waren in Ordnung. Auch die Motive, aus denen heraus er nach Jawor gekommen war, schienen überzeugend zu sein. Belograi arbeitete nicht schlechter als jeder andere Schlosser, fleißig und geschickt. Aber ein Detail zog Subawins Aufmerksamkeit auf sich. Während er aufklärte, wie Belograi ins Depot gekommen war, erfuhr er, daß der Kriegskommissar Piroshnitschenko Belograi als seinen Frontkameraden empfohlen hatte. Suba win ging zum Kriegskommissar, um sich den guten Ein druck, den er von Belograi gewonnen hatte, bestätigen zu lassen und sich mit dem Mann nicht weiter befassen zu müs sen. Aber zu Subawins Erstaunen konnte Major Piroshnit schenko nichts bestätigen, im Gegenteil, er weckte Zweifel in ihm. Es stellte sich heraus, daß sie gar keine Frontsoldaten waren und sich sogar bis vor jenem Tag in Jawor niemals begegneten. Warum hatte der Kriegskommissar aber dann Belograi empfohlen? Piroshnitschenko geriet nicht in Verle genheit: Warum sollte er den Mann nicht empfehlen, wenn er ihm gefallen hatte? Er war doch ein verdienter Frontsol dat, der sich in den Kämpfen für die Befreiung des Transkarpatengebietes ausgezeichnet hatte. Subawin setzte geduldig die Beobachtung des Depots und des Bahnhofsgeländes fort. Dem Schlosser Belograi schenk te er besondere Aufmerksamkeit. Er wußte, daß der Feind früher oder später versuchen würde, sich mit seinen Kompli cen in Verbindung zu setzen, und auf diesen Versuch wartete er. Nun kamen aber noch die vernünftigen Mutmaßungen
Smoljartschuks hinzu, die Berliner Briefe von Iwan Belograi an Theresia! Und Smoljartschuk sollte recht behalten. Als Subawin die Briefe, die Theresia aus Berlin erhalten hatte, und die handschriftliche Bewerbung des demobilisierten Oberfeldwebels Iwan Belograi an den Depotleiter verglich, stellte er mit Leichtigkeit fest, daß die Handschriften sich wesentlich voneinander unterschieden. Seinen Befund ließ er sich durch ein fachmännisches Urteil und durch die Aussage Theresia Simaks bestätigen. Als Subawin das Mädchen zur zweiten Unterredung zu sich bestellt hatte, zeigte er ihr die Bewerbung des falschen Belo grai und fragte: „Eine bekannte Handschrift, was? Die von Belograi?“ Sie schüttelte den Kopf und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Die Angaben, die von den Grenzsoldaten der fünften Grenzwache einliefen, überführten den fünften illegalen Grenzgänger, den Chef Karel Grontschaks, endgültig. Die Abdrücke der Spuren, die in der Scheune hinterlassen wor den waren, wurden ebenfalls der Akte beigelegt. Gerade zu dieser Zeit klärte sich plötzlich auch das tragische Schicksal des Mannes auf, der in den Karpaten, am Fuße des Nacht berges, getötet worden war… Eines Tages läutete in Suba wins Arbeitszimmer das Telefon. General Gromada teilte mit, daß eine halbe Stunde vorher die allgemein bekannte Vera Gawrilowna Melnikowa, Mutter der beiden Helden der Sowjetunion Viktor und Andrej, die in den Kämpfen mit den Hitlertruppen für die Befreiung der Tschechoslowakei gefal len waren, mit dem Prager Zug in Jawor angekommen war. An der Kontroll- und Passierstelle hatte sie die Grenzsolda ten gebeten, ihr behilflich zu sein, zur Kolchose „Morgenrö te über der Theiß“ zu gelangen. Sie wollte einen gewissen
Iwan Belograi, den sie einen Monat vorher, im März, im Zuge kennengelernt hatte, besuchen. Major Subawin fuhr sofort zum Bahnhof. Nachdem er mit Vera Gawrilowna ge sprochen und das vorhandene Aktenmaterial mit ihrer Erzäh lung ergänzt hatte, stellte er ohne Mühe fest, wie, wann, von wem und mit welcher Absicht Iwan Belograi getötet worden war und wer sich seinen Namen angeeignet hatte… Subawin führte den Fallschirmspringer zum Fenster, teilte ein wenig den Vorhang und fragte: „Der da?“ Ja, das war er, sein Reisegefährte aus dem Flugzeug. Karel Grontschak er kannte ihn sofort; aber er hatte es mit einer Antwort nicht eilig. Quälend stark war in ihm das Verlangen, „nein“ zu sagen… aber das Lächeln auf dem Gesicht des Majors drückte deutlich aus, daß es jetzt keine Rolle mehr spielte, ob er „ja“ oder „nein“ sagte. Der Fallschirmspringer ließ schweigend den Kopf sinken. Clark kam nachts heim. Er überquerte einen leeren Platz und näherte sich vorsichtig der Hinterfront der Stepnajastraße, gerade gegenüber dem Haus der alten Maria, in dem er wohnte. In den jungen Blät tern der Apfelbäume rauschte der Regen. Matt glänzten die Pfützen auf dem festgetretenen Gartenweg. Mißtrauisch mu sterte Clarks geschärftes, an die Dunkelheit gewöhntes Auge den Holzstoß, den Schuppen, alle finsteren Winkel des Ho fes – lauerte nicht irgendwo jemand im Hinterhalt? Da er nichts Verdächtiges bemerkte, ging er beruhigt auf das Haus zu. So geräuschlos wie möglich steckte er den Schlüssel ins Schloß, drehte ihn zweimal herum, drückte mit dem Knie gegen die regennasse Tür und machte sie behutsam auf. Aber er zögerte noch, die Schwelle zu übertreten. Etwas Un gewisses hielt ihn zurück. Aus dem alten Holzhaus, das schon längst seine Zeit überdauert hatte, schlug Clark ein
durchdringender Moderhauch entgegen, gepaart mit einem ganz unerwarteten Geruch – Tabakrauch. Clark zog stärker die Luft durch die Nase. Ja, wirklich – Zigarettenrauch, er hatte sich nicht geirrt. Woher aber kam der, wo doch die alte Maria gar nicht rauchte? Und außer ihr hatte doch niemand etwas im Hause zu suchen! Den Kopf eingezogen, in der rechten Hand die Pistole, in der linken eine kleine ausgeschaltete Taschenlampe, stand Clark auf der Vortreppe und überlegte fieberhaft. Da war der Flur, mit allem möglichen Gerumpel vollgestellt. Dort die schmale Tür, die in die Vorratskammer führte. Ja, sicher hielt sich dahinter der verborgen, der ihn als erster packen sollte. Weiter, hinter dem Ofen, stand vielleicht noch einer. In der Küche der dritte. Und eben die da hatten das Haus so vollgequalmt, daß man kaum atmen konnte. Ohne sich von der Stelle zu rühren, sah Clark sich über die Schulter um – war nicht auch der Rückweg schon abge schnitten? Auf der Vortreppe und in ihrer Nähe war nie mand. Still war es auch in allen Winkeln des Hofes und des Gartens. Aus dem dunklen, verrauchten Innern des Hauses drang kein Laut. Clark holte tief Atem, wischte sich den kal ten Schweiß von der Stirn und trat entschlossen, mit heftig schlagendem Herzen, über die Schwelle. Im selben Augen blick, wo er die Taschenlampe anknipste, um sich noch ein mal zu vergewissern, stürzte jemand mit Gewandtheit und Ungestüm von der Eingangstür her auf Clark und versuchte, ihn zu packen und umzuwerfen. Aber Clark, der alle Raffi nessen des Nahkampfs meisterhaft beherrschte, schleuderte den Angreifer mit der Verzweiflung eines Tieres, das das Fangeisen spürt, voller Wucht über sich weg auf die Steinstufen der Treppe und stürzte fort in den Garten. Zwischen den Bäumen lavierend, flüchtete er in die Winogradnajastra
ße. Ihm wurden einige Salven aus Maschinenpistolen nach gejagt, aber nicht eine Kugel traf. In der menschenleeren, stillen Dneprowskajastraße sah Clark vor einer Bäckerei einen kleinen Lieferwagen stehen. Der Motor surrte leise. Auf dem Fahrersitz war niemand. Clark öffnete die Wagentür, setzte sich ans Steuer, schaltete den ersten Gang ein und fuhr vorsichtig den Wagen an. Als er um die Ecke bog, schaute er sich um und sah den Fahrer aus der Bäckerei stürzen. Schreiend, mit den Händen fuch telnd, setzte er seinem Wagen nach. Aber wie wollte er ihn einholen, diesen schnellen, gefügigen Wagen! Bis zu hun dert Kilometer konnte man aus ihm herausholen. Und Clark holte sie heraus. Er jagte durch die Kiewer Straße, bog in die Ushgoroder ein, dann in die Rote Straße und den Taras Schewtschenko-Boulevard. Um die Spur zu verwischen, schaltete er die Scheinwerfer aus, auf die Gefahr hin, gegen einen Steinpfosten oder in einen Zaun zu rasen, und brauste donnernd durch die dunklen, engen Gassen des Bergviertels auf die Bahnlinie zu. Geradenwegs, über Schienen und Schwellen, überquerte er den Bahndamm und fuhr ins Zi geunerviertel hinunter, das mit seinen schilf- und strohge deckten Lehmhäuschen zu beiden Seiten der Chaussee lag. Hier ließ Clark bereits die Tarnung fallen, schaltete das gro ße Licht ein, gab Vollgas und jagte in die Berge… Bis Tagesanbruch war noch viel Zeit – über zwei Stunden. Auch Benzin war mehr als genug im Tank des Wagens. So konnte er also immer weiter rasen, nach Nordosten, zu den Karpatenpässen, auf die großen Fernstraßen zu. Aber Clark machte beim vierzigsten Kilometer, im Vorgelände des grö ßeren Ortes Dubrowka, halt. Hier konnten sie ihn schon er warten, mit Feuer empfangen. Ohne den Motor abzuschalten, ließ Clark die Handbremse
los und sprang aus dem Auto. Der Lieferwagen rollte leicht bergab und nahm schnell an Geschwindigkeit zu. Da er füh rerlos geradeaus fuhr, kam er mit jeder Radumdrehung mehr nach rechts von der ausgefahrenen Spur ab und dem Stra ßenrand, dem Abgrund, näher. An einer scharfen Wegbie gung knickte der Wagen mit der vorderen Stoßstange die Abgrenzungspfähle und ein paar Bäumchen um und stürzte hinab, in eine vom Morgendunst graue Schlucht… Gegen Morgen kam Clark auf seiner Flucht in eine Bergge gend, wo die Fahrstraßen aufhörten und schwer begehbare Hirtenpfade einsetzten. Sie führten hinauf zu den weiten Hochgebirgswiesen, auf die luftige Höhe der Hauptkämme der Karpaten. Auf einem dieser Pfade würde Clark schnell, auf kürzestem Wege, an die Grenze gelangen können. Es war nicht leicht, den steilen, vom Regen ausgewaschenen Pfad in gewöhnlichen Stiefeln hinaufzuklettern. Obwohl Clark noch über gewaltige Kraftreserven verfügte und ob wohl er wußte, daß die Verfolgung unausbleiblich war, ver ringerte er gegen Mittag jäh das Tempo. Dann gönnte er sich ohne großen inneren Widerstand eine Rast. Eine halbe Stun de ruhte er aus. Er saß unter einer großen dunklen Tanne, deren lange, zottige Zweige fast bis zur Erde reichten, und rechnete sich aus, wieviel Zeit er noch brauchen würde, um den Gipfel des Berges Pop Iwan, die rumänisch-sowjetische Grenze, zu erreichen. Wenn er so weiterging wie heute, wenn er überhaupt nicht schlief und hin und wieder nur kur ze Ruhepausen einlegte, wenn er seinen Hunger würde ver gessen können, dann würde er trotz alledem noch die Nacht, den andern Tag und die Hälfte der darauffolgenden Nacht – der dritten ohne Schlaf – brauchen. War das nicht zuviel? Würden die Grenzler bis dahin nicht alle Pfade, selbst die unzugänglichsten und entlegensten, abgeriegelt haben? Clark
sprang auf und setzte mit zusammengebissenen Zähnen sei nen Aufstieg fort. Er verließ den Hirtenweg und ging nach dem Kompaß durch wildwucherndes Dickicht. Offene Stellen mied er völ lig. Erst mit Einbruch der Dunkelheit schlug er sich erneut zum Hirtenpfad durch. Die Nacht brach an, und Clark lief weiter und weiter. Vor dem Morgengrauen machte er kurz Rast. Er schlief auf Tannenzweigen unter freiem Himmel. Am frühen Morgen, mit dem ersten Tagesschimmer, ging er weiter. Die Hochgebirgsgrenze kam näher, aber Clarks Kräf te gingen auch zu Ende. Der feine, dichte Regen, der schon vor zwei Tagen eingesetzt hatte, ließ nicht nach. Völlig durchnäßt und aufs äußerste erschöpft, war Clark schließlich gezwungen, das undurchdringliche Dickicht des Hirschkammes zu verlassen und die gefährlichen Bergwei den zu betreten. Groß war das Risiko, Menschen zu begeg nen, aber noch größer, schier unüberwindlich das Verlangen, sich an einem warmen Lagerfeuer zu trocknen, das Brot der Hirten zu essen, Schafsmilch zu trinken und eine Zigarette zu rauchen. Ein schmales Bächlein, das durch rostbraun-smaragdgrünes Moos gesickert kam, führte Clark zu einer grasbewachsenen Lichtung. An der Quelle standen grobgezimmerte Hirtenhüt ten. Wie groß auch die Versuchung war, fand Clark doch noch genug Kraft, bis zur Dunkelheit im Tannengehölz zu sitzen, um all das zu erforschen, was er wissen mußte. Hir ten, so stellte er fest, gab es auf der Bergweide wenig – nur zwei. Zottige Wolfshunde halfen ihnen beim Hüten. Nach dem die Hirten ihre Schafe und Kühe gemolken hatten, gös sen sie die Milch aus den Melkkübeln in Fässer, bedeckten diese mit weißer Leinwand und trugen sie in einen Keller, der dicht daneben ausgehoben war. Damit schien ihr Tage
werk getan, und sie zogen sich in ihre Behausungen zurück. Bald stieg über der hintersten Hütte aus der ins Dach einge schnittenen breiten Öffnung eine hohe, funkensprühende Rauchsäule auf. Die Hirten bereiteten sich ihr Abendessen. Clark beschloß, zuerst nach Herzenslust zu essen. Im Keller, vermutete er, gab es nicht nur Milch, sondern auch Schafs käse. Aber wie dorthin gelangen, ohne die Hunde zu alar mieren? Er umging die Lichtung oben auf dem Berghang und stieg dann auf der windgeschützten Seite zum Keller hinunter. Die Hunde lagen auf der Schwelle der Hütte am wärmenden Feuer. Erfüllt von der Gier nach den Resten vom Abendbrot der Hirten, witterten sie den Fremden nicht. Als Clark sich satt gegessen hatte, steckte er sich noch ein or dentliches Stück Schafskäse in die Tasche und verließ den Keller. Aber kaum hatte er ein paar Schritte getan, als er hinter sich das wütende Gekläff der Hunde hörte. Das hellflackernde Feuer verdeckend, tauchten im Eingang der Hütte die dunklen Gestalten der Hirten auf. „Wer ist da?“ fragte streng eine junge, kräftige Stimme. „Helft, gute Leute, sie wollen mich zerfleischen!“ Dieselbe junge, kräfti ge Stimme rief den Hunden ein paar Worte zu. Sie ver stummten und trotteten widerwillig in die Hütte, wobei sie sich umsahen und böse knurrten. Clark nahm die Mütze ab, strich sich die feuchten Locken glatt und streckte in dem Bemühen, weniger freundlich als erschrocken zu scheinen, die Hand aus: „Guten Abend!“ Die Hirten erwiderten den Gruß zurückhaltend. „Teufel, da haben eure Köter mir aber einen Schrecken eingejagt! Das reicht fürs ganze Leben.“ Da Clark unvermeidliche Fragen voraussah, stellte er sich als Gebietstierarzt vor und erklärte, er sei mit einem wissen schaftlichen Auftrag auf die entlegenen Bergweiden entsandt
worden. „So wandere ich nun von einer Bergweide zur anderen und errege den Unwillen der Hunde…“ Plötzlich blinzelte er verschmitzt und lachte auf. „Und auch die Menschen gucken mich oft schief an: wer weiß denn, ob du ein Tierarzt bist oder ein Bandit von der Landstraße! Habe ich recht? Hab ich deine Gedanken erraten? Natürlich, ich seh es dir doch an den Augen an!“ Clark klopfte dem jungen Hirten, der ihn voll finsteren Argwohns ansah, freundschaftlich auf die Schulter. „Euer Bürschchen wittert wohl in jedem Unbekannten gleich einen Spion?“ fragte er spöttisch und wandte den Blick zum alten Hirten hin. Der graubärtige Werchowiner im alten, schwarzen Hut und dem umgestülpten Schafpelz, die Pfeife zwischen den gel ben, halb abgenagten Zähnen, nickte. „Genosse Tierarzt, kommen Sie mit in unsere Hütte“, has pelte der Alte und fuchtelte dabei mit der Laterne herum. „Bitte!“ Als Clark sich getrocknet und etwas Milch getrunken hatte, zog er die Stiefel aus, legte sich einen Armvoll duftender Tannennadeln unter den Kopf, streckte sich behaglich auf einer Pritsche aus und zündete sich eine Selbstgedrehte an. „Grad so wie bei Schwiegermutter auf dem Ofen. Besten Dank auch, Freunde, habt mir aus der Patsche geholfen. Ich will mich auch erkenntlich zeigen! Auf den anderen Bergweiden halte ich Vorträge von einer halben Stunde, aber ihr bekommt einen von zwei Stunden.“ Der junge Hirte hob den Kopf und sah Clark aufmerksam an. Der lachte: „Ich sehe, du brennst vor Wißbegier. Gedulde dich bis morgen. Der Morgen ist klüger als der Abend.“ Clark gähnte und schloß die Augen. „Schlafen! Schlafen…
schla…“ Der Zigarettenstummel fiel zu Boden, und durch die Hütte drang ein dröhnendes Schnarchen. Aber Clark schlief nicht. Verzweifelt gegen den Schlaf ankämpfend, wartete er ab, was die Hirten unternehmen würden. Wenn sie nicht glaubten, daß er ein Tierarzt aus dem Gebiet war, wenn sie in ihm den Ausländer errieten oder erfühlten, dann würde der flinke Junghirte natürlich sofort zu den Grenzsoldaten laufen und ihnen melden, daß auf den Bergweiden ein ver dächtiger Mann aufgetaucht sei. Es vergingen fünf, zehn Minuten, vier Stunden, aber nie mand verließ die Hütte. Clark wurden die Lider schwer, er kniff die Augen zusammen, verlor die Gewalt über sich und schlief ein Hatte er eine Stunde geschlafen oder zwei oder drei – er wußte es nicht. Als er aufwachte, sah er über sich die schwarze, verräucherte Decke der Hütte mit dem runden Einschnitt in der Mitte, durch den die Flammen des offenen Feuers zum nächtlichen Himmel hinaufzüngelten, er wollte sich vom Rücken auf die Seite drehen, um zu sehen, ob die Hirten auch auf ihren Plätzen waren, aber er konnte es nicht. Er wollte jedoch nicht glauben, was geschehen war. Er spannte alle Kräfte an, stemmte sich empor und versuchte aufzustehen. Die Stricke, mit denen Clark an die Pritsche gefesselt war, hielten stand: sie waren gut verknotet. Clark stieß einen Fluch, aus, stöhnte und heulte verzweifelt auf. Aus einem entfernten Winkel der Hütte vernahm er die spöttische Stimme des graubärtigen Werchowiners: „Schlaf nur, schlaf, du Satan! Der Morgen ist klüger als der Abend…“ Am Morgen trafen berittene Grenzsoldaten auf der Bergweide ein. Sie setzten den gefesselten Clark auf ein mitge führtes freies Pferd und brachten ihn talwärts, nach Jawor. Noch am gleichen Tage wurde er Major Subawin übergeben.