Kerstin Oschatz Intuition und fachliches Lernen
Kerstin Oschatz
Intuition und fachliches Lernen Zum Verhältnis von e...
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Kerstin Oschatz Intuition und fachliches Lernen
Kerstin Oschatz
Intuition und fachliches Lernen Zum Verhältnis von epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
. 1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Dorothee Koch VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-18082-3
Danksagung
Von Herzen bedanke ich mich bei meiner Doktormutter Prof. Dr. Rosemarie Mielke und meinem Doktorvater Prof. Dr. Ulrich Gebhard. Diese Doktorarbeit ist in der anregenden Atmosphäre ihrer Forschungsgruppe entstanden. Ihre immerwährende Unterstützung und kritische Auseinandersetzung mit meinen Gedanken war eine Bereicherung. Nicht zuletzt durch die Kombination ihrer beiden Perspektiven auf meine Forschung habe ich unschätzbar viel gelernt. Auch bei meinem Kollegen Dr. Arne Dittmer möchte ich mich für die vielen anregenden Gespräche und kritischen Diskussionen bedanken. Vor allem meiner Freundin und Kollegin Dr. Simone Abels danke ich von Herzen. Sie hat mir zu jeder Zeit zur Seite gestanden und mich in jeder Hinsicht unterstützt. Mein Dank gilt auch meinen „Versuchsleitern“ Joannis Stassinopoulus, Felix Bracht, Enrico Sampaio und Jenny Ullrich für ihre Mitarbeit und freundschaftliche Teilhabe an meiner Forschung. Bis zu diesem Buch war es zuweilen ein langer Weg und ich danke meinen Eltern für ihren fortwährenden Zuspruch und ihre Unterstützung in dieser Zeit. Mein besonderer Dank gilt meiner Freundin Nina Pahl, die ihren Sommer damit verbrachte, jedes Kapitel dieses Buches Korrektur zu lesen und nicht müde wurde, meine Zeilen zu glätten. Auch bei meinem Bruder Robert Oschatz bedanke ich mich herzlich für die liebevolle Unterstützung und Verköstigung in den letzten Wochen vor der Abgabe meiner Doktorarbeit. Mein aufrichtiger Dank gilt Karl Grant, der den Weg zu diesem Buch mit mir gegangen ist und immer an mich geglaubt hat. Lange Abschnitte dieses Buches sind in der Stille seines Hauses entstanden. Sein Verständnis und seine Ruhe waren eine große Quelle der Kraft.
5
Inhalt
Abbildungen .....................................................................................................13 Tabellen .............................................................................................................16 Einleitung ..........................................................................................................17 Problemhorizont .................................................................................................19 Ziel der Arbeit ....................................................................................................22 Gliederung der Arbeit ........................................................................................23 1
Epistemische Überzeugungen – Implizite Vorstellungen zu Wissen und seiner Genese ...................................................................................25
1.1
Die Forschung zur persönlichen Epistemologie...................................28
1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.1.4
Konzeptionen epistemischer Überzeugungen ......................................29 Was zählt zu den epistemische Überzeugungen? – Zum Status von Lernüberzeugungen und Persönlichkeitsmerkmalen ...........................30 Persönlichkeitsmerkmale und epistemische Überzeugungen...............32 Das epistemische Motiv .......................................................................33
1.2
Implizite persönliche Epistemologie und Metakognition ....................34
1.2.1 1.2.2
Der stille oder intuitive Charakter epistemischer Überzeugungen .......34 Epistemische Überzeugungen als Teil einer impliziten metakognitiven Theorie .......................................................................36
1.3
Wirkungen epistemischer Überzeugungen in Lernprozessen ..............40
1.3.1 1.3.2
Auswirkungen auf Verstehen und Lernleistung ...................................40 Einfluss auf Prozesse der Informationsverarbeitung ............................41
7
1.4
Determinanten persönlicher Epistemologie – Reifung und soziale Konstruktion ........................................................................................43
1.5
Determinanten persönlicher Epistemologie – Die Bedeutung des Kontextes .............................................................................................47
1.5.1 1.5.2 1.5.3
Kontextabhängige Muster epistemischer Vorstellungen......................48 Soziale Unterstützung als Kontextfaktor .............................................52 Domänenspezifische epistemische Überzeugungen.............................55
1.6
Persönliche Epistemologie und Nature of Science – Epistemische Überzeugungen zu Naturwissenschaften .............................................58
1.6.1 1.6.2
Die Bedeutung epistemischer Überzeugungen für die naturwissenschaftliche Bildung ...........................................................59 Die Forschung zu Nature of Science....................................................61
1.7
Resümee ...............................................................................................67
2
Alltagsphantasien – Implizite Vorstellungen zum Menschen und der Welt und ihre Bedeutung beim Lernen ..........................................70
2.1
Alltagsvorstellungen und Alltagsphantasien – Eine Verortung im Kontext der Schülervorstellungen ........................................................71
2.2
Die Dimensionen des Konzeptes Alltagsphantasien ............................73
2.3
Welt- und Menschenbilder – Die Kerne der Alltagsphantasien ...........75
2.3.1 2.3.2 2.3.3
Alltagsphantasien zur Gentechnologie.................................................77 Alltagsphantasien zum Experimentieren..............................................81 Der narrative Charakter der Alltagsphantasien ....................................83
2.4
Implizite Vorstellungen in Verarbeitungsprozessen ............................84
2.4.1 2.4.2
Zwei Prozesse des Denkens .................................................................84 Automatische Verarbeitung im kognitiven Netzwerk ..........................86
2.5
Die Integration der inhaltlichen und prozeduralen Dimension ............89
2.6
Zur Wirkung von Alltagsphantasien ....................................................90
2.6.1
Alltagsphantasien als subjektive und heuristische Zugänge zum Lerngegenstand ....................................................................................92 Effekte der expliziten Reflexion von Alltagsphantasien ......................93
2.6.2 8
2.7
Alltagsphantasien als Spuren einer impliziten Theorie der Realität ....95
2.7.1 2.7.2
Sinnverlangen beim Lernen .................................................................98 Didaktische Implikationen .................................................................100
3
Komponenten einer kulturell bedingten impliziten Theorie der Realität – Eine systematische Verortung von epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien ..............................................102
3.1
Zusammenhänge zwischen epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien ...............................................................................104
3.2
Implizite kulturell erworbene Vorstellungen .....................................105
3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4
Die kulturelle Bedingtheit von epistemischen Überzeugungen .........106 Die kulturelle Bedingtheit von Alltagsphantasien .............................108 Kulturelles Wissens als komplexer Konsens .....................................110 Implicit culture und tacit communication – Unbewusste Prozesse in der Bildung kulturellen Wissen ..................111
3.3
Implizites Wissen und seine Bedeutung für die Enkulturation ..........113
3.3.1 3.3.2 3.3.3
Was ist implizites Wissen? ................................................................114 Zentrale Befunde zum impliziten Wissen ..........................................115 Was ist implizit an implizitem Wissen? .............................................117
3.4
Die Erweiterung der impliziten Theorie der Realität .........................120
3.4.1 3.4.2
Die implizite Theorie der Realität als subjektive Theorie..................120 Epistemische Überzeugungen als Teil der impliziten Theorie der Realität ...............................................................................................122 Wie beeinflusst die implizite Theorie der Realität die individuelle Erfahrung? – Eine Übertragung von Erkenntnissen aus der Selbstkonzeptforschung .....................................................................125
3.4.3
3.5
Inhaltliche Zusammenhänge von epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien ........................................................................131
3.5.1 3.5.2
Alltagsphantasien – Transportvehikel epistemischer Überzeugungen ..................................................................................132 Anhand von Alltagsphantasien epistemische Prozesse aufzeigen......140
3.6
Lernen als Verarbeitungsprozess .......................................................143
9
3.6.1 3.6.2 3.6.3 3.6.4 3.6.5 4
Die Theorie der Laienepistemologie ..................................................144 Die Fähigkeit zur Auseinandersetzung – Wirkpunkt der Alltagsphantasien im Verarbeitungsprozess ......................................145 Die Motivation zur Auseinandersetzung – Wirkpunkt der epistemischen Überzeugungen im Verarbeitungsprozess ..................147 Alltagsphantasien als Heuristiken im Lernprozess ............................150 Effekte der Reflexion von Alltagsphantasien auf die persönliche Epistemologie ....................................................................................153 Fragestellung .........................................................................................157
4.1
Untersuchungshypothesen – Studie I .................................................158
4.2
Untersuchungshypothesen – Studie II................................................160
5
Studie I...................................................................................................161
5.1
Methode der Studie I ..........................................................................162
5.1.1 5.1.2
Voruntersuchungen ............................................................................162 Experimentelle Hauptuntersuchung ...................................................167
5.2
Ergebnisse der Studie I ......................................................................175
5.2.1 5.2.2
Vergleichbarkeit der Gruppen ............................................................175 Unterschiede zwischen den Gruppen .................................................176
5.3
Interpretation – Studie I .....................................................................192
5.3.1 5.3.2
Wen spricht die Reflexion von Alltagsphantasien an?.......................193 Welche Effekte hat die Reflexion der Alltagsphantasien im Lernprozess? ......................................................................................194 Erklärung des Irritationseffektes ........................................................195
5.3.3 6
Studie II .................................................................................................197
6.1
Methode – Studie II ...........................................................................198
6.1.1 6.1.2
Voruntersuchungen ............................................................................200 Experimentelle Hauptuntersuchung ...................................................200
6.2
Ergebnisse der Studie II .....................................................................208
10
6.2.1 6.2.2
Vergleichbarkeit der Gruppen ............................................................208 Unterschiede zwischen den Gruppen .................................................209
6.3
Interpretation Studie II .......................................................................227
6.3.1 6.3.2
Wen spricht die Reflexion von Alltagsphantasien an?.......................228 Welchen Effekt hat die Reflexion der Alltagsphantasien auf die Aktivierung der persönlichen Epistemologie? ...................................229 Welche Auswirkung hat die Reflexion der Alltagsphantasien auf den Verarbeitungsprozess? ................................................................230
6.3.3 7
Auf dem Wege zu einer impliziten Theorie der Realität – Diskussion der Ergebnisse ...................................................................233
7.1
Epistemische Überzeugungen beeinflussen die Reflexion der Alltagsphantasien ...............................................................................235
7.1.1 7.1.2
Ergebnisse zur Moderatorfunktion epistemischer Überzeugungen ....236 Der Irritationseffekt ...........................................................................237
7.2
Die Reflexion der Alltagsphantasien wirkt sich auf die Aktivierung epistemischer Überzeugungen aus .....................................................238
7.2.1 7.2.2
Die Ergebnisse zur Veränderung der Aktivierung epistemischer Überzeugungen ..................................................................................239 Nachdenklichkeit als Folge der Reflexion von Alltagsphantasien .....241
7.3
Die Wirkung des epistemischen Motivs ............................................243
7.3.1 7.3.2
Ergebnisse in Abhängigkeit vom epistemischen Motiv .....................244 Möglichkeiten des Einwirkens auf die epistemische Motivation .......245
7.4
Die Bedeutung des sozialen Austausches ..........................................247
7.4.1 7.4.2 7.4.3
Sozialer Austausch stimuliert mannigfache Perspektiven..................247 Sozialer Austausch entlastet bei Komplexität ....................................248 Soziale Interaktion als einzige Ursache der Effekte? .........................249
7.5
Didaktische Implikationen .................................................................249
7.5.1 7.5.2 7.5.3 7.5.4
Die Förderung von Nachdenklichkeit ................................................250 Nachdenklichkeit durch Irritation ......................................................251 Epistemisch anregende Lernkontexte schaffen ..................................253 Lernen über Denkprozesse .................................................................254 11
7.6
Kritik am forschungsmethodischen Vorgehen ...................................255
7.6.1 7.6.2 7.6.3
Ökologische Validität ........................................................................255 Problem der Erfassung impliziter Vorstellungen ...............................258 Problem der Erfassung epistemischer Überzeugungen ......................260
7.7
Implikationen für die Forschung – Neue Perspektiven ......................261
7.7.1 7.7.2
Implikationen für die Forschung zu epistemischen Überzeugungen 262 Implikationen für die Forschung zu Alltagsphantasien......................266
7.8
Forschungsausblick ............................................................................270
Literatur..........................................................................................................275 Über das OnlinePlus Angebot des VS Verlags können Sie den Anhang einsehen: www.vs-verlag.de/buch/978-3-531-18082-3.
12
Abbildungen
Abbildung 5.1: Abbildung 5.2: Abbildung 5.3: Abbildung 5.4: Abbildung 5.5: Abbildung 5.6: Abbildung 5.7:
Abbildung 5.8: Abbildung 5.9: Abbildung 5.10:
Abbildung 5.11:
Abbildung 5.12:
Versuchplan der Studie I ............................................167 Beispielitem der Subskala Experten ...........................169 Beispielitem der Subskala Wahrheit ...........................169 Beispielitem der Subskala Vielfalt .............................170 Beispielitem der Skala Need for Cognition ....................................................................170 Das Circumplex-Modell affektiver Zustände und die verwendeten Operationalisierungen .................................................172 Darstellung des Interaktionseffektes, Mittelwerte der Transferaufgabe getrennt nach Versuchsgruppe, Kontrollgruppe und Need for Cognition .....................178 Lineare Regressionsgrade der Versuchsgruppe ..........................................................179 Lineare Regressionsgrade der Kontrollgruppe ...........................................................180 Dreidimensionale Darstellung des Interaktionseffektes, Versuchs- und Kontrollbedingung mit epistemischen Überzeugungen (Skala Experten) für das Abschneiden in der Transferaufgabe ....................181 Dreidimensionale Darstellung des Interaktionseffektes, Versuchs- und Kontrollbedingung mit epistemischen Überzeugungen (Skala Experten) für das Abschneiden in den MultipleChoice-Aufgaben ........................................................182 Dreidimensionale Darstellung des Interaktionseffektes, Versuchs- und Kontrollbedingung mit epistemischen
13
Abbildung 5.13:
Abbildung 5.14:
Abbildung 5.15: Abbildung 5.16: Abbildung 5.17:
Abbildung 6.1: Abbildung 6.2: Abbildung 6.3:
Abbildung 6.4:
Abbildung 6.5:
14
Überzeugungen (Skala Vielfalt) für das Abschneiden in der Transferaufgabe ..........................185 Darstellung des Interaktionseffektes, Versuchs- und Kontrollbedingung mit dem epistemischen Motiv (Need for Cognition) für das Abschneiden in der Transferaufgabe ..........................................................186 Darstellung des Interaktionseffektes, Versuchs- und Kontrollbedingung mit dem epistemischen Motiv (Need for Cognition) für das Abschneiden in den Multiple-Choice-Aufgaben .........................................187 Lineare Regressionsgrade der Kontrollgruppe ...........................................................188 Lineare Regressionsgrade der Versuchsgruppe ..........................................................189 Dreidimensionale Darstellung des Interaktionseffektes, Versuchs- und Kontrollbedingung mit dem epistemischen Motiv (Need for Cognition) für das Abschneiden in der Transferaufgabe ..........................................................190 Versuchplan der Studie II ...........................................201 Beispiel für eine Meinungskontroverse mit drei Antwort-Items des FREE (nach Krettenauer 2005) .......................................................204 Dreidimensionale Darstellung des Interaktionseffektes, Versuchs- und Kontrollbedingung mit dem epistemischen Motiv (Need for Cognition) für den W-Wert ........................................214 Dreidimensionale Darstellung des Interaktionseffektes, Versuchs- und Kontrollbedingung mit dem epistemischen Motiv (Need for Cognition) für den D-Wert .........................................215 Dreidimensionale Darstellung des Interaktionseffektes, Versuchs- und Kontrollbedingung mit dem
Abbildung 6.6:
Abbildung 6.7:
Abbildung 6.8: Abbildung 6.9:
Abbildung 6.10:
epistemischen Motiv (Need for Cognition) für den W-Wert der naturwiss. Skala ..........................................................218 Dreidimensionale Darstellung des Interaktionseffektes, Versuchs- und Kontrollbedingung mit dem epistemischen Motiv (Need for Cognition) für den standardisierten DWert der naturwiss. Skala ...........................................219 Dreidimensionale Darstellung des Interaktionseffektes, Versuchs- und Kontrollbedingung mit dem epistemischen Motiv (Need for Cognition) für den D-Wert der naturwiss. Skala ..........................................................220 Darstellung des Interaktionseffektes, Mittelwerte der Transferaufgabe getrennt nach Versuchsgruppe und NfC .....................223 Darstellung des Interaktionseffektes, Mittelwerte der Transferaufgabe getrennt nach Versuchsgruppe 2, Kontrollgruppe und Need for Cognition .....................225 Dreidimensionale Darstellung des Interaktionseffektes, Versuchs- und Kontrollbedingung mit dem epistemischen Motiv (Need for Cognition) für das Abschneiden in der Transferaufgabe ..........................................................227
15
Tabellen
Tabelle 3.1: Tabelle 5.1: Tabelle 5.2: Tabelle 5.3: Tabelle 5.4:
Tabelle 6.1: Tabelle 6.2: Tabelle 6.3: Tabelle 6.4: Tabelle 6.5: Tabelle 6.6: Tabelle 6.7:
16
Zusammenhänge von Alltagsphantasien und epistemischen Überzeugungen ............................133 Alltagsphantasien im Paarvergleich............................163 Skalenwerte der Alltagsphantasien von Studierenden und SchülerInnen ..................................164 Reihenfolge der Fragebögen in der Studie I .......................................................................175 Korrelationen zwischen den Skalen der epistemischen Überzeugungen (Experten, Vielfalt, Wahrheit) und dem epistemischen Motiv (NfC) ........................................192 Ablauf des 1. Interventionszeitpunktes .......................207 Ablauf des 2. Interventionszeitpunktes .......................207 Ablauf des Messzeitpunktes .......................................208 Interne Konsistenzen der einzelnen FREE-Subskalen.........................................................211 Mittelwert der FREE-Subskala Naturwiss. Items in Abhängigkeit vom Need for Cognition .....................................................216 Mittelwerte (Standardabweichungen in Klammern) der Aufgaben getrennt nach Versuchsgruppe ..........................................................221 Mittelwert der Transferaufgabe in Abhängigkeit vom Need for Cognition ......................223
Einleitung
“Perhaps the most compelling aspect of intuition (…) is that the individual has a sense of what is right or wrong, a sense of what is the appropriate or inappropriate response to make in a given set of circumstances, but is largely ignorant of the reasons for that mental state. (…) To have an intuitive sense of what is right and proper, to have a vague feeling of the goal of an extended process of thought, to „get the point“without really being able to verbalize what it is that one has gotten, is to have gone through an implicit learning experience and have built up the requisite representative knowledge base to allow for such judgment” (Reber 1989, 232f.).
Intuitionen sind bedeutsame Bestandteile unseres täglichen Denken und Handelns. Ihre Quellen bleiben uns jedoch meistens verborgen. Reber (1989) führt das Phänomen der Intuition auf implizit vorliegendes und wirkendes Wissens zurück. Solches implizites Wissen und seine Bedeutung für menschliches Denken wird seit den letzten Jahrzehnten stark beforscht und steht im Zentrum vieler moderner psychologischer Ansätze (Schneider & Shiffrin 1977, Reber 1989, Epstein 1994, Smith & Decoster 2000, Strack & Deutsch 2004). Die Theorien und Befunde öffnen den Blick für die Bedeutung automatischer und unbewusster Prozesse in der menschlichen Kognition. Diese Forschungen gehen soweit, dass Bargh von einer Demystifizierung der unbewussten Kontrolle höherer mentaler Prozesse spricht (Bargh 2005, 41). Sie bieten Erklärungen, warum Vorurteile sich schwer abbauen lassen (Farnham et al. 1999), wie Heuristiken und Intuitionen menschliches Urteilen beeinflussen (Kahneman & Tversky 1973) oder weshalb die Enkulturation und Sozialisation eine nachhaltige Bedeutung für die psychische Konstitution eines Menschen haben (Epstein 1994, Haidt 2001, Hofstede 1993). Kultur und Sozialisation sind Quellen festgelegter und immer wiederkehrender Interpretationsroutinen im Umgang mit der Umwelt. Die mit ihnen vermittelten Blickwinkel auf den Menschen und die Welt werden von heranwachsenden Individuen soweit verinnerlicht, dass sie automatisiert werden (Fiske 2000). Das bedeutet, sie können unkontrolliert und außerhalb bewusster Kontrolle aktiviert werden und lassen sich als implizites Wissen verstehen. Treten Ergebnisse dieser automatisierten Denk-
17 K. Oschatz, Intuition und fachliches Lernen, DOI 10.1007/978-3-531-93285-9_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
prozesse ins Bewusstsein, können sie als Intuition oder „Bauchgefühl“ erlebt werden. Auf diese Weise erfolgt die Enkulturation eines Menschen. Aus kulturtheoretischer Perspektive wird angenommen, dass sich das kulturelle Verständnis vor allem in impliziten Deutungsmustern und Perspektiven äußert (LeVine 1984, Haidt 2001). Automatische und unbewusste Erfahrungskomponenten begleiten zielorientierte und bewusste Denkprozesse permanent (Perrig et al. 1993, Hassin 2005). Neue Erfahrungen werden ständig automatisch vor dem Hintergrund verinnerlichter Welterklärungsmuster abgeglichen (Epstein 1994). Dies betrifft auch Lernprozesse. Im schulischen Lernen wird von den psychologischen Erkenntnissen zu implizitem Wissen und der Bedeutung von Intuitionen jedoch wenig Gebrauch gemacht. Lernprozesse werden eher über das reflektierte Nachdenken angestoßen und abgewickelt. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es deshalb, die Bedeutung impliziter, kulturell bedingter Vorstellungen in Lernprozessen zu untersuchen. Zentrale Annahme ist, dass verinnerlichte kulturbedingte Perspektiven auf den Menschen und die Welt Funktionen der Orientierung und Bewertung in der Auseinandersetzung mit Lerngegenständen haben. Dies könnte Potential zur Unterstützung von Lernen bergen. Kernstück der vorliegenden Arbeit bildet die Konzeption eines adaptiven Systems von Welterklärungsmustern, einer impliziten Theorie der Realität. Grundannahme ist, dass Menschen automatisch ein subjektives Modell zum Aufbau und zur Ordnung der Welt generieren, das der Orientierung des Individuums dient. Diese implizite Theorie der Realität besteht aus den Perspektiven auf den Menschen und die Welt, die Individuen im Laufe ihrer Sozialisation und Enkulturation erwerben und verinnerlichen (Epstein 1994). Vor ihrem Hintergrund werden alle Erfahrungen eingeordnet und gedeutet. Die Entwicklung dieser impliziten Theorie der Realität beruht auf der Integration zweier Konzepte zu impliziten, kulturell bedingten Vorstellungen aus der naturwissenschaftsdidaktischen Forschung und der psychologischen Lernforschung. (1) Epistemische Überzeugungen bezeichnen implizite Vorstellungen und Überzeugungen zur Genese und Konstitution von Wissen (Jehng et al. 1993). Sie sind für die pädagogische Praxis relevant, da sie als sozial geteilte Intuitionen zu Wissen und Wissenserwerb Einfluss auf die Verarbeitung von Informationen nehmen und damit das Lernen von Individuen beeinflussen (Schommer 1993, Klaczynyski 2000, Kardash & Scholes 1996). (2) Mit dem Konzept der Alltagsphantasien werden implizite, sozial erworbene Vorstellungen gefasst, die Aspekte des Welt- und Menschenbildes 18
eines Individuums transportieren (Gebhard 2007, 2003). In Form von Intuitionen, affektiven Reaktionen oder spontanen Assoziationen werden Alltagsphantasien und damit auch Welt- und Menschenbilder beim Lernen explizit. Diese subjektiven Resonanzen und ihre Bedeutung für Lernen stehen im Fokus des Forschungsprogramms und didaktischen Konzeptes Alltagsphantasien. Im Rahmen der Forschungen zu Nature of Science und Alltagsvorstellungen von SchülerInnen und Lehrenden werden beide Konzepte in den Didaktiken der Naturwissenschaft beforscht (zu Nature of Science vgl. McComas et al. 1998, Driver et al. 1996, Lederman et al. 2002; zu Alltagsvorstellungen vgl. Gebhard 2009, Born 2007). Die vorliegende Arbeit liegt somit an der Schnittstelle von pädagogischer Psychologie und naturwissenschaftsdidaktischer Forschung. Problemhorizont Mit der Betrachtung von epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien als implizite, kulturell bedingte Vorstellungen und der Konzeption einer impliziten Theorie der Realität wird in dieser Arbeit einerseits auf Anforderungen an den naturwissenschaftlichen Unterricht in Deutschland reagiert; zum anderen wird hierdurch auf Forderungen der Forschung zu epistemischen Überzeugungen eingegangen, die eine stärkere Vernetzung und Einbettung epistemischer Überzeugungen in Modelle mit anderen mentalen Komponenten vermissen. Epistemische Überzeugungen haben eine zentrale Rolle im Bildungsauftrag naturwissenschaftlichen Unterrichtes: Reflektierte Vorstellungen zur Genese und Konstitution von naturwissenschaftlichem Wissen zu entwickeln, bildet die Grundlage für eine angemessene Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlichen Themen (Höttecke 2001). Ein Ziel naturwissenschaftlicher Grundbildung1 besteht darin, Lernenden neben der Kenntnis naturwissenschaftlichen Wissens und Einsicht in ihre Methoden vor allem Einsicht in das Wesen der Naturwis1 Naturwissenschaftliche Grundbildung ist als der Umfang definiert, in dem eine Person naturwissenschaftliches Wissen besitzt und dieses Wissen anwendet, um Fragestellungen zu identifizieren, neue Kenntnisse zu erwerben, naturwissenschaftliche Phänomene zu erklären und aus Beweisen Schlussfolgerungen in Bezug auf naturwissenschaftliche Sachverhalte zu ziehen; in dem eine Person die charakteristischen Eigenschaften der Naturwissenschaften als eine Form menschlichen Wissens und Forschens versteht; erkennt, wie Naturwissenschaften und Technologie unsere materielle, intellektuelle und kulturelle Umgebung prägen und sich mit naturwissenschaftlichen Themen und Ideen als reflektierender Bürger auseinandersetzt (OECD 2007).
19
senschaften und Reflexionsvermögen im Umgang mit Naturwissenschaft zu vermitteln (OECD 2007). Menschen sind zu allen Zeiten in ihrem privaten wie professionellen Leben – in ihrer Verantwortung etwa als Eltern, Lehrende oder Bürger – gefordert, Informationen aufzunehmen, zu bewerten und zu integrieren. In jeder dieser Situationen beeinflussen epistemische Überzeugungen den Umgang mit Wissen. Die Auseinandersetzung und Beurteilung naturwissenschaftlicher Informationen zu zentralen Themen des Lebens nimmt dabei stetig zu. In diesem Zusammenhang sind Schlagworte wie Stammzellforschung, Fortpflanzungstechnologien, künstliches Koma, Ernährung oder Mediennutzung zu nennen. Um die Entwicklung epistemischer Überzeugungen zu fördern, bedarf es Kenntnisse dazu, wie epistemische Überzeugungen in Lernprozesse eingehen und wirken, wie sie sich entwickeln und mit welchen anderen mentalen Komponenten sie in Verbindung stehen (vgl. Pintrich & Hofer 1997). Da epistemische Überzeugungen nicht in einem Vakuum wirken, sondern die Gedanken, Aktionen und Motivationen eines Lernenden das Zusammenlaufen multipler Systeme repräsentieren, bedarf es nach Schommer-Aikins (2004) eines Rahmenmodells für epistemische Überzeugungen, das viele andere Aspekte von Kognition und Affekt einbezieht. „The need for an embedded systemic model of epistemological beliefs, that is, a model that includes many other aspects of cognition and affect, comes from the assumption that epistemological2 beliefs do not function in a vacuum. Indeed, at any given moment, learners’ thoughts, actions, or motivations represent the convergence of multiple systems” (Schommer-Aikins 2004, 23).
In der vorliegenden Arbeit wird durch die implizite Theorie der Realität ein solches Rahmenmodell konzeptionalisiert. Moderner naturwissenschaftlicher Unterricht hat das Ziel, junge Menschen auf ein Leben im Kontext von Wissenschaft und Technologie vorzubereiten (European Commission 2007, Bybee 1997). Lernende können Naturwissenschaft als Teil ihrer Wirklichkeit erleben und beim Lernen den Anschluss der 2
Die Begriffe epistemologische Überzeugungen und epistemische Überzeugungen werden in der Literatur nahezu synonym gebraucht. Persönliche Epistemologie ist eine persönliche Theorie über Wissen. Epistemische Überzeugungen sind Überzeugungen über Wissen. Der Begriff epistemologische Überzeugung meint das Gleiche, würde sich der Ableitung des Wortes nach jedoch auf Überzeugungen zum Metawissen über Epistemologie beziehen. Im Folgenden wird in Anlehnung an Hofer (2004) die Bezeichnung epistemische Überzeugungen verwendet.
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naturwissenschaftlichen Thematiken an ihre subjektive Lebenswirklichkeit herstellen. PISA 2006 zeigte zwar eine positive Entwicklung der naturwissenschaftlichen Kompetenz deutscher SchülerInnen, viele der kompetenten Jugendlichen haben allerdings wenig Interesse an den Naturwissenschaften. Sie zeigen eine relativ geringe Motivation, einen naturwissenschaftsbezogenen Beruf zu ergreifen. Deutschland belegt hier unter den OECD-Staaten den fünftletzten Rang (Prenzel et al. 2007, 122, 143). Die genauen Analysen zeigen, dass die Vorstellung später in einem naturwissenschaftsbezogenen Beruf tätig zu sein, daran gekoppelt ist, ob Jugendliche das Gelernte als relevant und nützlich ansehen (Schreiner & Sjøberg 2007). Stärkeres Interesse zeigen die Lernenden, wenn im Unterricht mehr Anwendungsbezüge zur Lebenswelt hergestellt werden (Prenzel et al. 2007). Hiermit wird ein zentrales Problem naturwissenschaftlichen Unterrichtes berührt. In zahlreichen Studien zum Interesse an Biologieunterricht wurde bereits gezeigt, dass das Interesse an Naturwissenschaften im Verlauf der Schulzeit kontinuierlich zurückgeht (Kattmann 2000, Vogt et al. 2000, Upmeier zu Belzen & Vogt 2001). Um im Unterricht persönlichkeitswirksame Bildungsprozesse zu ermöglichen, müssen sich Lernende nach Combe & Gebhard (2009, 550) in ihrer Auseinandersetzung in eine sich fortentwickelnde Wechselwirkung mit dem Lerngegenstand (als Objekt der Erfahrung) begeben, die einen Wandel der Beziehung zum Gegenstand zur Folge hat. Lerngegenstände müssen dabei als sinnvoll interpretiert werden können. Naturwissenschaften für Lernende persönlich bedeutsam zu machen, rückt mit den jüngsten Ergebnissen von PISA 2006 abermals in den Fokus der Bildungsbestrebungen. Der didaktische Ansatz Alltagsphantasien zielt auf ein vertiefendes Verständnis der individuellen Aneignungs- und Bewertungsprozesse in der Auseinandersetzung mit fachlichen Inhalten. Die zentrale These des Ansatzes ist, dass durch die explizite Reflexion der eigenen Alltagsphantasien Lernprozesse ermöglicht werden, die von Lernenden als subjektiv bedeutsam empfunden werden (Gebhard 2003b, 51). Durch die Integration der Alltagsphantasien in eine implizite Theorie der Realität kann diese Bedeutungskonstituierung verständlich gemacht werden: Die Konstruktion einer subjektiven „Welterklärungstheorie“ wird als menschliches Grundbestreben verstanden. Menschen bedürfen ihrer impliziten Theorie der Realität, um sich an ihre Umwelt zu adaptieren. Da mit Alltagsphantasien Aspekte des Welt- und Menschenbildes einer Person transportiert werden, können sie als Zugang zu den Welterklärungsmustern des Individuums verstanden werden. Werden SchülerInnen darin unterstützt Lerngegenstände in ihre subjek21
tiven Welterklärungsmuster einzubetten, könnte Naturwissenschaft von Lernenden als persönlich bedeutsam erlebt werden. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Pluralisierung kultureller Hintergründe der Lernenden an deutschen Schulen3 eröffnet die Annahme einer impliziten Theorie der Realität neue Perspektiven auf die Bedeutung kulturellen Wissens. Nach Hennings & Mielke (2007, 240) können kulturelle Unterschiede zu unterschiedlichen Bedeutungskonstruktionen führen: „Bikulturell aufgewachsene Kinder bringen einen anderen Erfahrungshintergrund mit als (…) monokulturelle Kinder, wenn sie im Unterricht Bedeutung konstruieren“. Die Berücksichtigung individueller Perspektiven auf den Menschen und die Welt nimmt also mit zunehmender kultureller Diversität für den Umgang mit Lerngegenständen an Bedeutung zu. In Deutschland scheinen die Anforderungen an naturwissenschaftlichen Unterricht durch zunehmende kulturelle Diversität der Schülerschaft groß. Den Ergebnissen von PISA 2006 zufolge ist der mittlere Kompetenzunterschied in den Naturwissenschaften zwischen Jugendlichen ohne und solchen mit Migrationshintergrund in keinem anderen OECD-Mitgliedsstaat größer als in Deutschland (Prenzel et al. 2007, 28). Besonders Jugendliche, deren beide Elternteile im Ausland geboren wurden, weisen ein sehr niedriges naturwissenschaftliches Kompetenzniveau auf. In diesem Zusammenhang bekommt die Bedeutsamkeit kultureller Vorstellungen eine neue Brisanz. Da aus kulturtheoretischer Perspektive angenommen wird, dass sich das kulturelle Verständnis vor allem in impliziten Deutungsmustern und Perspektiven äußert (Fiske 2000, Haidt 2001), lohnt es sich, diese impliziten Interpretationsroutinen zu untersuchen. Ziel der Arbeit Vor diesem Hintergrund ist das Ziel der vorliegenden Arbeit, der Bedeutung und Wirksamkeit impliziter, kulturell bestimmter Vorstellungen beim Lernen nachzugehen. Aufgrund der Annahme, dass epistemische Überzeugungen und Alltagsphantasien eingebettet in den übergeordneten Rahmen einer impliziten 3 Kulturelle Diversität ist ein Charakteristikum moderner Gesellschaften und ihrer Bildungsinstitutionen. Allein 4,4 Millionen Menschen wanderten in Jahr 2008 dauerhaft in einen der 30 Mitgliedstaaten der OECD ein (OECD 2010). In Deutschland hatten in der Gruppe der fünfzehnjährigen Schüler und Schülerinnen im Jahre 2006 etwa 20 Prozent mindestens ein Elternteil, das nicht in Deutschland geboren wurde (Prenzel et al. 2007).
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Theorie der Realität miteinander in Beziehung stehen, wird ihr Zusammenwirken beim Lernen in experimentellen Studien empirisch untersucht. Dies dient dazu, weitere Informationen darüber zu gewinnen, wie die implizite Theorie der Realität im Unterricht zur Unterstützung von Lernprozessen einbezogen werden kann. Insgesamt soll mit der vorliegenden Arbeit zu einem besseren Verständnis für die Wirksamkeit von impliziten kulturell bedingten Vorstellungen im Umgang mit naturwissenschaftlichen Inhalten beigetragen werden. Alltagsphantasien und epistemische Überzeugungen sind als die sichtbaren Spitzen einer impliziten Theorie der Realität zu verstehen, die wie der Fuß eines Eisbergs versteckt unter der Wasseroberfläche liegt. Lehrenden werden durch Alltagsphantasien und epistemische Überzeugungen Einblicke in die subjektiven Welterklärungsmuster von Lernenden gewährt. Welches Potential diese Einblicke zur Unterstützung von Lernen bieten, wird in dieser Arbeit theoretisch und empirisch untersucht. Gliederung der Arbeit Vor dem Hintergrund dieser Zielformulierung erfolgt im ersten Kapitel eine systematische Erarbeitung der zentralen Perspektive auf epistemische Überzeugungen als implizite, kontextabhängige und sozial erworbene Überzeugungen zu Wissen und Wissenserwerb. Das didaktische Konzept und Forschungsprogramm Alltagsphantasien wird im zweiten Kapitel eingeführt. Dabei liegt der besondere Fokus auf der Funktion der Alltagsphantasien für Individuen. Beide Konzepte werden im dritten Kapitel systematisch miteinander in Beziehung gesetzt. Dabei werden kulturtheoretische und kognitionspsychologische Erkenntnisse integriert, um sowohl die kulturelle Bedingtheit als auch den impliziten Charakter von epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien aufzuschlüsseln. Beide Konzepte werden in eine implizite Theorie der Realität eingebettet und in ihrer Funktion beim Lernen theoretisch betrachtet. Alltagsphantasien und epistemische Überzeugungen werden dabei unterschiedlichen Wirkdimensionen der impliziten Welterklärungsmuster im Lernprozess zugeordnet. Zudem werden die inhaltlichen Zusammenhänge von Alltagsphantasien und epistemischen Überzeugungen hermeneutisch analysiert. Zusätzlich wird der Frage nachgegangen, in welcher Weise epistemische Überzeugungen und Alltagsphantasien auf die Verarbeitung von Informationen im Lernprozess einwirken. Aus diesen Überlegungen heraus werden Hypothe-
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sen zu den Wechselwirkungen von epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien in Lernkontexten abgeleitet. Da epistemische Überzeugungen Einfluss auf die Art und Weise von Denkprozessen nehmen, ist es möglich, dass Lernende in Abhängigkeit ihrer epistemischen Überzeugungen unterschiedlich auf die Reflexion ihrer Alltagsphantasien reagieren. Andererseits könnte sich die Reflexion von Alltagsphantasien auf die Aktivierung epistemischer Überzeugungen auswirken. Zu der empirischen Erforschung dieser Wechselwirkungen wurden zwei laborexperimentelle Studien entwickelt und mit insgesamt 230 Studierenden durchgeführt. Die Darstellung der Studien sowie ihrer Ergebnisse erfolgt im fünften und sechsten Kapitel. Abschließend werden die Befunde im siebten Kapitel diskutiert und im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Forschung und didaktischen Implikationen ausgeführt.
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1 Epistemische Überzeugungen – Implizite Vorstellungen zu Wissen und seiner Genese
Epistemische Überzeugen bezeichnen Vorstellungssysteme, die den Umgang mit Wissen bestimmen und damit das Denken beeinflussen: Wie ein Individuum Wissen begegnet, ob es einer Aussage traut, sie überdenkt, sie verwirft oder für logisch erklärt, beziehungsweise sie überhaupt als fragwürdig erkennt, oder welche Kriterien Personen nutzen um Wissen zu prüfen, hängt mit ihren epistemischen Vorstellungen zusammen. Die umfassende Auseinandersetzung, die Verarbeitung, Überprüfung und Bewertung von Wissen wird maßgeblich durch die Vorstellungen eines Individuums zu Wissen und seiner Genese beeinflusst. Epistemische Überzeugungen bezeichnen dabei Ideen zu der Wahrheit und Sicherheit von Wissen sowie zu den Quellen und Rechtfertigungen dieses Wissens, wie etwa die Überzeugung „Es ist möglich, die Wahrheit über fast alles herauszubekommen.“ (Gerber 2004, 81). Die Forschung zu epistemischen Überzeugungen lässt sich in drei parallele Linien unterteilen: Zum einen wurde untersucht, wie Individuen ihre Bildungserlebnisse interpretieren. Diese Forschung folgt vor allem Perry (1968), der bereits in den 1950er Jahren untersuchte, wie Studenten ihren Wissenserwerb verstehen und wie sich ihre epistemischen Überzeugungen verändern. Zum anderen besteht eine Forschungstradition zu der Frage, wie epistemische Überzeugungen Denken und Entscheidungsprozesse beeinflussen. Dabei untersuchten King & Kitchener (2004) den Einfluss epistemischer Überzeugungen auf „reflective judgments“ und die Fähigkeiten des Argumentierens. In einer weiteren Linie der Forschung werden epistemische Überzeugungen als ein System von mehr oder weniger unabhängigen Überzeugungen verstanden und ihre Einflüsse auf Verstehen und Lernen im Schul- oder Hochschulunterricht untersucht. Schommer (1990, 2004) entwickelte hierzu einen Fragebogen zur quantitativen Erfassung epistemischer Überzeugungen. Bisher wurden epistemische Überzeugungen in der Forschung vor allem im Hinblick auf ihren Einfluss auf Lernerfolg und Verständnis diskutiert. Damit verbunden erfolgt der Großteil der Forschung zur Struktur epistemischer Überzeugungen (Sind epistemische Überzeugungen domänenspezifisch oder domä25 K. Oschatz, Intuition und fachliches Lernen, DOI 10.1007/978-3-531-93285-9_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
nenübergreifend organisiert?) sowie auf einer inhaltlichen und normativen Ebene in Bezug auf den Grad ihrer Sophistizierung (Sind epistemische Überzeugungen in ihrer inhaltlichen Ausprägung reif oder unreif und welche Einflüsse hat dies auf Lernen und Verstehen?). Derzeit wird im Forschungsdiskurs die ungenügende Organisation und Vernetztheit der Forschung zur persönlichen Epistemologie bemängelt. Hofer & Pintrich (1997, 89) zufolge besteht wenig Übereinkunft über das Konstrukt; die Dimensionen, die es beinhaltet; und wie diese Überzeugungen mit anderen Konstrukten zu Kognition und Motivation verknüpft seien. Die bisher beforschten Aspekte sind zentral, dienen jedoch nicht dazu epistemische Überzeugungen als mentale Komponenten des Lernprozesses mit anderen Konstrukten in Verbindung zu setzen. Epistemische Überzeugungen sind als wichtige Komponenten in Lernprozessen erkannt worden. Um zu erforschen, wie diese Überzeugungen sich entwickeln und wie sie beeinflusst werden, ist es wichtig, zu erkennen, wie sie mit anderen mentalen Komponenten zusammenhängen. Nach Schommer-Aikins (2004) bedarf es eines Rahmenmodells für epistemische Überzeugungen, das viele andere Aspekte von Kognition und Affekt einbezieht. Ihr zufolge braucht die Forschung ein solches Rahmenmodell, da epistemische Überzeugungen nicht in einem Vakuum wirken, sondern die Gedanken, Aktionen und Motivationen eines Lernenden das Zusammenlaufen multipler Systeme repräsentieren. „The need for an embedded systemic model of epistemological beliefs, that is, a model that includes many other aspects of cognition and affect, comes from the assumption that epistemological beliefs do not function in a vacuum. Indeed, at any given moment, learners’ thoughts, actions, or motivations represent the convergence of multiple systems” (Schommer-Aikins 2004, 23).
Die vorliegende Arbeit soll dazu beitragen, epistemische Überzeugungen in ein übergeordnetes Modell zu integrieren und in Beziehung zu anderen Konzepten zu setzen, die wichtige Charakteristika mit epistemischen Überzeugungen teilen. Dazu wird der Fokus auf zentrale Aspekte der epistemischen Überzeugungen gerichtet, die bisher im Gros der Forschung eher im Hintergrund standen: Die persönliche Epistemologie eines Individuums wird in dieser Arbeit als implizite, kontextabhängige und sozial erworbene Wissensstruktur vorgestellt, die Lernprozesse beeinflusst. In Übereinstimmung mit Jehng et al. (1993, 24) werden epistemische Überzeugungen als „socially shared intuitions about the nature of knowledge and learning“ gefasst. Ausgehend von diesem Standpunkt lassen sich Brücken von den epistemischen Überzeugungen zu Systemen von
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Überzeugungen und Vorstellungen schlagen, die ebenfalls in Lernprozessen eine Rolle spielen und die gleichen Charakteristika „Implizitheit“ und „soziale Bedingtheit“ tragen. Dies wird in dieser Arbeit am Beispiel des didaktischen Konzeptes der Alltagsphantasien ausgeführt. Ziel des folgenden Kapitels ist es deshalb aus den bestehenden theoretischen Erkenntnissen herauszuarbeiten, dass epistemische Überzeugungen (1) implizit vorliegen, (2) Lernprozesse beeinflussen (3) sozial erworben werden und (4) kontextabhängig aktiviert werden. Im Folgenden wird kurz die Struktur dieses Kapitels ausgeführt: Um den Leser im Feld zu orientieren, beginnt das Kapitel mit einem kurzen Überblick zu der Forschung zu epistemischen Überzeugungen, in dem alle wichtigen und grundlegenden Perspektiven eingeführt und verknüpft werden. Dabei stehen vor allem gängige Konzeptionen sowie das Problem der Abgrenzung epistemischer Überzeugungen gegen Persönlichkeitsmerkmale und Lernüberzeugungen im Mittelpunkt. Danach werden die oben genannten zentralen Aspekte epistemischer Überzeugungen herausgearbeitet. (1) Epistemische Überzeugungen weisen die Charakteristika impliziten Wissens auf, das in Lernprozessen als intuitives Wissen Bewusstheit erlangen kann. Epistemische Überzeugungen sind also potentiell bewusstseinsfähig. Sie sind jedoch so stark verinnerlicht, dass sie auf das Denken eines Individuums einwirken, ohne in dessen Bewusstsein zu gelangen. Die meisten Ansätze zu epistemischen Überzeugungen thematisieren den impliziten Charakter epistemischer Überzeugungen kaum oder setzen ihn als gegeben voraus, ohne ihn genauer einzuordnen. Im Kapitel 1.2 wird daher dem impliziten Charakter epistemischer Überzeugungen genauer nachgegangen, indem die Theorie von Hofer (2004) zur persönlichen Epistemologie als Teilbereich der Metakognition herangezogen und in Beziehung zu weiteren Ansätze zum impliziten Charakter der persönlichen Epistemologie gesetzt wird. (2) Beim Lernen sind epistemische Vorstellungen bedeutsam, da sie Einfluss auf Prozesse der Informationsverarbeitung und Strategien des Lernens nehmen. An die inhaltliche Dimension ist eine prozedurale Auswirkung gebunden. Die inhaltliche Ausrichtung wirkt sich auf die konkrete Form der Verarbeitung von Wissen aus. Im Kapitel 1.3 wird diese „Management“-Funktion epistemischer Überzeugungen für das Denken und Verstehen eines Individuums ausgeführt, indem bestehende Befunde zum Einfluss epistemischer Überzeugungen auf Lernen und Verstehen sowie zu ihrer Rolle in Verarbeitungsprozessen integriert werden. (3) Für die in dieser Arbeit gewählte Perspektive ist zentral, dass die persönliche Epistemologie als sozial erworbene Wissensstruktur verstanden wird. 27
Baxter Magolda (2002, 2001) fasst epistemische Überzeugungen und die Strukturen, die sie begründen, als sozial konstruierte Entitäten, die einen Beitrag zur Sinnstiftung in Lernprozessen leisten. Der Abschnitt 1.4 dieses Kapitels dient dazu die Determinanten der persönliche Epistemologie und ihrer kulturellen und sozialen Verwurzelung zu skizzieren. (4) Zahlreiche Befunde zeigen, dass sich die epistemischen Überzeugungen von Individuen für unterschiedliche Domänen (etwa Schulfächer) unterscheiden können. Selbst innerhalb eines Bereiches zeigen Lernende häufig vermeintliche Inkonsistenzen in ihrer persönlichen Epistemologie. Eine plausible Erklärung dieser Phänomene besteht in der besonderen Bedeutung des Kontextes: Demnach umfasst die persönliche Epistemologie eines Menschen verschiedene Ausprägungen von epistemischen Vorstellungen, die je nach Kontext aktiviert werden (Hammer & Elby 2002). Gestützt wird diese Perspektive auch durch Befunde zur Bedeutung sozialer Unterstützung für das Denken auf hohem epistemischen Niveau (Kitchener & Fischer 1990). Die Bedeutung des Kontextes für die Reife epistemischer Überzeugungen und die pädagogischen Implikationen, die aus dieser Perspektive erwachsen, sind Gegenstand des Kapitels 1.5. Anschließend an die Bedeutung von Kontext und Domäne wird die Forschung zu epistemischen Überzeugungen mit der fachdidaktischen Forschung zu Nature of Science (NOS) in Beziehung gesetzt. Epistemische Überzeugungen haben eine besondere Bedeutung im naturwissenschaftlichen Unterricht. Die Forschung zu NOS und epistemischen Überzeugungen erfolgt vor dem Hintergrund des naturwissenschaftlichen Bildungsanspruches. In diesem abschließenden Teil des Kapitels wird das Thema dieser Arbeit auf der Ebene der naturwissenschaftsdidaktischen Forschung eingeordnet, um den Anschluss an ein Konzept der Naturwissenschaftsdidaktik, das didaktische Konzept der Alltagsphantasien, vorzubereiten. 1.1 Die Forschung zur persönlichen Epistemologie Epistemisches Wissen4 umfasst die Kognitionen eines Individuums bezüglich der Natur von Wissen und der Art und Weise wie dieses Wissen erworben wird 4 Terminologie: Epistemologie als philosophische Disziplin beschäftigt sich mit den Ursprüngen, der Natur, den Grenzen, Methoden und der Rechtfertigung von menschlichem Wissen. Wissenschaftler im Bereich der persönlichen Epistemologie haben diese philosophischen Terminologien übernommen um psychologische Konstrukte zu beschreiben. Die Folge sind Ambiguität und mangelnde Präzision in der Bezeichnung der Konstrukte: Die Begriffe epistemologische Überzeugungen und epistemische Überzeugungen werden in der Literatur nahezu synonym gebraucht. Persönliche
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(Kitchener 1983). Die persönliche Epistemologie gilt als ein Aspekt von metakognitiven Denkprozessen, der häufig in Wissenskonstruktionsprozessen aktiviert wird (Hofer 2004, 43). Diese Form von Vorstellungen steht in den letzten Jahrzehnten verstärkt im Fokus des Forschungsinteresses, da angenommen wird, dass epistemische Vorstellungen in einem engen Zusammenhang zum Verstehen und Lernerfolg von Individuen stehen (Schommer 1990, 1994, 1998, Ryan 1984 u. a.). Nach Hofer (2004, 43) sind epistemische Überzeugungen essentiell für Konstruktionsprozesse von Wissen: Wenn eine Person beginnt, sich Wissen zu einem Thema aufzubauen, laufen eine Reihe von kognitiven Prozessen ab. Sie wird entscheiden, ob sie Vertrauen in die Quelle der neuen Information hat, weitere Informationsquellen aussuchen und ihr eigenes Verständnis überwachen. Sie wird Bewertungen des Wissens vornehmen, das sie ansammelt und bestimmen müssen, wie sie mit Beweisen umgeht, wie sie ihre eigenen Erlebnisse mit Expertenwissen vereinbart und auch, wann sie genug Informationen gesammelt hat und den Wissenssuchprozess zu einem Abschluss führt. Alle diese Entscheidungen involvieren epistemische Überzeugungen. Die Entscheidungsprozesse laufen größtenteils unbewusst ab und lassen sich lediglich an den Handlungen des Individuums ablesen. 1.1.1 Konzeptionen epistemischer Überzeugungen Traditionell wird persönliche Epistemologie in zwei Weisen konzeptionalisiert, entweder als ein kognitiver Entwicklungsprozess oder als ein System von Überzeugungen. Frühe Studien betrachteten vor allem die Entwicklung der epistemischen Überzeugungen. Perry (1968, 1981, 1985) nahm an, dass Studierende festgelegte entwicklungsbedingte Stufen von epistemischen Überzeugungen durchlaufen. Seinem Modell zufolge herrscht in den frühen Stadien eine sogenannte „dualistische“ Perspektive vor: Die Studierenden sehen Wissen als entweder richtig oder falsch an und glauben an allwissende Autoritäten, die die wahren Antworten kennen. Erreichen die Studierenden die späten Stadien, realisieren sie, dass es multiple Ausprägungen und Ausdeutungsmöglichkeiten von Epistemologie ist eine persönliche Theorie über Wissen. Epistemische Überzeugungen sind Überzeugungen über Wissen. Der Begriff epistemologische Überzeugung meint das Gleiche, würde sich der Ableitung des Wortes nach jedoch auf Überzeugungen zum Metawissen über Epistemologie beziehen. Im Folgenden wird in Anlehnung an Hofer (2004) die Bezeichnung epistemische Überzeugungen verwendet.
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Wissen gibt und Menschen zu bestimmten Zeiten zu einer Form von Ideen tendieren oder starke Verbindlichkeiten zur Übernahme bestimmter Positionen führen. Sie erkennen, dass die Zuordnung zu Positionen mit der Übernahme von Verantwortung für die damit vertretenen Ideen und Perspektiven auf die Welt einhergeht. Über die Art und Weise der Organisation epistemischer Überzeugungen besteht in der Forschung jedoch Uneinigkeit. Während in der Tradition um Perry (1985) davon ausgegangen wird, dass die persönliche Epistemologie unidimensional ist und sich in einer festen Progression von Stufen entwickelt, nimmt Schommer (1990, 498) an, dass die persönliche Epistemologie ein Überzeugungssystem darstellt, das aus verschiedenen mehr oder weniger unabhängigen Dimensionen zusammengesetzt ist. Ihr zufolge seien Überzeugungen zur Natur von Wissen zu komplex um in einer einzigen Dimension inbegriffen zu sein. Schommer nimmt daher mindestens fünf Dimensionen an: Vorstellungen zur Struktur, Sicherheit, Quelle des Wissens und zur Kontrolle und Schnelligkeit von Wissenserwerb. In jüngeren Theorien werden epistemische Überzeugungen Theorie-ähnlich konzeptionalisiert (Hofer 2004)5 oder als Netzwerk epistemologischer Ressourcen verstanden (Hammer & Elby 2002), die in unterschiedlichen Kontexten aktiviert werden und in variierenden Kombinationen miteinander verbunden sind. Diese Konzeption wird in Kapitelteil 1.5 genau dargestellt und ihre Bedeutung für die pädagogische Praxis ausgearbeitet. 1.1.2 Was zählt zu den epistemische Überzeugungen? – Zum Status von Lernüberzeugungen und Persönlichkeitsmerkmalen Auch über die Grenzen der zum Konstrukt der persönlichen Epistemologie zugehörigen Vorstellungen besteht Uneinigkeit: „If researchers are attempting to look at the bigger picture, they need to include beliefs about learning. An even more encompassing picture will include other beliefs, for example beliefs about self and beliefs about domains” (Schommer-Aikins 2002, 110). Schommer zufolge sind Überzeugungen zum Lernen und selbstkonzeptrelevante Überzeugungen in den Bereich der epistemischen Überzeugungen mit einzubeziehen. Andere, wie etwa Hofer & Pintrich (1997) fordern dagegen die 5 Hofer und Pintrich (1997, 117) konzeptionalisieren ihren Strukturansatz persönlicher Epistemologie in Form einer Theorie bewusst in Anlehnung an die Forschung zu Conceptual Change um einen Kompromiss zwischen Entwicklungstheorien und unabhängigen Dimensionen zu erzielen (dessen empirische Evidenz bisher jedoch noch fehlt).
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Trennung wissensbezogener Überzeugungen von Lernüberzeugungen. Hofer & Pintrich (1997, 112) unterscheiden dazu sechs Dimensionen von Überzeugungen zu Wissen und Lernen. Von diesen bestimmen sie jedoch nur vier als zentrale Dimensionen epistemischer Überzeugungen, die sich in zwei übergreifenden Kernkomplexen organisieren lassen: 1. Vorstellungen zur Nature of knowledge, der „Natur des Wissens“, umfassen Vorstellungen bezüglich der Beschaffenheit des Wissens, wie zur Sicherheit oder Einfachheit von Wissen. Diese Dimensionen spannen sich zwischen den beiden Extrempolen der sogenannten „absolutistischen“ Positionen, nach denen Wissen als sicher und absolut anzusehen ist, hin zu den „relativistischen“ Positionen, nach denen Wissen als relativ, konstruiert und kontextabhängig verstanden wird. 2. Vorstellungen zu den Quellen von Wissen und der Wissensbegründung gehören dagegen dem Komplex der Nature of knowing, der „Natur des Wissens als Prozess“, an. Die hier einbegriffenen Vorstellungen beschreiben den Prozess der Wissensgenese und des Wissen als Tätigkeit. Die Vorstellungen reichen von Überzeugungen, dass Wissen von Autoritäten weitergegeben wird hin zu Vorstellungen von der selbstständigen Konstruktion von Wissen durch das Individuum. Außerhalb dieser beiden Kernkomplexe persönlicher Epistemologie stellen Hofer & Pintrich (1997, 113) die beiden weiteren, jedoch peripheren Dimensionen zu Lernen und Lehren sowie Intelligenz, bestehend aus Nature of learning and instruction und Nature of intelligence. Da diese Dimensionen jedoch lediglich in zwei großen Konzepten zur persönlichen Epistemologie berücksichtigt werden, erachten es Hofer & Pintrich (1997) für sinnvoll, das Konstrukt der epistemischen Überzeugungen auf die beiden ausgeführten Kerndimensionen zu begrenzen.6 Tatsächlich seien Vorstellungen zu Lernstrategien und Lehren oder zu Intelligenz jedoch eng mit dem Prozess der Wissensgenerierung verbunden und im kognitiven Netzwerk eng verknüpft (Hofer & Pintrich 1997, 116). Sie bemängeln die ungenügende Organisation und Vernetztheit der Forschung zur persönlichen Epistemologie. Es bestehe wenig Übereinkunft über das Konstrukt, die Dimensionen, die es beinhalte, ob epistemische Überzeugungen domänenunabhängig oder domänenübergreifend organisiert seien und wie diese Über6 Die Konzeption von Baxter Magolda (2002) beinhaltet Aspekte zur Rolle des Lernenden und seiner Evaluation des Lernens sowie dessen Wahrnehmung der Rolle von Peers und des Lehrenden. Auch Schommer berücksichtigt in ihrem Ansatz die Aspekte „Schnelligkeit des Lernens“ und „Angeborene Fähigkeit“.
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zeugungen mit anderen Konstrukten zu Kognition und Motivation verknüpft seien, bemerken Hofer & Pintrich (1997, 89). 1.1.3 Persönlichkeitsmerkmale und epistemische Überzeugungen Dieser Hinweis von Hofer & Pintrich (1997) macht deutlich, dass epistemische Überzeugungen eingebunden in andere, etwa kulturell geprägte Vorstellungen oder Charakteristika des Individuums wirken. Dieser Punkt berührt die unklare Abgrenzung von erworbenen Überzeugungen und Persönlichkeitsmerkmalen oder Selbstkonzeptmerkmalen innerhalb der persönlichen Epistemologie, die von verschiedenen Forschern auf unterschiedliche Weise gehandhabt wird: Nach Klaczynski sind Epistemic beliefs (2000, 1350) metakognitive Dispositionen, die stark mit Persönlichkeitsmerkmalen, wie Offenheit, Reflektiertheit und der Bereitschaft eigenes Wissen zu prüfen, zusammenhängen. Deshalb verwendete Klaczynski zur Erhebung der Ausrichtung der persönlichen Epistemologie die Instrumente Need for Cognition (misst die Freude am Denken), die Belief-Defensiveness-Skale (erfasst die Offenheit für die Revision von Überzeugungen), den Test Need for Cognitive Closure (erhebt die Tendenzen unsichere Zustände von Wissen zu vermeiden), sowie die Head or Heart-Skale (erfasst das Ausmaß, mit dem ein Individuum sich auf rational oder intuitiv erworbenes Wissen verlässt). Auch Hofer (2004, 48) verweist auf die Nähe von epistemischen Überzeugungen zur Einfachheit und Sicherheit von Wissen und Persönlichkeitsmerkmalen, wie dem Need for Cognition. Auch Selbstkonzepte, wie self as knower oder self as thinker, hängen ihrer Meinung nach eng mit der persönlichen Epistemologie einer Person zusammen. Dass Persönlichkeitsmerkmale die epistemischen Überzeugungen eines Individuums beeinflussen können, scheint einleuchtend: Eine Person, die Angst vor Unsicherheiten und demzufolge ein starkes Sicherheitsbedürfnis hat, könnte durchaus Unbehagen und damit eine eingeschränkte Bereitschaft zeigen, sich mit unlösbaren Problemen oder unklaren Thematiken zu beschäftigen. Dagegen empfindet ein Mensch mit weniger ausgeprägtem Sicherheitsbedürfnis die Auseinandersetzung mit kontroversen Themen eventuell als anregend.7 7 Umgekehrt kann davon ausgegangen werden, dass auch die epistemischen Überzeugungen auf das Selbstverständnis einer Person zurückwirken. Die Vorstellung von der Konstruktion allen Wissens und Überzeugungen zur Veränderlichkeit von Wissen und dem Gebot ständiger Überprüfung von Wissen, verändert das Selbstverständnis einer Person dahingehend, dass sie eher geneigt ist, ihre eigenen Überzeugungen zu hinterfragen und Informationen kritisch zu überprüfen (Klaczynski
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1.1.4 Das epistemische Motiv In dieser Arbeit wird davon ausgegangen, dass neben den inhaltlich spezifizierten epistemischen Überzeugungen zumindest eine personenspezifische Disposition als Aspekt der persönlichen Epistemologie integriert werden sollte: Personen differieren in ihrer Bereitschaft zum Nachdenken und in ihrer Freude am Denken. Epistemische Überzeugungen von höherem Sophistizierungsgrad betonen die Bedeutung des eigenen Denkens sowie die Unsicherheit und Veränderlichkeit von Wissen, das immer wieder eine Überprüfung erfordert. Die Bereitschaft zum Nachdenken ist in diesem Zusammenhang folglich eine zentrale volitionale Komponente. Diese Komponente persönlicher Epistemologie ist nicht an inhaltliche Überzeugungen oder kulturelle Aspekte gebunden, sondern bezeichnet ein Persönlichkeitsmerkmal des Individuums, das im Folgenden als epistemisches Motiv bezeichnet werden soll. Das von Cacioppo & Petty (1982) eingeführte Konstrukt des Need for Cognition ist meiner Ansicht nach als ein solches epistemisches Motiv zu verstehen. Personen mit einem hohen Bedürfnis nach Kognition haben Freude am Denken und zeigen eine hohe Bereitschaft, sich durch Nachdenken mit Problemen auseinanderzusetzen. Personen mit einem geringen Bedürfnis nach Kognition neigen eher dazu anstrengende kognitive Aktivitäten zu meiden. Das epistemische Motiv bezeichnet somit eine volitionale Komponente persönlicher Epistemologie. Die Bedeutung des epistemischen Motivs für die Möglichkeiten der Einwirkung auf epistemischen Überzeugungen wird im Kapitel 3.6.5 genauer ausgeführt. Da davon ausgegangen werden muss, dass epistemische Überzeugungen mit einer Fülle von persönlichen Überzeugungen zusammenhängen, führt SchommerAikins in ihren jüngeren Publikationen den Begriff der „epistemically related beliefs“ ein und erfasst damit epistemische Überzeugungen sowie andere Vorstellungen und Persönlichkeitsmerkmale, die die Wahl der Lernstrategien und das Lernverhalten von Individuen beeinflussen (Schommer-Aikins & Easter 2008, 921). Das epistemische Motiv könnte hiernach als „epistemically related disposition“ eingeordnet werden. Nachdem nun kurz zusammengefasst wurde, welche generellen Konzeptionen (Entwicklungsmodell vs. System von Überzeugungen) epistemischer Überzeugungen unterschieden werden und wie sich epistemische Überzeugungen 2000, 1350). The fool doth think he is wise. But the wise man knows himself to be a fool (Shakespeare, As you like it).
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gegen Persönlichkeitsmerkmale und Lernüberzeugungen abgrenzen lassen, werden epistemische Überzeugungen nun anhand der zentralen Charakteristika (1) Implizitheit, (2) Einfluss auf Lernprozesse, (3) kulturelle Erworbenheit und (4) kontextuelle Aktivierung betrachtet. 1.2 Implizite persönliche Epistemologie und Metakognition Ein komplizierter Aspekt epistemischer Überzeugungen ist der Grad ihrer expliziten Ausprägung. In der Forschung besteht Einigkeit darüber, dass Menschen wohl über Vorstellungen zu Wissen und Wissenserwerb verfügen, sich aber nicht permanent über ihre Vorstellungen bewusst sind oder sie explizit benennen können. 1.2.1 Der stille oder intuitive Charakter epistemischer Überzeugungen Die meisten Ansätze zu persönlicher Epistemologie basieren auf der stillen Annahme, Individuen verfügten über epistemische Überzeugungen als deklaratives Wissen, zu welchem sie bewussten, artikulierbaren Zugang hätten (Hammer & Elby 2002). Hofer & Pintrich (1997) verstehen epistemische Überzeugungen etwa als „epistemologische Theorien“, also als umfassend organisierte kognitive Konzepte (damit folgen sie der Forschung zum „conceptual understanding“). Sollten Lernende sich für gewöhnlich nicht ihrer epistemischen Überzeugungen bewusst sein, so könnten sie sich dieser Überzeugungen jedoch in bestimmten Situationen oder nach Aufforderung bewusst werden und über ihren Inhalt in Interviews und durch Fragebögen berichten (Hofer & Pintrich 1997). Von verschiedenen Seiten wird jedoch angezweifelt, ob Personen in Fragebögen tatsächlich direkte Auskunft über ihre epistemischen Vorstellungen geben können (u.a. Hammer & Elby 2002, Trautwein et al. 2004, Bromme 2005, Stahl et al. 2006). Lernende außerhalb der Lernsituation über ihre epistemischen Überzeugungen zu befragen, entspräche nach Hammer & Elby (2002) der Frage an einen Golfer, ob er beim Schwingen des Golfschlägers vor einem Schlag einatme oder ausatme. Gewöhnlich denke ein Golfer nicht darüber nach und wüsste wahrscheinlich keine Antwort auf diese Frage. Ebenso sei sich das lernende Individuum in seinen Lernprozessen seiner epistemischen Vorstellungen nicht unbedingt bewusst und bemerke nicht, wie diese Überzeugungen zu Wissen und Lernen seine Lernstrategien und Verarbeitungsprozesse beeinflussen. 34
Andererseits sind Menschen durchaus in der Lage epistemische Vorstellungen zu artikulieren. Wie dieses artikulierte Wissen jedoch in der Situation des Lernprozesses wirkt und inwieweit es die tatsächlichen Einfluss nehmenden Vorstellungen offenlegt, ist unklar, geben Hammer & Elby (2002) zu bedenken. Die meisten Ansätze, die epistemische Überzeugungen als implizite Vorstellungen konzipieren, führen diesen impliziten Charakter kaum aus: Jehng et al. bezeichnen epistemische Überzeugungen als „socially shared intuitions about the nature of knowledge and learning“ (Jehng et al. 1993, 24, vgl. auch Urhahne & Hopf 2004, 72). Songer & Linn (1991, 762) betrachten epistemische Überzeugungen ebenfalls als intuitive Überzeugungen, und geben zur Erläuterung an, dass diese aus dem aktiven Erleben und damit aus Handlungs- und Beobachtungswissen erwachsen. Pirttilä-Backmann & Kajanne (2001) untersuchen die Entwicklung vom „implicit epistemologies“ ohne jedoch den impliziten Charakter genauer zu bestimmen. Auch nach Hammer & Elby (2002, 172) reflektieren Lernende typischerweise nicht explizit über die Natur von Wissen und Lernen etwa im naturwissenschaftlichen Unterricht, sondern konzentrieren sich in diesen Kontexten auf die Phänomene und Konzepte, mit denen sie umgehen. Sie zweifeln an, inwieweit epistemische Überzeugungen bewusster Reflexion und Artikulation zugänglich sind und gehen von einer „tacit epistemology“, also einer stillen oder impliziten persönlichen Epistemologie aus (Hammer & Elby 2002, 174). Dabei bezeichnen sie epistemisches Wissen auch als informell: “…epistemology as a category of informal knowledge that might play a role in students’ knowledge, reasoning, study strategies and participation“(Hammer & Elby 2002, 169). Dieses informelle Wissen wirkt unkontrolliert. Ihrem Ansatz zufolge bestimmen Lernsituation und Kontext – wie z. B. das Fach, der Lehrstil der Lehrperson – welche epistemischen Überzeugungen aktiviert werden (s.u., Kapitel 1.5 zu Kontext). Die Aktivierung der Vorstellungen erfolgt dabei automatisch, ohne dass das Individuum kontrollierten Einfluss auf die in der Situation aktivierten Vorstellungen und Überzeugungen nehmen könnte. Die in Lernsituationen wichtigen epistemischen Vorstellungen wirken also aufgrund ihres informellen Charakters kontextabhängig. Die vielfältigen Begriffe intuitiv, implizit, tacit oder informal zeigen einerseits die vielfältigen Versuche, den besonderen Charakter epistemischer Überzeugungen sprachlich zu markieren, die als Vorstellungen im Lernprozess außerhalb expliziter Reflexion auf einer nicht bewussten Ebene Einfluss nehmen. Auf der anderen Seite spiegeln sie auch den mangelnden Konsens und die bestehenden Unklarheiten über das tatsächliche Phänomen. In dieser Arbeit wird der Standpunkt vertreten, dass es sich bei epistemischen Überzeugungen um 35
implizite Vorstellungen handelt, die dem Individuum in Form von intuitivem Wissen bewusst werden können. 1.2.2 Epistemische Überzeugungen als Teil einer impliziten metakognitiven Theorie Eine nähere Bestimmung des mentalen Status epistemischer Überzeugungen lässt sich aus Hofers (2004) Verständnis epistemischer Überzeugungen als einer Form von Metakognition ableiten. Hofer integriert die Dimensionen Nature of knowledge und Nature of knowing (siehe Kapitel 1.1.2) in Ansätze, die Metakognition als ein multidimensionales Konstrukt auffassen. 1.2.2.1 Drei Dimensionen epistemischer Metakognition Pintrich et al. (2000) haben ein Modell der Metakognition mit drei Komponenten entworfen. Die erste Komponente ist die Dimension des metakognitiven Wissens (1). Diese Komponente ist nach Pintrich et al. (2000) eher statisch und beinhaltet das Wissen eines Individuums bezüglich Kognition und Strategien, Wissen zu den Charakteristika von Aufgaben, die die Kognition beeinflussen, sowie Wissen über das Selbst als Lernender oder Denker. Hofer (2004) ordnet die epistemischen Überzeugungen des Komplexes der Nature of knowledge dieser ersten Komponente metakognitiven Wissens (1) zu. Wissen über Kognitionen und Strategien wird damit um Vorstellungen zur „Sicherheit und Einfachheit von Wissen“ ergänzt. Metakognitives Wissen ist nicht unbedingt für das Individuum benennbar: Kinder demonstrieren häufig eine routinierte Verwendung von metakognitivem Wissen, ohne in der Lage zu sein, dieses Wissen zu beschreiben. Metakognitives Wissen braucht also nicht bewusst vorzuliegen, um nützlich zu wirken. Schraw & Moshman (1995, 354) gehen dennoch davon aus, dass bewusster Zugriff auf dieses Wissen Denken und Selbstregulation vereinfachen. Auf der zweiten Dimension der Metakognition findet sich die Komponente des metakognitiven Beurteilens und Monitoring (2). Diese Dimension ist prozessorientiert und beinhaltet Aspekte wie das Einschätzen von Aufgabenschwierigkeit, das Überwachen von Verstehen und Lernen und das Abschätzen der eigenen Lernfähigkeiten. In dieser Komponente können Fragen wie „Weiß ich das?“ eingeordnet werden. Nach Hofer (2004) wäre hier deshalb die verwandte epistemische Fragestellung „Wodurch weiß ich das?“ zuzuordnen. Damit würde der zweite Komplex epistemischer Überzeugungen, der Komplex Nature of 36
knowing mit Vorstellungen zu den „Quellen und der Begründung des Wissens“ hier zugeordnet. Die dritte Komponente des Modells der Metakognition von Pintrich et al. (2000) umfasst die Selbstregulation und Kontrolle der Kognition und des Lernens (3). Dies bezieht sich auf Aspekte wie das Planen, die Strategieauswahl, die Bereitstellung von Ressourcen und die volitionale Kontrolle kognitiver Prozesse. Diese dritte Komponente beinhaltet demnach die regulativen Aspekte von Wissen: Volition, Interesse, Motivation, Denkdispositionen, intellektuelle Werte und Überzeugungen spielen eine Rolle, wenn eine Person sich ein Verständnis von einem Thema aufbaut und überlegt, wie sie vorgehen will. Metakognitive Kontrollprozesse sind hoch automatisierte kognitive Prozesse, die deshalb kaum bewusst zugänglich sind. Zudem wird davon ausgegangen, dass sie sich außerhalb bewusster Reflektion entwickeln (Schraw & Moshman 1995, 356). Das von mir im ersten Teil dieses Kapitels (siehe 1.1.2) eingeführte epistemische Motiv als volitionale Komponente persönlicher Epistemologie wäre dieser dritten metakognitiven Dimension zuzuordnen. Personen mit einem ausgeprägten epistemischen Motiv haben Freude am Denken und zeigen eine hohe Bereitschaft, sich durch Nachdenken mit Problemen auseinanderzusetzen. Es ist naheliegend, dass eine solche „epistemische Bereitschaft“ Einfluss auf die Regulation von Denkprozessen nehmen könnte. 1.2.2.2 Wann ist Metakognition implizit? Nach Schraw & Moshman (1995) lassen sich die soeben einzeln betrachteten metakognitiven Komponenten in einer „Theorie der Metakognition“ integrieren, deren Organisationsstufe mit dem kognitiven Verhalten zusammenhängt.8 Schraw & Moshman (1995, 357) machen dabei den Grad der Bewusstheit zum Einordnungskriterium für die Organisationsstufe der Theorie und skizzieren drei ineinander übergehende Varianten (1995, 358). (1) Sogenannte „tacit theories“ gehen von einem impliziten und unreflektierten metakognitiven Wissen aus, das ohne bewusste Reflexion entstanden ist. Als Beispiele gelten die Befunde von Dweck & Leggett (1988) zu den impliziten Theorien von Kindern zur Angeborenheit von Intelligenz, oder die Untersu8 Die Annahme einer „Theorie“ metakognitiven Wissen impliziert (wie bei Hofer & Pintrich 1997 s.o.) eine Struktur, die eine Integration seines metakognitiven Wissens für das Individuum möglich macht und Erklärungen und Voraussagen über kognitives Verhalten erlaubt.
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chungen von Sternberg & Caruso (1985) zum Einfluss von impliziten Theorien über das eigene Wissen bei Erwachsenen. Diese rein implizite Metakognition kann nur begrenzt leitend und erklärend wirken. Kinder hätten demzufolge Schwierigkeiten, ihr Wissen über Gedächtnis und Lernstrategien zu nutzen, da dieses Wissen nur implizit vorliegt und sie es noch nicht in eine explizite Theorie integriert haben. (2) Die zweite Stufe bilden dann „explicit informal theories“. Damit bezeichnen Schraw & Moshman (1995, 359) fragmentarisch bewusste Vorstellungen und Überzeugungen zu Wissen, die vom Individuum noch nicht in eine einheitliche explizite Theorie integriert wurden. Dabei wird angenommen, dass einfache explizite informale Theorien erst einmal nur in einzelnen Domänen Bewusstheit erreichen, so dass zunächst nur „Inseln“ bewusster Metakognition entstehen. (3) Explizite formale metakognitive Theorien bestehen letztendlich aus hochgradig systematisierten Vorstellungen, etwa über Epistemologie. Sie beinhalten explizite theoretische Strukturen, wie sie im Studium an der Hochschule oder Universität vermittelt werden. Aus diesem Grund sind sie nach Schraw & Moshman auch eher selten und markieren das Ende des Organisationskontinuums (1995, 361). Nach dieser Perspektive ist also davon auszugehen, dass metakognitives Wissen zumeist implizit vorliegt und wirkt. Explizites metakognitives Wissen wird äußerst selten erreicht und es ist unwahrscheinlich, dass es in Situationen hoher Aufmerk-samkeit für die Inhalte (etwa im Unterricht) explizit den Lernprozess beeinflusst. Wird epistemisches Wissen als metakognitives Wissen konzeptionalisiert, dann ist davon auszugehen, dass es (in Übereinstimmung mit der Perspektive von Hammer & Elby (2002) oder Jehng et al. (1993) vornehmlich implizit oder informell vorliegt. Denn auch bei teilweise bestehendem Bewusstsein in Form einer expliziten informellen oder formellen metakognitiven Theorie epistemischer Vorstellungen ist anzunehmen, dass epistemische Überzeugungen in Lernsituationen nicht immer bewusst mitlaufen, sondern implizit auf den Lernprozess einwirkt. Die von Schraw & Moshman (1995) erläuterten Abstufungen könnten darüber hinaus erklären, wieso epistemische Überzeugungen dennoch artikuliert werden können und sich in einzelnen Domänen unterscheiden. Verfügen Individuen über „explicit informal epistemic theories“ hat das Individuum reiferes „Inselwissen“ etwa für den Bereich der Erkenntnisbildung in der Sozialwissenschaft gebildet, die es noch nicht auf Naturwissenschaften übertragen kann.
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Bemerkenswert an dem Ansatz von Schraw & Moshman (1995) ist die Annahme, dass eine metakognitive Theorie ein Subset der Theory of Mind9 darstellt (Schraw & Moshman 1995, 357). Der Begriff Theory of Mind bezeichnet nach Wellman (1990, 2) die Vorstellungen von Menschen über Bewusstseinsvorgänge in anderen Personen und die Fähigkeit, Annahmen über diese Vorgänge zu machen. Mit der Zuordnung der Metakognition in diesen Bereich wird metakognitivem und epistemischem Wissen Bedeutung in zwischenmenschlichen Verstehensprozessen und für soziales Verhalten zugewiesen. Vor diesem Hintergrund kann auch die Ausbildung reifer epistemischer Überzeugungen und eines Bewusstseins für diese Vorstellungen bei Lehrenden und der Einfluss dieses Wissens auf ihren Umgang mit SchülerInnen in einen neuen Zusammenhang gestellt werden: Die Ausbildung einer sophistizierten persönlichen Epistemologie und eines Bewusstseins für epistemische Vorstellungen würde demnach bei Lehrenden die Fähigkeit zum Verständnis der Bewusstseinsvorgänge von anderen Menschen, also etwa denen der Lernenden, stärken. Nachdem nun der implizite Charakter epistemischer Überzeugungen anhand verschiedener Konzeptionen hergeleitet wurde, werden im nächsten Teil dieses Kapitels die Auswirkungen epistemischer Überzeugungen auf das Lernen in den Blick genommen: Vorstellungen zu Wissen und seiner Genese sind deshalb so bedeutsam, da sie Einfluss auf Prozesse des Lernens und der Informationsverarbeitung nehmen. An die inhaltliche Dimension epistemischer Überzeugungen ist also eine prozedurale Auswirkung gebunden, die epistemische Überzeugungen für Pädagogen und Psychologen interessant macht. Diese Wirkungsweise epistemischer Überzeugungen steht in den folgenden Ausführungen im Mittelpunkt.
9 Wellman (1990) zufolge haben alle Menschen „alltagspsychologische“ oder naive Vorstellungen über mentale Vorgänge und über den „Geist“ anderer Menschen. Vorstellungen über die Natur von Gedanken, Überzeugungen, Wünschen und Plänen oder von Phantasie zählen zu Inhalten einer Theory of mind ebenso wie Konzeptionen der Gegenüberstellung von Körper und Geist oder der Freiheit von Gedanken. Erst die Annahme einer mentalen Aktivität und einer mentalen Welt, die individuell und von außen nicht erkennbar ist, jedoch dem Handeln und Denken eines jeden Menschen zugrunde liegt, ermöglicht es Menschen andere Menschen zu verstehen, also Gefühle, Bedürfnisse, Ideen, Absichten, Erwartungen und Meinungen anderer zu vermuten (Wellman 1990, 5).
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1.3 Wirkungen epistemischer Überzeugungen in Lernprozessen Es ist davon auszugehen, dass epistemische Überzeugungen vornehmlich implizit die Wissenskonstruktion beeinflussen. Epistemische Überzeugungen werden in Prozessen des Lernens, also des Wissensauf- oder Umbaus demnach meist außerhalb der willentlichen Kontrolle des Lernenden aktiviert und beeinflussen das Denken und das Vorgehen beim Lernen. 1.3.1 Auswirkungen auf Verstehen und Lernleistung Untersuchungen von Schommer (1998, 1993) spezifizieren den Zusammenhang von epistemischen Überzeugungen und Lernverhalten. Schommer et al. fanden Zusammenhänge zwischen epistemischen Überzeugungen und Verstehen, dem Überwachen des eignen Verstehens, Lernstrategien und Textinterpretation. Je stärker Lernende an die Komplexität von Wissen und an graduelles Lernen glauben, desto wahrscheinlicher sind sie erfolgreich im Verstehen und im Monitoring ihres eigenen Verstehens. Je stärker Lernende eine Vorstellung von graduellen Lernprozessen hegen, desto höher ist ihr Grade Point Average (GPA, Durchschnitt der Notenpunkte in den USA, ähnlich dem deutschen Numerus Clausus) (Schommer 1993, 410; Schommer-Aikins 2002, 6). Je weniger reif die epistemischen Überzeugungen einer Person sind, desto mehr Schwierigkeiten lassen sich beim Lernen feststellen: Der Glaube an quick learning („Lernen erfolgt schnell oder gar nicht.“) geht mit einer Tendenz zur starken Vereinfachung von Zusammenhängen und Überschätzen des eigenen Verständnisses einher (Schommer 1990, 503). Je stärker Individuen etwa davon ausgehen, dass Wissen als isolierte Fakten charakterisiert werden kann, desto mehr Schwierigkeiten haben sie beim Verständnis von Mathematik, naturwissenschaftlichen Konzepten und Fremdsprachen. Die Schwierigkeiten manifestieren sich in der zu starken Vereinfachung von Informationen und mangelndem Monitoring des eigenen Verständnisses (Schommer et al. 1992, 441; Schommer 1998, 553). Untersuchungen von Ryan (1984) zeigten, dass stärker „dualistisch“ (bezeichnet die Tendenz zur einfachen Unterteilung der Welt nach dualistischen Prinzipien, wie Wahr und Falsch) ausgerichtete Studierende stärker dazu neigen, vereinzelte Fakten zu nennen, wenn sie nach ihrem Verständnis eines Buchkapitels gefragt werden. Stärker „relativistisch“ (bezeichnet hier die Tendenz Wissen als veränderbar und relativ zu betrachten) ausgerichtete Studierende nutzen zum Darlegen ihres Verständnisses eher komplexere Zugriffe auf den 40
Text, die den Kontext berücksichtigen, wie Umschreibungen oder Anwendungen des Gelesenen (Ryan 1984, 256). Die Wahl der Kriterien für das Bemessen des eigenen Verstehens steht zudem mit der Qualität des Lernens in Verbindung und spiegelt sich in der Note der Studierenden für den jeweiligen Kurs. Urhahne & Hopf (2004, 82) fanden einen positiven Zusammenhang zwischen der Fähigkeit den Gewinn naturwissenschaftlicher Erkenntnisse begründen zu können und dem Bewusstsein für die Veränderlichkeit von Wissen in den Naturwissenschaften einerseits, fachlichem Interesse, Leistungsmotivation und fachspezifischem Selbstkonzept sowie dem Einsatz kognitiv anspruchsvoller Lernstrategien andererseits. Untersuchungen von Schommer ergaben zudem, dass Überzeugungen zur Einfachheit und Sicherheit von Wissen die Bereitschaft von Erwachsenen beeinflussen können, tief und reflektiert über kontroverse, komplexe Themen des alltäglichen Lebens nachzudenken (Schommer 1998, 558). Die Ergebnisse zeigen, dass je mehr die Erwachsenen an komplexes und vorläufiges Wissen glaubten, sie desto mehr multiple Perspektiven schätzen konnten und bereit waren, ihr Denken zu verändern, ultimative Entscheidungen zurückzuhalten, bis alle Informationen vorlagen und eine komplexe, vorläufige Natur von alltäglichen Angelegenheiten anzunehmen. 1.3.2 Einfluss auf Prozesse der Informationsverarbeitung Auch auf der Ebene der Informationsverarbeitung nimmt die persönliche Epistemologie eines Menschen Einfluss auf Prozesse der Organisation von Wissen. Epistemische Überzeugungen beeinflussen die Ausnutzung individueller Kapazitäten bei Informationsverarbeitungsprozessen und die Wahl der Formen der Auseinandersetzung mit Wissen (vgl. Klaczynski 2000, Schommer 1992). Sie legen sozusagen die Schienen für die Richtung der Perspektive, den Verlauf und die Art der Herangehensweise an neue Inhalte: Nach Klaczynski haben epistemische Überzeugungen entscheidenden Einfluss auf die Bereitschaft sich auf reflektivem Weg und damit unter Aufwendung kognitiver Kapazitäten mit Informationen, Inhalten oder Problemen auseinanderzusetzen (Klaczynski 2000, 1350). Nach Zwei-Prozess-Modellen der Informationsverarbeitung sind Menschen in der Lage kognitive Inhalte entweder bewusst oder automatisiert zu aktivieren (Schneider & Shiffrin 1977) und sowohl impulsiv als auch reflektiv weiterzuverarbeiten. Parallel dazu werden in dem Zwei-Prozess-Modell der heuristischen und systematischen Verarbeitung von Informationen (Chaiken 1980, 752) 41
Verarbeitungsprozesse im Hinblick auf die Verwendung von Informationen untersucht. Dieses Modell wird kurz vorgestellt, da epistemische Überzeugungen Einfluss darauf nehmen, welche der dargestellten Prozesse ablaufen. Systematische Informationsverarbeitung lässt sich mit reflektiver Verarbeitung gleichsetzen. Der reflektive Modus arbeitet kontrolliert und beansprucht kognitive Kapazität. Gedächtnisinhalte werden auf der Basis von logischen und semantischen Verknüpfungen intentional aktiviert. In der Auseinandersetzung mit Informationen bedeutet dies die systematische Abwägung aller gegebenen Informationen. Wie bei dem genauen Studieren eines Artikels (oder bei einer Kaufentscheidung) werden alle Vor- und Nachteile einbezogen und für die Entscheidung erwogen (Chaiken 1980). Heuristische Verarbeitung läuft dagegen eher schnell und unkontrolliert ab und greift auf spontan aktualisierte Faustregeln oder Intuitionen zurück. Menschen fokussieren dabei eine Teilmenge der verfügbaren Information (etwa in einer problematischen Situation), die sie befähigt, bestimmte verinnerlichte einfache Regeln, Schemata oder kognitive Heuristiken zu nutzen, um ihre Entscheidungen und Urteile zu formulieren. Die Informationsverarbeitung gleicht dem Überfliegen eines Artikels (oder eines Kaufgegenstandes): Es werden nur ein paar Informationen fokussiert, auf deren Basis eine Entscheidung getroffen wird. Intuitionen können dabei als Heuristiken verwendet werden und die systematische Auseinandersetzung abkürzen (Chaiken & Trope 1999). Bedeutsam ist nun, dass je weniger reif bzw. aufgeschlossen die epistemischen Überzeugungen einer Person ausgerichtet sind, desto wahrscheinlicher greift sie bei der Verarbeitung von Informationen auf Heuristiken und weniger aufwendige Prozesse der Verarbeitung zurück (Klaczynski 2000). Die Folge ist eine stärkere Abhängigkeit von den eigenen, bereits vorhandenen Vorstellungen, Bewertungen und Emotionen bei der Auseinandersetzung mit neuem Wissen oder Problemstellungen in Bezug auf die Aktivierung der kognitiven Verarbeitungsmodi (zur genaueren Darstellung siehe Kapitel 4.5). Ergebnisse von Kardash & Scholes (1996) veranschaulichen diese Zusammenhänge: In einer Studie zum Umgang mit gegensätzlichen Informationen zeigten sie (Kardash & Scholes 1996, 269), dass Personen mit reifen epistemischen Überzeugungen und einem hohen epistemischen Motiv (Need for Cognition, Konstrukt misst die Bereitschaft nachzudenken und die Freude am Denken, Cacioppo & Petty 1982) in der Lage waren, in akkurater Weise die unsichere und gegensätzliche Natur des präsentierten Wissenstandes wiederzugeben. Personen mit weniger reifen epistemischen Überzeugungen und einem geringen epistemischen Motiv (impliziert eine geringe Bereitschaft zum Umgang mit Unsicherheiten) tendierten eher dazu, die Gegensätzlichkeiten zu ignorieren. Sie 42
gaben nur die Informationen wieder, die ihrer eigenen Meinung entsprachen und demonstrierten damit eine „unausgewogene Verarbeitung“ der gegebenen Informationen. Die vorgestellten Befunde zu den Zusammenhängen epistemischer Überzeugungen mit Lernen und Verstehen sowie mit spezifischen Formen der Informationsverarbeitung lassen sich integrieren: Die unmittelbaren Auswirkungen der persönlichen Epistemologie eines Individuums auf sein Verstehen und seine Lernergebnisse sind den dargelegten Ergebnissen zufolge vermutlich über Prozesse der Informationsverarbeitung vermittelt. Systematische Verarbeitung von Informationen resultiert in einer besseren Organisation des gelernten Wissens und einer mehrfachen Absicherung der verarbeiteten Inhalte. Mit dieser „genaueren“ und deshalb intensiveren und aufwendigeren Verarbeitung verstärkt sich die Chance für ein erfolgreiches Monitoring des eigenen Verständnisses, das den Grundstein für Verstehen und damit für nachhaltiges Lernen darstellt. In dieser Arbeit wird deshalb postuliert, dass epistemische Überzeugungen eine Art Management-Funktion für das Verstehen haben, indem sie Informationsverarbeitungsprozesse beeinflussen. Personen mit reifen epistemischen Überzeugungen sind demnach stärker geneigt Informationen systematisch zu verarbeiten und dementsprechend gründlicher zu durchdenken. Reife epistemische Überzeugungen gehen mit einer stärkeren Tendenz zum Nachdenken einher. Hier besteht also eine direkte Brücke zwischen der persönlichen Epistemologie eines Individuums und seiner Nachdenklichkeit. Dies ist ein zentrales Thema dieser Arbeit, das in Kapitel 3.5.2 behandelt wird. Im folgenden Abschnitt geht es nun um die Ursprünge und Determinanten der epistemischen Vorstellungen und um die Erkenntnisse, die zu den Möglichkeiten ihrer Aktivierung und Veränderung bestehen. 1.4 Determinanten persönlicher Epistemologie – Reifung und soziale Konstruktion Um sich in einer unsicheren Welt orientieren zu können und nicht in Verzweiflung zu geraten ist es nach Perry (1985, 1981) notwendig für menschliche Individuen, analytische und synthetisierende Fähigkeiten des kontextuellen Denkens auszubilden. Ihm zufolge haben Individuen zum einen den Drang nach Weiterentwicklung, zum anderen aber auch das Bedürfnis nach Konsolidierung bisher gemachter Erfahrungen und werden in der Entwicklung ihrer intellektuellen Fähigkeiten durch diese beiden gegenläufigen Bedürfnisse gesteuert. Diese 43
Position ist stark an Piagets Äquilibrationsbestreben orientiert. Mit ihr wird eine von innen und außen gesteuerte, maßgeblich auf internen Reifungs- und Ausgleichsprozessen des Individuums und Stimulations-angeboten aus der Außenwelt basierende Weiterentwicklung der epistemischen Überzeugungen angenommen. Unterstützt wird diese Perspektive durch Befunde, die einen Zusammenhang der Reife epistemischer Überzeugungen mit dem Alter zeigen (Schommer 1990). Gleichzeitig indizieren Schommers (1990) Befunde aber auch einen Zusammenhang der Reife epistemischer Überzeugungen mit der Dauer der Beschulung. Dieser zweite Befund deutet in Richtung einer Abhängigkeit epistemischer Überzeugungen von äußeren Faktoren. Lernprozesse, Sozialisationsund Enkulturationsprozesse rücken hierdurch in den Fokus. Verschiedene Untersuchungen zeigen Unterschiede in der Ausprägung der epistemischen Überzeugungen in Abhängigkeit vom Geschlecht und sozialem Umfeld. Belenky et al. (1986) waren die ersten, die eine Unterscheidung zwischen seperate knowing (absondernd wissen) und connected knowing (verbindend wissen) einführten. Seperate knowing bezeichnet die Tendenz, neues Wissen zunächst anzuzweifeln und zu hinterfragen, um in einem zweiten Schritt neue Ideen anzuerkennen. Connected knowing stellt dagegen einen stärker emphatischen Ansatz dar, indem neue Perspektiven zunächst nachempfunden und durchdrungen werden, um sie anschließend zu evaluieren. Clinchy (2002) zeigte in der Tradition von Belenky, dass diese beiden Arten des Wissenvollzugs in den USA genderverknüpft sind: US-amerikanische Männer neigen eher zu seperate knowing, während Frauen eher zu connected knowing tendieren. Dies bedeutet jedoch nicht, dass diese Unterscheidung kulturübergreifende Geltung hat, sondern unterstreicht die Abhängigkeit der Entwicklung der persönlichen Epistemologie von Sozialisationsprozessen. Clinchy (2002) nimmt überdies an, dass „Fortgeschrittene Denker“ beide Denkvollzüge beherrschen. Auch nach Anderson (1984) sind epistemische Überzeugungen weniger ein Ergebnis kognitiver Reifungsprozesse als vielmehr ein Produkt der heimischen und formalen Erziehung. Anderson zufolge erwerben Kinder nicht nur Erfahrungen, sie erwerben Interpretationen von Erfahrungen. Er geht aus, dass die Überzeugungen über Wissen, die ein Kind erwirbt, beeinflusst sein werden von denen der Eltern. Elterliche Überzeugungen über Wissen werden abhängig sein von Bildungs- und beruflichem Status. „Children not only acquire experience, they acquire interpretations of experience. It stands to reason that the beliefs about knowledge that a child develops will be influenced by those of his parents. Parents' beliefs about knowledge will be condi-
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tioned by educational and occupational status (…) Later, teachers become mediators of experience” (Anderson 1984, 9).
Schommer (1990, 501) fand einen Zusammenhang zwischen den epistemischen Überzeugungen von SchülerInnen und ihrem persönlichen Hintergrund, wie Alter und Geschlecht, Klassenstufe und verbaler Ausdrucksfähigkeit, Bildungsatmosphäre und Möglichkeiten (z.B. Bildungsgrad und Abschlüsse der Eltern), Ermutigung zu Unabhängigkeit (z.B. eigene Meinung ausdrücken, elterliche Entscheidungen hinterfragen) und der Einhaltung von Regeln (z.B. familiäre Strenge in Bezug auf Regeln und Religion). Je höher der Bildungsgrad der Eltern und je höher ihre Erwartungshaltung an ihre Kinder, in Bezug darauf Verantwortung zuhause zu übernehmen sowie Verantwortung für ihr eigenes Denken zu übernehmen, desto wahrscheinlicher ist es, dass Kinder ein weltgewandtes, reifes System epistemischer Überzeugungen entwickeln (Schommer 1990, 503). Ebenso nimmt die Zeit, die eine Person in Bildungsinstitutionen verbracht hat, Einfluss auf die Reife ihrer epistemischen Vorstellungen. Die Ursprünge epistemischen Wissens werden in Religion und Kultur gesucht. Schommer zufolge unterscheiden sich Kulturen in Überzeugungen, Normen und Verhalten. Sie nimmt an, dass kulturelle Unterschiede in der persönlichen Epistemologie sehr wahrscheinlich zu Unterschieden in kognitiven Bereichen, wie der Auswahl von Lernstrategien, führen und damit Lernerfolg und Bildungsgänge beeinflussen (Schommer-Aikins & Easter 2008, 920). Pai & Adler (2001) gehen davon aus, dass Migrantenkinder in den USA deshalb Schwierigkeiten im amerikanischen Schulsystem haben, weil sich ihre Wahrnehmung von Lernen von der US-amerikanischen Wahrnehmung unterscheidet. Amerikanische Schulen bauen auf dem Prinzip des Lernens durch persönliche Beteiligung und aktive Kommunikation auf. Das Motiv zum Lernen sei die individuelle Leistung. Menschen aus so genannten „shared function cultures“ (Asiaten, Afrikaner, Lateinamerikaner, Indianer) dagegen glauben, so Pai & Adler (2001), dass Lernen durch Gelehrigkeit mit einer Betonung auf Beobachtung und Nachahmung erfolgt. Das Motiv zum Lernen sei die Gruppenleistung. Vor diesem Hintergrund ist zu bedenken, dass der Endpunkt epistemischer Reife derzeit in formal abstraktem Denken gesehen wird, dass ein normatives zu erreichendes Element und Charakteristikum westlicher Kulturen darstellt. Die existierenden Modelle zu epistemischen Überzeugungen nehmen eine Höherentwicklung zu einem verstärkten Individualismus des Denkens und einer Befreiung von dem Diktat von Autoritäten an. Es ist denkbar, dass in stärker kollektivistisch ausgerichteten Kulturen, in denen die Perspektive auf das Selbst 45
interindividuelle Implikationen hat, sich die persönliche Epistemologie hin zur Akzeptanz von Konsens anstatt in Richtung auf unabhängiges Denken hin entwickeln könnte (Hofer & Pintrich 1997, 130). Kulturvergleichende Studien zu der Entwicklung epistemischer Überzeugungen liegen bisher jedoch wenig vor (vgl Kapitel 3.2.1). Schommer-Aikins & Easter (2008, 926) fanden Unterschiede in der schulischen Performanz und den epistemischen Überzeugungen von European Americans und Asian Americans. Europäischstämmige Amerikaner waren besser dazu in der Lage, zentrale Ideen aus Texten zu extrahieren, Lernstrategien anzuwenden sowie erfolgreicher darin sich auf Leistungstests vorzubereiten. Schommers Untersuchungen indizieren, dass epistemische Überzeugungen und Geschlecht als Ursache für die kulturellen Unterschiede gelten können. Während europäischstämmige Amerikaner stärker an graduelles Lernen und komplexes Wissen glauben, gehen asiatischstämmige Amerikaner eher von schnellem Lernen aus (Schommer-Aikins & Easter 2008, 927). Auch die Ursprünge metakognitiver Theorien werden in der jeweiligen Kultur gesehen, die durch Lernprozesse internalisiert wird. Sozial geteilte Konzepte zur Natur von Wissen werden Kindern durch informelle Erfahrung und formelle Erziehung vermittelt. Die offensichtlichste Form des Lernens erfolgt als direkte Lehre von kognitiven Fertigkeiten und der Koordination dieser Lernstrategien (vgl. Pressley et al. 1992, 11). Aber auch soziales Lernen innerhalb der Peergroup wird von Schraw & Moshman (1995, 364) zur Entwicklung der Metakognition betont, da kollektive Nachdenkensprozesse häufiger erfolgreiche Problemlösestrategien hervorbringen als individuelles Nachdenken, weil eigene Konzepte durch die Diskussion mit anderen geklärt werden. Nach Baxter Magolda (2002) sind epistemische Überzeugungen und die Strukturen, die sie begründen, sozial konstruiert und leisten einen Beitrag zur Sinnstiftung in Lernprozessen: „The meaning we make of our experience depends partially on our initial epistemic assumptions, partially on the nature of dissonance, we experience when we encounter others with different assumptions, and partially on the context in which the dissonance occurs” (Baxter Magolda 2002, 91).
Sinn und Bedeutung werden also anhand der Bewertung von Informationen durch bereits bestehende Vorstellungen und durch Überzeugungen bezüglich des Verständnisses und des Umgangs mit Wissen gesteuert und konstruiert. Gleichzeitig ist der Wirkungsgrad dieser Vorstellungen sowie die Art und Wei-
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se, wie neue Informationen eingeordnet und „verstanden“ werden, abhängig vom Kontext und von situativen Faktoren. Epistemisches Wissen wird im Laufe des Lebens sozial erworben und durch Auseinandersetzung mit der Umwelt und Konfrontation mit neuem Wissen weiterentwickelt. Epistemische Überzeugungen gelten demnach als implizite, sozial konstruierte Vorstellungen in menschlichen Verarbeitungs-prozessen. Damit sind bereits die zentralen Charakteristika epistemischer Überzeugungen genannt, die sie mit den impliziten und kulturell bestimmten Vorstellungen des didaktischen Konzeptes der Alltagsphantasien teilen. Das Verhältnis dieser beiden Konzepte wird Gegenstand der nächsten Kapitel sein. Die Frage, inwieweit epistemische Überzeugungen einen kognitiven Reifungsprozess durchlaufen und welchen Anteil die Auseinandersetzung mit Wissen an ihrer Entwicklung hat, kann anhand des derzeitigen Forschungsstandes nicht befriedigend beantwortet werden. Die aktuelle Forschung beschäftigt sich dafür intensiv mit der situationsabhängigen Ausrichtung epistemischer Überzeugungen, also wie stark epistemische Überzeugungen durch den Kontext oder den Rahmen der Situation oder etwa des Faches bestimmt werden. Da hier Möglichkeiten zur pädagogischen Einwirkung auf die Ausrichtung der persönlichen Epistemologie gesehen werden, sind Befunde zur Kontextabhängigkeit Mittelpunkt des folgenden Teils dieses Kapitels. 1.5 Determinanten persönlicher Epistemologie – Die Bedeutung des Kontextes Die von Baxter Magolda (2002) angesprochene Bedeutung des Kontextes ist ein ungeklärtes Problem in der Forschung zur persönlichen Epistemologie. Inwieweit die äußere Situation, wie das Lernumfeld oder Fach, aber auch die Unterrichtsführung durch den Lehrenden oder die persönliche Expertise des Individuums als Laie oder Experte in einem Fach auf die Art der epistemischen Überzeugungen einwirken, ist umstritten. Epistemische Überzeugungen sind sowohl allgemein als auch bereichsspezifisch untersucht worden. Bisher besteht Unklarheit in den Ansätzen, ob epistemische Vorstellungen ein bereichsübergreifendes Konstrukt darstellen oder ob sie domänenabhängig variieren. Dabei lassen sich auch Domänen wie etwa Naturwissenschaft oder Geisteswissenschaften als Kontextfaktoren verstehen, die auf epistemische Überzeugungen einwirken. Die Bedeutung des Kontextes in diesem weiten Sinne wird im Folgenden betrachtet, indem zentrale Forschungsergebnisse integriert werden.
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1.5.1 Kontextabhängige Muster epistemischer Vorstellungen Nach Hammer & Elby (2002) trägt der Kontext der Lernsituation entscheidend dazu bei, welche Ausprägung die epistemischen Überzeugungen eines Individuums haben. Ihnen zufolge wäre es merkwürdig anzunehmen, dass die Überzeugungen zu der Sicherheit von Wissen nicht abhängig wären davon, ob der Kontext eine philosophische Diskussion, eine wissenschaftliche Debatte oder ein alltäglicher Austausch von Informationen wäre. „There must be at least some variation with context, even holding the putative topic fixed. It would be strange to suppose that the belief a subject would express about the certainty of knowledge would not depend, for example, on whether that context is a philosophical discussion, a scientific debate, or an everyday exchange of information” (Hammer & Elby 2002, 173).
Ihrer Ansicht nach liegt das Problem der für die Forschungslandschaft üblichen Perspektive auf die persönliche Epistemologie von Lernenden in der Konzeption von epistemischen Überzeugungen als elementare Komponenten. Nach dieser Perspektive korrespondiert jede epistemische Überzeugung mit einem Gedächtnisinhalt oder „a unit of cognitive structure“, die ein Individuum entweder besitzt oder nicht (Hammer & Elby 2002, 170). Diese Blickweise auf die persönliche Epistemologie als aufgebaut aus „units“ nennen Hammer & Elby (2002) „the unitary perspective“. Sie liegt vielen Ansätzen zu epistemischen Überzeugungen zugrunde, die diese als Theorien oder Eigenschaften verstehen (vgl. Ansätze von Schommer, Hofer & Pintrich 1997). Die Vorstellungen werden als kleine Einheiten, quasi als kognitive „Atome“ der persönlichen Epistemologie begriffen (Louca et al. 2004, 58). Analog zu der Strategie der Hervorhebung und Konfrontation von „Misconceptions“ der Conceptual Change Forschung folgt daraus, dass unreife epistemische Überzeugungen destabilisiert und dann verändert werden müssen, um eine reifere persönliche Epistemologie zu erwirken. Wissenschaftler, wie Smith et al. (1994, 116) haben dies innerhalb der Forschung zu Conceptual Change kritisiert, da diese vermeintlich konstruktivistische Perspektive keine produktiven Ressourcen zur Konstruktion reiferer Überzeugungen anbietet. Es bleibt unklar, woraus Lernende ihre neuen „reiferen“ Vorstellungen aufbauen. Empirisch zeigen sich Inkonsistenzen in den Vorstellungen von Lernenden innerhalb und auch zwischen verschiedenen Domänen, dies wird in Anschnitt 1.5.3 genauer erläutert. Dies stützt die beschriebene Kritik an den bestehenden Konzeptionen der Conceptual Change Forschung: Stabile Vorstellungen mit
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entsprechenden kognitiven Korrelaten anzunehmen, würde Konsistenz innerhalb der gezeigten Vorstellungen von Lernenden auch in unterschiedlichen Kontexten erwarten lassen. Wird dagegen angenommen, dass Vorstellungen evolvieren – sich also weiterentwickeln können, bedeutet dies nach diSessa (1998) eine den Vorstellungen zugrundeliegende Struktur aus feineren Elementen anzunehmen. 1.5.1.1 Epistemologische Ressourcen – Die Grundbausteine der persönlichen Epistemologie Hammer & Elby gehen in ihrem Ansatz zur Struktur der persönlichen Epistemologie davon aus, dass Vorstellungen und Überzeugungen zu Wissen und Lernen in Abhängigkeit vom Kontext (etwa der Situation oder dem Schulfach) variieren (2002, 173). Ihnen zufolge besteht die persönliche Epistemologie einer Person aus einer Fülle von einzelnen Bausteinen, den epistemischen Ressourcen. Diese umfassen verschiedene Ausprägungen von epistemischen Vorstellungen, die je nach Kontext aktiviert werden. Welche Art der persönlichen Epistemologie in einem Zusammenhang wirksam wird, ist damit kontextabhängig. Lernende, die von einem Biologieunterricht kompliziertes Faktenlernen und das Nachvollziehen von Prozessen erwarten, halten die Wissenschaft der Biologie vielleicht für formal, absolut und vermittelt durch Autoritäten. Entspricht der Unterricht jedoch nicht diesen Erwartungen, sondern lassen sich die Lernenden in hitzige Debatten engagieren, in denen sie ihre eigene Perspektive verteidigen, dann spiegelt sich darin nach Hammer & Elby (2002, 174) kein plötzlicher globaler Wandel ihrer epistemischen Überzeugungen, sondern eine lokale Veränderung des Kontexts im Klassenraum, der in Lernenden einen produktiveren epistemischen Modus aktiviert. Hammer & Elby (2002, 174) zufolge muss eine adäquate Theorie persönlicher Epistemologie diese produktiven epistemischen Ressourcen und die kontextuelle Bedingtheit ihrer Aktivierung berücksichtigen. Die von Hammer & Elby (2002) postulierten „Epistemischen Ressourcen“ sind keine festgefügten Überzeugungen, die in Theorien oder Systemen organisiert sind. Hammer & Elby lehnen sich bei ihrer Konzeption vielmehr an die Überlegungen diSessas (2002) zu den Grundkomponenten von Konzepten an. Diese Überlegungen zu den „phenomenlogical primitives“ den sogenannten pprims werden im Folgenden kurz ausgeführt. DiSessa nimmt an, dass die von Lernenden selbst erzeugte Kausalität über die Welt aus einem reichen System von Elementen besteht, die nur in geringem Maße organisiert sind. Diese Elemente nennt er „phenomenological primitives“ kurz p-prims. Diese aus der erlebten Erfahrung stammenden Grundbausteine zur 49
Erklärung der Welt sind relativ einfach strukturiert und normalerweise von allgemeinen Erlebnissen abstrahiert. Ein Beispiel wäre die Erfahrung, dass bestimmte Effekte durch eine anhaltende Ursache aufrecht erhalten werden, wie etwa das Erlebnis, dass eine Glühbirne Strom braucht um Licht zu geben. Hieraus entwickelt sich ein Erklärungsmuster „Kräfte aufrechterhalten“, das auch in anderen Zusammenhängen als Erklärung herangezogen wird. Andere Erfahrungen zeigen dem Individuum indessen, dass das Ausschlagen eines Hammers eine Glocke zum Klingen bringen kann und in einer Vorstellung „Kräfte aktivieren“ resultiert. Diese p-prims erklären, wieso Lernende annehmen, dass sich ein Tisch nur bei anhaltender Kraft über den Boden bewegt (schieben), während sich ein Ball auch ohne weitere Krafteinwirkung (werfen) weiterbewegt, obwohl sie sich aus der wissenschaftlichen Perspektive mit dem gleichen Phänomen beschäftigen. P-prims koordinieren also Lernprozesse und sind nach diSessa et al. (2002) besonders prominent in frühen Stadien des Lernens. In verschiedenen Situationen werden verschiedene p-prims angetriggert und Lernende benehmen sich dann aus der Sicht des Lehrenden, als ob ihre Konzepte von Kontext zu Kontext variieren. Nach Hammer & Elby (2002, 176) bietet diSessas Ansatz eine theoretische Struktur, die die Kontextsensitivität des Denkens von Lernenden erklärt, da verschiedene p-prims in bestimmten Kontexten mehr oder weniger wahrscheinlich aktiviert werden. Die Entwicklung hin zu einem reiferen Verständnis geht nach dieser Konzeption auf eine Modifizierung der Aktivierung bestimmter pprims in bestimmten Situationen zurück. Hammer & Elby (2002) nehmen für die Konstitution persönlicher Epistemologie eine ähnliche Konstruktion an. Sie gehen davon aus, dass Menschen von klein auf Erfahrungen zum Wissen und seiner Genese machen. Damit verfügt jeder Mensch über eine Fülle epistemischer p-prims. Diese entstammen ebenfalls der erlebten Erfahrung und sind relativ einfach strukturiert und normalerweise von allgemeinen Erlebnissen abstrahiert: So verfügen schon kleine Kinder über Vorstellungen zu Wissen und gehen davon aus, dass Wissen von Autoritäten, wie etwa den Eltern, weitergegeben wird („Vermitteltes Wissen“). Gleichzeitig verfügen sie auch über Vorstellungen, um zu verstehen, dass bestimmtes Wissen ausgedacht ist oder abgeleitet wird. So denken sich bereits junge Kinder Namen für ihre Puppen aus oder machen Annahmen über die Vorhaben von Erwachsenen („Konstruiertes Wissen“).10 Diese epistemischen Miniannahmen sind Grundbausteine zur Erklärung 10
Hammer & Elby nehmen verschiedene Quellen für epistemische p-prims (also zum Verständnis der Natur von Wissen und seinen Ursprünge) an, beginnend mit der Auffassung von „Wissen als Stoff“. Dabei kann Wissen „als propagierter Stoff“ verstanden werden, also Wissen, das eine Person
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der Welt, die in bestimmten Situationen abhängig vom Kontext aktiviert werden. 1.5.1.2 Entwicklung als Veränderung von Aktivierungsmustern Das Rahmenmodell von Hammer & Elby (2002) schreibt sowohl Experten oder Erwachsenen als auch Novizen oder Kindern epistemische Überzeugungen zu (im Gegensatz zu Entwicklungsmodellen, wie etwa dem von Perry (1968), die epistemische Überzeugungen erst ab dem Studierendenalter konstatieren und untersuchen). Dabei werden die komplexen Vorstellungen von Experten als aufgebaut aus den feinkörnigen Ressourcen verstanden, die sich bereits bei Novizen oder Kindern finden lassen (Louca et al. 2004, 59). Die epistemischen Ressourcen von Kindern verstehen sie als implizit, kaum artikuliert und sensibel für kontextbedingte Veränderungen. Gerade die implizite Ausprägung epistemischer Überzeugungen hat also eine ausgeprägte Abhängigkeit von situativen Aspekten zufolge. Vor diesem Hintergrund nehmen Hammer & Elby (2002) an, dass Vorstellungen zu Wissen in ihren Grundzügen bereits im Kindesalter in multiplen Ausprägungen bestehen. Wie reif sich die persönliche Epistemologie eines Menschen in einem bestimmten Kontext darstellt, hängt dagegen davon ab, welche dieser „epistemischen Ressourcen“ aktiviert sind. Was also in der Literatur als unreife epistemische Vorstellung beschrieben wird, wie die Überzeugung „Wissen wird durch Autoritäten erlangt“, interpretieren Hammer & Elby (2002) als eine zu starke Aktivierung von epistemischen Ressourcen, wie der Vorstellung „Wissen ist ein propagierter Stoff“. Entwicklung und Lernen besteht nun folglich in Veränderungen der Aktivierung der einzelnen Komponenten und nicht in der Ersetzung oder Umarbeitung der einzelnen Elemente (Hammer & Elby 2002, 176; vgl. Hammer & Elby 2003, Hutchison & Hammer 2010). Pädagogische Bestrebungen zur Unterstützung der Ausbildung reiferer epistemischer Vorstellungen sollten daher als dadurch erlangt, dass jemand anderes es ihr vermittelt hat. Wissen kann aber auch „als freie Eingebung“ entstehen, oder es gibt Vorstellungen von „Wissen als produziertem Stoff“. Eine Vorstellung von „Wissen als direkter Wahrnehmung“ entsteht aus der unmittelbaren Sinneserfahrung: „Ich weiß, dass etwas da ist, weil ich es sehen kann.“ (Louca et al. 2004, 58). Auch verfügen Kinder über das Konzept von „inhärentem Wissen“, etwa wenn sie wissen, dass etwas in der Farbe Rot leuchtet. Eine weitere Kategorie bilden Ressourcen zum Verständnis von epistemologischen Aktivitäten und Formen, nämlich Auffassungen davon „etwas herausfinden“, „etwas schätzen“, „Ideen sammeln“ oder „überprüfen“. Die letzte Kategorie besteht aus Quellen zum Verständnis von Haltungen bezüglich Wissen wie „Zweifeln und Akzeptieren“ (Hammer & Elby 2002, 177).
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Modifizierung der Aktivierungsmuster der einzelnen Ressourcen verstanden werden, und nicht als Widerlegung bestehender Theorien (Hammer & Elby 2002, 180). Dies ist eine bedeutsame Perspektive auf den durchaus normativen Umgang mit epistemischen Überzeugungen in der Forschung: Die einzelnen epistemischen Ressourcen werden ihrer Funktionalität für das Individuum anerkannt. Nicht die vermeintlich „richtigen“ Vorstellungen stehen im Fokus sondern die „richtigen“ Aktivierungen. Aus dieser Perspektive ist es an Lehrenden Lernumgebungen und Kontexte zu schaffen, in denen die Aktivierung förderlicher epistemischer Ressourcen und damit die Verstärkung eines weltgewandten Systems epistemischer Überzeugungen unterstützt werden. In einem solchen Zusammenhang spielt auch die epistemische Ausrichtung von Lehrenden und ihre Haltung gegenüber den Lernenden und dem Lehren an sich eine tragende Rolle. 1.5.2 Soziale Unterstützung als Kontextfaktor Eine ergänzende Perspektive auf die Bedeutung von individuumsexternen sozialen Faktoren für epistemische Überzeugungen bieten die Untersuchungen von King und Kitchener. King & Kitchener (2004) nehmen in Anlehnung an die Skill Theory von Fischer (1980) an, dass in Personen epistemische Überzeugungen unterschiedlichen Reifegrades in Abhängigkeit von den umgebenden Bedingungen aktiviert werden. Der besondere Fokus liegt dabei auf dem sozialen Kontext und damit auf der Unterstützung und Anregung von Denkprozessen durch andere Menschen oder Produkte ihres Geistes. Um diesen Zusammenhang verständlich darzustellen, wird an dieser Stelle die Skill Theory von Fischer kurz skizziert. 1.5.2.1 Die Bedeutung des Kontextes in der Skill Theory In seiner Skill Theory konzeptionalisiert Fischer die kognitive Entwicklung (Kognition, Intelligenz, Lernen, Problemlösen) unter besonderer Berücksichtigung von Kontextfaktoren.11 Dabei verfügt keine Person über eine Fähigkeit 11
Kognition bezeichnet nach Fischer den Prozess, durch den ein Organismus operante, d.h. wirksame Kontrolle über die Quellen der Variation seines eigenen Verhaltens ausübt. Skills vereinen Organismus und Situation in sich, denn der Organismus kontrolliert seine Handlungen oder Aktionen immer in einem bestimmten Kontext. Für Fischer sind Person und Kontext in der psychischen Entwicklung zu gleichen Teilen maßgeblich (Fischer et al. 1993, 93): Kontext hat nicht nur Einfluss
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unabhängig von einem Kontext, sondern Fähigkeiten bedürfen des Zusammenwirkens von Person und Kontext. Verändert sich der Kontext, dann muss die Fähigkeit (Skill) an die neue Situation angepasst werden. Dabei modelliert Fischer den Kontext in seinen Untersuchungen als Situationen sozialer Interaktion und Unterstützung und lehnt sich damit eng an Vorstellungen von Wygotski (1987) an, demzufolge jede Tätigkeit, die Menschen lernen alleine auszuführen, zunächst von außen sozial unterstützt und dann internalisiert wird. Nach Fischers Studien zu den Auswirkungen „sozialer Unterstützung“ auf die Performanz von Individuen wächst Kompetenz abrupt, wenn Unterstützung geboten wird und sinkt wieder ab, wenn diese entzogen wird. Als unterstützende Bedingungen oder Support gelten in seinen Experimenten dabei Bedingungen, in denen das Individuum durch eine andere Person angeregt wird, auf einem höheren Komplexitätsniveau zu denken, oder über Gedächtnishilfen und Hinweise an diese komplexen Überlegungen erinnert wird (Fischer & Pruyne 2003, 170). Die Effekte einer solchen Form von sozialer Unterstützung sind dramatisch und produzieren scharfe Veränderungen in den Kompetenzlevels etwa von Kindern. Sie rufen Performanzen hervor, die weit über dem liegen, wozu die Kinder zuvor alleine in der Lage waren. Wird die soziale Unterstützung in anschließenden Untersuchungen wieder entzogen, fallen die Kinder auf ihr zuvor gezeigtes Komplexitätsniveau in ihren Performanzen zurück. Fischer et al. (1993) unterscheiden deshalb das functional und das optimal level of competence. Den funktionalen Level zeigen Personen besonders bei spontanem Verhalten (Low support context), während komplexeres Verhalten des optimalen Levels besonders unter Bereitstellung von Unterstützung gezeigt wird (High support context). Das Intervall zwischen den beiden Levels bezeichnet die Entwicklungsspanne (Developmental range) einer Person (Fischer et al. 1993, 99). 1.5.2.2 Nachdenklichkeit als Auswirkung sozialer Unterstützung epistemischen Urteilens Unterschiede in der Entwicklungsspanne zwischen optimalem und funktionalem Level zeigen sich bei Erwachsenen auch zu epistemischen Überzeugungen und wurden von Kitchener & Fischer (1990) in einer Studie zum reflektierten Urteiauf Verhalten, sondern ist Teil des Verhaltens. Werden die kontextuellen Bedingungen verändert, werden andere Fähigkeiten vom Organismus erfordert und genutzt. Skills bezeichnen dabei Fähigkeiten wie etwa Rad zu fahren, einen Motor zu reparieren, Freunden zuzuhören oder Varianzanalysen durchzuführen (Fischer et al. 1993, 96).
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len (Reflective Judgement) untersucht. Dabei wurden Studierenden im Alter von 14 bis 28 Jahren Dilemmata mit zwei gegensätzlichen Meinungen präsentiert, und sie wurden gebeten, ihre Position dazu zu formulieren und ihre Ermessensgrundlagen hierfür zu erklären – also Aufgaben zu lösen, bei denen ihre epistemischen Überzeugungen eine wesentliche Rolle spielen. In der Versuchsbedingung des unterstützenden Kontexts bekamen die Versuchspersonen für jedes Dilemma zudem prototypische Antworten anderer Personen, die auf höheren Niveaus angesiedelt waren, als die jeweilige Versuchsperson bisher selbst in der Lage war zu produzieren. Diese prototypischen Antworten beinhalteten also Überlegungen zum Umgang mit Wissen, die auf sophistizierteren epistemischen Überzeugungen beruhen, als zuvor von den Versuchspersonen gezeigt wurden. Diese Statements sollten die Versuchspersonen in ihren eigenen Worten erklären und alternative Argumentationen auf demselben Niveau entwickeln. Personen wurden dabei mit Statements zu den Problemen konfrontiert, die auf gestaffelten Ebenen über ihrem eigenen Reflexionsniveau liegen. Die Statements, die die Versuchspersonen zu erfassen in der Lage sind, indizieren den optimalen Level „epistemischer Kompetenz“ der Versuchspersonen. Auch hier zeigte sich ein deutlicher Unterschied in optimalem und funktionalem Level der Kompetenz von bis zu eineinhalb Stufen (Fischer et al. 1993, 107). Die Auseinandersetzung mit den Gedanken eines anderen Menschen befähigte die Studierenden also, die Probleme auf höheren Komplexitätsniveaus zu durchdenken, als sie zuvor alleine produzieren konnten. Das „Nach“-Denken der Argumente einer anderen Person und daran angelehnte eigene Argumentieren ließ sie damit für die begrenzte Zeit der gebotenen Unterstützung ein höheres Niveau epistemischer Auseinandersetzung erreichen. Offenbar wurden die Studierenden durch das Nachvollziehen der Argumentationsfiguren und Gedanken anderer Personen dazu angeregt, sich auf eine epistemisch komplexere Weise mit dem Problem auseinanderzusetzen – sie wurden sozusagen zur „Nachdenklichkeit“ angeregt. Fischer zufolge zeigt das Komplexitätsniveau, das sie mit Unterstützung zu erreichen in der Lage waren, das Potential und die Richtung ihrer weiteren Entwicklung. Die Überlegungen zur Developmental range und dem damit verbundenen Entwicklungspotential eines Individuums steht in Verwandtschaft mit der von Wygotski (1987) beschriebenen „Zone der nächsten Entwicklung“. Hiermit bezeichnet Wygotski die Distanz zwischen dem aktuellen Entwicklungsstand eines Kindes und der nächsthöheren Ebene. Das aktuelle Entwicklungsniveau drückt sich in der Fähigkeit aus, selbständig Probleme zu lösen. Die nächsthöhe-
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re Ebene ist das Potential, das ein Kind entwickelt, wenn es unter Anleitung einer fähigeren Person ein Problem löst: „Was das Kind heute in Zusammenarbeit und unter Anleitung vollbringt, wird es morgen selbständig ausführen können…Wenn wir also untersuchen, wozu das Kind selbständig fähig ist, untersuchen wir den gestrigen Tag. Erkunden wir jedoch, was das Kind in Zusammenarbeit zu leisten vermag, dann ermitteln wir damit seine morgige Entwicklung“ (Wygotski 1987, 83).
Nach Kitchener & Fischer (1990, vgl. auch Kitchener et al. 1993) können Individuen also auch in Bezug auf ihre epistemischen Überzeugungen sowohl auf einem funktionalen Level als auch auf einem optimalen Level persönlicher Epistemologie operieren, je nachdem wie sehr der soziale Kontext Unterstützungen ihrer Denkprozesse bereitstellt oder (nach Hammer & Elby 2002) welche Muster epistemischer Ressourcen aktiviert werden. Den Überlegungen von Hammer & Elby (2002) sowie Kitchener & Fischer (1990) zufolge spielen der Kontext und die Anforderungen der Situation also eine maßgebliche Rolle für die Ausprägung epistemischer Überzeugungen. Ihre Konzeptionen bieten Erklärungsmöglichkeiten für die in der Forschung häufig festgestellten Unterschiede in der Reife der epistemischen Überzeugungen, die eine Person in unterschiedlichen Zusammenhängen, etwa wissenschaftlichen Domänen zeigt (siehe Kapitel 1.5.3). Außerdem bieten beide Perspektiven Ansatzpunkte zur Unterstützung der Entwicklung einer weltgewandten und reflektierten persönlichen Epistemologie. Maßgeblich hierfür scheint die kognitive Stimulation und unterstützende Förderung der Individuen durch die Situation und den Lehrenden. 1.5.3 Domänenspezifische epistemische Überzeugungen Ein letzter Baustein in der Betrachtung des Kontextes für die Ausprägung epistemischer Überzeugungen, sind die Untersuchungen zu domänenspezifischen epistemischen Überzeugungen. Während sich in der Psychologie zumeist mit domänenübergreifenden allgemeinen Kognitionen zu Wissen und Wissenserwerb beschäftigt wird, werden in den Ansätzen anderer Forschungsdisziplinen domänen- bzw. disziplinspezifische epistemische Vorstellungen untersucht. Diesen Ansätzen liegt die Perspektive zugrunde, dass, ebenso wie Disziplinen in ihren Methoden der Wissensgenese variieren, auch Individuen unterschiedliche Vorstellungen über Wissen in diesen Disziplinen entwickeln.
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Untersuchungen von Jehng et al. (1993, 32) zufolge neigen Studierende von Sozial- und Geisteswissenschaften weniger als Studierende der Betriebsund Naturwissenschaften dazu, Wissen als sicher und stabil anzusehen. Während diese Untersuchungen Studierende unterschiedlicher Disziplinen miteinander vergleichen, fokussieren andere Untersuchungen die Wahrnehmung unterschiedlicher Disziplinen innerhalb einer Person. Nach Hofer (2000, 400) sehen Studierende Wissen in den Naturwissenschaften als sicherer und weniger veränderbar an als etwa in der Psychologie und neigen in psychologischen Kontexten stärker dazu, persönliches Wissen und eigene Erfahrungen als Grundlage für Erklärungen zu akzeptieren. Autoritäten und Experten gelten in den Naturwissenschaften stärker als Quelle des Wissens als in der Psychologie, außerdem wird das Erreichen der „Wahrheit“ durch Experten in den Naturwissenschaften mehr als in der Psychologie als möglich angesehen. Unklar ist bisher, in welchem Zusammenhang domänenspezifische epistemische Überzeugungen mit allgemeinen epistemischen Überzeugungen stehen. Trautwein et al. (2004) zufolge sind die Untersuchungen von Hofer (2000) und Jehng et al. (1993) in Bezug auf die Güte der eingesetzten Instrumente zur Untersuchung von Fachunterschieden kritisch zu hinterfragen. Die eingesetzten Items ließen den Versuchspersonen häufig einen großen Interpretationsspielraum, da sie oftmals unscharf formuliert seien und „die Untersuchungsteilnehmer selbst entscheiden, ob sie bei den Items an das Einmaleins, an empirische Beobachtungen oder an die Relativitätstheorie denken“ (Trautwein et al. 2004, 190). In ihrer Untersuchung mit theorienspezifischer Abfrage epistemischer Überzeugungen zur Vermeidung von Ambiguitäten bei dem Verständnis der Items, konnten Trautwein et al. (2004, 196) einen signifikanten Effekt allgemeiner epistemischer Überzeugungen auf theoriebezogene Überzeugungen nachweisen. Sie gehen davon aus, dass epistemische Überzeugungen im Sinne einer Mehrebenenkonzeption operationalisiert werden können, d.h. theorienspezifische Überzeugungen können als „Anwendungsfälle“ einer allgemeineren Sicht über Erkenntnismöglichkeiten angesehen werden. Alternativ wäre auch die Perspektive möglich, dass allgemeine epistemische Überzeugungen auf bereichsspezifischen Erfahrungen aufbauen (Trautwein et al. 2004, 196). Die Perspektive Hammer & Elbys (2002) zur kontextspezifischen Aktivierung von aus Erfahrung erwachsenen epistemischen Ressourcen bietet auch in diesem Zusammenhang ein plausibles Erklärungsmuster für die erläuterten Befunde. Die Frage nach der Unterscheidung domänen-übergreifender und domänenspezifischer epistemischer Überzeugungen lässt sich in die Frage nach 56
der Kontextabhängigkeit übersetzen. Die allgemeine Epistemologie eines Individuums wäre ein Konglomerat von aktivierten epistemischen Ressourcen, die als Bausteine aus konkreten Erfahrungen erworben wurden sind. Die Domäne nimmt demnach als Kontextfaktor Einfluss auf das Aktivierungsmuster innerhalb des Pools von erworbenen epistemischen Ressourcen. Die Betrachtung der Ausprägung persönlicher Epistemologie unter dem Aspekt des Kontextes greift weiter als die Unterscheidung nach Domänen und ist deshalb empfindlicher für verschiedene mögliche beeinflussende Dimensionen der Situation und des Gegenstandes. So umfasst Kontext neben der Domäne unter anderem auch Faktoren wie Persönlichkeit und Haltung des Lehrenden, Lernatmosphäre und zeitnahe Erlebnisse. Die domänenspezifische Betrachtung epistemischer Überzeugungen hat jedoch in der Forschung Vorteile der klaren Abgrenzung des Erkenntnisinteresses und Forschungsbereiches. Besonders innerhalb der Naturwissenschaften und der Mathematik bestehen vielfältige Untersuchungen zur persönlichen Epistemologie von Lernenden in Bezug auf das Fach.12 Zusammenfassend für die bisherigen Kapitelteile lassen sich epistemische Überzeugungen als implizite Vorstellungen zu Wissen und Wissenserwerb verstehen, die sich auf einer intuitiven Ebene auf die Verarbeitung von Informationen und damit auf Verstehen und Lernleistung auswirken. Epistemische Überzeugungen gelten dabei als sozial erworben, d.h. die persönliche Epistemologie eines Individuums ist durch sein kulturelles und gesellschaftliches Umfeld bestimmt. Dabei bilden epistemische Überzeugungen keine in sich kohärente und unidimensionale Struktur, sondern die persönliche Epistemologie ist vielmehr als ein komplexes und vielschichtiges Netz epistemischer Ressourcen zu verstehen, die aus lebensweltlichen Erfahrungen im Umgang mit der Umwelt entwickelt wurden. In welcher Konfiguration einzelne Elemente dieses Netzes aktiviert werden, wird durch den Kontext bestimmt. Faktoren wie Lernsituation, Lehrstil und soziale Unterstützung durch das Umfeld wirken sich darauf aus, welche epistemischen Überzeugungen im Lernprozess aktiviert werden. Ein besonderer Kontext beim Lernen stellt dabei die Domäne dar, in der gelernt wird, also etwa das Schulfach. In Anschluss hieran soll abschließend die 12 Dabei unterscheiden sich disziplinspezifische Forschungen in ihrem Fokus stärker als domänenübergreifende Untersuchungen zur persönlichen Epistemologie. Während Untersuchungen epistemischer Überzeugungen in naturwissenschaftlichen Disziplinen Fragen zu den drei Hauptbereichen Experiment, Rolle des Forschers und Fakten beinhalten, umfassen Untersuchungen zu den epistemischen Vorstellungen zur Mathematik Konstrukte, die Motivation und Selbstvertrauen betreffen (Hofer 2002, 11).
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spezifische Forschung zu epistemischen Überzeugungen im Zusammenhang mit der Wissensvermittlung in den Naturwissenschaften erläutert werden. Epistemische Überzeugungen bestimmen das Verständnis und den Umgang mit naturwissenschaftlichem Wissen und haben deshalb eine wichtige Rolle für die Akzeptanz und den Umgang mit Naturwissenschaft. Die Verortung der Bedeutung epistemischer Überzeugungen in der naturwissenschaftlichen Bildung ist an dieser Stelle wichtig, da epistemische Überzeugungen in dieser Arbeit in ihrer Bedeutung als implizite und kulturell bedingte Vorstellungen in naturwissenschaftlichen Lernprozessen untersucht werden. Zudem wird die Forschung zu epistemischen Überzeugungen in der vorliegenden Arbeit mit einem weiteren Forschungskonzept der Naturwissenschaftsdidaktik, dem Konzept der Alltagsphantasien, in Beziehung gesetzt. Die bedeutende Rolle epistemischer Überzeugungen mit Umgang mit naturwissenschaftlichen Inhalten ist in den letzten Jahrzehnten verstärkt in den Fokus der naturwissenschaftsdidaktischen Forschung genommen worden. Die Entwicklung einer sophistizierten und aufgeschlossenen persönlichen Epistemologie ist erklärtes Bildungsziel von Konzepten wie Scientific Literacy. Das folgende Kapitel dient dazu die Bedeutung epistemischer Überzeugungen für den Bildungsanspruch naturwissenschaftlichen Unterrichtes zu fassen sowie die bestehenden Erkenntnisse zu den spezifischen epistemischen Überzeugungen von Lernenden zu Naturwissenschaften darzustellen. 1.6 Persönliche Epistemologie und Nature of Science – Epistemische Überzeugungen zu Naturwissenschaften Die fachdidaktische Forschung untersucht die domänenspezifischen Überzeugungen zu Wissen und Wissenserwerb in konkreten fachlichen Kontexten, die in der Naturwissenschaftsdidaktik gemeinhin als individuelle subjektive Ansichten, Auffassungen und Theorien über die Genese, Ontologie, Bedeutung, Rechtfertigung und Gültigkeit von Wissen in den Wissenschaften verstanden werden (Priemer 2006, 160). In der Domäne der Natur-wissenschaften findet ein Großteil der Forschung zu epistemischen Überzeugungen im Forschungsbereich Nature of Science statt. Mit dem Begriff Nature of Science (NoS) oder Natur der Naturwissenschaften (NdN) lässt sich die naturwissenschaftdidaktische Forschung fassen, in der sich mit den Vorstellungen von Lernenden, Lehrenden, der Gesellschaft, aber auch der Wissenschaftler zu der Funktionsweise und Kultur des Systems „Wissenschaft“ beschäftigt wird. Die Forschung zu Nature of Science geht in 58
ihren Grundlagen auf die Theoreme der Wissenschaftsphilosophie, Wissenssoziologie und vor allem der Wissenschafts-theorie und Wissenschaftsethik zurück. Forschungen im Bereich NoS (McComas et al. 1998, 4) umfassen Beschreibungen dessen, was Naturwissenschaft ist, wie Naturwissenschaft funktioniert, wie Natur-wissenschaftler als eine soziale Gemeinschaft operieren und wie die Gesellschaft selbst wissenschaftliche Bestrebungen lenkt und auf sie reagiert. McComas et al. (1998, 5) charakterisieren NoS als einen Forschungsbereich, der Lehrende dabei leiten kann, Naturwissenschaften in einer adäquaten Weise an Lernende zu vermitteln. Höttecke (2001, 7) zufolge beinhaltet Nature of Science Untersuchungen der Vorstellungen Lernender zur Praxis naturwissenschaftlichen Forschens, dem epistemologischen Status naturwissenschaftlicher Wissensbestände und den Naturwissenschaftlern als lebende und arbeitende Menschen. An dieser Stelle wird deutlich, dass Forschung im Bereich NoS und die Forschung zu epistemischen Überzeugungen in den Naturwissenschaften auf breiter Front ineinandergreifen und sich in ihrem Erkenntnisinteresse überlappen. Die Forschung zu den Vorstellungen Lernender und Lehrender in Bezug auf Wissen und die Genese von Wissen in den Naturwissenschaften ist vor dem Hintergrund des naturwissenschaftlichen Bildungsanspruches zu verstehen. 1.6.1 Die Bedeutung epistemischer Überzeugungen für die naturwissenschaftliche Bildung Die Beurteilung der naturwissenschaftlichen Kenntnisse und Fähigkeiten der SchülerInnen in PISA 2006 stützt sich auf das Konzept der naturwissenschaftlichen Grundbildung, die definiert ist als der Umfang, in dem eine Person „naturwissenschaftliches Wissen besitzt und dieses Wissen anwendet, um Fragestellungen zu identifizieren, neue Kenntnisse zu erwerben, naturwissenschaftliche Phänomene zu erklären und aus Beweisen Schlussfolgerungen in Bezug auf naturwissenschaftliche Sachverhalte zu ziehen“ sowie der Umfang, indem eine Person „die charakteristischen Eigenschaften der Naturwissenschaften als eine Form menschlichen Wissens und Forschens versteht; erkennt, wie Naturwissenschaften und Technologie unsere materielle, intellektuelle und kulturelle Umgebung prägen“ und „sich mit naturwissenschaftlichen Themen und Ideen als reflektierender Bürger auseinandersetzt“ (OECD 2007, 13). Für den Erwerb neuer Erkenntnisse sowie für die Einsicht in Naturwissenschaften als eine Form menschlichen Wissens spielen epistemische Überzeu59
gungen eine zentrale Rolle. International wird die naturwissenschaftliche Grundbildung unter dem Begriff der Scientific Literacy diskutiert. Lernende sollen Anteil am gesellschaftlichen Kanon über Wissenschaft und Technik haben und gleichzeitig ein individuelles Verständnis von beidem entwickeln. Wissenschaftliche Lesefähigkeit befähigt Individuen wissenschaftlich signifikante Informationen zu interpretieren und sich in der jeweiligen „Kultur“ einer Wissenschaft, also etwa ihrem Weltbild, ihrer Methodologie und Geschichte zurechtzufinden (Bybee 1997, 44). Das Individuum soll in ein gesellschaftlich verankertes Wissenschaftsverständnis hineinwachsen. Im Zuge dieses „Teilwerdens“ wird der Lernende gleichzeitig unabhängig und mündig, denn er wird in die Lage versetzt, sich eine eigene Meinung zu Prozessen oder Problemen einer wissenschaftlichen Domäne zu bilden. Scientific Literacy ist jedoch kein unumstrittenes Konzept: Shamos (2002) zufolge ist Scientific Literacy ein utopisches Ziel. Seiner Ansicht nach zeigen nach einem Jahrhundert der Bemühungen um die Erreichung von Scientific Literacy lediglich fünf Prozent der erwachsenen amerikanischen Bevölkerung „echte“ Literarität, weshalb Scientific Literacy ein für Shamos unerfüllbarer Mythos ist (Evans 1997, 108). Ihm zufolge sollte das Ziel naturwissenschaftlichen Unterrichtes „Scientific Awareness“, also ein Naturwissenschaftliches Bewusstsein sein, durch welches die Öffentlichkeit zum einen Akzeptanz für die Arbeit von Wissenschaftlern aufbauen soll und zum anderen in die Lage versetzt werden soll, wissenschaftliche Experten als Quelle informierter Meinungen zu sozialen Fragen wissenschaftlichen und technologischen Inhalts zu nutzen (Evans 1997, 116). Andere Rechtfertigungen für die Bedeutung naturwissenschaftlichen Unterrichtes, wie ihr rein intellektueller Wert, ihre Bedeutung im modernen Leben, die Wichtigkeit Naturwissenschaften zu verstehen um als mündiger Bürger entscheidungsfähig zu sein, bezeichnet Shamos als „durchaus vernünftig“, erachtet sie in der Praxis jedoch als sinnlos (Shamos 2002, 46). Ihm zufolge müssen Lernende vor allem verstehen, wie die Menschheit ihr naturwissenschaftliches Wissen erlangte, wie naturwissenschaftliche Gesetze und Fakten etabliert werden und warum Menschen ihnen vertrauen (Shamos 2002, 48). Ein Verständnis dafür, wie Naturwissenschaftler denken und welche Herangehensweise sie im Umgang mit natürlichen Phänomenen wählen, sei vor allem durch Verständnis für naturwissenschaftliche Methoden zu leisten. Shamos lehnt damit das Streben nach umfassender Scientific Literacy ab, nach der „jeder sein eigener naturwissenschaftlicher Experte sein kann“ (Shamos 2002, 63). Diese Perspektive wird in der Fachwelt häufig als pessimistisch und elitär bezeichnet.
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Der anzustrebende Umfang naturwissenschaftlicher Grundbildung ist also umstritten. Beide Positionen rücken jedoch die Entwicklung sophistizierter epistemischer Überzeugungen zur Genese und Konstitution von Wissen in den Naturwissenschaften in das Zentrum naturwissenschaftlicher Bildungsbemühungen. Ein Ziel des naturwissenschaftlichen Unterrichtes besteht also darin, dass SchülerInnen adäquate und damit realitätsnahe Vorstellungen über Naturwissenschaft entwickeln (Höttecke 2001, 7). Um dieses Ziel natur-wissenschaftlicher Bildung zu erreichen, sollte der Unterricht Lernenden ermöglichen, einen Blickwinkel auf die Wissenschaft zu entwickeln, der über naturwissenschaftliche Fachbegriffe, Konzepte und Methoden hinausgeht und ein Verständnis für das Unterfangen „Wissenschaft“ an sich fördert. Sophistizierte epistemische Überzeugungen zu Naturwissenschaften korrespondieren mit einer Einsicht in die Funktionsmechanismen, Arbeits-weisen und Abhängigkeiten des wissenschaftlichen Systems. Daher ist es notwendig als Lernender die Möglichkeit zu bekommen, Einsichten in die Geschichte naturwissenschaftlicher Ideen, die Natur der Naturwissenschaften und die Rolle der Wissenschaft und Technologie in der Gesellschaft sowie im persönlichen Leben zu erlangen. Moore (1988, 445) zufolge müssen Lernende Wissenschaft soweit verstehen, dass sie sich in der modernen Welt „zuhause“ fühlen können. Forschung zu den Vorstellungen von Lernenden zur Funktionsweise von Naturwissenschaft ist Anliegen des Forschungsbereichs Nature of Science. 1.6.2 Die Forschung zu Nature of Science Die Forschung zur Natur der Naturwissenschaften oder Nature of Science vereint verschiedene Disziplinen und Perspektiven in sich. McComas & Olson (1998, 49) zufolge tragen die vier großen Disziplinen Philosophie, Geschichte, Soziologie und Psychologie Einsichten und Perspektiven zu der Natur der Naturwissenschaften bei. Nach Lederman et al. (2002, 498) verweist der Term Nature of Science auf die Epistemologie und Soziologie der Wissenschaft – wobei Wissenschaft als eine Art und Weise des Wissens verstanden werden muss – oder auf die Werte und Überzeugungen, die wissenschaftlichem Wissen und seiner Entwicklung inhärent sind. Dabei weisen Lederman et al. (2002) ausdrücklich darauf hin, dass auch die Auffassungen von der Natur der Naturwissenschaften umstritten und vielschichtig sind. Nicht alle Philosophen oder Wissenschaftler haben denselben Begriff von naturwissenschaftlichen Arbeitsweisen, Mechanismen und Gruppengefügen. Dennoch lassen sich grundlegende, 61
allgemein geteilte Vorstellungen in Bezug auf NoS beschreiben: Naturwissenschaftliches Wissen ist vorläufig, empirisch, theorie-geladen; teilweise ein Produkt menschlicher Folgerungen, Imagination, und Kreativität und sozial sowie kulturell eingebettet (Lederman et al. 2002, 499). Die Forschung zur Natur der Naturwissenschaften lässt sich in drei Bereiche gliedern, die im Folgenden kurz und beispielhaft an einzelnen Studien dargestellt werden. (1) Auf einer deskriptiven Ebene werden verbreitete Vorstellungen von Lernenden zu NoS erfasst. (2) Auf der Ebene des Lernens werden die Zusammenhänge von Vorstellungen zu NoS und Lernerfolg untersucht. (3) Zudem wird untersucht, auf welche Weise die Ausbildung adäquater Vorstellungen zu NoS im Unterricht gefördert werden kann. 1.6.2.1 Vorstellungen zu Nature of Science Die Forschung zu NoS hat besonders die weit verbreiteten Vorurteile und Vorstellungen zur Funktionsweise von Wissenschaft und Stereotype von Wissenschaftlern offenbart und sich mit den Auswirkungen dieser Vorstellungen auf die Auseinandersetzung von Lernenden mit naturwissenschaftlichen Inhalten beschäftigt. McComas (1998, 65) benennt fünfzehn typische „Mythen“ über Naturwissenschaft, die in der Gesellschaft bestehen, wie etwa „Es gibt die eine wissenschaftliche Methode“, „Wissenschaft ist ein einzelgängerisches Streben“, „Naturwissenschaft und ihre Methoden erbringen absolute Beweise“, „Wissenschaftler sind besonders objektiv“ oder „Neues naturwissenschaftliches Wissen wird in der Scientific Community sofort akzeptiert“. Diese Mythen korrespondieren mit epistemischen Überzeugungen zu der Sicherheit und Eindeutigkeit naturwissenschaftlichen Wissens (siehe Kapitel 1.5.3). Im Bereich NoS bestehen vielfältige Untersuchungen zu den Vorstellungen Lernender von Naturwissenschaftlern und naturwissenschaftlichem Arbeiten, dem epistemischen Status naturwissenschaftlichen Wissens sowie naturwissenschaftlicher Wissensproduktion und ihren Bedingungen.13 Besonders die letzten beiden Punkte entsprechen den von Hofer & Pintrich (1997, vgl. Kapitel 1.1.2) 13
Elder (2002, 348) zufolge besteht kein Standardkonzept zur Untersuchung epistemischer Überzeugungen in den Naturwissenschaften, dennoch ließen sich fünf zentrale Konstrukte ausmachen, zu denen Vorstellungen erhoben würden: (1) der Sinn und Zweck von Naturwissenschaft, (2) die Veränderlichkeit von Wissenschaft, (3) die Rolle von Experimenten, (4) die Kohärenz von Wissenschaft und (5) die Quelle naturwissenschaftlichen Wissens.
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benannten Dimensionen epistemischer Überzeugungen zur Beschaffenheit von Wissen, Nature of knowledge (Sicherheit und Wahrheit von Wissen) und zur Wissensbegründung, Nature of knowing (Entstehung und Rechtfertigung von Wissen). Besonders interessant sind Untersuchungen zu dem Bild, das Lernende von Naturwissenschaftlern hegen. Hierin offenbaren sich Perspektiven der Lernenden auf den Menschen. Da dieser Aspekt in einem späteren Kapitel (3.5) aufgegriffen wird, werden Befunde zu Wissenschaftlerstereotypen an dieser Stelle genauer ausgeführt. Viele Studien legen die Existenz eines Wissenschaftlerstereotyps nahe (Solomon 1993, 22; Carey et al. 1989), das unmittelbar mit epistemischen Überzeugungen korrespondiert: Der als intelligent und im Austüfteln von Experimenten als kreativ eingestufte Naturwissenschaftler erfasst in seinen Experimenten eine vorstrukturierte Natur und dokumentiert sie. Derartige Vorstellungen wissenschaftlicher Tätigkeit implizieren die Vorstellung der Existenz wahren und sicheren Wissens über die Natur, welches der Welt über geeignete Experimente quasi nur „entlockt“ werden muss. Gleichzeitig wird der Naturwissenschaftler zum neutralen Datenerfasser reduziert (Höttecke 2001, 9), der objektiv Beobachtungen sammelt und Ergebnisse zusammenfasst. Untersuchungen zur Wahrnehmung der Person des Wissenschaftlers aus dem englischsprachigen Raum (Solomon 1993, 24; vgl. auch Driver et al. 1996, Ryan 1987) legen insgesamt nahe, dass im Alter von 14 Jahren vier Vorstellungstypen von Wissenschaftlern unterschieden werden können: Der verrückte und gefährliche Wissenschaftler, die hilfsbereite Autorität, der Techniker und der intellektuelle Wissenschaftler. Über diese Spannbreite von Vorstellungen hinweg gelten Wissenschaftler jedoch meist als männliche, intelligente, vereinzelt arbeitende Individuen fortgeschrittenen Alters. Die Mehrheit der Studien attestiert SchülerInnen ein naiv-realistisches Wissenschaftsverständnis (Carey et al. 1989, Ryan & Aikenhead 1992), mit dem naturwissenschaftliche Modelle und Theorien als Abbildungen der Realität und damit als sicher und stabil verstanden werden. Die vorläufige Natur wissenschaftlicher Vorstellungen und die Einflüsse historischer und kultureller Gegebenheiten auf Naturwissenschaft werden kaum wahrgenommen. Dass wissenschaftliche Erkenntnisse in dem sozialen Raum einer wissenschaftlichen Gemeinschaft entstehen, die ebenso gruppendynamischen Prozessen (Hierarchien, Konkurrenz), Zeitgeist und Denkstilen unterlegen ist wie jedes andere soziale Gefüge, wird unterschätzt. Nach Driver et al. (1996, 140) sind sich Lernende meist nicht darüber im Klaren, dass außerwissenschaftliche Einflüsse auf wissenschaftliche Forschungen einwirken und natur-wissenschaftliche Erkenntnisse 63
als sozial geprägte Konstrukte von vielen wissenschaftsinternen sowie -externen Faktoren abhängen. 1.6.2.2 Zusammenhänge von Nature of Science und Lernen Ähnlich den Studien zum Einfluss epistemischer Überzeugungen auf das Lernen, legen Studien im Bereich NoS nahe, dass adäquate Vorstellungen zur Natur der Naturwissenschaften mit erfolgreichem Lernen natur-wissenschaftlicher Zusammenhänge einhergehen. Johnson & Peeples (1987, 95) zufolge geht ein gereiftes Verständnis von Nature of Science etwa mit einer stärkeren Akzeptanz der Evolutionstheorie einher. Werden Theorien als veränderbare, jedoch mit wissenschaftlichen Belegen abgesicherte Erklärungsversuche verstanden, erfolge eine vertiefte Auseinandersetzung auch entgegen eigener abweichender (etwa religiös motivierter) Vorstellungen. Songer & Linn (1991, 772) zeigen die Bedeutung eines dynamischen Wissenschaftsverständnisses für die Fähigkeit ein konzeptuelles Verständnis von Themen, wie etwa Thermodynamik, zu entwickeln. Während ein statisches Verständnis naturwissenschaftliches Wissen als eine Ansammlung von Fakten konzipiert, die auswendig gelernt werden müssen, geht eine dynamische Perspektive davon aus, dass Wissen veränderlich ist. Damit einher geht die Überzeugung, dass die Bedeutung wissenschaftlicher Ideen verstanden und die einzelnen Konzepte verknüpft werden müssen. Diese Ergebnisse decken sich mit bereits berichteten Untersuchungen von Schommer (1993) zum Zusammenhang von epistemischen Vorstellungen zur Komplexität von Wissen und dem erfolgreichen Monitoring des eigenen Verstehens (siehe Abschnitt 1.2). In der Studie von Songer & Linn (1991) zeigte eine dritte Gruppe von Lernenden ein gemischtes Wissenschaftsverständnis mit statischen und dynamischen Anteilen. Bell & Linn (2002, 333) gehen deshalb davon aus, dass die Vorstellungen zu NoS als Repertoire von Ideen vorliegen, die in komplexen kognitiven Systemen eingebettet sind und in Abhängigkeit von Situation und Kontext aktiviert werden. Auch diese Konzeption zeigt deutliche Parallelen zum Ansatz der „epistemologischen Ressourcen“ von Hammer & Elby (vgl. Kapitel 1.4.1). Es gibt jedoch auch gegensätzliche Befunde: Bell & Lederman (2003) untersuchten die Zusammenhänge von Vorstellungen zu NoS von Erwachsenen für Entscheidungsprozesse in Bezug auf naturwissenschaftliche und technologische Probleme. Ihren Befunden zufolge spielen vornehmlich soziale, politische und ethische Überlegungen sowie persönliche Werte in den Entscheidungsprozessen 64
eine Rolle, wogegen die Vorstellungen zu NoS kaum Einfluss auf die Entscheidungsprozesse zeigten (Bell & Lederman 2003, 367). Entscheidungsprozesse sind komplexe kognitive Prozesse, für die ein Zusammenwirken von Vorstellungen zu NoS mit anderen Vorstellungen anzunehmen ist. Es bedarf weiterer Erkenntnisse zu dem Zusammenhang von epistemischen Überzeugungen mit anderen mentalem Komponenten und der Art und Weise ihrer Aktivierung, um die genauen Mechanismen in komplexen kognitiven Prozessen durchschauen zu können. 1.6.2.3 Möglichkeiten der Förderung adäquater Vorstellungen zu Nature of Science Da sich adäquate Vorstellungen zur Natur der Naturwissenschaften offenbar positiv auf das Lernen in den Naturwissenschaften auswirkt, werden auch in der Forschung zu NoS Untersuchungen dazu angestellt, wie sich bestimmte Lehrstrategien oder Unterrichtskonzeptionen auf die Ausprägung der Vorstellungen zu NoS auswirken. Beispielsweise werden hierbei die Einflüsse von Inquiry-Based Science Education (IBSE) auf die Ausprägung der Vorstellungen zu NoS untersucht (Elder 2002). Inquiry-Based Science Education (IBSE) basiert auf dem aktiven Beobachten und Experimentieren der SchülerInnen, die angeleitet durch den Lehrenden selbstständig ihr Wissen entwickeln. Elder (2002, 360) zufolge zeigen die SchülerInnen in Folge dieses Unterrichtes gemischte Vorstellungen zum Wesen der Naturwissenschaften. Sie verstehen wissenschaftliches Wissen als ein sich entwickelndes Konstrukt, das durch Nachdenken und Testen entsteht. Die Lernenden zeigen jedoch wenig Verständnis für die Bemühungen der Wissenschaft Phänomene zu erklären.14
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Elder (2002, 360) untersuchte die Vorstellungen von FünftklässlerInnen in sogenannten „hands-on Science Classrooms“. In diesem Unterricht wird Lernen nach dem Ansatz des Inquiry-BasedLearning organisiert. Inquiry ist dabei definiert als der intentionale Prozess des Diagnostizierens von Problemen, des kritischen Hinterfragens von Experimenten und ihren Alternativen, des Planens von Untersuchungen, des Konstruierens von Vermutungen, der Suche nach Informationen, der Konstruktion von Modellen und Diskussionen mit Gleichaltrigen und des Formulierens von kohärenten Hypothesen (Linn et al. 2004, 4). Elders Studie (2002, 360) offenbart gemischte Vorstellungen bei den untersuchten SchülerInnen: Die Lernenden zeigen geringes Verständnis für die Bemühungen der Wissenschaft Phänomene zu erklären. Der Sinn von Wissenschaft besteht für Lernende demnach eher darin, sich in Aktivitäten wie Projekten oder Beobachtungen zu engagieren. Andererseits verstehen sie wissenschaftliches Wissen als ein sich entwickelndes Konstrukt, das durch Nachdenken und Testen entsteht. Zur Quelle von Ideen schrieben sie sich selbst passive Rollen (aus Büchern,
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Akerson & Hanuscin (2007, 673) zeigten einen positiven Einfluss der expliziten Reflektion der Bedeutung von Scientific Inquiry und NoS bei Lehrenden auf die Reife ihres Verständnisses von NoS sowie auf die Vorstellungen der Lernenden. Dieser explizit reflexive Ansatz intendiert Lernende durch Instruktion, Diskussion und Hinterfragen im Kontext von Aktivitäten, Erforschungen und historischen Beispielen auf relevante Aspekte von NoS aufmerksam zu machen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Entwicklung sophistizierter epistemischer Überzeugungen zentrales Ziel natur-wissenschaftlicher Grundbildung ist. In der Forschung zu Nature of Science werden zur Bedeutung und Entwicklung adäquater Vorstellungen zum Wesen der Naturwissenschaft für das Lernen in den Naturwissenschaften parallele Befunde berichtet, wie sie zu der Bedeutung epistemischer Überzeugungen für Lernprozesse bestehen. Adäquate Vorstellungen zu NoS stehen mit dem erfolgreichen Lernen naturwissenschaftlicher Inhalte in Verbindung. Gleichzeitig weisen die Befunde zu den Vorstellungen von Lernenden über das Wesen und die Funktionsweise von Naturwissenschaften darauf hin, dass SchülerInnnen häufig über wenig adäquate Vorstellungen verfügen. Naturwissenschaftliche Modelle und Theorien werden als wahr und stabil wahrgenommen (Carey et al. 1989, Ryan & Aikenhead 1992). Dies geht mit epistemischen Überzeugungen einher, nach denen naturwissenschaftliches Wissen als sicher und wahr angesehen werden kann (Hofer 2000). Vor diesem Hintergrund besteht also gerade in den Naturwissenschaften großer Bedarf an Erkenntnissen zum Aufbau und der Entwicklung der persönlichen Epistemologie, um Methoden und Unterrichtsarrangements zu entwickeln, die die Entwicklung sophistizierter epistemischer Überzeugungen und adäquater Perspektiven auf Naturwissenschaften unterstützen. Forschungsergebnisse zu NoS weisen in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung der Lernsituation für die Entwicklung adäquater Vorstellungen zum Wesen der Naturwissenschaften und damit zur Entwicklung reifer epistemischer Überzeugungen hin, die in besonderem Maße durch die Lehrenden und die von ihnen etablierten Kontexte bestimmt wird.
Fernsehen, von Erwachsenen oder MitschülerInnen) und Wissenschaftlern aktive Bemühungen (durch Nachdenken etc.) zu.
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1.7 Resümee Wie in diesem Kapitel umfassend dargelegt wurde, wird die Auseinandersetzung, Verarbeitung, Überprüfung und Bewertung von Wissen maßgeblich durch die epistemischen Überzeugungen eines Individuums beeinflusst. Sie wirken auf die Prozesse der Informationsverarbeitung beim Lernen und beeinflussen in einer Management-Funktion das Denken und Verstehen (Kapitel 1.3.2). Die grundlegenden Entscheidungen zum Umgang mit Informationen erfolgen dabei selten bewusst, denn epistemische Überzeugungen sind den wenigsten Menschen bei ihren tagtäglichen Entscheidungen kontrolliertem Zugriff unterworfen. Vielmehr können epistemische Überzeugungen als sozial geteilte Intuitionen zu Wissen und Wissenserwerb verstanden werden (Jehng et al. 1993). Als sozial erworbene Vorstellungen sind sie kulturell geformt, d.h. es kann angenommen werden, dass Angehörige unterschiedlicher Kulturen voneinander verschiedene persönliche Epistemologien entwickeln. Um epistemische Überzeugungen zu verstehen, müssen sie also im Zusammenhang mit Sozialisation und Enkulturation einer Person betrachtet werden. Dies geschieht im Kapitel 3. Zudem sind epistemische Überzeugungen eng verknüpft mit Überzeugungen zu Lernen und Intelligenz sowie Persönlichkeitsmerkmalen. Eine personenspezifische Disposition wird in der vorliegenden Arbeit als zentral für die persönliche Epistemologie erachtet: Die Bereitschaft zum Nachdenken. Sie wird deshalb als epistemisches Motiv in dieser Arbeit im Zusammenhang mit epistemischen Überzeugungen betrachtet (Kapitel 1.1.2). Dies ist ein erster Schritt epistemische Überzeugungen nicht als isoliert wirkende Systeme von Vorstellungen zu betrachten, sondern sie als interaktive Komponenten von Denkprozessen zu untersuchen. In diesem Zusammenhang wird die Bedeutung des epistemischen Motivs in Kapitel 3 genauer erläutert. Wichtiger Aspekt für das Verständnis epistemischer Überzeugungen als interaktiver Komponenten von Denkprozessen ist der implizite Charakter epistemischer Überzeugungen. Bei der Betrachtung epistemischer Überzeugungen als Bestandteile metakognitiver Theorien (Kapitel 1.2) wurde deutlich, dass epistemische Überzeugungen in Lernsituationen vornehmlich implizit im Lernprozess wirken. Gerade weil epistemische Überzeugungen implizit vorliegen und beim Lernen automatisch aktiviert werden, ohne dass der Lernende sie reflektiert, spielt der Kontext eine besondere Rolle für die Aktivierung epistemischer Überzeugungen. Die Konzeption der „epistemischen Ressourcen“ von Hammer & Elby (2002) leistet einen wichtigen Beitrag, um zu verstehen wie sich die persönliche 67
Epistemologie beim Lernen tatsächlich einschaltet. Als Pool für eine Fülle von einzelnen Bausteinen verändert die persönliche Epistemologie ihre Aktivierungskonfiguration abhängig davon, welche der epistemischen Vorstellungen gerade vom Kontext aktiviert werden. Wie reif sich die persönliche Epistemologie eines Menschen in einem bestimmten Kontext darstellt, ist also bestimmt dadurch, welche der epistemischen Ressourcen aktiviert sind. Um reifere epistemische Überzeugungen etwa zu Naturwissenschaften zu fördern, müssen deshalb nach Hammer & Elby (2002) keine neuen epistemischen Überzeugungen erlernt oder alte Überzeugungen ersetzt werden, sondern neue Muster epistemischer Überzeugungen für den jeweiligen Kontext aktiviert werden. Wird diese neue Aktivierungskonfiguration häufiger in dieser Form in einem naturwissenschaftlichen Kontext abgerufen, dann verinnerlichen die Lernenden ein reiferes Muster epistemischer Überzeugungen im Zusammenhang mit Naturwissenschaften. Es ist damit zentral Lernkontexte zu schaffen, in denen die Aktivierung förderlicher epistemischer Ressourcen und damit die Verstärkung eines weltgewandten Systems epistemischer Überzeugungen gefördert werden. Kitchener & Fischer (1990) haben gezeigt, wie Nachdenken sozial unterstützt werden kann und wie in der Folge Denken auf einem höheren epistemischen Niveau erreicht wurde. Hieran wird in dem folgenden Kapitel angeknüpft, indem ein Konzept und Forschungsprogramm vorgestellt wird, in dem Reflexion und damit die Anregung zum Nachdenken zentraler Bestandteil ist. Das Konzept und Forschungsprogramm Alltagsphantasien beschäftigt sich mit kulturell erworbenen, tief verankerten Vorstellungen zu alltäglichen Phänomenen, die Einfluss auf die Perspektive von Lernenden auf Lerngegenstände und deren Bewertung haben. Wie die epistemischen Überzeugungen werden auch Alltagsphantasien als implizite, kontextabhängige und sozial erworbene Wissensstrukturen verstanden, die Lernprozesse beeinflussen. Ihre Quellen liegen in den in einer Gesellschaft geteilten Mythen und Geschichten, die kulturell typische Welt- und Menschenbilder transportieren. Da diese im alltäglichen Leben ständig präsent sind, werden sie im Laufe der Sozialisation verinnerlicht. Alltagsphantasien gelten daher als Spuren verinnerlichter Welt- und Menschenbilder, die auf einer intuitiven Ebene wirken – also unkontrolliert und automatisch aktiviert und generiert werden und Einfluss auf die Perspektive von Lernenden auf Gegenstände und Phänomene und deren Bewertung haben. Alltagsphantasien und epistemische Vorstellungen weisen folglich bedingt durch ihre verwandte Genese gemeinsame Charakteristika auf, und beide beeinflussen weitgehend unbewusst den Zugang eines Individuums zu einem neuen Phänomen oder Gegenstand. Beide Formen von Wissen stellen Assoziationen 68
dar, die größtenteils unmerklich in das Denken zu einem Gegenstand einfließen und die Perspektive auf den Gegenstand bestimmen. Um diese beiden Konstrukte im weiteren Verlauf dieser Arbeit systematisch miteinander in Beziehung zu setzen, wird im folgenden Kapitel das Konzept der Alltagsphantasien genauer betrachtet.
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2 Alltagsphantasien – Implizite Vorstellungen zum Menschen und der Welt und ihre Bedeutung beim Lernen
Während sich die Forschung zur persönlichen Epistemologie eher auf einem Nebengleis mit dem impliziten Charakter der epistemischen Überzeugungen beschäftigt, entstand in der deutschen Naturwissenschaftsdidaktik ein Konzept, das sich ganz gezielt mit einer Form von impliziten Vorstellungen und ihrer Bedeutung in Lernprozessen auseinandersetzt. Im Fokus stehen dabei solche unbewussten Assoziationen, affektiven Reaktionen und impliziten Vorstellungen, die als „subjektive Resonanzen“ auf einen Lerngegenstand gefasst werden können (Gebhard 2007, 104). Diese Umschreibung bezeichnet damit alle Einfälle, Phantasien, Erinnerungen und Vorstellungen, die als subjektive Komponenten in Lernkontexten eine Rolle spielen und auf einer impliziten Ebene das Lernen beeinflussen. Das Forschungsprogramm und didaktische Konzept Alltagsphantasien konzentriert sich dabei auf jene Vorstellungen, die in der Auseinandersetzung mit einem Lerngegenstand vornehmlich implizit wirken und dabei grundlegende und verinnerlichte Menschen- und Weltbilder transportieren. Es handelt sich um Assoziationen, die durch die Sozialisation und internalisierte kulturelle Vorstellungen beeinflusst sind. Aufgrund ihrer Internalisierung wirken sie meist außerhalb der bewussten Kontrolle, äußern sich etwa in Form von Intuitionen und spielen eine Rolle in der assoziativen Beeinflussung von Lernprozessen. Der Ansatz Alltagsphantasien entwickelt damit bisherige Forschungen zu Schülervorstellung weiter und zielt auf ein vertiefendes Verständnis der individuellen Aneignungs- und Bewertungsprozesse in der Auseinandersetzung mit fachlichen Inhalten. Der Ansatz geht im Wesentlichen auf die Arbeiten von Ulrich Gebhard sowie auf die Hamburger Forschungsgruppe um ihn und Rosemarie Mielke zurück. Der vornehmlich didaktisch ausgerichtete Ansatz stützt sich dabei auf kognitionspsychologische Modelle zur Informationsverarbeitung sowie subjektorientierte Modelle der Vorstellungs- und Interessenforschung (vgl. Strack & Deutsch 2004, Deci & Ryan 1985, Krapp 1992). Aufgrund ihrer
70 K. Oschatz, Intuition und fachliches Lernen, DOI 10.1007/978-3-531-93285-9_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
inhaltlichen Breite und ihres oftmals metaphorischen Charakters werden implizite kulturell beeinflusste Vorstellungen zum Menschen und der Welt im Fachunterricht nicht immer wahr- und ernst genommen (Gebhard & Dittmer 2007, 97). Nach Gebhard tragen sie jedoch für Lernende dazu bei, dem Lerngegenstand seine subjektive Bedeutung zu geben und Lernprozesse in Folge dessen als „sinnerfüllt“ zu erleben (Gebhard 2003b, 33). Die zentrale These ist deshalb, dass durch die explizite Reflexion dieser individuellen Bezüge – also durch eine Auseinandersetzung mit den eigenen Alltagsphantasien – Lernprozesse möglich werden, die von Lernenden als subjektiv bedeutsam empfunden werden und aus diesem Grunde ein nachhaltigeres Lernen bewirken (vgl. Gebhard 2003b, 51). Nach Born & Gebhard (2005, 260) ermöglicht die Berücksichtigung von Alltagsphantasien eine Transformation wissenschaftlicher Elemente in das Alltagsdenken, indem Erkenntnisse „dimensioniert“ werden und „objektive Fakten zu Elementen der eigenen Lebenswelt werden können“. Aus der Perspektive dieser Arbeit wird davon ausgegangen, dass Alltagsphantasien als Spuren verinnerlichter Welt- und Menschenbilder gewissermaßen Anteil an einer impliziten persönlichen Theorie des Lernenden zum Aufbau und zur Ordnung der Welt haben. Die Annahme ist, dass sie aus diesem Grund als subjektive Bezüge eine Orientierungsfunktion für die Lernenden übernehmen und hierdurch für die von Gebhard postulierte „Sinnkonstitution“ (2007b, 11) bedeutsam sein können. 2.1 Alltagsvorstellungen und Alltagsphantasien – Eine Verortung im Kontext der Schülervorstellungen Der Ansatz der Alltagsphantasien ist im Rahmen der Forschung zu Schülervorstellungen von Gebhard (vgl. Gebhard 1999, 2000, 2003, 2007) in die didaktische Forschung eingebracht worden. Schülervorstellungen bezeichnen die subjektiven Vorstellungen von Lernenden innerhalb von schulischen Vermittlungsprozessen, die durch einen Lerngegenstand aktiviert werden. Dabei handelt es sich um Vorstellungen und Konzepte, die Menschen erfahrungsbasiert, also in Auseinandersetzung mit der Umwelt, entwickeln (Sinneserfahrungen, Alltagshandlungen, Gespräche, Medien) und zur Erklärung der Phänomene der Welt heranziehen (Duit 1992, 47). Ziele der Forschung zur Schülerperspektive umfassen dabei die Identifikation und Rekonstruktion typischer, teilweise aus wissenschaftlicher Sicht unzutreffender Vorstellungen von Lernenden zu Unterrichtsinhalten sowie die Entwicklung von Strategien und Modellen zum Umgang mit diesen Vorstellungen 71
und zur Planung von Unterricht, wie es etwa mit dem Modell der didaktischen Rekonstruktion angestrebt wird (Kattmann et al. 1997). Die Forschung umfasst dabei vielfältige Untersuchungen sowohl in den Didaktiken als auch in der Lernpsychologie, was sich auch in der Vielfalt der Termini spiegelt (Pfundt & Duit 1994, Duit 1992, 53): Von Ansätzen zu „Fehlvorstellungen“ (misconceptions) oder „Präkonzepten“ der beginnenden Forschung der 70er Jahre wurden zahlreiche Begriffe für Schülervorstellungen als „alternative Frameworks“ oder „mini theories“ bis hin zu jüngeren Ansätzen der Conceptual Change Forschung geprägt. Unter dem Begriff des „Conceptual Change“ (Wandel von Konzepten) wird in der Psychologie und Fachdidaktik die Bedeutung bereits vorhandenen Wissens, seine Anreicherung, Erweiterung und Verknüpfung mit neuen Informationen sowie die Reorganisation und Umstrukturierung von bereits vorhandenen Vorstellungen und Vorstellungssystemen und die Möglichkeiten pädagogischen Einwirkens auf diesen Wandel diskutiert und erforscht (vgl. Strike & Posner 1992, Pintrich 1999, Vosniadou 1999, Stark 2003). Nach Duit (1992) spiegelt die begriffliche Vielfalt im Forschungsfeld der Schülervorstellungen nicht nur die verschiedenen Ansätze und Perspektiven der Forschung wieder, sondern lässt auch die Schwierigkeiten der theoretischen Fundierung erkennen. Mittlerweile hat sich in der deutschen Didaktik der Begriff der „Alltagsvorstellungen“ etabliert, der die Anerkennung der Schülerperspektive akzentuiert: So können die Vorstellungen der Lernenden mitunter fachlich unzutreffend oder vereinfacht sein, müssen aber in ihrer Relevanz und Funktionalität für das Individuum im Alltag in ihrer Berechtigung anerkannt werden. Gebhard versteht Alltagsvorstellungen als urteils- und handlungsrelevante Vorstellungen, die aufgrund dieser Qualität in Lernprozessen anerkannt werden müssen (Gebhard 2007, 103). Nach Kattmann (2003, 120) stehen Alltagsvorstellungen als lebensweltlich gebildete Alternativen zu wissenschaftlichen Vorstellungen in einem aufschlussreichen Spannungsverhältnis zu diesen, da ihre Gegensätze oder Korrespondenzen für das bedeutungsvolle Lernen wissenschaftlicher Konzepte wichtig seien. Nur das „Hineinlernen“ in verfügbare Vorstellungen und bereits erworbenes Wissen ermögliche multidimensionale Perspektiven, da diese Zusammenhänge zwischen Lerninhalten stiften (Kattmann 2003, 127). Alltagvorstellungen sind also als Anknüpfungspunkte im Lernprozess zu verstehen, die Lernende in den Unterricht einbringen und von denen aus sie ihr Spektrum an Vorstellungen weiterentwickeln können (Kattmann 2000, 25). Einher mit diesem Verständnis geht die moderne didaktische Ausrichtung, Schülervorstellungen nicht ersetzen oder umstrukturieren zu wollen, sondern den Lernenden die kontextgebundene Bedeutung von Konzepten und damit 72
auch die unterschiedlichen Bedeutungshorizonte von wissenschaftlichen und lebensweltlichen Vorstellungen verständlich zu machen. In wissenschaftlichen Kontexten können Erklärungsmuster des Alltags an ihre Grenzen reichen. In diesen Zusammenhängen bieten wissenschaftliche Konzepte dann die konsistenteren und plausibleren Einsichten (Duit 1996, 147, Häußler et al. 1998, 182). Alltagsvorstellungen lassen sich zusammenfassend als subjektive Sinnentwürfe des Alltags bezeichnen, die sich in alltäglichen Handlungszusammenhängen bewährt haben und deshalb für das Individuum situationsadäquat und gültig sind. Nach Gebhard (2007) heben sich einige dieser subjektiven Sinnentwürfe nun vor allem dadurch ab, dass sie nicht unbedingt Ergebnisse des reflektiven Nachdenkens sind, sondern sich durch einen vorreflexiven oder vorrationalen Charakter auszeichnen. Um diese Besonderheit sprachlich deutlich zu machen, bezeichnet Gebhard solche Vorstellungen als Alltagsphantasien (2007, 103). 2.2 Die Dimensionen des Konzeptes Alltagsphantasien Der Begriff der Alltagsphantasien fasst zunächst einmal alle Einfälle, Phantasien, Erinnerungen und Vorstellungen, die als subjektive Komponenten in Lernkontexten eine Rolle spielen und häufig auf einer impliziten Ebene die Auseinandersetzungen beeinflussen. Gebhard beschreibt Alltagsphantasien dementsprechend wie bereits eingeführt als „subjektive Resonanzen“ auf einen Lerngegenstand (2007, 104). Diese subjektiven Antworten müssen dabei nicht direkt im Unterrichtsgeschehen zur Sprache kommen, sondern können sich in Form von spontanen Reaktionen auf den Lerngegenstand oder als Intuitionen äußern, die eine bestimmte Bewertung des Lerngegenstandes oder eine bestimmte affektive Reaktion nach sich ziehen. Eine besondere Qualität dieser vorbewussten und subjektiven Vorstellungen ist ihre inhaltliche Valenz: Alltagsphantasien bezeichnen Vorstellungen, die grundlegende Figuren des Selbst- und Weltverständnisses beinhalten, jedoch aufgrund ihrer inhaltlichen Weitläufigkeit und ihres oftmals narrativen und metaphorischen Charakters im Fachunterricht meist ausgeblendet werden (Gebhard & Dittmer 2007, 97). Diese Vorstellungen sind durch die Sozialisation und verinnerlichte kulturelle Bilder und Konzepte beeinflusst und offenbaren damit Aspekte der Enkulturation eines Menschen. Wie bereits angeführt ist der zentrale Gedanke des Ansatzes nach Gebhard (2007, 113), dass „der Einbezug intuitiver Deutungsmuster, Symbolisierungen und Subjektivierungen“ in die reflektierte Beschäftigung mit Gegenständen „die Chance erhöht, dass Lernprozesse 73
von den Subjekten als sinnhaft interpretiert werden können und den Lernprozess vertiefen“. Das Konzept der Alltagsphantasien lässt sich in vier verschiedenen Dimensionen entfalten, die alle aneinander gebunden sind. Aus diesem Grund kann die Unterscheidung der vier Dimensionen möglicherweise künstlich erscheinen, soll an dieser Stelle jedoch der Strukturierung der bestehenden Erkenntnisse dienen: 1. Inhaltliche Dimension Vorstellungen, die sich dem Konzept der Alltagsphantasien zuordnen lassen, sind als Spuren von Welt- und Menschenbildern des Individuums zu verstehen. Diese sind sozial erworbene Perspektiven auf die Welt, die also durch die Sozialisation und das kulturelle Umfeld des Individuums bestimmt sind. 2. Prozedurale Dimension Damit beruhen Alltagsphantasien auf vornehmlich impliziten Vorstellungen und Perspektiven auf den Menschen und die Welt. Die Anteile dieser impliziten Vorstellungen, die in Intuitionen, spontanen Assoziationen oder affektiven Reaktionen in Lernkontexten zutage treten, beruhen auf einer schnellen und automatischen Aktivierungsausbreitung innerhalb des kognitiven Netzwerkes. 3. Wirkdimension Über diese assoziativen Mechanismen nehmen Alltagsphantasien vornehmlich unbemerkt Einfluss auf das Verständnis und die Bewertung von Lerngegenständen. 4. Funktionale Dimension Diese unmittelbare Bedeutungszuweisung vor dem Hintergrund subjektiver Erfahrungs- und Erklärungsmuster dient als Orientierungsrahmen des Individuums. Über den Abgleich und die Ausdeutung umgebender Phänomene mit dem eigenen impliziten Weltverständnis erfolgt die Konstruktion einer „sinnvollen“ Welt, die als vertraut und kohärent empfunden wird. Somit dienen Alltagsphantasien der Orientierung des Individuums in der Welt. Der implizite Charakter einerseits sowie der Transport von Welt- und Menschenbilder andererseits zählen als die beiden zentralen Charakteristika der Vorstellungen, die mit dem Konzept der Alltagsphantasien gefasst werden. Aus ihnen erwächst die besondere Bedeutung dieser Vorstellungen in Lernprozessen: Als implizites, kulturell aufgeladenes Wissen beeinflussen den Alltagsphantasien zugehörige Vorstellungen die Perspektive auf den Lerngegenstand 74
assoziativ und wirken auf die Bewertung des Lerngegenstandes ein. Durch Anerkennung und Berücksichtigung dieser Vorstellungen (etwa durch explizite Reflexion) lassen sich nach Gebhard Lernprozesse in ihrer subjektiven Bedeutung für das Individuum stärken und in ihrer Nachhaltigkeit unterstützen. Im Folgenden wird das Konzept der Alltagsphantasien entlang der vier Dimensionen und unter Einbindung der bestehenden Erkenntnisse entfaltet. Die Ausführung der inhaltlichen Dimension beinhaltet dabei auch die Darstellung bereits rekonstruierter Alltagsphantasien zum Themenbereich der Gentechnik, um die inhaltliche Valenz der Welt- und Menschenbilder zu veranschaulichen. Aus der Perspektive der prozeduralen Dimension werden dann die kognitionspsychologischen Grundlagen impliziten Wissens dargestellt und die Verarbeitungsprozesse erläutert. Die Wirkebene umfasst zum einen Befunde zum persistenten Auftreten von Alltagsphantasien, sowie die bestehenden Ergebnisse der Wirkung ihrer expliziten Reflexion auf Motivation und Lernleistung. Innerhalb der Dimension der Funktionsebene wird dann unter Rückgriff auf die anderen Dimensionen eine Rahmentheorie zur Einordnung der Alltagsphantasien entworfen, die das Gelenkstück zum ersten Kapitel der epistemischen Überzeugungen bildet. Alltagsphantasien können aus dieser Perspektive als Spuren einer impliziten persönlichen Theorie zur Ordnung der Welt, einer impliziten Theorie der Realität von Lernenden verstanden werden. Diese Auffassung bildet die Grundlage für die didaktischen Implikationen des Konzeptes. Zudem bildet sie die Basis für das nächste Kapitel, indem in einem systematischen Vergleich von epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien beide Konstrukte miteinander in Beziehung gesetzt werden. 2.3 Welt- und Menschenbilder – Die Kerne der Alltagsphantasien Die inhaltliche Dimension Als Menschenbilder gelten nach Fahrenberg (2004, 305) alle Annahmen und Überzeugungen dazu, „was der Mensch von Natur aus ist, wie er in seinem sozialen und materiellen Umfeld lebt und welche Werte und Ziele er in seinem Leben haben sollte. Es umfasst das Selbstbild und das Bild von anderen Personen oder von den Menschen im Allgemeinen“. Nach Fahrenberg ist das Menschenbild ein Teil der Weltanschauung. Weltbilder schließen an Menschenbilder an und stehen wie ein größerer Rahmen mit ihnen in Verbindung. Sie umfassen Perspektiven auf die Welt und ihre Beziehung zum Menschen. Dazu zählen allgemeine Aussagen über Charakteristika, Wechselbeziehungen, Zusammen75
hänge und Gesetzmäßigkeiten, die den Phänomenen der Welt und der Natur zugeschrieben werden. Nach Oerter (1999a, 1) sind Menschenbilder als sinnstiftende Teilkonstruktionen des Weltbildes zu verstehen. „Menschenbilder sind Konstruktionen oder Konstrukte, die von Laien und Wissenschaftlern als Teil ihres Weltbildes implizit oder explizit entworfen werden, um eine Gesamtorientierung des Urteilens und Handelns zu ermöglichen. (…) Menschenbilder haben im Regelfall handlungsleitende Funktion, d.h. sie beeinflussen Planung, Ausführung und Bewertung des Handelns. (…) Menschenbilder wirken auch dann handlungsleitend, wenn sie den Trägern nicht bewusst sind“ (Oerter 1999a, 1).
Oerter rückt hiermit zwei wichtige Aspekte von Menschen- und Weltbildern ins Zentrum: Jeder Mensch, egal ob Laie oder Experte, generiert diese Konstrukte aus seiner subjektiven Lebenserfahrung. Die eigenen Menschen- und Weltbilder übernehmen eine Orientierungsfunktion für das Individuum und bilden die Grundlage seiner Bewertungen. Überdies betont Oerter (1999a) den häufig impliziten Charakter von Welt- und Menschenbildern, der ihrer strukturierenden Funktion jedoch keinen Abbruch tut. Auch nach Fahrenberg sind individuelle Menschenbilder nicht in jeder Hinsicht bewusst oder verbalisierbar: „Die Überzeugungen sind so selbstverständlich, dass sie im Alltag selten überdacht werden, d.h. latent (implizit, verborgen) sind und nicht durchgehend reflektiert sein können“ (Fahrenberg 2004, 305). Weiter geht Fahrenberg davon aus, dass Menschenbilder eine nützliche, orientierende und adaptive Funktion haben. Auch Detzer zufolge (1999, 99f.) sind Menschenbilder „wichtige konstituierende Elemente des menschlichen Denkens und Handelns“. Er fasst Menschenbilder als komplexitätsreduzierende Modelle vom Menschen, die zur Erklärung bestimmter Verhaltensweisen herangezogen werden. Nach Hagehülsemann (1984, 14f.) strukturieren Menschenbilder die Denkrichtung und vereinfachen die Realität. Er versteht Menschenbilder ebenfalls als „Modelle des Menschen“, die erkenntnisleitende, repräsentierende und selegierende Funktionen übernehmen: Menschenbilder nähmen entscheidenden Einfluss auf die Perspektive, unter der die Phänomene der Wirklichkeit betrachtet und interpretiert würden. Solche „Menschenmodelle“ dienten in einer heuristischen Funktion dazu, die Denkrichtung des Erkennenden zu strukturieren. Nach Hagehülsemann ist also eine erkenntnisleitende Funktion für Menschenbilder charakteristisch (1984, 15). Ihm zufolge enthalten Menschenbilder „…immer auch ein Weltbild, in dem die Stellung des Menschen zu seiner organischen und materiellen Umwelt sowie die Interaktionen innerhalb dieses Feldes thematisiert werden“
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(Hagehülsemann 1984, 21). Deshalb stünden Menschenbilder auch immer mit einem Begriff von Gesellschaft in Verbindung. Teile dieser Perspektiven auf den Menschen und die Welt spiegeln sich in den Vorstellungen, die als „subjektive Resonanzen“ oder Alltagsphantasien in Reaktion auf Lerngegenstände ausgelöst werden. Um dies zu veranschaulichen, sollen an dieser Stelle eine Reihe von Alltagsphantasien vorgestellt werden, die zu verschiedenen Anwendungsgebieten der Gentechnologie erfasst wurden. Anschließend werden exemplarisch an einer einzelnen Vorstellung die transportierten Welt- und Menschenbilder analysiert. 2.3.1 Alltagsphantasien zur Gentechnologie Im Rahmen der Rekonstruktion von Alltagsphantasien konnte auf bestehende methodische Zugänge zur Rekonstruktion von „latenten Sinnstrukturen“ aus empirischen Untersuchungen zur Naturbeziehung von Kindern und Jugendlichen zurückgegriffen werden.15 Zum Themenbereich der Gen- und Fortpflanzungstechnologie wurden durch eine Reihe empirischer Untersuchungen in einer iterativ angewandten Kombination von offenen Gruppendiskussionen16 und standardisierten Fragebögen17 typische Alltagsphantasien bei Jugendlichen
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Die empirische Erhebung der Alltagsphantasien erfolgte qualitativ über ein spezielles Gruppendiskussionsverfahren, das Anregungen aus der Kinderphilosophie aufgreift (Gebhard et al. 1997; Gebhard 1999, 106), da Vorstellungen, Phantasien, Einstellungen und Werthaltungen von jungen Menschen als Ergebnisse sozialer Verständigungsprozesse zu verstehen sind. Dem Ansatz von Matthews (1989) folgend wird eine Diskussion angeregt, indem eine im Ausgang offene Geschichte vorgelesen wird. Verschiedene Positionen zu einem Problem werden in der Geschichte durch ein kontroverses Gespräch zwischen zwei Jugendlichen repräsentiert, die dann von den Kindern diskutiert werden. Die Diskussionen werden wörtlich transkribiert und nach Verfahrensvorschlägen der Grounded Theory (Strauss & Corbin 1996) ausgewertet (vgl. Gebhard 2007, 106; 2004, 29). Dabei werden zunächst über einen Prozess des offenen Codierens Themen und Verläufe der Diskussion identifiziert. Diese werden dann in Form von Ober- und Unterthemen miteinander in Beziehung gestellt. Einzelne, besonders gehaltvolle Passagen des Gespräches werden in Feinanalysen untersucht. Über diese Methode werden zentrale Themen ausgemacht und die Fülle der Aussagen gleichzeitig kondensiert. 16 Gehen auf 38 Gruppendiskussionen mit Jugendlichen der Sekundarstufe II und jungen Erwachsenen (zw. 16 – 23 Jahre) zu verschiedenen Anwendungsgebieten der Gentechnik zurück (Gebhard 2007, 106; 2004, 29). 17 In einer Studie an 586 Jugendlichen katholischer Bildungseinrichtungen wurden die Ängste und Hoffnungen in Bezug auf Gentechnologie sowie zusätzliche Vorstellungen und Phantasien zu einigen ausgewählten Anwendungsbereichen erfasst (Gebhard 1999, 101).
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erhoben. Die Rekonstruktion der Alltagsphantasien erfolgte im Zusammenhang mit gentechnologischen Themen wie etwa Klonen, Pränatale Diagnostik oder Grüne Gentechnik. Vor dem Hintergrund der Befunde der Hamburger Forschungsgruppe kann davon ausgegangen werden, dass in der Auseinandersetzung mit Themen der Gentechnologie ein relativ stabiles Muster von Alltagsphantasien aktiviert wird, dass sich je nach thematischer Akzentuierung in seiner Zusammensetzung und Ausprägung unterscheiden kann (Gebhard & Mielke 2003, 29). Das im Folgenden vorgestellte Set an Vorstellungen kann dabei als gesättigtes Konglomerat angesehen werden. Innerhalb der rekonstruierten Vorstellungen verdichten sich Auffassungen und Ideen zum Menschen und zur Welt. Die „thematischen Kerne“ (vgl. Teltemann 2008) der Alltagsphantasien lassen sich daher als Welt- und Menschenbilder fassen. 1. Das Leben ist heilig Das Leben hat eine eigene Würde, es entfaltet sich nach immanenten Gesetzmäßigkeiten und birgt viele Geheimnisse. 2. „Natur“ als sinnstiftende Idee Natürliches ist gut. Die Natur zeigt uns in unserer orientierungslosen Zeit, was wir tun und lassen sollen. So sollte man der Natur auch nicht ins Handwerk pfuschen. 3. Tod und Unsterblichkeit „Länger leben hat schon seine Vorteile.“ Aber die Vorstellung von Unsterblichkeit macht auch Angst. 4. Heilsvorstellungen Vorstellungen von (andauernder) Gesundheit. 5. Dazugehörigkeit versus Ausgrenzung Man kann im Kreis oder draußen sein. Oder auch am Rand. Mir ist es wichtig, von der Gesellschaft voll und ganz akzeptiert zu werden.
Eine weitere Studie mit knapp 700 Jugendlichen an Schulen aus Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein untersuchte die Zugänglichkeit der bereits rekonstruierten Alltagsphantasien (Vgl. Gebhard 2004, 30; Gebhard & Mielke 2001).
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6. Ambivalenz von Erkenntnis und Wissen Wissen und Erkenntnis sind janusköpfig: Einerseits kann sich damit der Mensch selbst befreien, andererseits ist das Wissen auch gefährlich und ein Frevel. Aber der Mensch ist eben neugierig. 7. Der Mensch als homo faber Der Mensch hat die Fähigkeit, Sachen zu entwickeln; er ist geistreich, und man muss auch sehen, sonst hätte Gott auch einem Menschen gar nicht die Gabe gegeben, sich das alles zu überlegen und alles umzusetzen. 8. Hybris: Der Mensch als Schöpfer Der Mensch kann sich ein Kind selbst kreieren und hat damit den Schlüssel zur Schöpfung in der Hand. Aber der Mensch darf nicht Gott spielen und mit den Genen spielen. 9. Der Mensch als Maschine Im Grunde ist der Mensch eine Maschine; deshalb sind auch die technischen Möglichkeiten der modernen Biomedizin so segensreich. 10. Perfektion und Schönheit Perfektion als zweischneidiges Schwert: Ambivalenz zwischen Optimierung des Menschen und Langeweile. 11. Individualismus Die Gentechnik bedeutet das Ende des Individualismus. Was ist der einzelne Mensch dann noch wert? 12. Lesbarkeit der Welt: „Sprache der Gene“ Das Genom ist zu lesen wie ein Buch. 13. Homo oeconomicus Geld regiert die Welt. (siehe Gebhard 2004b, 2009) Diese Kategorien stellen kondensierte Exzerpte aus der Breite und Vielfältigkeit der bestehenden Vorstellungen dar. Sie sind in sorgfältigen hermeneutischen Prozessen aus den vielen Hunderten von Schüleraussagen verdichtet worden, rekurrieren jedoch teilweise wortwörtlich auf Aussagen von Jugendlichen.
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Vorstellungen, wie die Furcht vor menschlichen Schöpfungsphantasien oder dem Verlust von Individualität, rühren an zentrale Topoi des christlichen Abendlandes und der deutschen Geschichte und offenbaren damit Aspekte der Enkulturation eines Menschen. Mit solchen Gedanken geben Menschen Einblicke in ihre Perspektive auf die Welt und legen offen, was ihnen wichtig ist und wie sie sich Geschehnisse erklären. Oerter weist darauf hin, dass Menschenbilder sich mit der Geschichte wandeln und für unterschiedliche Kulturkreise verschieden sind (Oerter 1999b, 185). Alltagsphantasien sollten sich somit individuell und kulturabhängig unterscheiden. Es ist zu erwarten, dass die Erhebung dieser subjektiven Vorstellungen zum gleichen Thema in anderen Kulturkreisen andere Vorstellungen aufgrund verschiedener zugrundeliegender Welt- und Menschenbilder erbrächte. Leider liegen bisher keine kulturvergleichenden Untersuchungen zum Konzept der Alltagsphantasien vor. An dieser Stelle sollen exemplarisch an der Alltagsphantasie Der Mensch als homo faber die zugrundeliegenden Welt- und Menschenbildaspekte analysiert werden. Kern der Alltagsphantasie Der Mensch als homo faber ist die Vorstellung vom Menschen als aktivem Veränderer seiner Umwelt. Der vernunftbegabte homo faber gestaltet sich seine Lebenswelt nach seinen Ansprüchen und wird damit als Ausgeburt der Natur zum Gegenüber der Natur, die er sich zu Nutze macht. Diese Idee lässt sich bis in die griechische Antike zur Vorstellung vom Menschen als animal rationale oder zoon logikon zurückverfolgen, das von Aristoteles durch seine Fähigkeit zu denken vom Tier unterschieden wird (Bohlken & Thies 2009). Die Fähigkeit zur vernunftgeleiteten und reflexiven Selbsteinschätzung der Reichweite des eigenen Wissens gilt als Schlüssel für den Erfolg des Menschen. Das manipulative Handeln gehört quasi zu den Grundbedingungen des menschlichen Lebens. Nach Arnold Gehlen ist der Mensch primär als ein handelndes Wesen zu verstehen. „Der Mensch muss erkennen, um tätig zu sein, und muss tätig sein, um morgen leben zu können“ (Gehlen 1997, 51). Nach Gehlen ist der Mensch als ein Mängelwesen zu verstehen, das seine unzureichende Ausstattung mit Instinkten und Schutzpanzern durch die Kreation eines sicheren Raumes – einer „zweiten Natur“ – ausgleichen muss. Da er die Natur an sich anpasst und verändert, ist er als ein Handlungswesen zu verstehen. Die Idee vom homo faber ist somit zentral in der jüngeren philosophischen Anthropologie vertreten. Ein zentrales Mittel zur Überwindung seiner Grenzen ist die Technik für den Menschen. Technologie erweitert den natürlich festgelegten „Funktionsund Aktionsraum“ des Menschen, stellen Berg & Wende (2001, 9) fest. Damit verbunden ist nach Berg & Wende (2001) die Frage, ob die Technik zum Men80
schen gehört und damit quasi sein Schicksal ist: „Und das in einem möglicherweise mehrfachen Sinne: Zunächst als des Menschen Wesen und Bestimmung – schließlich vielleicht als sein Verhängnis“ (Berg & Wende 2001, 9). Damit schließt die Vorstellung vom „Menschen als homo faber“ an die Alltagsphantasie von der Ambivalenz von Erkenntnis und Wissen an. Der homo faber hat einen Drang nach Erkenntnis und Wissen, nach Veränderung seiner Umwelt. Geraten diese Veränderungen jedoch außer Kontrolle können sie den Menschen bedrohen. Die Konzeption des Menschen als Gegenüber der Natur spiegelt eine Position der klassischen naturphilosophischen Diskussion um die Doppelrolle des Menschen. Der Mensch ist gleichzeitig als Teil und Gegenüber der Natur begreifbar (vgl. Böhme 1989, Bien 1993). Der homo faber steht der Natur gegenüber und instrumentalisiert sie, hat aber gleichzeitig die „naturgegebene“ Gabe für dieses Tun, was seine „Naturwüchsigkeit“ betont. Die Grundfrage der Naturphilosophie „Was ist Natur?“ ist nach Böhme (1989) aus dieser Dialektik der Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit des Menschen zur Natur zu entwickeln. 2.3.2 Alltagsphantasien zum Experimentieren Auch zum Experimentieren wurden Alltagsphantasien rekonstruiert. Hierbei wurde mit Grundschulkindern der zweiten Klassenstufe eine jüngere Altergruppe in den Fokus genommen. Die Untersuchungen stehen jedoch noch am Anfang. Ziel der Untersuchungen besteht darin „die besonderen Reize und den Sinn des Experimentierens aus der Schülerperspektive nachzuvollziehen“ (Gebhard 2007, 110). Wie auch zur Erhebung der Alltagsphantasien zur Gentechnologie wurde bei der Rekonstruktion auf die Methode der Gruppendiskussion in Anlehnung an das Philosophieren mit Kindern zurückgegriffen. Nach praktischen Phasen des Experimentierens zu belebter Natur (Pflanzenwachstum, Müller 2006) und unbelebter Natur (Luft, Murmann et al. 2007) folgten dabei Gruppendiskussionen und Einzelinterviews (zum genauen Vorgehen vgl. Murmann et a. 2007, 84). Dabei lassen sich vor allem vier typische Vorstellungen voneinander unterscheiden, die subjektive Vorstellungen zum Probiercharakter, zur Zufälligkeit und zur emotionalen Erlebnisqualität von Experimenten umfassen.
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1. Experimentieren ist Ausprobieren 2. Experimente machen Spaß, sind spannend und abenteuerlich 3. Fragestellungen sind nicht so wichtig 4. Experimente sind zufällig Experimentieren wird positiv besetzt und folgt dem Lustprinzip: Die Freude daran, dem inneren Drang der Neugierde nachzugehen, steht im Vordergrund. Wissensdrang ist somit nicht unwichtig, sondern zentrale Motivation des Experimentierens. Während Kinder im eigenen Experiment die Fragestellung vernachlässigen, wird für das Experimentieren von Forschern durchaus eine Fragestellung angenommen. Die zentrale Motivation des Wissenschaftlers ist demnach weniger der Spaß, sondern die Entdeckung von etwas Neuem (Murrmann et al 2007, 86). Wissensdrang und Fortschritt haben dabei eine autotelische Berechtigung: Sie sind um ihrer selbst willen wichtig. Das Bild vom neugierigen Menschen rechtfertigt also wissenschaftliche Tätigkeiten. Nach diesen Befunden haben Kinder keine Vorstellungen zu der Zielgerichtetheit wissenschaftlicher Tätigkeit. Sie zeigen jedoch gleichzeitig die Erwartung, dass Experimentieren einem Rezept oder Plan zu folgen hat, der das Gelingen des Experimentes sichert. „Das hat aber in der Regel nur wenig mit Erkenntnisgewinnung oder methodologischen Überlegungen zu tun. Das Rezept dient vor allem der Herbeiführung eines auffälligen Phänomens“ (Combe & Gebhard 2007, 71). Wissenschaftliches Arbeiten wird also bereits mit dem Einhalten einer Abfolge von Schritten assoziiert. Da jedoch die emotionale Komponente der Freude am Ausprobieren und Neugierbefriedigung als Ziel des Experimentierens die Wahrnehmung der Kinder dominiert, werden methodische Ziele wie Reproduzierbarkeit offenbar noch nicht erfasst. Der Mensch gilt in diesen Vorstellungen als neugierig und interessiert. Dieses Menschenbild korrespondiert mit der Vorstellung vom Menschen als aktivem Veränderer seiner Umwelt, die der Alltagsphantasie Der Mensch als homo faber zugrunde liegt. Neugierde und manipulatives Einwirken auf die Umwelt bezeichnen dabei typische Charakteristika des Menschen. Auffällig ist, dass die rekonstruierten Alltagsphantasien zum Experimentieren auch als wenig sophistizierte epistemische Überzeugungen gelesen werden können. Untersuchungen zu den epistemischen Überzeugungen von Kindern haben ebensolche Vorstellungen zum zufälligen Charakter wissenschaftlichen Experimentieren hervorgebracht (vgl. Höttecke 2001, Carey et al. 1989). Die 82
Alltagsphantasien zum Experimentieren bilden also eine Schnittmenge mit den epistemischen Überzeugungen. 2.3.3 Der narrative Charakter der Alltagsphantasien Mit dem ursprünglichen Begriff der „Alltagsmythen“ machte Gebhard den ersten Versuch sprachlich zu markieren, dass die untersuchten subjektiven Vorstellungen Inhalte implizieren, die nicht unbedingt allgemeinverbindlichen kulturellen Systeme entspringen, doch zumindest subkulturell eingebettet sind (2004, 28). Da die Gentechnik den Menschen im „Kern seines Selbstverständnisses“ trifft, ist mit dieser Technologie eine kontrovers geführte Wertediskussion verbunden (Gebhard 1999, 103). Gebhard geht dabei davon aus, dass persönliche und kollektive Geschichten durch die Auseinandersetzung mit der Gentechnologie angestoßen werden (2004, 28). Gerade für naturwissenschaftliche Zusammenhänge sei die „Transformation natur-wissenschaftlicher Erkenntnisse durch Geschichten ins Alltagsbewusstsein“ bedeutsam, da sie diese dimensionieren und ihre Komplexität reduzieren: „Indem Informationen zu Gentechnik in persönliche und kollektive Geschichten eingebaut werden, werden diese Informationen über ihren objektivierenden Gehalt hinausgehend subjektiviert“ (Gebhard 2009, 197). Aus diesem Grund ist der narrative Charakter der Alltagsphantasien nach Gebhard besonders interessant: Die in den Vorstellungen verdichteten Phantasien, Metaphern und Mythen haben erzählerischen Charakter. Metaphern stifteten Sinn und Bedeutung dadurch, dass sie in sozial und biographisch sinnvolle Geschichten integriert sind. Die bewusste Nutzung der persönlichen Narrationen ermögliche eine Verknüpfung von Lerngegenständen mit Elementen der Lebenswelt des Lernenden (Gebhard 2004, 28). Um die narrative Dimension im Zusammenhang mit gentechnischer Forschung zu illustrieren, verweist Gebhard (2009, 198) etwa auf die Aussage des Nobelpreisträgers Walter Gilbert, der die vollständige Sequenzierung des menschlichen Genoms als den „Gral der Humangenetik“ bezeichnete. Hier offenbart sich die Generierung von Phantasien durch die Verknüpfung der biologischen Inhalte mit mythologischen Welt- und Menschenbildern. Gebhard deutet dies als Indiz dafür, dass die Mythen- und Phantasieproduktion ein Phänomen ist, dass einen erheblichen Einfluss auf den Umgang mit Gentechnik (stellvertretend für Naturwissenschaft an sich) hat (2004, 29). In der emotionalen und subjektiven Bedeutsamkeit dieser Phantasien sieht Gebhard auch einen Hauptgrund für die begrenzte Reichweite rationaler Diskur83
se zur Gentechnik. Die Debatte um moderne Biotechnologie wird quasi nur oberflächlich über rational analysierbare Argumente geführt. Im Hintergrund wirken jedoch subjektive und affektiv aufgeladene Vorstellungen, wie die aufgeführten Alltagsphantasien, die implizit Einfluss auf die Bewertung von Gentechnik nehmen und die Perspektive des Individuums nachhaltig bestimmen (vgl. Gebhard 2009, 197, Haidt 2001). Worin die Wirkmechanismen impliziter Vorstellungen bestehen und warum sie so unmittelbar in Denkprozessen wirken, wird im nächsten Abschnitt zur prozeduralen Dimension des Konzeptes Alltagsphantasien differenziert dargestellt. 2.4 Implizite Vorstellungen in Verarbeitungsprozessen Die prozedurale Dimension Alltagsphantasien bezeichnen Vorstellungen vom Menschen und der Welt, die nicht explizit vom Lernenden benannt werden, sondern sich in seinen spontanen Reaktionen und intuitiven Vorstellungen ausdrücken. Die dahinter liegenden Welt- und Menschenbilder sind als implizites Wissen zu verstehen. Implizites Wissen bezeichnet Wissensinhalte, wie Konzepte, Informationen, Kategorisierungsschemata und Handlungsskripte, die einem Individuum nicht explizit zur Verfügung stehen. Vielmehr besteht häufig kein Bewusstsein für diese Konzepte oder Fähigkeiten. Sie entziehen sich der willentlichen Kontrolle des Individuums und darin besteht auch ihr besonderer Vorteil für den Menschen. In der Auseinandersetzung mit neuen Phänomenen können Individuen nämlich auf diese impliziten Konzepte und Schemata zurückgreifen und dadurch relativ unvermittelt reagieren (Gebhard & Mielke 2003, 206). Der Vorteil impliziten Wissens besteht also in der Schnelligkeit seiner Verfügbarkeit. Die verinnerlichten Bilder zum Aufbau und zur Ordnung der Welt und des Menschen in ihr helfen dem Individuum etwa jeden Tag die Wahrnehmungen seiner Umwelt zu kategorisieren und so einen Wust an eingehenden Informationen zu verarbeiten, ohne alles unter Aufwendung bewusster Aufmerksamkeit durchdenken zu müssen. 2.4.1 Zwei Prozesse des Denkens Die Funktionsweise von implizitem Wissen in Denkprozessen lässt sich aus kognitionspsychologischer Perspektive mit sogenannten Zwei-Prozess-Model84
len der Informationsverarbeitung erklären (vgl. Chaiken & Trope 1999). In der modernen kognitiven Psychologie wird Denken als Informations-verarbeitung verstanden. Dabei wird seit den Arbeiten von Schneider & Shiffrin (1977) davon ausgegangen, dass Menschen in der Lage sind, kognitive Inhalte auf zwei Wegen zu verarbeiten: Kognitionen werden entweder bewusst oder automatisiert aktiviert und verarbeitet. Das bedeutet, dass neben dem besonnenen und bewussten Nachdenken, das Menschen kontrollieren können, eine weitere Form der Verarbeitung existiert, die sich der bewussten Kontrolle entzieht. Der Mensch ist also in der Lage Informationen wahrzunehmen und angemessen auf sie zu reagieren, ohne dass er sich mit dem wahrgenommenen Inhalt bewusst auseinander gesetzt hat. Schneider & Shiffrin (1977) nennen diesen Modus der Verarbeitung „automatisch“. Dabei handelt es sich bei dieser Art des Umgangs mit Informationen in unserem Gehirn um die Regel und nicht um die Ausnahme: Der Großteil der menschlichen Informationsverarbeitung verläuft ohne willentliche Kontrolle über unkontrollierte Mechanismen und entzieht sich unserer bewussten Wahrnehmung. Genau genommen wird davon ausgegangen, dass die Verarbeitungskapazität der unbewussten und bewussten Prozesse zusammengenommen 200.000 mal höher ist als die der bewussten Prozesse alleine (Dijksterhuis et al. 2005; Norretranders 1998, 125f.). Mittlerweile bestehen zahlreiche Zwei-Prozess-Modelle, die in ihren zentralen Annahmen übereinstimmen, sich jedoch danach unterscheiden, welche Aspekte der Informationsverarbeitung sie explizieren. Nach Smith & DeCoster (2000) lassen sich die beiden Prozesse über alle Modelle hinweg durch eine Reihe von Merkmalen charakterisieren: (1) Der kontrollierte Prozess basiert auf der Anwendung von Regeln, die symbolisch repräsentiert, logisch und durch Sprache strukturiert sind. Dieser Verarbeitungsprozess kann nur erfolgen, wenn ausreichend kognitive Kapazität und entsprechende Motivation vorhanden sind, um die einzelnen Verarbeitungsschritte mit bewusster Aufmerksamkeit zu verfolgen. (2) Der automatisierte Verarbeitungsmodus operiert auf der Basis von assoziativen Verknüpfungen, die durch Ähnlichkeit und Kontiguität strukturiert sind. Die Verknüpfungen basieren auf einer Vielzahl von Erfahrungen. Bei Verarbeitung in diesem Modus wird lediglich das Ergebnis des Verarbeitungsprozesses bewusst. Strack & Deutsch (2004) zum Beispiel unterscheiden in ihrem ZweiProzess-Modell den reflektiven vom impulsiven Verarbeitungsmodus. Der reflektive Modus entspricht dem intentionalen Nachdenken: In diesem Modus 85
findet eine kontrollierte Verarbeitung statt, bei der hohe kognitive Kapazität gebraucht wird. Beim reflektiven Verarbeiten von Informationen ist das Individuum sich also über seine Denkwege und Schritte im Klaren und kann nachvollziehen, wie es zu seinen Schlussfolgerungen gekommen ist. Komplementär zu dieser aufwendigen Form der Informationsverarbeitung wirkt die rasch ablaufende und assoziative Form des Denkens. Das denkende Individuum merkt in diesem Fall nicht, dass es Informationen aufnimmt und verarbeitet. Über assoziative Mechanismen werden schnell und unkontrolliert Vorstellungen aktiviert, die eng miteinander verknüpft sind. Ergebnisse der assoziativen Denkprozesse treten plötzlich ins Bewusstsein und werden dann als Intuition oder „Bauchgefühl“ erlebt. Dieser Modus braucht minimale kognitive Kapazität und ist deshalb wesentlich „sparsamer“ als der reflektive Modus, da er ohne bewusste Aufmerksamkeit durch das Individuum abläuft. Die assoziative Aktivierung bestimmter Denkinhalte erfolgt durch die Automatisierung der Aktivierung eng verknüpfter Vorstellungen. Die enge Verknüpfung entsteht dadurch, dass Kognitionen – etwa Ideen oder Konzepte – in der Vergangenheit häufiger gleichzeitig aufgetreten sind. Das erleichtert die spätere gleichzeitige Aktivierung (Anderson 1983). 2.4.2 Automatische Verarbeitung im kognitiven Netzwerk Für das Verständnis dieser Prozesse ist es hilfreich, sich die Speicherung bestehenden Wissens im Gehirn in Form von Assoziationsnetzen vorzustellen. Aufgrund der bisherigen Erkenntnisse über die Funktionsweise des Gehirns wird davon ausgegangen, dass das Gedächtnis Informationen in einer Netzwerkstruktur speichert und verarbeitet (Anderson 1983). Die Neuronen im Gehirn sind in so genannten neuronalen Netzwerken organisiert. Denkprozesse können dabei als Aktivierungsmuster innerhalb dieser Netze verstanden werden. Lernprozesse lassen sich als Veränderungen der Netzwerkstruktur konzeptionalisieren. Die Bemühungen Modelle für höhere kognitive Prozesse zu entwickeln und die Frage zu beantworten, auf welche Weise das Gehirn diese Prozesse bewältigen könnte, werden unter dem Begriff des Konnektionismus gefasst (vgl. Pospeschill 2004). Konnektionistische Ansätze gehen von dem allgemeinen Wissen über die Arbeitsweise von Neuronen aus und fragen danach, auf welche Weise sich höhere Funktionen dadurch erzielen lassen, dass Grundelemente von der Art der Neuronen miteinander verknüpft werden. Gegenstand des Konnektionismus ist die Erforschung und Konstruktion adaptiver informationsverarbeitender Systeme. Diese setzen sich aus einer großen Zahl gleichartiger 86
Verarbeitungseinheiten, den Knoten oder „units“ zusammen. Ihr wesentliches Verarbeitungsprinzip ist die Übertragung von Signalen in Form von Aktivierungen über gerichtete Verbindungen, die „connections“ (Pospeschill 2004, 25). Die Units schließen sich wie in kleinen Arbeitsgruppen zu Assoziationsclustern zusammen. Der Ansatz stellt eine grobe Analogie zum Nervensystem dar. Im Nervensystem sind die Zellen in jeder Schicht eines neuronalen Netzwerkes mit vielen Zellen aus der nächsten Schicht verbunden. Im Gehirn ist nicht auszumachen, wo ein Netzwerk endet und ein anderes beginnt. Konnektionistische Netzwerke lassen darüber hinaus viele spezifische Faktoren, wie die verschiedenen Variationen von Neuronen oder temporale Effekte unberücksichtigt (Clark 1997, 54). Entscheidend jedoch ist, dass in neuronalen und konnektionistischen Netzwerken die Information parallel, also durch die gleichzeitige Aktivität vieler Knoten, verarbeitet wird. Die Verknüpfungen sind plastisch, das heißt veränderbar und variieren in ihrer Stärke und Zugänglichkeit in Abhängigkeit davon, wie oft eine Verknüpfung aktiviert bzw. abgefragt wird. Knoten können dabei (wie bereits erläutert) aufgrund von logischen semantischen Verknüpfungen miteinander assoziiert oder basierend auf Kriterien wie Ähnlichkeit und zeitlicher Nähe im Auftreten der assoziierten Merkmale miteinander verbunden sein. Setzt sich ein Mensch mit einer Thematik auseinander, werden in Abhängigkeit von Kontext, Situation und emotionaler Grundstimmung unterschiedliche Informationen bzw. Knoten des Netzwerkes aktiviert. Die Aktivierung kann entweder extern über eingehende Sinneswahrnehmungen oder intern über kognitive Prozesse erfolgen. Ist die Aufmerksamkeit des Individuums auf die aktivierten Knoten gerichtet, ist sich das Individuum auch über diese Denkinhalte bewusst. Die nicht aktivierten Gedächtnisinhalte sind immer unbewusst, sind aber prinzipiell bewusstseinsfähig (Hennings & Mielke 2005, 242). Häufig miteinander aktivierte Neuronen verstärken im neuronalen Netzwerk ihre Verbindungen miteinander, indem mehr Synapsen gebildet werden oder inhibitorische in exzitatorische Synapsen umgewandelt werden. Hierdurch verändert sich das kognitive System und der Mensch lernt. So entstehen etwa beim Üben eines Instrumentes immer wieder neue neuronale Verbindungen und Synapsen.18 18 Ebenso wird in konnektionistischen Netzwerkmodellen über die Stärke der Verknüpfungen zwischen den Knoten die Assoziationsstärke modelliert. Eine der bestehenden Rahmenvorstellungen für solche konnektionistischen Modelle wurde von McClelland & Rummelhart (1986) ausgearbeitet. Sie nennen ihr Rahmenmodell die parallel-distributive Verarbeitung oder kurz PDP (parallel distributed processing). Das PDP-Modell lehnt sich an die Vorstellung an, dass Informationen in Form von Aktivierungsmustern über neuronale Elemente hinweg repräsentiert werden.
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Bezogen auf das Zwei-Prozess-Modell von Strack & Deutsch (2004) lässt sich automatische Informationsverarbeitung als unkontrollierte Aktivierungsausbreitung innerhalb eines Netzwerkes vorstellen. Die Aktivierung eines Inhaltes (symbolisiert durch einen Knotenpunkt im Netzwerk) führt zu einer sich ausbreitenden Aktivierung anderer verknüpfter Knoten. Ein bestimmtes Muster eingehender Reize löst dabei ein bekanntes Aktivierungsmuster im Gehirn aus, das einem automatischen „Erkennen“ der Situation gleichkommt. So kommen automatisierte Reaktionen zustande, wie sie vom Autofahren oder Treppensteigen bekannt sind. Im reflektiven Modus werden dagegen kontrolliert bestimmte Knoten des Netzwerkes aktiviert und unter bewusster Aufmerksamkeit miteinander in Beziehung gesetzt. Dabei besteht über alle Zwei-Prozess-Modelle hinweg Einigkeit darüber, dass automatisierte Prozesse einerseits ursprünglich unbewusst ablaufende Prozesse sein können, andererseits aber auch durch Erfahrungsbildung entstehen können (Gebhard, Martens & Mielke 2004, 158). Implizites Wissen lässt sich also als Assoziationscluster verstehen, das durch Erfahrung erworben werden kann und in einer Situation durch die Aktivierung eines Elementes des Clusters automatisch aktiviert oder ausgelöst wird. Neuere Untersuchungen zu Zwei-Prozess-Modellen betrachten den hohen adaptiven Wert von automatisierten Handlungselementen, Kategorisierungs-schemata und Vorstellungen. Solch automatisiert anwendbares Wissen wird in sehr langwierigen Prozessen erworben, da sich die Verknüpfungen zwischen den einzelnen Knotenpunkten des Gehirns erst langsam bilden. Diese Wissensbestandteile bzw. Assoziationscluster gehen also auf lange und aufwendige Lernprozesse zurück (Hennings & Mielke 2005, 244), in denen bestimmte Elemente immer wieder in räumlicher oder zeitlicher Nähe erlebt und damit auch gemeinsam im Gehirn „abgelegt“ und verknüpft werden. Die intuitiven Reaktionen eines Individuums auf die Umwelt, seine Stereotype, Schemata oder bestimmte Handlungsmuster werden also als Folge mühsamer Lernprozesse langsam automatisiert, ähnlich der Art und Weise wie Menschen auch das Autofahren erlernen. Anfangs erfolgt das Koordinieren von Fahren, Gas geben, in den Rückspiegel Schauen und Bremsen nur unter äußerster Konzentration und bewusster Kontrolle. Nach einiger Zeit werden die Handlungen immer mehr automatisiert bis der Mensch überhaupt nicht mehr „nachdenken“ muss und sogar andere Tätigkeiten parallel ausführen kann, wie sich unterhalten oder nachdenken. Der Erwerb der individuumsspezifischen assoziativen Netzwerke erfolgt also basierend auf Erfahrungen mit der Umwelt oder durch wiederholte Übung in konsistenter Umgebung. Eine bedeutende Quelle immer wiederkehrender Konzepte sind Kultur und Sozialisation. Die Erfahrungen des Individuums in 88
seiner Gesellschaft und in seinem sozialen Umfeld wirken damit maßgeblich auf die Struktur und Inhalte seiner assoziativen Netzwerke ein. Ebenso wie das Autofahren werden bestimmte Interpretationsroutinen im Umgang mit der Umwelt soweit automatisiert, dass das Individuum ihre Bedeutung für sein Verständnis seiner Umwelt gar nicht mehr bemerkt. In der Auseinandersetzung mit einem Lerngegenstand erfolgt demnach immer eine unmittelbare Bedeutungszuweisung durch den automatisierten Rückgriff auf implizite Vorstellungen (vgl. Hennings & Mielke 2005, 252). Vorstellungen, die sich den Alltagsphantasien zurechnen lassen, zeichnen sich durch genau diese Funktion aus. Genauer gesagt sind sie die Anteile impliziter Vorstellungen, die explizit werden, d.h. sie können als explizite Spitze des impliziten Eisbergs verstanden werden. 2.5 Die Integration der inhaltlichen und prozeduralen Dimension In seiner „Cognitive-experiental self-theory“ (CEST) nimmt auch Epstein (1994) zwei sich ergänzende kognitive Systeme für die menschliche Verarbeitung von Informationen an. Er unterscheidet das experientiale (auf Erfahrung beruhende) und das rationale System. Das experientiale System ist als ein holistisches und evolutionär älteres System zu begreifen, dass über assoziative Mechanismen und basierend auf Affekten sehr schnell arbeitet und sich nur langsam verändert. Das phylogenetisch sehr viel jüngere und für den Menschen spezifische rationale System dagegen operiert über logische Verknüpfungen und funktioniert analytisch und bewusst. Verarbeitung in diesem System erfolgt langsamer, jedoch unter bewusster Kontrolle (Epstein 1994, 711). In diesen Komponenten stimmt Epsteins Theorie also mit den gängigen Konzeptionen der Zwei-Prozess-Modelle überein. Das experientiale System kann dem impulsiven oder automatischen Prozessen der Zwei-Prozess-Modelle nach Strack & Deutsch (2004) oder Schneider & Shiffrin (1977) gleichgesetzt werden. Eine Neuerung ist dagegen die Bezugnahme auf die Form von Repräsentationen innerhalb dieser Modi: Epstein schreibt Narrationen einen Einfluss auf das experientiale System zu, da sie emotional einnehmend sind und Erlebnisse in einer Art und Weise repräsentieren, die dem ähnlich sei, wie sie im tatsächlichen Leben erfahren werden. Erzählungen beinhalten nach Epstein eine Verortung in Raum und Zeit, zielorientierte Charakteristika und eine sequenzielle Abfolge der Geschehnisse (1994, 711). Epstein schließt dabei an Bruner (1986) an, der zwei Formen mentaler Repräsentationen, nämlich propositionale und narrative Repräsentationen, unterscheidet. Propositionales Denken ist allgemein, logisch, formal, theoretisch und abstrakt. Narratives Denken ist Geschich89
ten-ähnlich, konkret, spezifisch, persönlich bedeutsam, imaginativ, interpersonal und beinhaltet Charaktere, Orte, Intentionen, Emotionen und Aktionen (Epstein 1994, 713). Damit schlägt Epsteins CEST-Modell eine Brücke zwischen der prozeduralen und der inhaltlichen Dimension der Alltagsphantasien, indem Modi der Informationsverarbeitung mit der Form der mentalen Repräsentation verknüpft werden. Dies passt zu den Ausführungen Gebhards zum narrativen Charakter der Alltagsphantasien (vgl. Kapitel 2.3.3). Als implizites, kulturell bedeutsames Wissen stehen zu den Alltagsphantasien zählende Vorstellungen mit einer Fülle von Geschichten in Zusammenhang, die sowohl selbst erlebte Erfahrungen als auch tradierte überlieferte Erzählungen umfassen, die das Individuum automatisiert und damit verinnerlicht hat. Die besondere Rolle und Verknüpfung erzählerischer Elemente mit der automatischen und assoziativen Verarbeitung entsteht durch ihre Form als emotional besetzte und situativ verortete Kognition. Die Assoziationen sind aufgrund von zeitlicher und räumlicher Nähe miteinander verknüpft und aktivieren einander automatisch. Epsteins Modus des Experientialen verbindet die narrative Dimension mit dem natürlichen, intuitiven Verarbeitungsmodus, der dem extensionalen, logischen Modus gegenübersteht (Kahneman & Tversky 1973). Die emotionale Bedeutsamkeit und der imaginativer Gehalt der Alltagsphantasien lassen sie nach Epsteins Konzept als Komponenten des experientialen Systems verstehen und damit auch ihre verbalisierbaren expliziten Anteile strukturell und inhaltlich dem impulsiven und automatischen Modus zuordnen. 2.6 Zur Wirkung von Alltagsphantasien Die Wirkdimension Folgt man den kognitionspsychologischen Erkenntnissen zu menschlichen Verarbeitungsprozessen, ist davon auszugehen, dass die automatische Informationsverarbeitung permanent aktiv ist. Ergebnisse und Assoziationen dieser automatischen und unwillkürlichen Denkprozesse werden deshalb auch ständig in die bewusst kontrollierte Verarbeitung des reflektiven Systems eingestreut. Jede Auseinandersetzung mit der Umwelt und damit auch jeder Lerngegenstand aktiviert implizite Assoziationscluster, die unser Denken dann assoziativ beeinflussen. In den vorangegangenen Abschnitten wurden Alltagsphantasien als implizite Figuren des Selbst- und Weltverständnisses charakterisiert. Welt- und Menschenbilder einer Kultur werden von den Individuen durch die individuellen Erlebnisse in ihrer Welt und Gesellschaft in Form kleiner Geschichten verinner90
licht. Diese werden automatisch aktiviert, wenn sich das Individuum mit Themen auseinandersetzt, die an diese impliziten Vorstellungen vom Menschen und der Welt geknüpft sind. Diese Konzeption erklärt die erstaunliche Präsenz der subjektiven Vorstellungen oder Alltagsphantasien im Denken. Die rekonstruierten Alltagsphantasien zum Themenbereich der Gentechnologie gehen auf 38 Gruppendiskussionen mit Jugendlichen der Sekundarstufe II und jungen Erwachsenen (zw. 16 – 23 Jahren) zu verschiedenen Anwendungsgebieten der Gentechnik zurück (Gebhard 2007, 106; 2004, 29). In diesen Gruppen-diskussionen zeigte sich wiederholt, dass die Jugendlichen in der selbstgesteuerten Auseinandersetzung mit der Thematik schnell die fachlichen Aspekte vernachlässigen und sich eher mit ihren subjektiven Vorstellungen oder auch Ängsten und Hoffnungen auseinander setzen. Aber auch in der individuellen Auseinandersetzung außerhalb der Gruppe zeigt sich diese Tendenz, wie Fragebogenuntersuchungen zur Erhebung der Assoziationen und Vorstellungen zur Gentechnik zeigen.19 „Jugendliche(n) (sind) alles andere als uninteressiert an Themen (…), die die ganze Gesellschaft betreffen. Die Jugendlichen zeigten sich verantwortungsbewusst und neugierig. (…) Die Teilnehmer (artikulierten) aus dem Stand heraus die ihnen spontan zur Verfügung stehenden Vorstellungen“ fasst Dittmer etwa die Reaktionen der Jugendlichen im Online-Projekt Biotalk zusammen (Dittmer 2006, 142). Die rekonstruierten Vorstellungen treten zudem mit erstaunlicher Konsistenz auf, weshalb etwa auch das vorgestellte Set an dreizehn Alltagsphantasien zur Gentechnik von Gebhard & Mielke (2003, 209) als weitgehend gesättigt gilt. In Übereinstimmung hiermit wird in der Theorie des erfahrungsbasierten Verstehens von Lakoff & Johnsson (2000) davon ausgegangen, dass Individuen in ähnlichen kulturellen Systemen auf der Grundlage ähnlicher Erfahrungen lernen. Aus diesem Grund kann davon ausgegangen werden, dass unterschiedliche Lernende eines kulturellen Hintergrundes über vergleichbare Konzepte und Vorstellungen zu einem Lerngegenstand verfügen. Eine Kultur umfasst ein bestimmtes Repertoire an besonders stark vertretenen Welt- und Menschenbildern. Es ist davon auszugehen, dass Individuen mit ähnlichem kulturellem Hin-
19 Bei 586 Jugendlichen katholischer Bildungseinrichtungen (über die Hälfte im Alter von 17 – 19 Jahren, 80% < 21 Jahre, 46% männlich, 53% weiblich. 55% SchülerInnen, 11% Studierende, 26% Auszubildende) wurden die Ängste und Hoffnungen in Bezug auf Gentechnologie sowie zusätzliche Vorstellungen und Phantasien zu einigen ausgewählten Anwendungsbereichen erfasst (Gebhard 1999, 101). Dazu bekamen die Teilnehmer kurze Statements (z.B. zur Gentherapie, grünen Gentechnik, zu Gentests) vorgelegt und sie wurden aufgefordert, möglichst unzensiert ihre Gedanken, Phantasien und Assoziationen aufzuschreiben.
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tergrund mit hoher Wahrscheinlichkeit auf ähnliche Welt- und Menschenbilder zurückgreifen, diese aber idiosynkratisch bewerten und zusammenstellen. 2.6.1 Alltagsphantasien als subjektive und heuristische Zugänge zum Lerngegenstand Alltagsphantasien als Träger von Welt- und Menschenbildern scheinen also maßgeblich in der Auseinandersetzung mit dem Thema Gentechnik beteiligt zu sein. Aufgrund ihres impliziten Charakters beeinflussen sie Denkprozesse vor allem assoziativ. Dabei lassen sich zwei Wirkrichtungen unterscheiden: Einerseits stellen die den Alltagsphantasien zugehörigen Vorstellungen kreative und subjektiv bedeutsame Zugänge zum Lerngegenstand dar, die von Gebhard in diesem Zusammenhang als „sinnkonstituierend“ betrachtet werden (2005, 55). Nach Born & Gebhard sind lebensweltliche Zugänge zur Welt der Versuch, die Phänomene der Welt kognitiv zu fassen und sie vor dem Hintergrund alltagstheoretischer Annahmen zu verstehen (2005, 255). Aus diesem Grund lohnt es sich sie in der Auseinandersetzung mit Lerngegenständen ernst zu nehmen und aufzugreifen. Auf der anderen Seite können die schnell verfügbaren Assoziationen jedoch auch als „Abkürzungen der Auseinandersetzung“ mit dem Lerngegenstand wirken, die eine bestimmte Perspektive auf den Lerngegenstand induzieren und somit wie eine Einbahnstraße in nur einer Richtung auf den Lerngegenstand zuführen. Ähnlich wie Stereotype oder Schemata können Alltagsphantasien in diesem Sinne als Faustregeln oder Heuristiken verstanden werden, die etwa die kritische Auseinandersetzung mit einem Gegenstandsbereich abkürzen. So zeigen Untersuchungen zur Zugänglichkeit der rekonstruierten Alltagsphantasien, dass diese in unterschiedlichem Maße verfügbar sind. In einer Fragebogenuntersuchung mit knapp 700 Jugendlichen an Schulen aus Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein zur Erfassung der Verfügbarkeit wurden sechs zentrale Vorstellungen ausgewählt (Gebhard 2004, 30; Gebhard & Mielke 2001) und den Jugendlichen in einem vollständigen Paarvergleich zur Beurteilung vorgegeben.20 Während Gentechnik bei vielen Jugendlichen als spontane Reaktion zunächst eher bedrohliche oder zumindest negative Assoziationen auslöst, fällt die 20 Bei einem vollständigen Paarvergleich ist sowohl die Erst- und Zweitnennung als auch die Reihenfolge der Paare bei der Anordnung ausgewogen. Die Vorstellungen wurden mit Hilfe des Programms „paircomp“ (Niketta 1996) angeordnet. Die Probanden hatten insgesamt 15-mal zu entscheiden, „welche der beiden Vorstellungen ihnen eher in den Sinn kam“ (Gebhard 2003c, 153).
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Beurteilung bei der Möglichkeit zu längeren Urteilsprozessen bei den gleichen Jugendlichen deutlich positiver aus (vgl. Gebhard & Mielke 2003). Herrschen bei den spontanen assoziierten Vorstellungen Ängste und Phantasien zum Ende des Individualismus vor, rückt bei Abwägen von positiven und negativen Vorstellungen die Idee der Krankheitsbekämpfung und damit eine auf Chancen ausgerichtete Perspektive auf die Gentechnik in den Vordergrund (Gebhard & Mielke 2003, 214). Alltagsphantasien bergen also wie alle sinnbildlich aufgeladenen Repräsentationen ein suggestives Potential. Auch die mit ihnen zusammenhängenden narrativen Elemente, wie Bilder und Metaphern helfen Wissen schnell zu kategorisieren (Ortony 1975, 48). Die technomorphe Metapher vom Menschen als Maschine suggeriert in ihrer Reduktion von Komplexität unter anderem eine unkomplizierte Anwendung gentechnischer Innovationen. Solche Bilder und Sprachbilder funktionieren nach Gebhard als wichtige kognitive Werkzeuge und Gedächtnishilfen beim Wissenserwerb. Gleichzeitig bergen sie eine Gefahr: Sie wirken suggestiv, indem sie eine Lesart vorgeben und bedürfen aus diesem Grunde der Reflexion. Mit den subjektiven Vorstellungen werden Weltbilder transportiert, die es zu hinterfragen gilt (Gebhard 2005, 57ff.). Gebhard zufolge ist es konstituierender Bestandteil naturwissenschaftlicher Bildung, über naturwissenschaftliche Metaphern und Bilder nachzudenken. Damit wird die Reflexion subjektiver Vorstellungen und der mit ihnen aufgedeckten Bilder und Metaphern notwendiger Bestandteil des didaktischen Ansatzes Alltagsphantasien. Zum einen wird hierdurch die heuristische Qualität dieser Vorstellungen im Sinne ihrer Erkenntnis stimulierenden Perspektiven aufgegriffen und genutzt. Zum anderen wird der Gefahr der Wirkung der subjektiven Vorstellungen als Heuristiken im Sinne von gedanklichen Shortcuts und der manipulativen Wirkung ihrer impliziten Bilder durch eine explizite Reflexion vorgebeugt. Die zentrale These ist, dass die explizite Reflexion assoziativer und intuitiver Vorstellungen die Beschäftigung mit Lerngegenständen in einer Weise vertieft, dass subjektiv bedeutsames, persönlichkeitswirksames Lernen möglich wird (Combe & Gebhard 2007, 62). 2.6.2 Effekte der expliziten Reflexion von Alltagsphantasien In Interventionsstudien konnte gezeigt werden, dass die explizite Thematisierung von Alltagsphantasien und ihre Einbindung in den Unterricht positive Auswirkungen auf die Motivation sowie auf die Lernleistung haben und damit zwei Effektebenen berühren. Einerseits zeigt sich ein positiver Effekt auf das 93
situative Interesse und die intrinsische Motivation der Lernenden und zudem wird das Gefühl sozialer Eingebundenheit der SchülerInnen gestärkt (Born 2007, Monetha 2009). Vor dem Hintergrund der Selbstbestimmungstheorie der Motivation von Deci & Ryan (1993)21 kann demnach angenommen werden, dass der Unterricht durch die Berücksichtigung subjektiver Sinnentwürfe stärker an der Person ausgerichtet ist. Dürfen Lernende ihre eigenen subjektiven Vorstellungen äußern und mit ihnen auf den Unterricht einwirken, werden das Autonomieerleben sowie das Erleben sozialer Eingebundenheit unterstützt. Andererseits wurde zudem auch das Lernen verbessert: Die Reflexion spontaner Assoziationen zur Gentechnik im Biologieunterricht zeigte nachhaltige Effekte auf das Lernen fachlicher Inhalte zu Genetik und Gentechnik. Besonders in Follow-up Erhebungen zeigten die SchülerInnen, bei denen Alltagsphantasien berücksichtigt wurden, bessere Ergebnisse in Leistungstests zum Unterrichtsstoff (Born 2007, Monetha 2009) und damit ein nachhaltigeres Lernen der im Unterricht behandelten Themen. Diese positive Auswirkung kann nun entweder auf der gesteigerten Lernmotivation beruhen, anderseits ist aber auch eine Erklärung über die induzierten Verarbeitungsmechanismen denkbar. Vor dem Hintergrund der kognitionspsychologischen Annahmen zur Speicherung von Inhalten in einer Netzwerkstruktur lässt sich die explizite Reflexion sonst automatisch aktivierter Assoziationscluster differenziert betrachten. Grundlegend wird in der Lernpsychologie davon ausgegangen, dass das Schaffen von Assoziationen eine Voraussetzung für erfolgreiches Lernen ist. Je reichhaltiger das Netz von bestehenden Assoziationen ist, desto schneller und besser kann neue Information eingefügt und desto effizienter auch wieder abgerufen werden (Anderson 2007, 106). Die explizite Berücksichtigung von Alltagsphantasien könnte eine differenzierte Verknüpfung des Lernstoffes im Gedächtnis zur Folge haben. Als Folge dieser breiten Verknüpfung ist das Gelernte leichter wieder zugänglich und nachhaltiger im Gedächtnis verankert. Andererseits besteht die grundlegende Annahme darin, dass es sich bei den Alltagsphantasien um implizite Vorstellungen handelt, die automatisch im 21
Deci & Ryan (1993) nehmen drei angeborene menschlicher Grundbedürfnisse an, die für das Ausmaß an Motivation ausschlaggebend sind. Diese drei Grundbedürfnisse umfassen das Bedürfnis nach dem Erleben eigener Kompetenz oder Selbstwirksamkeit, das Bedürfnis nach Autonomieerleben sowie das Bedürfnis nach sozialer Eingebundenheit. Nach Deci & Ryan sind motivierte Handlungen qualitativ nach dem Grad ihrer Selbstbestimmtheit zu unterscheiden, die sich über eine Kontinuum von external regulierten (kontrollierten) Handlungen bis zu internal reguliertem (selbstbestimmtem) Verhalten hinstreckt. Dabei gehen Deci & Ryan davon aus, dass die Befriedigung der drei Grundbedürfnisse maßgeblich zum Auftreten intrinsischer Motivation oder zu Internalisation extrinsischer Motivation beitragen (1993, 230).
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Lernprozess aktiviert werden. Die explizite Reflexion bedeutete in diesem Zusammenhang also, dass das Individuum seine Aufmerksamkeit auf diese implizit wirksamen Vorstellungen richten muss. Vor dem Hintergrund der begrenzten kognitiven Kapazitäten sind deshalb auch nachteilige Effekte der expliziten Reflexion denkbar: Die bewusste Auseinandersetzung mit sonst automatisierten Assoziationen wird als sehr aufwendig und kognitiv beanspruchend eingeschätzt und könnte so die Verarbeitung des Lernstoffes beeinträchtigen (vgl. dazu Hennings & Mielke 2005, 251). Zusammenfassend ist zur Wirksamkeit von Alltagsphantasien (auf den Themenbereich der Gentechnik bezogen) also zunächst ihre ausgeprägte Präsenz und ihre inhaltliche Konsistenz als bemerkenswert festzustellen. In der didaktischen Einbindung dieser Vorstellungen in den Unterricht über explizite Reflexion lassen sich positive Effekte auf die Motivation und Lernleistung nachweisen. Darauf aufbauend gehen Born & Gebhard (2005, 267) davon aus, dass die explizite Berücksichtigung von Alltagsphantasien bei der Planung und Gestaltung von Lehr-Lernprozessen in besonderer Weise den Anschluss an die Lebenswirklichkeit der Lernenden gewährleistet, da die Lernenden den Unterrichtsstoff mit ihren eigenen subjektiven Vorstellungen in Beziehung stellen können. 2.7 Alltagsphantasien als Spuren einer impliziten Theorie der Realität Die funktionale Dimension Wie bereits in den Ausführungen zur inhaltlichen Dimension erläutert, werden Menschen- und Weltbildern handlungs- und erkenntnisleitende Funktionen zugeschrieben. Jeder Mensch generiert seine eigenen Perspektiven auf die Welt aus seiner persönlichen Erfahrung und nutzt sie zur Orientierung in der Welt. Nach Scheele & Groeben (1988, 3) lassen sich Menschen- und Weltbilder als subjektive Theorien fassen.22 Sie verstehen die „Kognitionen der Selbst- und Weltsicht als komplexes Aggregat mit (zumindest impliziter) Argumentationsstruktur, das die zu objektiven Theorien parallelen Funktionen der Erklärung, Prognose und Technologie erfüllt“. Übereinstimmend hiermit geht auch Epstein von einer impliziten Theorie der Welt aus. Nach Epsteins CognitiveExperiential Self-Theory konstruieren Menschen automatisch ein implizites Modell der Welt, eine „Theory of Reality“. Sie besteht aus zwei großen Kom22 Zur genauen Einordnung der impliziten Theorie der Realität als subjektive Theorie siehe Kapitel 3.4.1
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plexen, einer Theorie über die Welt und einer Theorie über das Selbst sowie verbindenden Propositionen zwischen beiden (Epstein 1994, 715). Weltverständnis und Selbstverständnis hängen demnach eng zusammen und bilden ein „Theoriegebäude“ vor dessen Hintergrund Erlebnisse eingeordnet und gedeutet werden. Diese Theorie besteht nach Epstein nicht zum Selbstzweck, sondern dient dazu, das Leben so lebenswert – d.h. so emotional befriedigend – zu machen wie möglich (1994, 715). Auch Tiere konstruieren nach Epstein ein solches Modell der Welt, allerdings mit dem Unterschied, dass ihre „Theory of Reality“ keine Theorie über das Selbst beinhalte. Annahmen der Theorie, die im rationalen System bestehen, bezeichnet Epstein als „beliefs“ also Überzeugungen. Ihnen gegenüber stehen „implicit beliefs“ oder „Schemata“ im experientialen System. Diese impliziten Schemata, die die Bausteine der impliziten „Theory of Reality“ im erfahrungsbasierten System darstellen, basieren vor allem auf Generalisierungen, die von emotional bedeutsamen Erfahrungen herrühren und die in eine zusammenhänge Theorie integriert werden. Nach Epstein organisieren diese Schemata zusammengenommen ein adaptives System und nehmen Einfluss aufeinander. So entstehen für den Menschen implizite und kulturell bestimmte Interpretationsroutinen im Umgang mit der Umwelt. In Anlehnung an Epstein gehe ich deshalb davon aus, dass jeder Mensch ein eigenes implizites Modell von der Welt und dem Menschen konstruiert, die ich im Folgenden als implizite Theorie der Realität bezeichne. Vor ihrem Hintergrund werden Erlebnisse gedeutet und Informationen verortet. Diese subjektive implizite Theorie der Realität über den Menschen und die Welt spiegelt sich in den Vorstellungen, die als „subjektive Resonanzen“ in Reaktion auf Lerngegenstände ausgelöst werden. Alltagsphantasien lassen sich deshalb als Spuren der impliziten Theorie der Realität und damit der Menschen- und Weltbilder des Individuums beschreiben, die in Form von Intuitionen, affektiven Reaktionen oder spontanen Assoziationen explizit werden und damit in der Unterrichtssituation Sichtbarkeit erlangen. Alltagsphantasien wären also (mit Epstein) als narrative Elemente dieser impliziten Theorie der Realität zur Ordnung der Welt zu verstehen, die auf einer emotionalen und assoziativen Ebene das Denken eines Menschen beeinflussen. Im Einklang mit dieser Konstruktion einer impliziten Theorie der Realität weist Oerter darauf hin, dass Menschenbilder historisch sowie kulturell abhängig sind (1999b, 185). Die Kultur präsentiere dabei Menschenbilder, die das Individuum im Laufe seiner Entwicklung übernehme (Oerter 1999b, 195). Somit verinnerlicht jedes Individuum seine kulturell abhängige Ethnotheorie. „Diese Ethnotheorie vom Menschen kann zwar durch das Individuum modifi96
ziert werden, bildet aber zugleich einen Rahmen, der für die einzelnen so selbstverständlich ist, dass es schwerfällt aus dieser Selbstverständlichkeit des Denkens herauszutreten“ (Hervorhebung im Original, Oerter 1999b, 195). Was Oerter hier als „Selbstverständlichkeit des Denkens“ fasst, bezeichnet ebenfalls den impliziten Charakter der verinnerlichten Theorie über den Menschen. Auch D’Andrade (1984, 116) versteht Kultur vor allem unter ihrem funktionalen Aspekt: Kultur bestehe aus erlernten Systemen von Bedeutung (meaning), die durch Sprache und andere symbolische Systeme kommuniziert werden und repräsentationale, direktive, also richtungweisende, und affektive Funktionen haben. Diese Bedeutungssysteme konstituieren kulturelle Einheiten und eine bestimmte Wahrnehmung der Realität. Durch diese Bedeutungssysteme adaptieren Menschen sich an ihre Umwelt und strukturieren ihre Erlebnisse und Aktivitäten. Im Kontext der Auseinandersetzung mit dem Thema Gentechnik im Biologieunterricht werden also die Menschen- und Weltbilder aktiviert, die der Lernende in Zusammenhang mit diesem Thema bringt bzw. die in seinem kognitiven Netzwerk verknüpft sind. Ähnlich wie Hammer & Elby (2002) es für die Aktivierung von epistemischen Überzeugungen annehmen, ist auch für die von mir hier eingeführte implizite Theorie der Realität davon auszugehen, dass der Kontext den bestimmenden Faktor dafür bildet, welche Teile dieser impliziten Theorie der Realität eines Individuums aktiviert werden. Nach Hennings & Mielke (2005, 239) ist es interindividuell verschieden und in der Erfahrungsbzw. Lebenswelt des Individuums sowie in der Situation begründet, welche Alltagsphantasien oder unbewussten Prozesse ein Lerngegenstand bei einem Individuum auslöst. Dabei ist anzunehmen, dass eine implizite Theorie der Realität keineswegs in allen Bereichen in sich kohärent und geschlossen sein muss. Sondern Menschen verfügen über höchst unterschiedliche Ansichten und Vorstellungen von der Welt und ihren Gefügen, so wie von sich selbst. Oerter zufolge werden Menschenbilder „je nach Bedarfslage, Zielsetzung und weltanschaulicher Orientierung konstruiert“ (1999b, 1). Auch nach Gebhard (2004, 27; 2004b, 81) haben Menschen kein intuitiv sicheres Wissen vom „Wert der Natur“, vom „Wert des Lebens“, von „Gut und Böse“ oder vom „Wesen des Menschen“. Menschen verfügen über unterschiedlichste Ideen gleichzeitig, die jeweils unterschiedlichen Erfahrungen und Quellen entstammen und aus unterschiedlichen Gründen und in unterschiedlichen Zusammenhängen (eben abhängig vom kontextuellen Rahmen) aktiviert werden. Gebhard zufolge verfügen Individuen über verschiedenste Vorstellungen mit Erklärungspotential, die „nicht nur ideologiehaltige Muster, sondern zugleich sinnstiftenden Lebensgrundhaltungen, zum Beispiel 97
Vorstellungen über uns selbst und darüber, wie wir leben wollen“ (2004, 27) enthalten. Es ist davon auszugehen, dass die implizite Theorie der Realität mit allen Weltbildern und Menschenbildern, die sie umfasst, in allen Lernprozessen (eigentlich in allen Lebenslagen) und in der Auseinandersetzung mit jeglichen Lerngegenständen eine mehr oder weniger große Rolle spielt. Diese Theorie bildet das Grundverständnis, mit dem alle Erlebnisse und Begebenheiten erklärt werden. Nach Gebhard hat Wissen keine Bedeutung „an sich, sondern der Lernende konstruiert konstruktiv eine Bedeutung, eben eine Interpretation der Wirklichkeit, die es gestattet, diese zu verstehen und sich in ihr zurechtzufinden“ (Hervorhebung im Original, Gebhard 2000, 69). Diese Konstruktion der Bedeutung erfolgt immer vor dem Hintergrund der persönlichen impliziten Theorie der Realität. Alltagsphantasien entsprechen demnach expliziten Zipfeln dieser impliziten Theoriedecke, in die alle Erlebnisse und Phänomene der Welt eingebettet werden. Diese Zipfel gilt es im Unterricht nicht unbeachtet wieder verschwinden zu lassen, sondern zu ergreifen, um dem Individuum bei seiner Einbettung der Lerngegenstände Unterstützung zu leisten. Die Alltagsphantasien sind damit quasi Anzeichen dafür, dass Lernende beginnen, einen Gegenstand überhaupt an ihre implizite Theorie der Realität heranzuführen und damit quasi einen ersten Schritt zur „Einbettung“ des Lerngegenstandes machen. 2.7.1 Sinnverlangen beim Lernen Diese Überlegungen lassen sich mit Gebhards Ausführungen zum „Sinnverlangen an die Realität“ von Menschen verknüpfen (Combe & Gebhard 2007, 13, vgl. auch Combe & Gebhard 2009). Lernen wird dabei als eine Konstruktionsleistung des Individuums verstanden, die durch ein Verlangen nach „Sinn“ angetrieben wird (Gebhard 2003, 207). Dieses „Sinnverlangen“ fasst Gebhard dabei sozusagen als anthropologische Konstante.23 23
Dieses „Sinnverlangen an die Realität“ ist die wesentliche Lernmotivation von Menschen das Gebhard (2003, 210) innerhalb der Motivationstheorie von Deci & Ryan (1993) mit der intrinsischen Motivation in Einklang sieht. Nach Deci & Ryan (1993, 226) repräsentieren intrinsisch motivierte Handlungen „den Prototyp selbstbestimmten Verhaltens. Das Individuum fühlt sich frei bei der Auswahl und Durchführung seines Tuns. Das Handeln stimmt mit der eigenen Auffassung von sich selbst überein. Die intrinsische Motivation erklärt, warum Personen frei von äußerem Druck und inneren Zwängen nach einer Tätigkeit streben, in der sie engagiert tun können, was sie interessiert.“
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Mit dieser Denkrichtung ist ein Lernprozess nun als erfolgreich zu verstehen, wenn sich dabei das Gefühl von subjektivem Sinn einstellt (2003b, 33). Dieses „Sinn finden“ geht dabei nicht auf das Auffinden eines gegebenen Sinns zurück, sondern realisiert sich in der Konstruktion von Sinn durch das Individuum (Combe & Gebhard 2007, 13). Wichtig dabei ist, dass nach Gebhard mit jedem Lerngegenstand, der an Kinder herangetragen wird, auch ihre subjektive Persönlichkeit beeinflusst wird (Gebhard 2003b, 47). Das Sinnverstehen als Aneignung von Lerngegenständen wird dabei als ein „kleines Ereignis der individuellen Biographie“ interpretiert und als ein Aspekt der Identitätsentwicklung angesehen (Born & Gebhard 2005, 257).24 Vor diesem Hintergrund verstehe ich Alltagsphantasien als Reaktionen auf Lerngegenstände, die als Spuren der aktivierten kulturellen Identität eines Individuums interpretierbar sind. Das besondere Augenmerk Gebhards bei der Sinnkonstitution liegt deshalb auf der Beziehung zwischen den Dingen der Welt und dem Individuum. Prozesse des Verstehens setzen nach Decke-Cornill & Gebhard (2007b, 11) die Interaktion zwischen Subjekt und Objekt voraus. Denn sie bedürfen auf der einen Seite des Erfahrungs- und Wissenshorizontes des Verstehenden, auf der anderen Seite wird das Objekt in seiner Struktur im Verstehensprozess erforscht. In sinnvollen Lernprozessen würde deshalb über die einseitige Aufnahme von Informationen hinausgehend der Lerngegenstand mit subjektiver Bedeutung versehen. Genau an dieser Stelle spielen nach Gebhard die symbolische Valenz des Lerngegenstandes und damit die Alltagsphantasien eine zentrale Rolle, da sie als affektive Grundlage des Lernprozesses verstanden werden können (Gebhard 2005, 55). Damit sind die Geschichten, Metaphern, Bilder und Symbole gemeint, die Menschen nutzen, um sich die Welt um sie herum begreifbar zu machen. Gebhard spricht unter Rückgriff auf Blumenberg von der „Lesbarkeit der Welt“: Das Verstehen oder „Lesen der Welt“ erfolgt demgemäß in „den Metaphern, den Bildern, den Welt-bildern des Menschen“ (Gebhard 2005, 56, vgl. auch Born & Gebhard 2005, 258).25 24
Dieser Gedanke fußt in dem Konzept der Bildungsgangtheorie, nach der Bildung und Lebenslauf eng miteinander verknüpft betrachtet werden müssen (Born & Gebhard 2005, 257). 25 Charakteristischerweise komprimieren Metaphern Informationen quasi platzsparend und machen Zusammenhänge begreifbar, die sich sonst schlecht verbalisieren lassen. Hierdurch lässt sich Wissen schnell kategorisieren und verinnerlichen (Ortony 1975, 48). Viele biologische Prozesse und Phänomene werden über Metaphern und Bilder vermittelt, wie der „Abwehrkampf“ des Immunsystems, der Zellkern als „Steuerzentrale“ der Zelle oder DNA als „Kochbuch“. Solche Bilder und Sprachbilder sind nach Gebhard wichtige kognitive Werkzeuge beim Wissenserwerb, da sie Erkenntnis stimulieren. Gleichzeitig bergen sie eine Gefahr: Sie wirken suggestiv, indem sie eine Lesart vorgeben und bedürfen aus diesem Grunde der Reflektion. Symbole transportieren auch Weltbilder, die es zu hinterfragen gilt (Gebhard 2005, 57ff.).
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Ich verstehe „Sinnkonstruktion“ vor dem Hintergrund der kognitionspsychologischen Modelle zudem als einen mit der Wahrnehmung einhergehenden automatischen Interpretationsprozess (siehe 2.4 zu prozeduralen Dimension). Alltagsphantasien sind in diesem Zusammenhang als Spuren dieser automatischen Bedeutungszuweisung zu verstehen (vgl. Hennings & Mielke 2005). 2.7.2 Didaktische Implikationen Gebhard zufolge muss also zwischen den objektiven Erkenntnismethoden und Strukturen der Wissenschaft, die Grundlage der schulischen Lerngegenstände sind, und der inneren subjektiven Bedeutung der Lerngegenstände unterschieden werden. In der Unterscheidung und gleichzeitigen Vermittlung zwischen beiden sieht Gebhard die „genuin didaktische Perspektive“ (2003b, 47). Lehrende könnten sich noch so sehr um subjektiv bedeutungsvolle Lernumgebungen bemühen, etwa indem sie gesellschaftlich und kulturell bedeutsame Themen aufgreifen: Ihre Bemühungen bleiben jedoch fruchtlos, wenn sie die subjektiven Beiträge der SchülerInnen ignorierten oder ablehnten (Gebhard 2003b, 48). Die Tiefe des Lernprozesses hat nach Gebhard mit der Gelegenheit zur Verknüpfung des Lerngegenstandes mit subjektiven Vorstellungen, Phantasien, Bildern und Metaphern – also mit Alltagsphantasien – zu tun (Gebhard 2003b, 51) und führt ihm zufolge dazu, dass Lernende sich in „Kontinuität mit der kulturellen Welt erleben können“ (Combe & Gebhard 2007, 71). Dazu gehöre es aus didaktischer Perspektive, dass Sinnverlangen der Subjekte zuzulassen und „Sinnieren“ nicht als unpassendes Abschweifen zu diskreditieren, sondern die psychische Bedeutung der Dinge in Lernprozessen zu berücksichtigten (2003b, 33). Damit ist eine didaktische Haltung von Lehrenden gefordert, offen und hellhörig für diese Form von subjektiven Resonanzen zu sein und sie in den Unterricht einzubinden und zu stimulieren. Hierzu ist ein Bewusstsein für die Existenz und Orientierungsfunktion der impliziten Theorie der Realität von Individuen und für die Funktionsweise menschlicher kognitiver Mechanismen notwendig. Vor diesem Hintergrund lassen sich subjektive Resonanzen wie Alltagsphantasien überhaupt erst erkennen. Es bedarf der Entwicklung eines Verständnisses dafür, was diese subjektiven Resonanzen offenbaren und welche Potentiale sie bergen. Auf dieser Ebene hilft also schon eine „Bewusstheit“ für das heuristische Potential des impliziten Wissens, wichtige Anknüpfungspunkte im Unterricht erkennen zu können.
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Allerdings ist eben auch eine volitionale Komponente unerlässlich: Es muss die Bereitschaft bestehen, die subjektiven Vorstellungen von Lernenden anzuerkennen und berücksichtigen zu wollen. Die affektiv aufgeladenen Vorstellungen in den Unterricht zu integrieren oder geradezu herauszufordern, fordert Flexibilität und Offenheit. Dies birgt die Furcht vor Kontrollverlust und Beeinträchtigung der Geradlinigkeit des Unterrichtes für viele LehrerInnen. Nach Gebhard haben Alltagsphantasien jedoch eine kreative und heuristische Qualität: „Man gelangt zu neuen Perspektiven und Fragestellungen und hat die Chance, in Auseinandersetzungen eine persönlichere und offenere Haltung einzunehmen. Diese Art der Selbstwahrnehmung gilt es zu schulen“ (Gebhard 2007, 125). Das Konzept der Alltagsphantasien ist aus dieser Perspektive ein didaktisches Modell mit dem Ziel ein komplexes Umdenken bei Lehrenden anzuregen.
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3 Komponenten einer kulturell bedingten impliziten Theorie der Realität – Eine systematische Verortung von epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien
In den beiden vorangegangenen Kapiteln wurde zum einen das Konstrukt der epistemischen Überzeugungen und zum anderen das Konzept der Alltagsphantasien entlang zentraler Charakteristika ausgearbeitet. Beide Formen von Vorstellungen werden in dieser Arbeit miteinander in Beziehung gesetzt, da sie in wichtigen Dimensionen übereinstimmen: Epistemische Überzeugungen sind als implizite, sozial erworbene Vorstellungen zu verstehen, die in Lernsituationen kontextabhängig aktiviert werden und dann als sozial geteilte Intuitionen zu Wissen und Wissenserwerb Einfluss auf die Verarbeitung von Informationen nehmen. Alltagsphantasien bezeichnen ebenfalls implizite, sozial erworbene Vorstellungen, die Aspekte des Welt- und Menschenbildes einer Person transportieren, in Lernsituationen kontextabhängig aktiviert werden und Einfluss auf die Perspektive auf Lerngegenstände und deren Bewertung nehmen. Beide Konzepte zeichnen sich also dadurch aus, dass sie implizite Vorstellungen annehmen, die sich auf einer intuitiven Ebene in Lernprozessen auswirken. Diese Vorstellungen sind in beiden Fällen sozial erworben, d.h. ihre inhaltliche Ausrichtung ist kulturell beeinflusst. Im Laufe der Sozialisation werden also bestimmte Perspektiven auf den Menschen und die Welt sowie auf die Genese und Struktur von Wissen erworben und verinnerlicht. Die Konzepte zu Alltagsphantasien und epistemischen Vorstellungen ähneln sich damit sowohl in ihren Annahmen zu ihrer ontogenetischen Entstehung (kulturelle Bedingtheit) als auch zur Art ihrer Aktivierung in Lernsituationen (automatisierte Generierung). Beide Formen von Vorstellungen beeinflussen weitgehend unbemerkt vom Lernenden, meist außerhalb der bewussten Kontrolle des Individuums, dessen Zugang zu einem Phänomen. Beide Charakteristika bilden zentrale Aspekte für Unterricht in der Schule: Kulturelle Diversität ist ein Charakteristikum moderner Gesellschaften und damit auch moderner Bildungsinstitutionen. Die Schülerschaft weist zunehmend 102 K. Oschatz, Intuition und fachliches Lernen, DOI 10.1007/978-3-531-93285-9_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
komplexere und vielseitigere kulturelle Hintergründe auf, weshalb die Berücksichtigung individueller Perspektiven auf den Menschen und die Welt an Bedeutung für den Umgang mit Lerngegenständen zunimmt. In diesem Kapitel werden nun kulturtheoretische und kognitionspsychologische Erkenntnisse zusammengeführt: Vor dem Hintergrund moderner kognitionspsychologischer Erkenntnisse ist eine erweiterte Perspektive auf Lernprozesse und ihre Unterstützung möglich und nötig. Die Potentiale automatischer Verarbeitungsprozesse beim Lernen zu berücksichtigen und einzubeziehen, kann hilfreiche Erklärungen für das Verständnis und die Unterstützung individuellen Lernverhaltens liefern. Dies könnte besonders für den Umgang mit kultureller Diversität gelten, da angenommen werden kann, dass sich das kulturelle Verständnis vor allem in impliziten Deutungsmustern und Perspektiven äußert (Fiske 2000, Haidt 2001). Diese Annahme zum Zusammenhang von kultureller Erworbenheit und implizitem Charakter von Wissen wird im Folgenden theoretisch hergeleitet und unterfüttert. Dazu werden die beiden Aspekte „kulturelle Bedingtheit“ und „impliziter Charakter“ von epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien in den ersten beiden Teilen dieses Kapitel genau aufgeschlüsselt. Um die zentrale Bedeutung impliziten kulturell begründeten Wissens für das Individuum zu fassen, wurde bereits im letzten Kapitel der Begriff der impliziten Theorie der Realität eingeführt. Die kulturell abhängigen Perspektiven auf den Menschen26 und die Welt haben eine Orientierungsfunktion: Sie helfen dem Individuum alle Eindrücke und Informationen einzuordnen, zu organisieren und mit Bedeutung zu versehen. Die implizite Theorie der Realität ist aus diesem Grund der Schlüsselterm dieses Kapitels. Doch auch die Perspektiven auf Wissen und die Genese von Erkenntnis sind kulturell begründet und liefern einen wichtigen Baustein für die Art und Weise, wie Menschen die Welt betrachten und verstehen. Das Konzept der impliziten Theorie der Realität wird deshalb im dritten Teil dieses Kapitels erweitert und ausgeschärft, indem epistemische Überzeugungen als ein Teilaspekt dieser Theorie konzipiert werden. Alltagsphantasien und epistemische Überzeugungen lassen sich dabei aufgrund ihrer unterschiedlichen Eigenschaften unterschiedlichen Wirkdimensionen der impliziten Theorie der Realität im Lernprozess zuordnen:
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Hiermit ist in erster Linie der Mensch als Gattungswesen gemeint. Nach Fahrenberg (2004, 305) umfassen Menschenbilder alle Annahmen und Überzeugungen dazu, „was der Mensch von Natur aus ist, wie er in seinem sozialen und materiellen Umfeld lebt und welche Werte und Ziele er in seinem Leben haben sollte. Es umfasst das Selbstbild und das Bild von anderen Personen oder von den Menschen im Allgemeinen“.
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(1) Während Alltagsphantasien auf einer assoziativen Ebene bedeutungsähnliche Inhalte aktivieren und so für die Bewertung des Lerngegenstandes eine Rolle spielen, (2) wirken sich epistemische Überzeugungen vor allem auf die Verarbeitungsweisen im Lernprozess aus. In Anlehnung an Forschungsergebnisse von Hannover & Kühnen (2002) werden die jeweiligen Rollen von epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien als Teile der impliziten Theorie der Realität genauer bestimmt. Im Anschluss hieran werden im vierten Teil dieses Kapitels die inhaltlichen Zusammenhänge von Alltagsphantasien und epistemischen Überzeugungen untersucht. Dabei wird anhand der rekonstruierten Alltagsphantasien analysiert, ob durch bestimmte in Alltagsphantasien vertretene Menschen- und Weltbilder auch epistemische Überzeugungen transportiert werden. Auf der Ebene der Verarbeitungsprozesse wird abschließend der Frage nachgegangen, in welcher Weise epistemische Überzeugungen und Alltagsphantasien auf die Verarbeitung von Informationen im Lernprozess einwirken. Um dies genauer zu bestimmen, werden beide Konstrukte in einem Modell zu Verarbeitungsprozessen in der Wissenskonstruktion integriert (Kruglanski 1990). Hieraus lassen sich spezifische Zusammenhänge von epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien in Lernprozessen ableiten, die abschließend im zweiten Teil dieser Arbeit empirisch untersucht werden: Epistemische Überzeugungen nehmen möglicherweise Einfluss auf den reflexiven Umgang mit Alltagsphantasien. Umgekehrt ist anzunehmen, dass sich die Reflexion von Alltagsphantasien darauf auswirkt, welche Muster von epistemischen Überzeugungen im Lernprozess aktiviert werden. Wenn epistemische Überzeugungen und Alltagsphantasien Anteile einer übergreifenden impliziten Theorie der Realität sind, wäre durch die Auseinandersetzung mit den eigenen Welt- und Menschenbildern die situative Ausprägung der eigenen persönlichen Epistemologie möglicherweise beeinflussbar. 3.1 Zusammenhänge zwischen epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien Aufgrund ihrer Bedeutung in Lernprozessen als Vorstellungen mit nichtfachlichem Charakter, sind epistemische Überzeugungen bereits früher neben Alltagsphantasien gestellt worden: In ihrer Auflistung bedeutsamer Vorstellungen in Lernprozessen unterscheidet Born (2007, 76) einerseits Vorstellungen auf der Fach- bzw. Inhaltsebene und andererseits solche Vorstellungen, die über diese 104
konkrete Inhaltsebene hinausgehen. Hier nennt Born epistemische Vorstellungen, Vorstellungen zum eigenen Lernen und Lernprozess, Deutungen von Entwicklungszielen sowie Alltagsphantasien (bei Born als „Vorstellungen zum Selbst- und Menschenbild“ bezeichnet).27 Alltagsphantasien und epistemische Überzeugungen werden bei Born also aufgrund ihrer Bedeutung in Lernprozessen in enge Nachbarschaft gestellt. Auch auf der inhaltlichen Ebene lassen sich Überscheidungen feststellen: Die von Gebhard erhobenen Alltagsphantasien zum Experimentieren, die subjektive Vorstellungen zum Probiercharakter, zur Zufälligkeit und zur emotionalen Erlebnisqualität von Experimenten umfassen, stehen in enger Verwandtschaft mit epistemischen Überzeugungen und bilden eine Schnittmenge mit diesen Vorstellungen (vgl. Gebhard 2007, 110; Combe & Gebhard 2007, 68ff., Murmann 2007). Umgekehrt können Erkenntnisse der Forschungen zu epistemischen Überzeugungen und Nature of Science, wie etwa die von Solomon (1993) und Höttecke (2001) beschriebenen verrückten und gefährlichen Wissenschaftlertypen (siehe Kapitel 2.6) auch als Alltagsphantasien verstanden werden, transportieren diese Vorstellungen doch nicht nur epistemische Inhalte, sondern vor allem Menschenbilder. Die mystischen Vorstellungen vom gefährlichen und gleichsam entfesselten Wissenschaftler korrespondieren auf inhaltlicher sowie affektiver Ebene eng mit Alltagsphantasien vom „Menschen als Schöpfer“ oder der „Ambivalenz von Erkenntnis und Wissen“, die ideengeschichtlich bis in die griechische Mythologie zurückreichen (siehe Kapitel 3.5.1.2). 3.2 Implizite kulturell erworbene Vorstellungen Auffällig sind die bereits genannten Übereinstimmungen in der Genese von epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien: Beide Formen von Vorstellungen spiegeln die Weltanschauungen und Perspektiven auf den Menschen und sein Tun, die für die Gesellschaft und Kultur typisch sind, in der das Individuum aufwächst. Diese sind internalisiert, da sie vornehmlich informell während der Sozialisation durch das Individuum erworben werden. Hofstede (1993, 89) definiert Kultur als „the collective programming of the mind which distinguishes one group or category of people from another (…) Culture is a con27 Die von ihr aufgeführten Vorstellungen zur „Sinnhaftigkeit naturwissenschaftlichen Wissens“ lassen sich meiner Meinung nach als epistemische Überzeugungen verstehen und würden aus meiner Perspektive diesen zugeordnet. Ebenso lassen sich Überzeugungen zum Lernen in Anlehnung an Schommer-Aikins als „epistemically related beliefs“ fassen (vgl. Schommer-Aikins & Easter 2008, 921).
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struct, that means it is „not directly accessible to observation but inferable from verbal statements and other behaviors“. 3.2.1 Die kulturelle Bedingtheit von epistemischen Überzeugungen In den letzten Jahren ist die kulturelle Abhängigkeit epistemischer Überzeugungen in den Fokus der Forschung gerückt. Jeng et al. (1993, 25) postulieren, dass der Erwerb epistemischer Überzeugungen als ein Prozess der Enkulturation zu verstehen sei und gehen davon aus, dass „individual epistemological beliefs are shaped by the surrounding culture“ (Jehng et al. 1993, 34). Auch SchommerAikins (2004) geht von Zusammenhängen zwischen kulturbasierten interpersonalen Beziehungen und Lernen aus. Muis et al. (2006, 31) nehmen ein kulturell inklusives Modell epistemischer Überzeugungen an. Ihrer Theory of Integrated Domains in Epistemology (TIDE) zufolge werden epistemische Überzeugungen als komplexe sozial konstruierte Vorstellungen verstanden, die durch die Interaktion mit dem soziokulturellen Umfeld von Geburt an entstehen und sich bis zum Lebensende weiterentwickeln. Jüngere Untersuchungen zum kulturell abhängigen Charakter epistemischer Überzeugungen unterstützen diese Perspektive: Untersuchungen von Youn et al. (2001) mit südkoreanischen Studierenden offenbarten Unterschiede in den Zusammenhängen zwischen unterschiedlichen Dimensionen epistemischer Vorstellungen im Vergleich mit US-amerikanischen Studierenden. Während in westlichen Gesellschaften Überzeugungen zu den Quellen von Wissen vor allem mit Überzeugungen zur Sicherheit von Wissen in Zusammenhang stehen, sind sie für koreanische Studierende eher mit Vorstellungen zur Geschwindigkeit des Lernens und der Angeborenheit von Fähigkeit verbunden. In Studien zu epistemischen Überzeugungen in Hong Kong zeigten Chan & Elliot (2002, 408), dass sich die gefundenen Dimensionen epistemischer Überzeugungen bei Anwendung des Fragebogens von Schommer (1993) von den bei US-amerikanischen Stichproben gefundenen Dimensionen unterscheiden. Zusammenfassend stellen sie fest, dass Lehramtsstudierende aus Hong Kong den Wissenserwerb als Prozess auffassen, der an Anstrengung gebunden ist. Dabei gilt Fähigkeit als veränderbar durch Anstrengung. Chan & Elliot (2002) führen dies auf das kulturelle Umfeld zurück, in dem geprägt durch die traditionelle Lehre des Konfuzius, Fleiß und Anstrengung starke Werte verkörpern. Zudem erwies sich der Glaube an Autoritäten als Quelle von Wissen als ein wichtiger Faktor (vgl. Chan & Elliot 2004, 130). Dies führen Chan & Elliot (2004, 137) auf die Bedeutung des Glaubens an Autoritä106
ten in der traditionellen chinesischen Kultur zurück, in der Respekt und Gehorsam gegenüber Respektspersonen und Älteren wichtiger Bestandteil ist. Im Gegensatz hierzu wurde in Studien mit amerikanischen Stichproben meist kein direkter Nachweis für diese von Schommer begründete Dimension gefunden. Dieses Ergebnis wird auf kulturelle Unterschiede zurückgeführt: Während asiatische Kulturen stärker kollektivistisch orientiert sind, sind westliche Kulturen eher individualistisch ausgerichtet und betonen die Entwicklung eines unabhängigen Denkens, dass sich von Autoritäten ablöst. Hofstede (1993, 89) verweist in seinen Untersuchungen zu Management-Strukturen in unterschiedlichen Kulturen auf die Bedeutung der Dimension des Individualismus: „It is the degree to which people in a country prefer to act as individuals rather than as members of groups. The opposite of individualism can be called Collectivism, so collectivism is low individualism (…) In collectivist societies a child learns to respect the group to which it belongs, usually the family, and to differentiate between in-group members and out-group members (…) They have to remain loyal to their group throughout life“ (Hofstede 1993, 89).
Unterstützt wird diese Lesart durch ähnliche Befunde mit Stichproben aus anderen kollektivistischen Kulturen. Karabenick & Moosa (2005) verglichen Studierende aus dem Oman und US-amerikanische Studierende in ihren epistemischen Überzeugungen. Karabenick & Moosa (2005, 376) charakterisieren Gesellschaften des Mittleren Ostens als „relatively authoritarian political-religious vertically collective cultures (…) in which the political and social discourse involves status and power differences“. Der Oman ist eine Monarchie, die durch den Sultan als die höchste und finale Autorität regiert wird. Der Islam nimmt als Staatsreligion Einfluss auf die meisten gesellschaftlichen Bereiche. Zudem zeigen sich trotz Bemühungen der Gleichstellung deutliche Unterschiede im Bildungsgrad und der Gleichberechtigung von Männern und Frauen (Karabenick & Moosa 2005, 378). Den Befunden zufolge tendieren omanische Studierende stärker zu einer Akzeptanz wissenschaftlicher Autoritäten als Quelle wissenschaftlich wahrer Aussagen und neigen auch stärker dazu Wissen als einfach und sicher anzusehen. Dies wird auf die Bedeutung von Repetition und Auswendiglernen im Unterricht im Oman zurückgeführt (Karabenick & Moosa 2005, 379). Dabei ließ sich jedoch ein geschlechtsspezifischer Effekt bei den Studenten aus dem Oman, nicht aber bei den US-amerikanischen Probanden feststellen: Omanische Studenten zeigten eine stärkere Akzeptanz für Autoritäten als Studentinnen. Dies wird darauf zurückgeführt, dass Männer im Oman durch ihre stärkere Partizipation an religiösen und politischen Angelegenheiten kulturellen Autoritäten
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stärker ausgesetzt und deshalb die Unterordnung unter Autoritäten stärker habituieren (Karabenick & Moosa 2005, 389). „Whereas highly achieving and selected Omani college women who have transcended culturally based gender restrictions would be less reliant on authority“(Karabenick & Moosa 2005, 379). Palmer & Mara (2008, 328) berichten von einer Studie von Arreondo & Rucinski (1996) zu den epistemischen Überzeugungen von US-amerikanischen und chilenischen LehrerInnen. Während die US-LehrerInnen reifere epistemische Überzeugungen in Bezug auf „Kritik an Autoritäten“ oder „Angeborenheit von Lernfähigkeit“ zeigten, hatten die chilenischen LehrerInnen reifere epistemische Überzeugungen in Bezug mit Vorstellungen zum „Umgehen mit Ambiguität“. Auch hier wurden kulturelle Divergenzen als Erklärungen für die Unterschiede in den Neigungen der LehrerInnen angenommen. Insgesamt besteht in der kulturvergleichenden Forschung zu epistemischen Überzeugungen das Problem, dass die meisten Messinstrumente in den USA entwickelt und validiert wurden und dann in Übersetzungen auf andere Kulturen angewendet werden. Eine solche Praxis basiert jedoch nach Hofer (2008, 4) auf der grundlegenden Annahme, dass sich die Dimensionen auf alle Kulturen anwenden lassen. Diese Annahme ist vor dem Hintergrund der eben beschriebenen Studien jedoch höchst fragwürdig. 3.2.2 Die kulturelle Bedingtheit von Alltagsphantasien In der Forschung zu Alltagsphantasien wurden bisher keine kulturübergreifenden Untersuchungen durchgeführt, weshalb der angenommene kulturell abhängige Charakter bisher nicht empirisch gestützt ist. Der kulturell und historisch abhängige Charakter von Menschenbildern ist in der Forschung jedoch anerkannt (Oerter 1999b, 185). Damit ist davon auszugehen, dass auch Alltagsphantasien als Spuren der Welt- und Menschenbilder eines Individuums je nach kultureller Ausrichtung des Lernenden unterschiedlich ausgeprägt sein werden und deshalb auch unterschiedliche Verständnisse des Lerngegenstandes einleiten. Oerter zufolge verinnerlicht jeder Mensch im Laufe seiner Sozialisation seine kulturell abhängige Ethnotheorie, die als „selbst-verständlicher“ Rahmen des Denkens und Handelns des Individuums fungiert (Oerter 1999b, 195). Dies wird am Beispiel der Unterschiede im westlichen und östlichen Menschenbild an dieser Stelle einmal beispielhaft ausgeführt: Das westliche Menschenbild hat seine Wurzeln in der griechischen Antike sowie im Christentum (Oerter 1999b, 185). Hieraus leitet sich nach Oerter eine besondere Wertschätzung des Individuums ab, die den zentralen Unterschied des westlichen Men108
schenbildes zum östlichen Menschenbild ausmacht. Während in der westlichen Welt ein Konzept vom Menschen entstand, dem eine individuelle Identität zugrunde liegt, die ein stabiles und kontinuierliches Selbst umfasst, ist der sich von anderen unterscheidende und gegen andere ab- und heraushebende Mensch in östlichen Kulturen ein „unziemliches Bild“ von einem Menschen (Markus & Kitayama 1991, 224; Oerter 1999b, 186). Hier erfährt sich der Mensch durch seine Bezogenheit zu anderen und zum Ganzen. Markus & Kitayama (1991, 1998) prägten für dieses Menschenverständnis den Begriff des „interdependent self“ des bezogenen Selbst. Demgegenüber steht im westlichen Verständnis das „independent self“ als das unabhängige Selbst. Ein interdependentes Selbst erlebt sich als verbunden mit anderen Personen und versteht sich nicht als getrennt vom sozialen Kontext. Während das independente Selbst darauf abzielt, persönliche Eigenheiten auszubilden, steht beim interdependenten Selbst die Kontrolle persönlicher Besonderheiten im Vordergrund, die an die Erfordernisse der sozialen Umwelt angepasst werden müssen. Das independente Selbst findet sich nach Markus & Kitayama (1991, 225) am klarsten exemplifiziert in der US-amerikanischen Kultur, aber auch in vielen westeuropäischen Kulturen. Die interdependente Selbst-Konstruktion ist in der japanischen Kultur und vielen anderen asiatischen Kulturen exemplifiziert, ist aber auch charakteristisch für afrikanische, lateinamerikanische und viele südeuropäische Kulturen. Dabei sind nach Oerter auch die Ziele je nach Kultur unterschiedlich ausgeprägt: In kollektivistischen Kulturen ist das kollektive und öffentliche Selbst wichtiger als das private, das in westlichen Kulturen höher geschätzt wird (1999b, 187). Hierzu passen die bereits ausgeführten Untersuchungen zum Einfluss der Kultur auf die persönliche Epistemologie (s.o.) sowie die Ausführungen von Pai & Adler (2001) zu den Unterschieden östlicher und westlicher Lernkultur (vgl. Kapitel 1.4). Sie führen die Schwierigkeiten von Migrantenkindern im USamerikanischen Schulsystem auf kulturell divergierende epistemische Überzeugungen zurück. Während westliche Bildungsinstitutionen auf dem Lernmotiv der individuellen Leistung und dem Prinzip der persönlichen Beteiligung aufbauen, steht in der östlichen Tradition das Motiv der Gruppenleistung im Vordergrund. Für Menschen aus so genannten „shared function cultures“ (Asiaten, Afrikaner, Lateinamerikaner, Indianer) basiert Lernen dabei auf Gelehrigkeit und erfolgt durch Beobachtung und Nachahmung (Pai & Adler 2001, 223). Menschenbilder und damit auch Weltbilder sind kulturell abhängig und in verschiedenen Kulturen in unterschiedlichem Maße ausgeprägt. Sie berühren als grundlegende Interpretationsfolien alle Bereiche des Lebens und stehen auch 109
mit den epistemischen Überzeugungen einer Person in Zusammenhang. Epistemische Überzeugungen lassen sich somit als Teil der menschlichen Perspektive auf die Welt verstehen. In den folgenden Ausführungen wird der Frage nachgegangen, wie sich kulturelles Wissen in den Individuen einer kulturellen Gemeinschaft manifestiert und wie es transportiert wird. Dabei steht der besondere Charakter kulturellen Wissens als impliziter Konsens im Mittelpunkt. 3.2.3 Kulturelles Wissens als komplexer Konsens Mit Haidt (2001, 827) kann kulturelles Wissen als ein komplexes Netz aus explizitem und implizitem, sensorischem und propositionalem, affektivem, kognitivem und motorischem Wissen verstanden werden. Auf Whiting & Child (1953, 27) zurückgehend ist kulturelles Wissen als ein „custom complex“, ein „Komplex an Bräuchen“ zu verstehen, den ein Individuum erwirbt und in den es immergiert. Auch nach LeVine (1984, 67) lässt sich Kultur als eine geteilte Struktur von Ideen verstehen, die für eine Gemeinschaft gängige intellektuelle, moralische und ästhetische Standards sowie die Bedeutung kommunikativer Akte beinhalten. Kultur repräsentiert demnach einen Konsens über eine breite Auswahl an Bedeutungen zwischen Mitgliedern einer interagierenden Gemeinschaft. LeVine vergleicht diesen Konsens mit dem Konsens über Sprache zwischen Mitgliedern einer Sprachgemeinschaft: Sprache versteht er dabei als eine individuelle Aktion, weshalb sich auch jedes Individuum in seiner Sprechweise unterscheidet. Dennoch können die Sprechenden einer Sprache einander von ihrem ersten Aufeinandertreffen an verstehen. Diese Kapazität für ein gegenseitiges Verstehen wird dabei begleitet von einem bemerkenswerten Konsens über die Regeln der Betonung und Grammatik. Gleichermaßen bestehe in Kulturen im Allgemeinen ein Konsens in der Gemeinschaft über die Bedeutung von Symbolen verbaler und nonverbaler Art (LeVine 1984, 68). „Every human community functions with a group consensus about the meanings of the symbols used in the communications that constitute their social life (…) because such a consensus is as necessary for encoding and decoding messages in social communication in general as agreement about speech rules is to encoding and decoding in the linguistic mode” (LeVine 1984, 69).
Hofstede & Hofstede (2005, 3) verstehen Kultur als “software of the mind”. Ihm zufolge tragen Menschen Muster des Denkens, Fühlens und potentiellen Verhal-
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ten in sich, die sie im Laufe ihres Lebens (größtenteils in früher Kindheit) gelernt haben. Mit der Metapher der Software wollen Hofstede & Hofstede (2005) nicht ausdrücken, dass Menschen programmiert seien, wie Computer. Kultur indiziert vielmehr welche Reaktionen wahrscheinlich und vor dem Hintergrund der Vergangenheit eines Menschen verständlich seien. Kultur ist dabei immer ein kollektives Phänomen: „It is the collective programming of the mind that distinguishes the members of one group or category of people from others“ (Hervorhebung im Original, Hofstede & Hofstede 2005, 4). Hofstede & Hofstede (2005) benutzt den Term “collective programming of the mind” dabei im Anschluss an das Konzept des Habitus von Bourdieu. Kultur ist als ein in sich hoch verknüpftes und komplexes Konstrukt zu verstehen. Denn kulturelle Symbole umfassen nach LeVine (1984, 70) Kombinationen von Bedeutungen und erlangen hierdurch ihre starke affektive Bedeutung. Ein bestimmtes Verständnis ist mit vielen weiteren Dimensionen der Kultur verknüpft. Angehörige einer Kultur evaluieren Situationen nach LeVine automatisch vor dem Hintergrund des gesamten kulturellen Kontextes, wohingegen ein Außenstehender das Zusammenspiel nur schwer entschlüsseln kann (1984, 73). Den Mitgliedern einer Kultur fallen die Verbindungen zwischen einzelnen Aspekten und symbolischen Akten nicht mehr auf – sie werden vorausgesetzt, werden aber mit anderen Kulturen nicht geteilt. 3.2.4 Implicit culture und tacit communication – Unbewusste Prozesse in der Bildung kulturellen Wissen LeVine unterscheidet in seinen Betrachtungen explizite und implizite Kultur. Explizite kulturelle Anteile umfassen die Regeln, Überzeugungen und Kennzeichen, die Angehörige einer Kultur explizit darlegen und verbalisieren können. Mit dem Term „implicit culture“ verweist LeVine dagegen auf die Regelmäßigkeiten der Gepflogenheiten, die den Angehörigen einer Kultur nicht auffallen, die ihnen nicht bewusst sind und deshalb auch schwer zu verbalisieren sind (1984, 76). Nach LeVine werden diese grundlegenden Ideale und Ideen durch den breiten sozialen Konsens geradezu vor der Entdeckung beschützt. Da diese Ideale und Ideen niemandem auffallen, werden sie dadurch auch nicht hinterfragt und herausgefordert, sondern verstärkt. Die Verinnerlichung stellt LeVine (1984) wie folgt dar: Kulturelle Phänomene wie etwa moralische Regeln oder Symbole erlauben die kumulative Kombination verschiedener Arten von Wissen. Kinder erwerben und verändern ihr Verständnis der „gleichen“ Symbole, dadurch dass sie im Laufe ihrer kognitiven 111
Entwicklung in der Kultur verschiedene Bedeutungen ansammeln. Die intuitiven Bedeutungen gehen dabei nach LeVine auf früh gelernte Bedeutungen zurück, die internalisiert wurden (sensorischer Pol) und den reflektiven Bedeutungszuweisungen (ideologischer Pol) gegenüberstehen (LeVine 1984, 85). Demnach gehen früh erworbene Bedeutungen nicht verloren, sondern formen die intuitive Basis emotionaler Reaktionen auf Symbole, selbst wenn diese Symbole mittlerweile auf einem reflektiven Level verstanden werden können. Nach LeVine reagieren Individuen, die seit ihrer Kindheit in einer kulturellen Umgebung aufgewachsen sind, auf deren Symbole aus diesem Grund in einer Art und Weise, die die multiplen Dimensionen ihrer kognitiven Erlebnisse mit diesen Symbolen spiegelt. Sie unterscheiden sich dadurch merklich von Individuen, deren Erfahrungen mit diesen Symbolen erst im Erwachsenenalter begannen (LeVine 1984, 85). Shweder versteht Sozialisation als „tacit communication“ (Shweder 1984, 49). Ihm zufolge zeichnet sich Enkulturation gerade dadurch aus, dass ein informelles Lernen von Verhalten und Praktiken von anderen Personen erfolgt. Die intellektuelle Umwelt eines Individuums sei voll von „already crystallized cultural products“, die als kollektive Repräsentationen auf lange kollektive Entwicklungen zurückgehen (Shweder 1984, 57). Sie werden quasi unbewusst und unhinterfragt mitgelernt. In Übereinstimmung hiermit macht Fiske (2000, 84) darauf aufmerksam, dass Kinder in den meisten Kulturen erstaunlich wenig über ihre Kultur „gelehrt“ bekommen, sondern den Großteil ihres kulturellen Wissens über Beobachtung und Imitation erwerben. In diesem Zusammenhang betont Fiske (2000, 84), dass die Bedeutung von Handlungsschemata und implizitem Wissen in Kulturen unterschätzt werde: Kulturelles Wissen werde zu großen Teilen durch nonverbale und unbewusste Prozesse erworben. Auch Haidt zufolge (2001, 828) werden soziale Fähigkeiten und Verhaltensweisen graduell und implizit erworben und wirken in menschlichen Denkprozessen dann auf einer unbewussten Ebene. In Übereinstimmung mit den in Kapitel 2.4 vorgestellten Zwei-Prozess-Modellen erklärt Haidt (2001), dass nur die Ergebnisse der automatischen Verarbeitung im Bewusstsein auftauchen und dann als Intuition erlebt werden. Mit Fiske, LeVine oder Haidt muss davon ausgegangen werden, dass sich kulturelles Wissen besonders in implizitem Wissen und verinnerlichten Handlungsschemata verdichtet, die als grundlegende Richtschnüre dem täglichen Denken und Handeln zugrunde liegen. Die epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien eines Individuums basieren also auf Konzepten, die Teil eines impliziten Konsenses zwischen Trägern der Kultur des Individuums sind.
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In den vorangegangenen Kapiteln wurden die in der Forschung bestehenden Überlegungen zum impliziten Charakter epistemischer Überzeugungen und Alltagsphantasien bereits herausgearbeitet (siehe Kap. 1.2 und 2.4). Epistemische Überzeugungen werden in der Forschung häufig unkommentiert als implizit oder teilweise automatisch aktiviert angenommen, selten jedoch erfolgt eine dezidierte Auseinandersetzung mit ihrem impliziten Charakter. Im Konzept der Alltagsphantasien stellt ihr impliziter Charakter ein zentrales Charakteristikum dar. Was unter implizitem Wissen genau zu verstehen ist, wie es entsteht und durch welche Merkmale es sich auszeichnet, wird im Folgenden ausgeführt.
3.3 Implizites Wissen und seine Bedeutung für die Enkulturation Mit implizitem Wissen in Lernprozessen werden eine Fülle von Phänomenen in Zusammenhang gebracht, wie träges Wissen oder aber nicht explizit benennbares Handlungswissen (wie etwa das Wissen über die Anordnung der Tasten beim Tippen auf einer Computertatstatur), automatisiertes Wissen (wie etwa beim Autofahren), Primingeffekte28 oder implizites Wissen als Basis von Intuitionen. Implizites Wissen beschreibt nach Anderson damit den Bereich der Dinge, die Menschen wissen, aber nicht beschreiben können (Anderson 2007, 278). Haider bezeichnet implizites Wissen als nicht verbalisiertes, unbewusstes Wissen (2000, 175). Dabei wird davon ausgegangen, dass automatische und unbewusste Verarbeitung eine notwendige Fähigkeit ist, um mit der Flut an Informationen umzugehen, die ein Mensch in jedem Moment durch seine Sinnesorgane erfasst. Eine Million mehr Bits an Information erreichen das menschliche Gehirn in jedem Moment als der Mensch bewusst wahrnimmt. Norretranders vergleicht das menschliche Bewusstsein deshalb mit einem Scheinwerfer in einem dunklen Theater: „Ein Gesicht wird dramatisch in Szene gesetzt, während alle anderen Personen, Requisiten und Teile des Raumes im Dunkel verschwinden“ (1998, 126). Menschen verfügen jedoch ständig auch über Wissen, das nicht im Scheinwerferlicht ihres Bewusstseins steht. Im Rahmen der Forschung zu implizitem Wissen tauchen viele parallele Begriffe auf, die teilweise ähnliche Phänomene bezeichnen, wie implicit memory, tacit 28 Priming bezeichnet die Verbesserung der perzeptuellen Wiedererkennungsleistung oder nachfolgenden Verarbeitung eines Stimulus nach vorhergehender Präsentation dieses Stimulus (Schacter et al. 1993, 161).
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knowledge, tacit knowing, Intuition und automatisches Wissen. Dieser Teil des Kapitels soll nicht dazu dienen, die gesamte Forschung zu implizitem oder unbewusstem Lernen und Gedächtnisinhalten zu rekapitulieren, sondern soll kurz die wichtigsten Überlegungen zu implizitem Wissen und Lernen zusammenstellen. 3.3.1 Was ist implizites Wissen? Lange Zeit galt in der Forschung die heute veraltete Annahme, dass implizites Wissen passiv und unbewusst erworben würde: „Implicit knowledge results from the induction of an abstract representation of the structure that the stimulus environment displays, and this knowledge is acquired in the absence of conscious, reflective strategies to learn” (Reber 1989, 219). In den 80er Jahren nahmen Autoren wie Reber (1989) oder Hayes & Broadbent (1988, 251) einen passiven und nicht selektiv charakterisierten Lernmodus an, der ohne die Intention zu lernen mehr oder weniger automatisch abläuft. Dem gegenüber stand das explizite Lernen, das intentional erfolge und an einen aktiven, bewussten, langsamen, mühevollen, selektiven und sequentiellen Prozess gebunden sei. Heute ist diese Unterscheidung dank jüngerer Untersuchungen und moderner Zwei-Prozess-Modelle der Informationsverarbeitung nicht mehr in dieser Weise aufrecht zu erhalten. Nach Strack & Deutsch (2004, 224) oder Smith & Decoster (2000) können reflektiv gebildete Wissensinhalte durch Gewöhnung und Übung und damit einhergehende häufige gemeinsame Aktivierung ihrer Teilkonzepte automatisiert werden. „Any skill, be it perceptual, motor, or cognitive, requires less and less conscious attention the more frequently and consistently it is engaged“ (Bargh 1997, 28). Die reflektiv und damit bewusst und mühevoll erworbenen Kognitionen können somit verinnerlicht und in bestimmten Situationen automatisiert – also außerhalb bewusster Kontrolle – aktiviert werden. In der modernen Forschung zu implizitem Wissen ist umstritten (Haider 2000, 176), ob eine durchgängige Unterscheidung von implizitem und explizitem Wissen empirisch haltbar ist. Ebenso umstritten ist die darüber hinausgehende Annahme, dass implizite Lernprozesse zu implizitem Wissen führen, das reflexiven Prozessen nicht zugänglich ist. Reber (1989, 229) fasst implizites Wissen deshalb in seinen späteren Schriften wie folgt: „Knowledge required from implicit learning procedures is knowledge that, in some raw fashion, is always ahead of the capability of its possessor to explicate it”. Diese sehr ungenaue Definition spiegelt die Schwierigkeit in der Forschung, das Phänomen impliziten Wissens genau einzuordnen und zu definieren. 114
3.3.2 Zentrale Befunde zum impliziten Wissen Die Forschung zu implizitem Wissen begann mit Untersuchungen zum Problemlösen, dem Erwerb künstlicher Grammatiken sowie seriellen Wahlreaktionsaufgaben (Reber 1989, 220). Bei derartigen Experimenten trat immer wieder das Phänomen einer Dissoziation zwischen Performanz und verbalisiertem Regelwissen zutage. Die Probanden konnten nach einer Lernphase ein zugrundeliegendes Regelsystem zwar nicht explizit benennen, zeigten jedoch in ihrem Umgang mit dem Problem oder den Buchstabenfolgen in den weiteren Experimenten Ergebnisse, die besser waren als nach Zufall zu erwarten war. Die Probanden hatten demnach implizit ein Verständnis der zugrundeliegenden Spielregeln oder künstlichen Grammatiken erworben (vgl. Haider 2000, 177ff.). Es wird angenommen, dass unbewusst ein Wissen über die Relationen zwischen Stimuli erworben wird. Methodisch ist festzuhalten, dass implizites Wissen in diesen Verfahren „durch eine quantitative Dissonanz zwischen zwei Verhaltensmaßen nachgewiesen (wird), wobei eines als Maß für die bewusste Verfügbarkeit des Wissens oder für einen reflexiven Zugriff aus dieses Wissen gelten muss, das andere für die implizite Verfügbarkeit des Wissens“ (Haider 2000, 182). Die Schwierigkeit implizites „unbewusstes“ Wissen abzubilden, wird also über eine Hilfskonstruktion gelöst. Ein reicher Corpus an Forschung konnte zudem zeigen, dass implizite Lernprozesse robust gegen viele Erkrankungen und kognitive Fehlfunktionen sind, wie z.B. Amnesie (Schacter et al. 1993, 160). Erklärt werden diese Befunde mit einer stärkeren Resistenz der unbewussten impliziten Lernprozesse, da sie als phylogenetisch älter und „primitiver“ eingestuft werden (Reber 1989, 232; 1992, 145, 1993). Evans (2008, 259) zufolge gehen auch zahlreiche Autoren zu Zwei-Prozess-Modellen in der Unterscheidung der beiden Verarbeitungsprozesse von einem evolutionär älteren impulsiven, automatischen oder experientialen System aus, das Menschen mit Tieren teilen. Evans weist jedoch darauf hin, dass nicht alle impliziten Prozesse diesem evolutionär „alten“ System zugeordnet werden können, sondern zu beachten ist, dass die Systeme in komplexerer Weise miteinander interagieren. Auch Perrig et al. (1993) betonen, dass Untersuchungen mit Vorstellungsaufgaben vielfach zeigen, wie automatische und unbewusste Erfahrungskomponenten zielorientierte und bewusste Denkprozesse begleiten und deshalb „zwischen Bewusstem und Unbewusstem nicht unverrückbare Grenzlinien zu ziehen sind“ (Perrig et al. 1993, 133).
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Die Forschungen zum Lernen bei Patienten mit Amnesie29 zeigen, dass diese über implizites Wissen zu Erfahrungen verfügen, die sie nicht bewusst wiedergeben können. In einer Studie von Graf et al. (1984) etwa wurden gesunde Menschen und Amnesiepatienten in ihrem Erinnerungsvermögen untersucht. Dazu lernten die Probanden eine Liste von Wörtern, wie etwa das englische Wort camera. Die Probanden wurden aufgefordert, die Wörter hinterher wiederzugeben. Wie erwartet zeigten die Probanden mit Amnesie deutlich schlechtere Ergebnisse als gesunde Probanden (Graf et al. 1984, 168). In einer weiteren Wortergänzungsaufgabe bekamen alle Versuchsteilnehmer dann die ersten drei Buchstaben eines zuvor gelernten Wortes präsentiert. Die Probanden sollten das Wort dann ergänzen, wie etwa hier die ersten drei Buchstaben cam . Die Zufallswahrscheinlichkeit, das Wort camera zu ergänzen, liegt dabei unter zehn Prozent. Beide Gruppen ergänzten das gelernte Wort jedoch in beinahe 50 Prozent der Fälle zu camera. Hierbei zeigte sich kein Unterschied zwischen gesunden Versuchsteilnehmern und Probanden mit Amnesie (Graf et al. 1984, 168). Explizit hatten die Amnesiepatienten also keine Erinnerung an die Wortliste, zeigten jedoch in dieser Aufgabe, dass sie genauso wie die gesunden Patienten Gedächtnisinhalte zu den Wörtern gebildet hatten. Die Verbesserung der perzeptuellen Wiedererkennungsleistung oder nachfolgenden Verarbeitung eines Stimulus nach vorhergehender Präsentation dieses Stimulus wird als Priming bezeichnet (Schacter et al. 1993, 161). Amnesiepatienten zeigen also noch intakte Primingreaktionen. Ebenso zeigen Untersuchungen zu Erinnerungsleistungen von Menschen aller Altersstufen, dass implizite Erinnerung in jedem Alter voll funktionsfähig ist. Während die explizite Erinnerung etwa beim Berichten über eine vorher gemachte Erfahrung von jungen Erwachsenen doppelt so effizient ist wie die von achtzigjährigen Menschen oder Kindergartenkindern, zeigen sich über alle Altersstufen hinweg dieselben Leistungen in der impliziten Erfahrungsnutzung (Perrig et al. 1993, 152). Heute wird davon ausgegangen, dass unterschiedliche Gehirnregionen für das Generieren von expliziten und impliziten Gedächtnisinhalten in solchen Versuchsanordnungen verantwortlich sind. Durch Untersuchungen mit dem Medikament Midazolam, das sich auf Neurotransmitter im Hippocampus auswirkt, konnte gezeigt werden, dass der Hippocampus eine zentrale Stellung bei der Bildung expliziter Gedächtnisinhalte besitzt. Polster et al. (1993, 615) konnten nachweisen, dass sich Midazolam zwar negativ auf das explizite Gedächtnis auswirkt, jedoch die implizite Gedächtnisfunktion unberührt lässt. Über bildge29
Amnesie bezeichnet eine Form der Gedächtnisstörung für zeitliche oder inhaltliche Erinnerungen..
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bende Verfahren wurde zudem ein Zusammenhang von impliziten Gedächtnisinhalten und kortikalen Regionen nachgewiesen. Laut Anderson (2007, 282) besteht die Annahme in der Forschung, dass neue explizite Erinnerungen im Hippocampus gebildet werden, jedoch mit zunehmender Erfahrung einen Transfer in den Kortex erfahren. Durch Verfahren wie dem Priming werden kortikale Erinnerungen kurzzeitig verstärkt und stehen dann in späteren Tests schneller zur Verfügung. Moderne Theorien zum Arbeitsgedächtnis gehen davon aus, dass auch das Arbeitsgedächtnis explizit als auch implizit operiert (Hassin 2005, 210). Jüngere Konzeptionalisierungen des Arbeitsgedächtnisses (Cohen et al. 1990, 353f.; O`Reilly et al. 1999) integrieren dabei genau diese beiden genannten Komponenten des Gehirns: Das Arbeitsgedächtnis umfasst den präfrontalen Kortex, der spezialisiert ist zur aktiven Aufrechterhaltung von Informationen, die dynamische Updates erfahren, sowie den Hippocampus, der auf das schnelle Lernen arbiträrer Information spezialisiert ist. Außerdem umfasst das Arbeitsgedächtnis einen hinteren perzeptuellen Kortex und einen Motorkortex, der langsames Langzeitlernen ausführt. 3.3.3 Was ist implizit an implizitem Wissen? Zur Erklärung der Ergebnisse aus Studien zu impliziten Gedächtnisinhalten standen sich lange Zeit zwei alternative Betrachtungsweisen gegenüber: Verfechter des „Multiple memory systems view“ führen Primingeffekte auf die Operation von zwei unterschiedlichen Gedächtnissystemen zurück. Dabei unterscheide sich das „Implizite Gedächtnis“ neurophysiologisch und in seiner Verarbeitungsweise von dem Gedächtnissystem, das expliziten Erinnerungen zugrunde liegt (Schacter et al. 1993, 173). Squire et al. (1985, 83) etwa schreiben die explizite und bewusste Gedächtnisbildung einem deklarativen Gedächtnis und implizite Gedächtnisbildung einem prozeduralen Gedächtnissystem zu. Implizites Wissen wird verfügbar, wenn sich Personen in Tätigkeiten engagieren, in die das Wissen eingebettet ist. Auch die Unterscheidung von episodischem und semantischem Gedächtnis lässt sich dieser Perspektive zuordnen. Nach Tulving operiert das episodische Gedächtnis mit einzigartigen, konkreten, persönlichen und zeitlich verorteten Ereignissen, die der Erinnernde erlebt hat, wohingegen das semantische Gedächtnis generelles, abstraktes und zeitloses Wissen beinhaltet, das die Person mit anderen teilt (Tulving 1986, 307). Die prozessorientierte Perspektive dagegen erklärt Priming und ähnliche Effekte mit den gleichen Prinzipien, die auch 117
genutzt werden können, um das explizite Gedächtnis zu verstehen und ohne multiple Gedächtnissysteme zu postulieren. In den letzten Jahren hat sich die sozialpsychologische Forschung verstärkt auf implizite Phänomene konzentriert und dabei Stereotype, Vorurteile und Einstellungen auf ihre unbewussten Wirkungsweisen hin untersucht (Farnham et al. 1999). Diese Forschungen gehen soweit, dass Bargh von einer Demystifizierung der unbewussten Kontrolle höherer mentaler Prozesse spricht (Bargh 2005, 41). In diesem Zusammenhang sind neue Untersuchungsmethoden, wie der Implicit Association Test (IAT) oder das Evaluative Priming entwickelt worden, die nicht auf der bewussten Evaluation des Einstellungsobjektes selbst beruhen, sondern etwa Reizreaktionszeiten messen und versuchen, den Einfluss impliziter Stereotype über schnellere Zuordnungen oder rascheres Wiedererkennen nachzuweisen. Strack & Deutsch (2004, 239) zufolge ist der psychologische Status impliziter Erhebungsmethoden jedoch sehr unklar, da manche Theoretiker davon ausgingen, implizite Erhebungs-instrumente identifizierten implizite Einstellungen oder Stereotype, während andere es vorziehen, das Messinstrument selber als implizit zu verstehen, nicht jedoch das gemessene Konstrukt. Strack & Deutsch (2004) definieren implizite und explizite Erhebungsmethoden deshalb über die kognitiven Operationen, die durch sie erfasst werden. Explizite Erhebungsinstrumente berühren das Wissen oder die Überzeugungen von Menschen, während implizite Erhebungsinstrumente ihre assoziativen Strukturen berühren. Die Begriffe explizit versus implizit werden von Strack & Deutsch (2004) lediglich für psychologische Prozesse, nicht jedoch für mentale Inhalte verwendet. Alle kognitiven Elemente sind im Modell von Strack & Deutsch (2004, 223) im kognitiven Netzwerk implementiert. Implizite Prozesse werden im impulsiven System des Zwei-Prozess-Modells lokalisiert, während explizite Prozesse dem reflektiven System zuzuordnen sind (Strack & Deutsch 2004, 239; siehe Kapitel 2.4). Innerhalb des impulsiven Systems wird Information durch Aktivierungsmuster in einem Speicher von Assoziationen repräsentiert. Das reflektive System kann dagegen propositionale Repräsentationen formen, indem es ein oder mehrere Elemente durch die Instantiierung eines relationalen Schemas verknüpft. Der Unterschied zwischen einfachen Assoziationen und propositionalen Repräsentationen verweist auf die Verarbeitungsform. Implizites Wissen zeichnet sich nach Strack & Deutsch (2004) also nicht dadurch aus, dass es an sich in erster Linie unbewusst oder implizit vorliegt, sondern es wird erst durch das Verarbeitungslevel, durch das es in eine Situation eingebracht wird, zu einer implizit wirkenden Kognition. Nach dieser Konzeption können vermeintliche „implizite“ kognitive Konzepte durchaus reflektiven Lernprozessen entspringen und sind deshalb auch potentiell bewusstseinsfähig 118
und kontrolliert aktivier- und abrufbar. Der Grad ihrer Automatisierung sowie die Verknüpfung mit anderen Faktoren einer Situation bestimmt jedoch, ob Kognitionen in konkreten Situationen implizit oder explizit wirken. Nach dieser Auffassung sind epistemische Überzeugungen und Alltagsphantasien in Lernsituationen deshalb als vornehmlich implizite Vorstellungen zu verstehen, weil sie automatisch aktiviert werden und als verinnerlichte Vorstellungen unbemerkt vom Lernenden auf sein Denken zum Lerngegenstand einwirken. Bestehen über das reflektive System auch propositionale Verknüpfungen zu diesen Konzepten, sind sie auch potentiell bewusstseinsfähig und können dann verbalisiert und in Fragebögen erhoben werden.30 Die Besonderheit kulturell erworbener Perspektiven besteht nun jedoch darin, dass viele Aspekte oder Dimensionen unreflektiert und über informelle und passive Lernprozesse erworben werden. Demnach ist es möglich, über Fragebögen reflektiv zugängliche Dimensionen von epistemischen Überzeugungen und Welt- und Menschenbildern zu erreichen. Die Konzepte jedoch, die in der Lernsituation über assoziative Mechanismen aus dem assoziativen Pool an Vorstellungen aktiviert werden, können sich hiervon unterscheiden. Nach Reber lassen sich durch die Annahme implizit wirkenden und vorliegenden Wissens Phänomene, wie das der Intuition, erklären. “Perhaps the most compelling aspect of intuition (…) is that the individual has a sense of what is right or wrong, a sense of what is the appropriate or inappropriate response to make in a given set of circumstances, but is largely ignorant of the reasons for that mental state. (…) To have an intuitive sense of what is right and proper, to have a vague feeling of the goal of an extended process of thought, to „get the point“ without really being able to verbalize what it is that one has gotten, is to have gone through an implicit learning experience and have built up the requisite representative knowledge base to allow for such judgment” (Reber 1989, 232f.).
Die intuitiven Reaktionen, die Reber hier als Folge impliziter Lernprozesse skizziert, beschreiben normative Urteile wie Richtig und Falsch, Angemessen oder Unangemessen, die bezeichnenderweise kulturell abhängige Bewertungen von Situationen sind. Das individuelle Verständnis davon, was Richtig und Falsch ist, hängt dabei sowohl von dem Weltbild des entscheidenden Individu-
30 Dennoch kann sich die Ausprägung von Alltagsphantasien und epistemischen Überzeugungen, die in Lernsituationen über automatische Mechanismen aktiviert wurden, von den in Fragebögen explizit artikulierten Inhalten unterscheiden.
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ums ab, als auch von seiner erkenntnistheoretischen Betrachtungsweise darauf, wie sich Richtig und Falsch in einem Bereich abgrenzen lassen. Kultur und Sozialisation sind Quellen festgelegter und immer wiederkehrender Interpretationsroutinen im Umgang mit der Umwelt, über die ein kultureller Konsens besteht. Die mit ihnen vermittelten Blickwinkel auf den Menschen und die Welt werden von dem heranwachsenden Individuum verinnerlicht. In der Auseinandersetzung mit der Umwelt erfolgt dann die unmittelbare Bedeutungszuweisung durch den automatisierten Rückgriff auf diese verinnerlichten Perspektiven auf die Welt (vgl. Hennings & Mielke 2005, 252). Auf diese Weise erfolgt die Enkulturation eines Menschen. Epistemische Überzeugungen und die intuitiven Welt- und Menschenbilder, die in Form von Alltagsphantasien in Lernsituationen explizit werden, erwachsen diesem verinnerlichten kulturellen Konsens eines Individuums. 3.4 Die Erweiterung der impliziten Theorie der Realität In Kapitel 2.7 wurden Alltagsphantasien als Spuren der impliziten Theorie der Realität eines Menschen konzeptionalisiert. In Anlehnung an Epstein (1994) wird davon ausgegangen, dass Menschen automatisch ein implizites Modell der Welt, ihrer Funktionsweise und der Rolle des Menschen in dieser Welt konstruieren. Dieses mentale Modell zum Aufbau und zur Ordnung der Welt hat Orientierungsfunktion für den Menschen und dient als erkenntnisleitendes Gerüst vor dessen Hintergrund alle Erlebnisse gedeutet und Erkenntnisse verortet werden. 3.4.1 Die implizite Theorie der Realität als subjektive Theorie Die implizite Theorie der Realität kann als subjektive Theorie nach Groeben et al. (1988) verstanden werden. Groeben et al. fassen subjektive Theorien in einem weiten Sinne als Kognitionen der Selbst- und Weltsicht, die als komplexes Aggregat mit (zumindest impliziter) Argumentationsstruktur die zu objektiven (wissenschaftlichen) Theorien parallelen Funktionen der Erklärung, Prognose und Technologie erfüllen (1988, 19). Subjektive Theorien sind damit als relativ stabile mentale Strukturen zu verstehen. Nach Dann (1994, 166) stellen subjektive Theorien teilweise implizite, teilweise dem Bewusstsein des Handelnden zugängliche kognitive Strukturen dar. Der Begriff „Theorie“ beinhaltet dabei, dass die in der Theorie organisierten oder in sie eingehenden Kognitionen in einem Verhältnis zueinander stehen, so dass Schlussfolgerungen möglich sind. 120
Groeben et al. (1988, 18) halten die Charakterisierung dieser Argumentationsstruktur dabei bewusst offen. Sie postulieren jedoch, dass subjektive Theorien „für das reflexive Subjekt Mensch eine parallele Funktion haben, wie objektive Theorien für das reflexive Subjekt Wissenschaftler“ und beziehen sich dabei auf die oben genannte Orientierungs- und Organisationsfunktion (Groeben at al. 1988, 19). Dann (1994, 167) zufolge dienen subjektive Theorien der „Situationsdefinition im Sinne einer Realitätskonstituierung“, der nachträglichen Erklärung eingetretener Ereignisse oder ihrer Vorhersage sowie der Generierung von Handlungsentwürfen. Die in dieser Arbeit entworfene implizite Theorie der Realität stimmt mit dieser weiten Charakterisierung größtenteils überein. Als subjektive Theorie besteht der Inhalt der impliziten Theorie der Realität aus Phänomenen der Selbst- und Weltsicht des reflexiven Subjekts, die in einer bedeutungshaltigen Struktur miteinander organisiert sind. Allerdings ist es wichtig, den impliziten Charakter der zugrundeliegenden Argumentationsstruktur tatsächlich ernst zu nehmen. Es ist nicht davon auszugehen, dass Handlungen oder Interpretationen von Erlebnissen in der Umwelt, die in dem Moment im Einklang mit der eignen impliziten Theorie der Realität stehen, nicht in anderen Situationen anders ausfallen und damit der ersten Interpretation widersprechen können. Während die von Groeben et al. (1988) angesprochenen „objektiven wissenschaftlichen Theorien“ einer ständigen reflexiven Kontrolle auf Widersprüche und Inkonsistenzen durch die wissenschaftliche Gemeinschaft ausgesetzt sind, ist aufgrund der impliziten Argumentationsstruktur für subjektive Theorien keine solche Gradlinigkeit anzunehmen. Menschen sind in der Lage, in ihrem sie tagtäglich leitenden Weltbild widersprüchliche oder gegensätzliche Perspektiven miteinander zu vereinen, oder je nach Situation eine andere Perspektive zu bevorzugen. Die hier postulierte implizite Theorie der Realität muss keineswegs in allen Bereichen in sich kohärent und geschlossen sein. In diesem Sinne hat diese implizite Theorie der Realität auch nur auf eine eingeschränkte Weise parallele Funktionen zu objektiven wissenschaftlichen Theorien, da sie eben nur begrenzt reflexiven Prozessen zugänglich ist. Als Beispiele subjektiver Theorien nennen Groeben et al. (1988, 20) unter anderem die „Implizite Persönlichkeitstheorie“ von Bruner & Tagiuri (1954) oder die „Naiven oder Alltagstheorien“ von Laucken (1974). Groeben et al. (1988) schreiben ihrem Forschungsprogramm der subjektiven Theorien ein hohes Integrationspotential zu, da es viele verschiedene Ansätze und Theorien auf eine gemeinsame Grundstruktur zurückführt. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass die implizite Theorie der Realität verschiedene andere 121
Theorien zu Kognitionsaggregaten des reflexiven Subjektes über sich Selbst (Selbstkonzeptmerkmale) oder andere Menschen (Implizite Persönlichkeitstheorie) in sich vereint. In seiner engen Auslegung beinhaltet der Begriff der subjektiven Theorie nach Groeben et al. (1988, 22) zudem die Selbsterkenntnis des Menschen als normative Prämisse und verbindet das Konzept mit einer methodologischen Komponente: Es wird davon ausgegangen, dass die Selbsterkenntnis des reflexiven Subjektes unter Umständen auch als objektive Erkenntnis akzeptierbar ist und deshalb das reflexive Subjekt in den Forschungsprozess eingebunden wird und zur Überprüfung der Realitätsadäquanz herangezogen werden kann. Es wird also davon ausgegangen, dass die Angemessenheit der Rekonstruktion der subjektiven Theorie im Dialog mit der untersuchten Person festgestellt werden kann. Auch in Bezug auf die implizite Theorie der Realität wird hier davon ausgegangen, dass sie dem reflexiven Subjekt in Teilen zugänglich ist und potentiell reflektiert werden kann. Der reflexive Umgang mit den eigenen Alltagsphantasien wird etwa als Quelle kreativer und subjektiver Zugänge zum Lerngegenstand gesehen. In welchem Umfang die Ausleuchtung der eigenen impliziten Theorie der Realität jedoch tatsächlich möglich ist, lässt sich vor dem Hintergrund der Befunde zum impliziten Charakter kulturellen Wissens nicht abschätzen. Mit LeVine (1984) ist davon auszugehen, dass Menschen nur einen begrenzten Einblick in ihre eigenen verinnerlichten Perspektiven auf die Welt haben. Das umfassende Erkennen und Reflektieren der eigenen Denkmuster und Interpretationsroutinen ist deshalb nur wenigen Menschen möglich. 3.4.2 Epistemische Überzeugungen als Teil der impliziten Theorie der Realität Die subjektive und implizite Theorie der Realität spiegelt sich in den Vorstellungen, die Lernende als „subjektive Resonanzen“ in Reaktion auf Lerngegenstände zeigen. Alltagsphantasien lassen sich deshalb als Spuren der impliziten Theorie der Realität und damit der Menschen- und Weltbilder des Individuums beschreiben. Auf der Basis der bisher ausgeführten Überlegungen lassen sich epistemische Überzeugungen ebenfalls als ein Baustein der impliziten Theorie der Realität verstehen. Da sie eng an die kulturell bestimmten Perspektiven auf den Menschen und die Welt gebunden sind, bestimmen sie, auf welche Weise mit Informationen umgegangen wird, wie sehr ihnen vertraut wird und ob und wie Informationen überprüft werden.
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Nach Dillon (2008) ist es selbstverständlich, dass unsere Einstellungen zu der Wahrhaftigkeit eines Konzeptes durch eine Reihe von kulturellen, historischen, politischen und sozialen Faktoren beeinflusst sind. „There is a reason why so many people in the world believe that the earth is about 5.000 years old and it’s not because they’re unintelligent, it’s because they choose not to believe the scientific consensus“ (Dillon 2008, 400).
Dillon (2008) verweist auf Wells, demzufolge alle kognitiven Konzepte kollaborativ produzierte Konstrukte darstellen, die das Reich dessen „was gewusst wird“ konstituieren. Zudem sind sie symbolische Formulierungen, die in Texten verschiedener Art lokalisiert werden können, deren Autorität unabhängig ist von dem spezifischen Individuum, das sie konstruiert hat (Dillon 2008, 399). Mit Polanyi argumentiert Wells, dass Menschen tatsächlich nicht wirklich über Erste-Hand-Beweise oder Erfahrungen für vieles verfügen, von dem sie denken, dass sie es wissen (Dillon 2008, 399). Stattdessen, wissen sie nur, dass die Wissenschaft glaubt, dass eine kleine Anzahl von Erste-Hand-Erlebnissen auf etwas „Wahres“ hinweisen und sie müssen dann entscheiden, ob sie es glauben oder nicht. Dillon (2008) zufolge spielen solche Überzeugungen – eben epistemische Überzeugungen – deshalb eine Schlüsselrolle in der Wissensentwicklung. Dies ist der Punkt, in dem kulturelle und epistemische Überzeugungen konvergieren. Die Konzepte, die Menschen im Laufe ihrer Entwicklung erlernen, sind sozial geteilte Perspektiven auf die Welt, die vor dem spezifischen kulturellen Hintergrund zu verstehen sind, in dem sie sich entwickeln. Die Frage nach ihrer epistemologischen Gültigkeit geht mit diesen Konzepten Hand in Hand. Eine ähnliche Perspektive findet sich in Moscovicis (1981) Theorie der sozialen Repräsentationen. Soziale Repräsentationen bezeichnen nach Moscovici (1981, 181) ein Set von Konzepten, Aussagen und Erklärungen, die dem täglichen Leben entstammen. Sie können als Äquivalent der Mythen und Überzeugungen in traditionellen Gesellschaften verstanden werden und sogar als zeitgenössische Form des gesunden Menschenverstands gefasst werden. „A set of concepts, statements and explanations originating in daily life in the course of inter-individual communications. They are the equivalent, in our society, of the myths and belief systems in traditional societies; they might even be said to be the contemporary Version of common sense” (Moscovici 1981, 181).
Soziale Repräsentationen dienen der Welterklärung. Nach Moscovici (1981, 190) lässt sich Fremdes durch sie in Bekanntes verwandeln. Soziale Repräsenta-
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tionen dienen dazu, alle Erfahrungen zu kategorisieren und eine Gesamtorientierung zu ermöglichen. Die in Kapitel 2.3 beschriebene Orientierungsfunktion von Welt- und Menschenbildern für das Individuum entspricht diesen Beschreibungen. Die implizite Theorie der Realität ist im Sinne Moscovicis aufgebaut aus sozialen Repräsentationen. Moscovici lehnt sich an Durkheims Konzept der kollektiven Repräsentationen an, die eine ausgedehnte Klasse intellektueller Formen umfassen, wie Wissenschaft, Religion, Mythen und die Kategorien von Zeit und Raum usw. (Moscovici 1981, 181). Moscovici modifiziert dieses Konzept: „Social representations must on the one hand be understood as a particular way of acquiring knowledge and communicating the knowledge that has already been acquired. They have a curious position somewhere between concepts whose purpose it is to distill the meaning of the world, to make it more orderly and perceptions that reproduce the world in a reasonable manner” (Moscovici 1981, 184).
Soziale Repräsentationen sind also Phänomene, die mit spezifischen Weisen der Genese und Kommunikation von Wissen verbunden sind, durch die Realität und „common sense“31 erzeugt werden (Moscovici 1981, 186). Epistemische Überzeugungen sind nach Moscovici also konstituierender Bestandteil sozialer Repräsentation und ihrer Orientierungsfunktion. Dies geht einher mit Andersons (1984, 9) Perspektive, demzufolge Kinder nicht nur Erfahrungen sondern auch Interpretationen von Erfahrungen erwerben. Baxter Magolda (2004, 31) betont „People actively construct or make meaning of their experience – they interpret what happens to them, evaluate it using current perspectives, and draw conclusions about what experiences mean to them. The meaning they construct depends on their current assumption about themselves and the world, conflicting assumptions they encounter and the context in which the experience occurs” (Baxter-Magolda 2004, 31).
The current assumptions about themselves and the world, mit dieser Beschreibung zeigt auch Baxter Magolda eine Verknüpfung der persönlichen Epistemologie mit den Selbst-, Welt- und Menschenbildern auf. Genau diese Verknüpfung nenne ich die implizite Theorie der Realität. Die persönliche Epistemologie entwickelt sich aus den Erfahrungen des Individuums und in Übereinstimmung mit seiner kulturellen Welt und den in ihr inhä31
Common sense kann mit „gesundem Menschenverstand“ übersetzt werden.
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renten Werten. Sie ist somit Teil der impliziten Theorie der Realität, die ein Individuum im Laufe seiner Enkulturation entwickelt und die nach Epstein (1994) zentral für die Verortung des Individuums in der umgebenden Welt ist. 3.4.3 Wie beeinflusst die implizite Theorie der Realität die individuelle Erfahrung? – Eine Übertragung von Erkenntnissen aus der Selbstkonzeptforschung Die implizite Theorie der Realität lässt sich mit Epstein als ein implizites Modell der Welt verstehen. Epstein zufolge besteht dieses Modell aus zwei großen Komplexen, einer Theorie über die Welt und einer Theorie über das Selbst und verbindenden Propositionen zwischen beiden (Epstein 1994, 715). Die von Epstein benannte self theory ist in zahlreichen Untersuchungen zum „Selbst“ bereits ausführlich untersucht worden. Bemerkenswerterweise hat sich in der Forschung auch eine sogenannte cultural self perspective entwickelt, die interindividuelle Unterschiede in der Art und Weise der Selbstkonstruktion von Menschen untersucht. Im Folgenden wird diese kulturelle Perspektive auf die self theory und ihre Auswirkungen auf beobachtbare Kulturunterschiede im Denken und Handeln von Menschen kurz ausgeführt, da sie Implikationen für das Verständnis des Wirkungsspektrums der impliziten Theorie der Realität birgt. Wie bereits ausgeführt, betrachten Menschen individualistischer Kulturen das Individuum als verschieden von anderen Menschen und charakterisieren es als ein Wesen mit einzigartigen Eigenschaften. Im Gegensatz dazu definieren sich Menschen aus kollektivistischen Kulturen über ein interdependentes Selbstwissen, bei dem enge Beziehungen, die Repräsentation sozialer Kontexte und soziale Rollen einbezogen werden (vgl. Markus & Kitayama 1991, 1998; Hannover & Kühnen 2002, 61). Auch zwischen Geschlechtern bestehen Unterschiede in der Selbstkonstruktion: Während Männer stärker independent ausgerichtet sind, sind für Frauen soziale Selbstinhalte chronisch zugänglicher. Diese Unterschiede können mit Markus & Kitayama (1998, 71f.) darauf zurückgeführt werden, dass kulturelle Gruppen oder Geschlechtergruppen systematisch unterschiedliche Lebenserfahrungen machen und deshalb mit unterschiedlichen impliziten normativen Anforderungen konfrontiert werden. Die kulturvergleichende Selbstforschung hat gezeigt, dass sich die Art der Selbstkonstruktion auf das Denken, Fühlen und Handeln von Menschen systematisch auswirkt (vgl. Cross et al. 2000; Markus & Kitayama 1991, 1998). Nach Hannover et al. wird dem Selbst damit der Status einer vermittelnden 125
Variable zugeschrieben: „Nicht nur unterscheiden sich die Mitglieder verschiedener Kulturen in ihrem Selbstkonzept, sondern es sind genau diese unterschiedlichen Selbstkonstruktionen, die zu beobachtbaren Kultur-unterschieden im Denken, Fühlen und Handeln führen“ (Hannover et al. 2005, 100).32 Dabei zeigen Independente im Vergleich mit Interdependenten beispielsweise stärkere Attributionsfehler (Choi & Nisbett 1998, 358) oder verhalten sich stärker kompetitiv (Stucke 2003, 111). Diese Befunde unterstützen die von Epstein (1994) postulierte Orientierungsfunktion des impliziten Modells der Welt, zumindest bezüglich der Subtheorie zum Selbst. Vor diesem Hintergrund lässt sich fragen, wie sich die implizite Theorie der Realität implizites Modell der Welt in ihrer Ausprägung verhält. Sie steht in Zusammenhang mit der individuellen Theorie über das Selbst, ist sie doch eine Theorie über den Menschen und die Welt. Wie bereits ausgeführt ist davon auszugehen, dass sich eine world theory in gleicher Weise kulturell abhängig entwickelt. Analog zur self theory wäre anzunehmen, dass auch die unterschiedlichen Weltkonstruktionen zu beobachtbaren Kulturunterschieden im Denken, Fühlen und Handeln führen könnten. Diese Übertragung scheint möglich, da Hannover & Kühnen (2002) zufolge das Selbst in seiner Funktionsweise anderen Gedächtnisstrukturen entspricht. Die Spezifität des Selbst bestünde nur darin, dass es die Gesamtheit des Wissens enthalte, die ein Individuum im Laufe des Lebens über die eigene Person speichere (Hannover & Kühnen 2002, 62). Andererseits weisen sie darauf hin, dass das Selbst eine besondere Rolle in der Informationsverarbeitung einnimmt, da es über die ganze Lebensspanne hinweg angereichert wird und die umfangreichste Wissensstruktur darstellt, die Individuen überhaupt entwickeln und die in widrigen Lebensumständen sogar durch adaptive Strategien bewahrt bleibt (Hannover & Kühnen 2002, 69). Hannover & Kühnen (2002) haben ein Modell entworfen, mit dem sich erklären lässt auf welche Weise die kulturell abhängigen Selbstkonstruktionen die individuelle Erfahrung der Person unterschiedlich beeinflussen. Dieses Modell ist deshalb in diesem Kontext besonders passend, da Hannover & Kühnen (2002, 71) vornehmlich nicht-intentionale, automatische kognitive Prozesse annehmen, die keine kognitive Kontrolle erfordern. Die angenommenen Wirkmechanismen entsprechen deshalb dem impliziten Wirkcharakter der impliziten 32 Dabei ist anzumerken, dass die cultural self perspective auch kritisch diskutiert wird. Untersuchungen zum Priming independenter oder interdependenter Selbstkonzeptanteile konnten zeigen, dass Menschen ihr Selbst in Abhängigkeit vom Kontext stärker independent oder interdependent konstruieren (Onorato & Turner 2001). Nach dieser Perspektive kann also die unabhängige oder bezogene Ausrichtung des Selbst nicht als stabiles Personenmerkmal verstanden werden.
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Theorie der Realität. Um die Perspektiven von Hannover & Kühnen (2002) auf Überlegungen zur impliziten Theorie der Realität zu übertragen, stehen im Folgenden die von ihnen generell angenommenen Mechanismen und nicht ihre spezifisch unterschiedlichen Ausprägungen für independente oder interdependente Konstruktionen im Vordergrund. 3.4.3.1 Das Semantisch-Prozedurale-Interface-Modell In ihrem Semantisch-Prozeduralen-Interface-Modell (SPI-Modell) gehen Hannover & Kühnen (2002, 62) davon aus, dass der Einfluss des Selbst auf das Denken und Handeln von Personen durch die relative chronische oder situationale Zugänglichkeit ihres independenten oder interdependenten Selbstwissens vermittelt wird. Zugänglichkeit bezeichnet dabei die Leichtigkeit, mit der bestimmte Informationen aus dem Gedächtnis abgerufen werden können. Auch der Einfluss der impliziten Theorie der Realität könnte durch die relative chronische oder situationale Zugänglichkeit besonderer Anteile des kulturellen Wissens vermittelt werden. Dabei wären abhängig von der Kultur unterschiedliche Welt- und Menschenbilder hoch zugänglich. Hannover et al. postulieren in ihrem SPI-Modell zudem zwei verschiedene Mechanismen, über die zugängliches Selbstwissen das Denken, Fühlen und Handeln von Personen steuert (Hannover et al. 2005, 101): 1. 2.
der semantische Mechanismus der prozedurale Mechanismus
Diese beiden Mechanismen sollen im Folgenden auf die Steuerung des Denkens, Fühlens und Handelns durch zugängliches kulturelles Wissen (Welt- und Menschenbildaspekte, epistemische Überzeugungen) übertragen werden. 3.4.3.2 Alltagsphantasien als Teil eines semantischen Mechanismus Der semantische Mechanismus bezieht sich auf den spezifischen Inhalt der Selbstkonstruktion. In ihrer Konzeption unterscheiden Hannover et al. (2005) autonome (verweist auf das independente Selbst) von sozialen (verweist auf das interdependente Selbst) semantischen Wissensinhalten. Wichtig ist dabei, dass die Zugänglichkeit der Wissensinhalte entscheidend für das individuelle Erleben ist, weil Menschen Urteile und Verhaltensentscheidungen auf der Grundlage des Wissens fällen, das zum gegebenen Zeitpunkt leicht zugänglich ist. Nach Hannover & Kühnen (2002, 62) identifizieren, kategorisieren und interpretieren 127
Menschen neu eintreffende Informationen gemäß der zum gegebenen Zeitpunkt leicht zugänglichen mentalen Kategorien. So richten Personen mit chronisch zugänglichem independenten Selbstwissen Urteile über ihr eigenes Verhalten stärker an ihren persönlichen Einstellungen aus als an ihren Annahmen über die Erwartungen ihres sozialen Umfeldes (Hannover & Kühnen 2002, 63). Dieser Zusammenhang wird im SPI-Modell als semantischer Mechanismus bezeichnet, da die Selbstkonstruktion die individuelle Erfahrung beeinflusst. Die Identifikation, Kategorisierung und Interpretation neuer Information werden an die semantischen Inhalte des hoch zugänglichen Selbstwissens der Person angepasst (Hannover & Kühnen 2002, 63). Für die implizite Theorie der Realität wird in Übereinstimmung hiermit angenommen, dass in ihr repräsentierte und besonders zugängliche Welt- und Menschenbilder Einfluss darauf nehmen, wie Lernende einen Lerngegenstand identifizieren, kategorisieren und interpretieren. So könnte das chronisch zugängliche Weltbild von der „Natur als Norm“ im Zusammenhang mit Gentechnik zu einer verstärkten Assoziation von negativen Auswirkungen gentechnologischer Manipulationen führen. Gilt Natürliches als gut, wird der menschliche Eingriff in natürliche Abläufe negativ bewertet und führt zu einer ablehnenden Haltung und verstärkten Konzentration auf negative Auswirkungen von Gentechnik. In ihrem ZweiProzess-Modell beschreiben Strack & Deutsch (2004) wie die motivationale Ausrichtung auf Annäherung (Akzeptanz) oder Vermeidung (Ablehnung) zu einer erleichterten Verarbeitung übereinstimmender Informationen führt. Die spontane ablehnende Haltung gegenüber Gentechnik führt demnach zu einer erleichterten Verarbeitung ablehnender Informationen. Zudem unterstützen negative Argumente die eigene intuitive Ablehnung gegenüber dem Thema Gentechnik. Dieses Phänomen der bevorzugten Suche nach Argumenten, die die eigne Position stärken, wird von Strack & Deutsch (2004) als „My-side-bias“ beschrieben. Die subjektiven Weltbilder – die sich im Lernprozess in Alltagsphantasien ausdrücken können – würden demnach beeinflussen, wie die Auseinandersetzung mit dem Thema Gentechnik abläuft. Die Kategorisierung und Interpretation neuer Information zur Gentechnik würde an die Inhalte der zugänglichen Welt- und Menschenbilder angepasst. Im Lernprozess werden Lerninhalte also vor dem Hintergrund der zugänglichen Welt- und Menschenbilder eines Menschen interpretiert und bewertet. In den vom Lernenden geäußerten Alltagsphantasien kommen die Welt- und Menschenbilder zum Ausdruck, die zur Einordnung des Lerngegenstandes dienen.
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Mit ihrer Theorie zielen Hannover & Kühnen (2002) auf ein vertieftes Verständnis bestimmter Verhaltensmuster von Menschen in Abhängigkeit von ihrer Selbstkonstruktion. Im Unterschied hierzu gilt es im Rahmen des didaktischen Konzepts der Alltagsphantasien als weniger interessant, welche kulturellen Vorstellungen welche Kategorisierungen und Interpretationen nach sich ziehen, sondern die Anerkennung dieser Mechanismen und ihrer Bedeutung für die individuelle Bedeutungszuweisung von Lernenden an Lerngegenstände steht im Vordergrund. 3.4.3.3 Epistemische Überzeugungen als Teil des prozeduralen Mechanismus Hannover & Kühnen (2002) wiesen neben dem semantischen Mechanismus zudem einen sogenannten prozeduralen Wirkmechanismus nach. In Abhängigkeit der Zugänglichkeit des jeweiligen Selbstwissens (independent oder interdependent) wird demzufolge ein kontextunabhängiger oder kontextabhängiger Mechanismus der Informationsverarbeitung initialisiert (Hannover et al. 2005, 101). So können etwa bei chronisch zugänglichem interdependentem Selbstwissen kontextabhängige Informationen besonders effektiv verarbeitet werden. Mit der Aktivierung interdependenten oder independenten Selbstwissens werden dann kognitive Prozeduren, die mit den Wissensinhalten assoziiert sind (etwa Information in ihrem Kontext oder losgelöst vom Kontext zu verarbeiten), bei der nachfolgenden Verarbeitung von Informationen angewendet. Damit werden Kulturunterschiede nicht allein auf inhaltlicher Ebene wirksam, sondern sind auch für kognitive Prozeduren nachweisbar (Hannover & Kühnen 2002, 72). Auf die implizite Theorie der Realität übertragen könnte dies bedeuten, dass in Abhängigkeit der Zugänglichkeit des jeweiligen kulturellen Wissens unterschiedliche Modi der Informationsverarbeitung aktiviert werden. Epistemisches Wissen ist kulturell bestimmt und geht je nach Reifegrad mit unterschiedlichen Informationsverarbeitungsprozessen einher: Während reifere epistemische Überzeugungen im Zusammenhang mit aufwendigen systematischen und reflektiven Verarbeitungsprozessen stehen, geht eine weniger reife Ausrichtung der epistemischen Überzeugungen eher mit unaufwendigen Verarbeitungsprozessen einher (Klaczynski 2000, 1350; Kardash & Scholes 1996, 269). Personen etwa, in denen epistemische Vorstellungen zur Sicherheit und Einfachheit von Wissen aktiviert sind, sind stärker geneigt, bei der Verarbeitung von Wissen nur einzelne Informationen zu betrachten und mithilfe einfacher Faustregeln zu evaluieren. Diese Personen würden demnach in der Auseinandersetzung mit dem Thema Gentechnik gegensätzliche Informationen nicht systematisch evaluieren. Vielmehr würden sie dazu 129
neigen, einzelne Informationen zu fokussieren oder sich in ihrer Meinungsbildung etwa auf die Aussage eines Experten verlassen, mit der möglichen Begründung, „dass der Fachmann die richtige Antwort kennt.“ Hier bestimmt also die kulturell beeinflusste Ausrichtung der epistemischen Überzeugungen die Güte der Informationsverarbeitung. In diesem Sinne besteht eine Wechselwirkung zwischen dem kulturell bedingten Wissen und dem prozeduralen Mechanismus der Informationsverarbeitung. Dabei ist allerdings eine Einschränkung zu machen: Vor dem Hintergrund der bisherigen Forschung zur kulturell abhängigen Ausprägung epistemischer Überzeugungen ist davon auszugehen, dass kulturell abhängig unterschiedliche Auffassungen darüber bestehen, was als reife epistemische Überzeugungen gelten kann. Es ist bisher nicht untersucht, welche Vorstellungen in welchem Kulturkreis mit welchen Verarbeitungsprozessen vornehmlich verknüpft sind. Während im westlichen Kulturkreis, das sich von Autoritäten befreiende und selbstständige Denken und Überprüfen von Informationen (die quasi independente Ausprägung) als besonders „reif“ gilt und nachgewiesenermaßen mit aufwendigen systematischen Verarbeitungsprozessen in Zusammenhang steht, ist die Endstufe epistemischer Entwicklung in anderen Kulturen womöglich anders zu verorten. Die bisherigen Befunde zur prozeduralen Dimension epistemischer Überzeugungen beruhen auf Untersuchungen in individualistisch ausgerichteten Kulturen. Es ist möglich, dass in kollektivistischen Kulturen andere Vorstellungen als reif gelten und an aufwendige Verarbeitungsprozesse gebunden sind. Jedenfalls gibt es hierzu bisher keine Untersuchungen. Zudem ist davon auszugehen, dass die Ausprägung der epistemischen Ausrichtung an den Kontext gebunden ist. Aus der in dieser Arbeit eingenommenen Perspektive kann die persönliche Epistemologie deshalb nicht als stabiles Persönlichkeitsmerkmal konzeptionalisiert werden. Dies steht in Übereinstimmung mit der Kritik an der cultural self perspective, nach der der Kontext eine wichtige Rolle bei der situativen Ausprägung des Selbst spielt: Untersuchungen zum Priming independenter oder interdependenter Selbstkonzeptanteile konnten zeigen, dass Menschen ihr Selbst in Abhängigkeit vom Kontext stärker independent oder interdependent konstruieren (Onorato & Turner 2001, 166). Nach dieser Perspektive kann also die unabhängige oder bezogene Ausrichtung des Selbst nicht als stabiles Personenmerkmal verstanden werden. 3.4.3.4 Das Interface als verknüpfendes Element Hannover & Kühnen (2002) verwenden die Metapher des „Interface“ um das Zusammenspiel zwischen semantischem und prozeduralem Mechanismus zu 130
modellieren. Beide Mechanismen seien verbunden, können die Informationsverarbeitung aber auch unabhängig voneinander beeinflussen. Durch die erhöhte Zugänglichkeit des jeweiligen Selbstwissens wird also der entsprechende Verarbeitungsmodus aktiviert und umgekehrt. „Semantischer und prozeduraler Mechanismus greifen ineinander, aber die Auswirkungen der Selbstkonstruktion auf das Denken, Fühlen und Handeln einer Person können nur durch einen der beiden Mechanismen nicht vollständig beschrieben werden“ (Hannover & Kühnen 2002, 65). Durch die Anwendung des SPI-Modells von Hannover & Kühnen (2002) als strukturierende Folie auf die implizite Theorie der Realität lassen sich epistemische Überzeugungen und Alltagsphantasien in ihren Wirkungen im Rahmen einer impliziten Theorie der Realität klarer konturieren. Diese genauere Betrachtung macht es möglich zu erwägen, auf welche Weise die kulturell abhängigen Perspektiven auf den Menschen, das Wissen und die Welt die individuelle Erfahrung der Person unterschiedlich beeinflussen. Die Perspektive des SPI-Modells legt zudem nahe, dass beide Formen von Vorstellungen mit Mechanismen in Zusammenhang stehen, die einander beeinflussen. Im Anschluss an die Ausführungen unter Bezug auf das SPI-Modell wird diese unmittelbare Beziehung von epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien im Folgenden auf einer inhaltlichen, quasi semantischen, sowie einer prozeduralen Ebene der Informationsverarbeitung analysiert. Ob und in welcher Weise epistemische Überzeugungen inhaltlich mit den rekonstruierten Alltagsphantasien korrespondieren, ist Gegenstand des nächsten Teils dieses Kapitels. 3.5 Inhaltliche Zusammenhänge von epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien Im vorangegangenen Abschnitt wurden epistemische Überzeugungen und Alltagsphantasien als vornehmlich prozedural wirksame und semantisch wirksame Wissenselemente der impliziten Theorie der Realität eines Individuums eingeordnet. Basierend auf der Annahme, dass beide Formen von Vorstellungen kulturell bedingt sind und damit einem sozial geteilten impliziten Konsens entstammen, wird angenommen, dass spezifische Alltagsphantasien auch inhaltlich mit epistemischen Positionen verknüpft sein können bzw. diese implizieren. In Übereinstimmung mit den Annahmen von Hannover & Kühnen (2002) könnten inhaltlich zusammenhängende Vorstellungen sich gegenseitig aktivieren. Im folgenden Abschnitt werden deshalb zum einen als Alltagsphantasien rekonstru131
ierte Vorstellungen exemplarisch auf mit ihnen transportierte epistemische Überzeugungen hin untersucht. Außerdem wird ausgeführt, in welcher Weise epistemologische Einsicht aus dem Umgang mit Alltagsphantasien erwachsen könnte. Die hier ausgeführten Zusammenhänge sind dabei als potentielle Erweiterungen der theoretischen Perspektive auf epistemische Überzeugungen und Alltagsphantasien zu verstehen. Ihre empirische Überprüfung steht jedoch noch aus und wird im Rahmen dieser Arbeit nicht umgesetzt. Es bleibt also in genauen qualitativen Studien zu untersuchen, ob die hier einander zugeordneten epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien tatsächlich assoziativ miteinander zusammenhängen und gepaart miteinander auftreten. 3.5.1 Alltagsphantasien – Transportvehikel epistemischer Überzeugungen Im 2. Kapitel zum Konzept der Alltagsphantasien wurden dreizehn rekonstruierte subjektive Vorstellungen vorgestellt, die als Alltagsphantasien gelten. Vorstellungen wie die „Natur als sinnstiftende Idee“ oder „Der Mensch als Schöpfer“ berühren mit ihren Thematiken Konzepte von allmächtigen und richtungsweisenden Autoritäten, deren Wissen und Normen nicht angezweifelt werden dürfen. Die Credo „Natürliches ist gut“ oder „Der Mensch darf nicht Gott spielen“ beinhalten epistemische Vorstellungen zu den Quellen von Wissen und der Begründung von Wissen. Die Setzung der Natur als normative Instanz könnte Konzepte zur Wissensvermittlung durch Autoritäten aktivieren oder die Annahme implizieren, dass letztendlich ein „wahres Wissen“ existiert, wie etwa eine unanfechtbare Weisheit, die in der Natur begründet liegt. Auch Alltagsphantasien zum Komplex „Der Mensch als homo faber“ transportieren Machbarkeitsvorstellungen, die epistemische Überzeugungen zur Konstruktion von Wissen durch den Menschen beinhalten. Die Vorstellung „Sprache der Gene“ impliziert das Bild einer „aufdeckenden“ Wissenschaft. Eine Wissenschaft, die dazu dient in den „Genen zu lesen, wie in einem Buch“, ist damit beschäftigt, die Wahrheiten, die die Natur verbirgt, ans Tageslicht zu bringen. Aus dieser Perspektive gibt es feststehendes Wissen und geltende Wahrheiten, die nur aufgedeckt und gefunden werden müssen. Wissensbildung wird also vor allem als Entschlüsselung oder Entdeckung im Sinne des „Auffinden von Bestehendem“ verstanden. Die utopische Metapher von der Möglichkeit das Genom wie ein Buch lesen zu können, ist also eng mit epistemischen Überzeugungen zur Sicherheit und Einfachheit von Wissen und andererseits mit der Annahme universaler menschlicher Erkenntnisfähigkeit verknüpft. 132
Wie aus diesen kurzen Überlegungen ersichtlich wird, scheinen in den beschriebenen Alltagsphantasien zahlreiche epistemische Überzeugungen impliziert zu sein. Im Folgenden werden deshalb drei der im Kapitel 2.3.1 aufgeführten Alltagsphantasien genauer auf die epistemischen Überzeugungen und Vorstellungen hin untersucht, die mit den implizierten Welt- und Menschenbildern transportiert werden könnten. Tabelle 3.1:
Zusammenhänge von Alltagsphantasien und epistemischen Überzeugungen
Alltagsphantasien
Enthaltene Ideen
Natur als sinnstiftende Idee (Natur als Norm)
- Natur als allmächtige, richtungweisende Autorität - Die Wahrheit liegt in der Natur begründet
Mensch als Schöpfer
- Gott als allmächtige, richtungweisende Autorität
Mensch als homo faber
- Mensch kann alles erreichen
Sprache der Gene
Individualismus
- Natur (Gene) sind lesbar wie ein Buch - Es existieren in der Natur begründete Wahrheiten - Menschen sind einzigartig - Diese Einzigartigkeit ist wertvoll - Genom garantiert feststehende Identität -
Epistemische Überzeugungen - Es gibt allwissende Autoritäten - Sie kennen die wahren Antworten - Es gibt endgültige Wahrheiten - Der Mensch muss sie nur aufdecken - Es gibt allwissende Autoritäten, - Sie kennen die wahren Antworten - Mensch ist zur Erkenntnis befähigt - Der Mensch konstruiert sein Wissen
Übergeordnete epistem. Dimension Quelle des Wissens (d.W.) Sicherheit d. W. Quelle d. W. Einfachheit d. W. Begründung d. W. Quelle d. W.
Quelle d. W.
- Es gibt wahres Wissens - Der Mensch muss dieses Wissen nur aufdecken
Sicherheit d. W. Quelle d.W. Einfachheit d.W.
- Individuelles Denken ist notwendig - Autoritäten sind zu hinterfragen - Verantwortung für das eigene Denken
Quelle d.W. Begründung d.W.
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Ambivalenz von Erkenntnis & Wissen
- Befreiung des Menschen durch Erkenntnis - Bedrohung des Menschen durch seine Neugierde - Mensch durchschaut komplexe Zusammenhänge nicht
- Mensch als aktiver Entdecker und Forscher - Mensch = fehlbares Wesen - Wissen ist vom Menschen konstruiert - Menschliche Erkenntnisfähigkeit ist begrenzt - Verantwortung für Erkenntnisse
Quelle d.W. Begründung d.W. Sicherheit d.W. Einfachheit d.W.
d.W. = des Wissens
3.5.1.1 Individualismus – Die Gentechnik bedeutet das Ende des Individualismus. Was ist der einzelne Mensch dann noch wert? Diese Vorstellungen von der Bedrohung des Individuums durch die Gentechnik ist eine der bedeutsamsten Intuitionen oder unmittelbaren Vorstellungen von deutschen Jugendlichen zur Gentechnik „Äußerungen zum Mythos vom Ende der Individualität werden mit Abstand am häufigsten genannt, wenn die Jugendlichen spontane Assoziationen selbst generieren sollen“ (Gebhard & Mielke 2003, 212). Im Zusammenhang mit den Erläuterungen zum kulturell abhängigen Charakter von Alltagsphantasien ist dieser Befund kaum verwunderlich. Die besondere Bedeutung der Individualität ist Dreh- und Angelpunkt des modernen westlichen Menschenbildes.33 Markus & Kitayama (1991, 226) zufolge besteht in westlichen Kulturen der Glaube an die inhärente Getrenntheit verschiedener Personen. Der normative Imperativ der westlichen Kultur besteht darin, unabhängig von anderen zu werden und die eigenen einzigartigen Attribute zu entdecken und zu fördern. In Übereinstimmung hiermit haben die Assoziationen zum Individualismus im Zusammenhang mit Gentechnik meist eine negative Konnotation, die häufig an Vorstellungen vom Klonen von Menschen gebunden ist. Eine Welt voller Doppelgänger in jüngeren oder älteren Versionen bedeutet die Abschaffung des einzigartigen Individuums und damit die Bedrohung des zentralen normativen Imperativs westlicher Kultur.
33 Es ist anzunehmen, dass diese Alltagsphantasie kulturspezifisch variiert. Damit ist fraglich, in welcher Intensität oder in welcher Ausführung ähnliche Vorstellungen und Befürchtungen im Zusammenhang mit dem Klonen in kollektivistischen Kulturen auftreten.
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Nach Gebhard & Mielke (2003) wird die Identitätserhaltung in modernen westlichen Gesellschaften ohnehin zunehmend zum Problem, denn „moderne Menschen erleben immer mehr biographische Brüche, die sich durch räumliche, soziale und kulturelle Mobilität und durch beschleunigten Wandel ergeben“ (Gebhard & Mielke 2003, 215). Vor diesem Hintergrund biete die Vorstellung des eigenen Genoms als einzigartig und somit als genetisch feststehende Identität eine Pause von dem andauernden Zwang sich zu individualisieren. Für Gebhard & Mielke erklärt sich die Bedeutung des Schutzes der Individualität daher, dass Menschen diese „Identitätsgarantie“ in Gefahr sehen (Gebhard & Mielke 2003, 215). Wie bereits in Teilen dieses Kapitels ausgeführt, steht das in dieser Alltagsphantasie zum Ausdruck kommende individualistische Menschenbild auch mit entsprechend verwurzelten epistemischen Überzeugungen in Zusammenhang. Der Drang nach Unabhängigkeit und Selbstbestimmtheit korrespondiert auch mit dem Ziel der Unabhängigkeit des Denkens. Die Konzentration auf das Individuum spiegelt sich in Lernkontexten in der Bedeutung der individuellen Leistung (Pai & Adler 2001, 224) und der Entwicklung einer unabhängigen „eigenen“ Meinung. Der Endpunkt epistemischer Reife wird in westlichen Kulturen derzeit im formal abstrakten Denken verortet, wobei die existierenden Modelle zu epistemischen Überzeugungen von einer Höherentwicklung hin zu einem verstärkten Individualismus des Denkens und einer Befreiung von dem Diktat von Autoritäten ausgehen. Die Betonung der Bedeutung der Individualität impliziert damit auch die Ablösung von Autoritäten und die Anerkennung der Bedeutung des eigenen Nachdenkens. In seiner Individualität anerkannt zu werden bedeutet demnach auch Verantwortung für das eigene Denken und Handeln zu übernehmen und seine Position vor sich und anderen rechtfertigen zu können. Um das kulturelle Ziel der Unabhängigkeit zu erreichen, ist es nach Markus & Kitayama (1991, 226) notwendig die eigene Person als ein Individuum zu begreifen, dessen Verhalten primär durch die eigenen Gedanken, Gefühle und Handlungen organisiert ist und durch diese bedeutungsvoll wird. Ideengeschichtlich korrespondieren Alltagsphantasien zum Verlust der Individualität und dem zugrundeliegenden westlichen Menschenbild also mit epistemischen Überzeugungen zur Bedeutung der eigenen Person bei der Erkenntnisgenese und der Loslösung von Autoritäten (Quellen von Wissen) sowie der Übernahme von Verantwortung für die eigenen Perspektiven und Urteile und deren Rechtfertigung (Begründung des Wissens). Nach Gebhard & Mielke (2003) stehen die Furcht und Phantasien vom Ende der Individualität mit dem Selbstwertgefühl der Jugendlichen in Zusammenhang. Diese Furcht ist bei geringem Selbstwertgefühl durchaus weniger präsent 135
als bei Jugendlichen mit ausgeprägtem Selbstwertgefühl. Letztere scheinen zudem auch ein geringeres Verlangen danach zu haben, die Zukunft zu kontrollieren, wie eine Studie von Gebhard & Mielke (2003, 216) zeigt. Je ausgeprägter das Selbstwertgefühl ist, desto wertvoller wird die eigene Individualität der einzelnen Person offenbar. Dies korrespondiert mit Befunden nach denen Personen mit independent konstruiertem Selbst eine stärkere Tendenz zur Selbstwerterhöhung haben als Personen mit interdependentem Selbst (Kitayama et al. 1997). 3.5.1.2 Die Ambivalenz von Erkenntnis und Wissen – Menschen sind neugierig. Gebhard führt die Vorstellung von der Ambivalenz von Erkenntnis und Wissen auf die Paradiesgeschichte als das älteste Kulturgut des christlichen Abendlandes zurück, da sich hier das Menschenbild vom neugierigen Menschen aktualisiert, der zugleich zum Frevler werden kann (2004, 36). Dieser Phantasie liegt das Bild von der Befreiung des Menschen durch die Erkenntnis zugrunde, da er befähigt ist, die Natur für sich zu nutzen. Andererseits schwingt in dieser Vorstellung die Ahnung mit, dass dieses Wissen und seine falsche Handhabung auch bedrohliche Folgen haben können. Angst vor Kontrollverlust des mangelbehafteten Menschen über seine Erfindungen und die von ihm konstruierte Technik ist ein zentrales Thema im Zusammenhang mit der Vorstellung der Ambivalenz von Erkenntnis und Wissen (Gebhard 2004, 36; 2004b, 94). Die Alltagsphantasie steht in enger Verbindung mit epistemischen Vorstellungen zum Menschen als Entdecker und Forscher: Die in der Nature of Science-Forschung identifizierten Wissenschaftlertypen (Solomon 1993, 24; Höttecke 2001, 9) korrespondieren mit diesem Wechselbild der befreienden oder bedrohlichen Erkenntnis und spiegeln Facetten des mit dieser Alltagsphantasie transportierten Menschenbildes. Der positive Pol der Erkenntnis korrespondiert dabei mit den Bildern vom Wissenschaftler als hilfsbereite Autorität oder hochgeistigem Intellektuellen, der der Menschheit durch seine Weisheit zu Diensten ist und den Fortschritt beflügelt. Der negative Pol der gefährlichen Erkenntnis und des Kontrollverlustes spiegelt sich in den Vorstellungen vom gefährlichen Wissenschaftler oder verrückten Genie, das umnachtet von Allmachtsphantasien Grenzen überschreitet. Die Vorstellung des „gefährlichen“ Wissenschaftlers betont die menschliche Seite wissenschaftlichen Handelns. Wissenschaftler sind aus dieser Perspektive keine objektiven und neutralen Datenerfasser, sondern menschliche Persönlichkeiten, die in diesem Fall durch Charakterschwächen wie Geltungssucht 136
oder Habgier zu Gefahren werden. Wie bereits im Eingangsteil dieses Kapitels erwähnt, zeigen die von Solomon (1993, 24; vgl. auch Höttecke 2001, 9) beschriebenen beinahe mystischen Wissenschaftlerbilder eine deutliche Verknüpfung von epistemischen Überzeugungen und intuitiven Welt- und Menschenbildern. Die Vorstellung vom unbesonnenen oder irrsinnigen Wissenschaftler, der aus Machtgier, Habgier oder Neugier die Natur entfesselt, indem er etwa Kreaturen erschafft, die es zuvor nicht gegeben hat und die außer Kontrolle geraten, verweist auf den Sündenfall des Menschen und damit auf christliches Kulturgut. Sie geht aber auch auf uralte Mythen zu Verzauberungen und Verwandlungen zurück. In der griechischen Mythologie waren es die Götter, die Menschen aufgrund von Ungehorsam oder Lust in Tiere, Pflanzen, Steine oder Ähnliches verwandelten. Ovid beschreibt in seinen Metamorphosen zahlreiche Verwandlungen durch die Macht von Göttern, Halbgöttern oder Zaubertränken. Der moderne Mythos vom entfesselten Genie oder psychopathischen Wissenschaftler steht in der Tradition dieser Mythen. Als moderne „Halbgötter“ im weißen Kittel sind Wissenschaftler durch die Beschränktheit ihrer menschlichen Herkunft nicht in der Lage ihre Erfindungen zu kontrollieren, reichen durch ihr Wissen in ihrer Wirkungsmacht jedoch an Gottheiten heran. Häufig äußern Lernende etwa in Bezug auf gentechnische Praktiken, wie dem Klonen, die Forderung nach staatlicher Kontrolle der Wissenschaft (Gebhard 2004, 36). Diese Aussagen offenbaren ein Bewusstsein für das Zusammenwirken von Wissenschaft und Gesellschaft und eröffnen damit eine Perspektive auf Wissenschaft, die den Wissenschaftsbetrieb als sozial determiniert und eingebettet in soziale Interessen und Kontrollen offenbaren. Wissenschaft wird aus einem solchen Blickwinkel also nicht als der allumfassende Versuch der Offenlegung der Wahrheiten und Erklärungen verstanden, die die Welt beinhaltet, sondern als ein gerichtetes Interesse an bestimmten nutzbaren Anteilen der Welt begriffen. Diese Gerichtetheit von Erkenntnisprozessen und Entstehungsprozessen von Wissen beinhaltet epistemische Vorstellungen zur Konstruktion von Wissen durch die Auswahl von Informationen. Gerichtetheit bedeutet immer auch das Ausblenden von Zusammenhängen, die als unbedeutend eingestuft werden und macht damit den beschränkten Zugang des Menschen auf den untersuchten Gegenstand deutlich. Somit korrespondiert die Alltagsphantasie von der Ambivalenz von Erkenntnis und Wissen mit epistemischen Überzeugungen zur Reichweite menschlicher Erkenntnis und zur Natur des Wissens als konstruiertem Komplex. Die Perspektive, dass Erkenntnisse „in falsche Hände geraten“ oder fehlinterpretiert werden könnten, verdeutlicht also einerseits die Konstruiertheit von 137
menschlichem Wissen. Gleichzeitig stehen Befürchtungen zu der Unkontrollierbarkeit der Wissenschaft andererseits auch in Zusammenhang mit dem Aspekt der Verantwortung. Spezifische wissenschaftliche Positionen, wie etwa die Befürwortung oder Ablehnung von Gentechnik, gehen mit Verantwortung für die Konsequenzen der Durchführung oder Unterlassung gentechnischer Operationen einher. Die Bedeutung der Übernahme von Verantwortung für die Konsequenzen, die aus bestimmten Befunden oder Theorien erwachsen, wird durch Phantasien zur Ambivalenz von Erkenntnis und Wissen also akzentuiert. Die Bedeutung von Verantwortung im Umgang mit Wissen ist ein Merkmal postrelativistischer epistemischer Perspektiven, mit denen anerkannt wird, dass es multiple Ausprägungen und Ausdeutungsmöglichkeiten von Wissen gibt und Menschen zu bestimmten Zeiten zu einer Form von Ideen tendieren oder starke Verbindlichkeiten zur Übernahme bestimmter Ideen führen (vgl. Perry 1985). 3.5.1.3 Natur als sinnstiftende Idee – Was natürlich ist, ist gut. Auch wenn es grausam ist. Die Alltagsphantasie von der Natur als sinnstiftender Idee oder Natur als Norm beinhaltet die Vorstellung von der Natur als einem ausgewogenen, stabilen und harmonischen Gesamtsystem. Dabei handelt es sich um einen klassischen „naturalistischen Fehlschluss“, da aus dem „Sein“ ein „Sollen“ abgeleitet wird. Das in der Natur Vorfindbare wird in dieser Vorstellung zum Ideal erhoben. Die normative Setzung der Natur als „gut“ beinhaltet die Annahme, dass die Natur den wahren und richtigen Weg vorzeichnet, den der Mensch nur aufzudecken und zu verfolgen hat. Diese Vorstellung impliziert epistemische Vorstellungen zum Charakter von Wissen sowie zur menschlichen Erkenntnisgenese: Innerhalb der Natur wird ein Plan oder eine zugrundeliegenden Struktur angenommen, die aufgedeckt werden kann. Diese Vorstellung basiert auf einem naiven Realismus, demzufolge die Dinge so sind, wie sie dem Menschen erscheinen. Es wird angenommen, dass die Natur in ihrem tatsächlichen Charakter dem entspricht, wie sie durch den Menschen wahrgenommen wird. Darauf aufbauend wird Natur im Sinne einer normativen Vorgabe als sicher und verlässlich überhöht. Diese Perspektive ignoriert die Begrenztheit menschlicher Erkenntnis und die Konstruktion des Wissens über die Natur durch den Menschen. Das bestehende Wissen über die Natur wird als wahr und sicher aufgefasst. Überspitzt betrachtet entsprechen natürliche Phänomene und Prozesse also sicheren Wahrheiten, die dem Menschen durch die Autorität der Natur (nämlich in diesem Fall durch „Mutter Natur“ höchstpersönlich) offenbart werden. Die Natur wird zum 138
Inbegriff einer normativen Instanz (Gebhard 2007, 108), die bestimmt und vorgibt, was wahr und richtig ist. Diese Perspektive spiegelt sich in vielen Aussagen von Jugendlichen, die fordern „die Natur soll so bleiben, wie sie ist“ und „man darf der Natur nicht ins Handwerk pfuschen“ (Gebhard 2004, 31). Im Rahmen dieses physiozentrischen Weltbildes erscheint der Mensch als Gegenüber der Natur, dessen Einwirkungen auf die Natur als Eingriffe beurteilt werden. Dieser Perspektive folgend ist die Natur hierarchisch über dem Menschen angesiedelt. Das bedeutet im Hinblick auf das Menschenbild, dass der Mensch sich in Naturzusammenhänge einordnen muss und dementsprechend ihre „Autorität“ zu respektieren hat (Gebhard 2007, 109). Die Alltagsphantasie zur Natur als Norm korrespondiert also mit epistemischen Überzeugungen zur Einfachheit und Sicherheit von Wissen (Natur des Wissens) sowie zu den Quellen und der Begründung des Wissens (Natur des Wissens als Prozess), indem die Möglichkeit der Orientierung an einer festen normativen Instanz angenommen wird. Diese entlastet den Menschen von der selbstverantwortlichen sorgfältigen Begründung und Prüfung der Ausrichtung seiner Erkenntnisabsichten und seines Wissens. Die hier angeführte Vorstellung von der „guten Natur“ und dem unberechtigten Eingriff des Menschen in die Natur gehört zu den durchschnittlich verfügbaren Assoziationen von Jugendlichen zur Gentechnik. Untersuchungen zur Verfügbarkeit ergaben, dass Assoziationen zur Krankheitsbekämpfung für Jugendliche zu den am stärksten verfügbaren Vorstellungen im Zusammenhang mit Gentechnik gehören (Gebhard & Mielke 2003, 213). Insgesamt sind jedoch Assoziationen zum unsachgemäßen Eingriff des Menschen in natürliche Vorgänge durch Gentechnik deutlich verfügbarer als Gedanken daran, dass solche Eingriffe mit einem Fortschritt in der Technik und für die Menschheit verbunden sein könnten (Gebhard 2003c, 155) Komplementär zu dem Assoziationskomplex zur Natur als Norm ist die Alltagsphantasie Der Mensch als homo faber. Mit dieser Vorstellung wird davon ausgegangen, dass der Mensch in die Natur technisch eingreifen kann und verändernd auf sie einwirkt. Dies markiert ein anthropozentrisches Weltbild, dem zufolge der Mensch nicht der Natur untergeordnet wird, sondern in seinem Handeln gegenüber der Natur als superior gilt. Hieran geknüpft ist die epistemische Perspektive auf den Menschen als aktivem und eigenständigem Konstrukteur und Veränderer, der Einfluss auf seine Umwelt nimmt und aktiv an seiner eigenen Erkenntnisbildung beteiligt ist. Eng mit diesem Bild vom Menschen verknüpft ist zudem die Perspektive, die den Menschen vor dem Hintergrund der Evolutionstheorie als Teil der Natur interpretiert, dessen superiore Stellung in der Welt als berechtigt und in darwi139
nistischer Weise als das Recht des Stärkeren betrachtet wird. In dieser Perspektive wird der Mensch zum bestimmenden Element, der sich die Welt nach seinen Bedürfnissen verändert. Auch von einem solchen Blickpunkt ist das Verständnis von menschlicher Wissensgenese als konstruierende Tätigkeit nicht weit entfernt. Der Mensch als homo faber ist eben kein Wesen, das biologischen, „natürlichen“ Mustern folgt, sondern das neue Formen und Muster erdenkt und herstellt (Gebhard 2004, 39). Er ist dabei jedoch selber aus der Natur hervorgegangen und seine Fähigkeit ist somit „natürlich“. Gleichzeitig schwingt in dieser Vorstellung auch die Annahme einer umfassenden Erkenntnisfähigkeit des Menschen mit. Untersuchungen zu der Verfügbarkeit der impliziten Vorstellungen in Kombination mit bestimmten Einstellungen ergaben, dass für Jugendliche, bei denen Neugierde sowie Kontrolle und Vorhersagbarkeit zum Selbstbild gehören, der Gedanke an Krankheitsbekämpfung bei Gentechnik vorrangig ist. Die Akzeptanz von Gentechnik ist offenbar an ein eher anthropozentrisch ausgerichtetes Menschen- und Weltbild, entsprechend der Vorstellung vom Menschen als homo faber, gebunden (Gebhard 2003c, 156). Wird der Mensch als Naturbeherrscher verstanden, der zum Zwecke der Verbesserung seiner Lebensbedingungen technische Entwicklungen vorantreibt, dann wird Gentechnik eher in ihren Möglichkeiten als in ihren Gefahren assoziiert. An diesem Beispiel wird deutlich, dass die Art und Ausrichtung der epistemischen Annahmen in einer solchen Phantasie nicht klar auszumachen sind: Vorstellungen vom geistreichen, zum Fortschritt befähigten Menschen lassen Vorstellungen zum eigen gesteuerten und selbstbestimmten Wissenserwerb erstarken, die eine dynamische und individuumsabhängige Erkenntnisbildung nahelegen. Sie könnten jedoch auch gleichzeitig als Idee von der gottgegebenen Gabe zur Veränderung und zum Eingriff in die Natur die Vorstellung aktivieren, dass die Erkenntnis- und Lernfähigkeit eines Menschen angeboren und damit determiniert sei. 3.5.2 Anhand von Alltagsphantasien epistemische Prozesse aufzeigen Die in den Alltagsphantasien enthaltenen Welt- und Menschenbilder sind an Vorstellungen zu Wissen und seiner Genese und der Bedeutung und Rolle des Menschen in diesen Prozessen geknüpft. Die impliziten kulturellen Perspektiven auf den Menschen und die Welt als Grundlagen der Alltagsphantasien transportieren also durchaus bestimmte epistemische Perspektiven und Überzeugungen. Welcher Art die mit ihnen verknüpften oder angetriggerten epistemischen Vor140
stellungen sind, ist jedoch abhängig von der individuellen Ausprägung der Alltagsphantasien durch das einzelne Individuum. Dementsprechend ist es durchaus vorstellbar, dass unterschiedliche Alltagsphantasien oder Variationen und Kombinationen von intuitiven Welt- und Menschenbildern gegenläufige epistemische Überzeugungen aktivieren. Ob spezifische Alltagsphantasien dennoch häufig gepaart mit einer bestimmten epistemischen Perspektive auftreten, bleibt in genauen qualitativen Studien zu untersuchen. An dieser Stelle wird noch einmal deutlich, welche bedeutende Rolle dem Kontext in der Funktionsweise der persönlichen Epistemologie zukommt: Welche epistemischen Vorstellungen und Überzeugungen aktiviert werden, ist also sowohl abhängig vom Befinden des Individuums und der jeweiligen Situation, wird jedoch auch dadurch mitbestimmt, welche weiteren Assoziationen, wie eben persönliche Welt- und Menschenbilder, durch den Lerngegenstand aktiviert werden. Im Hinblick auf die epistemischen Überzeugungen sind Alltagsphantasien auch in einem weiteren Sinne bemerkenswerte Konstruktionen: Sie spiegeln nicht nur die verinnerlichten kulturellen Einflüsse, die auf das Individuums einwirken und in Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlichen Inhalten aktiviert werden, sondern zeigen gleichzeitig auch den den Zeitgeist prägenden Einfluss der Naturwissenschaften auf. Alltagsphantasien offenbaren nämlich überdies, in welcher Weise Aussagen der Naturwissenschaft das Selbstverständnis und das Weltbild des Menschen formen und beeinflussen. Durch die Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlichen Themen und Erkenntnissen erwirbt das Individuum eine veränderte Perspektive auf sich selbst und die Welt, die bestimmte Themen neu akzentuiert. So bietet das Thema Gentechnologie vielleicht zum einen die Konzeption des Genoms als „naturgegebenem Identitätsausweis“ (vgl. Gebhard 1999, 111), zum anderen scheint durch Methoden des Klonens und des Gentransfers die Einzigartigkeit des Einzelnen in nie vorher da gewesener Weise angetastet. Die Konfrontation mit solchen Konzepten stimuliert eine verstärkte Akzentuierung und veränderte Auseinandersetzung mit Themen wie Identitätsbildung und Individualität, die für moderne westliche Gesellschaften konstitutiv sind. Durch die Reflexion der subjektiven Resonanzen auf diese Themen im Unterricht werden sich Lernende ihrer intuitiven Reaktionen bewusst und können deren Quellen aufspüren. Am Beispiel intuitiver Reaktionen, wie einer ablehnende Haltung gegenüber gentechnischen Eingriffen in das menschliche Erbgut, Schöpfungsphantasien oder Furcht vor dem Ende des Individualismus, kann im reflexiven Unterrichtsgespräch deutlich gemacht werden, wie Naturwissenschaf141
ten das Denken und die Diskurse des Individuums beeinflussen und in diese eingehen.34 Anhand der reflexiven Auseinandersetzung mit den eigenen Alltagsphantasien kann also rekonstruiert werden, dass Wissenschaft in gleichem Maße auf den Zeitgeist und damit auf kulturelle Auseinander-setzungsprozesse zurückwirkt, wie sie selbst durch kulturelle Einflüsse geprägt ist. Dies ist eine zentrale Erkenntnis in naturwissen-schaftlichen Bildungs-prozessen, die es im Rahmen von Programmen wie Scientific Literacy oder Nature of Science an Lernende zu vermitteln gilt. Diese Erkenntnisse betreffen direkt die persönliche Epistemologie eines Individuums, wenn erkannt wird, dass naturwissenschaftliche Entwicklungen nicht nur über Technologien und anwendbare Erkenntnisse auf die Gesellschaft einwirken, sondern auch Diskurse zum Selbstverständnis und Lebenswandel massiv beeinflussen. Gebhard führt in diesem Zusammenhang an, dass die Reflexion in der naturwissenschaftlichen Bildung eine besondere Bedeutung hat, da „für den Aufbau und die Entwicklung eines reflektierten naturwissenschaftlichen Weltbildes der Gedanke grundlegend ist, dass es bei Naturwissenschaften auch um ein Verstehen von Weltausschnitten geht“ (Gebhard 2005, 50). Natur-wissenschaftliche Sichtweisen seien als Interpretationsfolien für Wirklichkeit zu nutzen. Dazu bedarf es nach Gebhard einer erkenntnis- und wissenschaftsphilosophischen „Nachdenklichkeit“ (2005, 51). Diese Nachdenklichkeit ist meiner Ansicht nach eng verknüpft mit einer weltgewandten, aufgeschlossenen und ausgereiften persönlichen Epistemologie, da sie die Bereitschaft und Fähigkeit zur gedanklichen Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Entwicklungen und Erkenntnissen umfasst. Dazu gehört sowohl ein kritisches Wahrnehmen und Hinterfragen wissenschaftlicher Gegebenheiten, als auch die grundlegende Ausbildung einer Bereitschaft oder Motivation zur Auseinandersetzung und zum Nachdenken, die Manifestation eines epistemischen Motivs, das sich eben auch als Nachdenklichkeit bezeichnen lassen könnte. Nachdenklichkeit würde damit zu einer Schlüsselkompetenz für Scientific Literacy. Das deutsche PISA-Konsortium (2001, 299) fasst Scientific Literacy als bedeutsam in ihrer Funktion für eine verständige und verantwortungsvolle 34
Diese Beeinflussung erfolgt natürlich nicht unbedingt explizit. Das bedeutet, sie löst vermutlich nicht unmittelbar bewusste Prozesse des Nachdenkens über diese Themen aus. Vielmehr ist anzunehmen, dass diese Themen langsam in Denkprozesse einsinken, indem bestimmte Konzepte immer wieder angesprochen und so unbewusst verstärkt werden.
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Teilnahme am gesellschaftlichen Leben, wofür eine Einsicht in das „Wesen“, die Geschichte und die Rolle der Naturwissenschaften in Kultur und Gesellschaft unerlässlich ist. Nach Gebhard (2005, 51) hat das „Philosophieren, Sinnieren und Diskutieren“ daher essentielle Funktion im natur-wissenschaftlichen Unterricht. Die Auseinandersetzung mit den eigenen und fremden Alltagsphantasien könnte ein Zugang zum Individuum sein, durch den Nachdenklichkeit gefordert und stimuliert werden könnte, ähnlich der „Nachdenklichkeit“, die Fischer in seinen Experimenten durch das Nachvollziehen der Argumentationsfiguren und Gedanken anderer Personen auslösen konnte (Fischer et al. 1993, 107). Die Studenten wurden dadurch dazu stimuliert, sich auf eine epistemisch komplexere Weise mit dem Problem auseinanderzusetzen – sie wurden sozusagen zur Nachdenklichkeit angeregt (vgl. Kapitel 1.5.2). Das Reflektieren der eigenen Intuitionen sowie fremder spontaner Assoziationen zu naturwissenschaftlichen Themen, der Austausch darüber und das Aufdecken der impliziten kulturellen Unterfütterungen bedeutet zum einen eine Auseinandersetzung mit sich selbst. Zum anderen bedeutet es aber auch eine Auseinandersetzung mit Naturwissenschaft und damit, wie diese auf die eigenen Perspektiven wirkt. Damit rückt Naturwissenschaft greifbar nah an die eigene Person und das Verständnis der eigenen Denkprozesse heran. 3.6 Lernen als Verarbeitungsprozess Eine Verortung epistemischer Überzeugungen und Alltagsphantasien im Verarbeitungsprozess Epistemische Überzeugungen und Alltagsphantasien wurzeln in den kulturell bestimmten weltstrukturierenden Erklärungsmustern der Lernenden und sind Teil der impliziten Theorie der Realität des Individuums. Hierdurch haben epistemische Überzeugungen und Alltagsphantasien über ihre inhaltliche Ausrichtung Einfluss auf die Perspektive des Lernenden auf den Lerngegenstand. Diese Wirkweise wird in Anlehnung an Hannover & Kühnen (2002) als semantischer Mechanismus gefasst. Für epistemische Überzeugungen ist eine steuernde Funktion im Denken nachweisbar, die sich auf Lernstrategien und Verarbeitungsweisen auswirkt (Hofer 2004, Schommer 1998). Aufgrund dieser Funktion geht die Weltkonstruktion, die sich in epistemischen Überzeugungen äußert, mit unterschiedlichen Modi der Informationsverarbeitung einher. Dies wird in Anlehnung an Hannover & Kühnen (2002) als prozeduraler Mechanismus bezeichnet. 143
Analog hierzu wird nun untersucht, welche Verbindungen zwischen epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien auf der Ebene der Informationsverarbeitung bestehen, die in Lernprozessen didaktisch wirksam unterstützt oder genutzt werden könnten. Dazu bedarf es an dieser Stelle zunächst der Klärung der Frage, wo sich epistemische Überzeugungen und Alltagsphantasien im Verarbeitungsprozess überhaupt verorten lassen. 3.6.1 Die Theorie der Laienepistemologie Eine Theorie, die Informationsverarbeitung im Hinblick auf epistemische Probleme behandelt, ist die Theorie der Laienepistemologie von Arie Kruglanski. Dieses Metamodell der sozialen Informationsverarbeitung beschäftigt sich mit den Prozessen, in denen Wissen gesucht, erworben und geprüft wird (Abele & Gendolla 2002, 312). Kruglanski geht in seiner Theorie davon aus, dass Menschen zur Lösung eines epistemischen Problems Hypothesen aufstellen und prüfen. Ein epistemisches Problem kann dabei das Infragestellen der Gültigkeit einer Überzeugung oder die Integration neuer Information in bestehende Wissensmuster darstellen. Kruglanski (1999) schlüsselt in seiner Theorie auf, wie die Dauer und Intensität, mit der Menschen sich mit einem Gegenstand auseinandersetzen (also Hypothesen zu diesem Gegenstand aufstellen und prüfen), durch eine Kaskade von Faktoren bestimmt wird. Im Folgenden werden diese in sich verschachtelten Prozesskomponenten in ihrem Zusammenwirken erklärt und dabei gezeigt, an welchen Angelpunkten Alltagsphantasien und epistemische Überzeugungen im Prozess eingeschaltet wirken. Außerdem werden gleichzeitig auch die Einwirkungsmöglichkeiten auf die Prozesse durch entsprechendes Umgehen mit den Alltagsphantasien und epistemische Überzeugungen aufgezeigt. Nach Kruglanski basiert die Dauer und Intensität der Auseinandersetzung mit einem Gegenstand auf der Fähigkeit und Motivation der Person zur Generierung von Annahmen oder Hypothesen zu dem neuen Gegenstand. Diese beiden Einflussgrößen bestimmen folglich, wie eingehend und lange eine Person sich mit einem Gegenstand beschäftigen kann und will.
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3.6.2 Die Fähigkeit zur Auseinandersetzung – Wirkpunkt der Alltagsphantasien im Verarbeitungsprozess Die Fähigkeit zur Hypothesengenerierung hängt von Gedächtnisprozessen ab. Sie wird zum einen durch die Kapazität – also den Wissensumfang einer Person – bestimmt, und zum anderen durch die momentane Zugänglichkeit von Hypothesen festgelegt. Zugänglichkeit bedeutet in diesem Zusammenhang die Menge an unterschiedlichen Hypothesen, die einer Person in einem bestimmten Moment einfallen. Diese Zugänglichkeit ist ihrerseits abhängig von zwei Faktoren (Abele & Gendolla 2002, 314): 1. Sie wird bestimmt von der Zeit, die seit der letzten Verwendung einer Idee vergangen ist. 2. und sie ist bedingt durch die Stärke der Assoziationen zwischen den einzelnen Ideen. Je mehr Wissen vorhanden und zugänglich ist, desto größer ist die Menge und Dauer der Verarbeitung. Zudem können unterschiedliche Informationen im Gedächtnis sich widersprechende Schlussfolgerungen zur Folge haben. Um diese Widersprüche zu lösen, wird noch mehr Verarbeitungsleistung notwendig (Kruglanski et al. 1999, 298). Lernen besteht in der Veränderung von Wissensstrukturen, etwa durch Einordnung neuer Information in bestehende Wissenskonzepte. Konzipiert man diese Einordnung neuer Informationen als epistemisches Problem und geht damit davon aus, dass die Fähigkeit, Hypothesen zu bestehenden Konzepten oder zu dem Zusammenspiel der Informationen aufzustellen und zu prüfen, eine zentrale Rolle für die Einordnung der neuen Informationen spielt, dann sollte an dieser Stelle auch dem Modus der Aktivierung von Assoziationen Aufmerksamkeit gewidmet werden. Die Bedingungen für die Zugänglichkeit von Hypothesen (in diesem Fall über die Plausibilität und Nützlichkeit einer neuen Information) wären dabei neben zeitlichen Faktoren und Assoziationsstärke um die Breite der Assoziationen im Sinne von Zwei-Prozess-Modellen zu ergänzen, die assoziative Mechanismen von reflexiven Mechanismen unterscheiden.35 35
Reflexive Verarbeitung verläuft über kontrollierte Aktivierung von Gedächtnisinhalten auf der Basis von logischen Verbindungen und geht mit bewusstem Erleben des Denkprozesses unter Aufwendung kognitiver Kapazität einher. Assoziative Mechanismen der automatischen Verarbeitung dagegen aktivieren sehr schnell, unbewusst und unter Aufwendung minimaler kognitiver Kapazitäten (im Vergleich zum reflektiven Modus) eine breite Front von Assoziationen. Dies erfolgt nicht auf der Basis von logischen Verknüpfungen, sondern basierend auf Kriterien wie Ähnlichkeit und zeitlicher Nähe im Auftreten der assoziierten Merkmale sowie Stärke der assoziativen Verknüpfung (Strack & Deutsch 2004, 223; Schneider & Shiffrin 1977, 2). Ergebnisse dieser Verarbeitungspro-
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3.6.2.1 Alltagsphantasien im Verarbeitungsprozess Über assoziative Mechanismen wird durch den Lerngegenstand eine breite Front von automatisierten Assoziationen aktiviert, die außerhalb der bewussten und willentlichen Kontrolle des Lernenden liegen. An dieser Stelle im Verarbeitungsprozess sind die Alltagsphantasien des Lernenden zu verorten. Als Assoziationen zum Lerngegenstand gehören sie in den Wissensfundus des Lernenden und sind damit Teil seiner Befähigung zur Hypothesengenerierung. Angenommen wird, dass die impliziten Welt- und Menschenbilder des Lernenden im impulsiven System über assoziative Mechanismen unkontrolliert aktiviert werden, den Denkprozess beeinflussen und dabei im Bewusstsein des Lernenden für diesen nicht explizit auszumachen sind. Dies entspricht dem von Hannover & Kühnen (2002) beschriebenen semantischen Mechanismus: Identifikation, Kategorisierung und Interpretation der Informationen zum Lerngegenstand werden an die semantischen Inhalte der eigenen hoch zugänglichen Perspektiven auf den Menschen und die Welt angepasst. Die Alltagsphantasien bezeichnen dabei die Anteile dieser semantischen Verortung, die im Lernprozess explizit werden. Nach Gebhard (1999) besteht ein besonderes Potential in dem Willkommenheißen und Einbinden von Alltagsphantasien in den Lernprozess. Die Alltagsphantasien anzuerkennen bedeutet die grundlegenden sinnstiftenden Dimensionen der impliziten Theorie der Realität einzubinden, die ein Lerngegenstand aktiviert. Hierdurch wird der Lernende in seiner subjektiven Beziehung zum Lerngegenstand gestärkt. Eine Möglichkeit dieses Einbindens besteht in der aktiven Reflexion der Alltagsphantasien. 3.6.2.2 Folgen der expliziten Reflexion von Alltagsphantasien für die Fähigkeit zur Auseinandersetzung Aus dem Denkmodell Kruglanskis lassen sich theoretisch mögliche Konsequenzen des aktiven Umgangs mit Alltagsphantasien ableiten: Durch die Reflexion von Alltagsphantasien könnten unbewusste Assoziationsketten bewusst zugänglich gemacht werden und damit die Fähigkeit zur Auseinandersetzung mit dem Konzept erhöhen. Über die Reflexion der Alltagsphantasien würden zusätzliche Ideen und Konzepte aus der impliziten Theorie der Realität ins bewusste Nachdenken geholt. Hierdurch entstehen mehr Anzesse tauchen plötzlich im Bewusstsein auf - ohne dass das Individuum sich über die Assoziationsketten im Klaren ist - und werden dann als Intuition erlebt.
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knüpfungspunkte für das neue Wissen, die der bewussten Kontrolle zugänglich sind und die Dauer und Intensität der Verarbeitung wird erhöht. Davon ausgehend, dass das Gedächtnis Informationen in einer Netzwerkstruktur speichert und verarbeitet, lässt sich dies folgendermaßen verstehen: Beim Nachdenken über Gentechnik würden beispielsweise nicht etwa nur Assoziationen zum Klonen, zum Aufbau der DNA oder zu Vorteilen für Medizin und Nahrungsmittelproduktion eine Rolle spielen, sondern auch Vorstellungen zur Rolle des Menschen als Schöpfer, zum Menschen als Maschine, zur Individualität oder Phantasien zum heiligen Gral ewiger Gesundheit. Alle diese Vorstellungen haben in der abendländischen Kulturgeschichte eine lange Tradition im Denken über den Menschen und die Welt. Werden diese Ideen aktiviert und bewusst eingebunden, würden mehr Knoten zum Anknüpfen der neuen Informationen an die implizite Theorie der Realität der Kontrolle des Lernenden zugeführt. Durch ihre inhaltliche Brisanz bergen Alltagsphantasien zudem das Potential, das Individuum in der reflexiven Auseinandersetzung mit ihnen in kognitive Konflikte zu stürzen, deren Auflösung erneut eine konzentrierte Verarbeitung erfordert. Diese zusätzliche Verarbeitungsleistung ist grundsätzlich positiv zu bewerten, da sie eine eingehende Auseinandersetzung mit dem Lerninhalt erwirkt und diesen hierdurch verstärkt kognitiv einbindet. Die positive Folge der Reflexion (wie in Interventionsstudien schon mehrfach demonstriert wurde, vgl. Born 2007) könnte die Förderung nachhaltigeren Lernens sein und zwar in der Weise, dass Inhalte besser angeschlossen und verankert werden und damit langfristiger zugänglich sind. Ist die Verarbeitungskapazität knapp, könnte diese zusätzliche Verarbeitungsleistung jedoch mit anderen Verarbeitungsprozessen konkurrieren, so dass insgesamt weniger Kapazität zur Verarbeitung der neuen Lerninhalte bleibt. Dies könnte sich negativ auf den unmittelbaren Lerneffekt auswirken (Hennings & Mielke 2005, 251). Eine wichtige Größe in diesem Zusammenhang scheint also die verfügbare Zeit zur Verarbeitung und die kognitive Belastung zu sein. Kruglanski hat auch diesen Faktor in seinem Modell berücksichtigt und Zeit innerhalb der motivationalen Komponente verortet. 3.6.3 Die Motivation zur Auseinandersetzung – Wirkpunkt der epistemischen Überzeugungen im Verarbeitungsprozess Die Motivation ist nach Kruglanski die zweite Einflussgröße bei der Generierung von Hypothesen. Sie wird durch zwei Bedürfnisse determiniert. Kruglanski 147
unterscheidet hierbei die generelle (unspezifische) Motivation zum genauen Abwägen und Nachdenken über ein Problem von der spezifischen Motivation zur Auseinandersetzung mit einem bestimmten Gegenstand, die also an den Gegenstand der Auseinandersetzung selbst gebunden ist. Diese generelle Motivation ist bestimmt durch Faktoren der Situation sowie dispositionelle und interindividuelle Faktoren. Hier sei nur kurz auf das bereits in Kapitel 1.1.2 eingeführte epistemische Motiv verwiesen: Die Bereitschaft zum Nachdenken ist eine zentrale volitionale Komponente persönlicher Epistemologie, die nicht an inhaltliche Überzeugungen oder kulturelle Aspekte gebunden ist, sondern ein Persönlichkeitsmerkmal des Individuums darstellt. Relevant ist für die Erläuterungen an dieser Stelle jedoch vornehmlich das Bedürfnis nach (Erreichung vs. Vermeidung) spezifischer kognitiver Festlegung, also die spezifische Motivation zur Auseinandersetzung mit einem bestimmten Gegenstand.36 Dieses Bedürfnis bezieht sich auf die Stärke des Verlangens eines Menschen eine spezifische Überzeugung zu einem bestimmten Thema aufrecht zu erhalten oder zu verändern (Kruglanski 1999). Dieses Bedürfnis wird nun durch die persönlichen Theorien des Lernenden und durch seine epistemischen Überzeugungen bestimmt. Je nach der Ausrichtung seiner epistemischen Überzeugungen oder je nachdem, wie stark ein Mensch eine persönliche Theorie oder Überzeugung bewahren will, variiert sein Umgang mit Informationen zu dieser Überzeugung und zwar bedingt dadurch, ob sie seine Ansicht unterstützen oder nicht. 3.6.3.1 Epistemische Überzeugungen in Verarbeitungsprozessen An dieser Stelle im Verarbeitungsprozess liegt die Gelenkstelle der epistemischen Überzeugungen und damit auch die des von Hannover & Kühnen (2002) beschriebenen prozeduralen Mechanismus: 36 Das zweite Bedürfnis (die generelle Motivation), das nur kurz erwähnt wurde, ist das Bedürfnis nach (Erreichung versus Vermeidung) unspezifischer kognitiver Festlegung. Es bezieht sich nach Abele & Gendolla (2002, 316) auf die Stärke des Wunsches, zu einem bestimmten Zeitpunkt eindeutiges Wissen bezüglich eines Sachverhaltes zu erhalten. Dieses Bedürfnis wird zum einen durch situative Faktoren beeinflusst, denn unangenehme Rahmenbedingungen durch Lärm, Müdigkeit, Zeitdruck oder langweilige Materie können das Bedürfnis nach einer schnellen Lösung, also nach Erreichung unspezifischer kognitiver Festlegung, verstärken. Umgekehrt können interessante Probleme oder angenehme Aufgaben sowie die Furcht vor einem falschen Urteil das Bedürfnis nach Vermeidung unspezifischer kognitiver Festlegung verstärken. Zum anderen spielen dispositionelle, situationsübergreifende, also interindividuelle Unterschiede eine Rolle, wie etwa eine ausgeprägte Präferenz für Ordnung, Vorhersagbarkeit, Bestimmtheit oder starkes Unbehagen bei Unklarheiten.
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Der Umgang mit Wissen wird abhängig vom Reifegrad der persönlichen Epistemologie eines Menschen moduliert. Mit Hammer & Elby (2002) ist dabei davon auszugehen, dass die persönliche Epistemologie eines Individuums verschiedene Ausprägungen von epistemischen Vorstellungen umfasst, die je nach Kontext aktiviert werden. Aus diesem Grund kann sich die Ausrichtung der persönlichen Epistemologie einer Person je nach Kontext unterscheiden. (1) Typische Verarbeitung bei unreifen epistemischen Überzeugungen Generell wird angenommen, dass Menschen mit eher unreifen epistemischen Überzeugungen, die starke „Theoriebewahrer“ sind, ungern von ihren Überzeugungen abweichen (Klaczynyski 2000, Kardash & Scholes 1996). Diese Abwehrmotivation entspringt nach Chaiken et al. (1996) dem Verlangen, Einstellungen und Überzeugungen aufrecht zu erhalten, die kongruent mit bestehenden selbstdefinierenden Einstellungen und Überzeugungen sind, wie Werten und moralischen Verbindlichkeiten. „Theoriebewahrer“ neigen nach Klaczynski dazu, Informationen, die nicht zu ihren Überzeugungen oder Theorien passen, unter Aufbietung ihrer kognitiven Kapazitäten intensiv zu untersuchen. Hierdurch können sie Gründe finden, um sie abzulehnen. Alternativ entwerten sie unpassende Informationen über Unwahrscheinlichkeitsheuristiken, indem sie die Information für schlicht falsch oder sinnlos erklären (Klaczynski 2000, 1348). Theorieunterstützende Argumente werden dagegen eher unreflektiert über heuristische Informationsverarbeitungsprozesse übernommen (Kardash & Scholes 1996, 269). Heuristische Verarbeitung beinhaltet die Vorrätigkeit, Aktivierung und Anwendung von Heuristiken (Faustregeln) und zeichnet sich durch ihre Schnelligkeit und Einfachheit aus: Menschen fokussieren dabei eine Teilmenge der verfügbaren Information (etwa in einer problematischen Situation), die sie befähigt bestimmte verinnerlichte einfache Regeln, Schemata oder kognitive Heuristiken zu nutzen, um ihre Entscheidungen und Urteile zu formulieren (Chen & Chaiken 1999, 74). (2) Typische Verarbeitung bei reifen epistemischen Überzeugungen Dem gegenüber stehen die Verarbeitungsstrategien von Menschen mit reifen epistemischen Überzeugungen, die also etwa Vorstellungen von der „ständigen Veränderlichkeit von Wissen“ hegen, die sie ihr Wissen überdenken lässt. Epistemische Überzeugungen sind nach Klaczynski metakognitive Dispositionen, die stark mit Persönlichkeitsmerkmalen wie Offenheit, Reflektiertheit und der Bereitschaft eigenes Wissen zu prüfen zusammenhängen. Jugendliche, die über reife epistemische Vorstellungen verfügen, sind eher dazu in der Lage, ihren Drang eigene Theorien zu bewahren zugunsten der Prüfung und Anerkennung 149
von neuem Wissen zurückzustellen. Sie neigen deshalb dazu, jegliche Information (sei sie unterstützend oder konträr zu ihren eigenen Überzeugungen) auf reflexivem Wege zu prüfen (Klaczynski 2000, 1350; Haidt 2001, 820). 3.6.3.2 Der Einfluss epistemischer Überzeugungen auf die Reflexion von Alltagsphantasien Epistemische Überzeugungen haben also nach Klaczynski (2000) einen entscheidenden Einfluss auf die Motivation, genauer auf die Bereitschaft sich auf reflektivem Wege und damit unter Aufwendung kognitiver Kapazitäten mit Informationen, Inhalten oder Problemen auseinanderzusetzen. Je weniger reif und damit aufgeschlossen die epistemischen Überzeugungen eines Menschen ausgerichtet sind, desto abhängiger von seinen eigenen bereits vorhandenen Vorstellungen, Bewertungen und Emotionen ist ein Mensch bei der Auseinandersetzung mit neuem Wissen oder Problemstellungen in Bezug auf die kognitiven Verarbeitungsmodi, in die er verfällt. Dies gilt zumindest für die nach westlichen Maßstäben als „reif“ betrachteten epistemischen Überzeugungen. Die Motivation zur Hypothesengenerierung wird hier also über die Reife der epistemischen Überzeugungen beeinflusst. Je reifer die epistemischen Vorstellungen ausgerichtet sind, desto ausgewogener und umfassender wird sich der Lernende mit Inhalten auseinandersetzen, auch wenn diese entgegen seiner persönlichen Überzeugungen oder Interessen ausgerichtet zu sein scheinen. Dies birgt zentrale Implikationen für die Reflexion von Alltagsphantasien im Unterricht: Vor dem Hintergrund der Bedeutung epistemischer Überzeugungen für die Motivation zur Auseinandersetzung mit einem Thema ist anzunehmen, dass die Reflexion der Alltagsphantasien in Abhängigkeit der epistemischen Ausrichtung eines Individuums unterschiedliche Effekte zur Folge hat. Es ist davon auszugehen, dass Personen mit reifen epistemischen Überzeugungen eher dazu tendieren, sich auf die Reflexion ihrer spontanen Assoziationen einzulassen. Diese zentrale Implikation wird in Kapitel 4 detailliert aufgegriffen. 3.6.4 Alltagsphantasien als Heuristiken im Lernprozess An dieser Stelle lässt sich zudem eine weitere Verbindung zum Konzept der Alltagsphantasien konstruieren, die aufschlussreiche Implikationen birgt: (1) Alltagsphantasien wirken als schnelle Intuitionen. (2) Diese schnellen Intuitionen könnten als Heuristiken genutzt werden und die Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand abkürzen. 150
Wie im Kapitel 2.6 beschrieben, bergen Alltagsphantasien, wie alle sinnbildlich aufgeladenen Repräsentationen, ein suggestives Potential. Die mit ihnen zusammenhängenden narrativen Elemente, wie Bilder und Metaphern, helfen Wissen schnell zu kategorisieren (Ortony 1975, 48). Gleichzeitig wirken sie suggestiv, indem sie eine Lesart vorgeben und bedürfen aus diesem Grund der Reflexion. Erklärt werden kann dieser Einfluss über das eben schon kurz skizzierte Modell der heuristischen und systematischen Verarbeitung von Informationen. Dies ist auch wie das Modell von Strack & Deutsch (2004) ein Zwei-ProzessModell, allerdings mit dem Fokus auf der Verwendung von Informationen unter partieller Moderation durch epistemische Überzeugungen. Systematische Informationsverarbeitung lässt sich dabei mit reflexiver Verarbeitung gleichsetzen. Heuristische Verarbeitung läuft dagegen eher schnell und unkontrolliert ab und greift auf schnell aktualisierte Faustregeln oder Intuitionen zurück. Intuitionen können also als Heuristiken verwendet werden bzw. wirken und die systematische Auseinandersetzung abkürzen. Folglich können Alltagsphantasien durch ihre Funktion als internalisierte Argumentationsmuster und Ableger von impliziten Welt- und Menschenbildern als Heuristiken dienen, die es dem Lernenden ermöglichen, bestimmte Denkoperationen von vornherein abzuwehren, da sie als „Shortcuts“ im Gehirn sofort eine Interpretation der Situation oder des Phänomens nahe legen. Sie wirken suggestiv. Konzipiert man Alltagsphantasien als intuitiv verfügbare Heuristiken, die durch ihre assoziative Verankerung schnell für den denkenden Organismus nutzbar sind, ist anzunehmen, dass sie zu sofortigen Entscheidungen über einen Gegenstand befähigen, etwa bei moralischen Diskussionen zur Gentechnik. Als Heuristiken werden die in den Alltagsphantasien sichtbaren Welt- und Menschenbilder durchaus bewusstseinsfähig und können als Begründungen artikuliert werden. Sie erhalten eine bewertende Funktion, die eine weitere Auseinandersetzung mit dem Phänomen überflüssig erscheinen lässt und dadurch eine Art Tunnelzugang zu Phänomenen einleitet. So könnte im Genetikunterricht eine subjektive Wahrnehmung von Gentechnik als Frevel, etwa durch die Alltagsphantasie „Der Mensch sollte nicht Gott spielen“, eine weitere Auseinandersetzung mit dem Thema behindern. 3.6.4.1 Die emotionale Qualität von Heuristiken Als Fragmente für Urteile, die aus dem Verarbeitungsweg des heuristischen Systems hervorgegangen sind, haben Alltagsphantasien die Qualität sich subjek151
tiv ansprechend oder intuitiv „richtig“ anzufühlen. Da sie konsistent mit Stereotyp-basierten und subjektiven Überzeugungen sind und dem impliziten kulturellen Konsens über den Menschen und die Welt entspringen, erscheinen sie ganz selbstverständlich als wahr (Klaczynski 2000, 1348). Hierin liegt die bestechende Wirkung moralischer Intuitionen oder Heuristiken, die nach Haidt (2001) bei moralischen Denkprozessen das Urteil bestimmen. Die Intuitionen ähneln aufgrund der Schnelligkeit und Unbewusstheit des Prozesses, durch den sie generiert werden, der Sinneswahrnehmung und erscheinen uns deshalb als wahr (Haidt 2001, 814). Heuristiken zeichnen sich durch ihr plötzliches Auftauchen im Bewusstsein aus und haben eine affektive Valenz. Das eigentliche moralische Denken erfolgt nachgeschaltet und dient dazu, Argumente für das intuitiv „empfundene“ Urteil zu liefern. 3.6.4.2 Überwindung von Heuristiken durch Reflexion Nach Haidt (2001) ist die Stärkung moralischer Urteilsfähigkeit und Überwindung der Urteilsleitung durch automatisch generierte Intuitionen nur dann möglich, wenn sich widersprechende Vorstellungen oder Intuitionen in Menschen geweckt werden, dadurch sollte das Urteil nuancierter, differenzierter und damit schlussendlich begründeter sein (Haidt 2001, 829). Im menschlichen Zusammenleben übernehmen soziale Auseinandersetzungen die Funktion, moralische Intuitionen überwinden zu können, indem Menschen gezwungen sind, eine Problematik aus der Perspektive eines anderen Menschen zu betrachten. Multiple Perspektiven können sich widersprechende Intuitionen erzeugen, deren Unvereinbarkeit durch reflexive Denkprozesse gelöst wird und so andersartige Urteile ermöglicht (Haidt 2001, 820). Die reflexive Auseinandersetzung mit den urteilsleitenden bzw. heuristisch verwandten Alltagsphantasien könnte analog ein Aufschließen der Denkprozesse ermöglichen, das eine intentionale Auseinandersetzung mit dem behandelten Phänomen oder Problem möglich macht. Durch die Reflexion von Alltagsphantasien würde so möglicherweise die systematische Verarbeitung unterstützt, weil der unreflektierte Rückgriff auf schnell heuristisch genutzte Intuitionen unterbrochen wird. An dieser Stelle ist jedoch auch erneut die Möglichkeit knapper Verarbeitungskapazität einzukalkulieren: Die reflexive Auseinandersetzung mit heuristisch verwandten Alltagsphantasien bedeutet eine zusätzliche Verarbeitungsleistung, die auch an dieser Stelle mit den anderen Verarbeitungsprozessen konkurriert und eine Überlastung bewirken könnte.
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3.6.5 Effekte der Reflexion von Alltagsphantasien auf die persönliche Epistemologie Außerdem stellt sich vor dem Hintergrund dieser Überlegungen die Frage, ob sich die Reflexion der Alltagsphantasien auf die epistemische Ausrichtung des Lernenden auswirken könnte. Die reflexive Auseinandersetzung mit den eigenen Alltagsphantasien führt zu einer Auseinandersetzung mit der eigenen impliziten Theorie der Realität. Hierdurch werden auf einer semantischen Ebene die impliziten Welt- und Menschenbilder des Individuums aktiviert. In der Diskussion können diese Bilder dann sich widersprechenden Perspektiven gegenübergestellt werden, die andere Blickwinkel auf die Welt akzentuieren. Möglicherweise wirkt diese Auseinandersetzung auf die Aktivierung des eigenen kulturellen Wissens zurück. Eine veränderte Aktivierung der impliziten Theorie der Realität könnte Auswirkungen auf die Ausprägung der aktivierten persönlichen Epistemologie nehmen. Nach dem von Hannover & Kühnen (2002) modulierten Interface wirken Aktivierungen im semantischen Mechanismus auf den prozeduralen Mechanismus zurück und umgekehrt. Dies würde also eine Rückwirkung der Reflexion von Alltagsphantasien auf die persönliche Epistemologie bedeuten, die innerhalb des Individuums über veränderte Aktivierungsmuster im assoziativen Netzwerk wirkt. Wie unter Punkt 3.5.2 erläutert, könnte die Auseinandersetzung mit den eigenen und fremden Alltagsphantasien ein Zugang zum Individuum sein, durch den Nachdenklichkeit gefordert und stimuliert werden könnte. Ähnlich der Nachdenklichkeit, die Fischer in seinen Experimenten durch das Nachvollziehen der Argumentationsfiguren und Gedanken anderer Personen auslösen konnte (Fischer et al. 1993, 107, vgl. Kapitel 1.5.2), könnten die Lernenden durch die Auseinandersetzung mit den Alltagsphantasien anderer Lernender dazu angeregt werden, ihre welterklärenden Muster zu hinterfragen. Eine solche Reflexion könnte dazu führen, dass sich die Individuen auf eine epistemisch komplexere Weise mit dem Lerngegenstand auseinandersetzen. Über die Reflexion könnte also die implizite Theorie der Realität in vielen Facetten angesprochen werden und hierdurch ein verändertes Muster epistemischer Überzeugungen aktiviert werden.
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3.6.5.1 Die Bedeutung des epistemischen Motivs Eine bisher nur kurz eingeführte Variable ist bei der Beeinflussung der Ausprägung persönlicher Epistemologie allerdings in Erwägung zu ziehen: Das epistemische Motiv eines Individuums. In ihrem Modell epistemischer Metakognition verortet Hofer (2004) epistemische Überzeugungen innerhalb der Komponenten metakognitives Wissen und metakognitive Beurteilung & Monitoring (siehe Kapitel 1.2.2.1). Zudem unterscheidet Hofer (2004) eine dritte Komponente: Selbstregulation & Kontrolle der Kognition & des Lernens. Innerhalb dieser Komponente wird der volitionale Aspekt epistemischer Metakognition gefasst. Neben den inhaltlich spezifizierten epistemischen Überzeugungen wurde in dieser Arbeit ein weiterer Aspekt als Teil einer persönlichen Epistemologie betrachtet, der einen volitionalen oder intentionalen Aspekt berührt und hier als epistemisches Motiv bezeichnet wird. Diese Komponente persönlicher Epistemologie ist nicht an inhaltliche Überzeugungen oder kulturelle Aspekte gebunden, sondern bezeichnet ein Persönlichkeitsmerkmal des Individuums. Wie in Kapitel 1.2.2.1 angeführt, ist das von Cacioppo & Petty (1982) eingeführte Konstrukt des Need for Cognition meiner Ansicht nach als ein solches epistemisches Motiv zu verstehen. Personen mit einem hohen Bedürfnis nach Kognition haben Freude am Denken und zeigen eine hohe Bereitschaft, sich durch Nachdenken mit Problemen auseinanderzusetzen. Es ist naheliegend, dass eine solche „epistemische Bereitschaft“ Einfluss auf die Regulation von Denkprozessen nehmen könnte. Pintrich et al. (1993, 178) benutzen den Term „epistemic motivation“ und verweisen auf Kruglanskis hier bereits ausgeführte Annahmen zum Einfluss epistemischer Überzeugungen auf die Motivation zur Hypothesengenerierung und Überprüfung. Differenzierter ist der Hinweis von Pirttilla-Backmann & Kajanne (2001, 83) auf einen Einflussaspekt der Persönlichkeit in der Entwicklung epistemischer Überzeugungen, den sie als „curious mind“ bezeichnen und mit dem Need for Cognition (Cacioppo & Petty 1982) in Verbindung bringen. Im Zusammenhang mit Veränderungen der situationalen Ausprägung persönlicher Epistemologie ist dieses Persönlichkeitsmerkmal mit zu bedenken. Denkbar wäre, dass die Wirkung der Reflexion von Alltagsphantasien auf den Aktivierungszustand der persönlichen Epistemologie über dieses Persönlichkeitsmerkmal moderiert wird.
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3.6.5.2 Das Konstrukt Need for Cognition Die Stärke des Need for Cognition bezeichnet die Stärke der Tendenz von Individuen sich in Denkprozessen zu engagieren und am „Denken“ Freude zu haben. Das von Cacioppo & Petty (1982, 116) entwickelte Konstrukt geht auf Cohen et al. (1955, 291) zurück, die das Need for Cognition definieren als „das Bedürfnis relevante Situationen in einer bedeutungsvollen und integrierten Art und Weise zu strukturieren. Es ist das Bedürfnis die erlebte Welt zu verstehen und sinnvoll zu machen.“ Personen mit einem hohen Need for Cognition haben eine Präferenz für komplexere Versionen von kognitiven Aufgaben, während Personen mit einem geringen Need for Cognition eher einfache Aufgaben bevorzugen. Nach Fleischhauer et al. (2010, 82) verweist das Need for Cognition auf dispositionale Unterschiede in der kognitiven Motivation. Es reflektiert stabile und individuelle Unterschiede in der intrinsischen Motivation sich in anstrengenden kognitiven Bemühungen zu engagieren und daran Freude zu finden. Kognitive Motivation stellt einen bedeutenden Einfluss auf die kognitive Performanz da, weil sie nicht nur zeig, wozu Menschen intellektuell in der Lage sind, sondern auch, wie sie typischerweise ihre kognitiven Kapazitäten investieren (Fleischhauer et al. 2010, 82). Das Motiv kognitiv herausfordernde Situationen anzugehen und sogar die Sensibilität solche Situationen zu erkennen, kann nach Fleischhauer et al. (2010) als eine Bedingung des kognitiven Systems verstanden werden, die die Informationsverarbeitung beeinflusst. Das Need for Cognition beeinflusst kognitives Verhalten, wie etwa das Beachten, Elaborieren, Evaluieren und Erinnern von Informationen sowie die Entwicklung und Veränderung von Einstellungen (Fleischhauer et al. 2010, 82). Es korreliert positiv mit kognitiver Innovativität, Need for Affect, Selbstwertgefühl, Gewissenhaftigkeit, Offenheit für Erfahrungen und schwach positiv mit Extraversion. Außerdem korreliert das Need for Cognition negativ mit Dogmatismus, Need for Closure, Ängstlichkeit, und schwach mit Neurotizismus (Fleischhauer et al. 2010, 83). Den Ergebnissen von Fleischhauer et al. (2010, 89) zufolge korreliert das Need for Cognition positiv mit Selbstdisziplin und Ehrgeiz. Personen mit hohem Need for Cognition bleiben demnach länger bei der Sache und geben nicht so schnell auf. Diese Kombination aus Verhaltensaktivität und Zielorientiertheit könnte mit dem Erfolg des Individuums interagieren, mit Ansprüchen seiner Umwelt umzugehen und zu höherer Selbsteffektivität und weniger negativen Emotionen führen als bei niedrigem Need for Cognition. Alle Korrelationen sind jedoch
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schwach bis moderat, weshalb anzunehmen ist, dass es sich bei dem Need for Cognition um ein unabhängiges Konstrukt handelt. Das Need for Cognition korreliert zudem schwach positiv mit Intelligenz und moderat positiv mit fluider Intelligenz, besonders jedoch mit schlussfolgerndem oder logischem Denken (reasoning), das Teil der fluiden Intelligenz ist (Fleischhauer et al. 2010, 92). Da alle Korrelationen jedoch schwach bis moderat ausfallen, ist anzunehmen, dass das Need for Cognition und Intelligenz nur gering überlappen. Das Need for Cognition könnte also als ein Prädiktor der kognitiven Motivation als Aspekt der Persönlichkeit Einfluss auf die Entwicklung persönlicher Epistemologie nehmen. Demnach wäre anzunehmen, dass sich ein ausgeprägtes epistemisches Motiv und damit eine hohe kognitive Motivation unterstützend auf die Entwicklung einer weltgewandten persönlichen Epistemologie auswirkt, während anzunehmen ist, dass ein geringes epistemisches Motiv sich weniger förderlich auswirkt.
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4 Fragestellung
Epistemische Überzeugungen und Alltagsphantasien lassen sich beim Lernen an unterschiedlichen Stellen im Verarbeitungsprozess einordnen. Ziel der folgenden empirischen Untersuchung ist es, den Einfluss dieser impliziten Vorstellungen in Lernprozessen zu untersuchen. Da davon ausgegangen wird, dass epistemische Überzeugungen und Alltagsphantasien über kulturell bedingte Welt- und Menschenbilder in einer impliziten Theorie der Realität zusammenhängen, liegt der Fokus dieser Untersuchung darauf, mögliche Wechselwirkungen zwischen epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien zu erkennen. Während Alltagsphantasien als Resultate automatisch aktivierter Assoziationen die subjektive und kulturell eingefärbte Perspektive auf den Lerngegenstand beeinflussen, wirken sich epistemische Überzeugungen vor allem auf die Form und Intensität der Informationsverarbeitung beim Lernen aus. Um weitere Informationen über beide Konstrukte und vor allem über ihre Zusammenhänge zu erlangen, wird nun vor dem Hintergrund des theoretischen Vergleichs der beiden Konzepte das Zusammenwirken von Alltagsphantasien und epistemischen Überzeugungen vor dem Hintergrund des reflexiven Umgangs mit den Alltagsphantasien empirisch untersucht. Folgende Zusammenhänge sind vor dem Hintergrund des theoretischen Vergleichs denkbar: (1) Auf der einen Seite lässt sich die Reflexion der Alltagsphantasien von den epistemischen Überzeugungen ausgehend betrachten: Da epistemische Überzeugungen Einfluss auf die Art und Weise von Denkprozessen nehmen, ist es möglich, dass Lernende in Abhängigkeit ihrer epistemischen Überzeugungen unterschiedlich auf die ungewohnte Reflexion ihrer Alltagsphantasien reagieren. (2) Auf der anderen Seite ist jedoch auch eine entgegen gesetzte Wirkrichtung denkbar: Durch die Reflexion von Alltagsphantasien in Lernkontexten könnte eine veränderte kontextuelle Aktivierung der persönlichen Epistemologie und damit die Aktualisierung unterschiedlicher epistemischer Überzeugungen erfolgen. Nach der Konzeption der epistemischen Ressourcen von Hammer & Elby (2002) wird davon ausgegangen, dass das Aktivierungsmuster epistemischer
157 K. Oschatz, Intuition und fachliches Lernen, DOI 10.1007/978-3-531-93285-9_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
Überzeugungen kontextabhängig ist. Durch die Reflexion der eigenen Alltagsphantasien erfolgt eine Auseinandersetzung mit Welt- und Menschenbildern der eigenen impliziten Theorie der Realität. Die Veränderung der Konfiguration epistemischer Überzeugungen könnte darüber bewirkt werden, dass durch die Auseinandersetzung mit den Alltagsphantasien – als Spuren verinnerlichter und kulturell tradierter Welt- und Menschenbilder – möglicherweise andere Facetten der impliziten Theorie der Realität angetriggert werden. Als Folge könnte in der Auseinandersetzung eine veränderte (möglicherweise reifere) Konfiguration von epistemischen Überzeugungen aktualisiert werden. Ergebnisse hierzu gäben Einsichten in die Kontextabhängigkeit epistemischer Überzeugungen und könnten eine klarere Einordnung der Wirkdimension und Bedeutung von Alltagsphantasien in Lernprozessen erlauben. Zusätzlich werden die beiden soeben skizzierten Wirkrichtungen vor dem Hintergrund der „epistemischen Bereitschaft“ der Lernenden betrachtet. Im Rahmen der Überlegungen zur Bedeutung eines epistemischen Motivs von Individuen sind die in (1) und (2) beschriebenen Zusammenhänge in Abhängigkeit von der persönlichkeitsabhängigen Bereitschaft des Individuums zum Nachdenken und zur Auseinandersetzung zu betrachten. Diese volitionale Komponente epistemischer Überzeugungen wird als möglicher Moderator der Effekte in den folgenden Untersuchungen mitberücksichtigt 4.1 Untersuchungshypothesen – Studie I Aus diesen Überlegungen lassen sich für die empirische Untersuchung der Zusammenhänge von epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien im Verarbeitungsprozess verschiedene Untersuchungshypothesen ableiten. In Bezug auf die erste Wirkrichtung des reflexiven Umganges mit Alltagsphantasien vor dem Hintergrund der epistemischen Überzeugungen lassen sich die ersten beiden Hypothesen formulieren. Hypothese 1
Die Reflexion von Alltagsphantasien wirkt sich auf das Lernen aus. In Übereinstimmung mit den Ausführungen in Kapitel 2.6.2 zu den Ergebnissen der Interventionsstudien, welche ergaben, dass durch die Reflexion von Alltagsphantasien Lernergebnisse länger behalten werden, wird davon ausgegangen, dass sich die Einbeziehung von Alltagsphantasien in Lernprozesse auch im Experiment positiv auf die Informationsverarbeitung auswirkt. Intuitive Weltund Menschenbildaspekte dem reflektiven Modus der Verarbeitung zugänglich
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zu machen und diese damit in kontrollierte, bewusste Denkprozesse zu integrieren, sollte dem Lernenden mehr Anknüpfungspunkte bei der Verarbeitung neuer Informationen zur Verfügung stellen und damit die Intensität der Verarbeitung erhöhen. Hypothese 2
Epistemische Überzeugungen beeinflussen die Reflexion der Alltagsphantasien. Vor dem Hintergrund der Ausführungen in Kapitel 1.3.2 wird angenommen, dass Menschen mit reiferen epistemischen Überzeugungen und einer stärker ausgeprägten Neigung zu reflektiven und systematischen Verarbeitungsprozessen die Alltagsphantasien stärker reflexiv nutzen. Es wird angenommen, dass sie mehr kognitive Kapazität auf die Auseinandersetzung mit den Alltagsphantasien verwenden. Deswegen aktivieren sie mehr Anknüpfungs-punkte für die Einordnung neuen Wissens. Es wird angenommen, dass hierdurch die Generierung neuer Ideen sowie die Anbindung neuer Inhalte unterstützt werden. Personen mit eher unreifer epistemischer Ausrichtung sind weniger geneigt ihr Wissen zu hinterfragen. Es wird angenommen, dass sich diese Personen gegen die Einbindung der Alltagsphantasien kognitiv sperren oder die reflexive Auseinandersetzung schneller „abstellen“, da sie generell eine geringere Bereitschaft zu reflexivem Nachdenken mitbringen. Gegensätzliche Reaktionen in Abhängigkeit von der Reife der epistemischen Überzeugungen sind denkbar, jedoch eher unwahrscheinlich: Obwohl reife epistemische Überzeugungen mit der generellen Tendenz zu aufwendigen Verarbeitungsprozessen einhergehen, ist nicht anzunehmen, dass sich Personen mit reifen epistemischen Überzeugungen ohnehin schon stark reflexiv mit ihren eigenen Einfällen und vermutlich auch Intuitionen beschäftigen und die Reflexion der Alltagsphantasien daher keinen Einfluss nimmt. Die eigenen Welt- und Menschenbilder sind so stark verinnerlicht, dass sie nur mit Mühe bewusst reflektiert werden. Hypothese 3
Die Auswirkungen der Reflexion der Alltagsphantasien wird durch das epistemische Motiv moderiert. Die Reflexion der Alltagsphantasien wirkt sich in Abhängigkeit des epistemischen Motivs der Individuen auf die Informationsverarbeitung im Lernprozess aus. Diese epistemische Bereitschaft umfasst als ein Merkmal der Persönlichkeit stabile und individuelle Unterschiede in der intrinsischen Motivation sich in anstrengenden kognitiven Bemühungen zu engagieren. Sie wird über das Need for Cognition (Bedürfnis nach Kognition) operationalisiert. Es wird angenom159
men, dass mit stärkerer Ausprägung des Need for Cognition eines Individuums auch die Reaktion auf die Reflexion der Alltagsphantasien stärker ausfällt. 4.2 Untersuchungshypothesen – Studie II In Bezug auf die zweite Wirkrichtung, also bezüglich des Einflusses des reflexiven Umgangs mit Alltagsphantasien auf die epistemischen Überzeugungen, lassen sich die folgenden zwei Hypothesen formulieren. Hypothese 4
Die Reflexion der Alltagsphantasien wirkt sich darauf aus, welche epistemischen Überzeugungen aktiviert sind. Über die reflexive Auseinandersetzung mit den eigenen Alltagsphantasien, die als Fragmente verinnerlichter Welt- und Menschenbilder der persönlichen impliziten Theorie der Realität zum Aufbau und zur Ordnung der Welt gelten, kann auf die Aktivierungskonfiguration epistemischer Ressourcen eingewirkt werden. Im Sinne der Theorie von Hammer & Elby (2002) wird als Folge der reflexiven Auseinandersetzung mit den Alltagsphantasien die Aktivierung eines differierenden Musters von epistemischen Überzeugungen erwartet, als ohne Reflexion der Alltagsphantasien zu beobachten ist. Hypothese 5
Die Veränderung der Aktivierung epistemischer Überzeugungen wird durch das epistemische Motiv moderiert. Die Reflexion der Alltagsphantasien wirkt sich in Abhängigkeit des epistemischen Motivs des Individuums auf die Aktivierung epistemischer Überzeugungen aus. Je stärker das epistemische Motiv einer Person ausgeprägt ist, desto größer ist die Bereitschaft zum Nachdenken. Demnach sollte sich eine Auseinandersetzung mit der impliziten Theorie der Realität über die Reflexion der Alltagsphantasien verstärken und umfassender auf andere Teile der impliziten Theorie der Realität auswirken je stärker das epistemische Motiv ist. Insofern ist zu erwarten, dass sich eine Auseinandersetzung mit Alltagsphantasien in Abhängigkeit vom epistemischen Motiv auf die Konfiguration aktivierter epistemischer Überzeugungen auswirkt.
160
5 Studie I
Ausgehend von den Annahmen zu der Relevanz von epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien in Verarbeitungsprozessen in Kapitel 3.6 zielt die vorliegende Studie darauf ab, die Wechselwirkungen zwischen diesen beiden Konstrukten innerhalb von Lernprozessen zu untersuchen. Zu diesem Zweck wurde ein entsprechendes zweistufiges Untersuchungsdesign entwickelt: In einer ersten laborexperimentellen Studie I wurde zunächst die unmittelbare Auswirkung der Reflexion der Alltagsphantasien von Lernenden auf nachfolgende Informationsverarbeitungsprozesse in Abhängigkeit der epistemischen Überzeugungen und des epistemischen Motivs (operationalisiert über das Bedürfnis nach Kognition, Need for Cognition) untersucht. In einer darauf aufbauenden zweiten laborexperimentellen Studie II wurde dann in einem längeren experimentellen Zeitraum von einer Woche die Auswirkung der Reflexion der Alltagsphantasien auf die Ausprägung der persönlichen Epistemologie der Lernenden in Abhängigkeit des epistemischen Motivs der Lernenden (Need for Cognition) untersucht. Dabei wurden nur die Untersuchungsmodalitäten eingesetzt, die sich in der Studie I bewährten. Zum besseren Verständnis der Versuchsabläufe werden in diesem Kapitel zunächst die Voruntersuchungen sowie die Anlage, der methodische Rahmen und anschließend die Ergebnisse der Studie I vorgestellt. Aus den Ergebnissen der Studie I heraus wird dann im nächsten Kapitel die Anlage der Studie II erklärt und der methodische Rahmen sowie die Ergebnisse der Studie II dargestellt. Jeder Ergebnisdarstellung folgt dabei nur eine kurze Interpretation, um die gesamten Ergebnisse dann in Kapitel 7 ausführlich im Zusammenhang zu diskutieren. Die Studie I zielt darauf ab, die Auswirkungen der expliziten Reflexion von Alltagsphantasien unter Moderation durch die epistemischen Überzeugungen und das epistemische Motiv von Individuen zu untersuchen. Dabei werden die ersten drei Hypothesen überprüft.
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Hypothese 1 Hypothese 2 Hypothese 3
Die Reflexion von Alltagsphantasien wirkt sich auf das Lernen aus. Epistemische Überzeugungen beeinflussen die Reflexion der Alltagsphantasien. Die Auswirkungen der Reflexion der Alltagsphantasien werden durch das epistemische Motiv moderiert.
5.1 Methode der Studie I Im Vorfeld der Untersuchungen waren verschiedene umfangreiche Voruntersuchungen zur Entwicklung geeigneter Untersuchungsmaterialien und Erhebungsinstrumente notwendig. 5.1.1 Voruntersuchungen In den Voruntersuchungen wurden sämtliche Untersuchungsmaterialien sowie deren Auswertung getestet. Dabei handelte es sich um: 1. Zugänglichkeit der Alltagsphantasien (Aktivierungsvorlagen) 2. Biologisches Vorwissen (Kontrollvariable) 3. Multiple-Choice- und Transferaufgaben zur Erhebung der Güte der Informationsverarbeitung. 5.1.1.1 Aktivierungsvorlagen: Zugänglichkeit der Alltagsphantasien Gebhard & Mielke (2001) überprüften die Skalierung von sechs bedeutsamen Alltagsphantasien, die aus Interviews mit über 600 Jugendlichen hervorgegangen waren (Gebhard 1999), mithilfe der Methode des Paarvergleiches (Thurstone 1927) hinsichtlich ihrer Zugänglichkeit. Um zu überprüfen, ob diese Skala auch für Studierende Gültigkeit besitzt, wurde dasselbe Verfahren mit Studierenden der Universität Hamburg durchgeführt. Methode Die Untersuchung wurde Ende Mai 2007 mit Studierenden (n = 111) der Universität Hamburg durchgeführt (zur Vorgehensweise vgl. Gebhard & Mielke 2001). Die folgenden in Tabelle 5.1. aufgeführten sechs Vorstellungen wurden nach der Methode des Paarvergleiches von Thurstone (1927) mit den aufgeführ-
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ten Erläuterungen unter Verwendung des Programms paircomp (Niketta 1996) angeordnet und paarweise vorgelegt. Tabelle 5.1:
Alltagsphantasien im Paarvergleich
Fortschritt
Die Technik ist ein Motor für die menschliche Entwicklung.
Mensch als Maschine
Dadurch, dass man den Bauplan des Lebens kennt, kann man in die menschliche Entwicklung wie bei einer Maschine eingreifen.
Optimierung des Menschen
Gentechnik kann genutzt werden, um die Unvollkommenheit des Menschen zu überwinden und den Menschen immer perfekter zu machen.
Krankheitsbekämpfung
Durch Gentechnik lässt sich das Auftreten von Krankheiten verhindern und Krankheiten lassen sich besser heilen.
Eingriff in die Natur
Der Mensch pfuscht damit der Natur ins Handwerk.
Ende der Individualität
Durch die Gentechnik werden die Menschen austauschbar. Das ist das Ende der Besonderheit jedes einzelnen Menschen.
Ergebnisse Die sechs ausgewählten Vorstellungen lassen sich auf der Basis des systematischen Paarvergleichs linear (Chi²-Test zur Überprüfung der Linearität: Chi² = 575.510, df = 5, p .01) anordnen. Tabelle 5.2 zeigt, wie sich die Vorstellungen von Studierenden der Studie 2007 im Vergleich zu denjenigen von SchülerInnen aus dem Jahr 2001 anordnen lassen.
163
Tabelle 5.2:
Skalenwerte der Alltagsphantasien von Studierenden und SchülerInnen Transformierte z-Werte
Alltagsphantasie
Ergebnisse (2007)
Studierende Ergebnisse SchülerInnen (2001)
Krankheitsbekämpfung
1.71
1.28
Eingriff in die Natur
1.21
0.64
Mensch als Maschine
0.85
0.48
Ende der Individualität
0.73
0.66
Fortschritt
0.68
0.29
Optimierung des Menschen
0
0
Aufgrund dieses Vergleiches wurden für die Hauptuntersuchung die ersten vier Vorstellungen ausgewählt, die sowohl bei SchülerInnen als auch bei Studierenden die höchste Zugänglichkeit hatten. 5.1.1.2 Kontrollvariable Biologisches Vorwissen Um überprüfen zu können, ob die randomisierte Zuordnung zu den Versuchsund Kontrollgruppen gelungen ist, wurde das biologische Vorwissen der Versuchspersonen erhoben. Vorgetestet wurde ein Fragebogen, in dem nach der biologischen Vorbildung der Versuchspersonen in Schule und Universität gefragt wurde. Es wurden Multiple-Choice-Fragen zu biologischen Themen, die (1) einem Wissenstest entstammen, der bereits in früheren Untersuchungen verwendet worden war (Gebhard 1999), sowie (2) ausgewählte Items aus der TIMS-Studie zur naturwissenschaftlichen Grundbildung (Baumert et al. 1996), verwendet. Aus den TIMSS-Aufgaben wurden lediglich Items im MultipleChoice-Format ausgewählt. Methode Im Januar 2008 wurden diese insgesamt 37 Aufgaben (16 Items des Wissenstests, 21 Aufgaben aus TIMSS) an 83 Studierenden der Universität Hamburg vorgetestet.
164
Ergebnisse Von den getesteten Multiple-Choice Fragen des Wissenstests haben sechs Aufgaben eine mittlere Schwierigkeit und sind deshalb zur Erhebung des Vorwissens geeignet. Von den getesteten TIMSS-Aufgaben haben sieben Aufgaben eine mittlere Schwierigkeit und sind deshalb zur Erhebung des Vorwissens geeignet. (Ergebnisse der statistischen Überprüfung der Aufgaben des Wissenstests vgl. Tabelle I.1 im Anhang.) 5.1.1.3 Erfassung der abhängigen Variable Verstehen Zur Untersuchung der Güte der Informationsverarbeitung werden fokussierte Denkprozesse initiiert, die konzentriertes Nachdenken auf einen spezifischen eng gefassten Gegenstand erfordern. Da mit dem zu entwickelnden Instrument Verstehen als fachliches Verständnis abgefragt werden soll, wurden Verfahren entwickelt, um das Verständnis biologischer Zusammenhänge zum Bereich der Gentechnologie zu untersuchen. Dabei wurden Multiple-Choice-Aufgaben und Transferaufgaben neu entwickelt. Multiple-Choice-Aufgaben & Transferaufgaben Anhand eines Textes aus einem gängigen Lehrbuch für das Fach Biologie für die Oberstufe des Gymnasiums37 (Weber & Bleuel 2005) werden die Versuchspersonen mit komplexen Informationen zum Thema Gentransfer versorgt. Dazu wurde speziell für die Erhebung ein Aufgabenset aus zehn Multiple-ChoiceAufgaben und zwei Transferaufgaben entwickelt (Oschatz 2010). Diese Form der Untersuchung der aktuellen Verarbeitung fachlichen Wissens soll es ermöglichen zu erfassen, in welchem Ausmaß Versuchspersonen in der Lage sind, die im Text enthaltenen Informationen zu nutzen. Hierbei ist das Ziel, durch die unterschiedlichen Fragetypen verschiedene Verständnisarten abzufragen: Während die Multiple-Choice-Aufgaben eher reproduktiv zu lösen sind, ist bei den Transferfragen eine Übertragung der Informationen zu leisten, die zeigt, ob der Prozess des Gentransfers in seiner Komplexität erfasst und verstanden worden ist. Bei den Multiple-Choice-Aufgaben werden jeweils drei Antwortmöglichkeiten vorgegeben, von denen nur eine vollständig richtig, die anderen beiden falsch oder unzureichend sind. Zur Lösung der Transferaufgabe ist die Übertragung der gelesenen Informationen über Prozesse des Gentransfers mittels der Analogie einer Taxifahrt notwendig.
37
Biologie Oberstufe Gesamtband, Cornelsen.
165
In Voruntersuchungen wurden die Aufgaben hinsichtlich ihrer Schwierigkeit und der Auswirkungen der Reihenfolge auf die Lösungsgüte untersucht. Methode Mitte Juli 2007 wurden die Multiple-Choice-Aufgaben an 26 Studierenden der Universität Hamburg getestet. Von den 13 Aufgaben lagen lediglich fünf im angestrebten mittleren Schwierigkeitsbereich. Es wurden weitere MultipleChoice-Aufgaben und fünf Transferaufgaben entwickelt und an insgesamt 178 Studierenden der Universität zwischen Ende Oktober und Ende November 2007 getestet. Dabei kamen zehn verschiedene Fragebogenvarianten zum Einsatz, um Reihenfolgeeffekte zu überprüfen (vgl. Tabelle I.2 im Anhang.). Ergebnisse 1. Alle getesteten Multiple-Choice-Fragen haben eine mittlere Schwierigkeit und werden zur Erfassung der abhängigen Variablen „Verstehen“ verwendet. Sie werden also von mehr als 20 Prozent, aber von weniger als 80 Prozent der Studierenden gelöst (Bortz & Döring 1995). 2. Aufgrund der Häufigkeitsverteilungen werden zwei der drei Transferaufgaben („Taxi (a)“ und „Schaubild“) ausgewählt und für die Haupterhebung verwendet. Die drei Transferaufgaben „Sätze ordnen“, „Lückentext“ und „Taxi (b)“ zeigen Verteilungsschiefen bzw. Mehrgipfligkeit und werden ausgeschlossen. 3. Die Bearbeitung von Transferaufgaben wirkt sich auf die Bearbeitung der Multiple-Choice-Fragen aus. Deshalb wurde festgelegt, dass in der Haupterhebung die Multiple-Choice-Fragen zuerst und erst danach die Transferaufgaben bearbeitet werden. 4. Die Transferaufgabe Taxi (b) wird durch die vorherige Bearbeitung von Multiple-Choice-Fragen beeinflusst und wird deshalb in der Haupterhebung nicht verwendet. (Ergebnisse der statistischen Überprüfung der Reihenfolgeeffekte vgl. Tabelle I.3 im Anhang.)
166
5.1.2 Experimentelle Hauptuntersuchung 5.1.2.1 Stichprobe 38
Die Untersuchung wurde in der Zeit von Mitte Februar bis Mitte März 2008 durchgeführt. Es nahmen insgesamt 112 Studentinnen (77%) und Studenten (23%) im Alter von 20 bis 30 Jahren (M = 23, SD = 3.2) aus unterschiedlichen Fachrichtungen (Studiengängen) der Universität Hamburg an der Untersuchung teil. Sie wurden nach Zufall auf die Versuchs- und Kontrollgruppen verteilt. Die Versuchspersonen wurden durch Ankündigung der Studie in Vorlesungen, durch Aushänge und Handzettel innerhalb der Universität angeworben. 5.1.2.2 Durchführung der Untersuchung Die Untersuchung dauerte insgesamt 120 Minuten. Um Einflüsse durch das Geschlecht des Versuchsleiters auszubalancieren, wurde die Untersuchung von jeweils einem weiblichen und einem männlichen Versuchsleiter durchgeführt. Die Versuchspersonen erhielten für ihre Teilnahme 15 Euro. Der Abbildung 5.1 lässt sich der Versuchsplan der Studie I entnehmen. Aktivierung intuitiver Vorstellungen
Selbstgeneriert
explizit
Implizit
VG 1
-
n = 24 Vorgegeben
Abbildung 5.1:
keine Aktivierung
KG
VG 2
VG 3
n = 24
n = 24
n = 40
Versuchplan der Studie I
5.1.2.3 Unabhängige Variablen VG 1: Explizite & selbstgenerierte Vorstellungen Die Versuchspersonen erhalten einen kurzen journalistischen Informationsartikel zur Präimplantationsdiagnostik. (vgl. Arbeitsblatt I.1) Anschließend werden sie aufgefordert, vier spontane Assoziationen im Zusammenhang mit 38
gefördert von der DFG, GE 1066/2-1, GE 860/2-2
167
Gentechnik auf beigelegte weiße Karten zu schreiben, diese nach persönlicher Wichtigkeit zu ordnen und entsprechend zu nummerieren. Sie werden aufgefordert, die Karten in dieser Reihenfolge neben sich auf den Tisch zu legen und die Gedanken bei allen nachfolgenden Überlegungen zu berücksichtigen. VG 2: Explizite & vorgegebene Vorstellungen Die Versuchspersonen erhalten einen kurzen journalistischen Informationsartikel zur Präimplantationsdiagnostik. Anschließend werden ihnen die vier Alltagsphantasien zu Gentechnik auf Karten vorgelegt, die in den Voruntersuchungen als besonders hoch zugänglich für Jugendliche identifiziert worden waren. Sie werden gebeten, diese nach persönlicher Wichtigkeit zu ordnen und entsprechend zu nummerieren. Sie werden ebenfalls aufgefordert, die Karten in dieser Reihenfolge neben sich auf den Tisch zu legen und die Gedanken bei allen nachfolgenden Überlegungen zu berücksichtigen. VG 3: Implizite & vorgegebene Vorstellungen Die Versuchspersonen erhalten einen kurzen journalistischen Artikel zur Präimplantationsdiagnostik. Der Artikel enthält in vier zusätzlichen Sätzen an passenden Stellen die vier Alltagsphantasien zu Gentechnik, die in den Voruntersuchungen als besonders hoch zugänglich für Jugendliche identifiziert worden waren Die Versuchspersonen werden jedoch nicht explizit auf diese Vorstellungen hingewiesen. Die Vorstellungen werden also implizit aktiviert. KG: Kontrollgruppe Es werden keine weiteren Maßnahmen unternommen, um Alltagsphantasien zu Gentechnik zu aktivieren. Die Versuchspersonen erhalten lediglich den gleichen kurzen journalistischen Artikel zur Präimplan tationsdiagnostik wie VG1 und VG2. 5.1.2.4 Abhängige Variable „Verstehen“ Wie im Abschnitt 5.1.1.3 zu den Voruntersuchungen geschildert, wird die Güte der Informationsverarbeitung über das Verstehen mithilfe von zehn MultipleChoice-Aufgaben und zwei Transferaufgaben zu einem Schulbuchtext zum Thema Gentransfer erfasst (Zur Darstellung des Aufgabenbogens vgl. Arbeitsblatt I.2 im Anhang).
168
5.1.2.5 Moderatorvariablen Es wird angenommen, dass das Ausmaß, in dem das Denken durch die Aktivierung von impliziten Welt- und Menschenbildern beeinflusst werden kann, durch epistemische Überzeugungen und das mit der Informationsverarbeitung im Zusammenhang stehende epistemische Motiv vermittelt wird. Es werden daher die folgenden Maße erfasst. (1) Epistemische Überzeugungen Während in der entwicklungspsychologischen Forschung meist halbstrukturierte Interviewverfahren zur Erfassung epistemischer Überzeugungen genutzt werden, werden in der pädagogisch-psychologischen Forschung vorwiegend standardisierte Fragebogen eingesetzt. Der Vorteil des standardisierten Zugangs liegt darin, die Erhebung von epistemischen Überzeugungen auch bei großen Stichproben zu erlauben. Aus diesem Grund wird auch in dieser Untersuchung auf die Erhebung epistemischer Überzeugungen über Fragebögen zurückgegriffen. Die epistemischen Überzeugungen werden mithilfe von drei Subskalen erfasst (Gerber 2004). Die erste Subskala Experten bezieht sich auf Überzeugungen zur Quelle von Wissen und der Wissensbegründung. Sie besteht aus neun Items und hat mit einem Cronbachs (Į) Alpha von .78 eine hohe Reliabilität. In Abbildung 5.2 ist ein Beispielitem gegeben.
Abbildung 5.2:
Beispielitem der Subskala Experten
Mit Hilfe der zweiten Subskala Wahrheit werden Überzeugungen zur Sicherheit und Wahrheit des Wissens erfasst. Diese Subskala besteht aus fünf Items und hat mit einem Cronbachs (Į) Alpha von .68 eine Reliabilität auf mittlerem Niveau. In Abbildung 5.3 ist ein Beispielitem gegeben.
Abbildung 5.3:
Beispielitem der Subskala Wahrheit 169
Die dritte Subskala Vielfalt bezieht sich auf epistemische Überzeugungen zur Komplexität des Wissens (Gerber 2004). Sie besteht aus neun Items und hat mit einem Cronbachs (Į) Alpha von .80 eine hohe Reliabilität. In Abbildung 5.4 ist ein Beispielitem gegeben (Zur genauen Darstellung der Subskalen vgl. Tabelle I.4 im Anhang, Einschätzung auf einer Skala von 1 bis 11).
Abbildung 5.4:
Beispielitem der Subskala Vielfalt
(2) Epistemisches Motiv Das epistemische Motiv wird über das Konstrukt Need for Cognition erfasst. Es erfasst die Bereitschaft und Freude am Nachdenken (Cacioppo & Petty 1982; Epstein et al. 1996, dt. Fassung nach Keller et al. 2000, Bless et al. 1994). In der Untersuchung wird der deutsche Fragebogen von Keller et al. (2000) in einer Kurzform mit 10 Items eingesetzt (Skala mit Items und Skalenkennwerten in Tabelle I.5 im Anhang). Die Reliabilität liegt mit einem Cronbachs (Į) Alpha von .87 auf hohem Niveau. In Abbildung 5.5 ist ein Beispielitem gegeben.
Abbildung 5.5:
Beispielitem der Skala Need for Cognition
5.1.2.6 Kontrollvariablen Zur Sicherung der internen Validität werden verschiedene Kontrollvariablen erhoben. Dadurch wird überprüft, ob Kontroll- und Versuchsgruppen in zentralen Merkmalen vergleichbar sind. (1) Fachinteresse Das Interesse einer Person für Biologie und Gentechnik nimmt Einfluss auf die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit biologischen Inhalten und beeinflusst hierüber die Lernleistung (Krapp 1998). Es kann davon ausgegangen werden, 170
dass ein ausgeprägtes Interesse an Biologie oder Gentechnik mit einer intensiveren Auseinandersetzung und effektiveren Verarbeitung biologischer bzw. gentechnischer Inhalte einhergeht. Über zwei Items erfolgt die subjektive Einschätzung ihres eigenen Interesses an Biologie und Genetik auf einer 11-stufigen Skala (1 = niedrig, 11 = sehr groß). (2) Wohlbefinden Wie wohl sich eine Person in einem Kontext fühlt, nimmt Einfluss auf ihre Performanz in Testsituationen. Während sich negative Auswirkungen einer Situation in einem subjektiven Erleben von Stress und Druck ausdrücken, geht das positive Erleben einer Situation mit Entspanntheit und Neugierde einher. Um das Wohlbefinden der Versuchspersonen in der Versuchssituation zu erfassen, wird eine erweiterte Skala zum zweidimensionalen Befindensmodell eingesetzt (Watson & Tellegen 1985, vgl. auch Tellegen et al. 1999). Das zugrundeliegende Circumplex-Modell affektiver Zustände umfasst die beiden um 45° Grad gedrehten Dimensionen Positive Aktivierung (PA) und Negative Aktivierung (NA). Sie beschreiben zwei (theoretisch) unkorrelierte Formen von Aktiviertheit, die jeweils einen positiven und einen negativen Pol haben (Schallberger 2000, 17). Hohe PA entspricht einem positiv gefärbten, konzentrierten Aufgehen in einem Tun, während eine niedrige NA etwa innere Ruhe und Entspanntheit bedeutet. Komplementär hierzu bestehen auch zwei Typen negativer Erlebniszustände. Hohe NA entspricht Gestresstheit, während tiefe PA Lustlosigkeit und Langeweile entspricht. In Abbildung 5.6 ist das Circumplex-Modell affektiver Zustände dargestellt. Mit der in der Studie verwendeten Skala wird zugleich auch die Valenzdimension (VA) erhoben, die sich in den Polen Glücklich und Unglücklich fassen lässt. Nach Schallberger (2000, 17) wird durch sie das klassische „Wohlbefinden“ erfasst.
171
Abbildung 5.6:
Das Circumplex-Modell affektiver Zustände und die verwendeten Operationalisierungen (nach Schallberger 2000, 17)
Die subjektive Einschätzung des Befindens durch die Versuchspersonen erfolgt über 10 Items mit jeweils einem positiven und einem negativen Pol (gestresst vs. entspannt.), zwischen denen sich die Versuchspersonen auf einer siebenstufigen Likertskala verorten können (1 = sehr gestresst, 4 = unentschieden, 7 = sehr entspannt). Die erste Subskala Negative Aktivierungen (NA) besteht aus vier Items und hat mit einem Cronbachs (Į) Alpha von .72 eine hohe Reliabilität. Die zweite Subskala Positive Aktivierung (PA) besteht ebenfalls aus vier Items und hat mit einem Cronbachs (Į) Alpha von .77 eine hohe Reliabilität. Die dritte Subskala Valenz (VA) besteht lediglich aus zwei Items und hat mit einem Cronbachs (Į) Alpha von .805 eine hohe Reliabilität (Zur genauen Darstellung der Subskalen vgl. Tabelle I.6 im Anhang). (3) Interessantheit des Versuchs Auch wie interessant der Versuch von Versuchspersonen der Versuchs- und Kontrollgruppe wahrgenommen wurde, kann auf die Güte der Auseinandersetzung mit den Anweisungen und Aufgaben der Versuchspersonen Einfluss neh-
172
men. Die subjektive Einschätzung der Interessantheit des Versuchs durch die Versuchspersonen erfolgt über ein Item auf einer 11-stufigen Skala (1 = völlig uninteressant, 11 = sehr interessant). (4) Biologisches Vorwissen Die Art und Organisation des Vorwissens bestimmt, wie Informationen im subjektiven Netz von Assoziationen eingeordnet und verknüpft werden (Hennings & Mielke 2005). Da das biologische Vorwissen entscheidenden Einfluss auf die Auseinandersetzung mit den Informationen zum Gentransfer der abhängigen Variable Verstehen nimmt, wird über einen Fragebogen die Vergleichbarkeit von Versuchspersonen der Kontroll- und Versuchsgruppen sichergestellt. Die Erhebung des biologischen Vorwissens wird über drei Komponenten operationalisiert: Wissenstest – Wie in den Ausführungen zu den Vorerhebungen (vgl. Abschnitt 5.1.1.2) dargestellt, wurde ein Wissenstest bestehend aus TIMSSAufgaben und eigens entwickelten Multiple-Choice-Aufgaben konzipiert. Subjektive Einschätzung des Vorwissens zur Gentechnik – Die Einschätzung des eigenen Vorwissens erfolgt auf einer fünfstufigen Skala (1 = ganz schlecht, 2 = relativ schlecht, 3 = einigermaßen, 4 = gut, 5 = sehr gut). Schulische Vorbildung im Fach Biologie – Diese Variable wird über zwei Items operationalisiert. Die Versuchspersonen geben Auskunft zur Art des von ihnen besuchten schulischen Biologiekurses (Grundkurs, Leistungskurs, anderes). Außerdem geben sie an, ob sie im Rahmen ihres schulischen Biologieunterrichtes oder ihres Studiums bereits eine Einführung in das Thema Gentechnik bekommen haben. (5) Angaben zur Person In einem kurzen abschließenden Fragebogen werden Alter, Geschlecht, Studienfach, Semesteranzahl und Muttersprache der Versuchspersonen erhoben. Außerdem schätzen die Versuchspersonen ihr Verständnis der deutschen Sprache auf einer fünfstufigen Skala (1 = gar nicht, 5 = ausgezeichnet) ein. 5.1.2.7 Ablauf der Untersuchung Den Versuchspersonen wird ein kurzer journalistischer Informationsartikel zur Präimplantationsdiagnostik vorgelegt. Sie bekommen unterschiedliche Anweisungen:
173
VG 1
Die Versuchspersonen sollen zunächst vier spontane Assoziationen zu Gentechnik aufschreiben, diese nach persönlicher Wichtigkeit ordnen und in ihren Überlegungen berücksichtigen. VG 2 Die Versuchspersonen sollen vier vorgegebene Alltagsphantasien zur Gentechnik nach persönlicher Wichtigkeit ordnen und in ihre Überlegungen einbeziehen. VG 3 Die Versuchspersonen erhalten keine explizite Aufforderung spontane Assoziationen zur Gentechnik zu äußern. Im Rahmen des journalistischen Informationsartikels werden jedoch vier Alltagsphantasien zur Gentechnik implizit – also außerhalb der Aufmerksamkeit der Versuchspersonen – aktiviert. KG Die Versuchspersonen erhalten keine Aufforderung spontane Assoziationen zur Gentechnik zu äußern und bekommen keine Alltagsphantasien vorgelegt. Um die Versuchspersonen in eine Phase des reflexiven Nachdenkens zu bringen, werden sie anschließend aufgefordert eine Dilemmageschichte zum Thema der Präimplantationsdiagnostik (vgl. Arbeitsblatt I.3 im Anhang) zu bearbeiten (Bearbeitungsdauer 40 min). Dies dient dazu alle Versuchspersonen zu einer reflexiven Auseinandersetzung mit ihren eigenen Gedanken anzuregen, wobei die Personen der Versuchsgruppen dabei die selbstgenerierten oder vorgegebenen Alltagsphantasien reflektierten. Die Versuchspersonen verfassen einen strukturierten Essay zu dem Dilemma, das sie zunächst beschreiben und dann ausdeuten sollen. Nach einer Analyse und dem Abwägen dieser Deutungen werden die Versuchspersonen zum innovativen Spekulieren angeleitet und schließlich aufgefordert ihr Urteil zu formulieren. Nach Abschluss ihres Essays werden die Personen der VG1 und VG2 durch einen kurzen Hinweis (vgl. Arbeitsblatt I.4 im Anhang) noch einmal an die Gedanken auf den Karten auf ihrem Tisch erinnert. Anschließend bekommen alle Versuchspersonen die weiteren Fragebögen zur Erfassung der abhängigen Variable Verstehen (Bearbeitungsdauer insgesamt 40 min: 20 min für das Lesen des Textes und Multiple-Choice-Fragen; weitere 20 min für die Transferaufgaben). Es folgen die Fragebögen zu den Moderator- und Kontrollvariablen in der in Tabelle 5.3 angegebenen Reihenfolge:
174
Tabelle 5.3:
Reihenfolge der Fragebögen in der Studie I
1.
Epistemische Überzeugungen
2.
Fachinteresse
3.
Wohlbefinden
4.
Interessantheit des Versuchs
5.
Biologisches Verständnis
6.
Need for Cognition
7.
Angaben zur Person
5.2 Ergebnisse der Studie I 5.2.1 Vergleichbarkeit der Gruppen Wie Tabelle I.7 im Anhang entnommen werden kann, bestehen zwischen den vier Gruppen keinerlei signifikante Unterschiede bezüglich demographischer Variablen wie Alter (F(3,108)=.98; p=.40), Geschlecht (Ȥ²=.64; df=3; p=.89), Semesteranzahl (F(3,106)=.36; p=.78), Muttersprache (Ȥ²= 29.76; df=39; p=.86) und subjektiver Einschätzung des Deutschverständnisses (F(3,108)=.21; p=.89). Darüber hinaus bestehen keine signifikanten Unterschiede bezüglich des biologischen Vorwissens (operationalisiert über (a) einen Wissenstest: F(3,96)=.20; p=.90); (b) subjektive Einschätzung des Vorwissens zur Gentechnik: F(3,108)=1.29; p=.28) und schulischer Vorbildung (operationalisiert über die Art des schulischen Kurses: Grundkurs/ Leistungskurs/ anderes: Ȥ²=3.32; df=6; p=.77). Auch im Fachinteresse (Interesse für Biologie F(3, 108)=.58; p=.63; Interesse für Gentechnik F(3,108)=.06; p=.98) und Wohlbefinden (operationalisiert über Positive Aktivierung F(3,106)=.52, p=.67, Negative Aktivierung F(3,106)=.21, p=.89 und Valenz F(3,108)=.16, p=.92) unterscheiden sich die Gruppen nicht. In Bezug auf die Interessantheit der Thematik ist die Homogenität der Varianzen nach Überprüfung durch den Levene’s Test verletzt. Zur Darstellung der Vergleichbarkeit zwischen den Gruppen wird deshalb auf den Brown-Forsythe Test (F(3,100)=.28, p=.84) zurückgegriffen, der ein robusteres Maß der Gleichheit von Mittelwerten bei heterogenen Varianzen darstellt (Pallant 2005, 218). 175
Auch bei den Moderatorvariablen Need for Cognition (F(3,108)=.25, p=.86) und epistemische Überzeugungen (operationalisiert über die Subskalen: Experten mit F(3,107)=1.91, p=.13; und „Vielfalt“ mit F(3,107)=.63, p=.60) zeigen sich keine Unterschiede zwischen den vier Gruppen. Da für die dritte Subskala Wahrheit der epistemischen Überzeugungen die Homogenität der Varianzen nach Überprüfung durch den Levene’s Test nicht gegeben ist, wird nach Pallant (2005, 218) auch für diese Skala auf den Brown-Forsythe Test (F(3,105)=1.545, p=.21) zurückgegriffen, um darzustellen, dass keine Unterschiede zwischen den Gruppen bestehen. 5.2.2 Unterschiede zwischen den Gruppen Im Folgenden werden die Daten im Hinblick auf die zu Beginn des Kapitels 5 genannten Forschungshypothesen analysiert. Dabei ist der Ergebnisbericht gemäß der beiden Hypothesen zur Moderatorfunktion von epistemischen Überzeugungen und des epistemischen Motivs (Need for Cognition) in zwei Abschnitte unterteilt. 5.2.2.1 Effekte unter Moderation durch epistemische Überzeugungen Eine erste Analyse möglicher Moderationseffekte durch die epistemischen Überzeugungen erfolgt über die Methode der Gruppenbildung, bei der die metrische Variable in zwei gleich große Gruppen mit niedrigen bzw. höheren Werten aufgeteilt wird. Eine Dichotomisierung der metrischen Variable Epistemische Überzeugungen anhand eines Mediansplits führt zu einer kategorialen Variablen mit zwei Gruppen von denen eine über reifere und die andere über weniger reife epistemische Überzeugungen verfügt. In der Folge können die Daten mit einer zweifaktoriellen (Zwischengruppen-) Varianzanalyse mit dem Faktor experimentelle Gruppenzugehörigkeit (Versuchsgruppe vs. Kontrollgruppe) und epistemische Überzeugungen (reif vs. unreif) und der abhängigen Variablen Punktezahl in Multiple-Choice- und Transferaufgabe ausgewertet werden. Da sich unter Moderation durch die epistemischen Überzeugungen in den Ergebnissen der Teilnehmer der ersten beiden Versuchsgruppen (explizite Aktivierung von Alltagsphantasien) im Vergleich miteinander keine Unterschiede zeigen, sind diese in der folgenden Analyse zusammengefasst. Die folgenden Ergebnisse beziehen sich folglich auf einen Vergleich der Kontrollgruppe mit den Versuchsgruppen 1 und 2, in denen die Versuchsperso176
nen explizit dazu aufgefordert wurden, entweder selbst über spontane Assoziationen Alltagsphantasien zum Thema Gentechnik zu generieren oder typische Alltagsphantasien vorgelegt bekamen. In Bezug auf die implizite Aktivierung typischer Alltagsphantasien (VG 3) zeigen sich keine von der epistemischen Ausrichtung abhängigen Effekte im Abschneiden der Versuchsteilnehmer. Analyse epistemischer Überzeugungen – Subskala Experten Die nachfolgenden Ergebnisse beziehen sich auf die Subskala Experten, die das Vertrauen auf Autoritäten und die kritische Einstellung gegenüber Wissensquellen erfasst. Personen mit reifen epistemischen Überzeugungen zu den Quellen von Wissen und der Bedeutung von Autoritäten gehen davon aus, dass man auch Experten hinterfragen muss und eigene Überlegungen zu dem Entstehen und der Richtigkeit von Wissen anstellen sollte. Personen mit weniger reifen epistemischen Überzeugungen vertrauen stärker auf Experten und glauben, dass Autoritäten auf einem Wissensgebiet am Besten beurteilen können, was falsch und was richtig ist. (1) Zweifaktorielle Varianzanalyse mit Mediansplit In einer zweifaktoriellen Varianzanalyse (Faktor „Versuchs-/ Kontrollbedingung explizite Aktivierung“ x Faktor „reife/ unreife epistemische Überzeugungen“) zeigt sich für die Skala Experten ein signifikanter Interaktionseffekt für das Abschneiden bei der Transferaufgabe (KG/ VG explizit“ X „EÜ experten reif/unreif“: F=3.84, df = 1, p=.053, Ș2=.044). Bei reifen epistemischen Überzeugungen in Bezug auf Experten wird die Transferaufgabe zum fokussierten Denken in der Kontrollgruppe besser gelöst als bei weniger reifen epistemischen Überzeugungen. In der Versuchgruppe zeigen sich keine Unterschiede. Der Interaktionseffekt ist in Abbildung 5.7 dargestellt.
177
Lösung der Transferaufgabe
Erreichte Punktzahl (max. 8 P.)
7
Kontrollgruppe Versuchsgruppe
6,5
6
5,5
5
4,5 unreife epist. Überz.
Abbildung 5.7:
reife epist. Überz.
Darstellung des Interaktionseffektes, Mittelwerte der Transferaufgabe getrennt nach Versuchsgruppe, Kontrollgruppe und Need for Cognition
Für die erreichte Punktezahl in der Multiple-Choice-Aufgabe zeigt sich lediglich eine Tendenz („KG/ VG explizit.“ x „EÜ experten. reif/unreif“: F = 3.40, df = 1, p=.069, Ș2=.044). Die Reife der epistemischen Überzeugungen in Bezug auf Experten wirkt sich nur in der Kontrollgruppe auf das Abschneiden in den Multiple-Choice-Aufgaben aus. Die Tendenz weist dahingehend, dass bei reifen epistemischen Überzeugungen die Multiple-Choice-Aufgaben von Personen der Kontrollgruppe besser gelöst werden als bei weniger reifen epistemischen Überzeugungen.
178
(2) Regressionsanalytische Überprüfung der Effekte Dieser Moderationseffekt wird auf zwei Weisen regressionsanalytisch überprüft und bestätigt. Die lineare Regressionsanalyse untersucht die lineare Abhängigkeit zwischen einer metrisch skalierten abhängigen Variablen und einer oder mehreren metrisch skalierten unabhängigen Variablen. Mithilfe von zwei separaten linearen Regressionsanalysen wurden für die beiden Ausprägungen der kategorialen Variablen Gruppe (Versuchs- und Kontrollgruppe) zunächst unabhängig voneinander die Korrelationskoeffizienten ermittelt. a. Separate lineare Regressionsanalysen Für die Kontrollgruppe zeigt sich ein signifikanter Regressionseffekt (ba=1.035; SE=.31; p=.002) für den Zusammenhang von der Punktezahl in der Transferaufgabe mit dem Reifegrad der epistemischen Überzeugungen in Bezug auf Experten. Mit einer Wahrscheinlichkeit von 0.2% in der Grundgesamtheit besteht kein Zusammenhang zwischen dem Reifegrad der epistemischen Überzeugungen (Subskala Experten) einer Person der Kontrollgruppe und ihrer erreichten Punktezahl in der Transferaufgabe. Für die Versuchsgruppe 1+2 wird die einfache Regressionsanalyse dagegen nicht signifikant (bb=-.117; SE=.39; p=.765). In den Abbildungen 5.8 und 5.9 sind die beiden Regressionslinien einmal beispielhaft dargestellt.
Punktzahl in der Transferaufgabe (max. 8)
8
6
4
2
R-Quadrat linear = 0,002
0 1,00
2,00
3,00
4,00
5,00
Epistem. Überz. Subskala Experten
Abbildung 5.8:
Lineare Regressionsgrade der Versuchsgruppe
179
Punktzahl in der Transferaufgabe (max. 8)
8
6
4
2
R-Quadrat linear = 0,222
1,00
2,00
3,00
4,00
5,00
Epistem. Überz. Subskala Experten
Abbildung 5.9:
Lineare Regressionsgrade der Kontrollgruppe
Für die Kontrollgruppe wird die Regressionsanalyse (ba=-1.367; SE=.33; p=.000) für den Zusammenhang von der Punktezahl in den Multiple-ChoiceAufgaben mit dem Reifegrad der epistemischen Überzeugungen in Bezug auf Experten signifikant. Mit einer Wahrscheinlichkeit von 0% in der Grundgesamtheit besteht kein Zusammenhang zwischen dem Reifegrad der epistemischen Überzeugungen in Bezug auf Experten einer Person der Kontrollgruppe und ihrer erreichten Punktezahl in den Multiple-Choice-Aufgaben. Für die Versuchsgruppe 1+2 wird die einfache Regressionsanalyse dagegen nicht signifikant (bb=-.073; SE=.40; p=.856). b. Moderierte Regressionsanalyse mit Interaktionsterm Da durch die Bestimmung separater und unterschiedlicher Korrelationen nicht zwangsläufig auf einen tatsächlichen Moderatoreffekt der kategorialen Variablen geschlossen werden kann, sondern die unterschiedlichen Korrelationen auch auf Unterschieden in der Varianz der metrischen Prädiktorvariablen und der Kriteriumsvariablen beruhen können (Richter 2007, 117), wird der Moderatoreffekt zusätzlich über eine moderierte Regressionsanalyse mit metrischen und kategorialen Prädiktoren überprüft (Aiken & West 1991). In der verwendeten Regressionsgleichung wird dabei neben den Haupteffekten aller betrachteten Prädiktoren im Modell auch ein Interaktionsterm beider Prädiktoren einbezogen. Die qualitative Variable der Gruppenzugehörigkeit wird dichotom bzw. binär codiert und hat damit nur zwei Ausprägungen (Dummy-Variable). 180
Insgesamt konnte das Modell mit den beiden Haupteffekttermen und dem Interaktionsterm knapp ein sechstel der Varianz in der Testleistungen in der Transferaufgabe aufklären (R2=.18, F= 5.9, df=3, p