Sonja Ganguin Computerspiele und lebenslanges Lernen
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Sonja Ganguin Computerspiele und lebenslanges Lernen
Medienbildung und Gesellschaft Band 13 Herausgegeben von Winfried Marotzki Norbert Meder Dorothee M. Meister Uwe Sander Johannes Fromme
Sonja Ganguin
Computerspiele und lebenslanges Lernen Eine Synthese von Gegensätzen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
. 1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Stefanie Laux VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17487-7
Inhalt
1. Präludium .................................................................................................... 11 2. Sozialhistorische Analyse – Das Spiel und seine konzeptionellen Gegenbegriffe .............................................................................................. 17 2.1 Antike – das Spiel beginnt ....................................................................... 19 2.1.1 Die Griechen – der agonale Mensch? ........................................... 19 2.1.1.1 Die Olympischen Spiele ............................................................ 20 2.1.1.2 Die Bedeutung des kindlichen Spiels (Platon und Aristoteles) ................................................................................ 23 2.1.1.3 Spiel und Ernst, Muße vs. Arbeit .............................................. 28 2.1.2 Die Römer – der expansive Mensch? ........................................... 32 2.1.2.1 Panis et circenses ....................................................................... 33 2.1.2.2 Die Bedeutung des kindlichen Spiels (Cicero und Quintilian) ................................................................................. 35 2.1.2.3 Spiel ist Tand ............................................................................. 37 2.1.3 Fazit: Der Beginn der Abwertung des Spielbegriffs .................... 38 2.2 Exkurs: Jüdisch-christliche Überlieferung .............................................. 39 2.2.1 Der Sündenfall: Arbeit als Privileg vs. Strafe .............................. 42 2.2.2 Arbeit vs. Faulheit ........................................................................ 43 2.2.3 Arbeiten als Muss ......................................................................... 44 2.2.4 Fazit: Die Dominanz der Arbeit gegenüber dem Spiel................. 45 2.3 Mittelalter und Frühe Neuzeit – Arbeit als primärer Lebensbereich ....... 46 2.3.1 Christliches Mittelalter – der schuldbeladene Mensch? ............... 47 2.3.1.1 Spielerisches Vergnügen vs. Arbeit als Buße (Frühmittelalter) ........................................................................ 48 2.3.1.2 Spiel verhöhnt und geliebt (Hochmittelalter) ............................ 50 2.3.1.3 Verdammnis des Spiels (Spätmittelalter) .................................. 54 2.3.2 Frühe Neuzeit – der fromme Mensch? ......................................... 58 2.3.2.1 Der Mensch als magnum miraculum (Renaissance).................. 59 2.3.2.2 Das Spiel als Laster (Reformation) ........................................... 61 2.3.2.3 Das Leben als Theater (Barock) ................................................ 64
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Inhalt
2.3.2.4 Spieleinschränkung oder Spielverbot? (Pietismus) ................... 68 2.3.3 Das Zeitalter der Aufklärung – der rationale Mensch? ................ 70 2.3.3.1 Das Nützliche im Spiele suchen? .............................................. 73 2.3.3.2 Spiel und Arbeit zu unterschiedlichen Zeiten ............................ 77 2.3.3.3 Glücksspiele als Gefahr für die Arbeit ...................................... 80 2.3.3.4 Über die Trennung von Arbeit und Freizeit .............................. 81 2.3.4 Fazit: Das Spiel als Gegenspieler der Arbeit ................................ 83 2.4 Das 19. Jahrhundert – Aufbruch in die Moderne..................................... 87 2.4.1 Der idealistische Mensch (Schiller).............................................. 90 2.4.1.1 Antikes Spielideal vs. entfremdete Arbeit ................................. 90 2.4.1.2 Spieltrieb als Vermittlungsinstanz ............................................. 91 2.4.1.3 Rehabilitierung des Spielbegriffs .............................................. 93 2.4.2 Der romantische und zu bildende Mensch ................................... 95 2.4.2.1 Spiel und Phantasie (Paul) ......................................................... 95 2.4.2.2 Das Spiel als kindliche bildende Lebensform (Fröbel) ............. 96 2.4.3 Der spezialisierte Mensch (Spielforschung) ................................. 97 2.4.3.1 Das Wesen des Spiels – eine Negativ-Definition (Schaller) ................................................................................... 99 2.4.3.2 Die Reize der Spiele (Lazarus) ................................................ 103 2.4.3.3 Interdisziplinäre Spielsynopse (Groos).................................... 112 2.4.4 Fazit: Spiel vs. Ernst................................................................... 121 2.5 Das 20. Jahrhundert – Das Zeitalter der Extreme .................................. 123 2.5.1 Das Spiel als identifizierbarer Gegenstand? ............................... 125 2.5.1.1 Spielkennzeichen nach Huizinga ............................................. 126 2.5.1.2 Spielkennzeichen nach Caillois ............................................... 128 2.5.1.3 Der pragmatische Kompromiss: Ein Spielkatalog ................... 131 2.5.2 Das spielende Kind und der arbeitende Erwachsene? ................ 135 2.5.2.1 Die Beschränkung von Spielstadien auf das Kind ................... 136 2.5.2.2 Spiel als Ergänzung für den Alltag Erwachsener .................... 141 2.5.2.3 Dialektische Aufhebung der Gegensätze? ............................... 143 2.5.3 Spiel und Ernst ........................................................................... 144 2.5.3.1 Diskussion: Entstehungsgeschichte von Spiel und Ernst ........ 145 2.5.3.2 Ernsthaftes Spielen? ................................................................ 147 2.5.3.3 Das Postulat der Zweckfreiheit................................................ 148 2.5.4 Spiel und Arbeit ......................................................................... 152 2.5.4.1 Spielsemantik im gesellschaftlichen Wandel – Die unfreie Arbeit und das freie Spiel? ...................................................... 153 2.5.4.2 Inhaltliche und definitorische Spieldiskrepanz ........................ 156
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2.5.4.3 Im Flow? – Strukturähnlichkeiten von Spiel und Arbeit ......... 158 2.5.5 Fazit: Alles Spiel? ...................................................................... 162 2.6 Resümee ................................................................................................ 164 2.6.1 Das Definitionsdilemma ............................................................. 165 2.6.2 Spieldiskurse .............................................................................. 166 2.6.2.1 Das instrumentell-rationalisierte Spiel .................................... 167 2.6.2.2 Das realitätsfern-sinnlose Spiel ............................................... 168 2.6.2.3 Das romantisch-leidenschaftliche Spiel ................................... 169 2.6.2.4 Das moralisch-verwerfliche Spiel ........................................... 170 2.6.3 Drei Spielprinzipien – Das Spiel und seine Gegenspieler .......... 171 3. Aktueller Diskurs – Der Spieler in der Wissensgesellschaft? ................ 175 3.1 Das Kompetenzspiel in der Arbeit ........................................................ 178 3.1.1 Lernen – ein Leben lang? ............................................................. 179 3.1.1.1 Drei Sichtweisen auf lebenslanges Lernen .............................. 181 3.1.1.2 Gründe für lebenslanges Lernen .............................................. 184 3.1.2 Weiterbildung im Wandel: Neue Medien – Neues Lernen? ....... 185 3.1.2.1 Weiterbildung: Spaß oder Anstrengung?................................. 186 3.1.2.2 E-Learning: die (gescheiterte) Lernform des 21. Jahrhunderts? ........................................................................... 189 3.1.3 Anforderungen an heutige Individuen in der Wissensgesellschaft: Das agonale Spiel des Arbeitskraftunternehmers? ......................................................... 192 3.2 Der Computer – Arbeits- oder Spielmedium? ....................................... 196 3.2.1 Kindliche Computernutzung ...................................................... 196 3.2.2 Computernutzung von Jugendlichen .......................................... 199 3.2.2.1 Offline-Tätigkeiten .................................................................. 200 3.2.2.2 Offline- und Online-Tätigkeiten .............................................. 203 3.2.3 Computernutzung Erwachsener ................................................. 204 3.3 Computerspiele – ein ernst zunehmendes Phänomen? .......................... 208 3.3.1 Das Computerspiel – ein Nischenmarkt? ................................... 208 3.3.2 Definition Computerspiel ........................................................... 211 3.3.3 Das Problem mit den Spielgenres .............................................. 212 3.3.4 Computerspielnutzung in Deutschland – ein Jugendphänomen? ...................................................................... 218 3.3.4.1 Computerspielnutzung von Kindern ........................................ 220 3.3.4.2 Computerspielnutzung Jugendlicher ....................................... 222 3.3.4.3 Computerspielnutzung Erwachsener ....................................... 225
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3.3.5 Faszination Computerspiel ......................................................... 236 3.3.5.1 Veni, vidi, lusi – Nutzungsmotive ........................................... 236 3.3.5.2 Strukturbesonderheiten .............................................................. 245 3.3.6 Computerspiele als Lernköder? .................................................. 249 3.3.6.1 Kompetenzförderliche Potenziale von Computerspielen ........ 250 3.3.6.2 Vom Edutainment zu den Serious Games ............................... 261 3.4 Fazit: Ready for a change? Das Computerspiel in der Diskussion ........ 269 4. Empirische Studie – Spiel, Arbeit und Lernen aus Studierendensicht ...................................................................................... 275 4.1 Forschungsdesign .................................................................................. 278 4.1.1 Hypothesen ................................................................................. 278 4.1.2 Fragebogenerhebung und Stichprobenbeschreibung .................. 279 4.1.3 Methoden der Datenanalyse ....................................................... 281 4.1.3.1 Semantisches Differenzial ....................................................... 281 4.1.3.2 Hauptkomponentenanalyse...................................................... 285 4.1.3.3 Clusteranalyse ......................................................................... 288 4.2 Quantitative Ergebnisse ......................................................................... 291 4.2.1 Was wird gespielt? ..................................................................... 291 4.2.2 Spielmerkmale und Spielantagonismen ..................................... 294 4.2.3 Semantische Bedeutungsanalyse von Spiel, Arbeit und Lernen ........................................................................................ 300 4.2.3.1 Das Semantische Feld von Spiel, Arbeit und Lernen .............. 301 4.2.3.2 Spiel und Arbeit – ein trendanalytischerVergleich .................. 305 4.2.3.3 Die Beziehung von Spiel, Arbeit und Lernen .......................... 315 4.2.3.4 Fazit: Spiel und Arbeit vs. Spiel und Lernen ........................... 324 4.2.4 Grundmuster von Spiel und Arbeit ............................................ 327 4.2.4.1 Struktur des Arbeitsbegriffs .................................................... 328 4.2.4.2 Struktur des Spielbegriffs ........................................................ 337 4.2.4.3 Struktur des Verhältnisses von Spiel, Arbeit und Lernen ........ 347 4.2.4.4 Fazit ......................................................................................... 355 4.2.5 Typologie subjektiver Deutungsmuster von Spiel, Arbeit und Lernen ................................................................................. 358 4.2.5.1 Cluster 1: Die arbeitsorientierten Pragmatiker ........................ 359 4.2.5.2 Cluster 2: Die lebensgewinnorientierten Spielbefürworter...... 362 4.2.5.3 Cluster 3: Die spielskeptischen Traditionalisten ..................... 365 4.2.5.4 Cluster 4: Die desinteressierten Spielgegner ........................... 367 4.2.5.5 Cluster 5: Die unbefangenen Spielverteidiger ......................... 369
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4.2.5.6 Synopse der Cluster ................................................................. 372 4.2.5.7 Fazit ......................................................................................... 378 4.3 Zusammenfassung der quantitativen Ergebnisse ................................... 380 5. Postludium ................................................................................................. 383 Literatur .......................................................................................................... 389 Anhang ............................................................................................................. 411 Tabellenverzeichnis .................................................................................... 411 Abbildungsverzeichnis ................................................................................ 413 Tabellarischer Anhang ................................................................................ 416 Fragebogen .................................................................................................. 418 Ausprägungen der 5 Cluster auf den 12 Hauptkomponenten (z-Werte) ..... 432 Mittelwerte .................................................................................................. 433 Arbeit .................................................................................................... 433 Spiel .................................................................................................... 436 Lernen.................................................................................................... 439 Differenzen und Korrelationen des Semantischen Differenzials................. 440
1. Präludium
In jüngster Zeit kursieren vor allem im Bereich der Erwachsenen- und Weiterbildung Stimmen, die empfehlen, das Lernen – mit Neuen Medien – durch Spielelemente in mehrerlei Hinsicht zu verbessern. Einerseits greifen hier (wirtschaftliche) Rationalitäten: Die Bereitschaft von Berufstätigen zum eigenmotivierten und eigenstrukturierten lebenslangen Lernen gilt mittlerweile als bedeutender ökonomischer Faktor, der nicht nur den betrieblichen Erfolg, sondern auch die volkswirtschaftliche Potenz im Kontext globaler Konkurrenz sichern soll. »Ziel bleibt, die Europäische Union zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen« (BMBF 2007: 5). So weist die Bundespolitik energisch auf die Notwendigkeit von Lernen hin, damit auf der einen Seite der ›Wirtschaftsstandort Deutschland‹ im globalen Wettbewerbsdruck bestehen und auf der anderen Seite die Individuen selbst in unserer Gesellschaft erfolgreich partizipieren können. Andererseits lässt der fortschreitende Prozess von Differenzierung und Technisierung in der so genannten Wissensgesellschaft das vorhandene Wissen schnell veralten. Daher erfordert die geringe Halbwertzeit des relevanten Wissens eine kontinuierliche Anpassung; eine einmal erworbene Qualifikation durch Schul- und Berufsbildung reicht nicht mehr für ein ganzes (Arbeits-)Leben. Schließlich gehorchen Lebenspläne, Identitäten etc. nicht mehr der Logik der überkommenen ›Normalbiografie‹; auch individuelle Gewissheiten, Ziele und Lebensbezüge müssen flexibel angepasst und ständig neu gestaltet werden. Folglich, so die These, findet sich das Individuum in einer Gesellschaft wieder, in der es stets bereit sein muss, sich permanent neues Wissen durch Lernen anzueignen. Allerdings ist hier ein Problem erkennbar: Lernen ist eine anstrengende Tätigkeit. Sie kann Kindern und Jugendlichen extern als Aufgabe durch Erwachsene zugemutet werden, da Erziehende gegenüber Heranwachsenden zur Handlungssteuerung im Sinne einer verantwortlichen Sorge für das spätere Leben ermächtigt sind. Zudem wurde Lernen im Heranwachsendenalter über Jahrhunderte institutionalisiert, ist im Sinne von Alfred Schütz eine unhinterfragbare Wirklichkeit geworden. Ob Kinder und Jugendliche lernen wollen oder ob ihnen Lernen Spaß macht, spielt kaum eine Rolle, ihnen bleibt wenig anderes übrig. S.Ganguin, Computerspiele und lebenslanges Lernen, DOI:10.1007/ 978-3-531-92433-5-1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
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1. Präludium
Anders sieht es aus, wenn Erwachsene lernen sollen. Diese Altersgruppe ist mit viel mehr Autonomie ausgestattet, sodass die Gefahr eines Widerstandes gegen Lernen oder Bildung wächst (vgl. Axmacher 1990). Dieser Widerstand gegen Lernen kann zudem durch die Neuen Medien noch verstärkt werden (vgl. Grotlüschen 2003). Gerade selbstbestimmtes Lernen ist wesentlich dadurch charakterisiert, dass kaum mehr institutionelle Fremdsetzungen den Lernprozess strukturieren und nicht mehr einen Lernrhythmus erzeugen, der sich ansonsten quasi von selbst wie z.B. in der Schule ergibt. Kurzum, selbstgesteuertes, selbstbestimmtes Lernen im Erwachsenenalter bedarf einer hohen Motivation. Zudem korrespondiert der normative Kern des Konzepts vom lebenslangen Lernen – die Forderung nach ständiger Bereitschaft zum Lernen, die auch bedeutet, dass in der Freizeit gelernt werden soll – nicht unbedingt mit den Lebensvorstellungen jedes Einzelnen. Lernen im Erwachsenenalter tritt häufig nicht in der Gestalt einer Lebensbereicherung auf, sondern als Imperativ mit oftmals negativen Assoziationen wie Anstrengung und Mühsal. An dieser Stelle setzen nun neue didaktische Überlegungen an. Aufgrund ernüchternder Erfahrungen (z.B. hoher Abbrecherquoten) bei der Umsetzung von Konzepten lebenslangen Lernens im Zusammenhang mit E-Learning haben didaktische Konzepte in die medienpädagogische Diskussion Einzug erhalten haben, die Erwachsene so motivieren wollen, dass diese freiwillig und mit Freude lebenslang lernen. Lernen soll – so die Devise – Spaß machen. Doch wie lassen sich Spaß und Freude beim Arbeiten und Lernen didaktisch fördern? Was sind z.B. gern gewählte, intrinsisch motivierte Freizeitaktivitäten, die hier genutzt werden können? Als Paradigma einer Aktivität, die gern um ihrer selbst willen ausgeübt wird, gilt hierbei das Spiel. Die Affinität der Pädagogik, Spiele als Lernmittel einzusetzen, ist nicht neu. Innovativ ist allerdings die derzeitige Diskussion in Medienpädagogik und Erwachsenenbildung, nun auch digitale Spiele für das formale Lernen Erwachsener fruchtbar zu machen. So widmet beispielsweise die »Zeitschrift für Erwachsenenbildung«, die vom Deutschen Institut für Erwachsenenbildung (DIE) herausgegeben wird, dem Gegenstand »Bildung und Spiel« ein eigenes Themenheft (vgl. DIE 2009). Didaktische Ansätze, die in diesem Zusammenhang diskutiert werden, sind beispielsweise Serious Games oder GameBased Learning, die als unterhaltsame, interaktive Bildungsprogramme betrachtet werden können (vgl. Lampert/Schwinge/Tolks 2009: 1). Hier findet eine didaktische Synthese zwischen Computerspielen und pädagogischen Lernszenarien statt. In diesem Sinn rücken Computerspiele in den Fokus didaktischer Kalküle, mit der Fragestellung, wie durch sie Lernprozesse erleichtert werden können, die
1. Präludium
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auch der Qualifikation dienen. Die These dahinter lautet: »Computerspiele trainieren die perfekten Arbeitnehmer der Zukunft« (Deterding 2007: 3). Flankierend zu diesen neuen Lernkonzepten lassen sich empirische Befunde anführen, die aufdecken, dass nicht nur Kinder und Jugendliche einen erheblichen Teil ihrer Freizeit mit Computerspielen verbringen, sondern auch Erwachsene (vgl. z.B. Wolling 2008; Grüninger/Quandt/Wimmer 2008). So wird mittlerweile von einer neuen Game Generation (vgl. z.B. Prensky 2001: 35ff.; Rahmen 2008; Magdans 2008) gesprochen. Aus diesen Überlegungen wird das Spiel nun als eine Art ›Zaubermittel‹ deklariert, das den Lernbedürfnissen der neuen Generation entspreche und das Lernen erleichtere: »When you think of computer games, there’s lots of engagement but little content. Business has lots of content, but no engagement. Put the two together and you have a way to learn the business through computers that makes sense for this generation« (Prensky 2001: 1). So finden sich immer mehr Publikationen, die der Frage nachgehen, wie durch Computerspiele auch Erwachsene ihre beruflichen Kompetenzen fördern können, und die sondieren, ob sich Computerspiele sinnvoll in formale Bildungsprozesse, z.B. in die Aus- und Weiterbildung, integrieren lassen (vgl. Meier/Seufert 2003; Seufert/Meier 2003; Arbeitsgemeinschaft Betriebliche Weiterbildungsforschung e.V. 2004; Gebel/Gurt/ Wagner 2005). Allerdings steht diesen spielintegrativen didaktischen Ansätzen ein über die Jahrhunderte hinweg entwickeltes Problem gegenüber: Bei dem Versuch, das Spiel für formale Qualifikationsprozesse einzusetzen, muss ein historisch gewachsener Antagonismus zwischen der ernsten Sphäre des Lernens und der Arbeit und der zweckfreien, unernsten und traditionell als nebensächlich geltenden Sphäre des Spiels überwunden werden. Weiterhin scheinen Elemente, die aus dem Handlungskontext des Spiels entnommen und für dritte Zwecke (z.B. Lernmotivation in formalen Settings) instrumentalisiert werden, ihrer Leichtigkeit und Attraktivität beraubt zu werden. Man könnte mit einer medizinischen Metapher sagen: Der Transplantationsvorgang des Spiels in Lernsettings krankt noch an Abstoßungsreaktionen. Dies betrifft die Grundthese meiner Arbeit, und zwar die Tatsache eines historisch gewachsenen und strukturellen Widerspruchs zwischen Spiel und funktionalem Lernen mit Neuen Medien im Kontext (beruflicher) Bildung. Dieser These folgend gliedert sich die vorliegende Arbeit in drei Bereiche: Der erste Hauptteil dieser Arbeit, der auch als eigenständige theoretische Arbeit konzipiert ist, beschäftigt sich mit einer sozialhistorischen Analyse über den Spielbegriff im Kontext seiner konzeptionellen Gegenbegriffe Arbeit und Ernst. Die Fragestellung lautet hier, wie das Spiel durch die Jahrhunderte, von der
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1. Präludium
Antike bis in das 20. Jahrhundert, bewertet und beurteilt wurde. Die grundlegende Annahme ist, dass die Leitdifferenz von Spiel-Arbeit und Spiel-Ernst den Blick auf die Spielsemantiken bestimmt und dass das Spiel somit immer wieder den seriöseren, als normativ notwendig beurteilten Tätigkeiten untergeordnet wird. Dadurch – so die These – erhält das Spiel a) eine negative Semantik und wird b) aus der Lebenswelt der Erwachsenen exkludiert. Hier steht folglich die Frage nach einem historisch aufgebauten Widerspruch zwischen Arbeit (i.e. »Ernst«) und Spiel (i.e. »Spaß«) im Vordergrund. Der zweite Teil des Werkes, der mit »Der Spieler in der Wissensgesellschaft« überschrieben ist, geht dem aktuellen Spielediskurs nach, indem gesellschaftliche Hintergründe und Prozesse aufgezeigt werden, die das Aufkommen didaktischer Ansätze wie Serious Games oder Game-Based Learning protegieren. Dieses Kapitel gliedert sich in zwei Unterpunkte. Einerseits wird die Behauptung sondiert, dass die erfolgreiche Verknüpfung von Arbeit und Lernen zum ›Kompetenzspiel‹, zum Wettbewerbsfaktor um Arbeitsplatz und soziale Position avancieren wird. Der Weg zu diesem Ziel einer erfolgreichen Anpassung an die moderne Alltags- und Arbeitswelt lautet: lebenslanges Lernen. Andererseits steht die starke Behauptung auf dem Prüfstand, wonach das Computerspiel bei der Umsetzung dieser politischen Forderung des lebenslangen Lernens konstruktiv eingesetzt werden sollte. Insofern geht dieses Kapitel der bereits angesprochenen und neu diskutierten Beziehung zwischen Spiel, Lernen und Arbeit nach. Der dritte und letzte Hauptteil dieser Arbeit stellt eine eigene empirische Untersuchung vor, die zum Ziel hat, die vorher theoretisch rekonstruierten Hypothesen mit der empirischen Realität zu konfrontierten. Die eigene empirischquantitative Studie wurde mit Studierenden als Befragten an der Universität Bielefeld durchgeführt und mithilfe mehrerer multivariater Verfahren ausgewertet. Zunächst soll mit Hilfe der Methode des Semantischen Differenzials die zugrunde liegende Semantik der Begriffe Spiel, Arbeit und Lernen aus Studierendensicht erhoben werden. Die unterschiedlichen Termini werden auf ihre Konnotationen und Assoziationen hin analysiert, wobei interessiert, wie das semantische Verhältnis dieser Begriffe zueinander aussieht. Darauf folgend werden Ergebnisse einer Hauptkomponentenanalyse dargestellt mit dem Ziel, unterscheidbare Grundmuster von Spiel und Arbeit extrahieren zu können. Die dahinter stehende Grundthese lautet, dass sich einerseits Versatzstücke eines jahrtausendealten Diskurses über das Spiel in den jeweiligen Hauptkomponenten (hier auch Grundmuster genannt) finden, sich andererseits aber auch neue Grundmuster identifizieren lassen, die auf eine neue (postmoderne) Deutung zwischen Spiel und Arbeit schließen lassen. Ziel der anschließenden Clusteranalyse ist es,
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inhaltlich voneinander unterscheidbare Gruppen von Studierenden zu rekonstruieren, die durch je eigene markante Spieldeutungen gekennzeichnet sind. Die so empirisch gefundenen Typen von Spieldeutungen wiederum beziehen sich auf die herausgearbeiteten, historisch unterschiedlich gewachsenen Deutungsmuster, die die sozialhistorische Analyse zum Ergebnis hatte. Eingebettet in diese Typik sind dann noch die Verhältnisse von Spiel, Arbeit und Lernen; und es wird überprüft, ob sich in den unterschiedlichen Clustern konträre Pole wie Gegner oder Befürworter von Game-Based Learning bzw. Serious Games finden lassen. Das abschließende Postludium hat die Aufgabe, ein Fazit aus den gewonnenen Erkenntnissen zu ziehen.
2. Sozialhistorische Analyse – Das Spiel und seine konzeptionellen Gegenbegriffe
Dieses Kapitel verfolgt zwei Ziele: Zum einen liegt den folgenden Ausführungen ein historisch-gesellschaftliches und semantisches Erkenntnisinteresse über den Spielbegriff zugrunde. Theoretisch grundlegend ist dabei die Annahme, Sprache sei der Ort der »gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit« (Berger/ Luckmann 2004). Sprache gilt in diesem Sinn als Bestimmungsfaktor der Wahrnehmung, des Wissens und der Erkenntnis zugleich. Obwohl sich Wirklichkeit nicht allein auf Sprache reduzieren lässt, wären soziale Wirklichkeitskonstruktionen ohne die sinnkreierenden Akte sprachlicher Leistungen kaum möglich. »In dieser Differenzbestimmung ist aber die Nötigung enthalten, dass jeder Begriff seine Geschichte hat« (Koselleck 2003: 4). Und genau um die Rekonstruktion dieser Geschichte geht es – konkret um die Geschichte des Spielbegriffs. Begriffsgeschichte wird verstanden als ein »Prinzip der Erkenntnis«, respektive der »Kultur- und sozialgeschichtlichen Forschung und [als – S.G.] ein entsprechendes methodisches Instrument« (Wiehl 2003: 81). Begriffsgeschichte bezieht sich somit auf Sozial- und politische Geschichte. Ferner werden allerdings auch ideengeschichtliche Quellen zur folgenden theoretischen Untersuchung herangezogen. Philosophie, Religion, Staatstheorie und Kunst, so die Annahme, tragen ebenso zur Veränderung von Wortbedeutung und Wortgebrauch bei.1 Insgesamt speisen sich die folgenden Ausführungen aus einem Potpourri begriffs-, wort-, ideen- sowie mentalitätsgeschichtlicher Betrachtungen über Spiel, die dessen Genese, Konstitutionsbedingungen, Abhängigkeiten und zeitgenössische gesellschaftliche Bedeutungszuschreibungen offen legen sollen. Zum anderen wird der Spielbegriff im Weiteren in einen bestimmten Kontext gestellt; konkret wird er mit dem Begriff der Arbeit kontrastiert. Das Verständnis von Arbeit in den unterschiedlichen Epochen, so die primäre These, bestimmt auch das Spiel als gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit. Da sprach-
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In der Geschichtswissenschaft wird eine Diskussion über die Abgrenzung zwischen Begriffsund Ideengeschichte geführt. Diese Diskussion kann hier nicht weiter ausgeführt werden. Bezüglich dieser Abgrenzung in der historischen Forschungsdebatte siehe Wiehl 2003: 81ff.
S.Ganguin, Computerspiele und lebenslanges Lernen, DOI:10.1007/ 978-3-531-92433-5-2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
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2. Sozialhistorische Analyse – Das Spiel und seine konzeptionellen Gegenbegriffe
liche Wirklichkeitskonstruktionen in der Menschheitsgeschichte gravierend durch gesellschaftlich herrschende Gruppen erzeugt und weitergeben werden, kann es durchaus vorkommen, dass das Sprechen über Spiel und Arbeit und das konkrete Spielen und Arbeiten nicht deutungsgleich sind. Niklas Luhmann würde diese beiden Ebenen die der Semantik und die der Sozialstruktur nennen, wobei er die These aufstellt, dass sich die Semantik jeweils ›nachträglich‹ der Sozialstruktur anpasst (vgl. Luhmann 1980: 39; 1997: 539ff.). »Wortbedeutung und Wortgebrauch verhalten sich niemals zur so genannten Wirklichkeit in einem Verhältnis von Eins zu Eins. Beide, Begriffe und Wirklichkeiten haben ihre je eigene Geschichte, die zwar aufeinander verweisen, die sich aber auf unterscheidbare Weise unterschiedlich ändern« (Koselleck 2003: 9). So leiten also die weiteren Ausführungen durch die Geschichte des Spielbegriffs auch durch die Historie eines sich wandelnden Arbeitsbegriffs. Die Gliederung der einzelnen Epochen erfolgt vor dem Hintergrund, welche Diskurse zu jenen Zeiten ausschlagend für das Verständnis von Spiel und Arbeit sind. Hierzu dient als ›methodische Brille‹ das jeweilige Menschenbild als Ordnungsstruktur. Insgesamt könnte man den weiteren Ausführungen und Überlegungen vorwerfen, dass der hier untersuche Spielbegriff ungebührlich weit sei und nicht vorab auf ein bestimmtes Verständnis eingeschränkt wird. Dem ist zu entgegnen, dass es genau dem Erkenntnisziel entspricht, der Wortbedeutung und dem Wortgebrauch von Spiel und Arbeit in allen Facetten nachzugehen und keine Bedeutungseingrenzung im Vorhinein vorzunehmen. Die folgende sozialhistorische Analyse ist somit einerseits als eigenständige theoretische Arbeit konzipiert. Es geht um Erkenntnisgewinn über die Deutungszuschreibungen von Spiel und Arbeit über die Jahrhunderte. Andererseits dient der erste Teil der Arbeit aber auch der Operationalisierung der Kategorien von Spiel und Arbeit für eine empirische Untersuchung (vgl. Kapitel 4). Den Hintergrund der Studie bildet eine derzeit stattfindende Diskussion über die Nutzbarmachung des Spiels für qualifikationsorientiertes Lernen im Erwachsenenalter, konkret im Rahmen der Aus- und Weiterbildung (vgl. Kapitel 3). Insofern werden aus den unterschiedlichen Deutungen und Bewertungen des Spiel- und Arbeitsbegriffs später Items gebildet, die in der quantitativen Untersuchung verwendet werden. Hier steht dann die Frage im Vordergrund: Welche Deutungsmuster des Spielbegriffs durch die Jahrhunderte bestimmen noch heute unsere Vorstellung von Spiel und Arbeit?
2.1 Antike – das Spiel beginnt
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Antike – das Spiel beginnt
Mit dem Begriff Antike wird in dieser Arbeit die Epoche des griechisch-römischen Altertums bezeichnet, konkret die Ära des klassischen Griechenlands, die Zeit des Hellenismus sowie des Römischen Reiches von 800 v. bis etwa 400 n. Christus. Somit entspricht der hier zugrunde liegende Antike-Begriff dem der klassischen Altertumswissenschaft. Damit wird bewusst eine universalhistorische Betrachtungsweise, die etwa nahöstliche Hochkulturen mit einschließen könnte (wie etwa bei Wiesehöfer 2005), ausgeblendet, denn es soll der geschichtlich gewachsene europäische Spieldiskurs rekonstruiert werden. Wir werden sehen, dass auch im Kontext des Spiels die Griechen »das Nadelöhr (bilden), durch das die Weltgeschichte hindurch mußte, wenn sie zum modernen Europa gelangen sollte« (Meier 1995: 13). Aus diesem Grund nimmt der in diesem Abschnitt zu untersuchende Gegenstand – das Spiel und seine gesellschaftliche Zuschreibung im historisch-sozialwissenschaftlichen Kontext unter Berücksichtigung seiner konzeptionellen bzw. gesellschaftlich zugeschriebenen Gegenbegriffe wie Arbeit oder Ernst – in der Epoche der griechischen Stadtstaaten seinen Ausgangspunkt und endet mit dem Untergang des weströmischen Reiches.
2.1.1 Die Griechen – der agonale Mensch? »Denn das Spiel ist zur Erholung da, und die Erholung muß angenehm sein (…), sie ist ja ein Heilmittel gegen die Schmerzen der Anstrengung«. (Aristoteles 1955: 314, 1339b).
Wie lässt sich die Bedeutung des Spiels im antiken Griechenland rekonstruieren? Die Literaturrecherche zu dieser Fragestellung führte zu einer dreigliedrigen Struktur: Zunächst werden die Olympischen Spiele diskutiert, beinhalten sie doch den Spielbegriff im Titel und versprechen somit, dessen Bedeutungsrekonstruktion näher zu kommen. Zweitens kann als ein Ergebnis der Analyse literarischer Texte konstatiert werden, dass im antiken Griechenland vor allem dem kindlichen Spiel Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Dieser Aspekt wird anhand von pädagogischen Reflexionen Platons und Aristoteles’ exemplarisch verdeutlicht. Da viele Theoretiker das Spiel in »Polarität zu anderen Grunderscheinungen« (Scheuerl 1991: 11) wie Ernst, Kampf, Arbeit rückten, stellt sich drittens die Frage, wie das Verhältnis der antiken Griechen zu diesen (vermeintlichen) Komplementärbegriffen aussah. Sind beispielsweise die Begriffe Ernst oder Arbeit dem des Spiels entgegengesetzt?
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2. Sozialhistorische Analyse – Das Spiel und seine konzeptionellen Gegenbegriffe
2.1.1.1 Die Olympischen Spiele Man könnte meinen, das griechische Spielverständnis zeige sich besonders ausgeprägt in den sportlichen Wettkämpfen der Olympischen Spiele. Allerdings herrscht diesbezüglich wissenschaftliche Uneinigkeit. Dieser Disput betrifft sowohl die begriffsanalytische Dimension als auch die funktionale Bedeutung der damaligen Sportwettkämpfe. Die griechische Bezeichnung agônes olympiko der Olympischen Spiele (vgl. Lämmer 1996: 37) differenziert die beiden Topoi Agon und Olympia. Olympia – ein Hain, der unter dem Namen Altis bekannt ist und im Nordwesten der Halbinsel Peloponnes liegt – war der heiligste Ort von Zeus, des obersten Gottes der griechischen Mythologie (vgl. Swaddling 2004: 7). An diesem Ort wurden die Olympischen Spiele zu Ehren von Zeus rituell abgehalten, sodass dieser Wallfahrt zu Zeus’ Heiligtum eine sakrale Bedeutung innewohnt. Auf den eher weltlichen Aspekt der antiken olympischen Spiele verweist der Begriff Agon, durch den die »olympischen und die anderen unzähligen größeren und kleineren Spiele« charakteristisch bestimmt wurden (Rudolph 1965: XVII). Agon – im griechischen Verständnis körperlicher sowie auch geistiger »Wettkampf«, »Leistungsvergleich« (Niedermann 2000: 16) – war im politischen und kulturellen Leben stark verankert und charakterisierte das nationale hellenische Temperament. Demgegenüber bezeichnet Agon laut Huizinga Kampf- und Wettspiele (vgl. Huizinga 1997: 39) und nach Lämmer bedeutet Agon dagegen sowohl Krieg/Schlacht als auch Wettkampf (vgl. Lämmer 1996: 37). Aus diesem Grund, so Lämmer, wurde auch in der damaligen lateinischen Fachliteratur Agon mit certamen übersetzt, was Wettkampf bezeichnet und nicht Spiel. Allerdings habe nach Lämmer das äußere Erscheinungsbild der Sportwettkämpfe Anlass zu einer weiteren und falschen Übersetzung gegeben, und zwar ludi olympici. Diese römische Übersetzung gelangte dann im Lauf der Geschichte, vor allem durch die Renaissanceliteratur, in die meisten europäischen Sprachen (Olympische Spiele, Jeux Olympiques). Die semantische Verwandlung der olympischen Wettkämpfe in Olympische Spiele war sensu Lämmer dafür verantwortlich, dass moderne Kulturanthropologen mit dem griechischen Agon eine Idee des Spiels verbanden, die es seiner Ansicht in der Antike nicht gegeben hat. So ist etwa nach Huizinga Agon ein Ausdruck von Spiel, und dieser prominente Spielanthropologe sieht in Agon alle formalen Kennzeichen2 des Spiels gegeben. Aus diesem
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Für einen Vergleich der von Huizinga aufgeführten Kennzeichen von Spiel siehe Kapitel 2.5.1.1 (S. 126ff.) und Huizinga 1997:15ff.
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Grund weist Huizinga jegliche Kritik, wie etwa auch von dem Utrechter Historiker Prof. Bolkenstein angeführt, zurück und erklärt: »Es ist ganz unmöglich, den Wettstreit als Kulturfunktion aus dem Verbande Spiel–Fest–heilige Handlung zu lösen« (Huizinga 1997: 40). Später findet der Begriff auch Eingang in weitere spieltheoretische3 Überlegungen, wie etwa bei Caillois4 (1960). Allerdings ist dieser Disput, ob der griechische Agon ein Teilaspekt des Spiels ist oder nicht, bis heute nicht beigelegt. Den Hintergrund dieses wissenschaftlichen Disputs, der sich ebenfalls auf den Begriff von Agon zurückführen lässt, bildet die funktionale Bedeutungszuschreibung der Olympischen Spiele. Wie bereits vorangestellt, bezeichnet Agon laut Lämmer neben Wettkampf auch Krieg und Schlacht (vgl. Lämmer 1996: 37). In diesem Sinne besaßen die Olympischen Spiele bzw. die agônes olympiko nach Lämmer die Funktion der Kriegsvorbereitung. Körperliche Fähigkeiten, die für den Krieg nützlich sind, wurden durch die Olympischen Spiele geschult. Hintergrund der Wichtigkeit, auf den Krieg. vorbereitet zu sein, war einerseits der Umstand, dass die Klein- und Stadtstaaten, die Poleis, zerstritten waren und sich häufig untereinander bekämpften, denn Griechenland war kein einheitlicher Staat. Andererseits mussten sich die Griechen gegen äußere Feinde, v.a. die Perser, zur Wehr setzen. Den Stellenwert des Krieges im antiken Griechenland erklärt Heraklit wie folgt: »Der Krieg ist der Vater aller Dinge, aller Dinge König« (Heraklitus 1995: Fragment 53).5
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Die Bezeichnung spieltheoretisch oder Spieltheorie wird in dieser Arbeit nicht im Sinn bestimmter mathematischer Modellierungen, sondern im Sinn von theoretischer Fassung von Zweck, Inhalt und Umständen von Spiel(en) genutzt. Caillois führt den Ausdruck Agon im Sinne von Wettkampf als eine von vier Hauptrubriken ein, um eine Einteilung von Spielen vorzunehmen (vgl. Caillois 1960: 19; siehe auch Kapitel 2.5.1.2, S. 129ff.). Im Gegensatz zu dieser Interpretation der Olympischen Spiele als Kriegsvorbereitung bzw. als Auslebung agonistischer Triebkraft (vgl. Weiler 1988: 107) findet sich in der wissenschaftlichen Literatur häufig der Verweis, dass die Spiele ein bedeutsames Bindeglied zur Stabilisierung zwischen den griechischen Stadtstaaten darstellten: Für die Dauer der Olympischen Spiele (also zeitlich begrenzt) wurde ein Waffenstillstand zwischen den griechischen Staaten und Kolonien erklärt, sodass der olympische Friede als ein wichtiges Instrument der Einigung angesehen wurde (vgl. Swaddling 2004: 14). Die Inanspruchnahme der Olympischen Spiele für militärische Zwecke relativiert allerdings nach Lämmer die häufig zu lesende Annahme, dass die Spiele vor allem zur Friedensförderung und der Völkerverständigung dienten (vgl. Lämmer 1996: 34). Dieser Disput zwischen den unterschiedlichen wissenschaftlichen Bedeutungszuschreibungen der Olympischen Spiele lässt sich hier insofern auflösen, dass man diese unterschiedlichen Funktionszuschreibungen nicht als gegensätzlich interpretieren sollte. Gemeinschaftlicher Sport kann zur Völkerverständigung beitragen, wie dies auch den heutigen Olympischen Spielen zugeschrieben wird. Gleichzeitig konnten die damaligen Olympischen Spiele als sportliche
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Und so bleibt Lämmer bei seiner Aussage, der antiken griechischen Vorstellung von Agon habe nie ein Spielaspekt inne gewohnt. »Im Geltungsbereich des Agons versteckt sich eben nicht ein wesentlicher Teil des Spielbegriffs«, denn dies stünde der »Ernsthaftigkeit« der Sportwettkämpfe entgegen (Lämmer 1996: 37, Herv. i.O.). Ebenfalls erklärt Parmentier, die Olympischen Wettkämpfe fielen nicht unter seiner Definition von Spiel, denn bei seiner Bestimmung von Spiel, als zweckfrei, freies Handeln und sich selbst genügend, »geht es nie ernstlich um Leben und Tod« (Parmentier 2004: 930). Agon bzw. die Olympischen Spiele werden von Lämmer und Parmentier dem Lebensernst zugeordnet und können daher nicht Spiel sein: »Wer durch gesellschaftlichen Druck dem Agon verpflichtet ist – wie dies für einen Aristokraten galt –, der hat ein konstitutives Wesensmerkmal des Spiels verloren: die Freiheit!« (Lämmer 1996: 37f.). Lämmer vollzieht folglich eine Trennung zwischen Spiel und Ernst – eine Unterscheidung, die im Lauf der Geschichte immer wieder getroffen wird –, wobei er strategisch mit dem von Huizinga beschriebenen formalen Spielkennzeichen der Freiheit argumentiert (vgl. Huizinga 1997:16; siehe auch Kapitel 2.5.1.1). Ob nun Agon ein Kennzeichen des griechischen Spielverständnisses darstellte, muss an dieser Stelle offen bleiben. Ob Agon allerdings in modernen anthropologischen Überlegungen als bestimmendes Wesenselement von Spiel gedeutet wird, ist Analyse späterer Überlegungen (vgl. Kapitel 2.5.1.2, S. 128ff.). Festzuhalten ist aber, dass die Olympischen Spiele für die Griechen einen ernsthaften, feierlichen Charakter besaßen. Da man, wie eben aufgezeigt, bei einer korrekten Übersetzung des Begriffs Agon eher von den olympischen Wettkämpfen anstatt von den Olympischen Spielen6 sprechen müsste, gestaltet es sich problematisch, die Olympischen Spiele als Paradigma für das griechische Spielverständnis zu interpretieren. Vielmehr bietet sich als Inbegriff der antiken Spielvorstellung das kindliche Spiel an, auf das besonders Platon und Aristoteles verweisen.
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Form der Wehrertüchtigung angesehen werden. Beide Funktionen schließen sich demnach nicht aus, sondern können je nach konkreter Situation relevant werden. Mit dem Ende der Antike endeten auch die Olympischen Spiele. Erst der Franzose Pierre Baron de Coubertin institutionalisierte die Olympischen Spiele der Neuzeit und verband damit die Vorstellung, Völker zu verbinden. Die ersten modernen Olympischen Spiele fanden 1896 in Athen statt (vgl. Drees 1976: 8).
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2.1.1.2 Die Bedeutung des kindlichen Spiels (Platon und Aristoteles) Zwei Thesen bilden den Fokus für die weiteren Ausführungen über das kindliche Spiel bei Platon und Aristoteles. Erstens wird hier die Annahme vertreten, dass beide versuchen, das Spiel für ihre Zwecke zu instrumentalisieren, wenn auch mit etwas unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen. Platon sieht einen engen Konnex zwischen Spiel (paidiá) und Bildung (paideia): Das kindliche Spiel prägt demnach den zukünftigen Erwachsenen, im Spiel eignet sich das Kind Kompetenzen an, die es für die später zu erbringende Leistung im Staat benötigt. Spiel, Lernen und Kompetenz bilden eine Einheit. Aristoteles dagegen versteht das Spiel des Kindes antagonistisch zum Lernen. Lernen ist Anstrengung und das Spiel die Erholung von dieser. Zweitens wird hier darüber hinaus das Theorem aufgestellt, dass Platon und Aristoteles mit dem Spiel etwas Gefährliches verbinden, da sie stets die Wichtigkeit betonen, das Spiel durch Erziehung bzw. Kontrolle zu disziplinieren. Andernfalls sehen sie die Gefahr der Anomie. Diese beiden pädagogischen Perspektiven – die Instrumentalisierung des Spiels als Bildungsmittel und Erholung sowie die Notwendigkeit, das Spiel zu kontrollieren – werden im Folgenden näher ausgeführt. Platon Platons (427-347 v. Chr.) Ausführungen zum kindlichen Spiel (paidia) stehen in enger Verbindung zu seinen pädagogischen Überlegungen über die ›richtige‹ Erziehung und Bildung: »Denn gute Erziehung und Bildung, ununterbrochen nach den nämlichen Grundsätzen gehandhabt, schafft tüchtige Naturen«, so die Aussage Sokrates in Platons viertem Buch »Der Staat« (Politeia) (Platon 1961: 140, 424a7). Im »Staat« hebt Platon die Wichtigkeit hervor, durch Erziehung Einfluss auf den Charakter des Kindes zu nehmen. Tapferkeit, Weisheit und Ernsthaftigkeit (Mäßigung) als traditionelle griechische Tugenden sind dem Kinde zu lehren, denn diese Eigenschaften sind notwendig, damit das Kind zu einem ›guten‹ Staatsbürger heranreift. Areté8 als erzieherisches Zielideal rückt
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Die Zahl hinter der Seitenangabe gibt den jeweiligen Abschnitt an, in dem der Verweis zu finden ist. Dadurch können unterschiedliche Übersetzungen und Veröffentlichungen miteinander verglichen bzw. das Zitat oder der Verweis auch in anderen als den hier verwendeten Publikationen gefunden werden. Areté ist der griechische Ausdruck »für Vortrefflichkeit, Tapferkeit, Gerechtigkeit, Ehrfurcht vor den Göttern, maßvolle Zurückhaltung, die alle in harmonischer Verbindung zu stehen hätten«, wobei dessen erzieherische Umsetzung in Gymnasien erfolgen sollte (Niedermann 2000: 18). Allerdings – so Lämmer kritisch – entstand das Gymnasium »im 6. Jh. v. Chr. nicht auf dem Reißbrett eines Pädagogen, sondern als militärischer Übungsplatz der schwer bewaffneten
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folglich in den Mittelpunkt seiner pädagogischen und spielpädagogischen Erwägungen, wie sich bereits im ersten Buch seiner »Gesetze« (Nomoi) offenbart. »Für die Hauptsache also bei aller Erziehung erkläre ich die richtige Führung, welche die Seele des spielenden Knaben nach Möglichkeit mit der Liebe zu dem erfüllen soll, worin er, zum Manne herangereift, vollkommen sein muß« (Platon 1916a: 29, 643). Der Verweis auf die richtige Führung im Spiel impliziert, dass das Spiel diszipliniert bzw. pädagogisch kontrolliert werden soll, damit nicht die ›falschen‹ Spiele gespielt werden, also jene, die den griechischen Tugenden zuwider laufen, denn im Spiel lernt und übt das Kind, wie man sich in seiner Rolle als Erwachsener verhält. Dies ist ein spielpädagogischer Grundgedanke, der in Platons Schriften immer wieder zum Ausdruck kommt (vgl. Scheuerl 1991: 14). »So beginne ich denn, und behaupte, daß wer in irgend einem Fach ein tüchtiger Mann werden will, gleich von Kind auf sich eben damit beschäftigen muß, indem er im Spiel und im Ernst alles dasjenige treibt, was zu dem betreffenden Fache gehört« (Platon 1916a: 28, 643). Spiel und Ernst werden hier als zwei unterschiedliche Betätigungen verstanden, die allerdings auf das dasselbe Ziel verweisen, nämlich auf eine Zweckmäßigkeit, die auf Bildung und Leistung ausgerichtet ist. Im Spiel soll das Kind Fähigkeiten erlernen, die Platon für das spätere Leben als notwendig erachtet. Es geht um die kindliche Aneignung nötiger Vorkenntnisse, dass also »schon im Spiele der künftige Zimmermann Maß und Richtscheit gebrauche« (Platon 1916a: 28, 643). Dahinter steht die These, dass ein »tüchtiger Baumeister schon als Kind im Spiel mit Geschick kleine Bauwerke errichten lernt« (Hering 1979: 10). Platon spricht somit an, dass Kompetenzen, die dem späteren Beruf dienlich sind, durch das Spiel gefördert werden. Er vollzieht eine Verbindung zwischen Spiel, Lernen und Kompetenzerwerb – Überlegungen, wie sie derzeit auch im medienpädagogischen Diskurs über Computerspiele anzutreffen sind (vgl. Kapitel 3.3.6, S. 249ff.). In diesem Zusammenhang ist ersichtlich, dass Kinder nicht ›irgendetwas‹ spielen sollen, sondern Spiele, die einer erzieherischen wie auch einer gesellschaftlich relevanten Zielsetzung unterliegen. Die gesellschaftliche Relevanz des Spiels wird vor allem dann deutlich, wenn Platon das Spiel mit dem Fortbestand
Söhne des Bürgertums (Hopliten), das in der Zeit der Kolonisation und der beginnenden Geldwirtschaft zu Reichtum und politischem Einfluß gekommen war« (Lämmer 1996: 35). Ein weiterer griechischer Grundbegriff ist Kalokagathie, was im Griechischen »Wesen des edlen Mannes«, »sittliche Güte« meint (Niedermann 2000: 18). Kalokagathie beinhaltet das idealisierte »Ziel der Erziehung seit Beginn der griechischen Klassik, aristokratisches Lebensideal im Sinne Homers« (ebd.). Die plastischen Gebilde der olympischen Athleten sind ihre Realisation in künstlerischer Sicht.
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der Gesetze in Zusammenhang bringt: »Ich behaupte also, dass in allen Staaten allgemeine Unwissenheit herrscht darüber, dass die Spiele von ganz entscheidender Bedeutung für die Gesetzgebung sind und dass eben davon die längere oder kürzere Dauer der gegebenen Gesetze abhängt. Denn ist das Gebiet der Spiele ein für allemal geordnet, dergestalt, daß dieselben Menschen auch immer dieselben Spiele in der unabänderlich gleichen Weise treiben, so hat das zur Folge, daß auch die Gesetze über ernste Dinge vor jeder Störung bewahrt bleiben« (Platon 1916b: 276f., 797). Platon spricht dem Spiel folglich eine zentrale Funktion zu, um den Fortbestand der polis zu sichern, indem das Kind im Spiel seine zukünftige Rolle in der griechischen Gesellschaft ungezwungen einübt. Durch die Verinnerlichung der jeweiligen sozialen Rolle im Spiel, die zudem die Zugehörigkeit einer bestimmten sozialen Schicht impliziert, wird das »Alte« bewahrt, denn nichts sei »gefährlicher (…) als die Veränderung« (Platon 1916b: 277, 797). Es kann zusammengefasst werden, dass Spiele bei Platon pädagogisch instrumentalisiert werden sollen, denn sonst bestehe die Gefahr, dass durch unbeständige, flatterhafte Kinderspiele, ein erneuerungssüchtiger und launischer Erwachsener heranwächst, der sich nicht an die gegebenen Gesetze hält und somit dem platonischem Ideal eines ›guten‹ Staatsbürgers entgegensteht (vgl. Scheuerl 1991: 14). Mithilfe pädagogischer Kontrolle lernt das Kind dagegen, sich erstens im Spiel förderliche Kompetenzen für die spätere Tätigkeit anzueignen. Zweitens führt die Verinnerlichung der ›richtig‹ gespielten Spiele dazu, sich als ›guter‹ Staatsbürger zu verhalten. Somit nimmt die Erziehung – und in diesem Sinn auch die pädagogische Beeinflussung des Erwachsenen auf das kindliche Spiel – in Platons Staatslehre eine vornehmliche Stellung ein. Man kann daher den Platonischen Staat in seinen beiden großen Entwürfen als Erziehungsstaat begreifen (vgl. Gigon/Zimmermann 1995: 122). Aristoteles Einen etwas anderen Fokus auf die Funktion des Spiels hat Aristoteles (384-322 v. Chr.), der zwanzig Jahre lang Schüler an Platons Akademie war. Er sieht das Spiel vor allem als Erholung an; das Spiel findet bei Aristoteles als eine Art Arznei Anwendung, wie er in seinem Werk »Politik« ausführt: »Denn das Spiel ist zur Erholung da, und die Erholung muß angenehm sein (sie ist ja ein Heilmittel gegen die Schmerzen der Anstrengung, und das geistige Leben muß nicht nur edel, sondern auch angenehm sein; denn die Glückseligkeit besteht aus diesen beiden Dingen)« (Aristoteles 1955: 314, 1339b). In diesem Zitat ist erkennbar, dass dem Spiel eine besondere Wertschätzung durch Aristoteles als
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eine Art ›Ausgleich‹ zu den anstrengenden Dingen des Lebens widerfuhr. Das Spiel besitzt hier einen funktionalen Charakter, es dient der Kompensation und wird somit Mittel zum Zweck. Folglich besitzt es nach Aristoteles einen lustvollen Erholungs- und Heilungseffekt im Gegensatz zu anstrengenden Tätigkeiten, etwa dem politischen Geschäft: Die Glückseligkeit des Menschen erfolgt nach Aristoteles aus der Dialektik, der Kombination der Polaritäten von angenehm und anstrengend. Sie bilden nach aristotelischen Kriterien zwei wichtige Aspekte, wie man ein gutes Leben zu führen hat, und das Spiel gehört zu diesem Leben folglich dazu. In Bezug auf die Entwicklung Heranwachsender weist Aristoteles im achten Buch seines Werkes »Politik« auf den Eigenwert von Kindheit hin, indem er sie von der Erwachsenenwelt im Sinne ernster Tätigkeiten – ganz anders als im Mittelalter – abgrenzt.9 Aristoteles kam zu dem Schluss, dass die Beschäftigung mit ernsthaften Dingen des Lebens, wie z.B. Lernen oder Arbeit, Kinder bis zu einem Alter von fünf Jahren in der Entwicklung eher behindern als unterstützen würde (vgl. Aristoteles 1955: 304, 1336a). In diesem Sinn soll die frühe Kindheit nach Aristoteles ›ernstfrei‹ sein. Um allerdings der Gefahr der Trägheit durch diesen propagierten Freiraum der Ernstlosigkeit entgegenzuwirken, sah er das Spiel als nützlich an, um die kindliche Entwicklung zu unterstützten, wobei der überwiegende Teil der kindlichen Spiele auf Nachahmung basieren sollen, um – analog zu Platon – spielerisch das einzuüben, »was sie später im Ernst treiben werden« (Aristoteles 1955: 304, 1336a). Hier ist ein gewisser Widerspruch erkennbar, da das Kind im Spiel nun doch lernen soll. Mutmaßlich trennt Aristoteles das informelle, ›leichte‹ Lernen im Spiel von dem formellen, ›anstrengenden‹ Lernen im Unterricht. Nur so ist auch seine Aussage zu erklären, dass man »die Jungen nicht auf das Spiel hin unterrichten soll (…). Denn auch beim Lernen spielt man nicht, sondern es ist vielmehr eine beschwerliche Angelegenheit« (Aristoteles 1955: 313, 1339a). In diesem Sinn setzt Aristoteles das Spiel in ein dialektisches Verhältnis zu anderen Tätigkeiten: Spiel – Anstrengung, Spiel – Ernst, Spiel – Lernen, das er allerdings auf einer höheren Aggregatsebene relativiert. Denn wenn das Kind im nachahmenden, informellen Spiel lernen soll, erfüllt es wiederum einen Zweck und wird instrumentalisiert. Im Unterricht allerdings darf dagegen nicht spielerisch gelernt werden. Somit kann hier festgehalten werden, dass im kindlichen Spiel doch gelernt werden soll, allerdings auf die Art, dass es dem Kind
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Der Eigenwert von Kindheit ging nach dem antiken Zeitalter verloren und keimte erst wieder im Zeitalter der Aufklärung auf, als die Unterscheidung in Kindheit und Jugend auf der einen, den Erwachsenenstatus auf der anderen Seite eingeführt wird (vgl. Scheuerl 1991: 13).
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nicht bewusst ist und es ihm nicht anstrengend erscheint. Das spielerische Lernen soll leicht sein. Das Lernen in das Spiel aus pädagogischen Überlegungen heraus versteckt einzubinden, ist erlaubt. Der Umkehrschluss, das Spiel auch in das ernste Lernen zu integrieren, wird dagegen verworfen. Da im kindlichen Spiel doch Fähigkeiten erlernt werden sollen, die für das später Leben notwendig sind, erklärt Aristoteles, dass man die Spiele zulassen, aber ihren Umgang kontrollieren solle (vgl. Aristoteles 1955: 309, 1337b). An dieser Stelle kommt ein weiterer wichtiger pädagogischer Aspekt zum Tragen, nämlich dass das Spiel auch bei Aristoteles der erzieherischen Beaufsichtigung bedarf. Das Spiel muss laut Aristoteles ebenfalls diszipliniert werden, denn kindliche Spiele dürfen »nicht unedel sein und nicht anstrengend oder gar zu ausgelassen« (Aristoteles 1955: 304, 1336a). »Unedle« Spiele stehen der Tugend entgegen. Der Knabe soll aber im Sinne des griechischen Ideals von Areté ethisch erzogen werden. Anstrengend dürfen Spiele nicht sein, denn sie sollen ja der Erholung von den ernsten Tätigkeiten dienen. Die Ablehnung ausgelassener Spiele impliziert, dass hier die Gefahr der Anomie und des Rausches unterstellt wird. Weiter hält es Aristoteles für relevant, Kindern Spielzeuge an die Hand zu geben, damit sie abgelenkt sind, sich betätigen und dadurch im Haushalt nichts zerstören. So erklärt Aristoteles: »Außerdem brauchen Kinder eine Beschäftigung, und die Klapper des Archytas ist eine ausgezeichnete Sache, wenn er sie den Kindern zum Spielen gibt, damit sie nichts im Hause zerschlagen. Denn junge Geschöpfe können nicht stillsitzen« (Aristoteles 1955: 317, 1340b).10 Auch hier wird das Spiel instrumentalisiert, indem Kindern eine Beschäftigung gegeben wird, damit sie die Welt der Erwachsenen nicht stören. Insgesamt zeigt die Bedeutungsrekonstruktion des kindlichen Spiels, dass ihm bereits seit Platon ein wichtiger Wert für die Entwicklung des Kindes im Sinne eines prägenden Einflusses auf die Persönlichkeit sowie die Beständigkeit des Staates zugeschrieben wird. Die von Platon und Aristoteles beschriebenen Charakteristika des Spiels und seiner Funktionen – das Spiel dient dem Fortbestand der Gesetze und fördert die Bildung, ist ein Ausgleichsmittel zu anstrengenden Tätigkeiten und unterstützt die sittliche Erziehung und muss, damit diese Funktionen auch eintreten können, pädagogisch diszipliniert werden –, werden später von zahlreichen Autoren wieder aufgegriffen, was die aktuelle Relevanz dieser ›vergangenen Kontemplationen‹ offenbart. Das Spiel, kann zusammenfas-
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Der griechische Philosoph und Mathematiker Archytas (428-350 v. Chr.) gilt als Begründer der Mechanik. Die von ihm erfundene Klapper ist eine Kinderschelle (Rassel). Weiter schreibt man Archytas die Erfindung des Flaschenzugs und der mechanischen Puppe zu (vgl. Colazza 1900: 106).
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send als das das typische Charakteristikum für Kindheit im antiken Griechenland angesehen werden. Trotzdem haben aber auch Erwachsene Bewegungs-, Glücksund Gesellschaftsspiele gespielt. Allerdings – und dies ist in diesem Kontext von Relevanz – hatten diese Spiele keinen »sportlichen Charakter und dienten keiner pädagogischen Absicht« (Lämmer 1996: 37). Somit vollzieht sich hier eine Trennung auf pädagogischer bzw. bildungspolitischer Ebene zwischen dem kindlichem Spiel und dem Spiel des Erwachsenen.
2.1.1.3 Spiel und Ernst, Muße vs. Arbeit Abschließend an die Überlegungen zum Spielbegriff der Griechen soll noch kurz der etymologischen Bedeutung von Spiel nachgegangen werden. Das geläufigste Wort für Spiel, das auch den vorherigen Ausführungen zugrunde liegt, ist im Griechischen (paidia), wobei seine Etymologie sich durchsichtig auf das Kind () bezieht. So führen beispielsweise Lazarus und Huizinga an, dass im Griechischen übersetzt »Kinderei treiben« bedeute (Lazarus o.J.: 9, vgl. Huizinga 1997: 39). Das Wort »Kinderei« verbindet man dabei heute leicht mit ›Unsinn‹ oder ›Albernheit‹, also mit einer Semantik, die eher abwertende Züge erhält. Obwohl Huizinga hervorhebt, dass im griechischen Sprachgebrauch, der Begriff paidia nicht auf das Kind beschränkt bleibt, sondern mit dem »Bedeutungsklang des Frohen, Fröhlichen und Unbesorgten« (Huizinga 1997: 39) verbunden scheint, erstaunt doch, dass in der modernen Literatur der antike griechische Spielbegriff als derart positiv rekonstruiert wird. Beispielsweise nutzt Schiller den Terminus Spiel in Kontext von Bildung und Ästhetik und begründet die Wahl des Wortes »Spiel« mit dem Verweis auf das griechische Spielideal (vgl. Schiller 1993: 63f.; 15. Brief, siehe auch S. 90ff.). Auch Eichler konnotiert den griechisch-antiken Spielbegriff sehr positiv und schreibt von der »in der Antike verwurzelte[n] Überhöhung von ›Spiel‹ als kulturell gestaltendem, enthobenen Seinsprinzip« (Eichler 1979: 31). Wenn dem tatsächlich so ist, dann müsste man aber auch bei Platon und Aristoteles auf den Spielbegriff stoßen, und zwar unabhängig vom kindlichen Spiel. Zieht man demzufolge Lexika zu Rate, die die Begriffe von Platon und Aristoteles explizieren, findet sich dort allerdings nicht der Spielbegriff, auch nicht im Sinne des kindlichen Spiels (vgl. Höffe 2005; Gigon/Zimmermann 1975; Schäffer 2007). Sehen heutige Wissenschaftler das Spiel bei Platon und Aristoteles als so bedeutungslos an, dass sie es nicht anführen, oder haben die Griechen dem Spiel gar nicht eine
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so wichtige Instanz im griechischen Leben zugeschrieben, wie es heute von manchen Autoren angenommen wird? Eine Ausnahme bildet das Platonische Lexikon von Perls (1973). Hier wird der griechische Spielbegriff in den Kontext von Ernst gestellt (Perls 1973: 320). Ernst, im Griechischen spoude, heißt »Eifer, Eile« (Giesz 2003: 100). Das Adjektiv spodaios bezeichnet im Sinne Aristoteles’ etwas mit einem »hervorragenden Qualitätsgrad« und wird vorwiegend genutzt, um den »Charakter eines Menschen als ›eifrig‹, ›tüchtig‹, ›wacker‹, ›ernst zu nehmen‹, ›ernsthaft‹ zu beschreiben« (Höffe 2005: 534). Dabei haben die vorangestellten Ausführungen gezeigt, dass von einer komplementären Beziehung zwischen dem leichten Spiel des Kindes und dem anstrengenden Ernst im antiken griechischen Verständnis ausgegangen werden kann. Spiel und Ernst schließen sich zwar gegenseitig aus, sind jedoch als einander sich ergänzende Begriffe zu verstehen: Das Spiel bestimmt »den einen Teil aller Beschäftigungen, die spoude, das Ernste und Ernsthafte den andern« (Perls 1973: 320). Wichtig ist, dass das Spiel hier in seiner Bedeutung nicht abgewertet wird. Spiel und Ernst sind zwei vernünftige Betätigungen, erscheinen in der griechischen Sprache als gleichwertig. Die Bestimmung des Spiels als Gegensatz zum Ernst lässt sich auch im platonischen Dialog Phaidros nachzeichnen, in dem Platon Spiel und Ernst auf »verschiedene Weisen des Tätigseins, d.h. auf in der Zeit verlaufende Vorgänge und nicht etwa statische Zustände« bezieht (Aichele 2000: 39). Dabei wird das Spiel und der Ernst bei Platon laut Perls im Zusammenhang von Kunst und Erkenntnis genutzt. Der Ernst bezieht sich auf Erkenntnis, das Spiel ist der »praktische Teil der Wissenschaft von der Kunst« (Perls 1973: 320). Demzufolge ist zu konstatieren, dass in diesem Zusammenhang mit dem Spielbegriff keine vornehmlich negativen Assoziationen verbunden sind, aber reicht dies für eine derartige positive Konnotation, wie von manchen Autoren vorgenommen? Mit Ausnahme von Huizinga fiel es schwer, wortgeschichtliche Belege für einen ausdrücklich in den Vordergrund gerückten positiven Spielbegriff bei den Griechen zu finden. Eine These könnte sein, dass der den Griechen zugeschriebene anerkennende Spielbegriff sich darauf zurückführen lässt, dass einige Autoren ihn mit den griechischen Begriff von Agon in Verbindung bringen, der das nationale hellenische Temperament charakterisierte (vgl. Niedermann 2000: 16) und der spätestens seit Caillois zum modernen Spielbegriff zählt. Ob diese Vernetzung von Agon und Spiel allerdings auch bei den antiken Griechen der Fall war, konnte nicht eindeutig festgestellt werden, wie die Diskussion anhand der Olympischen Spiele offenbarte.
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Spiel und Muße Eine weitere Erklärung für die Auffassung eines griechisch bejahenden Spielbegriffs liegt möglicherweise darin begründet, dass ihm später oftmals eine Nähe zum Mußebegriff attestiert wird und Muße tatsächlich im antiken Griechenland sehr hoch geschätzt wurde (vgl. Gigon/Zimmermann 1975: 205). Exemplarisch dafür soll Kant herangezogen werden: »Man kann beschäftigt sein im Spiele, das nennt man in der Muße beschäftigt sein; aber man kann auch beschäftigt sein im Zwange, und das nennt man arbeiten« (Kant 1968, Abs. 64: 56; vgl. auch Schiller 1993: 63f.; 15. Brief; siehe auch Ausführungen 90). Allerdings zeigen Analysen des semantischen Differenzials nach Hanhart auf, dass der heutige Spielbegriff nicht mehr mit »Muße« bedeutungsverwandt ist (Hanhart 1964: 232; vgl. auch Eichler 1979: 84). Dass die Begriffe »Arbeit« und »Spiel« aktuell nicht mehr direkt mit »Muße« verknüpft sind, könnte darin begründet liegen, dass die Semantik von »Muße« als antikem Terminus im modernen Sprachgebrauch in den Freizeitbegriff11 eingegangen ist, den es aber früher noch nicht gab. Dies lässt auf einen industriegesellschaftlichen Bedeutungskomplex von Spiel/Freizeit, im Gegensatz zum antiken Muße-Verständnis schließen. Spiel entrückte im 19. Jahrhundert der Semantik von Muße als Kontemplation. Die Assoziation vieler Wissenschaftler von Spiel mit Muße führte – so die These – dazu, dass bei der Rekonstruktion des griechischen Spielbegriffs von einer sehr starken positiven Bedeutung ausgegangen wird. Dabei ist das griechische Wort für Muße (Schole) zudem »der Gegenbegriff des Beschäftigtseins im Griechischen wie im Lateinischen negativ ausgedrückt als das ›keine Muße haben‹ (Ascholia, negotium), worin liegt, daß das eine der positiv und höher zu wertende Zustand ist, das andere dagegen lediglich die Unmöglichkeit bezeichnet, zu diesem erwünschten Zustand zu gelangen« (Gigon/ Zimmermann 1975: 205). Ähnlich wie von vielen modernen Spieltheoretikern (vgl. z.B. Groos 1973: 493; Huizinga 1997: 16; Scheuerl 1979: 191f.) das Spiel als zweckfrei charakterisiert wird, wurde Muße von den Griechen als eine Beschäftigung angesehen, die keinen Zweck zu erfüllen hat (im Gegensatz zum kindlichen Spiel). Allerdings bedeutet Muße, »nicht entspannendes Vergnügen«, sondern ist »Selbstzweck; aber nicht geschäftiges Spiel, sondern vor allem Kontemplation, auch als Zwiegespräch, als Symposium« (Eichler 1979: 91). Muße verwirklichte sich vor allem, basierend auf der oralen griechischen Kultur, im Dialog. Die drei großen griechischen Philosophen, das Dreigestirn Sokrates,
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Die Herausbildung des Freizeitbegriffs wird durch die Industrialisierung von Arbeit erklärt (vgl. Kapitel 2.3.3.4, S. 81ff.).
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Platon und Aristoteles, verstanden unter Muße das Freistellen vom geschäftlichen Alltag, ein Vorrecht »des erwachsenen Mannes, Angelegenheit der herrschenden Klasse« (Welskopf 1962: 217). Um es scharf zu formulieren, könnte man sagen, dass die Möglichkeit zur Muße nur dem zuteil wird, der es sich zeitlich und ökonomisch leisten kann, in Freiheit lebt und nicht der Notwendigkeit des physischen Überlebens unterworfen ist. Vor diesem Hintergrund wird Muße zum Gegenbegriff von Arbeit (vgl. Gigon/Zimmermann 1975: 205). Dass im weiteren Verlauf der Geschichte – wie später ausgeführt wird – das Spiel immer wieder als Komplementärbegriff zur Arbeit gesehen wird, könnte aufgrund dieser Negativ-Beziehung ein weiterer Umstand sein, der dazu geführt hat, dass das Spiel im antiken Griechenland in seiner Rekonstruktion so positiv verstanden wird. Denn im Gegensatz zum eher ›neutralen‹ Begriff des Spiels und der sehr hoch angesehen Muße besitzt der griechische Arbeitsbegriff (Ergon) eine eindeutig negative Konnotation: Die herrschende Klasse, die vom geschäftlichen Alltag freigestellt ist, verweist einerseits auf einen bestimmten normativen Arbeitsbegriff im antiken Griechenland und impliziert andererseits die Unterscheidung von frei und unfrei. An dieser Stelle lässt sich exemplarisch auf Homer verweisen, der im 8. Jahrhundert vor Christus lebte. In seinem Werk »Opera« wird die Urzeit als eine arbeitsfreie Welt beschrieben. »Und wie die Götter lebten sie, noch ohne menschlichen Kummer, frei noch von Arbeit und Trübsal (…). Frucht trug die nahrungsspendende Erde ganz von allein« (Hesiod 2002, 112-118). Diesem Duktus folgend, haftet dem antik-griechischen Arbeitsbegriff seitdem etwas Minderwertiges an. »In der Antike herrschte eine skeptische Einschätzung der Arbeit vor, jedenfalls der körperlichen und der kommerziellen. Arbeit und Freiheit, Arbeit und Bürgerrecht standen in Spannung zueinander wie oikos und polis« (Kocka 2001: 8 [Herv. i.O.]). Diese seinerzeit abwertende Lesart, vor allem vom griechischen Adel propagiert, bezog sich vor allem auf »Tätigkeiten, die unmittelbar mit der Notdurft des Lebens« in Beziehung standen (Arendt 1960: 77). Dies mündete in der Anschauung, die Arbeit immer mehr »als unfreie, lästige, erniedrigende Tätigkeit« (Eichler 1979: 17) anzusehen, als Angelegenheit der Sklaven und Unfreien. So nahm »der Umfang der unfreien Arbeit als Sklavenarbeit zu und damit auch das Ausmaß ihrer sozialen Geringschätzung« (Frambach 2007: 227).12 Dass die griechische Gesellschaft die Arbeit negativ bewer-
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Die Sklaverei bedurfte in dieser Zeit keiner Rechtfertigung, denn zu arbeiten hieß »Sklave der Notwendigkeit sein, und dies Versklavtsein lag im Wesen des menschlichen Lebens« (Arendt 1960: 78). Damit ist gemeint, dass alle Menschen der Notdurft des Lebens ausgeliefert sind, es folglich als legitim angesehen wurde, andere zu unterdrücken, um selbst frei und autonom zu
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2. Sozialhistorische Analyse – Das Spiel und seine konzeptionellen Gegenbegriffe
tete, hatte folglich auch mit diesem gesellschaftlichen Selbstverständnis zu tun. Auf dem Rücken eines Sklavensystems konnte sich eine ›arbeitsfreie‹ und sich der Muße widmende Hochkultur der Politik, Philosophie und Wissenschaft entwickeln. Nach dem Tod des aristotelischen Schülers Alexander der Große (356-323 v. Chr.) mehrten sich die internen und äußeren Machtkämpfe im griechischen Reich. Die Griechen baten Rom häufig um militärische Hilfe. Durch diese Unterstützung wuchs Roms Macht, bis die Römer etwa 50 v. Chr. die militärische und politische Vorherrschaft übernahmen. Widmen wir uns daher der Chronologie folgend nun dem römischen Reich mit der Fragestellung, wie die antiken Römer zum Spiel standen.
2.1.2 Die Römer – der expansive Mensch? »Man muß bei spielerischer Betätigung auch ein gewisses Maß einhalten, um sich nicht völlig gehen zu lassen und im Rausch der Lust auf irgend etwas Schimpfliches zu verfallen. Doch als Beispiele für anständigen Zeitvertreib gibt es ja unser Marsfeld und die Jagd« (Cicero 1991: 103).
Als Griechenland zur römischen Kolonie wurde, hatte die Eroberung der drei hellenischen Reiche die Beeinflussung der römischen Kultur durch die griechische zur Folge: Römische Frauen schätzten griechischen Schmuck, griechische Architektur fand Eingang in römische Tempelsäulen und hellenische Literatur und Philosophie fanden Anerkennung und Begeisterung bei aufgeschlossenen, wissensdurstigen Römern. Somit beeinflussten weniger die Imperialisten die zu beherrschende Kultur, sondern man könnte stattdessen eher davon sprechen, dass der Hellenismus die römische Kultur voll erfasste (vgl. Weiler 1988: 235).13
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sein. Die athenische Gesellschaft war folglich eine Sklavenhaltergesellschaft, der adlige Oberbau basierte auf dem sklavischen Unterbau. In den Städten gab es z.B. Haussklaven, die Alltagsnotwendigkeiten wie Putzen, Waschen etc. verrichteten. »Der Verzicht auf die Beschäftigung der Haussklaven hätte eine beträchtliche Einbuße an Lebensqualität zur Folge gehabt, ein Manko an Bequemlichkeit und Komfort« (Weber 1989a: 199). Außerhalb der Städte wurden Sklaven z.B. im Bergbau eingesetzt, vor allem in den Silberminen. Allerdings sahen die Römer im Gegensatz zu den Griechen in der Demokratie nicht die richtige Herrschaftsform. Stattdessen wählten sie eine Mischform. Dies war eine Stadtregierung, die aus dem Magistrat mit zwei Konsuln an der Spitze bestand. Daneben gab es noch den mächtigen Senat, eine Versammlung bestehend aus den reichen Patriziern. Die Plebejer, das gemeine Volk,
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Und ebenso wie die Griechen erfreuten sich auch die Römer an Festen und (Schau-)Spielen. Mit panis et circenses (Brot und Spiele) könnte man das römische Gesellschaftsleben auf eine knappe Formel bringen, mit der in die Bedeutung der Spiele für das römische Bevölkerung eingeführt werden soll. Analog zu den vorherigen Ausführungen zum griechischen antiken Spielverständnis wird anschließend an die spielerischen Massenveranstaltungen das kindliche Spiel und seine Bedeutungszuschreibung bei den Römern diskutiert. Das Kapitel schließt mit der Fragestellung, ob sich auch bei den Griechen semantische Wertungen finden lassen, die sich in Bezug auf das Spiel und seine potenziellen konzeptionellen Gegenbegriffe finden lassen.
2.1.2.1 Panis et circenses Eigentlich müsste die korrekte Übersetzung von panis et circenses nicht Brot und Spiele, sondern Brot und Zirkus heißen, da laut lateinischen Wörterbüchern der Plural circenses nicht Spiel, sondern Zirkus bedeutet. Analog zu den Olympischen Spielen der Griechen kann interessanterweise auch hier von einer Diskrepanz in der Übersetzung gesprochen werden. Spiele wurden stattdessen im alten Rom ludi genannt. Dabei lassen sich die öffentlichen Schauspiele (spectacula) laut Weiler (1988: 239) in drei Kategorien einteilen und zwar in die ludi circenses (Zirkusspiele), die ludi scaenici (Bühnenaufführungen von Schauspielern, Tänzern etc.) und die munera (Gladiatorenspiele). Trotzdem bietet sich der Ausdruck von panis et circenses hier an, um den Hintergrund der Bedeutung der Spiele für das römische Volk zu illustrieren. Der Ausdruck panem et circenses (Akkusativ von panis et circenses) geht auf die Kritik des römischen Satirendichters Juvenal am Volk Roms zurück, sich durch Brot und Spiele vom Kaiser14 kaufen zu lassen (vgl. Weber 1989b: 11; 273). So steht panem und circenses für das Verlangen des römischen Volkes, ohne dafür arbeiten zu müssen, Ernährung und Vergnügen zu bekommen. Panem bezieht sich auf kostenlose Getreideverteilungen (z.B. auch Geldgeschenke), auf
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durften zwar bei den Volksversammlungen mitdiskutieren, aber nicht alle Stimmen hatten damals gleiches Gewicht. Doch dann kam Gaius Iulius Caesar an die Macht, verkündete das Ende der Republik und machte sich zum Diktator. Unter seinem Adoptivsohn Oktavian wurde das römische Reich zu einer Monarchie, die Macht lag jetzt beim Kaiser, Augustus genannt. Die öffentlich ausgerichteten Spiele werden meist typisch für die römische Kaiserzeit angesehen. Allerdings geht die Ausrichtung der ludi weit in die Zeit der römischen Republik zurück (vgl. Weber 1989b:12; Bernstein 1998: 14).
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2. Sozialhistorische Analyse – Das Spiel und seine konzeptionellen Gegenbegriffe
die rund 200.000 römische Bürger Anspruch hatten. Circenses verweist auf die bevorzugten Unterhaltungseinrichtungen der Römer, wie etwa Zirkus, Wagenrennen, Gladiatorenkämpfe, Tierhetzen und Schauspiele auf der Bühne (vgl. Bernstein 1998: 14). Diese Spiele sollten dabei der Zerstreuung der Menschen dienen und der Ablenkung von der Politik. Somit sicherten sich die Staatsmänner (Magistraten, Cäsaren etc.) durch Massenunterhaltungen und Nahrungsgeschenke ihre Macht: die spielerischen Vorführungen dienten den Anwärtern und Inhabern politischer Positionen dazu, sich das Wohlwollen des Volkes zu erkaufen oder zu sichern. Somit besaßen die Spiele folglich lukrative regierungssystemische Potenziale im Inneren. Als Präzedenzfall hierfür steht Caesar, der in seiner Zeit als Aedil15 große Kredite aufnahm und sich hoch verschuldete. Im Jahre 61 v. Chr. hatte Caesar aufgrund dieser Ausrichtung teurer circenses einen Schuldenberg von 25 Millionen Denaren (vgl. Weber 1989b: 73). Dabei stieg im Lauf der kulturhistorischen Entwicklung die Anzahl der so genannten ludi stetig an. Waren es am Ende der römischen Republik 65 Tage, an denen Spiele abgehalten wurden, betrug die Anzahl zur Kaiserzeit (etwa bis Mitte des 4. Jh. n. Chr.) 176 (vgl. Weiler1988: 242). Da die Spiele an Feiertagen abgehalten wurden, ergibt sich für die Kaiserzeit, dass es fast gleichviel arbeitsfreie Tage wie Werktage gab. Dies belegt die – zumindest in quantitativer Hinsicht – hohe Bedeutung der Spiele im antiken Rom für die Freizeitgestaltung des römischen Volkes. Die Frage nach der qualitativen Bedeutung der Spiele für das römische Volk versuchen viele Historiker durch einem Vergleich mit den Griechen zu konkretisieren. Demzufolge werden von vielen Historikern griechische Maßstäbe an die römischen Spiele angelegt (vgl. Weiler 1988: 233). Einen solchen Vergleich zwischen den griechischen und römischen Spielen vollziehen beispielsweise Burckhardt (vgl. 1931: 88) und Huizinga. Letzterer erklärt etwa den römischen Spielfaktor als viel weniger stark blühend und farbig als den griechischen (vgl. Huizinga 1997: 190). Eine solche Ansicht über die Kultur und die Spiele der Römer geht demnach auf Autoren zurück, die das griechische Ideal auf die Römer anwenden. Die römischen Spiele werden hierdurch häufig abgewertet. Eine normative Setzung ist erkennbar, gegen die sich beispielsweise Weiler wehrt, indem er hervorhebt, dass man die Spiele Roms nicht einem solchen Vergleich unterwerfen, sondern sie »eben nur als anders« (Weiler 1988: 237) als die der Griechen verstehen und dementsprechend eigenständig würdigen sollte. Abschließend ist zu den römischen Spielen noch hervorzuheben, dass sie zu Beginn laut Huizinga als »heilige Handlung« (Huizinga 1997: 193f.) verstanden
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Aedil bezeichnet ein niederes Amt in der römischen Republik.
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wurden. Allerdings löste sich das Spiel im Lauf der römischen Kulturentwicklung immer mehr von seiner sakralen Bedeutung. Dadurch empfand die römische Menge Spiele immer weniger als religiöse Weihe, verkam der Zirkus doch zu einem Instrument der Erlangung politischer Macht durch kaiserliche Freigiebigkeit an ein ärmliches Stadtproletariat, das nach Unterhaltung gierte. Weber weist in diesem Zusammenhang auf eine Parallele zwischen dem römischen Volk und heutigen Verhältnissen hin: Einerseits steht das Bedürfnis des Rezipienten nach medialer Sensation,16 der Wunsch nach dem Spektakulären. Andererseits verweist Weiler auf den Wunsch von Personen nach medialer Öffentlichkeit und Anerkennung, das »Gebaren der in der ›Unterhaltungsbranche‹ Beschäftigten läßt sich durchaus mit unseren Begriffen Renommiersucht, Starrummel und Showbusineß in Verbindung bringen« (Weber 1989b: 12).
2.1.2.2 Die Bedeutung des kindlichen Spiels (Cicero und Quintilian) Marcus Tullius Cicero (106-43 v. Chr.), römischer Redner, Politiker und Philosoph, weist in seinem Werk »Über die Pflichten« – ebenso wie die griechischen Vordenker – darauf hin, dass spielerische Handlungen kontrolliert werden müssten: »Man muß bei spielerischer Betätigung auch ein gewisses Maß einhalten, um sich nicht völlig gehen zu lassen und im Rausch der Lust auf irgend etwas Schimpfliches zu verfallen. Doch als Beispiele für anständigen Zeitvertreib gibt es ja unser Marsfeld und die Jagd« (Cicero 1991: 103). Hier schreibt Cicero dem Spiel erstens die Gefahr des Rausches zu – ein Charakteristikum, das später auch andere Autoren dem Spiel attestieren wie etwa Caillios mit seiner Spielkategorie von Ilinx (Caillois 1960: 32). Cicero warnt den Leser im Kontext der lustvollen Entzückung des Spiels, nicht die Beherrschung zu verlieren, sonst bestehe das Risiko, den Pfad der Tugend zu verlassen. Als Paradebeispiel einer tugendhaften Betätigung nennt Cicero dagegen die Jagd und das Marsfeld,17 die er als »anständige« Betätigungen bezeichnet. Hier lässt sich also implizit festhalten, dass er das Charakteristikum »anständig« nicht auf das Spiel anwenden würde. Der angemessene Zeitvertreib rekurriert auf körperliche Ertüchtigung, die auch der römischen Gesellschaft, etwa in Form späterer Krieger, zugute kommen kann. Insgesamt wird deutlich, dass Cicero dem Spiel keine besondere Wertschätzung
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Zum heutigen Sensationsbedürfnis von Rezipienten sowie der Darstellung von Sensationen in den einzelnen Medien siehe Ganguin/Sander 2006. Das Marsfeld – nach dem römischen Gott des Krieges Mars benannt – ist eine Art Truppenexerzierplatz für die jugendlichen Angehörigen des römischen Adels.
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2. Sozialhistorische Analyse – Das Spiel und seine konzeptionellen Gegenbegriffe
zuteil werden lässt: Es ist ihm moralisch verdächtig. Das Spiel wird zu einem die Moral untergrabenden Faktor – eine Bedeutungszuschreibung, die sich seitdem wie ein roter Faden durch die Geschichte zieht und auch bereits einige Jahre später wieder bei seinem römischen Kollegen Quintilian aufgegriffen wird. Allerdings – und das ist das besondere bei Quintilian (35-95 n. Chr.) – versucht er, das Spiel dahingehend zu disziplinieren, dass es für Lernzwecke genutzt werden kann. In diesem Sinn entwickelte Quintilian – der sich mit der antiken Rhetorik beschäftigte, Fragen der Erziehung nachging und das bekannte Werk über den Unterricht der Beredsamkeit (Institutio oratoria) schrieb – bestimmte Strategien, um Kindern Lerninhalte spielerisch beizubringen. Quintilian formuliert nach Grodde eine »kindlich orientierte Didaktik« mit der Absicht, »ein erfolgreicheres Lernen« zu ermöglichen (Grodde 1997: 12). Zu diesem Zweck erfand Quintilian elfenbeinfarbene Buchstaben, damit sich Kinder spielerisch das Erscheinungsbild der einzelnen Schriftzeichen einprägen konnten (vgl. Grond 1975: 18). Hier wird deutlich, dass Quintilian, ebenso wie vor ihm Platon, das Spiel als geeignetes Medium ansah, um Lernprozesse zu unterstützen. Lust und Freude am Lernen durch das Spiel zu aktivieren und zu regulieren, erhält bei Quintilian somit einen motivationspsychologischen Aspekt. Darüber hinaus bezeichnet er das kindliche Spiel als das »Natürlichste« im Kindesalter (Quintilian 1972, I 3, 10: 43), wie dies später auch Rousseau im Émile hervorhebt.18 Trotz dieses von Quintilian zugeschriebenen Eigenwerts des kindlichen Spiels versucht er aber, es dennoch immer wieder auf bestimmte Zwecke hin zu instrumentalisieren. Einerseits befürwortet er das Spiel als Entspannung, um Kräfte und Energie für die darauf folgend zu erbringende Lernleistung zu sammeln. Quintilian weist demzufolge dem Spiel dieselbe Funktion wie Aristoteles zu: die Erholung. Andererseits sollen durch das kindliche Spiel geistige Fähigkeiten gestärkt werden, etwa indem sich Knaben »gegenseitig um die Wette kleine Fragen aller Art aufgeben« (Quintilian 1972, Inst. I 3, 11: 43). Das kindliche Spiel soll demnach stets einen Nutzen beinhalten, etwa auch der sittlichen Erziehung dienen, indem das Kind im Spiel das richtige Verhalten lernt, wie dies auch Platon betonte. Und das Spiel bedarf letztendlich immer der Führung durch den Erwachsenen, damit es pädagogisch richtig gelenkt wird. Es wird insgesamt deutlich, dass Quintilians Überlegungen zum kindlichen Spiel eindeutig auf denen seiner griechischen Vordenker fußen.
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Zum Eigenwert der Kindheit und des kindlichen Spiels siehe Kapitel 2.3.3, S. 70ff.
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2.1.2.3 Spiel ist Tand Wie bereits vorangestellt, soll der etymologischen Bedeutung von ludus noch abschließend nachgegangen werden um zu eruieren, welche Semantik und mögliche normative Setzung diesem Begriff zugrunde liegt. Dabei kann mit dem Begriff ludus/ludere und seinen Ableitungen und Variationen das Kinderspiel, der Wettstreit, das Schauspiel, der Tanz, das Glücksspiel und die Erholung bezeichnet werden. Allerdings – und das ist entscheidend – basiert nach Huizinga der lateinische Wortsinn etymologisch »auf dem Gebiet von Nichternst, Schein und Spott«, sodass auch die »die Komposita alludo, colludo, illudo (…) alle in die Richtung des Unwesentlichen, Betrügerischen« führen (Huizinga 1997: 46). Huizingas zeigt in seiner etymologischen Erörterung, dass der lateinische Spielbegriff ludes/ludere negative Konnotationen erhält. Eine pejorative Bedeutungszuschreibung ist erkennbar, die den griechischen Bezeichnungen von Spiel nicht innewohnten. Weiter wurde auch der Lehrer »magister ludi« genannt (vgl. Colazza 1900: 107). Aus heutiger Sicht verbinden wir wahrscheinlich auf sachlicher Ebene eher positive Assoziationen mit dem Lehrerbegriff, die mit Bildung einhergehen. Die damaligen Lehrer waren allerdings häufig Sklaven, sodass auch in diesem Bereich negative Assoziationen leichter möglich waren. Die ›neuen‹ Phänomene, die nun auch unter den Spielbegriff fallen, erwecken den Eindruck, dass es sich hier um eine stärkere Absetzung zu ernsthaften Dingen handelt, die im Gegensatz zum Spiel positiv bewertet werden. Diese Annahme wird durch Ausführungen römischer Philosophen gestützt. So erklärt etwa Cicero, dass es die anthropologische Grundausstattung des Menschen sei, sich eher den ernsten Tätigkeiten hinzuwenden: »Denn die Natur hat uns nicht so hervorgebracht, daß wir zu Spiel und Scherz geschaffen scheinen, vielmehr zu ernsten Dingen und zu Bestrebungen, die wichtiger und anspruchsvoller sind« (Cicero 1991: 101). Hier wird eine strikte normative Trennung zwischen den ernsthaften Dingen des Lebens und den lustvollen, amüsierenden vollzogen wird. Das Spiel aus der anthropologischen Reflexion auszuschließen und es nur in Form einer Unterordnung unter die ernsthaften Tätigkeiten zuzulassen, unterscheidet sich hier von den vorherigen griechischen Positionen zum Spiel. Während die Glückseligkeit bei Aristoteles in einem Gleichgewicht zwischen Angenehmem und Anstrengendem beruht, hat bei Cicero das Ernste, Mühselige eindeutig den Vorrang.
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2. Sozialhistorische Analyse – Das Spiel und seine konzeptionellen Gegenbegriffe
2.1.3 Fazit: Der Beginn der Abwertung des Spielbegriffs Fassen wir die vorherigen Überlegungen zusammen, lassen sich insgesamt fünf Punkte hervorheben: Erstens kann festgehalten werden, dass bei den Griechen wie auch bei den Römern Spiel und Ernst einander dichotom gegenüber stehen. Die griechische Dichotomie zwischen Spiel und Ernst findet sich bereits bei Platon, beispielhaft lässt sich herbei auf Platons Gesetzgebung in Nomoi verweisen. Auch Aristoteles trennt Ernst von Spiel, indem der dem Spiel in Athenaion Politeia die Funktion attestiert, eine Erholung von den ernsthaften Tätigkeiten zu sein. Darüber findet sich auch der Gegensatz von Spiel und Ernst – im Griechischen in der Gegenüberstellung von paidia und spoude. Trotz dieser Gegenüberstellung – und dies ist das Entscheidende – werden Spiel und Ernst bei den Griechen als zwei Bereiche einer Tätigkeit angesehen, die gleichberechtigt und gleichsam wertvoll nebeneinander stehen. Keine wird gering geschätzt. Beiden Tätigkeitsbereichen wird ein wichtiger funktionaler Sinn zugeschrieben. Im Übergang zum römischen Reich geht die Gleichberechtigung in der Bedeutungszuschreibung von Spiel und Ernst verloren. In der Literatur wird das Spiel zunehmend abgewertet. Dies lässt sich einerseits am Wortsinn von ludus/ludere aufzeigen, andererseits wird anhand der Äußerungen Ciceros deutlich, dass der Ernst in Rom über allen Dingen zu stehen hat. Zweitens bilden Muße und Arbeit im griechischen Verständnis Gegenbegriffe. Die Arbeit wird gering bewertet, die Muße dagegen ist die höchste Betätigung des freien Mannes. Drittens kann in Bezug auf die antiken pädagogischen Überlegungen zu Spiel und Lernen bzw. spielerischem Lernen konstatiert werden, dass das Spiel als Mittel zum Lernen und zur Bildung im Sinne von Platon und Quintilian genutzt wird. Pädagogisiert soll das Spiel der Erleichterung des Lernens dienen. Dies entspricht auch heutigen Vorstellungen, nach denen das Spiel für Kinder nutzbar gemacht werden sollte. Allerdings wird heute im medienpädagogischen Diskurs sowie auch im Bereich der Weiterbildung Überlegungen angestellt, wie durch das (Computer-)Spiel auch Erwachsene spielerisch lernen und sich weiterbilden können. Das antike Verständnis spielerischen Lernens ist hingegen allein auf das Kindesalter beschränkt. Viertens steht das kindliche Spiel in einem ambivalenten Wechselspiel zwischen Selbstzweck und Nützlichkeit, wobei der Nutzenaspekt überwiegt. Dies wird daran deutlich, dass zwar auf der einen Seite die Eigendynamik des Spiels Beachtung findet, auf der anderen Seite das Spiel aber nur als Mittel zum
2.2 Exkurs: Jüdisch-christliche Überlieferung
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Zweck akzeptiert wird: entweder zum Lernen oder zur Erholung. Insgesamt unterliegt allen antiken Vorstellungen zum kindlichen Spiel die Absicht einer pädagogischen Instrumentalisierung für die Belange der Erwachsenen und des Staates. Fünftens muss das Spiel nach antiken Vorstellungen diszipliniert werden, weil sonst die Gefahr von Anomie und Rausch bestehe. Das Spiel als moralisch verdächtige Kategorie kommt immer wieder zum Ausdruck. Aus diesem Grund bedarf das kindliche Spiel der Kontrolle durch die Erwachsenen. Fasst man insgesamt die vier ersten Punkte zu einer abstrakteren Anschauung zusammen, dann lässt sich durchweg erkennen, dass nach antikem Verständnis das Spiel pädagogisiert werden soll und muss.
2.2
Exkurs: Jüdisch-christliche Überlieferung »Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen«. (Paulus, 2 Thessalonicher 3, 10-11)
Der Geschichtsschreibung folgend, müsste man sich nach Behandlung der Antike dem Mittelalter widmen. Allerdings liegt es als Konsequenz des Studiums einschlägiger Literatur zur Sozialgeschichte nahe, vorab einen kurzen Exkurs vorzunehmen, um den Stellenwert des Spiels in der Bibel zu beleuchten. Dieser Exkurs ist wichtig, weil im Zuge der weiteren europäischen kulturhistorischen Entwicklung das Alte und Neue Testament als entscheidende Deutungslieferanten für das Verständnis von Spiel gelten können. Sie gehören zu den einflussreichsten und wirkungsträchtigsten literarischen Werken der Menschheit und prägen den Okzident bis heute.19 Allerdings ergibt sich die weitere Bedeutungsrekonstruktion des Spielbegriffs im geschichtlichen Verlauf nicht aus den Darstellungen und Lesarten zum Spiel in der Bibel selbst, sondern aus denjenigen zur Arbeit. Zwei Aspekte liegen diesem Postulat zu Grunde: 1) Der erste Aspekt ist ein rein pragmatischer: Einerseits blieb die wissenschaftliche Literaturrecherche zum Thema der Spielbedeutung in der Bibel erfolglos. Während sich eine Vielzahl von Autoren mit dem Arbeitsbegriff im »Buch der Bücher« auseinandersetzen, bleibt der Spielterminus in der Fachlitera-
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Die fortwährende konstitutive Bedeutung der Bibel lässt sich z.B. anhand des Verbreitungsgrades, des Rezeptionsumfangs und der Verkaufszahlen darstellen. Ersterer erstreckt sich über den gesamten Globus. »Bis heute wurde die Bibel ganz oder teilweise in über 2.200 Sprachen der Welt übersetzt. Sie ist immer noch, Jahr um Jahr, das weltweit am meisten verbreitete Buch« (Christliche Literatur-Verbreitung 2000: VI), was das kontinuierliche Interesse an ihr demonstriert.
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2. Sozialhistorische Analyse – Das Spiel und seine konzeptionellen Gegenbegriffe
tur unbehandelt. Die Bedeutung des Spiels in der Bibel, so die Schlussfolgerung, wird von der wissenschaftlichen Fachwelt als belanglos erachtet. Dies liegt offenbar darin begründet, dass in der Bibel vom Spiel kaum die Rede ist. Sucht man nämlich in einer digitalisierten Version der Bibel nach dem Begriff Spiel, spielen etc.,20 werden lediglich 36 Textstellen angezeigt. Von diesen sind allein 23 Passagen dem Spielen von Musikinstrumenten gewidmet, wobei diese Funde keine Interpretationen zulassen, die über die triviale Aussage hinausgeht, dass ein Musikinstrument gespielt wird. Die restlichen 13 gefundenen Textstellen beziehen sich vornehmlich auf das Spiel von Kindern, wie etwa im achten Kapitel des Propheten Sacharja: »So spricht der HERR Zebaoth: Es sollen hinfort wieder sitzen auf den Plätzen Jerusalems alte Männer und Frauen, jeder mit seinem Stock in der Hand vor hohem Alter, und die Plätze der Stadt sollen voll sein von Knaben und Mädchen, die dort spielen« (Sacharja 8,4-5).21 Das Spiel kann hier als ein natürliches und selbstverständliches Verhalten von Kindern gedeutet werden, denn wie den alten Menschen der Stock als Symbol für ihr Alter dient, steht das Spielen hier als eine Metapher für Kindheit22. Eine Deutung allerdings, die über die oberflächliche Lesart hinausgeht, dass Kinder spielen, ist auch anhand dieser Passage nicht möglich. Insgesamt muss als Fazit zur Recherche des verwendeten Spielbegriffs in der Bibel konstatiert werden, dass die gefundenen Textstellen, in denen das Spiel erwähnt wird, keine erkenntnisreichen Deutungen für die hier zu untersuchende Fragestellung zulassen. Das Spiel ist in der Bibel eine Randerscheinung; es besitzt im Grunde keinen Stellenwert. Betrachtet man dagegen den Verbreitungsgrad des Arbeitsbegriffs, findet sich im Vergleich zum Spiel eine sehr ungleiche Verteilung auf quantitativer sowie auf qualitativer Ebene. Insgesamt kommt der Begriff »Arbeit« in all seinen sprachlichen Variationen in der Luther-Bibel von 1987 an 177 Stellen vor.23 Lang (2006) erklärt in diesem Zusammenhang, dass die Arbeitsthematik den Bibelleser »von der Paradieserzählung über den Frondienst der Hebräer in Ägypten und unter König Salomo bis zu den Fischern am See Gennesaret und zu den in Spruchform gefassten Regeln der frühen Christen« begleitet (Lang 2006: 35). Hier zeigt sich, dass das Sujet »Arbeit« in der Bibel sehr präsent und substanziell
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Die Recherche zum Spielbegriff in der Bibel wurde im Sommer 2007 mithilfe von bibel-online. net durchgeführt (vgl. www.bibel-online.net). Zebaoth, ist eine Bezeichnung im Alten Testament, welches für die himmlischen Heerscharen steht. Zumeist wird damit der Beiname Gottes zum Ausdruck gebracht, der über diese Heere gebietet. Eventuell geht es auch unausprochen darum, dass die Kinder durch ihr Spiel die Alten ergötzen sollen. Die Recherche zum Arbeitsbegriff in der Bibel wurde ebenfalls im Sommer 2007 mithilfe von bibel-online-net durchgeführt (vgl. www.bibel-online.net).
2.2 Exkurs: Jüdisch-christliche Überlieferung
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zu sein scheint, was einerseits den quantitativen Umfang an gefundenen Textstellen und andererseits den Umfang an wissenschaftlicher Literatur zum Arbeitsbegriff in der Bibel erklärt. Der hohe Stellenwert der Arbeit in der Bibel führt zum zweiten angesprochenen Punkt, warum im weiteren geschichtlichen Verlauf das Spiel vor dem Hintergrund von Arbeit zu deuten ist. 2) Während in der Antike der Begriff des Ernstes dem des Spiels vornehmlich gegenüber stand, entwickelt sich unter dem Einfluss der Bibel ein anderes Gegensatzpaar: Spiel vs. Arbeit. Dies liegt in dem Umstand begründet, dass im Gegensatz zu den Jahrhunderten vorher die Arbeit aufgrund der jüdisch-christlichen Überlieferung ab dem Mittelalter immer mehr aufgewertet wird: Sie wird zum primären Lebensbereich des Menschen erklärt. Nimmt man dieser These folgend Spiel und Arbeit als Polaritätskategorien zur Betrachtung der Historie des christlichen Abendlandes, wird folgendes deutlich: Die christliche Tradition eines normativ ›richtig‹ zu führenden Lebens in der Zeit des Mittelalters sowie vor allem zur Zeit der Reformation stellt Arbeit ins Zentrum des Seins Vor diesem Hintergrund muss die Bibel, indem sie die gottgewollte Arbeit dem suspekt gewordenen Spiel entgegenstellt, mit dieser Aufwertung des Arbeitsbegriffs als Anstoß zu einer sozialhistorischen Entwicklung interpretiert werden. Das Spiel wird im Mittelalter und vor allem zu Zeiten der Reformation als verdächtig und gefährlich erklärt (vgl. Kapitel 2.3, S. 46ff.). Für die folgende Analyse zum Arbeitsbegriff werden aufgrund der angesprochenen Fülle exemplarisch Merksprüche, spezifische Ereignisse und weitere Texte unterschiedlicher Art zum Arbeitsverständnis des Alten und Neuen Testaments wiedergegeben. Allerdings fordern Hieke (vgl. 1998: 19) sowie Preuß (vgl. 1978: 613) zu Recht eine sensible Handhabung mit Bibelstellen im Kontext von Arbeit ein. Sie warnen vor Überinterpretationen, da ein einheitliches Arbeitsethos oder eine systematische Arbeitslehre nicht erkennbar seien. Trotz der unterschiedlichen Lesarten, die im Weiteren aufgezeigt werden, ergibt sich aber ein recht kohärentes Gesamtbild von Arbeit im Gegensatz zum Spielbegriff. Zwar lässt sich nicht von einem einheitlichen Arbeitsethos sprechen, aber eine gewisse Grundlinie wird erkennbar. Darüber hinaus ist der Umstand zu reflektieren, dass das Alte und das Neue Testament vor dem Filter der Bibelübersetzung ins Deutsche zu sehen sind. Dies impliziert, dass es bei den folgenden Ausführungen nicht um eine bestimmte zeitliche Einordnung geht. Aus diesem Grund ist auch dieses Kapitel mit dem Titel Exkurs überschrieben, da es nicht in die zeitliche Logik passt.
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2. Sozialhistorische Analyse – Das Spiel und seine konzeptionellen Gegenbegriffe
2.2.1 Der Sündenfall: Arbeit als Privileg vs. Strafe Um die Deutung von Arbeit vor allem aus christlicher Sicht nachzuvollziehen, bietet sich die Schöpfungsgeschichte an. In Genesis, dem ersten Buch Mose, erscheint Arbeit als ureigenste Aufgabe des Menschen (vgl. Hieke 1998: 19). Der Herr übergibt Adam die von ihm geschaffene Welt mit dem Auftrag, über diese zu herrschen, sie zu bestellen und zu behüten (vgl. Genesis 1, 28; Genesis 2, 15). »Bearbeiten und Bewahren des Gartens ist daher die Arbeit des zum ›Gärtner des Paradieses‹ bestimmten Menschen. Damit ist dem Menschen schon im paradiesischen Zustand, und d.h. vor dem Sündenfall, die Arbeit als gottgesetzte Bestimmung seines Erdenlebens aufgetragen« (Bienert 1956: 49). Die Arbeit wird zur menschlichen Lebensaufgabe bestimmt. Dieses ›Sonderrecht‹ des Menschen gegenüber allen anderen Lebewesen bezieht sich allerdings nicht auf ein Arbeitsverständnis, das mühlselig und anstrengend ist. Im Gegenteil: Das Paradies ist eine Art ›Schlaraffenland‹, dessen Bewahrung leicht vonstatten geht. Der Nahrungserwerb erfordert keine großen Kräfte, es ist alles im Überfluss vorhanden. Im Garten Eden zu leben und dort zu arbeiten, wird als Privileg dargestellt. Es ermöglicht ein sorgenfreies Leben.24 Diese ›schöne heile Welt‹ des Menschen ändert sich mit dem Sündenfall. Aufgrund des Verstoßes, des Tabubruchs, vom verbotenen Baum der Erkenntnis zu essen, erhält die Arbeit anstrengenden und mühseligen Charakter: Korrespondierend zu der begangenen Sünde bezieht sich das Strafurteil Gottes auf den zukünftigen Nahrungserwerb: »Weil du gehorcht hast der Stimme deines Weibes und gegessen hast von dem Baum, von dem ich dir gebot und sprach: Du sollt nicht davon essen –, verflucht sei der Acker um deinetwillen! Mit Mühsal sollst du dich von ihm nähren dein Leben lang« (Genesis 3, 17). Anstatt in einem paradiesischen fruchtbaren Garten zu leben, werden die Menschen in eine öde karge Gegend verdammt. Die Konsequenz in Bezug auf Arbeit ist, dass die »spielerisch zu bewältigende Hortikultur (…) von der mühsamen Agrikultur abgelöst« wird (Lang 2006: 36). Das vorher Leichte – auch Lang spannt hier eine Dialektik von spielerisch und mühsam auf – wandelt sich zur Strapaze, die im Überfluss Früchte tragenden Bäume werden durch Dornen und Disteln ersetzt. Während der Mensch im
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Die Beschreibung des Paradieses erscheint wie die Metapher von der Insel, auf der die Früchte dem Menschen mundgerecht dargeboten werden bzw. in der griechischen Mythologie dem Elysion, eine »Insel der Seligen«, ein Ort ewigen Frühlings, wo ein nektarähnlicher Trank das Vergessen allen irdischen Leidens mit sich bringt. Mit Rousseau (1990) gesprochen, erinnert das Leben von Adam und Eva im Unschuldszustand – vor dem Sündenfall – an den »Edlen Willden«, der von dem lebt, was ihm die Natur beschert.
2.2 Exkurs: Jüdisch-christliche Überlieferung
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Paradies sich nahezu unbeschwert von den Gaben Gottes ernähren konnte, muss er nun mit vollem Arbeitseinsatz sein Überleben durch Nahrungserwerb sichern. In diesem Kontext erklärt Hieke, dass die Arbeit in der Schöpfungsgeschichte an und für sich als positiv bewertet werden kann, denn sie gehört zu Gottes Weltordnung (vgl. Hieke 1998: 19). Als mögliches Fazit der Schöpfungsgeschichte kann festgehalten werden, dass der Sündenfall den Hintergrund der Zuschreibung des mühseligen Charakters von Arbeit erklärt.
2.2.2 Arbeit vs. Faulheit Viele interessante und bedeutsame Deutungen über den Arbeitsbegriff finden sich im Buch der Sprichwörter.25 Sprichwörter reflektieren menschliche Vorstellungen. Trotzdem ist kritisch darauf hinzuweisen, dass sie häufig auch verzerrt wiedergegeben werden und ihre Interpretationen und Deutungen im Kontext des Verständnishorizonts einer bestimmten Zeit zu sehen sind. Das Buch der Sprichwörter ist eine Unterweisungsschrift des Alten Testaments, in dem es um Weisheit, Bildung und Einsicht geht (vgl. Spruch 1, 1-7). Ziel dieser Sammlung von Gedichten, Mahnworten und Sprüchen ist die Lehre vom sachgemäßen ethischen Verhalten (vgl. Lang 2006: 44; Spruch 1,3). Dabei erscheint es so, dass nach dem Alten Testament derjenige als weise gilt oder ein ›richtiges‹ Leben führt, der unter anderem seinen Beruf versteht und diese Arbeit auch mit fleißigem Eifer ausführt: Der Arbeitende wird im Gegensatz zum Faulen hoch geschätzt, er verdient sich sein Brot selbst, seine Taten tragen Früchte, er wird aufgrund seines fleißigen Handelns belohnt. Im Gegenzug muss und soll der Faule leiden: »Faulheit macht schläfrig, und ein Lässiger wird Hunger leiden« (Spruch 19,15). Dieser Spruch kann als eine von vielen Mahnungen an die ›Arbeitsscheuen‹ und Faulen verstanden werden.26 Der Mensch wird durch Faulheit behäbig und phlegmatisch, der Schlaf wird nicht genutzt, um sich von der Arbeit zu regenerieren, sondern zweckentfremdet. In letzter Konsequenz bedeutet dies, an Hunger sterben zu müssen. Die Grundstruktur der Sprüche zu Arbeit und Faulheit wird deutlich: Zur Arbeit wird ermahnt; der Faulheit sowie den nichtigen Dingen hat man sich zu entziehen. »Wer seinen Acker bebaut, wird Brotes die Fülle haben; wer aber nichtigen Dingen nachgeht,
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Das Buch der Sprichwörter wird auch als die Sprüche Salomos bezeichnet (»Proverbia Salomonis«). Vgl. auch Spr 6,9; Spr 10, 26; Spr 13, 14; Spr 15, 19; Spr. 16, 26; Spr 19, 24; Spr. 20, 4; Spr 21, 25; Spr 24, 30.
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2. Sozialhistorische Analyse – Das Spiel und seine konzeptionellen Gegenbegriffe
der ist ein Narr« (Spruch 12, 11; vgl. auch 12, 27; 13, 4; 28, 19). Hierbei wird zusätzlich artikuliert, dass – wie auch schon in der Schöpfungsgeschichte angesprochen – die Landwirtschaft den primären Arbeitsbereich darstellt, denn im »agrarischen Israel (…) waren alle anderen Produktionszweige marginal« (Hieke 1998: 21). Und auch Lang erklärt, dass sich die Arbeit »in diesem Zusammenhang stets als bäuerliche Feldarbeit verstehen« lässt (Lang 2006: 44). Insgesamt ist festzuhalten, dass im Buch der Sprichwörter der Fleiß – im Gegensatz zur Faulheit – positive Attribute aufweist. Und obwohl Arbeit nicht leicht zu bewältigen ist, sondern mit Mühe und Anstrengung in Verbindung steht, erhält sie eine positive Konnotation: der ›gerecht‹ Lebende arbeitet hart für seinen Lebensunterhalt, wie etwa die fleißige Ameise: »Geh hin zur Ameise, du Fauler, sieh an ihr Tun und lerne von ihr!« (Spruch 6,6). Die fleißige Ameise dient hier zum Vorbild für den Menschen, dient als Metapher und Appell zur Arbeitsfreude, Strebsam- und Emsigkeit.
2.2.3 Arbeiten als Muss Als eine bedeutsame geschichtliche Figur für das vorliegende Werk hat sich weiterhin Paulus herausgestellt, einer der wichtigsten zur Arbeit anhaltenden Pädagogen, der das Arbeitsverständnis des Christentums maßgeblich prägte. Paulus, ein gebildeter Jude, verstand sich als Apostel des Evangeliums. Er sah sich durch die Gnade des Herrn berufen, den Heiden den Sohn Gottes zu verkündigen (vgl. Galater 1, 15). So zog er missionierend durch verschiedene Länder und wurde zu einem der einflussreichsten und bedeutendsten Theologen des Urchristentums. Die Lebensweise von Paulus erinnert an das Arbeitsverständnis im Buch der Sprichwörter. Denn obwohl er während seiner Missionsreisen von christlichen Gemeinden Unterstützung annahm, wird er, so Lang, »als arbeitender Mensch geschildert« (Lang 2006: 48), der während der Woche seiner Arbeit nachging und am Sabbat missionierte. Diese Lebensführung empfiehlt Paulus auch anderen. Er ermahnt sie, ein »stilles Leben« zu führen, sich um die eigenen Angelegenheiten zu kümmern und mit den »eigenen Händen« zu arbeiten (1 Thessalonicher 4, 11). In diesem Sinn setzt Paulus darauf, Ordnung in die eigene Lebensart zu bringen, die geregelt und sortiert zu sein habe. Man soll die Dinge, die einen selber betreffen, annehmen und in Ehre bestellen. Wer dieser Lebenseinstellung
2.2 Exkurs: Jüdisch-christliche Überlieferung
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entsagt, muss die entsprechende Konsequenz daraus ziehen: »Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen« (2 Thessalonicher 3, 10-11).27 Paulus folgt der Maxime, dass sich jeder in ehrbarer Weise um seine eigenen Angelegenheiten und demnach um den eigenen Broterwerb zu kümmern habe. Er erwartet, dass man gewissenhaft seine Arbeit ausübt und nicht die Gaben anderer verspeist (vgl. ebd. 12f.). Wer also den Acker nicht bestellt, hat auch keine Existenzberechtigung.
2.2.4 Fazit: Die Dominanz der Arbeit gegenüber dem Spiel Zusammenfassend lässt sich zu den Ausführungen des Spiel- und Arbeitsbegriffs im Neuen und Alten Testament konstatieren, dass das Spiel eine Randerscheinung ist, die Arbeit dagegen zum primären Lebensbereich des Menschen erhoben wird. Die Arbeit wird untrennbar mit dem Nahrungserwerb des Menschen verknüpft. Dabei kann sie laut Schöpfungsgeschichte auf der einen Seite als Privileg, auf der anderen Seite als Strafe gedeutet werden. Die Sprüche aus dem Buch der Sprichwörter zeigen den Wert eines arbeitsamen Menschen auf, der durch Fleiß sein tägliches Brot sichert, im Gegensatz zum Faulen, der hungern muss. Arbeit als von Gott zugeschriebene Aufgabe an den Menschen, die dadurch zur Lebensaufgabe wird, preist Paulus. Die Arbeit erhält insgesamt in der Bibel zumeist eine positive Zuschreibung, die allerdings auch Hinweise auf Mühsal enthält. Allerdings ist der Erfolg der Arbeit auch von Gottes Gnade abhängig.28 So warnen auch Bibelstellen davor, Ehre, Selbstwertgefühl und Identität allein auf Arbeit und den daraus gewünschtem Reichtum zu bauen (vgl. Hieke 1998: 30f.). Das überlieferte Arbeitsverständnis im Neuen und Alten Testament stellt in mittelalterlichen Interpretationen zur Arbeit sodann einen entscheidenden Faktor dar. Während die Griechen die Arbeit, vor allem auch im körperlichen Sinn, noch als minderwertig angesehen haben, ändern die alt- und neutestamenta rischen Überlieferungen – wie die weiteren Ausführungen zeigen werden – diese
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Einige Kommentatoren weisen darauf hin, dass dieser Abschnitt nicht von Paulus selbst geschrieben worden sein soll. Trotzdem herrscht aber nach Lang kein Zweifel darüber, dass dies dem paulinischem Arbeitsethos authentisch entspricht (vgl. Lang 2006: 49). Wenn aber das angestrebte Resultat mühseliger Arbeit ausbleibt, bedeutet dies nicht entgegengesetzt, dass dies ein Zeichen für menschliche Schuld ist, wie dies das Buch Hiob aufzeigt. So wird das optimistische Denken aus dem Buch der Sprichwörter, dass der Fleiß auch immer Früchte trägt, bereits zur biblischen Zeit in Frage gestellt.
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2. Sozialhistorische Analyse – Das Spiel und seine konzeptionellen Gegenbegriffe
Sichtweise für die zukünftige Lebensvorstellung grundlegend. In dieser neuen Weltsicht gilt der Arbeitende als gottesfürchtig. Zu dunklen Antipoden des Arbeitenden werden der Faulpelz, der Spieler und der Müßiggänger.
2.3
Mittelalter und Frühe Neuzeit – Arbeit als primärer Lebensbereich
Dieses Kapitel trägt die Überschrift »Mittelalter und Frühe Neuzeit«. Somit sind fast 1.300 Jahre Kulturgeschichte in diesem Abschnitt zusammengefasst. Der kritische Leser wird sich fragen, warum eine derartige Zeitspanne unter einem Titel subsumiert wurde, sind doch die Epoche des Mittelalters, die kultur- und kunstgeschichtliche Phase der Renaissance und des Barock, die geistigen Strömungen der Reformation und des Pietismus sowie das Zeitalter der Aufklärung voneinander tiefgreifend verschieden. Die Unterordnung dieser divergierenden geschichtlichen Perioden unter einem einzigen Titel gründet sich einerseits auf sich stets wiederholenden Spieldeutungen, wobei eine negative Einschätzung dominiert: »Vom ausgehenden Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert« wird das Spiel überall dort, wo es sich »als eine Sphäre eigenen Rechts behaupten sucht, (…) als Sünde und als Ausdruck schädlicher Eigenschaften gebrandmarkt oder – in günstigeren Fällen – als Zeitverschwendung betrachtet« (Parmentier 2004: 931f.). Andererseits ist eine weitere gewisse Linie bis zum Ende des 18. Jahrhunderts erkennbar, und zwar der Zusammenhang zwischen einer stetig abwertenden Interpretation des Spiels aufgrund einer immer positiveren Besetzung von Arbeit. Dabei sind für die »deutsche Begriffsgeschichte von ›Arbeit‹ (…) der Katholizismus auf der einen, das Luthertum auf der anderen Seite bis zum Ende des 18. Jahrhunderts in erster Linie maßgebend geblieben, wenn auch in zunehmender Verbindung mit ›modernen‹ Einflüssen« (Conze 1972: 167). Der Beginn der Französischen Revolution im Jahr 1789 schließt dieses Kapitel ab, denn mit ihr werden wir uns in die nächste große europäische Geschichtsphase des Spiels begeben: das 19. Jahrhundert.
2.3 Mittelalter und Frühe Neuzeit – Arbeit als primärer Lebensbereich
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2.3.1 Christliches Mittelalter – der schuldbeladene Mensch? »Das Mittelalter kannte noch nicht die säuberlich getrennten Zweige der modernen Spieltheorie (…). Wenn aber heutige Spieltheoretiker die Anfänge ihrer Wissenschaft erst in der Neuzeit suchen, greifen sie zu kurz«. (Borst 1987: 547)
Die folgenden Ausführungen zum Mittelalter dienen dazu, das vorangestellte Postulat zu stützen, wonach sich eine spielfeindliche Einstellung aus einer Überhöhung von Arbeit ergeben hat, die auf einer theologischen ArbeitsInterpretation in der Bibel fußt. Aus diesem Grund ist für die weitere historische Entwicklung der Spielinterpretation der Begriff von Arbeit relevant, denn es schält sich heraus, dass der Spielbegriff mit dem Verständnis von Arbeit untrennbar verknüpft ist. In diesem Kontext wird sich herausstellen, dass die Rechtfertigung einer Geringschätzung des Spiels, die ab dem Mittelalter unaufhaltsam bis in die frühe Neuzeit voranschreitet, vor allem von den Herrschenden, den weltlichen Machthabern sowie den Priestern und Ordensleuten propagiert wird (vgl. Parmentier 2004: 932). Obwohl die Hintergründe einer diffamierenden Bewertung allen Spiels von Stand zu Stand variieren können, binden sich diskreditierende Spieldeutungen vor allem an ökonomische, machtorientierte und klerikale Interessen, die mit einer an der theologischen ›Dogmatik‹ orientierten Intoleranz gegenüber Nicht-Arbeit, Faulheit und Müßiggang einhergeht. Dies ist ein zentraler Aspekt der Spieldeutung der folgenden Jahrhunderte, der bei der Rezeption der weiteren Ausführungen stets zu berücksichtigen ist. Trotz dieser dominierenden negativen Spielauffassung lassen sich aber Gegenbeispiele finden. Obwohl positive Spielinterpretationen im gesamten gesellschaftlichen Diskurs des Mittelalters eher Randphänomene bleiben, sollen sie hier herauskristallisiert und gewürdigt werden. Denn im Gegensatz zur Meinung vom Mittelalter als einem dunklen Zeitalter ist hervorzuheben, dass diese Zeitperiode bereits viele Aspekte heutiger Spieltheorien entdeckte (vgl. Borst 1987: 551). Weiter ist zu betonen, dass sich in dieser Epoche die etymologische Basis für unser heutiges Verständnis von Spiel und Arbeit bildet. Aus diesem Grund ist zunächst deren wortgeschichtlichem Sinn nachzugehen. Betrachten wir vorerst die Etymologie von Spiel. Die Wurzel des heutigen deutschen Verbs spielen – althochdeutsch (750-1050) spiln, mittelhochdeutsch (1050-1350) spiln – liegt in der Bedeutung des lebhaften Bewegens und besitzt noch eine starke Nähe zum Tanz. Insgesamt ist aber mit dem Begriff Spiel eine ganze Spannbreite von Wortinhalten verbunden, wie etwa »Vergnügen«, »Zeit-
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2. Sozialhistorische Analyse – Das Spiel und seine konzeptionellen Gegenbegriffe
vertreib«, »Scherz«, »Unterhaltung«, »Musik«, »Schauspiel« »Wettkampf« und »Turnier« (Lexer 1974, Bd. 2: 1091). Demzufolge ist die Grundbedeutung von Spiel zunächst frei von pejorativen Bewertungen. Allerdings verurteilte die christliche mittelalterliche Sittenlehre das Spiel, »und sie stellte jenen, die den irdischen Freuden entsagten, die ewige Seligkeit des Himmelsreiches in Aussicht« (Endrei 1988: 8). Das Spiel wird somit auf moralischer Ebene als schädliche Tätigkeit degradiert.29 Im Vergleich zum Terminus Spiel bedeutete das germanische Wort Arbeit originär »schwere körperliche Anstrengung, Mühsal, Plage« (Duden 1989: 43). »Der Begriff labor, um den es dabei geht, bedeutet genau genommen auch nicht Arbeit, ein Wort, für das es im Mittelalter kein genaues Äquivalent gibt, sondern Mühsal« (Le Goff 1978: 629). Dadurch war Arbeit zunächst eindeutig negativ besetzt und beinhaltete auch einen passiven Aspekt des Leidens. Der Wortinhalt bezieht sich auf die Notwendigkeit, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Im Lauf des Mittelalters wird der Arbeitsbegriff tendenziell – trotz einiger Rückfälle – aufgewertet, und zwar vor allem aufgrund der von der Kirche postulierten Rivalität des Müßiggans und des Spiels zur gottgewollten Arbeit. Nach diesem kurzen Abriss über die wortgeschichtliche Herkunft von Spiel und Arbeit soll nun dem mittelalterlichen Spiel- und Arbeitsverständnis konkretere Gestalt gegeben werden. Die folgende Darstellung orientiert sich an der gängigen Einteilung dieser Epoche in Früh-, Hoch- und Spätmittelalter.30
2.3.1.1 Spielerisches Vergnügen vs. Arbeit als Buße (Frühmittelalter) Während des Frühmittelalters wurde Europa, vor allem aufgrund irischer Missionstätigkeiten, weitgehend christianisiert. Es ist die Zeit der Naturalwirtschaft. Adelige, die Kirche und der König besaßen die Verfügungsgewalt. Ein wichtiges Datum am Anfang des Mittelalters ist das Jahr 529, in dem Platons Akademie von der christlichen Kirche geschlossen und gleichzeitig der Benediktinerorden, der erste Mönchsorden, gegründet wurde. Dessen Grundsatz lautete ora et labora.
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In diesem Kontext führt Endrei (1988: 9) unterschiedliche historische Quellen an, um diese Verurteilung des Spiels durch die ›geistlichen Würdenträger‹ darzulegen. Aber nicht alle Geistlichen nahmen eine ablehnende Haltung gegenüber dem Spiel ein, allerdings wurde von ihnen nicht differenziert bzw. transparent gemacht, welche zu befürworten und welche moralisch nicht angemessen waren. Allerdings fehlen einheitliche zeitliche Abgrenzungen zwischen diesen Phasen – wie bei fast allen historischen Epochen – in der Geschichtsschreibung. Aus diesem Grund sind die Übergänge als fließend zu betrachten.
2.3 Mittelalter und Frühe Neuzeit – Arbeit als primärer Lebensbereich
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Das Idealbild des klösterlichen Lebens bestand also aus Beten und Arbeiten. Eine asketische, ernste Lebensgestaltung stand im Mittelpunkt (vgl. Colazza 1900: 109). Von den Mönchen wurde die Arbeit, vor allem die Handarbeit, als Buße verstanden. Gesellschaftlich besaß die Handarbeit – analog zur Antike – im frühen Mittelalter noch einen eher minderwertigen Status.31 Die Geringschätzung der handwerklichen Arbeit im frühen Mittelalter kann dabei unter Bezugnahme auf Platon, Aristoteles und Cicero als ein kulturell-geistiges Erbe der Antike gelesen werden. Handarbeit als Buße, basierend auf einer klerikalen Auslegung des Sündenfalls, hatte dagegen zur Konsequenz, dass sie zum asketischen Kennzeichen des Mönchstandes erhoben wurde, der damals am höchsten geschätzten Lebensform. Dies zeigt die Ambivalenz der mittelalterlichen Interpretation von Arbeit, die auf einer spannungsträchtigen Lesart der jüdisch-christlichen Tradition basiert: »Arbeit als Fluch und Segen, Strafe und göttlicher Auftrag zugleich. Selbst in den entschiedensten Plädoyers für die Anerkennung der Arbeit als göttlich gewollt, so in manchen Mönchsregeln des Mittelalters (…), lief immer ein Subtext mit, gemäß dem mit der harten Arbeit auch ein Stück Buße für menschliche Sündigkeit geleistet werden sollte« (Kocka 2001: 8). In diesem Zusammenhang erscheint nicht verwunderlich, dass die Kirche vergnügliche Aktivitäten als verwerflich beurteilte, sahen doch die »geistlichen Herren, die sich für das ewige Heil der Menschen verantwortlich fühlten (…), in den kulturunabhängigen, profanen Spielen und Vergnügungen ein Ablenkungsmanöver des ›Bösen‹ und verurteilten sie deshalb als Sünde und Laster« (Parmentier 2004: 932). So sprach die katholische Kirche dem Spiel, welches Frohsinn und Heiterkeit implizierte, frevelhaften Charakter zu. Es galt, spielerische Handlungen zu bekämpfen. »Ihre Argumente gegen das Spiel schöpften die intoleranten mittelalterlichen Sittenrichter aus dem Arsenal der christlichen Ideologie, zumal sie sich in dieser Hinsicht auf keinen der antiken Philosophen stützen vermochten« (Endrei 1988: 8). Allerdings ist das Spiel als ein gesellschaftlich ambivalentes Phänomen dieser Zeit zu verstehen. Einerseits verbot die Kirche das Spiel, andererseits belegen Schriften, dass das mittelalterliche einfache Volk sowie auch die höheren Volksschichten im Spiel eine lustvolle Betätigung suchten (vgl. Retter 1979: 61). Von der Kirche als verwerflich ange-
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In diesem Zusammenhang ist die damals vorherrschende Rangordnung von Handarbeit zu beachten. Die Handarbeit wurde in Abhängigkeit der jeweiligen Materialbeschaffenheit unterschiedlich bewertet. Beispielsweise wurde aufgrund des seltenen Eisenvorkommens das handwerkliche Gewerbe der Eisenarbeit höher geschätzt als andere. Das geringste Ansehen besaß die landwirtschaftliche Arbeit (vgl. Le Goff 1978: 628).
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2. Sozialhistorische Analyse – Das Spiel und seine konzeptionellen Gegenbegriffe
sehen, versprach das Spiel dagegen für die Bauern und den Adel eine Erholung vom Alltag. Während des 8./9. Jahrhunderts erfolgte dann eine Aufwertung literarischer, landwirtschaftlicher und handwerklicher Tätigkeiten in der Zeit der KarolingerKönige. Eine leistungsstarke arbeitsfähige Bevölkerung versprach wirtschaftliche Stabilität, dauerhafte Besiedlung und damit – nicht nur in den Grenzmarken – Befestigung der Herrschaft; der Leistungsgedanke wurde politisch vorangetrieben. Umgesetzt wurden diese Zielvorstellungen beispielsweise durch das Vergeben von Land an die Bauern in Abhängigkeit von ihrer Produktivität. Zusätzlich wurden die Rechte der Landbevölkerung sowie ihre soziale Stellung verbessert. Allerdings, so Le Goff, ging der erhöhte Wert von Arbeit nicht ohne »Doppelsinnigkeit« einher. Denn das karolingische Gesetz schrieb ein Arbeitsverbot am Sonntag vor, vor allem die Handarbeit bedeute eine Beleidigung Gottes (vgl. Le Goff 1978: 629). Obwohl es zur Zeit des Mittelalters noch keinen Freizeitbegriff im heutigen Sinne gab, setzen spielerische Aktivitäten jedoch freie Zeit voraus. Das sonntägliche Arbeitsverbot und der kirchliche Festtagskalender – auch an kirchlichen Feiertagen durfte nicht gearbeitet werden – schuf dafür die mögliche zeitliche Rahmung. So wurde Freizeit zwar gesetzlich und kirchlich verordnet, jedoch »galt das Sprichwort: ›Müßiggang ist aller Laster Anfang‹!« (Meier 2005: 5).
2.3.1.2 Spiel verhöhnt und geliebt (Hochmittelalter) Das Hochmittelalter ist eine Phase der europäischen Blütezeit. Die Macht des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation wuchs beträchtlich, die urbane und landwirtschaftliche Entwicklung in Europa nahm einen rapiden Aufschwung. Damit einher ging ein ebenso rasanter Anstieg der Bevölkerungszahl. Dies ist die Hochzeit des Rittertums. Die technologische Entwicklung ist gekennzeichnet durch vielfältige landwirtschaftliche Innovationen wie z.B. die Dreifelderwirtschaft.32 Wirtschaftlich bildeten sich in dieser Periode die Arbeitsteilung sowie die Lohnarbeit heraus, Handwerker und Händler vereinten sich in Zünften und Bruderschaften. Diese Entwicklungen wiesen den Weg für eine deutlich sichtbare Aufwertung der Arbeit: »Das System der artes mechanicae gewinnt neue Gestalt« (Le Goff 1978: 631), und das Ausmaß der verbotenen Berufe wird auf
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Weiter bildete sich das städtische Schulwesen heraus. Bildung war nun nicht mehr Privileg des Klerus, und die erste Universität (Bologna) wurde gegründet.
2.3 Mittelalter und Frühe Neuzeit – Arbeit als primärer Lebensbereich
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die Schauspielerei, das Zinsgeschäft, die Prostitution sowie auf Astrologie und Alchemie beschränkt. Die Schauspielerei als verbotener Beruf zu diskreditieren, erscheint in diesem Kontext interessant. Hier ist entscheidend, dass »vor der Herausbildung von organisatorischen Zusammenschlüssen der ›Spielleute‹ [zu Musikantenzünften – S.G.] ab dem 13. Jahrhundert gesellschaftlich ein Bereich Spiel entstand, der negativ bewertet werden konnte« (Eichler 1979: 25). Spielleute und fahrende Sänger, damals auch Gaukler genannt, waren entrechtet. Dem Spielmann sprach man ein sündiges Leben zu, denn das Spiel galt »allgemein als etwas Nichtiges, als Zeitvergeudung. Wer aber gar einen Beruf daraus machte, wer die Menschen durch Spiele von der Arbeit abhielt, galt als ein ausgemachter Nichtsnutz« (Dirx 1981: 68).33 Das Spiel wird aufgrund einer notwendigen Wertschätzung von Arbeit diffamiert, denn es gilt als Nicht-Arbeit, Faulheit bzw. steht unter Verdacht, die Arbeit zu vernachlässigen. Allerdings zeigte sich die mittelalterliche Aristokratie ambivalent gegenüber lustbetonten Dingen, die im Spielbegriff enthalten sind: »über lange Zeiten hinweg bleiben die Kulturproduzenten, die Dichter, Schauspieler, Musiker und Bildenden Künstler, den (…) politischen und wirtschaftlichen Eliten auf zwiespältige (!) Weise verbunden« (Thurn 1976: 22). Die Oberschicht erfreute sich am Schauspiel. Es versprach Vergnügen und sie konnte, aufgrund ihrer wirtschaftlichen Möglichkeit, über die genannten Kulturproduzenten wie über ihr sonstiges Gesinde verfügen. Das Spiel war aufgrund seiner kulturellen Qualität folglich – lange bevor Huizinga das Spiel zum Kulturbegriff erhob – einerseits eine verspottete, verhöhnte Tätigkeit, doch andererseits auch eine gesuchte Darbietung. In diesem Zusammenhang ist jedoch kritisch nachzufragen, ob denn mit dem Verweis auf das Schauspiel und die Spielleute überhaupt die hier zugrunde liegende Fragestellung tangiert wird, oder ob nicht ›Äpfel mit Birnen‹ verglichen werden. So ist etwa das englische Wort für schauspielern nicht to play, sondern to act. Allerdings zieht die vorliegende Arbeit, wie eingangs erwähnt, dem Spiel eher weite Grenzen. Es sollte der Mannigfaltigkeit der Assoziationen Rechnung getragen werden, die unter dem Begriff des Spiels fallen. Es gilt, der Semantik von Spiel näher zu kommen. Daher, so die Argumentation, ist es hier auch legitim, der gesellschaftlich zugeschriebenen Wertung des Schauspiels und der Spielleute jener Zeit Raum zu geben, haben sie doch den deutschen Begriff des
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Obwohl im Vergleich die städtischen und die in fürstlichen Diensten stehenden Musikanten, wie etwa Trompeter, als Rechtsame galten, bildete sich erst während der Renaissance der Begriff des »Musikers« heraus, der mit positiveren Eigenschaften versehen wurde (vgl. Eichler 1979: 25).
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2. Sozialhistorische Analyse – Das Spiel und seine konzeptionellen Gegenbegriffe
Spiels im Namen und weisen somit auf einen bestimmten Bedeutungshorizont von Spiel hin.34 Am Beispiel der Spielleute und der Schauspielerei wird deutlich, dass während des Hochmittelalters sehr widersprüchliche Vorstellungen und Wertungen zum Spiel gegenwärtig waren. Es handelt sich um ein Wechselspiel von Ansichten, die das Spiel loben oder aber verachten. Diese Ambivalenz zieht sich wie ein roter Faden durch das Mittelalter: Ein Vertreter, der das Spiel diskreditierte, war etwa Ludwig der IX., auch Ludwig der Heilige genannt. Er regierte von 1226-1270 als König und »haßte alles Verspielte« (Borst 1987: 548).35 Während er auf seinem Kreuzzug um 1248 beobachtete, wie sich seine Verwandten und Beamten an Spielen erfreuten, wie etwa am Schach- oder dem Würfelspiel »Tricktrack«, wurde er missmutig und eliminierte alle Spielutensilien. Da er aber dem Adel diese Art des Zeitvertreibs nicht verbieten konnte, verwehrte Ludwig der IX. das Spielen wenigstens seinen Beamten. Allerdings erreichte Ludwig damit das Gegenteil, denn nun wurde das Spielen zu einer grundsätzlichen Frage erhoben. So schrieb etwa der englische Franziskanermönch Roger Bacon, auf den sich die Hauptfigur in Umberto Ecos Roman »Der Name der Rose« – William von Baskerville – häufig bezieht, in seiner Abhandlung »Communia mathematica« um 1258, dass die angewandte Mathematik, »mit tierischen Ernst betrieben, Überdruß erzeuge«. Daher »müsse man mit Zahlen auch spielen, zumal in der Rithmimachie. Sie ähnle in manchem dem Schach, sei aber weit subtiler und ergötzlicher, ein wahres Spiel der Weisheit« (Borst 1987: 548f.). Rithmimachie wird auch Zahlenkampfspiel genannt. Die Wurzeln dieses Spiels, das etwa um 1100 erfunden wurde, liegen in den süddeutschen Kloster- und Domschulen. Es ist ein Brettspiel mit geformten Figuren und diente primär der Einübung der Arithmetik und Proportionslehre. Demzufolge besitzt die Rithmimachie auch einen didaktischen Wert. Spielen und Lernen werden hier miteinander verbunden: »Die Rithmimachie ermöglichte es, gleichsam spielerisch diejenige Arithmetik zu erlernen, die in den Kloster- und Domschulen innerhalb des Quadriviums gelehrt wurde« (Folkerts 1989: 333). Analog zu Quintilians Überlegungen zum kindlichen Lernen im Spiel – es sei an die Buchstaben erinnert, mit denen
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Zur weiteren Begründung einer Auseinandersetzung mit dem Schauspiel und den Spielleuten an dieser Stelle siehe die Ausführungen zum Theater im Barock (vgl. Kapitel 2.3.2.3, S. 64ff.). Neben Ludwig dem Heiligen verbot auch Karl V., der von 1364-1380 König von Frankreich war, seinen Untergebenen das Spielen, vor allem das »Würfel- das Damespiel, das Kegeln und das Fußballspiel, damit sich seine Untertanen statt dessen in der Handhabung der Waffen übten« (Endrei 1988: 9).
2.3 Mittelalter und Frühe Neuzeit – Arbeit als primärer Lebensbereich
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sich Kinder spielerisch das Schriftbild einprägen sollten (vgl. S. 36) – kann die Rithmimachie als mathematisches Lernspiel für Erwachsene gedeutet werden. Bacon vertrat folglich die These, spielerisches Lernen sei motivierender, da es im Gegensatz zum Ernst nicht zur Unlust respektive zum Überdruss beim Lernen führe. Folglich haben wir mit Bacon einen mittelalterlichen Befürworter des spielenden Lernens gefunden. Im Gegensatz zu Roger Bacon hielt der Dominikaner Albertus Magnus Spiele für nicht besonders löblich, erklärte das Glücksspiel, das »Würfeln um Geld« sowie »das schamlose Theater« als »schlechthin böse«, und eigentlich war für ihn »jegliches Spiel, ob gut oder böse, bloß eine Vorschule für Kinder; den Ernst der erwachsenen Wissenschaft erreichte sie nicht« (Borst 1987: 549). Hier wird das Spiel einerseits zugunsten eines höher gestellten Ernstes abermals diskreditiert. Andererseits wird eine Unterscheidung zwischen Kindheit und Erwachsenenstatus in Bezug auf die Einschätzung des Spiels getroffen. Das Spiel gewinnt eine instrumentelle Bedeutung als Mittel zum Zweck im Sinne einer kindlichen Vorübung auf das ernsthafte Leben des Erwachsenen – Parallelen zu Platon sind ebenfalls erkennbar –, welches frei von Spiel zu sein hat. Thomas von Aquin, italienischer Ordensbruder und Schüler von Magnus, vertrat wiederum eine andere Sicht über das Spiel, wobei er sich stark an die aristotelischen Spielüberlegungen anlehnte. Das Spiel sah er als eine Erholung von der erschöpfenden Arbeit, die Körper und Geist anstrenge. Es wird als Gegenpart zur anstrengenden Arbeit legitimiert. Einer Rangordnung bzw. eine normative Unterscheidung zwischen guten und schlechten Spielen nahm Thomas von Aquin dabei nicht vor, denn es musste seiner Ansicht nach »ja vielerlei Spiele geben, je nach den Umständen der Personen, Zeiten und Orte« (Borst 1987: 550). Eine weitere historisch wichtige Person ist König Alfons X. von Kastilien, genannt der Weise. Für den kunstsinnigen König, der 1283 ein Spielbuch verfasste, nahmen Spiele eine Art Trösterfunktion vor dem Hintergrund des Kummers und der Sorgen ein, die der Alltag verursacht. Demnach verspricht das Spiel hier eine Aufarbeitung oder Bearbeitung des Alltags – eine funktionalistische Sicht auf das Spiel, die später auch von Freud vertreten wird. Konkret sprach König Alfons X. allen drei aus dem abendländischen Morgenland stammenden Spielgattungen positive Erfahrungselemente zu: Die von der Kirche geächteten Glücksspiele förderten den Umgang mit Glück und Unglück; Denkspiele, wie etwa Schach, übten den Geist, womit König Alfons den »hohen Stand der Kunst des Schachspiels zur damaligen Zeit« belegte (Retter 1979: 61); die Mischung zwischen beiden, dem Glücks- und dem Schachspiel, führe zur Weis-
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2. Sozialhistorische Analyse – Das Spiel und seine konzeptionellen Gegenbegriffe
heit. Am Feierabend seien deshalb Spiele ein geselliger und nicht zu verachtender Zeitvertreib. Anhand dieser Ausführungen sollte deutlich geworden sein, dass das hochmittelalterliche Spiel und seine sehr unterschiedlichen Ausprägungen in einem ambivalenten Verhältnis zueinander standen.
2.3.1.3 Verdammnis des Spiels (Spätmittelalter) Ab dem Ende des 13. Jahrhunderts geriet dann die mittelalterliche Gesellschaft in eine Krise. Die Menschen verließen ihre Heimat, die Äcker fielen brach und die Bevölkerung in Europa nahm kontinuierlich ab. Berücksichtigt werden muss, dass ab der Mitte des 14. Jahrhunderts Pest und Hungersnöte in Europa grassierten. Auch der Adel blieb davon nicht unbelastet, verarmte tendenziell, was wiederum zu Veränderungen in der Arbeitswelt führte. Negative Auswirkungen waren Streiks, Aufstände und Flagellantentum. Das 15. Jahrhundert bezeichnet die Endphase des Spätmittelalters und den Übergang zur Neuzeit. Zu dieser Zeit entstanden viele Städte bzw. wurde der Städteausbau wieder vorangetrieben. Das Handwerk, die Finanzwirtschaft und das Bankwesen blühten auf (vgl. Rifkin 2004: 80). Neue Handelsrouten wurden eröffnet, und es entstand ein Bürgertum, das sich von den natürlichen Lebensbedingungen eine gewisse Unabhängigkeit erarbeitet hatte. Nun konnte gekauft werden, was zum Leben benötigt wurde. Dadurch wurde ein neues Denken entfacht, welches sich an Fleiß, Eifer und Strebsamkeit orientierte sowie die Phantasie und Kreativität des Einzelnen förderte. Aber in dieser Wiederherstellung gesellschaftlicher Ordnung blieb eine Reihe der Transformationsprobleme bestehen. »Die neuen Formen der Religiosität und der aufkommende Humanismus schwanken zwischen einer Fortführung der Aufwertung der Arbeit und einer Verfestigung der Geringschätzung der Handarbeit« (Borst 1987: 233). Ein prägnantes Beispiel der Umorientierung von Arbeit bzw. Nicht-Arbeit war die Behandlung der Bettler. Arbeitsfähige Bettler wurden nun verfolgt und bestraft. Auch traf sie ein moralisches Urteil, und diese Tatsache verfestigte die Abhängigkeit arbeitender Menschen von ihren Herren und führte auch zu strukturierten Arbeitsverhältnissen. Von diesem Phänomen waren selbst Geistliche betroffen, auch Bettelmönche wurden nach dem neuen Arbeitsverständnis als eigentlich arbeitsfähige Mönche eingestuft. Die Ambivalenz der gesellschaftlichen Zuschreibung von Arbeit zeigt sich in ihrem doppeldeutigen Verständnis: Einerseits erfährt der Arbeitsbegriff eine positive Aufwertung, andererseits bestehen die klassischen Lesarten (Plato, Aristoteles und
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Cicero), die philosophischen Argumente für die Herabsetzung der Arbeit bzw. der landwirtschaftlich Tätigen weiter. Als Fazit eines spätmittelalterlichen Arbeitsverständnisses lässt sich festhalten: Wenn auch das mittelalterliche Christentum in seiner Entwicklung auf bestimmte biblische und kulturelle Aspekte einer positiven Arbeitsauffassung rekurrierte, so bestand doch in dieser Zeit eine gewisse Doppeldeutigkeit fort. Die Handarbeit blieb dem Bußegedanken verhaftet, und damit konservierte sich auch eine Differenz zwischen manuellen Arbeitern und anderweitig Tätigen (vgl. Le Goff 1978: 634). Auch das Spiel behält im Spätmittelalter seinen ambivalenten Charakter. Wie wir zu Beginn dieses Kapitels festgestellt haben, beruht der etymologische Spielbegriff auf Bewegung, auf Tanz. Allerdings verbietet die Nürnberger Sittenpolizei die »schändlichen« Tänze, die »alleyn sünde und dem allmechtigen got on zweyfel myssvellig« sind (Baader 1966: 91). Weiter ist uns aus den Nürnberger Polizeiordnungen vom 13. bis 15. Jahrhundert bekannt, dass es Männern und Frauen untersagt ist, sich zu maskieren. Die Maskierung (Mimikry) kann unter einer modernen Perspektive nach Caillois als eine Kategorie zur Einteilung von Spielen gedeutet werden: Durch die Maske tritt man in die Welt des Spiels ein (in-lusio) (vgl. Caillois 1960: 19).36 Diese Überlieferung steht unter dem Titel »Mummerei und Verkleidung zur Fastnacht und zu anderen Zeiten« (Baader 1966: 92). Die Gründe für diese Verbote stehen im Zusammenhang mit der Annahme, dass dieses ›vergnüglich Treiben‹ erstens zu Ungehorsam und Aufsässigkeit führe. Dies bedeutet eine Gefährdung der Machtposition der Herrschenden. Zweitens wurde mit dem Spiel eine sich beginnende Auflösung der Arbeitsmoral und der geforderten Leistungsbereitschaft befürchtet. Dies steht ökonomischen Interessen der weltlichen und geistlichen Machthaber entgegen. »In Nürnberg, Nördlingen, Zürich, Bern und anderen Städten gibt es deshalb im 15. und 16. Jahrhundert entsprechende Polizeiverordnungen und ›Spielgesetzte‹, die festlegen, welche Spiele wo und wann gespielt werden dürfen und welche nicht« (Parmentier 2004: 932). So war auch das Spiel um Geld untersagt – mit der Begründung, einerseits die Spielsucht zu bekämpfen; nicht selten wechselte am
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Mimikry ist vornehmlich ein biologischer Begriff. Er bezieht sich dort auf die Tarnung von Tieren, hauptsächlich von Insekten. Eine andere Insektenart wird nachgeahmt und dadurch erhöhen sich die eigenen Lebenschancen – man denke an die Hainschwebfliege, die der Wespe zum Verwechseln ähnlich sieht. Bei Caillois steht mimikry für den Aspekt der Illusion im Spiel (vgl. Caillois 1960: 27ff.). Das Eintreten in eine fiktive und geschlossene Welt der spielerischen Illusion (in-lusio) geschieht durch die Maskierung. Der Spieler verkleidet sich und gibt vor, etwas oder jemand zu sein, das oder der er nicht ist. Der Spieler verwandelt sich. Damit sind all solche Spiele angesprochen, bei denen Kinder und Erwachsene sich kostümieren, wie etwa bei Theateraufführungen oder beim Karneval.
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2. Sozialhistorische Analyse – Das Spiel und seine konzeptionellen Gegenbegriffe
Spieltisch ein Hof den Besitzer. Andererseits wurde das Falschspiel als schädliche Betätigung betont, wodurch fromme Menschen betrogen werden, wie etwa die Straßburger Polizeiordnungen aus dem 14. und 15. Jahrhundert bezeugen (Brucker/Welthy 1889: 479; vgl. auch Löhmer 1989: 183). Die von den Machtinhabern herausgestellte Wichtigkeit, Spielsucht und Falschspiel zu bekämpfen, kann als ›verdeckter Argumentationsschleier‹ interpretiert werden. Die ›wahren‹ bzw. vornehmlichen Begründungen der mittelalterlichen Spielgegner für ein Spielverbot – so die These – basierten dagegen auf der Angst vor Machtverlust und vernachlässigter Leistungsbereitschaft. Trotzdem bestimmt die Spielleidenschaft das spätmittelalterliche Gesellschaftsleben, es ist »erfüllt von Spiel« (Huizinga 1997: 195) und schließt den Adels- und auch den Priesterstand nicht aus. So steht beispielsweise in Brants »Narrenschiff« von 1494 unter dem Titel »Schlechtes Beispiel der Eltern« geschrieben: »und wenn der Abt die Würfel leiht, so sind die Mönch zum Spiel bereit. Die Welt ist jetzt voll schlechter Lehr, man findet leider kein Zucht noch Ehr« (Brant 1986, Nr. 49: 143). Darüber hinaus findet sich ein eigener Abschnitt über das schädliche Spiel mit der Überschrift »von Spielern«, dessen letzte drei Zeilen wie folgt lauten: »Spiel kann selten sein ohn Sünd, ein Spieler ist nit Gottes Kind – die Spieler all des Teufels sind« (Brant 1986, Nr. 77: 225). Das Spiel wird hier normativ als Abkehr vom gläubigen Leben diskreditiert. Darüber hinaus beklagt Brant, dass die erwachsenen Spieler ein schlechtes Vorbild für die Heranwachsenden seien. Durch Brants Verse wird die Differenz zwischen kirchlichem ideologischem Anspruch auf ein asketisches Lebens einerseits und dem tatsächlichen Umgang mit den kirchlichen Normen und Werten auf handlungspraktischer Ebene andererseits deutlich. Dies bezeugt noch einmal die gesellschaftliche Relevanz und Durchdringung allen mittelalterlichen Schichten durch das Spiel. Spiele waren zu dieser Zeit »allen Menschen ohne Ansehen ihres Standes gemeinsam« (Ariès 1997: 164). Ferner wird durch Brants Titel »Schlechtes Beispiel der Eltern« deutlich, dass er Eltern und anderen Erwachsenen eine Vorbildfunktion für Kinder zuspricht. Folgt man der These Ariès’ in Bezug auf die Teilhabe der Kinder am gesellschaftlichen Leben der Erwachsenen,37 dann wurden Kinder zu dieser Zeit, wie Ariès anschaulich in seiner »Geschichte der Kindheit« (1977) ausführt, als
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Betrachten wir das mittelalterliche Gesellschaftsleben, so erklärt Endrei, dass dieses zügellos und ausgelassen vonstatten ging, und er führt dies nicht zuletzt auf das Alter der Mitglieder einer Gesellschaft zurück, die er als übermütig charakterisiert (Endrei 1988: 5). Der niedrige Altersdurchschnitt der mittelalterlichen Bevölkerung ist auf unterschiedliche Faktoren zurückzuführen: Hungersnöte, Kriege und Seuchen (z.B. Pest und Cholera).
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»kleine Erwachsene« angesehen, und dementsprechend wurden sie auch behandelt. Ein besonderer, z.B. pädagogischer Umgang sensu Ariès wurde mit Kindern im Mittelalter nicht gepflegt;38 dies betraf die Stellung der Heranwachsenden innerhalb der Familie sowie in öffentlichen Einrichtungen: »Kurzum, überall wo gearbeitet wurde, überall dort auch, wo man sich vergnügte, selbst in anrüchigen Schenken, mischten sich die Kinder unter die Erwachsenen« (Ariès 1977: 508). In diesem Kontext vermischten sich die Momente von Spiel und Ernst im Erwachsenen- als auch im Kindesalter,39 sodass das unterhaltsame Spiel im Vergleich zur ernsthaften Arbeit nicht als exklusive Tätigkeit einer bestimmten Lebensphase herangezogen werden kann (vgl. Löhmer 1989: 154f.). Insgesamt wurde das Christentum während des Mittelalters zur herrschenden Weltanschauung, allerdings befreiten sich ab dem 15. Jahrhunderts Philosophie und Wissenschaft immer mehr von der kirchlichen Theologie. Interessant ist in diesem Kontext der Umstand, dass ein Buch eines Ordensbruders aus dem 15. Jahrhundert versucht, dem Spiel bzw. den damals verschrienen Gesellschaftsspielen auch etwas Positives zuzuschreiben. »Der Autor, ein Dominikanermönch namens Ingold, empfiehlt in seinem Dez guldin spil betitelten Buch (Augsburg 1472) als Heilmittel gegen die sieben Todsünden Spiele, z.B. das Würfelspiel gegen Geiz, das Damespiel gegen Gefräßigkeit, das Schachspiel gegen Hochmut, das Kartenspiel gegen Unkeuschheit und schließlich das von ihm den Spielen zugeordnete Tanzen gegen Trägheit (Endrei 1986: 9). Diese reformierte Spielauffassung spiegelt ein neues Lebensgefühl des Menschen wider. Es ist der Beginn der frühen Neuzeit, das Sentiment der Renaissance.40
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Allerdings relativiert der Befund über das Ausmaß des mittelalterlichen altersspezifischen Kinderspielzeugs Ariès’ These über die kleinen Erwachsenen. Zumindest wurde ihnen eigens Spielzeug wie etwa Windrädchen, Puppen, Steckenpferd oder Holzschwerter als kindliches Bedürfnis zugesprochen. »Das Windrädchen war offenbar ein beliebter und für ein bestimmtes Alter typischer Spielgegenstand der Kinder« (Löhmer 1989: 157). Besonders die von Ignaz Zingerle (1873) durchgeführte Untersuchung über das mittelalterliche Kinderspiel kann hier als richtungweisend für die Widerlegung der Annahme gelten, dass mit dem mittelalterlichen Kind ohne Ausnahme wie ein Erwachsener umgegangen wurde. So können Ariès’ Ausführungen nur partiell Gültigkeit beanspruchen. Allerdings herrscht Konsens darüber, dass sich auch die Erwachsenen an zahlreichen mittelalterlichen Variationen des spielerischen Zeitvertreibs erfreuten. Kinder übernahmen die alltäglich zu verrichtenden Aufgaben wie Erwachsene, was bedeutet, dass sie zu allen anfallenden Arbeiten herangezogen wurden. Vor allem Kinder aus ärmlichen Verhältnissen waren davon betroffen, die Bauern- und Handwerkerkinder, die so die Sorge um die tägliche Existenz der Erwachsenen mit trugen. Das Renaissancedenken entwickelte sich zunächst etwa im 14. Jahrhundert in Florenz, von dort ausgehend entfaltet sich die Wirkung dieser neuen Geisteshaltung nach Frankreich, Spanien und setzte in Deutschland etwa um 1520 ein.
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2. Sozialhistorische Analyse – Das Spiel und seine konzeptionellen Gegenbegriffe
2.3.2 Frühe Neuzeit – der fromme Mensch? »Das Spielen, es sei, womit es wolle, sei den Kindern in allen Schulen zu verbieten auf evangelische Weise, dass man ihnen dessen Eitelkeit und Thorheit vorstelle und wie dadurch ihre Gemüther von Gott, dem ewigen Gut, abgezogen und zu ihrer Seelen Schaden zerstreut würden« (Töllner, zitiert nach Schmid 1896: 283).
Die Wende vom Mittelalter zur frühen Neuzeit wird in der Geschichtsschreibung unterschiedlich datiert (z.B. die Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus im Jahre 1492 oder der Beginn der Reformation im Jahre 1517). In dieser Arbeit soll ein anderes geschichtliches Ereignis die Wende zum Mittelalter markieren. Die gotische Sonne geht hinter der Druckerpresse von Mainz unter, formulierte der französische Denker Victor Hugo. Hugo setzt Gutenberg in seinem »Glöckner von Notre-Dame« ein Denkmal, die Druckerpresse, durch die die Ausbreitung des Buchdrucks in Deutschland um 1450 begann, ist Revolution. McLuhan benennt gar ein ganzes Medienzeitalter nach dem europäischen Erfinder der beweglichen Lettern:41 die Gutenberg-Galaxis. Durch die Technik des Buchdrucks wurde das Medium Schrift zu einer mechanischen Kunst und brachte die Möglichkeit der massenhaften Vervielfältigung von Texten. Diese Neuerung war von großer Tragweite, denn nun konnte humanistisches Gedankengut verbreitet werden.42 Mobilletterndruck kann als Schlüsselelement der weiteren sozialhistorischen Entwicklung verstanden werden, wodurch auch die Vorstellung von Spiel und Arbeit beeinflusst wurde. Die Ambivalenz des Spiels, als verhöhnte und zugleich gesuchte Tätigkeit, wie sie bereits für das Mittelalter charakteristisch ist, wirkt allerdings auch in der frühen Neuzeit fort.
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Etwa zur selben Zeit wurde in Korea der Buchdruck mit beweglichen Lettern aus Holz erfunden. An dieser Stelle sei kurz auf Neil Postman hingewiesen: Die Erfindung der Druckerpresse machte laut Postman eine neue Vorstellung vom Erwachsenenalter erforderlich und brachte die Kindheit zum Blühen. Durch die Erfindung des Buchdrucks wurde die Differenz zwischen Lesen können und nicht Lesen können eingeführt. Aus der Erwachsenenwelt des Lesen Könnens wurden Kinder ausgeschlossen, da sie diese Kompetenz erst erlernen müssen, sodass dadurch der Bereich Kindheit entstand, so Postman in seinem Werk »Das Verschwinden der Kindheit«. Neben dem Aufkommen des Fernsehens, wodurch die Bedeutung der Symbolwelt des Erwachsenseins relativiert wird (das Kind erhält Einblick in die Erwachsenenwelt, die ihm eigentlich verborgen bleiben sollte), sieht Postman ein weiteres Indiz für das Verschwinden der Kindheit in der Nicht-Differenz zwischen Kinder- und Erwachsenenspielen (vgl. Postman 1988).
2.3 Mittelalter und Frühe Neuzeit – Arbeit als primärer Lebensbereich
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Um das gleichzeitige Auftreten sich widersprechender Vorstellungen zum Spiel zu verdeutlichen, werden im Folgenden vier Akzente gesetzt. Zunächst wird der kultur- und kunstgeschichtlichen Epoche der Renaissance nachgegangen, in der die antiken Ideale, die zum Teil auch im Mittelalter erkennbar waren, nun weitaus radikaler weitergedacht werden. Zweitens ist die Reformation von entschiedener Bedeutung. Innerkirchliche Reformbemühungen versuchen, das Spiel abermals zugunsten einer Überhöhung von Arbeit in seine Schranken zu weisen. Das Zeitalter des Barock ist die Zeit der Gegenreformation, die durch ein antithetisches Lebensgefühl, nicht zuletzt durch den Dreißigjährigen Krieg besonders geprägt ist. Schließlich soll die Haltung des Pietismus zum Spiel, der nach der Reformation wichtigsten Reformbewegung im deutschen Protestantismus, nicht unerwähnt bleiben.
2.3.2.1 Der Mensch als magnum miraculum (Renaissance) Während die Geisteshaltung des christlichen Mittelalters die beklagenswerte menschliche Situation ins Zentrum stellte, feierten die Gelehrten und Künstler der Renaissance,43 die Humanisten, »den Menschen als ein großes Wunder, ein magnum miraculum« (Zintzen 2000: 13).44 Bedeutende Humanisten dieser Zeit wie etwa Erasmus von Rotterdam, Johannes Reuchlin oder Ulrich von Hutten betonten nicht mehr die sündhafte Natur des Menschen, sondern seinen Wert, seine Würde. Diese unterschiedlichen Sichtweisen auf den Menschen und sein irdisches Dasein beruhen – so die hier zugrunde liegende Annahme – auf differierenden anthropologischen Konzepten: Die jenseitsorientierte Haltung des Mittelalters basiert auf der Auffassung eines durch seine Erbsünde schuldbeladenen Menschen; die Auseinandersetzung mit antiker Philosophie und die daraus resultierende Wiedergeburt antiker Ideale führten dagegen zum ästhetischen Renaissancemenschen. Eine deutliche Akzentuierung der Gegensätze zwischen Mittelalter und Renaissance manifestiert sich offenkundig in den Buchtiteln dieser Zeit. Während Lothar von Segnis, der spätere Papst Innozenz III., um das Jahr
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Der Renaissancebegriff, der die Wiedergeburt der Antike im Sinne einer Rückwendung zur früheren Kultur der Griechen und Römer beschreibt, wurde maßgeblich von dem Historiker Jacob Burckhardt durch seine Schrift »Die Cultur der Renaissance in Italien« von 1860 geprägt (vgl. Burckhardt 2003). Allerdings zeichnet sich diese Zeit auch durch eine Art ›Anti-Bewegung‹ bzw. ›Anti-Humanismus‹ aus, die Aberglauben und Hexenverbrennung geschürt sowie und blutige Religionskriege entfacht haben.
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1195 sein Traktat dem Titel »De miseria conditionis humanae« verleiht, titulierten die Vertreter der Hochrenaissance ihre Werke etwa mit »De excellentia ac praestantia hominis«, wie von Bartolomeo Facia (1448) oder »De dignitate et excellentia hominis« von Giannozzo Manetti aus dem Jahre 1452 (vgl. Zintzen 2000: 14f.). Die Renaissance brachte auch eine neue Auffassung von Kunst. Produzieren versteht sich nun schöpferisch. Beispielhaft können die Erfindungen und Künste von Leonardo da Vinci (1452-1519) gelten. Die Künstler der Renaissance nahmen das antike Körperideal vom Athleten als Motiv für ihre Werke. Huizinga sieht in dem Streben nach dem Edlen und der schönen Form, eine »gespielte Kultur«, »das Leben in einem Spiel künstlicher Vollkommenheit« (Huizinga 1997: 196). Ritterliche Turniere, höfische Tänze, das bürgerliche Fechten, Kegel-, Kugel- und bäuerliche Ballspiele sind Beispiele von Übungen und Spielen. Darüber hinaus wurde die Bedeutung von Spiel im erzieherisch-schulischen Kontext (wieder) entdeckt. Vor allem in den oberitalienischen Städten entstanden moderne Schultypen nach dem griechischen Bildungsideal. Beispielsweise errichtete der italienische Renaissance-Humanist Vittorino de Feltre (1378-1446) eine öffentliche Schule, die er casa giocosa nannte (vgl. Heimlich 2004: 342). Huizinga zeigt auf, dass die Wörter giuoco, giocare ihren romanischen Ursprung in iocus und iocari haben, was speziell Scherz und Spaß bedeutet (vgl. Huizinga 1997: 46). Aus diesem Grund kann man nach Müller die casa giocosa auch als »Schule des Spiels« bzw. als »Spielschule« bezeichnen (vgl. Müller 1984: 265; vgl. auch Heimlich 2004: 342). Dagegen übersetzt Dirx den Namen der Schule von de Feltre mit »Die Fröhliche« (Dirx 1981: 229). Fröhlichkeit, Spaß, Spiel und Lernen bilden demnach das begrifflich miteinander verknüpfte Assoziationsfeld der casa giocosa. Ferner wird in der casa giocosa auch der Bewegungsdrang des Kindes hervorgehoben, gesundheitliche Faktoren gewinnen an Bedeutung, sodass auch der Sport und mit ihm Bewegungsspiele Einzug in das Schulwesen finden. Die natürliche Neugier des Kindes, sein Bedürfnis zu spielen und sein Bewegungsdrang sollten einem ›freien Lauf‹ folgen, damit sich Kompetenzen entfalten können. Vittorino ging von einem günstigen Einfluss von Spielen auf die geistige und körperliche Entwicklung des Kindes aus. Die nonchalante und fröhliche Schulumwelt der casa giocosa wird durch den spielerischen Baustein in der Bildungskonzeption erreicht. »Vittorino steht als Erziehungspraktiker für die Entdeckung, dass das Spiel von Kindern und Jugendlichen nicht nur einem Bildungszweck dienen kann, sondern vielmehr einen Bildungswert in sich hat. ›Lernen mit Freude‹ wird hier erstmals über die vielfältigen Formen des Spiels in Bildung und Erziehung aufgenommen« (Heimlich 2004: 342f.). In diesem Kon-
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text erhält das Spiel eine neue Dimension. Während es aus pädagogischer Perspektive in den Jahrhunderten vorher vor allem als Bildungszweck betrachtet wurde, also ein bestimmtes Ziel verfolgen sollte – wie etwa soziale oder fachliche Kompetenzentfaltung –, ist hier erstmals von einem Bildungswert des Spiels an sich die Rede. Das Lernen im Spiel wird als effektives Lernen verstanden. Der Bildungswert verweist auf die Frage, wie wertvoll eine Maßnahme ist, um das gesteckte Ziel zu erreichen, während der Bildungszweck definiert, was das Ziel der Bildung sein soll. Die renaissance-humanistische erzieherische Indienstnahme des Spiels zeigt ein Umdenken über das Spiel im Vergleich zum Mittelalter, wo vor allem die Kirche gesellschaftliche Spielverbote unterstützte. Somit scheint sich in der Renaissance in »Anknüpfung an antikes Erbe eine zunehmende Hochschätzung des Spiels anzubahnen« (Hering 1979: 10f.). Der neue Bildungskanon, der auf der griechischen Klassik basiert, ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass mithilfe der Druckerpresse die Kirche ihr Monopol als Wissensvermittler einbüßte und sich nun das empirische Denken als neue wissenschaftliche Methode entfaltete. Experimente, Erfahrung und Beobachtung hießen die neuen wissenschaftlichen Stichwörter. Für die humanistischen Gelehrten dieser Zeit sind Erkenntnisse nicht aus der Bibel zu gewinnen, sondern aus der Erforschung und Beobachtung von Natur und Mensch. Zu diesen wissenschaftlichen Veränderungen gesellte sich am Beginn der frühen Neuzeit eine weitere historisch wichtige Entwicklung. Zu dieser Zeit herrschte in Bezug auf die Kirche eine große Unzufriedenheit im Volk. Die mächtige Institution nahm von den Bürgern hohe Ablasssummen, maßregelte sie und schürte die Angst vor kirchlichen Strafen. Bischöfe und Priester kümmerten sich weniger um der Menschen seelisches Wohlergehen als um ihr eigenes bequemes, angenehmes Leben, wofür sie enorme Geldsummen benötigten. Dies förderte eine anti-klerikale Atmosphäre im Volk und bildete den Nährboden für die Forderung nach einer Reform des Christentums.
2.3.2.2 Das Spiel als Laster (Reformation) In dieser Periode des Missmuts über die kirchliche Saturiertheit entfachte der Augustinermönch Martin Luther (1483-1546) eine kirchliche Diskussion. Nicht die gescheiterte Reichsreform hat das Bild Deutschlands für die folgenden Jahrhunderte geprägt, sondern die Reform Martin Luthers. Seine am 31.10.1517 in Wittenberg veröffentlichen Thesen über den Ablasshandel wurden mithilfe
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des Buchdrucks schnell in allen Bevölkerungsschichten verbreitet. Durch die Bibelübersetzung in die hochdeutsche Schriftsprache trug Luther einerseits zu der Entwicklung einer einheitlichen neuhochdeutschen Schriftsprache bei und machte es andererseits möglich, dass nun jeder im Prinzip für sich die Bibel lesen konnte.45 Dabei vertrat Luther die Auffassung, dass nicht die Kirche den Menschen von seinen Sünden befreien könne, sondern allein der Glaube (sola fide) und die Heilige Schrift (sola scriptum). Nach Luther war der Mensch nicht von der an die Kirche zu bezahlende Ablasssumme abhängig, um Erlösung zu erlangen. Arbeit spielt für Luther eine entscheidende Rolle, wobei er in seiner Bibelübersetzung das Wort »Arbeit« durch den »Beruf« ersetzt. Stand Arbeit vorher immer noch mit Mühsal und Plage in Verbindung, wird sie bzw. der Beruf durch Luther nun zum göttlichen Willen und erhält einen Wert an sich. Bei Luther setzt sich folglich die biblische Lesart durch, Arbeit nicht als gottgewollte Strafe, sondern als Segen, Privileg und Gebet zu interpretieren: »Etliche Menschen beten wenig mit dem Munde und wird doch die Arbeit ihrer Hände von Gott als ein Gebet geachtet« (Luther 1888: 407). Die Arbeit wird durch Luther zur Berufung; der Mensch, der arbeitet, fügt sich in die göttliche Ordnung. Die Herausstellung von Arbeit als gottgewollte Aufgabe, mit der der Mensch Gott preise, führt in ihrer Konsequenz zu einer Stigmatisierung des Müßiggangs, so auch in Luthers Schrift »An den christlichen Adel deutscher Nation« von 1520. Luther verweist sogar nach Oexle auf den thessalonischen Satz »Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen« (2 Thessalonicher 3, 10-11, vgl. auch Kapitel 2.2.3), womit er zum Ausdruck bringt, dass es sich nicht füge, dass »einer auf des anderen Arbeit müßiggehe« (Oexle 2000: 79). Obwohl Luther dem Spiel nicht grundsätzlich feindlich gegenüberstand, ist es von der Diskreditierung der Nicht-Arbeit – exemplarisch dargestellt an dem arbeitsunwilligen Bettler – und der Diffamierung des Müßiggangs zu einer abwertenden Einstellung dem Spiel gegenüber nur ein kleiner Schritt, steht das Spiel doch im Gegensatz zur protestantischen Arbeitsethik. Mit dem von Max Weber 1905 eingeführten Begriff der »protestantischen Ethik« wird die ethisch-religiöse Entstehungsgrundlage des Kapitalismus bezeichnet. Dieser wird von der Leis-
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Die Bibel zu lesen war während des Mittelalters allgemein nur Mönchen und Priestern möglich, denn sie lag nur in lateinischer Sprache vor. So beeinflusste Luthers Wirken die deutsche Sprache wesentlich, denn er sah sie als gleichberechtigt neben den bis dahin vorherrschenden, als heilig betrachteten Sprachen Hebräisch, Griechisch und Latein an. Einen weiteren Schritt in diese Richtung tat Paracelsus 1527 und der Leipziger Gelehrte Christian Thomasius, als er 1607 die erste Vorlesung in deutscher Sprache hielt.
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tungsethik getragen. Begründend für die protestantische Ethik sieht Weber vor allem die calvinistische Glaubenslehre, insbesondere deren Auffassung von der Prädestination: Die Vorherbestimmung des Menschen zur Verdammnis oder aber zur ewigen Glückseligkeit durch Gott. Dies bedeutet, dass das Schicksal des Menschen schon vorab von Gott festgelegt wird, Erlösung oder Verdammnis sind bereits ›beschlossene Sache‹. Man könnte annehmen, dass dies einen negativen Einfluss auf die moral-ethischen Werte genommen hätte, aber ganz im Gegenteil: Das gottesfürchtige Verhalten wurde als auserwählter Status interpretiert. Die Sorge, nicht zu den Erlösten zu zählen, bewirkte ein sittliches Verhalten. Ein Indiz dafür, zur ›Erlöser-Gruppe‹ zu gehören, war wirtschaftlicher Erfolg, sodass der Calvinismus sich prägend auf die ökonomische und soziale Lage in Nordamerika und Westeuropa auswirkte. Die »Möglichkeit der Erlösung nach calvinistischem Erwählungsdogma bestand – anthropologisch gewendet – darin, daß der Gläubige sich des irdischen, materiellen Erfolgs als des ›Spiegels seiner Erwählung‹ (speculum electionis) durch Fleieß [sic! – S.G.] und Arbeit vergewisserte« (Hering 1979: 76). Man kann hier von einem Elitebewusstsein sprechen. Vor allem das »Prinzip der asketischen Lebensführung« (Weber 1956: 366), besonders stark ausgeprägt in der Geisteshaltung und Ethik des Puritanismus,46 fordert eine strenge Selbstzucht sowie die Absage an Vergnügungen und Unterhaltung. Tanz und Theater werden als Zerstreuung und verwerfliches Ergötzen betrachtet. Beispielhaft gelten die folgenden Ausführungen Webers über das puritanische Sportverständnis, aus dem sich auch ein bestimmtes damaliges Spielverständnis ableiten lässt. Der Sport musste einem rationalen Zweck dienen, wie etwa die Leistungsfähigkeit durch arbeitsfreie Erholungsphasen zu stärken. Einen Eigenwert besaß der Sport an sich nicht: »Als Mittel rein unbefangenen Sich-Auslebens ungebändigter Triebe dagegen war er ihm verdächtig, und soweit er zum reinen Genußmittel wurde oder gar den agonalen Ehrgeiz, rohe Instinkte oder die irrationale Lust zum Wetten weckte, war er selbstverständlich verwerflich« (Weber 1956: 366f.). Die antike Vorstellung der Notwendigkeit, das Spiel zu instrumentalisieren und zu disziplinieren, da ansonsten die Gefahr des Rausches und der Abnormität bestehe, wird aus puritanischer Sicht mit negativen Bedeutungszuschreibungen gepaart, die im Mittelalter für das Spiel angelegt wurden. Das Spiel wird insgesamt in diesem Kontext zugunsten einer Hoch-
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Der Puritanismus ist eine geistige Reformbewegung in Englang und Schottland vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Sie war vornehmlich calvinistisch geprägt und zeichnete sich durch die Heiligung des Alltags aus. Mit dem Puritanismus ist aber auch Forderung nach einer kirchlichen ›Reinigung‹ von römisch-katholischen Doktrinen verbunden, was sich gegen den Papst richtete.
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schätzung von Arbeit herabgesetzt. »Die Hochschätzung von Arbeit erfuhr, im Gefolge von Luther, ihre schärfste Ausprägung im Calvinismus. »Der aus protestantischer Ethik (›Berufung‹) erwachsenen puritanischen Arbeitsmoral (M. Weber) war Hingabe an Arbeit gleichbedeutend mit innerweltlicher, gottgefälliger Askese, Spiel und Muße galten ihr als ›Laster‹ und ›Müßiggang‹« (vgl. Eichler 1979: 17; Herv. i.O.).
2.3.2.3 Das Leben als Theater (Barock) Da die katholische Kirche infolge der Reformation deutlich an Einfluss verlor, leitete sie mit dem Konzil von Trient (1545-1563) eine Gegenreformation ein. Es ging um eine theologische Abgrenzung zu den reformatorischen Positionen und die Verhinderung einer weiteren Ausbreitung der Reformation sowie die Rückeroberung verloren gegangener Gebiete. Während die Reformation von den Humanisten unterstützt wurde, wobei es aber zu einem eigentlichen Bündnis zwischen Humanisten und Reformation nicht kam, versuchte die katholische Kirche mithilfe staatlicher Machtmittel die protestantisch gewordenen Territorien und Gebiete zu rekatholisieren.47 Die Auseinandersetzungen führten schließlich zum Dreißigjährigen Krieg (1618-1648), der eigentlich aus einer Abfolge von mehreren Kriegen bestand.48 Politischer, kultureller und wirtschaftlicher Verfall waren die Folge, bis der Westfälische Frieden49 von 1648 die ›Glaubenskriege‹ beendete.
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Diese Bemühungen waren teilweise erfolgreich, verschärften allerdings die Auseinandersetzungen zwischen Protestanten und Katholiken. Dabei ging es nicht mehr allein um die Glaubensfrage, vielmehr rückte die politische Machtfrage immer stärker in den Vordergrund. Hier ist erstens der Böhmisch-Pfälzerische Krieg (1618-1623) zu nennen, zweitens der DänischNiedersächsische Krieg (1623-1629), drittens der Schwedische Krieg, der von 1630 bis 1635 andauerte, und schließlich der Schwedisch-Französische Krieg (1635-1648). Die wichtigsten Bestimmungen der Friedensverträge in konfessioneller Hinsicht waren die Erneuerung des Augsburger Religionsfriedens, die Akzeptanz des Calvinismus als Konfession sowie des kirchlichen Bekenntnis- und Besitzstands. Der Dreißigjährige Krieg führte nicht zuletzt dazu, dass Frankreich zur Großmacht avancierte und das Heilige Römische Reich Deutscher Nation durch Gebietsabtretungen an Frankreich und Schweden seine Stellung als Führungsmacht einbüßte. Weiter gewannen durch den Westfälischen Frieden die deutschen Landesfürsten auf Kosten des Kaisers an Macht. Es bildete sich der Territorialabsolutismus heraus. Die Bezeugung und Betonung fürstlicher Dignität, die höfische Gravität, die Hervorhebung des Gottesgnadentums sowie die demonstrierte Distanz zum gewöhnlichen Volk dienten der Repräsentation des Absolutismus. Dessen vornehmlicher Protagonist residierte in Versailles – Ludwig XIV.
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Dies ist das Zeitalter des Barock,50 jene Kunstform der Gegenreformation und des Absolutismus, die im 16. Jahrhundert die Renaissance ablöste und im 18. Jahrhundert mit dem leichteren Rokoko endete. Mustergültig offenbart sich jene Epoche der Kunstgeschichte in einer üppigen Prachtentfaltung der Kirchen und Paläste. Es ging um eine kirchliche und absolutistische Repräsentation, die sich in der Größe und im Pathos des Kunstwerks verwirklichte. Die diversen Fürstentümer prägten das Bild des Reiches im Allgemeinen und bemühten sich, um ihre politische Selbstständigkeit zu beweisen, ihre jeweiligen Residenzen prunkhaft nach außen zu gestalten. Vorbild waren der Wiener Kaiserhof sowie der Hof von Versailles. Burckhardt hebt vor allem die »scheinbare perspektivische Vertiefung« in der Barockkunst hervor (Burckhardt 1910: 350), das Bauer wiederum als »Prinzip des Illusionismus« begreift (Bauer 1992: 12). Hier lassen sich Anschlüsse zwischen barocker Illusionistik und dem Theater finden: die Scheinwirkungen in der Kunst, etwa in der Architektur oder Malerei, lassen sich auf das gemalte Bühnenbild übertragen (vgl. Sedlmayr 1930: 10). Aber was haben das Theater oder das Prinzip der Illusion der barocken Kunst mit dem Spiel zu tun? Spiel und Schein Es erscheint zunächst strukturell kompliziert, darauf hinzuweisen, dass das Theaterstück im Deutschen auch als Schauspiel bezeichnet sowie die auftretenden Akteure Schauspieler genannt werden, gibt es doch in anderen Sprachen, wie im Englischen die Differenzierung von to play und to act. Allerdings scheint es so, dass sich diese strikte Unterscheidung erst in den Jahrhunderten später herausgebildet hat, sind bei Shakespeare – zumindest nach der Arden-Ausgabe – doch die Schauspieler die »players« und nicht die »actors« (vgl. Shakespeare 1996: 84). Trotzdem muss hier insgesamt der Problematik Rechnung getragen werden, dass der deutsche Ausdruck von Spiel sich im Gegensatz zu anderen Sprachen als sehr viel bedeutungsoffener zeigt. Die Grenze, was eigentlich Spiel ist und was nicht, lässt sich dadurch schwieriger ziehen. Betrachtet man allerdings heutige Definitionsversuche zum Spiel, dann stößt man auf Spielmerk-
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Barock – aus dem Portugiesischen barocco als Bezeichnung für eine ungleich geformte Perle – bedeutet »soviel wie ›unregelmäßig‹ oder ›wunderlich‹« (Chaunu 1968: 742). Aufgrund der Wahl des Barockbegriffs für diese Epoche lässt sich hier eine Abwertung dieses Stils vermuten, der sich adjektivisch ausdrückt. »Eine Statistik ergäbe, daß durch das Wort ›barock‹ am häufigsten folgende Adjektive abgedeckt wurden: Skurril, bizarr, überladen, unklar und verworren, künstlich und verkünstelt« (Bauer 1992: 10). An der barocken Baukunst werden die Merkmale von starker Bewegtheit, pompösem Schmuckwerk, einer malerischen Innenraumgestaltung oder gebrochenen Giebeln hervorgehoben. Bei der Betrachtung der damaligen barocken Baukunst fallen dem Beobachter vor allem die zahlreichen Putten auf.
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male, die eindeutig einen Bezug zum Theater aufweisen und damit einen Verweis auf die zugeschriebene Bedeutung des Spiels zur damaligen Zeit zulassen: Zunächst sei auf das Spielmerkmal verwiesen, das häufig mit »Als-obCharakter« bezeichnet wird. In diesem Sinn erklären Schaub und Zenke, dass Spiele sich durch einen »Als-ob-Charakter« von alltäglichen Lebensbezügen unterscheiden und eine eigene Wirklichkeit für sich entfalten (vgl. Schaub/Zenke 2005: 2025). Bei Spielen handelt es sich um eine Art Quasi-Realität, man kann sie auch als »Scheinwelt« bezeichnen (Rüssel 1965: 151). Summa summarum lässt sich hier die Meinung vieler Wissenschaftler und Wissenschafterinnen mit einem Zitat von Lazarus zusammenfassen: »Spiel ist Schein« (Lazarus o.J.: 17).51 Auch beim Theater könnte man die These vertreten, das es sich um eine Art ›Scheinwelt‹ handelt: Eine Illusion wird auf die Bühne gezaubert und die Schauspieler tun nur so als ob. In Wirklichkeit sind sie weder Hamlet noch König Lear. »Generell stehen Spielhandlungen – auch schon bei Säugetieren – für etwas anderes. Das ›Tun als ob‹ ist also ein Zeichen für eine andere Handlung oder ein anderes Ereignis« (Oerter 1993: 11). Um die Scheinwelt zu unterstützen, die Illusion zu perfektionieren, dient die Maskierung der Schauspieler, wobei die Maskierung (Mimikry) nach Caillois als eine Kategorie von Spielen gedeutet werden kann. Durch die Maske tritt man in die Welt des Spiels ein (in-lusio) (vgl. Caillois 1960: 19).52 Folgt man diesen modernen Merkmalen von Spiel, dann ist das damalige Theater, welches zur Zeit des Barock einen hohen Stellenwert im gesellschaftlichen Leben einnahm, als Argumentation zu lesen, warum das Spiel Bezüge zum Theater aufweist. Auch Berger und Luckmann beziehen das Theater auf das Spiel, in das der Erwachsene gerne eintritt, um sich von einer ›zweiten‹ bzw. ›anderen‹ Welt ›verzaubern‹ zu lassen: »Das Theater ist ein besonders gutes Beispiel für Spiel der Erwachsenen. Der Übergang von einer Wirklichkeit in die andere wird durch das Auf- und Niedergehen des Vorhangs markiert. Wenn der Vorhang aufgeht, wird der Zuschauer ›in eine andere Welt versetzt‹, eine Welt eigener Sinneinheit und eigener Gesetze, die noch etwas oder auch gar nichts mit den Ordnungen in der Alltagswelt zu tun haben können« (Berger/Luckmann 2004: 28). In diesem Kontext lassen sich auch die Ausführungen Huizingas lesen, der etwa drei Jahrhunderte nach der
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Werk ist ohne Jahr gekennzeichnet. Die Originalsausgabe wurde 1883 veröffentlicht. Weitere Ausführungen zu Lazarus, der das Spiel aufgrund seiner Abgrenzung zur Arbeit zu bestimmen versucht, finden sich in Kapitel 2.4.3.2, S. 104ff.). Ob auch heute noch die Maskierung aus der Sicht der im Rahmen dieser Untersuchung befragten Studierenden zu den Spielmerkmalen zählt, ist Gegenstand der empirischen Analyse (vgl. hierzu Kapitel 4.2.1, S. 295ff.).
2.3 Mittelalter und Frühe Neuzeit – Arbeit als primärer Lebensbereich
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Epoche des Barock auf Schauspiel und Dramen dieser Zeit hinweist, um sie als Beispiel anzuführen, dass sein Gedanke, das Spiel sei Kulturfaktor, durchaus nicht neu sei. Der Gedanke, die Kultur sub specie ludi zu betrachten, so Huizinga, sei bereits im 17. Jahrhundert beliebt gewesen, »damals, als die große weltliche Bühne aufgekommen war. In der glänzenden Reihe von Shakespeare über Calderon bis Racine beherrschte das Drama die Dichtkunst des Zeitalters. Ein Dichter nach dem anderen verglich die Welt mit einer Schaubühne, auf der ein jeder seine Rolle spielt« (Huizinga 1997: 13). Das Theater wurde zum Abbild des damaligen Menschenlebens, das durch den Dreißigjährigen Krieg von einem antithetischen Lebensgefühl geprägt war. Es bedeutete eine Auseinandersetzung mit der Realität. Shakespeare, mit einem Fuß in der Renaissance, mit dem anderen im Barock, zeigte schon früh, dass das Leben ein Theater ist: So etwa in seinem Stück »Wie es Euch gefällt« (etwa von 1599): »Die ganze Welt ist Bühne, Und Schauspieler nur all die Fraun und Männer. Sie treten auf und gehn auch wieder ab, Und mit der Zeit spielt einer viele Rollen, Durch sieben Lebensakte hin« (Shakespeare 1996, Akt II, Szene 7: 85). Dass das damalige Leben mit einen Schauspiel verglichen wurde, lässt sich auch an der damaligen Kleidung ausmachen: Das 17. Jahrhundert ist die Zeit, in der die Perücke zum Stilelement avanciert. Zunächst galt die Perücke als Ersatz für mangelnde Lockenpracht und war vor allem bei den Männern beliebt. Schließlich wurde sie als unverzichtbare Veredelung des Äußeren verwendet. Auch an dieser sei nochmals auf die Bedeutung der Maskierung im Spielkontext nach Caillois (1960: 19) hingewiesen, wonach sich zu dieser Zeit ein gewisser spielhafter Kulturimpetus erkennen lässt: »Es kommt hier darauf an, daß man die Gesamterscheinung der Perücke als langwährende Mode schwerlich anders einordnen kann als unter die offensichtlichsten Manifestationen des Spielfaktors in der Kultur« (Huizinga 1997: 201). Insgesamt lassen sich als Fazit dieser Phase der Kulturgeschichte scharfe Kontraste als gemeinsamer Nenner barocker Erscheinungen ausmachen. Geprägt durch den Dreißigjährigen Krieg äußert sich das barocke Weltbild in entgegengesetzten Leitbildern und Werten, einer gewissen Antithetik: Spiel vs. Ernst, Schein vs. Sein, Lebenslust vs. Todesangst, Aufschwung vs. Zerstörung, Reichtum vs. Armut, Diesseits vs. Jenseits. Zwei Sprichwörter bringen die Lebensauffassung des Barock auf den Punkt: »Carpe diem« (»nutze den Tag«) und »memento mori« (»bedenke, dass du sterben wirst«). Und während dem Barocken etwas Spielerisches anhaftete, Prunk, Schein und ein frivoles Genießen gelebt wurden, entstand im Gegensatz dazu am Ende des 17. Jahrhunderts eine neue Bewegung, die sich wiederum genau von dieser Welt zu distanzieren versuchte.
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2. Sozialhistorische Analyse – Das Spiel und seine konzeptionellen Gegenbegriffe
2.3.2.4 Spieleinschränkung oder Spielverbot? (Pietismus) Für die zu diskutierende Fragestellung, das Spiel im Spannungsverhältnis der ihm zugeschriebenen gegensätzlichen Begriffe zu betrachten, ist der evangelische Theologe und Pädagoge August Hermann Francke (1663-1727) von Bedeutung, der 1698 die Franckeschen Stiftungen zu Halle gründete und den Pietismus in Deutschland maßgeblich prägte. Dem Spiel stand Francke sehr ambivalent gegenüber, wobei diese Einstellung aus seinem Verständnis von Arbeit und Müßiggang zu erklären ist. Müßiggang gilt bei Francke als schlimmes moralisches Übel, während beispielsweise Luther ihn hauptsächlich als permanenten Lebensstil kritisierte. Im Gegensatz zu Luther dachte Francke bereits in den neuen Produktionsformen und setzte daher in seinen Anstalten eine strenge Arbeitsdisziplin durch (vgl. Francke 1713: 28ff.). Dabei stellte er bestimmte Prioritäten bzw. Ziele von Arbeit auf. Die Ehre Gottes stand an erster Stelle, die Nächstenliebe an zweiter und an dritter die Existenzerhaltung. Aufgrund dieser Prioritätenliste »war es nötig, jeweils darauf zu achten, daß die Arbeit unter dem Gesichtspunkt der Besinnung auf Gott zu verrichten sei. Wurde aus der Notwendigkeit der Existenzerhaltung die Notwendigkeit der Arbeit quasi naturrechtlich abgeleitet, so wurde darüber hinaus auch noch festgestellt, daß Arbeit erst gottgefällig sei, wenn sie mit Buße und Bekehrung einherginge« (Dittrich-Jacobi 1976: 71). Aus diesem Arbeitsverständnis heraus lassen sich Franckes erzieherische Konzepte ableiten, seine Arbeits- und Berufspädagogik, die als »institutionalisierte Propädeutik der künftigen Arbeitswelt, in die die Schüler hineingingen«, verstanden werden können (Beyreuther 1978: 156). Aufgrund von Franckes Vorstellung von der Wichtigkeit einer strengen Arbeitsdisziplin haben alle seine »didaktisch-methodischen Maßnahmen unter dem Prinzip zu stehen, keine ›Frei-Zeit‹ zu gewähren, sondern den Tagesablauf von früh bis spät durch Beten und Arbeiten auszufüllen« (Blankertz 1969: 21). Dies beinhaltete, dass fast keine Art der individuellen Freizeitbeschäftigung geduldet wurde, Kindern keine Ferien und auch nicht der Sonntag als freier Tag zugesprochen wurde. Für das Schulsystem bedeutete dieses Verständnis von Arbeit, dass der »Gesamtstoff des zu Erlernenden (…) rationell auf Jahrespensen und Stundenpläne für Jahresgruppen (Klassen) aufgeteilt [wird – S.G.]. Teilnahmezwang an den Lehrveranstaltungen und rationeller Arbeitsdruck kennzeichnen seitdem die Schulerziehung« (Nahrstedt 1971: 29).53 Diese strenge Erziehungs-
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An dieser Stelle lässt sich kritisch anmerken, dass der Pietismus die Strukturen von Schule bis heute prägt, und unter der Druck neoliberaler Ideologien wird das gar noch verstärkt (12 Jahre
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methode, geformt von einer pietistischen Askese, offenbart dabei die Nähe zur calvinistisch-neustoizistischen Geisteshaltung, die für das damalige Preußentum charakteristisch ist (vgl. Beyreuther 1978: 156). Versucht man nun, Franckes Einschätzung von Spiel zu eruieren, dann ist von Relevanz, dass »Leibesübungen« von ihm aufgrund gesundheitlicher, körperlicher Aspekte gefördert wurden (vgl. Beyreuther 1978: 156; Schmid 1896: 282). In diesem Zusammenhang lehnt sich Francke an aufklärerische Positionen bezüglich der Gesundheitspflege an. Hierin liegt wahrscheinlich auch die Erklärung dafür, dass das »Pädagogium einen Spielplatz« erhielt (Schmid 1896: 282). Aber genau bei diesem Punkt gerät die pietistische Erziehungsvorstellung in pädagogische Widersprüche. »Gerade die im kindlichen Spiel zum Ausdruck kommende Lust am eigenen und fremden Körper (…) widerspricht den Zielen der [pietistischen – S.G.] pädagogischen Konzeption« (Dittrich 1976: 92). Dies mag auch dazu führen, dass in der wissenschaftlichen Literatur eine gewisse Uneinigkeit über das pietistische Spielverständnis auszumachen ist. Während Beyreuther in seinem Buch »Über die Geschichte des Pietismus« im Kontext der hier zu diskutierenden Deutung von Spiel lediglich von einer in den halleschen Stiftungen wirksamen »Spieleinschränkung« und explizit nicht von einem »Spielverbot« für die Internatsschüler sowie Waisenhauskinder spricht, führt Scheuerl dagegen an, dass das Spiel in den pietistischen Kreisen um Francke als »schlechthin für sündhaft, für eine Eingebung des Teufels« gehalten wurde und es daher dem »Seelenheil nottut«, Kinder davon abzuhalten (Scheuerl 1991: 15). Und auch Parmentier führt an, dass im Pietismus die strenge und ernsthafte Lebensauffassung bestimmend war und daher »Spiele nicht nur für überflüssig und nutzlos erklärt« wurden, sondern auch als »weltliche Eitelkeiten« verworfen und für »eine Einblasung des Teufels« gehalten wurden (vgl. Parmentier 2004: 932). Laut Schmid hat Francke sich allerdings mit der Frage beschäftigt, welche Spiele am wenigsten schaden und Kindern erlaubt seien. Aber auch hier zeigt sich wiederum eine pädagogische Inkonsequenz: »Das Ballspiel wurde, obwohl es anfangs dann und wann versuchsweise gestattet war, schließlich aus verschiedenen Gründen verboten« (Schmid 1896: 282). Der Autor vermutet, dass vor allem der Pietist Töllner zu der Vorstellung, der Pietismus sehe das Spiel als Teufelseingebung, sowie der pietistischen Diskussion über Spieleinschränkung und Spielverbot beigetragen hat. So stellt der Pietist
bis zum Abitur). Neuversuche, den rationellen Arbeitsdruck aufzubrechen (Laborschule) haben es schwer, wie auch die derzeitige Neustrukturierung an den Universitäten – Abschaffung des Diplomstudiengangs zugunsten konsekutiver Studiengänge wie BA und MA – aufzeigt.
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Töllner nach Schmid in einer Konferenz folgende Forderung: »Das Spielen, es sei, womit es wolle, sei den Kindern in allen Schulen zu verbieten auf evangelische Weise, dass man ihnen dessen Eitelkeit und Thorheit vorstelle und wie dadurch ihre Gemüther von Gott, dem ewigen Gut, abgezogen und zu ihrer Seelen Schaden zerstreut würden« (Schmid 1896: 283). Auf dieses Zitat scheint auch Opaschowski zu rekurrieren, wenn er erklärt, dass im halleschen Pietismus kindliche Spiele »als Eitelkeit und Torheit ausgelegt« wurden (Opaschowski 1969: 55). Konsens ist allerdings – dies kann als Fazit dieses Abschnitts gelten –, dass der pietistische Erziehungsstil »auf ein geordnetes, rationelles, zweckmäßiges und produktives Leben« des Zöglings hin konzipiert war (Peukert 1986: 41) und Spiel in jeder Hinsicht sehr skeptisch betrachtete.
2.3.3 Das Zeitalter der Aufklärung – der rationale Mensch? »Man hat verschiedene Erziehungspläne entworfen, um, welches auch sehr löblich ist, zu versuchen, welche Methode bei der Erziehung die beste sei. Man ist unter anderem auch darauf verfallen, die Kinder alles wie im Spiele lernen zu lassen. (…) Dies tut eine verkehrte Wirkung« (Kant 1968, Abs. 65: 56f.).
Mit dem 18. Jahrhundert beginnt eine neue Epoche der europäischen gesellschaftlichen Entwicklung: geistesgeschichtlich, ökonomisch, politisch. Koselleck bezeichnet diese Zeit als »Aufstieg des Bürgertums« (1972: XIIIff.), und Kocka spricht gleichlautend von der ersten »Phase der Bürgertumsgeschichte in Deutschland« (1988: 17). Der Rationalitätsbegriff wird dabei zum bestimmenden und beschreibenden Terminus für das gesellschaftliche Denken zu dieser Zeit. Es ist der Logos der Aufklärung, der das geistige Leben in ganz Europa und Nordamerika im 18. Jahrhundert bestimmt und nachhaltig die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse verändert. Dieser Wandel umfasst, ausgehend vom Humanismus und der Renaissance, die Gesamtheit der Vorstellungen vom Menschen, von Gott und der Welt. Ferner wird das 18. Jahrhundert in der Geschichte der Erziehungswissenschaften häufig als das »Pädagogische Jahrhundert« bezeichnet (vgl. z.B. Gudjons 1999). Pädagogik wird in dieser Zeit zum öffentlichen Diskussionsthema inklusive der entsprechenden politischen sowie disziplinären Bemühungen um Professionalität. Zur Betrachtung der pädagogischen Grundgedanken im 18. Jahrhundert, lässt sich auf Blankertz rekurrieren, der insgesamt sechs elementare
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pädagogische Aspekte der Aufklärung anspricht (vgl. Blankertz 1982: 28ff.). Für diese Arbeit ist erstens von Interesse, dass der Mensch im Sinne der Aufklärung als erziehungsbedürftig gilt und daraus abgeleitet Erziehung zur gesellschaftlichen Aufgabe erklärt wird.54 Zweitens wurde dem Kind ein Eigenrecht, bzw. eine Art ›Naturrecht‹ zugesprochen, die Erziehung sollte das Kind auch als solches wahrnehmen und nicht nur als ›kleinen Erwachsenen‹ behandeln. Daraus folgte drittens die logische »Unterscheidung von ›Kindheit‹ und ›Jugend‹ hier und Erwachsenenstatus dort als besonderen, in ihrer Eigenart voneinander deutlicher als je zuvor abgehobenen Lebensformen« (Scheuerl 1991: 13).55 Der Erziehung wurde deshalb große Aufmerksamkeit geschenkt und es ist daher kein Zufall, dass die Pädagogik, als Wissenschaft in der Aufklärungszeit begründet, das Spiel abermals als Lernmittel in den erzieherischen Blick genommen hat und die Zahl der Publikationen zu diesem Thema anstieg. Dieser Perspektivenwechsel führte dazu, dass eine kritische Bewertung der häufig praktizierten Spiele erfolgte, und zwar unter dem Fokus ihrer Zweckmäßigkeit als Erziehungsmittel. Dagegen gab es noch »im späten 17. Jahrhundert (…) kaum eine Grenze zwischen den Spielen, an denen Kinder, und Spielen, an denen Erwachsene ihren Spaß hatten« (Sennett 1983: 126). Nun sollte es gezielt spezielles Kinderspielzeug geben und die gebräuchlichen zeitgenössischen Spiele wurden von den aufgeklärten Philosophen einer kritischen Überprüfung56 ihres
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Kennzeichnend für diese pädagogische Forderung und Sichtweise ist etwa die Einrichtung des ersten Lehrstuhls für Pädagogik, welcher im Jahre 1779 in Halle von Ernst Christian Trapp eingenommen wurde (vgl. Gudjons 1999: 85). Die Bedeutung dieser Entwicklungen bzw. die Interpretation der Geschichte von Kindheit wird kontrovers diskutiert. Hier sind auf der einen Seite die Arbeiten des französischen Mediävisten Philippe Ariès (1977) (Originalausgabe 1960) mit seiner eher pessimistischen These von einer pädagogischen Zucht der Gesellschaft durch die neuen Institutionen wie Schule und vom Verlust der kindlichen Freiheit und Ungezwungenheit zu nennen. Die Arbeiten aus der Forschungsgruppe von Llyod de Mause (1977) (Originalausgabe 1974) sprechen dagegen von Gewinn, einer einsetzenden Unterstützung und Empathie der Erwachsenen gegenüber Kindern sowie von einer befreiten Kindheit. Insgesamt steht die Zeit der Aufklärung für das Prinzip einer kritischen Überprüfung auch in Wirtschaft, Gesellschaft, Religion und Staat. Würde und Gleichheit des Menschen wurden betont sowie darauf verwiesen, dass jeder Anspruch auf seine Rechte habe, die einem nicht zu nehmen seien, auch nicht vom Kaiser. 1762 formulierte Jean-Jacques Rousseau in seiner grundsätzlichen Zivilisationskritik »Gesellschaftsvertrag« das Konzept des mündigen Bürgers und die Vorstellung vom idealen Gemeinschaftswillen (volenté generale). Nach aufklärerischem Denken ist der Herrscher nicht von Gott, sondern vom Volk eingesetzt und hat die Aufgabe, die Würde der Menschen sowie ihre Freiheit und Gleichheit zu schützen. Eine Absetzung des Herrschers bei Nichteinhaltung dieser Forderungen ist dabei nicht auszuschließen. Es ist kaum nötig zu erwähnen, dass diese revolutionären Gedanken dem zu dieser Zeit in Europa absolutistisch herrschenden Adel missfielen.
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erzieherischen Nutzens, körperlicher, geistiger und gesundheitlicher Art, unterzogen. Folglich wurde das Spiel mit der Entstehung des bürgerlichen Zeitalters, mit der Entdeckung der Kindheit und mit dem Aufkommen der Pädagogik zu einer rechtfertigungsbedürftigen Tätigkeit (vgl. Adamowsky 2000: 26). Um den damaligen Diskurs nachzuvollziehen, werden im Folgenden unterschiedliche Stimmen über den Spiel-Lern-Arbeit-Kontext wiedergegeben, in denen, ausgehend von den philosophischen Denkern dieser Zeit, vor allem Bezüge zu Locke und Kant hergestellt werden. Neben diesen pädagogischen Überlegungen zum Spiel verfestigt sich allerdings auch die Vorstellung, das Spiel als Gegensatz zur Arbeit zu kennzeichnen. Das Spiel wird stärker als bislang zu einem Relationsbegriff, der erst in einer Gegenüberstellung der ihm zugeschriebenen Gegensätze Bedeutung erhält. So rücken während des 18. Jahrhunderts die im älteren Sprachgebrauch vorwiegenden Bedeutungen von Spiel – als Synonym für Vergnügen, Freude, Kurzweil, Zeitvertreib und Unterhaltung – in den Hintergrund. Abermals tritt eine begriffliche Opposition in den Vordergrund, die das Verständnis sowie die Bewertung von Spiel weiter intensiv prägen soll: Es ist der Gegensatz von Spiel und Arbeit (vgl. Kühme 1997: 50). Unterstützend zu dieser Gegenüberstellung wirken sodann die sich langsam etablierenden Ideenlehren über Arbeit von Locke und Smith. So liegt eine neue gesellschaftliche Aufwertung von Arbeit im 18. Jahrhundert nach Hannah Arendt darin begründet, dass »Locke entdeckte, daß sie die Quelle des Eigentums sei« (Arendt 1960: 92). Das Privateigentum wiederum bestimmt der englische Philosoph John Locke (1632-1704) als Basis der Gesellschaft. Locke spricht dem Menschen ein genuines Eigentumsrecht an Dingen und Grundbesitz zu, indem er erklärt: »The labour of his body, and the work of his hands, we may say, are properly his. Whatsoever then he removes out of the state that nature hath provided, and left it in, he hath mixed his labour with, and joined to it something that it is his own, and thereby makes it his property« (Locke 2002: 12f.).57 Mit Lockes Wirtschaftslehre beginnt die Zeit des modernen Arbeitsbegriffs, seiner Erhebung zu einer »spezifisch menschlichen Potenz, ja letztlich ihre Ablösung vom Menschen und ihre Erhöhung zum abstrakten, wirkenden Subjekt« (Conze 1972: 168). Neben Locke sind für diese starke Aufwertung der Arbeit die Überlegungen des Moralphilosophen Adam Smith (1723-
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Darüber hinaus legt Locke dar, dass der Mensch durch seine Arbeit den Dingen Wert verleiht. Die Arbeit schafft dadurch ihren eigenen Wert durch die Leistung selbst. »Labour makes the greatest part of the value of things we enjoy in the world« (Locke 2002: 19).
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1790) zentral, der als Begründer der klassischen Nationalökonomie gilt. 1776 veröffentlichte Smith sein Werk »Wohlstand der Nationen« (»An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations«), mit dem er in die Geschichte als Urheber der Auffassung einging, dass Arbeit die Quelle des Wohlstands sei. Sein System der liberalen Wirtschaftslehre entfaltete eine ungemeine Wirkung. Die von Smith dargestellte Arbeitslehre und Kapitalakkumulationstheorie wurde als Zivilisationsfortschritt begriffen, als »productive labour«, als wertschöpfende Produktion. Aufgrund dessen wurde »Wealth of Nations« zur Heiligen Schrift des säkularisierten Bürgertums, und Smith avancierte »zum Apostel jenes neuen Kapitalismus«, da »er sich am Beginn des Buches für den freien Markt erklärt« (Sennett 2000: 43). Die neuen Dimensionen bzw. Bedeutungszuschreibungen von Arbeit führten nicht zuletzt im Kontext einer beginnenden Industrialisierung dazu, dass zwei Sphären anfangen, sich deutlicher als vorher herauszubilden: die Arbeit und die Freizeit als voneinander getrennte Lebensbereiche. Der Ernst wird der Arbeit und das Spiel der Freizeit zugeschrieben, und während die Arbeit auch im Laufe des 18. Jahrhunderts weiter aufgewertet wird, erfährt das Spiel eine verstärkt abwertende Einschätzung.
2.3.3.1 Das Nützliche im Spiele suchen? In der Briefsammlung »Gedanken über Erziehung« (1983) (i.O. »some thoughts about education« von 1690) erteilt Locke dem Landgrafen von Somerset, Edward Clarke of Chipley, Ratschläge über die Erziehung seines Sohnes. Neben der allgemeinen Bedeutung von Erziehung, ihrer Methoden und Ziele, wie etwa Tugend, Lebensklugheit, Lebensart sowie dem Erwerb von Kompetenzen und Fertigkeiten, schreibt Locke auch von seinen Beobachtungen und Einstellungen zum Kinderspiel. Seine Ansichten über das Spiel sind allerdings ambivalent. Einerseits betont Locke das Natürliche im Spiel des Kindes, er geht von einem angeborenen Spieltrieb aus. Er bezeichnet »Spielfreudigkeit« als etwas von der »Natur weislich« Angepasstes (John Locke 1983, §63: 57). Demzufolge geht Locke von einem anthropologischen Spieltrieb des Kindes aus, dem ein bestimmter Sinn zugrunde liegt. Daraus schlussfolgert er, dass man Kindern Spiele gewähren sollte. Andererseits unterlegt er der Akzeptanz des kindlichen Spiels bestimmte normativ-pädagogische Voraussetzungen. In der radikalsten Konsequenz seiner Überlegungen zum kindlichen Spiel hält es Locke sodann für notwendig, Spiele, die nicht mit einem maßvollen kindlichen Umgang einhergehen, dem Kinde abzugewöhnen. Hier tritt seine asketisch disziplinierende
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Einstellung zum Spiel hervor. Exemplarisch zeigt sich die Forderung Lockes, dem Kind das Spiel abzuerziehen, in seinen Ratschlag an Chipley, was dieser tun sollte, wenn sein Sohn immerzu oder seines Erachtens zu viel mit »Kreisel und Peitsche« spiele (vgl. Locke 1983, §108: 127): Chipley soll seinen Sohn so lange zum Kreisel-Peitsche-Spielen zwingen, bis er dessen saturiert ist und keine Lust mehr zum Spielen hat. Dadurch, so Locke, dass dem Kind das Spiel bis zum Überdruss anbietet, nimmt man dem Spiel das Freiheitsmoment. Da der Junge das Spielen nun als Pflicht empfindet und es folglich nicht mehr als selbstbestimmt erlebt, also aus eigener (intrinsischer) Motivation heraus ausführt, wendet sich das Kind lieber wieder anderen Aktivitäten zu, etwa dem Lesen eines Buches.58 Die Strategie, die Locke anwendet, ist demnach, dem Spiel sein immanentes Freiheitsmoment zu nehmen, indem er Spielen zur Aufgabe, zur Pflicht macht. Durch diese Strategie, so der Plan, werde sich das Kind dann ›freiwillig‹ den pädagogisch gewünschten Tätigkeiten, dem Lernen und der Arbeit, zuwenden. Diese Ambivalenz dem natürlichen Spiel des Kindes gegenüber, die sich einerseits in einer vorgegebenen Akzeptanz, andererseits in der pädagogischen Maßnahme des Abgewöhnens zeigt, offenbart sich aber auch in seiner Forderung, dass das kindliche Spielen mit Lernfortschritten einhergehen soll. Locke vertritt die Meinung, man sollte die kindlichen Spiele so umgestalten, dass damit ein Übungswert eintritt. Er sucht, das Nutzbringende im Spiel zu fördern. Er empfiehlt, den »Hang zur Geschäftigkeit« des Kindes, für förderliche Zwecke ausnutzen und dem Zögling das zu Erlernende als »Erholung schmackhaft«59 zu machen (Locke 1983, §63: 57). Um dieses Ziel zu erreichen, das Nützliche im Spiel des Kindes hervorzubringen, betont Locke zunächst das Spielmerkmal der Freiheit. Die empfundene Freiheit im Spiel begreift Locke als Gegenteil zur auferlegten Pflicht. Aus diesem Grund sollte man Lernen nicht als Pflicht oder Zwang an Kinder herantragen, denn das ist das, »was sie von Anfang an abschreckt und abkühlt; sie vermissen ihre Freiheit« (1983 §74: 79f.). Vor diesem Hintergrund können die nachstehenden Überlegungen kritisch als pädagogische List, als Winkelzug, ja als falsches Spiel des Erwachsenen gegenüber dem Kind gedeutet werden. Denn er fragte sich, »ob nicht Spielsachen für diesen Zweck hergerichtet werden könnten, die in der Regel ja keinen Zweck haben, und ob sich nicht etwas denken
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Diese Strategie hat zwar eine bestimmte Logik, allerdings scheint die alltägliche Erziehungspraxis vieler Eltern über den Erfolg dieses Ansinnens Skepsis zu zu lassen. Unter Erholung (Recreation) versteht Locke allerdings keine Untätigkeit, sondern Erholung besteht darin, dass »man den ermüdeten Körperteil durch Wechsel der Tätigkeit Erleichterung verschafft« (Locke 1983, §206: 257).
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ließe, woran Kinder lesen lernen könnten, während sie meinen, sie spielten bloß« (1983 §150: 188). Das Spiel wird hier als eine Art ›Lernköder‹ eingesetzt. Die pädagogische Absicht wird verheimlicht, das kindliche Spiel wird ohne Wissen des Kindes instrumentalisiert. Als mögliches Beispiel für einen solchen Lernköder nennt er eine Elfenbeinkugel, die man mit Buchstaben versehen könnte, wodurch das Kind spielerisch lesen lerne – Parallelen zu Quintilian sind hier nicht zu übersehen (vgl. S. 36f.). Der Knabe sei »in dem Glauben, es sei ein Spiel«, und »ohne daß er weiß, wie er es angefangen hat und ohne je gescholten worden zu sein«, hat er spielerisch Lesen gelernt (1983 §151: 189). Es geht also hierbei um eine ›Überlistung‹ des Kindes zum Lernen, eine Instrumentalisierung des Spiels für Lernzwecke: In dem Glauben gelassen, es würde spielen, lernt das Kind, und zwar das, was vom Erwachsenen als sinnvoll erachtet wird. Diese beschriebene pädagogische Strategie von Locke kann wie folgt zusammengefasst werden: »ja, die größte Kunst besteht darin, alles, was sie [die Kinder – S.G.] zu tun haben, zu vergnüglichem Spiel und Kurzweil zu machen« (John Locke 1983, §63: 57). So könnte man Locke, sofern er die Faszination und Motivation von Spiel für Lernzwecke fruchtbar machen wollte, als Vordenker für heutige Lernspiele bezeichnen. Insgesamt kann man Lockes Gedanken über das kindliche Spiel dahingehend zusammenfassen, dass es auf »gute und nützliche Gewohnheiten gerichtet« sein sollte60 (§130: 163). Dieser Ratschlag an Chipley, das Nützliche im Spiel zu fördern und für Lernzwecke einzusetzen, zieht sich dabei wie ein roter Faden
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Unter »guten« Eigenschaften versteht Locke zum Beispiel »Fleiß, Regsamkeit, Nachdenken, Geschicklichkeit und Sparsamkeit« (1983, §130: 163). Dass das kindliche Spiel ›gute‹ Gewohnheiten fördern soll, lässt sich auch an Lockes Einstellung zum Spielzeug ablesen. Hier vertritt er die Ansicht, dass Kinder Spielsachen zwar zum Spielen haben dürfen, sie ihnen aber nicht gekauft werden sollten, denn dies führe zu »Stolz, Eitelkeit und Begehrlichkeit« (1983 §130: 162). Stattdessen sollten Kinder versuchen, sich diese selbst zu basteln. Er führt dabei aus, dass aber schon allein ein »glatter Kieselstein, ein Stück Papier, Mutters Schlüsselbund oder sonst etwas« für das Spielen des Kindes geeignet seien (1983 §130: 162f.). Hier spricht Locke die Kreativität und Phantasie des Kindes an, die gefördert und nicht durch Kaufspielzeug zerstört werden sollten. Weiter geht er von einer Gewöhnungsthese aus, wonach die Alltäglichkeit und Vertrautheit gekaufter Spielzeuge zu Missmut beim Kinde führe, wenn keine neuen Spielzeuge für das Kind angeschafft werden. Dies steht nach Locke im Gegensatz zum eigentlich pädagogischen Ziel, nämlich »zur Mäßigung der Begierden« mit der Zielvorgabe, einen »zufriedenen, glücklichen Mann heranzubilden!« (1983, §130: 162). Insgesamt sollte jedoch bei Spielsachen darauf geachtet werden, dass diese erstens von Erwachsenen verwahrt werden und dass zweitens dem Kind immer nur ein Spielzeug zur Verfügung steht. Das Kind sollte kein weiteres erhalten, bevor nicht das andere Spielzeug zurückgegeben wurde. »Das lehrt sie beizeiten aufzupassen, die Dinge, die sie haben, nicht zu verlieren oder zu verderben; wenn sie die Sachen selbst bewahren, läßt die Fülle und das Vielerlei sie übermütig und achtlos werden und lehrt sie von Anfang an Verschwendung und Vergeudung« (Locke 1983, §130: 161).
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durch das Werk, jedenfalls in den Passungen, die das kindliche Spiel behandeln. Aus diesem Grund hat wohl Scheuerl Lockes Ausführungen über das kindliche Spiel als »Rechtfertigungen für das Nutzlose« tituliert (Scheuerl 1991: 16). Lockes Überlegungen wirkten in Deutschland auf die pädagogisch philanthropische Reformbewegung und fanden ihre Anwendung auf die praktische Unterrichtsgestaltung. Deren Autoren radikalisierten seine Überlegungen, indem z.B. Basedow versuchte, »fast alle Spiele ›lehrreich einzurichten‹. So sollte den Schülern etwa Latein durch Versteck und Ratespiele beigebracht werden (vgl. Parmentier 2004: 932). Eine pädagogische Systematik von Spielen im Kontext von Unterricht erfolgt dabei erstmals von dem philanthropischen Erzieher Johan Christoph Friedrich GuthsMuths. Seit 1786 leitete er den gymnasiastischen Unterricht in einer von ihm und Christian Gotthilf Salzmann gegründeten philanthropischen Erziehungsanstalt im Thüringer Wald (vgl. Kühme 1997: 68). »Im ganzen ist GuthsMuths der pädagogische Optimist seiner Zeit, der durch entsprechende Spiel- und Leibesübungen ein Kind völlig nach seinem Willen formen zu können glaubt« (Hauck 1935: 70). In diesem Sinn empfiehlt Guthmuths »Kegel- und Zählspiele für den Rechenunterricht und ›Blindekuh‹ fürs Pflanzenerkennen« (Parmentier 2004: 932). So besitzen auch bei den Menschenfreunden Spiele eine rationale, nützliche Funktion – eine utilitaristische Spielpragmatik im Sinne der Ausbildung praktischer, motorischer und geistiger Fähigkeiten. Im Gegensatz zu Locke spricht der Franzose Jean-Jacques Rousseau (17121778) in seinem Werk »Émile oder Über die Erziehung« (1971) (i.O. »Émile ou de l’éducation« von 1762) dem Spiel vor allem eine zwanglose Natürlichkeit zu, durch die Kinder ihre Welt erschließen. Dies erinnert an die renaissancehumanistische Spieldeutung im Kontext casa giocosa (vgl. S. 60). Rousseau geht davon aus, dass das Spiel an und für sich, auch ohne seine Instrumentalisierung zum Lernen, einen Übungswert habe. So erhält Spiel bei Rousseau einen hohen Stellenwert für die kindliche Entwicklung.61 In diesem Kontext spricht Rousseau dem Spielen Sinn und Nutzen zu, auch ohne eine pädagogische Indienstnahme. Rousseau kritisiert sogar, so Dirx, seine zeitgenössischen Kollegen, wirft ihnen vor, das Spiel auf vermeintlich pädagogische Art zu missbrauchen, »um dem Kind die bittere Pille der Arbeit zu versüßen« (Dirx 1981: 234). Das Spiel ist in diesem Verständnis eine Form des Zwangs. Allerdings bleibt Rousseau mit die-
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Hierbei erklärt Hering, das Rousseau vor allem solche Spiele in den Blick nahm, »durch die Kinder ihren Sinnesapparat üben, eigene Fähigkeiten, aber auch Qualitäten der Umwelt sowie mögliche Koordination beider kennen und richtig einschätzen lernen« (Hering 1979: 11). Dies ließe sich heute mit dem Lernen durch Exploration vergleichen. In Rousseaus Werk »Emile« lassen sich Laufspiele, Bewegungsspiele und Nachahmungsspiele finden.
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ser Vorstellung die Ausnahme. Die ›innerliche Zerrissenheit‹ im allgemeinem Denken dieser Zeit, dem Spiel etwas pädagogisch Sinnvolles zuschreiben zu wollen, die historisch verinnerlichte Skepsis dem Spiel gegenüber und seine Nachrangigkeit gegenüber der Arbeit aber nicht abschütteln zu können, ist dominierend. Diese Ambivalenz zeigt sich ebenfalls bei Immanuel Kant.
2.3.3.2 Spiel und Arbeit zu unterschiedlichen Zeiten Immanuel Kant (1724-1804) war einer der bekanntesten und einflussreichsten Vertreter der Aufklärung. Er formulierte das populäre Anliegen, dem Menschen mithilfe seiner Vernunft (ratio), zum »Ausgang … aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit« (Kant 1784) zu verhelfen. Unmündigkeit bezeichnet hier das Unvermögen, sich ohne fremden Einfluss ein eigenes Urteil bilden zu können. Die Selbstverschuldung liegt in dem Manko des Mutes, sofern diese Unfähigkeit nicht in einem Mangel des Denkvermögens verankert ist. Daher lautete die aufklärerische Devise: »Sapere aude«, »Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!« (ebd.). Im Rationalitätsbegriff steckt der Impetus der Aufklärung, er wird zum bestimmenden und beschreibenden Terminus für das gesellschaftliche Denken zu dieser Zeit und liegt auch der pädagogischen Sichtweise Kants auf das Spiel zugrunde. Mit der Bedeutung des Spiels für das Kind hat sich Kant vor allem in seiner Vorlesung »Über die Pädagogik«62 auseinandergesetzt. Allerdings ist hier von einem anderen Spielbegriff als in seiner theoretischen Grundlegung »Kritik der Urteilskraft« die Rede.63 Dort bezeichnet das Spiel geistige Prozesse und Er-
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Die Vorlesung »Über die Pädagogik« hat Kant 1776/77 in Königsberg gehalten. 1803 wurde sie erstmals veröffentlicht (vgl. Neuenfeld 2005: 17). Sie ist neben einigen verstreuten Äußerungen und Torsos die einzige Beschreibung von Kants empirischer Pädagogik. Kant verbindet in § 9 seiner »Kritik der Urteilskraft« das ästhetische Empfinden mit dem »des freien Spiels der Vorstellungskräfte« (Kant 1793: 86). Das Spiel im Sinne eines mentalen, inneren Vorgangs wird von ihm in den Vordergrund gestellt und so die Kategorie Spiel um eine geistig-seelische Komponente erweitert, die vorher noch nicht gegeben war. Der ursprüngliche Gebrauch des Spielbegriffs, der sich auf Handlungen beschränkte, erhält durch Kant eine neue Abstraktion. Allerdings zeigen Heidemann (1986) und Trebels (1967) auf, dass in der kantischen Kritischen Philosophie die methodische Brauchbarkeit des Spielbegriffs innerhalb der Nomenklatur der wissenschaftlichen kritischen Theoreme der Wirklichkeit als zweifelhaft bewertet wird. Das »freie Spiel der Erkenntniskräfte« ist als Synonym für Spekulation zu verstehen. Das »Spiel« als die Bezeichnung für »Produkte freier, empirisch nicht fundierter Denkprozesse, lehnt Kant, soweit sie Anspruch auf Erkenntnis der Wirklichkeit erheben, als (…) Erdichtung ab und bezeichnet sie, soweit sie für Wirklichkeit gehalten werden, als Traum. Dem Produkt des Gedanken-Spiels entspricht keine objektive Realität« (Kühme 1997: 63). In diesem
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2. Sozialhistorische Analyse – Das Spiel und seine konzeptionellen Gegenbegriffe
gebnisse, die jenseits des Bereichs der empirisch fassbaren Wirklichkeit liegen, was dazu führt, dass Kant das Spiel aus seiner modernen Erkenntnistheorie ausgrenzt. Der zugrunde liegende Spielbegriff in der »Kritik der Urteilskraft« wird von Kant als unrelevant für die Wirklichkeit bestimmt. In seinen pädagogischen Überlegungen über das Kinderspiel bezieht sich Kant stattdessen auf die ›wirklichen‹ Spiele. Das Spiel ist für Kant eine zweckfreie, erfreuliche Tätigkeit, wogegen Arbeit einem funktionalen Dritten dient: »Bei der Arbeit ist die Beschäftigung nicht an sich selbst angenehm, sondern man unternimmt sie einer anderen Absicht wegen. Die Beschäftigung bei dem Spiele dagegen ist an sich angenehm, ohne weiter irgendeinen Zweck dabei zu beabsichtigen« (Kant 1968, Abs. 66: 56f.). Allerdings gerät Kant zu dieser Bestimmung von Spiel als einer zweckfreien Betätigung in Widersprüche bzw. kann anscheinend das absichtslose Spielen nicht so einfach hinnehmen, denn er versucht, es doch wieder zu instrumentalisieren. In diesem Sinn erklärt er, dass das Spiel nicht »bloßes Spiel« sein dürfe, »sondern es muß Spiel mit Absicht und Endzweck sein« (Kant 1968, Abs. 62: 55). Dieser Endzweck des Spiels, dem ein rationaler Erziehungsgedanke zugrunde liegt, bezieht sich bei Kant allerdings nicht auf das Lernen im Kontext von Schule oder des Erwerbs fachlicher Fähigkeiten, sondern das Spiel wird hier vor allem zum Erziehungsinstrument, um die Geschicklichkeit, Körperlichkeit und Gesundheit von Kindern zu fördern (vgl. Neuenfeld 2005: 27). Der Grund dafür, das Spiel nicht mit dem formellen Lernen zu verbinden, liegt darin, dass Kant das Spiel als Antagonismus zur Arbeitswelt bestimmt. Vor diesem Hintergrund insistiert Kant auf der Wichtigkeit einer eindeutigen Abgrenzung zwischen Spiel und Arbeit. Denn, wie bereits Aristoteles, sieht Kant das Beschäftigtsein im Spiel als Erholung von der Arbeit, sodass es gilt, auch Lernen und Spiel nicht zu vermischen. Aus diesem Grund ist Kant ein Gegner spielerischen Lernens: »Man hat verschiedene Erziehungspläne entworfen, um, welches auch sehr löblich ist, zu versuchen, welche Methode bei der Erziehung die beste sei. Man ist unter anderem auch darauf verfallen, die Kinder alles wie im Spiele lernen zu lassen (…). Dies tut eine verkehrte Wirkung« (Kant 1968, Abs. 65: 56f.). Die Konsequenz aus diesen Überlegungen zeigt sich in einer zeitlichen Trennung von Spiel und Lernen sowie von Spiel und Arbeit, die als unterschiedliche, sich gegenüberstehende Lebenssphären bestimmt werden: »Das
Sinn wird von Kant das Spiel aus seiner modernen Erkenntnistheorie ausgegrenzt, indem dem Spiel keine Realitätsanbindung zugesprochen und somit als unrelevant für die Wirklichkeit bestimmt wird (vgl. ebd.,79, S. 94).
2.3 Mittelalter und Frühe Neuzeit – Arbeit als primärer Lebensbereich
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Kind soll spielen, es soll Erholungsstunden haben, aber es muß auch arbeiten lernen. Die Kultur seiner Geschicklichkeit ist freilich aber auch gut, wie die Kultur des Geistes, aber beide Arten der Kultur müssen zu verschiedenen Zeiten ausgeübt werden« (Kant 1968, Abs. 65: 56f.). Für die Gewöhnung an Arbeit, die Kant für den Menschen als Notwendigkeit ansieht, plädiert er für eine Umsetzung dieses Prinzips in der Schule. »Es ist von der größten Wichtigkeit, daß Kinder arbeiten lernen. Der Mensch ist das einzige Tier, das arbeiten muß (…). Das Kind muß an Arbeiten gewöhnt werden. Und wo anders soll die Neigung zur Arbeit kultiviert werden als in der Schule?« (Kant 1968, Abs. 67: 57f.). Die Arbeit steht bei Kant auf einer weitaus höheren Ebene als das Spiel. Letzterem gegenüber bleibt Kant stets skeptisch und zurückhaltend. Er schreibt dem Spiel die Charakteristika der Zwecklosigkeit, der Unterhaltung respektive des Vergnügens sowie der Geschlossenheit zu (vgl. Kant 1968, Abs. 66: 56f.). Diese stehen einer arbeitsethischen Lebensführung im Kontext einer pietistischen Sozialisation entgegen. Ferner bedeutet das von Kant erwähnte Merkmal der Geschlossenheit, dass sich das Spiel nur auf sich selbst bezieht und dadurch keine Realitätsanbindung besitzt. Hier ist eine Parallele zu seinem Spielbegriff in seiner »Kritik der Urteilskraft« erkennbar. Durch dieser laut Neuenfeld sogenannten »hermetischen Selbstreferentialität« (Neuenfeld 2005: 19) sowie der inhärenten Eigendynamik birgt das bloße Spiel, dieser unfruchtbare Zeitvertreib, zudem auch noch die Gefahr der Motivation zum Weiterspielen. Einerseits lässt sich hier eine Bedrohung hineinlesen, die als Rausch bezeichnet werden könnte: der Drang oder die Leidenschaft, mit dem Spiel nicht aufhören zu wollen. Andererseits unterscheidet sich die Eigenschaft der Geschlossenheit des Spiels, dem keine Realitätsanbindung zugeschrieben wird, von der Arbeit, ja, seine Leichtigkeit macht es sogar moralisch verdächtig. Das Spiel wird zur Gefahr. Es lenkt von der Arbeit und vom Lernen, den ernsten und notwendigen Dingen des Lebens ab, auf die Kinder doch (pädagogisch) gerade vorbereitet werden sollen. Die Auffassung oder die Angst, das Spiel lenke von der Arbeit ab, beschränkte sich zur damaligen Zeit allerdings nicht allein auf pädagogische Überlegungen zur Kindeserziehung, sondern tangierte ebenfalls die Welt der Erwachsenen. Allerdings lag hier der Schwerpunkt auf den so genannten Hazardspielen.
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2. Sozialhistorische Analyse – Das Spiel und seine konzeptionellen Gegenbegriffe
2.3.3.3 Glücksspiele als Gefahr für die Arbeit Betrachtet man die unterschiedlichen Lexika zu jener Zeit, dann fällt auf, dass ein besonderer – teilweise ausschließlicher – Fokus bei der Definition oder Beschreibung des Spiels auf Glücksspielen liegt. So bezieht Zedlers Universallexikon (1732-1754) im 18. Band von 1738 den lateinischen Ausdruck »ludus« ausschließlich auf Glücks- bzw. Gewinnspiele (vgl. Zedler 1738, Bd. 18: 1023). Hierbei gibt es zudem Verweise auf gesetzliche Verordnungen, die den äußeren Spielrahmen (Spieldauer, Gewinnsummen, Zeitpunkte) festlegen. Und auch in seiner achtunddreißigsten Ausgabe von 1743 ist unter dem Stichwort »Spiel« allein der Aspekt des Glücks zu finden: »Spiele, ludi«, so heißt es dort, »sind beschwerliche Contracte, dabey etwas ungewisses, so auf das Glück ankommt, anzutreffen (…). Da man einen gewissen Gewinn aufsetzet, welcher demjenigen, der im Spiele die Oberhand hat, zufällt« (Zedler 1743, Bd. 38: 1624). Auch in den darauf folgenden Lexika sowie in anderen Schriften wird insbesondere vor dem Glücksspiel gewarnt, denn es führe zu charakterlichen Deformierungen, indem es z.B. die Gewinnsucht und die Schadenfreude fördere. In diesem Zusammenhang wird auf den Umstand aufmerksam gemacht, dass nicht alle Spiele in der bürgerlichen Kritik als verwerflich gelten. Während man unisono Glücks- oder die so genannten Hazardspiele als gefährlich einstuft und verurteilt, werden wiederum andere Spiele, wie Bewegungsspiele nur teilweise abgelehnt, häufig sogar geduldet, solange sie nicht sittenwidrig sind. Allerdings sei stets das Gebot des maßvollen und kontrollierten Verhaltens einzuhalten, um gesundheitliche Schädigungen zu vermeiden oder der Spielleidenschaft bzw. Spielsucht zu entgehen. Neben Erwachsenen wird auch für Heranwachsende das Glücksspiel als Gefahr eingestuft. So findet sich beispielsweise in dem Werk »Bibliothek für Jünglinge. Oder gesammelte Sittenlehren für alle Scenen des Lebens« von 1763 unter dem Kapitel zum »Zeitvertreib und Lesen« (vgl. 197-212) folgender Rat: »Was inzwischen den Zeitvertreib mit Karten und Würfeln betrifft, so verführerisch er auch ist, so muß ich mich doch darinnen für die Enthaltsamkeit erklären« (Bibliothek für Jünglinge 1763: 202). Vom Spiel, konkret dem Glücksspiel wird hier abgeraten und damalige öffentliche Spielhäuser werden metaphorisch als »Fallstricke« und »Steinklippen« beschrieben, »an welchen Liebhaber des Spiels scheitern und zu Boden sinken« (Bibliothek für Jünglinge 1763: 206). Dagegen, so der Autor, gibt es keine bessere Anwendung »unsrer todten oder unbeschäftigten Stunden« als das »Wachstum durch Studieren, oder Erlernen der Wissenschaft« (Bibliothek für Jünglinge 1763: 207). Diese Deutung von Spiel und Lernen basiert auf einem bestimmten Bildungs- bzw. Erziehungsideal der Abhand-
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lung, nämlich dem Ziel und der »Pflicht, der unbefleckten Jugend frühzeitige Begriffe von Gerechtigkeit und Ehre einzuflößen, damit die Vorzüge guter Talente keine üble Richtung bekommen, noch zu niedrigen und unwürdigen Absichten verwandt werden« (Bibliothek für Jünglinge 1763: 9). Diese Bestimmung des Spielbegriffs jener Zeit, ja die vornehmlich eingeschränkte Sichtweise des Spiels auf Glücksspiele zeigt einen damals geführten Diskurs auf bzw. eine als gesellschaftlich empfundene Problematik, die sich in den warnenden und maßregelnden Äußerungen manifestiert. Die Glücksspiele sind dabei, wie bereits im Mittelalter, in Verbindung mit der Befürchtung zu sehen, dass Spiel das regelmäßige Arbeitsleben, die individuelle Existenz und dadurch den sozialen Frieden gefährde (vgl. Kühme 1997: 52).64
2.3.3.4 Über die Trennung von Arbeit und Freizeit Am Ende des 18. Jahrhunderts, zu Beginn der industriellen Rationalisierung,65 fangen Arbeits- und Wohnplatz an, sich in zu trennen. »Die Trennung von Heim und Arbeit ist nach Smiths Aussage die wichtigste aller modernen Arbeitsteilungen« (Sennett 2000: 44). Zu Smith’ Verständnis von Arbeitsteilung sei hier kurz auf sein 1776 veröffentlichtes Buch »Wohlstand der Nationen« (»An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations«) eingegangen. In dieser Schrift, die in fünf Bücher unterteilt ist, setzt er sich zunächst mit der Frage der Steigerung der Produktivität menschlicher Arbeit auseinander. Um die
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Die normativ gesellschaftlich zugeschriebene Verachtung des Glücksspiels jener Zeit erinnert an das Spielverbot um Geld aus den Polizeiverordnungen des 14. und 15. Jahrhunderts (vgl. Brucker/Welthy 1889: 479; siehe auch S. 54ff.). Spielsucht, aber auch das Falschspiel zu bekämpfen, waren die Hauptziele der mittelalterlichen Spielgegner. Aber auch heute wird Spielsucht als gesellschaftliches Problem verstanden, als eine Abhängigkeit, die professioneller Hilfe bedarf. Hier rücken auch Computerspiele als ein kulturell neues gesellschaftliches Problem immer stärker in den Fokus. Dass Computerspiele keine Suchtpotenziale haben, wird gemeinhin kaum noch angenommen. In England setzte die die industrielle Revolution als erstes ein. Datiert wird die erste industrielle Revolution zwischen 1760 und 1830. Entscheidend für den Prozess der Industrialisierung waren die neuen Erkenntnisse in den Naturwissenschaften. Exemplarisch steht dafür die Entwicklung der Dampfmaschine durch James Watt aus dem Jahre 1789. So fand eine von Witterungseinflüssen unabhängige Energieversorgung Eingang in viele Industriesektoren. Dies betrifft neben der Gewinnung von Erz und Kohle die Textilherstellung sowie eine ganze Reihe weiterer Wirtschaftszweige. »Der Dampfer ersetzte das Segelschiff, die Lokomotive den Pferdewagen. Der Transport von Rohstoffen und Fertigprodukten wurde wesentlich erleichtert, der Dampfmotor wurde zum neuen Arbeitssklaven – und seine Kraft übertraf die von Tieren oder Menschen um Vielfaches« (Rifkin 2004: 80f.).
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2. Sozialhistorische Analyse – Das Spiel und seine konzeptionellen Gegenbegriffe
menschliche Arbeitskraft optimal zu nutzen, bräuchte man spezialisierte Arbeiter und in kleine Einheiten zerlegte Produktionsvorgänge. Seine Überlegungen veranschaulicht Smith am Beispiel einer Stecknadelfabrik mit zehn Arbeitern (vgl. Smith 1983: 9f.). Diese könnten, wenn sie jeweils alle Produktionsprozesse zur Herstellung einer Nadel selbst ausführten, weniger als 20 Stück pro Kopf und Tag anfertigen. Nach dem Prinzip der Arbeitsteilung dagegen, so Smith, wären die zehn Arbeiter imstande, täglich etwa 48.000, also pro Person etwa 4.800 Nadeln zu produzieren.66 Dabei entscheiden in Smiths Lehre Angebot und Nachfrage über Preis und produzierte Menge. In diesem Sinn glaubte Smith, dass der »ungehinderte Kreislauf von Geld, Waren und Arbeit (…) die Menschen zu immer spezialisierterem Arbeiten treiben werde« (Sennett 2000: 43f.).67 Die Arbeitsteilung ist ein Ordnungsprinzip, mit dem der Beginn der industriellen Moderne untrennbar verbunden ist. Sie wurde von Klassikern der SozialGesellschaftswissenschaften wie Émile Durkheim als Hauptkategorie von Gesellschaftsanalyse etabliert. Bis dato war die Erwerbsarbeit nicht klar von Haus und Familie abgegrenzt, doch nun führte die »industrielle Produktion zur Trennung von Wohn- und Arbeitsraum, zur Herausbildung der Kleinfamilie, zur Entdifferenzierung historisch gewachsener Gemeinwesen sowie neuer Stadtregionen« (Eichler 1979: 15). Es entstanden im Zuge der Industrialisierung und Verstädterung immer mehr Fabriken, Manufakturen und Werkstätten, Bergwerke, Büros und Verwaltungen. Es entwickelte sich ein ausdifferenziertes Teilsystem der Arbeit. »›Arbeit‹ und ›Nicht-Arbeit‹ – bald: (…) Arbeit und ›Freizeit‹ – [wurden – S.G.] zur weit verbreiteten Erfahrung« (Kocka 2001: 9). Die These, Freizeit sei ein Produkt der Industrialisierung, wurde nach dem zweiten Weltkrieg im deutschsprachigen Raum vor allem von Habermas, Blücher und Schelsky vertreten.68 So erklärte Schelsky 1957: »Der Begriff ›Freizeit‹ ist das
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Smith meinte aber auch, dass die Routine des Arbeiters im Prinzip der Arbeitsteilung, jeweils ein und dieselbe Tätigkeit wiederholen zu müssen, selbstzerstörerisch wirke: »Mit fortschreitender Arbeitsteilung wird die Tätigkeit der überwiegenden Mehrheit derjenigen, die von ihrer Arbeit leben, (…) nach und nach auf einige wenige Arbeitsvorgänge eingeengt, oftmals nur auf einen oder zwei (…). Jemand, der tagtäglich nur wenige einfache Handgriffe ausführt, (…), verlernt, seinen Verstand zu gebrauchen, und [wird] so stumpfsinnig und einfältig (…), wie ein menschliches Wesen nur eben werden kann« (Smith 1983: 662). Hier stimmen folglich Smith und Marx überein. Das Gleichgewicht zwischen Lohn und Preis, Produktion und Nachfrage stellt sich nach Smith im freien Wettbewerb durch das Selbstinteresse der Menschen ein. Allein die freie Entfaltung aller Mitspieler mit dem Streben nach Eigennutz führe zum allgemeinen Wohlstand, wobei Smith von einer natürlichen Harmonie zwischen wirtschaftlichem und sozialem Leben ausging. Im Vergleich zeigen Nahrstedt (1972) und Opaschowski (1969) in Untersuchungen auf, dass sich der Freizeitbegriff – zunächst als Freistunde benannt – als eine Art Reaktion aufgrund christlich geprägter Ideale entwickelte, bei der die Arbeit im Zentrum des Lebens stand.
2.3 Mittelalter und Frühe Neuzeit – Arbeit als primärer Lebensbereich
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Produkt der die industrielle Gesellschaft konstituierenden Trennung von Arbeitsraum und Heim der Familie« (Schelsky 1957: 326). Blücher führt aus, dass der Freizeitbegriff entstanden sei,69 »als die industrielle Fertigung eine Trennung von Arbeits- und Wohnplatz erforderlich machte, die Arbeit intensiver wurde und nach der Entspannung, nach einem Gegenpol verlangte« (Blücher 1968: 76). Habermas merkt kritisch an: »Arbeitsablauf, der in bäuerlich-handwerklich bestimmten Gesellschaften sowohl durch die natürlichen Rhythmen des Jahres als auch durch die naturwüchsigen Perioden der traditionsfesten Zeremonien gegliedert war, geriet unter die Schablone der mechanisch eingeteilten Arbeitszeit. Und wo sie irgend bestanden hatte, zerfiel auch die Einheit von Arbeit und Spiel« (Habermas 1958: 220). Anhand des Habermaszitats wird die implizite Kritik am Freizeitbegriff deutlich, da dieser im engen Zusammenhang mit dem Entfremdungscharakter von Arbeit steht. Während der Bauer die Differenz zwischen Arbeit und Freizeit sowie auch von Arbeit und Spiel laut Habermas nicht kennt und sich sein Leben als eine an der Natur ausgerichtete Einheit konstituiert, entsteht in Folge der Industrialisierung ein Prozess der Differenzierung mit der Restkategorie »Freizeit« aufgrund mechanisch eingeteilter Arbeitszeit. Als Folge wird nun das Spiel in den Bereich der neuen Kategorie »Freizeit« eingeordnet. Diese Differenzierung gilt weitestgehend bis heute, es »wird in der ›Freizeit‹ gespielt« (Huizinga 1997:16).70 Dies führt wiederum zu bestimmten Spielbedingungen oder -forderungen: Die notwendige Voraussetzung für das Spiel in der bürgerlichen Gesellschaft ist dessen Ausübung außerhalb der Arbeitszeit, noch besser: nach getaner Arbeit. Das Spiel wird eng verwoben mit Erholungspausen oder Regenerationsphasen nach der anstrengenden Arbeit – eine Funktionszuschreibung, die sich wie ein roter Faden durch die Geschichte zieht.
2.3.4 Fazit: Das Spiel als Gegenspieler der Arbeit Als Fazit lässt sich konstatieren, dass sich Mittelalter und frühe Neuzeit vor allem durch ein zweifaches kulturelles und geistiges Erbe auszeichnen, welches
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Als Entstehungsphase der Freizeit wird einerseits die Phase zwischen 1750 und 1850 angegeben, andererseits wird auch auf das gesamte 19. Jahrhundert verwiesen. Andere wiederum, wie etwa Blücher, sprechen von den letzen beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts: »Der Begriff ›Freizeit‹ ist industrie-gesellschaftlichen Ursprungs und taucht erstmals um 1880 auf« (Blücher 1968: 75; vgl. auch Nahrstedt 1972; Huck 1982). Im Gegensatz dazu zeigen aktuelle Studien, dass der Arbeitnehmer häufig auch am Arbeitsplatz spielt, konkret Computerspiele (vgl. Lucht 2009)
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2. Sozialhistorische Analyse – Das Spiel und seine konzeptionellen Gegenbegriffe
die Auffassungen von Spiel und Arbeit beeinflusste: ein antik griechisch-römisches Vermächtnis und eine spezielle jüdisch-christliche Tradition. Dabei korrelierte eine abwertende Einschätzung gegenüber dem Spiel nun stets mit einem neuen bestimmten Arbeitsverständnis, während sich dagegen eine positive Deutung von Spiel, die im Vergleich die Ausnahme blieb, auf einen antikisierenden Kulturimpetus stützte. Arbeit im Mittelalter wandelt sich zu einer ehrbaren ehrbaren Tätigkeit des Erwachsenen, der Müßiggang und mit ihm auch das Spiel wurden verurteilt. »Eine eindeutige Abwertung des Spiels als eines unnützen Treibens hält sich in der asketischen Ethik des Christentums hartnäckig durch die Jahrhunderte« (Hering 1979:10). Diese Spieldeutung, die sich auf eine Überhöhung von Arbeit gründet, soll kurz noch einmal skizziert werden. Während zu Beginn des Mittelalters der Arbeit wie in der Antike in erster Linie eine subalterne Position zugewiesen wurde, führten neue politische Zielsetzungen während der karolingischen Renaissance im 8./9. Jahrhundert zu deren Aufwertung. Diese verstärkte sich sodann mit der wirtschaftlichen Prosperität vom 11. bis zum 13. Jahrhundert. Im Spätmittelalter war ehrbare Arbeit »nun Basis genossenschaftlicher Vergesellschaftung und mit Freiheit und Stadtbürgerrecht positiv verknüpft, diametral anders als in der antiken Polis. Arbeit wurde für die entstehende Stadtbürgerkultur prägend. Stadtbürgerliche Kultur wirkte aufwertend auf Arbeit zurück« (Kocka 2001: 8). Diese Entwicklung des mittelalterlichen Arbeitsverständnisses führte zu einer Verurteilung des Müßiggangs und damit auch zu einer Brandmarkung des Spiels. Das Spiel signalisierte für die Herrschenden und den Klerus die Gefahr von Arbeitsverweigerung, Ungehorsam, Aufsässigkeit und sittliche Verwahrlosung (vgl. Parmentier 2004: 932). Die Eliten sahen im Spiel eine Gefährdung ihrer Macht, ihrer ökonomischen und geistlichen Interessen. Als Konsequenz einer solchen Spielinterpretation wurden Spielverbote in Gesetzen und lokalen Bestimmungen verfügt. Analog dazu war auch der Spielmann im Mittelalter in der Regel Ausdruck für den Recht- und Ehrlosen, denn dieser machte aus dem schä(n)dlichen Spiel sogar einen Beruf und hielt damit den anständigen Erwachsenen von der Arbeit ab (vgl. Dirx 1981: 68; Eichler 1979: 25; Thurn 1976: 22). Zu dieser dominierenden abwertenden Spielinterpretation lassen sich jedoch auch Gegenstimmen finden. Dass das Spiel sich motivierend auf das Lernen auswirken kann, hat etwa Roger Bacon propagiert (vgl. Borst 1987: 548f.). Das Spiel übe den Geist und nehme im Alltag eine Trösterfunktion ein, vertrat – als Gegenbeispiel zu den damaligen weltlichen Machthabern – König Alfons X. von Kastilien (vgl. Retter 1979: 61). Insgesamt ist hervorzuheben, dass trotz moralischer Beanstandung und gesetz-
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licher Verordnung der mittelalterliche Mensch das Spiel als vergnügliche, erholende, spannungsträchtige Tätigkeit stets suchte. Die Aufwertung des Arbeitsbegriffs und die damit verbundene Verurteilung von Spiel finden ihre Radikalisierung im reformatorischen und pietistischen Denken. »Die alte Arbeitsethik war eine ernste Sache und erlegte der arbeitenden Person schwere Lasten auf. Die Menschen versuchten, ihren Wert durch ihre Arbeit zu erweisen« (Sennett 2000: 132). An der Einrichtung von Arbeitshäusern und die Reduzierung kirchlicher Feiertage, an denen nicht gearbeitet werden durfte, zeigt sich hierbei deutlich die zunehmende Bekämpfung des Müßiggangs. Der Gegenbegriff zur ehrbaren Arbeit war der schändliche Müßiggang (vgl. Lensing 2007: 102). So prägten sich Tendenzen einer Arbeitsgesellschaft aus, wobei Christus einen Platz in der »Arbeiter-Zunft« einnahm, während der Teufel in der »Müßiggänger-Zunft« angesiedelt wurde (vgl. Conze 1972: 165; Herv. i.O.). »Der Gegensatz zur Arbeit war (…) Müßiggang«. Die nicht mehr zu tolerierende Verweigerung von Arbeit führte dazu, dass handwerkliche Aktivitäten, aber auch nicht manuelle Tätigkeiten wie Unterricht und Handel an Ansehen gewannen und ein hohes Berufsprestige erhielten. Nicht zufällig korrespondiert dieses Arbeitsverständnis mit den nun langsam einsetzenden Tugenden von Arbeitsamkeit und Disziplin. Dieser Wandel des Arbeitsbegriffs führt zur gesellschaftlichen Proskription des Spielbegriffs – das Spiel ist nun durch eine religiös fundierte Antithese als Nicht-Arbeit moralischen Verdächtigungen ausgesetzt. Eine positive Bedeutungszuschreibung an das Spiel, etwa als Bildungsmittel, wie sie etwa aus renaissance-humanistischer Perspektive mit der der casa giocosa verbunden ist, bleibt in der frühen Neuzeit die Ausnahme. Vor allem in den religiösen Predigten vom Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert wird das gemeine Volk in der Regel Arbeitsfleiß und Demut gelehrt. Eine Abwertung des Spielbegriffs aufgrund einer Werteerhöhung von Arbeit erfolgte dabei weiterhin aufgrund religiöser Argumentationen. Dem stehen die gigantischen Barockfeste gegenüber, die Kleidermode zur Zeit Ludwigs des XIV. und die in dieser historischen Phase moderne darstellende Kunst mit Theatermaschinen und Kulissen. Doch diese ›lustvollen Genüsse‹ des Lebens waren zumeist nur dem Adel und den reicheren Bürgern vorbehalten. Aber auch die Bauern zeigten sich im Alltag gegenüber den religiösen Predigten über das schändliche Spiel immun. So belegen die Spiel- und Sportüberlieferungen des Bauerntums, dass dort Spiele im Alltagsleben fest verankert waren. »Wir müssen uns darüber klar sein, daß im bäuerlichen Lebenskreis der wesentliche Grundcharakter aller sportmäßigen Übungen doch immer wieder das Spiel ist« (Hansen 1939: 61). Dass die Stimmen, die dem Spiel die Befriedigung der Lebensbedürfnisse Spaß und Freude zusprachen, ins-
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2. Sozialhistorische Analyse – Das Spiel und seine konzeptionellen Gegenbegriffe
gesamt die Ausnahme in der Überlieferung sind und zu ihrer Zeit kaum öffentlich bekannt wurden, ist folglich nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass sie dem Prinzip des Obrigkeitsstaates zuwiderliefen (vgl. Dirx 1981: 229). Was man predigt oder was man vom gemeinen Volk erwartet, ist nicht unbedingt die Art und Weise, wie man selbst leben will (›sie predigen Wasser und trinken Wein‹). Auch im pädagogischen Jahrhundert wird das Spiel »nicht rehabilitiert oder positiv bewertet, es werden lediglich andere Aspekte des Spiels bzw. der Spiele betont, die mit den Prinzipien und Normen einer aufgeklärten Gesellschaft konvergieren und für das Programm der Aufklärung, der gezielten Umgestaltung durch Erziehung, nutzbar gemacht werden können« (Kühme 1997: 65f.). So haben sich während der Zeit der Aufklärung deren Anhänger vor allem für die utilitaristischen Funktionen des Spiels interessiert und nahmen die erholenden und übenden Funktionen in den Blick. Das Spiel mit seinen für die Gesellschaft als gefährlich eingestuften Eigenschaften erfuhr dagegen weiterhin moralische Abwertung. Es wird weiterhin als Gefahr für das wirkliche Leben, konkret als Gefährdung des Arbeitslebens, gedeutet. Insgesamt schwankt der erzieherische Blick auf das Spiel im 18. Jahrhundert zwischen pädagogischer Indienstnahme, Selbstzweck, Skepsis und Lernen bzw. ernsthafter Betätigung. So bleiben Spiele immer noch »Randphänomene, Steckenpferde, die eines ernsthaften Menschen eigentlich nicht würdig sind« (Scheuerl 1991: 32). Ganz anders verhält es sich mit Arbeit. Die Ideenlehren von Locke und Smith führten zu einer neuen Dimension von Arbeit. So kam es in den Schriften der Nationalökonomen und Aufklärer zu einer emphatischen Arbeitsaufwertung »als Quelle von Eigentum, Reichtum und Zivilität bzw. als Kern menschlicher Selbstverwirklichung« (Kocka 2001: 8). In diesem Kontext wurde im Lauf des 18. Jahrhunderts immer häufiger die Unterscheidung zwischen den nützlichen, produktiven auf der einen, den unnützen Tätigkeiten auf der anderen Seite getroffen. Diese Differenzierung basiert auf der Arbeit der Handwerker und Bauern, den schaffenden und produktiven Menschen einerseits, und den Müßiggängern, den privilegiert Genießenden andererseits. Das ökonomisch-moralische fundierte Leistungsprinzip wurde immer stärker zum kanonischen Gesellschaftsprinzip. Alle Tätigkeiten, die als produktive Leistung bewertet werden konnten, wurden nun unter dem Begriff der Arbeit gefasst, ihre Beurteilung beruhte auf dem jeweiligen ökonomischen Effekt (vgl. Conze: 1972: 174).71 Der Arbeitsbegriff
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Hintergrund der Unterscheidung zwischen unnützen und nützlichen Tätigkeiten sind wiederum die Gedanken von Smith, der zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit unterscheidet. So gebe es eine Art von Arbeit, »die den Wert eines Gegenstandes, auf den sie verwandt wird, erhöht, und es gibt eine andere, die diese Wirkung nicht hat. Jene kann als produktiv bezeichnet
2.4 Das 19. Jahrhundert – Aufbruch in die Moderne
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verliert zunehmend seine negativen Attribute von Mühsal und Qual und dient im Verlauf der ersten industriellen Revolution immer stärker dazu, individuelle und soziale Identitäten auszubilden, insbesondere die von Männern. Das eigene Selbstverständnis sowie das soziale Profil gründeten sich zunehmend auf die spezialisierte Erwerbsarbeit, und es etabliert sich die Vorstellung von Freizeit, »die plausibel aus der gesellschaftlichen Dominanz zweckrationaler, industrieller Arbeit erklärt werden« kann (Eichler 1979: 27). Der herrschende Diskurs des 18. Jahrhunderts im Kontext der hier zu bearbeitenden Fragestellung beruht auf der definitorischen Gegenüberstellung von Spiel und Arbeit. Die Arbeit hat demnach »den Zweck, etwas herzustellen, zu leisten, zu erreichen, Aufgaben zu erfüllen, die man selbst setzte oder andere stellten. Spiel, Muße und Nichtstun waren die Gegenbegriffe« (Kocka 2001: 8f.).
2.4
Das 19. Jahrhundert – Aufbruch in die Moderne
In der Geschichtsschreibung wird von einem »langen 19. Jahrhundert« gesprochen, denn die Epocheneinteilung orientiert sich häufig nicht an den Jahrhundertwenden, sondern an geschichtlichen Ereignissen und Strömungen. Da sich diese nicht nach runden Jahreszahlen richten, findet sich in der Literatur häufig der Ausdruck das »lange 19. Jahrhundert« als eigenständige Epoche, die die Zeit von der französischen Revolution bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges umfasst (vgl. Bauer 2004; Kocka 2002; Freytag/Petzold 2007). Fragt man in diesem Zusammenhang, wodurch sich das lange 19. Jahrhundert auszeichnet, dann zählt wohl der Durchbruch der industriellen Entwicklung zu den augenfälligsten Phänomenen jener Zeit. Damit verbunden ist ein tiefer Einschnitt in wirtschaftliche und soziale Lebensbedingen. England, das Land, in dem die industrielle Revolution zuerst einsetzte, avancierte bald zum Vorbild für
werden, da sie einen Wert hervorbringt, diese hingegen als unproduktiv« (Smith 1983: 272). Aufgrund dieser Differenzierung wird von Smith eine Klassensortierung vorgenommen: Die Arbeitenden, die einen Wert schaffen, finden sich nach Smith in der ursprünglichen Produktion, der Verarbeitung und der Distribution. Auf diesen Tätigkeiten fußt Smith’ Verständnis von Arbeit. Dagegen sind Personen, die Smith als ökonomisch unproduktiv charakterisiert, diejenigen, die keine Produkte herstellen, wie Gelehrte, Beamte, Sänger, Tänzer und Schauspieler (vgl. Smith 1883: 98ff. bes. 100). »Schärfer konnte der Traditionsbruch des Gesellschafts- und Arbeitsbegriffs kaum bezeichnet werden« (Conze 1972: 180). Obwohl Smith kein Sozialrevolutionär war, ist doch insgesamt der neue ökonomische Arbeitsbegriff, der hier aber auch physiokratische Elemente beinhaltet, in seiner Gestaltung und seinen Verwirklichungstendenzen eine bedeutsame Voraussetzung für beide Revolutionen: Die politisch-sozialen Französische (1789-1799) wie auch die industrielle Revolution (etwa ab 1789).
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2. Sozialhistorische Analyse – Das Spiel und seine konzeptionellen Gegenbegriffe
andere Nationen. Ab 1850 führten die Auswirkungen der Industrialisierung auch in Deutschland »in immer schnellerem Tempo zu einer totalen Veränderung in nahezu allen Lebensbereichen« (Müller 2002: 168). Schlüsselwörter jener Zeit sind Massenproduktion, Rationalisierung im Sinne von Automatisierung und Mechanisierung, Landflucht und Urbanisierung.72 Gesellschaftssinn und Bildungsstreben, Arbeit und Produktion heißen nun die Dominanten des Kulturprozesses, wobei der »unternehmerische Arbeitsbegriff zur Zeit der industriellen Revolution (…) auf dem Glauben an die heiligenden Tugenden der Arbeit, an Mühe, an Askese, aber auch an den Sinn für das Wagnis und die individuelle Verantwortung« basierte (Lensing 2007: 118). Dies ist die Zeit des Wirtschaftsliberalismus, für die der schottische Nationalökonom Adam Smith den Grundstein legte und dessen Gedanken zum Beispiel von John Stuart Mill oder David Ricardo73 fortgeführt und radikalisiert wurden. Diese grundlegenden Veränderungen in Produktion, Infrastruktur, den damaligen Arbeitsverhältnissen etc. riefen auch Kritiker auf den Plan. So ging etwa Marx von der These aus, dass Arbeiter, die bei ihrer Arbeit ihre erlernten Fähigkeiten durch die zunehmenden technischen Entwicklungen nicht mehr einsetzen brauchen, ihre Fähigkeiten verlieren, abstumpfen und sich von der Arbeit entfremden.74 Marx erklärt: »Es erscheint hier also direkt die bestimmte Arbeitsweise übertragen von dem Arbeiter auf das Kapital in der Form der Maschine, und durch diese Transportation sein eignes Arbeitsvermögen entwertet. Daher der Kampf der Arbeiter gegen die Maschinerie. Was Tätigkeit des lebendigen Arbeiters war, wird Tätigkeit der Maschine« (Marx 1974: 591f.). Der Liberalismus als neue Weltanschauung, der Freiheit sowie die Entfaltung des Individuums versprach und ursprünglich als Gegenbewegung zum Absolutismus des 17. und 18. Jahrhunderts konzipiert war, entsprach sensu Marx sehr viel eher den Interessen der Fabrikanten, der Kapitalisten als denen der Arbeiter, deren Rechte den ökonomischen Interessen untergeordnet wurden. Der Arbeiter verkaufte seine Arbeit und ent-
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Die Menschen zogen vom Land in die Städte, da die Heimarbeit mit der zunehmenden Konkurrenz der Fabrikerzeugnisse nicht mithalten konnte, und mit diesem räumlichen Umzug ergaben sich auch zeitliche Verschiebungen: Von einem an der Natur ausgerichteten Lebensrhythmus hin zu künstlichen, von der Fabrik und den Maschinen bestimmten Arbeitszeiten. Arbeit wird zum Basisbegriff der Wert- und Verteilungslehre und – »in der Verbindung von ›lebendiger‹ und ›vorgetaner‹ Arbeit (Kapital) – eindeutiger als vorher zum einzigen Produktionsfaktor« (Conze 1972: 181). Mit Entfremdung meint Marx »das unglückliche, abgesonderte Bewusstsein, das jedoch die Wirklichkeit und die eigene Position enthüllt« (Sennett 2000: 90; vgl. hierzu auf die Ausführungen von Smith in Fußnote 66, S. 82).
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fremdete sich von ihr.75 So waren beispielsweise tägliche Arbeitszeiten zwischen 12 und 14 Stunden die Regel, häufig lagen sie allerdings noch darüber. Im Kontext dieser miserablen Lebens- und Arbeitsverhältnisse entstand die »Soziale Frage«,76 mit der die Problematiken zusammengefasst werden, die durch den Übergang von der Agrargesellschaft zur Industriegesellschaft entstanden sind. Auch für die Sphären des Spiels blieb dieser Wandel nicht folgenlos. Wie bereits beschrieben, trennen sich Wohnraum und Arbeitsort, es wurde ein neuer Begriff eingeführt: die Freizeit. Nun wird das Spiel der Freizeit untergeordnet, die Arbeit wird dem Ernst des Lebens zugeschrieben. Der Ernst wird laut Huizinga zum lebensbestimmenden Faktor des 19. Jahrhunderts mit der Folge, dass das Spiel als Kulturfaktor in den Bereich des Belanglosen abfällt. Den Spielfaktor sucht man nach Huizinga zu jener Zeit vergebens (vgl. Huizinga 1997: 208ff.). Der nüchterne Nützlichkeitsbegriff, der Ernst des Lebens, der bereits im 18. Jahrhundert aufkeimte, wird im 19. Jahrhundert nach Huizinga vorherrschend. Versucht man dennoch, ein Anzeichen von Spiel in dieser ernsten Kultur auszumachen, dann findet sich eine Verbindung von Spiel und Ästhetik (Schiller) einerseits und eine pädagogisch-romantische (Paul) bzw. pädagogischbildende Spieldeutung (Fröbel) andererseits. Zudem mehren sich ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Spieldeutungen, allerdings wird das Augenmerk beim Spiel mehr und mehr auf spezifische, wie z.B. biologische und psychologische Aspekte gelenkt. Die Betrachtung von Einzelfunktionen des Spiels rücken in den Vordergrund, der Versuch einer Gesamtschau des Spiels – z.B. in Form des Verstehens der Ganzheit des Menschen, wie etwa bei Schiller oder Fröbel – in den Hintergrund, denn dies bedeute »unwissenschaftliche Spekulation« (Scheuerl 1991: 51). »Eine der Aufklärung verwandte neue Skepsis erwacht« (ebd.). Um der Fülle der aufkommenden interdisziplinären Deutungen zum Spiel Rechnung zu tragen, werden am Ende dieses Kapitels die Arbeiten von Karl Groos herangezogen, der schließlich versucht, die Erkenntnisse über
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Marx kritisiert, dass sich der wirtschaftliche Reichtum nicht in den Händen der arbeitenden Klasse, sondern in denen einiger Kapitalisten konzentriert. Dieser Missstand in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung kann laut Engels und Marx nur durch die revolutionäre Erhebung der Arbeiterklasse gelöst werden, in der die Kapitalisten von den Produktionsmitteln enteignet werden. Somit wird der Kapitalismus vom Sozialismus abgelöst, desen Ziel die Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft (Kommunismus) ist (vgl. Müller 2002: 170f.). Die Soziale Frage »stellte die Diskrepanz zwischen wirtschaftlichem Aufschwung einerseits und den krassen sozialen Missständen [z.B. Pauperismus, Arbeitslosigkeit, Unfallhäufigkeit am Arbeitsplatz, Hungersnot, Krankheit etc. – S.G.] fest und führte zu Überlegungen und Initiativen [etwa die Bildung von Hilfswerken und kirchlichen Organisationen, Handwerkerbünden und Arbeitervereinen – S.G.], wie den Missständen am wirkungsvollsten und schnellsten begegnet werden könnte« (Müller 2002: 169).
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das Spiel aus den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen in eine Synopse zusammenzutragen. Vorher wird jedoch noch auf die Überlegungen von Schiller, Paul, Fröbel, Schaller und Lazarus eingegangen.
2.4.1 Der idealistische Mensch (Schiller) »Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt«. (Schiller 1993: 63; 15. Brief, Herv. i.O.).
Dieser viel zitierte Satz, aus seinen »Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen« (1795), bündelt Schillers Gedanken über Erziehung, Ästhetik, Bildung und Spiel. Durch Schiller erreicht »die positive Einschätzung des Spiels ihren Höhepunkt. Die vergangene moralisch oder politisch motivierte ›Verteufelung‹ des Spiels wird hier nun fast ins genaue Gegenteil verkehrt. Bei Schiller avanciert das Spiel zum eigentlichen Ort der Menschwerdung« (Parmentier 2004: 933). Um diese These nachzuvollziehen, ist es zunächst entscheidend, Schillers Motiv zur Entwicklung seines ästhetischen Konzepts zu erläutern.
2.4.1.1 Antikes Spielideal vs. entfremdete Arbeit Den Anstoß zur Schillers Überlegungen gaben Verlauf und Ausgang der Französischen Revolution, die er mit Enttäuschung und Ernüchterung betrachtete. Die in sie gesetzten Erwartungen und Hoffnungen sah er nicht erfüllt und fragte daher nach den Gründen ihres Scheiterns. Aristokratischer Staat des Beliebens sowie eine Volksherrschaft, die dem aufklärerischen Anspruch der Vernunft nicht gerecht wurde bilden den Ausgangspunkt für Schillers Werben für die als äußerst dringlich angesehene ästhetische Erziehung des Menschen, denn diese forme den Charakter und veredele ihn. Seine Hoffnung mündete in die Utopie der Herausbildung eines »ästhetischen Staats«, einer moralischen Gesellschaft. »Freiheit zu geben durch Freiheit ist das Grundgesetz dieses Reiches« (Schiller 1993: 125; 27. Brief, Herv. i.O.). Als Vorbild diente ihm die antike griechische Gesellschaft und deren ästhetische Verfassung. Schiller gründet die einleitend zitierte Aussage auf den hohen Status, den er dem Spiel im antiken griechischen Leben zuschreibt: »Aber dieser Satz ist auch nur in der Wissenschaft unerwartet; längst schon lebte und wirkte er in der Kunst und in dem Gefühle der Griechen,
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ihrer vornehmsten Meister; nur, daß sie in den Olympus versetzten, was auf der Erde sollte ausgeführt werden. Von der Wahrheit desselben geleitet, ließen sie sowohl den Ernst und die Arbeit, welche die Wangen der Sterblichen furchen, als die nichtige Lust, die das leere Angesicht glättet, aus der Stirne der seligen Götter verschwinden, gaben die Ewigzufriedenen von den Fesseln jedes Zweckes, jeder Pflicht, jeder Sorge frei und machten den Müßiggang und die Gleichgültigkeit zum beneideten Lose des Götterstandes: ein bloß menschlicherer Name für das freieste und erhabenste Sein« (Schiller 1993: 63f.; 15. Brief). Daraus lässt sich folgern, dass Schiller Arbeit – und in diesem Kontext auch den ihr zugeschriebenen Ernst – als Zwang bzw. Unfreiheit deutet. Spiel und Arbeit/Ernst werden einander gegenübergestellt, verglichen und aneinander bewertet. Das Spiel erhält bei Schiller eine stark positive Besetzung, gründend auf der Annahme einer »in der Antike verwurzelte[n – S.G. Überhöhung von ›Spiel‹ als kulturell gestaltendem, enthobenen Seinsprinzip« (Eichler 1979: 31). Dagegen wird an der zeitgenössischen Arbeit die Entfremdung kritisiert: Wir sehen »ganze Klassen von Menschen nur einen Teil ihrer Anlagen entfalten, während daß die übrigen, wie bei verkrüppelten Gewächsen, kaum mit matter Spur angedeutet sind« (Schiller 1993: 19; 6. Brief). Somit bemängelt Schiller hier die Beziehung der Menschen zur (industriellen) Arbeit, die unvollkommene Herausbildung ihrer Fähigkeiten und ihre Beziehung zu sich selbst, die er als defizitär versteht. Obwohl die industrielle Revolution in Deutschland erst ein halbes Jahrhundert nach seiner Veröffentlichung der Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen zu ihrer höchsten Entfaltung kam, bahnten sich die Folgen und ihre Probleme bereits am Ende des 18. Jahrhunderts in England an. So könnte man Schiller auch als Visionär verstehen, der bereits früh auf die Problematik der Arbeitsteilung und das ›unfreie‹ Verhältnis des Menschen zur Arbeit hinwies. Im Gegensatz dazu sah Schiller in der griechischen Mythologie das Idealbild menschlichen Zusammenlebens.
2.4.1.2 Spieltrieb als Vermittlungsinstanz Den Menschen bestimmt Schiller als sinnliches Vernunftwesen. Es würde zu weit führen, seine Ausführungen im Einzelnen wiederzugeben, in denen er den Menschen als sinnliches Vernunftwesen mit den Begriffen »Person« und »Zustand«77
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Ersteres bezeichnet Schiller auch als das »Bleibende« und »Materie«; zweiteres wird von ihm auch »Geist« und das »Wechselnde« genannt, das die »Veränderung« beinhaltet (Schiller 1993:
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(vgl. Brief 11), das darauf folgende Begriffspaar von »Form« und »Stoff«78 beschreibt. Wichtig ist, dass Schiller den »Bildungsbegriff als ein Spiel zwischen Form und Inhalt [bzw. Stoff versteht – S.G.]. Er setzt deshalb anthropologisch einen Formtrieb, einen Stofftrieb und einen Spieltrieb an« (Meder 2004: 12). Der »Formtrieb« geht »von dem absolutem Dasein des Menschen oder von seiner vernünftigen Natur« aus (Schiller 1993: 47; 12. Brief). Er strebt nach Harmonie in der Vielfalt der Erscheinungen, nach der Verwirklichung der vernünftigen Natur und drängt dadurch nach Recht und Wahrheit. Der Mensch handelt durch ihn vernünftig und nach Gesetzen. Durch den Formtrieb kann der Mensch »bei allem Wechsel des Zustands seine Person behaupten« (Schiller 1993: 47; 12. Brief) und somit seine Identität schützen und aufrechterhalten. Allerdings entwickelt sich der Formtrieb erst im Laufe der Entwicklung und beinhaltet den Grund, warum sich der Mensch vom Tier unterscheidet. Demgegenüber fordert der »Stofftrieb«, der »von dem physischen Dasein des Menschen oder von seiner sinnlichen Natur« herrührt (Schiller 1993: 46; 12. Brief), Sinnlichkeit, sodass er von Schiller auch als der »sinnliche Trieb« bezeichnet wird. Der Stofftrieb ist im Laufe der kindlichen Entwicklung zunächst beherrschend. Der Mensch handelt nach Instinkten und Gefühlen. Obwohl der sinnliche Trieb (Stofftrieb) den wechselnden Zustand folgt, bleibt er aber der Person verhaftet. Der sinnliche Trieb gibt im Laufe der Zeit der Person »Inhalt«, respektive Empfindung. Der Form- und der Stofftrieb, so Schiller stehen in einem Wechselverhältnis zueinander, begrenzen und begründen sich gegenseitig. Der Spieltrieb dient dabei als Vermittlungsinstanz zwischen dem sinnlichen Stofftrieb und dem ›vernünftigen‹ Formtrieb. Durch dessen Einführung löst Schiller die Gegensätzlichkeit beider Triebe auf: Der Spieltrieb wird zur verbindenden Kraft. Aufgabe des Spieltriebs ist es folglich, als Bindeglied zwischen dem Physischen des sinn-
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42ff; 11. Brief:.). Obwohl ein Mensch im Laufe seines Lebens viele Veränderungen erfährt, sich also auch die Zustände seiner gesellschaftlichen Eingebundenheit wandeln, besteht in ihm trotzdem eine Konstante, welche diesen Veränderungen zugrunde liegt, von ihnen aber nicht beeinflusst wird. Dieses Gleichbleibende kann als Identität verstanden werden, die sich ein Mensch zu wahren versucht. Schiller nennt es stattdessen »Person«, das selbstbestimmte Sein. Der Zustandsbegriff richtet sich dagegen auf die Vielfalt von Situationen, in die der sinnliche, empirische Mensch gerät. Die Person ist die Form, die nach Einheitlichkeit zielt und versucht, Vernunft und Moralität zu realisieren. Demgegenüber trachtet der Zustand nach dem Stoff, dem Sinnlichen. So muss der Mensch die Aufgabe erfüllen, »das Notwendige in uns zur Wirklichkeit zu bringen und das Wirkliche außer uns dem Gesetz der Notwendigkeit zu unterwerfen« (Schiller 1993: 45; 12. Brief: 30). Zur Erfüllung dieser Bestimmung wirken nach Schiller zwei entgegengesetzte Triebe: Der Form- und der Stofftrieb.
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lichen Triebs, seinem Streben nach Veränderung und dem Formtrieb, der die Identität wahrt, Vernunft und Moral realisiert, zu fungieren. Der Mensch muss seine Triebe nach Affektionalität und Rationalität akzeptieren, denn das Gleichgewicht zwischen beiden erlaubt es ihm, seine Bestimmung als sinnliches Vernunftwesen zu erfahren. Beide Triebe in eine Balance zu bringen, ist demzufolge die Aufgabe der ästhetischen Erziehung. Nach Meder könnte man dies auch wie folgt ausdrücken: »Bildung vollzieht sich in der Korrelation von causa formalis und causa materialis, die Korrelation selbst ist das (Wechsel-)Spiel« (Meder 2004: 12). Bildung stellt die Bedingung dafür dar, dass der Mensch sich seiner doppelten Natur gewahr wird. Demzufolge bedeutet Schillers Satz, »der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt« (Schiller 1993: 63; 15. Brief, Herv. i.O.), dass sich im ästhetischen Spiel Form- und Stofftrieb vereinen, nach Schiller das höchste menschliche, persönliche Glück.
2.4.1.3 Rehabilitierung des Spielbegriffs Durch Schillers Begründung einer ästhetischen Erziehung des Menschen und den in diesem Kontext eingebundenen Versuch, den Ursprung des Spiels auf philosophische Art zu fassen, wurde der Spielbegriff erweitert. Die Wahl des Logos Spiel – im Sinne einer vermittelnden Instanz zwischen Vernunft und Sinnlichkeit – sieht Schiller als vollkommen »gerechtfertigt« an. Denn wenn das Wirkliche, so Schiller, »mit Ideen in Gemeinschaft kommt, verliert [es – S.G.] (…) seinen Ernst, weil es klein wird, und indem es mit der Empfindung zusammentrifft, legt das Notwendige den seinigen ab, weil es leicht wird« (Schiller 1993: 61; 15. Brief, Herv. i.O.). An diesem Zitat wird die damals vorherrschende Meinung der Gegensätze zwischen Spiel und Ernst ebenfalls auf eine philosophische Art deutlich. Interessant ist hieran, dass Schiller es für notwendig hält, den von ihm gewählten Terminus »Spiel« als philosophisch-ästhetische Idee zu rechtfertigen, da er davon ausgeht, dass ihm Kritiker diese Begriffswahl später vorwerfen könnten (vgl. Schiller 1993: 61; 15. Brief). Der Hintergrund hierfür ist, dass Schiller von einer gesellschaftlich zugeschriebenen negativen Semantik des Spielbegriffs ausgeht, was an der von ihm aufgezeigten Assoziation mit »frivolen Gegenständen (…), die von jeher im Besitz dieses Namen waren« (Schiller 1993: 61; 15. Brief) deutlich wird. Allerdings so Schiller, beziehe sich das von ihm gemeinte Spiel nicht auf das »bloße Spiel« als Erfahrungsbegriff, das sich auf die Wirklichkeit und auf
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materielle Gegenstände richtet (Schiller 1993: 62; 15. Brief). Stattdessen ist bei ihm das ästhetische Spiel als Ideal zu verstehen, wie auch die Schönheit ein Leitbild darstellt, das im wirklichen Leben so nicht anzutreffen sei. Anhand dieser Reflexion über die Begriffswahl von Spiel wird deutlich, dass sich Schiller der negativen Bedeutungszuschreibung von Spiel wohl bewusst ist. Er bringt den Begriff aber neu ›ins Spiel‹, indem er die Tragweite von Spiel erhöht: »Was Sie, nach Ihrer Vorstellung der Sache, Einschränkung nennen, das nenne ich, nach der meinen, die ich durch Beweise gerechtfertigt habe, Erweiterung« (Schiller 1993: 62; 15. Brief). Trotz dieser Überlegungen soll es allerdings genau dieser Aspekt sein, den ihm seine Kritiker später vorwerfen, nämlich dass sein Spielbegriff »ungebührlich weit sei« (Scheuerl 1991: 32; vgl. auch Schaller 1861: 4f.). Jedoch führte gerade dieser Versuch Schillers, den Spielbegriff auf philosophische Weise zu bestimmen, einerseits zu dessen Rehabilitierung im Bereich der Erkenntnistheorie. Obwohl das Spiel bei Kant ein neues Niveau erhielt – es wurde abstrahiert von dem Spiel des Kindes oder des selbstvergessenen, unernsten Erwachsenen und erreichte erstmals philosophische Weihen –, bleibt der Kantische Spielbegriff für die Wirklichkeit, im Gegensatz zu Schillers Spielbegriff, bedeutungslos.79 Andererseits bereitete Schiller den Weg zu einer verketteten Erweiterung von Gedankengängen, »von denen auch Schillers Kritiker noch zehrten, und die über die positivistischen Theorien des späteren 19. Jahrhunderts hinaus bis in die Gegenwart wirksam blieben« (Scheuerl 1991: 33). Der spieltheoretische Rückgriff auf Schiller ging in den letzten zwei Jahrhunderten nie zu Ende (vgl. Retter 2003: 7). So könnte man Schiller auch als Vorreiter des Konzepts des spielenden Menschen (homo ludens) interpretieren, einer kulturanthropologischen Sicht auf das Spiel, welche später durch John Huizinga (vgl. Kapitel 2.5.1.1, S. 126f.) berühmt geworden ist.
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So zeigen Heidemann (1968) und Trebels (1967) in ihren umfassenden Untersuchungen auf, dass in der kantischen Kritischen Philosophie die methodische Brauchbarkeit des Spielbegriffs innerhalb der Nomenklatur der wissenschaftlichen kritischen Theoreme der Wirklichkeit als zweifelhaft bewertet wird. Das »freie Spiel der Erkenntniskräfte« ist daher als Synonym für Spekulation zu verstehen. Dem Produkt des Gedanken-Spiels entspricht keine objektive Realität« (Kühme 1997: 63). Der Spielbegriff bezeichnet hier geistige Prozesse und Ergebnisse, die jenseits des Bereichs der empirisch fassbaren Wirklichkeit liegen (vgl. hierzu auch Fußnote 63, S. 77).
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2.4.2 Der romantische und zu bildende Mensch »Es regle und ordne der Lehrer nur nicht nach den Arbeiten wieder auch die Spiele! – Überhaupt ist’s besser, gar keine Spielordnung zu kennen und zu machen« (Paul 1807, §54). »Spiel ist das reinste geistigste Erzeugnis des Menschen auf dieser Stufe, und ist zugleich das Vorbild und das Nachbild des gesamten Menschenlebens, des Innern, geheimen Naturlebens im Menschen und in allen Dingen; es gebiert darum Freude, Freiheit, Zufriedenheit, Ruhe in sich und außer sich, Frieden mit der Welt« (Fröbel 1951: 36).
Auch für die Erziehungswissenschaft hatte die Ausdehnung des Spielbegriffs Folgen. Indem der Terminus Spiel nun auch mit Ästhetik und Schönheit assoziiert wurde, erhielt er in der Romantik eine neue Relevanz für die kindliche Entwicklung, vor allem für die Domäne der Phantasie. Denn was in aufklärerischer Sicht noch als unzweckmäßig und wertlos betrachtet wurde, rückte nun in den Fokus: Der Augenblick im Spiel wurde dem Kind als Eigenrecht zugesprochen, anstatt den Blick auf die Zukunftsperspektive und demzufolge die Arbeit zu richten.
2.4.2.1 Spiel und Phantasie (Paul) Einer der bekanntesten Vertreter einer romantischen Spieldeutung war der Lehrer und Dichter Jean Paul (1763-1825), der durch seine Gedanken vor allem die Erziehungs- und Bildungstheorie beeinflusste. Paul geht davon aus, dass der Mensch im Laufe der Entwicklung durch Erfahrung an Phantasie verliere: »Aber an reicher Wirklichkeit verwelkt und verarmt die Phantasie« (Paul 1807, §48). Auch hier lässt sich ein Spannungsverhältnis, und zwar auf zwei Ebenen ausmachen. Erstens geht Paul hier von einer bestimmten biografischen Konnotation aus, die er dem Spiel zuschreibt. Durch das ›Hereinwachsen‹ in die Welt der Realität schwindet die Phantasie und mit ihr das Spiel. Demzufolge ist es für Kinder natürlich, zu spielen und ihre Phantasie im freien Spiel auszuleben, während Erwachsenen dies durch die alltägliche Konfrontation mit dem Ernst des Lebens verloren geht. Hieraus lässt sich zweitens schlussfolgern, dass Paul das Spiel und die Phantasie dem Ernst und der Wirklichkeit gegenüberstellt, hier also ein Spannungsverhältnis bzw. eine Ausschließlichkeit ausmacht: entweder phantastisches Spiel
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oder ernste Wirklichkeit. Folglich wandelt sich im Laufe der Entwicklung die kindliche Perspektive auf das Spiel in der Art, dass es für das »reifere« Kind, das »die Arbeit übt und zwingt, schon deren Ende (die Freiheit) ein Spiel und freie Luft« wird (Paul 1807, §54). Diese Auffassung lässt erkennen, dass auch Jean Paul Arbeit neben Wirklichkeit und Ernst als Gegensatz zum kindlichen Spiel auffasst. Aus erzieherischer Sicht gibt er den Rat: »Es regle und ordne der Lehrer nur nicht nach den Arbeiten wieder auch die Spiele! – Überhaupt ist’s besser, gar keine Spielordnung zu kennen und zu machen« (Paul 1807, §54). Demzufolge soll Kindern das Spiel als Eigenrecht ohne pädagogische Einflussnahme gelassen werden, denn das Spiel sei ein Bildungsmedium an sich, sodass es nicht als Hilfsmittel in der Lehre und im Unterricht eingesetzt werden soll: »Das Kind soll sich selbstständig in der Gruppe der Peers, ›im Freistaat unter seinesgleichen‹ bilden« (Parmentier 2004: 933). Andere Gelehrte dieser Zeit besitzen dazu wiederum eine andere Meinung. So hob etwa Fröbel im Kontext seiner entwickelten »Spielgaben« den Bildungswert des Spiels bereits im Kindergarten hervor und rückte das Spiel in den Fokus seiner Pädagogik.
2.4.2.2 Das Spiel als kindliche bildende Lebensform (Fröbel) Friedrich Fröbel (1782-1852), Gründer des Kindergartens im Jahre 1840 und Schüler von Pestalozzi,80 versteht den Kosmos »als ein dem Einen (Gott) entflossenes Ganzes, das in sich und so in jedem Lebewesen die Polarität von Geist und Natur widerspiegelt« (Böhm 2005: 224). Dabei wird das Spiel bei Fröbel zu einer Kategorie menschlicher Erziehung, indem es »als gleichzeitiges ›Inneres äußerlich und Äußeres innerlich machen‹ die eindimensionalen Prozesse von Lernen und Arbeit [übersteigt – SG] und (…) zur symbolischen Welterkenntnis und -gestaltung« wird (Böhm 2005: 604). Somit übernimmt das Spiel eine maßgebliche Funktion bei Persönlichkeitsentwicklung, besitzt daher eine tiefe Bedeutung und ist nicht als ›Spielerei‹ abzutun. »Spiel ist das reinste geistigste Erzeugnis des Menschen auf dieser Stufe, und ist zugleich das Vorbild und das Nachbild des gesamten Menschenlebens, des Innern, geheimen Naturlebens im Menschen und in allen Dingen; es gebiert darum Freude, Freiheit, Zufriedenheit, Ruhe in sich und außer sich, Frieden mit der Welt« (Fröbel 1951: 36). Für uns
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Pestalozzi, auf den sich auch die philanthropische Reformbewegung in Deutschland beruft, hat im Gegensatz zu den Vorstellungen Kants, wonach Kinder lernen müssen und dies in der Schule zu kultivieren sei, davon gesprochen, dass Arbeit nicht bedeute, Kinder abzurichten, sondern »Menschenbildung« und »Würde« sei (vgl. Conze 1972: 172).
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erscheint diese »religiös-mystische Gedankenwelt eines dialektischen Gegenübers von göttlicher Alleinheit und der Mannigfaltigkeit der Erscheinungswelt« (vgl. Hering 1979: 15) fremdartig, und die »Gedankenführung ist oft verschlungen« (Scheuerl 1991: 33). Für Fröbel resultiert daraus das Ziel pädagogischer Vermittlung, nämlich eins mit dem Kosmos und Gott zu werden bzw. zu sein. Fröbel bezieht seine Überlegungen zum Spiel auf die Kindergartenpraxis: Spielen ohne Absicht, aber gleichzeitig auch in Form von Lernspielen, die den Verstand, die Sprache und die Sinne fördern sollen. So versucht er, das kindliche Spiel für die Förderung emotionaler und kognitiver Fähigkeiten einzusetzen. Für diesen Zweck entwickelte Fröbel »Spielgaben« mit der Absicht, dass Kinder durch ihren Gebrauch die Weltgesetzlichkeit sinnlich und handelnd erfahren. (vgl. Schaub/Zenke 2005: 2026) Lerngaben sind nach Fröbel Lernmaterialien, die aus einem aufeinander abgestimmten System bestehen, z.B. Ball, Kugel, Würfel, Walzen, stereometrische Körper, »die auf dem Prinzip des ›Entgegengesetzt-Gleichen‹ aufgebaut sind und als ›Spiegel des Lebens‹ das Kind von früh auf mit den Gesetzen des Kosmos verbinden sollen« (Scheuerl 1991: 33). Demzufolge könnte man aus dieser Perspektive deuten, dass Fröbel das Spiel als starkes Lernmittel bzw. als eine Aneignungsquelle an Welt ansah und versuchte, diese pädagogische Sicht auf das Spiel im Kindergarten umzusetzen. »Die Spielgaben Fröbels sind als das erste System dieser Art von grundlegender Bedeutung für die Vorschulerziehung geblieben« (Schaub/Zenke 2005: 2026), die Entwicklung seiner »Spielgaben« finden auch heute (wieder) verstärkt Anwendung im Kindergarten, wenn es darum geht, die Sinnesentwicklung zu fördern und die Anlagen des Kindes zu entfalten.
2.4.3 Der spezialisierte Mensch (Spielforschung) »Je vollständiger wir alle diese verschiedenen Formen des Ernstes kennen, desto vollständiger sind wir zu der Erkenntniß des Spiels vorbereitet« (Schaller 1861: 42).
Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts bildet sich allmählich die empirische Spielforschung heraus. Forscher konzentrieren sich auf Einzelaspekte des Spiels, vor allem auf biologische und psychologische Funktionserklärungen. Daten über das Spiel werden durch Beobachtung gesammelt und klassifiziert (vgl. Parmentier 2004: 935). So rücken Gesamtdeutungen im Sinne metaphysischer und philosophischer Begriffe, wie »Wesen« und »Sein« zunehmend in den Hintergrund. Der Versuch einer Gesamtschau des Spiels in Form des Verstehens der Ganzheit des
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Menschen wird aufgegeben, denn dies bedeute »unwissenschaftliche Spekulation« (Scheuerl 1991: 51). Umfassendere bildungstheoretische Konzeptionen des Spiels, wie bei Schiller oder Fröbel, weichen »partiellen Funktionsbestimmungen« (Parmentier 2004: 935). Exemplarisch kann an dieser Stelle auf die Kraftüberschusstheorie des Engländers Herbert Spencer (1820-1903) verwiesen werden. Spencer, unter anderem Philosoph und Evolutionstheoretiker, entwickelte die Theorie, dass der Mensch durch das Spiel seinen Energie- bzw. Kraftüberschuss (»surplus of vigour«) abbaue, den er zur Arterhaltung nicht mehr braucht (vgl. Spencer 1897). Der Mensch, so Spencer, verfüge nämlich im Gegensatz zu niederen Tieren über Fähigkeiten, die effektives Funktionieren möglich machen. Dadurch habe er Energie übrig, um sie für spielerische Aktivitäten freizusetzen. Die Motivation zur Aktivität ist nach Spencer genetisch angelegt, sodass er eine biologische Determinante des Spiels bestimmt. Kritisch an Spencers Ausführungen ist seine einseitige Perspektive auf die biologische Funktion, indem andere Spielwirkungen und -funktionen keine Berücksichtigung finden. Vor allem vernachlässigt Spencer den Umstand, dass Kinder auch nach ausgeübten anstrengenden Tätigkeiten spielen, sodass die Theorie überschüssiger Energie fraglich erscheint. Neben Spencer hat sich auch Granville Stanley Hall (1846-1924) mit dem menschlichen Spielverhalten auseinandergesetzt. Seine Betrachtungen mündeten in der so genannten Rekapitulationstheorie (Hall 1904). Hall sah die Entwicklung des menschlichen Spielverhaltens als vererbt an. Daher betrachtete er das Spiel als durch die Äußerung atavistischer Instinkte bestimmt: »Im Spiel ist jeder Gemütszustand und jede Bewegung Ausdruck von Erblichkeit« (1904: 379). In diesem Sinn bedeutet das Spiel bei Hall die Rückkehr auf frühere Entwicklungsstufen. Dagegen stellt Carr (1902) vor allem die Katharsis als Funktionserklärung des Spiels in den Vordergrund. Diese funktionalistische Betrachtung kennen wir bereits seit Aristoteles. Durch das Spiel reinigt der Mensch sich vom Überschuss triebhafter und drängender Instinkte. Carr spricht in diesem Zusammenhang von einem Auslassventil. Somit dient das Spiel dazu, nicht »primitive Instinkte aus der Vorzeit« abzuleiten (Parmentier 2004: 935), wie etwa bei Spencer, sondern sich von negativen Emotionen der Gegenwart zu lösen. Dies sei schon deshalb harmlos, weil Spiele hier als »Deutung allemal die Illusion, als scheinhaft vorgespiegelte Welt der Fiktionen oder als ›bewusste Selbsttäuschung‹ erscheinen« (Scheuerl 1991: 52).
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Im Gegensatz zu diesen eher monothematischen Erklärungsansätzen versuchen Julius Schaller, Moritz Lazarus und Karl Groos, eine umfassendere Spieldeutung vorzunehmen.
2.4.3.1 Das Wesen des Spiels – eine Negativ-Definition (Schaller) Der in Magdeburg geborene Philosoph Julius Schaller (1810-1868) versucht im Gegensatz zu den damals in der Wissenschaft vorherrschenden Spielforschungen, wieder das »Wesen« des Spiels in den Blick zu nehmen. Doch um das Wesen des Spiels zu fassen, hält es Schaller in seiner Abhandlung »Das Spiel und die Spiele« (1861) vorab für notwendig, den Spielbegriff einzuschränken. Methodisch wählt er den Weg, das Spiel auf das zu reduzieren, was der damalige Sprachgebrauch darunter verstand. Diese Herangehensweise führt in dessen Konsequenz zum inhaltlichen Ausschluss des Spiels von philosophischen Konzepten. Die von Schiller vollzogene Verknüpfung des Spielbegriffs mit Leitideen wie Ästhetik oder Schönheit wird von Schaller verworfen, ja sogar stark kritisiert. Laut Schaller ist Schiller in seinem Verständnis von Spiel zu weit gegangen, er habe den Begriff überstrapaziert, »wenn er behauptet, der Mensch sei nur ganz Mensch, während er spiele. Er kommt auch nur auf diese Ansicht, indem er Momente in den Begriff des Spiels aufnimmt, die nach dem herrschenden Sprachgebrauch nicht notwendig zu ihm gehören« (Schaller 1861: 4). Hier stellt sich dem Leser die Frage: Welche Momente sind dem Spiel konkret zuzuordnen? Eine eindeutige Zuschreibung von Spielmerkmalen konnte auf Basis der bisherigen Ausführungen nicht vorgenommen werden. Um die Frage nach dem Wesen des Spiels zu beantworten bzw. Momente des Spiels zu eruieren, begibt sich Schaller auf folgenden Weg: Er sucht nach dem Gegenbegriff von Spiel! Man könnte dies als eine Art ›Winkelzug‹ bezeichnen. Anstatt das Wesen des Spiels aufgrund seiner Erscheinungen näher zu kommen – wie anfangs von ihm propagiert – vollzieht er einen antithetischen Schluss: er erklärt einen bestimmten Terminus zum Antagonismus des Spiels und versucht, daran das Spezifische des Spiels zu bestimmen. Doch welcher Terminus kann dies leisten und begründen? Laut Schaller ist es der Ernst. Spiel versus Ernst »Das Spiel stellt sich jenem Ernste gegenüber. In diesem Unterschiede besteht sein eigenthümliches Wesen« (Schaller 1861: 42). Schaller setzt den Begriff »Ernst« folglich als analytisches Instrument ein: In der Gegenüberstellung von
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Spiel und Ernst versucht er, das Spiel zu ergründen. Um die Analyse von Spiel und Ernst auf eine begründete Basis zu stellen, legitimiert Schaller zunächst seine Begriffswahl von »Ernst« im Vergleich zu »Arbeit«, dem bis dato – wie die sozialhistorische Rekonstruktion offenbart – vorherrschend verwendeten Gegenbegriff zum Spiel. Schaller argumentiert dagegen: »Wir sagen Ernst und nicht Arbeit. Bei dem Wort Arbeit denken wir vor allem an eine leibliche Anstrengung, durch die wir ein bestimmtes Resultat, ein Werk hervorbringen wollen«, und welches zudem mit der beruflichen Tätigkeit in Verbindung steht, und hieran »denken wir vorzugsweise, wenn wir Arbeit und Spiel einander entgegensetzen« (Schaller 1861: 16f.). Den Terminus Ernst bestimmt Schaller im Vergleich zum Arbeitsbegriff als umfassender und reichhaltiger. Er weist ihn einer höheren Kategorie der Ordnung zu. Folgt man der Argumentation Huizingas, dann wurde Schallers Begriffswahl – Ernst als Gegenbegriff zum Spiel – auch dadurch beeinflusst, dass das 19. Jahrhundert von einem ernsthaften Lebensgefühl geprägt war. »Wenn je ein Jahrhundert sich selbst und das ganze Dasein ernst genommen hat, ist es das neunzehnte Jahrhundert gewesen« (Huizinga 1997: 208). Betrachtet man die Bestimmung von Spiel in damaligen Lexika, so wird Huizingas These durch eine dort vorfindbare eindeutige Abgrenzung des Spiels von Ernst gestützt. Das Spiel wird von der Wirklichkeit des Lebens ausgeschlossen, rückt in eine Traum- bzw. Scheinwelt hinein, die von den alltäglichen, ernsten Themen des Lebens divergieren. »Spiel ist die freie und anstrenglose Beschäftigung des Geistes oder des Körpers ohne ernsten Zweck« (Allg. Conversations-Lexikon 1831: 94). Im Kontext der damals dominierenden Strömungen wie Liberalismus und Kapitalismus, Marxismus und Sozialismus, die als ›ernsthaft‹ charakterisiert werden können, erscheint die Annahme argumentativ nachvollziehbar, dass sie einem spielerischen Kulturfaktor zuwiderlaufen.81 Weiter behält das Spiel auch eine negative Konnotation im Bereich der Sittenlehre im Gegensatz zum ›glorifizierten‹ Ernst. Exemplarisch zeigt der Theologe und Prediger K.A. Schaller zu Magdeburg, in seiner moralphilosophischen Abhandlung »Ueber die Moralität des gewöhnlichen Spiels« (1810) den moralisch zugeschriebenen minderwertigen Status des Spiels im Vergleich zum als hochwertig gepriesenen Ernst auf: »Das Leben ist kein Scherz, kein Spiel; es ist eine ernste, heilige Sache. Möge uns stets der heilige Ernst begleiten; Denn der Ernst, der Heilige, macht allein Leben
81
Auch in der Kunst ist ein allgemeines »ernster werden« zu erkennen, denn als die romantische Begeisterung nachließ, gewannen Ausdrucksformen die Vorherrschaft (Realismus, Naturalismus und vor allem der Impressionismus), die mit der Idee des Spielens nur noch wenig gemein haben.
2.4 Das 19. Jahrhundert – Aufbruch in die Moderne
101
zur Ewigkeit« (Schaller 1810: Klappentext). Durch das dreimalige Hervorheben des Ernstes als »heilig« wird deutlich, dass das Spiel auch im 19. Jahrhundert aufgrund einer religiösen und normativen Abgrenzung von Nicht-Ernsthaftigkeit seine negative Semantik beibehält. Aus diesem Grund fordert K.A. Schaller: »der sittliche Mensch entsage dem Spiel« (Schaller 1810: 49) Aus derselben Anschauung heraus, dass sich Spiel und Ernst als Begriffe gegenüber stehen, versucht auch Julius Schaller nun, das Wesen des Spiels zu ergründen: »Was ist nun aber eigentlich der Ernst des geistigen Lebens, dem wir das Spiel gegenüberstellen? Um das Wesen des Spiels zu erkennen, müssen wir dies vor Allem wissen« (Schaller 1861: 16). Spielmerkmale nach Schaller Um den Begriff Spiel zu bestimmen, versucht Schaller im Folgenden, unterschiedliche Merkmale zu eruieren, die dem Ernstbegriff entgegenstehen. Obwohl er sich dabei anfangs gegen den Ausdruck von »Arbeit« als Gegenbegriff von Spiel ausgesprochen hat, bezieht er sich jetzt aber genau auf diesen. Somit greift Schaller inkonsequent bzw. pragmatisch-orientiert stets auf den Arbeitsbegriff als bestimmten Ausdruck ernsthafter Tätigkeit zurück, um an ihm das Eigentümliche des Spiels beispielhaft und praxisnah zu veranschaulichen. Erstens kennzeichnet Schaller das Spiel als zweckfrei. Die Zweckfreiheit bestimmt er als spezifische Spieleigenschaft, während die Arbeit einer Zielstellung unterliegt. Ferner vollzieht er den umgekehrten Schluss, nämlich wenn das Spiel mit Absicht auf »Gewinn« ausgerichtet ist, dann »büßt [es – S.G.] seinen wesentlichen Charakter schon ein«, aus diesem Grund würde auch ein ›Taschenspieler‹, der das Spiel zum Berufe gemacht hat, das bestimmende Charakteristikum des Spielenden nicht mehr besitzen (vgl. Schaller 1861: 44). Spiel ist hier folglich Nicht-Arbeit, konkret nicht Erwerbsarbeit. Weiter schließt das Merkmal der Zweckfreiheit nach Schaller den materiellen Gewinn im Spiel aus. Huizinga, dessen Argumentation etwa ein halbes Jahrhundert später der von Schaller stark ähnelt, teilt diese Ansicht über das Spiel (vgl. Huizinga 1997: 18). Im Gegensatz dazu kritisiert und differenziert Caillois diese Überlegung, indem er das Spiel zwar ebenfalls im Kontrast zur Erwerbsarbeit darstellt, aber ein materielles Interesse im Spiel nicht ausschließt. Das Spiel kann sensu Caillois mit dem Wunsch nach materiellem Gewinn einhergehen, wie etwa im Glücksspiel. Allerdings schafft das Spiel kein Produkt von Wert. Durch das Merkmal des Unproduktiven grenze es sich von Arbeit ab, nicht durch die Verneinung materieller Absichten (vgl. Caillois 1960: 12; siehe auch S. 128ff.).
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2. Sozialhistorische Analyse – Das Spiel und seine konzeptionellen Gegenbegriffe
Neben der Zweckfreiheit als spielerischem Merkmal hebt Schaller weiter die »Heiterkeit« hervor: »Wollten wir den geistigen Zustand, die Stimmung, in welcher der Mensch spielt, im Allgemeinen bezeichnen, so muß es besonders nahe liegen, dieselbe Heiterkeit zu nennen« (Schaller 1861: 42). In aktuellen Beschreibungen zum Spiel findet sich der Begriff der »Heiterkeit« eher selten. An seiner Stelle – so die These – ist der Ausdruck »Spaß« bzw. »Freude« gerückt. So werden von unterschiedlichen Autoren Spiele und spielen durch ein Gefühl von »Spaß« beschrieben (vgl. z.B. Huizinga 1997: 17; vgl. Dirx 1981: 229; Sennett 1983: 126). In diesem Sinn bleibt das von Schaller hervorgehobene Spielmerkmal der Heiterkeit – allerdings in einer transformierten Form – auch in der Gegenwart erhalten und betont eine emotionsgebundene Dimension von Spiel. Ferner nennt Schaller ein Spielmerkmal, das später häufig als »Scheinwelt« bezeichnet wird. »Im Spiele bin ich Herr meiner selbst und zeige diese Herrschaft. Ich ziehe mich aus dem Ernste des geistigen Lebens heraus (…). Ich schaffe mir eine besondere Welt, eine besondere Sphäre meiner Thätigkeit« (Schaller 1861: 55). In diesem Sinn sind die zu bestehenden Aufgaben bzw. Hindernisse im Spiel, im Vergleich zum ›wirklichen‹ Leben nur als »Scheingefahren« (Schaller 1861: 57) aufzufassen. Man befindet sich in einer ›sicheren‹ Umgebung, in der die ›Bedrohung‹ keine Auswirkung auf tatsächliche Lebensumstände hat. Von besonderer Wichtigkeit für die vorliegende Arbeit ist Schallers Ansicht, dass die Resultate im Sinne eines Nachdenkens im Spiel keinerlei wesentliche Bedeutung für die Sphäre des wirklichen Lebens haben. Nach Schaller haben sie nur einen Wert im Spiel selbst. Aus diesem Grund »gilt uns [das Spiel – S.G.] nicht als eine so wichtige Erscheinung im menschlichen Leben« (Schaller 1861: 1). Folglich geht er von einer Nutzlosigkeit des Spiels für die ›wirkliche Welt‹ aus. Der Wissenserwerb im Spiel fällt der Bedeutungslosigkeit anheim, ein Transfer erworbener Kompetenzen in die Realität wird ausgeschlossen. Aufgrund seiner Spiel-Ernst-Antithese, erhält das Lernen im und durch Spiele im Erwachsenenalter keine Relevanz. Allerdings, so Schaller, sei dies anders für das Kinderspiel zu sehen, das er nicht für bedeutungslos erachtet. Für ihn erhält das Spiel in unterschiedlichen Lebensabschnitten eine jeweils andere Bedeutung. Basierend auf seiner Komplementärthese von Spiel und Ernst, geht er davon aus, dass sich das Kind anders zum Spiel verhält als der Jugendliche und Erwachsene, denn das Kind kennt den Ernst »geistigen Lebens« noch nicht; »dies gibt seinem Spiel den eigenthümlichen Charakter« (Schaller 1861: 125). Erst der Schuleintritt als erste Konfrontation des Kindes mit dem Ernst des Lebens führt zu einem neuen Verhältnis zum Spiel, welches, Schallers These folgend, dazu führt, dass das Spiel in den Bereich des Nutzlosen abfällt. Die Frage etwa, ob Erwachsene sich
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im Kontext beruflicher Weiterbildung mittels digitaler Lernspiele qualifizieren können, würde Schaller demnach aufgrund seiner biografischen Interpretation der Bedeutung von Spiel in unterschiedlichen Lebensphasen, seiner starken Abgrenzung zwischen Spiel und Ernst sowie den von ihm herangezogenen Charakteristika des Spiels mit nein beantworten. Obwohl es nach Schaller Überschneidungen gibt, nämlich dass man ernsthaft spielt, versteht er diese Tätigkeitsformen dennoch als voneinander abgrenzbare Gemütszustände. »Trotzdem will der Ernst des Spielenden doch noch ein anderer sein, als der Ernst des Arbeitenden« (Schaller 1861: 43). Aus dem Dilemma des Anspruchs einer Konkretisierung bzw. definitorischen Abgrenzung dieser Empfindungen windet er sich heraus, indem er erklärt: »Die Sprache hat keinen einfachen Ausdruck für diese jedenfalls specifisch verschiedenen Gemüthszustände« (Schaller 1861: 43). Nach Schaller gehört das Spiel zu den lustbetonten und erholsamen Tätigkeiten82 – im Gegensatz zu der ernsthaften Arbeit des Erwachsenen. Insgesamt lässt sich zu den Überlegungen Schallers, das Wesen des Spiels zu ergründen, festhalten, dass sich sein methodischer Weg durch eine komplementäre Logik auszeichnet. Das Spiel wird bestimmt anhand einer NegativDefinition, die sich theoretisch auf den Ernstbegriff stützt und praktisch durch die Arbeit als Handlung umgesetzt wird.
2.4.3.2 Die Reize der Spiele (Lazarus) Neben den Ausführungen Schallers sind die Gedanken des Sprachphilosophen und Völkerkundler Moritz Lazarus (1828-1903) zu diskutieren. In seiner Schrift »Die Reize der Spiele«83 versucht Lazarus analog zu Schaller, dem Wesen des Spiels nachzugehen. Das Ziel seiner Untersuchungen zum Spielbegriff besteht darin, »das Vergnügen zu begreifen, das wir bei den Spielen und durch sie empfinden« Lazarus (o.J.: 7). Bei Lazarus kann die Tätigkeit des Spielens als Folge des Bedürfnisses eines Individuums verstanden werden, einem Energiemangel zu begegnen. Durch den Wunsch nach Erholung und Lustgewinn im Spiel sichert sich der Mensch seine »Erneuerung der Arbeitskräfte« (ebd.: 51). Aus diesen Überlegungen heraus werden Lazarus’ Ausführungen im weiteren
82 83
Lustbetonte und erholsame Tätigkeiten bilden für Schaller die »äußere Erscheinung« des Spiels. Diese resultieren seiner Ansicht nach aus einem inneren geistigen Prozess im Sinne einer spezifischen Gemütslage bzw. Befindlichkeit. Der Erstdruck des Werkes erfolgte 1883. Die hier zitierte (zweite) Ausgabe ist ohne Jahresangabe.
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2. Sozialhistorische Analyse – Das Spiel und seine konzeptionellen Gegenbegriffe
geschichtlichen Verlauf als Erholungs- und Entspannungstheorie begriffen, die häufig als Gegenteil zur Energieüberschusstheorie von Spencer angeführt wird. Allerdings erscheinen Lazarus’ Gedanken nicht besonders innovativ, wurden Entspannung und Erholung als Spielfunktionen doch bereits mehrmals zuvor angeführt und können also nach Scheuerl als Wiederholungen der »reduktionistischen Funktionserklärungen« der Aufklärung betrachtet werden (Scheuerl 1991: 53). Trotzdem sind die Überlegungen von Lazarus zum Spiel aufgrund unterschiedlicher Aspekte für die vorliegende Arbeit von besonderer Relevanz, die sich in drei Punkte gliedern lässt: Erstens erläutert Lazarus seinen grundlegenden Spielbegriff anhand des Gegenpols Arbeit. Somit haben wir hier einen weiteren Vertreter, der das Spiel durch die Hinzuziehung eines ihm antagonistisch gegenüber gedachten Begriffs zu bestimmen versucht und in diesem Kontext Spiel und Arbeit voneinander ausschließt. Zweitens setzt Lazarus einen Schwerpunkt auf die sprachliche Analyse des Spielbegriffs.84 Er geht der semantischen Bedeutung des Spiels nach, wobei sich hier der Grund offenbart, warum im deutschen Sprachgebrauch so vielfältige und unterschiedliche Phänomene mit Spiel bezeichnet werden. Drittens untersucht Lazarus den Spielbegriff anhand der von ihm gezählten veröffentlichten Literatur, um damit die zugeschriebene wissenschaftliche Bedeutung des Spiels zu dieser Zeit zu offenbaren.
Spiel als Gegenpol zur Arbeit Der Sprachphilosoph Moritz Lazarus teilt zwar mit Schaller die Annahme, dass die spezifischen Charakteristika des Spiels »am leichtesten und am sichersten« zu ermitteln sind, »wenn wir die Gegensätze aufsuchen, durch welche es sich von anderen Erscheinungen unterscheidet« (Lazarus o.J.:14). Allerdings bestimmt er im Gegensatz zu Schaller die Arbeit allgemein als Gegenbegriff zum Spiel. Zur Verdeutlichung seiner Begriffswahl von Arbeit als Gegenpol zum Spiel zieht Lazarus noch einen weiteren Terminus heran, den er mit Arbeit assoziiert und zwar den Beruf: »Arbeit ist Beruf, Spiel ist Genuß (…). Wird eine Thätigkeit, welche auch immer, lediglich wegen des Genusses an ihr selbst betrieben, werden wir sie kaum als Arbeit bezeichnen« (ebd.:15f.). So lassen sich an dieser Stelle bereits unterschiedliche Zuordnungen vornehmen. Arbeit wird mit Beruf gleichgesetzt und Spiel mit Genuss. Anhand der Gegenüberstellung
84
Einige dieser Erkenntnisse werden uns auch später noch einmal beschäftigen, etwa, wenn es um die Semantik des Spielbegriffs geht (vgl. Kapitel 4.2.3, S. 301).
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von Spiel und Arbeit entfaltet sich in den weiteren Ausführungen von Lazarus ein breites Wortfeld des Spiel- und Arbeitsbegriffs. Verfolgt man diese Gegenüberstellung, so findet sich als nächster, dem Spielbegriff zugeordneter Terminus die Muße. Muße wird ebenfalls von Lazarus als Antagonismus zur Arbeit gesetzt, die sowohl Ruhe als auch eine bestimmte Tätigkeit bedeuten kann. Dabei, so Lazarus, gehört dass Spiel zur »Beschäftigung in der Muße« (ebd.: 14). Es ist darauf zu achten, dass Lazarus zwischen Muße und Müßiggang unterscheidet. Das Spiel gehört der Muße und nicht dem Müßiggang an, denn letzterer bedeute Nichtstun. Das Spiel impliziert jedoch eine »erhebende Erholung«, eine Tätigkeit, die den Menschen »von dem Unwert des reinen Müßiggangs« erlöst (ebd.: 51). Folglich ist das Mußeverständnis von Lazarus stark an den antiken griechischen Ausdruck von Muße Scholè angelehnt (vgl. S. 28f.). Auch die antiken Griechen stellten die Arbeit der Muße gegenüber, wobei Muße ebenfalls Selbstzweck bedeutet, aber nicht als Spiel, sondern vor allem als Kontemplation (vgl. Eichler 1979: 91). Somit ist in dem griechischen Mußebegriff nicht gleichzeitig die Assoziation von Spiel enthalten, wie die vorangestellten Überlegungen nahelegen. Lazarus allerdings zählt das Spiel als eine Betätigung in der Muße, was anscheinend seiner methodischen Herangehensweise geschuldet ist, das Spiel mittels des Gegensatzes von Arbeit zu bestimmen und Arbeit wiederum als Polarität zur Muße zu verstehen, sodass er aus dieser Notwendigkeit Spiel mit Muße assoziiert. In diesem Sinn modernisiert der Spielbegriff die Semantik von Muße, »›säkularisiert‹ aristokratische MußePhilosophie, indem er einen sprachlichen (ideologischen) Gegensatz von ›Arbeit‹ schafft« (Eichler 1979: 18). Weiter bezeichnet Lazarus die Arbeit als Anstrengung und als schwer, die Muße als Erholung und leicht und das Spiel als eine Form der Erholung. Diese Gedankenkette führt letztendlich auch dazu, warum seine Ausführungen unter dem Terminus »Erholungstheorie« Eingang in die Literatur gefunden haben. Trotzdem, so sein Vorbehalt, kann der Spieler im Spiel seine Kräfte anspannen und sich anstrengen und die Arbeit kann einem auch leicht vorkommen, also ohne Anstrengung erfolgen. Dann würde man nach Lazarus aber davon sprechen, dass einem die Arbeit »spielend« oder »wie ein Spiel« ›von der Hand geht‹. »Dennoch aber ist die leichte und fließende Arbeit nicht wirklich ein Spiel, sondern nur diesem gleich eben in dem Mangel an Anstrengung« (Lazarus o.J.: 14). Der hauptsächliche Unterschied der beiden Tätigkeiten so Lazarus, liegt in der Differenz des Zwecks von Spiel und Arbeit: »beim Spiel liegt der Zweck in ihm selbst, bei der Arbeit jenseits derselben« (ebd.: 16). An dieser Stelle, so könnte man Lazarus versuchen zu interpretieren, schließt sich der Kreis, indem
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2. Sozialhistorische Analyse – Das Spiel und seine konzeptionellen Gegenbegriffe
der Zweck des Spiels, allein »der Genuß und die Lust« ist, »die es unmittelbar bietet« (ebd.). In diesem funktionalistischen Sinne führt uns Menschen das Bedürfnis nach Lust und Genuss zum Spielen, welches wiederum unsere Kräfte auffrischt, da wir uns dadurch erholen. Weiter erklärt Lazarus: »Arbeit ist Ernst, Spiel aber ist Spaß und Scherz« (ebd.: 15). Hier finden sich weitere von Lazarus assoziierte Begriffe von Spiel und Arbeit. Dass Arbeit mit Ernst verbunden wird, verdeutlichten bereits die Ausführungen von Schaller. Als Gegensatz zum Ernst erklärt Lazarus den Spaß und den Scherz. Auch die nun folgende Gegenüberstellung ist uns bereits bekannt, nämlich »Spiel ist Schein, Arbeit ist Wirklichkeit« (ebd.: 17). Hiermit spricht er die Vorstellung an, die Welt des Spiels stehe »isoliert«, »abgesondert von dem System der menschlichen Zwecke« (ebd.: 28). Dadurch erhält sie auch ihren besonderen »Charme«, da man durch sie die »sonstige Welt« der Zwänge, die der Berufstätigkeit fliehen kann (vgl. ebd.: 32). Bereits Kant hatte das Spiel für die Wirklichkeit als irrelevant bestimmt; die Assoziation von Spiel als Schein begleitet uns bereits seit der etymologischen Auseinandersetzung mit dem römischen Spielbegriff ludus und offenbarte sich auf Handlungsebene am Beispiel des Theaters. Zum Schluss soll noch auf eine weitere, von Lazarus beschriebene und für die vorliegende Arbeit relevante, Differenz von Spiel und Arbeit hingewiesen werden: die Zeitform. Das Spiel ist von Bedeutung in der Gegenwart, die Lust will unmittelbar gelebt und gefühlt werden. Man spielt nicht für die Zukunft, sondern für das ›Hier und Jetzt‹. Obwohl das Spiel laut Lazarus zur Übung und Ausbildung bestimmter Fähigkeiten beitragen kann, vollzieht sich dies nur implizit, das Spiel ist nicht auf ein solches Ziel hin ausgerichtet. Es hat seinen Zweck stets in sich und nicht außerhalb seiner selbst. Würde das Spiel, so Lazarus, aber »von dem Spielenden mit der Absicht unternommen, ein Bildungsziel dadurch zu erstreben, würde es sofort aufhören, ein Spiel zu sein« (ebd.: 25). Überträgt man die Argumentation von Lazarus auf die Gegenwart, dann können erstens heutige Lernspiele nach Lazarus nicht als Spiel gelten, wenn von dem Nutzer die Absicht verfolgt wird, mit ihrer Hilfe etwas zu Lernen. Würde allerdings ein Lernspiel gespielt werden, weil es einfach Spaß macht und der Lerneffekt vom Nutzenden nicht intendiert ist, sondern nebenbei passiert, dann könnte man es folglich laut Lazarus als Spiel bezeichnen. Dies würde in der Konsequenz bedeuten, dass Lernspiele nicht »Lernspiele« heißen dürfen, denn dann weiß der Lerner ja, dass damit eine Absicht verfolgt wird, die er sich womöglich annimmt. Stattdessen müssten beispielsweise Eltern ihren Kindern Lernspiele kaufen und diese den Kindern als reines Spiel darbieten. Hier sind wir
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also wieder bei der pädagogischen Instrumentalisierung des Spiels im Sinne Lockes Lernköder. Das Ziel, dass im Spiel gelernt werden soll, müsste in dieser Konsequenz verheimlicht werden. Aber kann nicht jemand auch beim Lernen Spaß empfinden, wodurch die Möglichkeit gegeben wird, dass das Lernspiel weiterhin um seiner selbst Willen gespielt wird, aber auch mit dem Ziel etwas zu Lernen? Zweitens ist nach Lazarus Überlegungen der Profispieler beim Fußball kein Spieler mehr im eigentlichen Sinne. Denn das Spiel ist für ihn zur Arbeit geworden. Er verdient damit seinen Lebensunterhalt, womit dem Spiel eine Absicht unterliegt, die außerhalb des Spiels selbst anzusiedeln ist. Betrachtet man den heutigen Sport und dessen Kommerzialisierung, würde man bei diesem Punkt mit Lazarus übereinstimmen. Für die Profispieler sowie für manche Zuschauer ist der Fußball eben kein Spiel mehr, sondern das Fußballspiel verwirklicht sich, einzig und allein im Sinne der Olympischen Spiele – mit Lämmer gesprochen – im agon!85 Fasst man die von Lazarus beschriebenen Gegensätzlichkeiten von Spiel und Arbeit zusammen und versucht die unterschiedlichen Assoziationen den jeweiligen Begriffen zuzuordnen, erhält man folgende Gegenüberstellung von Spiel und Arbeit.86 Insgesamt bildet die Grenzziehung zwischen Spiel und Arbeit nach Lazarus die Basis, um das Wesen des Spiels bestimmen zu können. Spiel und Arbeit können demnach nicht ineinander übergehen, sondern das Spiel kann lediglich Attribute annehmen, die eigentlich der Arbeit zugeschrieben werden, und umgekehrt. Unklar bleibt hier allerdings, bei welchen Merkmalen dies möglich ist und bei welchen nicht. Denn wenn man der Argumentation von Lazarus folgt, darf etwa beim Spiel die Zweckfreiheit oder der Gegenwartsbezug nicht ins Gegenteil umgekehrt werden, im Gegensatz zur Leichtigkeit respektive Anstrengung. Dies wirft die Frage nach der Klassifikation der Attribute und ihrer Hierarchie auf, die Lazarus allerdings unbeantwortet lässt.
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Ob der Begriff agon Teil des Spiels ist oder nicht ist ein bist heute nicht aufgearbeitete Diskussion, die sich vor allem an den antik-griechisch Olympischen Spielen entzündet. Obwohl der griechische Begriff agon Wettbewerb beinhaltet und somit als Spiel-Nutzungsmotiv betrachtet werden kann, dass Erfolg und Herausforderung impliziert und somit als Einteilungskategorie von Spielen genutzt werden kann (vgl. Caillois 1960:21) stellt sich die Frage, ob die Griechen im agon tatsächlich ein Spielprinzip sahen, zielt agon nach Lämmer doch auf Krieg, sodass dem agon eine bestimmte außerhalb in sich liegende ernste Absicht unterstellt werden kann (vgl. Lämmer 1996: 37; siehe Kapitel 2.1.1.1, siehe auch S. 20). Diese Gegenüberstellung ist für die spätere empirische Erhebung, konkret für das semantische Differential von besonderem Interesse, da hier Zuordnungen von Lazarus gemacht werden, die als Attributspolaritäten zu den Begriffen angesehen werden können (vgl. zu den Ergebnissen Kapitel 4.3.3)
2. Sozialhistorische Analyse – Das Spiel und seine konzeptionellen Gegenbegriffe
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Spiel Erholung leicht Spaß/ Scherz Zweck in sich selbst Schein Gegenwartsbezug Genuss/Lust Muße
Arbeit Anstrengung schwer Ernst Zweck außerhalb Wirklichkeit Zukunftsbezug Beruf Kraftaufwand
Abbildung 1: Spiel versus Arbeit nach Lazarus Quelle: Eigene Darstellung nach Lazarus o.J.: 14ff.
Sprachwissenschaftliche Analyse Möchte man das Spiel auf sprachwissenschaftlicher Perspektive eruieren, so stellen sich sensu Lazarus zunächst zwei Probleme. Erstens weist der Autor auf die Schwierigkeit der mannigfaltigen Assoziationsfelder von Spiel hin, wie sie im vorherigen Abschnitt deutlich geworden ist. Versucht man stattdessen, den Phänomenen nachzugehen, die als Spiel bezeichnet werden, dann stellt sich zweitens das Problem, dass die Extension des jeweiligen Sprachgebrauchs für diesen Ausdruck sowohl »treffend und deckend« als auch »ungenügend sein« kann (Lazarus o.J.: 10). Letzteres zeigt sich etwa, wenn etwas als Spiel bezeichnet wird, das es nicht ist, oder aber wenn etwas, obwohl es vom Inhalt her als Spiel benannt werden müsste, doch nicht so heißt. Dabei ist es laut Lazarus – und dies deckt sich mit den bisherigen Ergebnissen dieser Arbeit – »Aufgabe der Wissenschaft, dem unbewußt geschaffenen Sprachgebrauch nachzugehen, seinen Sinn zu erforschen aber auch zu berichtigen« (ebd.). Da die Redeweise in unterschiedlichen Sprachen different ist, nimmt die Analyse von Lazarus an dieser Stelle ihren Ausgangspunkt. So geht Lazarus der ursprünglichen Bedeutung von Spiel im Deutschen, Griechischen, Lateinischen, Hebräischen und Indischen nach,87 wobei das Deutsche seiner Auffassung nach den »weitesten und umfassendsten und dennoch zugleich den tiefsten Begriff des Spiels« hat (Lazarus o.J.: 18). Um dies zu verdeutlichen, nennt er eine Vielzahl von Tätigkeiten, Übungen, Vorgängen: Vom Karten legen (Patience) bis zum Karten spielen (Skat), vom Musizieren bis zum Schauspielen, vom Billard- bis zum Schachspiel usw. Dass er den deutschen 87
Diese Analysen ähneln stark denen von Huizinga (vgl. Huizinga 1997: 37ff.).
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Spielbegriff im internationalen Sprachenvergleich für sehr viel reichhaltiger bestimmt, »liegt in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes, also in der sprachlichen Apperception des Gedankeninhalts« (Lazarus o.J.: 19). Als Beispiel führt er an, dass die Griechen ihre Vorstellung von Spiel mit dem Verb , übersetzt »Kinderei treiben« bezeichnen, die Hebräer demgegenüber das Wort szachak auf das »scherzen, lachen« beschränken, die Römer mit dem Terminus ludere, »sich freuen« auch das Wort Spiel (ludus) benennen; das altdeutsche Wort spilan bedeutet dagegen eine »leicht schwankende Bewegung« (ebd.; vgl. auch S. 47ff.). Obwohl der kritische Leser hier anführen könnte, dass auch in den anderen Sprachen die semantische Bedeutung von Spiel als sehr reichhaltig aufgefasst werden kann, erklärt Lazarus das deutsche Wort Spiel als von allen anderen abhebend und besonders, und zwar aufgrund seiner offenen Struktur. Seine Argumentation sieht dabei wie folgt aus: Er erklärt, dass Termini immer eine Art ›innere Sprachform‹ besäßen, nach der sie gedeutet werden. Diese habe eine bestimmte Wirkung auf den Umfang sowie auch auf den Inhalt des Begriffes, also auf das, was darunter bezeichnet werden kann und was nicht. Auf dieser Ebene zeigt sich für Lazarus das Besondere der deutschen Sprache bezüglich des Spielbegriffs: Der Grieche bezeichnet mit Spiel ›Kindereien‹. Er kann demzufolge weder die musikalische, virtuose Spielkunst noch das dramatische Schauspiel unter diesem Ausdruck fassen. Mit dem Ausdruck ›Kinderei‹ ist zudem ein bestimmter Impetus verbunden, der das Spiel in die Sphäre von Albernheit und Unsinn rückt. Darüber hinaus verweist das griechische Wort auf eine bestimmte Personengruppe – Kinder –, sodass zur Ausübung dieser Tätigkeit lediglich Kinder infrage kommen. In der hebräischen Sprache kann »Scherz und Lachen« ebenfalls nicht mit musischer Kunst einhergehen; auch wird damit nicht die Tätigkeit bezeichnet, sondern deren Ergebnis. Dies gilt ebenso für die lateinische und die ihr in diesem Fall sehr nahe französische Sprache (jouer = jocare). Nur die deutsche Sprache bezeichnet laut Lazarus »mit dem Namen die Sache: spielen heißt eine leichte, schwankende, ziellos schwebende Thätigkeit« (Lazarus o.J.: 20). Hier ist allerdings kritisch anzumerken, dass das Zeichen nicht unbedingt auf eine Sache, sondern auch auf ein ›Bezeichnetes‹ verweisen kann. Trotzdem ist kritisch zu würdigen, das Lazarus die dynamische Struktur des Spiels entdeckte: ein im labilen Gleichgewicht befindliches Hin- und Herbewegen, welches in unterschiedlichen Formen auftreten kann (vgl. Scheuerl 1991: 53). Welche Phänomene nun aber als Spiel bezeichnet werden können, wird von Lazarus nicht, auch nicht exemplarisch beantwortet. Ist das von ihm angeführte Schach- oder Skatspiel nun eine »leichte, schwankende, ziellos schwebende Thätigkeit«? Ob-
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2. Sozialhistorische Analyse – Das Spiel und seine konzeptionellen Gegenbegriffe
wohl die Entdeckung88 der dynamischen Struktur des Spiels durch Lazarus nicht geschmäht werden soll, bleibt doch sein Spielbegriff nicht wirklich fass- oder definierbar. Literatur zum Spielbegriff (1857-1875) Um das wissenschaftliche Interesse und die seitens der Wissenschaft zugeschriebene Bedeutsamkeit des Spiels zu seiner Zeit aufzuzeigen, untersucht Lazarus zudem die veröffentlichte einschlägige Literatur in Deutschland aus den Jahren von 1857 bis 1875 (vgl. Lazarus o.J.: 5). Um ferner einen Maßstab für die publizistische Bedeutung des Spiels im Vergleich zu anderen wissenschaftlichen Themengebieten zu erhalten, stellt Lazarus dem Spiel das im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts durchaus virulente Thema der »Diätetik« gegenüber.89 Die Heranziehung dieses Begriffs begründet er damit, dass das Gebiet dieses Terminus, nämlich die Gesundheit, von allen »geschätzt«, seine »Wichtigkeit von jedermann anerkannt« und die Fruchtbarkeit des Schrifttums »von jedem erwartet« werde, und zudem sei die Literatur eine »sehr reiche« (Lazarus o.J: 3). In Bezug auf die von Lazarus gezählten Werke über Spiele ist darauf hinzuweisen, dass er bestimmte Themen ausschloss und zwar die Jugendspiele, Spiele im Sinne Fröbels90 sowie Rätselbücher und Schriften über die Tanzkunst. Allerdings ist hierbei wissenschaftlich unpräzise, dass der Ausschluss gerade dieser Spielthemen von ihm unbegründet bleibt. Vergleicht man nun die publizierten Werke zum Spiel und zur Diätetik, so zählt Lazarus in den Jahren 1857 bis 1861 zum erst genannten Begriff 86 und zum zweiten 68; 1862 bis 1865 betragen nach Lazarus die Publikationen zum Spiel über 77 und die diätetischen Titel 48.; die Jahre 1871 bis 1875 lieferten dem Spiel 63 Schriften und der Diätetik abermals 48. Nur in den Jahren 18661870 kehrt sich das Verhältnis um, werden mehr Schriften zum Diätetik- als zum Spielbegriff publiziert. So betrug die Anzahl der Spielliteratur in diesen Jahren
88 89
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Obwohl dieses phänomenlogisch bedeutsame Charakteristikum, wie eben dargestellt, bereits von Lazarus entdeckt, analysiert und anschaulich beschrieben wurde, geriet es in Vergessenheit, bis es der Niederländer Buytendijk wieder entdeckte (vgl. Scheuerl 1991: 53). Das griechische Wort Diätetik bezeichnet die Lehre von der Diät bzw. Ernährungstherapie, die sich mit der »Behandlung von ernährungsbedingten Krankheiten sowie Erkrankungen« befasst, »die auf einer Störung der Aufnahme, des Abbaus oder der Ausscheidung bestimmter Nahrungsbestandteile oder ihrer Folgeprodukte beruhen (z.B. Diabetes, Phenylketonurie)« (vgl. Bibliographisches Institut & F.A. Brockhaus AG 2001, Band 6: 144). Dies sind vor allem pädagogische Spiele im Kontext erzieherischer Methoden (vgl. S. 96).
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62, hingegen die der Diätetik 118.91 In Summa beträgt die Anzahl der gezählten 18 Jahre Spiel- und Diätetikliteratur 288 zu 282. So ergibt sich folgendes Verhältnis von Spielliteratur zu Literatur zur Diätetik für die Jahre 1857 bis 1875 (vgl. Abbildung 2). 140 118
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Anzahl
100 80
86 77 68
60
62 48
Spiel
63 48
Diätetik
40 20 0 1857-1861
1862-1865
1866-1870
1871-1875
Abbildung 2: Veröffentliche Literatur zum Spiel im Vergleich zur Diätetik von 1857-1875 nach Lazarus in absoluten Zahlen Quelle: Eigene Darstellung nach Lazarus o.J.: 5.
Mit dieser Häufigkeitsauszählung wollte Lazarus die damalige wissenschaftliche Bedeutung des Spiels veranschaulichen. Um die wichtige gesellschaftliche Rolle des Spiels weiter zu untermauern, führt Lazarus sodann weitere historischliterarische Aspekte an, z.B. dass vor allem im ersten Jahrhundert nachErfindung des Buchdrucks eine umfangreiche Literatur über Spiele entstand, wobei er insbesondere das Schachspiel hervorhebt. Mit dem Hinweis, dass die Bibliothek des Holländers Linde allein über 1.200 Werke zum Schachspiel enthält, überlässt es Lazarus dem Leser, »aus diesen bibliographischen Tatsachen die Schlüsse über die Bedeutung zu ziehen, welche die Spiele auch im Bereiche der Literatur gewonnen haben« (Lazarus o.J.: 6). Nun wäre es methodisch durchaus interessant, ebenfalls eine Auszählung vorzunehmen, die die Bedeutung des Spiels in der gegenwärtigen wissenschaftlichen Literatur offenbart. Allerdings gestaltet sich ein solches Vorgehen aufgrund vielfältiger methodischer Probleme als äußerst schwierig. Zu diesen Schwierigkeiten gehört etwa auch das Finden eines äquivalenten Vergleichs-
91
Lazarus erklärt sich dieses Phänomen damit, dass »in diesen Jahren sowohl die Impffrage einen polemischen, wie der Vegetarianismus einen propagandistischen Charakter annimmt, zugleich aber die Fälschung der Nahrungsmittel, die Wiederkehr der Cholera, das Auftauchen der Trichinen die besondere Energie der wissenschaftlichen Forschung herausfordern« (Lazarus o.J.: 5).
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2. Sozialhistorische Analyse – Das Spiel und seine konzeptionellen Gegenbegriffe
begriffs zum Terminus Diätetik. Der Ausdruck »Diätetik« nämlich – so das Ergebnis der Literaturrecherche – taucht im wissenschaftlichen Kontext nur noch selten auf. Da sich die Bedeutungsinhalte des damaligen Diätetikbegriffs anscheinend in unterschiedliche Termini, wie etwa Ernährungslehre, verschoben haben, wäre es methodisch fraglich, heute Diätetik als Maßstab zu verwenden. Was Lazarus unter »Diätetik« fasste, ist mittlerweile nicht nur in das thematische Spektrum der seit den 1980er-Jahren aufgekommenen Gesundheitswissenschaften ›abgewandert‹, zum Beispiel in die Epidemiologie. Auch hat sich die Verschlagwortung in entsprechenden Verzeichnissen so stark differenziert, dass ein eigenes Projekt erforderlich wäre, wollte man die Recherche von Lazarus heute adäquat replizieren. Auch ließe sich nicht ohne erheblichen wissenschaftlichen Vorlauf ein heute breit diskutiertes Thema – beispielsweise aus dem Themenkreis des Umweltschutzes – bestimmen, das dem Thema »Spiel« gegenübergestellt werden könnte. Zudem ist als methodisches Problem der enorme Anstieg der veröffentlichten Spielliteratur der letzen Jahrzehnte zu nennen, der von unterschiedlichen Faktoren abhängig ist, wie etwa von der erheblich gestiegenen Freizeit. So lässt sich hier abschließend konstatieren, dass durch die veränderten Rahmenbedingungen es heute nicht mehr möglich ist, die von Lazarus gewählte ›schlichte‹ methodische Art und Weise einer quantitativen Auszählung über die veröffentlichte Spielliteratur anzuwenden, um die heutige Bedeutung des Spiels als Thema in der Wissenschaft mit der damaligen zu vergleichen.
2.4.3.3 Interdisziplinäre Spielsynopse (Groos) Abschließen soll dieses Kapitel mit den Arbeiten von Karl Groos (1861-1946). Der Philosoph und Psychologe Groos verfasste mit seinen zwei Hauptwerken »Die Spiele der Tiere« (1891) und »Die Spiele der Menschen (1899) für die damalige Fachliteratur sehr umfassende spieltheoretische Überlegungen. Hier im Akkumulieren und Systematisieren der Erkenntnisse über das Spiel aus den verschiedenen Wissenschaften bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, liegt auch sein vornehmliches Verdienst. Das Ergebnis bündelt sich in einer Theorie des Spiels, die sechs Wissenschaftsdisziplinen umfasst: die physiologische, biologische, psychologische, ästhetische, soziologische und pädagogische Fachrichtung. Dadurch kann ein interdisziplinärer Überblick über Merkmale und Funktionserklärungen des Spiels zu jener Zeit gewonnen werden, die – wie die folgenden Ausführungen zeigen werden – teilweise auch noch heute Bestand haben.
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Physiologische Perspektive Im Kontext des von ihm so bezeichneten physiologischen Standpunkts stößt Groos bei seiner Arbeit binnen kurzem auf Erklärungslücken bestimmter Einzelhypothesen, etwa bei der Erholungs- und der von Spencer vertretenden Kraftüberschusstheorie. Seinen Analysen zufolge kann weder der eine noch der andere Ansatz das Phänomen explizieren, warum Kinder wie auch Erwachsene bisweilen bis zur Erschöpfung spielen.92 Um diesen Umstand zu erläutern, führt Groos zusätzlich zu den Gründen der Erholung und der Kraftentladung den von Baldwin (1894/1895) übernommenen Begriff der »zirkulären Reaktion« (»circular reaction«) ein. Damit ist das Bedürfnis gemeint, abgeschlossene Tätigkeiten stets von neuem, als Moment der Selbstnachahmung, zu wiederholen. Oerter wird später diese Wiederholung als wesentliches Spielmerkmal bezeichnen (Oerter 1993: 14ff.). Auch für das FlowErlebnis nach Csikszentmihalyi spielt die Wiederholung eine wesentliche Rolle, wobei sich der Flow-Zustand vor allem im Spiel in seiner ›reinsten‹ Form untersuchen lässt (vgl. Csikszentmihalyi 1985: 16; vgl. auch S. 158ff.). Neben Erholung, Kraftentladung und Wiederholung spricht Groos als weiterem Spielmerkmal vom rauschartigen Zustand, in den der Mensch durch Spielen versetzt wird »und der uns mit unwiderstehlicher Gewalt wie im Schwindel mit fortreisst, bis der letzte Rest Kraft verbraucht ist« (Groos 1973: 477). Auch der Aspekt des Rausches im Spiel wurde im Kontext der bisherigen Ausführungen immer wieder mit angesprochen, vor allem, wenn pädagogische Bemühungen in den Blick genommen wurden, das Spiel zu kontrollieren. Hintergrund der pädagogischen Sichtweise über die Wichtigkeit der Kontrolle im Spiel bildet die Befürchtung eines übermäßigen Spielkonsums, der mit negativen Folgen assoziiert wird. In diesem Sinn ›schwingt‹ der Rauschbegriff auch immer mit, wenn es um Spielsucht geht. »Obwohl Rausch als situatives, zeitlich begrenztes Phänomen vom Krankheitsbild Sucht zu unterscheiden ist, wird der Rausch häufig mit Missbrauch und Sucht in Verbindung gebracht. Das Rausch-
92
Dabei sah Groos die Kraftüberschuss- und die Erholungstheorie nicht als prinzipiell gegensätzlich voneinander an, sondern zeigte auf, dass sich beide auch ergänzen können: So kann es sein dass »es dieselbe Tätigkeit ist, die nach der einen Seite als ›Vergeudung‹ überschüssiger, nach der anderen als Ersatz verlorener Kräfte erscheint« (1973: 471). Zur Veranschaulichung, dass sich beide Theorien nicht ausschließen, zieht Groos das Beispiel eines Gelehrten heran, der abends zum Kegeln geht, nachdem er zuvor den ganzen Tag am Schreibtisch gesessen hat. Durch das Kegelspiel kann er einerseits seine »angespannten geistigen Kräfte ausspannen und erholen, zugleich aber während der Arbeit am Schreibtisch ausgeruhten und angesammelten Bewegungstriebe zur Entladung bringen« (ebd).
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2. Sozialhistorische Analyse – Das Spiel und seine konzeptionellen Gegenbegriffe
erleben kann zu einem Wiederholungszwang und schließlich zu einer Sucht führen« (Ganguin/Niekrenz 2010: 10). Wiederholung und Rausch sind folglich Aspekte, die sich im Spiel miteinander verbinden. Das Thema »Spielsucht« wurde dabei in den vergangenen Jahrhunderten dominierend mit dem Glücksspiel in Verbindung gebracht, das es zu bekämpfen galt. Auch in gegenwärtigen Diskussionen wird Spielsucht häufig im Kontext eines übermäßigen, unkontrollierten (Computer-)spielverhaltens diskutiert). Folglich wird das Konstrukt Rausch ebenso wie Sucht häufig als abweichendes Verhalten kategorisiert, dem etwas gesellschaftlich Unproduktives, moralisch nicht Akzeptierbares und auch körperlich und geistiges Vergiftendes anhaftet. Darüber hinaus spricht Caillois von ilinx als vierter Kategorie zur Einteilung von Spielen. Diese Rubrik umfasst diejenigen Spiele, »die auf dem Begehren nach Rausch beruhen und deren Reiz darin besteht, für einen Augenblick die Stabilität der Wahrnehmung zu stören und dem klaren Bewußstein eine Art wollüstiger Panik einzuflößen« (Caillois 1960: 32). Der Ausdruck ilinx bezeichnet im Griechischen einen Wasserstrudel. Der Strudel als eine Form der Verbildlichung von Rausch, ist ein Moment, das um seiner selbst Willen gesucht wird. Räusche im Spiel können unterschiedlicher Art sein. Caillois nennt exemplarisch durch physische Ursachen ausgelöste Räusche wie etwa Karussell fahren.93 Erholung, Kraftentladung, Kreisreaktion und rauschartiger Zustand bilden also nach Groos die vier Erklärungsaspekte auf der physiologischen Ebene. Biologische Perspektive Im Kontext einer biologischen Spielbetrachtung zieht Groos die Trieb- und Instinktlehre heran. Zentrale Triebe nach Groos sind etwa der allgemeine »Thätigkeitstrieb«, die »Freude am Ursache-sein« sowie der »Beschäftigungsdrang« (vgl. Groos 1973: 479ff.).94 Hier lassen sich die Überlegungen finden, die auf einen vererbten Spieltrieb rekurrieren, wie später von Hall (1904) angenommen, bei dem das Spiel als eine verkürzte Rekapitulation, also Wiederholung der stammesgeschichtlichen Entwicklung (Phylogenese) des Menschen gedeutet wird.
93 94
Zum Rausch beim Karussell fahren siehe ausführlich den Artikel »›Thrillslider‹. Rutschen, Rausch und Rituale auf Spielplätzen, Festplätzen und in Aqua-Parks « von Sacha-Roger Szabo in »Jugend und Rausch« (2010). Das Konzept, das Groos mit »Freude am Ursache-sein« beschreibt, wird später von Deci und Ryan in ihrer Selbstbestimmungstheorie wieder aufgegriffen. Das Bedürfnis nach dem Erleben von Kompetenz bzw. der eigenen Wirksamkeit ist für Deci und Ryan ausschlaggend für das Auftreten intrinsischer Motivation (Deci/Ryan 1993). Dies erklärt auch den Umstand, warum Spiele in späteren Darstellungen häufig als Paradebeispiel intrinsischer Motivation angeführt werden können (vgl. ebd. 159ff.).
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Dabei waren die Gedanken Halls von der Evolutionstheorie Darwins beeinflusst und auch Groos bezieht sich bei seiner Untersuchung der biologischen Spieldimension auf den britischen Naturforscher. Die Leistungen des Spiels sieht Groos »erstens in einer Ergänzung der unfertigen Anlagen zu einer völligen Gleichwerthigkeit mit fertigen Instinkten und zweitens in einer darüber weit hinausgehenden Höherentwicklung des Ererbten zu einer Anpassungsfähigkeit und Vielgestaltigkeit, die gerade bei vollkommen vererbten Anlagen unmöglich wäre« (Groos 1973: 485). Diese Sichtweise von Groos auf das Spiel erklärt den Begriff der »Einübungstheorie«, der mit ihm in Verbindung gebracht wird. Den Hintergrund der Einübungstheorie bildet sein Versuch, von der biologischen Ebene ausgehend die unterschiedlichen Dimensionen zu einer Theorie zu bündeln, wie Groos in seinem 23 Jahre später gehaltenen Vortrag »Der Lebenswert des Spiels« (1922) bekundet. In diesem Sinn erklärt er »den biologischen Zweck zur Ursache des Spiels, den ›Lebenswert‹ zum treibenden Motor. Der Übungs-Gedanke tritt wieder in den Vordergrund und erhält systematische Fassung« (Scheuerl 1991: 54, Herv. i.O.). Dem Spiel wird die Funktion zugesprochen, in der »Lehrzeit« bzw. in der »Entwicklungs- und Wachstumsperiode« Fähigkeiten, die für das wirkliche Leben benötigt werden, einzustudieren. Dahinter steckt die Auffassung, dass die »höchsten Arten (…) nicht fertig gerüstet ins Leben« treten, sodass sie ihr »Dasein noch nicht selbständig fristen können« (Groos 1922: 3). Je höher die Anforderungen, desto länger dauert die Ausbildungszeit der benötigten Kenntnisse und Fertigkeiten der jeweiligen Spezies. Man könnte diese Überlegungen als Antizipation der Gehlenschen Anthropologie verstehen. Der Mensch wird als unfertiges »Mängelwesen« geboren und durch Fremd- sowie Selbstsozialisation ausgebildet. Spiele können die Funktion übernehmen, Anpassungs- und Ausbildungsprozesse zu leisten. »Das ist die erste und ursprünglichste Form, in der uns der gewaltige Lebenswert des Spielens entgegentritt: das Spiel als Einübung, als Selbstausbildung des heranwachsenden höheren Lebewesens« (Groos 1922: 4). Psychologische Perspektive Die psychologische Perspektive verortet Groos in zwei Kennzeichen: Erstens auf den »selbstständige[n- S.G.] Lustcharakter«, welcher aus der Befriedigung angeborener Triebe resultiert (sensorische, motorische und intellektuelle Dispositionen) (Groos 1973: 493). Folglich geht das Spiel mit positiven Emotionen, mit Vergnügen und Lust einher. Das angenehme Gefühl im Spiel unterstützt und unterstreicht den Wunsch nach Handlungswiederholung als physiologisches Merkmal, das wiederum zum Rauschzustand beiträgt.
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2. Sozialhistorische Analyse – Das Spiel und seine konzeptionellen Gegenbegriffe
Zweitens benennt Groos das »thatsächliche Losgelöstsein von realem Zweckleben« (Groos 1973: 493). Kurz zusammengefasst, drückt er dieses Beziehungsgefügte mit dem »so häufig angewendeten Satze« aus, »dass sich das Spiel psychologisch als eine Thätigkeit darstelle, die rein um ihrer selbst willen genossen werde« (Groos 1973: 493). Das Spiel wird folglich bei Groos als zweckfrei bestimmt und somit aus der Wirklichkeit, der Ernsthaftigkeit realer Zwecke ausgeklammert. Die Betonung der Zweckfreiheit als wesentliches Spielmerkmal wird auch in der aktuellen Spielforschung beibehalten. Mit Rekurs auf Kant, Schiller, Hegel, Lazarus und Spencer erklärt etwa auch Scheuerl, dass das Spiel »keinen ausserhalb seiner selbst liegenden Zweck« verfolgt (Scheuerl 1979: 69; Herv. i.O.). Oerter propagiert das Spiel als eine besondere Form von Handlung, die sich ebenfalls durch ihre Zweckfreiheit auszeichnet (Oerter 1993: 5f.) und gleichlautend hebt auch Parmentier die Zweckfreiheit des Spiels hervor, die sich von den notwendigen Tätigkeiten der Arbeit und des Alltags abgrenze (vgl. Parmentier 2004: 930). Dies sind nur einige wenige Beispiele zitierter Autoren, die die Zweckfreiheit als wesentliches Spielmerkmal hervorheben. Die Liste ließe sich aber weiterführen. Dabei wird deutlich, dass die angenommene Zweckfreiheit der zentrale Grund zu sein scheint, warum sich das Spiel vom Ernst und der Arbeit unterscheidet. Daher ist es notwendig, später auf diesen Aspekt noch näher einzugehen (vgl. S. 148ff.). Ästhetische Perspektive Bei der Betrachtung des Spiels unter ästhetischen Gesichtspunkten ist Groos von einem »engen Connex zwischen Spiel und Äesthetik« überzeugt (Groos 1973: 503). In diesem Sinn erklärt er die Kunst wie auch das Spiel als experimentierendes Handeln. Kunst und Spiel werden bei Groos mit Rekurs auf Konrad Lange mit Genuss, mit bewusster Selbsttäuschung in Verbindung gebracht. Künstlerische und spielerische Tätigkeiten tragen zur Erhaltung und Verbesserung der Gattung des Menschen bei. Allerdings gebe es zwischen Spiel und künstlerischer Produktion auch Differenzen, so Groos. Erstens bestehe ein Unterschied darin, dass beim Künstler »die Ausübung seiner Fertigkeit in der Regel zum Lebensentwurf wird« (ebd.: 508), also einen Teil seiner Lebensplanung einnimmt, die mit Arbeit bzw. mit Beruf einhergeht. Die Arbeit allerdings wird von Groos als eine andere Erlebnissphäre als das Spiel gedeutet. Das Spiel findet bei Groos erst nach getaner Arbeit statt (vgl. Groos 1922: 16). Somit wird auch von Groos die Trennung zwischen Spiel und Arbeit strikt beibehalten, basierend auf der grundlegenden Unterscheidung zwischen Spiel und Ernst bzw. der Charakterisierung des Spiels als zweckfrei. Obwohl
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eine Verbindung zwischen Spiel und Kunst nach Groos besteht, ist folglich ein Künstler, der sich mit seinen Werken seinen Lebensunterhalt verdient, kein Spielender. Zweitens setzt die Kunst nach Groos einen »grossen Apparat von technischen Fertigkeiten« voraus, deren »Erwerbung und Verwerthung nicht um ihrer selbst willen genossen wird« (Groos 1873: 509). Allerdings wird die Spielausübung um ihrer selbst willen als zentrales psychologisches Element von Groos bestimmt. Die benötigten künstlerischen Fähigkeiten allerdings werden laut Groos bewusst, mit einer bestimmten Absicht erlernt. Ihre Aneignung unterliegt einer zweckgebundenen Intention. Kunst kann daher nach der Argumentation von Groos nicht reines Spiel sein. Drittens geht Groos von dem Postulat aus, dass sich der Künstler durch sein Schaffen eine »Einwirkung auf andere« (ebd.) erhofft. Damit verfolgt der Kunstschaffende Aspirationen auf Anerkennung, Ruhm oder sogar Macht – Bestrebungen, die Groos nicht mit dem Spiel verbindet. Kann aber nicht auch der Sieger im Spiel sich der Anerkennung anderer sicher sein und dieses Gefühl des Erfolgs die Spielmotivation mitbegründen? Es ist wieder einmal die postulierte Zweckfreiheit, die hier dem Spiel unterstellt wird und den Autor jegliche Spielkonsequenzen, die auch positiver Natur sein können, ausschließen lässt. Betrachtet man dagegen jüngere Spieldeutungen in Verbindung mit ästhetischen Motiven, so wird das Spiel etwa aus postmoderner Sicht zu einer zentralen Kategorie der Ästhetik, die mit Leichtigkeit und einer Neigung zum Subversiven einhergeht. Die nach Gerhard Schulze postulierte Erlebnisgesellschaft geht noch einen Schritt weiter, wenn sie das Ziel der Ästhetisierung des Alltäglichen und Notwendigen anstrebt und dadurch Spiele gewöhnlich werden lässt (vgl. Schulze 1992: 100). Dies habe zur Folge so Schulze, dass die Trennung bzw. Unterscheidung zwischen Spiel und Arbeit bzw. zwischen Spiel und dem gewöhnlichen Leben für die Mitglieder der Erlebnisgesellschaft obsolet wird; sie trifft nicht mehr zu (ebd.; siehe auch Rötzer 1995: 176). Allerdings konnte eine solche Sichtweise, die sich gegen traditionelle Spieldeutungen abschirmt, auch nur im Zeitalter des Computers gedacht werden, der das Spiel durch technische Innovation scheinbar den Gesetzen der Physik entrückt. Soziologische Perspektive Unter einer soziologischen Perspektive führt Groos aus, dass das Spiel nicht nur in der Kindheit eine bedeutende Funktion einnimmt, sondern auch in der Lebensphase des Erwachsenen eine wichtige Bedeutung behält. Dass Groos das Spiel auch auf den Erwachsenenstatus bezieht, ist für die vorliegende Fragestellung
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2. Sozialhistorische Analyse – Das Spiel und seine konzeptionellen Gegenbegriffe
von besonderem Interesse, ja sogar, wie die vorherigen Analysen offenbaren, die Ausnahme in der hier dargestellten Literatur. Die dominante Meinung reduziert die Bedeutung des Spiels auf Kindheit. Groos allerdings spricht auch dem Erwachsenenspiel eine notwendige Funktion zu und verweist exemplarisch auf die »unvermeidliche Einseitigkeit der Berufsarbeit«, an der sich erkennen lässt, »dass zur Erzeugung und Erhaltung voller Humanität die körperlichen und die seelischen Uebungen des Spiels unentbehrlich sind« (Groos 1973: 511). In diesem Kontext verweist Groos vor allem auf diejenigen Spiele, die den sozialen Zusammenhang stärken – ein von ihm als sehr wichtig angesehener Aspekt, damit sich der Erwachsene in einer Gemeinschaft wohl und sicher fühlen kann. Um dies zu erläutern, benennt er zwei soziale Triebe als Grundlagen der Vergesellschaftung des Menschen: das Annäherungs- und das Mitteilungsbedürfnis. »Das Annäherungs- und Mittheilungsbedürfnis wird beim Menschen (…) in der ›socialen Gruppe‹ befriedigt, und die erste sociale Gruppe, in die er freiwillig eintritt, ist die Spielgenossenschaft. Die Spielvereinigung ist die gesellschaftliche Schule des Kindes (…) und sie ist zugleich die Quelle, aus der auch der Erwachsene immer aufs Neue schöpfen muss, damit nicht der ›Socius‹ in ihm verkümmert« (Groos 1973: 512). Durch das Spiel so Groos, bildet sich die Fähigkeit der sozialen Sympathie, bzw. eine »gute Kameradschaft« aus. Mit Baldwin gesprochen, auf den Groos häufig rekurriert, ist das Spiel die »experimental verification of the benefits and pleasures of united action« (Baldwin 1897: 141). Dabei geht Groos von der Annahme aus, dass sich die durch das Spiel gewonnene soziale Erfahrung auch außerhalb der Spielsphäre nachhaltig auswirkt, indem sie sich auf ernste Zwecke des Lebens förderlich überträgt. Er sieht also die Möglichkeit des Transfers von spielerischem Handeln in die Wirklichkeit, die allerdings seiner Ansicht nach vom Subjekt nicht intendiert oder beabsichtigt ist. Zudem zeige der Mensch durch seine Selbstdarstellung im Spielwettbewerb, was er für seine Gemeinschaft leisten kann, wobei der Wettstreit für Groos eine »wesentliche Bedingung für den Fortschritt der Gattung« bildet (Groos 1973: 514). Insofern kommt Groos zu der Vermutung, dass die Erwachsenenspiele »vielleicht sogar zum phylogenetischen Wachstum der sozialen Anlagen unentbehrlich sind« (Groos 1973: 490). Man könnte hier kritisch den Einwand erheben, dass doch durch den Wettbewerb der autotelische Charakter des Spiels relativiert wird, den Groos immer wieder betont. Wettbewerb stellt den Sieg in den Mittelpunkt, eine extrinsische Motivation ist vorherrschend (vgl. Portele 1976: 126). Dies scheint ein wesentlicher Aspekt zu sein, wenn man sich die Frage nach
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Übergängen von Spiel und Arbeit stellt, weshalb an anderer Stelle diese Diskussion wieder aufgegriffen werden soll (vgl. S. 156). Pädagogische Perspektive Unter pädagogischen Gesichtspunkten erklärt Groos, dass das Spiel seit jeher eine maßgebliche Rolle in der Erziehung einnimmt: »Die Thatsache, dass die natürliche Schule des Spiels eine unentbehrliche Ergänzung der pädagogischen Thätigkeit bildet, ist von Alters her von den Erziehern gewürdigt worden« (Groos 1973: 516). Da er das Spiel unter dem Aspekt der Ausbildung körperlicher und geistiger Anlagen betrachtet, liegt es nicht fern, sich auch Gedanken über den pädagogischen Gehalt des Spiels zu machen. So weist er auf zwei Arten hin, wie sich das Spiel mit Erziehung und Schule verbinden lässt. Erstens kann man als Erzieher dem Unterricht einen spielerischen Charakter verleihen, ihn spielerisch gestalten. Obwohl Groos das primäre Ziel der Schule darin sieht, Kindern das Arbeiten zu vermitteln, kann sich seiner Ansicht nach die Arbeit dem Spiel annähern, »wenn ihre realen Zwecke durch die Freude am Arbeiten selbst aus ihrer vorherrschenden Stellung verdrängt werden« (Groos 1973: 518f.). Dies stellt nach Groos die »höchste und edelste Form der Arbeit« dar (Groos 1973: 519f.). Aus diesem Grund erklärt er, dass eine Schule, »in der es niemand versteht, die Schüler über die strenge Pflichterfüllung hinaus zuweilen auch zu jener höchsten Form der Arbeit emporzuführen, so sie sich bei voller Bewahrung des Ernstes doch wieder dem freien Spiele nähert, – eine solche Schule kann ihre Aufgaben nicht vollkommen erfüllen« (Groos 1973: 519). Eine zweite Möglichkeit dafür, das Spiel unter pädagogischen Gesichtspunkten fruchtbar zu machen, sieht Groos darin, es so zu gestalten, dass es den Wert des Unterrichts annimmt, indem es mit pädagogischen Regeln versehen wird. Allerdings sind hierbei bestimmte Aspekte zu berücksichtigen, nämlich (a) die »Anregung zum Spielen im Allgemeinen«, wobei er vor allem die Eltern in der Pflicht sieht, Spielkameraden des Kindes zu sein (Groos 1973: 521). Weiter sollen Erziehungspersonen (b) das Nützliche im Spiel fördern, indem sie zum Beispiel Kindern geeignete Spielsachen geben, die ihre Phantasie anregen, die produktive Tätigkeit fördern und auf das »Illusionsbedürfnis der Kinder Rücksicht nehmen« (Groos 1973: 522). Hier bezieht er sich offenbar auf aufklärerisches Gedankengut, und es lassen sich Parallelen zu den Arbeiten von Jean Paul und Fröbel erkennen. Zudem fordert er (c), die Unterdrückung des »Schädlichen und Unsittlichen« (Groos 1973: 521), worunter er bestimmte Aspekte hervorhebt, die zu beachten sind (vgl. Groos 1973: 524f.).
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So ist seiner Meinung nach Obacht zu geben, dass Kinder nicht übermäßig viel spielen. Begründend verweist er auf die physiologische Perspektive im Kontext des rauschartigen Zustands. Demzufolge ist dem Kind folgendes ethische Gebot zu lehren: »lerne Maass halten!« (Groos 1973: 525). Eine weitere Forderung von Groos, die mit der ersten im Zusammenhang steht, bezieht sich auf das Erlernen der Selbstbeherrschung im Kontext leidenschaftlichen Spielens. Daneben sollte nach Groos alles, »was geeignet ist, das Leben und die Gesundheit zu gefährden, unterdrückt oder doch gemässigt« werden (Groos 1973: 525). Bei diesem pädagogischen Anspruch ist nach Groos allerdings aufseiten der Erzieher darauf zu achten, dass sie nicht in übertriebener Ängstlichkeit Kindern im Spielen Einhalt gebieten, denn sonst kann sich ein gesundes Selbstvertrauen nur schwerlich ausbilden. Daneben geht Groos auf die Gefahr ein, dass sich die angeborenen Kampftriebe im Spiel »in roher oder boshafter Weise äussern« (Groos 1973: 525). Vor allem wenn sich eine Spielgemeinschaft unter der Führung eines »schlechten, tyrannischen, von niederen Trieben erfüllten Anführers« befindet, ist dem Einhalt zu gebieten (ebd.). Den pädagogischen Standpunkt abschließend geht Groos auf das Vermeiden von einseitigen Spieltätigkeiten ein. Damit ist gemeint, dass eine allseitige Ausbildung im Spiel wichtig ist, die nicht auf eine Handlung oder auf einen Aspekt hin, etwa die Phantasiebetätigung, beschränkt ist, damit sich das Individuum zu voller Humanität entwickeln kann. Tabelle 1 bündelt die sechs aufgezeigten disziplinären Wissenschaftsperspektiven und ihre jeweiligen Schwerpunktsetzungen. Wie die folgenden Ausführungen deutlich gemacht haben, ist es insgesamt schwierig, eine klare Abgrenzung den einzelnen Fachdisziplinen vorzunehmen. Unterschiedliche Aspekte der einen Wissenschaft bedingen ein Spielmerkmal, das eine andere Disziplin zu beschreiben hat, und umgekehrt. Insofern wird durch die Synopse unterschiedlicher disziplinärer Perspektiven auf das Spiel erkennbar, dass die bis dahin vorhandenen Spieltheorien immer nur Teilaspekte des Spiels erschließen, aber eine holistische Deutung bzw. Erklärung des Spiels ausbleibt. Aus diesem Forschungsdesiderat heraus versucht Groos 23 Jahre später in seinem Werk »Der Lebenswert des Spiels« (1922), zu einer Gesamtschau zu gelangen. Drei Dimensionen werden hierbei von Groos hervorgehoben: die Ausbildung geistiger und körperlicher Fähigkeiten im Spiel, Spiel als Ergänzung für den Alltag und den Gesichtspunkt der Erholung von den anstrengenden und ernsten Tätigkeiten im Spiel. Abschließend kann gesagt werden, dass Groos vor allem die Bedeutung des Spiels in der Einübung, der Lebensergänzung, der Erholung und sogar der Befreiung im Sinne der Erlösung vom Zwang des Arbeiten-Müssens sieht.
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Tabelle 1: Übersicht über die sechs disziplinären Spielansätze nach Groos Perspektive Physiologische Ebene
Biologische Ebene
Psychologische Ebene
Ästhetische Ebene Soziologische Ebene
Pädagogische Ebene
Spielmerkmal/ Spielerklärungen/Spielfunktionen • Erholung • Kraftentladung • Kreisreaktion • Rausch • Beschäftigungsdrang • Tätigkeitstrieb • Spiel als Einübung notwendiger Fähigkeiten • Selbstständiger Lustcharakter • Freiheit von ernsten Zweckerleben = Spiel wird um seiner selbst Willen ausgeführt • Spiel und Kunst als experimentierendes Handeln • Spiel als Ergänzung für den Alltag Erwachsener • Geistige und körperliche Übung • Gemeinschaft/Kommunikation • Spielwettbewerb • Unterricht spielerischen Charakter verleihen • Spiel mit lernpädagogischen Regeln versehen • Eltern sollen mit dem Kind spielen • Spielmittel, die die Phantasie anregen • Spiel ist zu kontrollieren • Vermeidung von einseitigen Spieltätigkeiten
Quelle: Eigene Darstellung.
2.4.4 Fazit: Spiel vs. Ernst Einerseits erhält das Spiel zu Beginn des 19. Jahrhunderts durch Schiller eine ausgeprägte anthropologische Legitimation. Es wird bestimmt als menschlichste Lebensform: Durch das Spiel enthebt sich der Mensch seiner Triebe einerseits und der rigiden Pflicht der apodiktischen Gesetze andererseits. Dadurch findet der Mensch das ›schöne‹ Leben. An dieser Stelle sind Huizingas spätere Ausführungen schon vorgedacht (wobei sich dieser allerdings nicht auf Schiller beruft), indem das Spiel durch seine Überhöhung zum kulturanthropologischen Leitbild wird (vgl. Eichler 1979: 31). Weiter wird eine positive Sichtweise auf das Spiel von Jean Paul vertreten, der vor allem das Phantasieelement im Spiel hervorhebt und von einer pädagogischen Einflussnahme abrät. Im Gegensatz zu Paul suchte Fröbel im Spiel wieder nützliche Funktionen, indem es zur Übung eingesetzt wird. Dabei wird das Spiel bei Fröbel zum Entwicklungsmedium überhaupt.
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2. Sozialhistorische Analyse – Das Spiel und seine konzeptionellen Gegenbegriffe
Andererseits rücken ab Mitte des 19. Jahrhunderts funktionale Teilaspekte des Spiels, die im 18. Jahrhundert schon angedacht waren, aber noch eher spekulativen Charakter besaßen, ins Zentrum des Interesses. Der Fokus der Wissenschaft richtet sich wieder bewusst auf rational einsehbare, kausal begründete Fakten und monothetische Erklärungsansätze; das Interesse der Einzelwissenschaften, der Fachdisziplinen – von Scheuerl auch »Spezialwissenschaften« genannt – blüht auf (vgl. Scheuerl 1991: 51). Daran sind vor allem die Biologie und die sich zu dieser Zeit erst entwickelnde Psychologie maßgeblich beteiligt. Am Ende des 19. Jahrhunderts schließlich versucht Karl Groos, diese unterschiedlichen Sichtweisen auf das Spiel, konkret die so genannten ›Spezialwissenschaften‹, zu bündeln. Doch trotz der von Groos vorgelegten umfangreichen Sammlung spieltheoretischer Überlegungen kann konstatiert werden, dass das Spiel in vielen Manifestationen der Kultur des 19. Jahrhunderts in den Hintergrund tritt. Ein Aspekt ist hierfür besonders ausschlaggebend: eine nicht hinterfragbare Trennung des Spiels von einem nicht immer präzise gefassten Arbeitsernst. Ernst und Arbeit als Gegenbegriffe zum Spiel manifestieren sich im Versuch, durch sie einer spielphänomenologischen Wesensbestimmung aufgrund von Unterscheidungen in den Erscheinungen näher zu kommen. Dies ist die dominierende Sichtweise auf das Spiel während des 19. Jahrhunderts: das Spiel wird im Gegensatz zu anderen Grunderscheinungen des Lebens gedacht. Dies führt zu der Herangehensweise, das Spiel mittels Negativ-Definitionen bestimmen zu wollen. Konkret lautet die Frage: Was zeichnet das Spiel im Sinne seiner Andersartigkeit zum Arbeitsernst aus? Die Ausführungen von Schaller und Lazarus sind für eine solche Herangehensweise exemplarisch. Die Annahme der normativ begründeten Differenz zwischen Spiel und Arbeit bzw. Ernst hat nicht nur für die Wesensbestimmung von Spiel weit reichende Konsequenzen, sondern zeigt sich auch auf institutioneller Ebene, etwa in der Schule. Hier legitimiert der angenommene Gegensatz des Spiels gegenüber einem Arbeitsernst »die schulische Trennung von ›Spielen‹ und ›Lernen‹ in Industriegesellschaften – mit nicht zu unterschätzenden retardierenden Effekten im Prozeß der Persönlichkeitsentwicklung« (Eichler 1979: 47). Obwohl etwa Fröbel und auch später Groos auf den pädagogischen Mehrwert des Spiels für die Persönlichkeitsentwicklung, für körperliche und geistige Fähigkeiten hinwiesen und aufgrund dessen für die Integration des Spiels in den Unterricht plädierten, blieben diese Überlegungen lange Zeit ungehört. Da die Dominanten des Kulturprozesses im 19. Jahrhundert Arbeit und Produktion hießen und der »unternehmerische Arbeitsbegriff zur Zeit der industriellen Revolution (…) auf dem Glauben an die heiligenden Tugenden der Arbeit, an Mühe, an Askese« basierte
2.5 Das 20. Jahrhundert – Das Zeitalter der Extreme
123
(Lensing 2007: 118), wurde dem Spiel in der Schule, deren primäres Ziel es doch sein sollte, die Kinder an die Arbeit heranzuführen, entsprechend wenig Verständnis entgegengebracht bzw. kaum Beachtung geschenkt. Die Neujustierung alltäglicher Lebensstrukturen zur Zeit der industriellen Revolution95 zeigt sich weiter darin, dass die Kindererziehung sowie die Hausarbeit, da sie der Lokalität des Wohnraumes entsprachen, dem Bereich der Privatheit sowie der Freizeit zugeordnet und als Folge dieser Zuweisung in der gesellschaftlichen Bedeutungszuschreibung entwertet wurden. Somit verschärfen sich die räumliche Trennung von Arbeit und Wohnen bzw. von Arbeit und Freizeit auf der einen und von Privatheit und Öffentlichkeit auf der anderen Seite. »Die neue Form der Privatheit schloss die Arbeit aus und stellte sie damit in einen neuen Bezugsrahmen des gesamten Lebensentwurfs des Subjekts« (Lensing 2007: 124). Groos spricht hier von zwei »Sphären«. Die eine Sphäre ist die Arbeit, die andere das Spiel, das allerdings nur in der Freizeit seinen Ort hat und dies auch nur, so die Bedingung, wenn die Arbeit erledigt ist (vgl. Groos 1922: 16). Die hohe Bedeutung der Arbeit gegenüber der Freizeit führte dazu, dass der Mensch sein Selbstverständnis sowie auch sein soziales Profil mehr und mehr von der spezialisierten Erwerbsarbeit ableitete. Der vormals weite Arbeitsbegriff verengt sich auf Erwerbsarbeit; »Arbeit definierte persönliche Identität« (Kocka 2001: 10). Arbeit als Ideal, das den Ernst des Lebens symbolisiert, führt nach Huizinga dazu, dass der Ernst zu einer typischen Erscheinung den neunzehnten Jahrhunderts avanciert. »Diese Kultur wird in viel geringerem Maße als die der vorangegangenen Perioden ›gespielt‹« (Huizinga 1997: 208f.).
2.5
Das 20. Jahrhundert – Das Zeitalter der Extreme
Im Gegensatz zum »langen« 19. Jahrhundert (1789-1914) wird das Zwanzigste (1914-1989) durch das Attribut »kurz« gekennzeichnet. Laut Habermas (vgl. 1998: 65ff.) ist der Beginn des 20. Jahrhunderts noch von einer großen Ähnlichkeit mit dem des vorangegangen geprägt. Dagegen bedeute der erste Weltkrieg einen Umsturz in der Geschichte, mit dem Untergang der Monarchien in Europa und als
95
»Die Zweite Industrielle Revolution spielte sich in den Jahren zwischen 1860 und 1914 ab. Das Öl trat in Konkurrenz zur Kohle, und man begann, die Elektrizität effektiv zu nutzen. Elektromotoren wurden entwickelt, Städte wurden elektrisch beleuchtet, und der Strom beschleunigte die Kommunikation der Menschen untereinander. Die neuen Energiequellen und die Erfindungen der Zweiten Industriellen Revolution führten dazu, dass der Mensch noch weiter von der Maschine beiseite gedrängt wurde« (Rifkin 2004:81).
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2. Sozialhistorische Analyse – Das Spiel und seine konzeptionellen Gegenbegriffe
Folge dem Aufkommen neuer Gesellschaftsordnungen. Habermas spricht von extremen Wandlungsprozessen, die seitdem stattgefunden haben. Divergierende Ideologien (Faschismus und Kommunismus), die Herausbildung der Sozialstaaten, die Atombombe, die Mondlandung und die Massenmedien sind Entwicklungen, die das kurze 20. Jahrhundert, bis zum Ende des Kalten Krieges, prägten. Eric Hobsbawm (1998), auf den auch der Begriff des »kurzen 20. Jahrhunderts« zurückgeht, tituliert dieses Zeitalter aufgrund seiner radikalen Entwicklungen und Gegensätze auch als »Das Zeitalter der Extreme« (Hobsbawm 1998). Die wissenschaftliche Spielforschung während des 20. Jahrhunderts zeichnet sich stark durch unterschiedliche Erkenntnisziele aus. Zunächst angeregt durch das breit angelegte Werk von Karl Groos, nahmen die interdisziplinären Spieldeutungen und -veröffentlichungen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts stetig zu (vgl. Scheuerl 1991: 74). Freud (1920) sah beispielsweise im Spiel die Bewältigung von psychischenProblemen: Ein unbewusster Wiederholungszwang treibe das Kind dazu, unlustvolle Erfahrungen im Spiel aufzuarbeiten. Dagegen interessierten sich Kinderpsychologen wie etwa Jean Château (1946) für die Frage, wie sich das Kind im Spiel die Erwachsenenwelt aneignet. Die unterschiedlichen Blickwinkel auf das Spiel zeigen sich auch in einer zeitlichen Schwerpunktsetzung: Im Gegensatz zu Groos und Château, die dem kindlichen Spiel vor allem eine auf die Zukunft zielende Einübungsfunktion zusprechen und zu Freud, bei dem das Spiel der Bewältigung des Vergangenen dient, hebt der Vertreter der Würzburger Schule, Karl Bühler (1927), den Gegenwartsaspekt des Spiels hervor. Das Moment der Gegenwärtigkeit begründet Bühler im lustvollen Spiel-Tun des Hier und Jetzt. Insgesamt wuchs die Vielfalt von Spieldeutungen und Publikationen im 20. Jahrhundert also beachtlich an (siehe z.B. Buytendijk 1933; Bally 1945; Sutton-Smith 1978). Aufgrund dieser Vielfalt versuchte Scheuerl, eine Systematisierung der unterschiedlichen Ansätze vorzunehmen. Im zweiten Band seines Werkes »Das Spiel« teilt er die differierenden Forschungsrichtungen des 20. Jahrhunderts, konkret 15 theoretische Beiträge von unterschiedlichen Wissenschaftlern, in drei ›Spielschulen‹ ein. Er nennt erstens »Die Vertiefung psychologischer und sozialwissenschaftlicher Gesichtspunkte«, zweitens »Anthropologische Deutungs- und Ordnungsversuche« und drittens »Pädagogische Bewertungen und Konsequenzen« (vgl. Scheuerl 1991: 4, 74ff.). Für die nun folgenden Ausführungen in diesem Kapitel wurde folgende Struktur gewählt: Erstens ist das Wesen des Spiels von Erkenntnisinteresse. Es gilt, der Frage nachzugehen, welche Merkmale dem Spiel zugeschrieben werden und wie das Spiel zu bestimmen sei. Was ist Spiel?
2.5 Das 20. Jahrhundert – Das Zeitalter der Extreme
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Zweitens wird hier der These nachgegangen, dass das Alter einer Person eine maßgebliche Rolle für die Beurteilung der spielerischen Aktivität spielt. Das Alter nimmt die Gestalt einer »Kernkategorie«96 an, die auch zu einer biografischen Trennung zwischen Spiel und Arbeit geführt hat. »Die Zeit der Kindheit ist die Zeit des Spiels« (Groos 1922: 1). Die Zeit des Erwachsenenalters ist die Zeit der Arbeit. Die Betrachtung von Spiel im Hinblick auf dessen Bedeutungszuschreibung in bestimmten Lebensphasen soll vor allem anhand von entwicklungspsychologischen Ansätzen diskutiert werden. Schließlich wird sich auf das Spiel und seine konzeptionellen Gegenbegriffe konzentriert. Arbeit und Ernst sind hier die Termini, die sich bisher als die dominantesten Antonyme herauskristallisiert haben. Zunächst wird der Ernstbegriff und darauffolgend der Arbeitsbegriff im Kontext von Spiel diskutiert. Zu diesem Thema werden phänomenologische, kulturanthropologische und psychologische Ansätze herangezogen. 2.5.1 Das Spiel als identifizierbarer Gegenstand? »Wie ist denn der Begriff des Spiels abgeschlossen? Was ist noch ein Spiel und was ist keines mehr? Kannst du die Grenzen angeben? Nein. Du kannst welche ziehen: denn es sind noch keine gezogen. (Aber das hat dich noch nie gestört, wenn du das Wort ›Spiel‹ angewendet hast.)« (Wittgenstein 2001: 788, §68).
Wenn wir im heute allgemein üblichen Sprachgebrauch das Wort Spiel benutzen, dann hat ein beliebiges Gegenüber gewiss eine Vorstellung davon, was mit diesem Terminus gemeint ist. Eine Erklärung des Begriffs scheint unnötig. Doch das Wort Spiel besitzt ein weites Assoziationsfeld: Kinderspiele wie Blindekuh, Glücksspiele wie Roulette oder auch solche an Spielautomaten, kreative Handlungsprozesse beim Werken, Gestalten und Basteln, Regelspiele wie Monopoly, Computerspiele etc. Diese Auflistung lässt erahnen, dass der Spielbegriff »offenbar mehr Verschiedenes als Gemeinsames« umfasst (Parmentier 2004: 929). Die
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In den qualitativen Forschungsmethoden bezieht sich der Begriff »Kernkategorie« auf einen Auswertungsschritt beim Selektiven Codieren nach der Grounded Theory (vgl. Strauss/Corbin 1996). Dabei wird eine Kernkategorie (core category) als konzeptuelles Zentrum der entwickelten Theorie ausgewählt. »Kernkategorien sind solche, die übrig bleiben, wenn man diejenigen Kategorien wegstreicht, die für das untersuchte Phänomen nicht wesentlich sind« (Brüsemeister 2000: 215).
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2. Sozialhistorische Analyse – Das Spiel und seine konzeptionellen Gegenbegriffe
Vielfalt der Erscheinungsformen von Spiel führt zu der Schwierigkeit einer terminologischen Eingrenzung. Das Problem der großen Bandbreite an Spielen und der unterschiedlichen Spieldeutungen beschäftigte auch die spieltheoretische Diskussion ab den 1940erJahren. Aus diesem Diskurs heraus wurde das Ziel formuliert, eine Gesamtdeutung von Spiel vorzunehmen. Man setzte dabei auf kulturanthropologische und phänomenologische Erkenntnisse. Das Spiel wird als etwas Gegebenes verstanden. Es wird durch Wesensmerkmale bestimmt und erklärt. Als Vertreter solcher integrativer Gesamtdeutungen werden in diesem Kapitel zunächst Huizinga (1997) und Caillois (1960) vorgestellt. Auf deren Erkenntnissen aufbauend stellt sich dann die Frage, durch welche methodische Herangehensweise man zu einer Bestimmung des Spiels gelangen könnte.
2.5.1.1 Spielkennzeichen nach Huizinga Huizinga gilt unter den Spieltheoretikern einerseits als einer der bedeutendsten Vertreter einer anthropologisch-phänomenologischen Spielbetrachtung. Sein Werk »Homo Ludens« (Originalerscheinungsjahr 1938), in dem er das Spiel als Basiskategorie menschlichen Verhaltens hervorhebt, avancierte zum Standardwerk spieltheoretischer Überlegungen. Auf die Frage, wie Spiel zu bestimmen sei, erklärt Huizinga, dass bei diesem Vorhaben die Frage des »Warum« oder »Wozu« zunächst ausgeklammert werden müsse, da etwa biologische Determiniertheit oder psychologische Deutungen jeweils nur Teilerklärungen böten. Da aber das Spiel »ständig in merkwürdiger Weise abseits von allen übrigen Gedankenformen« (Huizinga 1997: 15, Herv. i.O.) bleibt, beschränkt sich auch Huizinga auf die Beschreibung von Hauptkennzeichen. Allerdings bezieht er diese formalen Merkmale nicht auf das Spiel als eine allgemeine Kategorie (er schließt die Spiele des Säuglings und die der Tiere aus), sondern – seiner Hauptthese vom Zusammenhang von Spiel und Kultur folgend – auf die sozialen Spiele. Insgesamt liegen dem Spiel laut Huizinga drei Merkmale zugrunde: Erstens und vor allem ist Spiel nach Huizinga freies Handeln. Die Spielhandlung ist frei von Zwängen. Spielen beruht auf Freiwilligkeit, befohlenes Spielen ist für Huizinga kein Spiel mehr.97 Spielerische Handlungen werden aus
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Es ist darauf hinzuweisen, dass das Vergnügen am Spiel auch möglicherweise Suchtcharakter annehmen kann. Dann steht nicht mehr das Vergnügen im Vordergrund, sondern eine Abhängigkeit, also Unfreiheit. So gibt es derzeit eine medienpädagogische sowie suchtpräventive öffentliche und wissenschaftliche Diskussion über das Suchtpotenzial von Computerspielen.
2.5 Das 20. Jahrhundert – Das Zeitalter der Extreme
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sich heraus begonnen und in der Regel auch unaufgefordert beendet. Das Spiel obliegt keiner Forderung oder Aufgabe und es »wird in der ›Freizeit‹ gespielt« (Huizinga 1997: 16.). Spiel und Arbeit können folglich bei Huizinga kaum als Einheit gedacht werden. Dadurch, dass Huizinga hier den Freizeitbegriff ins Spiel bringt, schließt er nämlich den Spielbegriff aus der Arbeitssphäre aus. Für ihn wäre also ein professioneller Tennis- oder Fußballspieler kein wirklicher Spieler. Das Spiel nimmt nach Huizinga seinen Platz in der arbeitsfreien Zeit. Implizit steht hier Freizeit gegen Arbeitszeit, Spiel gegen die unfreie Zeit. Diese zeitliche Unterscheidung zwischen Spiel und Arbeit unterstreicht Huizinga mit seinem zweiten Spielmerkmal: Das Spiel ist »nicht das ›gewöhnliche‹ oder das ›eigentliche Leben‹« (ebd.). Wenngleich Spiele eine eigene Wirklichkeit für sich entfalten, differieren sie trotzdem von alltäglichen Lebensvollzügen, so Huizinga. Aus diesem Grund hafte dem Spiel – im Gegensatz zu dem Ernstgemeinten – etwas Minderwertiges und die Assoziation von Spaß an. Den Terminus ›Ernst‹ nutzt Huizinga als Marker zur Gegenüberstellung von Spiel und Nicht-Spiel. Das Spiel wird zur Nicht-Identität mit dem gewöhnlichen Leben, welches nicht spaßig, sondern ernsthaft daherkommt. Das ungewöhnliche Spiel findet gegenüber der von Aufgaben erfüllten Alltäglichkeit der Arbeit in der Erholungszeit statt und liegt dadurch »außerhalb des Bereichs des direkt materiellen Interesses« (Huizinga 1997: 18; Herv. i.O.). Das Spiel ist befreit von »der individuellen Befriedigung von Lebensnotwendigkeiten« (Huizinga 1997: 18; Herv. i.O.). Drittens zeichnet sich das Spiel nach Huizinga durch Abgeschlossenheit und Begrenztheit aus. Dieses Merkmal bezieht sich auf die Absonderung des Spiels nach Zeit und Raum. Der Zeitaspekt wird dadurch markiert, dass das »Spiel beginnt, und in einem bestimmten Augenblick ›aus‹« ist (Huizinga 1997: 18).98 Im Aktivitätsstadium des Spiels geht es um ein Auf und Nieder, um Lösung und Verknüpfung, und es ist – das wird besonders hervorgehoben – immer wiederholbar. Diese Wiederholbarkeit bezieht sich auf einen inneren Spielaufbau. Die räumliche Begrenzung des Spiels bezieht sich auf das Bewegen auf bestimmten ›Spielplätzen‹, wie dem Casino, dem Theater oder dem Fußballplatz. Das Spiel und
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Hier sei an das Werk des Existenzphilosophen Jean-Paul Sartre »Das Spiel ist aus« (1991; i.O.: »Les jeux sont faits«, 1943) erinnert. Allerdings bezeichnet Sartre selbst seinen ersten Film »Das Spiel ist aus« nicht als »existenzialistisch«, sein Werk sei vielmehr »ganz vom Determinismus geprägt«, aber es müsse ihm »schließlich auch einmal erlaubt sein (…) zu spielen« (Sartre 1991: 122). Ferner ist im Kontext von Spiel und Ernst zu erwähnen, dass sich Sartre laut Giesz mit der Frage des Unterschieds »zwischen psychologisch konstatierbarer Ernsthaftigkeit und ›eigentlichem‹ Ernst« auseinandersetzt (Giesz 2003: 105; Herv. i.O.).
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2. Sozialhistorische Analyse – Das Spiel und seine konzeptionellen Gegenbegriffe
seine Orte unterliegen bestimmten Regeln. Regeln sind erforderlich, um den Ablauf des Spiels zu steuern. Insgesamt versteht Huizinga das Spiel als ein geschlossenes System, in dem Ordnung herrscht. Diese Spielinterpretation verbindet der Kulturanthropologe derart mit dem Bereich des Ästhetischen, dass die Schaffung geordneter Formen Schönheitscharakter annimmt. So bedeutet Spiel »Spannung, Gleichgewicht, Auswägen, Ablösung, Kontrast, Variation, Bindung und Lösung, Auflösung« und sei dadurch »erfüllt von Rhythmus und Harmonie« (Huizinga 1997: 19). Trotz Huizingas umfassender Darstellung des Spielphänomens in der Kultur des Menschen ist kritisch anzumerken, dass eine eindeutige, transparente Systematik der von ihm benannten Wesensmerkmale mit den dazugehörigen Unterkategorien fehlt. Die Beschreibungen der Spielkennzeichen wirken zum Teil wie eine willkürliche Aneinanderreihung unterschiedlicher Spielelemente. Er spricht von »Kennzeichen«, »Eigenschaften« und »Elementen«. Die Unterscheidung zwischen diesen Termini wird nicht klar. Zudem wurden hier drei Kennzeichen aufgeführt, die sich an Huizingas Gliederung orientieren. Allerdings hätte man an dieser Stelle auch wesentlich mehr Spielmerkmale aufführen können, wenn man von einer anderen Hierarchieebene der von Huizinga angesprochenen Kennzeichen, Eigenschaften oder Elementen des Spiels ausgegangen wäre. In diesem Sinn kommt beispielsweise Eichler zu fünf Spielmerkmalen nach Huizinga. Er nennt Freiheit, Abgeschlossenheit und Begrenztheit, Spannung, Spielregeln und Geheimnis (vgl. Eichler 1979: 42f.). So scheint es doch der Interpretation des Lesers überlassen, welche Hauptmomente dem Spiel sensu Huizinga gegeben werden können – diese wissenschaftliche Uneindeutigkeit in der Darstellung des Kulturanthropologen ist folglich zu bemängeln.
2.5.1.2 Spielkennzeichen nach Caillois Neben Huizinga hat sich auch der Franzose Roger Caillois (1913-1978) mit dem Spiel und seiner Klassifikation beschäftigt. In seinem Werk »Die Spiele und die Menschen« (1960) geht Caillois ebenfalls einer Definition des Spiels nach und bezieht sich hierbei zunächst auf Huizinga. Dabei kritisiert Caillois an Huizingas Spieldefinition, dass sie Glücksspiele ausschließt, indem er das Spiel als frei von jedem materiellem Interesse kennzeichnet (siehe Huizinga 1997: 18). »Die Glücksspiele, die gleichzeitig Spiele um Geld sind, finden im Werke Huizingas praktisch überhaupt keinen Platz. Ein solches Vorurteil kann natürlich nicht ohne Folgen bleiben« (Caillois 1960: 11). Analog zu Caillois stellt auch Wittgenstein kritisch die Frage: »Jemand sagt mir: ›Zeige den Kindern ein Spiel!‹ Ich lehre
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sie, um Geld zu würfeln, und der Andere sagt mir ›Ich habe nicht so ein Spiel gemeint‹. Mußte ihm da, als er mir den Befehl gab, der Ausschluß des Würfelspiels vorschweben?« (Wittgenstein 1984: 280, §71). An dieser Stelle ist Caillois und Wittgenstein Recht zu geben, denn wenn man das Spiel in seiner vollständigen (kulturellen) Breite betrachtet, gehört doch auch das Glücksspiel eindeutig zu den sozialen Spielen der Erwachsenen in unserer Gesellschaft. Obwohl das Glücksspiel maßgeblich zu der negativen Semantik des Spielbegriffs beigetragen hat – Hazardspiele wurden im Lauf der Geschichte immer wieder als sozialdesorientierende Tätigkeit beschrieben und verboten –, sind sie Teil unserer Geschichte und Kultur. Aber schließlich wagt auch Caillois eine Wesensbestimmung des Spiels und benennt sechs Merkmale. Erstens erklärt er das Spiel als eine freie Betätigung. Es wird nur gespielt, wenn dies ein Bedürfnis ist. Unterliegt der Mensch dem Zwang zum Spiel, dann verliert das Spiel seinen anziehenden, lustvollen Charakter. »Ein Spiel, an dem teilzunehmen, man sich gezwungen sähe, wäre eben kein Spiel mehr« (Caillois 1960: 12). In diesem Spielmerkmal stimmen Huizinga und Caillois folglich überein. Zweitens vollzieht sich das Spiel nach Caillois auch in zeitlich und räumlich festgelegten Grenzen. Dadurch nimmt es das Wesen einer abgetrennten Betätigung ein, die isoliert vom übrigen Dasein verstanden wird (vgl. Caillois 1960: 13). Die Isoliertheit des Spiels von anderen Lebensvollzügen impliziert dabei das von Huizinga beschriebene Spielmerkmal des Ungewöhnlichen. Drittens charakterisiert Caillois das Spiel als eine ungewisse Betätigung. Diese Ungewissheit bezieht Caillois einerseits auf den Spielablauf. Der Verlauf des Spiels bietet Überraschungen, ist nicht im Voraus bekannt, unterliegt der Möglichkeit des Irrtums und bedarf daher einer stets an die Situation angepassten Erneuerung, die im Vorhinein nicht voraussehbar ist. Andererseits ist der Spielausgang ungewiss. Das Ergebnis steht nicht vorab fest, sondern ist offen (vgl. Caillois 1960: 16). Ein viertes und für diese Arbeit sehr bedeutendes Definitionsmerkmal von Spiel sieht Caillois darin, dass das Spiel unproduktiv ist. Zwar kann es das Moment des wirtschaftlichen Interesses beinhalten, aber es schafft kein Produkt von Wert. Es findet lediglich eine Verschiebung von Eigentum statt, aber keine Güterproduktion. »Es ist in der Tat ein Charakteristikum des Spiels, daß es (…) kein Werk hervorbringt. Dadurch unterscheidet es sich von der Arbeit und der Kunst« (Caillois 1960: 12). In diesem Kontext greift Caillois auch das Spiel des Professionellen auf. Exemplarisch könnte man für einen professionellen Spieler
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2. Sozialhistorische Analyse – Das Spiel und seine konzeptionellen Gegenbegriffe
den Beruf des Fußballspielers anführen. Da aber der professionelle Spieler durch das Spiel seinen Lebensunterhalt verdient,99 ist er nach Caillois kein Spieler im eigentlichen Sinne. Er ist ein Berufstätiger, der, wenn er spielt, ein anderes Spiel spielt als das von Caillois gemeinte. Hier findet bei Caillois – ebenfalls wie bei Huizinga – eine Unterscheidung von Spiel und Arbeit statt. Fünftens spricht Caillois von Regeln. Das Spiel versteht er als eine geregelte Betätigung, die bestimmten Konventionen unterliegt, die eine allgemeingültige, aber neue Gesetzgebung einführt und dadurch die alltäglichen Prinzipien aufhebt. Konkret ist damit gemeint, dass die Regeln im Spiel von den Spielern anerkannt werden müssen. Derjenige, der sich dem verweigert, gilt als Spielverderber, er widersetzt sich den Regeln der Spielwelt. Allerdings benötigen nach Caillois nicht alle Spiele Regeln (vgl. Caillois 1960: 15). Daher kann sein sechstes Spielmerkmal, die fiktive Betätigung, als Alternative gelesen werden. Die Fiktion, wie sie nach Caillois etwa im Rollenspiel vorkommt, ersetzt die Regelgeleitetheit. Beide letztgenannten Merkmale – Regeln und Fiktion – beziehen sich auf eine zweite Wirklichkeit, die sich von dem gewöhnlichen Leben abgrenzt, wie das gleichlautend auch Huizinga umschreibt (vgl. Caillois 1960: 15f.). Da die sechs beschriebenen Spieleigenschaften keine Rückschlüsse auf den Inhalt der Spiele zulassen, sieht es Caillois weiter als erforderlich an, eine Einteilung der Spiele vorzunehmen. Die Spieltypologie entwickelt Caillois durch eine Systematisierung nach unterschiedlichen Spielprinzipien: Wettstreit (Agôn), Zufall (Alea), Maskierung (Mimikry) und Rausch (Ilinx). Diese vier Elemente teilen nach Caillois die Spiele in eine Systematik ein, in der jeweils ein ursprüngliches Prinzip vorherrscht, und die ein Raster zur Kategorisierung bildet, das Spiele der gleichen Natur zusammenfasst (vgl. Caillois 1960: 19, vgl. Tabelle 12 im Anhang S. 416). Er bedient sich dabei einer Nomenklatur (Agôn, Alea, Mimikry, Ilinx), die nicht zu direkt auf konkrete Erfahrungen verweist. Aus diesem Grund entnimmt er aus verschiedenen Sprachen bestimmte Vokabeln, die ihm für seine Einteilung am zweckdienlichsten erscheinen. Wie bereits dargestellt, sollten die phänomenologischen Arbeiten von Huizinga und Caillois dazu beitragen, einer Bestimmung des Spiels näher zu kom-
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Derzeit findet eine Diskussion über die Kommerzialisierung des Fußballspiels statt, die man als die Kritik der »Entspielung« bezeichnen könnte. So haben sich Faninitiativen u.a. von Manchester United neu gründet. An dieser Stelle sei auch auf den Dokumentarfilm von Martin Brand und Ben Redelings »Wem gehört das Spiel?« über FIFA, VIPs und Fußballfans verwiesen. Anhand von Expertengesprächen wird die Diskussion über die Kommerzialisierung des Spiels erläutert und kritisch der im Filmtitel aufgeworfenen Frage nachgegangen.
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men. Kann demnach das Spiel aufgrund der vorgenommenen Ausführungen bestimmt werden? Es wurde deutlich, dass zwischen den vorgenommenen Definitionsversuchen von Huizinga und Caillois Gemeinsamkeiten zu finden sind. So wird von beiden Autoren das Spiel als eine freie Betätigung definiert. Allerdings unterscheiden sich auch die Wesensmomente des Spiels in den Erörterungen von Huizinga und Caillois, beispielsweise in der aufgezeigten ungleichen Auffassung bezüglich des materiellen Interesses, verkörpert durch das Glücksspiel. Auch wenn man weitere anthropologische und phänomenologische Stimmen zu Wort kommen lässt – es könnten z.B. Buytendijk (1933), Bally (1945) oder Scheuerl (1979) angeführt werden: Die Schwierigkeit, zu einer einheitlich allgemeingültigen Begriffsbestimmung von Spiel zu kommen, bleibt bestehen.
2.5.1.3 Der pragmatische Kompromiss: Ein Spielkatalog Die Frage nach der Lösung dieses Problems bezieht sich auf die Angemessenheit der jeweiligen Methode zur Findung einer Begriffsbestimmung. Eine mögliche Herangehensweise sieht Hering darin, alle bis dato veröffentlichten Spieldefinitionen zusammenzutragen, um daraufhin einen Kanon zu entwickeln, der die gemeinsamen Elemente enthält und so den verschiedenen Theorieansätzen gerecht würde (Hering 1979: 72). Allerdings gestaltet sich ein solcher methodischer Weg auch problematisch. Erstens offenbart die sozialhistorische Analyse eine uneinheitliche Begriffsverwendung bei der Merkmalszuschreibung von ›Spiel‹. Exemplarisch kann die von vielen Wissenschaftlern hervorgehobene Differenzierung des Spiels zur Wirklichkeit herangezogen werden. Scheuerl nennt es die »Scheinhaftigkeit« (Scheuerl 1979: 79ff.) Groos spricht von einer »Scheinwelt« (Groos 1922: 13), Rüssel wiederum von einer Art »Quasirealität« (Rüssel 1965: 151), Huizinga erklärt das Spiel als »nicht so gemeint« (Huizinga 1997: 18). Oerter führt das Spiel als eine »neue Realität« an (vgl. Oerter 1993: 9) und Schaub und Zenke schreiben vom »Als-ob-Charakter« (vgl. Schaub/Zenke 2005: 2025). So werden häufig unterschiedliche Termini zur Deskription des vermeintlich selben Spielelements genutzt. Oder handelt es sich doch um unterschiedliche Schwerpunktsetzungen? Die Erstellung eines Kanons, der die gemeinsamen Spielelemente aus den verschiedenen Theorieansätzen zusammenträgt, wird durch eine uneinheitliche Begriffsverwendung erschwert.
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2. Sozialhistorische Analyse – Das Spiel und seine konzeptionellen Gegenbegriffe
Zweitens ist eine eindeutige Abgrenzung der Spielmerkmale gegeneinander kompliziert: ein Charakteristikum von Spiel ist bereits mit einem anderen genannten Merkmal assoziiert oder darin enthalten. In diesem Sinn fassen einige Autoren ein Kennzeichen von Spiel unter ein anderes, andere machen daraus eine eigenständige Kategorie. Huizinga nennt beispielsweise als drittes Kennzeichen die Abgeschlossenheit und Begrenztheit des Spiels in Bezug auf Zeit und Raum. Zu diesem Merkmal zählt er auch die Wiederholbarkeit, als »eine der wesentlichsten Eigenschaften des Spiels« (Huizinga 1997: 19, Herv. i.O.). Trotzdem spricht er aber in Bezug auf die Wiederholbarkeit nicht von einem eigenständigen Merkmal, wie etwa Oerter, der »Wiederholung und Ritual« als drittes Spielattribut beschreibt (vgl. Oerter 1993: 15). Scheuerl wiederum bringt eine »Wiederholungstendenz« zum Ausdruck, die er unter das Spielmoment der »inneren Unendlichkeit« fasst (vgl. Scheuerl 1979: 72ff.). Zudem ist sein fünftes Spielmoment mit »Geschlossenheit« tituliert, wobei auch hier die anderen Bestimmungsmerkmale bereits mitgedacht werden (ebd.: 93). Daraus folgt ein strukturelles Problem, das sich in der Frage spiegelt, was Ober- und was Unterkategorien von Spiel sind. Der praktisch-wissenschaftliche Umgang mit dieser Schwierigkeit realisiert sich im unterschiedlichen Umfang der aufgeführten Spielmerkmale. So erklärt beispielsweise Parmentier (vgl. 2004: 930) drei Merkmale für das Spiel als charakteristisch: Erstens die Zweckfreiheit im Spiel, die sich von den notwendigen Tätigkeiten des Alltags abgrenzt. Als zweites Spielmerkmal nennt er die Freiheit, Spielen sei freies Handeln. Aus diesem Kennzeichen leitet Parmentier das dritte Kennzeichen ab, die Selbstgenügsamkeit. Das Spiel wird um seiner selbst willen gespielt. Diese drei Merkmale bezeichnet Parmentier als die »konsensgetragenen Bestimmungsmerkmale« (ebd.), wobei er sich auf die Arbeiten von Huizinga, Kant, Rüssel und Fink beruft. Allerdings ist mit diesen Wissenschaftlern die Reichweite von Spielbestimmungen keineswegs erschöpft. Heckhausen (1973) gelangt demgegenüber zu fünf Merkmalen, die seiner motivationspsychologischen Perspektive von Spiel zugrunde liegen.100 Scheuerl dagegen nennt sechs Momente des Spiels101
100 Der Aktivierungszirkel als erstes Spielmerkmal bestimmt danach die Basismotivation. Es wird ein ständiger Wechsel von Spannung und Entspannung aufgesucht. Undifferenzierte Zielstruktur und die unmittelbare Zeitperspektive als zweite Merkmalskonstellation spricht die kurzfristigen dem Spiel inhärenten Intentionen bzw. Zielvorstellungen an, die wiederum zu neuen Handlungen führen bzw. diese initiieren. Zweckfreiheit ist das dritte Spielkennzeichen nach Heckhausen; er erklärt diesbezüglich »dass im Spiel die Ziele, auf welche das Handeln gerichtet ist, stets nur als Mittel eingesetzt werden, um die um ihrer selbst willen intendierte Handlung in Gang zu setzen« (Heckhausen 1973: 163). Viertens differieren Spiele von alltäglichen Lebensbezügen, sie bilden eine handelnde Auseinandersetzung mit der Realität, indem sie – wie auch
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(vgl. Scheuerl 1979: 69ff.), Huizinga hat vor allem drei Spielcharakteristika genannt, die aber ebenfalls wiederum jeweils zusätzliche Unterbestimmungen beinhalten (Huizinga 1997: 16ff.). Das Problem der Extraktion wesentlicher Spielmerkmale offenbart sich sodann besonders deutlich im digitalen »Wörterbuch für Pädagogik« von Schaub und Zenke (2005). Ein Ausschnitt soll hier kurz wiedergegeben werden: Die Spielhandlung erfolgt freiwillig, selbstbestimmt, zweckfrei, aktiviert Phantasievorstellungen und findet unabhängig vom Ernst des Alltags statt. Darüber hinaus ermöglichen Spielhandlungen durch die Beschäftigung mit Spielpartnern und -objekten die Aufarbeitung von Alltagsproblemen. Es wird auf Regeln und auf Lernvorgänge hingewiesen, »die für die soziale, kognitive und psychomotorische Entwicklung von großer Bedeutung sind« (Schaub/Zenke 2005: 2023). Ferner wird eine Idee als Kennzeichen bestimmt. Weiter erfüllt sich das Spiel im Hier und Jetzt; Aktivität und Emotionalität sind charakteristisch. Die Liste von vorfindbaren Spielmerkmalen sowie deren Kombination nach Semantik und Anzahl scheint unerschöpflich. Sie gleicht einer endlosen Aneinanderreihung unzähliger Begrifflichkeiten. Zudem wird betont, dass nicht immer alle genannten Eigenschaften vollständig vorfindbar sein müssen (vgl. ebd.). Doch auch diese Einschränkung hilft uns bei einer Spiel-Definition nicht weiter. Aus den genannten vier Begründungen lässt sich die Konsequenz ziehen, dass der erste Lösungsvorschlag zur Bestimmung von Spiel – die Erstellung eines Spielkanons, der die gemeinsamen Spielmerkmale bündelt – kaum zu realisieren ist. Eine zweite Herangehensweise, um das Spiel zu bestimmen, bestünde nach Hering darin, den entgegengesetzten Weg zu gehen, indem ein Explanans für den Begriff Spiel gefunden wird, das durch jedes neue vorfindbare Spielmerkmal in der Wissenschaft angereichert wird. Allerdings würde diese Methode – wie das Beispiel von Schaub und Zenke nahe legt – in aller Konsequenz zu einer »monströsen, nicht mehr handhabbaren und deshalb sinnlosen Super-Formel« (Hering 1979: 72) führen. Versucht man, die oben aufgeführten Spielmerkmale alle in eine Definition zu pressen, dann ist diese weder überschaubar noch kann sie den in der Wissenschaft üblichen Anforderungen an eine Definition gerecht werden.
von Huizinga (1997) hervorgehoben – »als-ob-Charakter« besitzen, eine Art Quasi-Realität, man kann sie auch als »Scheinwelt« bezeichnen (Rüssel 1965: 151). Der letzte Aspekt, in dem Heckhausen »auf den Handlungscharakter des als Auseinandersetzung mit einem konkreten, noch nicht vertrauten Gegenüber verstandenen Spiels« (Hering 1979: 42) hinweist, geht auf Buytendijk zurück. 101 Scheuerl nennt die Momente der Freiheit, der inneren Unendlichkeit, der Scheinhaftigkeit, der Ambivalenz, der Geschlossenheit und der Gegenwärtigkeit (Scheuerl 1979: 69ff.).
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2. Sozialhistorische Analyse – Das Spiel und seine konzeptionellen Gegenbegriffe
Einen Kompromiss bzw. einen Mittelweg sieht Hering darin, einen Katalog aufzustellen, der die verschiedenen Merkmalsgruppen einzelner Theorierichtungen enthält. Hier hängt es von der jeweiligen Perspektive ab, was unter Spiel verstanden wird (vgl. Tabelle 2). Tabelle 2: Schematische Zusammenfassung der wichtigsten spieltheoretischen Ansätze nach Hering Psychoanalyse
Piaget
Verhaltensforschung Motivationspsychologie
Sozialisationstheorie
Rollentheorie
Phänomenologie
Spiel ist als Alternativbefriedigung Umgestaltung der Realität in lustbringender Form. Es dient der Angstabwehr und der Verarbeitung von Erlebnissen mit unlustbesetzten Inhalten, zum Beispiel durch Veränderung des Handlungsausgangs. Es kann dem Kind auch im Sinne der Regression die Flucht vor der Wirklichkeit eröffnen. Spiel ist Assimilation, d.h. keine Problemlösung mit informativem Wert und nützlichem Ziel, sondern deren spielerische phantasievolle Fortsetzung. Es ist Anwendung, Übertragung, Variation bekannter Handlungsschemata, Gegenteil von Nachahmung (Akkommodation). Die Entwicklung des Spielverhaltens verläuft parallel zur kognitiven Entwicklung. Spiel als Appetenzverhalten setzt die Befriedigung elementarer Bedürfnisse im Rahmen einer gesicherten Pflegebeziehung voraus und ist als Verhaltensbereitschaft in den Komplex »Erkunden, Nachahmen, Wissbegier« einzuordnen. Spiel ist eine Form explorativen Verhaltens, und zwar diversiv, ungerichtet, offen, unspezifisch. Es setzt Nicht-Vorhandensein körperlicher Mangelzustände voraus; wird stimuliert durch sogenannte kollative Variablen: Überraschung, Neuigkeit, Veränderung, Inkongruenz, Komplexität; pendelt zwischen Spannungssuche und Streben nach Entspannung auf einem mittleren Spannungsniveau (Aktivierungszirkel). Die Spielfähigkeit des Kindes ist determiniert durch die Sozialisationsbedingungen. Sozialisationsdefizite führen notwendig zu Spielschwierigkeiten, Spielmängeln, Spieldeprivation. Kompensatorische Spiel-Programme erweitern und verbessern die Spielfähigkeiten des Kindes und nehmen komplementäre Sozialisationsfunktionen wahr. Spiel als: o antizipierende Sozialisation = Rollenlernen, Einüben sozialer Rollen o Aneignung sozialer Kompetenz = Rollendistanz, Empathie, Ambiguitätstoleranz, o Identitätsdarstellung = flexibles Rollenhandeln, allgemein kommunikative Fähigkeiten o Sprachförderung o Psychische Stabilisierung Prämissen: kindlicher Sozialstatus und Egozentrismus. Sie betont die Eigenständigkeit des Spiels als ein Urphänomen, eine primäre Lebenskategorie; sieht die Kultur sub specie ludi. Spiel weist sich durch folgende Merkmale aus: o Freies Handeln, Zweckfreiheit (Selbstständigkeit) o Begrenztheit, Spielraum o Nicht-Identität mit dem gewöhnlichem Leben o Eigene Ordnung o Spannung o Wiederholbarkeit.
Quelle: Hering 1979: 73.
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Die in der Tabelle angeführten unterschiedlichen Betrachtungsweisen belegen einerseits erneut die Komplexität des Spielbegriffs. Es lässt sich schlussfolgern, dass es von der jeweiligen Perspektive abhängt, was unter Spiel verstan- den wird. Andererseits wird deutlich, dass es den Spielbegriff nicht gibt. Diese Probleme einer eindeutigen Begriffsbestimmung von Spiel sind bis heute gegeben. Es bleibt dabei: »Wie würden wir denn jemandem erklären, was ein Spiel ist? Ich glaube, wir werden ihm Spiele beschreiben, und wir könnten der Beschreibung hinzufügen: ›das, und Ähnliches, nennt man Spiele‹« (Wittgenstein 1984: 279, §69). »Ähnliches« ist hier der treffende Ausdruck dafür, dass das Spiel viele Assoziationsfelder eröffnet: Das Erscheinungsfeld des Spiels zeigt sich wundersam wandelbar und vielgestaltig. Daher muss man sich eingestehen, dass das mit vielen Assoziationen versehende Wortfeld »Spiel« schnell dazu führt, den Gegenstand aus den Augen zu verlieren. Spiele können im Konkreten sehr unähnlich sein, auf abstrakter Ebene aber gleichartig. Damit bleibt der Gegenstand ein nur ›beinahe‹ identifizierbarer.
2.5.2 Das spielende Kind und der arbeitende Erwachsene? »Das Spiel aber stellt einfach während der ersten Entwicklungsphasen den Pol der Verhaltensweisen dar, der durch Assimilation definiert ist«. (Piaget 1975: 119).
Wenn man die bisher vorgestellten unterschiedlichen theoretischen Überlegungen zum Spiel unter einer biografischen Perspektive beleuchtet, dann ist bei fast allen Auffassungen die These zu erkennen, dass mit zunehmendem Lebensalter das spielerische Handeln ab- und die Arbeit zunimmt. In der Ontogenese des Einzelnen – so die tonangebende Meinung – verschieben sich beide Tätigkeitsbereiche. Während es kleinen Kindern noch zugestanden wird zu spielen, versucht man, es Älteren abzugewöhnen. Erwachsene spielen nicht, das Spiel des Erwachsenen sei »etwas werthloses, überflüssiges« (Schaller 1861: 2; vgl. auch Huizinga 1997: 16). Die Bedeutung des Spiels wird normativ und faktisch auf den Bereich »Kindheit« begrenzt. Aber kann das Spiel nicht auch für den Erwachsenen eine sinnvolle und wichtige Funktion einnehmen? Hört der objektive oder der subjektiv empfundene Nutzen des Spiels biografisch mit dem Ende der Kindheit auf? Um diese Fragen zu beantworten, werden zunächst Erkenntnisse aus der Entwicklungspsychologie berücksichtigt. Anschließend wird der Versuch unternommen, gezielt wissenschaftliche Erklärungsansätze heranzuziehen, die auch dem Erwachsenenspiel seine Berechtigung geben.
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2.5.2.1 Die Beschränkung von Spielstadien auf das Kind Ab den 1930er-Jahren hat sich die Entwicklungspsychologie vermehrt empirischen Untersuchungen gewidmet, die die Bedeutung des Spiels in unterschiedlichen Lebensphasen beleuchteten. Hierbei ging man von einer eigengesetzlichen Entwicklung des Kindes aus, welches sich in einer Phasen- bzw. Stufenlehre manifestiert. Im deutschsprachigen Raum sind im Kontext einer phasentypischen Jugendentwicklung exemplarisch die Arbeiten von Charlotte Bühler (1928) und Oswald Kroh (1961) zu nennen. Dabei versuchte man, ausgehend von den Stufenlehren, bestimmten Entwicklungsstadien des Kindes spezifische Spielvarianten bzw. -arten als stufentypische Phänomene zuzuordnen. Um diese Perspektive genauer zu verfolgen, soll zunächst Jean Piaget (1896-1980) als Vertreter entwicklungspsychologischer Betrachtungen zu Wort kommen. Der Grund dafür, gerade ihn als Repräsentanten phasentypischer Überlegungen heranzuziehen, liegt einerseits an seiner heute noch anerkannten und von vielen Autoren als eine der bedeutsamsten eingestuften Kognitions- und Entwicklungstheorie. Andererseits bindet Piaget seine kognitive Spieltheorie an die Denkstruktur des Kindes, das Spiel wird »in den Gesamtzusammenhang des kindlichen Denkens« (Piaget 1975: 189) eingeordnet, und zwar abhängig von den Entwicklungsstadien. Seine Interpretation des Spiels wird durch phasentypische Denkstrukturen bestimmt. Hier liegt auch sein vornehmlicher Beitrag zur Spieltheorie (vgl. Hering 1979: 28). In Bezug auf den vorliegenden Untersuchungsgegenstand geht Piaget davon aus, dass Assimilation und Akkommodation in jedem Verhalten nachweisbar sind, auch im Spielen. Dabei ist seinen Überlegungen zufolge das Spiel durch einen »Überhang an Assimilation, d.h. an kognitiven Aktivitäten, die die Umwelt einseitig an die Schemata des Individuums (…) anpassen, gekennzeichnet« (Oerter/Montada 1998: 252). Wenn dagegen die Akkommodation in einem Handlungsschema das Primat ist, dann ist dies nach Piaget Nachahmung respektive Imitation.102 Insgesamt zeigt Piaget drei vornehmliche Typen von Strukturen auf, »die die kindlichen Spiele charakterisieren und die die Klassifikation im Detail bestimmen: die Übung, das Symbol und die Regel, wobei die Konstruktionsspiele zwischen allen dreien und den angepaßten Verhaltensweisen stehen«
102 Anzumerken ist, dass Piaget die Prozesse der Assimilation und Akkomodation zu Beginn der menschlichen kognitiven Entwicklung noch nicht miteinander vereinigt sieht. Erst mit zunehmendem Alter entwickeln sich Assimilation und Akkommodation zu einem Gleichgewichtsverhältnis. Festzuhalten ist zunächst aber, dass man nach Piaget bei Überwiegen der Assimilation gegenüber der Akkomodation von Spiel sprechen kann (vgl. Piaget 1975: 117).
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(Piaget 1975: 146). Das Übungsspiel ist nach Piaget die erste Spielart des Kindes (2.-18. Lebensmonat). Übungsspiele sind rein funktional und werden aus Freude wiederholt. Das Übungsspiel ist vornehmlich sensomotorischer Natur und kann hierbei Nachübung, begleitende Übung oder – wie bei Groos – Vorübung bedeuten. In der zweiten Stufe (2.-7. Jahr), dem Stadium des präoperationalen Denkens, das etwa mit dem Spracherwerb103 beginnt, steht das Symbolspiel104 im Vordergrund. Hier liegt der wesentliche Schwerpunkt auf der Phantasie: Im Symbolspiel wird beispielsweise ein Stück Holz im Spiel zum Pferd oder zum Auto. Interessant ist hierbei, dass Piaget dieser Spielkategorie – im Gegensatz zum Übungsspiel – nicht den Charakter einer Vorübung auf das ›wirkliche‹ Leben der Erwachsenen zuschreibt. Diese Funktion übernehmen bei Piaget dagegen die von ihm bezeichneten »ernsthaften« Handlungen wie das Stellen von Fragen, das Zeichnen, das Beobachten oder die spontanen Reflexionen (Piaget 1975: 199). Hering gibt in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass sich Piaget dadurch gegen eine Überinterpretation des Spiels abschirmt und es auf extraordinäre Bereiche des Lebens limitiert (vgl. Hering 2003: 33). Im Stadium der konkreten Operationen (7-11 Jahre) sind die Regelspiele dominant. Regelspiele sind zum Beispiel sensumotorische Kombinationsspiele wie Ballspiele oder intellektuelle Kombinationsspiele wie Kartenspiele und Schach. Fragt man nach dem letzten Stadium, dem des formaloperationalen Denkens, so ist diese Stufe nach Piaget entweder durch Regelspiele oder aber durch symbolische Konstruktionen bzw. Konstruktionsspiele gekennzeichnet, »die immer wieder deformierend sind und sich mehr und mehr der zielgerichteten und angepassten Arbeit nähern« (Piaget 1975: 181). Die Konstruktionsspiele versteht Piaget als eine inter-
103 Das Verstehen von Sprache setzt dabei entwicklungspychologisch gegen Ende des ersten Lebensjahres ein, indem »zwischen Wörtern und ihren Bedeutungen sinnvolle Assoziationen« geknüpft werden (Mussen 1971: 75). 104 Das Symbolspiel setzt die »Vorstellung eines abwesenden Objektes voraus, da das Symbol einen Vergleich zwischen einem gegebenen Element und einem vorgestellten Element enthält, und das Symbol setzt eine fiktive Darstellung voraus, da dieser Vergleich in einer deformierenden Assimilation besteht« (Piaget 1975: 148). »Deformierende Assimilation« beinhaltet demnach, dass die Wirklichkeit zum Nutzen von Spielideen in ihrer Form verändert, also deformiert wird. Ein Wäschestück, wie etwa das Hemd des Vaters, wird zum Ersatzobjekt eines Kissens, mit dem das Kind das Schlafschema verbindet. »Das Symbol (Wäschestück) ist infolge der Ähnlichkeit mit dem abwesenden Bezeichneten (Kopfkissen) sinnvolles Zeichen – allerdings im Gegensatz zu den konventionellen, willkürlich gewählten Zeichen (etwa der Begriff für einen Gegenstand)« (Hering 2003: 30). Dies liegt nicht zuletzt an der egozentrischen, stark subjektiv geprägten Vorstellung des Kindes zu dieser Zeit der Entwicklung. Das Kind vertritt die Überzeugung, dass die eigene Sicht- und Erlebnisweise die einzig mögliche ist; die eigene ursprüngliche Haltung des Kindes verallgemeinert diese in ein Absolutum. »Das symbolische Denken ist nichts anderes als das egozentrische Denken im reinen Zustand« (Piaget 1975: 214).
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ne Transformation des Symbols mit der Tendenz zum angepassten Denken. So wird beispielsweise ein Stück Holz, als Zeichen für ein Boot, im symbolischen Spiel des Kindes durch dessen handwerkliche Veränderungen (etwa durch Schnitzen, Aushöhlen, einen Mast ankleben etc.) zum Bezeichneten selbst. Das vorherige Symbolspiel ist durch Akkommodation zur Imitation des Bootes transformiert. Der Bereich des Spielens rückt in den Hintergrund, Nachahmung und spontane Arbeit sind vorherrschend. So nehmen nach Piaget Konstruktionsspiele eine Position ein, »die halbwegs zwischen dem Spiel und der intelligenten Arbeit oder zwischen dem Spiel und der Imitation liegt« (Piaget 1975: 151). Tabelle 3 zeigt nach Piaget die Spielhandlungen des Menschen in ihrer altersabhängigen Reihenfolge. Tabelle 3: Spielstadien Piagets zu den sich entwickelnden Denkstrukturen des Menschen Alter des Kindes 2.-18. Lebensmonat 2.-7. Lebensjahr 7.-11. Lebensjahr ab dem 12. Lebensjahr
Kognitive Entwicklung Sensumotorisches Stadium Präoperationales Stadium Konkret operationales Stadium Formaloperationales Stadium
Spielform Übungsspiele Symbolspiele Regelspiele Regelspiele oder Konstruktionsspiele, die sich dem Charakter der Arbeit nähern
Quelle: Eigene Darstellung nach Piaget 1975.
Interessant bezüglich Piagets Einteilung der kognitiven Entwicklung des Menschen ist die Kritik der US-amerikanischen Psychologin Sherry Turkle (vgl. Turkle 1999: 84f.). Sie geht auf Piagets Erkenntnis ein, dass sich das Kind durch den spielerischen, objektorientierten Umgang mit Gegenständen die Fähigkeit zum abstrakten Denken aneignet. Darin sieht Turkle eine Würdigung des Konkreten durch Piaget (vgl. Turkle 1999: 84f.). Gleichzeitig bedenkt sie aber, dass dieses Denkstadium nach Piaget wiederum überwunden werden muss, damit die kognitiven Fähigkeiten im formaloperationalen Stadium ihren Höhepunkt erreichen können. Dieses abstrakte, formaloperationale Denken liegt jenseits des Konkreten. Es ist das Denken der Erwachsenen, befreit von dem Zwang der dinglichen Handhabung. Durch diese hierarchische Ordnung relativiert Piaget nach Turkle die Wichtigkeit seiner Beobachtungen, nämlich den Stellenwert des Konkreten bei der Entwicklung elementarer Kategorien wie Kausalität, Zeit, Raum und Zahl, indem er diese Denkweisen allein einem frühkindlichem Stadium zuschreibt. Demnach gibt es nach Piaget nur eine einzige ›richtige‹ Denkstruktur des Erwachsenen, nämlich das abstrakte Denken. Die kognitive Entwicklung des Menschen zielt auf die Erreichung dieser Denkform ab. Dies fordert nach Turkle einen hohen Preis: »In unserer Kultur ist die Unterscheidung zwischen abstrakt und konkret nicht bloß eine Grenzziehung zwischen Aussagen
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und Objekten, sondern auch eine Weise, das Reine vom Unreinen, die Tugend vom Tabu zu trennen« (Turkle 1999: 85).105 Wieder mit Blick auf Tabelle 3 ist zu betonen, dass Übungs- und Symbolspiele mit zunehmenden Alter laut Piaget in den Hintergrund treten, während die Regelspiele auch bis in das Erwachsenalter hinein erhalten bleiben, denn dies ist die »spielerische Aktivität des sozialisierten Wesens« (Piaget 1975: 183). Obwohl Piaget demnach hervorhebt, dass auch das sozialisierte erwachsene Individuum in Form von Regelspielen spielt, werden diese Spiele allerdings erstens als belanglos charakterisiert – ihnen kommt keine nennenswerte Funktion im Erwachsenenalter zu –, was zweitens dazu führt, dass eine Differenzierung der Erwachsenenspiele im Vergleich zum Spiel des Kindes ausbleibt, da Piaget sie anscheinend für überflüssig erachtet. Das Spiel entwickelt sich ab dem 12. Lebensjahr folglich nicht bedeutend weiter. Gleiches gilt für die Spielstadien von Charlotte Bühler (1928). Betrachtet man im Vergleich andere zentrale Begriffe entwicklungspsychologischer Ansätze, beispielsweise das Identitätskonzept von Erikson (1965), die Bedeutung der Ausdifferenzierung von Bedürfnissen nach Maslow (1954) oder die Lernprobleme von McCelland (1951), so beschränken sich die Ansätze nicht auf Kindheit und Jugend, sondern ihr jeweiliger Gegenstand erfährt auch im Erwachsenenalter einen gesonderten Status als konstitutiver Bestandteil der menschlichen Persönlichkeit. Das Spiel dagegen spielt im Sozialisationsprozess des Jugendlichen und Erwachsenen eine marginale
105 Die Differenz von konkret und abstrakt sowie ihre unterschiedliche Bewertung veranschaulicht Turkle am Beispiel der Arbeitsweise des Programmierers (vgl. 1999: 84ff.). Sie bezeichnet den zunächst vorherrschenden Programmierstil als regelbasiert, hart, hierarchisch und abstrakt. Diesem Programmieransatz liegt die Vorstellung einer einzigen richtigen Methode zugrunde, der sich vor allem die dominierende maskuline Computerkultur verpflichtet fühlte. Eine solche Vorgehensweise lässt sich als Top-Down-Methode charakterisieren, wobei die Theoretiker dieses Stils nach Turkle bis in die 1970er-Jahre eine epistemologische Elite darstellten. Dann entwickelte sich allerdings ein gegenläufiger Programmierstil aus, den Turkle als »weich« charakterisiert. Mit der Attributzuschreibung »weich«, so Turkle, sind allerdings häufig Assoziationen von Unwissenschaftlichkeit, Undiszipliniertheit oder Schwäche verbunden, Bedeutungsfelder, die diesen Ansatz pejorativ kennzeichnen könnten. Stattdessen geht es Turkle hier um eine Umwertung. Der Ausdruck »›weich‹ ist [ein] passendes Wort für einen flexiblen, nichthierarchischen Stil, der es einem erlaubt, eine enge Beziehung zu seinem Untersuchungsgegenstand herzustellen« (Turkle 1999: 86). Die Unterscheidung von »hart« und »weich« für zwei verschiedenartige Programmierstile erinnert an Piagets Abgrenzung zwischen konkret und abstrakt. Bei Piaget wird das konkrete Denken in das frühkindliche Stadium verbannt, das abstrakte Denken präsentiert die Welt der Erwachsenen. Während der weiche Programmierstil das Spielen mit dem konkreten Gegenstand impliziert, – das Arbeiten und Ausprobieren dicht am Objekt, was das Ablaufen von Was-Wenn-Szenarios möglich macht und eine Kultur des Bastelns fördert – setzt dagegen der harte Programmierstil auf das abstrakte und hierarchische Vorgehen von Axiom zu Theorem.
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Nebenrolle. Dies ist durch den Vergleich mit anderen entwicklungspsychologischen Grundgedanken erstaunlich und lässt sich kritisch hinterfragen. Man könnte diesbezüglich schlussfolgern, dass durch die »Begrenzung der Spielstadien bei Piaget und Ch. Bühler auf Kindheit und Jugend zeigt, dass die Bedeutung von Spiel für die Entwicklung der sozialen Persönlichkeit noch nicht voll erschlossen ist« (Eichler 1979: 117). Die auf Kindheit begrenzte entwicklungspsychologische Betrachtungsweise von Spiel wurzelt vor dem Hintergrund der bisherigen Analysen in dessen biografischer Bedeutungszuschreibung. Während im Kindesalter das Spiel dominiert, ist es im Erwachsenenalter die Arbeit. Aufgrund dieser Anschauung ist es dann auch nicht verwunderlich, wenn sich das Gros spieltheoretischer Überlegungen – vor allem im psychologischen Kontext – auf das Spiel des Kindes konzentriert. Dem Spiel wird aus dieser Perspektive kein eigener Status für das Erwachsenenalter zugesprochen. Die Begründung liegt nach Piaget auf der Hand: Spiele sorgen dafür, dass Erwachsene die Kinderwelt nicht stören (vgl. Piaget 1975: 216). Eine Kinderwelt des Spiels steht hier gegen eine Erwachsenenwelt der Arbeit. Das Spiel des Kindes und das Spiel des Erwachsenen unterliegen in der Bewertung folglich unterschiedlichen Kriterien. Auch aus interaktionistischer Sicht wird die Annahme vertreten, dass das »Spiel für Kinder eine andere Bedeutung hat als das Spiel der Erwachsenen. Spiel der Kinder ist als wichtiger ›Mechanismus‹ der Entwicklung in die Prozesse eingebunden, in denen das Kind altersspezifische Konflikte und Krisen aufarbeitet« (Krappman 1975: 46). Dagegen ist das Spiel in der Sphäre der Erwachsenenwelt eher durch Bedeutungslosigkeit gekennzeichnet. Die biografische Konnotation von Spiel lässt sich aus entwicklungspsychologischer Sicht wie folgt zusammenfassen: »Man sagte etwa: Im Alter von 3 bis 6 Jahren ist die eigentliche Spielzeit, mit 6 Jahren beginnt der Umbruch (Schuleintritt) und die Arbeit tritt als neues phasenspezifisches Phänomen auf. Stehen mit dem Schuleintritt Spiel und Arbeit noch gleichberechtigt nebeneinander, so wird das Spiel mehr und mehr durch die Arbeit verdrängt« (Retter 2003: 39). Analog zu den bisherigen Ausführungen und Anmerkungen von Spiel im menschlichen Lebenslauf nehmen demnach auch entwicklungspsychologische Ansätze die Position ein, dass das Spiel während der Kindheit seine vornehmliche Ausprägung erfährt. Mit dem Älterwerden wird das Spiel zunehmend von der Arbeit verdrängt, bis die Arbeit schließlich die dominierende Handlungsart repräsentiert. So lässt sich mit Eichler folgendes Fazit in Bezug auf eine entwicklungspsychologische Betrachtung des Spiels ziehen: »Nach einer Würdigung von Spiel als Medium lebenslangen, auch und vor allem sprachlich (symbolisch) vermittelten Lernens, sucht man vergebens« (Eichler 1979: 117).
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2.5.2.2 Spiel als Ergänzung für den Alltag Erwachsener Im Gegensatz zu Piaget bzw. entwicklungspsychologischen Ansätzen bezieht Groos das Spiel in seinem Vortrag »Der Lebenswert des Spiels« (1922) nicht nur auf Kinder, sondern auch auf Erwachsene. Er ist der Meinung, dass das Spiel auch für den Erwachsenen eine bedeutsame Rolle im Leben einnimmt. Dabei hat Groos in der Weiterentwicklung sozialer Anlagen die Bedeutung des Spiels für den Erwachsenen im soziologischen Standpunkt aufgezeigt (vgl. S. 112ff.). Erwachsenenspiele stärken nach Groos den sozialen Zusammenhalt, soziale Kompetenzen werden entfaltet, der Mensch fühlt sich einer sozialen Gruppe zugehörig (vgl. Groos 1973: 512). Zweitens hebt Groos die Wichtigkeit des Spiels Erwachsener auf körperlicher Ebene hervor. Es geht hier folglich um sportliche Spiele. Beispielhaft führt er die durch Übung im Spiel perfektionierte Körpergewandtheit wilder primitiver Stämme auf, die dadurch im »struggle of life« (Darwin) einen Vorteil in Zeiten des Krieges oder bei der Jagd haben. Möchte man an dieser Stelle nicht so weit gehen, um die Argumentationslogik von Groos zu veranschaulichen, sondern versucht, sie auf unsere Gesellschaft beziehen, lässt sich folgendes Szenario entwerfen: So bedeutet es für Erwachsene einen Vorteil im ›struggle of life‹, beruflich wie privat, ihren Körper durch sportliche Spiele zu trainieren und fit zu halten, wie z.B. durch Tennis, Volleyball etc. Denn es ist evident, dass Sport förderlich für die Gesundheit sein kann (Krankenkassen übernehmen heute auch Leistungen im Sportbereich) sowie die Leistungsfähigkeit nach sportlichen ›Erholungsphasen‹ höher ist und darüber hinaus bei der Partnerfindung die Chancen der Sportiven höher eingeschätzt werden können.106 Drittens zielt die Wichtigkeit des Spiels bei Erwachsenen bei Groos noch auf eine weitere Annahme: »bei den Erwachsenen gewinnt das Spiel, und zwar vor allem innerhalb einer entwickelten Kultur einen neuen Lebenswert: es wird zur Ergänzung des Daseins« (Groos 1922: 12). Um diesen Gesichtspunkt zu untermauern, zieht Groos ebenfalls den populären Satz Schillers »der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt« (Schiller 1993: 63; 15. Brief, Herv. i.O.; vgl. auch S. 90ff.) heran und legt den Schwerpunkt auf das Wort »ganz«. Er erklärt, dass höhere Kulturen sich durch Arbeitsteilung auszeichnen. Deren Vorteile seien zum Beispiel Produktionssteigerungen, effektivere Arbeitskraft sowie Kosten-
106 Des Weiteren beschränken sich nach meiner eigenen Beobachtung die Vorteile durch Übung nicht allein auf körperliche Fertigkeiten, sondern lassen sich ebenso auf geistige Fähigkeiten beziehen. Zum Beispiel werden durch regelmäßiges Schachspielen Gedächtnis und Strategiefähigkeit trainiert.
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senkungen. Kritisierte Nachteile beziehen sich zum Beispiel auf das Monotonieempfinden bei der Arbeitsausführung. Letzteres wird von Groos als »Einseitigkeit«107 bezeichnet und hier kann das Spiel nach Groos »ergänzend eingreifen« (Groos 1922: 12). Zur Veranschaulichung seiner ›Ergänzungsthese‹ stellt Groos einen Vergleich zweiter sich im Arbeitsablauf differenzierender Berufstätigkeiten an: Für den ›Schreibtischmenschen im Office‹ bedeutet der regelmäßige Kegelabend eine genauso wichtige willkommene Ergänzung im Leben, wie für den Bauern. Während der erste unter seinem Kegelabend aber eine körperlich willkommene Ergänzung im Vergleich zu seiner bewegungsarmen Arbeitstätigkeit versteht, deutet der zweite sein Spiel etwa als körperliche und geistige Betätigung, denn »es gewährt also wie alle Kampfspiele bis hinauf zum Skat oder Schach ein spielendes Durchkosten von Lebensmöglichkeiten, die im Alltag nicht genug zur Verwirklichung kommen, oder besser: die zwar auch im Ernstleben auftreten, aber verstrickt in alle Nöte und Forderungen des Daseins, während sie in dieser Reinheit, in dieser Freiheit von allen ›Konsequenzen‹ nur in der Scheinwelt des Spiels ihren Ausdruck finden« (Groos 1922: 13). Obwohl Groos hier von einer »Scheinwelt« des Spiels spricht, ist diese für die Wirklichkeit des Erwachsenen keinesfalls unbedeutend. Das Eintreten in die Spielsphäre ermöglicht es dem Erwachsenen, das ›ernsthafte Alltagsgewand‹,mit seinen zu erfüllenden Pflichten in der Wirklichkeit abzustreifen und mit der ›feierlichen Garderobe‹ auszutauschen. »Nun ist [das Spiel – S.G.] nicht nur eine Ergänzung, sondern zugleich eine Befreiung geworden. Eine sehr bedeutungsvolle Befreiung!« (Groos 1922: 17). Am Beispiel von Piaget und Groos wurden demzufolge zwei Sichtweisen auf das Spiel erläutert. Einerseits wurde anhand einer entwicklungspsychologischen Betrachtung von Spiel die Bedeutungslosigkeit des Spiels im Erwachsenenalter offengelegt. Demgegenüber spricht Groos sich explizit für die Wichtigkeit der Spiele für das Leben des Erwachsenen aus: soziale Kompetenz und gemeinschaftlicher Zusammenhalt, Übung, Erholung, Ergänzung des Alltags und Befreiung. Wie lassen sich die unterschiedlichen Bewertungen des Spiels in unterschiedlichen Lebensphasen erklären?
107 Die Problematik der Arbeitsteilung, eines routinierten Arbeitsablaufs, der das Empfinden von Monotonie und das ›Abstumpfen‹ von Fähigkeiten zur Folge hat, wurde bereits in dieser Arbeit exemplarisch unter Bezugnahme auf Smith, Schiller und Marx illustriert.
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2.5.2.3 Dialektische Aufhebung der Gegensätze? Aus dem bisher Dargelegten lassen sich zwei Sichtweisen auf die biografische Konnotation von Spiel ableiten: Einerseits das bedeutungsvolle Spiel des Kindes im Vergleich zum belanglosen Spiel des Erwachsenen. Dass das kindliche Spiel allgemein aus wissenschaftlicher Perspektive eine wichtige Funktion im Entwicklungs- und Sozialisationsprozess einnimmt, – sei es mit oder ohne Vorbehalt einer pädagogischen Einflussnahme – kann dabei als unbestritten bzw. unbestreitbar gelten. Keine der bisher herangezogenen Sichtweisen auf das kindliche Spiel von der Antike bis zum 20. Jahrhundert widerlegt diese Einschätzung. Eine einzige Ausnahme bilden normativ-moralische bzw. religiös-asketische Verdächtigungen gegenüber dem kindlichen Spiel im Kontext einer sittlichen Erziehung. Das nutzlose Spiel des Erwachsenen ist ebenfalls als Leitmotiv spielerischer Deutungen in der Ontogenese des Menschen erkennbar. Für den »erwachsenen und verantwortlichen Menschen ist das Spiel eine Funktion, die er ebenso gut lassen könnte. Das Spiel ist überflüssig. Nur insoweit wird das Bedürfnis nach ihm dringend, als es aus dem Vergnügen an ihm entspringt« (Huizinga 1997: 16). Fazit: der gewissenhafte und pflichtbewusste Erwachsene spielt nicht. Andererseits finden sich Widerreden als Gegenthese zur Behauptung der Bedeutungslosigkeit des Spiels des Erwachsenen. Exemplarisch wurde Groos angeführt, der anhand der Übungs- und seiner Ergänzungsthese die Wichtigkeit des Spiels für die Alltagssphäre des Erwachsenen begründet hat. Eichler verneint ebenfalls die Annahme, dass Spielen sich primär und grundlegend auf das Kind allein bezieht. Er geht sogar noch einen Schritt weiter als Groos, indem er die wichtige Bedeutung des Spiels für den Erwachsenen nicht auf die Aspekte der Übung, der Ergänzung oder des Ausgleichs begrenzt wissen will. Stattdessen erklärt er das Spiel zu einem lebenslangem Prozess (vgl. Eichler 1979: 114). Bei dem Versuch, die gegensätzlichen Ansichten über den Sinngehalt des Spiels in unterschiedlichen Lebensphasen aufzulösen, ist anscheinend ein analytisches Instrument erforderlich: die Unterscheidung zwischen Wesen und Kontext. Versucht man, das Spiel mittels seiner Wesensmerkmale zu bestimmen, findet sich bei vielen Autoren ein Aspekt von Freiheit. Die Freiheit des Spiels hebt sich von einem außerhalb des Spiels liegenden Zweck ab. Dies betrifft sensu Scheuerl das Kind, das »Indianer« spielt, den Jugendlichen »am Schachbrett«, den »Fußballer« und den »Künstler«, solange sie frei sind »von unmittelbarer Notdurft und Sorge« (Scheuerl 1979: 70). Die Kategorie der Freiheit, der
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Zweckfreiheit, gilt nach Scheuerl offenbar sowohl für das kindliche Spiel als auch für Erwachsenenspiele (Scheuerl 1979: 72). Legt man folglich den Fokus auf das Wesen des Spiels, versucht, »dessen Eigenart zu begreifen, indem man Strukturen, Aufbau, zeitliche Ablaufsgestalten dieses Bereichs analysiert« (Hering 1979: 82), dann wird man keine Unterscheidung treffen zwischen dem Spiel des Erwachsenen und dem des Kindes. Wenn man allerdings den Schwerpunkt der Analyse auf den Kontext des Spiels lenkt, indem man das Spiel unter dem Fokus der kindlichen Entwicklung untersucht oder das Spiel im Rahmen der ›Erwachsenenwelt‹ und ihren jeweiligen Abhängigkeiten beleuchtet, dann, so Hering, wird man die Andersartigkeit zwischen dem kindlichen und dem erwachsenen Spiel hervorheben und differenzieren (vgl. Hering 1979: 82). Die vorherigen Ausführungen zum Spiel haben deutlich gezeigt, dass das Spiel in Abgrenzung zu anderen Verhaltensbereichen gedacht wird. Folgende zwei Problemkreise sollen nun diskutiert werden: Spiel und Ernst sowie darauf folgend Spiel und Arbeit. Es ist schwierig, diese beiden Beziehungsgefüge voneinander trennscharf zu diskutieren, bedingen sie einander auf die eine oder andere Art gegenseitig. Trotzdem soll eine solche Grenzziehung vorgenommen werden mit dem Versuch, jeder konfrontativen Begriffsgegenüberstellung eigene Schwerpunkte zu geben.
2.5.3 Spiel und Ernst »Man geht also von der relevanten Kategorie ›Ernst‹ aus und bestimmt den Begriff Spiel per viam negationis« (Hering 1979: 78).
Neben dem begrifflichen Gegenpart Arbeit zum Spiel findet sich der Terminus Ernst. Hering gibt in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass sich die Diskussion um das Verhältnis von Spiel und Arbeit in der Kontrastierung von Spiel und Ernst gemeinhin wiederholt (vgl. Hering 1979: 78). Dies mag im Großen zutreffen, allerdings lassen sich auch veränderte Argumentationsstrategien aufzeigen, die im Folgenden nachgezeichnet werden.
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2.5.3.1 Diskussion: Entstehungsgeschichte von Spiel und Ernst In Bezug auf die zeitliche Abfolge der Begriffsbildung von Spiel und Ernst lässt sich eine kontroverse Auseinandersetzung in der Literatur ausmachen, die eng mit der Wertung dieser Termini zusammenhängt. Einerseits herrscht die Auffassung vor, das Spiel im Vergleich zum Ernst als belanglos zu deuten und daher zu diskriminieren (vgl. Schottmayer/Christmann 1975: 390f.). Denn das Spiel so Fink, erscheint uns »als ein Randphänomen in der menschlichen Lebenslandschaft, die in entscheidender Weise durch ernstere Phänomene bestimmt und geprägt wird« (Fink 1960: 9). Dem Spiel hafte daher etwas Minderwertiges an, das aus einer Überhöhung von Ernst resultiert, und dies ist entscheidend für die Suche nach einer Definition von Spiel: »Man geht also von der relevanten Kategorie ›Ernst‹ aus und bestimmt den Begriff Spiel per viam negationis« (Hering 1979: 78). Dieser methodische Weg einer NegativFormel von Spiel mithilfe eines Gegenbegriffs wurde bereits im Rahmen der Darstellung der Auseinandersetzung aufgezeigt, wie sich Spiel definieren lässt (vgl. S. 125ff.). Andererseits wird aber auch genau der umgekehrte Pfad eingeschlagen, den Huizinga als die einzig gangbare Definitionsrichtung ansieht. So erklärt er zwar ebenfalls, dass die Begriffe Spiel und Ernst nicht gleichwertig seien, er bestimmt das Spiel jedoch als eine Kategorie höherer Ordnung als den Ernst und beurteilt das Begriffspaar wie folgt: »Spiel ist der positive, Ernst der negative« Terminus (Huizinga 1997: 56; Herv. i.O.). Die Überhöhung des Spielbegriffs im Vergleich zum Ernst führt dann in ihrer Konsequenz dazu, dass die zeitliche Abfolge der Entstehungsgesichte von Spiel und Ernst von Huizinga umgedreht wird (vgl. Eichler 1979: 44). So folgt Huizinga der Annahme, dass das Spiel seinen Gegenbegriff, den Ernst, selbst gebildet habe, denn »die Bezeichnungen für Ernst im Griechischen wie im Germanischen oder auch anderswo« seien als sekundärer Versuch der Sprache zu verstehen »gegenüber dem allgemeinen Begriff Spiel einen für Nichtspiel zu prägen« (Huizinga 1997: 56). Somit ist das Spiel für Huizinga die geschichtlich grundlegendere, allgemeinere Kategorie als der Ernst. Allerdings sprechen vier Aspekte gegen eine solche Absolutsetzung. Erstens wird hier in dieser Arbeit die These vertreten, dass das Spiel als begriffliche Wirklichkeit aufgrund von gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen entstanden ist. Dem Spiel geht folglich ein ›vorher‹ voraus, seine »Entstehung ist eine Konsequenz der Herausbildung einer erstmals gesamtgesellschaftlich verbindlichen Norm von ›Ernst‹« (Eichler 1979: 23). Betrachtet man die deutsche Wortgeschichte von Spiel, dann wurde der Ernst stets als das Wichtige, Notwen-
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dige angesehen, während dem Spiel vor allem negative Inhalte zugesprochen wurden. Das Spiel wird aufgrund einer bestimmten moralischen Ideologie, die über die Jahrhunderte Bestand hatte, dem Ernst untergeordnet. Durch diese negative Konnotierung erfolgt eine Verengung des Spielbegriffs, und zwar auf den Bereich des Lasterhaften und Marginalen. Spiel bezeichnet den Bereich der Nicht-Teilhabe, ist »als sprachliche Realität Konsequenz und Instrument gesellschaftlicher Herrschaft« (Eichler 1979: 26). Obwohl die Argumentation Huizingas in seiner Theorie des Spiels als Urphänomen, als Kulturfaktor und Kategorie höherer Ordnung in sich schlüssig erscheint, steht sie doch im Widerspruch zur gesellschaftlichen Sprachwirklichkeit. Zweitens ist Huizingas methodischer Weg zweifelhaft. Wenn er auch Recht haben mag, dass in der Menschheitsgeschichte Spiel und Ernst erst spät voneinander abgegrenzt wurden, ist die folgende Aussage nicht haltbar: »Das Aufkommen einer Bezeichnung für Ernst bedeutet, daß der Begriffskomplex Spiel als selbständige allgemeine Kategorie zum Bewußtsein gekommen ist« (Huizinga 1997: 56; Herv. i.O.). Damit wird ein Anachronismus vorgenommen: der älteren Etikettierung des Menschen als Homo sapiens bzw. des Homo faber wird der Homo ludens zur Seite gestellt. Die Kulturleistungen des Menschen, dem das Bewusstsein einer Unterscheidung zwischen Spiel und Ernst noch fehlte, werden auf die Spielelemente hin überprüft und nicht auf den Menschen als aktiven, schaffenden Gestalter seiner Umwelt (vgl. Giesz 2003: 101). Drittens zeigt sich das Problem der Entstehungsgeschichte von Spiel und Ernst in einer phänomenologisch vorgenommenen Zirkeldefinition. Erst wird phänomenologisch bestimmt, was Spiel nicht ist. Spiel ist nicht Nicht-Pflicht, Nicht-Aufgabe, Nicht-Notwendigkeit (vgl. Huizinga 1997: 16), es ist nicht Kampf ums Dasein, nicht Not oder Sorge (Scheuerl 1979: 69f.). Dann wird ein für den so gewonnenen Spielbegriff – als Nicht-Teilhabe, Nicht-Notwendigkeit – ein komplementärer Ernstbegriff abgeleitet. Eine empirische Überprüfung dieser Negativ-Definition wird aufgrund einer phänomenologischen Überhöhung von Spiel abgelehnt. »Diese Zirkeldefinition zerschneidet Wirklichkeit gemäß vorgängiger, ideologischer Interpretation« (Eichler 1979: 45). Und während viertens der Begriff Ernst sensu Huizinga das Spiel ausschließt, denn der Bedeutungsinhalt von Ernst sei mit der Verneinung von Spiel erschöpft und dadurch bestimmt, kann das Spiel dagegen Ernst mit einschließen, »Spiel ist etwas Eigenes« (Huizinga 1997: 56). So wird laut Giesz »natürlich Alles zum Spiel«, was auch dem Spielbegriff keinen Dienst erweise (Giesz 2003: 102, Herv. i.O.). Ein solche Argumentation zugunsten des Spiels als Kategorie höherer Ordnung ist insgesamt aus erfahrungswissenschaftlicher Sicht allein ein Spiel
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mit Worten: »Entweder sind beide Wirklichkeiten, wie auch immer operationalisiert, vereinbar – dann nicht a priori eine zu Lasten der anderen. Oder sie sind nicht vereinbar – dann aber auch wirklich nicht« (Eichler 1979: 44).
2.5.3.2 Ernsthaftes Spielen? Versuchen wir also, uns dem Problem zu stellen. Lassen sich Ernst und Spiel vereinen? Eine Ernsthaftigkeit im Spiel lässt sich laut vieler Autoren kaum leugnen (vgl. Hering 1979: 79f.; Eichler 1979: 44). Trotzdem ist der Ernstbegriff zum Antagonismus von Spiel avanciert. So ließe sich die argumentieren, dass Spielen nur in einer paradoxen Situation möglich ist: »Einerseits setzt es voraus, dass zwischen dem, was Spiel ist, und dem, was Nicht-Spiel ist, unterschieden werden kann. Andererseits ist Spiel erst wirklich Spiel, wenn der Spieler davon ergriffen wird, wenn er ›ernsthaft‹ spielt« (Baatz 1993: 12). Betrachtet man die Unterschiedlichkeit von Spiel und Ernst auf der Handlungsebene, dann zeichnen sich »vollständige« Handlungen nach Oerter, die er auch als »Ernsthandlungen« begreift, durch a) das Ziel, b) die Handlung, c) das Ergebnis und d) die Folge aus (Oerter 1993: 5). Oerter, der sich bei seinen Überlegungen an das Handlungsmodell von Heckhausen anlehnt, versucht nun, die Handlungsstruktur von Spiel und Ernst miteinander zu vergleichen. In diesem Zusammenhang hebt er zunächst das Merkmal der Zweckfreiheit im Spiel hervor. Die Zweckfreiheit des Spiels führe dazu, dass die Handlungsfolge bei der Handlungsstruktur des Spiels im Gegensatz zur Ernsthandlung fehle, denn das Spiel werde um seiner selbst willen ausgeübt (vgl. Abbildung 3). Handlungsstruktur von »Ernsthandlungen«: Ziel
Handlung
Ergebnis
Folge
Handlungsstruktur des Spiels: Ziel
Handlung
Ergebnis
Abbildung 3: Gegenüberstellung der Handlungsstruktur des Spiels zur Ernsttätigkeit nach Oerter Quelle: Oerter 1993: 6.
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Allerdings ist an dieser Stelle der Einwand zu erheben, dass an der beobachtbaren Handlung selbst sich nicht ablesen lässt, ob sie spielerischer oder ernster Natur ist. Die Unterscheidung von Spiel und Ernst kann hier allein an der Haltung des Handelnden gegenüber dem, was er macht, festgestellt werden. Es geht schließlich um die psychische Handlungsstruktur, die hier von Oerter abgebildet wird. Es ist eine Handlungskette des ›Innerlichen‹, des Subjektiven, der äußere – beobachtbare – Ablauf zwischen Spiel- und Ernsthandlung wäre demnach nicht unbedingt verschieden. Aus diesem Grund zeichnen sich ernsthafte Handlungen nach dem Schema von Oerter durch ihre beabsichtigten Folgen aus, die außerhalb der Handlung selbst liegen. Oerter vertritt folglich eine psychologisch-handlungstheoretische Sichtweise auf das Spiel.108 Die Zweckfreiheit als grundlegendes Spielmerkmal hat zur Konsequenz, dass die Handlungsfolge in der Spiel-Handlungskette ausbleibt und die Spiel- hier durch von der Ernsthandlung divergiert. Die Folge im Handlungsmodell ist nach Oerter allerdings bei fast allen Handlungen das wichtigste Kennzeichen. Als prototypische Tätigkeit nennt er die Arbeit. Rücken also die Folgen beim Spiel »ins Blickfeld, dann wandelt sich das Spiel in die Arbeit« (Oerter 1993: 5). Demnach ist eine Vereinbarkeit von Spiel und Ernst auf Handlungsebene aufgrund der aufgezeigten unterschiedlichen Handlungsstrukturen nach Oerter nicht möglich, wobei der Ernstbegriff bei Oerter durch die Arbeit prototypisch ›operationalisiert‹ wird. Somit kann der Ernstbegriff als Kategorie höherer Ordnung als der der Arbeit bei Oerter interpretiert werden. Ernst als ›psychischer Existenzbegriff‹ steht im Gegensatz zur Zweckfreiheit des Spiels, mit dem keine intentionalen Folgen beabsichtigt werden. Somit entscheidet hier die psychische Gestimmtheit des Handelnden, die Absicht oder Nicht-Absicht seines Tuns, also was Spiel und was Ernst ist. Aus dieser handlungsorientierten psychologischen Sichtweise sind Spiel und Ernst nicht miteinander vereinbar: denn Spiel unterliegt keinem Zweck während der Ernst aus dieser Sicht stets mit einer beabsichtigten Handlungsfolge verknüpft ist.
2.5.3.3 Das Postulat der Zweckfreiheit Die Zweckfreiheit im Spiel als vornehmliches, konsensfähiges Spielmerkmal, das in fast allen spieltheoretischen Überlegungen auftaucht, scheint das ent-
108 Obwohl sich Oerter auf das Spiel des Kindes konzentriert, unterstreicht er die Bedeutung des Spiels aber auch dahingehend, dass auch der Erwachsene spielt, wenn auch in etwas modifizierter Form.
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scheidende Merkmal zu sein, das zwischen Spiel und Arbeit bzw. Spiel und Ernst trennt. Aus der Fülle der theoretischen Ansätze sollen hier kurz nochmals einige Belege wiedergeben werden: Kant sieht das Spiel als eine zweckfreie Tätigkeit an; es unterliegt, im Gegensatz zur Arbeit, keiner Absicht, die funktionalen Charakter besitzt (vgl. Kant 1968, Abs. 66: 56f.). Auch stellt Spiel der Arbeit bzw. dem Ernst gegenüber und sieht die Freiheit von Zwecken als unabdingbares Spielmerkmal an (vgl. Schiller 1993: 64ff.; 15. Brief). Etwa ein halbes Jahrhundert später kam auch Julius Schaller zu dem Schluss, dass das Spiel frei von Zwecken sei (vgl. Schaller 1861: 42ff.) und Lazarus spricht davon, dass das Spiel ohne Absicht unternommen werde, demnach als zweckfrei zu bestimmen ist (Lazarus o.J.: 25). Auch Groos erklärt, dass das Spiel um seiner »selbst willen genossen werde« (Groos 1973: 493). Das zweckfreie Erleben bedingt das Spiel, wodurch intentionale Zielsetzungen ausgeschlossen sind. Gleichermaßen obliegt für Huizinga das Spiel keiner Forderung oder Aufgabe (vgl. Huizinga 1997: 16.). Hier lassen sich noch zahlreiche weitere Autoren benennen, die die Zweckfreiheit am Spiel hervorheben.109 Dominierend und folgenreich für die vorliegende Fragestellung ist der Umstand, dass all diese Bestimmungen negativer Natur sind. Alle Autoren erklären, was Spiel nicht ist: Es ist nicht zweckgebunden. Es handelt sich hier um die grundlegende Negativ-Formel von Spiel. Auch Scheuerl versucht, auf Basis der Zweckfreiheit des Spiels eine Schematisierung vorzunehmen (vgl. Abbildung 4). In diesem Kontext sind die weiteren Ausführungen vor dem Hintergrund der Fragestellung zu verstehen, ob entgegen der handlungstheoretisch-psychologischen Sichtweise aus phänomenologischer Perspektive Spiel und Ernst vereinbar sind. Betrachtet man die Abbildung, dann verweist der Pfeil auf einen Zweck, ein Bedürfnis außerhalb der Tätigkeit, während das andere Symbol für Unendlichkeit stehen soll (zum Moment der Unendlichkeit bei Scheuerl vgl. 1979: 72ff.). Die Geschlossenheit, die Unendlichkeit, der Wiederholungscharakter des Spiels, dargestellt durch den Kreis, verweisen auf die Selbstreferenzialität im Spiel – ein wichtiger Aspekt, den Kant gegenüber dem Spiel misstrauisch werden ließ. Das Spiel bezieht sich auf sich selbst im Gegensatz zu Zweckhandlungen, die Scheuerl auch als Bedürfnishandlung charakterisiert. Im Gegensatz zur Zweckhandlung steht beim Spiel nach Scheuerl die Handlung selbst im Vordergrund: »Hält man sich rein an das phänomenal Gegebene, so erscheint das
109 So lässt sich hier etwa noch Herbert Spencer nennen. Das Spiel verwirklicht sich bei ihm frei von objektiven Zwecken (vgl. Spencer 1897: 628). Auch William Stern beschreibt das Spiel als »konsequenzlos« (Stern 1923: 243). Weitere Wissenschaftler, die herangezogen werden könnten, sind Aloys Fischer (1925), Gustav Bally (1945) sowie Erik H. Erikson (1965).
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2. Sozialhistorische Analyse – Das Spiel und seine konzeptionellen Gegenbegriffe
Zweckhandlung
Spielhandlung
Abbildung 4: Zweck- und Spielhandlung nach Scheuerl Quelle: In Anlehnung an Scheuerl 1979: 78.110
Spiel nicht als Weg, sich von Notdurft zu befreien, sondern als jubelnder Ausdruck dafür, dass man von ihr schon befreit ist« (Scheuerl 1979: 74; Herv. i.O.). Diese Argumentation ist entscheidend, denn aus phänomenologischer Sichtweise ist laut Scheuerl zwischen Spielgeschehen und Spieltätigkeit zu trennen. In diesem Sinn ist bezüglich der Visualisierung der Unterscheidung zwischen Spiel- und Zweckhandlung folgende Einschränkung zu treffen: Die Spielhandlung als solche sieht Scheuerl nicht als zweckfrei an: »Eine zwecklose Handlung wäre eine contradictio in adjecto; denn eine Handlung ist dadurch definiert, daß sie (…) darauf gerichtet ist, etwas hervorzubringen« (Scheuerl 1979: 191). Was Scheuerl mit Zweckfreiheit des Spiels meint, ist das eigentliche Spielgeschehen, der Moment, in dem das Spiel gespielt wird, das im Spiel Unterhaltende, das unabhängig von Bedürfnissen und Zwecken gedacht wird. Nicht das Bedürfnis des Spielers z.B. seine Lust am Spiel oder sein Motiv, Langeweile zu überbrücken, also die kausale Entstehungsgrundlage des Spielens bestimmt aus phänomenaler Sicht die Zweckfreiheit, sondern die konkrete Erscheinung, die nach Scheuerl durch die Verbindung objektiver Kriterien (frei, unendlich, scheinhaft, ambivalent, geschlossen und gegenwärtig) bestimmt ist (Scheuerl 1979: 192). Im Gegensatz zur erklärenden Psychologie ist »echtes« Spiel nach Scheuerl unabhängig von psychischen Bedürfnissen, Motiven, Hal-
110 »Solche Schemata enthalten eine Gefahr: Sie stellen sehr vielschichtige und komplizierte Gegebenheiten so dar, also ob sie sehr einfach wären. Man muß sich ihrer Vieldeutigkeit bewußt bleiben. Ist man sich dieser Vieldeutigkeit aber bewußt, so können sie zu einer wertvollen Stütze des Denkens werden. Denn gerade durch ihre Mehrdeutigkeit ist in ihnen simultan-anschaulich vereint, was in Worten nur sukzessiv und oft nicht einmal in einem einzigen Gedankengang, sondern nur nacheinander von mehreren Ansätzen aus darstellbar wäre« (Scheuerl 1979: 78).
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tungen des Spielenden, »ebenso wie eine Arbeit objektiv Arbeit bleibt unabhängig davon, ob der Arbeitende sie freudig oder mißmutig, angestrengt oder leicht vollbringt, ob er sie um der Pflicht, um des Lohnes oder um der Sache selbst willen tut« (Scheuerl 1979: 108). Folglich sind nach Scheuerl Ernst und Spiel vereinbar, Arbeit und Spiel allerdings nicht. Damit ist gemeint, dass, wenn man die Handlungen ›entkleidet‹, die Wesensbestimmung übrig bleibt. Und das Wesen des Spiels unterscheidet sich von dem Wesen der zweckbestimmten Arbeit. Im Gegensatz zur Arbeit wird im Spiel ein doppelter Begriff des Ernstes zugelassen (vgl. Eichler 1979: 46). Der Ernst kann dem Spiel zugeschrieben werden, indem man ernsthaft spielt, und auch der Arbeit, indem man ernsthaft arbeitet. So werden psychische Haltungen aus phänomenologischer Perspektive bei der Spieldefinition ausgeschlossen und damit die Möglichkeit eröffnet, dass der Ernst im Spiel gestattet wird. Dadurch werden Spiel und Ernst allerdings zu relativen Begriffen und verlieren damit ihren hohen Stellenwert (vgl. Giesz 2003: 101). Zusammenfassend hängt es folglich erstens von der jeweiligen wissenschaftlichen Perspektive ab, ob Ernst und Spiel vereinbar sind: Ist die innere Haltung des Handelnden bestimmend und diese mit einem Zweck verbunden, mit einer Absicht der Folge seines Tuns, dann ist dies eine Ernsthandlung und kann nicht Spiel sein. Dies ist eine psychologisch-handlungsorientierte Sichtweise. Ist dagegen das Spiel phänomenologisch als Urphänomen bestimmt, dann schließt das Spiel den Ernst nicht aus. Zweitens hat sich herauskristallisiert, dass für die Vereinbarkeit von Spiel und Ernst entscheidend ist, was unter Ernst verstanden wird. Wie vorab festgestellt wurde, gibt es keine allgemeingültige Definition von Spiel. Dasselbe scheint auch für den Ernstbegriff zuzutreffen. So lässt sich Ernst nach Giesz auch gar nicht definieren (Giesz 2003: 100). Wird dabei der Ernst als zweckbestimmt betrachtet, dann schließt er gemäß der vorangegangen Überlegungen das Spiel aus. Auch wenn der Zweck der Arbeit zugeschrieben wird, gilt dasselbe. Folglich kann konstatiert werden, dass die Zweckfreiheit und die damit assoziierte Begrifflichkeit, also die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit darüber entscheidet, was Spiel ist und was nicht und ob sich Spiel und Ernst vereinen lassen oder sie unvereinbar sind.
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2. Sozialhistorische Analyse – Das Spiel und seine konzeptionellen Gegenbegriffe
2.5.4 Spiel und Arbeit »Auch bei Huizinga behält der Spielbegriff seine aristokratische Prägung, bleibt er der entscheidenden Negation ›Nicht-Arbeit‹ verhaftet« (Eichler 1979: 43).
Folgt man Hobsbawms (1998) Epochenbezeichnung des »kurzen 20. Jahrhunderts« nach dann gilt auch am Ende dieser Periode noch der Antagonismus zwischen Spiel und Arbeit. Paradigmatisch lässt sich dieser beibehaltene Gegensatz von Spiel und Arbeit an Spieldefinitionen populärer Nachschlagewerke ablesen. Spiel dient im »Unterschied zur Arbeit (…) nicht der Verwirklichung eines gegenständlichen Ziels« (Brockhaus-Enzyklopädie 1973: 725). Daraus ableitend erklärt Hering, dass schon allein »das Postulat der Zweckfreiheit« des Spiels zu der Abgrenzung »Spiel-Arbeit« führen muss (vgl. Hering 1979: 75f.). Die Auseinandersetzung des Spiels im Sinne von Zweckfreiheit wurde bereits am Spiel-Ernst-Diskurs erörtert. Folgt man diesem ›Marker‹, der Zweckfreiheit, um auch Spiel und Arbeit voneinander abzugrenzen, dann könnte eine Bündelung dieser Gegenüberstellung und der zugeschriebenen Assoziationen, die sich aus der bisherigen Analyse ergeben haben, exemplarisch wie folgt aussehen: Einerseits ließe sich diese ›vereinfachte‹ visuelle Kontrastierung, wie in Abbildung 5 (S. 153) vorgenommen, mit weiteren Begriffen anfüllen, also die Gegenüberstellung weiterführen, wenn man an der Negativ-Formel von Spiel als Nicht-Arbeit festhält. Denn aus einer solchen Sichtweise bestimmt das kulturelle Vorverständnis von Arbeit das, was als Spiel gilt. »Kern des Verständnisses und der Definitionen von ›Spiel‹ ist die schein-exakte Abgrenzung gegen einen gesellschaftlich verpflichtenden, damit eingrenzbaren Wirklichkeitsbereich ›Arbeit‹ bzw. ›Notwendigkeit‹« (Eichler 1979: 35). Allerdings ist die Entgegensetzung, wie Eichler zurecht erklärt, nur »schein-exakt«, verschleiert doch andererseits eine solche Visualisierung der Konfrontation des Spiels mit der Arbeit die komplexe Problematik der Beziehung dieser Begriffe zueinander: Die Frage nach Überschneidungen und Strukturähnlichkeiten von Spiel und Arbeit darf nicht ungestellt bleiben. Diese Frage ist berechtigt und sinnvoll. Doch vorab erscheint es notwendig, eine Spiel- und Arbeitsbewertung in seiner Gesamtschau in Bezug auf die bisher erarbeiteten sozialgeschichtlichen Entwicklungszusammenhänge vorzunehmen.
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Spiel
Arbeit
Erholung/Lust Freizeit Folgenlos Schein Ungewöhnlich Prozessorientiert Leicht Auf das Kind bezogen Sinnfrei Selbstbestimmt Freiwilligkeit
Anstrengung Arbeitszeit Notwendigkeit Wirklichkeit Gewöhnlich Produktorientiert Schwer Auf den Erwachsenen bezogen Sinnhaft Fremdbestimmt Pflicht
Abbildung 5: Spiel- und Arbeitsverständnis vor dem Hintergrund sozialgeschichtlicher Entwicklungszusammenhänge (Auswahl) Quelle: Eigene Darstellung.
2.5.4.1 Spielsemantik im gesellschaftlichen Wandel – Die unfreie Arbeit und das freie Spiel? Sprachliche Wirklichkeit wird federführend von gesellschaftlichen Eliten geschaffen. Bestimmte Interessen sind mit der Sprachpraxis verbunden. Betrachten wir Spiel und Arbeit unter einer sozial-begriffsanalytischen Perspektive, dann ist zunächst hervorzuheben, dass Arbeit im griechisch-klassischen Altertum einen minderwertigen Status besaß. Sie ist die Tätigkeit der Sklaven und Unfreien. Stattdessen konnten sich die Adeligen einem Leben widmen, das »frei vom Zwang zur Arbeit« war und in dessen Mittelpunkt »Kriegsführung, Wettkämpfe und Feierlichkeiten standen« (Grunert 2004: 23). Die Assoziation des Spiels mit
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2. Sozialhistorische Analyse – Das Spiel und seine konzeptionellen Gegenbegriffe
Wettbewerb und Feste feiern ist wahrscheinlich ein ausschlaggebender Grund, der zu der allgemeinen Annahme einer positiven antik-griechischen Spieldeutung geführt hat. Doch vor allem wurde das Spiel unter pädagogischen Gesichtspunkten von den ›alten‹ Griechen als bedeutungsvoll eingestuft (vgl. S. 20ff.). Doch der dem Spiel zugeschriebene pädagogische Wert sowie die semantische Bedeutung dieser Bezeichnung ändern sich mit der sozialhistorischen Aufwertung der Arbeit ab dem Mittelalter. Mit der christlichen Interpretation vom Sündenfall wurde »die Sprache der Arbeit zum Mittel der Buße und Möglichkeit der Erlösung« (Foucault 1973: 89). Als Folge wurde der Bereich des Spiels ab dato negativ bewertet, bezeichnet es doch eine gesellschaftliche Wirklichkeit, die als Nicht-Arbeit beurteilt wurde. Der Gegensatz von Spiel und Arbeit sitzt tief in einer Gesellschaft, die durch den Sündenfall, durch die calvinistische Glaubensfrage, den Geist des Kapitalismus und durch Prinzipien der asketischen Lebensführung geprägt ist. Allem, was Nicht-Arbeit war, widerfuhr eine skeptische Betrachtung. Die Frage nach einer Definition von Spiel ist folglich auch immer vor dem Horizont von Arbeit zu lesen: Durch die Jahrhunderte wird das Spiel als Antagonismus zur Arbeit charakterisiert. Wie die Ausführungen offenbaren, ist die Definition von Spiel als Nicht-Arbeit vor dem Hintergrund weltanschaulicher Grundsatzdiskussionen und sozialgeschichtlicher Entwicklungszusammenhänge zu deuten. Und solange die Arbeit positiv bewertet wird, ist die logische Konsequenz, dass das Spiel einer gesellschaftlichen Negativzuschreibung verhaftet bleibt. Eine gesellschaftliche Aufwertung des Spiels lässt sich nach dieser Argumentation erst dann vollziehen, wenn Arbeit mit negativen Assoziationen verbunden wird, wie es in der rationalisierten industriellen Arbeit der Fall war bzw. ist. Die Industriegesellschaft war vor allem durch die Produktion von Gütern in Fabriken und durch Arbeitsteilung gekennzeichnet. Das grundlegende Konzept der Arbeitsproduktion im industriellen Zeitalter bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts basierte auf tayloristischen Grundsätzen. Der Industriepsychologe Frederick Winslow Taylor (1856-1915) setzte sich mit der Frage auseinander, wie die Effizienz in Unternehmen gesteigert werden kann. Um diese Frage zu beantworten, nimmt er die Arbeitsteilung und die Arbeitsorganisation in der Produktion in den Blick. Darüber empfiehlt er, die unternehmerische Planung strikt von der Umsetzung zu trennen. Während die vorindustrielle technische Produktion durch komplexes Handwerk bestimmt war und die Arbeiter am gestalterischem Konzept beteiligt waren, sollte unter dem neuen System die von Taylor genannte »Kopfarbeit« allein von der Betriebsleitung übernommen werden, und zwar in
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Übereinstimmung mit wissenschaftlich fundierten Kenntnissen und Methoden (vgl. Taylor 1913: 40). Exemplarisch lässt sich diese Arbeitsweise der Industriegesellschaft an der Automobilindustrie aufzeigen – der »Paradeindustrie« oder »die Industrie der Industrien« des 20. Jahrhunderts (Drucker 1966: 210). Henry Ford (1863-1947), auf den der Begriff des Fordismus zurückgeht,111 setzte die tayloristischen Grundsätze in der Autoproduktion um. Die von Ford eingeführten Unternehmensstrukturen gründen sich auf das 1913 eingeführte Fließband sowie auf die Herstellung spezieller Maschinen, die nach Arbeitsvorgängen angeordnet werden. Ziel ist die Kostensenkung des Unternehmens bei gleichzeitig guter Qualität durch Massenanfertigung, realisiert durch Rationalisierung mittels Fließband. Dies stellt den Beginn der Serienfertigung dar. »Ford war der erste Autohersteller, der ein standardisiertes Produkt aus austauschbaren Teilen herstellte« (Rifkin 2004: 97). Da die Einzelteile alle gleich beschaffen und die Arbeitsabläufe zerlegt und anspruchslos waren, benötigte Ford keine ausgebildeten Facharbeiter mehr. Im Vergleich dazu war die bisherige vorindustrielle Organisation der Automobilproduktion handwerklich bestimmt und an der individuellen Anfertigung jedes einzelnen Exemplars ausgerichtet. Die Facharbeiter verrichteten viele diffizile Tätigkeiten in Montagegruppen an den Automobilen, handelten weitestgehend autonom und die Werkstätten waren durch Dezentralisierung gekennzeichnet (vgl. Sennett 2000: 49). Anstatt Facharbeiter stellte Ford bei der Industrialisierung seiner Produktion Arbeiter ohne Qualifikation ein. Sie sollten keinen Einfluss auf die Produktion nehmen, denn diese lag dem tayloristischem Prinzip folgend in den Händen des Managements. Urteilsvermögen, Eigeninitiative und Spontaneität – Elemente intrinsischer Motivation, die das Erleben von Flow (Csikszentmihalyi) fördern – galt es bei den fordistischen Arbeitern durch strenge Disziplin zu unterdrücken, damit »es völlig ausgeschlossen ist, den Leuten auch nur vorübergehend ihren Willen zu lassen« (Ford 1923: 129). Voß und Pongratz benennen diesen Typus von Arbeitskraft den verberuflichten Arbeitnehmer des Fordismus, der seine Arbeitskraft als Massenware in standardisierter Form verkauft (vgl. Voß/Pongratz 1998: 147f.; siehe auch S. 192ff.).
111 Henry Ford gründete den amerikanischen Automobilkonzern Ford Motor Company. Die Ford Motor Company ist heute zweitgrößter Kfz-Produzent der Erde. Sie erlangte vor allem durch die Herstellung des Serienwagens »Tin Lizzi«, kurz das Modell T (1908-1927), weltweites Renommee. Neben PKW-Herstellung baut die Ford Motor Company auch Lkw, Traktoren, Ausstattung für die Raumfahrt und für die Rüstungsindustrie, erzeugt Glas, Stahl- und elektronische Artikel. Die Ford Motor Comany hat zahlreiche Tochtergesellschaften, u.a. die Ford-Werke AG in Köln.
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2. Sozialhistorische Analyse – Das Spiel und seine konzeptionellen Gegenbegriffe
Die Qualität der Arbeitsstruktur im fordistischem System ist durch einen hohen Leistungsdruck aufgrund der Taktung des Fließbandes, durch ständige Kontrolle, Unflexibilität und Starrheit gekennzeichnet. Es erfolgt eine radikale Vereinfachung der eigenen Arbeit, die häufig mit dem Verlust identitätsstiftender Elemente einhergeht.112 Arbeit wird häufig mit Entfremdung verbunden, soziale Missstände werden mit unfreien Arbeitsbedingungen verknüpft. Dadurch wird ein selbstbestimmter Bereich, der des Spiels, der entfremdeten Arbeit entgegengehalten (vgl. Eichler 1979: 64). Spiel und Freizeit werden als Freiheit aufgefasst und Freiheit wird seitdem zum bestimmenden Spielmerkmal, etwa bei einschlägigen kulturanthropologischen Spielauffassungen (vgl. Huizinga 1997: 16) oder bei phänomenologischen Spieldeutungen (vgl. Scheuerl 1979: 69f.). Die vormalige Bewertung des Spiels als lasterhaft und marginal wird nun umgewertet, das Spiel wird zur selbstbestimmten, freien Tätigkeit, die sich vom Bereich des Müssens, des Notwendigen, der entfremdeten Arbeit, die wiederum negativ bewertet wird, abgrenzt. Somit ist es zu dieser positiven Besetzung von Spiel im 20. Jahrhundert:113 einer langer, verschlungener geistesgeschichtlicher Weg, entlang dessen sich aber zeigt, dass das Spiel als gesellschaftliche Wirklichkeit einem geschichtlichen Bedeutungswandel unterliegt. Allerdings stoßen wir bei der Umwertung von Spiel zu einer positiven Lebenssphäre auf ein Problem: das Missverhältnis zwischen definitorischer und inhaltlicher Spielbestimmung.
2.5.4.2 Inhaltliche und definitorische Spieldiskrepanz Im Mittelalter, in der frühen Neuzeit sowie zu Beginn der Moderne wurde das Spiel – bis auf wenige Ausnahmen– negativ bewertet. Vor allem dem kindlichen
112 Zu erwähnen ist aber auch, dass Ford ein Sozialsystem zur Absicherung einführte sowie den 5Dollar- und den 8-Stunden-Tag, was eine – aus Arbeitnehmersicht – positive Entwicklung bedeutete. Insgesamt stießen Fords Methoden schnell auf Begeisterung und fanden Nachahmung. So wurden die bei Ford »massengefertigten, standardisierten Produkte (…) für das nächste halbe Jahrhundert zum Vorbild für die gesamte Industrie« (Rifkin 2004: 97). Vor allem die hohe Produktivität, die Langlebigkeit der Produkte sowie die beständigen Verhältnisse auf den Märkten führte dazu, dass diese Art der Industrieorganisation ihre Rechtfertigung erfuhr (vgl. Picot/ Reichwald/Wigand 2001: 9). 113 Obwohl in abgeschwächter Form auch eine negative Einschätzung von Spiel im 20. Jahrhundert weiterhin Bestand hat – beispielsweise nennt Maria Montessori das Spiel als einen »circulus vitiosus von Nichtigkeiten« (Montessori 1952: 170), hat sich das Spiel – vor allem das kindliche Spiel – als eine eigene Sphäre des Rechts längst durchgesetzt (vgl. Parmentier 2004: 932f.).
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Spiel wurden Funktions- und Sinnzuschreibungen zugesprochen, doch insgesamt galt es, das Spiel als kindlich eingestufte Tätigkeit zu überwinden und die Arbeit als dominierende Tätigkeit des Erwachsenen zu akzeptieren. In diesen sozialgeschichtlichen Entwicklungszusammenhängen, in denen eine vorherrschend negative Beziehung zum Gegenstand Spiel nachweislich ist, stimmt die definitorische mit der inhaltlichen Abgrenzung zum Bereich Arbeit überein. Spiel bezeichnet Nicht-Teilhabe, Nicht-Ernsthaftigkeit, und es ist diese Negativ-Zuschreibung, die das Spiel von der Arbeit trennt. »Negativ-Definition und gesellschaftliche ›Ächtung‹ fallen zusammen« (Eichler 1979: 32). Die Frage, die sich nun stellt, ist folgende: Wird aufgrund einer positiven Spielbewertung auch die Negativ-Formel, das Spiel als Nicht-Arbeit, konsequenterweise aufgegeben? Werden also Strukturähnlichkeiten zwischen Spiel und Arbeit gesehen, akzeptiert und zugelassen, was den Bedeutungshorizont für sinnvolle Synergieeffekte zwischen Spiel und Arbeit eröffnen würde? Diese Frage muss in diesem Kontext mit »nein« beantwortet werden. Paradoxerweise wird an der Negativ-Definition nicht gerüttelt. Die Phänomenologische Spieldeutung hält fest an der Negativ-Formel, kettet sich an die Sprachwirklichkeit von Spiel als Negation von Arbeit, Ernst und Notwendigkeit: »Spiel verfolgt keinen ausserhalb seiner selbst liegenden Zweck. Es ist dadurch von der Arbeit, vom Kampfe ums Dasein, von der Not und der Sorge, vom Ernst und den objektiven Wert- und Zweckordnungen abgehoben. Es ist vor allem frei« (Scheuerl 1979: 69f., Herv. i.O.). Dabei erklärt Scheuerl das Spiel als »Urphänomen (…), d. h. als ein Letztes (oder Erstes)«, als »ein gegebenes und hinzunehmendes, die Struktur der gesamten Erscheinungswelt mitbestimmendes Prinzip« (Scheuerl 1979: 115; Herv. i.O.). Somit wird das Spiel aus phänomenologischer Sicht überhöht, gilt als nicht mehr hinterfragbar und mündet in inhaltlicher Unbestimmtheit. Dieser Kurs läuft letztendlich ins Unverbindliche (vgl. Eichler 1979: 36). Die Begriffsformel Spiel als Nicht-Arbeit wird entgegen einer neuen positiven Semantik des Spielbegriffs gesichert, wodurch, wie eben gesehen, das Spiel zu einer Begriffshülse ›mutiert‹ und Spiel nicht mehr definiert werden kann, wie Scheuerl zu Recht reflexiv einräumt (vgl. Scheuerl 1979: 115).114 In diesem Sinn bleibt das Spiel seiner Negativ-Definition verhaftet und wird formal bedeutungsoffen. Was als Spiel gilt, bestimmt jedoch weiter das jeweilige Verständnis von Arbeit.
114 Dieser Umstand ist als weitere Argumentation zu verstehen, warum ein pragmatischer Ansatz gewählt werden musste, das Spiel anhand eines Spielkatalogs, also jeweils interdisziplinär bestimmen zu müssen (vgl. S. 131ff.).
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So wird das Spiel aus kulturanthropologischen und phänomenologischen Perspektiven als Gegensatz zur Arbeit gedacht. Während etwa Huizinga eine detaillierte Analyse des Spiels und seiner Elemente je in Bezug auf gesellschaftliche Teilbereiche wie etwa Recht, Krieg, Wissenschaft, Sprache etc. (vgl. Huizinga 1997: 89) vornimmt, fehlt ein Kapitel zum Spielcharakter der Arbeit: »Huizinga macht mit der ›Renaissance‹ von ›Spiel‹ also genau dort Halt, wo die formale Definitionsbasis verlorengehen müßte: vor der Diskussion inhaltlicher Strukturidentitäten von Spiel und Arbeit. Auch bei Huizinga behält der Spielbegriff seine aristokratische Prägung, bleibt er der entscheidenden Negation ›Nicht-Arbeit‹ verhaftet« (Eichler 1979: 43). Allerdings lassen sich doch auch interferierende Bezüge herstellen, indem Arbeit als lustvoll erlebt wird oder das Spiel gezielt dazu eingesetzt wird, sich bestimmte Fähigkeiten anzueignen (vgl. Rüssel 1965: 3ff.). Kommt es daher nicht eher auf die Art der Arbeit oder auf eine bestimmte Spielform an, wie Arbeit und Spiel zueinander bewertet werden?
2.5.4.3 Im Flow? – Strukturähnlichkeiten von Spiel und Arbeit Im Folgenden gilt es, möglichen Überschneidungen von Spiel und Arbeit nachzugehen, um ähnliche Strukturen beider Tätigkeiten offenzulegen. In diesem Zusammenhang wird die These vertreten, dass die Qualität des jeweiligen Arbeits- und Spielverlaufs eine bedeutende Quelle für die Entstehung identischer Strukturen ist. Kompetenzerleben und die Meisterung von Herausforderungen werden als Bedürfnisse angenommen, die sowohl für ein positives Erleben von Arbeit als auch für das Spiel gelten müssten. Für die Aufdeckung solcher Strukturähnlichkeiten von Spiel und Arbeit bietet sich erstens das Konzept der intrinsischen Motivation an. Zweitens sind die Untersuchungen des ungarischen Psychologen Csikszentmihalyi interessant, da er der Frage nachging, »inwiefern die bei der Ausführung einer Tätigkeit zu beobachtende intrinsische Motivation auf die Qualität des während der Tätigkeit auftretenden Erlebens zurückgeführt werden kann« (Csikszentmihalyi/Schiefele 1993: 208). Liegt nach heutigen Erkenntnissen der Anreiz einer Tätigkeit in ihr selbst, so lässt sich sensu Schiefele von intrinsischer Motivation sprechen (Schiefele 1996: 52). Rheinberg erklärt, dass diese Form der Motivation, die von »tätigkeitsspezifischen Vollzugsanreizen« getragen wird, sich bereits in den sehr differenzierten Analysen von Groos finden (Rheinberg 2006: 333). Groos’ Werk »die Spiele der Menschen« (1899), das bereits in dieser Arbeit behandelt wurde (S. 112ff.), liefert eine Beschreibung und Einteilung der Anreize intrinsischer Motivation
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anhand des Spiels, die auch heute noch Bestand haben. Das Spiel kann als ein Paradebeispiel einer intrinsischen Tätigkeit gedeutet werden, denn der Anreiz des Spiels liegt nicht in den erwarteten Ergebnisfolgen, sondern im Tätigkeitsvollzug selbst. »Gemeinhin führt man die Spielaktivität (…) auf ihren intrinsisch motivierenden Charakter zurück. Die Tätigkeit selbst verstärkt und belohnt« (Oerter 1993: 6). Dagegen würde man die Arbeit eher der extrinsischen Motivation zuschreiben, kann sie doch als eine Tätigkeit bestimmt werden, »die mit instrumenteller Absicht durchgeführt« wird, »um eine von der Handlung separierbare Konsequenz zu erlangen« (Deci/Ryan 1993: 225). In diesem Sinn orientiert man sich bei der Einteilung von intrinsisch und extrinsisch an der Ablaufstruktur der Tätigkeit: »Intrinsisch betrifft den Vollzug der Tätigkeit, extrinsisch das, was der Tätigkeit als beabsichtigter Effekt nachfolgt« (Rheinberg 2006: 333).115 Allerdings beobachtete Csikszentmihalyi (1975) in einer Studie mit Künstlern ein Paradoxon: Während er das Verhalten der Künstler studierte, fiel ihm auf, dass einige Maler sehr exzessiv und mit Eifer an ihrem Kunstwerk arbeiteten. Es schien, als könnte nichts anderes ihre Aufmerksamkeit erregen. War allerdings das Bild fertig gestellt, dann verloren sie an ihrem Werk das Interesse. Es faszinierte sie nicht mehr, es hatte seine Attraktivität eingebüßt. Dieses Phänomen beschreibt Rheinberg als »Paradoxon der Leistungsmotivation« (Rheinberg 2006: 345). Strukturell ist leistungsmotiviertes Handeln am Ergebnis orientiert, die Herausforderung muss bestanden werden. Wenn allerdings das Ziel erreicht wurde, so ist der Tätigkeitsanreiz, der gesucht wurde, verloren. In diesem Sinn interessierten sich die von Csikszentmihalyi beobachteten Künstler nicht unbedingt für die Folgen ihres Schaffens. Geld und Anerkennung spielten für sie in Bezug auf die Tätigkeit kaum eine Rolle. Csikszentmihalyi schloss daraus, dass die Motivation der künstlerischen Arbeit in der Tätigkeit selbst liegen muss. Aufgrund dieses Befunds hat (Csikszentmihalyi (1975, 1985) eine große Interviewstudie durchgeführt, um die Elemente des Erlebens herauszufiltern, die eine Tätigkeit so attraktiv werden lässt, dass man nicht mit ihr aufhören möchte. Wie lässt sich also das geringe Vorhandensein handlungsexterner
115 Hinsichtlich der Differenzierung von intrinsischer und extrinsischer Motivation ist zu betonen, dass die extrinsische Belohnung etwa auf die intrinsische Motivation als Verstärkung Einfluss nehmen kann, extrinsisch motiviertes Handeln kann durchaus auch selbstbestimmt sein. Aus diesem Grund wurde die Selbstbestimmungstheorie von Deci und Ryan (1993) um vier Typen extrinsischer Verhaltensregulation erweitert, die sich auf einem Kontinuum zwischen »heteronomer Kontrolle« und »Selbstbestimmung« bewegen (vgl. Deci/Ryan 1993: 228ff.). In Bezug auf die derzeitige Diskussion um intrinsische und extrinsische Motivation sowie die Kritik an der Selbstbestimmungstheorie von Deci um Ryan siehe Rheinberg (2006: 331ff.).
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2. Sozialhistorische Analyse – Das Spiel und seine konzeptionellen Gegenbegriffe
Ziele und Konsequenzen im Kontext der ausgeführten künstlerischen Tätigkeit, die eigentlich eine Erwerbstätigkeit darstellt, erklären? In der Studie wurden Schachspielende, Felskletternde, Tanzende, Basketballspielende und eine Gruppe von Chirurgen befragt. Hierbei entdeckte Csikszentmihalyi eine bestimmte Erlebnisform, von der die Befragten berichteten. Beim Schachspielen, Klettern, Tanzen, Basketball spielen sowie auch beim Operieren zeigten sich Strukturähnlichkeiten. Diese neue Erlebnisweise nannte Csikszentmihalyi treffend Flow. »Flow bezeichnet im Wesentlichen ein holistisches, d.h. mehrere Komponenten umfassendes, Gefühl des völligen Aufgehens in einer Tätigkeit. Das Handeln wird als ein einheitliches »Fließen« von einem Augenblick zum nächsten erlebt« (Csikszentmihalyi/Schiefele 1993: 209).116 Flow ist frei von Selbstreflexionen, und trotz voller Kapazitätsauslastung hat der Handelnde das Gefühl, den Geschehensablauf unter Kontrolle zu haben (vgl. Rheinberg 2006: 345).117 Die konkrete Art und Weise des Erlebens von Flow lässt sich in vier Komponenten zusammenfassen: a) das Verschmelzen von Handlung und Bewusstsein, b) das Zentrieren der Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Umweltausschnitt, c) das Moment der Selbstvergessenheit und d) das Gefühl von Kontrolle über Handlung und Umwelt. Allerdings sind zwei Bedingungen Voraussetzung für das Flow-Erleben: Einerseits die Passung der Fähigkeiten zu den Anforderungen, andererseits die Eindeutigkeit der Handlungsstruktur (vgl. Csikszentmihalyi/Schiefele 1993: 209ff.) Auch ist zu beachten, dass die einzelnen Komponenten je nach Publikation variieren. So nennt beispielsweise Rheinberg sechs Komponenten des Flow-Erlebens (Rheinberg 2006: 346), Kunczik und Zipfel kommen auf fünf (Kunczik/Zipfel 2004: 242). Beobachten wir das Spiel und dessen zugeschriebene Merkmale, dann wird »unmittelbar einsichtig, warum Spiele so geeignet zum Erleben von Flow sind« (vgl. Csikszentmihalyi/Schiefele 1993: 211). Computerspiele, die sich derzeit bei Kindern, Jugendlichen, aber auch bei Erwachsenen großer Beliebtheit erfreuen (vgl. Kapitel 3.3.4) bieten aufgrund ihrer digitalen Ablaufstruktur passgenaue Rahmenbedingungen für das Auftreten von Flow. Dies ist der Grund, warum die
116 Später hat beispielsweise Mayers (1978) weitere empirische Evidenz zur Flow-Theorie gefunden (siehe Csikszentmihalyi/Schiefele 1993: 215). 117 »In Deutschland wird seit 1995 sogar die Häufigkeit von Flow-Erleben durch Demoskopen jährlich an repräsentativen Stichproben ermittelt (Allenbacher Markt- und Werbeträgeranalyse 2000). Nach diesen Erhebungen erleben zwei Drittel der hiesigen Bevölkerung dieses Zustand zumindest ›ab und zu‹. Eingeschlossen sind darin 25%, die ihn nach eigenen Angaben ›häufig‹ erleben. Nur 10% der Bevölkerung ist der Flow-Zustand unbekannt« (Rheinberg 2006: 346).
2.5 Das 20. Jahrhundert – Das Zeitalter der Extreme
161
Faszination von Computerspielen häufig mit dem Flow-Konzept erklärt wird (vgl. Fritz 2003d; Schlütz 2002: 71; Klimmt 2004: 6; siehe Kapitel 3.3.5.2). Allerdings hat Csikszentmihalyi den Flow auch bei der Arbeit von Chirurgen festgestellt. Wie bei der Arbeit des Künstlers geht anscheinend auch die Arbeit des Chirurgen häufig mit intrinsischer Motivation und dem Erleben von Flow einher. Dies entspricht einer bestimmten Vorstellung von Arbeit, die in den 1960er-Jahren Werte wie Selbsterfüllung einforderte. Der Mensch will und soll sich auch in der Arbeit verwirklichen. Der Wunsch nach einem positiven Erleben der Arbeit kann als mögliches Einfallstor des Spiels in der Arbeit gedeutet werden, indem Explorationsprozesse und Flow-Erlebnisse an Bedeutung gewinnen. Die Arbeit soll sich ändern, spielerischer werden, um den Entfremdungscharakter verlieren. Flow bei der Arbeit ist zu einem bekannten Phänomen geworden (vgl. Csikszentmihalyi/LeFevre 1989; Pfister 2002; Schallberger/Pfister 2001; Csikszentmihalyi 2007). Die Analyse von Büroarbeiten zeigte, dass flow-förderliche Aktivitäten beispielsweise das Erlernen neuer Dinge, das Arbeiten am Computer (z.B. Programmieren) und die Behandlung ungewöhnlicher und komplizierter Fälle sind. Als dem Flow hinderlich gelten häufige Störungen (z.B. Telefonanrufe), ein schlechtes Sozialklima und oberflächliche Bearbeitungen unter Zeitdruck (vgl. Rheinberg 2006: 346). Um Flow bei der Arbeit zu erleben, müssen nach Csikszentmihalyi folgende Gegebenheiten zutreffen: a) die Ziele müssen klar sein, b) das Feedback erfolgt sofort, c) Fähigkeit und Handlungsmöglichkeiten entsprechen einander, d) die Konzentration steigt, e) Vergangenheit und Zukunft werden ausgeblendet, die Gegenwart dominiert, f) die Situation wird beherrscht, g) es setzt die Selbstvergessenheit ein und das Ich-Bewusstsein aus (Csikszentmihalyi 2007: 162f.). Als Beispiele für allgemein »Flow«-förderliche Maßnahmen in Unternehmen nennt Csikszentmihalyi eine angenehme Arbeitsplatzumgebung, eine lebendige und emotionale Arbeitsatmosphäre, Kinderbetreuung in der Nähe oder eine ansprechende Cafeteria mit gutem Essen (vgl. ebd.: 166). Obwohl gerade passionierte Freizeitaktivitäten wie Spiele nach Csikszentmihalyi ideale Voraussetzungen für den Flow-Zustand bieten, beschränken sich Momente des Flow also nicht auf den Spielbereich, sondern schließt auch die Arbeit solche mit ein. Hierin zeigt sich die Aufweichung der in der Literatur vorherrschenden strikten Trennung von Spiel und Arbeit und auch von Spiel und Ernst. Indem Flow-Erleben die Arbeit nicht ausschließt, – exemplarisch empirisch am Beispiel des Chirurgenberufs oder der Arbeit im Büro nachgewiesen –
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2. Sozialhistorische Analyse – Das Spiel und seine konzeptionellen Gegenbegriffe
wird die gängige Unterscheidung von Spiel/Arbeit von Csikszentmihalyi entkräftet, und so öffnet sich der Blick für neue Synergieeffekte.
2.5.5 Fazit: Alles Spiel? Das 20. Jahrhundert von der Entfaltung der Arbeitsteilung, der Ausdifferenzierung, der Rationalisierung von Teilbereichen der Gesellschaft, je nach deren Binnenlogik. Vor diesem Hintergrund, der schon früh durch Max Weber, dann durch Jürgen Habermas, aber auch von Niklas Luhmann mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Konsequenzen wissenschaftlich herausgearbeitet wurde, lässt sich heuristisch analysieren, aus welche Teilbereiche der Gesellschaft das Spiel bzw. spielerische Elemente exkludiert worden sind. Beispielhaft für einen solchen Exklusionsprozess stehen verschiedene Teilrationalitäten in Ökonomie, Kunst, Politik und Geschichte (vgl. Kemper 1988: 7). Die Exklusion des Spielbegriffs aus unterschiedlichen Teilbereichen gründet sich dabei auf ein Festhalten an der Negativ-Formel. Das Spiel wird als Antagonismus zu anderen Begriffen gedacht. Neben der Arbeit und dem Ernst könnte hier noch die Wirklichkeit angeführt werden. In diesem Sinn wird als ein weiteres konstitutives Spielelement von vielen Autoren der Als-ob-Charakter des Spiels, häufig auch als Scheinhaftigkeit bezeichnet, hervorgehoben.118 Das Moment der Scheinhaftigkeit findet sich bereits in der etymologischen Herleitung des Spielbegriffs, beispielsweise beim lateinischen Wort ludus/ludere, dessen Bedeutung im Bereich von Schein, Spott und Nicht-Ernst angesiedelt ist
118 In diesem Sinn erklärt Schiller, das Spiel sei eine »Scheinwelt« und an der Wirklichkeit nicht »interessiert« (Schiller 1993: 105). Ebenso bestimmt Kant das Spiel in seiner modernen Erkenntnistheorie als irrelevant für die Wirklichkeit und spricht ihm eine Realitätsanbindung ab. Es ist lediglich ein freies Spiel der Vorstellungskräfte (vgl. Kant 1793: 86). Jean Paul erklärt in diesem Zusammenhang, dass durch die Konfrontation mit der Wirklichkeit der Mensch die Gabe zum Spiel verliere (vgl. Paul 1807, §48) und Schaller führt aus, dass man sich im Spiel aus dem Ernst des geistigen Lebens herauszieht und sich eine eigene, besondere Welt schafft (vgl. Schaller 1861: 55). Groos spricht ebenfalls von der »Scheinwelt« im Spiel und bestimmt diese als frei von Nöten und allen Forderungen des Daseins (vgl. Groos 1922: 13). Rüssel wiederum schreibt von einer Art »Quasirealität« (Rüssel 1965: 151). Dieses Charakteristikum von Spiel als Scheinwelt, Quasirealität, welches von alltäglichen Lebensvollzügen divergiert, führt dann zu einem Alltagsverständnis des Spiels, welches von ernsten Aktivitäten abgegrenzt wird. Das Spiel liegt im Bereich der Fiktion. Aufgrund der speziellen Rahmung wird hier dem Spiel eine imaginäre Bedeutung zugewiesen, man tut so als ob, das Spiel ist »nicht so gemeint« (Huizinga 1997: 18). So lässt sich insgesamt auch für dieses Wesensmerkmal von Spiel schließen, dass es sich hierbei ebenfalls – analog zum Moment der Freiheit – um eine Negativ-Bestimmung handelt.
2.5 Das 20. Jahrhundert – Das Zeitalter der Extreme
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(vgl. Huizinga 1997: 46). Der Als-ob-Charakter zeichnet sich durch die NichtIdentität mit dem gewöhnlichen Leben aus, wonach Spiele zwar ihre eigene Wirklichkeit entfalten, aber von alltäglichen Lebensvollzügen differieren. Das Spiel ist nicht Wirklichkeit, nicht Realität, nicht Arbeit, nicht Ernst, sondern Schein und Illusion, konkret: nicht das eigentliche bzw. gewöhnliche Leben. Die sprachliche Wirklichkeit von Spiel folgt dieser Negativ-Definition. Im Gegensatz dazu lassen sich auch wissenschaftliche Überlegungen finden, in denen plötzlich alles zum Spiel wird. Dem Spiel – so könnte man annehmen – widerfährt dadurch metareflexiv eine besondere Würde. Zu nennen ist hier das Sprachspiel von Wittgenstein, das Theater als Modell der sozialen Welt nach Goffman, die Spiele der Erwachsenen von Berne oder das Zufallsprinzip, die Dinge sind – nach Luhmann – kontingent. Doch vor allem wird der Spielbegriff etwa ab den 1980er-Jahren zur Metapher eines neu entfachten Denkens. Das Spiel wird in kulturkritischen und philosophischen Betrachtungsweisen aufgegriffen, die das Spielerische des Lebens zu einem basalen Element von Existenz, Kultur und menschlichem Dasein erheben. Das ist die Quintessenz einer Strömung zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die in den 1980er-Jahren wieder aufgegriffen wird und unter dem Titel »Postmoderne«119 zusammengefasst wird: »Ein Zeitalter der Autonomie, der neuen Chancen, Spiele und Siege kündigte sich an« (Kemper 1988: 8). Versucht man trotz der Problematik des Begriffs,120 das Konstrukt »Postmoderne« zu bestimmen, dann lässt sich Frederic Jameson anführen, der die Postmoderne nicht als Stilrichtung begreift, sondern als »kulturelle Dominante: eine Konzeption, die es ermöglicht, die Präsenz und die Koexistenz eines Spektrums ganz verschiedener, jedoch einer bestimmten Dominanz untergeordneter Elemente zu erfassen« (Jameson 1986: 48). Diese Dominanz ließe sich möglicherweise darin sehen, dass nicht das Trauern um Sinn- und Orientierungs verluste angesichts »einer rational nicht mehr begründbaren Hochrüstung in den
119 Der Begriff der Postmoderne ist allerdings nicht ganz unproblematisch. So zeigt beispielsweise Welsch (1988: 9f.) auf, dass er erstens hinsichtlich seiner Legitimität umstritten ist. Gibt es überhaupt neue Phänomene, die die Inanspruchnahme eines neuen Terminus begründen? Zweitens ist der Anwendungsbereich der Postmoderne uneindeutig, der Begriff wird zunehmend inflationär gebraucht. Darüber hinaus ist »die Postmoderne« hinsichtlich ihrer zeitlichen Ansetzung fraglich. Als z.B. die postmoderne ›Welle‹ Europa erreichte, galt der Ausdruck in den USA bei vielen bereits als überholt. Ein vierter und letzter Punkt, den Welsch anspricht, sind die unterschiedlichen Inhalte, die mit der Postmoderne verbunden werden. Es ist eine chaotische Aufzählung heterogener Phänomene, etwa vom Fotorealismus – dem übersteigertem Versuch die Realität als Realität in der Malerei abzubilden – zu Andy Warhol und »pop art« bis etwa zu Punk oder New Wave. 120 Vgl. nochmals Fußnote 119, S. 182.
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2. Sozialhistorische Analyse – Das Spiel und seine konzeptionellen Gegenbegriffe
Industrienationen, der drohenden Gefahr der Selbstauslöschung der Gattung Mensch, angesichts des wachsenden Mißtrauens gegenüber öffentlich ›inszenierter‹ Politik mit ihren Medienritualen und -skandalen, angesichts einer Umweltzerstörung globalen Ausmaßes zugunsten ungebremsten Fortschritts und Wachstums« (Kemper 1988: 8) die postmoderne Denkart charakterisiert, sondern eine bunte Vielfalt von Theorien, Erklärungen, Deutungen, Methoden und Lebensformen propagiert. Im Gegensatz zum industriellen Ernst spielt die Postmoderne mit Kitsch und Ramsch. Es ist ein ästhetischer Populismus, der die traditionelle Trennung zwischen »›hoher‹ Kultur und sogenannter Massen- oder kommerzieller Kultur« aufhebt und auflöst (Jameson 1986: 46). Allerdings wird an dieser Stelle behauptet, dass dieser neue Spielbegriff – das Spiel als Sprachspiel, das Rollenspiel eines jeden, die Ehespiele und Partyspiele sowie das Spiel als Metapher postmodernen Denkens – sich nicht als neue positive Betrachtung im Alltagswissen sedimentiert hat, schwingt doch bei einer solchen Spielinterpretation ein erheblicher Zynismus mit. Das, was ins Alltagswissen eingedrungen ist, ist die Vorstellung des Menschen als Spielball der Mächte. Der Mensch befindet sich im negativen Strudel der Ereignisse, das Spiel wird nicht geadelt, sondern behält seine Ambivalenz und negative Konnotation für das Individuum im Rahmen der Nicht-Berechenbarkeit des Lebens in einer Risikogesellschaft (Beck). Diese Interpretation des Spiels im 20. Jahrhundert als zentrales Movens, hat dem Spiel eine starke Bedeutung verliehen. War die Welt im Mittelalter von Gott abhängig, ist das Leben nun von Zufälligkeiten bestimmt, die Welt liegt nun in der Hand der Würfel. Und waren die Objekte der Moderne die Schornsteine und Fabriken, so existieren die der Postmoderne etwa »in den Geschöpfen eines SimLife-Computerspiels und in den Simulationen der Quantenwelt« (Turkle 1999: 67). Das postmoderne Leben kann à la Nietzsche verglichen werden mit einem tanzenden Stern oder einem fröhlichem »Tanz auf dem Vulkan, ein spielerischer Zynismus gegenüber der eigenen Ohnmacht und Ernüchterung« (Kemper 1988: 8); die Dinge sind kontingent. Die Kernaussage der Postmoderne könnte zusammengefasst lauten: Alles ist Spiel.
2.6
Resümee
Die sozialhistorische Analyse zum Spielbegriff ist an dieser Stelle abgeschlossen. Nun stellt sich die Frage, welche Erkenntnisse aus diesen Überlegungen gezogen werden können. Diese lassen sich in zwei für diese Arbeit relevante The-
2.6 Resümee
165
menbereiche bündeln. Erstens ist der Spielbegriff an sich zu eruieren. Zweitens soll expliziert werden, ob sich wiederkehrende Deutungsmuster zum Spiel finden, die auf bestimmten Spielbewertungen beruhen. Abschließend werden dann aus dem bisherigen Resümee drei Spielprinzipien abgeleitet, die im Weiteren die Arbeit bestimmen sollen.
2.6.1 Das Definitionsdilemma Zunächst lässt sich als ein Fazit der sozialhistorischen Analyse festhalten, dass der Spielbegriff nicht eindeutig zu bestimmen ist. Seit alters her lud und lädt das Spiel zu unterschiedlichen Interpretationen, philosophischen Reflexionen, wissenschaftlichen Untersuchungen und Bestimmungsversuchen ein. Bei der Betrachtung der Fülle theoretischer Ansätze im Kontext interdisziplinärer Deutungen begegnet man Paradoxien, Widersprüchlichkeiten und Ungenauigkeiten. Wer eine eindeutige Definition von Spiel erwartet, wird demzufolge enttäuscht. Auch schon Wittgenstein sagt: »Wie ist denn der Begriff des Spiels abgeschlossen? Was ist noch ein Spiel und was ist keines mehr? Kannst du die Grenzen angeben? Nein. Du kannst welche ziehen: denn es sind noch keine gezogen. (Aber das hat dich noch nie gestört, wenn du das Wort ›Spiel‹ angewendet hast.)« (Wittgenstein 2001: 788, §68). So erklären sich bereits aus der Problematik der Begriffseingrenzung des Spiels seine schillernde Vielfalt sowie der Reichtum der disponiblen Aussagen an Gegensätzen. Die Geschichte der Spieltheorien ist ein Weg an Bruchstücken entlang. Demzufolge stellt sich die Frage nach einer Wesensbestimmung des Spiels. Was ist Spiel? Welche Merkmale gehören zum Spiel und welche nicht? Viele Theoretiker, die sich mit dem Wesen des Spiels auseinandersetzten, haben eine solche Differenzierung häufig nicht eindeutig getroffen: »Auch ihren ausführlichsten Abhandlungen läßt es sich oft nur zwischen den Zeilen entnehmen, welche Wesensmomente gemeint sind, wenn vom Spiele die Rede ist« (Scheuerl 1979: 68). Hier zeigt sich auch das bis dato nicht aufgearbeitete Definitionsdilemmata des Spiels. »Der Bedeutungsumfang des Spielbegriffs ist weit und ziemlich unbestimmt« (Parmentier 2004: 929). Aufgrund dieser Problematik – der Schwierigkeit einer eindeutigen Begriffsbestimmung von Spiel – ist häufig der methodische Weg zu finden, Gegenbegriffe von Spiel zu eruieren, um dadurch einer Bestimmung näher zu kommen. Anhand der Beschreibung, was Spiel nicht ist, wird versucht, ex negativo eine Wesensbestimmung von Spiel vorzunehmen. Im Lauf der Historie stößt man hierbei auf die Termini Arbeit, Ernst, Wirklichkeit und teilweise auch Lernen. So
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2. Sozialhistorische Analyse – Das Spiel und seine konzeptionellen Gegenbegriffe
erklärt beispielsweise Schaller: »Das Spiel stellt sich jenem Ernste gegenüber. In diesem Unterschiede besteht sein eigenthümliches Wesen« (Schaller 1861: 42). Er setzt den Begriff »Ernst« folglich als analytisches Instrument ein: In der Gegenüberstellung von Spiel und Ernst versucht er, das Spiel zu ergründen. Hier ließe sich von einer Art Negativ-Formel sprechen, die schließlich zu einer Negativ-Definition von Spiel führt. Spiel ist Nicht-Ernst, Spiel ist Nicht-Arbeit, Spiel ist Nicht-Wirklichkeit. So offenbart sich auch anhand dieser NegativMethode das Definitionsdilemma. Die vielfältigen Phänomene, die unter den Begriff Spiel gefasst werden, veranlassen Berlyne, grundsätzliche Zweifel zu formulieren, ob es sich bei der Kategorie »Spiel« überhaupt um einen sinnvollen Begriff handelt (vgl. Berlyne 1969: 85, 843). Doch abgesehen davon, ob der Begriff Spiel nun sinnvoll ist oder nicht, zeigen doch die bisherigen Ausführungen auf, dass die mannigfaltige Zulassung der Bedeutungsvielfalt des Spielbegriffs ganz unterschiedliche Bewertungen zulässt. Diese Vielfalt des Spielbegriffs, seine Ambivalenz und Verschiedenheit, lassen sich auch als besonderes Spielpotenzial begreifen. So verweisen die unterschiedlichen Spielbeurteilungen auch auf divergente Menschenbilder. Hier ließe sich die These vertreten, dass mit einer bestimmten Spielsemantik, die ein Mensch benutzt, auch eine bestimmte Weltauffassung verbunden ist, die sich in der Bewertung des Spiels offenbart. Um dieser Annahme näher zu kommen, müssen zunächst unterschiedliche Grundmuster extrahiert werden mit der Frage, ob sie sich zu Spieldiskursen bündeln lassen. In der empirischen Analyse wird dann ferner eruiert, ob diese historisch tradierten Deutungsmuster auch heute noch Bestand haben (vgl. Kapitel 4, S. 275ff.).
2.6.2 Spieldiskurse Der Spielbegriff unterliegt im Laufe der Geschichte sehr unterschiedlichen Deutungen. Die diversen Aspekte von Spiel tragen sicherlich nicht zuletzt zu dessen kontroversen Bewertungen bei. Versucht man, diese zusammenzufassen, lassen sich vier zentrale Deutungsmuster finden. Hierbei ist hervorzuheben, dass Spieldiskurse in der Geschichte teils nebeneinander, teils getrennt, vermischt oder auch gegeneinander laufen und sich auch gegenseitig bedingen können (vgl. Scheuerl 1988: 8).
2.6 Resümee
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2.6.2.1 Das instrumentell-rationalisierte Spiel Ein bestimmendes Grundmuster des Spiels, das sich wie ein roter Faden durch die Geschichte zieht, ist an der Frage orientiert, inwiefern das Spiel nützlich für das Leben sein kann. Hier wird vor allem auf Lernprozesse abgehoben, es geht, so Scheuerl, um eine »geheime Zweckmäßigkeit« (Scheuerl 1988: 8, 10), konkret: das Spiel für Lernzwecke einzusetzen. Die geheime Zweckmäßigkeit bezieht sich nach Scheuerl »künstlich arrangierbare, wirkliche oder potentiell erschließbare Lernsituationen für das Kindes- und Jugendalter« (ebd.). In diesem Sinn haben die kindliche Begeisterung und Hingabe für das Spielen Philosophen und Pädagogen seit der Antike dazu animiert, das Spiel unter Lerngesichtspunkten im Sinne von Erziehung und Bildung zu betrachten. Dieser Annahme folgend wurde häufig der Versuch unternommen, Strategien zu entwickeln, um das vergnügliche Spielen als ›Lernköder‹ einzusetzen. Locke, ein prominenter Vertreter einer solchen Sichtweise auf das Spiel, erklärt: Und »in dem Glauben, es sei ein Spiel« und »ohne daß er weiß, wie er es angefangen hat und ohne je gescholten worden zu sein« (Locke 1983, Abs.151: 189), hat der Knabe spielerisch lesen gelernt. Es geht hier also um eine ›Überlistung‹ des Kindes zum Lernen im vermeintlichen Spiel, daher das von Scheuerl gewählte Adjektiv »geheim« (Scheuerl 1988: 8, 10). Das Spiel wird für Lernprozesse umfunktioniert, effizienter gestaltet, also rationalisiert. Auch Fritz spricht von einem in der Historie des Spiels vorherrschenden Nützlichkeitsdiskurs, der sich durch die Geistesgeschichte Europas zieht. Das eigentlich nutzlose, überflüssige Spiel wird im Kontext von Erziehung verwendet, um Kinder »sicher auf die Wirklichkeit der Gesellschaft festzulegen« (Fritz 2004: 93). Eine solche pädagogische Indienstnahme des Spiels lässt sich in der Antike, von der Renaissance bis zur Aufklärung und bis hin in unsere heutige Zeit finden. Es geht hier um eine Position, das Spiel wegen seines Nutzens zu rechtfertigen. Aus diesem Grund muss es auch pädagogisch kontrolliert werden, damit es nicht Selbstzweck wird, sondern einem Nutzen dient. In diesem Sinn ließe sich hier auch von einem utilitaristischen Spielverständnis sprechen, das sich aus einer pädagogischen Perspektive heraus ergibt. Eine pädagogische Nutzbarmachung des Spiels steht im Vordergrund, wird jedoch historisch auf Kinder und Jugendliche eingeschränkt. Für den Erwachsenen bleiben solche Konzepte des spielerischen Lernens bis zum Ende des 20. Jahrhunderts unberücksichtigt. Antipodisch gegen das Spiel, das instrumentellen, rationalisierten Zwecken zu unterliegen hat, steht in diesem Diskurs das Konzept der Arbeit. In der Verständnisgeschichte der Arbeit wird deutlich, dass die Arbeit keiner dritten
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2. Sozialhistorische Analyse – Das Spiel und seine konzeptionellen Gegenbegriffe
Legitimation bedarf. Arbeit ergibt selbst Sinn, während man ihn dem Spiel erst aufgrund eines bestimmten Nutzens attestieren muss.
2.6.2.2 Das realitätsfern-sinnlose Spiel Ein zweites wiederkehrendes Grundmuster der Wahrnehmung von Spiel spiegelt sich in der Behauptung, dass es überhaupt keinen Nutzen habe. Im Gegensatz zur ersten Spieldeutung – also der Diskussion, wie Lernprozesse durch das Spiel gefördert werden können – schließt der hier vorherrschende Diskurs jeglichen positiven Aspekt des Spiels aus. Das Spiel wird als »Kuriosum, als nutzlose Überflüssigkeit« (Scheuerl 1988: 8) bewertet. Spielen wird als vergeudete Zeit angesehen. Die Bewertung des Spiels als nutzlos lässt sich erstens mit dem in der Literatur beständig vorfindbaren Spielmerkmal der Zweckfreiheit erklären (vgl. z.B. Kant 1968, Abs. 66: 56f.; Lazarus o.J.: 25; Groos 1973: 493; vgl. Huizinga 1997: 16.). Das zweckfreie Erleben bedingt das Spiel und schließt dadurch intentionale Zielsetzungen aus. Das Spiel genügt sich selbst und ist dadurch für die Sphären, die außerhalb seiner liegen, ohne Relevanz. Es ist frei von objektiven Zwecken (vgl. Spencer 1897: 628) und somit für die ernste Realität »konsequenzlos« (Stern 1923: 243). In diesem Zusammenhang wird zweitens auf das häufig angeführte Spielmerkmal verwiesen, es handele sich beim Spiel um ein Tun-als-ob. Dieser Als-ob-Charakter des Spiels zeichnet sich durch die NichtIdentität zu dem gewöhnlichen Leben aus, in dem Spiele zwar ihre eigene Wirklichkeit entfalten, aber von alltäglichen, ernsten und notwendigen Lebensvollzügen differieren. Das Spiel ist Nicht-Wirklichkeit, eine Scheinwelt, eine QuasiRealität. Der Ausschluss des Spiels aus der Wirklichkeit findet sich bereits in der Ableitung des lateinischen Spielbegriffs von ludus/ludere. So ist der lateinisch etymologische Wortsinn »auf dem Gebiet von Nichternst, Schein und Spott«, lokalisiert sodass auch die »die Komposita alludo, colludo, illudo (…) alle in die Richtung des Unwesentlichen, Betrügerischen« führen (Huizinga 1997: 46). In einer solchen Bedeutungszuschreibung von Spiel schwingt auch abermals die Negativ-Definition von Spiel als Nicht-Ernst mit, wobei der Ernst dem Spiel übergeordnet wird. Aus diesem Grund »gilt uns [das Spiel – S.G.] nicht als eine so wichtige Erscheinung im menschlichen Leben« (Schaller 1861: 1). Da das Spiel folglich zweckfrei, also nicht ernst ist und keinerlei wesentliche Bedeutung für die Sphäre des wirklichen Lebens besitzt, wird ein Transfer erworbener Erfahrungen, Fähigkeiten und Kompetenzen vom Spiel in die Realität ausgeschlossen. Das Spiel verfällt in die Bedeutungslosigkeit und wird als Tand diffamiert.
2.6 Resümee
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Eine solche Spieldeutung spiegelt sich auch in der biografischen Konnotation von Spiel wider. Während es kleinen Kindern noch zugestanden wird zu spielen, versucht man es Älteren abzugewöhnen. Als Beispiel für eine solche biografische Differenzierung des Spiels sei an den Dominikaner Albertus Magnus erinnert, der laut Borst der Ansicht war, dass das Spiel Kinderei sei, »den Ernst der erwachsenen Wissenschaft« (Borst 1987: 549) erreiche sie nicht. In diesem Sinn lässt sich bei der Mehrzahl der in dieser Arbeit vorgestellten theoretischen Ansätze – vom Mittelalter über die Frühe Neuzeit bis in das 20 Jahrhundert – die Auffassung finden, dass das spielerische Handeln mit zunehmendem Lebensalter abzunehmen hätte, denn Spiele seien nutzlos. Dagegen sei die Arbeit die dominierende, sinnstiftende Tätigkeit des Erwachsenen.
2.6.2.3 Das romantisch-leidenschaftliche Spiel Eine weitere Spielbewertung lässt sich als romantisch-leidenschaftlich bezeichnen. Das Spiel spricht die Phantasie an, entfaltet seine eigene Welt, die als spannendes, rauschhaftes Abenteuer erlebt wird. Es macht Spaß, und darin liegt auch seine Selbstbestimmtheit. Das Spiel begründet sich in seiner Sinnhaftigkeit selbst. Während seine Zweckfreiheit im vorangegangenen Grundmuster »Das realitätsfern-sinnlose Spiel« dazu führt, dass das Spiel negativ bewertet wird, eröffnet der Freiheitscharakter hier dem Spiel eine anerkennende Diskussionsgrundlage. Das Spiel wird als etwas Positives bewertet, da es sich von den ernsten Notwendigkeiten des Alltags abschirmt. Es schafft Freiräume, regt die Vorstellungskraft an und fördert die Kreativität des Menschen. Die spielerische Tätigkeit regt Lernprozesse an, die aber keiner pädagogischen Instrumentalisierung durch pädagogisch-didaktisch gesetzte Lernzwecke bedürfen. Eine solche Auffassung vertrat beispielsweise Rousseau, der in seinem Werk »Émile oder Über die Erziehung« (1971) dem Spiel vor allem eine zwanglose Natürlichkeit zuspricht, mit der die Kinder ihre Welt erschließen. Eine ähnliche Sichtweise vertrat auch Paul, der die Phantasie im Spiel betont und diese der ernsten, ›harten‹ Wirklichkeit gegenüberstellt. Dabei soll dem Spiel seine Freiheit gelassen werden, das Spiel hat sein Eigenrecht ohne pädagogische Indienstnahme. Das Spiel sei ein Bildungsmedium an sich (Paul 1807, §54). Führt man solche Gedankengänge weiter, dann lässt sich das hier primäre Grundmuster von Spiel auch auf ästhetische Kategorien übertragen. »Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt«
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2. Sozialhistorische Analyse – Das Spiel und seine konzeptionellen Gegenbegriffe
(Schiller 1993: 63; 15. Brief, Herv. i.O.). Dieser viel zitierte Satz aus den »Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen« (1795) bündelt Schillers Gedanken über Erziehung, Ästhetik, Bildung und Spiel. Durch ihn findet eine positive Spieldeutung ihren Höhepunkt, und die moralisch abwertende Spielauffassung, einer Verteufelung des Spiels (vgl. im Folgenden 2.6.2.4) wird in ihr Gegenteil verkehrt. Scheuerl bezeichnet diesen Spieldiskurs als »idealisierend« (Scheuerl 1988: 10) und nimmt dabei Bezug »auf ästhetische Spielerfahrungen aus den ›schönen Künsten‹ oder auf symbolistische Naturphilosophen und deren anthropologische Implikate« (ebd.). Vertreter einer solchen idealisierenden Spielbetrachtung überhöhen das Spiel. Das Spiel wird zur Erfüllung des eigentlichen Lebenssinns. Weiter kommt in einer solchen Spieldeutung das Empfindsame des Spiels zum Ausdruck. Im Spiel werden Emotionen angesprochen, es wird als lustvoll erlebt. Dadurch lässt es sich auch als leidenschaftlich bezeichnen. Das Spiel wird mit Begeisterung gespielt, kann Ekstase bzw. auch rauschhafte Zustände hervorrufen, wodurch es Assoziationen zur verspielten Barock- und Rokoko-Gesellschaft weckt. Dass das Spiel etwas Rauschhaftes in sich birgt, kommt dabei im Lauf der Geschichte immer wieder zum Vorschein (vgl. z.B. vgl. Cicero 1991: 103; Groos 1973: 477; Caillois 1960: 32). Dieses ist ein Grund, warum auch die pädagogische Meinung zu finden ist, das Spiel disziplinieren zu müssen. In diesem Kontext allerdings birgt es eine positiv konnotierte Lebendigkeit, die sich im Hier und Jetzt entfaltet.
2.6.2.4 Das moralisch-verwerfliche Spiel Ein viertes Grundmuster von Spiel beruht darauf, dass das Spiel als unmoralisch bewertet wird. Das Spiel verdirbt den Charakter, ist der Arbeit, dem primären Lebensbereich, abträglich. Eine solche Auffassung von Spiel findet sich bereits ausgeprägt im mittelalterlichen Denken und führt in seiner Konsequenz zu Spielverboten. So wurden zu jener Zeit in Polizeiverordnungen Spielverbote festgesetzt (vgl. Parmentier 2004: 932). Vor allem das Spiel um Geld wurde untersagt und in diesem Zusammenhang das Falschspiel geahndet, wie etwa die Straßburger Polizeiordnungen aus dem 14. und 15. Jahrhundert bezeugen (Brucker/Welthy 1889: 479; vgl. auch Löhmer 1989: 183). Die Spielverbote werden damit begründet, dass das Spiel Ungehorsam und Aufsässigkeit fördere. So sahen die weltlichen Machthaber das Spiel als Gefahr für die Dignität der Arbeit an. Das Spiel führe dazu, dass sich
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die Menschen nicht der Arbeit widmen, sondern sich dem lustvollen, rauschhaften Spiel hingeben, das die geforderte Arbeitsmoral untergrabe. Der historische Höhepunkt einer solchen Spieldeutung, die Spielen als verwerflich ansieht, findet sich dann im Puritanismus. Zur Zeit der Reformation im Kontext protestantischer Arbeitsethik mit dem »Prinzip asketischer Lebensführung« (Weber 1956: 366) vollzieht sich eine gesellschaftliche Ächtung des Spiels durch eine religiös manifestierte Antithese der Nicht-Ernsthaftigkeit. Das Spiel galt aus einer solchen Sichtweise als Laster (vgl. Eichler 1979: 17). Im Pietismus wurde dann diese Spieldeutung fortgesetzt und sogar mit luziferischen Aspekten versehen. Das Spiel verderbe den Charakter, führe zu Eitelkeit und Torheit. Aus diesem Grund sei es »den Kindern in allen Schulen zu verbieten auf evangelische Weise« (Töllner, zitiert nach Schmid 1896: 283). Im Gegensatz dazu steht die ernste, notwendige, gepriesene Arbeit, die den Ernst des Lebens bestimmt. Auch im 19. Jahrhundert bildet das Spiel einen Gegensatz zur Arbeit und zu einem im Umfeld der Sittenlehre glorifizierten Ernst. »Das Leben ist kein Scherz, kein Spiel; es ist eine ernste, heilige Sache« (Schaller 1810: Buchumschlag). So lässt sich zusammenfassend zu einer solchen Spieldeutung konstatieren, dass das Spiel aufgrund höher gestellter ernster Werte diskreditiert wird. Diese manifestieren sich erstens im Konzept der Arbeit. Die Arbeit wird als nützlich angesehen und wird als primärer Lebensbereich des Menschen bestimmt. Hier findet auch eine anthropologische Bedeutungszuschreibung von Arbeit statt. Zweitens spielt die Theologie, die Religionslehre eine bestimmende Rolle. Der Mensch hat Gott durch Arbeit und Gebete zu preisen. Dadurch zeigt man ernsthaft seinen Glauben an Gott und tut Buße. Dem Spiel als Antipoden von Arbeit wird damit die Sphäre der Sünde zugeschrieben. Drittens geht es um gesellschaftliche Ideale, Werte und Moral. Das Spiel untergrabe die Tugenden des Menschen und führe zu einem schlechten Charakter. Folglich sind diese drei Konzepte – Arbeit, Glaube und Moral – in diesem Grundmuster eng miteinander verwoben und führen letztendlich in der bestimmenden Auffassung dazu, das Spiel als verwerflich anzusehen.
2.6.3 Drei Spielprinzipien – Das Spiel und seine Gegenspieler Die vier extrahierten Spieldeutungen finden sich durchgängig in der Geschichte und lassen sich auf insgesamt drei Spielprinzipien zusammenfassen, die für die weiteren Ausführungen von Relevanz sind.
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2. Sozialhistorische Analyse – Das Spiel und seine konzeptionellen Gegenbegriffe
Erstens wird der Erwachsene aus dem Spiel ausgeschlossen. Er spielt nicht, er arbeitet. Während es Kindern noch zugestanden wird zu spielen, wird das Spiel Erwachsener gesellschaftlich geächtet. So verschieben sich im Lebenslauf des Einzelnen die Tätigkeiten von Spiel zu Arbeit. Aufgrund einer utilitaristischen und arbeitsethischen Spielkritik erfolgt eine biografische Differenzierung. Dem spielenden Erwachsenen steht im Gegensatz zum spielenden Kind eine historisch gewachsene und stabilisierte gesellschaftliche Antihaltung zum Spiel gegenüber. Zweitens wird das Spiel als Antagonismus zu anderen Lebensbereichen gedacht. Diese sind Arbeit, Ernst und Wirklichkeit, teilweise auch Lernen. Sie betreffen die notwendigen Lebensvollzüge. So führt etwa Schaller aus, dass man sich im Spiel aus dem Ernst des geistigen Lebens herausziehe und sich eine eigene, besondere Welt schaffe (vgl. Schaller 1861: 55). Groos spricht ebenfalls von der »Scheinwelt« im Spiel und bestimmt diese als frei von Nöten und allen Forderungen des Daseins (vgl. Groos 1922: 13). Rüssel erklärt das Spiel als eine Art »Quasirealität« (Rüssel 1965: 151). Dieses Charakteristikum von Spiel als Scheinwelt oder Quasirealität führt zu einem Alltagsverständnis des Spielbegriffs, welches von ernsten Aktivitäten abgegrenzt wird. Das Spiel liegt im Bereich der Fiktion, steht im Gegensatz zur notwendigen, daseinsbestimmenden ernsten Arbeit. Das Spiel wird durch eine Negativ-Definition bestimmt. Das Spiel ist nicht … Aus der Negativ-Definition von Spiel als Nicht-Arbeit, Nicht-Ernst und Nicht-Wirklichkeit kann schließlich drittens auf eine negative Semantik des Spielbegriffs geschlossen werden, die historisch dominiert. Spiel bedeutet NichtTeilhabe, die negativ bewertet wird. »Negativ-Definition und gesellschaftliche Ächtung fallen zusammen« (Eichler 1979: 32). In diesem Zusammenhang scheint die negative Semantik von Spiel für den okzidentalen Raum bestimmend zu sein. So weist etwa auch das englische Verb »to play« eine negative Konnotation auf. Fiemer nennt elf Synonyme für »to play«, die alle den Nebensinn von Frivolität beinhalten sowie auf ein moralisches Defizit abzielen, »which the Puritan ethic identifies with any action that ist not wholly serious in intent« (Fiemer 1971: 118). Somit kann ein »cultural ethos« attestiert werden, das Ernst und Spiel voneinander trennt, und dies führt das Spiel »to the realm of the superfluous« (ebd.). In diesem Sinn ist das Spiel in der abendländischen Tradition negativ konnotiert. Diese drei Grundprinzipien bilden den Rahmen für das nun folgende Kapitel, das »Aktueller Diskurs – der Spieler in der Wissensgesellschaft« überschrieben ist. Bei diesem Diskurs wird die Perspektive eingenommen, dass aufgrund
2.6 Resümee
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gravierender technischer und gesellschaftlicher Veränderungen, die ab dem Ende des 20. Jahrhunderts zu verzeichnen sind, sich die historisch gewachsenen traditionellen Spielprinzipien aufzulösen beginnen. Hier wird die These vertreten, dass die drei extrahierten Spielprinzipien – a) das Spiel wird auf Kinder begrenzt, b) das Spiel unterliegt einer Negativ-Definition als Nicht-Arbeit, NichtErnst, Nicht-Wirklichkeit, c) das Spiel besitzt eine negative Semantik – nun mit dem beginnenden 21. Jahrhundert zur Disposition stehen.
3. Aktueller Diskurs – Der Spieler in der Wissensgesellschaft?
Es hat sich eingebürgert, die Ergebnisse der gesellschaftlichen und technologischen Veränderungen der letzten Jahrzehnte mit dem Begriff Wissensgesellschaft zu umschreiben. Als einer der ersten Theoretiker postulierte Drucker in seinem 1969 erschienenen Werk »The Age of Discontinuities« die Entwicklung der westlichen Gesellschaften zu Wissensgesellschaften. Demnach ist Wissen »zur eigentlichen Grundlage der modernen Wirtschaft und Gesellschaft und zum eigentlichen Prinzip des gesellschaftlichen Wirkens geworden« (Drucker 1972: 343). Auch für Bell ist die postindustrielle Gesellschaft vor allem durch die »Zentralität des theoretischen Wissens« geprägt (Bell 1989: 3), sodass auch der lebenslange Zugang zum Wissenserwerb immer stärker an Bedeutung gewinnt (vgl. Stehr 2001, 2006). Willke (1998) reflektiert ebenfalls diese Entwicklung und erklärt, dass die organisierte »Wissensarbeit ein Kernstück der Transformation der Arbeits- und Industriegesellschaft zur Wissensgesellschaft« ist (vgl. Willke 1998: 175).121 Arbeit als Wissensarbeit gründet sich auf die Anschauung, dass das Wissen, das in der Schul- und Ausbildungszeit erworben wurde und früher auch für die daran anschließende berufliche Lebensphase größtenteils Bestand hatte (vgl. Wittpoth 2006: 32), heute nicht mehr ausreicht. Der fortschreitende Prozess von Differenzierung und Technisierung der Lebenswelten lässt das vorhandene Wissen zu schnell veralten. Laut Sennett muss beispielsweise ein studierter US-Amerikaner damit rechnen, »in vierzig Arbeitsjahren wenigstens elfmal die Stelle zu wechseln und dabei seine Kenntnisse wenigstens dreimal auszutauschen« (vgl. Sennett 2000: 25). Folglich findet sich das Individuum in einer Gesellschaft wieder, in der es stets bereit sein muss, sich permanent neues Wissen anzueignen. »The next society will be a knowledge societey« (Drucker 2001: 4). Durch den Begriff der Arbeit im Kompositum Wissensarbeit wird einerseits deutlich, dass der ständige Wissenserwerb zum Schlüssel beruflichen Erfolgs
121 Unter Wissensarbeit versteht Willke, dass relevantes Wissen erstens kontinuierlich überprüft werden muss, zweitens als ständig verbesserungswürdig zu betrachten ist, drittens als Ressource zu verstehen und viertens mit Nichtwissen gekoppelt ist (vgl. Willke 1998: 161).
S.Ganguin, Computerspiele und lebenslanges Lernen, DOI:10.1007/ 978-3-531-92433-5-3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
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3. Aktueller Diskurs – Der Spieler in der Wissensgesellschaft?
avanciert. Die durch Wissensarbeit erworbenen Kompetenzen werden zur Basis professionellen Handelns. Der Nachweis von Lernerfolgen, etwa in Form von Zertifikaten, gilt als Erklärung der Verteilung von sozialen Positionen und Chancen. Andererseits lässt sich unterstellen, dass durch den Arbeitsbegriff, gemäß seiner etymologischen Grundbedeutung, der Wissenserwerb nicht mühelos vonstatten gehen kann. Disziplin, Leistungsfähigkeit, Selbstkontrolle, die Bewältigung immer neuer Anforderungen werden zu notwendigen Voraussetzungen des Wissensarbeiters. In diesem Sinn bestimmt auch Rosmanith mit Rückbezug auf Druckers »knowledge workers« (vgl. Drucker 1994: 11), dass die WissensarbeiterInnen lern- und anpassungsfähig sind und sich ständig »wettbewerbsfähiges Spezialwissen in Form von lebenslangem Lernen« aneignen müssen (Rosmanith 2003: 30). An dieser Stelle lässt sich auch die Figur des Arbeitskraftunternehmers von Voß und Pongratz anführen (1998), der sich veranlasst sieht, wie ein Unternehmer seiner selbst zu agieren. Auf dem Individuum lastet folglich ein enormer Druck. Es gilt, Wissen effektiv zu nutzen, es als Wettbewerbsfaktor zu begreifen. Dadurch steigt die Bedeutung des Lernens für Erwachsene – so die hier zugrundeliegende These – in einem zuvor ungekannten Ausmaß. Das Motto könnte lauten: dauerhafte Bereitschaft zum Lernen und zur Weiterbildung. Lebenslanges Lernen – so die bildungspolitische Forderung der Europäischen Kommission (vgl. 2001: 10, 34) – sollte von jedem Einzelnen als Maxime verinnerlicht werden. Allerdings ist die Forderung nach ständiger Bereitschaft zum Lernen, die auch bedeutet, dass in der Freizeit gelernt werden soll, nicht unbedingt mit den Lebensvorstellungen jedes Einzelnen vereinbar. Lernen als Imperativ ist oftmals mit negativen Assoziationen wie Anstrengung und Mühsal verbunden. Wenn allerdings Lernen und Arbeit mit positiven Emotionen wie Freude und Vergnügen einhergehen, dann ist das Individuum eher bereit, sich den Anforderungen der Wissensgesellschaft zu stellen. In diesem Zusammenhang ist ein Trend zu verzeichnen, nämlich das zunehmende Interesse der Arbeits- und Organisationspsychologie »an der Rolle von Emotionen, vor allem von positiven Emotionen im Arbeitsprozess« (Schallberger/Pfister 2001: 176). Doch wie lassen sich Spaß und Freude beim Arbeiten und Lernen didaktisch fördern? Was sind z.B. gern gewählte, intrinsisch motivierte Freizeitaktivitäten, die hier genutzt werden können? Als Paradebeispiel einer Aktivität, die gern um ihrer selbst willen ausgeübt wird, gilt das Spiel. In diesem Zusammenhang sind in den letzten Jahren zunehmend Publikationen zu finden, die das Konzept Spiel in Arbeitsprozesse zu integrieren versuchen. So widmete sich beispielsweise das Wirtschaftsmagazin »brand eins« im
3. Aktueller Diskurs – Der Spieler in der Wissensgesellschaft?
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Jahr 2006 mit der Ausgabe »Komm spielen!« der Frage, welche Vorteile das spielerische Arbeiten mit sich bringt. Vor allem wird hier auf die Kreativität verwiesen, die durch das Spiel angeregt wird und der Arbeit von Nutzen ist. Das Spiel wird dabei zunehmend als Werkzeug eingesetzt, Arbeitsabläufe effektiver und lebendiger zu gestalten.122 Fragt man folglich nach Konzepten, wie Arbeits- und Lernprozesse durch das Spiel gefördert werden können, dann ist es sinnvoll, bei den Freizeitaktivitäten von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen anzusetzen (vgl. Kraam 2004: 12). Eine spielerische Aktivität, die in den letzten Jahren Konjunktur feierte, ist das Computerspiel (vgl. S. 208ff.). Durch die wachsende Bedeutung von Computerspielen erhält die Frage nach der Verknüpfung von Spiel, Arbeit und Lernen neue Aktualität. Zudem setzt das Computerspiel das Medium PC voraus, und auch Arbeitsprozesse finden heute vielerorts rechnerbasiert statt. Gleiches gilt für Lernprozesse, wie sich an der zunehmenden Bedeutung des E-Learnings zeigt. Aus diesem Grund soll im Weiteren am Beispiel des Computerspiels aufgezeigt werden, wie derzeit wieder neu über das Konzept Spiel in Bezug auf die Integration in Arbeits- und Lernkontexte nachgedacht wird. Obwohl die Verbindung von Spiel und Lernen seit alters her pädagogisch bemüht wurde, erhält das spielerische Lernen nämlich durch Computerspiele eine neue Dimension. Es mehren sich Publikationen, die sich der Fragestellung widmen, wie durch Computerspiele bestimmte Kompetenzen gefördert werden können und funktionales Wissen erworben werden kann (vgl. Dittler/Mandl 1994; Klimmt 2004; Gebel/Gurt/Wagner 2005). Sie untersuchen diese Fragestellung nicht allein an Kindern und Jugendliche, etwa im Kontext schulischen Lernens (vgl. Fromme/Meder 2001, McFarlane/Sparrowhawk/Heald 2002), sondern wenden sich ebenso der Weiterbildung Erwachsener zu (vgl. Prensky 2001a; Meier/Seufert 2003; Seufert/Meier 2003; Arbeitsgemeinschaft Betriebliche Weiterbildungsforschung e.V. 2004; Gebel/Gurt/Wagner 2005). Als Medium der Weiterbildung scheint das Computerspiel auch deshalb besonders geeignet, da es bereits als Leitmedium des 21. Jahrhunderts gefeiert wird (vgl. Neitzel 2008: 61ff.). Auch Gee (2008) beschäftigt sich mit der Frage, wie das Lernen im 21. Jahrhundert aussehen könnte. Seiner Meinung nach führen Computerspiele häufig zu »deep learning that leads to expertise« (Gee 2008: 86). Dies um so mehr, wenn man der Einschätzung von Poole folgt: »More than advertising or
122 Ein Beispiel dafür ist das von Lego entwickelte System »Lego Serious Play«, das bei Führungskräften eingesetzt wird, um an Teamfindungsprozessen und Organisationsstrukturen zu arbeiten (vgl. Laudenbach 2006: 95).
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3. Aktueller Diskurs – Der Spieler in der Wissensgesellschaft?
the Internet, videogames, in their immense speed and complexity, have to that extent become the most sophisticated systems of communication of meaning that the culture has yet seen« (Poole 2000: 189). Didaktische Überlegungen, die Computerspiele als Lernwerkzeuge betrachten, treten vermehrt in den aktuellen Diskurs. Serious Games und Game-Based Learning sind derzeit die Namen für solche Konzepte. Dieser kurz skizzierte Diskurs soll nun im Folgenden ausführlicher behandelt werden. Dazu wird zunächst auf veränderte Arbeitsbedingungen eingegangen, die die neuen Anforderungen von Arbeit und Lernen beleuchten. Gesellschaftliche Entwicklungen und politische Forderungen der letzten Jahre sollen rekonstruiert werden um zu zeigen, warum aktuelle Überlegungen um kompetenzförderliche Potenziale von Computerspielen auch für den Arbeits- und Weiterbildungsdiskurs attraktiv erscheinen. 3.1 Das Kompetenzspiel in der Arbeit »Ziel bleibt, die Europäische Union zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen«. (BMBF 2007: 5).
Das seit dem 18. Jahrhundert allgemein gebräuchliche, aus der Juristensprache stammende Adjektiv »kompetent« geht auf das gleichbedeutende lateinische Wort competens zurück. Das Partizip Präsens des Verbs competere heißt »der Beschaffenheit nach stimmen, zutreffen« (Wahrig 2002: 336). Competere setzt sich dabei zusammen aus der Silbe com, der verschliffenen Form von cum, zu Deutsch »mit«, und dem Wort petere »zu erreichen suchen, erstreben« (ebd.). Aus dieser wortgeschichtlichen Herleitung ergibt sich, dass Kompetenz die für das Erreichen eines Zieles notwendige Fähigkeit ist. In diesem Sinn werden unter Kompetenzen nach Dohmen »verhaltensregulierende persönliche Potenziale und Dispositionen verstanden, die (…) jeweils zur Bewältigung verschiedener Anforderungssituationen mobilisiert und aktualisiert werden können« (Dohmen 2001: 42). Vor allem die permanente Aktualisierung von Kompetenzen in unserer Gesellschaft besitzt einen hohen Stellenwert, da sich das Individuum der modernen Arbeitswelt anzupassen hat: »Arbeiten – Lernen – Kompetenzen entwickeln« hieß das Forschungs- und Entwicklungsprogramm vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (1997). Die erfolgreiche Verknüpfung von Arbeit und Lernen wird zum ›Kompetenzspiel‹, zum Wettbewerbsfaktor um Arbeitsplatz
3.1 Das Kompetenzspiel in der Arbeit
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und soziale Position. Der Weg zu diesem Ziel, einer geglückten Anpassung an die moderne Alltags- und Arbeitswelt, lautet: lebenslanges Lernen.
3.1.1 Lernen – ein Leben lang? Die Forderung nach lebenslangem Lernen wurde bereits in den 1970er-Jahren erhoben.123 Debattiert wurde die Neustrukturierung des Bildungssystems, um die neuen Herausforderungen, hervorgerufen auch durch Modernisierungsprozesse, bewältigen zu können. Die Forderung lautete, »dass Bildungs- und Erziehungsanstrengungen sich nicht allein auf Schule und Ausbildung beschränken« sollen (Dietsche/Meyer 2004: 6). In der BRD fand diese internationale Diskussion allerdings kaum statt. Erst in den 1990er-Jahren wurde dieser Diskurs vermehrt auch hierzulande geführt und steht spätestens seit dem »Europäischen Jahr des lebenslangen Lernens«, das von der Europäischen Kommission im Jahre 1996 proklamiert wurde, auch auf unserer bildungspolitischen Agenda. Was ist lebenslanges Lernen? Eine einheitliche Definition zu finden, gestaltet sich schwierig, denn wie bei so vielen Termini hängt die Begriffsbestimmung von der jeweiligen Perspektive ab. Um einen Eindruck zu erhalten, welche Anforderungen und Bildungsbestrebungen mit dem lebenslangen Lernen verbunden sind, sollen kurz einige bildungspolitische Begriffsbestimmungen aufgezeigt werden. Hierbei wird hierarchisch vorgegangen, von einer ubiquitären zu einer nationalen Ebene. Die UNESCO, der zurzeit 193 Staaten angehören, versteht unter lebenslangem Lernen laut ihrem Global Monitoring Report »Education for all. Literacy for Life« (2005) Folgendes: »Lifelong learning. The concept of learning as a process that continues throughout life to address an individual’s learning needs. The term is used widely in adult education to refer to learning processes in many forms and at many levels« (UNESCO 2005: 418). Für die Industriestaaten lässt sich das Verständnis der OECD anführen. Hiernach bedeutet lebenslanges Lernen »inzwischen nicht nur Erwachsenenbildung, sondern Lernen von der Wiege bis zur Bahre in unterschiedlichen Lernumfeldern« (OECD 2001: 10). Dieses Verständnis verweist ebenfalls auf die
123 Die damalige internationale Diskussion war eng mit den Bildungsreformdebatten aufgrund der so genannten »World Educational Crisis« (Coombs 1968) bzw. Weltbildungskrise verbunden. Die Schlagworte jener Zeit lauteten »Recurrent Education« oder »Éducation permanente« (vgl. Kraus 2001: 8).
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3. Aktueller Diskurs – Der Spieler in der Wissensgesellschaft?
Bedeutung lebenslangen Lernens in allen Altersstufen, nimmt aber im Gegensatz zu der UNESCO explizit nicht nur das Lernen Erwachsener in den Blick. Zieht man zum Vergleich die Europäische Kommission zu Rate, dann bedeutet lebenslanges Lernen »alles Lernen während des gesamten Lebens, das der Verbesserung von Wissen, Qualifikationen und Kompetenzen dient und im Rahmen einer persönlichen, bürgergesellschaftlichen, sozialen bzw. beschäftigungsbezogenen Perspektive erfolgt« (Europäische Kommission 2001: 10, 34). Aus dieser Definition ist ersichtlich, dass hier ausdrücklich – neben demokratischpartizipartorischen und sozialen Aspekten – ein Schwerpunkt auf die Erwerbstätigkeit gelegt wird, und zwar auf arbeitsmarktorientierte Kompetenzen. Auf Bundes- und Länderebene umfasst lebenslanges Lernen »alles formale, nicht-formale und informelle Lernen an verschiedenen Lernorten von der frühen Kindheit bis einschließlich der Phase des Ruhestands« (Bund-Länder-Kommission 2004: 13). Für die weiteren Ausführungen ist daran wichtig, dass bei dieser Bestimmung lebenslangen Lernens explizit nicht-formale und informelle Bildungsprozesse genannt werden. Informelle Bildungsprozesse, die eher personale und partizipative – also überfachliche – Kompetenzen in den Fokus stellen, bildeten anfänglich auch den primären Bezugsrahmen, als in der Medienpädagogik über kompetenzförderliche Aspekte in Kontext von Computerspielen nachgedacht wurde (vgl. Fromme 2006: 183). Gebel, Gurt und Wagner nennen etwa als Beispiele für informelles Lernen durch Computerspiele die Bereiche soziale Orientierung und Identifikation, Identitätsentwicklung, Leistungsanforderung, Wettbewerbs- und Kommunikationsmöglichkeiten sowie Medienkompetenz (vgl. Gebel/Gurt/Wagner 2004: 19). Eine solche Bildungsperspektive, die formale, nicht-formale und informelle Lernprozesse von der Kindheit bis ins hohe Alter gleichberechtigt nebeneinanderstellt, führt dazu, dass Beruf, Familie und Freizeit zusammengedacht werden. Arbeit und Freizeit stellen folglich nicht voneinander abgetrennte Lebensbereiche in Bezug auf Lernen und Bildung dar. Sucht man einen gemeinsamen ›Nenner‹ der unterschiedlichen Begriffsbestimmungen lebenslangen Lernens, dann lässt sich konstatieren, dass der ›naive‹ Glaube, am Ende der Schulzeit oder der Ausbildung hätte man ›ausgelernt‹, nicht mehr gilt. Obwohl man sicherlich jeden Tag neue Erfahrungen sammelt und sich daraus die logische Schlussfolgerung ableiten lässt, dass man automatisch sein Leben lang lernt, soll nun auch jedem Menschen in der Wissensgesellschaft die Wichtigkeit dessen bewusst sein und mit einer Zielorientierung des Lernens einhergehen. Gestaltet sich das Konzept lebenslanges Lernen in
3.1 Das Kompetenzspiel in der Arbeit
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diesem Zusammenhang einseitig oder lassen sich unterschiedliche Perspektiven eruieren?
3.1.1.1 Drei Sichtweisen auf lebenslanges Lernen Lebenslanges Lernen ist kein Konzept, das »vereinfachenden unilateralen und unidimensionalen Deutungen« unterliegt, sondern vielmehr durch »Multifunktionalität und Offenheit« geprägt ist (vgl. Kade/Seitter 1998: 1). Demzufolge lassen sich auch unterschiedliche Sichtweisen auf lebenslanges Lernen einnehmen. Drei Ansätze sollen miteinander verglichen werden: 1. Unter der bereits aufgezeigten bildungspolitischen Perspektive kann lebenslanges Lernen im Spannungsfeld zwischen Emanzipation und Zwang gedeutet werden. Die bildungspolitische Betrachtungsweise in Deutschland verortet die Verantwortung für das lebenslange Lernen in hohem Maße im Individuum selbst (vgl. Bund-Länder-Kommission 2004: 26).124 Dabei wird auf eine Notwendigkeit von Lernen verwiesen, um in unserer heutigen Gesellschaft erfolgreich partizipieren und bestehen zu können. Hierbei schwingt ein gewisser Unterton mit, der im Kontext von »lebenslang« auch zu der Assoziation von »lebenslänglich« führen könnte, wie dies etwa Bolder anführt (vgl. Bolder 2006: 439). Eine solche Sichtweise auf die bildungspolitische Bestimmung lebenslangen Lernens kann folglich zu einer distanziertablehnenden Haltung führen, in der lebenslanges Lernen einen Zwangscharakter annimmt und als soziale Zumutung gedeutet wird (vgl. Kade/Seitter 1998: 2). Dohmen dagegen stellt vor allem die positiven Potenziale lebenslangen Lernens heraus (vgl. Dohmen 1996: 61ff.). Er nimmt eine positivaffirmative Sichtweise ein, die die demokratisch-emanzipatorischen Potenziale hervorhebt. 2. Neben der bildungspolitischen Perspektive wird aus erziehungswissenschaftlicher Sicht lebenslanges Lernen in den letzten Jahren häufig mit biografietheoretischen Überlegungen verknüpft.125 Hintergrund dieses Diskurses bil-
124 Angeführte Entwicklungsschwerpunkte lebenslangen Lernens im Strategiepapier sind beispielsweise die Betonung der Einbeziehung informellen Lernens, der Selbststeuerung, der Kompetenzentwicklung und der Vernetzung (vgl. Bund-Länder-Kommission 2004: 13ff.). 125 Demnach sind Biografien »Rekonstruktionen des eigenen Lebens und Handelns vor dem Hintergrund gesellschaftlichen Eingebunden-Seins (…). Die Bildungsbiographieforschung setzt sich mit den individuellen situativen Lernakten auseinander« (Gieseke 2003: 49). Alheit spricht
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3. Aktueller Diskurs – Der Spieler in der Wissensgesellschaft?
den aus dem gesellschaftlichen Wandel ableitbare Bezugspunkte von Unsicherheit und Ungewissheit, die dazu führen, dass sich Biografien verändern (vgl. Marotzki 2001: 8). Diese Überlegungen münden in die weitverbreitete These, dass sich die ›Normalbiografie‹ des Einzelnen auflöst und sich eine Patchwork-Biografie, eine Flickenteppich-Karriere bzw. eine Risiko- oder Bruchbiografie (vgl. Beck 1986) etabliert.126 Daher muss die eigene Bildungsbiografie immer wieder neu ausgehandelt werden, indem ein permanenter Wechsel zwischen dem Abwägen von Alternativen und dem Aushandeln von Gestaltungsmöglichkeiten stattfindet. Die Notwendigkeit, die eigene Biografie infolge gesellschaftlicher Veränderungsprozesse neu zu gestalten, kann einerseits Freiheitsmomente und Emanzipationsgrade beinhalten, indem sie Raum für Partizipation und Sinnorientierung für den einzelnen Menschen bietet. Beispielsweise kann lebenslanges Lernen als Antizipation zukünftiger Qualifikationsanforderungen fungieren, womit ein Gefühl von Sicherheit erzeugt werden kann. Andererseits sind damit auch Risiken und Entscheidungszwänge verbunden, die »Schattenseite von offenen, gestaltbaren, reversiblen Biographien« (Kade/Seitter 1998: 4). Diese Unsicherheiten offenbaren sich in der Individualisierung gesellschaftlicher Auswirkungen im Sinne einer ständigen Veränderungsbereitschaft, der der Einzelne Rechnung tragen muss. Somit stellt sich das lebenslanges Lernen aus dieser Perspektive als ambivalent dar, »nämlich als biographisch offener Raum und zugleich als biographisch riskante Notwendigkeit« (ebd.: 5). Aus diesem Grund kommt Alheit zu dem Schluss, dass die Biografie selbst zum Lernfeld hinsichtlich Antizipation, Bewältigung von Lebensphasen und Identitätsfindung als Ergebnis komplizierter Lernprozesse aufrückt und zu einem »Laboratorium« geworden ist, »in welchem wir Fähigkeiten entwickeln müssen, die vorläufig kein ›Curriculum‹ haben« (Alheit 1995: 278).
hier von »Lernen als Transformation von Erfahrungen, Wissen und Handlungsstrukturen im lebensgeschichtlichen und lebensweltlichen Zusammenhang« (Alheit 1990: 10). Demnach ist biografisches Lernen nicht an einen festgelegten Ort oder eine festegelegte Zeit gebunden, sondern betrifft die lebensgeschichtliche Perspektive der Individuen. 126 Diese Form der Biografie setzt sich aus diversen Versatzstücken zusammen und entspricht kaum mehr dem Lebensablauf früherer Zeiten. Stattdessen wird dieser zunehmend diffuser, erkennbar daran, dass eine lineare und problemlose Abfolge von Phasen (Lern- und Vorbereitungsphase, Aktivitätsphase, Ruhephase) nur noch auf eine geringe Anzahl von Lebensläufen in unserer Gesellschaft zutrifft. »Längst sind Phasenübergänge zu sozialen Risikolagen geworden« (Alheit 1995: 277). Obwohl die kollektiven biografischen Muster nach Alheit immer noch von Relevanz hinsichtlich »biographischer Ressourcen« sind, verlieren sie nach der Individualisierungsthese von Beck (1986) durch individuelle Risikolagen tendenziell an Bedeutung.
3.1 Das Kompetenzspiel in der Arbeit
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3. Eine dritte Variante in Bezug auf die Deutung lebenslangen Lernens zeigen Kade und Seitter mit ihrer einer analytischen Unterscheidung von Zukunft und Gegenwart auf (vgl. Kade/Seitter 1998: 7ff.). So ist nach Meinung dieser beiden Autoren den vorangestellten Überlegungen zum lebenslangen Lernen – also der bildungspolitischen und erziehungswissenschaftlichen Perspektive – gemeinsam, dass es sich bei diesen Konzepten um eine Um-zu-Beziehung handelt, also um eine Lernhandlung, die auf die Zukunft ausgerichtet ist: Lernen steht im Kontext eines bestimmten Zwecks. Dieser Zweck ist häufig bestimmt als die Behebung bestimmter Mängel. Das erfordert Selbstbeschränkung; andere Interessen werden verschoben, Bedürfnisse nicht befriedigt. »In dieser Sicht ist Lernen mit Mühsal und Anstrengung« verbunden (Kade/Seitter 1998: 7). Hier zeigt sich abermals eine Parallele von Lernen zur historischen Bedeutung von Arbeit. Lebenslanges Lernen wird hier zur Lern- bzw. zur »Wissensarbeit« (Willke 1998). Die bildungspolitische wie auch die pädagogisch-orientierte Perspektive auf lebenslanges Lernen benennen – um es mit Kraus zu formulieren – »explizit und in ihrem Kern die Unmöglichkeit bzw. Unangemessenheit eines Endpunktes der Lernbemühungen jedes einzelnen Menschen (…). Sie gehen sozusagen von der Notwendigkeit aus, Lernen im menschlichen Lebenslauf als ›open end‹-Veranstaltung zu verstehen« (Kraus 2001: 9f.). Obwohl auch positive Aspekte wie Partizipation und Offenheit thematisiert werden, schwingen doch immer Assoziationen von Zwang, Notwendigkeit sowie Unangemessenheit einer Lernverweigerung mit. Im Gegensatz dazu ist das gegenwartsbezogene Lernen nach Kade und Seitter vom Nützlichkeits- und Effektivitätsdenken befreit. Stattdessen rücken Bezugspunkte wie Spaß, Vergnügen, Freizeit und Erlebnis in den Mittelpunkt, positive Assoziationen, die auch mit dem Spiel in Verbindung stehen. So erstaunt es auch nicht, dass hier Aneignungsmodi bedacht werden, die Lernen mit Freizeit und Spiel kombinieren. Es findet folglich eine Assimilation des Lernens an die Aneignungslogik von Freizeit und Alltag statt, die jenseits von Notwendigkeiten in Bezug auf eine ungewisse Zukunft liegen. Durch diese »Mischformen und polyfunktionalen Vernetzungen verliert das lebenslange Lernen seinen monopolistischen Charakter«, das Lernen ist stattdessen »beigemischt« und der »(Absolutheits-)Anspruch« wird gebrochen« (Kade/Seitter 1998: 8). Dadurch wird die Möglichkeit eröffnet, das ›Muss‹ beim Lernen zu relativieren und so auch Lernwiderstände und Ablehnung aufzufangen. Das Recht auf Nicht-Lernen findet hierbei Beachtung. Allerdings, so Kade und Seitter, wird damit das Prinzip des lebenslangen
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3. Aktueller Diskurs – Der Spieler in der Wissensgesellschaft?
Lernens nicht außer Kraft gesetzt, sondern lediglich an Kriterien rückgekoppelt, die keinen Veränderungsnotwendigkeiten und Defizitannahmen folgen (vgl. Kade/Seitter 1998: 8). Dieser Ansatz rückt folglich subjektive Aneignungspraktiken in den Vordergrund, lässt Raum für die Befreiung von ökonomischen Zwängen und neue Transformationsleistungen bei der gegenwartsbezogenen Gestaltung und Fortsetzung des Lebens. Insgesamt liegen diesen drei Sichtweisen auf das lebenslange Lernen ganz unterschiedliche Deutungen und theoretische Überlegungen zugrunde. Die Umsetzung dieser unterschiedlichen Perspektiven hängt allerdings von jedem Einzelnen ab: Sehe ich lebenslanges Lernen als Zwang oder als Chance zur Selbstverwirklichung? Welche Gründe werden folglich aus Adressatenperspektive für das lebenslange Lernen angeführt?
3.1.1.2 Gründe für lebenslanges Lernen Den bisherigen Ausführungen zufolge machen sich die Fragmentierung von Biografien sowie der Anspruch, ein Leben lang zu lernen, als Rahmenbedingungen von Bildungsmaßnahmen bemerkbar. Hier stellt sich u.a. die Frage, welche Motive Teilnehmer an Weiterbildungsangeboten haben, die zunehmend vielfältiger werden und auch in späteren Lebensphasen enger an Erfordernisse des Erwerbslebens gebunden sind. Aus diesem Grund gewinnt die Berücksichtigung individueller Interessen für die Gestaltung des eigenen Bildungsprozesses weiter an Bedeutung. Gieseke (2003: 50) zeigt folgende sieben Erklärungsmuster für lebenslanges Lernen aus subjektiver Sicht auf: Erstens können nicht erworbene Schulabschlüsse oder nicht umgesetzte Studienwünsche durch lebenslanges Lernen kompensiert bzw. nachgeholt werden. Zweitens zwingt oft der Verlust des Arbeitsplatzes zu einer Umschulung. Drittens können persönliche Krisen zu einer individuellen Neuorientierung führen, die neues Wissen und neue Handlungskompetenzen verlangt. Als vierten Punkt nennt Gieseke die Veränderungen am Arbeitsplatz, die nicht mehr allein durch Erfahrungslernen in der jeweiligen Situation bewältigt werden können. Fünftens kann eine diffuse Unzufriedenheit mit einer Lebenssituation in gezielte oder explorative Weiterbildungspartizipation umgesetzt werden. Als sechsten Grund nennt sie die Verfolgung des Wissensfortschritts im eigenen Beruf oder Tätigkeitsfeld. Mit dem siebten Punkt spricht sie das Bedürfnis an, durch lebens-
3.1 Das Kompetenzspiel in der Arbeit
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langes Lernen die Teilhabe am politischen, sozialen oder kulturellen Leben zu unterstützen (vgl. Gieseke 2003: 50). Betrachtet man diese sieben Motive für lebenslanges Lernen und versucht, sie im Sinne einer positiven oder negativen ›Ladung‹ zu bewerten, so sind die ersten sechs Gründe mit einem ›Minus-Zeichen‹ zu versehen. Das Minus-Zeichen verweist hierbei auf eine extrinsische Motivation, konkreter auf Beweggründe, die abermals mit ›Muss‹ bzw. Notwendigkeit in Verbindung stehen: Kompensationsbestrebungen, Arbeitsplatzverlust, persönliche Krisen, Arbeitsplatzveränderungen und Unzufriedenheiten sind keine von Individuen emotional positiv konnotierte Kontexte. Hier geht es in erster Linie um die Abwehr drohender Exklusion. Dagegen kann der letzte Aspekt, der Wunsch nach gesellschaftlicher Partizipation, als eine Art bejahender Einstellung zum lebenslangen Lernen aufgefasst werden, die in Richtung Autonomie, Selbstverwirklichung und Selbstbestimmtheit weist. Im Weiteren stellt sich nun die Frage, wie die Umsetzung lebenslangen Lernens erfolgen soll. Dies betrifft vor allem die institutionalisierte Weiterbildung.
3.1.2 Weiterbildung im Wandel: Neue Medien – Neues Lernen? Das Lernen Erwachsener in Deutschland hat seinen Ursprung in der Volksbildung des 19. Jahrhunderts, dem ersten Versuch, das Lernen über die Schulzeit hinaus systematisch zu fördern. Allerdings wurde der Begriff »Volksbildung« altersunspezifisch verwendet, sodass auch Kinder und Jugendliche darunter gefasst wurden sind (vgl. Lenz 1982: 14). Etwa seit Beginn des 20. Jahrhunderts findet sich die Verwendung des Ausdrucks »Erwachsenenbildung«, worunter eine begrenzte Bildungszeit verstanden wird, die sich im Vergleich zur Volksbildung spezifisch an Erwachsene richtet (vgl. Seitter 2000: 135). Anfang der 1970er-Jahre führte dann der Deutsche Bildungsrat den neuen Begriff der »Weiterbildung« ein. Diese definiert er »als Fortsetzung oder Wiederaufnahme organisierten Lernens nach Abschluss einer unterschiedlich ausgedehnten ersten Bildungsphase« (Deutscher Bildungsrat 1970: 91). Hintergrund dieser Entwicklung ist die Vorstellung, »Bildung und Ausbildung [als S.G.] (…) Faktoren wirtschaftlicher Prosperität« anzusehen (Lenz 1982: 19). Diese neue Konzeption führte zu Funktionsverschiebungen beim Lernen Erwachsener: Fachkompetenz erwerben, um im ökonomischen und technischen Wettbewerb zu bestehen, lautete nun die Prämisse; soziale und personale Kompetenz rückten im Vergleich
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dazu in den Hintergrund. Der quartäre Bildungsbereich Weiterbildung institutionalisiert das lebenslange Lernen. Die Forderung lebenslangen Lernens könnte auch bedeuten, dass lebenslanges Lernen etwas fordert. Die Forderung nach Weiterbildung ist da eindeutiger. Weiterbildung erfordert wie jeder Lernprozess Motivation, ein entscheidender Grund, warum darüber nachgedacht wird, ob das Spiel in diesem Bereich gewinnbringend eingesetzt werden kann. Die Legitimation von Spielelementen im Lernprozess hängt auch davon ab, ob Motivationsdefizite beim Lernen Erwachsener vorhanden sind, die – so die These aktueller Konzepte wie Game-Based-Learning – durch das Spiel, konkret Computerspielelemente, behoben werden können. Aber ist die Instrumentalisierung des Spiels überhaupt notwendig? Die Frage richtet sich nach der emotionalen und motivationalen Komponente bezüglich der Teilnahme an einer Weiterbildungsmaßnahme, die als entscheidende Faktoren für einen erfolgreichen Lernprozess gilt. Deshalb muss nun geklärt werden, ob Teilnehmer an Weiterbildungsmaßnahmen überhaupt spielerischer ›Motivationsschübe‹ bedürfen.
3.1.2.1 Weiterbildung: Spaß oder Anstrengung? Laut Berichtssystem Weiterbildung IX, herausgegeben vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, haben im Jahr 2004 bundesweit 41% Personen an formalisierter Weiterbildung (Lehrgänge, Kurse, Seminare) teilgenommen.127 Hochgerechnet entspricht dieser Anteil etwa 20,4 Millionen Weiterbildungsteilnehmern (vgl. BMBF 2006: 18). Insgesamt hat die Weiterbildung in Deutschland ein positives Image. So geben 94% der Befragten an, jeder sollte bereit sein, sich ständig weiterzubilden (ebd.: 258). Die bildungspolitische Forderung nach lebenslangem Lernen wird hier durch die Einführung des »ständig«, das auf eine dauerhafte Lernbereitschaft rekurriert, von fast allen befragten Personen bejaht. Weiter finden etwa drei Viertel der befragten Personen, dass Weiterbildung auch Spaß macht (76%; ebd.), bei fast einem Viertel der Befragten bleiben folglich positiv-affirmative Emotionen bei der Assoziation von Weiterbildung aus. Vergleicht man diese Daten von 2004 mit denen von 1991, dann ist das Empfinden von »Spaß« um sechs Prozentpunkte zurückgegangen (vgl. BMBF 2006: 259),
127 Insgesamt wurden bundesweit 7.108 Personen im Alter von 19 bis 64 Jahren befragt. Erhebungszeitraum war das Jahr 2004, und es handelte sich um eine Zufallsstichprobe (vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung 2006: 14).
3.1 Das Kompetenzspiel in der Arbeit
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während die Ansicht, dass jeder ständig bereit sein sollte, sich weiterzubilden, um vier Prozentpunkte (90% vs. 94%) gestiegen ist (vgl. ebd.: 260). Betrachtet man Bildungsabschlüsse und Berufsstatus der Befragten, lassen sich folgende Ergebnisse in Bezug auf ihre Einstellung, ob Weiterbildung Spaß macht, zusammenfassen: Personen mit Hochschulreife sind eher der Meinung, dass Weiterbildung Spaß macht, als Personen mit niedrigem Schulabschluss (90% zu 72%). Noch deutlicher zeigt sich dieser Unterschied zwischen Personen mit Hochschulabschluss und denjenigen ohne Berufsausbildung (91% zu 67%). Außerdem sind mehr Beamte als Arbeiter der Ansicht, dass Weiterbildung Spaß mache (86% vs. 70%) (vgl. ebd. 260). Hier scheint sich also der aus der Bildungsforschung bekannte Befund zu bestätigen, dass Angehörige bildungsferner Schichten Bildungsprozessen allgemein skeptischer gegenüberstehen als hoch Gebildete. In diesem Zusammenhang ist weiter interessant, welche Gründe die Befragten angegeben haben, nicht an Weiterbildungsmaßnahmen teilzunehmen. Mit Abstand wurde am häufigsten als Weiterbildungsbarriere angeführt, dass Weiterbildung respektive Lernen »anstrengend« sei. Dem stimmten 71% der Befragten zu128 (ebd.: 262). Aus der sozialhistorischen Analyse (s.o., S. 37, 42, 48, 62 und 86) können wir entnehmen, dass Anstrengung mit dem Arbeitsbegriff geschichtlich verwoben ist. Hier zeigt sich, dass auch Lernen im Weiterbildungszusammenhang mit Anstrengung verbunden wird: Lernen als anstrengende, mühselige Tätigkeit zu empfinden fungiert als Bildungsbarriere. Betrachtet man abschließend, welche Weiterbildungsformen von den befragten Personen favorisiert werden, dann steht das »Lernen durch Beobachten, Ausprobieren am Arbeitsplatz« mit 84% an erster Stelle (vgl. ebd.: 277). Dieses Item verweist auf einen von den Befragten bevorzugten explorativen Anteil im Lernprozess. Hier ist die Nähe zum Spiel als Form explorativen Verhaltens offensichtlich. So begründete beispielsweise bereits Berlyne (1960, 1969) in seinen motivationspsychologischen Grundgedanken zum Spiel den Anstoß zur und die Aufrechterhaltung der Spielhandlung mit Neugier und Exploration: Neugier, um die Handlung in Gang zu setzen und Exploration um die Handlung aufrecht zu erhalten. Neugier als hypothetisches Konstrukt und Prämisse bestimmt das Auftreten von Exploration und wird durch Stimuli ausgelöst, die auf der einen Seite für Zuständigkeiten des »Organismus«, auf der anderen für »Eigenschaften des Reizfeldes« stehen (Keller/Voss 1976: 39). Bestimmten
128 Auf dem zweiten Rang steht die Überzeugung, auch ohne Weiterbildung »ganz gute Chancen im Beruf zu haben«, die lediglich von 38% angegeben wurde (vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung 2006: 262).
188
3. Aktueller Diskurs – Der Spieler in der Wissensgesellschaft?
Reizmustern schenkt Berlyne hierbei besondere Beachtung: »Überraschung, Neuigkeit, Veränderung, Inkongruenz, Ambiguität, Komplexität« (Hering 1979: 38) erzeugen eine stärkere Aufmerksamkeit als geläufige Informationen und können sicherlich auch allgemein – also ebenfalls für Lern- und Arbeitsprozesse – als motivierende Faktoren für eine Handlung betrachtet werden. Im Gegensatz zum Beobachten und Ausprobieren am Arbeitsplatz votieren die Befragten am wenigsten dafür, sich mithilfe von computerunterstützten Selbstlernprogrammen und dem Internet Wissen anzueignen. Diese Lernform rangiert mit 39% Zustimmung auf dem letzten Platz (vgl. BMBF 2006: 278). Abbildung 6 liefert einen Überblick bezüglich des Interesses (sehr/eher interessiert in Prozent) an unterschiedlichen Weiterbildungsformen. 84
Lernen durch Beobachtung, Ausprobieren am Arbeitsplatz 69
Lehrgänge, Kurse oder Seminare im Betrieb
67
Unterweisung oder Anlernen am Arbeitsplatz durch Kollegen
66
Lesen von berufsbezogenen Fach- und Spezialschriften am Arbeitsplatz Unterweisung oder Anlernen am Arbeitsplatz durch Vorgesetzte
64
Lehrgänge, Kurse oder Seminare außerhalb des Betriebs
64
Teilnahme an Qualitätszirkel, Werkstattzirkel, Lernstatt, Beteiligungsgruppe
39
Lernen am Arbeitsplatz mithilfe von computerunterstützten Selbstlernprogrammen, Internet
39 0
10
20
30
40
50
60
70
80
90
in Prozent
Abbildung 6: Interesse an Formen berufsbezogener Weiterbildung (n=7.018 befragte Personen im Alter von 19-64 Jahren) Quelle: Eigene Darstellung nach BMBF 2006: 278.
Demzufolge kann konstatiert werden, dass computerunterstütztes Lernen, also ELearning, bei den Befragten im Vergleich zu anderen Lernformen wenig favorisiert wird.129 Allerdings bieten neue Lernformen wie etwa E-Learning die 129 Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die Befragten unterschiedliche Vorstellungen über die einzelnen Lernformen besitzen und daher diese Vorstellungen mit dem jeweiligen Bekanntheitsgrad über bestimmte Lernformen korrespondieren (ebd.: 278).
3.1 Das Kompetenzspiel in der Arbeit
189
Möglichkeit, zeit- und ortsunabhängig zu lernen – Vorteile, die einerseits aus Unternehmensperspektive hervorgehoben werden und die andererseits versprechen, Beruf, Familie, Freizeit und Lernen effektiv miteinander zu verbinden.
3.1.2.2 E-Learning: die (gescheiterte) Lernform des 21. Jahrhunderts? Das junge Wort E-Learning130 gehört zur Familie der E-Begriffe (engl.: e-terms), die gleichzeitig auch als Marketing-Begriffe fungieren: Es wird also im Hinblick auf die Erfordernisse des Absatzmarktes ein Wort e-isiert und damit interessant und verwendungsfähig gemacht. Vor diesem Hintergrund entstand der Neologismus »E-Learning« etwa 1999, und zwar im Kontext der Werbebranche (Ehlers 2004: 31). »E« steht für electronic und bezieht sich in erster Linie auf elektronische Informationsverarbeitung und elektronisch unterstützte Kommunikation, also auf Verwendung von Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT). Der andere Teil des jeweiligen E-Begriffes weist auf Gegenstände, Bereiche und Prozesse, die bereits ihren etablierten Ort haben. Somit verbindet ein E-Begriff Innovation und Tradition. ›Lernen‹ ist folglich der traditionelle Teil des Kompositums E-Learning. Das »E« rückt nun das Lernen in einen neuen Zusammenhang. Es geht nämlich um Lernen, das, unter Verwendung elektronischer Informations- und Kommunikationstechnologien respektive darauf aufbauender Systeme durchgeführt wird. Eine einheitliche Definition von E-Learning existiert allerdings nicht, und die Variationsbreite einschlägiger Definitionen ist immens (vgl. de Witt 2005: 74; Flindt 2005: 23). Da diese Arbeit einen pädagogischen Fokus einnimmt, soll an dieser Stelle eine Definition herangezogen werden, die eine erziehungswissenschaftliche Sicht beinhaltet. So integrieren Seufert und Mayr (2002) in ihrer Definition von ELearning die pädagogische Intention, nach der elektronische Lernumgebungen den absichtsvollen Einsatz medialer Elemente in E-Learning-Programmen
130 Untersucht man die am häufigsten vorzufindenden Schreibweisen, dann stößt man auf »E-Learning«, »e-learning« sowie »e-Learning«. Darüber hinaus war früher der Bindestrich in solchen Zusammensetzungen obligatorisch, heute verschwindet er zunehmend, sodass zudem auch die Schreibweisen »eLearning« und »elearning« immer mehr zu finden sind (vgl. Baumgartner/Häfele/Maier-Häfele 2002: 14). Neben den uneinheitlichen Schreibweisen signalisiert auch die Verwendung von Synonymen wie multimediales Lernen, Online-Lernen usw. die dynamische Entwicklung der Konzepte. In diesem Sinn diskutieren beispielsweise auch Dichanz und Ernst die Problematik in Bezug E-Learning-Definitionen (vgl. Dichanz/Ernst 2002: 45ff.). In dem Werk von Baumgartner, Häfele und Maier-Häfele 2002 findet sich ein erster guter Überblick über E-Learning, dessen Funktionen und damit verbundene Fachbegriffe.
190
3. Aktueller Diskurs – Der Spieler in der Wissensgesellschaft?
betonen: »E-Learning findet statt, wenn Lernprozesse in Szenarien ablaufen, in denen gezielt multimediale und (tele-)kommunikative Technologien integriert sind« (Seufert/Mayr 2002: 45f.). In den folgenden Ausführungen wird E-Learning entsprechend der genannten Definition von Seufert und Mayr verstanden, wobei ein Schwerpunkt dieses E-Learning-Verständnisses auf einer didaktischen Konzeption des Begriffs basieren soll. In diesem Sinn wird E-Learning hier als Oberbegriff für sämtliche Bereiche des Lernens mit Hilfe von Multimediatechnologien verwendet, d.h. es handelt es sich um eine eher weite Definition von E-Learning, die alle neuen Medien131 und nicht nur das Internet anspricht. Die Erwartungen, die mit E-Learning verbunden werden, lassen sich nur mit dem Wort immens adäquat charakterisieren. Noch vor wenigen Jahren, etwa zu Beginn dieses Jahrtausends, wurde E-Learning als die neue Lernform des 21. Jahrhunderts proklamiert. Es versprach, das traditionelle Lernen zu revolutionieren und das Präsenzlernen zu ersetzen (vgl. Moser 2006: 281). Vor diesem Hintergrund entstanden viele Initiativen, z.B. »Schulen ans Netz«, »Notebook University« oder »Neue Medien in der Bildung«.132 Doch die »Anfangseuphorie in Schule, Hochschule und Weiterbildung ist der Ernüchterung gewichen« (Mandl 2006: 11). Der Grund für die eingetretene Ernüchterung ist meiner Meinung nach vor allem in überzogenen Erwartungen zu sehen, die mit E-Learning verbunden wurden. Der Optimismus fußte erstens auf der These, dass E-Learning einen effektiveren Wissenserwerb als traditionelle Lernformen verspreche. Beispielhaft sind hier didaktische Elemente wie individualisierte Lernkontrollen, ›Just-intime-Lernen‹ oder Adaptivität der Kurse an die Bedürfnisse der Nutzer zu nennen. Zweitens wurde ein wesentlicher Vorteil von E-Learning darin gesehen, dass es Kosten verringere, da die Anreise zum Tagungsort, die Verpflegung sowie die oftmals notwenige Übernachtung ausbleiben würde. In diesem Kontext wurde von E-Learning eine kostengünstige Weiterbildung aufgrund der Faktoren der Orts- und Zeitunabhängigkeit beim Lernen erwartet. Dies führt zu einer dritten wichtigen Komponente des E-Learning-Hypes, und zwar zur Hoffnung 131 Der Begriff Neue Medien ist allgemein und daher auch im E-Learning-Kontext nicht unproblematisch, da ein Medium gestern noch neu, morgen allerdings schon etabliert sein kann (vgl. Sesink 2008: 407). Momentan ist der Begriff Neue Medien auf Multimediatechnologien bezogen, also diejenigen Medien, die die hergebrachte Büroanwendungsprogramme mit Formaten kombinieren, die bis vor einigen Jahren Rundfunk, Fernsehen und Kino vorbehalten waren (vgl. Hüther 2005: 346). 132 In diesem Zusammenhang ist zu bedenken, dass solche Initiativen auch mit ökonomischen und unternehmerischen Interessen verbunden waren. So entstanden solche Initiativen mit der Beteiligung von Medienkonzernen wie etwa Bertelsmann (Bertelsmannstiftung) und Mircrosoft.
3.1 Das Kompetenzspiel in der Arbeit
191
auf die Aufhebung und Überwindung örtlicher und zeitlicher Begrenzungen. Viertens wurden Motivationseffekte hervorgehoben. E-Learning sollte die Lernenden stärker motivieren als andere Lernformen, z.B. durch die Integration unterschiedlicher Medien (vgl. z.B. Kerres 2001: 64ff.). Allerdings zeigen die Erfahrungen mit E-Learning in vielen Betrieben sowie im institutionellen Weiterbildungsrahmen, dass diese hochgesteckten Erwartungen nicht in Erfüllung gegangen sind. Wie im vorangegangen Abschnitt zur Akzeptanz von Weiterbildungsangeboten deutlich wurde, wird E-Learning bundesweit im Vergleich zu anderen Lernformen von den Lernern am wenigsten favorisiert (vgl. BMBF 2006: 278). Somit kann erstens die grundlegende Bereitschaft, an E-Learning-Angeboten teilzunehmen, als gering eingestuft werden. Die geringe Motivation liegt wahrscheinlich nicht zuletzt darin begründet, dass E-Learning hohe Selbstlernkompetenzen erfordert sowie ein hohes Maß an Akzeptanz gegenüber Neuen Medien voraussetzt, die nicht jeder Lernende mitbringt. Bereits diese Schwelle kann zu Frustrationen und Versagensängsten führen. In diesem Sinn konnte zweitens die angenommene Steigerung der Lerneffektivität und Lerneffizienz beim E-Learning gegenüber traditionellen Lernformen nicht bestätigt werden und die Integration von Neuen Medien in den Lernprozess führte eben nicht dazu, dass eine erhöhte Lernbereitschaft bei den Nutzern erzeugt wurde. Darüber hinaus fehlt es offensichtlich drittens bei vielen E-Learning-Angeboten an einer methodisch-didaktischen Konzeption. »Studien zur Akzeptanz von E-Learning zeigen jedoch, dass vor allem die qualitative Gestaltung von E-Learning-Angeboten in vielen Bereichen sehr zu wünschen übrig lässt« (Mandl 2006: 17). Diese Faktoren führten nicht zuletzt zu den hohen Abbrecherquoten im E-Learning-Bereich (vgl. Niegemann u.a. 2004: 16). Viertens erfüllte sich die Erwartung von Kosteneinsparungen nicht. Ein gutes E-LearningArrangement wie auch ein gutes Computerspiel ist in der Herstellung nicht kostengünstig, sondern kostenintensiv, die Kosten für elektronische Weiterbildungsmaßnahmen wurden deutlich unterschätzt (vgl. Mandl 2006: 13). Resultat dieser ernüchternden Erfahrungen und der zum Teil hohen Abbruchquoten sind neue Überlegungen in der aktuellen Weiterbildungsdiskussion, wie etwa das Blended Learning.133 Nach Beyer und Dichanz gehört die Zukunft im
133 Der Begriff Blended Learning hat sich im Verlauf des Jahres 2001 etabliert (vgl. Seufert/Mayr 2002: 22), wobei im deutschsprachigen Raum z.B. auch die Begriffe »Hybrides Lernen«, »hybride Lernarrangements« oder »hybride Lernumgebungen« verwendet wurden (vgl. Reinmann-Rothmeier 2003: 29f.), die sich allerdings im Gegensatz zum Blended Learning nicht durchsetzen konnten (vgl. Fredebeul 2007: 11). Der englische Begriff »Blended« bedeutet soviel wie »vermengt, vermischt, ineinander übergehend«, allerdings wird nicht das Lernen ver-
192
3. Aktueller Diskurs – Der Spieler in der Wissensgesellschaft?
Hochschul- und Weiterbildungssektor den gemischten didaktischen Designs, die personale Lehr-Lern-Situationen mit virtuellen Lehrarrangements verknüpfen. Blended Learning-Arrangements seien die zeitgemäßen Bildungsangebote, denn die bisherigen »Konzepte und Erfahrungen mit dem ›virtual learning‹ oder Elearning haben weder zu einem überzeugenden theoretisch-didaktischen Konzept noch zu herausragenden Ergebnissen geführt« (Beyer/Dichanz 2004:47f.). Überlegungen zu didaktischen Gestaltungen des Lernprozesses umfassen heute auch die Erkenntnis, dass positive Emotionen für den Lernerfolg ausschlaggebend sind. Computerspiele, die in erster Linie auf intrinsischer Motivation beruhen, bieten einen günstigen Nährboden für positive Erlebnisse beim Spielen. Virtuelle Lernarrangements, die den Motivationsfaktor von Computerspielen fruchtbar machen, versprechen – so eine These – ein positives Erleben beim Lernen. Das Motto: Lernen soll Spaß machen, denn das Kompetenzspiel in der Arbeit erfordert schon genug ständige ernste Anstrengung und Mühsal.
3.1.3 Anforderungen an heutige Individuen in der Wissensgesellschaft: Das agonale Spiel des Arbeitskraftunternehmers? Erwerbsarbeit ist heute untrennbar mit dem Bereich des Lernens verknüpft, sind doch Kompetenz, Wissen und Qualifikation zentrale Wettbewerbsfaktoren auf dem Arbeitsmarkt: »Besser Qualifizierte verdrängen schlechter Qualifizierte beim Wettbewerb um begehrte Arbeitsplätze und damit verbundene Lebenschancen« (Geißler 2002: 343). Arbeit und lebenslanges, formales wie informelles Lernen bilden heute eine gesellschaftlich geforderte Einheit. Wie die bisherigen Überlegungen zeigen, wird auch das Spiel eng mit Lernen verknüpft. In didaktischen Überlegungen ist das Lernspiel Gegenstand zeitgemäßer Überlegungen, definiert als mit »didaktischer Absicht gestaltete Lern- und Arbeitsmittel« (Schaub/Zenke 2005: 410). Das Spiel wird Mittel zum Zweck, und der Zweck operationalisiert (und legitimiert) sich im Lernen, in der Arbeit und den durch sie erworbenen (relativen) Lebenschancen. Lernspiele, die heutzutage in ökonomischen Zusammenhängen thematisiert werden, sind etwa die Unternehmensplanspiele, die die Förderung sozialer Kompetenzen und einen hohen Lerntransfer versprechen, oder die in dieser Arbeit noch zu thematisierenden
mischt oder vermengt, sondern die Lernmethoden (vgl. Ehlers 2004: 42). Unter Blended Learning versteht man demnach die Kombination von E-Learning und klassischen Lernmethoden mit dem Ziel, Synergieeffekte zu schaffen.
3.1 Das Kompetenzspiel in der Arbeit
193
digitalen Lernspiele. Neben Lernaspekten und der am Beispiel des Flow-Konzepts bereits aufgezeigten Strukturähnlichkeit von Arbeit und Spiel (vgl. S. 158ff.) lässt sich auch noch eine dritte Gemeinsamkeit von Arbeit und Spiel aufzeigen, nämlich der Wettstreit. Die Spielkategorie agon bezeichnet nach Caillois »Wettstreit« oder »Wettkampf« (vgl. Caillois 1960: 19; s.o., S. 20).134 Wettkampfspiele bedeuten ein Messen der persönlichen Leistungsfähigkeit mit Anderen, dem der Wunsch inhärent ist, dass der Spieler Anderen sein Können demonstriert und Anerkennung erhält. In der Praxis setzt agôn Disziplin, Anstrengung, den Willen zum Sieg, aber auch ein entsprechendes Training voraus. Agôn besitzt den Charakter von Rivalität, es ist ein Kampfspiel in Bezug auf eine bestimmte Eigenschaft, wie z.B. Geschicklichkeit, Ausdauer, Gedächtnis. Als Beispiele von Spielen die unter agôn fallen, nennt Caillois etwa Schießen, Golf, Fußball, Billard oder Schach (vgl. Caillois 1960: 19). Beim Computerspiel, einer der derzeit beliebtesten Freizeitaktivitäten, für Kinder, Jugendliche aber auch für Erwachsene (vgl. S. 208ff.) spielt der Wettbewerb ebenfalls eine entscheidende Rolle, vor allem wenn nicht der Computer der Gegner ist, sondern es auch um das eigene Austesten gegen andere Mitspieler geht (vgl. Kapitel 3.5.1). Dabei ermöglicht das Internet, dass die Entfernung der Spieler keine Rolle spielt. Man kann heute im Computerspiel die Herausforderung weltweit suchen, sich mit anderen messen und auf Erfolg hoffen. Man könnte hier die These nach Portele vertreten, dass Wettbewerbsspiele Leistungssituationen der sozialen Realität widerspiegeln (Portele 1976: 126). Auch Arbeitsverhältnisse in der Moderne sind häufig durch Wettbewerb gekennzeichnet. Der Wettstreit, das agonale Spiel, dem sich der Einzelne auf dem Arbeitsmarkt stellen muss, heißt konkurrenzfähig zu bleiben. Es zwingt den Erwerbstätigen, sich »flexibel zu verhalten und sich als Planungszentrum der eigenen beruflichen Entwicklung zu verstehen« (Wittwer 2006: 2). Will man folglich seinen Arbeitsplatz sichern oder aufsteigen, muss man das Kompetenzspiel, den Wettstreit in der Arbeit mitspielen, denn »the knowledge society [is – S.G.] a highly competetive one, for organisations and individuals alike« (Drucker 2001: 4). Das Wettbewerbsspiel der Arbeit verlangt aber bestimmte Kompetenzen und stellt Anforderungen an den Spieler. Der flexible Mensch des neuen Kulturkapitalismus nach Sennett (2000) befindet sich in einer globalisierten Arbeitswelt, die immer stärkere und ständig veränderte Leistungsanforderungen stellt. Arbeitsbedingungen sind seit jeher im Wandel begriffen, wodurch sich auch
134 Lämmer übersetzt agon darüber hinaus auch noch mit »Krieg/Schlacht« (vgl. Lämmer 1996: 37). In Bezug auf die Diskussion der Bedeutungsbeziehung der Begriffs agon und Spiel (vgl. S. 20).
194
3. Aktueller Diskurs – Der Spieler in der Wissensgesellschaft?
neue Formen von Arbeitskraft herausgebildet haben. Kann man etwa zur Zeit der Frühindustrialisierung nach Voß und Pongratz vom »proletarisierten Lohnarbeiter« sprechen, der seine Arbeitskraft als »Roh-Stoff« verkaufte, ist es zur Zeit des Fordismus der »verberuflichte Arbeitnehmer«, der seine Arbeitskraft als »Massenware« in standardisierter Berufsform anbietet (Voß/Pongratz 1998: 150). Nun steht auch diese Form der Arbeitskraft zur Disposition, wenn sich die postfordistische Gesellschaft durch eine globale Vernetzung bestimmt, in der flexibles Agieren, ein individuelles Qualifikationsprofil und eine ständige Anpassungsbereitschaft die ausschlaggebenden Erfolgsfaktoren von Arbeit sind (vgl. Arens/Ganguin/Treumann 2007: 203). Eine Figur, die diesen neuen Typus der Arbeitskraft zu umschreiben versucht, ist der Arbeitskraftunternehmer nach Voß und Pongratz (1998, 2003).135 So lassen sich die bisherigen Ausführungen zum lebenslangen Lernen und zur Weiterbildung, die Diskussion um kontingente, friktionale Lebensläufe oder die Notwendigkeit variabler Lernarrangements zwischen Arbeit, Familie und Freizeit, zu einem neuen Leittypus von Erwerbstätigkeit, dem des Arbeitskraftunternehmers verdichten. Qualifikationen und spezifische Anforderungen, die sich aus dem Arbeitskraftunternehmer ableiten lassen, münden nach Voß und Pongratz in drei Leitthesen, die (1) Selbst-Kontrolle, (2) Selbst-Ökonomisierung und (3) Selbst-Rationalisierung betonen. Diese drei Leitthesen versucht Pongratz durch drei mögliche Devisen aus unternehmerischer Sicht zu umschreiben: Das Motto der Selbst-Kontrolle könnte lauten: »Wie sie die Arbeit machen, ist uns egal – Hauptsache das Ergebnis stimmt« (Pongratz 2001: 2). Anders ausgedrückt, bezieht sich die Dimension der Selbst-Kontrolle auf die Notwendigkeit für den Arbeitskraftunternehmer, seinen täglichen Arbeitsablauf selbstständig zu planen und zu strukturieren. Die eigene Tätigkeit wird verstärkt von Arbeitnehmern selbst gesteuert und überwacht. Neben der Notwendigkeit einer wachsenden Selbst-Kontrolle erfordert die Selbst-Ökonomisierung, das »Verhältnis zur eigenen Arbeitskraft als Ware« (Voß/Pongratz 2003: 25) wahrzunehmen, die permanente Weiterentwicklung der eigenen Kompetenzen, etwa durch Weiterbildung oder auch informelle Lernprozesse. Die Devise: »Sie bleiben nur so
135 Einschränkend ist hier festzuhalten, dass nicht alle Erwerbstätigen gleichzeitig oder abrupt dem Typus des Arbeitskraftunternehmers entsprechen werden. Vielmehr kann davon ausgegangen werden, dass »in weiten Bereichen der Erwerbsarbeit der Typus des verberuflichten Arbeitnehmers vorherrschend geblieben ist« (Voß/Pongratz 2003: 10). Voß und Pongratz prognostizieren jedoch, dass »längerfristig (über die nächsten Jahrzehnte hinweg) der Arbeitskraftunternehmer den Typus des verberuflichten Arbeitnehmers als Leittypus der gesellschaftlichen Formung von Arbeitskraft ablösen wird« (ebd.).
3.1 Das Kompetenzspiel in der Arbeit
195
lange, wie Sie nachweisen und sicherstellen, dass Sie gebraucht werden und Profit erwirtschaften« (Pongratz 2001: 2). Im Gegensatz zum verberuflichten Arbeitnehmer, der seine standardisierten beruflichen Kompetenzen eher passiv auf dem Arbeitsmarkt anbietet, soll der Arbeitskraftunternehmer ein aktiv ausgerichteter Makler seiner individuellen Fähigkeiten und Qualifikationen sein, die er an den Erfordernissen des Arbeitsmarktes bzw. des Betriebes ausrichtet. Die Selbst-Rationalisierung als drittes zentrales Leitmotiv impliziert eine ständige Erreichbarkeit des Arbeitskraftunternehmers: »Wir brauchen Sie voll und ganz und zu der Zeit – und dazu müssen Sie ihr Leben voll im Griff haben« (Pongratz 2001: 2). Leistungsfähigkeit gepaart mit dem erfolgreichen Umgang mit Belastungssituationen und die Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Freizeit sind hierfür kennzeichnend. Dadurch gewinnen auch berufliche und private Kommunikationsmittel wie etwa das Mobiltelefon an Bedeutung. Ziel ist eine »zweckgerichtete, alle individuellen Ressourcen gezielt nutzende Durchgestaltung des gesamten Lebenszusammenhangs, der in neuer Qualität systematisch auf den Erwerb ausgerichtet ist« (Voß/Pongratz 2003: 25). Kritisch hervorzuheben ist insgesamt, dass mit dem Konzept des Arbeitskraftunternehmers umfangreiche physische und psychische Ansprüche an Arbeitnehmer verbunden sind. Durch ungleiche Machtstrukturen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern besteht insgesamt die Gefahr, dass ein struktureller Wandel der Ware Arbeitskraft »eher zur Verschlechterung der Erwerbslagen beitragen« könnte (Voß/ Pongratz 2003: 31). Trotz einer Ausdehnung der Freiräume sowie einer gesteigerten Autonomie am Arbeitsplatz sehen sich die erwerbstätigen Personen einem wachsenden Leistungsdruck ausgesetzt, der ständige Weiterbildung sowie das lebenslange Lernen in den Vordergrund rückt.136 Unabhängig davon, bis zu welchem Grad der Arbeitnehmer der Zukunft dem theoretischen Entwurf des Arbeitskraftunternehmers entspricht, kristallisiert sich die Vereinbarkeit zwischen Arbeit und Lernen als Wettbewerbsvorteil auf dem Arbeitsmarkt heraus. Zur Förderung berufsbezogener Lernprozesse haben Überlegungen in die erziehungs- und bildungspolitische Diskussion Einzug gehalten, wie Lernen mit erhöhtem positivem Empfinden einhergehen könnte, um der häufig mangelnden Selbstdisziplin und Motivation – wie etwa beim E-Learning – zu begegnen. In diesem Zusammenhang fiel der Blick auf Computerspiele, die ursprünglich als reines Unterhaltungsmedium wahrgenommen wurden – sie waren ja auch als ein solches gedacht –, nun aber auch explizit für das Lernen genutzt
136 Darüber hinaus ist vorstellbar, dass das ständige Pendeln zwischen vorübergehender Erwerbstätigkeit, beruflichen Weiterbildungsphasen, und Arbeitslosigkeit zu psychosozialen Problemen führt.
196
3. Aktueller Diskurs – Der Spieler in der Wissensgesellschaft?
werden sollen, sind sie doch heutzutage eine nicht zu unterschätzende Größe bei der Freizeitgestaltung.
3.2
Der Computer – Arbeits- oder Spielmedium? »Dass immer mehr Menschen mit dem Computer auch spielen, statt nur damit zu arbeiten (…) ist inzwischen kein Geheimnis mehr« (Neitzel 2008: 61).
Computerspiele setzen das Medium Computer voraus. Der erste digitale Computer, der Z3, wurde von Konrad Zuse in Zusammenarbeit mit Helmut Schreyer im Jahre 1941 entwickelt (vgl. Rifkin 2004: 85). Ab Mitte der 1960er-Jahre erhielt der Computer Einzug in den Verwaltungsbereich (Lensing 2007: 133), der Microchip ließ Computer ab den 1970er-Jahren deutlich handlicher und billiger werden (vgl. Jones 1990: 104f.) und etwa am Anfang der 1980er-Jahre entstand auch der zeitgenössische Begriff des Users (vgl. Turkle 1999: 47). Was macht aber der User am Computer: Spielt er? Arbeitet er? Lernt er? Der folgende Passus widmet sich den Tätigkeiten von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen am Rechner. Der Schwerpunkt der Analyse liegt auf der Frage, wie der Computer von unterschiedlichen Generationengruppen genutzt wird. Ist er eher ein Arbeits-, ein Lern- oder ein Spielmedium? Lässt sich nämlich aufzeigen, dass der Computer als ein multifunktionales Medium fungiert, dann vereinen sich die ehemals traditionell räumlich getrennten Bereiche Spiel-Arbeit in einem Objekt.
3.2.1 Kindliche Computernutzung Zunächst soll nun das Computerverhalten von Kindern in den Fokus gestellt werden. Um ein umfassendes Bild des aktuellen Forschungsstands zu erhalten, orientieren sich die folgenden Ausführungen an den KIM-Studien der letzten zwei Jahre.137
137 Die KIM-Studien werden seit 1999 vom Medienpädagogischen Forschungsverbund Südwest durchgeführt. Dabei handelt es sich um repräsentative Längsschnittuntersuchungen, die das Medienhandeln von Kindern im Alter von 6 bis 13 Jahren erforschen. Im Durchschnitt werden 1.200 deutschsprachige Kinder befragt. Die Datenerhebung erfolgt mündlich-persönlich, also in einer Face-to-Face Befragung. In eine damit zusammenhängende schriftliche Befragung werden auch die primären Erziehungspersonen einbezogen.
3.2 Der Computer – Arbeits- oder Spielmedium?
197
Öffnet man also den Blick für Tätigkeiten, die von Kindern am Computer durchgeführt werden, stehen laut KIM-Studie 2006 Computerspiele an erster Stelle (vgl. KIM-Studie 2006: 32).138 63% der befragten Kinder spielen »mindestens einmal pro Woche« alleine, wobei der Jungenanteil weitaus höher ist (Mädchen 25%; Jungen 72%). Weiter geben 52% der spielenden Kinder an, regelmäßig auch gemeinsam mit anderen – Eltern, Geschwistern oder Freunden – am Computer zu spielen. Das Arbeiten für die Schule steht – wenn man das alleinige und gemeinsame Spielen am Rechner in eine Kategorie zusammenfasst – an zweiter Stelle. Anderes als bei den Computerspielen sind hierbei Mädchen stärker vertreten als Jungen (Mädchen 51% und Jungen 42%).139 Während Jungen den Computer also eher als Unterhaltungsmedium nutzen, zeigt sich bei den Mädchen in der Nutzung keine derartige Neigung. Der Computer ist für sie Unterhaltungs- und Arbeitsmedium zugleich. Die am dritthäufigsten ausgeübte Tätigkeit von Kindern ist das Nutzen von Lernprogrammen, auch hier überwiegt der Mädchenanteil (47% Mädchen und 40% Jungen). Das Surfen im Internet wird von 41% der befragten Computer nutzenden Kinder »mindestens einmal die Woche« ausgeübt. Abbildung 7 zeigt die vier häufigsten Tätigkeiten von Kindern am Rechner: 63
Computerspiele (alleine) 52
Computerspiele (mit anderen) 46
Arbeiten für die Schule 43
Lernprogramm nutzen
41
Im Internet surfen 0
10
20
30
40
50
60
70
in P rozent
Abbildung 7: Computertätigkeiten die Kinder »mindestens einmal pro Woche« ausüben im Jahr 2006 (n=972) Quelle: Eigene Darstellung nach KIM-Studie 2006: 32.
Computerspiele spielen, arbeiten für die Schule und Lernprogramme nutzen waren im Jahr 2006 demnach die häufigsten Betätigungen von Kindern am
138 Für eine bessere Lesbar- und Nachvollziehbarkeit der Daten wird im Folgenden nicht auf die Herausgeber verwiesen, sondern jeweils die Studie und das Erhebungsjahr angegeben. 139 In Bezug auf den Fragebogen der KIM-Studie lässt sich festhalten, dass hier auch von den Forschern eine Dichotomie zwischen Spiel und Arbeit vorgenommen wird.
3. Aktueller Diskurs – Der Spieler in der Wissensgesellschaft?
198
Rechner. Dies zeigt, dass der Computer von Kindern – vor allem von Mädchen – multifunktional genutzt wird und Spiel, Arbeit und Lernen für sie vereint. Allerdings ist bei der Abgrenzung der kindlichen Tätigkeitsbereiche Arbeit und Lernen am Rechner kritisch zu hinterfragen, ob das Arbeiten für die Schule und explizites Lernen am Computer für Kinder nicht das Gleiche darstellen. Besteht die Arbeit von Schulkindern nicht im Wesentlichen aus Lernen? Vergleicht man nun diese Daten von 2006 mit der aktuellen Kim-Studie 2008, dann haben sich die allgemeine und die geschlechtsspezifische Computerspielnutzung von Kindern kaum verändert (vgl. KIM-Studie 2008: 27). Dagegen ist das Surfen im Internet um acht Prozentpunkte angestiegen. Während 2006 41% der Mädchen und 40% der Jungen dieser Tätigkeit am Rechner »mindestens einmal pro Woche« nachgingen, waren es 2008 insgesamt 49% (Mädchen 44%; Jungen 52%). Somit ist das Surfen auf den dritten Rang – bzw. bei einer Zusammenlegung der Variablen »alleine« und gemeinsam »mit anderen« am Computer spielen – an die zweite Stelle der häufigsten Computer-Tätigkeiten von Kindern aufgestiegen und hat demgemäß an Bedeutung gewonnen. Die schulbezogene Nutzung des Computers, das arbeiten am Rechner, ist dagegen geringfügig um zwei Prozentpunkte gefallen und belegt nun mit 44% (Mädchen 48%; Jungen 40%) den vorletzten Platz der Computeraktivitäten von Kindern. 62
Computerspiele (alleine) 50
Computerspiele (mit anderen)
49
Arbeiten für die Schule 44
Lernprogramm nutzen
42
Im Internet surfen 0
10
20
30
40
50
60
70
in Prozent Abbildung 8: Computertätigkeiten, die Kinder »mindestens einmal pro Woche« ausüben im Jahr 2008 (n=938) Quelle: Eigene Darstellung nach KIM-Studie 2008: 27.
Die generelle Nutzung von Lernprogrammen hat sich in den letzten zwei Jahren, obwohl sie durch das Surfen im Netz nun mit 42% auf dem fünften Platz steht
3.2 Der Computer – Arbeits- oder Spielmedium?
199
(Mädchen 47%; Jungen 38%), kaum verändert. Interessant ist allerdings, dass die KIM-Studie 2008 in ihrem Forschungsdesign einen inhaltlichen Schwerpunkt auf Lernprogramme gesetzt hatte (vgl. KIM-Studie 2008: 32ff.). Mathematikund Deutschkenntnisse sind die vornehmlichen Bereiche, die bei der kindlichen Nutzung von Lernprogrammen im Vordergrund stehen (63% zu 61%). Obwohl sich die meisten Kinder sehr gerne (12%) oder gerne (58%) mit Lernprogrammen auseinandersetzen, hat jedes dritte Kind weniger Vergnügen an dieser Tätigkeit am Rechner, wobei die Begeisterung mit dem Alter abnimmt. Die Forscher erklären sich die altersspezifischen Differenzen damit, dass Lernprogramme »dann hinsichtlich Aufmachung, Grafik und Navigation hinter den Anforderungen der Kinder zurück« bleiben (KIM-Studie 2008: 33). Da die heute grafisch hoch entwickelten Computerspiele bei den Kindern immer noch die beliebteste Tätigkeit am Rechner darstellen und im Vergleich zu Lernprogrammen deutlich länger genutzt werden (vgl. ebd.), lässt sich vermuten, dass sie den ästhetischen Standard und damit auch den kindlichen technischen Anspruch an Lernprogramme mitbestimmen.
3.2.2 Computernutzung von Jugendlichen Für die Darstellung der Computernutzung von Jugendlichen werden JIM-Studien140 herangezogen, die ebenfalls vom Medienpädagogischen Forschungsverband Süd-West durchgeführt werden. Mit dem Ziel eines Vergleichs zwischen den KIM- und JIM-Studien wird im Folgenden der Schwerpunkt ebenfalls auf die Erhebungsjahre 2006 und 2008 gelegt. Probleme bei der Gegenüberstellung der KIM- und JIM-Studien ergeben sich jedoch erstens im Hinblick darauf, dass in den KIM-Studien die off- und Online-Nutzung in einer einzigen Frage abgefragt wurde, während in den JIM-Studien beide Aspekte der Computernutzung getrennt erhoben wurden.141 Zweitens kommt erschwerend hinzu, dass in den KIM-Studie nach »mindestens einmal die Woche« gefragt wird, während die JIM-Studie »täglich/mehrmals die Woche« als Zeitrahmen angibt. Hier wäre eine
140 Hier bilden rund 1000 12- bis 19-Jährige die Stichprobe und die Umfrage findet im jährlichen Turnus statt. Die JIM-Studie ist ebenfalls als repräsentatives Langzeitprojekt angelegt, wobei die Jugendlichen computerunterstützt telefonisch befragt werden. 141 Die folgenden Ausführungen stellen die Offline-Computernutzung von Jugendlichen in den Fokus. Die Frage nach dem vernetzten Spielen unter Jugendlichen wird im Anschluss daran (S. 203ff.) behandelt.
200
3. Aktueller Diskurs – Der Spieler in der Wissensgesellschaft?
einheitliche und damit vergleichbare Fragebogenkonstruktion wünschenswert gewesen.142
3.2.2.1 Offline-Tätigkeiten Bringt man nun nach der kindlichen Computernutzung auch die Tätigkeiten von Jugendlichen am Rechner (offline) in eine Rangfolge, dann stehen Computerspiele 2006 mit 38% nur noch an dritter Stelle (vgl. JIM-Studie 2006: 34),143 während sie bei den Kindern den ersten Platz einnehmen. Der Befund, dass das Spielen am Computer mit zunehmendem Alter abnimmt, korrespondiert mit der aus der historischen Analyse abgeleiteten These einer Reduzierung spielerischer Aktivitäten zugunsten von Lernen und Arbeiten. Demnach müssen Computerspiele bei den Jugendlichen dem Arbeiten für die Schule (49% Mädchen; 46% Jungen) weichen. Interessant in Bezug auf das Arbeiten mit dem Rechner ist der Befund, dass schulbezogene Aktivitäten im Vergleich zum Vorjahr (2005) deutlich an Relevanz zunahmen (plus neun Prozentpunkte; vgl. JIM-Studie 2006: 34). Möglicherweise lässt sich dieser hohe Anstieg im Vergleich zum Vorjahresniveau damit erklären, dass durch die empirischen Bildungsstudien (z.B. PISA) die Leistungsanforderungen in der Grundschule wie auch in den weiterführenden Schulen stetig anwachsen. In Bezug auf die geschlechtsspezifische Computernutzung lässt sich konstatieren, dass Computerspiele auch weiterhin vornehmlich ein Jungenphänomen bleiben (17% Mädchen; 57% Jungen; vgl. JIM-Studie 2006: 34). An vierter Stelle steht das Schreiben und Bearbeiten von Texten (34% Mädchen; 30% Jungen). Hier stellt sich die Frage, was sich konkret hinter diesem Item bei der Fragebogenkonstruktion der JIM-Studie verbirgt. Ist damit gemeint, dass Jugendliche in Bezug auf ihre Offline-Aktivitäten am Rechner Geschichten oder Lyrik schreiben oder gehören dazu auch Hausaufgaben, wobei dies eigentlich unter die Kategorie »Arbeiten für die Schule« fallen müsste. An dieser Stelle ist die Abgrenzung bzw. Differenzierung dieser Variable für den Leser eher unklar. Die Lernprogramme sind in ihrer Beliebtheit bei den Jugendlichen im Vergleich zu den Kindern auf den achten Platz abgerutscht. Sie werden nur noch von jedem zehnten jugendlichen PC-Nutzer genutzt (12% Mädchen; 10% Jungen). Aller-
142 Dies umsomehr, werden doch die Untersuchungen von demselben Institut durchgeführt. 143 Für eine bessere Lesbar- und Nachvollziehbarkeit der Daten wird im Folgenden – analog zu den KIM-Studien – die Studie und das jeweilige Erhebungsjahr angegeben.
3.2 Der Computer – Arbeits- oder Spielmedium?
201
dings kann bei der PC-Nutzung Jugendlicher – wie bei der kindlichen Computernutzung – festgestellt werden, dass der PC als ›Allroundmedium‹ verwendet wird, der sogenannte ›ernsthafte‹ Tätigkeiten wie das Arbeiten für die Schule mit unterhaltungsorientierten Handlungen, dem Spielen von Computerspielen, verbindet. Somit vereint der Computer gleichzeitig Spaß und Ernst sowie Spiel und Arbeit. Es lässt sich folglich beim Computer von einer Funktionskonvergenz sprechen.
mit PC Musik hören
57 47
für die Schule arbeiten Computerspiele
38
Texte schreiben und bearbeiten
32 25
Musik-CD/MP3s zusammenstellen 0
10
20
30
40
50
60
in Prozent
Abbildung 9: Computertätigkeiten, die Jugendliche »täglich oder mehrmals pro Woche« ausüben (offline) im Jahr 2006 (n=1.168) Quelle: Eigene Darstellung nach JIM-Studie 2006: 34.
Für die Analyse von Nutzungstrends lohnt sich der Blick auf die aktuelle JIMStudie 2008. An erster Stelle der täglichen bzw. mehrmals wöchentlichen PCNutzung steht das Arbeiten für die Schule mit 38% (vgl. Abbildung 9), wobei sich hier keine geschlechtsspezifischen Differenzen zeigen (vgl. JIM-Studie 2008: 37). Dass keine Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen in Bezug auf das Arbeiten für die Schule vorherrschen, verwundert, wenn man sich den aktuellen Diskurs über geschlechtsspezifische Bildungsunterschiede vergegenwärtigt.144 Daraus lässt sich die Vermutung ableiten, dass geschlechtsspezifische Unter-
144 So sei etwa Schulversagen zu einem jungentypischen Phänomen geworden. Bereits 1999 stellte Preuss-Lausitz fest: »Das wichtigste Schulziel – gute Schulleistungen und hohe Abschlussquoten – wird in den 52.000 Schulen Deutschlands von Mädchen eher erreicht als von den Jungen« (Preuss-Lausitz 1999: 11). Vor allem die Veröffentichung der PISA-Ergebnisse rückten den vorwiegend in der Jungenforschung (siehe dazu u.a. Schnack/Neutzling 1990; Lee 1998; Preuss-Lausitz 1999) geführten Diskurs über die ›Krise der Jungen‹ in das allgemeine öffentliche Interesse.
3. Aktueller Diskurs – Der Spieler in der Wissensgesellschaft?
202
schiede nicht vornehmlich darauf basieren, wie häufig zu Hause am Rechner für die Schule gearbeitet wird, sondern dass es sich um andere Faktoren handeln muss, z.B. wie sich die Geschlechter im Unterricht verhalten, konkret dass Jungen im Unterricht weniger ›unterrichtskonform‹ agieren. Als pädagogische Konsequenz lässt sich daraus ziehen, dass es notwendig ist, einen geschlechtergerechten Lernraum zu schaffen, in dem Kinder und Jugendliche ihre Fähigkeiten entsprechend entwickeln können, und vielleicht kann der Computer hier als Lernwerkzeug dienen. Obwohl das Arbeiten für die Schule folglich in den letzten zwei Jahren um neun Prozentpunkte gefallen ist, ist es 2008 die am Rechner am häufigsten ausgeübte Tätigkeit Jugendlicher. Auf den zweiten Platz kommen die Computerspiele mit 31%, also sieben Prozentpunkte weniger als 2006. Computerspiele spielen trifft auf 48% der Jungen und auf 13% der Mädchen zu, sodass Computerspiele immer noch dominierend als ein Jungenmarkt angesehen werden können. Texte schreiben145 wird zu 28% (30% Mädchen; 26% Jungen) angegeben und darauf folgend mit 18% Musik-CDs/MP3s zusammenstellen (15% Mädchen; 21% Jungen). 38
für die Schule arbeiten 31
Computerspiele 28
Texte schreiben 18
Musik-CDs/MP3s zusammenstellen 14
Bild- oder Videobearbeitung 0
5
10
15
20
25
30
35
40
in Prozent
Abbildung 10: Computertätigkeiten, die Jugendliche »täglich oder mehrmals pro Woche« ausüben (offline) im Jahr 2008 Quelle: Eigene Darstellung nach JIM-Studie 2008: 36f.
Es ist erstaunlich, dass das Hören von Musik am PC gar nicht mehr in der Rangliste auftaucht, während es zwei Jahre zuvor den ersten Platz einnahm. Da
145 Leider wird aus der JIM-Studie 2008 nicht deutlich, was sich hinter dem Item »Texte schreiben« genau verbirgt.
3.2 Der Computer – Arbeits- oder Spielmedium?
203
die Frage nach »Musik-CDs/MP3s zusammenstellen« auch zwei Jahre vorher gestellt worden war und daher nicht als Ersatzvariable zum Musik hören zu betrachten ist, liegt die Annahme nahe, dass 2008 diese Frage nicht gestellt worden ist. Sonst müsste sich das »Musik hören am PC« vom ersten Platz 2006 auf den 15. Rang verschoben haben, was eher unwahrscheinlich ist. Wenn zutrifft, dass diese Frage 2008 nicht gestellt wurde, während dieses Item die am häufigsten ausgeübte Tätigkeit im Jahr 2006 unter jugendlichen PC-Nutzern war, dann ist kritisch gegenüber den Fragebogenkonstrukteuren anzumerken, dass es dem Vorteil von Trendstudien zuwider läuft, der darin besteht, Entwicklungsverläufe für Personengruppen aufzuzeigen.
3.2.2.2 Offline- und Online-Tätigkeiten Betrachtet man noch abschließend die Computernutzung von Jugendlichen, die auch Netztätigkeiten mit einschließt, dann lässt sich für das Jahr 2006 eine Verteilung vornehmen, die zwischen den Bereichen »Surfen im Internet«, »Spiele«, »Lernen und Arbeit« differenziert.146 Abbildung 11 (S. 204) veranschaulicht die Computernutzung Jugendlicher in Bezug auf das Surfen im Internet, das offline Computerspielen sowie das offline Lernen und Arbeiten am Rechner. Interessant ist hierbei, dass Lernen und Arbeiten nun zu einer Variablen zusammengefasst werden. Weiter fällt auf, dass das Surfen im Netz den Großteil der Zeit am Rechner in Anspruch nimmt. Mehr als die Hälfte der Zeit für die Computernutzung entfällt auf das Surfen im Internet, und »jeweils ein Fünftel der Zeit wird mit Spielen bzw. Arbeiten und Lernen verbracht« (JIM-Studie 2006: 35). Der anteilige Vergleich der unterschiedlichen Tätigkeiten zeigt deutlich, die Präferenz von Jungen sich dem Spielen am Computer zu widmen (Mädchen 9%; Jungen 28%). In Bezug auf Lernen und Arbeiten stehen allerdings die Mädchen vorn an (Mädchen 31%; Jungen 18%). »Betrachtet man die Altersgruppen, so bleibt der Anteil für das Internet vergleichsweise stabil, mit zunehmendem Alter geht die Nutzung von Spielen zu Gunsten von Lernen und Arbeiten zurück« (JIM-Studie 2006: 35). Insgesamt lässt sich jedoch festhalten, dass das Medium Computer vielfältige Möglichkeiten für Jugendliche bietet und dies anscheinend auch ihrem Interesse nach multifunktionaler Computernutzung nachkommt (vgl. auch Kraam 2004:
146 Eine solche Auswertung wurde für das Jahr 2008 leider nicht vorgenommen.
3. Aktueller Diskurs – Der Spieler in der Wissensgesellschaft?
204
16). So lässt sich hier konstatieren, dass der Computer die Bereiche Spiel-ArbeitLernen in einem Medium vereint. Anteil (in %): Surfen im Internet Gymnasium
Lernen
53
Hauptschule
54
18/19 Jahre
54
27
20
33
14
58
14/15 Jahre
59
Jungen
15
36
18
28 60
25
31
9
56 0
18
23
53
Gesamt
22
19
49
Mädchen
18
28
16/17 Jahre 12/13 Jahre
23
18
60
Realschule
Lernen und Arbeit
23
21 50
75
100
Abbildung 11: Computernutzung Jugendlicher in Bezug auf die Tätigkeitsbereiche Surfen, Spiele und Lernen/Arbeit Quelle: JIM-Studie 2006: 35; PC-Nutzer n=1.168.
3.2.3 Computernutzung Erwachsener Analog zur Datenpräsentation zur kindlichen und zur jugendlichen Computernutzung soll nun auch die Computernutzung Erwachsener beleuchtet werden. Interessant ist hierbei ein Blick zurück, konkret auf eine Bielefelder Studie von 1998 einzugehen, die die Medienkompetenz Erwachsener in NRW untersucht und Aufschluss über die häufigsten Tätigkeiten am Computer gibt. Wie Abbildung 12 zu entnehmen ist, stand bei den befragten Erwachsenen das Schreiben von Texten mit 74% deutlich an erster Stelle. Die interaktive Mediennutzung der Befragten, die hier abgebildet wird, zeigt deutlich, dass vor etwa einem Jahrzehnt der funktionale Umgang mit dem Computer im Vordergrund steht. Der Computer kann hier als Werkzeug interpretiert werden, der die
3.2 Der Computer – Arbeits- oder Spielmedium?
205
Arbeit und den Alltag erleichtert. Das Berechnen von Kalkulationen mit dem PC, das Suchen von Informationen und das kreative Arbeiten mit dem Rechner stehen im Vordergrund. Aber auch der Computer als Lernmedium ist beliebt: Fast jeder fünfte befragte Computernutzer nutzt den Rechner, um sich fortzubilden. Obwohl Computerspiele hier den letzten Platz belegen,147 stellen sie doch bereits im Jahre 1998 für rund 15% der befragten Erwachsenen eine »häufige« (9,4%), bzw. »sehr häufige« (5,4%) Freizeitaktivität dar und immerhin geben 65,4%, dass sie Computerspiele spielen (Treumann et al. 2002: 148). Insgesamt ist allerdings der Computer für die befragten Personen vorwiegend ein Arbeits- denn ein Unterhaltungsmedium (vgl. ebd.: 170). Hat sich diese funktionalistische Einstellung der Erwachsenen zum Computer in den vergangenen Jahren verändert? 74
Texte schreiben 36
Berechnung von Kalkulationen 32
Informationssuche Kreatives arbeiten
26
Etwas nachschlagen
26 18
Fortbilden Internetnutzung
16 15
Computerspiele 0
10
20
30
40 50 in Prozent
60
70
80
Abbildung 12: Computernutzung Erwachsener (35-74 J.) im Jahr 1998 (n=889-915)148 Quelle: Eigene Darstellung nach Treumann et al. 2002: 147.
Um dieser Frage nachzugehen, werden im Folgenden sekundäranalytisch Befunde aus der repräsentativen »Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften« (ALLBUS) aus dem Jahre 2004 vorgestellt.149
147 In der Untersuchung wurde zusätzlich danach gefragt, wie häufig der Computer genutzt wird, um soziale Kontakte zu pflegen (2,6%; vgl. Treumann et al. 2002: 47). Dieses Item belegte den letzen Platz und wurde aufgrund der nicht vorhandenen Relevanz für die hier zu bearbeitende Fragestellung in der Abbildung nicht berücksichtigt. 148 Die Prozentzahlen in der Grafik wurden der besseren Übersichtlichkeit wegen aufgerundet. 149 Die Realisierung von ALLBUS innerhalb der GESIS findet an den Standorten Mannheim und Köln in Kooperation mit dem ALLBUS-Ausschuss statt. Für die folgenden sekundäranalytischen Ausführungen tragen die genannten Institutionen und Personen keine Verantwortung. An
3. Aktueller Diskurs – Der Spieler in der Wissensgesellschaft?
206
Nach Angaben der befragten Computernutzer ist die am häufigsten ausgeübte tägliche Tätigkeit zu Hause 2004 das Arbeiten für den Beruf oder für die Ausbildung (19,6%). Dies bedeutet, dass knapp jeder fünfte erwachsene PC-Nutzer den Computer zu Hause für die Arbeit nutzt, die räumliche Trennung zwischen Beruf und Freizeit wird in diesen Fällen aufgehoben. Auf dem zweiten Platz steht das private Lernen (12,5%) am Computer. Dabei ist zu vermuten, dass das private Lernen in Zeiten lebenslangen Lernens häufig auch auf Weiterbildung zielt und somit ebenfalls zu der Sphäre des Berufs bzw. der Arbeit zu zählen ist. Hier kann zunächst konstatiert werden, dass der Computer für die Personen, die zu Hause ein eigenes Gerät besitzen und auch nutzen, weiterhin vorwiegend den Charakter eines Arbeits- bzw. Lernmediums annimmt. An dritter Stelle folgt dann als tägliche Computerbetätigung das private Schreiben von Texten (9%),150 gefolgt von einer unterhaltungsorientierten Computernutzung mit Musik/Bildern/Filmen (6,2%). Auf den fünften Platz kommt dann schließlich das Spielen am Computer (6%), gefolgt vom Programmieren (1,8%) (vgl. Abbildung 13). 20
Beruf/Ausbildung 13
Privates Lernen 9
Private Texte Musik/Bilder/Filme
6
Spielen
6
Programmieren
2 0
5
10
15
20
25
in Prozent
Abbildung 13: Tägliche Computernutzung Erwachsener 2004 (n=1.642; Mehrfachnennungnen möglich)151 Quelle: Eigene Darstellung und Sekundäranalyse auf Basis der ALLBUS-Daten 2004.
diese Stelle möchte ich mich bei den aufgeführten Institutionen für die Bereitstellung des Datensatzes inklusive Codeplan und Fragebogen etc. bedanken. 150 Auch bei diesem Item stellt die Frage, was sich hinter dem privaten Schreiben von Texten konkret verbirgt. Bedeutet es, Geschichten oder Einkaufslisten zu schreiben? Weiter kann hier – im Gegensatz zur JIM-Studie – aber auch das Anfertigen und Verschicken von Mails oder anderen Nachrichten von den Forschern gemeint bzw. von den Befragten verstanden worden sein, da es hier um die generelle Computernutzung geht, die auch Online-Aktivitäten beinhaltet. 151 Die Prozentzahlen in der Graphik wurden für eine bessere Übersichtlichkeit aufgerundet.
3.2 Der Computer – Arbeits- oder Spielmedium?
207
Obwohl die Daten der Bielefelder Studie und die der ALLBUS-Untersuchung aufgrund der unterschiedlichen Stichprobenziehung und Antwortkategorisierung152 nicht vorbehaltlos zueinander in Beziehung gesetzt werden können, zeigt sich doch, dass Erwachsene – im Vergleich zu Kindern und Jugendlichen – den Computer generell weniger als Spielmedium nutzen, sondern eher in einem funktionalen Zusammenhang, wie etwa zur Erleichterung des Alltags oder als Arbeits- und Lernmedium nutzen. Trotzdem belegen die Bielefelder und die ALLBUS-Studie, dass Computerspiele für einen bestimmten Teil Erwachsener eine gesuchte Computertätigkeit darstellen. Neitzel konstatiert, dass »immer mehr Menschen mit dem Computer auch spielen, statt nur damit zu arbeiten«. Das sei »inzwischen kein Geheimnis mehr« (Neitzel 2008: 61). Interessanterweise vertreten sogar Seesslen und Rost die These, dass durch das Spiel der Computer in den Alltag der Menschen, in ihre Lebenswelt eingedrungen sei (vgl. Seesslen/Rost 1984: 11ff.). Auch Poole betont die wichtige Rolle des Computerspiels bei der ›Domestizierung‹ der Rechenmaschine: »Not only can it be argued that videogames played a significant part in quelling the fear of technology, they have made technology our friend, our playmate« (Poole 2000: 172). So lässt sich hier insgesamt die Annahme vertreten, dass Computerspiele einen wesentlichen Teil dazu beitragen, wie Menschen allgemein mit dem Computer umgehen, und dass der Computer das Potenzial besitzt, Synergieeffekte zwischen Spiel, Arbeit und Lernen zu initiieren. Der Computer bricht langsam aber sicher die ehemalige räumliche Trennung zwischen Spiel und Arbeit auf. Welche Zielgruppen spielen aber nun ›ernsthaft‹ Computerspiele? Ist das Computerspiel weiterhin vor allem ein juveniles Phänomen oder kann sich auch der heutige Erwachsene für Computerspiele begeistern?
152 Erstens bezieht sich die Bielefelder Studie auf Nordrhein-Westfalen, während die Allbus-Daten eine repräsentative Bevölkerungsumfrage darstellt. Zweitens wurden in der Bielefelder Studie Personen im Alter von 35 bis 74 Jahren befragt. Die Allbus-Daten umfassen Erwachsene im Alter von 18-89 Jahren. Drittens konnte man bei der Bielefelder Studie als Antwortmöglichkeit ›sehr häufig‹, ›häufig‹, ›manchmal‹, ›selten‹, ›nie‹ angeben. Die Allbus-Studie fragte nach der täglichen Computernutzung.
208
3.3
3. Aktueller Diskurs – Der Spieler in der Wissensgesellschaft?
Computerspiele – ein ernst zunehmendes Phänomen? »Die breitere Öffentlichkeit und die Wissenschaft beginnen zu erkennen, was die Kids seit mehr als zwanzig Jahren wissen: Computerspiele sind ein ernst zu nehmendes Phänomen« (Butler 2007: 7).
Neitzel spricht davon, dass das Computerspiel, als Leitmedium des 21. Jahrhunderts, eine »Durchdringung der gegenwärtigen Medienkultur durch das ›Spielerische‹« bedeute (Neitzel 2008: 64). Allerdings wurden Computerspiele aus kulturkritischer Perspektive entweder als Randphänomene einer speziellen Medienkultur wahrgenommen oder aber als schädlicher Faktor für die Persönlichkeitsbildung Heranwachsender bestimmt. Das Computerspiel hat in den letzten Jahrzehnten viele Kritiker gefunden, »aber nicht die Kritik, die ihm gebührt« so U. Raulff, Journalist der Süddeutschen Zeitung. Allerdings sollte sich das nun zu Beginn dieses Jahrtausends ändern: »Im Feuilleton dieser Zeitung werden künftig Videospiele als legitime Gegenstände der Kritik behandelt werden, nicht anders als Bücher, Ausstellungen und CDs (…). The time has come to treat play seriously« (Raulff 2001: 17).
3.3.1 Das Computerspiel – ein Nischenmarkt? Das Computerspiel also ernst nehmen, lautet die Devise der Süddeutschen Zeitung. Bestimmt man die Ernsthaftigkeit eines Phänomens anhand dessen gesellschaftlicher Bedeutungszuschreibung, dann könnte man hier beispielsweise den Blick auf den wirtschaftlichen Aspekt lenken, einen ›ernsten‹ Aspekt unseres Alltagslebens. Hier stellt sich heraus: Computerspiele sind längst kein Nischenmarkt mehr. Digitale Spiele sind mit der Geburtsstunde von Atari (1972), dem ersten kommerziellen Konzern der Computerspieleindustrie, neben Film, Fernsehen, Musik und Literatur, zu einem weiteren ökonomischen Unterhaltungsmassenmedium avanciert (vgl. Müller-Lietzkow 2008: 199). Die Computerspielindustrie ist sowohl »im Hinblick auf den weltweiten Umsatz von rund 30 Mrd. Euro als auch den Umsatz von rund 2 Mrd. Euro in Deutschland (…) inzwischen mit anderen Medienzweigen wie der Musik- oder der Filmindustrie auf einem ähnlich hohen Niveau oder zum Teil bereits darüber« (Deutscher Bundestag 2007: 1, Drucksache 16/7116). Diese Beobachtung stützend, erklärt Zeh zum Entertainment-Markt, dass Computer- und Videospiele die höchsten
3.3 Computerspiele – ein ernst zunehmendes Phänomen?
209
Wachstumsraten von 2002 bis 2006 aufwiesen (42%). Der Musikmarkt sei dagegen in dieser Zeitspanne um 20% geschrumpft (Zeh 2008: 103). Nach den Erhebungen von GfK und Media Control für den BITKOM wurden im Jahr 2007 mit PC- und Konsolen-Spielen sowie der Hardware an sich (dies bezieht sich lediglich auf Konsolen und nicht auf Computer) insgesamt 2,3 Milliarden Euro in Deutschland umgesetzt. Dies entspricht einem Wachstum von rund 30% zum Vorjahr (vgl. BITKOM 2008 online). Für das Jahr 2008 wird das Marktvolumen auf 2,5 Milliarden Euro geschätzt (vgl. Abbildung 14). Umsatz in Milliarden 3 2,47
2,5
2,29
2 1,57 1,5
1,77
+29%
+8%
+11%
1 0,5 0 2005
2006
2007
2008
Abbildung 14: Umsätze auf dem Markt für Computerspiele 2005-2008 Quelle: BITKOM 2007/2008 online.
Deutschland ist in Europa laut Wolters der zweitgrößte Markt für Unterhaltungssoftware innerhalb der EU. An erster Stelle steht Großbritannien. Weltweit hat Deutschland in etwa einen Marktanteil von fünf Prozent (vgl. Wolters 2008: 31). Insgesamt kann aufgrund des Umsatzwachstums in Deutschland und technischer Innovationen, etwa die Entwicklungen der Firma Crytek,153 von einem weiteren starken Wachstum ausgegangen werden.
153 Die Firma Crytek mit Sitz Frankfurt am Main entwickelte eine Spiel-Engine mit Namen CryEngine. Im März 2009 stellte die Firma auf der Game Developer Conference (GDC) in San Francisco nun das dritte Modell der CryEngine vor. Die CryEngine von Crytek ist eine der innovativsten Entwicklungen der deutschen Computerspiele-Hersteller.
210
3. Aktueller Diskurs – Der Spieler in der Wissensgesellschaft?
In diesem Sinn sieht der Deutsche Bundestag die Computerspielbranche als einen wichtigen Bestandteil der Kultur- und Kreativwirtschaft an, die Innovations- und Wachstumspotenziale mit sich bringt (vgl. Deutscher Bundestag 2007: 1, Drucksache 16/7116). Dabei wird laut der »Studie ›Interaktive Inhalte und Konvergenz‹ der EU-Kommission ein Wachstum von über 400 Prozent für kreative Online-Inhalte bis 2010 prognostiziert« (ebd.). Wohl aus diesem Grund hat auch die Politik ein Interesse am Computerspiel, welches sich nicht zuletzt in der Initiative widerspiegelt, gemeinsam mit der Spieleindustrie einen deutschen Computerspielpreis ins Leben zu rufen. Dieser wurde erstmals im Frühjahr 2009 verliehen, und zwar mit dem Ziel, »pädagogisch wertvolle Spiele« zu fördern (Deutscher Bundestag 2008: 1, Drucksache 16/10041). Als wichtiger Bestandteil des Freizeitsektors werden Computerspiele mittlerweile zu einem ernst zu nehmenden ökonomischen Faktor. Sie sichern Arbeitsplätze und tragen zum Bruttosozialprodukt bei. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass nach Müller-Lietzkow »der deutsche Markt im globalen Wettbewerb ein wichtiger, finanziell attraktiver, aber nicht ein führender Markt ist (Nr. 5 in der Welt)« (Müller-Lietzkow 2008: 207). Interessant ist, dass sich unter medienökonomischen Gesichtspunkten Computerspiele wesentlich von anderen Unterhaltungsmedien unterscheiden.154 Anders als passiv-rezipierte, traditionelle Medienprodukte beinhalten Computerspiele das Potenzial, eigene kapitalstarke Wirtschaftssysteme zu generieren (vgl. Müller-Lietzkow 2008: 200). Beispielsweise werden virtuelle Dienstleistungen und Güter für die reale Welt relevant, wenn etwa ein Spieler in »World of Warcraft« dafür reales Geld bezahlt, den eigenen Helden bzw. Avatar mit einer besonderen Waffe auszustatten. Daneben handelt es sich bei Computerspielen um einen großen Markt, hinter dem unterschiedlichste Produktionsmittel, Konsumgüter und Berufszweige stehen (vgl. Müller-Lietzkow 2008: 204ff.; Pohlmann 2007b: 58ff.).155 Doch den Markt bestimmen letztendlich die Spieler, und die haben in den letzten Jahren eine enorme Kaufkraft bewiesen.
154 Bei einem medienökonomischen Vergleich von Computerspielen mit anderen Unterhaltungsmedien ist auch auf die Strukturunterschiede hinzuweisen, die zu der besonderen Attraktivität von Computerspielen führen (vgl. S. 245ff.). 155 Soft- und Hardware, Technologie und Content beschäftigen sehr unterschiedliche Akteure und schaffen entsprechende Arbeitsplätze. Dies gilt für Entwicklungsstudios, die vor allem für die Konzeption und Gestaltung verantwortlich sind, Technologielieferanten, die sich etwa um die Grafikengines kümmern, Freelancer, die sich zum Beispiel der Musik im Spiel widmen, bis hin zu den Publishern, die die Finanzierung sichern und dazu flankierend den PR- und Marketingagenturen, den Distributoren sowie auch den Medien und der (Fach-)Presse.
3.3 Computerspiele – ein ernst zunehmendes Phänomen?
211
Doch warum sind Computerspiele in den letzten Jahren zu einem so starken Wirtschaftszweig avanciert? Was macht also die Faszination für den User aus und wie setzt sich diese Zielgruppe eigentlich zusammen? Um diese Fragen zu beantworten, muss zunächst geklärt werden, was in dieser Arbeit unter »Computerspiele« verstanden wird.
3.3.2 Definition Computerspiel Fragt man nach der Definition von Computerspielen, dann zeigt sich eine uneinheitliche und zum Teil recht verwirrende Begrifflichkeit (vgl. Kunczik/Zipfel 2004: 227).156 Es finden sich Bezeichnungen wie Bildschirmspiele, Konsolenspiele, Handyspiele, Mobile Spiele, Handhelds, Videospiele, Arcade-Spiele und Computerspiele. Eine Differenzierung dieser unterschiedlichen Begrifflichkeiten findet eher selten statt.157 Von der Geräteseite her lassen sich jedoch unterschiedliche Formen elektronischer Spiele bestimmen, die Jürgen Fritz unter dem Oberbegriff »Bildschirmspiele« führt (vgl. Fritz 2003a: 2). So gibt es die Arcade-Games: Spiel- respektive Münzautomaten, die vornehmlich in Spielhallen anzutreffen sind. Zweitens gibt es Spiele, die den Einsatz eines PCs erfordern. Als dritte Form führt Fritz die Video- und Konsolenspiele an. Stationäre Standgeräte werden dabei an den Fernseher (oder auch Beamer) angeschlossen, wie z.B. Playstation oder Wii. Eine vierte Form von Bildschirmspielen sind nach Fritz die tragbaren Konsolenspiele, die so genannten Handhelds mit eingebautem Monitor, wie etwa die PSP (PlayStation Portable). Weiter sind auch Online-Spiele von Interesse. Sie werden in dieser Arbeit bestimmt als PC-Spiele, die über das Internet gespielt werden können. OnlineSpiele lassen sich in drei Kategorien differenzieren. Erstens gibt es die Möglichkeit des CD-ROM-basierten Netzwerkspiels. Diese Spiele können über das Internet in einem Mehrspielermodus gespielt werden. Notwendig ist hierbei, dass die jeweilige CD oder DVD im Computerlaufwerk eingelegt ist (z.B. bei Civilization). In Bezug auf den Spielreiz erklärt Kraam, die Computerspielentwicklung in den letzten Jahren habe gezeigt, dass dieser länger erhalten oder
156 Zu den unterschiedlichen Begrifflichkeiten vgl. auch z.B. Fritz 2003a; Klimmt 2004, S. 696f., 700f.; Ladas 2002, S. 34-37. 157 Zur Geschichte der Computerspiele siehe z.B. Wolters 2008: 25f; Lischka 2005; Herz 1997: 13ff.
212
3. Aktueller Diskurs – Der Spieler in der Wissensgesellschaft?
sogar gesteigert wird, wenn die Spielenden den Mehrspielermodus wählen (Kraam 2004: 17). Dies liegt mutmaßlich vor allem darin begründet, dass sich die Spielenden mit ›echten‹, reellen Gegnern messen müssen, die schwieriger zu durchschauen sind als die Regeldynamik des Computers. Internetspiele dieser Art laufen über eine Internet-Plattform; die Spieler werden für die einzelnen Sitzungen zusammengeschaltet. Zweitens gibt es die Online-Spiele, die nur im Internet existieren, für die aber vorher eine Software-Installation auf dem Rechner vonnöten ist. Meist sind dies Rollenspiele. Ein Beispiel dafür ist »World of Warcraft«. Ein dritte Kategorie stellen Online-Spiele dar, die keine Installation auf dem Rechner benötigen: die so genannten Browserspiele. Man spielt sie üblicherweise auf dem PC über Browser wie Firefox oder Internet-Explorer. Sie werden eher zwischendurch gespielt, bieten kurzweilige Unterhaltung, sind meist unkompliziert und laufen in Echtzeit ab. Animiert sind sie meistens über Flash, HTML und Java (vgl. Zeh 2008: 28). Zunächst von der Computerspielbranche nicht besonders ernst genommen, haben Browserspiele in den letzen Jahren an Relevanz gewonnen und werden zunehmend als einer der wichtigsten Zweige innerhalb der Computerspielindustrie wahrgenommen. Sie werden meist kostenlos angeboten und finanzieren sich häufig über Werbung oder Premium-Mitgliedschaften. Der Schwerpunkt der folgenden Ausführungen liegt insgesamt auf Spielen, die den Einsatz von Rechnern erfordern, da der Computer in dieser Arbeit als die Schnittstelle interpretiert wird, die Spielen, Lernen und Arbeit miteinander vereint (vgl. Kapitel 3.2). Während Konsolenspiele über Geräte gespielt werden, die hauptsächlich für den Zweck des Spielens konzipiert wurden, kann der Computer als Universalmaschine verstanden werden, die in ihrer Nutzung Synergieeffekte zwischen den unterschiedlichen Tätigkeiten von Spiel, Arbeit und Lernen bietet.
3.3.3 Das Problem mit den Spielgenres Neben der gerätebedingten Differenzierung lässt sich auch eine Kategorisierung der Spiele nach Inhalt oder Aufgabenprofil vornehmen. Allerdings ist in der wissenschaftlichen Literatur eine einheitliche Typisierung von Computerspielen nicht vorhanden.158 Fritz und Fehr (1993: 68) unterscheiden fünf
158 Darüber hinaus ist – wie bereits erwähnt – zu berücksichtigen, dass z.B. aufgrund technischer Ausdifferenzierung immer neue Spielteypen entstehen, wie etwa die derzeitig beliebten OnlineRollenspiele, konkret die MMORPGs (Massen-Mehrspieler-Online-Rollenspiel), »in denen
3.3 Computerspiele – ein ernst zunehmendes Phänomen?
213
Kategorien159 von Computerspielen anhand unterschiedlicher Merkmale wie etwa Spieldynamik, Symbolstruktur oder Handlungsanforderung. Pohlmann nennt wiederum vierzehn Spielgenres (vgl. Pohlmann 2007a: 9ff.). Eine weitere sehr differenzierte Typisierung findet man bei der Unterhaltungssoftware SelbstKontrolle (USK), die ebenfalls vierzehn Computerspielgenres aufgelistet hat (vgl. USK 2008a, online). Versucht man, die Ausführungen der USK zu den Genrebeschreibungen tabellarisch zu visualisieren, könnte die Tabelle wie folgt aussehen. Tabelle 4 (S. 214-217) enthält neben den unterschiedlichen Genrebezeichnungen eine Beschreibung der Spielinhalte und -anforderungen, die sich an den Ausführungen der USK orientieren. Daneben wurde in der Tabelle die Alterseinschätzung der USK ebenso berücksichtigt, und es wurden auch einige Spielbeispiele aufgelistet. Bezieht man sich weiter auf die Genreeinteilung der USK und versucht eine Häufigkeitsverteilung der unterschiedlichen Genres in Bezug auf ihren Anteil am Umsatz mit Computerspielen darzustellen, zeigt sich nebenbei, dass nicht nur nicht nur der Umsatz der Computerspielbranche und die Menge der zu unterscheidenden Genres beträchtlich ist, sondern auch die Anzahl der auf dem Markt erhältlichen Spiele (vgl. Abbildung 15, S. 217). So wurden am 30.06.2007 insgesamt 13.765 Computerspieltitel gezählt. Die Abbildung offenbart, dass Arcade-Spiele,160 deren Vorläufer auf Geräten in Spielhallen zu finden waren (wie z.B. Pong, Space Invaders, Pac-Man, Donkey Kong, Mortal Kombat), die aber auch am PC oder an Konsolen gespielt werden können und bei denen es vor allem um die höchste Punktanzahl geht (HighScore), am häufigsten produziert werden. An zweiter Stelle stehen die Sportspiele, die versuchen, Sportarten realitätsnah darzustellen. Fußballspieler, etwas
Spieler durch ihren Avatar eine virtuelle Welt im Netz bevölkern, miteinander kommunizieren und spielen, wie etwa das Spiel ›World of Warcraft‹« (vgl. Ganguin/Sander 2008: 426). 159 Fritz und Fehr nennen 1.) die abstrakten Denk- und Geschicklichkeitsspiele, 2.) Kampfspiele, 3.) Funny Games, 4.) Simulationen und 5.) Spielgeschichten, wobei einerseits die »jeweiligen Kategorien (…) durchaus miteinander kombinierbar« (Fritz/Fehr 1993: 68) sind und andererseits einige Spiele von den Autoren nicht diesen Kategorien zuzuordnen waren, sodass stets eine Restkategorie übrig blieb. 160 Hierbei unterscheidet die USK erstens zwischen »Beat‹em Up-Spielen« (»Schlag sie zusammen«), wie etwa »Mortal Kombat vs. DC Universe« und »Dragonball Z Infinite World«. Diese Spiele werden zum Teil auch als ›Prügelspiele‹ bezeichnet, die häufig mit asiatischen Kampfkunstelementen versehen sind. Zweitens fallen unter die Arcade-Spiele auch Geschicklichkeitsspiele wie etwa »Winter Golf«. Ein drittes Untergenre der Arcade-Games sind die sogenannten »Racer«, hauptsächlich Autorennspiele, wie »Need for Speed Undercover« und viertens die Shoot‹em Up-Spiele«, wie etwa »Iron Man« (vgl. USK 2008a).
214
3. Aktueller Diskurs – Der Spieler in der Wissensgesellschaft?
Tabelle 4: Genre von Computerspielen (Beschreibung, Alterseinschätzung und Beispiele) Genre-Titel Beschreibungsmerkmale o Abenteuerliche Aufgaben sind Actionzu bewältigen Adventure (Actionaben o Eher fantastischer Hintergrund teuer) o Spieler steuert Figur actionorientiert durch Dschungel, Katakomben und Verliese o Rätsel lösen o Action und Gewalt im Abenteuer vereint o Lösen von Rätseln o Komplexe Spielstruktur o Hohe Spieldauer Klassisches o Opulente Welten Adventure o Hohe Spieldauer o Rätsel lösen o Logikpuzzle o Erwerb von Informationen und Antworten häufig im Dialog mit NPCs (non playable characters) o Häufig Abenteuer mit Verschwörungen o Punkte Arcade o Hi-Score o Geschick und Reaktionsfähigkeit sind gefragt o schneller, unkomplizierter Spieleinstieg o einfache Steuerung o übersichtliche Spielaufgabe o schlichte Spielidee prägt das dominierende Spielhandeln o variantenreich (Racing, Shoot 'em Up, Geschicklichkeit, Beat 'em Up) o Häufig ohne Zeitdruck Denkspiel o Kognitive Fähigkeiten sind gefordert o Anforderungen an sensumotorische Fähigkeiten sind eher gering, trotzdem ist manchmal auch die Geschichtlichkeit gefragt o Zumeist Kombinationsgabe beim Lösen von Problemen, die oft schlicht und zweidimensional präsentiert werden.
Alterseinschätzung o Aufgrund von Spannung und Action ist der Großteil der Spiele erst für ältere Spieler (also nicht für Kinder) geeignet
Beispiele o Disneys »Triff die Robinsons« (ab 6 J.) o Tomb Raider (ab 12 J.) o Harry Potter (ab 12 J.) o Resident Evil 4 + RE Umbrella Chronicles Trailer (k. Jugendfreig.)
o Spiele dieses Genres o Tina auf dem meist unbedenklich Bauernhof und werden dann o. (o. Altersb.) Altersb. freigegeben. o Dead Reefs (ab 6 J.) o Global Conflicts: Palestine (ab 12 J.)
o Spiele in allen Freigabestufen
o Chicken Shoot (Shoot' em Up; ab 6 J.) o Crazy Taxi: Fare Wars (Racer; ab 12 J.) o Hot Pinball (Geschicklichkeit; ab 16 J.) o Ninja Gaiden Sigma (Beat' em Up; k. Jugendfreig.)
o Spiele dieses Genres o Tetris (o. Altersb.) sind meist unbedenklich und werden dann o. Altersb. Freigegeben.
3.3 Computerspiele – ein ernst zunehmendes Phänomen?
215
Tabelle 4 (Forts.) Genre-Titel Beschreibungsmerkmale o Wiederspielwert Genremix o steter oder zumindest möglicher Wechsel zwischen mindestens zwei Genres. o grundlegende Spielideen sind miteinander verknüpft o Spieler agiert mehreren Ebenen, die sich durch Spielperspektive, Aufgaben, Komplexität, Zielsetzung und Anspruch unterscheiden
Gesellschaftsspiel
Jump’n’ Run
Kinder/Kreativ
Alterseinschätzung Beispiele o Aufgrund der Vielfalt o Spongebob dieses Spielangebots Schwammkopf: finden sich hier Spiele (o. Altersb.) in allen o Pimp My Ride Freigabestufen. (ab 6 J.) o Space Rangers 2 (ab 12) o Family Guy (ab 16 J.) o Scarface –The World is Yours (dt. Version) (k. Jugendfreig.) o meist unbedenklich o Sing Star (o. o meist o. Altersb. Altersb.) freigegeben. o Poker Games (o. o Hohe Komplexität Altersb.)
o Brett- oder Kartenspiel oder andere klassische Spielvorlage o komplexes, bekanntes Regelwerk o Mehrspielermodus o Visualisierung ähnlich dem Original o reine Kinderspiele als o skurrile Spielfiguren, die auch mitunter Spiele, hüpfen, springen, rennen die aufgrund präo Erklimmung von verschiegender Action-Anteile denen Plattformen erst ab 12 Jahren o Überwindung von Hinderfreigegeben sind. nissen o immer öfter mit Missionen, Adventureelementen und Waffen o Auch in 3D o phantasievolle, themenorientierte Welten o ausdrücklich für die jüngsten o Regelmäßig sind Spieler programmierte diese Spiele für Angebote Kinder freigegeben, o Einfache, bunte Aufgaben oft auch schon für die o Trainieren von Fähigkeiten. allerjüngsten. o Spiele knüpfen an Erfahrungen mit anderen Medien an o Berücksichtigung medialer Vorlieben von Kindern o Manchmal werden spielerische Inhalte mit kreativen Produktionsaufgaben verknüpft
o Super Mario etc. (o. Altersb.) o Spiderman 3 (ab 6 J.)
o Muppet & Kids (o. Altersb.) o Wild Earth – Africa (o. Altersb.)
216
3. Aktueller Diskurs – Der Spieler in der Wissensgesellschaft?
Tabelle 4 (Forts.) Genre-Titel Beschreibungsmerkmale o Spielende in der Rolle des Manageaufstrebenden Firmenlenkers ment oder er managt eine komplexe Anlage o Themen: Konkurrenz, Finanzen, Mitarbeiter, technische Entwicklungen o Hauptaspekt: monetärwirtschaftlich Rollenspiel o Der Spielende ist häufig der Retter (Heldenposition) o Oft mittelalterlich geprägte, von allerlei Ungemach heimgesuchten Welt o Oft lange Storyline o Quests (Aufgaben) o Aufbau von Gruppierungen (Party), die der Spielende in Kämpfe führt. o Dialoge mit NPCs (non playable characters), um Informationen zu Quests zu erlangen. o Untergenres: rundenbasierte + actionorientierte Rollenspiele sowie Online-Rollenspiele o Schießen und Treffen von Shooter gegnerischen Spielfiguren im Vordergrund o Erfüllung von Missionen o Offenes Gelände, Katakomben, Lagerhallen oder Einrichtungen o Ein recht linearer Spielweg führt zu den Ausgängen der Spielabschnitte, die erfolgreich erreicht werden müssen o Viele Variationen (EgoShooter, Third-PersonShooter, Taktik-Shooter, Online-/LAN- Shooter). Simulation o Komplexe Zusammenhänge werden virtuell nachvollzogen o Zivile Simulation (z.B. Funktionen von Fahr- und Fluggerätschaften, Leben etc.); militärische Simulationen
Alterseinschätzung o meist unbedenklich o häufig o. Altersb.
Beispiele o Radsport Manager 2007 (o. Altersb.) o Rotlicht Tycoon 2 (ab 16 J.)
o Spiele in allen Freigabestufen o Viele Titel ab 12 Jahren. o Es gibt aber durchaus immer wieder auch höhere oder niedrigere Einstufungen.
o Dragon Ball Z (rundenbasiert; ab 6 J.) o Dungeons & Dragons Tactics (rundenbasiert; ab 12 J.) o World of Warcraft (GC) (online; ab 12 J.)
o keine Kinderspiele. o Die meisten ab 16 Jahren oder »Keine Jugendfreigabe« oder »Keine Kennzeichnung«.
o Call of Duty 2 (Ego; ab 16 J.) o Unreal Tournament 2004 (dt. Version) (online/ Lan; ab 16 J.) o Half Life 2 Classic (Ego; k. Jugendfreig.)
o Militärische o Sims (o. Altersb.) Simulation: meist ab o F24 Stealth Fighter (ab 12 oder 16 Jahren 12) freigegeben. o Dream Stripper (ab 16 J.)
3.3 Computerspiele – ein ernst zunehmendes Phänomen?
217
Tabelle 4 (Forts.) Genre-Titel Beschreibungsmerkmale o Echte Sportarten realitätsnah Sportspiel o Originallizenzen mit bekannten Kommentatoren und Gesichtern o Häufig mehrspielerfähig o TV-ähnlich oder zumindest realitätsnahe Präsentation o Sieg oder Niederlage Strategie o Der Spielende als virtueller Stratege o Planerischer, gezielter Einsatz von Ressourcen oder Einheiten o Meist isometrische Perspektive (also mit Blick von schräg oben auf seine Spielfläche). o Zivile und militärische Strategiespiele
Alterseinschätzung o Meist keine Inhalte zur Entwicklungsbeeinträchtigung
Beispiele o 3D Ultra Minigolf Adventures Deluxe (o. Altersb.)
o Aufbaustrategie: Meist unter 12 Jahren freigegeben. o Militärische Strategie: Regelmäßig Freigabe ab 12 oder ab 16 Jahren.
o Civilization 4 (ab 6 J.) o Command and Conquer 3 Tiberium Wars (ab 16 J.)
Quelle: Eigene Zusammenstellung nach USK 2008a, online.
Genre 26,1
Arcade Sportspiel
14,5 7,7 7,2 7,1 6,4 5,5 4,9 4,9 4,5 3,6 3,2 2,3 2,1
Jump’n’Run
Simulation Shooter Strategie klassisches Adventure Denkspiel Action-Adventure Rollenspiel Management Gesellschaftsspiel Genremix Kinder-/Kreativ 0
5
10
15 in Prozent
20
25
30
Abbildung 15: Spielgenres und deren Häufigkeitsverteilung in Prozent (USK-Nennungen; n=13.765) Quelle: Eigene Darstellung und Berechnung auf Basis der USK-Prüfdatenbank (online; Stand: 30.06.2007).
218
3. Aktueller Diskurs – Der Spieler in der Wissensgesellschaft?
aus der Bundesliga, bekannte Kommentatoren, realitätsgetreue Mannschaftstrikots finden sich in diesen Spielen wieder. Auf dem dritten Rang stehen die Jump’n’Run-Spiele, bei denen der Spielende häufig fantastisch aussehende Spielfiguren in fantasievollen Welten steuern muss. Für zusätzliche Informationen bietet sich zudem der pädagogische Ratgeber für Computer- und Konsolenspiele »Wissen was gespielt wird« an (vgl. ComputerProjekt Köln e.V. 2008). Dort sind im Vergleich zur USK (Abbildung 15, S. 217) dreizehn Spielgenres aufgelistet.161 Somit wird aufgrund der uneinheitlichen Anzahl von Computerspielgenres deutlich, dass eine klar abgrenzbare Genreeinteilung kein leichtes Unterfangen darstellt, zumal Mischformen auftreten können und im Laufe der Computerspieleentwicklung auch neue Genres entstehen. Dieses Problem einer Grenzziehung zwischen den einzelnen Genres spiegelt sich auch in der aktuellen Forschung wider, wie am Beispiel der Computerspielnutzung, konkret anhand der KIM-und JIM-Studien, später noch zu veranschaulichen sein wird (vgl. S. 236ff.).
3.3.4 Computerspielnutzung in Deutschland – ein Jugendphänomen? Computerspiele werden im aktuellen öffentlichen Diskurs im Wesentlichen als eine Tätigkeit eingestuft, die von Heranwachsenden ausgeübt wird. Wie auch in der sozialhistorischen Analyse dargestellt wurde, werden Spiele allgemein gesellschaftlich dem Kind bzw. Jugendlichen zugesprochen, für Erwachsene gelten sie vorrangig als ›sinnloser‹ Zeitvertreib. Demzufolge sind es in der öffentlichen Wahrnehmung vor allem die Jugendlichen, die als Spieler thematisiert werden. Erwachsene werden dagegen nur selten in der Auseinandersetzung mit Computerspielen thematisiert. Der mutmaßliche Anteil erwachsener Spieler wird dabei im Vergleich als eher gering eingestuft. Aber entspricht diese Annahme auch den empirischen Daten? Das folgende Kapitel geht daher der Frage nach, ob das Computerspiel dazu beiträgt, dass die ehemals biografische Differenzierung »Erwachsene spielen nicht« im Begriff ist, sich aufzulösen. Hier wird die These vertreten, dass Computerspiele heute nicht mehr allein eine Beschäftigung für Jugendliche sind,
161 Diese sind im Einzelnen die 1) Action-Adventures, 2) Action-Strategie, 3) Adventures, 4) Beat ’em Up, 5) Denken / Geschicklichkeit, 6) Gesellschaftsspiele, 7) Jump&Run, 8) Online-Spiele, 9) Rennspiele, 10) Rollenspiele, 11) Shooter und Ego-Shooter, 12) Sport, 13) Strategie (vgl. ComputerProjekt Köln e.V. 2008).
3.3 Computerspiele – ein ernst zunehmendes Phänomen?
219
sondern dass sich auch Erwachsene mit zunehmender Intensität und Begeisterung dieser Tätigkeit widmen. Um diese Thematik zu bearbeiten, leiten folgende Fragen die weiteren Ausführungen: Wie groß ist der Anteil der Kinder und Jugendlichen, die in ihrer Freizeit Computerspiele spielen? Sind auch Erwachsene eine relevante Zielgruppe? Welche soziodemografischen Unterschiede und welche allgemeinen Trends sind erkennbar? Hat die Computerspielnutzung offline zugunsten des Spielens im Netz abgenommen? Zu beachten ist dabei, dass die weiteren Ausführungen sich allein auf digitale Spiele am Computer beziehen. Spielkonsolen etwa bleiben aufgrund ihrer dominierenden Unterhaltungsfunktion unberücksichtigt, da sie im Gegensatz zum Computer eine mögliche Schnittstelle zwischen Spiel/Arbeit und Lernen vorerst nicht aufweisen. Um die oben aufgeführten Fragen zu beantworten, werden in der Folge unterschiedliche empirische Studien herangezogen. Vor allem sind hier repräsentative Trendstudien gefragt, die Aufschluss über die Entwicklung der Computerspielnutzung in den letzten Jahren geben können. Der große Vorteil dieser Untersuchungen liegt in ihrem methodischen Design, da es sich um Trendstudien handelt, die das Aufzeigen von Nutzungsentwicklungen auf der Personenaggregat-Ebene ermöglichen (vgl. Wolling 2008: 74). Ein Nachteil dieser Studien liegt in der teilweise mangelnden Vergleichbarkeit der Ergebnisse. So zeigen sich drei forschungsmethodische Problemkreise der Vergleichbarkeit: a) innerhalb einer Studie, b) zwischen verschiedenen Studien und c) zwischen den unterschiedlichen Verfahren der Stichprobenziehung. Trotz dieser methodischen Schwierigkeiten, die im Folgenden auch ausgeführt werden, soll der Versuch unternommen werden, eine Beziehung zwischen den folgenden Untersuchungen herzustellen. Für die Computer- und Spielnutzung von Kindern werden abermals die KIMStudien herangezogen. Wendet man sich dagegen der Computerspielnutzung von Jugendlichen im Alter von 12 bis 19 Jahren zu, dann bieten sich als vergleichsanalytische Trenduntersuchungen die JIM-Studien an, die ebenfalls vom Medienpädagogischen Forschungsverbund durchgeführt werden. Im Unterschied zu den KIM-Studien, die derzeit sieben Messzeitpunkte ausweisen, liegen für die JIM-Studien bereits elf Messzeitpunkte vor. Für die Betrachtung der Computerspielnutzung Erwachsener wird in dieser Arbeit erstens die Bielefelder Studie »Medienkompetenz im digitalen Zeitalter« herangezogen, der eine repräsentative Zufallsstichprobe für Nordrhein-Westfalen
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3. Aktueller Diskurs – Der Spieler in der Wissensgesellschaft?
zugrunde liegt (vgl. Treumann et al. 2002: 48f.).162 Zweitens wird eine Sekundäranalyse auf der Basis der »Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften« (ALLBUS) gerechnet.163 Der Erhebungszeitraum der Daten, die für die folgende Sekundäranalyse verwendet wurden und sich auf 18- bis 89-Jährige beziehen, war März bis Juli 2004.164 Drittens bietet sich ein Rückgriff auf die ACTA an. Die ACTA (Allensbacher Computer- und Technikanalyse) ist eine jährlich stattfindende repräsentative Untersuchung rund um die Themen Telekommunikation, Computer, Internet und Online-Medien, Informationstechnologien, Fernsehen und Unterhaltungselektronik. Methodisch hervorzuheben ist, dass die Personenstichprobe im Gegensatz zu den anderen Studien auf einer Quotenauswahl basiert.165 Die ACTA-Studien beziehen sich auf die Gesamtbevölkerung in Deutschland im Alter von 14 bis 64 Jahren. In der vorliegenden Studie werden vorrangig die Untersuchungen aus den Jahren 2006 und 2007 verwendet, aber auch weitere Erhebungsjahre fließen in die Analyse ein.
3.3.4.1 Computerspielnutzung von Kindern Zunächst ist anhand der KIM-Studie 2006 hervorzuheben, dass 27% der befragten Kinder nicht am Computer spielen (Mädchen: 35%; Jungen 19%; vgl. KimStudie 2006: 37f.). Nach der aktuellen KIM-Studie 2008 erhöht sich sogar der
162 Mit einem Fragebogen wurden insgesamt 1.702 Erwachsene im Alter zwischen 35 und 74 Jahren befragt. Der Umfragezeitraum war Ende April bis Juli 1998. 163 Die Realisierung von ALLBUS innerhalb der GESIS findet an den Standorten Mannheim und Köln in Kooperation mit dem ALLBUS-Ausschuss statt. Für die folgenden sekundäranalytischen Ausführungen tragen die genannten Institutionen und Personen keine Verantwortung. An dieser Stelle möchte ich mich bei den aufgeführten Institutionen für die Bereitstellung des Datensatzes inklusive Codeplan und Fragebogen etc. bedanken. 164 In der bisher letzten ALLBUS-Studie von 2006 wurde leider nicht nach der Computernutzung gefragt, sodass auf die Daten von 2004 zurückgegriffen werden musste. 2004 wurde die Datenerhebung von TNS-Infratest Sozialforschung München durchgeführt und erfolgte mündlich mit einem standardisierten Fragebogen (CAPI= Computer Assisted Personal Interviewing). Insgesamt wurden 2.946 wahlberechtigte Personen in der Bundesrepublik Deutschland befragt. 165 Allerdings sind Quotenstichproben umstritten, da sie keine Zufallsstichproben sind, sondern einer Form der bewussten Auswahl unterliegen (vgl. Bortz/ Döring 2006: 483; Schnell/ Hill/ Esser 1995: 38), worauf auch Grüninger, Quandt und Wimmer hinweisen (2008: 115). Wenn allerdings, wie dies auch bei den ACTA-Stichproben der Fall ist, »bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind (bspw. zuverlässige Angaben zur Grundgesamtheit, Vorgabe einer durchdachten Merkmalskombination zur Quotierung, gute Interviewerorganisation), dann führt die QuotenAuswahl nachweislich zu einem der Zufallsauswahl fast ebenbürtigen Ergebnis« (Zillien 2006: 142; vgl. auch Schneller 1997: 10; Rohwer/ Pötter 2001: 332).
3.3 Computerspiele – ein ernst zunehmendes Phänomen?
221
Anteil der nicht Computer spielenden Kinder um drei Prozentpunkte auf 30% (Mädchen: 36%; Jungen 25%; vgl. KIM-Studie 2008: 28). Somit kann konstatiert werden, dass für fast ein Drittel der 6- bis 13-Jährigen Computerspiele heute keine Alltagsrelevanz besitzen, sei es aus fehlendem eigenem Interesse oder aufgrund anderer Faktoren, etwa des Erziehungsstils der Eltern. Es ist allerdings hierbei zu berücksichtigen, dass im Laufe der Kindheit das Interesse an Computerspielen erheblich zunimmt. Während lediglich 4% der 6- bis 7-Jährigen »täglich/fast jeden Tag« spielen, sind es bei den 12-bis 13-Jährigen bereits 22% (vgl. KIM-Studie 2008: 28). Untersucht man weiter nur die Nutzer von Computerspielen, dann zeigt sich in diesem Zusammenhang, dass sich Computerspiele in deren Alltag immer stärker verfestigen. »Während bei den 6- bis 7-Jährigen nur 8 Prozent zu den intensiven Spielern zählen, steigt dieser Wert bei den Ältesten auf 26 Prozent an. Gleichzeitig geht der Anteil derer, die eher selten spielen, von 25 auf 15 Prozent zurück« (KIM-Studie 2008: 29). Neben altersspezifischen Differenzen lassen sich hier ebenfalls Unterschiede im Geschlecht ausmachen. So machen die intensiv Spielenden zwar 25% der männlichen, aber nur 11% der weiblichen Computerspieler aus (vgl. ebd.) Weiter ist es in Bezug auf die Computerspielnutzung von Kindern erkenntnisreich, welche Spielegenres bevorzugt werden. Die Befragten sollten bis zu drei ihrer beliebtesten Computerspiele nennen. Hierbei sind bei Mädchen wie auch bei den Jungen die Simulationsspiele mit 42% am beliebtesten, wobei das Computerspiel »Die Sims« – laut Pressemitteilung des Herstellers166 das meistverkaufte Computerspiel weltweit (vgl. Electronic Arts 2007)167 – am häufigsten angegeben wurde (22% Mädchen und 12% Jungen). Dass die Sims das erfolgreichste Spiel der letzten Jahre ist, erklärt sich laut Wiemken durch den »einfachen Grund, weil es nicht nur von Jungen, sondern auch von Mädchen gekauft und gespielt wurde«, denn sonst seien Computerspiele »Männersache« (Wiemken 2004: 27). Während sich Mädchen und Jungen über Simulationsspiele als favorisiertes Spielegenre einig sind, unterscheiden sie sich im Hinblick auf den zweiten Platz. Am zweitliebsten spielen Jungen Strategiespiele (33%), wie etwa »Die Siedler«. Mädchen dagegen bevorzugen die für den Computer adaptierten Fun- und Gesellschaftsspiele (35%), dicht gefolgt von Jump & Run-Spielen (34%) wie etwa »Super Mario«. Zwar werden auch Lernspiele von den Kindern
166 Electronic Arts gehört zu den weltweit größten Publishern von Comuputer- und Videospielen. 167 Im April 2007 seien weltweit 100 Millionen Exemplare verkauft worden. Das Spiel sei in 60 Ländern und 22 Sprachen erhältlich (vgl. Electronic Arts 2007 online).
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3. Aktueller Diskurs – Der Spieler in der Wissensgesellschaft?
genannt, allerdings belegen sie mit einem Anteil von 14% den letzten Platz. Diese werden von Mädchen zu 23% angeführt, von Jungen nur zu 8%, sodass hier konstatiert werden kann, dass die Attraktivität von Lernspielen für Mädchen offenbar deutlich höher ist als für Jungen. Genannt wurden vor allem die Lernspiele »Löwenzahn« aus dem Hause Terzio (3%), »Bibi Blocksberg« von Kiddnix und »Was ist Was« von Tessloff (jeweils 2%) (vgl. Kim-Studie 2006: 36f.).168
3.3.4.2 Computerspielnutzung Jugendlicher Im Hinblick auf jugendliches Spielverhalten ist zunächst ebenfalls hervorzuheben, dass 28% aller befragten Jugendlichen keine Computerspiele spielen (JIMStudie 2006: 36; also 72% sind Spieler). Es besteht hier also im Jahr 2006 kaum eine Differenz zwischen Kindern (27%) und Jugendlichen. Der in der öffentlichen Diskussion häufig erweckte Eindruck, alle Jugendlichen würden den größten Teil ihrer Freizeit mit Computerspielen verbringen, ist also zu relativieren. Weiter gibt die JIM-Studie 2006 an, dass 38% der 12- bis 19-Jährigen Computernutzer »täglich« bzw. »mehrmals die Woche« offline spielen (vgl. JIMStudie 2006: 34). Wie bei den Kindern fallen auch bei den Jugendlichen große geschlechtsspezifische Unterschiede im Nutzungsverhalten auf: Mehr als die Hälfte der Jungen (56%) spielt täglich bzw. mehrmals pro Woche, sodass man diese Gruppe als Intensiv-Spieler bezeichnen kann. Bei den Mädchen sind dies dagegen lediglich 16%. Unter dem Aspekt der Schulbildung kann konstatiert werden, dass formal höher gebildete Jugendliche insgesamt häufiger den Computer nutzen, aber zeitlich weniger intensiv spielen. In diesem Sinn sind 44% der Hauptschüler, 38% der Realschüler und 32% der Gymnasiasten zu den intensiven Spielern zu zählen, also denjenigen, die »täglich/mehrmals pro Woche« ihre Zeit mit Computerspielen verbringen (vgl. JIM-Studie 2006: 34). Hervorzuheben ist dabei, dass die Computerspielhäufigkeit in der Jugendphase mit zunehmendem Alter abnimmt (vgl. JIM-Studie 2006: 36), während sie in der Kindheit zunimmt. Der höchste Prozentsatz der spielenden Kinder liegt dabei in der Pubertätsphase. Er ist bei den 12- bis 13-Jährigen zu verorten (vgl. ebd. 35). Da die Pubertät eine Phase darstellt, in der sich Jugendliche ausprobieren wollen, mit Unsicherheiten konfrontiert werden und sich langsam vom Elternhaus, dem bisherigen sozialökologischen Zentrum lösen, scheinen Computerspiele eine an-
168 In Bezug auf gelungene Titel, die versuchen, den zu erlernenden Wissensstoff dramaturgisch in ein Computerspiel einzubauen, siehe Magdans 2008: 239ff.
3.3 Computerspiele – ein ernst zunehmendes Phänomen?
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gemessene Freizeitaktivität darzustellen, um mit diesen Bedürfnissen und Anforderungen umzugehen (zu den einzelnen Nutzungsmotiven von Computerspielen vgl. S. 236ff.). Der Umstand, dass die Häufigkeit regelmäßigen Spielens ab dem 14. Lebensjahr abnimmt, könnte darin begründet sein, dass die weiterführenden Schulen vor allem ab der Sekundarstufe immer höhere Anforderungen an die Schüler stellen, sodass die Heranwachsenden mehr Zeit mit Lernen verbringen müssen. Möglicherweise ist für viele Jugendliche bezüglich des Spielens dann auch ein Sättigungsgrad erreicht. Zudem findet eine Neuorientierung auch in Bezug auf die berufliche Zukunft statt. In Bezug auf die Frage nach den Lieblingsgenres bei Computerspielen von Jugendlichen wird zunächst auf die JIM-Daten von 2005 zurückgegriffen werden, da 2006 nach ihnen nicht gefragt wurde. Dabei zeigt sich in der Methodologie, konkret bezüglich der Vergleichbarkeit zwischen KIM- und JIM-Studie, abermals eine Diskrepanz. Während in der KIM-Studie 2006 zwischen Simulations-, Strategie- und Sportspielen als drei unterschiedlichen Spieletypen differenziert wurde, lauteten die Kategorien ein Jahr zuvor »Strategie-/Denk-Spiele« und »Sport-/Simulationsspiele«. Dies belegt zwar die Schwierigkeit einer Computerspiel-Typisierung, trotzdem wäre hier eine einheitliche Kategorisierung, die auch eine Vergleichbarkeit zuließe, von Vorteil. Möglicherweise lässt sich die Neukategorisierung aber auf einen ›Lerneffekt‹ bei den Forschern zurückführen bzw. auf eine Einigung bezüglich der Einteilung mit anderen Forschergruppen. Allerdings wird in der aktuellen JIM-Studie 2008 das Computerspiel »Die Sims« abermals unter die Kategorie »Strategiespiele« gefasst und das Genre »Simulation« gar nicht mehr aufgenommen. Obwohl die Autoren diesbezüglich auch darauf hinweisen, dass aufgrund »mangelnder Trennschärfe (…) eine Kategorisierung der Antworten ein schwieriges Unterfangen« darstelle (JIM-Studie 2008: 40), ist nicht nachvollziehbar, dass ein Spiel, konkret »Die Sims«, in drei verschiedenen Erhebungsjahren unter drei unterschiedliche Kategorienbezeichnungen gefasst wurde.169 Ein weiteres Manko – das allerdings bei der JIM-Studie 2008 behoben wurde – ist, dass in der JIM-Studie 2005 nicht die Werte der beliebtesten Computerspiele insgesamt, sondern lediglich die geschlechtsspezifischen Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen angegeben werden (vgl. JIMStudie 2005: 33). Demnach stehen bei den Mädchen Strategie- und Denkspiele an erster Stelle (70%). Hier verweisen die Autoren ebenfalls auf das Computer-
169 In der JIM-Studie 2005 wurde das Computerspiel »Die Sims« unter »Strategie-/Denkspiele«, in der KIM-Studie 2006 unter »Simulation« und in der JIM-Studie 2008 unter »Strategiespiele« gefasst.
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3. Aktueller Diskurs – Der Spieler in der Wissensgesellschaft?
spiel »Die Sims«. Die Jungen favorisieren dagegen Action-Spiele mit 55%, wobei hier »Counter-Strike« als beliebtestes Spiel genannt wird – ein Spiel, das man eher zu den Shootern, konkret den Online-Taktik-Shootern zählen sollte. Zusammenfassend lässt sich über das Offline-Computerspielverhalten von Jugendlichen anhand der JIM-Studien konstatieren, dass a) Computerspiele eine weit verbreitete Freizeitbeschäftigung darstellen, b) Jungen erheblich mehr spielen als Mädchen, was mutmaßlich auch mit geschlechtsspezifischen Angeboten der Hersteller zusammenhängt (vgl. Kunczik/Zipfel 2004: 232), c) die Nutzung in der frühen Jugend kulminiert und d) mit zunehmenden Alter zurückgeht. Betrachtet man abschließend die Offline-Computerspielnutzung Jugendlicher im zeitlichen Verlauf, so haben 1998 53% der PC-Nutzer »täglich« bzw. »mehrmals die Woche« gespielt, im Jahre 2004 waren es 41%, im Jahr 2006 38%, 2007 nur noch 34% und 2008 lediglich 31% (vgl. JIM-Studie 1998: 28, 2004: 25, 2007: 33, 2008: 36). Demzufolge sank die Computerspieltätigkeit bei Jugendlichen im Alter von 12 bis 19 Jahren innerhalb von mehr als der Hälfte auf ein knappes Drittel. Allerdings ist bei der Interpretation dieses Befundes zu berücksichtigen, dass einerseits nicht die befragten Jugendlichen insgesamt die Prozentuierung ausmachen, sondern nur diejenigen, die angeben, einen Computer zu nutzen. Während 1998 71% der Jugendlichen »mindestens einmal Monat« einen Computer nutzten, sind es 2008 bereits 97% (vgl. JIM-Studie 2008: 35). Somit ist der Anteil der Computernutzer insgesamt stark angestiegen. Rechnet man die jeweiligen Anteile auf die Befragten insgesamt um, dann ergibt sich ein Rückgang von 37,6% (1998) auf 30,0% (2008). Einschränkend ist zu berücksichtigen, dass sich die präsentierten Ergebnisse auf die Computerspielnutzung Jugendlicher offline beziehen. Daher ist als These zu untersuchen, dass der Rückgang der Offline-Computerspielquote auf die zunehmende Verbreitung von Online-Spielen zurückgeführt werden kann. Die Zahlen der JIM-Studie sind diesbezüglich allerdings nicht eindeutig. Während die Teilnahme an Spielen im Netz im Jahr 1998 bei 15% lag, haben 2003 drei Prozent weniger online gespielt (JIM-Studie 2003: 34). Im Jahr 2006 waren es dann abermals 15% der jugendlichen Internet-Nutzer, die »mehrmals« oder »täglich« Online-Spiele nutzten, und 2008 spielte etwa ein Fünftel der Jugendlichen »online – mit anderen Nutzern (19%) oder alleine (15%)« (vgl. JIM-Studie 2006: 39; JIM-Studie 2008: 48). Allerdings, so Wolling, verbirgt sich hinter diesem relativ stabilen Anteil »ein enormes absolutes Wachstum, denn die Zahl der Onliner ist in dem betrachteten Zeitraum [hier 1998 bis 2005 – S.G.] um fast 500% gestiegen« (Wolling 2008: 79). Diese Anzahl erstaunt, denn dies würde bedeu-
3.3 Computerspiele – ein ernst zunehmendes Phänomen?
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ten, dass sich die Zahl der jugendlichen Online-Nutzer innerhalb von sieben Jahren versechsfacht hätte. Der Blick in die JIM-Studien bestätigt allerdings den von Wolling aufgezeigten Trend: Während 1998 lediglich 18% der Jugendlichen das Internet nutzten, waren es 2005 bereits 86% (vgl. JIM-Studie 1998: 37, 2005: 35). Sicherlich stellen die in den vergangenen zehn Jahren deutlich schneller gewordenen Netzverbindungen einen sehr wichtigen Grund für den enormen Zuwachs von Internetnutzern dar. Auf der anderen Seite haben sich auch die wirtschaftlichen Konditionen für den Netzzugang verbessert, wie zum Beispiel an den Flatrate-Preisen abzulesen ist. Nicht zu vergessen ist, dass auch viele Jugendliche über die Spielkonsole online gehen, also auf Plattformen spielen, die keine Computer sind, und der Besitz an Spielkonsolen bei Jugendlichen von 1998 bis 2005 um über 50% gewachsen ist (vgl. Wolling 2008: 79). Aus diesem Grund kann postuliert werden, dass das Offline-Spielen zugunsten des Spielens im Netz bei den Jugendlichen in den letzten Jahren erheblich abnahm. Wie sieht diese Entwicklung nun bei den am Computer spielenden Erwachsenen aus?
3.3.4.3 Computerspielnutzung Erwachsener Umfassende Forschungsarbeiten zum Computerspielverhalten Erwachsener sind in der Literatur eher die Ausnahme, obwohl auch die Gruppe der erwachsenen Spieler eine nicht zu vernachlässigende Größe hat (vgl. Grüninger/Quandt/Wimmer 2008: 113) und der Anteil der älteren Spieler voraussichtlich immer weiter wachsen wird (vgl. Durkin/Aisbett 1999a: 144). Die selektive Aufmerksamkeit der Wissenschaft für die Computerspielnutzung von Kindern und Jugendlichen führte einerseits zu stereotypen Darstellungen, andererseits wurde vor allem den negativen Auswirkungen von Computerspielen Beachtung geschenkt, wie Griffiths, Davies und Chappell (2003) ausführen: »A majority of the research to date has concentrated on adolescent players (…). Thus, the image of a typical gamer (and the pastime of computer gaming) is seen as socially negative and remains firmly within a youth subculture« (Griffiths/Davies/Chappell 2003: 81). Eine Konsequenz daraus ist, dass man bei der Suche nach Studien zur Computerspielnutzung Erwachsener bislang vor allem auf Marktanalysen der Spielindustrie stößt wie etwa auf die Studie »Spielplatz Deutschland«, die von der Werbeagentur Jung von Matt, dem Spielepublisher Electronic Arts und dem Spielmagazin GEE initiiert wurde (vgl. Jung von Matt/Electronic Arts/GEE Magazin 2006). Ziel der Studie war es, Typen von Computerspielern zu identifizieren, damit der heutige Spieler als »relevante Werbezielgruppe greifbar wird
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3. Aktueller Diskurs – Der Spieler in der Wissensgesellschaft?
und Werbepotenziale verifizierbar werden« (Jung von Matt/Electronic Arts/GEE Magazin 2006: 8). Folglich stand vor allem das ökonomische Verwertungsinteresse im Vordergrund der Untersuchung. In diesem Sinn versucht die Spieleindustrie, durch aktive Imagearbeit das Bild des jugendlichen, ›verwahrlosten‹ Gamers durch wissenschaftliche Arbeit zu revidieren und aufzuzeigen, dass auch ältere Personen zu ihrer Zielgruppe gehören. Gründe für diese Bemühungen der Spielindustrie sehen Grüninger, Quandt und Wimmer – neben dem von den Herstellern und einschlägigen Publizisten selbst angesprochenen ökonomischen Aspekt – in der Förderung der Vermarktung bestimmter Games als ›Erwachsenenunterhaltung‹, »denn der Verkauf an Volljährige unterliegt in vielen Ländern keinen Beschränkungen (im Gegensatz zum Verkauf an Jugendliche)« (Grüninger/Quandt/Wimmer 2008: 114). So verwundert es nicht, dass in dem Bericht der Studie »Spielplatz Deutschland« vor allem der Typus des »Freizeitspielers«170 hervorgehoben wird. Der so genannte »Freizeitspieler« macht 54% der 3.000 telefonisch befragten Personen aus. Er stellt somit die Mehrheit aller Spieler dar, ist durchschnittlich 44 Jahre alt, verfügt über ein mittleres bis gehobenes Einkommen, Männer und Frauen sind in dieser Kategorie laut der Studie gleich stark vertreten.171 Die bevorzugten Spielegenres des »Freizeitspielers« sind Fun-, Sport- und Geschicklichkeitsspiele (vgl. Jung von Matt/Electronic Arts/GEE Magazin 2006: 7; 15). In Bezug auf das Label »Freizeitspieler« könnte man hier allerdings die Frage aufwerfen, ob nicht fast alle gefundenen Typen meist in ihrer Freizeit spielen? Einen »Berufsspieler« weist die Typisierung jedenfalls nicht aus. Weiter werden über die Methode der Typenbildung keine differenzierten Ausführungen gemacht, auch die quantitative Aufschlüsselung der Studie bleibt bislang eher vage. Zudem kritisieren Grüninger et al., dass sich die von der Spieleindustrie geförderten Studien »durch ihre Nähe zu den Herstellern« und eine implizite Interessengeleitetheit auszeichnen und daher mit einer »gewissen Zurückhaltung« betrachtet werden sollten (Grüninger/Quandt/Wimmer 2008: 114). Aus diesem Grund weisen die Autoren auf den bestehenden erheblichen »Forschungsbedarf in Hinblick auf ältere Spieler« hin (ebd.).
170 Insgesamt wurden in der Studie fünf Typen von Computer- und Videospielern ausgewiesen. Nach Gruppengröße geordnet sind dies erstens der »Freizeitspieler« (54%), zweitens der »Gewohnheitsspieler« (24%), drittens der »Denkspieler« (11%), viertens der »Fantasiespieler« (6%) und schließlich der »Intensivspieler« (5%; vgl. Jung von Matt/ Electronic Arts/ GEE Magazin 2006: 13). Die fünf Typen entsammen dabei einer quantitativen Analyse. Aallerdings wird in der Studie nicht benannt, durch welche Forschungsmethode diese Typen gewonnen werden konnten. Mutmaßlich wurde hier mit dem Verfahren der Clusteranalyse gearbeitet. 171 In Bezug auf das Geschlecht werden keine Prozentzahlen genannt.
3.3 Computerspiele – ein ernst zunehmendes Phänomen?
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Allgemeine Computerspielnutzung Erwachsener und soziodemografische Variablen Um Daten zur Computerspielnutzung Erwachsener in den vergangenen Jahren zu rekonstruieren, werden im Folgenden repräsentative Studien herangezogen, die sich allgemein mit der Mediennutzung der deutschen Bevölkerung auseinandersetzen und hierbei auch Fragen zu Computerspielen stellen. Betrachtet man zunächst die bereits erwähnte Bielefelder Studie »Medienkompetenz im digitalen Zeitalter« (vgl. Treumann et al. 2002: 155), in der im Jahr 1998 35- bis 74-jährige Erwachsene befragt wurden, dann zeigt sich, dass mit dem Alter das Computerspielen signifikant zurückgeht. So spielt die Altersgruppe der Erwachsenen von 35 bis 39 Jahren zu 16,8% »häufig«oder »sehr häufig«, von den 70- bis 74-Jährigen spielt in dieser Häufigkeit niemand mehr. Die Altersgruppe, die am meisten spielt, sind die 40- bis 44-Jährigen; hiervon spielen 20,5% »häufig« oder »sehr häufig«. Unter geschlechtsspezifischer Perspektive gibt es kaum Differenzen beim Spielen (Frauen 15,2%; Männer 14,1%), ja im Vergleich zu Kindern und Jugendlichen erstaunt sogar, dass mehr Frauen spielen als Männer (1,1 Prozentpunkte). In Bezug auf die Erwerbstätigkeit sind 17,9% der Spieler ohne Arbeitsverhältnis, womit der Anteil dieser Gruppe an den Spielern um 4,1 Prozentpunkte über ihrem Anteil an der Erwerbsbevölkerung liegt. Weiter ist hinsichtlich der Bildung zu konstatieren, dass der Anteil der Spielenden mit sinkendem Bildungsgrad steigt. Fast doppelt so viele Personen mit Hauptschulabschluss wie Personen mit (Fach-)Hochschulreife spielen. Nun stellt sich die Frage, ob sich die soziodemografische Zusammensetzung der Spielenden in den letzten zehn Jahren verändert hat. In diesem Sinn hat Wolling (2008: 89) für die Jahre 1998 bis 2005 die ACTA-Daten (Allensbacher Computer- und Technikanalyse)172 die generelle Computerspielnutzung sekundäranalytisch untersucht. Hierbei wird deutlich, dass diese Nutzung in den Jahren 1998 bis 2005 um fünf Prozentpunkte, konkret von 32% auf 37% gewachsen ist, wobei dies vor allem auf Männer und auf die 14- bis 24-Jährigen zurückgeführt werden kann. Bei den anderen Altersgruppen fällt der Zuwachs deutlich geringer aus. In Bezug auf den Bildungsstand ist hervorzuheben, dass erwachsene Computerspieler im Jahr 2005 vor allem in der Gruppe der höher Gebildeten zu finden sind (28% mit einem Hauptschulabschluss, 41% mit einem Realschulabschluss
172 Die ACTA ist eine jährlich stattfindende repräsentative Untersuchung rund um die Themen Telekommunikation, Computer, Internet und Online-Medien, Informationstechnologien, Fernsehen und Unterhaltungselektronik (s. Fußnote 165, S. 220).
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3. Aktueller Diskurs – Der Spieler in der Wissensgesellschaft?
und 44% der Befragten mit einem Abitur nutzen den Computer zum Spielen, vgl. Wolling 2008: 89), was sich nicht wesentlich von den ACTA-Daten 1998 unterscheidet. Dieses Ergebnis überrascht zunächst, waren es doch laut Bielefelder Studie im Jahre 1998 eher die Personen mit niedrigen Bildungsgrad, die zu den häufig Spielenden zu zählen waren (Treumann et al. 2002: 155). Der Grund liegt höchstwahrscheinlich in der Operationalisierung. Während die Bielefelder Studie nach der Häufigkeit des Spielens differenziert und die »häufigen« und »sehr häufigen« Spieler ausweist (19,9% Hauptschule; 14,3% Realschule, 11,9% Abitur), wurde in der ACTA-Studie allgemein danach gefragt, ob Computerspiele gespielt werden oder nicht. Ähnlich wie bei der Computerspielnutzung Jugendlicher (vgl. S. 222ff.) kann hier angenommen werden, dass insgesamt zwar mehr formal höher gebildete Erwachsene spielen, dann aber zeitlich weniger intensiv. So kann hier festgehalten werden, dass der Nutzungstrend in Bezug auf Bildungsunterschiede sich anscheinend in der Jugendphase herausbildet und sich im Erwachsenenalter fortsetzt. In diesem Sinn widerspricht auch Wolters vom Bundesverband Interaktive Unterhaltungssoftware (B.I.U) der Annahme des bildungsfernen Spielers. Nach seinen Angaben liegen die Nutzer interaktiver Unterhaltungssoftware im »gutbürgerlichen Mittelfeld« (Wolters 2008: 32). Weiter ist es noch von Interesse, den Blick auf den Aspekt möglicher Einkommensunterschiede bei den Spielenden zu richten. Hier zeigt sich, dass 1998 vor allem die Personen mit einem höheren Einkommen zu den Spielern zählten. Die Personen, die unter 2.000 DM verdienten, spielten nur zu 16%, während die über 6.000 DM zu 46% spielten. Anscheinend stellten noch vor etwa zehn Jahren finanzielle Aspekte einen Hinderungsgrund für die Beschäftigung mit Computerspiele dar,173 die allerdings im Jahre 2005 nicht vorhanden sind. »Im Jahre 2005 sind keine einkommensbedingten Unterschiede mehr festzustellen« (Wolling 2008: 89). Bezieht man nun die aktuelleren ACTA-Studien von 2006 und 2007 in die Analyse ein, dann haben 2006 36,2% der deutschen Bevölkerung gespielt, 2007 waren es 40% (vgl. Grüninger/Quandt/Wimmer 2008: 115; Allensbacher Berichte 2008: 2). Hier ist also insgesamt in einem Jahr ein Zuwachs von 3,8% zu verzeichnen. Ziehen wir hier noch einmal die 14- bis 19-Jährigen zum Vergleich heran, dann sehen wir, dass von 2006 bis 2007 auch der Anteil der Spielenden in dieser Altersgruppe um 4% gewachsen ist. Dies steht zunächst im Gegensatz zu den JIM-Studien, wonach die Zahl der Spieler unter den Jugendlichen in den
173 Hier darf vermutet werden, dass der Verfall der Hardwarepreise, der auch in dieser Zeitspanne stattgefunden hat, wesentlich dazu beigetragen hat, diese Hürde zu senken.
3.3 Computerspiele – ein ernst zunehmendes Phänomen?
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letzten Jahren eher zurückgegangen ist. Die unterschiedlichen Trends sind aber offenbar in der unterschiedlichen Operationalisierung begründet. Während die JIM-Studie danach fragt, welche Aktivitäten »täglich« bzw. »mehrmals die Woche« ausgeübt werden, weisen die hier vorliegenden Ergebnisse der ACTA-Daten 2007 die generelle Nutzung aus, ohne eine Differenzierung in der Häufigkeit vorzunehmen. Um eine genauere Zielgruppendifferenzierung der am Computer spielenden Erwachsenen vorzunehmen, wird darum abermals der ALLBUS-Datensatz aus dem Jahr 2004 einer Sekundäranalyse unterzogen. Darüber hinaus wird auf eine weitere Sekundäranalyse von Grüninger/Quandt/Wimmer (2008) zurückgegriffen, die sich auf die ACTA-Daten 2006 bezieht. Beim ALLBUS 2004 zeigt sich, dass neben den 6% »täglicher« Computerspieler, 19,1% »mindestens einmal die Woche«, 9,4% »mindestens einmal pro Monat« und 23,4% »seltener« spielen. 42,2% nutzen keine Computerspiele. Versucht man, die Spieler in Gruppen zusammenzufassen, dann könnte man den »täglichen« und den »wöchentlichen« Spielkonsum in einer Variablen zusammenfassen und daraus die Gruppe der »erfahrenen Spieler« bilden. Dies sind dann 25,1% (n= 412). Führt man auch die Spieler zusammen, die »mindestens einmal im Monat« oder »seltener« Computerspiele spielen, dann könnte man diese Personengruppe als die »Gelegenheitsspieler« bezeichnen, die 32,7% ausmachen (n= 538). Der Personenkreis, der keine Computerspiele spielt, bleibt weiterhin bei 42,2% (n= 694). Nun sollen nun diese drei Gruppen mit dem Alter in Beziehung gesetzt werden. Die folgende Darstellung veranschaulicht dieses Verhältnis (vgl. Abbildung 16, S. 230). Anhand der Grafik wird zunächst deutlich, dass mit dem Alter das NichtSpielen zunimmt und vor allem die Mitglieder der jüngsten Altersgruppe – der 18bis 29-Jährigen – zu den erfahrenen Spielern gehören. Allerdings gehört auch rund jeder fünfte der 30- bis 59-Jährigen zu dieser Kategorie und sogar 25% der über 75-Jährigen spielen zumindest gelegentlich.174 Gemessen an der Studie »Medienkompetenz im digitalen Zeitalter« von 1998 hat sich also innerhalb weniger Jahre eine Veränderung vollzogen (vgl. Treumann et al. 2002: 155), sofern im Jahre 2004 nun auch einige ältere Personen (ab 74 Jahre) zu den erfahrenen bzw. häufigen Spielern zu zählen sind. Der Altersdurchschnitt des
174 Allerdings ist bei der Darstellung der Altersverteilung einerseits zu berücksichtigen, dass der Jahresabstand bei der jüngsten Gruppe im Vergleich zu den anderen geringer ausfällt. Andererseits wurde nicht nach Genrevorlieben gefragt, sodass auch Spiele wie das Kartenspiel »Solitaire« enthalten sein können.
3. Aktueller Diskurs – Der Spieler in der Wissensgesellschaft?
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erfahrenen Spielers liegt bei 37 Jahren und der des Gelegenheitsspielers bei 38 Jahren. Dieser Befund relativiert die Annahme, dass nur Jugendliche Computerspiele spielen bzw. zu der erfahrenen Nutzergruppe gehören. Weiterhin sind geschlechtsspezifische Unterschiede signifikant (p