Immer wieder wie ein Wunder
Kathleen Creighton
Bianca 872 26 – 2/93
Gescannt von suzi_kay
Korrigiert von almutK ...
16 downloads
662 Views
526KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Immer wieder wie ein Wunder
Kathleen Creighton
Bianca 872 26 – 2/93
Gescannt von suzi_kay
Korrigiert von almutK
1. KAPITEL
Mit einem gewissen Triumphgefühl drückte Toby Thomas die "Escape"-Taste des Computers und lehnte sich zurück. Sie hatte sich noch nicht an die grünen Buchstaben auf dem grauschwarzen Bildschirm gewöhnt und musste sich die Augen reiben. Dennoch war sie ihrer Vorgängerin dankbar, dass sie die gesamten Informationen für einen reibungslosen Ablauf in einem großen Studentenheim in den Computer eingegeben hatte. Im Gegensatz zu einigen Leuten, die Toby kannte und die nicht mit Computern groß geworden waren, fürchtete sie sich nicht davor. Nach einem zweistündigen Einführungskurs hatte sie sich eigentlich eher gut mit ihrem PC angefreundet. Dennoch wollte sie sich nicht nur auf ihn verlassen. Nachdem sie ihn ausgeschaltet hatte, griff sie zu ihrem Terminkalender und überprüfte die Liste, die sie sich für die Dinge gemacht hatte, die bis Montag, zur Wiedereröffnung des Studentenheims, noch erledigt werden mussten. Einiges hatte sie geschafft und konnte es streichen. Ihre Arbeit war viel leichter, als sie erwartet hatte. Sie unterschied sich kaum von dem, was sie zu tun gehabt hatte, wenn sie eines von Arthurs Häusern nach längerer Abwesenheit wieder bezogen hatte. Trotzdem saß sie noch an ihrem Schreibtisch - es war bereits ein Uhr nachts - weil sie selbst am Sonntag früh noch zu nervös war, um Schlaf zu finden. Sie stand auf und verließ das Büro. Sie ging in den Empfangsraum hinüber, ein geräumiges, großzügig angelegtes Zimmer im georgianischen Stil mit hohen Decken, gebohnertem Parkett und den typischen Wandverzierungen in geschmackvoll gedämpften Farben. Der Raum war leer, und es war still, bis auf das Ticken der Standuhr. Am Montag sollten die Studentinnen eintreffen - kluge, hübsche, selbstbewusste junge Frauen - von denen Tobys Zukunft abhing. Ob die Studentinnen mich mögen werden? Ob sie mich für zu jung halten werden? Sie hatte sich erst älter machen wollen, als sie war, aber eine Bekannte hatte ihr davon abgeraten. Sicherlich, es war lächerlich, dass sie sich Sorgen machte. Wen hatte sie nicht alles bewirtet, vom Kongressabgeordneten bis hin zu Bankpräsidenten, und was noch schwieriger gewesen war, sogar deren Jungfrauen. Warum sollte sie sich dann vor einer Gruppe junger Studentinnen fürchten? Selbst wenn sie ein gewichtiges Wort mitzureden hatten, ob sie die Stelle der neuen Heimleiterin auf Dauer behalten würde. Sie trat an eines der alten Fenster im Empfangsraum und schob es hoch. Tief atmete sie die nach Jasmin duftende Nachtluft ein. Was mache ich bloß, wenn ich mich nicht mit ihnen unterhalten kann? ging es ihr plötzlich durch den Kopf. Ich weiß doch gar nicht, wie sie heute denken. Ich weiß nicht mal mehr, wie das ist, jung sein. Dabei war sie nicht alt, noch nicht mal vierzig, und hatte ein neues Leben vor sich, mit vielen Chancen für die Zukunft. Das allein war aufregend, aber auch erschreckend. War es da nicht natürlich, dass sie nervös und unsicher war, wie ein junger Mensch? Toby lachte über ihre sentimentalen Gedanken und Ängste. Sie wollte das Fenster schließen. Aber im nächsten Moment schon spürte sie eine heftige Beklemmung. Sie hatte ein deutliches Rascheln gehört. Irgend etwas bewegte sich durch das Gebüsch unter dem Fenster. "Wer ist da?" rief Toby laut und wünschte sich, sie hätte es nicht getan. Denn gleich darauf wurde ihr bewusst, dass sie in dem riesigen, alten Haus allein war. Darüber hatte sie noch nicht nachgedacht. Meine Güte, sie war so oft allein gewesen, wenn Arthur, ihr verstorbener Mann, auf Geschäftsreise gegangen war. Aber es war immer jemand in der Nähe gewesen, zumindest einer der Bediensteten und natürlich die Hunde, Bruno und Kate. "Hallo!" rief sie erneut. "Ist da jemand?" Das Rascheln wurde lauter. Das Gebüsch zitterte heftig. Toby hörte ein gedämpftes Schniefen, und dann vernahm sie eine Stimme, die klang, als ob sich jemand bemühte, die
Wirkungen seiner Tränen zu verbergen: "Eh, Entschuldigung, dass ich Sie störe. Ist Mrs. Bower da?" Tobys Herz begann wieder ruhiger zu schlagen. Erleichtert atmete sie auf. Die Stimme klang jung und weiblich. "Tut mir leid", antwortete sie freundlich. "Mrs. Bower ist im Frühjahr in Pension gegangen." Ein Gesicht erschien unter dem Fenster, blass, dunkle Augen. Toby sah noch die Tränen auf den Wangen schimmern, ehe sie rasch mit einer Hand weggewischt wurden. Es folgte ein erneutes Schniefen. "Sind Sie die neue Heimmutter?" Heimmutter? Toby lächelte und antwortete: "Ja, ich bin Mrs. Thomas. Sind Sie eine... eh..." Sie zögerte und suchte nach den passenden griechischen Buchstaben. "Eine Gamma Pi- Studentin", half ihr die junge Frau. "Ja. Ich heiße Christine Brand. Ich wohne dieses Jahr hier. Und ich dachte..." "Tut mir leid", warf Toby ein. "Das Heim ist erst ab Montag morgen geöffnet." Die Regeln waren sehr streng, was früher Eintreffende betraf. "Ja, ich weiß. Ich habe nicht... ich war nicht... hm." Es entstand eine Pause, und dann fuhr Christine in derselben leisen Sprechweise wie vorher fort: "Ich bin irgendwie in einer verzwickten Lage, und ich dachte, ob ich vielleicht reinkommen und das Telefon benutzen könnte." Toby zögerte und nagte an ihrer Unterlippe. Die junge Frau schien ehrlich und steckte offenbar in Schwierigkeiten, aber man hörte so viele furchtbare Geschichten. Wieder ein Schniefen, und dann verschwand das Gesicht. Gehetzt hörte sie aus dem Gebüsch: "Tut mir leid, ich hätte Sie nicht stören sollen. Es ist schon sehr spät. Entschuldigung." Toby murmelte: "Verflixt!" und rief dann: "Warten Sie!" Sie hastete zur Haustür, riss sie auf und rief in die Dunkelheit hinaus: "Christine, warten Sie! Bitte, kommen Sie herein! Natürlich können Sie das Telefon benutzen." Nur weil sie allein war, wollte Toby sich nicht von irgendwelchen Sehreckgespenstern einschüchtern lassen. Die junge Frau war den Weg schon ein Stück hinuntergelaufen,. blieb stehen und kehrte um. Sie schlang die Arme um ihre Taille. "Ganz sicher? Ich meine, ich hätte Sie nicht gestört, aber ich sah noch Licht im Haus und dachte, Mrs. Bower..." "Schon gut", meinte Toby und lächelte ermunternd. "Ich bin ja noch auf. Kommen Sie herein und benutzen Sie das Telefon." Als die junge Frau die Treppe heraufkam und ins Licht trat, schlug Toby eine Hand vor den Mund, aber es war schon zu spät, um ihren Entsetzensschrei zu ersticken. Die junge Frau hatte die Arme nicht ohne Grund um sich gelegt. Sie hielt damit die Reste ihrer zerrissenen Bluse zusammen. Toby presste die Lippen aufeinander, behielt ihre Fragen für sich, trat zur Seite und hielt die Tür weit auf, während die junge Frau hereinkam und an ihr vorbeiging. Sie war sehr groß, stellte Toby fest, hatte lange, schlanke Beine, so dass ihr der blaue Minirock gut stand. Sie hatte auch Flecken auf den Beinen, an den Armen, am Hals lind sogar einen auf der Wange. Entweder waren es Schmutzflecken oder blaue. "Kommen Sie mit!" sagte Toby und führte sie in das Büro. "Nehmen Sie den Apparat auf meinem Schreibtisch." Sie bemühte sich, ruhig zu sprechen. Gleichzeitig suchte sie jedoch fieberhaft nach Erklärungen. Ein Autounfall? Ein Sturz? Ein Streit mit dem Freund? Aus irgendeinem Grund brachte sie es nicht fertig, genauer nachzufragen. Die junge Frau war eine Fremde. Aber da war noch etwas anderes. Sie schien eine Art Wand um sich herum aufgebaut zu haben. Das mochte Stolz sein oder auch Selbstbeherrschung, Toby konnte sie jedenfalls nicht durchbrechen. Mit einem leisen "Danke" griff die junge Frau nach dem Hörer und klemmte ihn zwischen Ohr und Schulter. Mit der einen Hand hielt sie ihre Bluse zu, während sie mit der anderen wählte. Sie wartete geduldig, zog die Schultern hoch und blickte starr nach vorn ins Leere. Sie
ignorierte Tobys Angebot, sich hinzusetzen. Ihr blondes Haar war zerzaust und wirr. Mascara hatte schwarze Spuren auf ihren Wangen hinterlassen. Die Unterlippe war aufgeplatzt und geschwollen. Christine schien jedoch nichts von alledem zu merken. Es kam Toby recht lange vor, ehe sie schließlich leise in die Muschel sprach: "Hallo, Jake, hier ist Chris. Tut mir leid, dass ich Sie stören muss, aber würden Sie bitte meinen Dad rufen lassen?" Bei dem Wort "Dad" machte sie die Augen zu, und ihre Mundwinkel zuckten verdächtig, aber ihre Stimme veränderte sich nicht. "Ja, ich werde warten. Würden Sie ihm bitte sagen, dass es dringend ist?" Plötzlich vermochte Toby nicht länger dabeizustehen und ihr nur zuzuhören. Deshalb wandte sie sich ab und ging in die Küche. Sie machte das Licht an, füllte eine Tasse mit Wasser und stellte sie in die Mikrowelle. Zuerst war sie unschlüssig, wählte dann eine Schokoladenmischung und rührte sie in das heiße Wasser. Als sie ins Büro zurückkam, legte Chris gerade den Hörer auf die Gabel. "Haben Sie Ihren Dad erreichen können?" erkund igte sich Toby wie nebenbei. Aus irgendeinem unbestimmten Grund war sie wieder nervös. Chris schüttelte den Kopf, wich Tobys Blick aus. "Nein, er ist unterwegs und meldet sich nicht auf den Funkruf. Aber das heißt wahrscheinlich bloß, dass er kein Telefon in der Nähe hat. Er wird zurückrufen. Es kann nur etwas dauern. Ich habe Jake - das ist Dads Assistent die Nummer hier gegeben. Ich hoffe, das war in Ordnung. Ich wusste nicht, was ich sonst machen sollte." "Natürlich war das in Ordnung", versicherte Toby ihr und reichte ihr die Tasse. "Hier, ich habe Ihnen eine heiße Schokolade gemacht." "Schokolade?" Die junge Frau schaute auf die Tasse in ihren Händen, und ihr Gesichtsausdruck veränderte sich. Sie schien mit einemmal um Jahre jünger geworden zu sein, glich fast einem kleinen Kind, das nicht weit von Tränen entfernt ist. Toby konnte kaum schlucken. Ihr Herz klopfte heftig, ihre Nervosität stieg. "Chris, falls etwas passiert ist, ich helle Ihnen gern. Kann ich irgend etwas für Sie tun?" Chris lachte kurz freudlos auf und wehrte ab. "Nein, bestimmt nicht." Ich hatte recht, ich weiß nicht, wie ich sie ansprechen soll, dachte Toby, erschrocken über ihre eigene Hilflosigkeit. Ich passe nicht auf diesen Platz. Dennoch versuchte sie es, berührte scheu einen Arm der jungen Frau. "Chris, was ist passiert? Das sind blaue Flecken, nicht wahr? Ich bin nicht neugierig, aber haben Sie einen Unfall gehabt oder was?" "Nein." Es folgte ein gedämpftes Geräusch, das ein Lachen oder ein Schluchzen hätte sein können. "Keinen Unfall." Sie schwieg längere Zeit, aber Toby wartete, ohne ein Geräusch zu machen. "Ich glaube..." begann Chris und hielt inne. Sie schüttelte den Kopf, und schließlich kam es widerstrebend über ihre Lippen: "Ich glaube, ich - ich bin eben vergewaltigt worden." Vergewaltigt. Dieses grässliche Wort wirkte auf Toby wie ein Schock. "Glauben Sie?" fragte sie ungläubig. Die junge Frau hob den Kopf an und wandte sich zu ihr um. Der Blick, mit dem sie Toby ansah, sagte alles. Wie von selbst verschwand Tobys Nervosität. Ohne lange zu überlegen wusste sie, was sie zu tun hatte. Sacht nahm sie Chris die Tasse Schokolade ab und ergriff deren Hände. Mit fester, ruhiger Stimme bat sie: "Chris, erzählen Sie mir, was passiert ist. Warum glauben Sie nur, Sie wären vergewaltigt worden?" Es strengte die junge Frau sichtlich an, zu denken und zusammenhängend zu sprechen. "Er war eigentlich ein Freund... ein Freund, also ich meine, ich kannte ihn, wissen Sie. Und wir waren bei dieser Party ziemlich viel zusammen. Also, deshalb weiß ich nicht... Er könnte... Vielleicht hat er gedacht... Es kann auch an mir..."
"Chris." Toby umfasste ihre Hände fester und schüttelte sie leicht. "Wer immer er ist, wollten Sie mit ihm schlafen?" Chris schluckte schwer. Dann schüttelte sie heftig den Kopf. "Nein. Das wollte ich nicht, nein." "Haben Sie versucht, ihm das klarzumachen, entweder so oder mit Worten?" Chris bejahte mit heftigem Nicken. Sie machte die Augen zu, und dann kam es fast weinerlich über ihre Lippen. "Ich habe versucht, ihn abzuwehren. Ich habe es versucht. Ich wollte es nicht … Ich habe noch nie vorher... Und ich wollte es nicht so, nicht so." Erschrocken flüsterte Toby: "Du meine Güte." Und dann nahm sie die schluchzende junge Frau in die Arme und versuchte, sie zu trösten, wie sie es vor vielen Jahren bei ihrer jüngeren Schwester getan hatte, wenn etwas passiert war. Der Gefühlsausbruch hielt nur kurz an. Chris regte sich, und Toby ließ sie los. Chris wischte sich die Tränen ab und verschmierte ihre Wimperntusche noch mehr über die Wangen. Da reichte Toby ihr eine Schachtel Kosmetiktücher und sagte mitfühlend: "Wenn Sie können, sollten Sie mir einfach erzählen, was passiert ist." Chris schaute sie entsetzt an. Toby griff erneut nach deren Hand und drückte sie sacht. "Ich weiß, das ist schwer, aber Sie werden es der Polizei schildern müssen, und wenn Sie schon mal darüber geredet haben, wird Ihnen das leichter fallen." "Der Polizei?" fragte Chris erschrocken. "Ich glaube nicht... Ich kann nicht zur Polizei gehen." "Warum nicht?" Die Frage schien sie zu verwirren. Ihr Blick glitt unruhig im Raum umher, als suchte sie nach einem Ausweg. "Er ist doch ein Freund! Oder zumindest ein Freund meiner Freundin. Ich kann ihn nicht, ich will ihn nicht ins Gefängnis bringen." Toby spürte Zorn in sich aufsteigen, bemühte sich aber um einen ruhigen, vernünftigen Ton. "Chris, er ist nicht Dir Freund. Freunde machen so etwas nicht. Wollen Sie ihn so davonkommen lassen?" "Es hat ja sowieso keinen Sinn", meinte Chris mit einem leisen Aufschluchzen, entzog Toby ihre Hand und wandte sich ab. "Er wird es bestimmt leugnen und es so schildern, als wäre ich selber schuld, wissen Sie, Als hätte ich ihn angemacht und mich dann in letzter Minute entziehen wollen." "Selbst wenn das so ist, bleibt es Vergewaltigung", stellte Toby gelassen fest. "Oder nicht?" Chris schaute sie mit tränenerfüllten Augen an, legte eine Hand über den Mund und nickte. Nach einer Weile wischte sie sich über die Augen und meinte fast sachlich: "Vergangenes Jahr, wurde eine meiner Freundinnen bei einer Party vergewaltigt. Der Kerl hat dann behauptet, sie wäre hinter ihm her gewesen, und man hat ihr gedroht, falls sie ihn anzeigen würde, bekäme sie Schwierigkeiten, weil sie noch keinen Alkohol trinken durfte. Also hat sie einfach davon abgesehen. Niemand hat dem Kerl etwas getan - nichts! Meine Freundin begegnete ihm hin und wieder. Er hat sie dann stets ignoriert. Sie hat immer Alpträume gehabt, und deshalb hat sie schließlich ihr Studium abgebrochen." Bei dem letzten Wort versagte ihr die Stimme. Schon wieder war sie den Tränen nahe. Behutsam erkundigte sich Toby: "Haben Sie denn auch getrunken? Haben Sie deshalb Angst?" Chris nickte, schniefte und ließ sich auf Tobys Drehstuhl fallen. Sie beugte sich vor, presste ihre Hände zwischen die Knie, sah ängstlich und sehr, sehr jung aus. "Hätte ich nichts getrunken, wäre das nicht passiert. Ich hatte etwas zuviel getrunken und wollte ins Appartement zurück. Wissen Sie, ich war bei Freunden, weil mein Dad weg musste, und hier erst am Montag geöffnet wird. Ein paar Leute in dem Haus haben eine Party gegeben. Meine Freunde kannten sie besser als ich, aber trotzdem sind wir hingegangen, und dieser Kerl, dieser Steve war da. Ich hatte ihn schon mal gesehen und fand ihn recht anziehend." Sie hielt inne und fröstelte. "Auf der Party hat er mich wirklich beachtet, und ich habe... na ja, ich habe
mit ihm geflirtet, und natürlich habe ich getrunken. Dann habe ich mich nicht wohl gefühlt, wissen Sie. Ich merkte, dass ich zuviel getrunken hatte, und wollte ins Appartement meiner Freundin zurückkehren und mich hinlegen. Steve sagte, er wollte mich begleiten. Ich dachte, warum nicht? Er war richtig nett, lustig und also... Sie wissen schon." Toby wusste Bescheid. Sie kannte die ersten Schritte in dem Spiel, voller Möglichkeiten, erschreckend und aufregend zugleich. Eine plötzliche, unerwartete Woge des Mitgefühls erfasste sie. Sie spurte förmlich Christines Angst, ihren Schmerz und ihre Verwirrung. Sie hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten, die Augen zugemacht und geschrieen: Nein, es reicht! Stattdessen nickte sie nur und murmelte: "Ja." Chris schluckte, wartete einen Moment und fuhr fort: "Wir haben gelacht, Blödsinn gemacht, und dann bin ich irgendwie gestolpert. Steve wollte mich tragen. Ich hatte nichts dagegen, es war ja nur ein Scherz, aber als wir zum Appartement kamen und ich runter wollte, hat er mich nicht gelassen. Er sagte, er würde mich über die Schwelle trage n oder so etwas. Deshalb habe ich meinen Schlüssel herausgeholt und aufgeschlossen. Wir haben ein bisschen herumgealbert, weil ich zuviel zu trinken hatte, und ich glaube, er hatte auch ziemlich viel getrunken. Dann hat er mich in die Wohnung getragen. Er wollte mich immer noch nicht runterlassen. Ich habe mich gewehrt, so aus Spaß, wissen Sie. Gelacht. Und dann hat er mich geküsst." Die Worte kamen immer hektischer, als wären sie etwas Abstoßendes, wovon sie sich so schnell wie möglich befreien müsste. "Dagegen hatte ich ja nichts. Ich fand ihn anziehend, und ich habe ja auch mit ihm geflirtet, also habe ich seinen Kuss erwidert. Dann waren wir plötzlich im Schlafzimmer. Er hat mich aufs Bett gelegt und war auf einmal neben mir. Ich spürte seine Hand auf meinem Bein und habe Angst bekommen. Ich schob ihn weg, da hat er einfach meine Arme gepackt und festge... ha... halten..." "Ist ja gut." Toby griff nach Christines Händen. "Ist ja gut." Chris schnappte nach Luft. "Ich habe mich gewehrt und gegen ihn gestemmt. Ich habe auch geschrieen, denn danach hat er mich geschlagen." Sie fuhr sich mit der Zunge über die geschwollene Lippe, schaute kurz Toby an und ließ ihren Blick wieder unstet im Raum herumgleiten, als wollte sie den schrecklichen Bildern der Erinnerung entkommen. "Die Polizei wird wissen wollen, was im einzelnen geschah", sagte Toby etwas gepresst und bemühte sich, ihre Gefühle zu verbergen. "Die werden ganz spezifische Fragen stellen." Sie war auf einen weiteren Einwand vorbereitet, aber Chris hatte sich offenbar mit dem Gedanken abgefunden, dass sie zur Polizei gehen musste. Sie holte tief Luft, nickte und berichtete mit monotoner Stimme, die die Schilderung noch lebhafter machte. Toby hielt ihr die Hände und wappnete sich so gut sie konnte, aber das half nicht viel. Sie wusste nicht, ob es vielleicht daran lag, dass Chris "Heimmutter" zu ihr gesagt hatte oder daran, wie Chris sie angesehen hatte. Doch sie fühlte Sich wie ein betroffener Elternteil. "Also meinte Chris nach längerem Schweigen, "ich muss jetzt wohl die Polizei verständigen, ja?" "Sie müssen das nicht tun", antwortete Toby und räusperte sich. "Das hängt ganz von Ihnen ab, aber ich finde, Sie sollten es machen." Chris schniefte. "Ach ja? Warum?" Sie klang angriffslustig, was Toby als gutes Zeichen wertete. "Zum einen ist Ihnen etwas widerfahren, wovon ich nicht weiß, ob Sie allein damit fertig werden. Sie brauchen vielleicht Hilfe und..." "Sie meinen, einen Seelenklempner?" "Womöglich ja." Toby beugte sich vor und berührte ihren Arm. Sie fühlte, wie Chris zusammenzuckte. "Chris", sagte sie ernst, "es handelt sich nicht nur um eine Schramme am Knie, die man mit einem Kuss und einem Pflaster heilen kann. Der Mann, der Sie überfallen hat, hat Ihnen Schlimmeres angetan. Er hat Ihnen nicht nur Dir Selbstwertgefühl geraubt. Ich weiß nicht, was Sie durchmachen müssen, um es wiederzubekommen, aber ich glaube, es
wird Ihnen helfen, wenn Sie sich überhaupt wehren. Lassen Sie ihn ruhig wissen, dass er nicht mit dem davonkommt, was er getan hat, und dass Sie sich nicht geschlagen geben wie Ihre Freundin. Verstehen Sie, was ich damit sagen will? Es geht nicht um Rache, sondern um Ihr seelisches Gleichgewicht." Chris nickte, wischte sich die Wangen ab und stand auf. Sie griff nach dem Telefon, hielt dann inne und sah unsicher drein. "Und was soll ich jetzt machen? 911 wählen?" Toby lachte leise auf. "Das weiß ich nicht so genau. Ich habe noch nie so etwas erlebt. Und die Stelle hier als Heimmutter ist auch etwas Neues für mich." Chris bemühte sich um ein schwaches Lächeln. "Was für ein großartiger Anfang, was?" Trotzdem schaute sie auf das Telefon, als hätte sie noch nie eines gesehen, und gab den Hörer dankbar an Toby weiter, als sie ihr anbot, den Anruf für sie zu machen. "Sie wollen, dass Sie ins Krankenhaus gehen", sagte sie ein paar Minuten später, nachdem sie aufgelegt hatte. "Die Polizei wird dort hinkommen, um Ihre Aussage aufzunehmen." Bei dem Blick, den Chris ihr zuwarf, fasste Toby nach deren Hand und drückte sie erneut. "Das ist so üblich. Sie können die ganze Zeit jemanden bei sich haben, wenn Sie möchten. Gibt es jemanden, den ich für Sie anrufen kann? Ihre Mutter?" Chris schüttelte den Kopf. "Meine Mom starb, als ich klein war. Da ist bloß..." Sie hielt sich entsetzt den Mund zu. Ihre Augen weiteten sich. "Ach du meine Güte! Mein Dad muss es ja erfahren, nicht wahr? Ich hätte ihn nicht anrufen sollen. Ich habe nicht darüber nachgedacht. Du lieber Himmel, er darf es nicht erfahren. Vielleicht sollte ich Jake anrufen..." Mit zitternder Hand griff sie nach dem Telefonhörer, doch Toby hielt sie zurück und meinte beschwichtigend: "Chris, ich wusste nicht, wie Sie Ihrem Vater das verschweigen wollen. Und selbst wenn Sie das könnten, glaube ich nicht, dass Sie es tun sollten. Oder?" Chris schüttelte den Kopf, aber das war mehr ein Reflex. Sie machte immer noch ein Gesicht, als würde sie sich lieber einer Feuermannschaft stellen, als ihrem Vater gegenüberzutreten. Mit leicht vibrierender Stimme meinte sie: "Wahrscheinlich nicht. Ich weiß nur nicht, wie ich es ihm sagen soll. Es wird ihn umbringen. Er wird toben... mein Gott!" Sie schien den Tränen nahe, und Toby sagte beruhigend: "Machen Sie sich jetzt keine Sorgen um Ihren Vater. Sicher wird er sich mehr Sorgen um Sie machen." Doch im Geiste bemühte sie sich - nicht gerade sehr erfolgreich - keinen unschmeichelhaften Eindruck von Christines Vater zu bekommen. Sicherlich würde er außer sich sein. Toby konnte sich vorstellen, dass der Schock und der Zorn, den sie spürte, nur ein Bruchteil von dem war, was ein Elternteil unter den Umständen empfinden musste. Sofort beeilte Chris sich, ihr zu versichern: "Das schon, mein Dad ist wunderbar, aber wissen Sie, nachdem meine Mutter starb, hat er mich allein großgezogen. Er macht sich immer zuviel Sorgen um mich..." "Dann wird er sicher für Sie da sein wollen", bemerkte Toby überzeugt und öffnete die Schreibtischschublade, um ihre Wagenschlüssel herauszunehmen. "Ich fahre Sie jetzt in die Notaufnahme der Universitätsklinik. Wissen Sie, wo die ist?" Chris nickte und murmelte: "Ja, das weiß ich." Aber sie blieb reglos stehen, die Schultern angezogen und die Arme wieder schützend vor ihrem Körper verschränkt. Mit der widerspenstigen blonden Haarsträhne im Gesicht sah sie aus wie ein verlassenes, verängstigtes Kind. Und dann brach es aus ihr hervor: "Hm, könnten Sie vielleicht... bei mir bleiben? Ich weiß, das ist viel verlangt..." "Natürlich bleibe ich bei Ihnen", erwiderte Toby sofort und legte der, jungen Frau einen Arm um die Schulter. "So lange, wie Sie mich brauchen." Dann fiel ihr noch etwas ein. "Sagten Sie nicht, Sie hätten Ihrem Vater die Nachricht hinterlassen, er könnte Sie hier erreichen? Wollen Sie ihm nicht eine Nachricht auf Band spreche n? Ich glaube nicht, dass heute Nacht sonst jemand anruft." "Ach ja", meinte Chris. "Das sollte ich wohl." Aber sie machte den Eindruck, als würde das ihre Kräfte übersteigen. Toby merkte, dass sie der körperlichen und seelischen Erschöpfung
nahe war. Deshalb sprach Toby eine kurze Nachricht auf Band. Sie sagte, Chris ginge es gut, und sie könnte in der Notaufnahme der Universitätsklinik erreicht werden. "Er wird durchdrehen, wenn er das hört", sagte Chris von der Tür her, während Toby den Anrufbeantworter einstellte. Sie lachte kurz auf. "Ich kann mich noch erinnern, als ich im dritten Schuljahr war, habe ich mir den Arm gebrochen. Ich dachte, Dad würde die Notauf nahmeräume auseinander nehmen." Erneut rannen Chris Tränen über die Wangen. "Ich weiß nicht, ob er das verkraftet." "Menschen verkraften das, was sie müssen", behauptete Toby und schaltete das Licht aus. Dabei dachte sie, ob er nun ein großartiger Mann war oder nicht, sie war nicht versessen darauf, Mr. Brand kennenzulernen. Die Nacht erinnerte Toby irgendwie an den Tag, an dem Arthur starb. Genauso seelisch und körperlich erschöpft hatte sie sich da auch gefühlt, war gezwungen gewesen, an unbekannten Orten in Gesellschaft freundlicher aber fremder Menschen zu sein. Die ganze Zeit hatte sie sich gewünscht, es möge vorbei sein, hatte sich nach einem stärkeren Menschen gesehnt, der sie der Verantwortung entheben würde, damit sie endlich nach Hause gehen und in ihr Bett schlüpfen konnte. Sie war bei Chris geblieben - immer noch schmerzte ihre Hand noch von Christines Umklammerung - während sie das Geschehen noch einmal einer Polizistin erzählt hatte. Toby hatte Chris ermuntert und ihr gut zugeredet, als ihre blauen Flecken und die zerrissene Kleidung fotografiert wurden. Jetzt würde Chris vo m Arzt untersucht. In letzter Minute hatte sie entschieden, das allein durchzustehen. Sie hatte sich auf das Sofa im Wartezimmer gesetzt und den Kopf auf einen Arm gelegt. Der Mann, der durch die Doppeltüren der Notaufnahme hereingestürmt kam, brachte eine Unruhe mit sich, bei der Toby sofort hellwach wurde. Sie richtete sich auf, als er an ihr vorbeilief und ihr kaum einen Blick gönnte. Etwas Eigenartiges in ihr regte sich bei der frischen Brise, die er mitbrachte, bei der Aufregung, die er verströmte. Sie tippte sofort auf Christines Vater. Wer sonst sollte er sein? Als der Mann auf die Annahmestelle zuging, richtete sie sich langsam auf und bereitete sich innerlich auf das vor, was kommen würde. Der Mann stützte sich mit beiden Händen auf dem Tresen auf, verlagerte sein Gewicht darauf und sagte: "Ich bin Stony Brand. Ist meine Tochter hier?" Er sprach nicht laut, aber harsch. Eine unerträgliche Spannung war ihm anzumerken, und seine Stimme schien in der Stille um drei Uhr morgens fast widerzuha llen. "Ihre Tochter wird noch vom Arzt untersucht", erwiderte die Krankenschwester hinter dem Schreibtisch. "Bitte, nehmen Sie Platz, Mr. Brand. Es wird sofort jemand kommen." "Was heißt das, sie wird vom Arzt untersucht?" Der Mann wurde lauter. Er schien erleichtert, dass er endlich jemanden anschreien konnte. "Was ist los mit ihr? Was ist passiert?" "Ich kann Ihnen nichts dazu sagen, Mr. Brand", antwortete die Schwester brüsk. "Wenn Sie sich bitte setzen, der Arzt..." "Zum Teufel noch mal!" schimpfte Stony Brand. "Ich will wissen, was mit meiner Tochter los ist, und ich will es jetzt wissen. Holen Sie jemanden, der es mir sagt, oder ich werde selbst losgehen. Haben Sie verstanden?" Toby fasste ihn am Jackenärmel. "Mr. Brand..." Er wandte sich ihr zu. "Wer sind Sie?" "Ich bin Mrs. Thomas, die Heimleiterin. Mr. Brand..." Sie hielt inne. Ihre Zunge wollte ihr nicht gehorchen. Irgendwie musste sie diesem aufgebrachten Mann sagen, dass seine geliebte Tochter vergewaltigt worden war.
2. KAPITEL "Sie sind die Heimleiterin? Sie haben die Nachricht auf Band hinterlassen?" Sein Gesicht war so rau wie seine Stimme - breite Wangenknochen, wettergegerbte, sonnengebräunte Haut und ein markantes Kinn. Dennoch wirkte er nicht gefühllos. Sein Blick war interessiert fragend, und die Lippen, auch wenn er sie gerade fest aufeinandergepresst hatte, wirkten so, als würde er gern lächeln. Tiefe Furchen zeigten sich auf seiner Stirn und um seinen Mund herum. Ein mitfühlender Mann, offenbar liebenswürdig, dachte Toby. "Ja, Mr. Brand..." Er packte sie am Arm und merkte nicht, wie hart er zufasste, dachte nicht daran, dass er ihr weh tun könnte, sondern konzentrierte sich nur auf eins. "Sie sagten, es ginge ihr gut. Was, zum Teufel, macht sie dann hier, wenn es ihr gut geht?" "Es geht ihr gut. Bitte, Mr. Brand..." "Hören Sie, gute Frau." Sie hatte den Eindruck, als müsste er sich jedes Wort einzeln abringen. "Chris lässt mich nicht um zwei Uhr nachts von einem Schlepper zurückrufen, wenn es ihr gut geht." Er hielt sie nun an beiden Armen fest, schaute ihr ins Gesicht und suchte nach den Antworten, die er so verzweifelt haben wollte. Toby musterte ihn nicht minder prüfend und erkannte, dass eine schreckliche Angst ihn erfüllte, wie sie sie sich kaum vorstellen konnte. Wahrscheinlich verstanden nur Eltern dieses Gefühl, diese Furcht, das ihrem Kind etwas Entsetzliches widerfahren war. Sie war so bewegt, dass ihre eigene Angst plötzlich unbegründet schien. Sie fühlte sich ruhig und stark. Sie fasste nach seinen Armen und spürte die kräftigen Muskeln. "Mr. Brand, ich werde Ihnen sagen, was Sie wissen möchten, wenn Sie..." In dem Moment ging die Tür auf, und die beiden Polizisten kamen mit Kaffee herein. Stony Brand schaute zu ihnen hinüber. Seine Augen verengten sich. Dann sah er Toby wieder an. Er wollte schon etwas sagen, aber da ertönte irgendwo in dem Labyrinth der vielen, mit Vorhängen abgeteilten Räume eine helle Stimme: "Daddy? Bitte, schrei nicht, ja?" "Chris?" Mit einem heiseren Aufschrei riss Stony Brand sich von Toby los und wandte sich um. Die beiden Polizisten und die Krankenschwester sprangen sofort auf, um ihn zurückzuhalten. Im ersten Moment herrschte ein regelrechtes Durcheinander. "Hier... Sir, Sie können nicht dort hinein!" "Hoppla, wo wollen Sie denn hin?" "He, Mann, langsam und hübsch sachte!" Über all dem war Christines Stimme deutlich zu hören: "Daddy, bitte, beruhige dich!" "Sie können gleich zu ihr", versicherte die Krankenschwester ihm. "Sobald der Arzt fertig ist." "Ja, gut." Stony Brand schüttelte die vielen Hände ab, holte tief Luft, so dass seine dicke Jacke sich über den breiten Schultern spannte, und atmete langsam aus. Er sah die beiden Polizisten an und wiederholte mit gefassterer Stimme: "Ist gut." Er wandte sich um, fuhr sich mit der Hand über sein raues Gesicht, sein stoppeliges Kinn und ging langsam zu Toby zurück. "Es geht ihr gut, das höre ich." Es war ihm anzusehen, wie die Erleichterung und die Angst miteinander kämpften. "Also, Mrs. Thomas, werden Sie mir jetzt sagen, was hier eigentlich los ist?" Toby schaute kurz zu den Cops, die sich taktvoll auf die andere Seite des Raums zurückgezogen hatten, und dachte, es wäre vielleicht einfacher, wenn sie es ihm sagen würde. Aber natürlich wusste sie, es würde keine einfache Sache sein. Sie holte tief Luft und sprach es direkt aus. "Mr. Brand, Chris ist vergewaltigt worden." Lange herrschte nur Stille. Eine furchtbare Stille, fand Toby. Eine Leere, in der die einzige Bewegung ihr pochendes Herz zu sein schien.
Stonys Augen verengten sich plötzlich. Toby sah nur ein kaltes Funkeln. Das Wort, als er es schließlich aussprach, kam gedämpft, gleich einem Flüstern, aber lauter als ein Schrei und herzzerreißender als ein Klagen. "Vergewaltigt?" Tobys Hals war wie zugeschnürt. Sie konnte nur nicken. Sie streckte eine Hand nach ihm aus, aber er wich zurück und schüttelte den Kopf. Als sie schließlich ihre Stimme wiederfand, wollte sie etwas sagen, ihm Trost zusprechen, aber er kehrte ihr abrupt den Rücken zu, und sie wusste nicht mehr weiter. Sie ließ ihn in Ruhe, weil sie überzeugt war, dass er nichts gehört hätte, gleichgültig, was sie ihm gesagt hätte. Sie verstand, dass er lieber allein sein wollte, als Trost anzunehmen, während er mit dem Schock auf seine Art fertig werden musste. Sie konnte jedoch nicht widerstehen, ihn zu beobachten - einen Breitschultrigen Mann in blauem Overall und einer Allwetterjacke. Seinem welligen blonden Haar war der Abdruck eines Bauarbeiterhelms anzusehen, wie seinen Händen die schwere körperliche Arbeit. Doch sein Schmerz wurde in seiner Haltung, in jeder seiner Bewegungen so überdeutlich, dass Toby sich schließlich abwenden musste. Warum wirken Gefühle soviel ergreifender bei einem körperlich starken Menschen? fragte sie sich. Er hustete leise und wandte sich dann um. Seine Augen waren tiefblau und rotgerändert. Er senkte den Kopf und schaute sie wie ein waidwundes Tier an, das zum Angriff bereit ist. "Wurde sie... Wissen Sie..." Er machte eine hilflose Geste mit der Hand und steckte sie dann in seine Jackentasche, als wäre er sich nicht sicher, dass er nicht gleich zuschlagen würde. "Wurde sie... verletzt, geschlagen oder irgend so etwas?" Toby schluckte und schüttelte den Kopf. "Nein, sie hat nur ein paar blaue Flecken und eine aufgeplatzte Lippe, weil sie sich gegen ihren... Angreifer gewehrt hat." Er deutete mit dem Kopf auf die beiden Polizisten und erkundigte sich rau: "Haben sie den Kerl schon gefasst? Wissen sie, wer das getan hat?" "Sie haben ihn noch nicht verhaftet, das glaube ich nicht, aber sie werden es tun. Sie wissen, wer es war. Chris kannte ihn." Seine Miene veränderte sich. Zorn und eine gewisse hilflose Verwirrung spiegelten sich darin wider, was ihn menschlich und verletzlich machte. "Sie kannte ihn? Was für ein Kerl ist denn das? Wer würde so etwas machen?" Er hatte begonnen, auf und ab zu gehen, ein paar Schritte von ihr weg, dann wieder auf sie zu. Mit jedem Wort wurde er lauter. Die Cops beobachteten ihn bereits, wie Toby bemerkte, hielten sich jedoch weiterhin zurück. "Wie kann so etwas einem Mädchen wie Chris passieren? Sie ist so nett, so lieb und vernünftig. Sie weiß doch, wie sie sich vor so etwas schützen soll. Wie, zum Teufel, konnte das passieren, he? Sagen Sie mir das! Ich schicke sie auf das beste College im angesehensten Viertel der Stadt, bringe sie im Studentenheim unter, weil das sicherer ist, als irgendwo in einer Wohnung zu..." In dem Moment wandte er sich Toby zu, ballte die Hände zu Fäusten und musterte sie mit eisigem Blick. "Wo, zum Donnerwetter, waren Sie? Wie konnten Sie es zulassen, dass so etwas passiert?" Der Angriff kam so unerwartet, dass Toby instinktiv zurückwich. Sie wollte schon protestieren, doch sie konnte nur den Kopf schütteln und stammeln: "Wie... wie bitte?" "Sie haben doch die Aufsicht, oder nicht? Warum haben Sie nicht auf sie aufgepasst? Gibt es da nicht irgendwelche Vorschriften, Sicherheitsvorkehrungen? Ich will wissen, wie so etwas passieren konnte!" Gedanken formten sich zu Sätzen, aber Toby kam nicht dazu, etwas auszusprechen. Chris war über den ganzen Flur zu hören. "Daddy, bitte, schrei nicht Mrs. Thomas an! Sie kann nichts dafür." Ihr Vater setzte gerade erneut zum Sprechen an, hielt bei den Worten jedoch inne, deutete mit dem Finger auf Toby und verlangte von ihr: "Gehen Sie nirgends hin. Ich will mit Ihnen reden." "Ich wollte nirgendwo hingehen", versicherte Toby ihm etwas atemlos, doch Stony Brand hörte sie nicht mehr. Er hatte sich umgedreht und war halbwegs bei Chris. Toby sah, wie der
Arzt den großen, wütenden Mann abpasste, geschickt den Flur entlangsteuerte und beruhigend auf ihn einredete. Auf der anderen Seite des Raums bewegten sich die Polizisten, warfen ihre Plastikbecher in den Abfalleimer und gingen hinterher, um den Arzt zu sprechen. Das Wartezimmer war mit einemmal leer. Es herrschte eine seltsame Stille, wie nach einem Sturm. Der arme Mann, dachte Toby, als sie sah, wie Brand vor dem Eingang zu dem abgeteilten Raum seiner Tochter stehenblieb und tief durchatmete, ehe er den Vorhang beiseite schob. Der arme Mann. "Hallo, Kätzchen!" "Hallo, Daddy!" Stony merkte sofort, sie hatte tapfer sein wollen. Vermutlich schaffte sie das nicht, weil er "Kätzchen" gesagt hatte. Sie lächelte zwar noch, aber die Tränen liefen ihr .bereits über die Wangen. In seiner Nase und in seinen Augen kribbelte es gefährlich. Er rieb sie sich hastig und fragte rau: "Na, wie geht es dir?" Sie lachte leise auf. Es klang mehr wie ein Aufschluchzen und antwortete: "Also, ich habe mich schon besser gefühlt." Ihre Stimme klang verschnupft, so als hätte sie viel geweint. Er konnte es sich nur schwer vorstellen - Chris, seine Chris, die kaum jemals eine Träne vergoss. Das letzte Mal, als er sie richtig hatte weinen sehen, war sie sieben oder acht Jahre alt gewesen. "He, Dad, erinnerst du dich noch, als ich mir im dritten Schuljahr den Arm gebrochen hatte?" Sie kicherte und weinte gleichzeitig. "Und du mich in die Notaufnahme getragen hast? Du wolltest mich nicht mal der Krankenschwester überlassen und hättest dort fast alles kurz und klein geschlagen? Meine Güte, Dad, eben dachte ich schon, du wolltest hier dasselbe machen." "Was?" fragte Stony. "Wer, ich?" "Ich habe dich schreien hören, Dad. Es hat durchs ganze Krankenhaus geschallt." "Ja, also..." Stony rang nach Luft und konnte nicht durchatmen. "Ich glaube, ich bin ein bisschen..." Mit erstickter Stimme unterbrach Chris ihn: "Es tut mir leid, Daddy. Du bist wirklich wütend auf mich, nicht wahr?" Ach je! Stony fühlte sich so zerschlagen, als hätte eine Büffelherde ihn überrannt. Verdammt, alles tat ihm weh... "Wütend auf dich? Um Gottes willen, Kätzchen." Er wollte sie in die Arme nehmen, auf seinen Schoß setzen und wiegen, wie er es früher gemacht hatte, als sie klein gewesen war. Aber diesmal hatte sie nicht nur eine Schramme am Knie, und bestürzt stellte er fest, dass er nicht wusste, wie er sie anfassen sollte, dass er sich fürchtete, sie in die Arme zu nehmen. Hilflos hob er seine Hand und ließ sie wieder sinken. "Kätzchen, natürlich bin ich außer mir, aber doch nicht wütend auf dich. Du kannst ja nichts dafür." "Doch." Sie schloss die Augen, und noch mehr Tränen rannen ihr über die Wangen. Es war schlimmer, als Stony ertragen konnte. "Ich habe dich belogen, Daddy." Sie wartete mit geschlossenen Augen wie ein kleines Kind, das ein Vergehen beichtet und um die unabwendbare Strafe weiß. Stony schaute sie an, sah die verklebten Wimpern, den Schmutz und die blauen Flecken, die Sommersprossen über den Wangen und die kleine Narbe von ihrem ersten Fahrradunfall. Er wusste nicht, wie man jemand so sehr lieben und es einem doch so weh tun konnte. Er zwickte sie in die Nase, wie er es getan hatte, als sie klein gewesen war, zwang sich zu lächeln und fragte: "Wovon sprichst du? Inwiefern hast du mich belegen?" "Dad, ich war nicht im Gamma Pi- Haus. Ich habe bei Freunden gepennt, in deren Wohnung. Und deshalb ist das auch passiert. Da war eine Party in dem Haus, und ich... Jedenfalls, hätte ich dich nicht belogen, wäre es wohl nicht passiert, und es tut mir wirklich leid."
Stony strich ihr liebevoll Tränen von den Augen und stützte sich mit den Händen auf. Ganz behutsam, um sie nicht aufzuregen, fragte er: "Warum warst du nicht im Studentenheim, Schatz? Ich dachte, das wäre geregelt." "Das ist auch geregelt. Aber das Studentenheim ist erst ab Montag auf." Er wollte ihr keine Vorwürfe machen, jedenfalls nicht zu diesem Zeitpunkt, aber eines musste er sie dennoch fragen. "Chris, wenn du wusstest, dass es nicht offen war, warum hast du mir das nicht gesagt?" Sie wischte sich mit den Händen übers Gesicht. "Weil", antwortete sie und schluchzte auf, "ich nicht wollte, dass du dir Sorgen machst." "Du meine Güte, Chris..." "Du hasst es, wenn du weg musst und ich allein bin, das weißt du genau. Und als die Nachricht von dem Tanker kam, habe ich dir gesagt, ich würde eine Woche früher ins Studentenheim gehen, damit du beruhigt abreisen konntest. Es war ja auch in Ordnung, wirklich, Dad. Meine Freunde sind prima, sie haben mich umsonst auf ihrem Sofa übernachten lassen, und ich hatte sogar einen Parkplatz. Ich dachte, es würde gehen. Es war ja nur für eine Woche..." Stony richtete sich auf. Plötzlich konnte er es nicht mehr ertragen. Verdammt! dachte er und warf einen Blick zur Decke. Das sieht ihr ähnlich. Immer versucht sie, mir jede Aufregung zu ersparen. "Daddy?" Ihre Stimme klang weinerlich. "Verstehst du jetzt? Es ist nicht Mrs. Thomas' Schuld. Selbst wenn ich schon im Studentenheim gewohnt hätte, wäre sie nicht dafür verantwortlich gewesen, Daddy. Ich bin neunzehn und kein Kind mehr." Es lag eine erschreckende Ironie in ihren Worten, aber Stony war zu erschöpft, um darüber nachzudenken. Er wandte sich ihr zu und rieb sich den Nacken. "Gut, und wenn du nicht im Heim warst, wie kommt es dann, dass Mrs. Thomas... Wie bist du..." Er machte eine hilf lose Geste und schob die Unterlippe vor. "Es war der einzige Ort, der mir einfiel, um Hilfe zu suchen. Sie war wirklich sehr nett, Dad. Ich weiß nicht, was ich gemacht hätte, wenn sie nicht da gewesen wäre. Sie ist sogar bei mir geblieben, als die Polizisten mit mir geredet haben. Ich finde, du solltest dich bei ihr entschuldigen, dass du sie so angeschrieen hast." Stony fand das auch. "Das werde ich machen, Kätzchen. Ich verspreche es dir. Und was ist jetzt mit dir? Sind sie hier fertig? Können wir nach Hause fahren?" Sie schüttelte den Kopf und verzog das Gesicht. "Nein. Sie wollen mich zur Beobachtung, wohlgemerkt nur zur Beobachtung, hier behalten. Ich bekomme eine Reihe Antibiotika und irgend etwas, damit ich schlafen kann." Stony zog sich der Magen zusammen. Chris sah seinen Gesichtsausdruck und beeilte sich, ihm zu versichern: "Es ist in Ordnung, Daddy. Es geht mir gut, wirklich. Ich kann bloß nicht aufhören zu heulen. Entschuldige. Ich weiß nicht warum, es ist ja nicht so, als wäre es der Weltuntergang oder so. Es gibt sicher Schlimmeres, aber jedesmal wenn ich den Mund aufmache, laufen die Tränen. Ich kann nichts..." "Schon gut", flüsterte Stony und nahm sie gerührt in die Arme. Draußen vor dem abgeteilten Raum blieb er stehen und wünschte sich, er hätte ein Taschentuch dabei, um sich die Nase zu schneuzen. Es war hilflose Verzweiflung, wenn er darüber nachdachte, aber so fühlte er sich nun mal im Augenblick. Er wusste nicht, was er zuerst machen sollte. Chris konnte noch nicht mitkommen. Vielleicht sollte er versuchen, etwas zu schlafen oder etwas essen, vielleicht sogar duschen. Eine Tasse Kaffee konnte er vertragen. Natürlich, es gab eins, was er vorab zu tun hatte. Am besten brachte er es gleich hinter sich, auch wenn es ihm nicht recht passen wollte. Er hatte sich nie gut entschuldigen können, besonders nicht, wenn er sich zum Narren gemacht hatte. Er fand Toby Thomas im Wartezimmer. Sie saß auf dem Sofa und schien eingeschlafen zu sein. Da fiel ihm ein, dass sie womöglich kaum mehr Schlaf gehabt hatte als er, oder dass sie
wahrscheinlich auch nichts gegessen hatte. Ebenso fiel ihm auf, als er näher kam, dass sie für eine Heimleiterin eigentlich recht jung wirkte. "Mrs. Thomas." Stony berührte sie am Arm. Sie öffnete die Augen und schaute wie durch einen Nebel zu ihm auf. Er lächelte verlegen. "Guten Morgen." Sie straffte sich sofort, stellte die Füße auf den Boden und glättete ihre Hose. "Entschuldigung, ich bin wohl eingenickt!“ Ihre Stimme klang etwas belegt, auch wenn sie sich Mühe gab, das zu verbergen. "Kein Grund, sich zu entschuldigen, das war eine lange Nacht." Er holte tief Luft und lachte. "Lieber Himmel, ich weiß nicht..." Er merkte, dass seine Stimme ihm nicht gehorchen wollte, brach ab und räusperte sich, ehe er weitersprach: "Das war wohl der schlimmste Alptraum aller Eltern." "Nein", erwiderte sie nachdrücklich. "Nicht der schlimmste." "Na ja", begann Stony leicht betroffen, schüttelte den Kopf und setzte sich zu ihr aufs Sofa. "Es ist wohl weit weniger schlimm als das, was mir auf dem Weg hierher durch den Kopf gegangen ist." "Sie ist nicht verletzt, und der Arzt sagt, eine Schwangerschaft wird kaum daraus resultieren..." Stony stöhnte auf und fuhr sich mit der Hand über die Augen. Da spürte er eine Berührung an seinem Arm. Eine sanfte Stimme neben ihm sagte: "Mr. Brand, Chris wird das alles überwinden. Falls sie Hilfe braucht, könnte sie in keinem besseren Krankenhaus sein. Diese Universitätsklinik hat das beste Programm für solche Traumata in diesem Land. Aber natürlich wird sie auch Ihre Hilfe und Ihr Verständnis brauchen." "Ja, das weiß ich." Stony rieb sich mit den Fingerspitzen kräftig die Augen, dann wandte er sich ihr zu und bemühte sich zu lächeln. "Ich bin hergekommen, um mich zu entschuldigen. Ich habe mich unmöglich benommen." Sie schaute ihn mitfühlend an. "Schon gut, ich kann das verstehen." "Nein, ich hatte kein Recht, Sie so anzufahren. Es tut mir leid." "Aber bitte, Mr. Brand. Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen." "Ja, doch." Das Lächeln fiel ihm jetzt leichter. "Und ich möchte noch ein übriges tun. Ich möchte Ihnen gern eine Tasse Kaffee und etwas zum Frühstück spendieren. Wie wäre das? Es sieht so aus, als dauerte es noch eine Weile, ehe ich Chris mit nach Hause nehmen kann. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber mein Magen ist leer. Also, wie wäre es? Darf ich Sie zum Frühstück einladen?" Sie sah ihn forschend und gleichzeitig besorgt an. Seltsamerweise empfand er ihren Blick als liebenswürdig, wie den eines langjährigen Freundes und nicht wie den eines Fremden. Eine nette Frau, dachte er. Eine verdammt nette Frau. "Danke", sagte sie nach kurzem Überlegen. "Das wäre schön. Ich muss gestehen, mir knurrt auch der Magen. Und Kaffee könnte ich jetzt auch vertragen." "Prima. Ich sage nur eben Bescheid, wo wir hingehen, falls..." Als Stony von der Annahme zurückkam, stand Toby Thomas in der Nähe der Tür. Sie hatte ihm den Rücken zugekehrt und versuchte, ihr Haar mit den Fingern ein wenig zu ordnen. Sie hörte ihn kommen und ließ sofort die Hände sinken. Lächelnd wandte sie sich ihm zu, als würde sie sich nicht so sehr für ihr Äußeres interessieren. Das fand Stony ziemlich ungewöhnlich bei einer so attraktiven Frau. "Alles klar", sagte er und hielt ihr die Tür auf. "Nach Ihnen, Mrs. Thomas." "Danke, Mr. Brand." Draußen vor der Tür blieb Stony stehen. Sie tat es ihm gleich und sah ihn fragend an. Stony lächelte und blinzelte in der Morgensonne. "Muss das sein? Ich meine, es gibt gewisse Verhaltensregeln, aber nach dem, was wir miteinander durchgestanden haben, müssen wir wirklich so förmlich sein und uns mit Nachnamen ansprechen? "
Sie lachte herzlich. "Natürlich nicht. Ich heiße Toby." Sie reichte ihm die Hand. Er drückte sie und nickte. "Hm, ungewöhnlich. Ihr Spitzname?" "Nein, mein Vater wünschte sich einen Jungen. Was ist mit Stony?" Er hob die Brauen an. Sie lächelte. "Ich hörte, wie Sie Ihren Namen bei der Krankenschwester nannten." "Ja, das ist auf jeden Fall ein Spitzname. Fing in der High School an." Er deutete auf seinen Wagen, den er unerlaubterweise in der Noteinfahrt abgestellt hatte. "Das ist mein richtiger Name." "Houston Brand und Sohn, Bergungsunternehmen", las Toby den Firmenaufdruck an der Autotür. Verwundert wandte sie sich ihm zu. "Sind Sie nun Houston oder Sohn? Chris hat nichts von einem Bruder erwähnt." Stony schmunzelte. "Beides. Ich bin Houston Junior. Heute bin nur noch ich in der Firma. Mein Dad ist in einem Hurrikan auf den Bermudas verschollen." "Das tut mir leid." "Das war vor zwanzig Jahren", erwiderte Stony leise. "Aber ja, es tut mir auch leid." "Heißt das, Sie machen Schiffsbergungen? Ich hörte Sie vorhin von einem Schlepper sprechen." "Ja." Er hielt ihr die Beifahrertür auf, während sie hineinkletterte, und schlug sie kräftig hinter ihr zu. Dann setzte er sich hinter das Steuer und wartete darauf, dass der Motor warm wurde. Dabei bemerkte er, wie Toby zitterte. Dir war offensichtlich kalt. Es würde zwar später bestimmt sonnig und warm werden, aber im Moment war es noch recht frisch und kühl. Er sah deutlich die Gänsehaut auf ihren Armen. Toby trug nur eine kurzärmelige Bluse. Sie hatte sich nicht mal die Zeit genommen, einen warmen Pullover überzuziehen. Das berührte ihn seltsam. "Hier..." Hastig und ungeschickt zog er seine Jacke aus, um sie ihr über die Schultern zu hängen. "Sie sehen so aus, als könnten Sie die gebrauchen." Sie wandte sich ihm verwundert zu und weckte eine Reihe verwirrender Gefühle in ihm. Schon wollte sie ihm widersprechen. "Ich habe mich noch gar nicht bei Ihnen bedankt", sagte er schnell, um sie nicht zu Wort kommen zu lassen. "Für das, was Sie für Chris getan haben. Sie brauchten sie nicht reinzulassen. Es war immerhin ein Uhr nachts. Für Sie war sie eine Fremde. Und... Also, ich möchte nur, dass Sie wissen, wie froh, wie dankbar ich Ihnen bin. Das ist alles." Toby führte Stony zu einem Imbiss, den sie im Ort entdeckt hatte, und bei dem es starken Kaffee gab. "Die Omeletts hier schmecken sehr gut", sagte sie zu Stony, während man ihnen einen Fensterplatz anwies. "Sie werden mit allem möglichen serviert." "Ich esse am liebsten etwas Kräftiges. Schinken und Rührei, bitte, mit Pfannkuchen", bestellte er bei der Kellnerin. "Und Kaffee." Er stützte die Ellbogen, auf den Tisch und ließ den Kopf in die Hände sinken. Toby bestellte sich ein Spanisches Omelett und Kaffee. Nachdem die Kellnerin gegangen war, schaute sie Stony hilflos an. Sie suchte nach Worten, wusste aber nicht, was sie sagen sollte. Alles, was ihr durch den Kopf ging, erschien ihr zu abgedroschen und unpassend. Also musterte sie ihn stumm - sein Haar, seine wettergegerbte Haut, seine großen, starken Hände als hätte sie ein menschliches Wesen wie ihn noch nie gesehen. Er war so anders als Arthur. Da wurde ihr plötzlich bewusst, dass sie zum ersten Mal seit zwanzig Jahren allein einem Mann gegenübersaß, der nicht ihr Ehemann war. "Also", sagte Stony schließlich und schaute auf. Er bemühte sich um ein Lächeln, aber irgendwie wollte es ihm nicht gelingen. Er fuhr sich mit der Hand über die Augen. "Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich habe nie erwartet, dass so etwas passieren könnte. Jedenfalls nicht mir. Und nicht Chris." "Ich verstehe das", erwiderte Toby leise. "Das Leben bringt einem so manche Überraschung." Er stützte sein Kinn in die Hand. "Sie sagen das, als hätten Sie Erfahrung."
Die Kellnerin brachte ihnen den Kaffee, und Toby glaubte schon, die Antwort bliebe ihr erspart. Sie wollte sich nicht in den Mittelpunkt der Unterhaltung stellen. Aber als sie wieder allein waren, musterte Stony sie aufmerksam. "Welche Überraschung hat Ihnen denn das Leben gebracht?" Sie dachte einen Moment nach und antwortete dann: "Also, ich hätte nie gedacht, dass ich in meinem Alter noch Heimleiterin werde und ein Teilzeitstudium in Psychologie aufnehme." "Wie kommt es denn, dass Sie Heimleiterin und Teilzeitstudentin sind, in Ihrem Alter?" erkundigte sich Stony amüsiert und betonte besonders die letzten Worte. Sie nippte an ihrem heißen Kaffee und stellte die Tasse behutsam auf den Tisch. "Mein Mann ist gestorben, vor vier Monaten, im Mai." Es folgte kurzes Schweigen. "Ich nehme an, das kam plötzlich?" "Sehr", antwortete sie. "Es ist beim Joggen passiert." "Das tut mir leid." "Zu dem Zeitpunkt", fuhr sie nachdenklich fort und wunderte sich, während sie die Worte aussprach, dass sie mit einem Fremden darüber redete, "habe ich mich im Stich gelassen gefühlt." Sie wusste nicht, mit welcher Reaktion sie rechnen sollte, beklemmendem Schweigen oder einem verlegenen Räuspern. Sie hatte jedoch nicht das leise, mitfühlende Lachen erwartet. "Das verstehe ich gut", sagte Stony. "Als meine Frau starb, war ich wütend. Ich habe gedacht, wie kann sie mir das antun? Wie konnte sie einfach sterben und mich mit diesem winzigen, hilflosen Etwas im Stich lassen? Ich hatte doch keine Ahnung von Babys und schon gar nicht von kleinen Mädchen. Ich musste allein damit fertig werden, mit der Sorge, der Verantwortung, ganz allein. Ich war so überwältigt. Und je älter Chris wurde, um so schwieriger wurde es." Ihm fiel es schwer, ruhig weiterzusprechen. "Die Sorge, die Angst. Man tut sein Bestes, sie vorzubereiten, sie zu schützen, und gleichgültig was man macht, es reicht nie aus. Als ich Chris das Fahrradfahren beibrachte, bin ich nebenher gelaufen, habe das Rad festgehalten, damit sie das Gleichgewicht behielt. Natürlich wusste ich, dass sie es nie lernen würde, solange ich das tat. Also habe ich schließlich losgelassen." Er fuhr sich mit der Hand über die Augen und lachte gequält auf. "Es war verflucht schwer, loszulassen. Klar, als erstes hat sie prompt die Balance verloren und ist gegen die nächste Bordsteinkante gefahren. Sie hat einen richtigen Satz über den Lenker gemacht. Dabei ist ihr vorn ein Bleibezahn abgebrochen, und sie hat sich am Kinn geschnitten. Ich habe mich hinterher so elend gefühlt, als wäre es meine Schuld. Ich habe mir Vorwürfe gemacht, ich hätte sie noch ein bisschen länger festhalten sollen..." "Nein!" Toby hatte bisher in der Stimme eines Mannes nie solch eine Betroffenheit gehört. Sie bewirkte etwas bei ihr, was sie nicht verstand. Sie beugte sich vor, berührte seine raue Hand, deren Kraft und Stärke der Verletzlichkeit seines Blickes zu widersprechen schienen. "Nein, das ist nicht Ihre Schuld. Sie haben getan, was Sie konnten, und..." Sie schluckte und hoffte, damit das Vibrieren verbergen zu können, das unerwartet in ihrer Stimme mitschwang. "Soweit ich das beurteilen kann, haben Sie das wunderbar gemacht. Chris ist sehr liebenswürdig." Da lächelte Stony wieder. "Ja, das ist sie, nicht wahr? Aber ich sage Ihnen, es hat Augenblicke gegeben... Ach, ich bin froh, dass sie mein einziges Kind ist, wissen Sie. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, das alles noch mal durchmachen zu müssen. Und wie ist das bei Ihnen? Haben Sie Kinder?" Toby verneinte und zog ihre Hand zurück. "Nein. Arthur, mein Mann, hatte zwei Kinder aus erster Ehe, aber ich... wir hatten keine." Sie räusperte sich und wechselte das Thema. "Sie haben nicht wieder geheiratet?" "Nein. Zuerst wollte ich das. Aber dann merkte ich, dass ich mehr ein Kindermädchen für Chris suchte als eine Ehefrau. Also habe ich ein Kindermädchen eingestellt, und damit war das Problem gelöst."
Toby war zu höflich und zu reserviert, weitere Fragen zu stellen, die sich nun eigentlich von selbst ergaben. Nach einer Weile räusperte Stony sich und me inte: "Meine Ehe war nicht unbedingt vorbildlich, und ich wüsste nicht, wie ich es hätte ändern sollen. Mein Job und eine Ehe sind, einfach unvereinbar. Es bleibt immer ein gewisses Risiko, bis ins letzte Detail kalkuliert, aber es ist da. Und natürlich bin ich immer viel unterwegs. Meistens zu den unmöglichsten Zeiten. Ich habe so viele wichtige Ereignisse in Christines Entwicklung verpasst. Wissen Sie, ich war nicht mal da, als sie geboren wurde." Er lachte verbittert und wich ihrem Blick aus. "Nein, ich kann mir nicht vorstellen, dass ich das alles noch einmal durchmachen möchte."
3. KAPITEL "Zweiundvierzig! Zweiundvierzig, lauf!" Der Ball flog zwischen den schlanken, braunen Beinen der Mittelstürmerin hindurch und landete direkt in den Händen der Stürmerin. Die wurde eingekesselt. Die Mittelstürmerin lenkte den Mittelstürmer der Abwehr, einen untersetzten Mann in Shorts, leicht ab und sprang triumphierend in die Luft, als die Stürmerin den Ball einer jungen Frau in Blue Jeans, rosa TShirt, mit weißem Sonnenschutz und dunklem Pferdeschwanz sauber zuspielte. Der Vater der Mittelstürmerin, der das Spiel aus dem Schatten einer Platane verfolgte, lächelte stolz. Toll, dachte er, Chris macht das genau so, wie ich es ihr beigebracht habe. "Hallo, sind Sie Mr. Brand?" Ein hübsche asiatische Frau mit langem glänzenden Haar stand auf einmal neben ihm und lächelte ihn an. Stony erwiderte ihr Lächeln. "Ich bin Kim Yee und teile mir mit Chris das Zimmer. Ich habe Sie erkannt nach dem Foto, das Chris auf ihrem Schreibtisch hat. Es freut mich, dass Sie zum Tag der Väter kommen konnten. Kann ich Ihnen irgend etwas holen?" Stony verwies auf den Plastikbecher in seiner Hand. "Limonade habe ich schon, danke. Leider habe ich den Anstoß verpasst. Ich hatte Chris gesagt, dass ich später kommen würde." "Das macht nichts", versicherte Kim ihm mit einem breiten Lächeln. "Wir haben noch nicht gegessen. Aber ich glaube, das Team der Väter hätte noch etwas Verstärkung brauchen können." Stony schmunzelte. "Das merke ich. Ach, übrigens, wo ist eure Heimmutter?" Er hoffte, beiläufig genug zu fragen. Erst als er die Worte ausgesprochen hatte, wurde ihm bewusst, wie sehr er sich darauf gefreut hatte, Toby Thomas wiederzusehen. "Mrs. Thomas? Ach, die ist da drüben auf dem Spielfeld." "Das ist doch ein Scherz!" "Nein, sie ist wirklich da. Sehen Sie? Sie hat den Ball." Vor ihm auf dem Rasen in der strahlenden Oktobersonne hielt die junge Frau mit dem dunklen Pferdeschwanz den Ball fest an sich gedrückt und bahnte sich offenbar, wenn auch im Zickzack, einen Weg zum Tor, Sie lief, das merkte Stony, wie jemand, der das kaum gewohnt ist. Als die gegnerische Mannschaft ihr den Weg abschneiden wollte, sprang die Stürmerin hoch, ruderte mit den Armen in der Luft und schrie: "Werfen Sie ihn mir, Mrs. Thomas, werfen Sie!" Andere aus ihrer Mannschaft, einschließlich seiner Tochter, stimmten ein: "Werfen Sie ihn, Mrs. Thomas, schnell! Werfen Sie ihn Mindy zu!" "Das ist nicht zu fassen", murmelte Stony. Die Frau mit dem Pferdeschwanz, war das tatsächlich die nette Dame mit der beruhigenden Stimme und dem sanften Blick? Endlich hatte sie die wie wild herumfuchtelnde Stürmerin entdeckt und warf ihr den Ball in letzter Sekunde zu. Gleich darauf wurde sie schon von einem grauaarigen Mann der Gegenmannschaft eingeholt. Der Wurf war nicht besonders gekonnt, aber die Stürmerin fing den Ball auf und schaffte die letzten Meter zum Tor. Die Heimmutter und die Stürmerin wurden von springenden und laut jubelnden Teamkameradinnen umringt. Kim neben ihm meinte: "Ist sie nicht großartig? Wir sind ja so froh, dass sie unsere Heimmutter ist. Sie ist so lustig. Sie spielt auch Gitarre, Stücke aus den sechziger Jahren, Folklore und so was. Wir finden sie einmalig." Stony murmelte etwas Unverständliches. Er wusste selbst nicht recht, was er gesagt hatte. Er war viel zu beschäftigt, Toby zu bewundern. Er vermochte seinen Blick nicht von ihr abzuwenden. Seit Wochen hatte er an sie denken müssen, immer wieder hatte er sie unerwartet vor sich gesehen, was ihn überraschte. Selbst bei Bergungen, wenn er alle Hände voll zu tun hatte, war ihm plötzlich durch den Kopf gegangen, wie sich ihre Finger auf seiner Hand angefühlt hatten. Oder er sah plötzlich im Geiste ihre Augen, grau wie der Nebel, der vom Pazifik
heraufzog, sah, wie sie ihn mitfühlend anschaute. Mitten in einer Unterhaltung erinnerte er sich an ihre Stimme, hörte ein Wort oder einen Satz, den sie gesagt hatte, was ihm dann den Rest des Tages nicht mehr aus dem Kopf ging. Es war ihm seltsam erschienen. Er verstand gar nicht, warum er an eine Frau denken musste, der er nur einmal begegnet war, dazu noch unter solch traumatischen Umständen, dass er sie gar nicht richtig als Frau wahrgenommen hatte. Er hatte zwar registriert, dass sie attraktiv war, aber hatte nichts zwischen ihnen gespürt wie Herzklopfen oder eine magische Anziehungskraft. Als er jetzt darüber nachdachte, fiel ihm auf, dass er so etwas sowieso schon lange nicht mehr erlebt hatte. Das Spiel wurde abgebrochen, offenbar in allseitigem Einvernehmen. Chris kam auf ihn zugelaufen. Sie sah erhitzt und verschwitzt aus, strahlte aber übers ganze Gesicht. Ihm wurde warm ums Herz. "Hallo, Dad!" sagte sie japsend. "Fein, dass du gekommen bist." "Hallo, Kätzchen", erwiderte Stony und umarmte sie. "Entschuldige, dass ich spät bin." "Das macht nichts, wir haben noch nichts gegessen. Hast du den Park gut gefunden? Hast du das Spiel gesehen?" "Nur noch den Rest. Du hast das gut gemacht." "Nicht wahr? Wir haben mit drei Toren Unterschied gewonnen. Mrs. Thomas hätte fast auch eines gemacht, hast du das gesehen? In letzter Minute musste sie den Ball an Mindy abgeben, die dann das Tor gemacht hat. Aber ich finde, Mrs. Thomas hat viel dazu beigetragen." "Ja, der Ansicht bin ich auch", sagte Stony nachdenklich, während er die besagte Frau in Begleitung ihrer begeisterten Teamkameradinnen auf sich zukommen sah. Sie hatte weder einen athletischen noch einen besonders zierlichen Gang, dennoch besaß sie etwas, was ihn erregte. Toby Thomas, so stellte er fest, war eine richtig anziehende Lady, gerade weil sie nicht zu merken schien, wie sexy sie war. Chris fasste nach seiner Hand. "Komm mit, Dad, du musst Mrs. Thomas begrüßen. - Mrs. Thomas!" schrie sie und winkte ihr zu. "Mein Dad ist da. Er hat es doch geschafft. Er hat sogar noch den Rest des Spiels gesehen." "Ach je", murmelte die Heimleiterin und schaute recht verlegen drein. Dann lachte sie leise, so wie er sich erinnerte es gehört zu haben - und reichte ihm die Hand. "Hallo, Mr. Brand." "Mrs. Thomas", erwiderte Stony und war angenehm berührt, dass ihre Hand sich so weich anfühlte, wie er es in Erinnerung hatte. "Prima Spiel." "Wie peinlich", meinte sie etwas atemlos. "Ich kann es gar nicht glauben, dass ich mich zu diesem Spiel habe überreden lassen. In meinem Alter..." Stony hörte kaum, was sie sagte oder was Chris darauf erwiderte. Er war plötzlich fasziniert, wie Tobys Brust sich hob und senkte, wie das T-Shirt an ihr klebte, wie ihre Haut .von der Anstrengung leicht glänzte. Er stellte sich vor, wie es sein mochte, ihre Haut mit seinen Lippen zu berühren und mit seiner Zunge, wie ihr Puls unter seinen Lippen klopfen würde. So eine starke Phantasie hatte er seit seiner Jugend nicht mehr gehabt. "Super!" rief Chris und riss ihn aus seinen erotischen Tagträumereien. "Da ist der Verpflegungswagen! Ich bin mit bei den Essensausteilern. Ich muss weg. Bis später, ja?" Sie reckte sich auf Zehenspitzen, um Stony einen kräftigen Schmatzer auf die Wange zu geben, und verschwand. In der darauffolgenden Stille räusperte Toby sich, sehr leise zwar, aber da bemerkte Stony, dass er noch ihre Hand hielt. Er ließ sie los, auch wenn er sie lieber festgehalten hätte. Er wusste nicht wohin mit seiner Hand und .steckte sie schließlich in die Hosentasche und meinte: "Also, ich, eh..." Zum Glück meldete sich Toby gleichzeitig zu Wort. "Ehrlich, ich muss mich entschuldigen."
Stony blinzelte und fragte: "Wofür?" Sie strich sich mit der Hand über ihr T-Shirt. "Für mein Äußeres und mein Verhalten. Ich habe mich überreden lassen, aber ich hätte..." "Sie sehen hübsch aus", unterbrach Stony sie. Und dann, weil er sich nicht sicher war, ob das ein Kompliment war oder nicht, fügte er hinzu: "Mir gefallen Sie SQ. Es passt zu dem Anlass." Verflixt noch mal, sie sah mit dem witzigen Sonnenschutz und dem Pferdeschwanz, den feinen Strähnen, die sich hinten in ihrem feuchten Nacken kringelten, wirklich hübsch aus. Alles in ihm sehnte sich danach, sie anzufassen, ihre Haut zu liebkosen. Sie starrte ihn einen Moment an, hüstelte, bedankte sich und wandte den Blick ab. Stony fiel überrascht auf, dass er sie in Verlegenheit gebracht hatte. Das hatte er nicht gewollt, aber er sprach immer aus, was er dachte, auch wenn ihn das schon mehr als einmal in Schwierigkeiten gebracht hatte. Er bemühte sich, ihr die Befangenheit zu nehmen, und meinte wie beiläufig: "Chris sieht besser aus. Wie geht es ihr?" Toby sah zu ihm auf, dann drehte sie sich zu der Gruppe junger Leute um, die unter dem Baum saßen und sich das Essen schmecken ließen. "Ja, sie sieht besser aus, nicht wahr?" Doch er hatte den Schatten gesehen, der über Tobys Gesicht gehuscht war. Irgend etwas schwang auch in ihrer Stimme mit. Stony zog die Brauen zusammen und umfasste ihren Arm, damit sie ihn ansah. "Toby, sagen Sie mir die Wahrheit! Wie geht es ihr? Mit mir will sie nicht darüber reden, was ihr zugestoßen ist. Sie hat es mit keinem Wort mehr erwähnt, seit ich sie aus dem Krankenhaus abgeholt habe. Ist das normal in solchen Fällen? Was meinen Sie, geht es unwirklich gut?" Sie atmete tief ein und aus. "Eigentlich, Mr. Brand..." "Stony bitte! Erinnern Sie sich?" "Stony, ich wollte mit Ihnen darüber sprechen." Er verspürte plötzlich ein Prickeln, eine ge wisse Erregung. Die Sorge um seine Tochter hielt ihn jedoch davon ab, Tobys Eröffnung auszunutzen. "Schießen Sie los", bat er ernst. "Also ehrlich gesagt", meinte Toby, "glaube ich nicht, dass alles in Ordnung ist. Nach außen erscheint das zwar so, das sehen Sie auch, aber es gibt Anzeichen, Symptome, die mich nachdenklich stimmen..." "Welche Anzeichen?" Toby zuckte mit den Schultern. "Eine Reihe kleiner Anzeichen." Sie zögerte, dann atmete sie kräftig durch und fuhr fort: "Kim sagt, sie hätte Alpträume." "Mein Gott!" Stony schaute zum Himmel auf. Er hatte wieder das gleiche erdrückende Gefühl wie im Krankenhaus, als er erfahren hatte, was passiert war. Als er. das Wort das erste Mal gehört hatte: Vergewaltigung. Er wandte sich ab und ging zu ein paar Tannen und Eukalyptusbäumen hinüber, die abseits von der lärmenden Gruppe standen. Nach kurzem Zögern folgte Toby ihm. Er spürte ihre Hand auf seinem Arm. Leise sagte sie zu ihm: "Stony, es ist unrealistisch anzunehmen, Chris würde so etwas unversehrt hinter sich bringen können." Er nickte. "Ja, das glaube ich auch." "Es ist so vieles, was nach einem solchen Überfall in einer Frau vorgeht, Angst, natürlich, Wut, Vertrauensverlust und sinkendes Selbstwertgefühl. Aber es ist natürlich noch viel mehr. Ich weiß nicht, ob ich es Ihnen erklären kann, aber Vergewaltigung ist eine so persönliche Angelegenheit. Der innerste Kern einer Frau wird erschüttert. Was Chris gewaltsam genommen wurde, ist die Kontrolle über ihren Körper. Ehe sie das Gefühl nicht wiedererlangt, wird sie auch mit dem Rest nicht fertig werden - der Furcht, dem Zorn und so weiter." "Sie sagen das, als hätten Sie Ahnung davon." Es tat ihm leid, dass seine Stimme rau klang, aber er konnte es nicht ändern. Jedes Wort schmerzte ihn.
"Ich habe in letzter Zeit sehr viel darüber gelesen", erwiderte sie sachlich und sah zu ihm auf. "Ich wünschte, ich hätte vorher mehr darüber gewusst." Stony hatte seine Daumen in die Hüfttaschen gehakt und schritt weiter. Er schaute auf seine Schuhe hinunter, mit denen er das abgefallene Laub der Bäume zerdrückte. Toby folgte ihm. Schließlich erkundigte er sich bei ihr: "Also wollen Sie mir sagen, dass Chris fachgerechte Hilfe braucht?" "Ich würde es auf jeden Fall empfehlen. Aber ob sie sich zur Einzelberatung, Gruppentherapie oder irgendeiner Selbstverteidigungsmethode entschließt, das sollten Sie mit Chris gemeinsam besprechen." "In Ordnung", sagte Stony und nickte. "Ich werde mit ihr darüber reden." Er ging eine Weile nachdenklich weiter, la uschte den fröhlichen Stimmen der anderen und dem Rascheln der trockenen Blätter, sowie den wiegenden Schritten der Frau an seiner Seite. "Toby?" Er blieb stehen. Sie hielt auch inne und schaute gespannt zu ihm auf. Sein Herzschlag verlangsamte sich. Er spürte ihn mit einemmal deutlicher und hörte sich fragen: "Würden Sie mit mir essen gehen?" "Essen?" Sie sprach das Wort aus, als ob sie es nicht kennen würde. Dann wich die Verwirrung aus ihrem Blick, wie Wolken sich auflösen, dachte Stony, ehe die Sonne durchbricht. Sie lächelte. "Ja, das ist eine gute Idee. Wir können uns dann weiter darüber unterhalten. Ich kann Ihnen auch die Namen von ein paar ausgezeichneten..." "Sie können mir die Namen nennen, aber deshalb wollte ich nicht mit Ihnen essen gehen", sagte Stony offen. "Ich wollte nicht mit Ihnen essen gehen, um mich mit Ihnen über Chris unterhalten zu können, sondern über andere Dinge, über Sie zum Beispiel." "Über mich?" Die Wolken kehrten zurück, wirkten dunkler. Wie Gewitterwolken. "Ja", antwortete Stony und lächelte über ihre Verwirrung. "Welche Musik Sie mögen, was Sie zum Lachen bringt, und ob Sie lieber ins Kino gehen als zu tanzen, falls wir eins davon nach dem Essen noch machen möchten. So hatte ich mir das vorgestellt." "Sie meinen, wie bei einer richtigen Verabredung?" Stony lachte laut. Er konnte nicht anders. Sie sah ihn so entsetzt an, als hätte er ihr etwas Unsittliches vorgeschlagen. "Also, Moment", sagte er, räusperte sich und bemühte sich, ernst zu bleiben. "Eine Verabredung? Ist das so etwas, wo ich meinen Wagen saubermache, außen wie innen, und Sie die ganze Zeit überlegen, was Sie anziehen sollen, während ich mich zweimal am Tag rasiere und Sie sich die Haare mit einem Shampoo waschen, das angenehm duftet? Ich führe Sie in ein Restaurant, mit dem ich Sie beeindrucken will, und Sie machen sich auf dem Heimweg Sorgen, wie Sie reagieren sollen, wenn ich versuche, Sie zum Abschied zu küssen... Entschuldigen Sie, haben Sie etwas gesagt?" "Nein. Ich... nein." Sie kla ng plötzlich atemlos. "Nichts." Aber ihr Mund war leicht geöffnet, und sie musterte ihn skeptisch. Stony berührte mit einem Finger sacht ihre Wange und entdeckte, dass ihre Haut sich samten und warm anfühlte. Er war beschämt, weil er einfach drauflos ge redet hatte. Diese Frau wusste offensichtlich nicht, wie man flirtete. "Toby", sagte er, "ich habe Sie in Verlegenheit gebracht, das tut mir leid. Aber ich möchte sehr gern mit Ihnen essen gehen. Was sagen Sie dazu?" "Ich... eh..." Er konnte sehen, wie sie schluckte. Schließlich machte sie die Augen zu und flüsterte: "Ich sollte es eigentlich nicht annehmen." "Warum nicht?" "Weil ich... Es ist erst sechs Monate her, seit..." "Seit Dir Mann gestorben ist. Ich verstehe." Stony nickte nachdenklich. Was war er nur für ein Trottel? Er hatte sie verletzt. Er sollte sich zurückziehen, ihr mehr Zeit lassen, aber das konnte er nicht. Er verspürte einen unwiderstehlichen Drang, der ihm keine Ruhe ließ. Er
wollte sie schon darauf aufmerksam machen und ihr sagen: Da, spürst du das? Das ist das Prickeln zwischen uns beiden, mein Schatz. Aber das tat er nicht. Er konnte jedoch nicht widerstehen, eine Hand nach ihr auszustrecken, ihren Haaransatz zu berühren, ihr übers Ohr zu streichen, eine feine schwarze Strähne zu betasten, wie er es schon den ganzen Tag hatte tun wollen. Leise sagte er dabei zu ihr: "Toby, es ist nur ein Essen, nicht mehr." "Ich weiß. Es halte es nur für falsch." Er hob ihr Kinn an, doch sie weigerte sich, ihm in die Augen zu scha uen. Von dem seltsamen Drang getrieben, erkundigte er sich: "Toby, wollen Sie mit mir essen gehen?" Sie zögerte. Es erschien ihm wie eine Ewigkeit. Schließlich, als hätte sie etwas Schändliches eingestehen müssen, nickte sie und meinte: "Ja." "Dann ist es auch nicht falsch", erwiderte er und legte seine ganze Überzeugungskraft in seine Worte. "Es ist nicht falsch, wenn man sich nach der Gesellschaft anderer Erwachsener sehnt. Toby, wenn Sie das möchten, sind Sie auch bereit dazu." Er schaute ihr in die Augen und hatte das Gefühl zu schweben. "Dad, Mrs. Thomas, kommt! Der Imbiss ist fertig!" Für Stony kam die Stimme wie aus weiter Ferne, irgendwo aus dem Nebel. Aber Toby wandte sich gleich von ihm ab, wie ein wildes Tier, das fliehen will. Stony hielt sie an den Armen zurück. "Toby", bat er eindringlich, "gehen Sie mit mir essen, bitte." "Ich... Na gut, ich komme mit." Sie sprach es sehr heftig aus, fast missmutig und gehetzt, als wäre sie gerade über den ganzen Platz gerannt. Sie wollte sich Stony entziehen, aber er hielt sie fest, entschlossen, ihr ein Versprechen abzuringen. "Morgen abend?" "Ich weiß nicht recht. Na gut." "Dad! Kommt essen, ihr beide!" Endlich gab er Toby widerstrebend frei. Chris kam auf sie zu, und er wollte nicht, dass seine Tochter spürte, was zwischen ihnen vorging - noch nicht. Er wusste nicht, ob Chris das verkraften konnte. "Wir kommen, Chris!" rief er. "Wir sind gleich da." Toby flüsterte er heiser zu: "Ich hole Sie ab, so gegen sieben Uhr, ja?" "Gern", flüsterte sie zurück. "Nein, warten Sie! Holen Sie mich nicht ab. Wir treffen uns." "Treffen uns?" Er hatte keine Zeit, ihr lange zu widersprechen. "In Ordnung. Wo denn? Eh, Moment, wie wäre es mit dem Rendezvous am Sunset? Kennen Sie das?" "Ich werde es finden. Ich bin um sieben Uhr da. Ich verspreche es." "Gut", sagte Stony und wich etwas zurück. "Bis dann." Er schmunzelte. "Ich bin der Mann mit der gepunkteten Krawatte." Ein nervöses, gequältes Lachen zuckte um ihre Lippen. Er war schon fast bei Chris, da wandte er sich kurz um. Toby stand noch da, wo er sie zurückgelassen hatte, die Arme schützend vor der Brust verschränkt. Sie sah jünger aus, als er es für möglich gehalten hätte, und verängstigt. Verdammt, er hatte sie vermutlich durch sein Drängen erschreckt. Er hätte seiner Meinung nach eigentlich ein schlechtes Gewissen haben müssen für sein wenig einfühlsames Verhalten. Aber das war nicht der Fall. Er war nur unglaublich glücklich, und sein Herz klopfte wie wild. Stony hätte in die Luft springen und jubeln können. Er fühlte sich jung und war verliebt.
4. KAPITEL
Toby wusste gleich, als sie Stony sah, dass er nicht sicher gewesen war, ob sie kommen würde. Und das war nicht verwunderlich. Sie hatte sich auch erst vor wenigen Augenblicken entschieden. Nachdem sie es sich eine Nacht und einen Tag lang reiflich überlegt hatte, war sie immer noch nicht davon überzeugt, dass es richtig war. Sie kam sich treulos und gemein vor. Sie fühlte sich aber auch bewegt, erregt, nervös und unglaublich aufgedreht. Sie musste immer wieder daran denken, wie Stony behauptet hatte, es wäre nicht verkehrt, wenn sie es wollte. Nun, sie wusste genau, dass sie mit Stony essen gehen wollte, mehr als alles andere auf der Welt. Warum hatte sie dann so ein komisches Gefühl im Magen? "Sie haben das ernst gemeint mit der Krawatte", sagte sie zu Stony. Irgendwie sah er an diesem Abend anders aus, so elegant in dem sportlichen Sakko und mit der Krawatte, die tatsächlich gepunktet war, farblich sehr geschmackvoll in Blau und Dunkelblau gehalten. "Was? Ach so, ja." Er schaute auf die Krawatte hinunter, als wäre er auch Überrascht, dass er eine trug. "Chris hat sie mir mal zu Weihnachten geschenkt, aber ich weiß nicht mehr, in welchem Jahr." "Ich nehme an, Sie tragen nicht oft eine Krawatte?" erkundigte sie sich mit einem Lächeln. Manche Männer schienen sich mit Krawatten wohl zu fühlen. Stony jedoch nicht. "Nicht öfter als ich muss", gab er ehrlich zu. "Müssen Sie hier eine Krawatte tragen?" "Ich weiß es nicht. Glaube ich nicht." Er reckte sich, um sich im Essraum umzusehen. "Sieht nicht so aus." "Warum nehmen Sie die dann nicht ab?" fragte Toby. "Meinetwegen müssen Sie die' Krawatte nicht tragen." "Wirklich?" Er sah sie an wie ein Junge, dem man gesagt hat, der Unterricht fällt aus. Toby lachte. "Wirklich." "Verflixt, das werde ich sofort machen." Er zog an der Krawatte und hielt dann inne. "Es macht Ihnen ehrlich nichts aus? Kommen Sie her, ich mach das..." Sie war schon fast aus dem Mantel geschlüpft, den sie wegen der abendlichen Kühle übergezogen hatte, den einzigen eleganten Mantel, den sie behalten hatte. Er nahm ihn ihr ab und hängte ihn auf. Dann hängte er seine Krawatte dazu. Als er sich zu Toby umdrehte, hielt sie kurz den Atem an. Irgendwie fühlte sie sich seltsam berührt, etwas Wesentliches hatte sich verändert. Wo er jetzt den obersten Knopf seines Hemdes geöffnet hatte, glich er mehr dem Mann, der wie eine Gewitterwolke in das Krankenhauswartezimmer gestürmt war und Meeresluft mitgebracht hatte - ein bisschen rau, ein bisschen wild, ein bisschen gefährlich. Nur an diesem Abend erinnerte er sie nicht an Sturm und kalte See. Durch das Licht im Restaurant sah seine wettergegerbte Haut heller aus, und das blonde Haar hatte einen warmen Glanz. Wenn sie ihn ansah, fühlte sie sich wie ein obdachloses Kind zu einem erleuchteten Fenster hingezogen. "Sie sehen gut aus", bemerkte sie. "Selbst ohne Krawatte, meine ich." "Sie aber auch", erwiderte Stony. Sein Blick hatte sich durch die Beleuchtung nicht verändert. Keine Beleuchtung konnte das bei ihr erreichen, was ein Blick von ihm bei ihr auslöste. Jede Faser ihres Körpers vibrierte, so dass sie alles fühlte. Sie spürte ihre Strumpfhose auf der Haut, die Seide, wo der Saum ihres Kleides ihre Beine streifte. Sie spürte das Material des Büstenhalters über ihren Brustspitzen, die kühle Oberfläche des Perlanhängers zwischen ihren Brüsten, die Luft auf ihrer Haut. Sogar die Luft war wie eine zärtliche Berührung. Stony hüstelte und sagte rau: "Hübsches Kleid. Haben Sie lange überlegt, was Sie anziehen sollen?"
"Was? Ach so." Sie lächelte und erinnerte sich an seine Worte vom Vortag. "Nun, ein bisschen." Alles, was sie besaß, war auf ihrem Bett ausgebreitet. Erst fünf Minuten bevor sie aus der Tür gegangen war, hatte sie sich für das Kleid entscheiden können, das einen klassischen Schnitt hatte, lange Ärmel, einen weitschwingenden Rock und einen leichten VAusschnitt, nur die Andeutung eines Dekolletes. Sie widerstand dem Drang, ihr Dekollete' mit der Hand zu bedecken, und erwiderte fröhlich: "Und haben Sie Ihren Wagen saubergemacht?" "Nein, darum habe ich mich nicht gekümmert. Sie wollten ja nicht abgeholt werden. Warum eigentlich nicht?" Sie blinzelte und spürte, wie sie errötete. "Also, ich hielt das nicht für eine gute Idee. Ich wusste nicht, wie meine Schützlinge auf mein... meine..." Sie brachte das Wort Verabredung nicht über die Lippen. "Freundschaftsessen?" half Stony ihr lächelnd aus. "Na ja, es kam mir nicht direkt... Ich wüsste nicht, dass es vom Vertrag her verboten ist. Bei dem Durchschnittsalter der meisten Heimmütter bezweifle ich, dass das Thema jemals aufgekommen ist. Aber ich wusste nicht, wie sie reagieren würden." In Wirklichkeit hatten die jungen Frauen sie wegen ihrer geheimnisvollen Verabredung mit neugierigen Fragen überschüttet, Vorschläge gemacht, wie sie sich kleiden, wie sie ihr Haar frisieren sollte und welches Make-up ihr stehen würde. "Außerdem", fügte sie hinzu, "ist Chris ja auch da." "Ja", räumte Stony ein, "Daran musste ich auch denken." Er lachte und senkte seine Stimme zu einem verführerischen Flüstern. "Jetzt ist es mehr wie ein geheimes Rendezvous, ein Stelldichein. Das gefällt mir am besten, klingt am interessantesten." Toby wollte darüber lachen, aber es klang eher gequält, was über ihre Lippen kam. Sofort wurde Stony ernst. "Aber das macht Sie nervös, das merke ich", sagte er leise und berührte ihren Arm. "Haben Sie dann das Gefühl, Ihrem Mann untreu zu sein, ja?" "Nein." Sie schüttelte nachdrücklich den Kopf, obwohl sie wusste, dass so etwas bei ihren verwirrten Gefühlen eine Rolle gespielt hatte. "Nein, das ist es nicht. Es ist bloß..." Sie holte tief Luft und atmete sie mit einem Auflachen aus. "Stony, ich bin nicht me hr verabredet gewesen, seit... seit recht langer Zeit. Es kommt mir sehr seltsam vor. Ich weiß nicht mal mehr, wie ich mich verhalten soll." "Monsieur Brand, Ihr Tisch ist frei", meldete sich der Ober. "Hier entlang, bitte." Das Restaurant war elegant, aber schwach erleuchtet, mit einem Ambiente, das zu seinem Namen passte. Obwohl der Saal gefüllt war, schien jeder Tisch für sich im Schimmer der spärlichen Beleuchtung zu stehen. Toby stolperte beim Hinsetzen, war nervös und ungeschickt wie ein Teenage r beim ersten Treffen. Dabei hatte sie mit Arthur so oft in formeller Eleganz zu Abend gespeist, dass sie es längst hätte gewohnt sein müssen. Sie wunderte sich, dass sie so schnell vergessen hatte, was Arthur ihr beigebracht hatte. Geschah das, wenn man ein neues Leben begann? Ließ man mit den bitteren Enttäuschungen und schmerzlichen Erinnerungen auch das Gute und Nützliche hinter sich? Oder hatte sie gar nicht so viel Selbstbewusstsein gehabt? Vielleicht war es eine Fassade gewesen, eine Lüge, wie so viele andere Dinge in ihrem Leben mit Arthur. "Nun", sagte Stony, nachdem ihnen der Wein eingeschenkt worden war und sie einander zuprosteten, "ich hoffe, Sie sind beeindruckt von dem Restaurant, das ich ausgesucht habe. Wollen wir darauf nicht anstoßen?" "Hör sich das einer an", versetzte Toby leise. In seinen Augen blitzte es schelmisch, als er sie über den Rand seines Glases hinweg musterte. Glaubte er etwa, sie dachte an das, was er als nächstes in seiner Aufzählung über eine Verabredung angeführt hatte? Was war es noch gewesen - ein Kuss zum Abschied! Sie nippte rasch an ihrem Wein. Zu ihrer angenehmen Überraschung war er trocken und kühl, was sie aus irgendeinem Grund an lange Sommernachmittage in Südfrankreich
erinnerte. "Mmh, der schmeckt gut", sagte sie, machte die Augen zu und atmete das vertraute Aroma ein. "Es tut mir leid, ich bin richtig nervös", entschuldigte sie sich. "Es ist so lange her." "Ach, was soll's", meinte Stony neckend. "Damit muss man wohl rechnen. Es ist Ihre erste Verabredung... seit wann?" "Einundzwanzig Jahren. Aber das ist keine Entschuldigung. Ich hätte eigentlich besser damit fertig werden müssen." "Donnerwetter..." Stony stellte sein Glas ruckartig hin und verschüttete etwas Wein dabei. "Sagten Sie einundzwanzig Jahre?" Toby nickte. Er wich ihrem Blick aus und brummte: "Ich hatte keine Ahnung." Es dauerte einen Moment, ehe er ihr wieder ins Gesicht sah. Aber als ihre Blicke sich begegneten, wirkten seine Augen wesentlich dunkler, doch ging von ihnen nicht mehr so etwas Beunruhigendes aus wie davor. Leise erkundigte er sich: "Toby, wie lange waren Sie dehn verheiratet?" "Zwanzig Jahre", antwortete sie und staunte selbst darüber. "Verdammt!" entgegnete Stony rau und murmelte etwas Unverständliches. "Toby, hören Sie, das tut mir leid. Kein Wunder, dass Sie sich so schwergetan haben. Es war richtig dämlich von mir, Ihnen vorzuschlagen..." "Nein!" Instinktiv widersprach Toby ihm. Plötzlich hatte sie Angst, sie könnte eine wunderbare Chance verlieren. Und kaum hatte sie das gesagt, wusste sie nicht, wie sie ihm das weiter erklären sollte. Es war nicht so, als hätte sie nicht um Arthur getrauert oder ihn gelegentlich nicht vermisst. "Meine Ehe war - nun, ziemlich ungewöhnlich", sagte sie schließlich. "Ungewöhnlich in welcher Hinsicht?" "Nun, ich habe nicht aus den üblichen Gründen geheiratet, könnte man sagen." "Sie meinen eine Vernunftehe?" "Ja und nein", wich Toby ihm aus und wollte eigentlich die Einzelheiten ihrer Ehe einem Fremden gegenüber nicht ausbreiten. "Was soll ich darunter verstehen ,Ja und nein'?" Stony spürte offenbar nicht diese Distanz ihr gegenüber. "Ja, es war eine Vernunftehe, aber..." "Sie haben miteinander geschlafen?" Obwohl seine klare Ausdrucksweise fast schon an Unhöflichkeit grenzte, musste Toby bei seinen Worten lächeln. Stony sprach aus, was er dachte. Irgendwie fiel es ihr dadurch leichter, genauso offen zu sein. "Ja", antwortete sie leise, "wir haben miteinander geschlafen." "Haben Sie ihn geliebt?" Stony musterte sie aufmerksam. Sie trank etwas Wein. Als sie ihn hinunterschluckte, glaubte sie Glassplitter mitzutrinken. Es dauerte lange, ehe sie schließlich sagte: "Ich mochte ihn." Stony atmete hörbar aus und griff nach der Weinflasche. "Erzählen Sie mir mehr darüber", forderte er neugierig und schenkte ihr und sich nach. "Warum war es vernünftig für Sie, einen Mann zu heiraten, den sie nicht liebten? Und warum, um Himmels willen, sind Sie dann zwanzig Jahre verheiratet geblieben?" "Ich weiß nicht, ob ich das erklären kann." Sie trank noch einen Schluck. Der schien ihr zu helfen. "Wissen Sie, meine Eltern sind bei einem Flugzeugunglück ums Leben gekommen, als ich im zweiten Jahr auf dem College war. Und meine Schwester Margie ging noch auf die High School." Sie ließ ihr Glas los, sah zu Stony auf und bat ihn stumm zu verstehen, wie es für sie gewesen war, plötzlich allein dazustehen. "Wir waren wie am Boden zerstört', nicht nur seelisch. Mein Dad war ein großartiger Mensch, aber er konnte nicht gut für die Zukunft planen." Sie lachte gequält, als sie daran dachte: "Er hatte zwar ein Talent, Geschäfte zu machen, aber meist hat er das gewonnene Geld so wieder verloren und nie etwas gespart. Manchmal haben wir in großen Häusern mit
Swimmingpool gewohnt und ein andermal eben in kleinen Mietwohnungen. Wir sind häufig umgezogen und hatten nie feste Freunde. Meine Mom und mein Dad hatten keine Verwandten, nur sich und uns. Die beiden haben sich sehr geliebt und waren unzertrennlich." Sie hielt inne und schluckte ein paarmal. "Mom hat Dad jedesmal auf Geschäftsreisen begleitet, deshalb sind sie auch zusammen verunglückt. Ich habe immer das Gefühl gehabt, sie hätten es auch nicht anders gewollt. Stony füllte ihre Gläser auf, obwohl das noch nicht nötig gewesen wäre, aber er wollte ihr damit eine Atempause gönnen. "Da die beiden so unzertrennlich waren, hatten sie nicht übermäßig viel Zeit für uns. Ich habe mich für meine jüngere Schwester verantwortlich gefühlt. Margie war sehr klug, sehr zielstrebig. Ich war dagegen eher gleichgültig. Ich habe die Schule auf die leichte Schulter genommen und hatte keine Ahnung, was ich später machen wollte. Margie dagegen wusste von Anfang an, dass sie Ärztin werden wollte, und wie sie das machen würde. Sie wollte nach Stanford, auf die medizinische Hochschule dort und so weiter. Dann verunglückten unsere Eltern. Das geschah in einer Zeit, als Dad finanziell nicht gut dastand... und wir auch nicht. Kein Geld, keine Verwandten, keine engen Freunde." Stony nickte grimmig, als hätte er sich denken können, was kommen würde. Toby nahm all ihren Mut zusammen und fuhr fort: "Aber Arthur war da. Er war Dads neuer Geschäftspartner und ungefähr auch in seinem Alter. Soweit ich das verstanden hatte, wollten sie zusammen ein neues Unternehmen aufbauen, das sie beide reich machen sollte." Als wäre ihr der Gedanke soeben erst gekommen, fügte sie nachdenklich hinzu: "Arthur war Dad sehr ähnlich. Er hatte dasselbe Talent. Es kam mir jedoch so vor, als beherrschte er es noch besser. Nach dem Tod meiner Eltern machte Arthur mir einen Vorschlag. Er wollte dafür sorgen, dass meine Schwester und ich unsere Collegeausbildungen bekamen, wenn ich ihn heiraten würde." Stony konnte nicht mehr länger ruhig sitzen. Er murmelte etwas Unverständliches. Toby spürte, dass ihm nicht gefiel, was sie gemacht hatte. Sie warf ihm jedoch einen flehenden Blick zu, sie zu verstehen. "Ich war neunzehn und hatte Angst", sagte sie leise und erinnerte sich an ihre Situation, als wäre es erst gestern gewesen. "Vergessen Sie nicht, das war noch vor der Gleichberechtigungsbewegung; Außerdem musste ich an Margie denken. Ich war noch sehr idealistisch, betrachtete das, was ich tat, aber nicht als Opfer." Stolz hob sie ihr Kinn, und ihre Stimme klang abweisend. "Arthur war nicht nur reich, wissen Sie. Er war auch recht attraktiv, sehr zuvor kommend, gebildet, gewandt, welterfahren. Genau das Gegenteil von mir. Ich war eine schüchterne, unsichere Collegestudentin. Es hat mir geschmeichelt, dass jemand wie Arthur Thomas mich heiraten wollte." "Warum..." Stony brach ab, räusperte sich und setzte erneut an. "Warum wollte er das?" Sicher, Stony musste der Sache gleich auf den Grund gehen. Damit hatte Toby gerechnet. Sie lehnte sich etwas zurück und antwortete: "Wenn ich heute so darüber nachdenke, glaube ich, er war ganz einfach einsam." Stony schnaubte verächtlich. "Er war seit langem von seiner ersten Frau geschieden", verteidigte Toby ihn. "Wenn der Mann so einsam war, warum hat er sich dann nicht eine Frau in seinem Alter gesucht?" Stony hatte seine Stimme leicht angehoben. Andere drehten sich nach ihnen um. Toby dachte sofort an sein Auftreten in der Notaufnahme des Krankenhauses und legte ihm besänftigend eine Hand auf den Arm. Er stöhnte verärgert auf, senkte seine Stimme aber sofort. "Verflixt, Sie waren so jung, Sie hätten seine Tochter sein können." Toby zog ihre Hand zurück. "Ich dachte mir gleich, Sie würden das nicht verstehen", sagte sie und ließ ihre Enttäuschung in der Stimme mitschwingen. Stony warf ihr einen finsteren Blick zu. "Ich versuche es ja zu verstehen." Er holte tief Luft und hielt den Atem an, um sich in Selbstbeherrschung zu üben. "Na gut, viele Männer
heiraten jüngere Frauen. Er hatte selbst Kinder, nicht wahr? Wie haben die denn darüber gedacht, dass sie eine Stiefmutter bekommen, die nicht viel älter ist als sie selbst?" "Seine Töchter waren damals beide über zehn, aber besuchten ihn fast nie. Sie lebten in Internaten an der Ostküste und in Europa. Weil Arthurs Verhältnis zu seiner Frau wirklich furchtbar war - die beiden konnten sich nicht ausstehen - sind sie aufgewachsen, ohne mit ihrem Vater in Kontakt zu bleiben. Ich fand das immer sehr betrüblich, besonders da..." Sie beendete den Satz nicht, aber Stony ahnte, was sie hatte sagen wollen und sprach es in seiner offenen Art für sie aus: "Da Sie beide nie Kinder hatten?" Toby nickte. Es entstand eine beklemmende Stille, die nur vom Kellner unterbrochen wurde, der ihnen den Salat servierte. Nachdem er gegangen war, musterte Stony seinen Teller und sagte: "Die Sache mit Kinder, ist das ein schmerzliches Thema für Sie? Ich meine, ich will es lieber wissen, wenn es so ist. Ich möchte Sie nicht in Verlegenheit bringen." "Aber nein", beeilte sich Toby ihm zu versic hern. "Ehrlich nicht. Anfangs hat es mich gestört. Ich hatte immer angenommen, ich würde einmal Kinder bekommen. Ich denke, fast jede Frau glaubt das, oder? Aber dann war mein Leben so ausgefüllt. Ich war viel unterwegs, musste Arthurs Geschäftsfreunde bewirten, so dass ich nach einiger Zeit merkte, in meinem Leben wäre ja kein Platz für Kinder." Es fiel ihr jetzt leicht, darüber zu reden. Sie hatte es schon so oft wiederholt, vor allem in Gedanken. "Sie sagten selbst, dass das Elterndasein erschreckend, anstrengend und sehr zeitraubend ist. Ich kann mir nicht vorstellen, wie jemand ein Kind großzieht und gleichzeitig noch etwas anderes macht." "Das geht wie von selbst", versetzte Stony trocken. "Man macht es einfach." Das war eine hervorragende Einleitung für Toby. Sie war es gewohnt, eine konfliktbeladene Unterhaltung auf ruhigere Themen zu steuern. Sie lächelte Stony an und behauptete wohlwollend: "Na ja, Sie haben es selbstverständlich wunderbar gemeistert. Chris ist besonders liebenswürdig." Stony erwiderte mürrisch: "Das finde ich auch" und stocherte in seinem Salat herum. Aber er ließ sich so leicht nicht ablenken. Das wurde Toby gleich darauf bewusst, als er sie erneut musterte und sagte: "Fein. Sie haben einen Mann geheiratet, der Ihr Vater hätte sein können. Sie haben ihn nicht geliebt, sondern nur bewundert. Und dann? Wie sind Sie mit ihm ausgekommen? Waren Sie glücklich?" Toby stach ziemlich lustlos in ihren Salat und konnte Stony nicht in die Augen sehen. Ihre Antwort lautete schließlich: "Ich war nicht unglücklich." "Aha." Sie reckte sich. "Hören Sie, Arthur war gut zu mir. Er hat mir alles gegeben, was ich mir wünschen konnte. Nachdem ich auf dem College meinen Abschluss gemacht..." "Ja, wie war das noch mit Ihrer Schwester? Ist sie Ärztin geworden?" "Nein", sagte Toby. "Sie hat einen Elektronikingenieur aus Japan kennengelernt, als sie im zweiten Jahr auf der medizinischen Hochschule war. Sie haben vier Kinder und wohnen am Rande von Tokio." "Also war Ihr hochherziges Opfer umsonst." Sie spürte, wie Zorn in ihr aufstieg. "Ich sagte Ihnen schon, es war kein hochherziges Opfer. Ich wollte Arthur heiraten, verstehen Sie? Es war meine Wahl." Jetzt war sie es, nach der die anderen sich umdrehten. Entsetzt senkte sie ihre Stimme zu einem Flüstern, konnte aber das leichte Zittern nicht verbergen. "Arthur war gut zu mir. Ich hatte alles - schöne Kleider, Autos, ein herrliches Zuhause und bin an vielen Ferienorten gewesen. Ich bin in der ganzen Welt herumgekommen. Ich spreche Französisch und ein bisschen Deutsch. Ich kann mich über jedes erdenkliche Thema mit Ihnen unterhalten. Stellen Sie mich auf die Probe! Ich habe US-Senatoren bei mir zu Haus bewirtet, Mr. Brand. Betrachten Sie meine Wahl nicht so verächtlich."
Nachdem sie geendet hatte, schaute Stony sie nur verblüfft an und schwieg. Wahrscheinlich hatte sie ihn überrascht. "Also", begann er in einem sanften Ton, der ganz im Gegensatz zu seiner üblichen barschen Stimme stand, "sie hatten keine Bedenken? Keine Zweifel? Haben es nicht bereut?" Bereut. Tobys Hals war wie zugeschnürt. Sie legte ihre Gabel behutsam neben den Teller und murmelte: "Nein", konnte ihn jedoch nicht ansehen. Sie wagte es nicht, ihren Blick anzuheben. Sie fühlte sich zerbrechlich und durchsic htig. "Toby", redete er leise auf sie ein, "bei zwanzig Jahren Ehe hat jeder gelegentlich irgendwelche Bedenken oder Zweifel. Selbst in den besten Ehen. Das ist natürlich." "Vielleicht", sagte sie abweisend und schob ihren Stuhl zurück. "Würden Sie mich bitte einen Moment entschuldigen?" Stony wollte etwas sagen, doch Toby kam ihm zuvor und presste etwas von "Toilette" über die Lippen. So antwortete er nur: "Natürlich" und blickte ihr wie benommen nach, als sie sich zwischen den Tischen hindurch vo n ihm wegbewegte. Stony hätte sich ohrfeigen können und machte sich heftige Vorwürfe, wie taktlos er gewesen war. Als er sie schließlich an den Tisch zurückkommen sah, war er mehr als erleichtert und begann, sich wortreiche Entschuldigungen zurechtzulegen. Sie wirkte jedoch so ernst und gefasst, dass er es für besser hielt, nichts zu sagen. "Gut abgepasst", sagte er nur. "Das Essen wurde gerade serviert." "Das sehe ich. Es sieht lecker aus." Ihre Stimme hörte sich atemlos an. Stony furchte ein wenig die Stirn, wandte sich aber dem Essen zu. Er bemühte sich, über Belangloses mit ihr zu sprechen. Anschließend bestellten sie noch einen Kaffee. "Übrigens", sagte Toby und beugte sich vor, "habe ich Ihnen schon gesagt, dass ich wirklich verdammt beeindruckt bin von dem Restaurant?" Die Worte verwirrten ihn zunächst, bis er merkte, dass sie nur seine Redensart wiederholt hatte. Er lachte. "Nein, haben Sie nicht." "Ich bin beeindruckt." Er bezweifelte das nach dem, was sie ihm über den Reichtum ihres Exmannes erzählt hatte, aber er widersprach ihr nicht. Statt dessen meinte er. "Na ja, ich dachte, es würde gut passen. Wissen Sie, für ein Stelldichein." Ein amüsierter Bück begegnete seinem. "Ich verstehe." Im Gegensatz zu ihm war sie zu reserviert, um neugierig zu fragen, aber er konnte ahnen, was sie gern wissen wollte. "Ich habe hier schon seit Jahren nicht mehr gegessen", sagte er und gab ihr von sich aus die Antwort, die sie interessierte. "Oder mich zu einem Stelldichein getroffen. Ehrlich gesagt", fuhr er fort, als sie nichts erwiderte, "ich bin nur ganz selten verabredet gewesen." Sie sagte nichts dazu, aber ihr Schweigen war beredt genug. "Ob Sie es glauben oder nicht, es stimmt", bekräftigte Stony gleich und musterte sie. "Kurzzeitige Verhältnisse laugen aus, und heutzutage sind sie geradezu gefährlich. Wie ich schon sagte, mein Lebensstil lässt sich nicht gerade mit langlebigen Beziehungen in Einklang bringen. Deshalb..." Sie schaute ernst zu ihm auf. "Was tun wir dann hier?" Nun, darauf wusste er keine Antwort. Was machte er hier? Als er versuchte sich die Frage zu beantworten, wurde er unsicher und wüsste nicht, wohin der nächste Schritt ihn führen würde. Schließlich brach er das Schweigen mit einem Lachen. "Ich habe mich wohl selber Lügen gestraft. Kommen Sie!" sagte er rau und griff nach ihrer Hand. Sie stand mit ihm auf, aber langsamer. "Was..." "Lassen Sie uns tanzen." Dir Widerstand hielt ihn zurück. "Was ist denn?" "Ich... ich habe seit Jahren nicht mehr getanzt." "Kommen Sie, erzählen Sie mir nur nicht, Sie und Dir Mann hätten nie..." Sie schüttelte den Kopf. "Nein, Arthur tanzte nicht gern."
"Aber das ist wie Fahrrad fahren", behauptete er und zog sie mit sich. "Bei manchen Dingen vergisst man einfach nicht, wie es geht." Er führte sie durch den Raum, als die Musik erklang und die Stimmen im Esssaal in den Hintergrund traten. Als sie die Tanzfläche erreichten, er sie zu sich umdrehte, legte sie ihm wie von selbst eine Hand auf die Schulter. Er raunte ihr zu: "Sehen Sie, was habe ich gesagt?" Sie gab ihm keine Antwort darauf. Er hielt sie locker in den Armen, musste sich zurückhalten, um sie nicht näher an sich zu ziehen, was er am liebsten getan hätte. Er war selbst überrascht und wusste nicht, wie er damit fertig werden sollte. Er berührte sie nur dort, wo es beim Tanzen üblich war, im Rücken. Dennoch kam es ihm so vor, als spürte er ihren ganzen Körper. Der Wirkung nach, die sie auf ihn ausübte, hätte er sie nackt im Arm halten können. Er war entsetzt, als er merkte, dass er genau das gern getan hätte. Das Lied war zu Ende, ein neues begann, ein alter Popsong, den er kannte und mochte. Offenbar gefiel er Toby auch, weil sie begeistert zu ihm aufschaute und lächelte. Er erwiderte ihr Lächeln, und dann erschien es ihm auf einmal selbstverständlich, sie näher an sich zu ziehen. Er spürte, wie sie am ganzen Körper erschauerte. "Na?" flüsterte er ihr zu und vermochte sich ebenfalls nicht gegen die stärker werdenden Gefühle zu wehren. "War doch eine Kleinigkeit, oder?" Ihr Haar streifte seine Wange, als sie bejahte. Er schloss die Augen und atmete den Duft ein. "Eine Kleinigkeit", flüsterte sie und fügte hinzu: "Was tanzen wir eigentlich?" Er lachte und murmelte: "Verdammt, wenn ich das wüsste!" Er war zu sehr in Gedanken, um irgend etwas Kompliziertes zu versuchen. "Aber es fühlt sich gut an, nicht wahr?" Er konnte es gar nicht fassen, wie gut sie sich in seinen Armen anfühlte. Er wusste bloß nicht, was er nun machen sollte. Er hatte ihr so wortreich erzählt, warum er weder kurzzeitige noch längere Verbindungen einging. Sie hatte ihn dann mit der Frage konfrontiert: Was machen wir dann hier? Darauf hatte er keine Antwort gewusst. Ihm fiel jetzt noch keine ein. Weil er in Wirklichkeit mit ihr schlafen wollte, das jedenfalls spürte er deutlich. Und gleichzeitig wusste er, das war etwas, was er nicht in kurzer Zeit erreichen würde. Es mochte sich klischeehaft anhören, aber Toby war einfach nicht so eine Frau. Er hatte eher das Gefühl, sie würde sein Leben in vieler Hinsicht komplizierter machen, als er es gewohnt war. "Oje!" sagte Toby, als sie unabsichtlich mit ihrer Schuhspitze gegen seinen Fuß stieß. "Entschuldigung." "Meine Schuld", brummte Stony und steuerte sie auf einen weniger überfüllten Teil der Tanzfläche. "Ich bin sehr ungelenk. Es ist so lange her..." "Das sagen Sie schon die ganze Zeit." Er löste sich etwas von ihr, damit er sie besser anschauen konnte. "Es kommt mir so vor, als wäre es lange her, dass Sie eine Menge Dinge getan haben - Verabredungen, Wein trinken, tanzen." Er ließ ihre Hand los, streichelte statt dessen ihre Wange, entdeckte, wie samten ihre Haut war, und strich ihr gleichzeitig feine Haarsträhnen aus der Stirn. "Ich wüsste gern..." "Was denn?" fr agte sie, als er nicht weiterredete. "Ich wüsste gern, was Sie sonst noch seit langem nicht mehr getan haben." Schweigen umfing sie. Die Musik spielte, die anderen Tänzer drehten sich weiter, entfernten sich von ihnen, bis sie allein in einer eigenen Welt standen. Er hörte nur ihr leises Atmen, spürte nur ihre Hand - die, die er losgelassen hatte, auf seinem Oberkörper. Ihre Wärme drang durch den Stoff seines Hemdes bis auf die Haut durch. Und seine Hand, mit der er zärtlich ihr Gesicht streichelte. Er sah ihre Lippen, sinnlich, einladend und verletzlich. Er sah, wie sich ihre Augen zu verdunkeln schienen, ihr Blick ahnungsvoll wurde. "Mrs, Thomas", flüsterte er, "sehen Sie mich nicht so entsetzt an." Er lächelte und ließ wie selbstverständlich die förmliche Anrede fallen. "Ich will dich nur küssen."
"Ja", hauchte Toby. "Ich weiß."
5. KAPITEL
Kaum hatte Stony seine Absicht ausgesprochen, sie zu küssen, da zögerte er aus irgendeinem Grund, wie ein unerfahrener Taucher am Ende eines Sprungbretts stehenbleibt, weil sich ihm der Magen dreht und Furcht ihn ergreift. Er konnte dieselbe Angst in ihren Augen erkennen, spürte, wie ihr der Atem stockte und ihre Muskeln sich verspannten, als würde sie mit einer unmittelbaren Katastrophe rechnen. Katastrophe? Meine Güte, dachte er, es ist doch nur ein Kuss, und wagte den Sprung ins Unbekannte. Das Zusammentreffen war weich, warm, lieblich und... erschütternd. Er streifte ihre Lippen, und sie schmiegte sich wie von selbst an ihn. Er konnte sich nicht von ihr lösen. Eine wohltuende Wärme breitete sich in ihm aus. Er hielt kurz den Atem an und wagte nicht, sich zu bewegen. Sie unterbrach den Kontakt mit einem Seufzer, dem er anhörte, dass auch sie ihren Atem angehalten hatte. "Die Musik läuft nicht mehr", sagte sie wie benommen. Stony sah sich um und meinte: "Na und?" Um sie herum auf der dunklen Tanzfläche flüsterten die anderen Paare miteinander, als wären sie mit sich allein. Er schmunzelte. "Jetzt ist leicht zu verstehen, warum Tanzen ein Comeback erlebt, nicht wahr?" "Ja." Sie lehnte sich an ihn an, hatte beide Hände gegen seinen Oberkörper gestemmt, so dass eine Barriere zwischen ihnen blieb. Trotzdem spürte er, wie sie am ganzen Körper bebte. "Es wird gleich das nächste Stück erklingen", sagte er. "Sollen wir hierbleiben?" Sie nickte, aber als die Musik einsetzte, War das Stück für Stonys Stimmung zu schnell. Nach einer Minute raunte er ihr zu: "Lass uns gehen, ja?" Er hielt sie an sich gedrückt und steuerte sie durch die vielen tanzenden Paare hindurch. Als sie das Ende der Tanzfläche erreichten, legte er seine Hände auf ihre Schultern und flüsterte ihr ins Ohr: "Ich will dich noch mal küssen, aber diesmal irgendwo, wo wir mehr für uns sind." Toby musterte ihn verwirrt, sagte aber nichts dazu. An ihrem Tisch wartete bereits der bestellte Kaffee und die Rechnung auf sie. Stony schaute auf die Tassen mit der dampfenden Flüssigkeit und erkundigte sich: "Willst du noch bleiben?" Sie schüttelte den Kopf. Stony nickte. Er zog seine Brieftasche heraus, legte ein paar Scheine auf das Tablett und griff nach ihrem Ellbogen. Durch den seidigen Stoff des Kleides spürte er, wie zart gebaut sie war, nahm die Wärme ihrer Körpers in sich auf und konnte förmlich fühlen, was für eine weiche Haut sie hatte. Er schob seine Finger auf die Innenseite ihrer Ellbogen, streichelte ihre Haut sacht und spürte, wie sie unter der Berührung erschauerte. Wie aus dem Nichts ging ihm eine Zeile aus einem alten Song durch den Kopf. Hatte er gerade dazu getanzt? Das mochte sein, er hatte es nicht bemerkt. Verzaubert, verstört und verwirrt. "Verwirrt" traf am ehesten zu. Warum machte sie es alles so kompliziert? Und warum benahm er sich nicht anders? Sie war eine Frau, er ein Mann. Sie fühlten sich offens ichtlich zueinander hingezogen. Sie hatten zusammen gegessen, miteinander getanzt, und dann hatte er sie geküsst. Wenn sie nichts dagegen hatte, würde er sie gern noch mal küssen und abwarten, zu was das führte. Und wenn nicht, dann "c'est la vie". Das war doch einfach. Warum war er bloß so verwirrt? Toby stand in der Eingangshalle, während Stony ihren Mantel und die Krawatte holte. Verschiedene Gefühle kamen in ihr auf, wie man sie bei einer Verabredung erlebt. Freude - er hatte sie geküsst. Vorfreude oder Erregung - er könnte es noch mal versuchen. Verwirrung wie sollte sie reagieren, wenn er das tat? Enttäuschung - was sollte sie machen, wenn er es nicht tat? Unsicherheit - er musterte sie skeptisch. Was mochte das nun wieder bedeuten? Sie sah zu, wie er sich die Krawatte locker um den Hals legte und erinnerte sich an den Moment, als er sie abgenommen hatte, an sein Lachen und die Wärme, die er verströmt hatte.
Es erschien ihr eine Ewigkeit her. Sein skeptischer Blick veränderte sich nicht. Er hielt ihr den Mantel hin, legte ihn ihr lose über die Schultern, während sie ihr Haar über den Kragen hob. Seine Hand ruhte noch auf ihrem Rücken, oben neben dem Kragen, so dass ihr Haar, als sie es losließ, seine Hand bedeckte. Mit der anderen Hand griff er um sie herum und öffnete ihr die Tür. Der Wunsch, von ihm in die Arme genommen zu werden, wurde so überwältigend, dass sie erneut erschauerte. "Es wird kühl", bemerkte er. "Ja, aber das gefällt mir", sagte sie und redete etwas schnell. "Es ist ein wunderschöner Abend, wirklich. Ich liebe diese klare Nachtluft und die Sterne." Stony schaute zu dem grauen Himmel auf und schnaubte verächtlich. "Du müsstest sie mal in einer solchen Nacht über dem Meer sehen. Die Menschen, die in der Stadt aufwachsen, wissen nicht mal, was Sterne sind." Er schnupperte an der Luft wie ein wildes Tier. "Es ist nur so eine klare Luft, weil ein Santa Anna herüberweht. Riechst du das? Morgen wird es windig werden." "Du liebe Güte, das will ich nicht hoffen." Toby stöhnte auf. "Ich mag Wind nicht. Mein Haar sieht dann furchtbar aus." "Tatsächlich? Wie denn?" Er drehte seine Hand um und fasste in ihr Haar. Sie lachte. "Ach, weißt du, es wird dann statisch aufgeladen und steht in sämtliche Richtungen." Er blieb stehen, schaute sie an und drückte ihr Haar ein wenig. Er hob es leicht an und atmete den Duft ein. "Dein Haar ist faszinierend", sagte er rau und bewundernd. "Es ist so dicht, aber wenn ich es in der Hand halte, fühlt es sich nach nichts an. Wie Spinnweben oder Rauch." Sie lächelte und meinte: "Also, mir ist Rauch lieber als Spinnweben." Aber er lachte nicht. Sein wettergegerbtes Gesicht blieb ernst. In dem bläulichen Licht auf dem Parkplatz erschien es ihr fast streng. Er begegnete gerade noch lange genug ihrem Blick, so dass sie seine Absicht erkannte, ehe er ihre Lippen mit seinem Mund berührte und ihr das dichte Haar gegen den Hinterkopf drückte. War sie jemals zuvor geküsst worden? Wenn ja, so konnte sie sich nicht daran erinnern. Es war nie so gewesen wie diesmal. Alles war neu, die feuchte Wärme seiner Lippen, der sachte Druck, und wie er schmeckte, etwas nach Wein und den Gewürzen. Er forderte nicht, versuchte nicht, sie zu erobern, sondern zu verführen. Er umwarb sie mit seinen Lippen, mit der zärtlichen Berührung, bis sie sich für ihn wie von selbst öffnete, ihn willig aufnahm, dann hingebungsvoll seinen erregenden Kuss erwiderte. Sie umklammerte seine Arme und wollte sich von ihm lösen, konnte es aber nicht. Er hielt ihr Gesicht mit sanftem Nachdruck umrahmt und strich ihr mit den Fingerspitzen durchs Haar. Ihr Atem ging schwerer, Tränen traten ihr in die Augen und schnürten ihr den Hals zu. Sie hörte ihn etwas murmeln, spürte, wie er Worte formte, hatte aber keine Ahnung, was er sagte. Er strich mit dem offenen Mund sacht über ihre Lippen, immer wieder hin und her. Er fuhr spielerisch mit der Zunge darüber, bis Toby leise aufstöhnte und sich ihm verlangend entgegenreckte. Er gab ihr, was sie begehrte. Sie hörte ein leises, zufriedenes Lachen von ihm. Er ließ ihr Gesicht los, strich mit den Händen über ihren Körper und fasste unter ihren Mantel, streichelte ihre Taille und tastete sich höher, bis er ihre Brüste umfassen konnte. Als er deren Knospen berührte, durchfloss es sie heiß, bis ins tiefste Innere. Panik erfasste sie. Verwundert stellte sie fest, das ist zuviel und zu früh. Ich bin noch nicht bereit dazu. Ihr verzweifelter Aufschrei wurde von ihren Lippen gedämpft, aber er hörte ihn. Sie merkte sofort, wie er sich verspannte. Als sie sich diesmal gegen ihn stemmte, gab er sie frei. Sie rang nach Luft und sagte: "Du hast wohl viel Erfahrung darin." Er zuckte zusammen, als hätte sie ihn geohrfeigt. "Was, zum Teufel, soll das heißen?"
Obwohl ihre Nerven angespannt waren, schaffte sie es, einen fröhlichen Ton anzuschlagen. "Du kannst das so gut. Tut mir leid, ich nicht." Stony hob den Kopf und brummelte. Tobys Worte überschlugen sich fast: "Immerhin bist du so lange allein gewesen, wie ich verheiratet war. Ich habe in meinem Leben nur mit einem Mann geschlafen." "Hör mal..." Die Worte kamen recht ungeduldig bei ihm. "Ich will dir ja nicht weismachen, dass ich wie ein Mönch gelebt habe. Aber verflixt noch mal, ich bin auch kein Playboy. Ich suche mir wirklich aus, wen ich küsse. Ich wollte dich küssen. Bist du mir deshalb böse?" Er spürte, wie er sich beruhigte, als er sie ansah. Ein Blick, und sein Zorn löste sich in Luft auf. Er strich ihr sacht über die Wangen und sagte leise: "Ich mag dich. Du bist liebenswürdig, intelligent und sehr attraktiv. Du hast wunderschöne Augen und eine verführerische Stimme. Dein Haar ist weich, deine Haut samten, und du duftest so gut. Es gefällt mir, dich zu küssen. Aber Toby, wenn du es nicht möchtest, musst du es mir sagen. Ist das so schwer? Du willst nicht von mir geküsst werden?" Ihre Augen leuchteten. Der Himmel spiegelte sich darin wider. "Nein", flüsterte sie. "Das ist es nicht. Ich will ja... viel zu sehr." Sie senkte ihre dunklen Wimpern. "Stony, es ist so lange her, seit mich jemand im Arm gehalten und angefasst hat..." "Länger als sechs Monate?" fragte Stony leise und streichelte ihre Wange. Sie nickte, und er fühlte die warmen Tränen an seinen Fingern vorbeirinnen. "Ja. Ich sehne mich danach, Stony, das gebe ich gern zu. Aber ich bin sehr verletzlich und habe Angst." "Sag das dem verkehrten Mann, Lady, und du kannst schnell in Schwierigkeiten stecken." Seine Stimme klang rau, wie immer, wenn er sich besonders stark berührt fühlte. Toby schluchzte leise auf und versuc hte zu lächeln. "Du meinst, bei dir nicht?" Stonys Miene veränderte sich nicht. "Nein", bekräftigte er ernst, "auf keinen Fall. Ich meine das wirklich so. Wir gehen nur so weit, wie du willst, so schnell du willst. Ich sage dir gleich, ich will mit dir schlafen, und ich komme dir so nah, wie du mich ranlässt. Aber..." Er strich ihr mit dem Daumen über die Wange. "Wenn du es sagst, werde ich sofort aufhören, hast du verstanden? Jederzeit." Sie nickte und schniefte leicht. Ehe sie sich mit der Hand übers Gesicht fahren konnte, beugte er sich zu ihr hinunter und küsste sie, kostete den Salzgeschmack auf ihren Lippen. Du lieber Himmel, dachte er, als ihn erneut diese unglaubliche Wärme durchströmte, auf was lasse ich mich da ein? Er löste sich von ihr und erkundigte sich rau: "Wo ist dein Wagen?" "Da." Sie deutete in eine bestimmte Richtung und griff dann m ihre Handtasche, um ihre Schlüssel zu suchen, wie er annahm. Nachdem sie die gefunden hatte, reichte sie sie ihm ohne aufzuschauen und suchte erneut in ihrer Tasche. "Mist", schimpfte sie, "wenn man ein Taschentuch braucht, hat man keins!" "Nimm ruhig meinen Ärmel hier", bot Stony ihr gespielt höflich an. "Oder mein Hemd oder irgend etwas anderes von mir, ganz wie du möchtest." Er freute sich riesig, als sie darüber lachte. "Der da?" fragte er kurz danach und musterte skeptisch eine Limousine mit unbestimmbarer Farbe und von fortgeschrittenem Alter. Japanisch, dachte er, aus einer Zeit, als die japanischen Wagen preiswert waren, und liebevoll "Blechdosen" genannt wurden. Toby bejahte. Ohne eine Bemerkung zu machen, öffnete er die Tür für sie, reichte ihr die Schlüssel und wartete, bis sie eingestiegen war und den Motor gestartet hatte. Dann warf er die Tür zu. Gleich darauf drängte es ihn, sie unbedingt noch mal anzufassen. Er klopfte gegen das Fenster, Sofort wurde es heruntergekurbelt. "Ich rufe dich an", sagte er und stützte sich mit den Händen auf dem oberen Rand der Scheibe auf. Toby wandte sich ihm zu. Ihr Gesicht wirkte blass in dem künstlichen Zwielicht. "Ich muss morgen wieder arbeiten. Bin nur für den Tag der Väter hergeflogen. Aber wir
haben die Sache bald abgeschlossen, wahrscheinlich sind wir bis Thanksgiving fertig. Ich rufe dich an, wenn ich zurück bin, ja?" Ihre Lippen bewegten sich, sie formte ein Ja. Er beugte sich zu ihr hinunter und hauchte einen Kuss auf ihre Stirn, dann richtete er sich auf und gab der Wagentür einen kleinen Klaps. "Gute Nacht, Mrs. Thomas." Er blickte ihr nach, wie sie vom Parkplatz fuhr und wusste nicht, warum er sie hatte fahren lassen, ohne sie zu fragen, warum sie als Witwe eines so reichen Mannes einen klapprigen Datsun fuhr und die Stelle einer Heimleiterin annehmen musste. "Mrs. Thomas?" Ein blonder Kopf erschien im Türrahmen von Tobys Büro. "Telefon. Da ist derselbe Mann am Apparat, der vorhin schon mal angerufen hat. Was soll ich ihm sagen?" "Dasselbe wie vorhin", antwortete Toby mit einer Gelassenheit, die sie nicht empfand. "Dass ich über die Feiertage abgereist bin und Sie nicht wissen, wo man mich erreichen kann." Die junge Frau zuckte mit der Schulter und sagte: "In Ordnung." Toby hauchte ein leises "Danke, Paige", doch der Türrahmen war bereits leer. Sie gab es auf, noch länger Arbeit vorzutäuschen, stand auf und schlenderte in den Flur hinüber, der mit den vielen Taschen, Tüten und Rucksäcken zu einer Art Hindernisparcours geworden war. "Wer ist noch da?" erkundigte sie sich bei Paige, die gerade aus der Telefonnische zurückkam. "Nur Katie, Terry und ich. Wir fahren mit einem Taxi zum Flughafen. Ich habe gerade eines bestellt. Es müsste jeden Moment kommen." "Na ja, prima. Dann..." Toby brach ab, da Paige die Treppe hinauflief, um weiteres Gepäck zu holen. Toby rief ihr noch nach: "Fröhliche Feiertage!" Amüsiert betrachtete sie den Stapel Gepäck im Flur und überlegte, ob es wirklich mit einem Taxi getan sein würde. Da meldete sich eine leise Stimme hinter ihr. "Ihnen auch, Mrs. Thomas." Es verwirrte sie nicht mehr, dass ein Mann mit der Körpergröße des Kochs sich so leise bewegen konnte, dass man ihn nicht kommen hörte. Sie wandte sich ihm lächelnd zu: "Danke, Malcolm, Ihnen auch. Wollen Sie schon gehen?" "Ja. Ich habe Ihnen etwas für Ihr Thanksgivingessen ins Kühlfach gestellt." "Malcolm, ich habe Ihnen gesagt, Sie sollten..." Er schaute sie nur an, da verstummte sie. Seine dunklen Augen hielten ihrem Blick stand, während er in seine fransenbesetzte Lederjacke schlüpfte, dann sagte er mit seiner rauchigen, leisen Stimme: "Mrs. Thomas, passen Sie auf sich auf. Wenn Sie etwas brauchen, rufen Sie mich an." "Das werde ich. Danke." "Ich bin jetzt weg. Bis Montag." "Ja", sagte Toby. "Wiedersehen." Eine Hupe war in der Einfahrt zu hören. Das Taxi war gekommen. Malcolm blieb noch, um sich von den drei jungen Frauen zu verabschieden, die die Treppe heruntergelaufen kamen, dann war er weg, verschwand durch die Küche nach draußen. Es herrschte noch ein reges Treiben, bis die drei ihre Sachen eingepackt hatten und abgereist waren. Plötzlich fand Toby sich allein in der Stille. Doch sie währte nicht lange. Hinter ihr in der Nische schrillte das Telefon. Toby blieb, wo sie war, und zählte die Sekunden, während sich jede Faser ihres Körpers verspannte. Zum zweitenmal... zum drittenmal. Beim vierten Läuten klickte es. Und dann: "Hallo, hier ist das Gamma Pi- Studentenheim. Es ist niemand da, weil wir alle über Thanksgiving nach Hause gefahren sind..."
Toby hörte sich den Rest nicht an. Sie ging mit schnellen Schritten den Flur entlang zur Küche. Es war fast wie eine Flucht. Im Kühlschrank fand sie einen kleinen Puter, etwa drei bis vier Kilo schwer, mit Füllung und backfertig vorbereitet. Ein kleiner Zettel klebte an der Aluminiumfolie, in die er eingewickelt war. "Bei 180 Grad vier Stunden backen", stand in schwarzen Buchstaben darauf. Dick unterstrichen folgte: "Nicht länger!" Darüber musste sie lächeln. Malcolm nahm das Kochen wirklich ernst. Sie legte den Zettel auf die Anrichte, ging in ihr Büro zurück und stellte den Computer an. Vier .Ta ge Ruhe und Stille, dachte sie. Vier Tage, in denen sie ihre Seminararbeit für Psychologie anfertigen konnte, die zum Ende des Quartals fällig war. Vier Tage, in denen sie ihren Lesestoff durcharbeiten, ihre Notizen sortieren und sich auf ihre Abschlussprüfung vorbereiten konnte, die in ein paar Wochen auf sie zukam. Es lag ihr etwas daran, das Prüfungsziel zu erreichen. Sie musste es zumindest sich selbst beweisen, wenn sonst niemandem. Sie musste einfach für sich allein sein und die Zeit nutzen. Vier Tage... Der Computer surrte geduldig. Der Bildschirm blieb jedoch leer. Draußen fuhr der Stadtbus vorbei, Abschiedsrufe von den anderen Studentenheimen wehten herüber. Eine Wagentür wurde zugeschlagen. Wieder herrschte Stille, die nur von dem lauten Ticken der Standuhr im Empfangsraum auf der anderen Seite des Flurs unterbrochen wurde. Toby fiel auf, dass das Telefon eine Weile nicht mehr geläutet hatte. Zweimal hatte sie es noch gehört, als sie in der Küche gewesen war, aber seitdem nicht mehr. Irgend wie war sie enttäuscht. Sie wartete förmlich auf einen Anruf. Sie nahm sich sogar vor, dann an den Apparat zu gehen. Es musste ja nicht Stony sein, und wenn schon, was machte es ihr aus, mit ihm zu sprechen? Es war kindisch, sich so zu benehmen. Wenn sie sich nicht traute, mit ihm auszugehen, konnte sie ihm das zumindest persönlich sagen. Aber das Telefon läutete nicht. Schließlich stellte sie den Computer ab, holte ihre Gitarre raus und ging damit in den Vorgarten. Dort stand eine Schaukel, auf der die Studentinnen sich häufig fotografieren ließen. Toby machte es sich bequem, hob die Gitarre auf den Schoß und schlug ein paar zaghafte Akkorde in der heraufziehenden Novemberdämmerung an. Die folgenden Töne nahm sie tief in sich auf, bis sich eine wohltuende Wärme in ihr ausbreitete und der Sturm in ihrer Seele sich legte. Als sie sich besser fühlte, begann sie zu den Melodien zu singen, wahrend rosa Blütenblätter von dem Baum über ihr wie Schneeflocken herunterdrifteten. Den schwarzen Sportwagen mit den getönten Fenstern bemerkte sie nicht eher, bis er in der Einfahrt neben ihr hielt. Da hörte sie auf zu spielen, legte eine Hand flach über die Saiten und erstickte die letzten Töne. Sie setzte sich langsam auf, spürte ihren Puls klopfen und sah, wie das Wagenfenster auf der Fahrerseite herunterglitt. "Hallo, Mrs. Thomas!" sagte Stony freundlich zu ihr. "War die Fahrt angenehm für Sie?"
6. KAPITEL
Zuerst war Stony verärgert gewesen. Verärgert, dass sie nicht mit ihm reden wollte und sie ihn belo gen hatte. Gerade war er richtig wütend geworden, als er hier angehalten hatte und sie da auf der Schaukel sitzen sah. Sie sang fröhlich ein Lied und merkte nicht, welchen Aufruhr sie in sein Leben gebracht hatte. Doch Stonys Wutanfalle waren wie ein Feuerwerk - laut, farbig und harmlos. Der letzte Funken war schon verglüht, ehe er aus dem Wagen stieg. Allerdings erleichterte ihn das kein bisschen. Weit gefehlt! Zorn war einfach und unkompliziert. Er wünschte sich wirklich, er könnte wütend bleiben. Aber Toby hatte ihn so beschäftigt und verwirrt, dass er nicht mehr wusste, was er empfand und was er wollte. Als sie sich geweigert hatte, mit ihm zu sprechen, hatte er es für richtig gehalten, sie in Ruhe zu lassen. Sie war offenbar noch nicht bereit, eine neue Beziehung einzugehen, und da er es ihr überlassen hatte, wie es zwischen ihnen weitergehen sollte, musste er ihre Entscheidung akzeptieren. Aber dann hatte er sich doch seinen Mantel und die Schlüssel genommen, sich ins Auto gesetzt und war zu ihr gefahren. Jetzt, wo er sie auf der Schaukel sitzen sah, wusste er, dass er nicht tatenlos abwarten konnte. "Chris ist nicht hier", sagte sie und stand auf, als er die Treppe heraufkam. Sie wirkte wie ein Kind, das bei einer Lüge ertappt worden ist. "Sie ist in Skiurlaub mit..." "Ich weiß", unterbrach Stony knapp. "Ich will zu dir." Er hörte ein leises Geräusch, als ob sie überrascht nach Luft geschnappt hätte. "Warum? Ich meine, woher wusstest du, dass ich hier bin? Ich habe dir ausrichten lassen, dass ich über Thanksgiving verreist wäre." "Ich habe noch mit Chris gesprochen, ehe sie aufbrach. Sie sagte mir, du wärst hier. Ich habe gehofft, dass du noch da bist." "Ach so." Sie zog ihre Unterlippe zwischen die Zähne und sah sich suchend um. Dabei fiel ihr Blick erleichtert auf die Gitarre. Sie griff danach und rief: "Du lieber Himmel, ich habe gar nicht gemerkt, dass es schon so spät ist. Ich habe mich nur hier draußen hingesetzt, um mich ein paar Minuten zu entspännen, dabei habe ich jegliches Zeitgefühl verloren. Ich habe bis jetzt noch nicht mal gepackt." Sie log nicht gern, das merkte er sofort. Sie konnte es auch nicht gut. Sie konnte nicht mal ihre Hände stillhalten. Ihre Augen leuchteten, ihre Wangen waren zu rosig, und sie schwitzte. Andererseits hätte er sie hübsch gefunden, wenn er nicht so verärgert gewesen wäre. Er wusste nicht, ob er sie küssen oder lieber schütteln sollte. "Um wieviel Uhr fährst du denn?" fragte er und bemühte sich um einen gleichmütigen Ton. "Hm, wenn ich fertig bin." Sie versuchte, unbekümmert zu reagieren, klang aber recht gequält. "Das ist das schöne, wenn man allein ist, man braucht auf niemand Rücksicht zu nehmen. Aber ich glaube, ich mache mich jetzt lieber auf den Weg. Ich fahre nämlich nicht gern so spät am Abend." "Wo willst du denn hin?" erkundigte sich Stony interessiert und hielt mit ihr Schritt, als sie zur Haustür hinüberwich. "Eh, nach San Diego. Ich... ich habe dort ein paar Freunde, mit denen ich Thanksgiving verbringen will." "Ich verstehe", murmelte Stony wenig begeistert. "Erwarten deine Freunde dich? Wo es schon so spät ist; solltest du sie vielleicht lieber kurz anrufen." Sie warf ihm einen beunruhigten Blick zu, dem er mit einem gleichmütigen Lächeln begegnete. "Der Verkehr ist wirklich dicht. Viele sind unterwegs, weißt du. Im Radio haben sie gesagt, auf sämtlichen Freeways, die aus der Stadt führen, stockt der Verkehrsfluss sozusagen." An der Haustür zögerte sie. Bestimmt überlegte sie, was sie ihm sagen sollte, damit er gehen und sie allein lassen würde. Aber das hatte er nicht vor, nicht eher, bis er herausgefunden hatte, was er wissen wollte. Deshalb griff er nach der Tür, wollte sie öffnen und legte Toby dabei eine Hand auf die Schulter. Sie erschauerte, was ihm gleich eine Frage beantwortete.
"Möchtest du, eh, vielleicht einen Kaffee?" fragte sie irgendwie hilflos. Das Beben ihres Körpers übertrug sich auf ihre Stimme. Im Flur war es dunkel, und Stony war ihr näher, als es ihr recht war. Oder vielleicht nicht nah genug. Ihm war es auf jeden Fall nicht nah genug. Stony musste seine ganze Selbstbeherrschung aufbringen, um nicht überstürzt zu handeln. "Das wäre nett", sagte er leise. "Danke." "Bitte, nimm Platz. Mach es dir bequem." Sie flüchtete sich erleichtert in die üblichen gastfreundlichen Floskeln. "Es dauert nur ein paar Minuten..." Aber statt in den Wohnraum hinüberzugehen, wie sie ihm gezeigt hatte, folgte Stony ihr den Flur entlang zur Küche. "Ich hoffe, Chris und Kim sind nicht im Verkehr steckengeblieben", meinte Toby in fröhlichem Ton, während sie an ihm vorbeihuschte, um das Licht anzumachen. "Sie sind ziemlich spät weggekommen. Ich glaube, es war fast vier Uhr, als Kims Vater die beiden hier abgeholt hat." Sie hantierte eifrig in der Küche herum, während sie drauflos plauderte, und lief zwischen der Spüle und der Mikrowelle hin und her. "Es ist so eine weite Fahrt bis Mammoth, eine ermüdende Strecke, wenn man erst mal..." "Ich glaube, sie wollten fliegen", unterbrach Stony sie wie abwesend. Er hatte einen kleinen gelben Notizzettel auf der Anrichte entdeckt - mit Kochanweisungen. Er nahm ihn auf. "Ich hoffe, du magst löslichen Kaffee. Alles andere ist weggeräumt worden. Willst du Sahne und..." Sie wandte sich um, und das strahlende Lächeln, das sie für ihn aufgesetzt hatte, verschwand. "... und Zucker?" "Toby, warum hast du das getan? Warum hast du gelogen?" Zorn stieg erneut in ihm auf, nachdem er einen Beweis für ihre Lüge hatte, obwohl er es natürlich von Anfang an geahnt hatte. "Ich hatte dir doch gesagt, ich würde dich anrufen, wenn ich zurück wäre. Wenn du dich nicht mit mir treffen wolltest, hättest du es mir nur zu sagen brauchen. Was sollte das? Hattest du Angst vor mir? Ich hätte nie gedacht, dass du mich mit so einem feigen Trick versuchst abzuwimmeln." Er fasste sie bei den Schultern und ließ sie gleich darauf wieder los. Er strich ihr sacht über die Arme. Gepresst sagte er: "Verdammt, Toby. Ich habe dir vor Wochen gesagt, was ich für dich empfinde. Nur weil ich da draußen auf dem Schiff war, hat sich meine Meinung nicht geändert. Ich möchte mit dir Zusammensein. Ich möchte dich näher kennenlernen, dich besser verstehen. Aber ich habe dir gesagt, ich würde mich dir anpassen, und das habe ich auch gemeint. Wenn du mir nicht glaubst, wenn du immer noch Angst hast, wenn du nichts mit mir zu tun haben willst, verdammt noch mal, dann sag es mir ins Gesicht!" Als er verstummte, war es plötzlich auffallend still, da wurde ihm bewusst, dass er sehr laut gesprochen haben musste. Chris hätte ihn ermahnt, nicht so zu schreien. Toby stand gelassen da und nahm es einfach hin. Sie machte die Augen zu, als hätte sie sich so davor wappnen können. Er holte tief Luft und begann erneut, leiser "Woran liegt es, Toby? Willst du mich nicht sehen?" Sie schüttelte den Kopf und flüsterte: "Nein." Stony hielt den Atem an. "Nein, das ist es nicht, oder nein, du willst mich nicht sehen?" "Nein, das ist es nicht." Er atmete durch. "Vertraust du mir nicht?" "Nein." "Nein, das ist es nicht, oder nein, du vertraust mir nicht?" Ein gequältes Lachen kam über ihre Lippen. "Nein, das ist es nicht." "Was dann?" Sie hob ihre Hände abwehrend hoch. Sofort ließ er sie los. "Ich habe..." Ihr versagte die Stimme. Erst nach einigen Sekunden fuhr sie im Flüsterton fort: "Meine Gefühle haben sich auch nicht geändert. Ich vertraue mir selbst nicht. Ich habe es nicht gewagt, mit dir zu sprechen, weil ich wusste, dass ich dir nicht widerstehen kann."
"Warum willst du mir denn unbedingt widerstehen?" Sie sah zu ihm auf. Die Qual der Selbstzweifel stand ihr im Gesicht geschrieben, und Stony ließ seine Hände hilflos sinken. Er erreichte Toby nicht. Er glaubte aber zu verstehen, was in ihr vorging. Er spürte, dass beides, die Sehnsucht und die Angst, die sie empfand, ein und dasselbe waren. Er verstand, dass es für sie qualvoll und verwirrend war, aber er wollte nicht akzeptieren, dass sie sich deshalb tatsächlich nicht sehen sollten. Er wollte ihr sagen, dass alles in Ordnung war, dass es sich von allein ergeben würde, wenn sie es auf sich zukommen ließ. Aber er schien sich nicht mit ihr verständigen zu können. Er schaute zur Decke auf, als hätte er dort eine Lösung finden können. Er schimpfte leise und versuchte es dann einfach. "Hör mal, meine Gefühle für dich sind nicht sehr kompliziert. Ich bin kein komplizierter Mensch. Ich sage immer alles, so wie ich denke, so wie ich fühle. Ich werde dich nie belügen. Bei mir wirst du immer wissen, woran du bist." Er hatte die Hände zu Fäusten geballt, um nicht nach ihr zu greifen, aber dann änderte er plötzlich seine Meinung, legte ihr seine Hände auf die Schultern und ließ sie über ihren Nacken in ihr Haar gleiten. "Toby", sagte er mit belegter Stimme. Ihre Augen schienen sich zu verdunkeln, und ihre Lippen wirkten einladend auf ihn. "Ich weiß, dass deine Gefühle komplizierter sind als meine. Ich möchte es dir nicht schwer machen, sondern erleichtern. Ich möchte nicht, dass du Angst hast - vor dir oder mir oder sonst etwas. Findest du nicht, es wäre hilfreich, wenn wir uns besser kennenlernen?" "Klingt vernünftig." Ihre Worte kamen, als wäre sie wie benommen. Stony lächelte und streichelte sie zärtlich im Nacken. "Ja", sagte er leise, "natürlich ist das vernünftig. Je besser wir uns kennen, desto einfacher ist es." Er hatte keine Ahnung, wie naiv das von ihm war. Und sie offenbar auch nicht. Sie machte die Augen zu. Ihr Lachen klang heiser und erzeugte eine wohltuende Wärme bei ihm. Verdammt, dachte er, mit dem, was sich zwischen uns von allein abspielt, brauchen wir wirklich nur etwas Zeit zusammen verbringen, und die Dinge werden ihren Lauf nehmen. Eine Annäherung ist unausweichlich. Ihre Lippen sahen so einladend aus. Er konnte sich kaum zurückhalten. "Weißt du, was wir machen sollten?" Seine Stimme klang rau und unsicher. Ohne die Augen zu öffnen, fragte sie: "Hm?" "Ich finde, wir sollten Thanksgiving zusammen verbringen." Sie schlug die Augen auf, ohne ihn richtig anzusehen. "Thanksgiving mit dir... verbringen?" "Klar." Er legte ihr die Hände auf die Schultern und drückte sie sacht. "Du bist allein, ich bin allein. Und wie man so schön sagt, niemand sollte über Thanksgiving allein sein. Also kommst du zu mir rüber, mit deinem Wagen, damit du jederzeit fahren kannst. Ich hole einen Puter..." "Ich habe schon einen", warf sie ein. "Gut. Bring ihn mit, und wir schauen mal, was wir dazu machen können. Na, wie findest du das?" "Prima", antwortete sie und räusperte sich, ehe sie hinzufügte: "Um wieviel Uhr?" "Um wieviel Uhr? Eh, wie lange braucht man, um einen Puter zu garen?" fragte er. "Vier, vielleicht fünf Stunden, nicht wahr? Also warum kommst du dann nicht gegen Mittag? Wir können den Puter in den Ofen schieben und ihn nachmittags essen. Hast du das als Kind auch gemacht?" Sie sah mit großen, strahlenden Augen zu ihm auf. Es hatte eine verzaubernde Wirkung auf ihn, wenn sie das tat. Er fühlte sich unglaublich glücklich. So glücklich wie noch nie. Er hätte am liebsten laut gejuchzt. Er redete einfach weiter, um sie nicht an sich zu reißen und sich mit ihr im Kreis zu drehen, bis ihr schwindlig wurde. "Bis das Essen auf den Tisch kam, hatte ich keinen Hunger mehr, weil ich vorher immer Oliven, Mohren und andere Zutaten heimlich weggefuttert habe. Das beste war immer, wenn
mein Vater den Puter anschnitt. Er hat die knusprigen, fetttriefenden Hautstücke abgezogen und uns Kindern gegeben... Die sind ja nicht so gesund, nicht wahr? Heute kann ich sie nicht mehr ohne Gewissensbisse essen. Die Wissenschaftler haben jedenfalls eine Art, einem die Freude zu verderben, stimmt's?" Sie lachte leise. Er strahlte sie an. "Dann sind wir also verabredet? Am besten gebe ich dir wohl noch meine Adresse." Er zog einen Stift aus der Tasche und kritzelte ihr die Adresse auf die Rückseite des gelben Notizzettels. "Bis morgen", sagte er, hob ihr Kinn mit dem Daumen an und drückte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Lippen. Ehe er sich zu mehr hinreißen ließ, wandte er sich ab und ging. "Hallo, komm herein!" begrüßte Stony sie lächelnd, als er Toby tags drauf die Tür öffnete. "Hallo!" erwiderte sie angenehm erregt, konnte aber seiner Einladung in den Flur nicht sofort Folge leisten, weil ihre Knie weich geworden waren. Stony nahm ihr den in Folie verpackten Puter ab und musterte sie nachdenklich. Er konnte sich vorstellen, was in ihr vorging, und berührte behutsam ihren Ellbogen. "Komm rein, Rotkäppchen." Sie lächelte über seinen Scherz. "Sieht man es mir so deutlich an?" Seine Augen strahlten. "O ja." "Also", sagte sie und schob ihre Hände tief in die Manteltaschen. "Eine hübsche Gegend hier. So ruhig." Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte. Sicherlich nicht ein so gepflegtes kleines Cape Cod mit weißer Fassade und grauen Schindern. "Meine Eltern haben das Haus gebaut", erklärte Stony. "Sie kommen ursprünglich von New England." Er lächelte. "Es war die ideale Gegend, um ein Kind großzuziehen, bis auf das Fahrrad fahren." Er räusperte sich. "Eh, Toby?" "Ja?" Immer noch amüsiert meinte er: "Ich bin kein Wolf im Schafspelz. Ich hatte nicht vor, dich zu Thanksgiving zu verspeisen. Du kannst ruhig hereinkommen." "Ich weiß", sagte Toby. "Ich bin auch nicht nervös." In dem Moment, wo sie es aussprach, merkte sie, dass es stimmte. Es war etwas anderes, wovon ihre Knie so weich geworden waren. "Freut mich, dass du nicht nervös bist", sagte Stony, fasste sie am Arm und zog sie über die Schwelle. "Weil ich nervös bin. Ich habe den ganzen Morgen aufgeräumt und saubergemacht." "Das brauchtest du doch nicht." "Irrtum!" Er lachte trocken. "Einmal in der Woche kommt eine Reinigungsfirma, im allgemeinen donnerstags. Nur diese Woche nicht. Ich bin kein ordentlicher Mensch. Hier entlang geht es zur Küche." Innen war das Haus kleiner als erwartet, sehr traditionell und sehr gemütlich. Es gab Parkettböden und geknüpfte Teppiche, hochglanzpolierte Nussbaummöbel, hohe Regale mit vielbenutzten Büchern und Bilder von Segelschiffen. Christines High SchoolAbschlussporträt und ein kleineres Bild von ihr als Kind hatten einen Ehrenplatz über dem Klavier bekommen. Tobys Herz machte einen Satz, als sie das Klavier sah, aber sie konnte es nur kurz anfassen, da zog Stony sie schon mit sich weiter, durch das Esszimmer in die Küche. Das einzige Zeichen von Stonys Unordnung, das Toby sehen konnte, war ein Sweatshirt auf einem Hocker in der Küche. Er entdeckte es auch, nahm es rasch an sich, knüllte es zusammen und warf es durch eine Tür am anderen Ende der Küche, wo es nur um Haaresbreite einen überfüllten Wäschekorb verfehlte. Toby musste an sich halten, um nicht laut aufzulachen. Sie wandte sich hastig ab, damit Stony ihr verräterisches Lächeln und ihren amüsierten Blick nicht sehen konnte. Sie trat an das Fenster über der Spüle und blickte auf eine Schaukel, einen Sandkasten und ein Spielhaus mit Veranda und Fenstern. Chris hatte eine glückliche Kindheit gehabt. Auch wenn Stony immer das Gegenteil behauptete, er musste ein wunderbarer Vater gewesen sein.
Sie spürte es so sicher, wie sie seine Nähe fühlen konnte, während er sich über den Backofen beugte. Etwas verkrampfte sich in ihr. Sie hatte es seit Jahren nicht mehr empfunden. Sie hatte schon geglaubt, darüber hinweg zu sein. Es war die Sehnsucht nach etwas, wovon sie wusste, dass sie es nie haben würde. Es traf sie so unerwartet, dass sie es nicht verbergen konnte. "Was hast du?" fragte Stony leise hinter ihr. Sie wandte sich um, blinzelte und lächelte zu ihm auf. "Nichts. Bloß... aufgewühlt, nehme ich an." "Positiv?" Seine Miene blieb ernst, besorgt. Sie nickte. "Ja." Er wischte ihr die Träne weg, die sie nicht hatte zurückhalten können. "Froh, dass du gekommen bist?" "Aber ja." Das letzte Wort war kaum mehr als ein Flüstern. Er berührte liebevoll ihre Wange. Toby spürte, wie er zögerte, und es erschütterte sie bis ins Innerste, wenn sie daran dachte, dass ein Mann wie er - so ungestüm und kräftig, so geradeaus und selbstbewusst ihretwegen unsicher sein konnte. Mit der Zärtlichkeit, die in ihr aufkeimte, umfasste sie seine Hand, wunderte sich über die Kraft und Feinfühligkeit zugleich, betastete seine Knöchel und verglich die Breite seiner Handfläche mit ihrer. Sie fasste ihn an und nahm die Gefühle in sich auf. Es kann sich doch nicht so wunderbar anfühlen, dachte sie. Das ist unmöglich. "Aber Großmutter", fragte sie mit einem leisen Auflachen, "was hast du für große Hände?" "Toby." Er musterte sie aufmerksam. "Was machst du da?" Sie schloß ihre Augen und schmiegte eine Wange an seine Hand. "Das ist nicht die richtige Antwort", flüsterte sie. "Im Moment bin ich sprachlos. Heißt das, deine Gefühle haben sich verändert?" "Nicht meine Gefühle", hauchte Toby, "sondern mein Denken. Im Herzen habe ich immer noch Angst." Er strich ihr zärtlich über die Wange. "Ich auch", sagte er leise und beugte sich über sie, um sie zu küssen. "Sag mir, wenn ich zu schnell bin. Denk daran, du hast die Kontrolle." Was natürlich albern war. Es ging ihr schon alles viel zu schnell. Aber wie ein Kind, das einen steilen Berg zu hastig hinunterläuft, konnte sie nicht innehalten. Sie hoffte lediglich, dass es gutging. Seine Lippen fühlten sich glatt und fest an, sein Atem war warm und duftete angenehm nach Zahnpasta. Er berührte ihren Mund und wartete, dass sie ihren öffnete, ehe er den Kuss vertiefte. Dann ging er so langsam vor, dass ihr Verlangen sich steigerte. Sie stöhnte leise auf und umklammerte sein Handgelenk, als wäre es ihr einziger Halt. Er strahlte keinerlei Unsicherheit mehr aus und ließ ihr absichtlich Zeit, damit sie ihn mit jeder Faser ihres Körpers spüren konnte, und merkte dabei nicht, dass es für sie fast unerträglich wurde und sie in Panik geraten ließ. Du lieber Himmel, dachte sie, ich kann das nicht mehr aushalten, mein Herz klopft rasend schnell. Es kam ihr so vor, als wäre sie auf einem Karussell, das außer Kontrolle geraten war. Sie hatte Angst, und ihr war schwindlig. Da spürte sie, wie er sich von ihr löste und ihre Schultern umfasste. Das Schwindelgefühl ließ nach, doch sie nahm um sich herum kaum etwas wahr. "Schon gut", sagte er und beruhigte sie. "Ich höre auf, wenn du es willst." Sie schüttelte den Kopf. "Ich kann es kaum aushalten, aber ich möchte nicht, dass du aufhörst. Bin ich verrückt?" "Du bist nicht verrückt", antwortete er mit einem zärtlichen Lächeln. "Ich möchte, dass du es kaum aushalten kannst, wenn ich dich anfasse. Das befriedigt mein männliches Ego." "Gern geschehen", murmelte Toby und lehnte sich benommen bei ihm an. Er nahm sie in die Arme, ließ seine Hände langsam an ihren Seiten heruntergleiten, so dass sie erschauerte.
"Hält mich fest", flüsterte er gegen ihre Lippen. „Fass mich auch so an." Sie machte, was er sagte, und spürte zu ihrem Erstaunen seine Wärme und seine Kraft unter ihren Händen. Wie sollte sie darüber jemals die Kontrolle haben? Sie war restlos überwältigt. "Wenn ich dich anfasse", fragte sie, "kannst du es dann auch nicht mehr aushalten?" "Das kann ich dir fast garantieren." Sie wollte ihm das nicht recht glauben. Sie besaß nicht so viel Erfahrung oder Geschick wie er. So konnte sie bei ihm kaum das heftige Verlangen erzeugen, was er bei ihr weckte. Er blieb stehen wie ein Fels, während ihre Beine sie kaum mehr tragen konnten. "Zieh mein Hemd hoch", raunte er ihr zu und strich ihr mit der Zungenspitze über die Unterlippe. "Ich möchte deine Hände auf meiner Haut fühlen." Obwohl sie zitterte, kam sie seiner Bitte nach und schob ihre Hände unter sein Hemd. Sie streichelte seinen flachen Bauch und ließ ihre Hände über seinen Rücken gleiten. Als er leise aufstöhnte, fühlte sie sich angenehm überrascht und ermutigt. So sehr sogar, dass sie, als er sich von ihr löste und ihr einen Kuss auf die Schläfe drückte, leise zu ihm sagte: "He, bist du jetzt nicht dran?" Er umfasste ihre Taille. "Ach, Toby." Er schaute sie an und fragte: "Bist du sicher, dass du das möchtest?" "Ja", antwortete sie, "auf jeden Fall." Sie hielt unwillkürlich die Luft an, während er ihr die Bluse aus der Hose zog, und atmete hektisch aus, als sie seine Hände auf ihrer Haut spürte. Sie weinte und lachte gleichzeitig. So glücklich hatte sie sich noch nie gefühlt. Seine Hände waren groß. Er konnte ihre Taille damit umspannen, streichelte sie vorn und im Rücken, berührte dabei auch Stellen, wo sie kitzelig war, aber das merkte sie gar nicht. Sie fühlte nur seine Hände und genoss die Zärtlichkeiten. Als er mit den Daumen ihre Brüste streifte, spürte sie, wie die sich spannten. Der BH war ihr ein Hindernis. Schon wollte sie ihm sagen, wo der Verschluss war. Doch da hatte Stony ihn bereits gefunden und geschickt geöffnet. Mit einem Seufzer bog sie sich ihm entgegen, drängte sich an ihn. Er küsste sie auf den Hals, ließ seine Zunge über ihre Haut gleiten, bis ihr Atem heftiger ging. "Das ist gut", keuchte sie. Eine recht unzulängliche Aussage. Sie hörte, wie er leise lachte. "Ich weiß nicht, wie das bei dir ist", sagte er und drückte sein Gesicht in ihr Haar. "Aber ich glaube, wir sollten uns einen bequemeren Platz aussuchen." Toby vermochte kaum ihre Augen zu öffnen. "Ach je", stellte sie betroffen fest, "wir sind ja in der Küche." Sie ließ ihre Hände tiefer über Stonys Rücken sinken und stieß gegen den Rand einer kalten, harten Fliese. Ein Topflappen klemmte zwischen seiner Hüfte und dem Rand der Spüle. "Der Puter..." raunte sie und versuchte, klar zu denken. "Ist im Ofen. Wird gebacken. In vier Stunden oder so ist er gar." "Ach ja. Ich dachte, wir wollten daran herumknabbern." "Ich knabbere schon", behauptete Stony und beugte sich über ihren Hals. "Du kannst gern dasselbe tun." Das ist ein herrlicher Vorschlag, fand Toby und entdeckte, dass sie, wenn sie ihren Kopf ein wenig zur Seite wandte, sein Ohrläppchen erreichen konnte. "O Mann", meldete sich Stony und atmete schwer. Dann drückte er sie wild an sich. "Jetzt reicht es. Zumindest bis... Meinst du, wir könnten vielleicht ins Wohnzimmer hinübergehen?" "Könnten wir", pflichtete Toby ihm wie abwesend bei und drückte ihm liebevolle Küsse auf die Haut, die in dem V-Ausschnitt seines Hemdes zu sehen war. "Oder wir könnten nach oben gehen."
7. KAPITEL
"Wie bitte?" fragte Stony und rührte sich nicht. Er konnte nicht glauben, dass er sie richtig verstanden hatte. Oder wenn ja, dass sie wusste, was sie gesagt hatte. Sie bog sich etwas zurück und schaute zu ihm auf. Sie war wie benommen, das sah er ihr sofort an. Leichte Unsicherheit kam bei ihr auf. "Ich habe gesagt", hauchte sie und befeuchtete sich die Lippen, "wir können auch nach oben gehen." "Du meinst..." Farbe stieg ihr deutlich sichtbar in die Wangen. "Ich glaube, es wäre einfacher auf lange Sicht. Es sei denn, du möchtest lieber nicht. Wenn du nicht willst..." "Natürlich will ich", sagte er in sanftem Ton und konnte nicht widerstehen, ihre Wangen zu streicheln. "Das müsstest du doch merken. Ich bin bloß ein bisschen überrascht.“ "Wirklich?" Sie löste sich von ihm und schaute ihn an. Dir vorwurfsvoller Blick verblüffte ihn etwas, aber dann glitt ein Lächeln um ihre Mundwinkel. "Soll das heißen, du wusstest nicht, dass das passieren würde, als du mich zu dir eingeladen hast?" Er wollte sie nicht belügen. "O doch", antwortete er. "Ich wusste es. Ich habe die Betten frisch bezogen. Ich war mir nur nicht sicher, wie du dich verhalten würdest." Sie lachte leise und bemühte sich, ernst zu bleiben. "Ich habe meine Zahnbürste mitgebracht." Wärme stieg in ihm auf. "Tatsächlich?" Sie nickte und erwiderte leise: "Stony, ich bin zwar aus der Übung und fürchte mich, aber ich bin kein Kind. Warum glaubst du, hatte ich Angst, mit dir zu sprechen? Nach dem, was ich beim Tanzen empfunden habe, und nachdem du mich geküsst hattest, wusste ich, was passieren musste, wenn wir uns wiedersehen würden. Ich wollte nur ganz sichergehen, dass ich dazu bereit bin." "Und jetzt", erkundigte er sich und strich ihr mit dem Daumen über die Unterlippe, "bist du bereit?" "Ja." Er hatte nicht gefragt, warum sie ihre Meinung geändert hatte. Er wusste, sie würde ihre Gründe nicht in Worte fassen können. Er konnte sich allerdings vorstellen, dass es sich um ein und denselben Kern drehte: wenn es um die Urtriebe ging, würden Sex und Hunger immer die Furcht besiegen. Dennoch wollte er langsam vorgehen. Die Angst war ihr ja noch nicht genommen. "Ganz sicher?" fragte er, lächelte und bemühte sich um einen heiteren Ton, um ihr zu zeigen, dass es auch in Ordnung wäre, wenn sie nicht sicher wäre. "Auch jetzt noch, wo du schon ein bisschen abgeklärt bist?" Sie lachte wieder. "So ist es sogar besser. Da brauchst du mich nicht zu tragen. Jetzt kann ich selbst gehen." Stony bog den Kopf in den Nacken und lachte laut. Es war eine wahre Freude, mit ihr zusammen zu sein. Eine Frau wie sie hatte er bisher nicht kennengelernt. Alles, was sie sagte, was sie tat, überraschte ihn. "Hier entlang, Lady", sagte er heiser, führte ihre Hand an seine Lippen und drückte einen Kuss darauf, ehe er sie bei sich unterhakte. Wenn er sich beherrschte, würde er es bestimmt bis zu seinem Schlafzimmer schaffen, ohne sie erneut zu küssen. "Da sind wir", raunte er und blieb im Rahmen der Schlafzimmertür stehen. Der Raum war in ein warmes Sonnenlicht getaucht, das durch die Fenster hereinfiel und den Schatten der Rahmen auf dem Parkettboden abzeichnete. Es sah richtig einladend aus und zum Glück einigermaßen ordentlich, aber plötzlich ertappte er sich dabei, dass er lieber Nacht gehabt hätte. Er konnte sich vorstellen, dass es ihr so schwerer fallen würde. "Vielleicht wäre es einfacher gewesen, wenn du mich getragen hättest." Leicht atemlos bestärkte Toby ihn in seiner Ansicht.
Er schaute sie an. "Das kann ich noch mache n", sagte er und hob sie auf die Arme, ehe sie wusste, wie ihr geschah. Sie schluckte schwer und schlang ihre Arme um seinen Nacken. "Ja", murmelte er anerkennend. "So ist es richtig. Und jetzt küss mich." Sie neigte den Kopf leicht zur Seite und lächelte, als wäre das ein neuer Gedanke. Als sich ihre Lippen trafen, nahm ihm die Berührung fast den Atem. Er öffnete leicht seinen Mund, überließ ihr aber die Führung. Als sie scheu und behutsam ihre Zunge spielen ließ, wusste er, dass es für sie tatsächlich ein neuer Gedanke war. Die Erkenntnis, dass sie nie zuvor einen Mann von sich aus geküsst hatte, erschütterte ihn. Fragen drängten sich ihm auf, aber ehe sie Form annehmen konnten, fand Toby seine Zunge und brachte ihn davon ab, weiter nachzudenken. Sie lernte schnell. Stony stöhnte. Sie schmunzelte, gewann mehr und mehr Zuversicht. Die Begierde, die er so mühsam unter Kontrolle gehalten hatte, flammte erneut auf und wuchs kräftig. "He", meinte er mit belegter Stimme und stellte sie auf den Teppich neben seinem Bett. "Was war denn das?" Er konnte kaum an sich halten. Aber sie schien eher aufgeregt als erregt. Sie befeuchtete sich die Lippen und murmelte: "Ich will..." Sie hielt inne und zog die Brauen zusammen. "Ich weiß nicht, was dir gefällt. Ich fürchte, ich bin nicht..." Sie holte rasch Luft. "Du hilfst mir nicht dabei?" "Nein", antwortete er und musste sich ein Lachen verbeißen. "Du machst das gut so." Sie schloss die Augen und lehnte ihre Stirn an sein Kinn. "Warum ist es so schwer, darüber zu sprechen?" "Das ist einfach so", sagte er liebevoll. "Es ist leichter, es zu tun als darüber zu reden." Sie schaute sehnsüchtig auf seine Lippen und flüsterte: "Soll das ein Rat sein?" "Auf jeden Fall." "Oh!" Stony zog sie nicht aus. Er nahm an, sie würde sich gehemmt fühlen, obwohl er sicher war, dass sie dazu keinen Grund hatte. Außerdem wusste er, wenn es soweit war, würden sie sich sowieso ihrer Sachen entledigen. Also beugte er sich über sie und küsste sie liebevoll. Während sie dadurch abgelenkt war, legte er sich ihre Hände vorn auf das Hemd. Ihr leidenschaftlicher Kuss hatte ihm gezeigt, wie es für sie am einfachsten war. Er wollte ihr das Ausziehen überlassen. Die Knöpfe ließen sich leicht öffnen. Rasch streifte sie ihm das Hemd über die Schultern und ließ es achtlos zu Boden gleiten. Dann begann sie, seinen Körper zu erkunden, nicht nur mit den Händen und Augen, sondern mit all ihren Sinnen. Sie rieb ihr Gesicht an seinem kräftigen Brustkorb, strich mit der Nase durch sein Haar und atmete den Duft seiner Haut ein. Unter ihren Fingern fühlte sie seine Brustwarzen, streichelte sie und konnte sich nicht zurückhalten, sie auch mit der Zunge zu liebkosen. Stony stand reglos da. Er war mehr als überrascht. Nie zuvor war er einer Frau begegnet, die von ihm so restlos hingerissen war. "Toby", sagte er rau und bemühte sich, klar zu denken, während sie nach seinem Gürtel griff. "Ich will dir noch etwas sagen." Sie hielt inne und schaute zu ihm auf. "Es gibt keine unsichtbare Grenze, keine Stelle, an der du nicht umkehren kannst. Wenn es dir zu schnell geht oder du aufhören willst, musst du es mir nur sagen." Er wusste nicht, ob sie ihm glaubte. Er war nicht mal sicher, dass er es sich selbst glaubte. Jetzt nicht mehr. Sie lächelte. Tränen schimmerten in ihren Augen. "Danke", erwiderte sie schlicht. Sie hatte nicht vor, ihn zurückzuhalten, aber dass er so viel Mitgefühl zeigte, nahm ihr die letzten Zweifel und einen großen Teil ihrer Furcht. Sie begehrte ihn mit wachsender Leidenschaft, die sich nicht rational erklären ließ. Toby war fasziniert von ihm, von seinem starken, kräftigen Körper. Er war eine Freude für ihre Sinne. Sie war glücklich, wenn er sie in den Armen hielt und sie seinen Herzschlag an
ihrer Wange spüren konnte. Sie sehnte sich nach seiner Zärtlichkeit, wollte seine Hände auf ihren Brüsten spüren und wünschte sich, er würde ihr die Bluse ausziehen. Sie drängte sich ruhelos an ihn, konnte ihren Wunsch jedoch nicht aussprechen, sondern seufzte nur ungeduldig. "Was ist denn?" flüsterte er. "Sag es mir." "Ich möchte..." Ihre Lippen schienen ihr nicht zu gehorchen. Warum nur war das so schwer? "Ich möchte dich fühlen." Irgendwie verstand er sie. "Hier..." Er fasste mit den Händen nach den Knöpfen, und schon Sekunden später spürte sie kühle Luft auf ihrer Haut. Dann ließ er seine Hände über die Außenseite ihrer Brüste gleiten und drückte sie an sich. Ihre aufgerichteten Spitzen pressten sich gegen seine warme Haut. Sie seufzte beglückt. Er freute sich darüber, nahm ihr Haar mit einer Hand beiseite und beugte sich über ihren Hals. Ein Prickeln und Kribbeln lief durch ihren Körper, breitete sich bis in jede Faser aus. Ihre Knie wurden weich, und sie konnte nur noch leise stöhnen. Sacht schob er sie zum Bett hinüber und legte sich mit ihr hin, ohne seine Zärtlichkeiten zu unterbrechen. Er drückte ihr viele kleine Küsse auf die Haut, von ihrem Hals über ihr Schlüsselbein bis hinunter zu ihren Brüsten. Sie stöhnte, bog sich ihm entgegen und stöhnte erneut, als seine Lippen tiefer glitten und ihre Brustspitzen fanden. Toby erschauerte unter seinen Liebkosungen, streichelte ihn und versuchte mehrmals, seinen Gürtel zu lösen. Schließlich gab sie enttäuscht auf, zog das eine Beine etwas an und wandte sich ihm zu. Sie drängte sich an ihn, bis er seine Hand tiefer sinken ließ und an ihrem Verschluss hantierte. Nach ein paar angespannten Augenblicken löste sich Stony von ihr und meinte: "Toby, verdammt..." während sie keuchte: "Ich... schaffe es... nicht!" Sie mussten beide lachen. "Also", flüsterte Stony heiser, "ich glaube, wir müssen aufgeben." "Es tut mir leid, dass ich so ungeschickt bin", murmelte Toby. Er zeichnete ihre Braue nach, strich ihr über die Wangenknochen und über ihr Ohr. "Toby, sieh mich an", bat er. Seine raue Stimme stand im Gegensatz zu seinen zarten Berührungen. Sie kam seiner Bitte nach und spürte, wie ihr durch und durch warm wurde. Mit unglaublicher Zärtlichkeit sagte Stony: "Lady, es treffen eine Menge Dinge auf dich zu - du bist hübsch, sexy, lustig, scheu, leidenschaftlich, um nur ein paar Eigenschaften zu nennen - aber ungeschickt bist du nicht." Sie holte zitternd Luft. "Es ist bloß so umständlich." "Natürlich", sagte er und brachte sie zum Lächeln. "Eine Hose kann ma n nur umständlich ausziehen. Die Schotten haben da schon recht, sie tragen nicht umsonst Röcke." Seine Hand auf ihrem Bauch hob und senkte sich mit ihrem Lachen. "Was hältst du davon", bot er ihr an, "wenn jeder seine Hose selbst auszieht?" "Dann bin ich vor dir in Schottland", meinte Toby und lachte. Stony stimmte in ihr Lachen ein. Kurz darauf hielten sie sich umfangen, lachten miteinander, bis die Spannung wich, was allerdings nicht ihre Erregung minderte. Das gemeinsame Lachen war eine neue Erfahrung für Toby. Es hatte auch eine Enthüllung mit sich gebracht. Sex konnte umständlich sein und verwirrend, aufregend, mitreißend, überraschend und lustig. Sie war ein bisschen verlegen, aber das war in Ordnung so. Ihr Körper war nicht vollkommen, aber das spielte keine Rolle. Es war ein Risiko, sich einem Fremden zu öffnen, aber er war in der Hinsicht genauso verletzlich wie sie. Das wurde ihr in dem Moment bewusst. Sie lag vor ihm auf dem Bett und spürte, wie die Matratze unter seinem Gewicht nachgab, als er sich neben sie legte. "Das brauchst du nicht", sagte sie und legte ihre Hand auf seine. "Ich sagte doch, ich werde nicht schwanger. Wirklich nicht." "Ich weiß, aber ich dachte..." Er stützte sich auf einem Ellbogen auf, um sie anschauen zu können. "Bist du sicher?"
"Ganz sicher." Sie streckte die Hand nach ihm aus, und er seufzte, als er sich über sie beugte, um sie zu küssen. Doch kamen ihr Zweifel, als sie merkte, wie er sein Gewicht verlagerte. Sie bekam fast panische Angst. Würde er ihr vielleicht weh tun? Dann aber schob er ihre Beine auseinander, fand das Zentrum ihrer Weiblichkeit, streichelte sie so behutsam und steigerte ihre Erregung, bis sie sich wand und nach mehr sehnte. Er hielt sie in den Armen, streichelte sie weiter, hob sich über sie und lenkte sie mit Küssen ab. Als er schließlich in sie drang, war es ganz leicht, wunderbar und einmalig. Stony lächelte sie an, streichelte ihre Wange und flüsterte: "Toby..." Er beugte sich über ihre Lippen. "Alles in Ordnung?" "Mmm!" Sie seufzte im Sinnenrausch. "Du fühlst dich gut an." "Glaub mir." Seine Stimme klang rau und belegt. "Du auch." Er strich ihr über die Außenseite ihrer Schenkel, fasste unter ihr Knie und hob es leicht an. Ohne Zögern schlang sie ihre Beine um ihn und gab sich ihm restlos hin. Er ließ seine Hand höhergleiten, von den Hüften zu ihrer Taille, ihren Brüsten bis hin zu den Armen hinauf und fasste nach ihren Händen. Er lächelte sie an. "Na, wie ist das?" Sie schloss die Augen und flüsterte: "Du hast recht, es ist... wie Fahrrad fahren." Sein Lachen erzeugte neue Gefühle bei ihr. Freude erfasste sie und breitete sich in ihrem Körper aus. Noch nie erlebte Empfindungen keimten in ihrem tiefsten Innern auf. Und als er sich bewegte, zuerst langsam, aber dann' immer heftiger, wusste sie nicht mehr, warum sie sich gefürchtet hatte. "Toby?" fragte er hinterher. "Lachst du oder weinst du?" "Beides", flüsterte sie und schniefte ein wenig. "Das dachte ich mir." Er stützte sich auf seine Ellbogen, küsste sie auf die Augen und dann auf die zuckenden Lippen. Er wischte ihr die Tränenspuren von den Wangen und umfasste ihr Gesicht. Er lächelte auf sie hinunter und fragte: "Gut so?" Sie nickte. "Ich kann nicht fassen, dass es so einfach war." Sie zog ihn dichter an sich. "Ich dachte, beim ersten Mal..." "Ich weiß." Er räusperte sich und flüsterte: "Du bist schon etwas Besonderes, weißt du das?" Es war die Art, wie er es sagte, mit leicht heiserer Stimme und ernstem Gesicht. Wieder traten ihr Tränen in die Augen. "Du auch", erwiderte sie im selben Ton und umfasste ebenfalls sein Gesicht. Lange Zeit schauten sie sich in die Augen, musterten sich gegenseitig, stellten stumme Fragen und scheuten vor einer Antwort zurück. Schließlich hustete Stony und murmelte: "Ja, wir beide sind wohl ein besonderes Paar. Hier, das muss unbequem für dich sein." Sie protestierte und wollte sich nicht von ihm trennen. "Schon gut", beruhigte er sie und stemmte sich etwas hoch, damit sie ihre Beine ausstrecken konnte. "Ich will nirgendwohin. Ich will dich nur in den Armen halten, ohne dich zu erdrücken, das ist alles." Für sie war das so neu. Sie wähnte sich im Himmel. "Wirklich?" "Ja, das ist besser." Nachdem sie es sich bequem gemacht hatten und dicht nebeneinander lagen, hob Stony den Kopf an. "Warum hast du das gefragt? Magst du nicht in den Armen gehalten werden?" "Aber ja", antwortete sie, und ihr Hals war wie zugeschnürt. "Ich habe das gern. Es ist nur so lange her, seit mich jemand in die Arme genommen ha t." Es entstand eine längere Stille. Stonyv ließ seine Finger langsam über ihre" Wirbelsäule hinuntergleiten. "Toby? Darf ich dich etwas fragen?" Sie hörte an seiner Stimme, dass ihn etwas stark beschäftigte. "Dein Mann ist gestorben... Wann war das, vor sechs Monaten? Das ist noch nicht so lange her. Warum habe ich dann das Gefühl, ich verführe eine Jungfrau?" Sie
konnte ihm nicht darauf antworten. Seine Stimme wurde rau, wie jedesmal, wenn ihn etwas stark berührte. "Wie lange ist es her, Toby?" Sekunden verrannen. Sie zählte sie und holte schließlich tief Luft. "Fünf Jahre." Er fluchte leise, aber heftig, was Toby kaum bemerkte. Sie fuhr sachlich fort: "Er hat das Interesse an mir schon lange davor verloren, ein paar Jahre nach unserer Hochzeit. Aber vor fünf Jahren war es ganz vorbei. Er sagte mir, es läge an seinem Alter, aber wenn ich jetzt darüber nachdenke, glaube ich, er hatte wahrscheinlich Affären." "Lieber Himmel, Toby!" 'Stony löste sich von ihr und richtete sich auf. "Und dann bist du bei ihm geblieben? Wieso?" Sie fasste nach seinem Rücken und merkte, dass seine Muskeln verhärtet waren. Sie konnte nicht verstehen, warum ihm das wichtig war, und flüsterte erschrocken: "Ich hatte keinen Grund, nicht bei ihm zu bleiben. Er war doch mein Mann. Er war gut zu mir. Auf seine Art hat er mich sogar geliebt. Er hat dafür gesorgt, dass ich alles bekam, was ich brauchte." "Alles?" fragte Stony leise. Er wandte sich ihr zu, und seine Augen funkelten seltsam. "Ja, er hat alles getan - außer mit dir getanzt, dich geliebt, dich hinterher in die Arme genommen oder dir Kinder geschenkt." "Das lag an mir." "Meine Güte, Toby, ihr hättet Kinder adoptieren können." "Arthur wollte nicht..." "Arthur wollte nicht! Und was war mit dir? Was wolltest du?" Sie wandte sich von ihm ab, wütend, dass er sie an den Kummer erinnerte, den sie längst vergessen hatte, und von dem sie nichts mehr hören wollte. "Was spielt das jetzt noch für eine Rolle?" fragte sie gereizt. "Es ist vorbei." Wieder herrschte Schweigen zwischen ihnen. Stony brummte etwas Unverständliches. "Wie bitte?" fragte Toby leise. Er presste kurz die Lippen zusammen. "Ich sagte, was für eine Verschwendung. Zwanzig Jahre deines Lebens..." "Nein!" Sie richtete sich abrupt auf und bedeckte ihre Blöße mit den Armen. Dann wiederholte sie es leiser und weniger wütend. Dabei erkannte sie die Wahrheit: "Es war keine Verschwendung. Verstehst du denn nicht? Die Jahre haben mich geformt, mich zu der Frau gemacht, die ich heute bin. Alles, was in meinem Leben passiert ist, Gutes oder Schlechtes, hat seinen Sinn gehabt und mich hierher geführt. Und mir gefällt, wo ich heute angekommen bin, Stony." Sie winkelte ihre Beine an und umschlang sie mit den Armen. "Weißt du, wie ich mich fühle? Ich komme mir vor, als wäre ich noch mal jung, könnte von vorn anfangen und hätte das ganze Leben vor mir. Es ist beängstigend und aufregend zugleich. Es gibt so viele Möglichkeiten. Ich kann alles erreichen, meinen Abschluss machen, vielleicht sogar promovieren und eine Karriere anstreben. Ich könnte sogar noch mal heiraten." Sie hielt inne und biss sich nachdenklich auf die Unterlippe. "Aber nur, wenn ich wahnsinnig verliebt wäre." "Naja, das ist auch der einzig vernünftige Grund, den ich mir vorstellen kann", bemerkte Stony trocken. Toby reckte ihr Kinn. "Also, unter dem würde ich es auch nicht noch mal tun", erklärte sie überzeugt. "Gleichgültig, was passiert." Das Telefon schrillte während des Abendessens. Stony und Toby saßen vor dem Kamin im Wohnzimmer. Stony wusste gleich, das konnte nichts Gutes zu bedeuten haben. Wer sollte ihn schon an einem Freitagabend um acht Uhr abends anrufen? Für ihn gab es nur zwei Möglichkeiten. Er griff am Tobys Schultern vorbei nach dem Hörer. "Ja", meldete er sich gespannt und war auf alles gefasst.
Toby hörte auf zu essen und beobachtete ihn mit großen Augen. Als er die Stimme seines Assistenten hörte, sah er Toby an und schüttelte den Kopf. Es war nicht Chris. Wäre sie es gewesen, hätte es sich um einen Notfall gehandelt. Da es Riley war, mochte es sich auch um einen Notfall handeln, aber um einen, mit dem er fertig zu werden wusste. "Ja, Jake, was gibt es denn?" "Ich hasse es, Sie deswegen zu stören, Stony, aber wir haben ein kleines Problem. Erinnern Sie sich an Frank Randall Quaid?" Stony überlegte einen Moment. "Eh, Global Shipping, ja? Frachter, Cabot Straight, vor fünf Jahren." "Den meine ich. Gut, letzte Woche ist die Jacht seiner Frau irgendwo westlich von Neukaledonien auf ein Riff aufgelaufen. Alle sind von Bord gekommen, ehe sie untergegangen ist, also liegt nur noch das Boot da..." "Klingt einfach. Wo ist das Problem?" "Das Problem ist, es hat dort in der Gegend in letzter Zeit Vulkantätigkeiten gegeben. Das Riff liegt zufällig am Rand eines aktiven Vulkans..." "Wollen Sie damit sagen..." Stony fluchte leise. Er wollte das Wort Vulkan nicht aussprechen, da Toby neben ihm saß und zuhörte. Er holte tief Luft, dachte nach und meinte dann verärgert: "Warum, zum Teufel, schreibt Quaid die Sache nicht einfach ab? Es kostet ihn mehr, sie heraufbringen zu lassen, als die Jacht wert ist." "Es ist die Jacht seiner Frau", betonte Jake Riley. "Die ,Lillibeth'." Stony fluchte erneut. "Ich hätte Sie nicht angerufen", sagte Jake, "b loß demnach, was ich zuletzt von Quaid gehört habe, soll er schwere Gegenstände um sich geworfen und gebrüllt haben: ,Ich will den Besten! Holt Stony Brand!' Das ist das Hauptproblem. Sonst hätte ich das selbst erledigt. Ich werde es machen, wenn Sie wollen. Sagen Sie es mir, und ich rufe ihn an, oder Sie können mit ihm reden." "Nein, nein, schon gut, ich werde..." Stony sah Toby in die Augen und hätte sich in ihrem Blick verlieren können. "Stony", meldete sich Jake, "ich schaffe das. Warum bleiben Sie nicht einfach da? Es wird ohnehin mal Zeit... Der letzte Auftrag war wirklich..." "Ich komme", schnitt Stony ihm barsch das Wort ab. Toby schloss die Augen. "Morgen früh." Er legte den Hörer auf, zog Toby an sich und nahm sie in seine Arme. "Du musst weg?" Die Worte kamen leicht gedämpft über ihre Lippen, weil sie sich an seinen Oberkörper geschmiegt hatte. "Ja", antwortete Stony und seufzte schwer. Er strich ihr übers Haar und starrte über ihren Kopf hinweg auf den offenen Kamin. "Ich muss." Es war vielleicht besser so. Bei dem, was ihm schon seit Stunden durch den Kopf gegangen war, musste auch erst so etwas passieren, damit ihm klar wurde, wie die Dinge wirklich standen. Engere Bindungen konnte er nicht eingehen. Er durfte das nicht vergessen. Sein Leben war nicht darauf eingerichtet. Er musste an Plätze der Erde reisen, von denen niemand je gehört hatte, um das Spielzeug eines reichen Mannes vom Rand eines aktiven Vulkans zu bergen. Dabei konnte eine Menge schiefgehen, und niemand wusste mit Sicherheit, wie lange es dauern würde. Es mochten ein paar Tage sein, ein paar Wochen. Es konnte passieren, dass er nicht mal bis Weihnachten zurück war. Ihm fielen die vielen Feste ein, die er weit weg von Chris in irgendeinem gottverlassenen Nest verbracht hatte. Winter war nun mal die Hochsaison für Schiffsunglücke. "Wo musst du hin?" erkundigte sich Toby. "In den Südpazifik", antwortete er mürrisch. "Nördlich von Australien." "Ehrlich?" Sie löste sich von ihm und lächelte. "Weißt du, dort ist jetzt Frühling." Einen Moment schaute er sie verwundert an. Dann zog er sie an sich und presste seine Lippen auf ihren Mund, wie ein ausgehungerter Mensch, der etwas zu essen bekommt.
Toby Thomas war wie ein frischer Frühlingswind in sein Leben gebraust. Er wusste nicht, was er machen sollte. Aber wenigstens in dieser Nacht würde er sie bei sich haben Und so tun, als wäre es Frühling - die Zeit, in der alles erblüht.
8. KAPITEL
Toby war nie beschäftigter gewesen als in den Wochen zwischen Thanksgiving und den Weihnachtsferien, aber auch nie einsamer. Obwohl sie natürlich viel zu tun hatte, weil das Studentenheim über Weihnachten einen Monat geschlossen blieb, konnten sie all die Aktivitäten nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie Stony vermisste. Es war alles so schnell passiert, aber genauso plötzlich war er auch abgereist. Toby fühlte sich sehr missmutig. Es regnete, und zu allem Überfluss befürchtete sie auch noch, eine Grippe zu bekommen. Das verstand sie nicht. Sie war nie krank gewesen. Aber sie hatte sich in den letzten Wochen so müde und erschöpft gefühlt, da musste sie sich irgend etwas eingefangen haben. Ihr Magen hatte den ganzen Morgen rebelliert. Im Augenblick jedoch hatte sie einen enormen Hunger. Vielleicht war es keine langwierige Grippe. Jedenfalls fühlte sie sich ermutigt, in die Küche zu gehen und sich eine Dose Hühnerbrühe warm zu machen. Während die Brühe in der Mikrowelle stand, holte sie sich eine Schachtel Cracker aus der Vorratskammer und schenkte sich ein Glas Milch ein. Sie wollte in ihr warmes Eckchen auf dem Sofa zurückkehren, da läutete das Telefon. Das Geräusch traf wie ein Blitz auf ihre Nerven. Die Schachtel Cracker fiel ihr aus der Hand, und heiße Brühe schwappte über. Sie bückte sich, stellte die Schale und das Glas auf den Boden und ging auf recht wackeligen Beinen zu der Nische, um den Hörer abzuheben. "Gamma Pi- Heim", sagte sie mit fast versagender Stimme. "Mrs. Thomas?" kam es zögernd vom anderen Ende der Leitung. Toby sackte gegen die Wand. "Ja?" Und dann richtete sie sich auf. Ihr wurde kalt. "Chris? Sind Sie es?" "Ich wusste nicht, wen ich sonst anrufen sollte." Sie weinte und schluchzte heftig. Toby konnte kaum ihre Lippen bewegen. "Chris, was ist denn? Wo sind Sie? Was ist passiert?" Es war bestimmt wegen Stony. Es musste ihm etwas zugestoßen sein. Chris würde sonst nicht so weinen. "Ich konnte meinen Vater nicht erreichen und wusste nicht, wen ich sonst..." Toby konnte sich nicht länger auf den Beinen halten. Sie glitt an der Wand hinunter, bis sie auf dem Boden saß. "Schon gut", hörte sie sich trotz des Rauschens in ihren Ohren sagen. "Schon gut, Chris. Erzählen Sie mir, was passiert ist. Wo sind Sie?" "Ich bin… auf der Polizeiwache." "Der was? Der Polizeiwache. Wo? In Tahoe?" "Nein, ich bin in Los Angeles. Könnten mich vielleicht abholen? Ich weiß, das ist sehr viel verlangt. Ich wusste aber nicht, wen ich sonst anrufen sollte. Dad ist weg, und Jake ist auch nicht da. Es tut mir leid..." Es gab mindestens ein Dutzend Fragen, die Toby ihr stellen wollte, aber da Chris im Moment keine hätte beantworten können, beschränkte sich Toby auf eine. "Chris, in welcher Polizeiwache sind Sie?" "Em, keine Ahnung. Warten Sie, ich frage mal." Sie war ein paar Minuten weg, und als sie sich wieder meldete, versuchte sie ruhiger zu sprechen. "Direkt in der Innenstadt. Ich gebe Ihnen die Adresse durch..." Toby wiederholte, was Chris gesagt hatte, und fügte in ruhigem Ton hinzu: "Gut, ich bin gleich da. Warten Sie auf mich, und entspannen Sie sich, ja?" "In Ordnung", antwortete Chris mit einem leisen Aufschluchzen und klang dabei wie ein kleines verängstigtes Kind. "Eigentlich ist nichts passiert", behauptete Chris und wich Tobys Blick aus, während sie ihre heiße Schokolade schlür fte. "Ich verstehe nicht, warum ich so ausgeflippt bin." Sie saß in Tobys Bett, hatte das Kopfkissen im Rücken und trug eines von Tobys Nachthemden. Ihr Haar war noch feucht vom Duschen. Toby saß am Fußende. Sie hatte noch die Hose und den Pullover an, den sie vorher übergezogen hatte, um Chris abzuholen.
"Warum bist du von Tahoe weggefahren?" fragte sie und ließ die förmliche Anrede fallen, weil Chris sie auf dem Rückweg darum gebeten hatte. Chris zuckte die Schultern. "Ich wollte einfach nach Hause." Nach einer kurzen Pause holte sie tief Luft und fuhr fort: "Es war nicht so schön wie mit Kims Familie an Thanksgiving. Diesmal war ich mit den vielen jungen Leuten in einer riesigen Wohnung zusammen. Es war wie auf einer ewig dauernden Party. Und ich war es satt. Da habe ich beschlossen, nach Hause zu fahren. Es hat so stark geschneit, aber ich bin bis zu der Tankstelle gewandert und habe mir ein Taxi bestellt, von dem ich mich zur Bushaltestelle bringen ließ. Der Bus nach Los Angeles war richtig voll. Es waren eine Menge Leute unterwegs. Vermutlich wegen der Ferien. Und in jeder kleinen Stadt hat der Bus angehalten, deshalb hat es lange gedauert, bis ich hier ankam. Zuerst war es nicht so schlimm. Da saß eine Frau mit einem kleinen Kind neben mir. Nachdem sie ausgestiegen war, setzte sich ein Mann auf den Platz." Sie senkte den Blick, und Toby sah, wie sie schluckte. "Er... er hat mich nervös gemacht. Dann kamen wir in Los Angeles an. Der Busbahnhof ist so riesig. Ich war richtig verwirrt. Immer wieder kamen so Typen auf mich zu und fragten nach Geld. Ich glaube nicht, dass sie mir etwas wollten - es waren Obdachlose - aber ich war außer mir. Es waren so viele, und ich weiß nicht, was passiert ist, ich bin einfach durchgedreht, das ist alles." Sie redete sehr leise und glättete unruhig die Decke über ihren, Beinen. "Es war kindisch, und ich kam mir wie eine Idiotin vor." "Du warst keine Idiotin", beschwichtigte Toby sie. "Du hattest Angst, nicht wahr?" Lange Zeit antwortete Chris nichts darauf. Sie starrte nur auf ihre Hände und glättete die Bettdecke. Dann zog sie ihre Beine an, umschlang sie mit den Armen und legte den Kopf auf die Knie. Dann kam es in gedämpftem Flüsterton: "Ja. Ich hatte Angst. O ja, Mrs. Thomas, ich hatte solche Angst. Seit es passiert ist, habe ich immer Angst. Ich warte darauf, dass es besser wird, aber es ändert sich nichts daran. Es kommt mir so vor, als hätte ich ständig Angst. Ich bin sonst gern unter Menschen gewesen. Jetzt fürchte ich mich, irgendwo hinzugehen. Fremde Menschen kommen mir so hässlich vor. Alles sieht hässlich aus. Früher war ich glücklich. Und jetzt..." Ihre Schultern zuckten. Toby hatte Mitleid mit ihr. Sie beugte sich vor und nahm ihr die Tasse ab. "Chris..." begann sie und griff nach ihren Händen. Aber Chris entzog sie ihr und strich sich das Haar aus dem Gesicht. "Das stört mich am meisten, wissen Sie. Ich habe geglaubt, die Welt - zumindest der Teil, in dem ich lebe - wäre schön. Ich habe wirklich geglaubt, die meisten Menschen wären nett und gut. Als das passierte... wissen Sie, wie mir da zumute war? Ich habe mich betrogen gefühlt. Als hätten mich alle belogen. Warum hat mir niemand gesagt, dass mir jemand so weh tun könnte? Toby... Mrs. Thomas, er hat mich geschlagen. Er hat mich geschlagen..." "Pst!" flüsterte Toby, schlang ihre Arme um Chris und wiegte sie wie ein kleines Kind. Sie hatte denselben Gesichtsausdruck schon einmal bei ihr gesehen, und zwar an dem Abend des Geschehens. Der herzzerreißende Blick bitteren Vorwurfs. "Ich war so wütend", fuhr Chris fort. "Ich war sogar wütend auf meinen Dad, weil er immer nur darauf geachtet hat, dass ich glücklich bin. Er hat mich behütet und beschützt. Es war alles Lüge, alles Lüge. Er hätte mich darauf vorbereiten sollen..." Toby wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Deshalb hörte sie nur zu, hielt sie in den Armen und strich ihr das Haar aus der Stirn, während Chris sich ihren ganzen Kummer, ihren Zorn und ihre Angst von der Seele redete. Nach einiger Zeit, als die Worte kaum noch verständlich waren und Chris die Augen fast zufielen, stand Toby auf, half ihr, sich hinzulegen und deckte sie zu. "Gute Nacht, Chris." Und dann beugte Toby sich spontan über sie, küsste sie auf die feuchte Wange und sagte leise: "Schlaf gut." Wie ihre Mutter es früher bei ihr getan hatte. Draußen im Flur lauschte sie der Standuhr im Empfangsraum, die zur vollen Stunde schlug. Du lieber Himmel, dachte sie und zählte mit. Erst zehn? Es kam ihr schon später vor.
Das laute Klopfen an der Haustür erschreckte sie. Es kam so unerwartet in der tiefen Stille, die sich nach dem letzten Schlag der Uhr im Haus ausbreitete. Im ersten Moment stand sie reglos da, dann lief sie mit klopfendem Herzen hin, weil sie wusste, dass nur ein einziger Mensch auf der Welt um zehn Uhr abends so stürmisch an der Tür eines geschlossenen Studentenheims anklopfen würde. Seinen Namen sprach sie aus, als sie die Tür aufmachte. "Stony!" Er kam herein wie ein Sturm, kalt und nass, roch nach Meeresluft, hatte vom Regen dunkle Flecken auf den Schultern seiner Jacke und im Haar feine Wassertropfen. Ihm war ein Bart gewachsen. "Toby", stieß er hervor und umklammerte ihre Arme. "Chris ist verschwunden, sie wird vermisst! Ist sie hier? Hast du von ihr gehört?" "Ja", antwortete Toby, und die Gefühle überwältigten sie. "Ja, es ist alles in Ordnung. Sie ist hier." "Wirklich?" Ungläubig musterte er sie, dann schloss er die Augen und stöhnte: "Gott sei Dank, Toby." Gleich darauf zog er sie an sich und presste leidenschaftlich seinen Mund auf ihre Lippen. Der Geruch, den er mitgebracht hatte, umfing sie. Salzluft und Regen, nasse Wolle und Körperwärme, das fremdartige Prickeln seines Bartes auf ihrer Haut. Sie lächelte voller Glück. Gleichzeitig rannen ihr die Tränen über die Wangen. "Stony..." "Pst, lass mich dich küssen!" Es rauschte in ihren Ohren, der Boden unter ihren Füßen schien sich zu neigen, aber das störte sie nicht. Stony war wieder da, hielt sie in den Armen, alles andere war unwichtig. Alles. In diesem Moment hörten sie wie aus weiter Ferne eine junge, atemlose, weinerliche Stimme: "Dad? Dad! Ich dachte, ich hörte... Mrs. Thomas! Was ist los?" Toby zuckte zusammen. Stony hielt sie umfangen und wollte protestieren. Nein, geh nicht weg! Die lange Enthaltsamkeit und wilde Phantasien hatten ihm sehr zu schaffen gemacht. Er hatte sich auf der Rückreise nur mit Mühe unter Kontrolle halten können, trotz aller Vorfreude. Er hatte wesentlich gelassener erscheinen wollen. Was ihn jedoch so hingerissen hatte, war die plötzliche Erleichterung nach der schrecklichen Sorge um Chris. Toby hatte dagestanden, das lange Haar offen, gelächelt und ihm gesagt, Chris ginge es gut. Die Spannung in ihm hatte sich gelöst, der Damm war gebrochen. Jetzt hielt er Toby in den Armen und wollte sie davon abhalten, sich ihm zu entziehen. Er schüttelte den Kopf und zwang sich, daran zu denken, dass er ein Vater war und die Tochter, die seit vierundzwanzig Stunden als vermisst galt, barfuss und im Nachthemd direkt vor ihm stand. "Chris", murmelte er. Mehr kam unter den Umständen nicht über seine Lippen. Chris stand nur da, schaute von ihm zu Toby und wieder zurück. Stony wünschte sich, er könnte ihre Gedanken lesen, aber das konnte er nicht. Sie wirkte zurückhaltend. Schließlich fragte sie leise: "Warum hast du mir nichts davon gesagt?" Toby holte hörbar Luft. Stony drückte sacht ihre Schultern und erwiderte: "He, bis Thanksgiving gab es nichts zu erzählen. Und über Thanksgiving warst du nicht hier. Ich musste schon weg, ehe du wieder zurückkamst. Ich hätte es dir sonst gesagt." "Deine Verabredung", stellte Chris mit einem seltsamen Lächeln fest. "Das war doch so, nicht wahr? Du und Mrs. Thomas, ihr seid… " "Pass mal auf!" Stony wurde laut. "Mein Liebesleben steht hier nicht zur Debatte. Wo, zum Teufel, bist du gewesen?" Jetzt, wo er sich auf väterlichem Boden bewegte, ließ er Toby los und marschierte auf seine Tochter zu. "Weißt du, welche Sorgen ich mir gemacht habe? Ich bin fast wahnsinnig geworden." "Dad, du schreist..."
"Natürlich schreie ich! Was glaubst du, wie ich mich gefühlt habe, als ich von Honolulu in Tahoe anrief, um dir zu sagen, dass ich über Weihnachten zu Hause sein würde und mir erklärt wurde, du wärst vermisst? He? Dann habe ich zu Hause angerufen. Da warst du auch nicht. Als ich hier anrief, ist niemand an den Apparat gegangen, nicht mal der Anrufbeantworter lief." Hinter ihm meldete sich Toby zu Wort: "Ich muss vergessen haben, ihn anzustellen, als ich Chris von der Polizeiwache abgeholt habe. Tut mir leid." "Das hätte keinen Unterschied... Sagtest du Polizeiwache?" Er glaubte sich verhört zu haben, und er merkte, wie Chris Toby einen bittenden Blick zuwarf. "Es ist nicht so, wie du denkst, Dad", sagte sie und bemühte sich, fröhlich zu sprechen, wie sie es immer tat, wenn sie etwas vor ihm verbergen wollte. "Ich hatte keine Lust mehr, in Lake Tahoe zu bleiben und wollte nach Hause, das war alles. Ich hätte eine Nachricht hinterlassen sollen, dass ich abgereist bin. Es tut mir leid, dass ich dir Sorgen gemacht habe. Ich bin mit dem Bus nach Los Angeles gekommen, und als ich hier war, habe ich mich verlaufen. Du weißt doch, wie das in der Innenstadt ist, Daddy. Also bin ich zum Polizeirevier gegangen und habe Toby - Mrs. Thomas - angerufen. Sie kam mich abholen und hat mich mit hierher gebracht, weil es regnete und schon spät war. Es tut mir leid, dass ich allen so viele Unannehmlichkeiten bereitet habe. Aber wie du siehst, geht es mir gut. Wirklich." "Hm", brummte Stony und musterte sie mit finsterem Blick. Er hatte nicht das Gefühl, dass sie ihn belog, nicht richtig. Aber er wusste, dass sich mehr hinter der Geschichte verbarg, als sie ihm erzählte. Und er fragte sich, bei wem er wohl mehr Glück haben würde, wenn er die ganze Wahrheit erfahren wollte, bei Chris oder bei Toby. Chris würde ihm gewisse Dinge verschweigen, um ihn nicht aufzuregen, und Toby mochte sich vielleicht nicht zwischen ihn und Chris stellen. Das wäre auch richtig. Also musste er Chris ausfragen. Diesmal wollte er sich nicht mit "Es is t alles in Ordnung, Dad, wirklich" abspeisen lassen. Aber das konnte er nicht sofort machen. Im Augenblick war er froh, dass Chris nichts passiert war. Er atmete schwer aus, nahm sie in die Arme und sagte unwirsch: "Fein, ich freue mich, dass du heil und gesund bist." "Ich bin froh, dass du zu Hause bist, Dad." Sie sprach mit ihm, wie sie es früher als kleines Kind getan hatte. Stony hustete und löste sich von ihr. "Na, willst du dich nicht anziehen? Dann können wir nach Hause fahren." "Ja, gern." Sie wandte sich ab und wischte sich verstohlen über die Wangen. Stony blickte ihr nach, bis sie um die Ecke verschwunden war. Er fühlte sich selbst recht mitgenommen. Dann drehte er sich zu Toby um, fasste sie am Arm und zog sie mit sich in den nächsten Türrahmen. "Meine Güte", flüsterte er, als sich ihre Brüste gegen seinen Oberkörper pressten. "Hast du eine Ahnung, wie sehr ich dich vermisst habe? Wie sehr ich dich will?" Wie sie sich anfühlte... Er konnte nicht widerstehen, seine Hände unter ihren Pullover zu schieben und wenigstens ihre samtene Rückenhaut zu streicheln. Er stöhnte auf. "Jetzt, auf der Stelle." "Ich auch." Ihre Stimme vibrierte. Er merkte, wie Toby unter seinen Händen erschauerte. "Ich möchte deine Haut auf meiner fühlen", raunte er ihr ins Haar, suchte und fand ihre aufgerichteten Knospen und strich mit dem Daumen darüber. Sein Verlangen nach ihr brannte wie Feuer. "Ich möchte dich mit meinen Lippen berühren... hier, überall." Sie seufzte leise und umfasste seine Handgelenke. "Stony, das geht nicht. Wenn Chris..." "O nein." Er glättete ihren Pullover und drückte sie einfach nur an sich. Er wusste nicht, ob er lachen, weinen oder fluchen sollte. Doch dann lachte er. "Das ist verrückt, weißt du das? Richtig verdreht. Es müsste doch genau umgekehrt sein. Jugendliche verstecken solche Dinge vor ihren Eltern. Warum komme ich mir nur vor wie ein fünfundvierzigjähriger Jugendlicher?" "Ich verstehe das." Toby stimmte in sein Lachen ein und löste sich etwas von ihm.
Er umfasste ihr Gesicht und betrachtete sie aufmerksam, als wollte er sich jedes Detail für immer einprägen. Plötzlich fiel ihm auf, dass sie abgenommen hatte. Sie war auch blasser, als er in Erinnerung hatte. Aber ihr Körper fühlte sieh nicht dünner an. Eher üppiger und noch anziehender als beim letzten Mal. Das sprach deutlich für sich. "Ich habe gar keine Lust, jetzt wegzufahren", sagte er in dem rauen Flüsterton, der ihr so vertraut war. "Aber ich muss mit ihr reden." "Ja", erwiderte sie nachdrücklich. "Das musst du." "Halt mir einen Platz warm", raunte er ihr zu, als Chris ins Zimmer kam. Als die Standuhr Mitternacht schlug, hatte Toby längst jeglichen Versuch einzuschlafen aufgegeben. Sie saß mit einem Taschenbuch von Agatha Christie im Bett. Im allgemeinen konnte sie nach ein paar Seiten in einem Kriminalroman einschlafen. Diesmal jedoch lenkte sie selbst der Regen draußen ab. Und ihre Erregung wollte sich nicht legen. Das Klopfen hörte sie zunächst nicht. Sie hielt es für Regen. Als es stärker wurde und eindringlicher, richtete sie sich im Bett auf. Ihr Herz raste wie verrückt. "Oje!" Sie sprang aus dem Bett und lief auf wackeligen Beinen zum Fenster, um es zu öffnen. "Stony, was machst du denn hier?" "Ich rette deinen Ruf", erwiderte Stony barsch und wischte sich den Regen vom Gesicht. "Was sollen denn deine Nachbarn denken, wenn sie um diese Uhrzeit einen fremden Mann auf deiner Treppe sehen? Worüber hast du eigentlich so gelächelt? Du hast ausgesehen wie Mona Lisa.." "Was werden meine Nachbarn denken, wenn sie um diese Uhrzeit einen fremden Mann an meinem Fenster sehen?" flüsterte Toby ihm zu und konnte sich kaum halten vor Lachen. "Ich lasse dich besser rein, ehe jemand die Polizei ruft... Nein, nicht hier! Geh hinten herum, ich lasse dich durch die Küche rein." Sie zitterte noch, schob das Fenster zu und lief durch den Flur in die Küche. Ohne Licht anzumachen, hastete sie um den Arbeitstisch herum, hantierte an dem Riegel und riss die Tür auf. Stony schlüpfte herein, strich sich die Nässe aus dem Haar und von den Schultern. "Du Narr", murmelte Toby, als er sie in die Arme nahm. "Du benimmst dich ja wirklich wie ein fünfundvierzigjähriger Jugendlicher." "Hm", machte er nur. "Soll wohl so sein. Selbst die Hormone funktionieren so. He, du zitterst ja, weißt du das?" "Du auch." "Ja, aber ich bin auch vollkommen durchnässt." "Also, ich jetzt auch." Sie mussten lachen und flüsterten miteinander wie Kinder, die einen Streich aushecken. "Ich kann Abhilfe schaffen", behauptete Stony und streifte seinen Mantel ab. "Hier... Was hast du denn an?" Er fasste nach ihr, hob ihr Nachthemd an und ließ seine Hände begehrlich über ihren Körper gleiten, umfasste ihre anschwellenden Brüste und beugte sich mit den Lippen darüber. "Stony", keuchte sie beglückt über die Gefühle, die er bei ihr weckte. Ihre Knie wurden weich, als sie seine Lippen auf ihren Brustspitzen fühlte. Sie stöhnte auf. Verlangen erfasste sie. Ihr wurde schwindlig. Sie umklammerte seine Schultern und erwiderte seinen leidenschaftlichen Kuss mit derselben Wollust, die er ihr entgegenbrachte. Ihr Atem ging heftiger. Wie sehr wollte sie sich ihm hingeben, sich von der Leidenschaft mitreißen lassen, aber da war etwas, was sie ihn fragen musste ... "Stony!" stöhnte sie auf und wusste nicht mehr, was sie ihn hatte fragen wollen. "Tut mir leid", sagte er rau, hob den Kopf an und drückte sie einfach nur an sich. Sie spürte, wie sein Herz pochte. "Ich will dich so sehr, ich kann es kaum aushalten. Ich will mit dir zu Bett gehen, mit dir schlafen, mit dir aufwachen und dich lieben."
"Ich auch", flüsterte Toby atemlos. "Aber das geht nicht, nicht hier." Sie löste sich etwas von ihm, hoffte, er würde das verstehen und begegnete einem fragenden Blick. Sie lachte heiser und meinte: "Wenn du schon glaubst, meine Nachbarn würden es seltsam finden, wenn um diese Uhrzeit noch ein fremder Mann zu mir kommt, was glaubst du, würden sie denken, wenn einer morgens früh aus dem Haus geht?" "Hm. Würden sie das wirklich merken? Und wenn ich früh gehe?" "Mrs. Lubin nebenan kommt schon um sechs Uhr für ihre Zeitung raue. Mrs. Fenstermaker joggt. Und du wirst doch nicht noch früher gehen wollen." "Da hast du recht", bekräftigte Stony und seufzte schwer. "Na gut. Lass mich mal nachdenken. Zu mir können wir nicht, Chris ist da." Nach ihr hatte sie sich erkundigen wollen. "Wie geht es ihr?" unterbrach Toby ihn. "Und was sagt sie? Zu uns beiden, meine ich." "Das ist in Ordnung", erwiderte Stony. "Sie hat sogar vorgeschlagen, ich sollte zu dir zurückfahren." Er umfasste ihre Schultern. "Weißt du, das ist ja ein Problem, was Jugendliche auch haben. Zum Glück kann ich auf Mittel zurückgreifen, die Jugendlichen nicht zur Verfügung stehen." Er gab sie frei und bückte sich nach seinem Mantel. "Zieh dir was über und lass uns machen, dass wir hier wegkommen. Du brauchst dich nicht erst richtig anzuziehen. Vielleicht nur einen Mantel drüber, das reicht schon." "Wohin gehen wir denn, in ein Motel?" erkundigte sich Toby erwartungsvoll. "Nein, ich habe etwas Besseres als das. Frag jetzt nicht so viel! Mach dich fertig, ehe ich dich auf dem Küchentisch..." "Ich habe mich ernsthaft mit Chris unterhalten", berichtete Stony ihr unterwegs. Eine gewisse Spannung lag zwischen ihnen. Das Feuer der Leidenschaft konnten sie nur mühsam eindämmen, "Sie hat mir erzählt, was passiert ist." "Hat sie das?" entgegnete Toby leise. "Da bin ich aber froh." "Sie hat mir auch noch andere Dinge erzählt. Und ich habe mit ihr besprochen, dass sie in eine Beratung geht. Sie will auch einen Selbstverteidigungskurs besuchen." Er schwieg eine Weile, während Toby wartete und sein markantes Profil in dem wechselnden Licht betrachtete. Sie sah, wie ein Schatten über sein Gesicht huschte. "Verflixt!" fluchte er und schlug mit der offenen Hand auf das Steuer. "Warum hat sie die ganze Zeit geschwiegen? Sie will mich nicht beunruhigen. Ich soll mir keine Sorgen machen. Als ob das ginge! Donnerwetter." Er lachte gequält auf. "Was machen Eltern denn sonst?" Er verstummte wieder und schüttelte den Kopf. Toby erwiderte nichts darauf. Sie wusste, sie brauchte ihm nur zuzuhören. "Ich hätte da sein müssen", meinte er nach einer Weile. "Wieder einmal war ich nicht da, als sie mich brauchte. Mist!" fluchte er erneut. "Du bist aber jetzt hier", sagte Toby und legte ihre Hand auf seinen Schenkel. "Du warst mehr für sie da, als du glaubst." "Ach ja?" Er warf ihr einen zornigen Blick zu, aber sie wusste, sein Zorn war nicht auf sie gerichtet. "Du hast keine Ahnung..." Danach herrschte erst einmal Schweigen zwischen ihnen, bis Toby ihre Umgebung erkannte und sich aufrichtete, "Wir sind ja an der Anlegestelle. Gehen wir auf ein Boot?" Er lachte. "Ja." "Wirklich? Gehört es dir?" Sie war noch nie auf einem Boot gewesen. Arthur hatte große Angst vor Wasser gehabt. "Ja", antwortete Stony amüsiert, "es gehört mir. Ich habe es in letzter Zeit kaum benutzt, aber mein Assistent, Jake Riley, sieht hin und wieder nach dem Rechten für mich, also müsste alles in Ordnung sein." Trotz der Freude und der Aufregung, die ihr Zusammensein mit sich brachte, schwang noch ein Rest des Kummers in seiner Stimme mit. Toby wusste nur ein Mittel, um dieses Gefühl
auszugleichen. Sie strich ihm mit der Hand über den Schenkel und raunte ihm zu: "Ich habe noch nie zuvor auf einem Boot geliebt." "So was!" Er drückte ihre Hand flüchtig gegen seine harten Muskeln, ehe er sie an seine Lippen führte. "Das ist aber eine Überraschung", hauchte er auf ihre Hand und kitzelte sie mit seinem Atem. Zwei Tage später fühlte Toby sich morgens wieder so elend. Sie war mit einer heißen Schokolade und einer Schachtel Cracker auf dem Weg in ihr Schlafzimmer, als es an der Haustür des Studentenheims läutete. Das musste Stony sein. Er hatte versprochen zu kommen. Sie hatte jedoch gemischte Gefühle. Einerseits freute sie sich, andererseits wäre sie lieber allein gewesen, weil sie sich nicht wohl fühlte. So sollte er sie nicht zu Gesicht bekommen. Aber dann fiel ihr ein, dass er ihr gesagt hatte, er würde ihre Schwächen nicht sehen. Sie seufzte hörbar und ging zur Tür. "Guten Morgen, mein Schatz. Frohe Weihnachten." "Frohe Weihnachten, Mrs. Thomas!" "Oh", erwiderte Toby leise, "du meine Güte!" Stony stand auf der Treppe, Chris neben ihm. Jeder vo n ihnen war mit Taschen und Tüten beladen. Beide strahlten übers ganze Gesicht. Hinter sich hielten sie einen riesigen, wenn auch leicht mitgenommenen Weihnachtsbaum. "Keine Angst, die Sachen waren alle runtergesetzt", behauptete Chris und stellte erst einmal ein paar Gepäckstücke ab. "Sie würden es kaum glauben, Weihnachtssachen gibt es schon zum halben Preis. Und der Baum - wir hatten solch ein Glück. Diesen hier haben wir noch bekommen, als sie die restlichen Bäume gerade abtransportieren wollten. Können Sie sich das vorstellen? Wir haben uns auch noch einen geholt. Das ist der größte. Ich dachte, er würde hier besser reinpassen, wegen der hohen Decke. Was meinst du dazu? Sieht der nicht großartig aus?" Toby murmelte etwas Zustimmendes. Stony musterte sie eingehend, während er den Baum in den Flur zog, sagte jedoch nur: "Er ist ein bisschen trocken, aber er müsste über Weihnachten halten. Wir schmücken ihn auch hinterher wieder ab." Er stellte ihn neben eines der Fenster und wandte sich zu Toby um. Er rieb sich verlegen die Hände und schaute sie an wie ein kleiner Junge, der einen Wiesenblumenstrauß gepflückt und den Lehm noch an den Schuhen hat. "Ich weiß, du hast gesagt, du wolltest dir die Arbeit nicht machen", meinte er leise zu ihr, warf kurz einen Blick zu Chris hinüber, die auf der anderen Seite des Zimmers ihre Taschen und Schachteln auspackte. "Sie konnte sich einfach nicht damit abfinden, dass du keinen Weihnachtsbaum hast. Sie wollte dich unbedingt damit überraschen. Ich durfte sie nicht enttäuschen." Er ist ein schlechter Lügner, dachte Toby, aber das machte nichts. Sie würde ihm alles verzeihen, wenn er sie so anschaute. "Wir helfen dir, ihn aufzustellen und abzuschmücken", versprach Stony beschwichtigend. "Ist gut", sagte Toby, bekam feuchte Augen und musste lachen. "Das war wirklich sehr nett von dir." Sie berührte sein Gesicht und flüsterte: "Dein Bart ist ja ab." "Ja." Er rieb sich übers Kinn. "Ich komme immer vom Rasieren ab, wenn ich einen Auftrag zu erledigen habe." "Mir hat er irgendwie gefallen." "Ich lasse ihn mir irgendwie wieder wachsen." "Ich glaube, ich sollte mich lieber mal anziehen." "Ich helfe dir dabei", raunte Stony ihr zu und schaute kurz zu Chris hinüber. "Was ist..." wollte Toby leise wissen, als er ihr in ihr Zimmer folgte und rasch die Tür hinter sich zumachte.
"Pst! Sie ist erwachsen. Ich will dich nur einmal richtig küssen, mehr nicht." Das tat er, nahm ihr Gesicht in seine Hände und strich ihr mit den Daumen über die zarte Haut unter ihren Augen. Nachdenklich ruhte sein Blick auf ihr. "Du siehst schrecklich aus. Du hast wieder gebrochen, nicht wahr?" fragte er in seiner direkten Art. "Wie an dem Morgen auf dem Boot?" Toby nickte und schmiegte sich an ihn. Es hatte keinen Zweck, es zu leugnen. "Ja", sagte sie und seufzte. "Ich muss mir irgendeine Infektion eingefangen haben. Ich ärgere mich ja so, ausgerechnet über Weihnachten." "Vielleicht solltest du zum Arzt gehen." "Ach, ich glaube nicht, dass es etwas Ernstes ist. Bis ich einen Termin bekomme, habe ich es wahrscheinlich schon überstanden. Wenn ich mich allerdings nach den Ferien noch so schlecht fühle..." "Willst du dich etwa über Weihnachten so durch den Tag schleppen? Warum willst du lange warten? Wenn du einen praktischen Arzt anrufst oder in die Klinik gehst, untersuchen sie dich bestimmt sofort. Vielleicht kannst du wenigstens etwas bekommen, dass du dich besser fühlst, Antibiotika oder irgend so etwas." "Da hast du recht." "Natürlich habe ich recht. Versprich mir, dass du heute noch beim Arzt anrufst, ja?" Toby verstand sein Drängen nicht, aber weil sie das ohnehin vorgehabt hatte, stimmte sie zu.
9. KAPITEL
Zuerst begriff sie es nicht. Die Worte hatten keine Bedeutung für Toby. Der Arzt hätte ebensogut in einer Fremdsprache mit ihr reden können. Aber er saß da und wartete offenbar auf eine Antwort von ihr. Sie schüttelte bloß den Kopf und fragte: "Wie bitte?" "Ganz richtig", sagte der Arzt und strahlte sie an wie ein stolzer Großvater. "Sie sind nur schwanger, meine Liebe, das ist alles." Toby lachte. Der gute alte Dr. Morrisset musste ein bisschen vergesslich geworden sein. Erleichtert, dass es dafür eine so einfache Erklärung gab, sagte sie freundlich: "Tut mir leid, aber das muss ein Irrtum sein. Sie wissen doch, dass ich nicht schwanger werden kann." Dr. Morrisset richtete sich gespielt entsetzt auf. "Woher sollte ich das wissen?" "Also, ich... Weil das nicht sein kann." Toby war sich nicht sicher, wie sie ihm das erklären sollte, ohne ihn zu beleidigen. Allmählich fühlte sie sich etwas verwirrt. "Weil ich die ganzen Jahre keine Kinder bekommen konnte. Ich habe es immer wieder versucht, und es hat nie..." "Nun, Sie konnten auch keine bekommen, solange sie mit Arthur verheiratet waren", erwiderte der Arzt und legte sein Klemmbrett mit einem lauten Knall auf den Schreibtisch. Plötzlich musterte er sie sehr eingehend. "Solange sie ihm keinen Scheidungsgrund bieten wollten. Toby, meine Liebe..." Er stand auf und griff nach ihren reglosen Händen. "Als sie versuchten, schwanger zu werden, waren Sie da bei einem Frauenarzt?" Sie nickte wie betäubt. "Und was hat der gesagt?" "Dass ich..." Sie schluckte und setzte erneut an. "Dass er keinen medizinischen Grund finden könnte, warum ich keine Kinder bekäme. Aber er behauptete auch, es gäbe eine Menge, was sie noch nicht wüssten und manchmal..." Sie wartete und endete dann im Flüsterton: "Der springende Punkt ist, ich bin nie schwanger geworden. Es musste an mir liegen, denn Arthur hatte ja schon zwei Kinder." Dr. Morrisset schüttelte den Kopf und murmelte etwas Unverständliches. Er nahm seine Brille ab und rieb sich die Augen. Dann setzte er sich wieder an den Schreibtisch. Toby umklammerte den Rand des Untersuchungsbetts. Schließlich brummelte er etwas und setzte die Brille wieder auf. "Ich kann es nicht glauben, dass er es Ihnen nicht erzählt hat. Wenn ich gewusst hätte..." Er beugte sich vor. "Hören Sie, meine Liebe, ich werde Ihnen jetzt etwas sagen, auch wenn ich das vielleicht nicht tun sollte. Arthur war mein Patient, aber er lebt nicht mehr, also kann ich Ihnen getrost anvertrauen, dass Sie keine Kinder bekommen konnten, weil ihr Mann sich kurz vor der Heirat sterilisieren ließ. Das ist eine Tatsache, und ich weiß es so genau, weil ich die Operation hier in meiner Praxis ausgeführt habe. Es ist schrecklich, dass er es Ihnen nicht erzählt hat, aber das ist Vergangenheit, und Sie können nichts mehr daran ändern. Es zählt nur, was jetzt ist. Und ich bin vielleicht ein altmodischer Quacksalber, aber ich habe genug Kindern auf die Welt geholfen, um eine Schwangerschaft zu erkennen, auch ohne diese modernen Tests..." Er klopfte mit seinen Knöcheln auf das Klemmbrett. "Und die sind übrigens sehr selten verkehrt. So sicher wie ich hier sitze, meine Liebe, sind Sie schwanger." Schwanger. Sie würde ein Baby bekommen. Ein Baby. Sie schüttelte den Kopf und lächelte. Es war unglaublich. Sie war fast vierzig Jahre alt und würde ein Baby bekommen. "Hallo, hier, ist Toby! Es tut mir leid, dass du nicht da bist. Ich wollte dir sagen, dass ich Weihnachten nicht mit dir verbringen kann. Ich habe wohl vergessen zu erwähnen, dass ich schon etwas anderes vorhatte. Aber ich wollte dich wenigstens wissen lassen, dass ich mich über deine Einladung, den Baum und alles gefreut habe. Ich wünschte, ich könnte Weihnachten mit dir Zusammensein, aber da es nicht geht... Frohe Weihnachten und bis dann."
"Hörst du das?" fragte Chris und stellte den Anrufbeantworter ab. "Findest du nicht, sie hört sich ziemlich seltsam an?" "Ja", gab Stony zu. Sie klang wohl so seltsam, weil sie gelogen hatte. Davon war er überzeugt. Er wusste nur nicht warum. "Ich wünschte, ich wäre hiergewesen, als sie anrief." Chris seufzte. "Ich war gerade nebenan und habe Mrs. Kelsey ein paar Kekse gebracht. Meinst du, sie fürchtet vielleicht, sie würde sich dazwischen drängen? Manche Leute werden komisch über Weihnachten." "Ich habe keine Ahnung", erwiderte Stony. "Hast du versucht, sie anzurufen?" "Ja, aber es war besetzt. Du kannst es ja noch mal versuchen." Bei Toby war immer noch besetzt. Entweder telefonierte sie wirklich, oder sie hatte den Hörer daneben gelegt. Verdammt, sie wich ihm aus. Warum, zum Teufel... Furcht stieg in ihm auf. Der Arzt. Natürlich. Damit musste es zusammenhangen. Sie war beim Arzt gewesen. Er wischte seine schweißnassen Hände an der Hose ab, griff nach den Wagenschlüsseln und gab Chris einen Kuss auf die Wange. "Ich fahre mal zu ihr rüber und sehe nach, was los ist. Halt die Ohren steif, Kätzchen, ja?" Chris lachte ihn an und tätschelte ihm die Wange. "Klar, Dad. Bring sie mit, auch wenn du sie dafür über die Schulter werfen musst. Ich will nicht über Weihnachten in das Gesicht da schauen." "Was soll das denn wieder heißen? Ich mache mir nur Sorgen um sie, das ist alles." "Und du bist enttäuscht, das sehe ich dir an." "Sicher bin ich enttäuscht. Zumindest ein bisschen. Weißt du, ich mag Toby." "Sehr." "Na gut", brummte Stony auf seinem Weg nach draußen. "Sehr. Zufrieden?" "Im Moment ja." Chris grinste vergnügt und sagte: "Beeil dich, Dad." Es war ein schöner Heiligabend, ohne Mondschein und sehr friedlich. Für die kühleren Täler landeinwärts war Frost angesagt. Im Gamma-Pi-Heim brannte kein Licht, nur die Kerzen am Tannenbaum. In ihrem sanften Schein saß Toby auf dem Sofa, hatte ihre Gitarre auf dem Schoß liegen und eine Hand über den Saiten ruhen. Sie hatte sich mit dem Kopf nach hinten in die Kissen gelehnt und schaute zu den bunten Lichtern auf. Das Klopfen, an der Tür erschreckte sie nicht. Sie hatte damit gerechnet. Wenn ich ganz still sitzen bleibe, gibt er vielleicht auf und geht wieder. Nicht Stony. Das Klopfen wurde heftiger. "Toby", donnerte er, "ich weiß, dass du da bist, verdammt! Komm, mach auf oder ich klopfe hier so lange, bist du es tust. Wenn du nicht willst, dass die Nachbarn was mitbekommen, musst du mich reinlassen." Toby seufzte, legte die Gitarre behutsam auf die Couch und stand auf. Stony hatte sie so oft an einen Sturm erinnert, aber nie hatte der Vergleich so gut gepasst wie diesmal. Stürme konnte man nicht unter Kontrolle bekommen, verhindern oder ablenken. Bei einem Sturm konnte man nichts anderes tun als sich flach hinlegen und abwarten, bis er vorübergebraust war. "Toby, verdammt noch mal!" Stony wollte gerade die Faust anheben, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, da ging die Tür auf. "Du lieber Himmel, was für ein Lärm", sagte Toby und schaute ihn gelassen an. "Komm rein, und Frohe Weihnachten." Sie trug ein blaues, weiches Nachthemd, unter dem sich ihre Brüste abzeichneten, das aber sonst weit war. Sie hatte ihr Haar offen, nach hinten gekämmt und wie ein junges Mädchen bis zur Taille hängen. Sie sah frisch aus und wirkte doch zerbrechlich wie Porzellan. Das hielt Stony davon ab, sie an sich zu reißen und in die Arme zu nehmen. Statt dessen stemmte er sich am Türrahmen ab und fragte missmutig: "Wo, zum Teufel, warst du?"
Sie hob eine Braue an und antwortete gleichmütig: "Ich war im Bad." "Ach so", erwiderte Stony. Sein Magen krampfte sich zusammen. "Was hast du da gemacht?" fragte er in seiner taktlosen Art. Sie musterte ihn erstaunt, also räusperte er sich und formulierte seine Frage genauer: "Ich meine, du hast nicht wieder brechen müssen, oder? Warst du beim Arzt?" "Ja", bekannte sie leise. Ein schwaches Lächeln huschte über ihr Gesicht. "Ich war beim Arzt, und nein, mir war nicht übel. Es geht mir gut. Stony, möchtest du hereinkommen? Ich bin nicht so gekleidet, dass ich hier im Flur stehenbleiben kann. " "Ja, natürlich", murmelte er, trat ein und machte die Tür hinter sich zu. So wie sie sich benahm, hatte er das Gefühl, er müsste sich erst die Schuhe abputzen. Toby schien den Flur hinunterzuschweben. Ihr Nachthemd flatterte hinter ihr her. Ihre bloßen Füße machten kein Geräusch auf dem Teppichboden. Stony furchte die Stirn und folgte ihr. Irgend etwas stimmte nicht. Sie benahm sich sehr verwirrend, schien ganz weit von ihm weg zu sein. Warum hatte er sie nicht einfach in die Arme genommen? Warum küsste er sie nicht, bis ihr schwindlig wurde, und sagte ihr, wie sehr er sie vermisst hatte, welche Sorgen er sich um sie gemacht hatte? "Ich habe versucht, dich zu erreichen", sagte er. "Es war die ganze Zeit besetzt." "Ja, ich weiß. Das tut mir leid", erwiderte Toby und schaute ihn nicht an. In Stonys Ohren klang sie verlogen und falsch. "Dummerweise habe ich bei dem Apparat in der Nische vergessen, den Hörer aufzulegen. Das ist mir eben erst aufgefallen. Ich hoffe, ich habe dir nicht zu viele Umstände gemacht." Umstände? Was sollte das? Sie behandelte ihn wie einen Wildfremden. Unruhe erfasste ihn. "Ich habe mir Sorgen gemacht", sagte er leise und fasste nach ihrem Arm. "Wirklich?" Sie wich ihm aus. "Das brauchtest du nicht. Ich sagte dir ja, es geht mir gut." Ohne das Licht anzumachen, durchquerte sie den Raum und blieb in sicherer Entfernung vor dem kalten Kamin stehen. Mit einer höflichen Geste bat sie ihn, sich hinzusetzen. Sie gibt sich wie eine Herzogin, dachte Stony sarkastisch, ebenso unnahbar. Statt demütig ihre Einladung anzunehmen, zog er seine Jacke aus und warf sie aufs Sofa. "Also", begann er behutsam, "es geht dir gut. Und deshalb gehst du am Heiligabend schon um acht Uhr ins Bett? Auf Band hast du gesagt, du hättest etwas anderes vor. Was ist passiert? Ist dein Vorhaben ins Wasser gefallen?" Er bemerkte mit wachsender Verärgerung, dass sie ihre Arme vor der Brust verschränkte und unbewusst eine abweisende Haltung einnahm. "Das gilt für morgen", antwortete sie und wandte sich etwas von - ihm ab. "Heute abend habe ich ein bisschen Kopfschmerzen, und ich dachte, ich gehe lieber früh zu Bett, damit ich für Weihnachten ausgeruht bin. Wie du schon sagtest, macht es bestimmt keinen Spaß, an Weihnachten krank zu sein." "Toby..." Er fand, dass sie eine sehr schlechte Lügnerin war. Er atmete tief durch und ging auf sie zu, aber sie wich vor ihm zurück, als hätte sie Angst vor ihm. Angst vor ihm? Der Gedanke entsetzte Stony so sehr, dass er stehenblieb. "Toby, was, zum Teufel, ist bloß los?" Seine Stimme klang hart und verärgert, obwohl das nicht seinen Gefühlen entsprach. Denn eigentlich war er hilflos und verwirrt, fast so ähnlich wie in der Situation, als er Chris im Krankenhaus gegenübergetreten war, nachdem er gehört hatte, sie sei vergewaltigt worden. "Was hast du?" verlangte er barsch, entschlossen, nicht eher lockerzulassen, bis er eine Antwort von ihr bekam. "Hat es etwas damit zu tun, was der Arzt gesagt hat? Oder liegt es an mir?" "Nein!" Das klang wie ein Aufschrei. Durch ihr Verhalten hatte sie Wände zwischen ihnen errichtet, so dass Stony nur wagte, seine Hände nach ihr auszustrecken, sie aber nicht zu berühren. "Was ist es dann? Bitte, sag es mir!" Dann fiel ihm ein, was Chris gesagt hatte. "Oder fürchtest du, du würdest dich uns aufzwingen? Chris und mir? Ist es das?"
Sie schüttelte den Kopf und wollte antworten, doch Stony ließ sie nicht zu Wort kommen. Ihm war etwas ganz anderes eingefallen, und er schalt sich im stillen einen Trottel, dass er daran nicht gedacht hatte. "Toby, hör mal zu, es tut mir leid. Ich habe nicht daran gedacht, dass es für dich das erste Weihnachtsfest nach dem Tod deines Mannes ist. Ich kann verstehen, dass das schwer sein muss." Er fasste nach ihren Armen und spürte, wie sie zitterte. Sie ist verspannter, als ich dachte. Stony empfand Mitleid mit ihr. Nur um sie zu trösten, wollte er sie in die Arme nehmen. "Nein!" Sie stemmte sich mit beiden Händen gegen ihn. Ein erstickter Schrei kam über ihre Lippen. "Bitte, fass mich nicht an!" Ihre Ablehnung traf ihn schwer. "Ich soll dich nicht anfassen?" Er schaute sie verständnislos an. "Dich nicht anfassen, Toby? Vorgestern nacht hast du noch in meinen Armen gelegen, in meinem Bett, hast mich geliebt auf jede erdenkliche Art..." Sie fasste sich an den Mund und drehte ihm den Rücken zu. Ihre Schultern zuckten, und er glaubte, einen schrecklichen Moment lang, dass sie lachte. "Ich kann mich nicht erinnern, dass dich jemand gezwungen hat. Im Gegenteil, ich habe bisher in meinem Leben nie eine so willige Frau in den Armen gehalten." Er atmete einmal kräftig durch, um sich zu beruhigen. "Hör mal, ich habe dir zu Anfang gesagt, dass du immer wissen wirst, was ich denke. So bin ich. Aber ich brauche dasselbe von dir." Er streckte eine Hand aus und berührte ihre Schulter. Diesmal zuckte sie nicht vor ihm zurück. Sanft und angstvoll drehte er sie zu sich um. "Toby, ich dachte, uns würde etwas Gutes verbinden. Zumindest hat es so schön angefangen. Wenn irgend etwas passiert ist, wodurch sich das geändert hat, dann muss ich das wissen." Sie weinte. Über der Hand, mit der sie ihre untere Gesichtshälfte bedeckte, sah er die Tränen in ihren Augen. Stony wurde es schwer ums Herz. Es war das erste Mal, dass er sie richtig weinen sah, bis auf die wenigen Male beim Höhepunkt ihrer Liebeserlebnisse. Das hatte ihn auch bewegt, aber auf andere Art als die Tränen jetzt. Das war mehr, als er ertragen konnte. "Toby", drängte er betroffen, "um Himmels willen, sag mir, was los ist!" Sie schüttelte den Kopf und flüsterte: "Ich kann es nicht." Innerlich empfand Stony zuerst eine riesige Leere, die sich allmählich mit der Überzeugung füllte, dass Toby etwas Schlimmes haben musste. "Du hast mich belegen, nicht wahr?" fragte er und hörte sich selbst wie aus weiter Ferne. "Der Arzt hat dir etwas gesagt." Sie schloss die Augen und gab ihm damit die Bestätigung, die er brauchte. In der unglaublichen Stille wirkten seine Worte wie Paukenschläge. "Sag es mir!" Plötzlich weinte sie nicht mehr. Sie löste sich von ihm, vergrößerte den Abstand zwischen ihnen und trocknete sich mit beiden Händen die Wangen ab. Dann richtete sie sich zu ihrer vollen Größe auf und hielt sich stolz. "Ich habe nicht gelogen", wehrte sie sich fast zornig. "Ich bin nicht krank, sondern schwanger." Stony wiederholte es nicht, bat sie auch nicht darum, es zu tun. Er wusste genau, was sie gesagt hatte. Schwanger. Dieses Wort prägte sich ihm intensiv ein. Er hätte nicht sagen können, wie lange er so dagestanden hatte, betroffen und erschüttert, dass ihre wunderbare Verbindung so zerbrochen war. Er schaute zur Decke auf und fluchte. "Nein, verdammt!" Er schüttelte den Kopf. "Ich kann es nicht glauben, dass ich darauf reingefallen bin." Es war der erste klare Gedanke, der ihm kam, dass sie ihn belogen, absichtlich getäuscht hatte. Den ältesten Trick benutzt, den es gab. "Man sollte glauben, in meinem Alter wäre ich klüger." "Was meinst du damit?" fragte sie leise.
Er lachte bitter auf. "Du hast mich belogen." Sie schloss die Augen und wandte ihr Gesicht von ihm ab, als hätte er sie geschlagen. Kaum hörbar flüsterte sie: "Ich wusste, dass du das denken würdest." In Wirklichkeit dachte er das gar nicht. Er klammerte sich nur an diese Möglichkeit. Unter all seinen Gefühlen wurde er mit Zorn am leichtesten fertig. "Was sollte ich sonst denken?" hielt er ihr vor. Sein Schmerz machte ihn fast blind. "Du hast gesagt, du könntest nicht schwanger werden. Jetzt behauptest du, du wärst schwanger. Da muss doch eine Lüge im Spiel sein. Was hofftest du also damit zu erreichen? Hast du geglaubt, ich würde dich heiraten, ja?" "Nein!" Sie wandte sich ihm zu. Ihre Augen funkelten zornig. "Nein, ich wollte nicht..." "Damit du es weißt: das werde ich nicht tun. Ich kann es gar nicht. Ich habe dir deutlich gesagt, wie ich über eine neue Ehe denke. Und du weißt genau, wie wenig ich noch mal ein Kind großziehen möchte. Ich habe dich nicht darüber im unklaren gelassen." "Ich will ja auch nichts von dir!" schrie Toby und wischte sich die Tränen aus den Augen. "Verstehst du das? Nichts. Das ist mein Baby, meines allein." Stony starrte sie an. Die Worte wirkten auf ihn wie Salzwasser in offenen Wunden. Er konnte kaum atmen, nicht mehr klar denken. Er brachte kein Wort mehr über die Lippen. Er wandte ihr den Rücken zu und schaute zur Decke. Toby, meine Güte, Toby, war alles, was ihm durch den Kopf ging. Der Zorn verrauchte, nur der Schmerz blieb. Nach einer ganzen Weile hörte er sie flüstern: "Ich habe dich nicht belogen. Zumindest nicht..." "Ich weiß." Er winkte spontan ab, als wollte er eine unwillkommene Berührung abwehren. "Warum hast du dann..." "Weil ich so schockiert war, verflucht." Er atmete aus und wandte sich ihr zu. "Wie klar konntest du denken, als du die Nachricht gehört hast? Du bist die schlechteste Lügnerin der Welt. Du hättest mich damit nicht täuschen können:" Sie machte die Augen zu und flüsterte ironisch: "Danke." Dann richtete sie sich gerade auf und reckte das Kinn vor. "Es gibt eine Erklärung, wenn du sie hören möchtest." Selbst von dort aus, wo er stand, konnte er sehen, dass sie am ganzen Körper bebte. Sehnsucht keimte in ihm auf. Einerseits hätte er sie gern in die Arme genommen, ihre Lippen geküsst, seine Hände in ihr Haar vergraben, sie an sich gezogen und sich in inniger Umarmung ihr geschenkt. Andererseits trauerte er um das Glück, das sie zusammen gefunden hatten, und das nicht mehr sein konnte. Er trauerte auch um das, was er verloren hatte, ehe er es kennenlernen konnte. "Natürlich will ich sie hören", erwiderte er leise. "Ich habe wirklich geglaubt, ich könnte keine Kinder bekommen", begann Toby mit zitternder Stimme. "Ich habe es all die Jahre geglaubt. Die Ärzte sagten zwar, sie könnten körperlich keinen Grund dafür finden, aber das war vor den wunderbaren Dingen, die man heute machen kann, und Arthur wollte es nicht weiter verfolgen. Er sagte immer, wenn es passieren sollte, würde es von selbst geschehen. Und irgendwann habe ich das akzeptiert. Heute habe ich erfahren..." Sie hielt inne, als würde sie an etwas ersticken, und schluckte schwer, ehe sie fortfuhr: "Der Arzt vertraute mir an, dass Arthur sich vor unserer Hochzeit sterilisieren ließ. Und all die Jahre habe ich geglaubt, ich wäre unfruchtbar. Dabei war es Arthur." Ein fremder, kalter Zorn erfasste Stony, ungewöhnlich deshalb, weil er Ärger und Wut immer als Hitze erlebte. Er biss die Zähne aufeinander. Er musste sich beherrschen. Sie würde es nicht verkraften, wenn er auch nur ein Wort dazu sagte. Er fragte allerdings, ob ihr klar war,, wie gemein sie von dem Mann getäuscht worden war, der ihr versprochen hatte, sie zu beschützen, der "so gut zu ihr gewesen war" und ihr "alles gegeben hatte". Stony konnte sich nur vage vorstellen, wie sie sich fühlen musste. Er bewunderte ihre Haltung und hätte sie gern
in die Arme genommen, aber er konnte sie nicht trösten, weil er selbst noch nicht mit dem Gedanken fertig geworden war. "Hast du schon entschieden, was du machen willst?" fragte er schließlich und wählte seine Worte behutsam. "Machen?" Ihre Augen verdunkelten sich verständnislos. "Willst du die Schwangerschaft auf dich nehmen? Es gibt auch andere Möglichkeiten." Sie ballte ihre Hände zu Fäusten. "Willst du mir etwa eine Abtreibung vorschlagen? " Ihre Stimme klang eisig. Stonys Augen brannten. "Toby", sagte er und rieb sich die Stirn. "Ich wollte dir gar nichts vorschlagen. Es ist deine Entscheidung. Ich wollte dir nur sagen, dass ich dir helfen werde, gleichgültig für was du dich entscheidest." Sie verschränkte die Arme vor der Brust, weniger in Abwehr, als um sich an sich selbst festzuhalten. Ihr Atem ging flach. "Es hat eine Zeit gegeben, da wollte ich ein Baby mehr als alles andere auf der Welt. Und ich musste mich damit abfinden, dass ich nie eins bekommen würde. Das war schwer. Und jetzt habe ich eine neue Chance. Ich werde das Baby behalten. Nichts und niemand kann mich daran hindern." Stony streckte seine Hände nach ihr aus, ließ sie jedoch wieder sinken, denn er konnte sie nicht in die Arme nehmen, sonst hätte er womöglich Dinge gesagt, die er nicht sagen wollte. Die Stimme versagte ihm fast und verriet seine innere Qual. "Toby, ich will dich nicht zurückhalten. Das würde ich nie tun. Ich sagte schon, ich werde dir helfen. Ich trage die Kosten." "Das brauchst du nicht", entgegnete sie abweisend. "Du bist nicht dafür verantwortlich." "Was sagst du da?" stieß Stony ungehalten hervor. "Natürlich bin ich verantwortlich. Es ist auch mein Kind, nicht wahr?" Die Worte hingen plötzlich zwischen ihnen wie eine greifbare Spannung. Nach einer Weile, die wie eine Ewigkeit schien, holte Toby tief Luft und bestätigte ihm mit "Ja, es ist auch dein Kind" das Glück, das sie an Thanksgiving gefunden hatten. Sein Kind. Sein und Tobys Kind. Tief in seinem Innern rührte sich etwas. Obwohl er versuchte, es zu unterdrücken, keimte es auf und erwachte. Sein Kind! Er nickte bedächtig. "Also dann." Sie schauten sich schweigend an. Schließlich meinte Stony: "Ich nehme an, dir ist jetzt nicht danach zumute, weiter darüber zu sprechen, oder?" Sie schüttelte den Kopf und formte stumm mit den Lippen ein Nein. "Mir auch nicht. Nicht jetzt." Er massierte sein Kinn und bemühte sich um klare Gedanken. "Hör mal …“, begann er. Aber "Ich rufe dich an" klang eher wie eine Ausrede. "Ich kann im Augenblick nicht klar denken", sagte er deshalb zu ihr. "Ich werde dich anrufen, wenn ich darüber geschlafen habe. Wir müssen es besprechen und sehen, was wir machen." Sie nickte und flüsterte: "In Ordnung." Stony hörte sich erwidern: "Also, ich bin dann jetzt weg." Sein Körper fühlte sich nicht so an, als würde er ihm noch gehören und gehorchen. "Kommst du zurecht?" Sie nickte erneut. Er auch. "Gut, bis dann. Ich melde mich." Gleich darauf war er draußen und atmete begierig die kalte Nachtluft ein. Er war so aufgewühlt wie noch nie in seinem Leben. Sehen, was wir machen? Er kam bis zu seinem Wagen, ehe er wieder klar zu denken vermochte. Er saß da, ließ den Motor laufen und grübelte über mögliche Lösungen. Je mehr er darüber nachdachte, desto deutlicher erkannte er, dass keine der Lösungen vernünftig war - bis auf eine. Der Gedanke, nicht mehr mit Toby Zusammensein zu können, erschien ihm unerträglich. Die einzige Lösung, bei der er mit ihr Zusammensein würde, war eine Heirat. Sie heiraten.
Er neigte den Kopf zur Seite und lauschte den Worten, während er sie im stillen mehrfach wiederholte. Seltsam, der Klang machte ihm nicht die Angst, wie er sie in der Vergangenheit erlebt hatte. Eine Ehe konnte bei ihm nicht gutgehen. Hatte er das nicht immer behauptet? Er hatte es bereits versucht und wusste, dass es ihm misslungen war. Aber mit Toby? Bei dem Gedanken wurde ihm warm ums Herz. Er fühlte sich wohl. Natürlich. Wie dumm war er gewesen. Diesmal wird es anders sein, sagte er sich. Er wollte dafür sorgen. Er konnte sich darum bemühen, und er wollte alles dafür tun, dass es klappte. Wo ein Wille ist, ist ein Weg, sagte er sich. Toby schien nicht überrascht, ihn zu sehen, als sie ihm auf sein Klopfen die Tür öffnete. Sie hielt seine Jacke bereits in der einen Hand und drückte mit der anderen ein paar Weihnachtsgeschenke an sich. "Toby, ich..." "Hier ist sie", unterbrach sie ihn atemlos. "Ich habe vergessen, dir das zu geben. " Sie reichte ihm die Jacke und die Geschenke, so dass er die Arme voll hatte und nicht tun konnte, was er wollte, nämlich sie an sich ziehen. "Das kleine Päckchen ist für Chris. Ich dachte, da ich sie morgen nicht sehe. Bitte, sag es ihr, es tut mir leid..." Sie wollte schon die Tür zumachen. Stony stürmte hinein und zwängte sich an ihr vorbei in den dunklen Flur. "Toby", stieß er hervor, "ich muss mit dir reden. Ich habe mich benommen wie ein Trottel. Es gibt nur eine Lösung, die vernünftig ist. Ich habe nicht klar gedacht. Ich war zu schockiert, weißt du." Er holte tief Luft und sprach es aus: "Hör mal, ich will dich heiraten." Es war zu dunkel. Er konnte ihr Gesicht nicht deutlich erkennen, aber er sah, dass sie den Kopf schüttelte. "Danke für den Antrag", erwiderte sie leise, "aber das ist nicht nötig." "Du verstehst mich nicht", sagte Stony, wollte sie an sich reißen und ihr klarmachen, was er empfand. "Ich will dich heiraten, wirklich. Ich..." "Nein, Stony, du verstehst mich nicht." Sie sagte es in sanftem Ton. "Ich will nicht heiraten. Ich habe dir gesagt, wie ich dazu stehe. Erinnerst du dich? Ich habe zwanzig Jahre in einer Vernunftehe gelebt. Das werde ich nicht noch mal machen." Eine Vernunftehe. Stony stand wie erstarrt da und la uschte dem Nachhall ihrer Worte. War das alles, was es für sie sein würde? Bisher war ihm noch nicht der Gedanke gekommen, dass sie vielleicht nicht dasselbe für ihn empfinden mochte wie er für sie. "Stony, ich weiß, wie du zur Ehe stehst, und ich kann mir vorstellen, was es dich gekostet hat, mir einen Antrag zu machen." Er hörte ihrer Stimme an, dass sie krampfhaft bemüht war, die Tränen zurückzuhalten. "Wie ich schon sagte, ich habe mir vorgenommen, nie wieder zu heiraten, außer aus Liebe. Und davon bringt mich niemand ab. Ich bin fast vierzig Jahre alt. Ich habe es verdient, glücklich zu sein. Bitte, versteh mich." Stony nickte. Die Schmerzen im Gesicht, in den Muskeln, im Hals waren unerträglich. Nachdem er ein paarmal geschluckt hatte, brachte er nur stockend über die Lippen: "Ich verstehe. Und natürlich verdienst du, glücklich zu sein." Er räusperte sich kräftig. "Also, das war's dann. Ich... ich rufe dich nach... Wenn ich... Wir müssen uns noch überlegen, was wir machen." "Ja", murmelte sie. "In Ordnung." "Nacht", sagte er und ließ sie stehen. Er ging zu seinem Wagen, stieg ein und fuhr wie unter Schock nach Hause.
10. KAPITEL
Toby musste schon auf ihn gewartet und nach ihm Ausschau gehalten haben. Denn als Stony in die Einfahrt bog, kam sie aus dem Haus, stieg die Treppe hinunter und lief auf ihn zu. Sie wollte wohl keine Minute mehr als nötig drinnen mit ihm verbringen, auch wenn sie zugestimmt hatte, sich bei einem Essen mit ihm darüber zu unterhalten, was sie in Zukunft machen würden. Er konnte es ihr nicht übernehmen, dass sie sich in seiner Gegenwart nicht mehr wohl fühlte, da sie wusste, was er für sie empfand, und sie seine Gefühle nicht erwidern konnte. Aber trotzdem schmerzte es ihn. Es schmerzte ihn, sie anzusehen. Sie hatte ihr Haar locker hochgesteckt, aber er erkannte gleich, dass es nicht lange so halten würde. Die ersten dunklen Locken hatten sich schon aus der Frisur gelöst und kringelten sich an ihren Schläfen. Sie trug einen hellen, weiten Pullover mit einem leichten V-Ausschnitt. Für das Wetter war die Kleidung angemessen, doch ihm fiel es dadurch nur schwerer, sich zurückzuhalten. Er hatte sich vorgenommen, sie nicht anzufassen, obwohl alles an ihr ihn dazu verlockte. "Entschuldige den Lastwagen", sagte er, als er ausstieg, um ihr die Tür zu öffnen. "Ich möchte meinen Wagen nicht auf dem Parkplatz stehenlassen, wenn ich weg bin." "Weg?" wiederholte sie und kletterte in das Führerhaus. "Du fährst weg?" "Ja, heute nacht." Er warf die Tür zu, ging auf die andere Seite und schwang sich auf den Fahrersitz, ohne sie anzusehen. "Wohin willst du denn?" kam es sehr leise von ihr. "Alaska", antwortete er, legte den ersten Gang ein und setzte aus der Einfahrt zurück. "Dort steckt ein Frachter im Eis fest. Den wollte ich mir mal ansehen." Das war natürlich nicht der wahre Grund. Der Frachter würde ihm nicht wegfahren, und im allgemeinen hätte er die Sache mindestens bis zum Frühjahr aufgeschoben. "Ich verstehe", sagte sie. Stony riskierte einen Blick zu ihr hinüber, aber sie schaute starr nach vorn, mit ausdrucksloser Miene. Die Hände hielt sie im Schoß verschlungen. "Keine Sorge", sagte er leise, "ich habe dafür gesorgt, dass für dich alles geregelt ist." Ruckartig wandte sie sich ihm zu. Den Blick, der ihn traf, konnte er nicht deuten, aber seltsamerweise kam er einer Ohrfeige gleich. "Hier..." Er räusperte sich verlegen, griff nach einem großen Umschlag, der auf dem Sitz zwischen ihnen lag, und ließ ihn in ihren Schoß fallen. Er hatte ihn Toby erst später geben wollen, vielleicht nach dem Essen und einer kleinen Unterhaltung, wenn sie irgendwie dieses eigenartige Gefühl überwunden hatten. Aber er merkte schon, er hatte die Angelegenheit nicht richtig angefasst. "Ich habe viel darüber nachgedacht", gestand er ihr rau., „Ich glaube, ich habe eine Lösung gefunden, die für alle weniger bedrückend ist. Hier ist alles drin. Ich habe meinen Anwalt ein Treuhandvermögen festlegen lassen, für den Fall, das mir etwas zustößt. Außerdem habe ich ein Konto eröffnet, über das deine laufenden Ausgaben abgewickelt werden können. Du brauchst nur die Berechtigungskarten zu unterschreiben und so schnell wie möglich der Bank einzureichen. Wenn dir das Geld ausgeht, ehe ich zurück bin, ruf einfach meinen Assistenten Jake Riley an. Im Notfall kannst du ihn Tag und Nacht erreichen. Er weiß immer, wo ich bin." Er hielt einen Moment inne. "Mal überlegen, habe ich irgend etwas vergessen?" Sie wandte sich von ihm ab. Ihre Worte klangen leicht gedämpft. "Das musste nicht sein." Stony nahm das schweigend hin. Nach einer Weile räusperte er sich erneut und meinte: "Ich dachte bloß, es wäre besser so, für uns beide, nicht wahr? Weniger umständlich." Und vielleicht weniger schmerzlich, auch wenn er das schon bezweifelte. "Ja", sagte sie mit vibrierender Stimme, "sicher, wenn du es so willst." Nein, verdammt, er wollte es nicht so. Die ganze Sache ging ihm gegen den Strich. Sich einfach davonzumachen und wie die Katze um den heißen Brei zu schleichen, war nichts für
ihn. Er trug Konflikte lieber aus und versuchte, sich durchzusetzen. Er hätte am liebsten mit ihr diskutiert, ihr alle Gründe aufgezählt, warum sie ihn heiraten sollte, auch wenn sie ihn nicht liebte. Er glaubte sie überreden zu können, wenn er es nur richtig anfassen würde. Denn die rein körperliche Anziehungskraft zwischen ihnen war echt. Wenn er sie einfach nur in die Arme nahm und sie küsste, bis sie nicht mehr klar denken konnte... Aber er hatte sich vorgenommen, das nicht zu tun. Er mochte sie viel zu sehr. Er wusste, dass sie zwanzig Jahre ihres Lebens an einen Mann verschwendet hatte, den sie nicht geliebt hatte. Sie verdiente etwas Besseres als das. Sie verdiente eine Chance auf Liebe und Glück. Soweit es unter den Umständen möglich war, wollte er ihr aus dem Weg gehen und ihr diese Chance nicht nehmen. Sie fuhren gen Westen, in den ersten Sonnenuntergang des neuen Jahres. Stony klappte Tobys Sonnenschutz herunter und bemühte sich, nicht darauf zu achten, wie sie sich versteifte und leicht von ihm wegrückte, um ja nicht mit ihm in Berührung zu kommen. Und wie um ihre Reaktion vor ihm zu verdecken, fragte sie rasch: "Wie geht es Chris?" Er lächelte gequält. "Ach, es geht ihr gut. Besser glaube ich sogar. Die Therapiesitzungen helfen ihr wohl sehr, besonders die Gruppentherapie. Sie geht auch in einen Selbstverteidigungskurs. Ich glaube, der stärkt ihr Selbstvertrauen." "Fein", sagte Toby leise. "Das freut mich." Und dann fragte sie: "Wirst du ihr von uns erzählen?" Stony schaute sie überrascht an. "Ich dachte, das wäre deine Sache. Aber ich muss dir ehrlich sagen, ich lasse sie nicht gern im Ungewissen. Besonders nicht über so etwas." Er lachte leise auf und fuhr sich wie abwesend mit der Hand durchs Haar. "Weißt du, wie oft Chris mich als Kind bebettelt hat, sie möchte ein Brüderchen oder ein Schwesterchen? Wenn ich es ihr nicht sage und sie es irgendwie erfährt, wird sie mir das nie verzeihen." Aber, so dachte er, es wäre nicht das erste unverzeihliche Geheimnis, das er vor ihr hatte. "Andererseits, wenn ich es ihr sage", meinte er, "wird sie uns wahrscheinlich beide verrückt machen. Sie kann nämlich eine schreckliche Nörglerin sein." Sie würde auch niemals verstehen, warum er Toby nicht einfach heiratete und mit nach Hause brachte, wo sie hingehörte. Sie war noch so jung und unerfahren, dass sie glaubte, verliebt zu sein, bedeute gleichzeitig das große Glück. Er fürchtete, mit der Haltung würde sie es Toby nur noch schwerer machen. "Erzähl es ihr, wenn du es für richtig hältst", sagte er deshalb zu Toby. "An deiner Stelle würde ich jedoch noch eine Weile warten." Zumindest so lange, dachte er benommen und umklammerte das Steuer fester, bis du den Mann gefunden hast, den du von ganzem Herzen liebst. "Mrs. Thomas? Darf ich... Oh! Entschuldigung, ich wollte Sie nicht stören." "Schon gut, Mindy", sagte Toby, "kommen Sie herein. Ich habe mich nur ausgeruht." Sie hatte gehofft, der dumpf e Schmerz im Rücken wurde Weggehen, wenn sie sich ein paar Minuten hinlegte, aber wenn überhaupt, schien er schlimmer zu werden. Als sie sich aufrichtete und langsam ihre Füße auf den Boden hinunterließ, musste sie einen unwillkürlichen Schmerzenslaut mit einem Gähnen vertuschen. "Ach je!" seufzte sie. "Ich wollte mich nur ein paar Minuten hinlegen. Was ist denn, sind die Busse da?" "Ja", antwortete Mindy, "und die ersten Leute kommen schon. Ich habe ein paar nach Ihnen fragen hören. Ich dachte, Sie wollten das vielleicht wissen." "Ja, danke, ich komme gleich." "Prima, wir warten." Toby bemühte sich um ein Lächeln, bis die Tür hinter Mindy zu war. Dann stand sie behutsam auf und knöpfte den Taillenbund des blauen Seidenrocks zu. Sie hätte ihn auch so lassen können. Die lange, weite Kostümjacke würde den Schlitz verdecken. Sie tat es jedoch aus einem gewissen Stolz heraus und der Tatsache wegen, dass sie ihr Geheimnis nicht mehr, lange für sich behalten konnte und wahrscheinlich auch ihre Stelle aufgeben musste.
Trotz einem kurzen Gang zur Toilette ließ der Druck in ihrem Unterbauch nicht nach. Dieses unangenehme Gefühl war in den vergangenen Wochen chronisch geworden. Eigentlich wünschte sie sich ihre Übelkeit zurück. Die war nur kurzfristig gewesen. Im Augenblick tat ihr alles weh, besonders aber der Rücken. Am liebsten wäre sie ins Bett gekrochen und hätte geschlafen. Ihr war nicht danach zumute, die fröhliche Gastgeberin zu spielen. Doch draußen hörte sie bereits die Busse vorfahren, die die Studentinnen des Gamma Pi-Heims und ihre Begleiter ins Beverly Hills Hotel zu einer Valentinsparty bringen sollten. Gleich vor ihrer Tür hörte sie die wartenden Paare, die sich im Flur versammelt hatten und in die Busse steigen wollten. Viele der Studentinnen gehörten der Gamma Pi- Gemeinschaft an, wohnten aber nicht hier im Haus. Sie hatten nur selten Zeit, einmal vorbeizuschauen und ein paar Worte mit der Heimleiterin zu wechseln. Besonders sie würden erwarten, dass Toby sich sehen ließ. Wenn sie nicht dabei wäre, würden sie sich nach ihr erkundigen. Und das wollte Toby nicht. Deshalb rieb sie sich ein letztes Mal den Rücken, richtete ihre Frisur, glättete den Rock und schlüpfte in die Schuhe mit den Absätzen. Meine Güte, sind die auch zu eng geworden? Dann ging sie hinaus zu den anderen. Nachdem der letzte Bus abgefahren war, fühlte sie sich noch, schlechter. Ihr war schwindlig, und die Schmerzen in ihrem Rücken waren stärker geworden. Allmählich machte sie sich Sorgen. Das Wort "Fehlgeburt" ging ihr immer wieder durch den Kopf, obwohl es nach dem, was sie in den Broschüren über die ent sprechenden Symptome gelesen hatte, nicht sein konnte. Zum einen hatte sie keine Blutungen, und die Schmerzen waren nicht wie Krämpfe. Wenn es Montag noch so schlimm sein sollte, wollte sie auf jeden Fall den Arzt aufsuchen. Bis dahin konnte sie sich vielleicht mit einer Schmerztablette helfen. Sie wollte gerade in die Küche gehen, als ihr Chris von dort mit einem Glas Orangensaft entgegenkam. "Oh!" sagte Chris und schaute sie überrascht an. "Mrs. Thomas..." "Hallo, Chris!" begrüßte Toby sie herzlich und stellte fest: "Du bist ja gar nicht zu der Party gefahren." Chris schüttelte den Kopf. "Nein, ich bin noch nicht soweit. Meine Beraterin meinte, ich sollte mich nicht zwingen, also bin ich hiergeblieben." Sie zuckte die Schultern. "Ich glaube, so weit werde ich auch nie wieder kommen. Die Trinkerei und die ganzen Partys, ich weiß nicht." "Also ehrlich gesagt", meinte Toby, "ich finde das nicht schlimm. Vielleicht liegt es dir einfach nicht. Ich jedenfalls fühle mich dabei nie wohl." "Ja", erwiderte Chris. "Das hat meine Beraterin auch gesagt." Plötzlich zog sie die Brauen zusammen. "Mrs. Thomas, haben Sie etwas? Sie sehen so aus, als würden Sie sich nicht gut fühlen." "Ich fühle mich schrecklich", gab Toby zu. "Ich wollte ein paar Schmerztabletten nehmen und mich ins Bett legen." "Ja, das ist eine gute Idee. Falls Sie irgend etwas brauchen, rufen Sie mich einfach, ja? Ich bin oben" sie deutete mit dem Glas Saft zur Decke, "in meinem Zimmer und lese. Hoffentlich geht es Ihnen bald besser." "Das hoffe ich auch", murmelte Toby. Chris war schon ein paar Schritte von ihr entfernt, als sie ihr noch nachrief: "Chris?" Die junge Frau blieb am Fuß der Treppe stehen. "Hm?" "Wie geht es deinem Dad? Hast du Nachricht von ihm?" Chris wirkte unangenehm berührt. "Ja, er hat mich vor ein paar Tagen angerufen. Er ist noch in Alaska und weiß nicht, wann er zurückkommt." "Ach so", meinte Toby. "Ich dachte nur. Danke." "Gern geschehen." Chris zögerte, nagte an der Unterlippe, als wollte sie noch etwas sagen, murmelte dann aber nur "Nacht, Mrs. Thomas" und stieg die Treppe hinauf.
Toby blickte ihr nach. Wie einsam muss sie sich fühlen, dachte Toby, isoliert nach einem Überfall, der ihr die Unschuld und das Selbstvertrauen geraubt hat und Stony so weit weg... Seit Jahresanfang war Chris ihr aus dem Weg gegangen, nicht absichtlich, aber sie kam auch nicht mehr zu ihr und bat um Rat, wie sie es vorher getan hatte. Sie hatte irgendwie Schutzwände um sich aufgebaut, und Toby wusste sie nicht mehr zu erreichen. Traurig betrat sie die Küche. Sie fand die Schmerztabletten und nahm zwei Stück mit ein paar Schluck Wasser ein. Sie wehrte sich gegen aufwallende Übelkeit und das Schwindelgefühl, bemühte sich, Schritt für Schritt in ihr Zimmer zurückzukommen und ließ sich aufs Bett fallen. Sie zitterte am ganzen Körper und fühlte sich entsetzlich schwach. Irgend etwas stimmt nicht, dachte sie. Irgend etwas habe ich. Einige Zeit später - sie wusste nicht, wie viele Stunden verstrichen waren - dachte sie, sie sollte aufstehen, sich ausziehen und in ihr Nachthemd schlüpfen. Aber allein der Versuch, sich aufzurichten, erzeugte solche Schmerzen, dass sie nur schwer einen Aufschrei unterdrücken konnte. Später, dachte sie, schwitzte und keuchte. Ich kann mich später ausziehen. Morgen werde ich als erstes den Arzt anrufen. Es ist nicht das Baby, sagte sie sich. Das konnte nicht sein. In keinem der Bücher wurden solche Symptome erwähnt Aber wenn es nicht das Baby war, was dann? Sie konnte nicht schlafen. Die Schmerzen ließen sie nicht zur Ruhe kommen. Sie schienen ein eigenes Leben zu führen, gegen das sie sich wehren musste während der langen, einsamen Nacht. Sie lauschte auf die Geräusche, an 'denen sie erkennen konnte, dass die Dämmerung heraufzog - das Brummen eines Lastwagens in der Ferne, den ersten Bus, der vorbeifuhr, das Tapptapptapp eines morgendlichen Joggers. Die gedämpften Geräusche aus der Küche, wenn Malcolm morgens um fünf Uhr kam und begann, das Frühstück vorzubereiten. Malcolm. Er war da. Nicht weit weg von ihr in der Küche. Er konnte ihr helfen, wenn sie ihn nur erreichen würde. Aber wie sollte sie das machen? Sie konnte sich nicht bewegen, kam nicht aus dem Bett. Wenn sie ihn rief, würde sie die anderen im Haus wecken. Das will ich nicht, dachte sie und presste die Lippen aufeinander, während ihr die Tränen ins Haar liefen. Ich werde nicht hier liegenbleiben und weinen wie ein hilfloses Kind. Irgendwie schaffte sie es aufzustehen, schlurfte wie eine alte Frau zur Tür, klammerte sich daran fest und zitterte am ganzen Körper. Nie hätte sie gedacht, einmal solche Schmerzen zu haben. Unglaublich, dachte sie, muss ich sterben? Ist es das? Wie überrascht alle sein würden. Sie war doch noch zu jung dafür. Bei dem Gedanken musste sie gequält lächeln. Sei keine dumme Gans, schalt sie sich. Sie durfte doch nicht sterben. Sie würde ein Baby bekommen. Sie tastete sich an der Wand im Flur entlang, bis sie eine Tür unter ihren Händen fühlte. Sie hielt sich daran fest und drückte die Stirn gegen das Holz. Erschöpft und schweißgebadet sammelte sie ihre letzten Kraftreserven. Die Schmerzen waren so stark, dass sie sich kaum noch halten konnte. Sie schob die Tür auf... "Malcolm!" rief sie keuchend und machte einen Schritt in die Küche. "Bitte, ich brauche Hilfe!"
11. KAPITEL
Malcolm fasste nach Toby, ehe die Beine unter ihr nachgaben. Sie schrie auf vor Schmerzen, als er sie auf die Arme hob. "Hier, jetzt, ich habe Sie..." Die tiefe Stimme des Kochs tröstete und beruhigte sie. "Was ist denn? Das Baby?" Sie schüttelte den Kopf und rang nach Luft. "Ich weiß es nicht. Ich glaube es nicht. Mein Rücken tut weh. Da stimmt irgend etwas nicht. Ich muss zum Arzt." "Krankenhaus ist wohl besser", bemerkte Malcolm, "Sie sind ja ganz heiß. Nur mit der Ruhe, wir kümmern uns um alles. Ein bisschen Geduld, ja?" Er trat die Küchentür auf, steckte den Kopf in den Flur und rief: "Chris!" Toby starrte ihn verwundert an. Es war das erste Mal, das sie Malcolm laut rufen hörte. Und warum sollte Chris kommen? Ein paar verschlafene Gesichter erschienen über dem Treppengeländer. Jemand wandte sich um und rief in den Flur: "Holt mal jemand Chris? Malcolm braucht sie in der Küche." Einige Studentinnen kamen gähnend und verwirrt die Treppe hinunter. Allmählich begriffen sie, dass irgend etwas nicht stimmte: Warum schrie der Koch um fünf Uhr morgens, und warum trug er die Heimleiterin auf den Armen? "Mrs. Thomas", meldeten sich die verwirrten Stimmen, "was ist los? Was haben Sie?" Toby machte die Augen zu. Erklärungen überstiegen ihre Kräfte. "Mrs. Thomas hat einen Unfall gehabt", sagte Malcolm in einem Ton, der jegliche Fragen im Keim erstickte. "Ich bringe sie in die Klinik. Dir seid heute morgen auf euch gestellt. Wenn ihr also etwas essen wollt, sucht schon mal jemand aus, der Küchendienst macht. Okay?" Zustimmung ertönte, wenn auch zögernd. "Prima", lobte Malcolm sie und zog sich in die Küche zurück. "Wie ist es?" fragte er Toby, als die Tür hinter ihm. "Es geht", brachte Toby schwach über die Lippen. Sie wollte ihn fragen, warum er nach Chris hatte rufen lassen, aber ehe sie das konnte, ging die Tür schon auf. Chris kam in einer Weise in die Küche gestürmt, die Toby bedrückend an Stony erinnerte. "Malcolm, was ist los mit Toby? Alle sagen... O Gott, Mrs. Thomas, was haben Sie?" Ich muss ja furchtbar aussehen, dachte Toby. Chris sieht mich so entsetzt an. "Ich muss mich am Rücken verletzt haben", hörte sie sich gepresst antworten. "Malcolm bringt mich in die Klinik." "In die Klinik? Nein! Was kann ich... Kann ich irgend etwas tun?" Sie hielt unsicher inne, legte beide Hände über den Mund und fragte dann: "Glauben Sie... Soll ich Dad anrufen?" Zuerst herrschte Stillschweigen. Malcolm schaute Toby an und hob fragend die Brauen. Schließlich nickte sie und hörte ihn leise sagen: "Ja, ich glaube, das ist das beste. Mach das, ich bringe Mrs. Thomas schon rüber in die Klinik." "In Ordnung", sagte Chris. "Ich werde Jake anrufen. Er weiß, wo Dad zu erreichen ist. Was soll ich ihm sagen? " "Bestell ihm, Toby musste ins Krankenhaus", erwiderte Malcolm geduldig, aber bestimmt. "Nein, warte", krächzte Toby, "sag ihm..." Aber Chris war schon weg. "Er wird vermutlich glauben, es ginge um das Baby", flüsterte sie Malcolm zu, während er sie die Hintertreppe hinuntertrug. "Ja, wird er wohl", versetzte der Koch gelassen und fügte hinzu: "Sie wissen ja auch noch nicht, ob es nicht so ist." Sie fröstelte. "Ich darf das Baby nicht verlieren", hauchte sie. Irgendwo in ihrem tiefsten Innern wurde es warm, und die Kälte wich. "Ich werde das Baby nicht verlieren." Malcolm schmunzelte und meinte: "Gut so. Nicht aufgeben." Die Schmerzen raubten ihr fast die Besinnung, als Malcolm die Autotüren öffnen musste, sie hineinhob und auf dem Rücksitz absetzte. Ehe er zurückweichen konnte, umklammerte Toby seinen Arm und hielt ihn fest. Verzweifelt wehrte sie sich gegen die aufsteigende
Übelkeit. Da war noch etwas, was sie ihn fragen musste. "Woher..." setzte sie an und musste erst Luft holen, ehe sie weitersprechen konnte. "Woher wussten Sie das?" "Dass Christines Dad derjenige ist welcher?" Malcolm lächelte undurchsichtig. "Also, sie hat mir ein wenig anvertraut. Sie haben mir ein bisschen erzählt, und im allgemeinen kann ich zwei und zwei zusammenrechnen." "Aber sie weiß nicht... und Sie wissen nicht..." "Nee", gab Malcolm zu. "Ich habe ihr auch nichts gesagt. Das müssen Sie und ihr Dad machen, nicht wahr?" "Ja", flüsterte Toby und lehnte sich erschöpft auf dem Sitz zurück. Sie hatte keine Kraft mehr. Sie wollte sich bei jemandem anlehnen, wollte umsorgt werden. Sie wollte Stony bei sich haben. Aber Stony war in Alaska. Selbst wenn Chris ihn mit der Nachricht erreichen würde, konnte er bestimmt nicht von einer Eisscholle zurückkehren, nur um schauen zu kommen, wie es ihr ging. Stony bemerkte die Ironie des Schicksals nicht, als er durch die Türen der Notaufnahme hereinstürmte. Er hatte nur eines im Sinn. "Toby Thomas!" bellte er an der Annahme und stützte sich mit den Händen auf dem Tresen auf. "Sie wurde heute morgen eingeliefert. Können Sie mir sagen, wo sie ist und was sie hat?" Die Krankenschwester, die ihn mit offenem Mund anstarrte, schluckte und erwiderte leise: "Einen Moment, Sir, ich sehe mal nach." Sie wandte sich ab und gab in den Computer "Thomas... Toby..." ein. Stony wartete, trommelte mit den Fingern ungeduldig auf den Tresen. "Ja, Sir, sie ist aufgenommen worden. Wenn Sie..." "Aufgenommen! Wegen was? Was hat sie? Wie geht es ihr?" "Es tut mir leid, Sir, das weiß ich nicht. Sie müssen zur Hauptanmeldung gehen. Die werden Ihnen weiterhelfen können. Da bin ich sicher." "Ach, Donner..." Stony schaute zur Decke und fluchte im stillen. Dann schüttelte er den Kopf und musste lachen. Chris hätte jetzt zu ihm gesagt: Daddy, bitte, schrei nicht so. Mit letzter Geduld entschuldigte er sich bei der Schwester und versuchte, sich auf ihre Erklärungen zu konzentrieren. Aber es fiel ihm schwer. Seit mehr als zwölf Stunden ging ihm das Schrecklichste durch den Sinn, und ihm fehlte einfach die Kraft. Er hatte tagelang in Nome herumgehockt und sich Ausreden einfallen lassen, um nicht nach Hause fahren zu müssen. Dann hatte Jake ihn benachrichtigt, dass Toby ins Krankenhaus gebracht worden sei. Es musste um das Baby gehe n, mit Sicherheit. Auf dem Rückweg hatte er sich ständig gefragt, wie Toby sich fühlen mochte, wenn sie das Baby verlor, und wie wichtig es ihm war, bei ihr zu sein, falls das passieren sollte. Er hatte auch über andere Dinge nachgedacht und darum gebetet, dass Toby das Baby nicht verlor. Aber ebensowenig wollte er Toby verlieren. Er hätte es sich nie verzeihen, wenn er zu spät gekommen wäre. Diesmal war er auf den verblüfften Blick vorbereitet, mit dem die Schwester hinter der Hauptannahme ihn musterte. Er hatte sich kurz in einer dunklen Fensterscheibe gesehen und fand es verständlich, dass die Schwester so entsetzt dreinschaute. Zum einen trug er noch seinen Parka, ein Kleidungsstück, das in Los Angeles nicht gerade alltäglich war. Zum anderen musste er mit den müden Augen, der vom arktischem Wind und Wetter gezeichneten Haut und dem sechs Wochen alten Bart aussehen wie ein Abgesandter der Yukon, der einen Samstagabend in der Stadt verbringen will. Er dachte daran und bemühte sich, ruhig aufzutreten. "Thomas?" wiederholte die Schwester und konsultierte ihren Computer. "Hm, sind Sie ein Familienangehöriger?" "Ja", preßte Stony über die Lippen. Die Schwester sah ihn nicht an, als wollte sie das bezweifeln.
"Zimmer 314, dritte Etage", sagte sie und deutete auf die Wand hinter ihm. "Sie können den Aufzug benutzen oder die Treppe." "Danke", erwiderte Stony, zögerte kurz und erkundigte sich dann: "Können Sie mir sagen, wie es ihr geht, bitte?" "Ihr Zustand ist hier nur als ,gefestigt' angegeben." "Gefestigt?" wiederholte Stony ungehalten und erschüttert zugleich. "Was, zum Teufel, heißt das denn nun wieder?" Das Wort sollte sicher tröstlich sein, aber bei ihm bewirkte es das Gegenteil. Wenn Tobys Zustand jetzt "gefestigt" war, hieß das, es hatte einen Zeitpunkt gegeben, wo das nicht der Fall gewesen war, was bei ihm den Eindruck erweckte, dass ihr augenblicklicher Zustand sehr bedenklich war. "Tut mir leid, Sir", sagte die Schwester ernst. "Das kann ich Ihnen nicht sagen. Da müssen Sie mit der diensthabenden Schwester sprechen." Sie deutete wieder auf die Wand hinter ihm. "Dritte Etage." Stony lief die Treppe hinauf. Aufzüge im Krankenhaus waren immer langsam. Außerdem musste er nervöse Energien loswerden, sonst drohte er zu explodieren. Von der Tür des Treppenhauses aus kam er gleich in einen Warteraum gegenüber des Schwesternzimmers, in dem es um diese Uhrzeit sehr geschäftig zuging. Er achtete nicht auf die anderen Leute im Raum, lief an den Schwestern und freiwilligen Helfern vorbei zum Tresen und verlangte: "Toby Thomas, Zimmer 314... wo ist das?" "Tut mir leid", antwortete die Schwester mit nervenaufreibender Ruhe, nachdem sie einen Blick auf die Patientenliste geworfen hatte. "Mrs. Thomas darf nicht gestört werden. Sie schläft. Wenn Sie bitte warten..." "Nein, verdammt, ich will nicht warten!" Dann fiel ihm wieder ein, wo er war, und er bemühte sich, seine Stimme zu dämpfen, was ihm nur schwer gelang. "Hören Sie, Miss", sagte er gepresst. "Wie Sie mir vielleicht ansehen, komme ich von weither, um mich nach dem Zustand der Lady zu erkundigen. Sagen Sie mir jetzt um Himmels willen, wie es ihr geht! Was ist mit dem Baby? Wie geht es dem?" "Daddy?" Das war Christines Stimme. Sie kam aus dem Warteraum hinter ihm. "Oh, Daddy, ich bin ja so froh, dass du hier bist. Was..." Stony warf ihr einen kurzen Blick zu, konnte sich aber nicht um sie kümmern, weil er noch gebannt auf die Antwort der Krankenschwester wartete. "Sind Sie der Ehemann?" fragte sie und musterte ihn aufmerksam. "Noch nicht", erwiderte Stony rau. "Aber das werde ich bald sein. Und nun sagen Sie mir endlich, ob sie das Baby verloren hat." "Baby?" flüsterte Chris verwirrt. "Bisher nicht", erklärte die Schwester. "Die Ärzte waren sehr besorgt, und sie steht unter Beobachtung, aber bislang sind sie optimistisch. Mrs. Thomas hat eine schwere Nierenentzündung, die vorzeitige Wehen und eine Fehlgeburt auslösen könnte. Aber wie gesagt, die Ärzte sind überzeugt, es rechtzeitig in den Griff bekommen zu haben. Mehr kann ich Ihnen wirklich nicht dazu sagen, Mr..." "Brand, Stony Brand." "Mr. Brand. Da müssten Sie sich mit dem Arzt unterhalten. Er kann Ihnen die Fragen nach Mrs. Thomas' Gesundheitszustand besser beantworten. Wenn Sie möchten, rufe ich ihn." "Mrs. Thomas bekommt ein Baby?" "Eh ja, gern", sagte Stony zu der Schwester, "aber später, ja? Später." Er warf seiner Tochter einen gequälten Blick über die Schulter zu. Sie stand direkt hinter ihm, zusammen mit Jake Riley. Er hatte eine Hand auf Christines Schulter gelegt, und sie hielt sich an ihm fest, als wäre er der einzige Halt für sie. Es war noch ein anderer Mann zu ihnen getreten, ein großer Schwarzer mit goldenen Ohrringen und muskulösen Armen. Stony wandte sieh an die Krankenschwester. "Wann kann ich zu ihr?" "Also", antwortete die Schwester, "wie gesagt, im Moment schläft sie."
Stony hob bittend beide Hände. "Hören Sie, ich will sie nur sehen. Bitte." Die Schwester gab nach. "Na gut, aber nur für ein..." "Dad?" Stony wirbelte herum und glaubte einer Fremden gegenüberzustehen. Da war nicht mehr sein kleines Mädchen, sondern eine erwachsene Frau, die ihn ansah. Eine tiefgekränkte, wütende junge Frau. "Toby bekommt ein Baby, und du hast mir das nicht gesagt?" Die letzten Worte waren kaum mehr als ein ungläubiges Flüstern. Er war zu schockiert von den Gefühlen, die ihn in Aufruhr versetzt hatten. Er konnte sich einfach im Augenblick nicht wie ein Vater verhalten. Hilflos hob er eine Hand und bat: "Jake, kümmern Sie sich um sie, ja?" Dann lief er den Flur hinunter. Vor Raum 314 blieb er stehen, holte tief Luft und stieß die Tür auf. Später dachte er, dass er auf den Anblick hätte vorbereitet sein müssen, aber dem war nicht so. Er sah Toby in den Kissen liegen, ihr Gesicht so blass und fahl, überall war sie an Geräte angeschlossen. Und auf einmal waren neunzehn Jahre wie ausgelöscht. Er stand in dem anderen Krankenhauszimmer, sah ein anderes bleiches Gesicht, von einer Atemmaske verdeckt. Das Haar auf dem Kissen war braun, nicht schwarz. Er hörte das Zischen des Sauerstoffgeräts und das leise, rhythmische Piepsen einer Kurve auf einem Monitor. Dann trat Stille ein, und die Kurve verflachte. Ihm war eiskalt. Schweiß brach ihm aus. Er schaffte es jedoch, die Tür zu öffnen und leise in den Flur zu schlüpfen. Einen Moment stand er da und lehnte sich dagegen. "Es ist hart", sagte eine leise Stimme neben ihm, "wenn man jemanden, den man liebt, so da liegen sieht." Er schaute auf und sah einen weißen Becher vor sich. Der Duft nach Kaffee wehte ihm in die Nase. "Wer sind Sie?" murmelte er und schaute zu dem Schwarzen auf, der ihm bei Chris und Jake im Warteraum aufgefallen war. "Ich heiße Malcolm, bin Tobys Freund. Hier - Sie sehen so aus, als könnten Sie das brauchen." "Ja?" Stony nahm den Becher an und fand, dass Toby seltsame Freunde hatte. Malcolm schmunzelte, als hätte Stonys Gedanken erraten. "Ich bin Koch im Studentenheim. Ich habe Toby hergebracht." Stony nickte, nippte an dem heißen Kaffee und sagte: "Danke." Dann erkundigte er sich: "Wie geht es Chris?" Bei dem Gedanken an seine Tochter wurde ihm erneut kalt. Sie würde ihm nie verzeihen, dass er ihr nichts von dem Baby erzählt hatte. Aber nun war es zu spät. Er konnte das nicht wieder rückgängig mache n. Er vermochte auch nicht weiter darüber nachzudenken. "Es geht ihr gut", erwiderte Malcolm und deutete mit dem Kopf in Richtung Wartezimmer. "Jake ist bei ihr. Netter Kerl." "Ja", brummte Stony, "das stimmt." Er reichte Malcolm den Becher. "Wollen Sie noch mal reingehen?" fragte er. "Ja", antwortete Stony. "Danke für den Kaffee." "Gern geschehen. Und dann?" "Wie bitte?" "Wenn es ihr besser geht", fragte Malcolm, "reisen Sie dann wieder ab?" Stony sah Malcolm starr an, und Malcolm begegnete seinem Blick ebenso. "Sie hat Angst um ihre Stelle als Heimleiterin", sagte er leise. "Sie weiß nicht, wie es weitergehen soll." Stony schnaubte verächtlich. "Solche Angst kann sie nicht haben. Ich habe ihr gesagt, ich würde sie heiraten. Sie hat mich abgewiesen." "Ihr Mann hat ihr nichts hinterlassen", erzählte Malcolm. "Wussten Sie das?"
"Nein", antwortete Stony und erinnerte sich, dass er nicht dazu gekommen war, sie danach zu fragen. "Ich hatte keine Ahnung. Aber es spielt keine Rolle. Ich habe ihr gesagt, ich würde für alles sorgen." Malcolm schüttelte den Kopf. "Sie ist sehr stolz. Sie will weder Almosen noch Mitleid." "Mitleid!" Stony war entsetzt. "Glauben Sie etwa, ich mache das aus Mitleid? Glauben Sie, ich komme direkt von Alaska hierher aus Mitleid?" "Ach so", stellte Malcolm gelassen fest, "Sie lieben sie also?" "Natürlich liebe ich sie." "Weiß sie das?" "Nun, sie müsste es wissen. Ich sagte doch, ich habe ihr angeboten, sie zu heiraten." "Eh-eh." Malcolm schüttelte den Kopf. "Das sind zwei paar Schuhe." Er berührte Stonys Ärmel und hob dann eine Hand, als wollte er ihn auf etwas aufmerksam machen. "Zwei Paar Schuhe. Denken Sie darüber nach, Mann." Toby war überzeugt, Stonys Stimme gehört zu haben. Natürlich hatte sie nur geträumt. Sie wollte schon nach der Schwester schellen, da ging die Tür auf, und Stony kam herein. Es muss an den Tabletten liegen, sagte sie sich. Sie haben mir irgend etwas gegeben, wovon man realistisch wirkende Träume bekommt. "Hallo!" grüßte er. "Wie fühlst du dich?" Es war tatsächlich Stonys Stimme. Sie fürchtete sich, ihm zu antworten, sah, wie er näher kam und sich an ihr Bett setzte. Verwundert streckte sie eine Hand nach ihm aus und berührte sein Gesicht. "Du bist es wirklich", hauchte sie. Er machte ein Geräusch, das wie ein Lachen klang. "Ja, natürlich." Sie betastete seinen Bart. "Du hast ihn dir wieder wachsen lassen." "Habe ich ja versprochen." Erst da fiel ihr ein, unter welchen Umständen er sich von ihr verabschiedet hatte, und ihre Freude schwand dahin. "Wann bist du zurückgekommen?" "Gerade eben", antwortete er. "Siehst du das nicht?" "Doch." Sie lachte leise, nachdem sie ihn eingehend betrachtet hatte. "Du kannst den Mantel ruhig ausziehen." Dann würde sie ernst. "Gerade eben?" wiederholte sie, als hätte sie erst in diesem Augenblick begriffen, was er gesagt hatte. "Ja", sagte Stony. "Tut mir leid, ich konnte es nicht eher schaffen. Ich habe von Nome keinen Flug nach Anchorage bekommen können." "Heißt das, du bist meinetwegen gekommen?" Sie brachte die Worte nur mühsam heraus, als hätte sie das nicht glauben können. Er schaute sie verwirrt und fast verärgert an. "Natürlich deinetwegen. Was hast du denn gedacht? Meine Güte, Toby, ich..." Abrupt stand er auf, wandte ihr den Rücken zu und barg sein Gesicht in beiden Händen. "Ich dachte, du hättest das Baby verloren." "Nun", erwiderte sie, ohne ihn anzusehen. "Das habe ich nicht." Innerlich bebte sie. Die Spannung wuchs ins Unerträgliche. "Ich weiß." Sie hörte ihn aufseufzen und dann ein leises "Gott sei Dank" murmeln. Unmöglich, das musste sie sich eingebildet haben. Sie wandte sich ihm langsam zu. "Wie bitte?" Er wirbelte zu ihr herum. "Ich sagte: ,Gott sei Dank'. Ich bin froh, dass es dem Baby gut geht." "Ich dachte, das würde dich nicht interessieren." Eine Träne rann ihr aus den Augenwinkeln ins Haar. "Für was für einen Menschen hältst du mich?" Seine Augen funkelten zornig. Der Parka behinderte ihn. Er zog ihn aus und warf ihn ans Fußende des Bettes. "Natürlich interessiert mich das."
"Ich dachte, du wolltest es nicht." Eine weitere Träne folgte der ersten. Dann noch eine, nicht mehr zu übersehen, aber auch nicht mehr aufzuhalten. "Zuerst nicht. Ehrlich gesagt..." Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. "Ich habe Angst, wenn ich daran denke. Der ganze Kummer und die Sorgen... Mein Gott, die Sorgen! Aber lieber Himmel, Toby, es ist mein Kind. Unser Kind. Und ich..." Er hielt inne. Sein Gesicht veränderte sich mit einemmal, so dass Toby nur staunen konnte. "Was denn?" Statt ihr zu antworten, beugte er sich über sie und wischte ihr liebevoll die Tränen weg. Seltsam heiser bat er: "Wein nicht." "Was ist denn?" wollte sie wissen und schob seine Hände beiseite, wobei sie sich ihrer Tränen schämte. Stony richtete sich auf. Er wirkte unsicher, verletzlich, vorsichtig, ängstlich. So kannte sie ihn gar nicht. "Du hast mir gesagt, ich wüsste bei dir immer, Woran ich wäre", warf Toby ihm vor. Sie schniefte und wischte sich die Nase am Handrücken ab. "Aber ich verstehe gar nichts mehr. Ich verstehe nicht, warum du hier bist oder..." "Meine Güte, ich liebe dich", entfuhr es Stony. Er breitete die Arme hilflos aus und hätte beinahe eine Plastikflasche umgeworfen. Rasch senkte er seine Stimme. "Verdammt, was hast du geglaubt, warum ich sonst hergekommen bin?" Toby starrte ihn bloß an. Sie konnte nicht fassen, was er gesagt hatte. "Du... du liebst mich?" "Natürlich liebe ich dich. Das weißt du doch." "Woher sollte ich das wissen? Du hast es mir nie gesagt." Stony war erbost. "Ich habe dir doch gesagt, ich will dich heiraten, oder?" "Ja", schluchzte Toby, "aber nur, weil ich schwanger war." "Weil du... Na gut, das hatte auch etwas damit zu tun. Aber Toby..." Er stützte sich auf dem Kissen ab und beugte sich über sie. "Ich habe dir doch gesagt, ich fände, es gäbe nur einen Grund, aus dem man heiraten sollte. Weißt du noch? Ich dachte, du hättest mich verstanden. Als ich dir sagte, ich wollte dich heiraten..." "Das ist doch nicht dasselbe. Ich dachte..." "Toby", stellte Stony verwundert fest, "du schreist ja." Sie war tief bewegt, schluchzte haltlos und konnte ihn nur durch einen Tränenschleier sehen. "Ich verstehe gar nichts mehr. Ich verstehe nicht mal, warum ich weine." "Du bist in anderen Umständen", sagte Stony lächelnd und wischte ihr die Tränen weg. "Das einzige, was du zu verstehen brauchst, ist das hier." Er küsste sie zärtlich und erstickte jeglichen Protest. "Stony..." Er fühlte ihre Hand auf seiner Wange, richtete sich ein wenig auf und blickte in ein staunendes Gesicht. Ihm stockte der Atem. "Du... du liebst mich wirklich?" "Aber ja", flüsterte er. "Ich habe eine Weile gebraucht, es mir einzugestehen, aber ich liebe dich. Und bedeutet das..." Er strich zärtlich über ihre feuchte Wange. "Bedeutet das, dass du mich auch liebst?" Er fragte es unbeschwert, in Wirklichkeit wartete er gespannt auf ihre Antwort. Erneut liefen warme Tränen über seine Hände. "Ja. O ja. Ich liebe dich." Stony schloss die Augen und nahm die Wärme in sich auf, die ihre Worte bei ihm erzeugten. "Toby, warum hast du mir das nicht gesagt?" Er konnte sich nicht zurückhalten, das zu fragen. "Es hätte uns beiden viel Kummer erspart." "Das konnte ich nicht", erwiderte sie unter Tränen. "Ich wollte nicht, dass du Mitleid mit mir hast. Ich habe doch meinen Stolz." "Viel zuviel sogar", bemerkte Stony unwirsch. "Mit dir Mitleid haben? Ich habe sechs Wochen auf einer Eisscholle gefroren und mir Sorgen um dich gemacht, während du hier um deine Stelle gezittert hast." Er ließ sie nicht zu Wort kommen. "Malcolm hat es mir erzählt.
Das hättest du mir auch sagen sollen. Ich dachte, du hättest die Stelle angenommen, weil dir die Arbeit Spaß macht und nicht, weil du finanziell darauf angewiesen warst." "Sie macht mir auch Spaß. Ich kann bloß nicht länger bleiben … jetzt, wo..." "Pst!" machte Stony und drückte ihr seine Lippen auf den Mund. "Das spielt jetzt keine Rolle mehr. Wir werden heiraten. Das macht dir bestimmt auch Spaß." "Nein, Stony." Sie löste sich von ihm und schaute ihm in die Augen. "Du wolltest doch nie wieder heiraten und noch mal Vater werden. An der Vaterschaft kann ich nichts mehr ändern, aber du musst mich nicht heiraten... Pst!" Jetzt brachte sie ihn zum Schweigen. "Lass mich ausreden. Stony, ich liebe dich. Und ich kann es noch gar nicht fassen, dass du mich auch liebst, aber ich freue mich sehr darüber." Wieder rannen ihr die Tränen über die Wangen. Hörte das denn nie mehr auf? "Aber ich weiß, wie sehr du dich vor einer neuen Ehe gefürchtet hast. Du wolltest es nicht noch mal versuchen, weil es nicht gut gegangen war. Und ich will dich nicht heiraten, wenn du nicht ganz sicher bist. Wirklich sicher. Weil ich es so meinte, wie ich gesagt habe. Ich möchte glücklich werden. Ich möchte, dass wir beide glücklich werden." Stony lehnte sich zurück und rieb sich die Augen. "Ich werde dich nicht belügen." Seine Stimme klang angespannt und müde. "Ich habe Angst. Das liegt nicht daran, dass ich dich nicht liebe, sondern eher, dass ich dich so sehr liebe." "Das verstehe ich nicht", flüsterte Toby. "Manchmal muss ich weg. Es wird Zeiten geben, wo ich nicht weg will und du es auch nicht möchtest. Trotzdem werde ich gehen müssen, manchmal ohne zu wissen, wie lange es dauern wird, ehe ich wiederkomme. Gleichgültig, was geschieht, du musst mit allem allein fertig werden. Das wollte ich dir ersparen." "Ich bin immer gut allein zurechtgekommen", behauptete Toby, "ich werde mit allem fertig." "Du wirst einsam sein." "Ich habe ja das Baby", sagte sie und versuchte die Trauer in seinem Blick mit einem Lächeln auszugleichen. "Und Chris." "Chris." Ein Schatten huschte über sein Gesicht. Er bedeckte es mit beiden Händen. "Meine Güte, Toby, ich wüsste nicht, was ich machen würde, wenn dir meinetwegen etwas zustößt." "Stony." Erschrocken griff sie nach seiner Hand. "Mir passiert nichts. Und deinetwegen? Wie kommst du auf so einen Unsinn? Du kannst doch niemandem weh tun." Er lachte bitter auf. "Ich wünschte, das wäre wahr." Plötzlich umklammerte er ihre Hand so heftig, dass es fast schmerzte. In seinem Gesicht spiegelte sich große Qual wider. "Ich bin schuld am Tod meiner Frau", sagte er. "Das ist lächerlich", entgegnete Toby überzeugt. "Nein." Er schüttelte den Kopf. "Ich habe sie getötet. Ich hätte sie auch gleich erschießen können. Glaub mir, wenn ich mich von der Schuld freisprechen könnte, würde ich es tun. Es hat mir keinen Spaß gemacht, das mit mir herumzuschleppen." Er barg sein Gesicht in den Händen. "Nicht mal Chris weiß es." "Bitte", flüsterte Toby, "erzähl es mir." Sie hielt ihm die Hände, während er sprach, und spürte seinen Schmerz, als wäre es ihr eigener. "Sie war in Umständen", sagte Stony müde. "Das weißt du. Sie war ziemlich nah am Termin, als ich einen Notruf bekam. Ich weiß nicht mehr, was es war, aber ich fühlte mich verpflichtet zu gehen. Ich habe nicht mal gezögert. Dabei wusste ich, ich würde vermutlich nicht rechtzeitig zur Geburt des Babys zurück sein. Lynn war sehr tapfer, aber ich habe gemerkt, sie wollte nicht, dass ich fahre. Sie hatte Angst, wie das beim ersten Kind so ist..." Er hielt inne, schaute auf seine und Tobys Hände und fuhr fort: „Es gab einen Sturm. Der Strom fiel aus, die Telefonleitungen waren tot. Sie bekam Wehen, konnte niemanden zu Hilfe rufen und entschied sich deshalb, selbst zum Krankenhaus zu fahren. Ich weiß nicht, wie es
passiert ist, jedenfalls ist sie auf die Gegenfahrbahn geraten und frontal mit einem Lastwagen zusammengeprallt." "Oh, mein Gott!" Stony ließ sie los, klemmte seine Hände zwischen seine Knie und starrte ins Leere. "Sie hielten sie mit Apparaten am Leben, wegen des Babys. Sie konnten Chris retten - sie ist mit Kaiserschnitt geboren. Als ich ankam, war nichts mehr zu machen. Sie hatten nur auf meine Zustimmung gewartet, um die Apparate abstellen zu können. Also habe ich sie ihnen gegeben." Er schloss die Augen und holte Luft. "Chris weiß es nicht. Ich habe es nie fertiggebracht, ihr das zu erzählen." Lähmende Stille breitete sich aus. Sie wurde nur unterbrochen von einem leisen Geräusch: einem einzigen Aufschluchzen. Stony erstarrte. Tobys entsetzter Blick glitt an ihm vorbei zur Tür hinüber, wo Chris stand. Sie hielt sich mit beiden Händen den Mund zu, und Tränen schimmerten in ihren Augen. "Chris!" Es war nur ein Hauch, der über Stonys Lippen kam. "Daddy?" Chris kam wie eine Schlafwandlerin zu ihnen und fasste nach der Rückenlehne von Stonys Stuhl. "Ist das wahr?" Er wandte sich zu ihr um. Große Qual schwang in seiner Stimme mit. "Chris..." Und plötzlich kniete sie neben ihm, hatte die Arme um seinen Hals geschlungen, schluchzte und flüsterte dabei immer wieder: "Oh, Daddy, das tut mir so leid." Im ersten Moment war Stony zu überrascht, um zu begreifen, was da vor sich ging. Doch dann öffneten sich bei ihm die Schleusen, und eine unglaubliche Wärme durchflutete ihn. Benommen und zitternd nahm er seine Tochter in die Arme, während sein Blick Tobys suchte und fand. Durch einen Tränenschleier sah er sie mit den Lippen die Worte "Ich liebe dich" formen. Da war wie ein Wunder, wie an einem sonnigen Morgen im vergangenen November. -ENDE