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William Zinsser ist Autor, Herausgeber und Dozent. Er begann seine Karriere bei der New York Herald Tribune und arbeitet seit vielen Jahren als freier Autor für international bekannte Magazine. In den 70er Jahren unterrichtete er in Yale, wo er Dekan am Branford College war. Von 1979 bis 1987 war er Chefredakteur beim Book of the Month Club. Er unterrichtet heute an der New School for Social Research in seiner Heimatstadt New York. Von Zinssers fünfzehn Sachbüchern erscheint sein bislang über 900.000mal verkaufter Bestseller Schreiben wie ein Schriftsteller nun auch in deutscher Sprache. »Schreiben wie ein Schriftsteller gehört in die Handbibliothek aller, die schreiben« New York Times
Vorwort Schreiben wie ein Schriftsteller ist in den U.S.A. erstmals vor zwanzig Jahren erschienen. Von allen Briefen und Anrufen, die ich seither von Lesern des Buches bekommen habe, ist mir einer besonders in Erinnerung geblieben. Der Anruf kam 1989 von Tom McIltrot, einem Schildermaler aus Fort Myers in Florida, der mir erzählte, dass er mit seinen Brüdern eine Schildermalerei betreibe und angefangen habe, ein Magazin namens SignCraft herauszugeben, weil es "einfach keine Informationsquellen für Schildermaler" gab. Dazu angeregt hatte ihn eine Zeitschrift, die Der Banjo Newsletter hieß. "Meine Brüder und ich machen alle Bluegrass-Musik", erzählte er, "und dieser Newsletter von einem Mann, der Flub Nitchie heißt, war in einem sehr persönlichen Stil geschrieben. Die meisten Fachblätter sind voller Branchenjargon und begnügen sich mit der Beschreibung neuer Produkte. Hubs Zeitschrift richtete sich an Menschen. Wenn man seine Interviews las, hatte man das Gefühl, man unterhielte sich mit jemandem draußen auf der Veranda. Die Fragen, die er den Banjospielern stellte, hätten auch von jemandem kommen können, der gerade Banjo spielen lernt. Es machte Spaß, das zu lesen. So wollte ich SignCraft auch aufziehen. Ich wollte Leben in den Artikeln haben. Aber ich war nie auf einer Uni gewesen und hatte keine Ahnung, was einen guten Text gut macht. Also ging ich mit meinem Problem zu Mona Ives, der der Buchladen hier gehört, und sie erzählte mir von Schreiben wie ein Schriftsteller. Sie sagte: 'Nimm's mit nach Hause, lies es, und lern's auswendig.' Das Buch war meine Uni und mein Schreibseminar." Tom McIltrot und ich sind seither in Kontakt geblieben, und ich verfolge auch die Entwicklung von SignCraft. Ich kaufe es an meinem Zeitungskiosk in New York und schaue zu, wie es immer weiter wächst. Die lebendigen Artikel und Bilder geben mir Einblick in die Welt der Werbeschilder, die überall unsere Straßen säumen, und es macht mir Freude, mehr über diese Welt zu erfahren. Letztens habe ich Tom angerufen, um ihn zu fragen, wie seine Zeitschrift läuft. Er erzählte mir, dass ihre Auflage jetzt bei 20 000 liegt, und dass sie in 82 Ländern gelesen wird. Ich fragte ihn, ob er sich noch erinnern könne, warum er mich damals angerufen hatte. Er sagte: "Die Beispiele für gutes Schreiben, die du in deinem Buch anführst, kommen aus den verschiedensten Bereichen. Aber ich habe den roten Faden gesehen, der sich durch alle Texte zog. In jedem erschien die Persönlichkeit und die Wärme des Autors. Und ich rief an, um dich zu fragen, was ich sonst noch lesen könnte." Ich möchte nicht die Lorbeeren für Toms Erfolg ernten. Schreiben wie ein Schriftsteller hat ihm lediglich das Gefühl vermittelt: "Ja, es ist vielleicht machbar. Mein Traum muss kein Traum bleiben." Aber in Toms Geschichte steckt die Kernaussage meines ganzen Buches: dass es für einen Schildermaler ebenso wichtig ist, auf seinem Gebiet gut zu schreiben, wie für einen Berufsschriftsteller, der Bücher oder für Magazine und Tageszeitungen schreibt. Und ebenso lohnend. Viele, die mir schreiben, berichten erfreut von dieser unerwarteten Zugabe. Wenn mein Buch also inzwischen ein Eigenleben führt, in die Welt hinaus geht und Freundschaften knüpft, liegt das wohl daran, dass es sich nicht nur an Berufsschriftsteller richtet. Es ist ein Buch für jeden, der lernen möchte, wie man gut schreibt, oder der hin und wieder - wie fast jeder von uns - in seinem Alltag etwas schreiben muss. Mit der Fähigkeit zu schreiben wird man nicht geboren, wie mit einem Talent für Musik oder Malerei. Schreiben heißt, jemand anderem auf Papier etwas zu sagen. Wenn Sie klar denken können, dann können Sie das, was Sie denken und wissen, auch in geschriebene Worte fassen. Dieses Buch entwickelte sich aus einem Nonfiction-Kurs, den ich in den 70er Jahren in Yale ins Leben gerufen hatte. Ich hatte damals bereits dreizehn Jahre als Autor und Redakteur bei -2-
der New York Herald Tribune und viele weitere Jahre als freier Autor von Nonfiction-Artikeln und Sachbüchern hinter mir. Ich sprach also aus Erfahrung. Seither habe ich Schreiben wie ein Schriftsteller viermal überarbeitet, um es auf den neuesten Stand zu bringen. Jeder Ausgabe habe ich das hinzugefügt, was ich inzwischen noch dazugelernt hatte, und wovon ich dachte, dass es auch für andere Autoren nützlich sein könnte. Ich will Ihnen hier weder gute Non-Fiction noch guten Journalismus beibringen. Es geht mir um die gute Sprache. Und die kann man zu jedem Zweck gebrauchen. Glauben Sie nicht, dass jemand, der seine Sprache nicht beherrscht, trotzdem gute Geschäftskorrespondenz, gute technische Abhandlungen, gute Reiseberichte, guten Journalismus oder gute Sachbücher schreiben kann. Das ist ein Ding der Unmöglichkeit. Guter Sprachgebrauch ist Ihr Passierschein zu allen Zielen, die Sie beim Schreiben, im Job und im sonstigen Leben verfolgen. Die Autoren, die ich in diesem Buch zitiert habe, unterscheiden sich stark im Wesen und im Stil. Aber sie alle beherrschen ihre Sprache gut. Und Sie können das auch. William Zinsser
Grundsätze Persönlichkeit Eine Schule in Connecticut lud mich einst ein, anlässlich ihres Tags der Künste über den Beruf des Schriftstellers zu sprechen. Als ich ankam, fand ich heraus, dass noch ein zweiter Redner eingeladen war - Dr. Brock, wie ich ihn hier nennen werde. Er war Chirurg, hatte kürzlich mit dem Schreiben begonnen und hatte einige seiner Stories an Magazine verkauft. Dr. Brock war da, um etwas über das Schreiben als Nebenbeschäftigung zu erzählen. So wurden wir zum Sachverständigenausschuss. Wir setzten uns vor all die Schüler, Lehrer und Eltern, die gespannt darauf waren, die Geheimnisse unserer glamourösen Tätigkeit zu erfahren. Dr. Brock trug ein knallrotes Jackett, welches ihm etwas Verwegenes - wie man es von einem echten Schriftsteller erwartet - verlieh. Also ging die erste Frage, wie es denn als Schriftsteller so sei, an ihn. Er sagte, es sei unwahrscheinlich spitze. Nach einem anstrengenden Tag in der Klinik schnappe er sich zu Hause umgehend seinen Schreibblock und schriebe sich seine Anspannung vom Leib. Dabei quollen die Wörter nur so aus ihm heraus. So einfach sei das. Ich sagte dann, Schreiben sei weder einfach noch spitze, sondern schwer und einsam, und nur selten quollen die Wörter dabei nur so aus einem heraus. Als nächstes wurde Dr. Brock gefragt, ob es wichtig sei, einmal Geschriebenes nochmals zu überarbeiten. "Ach, überhaupt nicht, immer raus damit", sagte er. Egal, wie die Wörter fielen, sie würden den Schriftsteller in seiner natürlichsten Form zeigen. Ich sagte dann, dass ohne Überarbeitung beim Schreiben gar nichts liefe, und betonte, dass Profis ihre Sätze immer wieder neu formulieren, um am Ende das Neuformulierte nochmals neu zu formulieren. "Was machen Sie an Tagen, an denen die Arbeit zäher vorangeht?" fragte jemand Dr. Brock. Er sagte, er ließe die Schreiberei dann einfach sein und warte auf einen besseren Tag. Ich sagte dann, dass Profis sich an feste Arbeitszeiten gewöhnen, die sie jeden Tag einhalten müssten. Ich sagte, Schreiben sei ein Handwerk und keine Kunst, und dass jemand, der aus Mangel an Inspiration vor seinem Handwerk fliehe, sich selbst ein Bein stelle. Außerdem wäre er bald pleite. -3-
"Und wenn Sie deprimiert sind - wirkt sich das nicht auch auf die Texte aus?" fragte ein Schüler. "Wahrscheinlich schon", antwortete Dr. Brock. Dann solle man lieber angeln gehen oder eine Runde drehen. "Wahrscheinlich nicht", sagte ich. "Wenn man das Schreiben zu seinem täglichen Beruf macht, dann erledigt man diesen Job wie jeden anderen auch." Ein Schüler wollte wissen, ob es was bringe, sich in die Gefilde der Literaten zu begeben. Dr. Brock sagte, sein neues Leben als Mann der schreibenden Zunft gefalle ihm prächtig, und er gab ein paar Geschichten über Mittagessen mit seinem Verleger und seinem Agenten in Manhattaner Szenerestaurants zum Besten. Ich sagte, dass Schriftsteller Eigenbrötler seien, die sich nur selten mit anderen Schriftstellern träfen. "Verwenden Sie in Ihrer Arbeit Symbolik?" fragte mich ein Schüler. "Wenn ich es vermeiden kann, dann nicht", antwortete ich - Ich halte den Weltrekord im Versäumen der tieferen Bedeutung der meisten Erzählungen, Theaterstücke und Filme, und was Tanz oder Pantomime angeht, so ist die Botschaft noch nie zu mir durchgedrungen. "Ich liebe Symbole!" jubilierte Dr. Brock und beschrieb verzückt, wie sehr er es genoss, sie in seine Texte einzuflechten. Am Ende dieses Vormittags wussten wir alle viel mehr als vorher. Zum Schluss sagte mir Dr. Brock, dass er meine Antworten hochgradig interessant gefunden habe. Es sei ihm noch nie in den Sinn gekommen, dass Schreiben schwer sein könne. Ich sagte ihm, dass mich seine Antworten ebenso interessiert hätten. Mir sei es noch nie in den Sinn gekommen, dass Schreiben leicht sein könne. - Vielleicht sollte ich mir einen Nebenjob als Chirurg suchen. Was die Schüler angeht, so könnte man meinen, wir hätten sie völlig verwirrt. Aber im Grunde haben sie so mehr über das Schreiben erfahren, als wenn nur einer von uns beiden gesprochen hätte. Es gibt keine "richtige" Art, eine so persönliche Sache zu meistern. Es gibt sehr verschiedene Schriftsteller und sehr unterschiedliche Methoden, und jede Methode, die Ihnen dabei hilft, das zu sagen, was Sie sagen wollen, ist für Sie richtig. Manche schreiben tagsüber, andere nachts. Manche brauchen Ruhe, andere schalten das Radio ein. Manche schreiben mit der Hand, andere am Computer, und wieder andere sprechen in ein Diktiergerät. Manche schreiben die ganze Rohfassung an einem Stück, andere können mit dem zweiten Absatz nur dann beginnen, wenn sie am ersten endlos herumgefeilt haben. Aber alle sind empfindlich und verspannt, getrieben vom Bedürfnis, einen Teil ihrer selbst auf ein Blatt Papier zu bringen. Und dennoch schreiben sie nicht einfach, was ihnen in den Sinn kommt. Sie lassen sich am Schreibtisch nieder, um Literatur zu schreiben, aber das Selbst auf dem Papier hat viel steifere Finger als der Mensch, der da schreibt. Es ist schwer - aber wichtig -, sich selbst hinter der Verspannung zu entdecken. Nicht das Thema, sondern die Person hinter dem Text entscheidet am Ende, ob sich das Geschriebene verkauft. Mir ist es schon oft passiert, dass ich voller Interesse etwas gelesen habe, von dem ich nie gedacht hätte, dass es mich interessieren könnte - etwa einen wissenschaftlichen Forschungsbericht. Gefesselt hat mich dabei immer die Leidenschaft des Autors für sein Gebiet. Wie ist er dazu gekommen, sich damit zu beschäftigen? Mit welchem Gefühl ist er an die Sache herangegangen? Wie hat sich sein Leben dadurch verändert? Man muss nicht selbst ein Jahr allein in Walden verbringen wollen, um einen Draht zu dem Schriftsteller zu finden, der dies getan hat. Hier geht es um den zwischenmenschlichen Austausch, das Kernstück jeder guten Nonfiction. Damit wären wir bei den beiden Punkten, nach denen ich in diesem Buch vorrangig Ausschau halten werde: dem Menschen und seiner Wärme. Ein guter Text ist so lebendig, dass er den Leser von Absatz zu Absatz mitzieht. Und diese Lebendigkeit wird nicht durch irgendwelche "Kunstgriffe" erzeugt, sondern dadurch, dass man sich so klar wie möglich ausdrückt. Kann man diese Grundsätze lehren? Vielleicht nicht. Aber die meisten davon kann man erlernen. -4-
Schlichtheit Vieles, was geschrieben wird, ist verseucht mit Füllwörtern. Unsere Gesellschaft erstickt an überflüssigen Wörtern, zusammengestoppelten Sätzen, pompösem Geschnörkel und bedeutungslosem Fachjargon. Wer soll den Wortsalat noch verstehen, dem wir täglich in Geschäftsberichten, Briefen oder der Nachricht von der Bank über den neuen "vereinfachten" Kontoauszug begegnen? Welcher Versicherte kann aus dem Beiblatt, in dem die Kosten und Nutzen einer Police erläutert werden, schlau werden? Welcher Vater oder welche Mutter kann ein Kinderspielzeug anhand der Bauanleitung auf der Verpackung zusammensetzen? Je aufgeblähter, desto bedeutungsvoller. Der Pilot, der verkündet, dass er momentan die Möglichkeit erheblicher Niederschläge nicht ausschließen kann, kommt schon gar nicht mehr darauf, zu sagen, dass es vielleicht regnen wird. Ein solcher Satz wäre zu schlicht. Da muss was faul sein. Aber bei einem gut geschriebenen Text liegt das Geheimnis darin, dass die reinsten Bestandteile aus jedem Satz herausgeschält sind. Jedes Wort, das keine Funktion erfüllt, jedes lange Wort, das man durch ein kurzes ersetzen kann, jedes Adverb, dessen Bedeutung bereits im Verb steckt (schnell rennen, laut schreien, freundlich zwinkern), jedes Passivgebilde, bei dem der Leser nicht erkennen kann, wer nun was tut, schwächt die Ausdruckskraft eines Satzes. Und solcherlei Verschnitt nimmt mit steigender Bildung und Position zu. In den Sechzigern schrieb der Dekan meiner Universität einen Brief, der die Studenten nach einem Tumult auf dem Campus beschwichtigen sollte. "Ihnen ist wahrscheinlich bekannt," fing er an, "dass wir uns mit sehr ernst zu nehmendem und potentiell explosivem Ausdruck von Unzufriedenheit mit nur teilweise in unsere Zuständigkeit fallenden Fragestellungen konfrontiert sehen." Er meinte, dass die Studenten ihn und seine Mitarbeiter mit verschiedenen Dingen genervt hatten. Die Sprache des Dekans brachte mich viel mehr aus der Fassung als der potentiell explosive Ausdruck von Unzufriedenheit der Studenten. Dagegen gefiel mir Präsident Franklin D. Roosevelts Bemühen, die von seiner Regierungsmannschaft verfassten Mitteilungen zu übersetzen. Hier die Blackout-Verordnung von 1942: Es sollen Vorkehrungen getroffen werden, dass alle staatlichen Regierungsgebäude sowie nicht-staatliche Gebäude, die der Benutzung durch die Regierung unterliegen, auf unbestimmte Zeit während eines Luftangriffs vollkommen verdunkelt werden, so dass sie weder aufgrund ihrer Innen- noch ihrer Außenbeleuchtung dem Blick freigegeben sind. "Sagt denen", meinte Roosevelt, "dass sie was vor die Fenster machen sollen, wenn sie in einem der Häuser nachts arbeiten müssen." "Vereinfachen, vereinfachen", empfahl auch Thoreau, und kein amerikanischer Schriftsteller hat sich konsequenter an das gehalten, was er predigte. Wenn Sie Walden auf einer beliebigen Seite aufschlagen, werden Sie dort einen Mann vorfinden, der mit schlichten und geordneten Wörtern sagt, was er denkt: Ich zog in den Wald, weil ich bewusst leben wollte, um mich allein den grundlegenden Dingen des Lebens auszusetzen und zu schauen, was es mich lehren konnte, statt kurz vor dem Sterben festzustellen, dass ich nicht gelebt hatte. Wie können wir diese beneidenswerte Schlichtheit erlangen? Die Antwort lautet: Wir müssen unsere Köpfe von Ballast befreien. Aus klarem Denken wird Klartext; das eine kann ohne das andere nicht sein. Jemand mit schwammigen Gedanken kann unmöglich gute Sätze formulieren. Vielleicht lässt man ihm das einen oder zwei Absätze lang durchgehen, aber früher oder später verliert der Leser den Faden und gibt auf. Und das ist das Schlimmste, was einem passieren kann, denn einen Leser gewinnt man nicht so leicht zurück. Wer ist dieses flüchtige Wesen, der Leser? - Der Leser ist ein Mensch mit einer Ausdauer von etwa dreißig Sekunden, der vielen Einflüssen ausgesetzt ist, die gleichzeitig um seine Aufmerksamkeit ringen. Früher waren es nur Zeitungen und Illustrierte, das Radio, der -5-
Ehepartner, die Kinder und die Haustiere. Heute sind das heimische "Entertainment Center" mit Fernseher, Videorecorder und Stereoanlage, E-Mail und Internet, das Fitnessstudio, der Swimmingpool, ein gepflegter Rasen und der mächtigste aller Konkurrenten, der Schlaf, mit im Wettstreit. Ein Mensch, der im Sessel über einem Magazin oder Buch eingenickt ist, dem hat ein Autor zuviel abverlangt. Man kann nicht einfach behaupten, der Leser sei zu dumm oder zu faul, einem Gedankengang zu folgen. Wenn der Leser sich verirrt, dann liegt das meist daran, dass der Autor nicht gewissenhaft genug war. Vielleicht ist ein Satz so verworren, dass dem Leser beim Versuch, sich durchs Gestrüpp zu kämpfen, der Inhalt entgeht. Vielleicht sind die Satzglieder so angeordnet, dass man den Satz so oder anders verstehen kann. Vielleicht hat der Autor auf halbem Wege das Pronomen oder die Zeit gewechselt, so dass der Leser nicht mehr nachvollziehen kann, wer was gesagt und wann die Handlung stattgefunden hat. Vielleicht ist Satz B keine logische Folge von Satz A. Der Autor, dem die Verbindung klar ist, hat es für überflüssig gehalten, die fehlende Verknüpfung zu liefern. Vielleicht hat der Autor ein Wort falsch benutzt, weil er sich nicht die Mühe gemacht hat, es nachzuschlagen. Wenn Leser vor solchen Hürden stehen, geben sie sich zunächst selbst die Schuld. Es muss ihnen etwas entgangen sein. Also nehmen sie sich den geheimnisvollen Satz erneut vor, möglicherweise sogar den ganzen Absatz. Sie fügen die fehlenden Stücke ein, als entzifferten sie eine beschädigte Hieroglyphentafel, mutmaßen und lesen noch ein Stück weiter. Aber lange machen sie das nicht mit. Der Autor verlangt ihnen zuviel ab, und sie wenden sich einem zu, der sein Handwerk besser beherrscht. Autoren müssen sich deshalb immer wieder fragen: "Was will ich eigentlich sagen?" Sie müssen ihren Text lesen und sich fragen: "Ist er verständlich für jemanden, der zum ersten Mal mit dem Thema in Berührung kommt?" Wenn nicht, dann hat sich irgendwo der Faden verheddert. Ein Autor mit klaren Gedanken erkennt einen verhedderten Faden als solchen. Ich will damit nicht sagen, dass manche Leute mit klarem Kopf und deshalb zum Schreiben geboren sind, während andere von Natur aus wirr sind und niemals gut schreiben werden. Klares Denken ist eine bewusste Handlung, zu der sich ein Autor zwingen muss, wie er es bei anderen Dingen, die Logik erfordern, auch tut. Ein guter Text kommt nicht von selbst, auch wenn die meisten Leute das vielleicht glauben. Berufsschriftsteller werden ständig von Leuten belagert, die ihnen erzählen, sie hätten vor, "auch irgendwann mal ein bisschen was zu schreiben". Damit meinen sie die Zeit, wenn sie aus ihrem Beruf als Versicherungsagent oder Makler, was ja anstrengende Jobs sind, ausgeschieden sind. Oder sie sagen: "Darüber könnte ich ein Buch schreiben." Ich bezweifle das. Schreiben ist Knochenarbeit. Ein klarer Satz entschlüpft einem nicht mal eben so. Sehr wenige Sätze stehen gleich bei der ersten - oder dritten - Niederschrift richtig auf dem Papier. Denken Sie in verzweifelten Momenten daran. Wenn es Ihnen schwer fällt, zu schreiben, dann liegt das daran, dass es schwer ist.
Ballast Sprachballast bekämpfen ist wie Unkraut jäten - der Autor hinkt immer ein wenig hinterher. Neues Kraut sprießt über Nacht, und mittags ist es bereits zum festen Bestandteil der Sprache geworden. Präsident Nixons Assistent John Dean schaffte es in einer einzigen im Fernsehen übertragenen Zeugenvernehmung während des Watergate-Prozesses, dass seither jeder in Amerika "zu diesem Zeitpunkt" statt "jetzt" sagt. Viele Wörter sind überflüssig. Denken Sie an das Adjektiv "persönlich", wie in "ein -6-
persönlicher Freund von mir", "seine persönlichen Gefühle" oder "ihr persönlicher Arzt". Dieses Wort ist eines von Hunderten, die man ersatzlos streichen kann. Der persönliche Freund hat sich in die Sprache geschlichen, damit er nicht mit dem Geschäftsfreund verwechselt wird. Er beleidigt nicht nur die Sprache, sondern auch den Begriff der Freundschaft. Und "seine Gefühle" gehören sowieso ihm persönlich - das steckt im Wort "seine". Was den persönlichen Arzt angeht, so handelt es sich dabei um den Mann, der ins Schminkzimmer der kränkelnden Diva gerufen wird, damit sie sich nicht vom unpersönlichen Vertragsarzt des Theaters behandeln lassen muss. Ich möchte, dass dieser Mensch irgendwann einfach als "ihr Arzt" betitelt wird. Ärzte sind Arzte, und Freunde sind Freunde. Der Rest ist Ballast. Ballast ist die ermüdend lange Wortkette, die ein kurzes Wort gleicher Bedeutung verdrängt hat. Schon vor John Dean hatten die Leute aufgehört, "jetzt" zu sagen. Sie sagten "zur Zeit" ("Zur Zeit sind alle Plätze belegt...") oder "momentan". Aber das Gegenwärtige lässt sich immer durch "jetzt" ausdrücken ("Jetzt kann ich ihn sehen"), oder durch "heute", wenn es um die historische Gegenwart geht ("Heute ist alles teurer"), oder einfach durch das Verb im Präsens ("Es regnet"). Es ist unnötig, zu sagen: "Zum jetzigen Zeitpunkt haben wir feuchte Niederschläge zu verzeichnen." "Verspüren" ist auch so ein Ballast-Wort. Sogar der Zahnarzt fragt einen inzwischen, ob man irgendwelche Schmerzen verspüre. Wenn sein Kind im Stuhl säße, würde er fragen: "Tut's weh?" Er wäre einfach er selbst. Aber indem er in der Rolle des Profis eine pompösere Phrase wählt, hört er sich nicht nur wichtiger an, sondern er nimmt der Wahrheit auch etwas von ihrer Schärfe. Dieselbe Sprache spricht eine Stewardess, wenn sie die Sauerstoffmaske vorführt, die von der Decke fällt, wenn es im Flugzeug keine Luft mehr zum Atmen gibt. "Im unwahrscheinlichen Fall, dass es während des Fluges zu einem solchen Zwischenfall kommen sollte," fängt sie an - allein dieser Satz verschlägt uns dermaßen den Atem, dass wir mit dem Schlimmsten rechnen. Auch die gewichtigen Euphemismen, die aus einem Slum ein "sozioökonomisch benachteiligtes Wohnviertel", aus einem Müllmann einen "Stadtreinigungsangestellten" und aus der Klärgrube eine "Anlage zur Beseitigung von Trinkwasserverunreinigungen" machen, sind Ballast. Dazu fällt mir ein Cartoon ein, bei dem zwei Landstreicher auf einem Güterzug sitzen, und einer sagt: "Angefangen habe ich als Penner, aber inzwischen bin ich ohne festen Wohnsitz." Ballast ist das, was herauskommt, wenn die Political Correctness Amok läuft. Ich habe mal eine Anzeige für ein Ferienprogramm gesehen, das "individuelle Betreuung für minimal vom Durchschnitt abweichende Kinder" anbot. Unter Ballast verstecken Unternehmen ihre Sünden. Nachdem Digital Equipment dreitausend Jobs gestrichen hatte, war in der Pressemitteilung nirgends von "Kündigungen" die Rede. Die hießen dort "unvorhergesehene personelle Umstrukturierungsmaßnahmen". Als einer ihrer Jagdflieger abstürzte, meldete die Air Force, er habe "vorzeitigen Bodenkontakt" gehabt. General Motors nannte die Schließung einer Fabrik eine "von den Marktgegebenheiten diktierte Produktionsplanoptimierung". Firmen, die kurz vor der Bauchlandung stehen, haben einen "negativen Cashflow". Sprachballast ist dem Pentagon nützlich, wenn es eine Invasion eine "verstärkte Maßnahme zur Verteidigung der internationalen Sicherheit" nennt, und wenn es seine immensen Ausgaben mit der "Notwendigkeit zur Abschreckung gegnerischer Gewalten" rechtfertigt. Schon George Orwell hat in seinem Essay Politics and the English Language, das bereits 1946 erschien, aber während der Amtszeiten von Johnson und Nixon, der Ära von Vietnam und Kambodscha, oft zitiert wurde, geschrieben: "Politische Schriften und Reden sind größtenteils die Verteidigung dessen, was nicht zu verteidigen ist (...) Daher muss die Sprache der Politik hauptsächlich aus Euphemismen, Fragwürdigkeiten und völlig dehnbaren, nebulösen Begriffen bestehen." -7-
Verbale Camouflage erreichte ihren Höhepunkt, als Alexander Haig Außenminister unter Präsident Reagan war. Vor Haig war noch niemand auf die Idee gekommen, "in diesem Entwicklungsstadium" zu sagen, wenn er "jetzt" meinte. Haig erzählte dem amerikanischen Volk, dass man Terrorismus mit "gefletschten Zähnen, die Sanktionen verheißen" bekämpfen könne, und dass Mittelstreckenraketen "im Rotationszentrum der Notwendigkeit" stünden. Was eventuelle Bedenken der Öffentlichkeit anging, so war seine Botschaft: "Überlasst das mal alles AI", obwohl er das ganz anders formulierte: "Wir müssen den Dezibelwert öffentlicher Fixierung senken. Ich denke nicht, dass in diesen Inhalten ein besonderer Bildungsfaktor enthalten ist." Ich könnte noch viele Beispiele aus verschiedenen Bereichen zitieren — jeder Beruf hat sein wachsendes Jargon-Arsenal. Ich wollte Ihnen mit den angeführten Beispielen nur zeigen, dass Ballast des Autors Feind ist. Vorsicht auch vor dem langen Wort, das nicht besser ist als das kurze: "assistieren" (helfen), "zahlreiche" (viele), "Individuum" (Mann oder Frau), "implementieren" (erfüllen), "ausreichend" (genug), "bezeichnet als" (genannt) und viele andere. Vorsicht auch vor all den Modewörtern, vor Paradigmen, Prioritäten und Parametern. Das sind wilde Ranken, unter denen Ihr Text erstickt. Kommunizieren Sie mit niemandem mündlich, mit dem Sie sprechen können. Ebenso tückisch sind Worthülsen, mit denen wir ankündigen, wie wir uns auszudrücken gedenken: "Ich möchte hinzufügen", "Es sollte hervorgehoben werden", "Es ist interessant, festzustellen". Wenn Sie etwas hinzufügen möchten, dann fügen Sie es hinzu. Wenn etwas festzustellen interessant ist, dann machen Sie es interessant. Kommt uns nicht allen das große Gähnen im Hinblick auf das, was der Einleitung "das wird Sie interessieren" folgt? Pumpen Sie keine heiße Luft in etwas hinein, das keine heiße Luft braucht: "Mit der potentiellen Ausnahme, dass" (außer), "aufgrund der Tatsache, dass" (weil), "ihm mangelt es vollkommen an der Fähigkeit, zu" (er kann nicht), "bis zu dem Moment, in dem" (bis), "zu diesem Zweck" (dafür). Kann man Ballast auf den ersten Blick erkennen? Meinen Studenten in Yale half es, wenn ich Klammern um jedes Satzglied setzte, das keine nützliche Arbeit leistete. Oft musste ich nur ein einziges Wort einklammern, zum Beispiel ein Adverb, dessen Bedeutung schon im Verb steckte (fröhlich lächeln), oder ein Adjektiv, das eine bekannte Tatsache beschreibt (ein hoher Wolkenkratzer). Oft standen in meinen Klammern kleine Einschränkungen, die jeden von ihnen bewohnten Satz abschwächen (ein bisschen, ziemlich) oder Floskeln wie "in gewissem Sinne", die nichts sagen. Manchmal klammerte ich einen ganzen Satz ein - wenn er dasselbe aussagte wie der vorangegangene oder wenn er etwas enthielt, das der Leser nicht wissen musste, oder das sich von selbst verstand. Die meisten Rohfassungen können um die Hälfte gekürzt werden, ohne dass eine einzige Information oder die Stimme des Autors verloren geht. Ich habe Klammern benutzt, statt die Wörter durchzustreichen, weil ich die geheiligten Werke der Studenten nicht verstümmeln wollte. Ich wollte die Sätze intakt lassen, damit die Studenten sie überprüfen konnten. Ich sagte: "Vielleicht liege ich falsch, aber ich denke, das kann weg, ohne dass sich die Aussage ändert. Entscheide du. Lies den Satz ohne das, was in Klammern steht, und schau, ob es hinhaut." In den ersten Wochen des Semesters waren die Blätter, die ich zurückgab, von Klammern übersät. Ganze Absätze waren eingeklammert. Aber die Studenten lernten schnell, ihren eigenen Ballast gedanklich einzuklammern, und am Ende des Semesters waren ihre Texte fast frei davon. Heute sind viele dieser Studenten Berufsschriftsteller, und sie erzählen mir: "Ich sehe immer noch Ihre Klammern. Diese Klammern werden mich mein Leben lang begleiten." Auch Sie können Ihre Augen schulen. Überprüfen Sie Ihren Text auf Ballast, und stutzen Sie gnadenlos. Seien Sie dankbar für alles, was Sie loswerden. Prüfen Sie jeden Satz, den Sie schreiben. Erfüllt jedes Wort eine neue Aufgabe? Kann irgendein Gedanke sparsamer ausgedrückt werden? Sind einige Ausdrücke pompös, gestelzt oder modisch? Halten Sie an -8-
etwas Sinnlosem fest, bloß weil Sie finden, dass es bezaubernd klingt? Vereinfachen, vereinfachen.
Stil "Aber", könnten Sie sagen, "wenn ich alles streiche, was Sie für Ballast halten, und wenn ich jeden Satz bis aufs Skelett abmagern lasse, was bleibt dann noch von mir übrig?" Die Frage ist berechtigt. Extrem betriebene Schlichtheit könnte zu einem Stil führen, der nicht viel entwickelter wäre als "Dick liebt Jane" oder "Schau, Waldi rennt." Um die Frage zu beantworten, werde ich zunächst so tun, als sei der Autor ein Tischler. Dann werde ich mich der größeren Frage widmen, wer der Autor ist, und wie er seine Identität wahren kann. Wenige Menschen wissen, wie schlecht sie schreiben. Niemand hat ihnen je gesagt, wie viel Ballast oder Schwammigkeit sich in ihre Texte geschlichen hat und das, was sie sagen wollen, zukleistert. Wenn Sie mir einen achtseitigen Artikel geben, und ich bitte Sie, ihn auf vier Seiten zu kürzen, stöhnen Sie wahrscheinlich und behaupten, das ginge nicht. Dann gehen Sie nach Hause und tun es trotzdem, und schon ist der Artikel viel besser. Danach kommt der schwere Teil: drei Seiten daraus zu machen. Der Sinn der Übung ist, dass Sie Ihren Text zunächst kürzen müssen, um ihn später wieder aufzubauen. Sie müssen sich mit den wichtigsten Werkzeugen vertraut machen. Oder, um es mit den Worten eines Tischlers auszudrücken, Sie müssen erst lernen, wie man sägt und Nägel einschlägt; später können Sie die Kanten schleifen oder elegant gedrechselte Muster hinzufügen, wenn das nach Ihrem Geschmack ist. Aber Sie dürfen nie vergessen, dass Sie ein Handwerk ausüben, in dem es bestimmte Grundregeln gibt. Wenn Sie schwache Nägel verwenden, wird das Haus einstürzen. Wenn Sie schwache Verben verwenden und Ihr Satzbau konfus ist, werden Ihre Sätze in sich zusammenfallen. Ich gebe zu, dass einige Autoren von Nonfiction, wie Tom Wolfe oder Norman Mailer, bemerkenswerte Bauwerke geschaffen haben. Aber das sind Schriftsteller, die ihr Handwerk über Jahre gelernt haben, und als sie uns schließlich mit ihren phantastischen Türmen und hängenden Gärten überraschten, waren sie bereits Meister ihrer Zunft. Niemand wird über Nacht zu einem Tom Wolfe, nicht einmal Tom Wolfe. Üben Sie also zuerst, mit dem Hammer Nägel einzuschlagen, und wenn das, was Sie bauen, stabil und nützlich ist, dann freuen Sie sich. Aber bestimmt werden Sie bald ungeduldig und wollen "Stil" in Ihre Arbeit bringen - Sie wollen die nackten Wörter schmücken, damit der Leser Sie als jemand Besonderen erkennt. Sie werden nach kitschigen Vergleichen und flitterbestäubten Adjektiven greifen, als wäre "Stil" etwas, das man beim Stilhändler in Dekorateurfarben kaufen und über seine Worte streuen könne. Aber einen Stilhändler gibt es nicht. Stil ist ein Teil desjenigen, der schreibt. Er gehört zu ihm wie seine Haare oder, wenn er schütter ist, sein Mangel an Haaren. Aufgesetzter Stil ist wie ein Toupet. Auf den ersten Blick sieht der zuvor kahle Mann damit jung und vielleicht sogar schön aus. Aber auf den zweiten Blick - und bei Toupetträgern schaut man immer zweimal hin - stimmt mit ihm etwas nicht. Er sieht nicht etwa ungepflegt aus, im Gegenteil, aber uns stört, dass der Mann nicht er selbst ist. Daran kranken auch künstlich garnierte Texte, denn das, was den Schreibenden einzigartig macht, geht verloren. Der Leser merkt, wenn sich jemand vor ihm aufspielt. Er möchte, dass sich der Mensch, der ihm etwas erzählt, echt anhört. Deshalb lautet eine Grundregel: Seien Sie Sie selbst. Allerdings gibt es keine Regel, die schwerer zu befolgen ist. Sie verlangt nämlich zwei Dinge vom Autor, die seiner Natur zuwiderlaufen: sich zu entspannen und zuversichtlich zu sein. -9-
Einen Schriftsteller zu bitten, sich zu entspannen, ist, als bäte man einen Mann, sich bei der Untersuchung seines Leistenbruchs zu entspannen. Und was die Zuversicht angeht, so braucht man ihn nur anzusehen: Stocksteif er auf den Bildschirm starrt, der da seiner Worte harrt. Immer wieder steht er auf, um sich nach etwas zu essen oder zu trinken umzuschauen. Ein Schriftsteller tut alles, um sich vor dem Schreiben zu drücken. Als ehemaliger Zeitungsredakteur kann ich bezeugen, dass die Anzahl der Gänge zum Getränkeautomaten pro Reporterstunde in keinem Verhältnis zum Flüssigkeitsbedarf des menschlichen Körpers steht. Was kann man tun, um einen Schriftsteller von seinen Qualen zu erlösen? Leider gibt es bislang keine Heilung. Ich kann Sie höchstens damit trösten, dass Sie nicht allein leiden. An manchen Tagen läuft es besser als an anderen. An manchen läuft es so schlecht, dass Sie die Hoffnung aufgeben, je wieder schreiben zu können. Wir alle haben schon viele solcher Tage erlebt, und viele weitere liegen vor uns. Dennoch wäre es schön, die Anzahl schlechter Tage so gering wie möglich zu halten. Womit ich wieder beim Entspannen wäre. Nehmen Sie an, Sie seien ein Schriftsteller, der sich gerade hinsetzt, um einen Artikel zu schreiben. Sie glauben, er müsse eine bestimmte Länge erreichen, weil er andernfalls unwichtig erschiene. Sie stellen sich vor, wie er im Druck aus allen anderen Artikeln hervorsticht. Sie denken an die vielen Leute, die ihn lesen werden. Sie finden, er müsse Autorität verströmen. Sie denken, sein Stil müsse verzaubern. Kein Wunder, dass Sie sich verspannen. Sie sind so sehr damit beschäftigt, darüber nachzudenken, was der fertige Artikel alles zustande bringen muss, dass Sie ihn nicht einmal beginnen können. Trotzdem könnten Sie schwören, der Aufgabe würdig zu sein, und stürzen sich in die Arbeit. Sie ersinnen große Worte, die Ihnen im Traum nicht einfielen, wenn Sie nicht so bemüht wären, Eindruck zu schinden. Der erste Absatz ist ein Desaster - lauter abgedroschene Redewendungen, die wirken, als hätte eine Maschine sie ausgespuckt. Unmöglich, dass ein Mensch so was geschrieben hat. Der zweite Absatz ist kaum besser. Aber der dritte hat schon einen leicht humanen Zug, und wenn Sie zum vierten kommen, klingen Sie endlich nach sich selbst: Sie haben begonnen, sich zu entspannen. Es ist erstaunlich, wie oft ein Redakteur die ersten drei oder vier Absätze oder gar Seiten eines Artikels wegwirft, um ihn mit dem Absatz beginnen zu lassen, in dem der Autor sich endlich nach sich selbst anhört. Diese ersten Absätze sind nicht nur unpersönlicher Talmi, sie sagen auch nichts aus. Sie sind ein verklemmter Versuch, eine geschmackvolle Einleitung hinzukriegen. Wonach ich als Redakteur immer suche, ist ein Satz wie: "Ich werde nie den Tag vergessen, an dem ich..." Dann denke ich: "Aha! Ein Mensch!" Ganz klar: Schriftsteller sind am natürlichsten, wenn sie in der ersten Person schreiben. Ein Text ist ein vertraulicher Austausch zwischen zwei Menschen, der auf dem Papier stattfindet. Und solange das menschliche Element erhalten bleibt, läuft alles bestens. Deshalb beschwöre ich jeden, in der ersten Person zu schreiben, "ich", "mich", "wir" und "uns" zu sagen. Die meisten wehren sich mit Händen und Füßen: "Wer bin ich schon, dass ich verkünden dürfte, was ich denke oder fühle?" fragen sie. "Wer bist du schon, dass du es unterschlagen dürftest?" halte ich dagegen. "Dich gibt es nur einmal. Niemand sonst denkt oder fühlt genau dasselbe wie du." "Aber meine Ansichten interessieren doch keinen. Ich käme mir aufdringlich vor." "Wenn du mit natürlichen Worten etwas Interessantes erzählst, liest das jeder gern." Trotzdem ist es schwer, Autoren dazu zu bewegen, "ich" zu sagen. Sie glauben, sie müssten sich das Recht, ihre Gefühle und Gedanken zu äußern, erst erarbeiten. Oder sie glauben, es sei selbstherrlich. Oder - und das betrifft besonders Akademiker - sie halten es für respektlos. Daher sprechen Professoren lieber von "man" ("Man kann Andre Malraux' Ansichten bezüglich der Conditio humana nicht uneingeschränkt teilen") oder sagen "es ist" ("Es ist zu hoffen, dass Professor Felts Monographie das große Publikum findet, welches sie sicherlich - 10 -
verdient"). Mit "man" will ich nichts zu tun haben - er ist ein Langweiler. Ich will, dass mir ein Professor, der sich für sein Thema begeistert, erzählt, warum es ihn fasziniert. Ich weiß, dass "ich" in vielen Bereichen nicht erwünscht ist. Im Nachrichtenteil von Tageszeitungen und in den Artikeln vieler Zeitschriften ist das Wort "ich" tabu. Unternehmen und Institutionen wollen es nicht in ihren Tätigkeitsberichten stehen haben, mit denen sie so großzügig unsere Briefkästen füllen. Universitäten wollen keine Semesterarbeiten oder Dissertationen, in denen von "Ich" die Rede ist, und Lehrer raten vom Gebrauch der ersten Person ab, außer vom literarischen "Wir" ("Wir sehen in Melvilles symbolischer Verwendung des weißen Wals..."). Viele dieser Forderungen sind berechtigt: Zeitungsartikel sollen objektiv berichten. Und ich stehe auch auf der Seite von Lehrern, die ihren Schülern den Fluchtweg in die persönliche Meinung versperren wollen - "Ich finde, dass Hamlet ein Blödmann war" - bevor diese sich der Herausforderung gestellt haben, ein Werk gründlich zu studieren und dazu vielleicht sogar fremde Quellen heranzuziehen. "Ich" kann überheblich und der bequemste Ausweg sein. Dennoch bleibe ich dabei: In unserer Gesellschaft scheut sich inzwischen jeder, preiszugeben, wer er ist. Die Organisationen, die uns in ihren Broschüren um Unterstützung bitten, klingen alle erstaunlich ähnlich, obwohl die Menschen, die sie gründeten, und die, die sie weitergeführt haben, sicherlich ganz verschiedene Träume und Visionen hatten. Wo sind diese Menschen? Es ist schwer, sie unter all den Passivkonstruktionen, in denen "Initiativen ergriffen" und "Prioritäten gesetzt" wurden, zu entdecken. Aber selbst wenn das Pronomen "ich" im Text nicht erlaubt ist, kann der Autor das Gefühl vermitteln, dass da ein Mensch spricht. Gute Schriftsteller bleiben zwischen den Zeilen sichtbar. Wenn Sie also nicht "ich" schreiben dürfen, dann denken Sie wenigstens "ich", während Sie an Ihrem Text arbeiten. Oder schreiben Sie eine Rohfassung in der ersten Person, und streichen Sie die "Ichs" anschließend wieder. Das bringt Wärme in den unpersönlichen Stil. Stil ist an die Psyche gebunden, so wie das Schreiben an sich tief in der Psyche wurzelt. Warum wir uns auf eine bestimmte Weise ausdrücken, oder warum es uns bei einer "Schreibblockade" misslingt, uns mitzuteilen, ist uns zum Teil nicht bewusst. Fs gibt so viele Arten von Schreibblockaden, wie es Schriftsteller gibt, und ich kann mich beherrschen, alle Ursachen zu entwirren. Aber ich denke, es gibt einen weiteren Grund, warum "ich" neuerdings gemieden wird: Es ist niemand mehr bereit, sich angreifbar zu machen. Noch vor einer Generation sagten uns unsere Staatsoberhäupter, wie sie zu den Dingen standen und an was sie glaubten. Heute unternehmen sie gewaltige verbale Anstrengungen, um es uns nicht zu sagen. Sehen Sie sich an, wie sie sich in Fernsehinterviews winden, ohne sich festzulegen. Präsident Ford versicherte einer Gruppe von Unternehmern, die ihn besuchte, dass seine Finanzpolitik funktionieren würde. Er sagte: "Wir sehen, dass die Wolken jeden Monat heller werden." Ich verstand das so, dass die Wolken immer noch recht dunkel waren. Fords Aussage war gerade vage genug, um nichts zu versprechen und seine Gefolgschaft trotzdem zu beruhigen. Die nachfolgenden Regierungen brachten keine Besserung. Verteidigungsminister Caspar Weinberger bewertete 1984 die kritische Lage in Polen so: "Es gibt weiterhin Anlass für ernste Besorgnis, und die Lage bleibt ernst. Je länger sie ernst bleibt, desto mehr Anlass für ernste Besorgnis gibt es." Als Präsident Bush 1989 gefragt wurde, was er von Automatikwaffen in privater Hand hielte, sagte er: "Es gibt verschiedene Gruppen von Leuten, die meinen, man könne bestimmte Schusswaffen verbieten. Aber das entspricht nicht meiner Tonart. Meine Tonart ist die schwerer Besorgnis." Aber für mich ist Elliot Richardson, der in den 70er Jahren vier wichtige Posten im Kabinett innehatte, immer noch der unbezwungene Champion. Es ist schwer, aus dem Fundus seiner wabernden Aussagen die besten auszuwählen, aber hören Sie sich das an: "Und dennoch, wenn man alles gegeneinander abwägt, hat sich doch die affirmative Handlung meiner Mei- 11 -
nung nach als eingeschränkter Erfolg erwiesen." Dieser unerreicht standpunktlose Satz neuzeitlicher politischer Auseinandersetzung ist mein Favorit, dicht gefolgt von Elliots Analyse zur Frage, wie man Fließbandarbeit weniger langweilig gestalten könnte: "Und deshalb bin ich schlussendlich zu der bereits eingangs erwähnten, festen Überzeugung gelangt, dass das Thema einfach noch zu neu ist, als dass man zu einem endgültigen Urteil gelangen könnte." Das soll eine feste Überzeugung sein? Staatsmänner, die nur schubsen und tänzeln wie alternde Boxer, verbreiten keine Zuversicht. Sie verdienen auch kein Vertrauen. Dasselbe gilt für Schriftsteller. Bekennen Sie sich, und Ihr Thema wird seine eigene Anziehungskraft ausüben. Glauben Sie an sich und Ihre Meinung. Schreiben ist ein Ausdruck Ihres Ego, und es ist nichts dabei, das zuzugeben. Nutzen Sie die Kraft Ihres Ego, um vorwärts zu kommen.
Die Leser Kaum haben Sie sich damit befasst, wie Sie Ihre Identität wahren können, taucht schon die nächste Frage auf: "Für wen schreibe ich?" Das ist eine grundlegende Frage, auf die es eine ebenso grundlegende Antwort gibt: Sie schreiben für sich selbst. Versuchen Sie nicht, sich "die Masse" als Leserschaft vorzustellen. Ein solche Leserschaft gibt es nicht. Jeder Leser ist ein anderer Mensch. Versuchen Sie nicht zu erraten, was Verlage herausgeben möchten, oder wonach den Menschen im Lande gerade der Sinn steht. Verleger und Leser wissen manchmal erst, was sie lesen wollen, wenn sie es lesen. Außerdem sind sie immer auf der Suche nach etwas Neuem. Machen Sie sich keine Gedanken, ob der Leser "es kapiert", wenn Sie einer plötzlichen humoristischen Laune folgen. Wenn etwas Sie beim Schreiben amüsiert, schreiben Sie es ruhig hin. (Gestrichen ist ein Satz schnell, aber hinschreiben können nur Sie ihn.) Sie schreiben in erster Linie zu Ihrer Unterhaltung, und solange Sie mit Freude bei der Sache sind, werden Sie mit Ihrem Text auch jene Leser unterhalten, für die es sich zu schreiben lohnt. Nun scheine ich mir selbst zu widersprechen. Vorhin habe ich noch davor gewarnt, dass der Leser ein Vogel mit wenig Durchhaltevermögen ist, der leicht von der Stange kippt, wenn ihn der Schlaf übermannt. Und jetzt sage ich, dass Sie für sich selbst schreiben sollen, statt sich Gedanken zu machen, ob der Leser Ihnen folgen kann. Aber ich rede von zwei verschiedenen Dingen. Einmal geht es ums Handwerk, das andere Mal um die innere Einstellung. Beim einen kommt es darauf an, sich die nötigen Fertigkeiten anzueignen, beim anderen darauf, diese Fertigkeiten anzuwenden, um Ihre Persönlichkeit auszudrücken. Was das Handwerkliche angeht, so ist es unverzeihlich, wenn man Leser durch schlampige Arbeit verliert. Wenn ein Leser mitten im Artikel einnickt, weil Sie bei einem Detail gepfuscht haben, dann ist das Ihre Schuld. Aber ob der Leser Sie gut findet, ihm das, was Sie sagen, gefällt, ob ihm gefällt, wie Sie es sagen, ob er Ihnen zustimmt und Ihren Sinn für Humor oder Ihre Weltanschauung teilt, sollte Sie nicht eine Sekunde lang beschäftigen. Sie sind wer Sie sind, er ist wer er ist, und entweder vertragen Sie sich oder nicht. Vielleicht hört sich das immer noch widersprüchlich an. Wie können Sie so bedacht darauf sein, den Leser nicht zu verlieren, und sich dennoch nicht um seine Meinung scheren? Ich versichere Ihnen, dass es zwei getrennte Vorgänge sind. Arbeiten Sie zuerst daran, die Werkzeuge richtig einzusetzen. Vereinfachen Sie, stutzen Sie, und bemühen Sie sich um Ordnung. Machen Sie dies zu Ihrer Routine, auch wenn solche Arbeiten Ihnen nie ganz mechanisch von der Hand gehen werden, denn Sie werden sich - 12 -
immer zwischen mehreren Möglichkeiten entscheiden müssen. Aber schon bald werden Ihre Sätze klarer, stehen auf solidem Fundament, und die Gefahr, dass der Leser Ihnen davonläuft, wird geringer. Das andere ist eine schöpferische Handlung, die Ihr Wesen zum Ausdruck bringt. Entspannen Sie sich, und sagen Sie das, was Sie sagen wollen. Und da Stil zu Ihrem Wesen gehört, müssen Sie nur ehrlich zu sich selbst sein. Dann wird er langsam unter der Schicht aus Textgestrüpp und Wortgeröll hervorkommen, die sich mit der Zeit über ihm angesammelt hat. Jeden Tag wird er deutlicher sichtbar. Vielleicht dauert es Jahre, bis er ganz zu Ihrem Stil, Ihrer Stimme wird. So wie Sie Zeit brauchen, sich selbst zu entdecken, brauchen Sie Zeit, den Formgestalter in sich zu entdecken. Und selbst wenn Sie ihn entdeckt haben, wird er sich mit Ihnen verändern, während Sie älter werden. Aber egal wie alt Sie sind - seien Sie immer Sie selbst, wenn Sie schreiben. Viele alte Menschen schreiben nach wie vor mit der Frische, die sie als Zwanzig- oder Dreißigjährige hatten; offenbar haben sie einen jungen Geist. Andere alte Schriftsteller schreiben ohne Zusammenhang und wiederholen sich. Ihr Stil verrät uns, dass aus ihnen schwatzhafte Langweiler geworden sind. Viele Studenten schreiben wie verknöcherte Ehemalige, die schon vor dreißig Jahren vom College gegangen sind. Sagen Sie nie etwas auf Papier, das Ihnen nicht auch in einem Gespräch leicht von der Zunge ginge. Wenn Sie nicht zu den Menschen gehören, die "in der Tat" oder "schlechterdings" sagen, oder die jemanden einen "Zeitgenossen" nennen ("Er ist ein netter Zeitgenosse"), dann schreiben Sie es bitte auch nicht hin. Schauen wir uns ein paar Autoren an, um zu sehen, mit welcher Freude sie ihre Leidenschaften und Marotten zu Papier brachten, ohne sich darum zu kümmern, ob der Leser sie teilt. Der erste Auszug "Die Henne (Eine Huldigung)" stammt aus einem Vorwort, das E. B. White 1944, als der II. Weltkrieg tobte, geschrieben hat. Hühner erfreuen sich nicht durchgängig der Ehrerbietung von Städtern, obwohl das Ei, wie ich feststelle, immer seine Runden dreht. Nun hat das Huhn Oberwasser. Der Krieg hat es zu einer Gottheit gemacht. Es ist der Darling der Heimatfront, es wird an Konferenztischen gefeiert und in jedem Raucherwaggon gepriesen. Landwirte, für die es gestern noch ein Fremdling ohne Reiz und Ehre war, diskutieren nun aufgeregt über die mädchenhafte Art und seltsamen Regungen von Hühnern. Ich bin schon 1907 aufs Huhn gekommen und bin ihm seither treu geblieben, in guten wie in schlechten Zeiten. An unserer Beziehung festzuhalten, war nicht immer leicht. Als Junge in einem wohlbehüteten Vorort war ich vor Nachbarn und Polizisten auf der Hut - meine Hühner musste ich bewachen wie eine subversive Zeitung. Später dann, als ich auf dem Land lebte, war ich vor Besuchen alter Freunde aus der Stadt nicht gefeit. Die meisten von ihnen hielten das Huhn für ein komisches Requisit aus dem Variete. (...) Ihr Spott ließ meine Hingabe an die Henne nur wachsen. Ich blieb ihr treu wie ein Mann seiner Braut, wenn sie von seiner Familie mit offenem Hohn empfangen wird. Und nun bin ich derjenige, der sich amüsiert, wenn ich dem aufgeregten Gackern kultivierter Städter lausche, die das Huhn plötzlich in ihre Kreise aufgenommen haben, und die nun ihre Begeisterung und ihr Wissen über den bedingten Charme der goldbraunen New Hampshire oder der gestreiften Wyandotte verkünden. Wenn man ihre Lobgesänge so hört, könnte man meinen, das Huhn sei gestern in einem Vorort von New York ausgebrütet worden und nicht etwa vor langer Zeit im indischen Urwald. Für einen Mann, der Hühner hält, ist alles, was es zum Thema Geflügel gibt, aufregend und unendlich faszinierend. Jeden Frühling setze ich mich mit meinem Landwirtschaftsjournal hin und lese, mit immer wieder demselben glasigen Blick, die uralte Beschreibung, wie man einen Brutkasten baut. (...) Da schreibt ein Mann über ein Thema, das mich kein bisschen interessiert. Dennoch gefällt mir diese Geschichte ungemein. Ich mag die schlichte Schönheit des Stils. Ich mag den - 13 -
Rhythmus, die überraschenden und erfrischenden Wörter (Gottheit, Reiz, Gackern), die Details wie die gestreifte Wyandotte oder den Brutkasten. Aber am besten gefällt mir, dass mir dieser Mann ohne Hemmungen von seiner bis ins Jahr 1907 zurückreichenden Liebesaffäre mit Geflügel erzählt. Er schreibt mit menschlicher Wärme, und nach drei Absätzen habe ich schon eine recht gute Vorstellung, was für ein Mensch dieser Hühnerliebhaber ist. Nehmen wir einen anderen Autor, dessen Stil dem von White fast entgegengesetzt ist, einen, der das opulente Wort wegen seiner Opulenz schätzt, und der den einfachen Satz nicht zu einer Gottheit macht. Was beide Autoren verbindet, ist ihr fester Standpunkt. Beide sagen, was sie denken. Es folgt ein Auszug aus Henry Louis Menckens Bericht über den berühmten "Affenprozess" im Sommer 1925 - das Verfahren gegen John Scopes, einem jungen Lehrer aus Tennessee, der die Evolutionstheorie im Unterricht behandelt hatte: Es war heiß, als sie dem ungläubigen Scopes in Dayton, Tennessee, den Prozess machten, aber ich ging gern dorthin. Ich war gespannt darauf, ein Stück evangelischen Christentums untergehen zu sehen. In den großen Städten der Republik wird es trotz aller Bemühungen geweihter Menschen von einer verheerenden Seuche dahingerafft. Selbst die Leiter der Bibelschulen hören heimlich Jazzmusik im Radio und schwingen ihr feuerfestes Tanzbein. Wenn ihre Schüler ins Jugendalter kommen, treiben die aufsteigenden Hormone sie nicht mehr in den Missionarsdienst nach Afrika. Statt dessen knutschen sie herum. Und obwohl der Mob Scopes am liebsten gelyncht hätte, hat es, wie ich fand, selbst in Dayton stark nach Aufmüpfigkeit gerochen. Die neun Dorfkirchen waren am Sonntag alle halb leer, und ihre Gärten erstickten unter wilden Ranken. Nur zwei oder drei der Pastoren konnten sich mit ihrer Geisterwissenschaft noch über Wasser halten; die anderen mussten für Versandhäuser Hosenbestellungen entgegennehmen oder in den nahegelegenen Erdbeerfeldern arbeiten; einer von ihnen, so hörte ich, soll sich als Barbier verdingen. (...) Genau zwölf Minuten, nachdem ich im Dorf angekommen war, befand ich mich im Schlepptau eines Christen und wurde mit dem Lieblingsgesöff der Cumberland Range bekannt gemacht halb Maisschnaps, halb Coca Cola. Ich hätte von dem Gemisch schwer die Lichter angehabt, aber die Erleuchteten aus Dayton kippten es munter runter, rieben sich ihre Bäuche und verdrehten die Augen. Sie waren alle heiß auf die Schöpfungsgeschichte, aber ihre Gesichter waren zu rosig, als dass sie für Abstinenzler hätten durchgehen können. Und als ein hübsches Mädchen die Dorfstraße hinabschlenderte, warfen sie ihre Hände mit der amourösen Geste eines Filmstars dorthin, wo eigentlich ihre Schlinge hätte sitzen sollen. (...) Das ist Mencken in Reinform - schwungvoll und respektlos. Auf fast jeder Seite des Buches sagt er etwas, das bestens dazu geeignet ist, die geheuchelte Frömmigkeit seiner Landsmänner anzuprangern. Das Weihwasser, in dem die Amerikaner ihre Helden, ihre Kirchen und ihre bekehrerischen Gesetze - allen voran die Prohibition - badeten, war für Mencken eine unerschöpfliche Quelle der Bigotterie. Einige seiner schwersten Geschütze feuerte er auf Politiker und Präsidenten ab - sein Portrait vom "Erzengel Woodrow" hinterlässt immer noch Schmauchspuren auf dem Papier -, und was gläubige Christen und Kleriker angeht, so erscheinen sie ausnahmslos als Marktschreier und Einfaltspinsel. Es mag wie ein Wunder erscheinen, dass man Mencken seine Ketzereien in den 1920er Jahren durchgehen ließ, denn schließlich verehrte Amerika seine Helden damals wie Heilige, und der selbstgerechte Ingrimm der Bibelfanatiker verbreitete sich von Küste zu Küste. Aber nicht nur ließ man Mencken seine Ketzereien durchgehen - er war obendrein der beliebteste und einflussreichste Journalist seiner Generation. Seine Wirkung auf nachfolgende NonfictionAutoren ist unermesslich, und selbst heute erscheinen seine Werke zum damaligen Zeitgeschehen so frisch, als wären sie gestern geschrieben worden. Das Geheimnis seiner Beliebtheit lag neben seinem pyrotechnischen Umgang mit der Sprache darin, dass er für sich selbst schrieb und sich nicht darum kümmerte, was der Leser davon halten würde. Auch jene, die seine Vorurteile nicht teilten, genossen seine heitere, ungenierte - 14 -
Art. Mencken war nie schüchtern oder zurückhaltend. Er machte keinen Kotau vor dem Leserund schmeichelte niemandem. Es erfordert Mut, ein solcher Autor zu sein, aber aus diesem Mut heraus werden beliebte und einflussreiche Journalisten geboren. Als Beispiel aus jüngerer Zeit folgt nun ein Auszug aus Überleben in der Heimat, ein Buch, in dem James Herndon von seinen Erfahrungen als Lehrer an einer kalifornischen Junior High School berichtet. Unter all den ernsthaften Büchern über die Bildungslage in den Vereinigten Staaten, die in letzter Zeit so zahlreich erschienen, fängt das von Herndon - wie ich finde - am besten ein, wie es in den Klassenzimmern tatsächlich aussieht. Herndons Stil entspricht nicht unbedingt dem, was man sonst so gewohnt ist, aber er spricht mitten aus dem Leben: Ich kann ebenso gut mit Piston anfangen. Piston war, um ihn zu beschreiben, ein mittelgroßer, pummeliger Ächtklässler. Sein hervorstechendstes Merkmal jedoch war seine Sturheit. Ohne jetzt Einzelheiten zu nennen, war eins klar: Was Piston nicht tun wollte, das tat er nicht. Was Piston tun wollte, das tat er. Das war nicht weiter schlimm, denn Piston wollte hauptsächlich malen, Monster zeichnen, Muster auf dem Kopiergerät vervielfältigen, hin und wieder eine Horrorgeschichte schreiben - einige Kinder nannten ihn den "Leichenfledderer" -, und wenn er keines dieser Dinge tun wollte, dann lief er am liebsten durch die Gänge und schaute gelegentlich (wie wir hörten) in den Mädchentoiletten nach dem Rechten. Mitunter gerieten wir ein wenig aneinander. Einmal bat ich alle, sich zu setzen und mir zuzuhören - ich wollte irgendwas zu ihrem Verhalten auf den Gängen loswerden. Ich erlaubte ihnen, zu kommen und zu gehen, wann sie wollten, und erwartete deshalb von ihnen (das war das, was ich loswerden wollte), dass sie sich draußen nicht wie die Wilden aufführten, so dass ich Beschwerden von anderen Lehrern bekam. Es ging ums Hinsetzen. Ich bestand darauf, dass alle saßen, bevor ich zu reden beginnen würde. Piston blieb stehen. Ich befahl ihm erneut, sich zu setzen. Er hörte gar nicht hin. Ich spreche mit dir, Piston!, sagte ich. Piston gab zu erkennen, dass er mich hörte. Ich wollte von ihm wissen, warum zum Teufel er sich nicht hinsetzte. Er sagte, er wolle nicht sitzen. Ich sagte, ich wolle aber, dass er sich setze. Er sagte, das sei ihm egal. Ich sagte, er solle es trotzdem tun. Er fragte, warum? Ich sagte, weil ich es ihm befehle. Er sagte, er würde sich nicht setzen. Ich sagte, Schau, ich möchte, dass du dich hinsetzt und zuhörst, was ich zu sagen habe. Er sagte, er höre zu. Ich werde zuhören, aber ich werde mich nicht setzen. Nun ja, solche Sachen passieren hin und wieder in einer Schule. Sie selbst als Lehrer steigern sich in irgendwas hinein - ich war der Dumme, der, wie immer, unerhörte Freiheiten einräumte, und sie nutzten das, wie immer, voll aus. Ist nicht gerade angenehm, ins Lehrerzimmer zu kommen, um nen Kaffee zu trinken, und sich dann anhören zu müssen, dass So-und-So und So-und-So aus deiner Klasse ohne Erlaubnis auf dem Gang herumgeturnt sind, Grimassen geschnitten und Kindern aus meiner Klasse den Finger gezeigt haben, während ich gerade beim wichtigsten Teil meiner Vorlesung über Ägypten war -, und Sie sollten Ihre tendenziöse Rede loswerden dürfen, was die meisten einem auch erlauben, aber mitunter werden Sie von jemandem, der sich weigert, sich da zu fügen, wo es nicht nötig ist, eines Besseren belehrt. (...) Wie sind wir da nur hineingeraten?, sollten wir uns fragen. Jeder Schriftsteller, der "nen" und "tendenziös" im selben Satz verwendet, und der ohne Anführungszeichen zitiert, weiß, was er tut. Dieser scheinbar kunstlose Stil, der dabei so voller Kunst steckt, erfüllt genau Herndons Zweck. Er enthält keine Spur von Prunk, unter dem die Texte so vieler Menschen leiden, die verdienstvolle Arbeit leisten. Und er bietet Spielraum für Herndons humoristische Ader und seinen gesunden Menschenverstand. Mir scheint, er ist ein guter Lehrer und ein Mensch, in dessen Gesellschaft ich mich wohl fühlen würde. Aber auch er schreibt für sich - für ein Publikum, das aus einer Person besteht.
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Methoden Einheitlichkeit Schreiben lernen Sie beim Schreiben. Das ist eine Binsenweisheit, weil der einzige Weg, schreiben zu lernen, tatsächlich der ist, sich dazu zu zwingen, regelmäßig eine bestimmte Anzahl von Sätzen zu produzieren. Wenn Sie anfangen würden, für eine Zeitung zu arbeiten, und müssten jeden Tag zwei oder drei Artikel schreiben, wären Sie nach einem halben Jahr ein besserer Autor. Sie würden nicht unbedingt gut schreiben - Ihr Stil wäre vielleicht immer noch voller Ballast und Klischees, aber Sie würden täglich Ihre Fähigkeit trainieren, Sprache zu Papier zu bringen. Ihr Selbstvertrauen würde zunehmen, und Sie würden die häufigsten Fehlerquellen erkennen. Beim Schreiben geht es im Grunde immer darum, ein Problem zu lösen. Es kann darin bestehen, die nötigen Fakten zu finden oder den Stoff zu ordnen. Oder darin, sich für eine Methode, eine Herangehensweise, einen Stil oder einen Tonfall zu entscheiden. Manchmal werden Sie die Hoffnung aufgeben, jemals die richtige - oder auch nur eine halbwegs passable - Lösung zu finden. Sie werden denken: "Selbst wenn ich neunzig Jahre alt werde, bekomme ich das nicht auf die Reihe." Das habe ich auch schon oft gedacht. Aber wenn ich es am Ende doch schaffe, das Problem zu lösen, dann liegt das daran, dass ich wie ein Chirurg bin, der seinen fünfhundertsten Blinddarm entfernt; ich bin nicht zum ersten Mal an diesem Punkt. Einheitlichkeit ist das A und O beim Schreiben. Darum: Bringen Sie Geschlossenheit in Ihren Text. Das wird dem Leser nicht nur Verwirrung ersparen, es kommt auch seinem Bedürfnis nach Ordnung entgegen und gibt ihm das beruhigende Gefühl, dass der Autor alles im Griff hat. Entscheiden Sie sich also zwischen den vielen Möglichkeiten, und bleiben Sie dann dabei. Da wäre zum Beispiel die Wahl des Pronomens: Wollen Sie aus der Ich-Perspektive schreiben und am Geschehen teilnehmen, oder möchten Sie lieber in der dritten Person schreiben und Zuschauer sein? Dann die Zeit: Die meisten Menschen schreiben hauptsächlich im Imperfekt ("Letztens fuhr ich nach Boston"). Im Präsens geschriebene Texte lesen sich auch angenehm ("Ich sitze im Speisewagen des Schnellzuges, und wir erreichen gerade Boston"). Nicht angenehm lesen sich Texte, in denen die Zeiten ständig wechseln. Damit will ich nicht sagen, dass Sie nur eine Zeitebene verwenden dürfen - schließlich gibt es ja gerade unterschiedliche Ebenen, damit der Autor die zeitlichen Abläufe von der Vergangenheit bis hin zum Konditional darstellen kann ("Als ich meine Mutter vom Bostoner Bahnhof aus anrief, wurde mir klar, dass sie mich abgeholt hätte, wenn ich ihr geschrieben hätte, dass ich kommen würde"). Aber Sie müssen sich für eine zeitliche Grundebene entscheiden, egal wie oft Sie von dort aus nach vorn oder zurück blicken. Auch für einen Tonfall müssen Sie sich entscheiden. Wollen Sie einen legeren Ton anschlagen, oder wollen Sie den Leser lieber formell ansprechen, um eine ernste Begebenheit zu schildern oder wichtige Fakten zu nennen? Beides ist in Ordnung. Im Grunde ist jeder Tonfall in Ordnung, aber mischen Sie nicht. Solch verhängnisvolle Cocktails werden oft von Autoren gemixt, die noch nicht gelernt haben, sich zu disziplinieren. In Reiseberichten tritt es besonders deutlich zutage: "Meine Frau Ann und ich wollten schon immer mal nach Hongkong fahren", beginnt der Autor in schönen Erinnerungen schwelgend, "und letzten Frühling standen wir vor dem Plakat einer Fluggesellschaft, und ich sagte 'Komm, das machen wir jetzt!' Die Kinder waren schon groß", fährt er fort, und dann schildert er fröhlich die Einzelheiten, wie er und seine Frau in Hawaii zwischengelandet sind, und was ihnen alles Komisches passiert ist, als sie am Flughafen in Hongkong Geld wechseln und später ein Hotel finden wollten. Schön und gut. Er ist ein - 16 -
Mensch wie du und ich, der uns auf eine Reise mitnimmt, und wir können uns mit ihm und Ann identifizieren. Plötzlich schwenkt er um, und wir lesen einen Reiseprospekt: "Hongkong bietet dem interessierten Touristen viele faszinierende Sehenswürdigkeiten. Man kann von Kowloon aus eine Fähre nehmen und die zahllosen Sampans bestaunen, die den belebten Hafen durchqueren, oder eine Tagesfahrt ins sagenumwobene Macao unternehmen, um dort auf den Fährten legendärer Schmuggler und Strolche zu wandeln. Auch müssen Sie unbedingt mit der historischen Seilbahn..." Dann gelangen wir erneut zu ihm und Ann und ihren Erlebnissen in chinesischen Restaurants. Wir fühlen uns wieder mittendrin, weil wir über ein persönliches Erlebnis lesen. Auf einmal wird der Autor zum Reiseleiter: "Zur Einreise benötigen Sie einen gültigen Reisepass. Ein Visum ist hingegen nicht erforderlich. Dringend empfohlen ist eine Impfung gegen Hepatitis, und Sie sollten unbedingt Ihren Arzt bezüglich einer Grundimmunisierung gegen Typhus konsultieren. Das Klima in Hongkong ist der Jahreszeit entsprechend, außer in den Monaten Juli und August..." Unser Autor ist verschwunden, Ann ist weg, und sehr bald verabschieden auch wir uns. Ich sage nicht, dass die Sampans und die Impfungen gegen Gelbsucht unerwähnt bleiben sollten. Was stört, ist dass der Autor sich nicht entscheiden kann, welche Art von Artikel er schreiben und wie er uns gegenüber auftreten möchte. Er schlüpft in unterschiedliche Rollen, je nachdem, welche Fakten er gerade präsentiert. Statt seinen Stoff zu beherrschen, lässt er sich von ihm beherrschen. Das würde ihm nicht passieren, wenn er sich vorher die Zeit nähme, sich für eine bestimmte Richtung zu entscheiden. Stellen Sie sich deshalb ein paar grundsätzliche Fragen, bevor Sie loslegen: In welcher Eigenschaft möchte ich den Leser ansprechen - als Reporter, Informationsvermittler oder Mann oder Frau von nebenan? Welches Pronomen und welche Zeit? Welcher Stil unpersönlich berichtend, persönlich aber formell oder persönlich und leger? Wie nähere ich mich meinem Stoff - betroffen, als Außenstehender, beurteilend, ironisch oder amüsiert? Wie viel von meinem Gebiet will ich abdecken? Was ist mein wichtigstes Anliegen? Die beiden letzten Fragen sind besonders wichtig. Die meisten Nonfiction-Autoren haben einen Endgültigkeitskomplex. Sie fühlen sich verpflichtet - sei es dem Thema, ihrer Autorenehre oder den Göttern der Schreibkunst -, ihren Text zur Weisheit letztem Schluss zu machen. Das ist ein lobenswerter Impuls, aber der Weisheit letzten Schluss gibt es nicht. Was Sie heute als endgültig ansehen, wirft über Nacht neue Fragen auf, und Autoren, die hartnäckig jeder Frage auf den Grund gehen, könnten ebenso gut versuchen, über einen Regenbogen zu laufen. Sie kommen nie zum Schreiben. Niemand kann ein Buch oder einen Artikel "über" etwas schreiben. Weder konnte Tolstoi ein Buch über Krieg und Frieden, noch Melville eines über den Walfang schreiben. Beide beschränkten sich in Zeitspanne und Schauplatz und wählten einige Figuren aus, die sich zu jener Zeit an jenem Ort bewegten. Ein Mann verfolgte einen Wal. Jedes schriftstellerische Unterfangen muss von vornherein begrenzt werden. Seien Sie daher bescheiden. Suchen Sie sich einen Aspekt Ihres Themas heraus, und seien Sie zufrieden, wenn Sie ihn ordentlich dargelegt haben. Ziehen Sie dann einen Schlussstrich. Oft werden Sie hinterher feststellen, dass Sie fast alles gesagt haben, was Sie zum ganzen Thema hatten sagen wollen. Es ist auch eine Frage der Kraft und der Motivation. Ein unüberschaubares Projekt dämpft Ihre Begeisterung erheblich. Und Begeisterung brauchen Sie, um sich selbst anzutreiben und den Leser in Ihren Bann zu ziehen. Wenn Sie keine Lust mehr haben, ist der Leser der erste, der das merkt. Was Ihr Anliegen angeht, so sollte jeder gute Nonfictiontext beim Leser einen neuen, provozierenden Gedanken hinterlassen, einen, den er vorher noch nicht hatte. Nicht zwei oder fünf solcher Gedanken, sondern einen. Entscheiden Sie sich also, worin diese eine Idee bestehen soll. Das wird Ihnen nicht nur dabei helfen, auf dem richtigen Weg zu Ihrem Ziel zu - 17 -
gelangen, sondern es wird auch Ihre Entscheidung bezüglich Tonfall und innerer Einstellung beeinflussen. Manche Ideen lassen sich am besten mit Ernsthaftigkeit rüberbringen, andere mit trockenem Understatement und wieder andere mit Humor. Wenn Sie sich einmal für eine einheitliche Struktur entschieden haben, können Sie jede Information in diesem Rahmen unterbringen. Hätte unser Hongkong-Tourist vorher beschlossen, im Gesprächsstil zu schildern, was er und Ann erlebt haben, dann hätte er das, was er uns über die Fähre in Kowloon und das örtliche Wetter sagen wollte, in einem passenden Ton eingeflochten. Seine Persönlichkeit und sein Anliegen wären erkennbar geblieben, und sein Artikel wäre aus einem Guss gewesen. Es kann Ihnen allerdings passieren, dass sich später herausstellt, dass Sie sich falsch entschieden haben. Ihr Stoff führt Sie in eine unerwartete Richtung, und Sie würden sich nun wohler fühlen, wenn Sie einen anderen Ton anschlagen könnten. Das ist normal - Schreiben weckt Gedanken und Erinnerungen, mit denen Sie vorher nicht gerechnet haben. Bekämpfen Sie eine solche Strömung nicht, wenn Sie ein gutes Gefühl dabei haben. Vertrauen Sie Ihrem Stoff, wenn er Sie auf ein Terrain führt, das Sie zwar nicht vorhatten zu betreten, auf dem Sie sich aber wohl fühlen. Gleichen Sie Ihren Stil entsprechend an, und folgen Sie dem neuen Pfad. Machen Sie sich nicht zum Sklaven eines festgelegten Plans. Schreiben ist kein Behördenjob. Wenn Ihnen so etwas passiert, dann passt der zweite Teil Ihres Textes nicht mehr zum ersten, aber Sie wissen nun, welcher von beiden Ihrem Thema eher gerecht wird. Gehen Sie noch einmal zurück zum Anfang, und überarbeiten Sie alles, damit Ihr Tonfall und Ihr Stil einheitlich werden. Das ist nichts, dessen Sie sich schämen müssten. Schere und Leim - oder die entsprechenden Befehle im Textverarbeitungsprogramm - sind ehrenwerte Schreibwerkzeuge. Vergessen Sie nur nicht, dass alle Textelemente am Ende den richtigen Platz im Gebäude finden müssen, sonst stürzt Ihr Haus ein.
Anfang und Ende Der wichtigste Satz ist der erste. Wenn er den Leser nicht dazu verführt, den zweiten zu lesen, ist Ihr Text tot. Und wenn der zweite Satz ihn nicht dazu verführt, auch den dritten zu lesen, ist Ihr Text ebenfalls tot. Aus einer Folge von Sätzen, die den Leser so lange mitziehen, bis er fest am Haken hängt, baut der Autor dieses schicksalhafte Gebilde - die Einleitung. Wie lang sollte eine Einleitung sein? Einen oder zwei Absätze lang? Vier oder fünf? - Kommt drauf an. Manche Einleitungen ködern den Leser mit nur wenigen Sätzen, andere ziehen ihn langsam aber stetig über mehrere Seiten mit. Jeder Text verlangt nach einer anderen Lösung, und der einzige Weg, herauszufinden, ob Ihre Lösung richtig ist, ist die Frage: "Klappt es?" Vielleicht ist Ihre Einleitung nicht die beste aller möglichen Einleitungen, aber wenn sie ihren Zweck gut erfüllt, dann seien Sie dankbar, und schreiben Sie weiter. Manchmal hängt die Länge der Einleitung von der Leserschaft ab. Leser von Literaturzeitschriften erwärmen sich eher für eine ausholende Einleitung und lesen weiter, um zu sehen, wohin sie der Umweg führen wird. Ich warne Sie dennoch davor sich darauf zu verlassen, dass der Leser bleibt. Leser wollen sehr früh wissen, was ihnen der Text bringt. Deshalb muss Ihre Einleitung den Leser sofort gefangen nehmen und ihn zwingen, weiterzulesen. Sie muss frech, neuartig, paradox, lustig oder überraschend sein, einen neuen Gedanken oder eine interessante Tatsache enthalten oder eine neue Frage aufwerfen. Es spielt keine Rolle, was es ist, solange es den Leser neugierig macht und an seinem Ärmel zieht. Außerdem muss die Einleitung eine Funktion haben. Sie muss dem Leser klar machen, warum der Artikel oder das Buch geschrieben wurde, und warum er es lesen sollte. Aber ergehen Sie sich nicht in allzu detaillierten Begründungen, sondern lassen Sie den Leser ein wenig - 18 -
mitraten. Bauen Sie Ihren Text weiter aus. Jeder Absatz muss den vorangegangenen weiter ausführen. Verwenden Sie mehr Zeit darauf, Details hinzuzufügen, als darauf, den Leser zu unterhalten. Aber geben Sie sich mit dem letzten Satz eines jeden Absatzes besondere Mühe, denn er ist das Sprungbrett zum nächsten. Versuchen Sie, diesem Satz eine Prise Humor oder etwas Überraschendes beizumengen, so wie Komiker hin und wieder eine Pointe einstreuen. Wenn Sie dem Leser ein Lächeln abringen können, haben Sie ihn für mindestens einen weiteren Absatz in der Tasche. Schauen wir uns ein paar Einleitungen an, die zwar unterschiedliche Gangarten anschlagen, den Leser aber ähnlich stark mitziehen. Ich beginne mit einer Kolumne, die ich selbst geschrieben habe. Sie wurde erstmals in Life veröffentlicht, einem Magazin, das hauptsächlich in Friseursalons, Flugzeugen und Wartezimmern gelesen wird - jedenfalls sieht es so aus, wenn man die Leserbriefe liest ("Neulich habe ich mir die Haare schneiden lassen, und da bin ich auf Ihren Artikel gestoßen"). Ich erwähne das, weil mehr Magazine unter einer Trockenhaube als unter einer Leselampe gelesen werden. Der Autor hat also keine Zeit, ewig herumzuschäkern. Dies ist die Einleitung zu einem Artikel mit dem Titel "Haltet die Hühnerwurst!": Schon oft habe ich mich gefragt, was in einem Wienerwürstchen steckt. Jetzt weiß ich es und wünschte, ich täte es nicht. Zwei kurze Sätze. Aber es wäre schwer, den zweiten Absatz nicht zu lesen: Mein Leid begann, als das Landwirtschaftsministerium die Zutatenliste - mit allem, was sich gerade noch so mit dem Gesetz vereinbaren ließ - veröffentlichte, weil die Geflügelindustrie darum gebeten hatte, die Richtlinien zu lockern und auch Hühnerfleisch zuzulassen. Mit anderen Worten: Werden in Zukunft Hühnerwürste an unseren gewienerten Tischen serviert? Ein Satz, der erklärt, worum es in der Kolumne geht. Dann eine Pointe, um den heiteren Tonfall weiterzufahren. Nach den 1066 vorwiegend empörten Antworten auf den vom Ministerium verschickten Fragebögen zu urteilen, ist allein schon der Gedanke absurd. Die öffentliche Meinung spiegelt sich am deutlichsten in der Antwort einer Frau, die schreibt: "Ich esse kein gefedertes Fleisch, egal von welchem Tier." Noch eine Tatsache und ein weiteres Lächeln. Wenn Sie das Glück haben, ein so lustiges Zitat zu finden, dann setzen Sie alles daran es zu verwenden. Der Artikel berichtet dann weiter über die erlaubten Zutaten - "die essbaren Muskelanteile aus Zwerchfell, Herz und Speiseröhre von Rindern, Schafen, Schweinen und Ziegen... nicht jedoch die in Lippen, Kauapparat und Ohren enthaltenen Muskeln." Von da aus geht es weiter - nicht ohne unfreiwillige Reflexe der eigenen Speiseröhre - zu einer Erörterung der Kontroverse zwischen der Wiener- und der Geflügelindustrie, die in der Erkenntnis mündet, dass die Amerikaner alles essen würden, was auch nur entfernt an ein Wienerwürstchen erinnert. Am Ende wird deutlich, dass die Amerikaner weder wissen noch wissen wollen, was alles in ihrer Nahrung steckt. Der Stil des Artikels ist bis zum Schluss leger und mit einer Prise Humor gewürzt. Aber sein Inhalt ist ernster, als die launige Einleitung, die den Leser zum Lesen eingeladen hat, vermuten ließ. Noch etwas: Sammeln Sie immer mehr Material, als Sie brauchen. Je mehr Details Sie zur Auswahl haben, desto stärker wird ihr Artikel - solange Sie nicht ewig sammeln. Schließlich müssen Sie irgendwann mit dem Schreiben beginnen. Suchen Sie überall nach Material, nicht bloß an offensichtlichen Stellen oder bei naheliegenden Interviewpartnern. Schauen Sie sich Schilder und Litfass-Säulen an. Lesen Sie, was auf Verpackungen und in Gebrauchsanweisungen, auf Beipackzetteln von Arzneien, auf den Infoblättern der Stadtwerke, der Telefongesellschaft oder der Bank geschrieben und auf Wände gesprüht steht. Lesen Sie Speisekarten, Kataloge und Werbepost. Schauen Sie in die dunklen Spalten Ihrer Tageszeitung - zum Beispiel in die Immobilienangebote. Man erkennt - 19 -
die Grundstimmung einer Gesellschaft an ihren Wohnvorlieben. Wir sind von absurden Botschaften und Dingen, die sich bereits am Horizont zusammenbrauen, umgeben. Beachten Sie sie. Nicht nur sind sie bezeichnend für unsere Gesellschaft, sondern oft auch verrückt genug, um Ihre Einleitung zu einer zu machen, die sich von den Einleitungen aller anderen Autoren unterscheidet. Es gibt etliche Kategorien von Einleitungen, bei denen es mir nicht leid täte, wenn ich sie nie mehr zu sehen bekäme. Eine davon ist die vom "zukünftigen Archäologen": "Wenn irgendwann in der Zukunft ein Archäologe über die Reste unserer Zivilisation stolpern sollte, was würde er dann wohl von der Jukebox halten?" Ich kann diesen Kerl jetzt schon nicht leiden, und er ist noch nicht einmal geboren. Den Besucher vom Mars finde ich genauso daneben: "Wenn ein Wesen vom Mars auf unserem Planeten landen würde, dann würde es sich über die Horden spärlich bekleideter Erdlinge wundern, die im Sand liegen und ihre Haut grillen." Ich habe auch genug von all diesen goldigen kleinen Begebenheiten, die "eines Tages, vor nicht allzu langer Zeit" oder bequemerweise an einem der letzten Samstagnachmittage passiert sind: "Eines Tages, es ist noch nicht lange her, ging ein kleiner stupsnasiger Junge mit seinem Hund Terry über ein Feld am Stadtrand von Paramus in New Jersey spazieren, als er etwas erblickte, das eine merkwürdige Ähnlichkeit mit einem Ballon hatte, der gerade aus einem Erdloch emporstieg." Und noch satter habe ich die Haben-gemeinsam-Einleitung: "Was hatten Joseph Stalin, Douglas MacArthur, Ludwig Wittgenstein, Sherwood Anderson, Jörge Louis Borges und Akira Kurosawa gemeinsam? - Sie alle liebten Westernfilme." Schicken wir den zukünftigen Archäologen, den Mann vom Mars und den stupsnasigen Jungen in Rente. Versuchen Sie, Ihrer Einleitung eine neue Perspektive oder ein paar frische Details zu verpassen. Wie gefällt Ihnen die Einleitung zu Joan Didions "7000 Romaine, Los Angeles 38"?: Die Romaine Street 7000 liegt in jenem Stadtteil, der Liebhabern von Raymond Chandler und Dashiell Hammett bestens bekannt ist: im südlichen Zipfel von Hollywood unterhalb des Sunset Boulevards. Es ist ein Mittelklasseslum mit "Modelstudios", Kaufhäusern und Zweifamilienbungalows. Weil die Filmstudios von Paramount, Columbia, Delisu and Samuel Goldwyn gleich in der Nähe sind, haben viele der hier lebenden Menschen eine - wenn auch lose - Verbindung zur Filmindustrie. Sie haben früher vielleicht Fotos für Fanpostkarten entwickelt oder kannten die Maniküre von Jean Harlow. Die Romaine Street 7000 sieht aus wie eine verblichene Filmkulisse: ein pastellfarbenes Gebäude mit verwitterten Art-ModerneDetails. Die Fenster sind teils mit Brettern vernagelt oder haben drahtverstärkte Scheiben, und vor der Eingangstür, zwischen staubigen Oleanderbüschen, liegt eine Gummimatte, auf der WILLKOMMEN steht. Aber eigentlich ist hier niemand willkommen, denn die Romaine Street 7000 gehört Howard Hughes, und die Tür ist abgeschlossen. Dass Hughes' "Kommunikationszentrum" ausgerechnet hier im dunstigen Sonnenlicht von Hammett-Chandler-Land steht, bestätigt den Verdacht, dass das Leben in der Tat eine Inszenierung ist, denn das Hughes-Imperium ist der einzige Industriekomplex unserer Zeit, der diesen Namen verdient hat. Zu ihm gehörten über die Jahre Maschinenbaufirmen, Ölgewinnungsanlagen im Ausland, eine Brauerei, zwei Fluggesellschaften, riesige Ländereien, ein Filmstudio und eine Elektronik- und Raketenfabrik - in der Hand eines Mannes, dessen Modus operandi dem einer Figur aus Der große Schlaf gleicht. Wie das Leben so spielt, wohne ich nicht weit entfernt von der Romaine Street 7000, und ich lasse es mir nicht nehmen, hin und wieder dort vorbeizufahren - so wie es jemanden, der sich mit König Artus befasst, an die Küste von Cornwall verschlägt. Mich interessiert die Legende um Howard Hughes (...) Was uns in diesen Artikel hineinzieht - und, wie wir hoffen, hin zu einem winzigen Spalt, durch den wir einen Blick auf Hughes' geheimes Treiben erhaschen können -, ist die stetig wachsende Anhäufung von Fakten, alle voller Pathos und vergangenem Glanz. Die Maniküre - 20 -
von Jean Harlow zu kennen, ist ein solch dünnes Verbindungsglied zum Ruhm, der ungastliche "Willkommen"-Fußabtreter ein solch absonderliches Relikt aus der goldenen Ära, als die Fensterscheiben in Hollywood noch nicht drahtverstärkt waren und Mogule wie Mayer, DeMille und Zanuck das Regiment führten - mächtige Männer, die man tatsächlich sehen konnte. Wir wollen mehr wissen, also lesen wir weiter. Eine weitere Möglichkeit ist es, eine Geschichte einfach zu erzählen. Sie ist so einfach, so naheliegend und bescheiden, dass wir oft vergessen, dass wir sie haben. Aber das Erzählen ist die älteste und wirksamste Methode, jemanden in seinen Bann zu ziehen; jeder Mensch möchte Geschichten erzählt bekommen. Versuchen Sie deshalb immer, erzählerisch zu informieren. Hier die Einleitung zu Edmund Wilsons Bericht über die Entdeckung der Qumranrollen, die zu den erstaunlichsten erst in der Neuzeit entdeckten Relikten des Altertums gehören. Wilson baut nicht erst eine Kulisse auf. Er bedient sich nicht des Vom-Frühstück-bis-zumSchlafengehen-Formats, das unerfahrene Autoren gerne anwenden, und bei dem ein Angelausflug damit beginnt, dass der Wecker vor Sonnenaufgang klingelt. Wilson springt mitten hinein - schwupp! -, und schon hat er uns gefangen. Irgendwann zu Beginn des Frühlings 1947, hütete ein Beduinenjunge namens Muhammed der Wolf nahe einer Klippe an der Westküste des Toten Meeres ein paar Ziegen. Als er einer folgte, die sich ein wenig von der Herde entfernt hatte, bemerkte er eine Höhle, die er vorher noch nie gesehen hatte, und warf unbedacht einen Stein hinein. Es ertönte ein seltsames Geräusch, so als wäre etwas zerbrochen. Der Junge bekam Angst und rannte davon. Später kehrte er jedoch zusammen mit einem anderen Jungen zurück, und gemeinsam erforschten sie die Höhle. Im Inneren fanden sie mehrere lange Tongefäße inmitten von Scherben weiterer Gefäße. Als die Jungen die gewölbten Deckel entfernten, schlug ihnen ein übler Geruch entgegen, der von den dunklen, länglichen Klumpen herrührte, die sich in allen Gefäßen befanden. Nachdem sie diese Klumpen aus der Höhle getragen hatten, sahen sie, dass sie in Leinenstreifen gewickelt und mit einer schwarzen Schicht aus etwas, das wie Teer oder Wachs aussah, bedeckt waren. Sie öffneten die Rollen und fanden darin lange Manuskripte, die zweispaltig beschrieben und deren dünne Blätter zusammengenäht waren. Obwohl diese Manuskripte ausgeblichen und an einigen Stellen zerfallen waren, waren sie im ganzen erstaunlich deutlich. Die Schriftzeichen waren nicht arabisch, das erkannten die Jungen. Sie fragten sich, was das wohl zu bedeuten hatte, behielten die Schriftrollen und nahmen sie mit, als sie weiterwanderten. Die Beduinenjungen gehörten einer Schmugglerbande an, die ihre Ziegen und andere Waren von Transjordanien nach Palästina brachte. Sie waren weit genug nach Süden gezogen, um die von bewaffneten Zöllnern patrouillierte Jordanbrücke zu umgehen, und hatten ihren Besitz mit Flößen über das Wasser gebracht. Nun waren sie auf dem Weg nach Bethlehem, um ihre Sachen auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. (...) Es gibt keine festen Regeln, wie Sie eine Einleitung schreiben müssen, außer dass Sie Ihre Leser nicht entkommen lassen dürfen. Ansonsten müssen Sie Ihr Thema so natürlich wie möglich angehen. Die Einleitung muss zum Thema und zum Autor passen. Manchmal können Sie Ihre ganze Story im ersten Satz erzählen. Hier die Eröffnungssätze von einigen bemerkenswerten Nonfictionbüchern: Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde, (die Bibel) Im Sommer des römischen Mondjahrs 699, das wir heute das Jahr 55 vor Christus nennen, fiel der starre Blick des Statthalters von Gallien, Gaius Julius Caesar, auf Britannien. (Winston S. Churchill, Geschichte der englischsprachigen Völker) Für den Eingeborenen aus Manus ist die Welt eine große Schale deren Rand sich zu allen Seiten des flachen Lagunendorfes aus Pfahlbauten, die dort wie langbeinige Vögel gelassen und unbeeindruckt von den wechselnden Gezeiten stehen, nach oben wölbt. (Margaret Mead, Kindheit und Jugend in Neuguinea) - 21 -
Das Problem lag jahrelang namenlos in den Köpfen amerikanischer Frauen begraben. (Betty Friedan, Der Weiblichkeitswahn) In den letzten fünf Minuten, vielleicht auch zehn Minuten, aber mehr auf keinen Fall, hatten drei der anderen sie angerufen, um sie zu fragen, ob sie schon wisse, dass da draußen etwas passiert war. (Tom Wolfe, Der Stoff, aus dem die Helden sind) Sie wissen mehr, als Sie denken. (Benjamin Spock, Säuglingspflege und Kinderpflege) Das sind einige Beispiele, wie Sie anfangen könnten. Nun möchte ich Ihnen sagen, wie Sie zum Ende kommen. Zu wissen, wann Schluss ist, ist viel wichtiger, als den meisten Autoren klar ist. Sie sollten sich über den letzten Satz ebenso viele Gedanken machen, wie über den ersten - na gut, fast so viele. Vielleicht leuchtet Ihnen das nicht so ganz ein. Wenn Ihre Leser Sie von Anfang an begleitet haben, Ihnen um blinde Ecken und über holpriges Gelände gefolgt sind, werden sie doch bestimmt nicht weglaufen, wenn sie schon das Ziel erblicken können? - Doch, das werden sie, denn ein sichtbares Ziel ist wie eine Fata Morgana. Wie eine Ministerrede, die auf eine ganze Reihe brillanter Schlussfolgerungen hinsteuert, ohne jemals anzukommen, wird ein Artikel, der nicht da aufhört, wo er aufhören sollte, eine Quälerei und misslingt. Die meisten von uns stehen noch immer unter dem Einfluss dessen, was wir als Schulkinder gelernt haben: dass ein Aufsatz eine Einleitung, einen Hauptteil und einen Schluss haben muss. Wir haben die Gliederung mit ihren römischen Ziffern I, II und III vor Augen, die uns den Weg wies, auf dem wir uns pflichtbewusst vorwärtsgekämpft haben, und wir sehen noch die weitere Unterteilung in II a) und II b) vor uns, mit der die kleineren Seitenpfade ausgeschildert wurden. Aber wir sind immer zurückgekehrt und haben unsere Reise in III zusammengefasst. Für Schüler, die ihr Terrain noch nicht gut genug kennen, ist eine solche Gliederung hilfreich. Sie lernen, dass ein Text logisch aufgebaut sein muss. Es lohnt sich in jedem Alter, diesen Grundsatz zu beherzigen - sogar Berufsschriftsteller schweifen häufiger ab, als sie zugeben. Aber wenn Sie gute Nonfiction schreiben wollen, müssen Sie sich von III befreien. Wenn auf Ihrem Bildschirm ein Satz auftaucht, der mit "Alles in allem kann man sagen, dass..." beginnt, oder "Welche Erkenntnisse konnten wir also daraus gewinnen?", dann wissen Sie, dass Sie bei III angelangt sind. Solche Sätze kündigen an, dass Sie etwas, das Sie bereits ausführlich gesagt haben, in geraffter Form wiederholen wollen. Der Leser verliert das Interesse, und die Spannung, die Sie aufgebaut haben, verfliegt auf der Stelle. Bleiben Sie nicht Ihrer Lehrerin Miss Potter treu, der Sie versprechen mussten, sich an die heilige Gliederung zu halten. Erinnern Sie den Leser nicht daran, was man - zusammenfassend - sagen kann. Wiederholen Sie keine Erkenntnisse, die Sie bereits ausgeführt haben. Sonst hören Ihre Leser das schleppende Geräusch einer ausgeleierten Kurbel und merken, wie sehr das, was Sie da tun, Sie selbst langweilt. Sie spüren Ihren Widerwillen. Warum haben Sie sich nicht mehr Mühe mit einem guten Schluss gegeben? Oder fassen Sie etwa alles noch einmal zusammen, weil Sie glauben, die Leser seien zu dumm, Ihre Ausführungen zu verstehen? Während Sie unermüdlich weiterkurbeln, haben Ihre Leser eine Alternative: Sie verabschieden sich. Und deshalb ist es so wichtig, dem Schluss-Satz Beachtung zu schenken. Ihn an die falsche Stelle zu setzen, kann einen Text, der bis dahin stabil aufgebaut war, zum Einsturz bringen. Außerdem ist ein guter Schluss-Satz - oder Schlussabsatz - eine Freude für sich. Er bleibt dem Leser in Erinnerung und klingt noch eine ganze Weile nach. Ein perfektes Ende kommt für den Leser überraschend und erscheint ihm dennoch genau richtig. Er hat zwar nicht damit gerechnet, dass der Artikel oder das Buch so schnell oder so abrupt oder mit diesen Worten schließt, aber er erkennt, dass das Ende stimmig ist. Genau wie eine gute Einleitung, passt es zum Ganzen. Es ist wie der Vorhang in einer Komödie. Wir glauben, mitten in einer Szene zu sein, aber plötzlich sagt einer der Schauspieler etwas Lustiges, Unerhörtes oder Geistreiches, und die Lichter gehen aus. Zunächst fühlen wir uns überrumpelt, dass die Szene schon vorbei ist, aber dann bewundern wir das geschickte Ende. - 22 -
Wir bewundern die Treffsicherheit des Bühnenautors. Zugeschnitten auf den Nonfictionautor gilt: Wenn Sie alles gesagt haben, dann hören Sie auf. Wenn Sie alle Fakten präsentiert und Ihre Botschaft übermittelt haben, dann nehmen Sie die nächste Ausfahrt. Oft reichen wenige Sätze als Schleife für Ihr Päckchen. Im Idealfall ist die Grundidee Ihres Artikels in diese Schleife eingewoben, und der letzte Satz trifft uns schlagkräftig oder unerwartet. Es folgt der Schluss von Henry Louis Menckens Bewertung des Präsidenten Calvin Coolidge, dessen Reiz für seine "Klientel" darin bestand, dass "seine Regierung kaum regierte; damit wurde Jeffersons Ideal endlich verwirklicht, und die Anhänger von Jefferson waren entzückt": Unser Leid ist nicht dann am größten, wenn das Weiße Haus ein friedlicher Schlafsaal ist, sondern wenn ein verkannter Papst von seinem Dach herunterplärrt. Von Harding als zu vernachlässigender Größe einmal abgesehen, hatte Dr. Coolidge einen Weltverbesserer als Vorgänger, und zwei weitere folgten ihm. Welcher aufgeklärte Amerikaner würde auch nur einen Moment zögern, wenn er sich zwischen einem von ihnen und einem weiteren Coolidge entscheiden müsste? Es passierte nichts Spannendes als er regierte, aber er verursachte auch keine Kopfschmerzen. Er hatte keine Ideen und machte keinen Ärger. Diese fünf kurzen Sätze verabschieden den Leser schnell und geben ihm einen nachhallenden Gedanken mit auf den Weg. Die Vorstellung vom ideenlosen Coolidge, der keinen Arger machte, lässt einen unweigerlich schmunzeln. Guter Schluss. Bei meinen eigenen Arbeiten sorge ich oft dafür, dass sich der Kreis schließt - am Ende spiele ich noch einmal eine Note, die ich bereits am Anfang gespielt habe. Das entspricht meiner Vorliebe für Symmetrie, und dem Leser gefällt es auch, wenn die Reise, die wir gemeinsam angetreten haben, mit dem Echo des Startgeräuschs ausklingt. Aber am besten funktioniert in der Regel ein Zitat. Gehen Sie noch einmal Ihre Notizen durch, und suchen Sie nach einer Bemerkung, die entweder sehr bestimmt oder witzig ist, oder die ein unerwartetes Detail enthält. Manchmal springt einem eine solche Bemerkung bereits im Interview entgegen - wie oft habe ich schon gedacht: "Das ist mein Schluss-Satz!" In der Mitte der sechziger Jahre, als sich Woody Allen gerade erst in Nachtclubs als Großstadtneurotiker etablierte, schrieb ich den ersten langen Zeitschriftenartikel über ihn. Dieser Artikel endete mit dem Zitat: "Wenn die Leute anfangen, mich als echte Person zu betrachten und sich in mir wiederzuerkennen", sagt Allen, "statt nur über meine Witze zu lachen; wenn sie mir immer wieder zuhören wollen, egal worüber ich spreche, dann habe ich mein Ziel erreicht." Das hat er wohl. Woody Allen ist der Mister Allen in jedem von uns, und es scheint, als würde er das auch noch lange bleiben. Dennoch hat er ein ganz eigenes Problem, eins das er mit keinem anderen Amerikaner teilt: "Es lässt mir keine Ruhe", sagt er, "dass meine Mutter genauso aussieht wie Groucho Marx." Diese Bemerkung kommt so sehr aus dem Blauen heraus, dass niemand sie vorhersehen konnte. Die Überraschung ist groß. Und Überraschung ist eines der erfrischendsten Elemente der Nonfiction. Wenn etwas Sie überrascht, dann wird es auch den Leser überraschen und erfreuen, besonders wenn Sie es ihm am Schluss mit auf den Weg geben.
Zweiundzwanzig Schreibtipps Verben Verwenden Sie aktive Verben, es sei denn, alles außer einer Passivkonstruktion würde sich komisch anhören. Der Unterschied zwischen Aktiv und Passiv ist vergleichbar mit dem Unterschied zwischen Leben und Tod. "Joe sah ihn", ist stark. "Er wurde von Joe gesehen", - 23 -
ist schwach. Der erste Satz ist kurz und eindeutig. Es gibt keinen Zweifel, wer was getan hat. Der zweite Satz ist nicht nur länger, er hat auch etwas Ungenaues: Irgendwas ist jemandem durch einen anderen Menschen widerfahren. Außerdem hinterlässt er lauter offene Fragen: Wie oft wurde er von Joe gesehen? - Einmal? Jeden Tag? Einmal pro Woche? Ein Stil, der aus Passivkonstruktionen besteht, laugt den Leser aus. Kein Mensch versteht je so richtig, wer nun visualisiert wurde und von wem. Ich sage "visualisiert", weil es zu den Wörtern gehört, die Passiv-Autoren besonders lieben. Sie bevorzugen lange Wörter romanischen Ursprungs, statt kurzer, germanischer, was ihre ohnehin schon breitgezogenen Sätze zusätzlich mit Masse füllt und noch zähflüssiger macht. Kurz ist grundsätzlich besser als lang. Von den 701 Wörtern in Lincolns bewundernswert sparsamer Antrittsrede zu seiner zweiten Amtszeit bestehen 505 Wörter aus nur einer Silbe und 122 aus zwei Silben. Von all Ihren Werkzeugen sind die Verben die wichtigsten. Sie treiben den Satz voran und verleihen ihm Schwung. Aktive Verben machen Dampf, mit passiven Verben dagegen schleppt sich das Geschehen dahin. Aktive Verben vermitteln uns auch ein Bild, weil sie ein Pronomen (er), ein Nomen (der Junge) oder einen Namen (Mrs. Scott) brauchen, um in Gang zu kommen. Viele Verben sind lautmalerisch und erzeugen allein mit ihrem Klang Bilder: glitzern, kritzeln, quirlen, pieksen, quietschen, rasseln. Benutzen Sie also keine faden Verben oder solche, die nur einigermaßen passen. Aktivieren Sie Ihre Sätze mit aktiven Verben. Und seien Sie genau. Sagen Sie nicht, jemand habe ein Unternehmen verlassen. Hat er gekündigt? Ist er in Rente gegangen? Ist er gefeuert worden? Seien Sie eindeutig. Wenn Sie sehen möchten, wie aktive Verben einem Text Leben einhauchen, dann lesen Sie einfach noch einmal Hemingway, Thurber oder Thoreau; auch Shakespeare empfehle ich. Adverbien Die meisten Adverbien sind überflüssig. Sie verstopfen nur Ihren Satz, und Sie nerven den Leser, wenn Sie einem Verb, das eine bestimmte Bedeutung hat, ein Adverb hinzufügen, das dasselbe bedeutet. Erzählen Sie niemandem, dass das Radio laut geplärrt hat, denn die Lautstärke steckt bereits im Verb "plärren". Schreiben Sie nicht, dass jemand seinen Mund fest zugepresst hat, denn wie sonst als fest soll man seinen Mund zupressen? Immer wieder schwächen in nachlässig geschriebenen Texten überflüssige Adverbien starke Verben ab. Dasselbe gilt für Adjektive und andere Wortgattungen: "ein wenig spartanisch", "auffällig hervorstechend", "total verblüfft". Das Schöne am Verblüfftsein besteht ja gerade darin, dass die Überraschung total ist. Ich kann mir niemanden vorstellen, der nur teilweise verblüfft wäre. Wenn etwas so auffällig ist, dass es hervorsticht, dann schreiben Sie "sticht hervor". Und was ist ein wenig spartanisch? Vielleicht eine Mönchszelle mit Teppichboden? Verwenden Sie also keine Adverbien, wenn sie keine wichtige Arbeit leisten. Ersparen Sie uns die Neuigkeit, dass der Sportler bei der Siegerehrung breit gegrinst hat. Wenn wir schon dabei sind, können wir auch gleich das Wort "entschieden" und all seine schlafmützigen Geschwister in Rente schicken. Jeden Tag lese ich in der Zeitung, dass manche Lagen entschieden besser und andere entschieden schlechter sind, aber ich erfahre nie, wer die Entscheidung getroffen hat, genauso, wie ich mich frage, wie eindeutig ein Ergebnis ist, das außerordentlich eindeutig ist, oder ob ich etwas, das mehr oder weniger stimmt, glauben darf. Adjektive Auch die meisten Adjektive sind überflüssig. Wie schon die Adverbien, werden sie von Autoren eingestreut, die gedankenlos übersehen, dass die Aussage schon im Nomen steckt. Diese Art Prosa ist durchdrungen von überhängenden Klippen und filigranen Spinnweben, von gelbem Löwenzahn und bräunlicher Erde. Wenn Sie Löwenzahn näher beschreiben wollen, dann verwenden Sie ein Adjektiv wie "leuchtend". Wenn Sie irgendwo sind, wo die Erde rot ist, dann können Sie das erwähnen, denn dann erfüllt das Adjektiv eine Aufgabe, die - 24 -
das Nomen allein nicht erfüllt. Die meisten Schriftsteller düngen ihre Texte sinnlos mit Adjektiven, damit alles üppig wächst und blüht. Die Sätze werden länger und länger, während stattliche Ulmen, lebhafte Kätzchen, hartgesottene Polizisten und stille Lagunen in ihnen sprießen. Dabei handelt es sich um die gewohnheitsmäßige Verwendung von Adjektiven, und das ist etwas, das Sie sich abgewöhnen sollten. Man muss nicht bei jeder Eiche erwähnen, dass sie knorrig ist. Ein Adjektiv, das nur zur Dekoration dient, ist eine Nachlässigkeit des Autors und eine Last für den Leser. Und wieder gibt es eine einfache Regel: Lassen Sie Ihre Adjektive notwendige Arbeit leisten. "Er sah den grauen Himmel und die schwarzen Wolken und beschloss, zum Hafen zurückzusegeln." Die Farbe des Himmels und die der Wolken ist der Grund für seine Entscheidung. Wenn es wichtig ist, dem Leser zu erzählen, dass ein Haus aus roten Ziegelsteinen gebaut oder ein Mädchen schön war, dann dürfen Sie "rot" und "schön" schreiben. Diese Wörter werden die richtige Wirkung erzielen, wenn Sie gelernt haben, Adjektive sparsam zu verwenden. Kleine Abschwächer Streichen Sie all die kleinen Wörter, die Ihre Gefühle, Gedanken und das, was Ihnen aufgefallen ist, abschwächen: "ein bisschen", "etwas", "irgendwie", "ziemlich", "ganz ", "einigermaßen", "sehr", "allzu", "mehr oder weniger", "in gewissem Sinne" und Dutzende andere. Diese Wörter verwässern Ihren Stil und Ihre Überzeugungskraft. Sagen Sie nicht, Sie seien ein wenig verwirrt, etwas müde, leicht traurig und irgendwie verärgert. Seien sie verwirrt. Seien Sie müde. Seien sie traurig, und seien Sie ärgerlich. Verstecken Sie sich nicht hinter einer Hecke aus Schüchternheiten. Ein guter Text ist mager und mutig. Sagen Sie nicht, Sie seien nicht allzu glücklich gewesen, weil das Hotel recht teuer war. Sagen Sie, dass Sie enttäuscht waren, weil das Hotel teuer war. Erzählen Sie nicht, dass Sie ganz schön viel Glück gehabt hätten. Wie viel Glück ist das? Beschreiben Sie ein Ereignis nicht als ziemlich spektakulär oder sehr überwältigend. Spektakuläres und Überwältigendes lässt sich nicht messen. "Sehr" ist ein nützliches Wort, um etwas hervorzuheben, aber viel öfter ist es reiner Ballast. Es ist überflüssig, von jemandem zu sagen, er ginge sehr methodisch vor. Entweder geht er methodisch vor, oder er tut es nicht. Aber es geht hier auch um Souveränität. Jeder kleine Abschwächer hinterlässt einen Kratzer im Vertrauen des Lesers. Der Leser möchte einen Schriftsteller, der an sich und an das, was er sagt, glaubt. Verniedlichen Sie Ihre Überzeugungen nicht. Seien Sie nicht ganz schön direkt seien Sie direkt. Zeichensetzung Hier nur ein paar kurze Anmerkungen zur Zeichensetzung. Wenn Sie nicht wissen, wo die Satzzeichen hingehören - auch viele Studenten wissen das noch immer nicht -, dann besorgen Sie sich ein Grammatikbuch. Der Punkt. Über den Punkt gibt es nicht viel zu sagen, außer dass die meisten Autoren zu lange brauchen, ehe sie dort ankommen. Wenn Sie sich hoffnungslos in einem langen Satz verstricken, dann liegt das wahrscheinlich daran, dass Sie versuchen, dem Satz mehr Arbeit aufzubürden, als er tragen kann. Vielleicht soll er zwei verschiedene Gedanken ausdrücken. Splitten Sie den Satz einfach in zwei oder drei Sätze auf. Es gibt kein 11. Gebot, das von einem Satz eine Mindestlänge verlangt. Bei guten Schriftstellern überwiegen kurze Sätze. Und kommen Sie mir jetzt nicht mit "aber Norman Mailer...", denn der ist ein Genie. Wenn Sie also lange Sätze schreiben wollen, dann seien Sie genial. Stellen Sie zumindest sicher, dass Sie den Satz von Anfang bis Ende im Griff haben, was Satzbau und Zeichensetzung angeht, so dass der Leser jederzeit weiß, an welchem Abschnitt des gewundenen Pfades er sich gerade befindet. Das Ausrufezeichen. Lassen Sie es weg, es sei denn, Sie müssen eine bestimmte Wirkung - 25 -
damit erzielen. Es hat eine geschwätzige Aura und erinnert an die Aufregung, mit der Frischlinge atemlos Ereignisse kommentieren, die nur für sie selbst aufregend waren: "Daddy meint, ich hätte wohl zuviel Sekt getrunken!" "Aber ehrlich, ich hätte die ganze Nacht weitertanzen können!" Wir haben alle schon genügend Sätze gelesen, die uns mit einer Ausrufekeule einbläuen, wie reizend oder wunderbar etwas war. Ordnen Sie Ihre Wörter statt dessen so an, dass die Betonung da liegt, wo Sie sie haben wollen. Widerstehen Sie auch der Versuchung, dem Leser mit einem Ausrufezeichen zu sagen, dass Sie gerade einen Witz machen oder ironisch sind. "Ich konnte ja nicht wissen, dass die Wasserpistole geladen war!" Leser ärgern sich über solcherlei Hinweise, dass etwas lustig ist. Sie fühlen sich um die Freude betrogen, das selbst erkennen zu dürfen. Humor erreicht man am besten durch Untertreibung, und an einem Ausrufezeichen ist nun wahrlich nichts Subtiles. Das Semikolon. Das Semikolon trägt das Parfüm des 19. Jahrhunderts. Deshalb sollten heutige Autoren es nur sparsam verwenden. Ich weiß, dass es in den von mir zitierten Passagen häufig erscheint, und dass ich es selbst auch oft verwende - normalerweise, um etwas anzufügen, was mir zum Gedanken im ersten Teil des Satzes noch einfällt. Trotzdem, auch wenn das Semikolon den Leser nicht völlig zum Anhalten bringt, so lässt es ihn zumindest stocken. Verwenden Sie es also sehr bewusst, zumal es Ihr modernes, rasantes Tempo auf die bedächtige Geschwindigkeit viktorianischer Zeiten drosselt. Greifen Sie im Zweifelsfall lieber zum Punkt und zum Gedankenstrich. Der Gedankenstrich. Aus irgendeinem Grund gilt dieses wertvolle Werkzeug als unfein an der kultivierten Tafel unserer Sprache. Aber der Gedankenstrich ist ein vollwertiges Satzzeichen. Zum einen dient er dazu, den Gedanken im ersten Teil des Satzes weiter auszuführen. "Wir beschlossen, weiterzufahren - es waren nur noch hundert Meilen, und wir würden es so noch rechtzeitig zum Abendessen schaffen." Schon optisch treibt der Strich den Satz voran und deutet an, dass uns gleich erklärt wird, warum diese Leute beschlossen, weiterzufahren. Die andere Version enthält zwei Gedankenstriche, die einen ergänzenden Zusatz innerhalb eines längeren Satzes einschließen. "Sie bat mich, ins Auto zu steigen schon den ganzen Sommer hatte sie mir in den Ohren gelegen, ich solle mir endlich die Haare schneiden lassen -, und wir fuhren schweigend in die Stadt." Ein erklärendes Detail, das sonst einen eigenen Satz gebraucht hätte, wird so unterwegs eingeflochten. Der Doppelpunkt. Viele Aufgaben des Doppelpunktes erledigt heute der Gedankenstrich. Aber der Doppelpunkt erfüllt immer noch den Zweck, einen Satz vor einer Aufzählung zu einem kurzen Stop zu bringen. "Im Prospekt stand, dass das Schiff folgende Häfen anlaufen würde: Oran, Algier, Neapel, Brindisi, Piräus, Istanbul und Beirut." Für solche Dinge gibt es nichts Besseres als den Doppelpunkt. Die Perspektive ändert sich Bereiten Sie den Leser so früh wie möglich darauf vor, wenn Sie das, was Sie im vorangegangen Satz betrachtet haben, nun aus einer anderen Perspektive betrachten möchten. Es gibt mindestens ein Dutzend Wörter, die diesen Job erledigen: "aber", "dennoch", "jedoch", "trotzdem", "statt dessen", "daher", "gleichzeitig", "heute", "später" und einige andere. Ich kann nicht genug betonen, wie viel leichter es für den Leser ist, Ihnen zu folgen, wenn Sie einen Satz, der einen Richtungsumschwung beinhaltet, mit "aber" beginnen. Oder umgekehrt, wie viel schwerer es für den Leser ist, wenn er bis zum Ende des Satzes warten muss, bis er merkt, dass Sie die Perspektive gewechselt haben. Viele von uns haben in der Schule gelernt, dass man einen Satz nicht mit "aber" beginnen sollte. Wenn Sie auch dazu gehören, verlernen Sie es bitte wieder - es gibt keinen wirksameren Satzanfang. "Aber" kündigt einen Kontrast zum vorher Gesagten an und teilt dem Leser mit: "Jetzt kommt etwas Neues." Wenn Sie Abwechslung brauchen, weil Sie schon zu oft "aber" geschrieben haben, dann greifen Sie zu "jedoch". Das ist jedoch ein schwächeres Wort und will wohlplatziert sein. Beginnen Sie einen Satz nicht mit "jedoch" - das Wort hängt - 26 -
dort herum wie ein nasses Geschirrtuch. Beenden Sie auch keinen Satz damit, denn bis dahin hat es seine Jedochigkeit verloren. Schreiben Sie es so früh, wie es sinnvoll ist - so wie ich es vor vier Sätzen getan habe. "Dennoch" ist fast so gut wie "aber", obwohl es mehr in Richtung "trotzdem" geht. Aber alle diese Einleitungen - "Dennoch beschloss er zu fahren" oder "Trotzdem beschloss er zu fahren" - können eine lange Zusammenfassung dessen, was der Leser gerade schon erfahren hat, ersetzen: "Obwohl er vor all den möglichen damit verbundenen Gefahren gewarnt worden war, beschloss er zu fahren." Durchsuchen Sie Ihren Text nach allen Stellen, an denen eines dieser kurzen Wörter mit einem Schlag denselben Zweck erfüllt wie eine lange, ermüdende Wörterkette. "Statt dessen fuhr ich mit dem Zug." "Dennoch bewunderte ich ihn." "Daher fing ich an zu rauchen." "Deshalb war er leicht zu finden." "Inzwischen hatte ich mit John gesprochen." Wie viel Blabla einem diese treffsicheren Wörter doch ersparen können! (Das Ausrufezeichen setze ich, weil ich es ernst meine.) Was die Wörter "inzwischen", "nun", "heute" und "später" angeht, so ersparen sie auch viel Verwirrung, weil gedankenlose Autoren oft die Zeitebene wechseln, ohne daran zu denken, den Leser darüber zu informieren. "Inzwischen bin ich schlauer." "Heute kann man nach so etwas lange suchen." "Später fand ich heraus, warum." Sorgen Sie dafür, dass Ihre Leser den Faden nicht verlieren. Fragen Sie sich immer, wo Sie Ihre Leser im letzten Satz gelassen haben. Geraffte Wörter Ihr Stil wird wärmer und echter, wenn Sie geraffte Wörter wie "ins", "fürs", "rein", "raus", "mal" oder "was" verwenden, wenn es sich im Kontext natürlich anhört. "Komm doch rein" klingt weniger steif als "Komm doch herein". (Lesen Sie sich das Beispiel mal laut vor, dann hören Sie, wie gespreizt es sich anhört.) Es gibt keine Regel, die solche Lässigkeiten verbietet -vertrauen Sie einfach Ihrem Gehör und Ihrem Gespür. "der, die, das" und "welcher, welche, welches" Jeder, der versuchen möchte, den Unterschied zwischen "der, die, das" und "welcher, welche, welches" in weniger als einer Stunde zu erklären, bringt sich in Schwierigkeiten. Ich versuche, es in zwei Minuten zu schaffen, und stelle damit vielleicht einen neuen Weltrekord auf: Verwenden Sie immer "der, die, das", es sei denn, Ihr Satz wird dadurch zweideutig. Dass "welcher, welche, welches" richtiger und literarischer ist, stimmt nicht, auch wenn dieser Irrglaube weitverbreitet ist. In den meisten Fällen würde Ihnen "der", "die" oder "das" ganz natürlich über die Lippen kommen, und deshalb sollten Sie es auch hinschreiben. Daneben hat "welcher", "welche" oder "welches" auch eine andere Bedeutung als "der", "die" oder "das". (A) "Nimm das Hemd, das im Schrank hängt." Das bedeutet: Nimm das Hemd, das im Schrank hängt, und nicht das aus dem Wäschesack. (B) "Nimm das Hemd, welches im Schrank hängt." Hier steht nur ein Hemd zur Auswahl. "Welches" beschreibt lediglich, wo es sich befindet. Das wären alle Worte, die Sie im Moment zum Thema hören müssen, und die Ihnen dabei helfen werden, gute Nonfiction zu schreiben, welche einen treffsicheren Umgang mit Informationen erfordert. Abstrakte Nomen Nomen, die einen abstrakten Begriff beschreiben, finden wir meist in schlecht geschriebenen Texten anstelle von Verben, die erzählen, was jemand getan hat. Hier drei typische tote Sätze: Die übliche Reaktion ist ungläubiges Gelächter. Diffuser Zynismus ist nicht die einzige Antwort auf das alte System. Die momentane Feindseligkeit an den Universitäten ist ein Symptom der Veränderung. Was diese Sätze so geisterhaft macht, ist, dass keine Menschen in ihnen vorkommen. Und - 27 -
auch keine Verben, sondern nur Hilfsverben wie "ist" oder "ist nicht". Der Leser kann sich kein Bild davon machen, wie irgend jemand etwas tut; die gesamte Aussage steckt in unpersönlichen, vagen Begriffen: "Reaktion", "Zynismus", "Antwort", "Feindseligkeit". Stellen wir diese Sätze einmal um und lassen die Menschen in ihnen etwas tun: Die meisten Leute lachen ungläubig. Manche Menschen reagieren auf das alte System, indem sie zynisch werden. Veränderung liegt in der Luft - Sie brauchen sich nur anzuschauen, wie wütend die Studenten sind. Meine Sätze überschlagen sich auch nicht gerade vor Lebendigkeit, was zum Teil daran liegt, dass der Stoff, den ich hier in Form zu bringen versucht habe, nicht viel hergibt. Aber wenigstens haben wir es jetzt mit richtigen Menschen und konkreten Verben zu tun. Halten Sie sich nie an abstrakten Nomen fest - sie werden Sie wie ein Sack voller Steine unter Wasser ziehen, und weg sind Sie. Nomenketten Dabei handelt es sich um eine Krankheit, bei der zwei oder drei Nomen aneinandergereiht werden, um etwas zu sagen, das man auch mit einem Nomen - oder noch besser, mit einem Verb - sagen kann. Niemand geht heute mehr pleite; wir haben Geldprobleme. Es regnet auch nicht mehr; statt dessen haben wir Niederschlagsaktivitäten oder Wetterlagen mit hoher Gewitterwahrscheinlichkeit. Bitte - lassen Sie es wieder regnen. Es gibt heute schon Ketten aus vier oder fünf abstrakten Nomen, die an das Schaubild eines Moleküls erinnern. Hier ein umwerfendes Beispiel, das ich neulich gelesen habe: "Intervention zum Erwerb von Fähigkeiten zur Erleichterung der Kommunikation." Kein Mensch in Sicht, kein aktives Verb. Ich glaube, es ging um ein Programm, das Studenten helfen sollte, besser zu schreiben. Übertreibung "Das Wohnzimmer sah aus, als hätte eine Atombombe eingeschlagen", beschreibt der Autorennovize das, was er am Sonntagmorgen erblickte, nachdem eine Party aus dem Ruder gelaufen war. Nun gut, wir wissen alle, dass er übertreibt, um eine ulkige Bemerkung zu machen, aber wir wissen auch alle, dass dort weder eine Atombombe noch irgendeine andere Bombe eingeschlagen hat - höchstens eine Wasserbombe. "Ich fühlte mich, als flögen sieben Boeings in meinem Kopf herum", schreibt er, "und ich erwog ernsthaft, aus dem Fenster zu springen und mich umzubringen." Solche verbalen Höhenflüge erreichen schnell ein Niveau, auf dem der Leser vom Schlaf übermannt wird, als wäre man mit jemandem, der immerzu Limericks aufsagt, in einen Raum gesperrt. Übertreiben Sie nicht. Sie hatten nicht ernsthaft die Absicht, aus dem Fenster zu springen. Das Leben bietet genügend witzige Grauslichkeiten. Erlauben Sie es dem Humor, sich leise anzuschleichen, so dass wir ihn kaum kommen hören. Glaubwürdigkeit Glaubwürdig zu sein, ist für einen Schriftsteller ebenso heikel wie für einen Präsidenten. Plustern Sie eine Begebenheit nicht auf, um sie ungewöhnlicher zu machen, als sie es tatsächlich war. Wenn der Leser Sie einmal mit Falschgeld erwischt, wird ihm alles, was Sie anschließend schreiben, suspekt sein. Das Risiko ist einfach zu groß, als dass es sich lohnen würde. Diktate Vieles von dem, was "geschrieben" wird, wurde eigentlich diktiert. Weil Manager versuchen, Zeit zu sparen, meinen sie, die schnellste Art, etwas zu "schreiben", sei die, einer Sekretärin etwas zu diktieren und es anschließend nicht einmal mehr zu lesen. Das ist falsch - 28 -
verstandenes Zeitmanagement. Diese Menschen sparen ein paar Stunden und vergeben die Chance, ihre Persönlichkeit auszudrücken. Diktierte Sätze sind oft pompös, schludrig und weitschweifig formuliert. Manager, die so viel zu tun haben, dass sie aufs Diktieren nicht verzichten können, sollten sich wenigstens die Zeit nehmen, das Diktierte zu überarbeiten, Wörter zu streichen und neue einzufügen, damit die Endfassung deutlich zeigt, wer sie sind. Das gilt besonders dann, wenn sie an Kunden schreiben, die anhand des Stils Persönlichkeit und Unternehmen beurteilen. Schreiben ist kein Wettlauf Jeder Autor startet von einem anderen Punkt und hat ein anderes Ziel. Dennoch lassen sich viele Jungautoren von der Vorstellung lahmen, sie müssten sich mit allen anderen Novizen messen, und diese seien alle besser als sie selbst. Dieses Problem taucht häufig in Schreibseminaren auf. Unerfahrenen Studenten läuft es kalt den Rücken runter, wenn sie mitbekommen, dass sie im selben Kurs mit Studenten sitzen, deren Name schon einmal über einem Artikel im Unimagazin gestanden hat. Aber fürs Unimagazin zu schreiben, ist keine beeindruckende Referenz; ich habe schon oft erlebt, wie die Hasen, die dort schreiben, von Schildkröten überholt wurden, die sich bedächtig auf ihr Ziel, das Handwerk zu meistern, zu bewegten. Dieselbe Angst plagt Freiberufler, wenn sie die Texte anderer Autoren in Zeitschriften gedruckt sehen, während sie ihre eigenen Arbeiten immer wieder vom Verlag zurückgeschickt bekommen. Vergessen Sie den Wettlauf, und finden Sie Ihr eigenes Tempo. Der einzige, gegen den Sie antreten müssen, sind Sie selbst. Unbewusste Mechanismen Ihr Unbewusstes mischt beim Schreiben mehr mit, als Sie denken. Oft bringen Sie einen ganzen Tag mit dem Versuch zu, sich aus einem Wörterdickicht zu befreien, in dem Sie sich scheinbar hoffnungslos verfangen haben. Und häufig fällt Ihnen am nächsten Morgen, wenn Sie sich der Sache erneut annehmen, eine Lösung ein. Während Sie geschlafen haben, war Ihr Autorenhirn wach. Ein Schriftsteller arbeitet immer. Verfolgen Sie aufmerksam die Dinge, die Sie umgeben. Vieles von dem, was Sie sehen oder hören, wird Ihnen, nachdem es tage-, monate- oder gar jahrelang in Ihrem Unbewussten herumgegeistert ist, wieder ins Bewusstsein steigen, wenn Sie es brauchen. Schnellreparatur Überraschend oft kann ein schwieriges Problem in einem Satz damit gelöst werden, dass man die fragliche Stelle einfach streicht. Leider fällt diese Lösung geplagten Schriftstellern meist zuallerletzt ein. Zuerst stellen sie alle möglichen Dinge mit der verflixten Phrase an: Sie schieben sie an eine andere Stelle des Satzes, versuchen, sie anders zu formulieren, fügen ihr neue Wörter hinzu, um den Gedanken deutlicher zu machen, oder versuchen, die knarrende Stelle zu ölen. Diese Anstrengungen verschlimmern das Ganze noch, und am Ende bleibt dem Autor nur die Einsicht, dass es keine Lösung gibt - was keine schöne Erkenntnis ist. Wenn Sie sich an solch einer Stolperstelle befinden, dann betrachten Sie sie genau, und fragen Sie sich: "Brauche ich die Stelle überhaupt?" Wahrscheinlich nicht. Die Phrase hat von Anfang an einen überflüssigen Job erledigen wollen, und deshalb hat Sie Ihnen die ganze Zeit vor den Füßen gestanden. Werfen Sie sie raus, und sehen Sie, wie Ihr kränkelnder Satz plötzlich zum Leben erwacht und normal atmet. Das ist die schnellste Art der Reparatur und sehr oft die beste. Absätze Schreiben Sie kurze Absätze. Ein Text spricht zuerst das Auge und dann erst das Hirn an. Kurze Absätze machen das Geschriebene luftig und laden zum Lesen ein, während ein langer Textblock dem Leser die Lust nehmen kann, überhaupt mit dem Lesen anzufangen. - 29 -
Die Absätze in schmalen Zeitungsspalten sollten daher nicht mehr als einen oder zwei Sätze umfassen. Sie glauben vielleicht, solch häufige Unterbrechungen könnten dem Inhalt schaden. Keine Sorge - der Gewinn ist deutlich höher als der Verlust. Aber machen Sie keine Religion daraus. Ein Gehäcksel aus winzigen Absätzen nervt ebenso wie ein zu langer Absatz. Absätze sind ein subtiles aber wichtiges Element in der Nonfiction. Sie weisen dem Leser den Weg durch Ihre Gedankengänge. Studieren Sie die Artikel und Bücher guter NonfictionAutoren, und schauen Sie sich an, wie diese die Sache gemeistert haben. Sie werden sehen, dass fast alle in Absätzen statt in Sätzen denken. Jeder Absatz ist eine geschlossene inhaltliche und strukturelle Einheit. Sexismus Eine der aufreibendsten Fragen, die heutige Autoren beantworten müssen, ist die nach dem richtigen Umgang mit sexistischer Sprache, besonders mit dem neuen Er-sie-Pronomen. Die Frauenbewegung war sehr hilfreich dabei, den in der Sprache verborgenen Sexismus aufzudecken. Dabei hat sie nicht nur das beleidigende "er" zutage gefördert, sondern auch Hunderte anderer unterschwellig verurteilender Wörter. Wörter, die beschützerisch klingen (Mädel), einen minderwertigen Status (Aktrice), eine zweitrangige Rolle (Hausfrau) oder eine gewisse Hohlköpfigkeit (die Damen) andeuten, oder Wörter, die unverhohlen lüstern sind und nicht für Männer angewendet werden (Blondine, heiße Braut). Noch unterschwelliger sind die Wendungen, die Frauen zum Besitz des "Familienoberhaupts" machen, statt sie als Menschen mit eigener Identität zu behandeln, die ebensoviel zur Familiengeschichte beigetragen haben: "Die ersten Siedler zogen mit ihren Frauen und Kindern nach Westen." Verwandeln Sie diese Siedler in Siedlerfamilien oder Siedlerpaare, die mit ihren Söhnen und Töchtern nach Westen zogen, oder in Männer und Frauen, die den Westen besiedelten. Heute gibt es kaum noch Rollen, die nur von einem Geschlecht besetzt werden können. Benutzen Sie keine Wendungen, die unterstellen, nur Männer könnten Siedler oder Landwirte sein oder bei der Polizei oder der Feuerwehr arbeiten. Eine dornigere Frage wirft die Frauenbewegung auf, wenn sie Wörter anprangert, die "Mann" enthalten, wie "Vordermann". Denn natürlich kann eine Frau ebenso gut vor jemandem stehen, wie ein Mann. Behelfswörter wie "Vordermännin" schärfen zwar unser Bewusstsein für diskriminierende Sprache und diskriminierende Grundhaltungen, bleiben aber dennoch Behelfswörter und schaden der Sache am Ende mehr, als sie ihr nützen. Manche Berufe haben eine weibliche und eine männliche Bezeichnung. Benutzen Sie, wenn es geht, einen neutralen Begriff. Aus Stewards und Stewardessen können Sie Flugbegleiter machen. Damit bleibt aber immer noch das knifflige Problem mit dem Pronomen. "Er", "ihn" und "sein" sind wie kleine Nagetiere. "Jeder Angestellte sollte jene Entscheidungen treffen, von denen er glaubt, dass sie für ihn und seine Mitarbeiter am besten sind." Wie sollen wir mit solchen, unzählig vorhandenen Sätzen verfahren? Eine Möglichkeit wäre, sie in den Plural zu verwandeln: "Alle Angestellten sollten jene Entscheidungen treffen, von denen sie glauben, dass sie für sie und ihre Mitarbeiter am besten sind." Aber das hört sich nur in geringer Dosierung gut an. Ein Stil, der aus jedem "er" ein "sie" macht, wird schnell breiig. Eine andere Lösung, die häufig auftaucht, ist "oder": "Jeder Angestellte sollte die Entscheidungen treffen, von denen er oder sie glaubt, dass sie für ihn oder sie..." Aber auch das geht nur in Grenzen. Oft findet ein Autor oder eine Autorin in einem Text mehrere Stellen, an denen er oder sie unverkrampft "er oder sie" bzw. "sie oder er" schreiben kann. Mit "unverkrampft" meine ich, dass der Autor oder die Autorin sich der Angelegenheit bewusst ist und in vernünftigem Maß sein oder ihr Bestes gibt. Aber es gibt nichts daran zu deuteln: Unsere Sprache drückt Allgemeines durch das Maskulinum aus. Aber würden wir jedes "er" durch "er oder sie" und jedes "sein" durch "sein oder ihr" ersetzen, würde der Textfluss schwer darunter leiden. In früheren Auflagen dieses Buches habe ich immer "er" geschrieben, wenn ich vom Leser, Schriftsteller, Kritiker, Humoristen u.s.w. sprach. Ich fand, - 30 -
das Buch sei schwerer zu lesen, wenn überall "er oder sie" gestanden hätte. ("Er/sie" lehne ich vollkommen ab; der Schrägstrich hat im guten Ausdruck nichts zu suchen.) Über die Jahre haben mir jedoch viele Frauen geschrieben, um mich deshalb zu rüffeln. Sie sagten, dass sie sich als Autor und Leser unwohl dabei fühlten, sich immer einen Mann vorstellen zu müssen, der schreibt oder liest. Diese Frauen haben recht, und ich gehöre in die Ecke gestellt. Die meisten Rüffler haben vorgeschlagen, ich solle den Plural verwenden: "die Autoren" und "die Leser", gefolgt von "sie". Ich mag den Plural aber nicht - er schwächt das Gesagte ab, weil er weniger konkret und schwerer vorzustellen ist als der Singular. Ich will, dass sich jeder Autor einen Leser vorstellt, der sich Mühe gibt, das Geschriebene zu verstehen. Dennoch habe ich drei- oder vierhundert Stellen gefunden, an denen ich "er" durch den Plural ersetzen konnte, ohne Schaden anzurichten. Der Himmel ist dabei nicht eingestürzt. An vielen Stellen konnte ich auch "Sie" sagen. Statt zu erzählen, was der Autor tut und welche Schwierigkeiten er meistern muss, konnte ich Sie direkt ansprechen ("Sie werden oft feststellen, dass..."). Das geht nicht bei allen Texten, aber jenen Autoren, die Lehr- oder Selbsthilfebücher schreiben, hat der Himmel das "Sie" geschickt. Die Stimme von Dr. Spock, der eine Mutter anspricht, deren Kind Fieber hat, ist das Beruhigendste, was Leser hören können. Versuchen Sie immer, für die Menschen, die Sie erreichen wollen, greifbar zu bleiben. Die Überarbeitung Das Überarbeiten ist die Essenz guten Schreibens. Hier entscheidet sich, ob man gewinnt oder verliert. Es ist schwer, das einzusehen. Wir hängen alle an unserer ersten Fassung; wir können nicht glauben, dass sie mit Mängeln zur Welt gekommen ist. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass sie nicht perfekt ist, liegt bei fast 100 %. Die meisten Autoren sagen nicht gleich das, was sie sagen wollen, oder sie sagen es nicht so treffend, wie sie es könnten. Der frischgeschlüpfte Satz enthält fast immer irgendwo eine Schwachstelle. Er ist nicht eindeutig. Er ist nicht logisch. Er ist schwatzhaft. Er ist linkisch. Er ist eitel. Er ist langweilig. Er ist voller Ballast. Er ist voller Klischees. Er hat keinen Rhythmus. Er kann unterschiedlich verstanden werden. Er folgt nicht logisch auf den vorherigen Satz. Er... ich will darauf hinaus, dass ein aussagekräftiger Text das Ergebnis langer Bastelei ist. Viele Menschen glauben, Berufsschriftsteller müssten ihre Texte nicht überarbeiten; die Wörter würden von allein an den richtigen Stellen landen. Aber im Gegenteil - ernsthafte Schriftsteller können kaum mit der Fummelei aufhören. Ich habe das Überarbeiten nie als ungerechte Last empfunden; ich bin dankbar für jede Gelegenheit, meine Arbeiten zu verbessern. Ein Text ist wie ein gutes Uhrwerk - er muss mühelos laufen und darf keine überflüssigen Bauteile enthalten. Schreibschüler teilen meine Liebe zum Überarbeiten nicht. Sie betrachten es als Strafarbeit. Bitte - wenn Sie auch ein solcher Schüler sind - versuchen Sie, es als Geschenk zu sehen. Sie werden erst dann gut schreiben, wenn Sie verstanden haben, dass ein Text ein wachsender Prozess und kein Produkt ist. Niemand verlangt von Ihnen, dass Sie gleich bei der ersten oder zweiten Niederschrift alles richtig hinkriegen. Aber was verstehe ich unter "Überarbeiten"? Ich meine damit nicht, dass Sie erst eine Rohfassung und dann verschiedene Versionen davon schreiben sollen. Beim Überarbeiten wird umgestaltet, präzisiert und verschönert. Sie sollen sicherstellen, dass der Leser Ihrer Geschichte von Anfang bis Ende leicht folgen kann. Versetzen sie sich immer wieder in die Lage des Lesers. Gibt es etwas, das Sie ihm schon zu Beginn eines Satzes hätten sagen sollen, und das Sie ans Satzende gestellt haben? Weiß er, wenn er mit Satz B anfängt, dass Sie nun über eine andere Person oder eine andere Zeitspanne als in Satz A sprechen, oder dass sich die Stimmung oder der Schwerpunkt verändert hat? Schauen wir uns einen typischen Absatz an und stellen uns vor, es sei eine Rohfassung. Der Absatz macht eigentlich einen ganz guten Eindruck - er ist verständlich, und grammatisch ist auch alles in Ordnung. Aber er ist voller ungeschliffener Kanten: Der Autor hat es versäumt, - 31 -
den Leser über Veränderungen auf dem laufenden zu halten. Auch hat er vergessen, Variation und Leben in seinen Stil zu bringen. Ich habe in Klammern die Gedanken eingefügt, die einem Lektor beim ersten Durchlesen durch den Kopf gehen könnten. Anschließend sehen Sie meine überarbeitete Version. Es gab mal eine Zeit, da kümmerten sich Nachbarn noch umeinander, erinnerte er sich. ("Erinnerte er sich" sollte am Satzanfangstehen, um, einen nachdenklichen Tonfall zu etablieren) Wie es schien, war das jedoch nicht mehr der Fall. (Der Kontrast, der in "jedoch" steckt, muss, an den Anfang. Besser wäre "aber". Außerdem fehlt der Schauplatz "in Amerika") Er fragte sich, ob das vielleicht daran lag, dass in der modernen Welt jeder so beschäftigt war. (Die Sätze sind alle gleich lang und haben alle denselben einschläfernden Rhythmus; wie wäre es mit einer Frage?) Er dachte darüber nach, wie viel die Menschen heutzutage um die Ohren hatten, und dass ihnen einfach keine Zeit mehr für die altmodische Freundschaft blieb. (Der Satz sagt im Grunde dasselbe wie der vorherige - entweder streichen oder mit Details aufpeppen) Die Dinge liefen in Amerika früher anders. (Der Leser ist noch in der Gegenwart - "früher" kommt an den Satzanfang, und "Amerika" kann weg, wenn es zu Beginn des Absatzes erwähnt wird.) Und er wusste, dass es in anderen Ländern anders zuging, das hatte er in den Jahren, als er in spanischen und italienischen Dörfern gelebt hatte, gesehen. ("Und" belässt den Leser in Amerika, besser ist ein negativer Übergang. Außerdem ist der Satz zu waberig - aufspalten in zwei kurze?) Ihm schien es fast, als würden die Menschen sich von den essentiellen Dingen des Lebens um so weiter entfernen, je reicher sie wurden und je weiter sie ihre Häuser voneinander entfernt bauten. (Die Ironie wird viel zu schleppend und zu spät eingebracht. Vorziehen. Paradoxon bezüglich des Reichtums pointierter formulieren.) Und es gab da noch einen Gedanken, der ihn beschäftigte. (Jetzt kommt das eigentliche Anliegen dieses Absatzes. Deutlicher herausstreichen, damit der Leser das erkennt. Schwache Es-gab-da-Gebilde meiden.) Seine Freunde hatten ihn fallengelassen, als er sie am meisten gebraucht hätte, weil er krank geworden war. (Umstellen, so dass der Satz mit "am, meisten" endet. Das letzte Wort hallt im, Ohr des Lesers nach und transportiert die Pointe am wirkungsvollsten. Mit der Krankheit bis zum nächsten Satz warten.) Es war fast so, als hätten sie ihn einer peinlichen Handlung überführt. (Die Krankheit hier als Peinlichkeit anbringen, "überführt" streichen; es versteht sich von selbst) Er erinnerte sich daran, dass er einmal etwas über Gesellschaftsformen in unzivilisierten Teilen der Welt gelesen hatte, wo kranke Menschen verstoßen wurden, aber er hatte noch nie gehört, dass es in Amerika ein solches Ritual gab. (Satz beginnt langsam und bleibt schlaff und trocken. - Mehrere kurze Sätze daraus machen. Die Pointe gesondert bringen.) Hier die überarbeitete Fassung: Er erinnerte sich, dass Nachbarn sich früher umeinander kümmerten. Aber damit schien es in Amerika vorbei zu sein. Waren die Leute zu beschäftigt? War wirklich jeder so von seinem Fernseher, seinem Auto und seinem Fitnessprogramm vereinnahmt, dass er keine Zeit mehr für Freundschaften hatte? Früher hatte es das nicht gegeben. Auch in anderen Teilen der Welt lebten die Familien nicht so. Sogar in den ärmsten Dörfern in Spanien und Italien, erinnerte er sich, schauten die Leute einfach mal mit einem Laib Brot unter dem Arm vorbei. Ihm kam ein ironischer Gedanke: Je reicher die Menschen wurden, desto ärmer wurde ihr Leben. Wirkliches Kopfzerbrechen bereitete ihm aber eine noch viel schlimmere Sache: Seine Freunde ließen ihn im Stich, und dabei brauchte er sie gerade jetzt am meisten. Krank zu sein war beinahe so, als täte er etwas, dessen er sich schämen müsste. Er wusste, dass es in manchen Gesellschaften üblich war, kranke Menschen zu "verstoßen". Aber dieses Ritual gab es nur bei primitiven Völkern. Oder etwa nicht? Meine Überarbeitungen sind nicht die bestmöglichen oder die einzig möglichen. Mir ging es nur um die handwerklichen Aspekte: eine andere Anordnung, ein besserer Textfluss, mehr Aussagekraft. Es ließe sich noch vieles verbessern, was den Klang, die Details und die Lebendigkeit der Sprache angeht. Ich habe außerdem nur die einzelnen Sätze repariert. Das - 32 -
Gesamtwerk ist aber ebenso wichtig. Lesen Sie sich Ihren Text von Anfang bis Ende laut vor, und achten Sie immer darauf, wo Sie den Leser im vorherigen Satz gelassen haben. Vielleicht entdecken Sie dabei, dass Sie zwei Sätze wie diese geschrieben haben: Der tragische Held des Stücks ist Othello. Klein und bösartig wie er ist, nährt Jago dessen eifersüchtigen Verdacht. Für sich allein ist der Satz über Jago in Ordnung. Aber als Folgesatz zu dem über Othello ist er falsch. Der Leser ist immer noch bei Othello und denkt, dieser sei klein und bösartig. Wenn Sie sich Ihre Texte laut vorlesen und dabei auf den Zusammenhang achten, hören Sie, wie erschreckend oft Sie den Leser unterwegs verlieren oder verwirren, wie oft Sie vergessen, ihm eine Einzelheit mitzuteilen, die er wissen muss, oder wie oft Sie ihm dasselbe zweimal erzählen. Sie hören all diese kleinen Wackelkontakte, die unweigerlich in den ersten Fassungen enthalten sind. Ihre Aufgabe besteht nun darin, alles so zu verlöten, dass das ganze Werk von Anfang bis Ende intakt bleibt und sparsam und kraftvoll läuft. Lernen Sie diese Arbeit zu schätzen. Ich schreibe nicht gerne (ich mag es lieber, geschrieben zu haben). Aber das Überarbeiten genieße ich sehr. Besonders gerne streiche ich weg: Die Delete-Taste zu drücken und zuzusehen, wie ein überflüssiges Wort oder ein Satz in die Elektronik entschwindet, ist das Größte. Ich freue mich, wenn ich ein fades Wort durch ein treffenderes, lebhafteres ersetzen kann. Ich befestige gerne die Brücken zwischen den Sätzen. Ich formuliere lahme Sätze gerne neu, so dass sie einen besseren Rhythmus und mehr Pfeffer bekommen. Nach jeder kleinen Verschönerung habe ich das Gefühl, meinem Ziel ein Stück näher gekommen zu sein, und wenn ich endlich dort ankomme, wo ich hinwollte, weiß ich, dass ich das dem Überarbeiten zu verdanken habe. Textverarbeitung Der Computer ist ein Geschenk des Himmels - oder der Ingenieure -, was das Überarbeiten und Umstellen angeht. Die Wörter sind direkt vor Ihren Augen, und Sie können sich alles immer wieder anders überlegen. Sie können so lange mit Ihren Sätzen herumjonglieren, bis sie richtig sitzen. Die Absätze und die Seiten ordnen sich von allein, egal, wie viel Sie ausschneiden und ändern, und Ihr Drucker tippt Ihnen dann alles schön sauber aus, während Sie irgendwo ein Bier trinken. Ein Computer erspart einem einfach enorm viel Zeit und Arbeit. Seit ich damit arbeite, fällt es mir viel leichter, mich hinzusetzen und zu schreiben, als zu Zeiten, da ich noch eine Schreibmaschine hatte. Besonders, wenn ich eine Aufgabe vor mir habe, bei der es vieles neu zu ordnen gibt. Ich bin erstens früher fertig und zweitens nicht so erschöpft. Vertrauen Sie ihrem Stoff Je länger ich den Autorenberuf ausübe, um so mehr finde ich, dass es nichts Interessanteres gibt als die Wirklichkeit. Was Menschen tun und sagen überrascht mich immer wieder aufs neue, weil es so bezaubernd, verblüffend, dramatisch, lustig oder traurig ist. Wer könnte all die merkwürdigen Dinge, die wirklich passieren, je erfinden? Ich rate Schriftstellern und Schülern immer wieder: "Vertrauen Sie Ihrem Stoff." Dieser Rat ist schwer zu befolgen. Verärgern Sie Ihre Leser nicht, indem Sie ihnen etwas erklären, was sie selbst wissen oder sich denken können. Meiden Sie Wörter wie "überraschenderweise", "wie vorherzusehen war" und "natürlich", mit denen Sie ein Ereignis bewerten, bevor es dem Leser überhaupt bekannt ist. Vertrauen Sie Ihrem Stoff. Es muss Sie interessieren Es gibt kein Thema, über das Sie nicht schreiben dürfen. Schreibschüler meiden oft die Themen, die ihnen am Herzen liegen - Skateboardfahren, Rockmusik, Autos -, weil sie annehmen, dass ihre Lehrer diese Themen "dumm" finden. Aber kein Bereich des Lebens ist dumm, - 33 -
wenn er ernst genommen wird. Wenn Sie über etwas schreiben, das Sie begeistert, werden Sie gut schreiben und Ihre Leser fesseln. Ich habe schon sehr gelungene Bücher übers Angeln, über Poker, Billard, Rodeo, Bergsteigen, Riesenschildkröten und viele andere Themen gelesen, von denen ich nie gedacht hätte, dass sie mich interessieren würden. Schreiben Sie über Ihre Hobbies: Kochen, Gärtnern, Fotografie, Stricken, Antiquitäten, Jogging, Segeln, Tauchen, tropische Vögel, tropische Fische. Schreiben Sie über Ihre Arbeit: wie es ist, zu unterrichten, Kranke zu pflegen, ein Unternehmen zu führen oder einen Laden zu haben. Schreiben Sie über ein Gebiet, das Sie schon an der Uni interessiert hat, und mit dem Sie sich schon lange noch einmal beschäftigen wollten: Geschichte, Kunst oder Archäologie. Kein Gebiet ist zu speziell oder zu abwegig, wenn Sie wirklich darüber schreiben möchten.
Genres Nonfiction als Literatur Vor einigen Jahren sollte ich auf einem Symposium sprechen, das einige Autorinnen organisiert hatten, die ihr Handwerk ernst nahmen; ihre Bücher und Artikel waren solide und nützlich. Sie fragten mich, ob ich in der Woche darauf an einer Talksendung im Radio teilnehmen wollte, in der die Ergebnisse des Symposiums diskutiert werden sollten. Sie würden mit dem Talkmaster im Studio in Buffalo sitzen, und ich sollte per Telefon von New York aus dabei sein. Am Abend der Show klingelte mein Telefon, und der Talkmaster begrüßte mich mit der für seine Zunft typischen eifrig bemühten Jovialität. Er sagte, er habe dort drei entzückende Damen bei sich im Studio sitzen, und er sei schrecklich neugierig, was wir alle über den derzeitigen Stand der Literatur zu sagen hätten, und welche Tipps wir jenen Hörern geben könnten, die selbst Literaten waren oder literarische Ambitionen hätten. Diese schwungvolle Antrittsrede plumpste wie ein Stein in unseren Kreis, und keine der drei entzückenden Damen sagte etwas, was, wie ich fand, die richtige Antwort war. Das Schweigen zog sich immer länger hin, und schließlich sagte ich: "Ich denke, wir sollten hier auf Wörter wie 'Literatur', 'literarisch' und 'Literaten' verzichten." Ich wusste, dass der Talkmaster kurz erklärt bekommen hatte, was für Autoren wir waren und was wir besprechen wollten. Aber er hatte keinen Plan. "Sagen Sie mal," fragte er, "was für Einsichten haben Sie denn alle so aus Ihren Erfahrungen mit der heutigen Literatur in Amerika gewonnen?" Auch diese Frage wurde mit Schweigen beantwortet. Schließlich sagte ich: "Wir sind hier, um über das Schreiben im handwerklichen Sinne zu sprechen." Damit konnte er überhaupt nichts anfangen, also warf er ein paar Namen in die Runde, wie Ernest Hemingway, Saul Bellow und William Styron, die wir doch sicher alle als literarische Giganten betrachteten. Wir sagten, dass diese Autoren nun zufällig nicht unsere Vorbilder seien und nannten statt dessen Leute wie Lewis Thomas, Joan Didion und Gary Wills. Von denen hatte er noch nie etwas gehört. Eine der Frauen erwähnte Tom Wolfes Der Stoff, aus dem die Helden sind, und auch davon hatte er noch nie gehört. Wir erklärten ihm, dass wir diese Schriftsteller bewunderten, weil sie die Fragen der Gegenwart aufgriffen. "Wollen Sie denn gar nichts Literarisches schreiben?" fragte unser Gastgeber. Die drei Frauen sagten, sie seien mit ihrer Arbeit ganz zufrieden. Wieder betretenes Schweigen, und der Talkmaster begann, Anrufe von seinen Hörern entgegenzunehmen, die alle sehr am Schreiben - 34 -
im handwerklichen Sinne interessiert waren und wissen wollten, wie wir die Sache angingen. "Aber mal ehrlich, wenn Sie in der Stille der Nacht da sitzen", fragte der Talkmaster einige Anrufer, "träumen Sie dann nicht auch davon, den großen amerikanischen Roman zu schreiben?" Taten sie nicht. Solche Träume hegten sie weder in der Stille der Nacht noch zu anderer Stunde. Es war eine der lausigsten Radiosendungen aller Zeiten. Jeder Autor von Nonfiction kann sich in dieser Geschichte wiedererkennen. Jene von uns, die versuchen, die Welt, in der wir leben, gut zu beschreiben oder Schülern beizubringen, wie sie die Welt, in der sie leben, gut beschreiben können, sind in einer Zeitschleife gefangen, in der die Literatur noch immer durch Textgattungen, die im 19. Jahrhundert als "literarisch" galten, definiert ist: Romane, Kurzgeschichten und Gedichte. Tatsächlich aber besteht der Großteil dessen, was Autoren heute schreiben und verkaufen, was Verlage publizieren und Leser wünschen, aus Nonfiction. Für diese Verschiebung gibt es viele Beispiele. Eines davon ist der Book-of-the-Month-Club. Als er 1926 von Harry Scherman gegründet wurde, hatten die Amerikaner kaum Möglichkeiten, an gute neue Literatur zu kommen, und lasen hauptsächlich alte Schinken wie Ben Hur. Scherman hatte die Idee, dass jeder Ort, in dem es eine Post gab, damit auch einen Buchladen hatte, und er fing an, seiner neu erschlossenen Leserschaft in allen Winkeln des Landes die besten neuen Bücher zu schicken. Vieles von dem, was er verschickte, war Belletristik. Die Liste der vom Club ausgewählten Bücher enthielt zwischen 1926 und 1941 überwiegend Romane: von Ellen Glasgow, Sinclair Lewis, Virginia Woolf, John Galsworthy, Elinor Wylie, Ignazio Silone, Rosamond Lehmann, Edith Wharton, Somerset Maugham, Willa Carter, Booth Tarkington, Isak Dinesen, James Gould Cozzens, Thornton Wilder, Sigrid Undset, Ernest Hemingway, William Saroyan, John P. Marquand, John Steinbeck und vielen anderen. Das war die Blütezeit der "Literatur" in Amerika. Die Mitglieder des Book-of-the-Month-Clubs bekamen kaum mit, dass der II. Weltkrieg nahte. Erst 1940 flatterte ihnen diese Nachricht mit dem Buch Mrs. Miniver ins Haus, einem Roman über die ersten Tage des Englandkrieges. Alles änderte sich mit der Schlacht um Pearl Harbor. Im II. Weltkrieg wurden sieben Millionen Amerikaner ins Ausland geschickt. Das öffnete ihnen die Augen für die Wirklichkeit - für neue Orte, neue Fragen und neue Ereignisse. Nach dem Krieg verstärkte sich dieser Trend noch durch das Fernsehen. Die Menschen, die allabendlich in ihren Wohnzimmern die Wirklichkeit erlebten, verloren die Geduld mit den langsameren Rhythmen und den sanften Anspielungen der Romanciers. Über Nacht wurde Amerika zu einer Nation, die sich an Fakten orientierte. Was die Mitglieder des Book-of-the-Month-Clubs seit 1946 verlangten und auch bekamen, war Nonfiction. Die Magazine folgten ebenfalls dieser Strömung. Die Saturday Evening Post, die ihre Leser noch lange mit schwerverdaulichen Kurzgeschichten gefüttert hatte, zog Anfang der 60er Jahre nach. Neunzig Prozent des Magazins bestand von da an aus Nonfiction. Damals begann das goldene Zeitalter der Nonfiction, besonders in Magazinen wie Life, welches jede Woche solide und ausgefeilte Artikel brachte, dem New Yorker, der das Genre salonfähig machte, indem er Meilensteine der amerikanischen Moderne wie Rachel Carsons Der stumme Frühling und Truman Capotes Kaltblütig erstmals veröffentlichte, und Harper's, in welchem Auftragsarbeiten wie Norman Mailers Armeen der Nacht erschienen. Nonfiction wurde zur neuen amerikanischen Literatur. Heute gibt es keinen Ausschnitt des Lebens - ob vergangen oder aktuell - der dem normal sterblichen Leser nicht von gut schreibenden Männern und Frauen zugänglich gemacht wird. Neben der reinen Faktenliteratur gibt es viele Bücher zu Gebieten, die früher als "akademisch" betrachtet wurden, wie die Anthropologie, die Wirtschaft oder die Gesellschaftskunde, und die nun zur Domäne von Nonfiction-Autoren und ihrer breiten, wissensdurstigen Leserschaft geworden sind. Ganz zu schweigen von all den historischen - 35 -
Biographien, mit denen sich die amerikanische Literatur in den letzten Jahren hervorgetan hat. Damit meine ich nicht, dass fiktive Literatur keine Berechtigung hätte. Der Belletrist kann uns an verborgene Orte führen, die keinem anderen Schriftsteller zugänglich sind: zu den tiefen Gefühlen und in unser Inneres. Ich sage nur, dass ich den Snobismus satt habe, mit dem immer wieder behauptet wird, Nonfiction sei nur umgetaufter Journalismus, und Journalismus, egal unter welchem Pseudonym, sei ein Schmuddelwort. Und wo wir schon mal dabei sind, die Literatur neu zu definieren, können wir auch gleich den Journalismus neu definieren: Journalismus ist alles, was zuerst in einem regelmäßig erscheinenden Blatt abgedruckt wird, egal, an wen sich dieses Blatt richtet. Die ersten beiden Bücher von Lewis Thomas, eins über Zellen und eins über Medusen und Schnecken, erschienen zuerst als Essays im New England Journal of Medicine. Guter Journalismus, der zu guter Literatur wurde, hat in Amerika eine lange Geschichte. Henry Louis Mencken, Ring Lardner, Joseph Mitchell, Edmund Wilson und Dutzende anderer großer amerikanischer Schriftsteller arbeiteten als Journalisten, ehe sie in der Kirche der Literatur heiliggesprochen wurden. Sie taten einfach das, was sie am besten konnten, und kümmerten sich nicht darum, welchen Namen es hatte. Jeder Schriftsteller muss den Weg gehen, der ihm am besten liegt. Für die meisten Menschen, die dabei sind zu lernen, wie man schreibt, heißt dieser Weg "Nonfiction". Hier können sie über Dinge schreiben, die sie wissen, oder die sie durch Beobachtung und Recherche herausfinden können. Motivation ist das Herz der Schriftstellerei. Wenn Sie besser Nonfiction schreiben oder unterrichten, dann lassen Sie sich nicht von dem Gedanken einschüchtern, sie sei ein minderwertiges Genre. Wertunterschiede gibt es nur zwischen gut und schlecht geschriebenen Texten. Ein guter Text bleibt ein guter Text - egal, welche Form er hat und wie wir sie nennen.
Über Menschen schreiben: Das Interview Bringen Sie Menschen zum Reden. Lernen Sie, Fragen zu stellen, die ihnen Antworten darüber entlocken, was in ihrem Leben am interessantesten und lebendigsten ist. Nichts belebt einen Text mehr, als wenn Sie jemanden erzählen lassen, was er denkt und was er tut - und zwar mit seinen eigenen Worten. Seine Worte sind immer besser als Ihre Worte. Seine Worte tragen seine Stimm-Modulation und die Besonderheiten seines Satzbaus in sich. Sie enthalten regionale Ausdrücke und den Jargon seines Berufs. Sie bringen seine Begeisterung rüber. Da spricht ein Mensch direkt mit dem Leser und nicht durch den Filter eines Autors. Sobald sich ein Autor dazwischenschaltet, werden aus den Erfahrungen dieses Menschen Second-Hand-Erfahrungen. Lernen Sie deshalb, wie man ein Interview führt. Egal, welche Art von Nonfiction Sie schreiben, sie wird um so lebendiger, je mehr Zitate Sie unterwegs einflechten können. Oft werden Sie vor der Aufgabe stehen, einen Artikel über etwas vermeintlich Fades zu schreiben - etwa über die Geschichte einer Institution oder über städtische Belange wie Abwasserrohre dass Sie Angst haben, Ihre Leser und sich selbst damit einzuschläfern. Fassen Sie sich ein Herz. Sie finden die Lösung im menschlichen Element. In jeder grauen Institution sitzen irgendwo Männer und Frauen, die sich ihrer Tätigkeit eisern verschrieben haben, und die eine Fundgrube an Anekdoten sind. Hinter jedem Abwasserrohr steckt ein Politiker, dessen Karriere davon abhängt, ob es gelegt wird, oder eine Witwe, die seit Urzeiten an dem Straßenabschnitt wohnt und sich darüber aufregt, dass irgendeine Knalltüte von der Stadtverwaltung glaubt, das Problem spüle sich schon von allein weg. Finden Sie diese Menschen, damit sie die Geschichte erzählen, die Sie schreiben müssen. Dann wird sie garantiert nicht langweilig. Ich habe das selbst oft erprobt. Vor vielen Jahren war ich von der New Yorker Stadtbücherei - 36 -
beauftragt worden, ein kleines Buch zum fünfzigsten Jahrestag ihrer Zentrale auf der Fifth Avenue zu schreiben. Das klang zunächst nach einer staubtrockenen Geschichte über viele muffige Bücher in einem Marmorbau. Aber hinter der Fassade fand ich 19 Forschungsstellen, denen jeweils ein Kurator vorstand, der einen Schatz an Raritäten und Kuriositäten hütete. Das ging von George Washingtons handgeschriebener Abschiedsrede bis hin zu 750 000 Standbildern aus Filmen. Ich beschloss, die Kuratoren zu interviewen, um herauszufinden, was sich in ihren Sammlungen befand, nach was sie Ausschau hielten, um alles auf dem neuesten Stand zu halten, und was in den einzelnen Räumen geschah. Ich erfuhr, dass die Stelle für Wissenschaft und Technik eine Patentsammlung hatte, die nur noch vom Staatlichen Patentamt übertroffen wurde, und dass die Bücherei deshalb für die örtlichen Patentanwälte fast zum zweiten Zuhause geworden war. Aber es kamen auch täglich eine Menge Leute vorbei, die glaubten bei der Erfindung des Perpetuum mobile kurz vor dem Durchbruch zu stehen. "Jeder erfindet hier irgendwas", erklärte mir der Kurator, "aber niemand erzählt uns, worüber er brütet - vielleicht haben die Leute Angst, dass wir ihnen sonst mit dem Patent zuvorkommen." Das Gebäude stellte sich als randvoll mit Forschern und verrückten Professoren heraus, und meine Story, auch wenn sie scheinbar die Chronik einer öffentlichen Einrichtung war, drehte sich eigentlich um Menschen. Genauso bin ich an einen langen Artikel über Sotheby's in London herangegangen. Auch Sotheby's war in verschiedene Domänen aufgeteilt - Silber, Porzellan, Gemälde -, für die jeweils ein Experte zuständig war. Und ebenso wie die Bücherei wurde das Auktionshaus von den Launen einer kauzigen Kundschaft am Leben erhalten. Die Experten waren wie Fachbereichsleiter an einem kleinen College, und sie alle hatten Anekdoten auf Lager, die sowohl inhaltlich als auch in der Art, wie sie erzählt wurden, einzigartig waren: "Wir sitzen hier rum wie der Micawber aus David Copperfield und warten drauf, dass was reinkommt", sagte R. S. Timewell, der Leiter der Möbelabteilung. "Neulich schrieb uns eine alte Dame aus der Nähe von Cambridge, dass sie irgendwie zweitausend Pfund auftreiben müsse, und fragte, ob ich mich mal in ihrem Haus umsehen würde, um rauszufinden, ob ihre Möbel soviel wert seien. Also bin ich hin, aber da war absolut nichts Brauchbares. Als ich schon wieder gehen wollte, fragte ich: 'Hab ich auch alles gesehen?' Sie meinte ja - alles außer einem Mädchenzimmer, das sie mir nicht gezeigt hatte, weil sie dachte, dass es sich nicht lohnen würde. In dem Zimmer stand eine tolle Truhe aus dem 18. Jahrhundert, in der die alte Dame ihre Bettwäsche aufbewahrte. 'Ihre Geldsorgen können sie vergessen, wenn Sie diese Truhe verkaufen' sagte ich ihr. Sie sagte: 'Aber das geht doch nicht - wo soll ich denn dann mit meiner Bettwäsche hin?"' Meine Sorgen konnte ich auch vergessen. Schrullige Fachleute betrieben das Auktionshaus, und allmorgendlich schneiten Männer und Frauen dort herein, mit ungeliebten Sachen unterm Arm, die sie auf englischen Dachböden gefunden hatten ("Oh, ich fürchte, das ist nicht aus der Zeit von Königin Anne - das sieht mir mehr nach Königin Victoria aus, tut mir leid"). Indem ich ihnen einfach zuhörte, bekam ich so viel Lebensnähe, wie es sich ein Schriftsteller nur wünschen kann. Auch als ich beauftragt wurde, die Geschichte des Book-of-the-Month-Clubs anlässlich seines vierzigjährigen Bestehens zu schreiben, fürchtete ich, ich würde vielleicht nur auf trockenen Stoff stoßen. Aber ich fand viel Interessantes - auf beiden Seiten: Eine entschlossene Jury hatte Bücher ausgewählt und an gleichermaßen entschlossene Abonnenten verschickt, die keine Sekunde zögerten, ein Buch, das ihnen nicht gefiel, in einen Umschlag zu stecken und zurückzusenden. Ich bekam über tausend Seiten voller Mitschriften von Interviews mit den fünf Juroren der ersten Stunde (Heywood Brown, Henry Seidel Canby, Dorothy Canfield, Christopher Morley und William Allen White), die ich mit meinen eigenen Interviews mit dem Gründer des Clubs, Harry Scherman, und den damaligen Juroren verknüpfte. Das Ergebnis waren Erinnerungen aus vierzig Jahren, die dokumentierten, wie sich der amerikanische Literaturgeschmack gewandelt hatte, und sogar die Bücher wurden zu - 37 -
lebendigen Figuren in meiner Story: "Wahrscheinlich kann sich jemand, der sich an den gewaltigen Erfolg von "Vom Winde verweht" erinnert, nur schwer vorstellen, wie jemand das Buch einfach nur als sehr lange, detaillierte Geschichte über den Bürgerkrieg und seine Nachwehen betrachten konnte", sagte Dorothy Canfield. "Wir hatten von der Autorin noch nie etwas gehört, und uns lagen auch keine Rezensionen vor. Wir wählten das Buch unter Vorbehalt aus weil die Figuren zum Teil nicht besonders authentisch und überzeugend waren. Aber als Erzählung hatte es etwas, das die Franzosen attention nennen: man wollte die Seiten umblättern, um zu erfahren, was als nächstes passieren würde. Ich erinnere mich, dass einer sagte: 'Na ja, vielleicht wird es den Leuten nicht besonders gefallen, aber es soll niemand behaupten, er hätte für sein Geld nicht genug zu lesen bekommen.' Dass das Buch einen solch reißenden Absatz finden würde, war, muss ich sagen, für uns ebenso überraschend wie für jeden anderen." Die drei Beispiele sind typisch dafür, wie viele Informationen in den Köpfen der Menschen schlummern. Ein guter Nonfictionautor braucht sie nur zu wecken. Am einfachsten üben Sie das, indem Sie losziehen und Leute befragen. Das Interview gehört zu den beliebtesten Elementen in der Nonfiction, deshalb sollten Sie dieses Terrain so früh wie möglich erobern. Wie fangen Sie am besten an? Entscheiden Sie zunächst, wen Sie interviewen wollen. Wenn Sie studieren, dann interviewen Sie nicht ausgerechnet ihre Zimmergenossen im Studentenwohnheim. Bei allem Respekt für Ihre wunderbaren Zimmergenossen, werden diese wahrscheinlich nicht viel zu sagen haben, das der Rest von uns hören möchte. Um das Handwerk der Nonfiction zu erlernen, müssen Sie hinaus in die Welt gehen in Ihr Dorf oder Ihre Stadt - und so tun, als würden Sie an etwas schreiben, das tatsächlich veröffentlicht wird. Wenn es Ihnen hilft, dann überlegen Sie sich, für welches Magazin Sie gerade schreiben. Erzählen Sie über jemanden, dessen Job so wichtig oder so ungewöhnlich ist, dass der Normalbürger Lust hätte, etwas über diesen Menschen zu lesen. Das heißt nicht, dass es jemand sein muss, der im Vorstand einer Bank sitzt. Es kann der Mensch sein, dem die Pizzeria oder der Supermarkt um die Ecke gehört, oder der Rektor der örtlichen Friseurfachschule. Es kann der Fischer sein, der allmorgendlich aufs Meer hinaus fährt, der Trainer der Jugendmannschaft oder die Krankenschwester. Es darf auch der Metzger sein, der Bäcker oder - besser noch - jemand, der Kerzenleuchter herstellt. Schauen Sie sich nach den Frauen in Ihrer Umgebung um, die die alten Mythen über die Vorbestimmung der Geschlechter auf den Kopf stellen. Kurz, suchen Sie sich jemanden aus, dessen Leben das Leben der Leser an irgendeiner Stelle berührt. Interviews führen ist etwas, worin man immer nur besser werden kann. Nie wieder werden Sie sich so unwohl dabei fühlen wie beim ersten Mal. Und wahrscheinlich werden Sie sich auch nie ganz wohl dabei fühlen, jemanden zu Antworten zu drängen, die er Ihnen aus Schüchternheit oder mangelnder Wortgewandtheit nicht geben möchte. Aber vieles beim Interviewen ist Routinearbeit. Der Rest ist Instinkt: Wie erreiche ich, dass sich mein Gegenüber entspannt? Wann muss ich hartnäckiger nachbohren? Wann zuhören? Wann reicht es? Das alles lehrt jedoch die wachsende Erfahrung. Die Werkzeuge für ein Interview sind Papier und Stifte. Ist dieser Rat beleidigend selbstverständlich? - Sie ahnen nicht, wie viele Autoren mit einem leeren Kuli losziehen. Oder ohne Schreibblock. "Gut gerüstet sein" ist für den Autor von Nonfiction wie für den Pfadfinder ein wichtiges Motto. Aber lassen Sie Ihr Notizbuch in der Tasche, bis Sie es brauchen. Nichts könnte einen Menschen mehr davon abhalten, sich zu entspannen, als jemand, der mit einem Schreibblock auf ihn zukommt. Sie brauchen beide Zeit, um sich kennen zu lernen. Unterhalten Sie sich ein wenig miteinander, finden Sie heraus, mit wem Sie es da zu tun haben, und gewinnen Sie das Vertrauen Ihres Gesprächspartners. Gehen Sie nie zu einem Interview, ohne vorher alle erdenklichen Hausaufgaben gemacht zu haben. Wenn Sie vorhaben, einen Bürgermeister zu befragen, dann sollten Sie wissen, wie er - 38 -
bei den letzten Wahlen abgeschnitten hat. Wenn Sie eine Schauspielerin interviewen möchten, dann informieren Sie sich, in welchen Stücken oder Filmen sie mitgespielt hat. Sie werden auf Ablehnung stoßen, wenn Sie etwas fragen, das Sie eigentlich wissen könnten. Machen Sie sich eine Liste mit Fragen zum Thema. Das erspart Ihnen die Peinlichkeit, mitten im Interview auf dem trockenen zu sitzen. Vielleicht brauchen Sie die Liste nicht, weil Ihnen im Gespräch bessere Fragen einfallen, oder weil der Mensch, den Sie interviewen, plötzlich in eine Seitenstraße einbiegt, mit der Sie vorher nicht rechnen konnten. In solchen Fällen können Sie nur Ihrer Intuition folgen. Wenn die Leute ständig abdriften, dann holen Sie sie wieder zurück. Aber wenn Ihnen der neue Pfad gefällt, dann gehen Sie mit, und vergessen Sie die Fragen, die Sie ursprünglich hatten stellen wollen. Viele Interviewer fürchten anfangs, aufdringlich zu sein, und denken, sie hätten kein Recht, in die Privatsphäre eines anderen Menschen einzudringen. Solche Befürchtungen sind so gut wie grundlos. Fast jeder freut sich, wenn man ihn interviewen möchte. Die meisten Männer und Frauen leben, wenn nicht in stiller Verzweiflung, so doch zumindest zum Verzweifeln ruhig, und sind dankbar für Gelegenheiten, interessierten Außenstehenden von ihrer Arbeit zu erzählen. Das heißt nicht unbedingt, dass alles gut gehen wird. Oft werden Sie mit Menschen sprechen, die noch nie interviewt worden sind und einfach nicht warmlaufen, schüchtern sind oder Ihnen nichts erzählen, was Sie verwenden könnten. Kommen Sie in dem Fall ein anderes Mal wieder. Dann wird es besser laufen und vielleicht sogar Spaß machen. Beweisen Sie Ihrem Opfer, dass Sie es zu nichts zwingen, was es nicht tun will. Um noch einmal aufs Werkzeug zurückzukommen: "Ist es o.k., ein Tonbandgerät zu benutzen?" fragen Sie. "Warum nicht einfach so ein Gerät einschalten und den ganzen Papierund Bleistiftfirlefanz vergessen?" Klar, mit einem Tonbandgerät kann man alles wunderbar festhalten, was die Leute zu erzählen haben. Es ist unschätzbar wertvoll, wenn es um Gebiete wie Anthropologie oder Gesellschaftskunde geht. Ich bewundere die Bücher von Studs Terkel, die er "geschrieben" hat, indem er Menschen mit einem Bandgerät interviewte und am Ende alles in einen fließenden Zusammenhang brachte. Mir gefallen auch die mitgeschnittenen Frage-undAntwort-Interviews, die in manchen Zeitschriften abgedruckt sind. Sie hören sich spontan an und wurden nicht vom Autor auf Hochglanz poliert, was erfrischend wirkt. Strenggenommen hat das aber nichts mit Schreiben zu tun. Es ist ein sehr aufwendiges Verfahren, bei dem Fragen gestellt werden und die abgetippten Antworten ausgedünnt, zersägt und wieder zusammengeklebt werden müssen. Gebildete Menschen, von denen Sie dachten, sie hätten ihre Wörter und Sätze gut aneinandergereiht, sind, wie sich später herausstellt, ziellos durch Sprachdünen gestolpert und haben keinen einzigen Satz richtig zu Ende gebracht. Das Ohr akzeptiert vieles - grammatische Fehler, falsche Wortstellung und unlogische Übergänge -, was das Auge nicht duldet. Ein Tonband erleichtert die Arbeit längst nicht so, wie es scheint, sondern bedeutet unendliche Flickerei. Aber die eigentlichen Gründe, warum ich Sie vom Diktiergerät abbringen möchte, sind praktischer Art. Erstens laufen Sie im Alltag eher mit einem Stift in der Tasche herum. Zweitens funktionieren diese Geräte manchmal nicht. Kaum ein Moment im Leben eines Reporters ist so düster, wie der, wenn er mit einer "Wahnsinnsstory" ins Büro kommt, auf PLAY drückt und nichts als ein leises Rauschen hört. Vor allem aber sollte ein Autor sein Material sichten können. Wenn sich Ihr Interview auf einem Tonband befindet, werden Sie zum Zuhörer, der sich endlos mit einem Gerät abmüht: Sie müssen vor- und zurückspulen, um diese eine brillante Bemerkung wiederzufinden, die nun irgendwie verschwunden zu sein scheint. Sie müssen unentwegt stoppen und starten. Sie werden verrückt dabei. Seien Sie ein Schriftsteller. Schreiben Sie Dinge auf. Ich benutze bei Interviews immer einen spitzen, harten Bleistift. Ich finde es gut, wenn der Mensch, mit dem ich mich da austausche, sieht, dass ich arbeite und den Job nicht einfach von - 39 -
einer Maschine für mich erledigen lasse. Ich habe nur einmal mit Diktiergerät gearbeitet: als ich die Jazzmusiker Willie Ruff und Dwike Mitchell für mein Buch Willie und Dwike interviewte. Obwohl ich beide Männer gut kannte, fand ich, dass ein weißer Schriftsteller, der über die Erfahrungen schwarzer Amerikaner schreibt, verpflichtet ist, deren Sprache richtig wiederzugeben. Ruffund Mitchell sprechen nicht etwa ein anderes Englisch - sie sprechen ein sehr gutes und ausdrucksstarkes Englisch. Aber als schwarze Südstaatler benutzen sie einige Wörter und Redewendungen, die nur Menschen ihrer Herkunft benutzen, und die das, was sie sagen, lustiger und farbenfroher machen. Ich wollte nicht, dass mir eine einzige dieser Wendungen entging. Mein Bandgerät hat sie alle eingefangen, und die Leser meines Buches können beinahe hören, dass ich die beiden Männer richtig getroffen habe. Erwägen Sie in solchen Situationen, in denen Sie die kulturelle Integrität Ihrer Interviewpartner verletzen könnten, ein Band mitlaufen zu lassen. Beim Mitschreiben gibt es jedoch ein großes Problem: Ihr Gesprächspartner spricht oft schneller, als Sie schreiben können. Während Sie noch Satz A niederkritzeln, fängt er schon mit Satz B an. Also lassen Sie den Rest von Satz A weg und machen mit Satz B weiter, in der Hoffnung, Satz C würde bedeutungslos sein, so dass Sie ihn auslassen und in der Zeit Satz A, den Sie im Hinterkopf behalten haben, zu Ende führen können. Leider ist Ihr Gegenüber gerade so richtig schön warmgelaufen und sagt all die Dinge, die Sie seit einer Stunde aus ihm herauszukitzeln versuchen, und das auch noch mit der Eloquenz eines Churchill. Die ganzen Sätze, die Sie festhalten wollen, bevor Sie vorbeigerauscht sind, fangen an, Ihre Ohren zu verstopfen. Bitten Sie Ihren Gesprächspartner, eine Pause einzulegen. Sagen Sie einfach: "Bitte warten Sie eine Minute" und holen Sie auf. Schließlich schreiben Sie so emsig mit, weil Sie ihn richtig zitieren wollen. Und niemand wird gern falsch zitiert. Mit wachsender Übung werden Sie schneller und werden eine eigene Kurzschrift entwickeln. Sie werden Abkürzungen für häufig benutzte Wörter finden und bestimmte grammatische Verbindungsglieder weglassen. Fügen Sie gleich, wenn das Interview vorbei ist, alle Wörter ein, an die Sie sich noch erinnern können. Vervollständigen Sie halbe Sätze. Das meiste werden Sie dann noch im Hinterkopf haben. Tippen Sie Ihre Notizen - wahrscheinlich schwer lesbares Gekritzel - gleich zu Hause ab, damit Sie später nicht Mühe mit den Entziffern haben. Dadurch bekommen Sie nicht nur das Interview mit den entsprechenden Nachträgen und Anmerkungen in einen fließenden Zusammenhang. Sie können auch in Ruhe die Springflut von Wörtern lesen, die Sie hastig aufgeschrieben haben, und dabei erkennen, was Ihr Gesprächspartner tatsächlich gesagt hat. Sie werden feststellen, dass er vieles gesagt hat, das uninteressant ist oder nicht zum Thema gehört, oder dass er sich wiederholt. Picken Sie die wichtigsten und farbenfrohsten Sätze heraus. Sie werden versucht sein, alle Wörter zu verwenden, die Sie aufgeschrieben haben, weil Sie sich so angestrengt hatten, sie zu notieren. Aber das heißt nicht, dass der Leser dieselbe Mühe aufbringen muss. Ihr Job ist es, die Essenz herauszudestillieren. Und was ist mit Ihrer Verpflichtung gegenüber der Person, die Sie interviewt haben? Bis zu welchem Grad dürfen Sie ihre Worte anders ordnen und kürzen? Das fragt sich jeder, der von seinem ersten Interview nach Hause kommt - und das sollte er sich auch fragen. Die Antwort ist einfach, wenn Sie zwei Grundsätzen folgen: Bündigkeit und Fairness. Ihre ethische Verpflichtung Ihrem Interviewpartner gegenüber besteht darin, seine Haltung richtig wiederzugeben. Wenn er bedachtsam die zwei Seiten eines Problems gegeneinander abgewogen hat, und Sie nur seine Meinung zu einer der Seiten zitieren, sieht es so aus, als neige er zu dieser Position, und Sie verfälschen, was er Ihnen erzählt hat. Dasselbe gilt, wenn Sie etwas in falschem Zusammenhang zitieren oder eine witzige Stilblüte ohne die anschließend folgenden ernsten Gedanken wiedergeben. Sie haben es mit dem guten Ruf eines anderen Menschen zu tun - und auch mit Ihrem eigenen. Sie sind aber auch dem Leser gegenüber verpflichtet. Die meisten Menschen erzählen und - 40 -
streuen Dinge ein, die niemanden interessieren oder nicht zum Thema gehören. Vieles davon ist ganz nett, aber es bleibt doch trivial. Je mehr Sie sich auf den Kern konzentrieren, ohne die Aussagen mit Nebensächlichkeiten zu verwässern, um so stärker wird Ihr Interview. Wenn Sie also auf Seite 5 Ihrer Notizen eine Bemerkung finden, die eine andere von Seite 2 perfekt erläutert, dann tun Sie jedem einen Gefallen, wenn Sie die beiden Gedanken miteinander verknüpfen, indem Sie sie aufeinanderfolgen lassen. Vielleicht entspricht das nicht dem tatsächlichen Ablauf des Interviews, aber es ist sinngetreu. Spielen Sie ruhig mit den Zitaten wählen Sie einige aus, verwerfen Sie andere, verändern Sie die Reihenfolge, und heben Sie sich ein gutes für den Schluss auf. Aber seien Sie fair. Ändern Sie im Zitat nicht den Wortlaut, und achten Sie darauf, dass Sie nichts streichen, was für den Zusammenhang wichtig ist. Meine ich "ändern Sie keine Wörter" wörtlich? Ja und nein. Wenn ein Sprecher seine Worte sorgfältig wählt, dann sollte es für Sie eine Frage der Berufsehre sein, ihn wörtlich zu zitieren. Die meisten Interviewer nehmen es damit nicht so genau - sie glauben, es reiche, wenn sie den Sinn grob wiedergeben. Es reicht nicht. Niemand sieht es gerne, wenn er auf dem Papier etwas mit Wörtern oder Redewendungen ausdrückt, die er nie benutzen würde. Wenn der Sprecher sich aber schlecht ausdrückt - wenn seine Sätze abschweifen, wenn seine Gedanken unklar und seine Sprache so verworren ist, dass es ihm peinlich wäre -, dann bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als die Sache in Ordnung zu bringen und die fehlenden Verknüpfungen herzustellen. Manchmal kommt es vor, dass Sie erst nach einer Weile merken, dass in einigen Zitaten der Wurm steckt. Als Sie sie zum ersten Mal hörten, klang alles so treffend, dass Sie sich keine weiteren Gedanken darüber gemacht haben. Nun, wo Sie sich doch Gedanken machen, bemerken Sie, dass entweder in der Sprache oder in der Logik etwas fehlt. Sie tun weder dem Leser noch dem Interviewten einen Gefallen, wenn Sie nicht nach einer Ergänzung suchen. Auch Ihrem Ruf als Autor würde das schaden. Oft müssen Sie nur ein oder zwei Wörter einfügen, damit das Zitat einen Sinn ergibt. Oder Sie finden ein anderes Zitat in Ihren Notizen, das klarer ausdrückt, was gemeint ist. Vergessen Sie nicht, dass Sie Ihren Gesprächspartner auch jederzeit anrufen können. Sagen Sie ihm, dass Sie ein paar Dinge, die er gesagt hat, noch einmal überprüfen wollen. Bitten Sie ihn, diese Dinge neu zu formulieren, bis Sie sie verstanden haben. Machen Sie sich nicht zum Sklaven Ihrer Zitate, indem Sie sich von ihrem wundervollen Klang so einlullen lassen, dass Sie sie kritiklos hinnehmen. Schicken Sie nichts in die Welt hinaus, das Sie nicht verstanden haben. Was den Aufbau Ihres Interviews angeht, sollten Sie dem Leser bereits in der Einleitung sagen, warum es sich lohnt, etwas über den Befragten zu lesen, und mit welchem Recht er die Zeit und Aufmerksamkeit des Lesers in Anspruch nimmt. Dann geht es darum, ein Gleichgewicht herzustellen zwischen dem, was der Interviewte mit seinen Worten sagt, und dem, was Sie mit Ihren Worten schreiben. Wenn Sie jemanden drei oder vier Absätze lang zitieren, wird das Ganze monoton. Zitate wirken lebendiger, wenn Sie immer wieder zwischendurch eins einstreuen. Immerhin sind Sie der Autor. Aber schieben Sie keine blassen Sätze ein, bloß um eine Kette aus Zitaten zu unterbrechen. ("Er klopfte seine Pfeife in einem in Reichweite stehenden Aschenbecher aus, und ich bemerkte, dass er recht lange Finger hatte"; "Sie stocherte verträumt in ihrem Ruccolasalat herum"). Wenn Sie ein Zitat einflechten wollen, beginnen Sie den Satz damit. Leiten Sie ein Zitat nicht mit einer geistlosen Phrase ein, die ankündigt, dass der Mensch gleich etwas sagen wird. SCHLECHT: Mr. Smith sagte, er fahre gerne "einmal in der Woche in die Stadt, um dort mit ein paar meiner alten Freunde zu Mittag zu essen." GUT: "Normalerweise fahre ich einmal in der Woche in die Stadt", sagte Mr. Smith, "um dort mit ein paar meiner alten Freunde zu Mittag zu essen." Der zweite Satz ist lebendig, der erste tot. Es gibt nichts Toteres als einen Satz, der mit einem Mr.-Smith-sagte-Gebilde anfängt - an solch einer Stelle hören viele Leser auf, weiterzulesen. - 41 -
Wenn der Mann etwas gesagt hat, dann lassen Sie es ihn sagen. Passen Sie aber auf, wo Sie die Zitate unterbrechen. Tun Sie es an der ersten Stelle, an der es sich gut anhört, so dass der Leser weiß, wer da spricht. Unterbrechen Sie aber nicht den Rhythmus oder einen Sinnabschnitt mit Ihrem Einschub. Die folgenden beiden Varianten richten Schaden an: "Normalerweise fahre ich", sagte Mr. Smith, "einmal in der Woche in die Stadt, um dort mit ein paar meiner alten Freunde zu Mittag zu essen." "Normalerweise fahre ich einmal in der Woche", sagte Mr. Smith, "in die Stadt, um dort mit ein paar meiner alten Freunde zu Mittag zu essen." Und noch etwas: Versuchen Sie nicht krampfhaft, Synonyme für "er sagte" zu finden. Lassen Sie niemanden etwas bemerken, behaupten oder erklären, nur damit er nicht schon wieder etwas sagt. Und bitte - bitte! -schreiben Sie nicht "... lächelte er" oder "... grinste er". Ich habe noch nie gehört, wie jemand gelächelt hat. Die Augen des Lesers überfliegen "er sagte" ohnehin. Der ganze Aufwand lohnt sich also nicht. Wenn Sie unbedingt Abwechslung wollen, dann verwenden Sie Synonyme, die andeuten, dass der Sprecher eine neue Richtung einschlägt, "betonte er", "antwortete er", "wendete er ein" - diese Verben haben eine bestimmte Bedeutung. Aber schreiben Sie nicht "betonte er", wenn er lediglich etwas bemerkt hat. Dieses Wissen zur Schreibtechnik kann Ihnen aber nur bis zu einem bestimmten Grad weiterhelfen. Ein gutes Interview hängt auch von der Persönlichkeit des Autors ab, denn der Mensch, den Sie befragen, wird Ihnen überlegen sein, wird immer mehr zum Thema wissen als Sie. Ein paar kluge Ratschläge, wie Sie in dieser unausgewogenen Situation Ihre Angst überwinden und sich auf Ihren gesunden Menschenverstand verlassen können, gebe ich Ihnen im Kapitel "Freude, Furcht, Vertrauen".
Über Orte schreiben: Der Reisebericht Nicht nur über Menschen sollten Sie schreiben können, sondern auch über Orte. Menschen und Orte sind die beiden Säulen, auf denen gute Nonfiction steht: Alles, was Menschen erleben, erleben sie irgendwo, und der Leser will wissen, wie dieses Irgendwo war. In wenigen Fällen reichen ein oder zwei Absätze, um den Schauplatz einer Handlung zu skizzieren. Viel öfter müssen Sie die Stimmung in einer Nachbarschaft oder einer Stadt schildern, damit Ihre Story plastischer wird. Und in bestimmten Fällen, beispielsweise einem Reisebericht, ist die Beschreibung, wie Sie mit einem Boot zwischen den griechischen Inseln umhergefahren oder mit dem Rucksack durch die Rocky Mountains gewandert sind, sogar das zentrale Thema. Unabhängig davon, wie umfangreich solche Ortsbeschreibungen in einem Text ausfallen, hört es sich so an, als seien sie ziemlich einfach zu schreiben. Die traurige Wahrheit ist jedoch, dass es sehr schwer ist, einen Ort zu beschreiben. Es muss schwer sein, zumindest versagen die meisten Autoren auf diesem Gebiet kläglich. Den entsetzlichen Texten liegt kein entsetzlicher charakterlicher Mangel dieser Autoren zugrunde. Im Gegenteil, ihr tugendhafter Enthusiasmus sorgt dafür, dass die Texte schlecht werden. Niemand verwandelt sich so schnell in einen Langweiler wie jemand, der von einer Reise nach Hause zurückkehrt. Ihm hat die Reise so viel Freude gemacht, dass er uns alles darüber erzählen möchte - und alles ist genau das, was wir nicht hören möchten. Wir wollen nur etwas hören: Worin unterschied sich die Reise von den Reisen anderer Menschen? Gibt es etwas zu erzählen, das wir noch nicht wissen? Wir wollen nicht, dass uns jede Achterbahnfahrt in Disneyland geschildert wird, und wir wollen auch nicht, dass uns jemand erzählt, wie atemberaubend der Grand Canyon ist, oder dass es in Venedig Kanäle gibt. Wenn die Achterbahn in Disneyland steckengeblieben - 42 -
ist, oder wenn jemand in den atemberaubenden Grand Canyon gestürzt ist, dann ist es erzählenswert. Wenn wir irgendwo hinkommen, ist es natürlich, dass wir das Gefühl haben, wir seien die ersten Menschen, die je dort waren, oder die den Ort so ergreifend fanden. Deshalb reisen wir, und damit bestätigt sich für uns, dass Reisen eine tolle Erfahrung ist. Aber wer sinnt im Londoner Tower nicht über die Frauen von Heinrich VIII nach oder fährt nach Ägypten, ohne von der Größe und dem Alter der Pyramiden berührt zu sein? Dieses Terrain ist bereits von unzähligen anderen Autoren abgegrast worden. Als Schriftsteller müssen Sie Ihr subjektives Selbst, das in den neuen Bildern, Klängen und Gerüchen schwelgt, zügeln und an den Leser denken. Der Artikel, in dem Sie alles, was Sie auf Ihrer Reise unternommen haben, haarklein schildern, fasziniert Sie, weil es Ihre Reise war. Aber wird er auch den Leser faszinieren? Nein, wird er nicht. Mit einer reinen Aufzählung von Einzelheiten dringt niemand zum Leser durch. Die Einzelheiten müssen schon bemerkenswert sein. Eine weitere große Falle ist der Stil. In keinem anderen Genre gießen Autoren so viel Sirup über ihre Worte und flechten so viele Plattitüden ein. Adjektive, bei denen sich einem alles zusammenzieht, wenn man sie in einem Gespräch hört - "liebreizend", "sagenumwoben", "gewitterschwanger" - sind hier gängige Währung. Die Hälfte aller Sehenswürdigkeiten sind altmodisch, besonders Windmühlen und überdachte Brücken. Dörfer, die in einer Berg- oder Hügellandschaft liegen, schmiegen sich an die Berge - fast nie lese ich von einem Bergdorf, das sich nicht anschmiegt -, und alle ländlichen Gegenden sind durchzogen von stillen Nebenstraßen, die vorzugsweise schon fast in Vergessenheit geraten sind. In Europa wecken einen die klappernden Hufe von Pferden, die mit ihrem Wagen einen vor Geschichte nur so triefenden Fluss hinaufziehen; man hört beim Lesen fast das Kratzen der Schreibfeder. In dieser Welt trifft Alt auf Neu - Alt trifft nie auf Alt. In dieser Welt erwachen leblose Gegenstände plötzlich zum Leben: Schaufenster lachen einen an, Gebäude prahlen, Ruinen winken einem zu, und sogar Schornsteine begrüßen einen. Dieser Stil steckt auch voller Wörter, die bei genauer Betrachtung gar nichts oder für jeden Menschen etwas anderes aussagen: "reizvoll", "charmant", "romantisch". Es bringt nichts, zu schreiben, dass eine Stadt "ihren eigenen Reiz" hat. Und wer definiert schon, was Charme ist vielleicht jemand, der eine Flirtschule betreibt? Und wer "romantisch"? All diese Dinge liegen im Auge des Betrachters. Was für den einen Mann ein romantischer Sonnenaufgang ist, ist für den anderen der Beginn eines verkaterten Tages. Wie können Sie solche Scheußlichkeiten umgehen und gut über einen Ort schreiben? Ich rate Ihnen, zwei Regeln zu beherzigen. Die eine betrifft den Stil, die andere den Inhalt. Wählen Sie Ihre Wörter sehr sorgfältig aus. Wenn Ihnen eine Wendung mühelos von der Hand geht, dann seien Sie misstrauisch; wahrscheinlich handelt es sich um eines der unzähligen Klischees, die sich schon so fest in die Sprache der Reiseliteratur eingenistet haben, dass Sie sich besonders bemühen müssen, sie nicht zu verwenden. Widerstehen Sie auch der Versuchung, wundervolle Wasserfälle mit glitzernden poetischen Phrasen zu beschreiben. Im besten Fall hört sich das künstlich und nicht nach Ihnen selbst an. Im schlimmsten Fall klingt es schwülstig. Suchen Sie nach frischen Wörtern und Bildern. Überlassen Sie die "Myriaden" und deren Verwandtschaft den Dichtern. Was den Inhalt angeht, so seien Sie besonders wählerisch. Wenn Sie eine Küste beschreiben, dann schreiben Sie nicht, dass "die Felsen zerklüftet waren", oder dass "hin und wieder eine Möwe über sie hinwegflog". Felsenküsten neigen dazu, zerklüftet zu sein und von Möwen überflogen zu werden. Streichen Sie alles, was in der Natur der Sache liegt: Erzählen Sie uns nicht, dass Wellen auf dem Meer waren, und dass der Sand hell war. Suchen Sie nach erwähnenswerten Einzelheiten. Erwähnenswert ist alles, was zu Ihrer Geschichte beiträgt, was ungewöhnlich, spannend, lustig oder unterhaltsam ist. Hauptsache, Ihre Wörter sind nützlich. Ich gebe Ihnen ein paar Beispiele von Schriftstellern, die sich zwar im Temperament unterscheiden, die jedoch gleichermaßen pingelig bei der Auswahl von Einzelheiten sind. - 43 -
Als erstes ein Ausschnitt aus John McPhees Coming into the Country, seinem Buch über Alaska. Es geht in dem Ausschnitt darum, eine neue Hauptstadt für den Bundesstaat zu finden, und McPhee erklärt mit wenigen Sätzen, warum sich die jetzige Hauptstadt weder als Wohn- noch als Regierungssitz eignet: Heute kann es einem Fußgänger in Juneau, der sich gesenkten Hauptes vorwärts kämpft, passieren, dass er einfach vom Wind zum Anhalten gezwungen wird. An den Straßen sind Geländer angebracht, an denen sich die Senatoren und Volksvertreter zur Arbeit hangeln können. Während der letzten Jahre wurden immer wieder neue Windmesser auf einer Hügelkette über der Stadt aufgestellt. Sie haben Geschwindigkeiten von bis zu 200 Meilen pro Stunde gemessen. Aber sie haben nicht lange gehalten. Der Wind hat sie alle zerstört, nachdem er ihre Messnadel bis ans Ende der Skala getrieben hatte. Das Wetter ist nicht immer so schlimm; aber es hat das Stadtbild geprägt. In Juneau stehen die Gebäude eng aneinander, und die Straßen erinnern an europäische Gassen. Die Stadt klebt hinten, rechts und links an den umliegenden Bergen, und vor ihr liegt das Meer. (...) Der Drang, die Hauptstadt zu verlegen, überkam Harris während dieser zwei Jahre als Senator des Bundesstaats Alaska. Die Sitzungszeit begann im Januar und dauerte mindestens drei Monate, und Harris hatte mit der Zeit immer mehr das Gefühl, vollkommen von der Welt abgeschnitten zu sein - wie ein Gefangener. "Die Leute konnten nicht zu einem kommen. Das war wie in einem Käfig. Jeden Tag unterhielt man sich mit sturen Lobbyisten - immer mit denselben Leuten. Es kam kein frischer Wind in die Angelegenheiten." Das Merkwürdige an der Stadt, das sie mit keiner anderen amerikanischen Stadt teilt, wird sofort deutlich. McPhee hat den Eindruck, den Juneau hinterlässt, eingefangen. Jack Agueros beschreibt das Latinoviertel in New York, in dem er als Junge gelebt hat: In jeder Klasse saßen zehn Kinder, die kein Englisch sprachen. Schwarze, Italiener und Puertoricaner kamen in der Schule gut miteinander aus, aber wir wussten alle, dass wir uns nicht gegenseitig zu Hause besuchen konnten. Manchmal konnten wir uns noch nicht einmal in unserem eigenen Wohnviertel frei bewegen. Auf der 109th Street teilte eine Straßenlaterne das Revier auf: Alles was westlich lag, gehörte den Latin Aces, und östlich der Laterne herrschten die Senecas - der Club, dem auch ich angehörte. (...) Das Viertel war eng begrenzt. Im Osten wohnten die Italiener, im Westen die Schwarzen, und im Süden war Cooney's Hill. Wenn man auf diesen Hügel stieg, dann konnte man sehen, wo Amerika anfing - denn südlich von Cooney's Hill lebten die "Amerikaner". (...) Wenn wir als Puertoricaner zusammen im Jefferson Park schwimmen gingen, wussten wir, dass wir Gefahr liefen, von den Italienern verdroschen zu werden, und wenn wir zur La-Milagrosa-Kirche in Harlem gingen, wussten wir, dass wir Gefahr liefen, von den Schwarzen verdroschen zu werden. Aber wenn wir auf die andere Seite des Hügels gingen, erwarteten uns abschätzige und missbilligende Blicke, und die Polizei fragte uns: "Was habt ihr in dieser Gegend zu suchen?" oder "Warum geht ihr Kinder nicht wieder dorthin, wo ihr hingehört?" Wo wir hingehörten! Mann, ich hatte Aufsätze über Amerika geschrieben. Gehörte ich nicht auch auf die Tennisplätze im Central Park, obwohl ich vielleicht gar nicht Tennis spielen konnte? (...) Arbeiteten diese Polizisten nicht auch für mich? Üben Sie diese Art von Reisebericht, und nur weil ich solche Ortsbeschreibungen alle "Reisebericht" nenne, müssen Sie dazu nicht nach Moskau oder Mombasa fahren. Es reicht, wenn Sie das Einkaufszentrum in Ihrem Wohnort, die Bowlingbahn oder den Kindergarten besuchen. Aber egal, über welchen Ort Sie schreiben, fahren Sie oft genug dorthin, um die Dinge, die ihn zu etwas Besonderem machen, zu erfassen. Dieses Besondere ergibt sich meist aus dem Zusammenspiel des Ortes mit den Menschen dort. Bei der Bowlingbahn besteht das Gemisch aus der Atmosphäre im Gebäude und aus den Stammkunden. Wenn Sie über eine fremde Stadt schreiben, dann mischt sich deren alte Kultur mit der heutigen Bevölkerung. Suchen Sie, wenn Sie einen Ort beschreiben, immer nach dem Besonderen. - 44 -
Über sich selbst schreiben: Memoiren Von allen Themen, über die Sie schreiben können, kennen Sie sich mit einem besonders gut aus. Und das sind Sie selbst - Ihre Vergangenheit, Ihr heutiges Leben, Ihre Gedanken und Ihre Gefühle. Dennoch ist es wahrscheinlich das Thema, das Sie am ehesten zu meiden versuchen. Wenn ich in einen Schreibkurs in einer Schule oder Uni eingeladen werde, frage ich die Schüler und Studenten immer zuerst, wo ihre Schwierigkeiten liegen. Und von Maine bis Kalifornien höre ich immer wieder dieselbe Antwort: "Wir müssen schreiben, was der Dozent verlangt." Das ist ein bedrückender Satz. "Das ist das Letzte, was ein guter Lehrer will", sage ich dann immer. "Kein Lehrer will fünfundzwanzig Aufsätze zum selben Thema von fünfundzwanzig geklonten Schülern lesen. Wir Lehrer suchen alle nach etwas Individuellem, das uns vom Papier entgegenspringt. Wir suchen nach dem, was Sie einzigartig macht, egal, was das ist. Schreiben Sie also über die Dinge, die Sie wissen, und die Sie denken." Das schaffen sie nicht. Sie glauben, es sei ihnen nicht erlaubt. Ich glaube, es ist ihnen erlaubt, weil sie geboren wurden. Mit fortschreitendem Alter wird es nicht besser. Auf Symposien treffe ich manchmal Frauen, deren Kinder erwachsen sind und die nun endlich Zeit zum Schreiben haben. Ich rate ihnen nachdrücklich, das, was sie am meisten berührt, in persönlichen Einzelheiten zu schildern. Sie wehren ab: "Wir müssen das schreiben, was die Verlage verlangen", sagen sie. Das ist dasselbe wie: "Wir müssen schreiben, was der Dozent verlangt." Wieso glauben sie, sie brauchten eine Erlaubnis, um über die Erfahrungen und Gefühle, die sie am besten kennen - nämlich ihre eigenen -, zu schreiben? Springen wir noch eine Generation weiter. Ich habe einen Freund, der auch Journalist ist, und der sein Leben lang solide Arbeit geleistet hat. Allerdings hat er immer nur über Dinge geschrieben, die anderen Menschen widerfahren sind. Im Laufe der Jahre hat er oft von seinem Vater erzählt, einem Pastor, der in einer konservativen Kleinstadt in Kansas viele einsame, liberale Ansichten vertrat, was auch das geschärfte soziale Bewusstsein meines Freundes erklärte. Vor ein paar Jahren fragte ich ihn, wann er denn nun endlich über die wichtigen Dinge in seinem eigenen Leben, wozu ja auch sein Vater gehörte, schreiben wolle. "Eines Tages", meinte er. Aber diesen Tag schob er immer weiter vor sich her. Als er 65 wurde, fing ich an, ihn zu nerven. Ich schickte ihm ein paar Memoiren, die mich berührt hatten, und schließlich willigte er ein, morgens Erinnerungen aufzuschreiben. Inzwischen findet er es unglaublich befreiend. Ihm wird vieles klar, was er an seinem Vater und an sich selbst vorher nie verstanden hat. Wenn er davon spricht, sagt er immer: "Ich habe mich vorher nie getraut." Mit anderen Worten: "Ich dachte, es sei mir nicht erlaubt." Wenn Sie Schreibkurse unterrichten, dann bringen Sie Ihre Schüler dazu, an ihre Existenzberechtigung zu glauben. Wenn Sie schreiben, dann erlauben Sie sich selbst, uns zu erzählen, wer Sie sind. Es ist zulässig. Zu lässig sollte es jedoch nicht sein. Sprachlich muss alles stimmen. Wenn man über sein Leben schreibt, spielt es sicherlich eine Rolle, wie lange man schon gelebt hat. Studenten, die sagen, sie müssten das schreiben, was der Dozent verlangt, meinen damit oft, dass sie selbst nichts zu erzählen haben. In ihrer Freizeit, die sie hauptsächlich in Boutiquen und vor dem Fernseher verbringen, passiert eben wenig. Und dennoch, das Schreiben ist wie eine Wünschelrute. Wenn ich in meine Vergangenheit eintauche, stoße ich oft auf längst vergessene Einzelheiten, die mir gerade zur rechten Zeit einfallen. Sind alle anderen Quellen versiegt - in Ihrem Gedächtnis findet sich meist noch etwas. Über sich selbst zu schreiben, ist jedoch zweischneidig: Ein starkes Ego und Egoismus liegen eng beieinander. Ein starkes Ego ist gesund - ohne Ego kommt ein Schriftsteller nicht weit. Egoismus dagegen ist abstoßend, und dieses Kapitel soll keine Lizenz zum therapeutischen - 45 -
Schwafeln sein. Meine Empfehlung: Achten Sie darauf, dass jeder Teil Ihrer Memoiren nützliche Dienste tut. Schreiben Sie selbstsicher und mit Freude über sich, aber sehen Sie zu, dass alle Details - Menschen, Orte, Ereignisse, Anekdoten, Gedanken und Gefühle - ihre Geschichte stetig vorantreiben. Womit ich bei Memoiren als Genre angelangt wäre. Ich würde die Memoiren von fast jedem lesen. Für mich gibt es keine andere Gattung in der Nonfiction, die so tief geht und bis an die Wurzeln menschlichen Seins heranreicht - an die Dramen und Schmerzen, die Komik und die ungeplanten Ereignisse im Leben. Die Bücher, an die ich mich bis heute am lebhaftesten erinnere, sind fast ausschließlich Memoiren: Andre Acimans Damals in Alexandria, Mary Karrs Der Club der Lügner, Frank McCourts Die Asche meiner Mutter, Vladimir Nabokovs Erinnerung, sprich, Eudora Weltys Eine Stimme finden und Leonard Woolfs Mein Leben mit Virginia. Was Memoiren so eindringlich macht, ist ihr enger Fokus. Im Gegensatz zur Autobiographie, die ein ganzes Leben umspannt, setzen Memoiren das Leben als bekannt voraus und ignorieren das meiste davon. Jemand, der Memoiren schreibt, nimmt uns in einen Winkel seiner Vergangenheit mit, den er sehr intensiv erlebt hat - zum Beispiel in seine Kindheit -, oder der vom Krieg oder einem anderen Ausnahmezustand überschattet war. In Erinnerung, sprich, den elegantesten Memoiren, die ich kenne, beschwört Nabokov eine goldene Kindheit im zaristischen St. Petersburg, einer Welt voller Privatlehrer und Sommervillen, die von der Russischen Revolution unwiederbringlich ausgelöscht wurde. Denken Sie also in engen zeitlichen und örtlichen Grenzen, wenn Sie sich an diesem Genre versuchen möchten. Memoiren sind nicht die Zusammenfassung eines Lebens, sondern ein Fenster, durch das wir einen Ausschnitt aus einem Leben betrachten. Ähnlich wie bei einem Foto handelt es sich um eine Komposition ausgewählter Einzelheiten. Vielleicht sieht es so aus, als schildere der Autor willkürlich vergangene Ereignisse. Aber das stimmt nicht. Memoiren sind ein ausgefeiltes Gebilde. Thoreau hat in acht Jahren sieben Rohfassungen von Walden geschrieben. Wenn Sie gute Memoiren schreiben wollen, müssen Sie viele halberinnerte Ereignisse erzählerisch formen und ordnen. Bei Memoiren besteht die Kunst darin, die Wahrheit neu zu erfinden. Mit das Wichtigste bei dieser Kunst sind die Details Geräusche, Gerüche oder ein Songtitel - solange diese den Lebensabschnitt, über den Sie schreiben, geprägt haben. Und noch wichtiger sind die Menschen. Geräusche, Gerüche, Lieder und friedliche Vorgärten bringen Sie nicht allein zum Ziel. Irgendwann müssen Sie die Männer, Frauen und Kinder, die eine bedeutende Rolle in Ihrem Leben hatten, mit ins Spiel bringen. Warum sind sie Ihnen im Gedächtnis geblieben? Welche Spleens oder verschrobenen Gewohnheiten hatten sie? Die interessanteste Figur aber, so hoffen wir, ist der Mensch, der die Memoiren geschrieben hat. Was hat dieser Mensch aus den Höhen und Tiefen seines Lebens gelernt?
Wissenschaft und Technik Wenn Sie an einem geisteswissenschaftlichen College einen Schreibkurs unterrichten und die Studenten bitten, über ein naturwissenschaftliches Thema zu schreiben, dann geht ein Stöhnen durch den Raum: "Nein! Nichts Wissenschaftliches!" besagt das Stöhnen. Die Studenten haben ein gemeinsames Leid: die Angst vor den Naturwissenschaften. Irgendwann in jungen Jahren hat ihnen ein Physik- oder Chemielehrer gesagt, sie seien eben mehr der sprachbegabte Typ. Wenn Sie erwachsene Chemiker, Physiker oder Ingenieure bitten, einen wissenschaftlichen Bericht zu schreiben, dann schlägt Ihnen dieselbe Panik entgegen: "Nein! Alles, bloß nicht schreiben!" sagen sie. Auch sie haben ein gemeinsames Leid: die Angst vor dem Schreiben. - 46 -
Ihnen hat ein Sprachlehrer gesagt, sie seien eben mehr der mathematische Typ. Beide Ängste sind überflüssig und sollten nicht mit durchs Leben geschleppt werden. Egal, unter welcher Angst Sie leiden, ich möchte in diesem Kapitel versuchen, sie Ihnen zu nehmen. Das Kapitel basiert auf einem einfachen Grundsatz: "Schreiben" ist keine Geheimsprache, die nur Sprachlehrern vorbehalten ist. "Schreiben" heißt "auf dem Papier denken". Jeder, der klar denkt, kann auch klar schreiben, und zwar über jedes Thema. Wenn man die Naturwissenschaft aus ihrer geheimnisvollen Ecke holt, eignet sie sich für den Nonfictionautor ebenso als Thema wie jedes andere. Und wenn man das Schreiben aus seiner geheimnisvollen Ecke holt, dann wird es für den Naturwissenschaftler zu einer weiteren Möglichkeit, sein Wissen zu vermitteln. Meine Angst war die vor den Naturwissenschaften. Ich bin einmal durch einen Chemiekurs gefallen, den eine Frau unterrichtete, die seit drei Schülergenerationen ein Mythos umgab: Angeblich konnte sie jedem Chemie beibringen. Sogar heute bin ich auf dem Gebiet noch nicht viel weiter als James Thurbers Oma, die, wie er schrieb, dachte, Elektrizität "fließe überall im Haus unsichtbar aus den Steckdosen". Aber als Schriftsteller habe ich gelernt, dass wissenschaftliches und technisches Wissen auch dem Laien zugänglich gemacht werden kann, wenn ein Satz auf den anderen folgt. Die Betonung liegt auf "folgt". Auf keinem anderen Gebiet ist es so wichtig, dass die Sätze eine lineare Reihe bilden. Akrobatische Sprünge und Anspielungen haben hier nichts zu suchen. Fakten und Schlussfolgerungen sind gefragt. Die wissenschaftliche Aufgabe, die ich meinen Studenten stelle, ist einfach: Ich bitte sie zu beschreiben, wie etwas funktioniert. Der Stil oder sonstige Zierden sind mir in dem Moment egal. Ich will nur, dass sie mir erzählen, wie zum Beispiel eine Nähmaschine das tut, was sie tut. Oder wie eine Pumpe funktioniert. Oder warum ein Apfel nach unten fällt. Oder wie das Auge dem Gehirn sagt, was es sieht. Jeder Vorgang ist mir recht, und "Wissenschaft" umfasst auch Technik, Medizin und alles, was mit der Natur zu tun hat. Eine Doktrin im Journalismus lautet: Der Leser weiß gar nichts. Das ist nicht besonders schmeichelhaft, aber jemand, der über Technik schreibt, muss diese Doktrin unbedingt beherzigen. Sie dürfen nicht einfach voraussetzen, dass Ihre Leser etwas wissen, von dem Sie annehmen, es sei allgemein bekannt, oder dass sie sich noch an etwas erinnern, was ihnen schon einmal jemand erklärt hat. Selbst nachdem ich es schon hundertmal gesehen habe, bin ich nicht sicher, ob ich es schaffen würde, mir eine von diesen Rettungswesten anzuziehen, die einem im Flugzeug vorgeführt werden. Da geht es irgendwie darum, "einfach" meine Arme durch die Schlaufen zu stecken, "einfach" zwei Schnüre mit einem Ruck nach unten zu reißen (oder war es zur Seite?) und das Ganze "einfach" aufzublasen - aber nicht zu früh. Das einzige, was mir bestimmt mühelos gelingen würde, wäre, die Weste zu früh aufzublasen. Zu beschreiben, wie etwas funktioniert, hat zwei Vorteile. Erstens zwingt es Sie, selbst zu verstehen, wie es funktioniert. Und zweitens zwingt es Sie, den Leser durch dieselben Gedanken und Schlussfolgerungen zu leiten, die Ihnen den Vorgang begreiflich gemacht haben. Viele Studenten, deren Gedanken vorher eher sprunghaft waren, haben auf diese Weise gelernt, folgerichtig zu denken. Einer von ihnen, ein kluger Kopf, der in Yale im zweiten Studienjahr war, und der seine Blätter immer noch mit nichtssagendem Wirrwarr voll kritzelte, kam eines Tages bester Laune in den Kurssaal und bat darum, seine Beschreibung, wie ein Feuerlöscher funktioniert, vorlesen zu dürfen. Ich war sicher, wir konnten uns auf das reine Chaos gefasst machen. Aber sein Text war einfach und logisch. Er beschrieb verständlich, wie drei verschiedene Arten von Feuer mit drei verschiedenen Arten von Feuerlöschern bekämpft werden. Ich freute mich, dass der Student über Nacht gelernt hatte, folgerichtig zu schreiben, und er freute sich darüber ebenso. Am Ende seines dritten Studienjahres hatte er einen Ratgeber geschrieben, der sich besser verkaufte, als jedes meiner eigenen Bücher. Viele andere Studenten haben sich dieser Kur unterzogen und schreiben seither verständliche Texte. Versuchen auch Sie es einmal. Das Prinzip, das dem wissenschaftlichen Text zugrunde - 47 -
liegt, gilt für jede Art von Nonfiction: Einem Leser, der gar nichts weiß, wird Schritt für Schritt ein Thema nahegebracht, von dem er vorher dachte, es sei für ihn uninteressant oder außerhalb seiner geistigen Reichweite. Stellen Sie sich den wissenschaftlichen Text wie eine auf den Kopf gestellte Pyramide vor. Erklären Sie im ersten Satz die eine Sache, die der Leser wissen muss, bevor er die nächste Sache verstehen kann. Jeder Satz erweitert den vorherigen ein Stück mehr, bis Sie sich schließlich über die Fakten hinausbewegen und in den Bereich der Anwendung und der Spekulation gelangen - wie sich eine neue Entdeckung zum Beispiel auf bisherige Grundannahmen auswirkt, in welche Richtung nun weitergeforscht werden könnte, und wie sich die Erkenntnisse anwenden lassen. Nach oben sind der Pyramide keine Grenzen gesetzt, aber Ihre Leser werden Ihre weitreichenden Ideen nur verstehen, wenn sie die Grundlagen verstanden haben. Ein gutes Beispiel ist ein Artikel von Harold M. Schmenck Jr., der auf der Titelseite der New York Times stand. WASHINGTON - Ein Schimpanse in Kalifornien war ein begabter Mühlespieler. Seine Trainer freuten sich sehr über diesen Beweis seiner Lernfähigkeit. Mehr noch beeindruckte sie jedoch etwas anderes: Sie entdeckten, dass sie anhand seiner Gehirnströme voraussagen konnten, ob er als nächstes richtig oder falsch ziehen würde. Es kam darauf an, wie konzentriert der Schimpanse war. Wenn der Schimpanse aufmerksam genug war, dann zog er richtig. Na gut, das ist einigermaßen interessant, aber wieso steht das Ganze auf der Titelseite der New York Times? Im zweiten Absatz erfahre ich: Neu war daran, dass die Wissenschaftler erkennen konnten, wie aufmerksam er war. Durch aufwendige Computeranalysen von Gehirnströmen konnten sie verschiedene "Geisteszustände" unterscheiden. Aber konnten sie das nicht schon vorher? Das war wesentlich weitreichender als das, was bis dahin möglich gewesen war - starke Erregung von Müdigkeit oder Schlaf zu unterscheiden. Es war ein großer Schritt in der Gehirnforschung. Warum war es ein großer Schritt? Der Schimpanse und das Forschungsteam an der Universität Los Angeles haben inzwischen ihr Mühle-Diplom erhalten, aber an den Hirnströmen wird weitergeforscht. Diese Forschung hat bereits überraschende Erkenntnisse über die Hirnaktivitäten während eines Weltraumfluges zutage gefördert. Auch könnten die Erkenntnisse zur Lösung gesellschaftlicher Probleme auf der Erde beitragen und uns das Lernen erleichtern. Prima. Mehr Anwendungsmöglichkeiten kann ich kaum verlangen: Weltraum, Gesellschaft und kognitive Vorgänge. Aber forschen die Kalifornier allein vor sich hin? Moderne Gehirnforschung wird derzeit in Labors überall in den U.S.A. und im Ausland betrieben - mit Menschen, Affen, Ratten, Mäusen, Goldfischen, Bandwürmern und japanischen Wachteln. So langsam erkenne ich den Zusammenhang. Aber wozu das Ganze? Ziel ist es, herauszufinden, wie das menschliche Gehirn funktioniert - dieser drei Pfund schwere Zellklumpen, der sich die entferntesten Winkel des Universums und den innersten Kern eines Atoms vorstellen kann aber für sich selbst unergründlich ist. Jedes Forschungsprojekt befasst sich mit einem Stück dieses riesigen Puzzles. Nun weiß ich, was der Schimpanse in L. A. im internationalen Wissenschaftsspektrum zu suchen hat. Jetzt kann mir der Autor mehr darüber erzählen, wie der Affe zur Forschung beigetragen hat. Im Falle des Schimpansen, der Mühle spielte, sahen die Wellenlinien auf dem Papier selbst für geschulte Augen genauso aus wie alle anderen tierischen Hirnströme. Aber mit Hilfe eines Computers gelang es, zu analysieren, welche Linien ankündigten, dass das Tier gleich einen - 48 -
richtigen Zug machen würde, und welche Linien einem falschen Zug vorausgingen. (...) In vier weiteren Spalten beschreibt der Artikel mögliche Anwendungsgebiete dieser Forschungsergebnisse: weniger häusliche Gewalt, weniger Stress im Berufsverkehr. Schließlich gelangt er zu parallel laufenden Forschungsprojekten auf den Gebieten der Medizin und der Psychologie. Aber am Anfang des Artikels stand ein Schimpanse, der Mühle spielte. Leser finden wissenschaftliche Texte viel weniger befremdlich, wenn Sie sich mit der Materie identifizieren können. Das bedeutet für Sie als Autor, dass Sie auch hier nach dem menschlichen Element suchen müssen - und wenn Sie sich mit einem Schimpansen zufrieden geben müssen, so steht dieser wenigstens auf der vorletzten Stufe von Darwins Leiter. Als menschliches Element kommen auch Sie selbst in Frage. Beschreiben Sie eine eigene Erfahrung, um dem Leser eine Brücke zu einem wissenschaftlichen Gebiet zu bauen, das auch sein Leben streift. So wie es Will Bradbury in seinem Artikel über das Gedächtnis tut: Noch heute sehe ich die dunkle Sandwolke, die gleich meine Augen treffen wird, höre die ruhige Stimme meines Vaters, die mir sagt, ich solle den stechenden Schmerz wegweinen, und spüre Wut und Erniedrigung in meiner Brust. Über dreißig Jahre sind vergangen, seit mir ein Sandkastenfreund bei einem Streit um einen Spielzeugkrankenwagen eine Handvoll Sand ins Gesicht geworfen hat. Trotzdem sind die Bilder vom Sand und vom Krankenwagen, der Klang der Stimme meines Vaters und der Schmerz heute noch deutlich. Es sind meine frühesten Erinnerungen, die ersten kleinen Glasstückchen in dem Mosaik, das Ich heißt. Eingefügt hat sie mein Gedächtnis. (...) Es ist nicht einfach zu sagen, worin das "Gedächtnis" besteht, und welche Dinge eins haben. Leinöl hat zum Beispiel eine Art von Gedächtnis. Wird es einmal, wenn auch nur ganz kurz, dem Licht ausgesetzt, verändert es seine Konsistenz und Fließgeschwindigkeit, wenn es dem Licht erneut ausgesetzt wird. Es "erinnert" sich an seine erste Begegnung mit dem Licht. Das ist eine gute Einleitung. Wer hat keine lebhaften Bilder aus frühester Kindheit im Kopf, an die er sich auch heute noch erinnern kann? Der Leser will erfahren, wie das Gehirn diese Meisterleistung vollbringt. Das Beispiel vom Leinöl führt zu der Frage, was Gedächtnis eigentlich ist. Eine wissenschaftliche Geschichte kann sich auch um einen anderen Menschen ranken, so wie Berton Roueches Stories aus den Annalen der Medizin, die er viele Jahre lang für den New Yorker schrieb. Es sind Kriminalgeschichten, in denen es fast immer ein Opfer gibt - einen ganz normalen Menschen, der plötzlich von einer geheimnisvollen Krankheit heimgesucht wird - und einen Kriminologen, der es sich in den Kopf gesetzt hat, den Bösewicht zu schnappen. Eine dieser Geschichten beginnt so: Am Morgen des 25. September 1944, gegen 8.00 Uhr, brach ein verwahrloster 82-jähriger Mann auf dem Bürgersteig an der Dey Street, nahe des Hudson Terminal zusammen. Unzählige Menschen müssen ihn gesehen haben, aber er lag dort mehrere Minuten allein, benommen, gekrümmt vor Unterbauchkrämpfen, würgend und verzweifelt nach Luft ringend. Endlich kam ein Polizist herbei. Bevor er sich zu dem alten Mann hinunterbeugte, vermutete er vielleicht, es sei nur ein Betrunkener, dem es schlecht geworden war; in der Gegend lagen frühmorgens viele Stadtstreicher herum, die der Alkohol in die Knie gezwungen hatte. Aber diese Vermutung kann der Polizist nicht lange gehabt haben. Die Nase, die Lippen, die Ohren und die Fingerspitzen des alten Mannes waren so blau wie der Himmel. Bis zum Mittag werden elf blaue Männer in die umliegenden Krankenhäuser eingeliefert. Aber keine Angst: Dr. Ottavio Pellitteri, Stabsarzt und Seuchenschutzbeauftragter, steht Gewehr bei Fuß und ruft Dr. Morris Greenberg vom Gesundheitsamt an. Die beiden Männer fügen langsam aber sicher alle möglichen Indizien zusammen, die zunächst unerklärlich scheinen, aber schließlich gelingt es ihnen doch, den Bösewicht festzunageln: eine Vergiftung, die so selten ist, dass sie in vielen toxikologischen Lehrbüchern gar nicht erwähnt wird. Roueches Geheimnis ist so alt wie das Geschichtenerzählen selbst. Er schickt uns auf die Jagd - 49 -
nach der Lösung eines Rätsels. Er beginnt seine Story nicht damit, dass er die Geschichte der Medizin aufrollt oder aus dem Inhalt toxikologischer Standardwerke zitiert. Statt dessen legt er uns einen Mann vor die Füße -und nicht nur irgendeinen Mann, sondern einen blauen. Ich schließe mit einem Beispiel, das alles, was ich in diesem Kapitel gesagt habe, zusammenfasst. 1993 las ich eines Morgens in der Tageszeitung, dass in dem Jahr bei der Verleihung der "National Magazine Awards" der erste Preis in der Kategorie "Reportage" an das I.E.E.E. Spectrum gegangen war. Es hatte Größen wie den Atlantic Monthly, Newsweek, den New Yorker und Vanity Fair ausgestochen, und ich hatte noch nie von dem Magazin gehört. Wie sich herausstellte, war es die Fachzeitschrift des Instituts für Elektro- und Elektronikingenieure, einer Vereinigung mit 320 000 Mitgliedern. Wie der Redakteur, Donald Christiansen, sagte, war die Zeitschrift einst randvoll mit Zeichen und Akronymen, und die Artikel waren oft selbst für andere Ingenieure unergründlich. "Innerhalb des I.E.E.E. gibt es 37 unterschiedliche Sparten", sagte er. "Wenn jemand etwas nicht mit Worten erklären kann, dann können sich unsere eigenen Leute gegenseitig nicht mehr verstehen." Indem er dafür sorgte, dass 320 000 Ingenieure den Inhalt der Zeitschrift verstehen konnten, sorgte er auch dafür, dass der Durchschnittsleser den Inhalt verstehen konnte. Das stellte ich fest, als ich den preisgekrönten Artikel von Glenn Zorpette, Wie der Irak die Atombombe zurückentwickelt hat, fand. Der Artikel ist wie eine Kriminalgeschichte aufgebaut und schildert die Bemühungen der Internationalen Atomenergie-Organisation (I.A.E.A.), ein irakisches Geheimprojekt zu überwachen, in dessen Rahmen es diesem Land beinahe gelungen wäre, eine Atombombe zu bauen. Der Artikel ist sowohl ein Stück Wissenschaftsgeschichte als auch ein politisches Dokument, da der Irak mit seinem Forschungsprojekt gegen die Offenlegungsbestimmungen der I.A.E.A. verstoßen hat - und dies wahrscheinlich nach wie vor tut. Das benötigte Material hat der Irak über dunkle Wege von verschiedenen Industrienationen - auch von den U.S.A. bezogen. In dem Spectrum-Artikel geht es hauptsächlich um eine Technik, die sich E.M.I.S. (Elektromagnetische Isotopenseparation) nennt, und die in einem Forschungszentrum südlich von Bagdad namens Al Tuwaitha angewandt wurde: Das EMIS-Programm überraschte nicht nur die IAEA, sondern auch die westlichen Geheimdienste. Bei dieser Technik wird ein Strahl von Uran-Ionen in einer Vakuumkammer mit Hilfe von Elektromagneten gekrümmt. Diese Kammer nennt sich Calutron. Die schwereren U238-Ionen werden weniger stark von ihrer Bahn abgelenkt als die U235-Ionen, und diese minimale Differenz wird dazu genutzt, das spaltbare U235 zu gewinnen. "Was in der Theorie eine sehr effiziente Methode ist, ist in der Praxis eine riesengroße Schweinerei", sagte Leslie Thorne, der kürzlich in Rente gegangene Außenbeauftragte der IAEA. Es verbleibt immer ein Rest von U238-Ionen im U235, und ein Ionenstrahl macht nicht immer das, was man will. Na gut, das habe ich verstanden. Aber wieso ist das Ganze eine Schweinerei? Wieso ist ein Ionenstrahl schwer zu kontrollieren? - Der Autor hält sich an die Regeln. Er vergisst nie, wo er seine Leser im letzten Absatz gelassen hat, und was sie als nächstes wissen wollen. Die beiden verschiedenen Isotope werden in gewölbten Graphitbehältern aufgefangen. Aber dort landen sie nicht immer, weil schon leichte Spannungs- und Temperaturschwankungen der Elektromagneten dafür sorgen, dass die Ionen von ihrer vorgesehenen Bahn abweichen. Daher sieht es in der Praxis häufig so aus, dass die Ionen sich überall an der Innenwand der Vakuumkammer verteilen, die dann regelmäßig alle paar Dutzend Stunden gereinigt werden muss. Das ist das, was die meisten Menschen unter einer riesengroßen Schweinerei verstehen. Aber hat dieses Verfahren überhaupt schon mal irgendwo funktioniert? Für das Verfahren sind Hunderte von Magneten und Abermillionen Watt erforderlich. Während des Manhattan Projekts zum Beispiel verbrauchte das Isotron in Oak Ridge, Tennessee, mehr Strom als ganz Kanada. (...) Wegen dieser Probleme gingen die - 50 -
Wissenschaftler in den U.S.A. davon aus, dass kein Land auf der Welt je das EMIS-Verfahren anwenden würde, um angereichertes Uran in solch großen Mengen herzustellen, wie sie für den Bau von Nuklearwaffen nötig sind. (...) Ich lasse es dabei. Wenn es möglich ist, ein solch komplexes wissenschaftliches Thema verständlich und mit nur wenigen technischen Fachwörtern, die schnell erklärt oder nachgeschlagen sind, darzulegen, dann können Sie, liebe Schriftsteller und Wissenschaftler, jedes Thema verständlich darlegen.
Schreiben im Beruf Dieses Kapitel ist für all jene Menschen gedacht, die an ihrem Arbeitsplatz schreiben müssen, denn dieses Buch richtet sich nicht nur an Schriftsteller. Die Prinzipien des guten Schreibens gelten für alle Texte - auch für Kurzmitteilungen, Geschäftsbriefe, Verwaltungsberichte, Finanzanalysen, Vorschläge zur Absatzsteigerung, Faxe und E-Mails. All die Blätter, die täglich in Ihrem Büro herumschwirren, sind mit Text beschrieben. Beruflicher Erfolg oder Misserfolg ist eng verbunden mit der Fähigkeit oder Unfähigkeit, Fakten klar darzulegen, die Ergebnisse einer Sitzung zusammenzufassen oder eine Idee zusammenhängend zu präsentieren. Die meisten Menschen arbeiten für größere Unternehmen oder Institutionen: Banken, Versicherungen, Anwaltssozietäten, die öffentliche Verwaltung, Schulen oder gemeinnützige Einrichtungen. Viele schreiben Texte, die für die Öffentlichkeit bestimmt sind: Der Vorstand informiert seine Aktionäre, der Banker erklärt einen neuen Service, der Schuldirektor schreibt einen Brief an die Eltern. Egal, was ihr Job ist, wenn diese Menschen etwas schreiben sollen, scheinen sie sich dermaßen zu verkrampfen, dass ihren Sätzen jede menschliche Wärme fehlt - wie auch ihren Institutionen. Kaum zu glauben, dass es diese Orte wirklich gibt, und dass jeden Morgen Frauen und Männer aus Fleisch und Blut dort hinfahren, um zu arbeiten. Aber nur weil sie für eine Institution arbeiten, müssen diese Menschen nicht so schreiben. Institutionen lassen sich durchaus aufwärmen: Aus Verwaltungsangestellten können Menschen werden. Informationen können deutlich und unkompliziert vermittelt werden. Bedenken Sie, dass sich Leser mit Menschen identifizieren und nicht mit Abstraktionen wie "Wirtschaftlichkeit", lateinischen Lehnwörtern wie "Implementierung" oder nichtssagenden Wörterketten, bei denen sich keiner bildlich vorstellen kann, wie jemand etwas tut: "Die Vorbereitungen zu den Usability-Studien befinden sich in der Formulierungsphase." Niemand hat diesen Missstand besser deutlich gemacht als George Orwell mit seiner Übersetzung eines Satzes aus Ecclesiastes in die moderne Sprache der Bürokratie: Ferner sah ich unter der Sonne, dass weder die Schnellen den Lauf gewinnen, noch die Starken die Schlacht, noch die Weisen das Brot, noch die Klugen den Reichtum, noch die Fähigen die Gunst, sondern dass Zeit und Geschick sie alle trifft. Orwells bürokratische Version: Die objektive Betrachtung zeitgenössischer Phänomene verleitet zu der Annahme, dass Erfolg oder Misserfolg bei wettbewerbsorientierten Aktivitäten in keinerlei Zusammenhang mit den Fähigkeiten des Einzelnen steht, sondern dass das Unvorhersehbare als elementarer Faktor in Betracht gezogen werden muss. Die beiden Passagen sehen schon unterschiedlich aus. Die obere lädt uns zum Lesen ein. In der unteren klebt ein langes Wort am anderen. Aus dem ersten Absatz sind die lebendigen Bilder des täglichen Lebens verschwunden - der Lauf und die Schlacht, das Brot und der Reichtum. An ihre Stelle sind lange und abstrakte Nomen getreten. Der Mensch, der erkannt hat, wie sprunghaft das Schicksal ist, ist verschwunden. Wir erkennen gleich, dass da ein umständlicher Geist am Werk war. Einem Geist, der sich mit solch erstickenden Worten - 51 -
ausdrückt, möchten wir nicht folgen. Wir fangen gar nicht erst an, so etwas zu lesen. Ich werde Ihnen nun an einigen Beispielen zeigen, wie diese Epidemie die Texte der meisten berufstätigen Menschen infiziert. Ich fange mit Schulrektoren an, nicht etwa, weil sie am schlechtesten schreiben (das tun sie nicht), sondern weil ich zufällig ein Beispiel dazu hier liegen habe. Meine Anmerkungen gelten aber allen Angestellten, die in Organisationen arbeiten, in denen die Sprache ihren Bezug zum Menschen verloren hat, und in denen niemand mehr weiß, wovon die leitenden Angestellten überhaupt sprechen. Eines Tages erhielt ich einen Anruf von Ernest B. Fleishman, dem Leiter des Schulamtes in Greenwich: "Wir würden gerne zum 'Entfloskeln' vorbeikommen", sagte er. "Wir glauben, um unseren Schülern beibringen zu können, wie man schreibt, sollten wir, als Spitze unseres Schulsystems, zuerst unsere eigenen Texte entrümpeln." Er wollte mir ein paar typische Beispiele schicken, die dieses System hervorgebracht hatte, und ich sollte diese Beispieltexte zunächst analysieren und dann ein Schreibseminar abhalten. Mir gefiel es, dass Dr. Fleishman und seine Kollegen bereit waren, sich selbst in Frage zu stellen - das erfordert eine gewisse Stärke. Wir vereinbarten einen Termin, und kurz nach unserem Telefonat bekam ich einen dicken Briefumschlag. Er enthielt verschiedene interne Kurzmitteilungen und kopierte Rundschreiben, die von den sechzehn Grund- und weiterführenden Schulen der Stadt an die Eltern geschickt worden waren. Die Rundschreiben waren freundlich und informell gestaltet Offensichtlich war es der Institution wichtig, einen herzlichen Umgang mit den Familien zu pflegen. Aber schon auf den ersten Blick stolperte ich über ein paar schöne Floskeln ("Oberste Priorität sind neue Evaluierungsprozeduren"), und ein Rektor versprach, dass seine Schule "ein verbessertes, positives Lernumfeld" anbieten würde. Es war offensichtlich, dass der Umgangston nicht so herzlich war, wie die Institution hoffte. Ich ging die Texte der Rektoren durch und teilte sie in gute und schlechte Beispiele auf. Am vereinbarten Morgen stand ich in Greenwich vor einer versammelten Mannschaft aus vierzig lernwilligen Rektoren und Lehrplankoordinatoren. Ich sagte ihnen, dass sie ein Lob verdient hätten, weil sie sich freiwillig einer Prozedur unterwarfen, die doch sehr an ihrer Identität kratzte. Mitten in der landesweiten Diskussion zur Frage, warum unsere Kinder immer schlechter schreiben, war Dr. Fleishman der erste mir bekannte Erwachsene, der zugab, dass verbaler Murks keine Domäne der Jugend war. Ich bat die Rektoren, sich die Eltern und die Männer und trauen, die unsere Kinder unterrichten, als Menschen wie sie selbst vorzustellen. Abgehobene Begriffe, die von Soziologen geprägt werden, um sich wichtig zu tun, wecken unser Misstrauen. Ich beschwor die Rektoren, ganz natürlich zu sein. Wir definieren uns über das, was wir schreiben und sagen. Ich bat sie, sich anzuhören, worüber sie sich definierten. Ich hatte ein paar von den schlechten Beispielen kopiert und die Namen der Rektoren und Schulen geändert. Ich sagte, ich würde nun einige dieser Beispiele vorlesen. Danach sollten sie die Texte so umformulieren, dass sie für jedermann verständlich waren. Ich las vor: Liebe Eltern, wir haben ein gesondertes Telefonkommunikationssystem eingerichtet, um zusätzliche Kapazitäten zur Entgegennahme Ihrer Anrufe zu schaffen. In diesem Jahr werden wir der Verfolgung des Ziels einer effektiveren Kommunikation eine noch höhere Priorität einräumen und werden uns diverser Medien bedienen, um dieses Ziel zu erreichen. Ihre Vorschläge aus Elternsicht sollen uns dabei unterstützen, ein Bildungskonzept zu planen und zu implementieren, welches den Bedürfnissen Ihres Kindes gerecht wird. Ein offener Dialog, Ihr Feedback und der Informationsaustausch zwischen Eltern und Lehrern wird uns in die Lage versetzen, den Lernerfolg Ihres Kindes zu optimieren. Dr. George B. Jones Oberstudiendirektor Das ist die Sorte "Kommunikation", die ich nicht erhalten möchte, egal wie gefragt meine - 52 -
"Vorschläge aus Elternsicht" sind. Ich möchte erzählt bekommen, dass die Schule es mir demnächst leichter machen wird, die Lehrer anzurufen, und dass der Rektor hofft, dass ich möglichst oft anrufe, um zu sehen, wie meine Kinder sich machen. Statt dessen bekommen die Eltern Unfug zu lesen: "gesondertes Telefonkommunikationssystem", "effektivere Kommunikation", "ein Bildungskonzept zu planen und zu implementieren". Was den "offenen Dialog", das "Feedback" und den "Informationsaustausch" angeht, so sind das drei Bezeichnungen für dieselbe Sache. Dr. Jones ist ganz klar ein Mann, der es gut meint, und was er da vorhat, ist etwas, das wir uns alle wünschen. Wir alle wollen einfach nur zum Hörer greifen, um dem Rektor zu sagen, was für ein prima Kerl unser Johnny doch ist, trotz dieses bedauerlichen Vorfalls letzten Dienstag auf dem Schulhof. Aber Dr. Jones hört sich nicht wie die Sorte Mensch an, die ich gerne anrufen würde. Eigentlich hört er sich überhaupt nicht wie ein Mensch an. Ein weiteres Beispiel begann ebenfalls mit einem unpersönlichen ersten Absatz; der zweite klang jedoch viel besser: Bleiben Sie auf dem laufenden. Wenn Sie Fragen haben, oder wenn Ihr Kind besondere Bedürfnisse hat, dann rufen Sie uns an. Viele von Ihnen habe ich in den ersten Wochen bereits kennengelernt. Bitte besuchen Sie uns weiterhin, einfach um sich vorzustellen oder über die Schule zu plaudern. Ich freue mich auf ein gemeinsames produktives Jahr. Dr. Ray B. Davison Oberstudiendirektor Dieser Absatz klingt herzlich. Ich stellte fest, dass die Rektoren sich immer dann wie echte Menschen ausdrückten, wenn es um Dinge ging, die jeden Einzelnen der Schulgemeinschaft betrafen: Vor der Schule staut sich mal wieder der Verkehr. Wenn es irgendwie geht, dann holen Sie Ihre Kinder mittags bitte am Hinterausgang unserer Schule ab. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mit Ihren Kindern über deren Verhalten in der Cafeteria sprechen könnten. Viele von Ihnen wären bestürzt, wenn sie die Tischmanieren ihrer Kinder dort sehen würden. Fragen Sie auch gelegentlich nach, ob Ihre Kinder Essensgeld schulden. Manchmal nehmen es die lieben Kleinen damit nicht so genau. Aber wenn die Bildungsbeauftragten darüber schrieben, wie sie Wissen vermitteln wollten, verschwand diese Menschlichkeit spurlos: In diesem Schreiben werden Ihnen die vorrangigen Lernziele sowie die einzelnen Zwischenetappen mitgeteilt. Evaluierungsstandards für diese Lernetappen wurden auf Basis angemessener Kriterien festgelegt. Vor der Implementierung des o.g. Verfahrens wurden die Schüler nur sehr selten mit Multiple-Choice-Fragen konfrontiert. Die Einführung solcher Übungsfragen zu den einzelnen Lernabschnitten hat sich jedoch extrem positiv ausgewirkt, wie der Notendurchschnitt bei den Klassenarbeiten zeigt. Nachdem ich einige gute und schlechte Beispiele vorgelesen hatte, begannen die Rektoren, den Unterschied zwischen ihrem menschlichen Selbst und ihrem Bildungsbeauftragten-Selbst herauszuhören. Nun ging es darum, diese Lücke zu schließen. Ich betete meine vier Gebote herunter: Klarheit, Schlichtheit, Kürze und Menschlichkeit. Ich erklärte, warum aktive Verben besser waren als abstrakte Nomen. Ich bat sie, auf Fachjargon zu verzichten; schließlich lässt sich fast alles mit allgemein verständlichen Worten ausdrücken. Das waren zwar selbstverständliche Dinge, aber die Rektoren schrieben eifrig mit, als hätten sie noch nie davon gehört - vielleicht hatten sie das auch nicht, zumindest nicht in letzter Zeit Vielleicht ist das auch der Grund, warum die bürokratische Sprache so geschwollen ist. Wenn ein Beamter eine bestimmte Stufe erreicht hat, sagt ihm niemand mehr, wie viel schöner ein einfacher Aussagesatz klingt, oder wie aufgebläht sein Stil durch die ganzen pompösen Floskeln wirkt. Ich verteilte meine Beispiele und bat die Rektoren, die verknoteten Sätze neu zu formulieren. Es war ein finsterer Moment. Sie standen dem Feind erstmals gegenüber. Sie kritzelten etwas - 53 -
auf ihre Blöcke und strichen das, was sie hingekritzelt hatten, wieder durch. Einige schrieben gar nichts. Andere zerknüllten ihre Blätter. Sie fingen an, wie Schriftsteller auszusehen. Die Stille, die über dem Raum hing, wurde nur durch das Rascheln und Zerreißen von Blättern durchschnitten. Sie fingen an, sich wie Schriftsteller anzuhören. Im Laufe des Tages entspannten sie sich langsam. Sie begannen, in der ersten Person zu schreiben und aktive Verben zu verwenden. Anfangs wollten sie von langen Wörtern und vagen Nomen noch nicht ablassen (Kommunikationsdies und Kommunikationsdas). Aber Schritt für Schritt wurden ihre Sätze menschlicher. Als ich sie bat, sich "Evaluierungsstandards für diese Lernetappen wurden auf Basis angemessener Kriterien restgelegt" vorzuknöpfen, schrieb einer: "Am Jahresende werden wir unsere Fortschritte auswerten." Ein anderer schrieb: "Wir werden sehen, ob wir damit erfolgreich waren." So möchten Eltern angesprochen werden. So möchten auch Aktionäre von ihren Unternehmen, Kunden von ihrer Bank und Witwen von der Rentenanstalt angesprochen werden. Neulich erhielt ich einen Lieber-Kunde-Brief von der Firma, die für die Bedürfnisse meines Computers zuständig ist. Der Brief begann so: "Ab dem 30. März werden wir unser Endverbrauchererfassungssystem in eine neue Telemarketingzentrale verlagern." Schließlich fand ich heraus, dass die Firma eine neue 0180er Nummer hatte, und dass der Endverbraucher ich war. Jede Organisation, die sich nicht die Mühe macht, verständlich und persönlich in ihren Mitteilungen zu sein, wird Freunde, Kunden und Geld verlieren. Oder anders ausgedrückt: Sie wird sich mit einer negativen Umsatzentwicklung konfrontiert sehen. Der Kunde hat keine Lust, etwas erst übersetzen zu müssen, bevor er es versteht. Er schaut sich nach einer anderen Firma um. Er denkt: "Wenn diese Leute so schlau sind, wieso können sie mir dann nicht einfach sagen, was sie machen? Vielleicht sind sie ja doch nicht so schlau." Dennoch wird sich die verständliche, unpompöse Sprache in unserer Welt, die voller großer Unternehmen ist, nicht leicht durchsetzen. Die meisten Führungskräfte glauben, ein schlichter Stil verrate einen schlichten Geist. Aber in Wirklichkeit ist ein schlichter Stil das Ergebnis schwerer Denkarbeit. Ein unklarer Stil verrät einen Menschen mit unklaren Gedanken oder einen, der zu arrogant, zu dumm oder zu faul ist, seine Gedanken zu ordnen. Bedenken Sie, dass das, was Sie schreiben, oft Ihre einzige Möglichkeit ist, sich jemandem zu präsentieren, dessen Dienste, Geld oder Waren Sie brauchen. Wenn Sie schwülstig, bombastisch oder wirr schreiben, dann werden Sie entsprechend beurteilt - dem Leser bleibt gar nichts anderes übrig. Schreiben Sie vor allem selbst, statt andere das schreiben zu lassen, was über Ihrer Unterschrift steht. Und seien Sie immer Sie selbst, wenn Sie schreiben, auch wenn Sie für eine große Organisation arbeiten. Dann wird Ihr gutes Beispiel vielleicht auch andere mitziehen.
Über die Künste schreiben: Kritiken und Kolumnen Die Künste umgeben uns überall und bereichern unseren Alltag - ob wir selbst Schauspieler, Tänzer, Maler, Dichter oder Musiker sind, oder ob wir Kunst in Konzerthallen, Theatern, Museen oder Galerien genießen. Auch wollen wir über die Künste lesen, um zu wissen, was sich kulturell um uns herum tut. Einiges von dem, was über die Künste geschrieben wird, ist journalistischer Natur: das Interview mit dem Dirigenten des Sinfonieorchesters oder der Rundgang durchs neue Museum mit dem Architekten oder dem Kurator. Die Prinzipien, die ich in diesem Buch beschrieben habe, gelten also auch hier. Ob Sie nun schildern, wie ein Museum entworfen, finanziert und gebaut wurde, oder wie der Irak es beinahe geschafft hätte, eine Atombombe zu bauen, ist vom handwerklichen Prinzip her dasselbe. - 54 -
Aber um über die Künste aus einer Kenntnis heraus zu schreiben, ein neues Werk oder eine neue Aufführung bewerten zu können, und um zu erkennen, was gut und was schlecht ist, braucht ein Autor besondere Fertigkeiten und ein bestimmtes Maß an Wissen. Er muss zur Kritik fähig sein. Fast jeder Journalist hat früher oder später den Wunsch, Kritiken zu schreiben. Kleinstadtreporter träumen von dem Augenblick, in dem ihr Redakteur sie in sein Büro bestellt, um sie zu bitten, einen Artikel über den Pianisten, das Ballett oder das Schauspielensemble zu schreiben, das gerade im örtlichen Theater gastiert. Wenn es soweit ist, kramen sie ihren im Studium sauer verdienten Wortschatz hervor - "intuitiv", "Sensibilität" und "kafkaesk" - und zeigen der ganzen Nation, dass sie ein Glissando von einem Entrechat unterscheiden können. Sie entdecken bei Ibsen Symbole, auf die selbst Ibsen nicht gekommen wäre. Das gehört dazu. Wenn Journalisten als Kritiker unterwegs sind, versteigen sie sich in ungeahnte Höhen. Manche werden hier zu anerkannten Komikern, indem sie geistreiche Sprüche klopfen ("Sie rannte auf der Tonleiter der Emotionen von A nach B"). Der Versuchung, sich auf Kosten eines untalentierten, allzu exaltierten Schauspielers einen Namen zu machen, widerstehen nur die allerheiligsten Kritiker. Besonders gefällt mir George S. Kaufmans Hinweis darauf, dass Raymond Massey im Stück Abe Lincoln in Illinois die Hauptrolle völlig übertrieben gespielt hat: "Massey wird erst dann zufrieden sein, wenn ihn endlich jemand erschossen hat." Wirklich witzige Sprüche sind jedoch rar; die meisten Schüsse gehen nach hinten los. Es ist viel einfacher, Caesar zu begraben als ihn zu loben - und das gilt auch für Cleopatra. Zu begründen, warum Sie ein Theaterstück gut finden, ohne dass es banal klingt, gehört zu den schwersten Aufgaben im Kritikergewerbe. Sitzen Sie also nicht der Illusion auf, die Kritik sei ein leichter Weg zum Ruhm. Auch hat ein Kritiker nicht so viel Einfluss, wie weithin angenommen wird. Musikkritiker haben so gut wie keine Macht - sie schreiben über eine Folge von Tönen, die sich längst in Luft aufgelöst hat und nie wieder ganz genauso zu hören sein wird. Und auch Literaturkritiker haben es bislang nicht geschafft, die Bestsellerlisten von Pilzkulturen wie Danielle Steels Werken zu befreien, auch wenn sie immer wieder betonen, wie wenig sie Frau Steels Sensibilität intuitiv erfassen können. Als Kritiker sind Sie besser beraten, wenn Sie über ein Gebiet schreiben, das Sie mögen oder besser noch, das Sie lieben. Wenn Sie nichts für Filme übrig haben, dann schreiben Sie keine Filmkritiken. Der Leser verdient einen Kinofan, der sich mit diesem Thema auskennt, und der seine Leidenschaft und seine Vorlieben mit einbringt. Der Kritiker muss nicht jeden Film mögen - eine Kritik ist die Meinung eines Menschen. Aber er sollte jeden Film wohlwollend betrachten. Wenn er dennoch öfter enttäuscht als begeistert ist, dann liegt das daran, dass die Filme nicht so gut waren, wie sie hätten sein können. Ein Kritiker, der hingegen aus Freude am Verreißen schreibt, langweilt den Leser schneller, als er "kafkaesk" sagen kann. Humor ist ein Mittel, das eine Kritik weniger harsch und zusätzlich unterhaltsam macht. Die Bücher von James A. Michener haben den Kritikern lange getrotzt: Weil sie so ernsthaft sind, hat sich niemand getraut, irgendwas Schlechtes über sie zu sagen. Als John Leonard jedoch Verheißene Erde rezensierte, schlich er sich über den Umweg des Humors von hinten an Michener heran: Was man James A. Michener zugute halten muss, ist, dass er einen in die Knie zwingt. (...) Der Geist zwischen den Ohren wird zum südafrikanischen Veld, das gerade wieder einmal in Schutt und Asche liegt, weil Mzilikazi gewütet oder die Briten im Burenkrieg alles abgefackelt haben. Da singt kein Vogel mehr, und die Antilopen verdursten. Und dennoch: Herr Michener ist so bodenständig wie ein Paar Schuhe. Wie schon in Hawaii, Colorado und Die Bucht blickt er in Verheißene Erde weit zurück. Er fängt vor 15 000 Jahren an und sorgt dafür, dass wir am Ende über Südafrika Bescheid wissen, ob wir wollen oder nicht. Wie die Niederländer, deren Sicht er an vielen Stellen aus unumstößlicher Fairness - 55 -
schildert, ist er stur. Er erträgt sein eigenes schlechtes Wetter und treibt seine Viehherde aus Fakten an den Rand der Erschöpfung. Nach etwa dreihundert Seiten ergibt sich der Leser - dieser Leser hier zumindest - mit einem Seufzer. Sicher, wenn ein Buch uns schon eine ganze Woche lang begleitet, dann sollte es zumindest von Proust oder Dostojewski) geschrieben, und nicht von Herrn Michener aus Karteikarten zusammengeheftet sein. Aber es gibt kein Zurück mehr. Denn wir haben es hier nicht mit Belletristik zu tun, sondern mit Büffelei. Auf unserer Schulter hockt ein Pädagoge, der uns weiterpeitscht. Vielleicht täte uns ein wenig Bildung ja mal gut. Darüber, dass wir bei Herrn Michener zuwenig lernen, können wir uns nicht beschweren, denn er hat sich dem Lexikon verpflichtet. Wenn ein San vor 15 000 Jahren im afrikanischen Busch einen Giftpfeil warf, dann erfahren wir genau, wie dieser Pfeil aussah und wo das Gift herkam. Die Kritik hat viele Verwandte im Journalismus: die Kolumne das Essay, die Rezension und die erweiterte Rezension, in der sich ein Kritiker über ein kulturelles Werk hinausbewegt und es in einem größeren Zusammenhang betrachtet. (Gore Vidal hat diese Form mit viel Frechheit und Humor bereichert.) Was für die Kritik gilt, gilt auch für diese anderen Formen. So muss jemand, der politische Kolumnen schreibt, eine Leidenschaft für die Politik und ihre verworrenen historischen Fäden haben. Bei allen Formen der Kritik handelt es sich um eine persönliche Meinung. Selbst die Kritik, in der von "wir" die Rede ist, wurde offensichtlich von einem "Ich" geschrieben. Wenn Sie eine Kritik schreiben, dann ist es wichtig, dass Sie eine eindeutige Meinung vertreten. Mildern Sie Ihre Meinung nicht in letzter Sekunde ab. Der langweiligste Satz in der Tageszeitung ist der letzte Satz einer Kolumne, die so endet: "Es ist noch zu früh, um zu sagen, ob die neue Politik greifen wird." Oder: "Ob die Entscheidung etwas bringt, wird sich zeigen." Wenn es zu früh ist, um etwas zu sagen, dann lassen Sie uns damit in Ruhe, und zeigen wird sich sowieso alles. Beziehen Sie eine klare Stellung. Als ich vor vielen Jahren für die New York Herald Tribune schrieb, arbeitete dort ein großer, cholerischer Texaner, L. L. Engelking, als Redakteur. Ich achtete ihn, weil er kein Blatt vor den Mund nahm und es nicht leiden konnte, wenn jemand nicht gleich zur Sache kam. Jeden Morgen setzten wir uns alle zusammen, um zu besprechen, über was wir schreiben würden, und welchen Standpunkt wir dabei vertreten würden. Es kam häufig vor, dass wir uns nicht so genau festlegen konnten. Das galt besonders für einen Autor, der Experte für Lateinamerika war. "Was ist mit diesem Coup in Uruguay?" fragte der Redakteur. "Die Wirtschaft könnte davon profitieren", antwortete der Autor, "aber andererseits könnte die ganze politische Lage dadurch instabil werden. Ich könnte die möglichen Vorteile aufzeigen und dann -" "Nicht an beiden Beinen runterpinkeln!" fuhr der Redakteur dazwischen. Diese Ermahnung hat er oft ausgesprochen, und es war der uneleganteste Ratschlag, den mir je jemand erteilt hat. Aber von allen Ratschlägen, die ich in meiner langen Zeit als Rezensent und Kolumnist bekommen habe, war dieser wahrscheinlich der beste.
Humor Humor ist die geheime Waffe des Nonfictionautors. Sie ist geheim, weil es so wenigen Schriftstellern in den Kopf geht, dass etwas Ernstes oftmals am besten - oder nur - mit Humor an den Mann gebracht werden kann. Wenn Ihnen das paradox vorkommt, dann sind Sie damit nicht allein. Humoristen leben mit dem Wissen, dass ihre eigentliche Absicht vielen Lesern entgeht. Ich erinnere mich an den Anruf eines Reporters, der mich fragte, wie ich darauf gekommen sei, eine bestimmte Parodie - 56 -
für Life zu schreiben. Am Ende sagte er: "Soll ich Sie in die Kategorie 'Humorist' einordnen, oder haben Sie auch schon ernste Sachen geschrieben?" Die Antwort lautet: Wenn Sie versuchen, etwas Humoristisches zu schreiben, dann ist fast alles, was Sie tun, ernst. In Amerika versteht das kaum jemand. Wir behandeln unsere Humoristen wie nettes Beiwerk, weil sie sich nie dazu durchringen konnten, "richtige" Arbeit zu leisten. Der Pulitzerpreis geht an Autoren wie Ernest Hemingway und William Faulkner, die (weiß Gott) ernsthaft sind und sich daher als Literaten profiliert haben. Der Preis geht selten an Leute wie George Ade, Henry Louis Mencken, Ring Lardner, S. J. Perelman, Art Buchwald, Tules Feiffer, Woody Allen und Garrison Keillor, die scheinbar nur ein paar Spaße machen. Sie machen nicht nur ein paar Spaße. Ihr Anliegen ist ebenso ernsthaft wie das von Hemingway oder Faulkner - sie sind ein entscheidender Teil unseres Staatsvermögens, weil sie der Nation einen Spiegel vorhalten. Für sie ist humoristische Literatur dringend notwendige Arbeit. Sie versuchen, etwas Wichtiges auf besondere Art zu sagen, weil normale Schriftsteller es nicht auf normale Art sagen können - oder wenn, dann so, dass es niemand lesen will. Ein bissiger Cartoon ist soviel wert wie hundert weihevolle, moralisierende Leitartikel. Ein Catch-22 oder ein Dr. Strangelove sind wirkungsvoller als alle Bücher und Filme zusammen, die den Krieg "so wie er ist" darstellen. Auf diese beiden satirischen Werke berufen sich heute noch viele, wenn sie uns vor der Mentalität der Militärs warnen wollen, die uns alle schon morgen in die Luft jagen könnte. Joseph Heller und Stanley Kubrick haben die Realität des Krieges gerade weit genug übertrieben, um zu zeigen, wie absurd das Ganze ist, und wir begreifen, dass es absurd ist. Der Witz ist kein Witz. Eine absurde Tatsache zu überzeichnen - so dass ihre Absurdität deutlich sichtbar wird - ist die Essenz dessen, was Humoristen beabsichtigen. Von allen heutigen Humoristen hat Garrison Keillor den sichersten Blick für gesellschaftliche Veränderungen und ist am erfinderischsten, wenn es darum geht, seine Botschaft zu verpacken. Immer wieder erfreut er uns damit, dass er ein altes Genre in neuem Gewand zeigt. Die heutige Feindseligkeit der Amerikaner gegenüber Zigarettenrauchern dürfte keinem aufmerksamen Autor entgangen sein, und viele werden auch schon mit der gebotenen Nachdenklichkeit darüber geschrieben haben. Keillor nähert sich der Sache jedoch auf eine andere - für ihn typische - Weise: Die letzten Zigarettenraucher in Amerika wurden in einer Schlucht südlich des Donnerpasses im Hochgebirgsteil der Sierras entdeckt, und zwar von zwei Bundestabakschutzoffizieren, die kurz vor 12 Uhr von ihrem Hubschrauber aus kleine Rauchkringel erspähten. Einer von ihnen, der Leiter der örtlichen Sondereinheit, bestellte sofort über Funk eine Bodentruppe. Sechs Männer in Tarnkleidung, allesamt Mitglieder der Eliteeinheit "Jogger gegen den blauen Dunst", bewegten sich zügig über das unwegsame Gelände, umzingelten die Bande in ihrem Schlupfwinkel, machten sie mit Tränengas unschädlich und zwangen sie, mit den Gesichtern im Kies in der heißen Augustsonne liegen zu bleiben. Es handelte sich bei der Bande um drei Frauen und zwei Männer, alle Mitte vierzig, die bereits seit Einführung des Artikel 28 des Grundgesetzes auf der Flucht. Das Genre, auf das Keillor hier setzt, füllt seit der Dillinger-Ara in den 30er Jahren die amerikanischen Tageszeitungen, und Keillor macht es offensichtlich großen Spaß, mit all den für dieses Genre typischen Gangstern und Geheimpolizisten, Schlupfwinkeln und Schlägereien zu spielen. Es gibt jedoch keine Vorschrift, die besagt, dass humoristische Literatur einem ernsten Zweck dienen muss. Blödsinn ist immer eine Freude. Ich finde es toll, wenn ein Schriftsteller völlig abhebt, nur weil er Spaß daran hat. Der folgende Ausschnitt von Ian Frazier ist hundertprozentig aus der Luft gegriffen. Das Stück heißt Ein Date mit Ihrer Mutter: In unserer schnelllebigen, flüchtigen und wurzellosen Gesellschaft, in der Menschen sich - 57 -
treffen, Heben und trennen, ohne sich je wirklich zu berühren, ist die Beziehung, die jeder Mann bereits mit seiner Mutter hat, einfach zu wertvoll, um ausgeklammert zu werden. Da ist sie, die reife, erfahrene und liebevolle Frau, und Sie müssen nicht erst auf eine Party oder in eine Singlebar gehen, um ihr zu begegnen, und Sie müssen sich auch nicht damit herumschlagen, sie erst richtig kennen zu lernen. Bei Hunderten von Gelegenheiten treffen Sie ganz natürlich mit Ihrer Mutter zusammen, ohne die Anspannung, die Sie normalerweise verspüren, wenn Sie jemandem den Hof machen - nur Sie beide, ganz allein. Sie brauchen bloß etwas geistesgegenwärtig zu sein, um solche Situationen für sich zu nutzen. Nehmen Sie an, Ihre Mutter und Sie fahren gerade mit dem Auto in die Stadt, damit sie Ihnen ein paar neue Hosen kaufen kann. Suchen Sie zunächst im Radio nach einem guten Sender einem, der ihr gefallt. Genießen Sie für eine Weile das gleichmäßige, entspannende Surren der Reifen auf der Autobahn, während die Klimaanlage auf vollen Touren läuft. Schauen Sie dann zu ihr rüber, und sagen Sie so was wie: "Weißt du, Mom, du hast dich wirklich gut gehalten, und denk bloß nicht, dass mir das entgangen wäre." Oder nehmen Sie an, sie kommt in Ihr Zimmer, um Ihnen ein paar frischgewaschene Socken zu bringen. Ziehen Sie sie am Handgelenk ganz nah an sich heran, und sagen Sie: "Mom, du bist die faszinierendste Frau, der ich je begegnet bin." Wahrscheinlich wird sie Ihnen sagen, Sie sollen den Blödsinn lassen, aber eins verspreche ich Ihnen: Sie wird es niemals Ihrem Vater erzählen. Vielleicht, weil sie sich komisch vorkäme, zu sagen: "Liebling, Piper hat mich gerade angebaggert", oder weil sie sich insgeheim geschmeichelt fühlt. Aber egal warum, sie wird es für sich behalten, bis zu dem Tag, an dem es ihr nicht mehr peinlich ist, der Welt von Ihrer Liebe zu berichten. Vor allem aber muss ein Humorist seinen Spaß an der Sache rüberbringen. Der Leser muss spüren, dass der Autor sich beim Schreiben amüsiert hat. Ich bat meine Studenten in Yale, etwas Aufgedrehtes und Tollkühnes zu schreiben. Zuerst wollte ich, dass sie sich dabei einer bereits vorhandenen Form humoristischer Literatur, wie der Satire, der Parodie oder der Schmähschrift, bedienten. Sie sollten weder "ich" verwenden noch etwas beschreiben, das sie selbst erlebt hatten. Statt dessen gab ich ein Thema vor - etwas Absurdes, das ich in einer Zeitung entdeckt hatte. Die Studenten stürzten sich in freie Assoziationen, in Surrealismus und Unsinn. Sie stellten fest, dass es möglich war, die Logik beiseite zu lassen und einfach Spaß daran zu haben, etwas Ernsthaftes in einem vorgegebenen humoristischen Rahmen auszudrücken. Sie standen stark unter dem Einfluss von Woody Allen ("Dafür wird ihm der Rabbi den Kopf einschlagen, was nach der Thora eine der subtilsten Methoden ist, ernsthafte Besorgnis zu zeigen"). Nach etwa vier Wochen wurden die Studenten langsam müde. Sie hatten festgestellt, dass sie humoristisch schreiben konnten. Aber sie hatten auch gemerkt, wie erschöpfend es ist, Woche für Woche lustige Sachen zu erfinden und eine fremde Stimme anzunehmen. Es war an der Zeit, sie zur Ruhe kommen zu lassen und sie dazu zu bringen, mit ihrer eigenen Stimme aus ihrem eigenen Leben zu erzählen. Ich bat sie, Woody Allen vorübergehend wegzupacken, und sagte, dass ich bekannt geben würde, wann sie ihn wieder aus der Tasche holen dürften. Doch dieser Tag sollte nie kommen. Ich machte mir das Motto von Chic Young zu eigen - halt dich an das, was du kennst - und fing an, Schriftsteller vorzulesen die den Humor so einsetzen, dass er als stilles Rinnsal durch ihre Arbeiten fließt. Eines dieser Stücke war In Ednas Visier von E. B. White, in dem sich White erinnert, wie er auf seiner Farm in Maine auf die Ankunft des Hurrikans Edna wartet, und dabei tagelang sinnlos damit zubringt, sich im Radio Reportagen über dessen Näherrücken anzuhören. Es ist ein tolles Essay - voller Weisheit und Mutterwitz. Ein weiterer Schriftsteller, den ich wieder ausbuddelte, war Stephen Leacock, ein Kanadier. Ich erinnerte mich noch daran, dass ich mich als Junge über ihn halbtot gelacht hatte, fürchtete aber, dass ich ihn inzwischen nur noch ganz witzig finden könnte - was ja oft vorkommt, wenn man bei alten Freunden vorbeischaut. Aber die Zeit hatte seinen Stücken nichts anhaben können. Eines, das mir besonders in Erinnerung geblieben war - Meine - 58 -
Finanzkarriere, in dem er versucht, mit sechsundfünfzig Dollar ein Bankkonto zu eröffnen beschreibt für mich immer noch am treffendsten, wie Banken, Bibliotheken und andere starre Institutionen unsereins auf die Palme bringen. Als ich Leacock erneut las, fiel mir auf, dass ein Humorist auch die Aufgabe hat, m den meisten Situationen das hilflose Opfer oder der Dummkopf zu sein. Das freut die Leser - sie fühlen sich dem Schriftsteller überlegen oder sehen in ihm einen Leidensgenossen. Ein Humorist, der sich mit dem täglichen Leben befasst, findet immer wieder neuen Stoff, was Erma Bombeck über viele Jahrzehnte bewiesen hat. Und in diese Richtung bewegte sich dann auch der Kurs in Yale. Viele der Studenten schrieben über ihre Familien. Anfangs stießen wir auf ein paar Schwierigkeiten, vor allem mit Übertreibungen, aber die bekamen wir schrittweise in den Griff. Wir strichen Sätze, die erklärten, was am vorherigen Satz lustig war. Es war schwer zu sagen, wie viel Übertreibung zulässig war, und ab wann es zuviel wurde. Ein Student schrieb ein lustiges Stück darüber, was für eine entsetzliche Köchin seine Großmutter war. Als ich es lobte, sagte er, dass sie eigentlich sehr gut kochte. Ich sagte, ich fände es schade, das zu hören - irgendwie mache es das Stück weniger lustig. Er fragte, ob es eine Rolle spiele. Ich sagte, in seinem Fall sei es egal, da mir sein Stück ja gefallen hatte, als ich es noch nicht wusste, dass ich aber glaubte, er würde sich als Humorist länger halten, wenn er über etwas Wahres statt über etwas Erfundenes schriebe - worin sicherlich eines der Geheimnisse von James Thurbers anhaltendem Erfolg als einer der großen amerikanischen Humoristen liegt. Wenn wir Thurbers Die Nacht als das Bett zusammenkrachte lesen, wissen wir, dass er die Tatsachen übertrieben hat. Aber wir wissen auch, dass in jener Nacht irgendwas mit diesem Bett auf dem Dachboden passiert ist. Kurz, anfangs bemühten wir uns in dem Kurs, lustig zu sein, und hofften, unterwegs ein paar wahre Begebenheiten einzuflechten. Am Ende bemühten wir uns um Wahrheit und hofften, unterwegs lustig zu sein. Wir erkannten, dass beide Dinge miteinander verknüpft sind.
Die innere Haltung Der Klang Ihrer Stimme Ich habe ein Buch über Baseball und eins über Jazz geschrieben. Aber es kam mir nie in den Sinn, das eine in Sport-Englisch und das andere in Jazz-Englisch zu schreiben. Ich bemühte mich, beide Bücher in meinem besten Englisch und in meinem gewohnten Stil zu schreiben. Obwohl die Bücher thematisch sehr weit auseinander lagen, wollte ich meinen Lesern versichern, dass sie etwas von derselben Person zu hören bekamen. Es war mein Buch über Jazz und mein Buch über Baseball. Andere Schriftsteller schrieben ihre Bücher. Mein Rohstoff, egal worüber ich schreibe, bin ich. Und Ihr Rohstoff sind Sie. Verändern Sie Ihre Stimme nicht passend zum Thema. Entwickeln Sie eine Stimme, die Ihre Leser wiedererkennen, wenn sie sie auf dem Papier hören - eine Stimme, die nicht nur angenehm klingt, sondern auch Töne meidet, die Ihre Arbeiten billig machen: Flapsigkeit, Überheblichkeit und Klischees. Fangen wir bei der Flapsigkeit an. Es gibt einen Schreibstil, der sich so entspannt anhört, dass man glaubt, der Autor spreche mit einem. Der beste Vertreter dieses Stils war wahrscheinlich E. B. White, obwohl mir noch viele andere Meister einfallen - James Thurber, V. S. Pritchett, Lewis Thomas. Ich bevorzuge diesen Stil, weil ich selbst immer versucht habe, so zu schreiben. Die meisten Leute glauben, - 59 -
dieser Stil mache keine Arbeit. Aber im Gegenteil: Der mühelose Stil erfordert viel Mühe und muss ständig weiter verfeinert werden. Bei Grammatik und Satzbau sitzen die Nägel alle an der richtigen Stelle, und die Sprache ist so gut, wie der Autor sie nur machen kann. So fängt ein typisches Stück von E. B. White an: Ich verbrachte Mitte September mehrere Tage und Nächte bei einem kranken Schwein, und mich drängt es, über diese Zeitspanne zu berichten, zumal das Schwein am Ende auch noch starb, während ich überlebte, obwohl es auch leicht umgekehrt hätte kommen können, wobei dann niemand mehr darüber berichten könnte. Der Satz hört sich so gesellig an, dass wir denken, wir säßen auf der Veranda vor Whites Haus in Maine. White sitzt in einem Schaukelstuhl, raucht eine Pfeife, und erzählt uns mit mühelosen Worten eine Geschichte. Aber schauen Sie sich den Satz noch einmal an. Nichts an ihm ist leichtfertig. Es steckt viel Disziplin dahinter. Die Grammatik ist formell, die Wörter sind einfach und treffsicher, und die Kadenzen sind die eines Dichters. Das ist müheloser Stil in seiner besten Form: eine methodisch aufgebaute Komposition, die uns mit ihrer Wärme entwaffnet. Der Autor klingt selbstbewusst; er versucht nicht, sich dem Leser anzubiedern. Unerfahrene Autoren begreifen das nicht. Sie glauben, sie müssten nur "jemand wie du und ich" sein - die gute alte Betty oder der gute alte Bob, die ein Schwätzchen am Gartenzaun halten um einen lockeren Tonfall zu erzielen. Sie wollen der Kumpel des Lesers sein. Sie sind so darauf bedacht, bloß nicht formell zu sein, dass sie noch nicht einmal richtig sprechen. Sie schreiben flapsig. Wie würde ein solcher Autor die Krankenwache bei dem Schwein beschreiben? Vielleicht so: Schon mal bis in die Puppen wegen nem kranken Schweinchen aufgeblieben? So was kann einem ganz schön den Schlaf rauben, kann ich Ihnen sagen. Ich hab das damals im September drei Tage lang mitgemacht, und meine bessere Hälfte dachte, ich hätte nicht mehr alle Tassen im Schrank. (Ist nur'n Witz, Pam!) Wissen Sie, ehrlich gesagt hat mich der ganze Mist ganz schön fertiggemacht, denn das Schwein hat sich einfach in die ewigen Jagdgründe verkrümelt. Und ich war auch nicht grade superfit damals. Ich schätze mal, der Sensenmann hätte auch den Unterzeichner erwischen können. Und Sie können Ihren letzten Dollar drauf verwetten, dass Herr Schwein dann keine Schwarte drüber geschrieben hätte! Es erübrigt sich, zu begründen, warum dieses Zeug so furchtbar ist. Es ist plump. Es biedert sich an. Es ist geschwätzig. Es geht verächtlich mit der Sprache um. Es ist herablassend (ich lese keine Autoren, die "wissen Sie" sagen). Aber das Schlimmste an diesem flapsigen Stil ist, dass er sich schwer liest. Der Autor versucht, dem Leser die Reise angenehm zu machen, und verbarrikadiert dabei den Weg mit lauter Gerumpel: billiger Slang, schäbige Sätze, halbgare Gedanken. Der Stil von E. B. White ist viel leichter lesbar. Er weiß, dass die Grammatikregeln nicht nur zufällig viele Jahrhunderte lang überdauert haben; sie sind Stützen, die der Leser braucht und unbewusst auch will. Niemand hat je ein Buch von E. B. White oder V. S. Pritchett weggelegt, weil diese zu gut geschrieben hätten. Aber Leser hören auf zu lesen, wenn sie das Gefühl haben, dass der Autor von oben herab mit ihnen spricht. Niemand wird gerne gönnerhaft behandelt. Schreiben Sie mit Respekt - vor der Sprache und vor dem Leser. Wenn Sie sich wirklich nicht beherrschen können, den flapsigen Stil auszuprobieren, dann lesen Sie sich Ihren Text am Ende laut vor, und hören Sie, ob Ihnen Ihre Stimme gefällt. Eine Stimme zu finden, die Ihre Leser gerne hören, ist größtenteils Geschmacksache. Diese Behauptung hilft Ihnen nicht viel weiter - schließlich ist Geschmack so ungreifbar, dass er sich nicht einmal definieren lässt. Aber wir erkennen ihn, wenn wir ihm gegenüberstehen. Eine Frau, die einen guten Kleidergeschmack hat, erfreut uns mit ihrer Gabe, sich selbst in einer Kombination zu zeigen, die nicht nur stilsicher und überraschend ist, sondern genau richtig. Sie weiß, was zusammenpasst und was nicht. Für Schriftsteller und andere schöpferisch tätige Menschen besteht guter Geschmack hauptsächlich darin, zu wissen, was sie unterlassen sollten. Zwei Jazzpianisten beherrschen - 60 -
ihr Instrument vielleicht gleich gut. Bei dem mit dem guten Geschmack trägt jede Note dazu bei, eine Geschichte zu erzählen. Der mit dem schlechten Geschmack ertränkt uns in Koloraturen und anderen überflüssigen Verzierungen. Maler mit Geschmack können sich auf ihr Auge verlassen, das ihnen sagt, was auf die Leinwand gehört und was nicht; ein geschmackloser Maler zeigt uns eine Landschaft, die zu hübsch, zu überladen, zu kitschig der zu irgendwas ist. Ein Grafiker mit Geschmack weiß, dass weniger mehr ist, dass das Design nur das geschriebene Wort unterstützen soll. Ein geschmackloser Grafiker verschandelt den Text mit Pastelltönen, Schnörkeln und dekorativem Schnickschnack. Ich weiß, dass ich versuche, eine subjektive Angelegenheit festzuklopfen; was für den einen Menschen ein schönes Objekt ist, ist für den anderen Kitsch. Geschmack kann sich auch von einem Jahrzehnt zum nächsten wandeln - was gestern als schön galt, gilt heute als Plunder. Weshalb bringe ich das Thema dann überhaupt auf den Tisch? - Um Sie daran zu erinnern, dass es ein Thema ist. Geschmack ist ein unsichtbarer Strom, der durch Ihren Text fließt, und Sie sollten sich dessen bewusst sein. Manchmal ist er sogar sichtbar. Jeder Kunstform liegen ästhetische Gesetze zugrunde, die die wechselhaften Zeiten überdauern. Den Proportionen des Parthenons muss eine natürliche Schönheit innewohnen; in der westlichen Welt lassen wir unsere öffentlichen Gebäude immer noch von jenen Griechen erbauen, die vor zweitausend Jahren gelebt haben, wie jeder, der einen Spaziergang durch Washington D.C. macht, leicht erkennen kann. Bachs Fugen sind von einer zeitlosen Eleganz, die in den zeitlosen Gesetzen der Mathematik wurzelt. Gibt es solche Wegweiser auch beim Schreiben? - Nicht viele. Was ein Mensch schreibt, entspricht seiner einzigartigen Persönlichkeit, und wir erkennen, was uns gefällt, wenn wir es vor uns sehen. Dennoch gilt auch beim Schreiben: Es lohnt sich, zu wissen, was man weglassen sollte. Wenn ein Autor in seliger Umnachtung nicht erkennt, dass Klischees tödlich sind, und wenn bei näherer Betrachtung deutlich wird, dass er alle verwendet, die er nur finden kann, dann können wir daraus schließen, dass ihm das Gespür für sprachliche Frische fehlt. Wenn er sich zwischen dem Überraschenden und dem Banalen entscheiden muss, greift er unbeirrbar nach dem Banalen. Seine Stimme ist die eines Fließbandschreibers. Allerdings ist es nicht leicht, auf Klischees zu verzichten. Sie sind überall um uns herum, gute Bekannte, die nur darauf warten, uns dabei zu helfen, vielschichtige Gedanken in kurzer, metaphorischer Weise auszudrücken. So sind sie ja überhaupt erst zu Klischees geworden, und sogar umsichtige Schriftsteller benutzen recht viele davon in ihren ersten Entwürfen. Aber danach können wir sie ausmerzen. Achten Sie auf abgedroschene Redewendungen, wenn Sie Ihre Texte überarbeiten und laut lesen. Sie werden merken, wie vorwurfsvoll sie klingen – sie beschuldigen Sie der Faulheit, weil Sie sich einfach mit ihnen zufriedengegeben haben, statt sie durch Ihre eigenen, lebendigen Ausdrücke zu ersetzen. Klischees sind der Feind des guten Geschmacks. Das gilt auch über abgestandene Redewendungen hinaus, Frische ist entscheidend. Jemand mit gutem Geschmack wählt überraschende, ausdrucksstarke und treffende Wörter. Jemand mit schlechtem Geschmack greift zu flachen Synonymen, die den weiteren Vorteil haben, nichts Genaues auszusagen (x-tausend). Jemand mit schlechtem Geschmack sagt "Punktum": "Sie sagte, sie wolle nichts mehr davon hören. Punktum." Aber letztendlich ist Geschmack eine Mischung aus mehreren Komponenten, die sich der Analyse entziehen: einem Ohr, das den Unterschied zwischen einem schleppenden und einem schwungvollen Satz hört, einem Gespür, das erkennt, wann eine lässige oder mundartliche Wendung mitten in einem formellen Satz nicht nur gut klingt, sondern die einzig richtige Wahl ist. C. F. B. White war ein Meister dieser Gratwanderung.) Heißt das, dass Geschmack erlernbar ist? Ja und nein. Vollendeter Geschmack ist, wie eine vollendete Singstimme, gottgegeben. Aber bis zu einem gewissen Grad kann man sich Geschmack aneignen. Und zwar am besten, indem man Autoren liest, die welchen haben. Zögern Sie nicht, sich andere Schriftsteller zum Vorbild zu nehmen. Nachahmung ist ein Teil - 61 -
des schöpferischen Prozesses, den jeder durchläuft, der eine Kunst oder ein Handwerk erlernt. Bach und Picasso wurden nicht als Genies geboren - auch sie hatten Vorbilder. Für das Schreiben gilt das ganz besonders. Finden Sie Autoren, die auf Gebieten, die Sie interessieren, Meister waren, und lesen Sie ihre Werke laut. Nehmen Sie ihre Stimme, ihren Stil, ihren Umgang mit der Sprache in sich auf. Haben Sie keine Angst, dass Sie Ihre eigene Stimme und Ihre Identität verlieren, wenn Sie sie nachahmen. Wenn es an der Zeit ist, werden Sie die fremden Häute abwerfen und ganz der Autor werden, der Sie werden sollen.
Freude, Furcht, Vertrauen Als Junge wollte ich weder Schriftsteller noch Literat werden. Ich wollte ein Zeitungsmann werden, und die Zeitung, bei der ich ein Mann sein wollte, war die New York Herald Tribune. Wenn ich sie morgens las, spürte ich, dass die Leute dort Freude am Schreiben hatten. Jedem Redakteur, Autor, Bildreporter und Setzer, der an der Zeitung mitwirkte, machte die Arbeit offenbar viel Spaß. Die Artikel hatten fast alle eine besondere Lebensnähe oder Humor, Geschenke, die die Autoren und Redakteure dem Leser mit Vergnügen machten. Ich hatte das Gefühl, sie schrieben die Zeitung eigens für mich. Selbst einer dieser Redakteure und Autoren zu sein, war für mich der Amerikanische Traum schlechthin. Dieser Traum wurde wahr, als ich einen Job bei der Herald Tribune bekam. Ich brachte die Überzeugung mit, dass Freude an der Arbeit für einen Autor oder eine Zeitung unbezahlbar war, und befand mich nun mit den Männern und Frauen, die mich ursprünglich zu dieser Überzeugung gebracht hatten, im selben Raum. Die großartigen Reporter schrieben mit Wärme und Vergnügen, und die großen Kritiker und Kolumnisten wie Virgil Thomson und Red Smith schrieben elegant und mit heiterer Zuversicht ihre Meinung. Auf der ersten Seite des zweiten Teils - damals bestanden Zeitungen nur aus zwei Teilen - stand die politische Kolumne des hochgeachteten Walter Lippmann, Amerikas wandelndem Lexikon, über dem einspaltigen Cartoon von H. T. Webster, dem Erfinder der "schüchternen Seele", der auch eine amerikanische Institution war. Mir gefiel die Unbekümmertheit, mit der zwei so unterschiedliche Genres auf derselben Seite gebracht wurden. Niemand dachte daran, Webster in die Schmunzelecke zu verbannen. Beide Männer waren Giganten und ebenbürtig. Ich habe diese Freude an der Arbeit, die der Herald Tribune mir vermittelt hat, zu meinem Credo gemacht. Schreiben ist eine so einsame Angelegenheit, dass ich versuche, mich dabei selbst aufzumuntern. Wenn mir beim Schreiben etwas Lustiges einfällt, dann baue ich es ein, nur um mich zu amüsieren. Wenn ich es lustig finde, dann gehe ich davon aus, dass es auch ein paar andere Leute lustig finden werden, und ich denke, damit ist schon eine ganze Menge gewonnen. Es stört mich nicht, wenn einige Leute nicht darüber lachen können; ich weiß, dass viele Leute keinen Humor haben und nicht mitbekommen, dass es Menschen auf der Welt gibt, die versuchen, sie zu unterhalten. Als ich in Yale lehrte, lud ich einmal den Humoristen S. J. Perelman zu einem Gespräch mit meinen Studenten ein, und einer fragte ihn: "Was braucht man, um Komik zu schreiben?" Perelman sagte: "Man braucht Wagemut, Überschwänglichkeit und ein heiteres Gemüt, und der Wagemut ist dabei am wichtigsten." Dann sagte er: "Der Leser muss spüren, dass der Schriftsteller gute Laune hat..." Dieser Satz ließ mein Herz höher schlagen: er bestätigte meine Ansicht, dass Arbeit Freude machen soll. Dann fügte er hinzu: "... selbst, wenn das nicht der Fall ist." Und dieser Satz berührte mich fast ebenso, denn ich wusste, dass Perelmans Leben mehr Trauer und Schmerz enthielt als das der meisten Menschen. Dennoch setzte er sich jeden Tag an seine Schreibmaschine und ließ die englische Sprache tanzen. Dazu musste er doch gutgelaunt sein, oder? - Er munterte sich selbst auf. Schriftsteller müssen sich selbst in Stimmung bringen, sobald sie mit der Arbeit beginnen, - 62 -
ebenso wie Schauspieler, Tänzer, Maler und Musiker. Einige Schriftsteller, wie Norman Mailer, Tom Wolfe, Toni Morrison, William F. Buckley Jr., Hunter Thompson oder David Foster Wallace, reißen uns mit ihrer Kraft so stark mit, dass wir annehmen, die Worte würden nur so aus ihnen herausströmen, sobald sie anfangen zu schreiben. Niemand denkt an die Kraft, die sie täglich aufbringen müssen, um sich in Stimmung zu bringen. Auch Sie müssen das tun, niemand wird es Ihnen abnehmen. Leider ist eine ebenso starke Gegenkraft am Werk – Angst. Die Angst vor dem Schreiben wird den meisten Menschen in frühen Jahren, normalerweise in der Schule, eingeimpft, und sie schwindet nie völlig. Das leere Blatt Papier oder der leere Bildschirm, der darauf wartet, dass wir ihn mit unseren wundervollen Wörtern füllen, kann uns soweit lähmen, dass wir keine oder nur mäßig wundervolle Wörter schreiben. Ich bin oft bestürzt über den Unfug, der auf meinem Bildschirm erscheint, wenn ich das Schreiben als Pflicht und reinen Broterwerb betrachte, statt die Sache mit Vergnügen anzugehen. Mein einziger Trost ist dann, dass ich mir diese grässlichen Sätze am nächsten und übernächsten Tag erneut vornehmen darf. Beim Überarbeiten versuche ich, meine Persönlichkeit mit in den Stoff zu bringen. Die wahrscheinlich größte Angst von Nonfiction-Autoren besteht darin, ihrem Thema nicht gerecht zu werden. Mit Fiction verhält es sich anders. Denn Belletristikautoren schreiben über eine Welt, die sie selbst erfunden haben, und das in einem oft ebenfalls von ihnen selbst erfundenen Stil, der voller Anspielungen steckt (Thomas Pynchon, Don DeLillo). Wir dürfen ihnen nicht sagen: "Das ist falsch." Wir können nur sagen: "Das gefällt mir nicht." Nonfiction-Autoren haben diesen Bonus nicht. Sie sind den Fakten, den Leuten, die sie interviewt haben, dem Schauplatz ihrer Story und dem, was dort passiert ist, verpflichtet. Sie sind auch ihrem Handwerk verpflichtet und müssen die Risiken bannen, die in überflüssigen und konfusen Wörtern lauern: den Leser zu verlieren, den Leser zu verwirren, den Leser zu langweilen, den Leser nicht von Anfang bis Ende zu fesseln. Bei jeder Ungenauigkeit und jedem handwerklichen Fehler können wir behaupten: "Das ist falsch." Sie gewinnen mehr Selbstvertrauen, wenn Sie über Themen schreiben, die Ihnen am Herzen liegen. Der Dichter Allen Ginsberg, ein weiterer Schriftsteller, der nach Yale kam, um mit meinen Studenten zu sprechen, wurde gefragt, ob es einen Moment gegeben habe, in dem er bewusst beschlossen habe, Dichter zu werden. Ginsberg sagte: "Es war nicht unbedingt eine Entscheidung, eher eine Feststellung. Ich war achtundzwanzig und hatte einen Job als Marktforscher. Eines Tages erzählte ich meinem Psychiater, dass ich am allerliebsten meinen Job kündigen und nur noch Gedichte schreiben würde. Und der Psychiater sagte: 'Wieso tun Sie's nicht?' Und ich fragte: 'Was wurde denn die Amerikanische Psychoanalytische Gesellschaft dazu sagen?' Und er sagte: 'Dort herrscht kein Fraktionszwang' Also hab ich's gemacht." Wir werden nie herausfinden, welchen Verlust die Marktforschungsbranche dadurch erlitten hat. Aber es war ein großer Moment für die Dichtung. Es herrscht kein Fraktionszwang - das ist ein guter Rat für Schriftsteller. Sie können Ihre eigene Partei sein. Red Smith sagte in seiner Rede am Grab eines Sportreporterkollegen: "Sterben ist nichts Besonderes. Das Knifflige ist das Leben." Einer der Gründe, warum ich Red Smith bewunderte, war, dass er 55 Jahre lang gekonnte und humorvolle Sportartikel geschrieben hat, ohne dem Druck nachzugeben, endlich etwas "Richtiges" zu schreiben, was der Niedergang vieler seiner Kollegen war. Im Sportjournalismus fand er das, was er tun wollte und was ihn begeisterte, und weil es für ihn das Richtige war, sagte er wichtigere Dinge über die amerikanischen Werte als mancher Schriftsteller, der über ernste Themen schrieb - so ernsthaft, dass niemand es lesen mochte. Das Knifflige ist das Leben. Autoren, die interessant schreiben, haben sich ihr Interesse an den Dingen bewahrt. Darin liegt schon fast der ganze Sinn des Schreibens. Ich schreibe, um mein Leben interessant zu gestalten und immer wieder Neues hinzu zu lernen. Wenn Sie über - 63 -
Themen schreiben, über die Sie selbst gerne etwas wissen möchten, dann wird Ihre Freude an der Arbeit sichtbar. Das heißt nicht, dass Sie nicht nervös sein werden, wenn Sie sich auf unbekanntes Terrain begeben. Als Autor von Nonfiction werden Sie immer wieder in ungewöhnliche Welten eintauchen, und Sie werden befürchten, dass Sie eigentlich nicht qualifiziert dafür sind. Diese Angst habe ich jedes Mal, wenn ich ein neues Projekt anfange. Auch als ich nach Bradenton fuhr, um Spring Training, mein Buch über Baseball zu schreiben. Obwohl ich schon immer ein Baseballfan war, hatte ich noch nie eine Sportreportage geschrieben oder einen Berufssportler interviewt. Kurz, ich hatte keine Referenzen; jeder der Männer, die ich mit meinem Notizbuch aufsuchte, hätte fragen können: "Was haben Sie denn sonst noch so über Baseball geschrieben?" Aber das tat keiner. Sie fragten nicht, weil ich eine andere Referenz hatte: Aufrichtigkeit. Die Männer konnten erkennen, dass ich wirklich wissen wollte, wie sie arbeiteten. Denken Sie daran, wenn Sie Neuland betreten und einen Schuss Selbstvertrauen brauchen. Ihre beste Referenz sind Sie selbst. Bedenken Sie auch, dass Ihr Projekt nicht so eng gesteckt sein muss, wie Sie glauben. Oft stellen Sie fest, dass das Thema Ihr Leben oder Ihr Wissen unerwartet streift. Dann können Sie die Story mit eigenem Stoff anreichern. Jedes Mal, wenn Sie entdecken, dass das Thema so fremdartig gar nicht ist, vergeht Ihre Angst ein wenig mehr. Diese Lektion habe ich 1992 gelernt, als ich einen Anruf von einem Redakteur der renommierten Zeitschrift Audubon bekam. Er fragte mich, ob ich einen Artikel für sein Magazin schreiben würde. Ich sagte, nein, das würde ich nicht. Ich bin ein New Yorker der vierten Generation, und meine Wurzeln stecken tief im Asphalt. "Das wäre unfair mir, Ihnen und Audubon gegenüber", sagte ich. Ich habe noch nie einen Auftrag angenommen, für den ich mich ungeeignet fand, und ich bin schnell dabei, einem Redakteur zu sagen, er solle sich nach jemand anderem umschauen. Der Audubon-Redakteur antwortete - wie es sich für einen guten Redakteur gehört -, er sei sicher, dass er schon was Passendes finden würde, und wenige Wochen später rief er an, um mir zu sagen, dass die Redaktion beschlossen habe, endlich einen neuen Artikel über Roger Tory Peterson zu bringen, den Mann, der Amerika zu einer Nation von Vogelkundlern gemacht hat, und dessen Werke über Vögel seit 1934 Bestseller sind. Ob ich interessiert sei? Ich sagte, ich wisse nicht genug über Vögel. Die einzigen, die ich eindeutig bestimmen kann, sind Tauben. Sie gurren oft auf meinem Fensterbrett in Manhattan. Ich muss einen Bezug zu dem Menschen haben, über den ich schreibe. Der Artikel über Peterson war nicht meine Idee gewesen - er hatte mich ausgesucht. Ich hatte schon öfters Menschen porträtiert, deren Werke ich kannte und mochte: den Cartoonisten Chic Young, den Songwriter Harold Arien, den britischen Schauspieler Peter Sellers und den britischen Reiseschriftsteller Norman Lewis. Meine Dankbarkeit dafür, dass sie mich über viele Jahre begleitet hatten, beflügelte mich beim Schreiben. Wenn Sie wollen, dass Ihre Texte Freude vermitteln, dann schreiben Sie über jemanden, den Sie schätzen. Über etwas zu schreiben, um es zu zerstören und schlecht zu machen, kann für einen Schriftsteller ebenso schädlich sein wie für sein Thema. Es geschah jedoch etwas, das mich dazu bewog, mir die Sache mit Audubon noch einmal anders zu überlegen. Ich sah zufällig einen Dokumentarfilm über Roger Tory Petersons Leben und Werk. Der Film war so bezaubernd, dass ich mehr über Peterson erfahren wollte. Es machte mich neugierig, dass er im Alter von 84 Jahren immer noch mit vollem Einsatz bei der Sache war - er malte vier Stunden täglich und fotografierte Vögel an den entlegensten Orten der Welt. Das fand ich interessant. Vögel sind nicht mein Thema, Surviver-Typen aber schon: zum Beispiel alte Menschen, die am Ball bleiben. Ich erinnerte mich, dass Peterson in einer kleinen Stadt in Connecticut lebte, nicht weit von dem Ort, wo meine Familie immer den Sommer verbringt. So konnte einfach kurz rüberfahren und ihn kennenlernen. Wenn wir keinen Draht zueinander fänden, wäre außer ein paar Litern Benzin nichts verloren. Ich sagte - 64 -
dem Audubon-Redakteur dass ich das Thema locker angehen würde: Ein Besuch bei Roger Tory Peterson. Kein umfassendes Porträt. Natürlich wurde doch ein umfassendes Porträt daraus - 4000 Wörter lang -, denn als ich Petersons Werkstatt sah, wurde mir klar, dass es eine völlige Fehleinschätzung seines Lebenswerks war, ihn als Ornithologen zu betrachten. Er war vor allem ein Künstler. Seine zeichnerischen Fertigkeiten hatten sein Wissen über Vögel an Millionen von Menschen herangetragen und ihn zu einem geachteten Schriftsteller, Herausgeber und Naturschützer gemacht. Ich stellte ihm Fragen über seine frühen Lehrmeister und Mentoren - bedeutende amerikanische Künstler wie John Sloan und Edmund Dickinson - und darüber, welchen Einfluss die großen Vogelzeichner James Audubon und Louis Agassiz Fuertes auf ihn gehabt hatten. Meine Story wurde zu einer Geschichte über die Kunst, über das Lehren und über Vögel. Sie umfasste also auch einige meiner eigenen Interessen. Es war auch eine Geschichte über einen Surviver; mit Mitte achtzig hatte Peterson einen Stundenplan, der auf einen Fünfzigjährigen zugeschnitten war. Die Moral für Nonfiction-Autoren ist: Denken Sie nicht in engen Grenzen. Unterstellen Sie nicht, dass ein Artikel für Audubon nur von der Natur handeln darf, oder ein Artikel für ein Automagazin nur von Autos. Dehnen Sie die Grenzen Ihres Themas, und schauen Sie, wo es Sie hinführt. Lassen Sie einen Aspekt Ihres eigenen Lebens einfließen. Der Artikel wird erst dann zu Ihrer Version der Geschichte, wenn Sie ihn schreiben. Was meine Version der Peterson-Story angeht, so fand meine Frau, kurz nachdem der Artikel in Audubon erschienen war, eine Nachricht auf unserem Anrufbeantworter: "Sind Sie der William Zinsser, der über die Natur schreibt?" Meine Frau fand das furchtbar lustig, tatsächlich aber galt mein Artikel bei Vogelkundlern als das Porträt von Peterson. Ich erwähne das, um allen Autoren von Nonfiction Mut zu machen. Wenn Sie das Handwerk beherrschen - die Grundregeln des Interviews und des ordentlichen Aufbaus -, wenn Sie Ihren gesunden Menschenverstand mit in Ihre Arbeit einbringen, dann können Sie über jedes Thema schreiben. Und das ist Ihr Ticket zu einem interessanten Leben. Trotzdem ist es schwer, sich nicht vom Wissen eines Experten einschüchtern zu lassen. Sie denken: "Dieser Mensch weiß so viel über sein Gebiet, dass ich zu dumm bin, ihm gute Fragen zu stellen. Er wird mich für minderbemittelt halten." Aber er weiß soviel über sein Gebiet, weil es eben sein Spezialgebiet ist; Sie hingegen sind der Generalist, der versucht, das Gebiet des Experten der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Das bedeutet, dass Sie ihn drängen müssen, Dinge, die für ihn so selbstverständlich sind, dass er annimmt, sie seien auch jedem anderen Menschen klar, allgemein verständlich zu erklären. Verlassen Sie sich auf Ihren Verstand, um herauszufinden, was Sie wissen müssen, und scheuen Sie sich nicht, dumme Fragen zu stellen. Wenn der Experte Sie für dumm hält, dann ist das sein Problem. Ihre Testfrage sollte lauten: "Genügt die erste Antwort des Experten?" Normalerweise genügt sie nicht. Das habe ich bei meinem zweiten Besuch bei Peterson festgestellt. Ein Lektor beim Kunstbuchverlag Rizzoli, rief mich an, um mir zu sagen, dass er einen Bildband mit Hunderten von farbigen Zeichnungen und Fotos von Roger Tory Peterson plane. Nun fehle noch ein 8 000 Wörter langer Text, und da ich der neue Peterson-Experte war, sollte ich diesen Text schreiben. Wirklich lustig. Ich sagte dem Lektor, dass ich es mir zum Prinzip gemacht hätte niemals dieselbe Geschichte zweimal zu schreiben. Ich hätte meinen Artikel für Audubon gleich beim ersten Mal so sorgfältig geschrieben, wie ich nur konnte, und könne ihn nun nicht noch einmal überarbeiten. Er könne diesen Artikel jedoch gerne erwerben und in seinem Buch abdrucken. Damit war er einverstanden, allerdings unter der Maßgabe, dass ich zusätzliche 4 000 - unsichtbar eingeflochtene - Wörter schreiben würde, die sich hauptsächlich mit Petersons zeichnerischen und fotografischen Techniken befassen sollten. Das klang interessant, und so fuhr ich noch einmal zu Peterson, diesmal mit neuen, technisch ausgerichteten Fragen. Die Leser von Audubon hatten etwas über Petersons Leben erfahren - 65 -
wollen. Diesmal schieb ich für Leser, die wissen wollten, wie der Künstler arbeitete. Wir fingen bei der Malerei an. "Ich arbeite mit einer Mischtechnik", erzählte mir Peterson, "weil ich vorrangig das Ziel habe, den Menschen etwas deutlich zu zeigen. So fange ich vielleicht mit einer ersten Schicht aus transparenten Wasserfarben an, lege eine Schicht Gouache und dann noch eine Schutzschicht aus Acryl darüber, dann arbeite ich mit Pastellkreiden, Buntstiften oder Tusche weiter - was immer sich am besten für meine Zwecke eignet." Ich wusste bereits von meinem früheren Interview, dass ich bei Peterson immer ein wenig nachbohren musste. Er war ein schweigsamer Mensch, der Sohn schwedischer Einwanderer, und machte keine großen Worte. Ich fragte ihn, inwieweit sich seine jetzige Technik von früheren unterschied. "Im Moment bin ich etwas unsicher", sagte er. "Ich versuche, mehr ins Detail zu gehen, ohne dass die Schlichtheit dabei verloren geht." Und schon war er wieder still. Aber wieso fand er es erst jetzt, in seinem hohen Alter, so wichtig, mehr Einzelheiten zu zeigen? "Im Laufe der Jahre haben sich die Menschen anhand der einfachen Abbildungen mit meinen Vögeln vertraut gemacht", sagte er, "so dass sie jetzt ein wenig mehr wollen: Sie wollen die Federn sehen oder möchten, dass die Bilder dreidimensional erscheinen." Als wir das Thema Malerei abgeschlossen hatten, gingen wir zur Fotografie über. Peterson erinnerte sich an jede einzelne Kamera, die er je besessen hatte, um Vögel zu fotografieren von seiner ersten Kamera, die er mit dreizehn Jahren bekommen hatte, einer Primo 9 mit Balgen und austauschbaren Vergrößerungsgläsern, bis zu moderner Technik wie Autofokus und automatischem Blitz. Da ich kaum fotografierte, hatte ich noch nie von diesen Dingen, die Peterson so lobte, gehört. Aber als ich ihm meine Dummheit gestand, erfuhr ich, warum sie so hilfreich waren. Autofokus: "Wenn Sie den Vogel im Sucher haben, erledigt die Kamera den Rest." Automatisches Blitzlicht: "Ein Film sieht nie soviel wie Sie. Das menschliche Auge sieht Details im Schatten, aber das automatische Blitzlicht sorgt dafür, dass die Kamera dieses Detail aufnimmt." "Technik bleibt trotzdem nur Technik", fügte er hinzu. "Viele Leute denken, mit einer guten Ausrüstung sei alles einfach. Sie erliegen dem Irrtum, die Kamera erledige alles allein." Er wusste, was er damit meinte, aber mir musste er erklären, warum die Kamera nicht alles allein schafft. Als ich ihn mit meinem "Warum nicht?" und "Was noch?" bedrängte, bekam ich nicht nur eine, sondern gleich drei Antworten: "Als Fotograf bringen Sie Ihr Auge, Ihren Sinn für Komposition und Ihr Gefühl mit ein - Sie schießen zum Beispiel keine Bilder in der Mittagssonne oder frühmorgens oder spätabends. Sie achten auf das Licht; ein leicht bedeckter Himmel kann eine schöne Wirkung haben. Es ist auch gut, wenn man sich mit den Tieren auskennt. Dann kann man vorhersehen, was ein Vogel gleich tun wird - zum Beispiel mit ein paar anderen Vögeln auf Fischfang gehen. Beutezüge sind gut für einen Fotografen, denn Vögel verbringen viel Zeit mit Fressen, und sie dulden einen viel länger, wenn sie fressen. Sie beachten einen dann oft gar nicht." So kamen wir voran, der Experte und der Dumme, bis ich viele interessante Punkte beisammen hatte. "Ich wurde nur etwa ein halbes Jahrhundert nach James Audubons Tod geboren", sagte Peterson, "deshalb habe ich einen recht guten Überblick über das, was sich durch die Umweltbewegung verändert hat." Das war interessant. Als er ein Junge war, erinnerte er sich, schoss jedes Kind, das eine Steinschleuder hatte, auf Vögel. Und viele Arten waren von Jägern ausgerottet oder an den Rand des Aussterbens getrieben worden, weil sie die Vögel wegen ihrer Federn, zum Zeitvertreib, oder um sie an Restaurants zu verkaufen, töteten. Erfreulich jedoch war - und er hatte lange genug gelebt, um diese Entwicklung zu verfolgen -, dass sich viele Arten dank der vielen Menschen, die aktiven Vogelschutz betrieben, wieder erholt hatten. Dann sagte er: "Die Menschen haben heute eine andere Einstellung zu Vögeln, und daher haben die Vögel auch eine andere Einstellung zu den Menschen." Das war interessant. Mir fällt auf, wie oft ich als Autor zu mir selbst sage: "Das ist - 66 -
interessant." Wenn Sie sich dabei ertappen, dann folgen Sie dem Faden. Vertrauen Sie Ihrer Neugier, denn ihre Leser sind sicherlich genauso neugierig. Was meinte Peterson damit, dass die Vögel ihre Einstellung geändert hätten? "Krähen werden zahmer", sagte er. "Es gibt mehr Möwen - sie sind die Putzkolonne auf den Müllhalden. Schwalben nisten auf den Dächern von Einkaufszentren (keine der in Amerika heimischen Schwalbenarten baut Lehmnester). Vor einigen Jahren brüteten auf dem Dach des SingingRiver-Einkaufszentrums in Gautier in Mississippi eintausend Schwalbenpaare. Drosseln nisten besonders gern in der Nähe von Einkaufszentren - sie mögen die typische Bepflanzung, am liebsten die Buschrosen, weil sie deren winzige Hagebutten gut herunterschlucken können. Ihnen gefällt auch der Trubel, sie sitzen dort herum und regeln den Verkehr." Wir hatten uns schon einige Stunden in Petersons Werkstatt unterhalten. Die Werkstatt war ein kleines Lager voller Kunst- und Wissenschaftsrequisiten - Staffeleien, Farben, Pinsel, Gemälde, Drucke, Landkarten, Kameras, Fotozubehör, Stammesmasken, Nachschlagewerke und Journale -, und am Ende meines Besuchs, als Petersen mich nach draußen begleitete, fragte ich: "Habe ich alles gesehen?" Oft kommt das Beste, nachdem man seinen Stift schon eingesteckt hat und zum Abschied noch ein paar Worte wechselt. Wenn der Befragte erleichtert ist, nachdem er einem Fremden sein Leben geschildert hat, fallen ihm meist noch ein paar wichtige Dinge ein. Auf meine Frage, ob ich auch alles gesehen hätte, sagte Peterson: "Möchten Sie meine Vogelsammlung sehen?" Ich sagte, unbedingt, und er führte mich hinunter zu einer Kellertür, schloss sie auf und schob mich in einen Raum voller Schränke und Schubladen - das typische Mobiliar, das es auch in den Museen kleiner Colleges gibt, die nie modernisiert wurden. Auch Darwin könnte solche Schubladenschränke gehabt haben. "Ich habe hier unten zweitausend Exemplare, die ich zu Forschungszwecken verwende", erzählte er mir. "Die meisten sind über hundert Jahre alt und immer noch zu gebrauchen. Er öffnete eine Schublade und nahm einen Vogel mit einem Schild, auf dem EICHELHÄHER, 10. APRIL 1882 stand, heraus. "Stellen Sie sich das vor! Dieser Vogel ist 112 Jahre alt", sagte er. Er öffnete ein paar weitere Schubladen und zeigte mir noch einige andere Spätviktorianer. Das Rizzoli-Buch, in dem viele wunderschöne Zeichnungen und Fotos abgedruckt sind, erschien 1995, und Peterson starb im Jahr darauf. Seine abenteuerliche Lebensreise war zu Ende, nachdem er "kaum mehr als 4 500" der 9 000 Vogelarten, die es auf der Erde gibt, gesehen hatte. Hat es mir Spaß gemacht, an den beiden Artikeln zu arbeiten? Das kann ich nicht unbedingt behaupten; dazu war Peterson zu ernst - nicht gerade ein Spaßvogel. Aber ich freute mich, dass ich eine schwierige Sache gemeistert hatte, die mich über die Grenzen meiner bisherigen Erfahrungen geführt hatte. Auch ich hatte einen seltenen Vogel gefangen, und als ich Peterson in die Schublade zu meinen anderen Exemplaren legte, dachte ich: Das war interessant.
Zwang In dem Schreibkurs "Menschen und Orte", den ich an der New School in Manhattan unterrichte, erzählen mir die Studenten oft, sie hätten eine Idee für einen Artikel, der gut in die Zeitschrift New York oder Sports Illustrated passen würde. Das ist das Letzte, was ich hören möchte. Sie können sich ihre Story bereits gedruckt vorstellen: die Überschrift, das Layout, die Fotos und - das Beste von allem - die Zeile mit ihrem Namen. Nun müssen sie nur noch schreiben. Mit dieser Fixierung auf den fertigen Artikel handeln sich Autoren eine Menge Probleme ein, weil sie sich nicht genug auf Form, Tonfall und Inhalt konzentrieren. Unsere westliche Kultur ehrt nur die Sieger: den Meister der ersten Liga, hohe Punktzahlen bei Tests. Trainer werden - 67 -
bezahlt, damit sie Mannschaften zum Sieg führen, Lehrer werden geschätzt, wenn ihre Schüler den Sprung an ein Elitecollege schaffen. Die weniger glamourösen Gewinne, die wir unterwegs erzielen - Wissen, Weisheit, Wachstum, Selbstvertrauen, die Fähigkeit, Niederlagen zu verkraften - werden nicht so hoch gehandelt, weil sie sich nicht benoten lassen. Für einen Schriftsteller ist die beste Note der Scheck. Die Frage die Berufsschriftstellern am häufigsten gestellt wird, lautet- "Wie kann ich das, was ich geschrieben habe, verkaufen?" Und es ist die einzige Frage, die ich nicht zu beantworten versuche. Teils, weil ich es nicht kann - ich habe keine Ahnung, wonach Verlage heute suchen, auch wenn ich es gern wüsste. Aber hauptsächlich, weil ich kein Interesse daran habe, Autoren beizubringen, wie man verkauft. Ich möchte ihnen beibringen, wie man schreibt. Wenn sie die Sache richtig angehen, dann wird ihr "Produkt" seinen Weg schon machen und sich wahrscheinlich auch verkaufen. Ich habe für meinen Schreibkurs an der New School for Social Research den Schwerpunkt "Menschen und Orte" gewählt, weil Menschen und Orte die Kernstücke eines Entwurfs sind. Ich dachte, wenn ich mich auf diese beiden Elemente konzentrieren würde, könnte ich meinen Studenten eine Menge von dem, was ein Nonfictionautor wissen muss, beibringen: wie sie das, worüber sie schreiben, an einen bestimmten Schauplatz verlegen, und wie sie die Menschen, die an diesem Schauplatz leben, erzählen lassen, was den Ort einzigartig macht oder was ihn einst einzigartig gemacht hat. Aber ich wollte auch ein Experiment durchführen. Als Redakteur und Lehrer habe ich festgestellt, dass die Fähigkeit, einen langen Artikel zu ordnen und die ganzen Puzzlestücke zusammenzufügen, in Nonfiction-Seminaren meist vernachlässigt wird. Autoren lernen endlos, einen klaren Satz zu formulieren. Aber wenn man sie bittet, etwas Längeres - einen Artikel oder ein Buch - zu schreiben, dann rollen die Sätze wie Murmeln über den Fußboden. Jeder Lektor, der lange Manuskripte liest, kennt diesen finsteren Moment, wenn das Chaos einfach nicht mehr zu retten ist. Der Autor hatte die ganze Zeit nur die Ziellinie vor Augen und hat sich keine Gedanken um das Rennen gemacht. Ich fragte mich, ob es möglich sei, Autoren ihre Verliebtheit in das fertige Werk auszutreiben. Plötzlich hatte ich eine radikale Idee: Ich würde einen Schreibkurs unterrichten, in dem niemand schreiben musste. Am ersten Abend - und auch an allen folgenden - bestand der Kurs aus zwei Dutzend Erwachsenen zwischen zwanzig und sechzig, fast alles Frauen. Ein paar waren Journalistinnen bei kleinen Lokalblättern, Fernsehsendern und Wirtschaftszeitschriften. Aber die meisten Kursteilnehmer hatten ganz alltägliche Jobs. Sie wollten schreibend herausfinden, wer sie heute sind, wer sie einst waren, und welches Erbe sie geprägt hat. In der ersten Stunde lernten wir uns kennen, und ich erklärte ein paar grundsätzliche Dinge zum Thema "Menschen und Orte". Am Schluss sagte ich: "Ich möchte, dass Sie uns nächste Woche etwas über einen Ort erzählen können, der Ihnen wichtig ist, und über den Sie schreiben möchten. Erzählen Sie uns, warum er Ihnen wichtig ist, und wie Sie ihn beschreiben möchten." Ich war noch nie ein Lehrer, der Schülerarbeiten gerne laut vorliest, es sei denn, sie sind außergewöhnlich gut. Die Menschen sind zu empfindlich, was ihre geschriebenen Worte angeht. Aber ich nahm an, sie wären vielleicht nicht so verletzbar, wenn es sich um etwas handelte, das sie nur dachten. Gedanken sind nicht auf geweihtem Papier festgehalten; sie können jederzeit geändert, neu geordnet oder verworfen werden. Trotzdem wusste ich nicht, was auf mich zukam. Die erste Freiwillige in der darauffolgenden Woche war eine junge Frau, die sagte, sie wolle über ihre kürzlich von einem schlimmen Feuer heimgesuchte Kirche auf der Fifth Avenue schreiben. Obwohl die Kirche inzwischen wieder benutzt wurde, waren ihre Wände rußig, das Holz verkohlt, und es roch nach Rauch. Die Frau fand das beunruhigend, und sie wollte für sich klären, was das Feuer für sie als Gemeindemitglied und für die Kirche bedeutete. Ich fragte sie, was sie schreiben würde. Sie sagte, sie würde vielleicht den Pastor interviewen, den Organisten, die Feuerwehrleute oder vielleicht den Küster oder den Chorleiter. - 68 -
"Das reicht weder Ihnen, noch mir, noch für diesen Kurs. Ich möchte, dass Sie tiefer gehen. Finden Sie etwas, das Sie mit dem Ort, über den Sie schreiben, verbindet." Die Frau fragte, was ich mir vorstellte. Ich sagte, ich zögere, ihr einen Vorschlag zu machen, weil die Kursteilnehmer mögliche Lösungen gemeinsam erarbeiten sollten. Aber da sie unser erstes Versuchskaninchen sei, würde ich es wagen. "Wenn Sie in den nächsten Wochen in die Kirche gehen", sagte ich, "dann setzen Sie sich einfach dorthin, und denken Sie über das Feuer nach. Nach drei oder vier Sonntagen wird Ihnen die Kirche sagen, was das Feuer bedeutet." Dann sagte ich: "Gott wird dieser Kirche sagen, sie solle Ihnen erzählen, was das Feuer bedeutet." Es ging ein leises Räuspern durch den Kursraum; Amerikaner sind ein bisschen empfindlich, wenn man von religiösen Dingen spricht. Aber die Studenten sahen, dass ich es ernst meinte, und von da an nahmen sie meine Idee ernst. Jede Woche lud uns jemand in sein Leben ein, erzählte von Orten, die sich mit seinen Interessen oder Gefühlen verbanden, und versuchte, einen Weg zu finden, darüber zu schreiben. In der ersten Hälfte der Stunde vermittelte ich handwerkliche Fertigkeiten und las Passagen von Nonfiction-Autoren vor, die jene Probleme gelöst hatten, mit denen die Studenten gerade kämpften. Die andere Hälfte der Stunde galt unserer Laborarbeit: Wir befassten uns mit dem Aufbau eines Textes. Das größte Problem dabei war die Dichte - aus einer wirren Sammlung von Fakten, Gefühlen und Erinnerungen eine zusammenhängende Geschichte zu destillieren. "Ich möchte einen Artikel über das Verschwinden kleiner Städte in Iowa schreiben", sagte eine Frau und schilderte, wie das Leben im Mittleren Westen immer haltloser geworden war, seit sie als Mädchen auf der Farm ihrer Großeltern gelebt hatte. Es war ein gutes amerikanisches Thema, ein wertvolles Stück Sozialgeschichte. Aber niemand kann einen Artikel über das Verschwinden kleiner Städte in Iowa schreiben; er bestünde aus Verallgemeinerungen, und das menschliche Element würde fehlen. Die Autorin müsste über eine Kleinstadt in Iowa schreiben, und auch dabei müsste sie sich beschränken: auf einen Laden, eine Familie oder einen Farmer. Wir sprachen über verschiedene Herangehensweisen, und die Autorin schraubte ihre Story Stück für Stück auf ein menschliches Maß herunter. Ein weiteres Problem war der Fokus. Welche von all den möglichen Stories, die Sie aus dem Ort herausfiltern könnten, ist Ihre Story? Eine Frau wollte über ihr Elternhaus in Michigan schreiben. Ihre Mutter war gestorben, das Haus war verkauft worden, und die Frau hatte vor, nach Hause zu fahren, um ihrem Vater und ihren zehn Geschwistern dabei zu helfen, das Haus zu räumen. Sie dachte, über ihren Besuch zu schreiben, würde ihr dabei helfen, ihre Kindheit in dieser großen katholischen Familie zu verstehen, und sie nahm sich vor, zunächst ihre Geschwister zu interviewen. Ich fragte sie, ob die Geschichte, die sie schreiben wollte, die Geschichte ihrer Brüder und Schwestern werden sollte. Nein, sagte sie, es sollte ihre eigene Geschichte werden. In dem Fall, sagte ich, seien die Interviews mit den Geschwistern so gut wie reine Zeit- und Kraftverschwendung. Daraufhin fand die Frau eine passende Form für ihre Story, und sie hatte den Kopf für ihre bevorstehende Reise frei. Ein weiteres Problem, das häufig auftauchte, drehte sich um Tonfall und Tempus. Eine Frau wollte über ihre Schulzeit in der Bronx schreiben, an die sie sich lebhaft erinnerte. Sie hatte ihre alte Schule vor kurzem besucht und wusste nicht, in welchem Ton sie die Geschichte erzählen sollte. Sollte sie aus der Sicht des einstigen Schulkindes schreiben, oder als die Frau, die sie inzwischen war, und die ihre Lebenserfahrung in die Zeit der kindlichen Unbeschwertheit übertrug? Diese Frage hat wohl jeden beschäftigt, der schon einmal versucht hat, Memoiren zu schreiben: Wessen Wirklichkeit ist die "wahre" Wirklichkeit? Darauf gibt es keine einzig gültige Antwort, aber sie muss vorher beantwortet werden. Leser haben keine Geduld mit ständig wechselnden Perspektiven und Tonfällen. Ich war erstaunt, wie oft meine Studenten plötzlich, nachdem sie sich lange im Dunkeln vorangetastet hatten, auf einen Weg stießen, den auch die anderen dann sofort als richtig erkannten. Ein Mann sagte, er wolle versuchen, etwas über den Ort zu schreiben, in dem er - 69 -
lebte, und hatte eine Idee: "Ich könnte über X. schreiben." X. war jedoch uninteressant und konturlos, das fand auch mein Student. Dasselbe galt für Y. und P., Q. und R., wie sich herausstellte, als der Mann weitere Fragmente aus seinem Leben ausbuddelte. Plötzlich stolperte er dabei ganz zufällig über M., eine längst vergessene Erinnerung, die scheinbar unwichtig aber zweifellos wahr war, und die alles enthielt, weswegen der Mann überhaupt über den Ort hatte schreiben wollen. "Das ist Ihre Story", sagten einige andere Studenten, und es stimmte. Der Mann hatte sich die Zeit nehmen dürfen, die Geschichte zu finden. Ich wollte meine Studenten von dem Zwang befreien, immer sofort zu handeln. Ich sagte ihnen, dass ich gerne bereit sei, ihre Stories zu lesen, falls sie sich dazu entschließen sollten, sie tatsächlich aufzuschreiben, auch wenn sie sie mir erst nach Ende des Kurses schicken würden, dass ich daran jedoch nicht vorrangig interessiert sei. Mir ging es hauptsächlich um den Prozess, nicht um das Produkt. Anfangs war ihnen das nicht so ganz geheuer. Wir waren schließlich in Amerika - sie wollten nicht nur bewertet werden, sie betrachteten es als ein Grundrecht. Eine ganze Reihe von ihnen wollten mich privat sprechen, fast schon heimlich, als wollten sie mich in ein schmuddeliges Geheimnis einweihen, und sagten: "Wissen Sie, das ist mein erster Schreibkurs, der nicht marktorientiert ist." Aber nach einer Weile fanden sie es befreiend, ohne den unerträglichen Druck ihrer Schul-, College- und Berufszeit im Nacken ("der Text muss bis Freitag fertig sein"), zu arbeiten. Sie entspannten sich, und es machte ihnen Spaß, die verschiedenen Wege, die zum Ziel führen könnten, zu überdenken. Einige dieser Wege waren gangbar, andere nicht. Das Recht, zu versagen, war ebenso befreiend wie das Recht, erfolgreich zu sein. Ich sagte meinen Schülern immer wieder, dass es viele gute Gründe fürs Schreiben gibt, die nichts mit einer möglichen Veröffentlichung zu tun haben. Für sich selbst zu schreiben, ist die beste Art, herauszufinden, wer Sie sind, was Sie wissen und was Sie denken. Auch macht es Freude, für Ihre Kinder oder Enkelkinder die Familiengeschichte oder Erinnerungen an Ihr eigenes Leben oder den Heimatort aufzuschreiben. Mein Vater, ein Geschäftsmann ohne literarischen Ehrgeiz, schrieb sowohl die Familiengeschichte als auch die Geschichte des Familienbetriebes auf und gab jedem seiner vier Kinder, seinen Schwiegersöhnen, seiner Schwiegertochter und seinen fünfzehn Enkelkindern ein Exemplar. Es war nicht der Stolz auf seine Vorfahren, der ihn dazu trieb; die Zinssers, so sagte er, "sind auf dem Heringskutter von Deutschland gekommen." Aber indem er noch einmal seine deutsch-amerikanischen Wurzeln und seine Jugendzeit im New York der Jahrhundertwende untersuchte, hatte er etwas, womit er sich als alter Mann, der nicht viele unterhaltsame Hobbies hatte, die Zeit vertreiben konnte. Seine beiden Familiengeschichten sind außerdem ein fesselndes Stück Sozialgeschichte. Jetzt, wo ich selbst älter bin, ertappe ich mich überraschend oft dabei, wie ich in ihnen lese. Die Wahl eines Ortes ist nur ein pädagogisches Mittel in meinem Kurs. Mein eigentliches Anliegen ist es, Autoren eine andere Haltung zu vermitteln, eine die sie beibehalten können, egal, was sie anschließend schreiben: sich für die Reise so viel Zeit zu nehmen, wie sie brauchen. Einer meiner Studenten, ein Rechtsanwalt Ende dreißig, brauchte für diese Reise drei Jahre. Eines Tages rief er mich an, um mir zu sagen, dass er das Thema, mit dem er im Kurs 1993 so gerungen hatte, endlich bezwungen habe. Würde ich mir die Arbeit einmal ansehen? Was kam, war ein 350-seitiges Manuskript. Ich gebe zu, dass ein Teil von mir keine 350 Seiten lesen wollte. Aber der größere Teil von mir freute sich, dass der Prozess, den ich in Gang gesetzt hatte, zu einem Ergebnis geführt hatte. Ich war auch gespannt, wie der Anwalt seine Schwierigkeiten gelöst hatte, denn ich erinnerte mich noch gut an sie. Der Ort, über den er hatte schreiben wollen, war die Provinzstadt in Connecticut, in der er aufgewachsen war, und sein Thema war Fußball. Als Junge hatte er in der Schulmannschaft gespielt und war dort mit fünf anderen Jungen eng befreundet gewesen, die von diesen Sport ebenso begeistert waren wie er. Er hatte über dieses Zusammengehörigkeitsgefühl schreiben - 70 -
wollen und darüber, wie dankbar er dem Sport dafür war. Es war ein gutes Thema - ein Rückblick. Das Zusammengehörigkeitsgefühl war so stark, dass sich die sechs Männer, die nun alle mittleren Alters waren und im Nordosten arbeiteten, weiterhin regelmäßig trafen. Auch darüber hatte er schreiben wollen - über seine Dankbarkeit für solch beständige Freundschaften. Das war auch ein gutes Thema: ein persönliches Essay. Aber da war noch mehr gewesen. Er hatte auch über die heutige Lage des Fußballs schreiben wollen. Er hatte die Idee gehabt, ehrenamtlich als Fußballtrainer an seiner alten Schule zu arbeiten und den Kontrast zwischen heute und gestern zu beschreiben. Auch das war ein gutes Thema: eine Reportage. Mir hatten die Geschichten des Anwalts gefallen - sie hatten mich in eine mir fremde Welt geführt, und seine Verbundenheit mit dieser Welt war vielversprechend. Aber mir war auch klar gewesen, dass er sich verrückt machen würde, und das hatte ich ihm auch gesagt. Unmöglich, all diese Geschichten unter einen Hut zu bringen. Er würde sich für eine entscheiden müssen. Wie sich herausstellte, hatte er alle Geschichten unter einen Hut gebracht, aber der hatte eher die Größe eines Sombreros: Der Anwalt hatte drei Jahre lang seine Freizeit dafür geopfert. Nachdem ich sein Manuskript, Der Herbst unseres Lebens, gelesen hatte, fragte er mich, ob es gut genug sei, um es einem Verlag anzubieten. Noch nicht, sagte ich ihm, eine Überarbeitung brauche es noch. Er dachte darüber nach und sagte: "Wo ich schon so weit gekommen bin, kann ich es ebenso gut zu Ende bringen." Ich habe das Gefühl, dass ich das Buch eines Tages im Laden sehen werde. "Aber selbst wenn es nie gedruckt wird", sagte er, "bin ich froh, dass ich die Sache durchgezogen habe. Ich kann gar nicht sagen, wie viel es mir gebracht hat, zu schildern, wie wichtig Fußball für mein Leben gewesen ist." Zwei Stichworte fallen mir zum Schluss noch ein: die Suche und die Absicht. Die Suche ist eines der ältesten Motive in der erzählenden Literatur - jemand beschreitet mutig Neuland -, und wir werden solcher Geschichten nie überdrüssig. Rückblickend fällt mir auf, dass viele meiner Studenten die Aufgabe, über einen ihnen wichtigen Ort nachzudenken, dazu nutzten, sich auf eine Expedition in die tiefen Schichten unterhalb dieses Ortes zu begeben, um dort nach einer Bedeutung, einer Erkenntnis oder einem Splitter aus der Vergangenheit zu suchen. Das führte dazu, dass unter den Studenten immer eine außergewöhnlich große Nähe herrschte, obwohl sie einander fremd waren. (Einige der Kurse hielten sogar Klassentreffen ab.) Bei jeder Expedition, auf die sich ein Student begab, suchte er etwas, das wir anderen auch suchten oder ersehnten. Fazit: Wenn Sie eine Geschichte in Form einer Suche oder Expedition erzählen können, werden Ihnen die Leser durch eigene Assoziationen einen Teil Ihrer Arbeit abnehmen. Absicht ist das, was wir mit dem, was wir schreiben, bewirken wollen. Wir können schreiben, um etwas zu loben und zu ehren oder wir können schreiben, um etwas zu entlarven und zu zerstören; die Entscheidung liegt bei uns. Zerstörung ist im Journalismus schon lange salonfähig: Belohnt werden Schnüffler und Schlächter, jene, die ohne Respekt vor der Privatsphäre anderer Menschen für eine brisante Story über Leichen gehen. Aber niemand kann uns zwingen, etwas zu schreiben, was wir nicht schreiben wollen. Unsere Absicht gehört uns. Nonfiction-Autoren vergessen oft, dass sie sich keiner Geschmacklosigkeit fügen, keinen Trash für Redakteure schreiben müssen, deren Tagesgeschäft ein ganz anderes ist - nämlich ein kommerzielles Produkt zu verkaufen. Schreiben ist Ausdruck Ihres Wesens. Sind Ihre Werte unverdorben, dann werden Sie auch unverdorben schreiben. Alles beginnt mit einer Absicht. Finden Sie heraus, was Sie tun wollen und wie Sie es tun wollen, und arbeiten Sie sich dann gradlinig bis zum letzten Satz Ihres Artikels oder Buchs vor. Das können Sie dann verkaufen.
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Entscheidungen In diesem Buch geht es um Entscheidungen - die zahllosen folgerichtigen Entscheidungen, die für den Schreibvorgang nötig sind. Einige davon sind große Entscheidungen ("Worüber könnte ich schreiben?"), und einige sind so winzig wie das winzigste Wort. Aber wichtig sind sie alle. Das vorige Kapitel handelte von großen Entscheidungen: Form, Aufbau, Dichte, Fokus und Absicht. Dieses Kapitel wird sich mit kleinen Entscheidungen befassen: den Hunderten von Möglichkeiten, einen langen Artikel zu ordnen. Ich habe mir gedacht, es wäre vielleicht hilfreich, wenn ich am Beispiel eines eigenen Artikels zeigen würde, wie diese Entscheidungen zustande kommen. Zu wissen, wie man einen langen Artikel gliedert, ist ebenso wichtig, wie zu wissen, wie man einen klaren und wohlklingenden Satz schreibt. All Ihre klaren und wohlklingenden Sätze werden auseinanderfallen, wenn Sie vergessen, dass Schreiben linear und folgerichtig sein muss, dass Logik der Leim ist, der die Sätze zusammenhält, dass Sie die Spannung von einem Satz zum nächsten, von einem Absatz zum nächsten und von einem Abschnitt zum nächsten aufrechterhalten müssen, und dass die beste Art, Ihre Leser mitzuziehen, ohne dass sie das Schlepptau spüren, die ist, ihnen etwas zu erzählen. Allerdings sollten Ihre Leser spüren, dass Sie einen vernünftigen Plan für Ihre gemeinsame Reise haben. Jeder Schritt sollte unvermeidlich erscheinen. Mein Artikel Neues aus Timbuktu, der im Conde Nast Traveller erschien, ist die Lösung eines Schriftstellers zu einem Problem, aber er ist beispielhaft für Dinge, die auf jeden längeren Nonfictiontext zutreffen. Ich werde zwischendurch Kommentare einfügen, die Ihnen erklären, wie ich zu meinen Entscheidungen gelangt bin. Die schwerste Entscheidung bei jedem Artikel ist immer: Wie fange ich an? Die Einleitung muss den Leser mit einer provokanten Idee packen und ihn anschließend festhalten, während Sie immer mehr Informationen liefern. Die Informationen sind nötig, damit der Leser so neugierig wird, dass er Sie bis zum Schluss begleitet. Mein erster Absatz bietet dem Leser eine Behauptung, über die er nachdenken kann, und über die er - hoffe ich - noch nie nachgedacht hat. Was mich am tiefsten berührte, als ich in Timbuktu ankam, waren die Straßen aus Sand. Mir wurde plötzlich klar, dass Sand etwas ganz anderes ist als Erde. Jede Stadt fängt mit Straßen aus Erde an, die irgendwann gepflastert werden, wenn die Einwohner zu mehr Wohlstand gelangen und sich ihren Lebensraum erobern. Aber Sand bedeutet Niederlage. Eine Stadt mit Straßen aus Sand ist eine Stadt am Abgrund. Fünf einfache Aussagesätze. Jeder enthält einen Gedanken und nur einen. Leser können nicht mehrere Gedanken gleichzeitig aufnehmen, sondern nur einen nach dem anderen, und zwar in logischer Reihenfolge. Schriftsteller machen sich oft das Leben schwer, weil sie versuchen, einem einzelnen Satz zuviel Inhalt aufzubürden. Scheuen Sie sich nie, einen langen Satz in zwei oder gar drei kurze Sätze aufzuteilen. Deshalb war ich natürlich dorthin gefahren: Timbuktu ist das Ziel für Gratwanderer. Von dem halben Dutzend Orten, die Reisende schon immer allein mit dem Klang ihres Namens angelockt haben - Bali und Tahiti, Samarkand und Fez, Mombasa und Macao -, kann es keiner mit der Abgeschiedenheit aufnehmen, für die Timbuktu steht. Ich war überrascht, wie viele Leute, denen ich von meiner Reise erzählte, dachten, Timbuktu gebe es in Wirklichkeit gar nicht. Und wenn sie wussten, dass es ein realer Ort war, dann hatten sie keine Ahnung, wo er sich befand. Als Wort war es ihnen geläufig — als Synonym für das fast Unerreichbare, als Geschenk des Himmels für Songwriter, die einen u-Reim brauchten, und als Metapher, die - 72 -
ausdrückte, wie weit ein liebestrunkener Jüngling wandern würde, um das Mädchen zu gewinnen, das nicht zu gewinnen war. Aber als echter Ort war Timbuktu doch bestimmt nur eins von diesen "längst niedergegangenen" afrikanischen Königreichen, so wie König Salomons unterirdisches Reich, das es gar nicht gegeben hatte, wie die viktorianischen Entdecker feststellten, als sie es suchten. Der erste Satz dieses zweiten Absatzes bezieht sich auf den letzten Satz des vorherigen Absatzes; der Leser hat keine Chance, zu entwischen. Ansonsten hat der Absatz nur einen Zweck: das aufzuführen, was der Leser über Timbuktu weiß - oder halbwegs weiß. Dadurch wird er als Mitreisender begrüßt, als jemand, der die Reise mit denselben Gefühlen antritt wie der Autor. Außerdem bekommt er ein paar weitere Informationen - keine harten Fakten, sondern unterhaltsame Dinge, die zu wissen nicht schadet. Im nächsten Absatz werden Arbeiten erledigt, die sich nicht weiter aufschieben lassen. Drei Sätze, randvoll mit Informationen: Timbuktu hingegen wurde gefunden, obwohl sich die Männer, die es unter fürchterlichen Beschwernissen endlich entdeckten, - der Schotte Gordon Laing 1826 und der Franzose Rene Callie 1828 - betrogen vorgekommen sein müssen. Die legendäre Stadt mit 100 000 Einwohnern, die der Reisende Leo Africanus im 16. Jahrhundert beschrieben hatte, - ein Ort der Lehre mit 20 000 Studenten und 180 Koranschulen - war eine heruntergekommene Siedlung aus Lehmbauten, deren Glanz und Bewohner längst verblichen waren, und die nur überlebt hatte, weil sie günstig am Schnittpunkt wichtiger Routen, auf denen die Kamelkarawanen die Sahara durchquerten, gelegen war. Viele der in Afrika gehandelten Waren, besonders Salz aus dem Norden und Gold aus dem Süden, wurden in Timbuktu gehandelt. Genug zur Geschichte Timbuktus und zum Grund, warum es so berühmt ist. Mehr braucht ein Zeitschriftenleser nicht über die Vergangenheit der Stadt und ihre Bedeutung zu wissen. Informieren Sie Zeitschriftenleser nicht eingehender als nötig; wenn Sie mehr erzählen möchten, schreiben Sie ein Buch, oder schreiben Sie für ein Fachjournal. Was wollen Ihre Leser als nächstes wissen? Stellen Sie sich diese Frage nach jedem Satz. Hier lautet meine Frage: Wieso bin ich nach Timbuktu gefahren? Der folgende Absatz befasst sich damit und sorgt dafür, dass der Faden des vorherigen Satzes straff gespannt bleibt: Ich war nach Timbuktu gekommen, um der Ankunft einer dieser Karawanen beizuwohnen. Ich war einer von sechs Männern und Frauen, die klug oder dumm genug - das konnten wir noch nicht sagen - gewesen waren, eine zweiwöchige Tour zu buchen, die ein kleines Reisebüro mit Hauptsitz in Frankreich, das sich auf Westafrika spezialisiert hatte, in der Sonntagsausgabe der New York Times angeboten hatte. (Timbuktu liegt in Mali, ehemals Französisch-Sudan.) Das Reisebüro ist in New York, und ich war am Montagmorgen gleich hingegangen, um dem Kundenansturm zuvorzukommen. Ich stellte die üblichen Fragen, bekam die üblichen Antworten - Gelbfieberimpfung, Choleraimpfung, Malariatabletten, kein Wasser dort trinken - und erhielt eine Broschüre. Abgesehen davon, dass der Absatz erklärt, wie es zu der Reise kam, erfüllt er eine weitere Aufgabe: die Persönlichkeit und die Stimme des Autors deutlich zu machen. Wenn Sie über eine Reise schreiben, dann vergessen Sie nie, dass Sie der Reiseleiter sind. Es reicht nicht, Ihre Leser einfach nur auf irgendeine Reise mitzunehmen; Sie müssen sie auf Ihre Reise mitnehmen. Bringen Sie sie dazu, sich mit Ihnen zu identifizieren - mit Ihren Hoffnungen und Befürchtungen. Dafür müssen sich die Leser ein Bild von Ihnen machen können. Die Wendung "klug oder dumm genug" erinnert an eine in der Reiseliteratur wohlbekannte Figur: an den geleimten oder linkischen Touristen. Die ironische Bemerkung, "um dem Kundenansturm zuvorzukommen", habe ich aus reinem Spaß an der Freude gemacht. Genaugenommen hätte ich nicht erst im vierten Absatz erwähnen dürfen, wo Timbuktu liegt. Aber ich habe einfach keine frühere Stelle finden können, an der ich es hätte einflechten können, ohne die Einleitung zu zerstören. Hier nun der fünfte Absatz: - 73 -
"Nutzen Sie die Chance zu einem Erlebnis der Extraklasse, und gönnen Sie sich eine Reise nach Timbuktu, um die diesjährige Ankunft der Azalai Salzkarawane zu bestaunen", begann die Broschüre. "Stellen Sie sich vor: Hunderte Kamele tragen riesige Salzplatten - von den Menschen im Landesinneren auch 'weißes Gold' genannt - und halten ihren triumphalen Einzug in Timbuktu, einem altertümlichen und sagenumwobenen Ort, halb Stadt, halb Wüste, in dem heute noch etwa 7 000 Menschen leben. Die farbenprächtigen Nomaden sind mit ihren Karawanen l 000 Meilen durch die Sahara gezogen, um das Ende ihrer beschwerlichen Reise mit einem großen Festmahl unter freiem Himmel und Stammestänzen zu feiern. Verbringen Sie die Nacht als Gast des Stammeshäuptlings in einem Wüstenzelt." Dies ist ein typisches Beispiel dafür, wie ein Autor andere Leute - deren Worte meist mehr offenbaren als seine eigenen - für sich arbeiten lassen kann. In diesem Fall erzählt der Auszug aus der Broschüre dem Leser nicht nur, welche Versprechungen dem Reisenden gemacht wurden, sondern belustigt ihn auch mit den Superlativen der Werbesprache. Halten Sie immer Ausschau nach lustigen Zitaten und solchen, die für sich selbst sprechen, und machen Sie dankbar davon Gebrauch. Nun der letzte Absatz der Einleitung: Solche Reisen sind genau mein Ding, auch wenn es solche Beschreibungen nicht unbedingt sind, und es stellte sich heraus, dass solche Reisen auch genau das Ding meiner Frau und vier weiterer Leute waren. Unser Alter reichte von der späten Lebensmitte bis hin zu Essen auf Rädern. Fünf von uns wohnten mitten in Manhattan, und eine Frau war eine Witwe aus Maryland. Wir alle teilten die lebenslange Vorliebe, unsere Ferien an Orten am Rande des Abgrunds zu verbringen. Namen wie Venedig oder Versailles kamen in den Gesprächen über unsere bisherigen Reisen nicht vor, auch nicht Marrakesch, Luxor oder Chiang Mai, sondern vielmehr Bhutan und Borneo, Tibet, der Jemen und die Gewürzinseln. Nun hatten wir es Allah sei Dank! - sogar nach Timbuktu geschafft. Unsere Kamelkarawane sollte bald eintreffen. Damit schließt die Einleitung. Für diese sechs Absätze habe ich ebenso lange gebraucht, wie für den ganzen Rest des Artikels. Als ich nach langem Ringen endlich alles am richtigen Platz hatte, war der Start überstanden. Vielleicht hätte jemand anders eine bessere Einleitung zu dieser Story schreiben können, ich aber nicht. Ich ging davon aus, dass jene Leser, die mir bis hierher gefolgt waren, nun auch noch bis zum Schluss dabeibleiben würden. Nicht minder wichtig als die richtige Reihenfolge sind die einzelnen Wörter. Banalität ist der Feind des guten Textes. Die Herausforderung liegt darin, nicht wie jedermann zu schreiben. Eine Einzelheit, die ich in der Einleitung nennen musste, war unser Alter. Anfangs stand da etwas, das sich bequemerweise angeboten hatte: "Wir waren alle in unseren Fünfzigern und Sechzigern" oder etwas in der Richtung. Aber das Bequemste ist meist auch das Lahmste. Ließ sich das Ganze nicht peppiger verpacken? Mir fiel nichts ein. Endlich schickte mir eine gnädige Muse das Essen auf Rädern. Wenn Sie lange genug suchen, dann finden Sie meist einen Namen oder eine Metapher, die graue aber wichtige Fakten lebendiger macht. Nachdem ich mich bei Venedig und Versailles einer Alliteration bedient hatte, blieb noch die Frage, welche leicht verrückten Orte sechs Leuten, die eine Reise nach Timbuktu gebucht hatten, banal vorkämen. Die drei, die ich schließlich auswählte - Luxor, Marrakesch und Chiang Mai - galten früher als recht exotisch, heute sind sie das nicht mehr. Alles in allem habe ich für den Satz fast eine Stunde gebraucht, was ich nicht bereue. Im Gegenteil - es war sehr befriedigend zu sehen, wie jedes Wort nachher genau an der richtigen Stelle stand. Beim Schreiben ist keine Entscheidung nebensächlich. Der Stern am Ende der Einleitung sagt dem Leser: Jetzt darfst du nach all den Fakten kurz durchatmen, und dann geht's weiter, diesmal in der etwas ruhigeren Gangart des Geschichtenerzählers: Um nach Timbuktu zu kommen, flogen wir von New York nach Abidjan, der Hauptstadt der Elfenbeinküste. Von dort aus ging es mit einem anderen Flugzeug weiter nach Bamako, der Hauptstadt des nördlich angrenzenden Mali. Anders als die üppig grüne Elfenbeinküste, ist - 74 -
Mali eher karg - der Süden wird hauptsächlich durch den Niger bewässert, der Norden besteht aus Wüste. Timbuktu ist der letzte Stop für Reisende, die durch die Sahara nach Norden ziehen wollen, oder der erste Stop für Reisende aus dem Norden - nach wochenlanger Hitze und Durst ein sehnsüchtig erwarteter Fleck am Horizont. Wir wussten alle nicht viel über Mali und was uns dort erwarten würde - unsere Gedanken kreisten allein um unser Rendezvous mit der Salzkarawane in Timbuktu, nicht um das Land, das wir durchqueren mussten, um dorthin zu gelangen. Wir hatten nicht gedacht, dass wir es auf Anhieb so bezaubernd finden würden. Mali badete in Farben: schöne Menschen, gekleidet in Stoffe mit berauschenden Mustern, Märkte voller Gemüse und leuchtender Früchte, Kinder, deren Lächeln ein alltägliches Wunder war. Das entsetzlich arme Mali war reich an Menschen. Das von Bäumen umrandete Bamako erfreute uns mit seiner Kraft und Zuversicht. Am nächsten Morgen standen wir früh auf und fuhren zehn Stunden in einem Kleinbus, der schon bessere - aber nicht viel bessere - Zeiten erlebt hatte, zur heiligen Stadt Djenne, einem mittelalterlichen Handelsknoten und Zentrum islamischer Studien am Niger, älter als Timbuktu und mit diesem ehemals im Wettstreit um Ruhm und Glanz. Heute kann man Djenne nur noch mit einer kleinen Fähre erreichen, und während unser Wagen über schlechte Straßen holperte, um uns noch vor Einbruch der Dunkelheit dorthin zu bringen, verspotteten uns die Turmspitzen und Kanzeln seiner großen, sandburgähnlichen Lehmmoschee, indem sie sich von uns zu entfernen schienen. Als wir endlich ankamen, sah die Moschee immer noch aus wie eine riesige, von Kindern am Strand gebaute Sandburg. "Sudanesische Bauweise" nannten die Architekten diesen Stil, wie ich später erfuhr; Kinder hatten also am Strand immer im sudanesischen Stil gebaut. Wir genossen es sehr, uns in der Abenddämmerung auf dem alten Marktplatz von Djenne aufzuhalten. Die nächsten zwei Tage waren nicht weniger eindrucksvoll. Einen verbrachten wir damit, zu den Dogon und wieder zurück zu fahren. Die Dogon, die auf einem für Fremde schwer zugänglichen Steilabhang leben, werden von Anthropologen wegen ihrer animistischen Kultur und ihres astronomischen Wissens und von Kunstsammlern wegen ihrer Masken und Statuen geschätzt. In den wenigen Stunden, in denen wir durch ihre Dörfer kletterten und uns einen Maskentanz anschauten, gelang uns nur ein viel zu kurzer Blick auf eine Gesellschaft, die alles andere als primitiv war. Den anderen Tag verbrachten wir in Mopte, einer pulsierenden Marktstadt am Niger, die uns sehr gefiel, und in der wir uns auch viel zu kurz aufhielten. Aber wir hatten schließlich eine Verabredung in Timbuktu und ein gechartertes Flugzeug, das uns dorthin bringen sollte. Natürlich gibt es viel mehr über Mali zu erzählen, als das, was ich in diese vier Absätze hineingepresst habe - viele Lehrbücher sind über die Kultur der Dogon und die Volksstämme am Niger geschrieben worden. Aber dies war kein Artikel über Mali, sondern einer über eine Expedition zu einer Kamelkarawane. Daher musste ich in diesem Rahmen bleiben. Ich beschloss, Mali so zügig wie möglich zu durchqueren, und so knapp wie möglich zu erzählen, welche Strecke wir gefahren waren, und was das Wichtigste an den Orten war, an denen wir angehalten hatten. In solchen Momenten frage ich mich immer: "Worum geht es im Text wirklich?" Auch wenn sie noch so begeistert von dem Material sind, das Sie mühsam zusammengesucht haben, sollten Sie es nicht verwenden, wenn es unerheblich für Ihre Story ist. An Masochismus grenzende Selbstdisziplin ist hier gefragt. Der einzige Trost ist, dass nichts wirklich verloren geht; alles bleibt schemenhaft in Ihrem Text erhalten, und der Leser kann es spüren. Leser sollten immer das Gefühl haben, dass Sie mehr über Ihr Thema wissen, als Sie geschrieben haben. Nun aber zurück zu unserer Verabredung in Timbuktu: Die genaue Datumsangabe hatte mich im Reisebüro am meisten stutzig gemacht. Ich hatte die Chefin gefragt, wie sie so sicher sein könne, dass die Salzkarawane am 2. Dezember ankommen würde; Nomaden, die Kamele durch die Wüste führen, entsprechen nicht unbedingt meinem Bild vom pünktlichen Beamten. Meine Frau, die nicht mit meinem Optimismus gestraft ist, was Naturgewalten wie Kamele und Reisebüros angeht, war sicher, dass - 75 -
wir in Timbuktu zu hören bekommen würden, dass die Salzkarawane schon da gewesen und wieder weg sei. Oder, noch wahrscheinlicher, dass dort noch nie jemand von einer Salzkarawane gehört hatte. Die Frau im Reisebüro hatte mich spöttisch gemustert und gesagt: "Wir stehen immer in Verbindung mit der Karawane. Wir schicken Späher in die Wüste. Wenn sie uns sagen, dass die Karawane ein paar Tage später ankommt, dann passen wir Ihr sonstiges Mali-Programm daran an." Für mich hatte das sinnvoll geklungen - für Optimisten klingt alles sinnvoll - und nun befand ich mich in einem Flugzeug, das nicht viel größer war als das von Lindbergh, und flog Richtung Norden nach Timbuktu, über Gebiete, die so unfruchtbar waren, dass kein Mensch sich dort unten angesiedelt hatte. Gleichzeitig zogen jedoch Hunderte von Kamelen mit riesigen Salzplatten nach Süden, um mich zu treffen. Stammeshäuptlinge grübelten, wie sie mich am besten in ihrem Wüstenzelt unterhalten könnten. Beide Absätze enthalten kleine Spaße, um mich selbst bei Laune zu halten. Sie dienen außerdem dazu, den Erzähler als Person zu zeigen. Einer der ältesten Kniffe sowohl in der Reise- als auch in der humoristischen Literatur ist die Leichtgläubigkeit des Erzählers. Sich zum Naivling oder zum Dummkopf zu machen, ist ein Stilmittel, das, in Maßen angewandt, dem Leser die Freude macht, sich überlegen zu fühlen. Unser Pilot kreiste über Timbuktu, damit wir einen Gesamteindruck von der Stadt erhielten, die uns eine so weite Reise wert gewesen war. Wir blickten hinunter auf eine ungeordnete Ansammlung von Lehmbauten, in denen schon lange niemand mehr zu wohnen schien. Der Ort wirkte so tot wie Fort Zinderneuf am Ende von Beau Geste; bestimmt lebte da unten kein Mensch mehr. Die unersättliche Sahara, die einen Gürtel der Dürre, die Sahelzone, mitten um den afrikanischen Kontinent gelegt hatte, war schon lange über Timbuktu hinweggewandert und hatte es sich selbst überlassen. Ich spürte ein ängstliches Zittern; ich wollte an so einem verlassenen Ort nicht abgesetzt werden. Ich habe den Film Beau Geste erwähnt, um Erinnerungen an den sadistischen Fremdenlegionärskommandanten, der die Leichen seiner Soldaten wieder in die Nischen seines Forts zurückgestellt hat, beim Leser zu wecken. Die Legende um Timbuktu stammt zum Großteil aus Hollywood. Am Flughafen empfing uns unser Reiseleiter, ein Tuareg namens Mohammed Ali. Für uns war er ein tröstlicher Anblick. Wenn dieser Teil der Sahara jemandem gehört, dann den Tuareg, einem stolzen Berberstamm, der sich weder den Arabern noch später den französischen Siedlern unterwarf, sondern sich ins Innere der Wüste zurückzog. Mohammed Ali, der die traditionelle blaue Robe der Tuaregmänner trug, hatte ein dunkles, intelligentes Gesicht, leicht arabisch in seiner Kantigkeit, und er bewegte sich mit einer Geradlinigkeit, die offenbar zu seinem Charakter gehörte. Als Teenager war er, wie sich herausstellte, mit seinem Vater auf die Haj nach Mekka gegangen (viele Tuareg sind zum Islam übergetreten) und hatte sieben Jahre auf der arabischen Halbinsel und in Ägypten verbracht, um Englisch, Französisch und Arabisch zu lernen. Mohammed Ali sagte, er müsse erst mit uns zum Polizeirevier gehen, um unsere Reisepässe überprüfen zu lassen. Ich habe schon zu viele Filme gesehen, um bei solcherlei Interviews gelassen zu bleiben. Als wir in dem kerkerähnlichen Raum saßen und gleich neben einer Gefängniszelle verhört wurden, in der ein Mann und ein Junge schliefen, musste ich an eine Filmszene aus Vier Federn denken, in der britische Soldaten gezeigt werden, die schon ewig in Omdurman eingesperrt sind. Das Gefühl der Erniedrigung verflog auch nicht, als wir endlich laufen gelassen wurden und Mohammed Ali uns durch die Geisterstadt führte, um uns ihre wenigen "Sehenswürdigkeiten" zu zeigen: die große Moschee, den Markt und drei baufällige Häuser, auf denen Schilder daran erinnerten, dass in ihnen einst Gordon Laing, Rene Caillie und der deutsche Forscher Heinrich Barth gewohnt hatten. Andere Touristen sahen wir nicht. Jeder Leser, der den Film Vier Federn gesehen hat, wird bei dem Vergleich leicht erschauern. - 76 -
Dass der Film obendrein auf einer wahren Begebenheit beruht, macht die Anspielung noch gruseliger. Offenbar kennt die arabische Justiz im Vorhof der Sahara noch immer keine Gnade. Und wieder endet der Abschnitt mit einem Stern, der besagt: Das war alles zu Timbuktu. Nun kommen wir zu dem, worum sich diese Geschichte eigentlich dreht: zur Kamelkarawane. Einen langen und komplexen Artikel in solche Abschnitte zu unterteilen, macht es nicht nur dem Leser leichter, Ihrer Route zu folgen. Es nimmt Ihnen auch ein wenig die Angst vor dem Schreiben, wenn Sie Ihren Stoff in überschaubare Einheiten aufteilen, die Sie einzeln bearbeiten können. Im Azalai Hotel, wo wir anscheinend die einzigen Gäste waren, fragten wir Mohammed Ali, wie viele Touristen denn in Timbuktu seien, um die Salzkarawane zu begrüßen. "Sechs", sagte er. "Sie." "Aber..." Irgendwas in mir wollte den Satz nicht zu Ende führen. Ich nahm einen neuen Anlauf: "Ich verstehe nicht, was 'Azalai' bedeutet. Warum heißt die Karawane 'Azalai Salzkarawane'?" "Die Franzosen haben sie so genannt", sagte er, "als sie die Karawane so organisierten, dass die Kamele die Tour gemeinsam einmal im Jahr Anfang Dezember machen konnten." "Und wie läuft es heute?" fragten mehrere Stimmen gleichzeitig. "Na ja, als Mali unabhängig wurde, durften wieder alle Händler ihr Salz bringen, wann sie wollten." Mali hatte seine Unabhängigkeit 1960 erhalten. Wir waren wegen eines Ereignisses in Timbuktu, das seit 27 Jahren nicht mehr stattfand. Der letzte Satz platzt in der Story wie eine kleine Bombe. Er spricht für sich selbst, ohne Kommentar und ohne ein Ausrufezeichen, das den Leser darauf hinweist, dass der Moment überraschend war. Das hätte dem Leser den Spaß verdorben. Vertrauen Sie Ihrem Stoff. Meine Frau und einige andere überraschte das gar nicht. Wir nahmen es mit Fassung: alte Globetrotter, die darauf vertrauten, dass sie schon irgendwie eine Kamelkarawane zu Gesicht bekommen würden. Wir waren nur erstaunt, dass das Wahrheitsgebot der Werbung so schamlos gebrochen worden war. Mohammed Ali wusste nichts von den überschwänglichen Versprechungen in der Broschüre des Reisbüros. Er wusste nur, dass er angeheuert worden war, um uns zu einer Salzkarawane zu führen, und er sagte uns, dass wir am nächsten Morgen aufbrechen würden, um eine zu suchen, und dass wir dann in der Sahara übernachten würden. Normalerweise, sagte er, kämen die ersten Karawanen so Anfang Dezember an. Von einem Häuptlingszelt sagte er nichts. Ich erwähne das Zelt, um mich über die Broschüre lustig zu machen. Solche "Pointen" am Ende eines Absatzes treiben den Leser weiter zum nächsten Absatz und halten ihn bei Laune. Morgens sagte meine Frau - die Stimme der Vernunft am Abgrund zur Ewigkeit -, dass sie nicht mit in die Sahara kommen würde, wenn wir nicht mit zwei Autos fahren würden. Daher war ich froh, als ich die beiden Land Rover sah, die vor dem Hotel auf uns warteten. Bei einem wurde gerade ein Vorderreifen aufgepumpt - von einem Jungen mit einer Fahrradpumpe. Vier von uns quetschten sich auf den Rücksitz des einen Wagens; Mohammed Ali saß vorn neben dem Fahrer. Im zweiten Wagen saßen die beiden anderen Leute aus unserer Gruppe und zwei Jungen, die uns als "Lehrlinge" vorgestellt wurden. Was für eine Lehre sie da absolvierten, sagte niemand. Noch eine Schreckensmeldung, die keiner weiteren Ausschmückung bedarf - die Sache mit der Luftpumpe -, und wieder ein kleiner Scherz am Schluss. Wir fuhren querfeldein in die Sahara. Die Wüste war eine endlose braune Decke ohne Spuren oder Wege; die nächste große Stadt war Algier. Das war der Moment, in dem ich mich dem Abgrund am nächsten fühlte, und eine kleinlaute Stimme in mir sagte: "Das ist verrückt. Was tun wir hier eigentlich?" Aber ich wusste, was wir hier taten. Ich folgte den Spuren, die ich bis zu meinen ersten Begegnungen mit den Büchern britischer "Wüstenexzentriker" - 77 -
zurückverfolgen konnte - Einzelgänger wie Charles Doughty, Sir Richard Burton, T. E. Lawrence und Wilfred Thesiger, die alle bei den Beduinen gelebt hatten. Ich hatte schon immer wissen wollen, wie ein so karges Leben wohl sein mochte. Was fanden diese besessenen Engländer nur daran? Doughty und seine Landsleute erinnern daran, dass die Wüste nicht nur große Filme, sondern auch große Literatur hervorgebracht hat. Ich will dem Leser meine durch Filme und Bücher geprägten emotionalen Erwartungen nicht vorenthalten. So langsam fing ich an, es zu begreifen. Während wir über den Sand fuhren, gab Mohammed Ali dem Fahrer hin und wieder ein Zeichen: etwas weiter nach rechts, ein bisschen mehr links. Wir fragten, woher er wisse, wie wir fahren mussten. Er sagte, er könne das an den Dünen erkennen. Die Dünen sahen jedoch alle gleich aus. Wir fragten, wie lange es dauern würde, bis wir eine Salzkarawane finden würden. Mohammed Ali sagte, er hoffe, nicht länger als drei oder vier Stunden. Wir fuhren weiter. Für meine Augen, die daran gewöhnt waren, Objekte zu suchen, gab es so gut wie nichts zu sehen. Aber nach einer Weile wurde dieses Sogut-wie-nichts selbst zum Objekt - das war das Wesen der Wüste. Ich versuchte, mich damit abzufinden, und irgendwann vergaß ich völlig, warum wir hergekommen waren. Plötzlich bog der Fahrer scharf nach links ab und hielt an. "Kamele", sagte er. Ich strengte meine Städteraugen an, sah aber nichts. Dann machte ich in großer Ferne etwas aus: eine Karawane von vierzig Kamelen, die bedächtigen Schrittes Richtung Timbuktu zog, wie es die Karawanen mit Salz aus den Minen bei Taoudenni, welche zwanzig Tage entfernt im Norden lagen, seit tausend Jahren getan hatten. Wir fuhren nur bis auf etwa hundert Meter an die Karawane heran - Mohammed Ali erklärte uns, Kamele seien scheue Tiere, die leicht in Panik gerieten, wenn etwas "Ungewöhnliches" passiere. (Keine Frage, ungewöhnlich waren wir.) Er sagte, die Kamele würden immer erst spät nachts, wenn die Straßen menschenleer seien, in die Stadt geführt, um das Salz abzuladen. So viel zum "triumphalen Einzug". Es war ein packender Anblick, viel dramatischer als ein organisierter Marsch. Die Einsamkeit dieser Karawane war die Einsamkeit aller Karawanen, die je die Sahara durchquert hatten. Die Kamele waren aneinandergebunden und schienen im Gleichschritt zu laufen - mit ihrem wogenden Rhythmus erinnerten sie an ein Fernsehballett. Jedes Kamel trug vier Salzplatten zwei auf jeder Seite. Das Salz sah aus wie schmutzigweißer Marmor. Die Platten (die ich später auf dem Markt in Timbuktu ausgemessen habe) waren einen Meter lang, einen halben Meter breit und knapp zwei Zentimeter dick. Wahrscheinlich das Maximum an Größe und Gewicht, das ein Kamel tragen konnte. Wir saßen im Sand und beobachteten die Karawane, bis das letzte Kamel hinter einer Düne verschwunden war. Ich erzähle einfach die Geschichte - ein Aussagesatz nach dem anderen. Die einzig schwere Entscheidung betraf das Wort "Einsamkeit". Es ist nicht gerade mein Lieblingswort - es ist zu "poetisch". Aber ich kam zu dem Schluss, dass kein anderes Wort dieselbe Aufgabe hätte erfüllen können, also gab ich der Einsamkeit nach. Inzwischen war es Mittag, und in der Sonne war es entsetzlich heiß. Wir stiegen wieder in unsere Land Rover und fuhren noch ein Stück weiter in die Wüste hinein, bis Mohammed Ali einen Baum entdeckte, dessen Schatten gerade groß genug für fünf New Yorker und eine Witwe aus Maryland war. Dort blieben wir bis gegen vier Uhr, machten ein Picknick, starrten auf die ausgebleichte Landschaft, dösten ein wenig und zogen unsere Decke immer mal wieder in den wandernden Schatten. Die beiden Fahrer verbrachten die ganze Siesta damit, am Motor eines der Land Rover herumzubasteln und ihn - wie es aussah - auseinander zu nehmen. Fin Nomade erschien aus dem Nichts und fragte, ob wir Chinin dabei hätten. Ein weiterer Nomade erschien aus dem Nichts, um irgendwas zu erzählen. Später sahen wir zwei Männer, die über den Sand auf uns zukamen und hinter ihnen... unsere erste Fata Morgana? Es war eine weitere Salzkarawane, diesmal fünfzig Kamele lang, deren Silhouette sich gegen den Himmel abzeichnete. Die beiden Männer hatten uns aus Gott weiß was für einer - 78 -
Entfernung von der Karawane aus erblickt und waren auf einen Besuch zu uns herübergekommen. Sie setzten sich zu Mohammed Ali und hörten sich das Neueste aus Timbuktu an. Der schwerste Satz war der über die Fahrer, die am Land Rover herumbastelten. Ich wollte, dass er so schlicht wie die anderen Sätze war und trotzdem eine kleine Überraschung enthielt - einen lustigen Schnörkel. Ansonsten wollte ich die Geschichte möglichst einfach zu Ende erzählen: So verstrichen unmerklich vier Stunden, als wären wir in eine andere Zeitzone gerutscht — in die Saharazeit -, und als am späten Nachmittag die Sonne tiefer gewandert war, stiegen wir wieder in unsere Land Rover, die zu meiner Überraschung noch fahrtüchtig waren, und fuhren durch die Sahara zu dem, was Mohammed Ali unser "Zeltlager" nannte. Ich stellte mir darunter, wenn schon kein Häuptlingszelt, so doch wenigstens ein Zelt vor - irgendwas jedenfalls, das die Bezeichnung "Zeltlager" verdient hatte. Als wir schließlich anhielten, war es ein Fleck in der Landschaft, der dem, worüber wir die ganze Zeit gefahren waren, täuschend ähnlich sah. Allerdings stand da ein kleiner Baum. Unter ihm hockten ein paar Beduinenfrauen — schwarz vermummte Gestalten mit verschleierten Gesichtern und Mohammed Ali setzte uns neben ihnen im Sand ab. Die Frauen schreckten vor uns zurück - weiße Aliens, die plötzlich mitten unter ihnen abgeworfen worden waren. So dicht, wie sie aneinander kauerten, sahen sie aus wie eine Zeltplane. Offenbar hatte Mohammed Ali einfach beim Erstbesten angehalten, von dem er dachte, es sei "ortstypisch" und interessant für seine Touristen, und hatte dann gedacht, wir kämen schon allein zurecht. Wir konnten nur dort sitzen und versuchen, freundlich auszusehen. Aber uns war klar, dass wir Eindringlinge waren, und wahrscheinlich war uns anzusehen, wie unbehaglich wir uns fühlten. Erst nachdem wir eine Weile dort gesessen hatten, löste sich die schwarze Zeltplane langsam auf und verwandelte sich in vier Frauen, drei Kinder und zwei nackte Säuglinge. Mohammed Ali war irgendwohin entschwunden - anscheinend wollte er mit den Beduinen nichts zu tun haben; als Tuareg betrachtete er sie vielleicht als Wüstengesindel. Aber die Beduinen hatten die Würde, uns die Beklommenheit zu nehmen. Eine der Frauen zog ihren Schleier herunter und bedachte uns mit einem Filmstarlächeln - weiße Zähne und leuchtende schwarze Augen in einem hübschen Gesicht. Sie wühlte in ihren Habseligkeiten, zog eine Decke und eine Strohmatte heraus und brachte beides zu uns herüber, damit wir darauf sitzen konnten. Ich erinnerte mich, dass in allen Büchern gestanden hatte, es gäbe in der Wüste keine Eindringlinge; jeder der auftaucht, kommt irgendwie erwartet. Wenig später kamen zwei Beduinenmänner aus der Wüste und machten die Familie komplett, welche, wie wir jetzt sahen, aus zwei Männern, ihren jeweils zwei Frauen und ihren Kindern bestand. Der ältere Ehemann, der ein markantes und schönes Gesicht hatte, begrüßte seine beiden Frauen mit einem sanften Klaps auf den Kopf, so als würde er sie segnen, und setzte sich dann in meine Nähe. Eine der Frauen brachte ihm sein Abendessen - irgendeinen Brei in einer Schüssel. Er bot mir sofort die Schüssel an. Ich lehnte ab, aber das Angebot werde ich nie vergessen. Wir leisteten ihm schweigend Gesellschaft, während er aß. Die Kinder kamen herüber, um uns kennen zu lernen. Die Sonne ging unter, und über der Sahara erschien der Vollmond. Inzwischen hatten unsere Fahrer neben den beiden Wagen ein paar Decken ausgelegt und mit Wüstenholz ein Lagerfeuer entfacht. Wir zogen auf unsere eigenen Decken um, betrachteten die Sterne am Wüstenhimmel, aßen irgendwas Hähnchenähnliches zu Abend und machten uns fertig für die Nacht. Badezimmer gab es ja genügend - für jeden ein eigenes. Wir waren vor den kalten Nächten in der Sahara gewarnt worden und hatten Pullover dabei. Ich zog einen an, rollte mich in meine Decke, was den harten Wüstenboden etwas weicher machte, und schlief ein, umgeben von unendlicher Stille. Eine Stunde später erwachte ich von einem ebenso unendlichen Spektakel - unsere Beduinenfamilie hatte ihre Ziegenherde und ihre Kamele für die Nacht heimgetrieben. Dann wurde es wieder still. Am Morgen entdeckte ich Pfotenabdrücke im Sand neben meiner Decke. Mohammed Ali - 79 -
sagte, sie seien von einem Schakal, der herbeigekommen war, um sich die Reste von unserem Abendessen zu holen - wenn ich an das Hähnchen zurückdachte, mussten es eine ganze Menge Reste gewesen sein. Aber ich hatte nichts gehört. Zu sehr war ich in meinem Traum gefangen gewesen, in dem ich Lawrence von Arabien war. [Ende] Es ist wichtig zu entscheiden, wo ein Text enden soll. Oft sagt Ihnen die Geschichte, wann sie aufhören möchte. Das obige Ende ist ein anderes als das, welches ich ursprünglich im Sinn hatte. Da das Ziel unserer Reise ja die Salzkarawane war, dachte ich, ich müsse dafür sorgen, dass sich der Kreis schließt: Ich würde schildern, wie wir wieder nach Timbuktu zurückfuhren, und wie das Salz abgeladen, zum Markt getragen und dort verkauft wurde. Aber je näher ich diesem Ende kam, desto weniger wollte ich es schreiben. Es erschien mir wie eine Fronarbeit, weder für mich ein Genuss noch für den Leser. Dann fiel mir ein, dass ich nicht verpflichtet war, alles haarklein zu schildern. Der eigentliche Höhepunkt war nicht, die Salzkarawane zu finden, sondern die zeitlose Gastfreundschaft der Menschen in der Sahara zu entdecken. Nicht viele Momente in meinem Leben reichen an jenen heran, als die Nomadenfamilie, welche fast nichts besaß, anbot, ihr Abendessen mit uns zu teilen. Auch gab es keinen Moment, der so lebhaft illustrierte, was ich eigentlich in der Wüste suchte, und worüber diese ganzen Engländer geschrieben hatten - die Gastfreundschaft der Gratwanderer. Wenn Ihnen Ihr Stoff so etwas zuflüstert - wenn Ihnen Ihre Geschichte sagt, dass sie zu Ende ist, egal was danach noch alles passiert ist -, dann suchen Sie nach dem Ausgang. Ich habe mich schnell verabschiedet, nachdem ich mich davon überzeugt hatte, dass alles zusammenpasste - dass der schreibende Reiseleiter vom Anfang derselbe war wie der am Schluss. Ich war froh, dass ich einfach aufhören konnte, nicht nur weil ich mich nicht weiter abmühen musste und das Puzzle fertig hatte, sondern weil mir das Ende stimmig erschien. Die Entscheidung war richtig. Zum Schluss noch ein Postskriptum: Auch der Nonfictionautor ist seines Glückes Schmied. Ich sage mir oft: "Los, mach dich auf den Weg." Wenn ein Thema Sie interessiert, sehen Sie zu, dass Sie drankommen, selbst wenn Sie dazu in den nächsten Bezirk, das nächste Land oder auf den nächsten Kontinent reisen müssen. Das Thema kommt nicht zu Ihnen. Entscheiden sie sich, was Sie tun wollen. Beschließen Sie dann, es zu tun. Und tun Sie's.
Schreiben Sie so gut Sie können Gelegentlich werde ich gefragt, ob ich mich noch an den Moment erinnern könne, in dem mir klar wurde, dass ich Schriftsteller werden wollte. Es hat einen solch blendenden Blitz der Erkenntnis nicht gegeben; ich wusste nur, dass ich für eine Zeitung arbeiten wollte. Allerdings gab es bestimmte Voraussetzungen, die mich schon in jungen Jahren beeinflussten, und die mich seither geleitet haben. Sie kamen auf unterschiedlichen Wegen von beiden Seiten meiner Familie. Meine Mutter liebte alles, was gut geschrieben war, und sie fand es ebenso oft in Zeitungen wie in Büchern. Sie schnitt regelmäßig Kolumnen und Artikel aus der Zeitung aus, die ihr gefielen, weil sie sprachlich besonders gelungen oder witzig waren, oder weil sie eine originelle Sicht des Lebens enthielten. Durch sie lernte ich schon sehr früh, dass gut Geschriebenes überall zu finden ist, sogar in der einfachen Tageszeitung, und dass es auf den Text ankommt und nicht darauf, in welchem Medium er veröffentlicht wird. Darum habe ich immer versucht, nach meinen eigenen Maßstäben so gut zu schreiben, wie ich konnte. Ich habe nie meinen Stil verändert, um ihn der vermuteten Breite und Bildung einer Leserschaft, - 80 -
für die ich schrieb, anzupassen. Meine Mutter war eine Frau voller Humor und Optimismus, damit schreibt und lebt es sich leichter, und ein Schriftsteller, der diese Eigenschaften in sich trägt, beginnt den Tag mit einer Extraportion Selbstvertrauen. Eigentlich sollte ich überhaupt nicht Schriftsteller werden. Mein Vater war Geschäftsmann. Sein Großvater war 1848 mit der großen Einwandererwelle aus Deutschland gekommen, in der Tasche eine Formel zur Herstellung von Schellack. Er baute ein kleines Haus und eine Fabrik auf einem steinigen Acker weit oben in Manhattan - dort wo jetzt die 59th Street und die Tenth Avenue liegen - und gründete einen Betrieb, William Zinsser & Company. Ich habe noch ein Foto von dieser ländlichen Gegend. Das Grundstück hatte ein Gefälle, das bis hinunter zum Hudson River reichte, und das einzige Lebewesen auf dem Bild ist eine Ziege. Der Betrieb blieb an diesem Standort, bis er 1973 nach New Jersey umzog. Es ist selten, dass ein Betrieb über ein Jahrhundert lang in derselben Familie und am selben Ort bleibt, und als Junge konnte ich den ständigen Andeutungen, dass das Erbe fortgeführt werden müsse, nicht entfliehen. Ich war der vierte William Zinsser und der einzige Sohn. Es war das Schicksal meines Vaters gewesen, zuerst drei Töchter zu bekommen. Die Erkenntnis, dass Töchter einen Betrieb ebenso gut wie Söhne - oder besser - führen konnten, trat erst zwei Jahrzehnte später hinter dem Mond hervor. Mein Vater war ein Mann, der sein Geschäft liebte. Wenn er davon sprach, hatte ich nie das Gefühl, dass er es als zufällig florierende Einnahmequelle betrachte. Für ihn war es eine Kunst, die mit Phantasie und den besten Werkstoffen ausgeübt werden musste. Er hatte eine Leidenschaft für gute Qualität und hielt nichts von zweitklassigen Dingen. Nie hat er einen Laden betreten, um dort nach Sonderangeboten zu suchen. Er verlangte einen höheren Preis für sein Produkt, weil es nur die besten Zutaten enthielt, und sein Geschäft blühte. Meine Zukunft war damit gesichert, und mein Vater freute sich schon auf den Tag, an dem ich mich zu ihm gesellen würde. Aber es kam unvermeidlich anders. Kurz nachdem ich bei der New York Herald Tribune angefangen hatte, musste ich meinem Vater sagen, dass ich den Familienbetrieb nicht weiterführen würde. Er nahm die Nachricht mit seiner gewohnten Großzügigkeit entgegen und wünschte mir Glück. Niemand hätte ein schöneres Geschenk erhalten können. Ich war davon befreit, Erwartungen eines anderen Menschen erfüllen zu müssen, die nicht zu mir passten. Ich hatte die Freiheit, es unter selbstgewählten Bedingungen zu schaffen oder unterzugehen. Erst später merkte ich, dass mein Vater mir ein weiteres Geschenk mit auf den Weg gegeben hatte: die tiefe Überzeugung, dass gute Qualität ihr eigener Lohn ist. Ich selbst habe auch noch nie einen Laden betreten, um dort nach einem Sonderangebot zu suchen. Obwohl meine Mutter die Literarische in unserer Familie war - sie sammelte Bücher wie eine Elster, liebte die englische Sprache und schrieb wunderschöne Briefe -, habe ich meine handwerklichen Richtlinien aus der Geschäftswelt übernommen. Jedes Mal, wenn ich meine Texte wieder und wieder überarbeitete, fest entschlossen, besser zu schreiben als jeder andere, der auf derselben Seite abgedruckt werden wollte, war meine innere Stimme die Stimme meines Vaters, der über Schellack sprach. Ich wollte nicht nur so gut, sondern auch so unterhaltsam wie möglich schreiben. Wenn ich angehenden Autoren sage, sie sollten sich selbst auch als Entertainer betrachten, dann hören sie das nicht gern - das Wort erinnert an Rummel, Jongleure und Clowns. Aber wenn Sie erfolgreich sein wollen, dann müssen Sie dafür sorgen, dass Ihr Artikel aus einer Zeitung oder einem Magazin herausspringt und vergnüglicher ist als die Artikel aller anderen Autoren. Sie müssen sich etwas einfallen lassen, das Ihren Text unterhaltsam macht. Das bedeutet normalerweise, dass Sie den Leser angenehm überraschen müssen. Und das geht mit allen möglichen Mitteln: mit etwas Witzigem, einer Anekdote, etwas Paradoxem, einem überraschenden Zitat, einer wichtigen Tatsache, einem verrückten Detail, mit Umstandskrämerei oder einer eleganten Formulierung. Diese Dinge, die scheinbar nur zum Vergnügen eingeflochten sind, werden zu Ihrem "Stil". Wenn wir sagen, der Stil eines - 81 -
Schriftstellers gefalle uns, meinen wir damit die Art, wie er seine Persönlichkeit aufs Papier bringt. Wenn wir uns zwischen zwei Reisebegleitern entscheiden sollen - und ein Schriftsteller ist jemand, der uns bittet, mit ihm zu verreisen -, dann fahren wir lieber mit jenem, von dem wir uns die amüsantere Reise versprechen. Anders als die Medizin oder andere Wissenschaften, hält das Schreiben keine neuen Entdeckungen für uns bereit. Wir werden nicht plötzlich in der Tageszeitung lesen, dass ein Durchbruch beim Formulieren eines verständlichen englischen Satzes erzielt wurde. Wie das geht, wissen wir schon, seit König James die Bibel übersetzt hat. Wir wissen, dass Verben lebendiger sind als Nomen, dass aktive Verben besser sind als passive, dass kurze Wörter und Sätze leichter lesbar sind als lange, und dass konkrete Einzelheiten eingängiger sind als vage Abstraktionen. Sicherlich sind diese Regeln schon oft verbogen worden. Die viktorianischen Schriftsteller hatten eine Vorliebe für Schnörkel, und die Würze lag für sie sicher nicht in der Kürze. Auch moderne Schriftsteller sind aus dem Käfig ausgebrochen und haben aus der ungebremsten Verschwendung von Wörtern eine Kraftquelle gemacht. Solche Stilakrobaten sind jedoch rar. Die meisten Nonfiction-Autoren sind besser beraten, wenn sie schlicht und deutlich schreiben. Wir haben neue Schreibwerkzeuge, wie den Computer und verschiedene Spezialprogramme dazu bekommen, die uns die Arbeit erleichtern. Aber wir arbeiten alle noch mit Wörtern und nach grammatischen Prinzipien. Was gibt dann den entscheidenden Ausschlag? Die Antwort liegt zu neunzig Prozent in harter Arbeit, bis man das in diesem Buch behandelte Handwerkszeug beherrscht. Hinzu kommen angeborene Gaben und Talente wie ein gutes musikalisches Gehör, Rhythmusgefühl und Sinn für Wörter. Aber das entscheidende Plus ist dasselbe wie bei allen anderen Konkurrenzkämpfen: Wenn Sie besser als alle anderen Autoren schreiben möchten, müssen Sie es wollen. Sie müssen von den kleinsten handwerklichen Details besessen sein. Und Sie müssen bereit sein, was Sie geschrieben haben, vor Lektoren, Agenten und Verlegern, die vielleicht andere Maßstäbe haben, zu verteidigen. Zu viele Schriftsteller geben sich zu leicht geschlagen und sind mit weniger als ihrer Bestleistung zufrieden. Ich fand immer, dass mein Stil als Projektion meines Ichs auf Papier, mein vermarktbarer Vorzug ist - das, womit ich mich von anderen Autoren unterscheide. Deshalb wollte ich auch nie, dass sich jemand an meinem Stil vergreift. Nachdem ich einen Artikel abgegeben habe, verteidige ich ihn inbrünstig. Mehrere Zeitschriftenredakteure haben mir schon gesagt, dass sie außer mir keinen Autor kennen, der wissen will, was mit seiner Arbeit passiert, nachdem er dafür bezahlt worden ist. Die meisten Autoren diskutieren nicht mit einem Redakteur, weil sie ihn nicht verärgern wollen. Sie sind so dankbar, gedruckt zu werden, dass sie mit allem einverstanden sind. Dabei ist es ein Zeichen, dass Sie lebendig sind, wenn Sie Ihre Texte verteidigen. Ich bin in dieser Hinsicht als Querulant bekannt - ich streite mich wegen jedes Semikolons. Aber Redakteure lassen mir das durchgehen, weil sie sehen, dass es mir ernst damit ist. Tatsächlich haben mir meine Diskussionen schon mehr Aufträge gebracht als sie mich gekostet haben. Redakteure haben bei ungewöhnlichen Aufträgen oft an mich gedacht, weil sie wussten, dass ich die Arbeit mit ebenso ungewöhnlicher Sorgfalt erledigen würde. Sie wussten auch, dass sie die Arbeit rechtzeitig bekommen würden, und dass inhaltlich alles stimmen würde. Vergessen Sie nicht, dass zum Handwerk mehr als nur das Schreiben gehört. Verlässlichkeit ist ebenso wichtig. Redakteure lassen einen Autor zu Recht fallen, wenn sie sich nicht auf ihn verlassen können. Womit wir bei Redakteuren und Lektoren wären. Sind sie unsere Freunde oder unsere Feinde - Götter, die uns vor unseren Sünden bewahren oder Stümper, die auf unseren poetischen Seelen herumtrampeln? Wie alle Geschöpfe gibt es sie in allen möglichen Variationen. Einem halben Dutzend Redakteuren und Lektoren bin ich dankbar, weil sie meine Texte pointierter gemacht haben, indem sie den Schwerpunkt verlagerten, die Angemessenheit des Tonfalls in - 82 -
Frage stellten, logische oder strukturelle Schwächen aufspürten, eine andere Einleitung vorschlugen, für Gespräche zur Verfügung standen, wenn ich mich zwischen mehreren Möglichkeiten nicht entscheiden konnte, oder indem sie Überflüssiges strichen. Zweimal habe ich aus einem Buch ein ganzes Kaptitel herausgenommen, weil mir die Lektoren sagten, es sei unnötig. Aber vor allem erinnere ich mich an diese guten Lektoren, weil sie großzügig waren. Egal an welchem Projekt wir zusammen arbeiteten, sie waren immer mit Begeisterung bei der Sache. Ihre Zuversicht, dass ich es schon schaffen würde, trieb mich an. Ein guter Lektor steuert einen objektiven Blick, den der Autor längst verloren hat, zum Text bei. Er kann ein Manuskript verbessern, indem er streicht, modelliert, verdeutlicht, Zeit- und Ortsfehler, falsche Pronomen oder einen unpassenden Tonfall korrigiert, auf mehrdeutige Sätze aufmerksam macht, verschlungene, lange Sätze in kurze aufsplittet, fließende Übergänge schafft, Ansichten und Geschmack in Frage stellt. Die Hand des Lektors muss jedoch unsichtbar bleiben. Was er hinzufügt, darf nicht nach ihm klingen; es muss nach dem Schriftsteller klingen. Für all diese Rettungsaktionen kann man Lektoren gar nicht genug danken. Aber leider können Lektoren auch beträchtlichen Schaden anrichten. Hauptsächlich, indem sie den Stil oder den Inhalt verändern. Zuerst der Stil: Einem guten Lektor ist nichts lieber als ein Text, den er kaum anrühren braucht. Ein schlechter Lektor ist ein zwanghafter Besserwisser, der permanent beweisen muss, dass er die Feinheiten der Grammatik und des korrekten Sprachgebrauchs noch nicht vergessen hat. Er achtet auf Risse in der Straße und genießt die Landschaft nicht. Oft kommt es ihm gar nicht in den Sinn, dass ein Schriftsteller nach dem Gehör schreibt, dass er einen bestimmten Klang oder eine bestimmte Tonfolge erzeugen möchte, oder dass er aus reiner Freude am Wortspiel mit den Wörtern spielt. Einer der trostlosesten Momente für Autoren ist der, wenn sie feststellen, dass ihr Lektor überhaupt nicht verstanden hat, worum es ihnen geht. Ich habe sogar schon Artikel von Zeitschriftenverlagen zurückgekauft, wenn diese Änderungen vorgenommen hatten, die ich nicht akzeptieren konnte. Wenn Sie zulassen, dass Ihre Einzigartigkeit herauslektoriert wird, dann verlieren Sie einen Ihrer größten Verdienste. Sie verlieren über kurz oder lang auch Ihren Verdienst. Ideal ist es, wenn Lektor und Autor einander vertrauen und über die unklaren Punkte verhandeln. Wenn der Lektor versehentlich beim Umstellen einer unklaren Passage etwas streicht, das dem Autor wichtig ist, dann sollte der Autor darum bitten, dass es wieder eingeflochten wird, und wenn der Lektor zustimmt, dann sollte er sich auch daran halten. Aber der Lektor muss auch auf seinem Recht bestehen, alles Unklare verständlich zu machen. Das schuldet er dem Leser. Ein Lektor sollte nie etwas in Druck geben, das er selbst nicht versteht. Wenn er es nicht versteht, dann gibt es mindestens noch einen zweiten Leser, der es nicht versteht. Und das ist einer zuviel. Der Autor und der Lektor sollten gemeinsam das Manuskript durchgehen und für jedes Problem eine Lösung finden, die dem fertigen Artikel am besten gerecht wird. Das geht ebenso gut am Telefon wie bei einem Treffen. Erlauben Sie keinem Lektor, mit der großen Entfernung oder seiner schlechten Organisation Änderungen zu entschuldigen, denen Sie nicht zugestimmt haben. "Der Termin hat gedrückt", "wir waren sowieso schon spät dran", "der Lektor, der normalerweise für Sie zuständig ist, war krank", "hier ging letzte Woche alles drunter und drüber", "Ihre Arbeit ist auf den falschen Stapel gewandert", "der Lektor ist in Urlaub" - hinter diesen ermüdenden Phrasen werden grobe Fehler und schlechte Arbeit versteckt. Auch ehemals selbstverständliche Höflichkeiten sparen sich Verlage besonders Zeitschriftenverlage - leider inzwischen: den Autor zu informieren, dass sein Artikel eingegangen ist, den Artikel innerhalb angemessener Zeit zu lesen, dem Autor zu sagen, ob der Artikel so in Ordnung ist, den Artikel zurückzuschicken, wenn er es nicht ist, mit dem Autor zusammen die nötigen Änderungen durchzugehen, dem Autor Korrekturfahnen zu schicken, den Autor umgehend zu bezahlen. Autoren haben es ohnehin - 83 -
schon schwer genug - sie sollten nicht auch noch ständig entwürdigt werden, indem sie den Verlagen hinterher telefonieren müssen, um herauszufinden, was der neueste Stand ist, und um ihr Geld zu betteln. Die meisten betrachten diese Höflichkeiten als überflüssig. Aber im Gegenteil: Sie sind unerlässlich, und Verleger, die diese Punkte vernachlässigen, spielen mit den Grundrechten des Autors. Diese Arroganz schadet vor allem, wenn Redakteure nicht nur Stil und Aufbau verändern, sondern sich am geheiligten Inhalt vergreifen. Ich höre oft freie Autoren sagen: "Als ich in der Zeitschrift nach meinem Artikel suchte, konnte ich ihn nicht mehr wiedererkennen. Die hatten eine ganz andere Einleitung geschrieben und haben mir Sachen in den Mund gelegt, die ich nicht für richtig halte." An der Meinung des Autors herum zu pfuschen, ist eine Kardinalsünde. Redakteure tun das, was ihnen Autoren erlauben, besonders wenn die Zeit drängt. Wenn Autoren ihren Mund halten, tragen sie selbst dazu bei, dass ihre Werke nach Belieben umgeschrieben werden, und sie bestätigen den Redakteur darin, dass er sie wie Praktikanten behandeln kann. Aber am Ende muss ein Artikel nicht dem Redakteur, sondern dem Autor genügen. Was Sie schreiben, gehört Ihnen und sonst niemandem. Machen Sie das Beste aus Ihrem Talent, und beschützen Sie es todesmutig. Gut schreiben heißt, an das Geschriebene zu glauben, an sich selbst zu glauben, Risiken einzugehen, sich zu trauen, anders zu sein, und sich anzutreiben, sein Bestes zu geben. Sie werden nur so gut schreiben, wie Sie es von sich selbst fordern. Das erinnert mich an etwas, das Joe DiMaggio einmal gesagt hat. DiMaggio war der beste Baseballspieler, den ich je habe spielen sehen, und er wirkte immer völlig entspannt. Er rannte weite Strecken mit graziösen Schritten, erreichte das Ziel immer vor dem Ball, fing die schwierigsten Bälle scheinbar mühelos, und selbst seine mächtigen Schläge schienen ihn nicht besonders anzustrengen. Ich bewunderte ihn für diese augenscheinliche Leichtigkeit, die er nur durch tägliche Schwerstarbeit erreichen konnte. Ein Reporter fragte ihn einmal, wie er es schaffe, so gut zu spielen, und das so gleichbleibend, und DiMaggio antwortete: "Ich stelle mir immer vor, dass da zumindest ein Mensch im Publikum sitzt, der mich noch nie hat spielen sehen, und den will ich nicht enttäuschen."
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