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Als ein russisches Expeditionsschiff im Sommer 1914 an einer unwirtlichen Insel im großen Polarbecken anlegt, findet die Besatzung einen Menschen, der dem Tode näher ist als dem Leben. Es handelt sich um Valerian I. Albanow, den Steuermann der »St. Anna«, der zwei Jahre im Packeis überlebt hat. Kaum erholt, beginnt Albanow mit den akribischen Aufzeichnungen seines dramatischen Marsches durch das Eis, die 1917 das erste Mal in russischer Sprache veröffentlicht wurden.
Valerian Iwanowitsch Albanow wurde 1881 in der Stadt Woronesch, knapp 500 km südlich von Moskau, geboren. Sein Vater starb früh und so wuchs der Junge bei seinem Onkel in Ufa auf. Mit 17 Jahren ging Albanow auf die Seefahrtsschule nach St. Petersburg, nach seinem Abschluss im Jahre 1904 lernte er auf verschiedenen Schiffen auf der Ostsee. 1912 heuerte er als Steuermann auf der »St. Anna« an. Obwohl er nur mit knapper Not dem Tode entkam, fuhr er weiter zur See. 1919 starb Albanow unter bis heute ungeklärten Umständen.
Valerian I. Albanow Im Reich des weißen Todes Die Aufzeichnungen des Mannes, der 1914 den Marsch durch das Eis der Arktis überlebte Mit einem Vorwort von Jon Krakauer
Berliner Taschenbuch Verlag
Das Datum wird nach dem damals in Russland gültigen Julianischen Kalender und (in Klammern) nach dem Gregorianischen Kalender angegeben.
Januar 2002 BvT Berliner Taschenbuch Verlags GmbH, Berlin, ein Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH Die Originalausgabe erschien 1917 in Moskau unter dem Titel Der vorliegenden Ausgabe liegt die im Verlag »Kultur und Fortschritt« besorgte Übersetzung von W. Berger zugrunde. Redaktionelle Überarbeitung dieser Neuausgabe: Matthias Weichelt, Berlin Vorwort © 2000 Jon Krakauer Biographische Notiz © 2000 Random House, Inc. © 2002 Berlin Verlag, Berlin Scan by Brrazo 07/2005 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Nina Rothfos und Patrick Gabler, Hamburg, unter Verwendung einer Fotografie von © Corbis Images/Bruce Burkhardt Gesetzt aus der Stempel Schneidler durch psb, Berlin Druck und Bindung: Eisnerdruck, Berlin Printed in Germany • ISBN 3-442-76020-8
Inhalt Vorwort von Jon Krakauer N. W. Pinegin: Wie ich Albanow im Eismeer begegnete
Valerian I. Albanow: Meine Reise über driftendes Eis im nördlichen Eismeer Nach Süden zum Franz-Joseph-Land Die Vorbereitungen zur Schlittenexpedition Der letzte Tag an Bord der »St. Anna« Auf den Eisfeldern des Polarmeeres Bajew bleibt verschollen Land! Auf dem Alexandra-Land Einer nach dem anderen Kap Flora Vorbereitungen zur Überwinterung Das Schiff ist da! Nach Hause! Kommentare und Bemerkungen Glossar Längen-, Maß- und Temperatureinheiten Über den Autor
Vorwort von Jon Krakauer Als Robert Falcon Scott im Jahre 1912 auf einem Gletscher in der Antarktis umkam, nur achtzehn Kilometer von der Rettung entfernt, wurde er als einer der größten Helden in der Geschichte des britischen Weltreichs gefeiert. In ganz Großbritannien gibt es kein Schulkind, das die Geschichte von Scotts unglückseliger Suche nicht erzählen kann. Drei Jahre nach Scotts viel beachtetem Scheitern sah es so aus, als ginge eine Antarktisexpedition unter der Leitung von Ernest Shackleton einem ähnlich grausamen Ende entgegen. Shackletons Schiff, die »Endurance«, wurde vom Eis zerdrückt und sank, achtundzwanzig Männer strandeten auf dem zugefrorenen Weddellmeer. Doch Shackleton schaffte es, seine gesamte Besatzung zu retten, indem er in einem kleinen, offenen Rettungsboot eine wagemutige, dreizehnhundert Kilometer lange Seereise über den von Stürmen aufgewühlten Südatlantik unternahm. Verdientermaßen populäre Bücher wie Antarktische Odyssee: das unvergessliche Abenteuer der ShackletonExpedition von Alfred Lansing oder Die Endurance von Caroline Alexander haben diese an ein Wunder grenzende Leistung in den letzten Jahren Millionen von Lesern nahe gebracht. Shackletons Name wurde zum Synonym für Mut, Durchhaltevermögen und brillante Führungsqualitäten unter höchster Belastung. Doch hier stellt sich nun die Frage: Wenn Scott und Shackleton nach ihrem Tode so viel Ruhm und Ansehen
erlangten, warum ist Valerian Iwanowitsch Albanow dann nahezu unbekannt? Albanow war ein russischer Seefahrer. 1912, sechs Monate nach Scotts Tod, legte er in Alexandrowsk, dem heutigen Murmansk, ab. Er war Erster Offizier auf der »St. Anna«, einem guten Schiff, das mehr als elftausend Kilometer weit über das gefährliche Nordpolarmeer nach Wladiwostok fahren sollte. Doch etwa zwei Jahre bevor Shackletons »Endurance« vom antarktischen Packeis festgehalten wurde, geriet Albanows »St. Anna« auf der anderen Seite der Erdkugel, in der zugefrorenen Karasee, genauso ins Eis. Nach achtzehn Monaten, als die Vorräte zur Neige gingen und das Schiff fester im Eis saß als je zuvor, ging Albanow von Bord und führte dreizehn Männer über das Eis nach Süden. Es wurde ein verzweifeltes Ringen ums Überleben. Die Prüfungen, die Albanow durchmachte, während er sich den Weg zurück in die Zivilisation erkämpfte, waren ebenso hart wie die Kraftproben, denen Shackleton sich gegenübersah. Allerdings ist Albanows Geschichte vielleicht sogar noch fesselnder zu lesen, weil er sie in Tagebucheinträgen selbst erzählt. (Die in jüngerer Zeit erschienenen Bestseller über Shackletons Leistungen sind zwar hervorragend, wurden aber viele Jahrzehnte später verfasst, von Autoren, die die geschilderten Ereignisse nicht miterlebt haben.) Zudem stellt sich heraus, dass Albanow sowohl ein begnadeter Schriftsteller als auch ein ungewöhnlich aufrichtiger Tagebuchautor ist. Er hat ein seltenes, erstaunliches, höchst spannendes Buch geschrieben, das – unglückliche Zufälle und die Launen der Geschichte 12
wollten es so – zunächst in den Wirren des 20. Jahrhunderts verschwand. (Aus dem Amerikanischen von Sabine Schulte)
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N. W. Pinegin: Wie ich Albanow im Eismeer begegnete Es war im Sommer 1914. Die Sedow-Expedition auf der »St. Foka« hatte soeben die Rückreise zu besiedelten Gegenden angetreten. Zwei Jahre lang waren wir nun schon unterwegs, hatten die Eiswüsten des Polargebietes durchmessen, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Im ersten Winter hatten wir an der Nordküste von Nowaja Semlja gelegen, den zweiten verbrachten wir im südlichen Teil des Franz-Joseph-Landes. Nach einem Versuch, von dort aus den Nordpol zu erreichen, hatten wir nun Kurs nach Süden genommen. Hinter uns lagen die nicht erfüllten Träume vom Nordpol, lag die lange Zeit der Arbeit auf Nowaja Semlja und auf dem Franz-Joseph-Land, lag die soeben überstandene, entbehrungsreiche Überwinterung mit Kälte, dem Tod von Kameraden und dem Untergang Sedows1 während der Schlittenfahrt zum Pol. Vor uns lag noch ein schwerer Kampf mit den Eismassen, die das Franz-Joseph-Land umschlossen. Wir wussten alle, dass wir nur dann dem Eisgürtel entrinnen würden, der uns von bewohnten Gegenden abschnitt, wenn wir unseren Willen und unsere Kräfte bis zum Äußersten anspannten und zu den höchsten Opfern bereit waren. Erst vor drei Tagen hatten wir unseren Winterstandort in der Stillen Bucht unweit der Hooker-Insel verlassen, nachdem wir alles nur irgend Mögliche auf dem Schiff in Brennmaterial verwandelt hatten, um die Maschine unter Dampf setzen zu können. Alle Lagerräume, ein Teil des 14
Dullbords und der Kajüten war abgerissen und der Toppmast heruntergeholt worden. Das um diesen Preis gewonnene Holz war nun schon längst in den Kesseln verheizt. Nachdem wir alle Unbilden des Polargebietes bis zur Neige gekostet hatten, befanden wir uns jetzt in einer Lage, die uns schlimmer vorkam als alles bisher Erlebte. Wie sollten wir auf einem Schiff mit stark reduzierter Segelfläche und bedrohlichem Leck mehrere hundert Kilometer ohne Brennmaterial zurücklegen? Es kam keinem von uns in den Sinn, dass unsere Lage trotz allem noch längst nicht hoffnungslos war und dass wir in den nächsten Stunden auf Menschen stoßen könnten, denen die Lage der »St. Foka« geradezu beneidenswert erschien. Während der letzten drei Tage hatten wir eine ganze Reihe unliebsamer Abenteuer bestehen müssen. Andrängende Eismassen hatten die »Foka« beinahe aufs Ufer geworfen und sie wiederholt Pressungen ausgesetzt. Schließlich war das Schiff sogar mit einem überkippenden Eisberg zusammengestoßen. Unser Ziel war nun Northbrook, eine der südlichen Inseln des Franz-Joseph-Landes. Dort, auf Kap Flora, dem Überwinterungsort mehrerer ausländischer Expeditionen, befanden sich die Bauten der einst von Jackson2 errichteten Siedlung Elmwood. Wir wollten einen Teil davon abreißen und auf unserer Weiterreise als Brennholz verwenden. Die »Foka« bewegte sich sehr langsam vorwärts – wegen unzureichenden Dampfdruckes in den Kesseln setzte die Maschine dauernd aus. Dann musste wieder eine Kajüte daran glauben, oder wir hielten Ausschau nach einem Walross oder einer Robbe. So mussten wir die Fahrt 15
oft unterbrechen, teils um zu jagen, teils aus Dampfmangel, und die »Foka« steuerte durch junges Eis langsam auf die Insel Northbrook zu. Über der Küste lagerte dichter Nebel. Ich vertrat den Kapitän; in dieser Gegend kannte ich mich besser als die anderen aus, da ich im vergangenen Winter während einer Hundeschlittenexpedition mehrere Tage auf Kap Flora verbringen musste. Ich stand auf der Kapitänsbrücke und beobachtete, ohne das Fernglas abzusetzen, die Küste, da ich feststellen wollte, welchem Punkt der Insel Northbrook die »Foka« sich näherte. Der Nebel gab den Durchblick zu einem Kap frei; am Gletschergürtel erkannte ich Kap Gertrud, und ich ließ links beidrehen. Nach einer Viertelstunde teilte sich der Nebel abermals, wir hielten auf Kap Flora zu. Angestrengt starrte ich zur Küste hinüber – sie war ganz in Nebel gehüllt, mit Ausnahme eines schmalen Streifens unmittelbar am Wasser; anhand dieses Streifens nun musste ich unter den vielen kleinen Kaps das uns interessierende Elmwood herausfinden, was mir nicht sogleich gelang. Endlich aber lüftete eine Brise den Nebelschleier, und ich erkannte die charakteristische Felsgruppe und die niedrige Uferböschung mit dem von Jackson angelegten Ziehweg, der das Entladen der Schiffe erleichtern sollte. Ich wies dem Steuermann die Richtung und konzentrierte meine Aufmerksamkeit erneut auf den Küstenstreifen; im Winter hatte ich hier einen Eisberg gesehen, der auf einer Sandbank stand; also mussten hier unter Wasser Steine liegen. Auf einmal entdeckte ich zwischen den Steinen am Ufer etwas, das einer 16
menschlichen Gestalt glich. Im ersten Moment glaubte ich an eine Halluzination. Unwillkürlich setzte ich das Fernglas ab, um es blank zu wischen und dann noch einmal hinzusehen. In diesem Augenblick schrie jemand an Bord: »Ein Mensch am Ufer!« Ja, es war ein Mensch, er bewegte sich. Wer mochte das sein? Die ganze »Foka«-Mannschaft brüllte. »Hurra!« Jemand sprach die Vermutung aus: »Wahrscheinlich ist ein Schiff uns holen gekommen.« Der Steuermann, die eine Hand am Steuerrad, hob die freie Hand viel sagend an die Lippen und meinte: »Na, jetzt gibt's was zu rauchen!« Ich schaute weiterhin durchs Fernglas. Der Mann am Ufer sah nicht so aus, als wäre er vor kurzem erst aus einem zivilisierten Lande gekommen. Ich befahl, Anker zu werfen, sah mir die Gestalt noch einmal aufmerksam an und erwiderte dem Steuermann mit einiger Verspätung: »Warte erst mal ab, mir scheint, man spekuliert hier eher auf unseren Tabak.« Der Unbekannte hantierte bei den Steinen herum. Eine Minute, nachdem wir vor Anker gegangen waren, stieß er einen Kajak vom Ufer ab, schwang sich geschickt hinein und paddelte mit weit ausholenden Schlägen zur »Foka«. Als er herangekommen war, rief er uns mit schwacher, ein wenig heiserer Stimme etwas zu. Wir konnten ihn nicht verstehen, umso weniger, als im selben Augenblick ein Walross bis dicht an den Kajak heranschwamm und wir es mit einem Schuss vertreiben mussten. Wir ließen das Fallreep von Bord. Der Mann kletterte herauf. Er war mittelgroß und stämmig. Ein dichter blonder Bart bedeckte sein bleiches, müdes, etwas gedunsenes 17
Gesicht. Er trug einen reichlich strapazierten, ausgeblichenen Seemannsrock. »Albanow, Steuermann auf der ›St. Anna‹, BrussilowExpedition«, waren die ersten Worte des Unbekannten. »Ich bitte um Ihre Hilfe; vier Mann von mir sind auf Kap Grant zurückgeblieben …« So war also unsere Begegnung mit Albanow – eine der denkwürdigsten und unverhofftesten Begegnungen jenseits des Polarkreises. Wer hätte ahnen können, dass Teilnehmer der Brussilow-Expedition, die nach Wladiwostok unterwegs gewesen war, auf dem Franz-Joseph-Land mit Landsleuten zusammentreffen würden, die zum Nordpol ausgezogen waren? Wie war die »St. Anna« über das Franz-Joseph-Land hinaus und auf den 83. Breitengrad geraten? Fast alle an Bord der »Foka« hatten von dieser Expedition gehört, die auf dem nördlichen Seeweg von Petersburg nach Wladiwostok gelangen wollte. Niemand jedoch wusste Näheres darüber. Erst durch Albanows Erzählung machten wir uns einen genaueren Begriff von dieser Unternehmung. Expeditionsleiter und Kommandeur des Schoners »St. Anna« war der Leutnant zur See Georgi Lwowitsch Brussilow. Im Jahre 1911 hatte er an einer hydrographischen Expedition3 durch das Nördliche Eismeer teilgenommen und dabei die reichen Jagdgründe des Nordens kennen gelernt; er nahm sich darauf vor, selbst an die Ausbeute dieser Reichtümer heranzugehen. Nachdem er ein passendes Schiff ausfindig gemacht hatte, quittierte er vorübergehend den Dienst und wollte nun versuchen, sich durch die einträgliche Jagd auf Wale, Weißwale, Walrosse, Seehunde und Eisbären ein Vermögen zu erwerben. 18
Es gelang dem unternehmungslustigen Seemann, seinen Onkel B. A. Brussilow, einen reichen Moskauer Grundbesitzer, für das Projekt zu interessieren. G. L. Brussilow kaufte für das Geld, das er vom Onkel bekam, im Ausland ein Schiff – einen alten Schoner, der aber noch völlig seefest und zum Tierfang durchaus geeignet war. Er nannte ihn »St. Anna«4. Brussilow hatte als Standorte während der Jagd Wladiwostok und Petropawlowsk auf Kamtschatka vorgesehen. Große Ausgaben, die der übliche Weg von Petersburg nach Wladiwostok – durch Mittelmeer, Suezkanal und Indischen Ozean – unweigerlich mit sich brachte, wollte er nach Möglichkeit vermeiden. So kam er auf den Gedanken, es mit dem nördlichen Seeweg zu versuchen. Es galt demnach, die Skandinavische Halbinsel zu umschiffen, das Karische Meer zu durchqueren und dann, mit Kurs auf Osten, an der Nordküste von Sibirien entlang, durch Laptew-, Ostsibirisches und Tschuktschenmeer und schließlich durch die Beringstraße ins Ochotskische Meer zu gelangen. Diese Marschroute konnte, im Erfolgsfall, in zwei, drei Monaten unter verhältnismäßig geringem Aufwand an Kohle und Proviant bewältigt werden. Von der Jenissejmündung an und weiter nach Osten führte die Route durch Gegenden, die noch keines Jägers Fuß betreten hatte, und man konnte unterwegs jederzeit Walrosse, Weißwale und Eisbären erlegen. Wäre es der »St. Anna« gelungen, diesen Weg ohne Unterbrechungen zurückzulegen, so hätte wahrscheinlich der Erlös aus dem Verkauf der Jagdbeute – Felle und Tran – die Unkosten fast völlig gedeckt. Wie aber konnte ein Schiff, das durchs 19
Karische ins Ochotskische Meer gelangen wollte, statt in Wladiwostok im großen Polarbecken, zwischen FranzJoseph-Land und Nordpol, auftauchen? Um dies zu erklären, muss man den ganzen von der »St. Anna« zurückgelegten Weg nachzeichnen. Die »St. Anna« verließ Petersburg am 28. Juli (10. August) 1912. Sie durchquerte die Ostsee, bog um die Skandinavische Halbinsel und lief in die Kola-Bucht ein. Auf Murman, im Jekaterina-Hafen, ließ Brussilow längere Zeit halten, um Kohle- und Wasservorräte aufzufüllen und noch einige Ausrüstungsgegenstände, warme Kleidung und Proviant an Bord zu nehmen. Hier wurde auch die endgültige Aufstellung der Mannschaft vorgenommen. Die Mannschaft der »St. Anna« bestand aus 24 Personen, G. L. Brussilow einbegriffen. Erster Offizier und Erster Steuermann war V. I. Albanow. Es folgten: I. Potapow – Bootsmann; P. Maximow – Steuermann; A. Konrad, G. Melbart, I. Parapriz, J. Spakowski, O. Nielsen, I. Lunjajew, I. Ponomarjow, P. Bajew, A. Schachnin, P. Smirennikow, G. Anissimow, A. Archijerejew – Matrosen; J. Freiberg, W. Gubanow – Maschinisten; M. Schabatura – Heizer: I. Kalmykow – Koch; J. Regald –Steward. Zur Expedition gehörten ferner zwei Harpuniere – W. Schienski und M. Denissow – sowie eine Frau – J. A. Shdanko. Sie wurde als Krankenschwester mitgenommen, da der Arzt nicht rechtzeitig im Jekaterina-Hafen eingetroffen war. Die Expedition war ziemlich gut mit warmer Kleidung und Wäsche und mit Pelzbekleidung ausgestattet, der Pro20
viant war für 30 Mann auf anderthalb Jahre berechnet und recht abwechslungsreich zusammengestellt. Am 28. August (10. September) verließ die »St. Anna« den Jekaterina-Hafen mit Kurs auf die Jugor-Straße die ins Karische Meer führt. In der Jugor-Straße begegnete die »St. Anna« mehreren Schiffen, die zu Handelsexpeditionen gehörten oder zu den Sonderexpeditionen, deren Aufgabe die Errichtung einiger Funkstationen auf der JamalHalbinsel war. All diese Schiffe lagen vor Anker und warteten auf den Abzug der Eisfelder, die den südlichen Teil des Karischen Meeres blockierten. Morosow, der Leiter der hydrographischen Expedition, erzählte später von der Begegnung seiner Schiffe mit der »St. Anna« in der Jugor-Straße. Nach kurzem Aufenthalt in der Meerenge dampfte der Schoner im Morgengrauen des 4. (17.) September kühn ins Karische Meer hinaus und verschwand rasch hinter dem Horizont, der weiß war vom Widerschein des Eises. Die Eisverhältnisse im Karischen Meer waren 1912 besonders ungünstig. Sowohl die Schiffe der erwähnten hydrographischen Expedition, die ins Karische Meer vorzudringen versuchte, als auch die anderen Schiffe blieben bis zum Schluss der Navigationszeit in der JugorStraße stecken. Auch in anderen Regionen sah es in diesem Jahr nicht besser aus. Den Meldungen des dänischen Meteorologischen Instituts zufolge, das alljährlich einen Eiszustandsbericht herausgibt, erlebte die Barentssee 1912 den schwersten Eisgang der letzten zwanzig Jahre. Kein einziges norwegisches Tierfangschiff erreichte das 21
Karische Meer. In demselben Jahr schlugen auch mehrere Polarexpeditionen fehl. Die Sedow-Expedition konnte nicht zum Franz-Joseph-Land durchkommen; an der Nordküste von Spitzbergen wurde die deutsche SchröderSchranz-Expedition vom Treibeis eingeschlossen und geriet in Seenot; die »Herkules«5, das Schiff der Russanow-Expedition, die um die Nordspitze von Nowaja Semlja herum ins Karische Meer gelangen wollte, verschwand spurlos. Nachdem die »St. Anna« in unmittelbarer Nähe der Jugor-Straße auf Eis gestoßen war, drehte sie scharf nach Osten bei. Es gelang ihr nur unter großen Anstrengungen, die Baidarazkaja-Bucht zu erreichen und dann an der Jamal-Küste entlang langsam weiter nach Norden vorzudringen. Um Mitte Oktober geriet die »St. Anna« in dichtes Treibeis und lag fest. Ende Oktober wurde allen klar, dass keinerlei Hoffnung auf Befreiung bestand. Das Schiff war in einem Eisfeld eingefroren, und man fing an, sich auf die Überwinterung vorzubereiten. Das Schiff lag etwa acht Meilen von der Westküste Jamals entfernt; die Mannschaft der »St. Anna« hatte schon einen Weg dorthin gebahnt. Man wollte sich am Ufer ein Haus für den Winter bauen und begann sogar schon, Treibholz zum Verheizen zu sammeln. Bald stellte sich heraus, dass das Eis, in dem die »St. Anna« eingefroren war, nicht stillstand. Vom 15. (28.) Oktober an, als das Schiff sich bei 71° 45' nördlicher Breite befand, trieb die »St. Anna« mit dem sie umschließenden Eisfeld nach Norden. 22
Die »St. Anna« trieb ununterbrochen auf den Nordpol zu – auch das ganze folgende Jahr hindurch. Man nahm dies zunächst nicht weiter ernst, hatten doch die Erfahrungen der »Varna«6 und der »Dymphna«, die seinerzeit beide im Karischen Meer vom Treibeis eingeschlossen waren, gelehrt, dass die Eisbewegungen im Karischen Meer, von Wind und Oberflächenströmungen beeinflusst, nur auf den Westteil beschränkt sind. Im Frühjahr 1913 passierte das Eis die Linie, die die Nordspitze von Nowaja Semlja und den äußersten Zipfel Asiens – Kap Tscheljuskin – verbindet, und da erst wurde die Lage bedrohlich. Das Schiff befand sich bereits außerhalb der Grenzen des Karischen Meeres, im großen Polarbecken. Im Sommer 1913, als die »St. Anna« in den nördlichen Teil der Meerenge geriet, die das Franz-Joseph-Land von Nowaja Semlja trennt, wechselte die Driftrichtung vorübergehend nach West und Nordwest. Das Eis ringsum war zu dieser Zeit brüchig und schwach, Kanäle und Wunen wurden sichtbar; das Eisfeld jedoch, in dem das Schiff eingefroren war, blieb sehr fest. Hätte die »St. Anna« eine gewisse Menge hochexplosiven Sprengstoffes an Bord gehabt, wäre es ihr wahrscheinlich gelungen, sich zu befreien und in die Barentssee hinauszufahren. Doch die Expedition verfügte nur über schwarzes Pulver. Die daraus hergestellten Minen erwiesen sich als zu schwach und schlugen nicht einmal merkbare Öffnungen ins Eis. Auch der Versuch, einen Kanal bis zur nächsten Wune zu hauen, gelang nicht: die Entfernung war zu groß – über vierhundert Meter.
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Anfang August, als ringsum noch größere eisfreie Stellen zu sehen waren, begann Brussilow für die zweite Überwinterung zu rüsten. In den ersten Septembertagen des Jahres 1913 passierte das Eisfeld mit der »St. Anna« bereits den Breitengrad der Südinseln des Franz-Joseph-Landes und ließ Anfang Dezember auch den Breitengrad des nördlichsten Teils dieses Landes hinter sich. Man konnte erwarten, dass sich das Treibeisfeld nun, da es der Einflusssphäre der großen Oberflächenströmung des Nördlichen Eismeeres ausgesetzt war, dieser Strömung fügen und nach Westen abschwenken würde; so hatte Nansen es auf der »Fram«7 erlebt, der auf diese Weise seine fabelhafte Drift von den Neusibirischen Inseln aus durchführen konnte. So geschah es auch jetzt. An Bord der »St. Anna« war jedoch seit Beginn der Drift manches nicht zum Besten bestellt. Während der ersten Überwinterung erkrankte fast die ganze Mannschaft – offensichtlich an Skorbut. Besonders lange, über vier Monate, lag Brussilow selbst danieder. Jerminia Alexandrowna Shdanko, die die Pflichten eines Bordsanitäters wahrnahm, pflegte die Kranken fürsorglich und aufopfernd. Dank ihrer Bemühungen und der kräftigen Nahrung in Form von Bärenfleisch wurden zum Sommer alle wieder gesund. Bei der Ausrüstung der Expedition war man davon ausgegangen, auf dem Wege nach Wladiwostok höchstens einmal überwintern zu müssen. So hatte Brussilow den Proviant nur für anderthalb Jahre berechnet. Da man jedoch im ersten Winter gute Jagdbeute gemacht hatte (47 Eisbären und an die 40 Seehunde) und da auch der 24
Mannschaftsbestand geringer war als vorgesehen, gelang es, die Vorräte erheblich zu strecken. Doch schon zu Beginn des zweiten Winters machte sich Mangel an verschiedenen Lebensmitteln bemerkbar. Über die Lage der »St. Anna« war man sich inzwischen klar geworden. Die nächste Zukunft verhieß nichts Erfreuliches. Es gab gewichtige Gründe für die Vermutung, dass die »St. Anna«, nachdem sie nun über das Franz-JosephLand hinausgeraten und mit dem Eis nach Westen abgeschwenkt war, parallel zu dem Kurs weitertreiben würde, den einst Nansens »Fram« genommen hatte, und zwar mit derselben Geschwindigkeit. Man erinnerte sich, dass die »Fram« auf ihrer Drift von den Neusibirischen Inseln nach Westnordwest in vierundzwanzig Stunden durchschnittlich zweieinhalb Seemeilen zurückgelegt und sich erst im August 1896 unweit der Westküste von Spitzbergen (Längengrad 12° 30' Ost) vom Eise befreit hatte. Es war also anzunehmen, dass auch der »St. Anna« noch eine lange Reise bevorstand. Die Durchschnittsgeschwindigkeit der ständigen Strömung ist in diesen Gegenden des Eismeeres wahrscheinlich unveränderlich.8 In diesem Falle konnte Brussilow nicht eher auf Befreiung rechnen, als bis der Meridian von Spitzbergen überschritten war. Die Berechnungen ergaben, dass die »St. Anna« bei einer Durchschnittsgeschwindigkeit von zweieinhalb Seemeilen in der Stunde den Spitzbergen-Meridian im November oder Dezember 1914 überqueren musste, in der ungünstigsten Zeit also, da keine Hoffnung bestand, aus der Umklammerung des Eises loszukommen. Dieser Umstand verschlimmerte die Lage 25
des Schiffes. Die »Fram« begann ihre selbstständige Fahrt nach Süden am 83. Breitengrad; sie konnte sich einen Weg durch das Eis bahnen, weil die warme Strömung, die die Westküste von Spitzbergen umspült, bis weit nach Norden hinaufdringt und das Eis zerfrisst. Die »Fram« aber hatte diesen für die Befreiung günstigen Punkt im Juni erreicht, während die Ankunft der »St. Anna« mitten in den Winter fiele, wenn die Eisdecke sich beträchtlich nach Süden hin ausdehnt. So konnte die Befreiung wahrscheinlich erst in der warmen Jahreszeit, also im Sommer 1915, erfolgen. Zu dieser Zeit würde sich das Schiff aber bereits in der Nähe der nördlichen Grönlandküste befinden, wo die Eisverhältnisse für die Schifffahrt immer denkbar ungünstig sind. Im Frühjahr 1914 hatte die »St. Anna« schon den Meridian des Rudolph-Landes, der nördlichsten Insel des Franz-Joseph-Landes, überquert. Auch die Beziehungen der Besatzungsmitglieder untereinander wurden problematisch. Schon im September 1913 war es zwischen Brussilow und Steuermann Albanow zu einer harten Auseinandersetzung gekommen. Albanow bat daraufhin, ihn von seinen Steuermannspflichten zu entbinden. Ursache des Streites war, wie Albanow erklärte, die schwierige Situation auf dem Schiff, der er jedoch nicht abhelfen konnte. Der Hauptgrund aber wird wohl in der allgemeinen Nervosität zu suchen sein, die an Bord herrschte. Aus kleinen Reibereien, die bei so engem Zusammenleben unter schwierigen Bedingungen unvermeidlich sind, ergaben sich schwere Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden Führern des Schiffes, die schließlich zur 26
Feindschaft führten. Das Ergebnis war, dass der Erste Steuermann der »St. Anna« sich in einen Passagier verwandelte. Am 9. Januar 1914 bat Albanow den Kapitän, ihm Material zum Bau eines Kajaks und eines Schlittens zu geben. Er hatte beschlossen, das Schiff zu verlassen und sich zum Franz-Joseph-Land durchzuschlagen, in dessen Nähe die »St. Anna« zu der Zeit trieb. Brussilow erlaubte ihm, sich mit allem Notwendigen zu versorgen. Albanow wollte seinen Weg über das Treibeis nehmen. Er wusste von der Existenz der Jackson-Bauten auf Kap Flora und vermutete, dass er dort auch einigen Proviant vorfinden würde. Von Kap Flora aus wollte er sich dann zu den besiedelten Gegenden Spitzbergens oder nach Nowaja Semlja begeben. Angesichts der Reisevorbereitungen Albanows begannen viele über ihre Lage nachzudenken. Nach zwei Wochen bat der größte Teil der Mannschaft um Erlaubnis, das Schiff ebenfalls verlassen zu dürfen. Brussilow sah ein, dass der Ausfall so vieler Leute eine recht zufriedenstellende Lösung der Verpflegungsfrage ermöglichte; so stellte er nach kurzem Zaudern jedem frei, fortzugehen. Das war durchaus vernünftig. Selbst wenn die Scheidenden für zwei Monate Proviant mitnahmen, war der zurückbleibende Mannschaftsteil bis zum Oktober 1915 vor Hunger sicher. Falls das Schiff ins offene Meer hinausgetrieben wurde, genügten auch neun Mann, um es zu bedienen. Während des Stillstandes im Eis brauchte man noch weniger Leute. Durch den Ausfall der halben Mannschaft wurden nicht nur Lebensmittel eingespart, sondern auch fünfzig Prozent des Heizmaterials, das gleichfalls 27
fehlte. Seit langem schon beheizte man die Schiffsräume mit Bären- und Seehundfett, das Holz zum Anfeuern lieferten verschiedene nicht unbedingt wichtige Schiffsteile. Vierzehn Mann hatten sich entschlossen, das Schiff zu verlassen. Emsig wurde an den Vorbereitungen zur Reise über das Treibeis gearbeitet. Am 10. April war alles fertig. Die Ausrüstung der Gruppe bestand aus sieben Kajaks, die auf Polarschlitten mit schmalen Kufen transportiert wurden, ferner aus vierzehn Paar Skiern, einem großen Zelt, dreizehn Malizas und Sowiks, zwei Remingtongewehren, einer norwegischen Jagdflinte (für alle drei Gewehre 1250 Patronen) und zwei Magazingewehren mit Patronen. Außerdem wurden mitgenommen: zwei Kompasse, ein Sextant, ein Chronometer, ein Fernglas, ein Entfernungsmesser, zwei Äxte, zwei Harpunen, ein Fuchsschwanz und vierzehn Packtaschen. Als Heizmaterial beim Abkochen sollten sechs Kilogramm Benzin und acht Kilogramm Seehundtran dienen. Für eventuelle Kajakreparaturen mussten auch noch dreieinhalb Kilogramm Ölfarbe mitgenommen werden. Die Lebensmittelvorräte, für zwei Monate berechnet, wogen im ganzen 596 Kilogramm und bestanden aus: Zwieback Erbsmehl gedörrtes Fleisch Fleischkonserven Grieß
490 kg 16 kg 8 kg 20 kg 4 kg
Butter Tee Zucker Schokolade Salz 28
2 kg 4 kg 6 kg 2 kg 16 kg
Dörrgemüse Dörrobst Trockenzwiebeln
4 kg 2 kg 8 kg
Pfeffer Senf Kondensierte Milch
1 kg 1 kg 12 kg
Die ganze Ausrüstung der Gruppe war höchst unzulänglich und gänzlich ungeeignet für einen Marsch über aufgetürmte Eisschollen. Alle späteren Katastrophen, von denen Albanow berichtet, erklären sich in erster Linie aus der primitiven Ausrüstung und der unzureichenden Ernährung bei härtesten Lebensbedingungen. Die selbst gebauten Schlitten mit den schmalen Kufen gingen schon nach dem ersten Kilometer entzwei und waren keineswegs zum Transport schwerer Lasten durch tiefen Schnee und über Eisblöcke geeignet. Kleider, Zelt, Kochvorrichtung, Waffen – das alles war schwer, nahm viel Raum ein und entsprach in keiner Weise den Erfahrungen anderer Polarreisender. Wie aus dem Verzeichnis zu ersehen ist, bestand die Verpflegung zu 82 Prozent aus Roggenzwieback. Von den restlichen 18 Prozent fielen nur 6,2 Prozent auf so unentbehrliche Nahrungsmittel wie Butter, Zucker, Fleisch und Schokolade. Die Männer waren dazu verurteilt, an Unterernährung zu sterben. Nur die Begegnungen mit Eisbären und Seehunden, deren Fleisch bald zum Hauptnahrungsmittel der Polarreisenden wurde, schoben ihren Untergang hinaus. Die »St. Anna« und die auf ihr verbliebenen Menschen sind verschollen. Außer Brussilow und Shdanko befanden 29
sich auf dem Schiff: die Harpuniere Schienski und Denissow, der Bootsmann Potapow, die Matrosen Anissimow, Melbart und Parapriz, der Maschinist Freiberg, der Koch Kalmykow und wahrscheinlich noch Ponomarjow, Schabatura und Schachnin, die kehrtgemacht hatten. Im Jahre 1915 rüstete die Hydrographische Hauptverwaltung eine Suchexpedition aus. Leiter der Expedition, die aus den Schiffen »Hertha« und »Andromeda« bestand, war Dr. Kogan.9 Die »Andromeda«, die auf dem FranzJoseph-Land suchen sollte, kam nicht durch; die »Hertha« umschiffte die West- und einen Teil der Nordküste von Spitzbergen und versuchte zur Grönlandküste vorzudringen; sie kehrte jedoch ergebnislos zurück. Seitdem wurde kein Versuch mehr unternommen, der »St. Anna« zu helfen. Man hörte nichts von ihr. Sie war spurlos verschwunden. Auch spätere Forschungs- und Jagdexpeditionen im Gebiet von Spitzbergen und von Grönland haben nichts entdeckt, was – wie z. B. die Überreste der »Jeannette«10 oder des Lagers von Andree11 auf der Weißen Insel – das Schicksal der »St. Anna« und ihrer unglücklichen Besatzung hätte aufklären können. Durch eine Verkettung von Zufällen und misslichen Umständen war die »St. Anna« in Gebiete verschlagen worden, die noch nie ein Mensch betreten hatte. Der größte Teil ihres Weges und die Route der Albanow-Gruppe führten durch bis dahin völlig unerforschte Gegenden. Übrigens driftete die »St. Anna« nördlich des FranzJoseph-Landes gerade über die Stellen, die das so genannte »Petermann-Land« darstellen sollten. Albanow wiederum und seine Gefährten hatten das »Oskar-Land« durchquert, 30
ohne auch nur ein Anzeichen von Land zu entdecken. Die Existenz dieser Länder war schon früher durch die Expedition des Herzogs der Abruzzen und die ZieglerFiala-Expedition12 angezweifelt worden. Nach der Reise Albanows konnte man es als erwiesen betrachten, dass sie nicht existieren. Die Drift der »St. Anna« von der Westküste damals in Nordpolrichtung hat die Vorstellung vom Charakter der Oberflächenströmungen im Karischen Meer von Grund auf gewandelt und einige Zweifel an der Richtigkeit des überlieferten Begriffes von der Eisbewegung im großen Polarbecken geweckt. Die meteorologischen Beobachtungen, die man auf der »St. Anna« angestellt hatte, haben trotz der methodischen und technischen Unvollkommenheit einige Unterlagen über die klimatischen Verhältnisse in den von ihr berührten Gegenden geliefert. Die während der Drift vorgenommenen Tiefenmessungen haben uns einen Begriff von der Gestaltung des Meeresbodens im nördlichen Karischen Meer und oberhalb des Franz-Joseph-Landes gegeben. So besteht also die Heldentat Albanows und seiner Gefährten nicht allein darin, dem Tode entkommen zu sein. Die Dokumente, die Albanow mitgebracht hat, haben sowohl der Wissenschaft als auch der Praxis – der Schifffahrt im Karischen Meer – Nutzen gebracht, später trugen sie auch zur Entdeckung der Wiese-Insel bei, so benannt nach Prof. Wiese, der nach dem Studium der »St. Anna«-Route darauf hinwies, dass östlich davon Land liegen müsse. Albanows Tagebuch ist ein seltenes und wertvolles menschliches Dokument. Die Geschichte der Polarforschung verzeichnet einige Fälle, da ganze Expeditionen mit 31
ihren zahlreichen Mitgliedern untergegangen sind. Wir wissen fast nichts über die Begleitumstände solcher Polartragödien. Albanow gibt uns mit seinem Bericht Einblick in die Ursachen einer solchen Tragödie. Ist es nicht wunderbar, dass dieser Mensch, der so viel durchgemacht hat, in der schwersten Minute seines Lebens Worte findet, um farbig und anziehend ein Fleckchen Erde unter dem 81. Breitengrad zu beschreiben – ein Fleckchen Erde, »von dem man sich nicht trennen möchte «?
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Valerian I. Albanow
Meine Reise über driftendes Eis im nördlichen Eismeer Sommer 1914
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Nach Süden zum Franz-]oseph-Land Drei Jahre schon sind seit jenem Tage vergangen, da ich den Schoner »St. Anna« verließ und Leutnant Brussilow, dem Leiter der Expedition, Lebewohl sagte. Im Oktober 1912 fror die »St. Anna« im Karischen Meer auf 71° 45' nördlicher Breite ein und trieb bereits seit anderthalb Jahren langsam um die Inselgruppe des Franz-JosephLandes nach Norden. Ihrer Bewegungsfreiheit völlig beraubt, blieb sie eine Gefangene des Polareises, das der Macht der dort herrschenden Winde und Meeresströmungen unterworfen ist. Mit dreizehn Kameraden hatte ich das Schiff verlassen, um das Franz-Joseph-Land zu Fuß über das ewig driftende Eis zu erreichen. Dann wollte ich versuchen, irgendwie in bewohnte Gegenden zu gelangen. Natürlich sind drei Jahre keine allzu lange Zeit, aber es scheint mir trotzdem eine sehr schwierige Aufgabe zu sein, wollte ich jetzt alles, was sich vor und nach meiner Trennung von dem Schiff ereignete, sowie meine persönlichen Eindrücke bis ins Einzelne schildern. Vieles, vielleicht tatsächlich recht Wesentliches, mag mir entfallen sein, Nebensächliches aber, das sich aus mancherlei Gründen tief im Gedächtnis eingeprägt hat, ist haften geblieben. Wären alle meine Aufzeichnungen, das ganze Tagebuch, das ich regelmäßig an Bord der »St. Anna« und auf dem Wege über das Eis geführt habe, vollständig erhalten geblieben, so wäre die Sache natürlich bedeutend leichter. Doch meine Aufzeichnungen gingen einen Tag 34
vor unserer Rettung mit zwei meiner Kameraden unter, die vor unserer Landung auf Kap Flora bei der zum FranzJoseph-Land gehörenden Insel Northbrook in ihrem Kajak ins Meer hinausgetrieben wurden. Erhalten geblieben sind nur die Tagebuchblätter, die ich in meinem Kajak mit mir führte, und zwar vom 14. (27.) Mai bis 10. (23.) August 1914; sie beginnen also erst einen Monat, nachdem ich mich von der »St. Anna« getrennt hatte. Leutnant Brussilow schreibt in seinem »Auszug aus dem Schiffsjournal«, den ich bei der Hydrographischen Hauptverwaltung abgeliefert hatte und der in der Beilage zur 4. Auflage der »Berichte über Hydrographie«, Band XXVIII, abgedruckt wurde: »9. (22.) Januar. Haben mit Hilfe eines selbst gefertigten Drahtseiles die Tiefe ausgelotet, da die vorhandenen vierhundert Faden Lotleine nicht ausreichten. Der von mir seiner Pflichten enthobene Steuermann Albanow bat mich, ihm die Möglichkeit und das Material zum Bau eines Kajaks zu geben, um im Frühjahr die ›St. Anna‹ verlassen zu können. In Anbetracht seiner schwierigen Lage auf dem Schiff gab ich ihm die Erlaubnis. Abends – Nordlicht.« Und weiter: »22. Januar (4. Februar). Horizont von dichtem Nebel verdeckt. Die Besatzung bat mich, in den Mannschaftsraum zu kommen. Als ich erschien, äußerten die Leute den Wunsch, nach dem Beispiel des Steuermanns ebenfalls Kajaks zu bauen; sie hätten Angst, einen dritten Winter in ungewisser 35
Lage auf dem Schiff zu verbringen, zumal die Proviantvorräte für diesen Winter kaum ausreichen würden. Anfangs versuchte ich ihnen ihr Vorhaben mit dem Hinweis auszureden, dass wir im kommenden Sommer unser Schiff, wenn es bis dahin nicht frei geworden sein sollte, mit Rettungsbooten verlassen könnten. Ich erinnerte sie an das Beispiel der ›Jeannette‹-Besatzung, die mit Booten eine viel größere Entfernung, als wir sie zu bewältigen haben würden, zurücklegen musste und dennoch Land erreichte. Ich sah jedoch, dass meine Argumente sie nicht überzeugten. Die Aussicht, im Frühjahr das Schiff verlassen zu können, um im Sommer zivilisierte Gegenden zu erreichen und damit der schon langweiligen Herumsitzerei zu entrinnen, war für sie zu verlockend, als dass sie die Kraft aufgebracht hätten, von ihrem Entschluss abzulassen. So gab ich meine Zustimmung und erklärte ihnen, dass ich sie allesamt ziehen lassen würde, falls sie es wünschten. Jetzt fanden sich jedoch einige Männer, die bleiben wollten. Später schlossen sich ihnen immer mehr an, und ich geriet sogar in eine peinliche Lage, weil ich niemanden zwingen wollte, das Schiff zu verlassen. Außer mir selbst und J. A. Shdanko verbleiben an Bord die beiden Harpuniere, der Bootsmann, der Obermechaniker, der Steward, der Koch und zwei junge Matrosen (einer von ihnen ist Schüler der Seefahrtsschule). Diese Anzahl ist zur Instandhaltung und Lenkung des Schiffes 36
notwendig, und für sie dürften auch die verbliebenen Proviantvorräte ein Jahr lang ausreichen. Die abgehenden Leute sind auf dem Schiff nicht unbedingt vonnöten, so dass ich jetzt sehr zufrieden darüber bin, wie sich die Dinge entwickelt haben. Ich möchte allerdings keinesfalls behaupten, dass der Abgang eines Teiles der Besatzung von mir angeregt und organisiert worden ist. Ich wiederhole, dass ich das Schiff im Spätsommer auf unseren Rettungsbooten verlassen hätte, wäre ich davon überzeugt gewesen, dass wir uns unmöglich aus dem Eise herausarbeiten können. Jetzt jedoch, da ein Teil der Besatzung abgeht, können die Zurückbleibenden mit dem vorhandenen Proviant im äußersten Falle noch ein ganzes Jahr durchhalten.« In der gleichen Beilage zu den »Berichten über Hydrographie« ist am Schluss (Seite 76), auf meinen ausdrücklichen Wunsch, betreffs Brussilows Notiz: »Der von mir seiner Pflichten enthobene Steuermann Albanow …«, meine Erklärung als Zusatz beigefügt worden: »Als Leutnant Brussilow von seiner langwierigen und schweren Krankheit genesen war, nahmen das Leben und die Beziehungen aller Expeditionsteilnehmer untereinander Formen an, die meiner Meinung nach auf einem Schiff überhaupt untragbar sind; besonders gefährlich aber ist eine solche Lage auf einem Fahrzeug, das sich auf einer so schwierigen Polarreise befindet. Da der Leiter der Expedition, Leutnant Brussilow, und ich in unseren Ansichten über diese Frage weit auseinander gingen, 37
bat ich ihn, mich von meinem Posten als Steuermann zu entbinden. Leutnant Brussilow entsprach nach einigem Überlegen meiner Bitte, wofür ich ihm äußerst dankbar bin.« Aus diesen von mir angeführten Auszügen geht einwandfrei hervor, dass ich als Einziger das Schiff zu verlassen gedachte. Erst am 22. Januar (4. Februar) teilte mir Brussilow mit, auch ein Teil der Besatzung könne mit mir ziehen. Der Grund für meinen Weggang lag einzig und allein in den ernsten Meinungsverschiedenheiten zwischen Brussilow und mir. Die anderen Kameraden verließen das Schiff, weil sie, was zu verstehen ist, die dritte Überwinterung fürchteten, für die der Proviant nicht mehr ausreichte. Was war nun der Grund des Zerwürfnisses zwischen Georgi Lwowitsch und mir? Heute, nachdem seit jenen Tagen viel Zeit verflossen ist und ich ruhig zurückblicken und leidenschaftslos unsere Beziehungen analysieren kann, will es mir scheinen, dass wir damals beide ernstlich nervenkrank waren. Unsere Reise war von Anfang an wenig glücklich gewesen. Die schweren Erkrankungen im Winter 1912/13, die ernste Lage und die Ungewisse Zukunft mit dem uns unvermeidlich bevorstehenden Hunger, all das schaffte natürlich einen günstigen Boden, um nervenkrank zu werden. Kleine Unzuträglichkeiten, die das lange Zusammenleben auf engem Raum unausbleiblich mit sich bringt, entfremdeten uns mehr und mehr und errichteten schließlich zwischen uns eine schier unübersteigbare Mauer. Uns fehlte sowohl die Entschlusskraft als auch die nötige Kaltblütigkeit, um geduldig durch 38
Aussprachen das jeweilige Hindernis zu beseitigen. So wuchs die dumpfe Feindseligkeit mehr und mehr an. So viel wir uns auch bemühten, wir konnten unserer krankhaften Reizbarkeit nicht Herr werden; wir litten, wenn wir miteinander sprachen, plötzlich an Atemnot, unsere Stimmen versagten, die Kehlen waren wie zugeschnürt, und wir gingen jedes Mal auseinander, ohne etwas geklärt zu haben; oft vergaßen wir sogar den Grund, der den Streit hervorgerufen hatte. Ich kann mich nicht erinnern, dass Brussilow und ich seit September 1913 auch nur ein einziges Mal in ruhigem Ton miteinander gesprochen hätten und ohne die Unterhaltung bald schroff abzubrechen und auseinander zu gehen. Heute bin ich davon überzeugt, hätten wir uns nur ein einziges Mal wirklich ausgesprochen, uns wäre schließlich doch klar geworden, dass keinerlei Gründe zum Streit vorlagen. Und wenn sie dennoch vorhanden waren, so hätte man sie auf diese Weise leicht aus dem Wege räumen können. Doch leider hat eine solche entscheidende Aussprache niemals stattgefunden, und jedes Mal trennten wir uns, obgleich im scheinbaren Einverständnis, als Feinde. Als wir uns auf die Reise begaben, um an der Küste Sibiriens entlang bis Wladiwostok zu fahren, durch die so genannte Nord-Ost-Passage, die bis dahin nur von Nordenskiöld auf seiner »Vega« bewältigt worden war, hatten wir nur für etwa anderthalb Jahre Proviant mitgenommen. Für diesen Zeitraum war die Verpflegung zwar sehr reichlich, da sie für dreißig Mann berechnet war und sich bei der Abfahrt nur vierundzwanzig Mann an Bord befanden; auch trug die ertragreiche Eisbärenjagd im ersten 39
Jahr unserer Fahrt dazu bei, die Vorräte zu strecken. So war die Annahme berechtigt, dass unser Proviant, wenn wir sparsam damit umgingen, ein ganzes Jahr länger, also bis Dezember 1914, ausreichen würde. Wären die Jagdergebnisse auch später so gut gewesen wie anfangs, so hätten wir unsere Lage dadurch erheblich verbessern können. Doch im zweiten Jahr gab es überhaupt nichts zum Jagen, und es war nahezu aussichtslos, darauf zu hoffen. Anfang Januar 1914 erkannten wir, dass es uns in diesem Jahr nicht gelingen würde, das Fahrzeug aus der Umklammerung des Eises zu befreien. Unsere Drift versprach, sich im günstigsten Falle bis zum Herbst 1915 hinzuziehen. Sie würde also zwanzig bis zweiundzwanzig Monate länger dauern, als wir anfangs angenommen hatten. Wären wir alle an Bord geblieben, so hätten wir spätestens im Januar 1915 eine Hungersnot im buchstäblichsten Sinne des Wortes erlebt; Hunger mitten in der Polarnacht, zu einer Zeit, in der jede Hoffnung auf Jagd aussichtslos ist, wenn alles Leben in der uferlosen, driftenden Eiswüste erlischt! Andererseits, würde im April 1914 die Hälfte der Besatzung das Schiff verlassen, um Land zu erreichen – zu einer Jahreszeit, die sowohl für einen Marsch über das Eis als auch zur Jagd die günstigsten Voraussetzungen bietet –, und sogar dabei für zwei Monate den unentbehrlichen Proviant, hauptsächlich Zwieback, mitnehmen, so verbliebe für die übrigen Besatzungsmitglieder noch so viel Verpflegung, dass sie bis zum Oktober 1915 damit auskommen könnten. Wir glaubten damals, dass es dem Schiff bis dahin gelingen würde, sich irgendwo zwischen 40
Grönland und Spitzbergen von den Fesseln des Treibeises zu befreien. War es, um die »St. Anna« zu retten, notwendig, dass die gesamte Besatzung, also 23 Mann, auf dem Schiff bliebt Auf diese Frage antwortet Brussilow persönlich in seinem Auszug aus dem Schiffsjournal. Er war der Meinung, dass zehn Mann durchaus in der Lage seien, das Fahrzeug zu bedienen, falls es ins offene Meer hinausgetrieben würde. Wenn die Hälfte der Besatzung abginge, könnten nicht nur Lebensmittel, sondern auch 50 Prozent an Heizmaterial eingespart werden, was zu dieser Zeit sehr wichtig war, da es an Bord kein Stück Kohle und kein Holzscheit mehr gab. Als Heizmaterial diente das Fett von Eisbären und Seehunden, welches dem Maschinenöl beigemischt wurde. Um den Samowar anzuheizen und zu erwärmen, wurde Holz von abmontierten Zwischenwänden der Kajüten und sonstigen entbehrlichen Holzteilen verwendet. Solches Holz konnte man einstweilen noch genügend beschaffen, ohne das Schiff in seiner Stabilität zu beeinträchtigen. Während des Winters 1913/14 lebte die ganze Besatzung im Achterteil des Schiffes in einem oberen kleinen Raum im Deckhaus, der leichter gebaut und kälter war, und einem tiefer gelegenen, der gleichzeitig als Küche diente. Letzterer wurde durch einen Küchenherd beheizt und war warm. Sobald die Hälfte der Besatzung das Schiff verlassen würde, konnten die zurückbleibenden Mannschaften in dem tiefer gelegenen Raum untergebracht werden, so dass der obere Raum nicht mehr geheizt werden musste. Dies war natürlich sowohl sparsamer als auch nicht so gesundheitsschädlich, denn die Temperatur in dem oberen Raum konnte im Winter selten höher als auf +4° R 41
gebracht werden; über Nacht sank sie stets bis auf –2° R herab. Ich denke, jetzt sind die Gründe klar, die mich bewogen haben, das Schiff mit einem Teil der Besatzung zu verlassen, und Leutnant Brussilow veranlassten, uns nicht zurückzuhalten.
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Die Vorbereitungen zur Schlittenexpedition Am 10. (23.) Januar 1914 begann ich mit meinen Reisevorbereitungen. Es gab viel Arbeit. Sieben Kajaks und sieben Polarschlitten mussten gebaut werden; daneben hatten wir unsere Kleidung zu nähen und in Stand zu setzen, Stiefel auszubessern, den Proviant zusammenzutragen und vieles mehr … Der Mangel an geeignetem Material und verschiedenen Werkzeugen erschwerte die Arbeit ungemein. Das Holz für die Kajaks und Schlitten entsprach keineswegs den Anforderungen; wir mussten es passgerecht sägen, Kupfernieten und sogar manche Werkzeuge anfertigen. Alle Einzelteile der Kajaks wurden außer durch Nieten noch mit Leinen fest miteinander verbunden und das ganze Gerippe zuletzt mit einem Flechtwerk aus dünnem, aber doch sehr festem Bindfaden überzogen. Dann wurden die Kajaks mit Segeltuch verkleidet, wozu wir die Reservesegel verwendeten. Alle diese Arbeiten mussten im Laderaum bei einer Kälte bis zu 30° R ausgeführt werden. Als Beleuchtungskörper dienten uns Tranlampen, die mehr blakten als Licht spendeten. Meistens arbeiteten wir, ungeachtet der furchtbaren Kälte, mit bloßen Händen, weil die Arbeit selbst sehr fein war und viel Geduld und Geschick erforderte; die Hände wurden schnell klamm, und wir mussten sie über den »Blakfunzeln« erwärmen. Besonders qualvoll war es, die Kajaks zu vernieten und sie mit Segeltuch zu benähen. Die eiskalte Segelnadel brannte wie glühendes Eisen, und an 43
unseren Fingerspitzen bildeten sich dicke Blasen. Sogar die Segelnadeln mussten wir selbst herstellen, schließlich aber wurden wir wahre Meister auf diesem Gebiet. An Sauberkeit und Festigkeit ließen die Nadeln nichts zu wünschen übrig, man konnte sie kaum noch von käuflich erworbenen unterscheiden. Allmählich füllte sich der Laderaum mit unseren selbst gebauten Kajaks und Schlitten. Vom frühen Morgen bis in die späte Nacht hinein herrschte dort emsiges Leben und Treiben; alle waren in hoffnungsfreudiger Stimmung, scherzten und sangen. Jeder Kajak war ursprünglich für zwei Mann einschließlich Gepäck vorgesehen. Wir gaben ihnen Namen wie »Möwe«, »Taucher«, »Eisammer«, »Wildente«, »Sturmvogel«. Der Anstrich der Kajaks war mit neuen Schwierigkeiten verbunden, denn bei der großen Kälte konnte man nicht im Laderaum streichen. Doch wir fanden einen Ausweg. Die Lichtluke auf dem Achterdeck wurde ausgehoben, und durch diese schafften wir die Kajaks nacheinander in die Küche, wo wir sie dann anstreichen konnten. Eine Woche lang bewegten wir uns in der Küche nur in stark gebückter Haltung, beinahe auf allen vieren. Im März hatte sich am Vordersteven des Schiffes im Eise eine Wasserrinne gebildet, die sich bald auf zwei Faden erweiterte. In diesem Eisloch gingen die Probefahrten der Kajaks vonstatten, die über Erwarten günstig ausfielen. Die Kajaks erwiesen sich als geräumig und stabil genug. Gewiss, das Material war keineswegs erstklassig und nicht so, wie wir es uns gewünscht hätten, wir hatten eben nehmen müssen, was uns gerade in die 44
Finger kam. Für die Längsleisten der Gerippe hatten wir die Deckenverschalung der Messe verwendet – alte, eingetrocknete Fichtenplanken, von denen man natürlich keine besondere Festigkeit und Biegsamkeit erwarten durfte. Für die Spanten benutzten wir größtenteils Fassreifen, und nur ein Teil wurde aus von den Masten abgenommenen und in ihren Längsachsen zersägten hölzernen Racks angefertigt. Deshalb mussten die Gerippe der Kajaks auch mit Bindfaden umwickelt werden, damit sie stabil genug waren. Mit dem Baumaterial für die Polarschlitten war es noch schlechter bestellt. Für die Kufen wurde die Platte des langen Messetisches verwendet, die zwar aus Birkenholz, aber doch schon reichlich alt und brüchig war. Manche aus dieser Tischplatte angefertigte Kufe brach schon bei den ersten Biegeversuchen, so dass wir gezwungen waren, einen Teil der Kufen aus Erlenholzriemen herzustellen. Bei der Auswahl des Materials für die Kajaks und die Schlitten geriet ich einige Male mit Brussilow aneinander, und zwar so hart und scharf, dass ich noch heute schmerzlich an diese Zwischenfälle zurückdenke. Er war – warum nur – fest davon überzeugt, dass wir einen zwar schwierigen, aber nur kurzen Weg zu überwinden hätten. Mehr als einmal sagte er mir, dass wir bestimmt im Verlauf von höchstens fünf, sechs Tagen das Franz-Joseph-Land sichten würden. Unsere Sorgen um die Festigkeit der Schlitten und der Kajaks hielt er für übertrieben. Vielmehr vertrat er die Meinung, dass es nicht nötig sei, für die uns bevorstehende Reise leichte Segeltuchkajaks zu bauen; es genüge ein gewöhnliches Rettungsboot, das wir uns 45
mitnehmen sollten. Als Beweis für die Richtigkeit seiner Auffassung verwies er auf die Expedition des Kapitäns der »Jeannette«, Leutnant De Long. Ich kann nicht behaupten, dass ich selbst meiner bevorstehenden Reise so optimistisch entgegensah. Wohl hatte ich mit einem etwa einmonatigen Marsch gerechnet; eine so schwierige Wanderung jedoch, wie sie sich tatsächlich ergab, hatte ich nicht vorausgeahnt. Es schien mir ganz ausgeschlossen zu sein, den Weg mit dem schweren, auf Kufen gestellten Boot zu wagen, das außerdem noch etwa sechzig Pud verschiedenen Ladeguts aufnehmen musste. Dazu kam, dass wir damals keineswegs sicher wussten, wo wir uns befanden und wo wir überhaupt Land antreffen würden. Auf dem Schiff gab es keine Karte vom FranzJoseph-Land. Um unsere Drift aufzuzeichnen, benutzten wir ein selbst gefertigtes Kartennetz, auf dem ich dieses Land in vergrößertem Maßstabe eintrug, wozu ich die Kartenbeilage zu Nansens Werk »In Nacht und Eis«13 verwandte. Von dieser Kartenskizze sagt Nansen selbst, er messe ihr keine große Bedeutung bei; er hätte sie nur beigefügt, um einen ungefähren Begriff von der Inselgruppe des FranzJoseph-Landes zu geben. Das Kap Fligely zum Beispiel zeigt diese Karte unter 82° 12' nördlicher Breite. Nördlich davon war das große Petermann-Land eingetragen und nordwestlich das Oskar-Land (s. beigefügte Karte). Wie groß war daher unser Erstaunen, als die astronomischen Beobachtungen im März und Anfang April unseren Standort mitten auf diesen Landmassen ermittelten, während wir nach wie vor von unübersehbaren Eisfeldern 46
umgeben waren. Nichts deutete auf die Nähe von Land hin; nicht einmal Bären, von denen wir im vergangenen Jahre 47 Stück erlegt hatten, waren zu sehen. Ebenso wenig waren die im vorigen Jahr so gewohnten Rinnen und Wunen zu finden, man sah am fernen Horizont auch nicht den so genannten »Wasserhimmel«, der das Vorhandensein dieser offenen Stellen hinter der Kimm anzuzeigen pflegt. Der Horizont war klar, das Eis wanderte langsam und ruhig, und alles deutete darauf hin, dass uns ein langer, beschwerlicher Weg über Eishügel und durch tiefen Schnee bevorstand. Zwar hatten schon im Januar, als der südliche Teil des Himmels sich leicht zu röten begann, manche von uns, darunter auch ich, vor diesem rosa Hintergrund etwas gesehen, was einem Küstenstreifen glich, der freilich äußerst weit entfernt war. Einige Stunden lang war dieses »Land« sichtbar gewesen; auch nahm die Meerestiefe plötzlich rapide ab. In der Nähe des Schiffes strichen viele Eisfüchse umher. Das konnte in der Tat Kap Fligely auf dem Rudolph-Land gewesen sein. Doch seitdem waren schon viele Monate vergangen, wir wurden weit abgetrieben und bewegten uns immer weiter und weiter. In der Hoffnung, irgendwo in der Ferne Land zu sichten, hatte ich an klaren Sonnentagen oft die Beobachtungstonne auf dem Großmast bestiegen, die sich ungefähr achtzig Fuß über dem Meeresspiegel erhob. Doch umsonst spähte ich zum Horizont. Außer endlosen Eisrücken konnte ich nichts erblicken. Es gab unendlich viele dieser aufgetürmten Eisschollen: der Horizont im Süden, wohin unsere Reise gehen sollte, 47
erschien im starken Fernglas in Gestalt einer mächtigen gezackten Barriere, durch die es aussichtslos schien, sich mit einer Traglast von über sechzig Pud hindurchzuwinden. Dies täuschte jedoch nur. Ein Durchgang zwischen den Eishügeln würde sich stets finden lassen. Wie aber diese Durchgänge und überhaupt der Weg in Wirklichkeit war, sollten wir erst später erfahren. Damals glaubten wir alle noch fest daran, täglich mindestens zehn Werst zurücklegen zu können. Es sitzt sich in der Beobachtungstonne auf dem hohen Mast bei ruhigem, klarem Wetter ganz behaglich. Der Wind säuselt kaum hörbar in der mit silbrigem Reif überzogenen Takelage. In weißem, glitzerndem Gewande liegt die herrliche »St. Anna« gleichsam schlafend da. Wie von Künstlerhand ist das Schiff mit den vom Frost geschaffenen Kristallmustern geschmückt und bis hoch an die Reling in Schnee gehüllt. Von Zeit zu Zeit lösen sich die Reifgirlanden von der Takelage und fallen leise raschelnd wie Blumen auf das schlafende Schiff hinab. Aus der Höhe sieht die »St. Anna« bedeutend schmaler und länger aus. Die hohen, schlank aufstrebenden Masten erscheinen noch höher, noch spitzer. Wie schimmernde Strahlen laufen die bereiften Stahltrossen des Takelwerks weit nach unten und beleuchten das in Träumen versunkene Schiff, das bereits seit anderthalb Jahren auf seinem eisigen Lager ruht. Welches Schicksal mag dir bestimmt sein? Ist es dir beschieden, auch weiterhin die schwere Zeit ruhig zu verschlafen, um eines schönen Tages samt deinem eisigen Bett, das dich weit unten im Karischen Meer am JamalUfer empfangen hat, irgendwo zwischen Spitzbergen und 48
Grönland zu neuem Leben zu erwachend? Wirst du dann ruhig von deinem eisigen Lager auf dein geliebtes Element, das Wasser, hinabgleiten, deine mächtigen Schwingen ausbreiten und freudig über das blaue Meer nach dem fernen, warmen Süden fliegen, wo deine schweren Wunden geheilt werden und alles im Reiche des »weißen Todes« Erlittene dir wie ein schwerer Traum erscheinen wird? Oder wirst du einmal in eisiger arktischer Sturmnacht, wenn der Wind den Schnee wild durch die Lüfte peitscht, da Mond und Sterne von grausiger Finsternis verschlungen sind und nicht ein einziges Nordlicht zu sehen ist, plötzlich rau aus deinem Schlaf gerissen von dem furchtbaren Krachen, Bersten, grimmigen Zischen, Kreischen und Erbeben deines bis dahin so ruhigen Lagers? Mit Getöse knicken dann die Masten ein, stürzen donnernd Stengen und Rahen herab, die, selbst vernichtet, im Sturze neue Vernichtung bringen. Im Todeskampf wird dein Leib erzittern, krachend werden alle deine Glieder bersten, und einige Tage später werden ein Haufen formloser Trümmer und ein frischer Eishügel die Stelle anzeigen, wo du dein Grab gefunden. Der Sturm wird die Totenklage singen und den Ort der Katastrophe bald mit neuem Schnee zuwehen. Und zwischen hoch aufgetürmten Eisschollen wird ein Häuflein verzweifelter Menschen in der Dunkelheit die letzten armseligen Reste ihrer Habe zu retten suchen, sich immer noch an das Leben klammernd, immer noch hoffend, dem Tode zu entrinnen. Welchem Schicksal gehst du entgegen, du schönes, stolzes Schiff? Mag bereits in deinem Innern eine merkliche 49
Zerstörung begonnen haben, vorläufig ist sie noch unbedeutend. Jedes Mal, wenn wir eine neue Planke aus deinen vielen Zwischenwänden herausreißen, ist uns weh ums Herz. Das Häuflein Menschen drängt sich immer dichter und dichter in der Tiefe deines Rumpfes zusammen und kämpft mit dem Mut der Verzweiflung gegen die grimmigen, erbarmungslosen Elemente. Die große Sorge, wie man möglichst lange den Proviant strecken könnte, lastet auf den Menschen. Der zweite harte Winter geht zu Ende. Vorbei ist die endlose Polarnacht, vorbei ist die Finsternis! Mit jedem Tage bleibt die Sonne immer länger über dem Horizont, mit jedem Tage spendet sie immer mehr belebende Wärme, mit jedem Tage wächst und festigt sich die Hoffnung bei diesem Häuflein um ihr Leben kämpfender Menschen. Von morgens bis abends laufen sie zwischen dem Schiff und einigen seltsamen Kufenfahrzeugen, die in einer Reihe auf dem Eise stehen, geschäftig hin und her, hantieren daran herum und treffen ihre letzten Vorbereitungen. Bei näherer Betrachtung wird man gewahr, dass diese Fahrzeuge aus zwei Teilen bestehen: aus langen, schmalen Schlitten und leichten Segeltuchkajaks, die, fest auf Unterlagen verpackt, auf den Schlitten ruhen. Diese Kajaks dienen als Schlittenkästen und sehen in ihrem schwarzen Anstrich ziemlich unfreundlich aus. Der düstere Eindruck wird durch breite Segeltuchstreifen, die die Kajaks fest umschließen, einigermaßen gemildert. Die Streifen sind an ihrem unteren Rand mit dem Schlittengestell verschnürt und oben über dem Kajak derart zusammengezogen und 50
verknüpft, dass sie einerseits den Kajak fest an die Unterlage drücken, andererseits aber dessen Bordwände vor den scharfen Kanten der Eisblöcke schützen. Es herrscht reges Leben und Treiben. Die zurückbleibenden Besatzungsmitglieder legen bei unseren Vorbereitungen ebenfalls emsig Hand an. Einige schneidern, andere schustern, wieder andere helfen den Proviant zusammentragen und verpacken. Denissow, unser geliebter Harpunier, ist aufgeregt und hastet mehr als alle anderen hin und her, obgleich er zu den Zurückbleibenden gehört. Leutnant Brussilow, Jerminia Alexandrowna Shdanko und Schienski sind anderweitig beschäftigt: Sie schreiben von morgens bis abends bereits seit einer Woche. Großer Gott, was mögen sie da alles zusammenschreiben? Ich habe manchmal ein wenig Angst, wenn ich mir vorstelle, welchen Umfang und welches Gewicht die Post haben wird, die sie uns mitgeben werden in jene ferne Welt, von der wir schon so lange abgeschnitten sind, in jene Welt, in der die Menschen auch der Gegenwart leben, nicht nur der Vergangenheit und Zukunft wie wir auf der »St. Anna«. Doch zu meinem Erstaunen war das Postpaket gar nicht sehr groß, nur etwa fünf Pfund schwer. Man kann nicht sagen, dass unser Proviant besonders mannigfaltig war. Der Schiffszwieback wurde vor dem Verpacken noch einmal sorgfältig getrocknet, um alsdann in Säcke zu je zwanzig Pfund zu wandern, die zugenäht wurden. Eines der drei auf der »St. Anna« vorhandenen Zelte hatten wir für uns reserviert. Es war groß, rund und im Vergleich zu Nansens Zelt sehr schwer, wog etwa anderthalb Pud. Später wurde es nass und vom Frost steif, 51
und da es zu beschwerlich wurde, es weiter mitzuführen, mussten wir es, noch bevor wir das Franz-Joseph-Land erreichten, zurücklassen. Nichtsdestoweniger hat es uns während der ersten Hälfte unserer Reise unschätzbare Dienste geleistet und uns vor Kälte und Schneestürmen geschützt. An Waffen führten wir zwei Magazingewehre, drei norwegische Robbenjagdgewehre, eine doppelläufige Schrotflinte und zwei Harpunen sowie etwa drei Pud Munition mit. Wenn man noch warme Kleidung, Geräte und Werkzeuge, Beile, Schneeschuhe, Geschirr, Flickzeug und anderes mehr hinzufügt, so hatten wir allein an Gepäck ein Gewicht von fünfundsechzig Pud zu befördern, das Gewicht der Kajaks und Schlitten nicht einbegriffen. Anfänglich sollten je zwei Mann einen Schlitten ziehen. Jeder von uns besaß einen Zugriemen aus Segeltuch, an dem ein Manilaseil befestigt war. Der Zugriemen wurde quer über die Brust gelegt, das Seil dagegen derart an der letzten beziehungsweise vorletzten Strebe des Schlittens angeknüpft, dass der vorgespannte Mann neben dem Vordersteven des Kajaks zu stehen kam, mit der einen Hand denselben stützen und zugleich den Schlitten nach Belieben lenken konnte, während er in der anderen Hand den Skistock hielt. Ein Mann ging rechts, der andere links vom Kajak. Es wäre gewiss sehr bequem gewesen, so zu marschieren, wäre nur der Weg nicht auf Schritt und Tritt durch Eisblöcke versperrt gewesen und wären wir nicht unaufhörlich in dem tiefen Schnee eingesunken. Leider mussten wir uns bald davon überzeugen, dass es fast unmöglich schien, sich so fortzubewegen, und es dauerte sehr lange, bis wir doch dazu imstande waren. 52
Wie ich bereits sagte, gab es an Bord der »St. Anna« keine für uns brauchbaren Karten. Wir mussten uns erst eine anfertigen, wozu die erwähnte Karte aus Nansens Werk als Vorlage diente. Wir verfügten über keinerlei Spezial- oder Fachliteratur außer Nansens Buch und Koltschaks Schrift »Das Eis des Karischen und Sibirischen Meeres«. Obgleich Brussilow vor unserer Abreise für hundert Rubel eine kleine Bibliothek angeschafft hatte, enthielt diese nur Romane, Novellen, Erzählungen und alte Zeitschriften, jedoch kein einziges Werk, das wir jetzt so dringend benötigten. Es ist nicht verwunderlich, dass wir alle unsere Kenntnisse über das Franz-Joseph-Land aus Nansens Schrift schöpften. Wir wussten, dass Nansen und Johansen vor fast zwanzig Jahren diesen Archipel durchschritten und auf einer Insel, der sie den Namen Jackson-Insel gaben, in einer sehr primitiven Hütte überwintert hatten. Im darauf folgenden Jahr waren sie auf der Northbrook-Insel bei Kap Flora mit Jackson zusammengetroffen, der sich hier anscheinend nicht übel eingerichtet und schon mehrere Winter verbracht hatte. Wir wussten, dass einst auf diesem Kap eine ganze Anzahl guter Bauten errichtet worden war, doch ob nach Jackson noch jemand dort gewesen, ob diese Bauten noch erhalten geblieben waren und ob man dort ein Proviantdepot zurückgelassen hatte, das wussten wir nicht. Es war uns bekannt, dass Nansen die Jagd auf diesem Kap und überhaupt auf dem Franz-Joseph-Land ganz besonders rühmte, und so hofften wir, dort Walrosse anzutreffen, denen man, wie man sagt, schon fast mit einem Schlegelhieb über die Schnauze fahren kann, ohne dass sie 53
sich in ihrem Schlaf stören lassen. Kurz, wir wussten nur das, was man aus Nansens kurzer Reisebeschreibung entnehmen konnte. Und deshalb diente mir dieses Werk als Hand- und Nachschlagebuch. Ich hatte es mehrere Male gelesen und kannte ganze Abschnitte daraus auswendig. Weil ich dieses Buch jedoch nicht mitnehmen konnte, denn es war auf der »St. Anna« nicht zu entbehren, hatte ich mir jene Stellen in mein Notizbuch geschrieben, in denen Nansen seinen Weg durch dieses Land schildert und verschiedene Orientierungsmerkmale angibt, nach denen ich mich würde richten können. Das hätte mir natürlich sehr genützt, wäre ich auf Nansens Route geraten. In dasselbe Notizbuch trug ich außerdem die Sonnenhöhen und Zeitgleichungen für anderthalb Jahre im Voraus ein. Da es an Bord keinen Nautical Almanac für das Jahr 1914 gab, hatten wir diese Auszüge einer englischen Fachzeitschrift entnommen, die ich zufällig zwischen einem Stapel alter, von dem früheren Schiffseigentümer mit übernommener Seekarten und Lotsenbücher entdeckt hatte. Aber vom Franz-Joseph-Land aus stand uns ja noch der Weg nach Spitzbergen bevor. Unsere Kenntnisse über dieses Land waren noch weit geringer. In der erwähnten englischen Fachzeitschrift entdeckten wir, ebenfalls ganz zufällig, zehn bis zwölf astronomische Punkte mit Längenund Breitengraden von Spitzbergen. Diese Punkte übertrug ich auf eine entsprechende, von mir angefertigte Netzkarte. Doch was jeder einzelne Punkt eigentlich darstellte, ob Insel, Kap, Berg oder Bucht, das wussten wir nicht, das musste erst die Zukunft zeigen. Vorläufig waren sie alle auf meiner Netzkarte als Kreuze eingezeichnet, und unsere 54
Fantasie konnte sie ganz willkürlich durch Kurslinien miteinander verbinden. Außer den oben genannten Informationen über das Franz-Joseph-Land war uns noch bekannt, dass vor vierzehn Jahren das Schiff des Herzogs der Abruzzen, die »Stella Polare«, den Britischen Kanal passiert und Leutnant Sedow im Jahre 1912 beabsichtigt hatte, auf einer dieser Inseln zu landen, sein Schiff nach Archangelsk zurückzuschicken und sich dann selbst zum Pol zu begeben. Am Vorabend unseres Aufbruchs von der »St. Anna« bat mich Brussilow zu sich und verlas mir den Entwurf eines Tagesbefehls, den er mir in einer Abschrift mitgeben wollte. Hier der Befehl, der noch heute in meinem Besitz ist: Steuermann Valerian Iwanowitsch Albanow. Gemäß Ihrem Wunsche und dem aller unten angeführten Personen, das Schiff zu verlassen, mit dem Ziel, bewohntes Land zu erreichen, ersuche ich Sie, am 10. d. M. mit einem Proviantvorrat für zwei Monate und mit Kajaks und Schlitten den Marsch über das Eis anzutreten. Nach Verlassen des Schiffes südlichen Kurs einzuschlagen und ihn einzuhalten, bis Sie Land gesichtet haben. Nachdem dies geschehen ist, den Umständen gemäß zu verfahren, doch vor allem zu versuchen, den Britischen Kanal zwischen den Inseln des Franz-Joseph-Landes zu erreichen, ihm als dem bekanntesten bis Kap Flora zu folgen, wo man, wie ich vermute, Proviant und Schutzbauten finden kann. Weiter, wenn es die Zeit und die 55
Umstände erlauben sollten, sich nach Spitzbergen zu begeben. Wenn Sie Spitzbergen erreicht haben, steht Ihnen die außerordentlich schwierige Aufgabe bevor, dort Menschen zu finden, von deren Aufenthaltsort wir keine Kenntnisse haben. Wir hoffen, dass es Ihnen gelingen wird, im südlichen Teil der Insel wenn nicht Küstenbewohner, so doch ein Fangschiff anzutreffen. Mit Ihnen gehen, ihrem Wunsche entsprechend, folgende dreizehn Mann der Besatzung: (Es folgen die Namen.) (Stelle des Schiffssiegels)
Kapitän des Schiffes »St. Anna« Leutnant Brussilow 10. April 1914. Im Eismeer. 82° 55,5' nördlicher Breite; 60° 45' östlicher Länge. Dies war nun das offizielle Dokument, auf Grund dessen ich an der Spitze eines Teils der Besatzung des Schoners »St. Anna« die Reise anzutreten hatte. Am selben Tage wurde für uns alle die Abrechnung der fälligen Bezüge fertig gestellt, die uns der Eigentümer des Schiffes, Generalleutnant B. A. Brussilow, Grundbesitzer in Moskau, der die Expedition ausgerüstet hatte, nach unserer Rückkehr auszahlen sollte. Die Richtigkeit der Abrechnung bestätigten wir alle durch unsere Unterschrift. Spätabends ließ mich Georgi Lwowitsch Brussilow nochmals in seine Kajüte rufen und las mir eine Liste vor, 56
auf der die Gegenstände verzeichnet waren, die wir mit uns nehmen und ihm später nach Möglichkeit zurückerstatten sollten. Ich füge die Abschrift der Liste, wie sie im Schiffsjournal eingetragen ist, hier bei: 2 Remingtongewehre, 1 norwegisches Jagdgewehr, 1 doppelläufige Schrotflinte, 2 Magazingewehre zu je 6 Schuss 1 mech. Log, aus dem ein Hodometer hergestellt worden war, 2 Harpunen, 2 Beile, 1 Säge, 2 Kompasse, 14 Paar Schneeschuhe, 1 Maliza erster Qualität, 12 Malizas zweiter Qualität, 1 Sowik, 1 Chronometer, 1 Sextant, 14 Rucksäcke, 1 Fernglas. Georgi Lwowitsch fragte mich, ob auch nichts vergessen worden sei. Um die Wahrheit zu sagen, schon als diese Liste verlesen wurde, spürte ich, wie mich die mir bekannte Reizbarkeit übermannte und ein Krampf meinen 57
Hals gleichsam zuschnürte. Die kleinliche Genauigkeit dieser Liste setzte mich in Erstaunen. Brussilow schien ganz vergessen zu haben, was für ein Weg uns bevorstand. Als ob am Fallreep Pferdekutschen bereitstünden, die die abgeheuerte Besatzung zur nächsten Eisenbahnstation oder Dampferanlegestelle bringen sollten. Hatte er denn vergessen, dass wir uns auf eine schwere Wanderung über driftendes Eis begaben, um unbekanntes, unerforschtes Land zu suchen, und dies unter schlechteren Bedingungen als irgendjemand zuvor? Hatte er denn an diesem letzten Abend keine größeren Sorgen als die um Rucksäcke, Beile, ein defektes Log, Säge und Harpunen? Zuvor wollte es mir scheinen, als hätten ihn während des letzten Tages andere Sorgen ernster und nachdenklicher gemacht. Ich beherrschte mich und erinnerte Brussilow daran, dass er wohl vergessen habe, das Zelt, die Kajaks, die Schlitten, Becher, Tassen und einen verzinkten Eimer aufzuschreiben. Das Zelt wurde sogleich eingetragen, das Geschirr jedoch beschloss er nicht zu erwähnen. »Die Kajaks und die Schlitten will ich ebenfalls nicht vermerken«, sagte er. »Aller Wahrscheinlichkeit nach werden sie am Ende der Reise stark beschädigt sein, ja, und der Transport von Spitzbergen aus wird mehr kosten, als sie wert sind. Doch wenn es Ihnen gelingen sollte, sie nach Alexandrowsk zu schaffen, so liefern Sie sie bei der dortigen Polizeibehörde zur Aufbewahrung ab.« Ich erklärte mich damit einverstanden. Sehr erregt verließ ich die Kajüte des Kapitäns und begab mich nach unten. Da kam mir Denissow entgegen, der mich fragte, wo ich das Postpaket öffnen würde: in 58
Russland oder in Norwegen. Das gab mir den Rest, und ich konnte nicht mehr an mich halten; ich polterte los und drohte, gleich hinter dem ersten besten Eishügel sowohl die Post als auch die Rucksäcke, die Säge, die Tassen und Becher in eine Wune zu werfen, denn ich sei keineswegs davon überzeugt, jemals einen Postzug, sei es in Russland oder in Norwegen, zu erreichen. Denissow glotzte mich erstaunt an und ging traurig davon. Ich aber schämte mich meines Ausbruchs. Denissow hatte ja gefragt, weil er wissen wollte, wie er die Briefe an seine in Norwegen lebende Frau adressieren sollte, doch er kam eben in einem unpassenden Augenblick. Denissow war mir von allen der Liebste, er war stets zuvorkommend, half mir immer gern und willig, ohne dass ich ihn darum bitten musste, und nahm so eifrig und liebevoll an meinen Vorbereitungen teil, dass ich mich fragte, warum ich ihn eigentlich gekränkt hatte. Ich ließ ihn nach unten rufen und entschuldigte mich bei ihm, wobei ich ihm den Grund meiner Erregung erklärte und sagte, dass ich jetzt nicht wisse, wohin mich das Schicksal verschlagen würde: ob nach Russland oder nach Norwegen. Ich versprach ihm, auf alle Fälle, wohin ich auch geraten möge, alles daranzusetzen, damit die Post ihren Bestimmungsort erreiche. Als Denissow mich verließ, war er wieder versöhnt. Die Dämmerung hatte den düsteren Raum fast vollständig in Dunkel gehüllt. Alle begaben sich zur Ruhe. Mich quälte bange Besorgnis. Mir war, als irrte ich bereits in der unendlichen Eiswüste umher, ohne Hoffnung auf Rückkehr, einer Ungewissen Zukunft entgegen. An 59
jenem düsteren, für mich so denkwürdigen Abend vor meinem Scheiden von der »St. Anna« ließ ich voller Sorge alle meine Weggenossen im Geiste an mir vorüberziehen. Schon damals hegte ich gewisse Zweifel hinsichtlich ihrer Gesundheit und Widerstandskraft. Einer von ihnen war bereits sechsundfünfzig Jahre alt. Fast alle klagten über Fußleiden; einer hatte sogar ein offenes Bein. Ein anderer wieder hatte einen Bruch; ein dritter seit langer Zeit starke Brustschmerzen, ein böser Husten quälte ihn den ganzen Winter über; bei fast allen aber machten sich Atemnot und Herzklopfen bemerkbar. Es waren trübe Gedanken, die mich an diesem späten Abend beschlichen, ich fühlte mich unendlich einsam. Vielleicht war es die Vorahnung schwerer Erlebnisse, denen ich nicht entrinnen konnte.
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Der letzte Tag an Bord der »St. Anna« Und nun kam endlich der Tag unseres Aufbruchs zur »Heimreise«. Lange hatte ich auf diesen Tag gewartet, mich für ihn gerüstet, mich mit den Vorbereitungen beeilt, doch merkwürdig, als dieser lang ersehnte Tag anbrach, tat es mir Leid, die »St. Anna« zu verlassen, die so hoch im Norden in hilfloser Lage zurückblieb. Mir war das Schiff durch meinen langen Aufenthalt an Bord vertraut geworden, und ich hatte es lieb gewonnen. Wenn ich während der letzten anderthalb Jahre auch allerlei Unannehmlichkeiten und Entbehrungen erduldet hatte, so hatte ich doch viel Gutes und Erfreuliches erfahren, besonders während der ersten Zeit unserer Fahrt. Wir lebten alle noch in bester Harmonie; wohlgemut und wacker ertrugen wir unsere Misserfolge. Viele schöne Abende verbrachten wir in unserer damals noch blitzsauberen Messe am wärmenden Kaminfeuer beim Dominospiel. Petroleum hatten wir seinerzeit noch reichlich, und unsere Lampen spendeten viel Licht. In unserer Gesellschaft herrschte stets gute Laune, die Unterhaltung wurde durch allerlei Witze und Scherze gewürzt, Hoffnungen, Erwartungen und Vermutungen wurden unbefangen weitergegeben. Wir waren alle der Meinung, dass das Eis der südlichen Zone des Karischen Meeres an der allgemeinen Bewegung der polaren Eismassen nicht beteiligt sei. Im Laufe des Winters würde es uns ein wenig hin und her treiben, und im Sommer würden wir uns befreien und den Kurs auf die Jenissejmündung 61
einschlagen. Von dort könnte Georgi Lwowitsch nach Krasnojarsk fahren, um Einkäufe zu tätigen und die Post abzuholen; wir würden Kohlen an Bord nehmen, alles wieder in Stand bringen und unsere Reise alsbald fortsetzen. Die »St. Anna« würde die harte Probe, auf die sie gestellt war, sicher bestehen: Das Schiff war gut, auf jeden Fall besser als alle »Nimrods« und »St. Fokas«. Freilich, die Räume auf der »St. Anna« waren reichlich kühl, aber diesen Nachteil würden wir schon beheben. Die Kohlenvorräte könnten wir auf der Dickson-Insel ergänzen. Und die Fahrt nach Krasnojarsk würde Georgi Lwowitsch auf unserem Motorboot unternehmen, um nicht den Dampfer abwarten zu müssen, wodurch viel Zeit verloren gegangen wäre. So oder so, aber nach Wladiwostok würden wir kommen, wenn wir auch ein Jahr darüber verlören. Was machte das schon aus? Ein Fangschiff muss in erster Linie Seetierfang betreiben, daher würden wir ihm auch ausgiebig nachgehen, denn im Sibirischen Meer wimmelt es ja von Walrossen. Das waren unsere Pläne, die wir allabendlich immer wieder in der Messe am sauber gedeckten Teetisch erörterten. Unser »Fräulein« Shdanko spielte die liebenswürdige Hausfrau und nahm regen Anteil an unseren Interessen. Nicht einen Augenblick bereute sie, dass sie sich uns »an die Fersen geheftet« hatte, wie wir zu sagen pflegten. So oft wir sie daran erinnerten, um sie zu necken, wurde sie ernstlich böse. Bei der Ausübung ihrer Hausfrauenpflichten, die zu ihren Dienstobliegenheiten gehörten, war sie in der ersten Zeit schrecklich verlegen. Es brauchte sie nur jemand zu bitten, ihm Tee einzuschenken, so errötete sie bis an die Haarwurzeln, weil 62
sie nicht von selbst darauf gekommen war. Auch Georgi Lwowitsch saß stets eine Weile verlegen da, wenn er Tee haben wollte, errötete dann ebenfalls und bat endlich schüchtern lächelnd: »Fräulein, seien Sie bitte so freundlich und schenken Sie mir ein Gläschen Tee ein.« Beim Anblick seiner verlegenen Miene wurde Jerminia Alexandrowna puterrot, schallendes Gelächter erscholl und alle schrien: »Es brennt!« und liefen nach Wasser. Doch diese schönen Tage gehörten schon längst der Vergangenheit an, das war in der ersten Hälfte unserer ersten Überwinterung, am Anfang der Drift. Zu dieser Zeit war die »St. Anna« noch ein schmuckes, blitzblankes Schiff, das ebenso stattlich aussah wie damals, als sie in St. Petersburg an der Nikolai-Brücke lag und man den Interessenten anbot, einen kleinen Ausflug an der sibirischen Küste entlang »auf Nordenskiölds Spuren« zu machen. Die weiße Farbe an den Wänden und Decken war noch frisch, die Mahagonimöbel im Salon glänzten wie Spiegel, auf den Fußböden der Kajüten lagen prächtige Teppiche, und Laderaum und Vorratskammern waren mit Lebensmitteln und allen nur möglichen Delikatessen zum Bersten gefüllt. Was gab es hier nicht alles, um den Gaumen zu laben! Nüsse, Konfekt, Schokolade, Früchte, verschiedene Obstkonserven, Ananas, Kisten mit Konfitüre, Teegebäck, Lebkuchen, Obstpaste und vieles, vieles andere, bis zu den lebenswichtigen Nahrungsmitteln wie Büchsenfleisch und Säcke voll Mehl und Graupen. Allmählich begann die »St. Anna« jedoch ihr schmuckes Aussehen zu verlieren, Laderaum und Vorratskammern leerten sich zusehends. Wir mussten die Lichtschächte mit 63
Brettern vernageln, an den Bullaugen Doppelrahmen anbringen oder sie dicht verhängen, und unsere Kojen von den Bordwänden abrücken, damit Kissen und Bettdecken während der Nacht nicht an den Wänden anfroren. Auch war es nötig geworden, unsere Kajüten mit einer doppelten Verschalung zu versehen und die Decken mit Papp- und Filzlagen abzudichten. Über Tischen und Kojen mussten Gefäße aufgehängt werden, um das ununterbrochen von den Decken herabtropfende Wasser aufzufangen. Hier und da tauchten Segeltuchstreifen auf, die aus demselben Grunde angenagelt wurden. Der Petroleumvorrat war verbraucht, und längst schon benutzten wir Blechbüchsen mit Robben- oder Bärenfett, mit dem die Dochte gespeist wurden. Diese »Blakfunzeln« machten ihrem Namen alle Ehre. Sie rußten entsetzlich. Im Winter, wenn die Temperatur in den Räumen von –2° R bis +4° R schwankte und die Luft feucht und muffig war, angefüllt mit ständig darin herumfliegenden Rußteilchen, waren sie nicht imstande, die monatelang herrschende Dunkelheit zu vertreiben. Sie gaben bloß einen kleinen Lichtkreis, doch außerhalb dieses Lichtkreises war es stockfinster. Beim Betreten des Raumes gewahrte man einen rötlichen Fleck um ein winziges, schwaches, zitterndes Flämmchen, und zu diesem Flämmchen beugten sich silhouettenhafte Gestalten mit ihren Arbeiten herab. Doch besser wäre es, sie blieben silhouettenhaft, besser, man nähme sie nicht so genau in Augenschein … Sie waren schmutzig, ihre Gesichter rußgeschwärzt, Seife gab es bei uns schon seit langem nicht mehr; wir hatten zwar versucht, selbst welche 64
herzustellen, doch ohne Erfolg. Nach dem Waschen mit dieser selbst gefertigten Seife, die wie Kitt an der Haut klebte, hatten wir alle Mühe, sie abzukratzen. Unser armes Fräulein Shdanko! Wenn sie jetzt errötet wäre, hätte man unter der Rußschicht, die ihr ganzes Gesicht bedeckte, nichts davon erblicken können. Aber wie sahen jetzt die Wände unserer Messe, unserer Kajüten aus! Die Ecken und Außenwände waren von oben bis unten mit dicken Eis- und Reifschichten überzogen, die nach dem Innern des Raumes zu allmählich abnahmen. Das waren die saubersten Stellen: an ihnen haftete kein Ruß. Hier konnte man das fantastisch glitzernde Spiel der Eiskristalle beobachten, die sogar im Licht der Blakfunzeln leuchteten. Doch mehr nach dem Innern zu sah es schon schlechter aus: Das ewig tropfende Wasser, die stete Feuchtigkeit hatte die Farbe vom Holz gelöst, die nun in verrußten, schmutzigen Fetzen von den Wänden herabhing. Darunter fand man modriges, feuchtglitschiges und schimmliges Holz. Doch wir hatten uns mit all diesem Schmutz, dem Ruß, der Feuchtigkeit und Kälte im Laufe der anderthalb Jahre nach und nach abgefunden. Da der Verfall allmählich vor sich ging, stach er uns nicht allzu sehr in die Augen, wir gewöhnten uns eben daran. Trotz dieser wenig anheimelnden Umgebung war ich, als ich am letzten Morgen in meiner Kajüte erwachte, doch recht traurig bei dem Gedanken, die »St. Anna« verlassen zu müssen. Wie viele Erinnerungen waren mit jedem Gegenstand in diesem Raum, den ich anderthalb Jahre bewohnt hatte, verknüpft! Was hatte ich hier nicht alles durchlebt und durchdacht! Es war meine Idee gewesen, das 65
Ofenrohr aus der Küche durch meine Kajüte zu leiten, damit es möglichst viele Räume erwärmte. Ich selbst hatte diesen »Patentleuchter« ersonnen und konstruiert, der nichtsdestoweniger meine Wände mit einer dicken Rußschicht bedeckt hatte. In dieser Kajüte lebte ich, besonders während der letzten Zeit, mein eigenes Leben. Dort, hinter der Wand, lebten »sie« ihr Leben, und von dort drangen zeitweilig Laute an mein Ohr; hier aber war ich mit mir allein, nichts drang zu »ihnen« hinüber. Während der letzten Zeit barg meine Kajüte alle meine Pläne, meine Hoffnungen und Befürchtungen fest in ihren vier Wänden. Doch man musste in die Wirklichkeit zurückkehren. Unser Abmarsch war auf den Abend des 10. (23.) April festgesetzt. Ich stieg an Deck. Das Wetter war selten schön: der erste richtige Frühlingstag in diesem Jahr. Kein Lüftchen wehte, der Himmel war klar und wolkenlos. Die Sonne sandte schon ihre wärmenden Strahlen herab, und auf den dunklen Leinwandhüllen der Kajaks begann der Schnee bereits zu tauen. Mit Sextant und Chronometer bestimmte ich die Sonnenhöhe. Denissow half mir dabei und notierte die Zeiten. Am Mittag stellte ich die Meridianhöhe der Sonne und unseren Standort fest: 82° 58,5' nördliche Breite und 60° 5' östliche Länge. Inzwischen hatten meine Gefährten alle Kajaks nach der rechten Schiffsseite geschafft und neben dem Fallreep in einer langen Reihe aufgestellt, mit den Bugen gen Süden. Mein Kajak stand an der Spitze. Für drei Uhr nachmittags hatte man ein allgemeines Abschiedsessen angesetzt. Wahrscheinlich waren unser Steward Regald und der Koch Kalmykow, dieser nimmer66
müde »Sänger und Dichter«, auf diesen Gedanken gekommen. Er war schon in aller Frühe bei der Arbeit, um seiner Kochkunst Ehre zu machen, und brachte es sogar fertig, sein Gedichtheftchen, von dem er sich sonst nie zu trennen pflegte, beiseite zu legen. In dem unteren Raum deckte der Steward die Tische, rückte die Bänke zurecht, legte die Gedecke auf und bemühte sich, eine wahre Festtafel herzurichten. Oben aber saßen die anderen zurückbleibenden Kameraden und schrieben und schrieben … Dann kam die Stunde des Abschiedsmahls. Alle setzten sich an die Tafel; auch ich nahm inmitten meiner Begleiter Platz. Der Kapitän erschien etwas später, er hatte noch auf Deck zu tun. Die Stimmung war gedrückt, wenngleich jeder sichtlich bemüht war, ein freundliches Gesicht zu machen. Doch trotz allem klangen durch die Scherze, die hinüber- und herüberflogen, selbst mitten im Lachen versteckte Wehmut und Trennungsschmerz. Scheidende wie Zurückbleibende wurden von derselben Kümmernis gequält. Die Zurückbleibenden meinten, es würde schwer fallen, auf einem solchen Wege die mit je zehn Pud beladenen Schlitten zu zweien zu ziehen; doch die Scheidenden taten tapfer und ließen sich ihre Bedenken nicht anmerken. Es wurde vereinbart, dass uns alle Kameraden bis zur ersten Übernachtungsstelle begleiten und uns helfen sollten, die Schlitten zu ziehen. Jeder bot demjenigen seine Hilfe an, zu dem er im Laufe der Zeit Freundschaft und Sympathie gefasst hatte. Bei der Auswahl dieser Gefolgsleute spielte die physische Kraft nicht die letzte Rolle, deshalb versuchte 67
jeder, mit seinem Gefolgsmann oder »Bugsier« zu prahlen, der ihn aus dem »stillen Hafen« ins »offene Meer« hinausschleppen sollte: »Seht mal, was für eine Bütte der hat. Der wird sich schon ins Zeug legen!« Als »Bütte« bezeichnete man das mehr oder weniger gepolsterte Gesicht des Begleiters. Das Grammophon lieferte die Tafelmusik. Zwei Lieder erfreuten sich in der letzten Zeit besonderer Beliebtheit: »Geh an Land …« und »Wenn die weiße Möwe schreit …« Diese Platten waren während der Osterfeiertage viele hundert Male gespielt worden. Die Melodien hatten alle schon über, doch sie drängten sich immer wieder auf, bohrten sich förmlich ins Gehirn. Ich glaube, jeder hat solche Lieblingsweisen, die stets bestimmte Erinnerungen in uns wachrufen, und diese Erinnerungen wieder sind unzertrennlich mit den Weisen verknüpft. Die Platten erinnerten uns stets an die erste Zeit unserer Fahrt, da wir, von rosigsten Hoffnungen erfüllt, froh und wohlgemut die Küste Norwegens umschifften, selbst dann noch, als wir schon in den Fängen des Eises festsaßen. Damals verfasste unser Koch ein langes Gedicht und stellte einen Chor zusammen, der es uns tagelang vorsang. Leider ist mir der Text entfallen. Ich kenne daraus nur noch die siegessicheren Worte: »So wird uns Russlands Fahne führen, den Weg weist uns der Kapitän entlang der Küste von Sibirien auf unserem Schiffe schlank und schön …« Endlich kam auch Georgi Lwowitsch, und sein Erscheinen war das Zeichen zum Beginn des Essens. 68
Jerminia Alexandrowna verteilte die Suppe und nötigte uns, tüchtig zuzulangen. Wir hatten alle sehr großen Hunger, da wir gewöhnt waren, um zwölf zu essen, und inzwischen war es schon vier Uhr nachmittags geworden. Schweigend nahmen wir unser Mahl ein. Manchmal machte jemand eine witzige Bemerkung oder versuchte zu scherzen, verstummte aber, da der Widerhall ausblieb. Die Zurückbleibenden waren besonders lieb und nett zu uns, den Scheidenden, und boten uns bald diese, bald jene Speise an. Es war ja unser letztes Mahl an Bord der »St. Anna«, an einem anständig gedeckten Tisch. Würden wir noch jemals Gelegenheit haben, so gut und so reichlich zu essend Und wenn es wirklich einmal der Fall sein sollte, würden wir dann noch alle beisammen sein? Trübe, niedergeschlagene Stimmung herrschte bei Tisch, keiner fühlte sich wohl in seiner Haut. Wir saßen an dieser festlich gedeckten Abschiedstafel, als erfüllten wir eine uns auferlegte Pflicht. Gleich nach Tisch stieg ich wieder nach oben, um noch einmal die Sonnenhöhe zu messen. Der Horizont hüllte sich schon in dunstige Schleier, die Sonnenscheibe war in rötlichen Schimmer getaucht. Diese Zeichen ließen auf einen bevorstehenden Wetterumschlag schließen. Nachdem ich unseren Standort auf meiner Karte eingetragen hatte, brachte ich sie mitsamt dem Chronometer, dem Sextanten und meiner anderen Habe zum Kajak. In die Kajüte zurückgekehrt, nahm ich noch zwei Garnituren Wäsche an mich, alle anderen Wäsche- und Kleidungsstücke verteilte ich unter die zurückbleibenden Kameraden; für mich waren diese Dinge jetzt sowieso wertlos geworden. 69
Zum Schluss nahm ich auch noch einen kleinen Gegenstand mit und steckte ihn in die Seitentasche. Es war ein Heiligenbild Nikolaus' des Wundertätigen. In meiner Kajüte sah es jetzt leer und unwohnlich aus. Ich warf noch einen Abschiedsblick in den Raum und ging dann auch aufs Eis hinaus. Wir waren marschmäßig gekleidet: Alle hatten hohe Stiefel an, manche aus Leder, manche aus Seehundsfell, manche mit Segeltuchschäften, außerdem Jacke und Hose aus Segeltuch über warmer Unterkleidung und Mützen mit Ohrenklappen. Ein eigentümliches Bild boten diese Menschen, die sich auf den weiten Weg begaben, alle mit Ziehriemen über der Brust und leichten Skistöcken in den Händen, und die Kajaks, die in einer langen Reihe in Richtung Süden aufgestellt waren. Die dunklen Kajakkörper mit den hochragenden geschwungenen Schnäbeln und den weißen Leinwandhaltestreifen an den Seiten erinnerten an einen Zug wilder Enten, die sich zum Flug in warme Gegenden formiert hatten. Es schien, als würden sie sogleich ihre weißen Schwingen emporstrecken und in die Lüfte steigen, um nach dem sonnigen Süden zu fliegen. Doch leider musste man sie ziehen und sich dabei mit der Schulter kräftig in den breiten Zugriemen legen. Oben auf die Kajaks waren noch allerlei Gegenstände gepackt, die im Innern keinen Platz mehr gefunden hatten, wie Paddel, Schneeschuhe, Malizas, Gewehre, unser Zelt und anderes mehr. Die Fahrzeuge waren, ehrlich gesagt, ziemlich schwer. Die Kufen der Schlitten waren zu schmal, sie schnitten viel zu tief in den Schnee ein. Denissow hatte mit jedem Schlitten bereits einen Ziehversuch angestellt und 70
schüttelte nur bedenklich den Kopf. Doch jetzt war daran nichts mehr zu ändern. Ich konnte mich vorläufig nicht entschließen, etwas zurückzulassen, zumal man unterwegs immer noch etwas wegwerfen konnte. Wir nahmen ja nichts Überflüssiges mit, und alles würde sich uns als sehr, sehr nützlich erweisen. Bis auf den letzten Mann war die Besatzung zur Stelle, um uns das Geleit zu geben, unser Hund »Ulka« nicht ausgenommen. Er war der letzte Überlebende von den sechs Jagdrüden, die Georgi Lwowitsch seinerzeit vom Gut seines Onkels mitgenommen hatte. Niemand blieb auf dem Schiff. Endlich kam auch Georgi Lwowitsch und stellte sich hinter meinen Kajak, um mir zu helfen. Alle standen da und schienen auf etwas zu warten … Ich nahm die Mütze ab und schlug ein Kreuz, die anderen folgten meinem Beispiel. Dann rief jemand »Hurra«, alle stimmten ein, legten sich in die Riemen, und wir traten unseren weiten Weg an … In diesem Augenblick lag das nächste erreichbare Land, Kap Fligely auf dem Rudolph-Land, 65 Seemeilen nach SSW von uns entfernt. Doch wir wurden mit den Eisfeldern unaufhaltsam nach Norden abgetrieben.
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Auf den Eisfeldern des Polarmeeres Mit den Kufen knirschend und wie Boote auf den Wellen schaukelnd, bewegten sich die Schlitten zu den im Süden sichtbaren Eisrücken, zwischen denen es, wie wir wussten, einen Durchgang gab. Obgleich wir anfänglich verhältnismäßig guten Weg hatten und jeder Schlitten von drei Mann gezogen wurde, kamen wir nur schwer voran. Wir hatten uns noch nicht »eingelaufen«. Nach einer halben Stunde wurde ein kurzer Halt eingelegt. Zurückschauend stellten wir fest, dass wir uns nur wenig von der »St. Anna« entfernt hatten. Kaum hatten wir die ersten Eisrücken erreicht, als die Kufe eines Schlittens brach. Wir beschlossen, nicht zurückzukehren. Was hätte es denn auch für einen Sinn gehabt? Alles Notwendige hatten wir bei uns und konnten die Reparaturen auch hier vornehmen. Sofort wurde der Kajak abgenommen, der Schlitten umgedreht, und fünfundvierzig Minuten später war der Schaden behoben. Georgi Lwowitsch, der jedoch über den Zwischenfall ernstlich besorgt war, schickte sofort zwei Mann zum Schiff zurück, um zwei Racks vom Besanmast holen zu lassen, die wir speziell für etwaige später notwendige Reparaturen der Schlittenkufen mitnehmen sollten. Alsbald setzte sich unser Zug wieder in Bewegung. Hinter hohen Eishügeln entzog sich die »St. Anna« unseren Blicken. Hier nahmen Jerminia Alexandrowna und Kalmykow endgültig Abschied von uns und begaben sich zurück auf das Schiff. Mit den anderen Begleitern zogen wir weiter 72
und legten nur ab und zu eine Atempause ein. Das Wetter verschlechterte sich zusehends. Gegen zwei Uhr nachts kam ein frischer SSO auf, und Schneetreiben setzte ein. Wir beschlossen Halt zu machen und unser Nachtlager aufzuschlagen. Die Schlitten wurden im Kreis zusammengestellt, der Schnee beiseite geräumt und in der Mitte das Zelt aufgebaut. An diesem Manöver hatten wir lange geübt, und deshalb klappte alles ausgezeichnet. Wie unser Hodometer zeigte, hatten wir auf der ersten Etappe fünf Werst zurückgelegt. Bald saßen wir einträchtig im Zelt um unseren Tranofen herum und tranken Tee mit Milch. Für alle unerwartet, befahl Georgi Lwowitsch dem Steward, die vom Schiff mitgebrachte Schokolade hervorzuholen und … eine Flasche Champagner, die wie ein Wunder von der Kiste übrig geblieben war, die uns in Petersburg ein reicher Zuckerfabrikant geschenkt hatte. Das war eine Überraschung! Auf jeden entfiel ein Likörgläschen voll, doch es kam ja nicht auf die Menge an … Wir erhoben die »Pokale« auf dem 83. Grad nördlicher Breite, auf dem wir uns gerade befanden, und wünschten einander von ganzem Herzen eine glückliche Heimkehr. Eine Weile unterhielten wir uns noch über Vergangenes, Gegenwärtiges und Künftiges, dann nahmen die Zurückbleibenden bewegt Abschied von uns und liefen auf Skiern wieder zum Schiff. Inzwischen hatte mit voller Kraft Schneetreiben eingesetzt. Der Wind pfiff und heulte, unser Zelt krachte in allen Fugen. Wir krochen allesamt in unsere Malizas, wickelten die Füße in warme Decken und sanken sogleich in tiefen Schlaf, denn wir waren äußerst erschöpft. 73
Als wir am nächsten Tage etwa um zehn Uhr erwachten, sahen wir sofort, dass an ein Weiterkommen gar nicht zu denken war. Der heftige Südwind riss und rüttelte an unserem Zelt. Feiner Schnee stob durch die Ritzen und hatte unsere Malizas mit einer dicken weißen Schicht bedeckt. In Malizas und Pelzstiefeln liegend, spürten wir die Kälte nicht allzu sehr, obwohl das Thermometer -18° R zeigte. Doch wir mussten auch ans Essen denken. So erhoben wir uns, zogen uns warm an und traten hinaus, nachdem wir unter großen Anstrengungen die Segeltuchtür geöffnet hatten, da sowohl das Zelt als auch die Kajaks fast vollständig zugeweht waren; weder die »St. Anna« noch die nächstliegenden Eishügel, ja nicht einmal die Hand vor Augen war zu sehen, so heftig tobte der Schneesturm. Nachdem wir einige Stücke Süßwassereis für den Tee abgehackt und alles Notwendige aus den Kajaks herausgeholt hatten, beeilten wir uns, wieder ins Zelt zu gelangen und die »Tür« möglichst dicht hinter uns zuzuschnüren. Wir machten Feuer in unserem Reiseofen, kochten Tee mit Milch, erwärmten notdürftig einige Fleischkonserven, und als wir uns gesättigt hatten, krochen wir wieder in unsere Malizas, um weiterzuschlafen. Wir schliefen den ganzen Tag, denn das Unwetter verbot jegliche Tätigkeit. Am Abend erwachten wir, unterhielten uns ein wenig, wickelten uns abermals ein und versanken von neuem in Schlaf. Der Schneesturm dauerte drei Tage lang. Weiterzugehen war unmöglich, und so verbrachten wir diese Zeit fast ausschließlich im Zelt, lagen in den Malizas herum, aßen oder schliefen, und das meistens zu zweien dicht nebeneinander; Beine und Unterkörper 74
steckten in einer Maliza, während die andere über Köpfe und Schultern gezogen wurde. Obgleich diese Methode große Vorteile bietet, da es sich auf diese Weise, selbst bei großer Kälte, in der Tat sehr warm schlafen lässt, konnte ich ihr nur wenig Geschmack abgewinnen. Es fällt schwer, im Schlaf lange still zu liegen, und wenn sich einer der Schläfer bewegt oder umdreht, wird der andere gewöhnlich unsanft geweckt. Oft musste ich mir das Geschimpfe solcher »Schlafkompagnons« mit anhören, das manchmal fast in eine Rauferei auszuarten drohte. Gewiss, im Schlaf merkt niemand sein »ungebührliches Benehmen« und hält alle Proteste seines Nachbarn für gänzlich unberechtigt. Doch nachdem sich die Streithähne eine Zeit lang Grobheiten an den Kopf geworfen und durch Rippenstöße ihrem Rachegefühl Luft gemacht hatten, drehten sie gewöhnlich einander den Rücken zu und setzten ihren unterbrochenen Schlaf fort. Am häufigsten zankten sich zwei Schlafgenossen, die sonst unzertrennliche Freunde waren, Konrad und Spakowski. Ich selbst zog es vor, allein zu schlafen, obgleich dies in der kalten Jahreszeit gewiss Nachteile hat, denn es ist unmöglich, mit dem ganzen Körper in die Maliza zu kriechen. Deshalb suchte ich mich vor allzu großer Kälte dadurch zu schützen, dass ich die Füße möglichst tief in die Ärmel der Maliza steckte, während ich Kopf und Brust mit meiner warmen Jacke zudeckte. Trotzdem fror ich manchmal ganz empfindlich. So in die Malizas gehüllt, verbrachten wir fast drei volle Tage. Die ganze Zeit blies ein Südwind mit Stärke acht bis neun und wirbelte gewaltige Schneemassen vor sich her. Wenn wir auch in diesen Tagen zur Untätigkeit gezwungen 75
waren, so trösteten wir uns mit dem Gedanken, dass wir uns so an das Zeltleben gewöhnten, und waren im Allgemeinen bei guter Laune. Manchmal versuchten sogar einige Gefährten, die Einsamkeit durch lauten lustigen Gesang zu beleben und damit das Heulen des Sturmes zu übertönen. Nur einer von uns, der alte Anissimow, der schon an Bord der »St. Anna« über Schmerzen im Kreuz und in den Beinen geklagt hatte, wurde zusehends apathischer. Wir beschlossen, ihn zum Schiff zurückzuschicken. Er war nicht mehr imstande zu laufen und noch weniger den schweren Schlitten zu ziehen. Am Abend des 26. April, als der Sturm etwas nachgelassen hatte, wurden wir plötzlich durch Rufen, Singen und heftiges Klopfen an der »Tür« aus dem Schlaf geweckt. Als wir öffneten, sahen wir zu unserem Erstaunen Denissow, Melbart und Regald vor uns stehen. Es stellte sich heraus, dass sie schon am Tage zuvor versucht hatten, uns in unserer »neuen Wohnung« zu besuchen, doch selbst beinahe das Schiff verfehlt hätten, da sie im Schneesturm vom Wege abgekommen waren. Sie brachten uns warmes Essen in Blechbüchsen mit, das wir sogleich heißhungrig verzehrten. Die Angekommenen erzählten, dass der Schneesturm die »St. Anna« bis an die Reling zugeweht hätte und man jetzt ohne Laufsteg auf das Achterdeck und die Back gelangen könne. Vor dem Schiff wären sie auf frische Bärenspuren gestoßen, der Eisbär hatte ihnen wohl erst vor kurzem einen Besuch abgestattet. Als wir unser unverhofftes üppiges Abendbrot beendet hatten, rissen wir uns zusammen und begannen die Kajaks 76
aus dem Schnee auszugraben. Denissow hatte zwei Schaufeln mitgebracht. Noch am selben Abend kehrten die treuen Kameraden zum Schiff zurück und nahmen den kranken Anissimow mit. Vier meiner Gefährten begleiteten sie, um an Bord zu übernachten, da wir erst am darauf folgenden Morgen weiterziehen wollten. Am nächsten Tage kurz nach Mittag suchten uns Denissow, Melbart und Regald noch einmal auf. Regald brachte diesmal seine Sachen mit, da er sich entschlossen hatte, an Stelle des alten Anissimow mit uns zu ziehen. Mittags hatte ich die Sonnenhöhe gemessen und war sehr verblüfft, als ich eine Breite von 83° 17' ermittelte. Ich zweifelte schon an der Richtigkeit meiner Messung, als Regald mir einen Brief von Georgi Lwowitsch übergab, der mir mitteilte, dass seine Beobachtungen am Mittag eine Breite von 83° 18' ergeben hätten. Es war kein Zweifel mehr möglich, dass uns der Sturm während der letzten vier Tage rund zwanzig Seemeilen nordwärts abgetrieben hatte. Georgi Lwowitsch tröstete mich in seinem Brief: Wenn uns der Südwind nach Norden abgetrieben habe, würden uns die Nordwinde wieder nach Süden schieben. Gewiss, das war eine logische Folgerung, doch immerhin gefiel mir diese Bewegung fünfunddreißig Werst nordwärts, während wir mit eigenen Kräften nur fünf Werst südwärts vorangekommen waren, ganz und gar nicht. Ich zweifelte daran, dass wir imstande sein würden, mit der nötigen Schnelligkeit südwärts zu marschieren, um die unfreiwillige Treibfahrt nach Norden zu überwinden. Doch nein, der Sommer stand vor der Tür, und in dieser Jahreszeit herrschen in jenen Breitengraden nördliche Winde vor. Man 77
sollte nicht so schnell den Mut sinken lassen, denn letzten Endes kam es allein auf die Tat an. Wir packten also unsere Habe zusammen, bauten das Zelt ab und setzten uns in Marsch. Da ereignete sich ein neuer beunruhigender Zwischenfall. Kaum hatten wir uns in die Zugriemen gelegt, wurden drei meiner Gefährten von einem bösen Schwindelanfall erfasst. Sie waren plötzlich so schwach, dass sie sich auf der Stelle neben den Schlitten in den Schnee legen und etwa eine Viertelstunde ruhen mussten. Es ist durchaus möglich, dass unser dreitägiger Schlaf daran schuld war – wir waren gleich danach mit zu großem Feuereifer an die Arbeit gegangen –, oder aber wir waren durch die letzte schwere Überwinterung so geschwächt, dass unsere Kräfte einfach versagten. Seit nach dem strengen Winter wieder die Sonne schien, sah man unseren fahlen, gelben Gesichtern an, wie kränklich wir waren. In der langen Polarnacht war uns das beim Schein unserer Tranfunzeln gar nicht so sehr aufgefallen. Doch bald überwanden wir unsere Anfälligkeit und machten uns etwas verwirrt wieder auf den Weg. Zunächst nahmen wir nur vier Kajaks mit und kamen leicht mit ihnen vorwärts. Der Sturm hatte den Schnee festgestampft und manche Unebenheit geglättet. Nachdem wir die ersten Kajaks etwa drei Werst gezogen hatten, kehrten wir zurück, um die zweite Partie nachzuholen. Die »St. Anna« war gut zu sehen, das Wetter war schön, die Sonnenstrahlen schienen sogar schon Wärme zu spenden. Wir fassten wieder frischen Mut und stapften munter, unsere Kajaks hinter uns herschleppend, vorwärts. Jetzt wussten wir, dass wir mit einer solchen Schleppweise imstande waren, uns 78
fortzubewegen, und mit jedem Tage, wenn auch langsam, so doch stetig dem Ziele näher kommen würden. Im Laufe dieses Tages legten wir ungefähr sechs Werst zurück und schlugen unser Nachtlager im Schutze hoher Eisrücken auf. Bald war das Zelt aufgestellt und das Feuer im Ofen entfacht. Wir kochten Tee und legten uns dann nach dem Abendbrot schlafen. Tags darauf bewegten wir uns auf dieselbe Art vorwärts, wir schleppten wieder unsere Kajaks in zwei Etappen, manchmal auch in drei, denn anders zu marschieren war unmöglich. Der Weg wurde zusehends schlechter. Riesige Eisrücken, ganze Gebirgsketten türmten sich vor uns auf, zwischen denen wir erst einen Weg suchen mussten. Neben solchen Eisrücken war der Schnee gewöhnlich tiefer und lockerer. Unsere Schlitten waren für diesen Schnee wenig geeignet, ihre schmalen Kufen versanken fast bis an die oberen Längshölzer. Allmählich sackten sie immer tiefer und tiefer ein und saßen schließlich endgültig in einer Schneewehe fest. Dann musste man die Mitte des Zugriemens unter das vordere Ende des Längsholzes schlingen und den Schlitten aus der Wehe herauswuchten. An diesem Tage kamen wir nicht über vier Werst hinaus, und das nach angestrengtester Arbeit. Auch heute waren uns Denissow und Melbart voller Unruhe nachgeeilt und brachten uns wiederum warmes Essen mit. Sie machten sich über unser Schneckentempo lustig und versprachen, uns noch eine ganze Woche lang täglich einzuholen. Denissow, dieser quicklebendige Mensch, halb Ukrainer, halb Norweger, war einfach nicht unterzukriegen. Es schien ihm nichts auszumachen, täglich fünfzig bis sechzig 79
Werst auf Skiern zurückzulegen. Er hätte vielleicht sein Versprechen auch gehalten, wenn er nicht hätte befürchten müssen, seine eigenen Spuren zu verlieren, was bei der Bewegung des Eises durchaus möglich war. Er war der Tatkräftigste, der Unternehmungslustigste von allen auf der »St. Anna« Zurückbleibenden. Das musste schon eine besonders schwierige Situation sein, aus der er sich nicht hätte herausrappeln können. Sein Lebensweg ist sehr interessant. Als dreizehnjähriger Junge verließ er nach einer Auseinandersetzung mit seinen Angehörigen heimlich das Elternhaus, das irgendwo in Kleinrussland stand. Als blinder Passagier, im Laderaum eines Dampfers versteckt, gelangte er ins Ausland. Dann fuhr er lange Zeit auf verschiedenen ausländischen Segel- und Dampfschiffen und wurde schließlich nach Süd-Georgia verschlagen, wo er auf einem norwegischen Walfänger anheuerte. Hier bildete er sich endgültig als Harpunier aus und kam nun von Zeit zu Zeit nach Norwegen. Dort heiratete er eine Norwegerin und fand, dass es sich in ihrem Lande keinesfalls schlechter leben ließ als in Russland. Zufällig hörte er, dass Brussilow einen Schoner erworben hatte mit der Absicht, Seetierfang im Fernen Osten zu betreiben; da erschien er bei ihm, bot ihm seine Dienste an und wurde unter bedeutend ungünstigeren Bedingungen, als sie in Norwegen üblich waren, angeheuert. Er tröstete sich damit, dass er nun endlich auf einem russischen Walfangschiff fahren konnte. Obwohl sich Denissow in Norwegen wie zu Hause fühlte, liebte er seine alte russische Heimat leidenschaftlich, und es war schon immer sein Traum ge-
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wesen, an Bord eines russischen Walfängers zu kommen. Doch leider gab es keine in Russland. Vom 16. (29.) April an hatten wir jede Verbindung mit der »St. Anna« verloren. Denissow holte uns nicht mehr ein, und gegen Abend war das Schiff bereits vollständig unseren Blicken entschwunden. Nach und nach gewöhnten wir uns an unser Nomadenleben. Um sieben Uhr morgens standen wir auf und bereiteten unser Frühstück. Während der ersten Tage verfügten wir noch über etwas Robbenfett, das wir uns zum Aufwärmen der Speisen und zum Schmelzen des Eises vom Schiff mitgenommen hatten. Unser »Kochapparat« war leider sehr primitiv und verbrauchte viel Fett. Er bestand aus einem konusförmigen Blechbehälter, in den von oben her bis zur Hälfte ein gewöhnlicher verzinkter Eimer mit Deckel eingesetzt wurde. Darunter wurde eine Blechpfanne mit dem zur Feuerung erforderlichen Fett geschoben. In der Regel stellten wir den Kocher im Zelt auf. Wenn er in Betrieb war, stieg die Temperatur bedeutend. Dafür war aber auch der ganze Raum voller Qualm, und unser Zelt, besonders sein Oberteil, das mit Abzugslöchern versehen war, wurde stark verräuchert. Wir selbst sahen sehr bald wie die Zigeuner aus, und von Tag zu Tag wurde unsere Gesichtsfarbe dunkler. Nach dem Frühstück, gegen neun Uhr früh, brachen wir das Lager ab, packten unsere Sachen und setzten uns in Marsch. Mit drei Schlitten zogen wir etwa zwei Stunden über die Schneefelder, wobei wir häufig über hohe Eisblöcke steigen mussten. Der Schnee war sehr tief, wir sanken bei jedem Schritt bis über die Knie ein. Da die 81
Skier wegglitten, war es unmöglich, die schweren Schlitten mit ihnen zu ziehen. Jetzt tat es uns Leid, dass wir nicht noch auf dem Schiff für diesen Zweck besonders geeignete Schneeschuhe angefertigt hatten. Wenn wir die erste Partie etwa zwei Werst geschleppt hatten, ließen wir sie neben einem Eisblock stehen, hissten auf dessen Spitze eine Flagge und kehrten zurück, um die anderen Schlitten nachzuholen. Mittags, gegen ein oder zwei Uhr, machten wir eine Rastpause, ohne dabei das Zelt aufzuschlagen, da dies zu viel Zeit erfordert hätte. Wir lagerten in unseren Malizas an der Leeseite der Kajaks, holten den Schiffszwieback hervor und kauten daran. Die erste Zeit gab es dazu noch etwas Schokolade, doch leider hatten wir sehr wenig davon. Nach anderthalbstündiger Ruhepause machten wir uns erneut auf den Weg. Wieder nahmen wir drei Kajaks mit, auf einem von ihnen befand sich unser Zelt. Gewöhnlich legten wir zwei bis drei Werst zurück, je nach Beschaffenheit des Weges, und dann erst suchten wir eine geeignete Stelle als Nachtlager. Zwei Mann blieben dort, um das Zelt aufzubauen, die Übrigen begaben sich auf Schneeschuhen zu den zurückgelassenen Kajaks, um auch diese heranzuschleppen. Die Übernachtungsstelle wählten wir neben einem möglichst hohen Eishügel, von dem aus wir den Horizont beobachten konnten. Im Zeltinnern breiteten wir die Leinwandstreifen, mit denen die Kajaks festgebunden waren, sowie Decken und Regenmäntel aus, soweit sie vorhanden waren. Die Schlitten wurden im Kreise aufgestellt und das Zelt mit seinen Halteleinen an den Streben der Schlitten festgemacht. Um sieben oder acht 82
Uhr saßen wir schon allesamt im Zelt, die Beine tief in den Malizas vergraben, und harrten des Augenblicks, da das Eis im Eimer geschmolzen und das Wasser genügend heiß war, um Tee aufbrühen zu können. Wir warteten aber selten, bis das Wasser kochte, weil wir Fett sparen mussten. Gewöhnlich war unser Tee daher nur lauwarm, doch wir waren auch damit zufrieden. Dann wurde der Zelteingang sorgfältig verschnürt. Der Dampf aus dem Eimer und den Teebechern erwärmte sogleich den Raum, und die Stimmung hob sich. Nachdem jeder seine Ration an Tee, Zwieback und Konservenfleisch erhalten hatte, vergaßen wir Kälte und Müdigkeit. Als uns dann jedoch das Konservenfleisch ausgegangen war, kochten wir uns Suppe aus »Skorikows Fleischextrakt«, die nebenbei gesagt immer sehr dünn ausfiel, und rührten sie mit Erbsmehl oder getrocknetem Suppengrün an. Diese Abendstunden im Zelt waren die weitaus freundlichsten des ganzen Tages. Die Gespräche rissen nicht ab und drehten sich meist um dieselben brennenden Fragen: Wann werden wir Land sichten? Wird es uns gelingen, Kap Flora zu erreichen? Was werden wir dort vorfinden, und wie richten wir uns für die Überwinterung ein? Unsere von Schneewasser durchnässten Schaft- und Rentierfellstiefel hängten wir gewöhnlich im Freien auf die Skistöcke, am nächsten Morgen waren sie dann meist vom Winde getrocknet. Diese Abende benutzte ich dazu, um die Ereignisse des Tages in mein Tagebuch einzutragen; und wenn es mir gelang, die Sonnenhöhe zu messen, machte ich auch die notwendigen Berechnungen. Sehr schlimm war es jedoch, wenn wir kein Feuerungsmaterial hatten. An 83
solchen »kalten Abenden« verstummte jedes Gespräch. Finster saßen wir frierend beieinander, in unsere Malizas eingemummt, kauten Zwieback und ließen kleine Eisstückchen im Munde zergehen. Zu der Ration Zwieback erhielt freilich jeder noch einen Löffel Butter, doch diese war ebenfalls gefroren und vermochte nicht, warme Speise zu ersetzen. Das Fehlen von Trinkwasser machte sich sehr unangenehm bemerkbar, das Eis war dafür nur ein schlechter Ersatz, und nach dem trockenen Zwieback quälte uns ständiger Durst. Gewiss, später haben einige von uns versucht, Seewasser zu verwenden. Sie weichten darin ihren Zwieback auf und bereiteten sich daraus unter Zusatz von Trockenzwiebeln eine dicke Suppe. Anfangs hatte das Seewasser einen ekelhaft bitteren Geschmack, doch bald gewöhnten wir uns daran; wenn wir jedoch Suppen kochten, setzten wir dem Seewasser stets etwas Eis hinzu. Die »kalten Abende« machten uns besonders während des ersten Drittels unserer Reise viel zu schaffen. Es gab keinerlei Wunen, daher fehlten auch Seehunde, die uns als Nahrung und Feuerung hätten dienen können, von Eisbären gar nicht zu reden: zu dieser Zeit bekamen wir auf unserem Weg nicht einmal ihre Spuren zu sehen. Die weitaus unangenehmste Tageszeit war der Morgen. Über Nacht waren wir in unseren Malizas warm geworden und mussten nun hinaus in die Kälte, ohne ein heißes Getränk zu uns nehmen zu können. Das Frühstück bestand nur aus hartem Zwieback. Meist noch in den Malizas packten wir unsere Sachen, brachen das Zelt ab, verschnürten die Kajaks und machten die Schlitten startbereit.
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Doch nun war alles fertig; fröstelnd zogen wir die Malizas aus, da es sonst zu beschwerlich war, die Schlitten durch den tiefen Schnee zu ziehen, warfen sie auf die Kajaks, legten die Ziehgurte um und setzten uns langsam und schwerfällig in Bewegung. Bei trübem Wetter, Schneegestöber oder starkem Frost sank unsere Stimmung vollends. Freudlos, endlos schien uns der Weg zu sein, und wir dachten schon, dass die warme Jahreszeit niemals einsetzen und wir keine Wunen finden würden, nach denen wir so sehnsüchtig Ausschau hielten. Doch ganz gaben wir die Hoffnung nicht auf, denn wir hätten Wunen und Wasserrinnen ja so rasch und bequem auf unseren Kajaks überqueren und noch unterwegs Seehunde schießen können. Aber nirgends war Wasser zu sehen. Am zehnten oder elften Tag nach unserem Aufbruch von der »St. Anna», als wir bereits etwa vierzig Werst zurückgelegt hatten, hielten es die Matrosen Ponomarjow, Schabatura und Schachnin nicht mehr aus und baten mich, auf das Schiff zurückkehren zu dürfen: sie seien erschöpft und glaubten nicht, imstande zu sein, bis zum Ziel durchzuhalten. Im Grunde waren diese Leute bei weitem nicht die schwächsten, im Gegenteil, ich möchte sogar behaupten, dass sie gesünder waren als manche meiner anderen Gefährten. Sie hatten wahrscheinlich geglaubt, schon nach fünf oder sechs Marschtagen Land zu sichten und es nach spätestens zehn Tagen zu betreten. Einen ganzen Monat lang und vielleicht noch länger über driftendes Eis zu wandern gefiel ihnen ganz und gar nicht, sie zogen es vor, zum Schiff zurückzukehren, wo sie
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vorläufig nicht unter Kälte und Verpflegungsschwierigkeiten zu leiden hätten. Da sich mir alle freiwillig angeschlossen hatten und mir unsere Lage zudem keineswegs besonders rosig erschien, fühlte ich mich nicht berechtigt, mich ihrer Bitte zu widersetzen. In den letzten Tagen war die Witterung leidlich, Schneetreiben herrschte nicht, und das Eis war in verhältnismäßig ruhiger Lage, wir hatten keine Verschiebungen der Eisfelder gegeneinander bemerkt. Die Spur, die die sieben Schlitten und die vierzehn Mann im Schnee hinterlassen hatten, war gut zu sehen, und ich war daher überzeugt, dass die drei Männer den Weg zur »St. Anna« mühelos finden würden. Sie ließen uns ihre Schlitten mit den Kajaks zurück, nahmen nur warme Kleidung, mit Zwieback gefüllte Rucksäcke, eine Büchse und Munition mit und gingen auf Skiern los. Sie werden wohl schon am darauf folgenden Tage wohlbehalten das Schiff erreicht haben. Für alle Fälle entschlossen wir uns, noch einen Tag auf der letzten Lagerstelle zu bleiben, damit die drei im Notfalle zu uns zurückkehren könnten. Die Zeit benutzten wir dazu, die zwei nun entbehrlich gewordenen Schlitten und Kajaks zu Brennholz zu zerkleinern. Anfangs dienten uns die Kajakbespannungen dazu, um sie im Zelt auf dem Schnee auszubreiten, später wurden jedoch auch sie verheizt. Ich hatte Ponomarjow einen Brief an Brussilow mitgegeben, in dem ich den bisherigen Verlauf unserer Reise kurz schilderte. Unsere Gruppe bestand nunmehr bei fünf Schlitten aus elf Mann: Lunjajew, Maximow, Nielsen, 86
Konrad, Smirennikow, Regald, Bajew, Archijerejew, Spakowski, Gubanow und mir selbst. Immer noch kamen wir auf die gleiche Weise vorwärts, wir brachten die Kajaks meist in zwei, manchmal sogar in drei Etappen voran. Sehr selten trafen wir auf große Felder jungen Eises mit dünner, fester Schneeschicht. Doch zuweilen hatten wir Glück. Dann zogen wir alle Schlitten gleichzeitig und waren sehr zufrieden, den Weg nicht mehrmals machen zu müssen. Wenn dabei noch ein günstiger Wind blies, setzten wir Segel auf die Kajaks, wodurch das Ziehen ein wenig erleichtert wurde. Der Frühling nahte, schon wärmten die Sonnenstrahlen in der Mittagsstunde stärker als zuvor, aber noch wollte es nicht tauen. Der Schnee zeigte erst eine dünne matte und glatte Kruste, die das Licht stark reflektierte. Ende April wurden wir fast alle schneeblind und hatten unerträgliche Augenschmerzen. Auf der »St. Anna« waren nur einige von dieser Krankheit geplagt worden, die gewöhnlich schnell nachließ, wenn der Kranke einige Tage in einem dunklen Raum verbrachte. Schneebrillen gab es auf dem Schiff nicht. Unser Mechaniker Freiberg hatte seinerzeit für uns alle Schutzbrillen angefertigt, wozu er das Glas von dunklen vierkantigen Ginflaschen verwendete, doch sie erfüllten ihren Zweck nur sehr unvollkommen. Setzte man eine solche Brille auf, so sah man fast nichts mehr, stolperte bei jedem Schritt, ließ den Schlitten umkippen und fiel selbst lang hin, doch die Augen schmerzten nach wie vor so sehr, dass einem Tränen über die Wangen liefen. Vor dem ersten Schlitten gingen gewöhnlich die Glücklichen, die »Sehenden«; die »Blinden« 87
folgten ihren Spuren mit geschlossenen Augen, nur ab und zu durch die halb geöffneten Lider auf den Weg blickend. Doch es gab Tage, an denen alle unter heftigen Schmerzen zu leiden hatten. Dann waren wir gezwungen, den Marsch abzubrechen, den ganzen Tag im Zelt zu sitzen und zu warten, bis sich die Augen von diesem starken, schier unerträglichen Licht erholten. Sie schmerzten nicht nur bei klarem, sonnigem Wetter. Oft war der Himmel von Wolken verhüllt, die Sonne nicht zu sehen, sogar der Horizont mit Finsternis verhangen, doch die Augen taten nicht minder weh. Selbst wenn der Schmerz nachließ, blieben sie getrübt, alle Gegenstände schienen wie in Nebel getaucht. Schwer und leidvoll war unser Weg, die schmerzenden Augen machten ihn noch leidvoller. Ich erinnere mich genau an eines der Bilder aus jener Zeit, das ich nie vergessen werde. Vor uns liegt ein großes, glattes Eisfeld mit nicht allzu tiefem Schnee. Ich selbst kann nicht weit blicken, doch mein Begleiter sagt mir, in der Ferne seien Ketten von Eisrücken zu sehen, zwischen denen sich sehr hohe Hügel erhöben. Was mag sich wohl hinter diesen Eisrücken verbergend Werden wir, wenn wir einen dieser Flügel ersteigen, am Horizont Land entdecken, sei es auch nur ein hauchdünnes, kaum sichtbares Stückchen Land, sei es ein kahler Felsen«? Oder haben sich diese Eisrücken neben einer großen Wune gebildet, in die wir endlich unsere Kajaks einsetzen und nach Süden fahren können, auf der viel »Seegetier aufsteigt«, das wir so sehr als Nahrung und Heizung benötigen? 88
In einer langen Reihe bewegen sich unsere fünf Kajaks über die Einöde, vier davon werden von je zwei Mann gezogen, der erste, mir gehörende – von drei. Ich selbst gehe bei dem zweiten Kajak mit, da ich buchstäblich nichts sehen kann. Es herrscht ruhiges, warmes Wetter, Windstille, kein Wölkchen am Himmel. Die Sonne scheint mir grell ins Gesicht, meine Augen sind geschlossen. Ab und zu öffne ich sie ein wenig, um mich über die Richtung zu orientieren, und stelle jedes Mal fest, dass nach wie vor nichts als ein weites Feld vor uns liegt. Im ersten Moment ist der Schmerz sehr heftig, doch allmählich ebbt er ab, die Sehnerven beruhigen sich. Man möchte die Lider gar nicht mehr heben. Sogar die Mütze habe ich weit in die Stirn gezogen, um die Augen vor dem Licht zu schützen, das selbst durch die Lider dringt. Gleichmäßig im Takt, die Brust gegen den Zugriemen gestemmt, den Oberkörper vorbeugend und wieder aufrichtend, schreiten wir dahin, stützen uns mit der einen Hand am Kajak und schwingen ganz mechanisch mit der anderen unseren Skistock. Wie eintönig, wie laut knirscht der Schnee unter der Spitze dieses Stockes. Man hat den Eindruck, als ob er die zurückgelegte Strecke messen wolle und, unzufrieden über das Resultat, unentwegt knurre. Unwillkürlich lauscht man diesem rhythmischen Geräusch und glaubt klar die Worte zu hören: »Es ist noch weit, ist noch weit, ist noch weit…« Allmählich schwindet jeder Gedanke … Man verliert jegliche Vorstellung über Ort und Zeit. Wie im Traum 89
bewegen wir uns vorwärts, stellen mechanisch ein Bein vor das andere und legen uns in den Zuggurt. Es ist warm, die Sonne sengt. Heißer, südlicher Sommer. Ich sehe mich auf dem Kai einer orientalischen Hafenstadt im Schatten hoher Steinhäuser. Die Türen der Kaufläden sind weit geöffnet, deutlich spüre ich den würzigen Duft frischer und getrockneter Früchte. Es riecht betäubend nach Apfelsinen, Pfirsichen, Dörräpfeln, Sultaninen, Nelken. Ich höre die ruhigen gutturalen Laute der persischen Händler. Von Zeit zu Zeit schütten sie Eimer voll Wasser auf den von der Sonnenglut weichen Asphalt der Straße, ich spüre förmlich die feuchte Kühle … Mein Gott, wie schön es hier duftet, wie angenehm kühl es hier ist! Plötzlich stolpere ich über meinen Skistock, klammere mich mit der Linken instinktiv an den Kajak, schlage die Augen auf und bleibe verwundert stehen. Im ersten Moment kann ich nicht begreifen, wo ich bin. Wo sind wir bloß hingeratend »Was ist geschehen?«, fragen meine Begleiter und blicken mich erstaunt an. Jetzt komme ich zu mir. »Nichts, bin bloß gestolpert.« Und wieder dehnt sich vor mir in endloser Weite das Eisfeld; doch die Eishügel scheinen näher gerückt zu sein. Nach wie vor leuchtet blendend die Sonne, nach wie vor schmerzen heftig die Augen … Die Halluzination ist aber noch nicht ganz vorbei. Ich spüre noch deutlich die aromatischen Düfte der Südfrüchte, die Luft scheint mit ihnen geschwängert zu sein. Merken denn meine Begleiter nichts von diesen Düften? Vielleicht bin ich krank? Und wieder sind meine Augen geschlossen, wieder das langsame, rhythmische Schaukeln, wieder knirscht unzufrieden die Spitze des Skistockes: »Es ist 90
noch weit, ist noch weit …» Meine Gedanken kehren zurück zu dem eben erst Erlebten. Merkwürdig, warum habe ich mir niemals viel aus Früchten gemacht, warum haben sie meinen Gaumen niemals reizen können? Wie kommt es, dass ich mir Früchte und überhaupt alle Süßigkeiten so selten gekauft habe? Sollte ich einmal wohlbehalten nach Hause gelangen, werde ich unbedingt nach dem Süden fahren und vielleicht auf dem Schwarzen oder Kaspischen Meer Arbeit annehmen. Dort ist es warm … Man kann in Hemdsärmeln und sogar barfuß umherlaufen. Ist es denn möglich, dass es so etwas gibt? Jetzt ist es schwer, sich das vorzustellen. Und ich kann beinahe nicht daran glauben. Ich werde viele, viele Apfelsinen, Äpfel und Weintrauben essen. Aber die Schokolade ist doch auch eine sehr schöne Sache, wenn man sie mit Roggenzwieback isst, wie wir es bei der Mittagsrast tun. Doch wir haben jetzt nur noch sehr wenig davon. Auf jeden entfällt zu den Mittagsmahlzeiten ein kleines Stück. Wie schön wäre es, wenn man einen ganzen Teller voll gut getrockneten Roggenzwiebacks vor sich hätte und dazu eine ganze Tafel Schokolade in die Hand nehmen und nach Herzenslust essen könnte! Warum nur habe ich mich auf diese Reise ins kalte Eismeer begeben, wo man doch so herrlich im Süden zur See fahren kann! Wie töricht das doch war! Und jetzt muss man sich so Schritt für Schritt vorwärts quälen, angetrieben von dem Gespenst des Hungertodes. Doch halt! Versuche das Schicksal nicht! Du hast es dir selbst eingebrockt, hast keinerlei Recht dazu, es ungerecht zu nennen. Heute zum Beispiel steht uns ein »kalter Abend« bevor, weil wir kein 91
bisschen Feuerung haben. Es ist nicht einmal so viel da, um das Eis zu Trinkwasser zu schmelzen. All das ist nur gerechte Vergeltung! Steck deine Nase nicht dorthin, wo die Natur die Gegenwart des Menschen nicht wünscht. Du träumst davon, nach dem sonnigen Süden zu fahren, befindest dich aber noch in den Regionen des ewigen Eises, weit entfernt von festem Land. Sieh du erst einmal zu, dass du bis zur äußersten Spitze des nördlichen Landes gelangst! Inzwischen waren wir bei den riesigen Eisrücken angelangt, die wir zuvor in der Ferne gesichtet hatten. Doch wir mussten uns überzeugen, dass hinter ihnen keinerlei Wunen lagen. Vor uns breitete sich eine weite Gegend voller riesiger Eisblöcke aus; es stand uns noch bevor, dort einen einigermaßen gangbaren Weg zu suchen. Wir bauten das Zelt auf und bereiteten uns für die Nacht vor. Nachdem wir unsere Habseligkeiten nach etwa entbehrlichen Dingen überprüft hatten, fanden wir etwas, das zu Heizzwecken verwendet werden konnte, und obwohl es uns nicht gelang, das Teewasser zum Kochen zu bringen, konnten wir wenigstens Eis zu Trinkwasser schmelzen. Auch damit mussten wir zufrieden sein. Zum Abendbrot gab es pro Person ein Pfund Zwieback und einen Esslöffel gefrorene Butter. Wenn man diese Butter unter der Maliza anhauchte, ließ sie sich mit dem Finger auf den Zwieback streichen. Mit Butter bestrichener Zwieback ist eine sehr schmackhafte und sättigende Nahrung, jedenfalls besser als trockener Zwieback.
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An diesem Tage legten wir eine schöne Strecke zurück, mindestens sechs Werst. Doch dafür hatten wir einen Weg vor uns, der einem Lattenzaun glich. Finster und schweigsam begaben wir uns zur Ruhe. Am Morgen erwachte ich froh und erregt, noch ganz unter dem Eindruck eines schönen Traumes. Sofort erzählte ich ihn meinen Begleitern; es war wirklich ein erfreulicher Traum, der eng mit dem Erfolg unserer Reise zusammenhing. Auch meine Gefährten zeigten reges Interesse und hörten mir aufmerksam zu. Ich sah uns alle über ein großes Eisfeld gehen, so wie es gestern der Fall war; wir zogen natürlich wie gewöhnlich unsere Schlitten hinter uns her. Vor uns erblickten wir eine Ansammlung von Menschen, die lebhaft miteinander diskutierten und anscheinend jemanden erwarteten, da sie in die Richtung sahen, der auch wir zustrebten. Die Menge war weder über uns mit unseren Kajaks, noch waren wir über sie sonderlich erstaunt. Es war, als sei diese Begegnung eine ganz alltägliche Angelegenheit. Wir kamen näher und fragten diese Menschen, worüber sie so lebhaft diskutierten und wen sie denn erwarteten. Man deutete auf einen schmächtigen weißhaarigen Greis, der gerade hinter den Eisrücken hervorkam, und sagte, dass er ein Wahrsager, ein Sehender sei, der die Zukunft sehr genau deuten könne. Das ist, dachte ich, ein glücklicher Zufall, den man nicht ungenutzt vorübergehen lassen sollte. Ich werde den Greis fragen, ob er mir wahrsagen möchte, welches Schicksal uns bestimmt sei, und ob es uns beschieden sein würde, Land zu erreichen. Ich trat an ihn heran und streckte ihm meine 93
Hände hin, mit den Handflächen nach oben, wie man es gewöhnlich bei einer Wahrsagerin zu tun pflegt, die nach den Linien der Hand die Zukunft deutet. Vielleicht streckte ich sie auch so hin, wie man es tut, um den Segen zu empfangen, das heißt, indem man die Handflächen gegeneinander legt. Der weißhaarige Alte richtete nur flüchtig den Blick auf sie, deutete beruhigend mit einer segnenden Gebärde nach Süden und sprach: »Du wirst dein Ziel schon erreichen, die Wune ist nicht mehr weit, von dort aber …« Noch ehe er seine Rede beendet hatte, erwachte ich. Unter dem Eindruck dieses Traumes war ich froh gelaunt, und die gestrige trübe Stimmung war wie weggeblasen. Da ich wieder mutig und begeisterungsfähig war, riss ich alle meine Kameraden mit. Nicht eine Minute zweifelte ich daran, dass dieser Traum prophetische Bedeutung hatte: der alte Wahrsager war bestimmt Nikolaus der Wundertätige gewesen, dessen Bild ich stets in meiner Seitentasche trug, denn auch jene Menschen, die mir im Traum begegnet waren, hatten dem Wahrsager Ehrfurcht entgegengebracht. Gewiss, ich war damals krank, und die Halluzination, in der ich mich fast im Traumzustand auf die Gestade von Baku versetzt sah, bestätigt dies nur. Doch dieser Traum ging mir mit allen seinen Einzelheiten während des ganzen Weges bis nach Kap Flora nicht aus dem Sinn. In schweren Stunden erinnerte ich mich, ohne dass ich es wollte, an die beruhigende Prophezeiung des Alten. Auch meine Weggenossen begannen an diesen Traum zu glauben, besonders nachdem wir am Abend desselben Tages vor einer großen Wune standen. Es gelang uns, dort einige 94
Seehunde zu erlegen, die uns viel Fleisch und Fett zur Feuerung lieferten. Wir ruhten uns aus, waren satt und glücklich. Zwar ließen wir noch leicht die Köpfe hängen; doch wir bedurften herzlich wenig, um glücklich zu sein. Die Wune, an der wir unser Lager aufgeschlagen hatten, war sehr groß. Ihr gegenüberliegender Rand zeichnete sich nur schwach am Horizont ab. In den letzten Tagen herrschte vorwiegend Nordwind, so dass Schlammeis und Speck zum südlichen Rand der Wune getrieben wurden. Durch den Feldstecher konnte man beobachten, dass sich dort sehr viel von diesem »Eisbrei« angesammelt hatte; da leichter Wellengang herrschte, war die schaukelnde Bewegung des Schlammeises deutlich zu sehen. Wir machten einen Kajak klar und fuhren hinüber, mussten uns jedoch überzeugen, dass es unmöglich war, diesen »Brei«, der die Breite von etwa einer halben Meile hatte, zu durchdringen und auf festem Eis zu landen. Wir mussten uns also einen Weg um die Wune herum oder eine günstige Stelle zum Landen suchen. Im Osten verbreiterte sich die Wune bis zu einigen Seemeilen, wir stießen etwa zehn Werst nach Osten vor, ohne dass wir ihr Ende sichten oder feststellen konnten, dass sie schmaler geworden war. Über ihr lag ein dichter Dunstkreis, und deshalb konnten wir nicht übersehen, wie groß sie tatsächlich war. Am östlichen Horizont war der Himmel fast schwarz, woraus wir folgerten, dass es dort viel Wasser gab. Wer weiß, wie weit sich die Wune erstreckte! Doch leider bog sie nicht nach Süden ab, zumindest nicht, soweit wir sie übersehen konnten. 95
Im Westen wurde sie allmählich schmaler, doch nachdem wir in dieser Richtung etwa fünf Werst vorgedrungen waren, konnten wir auch hier die Schließstelle nicht erblicken. Viele Weißwale tummelten sich im Wasser. Alle Augenblicke hörte man ihr eigenartiges Schnaufen. Diese kleinen Wale zeigten sich hier und da gleich zu mehreren, schoben ihre Rücken aus dem Wasser und verschwanden dann wieder. Auch Seehunde sahen wir viele, doch in sehr weiter Entfernung. Wenn man ihnen übrigens zupfeift, wie Pferden, die man zur Tränke führt, so kommen sie neugierig näher und heben sich dabei möglichst hoch aus dem Wasser. Auf diese Weise gelang es uns, vier oder fünf Tiere zu erlegen. Jetzt waren wir für mehrere Tage mit Feuerung versorgt, und das Fleisch aßen wir sowohl gebraten als auch gekocht in dünner, mit Erbsbrei vermengter Suppe. Seehundsfleisch in gebratenem und auch in gekochtem Zustand erinnert, was die Farbe anbelangt, an Wildbret. Es ist dunkel und mürbe, von recht angenehmem Geschmack. Das gilt wenigstens für die Seehunde, die wir nördlich des FranzJoseph-Landes erlegten. Ich glaube nicht, dass deren Fleisch mir nur mundete, weil ich stets Hunger hatte oder weil meine Geschmacksnerven abgestumpft waren. Das Fleisch der im Karischen Meer erlegten Seehunde roch und schmeckte dagegen förmlich nach Tran, obgleich wir nur die Vorderpfoten zur Speise verwandten, sie vorher stundenlang in Essig einlegten und dann in Butter brieten. Bärenfleisch, von dem wir viel auf dem Schiff gegessen hatten und das unzweifelhaft viel schmackhafter ist als 96
Seehundsfleisch, bekommt auch oft einen tranigen Beigeschmack, wenn es längere Zeit in gekochtem Zustand aufbewahrt wird, besonders das Knochenfleisch. Suppe aus den Knochen eines alten Eisbären riecht, soweit ich das feststellen konnte, stets nach Tran. In den Mägen aller von uns nördlich des Franz-JosephLandes erlegten Seehunde – und es war eine beträchtliche Anzahl – haben wir kein einziges Mal Fischreste finden können; der Inhalt bestand lediglich aus kleinen Krebsen, Seitenschwimmern oder »Kapschaks«, wie sie an der Murmanküste genannt werden. Das Fleisch des Seehunds ist meiner Meinung nach durchweg essbar; die Leber gilt sogar als viel begehrte Delikatesse. Wir alle aßen sie auf dem Schiff mit Heißhunger sogar zu der Zeit, als unsere Speisekammern noch voll von allerlei Vorräten waren. Sehr gut schmeckt auch in Schmalz gebratenes Seehundshirn. Die Vorderpfoten, gut durchgebacken, erinnern im Geschmack an Kalbsfüße. Während der ersten Zeit trieben meine Begleiter geradezu Missbrauch mit Seehundsfett. Sie schnitten es in kleine Stücke und brieten es stark durch. Es entstand das, was man »Grieben« nennt. Hätten sie diese »Grieben« mit Schiffszwieback verspeist, so wären sie natürlich schnell satt gewesen. Aber mit Zwieback wurde gespart, und die Grieben wurden nur mit Salz gegessen. Auf einen Magen, der nicht daran gewöhnt ist, wirkt dieser Leckerbissen wie ein starkes Abführmittel. Doch der Magen gewöhnt sich an alles, und schließlich übten die Grieben keine nachteilige Wirkung mehr aus. 97
Am Rande der Wune, die sehr an eine breite Straße nach Osten erinnerte, blieben wir zwei ganze Tage. Inzwischen hatte sich in ihrem westlichen, engeren Teil viel frisches, dünnes Eis angesammelt, dessen Bruchstücke sich überund untereinander geschoben hatten und nun zusammengefroren waren. Auf dieser dünnen Eisdecke überquerten wir auch glücklich die Wune. Dann schlugen wir eine mehr östliche Richtung ein, in der Hoffnung, dort weitere Wunen vorzufinden, die sich möglicherweise nach Süden erstreckten und im Osten mit der großen Wune in Verbindung standen, doch hatten wir damit kein Glück. Gewiss, wir stießen ab und zu auf kleinere Eislöcher, die uns Nahrung und Heizung lieferten, doch es war unmöglich, sie auf Kajaks zu überqueren.
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Bajew bleibt verschollen Wieder bewegten wir uns über Eishügel, wateten durch tiefen Schnee, wieder kamen wir täglich höchstens drei Werst voran. Am schlimmsten war der tiefe Schnee, in dem unsere Schlitten fast bis an die Querhölzer versanken, wobei sie oft brachen. Beinahe jeden Tag mussten wir bald den einen, bald den anderen Schlitten reparieren, wonach sie sich noch schwerer ziehen ließen. Es war nur gut, dass wir die Kufen mit eisernen Bändern beschlagen hatten, sonst wäre es uns schlecht ergangen. Jetzt brauchten wir bei Kufenbrüchen nur die Bänder abzuschrauben, die Holzteile notdürftig zu flicken, und alle Unebenheiten wurden durch die wieder aufgeschraubte Eisenschiene verdeckt. Inzwischen hatte der Mai seinen Einzug gehalten. Schon zwei Tage lang bedrängte mich Bajew mit der Bitte, mehr nach rechts zu halten, also westlicheren Kurs einzuschlagen. Er behauptete, von einem hohen Eishügel aus gesehen zu haben, dass sich nach SSW ganz glatte Eisfelder dehnten, die dann weit im Süden ihren Fortgang nähmen und frei von Eisrücken seien. Am 2. (15.) Mai sei er bei einem Erkundungsgang mit Maximow bis zu diesem jungen Eis vorgedrungen, das sich, so weit das Auge reiche, nach Süden hin erstrecke. Schnee habe auf diesem Eisfeld nur wenig gelegen, er sei auch sehr fest gewesen. »Die reinste Schlitterbahn!«, sagte er. Doch vergeblich hielten wir den ganzen Tag südwestlichen Kurs ein, vergeblich spähte ich von hohen Eisfelsen aus in die Gegend, von der »Schlitterbahn« war nichts zu 99
sehen. Bajew bestand weiter darauf, dass das ebene Eisfeld ganz in der Nähe sein müsse, wir seien nur vom richtigen Weg abgekommen und könnten es deshalb nicht finden. »Habe es mit eigenen Augen gesehen, Herr Steuermann, bin selbst darauf gelaufen, eine mächtige Ebene; zieht sich, scheint's, direkt bis zu einer Insel hin.« Am Morgen des nächsten Tages – es war der 3. (16.) Mai –beschloss ich, mit einigen Kameraden die Gegend nach SSO zu erkunden, denn ich hatte keine Lust, weiter nach rechts abzubiegen. Irgendwo hinter den Eisrücken musste doch die Ebene sein! Wieder trat Bajew mit der Bitte an mich heran, seine »Schlitterbahn« auf eigene Faust suchen zu dürfen. Wir hatten einen leidlich gangbaren Weg gefunden und kehrten nach dreistündigem Marsch zum Lager zurück. Bajew war noch nicht da. Es wurde Mittag, Bajew kam nicht. Von bösen Ahnungen erfüllt, entschlossen wir uns um vier Uhr, nach dem Verschollenen zu suchen. Nachdem wir unsere Taschen mit Zwieback gefüllt hatten, begaben wir uns zu vieren – Regald, Konrad, Spakowski und ich – auf den Weg. Bajew lief nur ungern Ski und war ohne Bretter ausgezogen. Seine Spuren konnten wir in dem tiefen Schnee gut verfolgen. Anfangs führten sie uns nach SW, doch allmählich bogen sie nach W ab. Ungefähr fünf Werst von unserem Lager entfernt trafen wir in der Tat auf junges, etwa anderthalb Fuß starkes Eis mit wenig Schnee. Bajew war am linken Rand dieser Eisfelder gegangen, anscheinend in der Hoffnung, dass sie eine Weile später nach links, also nach S, abschwenken würden, doch die Eisblöcke 100
versperrten ihm nach wie vor den Weg. Inzwischen hatte sich das Wetter verschlechtert, es fiel Schnee. Jetzt stießen wir auf kleine Kanäle und Spalten, deren Überquerung uns mit den Skiern keine Schwierigkeiten bereitete, Bajew musste sie sicherlich mit Hilfe kleiner Eisschollen überwinden. Die Kanäle wurden immer zahlreicher. So verfolgten wir Bajews Spuren zwei Stunden lang, und ich nehme an, dass wir zehn bis zwölf Werst vorgedrungen waren. Endlich kehrten die Spuren um, doch Bajew war nicht seinen alten Fußtapfen nachgegangen, sondern – warum nur – nach links abgebogen. Unsere Flagge, die wir stets auf einem Eishügel neben unserem Lager zu hissen pflegten, war schon längst nicht mehr zu sehen. Die Abdrücke von Bajews Pelzstiefeln zeichneten sich nur schwach auf der festen Schneeschicht ab, und bald waren sie von dem frischen Schnee zugeweht. In einiger Entfernung voneinander in breiter Front vorgehend, fanden wir manchmal eine schwache Spur, doch bald verlor sie sich endgültig. Der Schnee begann auch unsere Spuren zu verwischen, die sich viel deutlicher abzeichneten. Wir riefen, pfiffen, schossen aus unserem Gewehr, doch alles ohne Erfolg. Bajew hatte eine Magazinbüchse mit etwa zwölf Patronen bei sich. Wäre er irgendwo in der Nähe gewesen, so hätte er unsere Schüsse hören und erwidern müssen. Doch ringsumher herrschte eisige Stille. Wir mussten schleunigst zurückeilen, um andere Maßnahmen zur Rettung des Verschollenen zu ergreifen, falls er inzwischen nicht im Lager eingetroffen sein sollte. 101
Um neun Uhr abends waren wir schon im Zelt. Bajew war nicht zurückgekehrt. Aus Kajakmasten, Skistöcken und Reservestäben banden wir einen etwa fünf Faden langen Mast zusammen, befestigten daran die vorhandenen zwei Flaggen und richteten ihn mit Hilfe langer Halteleinen auf einem zwei Faden hohen Hügel auf. Das geschah um zehn Uhr abends, also fünfzehn Stunden nachdem Bajew uns verlassen hatte. Die Flaggen waren weithin sichtbar. Wenn Bajew irgendwo in der Nähe des Lagers umherirrte, musste er unsere Signale sehen und den Weg zu uns finden. Indessen besserte sich das Wetter, und der Schneefall ließ nach. Am nächsten Morgen brachen wir sogleich wieder auf und durchstreiften die Gegend von neuem. Dabei beschrieben wir einen ganzen Kreis im Radius bis zu vier Werst um unser Lager, in der Hoffnung, auf frische Spuren zu stoßen; auf dem dünnen Eis, wo sie sich nur schwach abzeichneten, waren sie natürlich schon zugeweht worden. Im tiefen Schnee hätte man sie jedoch sehen müssen, falls sich Bajew von dem jungen Eis in die Eisschollen, wo tiefer Schnee lag, begeben hätte. Doch alle unsere Bemühungen waren vergeblich. Wo Bajew stecken mochte, wusste Gott allein. Die Kanäle hatte er offenbar glücklich überquert, das verrieten seine Spuren. Als er umkehrte, hatte er nicht seine alten Spuren benutzt, sondern die Richtung nach links eingeschlagen. Dort konnte er sich in den Eishügeln verirrt haben. Doch es ist schwer anzunehmen, dass er nicht umgekehrt wäre, wenn er nach langem Marsch über tiefen Schnee, in dem sich die 102
Spuren gut erhalten, eingesehen hätte, dass er in falscher Richtung ging. Dann hätten ihn die Spuren bis zu der Stelle geführt, von der aus unser hoher Mast gut sichtbar war. Beim Überqueren der Rinnen konnte er ins Wasser gefallen sein; aber so ein unfreiwilliges Bad kam bei uns nicht selten vor. Gewöhnlich kletterte man sogleich aufs Eis, wrang notdürftig das Wasser aus der Kleidung und lief zum Lager. Ich entsann mich, dass Bajew mehr als einmal über Herzbeschwerden geklagt hatte, offenbar hatte er einen Herzfehler. Sollte er etwa beim Sturz ins kalte Wasser einem Herzschlag erlegen sein?- Anders kann ich mir sein Verschwinden gar nicht erklären. Wir blieben drei Tage an derselben Stelle, immer noch in der Hoffnung, dass Bajew zurückkehren würde. Doch er blieb verschollen. Auf der Suche nach seiner »Schlitterbahn« hatte er wohl sein Leben gelassen. Mittwoch, den 14. (27.) Mai. Erst spät, etwa um vier Uhr nachmittags, setzten wir uns in Marsch und legten in sechs Stunden nur vier Werst zurück. Dieser Tag war für uns eine Art Jubiläumstag, da wir annahmen, dass zwischen uns und der »St. Anna« mittlerweile eine Strecke von hundert Werst lag. Gewiss, es war nicht allzu viel, und mit gemischten Gefühlen stellten wir fest, dass wir eine durchschnittliche Tagesleistung von nur 3,3 Werst zu verzeichnen hatten. Aber der Weg war auch härter, als wir es uns vorgestellt hatten. Als wir das Schiff verließen, hatten wir damit 103
gerechnet, Land zwar nicht schon betreten, aber es doch wenigstens sichten zu können. Trotzdem begingen wir diesen Tag sehr feierlich: Aus getrockneten Kirschen und Blaubeeren kochten wir uns eine Festtagssuppe und veredelten sie mit zwei Büchsen kondensierter Milch, dazu gab es Zwieback; also ein üppiges Abendbrot. Nachmittags war der Wind nach NW umgesprungen, und es wurde merklich kühler. Über dem Horizont breiteten sich schwarzer Dunst und Nebel aus, anscheinend kam das Eis in Bewegung. Wir gingen in südlicher Richtung: Dort war dunkler »Wasserhimmel« zu sehen, doch vorläufig zeigten sich keinerlei Wunen mit freiem Wasser. Donnerstag, den 15. (28.) Mai. Wir leiden wieder Mangel an Heizmaterial und müssen deshalb mit »kalter Küche« vorlieb nehmen. Eine große Sorge lastet auf mir: wie kann man nur die Leute satt machen? Ach, wie schwer das fällt, mir ist alles schon über! Noch schlimmer, dass sich anscheinend keiner meiner Kameraden darüber Sorgen macht. Merkwürdige Menschen! Es fehlt ihnen jede ernstere Überlegung, jeder Unternehmungsgeist, als wäre es ihnen ganz gleich, ob wir Land erreichen oder nicht. Es ist schwer, mit einer solchen Gesellschaft in eine kritische Lage zu geraten. Manchmal habe ich unwillkürlich Angst vor der Zukunft.
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Gewiss, man kann das nicht von allen behaupten, doch die Ausnahmen sind zu unbedeutend, ich habe zu wenig energische, wirklich gesunde Helfer. Heute drehte der Wind auf W. Das Wetter ist kalt und neblig. Wir haben im Laufe des Tages nur zwei Werst zurückgelegt. Freitag, den 16. (29-) Mai. Gestern Abend widerstrebte es mir, über den Vorfall zu schreiben, der sich am Tage abgespielt hatte, auch heute hätte ich am liebsten davon Abstand genommen. Gestern wären beinahe drei Mann ertrunken. Wenn wir Land erreichen, mögen diese Leute stets des 15. Mai gedenken, des Tages ihrer Errettung vom Tode, und diesen Tag in Ehren halten. Sie selbst konnten sich retten, doch unsere Schrotflinte und unsere gute »Küche«, die uns warme Nahrung spendete, ließen sie in den Fluten untergehen. Daher mussten wir gestern rohes Fleisch essen und kaltes, mit Milch angerührtes Wasser trinken, und heute tranken wir statt heißen Tees, der uns so gut erwärmte, lauwarmes Wasser und aßen Zwieback dazu. Wir liegen an einer Wune, die sich nach SW hin erstreckt und nach SSW abbiegt. Eben beginnen wir zu packen. Wir wollen die Kajaks zu Wasser lassen und fahren, so weit wir kommen. Wind von SW, ringsherum viel »Wasserhimmel« und Nebel. (Abends.) 105
Kaum eine halbe Werst sind wir mit unseren Kajaks vorwärts gekommen, da das Wasser mit Schlammeis durchsetzt ist. Haben unser Nachtlager aufgeschlagen. Alle leiden sehr an Augenschmerzen, Lunjajew klagt außerdem über Schmerzen im Bein. Sonnabend, den 17. (30.) Mai. Heute gegen Morgen wurde die Wune eisfrei. Sie hat sich verbreitert, doch ihre Richtung liegt nach SSW. Trotzdem machten wir die Kajaks klar und paddelten etwa zwei Stunden, wobei wir ungefähr neun Werst zurücklegten. Über das Eis zu marschieren war schier unmöglich, es hatte auch keinen Sinn zu warten. Die Kajaks halten sich im Wasser vorzüglich. Es besteht keine Veranlassung, in unbequemer Haltung auf ihrem Boden zu sitzen: wir haben unseren Platz entweder auf der Ladung oder wie ich auf der hinteren Querspante, die als Verstrebung für das Deckleinen dient. Die Schlitten liegen, obgleich sie schwer und groß sind, vorn auf den Kajaks, ohne dass diese ihre Seetüchtigkeit einbüßen. Sie lecken ein wenig, doch ganz unbeträchtlich. Ich war heute mit Nielsen weit vorausgefahren, uns folgten paarweise die anderen Kajaks. Als wir am jenseitigen Rand der Wune angelangt waren, bestieg ich einen mächtigen Eisblock und hielt Umschau. Von den übrigen Kajaks sah ich nur zwei näher kommen, die anderen beiden waren nicht zu sehen. Es vergingen zwei Stunden, die Kajaks kamen nicht. Wir wussten nun, dass sich wieder 106
etwas Unvorhergesehenes ereignet hatte. Endlich gegen vier Uhr kam der vierte Kajak heran, und wir hörten Folgendes: Kaum war der letzte Kajak vom Eisrand abgestoßen, als Regald, der ihn allein fuhr, durchaus umkehren wollte und aufs Eis zurückkletterte, wobei jedoch der Schnee unter seinen Füßen ins Rutschen geriet und unser Steward ein gründliches Bad nehmen musste. Der Kajak wurde, weil er leer war, sehr schnell vom Winde abgetrieben. Gubanow, der inzwischen mit seinem Kajak einen beträchtlichen Vorsprung erreicht hatte, kam ihm zu Hilfe. Er fing Regalds Fahrzeug ein und schleppte es zur Unfallstelle. Bald waren wir wieder alle beisammen, stellten das Zelt auf, sammelten die Reste des Heizmaterials und kochten auf unserem »Ersatzkocher« ein Erbsengericht. Nun waren unsere Unglücksraben einigermaßen mit ihrem Schicksal ausgesöhnt. Ach, wenn mir Gott nur helfen wollte, mit diesen Schlafmützen glücklich das rettende Land zu erreichen! Gegen Abend verstärkte sich der Wind aus SW, und Schneetreiben setzte ein. Sonntag, den 18. (31.) Mai. Heute hatten wir einen verhältnismäßig guten Weg, mit weißen Feldern jungen Eises. Eisblöcke und -hügel begegneten uns nur selten. Das Eis ist mit einer Schneeschicht von höchstens sechs bis sieben Zoll bedeckt, doch der Schnee verhältnismäßig fest.
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Ich erinnere mich, dass Nansen von ähnlich glattem Eis spricht, das er von der Spitze der Weißen Insel (Hvidtenland) aus gesehen hat.14 Jedenfalls war es nicht gleichen Ursprungs wie das, welches die »St. Anna« umgab. Auf diesem Eis haben wir im Verlauf von vier Stunden mit drei Schlitten in einer Etappe eine Strecke von schätzungsweise sieben Werst zurückgelegt. An einer großen Wune, die mit viel Splittereis umgeben war, machten wir Halt, stärkten uns mit Zwieback und ein wenig Schokolade und hielten kurze Rast. Danach begaben sich acht Mann auf Skiern zurück, um die übrigen zwei Kajaks zu holen. Ich aber ging mit Lunjajew zur Wune, in der Hoffnung, einen Seehund zu erlegen. Trotz unserer Bemühungen gelang es uns nicht, an das Wasser heranzukommen, so zersplittert war das Eis am Rande der Wune. Sie war sicherlich schon sehr alt, wirkte bald wie zusammengepresst, bald wie auseinander getrieben. Forschend spähte ich nach dem Horizont auf der anderen Seite der Wune, in der Hoffnung, jenes Hindernis zu erblicken, an dem sich das Eis brach, also eine Insel, das ersehnte Land. Doch leider war nichts zu sehen. Der Horizont war allerdings in dunstige Schleier gehüllt und das Wetter diesig. Wir kehrten zu den Kajaks zurück und warteten auf unsere Gefährten. Auf dem Marsch merkt man nicht, wie die Zeit verrinnt, und erst wenn man wartet, wird einem klar, wie viel Zeit verloren geht, wenn man zuerst drei Kajaks voranbringt und dann zurückkehrt, um die anderen zwei zu holen. 108
Dieser unnütze Zeitverlust ist höchst unerfreulich. So darf es jedenfalls nicht weitergehen. Wie weit könnten wir inzwischen kommen! Heute noch werden wir den Beschluss fassen, den schlechtesten Kajak und den defektesten Schlitten auszurangieren und die Kajakbespannung zusätzlich einem der übrig gebliebenen beizugeben. Das Holz verwenden wir als Brennmaterial, verkleinern das Zelt soweit es irgend möglich ist, lassen alles Überflüssige liegen und marschieren mit den restlichen vier Kajaks los. Das ermüdende Hin und Her bliebe uns dann erspart. Lunjajew kann beim Ziehen nicht mithelfen, er bewegt sich selbst nur mühselig fort und stöhnt dabei unentwegt. Also entfallen auf vier Schlitten neun einigermaßen leistungsfähige Männer. Mag es auch schwer fallen, die Schlitten alle auf einmal zu ziehen, wir würden auf diese Weise viel schneller vorwärts kommen. In vier Kajaks hätten zehn Mann ebenfalls genügend Platz. Die Leute dürfen nur nicht vergessen, dass sie kein Ruderboot, sondern einen leichten segeltuchbespannten Kajak unter sich haben. Den morgigen Tag werden wir wohl zur Realisierung unseres Planes brauchen und dann auch sehen, wie wir am besten ans Wasser herankommen können. Vielleicht ist es doch möglich, die Wune mit unseren Kajaks zu überqueren. Eben während ich mein Tagebuch führe, wird mir von meinen Begleitern gesagt, dass die Wune sich zusehends verbreitere und Brandungsgeräusch zu hören sei. Nun, was die Brandung anbetrifft, so mögen sie mich damit zufrieden lassen. Ich glaube ja doch nicht daran. 109
Montag, den 19. Mai (1. Juni). Den ganzen Tag haben wir festgelegen und unseren gestrigen Plan in die Tat umgesetzt. Es weht Ostwind, Stärke vier bis fünf. Bewölkt. Haben versucht, die Tiefe auszuloten, doch den Grund nicht erreicht, obgleich wir mehr als hundert Faden Leine hinabgelassen hatten. Allerdings muss hierbei bemerkt werden, dass wir, aus Furcht, die Leine könnte reißen, kein allzu schweres Gewicht an der Leine befestigt hatten. Deshalb zeigte sie nicht senkrecht nach unten, sondern schräg abwärts. Während des ganzen Tages suchte ich mit einigen Gefährten eine Umgehung der Wune oder einen Zugang zum Wasser. Doch vorläufig waren alle Bemühungen ergebnislos. Diese verdammte Wune! Es ist buchstäblich nicht an sie heranzukommen, weder zu Fuß noch auf Skiern, noch mit Hilfe von Kajaks. Das Eis ist auf große Entfernung rechts und links aufgebrochen. Ich habe sowohl gestern als auch heute ein unfreiwilliges Bad genommen, als ich versuchte, die zahlreichen Kanäle und Spalten auf Skiern zu überqueren. In der Ferne ist eisfreies Wasser sichtbar, und man hört in der Tat so etwas wie das Rauschen einer Brandung. Doch das Eis bewegt sich nicht, und das Wasser macht keineswegs den Eindruck eines großen Gewässers, wenigstens nicht aus der Ferne. Von einem hohen Eishügel aus habe ich gestern weit hinter dieser Wune noch eine ebenso große sichten können. Vielleicht erwartet uns nach S zu eine ganze Kette von Wunen. Die Witterung ist nach wie vor trübe, die Sonne nicht zu sehen. Seit neunzehn 110
Tagen schon kann ich keine astronomischen Beobachtungen vornehmen und kenne daher unseren augenblicklichen Standort nicht genau; insbesondere interessiert es mich, wohin wir getrieben werden und wie weit wir tatsächlich nach S vorgerückt sind. Heute habe ich die Vorräte überprüft und dabei festgestellt, dass wir noch 208 kg Zwieback haben. Bei einem gleichen täglichen Verbrauch wie bisher würden wir gut einen Monat damit auskommen. Gewiss, man könnte die Rationen verringern, wenn wir mehr Glück mit der Jagd hätten. Doch dies ist vorläufig nicht der Fall. Es ist sehr eigenartig, dass wir trotz zahlreicher Wunen keine Seehunde mehr treffen, von Eisbären gar nicht zu reden. Halten sich denn diese Tiere überhaupt nicht in diesen Gegenden auf? Aber ihre Spuren haben wir doch mehr als einmal gesehen. Weiße Möwen und Sturmvögel fliegen oft einzeln, paarweise oder auch zu dreien an uns vorüber. Früher hatten wir ab und zu Taucherenten beobachtet, doch jetzt sind sie sehr selten geworden. Angesichts dieser Tatsachen beginne ich mich unwillkürlich um die Zukunft zu sorgen. Gewiss, im Laufe eines Monats kann sehr viel geschehen: Wir könnten eine bedeutende Strecke nach S oder SW vorrücken, da zurzeit hier die Nord- und Nordostwinde vorherrschen; wir könnten auf eine große, günstige Wune stoßen, auf der man sich rascher fortbewegen kann; und schließlich könnten wir einen Eisbären erlegen. Eben habe ich die Ladung für die Schlitten eingeteilt. Auf jedes Fahrzeug entfallen etwa sechs Pud, das Gewicht 111
des Kajaks und des Schlittens nicht mit eingerechnet. Das ist nicht allzu viel. Und bei einem leidlichen Weg können zwei Mann diese Ladung ohne wesentliche Schwierigkeiten ziehen. Gerade haben sich unsere Kundschafter in Richtung W aufgemacht, um zu sehen, ob dort eine Umgehung der Wune möglich ist. Wir alle werden von grässlichen Augenschmerzen geplagt, und Lunjajew hat außerdem noch heftige Schmerzen im Bein. Es ist wirklich ein Jammer! Wird man ihn etwa auch auf den Schlitten legen müssen? Gegen zehn Uhr abends kamen unsere Kundschafter zurück und berichteten, dass es vielleicht gelingen könnte, die Wune zu umgehen oder sie mit einigen Schwierigkeiten zu überqueren. Die Männer hatten drei Taucherenten und einen Sturmvogel gesehen. Wind aus SO, Stärke vier. Dienstag, den 20. Mai (2. Juni). Windverhältnisse unverändert. Stärke vier bis fünf. Nach wie vor bewölkt und trübe. Gegen elf Uhr vormittags brachen wir zu der ausfindig gemachten Übergangsstelle auf, die sich ungefähr eine Werst von unserem Lagerplatz befand. Anfangs zogen wir die Schlitten zu zweien, doch bald verschlechterte sich der Weg, und wir mussten uns wohl oder übel wieder wie früher fortbewegen, also uns zu vier und fünf Mann vor die Fahrzeuge spannen. Als wir bei einer von Spalten und Kanälen noch wenig durchfurchten Stelle anlangten, erkannten wir, dass die Kanäle 112
auseinander getrieben waren, das Eis sich verschoben hatte und keine Möglichkeit bestand, an die Wune heranzukommen. Wir stellten das Zelt auf, tranken Tee, und Spakowski und ich begaben uns weiter nach W, um vielleicht doch noch eine Umgehungsmöglichkeit zu finden. Es schien, als hätten wir sie schon gefunden, nicht gerade schön, doch immerhin passierbar. Da wir jedoch von starken Augenschmerzen geplagt wurden, kamen wir überein, bis zum Morgen an der Stelle zu bleiben. Es hat den Anschien, als ob wir hinter der Wune einen besseren Weg finden werden. Gott gebe es! Aber die Sonne lässt sich immer noch nicht blicken. Heute ist schon der zwanzigste Tag, an dem ich unseren Standort nicht feststellen kann. Lunjajew verwandelt sich zusehends in ein Wrack. Seit Tagen hat er Schmerzen im Bein, vor kurzem wurde er schneeblind, und heute teilte er mir mit, dass ihm auch das andere Bein Beschwerden mache. Ich fürchte, wir werden ihn doch bald auf einen Schlitten betten müssen. Ach, wann wird es denn endlich so weit sein, dass wir Land erreichen, sei es auch eine kahle, unwirtliche Insel, wenn sie nur fest auf der Stelle stünde, wo wir nicht dauernd befürchten müssten, nach Norden abgetrieben zu werden, und wo wir nach Herzenslust jagen könnten! Mittwoch, den 21. Mai (3, Juni). Nun ist es uns endlich gelungen, die verdammte Wune zu umgehen. Doch wie viel Schweiß hat das gekostet! Zu 113
sechs und sieben Mann mussten wir jeden einzelnen Schlitten über Schollen und Spalten ziehen und dabei noch mit Beilen und Harpunen den Weg frei machen. Aber wie dem auch sei, wir haben es geschafft und kamen auf eine glatte und gute Bahn mit dünner, aber fester Schneedecke. Hier konnten wir endlich dazu übergehen, die Schlitten zu zweit zu ziehen. Es war auch auf diesem Wege nur schwer vorwärts zu kommen, doch wir schleppten uns, wenn auch sehr langsam, weiter. Das Bewusstsein, die Wune hinter uns zu haben, und, was die Hauptsache ist, die zurückgebliebenen Schlitten nicht nachholen zu müssen, steigerte unsere Kräfte. Wir legten während des Tages etwa sechs Werst zurück, und wieder versperrte uns eine ganze Reihe von Spalten und Kanälen den Weg. Merkwürdig, wie stark das Eis gespalten ist. Einen Teil der Kanäle haben wir heute überwunden, aber auch für den morgigen Tag sind noch genügend vorhanden. Viele Wunen sind zu sehen, und dem »Wasserhimmel« nach zu urteilen liegen noch zahlreiche vor uns. Doch schlimm ist es, dass sie entweder mit Schnee zugeweht oder an vielen Stellen mit kleinen, halbgetauten Eisstücken bedeckt sind. Sie sind überhaupt nicht zu befahren, auch ziehen sie sich in den meisten Fällen in ostwestlicher Richtung hin. Selbst die Überquerung ist mit großen Schwierigkeiten verbunden, weder zu Fuß noch in Kajaks sind sie zu passieren. Zweifellos haben sich die Eisverhältnisse in der letzten Zeit beträchtlich geändert. Von den mächtigen mehrjährigen Blöcken ist keine Spur mehr vorhanden, und auf dickes 114
vorjähriges Eis mit den großen Eisrücken treffen wir jetzt auch sehr selten. Wohin das Auge schaut, überall dünnes neues Eis von einigen Zoll bis ein oder anderthalb Fuß Dicke. Die Schollen dieses jungen Eises bestehen aus kleinen, aufrecht stehenden Bruchstücken, die bläulich sind und aus der Ferne sehr schön wirken. Zuweilen ziehen sie sich in langen Reihen hin, oft bis zu zwei Faden hoch, aus glatten aufgetürmten Schollen, die an Kandiszucker erinnern. Heute sahen wir auf Neueis viel Sand und Lehm. Hin und wieder fliegen Möwen vorüber. Wir sichteten auch einen Seehund. Warum sind die Seehunde so selten geworden? Heute bemerkte ich außerdem, dass Lunjajew Blut spuckte. Ich untersuchte sein Zahnfleisch und fand, dass er die typischen Zeichen eines Skorbutkranken aufwies. Es gibt nur ein Mittel für uns im Kampf gegen diese Krankheit – Bewegung. Ich könnte ihm zwar noch etwas Chinin geben, das ist aber auch alles. Er ist schon seit einigen Tagen nicht mehr imstande, die Schlitten zu ziehen. Nun gut: Mag er jeden Tag auf Kundschaft gehen und den besten und gangbarsten Weg suchen. Schlecht ist es mit meinen Instrumenten bestellt. Der große Kompass ist entzweigegangen und völlig unbrauchbar geworden; ich habe ihn weggeworfen. Der kleinere Schwimmkompass taugt ebenfalls nicht mehr viel. Die Glasscheibe, die noch auf dem Schiff eingesetzt worden war, ist geplatzt und der Sprit ausgelaufen. Der Lagerstein ist – wahrscheinlich durch die dauernden Stöße – geborsten, die Nadel steht schief und ist schwer beweglich. Ich versuchte ihn heute zu reparieren, doch 115
ohne Erfolg. Meistens bin ich auf meine Uhr, die Sonne, wenn sie sich gerade sehen lässt, und die kleine Kompassnadel auf meinem Feldstecher angewiesen. Doch diese kleinen Widerwärtigkeiten wären allesamt erträglich, wenn wir nur endlich Land sichteten. Wo mag es sein? Sesam, öffne dich! Gegen Abend drehte der Wind auf NO. Gott sei Dank! Donnerstag, den 22. Mai (4. Juni). Wind ONO, Stärke etwa vier. Das ist bedenklich. Wahrscheinlich werden wir nach W abgetrieben. Es ist kälter geworden. Um zehn Uhr marschierten wir weiter. Mit Ausnahme einiger Stellen ist der Weg im Allgemeinen gut. Vorwiegend glatte Eisfelder, die freilich durch hohe Blöcke voneinander getrennt sind; Letztere müssen wir entweder übersteigen oder umgehen. Zuweilen dünnes, brüchiges Eis, hin und wieder Schneehügel, doch genügend fest. Das dünne Eis ist oft, vorwiegend an der unteren Seite, bräunlich gefärbt, was wir früher irrtümlicherweise für Sand oder Lehm hielten. Bei genauer Betrachtung überzeugte ich mich, dass es sich anders verhält. Der Ton ist rosabraun und reiner als Lehm- oder Sandfarbe. Der Stoff, der die Farbe erzeugt, ist nirgends zu entdecken. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass die Verfärbung des Eises von Algen herrührt, was darauf schließen lässt, dass dieses Eis noch unlängst in der Nähe der Küste gewesen sein muss. Später fanden wir solches noch häufiger, und
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immer war es junges, gebrochenes Eis, etwa einen halben Fuß dick. Heute hatten wir während des ganzen Tages Nebel, doch von Zeit zu Zeit teilte er sich, und die Sonne blickte hindurch. Es gelang mir indessen nicht, die Mittagshöhe zu nehmen, und die annähernd meridionale ergab die Breite von 82° 38'. Der Horizont war sehr diesig, und bestimmt habe ich mich geirrt. Wir mussten natürlich weiter südlich sein. Um Mitternacht nahm ich dann die Sonnenhöhe, doch ebenfalls bei schlechtem Horizont, und erhielt die Breite von 82° 29'. Man möchte an die errechnete Mitternachtshöhe glauben, doch vorläufig kann ich mich nicht dazu entschließen und werde den morgigen Tag abwarten. Schade, dass ich keinen künstlichen Quecksilberhorizont bei mir habe. Aber was fehlt mir nicht noch alles. In erster Linie fehlen mir gute Schlitten und … gute Ziehhunde. Heute haben wir nicht weniger als sechs Werst zurückgelegt. Gegen Abend drehte der Wind wieder auf NO, das Eis war gut, und wir setzten Segel auf die Kajaks. Ein kurioses Bild bot unsere »Ozeanflotte«, die mehr einer Landflotte glich, wie sie unter »vollen Segeln« über das Eis kroch. Ich kann nicht mit Nansen sagen, dass wir »wie Federn dahinflogen«. Nein, wir flogen nicht, wir schleppten uns im Schneckentempo dahin und stemmten uns dabei aus voller Kraft mit der Brust gegen die Zuggurte; aber die Segel halfen uns doch ein wenig, und wir kamen erheblich munterer vorwärts. Während des ganzen Tages zogen wir die Schlitten zu je zwei Mann, den ersten zogen drei Mann. 117
Lunjajew geht auf Skiern voran und sucht den Weg aus. Die ganze Zeit über verzieht er stöhnend das Gesicht. Ab und zu sichten wir Möwen; wir erkennen sogar Arten, denen wir früher kaum begegneten. Seehunde sind nach wie vor in den Wunen nicht zu sehen. Wir haben jetzt zwei Skorbutkranke: Auch Gubanow ist erkrankt, sein Zahnfleisch blutet und ist angeschwollen. Meine Heilmethode beschränkt sich darauf, sie zu Rekognoszierungsgängen auszuschicken und ihnen vor jedem Schlafengehen eine Chinintablette zu verabreichen. Lunjajew gebe ich außerdem ein paar getrocknete Kirschen oder Blaubeeren. Mir scheint, dass sich der Skorbut in seinem Anfangsstadium bei den Kranken hauptsächlich in der Unlust zur Bewegung ausdrückt. Viel schlimmer als die Beinschmerzen an sich ist wohl, dass der Kranke sie übertreibt und durchaus keine Lust verspürt, sich zu bewegen; dadurch wird er nolens volens zum Verbündeten der beginnenden Krankheit. Es ist natürlich möglich, dass ich mich irre, aber ich stelle mir das eben so vor. Diese Heilmethode, den Kranken nicht träge werden zu lassen, ist abgesehen vom Chinin die einzige, die ich zurzeit anwenden kann. Ich habe oft gehört, dass die russischen Siedler im Hohen Norden mit ihren erkrankten Kameraden folgendermaßen verfahren: Wenn sich der Kranke schon nicht mehr bewegen kann, obwohl ihm keine besondere Schwäche anzusehen ist, fassen ihn zwei »Ärzte«, ob er will oder nicht, unter und führen ihn so lange hin und her, bis sie selbst völlig erschöpft sind. 118
Mag sein, dass dies eine recht grausame Heilmethode ist, doch man darf nicht außer Acht lassen, dass ich das Anfangsstadium der Krankheit meine, wenn der Mensch seine physischen Kräfte noch nicht ganz eingebüßt hat, seine Energie aber geschwächt ist und er keine Willenskraft mehr besitzt. Die schwerste Form von Skorbut habe ich bei Georgi Lwowitsch beobachtet, der ungefähr sechs oder sieben Monate krank war. Dreieinhalb Monate hat er fest gelegen, ohne die Kraft aufbringen zu können, sich von einer Seite auf die andere zu drehen. Ihn zu wenden war gar nicht so einfach. Dazu mussten sich zwei Mann breitbeinig aufs Bett stellen, der eine hob ihn an den Hüften und drehte ihn um, während der andere an den Schultern nachhalf. Dabei musste man ihm unter alle Glieder weiche Kissen schieben, da sich bei dem Kranken schon durchgelegene Stellen zeigten. Jede unvorsichtige Bewegung verursachte Georgi Lwowitsch ungeheure Schmerzen, er schrie und fluchte fürchterlich. Zum Baden musste er auf einem Laken in die Wanne hinuntergelassen werden. Man kann sich ein Bild machen, wie er im Februar 1913 aussah, wenn man sich ein mit Haut, nein, mit Gummi überzogenes Skelett vorstellt, aus dem jedes Gelenk, jeder Knochen hervortritt. Als nach der langen Polarnacht die Sonne wieder aufging, versuchte man die Bullaugen seiner Kajüte zu öffnen, doch er empfand eine merkwürdige Scheu vor dem Tageslicht und verlangte, man solle die Fenster wieder dicht machen und die Lampe anzünden. Nichts vermochte ihn am Tage vom Schlaf abzubringen, für nichts zeigte er Interesse, nichts konnte ihn ablenken; er schlief den ganzen Tag, 119
verweigerte sogar jegliche Nahrung. Man musste ihm wie einem kleinen Kind gut zureden, ein Ei zu essen oder eine Tasse Bouillon zu trinken, und drohen, dass er, wenn er nicht folgsam sei, keine süße Nachspeise bekäme. Den Tag verbrachte er schlafend und die Nacht meist in Fieberdelirien. Diese Delirien waren sonderbar, man konnte es ihm schwer anmerken, wenn er von ihnen befallen wurde. Anfangs redete er anscheinend ganz vernünftig. Er wusste, wo er sich befand, und war meist guter Laune; doch plötzlich begann er zu fragen und sich zu entsinnen, wie viele Wale und Walrosse wir angeblich während des Dritten Winters in der Jenissejmündung erlegt, wie viel Störe wir dort gefangen und verkauft hätten. Oder er fragte mich, ob man den Pferden Heu oder Hafer gegeben habe. »Aber was reden Sie denn da von Pferden, Georgi Lwowitsch? Wir besitzen kein einziges Pferd, wir befinden uns im Karischen Meer an Bord der ›St. Anna‹.« –»Ach, das ist ja Unsinn! Wieso besitzen wir keine Pferde? Nun, wenn wir keine Pferde haben, dann sind sie eben auf dem Nachbarschiff, das bleibt sich gleich. Erinnern Sie sich, wie wir auf Schlitten zu den Fischern an die Netzauslegestelle gefahren sind?« Oder er sprach eine Zeit lang ganz vernünftig und ließ dann den Mechaniker rufen: »Wie viel Dampf hat unser Hauptkessel, und wie viel Umdrehungen macht die Maschine?« Er konnte lange nicht begreifen, warum wir keinen Dampf hatten und warum wir still lagen. »Nein, das geht auf keinen Fall. Vierzig Ochsen und dreißig Kühe sind zu viel für mich. Das kann ich nicht bezahlen.« So verbrachte Georgi Lwowitsch die Nächte. Er hatte es gern, wenn im Kamin 120
dauernd Feuer brannte, er liebte es, ins Feuer zu schauen und zuzusehen, wie man Holz zulegte. Es ging ihm dabei nicht etwa um die Wärme, denn während dieser Zeit seiner Krankheit war es im Raum sogar heiß, so dass man zeitweilig die Bullaugen öffnen musste; es war seine Passion. Ende März begann er sich langsam zu erholen. Mit den zurückströmenden Kräften stellte sich eine immer größere Reizbarkeit ein, wogegen er sich während des schwersten Stadiums der Krankheit trotz völligen Kräfteverfalls dauernd in der lebensfrohesten und lustigsten Stimmung befand. Wenn wir ihn so beobachteten, kam es uns vor, als sei die frohe Stimmung etwas Unnatürliches, Krankhaftes, schlimmer noch als die nachfolgende Reizbarkeit. Unter seinen Launen und Zornesausbrüchen hatte hauptsächlich unser »Fräulein«, Jerminia Alexandrowna, zu leiden, die den Kranken unermüdlich pflegte. Georgi Lwowitsch, der als gesunder Mensch stets gewählt liebenswürdig und taktvoll war, wurde in krankem Zustand äußerst grob. Oft stieß er ihr die Tasse oder den Teller aus der Hand, wenn sie beharrlich auf ihn einredete, etwas Suppe oder Brei zu sich zu nehmen. Dabei vernahm man so hässliche Schimpfworte, die Georgi Lwowitsch zwar dann und wann gehört haben mochte, derer er sich jedoch als gesunder Mensch wohl kaum bedient hätte. Aber unser »Fräulein« ertrug das alles mit Engelsgeduld, und jedes Mal konnte man sie nur schwer überreden, sich auszuruhen und zu schlafen, da sie sonst selbst bettlägerig werden würde.
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Am ersten Osterfeiertag wurde Georgi Lwowitsch zum ersten Male in einem mit Kissen gepolsterten Sessel in die Messe zur Festtafel getragen, wo er etwa eine halbe Stunde sitzen konnte; vom ersten Mai an ging es mit ihm rasch bergauf, und im Juli war er bereits wieder völlig hergestellt. Die frische Luft hatte viel zu seiner Genesung beigetragen, denn täglich wurde er im Sessel aufs Eis hinausgebracht, und später bettete man ihn sogar auf einen bequemen segeltuchbespannten Schlitten, schnallte ihn fest an und fuhr ihn vier bis fünf Werst weit spazieren. Diese Fahrten hatte er sehr gern. Die erste Zeit nach der Krankheit war er noch schwach auf den Beinen, doch das ist vollauf verständlich. Vielleicht war die Krankheit auch ein wenig auf sein Gedächtnis geschlagen, weil er anfangs schnell vergaß, was er gesagt und getan hatte. Oft fragte er sogar, ob er sich gewaschen oder ob er schon gefrühstückt habe. Doch ich will zu meinem Tagebuch zurückkehren. Große Sorge bereitet mir der Mangel an Fleischnahrung. »Skorikows Fleischextrakt« geht zur Neige, Büchsenfleisch und Butter besitzen wir schon lange nicht mehr. Ich bedaure sehr, dass wir so wenig Schokolade haben. Diese stärkende und kompakte Nahrung in Verbindung mit Schiffszwieback eignet sich vortrefflich für unsere Mahlzeiten während der Mittagsrast, da wir in der Eile nicht immer das Zelt aufschlagen und lange Vorbereitungen treffen können. Um Mitternacht, bei Sonne, die durch den Nebel schien, konnten wir am südlichen Teil des Himmels einen sehr schönen Regenbogen beobachten. 122
Freitag, den 23. Mai (5. Juni). Von früh an prächtiges, sonniges Wetter. Die vom Erkundungsgang zurückgekehrten »Skorbutkranken« versprachen eine gute Bahn mit festem Schnee. Wir tranken Tee mit Milch, aßen Zwieback dazu und zogen gegen zehn Uhr los. Die Kundschafter sollten Recht behalten. Es war ein guter Marsch, denn wir legten bis halb sieben Uhr abends volle acht Werst zurück. Trotz des Nordostwindes von etwa Stärke vier waren die Spalten und Kanäle, denen wir begegneten, zugedrückt, und wir passierten sie ohne Mühe. Am Mittag blieb ich zurück und nahm die Sonnenhöhe, während meine Begleiter weitergingen. Die Höhe war bei scharfem Horizont sehr gut und ergab die Breite von 82° 31'. Das ist freilich nicht so günstig wie um Mitternacht, doch immerhin besser als gestern Mittag. Im Süden ist der Horizont sehr klar und ohne »Wasserhimmel«; ich gewinne den Eindruck, dass das Eis nicht mehr mit dem Winde nach Süden treibt, weil es durch »etwas« gehemmt ist. Dieses »Etwas« kann meiner Ansicht nach nur das Land sein, doch wo es ist, bleibt unbekannt. Ich vermag beim besten Willen nach wie vor nichts Landähnliches zu entdecken. Bei dem schönen Wetter hätten sich in den Wunen eigentlich Seehunde zeigen müssen, doch sie waren nirgends zu sehen. Lunjajew hat volle zwei Stunden an einer Wune ausgeharrt, doch vergebens. Ringsum ist alles Leben erloschen. Heute sind wir auf eine Bärenspur gestoßen, sie war aber alt und stammte wahrscheinlich noch aus der Zeit, da diese jungen Eisfelder näher an der 123
Küste lagen. Wir haben nur noch sechs Pfund Fleischextrakt, so dass wir uns bei äußerster Sparsamkeit davon zwölf Mal Suppe zubereiten können, obwohl das eine Wassersuppe sein wird. Erbsen und Trockengemüse sind uns für sechs dünne Süppchen verblieben, Milch nur drei Büchsen. Heute habe ich bei der Rast die letzte Schokolade verteilt. Jetzt wird man sie zu den Mittagsmahlzeiten durch Kondensmilch ersetzen müssen und später durch Dörräpfel, von denen wir noch zwei Pfund haben. Gern möchte ich diese kleinen Zugaben zum Zwieback wenigstens bis zur Küste hin strecken, wo uns hoffentlich mehr Fleisch zur Verfügung steht. Man könnte annehmen, dass die Nahrung, die wir zu uns nehmen, eigentlich genügen musste, doch wir sind dauernd hungrig. Freilich essen wir fast ausschließlich Zwieback und würzen ihn mit jenen kleinen Zugaben, die ich soeben erwähnte. Immerfort höre ich hier und da Gespräche über die schmackhaftesten, die verführerischsten Dinge. Unwillkürlich fange ich an, selbst an Ähnliches zu denken, und das Leben an Land mit all seinen Bequemlichkeiten, mit all seinen Vorzügen erscheint mir so herrlich, so verlockend und begehrenswert, dass ich sogar schon zu zweifeln beginne, überhaupt jemals wieder beglückendes Land zu betreten. Warum habe ich gerade jetzt all diese Herrlichkeiten des »Erdenlebens« so klar vor Augen, klar wie Halluzinationen? Ist das etwa schon das Ende? Ist es die Vorahnung unseres Untergangs«? Aber nein, das kann nicht sein. Ich bin überzeugt, dass wir früher oder später doch unser Ziel – Land – erreichen werden. Zu klar noch ist nur jener Traum 124
in Erinnerung, zu großen Eindruck hat er auf mich gemacht. Auf dem Marsch bin ich religiös, fast abergläubisch geworden, wie ich es früher nicht kannte. Das Heiligenbildchen Nikolaus' des Wundertäters trage ich ständig bei mir. Meine Leute lassen mutlos die Köpfe hängen, obgleich ich mir große Mühe gebe, sie aufzumuntern. Gegen Abend drehte der Wind auf N, und über dem Horizont zeigte sich mehr »Wasserhimmel«. Anscheinend ist das Eis in Bewegung geraten. Wir setzten über eine sehr unangenehme Wune, morgen haben wir noch einige solcher Eislöcher zu überwinden. Nach wie vor ist das Eis dünn, doch die Schneedecke ist tiefer geworden, und an manchen Stellen steht Wasser darunter, leider immer noch Seewasser. Wo sich Eisrücken und große Auftürmungen von Eisschollen häufen, sind die Wasserstauungen größer. Heute haben Nielsen und ich unseren Schlitten allein gezogen, obgleich wir als Erste über aufgeweichten Schnee gingen. Doch von morgen an will ich unbedingt noch einen dritten Mann dazunehmen. Die Nachfolgenden haben es leichter, auf der vorbereiteten Spur zu gehen, und oft halten sie an, ruhen sich aus und lassen uns ruhig voranziehen, indes wir dabei völlig kraftlos werden. Nein, so geht es nicht weiter. Es ist notwendig, die Kräfte gleichmäßig zu verteilen, und dann müssen wir uns auch beeilen. Der 1. Juni ist mein Namenstag. Es wäre schön, wenn wir bis dahin den 82. Breitengrad erreichten. Sonnabend, den 24. Mai (6. Juni). 125
(Morgens.) Gegen zwei Uhr nachts fiel leichter Nebel. Windstille. Ringsum ist viel »Wasserhimmel«. Im S und SSO konnte man über dem Horizont eine sehr helle, leuchtende Wolke beobachten. Sie zeigte in der Mitte konvexe Form, ihre Ausläufer verschwammen mit dem Horizont. Die Wolke trat deutlich hervor. Doch bei der ersten aufmerksamen Betrachtung durch meinen Feldstecher wurde mir klar, dass es sich nicht um fernes Land handeln konnte. Vielleicht war es der Eisblink eines Gletschers, der irgendein Land bedeckte. (Abends.) Gestern erst habe ich in mein Tagebuch den wohl gemeinten Beschluss eingetragen, ein schnelleres Tempo einzuschlagen. Heute musste ich aber einsehen, dass es leichter ist, einen Beschluss zu fassen als ihn in die Tat umzusetzen. Die Bahn ist scheußlich, der tiefe Schnee ist von Wasser unterspült. Wunen versperren uns dauernd den Weg. Eine haben wir umgangen, bei der anderen war es nicht möglich; wir sind weit zur Seite abgewichen und überquerten sie schließlich, immer wieder einbrechend, mit Müh und Not. Es war unmöglich, die Kajaks zu Wasser zu lassen, da die Wune mit Splittereis angefüllt war. Bei der dritten Wune suchten wir eine Übergangsstelle, fanden aber keine und beschlossen, unser Nachtlager aufzuschlagen. Wir sind heute kaum vier Werst nach S vorgerückt, obwohl wir den ganzen Tag marschiert sind. Vom frühen Morgen an bläst Nordwestwind, Stärke vier bis fünf. Den ganzen Tag Nebel und jenes intensive Leuchten, von dem die Augen so entsetzlich wehtun. Im Augenblick habe ich solche Schmerzen, dass ich dieses 126
Heft wie durch einen Schleier sehe, und die Tränen rinnen mir über die Wangen. Von Zeit zu Zeit muss ich zu schreiben aufhören und meinen Kopf in der Maliza vergraben. In vollkommener Dunkelheit lässt der Schmerz allmählich nach, man kann die Augen wieder öffnen, doch der Schleier bleibt. Um vier Uhr nachmittags sprang der Wind auf NO um und trieb das Eis an den Wunen auseinander. Über dem Horizont im Süden wurde es immer dunkler. Jetzt ist Mitternacht. Die Wune, an der wir lagern, hat sich beträchtlich erweitert. Vielleicht wird es uns gelingen, sie zu überqueren. Haben heute versucht, mit dem Lot den Grund zu erreichen, doch ohne Erfolg. Die Leine weicht stark nach N ab und treibt dabei unter den Eisrand. Wieder zeigten sich Möwen, früh am Morgen sahen wir zwei Taucher, und abends konnten wir in der Wune einen Seehund beobachten. Doch keines der Tiere kam vor unsere Büchse, obwohl ich mir vorgenommen hatte, von jetzt an sogar Möwenfleisch nicht zu verschmähen. Lunjajew sichtete, am Wunenrand stehend, ein Fischchen, das fast an der Wasseroberfläche schwamm; es glich einem kleinen Hering. Morgen ist Pfingsten. Wie herrlich wird es »dort« sein, auf festem Land, irgendwo im Süden, während wir hier auf dem Treibeis, das kreuz und quer von Wunen und Eisblöcken durchschnitten ist, unter 82,5° nördlicher Breite schmachten müssen! Sonntag, den 25. Mai (7. Juni).
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Eine Umgehung der Wune ist unmöglich. Wir müssen wohl oder übel auf Kajaks übersetzen. Vor uns, eine Werst entfernt, wieder das unvermeidliche Überqueren der nächsten Wune auf Kajaks mit all diesem Zeit raubenden Ab- und Aufladen unserer ganzen Habe. (Abends.) Heute ist in der Tat Pfingstfest, auch für uns »Reisende zu Wasser und zu Land«. Heute sind wir nicht mehr als drei Werst nach S vorangekommen, wobei wir zwei Mal auf Kajaks die Wunen passieren mussten und ein Mal auf einem leidlich guten Weg marschierten. Als wir die zweite Wune hinter uns hatten, benutzte ich die Gelegenheit, um die Sonnenhöhe zu messen. Nach kurzer Berechnung erhielt ich eine Breite von 82° 21'. Ich zweifelte zuerst an der Richtigkeit meiner Berechnung. Doch nachdem ich nochmals geprüft hatte, war ich überzeugt, dass alles stimmte. Ausgezeichnet! Da nur ein Kajak gemeinsam mit mir angelegt hatte, warteten wir auf die Nachzügler, um den Weg mit ihnen zusammen fortzusetzen, zumal ein ziemlich ebenes Eisfeld vor uns lag. Bald kam noch ein Kajak heran, und die Kameraden waren sehr froh, als ich ihnen die günstige Breite mitteilte. Zur Antwort wünschten sie mir ein frohes Pfingstfest und teilten mir mit, dass sie unterwegs einen Eisbären erlegt hatten. War das etwa kein Grund zum Feiern? Den letzten Bärenbraten hatten wir im vergangenen Jahr, wohl im September, auf dem Schiff gegessen, und seitdem konnten wir von diesem Wild nur träumen. Gerade als unsere Vorräte zur Neige gingen und wir alles bis auf die 128
Reservepaddel und die letzte Wäschegarnitur, die freilich von Ungeziefer wimmelte, als Heizmaterial verbrannt hatten, gerade in diesem kritischen Zeitpunkt schenkte uns das Schicksal zehn Pud herrlichstes Fleisch, das Swerdrup, der Kapitän der »Fram«, eine göttliche Speise nennt, und bedachte uns außerdem mit Brennmaterial, da die Tiere im Allgemeinen sehr fett zu sein pflegen. War es nicht merkwürdig, dass dieses unerwartete, kostbare Geschenk uns gerade in dem Augenblick beschert wurde, da wir es am nötigsten brauchten, und ausgerechnet am Pfingstfest? Vielleicht wollte das Schicksal den Mut in uns Kleingläubigen hebend Ich kann den Jubel und die Begeisterung, die uns erfasste, gar nicht beschreiben. Ich hatte schon nicht mehr daran geglaubt, dass wir uns noch so freuen könnten. In drei Kajaks machten wir uns auf, um die Beute zu holen, während die anderen Gefährten das Zelt aufbauten, Feuer anfachten und Wasser kochten. Den Bären fanden wir an der Stelle, an der ich Regald vor einer Stunde auf einer Eisscholle abgesetzt hatte, weil ich fand, dass bei der vorhandenen Ladung drei Mann zu viel für meinen kleinen Kajak seien. Als ich Regald zurückließ, damit er den nächsten, weniger schwer beladenen Kajak abwarte, hatte ich ihm mein Gewehr und vier Patronen überlassen. Und in dem Augenblick, da der nachkommende Kajak Regald übernahm, näherte sich ihnen bis auf fast zehn Schritt plötzlich ein Eisbär, der dann auch von Konrad erlegt wurde. Das prachtvolle Fell wurde, ebenso wie das Fett, für Heizzwecke bestimmt. (Das Fell im Werte von zweihundert Rubeln musste verheizt werden, um unser eigenes Fell zu retten.) Das 129
Fleisch zerlegten wir so sorgfältig und sachgemäß, wie es der zünftigste Metzgermeister nicht besser hätte tun können. Sogar das Blut wurde in Bechern aufgefangen. Am Abend gab es Bärenfleisch in jeglicher Form: gebraten, gekocht und auch roh, je nach Wunsch. Rohe Leber, mit Salz bestreut, ist in der Tat eine Delikatesse. Das war ein Fest! Der Wind scheint sich drehen zu wollen: Er ist noch unschlüssig, wohin er sich wenden soll, weht bald aus S, bald aus SW, bald aus WSW. Das Wetter hat sich aufgeklärt, die Sonne scheint, und alles glitzert in blendendem Weiß. Unsere Augen schmerzen unerträglich. Montag, den 26. Mai (8. Juni). Noch lagern wir am alten Platz und sind dabei, das Bärenfleisch als Vorrat zu konservieren, folglich ist die Verzögerung zu verantworten. Den ganzen Tag herrschte vor unserem Zelt emsiges Treiben. Da wurde gekocht, gebraten, Fett ausgelassen, und ich versuchte, die Fleischstücke im Winde zu trocknen. Vier Mann sind losgezogen, um den Weg auszukundschaften. Jetzt, nachdem wir uns wieder einmal nach Herzenslust satt essen konnten, sind alle Beteiligten unternehmungslustiger und zuversichtlicher geworden. Das Wetter ist auch heute vorzüglich. Es herrscht heller Sonnenschein, und der Wind bläst zum Glück wieder kräftig aus N. Ich leide an heftigen Augenschmerzen, doch die Breite interessiert mich sehr. Eine halbe Stunde vor 130
Mittag ging ich auf einen von mir erwählten Platz, um die Sonnenhöhe zu messen. Den Horizont und den Sonnenrand konnte ich eher erraten als sehen, doch nichtsdestoweniger überzeugte ich mich, dass ich mich in meinen gestrigen Berechnungen nicht geirrt hatte. Heute ermittelte ich eine Breite von 82° 20'. Demnach hatte uns der Wind während der letzten Stunden wieder eine Seemeile nach S gebracht. Als ich mit dem Sextanten zu der Beobachtungsstelle ging, stieß ich unerwartet auf frische Bärenspuren. Zwei Eisbären hatten anscheinend heute früh unserem Lager einen Besuch abgestattet. Sie hatten sich unseren Kajaks genähert, dort gesessen und waren dann in Richtung NO davongetrottet. Überhaupt war der gestrige und auch der heutige Tag sehr schön für uns. Wir alle sind in froher, festlicher Stimmung. Dienstag, den 27. Mai (9. Juni). Gestern hatten wir nicht umsonst unsere Zeit verloren. Gegen zehn Uhr abends brachen wir unser Lager ab und zogen in südlicher Richtung weiter. Innerhalb von drei Stunden hatten wir zehn Werst zurückgelegt. Dann verwehrte uns das wild zerklüftete Eis jedes weitere Vordringen. Der Wind weht seit gestern Abend wieder von W, Stärke bis fünf bis sechs. Als wir noch auf der »St. Anna« weilten, gingen Gerüchte um, dass die Bärenleber nicht bekömmlich sei und ihr Genuss ernste Beschwerden verursache. Obwohl wir diesen Gerüchten wenig Beachtung schenkten, aßen 131
wir sie dennoch nicht, mit Ausnahme einiger der unentwegtesten »Freigeister«. Jetzt habe ich mich überzeugen müssen, dass diese Warnung durchaus berechtigt war. Der Genuss von Bärenleber ist in der Tat sehr gesundheitsschädigend. Wir alle haben so starke Kopfschmerzen, als wären wir durch Kohlenoxyd vergiftet. Außerdem verspüre ich heftiges Reißen im ganzen Körper, und viele klagen über Magenbeschwerden. Da wir wegen des gestrigen Nachtmarsches spät zur Ruhe kamen, wachten wir heute erst um zwölf Uhr mittags auf. Starker Schneesturm. Ringsum hohe Schneewehen. Mittwoch, den 28. Mai (10. Juni). Gestern mussten wir infolge des Schneesturmes den ganzen Tag untätig im Zelt bleiben. Heute hat sich das Wetter beruhigt. Der Wind drehte zuerst auf S und dann auf O. Um zwölf Uhr mittags brachen wir auf und quälten uns über eine ganze Reihe von Spalten und Kanälen hinweg. Der Weg war fürchterlich, wir haben uns an diesem Tage abgeplagt wie noch nie. Der tiefe Schnee, der schon zu tauen beginnt, sackt lagenweise geräuschvoll zusammen. Unter der Schneeschicht steht fast überall Wasser, an verschiedenen Stellen bis zu einem Fuß hoch. Während des Tages sind wir nicht mehr als vier Werst vorgerückt. Wir sind bis auf die Haut durchnässt. Jeden Augenblick sinken die Schlitten in dem feuchten, matschigen Schnee ein und müssen jedes Mal von vier oder fünf Mann an den Querleisten herausgezogen werden. Am 132
Morgen warfen wir das Lot aus, fanden aber bei etwa siebzig Faden Leine auch heute keinen Grund. An der Richtung, die die Leine nahm, ist klar zu ersehen, dass wir mit dem Eis nach S treiben. Unsere Lage ist natürlich nicht besonders beneidenswert, auch ich selbst bin mir dessen bewusst; deshalb war ich nicht sehr erstaunt, als heute Abend erst Konrad und dann noch vier Mann den Wunsch äußerten, Schlitten und Kajaks zurückzulassen und die Reise auf Skiern fortzusetzen. Obgleich ich es für äußerst gewagt halte, die Kajaks schon jetzt preiszugeben, konnte ich mich der Bitte der »Skiläufer« nicht verschließen. Wie hätte ich ihnen garantieren können, dass meine Methode, sich fortzubewegen, Aussicht auf Erfolg hatte, und sie zwingen können, diese ganze Last zu ziehen, unsere Schlitten und Kajaks, die ich für unentbehrlich hielt, wohingegen die »Skiläufer« sie als überflüssigen Ballast betrachteten? Ich versuchte nur, ihnen klarzumachen, dass sie ohne Kajaks auf dem Ozean, wenn er auch zurzeit mit Eis bedeckt sei, unter Umständen in eine sehr kritische Lage kommen könnten. Die Kajaks seien ja letzten Endes gar nicht so schwer, und sie hätten sich mehr als einmal von ihrer Seetüchtigkeit überzeugen können. Wenn ihnen auch gelingen sollte, Land zu gewinnen, wie könnten sie leben ohne warme Kleidung, ohne Beil, Geschirr und andere wichtige Dinge, die jetzt in den Kajaks untergebracht seien und allerdings eine gewisse Last darstellen, die sie aber auf dem ersten besten Land, auf dem sie sich eine Zeit lang aufzuhalten und auszuruhen gedächten, so nötig brauchen würden? Die »Skiläufer« wurden nachdenklich, doch ich 133
hatte nicht den Eindruck, dass meine Gegenargumente sie überzeugten. Wir haben schon angefangen, Teile von unserem Zelt abzutrennen, um damit Feuer zu machen, und ich glaube, die Zeit ist nicht mehr fern, da auch das letzte Stück in Flammen aufgehen wird. Das Zelt ist viel zu schwer und umständlich, besonders wenn es nass ist. Beim Überqueren der Wunen haben wir damit große Schwierigkeiten, da es viel Platz einnimmt und im Innern des Kajaks nicht untergebracht werden kann. Die Prüfung des Proviants zeigte, dass wir noch sechzehn Sack, also acht Pud Zwieback besitzen. Das ist unsere Hauptnahrung. Daneben haben wir noch einige Pud gemahlene Erbsen, Bärenfleisch und Patronen. Die Munition ist neben dem Zwieback die Hauptlast. Nun, was kann man davon liegen lassen? Donnerstag, den 29. Mai (11. Juni). Wieder unzählige Rinnen, Spalten und Wunen. Das Eis ist kreuz und quer geborsten. Unwillkürlich muss ich daran denken, dass Nansen, als er sich dem Franz-Joseph-Land näherte, anscheinend auf ebensolches zerstückeltes Eis gestoßen war. Aber merkwürdigerweise ziehen sich alle Wunen von Ost nach West; nicht eine einzige genügend lange fällt in unsere Marschrichtung. Zurzeit stehen wir vor solchem Brucheis und überlegen, auf welche Weise wir dieses Hindernis überwinden können, um weiterzukommen.
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Lunjajew erlegte heute zwei Seehunde, einen großen und einen etwas kleineren. Seehundspeck ist ein viel besseres Heizmaterial als Bärenfett. Er entzündet sich viel leichter, und wenn er lichterloh brennt und die Feuerpfanne genügend erwärmt ist, so hat man nichts weiter zu tun, als nur die Speckstücke hineinzuwerfen. Er brennt mit kräftiger Flamme, wobei die Asche als Docht dient und deshalb von uns vorsorglich in der Pfanne erhalten wird. Der Wind bläst aus NO. Wir treiben in südwestlicher Richtung, wovon ich mich überzeugte, als wir heute vierzig Faden Lotleine hinabgelassen haben. In letzter Zeit ist diese Bewegung des Eises nach S sehr bemerkenswert geworden. Meine heutigen Messungen ergaben eine Breite, wie ich sie mir nicht besser wünschen konnte: 82° 8,5'. Ein Irrtum ist ausgeschlossen, dessen bin ich mir sicher. Das Glück hat sich uns zugewendet und lächelt übers ganze Gesicht … Oder will es uns wieder zum Narren halten? Freitag, den 30. Mai (12. Juni). Von morgens an Nordwestwind von etwa Stärke fünf. Nach dem Frühstück bezog sich der ganze Himmel mit Wolken, und heftiges Schneetreiben setzte ein. Wir ließen trotzdem um zehn Uhr vormittags unsere Kajaks zu Wasser, setzten über die Wune und marschierten auf sehr schlechtem Wege weiter. Doch vor uns lagen noch viele Wunen, und beinahe jede halbe Stunde mussten wir eine überqueren. 135
Lange schon treffen wir auf keine großen Eisfelder mehr, über die wir stundenlang unsere Schlitten ziehen könnten. Die Eisfelder sind jetzt so klein geworden, dass wir uns dauernd umstellen und die Kajaks benutzen müssen. Kaum haben wir eine Wune überquert, ist schon in einer Entfernung von siebzig bis neunzig Faden die nächste in Sicht. Vielleicht war es gerade solches Eis, das Nansen mit einem Fischernetz vergleicht; aus der Vogelperspektive gesehen, würden die kleinen, von Spalten, Wunen und Kanälen getrennten Eisfelder in der Tat an die Maschen eines Netzes erinnern. Jedenfalls will es scheinen, als wären wir in einem Netz gefangen. Möge uns Gott die Kraft verleihen, aus diesem Wirrwarr halb zusammengedrückter, halb auseinander getriebener Kanäle zu entrinnen! Nach übermenschlicher Arbeit haben wir heute nur drei Werst hinter uns gebracht, doch die Drift bringt uns unaufhaltsam nach Süden. Noch unlängst wagte ich nicht, daran zu glauben, dass wir bis zum 1. Juni, meinem Namenstage, den 82. Breitengrad erreichen würden. Wir hätten äußerst beharrlich täglich weite Märsche zurücklegen müssen. War es so? Nein, das kann man nicht behaupten. Wenn ich unsere Tagesmärsche mit der Bewegung einer Schildkröte vergleiche, so fürchte ich, die Schildkröte zu beleidigen. Doch nichtsdestoweniger ergab meine heutige um die Mittagsstunde vorgenommene Messung die Breite von 82° 1'. Jetzt, da ich diese Zeilen niederschreibe, haben wir sicherlich schon den 82. Breitengrad überschritten. Es ist merkwürdig: Auf meiner Karte ist die nördlichste Spitze des Rudolph-Landes unter 82° 12' nördlicher Breite 136
eingetragen. Jetzt, da wir bereits auf dem 82. Grad sind, muss sich dieses Land östlich oder westlich von uns erstrecken, wahrscheinlich aber östlich, denn sonst musste man die ganze Drift der »St. Anna« unverhältnismäßig weit nach Osten verlegen. Wir werden nach Westen abgetrieben; das beweisen die vorherrschenden Windströmungen, die Richtung der hinabgelassenen Lotleine und sogar mein fast gänzlich unbrauchbar gewordenes Chronometer. Auf meiner Karte sind auf dem Rudolph-Land zwei Berggipfel mit über 1200 Fuß verzeichnet. Wären diese Gipfel richtig eingetragen, so hätte ich sie schon aus der Entfernung von mehr als 35 Seemeilen sichten müssen. Doch ich habe bisher nichts auch nur annähernd Ähnliches entdecken können. Was würde ich jetzt für eine brauchbare Karte und ein gutes Chronometer geben! Meins ergibt auf der Karte eine geographische Länge, die schlichtweg absurd ist. Das ist nicht verwunderlich: Auch kein anderes Chronometer hätte diesen Weg überstanden, diese Stöße, Stürze, das Umkippen mit dem Schlitten. Sein einziger Nutzen besteht darin, dass ich beim Vergleich zweier Messungen die Abdrift nach W feststellen kann. Außerdem lässt es sich bei unseren Kajakfahrten sehr bequem darauf sitzen, und das ist auch von Nutzen. Wenn es uns gelingen sollte, Land zu erreichen und nach dessen Lage die Korrektur des Instruments zu erhalten, wäre es nicht schwer, unsere Route auf der Karte einzuzeichnen. Es ist überaus wichtig, den Horizont aufmerksam zu beobachten. Um das Interesse meiner apathischen Reisegefährten zu wecken, um sie zu veranlassen, nachts 137
einmal öfter auf einen Eisrücken zu steigen und Umschau zu halten, teilte ich ihnen heute beim Tee mit, dass der Erste, der Land sichtet, eine Belohnung von 25 Rubeln erhalten werde. Jetzt ist es sieben Uhr abends. Wir lagern in der Nähe einer schmalen Wune, hinter der noch zahlreiche Kanäle liegen. Der Wind kommt aus NW, Stärke sechs. Wieder hat Schneetreiben eingesetzt, und man wird den Erkundungsgang verlegen müssen, bis wieder günstiges Wetter herrscht. Gestern und heute sahen wir einige Male Taucherenten, und heute haben wir sogar drei Bärenfährten gekreuzt. Sonnabend, den 31. Mai (13. Juni). Heute früh, als wir gerade unser Frühstück beendet hatten, kam Maximow in höchster Eile ins Zelt gelaufen und schrie uns zu, er habe an dem gegenüberliegenden Wunenrand einen Eisbären gesehen. Wir sprangen hinaus und bemerkten in der Tat hinter der Wune einen riesigen Bären. Er schien zu überlegen, ob er sich diesem merkwürdigen Ding, unserem Zelt, nähern solle oder ob es sich nicht lohne. Lunjajew und ich griffen nach den Gewehren und schlichen uns, durch Eisblöcke gedeckt, fast bis zur Wune heran. Doch zum Schießen war die Entfernung zu groß. Der Bär stand da, hob die Nase und schnüffelte umher. Offenbar hatte ihn der appetitliche Duft des in unserem Ofen brennenden Seehundspecks angelockt, doch konnte er sich wohl nicht entschließen, näher 138
zu kommen. Wenn man vor dem Hintergrund der weißen Eisrücken einen Bären sieht, der sich infolge der gelblichen Farbe seines Pelzes kaum von ihnen unterscheidet, fallen einem zuallererst drei schwarze Punkte auf, die im Dreieck zueinander liegen: die Augen und die Nase. Diese drei Punkte verraten ihn dem Jäger, weil sie, die Umgebung prüfend, unausgesetzt in Bewegung sind. Nachdem der Bär etwa fünf Minuten lang reglos dagestanden hatte, machte er kehrt und schickte sich an, von dannen zu trotten. Es war keine Zeit zu verlieren, wir zielten sorgfältig und feuerten gleichzeitig. Das Tier stürzte, erhob sich aber sofort und setzte sich in Trab. Wir schossen jetzt hintereinander unsere Magazine leer. Wieder fiel der Bär und überschlug sich diesmal sogar. Er versuchte nochmals, sich zu erheben, doch versagten offenbar seine Kräfte, denn er begann sich hin und her zu wälzen und grimmig seine Zähne ins Eis zu graben. Endlich lag er still. Eilig ließen wir zwei Kajaks zu Wasser und ruderten über die Wune. Plötzlich sprang das scheinbar tote Tier auf und lief schnell wie ein Zelter davon. Wir konnten die Verfolgung nicht aufnehmen und kehrten, bekümmert über den unnützen Munitionsverlust, in unser Lager zurück. Jetzt machte sich Konrad auf, um die Spur des Bären zu verfolgen. Obgleich wir eigentlich dieses »Bärenmahl« schon abgeschrieben hatten, schickte ich dennoch Smirennikow hinterher, da es für Konrad gefährlich werden konnte, über das Brucheis zu laufen. Ungefähr vierzig Minuten später kehrte Smirennikow zurück und teilte mit, dass der Bär nicht weit gekommen sei und tot in der Wune liege. Jetzt wurde die herrliche Jagdbeute 139
eingeholt, und wir hatten wieder Fleisch und Fett in Hülle und Fülle. Ja, heute ist ein erfolgreicher Tag! Der Wind bläst direkt aus N. Die Sonnenhöhe ergab die Breite von 81° 54'. Wir ließen die Lotleine hinab und erreichten anscheinend den Grund in der Tiefe von etwa hundert Faden, obwohl es uns nicht gelang, eine Bodenprobe heraufzuholen. Wir sehen viele Taucherenten; einmal flog ein Schwarm von neun Stück vorbei. Viele weiße Möwen und Tölpel fliegen umher. Zahlreiche Seehunde tauchen immer wieder auf, manchmal sogar zu zweien und zu dreien. Immer zuversichtlicher wird der Glaube in mir, dass irgendwo in der Nähe Land sein müsse. Zu lebhaft ist es um uns geworden, sowohl auf dem Eise als auch im Wasser und in der Luft. Doch am Horizont ist nach wie vor nicht das Geringste von Land zu bemerken. Übrigens, so ist es wiederum nicht: Jetzt, da wir so sehnsüchtig darauf warten, so begierig nach Land Ausschau halten, erblicken wir es in jedem Wölkchen, in jedem Eishügel, in jedem hellen Fleck am Horizont. Da warten wir nun und warten, dass der Horizont klarer werde und wir uns endlich überzeugen können, dass vor uns weit in der Ferne Land in seiner ganzen Herrlichkeit liegt. Doch es vergeht einige Zeit, das Wölkchen zieht fort, wir sehen im Feldstecher klar einen Eisrücken, und von unserer Insel ist nichts mehr übrig geblieben. Das Eis ist in steter Bewegung: Die Wune, an der wir gestern unser Lager aufgeschlagen hatten, ist gar nicht wieder zu erkennen. Große Eisstücke brechen von ihrem Rande ab und werden zur gegenüberliegenden Seite getrieben. Unser Bereich verkleinert sich zusehends. Das 140
Eis hinter der Wune besteht aus kleinen Schollen. Wir haben die Umgebung erkundet und uns überzeugt, dass es schier unmöglich ist, in der für uns in Frage kommenden Richtung weiterzugehen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie wir vorwärts kommen werden. Vorläufig wird man warten müssen, zumal es hier gut mit Proviant bestellt ist. Auf unserem Kundschaftsgang stießen wir wieder auf eine ganz frische Bärenspur. Heute spielen wir Küchenmeister. Besonders unser Steward nimmt die Gelegenheit wahr, wenigstens in der Kochkunst seine Fähigkeiten zu zeigen. Aus Bärenfleisch, Nieren, Speck und Därmen fabrizierten wir Würste, an denen nicht einmal der anspruchsvollste Feinschmecker etwas auszusetzen haben würde. Dabei ist es nicht der Hunger, der mich dies behaupten lässt, denn wir sind satt bis oben hin. Das Bärenfleisch kochen wir und dörren es im Winde, um uns später nicht mit dem gleichzeitigen Zubereiten des Essens und des Tees aufhalten zu müssen, besonders für den Fall, dass uns der Seehundspeck ausgehen sollte. Der heute erlegte Eisbär war ungeheuer groß. Er war von der Nasenspitze bis zum Schwanzansatz nicht weniger als zehn Fuß lang. Sein Fell ist sehr schön. Viel Geld würde man dafür bekommen, wenn man es absetzen könnte. Schade, dass man es liegen lassen muss, wir können doch unmöglich eine solche Last mit uns schleppen, jetzt, da wir bereit sind, sogar das Notwendigste wegzuwerfen. Nachts setzte bei steifem Nordwind starkes Schneetreiben ein. Sonntag, den 1. (14.) Juni. 141
Heute ist mein Namenstag. Kaum war ich erwacht, als meine Gefährten mir zu diesem Ereignis gratulierten und mir wünschten … nun, was kann man denn schon in unserer Lage wünschend Natürlich Land, so bald wie möglich und so viel wie möglich. Das Übrige würde sich schon, so Gott will, von selbst ergeben. Unser Steward Regald entschloss sich prompt, meinen Namenstag gebührend zu feiern, und bereitete ein solches Festessen zu, dass uns allen schon beim bloßen Anblick das Wasser im Munde zusammenlief. Als Erstes erhielt jeder ein riesiges Bärensteak mit gebratenen Zwiebeln, als Zweites gab es je ein großes Stück heiße, saftige Wurst, zum Nachtisch wurde Tee mit Dörräpfeln gereicht, dazu wurde in den Eimer, der uns zum Teekochen diente, der Rest, etwa ein halbes Pfund, unserer getrockneten Früchte geschüttet. Es herrschte wahre Feststimmung unter den Teilnehmern. Auch abgesehen von meinem Namenstag haben wir allen Grund zur guten Laune. Der Wind kommt nach wie vor aus Norden, Stärke vier bis fünf, und wir werden ständig nach Süden getrieben. Wir hätten jetzt eigentlich nichts mehr weiter zu tun brauchen, als in unserem Zelt zu sitzen und uns treiben zu lassen. Obgleich die Sonne heute nur zeitweilig durch die Wolken blickte, gelang es mir dennoch, ihre Höhe abzulesen, und ich erhielt eine Breite von 81° 49,5'. Das Wetter ist kühl und diesig. Wir liegen immer noch an unserem alten Platz und warten auf eine Änderung der Wegverhältnisse, während wir kochen, braten und essen. Wir werden allzu schnell nach Süden abgetrieben, dieser 142
Umstand beunruhigt mich sehr; aber meinen Gefährten sage ich vorläufig noch nichts darüber. Wenn das Eis unaufhaltsam nach S getrieben wird, so befindet sich dort offenbar kein natürliches Hindernis, das es in seiner Bewegung hemmt. Und dieses Hindernis ist doch nichts mehr und nichts weniger als die Inseln, die wir so heiß ersehnen! Wenn wir über unsere rasche Drift erfreut sind, so doch nur wegen dieser Inseln, aber dort, wohin uns das Eis treibt, gibt es wahrscheinlich keine. Hätten wir diese rasche Drift damals gehabt, als wir uns noch weit nördlicher befanden, so wäre mir das höchst willkommen gewesen, weil wir uns ja mit ihrer Hilfe dem Land schneller nähern würden. Doch jetzt, da wir die Breiten des Franz-Joseph-Landes erreicht haben und uns dennoch eilig weiter nach S bewegen, ohne auch nur eine Andeutung von einer Insel zu sehen, wird es klar, dass wir an dem rettenden Land vorbeigetrieben werden. Das Eis führt uns natürlich westlich daran vorbei, wir aber müssen nach O. Doch wie soll man über diese sich ständig verschiebenden Eisschollen marschierend Und wie kommt es, dass das Eis nicht ruhig getrieben wird, ohne Verschiebungen, wie es früher geschaht Vielleicht beginnen sich schon die Strömungen von Ebbe und Flut auszuwirkend Es kann aber auch sein, dass die Eismassen mit ihrem Rand, der für uns unsichtbar ist, an Land stoßen. Doch wenn sie auch Land berühren, so irgendwo sehr weit von uns entfernt, weil von einer Auftürmung der Eisschollen noch nichts zu bemerken ist, was meiner Meinung nach in dem Falle unausbleiblich wäre. Das Eis verlagert sich jeden Augenblick, man kann es direkt beobachten. Eine Wune schließt sich, die andere 143
tut sich auf. Die Schollen wechseln ihre Plätze, als spielten unsichtbare Riesen auf einem Brett von gewaltigen Ausmaßen Schach. Als wir heute in SSO-Richtung zur Erkundung der Gegend unterwegs waren, mussten wir einige Rinnen und kleinere Wunen auf Eisschollen überqueren. Plötzlich entdeckten wir auf einer der Schollen zu unserem größten Erstaunen Skispuren. Wir blickten uns verständnislos an: Wer konnte hier auf Skiern vorbeigegangen sein, so nahe an unserem Lagerplatz? Bei genauer Untersuchung stellten wir jedoch fest, dass es unsere eigenen alten Spuren waren. Die Scholle musste durch die Verschiebung des Eises ihren Platz gewechselt haben. Da soll man nun über solches Eis weiterkommen! Es ist geradeso, als ob man auf der Stelle träte. Sogar die Erkundungsgänge sind gefährlich, wenn man sich zu weit vom Lager entfernt: man kann sich leicht verirren. Auch heute haben wir eine Lotung vorgenommen, doch bei hundert Faden Leine den Grund nicht erreicht. Beim Erkundungsgang sahen wir die frischen Spuren einer Bärin mit zwei Jungen und von drei großen Bären. Taucher und Sturmvögel fliegen umher. Lunjajew schoss einen Seehund, doch ehe man ihn einholen konnte, ging er unter. Auch am Abend hielt der Nordwind mit unverminderter Stärke an. Es beginnt zu schneien. Montag, den 2. (15.) Juni.
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Heftiger Nordwind, fast Sturm. Er rüttelt wild an unserem Zelt, pfeift, heult und verschiebt die Eisschollen wie Kartenblätter. Ringsherum ist viel Wasser, doch es ist unmöglich, die Kajaks einzusetzen. Vom Winde gejagt, treibt das Eis offenbar frei nach SSW. Nichts hemmt seine Bewegung, und man kann sich vorstellen, dass irgendwo im Süden ein großer, offener Meeresraum ist, wohin das Eis hinausgetragen wird. Ich nutzte einige Augenblicke, in denen der Horizont aufklarte, zu einer Messung und ermittelte die Breite von 81° 42,5'. Wir waren also während der letzten vierundzwanzig Stunden wiederum sieben Seemeilen nach Süden vorwärts gekommen. Nicht übel! Aber dafür bläst auch ein steifer Wind. Es gelang uns auch heute nicht, Grund zu erreichen. Nach wie vor ist nichts zu sehen, was nach Land aussieht. Früher habe ich es im südlichen Teil des Horizonts gesucht und erwartet, doch jetzt beobachte ich aufmerksam die ganze Kimmlinie, die nördliche mit eingeschlossen. Wo mögen wir uns eigentlich befinden? Östlich des Franz-Joseph-Landes können wir nicht sein, das ist ausgeschlossen, also müssen wir uns westlich davon befinden, irgendwo nördlich vom Alexandra-Land. Wenn wir nur nicht etwa zu weit westlich treiben, irgendwo zwischen dem Franz-Joseph-Land und Spitzbergen. Dann stände unsere Sache schlimm: Wir könnten am FranzJoseph-Land »vorbeischlittern« und auch Spitzbergen verfehlen. Doch das ist schwer zu glauben. Es ist eher anzunehmen, dass wir uns nördlich vom Alexandra-Land befinden. Soweit ich mich erinnern kann, hat Nansen, als er von 145
seinem Winterquartier auf der Jackson-Insel nach Kap Flora unterwegs war, dieses Land aus der Ferne gesehen. Es soll flach und völlig von Schnee und Gletschern bedeckt gewesen sein. Darum ist es auch nicht verwunderlich, dass es sich so lange unseren Blicken entzieht, sicherlich werden wir es bald in Sicht bekommen. Das Rudolph-Land aber und andere südlich davon gelegene Inseln bleiben aller Wahrscheinlichkeit nach viel östlicher von uns liegen. Wenn diese meine Vermutung richtig ist, so wäre unsere Lage schlimmer als schlimm. Was würde ich darum geben, wenn wir auf Nansens Route gelangten! Von ihr ist mir wenigstens etwas bekannt: Ich weiß, dass es dort Walrosse, Eisbären und Vögel gibt und dass wir dort nicht vor Hunger umkommen würden. Diese Route ist sorgfältig in meinem Tagebuch verzeichnet, das ich mein »Logbuch« nenne. Vom Alexandra-Land dagegen besitze ich überhaupt keine Kenntnisse, seine nördlichen Ufer sind, wie auch auf Nansens Skizze, nur durch Punktierung angedeutet. Doch lassen wir uns überraschen! Vorläufig werde ich keine Vermutungen mehr anstellen. Eins nur steht fest, dass wir uns nach SO bewegen müssen und unter keinen Umständen nach W abweichen dürfen. Doch jetzt ist daran gar nicht zu denken. Über solches Eis vorwärts zu kommen ist unmöglich, ganz gleich, ob man nach W, nach S oder nach O geht. Wir haben uns in unser Zelt verkrochen und warten auf günstigere Witterung und bessere Wegverhältnisse. Ein Glück nur, dass wir genügend Fleischvorrat haben. Der Sturm lässt nicht nach, und »draußen« herrscht heftiges Schneetreiben. Trotz des grässlichen Wetters war 146
Lunjajew hinausgegangen und hatte einen Seehund erlegt, der ausschließlich zu Heizzwecken verwendet werden soll. Auf der Wune gingen hohe Wellen, und nun, da es galt, die Beute zu holen, verloren meine »Seeleute« die Courage. Es blieb mir nichts anderes übrig, als allein zu fahren. Ach, gäbe es nur mehr solcher Wellen, die »Seeleute« würden sich schon daran gewöhnen, wenn die Not sie dazu zwänge. Wo es viele Wellen gibt, da ist auch viel Wasser und folglich auch der Weg, den wir brauchen. Mittwoch, den 4. (17.) Juni. Auch heute bläst noch immer ein starker Nordwind. Nasser Schnee wirbelt umher. »Bei dem Wetter«, pflegt man zu sagen, »jagt man keinen Hund vor die Tür.« Draußen ist es feucht, und nicht minder feucht ist es in unserem Zelt. Von dem langen Aufenthalt an einer Stelle tauen der Schnee und das Eis unter dem Zelt allmählich auf, und in der entstandenen Einbuchtung sammelt sich Wasser. Vorgestern erst hatten wir das Zelt auf einen anderen Platz verlegt, und heute ist es wieder durch und durch nass. Unsere Segeltuchunterlagen, die Malizas und selbst unsere Kleidung sind nass zum Auswringen. Fröstelnd sitzen wir in unserer luftigen Behausung, als wären wir mit Dauerkompressen umwickelt, und brüten finster vor uns hin. Es ist gar nicht daran zu denken, bei einer solchen Witterung unsere Habe zu trocknen. Wir begnügen uns nur damit, unsere Malizas verkehrt herum anzuziehen und näher an den Ofen heranzurücken. Dieser 147
neue Ofen ist nach dem Vorbild des gesunkenen gemacht; er verbraucht ebenso wie der alte sehr viel Brennmaterial, so dass wir viele Seehunde herbeischaffen müssen. Nur gut, dass sie ungeachtet des schlechten Wetters immer wieder in der Wune auftauchen. Wenn wir also Brennstoff benötigen, werden wir ihn haben. Der beste Schütze von uns allen ist Lunjajew. Er schießt einfach meisterhaft, und wir sind ihm schon für viele Seehunde verpflichtet. Übrigens ist die Jagd auf Seehunde keineswegs leicht. Sie strecken unverhofft nur einen kurzen Augenblick den Kopf aus dem Wasser, und der Schütze muss schon sehr geübt sein, wenn er sein Ziel treffen will, denn der Kopf des Seehundes ist ziemlich klein und beweglich. Den Seehund kann man im Wasser nur töten, indem man seinen Schädel trifft. Dann bleibt das Tier, wenn es genügend fett ist, an der Wasseroberfläche liegen. Überhaupt ist der Seehund sehr wundfest. Selbst dann, wenn er, auf dem Eise liegend, schwer getroffen wird, flüchtet er ins Wasser und ist im Nu den Blicken entschwunden. Wir haben zwar nur wenige Tiere angetroffen, die auf dem Eise lagerten, aber keines davon erlegt. Als ich heute das Zelt verließ, um nach dem Horizont Ausschau zu halten, sah ich plötzlich auf der anderen Seite der Wune einen Eisbären stehen. Er hob den Kopf und verfolgte erstaunt meine Bewegungen. Ich tat so, als hätte ich Angst bekommen, und versteckte mich hinter einem Eisblock, in der Hoffnung, dass der Bär näher käme. Doch er war sehr vorsichtig und wollte nicht herankommen, oder er hatte keine Lust, in der Wune durchzuweichen. Früher hatten wir manchmal mit solchem Versteckspiel Erfolg. 148
Wenn der Bär sah, dass man sich vor ihm versteckte und zu fliehen suchte, begann er, ebenfalls hinter Eisrücken und einzelnen Eisblöcken Deckung zu nehmen und sich vorsichtig heranzuschleichen. Diese gegenseitige Jagd war für den König des ewigen Eises oft verhängnisvoll, denn dann konnte man ihn sehr nahe herankommen lassen und treffsicher zielen. Tritt man dem Eisbären energisch und furchtlos entgegen, dann stutzt er gewöhnlich im ersten Moment beim Anblick des nie gesehenen Wesens, wobei er witternd unablässig seine drei schwarzen Punkte bewegt, plötzlich kehrtmacht und das Hasenpanier ergreift. Der Eisbär ist ebenfalls äußerst wundfest. Noch zu der Zeit, da wir auf der »St. Anna« weilten, habe ich Fälle erlebt, wo der Bär mit zerschossenen Hinterläufen, vielleicht auch zerschmettertem Rückgrat, das Hinterteil nachschleifend, auf den Vorderpfoten das Weite suchte. Voller Grimm drehte er den Kopf und biss sich in die Hinterbeine, floh jedoch weiter. Es kam vor, dass wir an Tieren, die wir später fanden, bis zu zwölf Wunden feststellten, die alle von abgeplatteten Geschossen herrührten, die den Knochen zerschmettern und an der Austrittsstelle klaffende Löcher hinterlassen. Ein angeschossener Eisbär ist übrigens ein sehr gefährlicher Gegner. Mitunter glaubt man, er sei tot, doch nachdem er sich etwas erholt und Kraft geschöpft hat, macht er unerwartet einen gewaltigen Satz auf den Jäger zu. Ein solcher Fall hätte einen unserer Matrosen beinahe das Leben gekostet. Im Allgemeinen ist der Bär eher furchtsam zu nennen. Bei der ersten Begegnung mit dem Menschen zieht er sich gewöhnlich bald zurück. Selbst tiefer Schnee hindert ihn wenig in seinem Lauf, eine 149
unbedeutende Wunde veranlasst ihn, nur noch schneller zu laufen. Wenn eine Bärin mit einem oder zwei Jungen unterwegs ist, dann ist sie überaus vorsichtig; sie lässt den Jäger fast niemals auf Schussweite heran. Einen interessanten Anblick bietet eine Bärin, wenn sie mit ihren Jungen über eine mit dünnem Eis bezogene Wune setzt. Sie kriecht auf dem Bauch, die dicken Tatzen weit von sich gestreckt, während die Kleinen wie Frösche sehr drollig hinterdrein hüpfen und sie in allem nachzuahmen suchen. Obgleich die Eisbären ausgezeichnete Schwimmer und Taucher sind, gehen sie zur Winterzeit nur ungern ins kalte Wasser und bevorzugen es, die Wunen auf dem Eise zu überqueren, auch wenn es dünn ist. Doch einmal waren wir Zeugen, wie ein Bär, der sich vor unseren Nachstellungen retten wollte, das Eis durchbrach, sofort untertauchte und, nachdem er unter dem Eise eine große Strecke geschwommen war, von neuem die dünne Eisdecke durchstieß und den Kopf für einige Augenblicke herausstreckte, nur um sich zu vergewissern, ob wir ihn noch verfolgten, dann wieder untertauchte und erst nach geraumer Zeit am jenseitigen Rand der Wune auf festes Eis stieg. Weder gestern noch heute war es mir möglich, Sonnenbeobachtungen durchzuführen. Doch wir treiben weiter in Richtung SSW, wie ich aus der Lage der Leine bei der Tiefenlotung feststellen konnte. Auch bemerkte ich, dass sich die Wunen periodisch verengen und dann wieder erweitern. Jetzt bin ich überzeugt, dass die ständige Verschiebung des Eises auf den Einfluss der Gezeiten 150
zurückzuführen ist, deren Wirkung wir früher, als wir noch weit nördlich über alte Eisfelder zogen, nicht wahrnahmen. Gegen Abend besserte sich das Wetter. Zwei Mann machten sich auf, um den geflüchteten Bären zu suchen, doch ich befürchte, das Unternehmen wird keinen Erfolg haben. Wir beabsichtigen, uns von einem Schlitten und von einem Kajak zu trennen, da sie vollkommen untauglich geworden sind. Nach einigen Versuchen haben wir uns überzeugt, dass auf drei Kajaks alle zehn Mann Platz haben. Und wenn wir zwei Fahrzeuge zusammenkoppeln, können uns keine noch so hohen Wellen etwas anhaben. An Proviant verbleiben uns, das Bärenfleisch nicht mit eingerechnet, nur zwölf Sack Zwieback, das sind sechs Pud, an die drei Pfund Salz und etwa vier Pfund von »Skorikows Fleischextrakt«. Dazu kommen warme Kleidung, Schneeschuhe, Geschirr und unser kostbarstes Gut – Waffen und Munition. Jetzt wollen wir die Wetterberuhigung nutzen und unsere ganze aufgeweichte Habe und uns selbst im Winde trocknen. Es macht wirklich keinen Spaß, in diesen »Dauerkompressen« zu sitzen. Donnerstag, den 5. (18.) Juni. Das Wetter ändert sich. Der Nordwind weicht einer leichten Brise aus S. Wieder setzt jenes neblige oder, richtiger gesagt, diesige Wetter ein, jenes merkwürdige, scheinbar gar nicht mal so intensive, matte Licht, das aber so unerträgliche Augenschmerzen verursacht. Alle 151
Gegenstände, sogar die nahen, zeichnen sich wie hinter einem Mullvorhang ab; manchmal sieht man sie sogar doppelt. Nichts kann man mit offenen Augen anschauen. Nur wenn man sie zusammenkneift, kann man etwas erkennen, und selbst dann muss man sie immer wieder ausruhen lassen. Von Zeit zu Zeit klärt sich der Horizont auf, und die Sonne blickt als matte Scheibe durch die Wolken. In einem solchen Augenblick gelang es mir, die Sonnenhöhe zu messen. Wieder musste ich über die Schnelligkeit der Drift staunen. Die Messung zeigte 81° 9'. Ich möchte aber dem heutigen Ergebnis nicht unbedingt Glauben schenken: Erstens behindern mich die Augenschmerzen, und zweitens ist der Horizont nicht ganz klar. Gegen vier Uhr nachmittags sichtete ich bei diesigem Horizont in OSO-Richtung von unserem Standort aus etwas, von dem ich nicht mit Bestimmtheit zu sagen vermag, was es war. Jedenfalls stelle ich mir den ersten Anblick des Landes ganz anders vor. Es waren zwei weiße oder rosig schimmernde Wölkchen. Sie veränderten lange weder ihre Form noch ihre Lage, bis sie schließlich vom Nebel verhüllt wurden. Da ich über meine Beobachtungen keine Klarheit gewinnen konnte, verschwieg ich sie zunächst meinen Reisegefährten. Allzu oft hatten wir uns in den zwei Monaten unserer Eiswanderung getäuscht und Wolken und ferne Eisrücken für Land gehalten. Noch niemals waren wir von so vielen Wunen, Rinnen und Kanälen umgeben: Sie verändern sich stündlich, werden bald schmaler, bald breiter, wechseln dauernd ihre Richtung, sind jedoch durchweg mit Brucheis – »Brei« – 152
bedeckt, und es ist unmöglich, sie zu befahren. Der ganze Horizont ist jetzt dunkel, voller »Wasserhimmel«, doch am dunkelsten im Osten und im Westen. Viele Taucher und kreischende weiße Möwen fliegen umher. Die Möwen machen einen Heidenlärm; sie schrien während der ganzen Nacht, zankten und stritten sich um die aufs Eis hinausgeworfenen Eingeweide eines erlegten Seehundes und brachten mich um den Schlaf. Wie böse Geister scheinen sie uns zu verfolgen und sich über unsere Lage lustig zu machen; sie lachen und kreischen, pfeifen und johlen geradezu hysterisch. Wenn es mir vergönnt sein sollte, wieder in die Heimat zu kommen, werde ich niemals die kreischenden Laute der schneeweißen Möwen vergessen, diese schlaflosen Nächte im Zelt, die nie untergehende Sonne, deren Strahlen durch die Leinwand dringen. Auch heute gelang es uns nicht, den Grund zu erreichen, obgleich wir zweimal das Lot auswarfen. Die Leine zeigt wie stets, dass das Eis nach S treibt. Gegen Abend drehte der Wind wieder auf N. Na, dann Glück auf! Besser nach Süden als zurück nach Norden! Freitag, den 6. (19.) Juni. Es stellte sich heraus, dass ich mich bei den gestrigen Messungen nicht geirrt hatte. Die heutige Sonnenhöhe ergab bei ausgezeichnetem Horizont 81° 1'. Erstaunlich, aber wahr! Wir haben also während unseres Aufenthaltes auf einem Fleck in einer Woche einen ganzen Grad Richtung 153
Süden hinter uns gebracht. Man kann sich nur schwer vorstellen, dass das Eis sich ausschließlich unter der Einwirkung des Windes täglich achteinhalb Seemeilen vorwärts bewegte. Soweit ich mich erinnern kann, konnten wir eine solche schnelle Drift auf der »St. Anna« nicht beobachten. Ich bin der Meinung, dass auch die Strömung das Ihrige dazu beigetragen hat. Jetzt, da wir beinahe am 81. Breitengrad angelangt sind, wird die Frage nach unserem eigentlichen Standort noch brennender. Ich bin sicher, dass wir westlich vom Franz-Joseph-Land treiben. Also hatten wir in der Tat das Schiff unter dem 60. Längengrad verlassen und wurden, wie auch zu erwarten war, später während unserer unendlich langsamen Bewegung nach S bis zum 82. Breitengrad stark nach W abgetrieben. Doch auf meiner Karte ist das AlexandraLand etwas nördlich des 81. Breitengrades verzeichnet; wären wir also noch nicht weiter westlich an dieser Insel vorbeigetrieben, so müssten wir jetzt schon an die Inselküste herangedrückt worden sein. Indessen sehen wir nichts, was Ähnlichkeit mit Land hat, auch können wir mit unserer hundert Faden langen Leine keinen Grund erreichen. Es bestehen also nur zwei Möglichkeiten: entweder ist meine Karte falsch, oder wir driften irgendwo zwischen dem Alexandra-Land und Spitzbergen, wobei wir das Gillis-Land schon passiert haben müssten, ohne es gesehen zu haben. Was zutrifft, ist schwer zu sagen. Vielleicht sind auch beide Annahmen richtig. In jedem Fall ist es sehr leicht möglich, dass es uns nicht gelingen wird, uns an das Alexandra-Land »anzuklammern«, und dann adieu ihr Träume von Kap Flora, von den Jackson-Bauten 154
und den Vorräten, die sich dort vielleicht zufällig erhalten haben. Dann also vorwärts mit geradem Kurs auf Spitzbergen! Ich werde Brussilows Anweisung nicht befolgen können, sondern mich nach Gottes Willen richten müssen. Nicht umsonst sagt das Sprichwort: Der Mensch denkt, und Gott lenkt. Werden wir aber genügend Willenskraft aufbringen, um noch in diesem Jahr rechtzeitig Spitzbergen zu erreichend Halten die Kajaks und Schlitten diesen Weg durchs Na, wir werden ja sehen … Der Wind drehte gegen Abend auf NW und frischte bald bis auf Stärke sechs auf. In den Wunen zeigen sich jetzt Seehunde, die bedeutend größer sind als alle, die wir früher sahen, doch es gelang uns nicht, einen einzigen davon zu erlegen, sie sind allzu vorsichtig. Taucher und die unermüdlichen Möwen, diese hysterischen Wesen, fliegen Tag und Nacht umher. Heute haben wir den vierten Kajak und den defektesten Schlitten zu Heizzwecken verbraucht. Wenig Zwieback verbleibt uns, verdammt wenig. Sonnabend, den 7. (20.) Juni. Auch heute stehen wir noch an demselben Platz. Unsere Situation ist wohl ähnlich wie die Nansens in seinem »Lager der Erwartung«. Es fragt sich nur, was für uns bei dem Warten herauskommt. Wind aus NW, Stärke fünf. Das ist günstig: soll er uns ruhig ein wenig mehr nach O drücken. Das Wetter ist trübe, es fällt nasser Schnee. Dieser taut jetzt stark und sackt in sich zusammen. Die oberen Schichten werden fest, und es ließe sich nicht schlecht 155
darauf marschieren, wenn man nur wusste, wohin! Wenn nur nicht dieses grässlich zerrissene Eis wäre und diese zahllosen Wunen und Rinnen vor uns lägen! Ringsherum am Horizont ist viel Schwärze, das Eis befindet sich in schneller Bewegung. Scheint es mir so, oder ist es Tatsache, dass das östlich von uns liegende Eis in seiner Bewegung nach S hinter unserem und dem westlich gelegenen zurückbleibt? Heute haben wir in der Wune einen Seehund geschossen, der nach Meinung aller größer war als alle früher von uns erlegten. Ich versuchte ihn anzuheben und schätzte sein Gewicht nicht unter vier bis fünf Pud. Es gab einen herrlichen Braten. Die Taucherenten werden immer zahlreicher, und heute Abend sah ich einen Schwarm von fünfzehn Stück, der in nördlicher Richtung flog. Wohin fliegen sie, die dummen? Was haben sie dort in dieser Eiswüste zu suchend Alle diese Vögel nenne ich nur deshalb Taucherenten, weil sie, aus der Ferne gesehen, Enten gleichen, tatsächlich aber keine Enten sind, auch keine Taucher, wie ich sie kenne. Die, die wir sehen, sind schwarz gefiedert, ihr Hals ist kürzer als der einer Ente, der Schnabel spitz wie der einer Krähe. Brust und Bauch sind weiß. Eine Art hat die Größe einer Ente, die anderen sind kleiner. Die kleinen sehen den großen sehr ähnlich, so dass wir anfangs sogar annahmen, es seien Junge. Vielleicht ist auch der Schnabel der kleinen etwas kürzer und dicker und gleicht nicht so augenscheinlich einem Krähenschnabel wie der der großen. Diese schreien, wenn sie verletzt sind, sogar nach Krähenart. Die kleinen zwitschern, wenn sie beisammensitzen, sehr lieb und sind ungemein bewegliche Wesen. 156
Von den Möwen trifft man drei Arten, doch vorwiegend weiße; es sind randalierende, lärmende Vögel, die uns Tag und Nacht keine Ruhe lassen. Es gelang mir heute nicht, die Sonnenhöhe zu messen. Zweimal haben wir das Lot ausgeworfen, doch den Grund nicht erreicht. Die Leine zeigt nach N. Es fällt mir auf, dass die Leine unsere Bewegung nicht genau nach dem Winde anzeigt, sondern etwas seitwärts. Fürwahr, mir scheint, es gibt hier eine ständige Meeresströmung.
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Land! Montag, den 9. (22.) Juni. Gestern blies der Wind immer noch aus NW und WNW. Trotz trüben Wetters gelang es mir, die Sonnenhöhe zu messen, und ich stellte eine Breite von 80° 52' und eine Länge von 40° 20' fest; in Letzterer bin ich mir nach wie vor nicht sicher. Abends gegen neun Uhr kletterte ich wie üblich auf einen hohen Eisblock, um den Horizont abzusuchen. Gewöhnlich zeigten sich dem spähenden Auge hier und da inselartige Gebilde, die sich bei genauerer Betrachtung jedoch als Eisrücken oder Wolken herausstellten, heute hingegen sah ich in SO bei klarem Horizont etwas ganz anderes. Meine Erregung war so groß, dass ich mich auf dem Eisblock niedersetzen musste und anfing, die Gläser meines Feldstechers zu putzen und die Augen zu reiben. Ich sah einen scharf gezeichneten, silbrig matten Streifen, etwas nach oben gewölbt, der genau von der Kimmlinie ausging und sich nach O zu allmählich verlor. Die rechte Seite des Gebildes hob sich gegen das Blau des Himmels besonders klar und deutlich ab. Seine Färbung glich der des Mondes, wie er sich am Tage zeigt, und es sah sogar aus, als komme hinter dem Horizont der Mond hervor; doch merkwürdigerweise verblasste und verschwand allmählich die linke Segmenthälfte dieses Mondes, während die rechte immer schärfer hervortrat. Dieser hellmatte, regelmäßige Streifen glich einem sorgfältig mit einem dünnen Pinsel gezogenen zartweißen 158
Strich auf blauem Feld. Vielleicht hatte ich am 5. Juni etwas Ähnliches in fast der gleichen Richtung gesehen, es aber irrtümlich für Wölkchen gehalten; es waren ihrer zwei, und sie traten nicht so klar hervor. Doch damals waren auch die Lichtverhältnisse nicht so günstig gewesen. Während der Nacht ging ich wohl fünf Mal hinaus, um die seltsame Erscheinung durch das Fernglas zu beobachten, und jedes Mal fand ich das Stückchen Mond an derselben Stelle. Manchmal war es klar, manchmal weniger klar sichtbar, doch die Hauptmerkmale, nämlich Form und Färbung, blieben die gleichen. Ich staune nur, dass keiner von meinen Gefährten etwas bemerkt. Wie viel Überwindung kostet es mich, meine Entdeckung zu verschweigen und nicht sogleich ins Zelt zu eilen, um meine Freude mit den Worten hinauszuschreien: »Ihr Schlafmützen, seht ihr denn nicht, dass wir schon fast am Ziel sind, dass wir dem Lande zutreiben?« Ich möchte die Männer aufrütteln, möchte ohne Unterlass von dem Land reden, weil ich jetzt felsenfest überzeugt bin, dass es Land ist. Doch ich halte mich noch zurück, schmunzele nur und denke mir im Stillen: Nein, meine Lieben, ihr müsst schon selber die Augen aufmachen! … Aber meine Reisegefährten sehen nichts, sie bemerken nicht einmal meine innere Erregung. Auch mit der Belohnung, die für die Entdeckung des Landes ausgesetzt ist, kann ich ihr Interesse nicht wecken. Nach wie vor sind die meisten von ihnen apathisch, schwerfällig, und statt einmal öfter den Horizont zu beobachten, ziehen sie es vor, entweder zu schlafen oder, in die Malizas verkrochen, eine Läusejagd zu veranstalten. 159
Heute Morgen ist das Wetter ganz ausgezeichnet. Der Landstreifen tritt noch deutlicher hervor. Ich entsinne mich, dass Nansen das von ihm gesichtete Land, sicherlich das Rudolph-Land, mit der Form eines matten Schildes verglich, der mit der Wölbung nach oben liegt.15 Aber unser Land ist ja gerade solch ein matter, mit der Wölbung nach oben liegender Schild, nur dass davon lediglich die rechte Hälfte zu sehen ist; das hängt wahrscheinlich mit der Richtung zusammen, aus der wir es sichten, und nicht zuletzt mit der Beleuchtung. Wie gewaltig unterscheidet sich dieses Gebilde von dem, das ich mir ausgemalt hatte, als ich während der letzten zwei Monate täglich ungeduldig den Horizont absuchte. Dieses Land mutet märchenhaft an, fantastisch, der Wirklichkeit beinahe ebenso fern wie ein Gemälde. Seine eigenartige, unwirkliche Mondscheinfärbung, die regelmäßige, wie mit einem Kurvenlineal gezogene Linienform vermitteln überhaupt keinen Begriff von der Entfernung, die uns von diesem Land trennt. Dank des schönen Wetters konnte ich außer dem gestern gesichteten Land, das allem Anschein nach nicht sehr hoch ist, links davon, nach Ost, noch einige vereinzelte Gipfel entdecken. Sie schienen nicht nur viel weiter entfernt, sondern auch viel höher zu sein und waren keine Gletscher mehr, sondern felsige Inseln von bläulich dunkler Färbung. Ihre Gipfel, deren Umrisse verschwommen waren, wurden von Zeit zu Zeit von Nebel verhüllt und schienen, offenbar infolge der feuchten Luftströmungen, leicht zu schwanken. Doch im Allgemeinen blieb ihre Form unverändert. 160
Wahrscheinlich ist es bis zu diesen Felseninseln sehr weit, und wenn wir sie sehen können, so nur deshalb, weil sie sehr hoch sind und heute ausnahmsweise klares Wetter herrscht. Stellenweise konnte man zwischen den Gipfeln Gletscher wahrnehmen, aber nur, weil sie sich auf dem Hintergrund der dunklen Felsen abzeichneten. Wenn ich diese fernen Gletscher mit der gestern entdeckten Gletscherinsel vergleiche, wird mir klar, um wie viel diese Insel uns näher ist. Doch wie weit mag es bis dahin sein? Schwer, fast unmöglich zu sagen. Das Auge ist zu wenig geübt, um die Entfernung bis zu solchen »Mondinseln« zu bestimmen. Eher könnte ich die Entfernung bis zu jenen Felseneilanden schätzen, sagen wir fünfzig oder sechzig Seemeilen. Doch wie weit es bis zu dieser nahen Gletscherinsel ist, vermag ich nicht einmal schätzungsweise anzugeben. Bisweilen, wenn ich sie mir in Gedanken als ganz niedrig, etwa vier Faden über dem Meeresspiegel, und glatt wie eine Eisbahn vorstelle, scheint sie mir ganz nahe zu sein, vielleicht nur fünf oder sechs Seemeilen entfernt. Doch zu unnatürlich kommt mir ihre glatte Eisoberfläche vor. In Wirklichkeit wird sie viel höher sein, denn ich sehe am Horizont nur ihre Wölbung, die infolge der großen Entfernung so ebenmäßig erscheint. Wenn ich mir das alles vor Augen halte, bin ich geneigt, die Strecke bis zu dieser Mondinsel auf fünfundzwanzig bis dreißig Seemeilen zu schätzen. Auf alle Fälle sind wir dem Lande jetzt näher als jemals während der vergangenen zwei Jahre. Gott sei gelobt! Wie aber sollen wir an dieses Land herankommen? 161
Das ist die Frage. Wie schwer es auch sein mag, erreichen müssen wir es, koste es, was es wolle! Heute gelang es mir, eine gute Sonnenhöhe zu messen, wie gestern erhielt ich die Breite von 80° 52'. Wir haben Südwind. Ihm ist es wahrscheinlich zu verdanken, dass sich unsere Bewegung nach S wesentlich verlangsamte. Eben ist es vier Uhr nachmittags. Wir haben gegessen und packen unsere Sachen zusammen, da wir unverzüglich aufbrechen wollen. Ich nahm nochmals die Sonnenhöhe und errechnete nach dem Sommerschen Verfahren eine unbedeutende Abweichung nach O, etwa zwei Meilen gegenüber dem gestrigen Standort. Trotz des Südwindes nähern wir uns der Insel, was auch an der ausgeworfenen Lotleine zu ersehen ist. Hier herrschen jetzt Ebbe- und Flutströmungen. Der Gletscher tritt schon klarer in Erscheinung als gestern. Blendend weiß und eben ist seine Oberfläche. (Zehn Uhr abends.) Heute sind wir bis neun Uhr abends marschiert und haben drei bis vier Werst zurückgelegt. Bei einer Lagebesprechung wurde beschlossen, das Zelt erst wieder aufzuschlagen, wenn wir die Insel erreicht haben, um unsere Zeit nicht unnütz mit Packen und langem Schlafen zu vertrödeln. Ich weiß nicht, ob wir stark genug sein werden, diesen Vorsatz durchzuführen. Das Eis treibt so rasch auseinander, dass uns manchmal kaum Zeit bleibt, einen oder zwei Kajaks über einen Spalt zu schaffen, der Dritte muss schon, bepackt mit Ladung und Schlitten, zu Wasser 162
gelassen und mit Gurten auf die andere Seite gezogen werden. Sogar in kleinen Rinnen zeigen sich viele Seehunde. Zahlreiche Taucher fliegen hin und her, die entweder zu der Insel fliegen oder von dort kommen. Wir kreuzen eine ganz frische Bärenspur und einige ältere Fährten. All das hebt unseren Mut und gibt unserer Wanderung ein völlig neues Gepräge. Jetzt gehen wir ja dem Lande zu, das schon gleichsam greifbar nahe vor uns liegt. Gestern haben wir einen Seehund und drei Taucherenten geschossen, die wir heute zu Mittag verzehrten. Wir versuchten, Schlingen zum Fang der uns arg zusetzenden Möwen zu legen. Doch keine einzige dieser hysterischen Schreihälse geruhte, ihren Fuß hineinzusetzen. Diesmal übernachten wir fast unter freiem Himmel. Wir haben die Skier aufs Eis gelegt und aus Skistöcken und Kajaksegeln ein notdürftiges Wetterdach errichtet. Dienstag, den 10. (23.) Juni. Es ist Abend, wir sitzen im Zelt. Es ist uns nicht nur nicht gelungen, die Insel zu erreichen, sondern wir haben uns aller Wahrscheinlichkeit nach sogar von ihr entfernt. Mit guten Vorsätzen ist der Weg zur Hölle gepflastert… Das Wetter ist neblig. Es fällt nasser Schnee, der bisweilen in feinen Sprühregen übergeht. Von früh an weht der Wind aus S. Morgens um acht Uhr waren wir aufgebrochen und hatten bis drei Uhr nachmittags nicht mehr als zwei bis drei Werst hinter uns gebracht. Der Schnee ist klebrig, »richtiger Kleister«, sagen meine Gefährten. Es schüttelt 163
einen noch nachträglich, wenn man an das Übersetzen, sowohl mit Kajaks wie zu Fuß, denkt. Durchnässt und zerschlagen beschlossen wir, das Zelt aufzubauen und Mittagessen zu kochen. Haben einen Seehund erlegt, von dem wir zwei Schüsseln Blut auffingen. Aus diesem Blut und dem Fleisch der Taucher bereiteten wir eine sehr schmackhafte Suppe. Wenn wir Tee oder Suppe kochen, nehmen wir gewöhnlich die Sache ernst und lassen jeden Spaß beiseite. Wenn gekocht wird, dann wird eben gekocht, sagen wir und füllen den Eimer voll bis zum Rand. Unser Eimer ist groß und hat die Form eines Kegelstumpfes. Gewöhnlich bleibt von den Portionen nichts übrig. Heute haben wir zum Frühstück einen Eimer Suppe verspeist und einen Eimer Tee ausgetrunken. Zu Mittag aßen wir wieder einen vollen Eimer Suppe und einen vollen Eimer Tee; zum Abend vertilgte jeder von uns mehr als ein Pfund Fleisch, und nun warten wir mit Ungeduld, bis das Teewasser kocht. Wir wären eigentlich auch jetzt nicht abgeneigt, einen Eimer Suppe leer zu löffeln, doch geniert sich einer vor dem andern; man muss doch sparen! Außer den angeführten Portionen erhält jeder von uns täglich ein Pfund Zwieback. Wir haben, gelinde gesagt, alle einen Wolfshunger. Das ist schon anormal, krankhaft. In trüben Augenblicken kommt uns der Gedanke, dass diese merkwürdige Gefräßigkeit, wie wir sie jetzt an den Tag legen, gewöhnlich vor einer großen Hungersnot aufzutreten pflegt. Der Herr bewahre uns davor! Obgleich die Verpflegung jetzt nicht mehr viel zu wünschen übrig lässt, wie aus den erwähnten Portionen zu ersehen ist, 164
wurde gestern bei der Durchsicht der Vorräte festgestellt, dass sieben Pfund Zwieback fehlten. Es war nicht schwer, den Verlust zu entdecken, da der ganze Zwiebackvorrat in Zwanzigpfundsäcke eingenäht ist. Ein Sack reicht immer gerade für zwei Tage. Übrigens hatte ich ähnliche Verluste, wenn auch in kleinerem Maßstabe, auch früher schon des Öfteren beobachtet, und es braucht nicht erwähnt zu werden, wie sie mich betrübten, ja sogar in hellen Zorn versetzten. Ich rief die Gefährten zusammen und eröffnete ihnen, dass sie für derartig unglaubliche Diebereien alle einzustehen hätten, da ich bald gezwungen sein würde, die Rationen zu kürzen. Sollte ich aber den Übeltäter, der es wagte, seine sich ohnehin schon in schwieriger Lage befindlichen Kameraden zu bestehlen, auf frischer Tat ertappen, so würde ich ihn eigenhändig niederknallen. So bitter es auch sein mag, muss ich doch gestehen, dass ich drei oder vier Mann in der Gruppe habe, mit denen ich nichts gemein haben möchte. Wie dem auch sei, es lohnt sich nicht, darüber zu sprechen: Von Wichtigkeit ist jetzt nur, wie man am schnellsten das rettende Ufer erreicht. Mit welch leidenschaftlicher Ungeduld drängt es mich, diese Insel zu betreten! Dort wird unsere zweijährige Eisdrift ihr Ende finden. Dann wird endlich die elende Abhängigkeit von den Winden, den Strömungen und Wunen aufhören. Wir werden selbst bestimmen können, wie wir uns vorwärts bewegen. Es ist möglich, dass wir an der Küste freies Wasser vorfinden, endlich unsere Kajaks einsetzen und rasch dem Ziele zustreben können. In Mengen werden wir dort Vögel und Walrosse antreffen und sicher auch sehr häufig Eisbären begegnen. Wir 165
träumen davon, auf der Insel ein schönes warmes Bad nehmen zu können. Man stelle sich vor, seit den zwei Monaten unserer Wanderung haben wir uns nicht ein einziges Mal gewaschen! Unser Aussehen ist auch dementsprechend. Anfangs habe ich es nicht sonderlich beachtet, doch einmal, als ich die Sonnenhöhe nahm, sah ich zufällig im großen Spiegel des Sextanten mein Gesicht und erschrak. Es war mit einer dicken schwarzen, wie Chagrinleder glänzenden Schmutzkruste bedeckt. Ich dachte, es wäre nur Ruß, doch dann musste ich mich überzeugen, dass es in der Tat Schmutz war, der sich zusammen mit dünnen Hautstreifen abschälen ließ. So sahen wir alle aus. Als wir jedoch diese Kruste, die sich nur stellenweise löste, abzukratzen begannen, wurde unser Anblick noch unerfreulicher. Es sah aus, als seien wir tätowiert. Was unsere Kleidung betraf, so war es damit noch schlechter bestellt. Jene einzige Wäschegarnitur, die jeder von uns trug, die Hosen, die warmen Wollhemden, die Jacken, alles wimmelte nur so von Ungeziefer, und ich glaube, ein Wollhemd, auf eine Ebene gelegt, hätte sich bestimmt selbstständig gemacht und wäre wie von allein gekrochen. Man kann des Öfteren beobachten, wie alle im Kreise hocken und, einander knappe Sätze zuwerfend, mit dem tiefsinnigsten Ausdruck sich der Läusejagd hingeben. Die »Jagd« findet vorwiegend abends statt und nennt sich deshalb »abendliche Kurzweil«. Gewaschen haben wir uns aus verschiedenen Gründen nicht: erstens fehlte es an Seife; zweitens hatten wir kein Wasser, oft nicht einmal zum Trinken, von der Reinigung des Körpers und der Wäsche ganz zu schweigen; und drittens war es kalt. 166
Einige haben sogar einfach ein »Gelübde« abgelegt, sich nicht eher zu waschen, bis wir Land erreicht haben. Wer konnte aber auch ahnen, dass wir es erst nach zwei Monaten sichten würden? Nachmittags ging ich mit drei Mann auf Erkundung aus. Wir gewannen ein verhältnismäßig günstiges Bild. Hinter den vier Wunen, die wir morgen zu überqueren haben, werden wir einen besseren Weg vorfinden. Eigentümlich, wie jetzt das Eis um uns aussieht: Die Eisblöcke sind dunkel, schmutzig, mit daran haftenden Algen, Sand und sogar Steinen. Ein paar Steinchen und zwei kleine Holzstückchen nahmen wir sogar mit als erste Gabe des Landes, als Myrtenzweig sozusagen. Der Schnee auf diesem Eis ist schon arg zerfressen oder bereits abgetaut. Wir fanden viele ganz frische Bärenspuren. Das Wetter ist nach wie vor feucht und neblig. Es fällt nasser Schnee, fast Regen. Wind aus S. Mittwoch, den 11. (24.) Juni. Heute hatten wir einen guten Marsch. Wir sind sechs Werst weitergekommen. Jetzt, am Abend, lagern wir auf einer Eisscholle, die von Wunen und Stückeneis umgeben ist. Am Morgen hatten wir ziemlich schwachen Nordostwind, der sich gegen Abend in frischen Nordwind verwandelte. Der Horizont hat sich ein wenig aufgeklärt, und wir sehen, wenn auch schlecht, unsere Gletscherinsel. Ich kann nicht genau erkennen, ob nun drei einzelne kleine Inseln vor uns liegen oder ob es eine einzige große mit drei gewölbten 167
Gletschern ist. Der Nächste liegt jetzt, von uns aus gesehen, im Süden; die Strömung hat uns wohl ein wenig nach Osten abgetrieben, denn wir hatten diese Insel, richtiger gesagt, ihre westliche Spitze, in SO gesichtet. Nach wie vor ist es mir nicht möglich, die Entfernung bis dahin zu bestimmen: Die sehr merkwürdige Form und die trügerische Färbung geben absolut keinen Begriff von der Entfernung. Wir haben einen kleinen Seehund und einen Taucher erlegt. Wieder plagen mich Augenschmerzen. Ich glaube, meine Augen werden sich niemals an dieses Licht gewöhnen. Donnerstag, den 12. (25.) Juni. Ein schwerer Tag. Erstens sind sieben Mann, darunter auch ich, schneeblind, wir haben Augenschmerzen wie nie zuvor. Zweitens haben wir während des ganzen Tages nur etwa zwei Werst zurückgelegt. Dauernd hatten wir Wunen zu überqueren, die mit Bruch- und Schlammeis angefüllt waren. Wir müssen die Kajaks mit Schlitten und Ladung in diesen Brei schieben, uns rittlings auf die Ladung setzen und, mit den Rudern das Eis zerteilend, die Wune passieren. Solche schwierigen Überfahrten kommen auf Schritt und Tritt vor. Beim Überschreiten einer Wune ereignete sich ein Unglück, anders kann ich das Versinken eines der beiden uns noch verbliebenen Remingtongewehre nicht bezeichnen. Lunjajew und Smirennikow waren die Schuldigen. Ich war über diese Schlamperei und Schlafmützigkeit furchtbar aufgebracht. Zu meiner Schande muss 168
ich gestehen, dass ich mich nicht zurückhalten konnte und jeden, der mir über den Weg lief, beschimpfte. Wer sich in meine Lage versetzen kann, wird mich jedoch verstehen. Es ist schließlich schon das zweite Gewehr, das meine Liederjane haben ins Wasser fallen lassen. Nun bleibt uns nur noch eine einzige Büchse, für die wir ausreichend mit Munition versehen sind. Das kleine Magazingewehr kommt kaum mehr in Frage, weil wir nur noch achtzig Patronen dafür haben. Und in unserer Lage nur mit einem einzigen Gewehr auskommen zu müssen, ist für einen vernünftig denkenden Menschen kaum vorstellbar. Allerdings besitzen wir außer den beiden erwähnten Gewehren noch eine doppelläufige Schrotflinte, doch ist diese hier, wo hinter jedem Eishügel ein Eisbär lauern kann, kaum als eine brauchbare Waffe anzusehen. Heute herrschte bei schwachem Nordwind ein klares, sonniges Wetter. Ich versuchte Sonnenbeobachtungen vorzunehmen, doch vergeblich. Statt der Sonne sah ich einen verschwommenen Fleck, vom Horizont überhaupt nichts. Ach, diese Augen! Sie zwingen mich, die ganze Zeit untätig zu verbringen, und dabei müssen wir doch unbedingt weitergehen. Wie mir meine noch nicht schneeblinden Gefährten versichern, ist die Insel heute besonders deutlich sichtbar. Etwa um fünf Uhr nachmittags unternahmen Gubanow und Maximow auf Skiern einen Erkundungsgang. Sie waren etwa sechs Werst vorgedrungen und konnten, wenn man den Worten Gubanows Glauben schenken darf, einige Einzelheiten auf der Insel erkennen. Als wir heute eine Wune überquerten, flogen zwei Mal Eiderenten vorüber. Das ist schon besser als Möwen und 169
Taucher. Sie kamen von der Insel. Überhaupt fliegen alle Vögel in dieser Richtung, und das berechtigt uns zu der Hoffnung, dass die Insel nicht so tot und öde ist, wie sie zu sein scheint. Seehunde lassen sich heute nicht blicken. Der Vorrat an Seehundfleisch ist verbraucht. Als Mittagskost wurde das vor einigen Tagen gekochte Bärenfleisch ausgegeben. Zum Abendbrot bereiteten wir uns eine Suppe aus gedörrtem Bärenfleisch. Sie ist genießbar, doch wenn sie erkaltet, hat sie einen unangenehmen Geruch und Beigeschmack. Der Zucker ist uns vor einigen Tagen ausgegangen. Jetzt haben wir zum Tee nur noch Schiffszwieback und finden, dass es sich ganz gut leben ließe, wenn es so weiter ginge. Doch leider gehen die Vorräte an Tee und Zwieback ebenfalls rasch zur Neige, der Tee reicht nur noch für einige Tage. Unser Marsch geht jetzt so vor sich: Von einem hohen Eisrücken aus bestimmen wir den Weg und wählen die Stellen, die man zu Fuß passieren oder mit Kajaks überqueren kann; dabei bemühen wir uns, möglichst große Eisschollen auszusuchen. Oft müssen wir eine lange Leine auf die andere Seite der Rinne werfen und schwankendes Brucheis auf Skiern überschreiten, erst dann können wir die Kajaks hinüberziehen. Dabei krängen die Fahrzeuge oft oder bleiben im Eisbrei stecken; es kostet dann viel Mühe, sie wieder flott zu machen. Jeden Augenblick sinkt der eine oder andere von uns ein; flink werden die Stiefel ausgezogen, das Wasser ausgegossen, und wieder geht es an die Arbeit. Und die Insel ist noch fast genauso weit entfernt wie vor Tagen.
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Freitag, den 13. (26.) Juni. Wind aus SSW. Wir brachen um acht Uhr morgens auf und wanderten mit einstündiger Mittagspause bis halb sieben Uhr abends. Es wurden acht Werst zurückgelegt. Dieses Mal waren es große, mit hohem Schnee bedeckte Eisschollen, die wir passierten. Unter dem Schnee nach wie vor viel Seewasser. Die Vorräte gehen zusehends zur Neige. Gestern schrieb ich, dass unser Tee noch für einige Tage reicht, und dabei haben wir heute den letzten Rest in den Eimer geschüttet. Morgens bestand unser Frühstück nur aus Tee und Zwieback, und zu Mittag gab es wiederum Zwieback und dazu lauwarmes, mit Kondensmilch vermischtes Wasser. Doch zum Abendbrot gelang es uns, drei Taucher zu erlegen, aus denen wir eine Suppe kochten, der wir etwas »Skorikows Fleischextrakt« zusetzten. Einen Teil dieser Suppe stellten wir für morgen zurück. In einer Wune tauchten Seehunde auf, doch kamen wir nicht zum Schuss. Beim Überqueren einer Wune wurden wir von einer plötzlich aus dem Wasser hochspringenden mächtigen Robbe erschreckt. Das Tier war offenbar ebenfalls sehr erschrocken beim Anblick der wassernden Kajaks. Gegen Abend erblickten die »Sehenden« die Insel, da der Horizont sich etwas aufgehellt hatte. Diesmal lag sie wieder in SO. Das Eis wird allem Anschein nach unter dem Einfluss der Gezeiten vor der Insel hin und her getrieben. Aus diesem Grunde ist auch so ungeheuer viel Brucheis in den Wunen vorhanden. Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie viel es von diesem widerwärtigen Zeug, diesem Eisbrei, in der Nähe der Insel gibt. Gubanow versicherte mir unablässig, 171
dass die Insel heute besser zu sehen sei, doch ich konnte es nicht feststellen. Gegen Abend frischte der Wind auf, und es fing an zu graupeln. Sonnabend, den 14. (27.) Juni. Der Wind immer noch aus SSW. Das Wetter ist wieder kalt und neblig. Wir setzten uns um neun Uhr früh in Marsch und brachten bis sieben Uhr abends vier Werst hinter uns. Als wir über dünnes Eis gingen, brach Konrad, der vor dem ersten Schlitten schritt, plötzlich in einem schneeverwehten Seehundsloch ein. Er verwickelte sich in dem Zuggurt, der Schlitten glitt weiter und verdeckte das Loch. Wir schnitten zwar schnell den Gurt durch, schleppten den Schlitten beiseite und zogen Konrad heraus, aber er war schon bis auf die Haut nass und hatte sogar Wasser geschluckt. Es blieb uns nichts anderes übrig, als das Zelt aufzuschlagen und Feuer anzufachen, um den verunglückten Kameraden zu erwärmen. An Zwieback sind uns für zehn Mann nur noch drei Pud verblieben. Die Jagd ist seit den letzten Tagen weniger erfolgreich als früher. Zu Mittag gab es heute Zwieback und heißes Wasser, dem wir die letzte Büchse kondensierte Milch zusetzten. Bei einer gemeinsamen Aussprache beschlossen wir, möglichst weite Erkundungsgänge zu unternehmen und, falls die Ergebnisse ungünstig ausfallen sollten, das Zelt und alles nur irgend Entbehrliche zurückzulassen, um mit fast leeren Kajaks schneller weiterzukommen. Es tut uns Leid, unsere Habe – Beile, Harpunen, 172
Stöcke, Reserveskier, warme Kleidung und Schuhwerk, jede leere Blechbüchse zurückzulassen; gewiss, sie machen eine ziemlich umfangreiche Ladung aus, doch wie nötig, wie unentbehrlich würde das alles für uns sein, wenn wir auf dieser Insel überwintern müssten. Und die Überwinterung wird uns aller Wahrscheinlichkeit nach nicht erspart bleiben. Bei der Erkundung der Wegstrecke, etwa eine Werst vom Lager entfernt, sahen wir in einer der Wunen luftholende Seehunde. Wir entschlossen uns abzuwarten. Wieder lächelte Fortuna im entscheidenden Augenblick. Nachdem wir eine Weile an der Wune gesessen hatten, schossen wir zwei Seehunde, und auf einmal war das herrlichste Abendessen da. Alle fassten neuen Mut und beschlossen, einstweilen noch keine Habe zurückzulassen. Montag, den 16. (29.) Juni. Gestern haben wir nicht mehr als zwei Werst zurückgelegt. In der Wune, in der wir vorgestern zwei Seehunde erlegt hatten, erbeuteten wir gestern früh noch zwei. Wir überquerten die Wune und machten infolge dichten Nebels Halt. Bei schlechter Sicht über solches Eis zu gehen war geradezu lebensgefährlich. Man konnte in einen Brei geraten, aus dem man nicht wieder herauskam. Während wir das Zelt aufbauten und Feuer anfachten, gelang es Lunjajew, im Verlauf von einer Stunde fünf Seehunde zu erlegen. Eine Glück bringende Wune! Man hätte ohne Mühe noch weitere Tiere zur Strecke bringen können, doch 173
vorerst war unser Bedarf an Fleisch hinreichend gedeckt. Soweit ich die Umgebung unseres Lagerplatzes überblicken kann, befinden wir uns auf einem kleinen Eisfeld, das von allen Seiten mit Brucheis umgeben ist. Nirgends ein gangbarer Weg zu sehen. Unsere Lage ist wenig beneidenswert, zumal der Wind wie zum Trotz schon seit einigen Tagen aus S bläst und uns vielleicht noch von der Insel abtreibt. Es bleibt uns nichts weiter übrig, als die Entwicklung der Dinge abzuwarten. Ein Glück, dass die Seehunde so zahlreich sind. Vielleicht wird sich der Wind drehen und uns näher an die Insel herantreiben oder zumindest diesen ganzen elenden Brei aus klein gestückeltem Eis zusammenschieben. Was soll man tun, was unternehmen? Sollen wir abwarten, bis sich die Wegverhältnisse bessern oder eine zufällig sich bildende Wune, die in günstiger Richtung verläuft, auftaucht, oder sollen wir alles stehen und liegen lassen und versuchen, mit Bündeln und auf unseren Skiern die Insel zu erreichen? Nein, wir dürfen die Kajaks nicht zurücklassen! Wir können auf Strecken freien Wassers stoßen, die zu überqueren kaum anders denkbar ist als mit Kajaks. Wir machten den Versuch, unser ganzes Hab und Gut in einem Kajak zu verstauen und den Schlitten mit acht Mann zu ziehen. So wie ich angenommen hatte, scheiterte unser Experiment kläglich. Der überladene Schlitten sank so tief in den weichen, tauenden Schnee ein, dass es acht Mann ebensolche Mühe kostete, einen Schlitten zu ziehen, wie sonst drei. Auch waren unsere altersschwachen Schlitten solchen Anforderungen nicht mehr gewachsen. Ohne Schlitten konnten wir wiederum mit den Kajaks nichts 174
anfangen. Dieser Versuch bestärkte mich in der Meinung, nicht einen von den drei uns verbliebenen Kajaks zurückzulassen. Ich möchte das Risiko nicht auf mich nehmen. Besser langsamer vorwärts zu kommen, als eines schönen Tages auf einer Eisscholle festzusitzen, die ringsum von Wasser umspült ist. Man darf nicht verzagen. Nur Beharrlichkeit und Zuversicht führen zum Ziel. Wir müssen doch einmal, wenn auch langsam, an die Insel herankommen, und dies mit unserer ganzen noch verbliebenen Habe. Eigentlich sind doch erst sieben Tage verstrichen, seit wir die Insel sichteten, und in dieser Zeit haben wir uns ihr natürlich ganz beträchtlich genähert. Früher konnte man sie nur mit dem Fernglas beobachten, und jetzt ist sie, wenn sich der Nebel teilt, ganz gut mit bloßem Auge zu sehen. Es ist kein Wunder, dass sie uns so fremd und unnatürlich erscheint. Sicher ist sie auch in nächster Nähe so. Soweit ich mich entsinnen kann, hat Nansen, nachdem er die Weiße Insel – Hvidtenland – zum ersten Mal sichtete, volle zwei Wochen gebraucht, um dorthin zu gelangen. Und dabei hatte er noch Hunde bei sich, die ihm beim Schlittenziehen gute Dienste leisteten. Und auch seine Schlitten waren mit den unseren nicht zu vergleichen. Nein, was mir die »Skiläufer« auch erzählen mögen, ich werde die Kajaks nicht preisgeben, zumindest den meinen nicht. Und wenn jemand von ihnen anderer Meinung ist, so mögen sie tun, was sie wollen. Ich habe sie weder an mich noch an die Kajaks gekettet. Das gab ich ihnen auch in unmissverständlichen Worten zu verstehen.
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Um sechs Uhr abends brachen wir auf und gingen weiter. In zwei und einer halben Stunde legten wir etwa fünf Werst zurück. Dann zwang uns das auseinander treibende Eis, auf einer großen alten Scholle Halt zu machen. Auf dieser Eisscholle fanden wir zum ersten Mal in diesem Jahr Süßwasser vor. Kaum hatten wir unser Zelt aufgestellt, als Konrad gelaufen kam und uns mitteilte, hinter den Eishügeln läge ein großes Walross. Sofort griffen wir nach unseren Büchsen und liefen zu der bezeichneten Stelle. Das Walross lag am Rande einer Wune und hob von Zeit zu Zeit lauschend den Kopf. Wie vorsichtig wir uns auch heranpirschten, wir kamen dennoch nicht zum Schuss. Das riesige Tier hatte uns anscheinend gewittert, stürzte ins Wasser und verschwand. Wir untersuchten die Lagerstatt und stellten fest, dass dort mehrere Walrosse gelegen haben mussten. Ihre Körper hatten aufgetaute, stark mit Kot beschmutzte Stellen hinterlassen. Das Auftauchen der Walrosse erfüllte uns mit großer Freude. Der Nebel hielt sich den ganzen Tag, so dass es mir unmöglich war, eine Ortsbestimmung vorzunehmen. Dienstag, den 17. (30.) Juni. Der heutige Tag brachte viel Aufregung. Ein schwerer Schlag traf mich, von dem ich mich, wie es scheint, lange nicht werde erholen können. Gestern Abend erboten sich zwei meiner Leute – ihre Namen möchte ich nicht nennen –, heute um vier Uhr früh einen Erkundungsgang auf Skiern zu unternehmen, und baten mich, ihnen für alle 176
Fälle ihre Ration Zwieback auszuhändigen. Das taten wir stets aus Sicherheitsgründen. Früh um halb vier wachte ich auf, weckte die Kundschafter und schlief sogleich wieder ein. Als ich zum Frühstück wieder erwachte, erfuhr ich, dass die Kundschafter noch nicht zurück seien. Um zwölf begann ich mir schon Sorgen zu machen, und wir beschlossen, ihren Spuren nachzugehen, um sie zu suchen. Es konnte ja sein, dass sich das Eis inzwischen verlagert hatte und es ihnen daher nicht gelang, den Weg zu uns zurückzufinden. Es erwartete uns aber eine böse Überraschung: Als wir zum Aufbruch rüsteten, machten wir die Entdeckung, dass die Kundschafter ein Paar der besten, Lunjajew gehörenden Stiefel, dazu fast die ganze warme Kleidung Maximows, einen Sack Zwieback im Gewicht von dreiundzwanzig Pfund und außerdem unsere einzige Doppelflinte mit etwa zweihundert Patronen entwendet hatten. Ich stürzte zu meinem Kajak und musste feststellen, dass die Diebe auch hier gehaust hatten. Es fehlte ein Paket mit zwölf Schachteln Streichhölzer, der einzige Feldstecher, den wir besaßen und der für uns seines eingebauten Kompasses wegen so nützlich war, und die verlötete Blechbüchse, die die Post und unsere sämtlichen Dokumente enthielt. Die »Kundschafter« hatten auch nicht vergessen, unsere einzige Taschenuhr, die Smirennikow gehörte, mitgehen zu lassen. Kurz, unsere »Gefährten« hatten sich gut versorgt. Schließlich fand ich statt meiner Skier, die noch sehr gut waren, ein Paar lädierte vor. Es war also keiner von uns zu kurz gekommen, keiner übergangen worden. Ich kann kaum beschreiben, wie empört wir bei dieser Entdeckung waren. Alle drängten darauf, den 177
Dieben sofort auf Skiern nachzujagen. Und ich bin überzeugt: Wäre es gelungen, sie einzuholen, man hätte kurzen Prozess mit ihnen gemacht. Doch ich dämpfte den Eifer meiner Gefährten; nicht etwa deshalb, weil ich die Entflohenen bedauerte, sondern aus der Erwägung heraus, dass es keinen Sinn hatte, die Verfolgung aufzunehmen. In acht Stunden hatten die Diebe aller Wahrscheinlichkeit nach einen so großen Vorsprung gewonnen, dass es unmöglich gewesen wäre, sie zu fassen. Auch in anderer Hinsicht schien das Unternehmen sehr gewagt. Bei der ständigen, unberechenbaren Bewegung des Eises liefen wir Gefahr, unser ganzes Hab und Gut zu verlieren, da wir zwischen den Eisrücken den Rückweg nicht würden finden können. Aber auch die Spuren der Flüchtlinge hätten wir bald verloren. Wohl oder übel mussten wir uns mit der entstandenen Lage abfinden und überlegen, wie wir am klügsten unsere Reise fortsetzten. Von dem Zelt, einem Kajak und einem Schlitten mussten wir uns nun trennen. Ohne Zelt auszukommen würde uns nicht allzu schwer fallen, schwerer jedoch, uns auf zwei Kajaks für acht Mann zu beschränken, weil darin höchstens sieben Mann Platz hatten und auch das nur, wenn man die Fahrzeuge zusammenkoppelte und die Schlitten nicht auflud. Wir ließen also einen Kajak stehen, nachdem wir ihn noch vorsorglich mit dem Namen »St. Anna« verziert hatten, ließen auch den Schlitten und das Zelt im Stich und machten uns auf den Weg. Jetzt waren die Schlitten leichter geworden. Vier Mann zogen den ersten Schlitten, drei Mann den zweiten, und ich ging auf Skiern voraus, um den besten Weg und die günstigsten Übergangsstellen 178
ausfindig zu machen. Einmal bemerkten wir einen Zug von neun Eiderenten, die von der Insel kamen, und auf einem großen Eisfeld lagernde Seehunde. Kaum wurden sie unser ansichtig, schlüpften sie sofort in die Eislöcher. Als wir etwa drei Werst zurückgelegt hatten, gingen uns auf einmal beide Schlitten zugleich entzwei. Einer war noch in verhältnismäßig kurzer Zeit zu reparieren, an dem anderen war der Schaden schon größer. Wir mussten eine Pause einlegen, vier Mann begaben sich zum alten Lagerplatz und trafen zwei Stunden später mit dem zurückgelassenen Schlitten wieder bei uns ein. Wir tranken Tee, von dem wir noch einige Krümel zwischen der Munition gefunden hatten, und begannen eifrig den herangeholten Schlitten für den Kajak passend zu machen und den defekten auszubessern. Um zehn Uhr setzten wir uns wieder in Marsch. Es herrschte völlige Windstille bei dichtem Nebel. Mittwoch, den 18. Juni (1. Juli). Wir marschierten bis drei Uhr morgens und legten bei leidlicher Bahn ungefähr fünf Werst zurück. Wir stoßen jetzt auf kleinere Felder, auf denen der Schnee fast gänzlich abgetaut ist. Vorwiegend ist es junges Eis. Mit dem Magazingewehr auf dem Rücken gehe ich weit voraus, erklettere hohe Eisberge und spähe nach einem gangbaren Weg aus. Wenn der Weg auf zwei, drei Werst gesichert ist, kehre ich zu den Kajaks zurück und helfe beim Überqueren der Wunen. Wir gehen schweigend: Noch immer stehen wir unter dem Eindruck des Diebstahls und der Flucht unserer treulosen Gefährten. Als wir eine Wune passierten, 179
sahen wir ein Walross, das lange neugierig zu uns herüberäugte. Nach Mitternacht klarte das Wetter auf und gegen drei Uhr kam sogar die Sonne zum Vorschein. Statt des Zeltes bauten wir uns für die Nacht mit Hilfe von Skiern, Paddeln und Kajaksegeln eine Art Wetterdach, während uns die Kajaks als Windschutz dienten. Am Morgen erwachten wir spät, etwa um neun Uhr. Das Wetter war schön, und die Sonne strahlte. Der Nebel hielt sich noch, aber nur am Horizont. Gubanow und ich setzten über eine Wune und begannen auf Skiern die Gegend zu erkunden. Die Gletscherinsel ist in SSO gut sichtbar, ihr ebenmäßiges Aussehen, die unnatürliche silbrig-matte, manchmal auch bläuliche Färbung verwirren mich nach wie vor. Die Insel ist bedeutend höher geworden, rechts von ihr ist ein merkwürdiger hellbrauner Streifen zu sehen. Es ist entweder eine flache, niedrige Landzunge oder eine zweite, kleinere Insel. Das Letztere wird wohl eher zutreffen, da dieser dünne Streifen näher zu sein scheint als unsere »Mondinsel«. Allerdings bin ich noch nicht ganz davon überzeugt. Der Weg ist leidlich, man kann sich immerhin fortbewegen. Heute gelang es uns wieder, einen Seehund zu erlegen, zum Mittagessen gab es daher zwei Gänge: Suppe und Koteletts. Gleich nachmittags brachen wir auf und bewältigten bis sechs Uhr abends annähernd fünf Werst. Infolge dichten Nebels und Regens mussten wir unseren Marsch unterbrechen. Ein Wetterdach mit drei Windschutzwänden zu errichten bereitet uns keine Schwierigkeiten mehr, so dass wir das Zelt kaum noch vermissen. Mit dem Zelt hatten wir sogar noch mehr Scherereien, und schwer war es auch. Zudem ist es jetzt nicht 180
mehr so kalt. Auf dem Schnee legen wir die Skier in Reihen nebeneinander, breiten darauf die Segeltuchstreifen aus, die früher als Schutzstreifen für die Kajaks dienten, und bauen so einen ganz annehmbaren Raum mit viel »Luft und Licht«. Wir marschierten heute mit SSO-Kurs. Anfangs trafen wir noch auf die Spuren der Flüchtigen, doch bald verloren wir sie aus den Augen. Als ich am Mittag bei schönem Wetter von einem hohen Eisrücken aus die Sonnenhöhe nahm, kam es mir vor, als sähe ich durch das Rohr meines Sextanten, der mir jetzt den Feldstecher ersetzt, die Umrisse zweier menschlicher Gestalten. Mir liegt nicht viel daran, sie einzuholen. Sollten wir sie dennoch einholen, bleiben nur zwei Möglichkeiten: Wir machen entweder kurzen Prozess mit ihnen oder begnadigen sie. Ich neige zu der Ansicht, dass meine Gefährten auf der Ersteren bestehen würden. Wenn wir Gnade walten ließen, nähmen wir eine große Bürde auf uns, da Kajak und Schlitten sowie noch andere notwendige Dinge bereits zurückgelassen werden mussten. Es dürfte uns jetzt kaum noch gelingen, sie wieder zu finden. Unverständlich und sinnlos erscheint mir diese Flucht. Ich habe doch mehr als einmal allen »Skiläufern« gesagt, dass ich niemanden zwinge, zu bleiben, und niemanden an mich und die Kajaks binde. Diejenigen, die es wünschten, hätten fortgehen können, nicht bei Nacht und Nebel, sondern nachdem die Reste unserer Ausrüstung ehrlich mit ihnen geteilt worden waren. Doch die Flüchtigen hatten es vorgezogen, uns zu bestehlen, sich unsere Privatsachen anzueignen und auf die infamste Weise alle unsere Dokumente, die Pässe und die Post mitzunehmen. Während sie 181
die Doppelflinte und alle Schrotpatronen gestohlen haben, eigneten sie sich von den Gewehrpatronen nur zehn Stück an; das würde kaum ausreichen, wenn man die häufigen Begegnungen mit Eisbären in Betracht zieht. Doch ich bin neugierig, wohin sie sich wenden werden. Sie wissen beide nicht, wo wir uns befinden, wo Kap Flora und wo Spitzbergen liegt. Donnerstag, den 19. Juni (2. Juli). Gestern hatten wir uns vorgenommen, noch am selben Abend aufzubrechen, doch bis zwei Uhr nachts war das Wetter sehr neblig. Um drei Uhr setzten wir uns in Marsch und hatten bis sieben Uhr fünf Werst hinter uns gebracht. Auf einem großen Eisfeld machten wir Halt. Obwohl der Horizont mit Dunstschleiern verhangen ist, kann man die Inselspitze gut erkennen. Rechts von ihr, am Horizont, ist der dunkle Strich nach wie vor sichtbar. Es ist, als schneide der allmählich abfallende Gletscherrand diesen dunklen Streifen ab. Weiter links ist er nicht mehr zu sehen. Wahrscheinlich ist es ein flacher, gletscherfreier Uferstreifen. Jetzt vermag ich die Entfernung, die uns von der Insel trennt, schon mit ziemlicher Genauigkeit zu schätzen. Es können höchstens noch zwölf bis fünfzehn Werst sein. Es gelang mir auch heute nicht, die Sonnenhöhe zu messen. Wind aus SW, Stärke fünf. Um zwei Uhr nachmittags zogen wir weiter. Der Weg ist auch heute ziemlich gut. Junges Eis mit wenig Schnee und nur selten von niedrigen Eisrücken unterbrochen. Es geht 182
sich angenehm, es ist sogar warm. Ich laufe weit voraus und bemühe mich, den günstigsten Weg zu finden. Dann kehre ich zurück, wobei ich mit meinen Brettern eine gerade Spur zum angemerkten Ziel lege. Doch meine Gefährten sind auffallend müde, diese verhältnismäßig langen Märsche sind nicht nach ihrem Geschmack. Obgleich die Schlitten jetzt leicht sind, schleppen sie sich langsam, Schritt für Schritt, hinter mir her. Mehr als einmal konnte ich beobachten, wie sie Halt machten, sobald sie mich in der Ferne hinter Eishügeln verschwinden sahen, sich im Schutze von Eisklippen neben den Kajaks ausstreckten und sich von der Sonne bescheinen ließen, als sei ihnen alles gleichgültig. Beim Anblick großer Eisfelder sind sie ruhiger geworden und meinen, der Weg werde nun bis zur Insel so bleiben. Wenn ich sie zur Eile anzuspornen versuche und mich selbst vor den Schlitten spanne, antworten sie mir seelenruhig: »Wozu beeilen, wir kommen schon noch zurecht.« Nach etwa zwei Stunden waren diese großen Eisfelder jedoch zu Ende. Wir stießen auf Wunen, und je weiter wir gingen, desto mehr Wunen begegneten wir; diese sind erträglich, man kann sie entweder umgehen oder in Kajaks überqueren. Seehunde tauchen in ihnen auf, und an einen, der auf dem Eise lag, kam ich zufällig sehr nahe heran. Doch kaum hatte ich das Gewehr von der Schulter genommen, schlüpfte er auch schon in ein fünf Faden von mir entferntes Eisloch. Um halb sieben Uhr abends, nachdem wir sechs Werst zurückgelegt hatten, hielten wir inne und bereiteten das Abendbrot. Ringsherum am Horizont zeigte sich viel »Wasserhimmel«. Allem 183
Anschein nach ist das Eis in Bewegung gekommen. Es wird durch den Wind und die Ebbe auseinander getrieben. Die Insel ist nicht zu sehen, doch in der Richtung, wo sie sich befindet, kann man einen hellen Schein wahrnehmen, offenbar den Eisblink. Zum Abendbrot hatten wir gebratenes Seehundsfleisch, Zwiebackskrümel, von denen sich etwa ein Pud angesammelt hat, und statt Tee warmes Wasser, natürlich ohne Zucker. Ich habe vor, nachts aufzubrechen. Freitag, den 20. Juni (3. Juli). Wieder habe ich heftige Augenschmerzen und kann nur mit großer Mühe schreiben. Um drei Uhr früh zogen wir los und marschierten bis sechs Uhr dreißig Minuten über schlechte Bahn, wobei wir vier Werst zurücklegten. Viele Wunen versperrten uns den Weg. Nachts herrschte Frost bei dichtem Nebel, doch gegen Morgen wurde es klar und tagsüber warm. Die Westspitze der Insel ist heute genau im Süden zu sehen. Wahrscheinlich wird das Eis unter dem Einfluss der Gezeiten an der Küste hin und her getrieben und durch den Südwind allmählich von der Insel weggedrückt. Es ist beschwerlich, über Treibeis zu schreiten, gegen den Wind. Infolge meiner Schneeblindheit bin ich außerstande, selbst auf Kundschaft zu gehen, und schickte deshalb zwei Mann aus. Wieder beginnen die Klagen, wie belastend die Kajaks doch seien, wie leicht es sich ohne sie, nur mit Bündeln auf dem Rücken, marschieren ließe … Aber wer hindert sie denn, einfach loszuziehend Mögen sie doch gehen, wohin sie wollen. Ich aber denke nicht daran, 184
meinen Kajak im Stich zu lassen, und werde gegebenenfalls mit einem oder zwei Gefährten den Marsch in der bisherigen Weise fortsetzen. Wie oft habe ich ihnen das schon gesagt! Sonntag, den 22. Juni (5. Juli). Die ganze letzte Zeit waren meine Gefährten mutlos und nörgelten herum. Immer wieder versuchten sie mich zu überreden, die Schlitten und Kajaks zurückzulassen und ohne jegliches Gepäck weiterzumarschieren. Jetzt wollten sie nicht einmal einsehen, dass wir immerhin beträchtlich näher an die Insel herangekommen sind. Am schlimmsten ist es, dass weder Not noch Hunger oder jämmerliche Wege die Triebfedern ihres Unmuts sind, sondern einfach nur ihre Faulheit. Die Kajaks sind leicht und lassen sich mühelos über ebenes Eis ziehen. Zwischen hohen Eisrücken aber ist auch auf Skiern nicht durchzukommen. Dieses ewige Lamentieren fällt mir allmählich auf die Nerven. Ich glaube, ich werde einmal die Geduld verlieren und die Unzufriedenen von mir aus davonjagen. In einer solchen Stimmung brachen wir nun heute früh auf. Anfangs war der Weg noch leidlich, doch dann kamen solche Eisblöcke, Barrieren und Spalten, dass Gott erbarm! Doch es gelang uns an diesem Tage, mit einer einzigen Unterbrechung die ansehnliche Strecke von zehn bis zwölf Werst zu bewältigen. Die Insel ist so nahe gerückt, dass wir hoffen, morgen zur Nacht dort landen zu können. Mein Gott! Ist ein solches Glück überhaupt möglich? 185
Heute ist herrliches Wetter. Die Sonne brennt so heiß, dass wir nur in Trikothemden und ohne Mützen marschieren. Man hört förmlich, wie der Schnee taut und sich setzt, wie darunter das Schmelzwasser gluckert. Grell prallen die Sonnenstrahlen auf die Schneedecke, und über dem Gletscher liegt sogar ein Leuchten. Fast alle werden von Augenschmerzen geplagt. Mit der Jagd haben wir kein Glück. Wir treffen nur selten auf freie Wunen, an denen sich dann keine Seehunde zeigen. Doch an einer Stelle scheuchte ich ein Walross auf, das auf dem Eise lag und sich sonnte, und an einer anderen Stelle, inmitten eines großen Feldes, einen Seehund, der im Begriff war, aus dem Eisloch zu klettern. Es ist geradezu unmöglich, sich über einen freien Platz an die Tiere heranzuschleichen. Ich kann nicht begreifen, warum die Walrosse, die Nansen angetroffen hatte, so furchtlos und träge waren, dass er ihnen mit dem Stock auf die Schnauze schlagen musste, um sie für seine fotografischen Aufnahmen in eine passende Lage zu bringen. Die jedenfalls, die wir antreffen, sind recht ungesellig! Heute marschierten wir bis halb zwölf Uhr nachts mit einer zweistündigen Unterbrechung für die Mittagspause. Zum Frühstück kochten wir uns eine Suppe aus Resten gedörrten Bärenfleisches und würzten sie mit »Skorikows Fleischextrakt«. Zu Mittag gab es Wassersuppe aus Zwiebackkrumen und getrockneten Zwiebeln. Süßwasser ist jetzt überall auf dem Eis zu finden. Nur noch zwei Pfund Fleischextrakt sind uns verblieben. Voller Hoffnung auf den kommenden Tag schlagen wir unser Nachtlager auf. Was mag uns erwarten? 186
Mittwoch, den 25. Juni (8. Juli). (Morgens.) Eine verzweifelte Lage! Wir stehen in einer Entfernung von etwa fünfzig Faden vor dem Steilhang des Gletschers. Er erstreckt sich von W nach O, so weit das Auge reicht. Eine Wand, fast senkrecht und ungefähr fünfzehn Faden hoch, von reiner, hellblauer Färbung und ganz glatt, als sei sie nach dem Lineal haarscharf abgeschnitten. Oben über dem Hang ist jene »mondartige« Wölbung zu sehen, die uns so lange mit ihrem rätselhaften Aussehen verwirrt hatte. Sie erhebt sich wie ein Buckel im Süden und fällt nach Westen sehr flach ab. Wir hatten uns der Insel von Westen her mit Blick auf die flache Landzunge genähert, wie wir es schon vorgestern, also am 23. Juni (6. Juli), erwartet hatten. Bis zur Insel waren es damals vielleicht etwas mehr als anderthalb Werst. Das Eis war zerstückelt, man konnte aber trotzdem einigermaßen darauf vorwärts kommen. Je näher wir aber an die Insel herankamen, desto unmöglicher wurde die Haltung meiner Leute. Immer langsamer und träger wurden ihre Bewegungen, sie schleppten sich unter gegenseitigen Beschimpfungen nur so dahin. Es wollte mir einfach nicht gelingen, ihre Apathie zu vertreiben. Sie verhielten sich der Zukunft gegenüber teilnahmslos und zogen es vor, sich bei jeder passenden Gelegenheit hinzulegen, die Augen starr gen Himmel gerichtet. Wenn ich mich nicht dauernd bemüht hätte, sie aufzurütteln, wären sie wohl fähig gewesen, einen ganzen Tag lang liegen zu bleiben. 187
Das Eis war fast bis zum Ufer zusammengepresst, und obgleich es unter den Füßen schwankte, konnten wir uns, wenn auch mit größter Vorsicht, darauf fortbewegen. Wie dem auch sei, gestern früh gegen sieben Uhr befanden wir uns eine halbe Werst von dem niedrigen Landstreifen entfernt. Dieser Streifen war gletscherfrei; er war es, der uns vor einigen Tagen als brauner Strich am Horizont erschienen war. Da setzte unerwartet Ebbe ein, und das Eis begann auseinander zu treiben. Zu unserem Unglück sprang ein ziemlich frischer SW-Wind auf, der allmählich anschwoll und bald in Sturm überging. Wären hier große Eisfelder gewesen, so hätte kaum ernstere Gefahr bestanden, der Wind wäre abgeflaut und das Eis unter dem Einfluss der einsetzenden Flut wieder zusammengepresst worden. Doch das Eis, das uns umgab, war zerstückelt, und die Scholle, auf der wir uns befanden –es war wohl die größte im Umkreis –, hatte einen Durchmesser von höchstens vier Faden. Innerhalb weniger Minuten hatte sich das Bild von Grund auf verändert. Zwischen uns, die wir uns plötzlich auf zwei verschiedenen Schollen etwa eine Werst voneinander entfernt befanden, und der Insel hatte sich eine Wune gebildet, die mit jedem Augenblick an Größe zunahm. Das Eis wurde unheimlich schnell von dem Wind und der starken Strömung nach NO getrieben. Auf dem eisfreien Wasser entstand hoher Wellengang; die Wellen zerkleinerten das Eis noch mehr und überschütteten uns mit wahren Sturzbächen. Wir machten den Versuch, uns mit Hilfe der Kajaks zu vereinen und wenn möglich das freie Wasser zu überqueren, doch unsere Bemühungen waren zum Scheitern verurteilt. Die Kajaks wurden wie 188
hilflose Nussschalen hin und her geschleudert und von Sturzseen überflutet. Auch drohten umhertreibende Eisstücke ihre Wände zu durchbohren. Bald war das flache Kap unseren Blicken entschwunden, und die brodelnde Wune gewann nach O und W eine immer größere Ausdehnung. Weit im Süden stand jetzt die steile Gletscherwand, die uns eben noch greifbar nahe gewesen war. Da war nichts zu machen. Hilflos wie wir waren, konnten wir uns nur in Segeltuch hüllen und versuchen, im Schlaf Stärkung zu finden. Gewiss, unsere vier Faden große, nicht allzu dicke Scholle konnte jeden Augenblick in Stücke brechen, doch dagegen vermochten wir sowieso nichts zu unternehmen. Zum Glück geschah dies nicht. Gegen Abend flaute der Wind ab, und um elf Uhr wurde das Eis durch die Flut wieder dicht an die Insel gedrückt, aber schon etwa acht Meilen östlich des flachen Kaps, das die einzige Möglichkeit zur Landung bot. Die vier Mann, die vorher so weit von uns abgetrieben waren, konnten sich jetzt mit uns vereinigen. Wir saßen regelrecht in einer Mausefalle: ringsumher zerstückeltes Eis, mit Eisschlamm durchsetzt, das Rettung verheißende Kap den Blicken entschwunden, vor uns die steile, fünfzehn Faden hohe Gletscherwand, die nicht einmal ein Affe hätte erklimmen können. Mit etwas Zwieback und warmem Wasser stillten wir unseren Hunger. Im Ganzen besitzen wir noch für acht Mann fünf Pfund Zwieback, ein halbes Pfund »Skorikows Fleischextrakt« und zwei Pfund Salz, das ist unser ganzer Vorrat. Seehunde haben wir schon seit Tagen nicht mehr gesehen, Bären schon lange nicht. Taucherenten fliegen freilich umher, doch wir können sie nicht schießen, weil 189
unsere einzige Schrotflinte von unseren sauberen Kumpanen gestohlen wurde. Und einen Taucher im Fluge mit einer Gewehrkugel zu treffen ist eine sehr schwierige Sache. Obgleich wir unser lang ersehntes Ziel erreicht hatten und endlich an die Insel herangekommen waren, hätte ich es in unserer Lage vielleicht sogar vorgezogen, einige Meilen von dieser unzugänglichen Insel entfernt im Meer an einer guten Wune zu sein, in der viele Seehunde auftauchten. Jetzt beginne wohl auch ich schon den Mut zu verlieren! Von meinen Gefährten, die wie die begossenen Pudel herumlaufen, brauche ich gar nicht erst zu reden. Zu allem Unglück spüre ich schon seit vier Tagen Herzbeschwerden und habe unter Übelkeit und Schwindelanfällen zu leiden.
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Auf dem Alexandra-Land Sonnabend, den 28. Juni (11. Juli). Zwei Tage lang habe ich nichts mehr in mein Tagebuch eingetragen, nicht etwa, weil ich es vergessen hätte oder weil wir fast am Verhungern waren, sondern weil es mir an der erforderlichen Zeit und Ruhe fehlte, die zahlreichen wechselvollen Eindrücke während der letzten 48 Stunden zu Papier zu bringen. Es hat sich diesmal alles zum Guten gewendet, Gott sei Dank! Soeben habe ich meine letzten Tagebuchaufzeichnungen vom 25. Juni (8. Juli) durchgelesen und sehe, in welch verzweifelter Lage wir uns damals befanden, wie wir fast den Mut verloren hatten, ohne zu ahnen, wie einfach der Ausweg aus dieser scheinbaren Aussichtslosigkeit war und dass die Sache am Abend ganz anders aussehen würde. Jetzt sitzen wir schon auf der Insel. Unter unseren Füßen ist kein schwankendes Eis mehr, auf dem wir beinahe zwei Jahre zugebracht hatten, sondern fester Boden, Steine und Moos. Wir sind satt und zufrieden. Siebenundzwanzig fette Eiderenten, so groß wie Gänse, hängen auf hochgestellten Skiern und warten darauf, in den Kochtopf zu wandern. Mehr als zweihundert Eiderenteneier haben wir schon während der letzten zwei Tage verzehrt, doch neben uns in einer Kute liegt noch ein ansehnlicher Vorrat davon, und die Jäger sind nach neuer Beute und frischen Eiern unterwegs … Doch nun will ich genau berichten, wie sich alles zugetragen hat. 191
Am 25. Juni, als sich unsere Lage so plötzlich verschlechterte und wir der Verzweiflung nahe waren, hatte auch ich beinahe jede Hoffnung aufgegeben. Es blieben uns nur zwei Möglichkeiten: entweder wieder nach W zurück zu dem flachen Kap zu gehen, von dem uns jetzt ungefähr acht Seemeilen trennten, und den Weg über das schwankende Bröckeleis, das an vielen Stellen das Gewicht eines Menschen nicht trug, zu erzwingen, oder sitzen zu bleiben und den Hungertod zu erwarten. Da kam mir plötzlich der Gedanke, den Hang des Gletschers genauer in Augenschein zu nehmen. Sollte sich denn in dieser Eiswand wirklich keine Stelle finden lassen, die es gestattete, den Gletscher, wenn auch unter Lebensgefahr, zu erklimmen? Zu unserem Glück fand sich eine solche Stelle, und sogar nicht sehr weit von unserem Standort. Es war ein Spalt, bis zu einem Faden breit, der den Gletscherhang in seiner ganzen Höhe durchzog und in spitzem Winkel in die Wand drang. Dieser Spalt war offenbar schon recht alt. Im Laufe von sicherlich mehreren Jahren hatte er sich mit Schnee fast vollständig ausgefüllt und bildete eine Art steiler Rinne. Mit dem Beil schlugen wir in den Schnee dieser Rinne Stufen, wobei wir die Harpunen als Stützen benutzten, und bezwangen auf diese Weise, Schritt für Schritt, die Gletscherwand. Endlich standen wir auf der ersehnten Insel, die zu erklimmen wir schon fast aufgegeben hatten. Mit Müh und Not schleppten wir die Schlitten an unsere künstliche »Treppe« heran und zogen mit Hilfe von Seilen Stück für Stück all unser Hab und Gut, die Kajaks und die Schlitten mit einbegriffen, die fünfzehn Faden hohe Wand hinauf. Merkwürdig, kaum war 192
unser letzter Kajak hochgezogen, als die Scholle, die dicht an der »Treppe« lag und uns als eine Art Anlegestelle zur Entladung diente, barst und das Eis mit der einsetzenden Ebbe von der Insel abzutreiben begann. Doch das war uns jetzt gleichgültig und berührte uns nicht mehr. Ein eigenartiges Gefühl überkam mich, als ich von der Höhe der Insel auf dieses treibende Eis hinuntersah. Noch kurz vorher waren wir von ihm abhängig und völlig seiner Willkür ausgesetzt gewesen; ja, es war uns durch diese Abhängigkeit sogar irgendwie vertraut geworden. Wir hatten uns während dieser zwei Jahre daran gewöhnt, uns auf dieser beweglichen Masse wie zu Haus zu fühlen, und die weiße Eiswüste schreckte uns nicht mehr. Obwohl wir schon vor zweieinhalb Monaten die »St. Anna« verlassen und uns auf eigenen Füßen etwa dreihundert Werst von ihr entfernt hatten, waren wir doch noch durch dieses Eis mit ihr verbunden geblieben. Wir waren, genau wie sie, von dem Eis abhängig. Doch jetzt, da wir auf fester, wenn auch mit Gletschereis bedeckter Erde standen, war uns dieses Eis, das sich weit, weit nach N bis zu der »St. Anna« hin erstreckte, plötzlich fremd geworden. Es hatte seine Macht über uns verloren; es sah aus, als ließe es nur ungern die Opfer aus seinen Armen, und seine geheimnisvolle, erhabene Ferne wurde uns unheimlich. Hatte uns ehedem dieses Eis mit dem verlassenen Schiff verbunden, so war mit der geborstenen Eisscholle dicht an unserer »Treppe« diese Verbindung gerissen. Die »St. Anna« hatte ihren Weg und wir den unseren. Mein Gott, was für ein weiter Horizont tat sich von der Höhe des Gletschers vor unseren Blicken auf! Vor der 193
Insel konnte man noch freies Wasser und einzelne Schollen inmitten zahlreicher Kanäle und Wunen sehen, doch je weiter das Auge schweifte, umso weniger Wasserstellen wurden sichtbar; Eisrücken und einzelne Hügel verloren sich in der Ferne, und eine ununterbrochene, kompakte Eisfläche zog sich bis zum Horizont hin. Dort, irgendwo weit hinter dem Horizont, hatte mein Gefährte Bajew auf der Suche nach der »Schlitterbahn« sein Grab gefunden, und noch weiter lag im Eis eingeschlossen die »St. Anna« mit ihren dreizehn Mann Besatzung. Auf dem Gletscher kochten wir von dem letzten halben Pfund Fleischextrakt eine Suppe, aßen jeder einen halben Becher voll Zwieback dazu und rüsteten uns alsbald zum Weitermarsch nach W, dem Kap entgegen, das wir vom Eis aus gesichtet und als nächstes Ziel gewählt hatten. Wir mussten uns jetzt beeilen, weil an Proviant nur ein halber Becher Zwieback je Mann übrig geblieben war. Es war dringend notwendig, etwas Essbares zu beschaffen, bevor wir aus Nahrungsmangel völlig erschöpft waren. Und finden konnte man etwas Essbares nur dort, auf dem flachen, dunklen Kap, dem die Vögel zuflogen; das hatten wir ja schon auf dem Eise beobachtet. Hier oben, auf dem Gletscher, kam uns nichts vor die Flinte; er war so tot wie der Mond, dem er aus der Feme so ähnelte. Ich zog, von Lunjajew begleitet, auf Skiern voraus. Wir nahmen nichts außer Büchse und Patronen mit. Die übrigen sechs Gefährten hatte ich nachdrücklich ermahnt, mit nur einem Kajak und einem Schlitten unverzüglich unseren Spuren zu folgen und nur das Notwendigste für die erste Zeit mitzunehmen. Ich bat sie dringend, keine Minute zu 194
verlieren, da wir schon morgen nichts mehr zu essen haben würden und noch nicht wüssten, was uns bevorstünde. Die Oberfläche des Gletschers war ebenmäßig glatt und mit einer zollstarken Schneeschicht bedeckt. Es war für sechs Mann eine Kleinigkeit, den leichten Kajak über eine solche Bahn zu ziehen, es war, als würden sie vollständig ohne Gepäck marschieren. Doch ich hatte die Männer darauf aufmerksam gemacht, dass die glatte Gletscheroberfläche oft sehr trügerisch sein kann. Manchmal bilden sich im Gletscher breite Spalten, die von oben nur von einer dünnen Schicht Schnee zugeweht sind. Es ist nicht einfach, solche Schneebrücken zu bemerken, und man muss schon größte Vorsicht walten lassen, um nicht in den verräterischen Spalt zu stürzen, der den Tod bedeuten kann. Deshalb hatte ich auch darauf bestanden, dass die Männer mit dem Schlitten genau unseren Skispuren folgen sollten, ohne nach rechts oder links abzubiegen, während Lunjajew und ich, mit einem Seil verbunden, im Abstand von zwanzig Faden voneinander gingen. Um den Weg besser abzutasten, hatten wir sogar die Ringe an unseren Skistöcken entfernt. Nebel hing über dem Gletscher; bald teilte er sich, bald wurde er dichter. Bisweilen war nur ein geringer Ausschnitt der Wölbung sichtbar, selbst den Steilhang konnte man nicht erkennen: Dann bemühten wir uns, so zu marschieren, dass die ansteigende Gletscheroberfläche links von uns blieb. Doch wenn der Nebel hochzog, konnte man weit, weit im Osten die blauen Gipfel einer sehr hohen, anscheinend gletscherfreien Insel sehen. Diese ferne Felseninsel hatten wir wohl auch einmal bei schönem, 195
klarem Wetter vom Eis aus gesichtet. Wir trafen ziemlich oft auf Spalten, doch sie waren nicht breit und leicht zu passieren; wir konnten sie ohne Schwierigkeiten erkennen, auch wenn sie mit »Brücken« verdeckt waren. An einer Stelle sahen wir auf dem Meer in der Nähe des Gletschers zwei riesige Eisberge. Nach den Eistrümmern zu urteilen, die sie umgaben, musste der Absturz dieser Giganten sehr effektvoll gewesen sein. Die Neigung des Gletschers nach W war eher unbedeutend. Erhabene Stille herrschte ringsumher. Es war ganz windstill und ziemlich warm. Kein einziger Vogel flog über uns hinweg, keiner einzigen Tierspur begegneten wir auf unserem einsamen Marsch. Eine wahre »Mondinsel«! Plötzlich wurde der Hang nach W abschüssiger, und endlich, nach dreieinhalb Stunden Weg, bemerkten wir zu unseren Füßen das dunkle flache Kap. In der Erregung beschleunigten wir unsere Schritte und liefen rasch den Hang hinunter. Der rechte, nördliche Teil des Kaps ging in eine mit Steinen besäte Uferniederung über. Der Schnee auf diesem Landstreifen war noch nicht überall abgetaut, und das Wasser eilte in rauschenden Bächen zum Meer hinab. Jetzt lag der Gletscher hinter uns. Wir setzten nun endgültig unseren Fuß auf Land. Ein eigentümliches Brausen erfüllte die Luft. Unsere Augen schmerzten, und wir sahen alles wie durch einen Schleier. Wir waren völlig verwirrt und konnten noch gar nicht an diese märchenhafte Umgebung glauben. Dunkle Erde, deren Tönung wir lange nicht feststellen konnten, lag statt des Eises unter unseren Füßen. Jeden Augenblick stolperten wir über Steine, gerieten in Löcher, blieben im 196
Schmutz und üppigem, weichem Moos stecken. Statt der Stille der Eisfelder, die nur dann und wann vom schrillen Kreischen der Möwen unterbrochen wurde, umgab uns jetzt dieser unaufhörliche, eigenartige Lärm, der wie betäubend wirkte. Wir lauschten angestrengt und begriffen, dass es unzählige Vögel waren, die den Lärm verursachten, die wir aber, da wir ja schneeblind waren, nicht zu sehen vermochten. Wie feierliche Musik, wie die Hymne des Lebens kam uns dieser Vogellärm jetzt vor! Einzelne Stimmen vereinigten sich zu mächtigen Klängen, und es war schwer, sich vorzustellen, dass es Vögel waren, die dieses wundervolle Konzert veranstalteten. Waren denn wirklich alle diese Eiderenten, Taucher und Möwen, die wir jetzt langsam zu unterscheiden vermochten, imstande, solche Laute von sich zu geben? Sie saßen in Scharen auf zahllosen Tümpeln und kleinen Seen, flogen in dichten Schwärmen von Ort zu Ort und verloren sich irgendwo zwischen den Steinen, wo unsere verschleierten Augen sie nicht mehr bemerken konnten. Dicht am Wasser gewahrten wir Seehunde oder Walrosse, die auf dem Ufer lagerten. Wir pirschten uns mit größter Vorsicht, um sie nicht aufzuscheuchen, an sie heran. Als wir uns ihnen jedoch bis auf zehn Faden genähert hatten, mussten wir zu unserer Enttäuschung feststellen, dass es große Steine waren. Doch wir beruhigten uns bald und setzten, jeden Augenblick stolpernd, eilig unseren Streifzug fort, bemüht, so gründlich und so rasch wie möglich unseren »neuen Besitz« zu erforschen. Wir übersprangen und durchwateten rauschende Bäche, freuten uns wie die Kinder über jedes schöne Steinchen, zeigten jubelnd auf lange, sich im 197
Wasser schlängelnde Algen, und auf einer Anhöhe erblickten wir sogar einige kleine gelbe Blumen, deren Name mir unbekannt ist. Plötzlich schwirrte vor unseren Füßen eine Eiderente empor, die auf ihrem Nest gesessen hatte, in dem wir vier Eier fanden, fast so groß wie Gänseeier. Sie erwiesen sich noch als ganz frisch. Hurra! Jetzt werden wir nicht mehr Hunger zu leiden brauchen! Allem Anschein nach gab es hier sehr viele Nester, nach der Unmenge von Eiderenten oder zumindest dem von den Vögeln verursachten Lärm zu urteilen. Wir waren überglücklich und vergaßen alle Not und Entbehrungen der letzten Zeit. Dieses kleine Fleckchen Erde, das weit, weit hinter dem Polarkreis auf dem 81. Grad nördlicher Breite lag, erschien uns wie ein Paradies. Freundlich und heiter leuchtete die Sonne, uns war, als bewillkommneten uns sogar die Vögel mit ihrem Lärm zu unserer glücklichen Ankunft auf diesem ersten blühenden Land. Wir gingen weiter nach W. Hinter uns erhob sich majestätisch die mit dünnen Nebelschleiern umwobene Wand des Gletschers. Doch von unseren Gefährten war weit und breit nichts zu sehen. Durch die Flut war das Eis wieder vom Ufer abgetrieben worden, und hinter dem schmalen Streifen Ufereis war freies Wasser. An einer Stelle erblickte Lunjajew drei beieinander sitzende Eiderenten, schoss nach ihnen, verfehlte aber sein Ziel. Als Echo auf diesen Schuss glaubten wir den Ruf einer menschlichen Stimme zu vernehmen. Wir waren starr vor Staunen … Konnte das denn möglich sein? Sollte es wirklich Menschen in dieser Einsamkeit geben? Doch der 198
Laut wiederholte sich. Es konnte kein Zweifel mehr darüber bestehen, dass da Menschen riefen. Wir spähten, so aufmerksam es unsere kranken Augen zuließen, umher und sahen einen Mann auf uns zulaufen, der laut schrie und die Mütze schwenkte. Als er sich uns genähert hatte, erkannten wir in ihm einen der Diebe. Er weinte, jammerte und flehte um Gnade. Er gestand, dass er und sein Kumpan unbedacht und schändlich uns gegenüber gehandelt hätten. Sein Gesicht drückte solche Reue aus und war vor Angst so entstellt, dass man ihn nur bedauern konnte. Lunjajew und ich wechselten einen Blick, wir traten zur Seite und berieten, was zu tun sei. Alle Unannehmlichkeiten, die uns diese beiden Männer durch ihre Flucht und den Diebstahl bereitet hatten, wurden wieder in uns wach. Wir erinnerten uns an den zurückgelassenen Schlitten und den Kajak, ohne den auszukommen uns jetzt sehr schwer fallen würde. Wir dachten an den völlig sinnlosen Diebstahl aller unserer Dokumente und der Kleidung und daran, wie wütend wir waren, als wir alles entdeckten, und wie wir die Schufte sogleich verfolgen, einholen und bestrafen wollten. Mir fiel mein Gelübde ein, sie eigenhändig niederzuknallen, und wieder war ich von Zorn und Groll erfüllt … Doch der Anblick des Diebes war so leid- und jammervoll, so flehentlich schaute er uns an, und wie herrlich war dieses Stückchen Erde, wie festlich waren wir gestimmt, seit wir dieses für uns so gastliche Land betreten hatten … Und um dieses Landes willen, das uns so freundlich aufgenommen, verziehen wir den Flüchtlingen. Wäre diese Begegnung auf dem Eise erfolgt, als wir nicht so friedlich gestimmt waren, wir hätten keine Gnade walten lassen. 199
Mit Freudentränen in den Augen warf sich der Unglückliche vor uns auf die Knie und dankte, weil wir ihm vergaben. Als die Flüchtlinge unseren Schuss und das Pfeifen der Kugel gehört hatten, die zufällig an ihrer Lagerstatt vorbeischwirrte, dachten sie schon, wir schössen nach ihnen, und fingen an zu schreien. Nun besichtigten wir diese Lagerstatt. Eigentlich ist diese Bezeichnung zu klangvoll für den Ort, an dem die beiden hausten. Sie hatten sich dazu eine Grube gewählt und an deren Rand aus Skiern, Stöcken, Segeltuchhosen und dem Zwiebacksack eine Art Windschutz errichtet, der aber nur sehr unvollkommen seinen Zweck erfüllte. Davor brannte ein kleines Feuer, ringsherum lagen Eiderentenbälge, die die Flüchtlinge von den erlegten Vögeln abgezogen hatten, da sie offenbar keine Lust verspürten, die Federn zu rupfen. Abseits, in einem kleinen Erdloch, lagen Eier, und an den Skiern hingen einige schon gesäuberte und ausgenommene Eiderenten. Hier empfing uns der zweite Flüchtling. Aus unseren frohen Gesichtern erriet er, dass wir Gnade vor Recht hatten ergehen lassen. Verwirrt und gerührt dankte er ebenfalls. Ich war sehr erstaunt, wie abgemagert und krank er aussah. Er hatte sich in den neun Tagen, seit ich ihn nicht gesehen hatte, gänzlich verändert! Die Flucht war ihm anscheinend nicht bekommen und hatte sichtbare Spuren hinterlassen. Ich fragte ihn aus, woran er erkrankt sei, doch er konnte es selbst nicht genau sagen. Er hatte eigentlich nur über seine Beine zu klagen. Aber man sah ihm an, dass er sehr krank war und offenbar schwer litt. Er beeilte sich, mir zu versichern, dass er sich »jetzt« bestimmt bald 200
erholen würde. »Nun, Herr Steuermann«, beteuerte er, »werde ich Sie bestimmt nie mehr verlassen.« Wir waren froh, dass sich alles zum Guten gewendet hatte. Am Ufer fand sich genug trockenes Treibholz. Bald flackerte ein lustiges Feuer. Die Bewohner dieser luftigen Behausung luden uns zum Essen ein und boten uns Rührei an, das sie mit Eiderentenfett in einem emaillierten Becher zubereitet hatten. Übrigens war das ganze gestohlene Gut vollständig vorhanden, ausgenommen natürlich den Zwieback, den sie schon längst verzehrt hatten. Sogar die Blechbüchse mit der Post und den Dokumenten war noch unversehrt, obgleich es den Flüchtlingen sehr an Kochgeschirr mangelte. Die Rühreier erwiesen sich selbst ohne Salz als vorzüglich; wir aßen jeder mit großem Appetit zwei Becher davon. Dann lagen wir lange am Feuer und unterhielten uns. Die zwei erzählten, dass sie unterwegs, als sie auf einer Eisscholle am Rande einer Wune übernachteten, von einem Eisbären überfallen worden seien. Der Bär kam über die Wune geschwommen, von der sie etwa eineinhalb Faden entfernt gelegen hatten, und war schon im Begriff, aufs Eis zu klettern, als sie zufällig erwachten. Sie töteten ihn mit einer Kugel aus nächster Nähe. Der Schädel dieses Bären lag neben der Lagerstatt. Die ganze Nacht konnten wir wegen der vielen neuen Eindrücke von dem ersten Land, das wir betreten hatten, nicht einschlafen. Wir schmiedeten vielerlei Zukunftspläne, äußerten Vermutungen und dachten darüber nach, warum wohl unsere sechs Gefährten mit dem Kajak noch nicht angelangt seien. Einer der beiden Flüchtlinge war bereits zweimal auf den Gletscher gestiegen, in der 201
Hoffnung, sie zu treffen, doch vergebens. Erst um fünf Uhr morgens gingen wir endlich zur Ruhe, nachdem wir beschlossen hatten, am nächsten Tage den verschollenen Kameraden entgegenzugehen. Am 26. Juni (9. Juli) um zwölf Uhr mittags begab sich Lunjajew mit einem der Flüchtlinge auf die Suche. Als die beiden, unseren gestrigen Spuren folgend, die halbe Höhe des Gletschers erreicht hatten, bot sich ihnen folgendes Bild: Neben dem Kajak ein Schutzdach aus Segeln und Leinwandstreifen und darunter die sechs Männer in sorglosem Schlaf. Sie weckten sie und erfuhren, dass sie schon gestern um sechs Uhr abends an dieser Stelle angelangt waren. Das Kap war von hier aus gut zu übersehen, doch man hatte – wer weiß, warum – beschlossen, an dieser Stelle das Nachtlager aufzuschlagen. Vergessen waren meine Ermahnungen, sich möglichst zu beeilen; denn nur deshalb hatte ich ja angeordnet, nur einen Kajak mitzunehmen. Es hätte ja sein können, dass wir einen erlegten Seehund aus dem Wasser holen müssten. Alles war in den Wind geschlagen, alles, nachdem ich weg war, vergessen. Was ging es sie an, dass sie morgen vielleicht nichts zu essen haben würden? Was kümmerte sie die ungewisse Zukunft, diese Insel? Sie hatten nur die eine Sorge, wie sie so schnell wie möglich Halt machen und sich schlafen legen könnten. Sie hätten auch schon vorher, auf der Höhe des Gletschers, eine Rast eingelegt, doch dort sei es so merkwürdig leer und wüst gewesen, ich hätte sie vielleicht nicht finden können, und das passte nicht in ihre Pläne. Wie sich herausstellte, waren sie früh um acht Uhr erwacht, hatten den restlichen Zwieback unter 202
sich verteilt und sich sofort wieder hingelegt, um weiterzuschlafen. Ein Glück nur, dass Maximow nicht versäumt hatte, das Chronometer aufzuziehen. So hatten sie während meiner Abwesenheit volle neunzehn Stunden im Schlaf zugebracht. Ich war nicht sehr erbaut darüber, dass man sie geweckt hatte. Es wäre doch interessant gewesen zu erfahren, wie lange sie noch geschlafen und wann sie es schließlich für notwendig befunden hätten, den Gletscher zu verlassen und sich auf das Kap zu begeben, das ihnen so greifbar nahe zu Füßen lag, und wann sie endlich daran gedacht hätten, für ihren weiteren Lebensunterhalt zu sorgen und uns zu suchen. Ich möchte es nicht übernehmen, die Psychologie dieser Leute zu ergründen, doch eins kann ich aus persönlicher Erfahrung sagen: Es ist schwer, sehr schwer, ja sogar gefährlich, in Gesellschaft solcher Menschen in eine schwierige Lage zu geraten. Einsam, ja schlimmer noch fühlt man sich mit ihnen. Wenn du allein bist, bist du frei und ungebunden. Wenn du leben willst, so kämpfe für dieses Leben, solange Kraft und Willen in dir wohnen! Wenn dich in einer schweren Stunde niemand unterstützt, so kann sich auch niemand an dich klammern und dich in den Abgrund ziehen, wenn du allein noch Kraft genug hast, dich über Wasser zu halten. Man darf nicht außer Acht lassen, dass man sich im gegebenen Fall nicht deshalb an dich klammern wird, weil man selber nicht schwimmen kann, sondern weil man es nicht will, weil es sich eben leichter schwimmen lässt, wenn man sich an den anderen anhängt, statt selber zu kämpfen.
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Nachdem sich meine Schlafmützen mit von Lunjajew mitgebrachtem Eiderentenfleisch und Vogeleiern gestärkt hatten, machten sie sich endlich auf den Weg. Erst gegen neun Uhr abends trafen sie an dem Platz ein, der für das Lager vorgesehen war. Als ich sie bei ihrer Ankunft wegen ihrer Trägheit und Saumseligkeit schalt und ihnen mangelnden Willen vorwarf, mir bei unserer gemeinsamen Errettung zu helfen, suchte jeder nur die Schuld auf den anderen zu schieben. Die üblichen Streitigkeiten und Zänkereien setzten ein, die ich während der Zeit unseres Marsches schon so satt hatte. Am Morgen des 27. Juni (10. Juli), gegen acht Uhr, wählte ich vier Mann aus und schickte sie auf den Gletscher, um den zurückgelassenen Kajak heranzuholen. Die Übrigen machten sich daran, das Lager auszubauen sowie Vorräte an Geflügel und Eiern zu beschaffen. Ich selbst begab mich, die Büchse unter dem Arm, zum südlichen Teil des Kaps auf Erkundungsgang. Ich war doch sehr begierig zu erfahren, wo wir uns eigentlich befanden. Auf meiner Karte war unter dieser Breite kein einziges Land verzeichnet, das nach Form und Beschaffenheit unserer »neuen Heimat« entsprach. Diese eisfreie Landzunge, die wir vom Eis her als einen dünnen braunen Strich gesichtet hatten, stellte die westliche Spitze einer anscheinend sehr großen, mit einem hohen, ebenmäßigen Gletscher völlig bedeckten Insel dar. Der nördliche Teil dieses Landes war sehr niedrig, nach Süden zu stieg es jedoch terrassenförmig an. Ich ging am Fuße des Gletschers entlang, wo sich der Schnee noch in einer festen, glatten Schicht erhalten hatte. Die Breite der 204
Landzunge betrug, von dieser Stelle aus gesehen, ungefähr zehn bis zwölf Werst. Nach etwa zwei Stunden tüchtigen Marsches erreichte ich das südliche Ufer, das sich hier bis zu zehn Faden über dem Meeresspiegel erhob; es war steil und felsig, der Schnee war überall schon fast abgetaut. In rauschenden Bächen eilte allerorts das Wasser dem Meere zu. Ein herrliches Bild bot sich meinen Blicken, als ich an den Rand des Steilhangs trat. Statt Eis und Eisrücken, an denen man sich während der zwei Jahre schon bis zum Überdruss satt gesehen hatte, lag vor mir bis zum Horizont das freie Meer. Die Sonne strahlte in hellem Glanze über die weite Wasserfläche, auf der ziemlich starker Wellengang herrschte. Nur hier und da trieben vereinzelte kleine Eisschollen, vom Wasser ausgewaschen und zernagt. Wie angenehm war es, das Donnern der Brandung zu hören, wie begierig blickte ich auf die weite Fläche freien Wassers, zu diesem Horizont, an dem das Auge unwillkürlich nach einem Segel oder einer feinen Rauchfahne suchte. Linker Hand zog sich die fast vollständig mit Gletschern bedeckte Küste hin. Stellenweise nur, an den vorspringenden Kaps, traten aus Schnee und Eis dunkle Felsen hervor. Die über den Gletschern hängenden Nebelschleier nahmen mir die Möglichkeit, die Umrisse und den Charakter der Küste weiter als bis auf sieben oder acht Werst festzustellen, doch was diesen Teil der Küste anbelangt, so war er rau und unwirtlich. Rechts, nach Westen zu, war das Ufer eisfrei. Weit in der Ferne, in W und WSW, konnte man stark gelichtetes Eis erkennen, das anscheinend nach S zu ins offene Meer hinausgetrieben wurde. 205
Hätten uns damals noch einige neblige Tage die Fernsicht verwehrt und hätten wir nicht rechtzeitig unsere »Mondinsel« entdeckt, wir wären unweigerlich mit dem Eis ins Meer hinausgetrieben worden. Jetzt wurde mir diese ununterbrochene Bewegung des Eises, die ständige Verlagerung einzelner Schollen, die wir beobachten konnten, klar; wir hatten uns am Rande der Eisfelder befunden, fast in unmittelbarer Nähe der freien See. Über dieses gelichtete Eis nach Spitzbergen zu marschieren war undenkbar, auch wenn man jetzt zwischen Kap Flora und Spitzbergen zu wählen hätte. Doch daran dachte ich gar nicht. Es gelang mir nicht, in dieser Richtung, also in W und WSW, irgendwelche Inseln zu erspähen. Doch von WSW bis OSO, also bis zur Gletscherküste, war das Meer, so weit das Auge reichte, völlig frei von Eis, und die unendlich weite Wasserfläche erfüllte mich mit großer Freude. »St. Anna«, du müsstest jetzt hier sein, du schönes, stolzes Schiff, aller Gefahr entronnen! … Mit deinen Segeln, selbst ohne Maschinenkraft, fändest du den Weg durch die Wogen des weiten, gewaltigen Meeres! Ein scharfer, schneidender Wind, der vom Gletscher herabwehte, machte es mir unmöglich, meinen Erkundungsgang nach W fortzusetzen. Er blies so heftig, dass ich mich kaum auf den Beinen halten konnte, und zwang mich schließlich, den Rückweg anzutreten. Unterwegs gelang es mir, zwei Eiderenten zu schießen, die auf ihren Nestern saßen; ich fand darin sechs Eier, die ich teilweise zum Mittagsmahl verzehrte. Um fünf Uhr nachmittags erreichte ich das Lager, und bald kamen auch die Jäger heran. Unser 206
Vorrat an Geflügel hatte sich seit dem gestrigen Tage um dreizehn Eiderenten erhöht. Die Jäger teilten mit, dass sie an der Westspitze der Insel riesige alte Knochen gefunden hätten. Ich vermute, es waren die eines Wals. Bei diesem Jagdausflug hatten Spakowski und Konrad, die in südwestlicher Richtung gegangen waren, eine außerordentliche Entdeckung gemacht. Unweit des Meeres fiel ihnen ein Steinhügel durch seine regelmäßige Form auf und erregte ihr Interesse. Als sie näher kamen, fanden sie neben dem Hügel eine Bierflasche mit Patentverschluss englischer Herkunft. Sogleich machten sie sich daran, den Hügel abzutragen, und förderten bald eine braun gestrichene Blechbüchse zu Tage, in der eine noch sehr gut erhaltene englische Flagge enthalten war. Darunter entdeckten sie eine ebensolche Bierflasche wie die, die vor dem Hügel lag. Auf die Flasche war ein Zettel mit mehreren englischen Namen geklebt, und im Innern befand sich eine Papierrolle mit folgendem Wortlaut: The Jackson-Harmsworth Polar Expedition. This Expedition landed upon this cape – Cape Mary Harmsworthon August 7th, 1897, having left Cape Flora on the S. Y. Wind ward. We intend to proceed north-west in the ship to ascertain, if any land exists near this cape in that direction, and then, if possible, to reach the Johansen Islands. All well on board. Frederick G. Jackson, Commanding the Expedition1 1
F. Jackson. A thousand days in the Arctic, London & New York 1899, Seite 359. 207
Englisch verstehe ich sehr wenig, doch mit Nielsens Hilfe und mit dem kleinen Wörterbuch, das ich mitführte, gelang es mir, die Botschaft zu entziffern. Danach hatte die von Jackson geführte britische Polarexpedition im August 1897 auf der Suche nach Land, das vermutlich nordwestlich des Franz-Joseph-Archipels lag, Kap Flora verlassen und war auf Kap Harmsworth gelandet, wo sie die englische Flagge und die Botschaft hinterlegte. Zum Schluss wurde mitgeteilt, dass an Bord der »Windward« alles wohlauf sei. Unterschrieben war das Dokument von dem Leiter der Expedition, Jackson. Nun waren alle meine Zweifel geklärt. Also befanden wir uns auf Kap Mary Harmsworth! Das war die südwestliche Spitze des Alexandra-Landes. Seine nordwestliche Küste musste nach meiner Karte viel weiter im Norden liegen. Gewiss, man darf nicht vergessen, dass diese Küste darauf lediglich durch Punktlinien angedeutet, und überhaupt, auf welche Weise die Karte zu Stande gekommen war. Es wäre eigenartig, wenn sie vollkommen gewesen wäre. Jedenfalls genügte es, dass darauf Alexandra-Land angegeben war, und zwar seine Südküste, an der entlang uns die weitere Reise führen sollte. Heute nahm ich die Sonnenhöhe und errechnete eine Breite von 80° 35'. Morgen gedenken wir nach der Südküste der Insel aufzubrechen und dann so rasch wie möglich unsere Reise nach Kap Flora fortzusetzen, zum Heim dieses berühmten Engländers Jackson, der hier anscheinend überall gewesen war. Jetzt befinden wir uns ja auf einer bekannten Route dorthin! Für fünf Tage sind wir 208
reichlich mit Proviant versorgt, und in dieser Zeit können wir eine große Strecke zurücklegen. Montag, den 30. Juni (13. Juli). Gestern früh gegen neun Uhr haben wir unser Lager auf Kap Mary Harmsworth abgebrochen, um zur Südküste weiterzumarschieren. Ich muss gestehen, dass wir nur ungern dieses gastfreundliche Fleckchen Erde verließen, denn es war uns hier nach den bitteren Wochen in der Eiswüste recht wohl ergangen. Wäre nicht die Hoffnung, auf Kap Flora eine annehmbare Unterkunft vorzufinden, hätten wir uns vielleicht noch entschlossen, etwas länger zu bleiben, und, wenn wir jetzt August hätten, hier sogar zu überwintern. Doch das hatte für uns keinen Sinn. Ich ging voraus und erlegte unterwegs drei Eiderenten. Mittags befanden wir uns schon am südlichen Meeresufer. Unsere Kajaks waren gut in Ordnung, noch an keiner Stelle leck und sogar erst unlängst mit angewärmtem Seehundsfett getränkt worden. Beide hatten eine doppelte Verkleidung, die von den zerbrochenen und liegen gelassenen Kajaks herrührte. Mein Kajak trug außer der Ladung und dem Schlitten zwei Mann, der andere konnte bequem drei Mann aufnehmen. Wir hatten die Wahl: Entweder gingen alle zehn Mann über den Gletscher und zogen die Last hinter sich her, oder wir teilten uns in zwei Gruppen, von denen die eine ohne jedes Gepäck auf Skiern über den Gletscher ging und die andere, fünf Mann stark, längs des Gletschers auf Kajaks fuhr. Es stand außer allem Zweifel, 209
dass wir uns auf die letztgenannte Art unvergleichlich schneller fortbewegen konnten und außerdem damit rechnen durften, einen Seehund oder einige Taucherenten zu erlegen, von denen viele über dem Wasser fliegen, die aber auf dem Gletscher nicht anzutreffen sind. Wir entschieden uns daher für diese Variante. Als Treffpunkt verabredeten wir das in der Ferne sichtbare schwarze Kap, das eine Bucht, wahrscheinlich die Weyprecht-Bucht, abgrenzte. Vor meiner Abfahrt erinnerte ich die Teilnehmer der Skigruppe an die Vorsichtsmaßnahmen, die sie auf dem Marsch über den Gletscher zu treffen hätten. Ich übergab ihnen die lange Leine, mit der wir die Wassertiefen maßen, und befahl ihnen, sie doppelt zu nehmen und sich damit anzuseilen. Dabei ermahnte ich sie, unbedingt im Gänsemarsch zu gehen und mit den Skistöcken die Gletscherdecke abzutasten. Wir ließen die Kajaks zu Wasser, verstauten darin sorgfältig unser Hab und Gut und begaben uns auf die Reise. Gleich als wir vom Ufer abstießen, wurden wir unerwartet von einem Walross angegriffen, dessen mächtige Schnauze plötzlich neben dem Kajak auftauchte. Doch nach einem wohlgezielten Schuss verschwand es und zeigte sich nicht noch einmal. Wir hatten eine gute Fahrt. Doch auch auf dem Gletscher schritt man wacker aus, anscheinend war der Weg nicht schlecht. Die Gruppe bewegte sich unweit des Gletscherrandes und war von den Kajaks aus gut zu sehen. Wir konnten beobachten, wie man uns mit den Mützen zuwinkte und sich bemühte, nicht zurückzubleiben. Zeitweilig wurden wir von Walrossen belästigt. Die Gegend war wenig für einen Kampf mit ihnen geeignet. 210
Links von uns erhob sich bis zu einer Höhe von fünfzehn Faden die Steilwand des Gletschers ohne jedes Ufereis, vor uns und rechts war freies Wasser mit vereinzelt treibenden Eisschollen. Wenn uns ein Walross angegriffen und mit seinen Hauern einen der Kajaks beschädigt hätte, wären wir in eine verzweifelte Lage geraten, denn es gab keinen Zufluchtsort, an den wir uns hätten retten können. Unser Ende wäre unabwendbar gewesen. Und mit einem Angriff mussten wir rechnen, wie wir ja bei der Abfahrt gesehen hatten. Nansen hatte Ähnliches erlebt, als ein Walross sogar seinen Kajak durchstieß. Doch wir kamen unangefochten vorwärts. Anfangs sahen wir in SW am Horizont einen dünnen weißen Streifen, offenbar loses Treibeis, der jedoch bald wieder verschwand. Hier und da schwammen kleine, vom Wasser stark zerfressene Eisblöcke, die eine wunderliche Form hatten, doch ich glaube, dass es sich hier um Bruchstücke des Gletschereises handelte. Gegen elf Uhr abends langten wir am Ufereis in der Weyprecht-Bucht an und machten Halt. Die Bucht hatte sich noch nicht geöffnet; wir hatten keine Lust, nach dem Kap zu gehen, und entschlossen uns daher, die Nacht auf dem Eise zu verbringen. Inzwischen war auch die Skigruppe herangekommen und wir trafen unsere Vorbereitungen für das Abendessen. Treibholz hatten wir vom Kap Harmsworth mitgenommen; bald brannte ein helles Feuer im Ofen, und wir machten uns daran, eine Geflügelbrühe zu kochen. Heute haben wir eine ansehnliche Strecke zurückgelegt: mindestens 35 Werst. Wenn wir uns weiterhin in diesem Tempo vorwärts 211
bewegen, können wir in etwa vier Tagen auf Kap Flora sein, vorausgesetzt, dass wir immer freies Wasser vor uns haben. Ich bin mir noch nicht sicher, ob wir uns jetzt in einem Sund oder in einer Bucht, die den östlichen Teil des Alexandra-Landes von dem westlichen trennt, oder aber noch in der Weyprecht-Bucht befinden. Auf jeden Fall sind wir gut vorwärts gekommen. Wir verbrachten eine ruhige Nacht. Jetzt sitzen wir auf dem Eis und frühstücken, wollen dann aber unverzüglich aufbrechen, da das Wetter für die Weiterfahrt günstig ist. Die Männer von der Skigruppe teilten uns mit, dass sie verschiedene Male Bärenspuren gekreuzt, jedoch keinen Bären zu Gesicht bekommen hätten. Die Kajaks leisten uns gute Dienste. Schade nur, dass uns der dritte Kajak fehlt, den wir auf dem Eis haben zurücklassen müssen. Wir könnten sonst, wenn wir zwei von ihnen zusammenbänden, mit allen zehn Mann an der Küste entlangfahren. Allerdings hätten wir dann nur zwei Schlitten mitnehmen können. Die verdammten Walrosse stecken immerfort die Köpfe aus dem Wasser. Diese Tiere bieten einen unglaublich abstoßenden Anblick. Über Kopf und Hals liegen Runzeln und Falten, an der Schnauze lange, dicke, sehr spärlich sitzende Borsten, einem Schnurrbart nicht unähnlich; doch das Fürchterlichste sind die Augen: klein und blutunterlaufen, blicken sie uns erstaunt und zugleich drohend an. Diesen unangenehmen Eindruck vervollständigen die mächtigen Hauer, die dem Tier das Aussehen eines vorsintflutlichen Ungeheuers verleihen, das sich, wie man glauben möchte, nur von Menschenfleisch ernährt. Wenn 212
die Tiere auftauchen, schnauben und prusten sie weithin hörbar. Vernimmt man diese Laute, greift man unwillkürlich zur Büchse. Liegen sie auf dem Eis, sehen sie ganz harmlos und fast gutmütig aus – einfach gewaltige Dickhäuter, den Nilpferden nicht unähnlich. Doch im Wasser sind sie sehr beweglich und flink. Hier können sie zu gefährlichen Angreifern werden. Auf unserem Kajak liegt vorn stets ein schussbereites Gewehr, das aus Gründen der Vorsicht an einer langen Leine angebunden ist. Außerdem haben wir ein Beil bei der Hand, falls es einem dieser Ungeheuer einfiele, uns mit seinen Hauern zu »entern«. Doch ich bezweifle, dass uns diese Waffe dabei viel nützen würde: Wir würden kaum dazu kommen, sie zu gebrauchen. Ein Walross im Wasser ist ein furchtbarer Gegner, ganz besonders für Leute, die wie wir in einem elf Fuß langen Segeltuchkajak fahren. Meiner Ansicht nach ist ein Eisbär, mit einem Walross verglichen, wie ein Lamm. Ich habe auch einmal gelesen, dass ein Bär niemals wagen würde, ein auf dem Eise lagerndes Walross zu überfallen. Gerade der Walrosse wegen waren meine Gefährten nicht besonders daran interessiert, mit den Kajaks zu fahren, und das war gut so. Das Landschaftsbild, das sich uns bietet, ist ziemlich eintönig: ein Gletscher neben dem anderen, und nur selten ragen unter Eis und Schnee an den Kaps Felsen hervor. Auch oben zeichnen sich ab und zu kleine schwarze Plateaus ab. Diese finsteren Kaps dienen uns zur Orientierung, als wären es Leuchttürme.
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Sieht denn wirklich das ganze Alexandra-Land so aus? Im Vergleich dazu wäre ja Kap Mary Harmsworth das »gelobte Land« … Dienstag, den 1. (14.) Juli. Gestern um zehn Uhr vormittags zogen wir weiter. Bei einigen meiner Gefährten machen sich wieder Anzeichen von Energielosigkeit bemerkbar. Sie wollen nicht weitergehen, möchten sich hinsetzen und ausruhen, wenn möglich, auf dem ersten besten Felsen oder sogar einfach mitten auf dem Eis. Vergebens suchte ich ihnen klarzumachen, wie widersinnig das sei; ich sagte ihnen, dass das Meer jetzt zwar eisfrei sei, wir aber nicht wüssten, wie es später sein werde. Es sei möglich, dass es sich bei Südwinden mit Eis bedecken werde, dann würde es bedeutend schwieriger sein, durchzukommen, auch hätten wir nicht so viel Proviant, um bummeln zu können und auf nackten Felsen zu rasten. Außerdem hätten wir uns meiner Ansicht nach auf Kap Mary Harmsworth zur Genüge ausgeruht und könnten den Marsch bis Kap Flora oder mindestens bis Kap Grant durchführen, wenn wir uns auf die Nachtruhepausen beschränkten. Doch meine Ermahnungen überzeugten sie wohl nicht. Als Antwort hüllte sich die ganze Gesellschaft in resigniertes Schweigen, und ihre Gesichter drückten so viel hoffnungslose Verzweiflung und Apathie aus, dass ich es schon aufgeben wollte, sie zu überreden. Am beharrlichsten weigerte sich Archijerejew, den Weg fortzusetzen. Er hatte sich während der letzten Zeit so gehen lassen, dass man ihn auf Kap Mary nicht 214
einmal zwingen konnte, Treibholz für das Feuer oder Wasser aus dem nahen Bach zu holen. Nur unter der Drohung, dass er kein Mittag- oder Abendessen erhalten würde, erhob er sich lustlos und führte murrend aus, was man ihm aufgetragen. Mit keinem der Kameraden verträgt er sich und hat für alle nur grobe, bissige Worte. Es ist gar nicht lange her, noch auf dem Eis, da war er der Erste, der die Kajaks zurücklassen und mit anderthalb Pud Last auf dem Rücken auf Skiern losziehen wollte. Nun aber will er nicht einmal ohne jedes Gepäck weitergehen, abgesehen davon, dass er jetzt seinen Willen hat und zu Fuß gehen soll. Auf dem Landweg marschierten Archijerejew, Regald, Smirennikow, Gubanow und Lunjajew. Wir in den Kajaks hatten Gegenströmung und mussten uns tüchtig ins Zeug legen, um nicht hinter der Skigruppe zurückzubleiben. Das Wetter war kühl und trübe, doch durch das dauernde Paddeln wurden wir warm und mussten sogar unsere Halbmäntel ausziehen. Als wir die Cambridge-Bucht erreichten, stiegen wir aufs Eis und nahmen unser Frühstück ein. Unser nächstes Zusammentreffen mit der Skiabteilung war auf Kap Neale festgesetzt, das sich mit seinen hohen schwarzen Felsen in der Ferne gut sichtbar abzeichnete. Die ganze Bucht, die dieses Kap von dem Westteil des Alexandra-Landes trennt, war noch mit Eis bedeckt, nur stellenweise brachen hier und da kleine Schollen ab, die in der Strömung längs der Eiskante trieben. An dieser Kante entlang fuhren auch wir, erstens, weil wir uns vor etwaigen Angriffen von Walrossen fürchteten, und zweitens, um zu verhindern, dass uns etwa eine Wune von der Skiabteilung 215
trennte. Konrad und ich setzten auf unserem Kajak das Segel und machten nun mit günstigem Wind eine flotte Fahrt. Doch auf dem anderen Kajak mussten sie paddeln; es stellte sich heraus, dass meine Begleiter den Kajakmast schon auf dem Gletscher, vor der Ankunft auf Kap Mary Harmsworth, bei ihrer höchst überflüssigen Ruhepause verfeuert hatten. Das wäre zu verstehen gewesen, wenn sie es irgendwo auf dem Treibeis getan hätten, aber sie hatten doch angesichts des Kaps Halt gemacht, zu dem nur eine halbe Stunde zu marschieren war und auf dem es viel Brennholz gab. Jetzt hatten sie ihre Strafe und mussten angestrengt paddeln, sie kamen nicht einmal darauf, einen Mast aus Skistöcken zu errichten. Gegen sechs Uhr abends langten wir bei einem hohen Eisberg an, der anscheinend auf einer Untiefe festsaß. Wir erkletterten seinen Gipfel und hielten sehr aufmerksam Ausschau, in der Hoffnung, die Skiläufer zu finden. Doch obwohl sich der Horizont von diesem Berg aus weit auftat, war von ihnen keine Spur zu sehen. Ich nahm an, dass sie irgendwo hinter Eisblöcken rasteten, obgleich das Wetter meiner Meinung nach nicht gerade dazu einlud. Der Wind blies mit ziemlicher Macht aus W und fing sogar an, hohe Wellen zu werfen. Um zehn Uhr abends kamen wir in die Nähe von Kap Neale und schlüpften zwischen Massen wogenden Eises hindurch in eine stille, geschützte kleine Bucht. Hier war es ruhig und sogar bedeutend wärmer; ein wahrer »stiller Hafen«! Dieses Kap, eine kleine, allmählich ansteigende und von zwei Seiten durch hohe, steile Basaltfelsen begrenzte Felsenplatte, war wie von einem grünen Teppich über und 216
über mit dichtem, üppigem Moos bedeckt. Viele Bächlein durchschnitten nach allen Richtungen dieses liebliche Plateau und liefen plätschernd und murmelnd ins Meer. Die Felsen schlossen das Plateau wie zwei Wände bis zum Ufer ab, dazwischen erhob sich im Hintergrund schmal eine Gletscherwand von gleicher Höhe wie die Felsen. Der Hang dieses Gletschers war derart steil, dass es unmöglich gewesen wäre, ihn auf Skiern zu ersteigen. Kaum hatten wir das Land betreten, empfing uns ein Höllenlärm, der von irgendwo aus der Höhe zu kommen schien. Es war uns nicht klar, woher dieser Lärm stammte. Man konnte nur ahnen, dass er von Vögeln herrührte, die dort hoch oben in den Felsen nisteten. Die einzelnen Vogelstimmen ließen sich hier ebenso wenig wie auf Kap Mary unterscheiden, es war ein stetes tiefes Getöse, noch verstärkt durch den Widerhall von den Felswänden. Durch dieses eintönige Geräusch drangen in regelmäßigen Abständen grelle Laute, die schrillem Pfeifen, Lachen und verzweifelten Rufen glichen, als trieben dort oben auf den Felsen böse Geister ihr Unwesen und wollten so ihren Unwillen über unser eigenmächtiges Eindringen in ihr Reich kundtun. Wenn man den Blick nach oben wendet, so kann man nur nach sehr aufmerksamer Beobachtung ganze Wolken kaum sichtbarer Punkte gewahren, die ununterbrochen in großer Höhe von Fels zu Fels jagen. Vor dem Hintergrund der dunklen Felsen sind sie nicht zu erkennen, sie werden erst dann sichtbar, wenn sie sich gegen den hellen Himmel abheben. Sie schwirren in solchen Massen und so hoch, dass sie eher Mücken- oder Fliegenschwärmen gleichen. Es 217
ist nicht zu glauben, dass diese winzigen Punkte, wenn sie auch noch so zahlreich sein mögen, die Quelle des tiefen, gleichmäßigen Getöses sein können. Was mögen das für Vögel sein? Ich habe bisher nur zwei Arten von »Tauchern« feststellen können, jene großen und kleinen Vögel, die wir als Taucher bezeichneten – wenn ich mich nicht irre, nennt man sie Lach- oder Mantelmöwen –, und außerdem noch verschiedene andere Arten von Möwen. Wenn es gelänge, die Felsen zu erklimmen, so könnte man, glaube ich, so viel Eier sammeln, dass es eine ganze Schiffsladung ausmachen würde. Doch wie sollte man hinaufkommend Vielleicht würde man es schaffen, wenn man einen Umweg über den Gletscher machte und sich mit Hilfe von Seilen auf die Felsen herabließe, an denen es sicherlich Vorsprünge gibt. Wir haben es nicht versucht. Unten jedoch, auf dem Plateau, sind keine Vögel zu sehen, außer einigen Raubvögeln, die mit ihrem braunen, rot abgesetzten Gefieder sehr schmuck wirken. Ich habe einmal gehört, dass man diese Vögel mancherorts »Wachtmeister« nennt. Einige von den »Wachtmeistern« zeigen großen Mut, fliegen dicht über unsere Köpfe hinweg und versuchen sogar, mit dem Schnabel auf die Mützen zu hacken. Vielleicht haben sie hier irgendwo ihre Nester und sind deshalb so kriegerisch gestimmt. Wir sind nun schon volle vierundzwanzig Stunden hier, doch weder gestern noch heute ist unsere Marschgruppe angelangt. Ich kann mir nicht erklären, was der Grund ihres Ausbleibens sein könnte. Nach der Geschichte auf dem Worcester-Gletscher ist ihnen alles zuzutrauen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sie sich auch jetzt irgendwo 218
niedergelassen haben und schlafen, zumal sie diesmal ihre Malizas mitgenommen haben; außerdem führen sie die doppelläufige Flinte, siebenundzwanzig Schrotpatronen und zwölf Gewehrpatronen und eine Eiderente mit sich. Das ist für fünf Mann zwar nicht viel, doch auf dem Wege über das Eis hatten sie sicherlich Gelegenheit, einige Taucher zu schießen. Eben sind ihnen Maximow und Konrad auf Skiern entgegengelaufen und haben das Gewehr mit Munition und drei gekochte Eiderenten mitgenommen. Es ist kaum anzunehmen, dass sie die Gruppe finden werden, weil man einander sehr leicht verfehlen kann. Ich bereue schon, dass ich sie fortgeschickt habe, denn sie riskieren weit mehr, weil sie nur zwei Mann sind, und die Landgruppe ist fünf Mann stark. Es weht ein frischer Wind, der das Eis aus dem Sund herantreibt. Wir sind in unserer kleinen Bucht völlig eingeschlossen, und ich fürchte, wir versäumen die günstigste Zeit zur Weiterfahrt. Nachts. Es steht schlimm! Doch ich will alles der Reihe nach berichten. Erst abends um sechs Uhr kehrten Maximow und Konrad zurück, nachdem sie sieben Stunden gesucht hatten, ohne eine Spur von den Vermissten zu finden. Der Weg war, ihrem Bericht nach, nicht schlecht, das hatten wir ja auch gesehen, als wir an der Eiskante entlangfuhren. Wir waren bereits darangegangen, ein Depot mit Proviant, Munition und allem Notwendigen für die Verschollenen einzurichten, als wir sie um sieben Uhr abends vom Gletscher herabsteigen sahen. Doch zu meinem Erstaunen waren es nur vier Mann: Archijerejew fehlte. 219
Die Ankömmlinge berichteten Folgendes: Seit dem gestrigen Tag sei Archijerejew von einer merkwürdigen Krankheit befallen gewesen. Er sei dauernd zurückgeblieben und habe sich geweigert, überhaupt weiterzugehen, indem er sich einfach aufs Eis niedersetzte oder –legte. Anfangs wollte man ihm nicht so recht trauen, weil man hinter seinem Gebaren eines seiner üblichen Stückchen vermutete. Nahm man ihn unter die Arme und führte ihn gewaltsam mit, so ging er eine Weile, dann aber legte er sich wieder hin mit den Worten: »Ihr könnt mich totschlagen, aber ich gehe nicht mehr mit.« Auf die Frage der Kameraden, was ihm denn fehle und weshalb er nicht mitgehen wolle, antwortete er, er habe Brust- und Augenschmerzen. Gestern früh, vor dem Aufbruch, war ihm nichts Besonderes anzumerken, abgesehen von der üblichen Unlust zu marschieren. Er hatte guten Appetit und nahm das Frühstück mit ihnen gemeinsam ein. Seine Gefährten kümmerten sich anfangs also nicht weiter um seine Klagen über Augen- und Brustschmerzen, mussten aber dann doch einsehen, dass er ernstlich erkrankt war. Gegen Abend versagten seine Beine völlig; sie waren wie gelähmt. Er lag reglos da, beantwortete keine Fragen und murmelte nur etwas Unverständliches vor sich hin. Er lag buchstäblich im Sterben. Es war zu beschwerlich, ihn auf Skiern zu transportieren, und deshalb fasste man den Entschluss, Halt zu machen und sich für die Nacht einzurichten. Es gelang der Gruppe, fünf Taucher zu schießen, die sie zum Abendbrot verzehrten.
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Am nächsten Morgen gab Archijerejew nur noch schwache Lebenszeichen von sich und konnte sich weder regen noch sprechen. Bis zehn Uhr saßen seine Gefährten bei ihm, ließen ihn aber dann liegen und zogen weiter zum Kap, weil sie befürchteten, uns dort nicht mehr anzutreffen. Auf meine Frage, was sie denn von zehn Uhr morgens bis sieben Uhr abends, während der ganzen neun Stunden getan hätten, wenn sie Archijerejew schon in etwa zwölf Werst Entfernung vom Kap zurückließen, erklärten die Männer, sie hätten unterwegs eine Rast von vier Stunden eingelegt. Um Mitternacht, als die Eingetroffenen Abendbrot gegessen und sich ausgeruht hatten, schickte ich sie zurück zu dem Todkranken mit dem Auftrag, ihn, wenn er noch lebe, herzubringen. Ich sagte ihnen, man dürfe den Sterbenden nicht allein auf dem Eise zurücklassen, wo es nach ihren eigenen Worten viele Bärenspuren gebe. Anfangs war ich sehr betroffen darüber, wie sie sich gegenüber dem sterbenden Kameraden verhalten hatten. Sie hätten ihn unbedingt mitnehmen müssen, und das wäre auch bestimmt gegangen. Andererseits hätte der Sterbende die Strapazen sowieso nicht überlebt, wenn er sich wirklich in einem so schweren, offenbar hoffnungslosen Zustand befand; es wäre vielleicht nichts als unnötige Quälerei für ihn gewesen.
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Einer nach dem anderen Mittwoch, den 2. (15.) Juli. Gegen zehn Uhr morgens zeigte sich auf dem Gletscher Lunjajew, der offenbar den anderen vorausgegangen war, weil er diesmal mit auf dem Kajak fahren sollte. Bald sah man auch die übrigen drei. Archijerejew war bereits gestorben. Man wollte ihn vom Eise weg aufs Land bringen, doch da das Eis in Bewegung geraten war und die Männer Gefahr liefen, abgetrieben zu werden, eilten sie zurück und überließen den Toten seinem Schicksal. Es war ja schließlich einerlei, wo der Verstorbene liegen blieb. Jetzt nehme ich drei Kranke mit auf die Kajaks: Lunjajew, Spakowski und Nielsen. Sie sind alle fußkrank, ihre geschwollenen Füße lassen auf Skorbut schließen. Am schlechtesten sieht Nielsen aus, der das Schiff bereits krank verlassen hat. Dann folgt Spakowski und schließlich Lunjajew, der sich noch am besten hält. Der Marschtrupp, der am Ufer entlanggehen soll, setzt sich nunmehr aus Maximow, Regald, Gubanow und Smirennikow zusammen. Ich bestimme Maximow zum Zugführer und erteile ihm genaue Instruktionen anhand meiner Karte. Die Marschkolonne will noch bis zum Abend auf Kap Neale bleiben und versichert, dass sie uns einholen wird. Ich ermahne sie, nicht unnütz die Zeit zu vertrödeln und sich möglichst zu beeilen, doch letzten Endes sei dies ihre eigene Angelegenheit. Wir könnten nicht warten, da wir am Abend auf Kap Grant sein wollen. Der Marschgruppe 222
überlassen wir das Magazingewehr, siebzig Schuss Munition und fünf gekochte Eiderenten; insgesamt sind zehn vorhanden. Dann bekommen sie noch für alle Fälle den Blecheimer und einen Becher. Das Wetter scheint sich zu beruhigen, der Wind dreht auf N. Ein etwa sechzig Faden breiter Streifen klein gestückelten Eises trennt uns zurzeit vom freien Wasser. Da sich der Wellengang noch nicht gelegt hat, schaukelt dieses Eis ganz beträchtlich, und uns steht schwere Arbeit bevor, unsere Kajaks darüber hinwegzuschleppen, ohne sie zu beschädigen. Donnerstag, den 3. (16.) Juli. Gestern in der Mittagsstunde haben wir begonnen, uns über die Eisschollen und zwischen ihnen zum freien Wasser hindurchzuarbeiten. Der Seegang bereitete uns erhebliche Schwierigkeiten, doch nach einer Stunde angestrengtester Arbeit gelang es uns, die Kajaks einzusetzen. Wir machten uns auf unseren trefflichen »Nussschalen« auf den Weg zum Kap Grant, eine Strecke von etwa 25 Werst. Trotz des böigen Windes hissten wir die Segel und liefen nun rasch unserem Ziele zu. Auf Lunjajews Kajak hatte man aus zwei zusammengebundenen Skistöcken einen Mast errichtet, der ausgezeichnet seinen Zweck erfüllte. Der kalte, schneidende Wind und die häufigen Sturzseen machten die Fahrt wenig angenehm. Jeden Augenblick wurden wir von Spritzern überschüttet, und obgleich wir uns in unsere Segeltuchstreifen gehüllt hatten, waren wir nach kurzer Zeit völlig durchnässt. 223
Wir froren erbärmlich. Um uns einigermaßen zu erwärmen, mussten wir oft zu den Paddeln greifen und sie tüchtig in Bewegung setzen. Die Walrosse ließen uns auch gestern nicht in Ruhe: Dreimal griffen sie uns an, doch zum Glück lief alles gut ab. In einer Entfernung von schätzungsweise fünfzig Faden zeigt sich gewöhnlich das einzeln angreifende Tier heftig schnaufend über dem Wasser und beobachtet uns böse und zugleich neugierig. Doch dann taucht es, und wir sehen, wie es sich unter Wasser zur Seite neigt und auf den Kajak zuschießt. Ich zweifle nicht daran, dass es beabsichtigt, den Kajak mit seinen Hauern anzugehen. Schnell legen wir das Gewehr beiseite, stecken unsere langen Paddel senkrecht ins Wasser und versuchen, es damit zu verjagen. Wir sehen, wie sich das Walross unter Wasser hin und her wirft, als suche es uns zu umgehen, doch schließlich macht es kehrt und entfernt sich auf die alte Distanz von fünfzig bis sechzig Faden. Nur eine Kugel zwingt es, den Angriff abzubrechen; dann verschwindet das Tier, und wir können unsere Fahrt fortsetzen. Die Überfälle wirkten jedoch nicht mehr so Furcht erregend, denn wir fuhren fast immer am Ufereis entlang, das die ganze Grey-Bucht umsäumte. Da wir sahen, dass das Walross vor den Paddeln Angst hat, die es wahrscheinlich für die Fangarme eines ihm unbekannten Wesens hält, waren wir nur auf der Hut, den Angriff nicht zu verpassen. Wir wünschten sogar, dass ein Tier an die Oberfläche und näher an uns herankäme, vielleicht hätten wir es töten können. Doch auf eine Entfernung von sechzig Faden und noch dazu von einem schaukelnden Fahrzeug aus war es uns nicht möglich, eines zu erlegen. 224
Gegen zwölf Uhr nachts hatten wir die Bucht überquert und waren schon dabei, Kap Grant zu umschiffen, als uns plötzlich aus den Felsen ein heftiger NO entgegenschlug; dazu kam noch die rasche, von der Ebbe verursachte Strömung, und ehe wir Zeit hatten, uns zu besinnen, begannen unsere Kajaks abzutreiben. Anscheinend herrscht hier, zwischen Kap Grant und den Inseln Bell und Mabel, eine sehr starke Strömung. Die Wellen schleuderten die Kajaks auf und nieder, und wir wurden dauernd von wahren Sturzbächen überschüttet. Wir vergaßen die Walrosse, warfen die Segeltuchstreifen ab, in die wir uns gehüllt hatten, und paddelten aus Leibeskräften drauflos. Das Kap, das noch vor kurzem ganz in unserer Nähe gewesen war, war jetzt bis auf vier Meilen von uns abgerückt. Erst gegen fünf Uhr morgens gelang es uns, das Ufereis neben Kap Grant zu erreichen. Unterwegs war es uns geglückt, sechzehn Taucher zu schießen. Wir hatten versucht, sie roh zu verzehren: nichts Besonderes, aber essbar, und wenn man sie etwas salzt und noch dazu sehr hungrig ist, kann man ihnen sogar Geschmack abgewinnen. Jetzt sitzen wir im Schutze einer sehr hohen Felswand. Rechts und links erheben sich Gletscher, zwischen denen sich ein großes, mit Geröll bedecktes Plateau befindet, das allmählich zum Meer abfällt. Vögel gibt es hier nicht weniger als auf Kap Neale. Eine ganze Schar kleiner Taucher sitzt sogar unten auf großen Steinblöcken oder fliegt mit unaufhörlichem Gezwitscher hin und her; ihre Nester sind sicherlich da oben auf den Felsen. Ich glaube, dass man manche dieser Felsen vom Gletscher aus besteigen kann, da sie hier nicht so schroff sind. Die 225
Marschgruppe ist natürlich noch nicht da, obwohl wir für unsere Fahrt bis Kap Grant volle siebzehn Stunden gebraucht haben und schon einen ganzen Tag hier sitzen und auf sie warten. Doch vorläufig kann uns die Weiterfahrt auf den Kajaks auch nicht besonders reizen: Es ist recht windig, ein heftiges Schneetreiben hat eingesetzt, und alles ist in trübe Dämmerung gehüllt. Unterwegs waren wir bis auf die Haut nass geworden und konnten während des ganzen Tages unsere Kleidung nicht trocknen; jetzt ist daran schon gar nicht zu denken. Als Konrad und Nielsen am Morgen die Kajaks näher an unseren Lagerplatz heranführen wollten, wurde Nielsen von der Strömung so weit abgetrieben, dass wir ihm schleunigst in dem anderen Kajak zu Hilfe eilen mussten. Ich schaute durch den Feldstecher und sah, wie er die Paddel beiseite legte und völlig hilflos auf den ihm entgegenkommenden Kajak blickte. Nielsen ist sehr krank, anders kann ich sein Benehmen nicht deuten. Überhaupt ist er in letzter Zeit irgendwie merkwürdig geworden: sein Gang ist unsicher, und oft sitzt er schweigend abseits. Zum Abendbrot kochten wir uns heute einige Taucher und teilten eine Eiderente unter uns auf. Freitag, den 4. (17.) Juli. Wir sitzen immer noch auf Kap Grant und warten auf die Ankunft der Marschkolonne. Das Wetter ist miserabel. Starker Ostwind bei empfindlicher Kälte und Schneeböen. Während der Nacht hatte es aufgeklart, und die ganze Umgebung war gut sichtbar. Vor uns, nach ONO und 226
unserer Ansicht nach gar nicht so weit entfernt, ist eine Felseninsel zu sehen, das wird die Insel Bell sein. Die Meerenge, die sie von Kap Grant trennt, ist teilweise noch nicht aufgebrochen, und es dürfte uns nicht schwer fallen, dorthin zu gelangen, wenn wir an der Eiskante entlangfahren. Weiter am Horizont sieht man eine zweite Felseninsel, die schon bedeutend größer ist. Sollte das wirklich die Northbrook-Insel mit dem lang ersehnten Kap Flora sein? Auf meiner Karte ist nichts anderes an dieser Stelle verzeichnet. Eine Entfernung von mindestens 25 Seemeilen trennt uns von ihr, doch mit bloßem Auge gesehen erscheint sie viel näher. Hier ist die Luft so durchsichtig, und die hohen dunklen Kapfelsen auf dem Hintergrund der Gletscher zeichnen sich so scharf ab, dass die Entfernung meist um die Hälfte geringer geschätzt wird. Von Kap Grant bis zur Northbrook-Insel scheinen es wirklich nur zehn bis zwölf Seemeilen zu sein. Ich entsinne mich, dass Nansen eines der Kaps des Franz-JosephLandes »Burg« genannt hat, weil es seiner Struktur nach an einen solchen Bau erinnerte. In der Tat, die Ähnlichkeit mit einer Burg oder einem riesigen Dom ist charakteristisch für die Mehrzahl der Kaps, die ich an der Südküste des FranzJoseph-Landes gesehen habe. Ein solches Kap –vielleicht war es auch eine Insel – sah ich in der Tiefe der Meerenge, die den östlichen Teil des Alexandra-Landes von dem westlichen trennt; so sind Kap Neale, Kap Grant, so ist auch die Insel Bell und wird sicherlich auch Kap Flora sein. Alles hängt davon ab, von wo aus man sie sichtet. Einer mittelalterlichen Burg besonders ähnlich wirken die Felsen auf der Insel Bell, wenn man sie von Kap Grant 227
oder einem noch südlicher gelegenen Punkt aus betrachtet. Die Seitenhänge und die niedrigen Felsen, sofern sie vorhanden sind, werden meist durch Gletscher oder Schnee wie mit einem Dach bedeckt. Der entblößte Teil eines Kaps erscheint dann nicht mehr als formlose Masse, sondern zeigt den Aufbau eines weiträumigen Schlosses oder eines Riesendomes von sehr reicher und vielgestaltiger Architektur, über und über mit Säulengängen verziert. Die Reihen der Basaltfelsen wirken von weitem ganz ebenmäßig und fast gleich hoch. Auf, zwischen und hinter diesen Kolonnaden nisten zahllose Vogelvölker. Ja, es unterliegt keinem Zweifel, dass wir uns schon in Sicht von Kap Flora befinden, wo das Jackson-Haus stehen soll. In wenigen Tagen wird sich herausstellen, ob ich Recht gehabt habe, diesem Kap zuzustreben, oder ob alle Entbehrungen, alle Strapazen und Verluste vergeblich gewesen sind. Zwanzig Jahre sind eine lange Zeit. Es kann sein, dass heute dort nichts mehr von Jacksons Bauten übrig geblieben ist. Doch was hätte ich anderes tun sollen? Wohin sollte ich mich wenden? Nach Spitzbergen etwa? Aber ich konnte mich ja nicht dorthin begeben, vor allem deshalb nicht, weil ich vom Kap Mary Harmsworth aus loses Treibeis in dieser Richtung gesichtet hatte und wir ja nur über zwei Kajaks für zehn Mann verfügten. Sollte ich einen Umweg einschlagen? Aber werden denn diese Leute, auf die ich jetzt mit großer Sorge blicke, und von denen die Hälfte überhaupt noch fehlt, den langen, beschwerlichen Weg durchhalten? Und dann, in welchem Zustand befand sich unsere Ausrüstung, und was war davon noch übrig geblieben? Die zwei uns verbliebenen Schlitten, die schon 228
am ersten Tag unserer Reise entzweibrachen, bestehen jetzt nach dreimonatigem Marsch auf unmöglichem Wege nur noch aus Bruchstücken, die notdürftig mit Draht und Stricken zusammengehalten werden. Unsere Kleidung gleicht schmutzigen, mit Tran durchtränkten Fetzen und wimmelt von Ungeziefer. Von unseren Proviantvorräten besitzen wir nur noch zwei Pfund rostiges Salz. Nein, an Spitzbergen war gar nicht zu denken, wenigstens in diesem Jahr nicht mehr. Hätten wir vielleicht doch während der besten und für eine Reise günstigsten Jahreszeit eine Zeit lang auf einem der von uns passierten Kaps verbleiben und uns erholen sollen, wie es einige von meinen Gefährten wiederholt verlangt hatten? Doch welchen Sinn hätte dieser Aufenthalt gehabt? Was hätten wir da erwarten können? Einen strengen Winter, ohne Möglichkeit, einen einigermaßen leidlichen Wohnraum herzurichten, ohne Hoffnung, unsere Ausrüstung ergänzen zu können. Das wäre Selbstmord gewesen. Den Winter in einer aus Steinen zusammengebauten Hütte zu verbringen, ohne Heizung, als Tür ein Bärenfell, als Dach eine Walrosshaut, konnten sich solche kerngesunden, willensstarken Menschen leisten, wie es Nansen und Johansen waren, niemals aber meine rasch verzagenden, kranken Reisegefährten, die kaum einen verhältnismäßig leichten Sommermarsch zu ertragen vermochten. Nein, nur der eine Weg liegt vor uns seit der Zeit, da wir den Worcester-Gletscher betraten, das eine Ziel, dem wir, koste es, was es wolle, zustreben müssen, und dieses Ziel ist – Kap Flora. Mögen die Bauten, auf die wir rechnen, längst zerfallen sein, aber wir finden zumindest deren 229
Trümmer vor und können daraus, so gut es geht, eine Schutzhütte bauen, unsere Proviantvorräte auffüllen, zumal uns noch genügend Munition verblieben ist, und dort unter günstigeren Verhältnissen als irgendwo sonst überwintern. Den Winter über werden wir unsere Schlitten und Kajaks gründlich überholen und neue Kajaks bauen, da wir auf jedem Fahrzeug zwei Bespannungen haben. Eine Reise nach Spitzbergen oder Nowaja Semlja können wir dann immer noch in Erwägung ziehen. Gegen Abend besserte sich das Wetter, und das Schneetreiben hörte auf. Konrad fuhr hinaus, um Taucherenten zu schießen; Lunjajew und ich begaben uns auf den Gletscher, um nach unserer Marschkolonne Ausschau zu halten. Wir zogen ihr mehr als sechs Werst entgegen, trafen aber natürlich niemanden und entdeckten auch keine Spuren, nur die einer Bärin. Um zehn Uhr abends kehrten wir zurück und beschlossen nun, falls das Wetter es gestattete, nach der Insel Bell weiterzufahren. Ich konnte nicht mehr länger warten: Nielsen hält sich kaum noch auf den Beinen, und auch Spakowskis Zustand ist wenig ermutigend. Obgleich Lunjajew ebenfalls über Beinschmerzen klagt, kann ich die gefürchtete Apathie bei ihm nicht feststellen; er ist nicht so kraft- und energielos wie die beiden anderen. Was mochte die Skiläufer aufhalten? Sind sie nicht auch früher immer zurückgeblieben – auf dem Eise, auf dem Worcester-Gletscher und auf Kap Neale, kurz, überall, wo sich ihnen Gelegenheit bot? Hatten sie nicht immer wieder den Wunsch geäußert, Halt zu machen und irgendwo eine längere Zeit zu verbleiben? Gewiss, es ist sehr schade, dass sie nur so quasi den Wunsch und nicht den Entschluss 230
aussprachen, den sie zweifellos schon gefasst hatten. Damit hatten sie mich oft in eine schwierige Lage gebracht und mich gezwungen, unnütz kostbare Zeit zu verlieren. Während unseres Aufenthaltes auf Kap Grant konnte ich feststellen, dass die Witterungsverhältnisse hier etwas anders sind als an der Südküste des Alexandra-Landes. Dort waren wir von den hier anscheinend vorherrschenden Nord-, Nordost- und Ostwinden durch die Küste geschützt. Hier jedoch haben wir keinen Schutz und müssen für unsere Etappenmärsche eine günstige Zeit abwarten. Die Winde sind kalt, böig, und oft herrscht Schneetreiben. Sonnabend, den 5. (18.) Juli. Um zwei Uhr nachts fuhren wir, das klare Wetter ausnutzend, los und begaben uns zur Insel Bell, wobei wir uns dicht am Rand des noch nicht aufgebrochenen Eises hielten. Kaum hatten wir uns etwa fünf Werst vom Kap entfernt, als das Wetter umschlug. Die ganze Zeit über mussten wir gegen den kalten Ostwind und gegen die Strömung ankämpfen. Wir paddelten ohne Unterbrechung fast zehn Stunden lang, ruhten uns abwechselnd aus, aßen im Fahren und kamen nur sehr langsam voran. Mittags um zwölf Uhr hielten wir, erschöpft, durchnässt und bebend vor Kälte, am Rande eines Eisfeldes, schätzungsweise vier oder fünf Werst von der Insel Bell entfernt. Nachdem wir die auf Kap Grant gekochten Taucherenten verzehrt hatten, hüllten wir uns in unsere Malizas und darüber hinaus noch in Segel und 231
Kajakschutzstreifen und legten uns, weil das heftige Schneetreiben uns jede Sicht nahm, zur Ruhe nieder. Wir erwachten gegen vier Uhr nachmittags. Das Wetter hatte sich inzwischen wieder aufgeklart, doch wie groß war unsere Enttäuschung, als wir bemerkten, dass das Eis, auf dem wir lagerten, kein Ufereis war, sondern sich als eine große frei schwimmende Scholle erwies. Die Insel war wieder auf acht bis zehn Werst von uns abgerückt. Wieder mussten wir zu den Paddeln greifen, doch zum Glück legte sich der Wind bald, und wir kamen ziemlich rasch vorwärts. Nielsen hatte während der Fahrt ganz und gar versagt: Halb saß, halb lag er in Lunjajews Kajak und konnte sich überhaupt nicht mehr bewegen. Ich glaube, er hat sogar die Sprache verloren. Als Antwort auf eine Frage lallte er nur etwas Unverständliches. Unweit der Insel erblickten wir auf einer großen treibenden Eisscholle drei Walrosse – zwei große und ein Junges. Aber auch dieses junge Tier hatte die Größe einer ansehnlichen Kuh. Die Walrosse lagen ruhig da und ließen sich von der Sonne bescheinen; sie hoben nicht einmal die Köpfe. Bei diesem Anblick fassten wir den Entschluss, den Riesen diesmal eine entscheidende Schlacht zu liefern, und pirschten uns auf unseren Kajaks, durch kleinere Eisschollen gedeckt, an sie heran. Aber o weh, wie schmählich mussten wir gleich darauf den Rückzug antreten und aufs Eis flüchten, wie schleunig zogen wir die Kajaks zusammen mit dem kranken Nielsen aus dem Wasser! Wir hatten es eigentlich nur auf das junge Walross abgesehen, dessen Fleisch allgemein als sehr schmackhaft gilt. Lange und sorgfältig zielten Lunjajew und ich und 232
drückten beide fast gleichzeitig ab. Das Junge wurde anscheinend gut getroffen, denn später sahen wir viel Blut auf der Lagerstelle. Wenn es allein gelegen hätte, wäre es wohl auch liegen geblieben, doch nun mischten sich die beiden Alten in den Kampf ein. Sofort stürzte eines von ihnen schnaubend und mit grimmigem Gebrüll auf unsere Kajaks zu, während das andere, offenbar das Muttertier, das Junge behände ins Wasser stieß. Unter dauerndem Feuern auf das wütend angreifende Tier zogen wir uns eilig auf die schon im Voraus vorbereitete Stellung zurück, aufs Eis, auf das wir kaum noch die Kajaks zu ziehen vermochten. Jetzt geschah etwas Unvorstellbares: Das Wasser, ganz rot von Blut, brodelte und schäumte, die Walrosse umkreisten brüllend das tote Tier, das offenbar sank, und suchten es über Wasser zu halten, indem sie bald untertauchten, bald von neuem zum Vorschein kamen. Eines der Walrosse, anscheinend das Männchen, nahm immer wieder unter fürchterlichem Gebrüll Anlauf, als wolle es sich auf uns stürzen. Dabei gebärdete es sich so wild und sah so Schrecken erregend aus, dass wir unwillkürlich immer weiter auf dem Eise zurückwichen und jedes Mal nach ihm schossen. Dieses Tohuwabohu, bei dem man nicht genau sagen konnte, wer die Angreifer und wer die Verteidiger waren, dauerte etwa fünf Minuten, wonach alle drei Walrosse unter Wasser verschwanden und wir um fünfzehn Schuss Munition ärmer geworden waren. Als wir uns von den starken Eindrücken dieser »ruhmreichen Seeschlacht« einigermaßen erholt hatten, bestiegen wir unsere Kajaks und paddelten weiter. Aber noch lange 233
spähten wir ängstlich nach allen Seiten, ob nicht doch noch irgendwo in unserer Nähe die Schnauzen der Walrosse auftauchten. Etwa gegen neun Uhr abends landeten wir auf der Insel Bell. Als wir den Kajaks entstiegen, mussten wir uns überzeugen, dass Nielsen nicht mehr auf den Beinen stehen konnte. Er fiel hin und versuchte, auf allen vieren zu kriechen. Wenn man ihm Fragen stellte, schien er sie nicht zu verstehen, denn seine Augen blieben dabei völlig ausdruckslos, nur eine merkwürdige Angst spiegelte sich in ihnen. Eilig errichteten wir aus Segeln und Schutzstreifen eine Art von kleinem Zelt, schleppten Nielsen hinein und hüllten ihn in unsere einzige Decke. Immer wieder machte er Anstalten weiterzukriechen, dann aber beruhigte er sich und versuchte nur von Zeit zu Zeit, etwas zu sagen, vermochte jedoch außer einigen unartikulierten Lauten nichts hervorzubringen. Nielsen ist Däne; gleich beim Ankauf der »St. Anna« in England ließ er sich als Matrose anheuern. Damals sprach er kein einziges Wort Russisch, doch im Laufe von zwei Jahren lernte er ziemlich gut sprechen und konnte alles verstehen. Vom gestrigen Tage an scheint er die russische Sprache völlig vergessen zu haben, doch ich glaube, dass er jetzt überhaupt nichts mehr begreift, und in seinem Gemurmel würde selbst ein Däne kaum noch die Silben der Wörter unterscheiden können. Am meisten erschüttern mich seine stieren, angstvollen Augen, die Augen eines Menschen, der den Verstand verloren hat. Als wir Bouillon gekocht und ihm eine Tasse voll davon gegeben hatten, trank er sie halb aus und legte sich dann wieder hin. Wir 234
zweifelten schon nicht mehr daran, dass Nielsen gegen Morgen sterben werde. Schade um den Menschen, einen gar nicht dummen, willigen und braven Seemann! Lunjajew meint, dass bei Archijerejew dieselben Krankheitserscheinungen zu beobachten gewesen seien. Alle legten sich zur Ruhe, ich aber nahm das Gewehr und ging zu den Felsen, um nach Kap Flora Ausschau zu halten. Sonntag, den 6. (19.) Juli. Wie erwartet, so geschah es auch. Als wir am Morgen aufstanden, war Nielsen bereits erstarrt. Niemand hatte in der Nacht vernommen, dass er sich etwa im Todeskampf bewegt oder gestöhnt hätte. Wir hatten ihn am Vorabend in eine Decke gehüllt, nicht einmal die hatte er abgeworfen. Der Ausdruck seines Gesichtes war ruhig und durch keinerlei Todeszuckungen entstellt. Merkwürdig, es wies nicht jenes furchtbare Gelb, jene wächserne Totenblässe auf, die das Antlitz eines Verstorbenen stempelt, nur allzu grelle Flecke verfärbten es ein wenig. Doch beim ersten Anblick fiel dies gar nicht auf, und man konnte Nielsen für einen lebendigen, schlafenden Menschen halten, wären nicht die halb geöffneten, trüben Augen und die Totenstarre gewesen. Allem Anschein nach war er still und friedlich verschieden, als sei er eingeschlummert, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben. Zwei oder drei Stunden später trugen wir unseren toten Kameraden aus dem Zelt und betteten ihn auf einen Schlitten. Etwa 150 Faden von der Wasserkante entfernt, auf der 235
ersten Terrasse, wurde ein Grab hergerichtet. Das Grab war nicht tief, weil der Boden gefroren war; selbst die Steine unter der oberen Schicht waren so fest zusammengefroren, dass man sie nur mit einer Brechstange hätte voneinander trennen können. Wir mussten uns deshalb damit begnügen, ihre oberen Lagen auseinander zu scharren. Nielsen wurde auf dem Schlitten zu diesem Grab gebracht und darin zur letzten Ruhe bestattet. Ein Hügel aus Steinen kennzeichnet die Grabstätte. Niemand von uns vergoss eine Träne über diesem fernen, einsamen Grab, wir waren alle merkwürdig abgestumpft und verhärtet. Der Tod des Kameraden ergriff uns nicht allzu sehr; es war, als sei etwas ganz Gewöhnliches geschehen. Nur ein wenig sonderbar war uns zu Mute: Da ist ein Mensch drei Monate lang mit uns gegangen, hat alle Widerwärtigkeiten und Strapazen mit uns geteilt, sich bis zum Äußersten angestrengt, und nun ist er nicht mehr. Er braucht nirgends mehr hin … Alle Mühen, alle Entbehrungen sind umsonst gewesen. Wir aber müssen noch jene Insel erreichen, von der uns volle zwölf Seemeilen trennen. Es schien uns, als seien diese zwölf Seemeilen eine so große Entfernung, als sei der Weg zu dieser Insel so beschwerlich, dass Nielsen einfach nicht mehr weitergehen wollte und den leichteren Weg vorgezogen hatte. Doch solche Gedanken kamen uns nur für Augenblicke. Ich wiederhole, der Tod des Kameraden erschütterte uns nicht. Das heißt noch nicht, dass wir gefühllos oder hartherzig waren, wir waren nur dem Tode gegenüber abgestumpft, der uns allen im Nacken saß. Ja, wir blickten sogar gewissermaßen feindselig auf den nächsten »Kandidaten«, auf Spakowski, und erwogen im 236
Stillen: Schafft er's, oder kippt er vorher noch um? Einer meiner Gefährten schrie ihn fast zornig an: »Nun, du krankes Huhn, was sitzt du da herum«? Willst du Nielsen folgend Los, geh, such Treibholz, spute dich!« Als sich Spakowski ergeben erhob und schwerfällig vorwärts stapfte, rief er noch hinterdrein: »Untersteh dich nicht zu stolpern, untersteh dich nicht!« Das war Spakowski gegenüber, der niemandem etwas Böses getan hatte, nicht einmal schlecht gemeint, auch das Treibholz war jetzt ganz unwichtig. Hier lehnte sich einfach ein gesunder Mensch gegen die Krankheit, die es auf den Kameraden abgesehen hatte, auf, es war nichts als der Ausdruck des Willens, mit dem Tode bis zum Letzten zu kämpfen. Es schien ja so einfach: Versagen die Füße den Dienst – nun, dann werde ich sie dazu zwingen und dorthin stellen, wohin ich will. Du willst dich nicht rühren, willst still sitzen bleiben – nein, nun werde ich erst recht aufstehen und mich bewegen. Ist das vielleicht schwer? Gewiss, ein abseits Stehender sieht alle Fehler des anderen. Und nun ruft der »abseits« Stehende, während er die Fehler des Kameraden sieht, ihm warnend zu: »Untersteh dich nicht zu stolpern!« Dieser stolpernde Gang, wenn die Beine einknicken, ist sehr charakteristisch. Früher hatte ich dem keine große Bedeutung beigemessen und nahm an, er käme vom langen Sitzen im Kajak in unbequemer Stellung, mit gekrümmten Beinen. Eine solche Gehunsicherheit und sogar völliges Versagen der Beine erlebte ich oft an mir selbst, wenn ich nach langer, anstrengender Fahrt aus dem Kajak stieg; doch gewöhnlich war nach fünf Minuten »Beingymnastik«, bei der ich auf dem Rücken liegend tüchtig mit den Beinen 237
in der Luft strampelte, das Übel behoben. Bei Spakowski aber hielt dieser bedenkliche Zustand seit dem gestrigen Abend an. Auch bei Nielsen hatte es mit den Beinen angefangen, dann versagte die Zunge den Dienst, und später konnte er auch nicht mehr paddeln, die Arme gehorchten ihm nicht mehr. Spakowski spricht jetzt bereits unverständlich; es sind vorläufig nur einzelne Wörter, die er überhaupt nicht aussprechen kann, als hätte die Zunge ihre Gelenkigkeit eingebüßt. Der Kranke ist sich wahrscheinlich all dessen bewusst und spricht wohl auch deshalb so wenig; wenn er aber etwas sagen will, bemüht er sich, einzelne Wörter langsam und sorgfältig hervorzubringen. Doch wenn er merkt, dass nichts dabei herauskommt, blickt er verlegen zur Seite und verstummt. Am Morgen sahen wir zwei kleine Schwärme von Eiderenten zu fünf und sechs Stück in Richtung auf das nördliche Ufer der Insel Bell fliegen. In der Hoffnung, dort weitere Eiderenten zu finden, und um beiläufig jene Stelle zu besichtigen, die auf meiner Karte als »Eira-Hafen« verzeichnet ist, begaben wir uns dorthin. Leider fanden wir keine Nester vor; es war auch schwer anzunehmen, dass Eiderenten hier nisten könnten: Das Ufer ist steinig, in Schnee gehüllt und ohne Moos, wo diese Vögel mit Vorliebe ihre Nester zu bauen pflegen. Sicherlich sind die Schwärme, die wir vorher beobachtet hatten, weiter nach Norden abgestrichen. Der »Eira-Hafen« stellte ebenfalls nichts Bemerkenswertes dar: Es ist wohl eine Meerenge zwischen der Insel Bell und der Insel Mabel. Sie war vollständig mit Eis bedeckt.
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Am Abend gewahrten wir drei Walrosse, die auf die Insel zuschwammen, gerade dorthin, wo unsere Kajaks lagen. Für alle Fälle beeilten wir uns, die Fahrzeuge in Sicherheit zu bringen, da wir ernstlich befürchteten, den Tieren könnte es einfallen, mit ihren Hauern zu prüfen, woraus die Kajaks bestanden. Waren das nicht dieselben Walrosse, mit denen wir gestern den Kampf ausgefochten hatten? Zwei von ihnen brüllten unaufhörlich und kamen merkwürdig aufrecht angeschwommen, als stützten sie immer noch das Dritte. Als sie sich dem Ufer bis auf einige Faden genähert hatten, äugten sie drohend zu uns herüber und verschwanden wieder. Sollten das wirklich die gestrigen Walrosse gewesen sein? Zogen sie immer noch mit ihrem toten Jungen umher und hörten nicht auf, es zu beweinen und zu beklagen? Oder brachten sie es uns, um uns anzuklagen, weil wir es getötet hatten? Nein, das konnte nicht sein! Vielleicht dachten sie, unsere Kajaks seien ihre lagernden Artgenossen, und wollten sich gewohnheitsgemäß neben sie legen, merkten jedoch, dass sie sich geirrt hatten, und machten sich schleunigst auf und davon. Auf der Insel Bell fanden wir einige Stücke Treibholz und mehrere Walskelette. Von den elf Mann, die vor drei Monaten die »St. Anna« verlassen hatten, sind jetzt nur noch acht am Leben: vier bei den Kajaks und die vier Vermissten, die jetzt irgendwo auf dem Alexandra-Land umherirren. Lunjajews Kajak ist größer als meiner, und nach Nielsens Tod ist er etwas leichter geworden. Deshalb 239
wurden darin der größte Teil der Munition, meine Tagebücher sowie das Geschirr verstaut.
Dienstag, den 8. (21.) Juli. Gegen drei Uhr nachts begaben wir uns weiter zum Kap Flora. Das Wetter war prächtig, still, sonnig, und alles versprach eine gute Fahrt. An der südlichen und östlichen Küste der Insel Bell schwamm Treibeis, doch es war spärlich, und zwischen den Schollen konnte man lavieren. Anschließend war die ganze Miers-Straße, die die Insel Bell von der Insel Northbrook trennt, vollständig eisfrei. Nur links in der Ferne, in der Tiefe der Straße, war Eis zu sehen. Die Miers-Straße hat hier eine Breite von etwa zehn Seemeilen. Bedenkenlos nahmen wir direkten Kurs auf Kap Flora, das sehr deutlich vor uns lag. An Proviant führten wir auf jedem Kajak nur eine rohe Taucherente mit uns, doch auf der Insel hatten wir uns tüchtig gestärkt und konnten bei der Abfahrt nicht im Geringsten ahnen, was uns begegnen sollte: Nach anderthalb- oder zweistündiger Fahrt, als wir uns ziemlich in der Mitte der Enge befanden, sprang plötzlich ein steifer Nordost auf, der rasch an Stärke zunahm und eine halbe Stunde später aus der Tiefe des Kanals wie aus einem Rohr blies. Die noch vor kurzem so ruhige, spiegelglatte Wasserfläche verwandelte sich im Nu in einen brodelnden Hexenkessel. Der Wind fegte wie wild daher, riss die Kämme von den Wogen und überschüttete uns 240
ständig mit Wasser und Gischt. Unsere Kajaks tanzten auf den Wellen wie Spielzeuge. Dazu gerieten wir anscheinend in die einsetzende Ebbe, die starke Strömung erfasste uns und trieb uns ins offene Meer ab. Aus der Enge wälzten sich Eisschollen heran, dichter Nebel hüllte uns ein und entzog die Insel unseren Blicken. Die Kajaks waren zwar leicht, doch auf ihrem Vorderteil befanden sich die schweren Schlitten, und wenn wir, um nicht zu kentern, gegen die Wellen auffuhren, gruben sich die schweren Buge tief in die Fluten und ließen die Boote mit Wasser voll laufen. Ganz unbemerkt verloren wir im Nebel und zwischen den Eisschollen den zweiten Kajak aus der Sicht. Wir sahen nur, dass wir schnell fortgetrieben wurden, und zwar schneller als das Eis, das tief im Wasser lag. Bei einem solchen Wellengang gegen den Wind und die Strömung anzukämpfen ist unmöglich; deshalb beschlossen wir, an eine größere Eisscholle heranzukommen und hinaufzuklettern. Wir wählten einen gewaltigen Eisbrocken, legten an seiner Leeseite an, stiegen hinauf und zogen auch den Kajak nach. Wie tief dieser Eiskoloss im Wasser lag, konnte ich nicht feststellen, doch über dem Wasser erhob er sich in einer Höhe von mehr als zwei Faden. Tosend brachen sich die Wogen an unserer schwimmenden Zufluchtsstätte, doch sie war unerschütterlich und trieb nur langsam mit dem Winde dahin. Den anderen Kajak vermochten wir selbst von der Höhe des Eisberges aus nicht zu entdecken. Es war bei dem Nebel auch schwierig, weiter als bis auf fünfzehn Faden 241
etwas zu sichten. Für alle Fälle stellten wir unseren Kajakmast mit der Flagge auf der Spitze des Eisberges auf, in der Hoffnung, Lunjajew würde, wenn er unsere Flagge sähe, ebenfalls unserem Beispiel folgen und auf eine der Eisschollen klettern. An eine Weiterfahrt mit dem Kajak war nicht zu denken, bevor sich der Sturm nicht gelegt hatte, und da wir sehr müde waren, wussten wir nichts Besseres zu tun, als uns hinzulegen und zu schlafen. Oben auf dem Eisberg war es kalt, der Wind pfiff uns um die Ohren, doch wir hatten unsere Malizas bei uns und machten von der sehr nützlichen Schlafweise Gebrauch, die wir auch früher mit Erfolg angewandt hatten. Wir stülpten uns also die Malizas über, ohne die Hände in die Ärmel zu stecken, und legten uns auf dem Gipfel des Eisberges in einer kleinen Einbuchtung nieder, so dass die Beine Konrads in meiner Maliza an meinem Rücken zu liegen kamen, während meine Beine in Konrads Maliza hinter seinem Rücken steckten. Die Stiefel hatten wir natürlich vorher ausgezogen und die warmen Socken anbehalten. Man musste nur noch die Säume der beiden Malizas sorgfältig übereinander schieben, damit die eine die andere bedeckte, sozusagen »alle Ritzen dicht machen«, dann die Köpfe wieder in das Innere der Pelze einziehen, und schon vermochte die Kalte uns nichts mehr anzuhaben. Auf diese Weise entstand eine Art »Doppelschlafsack«. Es war auch wirklich sehr warm darin, nur das Atmen fiel ein wenig schwer, denn wir mussten durch den Kragen der Maliza Luft holen. Im Winter bedeckt sich der Kragen vom Atmen mit einer dicken Reifschicht und wird ganz steif. So
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schliefen wir also ein und verbrachten mindestens sieben oder acht Stunden in tiefem Schlaf. Das Erwachen war entsetzlich. Ein furchtbares Krachen weckte uns, und wir fühlten, dass wir kopfüber in die Tiefe stürzten. Im nächsten Augenblick war unser gemeinsamer Schlafsack voll Wasser. Wir sackten ab … Verzweifelt suchten wir uns aus dem verräterischen Futteral zu befreien und trampelten wie besessen mit den Beinen gegeneinander. Zu unserem Unglück hatten wir uns zu sorgfältig in dem Pelzsack eingerichtet: Der Saum der einen Maliza stak zu tief in der anderen, zudem waren die Pelze vorher etwas nass geworden und im Laufe von sieben Stunden aller Wahrscheinlichkeit nach zusammengefroren. Unsere Lage glich der von Katzen, die man in einen Sack steckt und ins Wasser wirft, um sie zu ersäufen. Gewöhnlich sagt man, dass solche Augenblicke höchster Lebensgefahr einem wie eine Ewigkeit erscheinen. Das ist vollkommen richtig. Ich weiß nicht, wie viele Sekunden wir im Wasser herumtrampelten, doch kam es mir unendlich lange vor. Gedanken an Rettung und Untergang und noch vieles andere fuhren mir durch den Sinn. Bis ins Einzelne zogen verschiedene Bilder unserer Reise an mir vorüber: Bajews Verschwinden, der Tod Archijerejews und Nielsens, das Ausbleiben der vier Skiläufer. Ich sah Lunjajew mit Spakowski im schwankenden, sturmumtobten Kajak treiben, und nun waren Konrad und ich als Letzte übrig geblieben … Danach könnte eigentlich ein Schlussstrich gezogen werden, wenn irgendwann jemandem einfiele, von uns zu erzählen. Ich entsinne mich noch ganz genau, dass 243
etwas Derartiges blitzschnell durch meinen Kopf schwirrte, doch im selben Augenblick war auch schon die Antwort da: Wer aber wird von unserem Untergang erfahrend Niemand! Und ich glaube, das Schrecklichste war gerade dieses kategorische: Niemand wird erfahren, dass wir untergegangen sind! … Ja, »dort« wird man annehmen, dass wir irgendwo leben, und in Wirklichkeit haben wir diesen ruhmlosen Kampf nicht überlebt und sind nicht mehr. Das Bewusstsein sträubte sich, protestierte gegen den Tod: Was aber ist denn mit meinem Traum? War diese Prophezeiung nur eitel Blendwerke Das kann nicht sein! Man mag mir glauben oder nicht, doch in diesem Moment trafen meine Fußsohlen die meines Gefährten Konrad, wir stießen einander aus dem Sack, und kurz darauf standen wir schon auf einer Unterwasserschwelle des Eisberges, bis zur Brust in den Fluten. Um uns schwammen unsere Malizas, die Stiefel, Mützen, die Wolldecke, Fäustlinge und andere Bekleidungsgegenstände, die wir eilig aus dem Wasser fischten und auf einen der Simse des Eisberges warfen. Die Malizas waren so schwer, dass wir jede gemeinsam hochheben mussten, die Decke vermochten wir nicht einzufangen, sie wurde ein Raub der Wellen. Obgleich der kalte Wind etwas nachgelassen hatte, blies er doch noch mit ziemlicher Kraft. Da wir nur in Socken auf dem Eise standen, waren unsere Fuße völlig gefühllos geworden. Vor Kälte und Erregung zitterten wir, mit klappernden Zähnen, am ganzen Körper. Noch während ich im Wasser stand, zerbrach ich mir vergeblich den Kopf darüber, was wir jetzt tun sollten. Wir würden ja erfrieren! Doch die Vorsehung selbst gab uns einen Fingerzeig. Wie 244
zur Antwort auf meine stumme Frage stürzte plötzlich vom Gipfel des Eisberges unser Kajak herab und fiel dicht vor uns ins Wasser. Entweder war er vom Wind heruntergefegt worden, oder das Eis unter ihm hatte sich abgespalten, so wie es ja auch bei uns der Fall gewesen war. Wäre der Kajak nicht heruntergeflogen und so glücklich gefallen – seine Bespannung war nirgends an einem der scharfen, vom Wasser zernagten Eisvorsprünge eingerissen –, so hätten wir sicher auf diesem schwimmenden Eisberg unser Ende gefunden. In den nassen Malizas, bebend vor Kälte, hätten wir vergebens versucht, uns zu erwärmen, und später kaum die Energie aufgebracht, etwas zu unternehmen. Doch jetzt wussten wir, was zu tun war. Wir kletterten eilig auf den Sims, wrangen unsere Jacken und Socken aus, zogen sie wieder an, warfen die nassen Bekleidungsstücke in den Kajak, zerhackten den Schlitten in Stücke, warfen auch diese in das Fahrzeug, setzten uns hinein und paddelten los. Mein Gott, wie grimmig und verbissen wir paddelten! Die Geschwindigkeit der Fahrt lag uns nicht so am Herzen wie der Wunsch, uns um jeden Preis zu erwärmen. Wir paddelten bis zur Erschöpfung, und das, glaube ich, war unsere Rettung. Der Nebel hatte sich zerteilt, und die Inseln waren sichtbar. Die uns am nächsten gelegene war die Insel Bell, die wir am Morgen verlassen hatten. Zwölf bis fünfzehn Werst trennten uns von ihr, doch der eisige Gegenwind hemmte unsere Fahrt beträchtlich. Wir suchten im Schutze der uns entgegentreibenden Eisschollen vorwärts zu kommen, um uns wenigstens an deren Leeseite dem Winde zu entziehen. Füße und Knie waren vor Kälte und Nässe fast erstarrt, da 245
wir keine Möglichkeit hatten, ihnen Bewegung zu verschaffen, und nichts besaßen, um sie zuzudecken. Endlich, nach etwa sechsstündigem angestrengtem Paddeln, gelang es uns, an die Insel Bell heranzukommen, jedoch etwas östlich von unserem früheren Lagerplatz. Kaum waren wir auf dem Ufereis gelandet, als wir auch schon einen tollen Dauerlauf unternahmen, um unseren erstarrten Beinen wieder Blut zuzuführen. Würde uns in diesem Augenblick jemand beobachtet haben, hätte er uns ohne Zweifel für Geistesgestörte gehalten, so wild waren unsere Verrenkungen, so ungestüm unser Tanz. Der Platz war ringsum frei und dem Winde ausgesetzt, und es gelang uns keineswegs, uns zu erwärmen. Da ließen wir aus den Malizas das Wasser ablaufen, wrangen sie, so gut es ging, aus und zogen sie an, um uns wenigstens etwas vor dem durch Mark und Bein dringenden Wind zu schützen. Mit großer Mühe fachten wir ein Feuer an, wozu wir die Schlittentrümmer, die Skier, das Verbandzeug aus der Reiseapotheke, kurz, alles nur irgend Brennbare benutzten. Zum Glück flogen und schwammen in der Nähe des Ufereises viele Taucherenten, von denen wir einige erlegen konnten. Eine Stunde später tranken wir schon kräftige Geflügelbrühe und aßen heißhungrig das Fleisch der Taucherenten. Danach war uns etwas leichter zu Mute. Ich vergrub mich in die nasse Maliza, zog den Kopf ein und saß so, mit dem Rücken an eine aufrecht stehende Scholle gelehnt, immer noch von Fieberschauern geschüttelt, bald einschlummernd, bald wieder aufschreckend, die ganze Nacht bis zum Morgen. Konrad aber hat, glaube ich, überhaupt nicht geruht. Er setzte seinen »Dauerlauf« fort, wo246
bei er allerlei komische Sprünge vollführte. Von außen war die Maliza etwas getrocknet, von innen aber noch ganz nass. Der Morgen brachte wieder besseres Wetter. Die Sonne brach durch die Wolken, es war windstill, und das Meer glättete sich allmählich. Wir fühlten uns sehr schlecht. Ich wurde vom Fieber geschüttelt, mein Kopf war schwer, und Konrad hatte, wie sich herausstellte, erfrorene Zehen an beiden Füßen. Doch man durfte nicht untätig sitzen bleiben; das konnte für uns ein schlimmes Ende nehmen. Wir rafften uns also auf und beschlossen, wieder nach Kap Flora aufzubrechen. Es mussten nur noch einige Taucherenten für den Weg geschossen werden.
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Kap Flora Freitag, den 11. (24.) Juli. Jetzt erst komme ich nach all unseren Abenteuern allmählich zu mir. Ich sitze in einem kleinen Häuschen auf Kap Flora auf der Insel Northbrook. Die ganze Zeit brennt Feuer im eisernen Ofen, im Häuschen ist es warm, sogar heiß, trotzdem habe ich Schüttelfrost. Soeben musste ich Konrad die erfrorenen Zehen verbinden. Lebensmittel haben wir jetzt in Hülle und Fülle, und auf dem Tisch steht sogar ein Teller mit Weizenfladen und zweierlei Sorten Zwieback. Aus diesen Fladen erhält man, wenn man sie sachgemäß durchdämpft, Brot, richtiges weißes Brot! Es ist schon über zwei Wochen her, seit wir den letzten Roggenzwieback gegessen haben, und Weizenzwieback hatten wir bereits viele Monate nicht mehr gesehen, weil er auf der »St. Anna« längst ausgegangen war. Doch ich will alles der Reihe nach erzählen. Am 9. (22.) Juli, früh gegen fünf Uhr, machten wir uns von neuem auf den Weg nach Kap Flora, nachdem unsere erste Überfahrt so verhängnisvoll geendet hatte. Auch diesmal war das Wetter klar, sonnig und still. Wir hatten aber inzwischen schon mancherlei gelernt und trauten dieser trügerischen Stille nicht mehr. Also bogen wir um das Ufereis, das die Insel Bell umgab, und paddelten die Miers-Straße hinauf bis zur südlichen Spitze der Insel Mabel, um erst dann die Straße zu durchqueren. Die 248
Strömung war auch jetzt sehr stark, und wir mussten die ganze Zeit hart backbord halten. Eisberge mit den wunderlichsten Formen trieben bisweilen an uns vorbei, waren aber insgesamt sehr spärlich. Der Kajak mit Lunjajew und Spakowski war spurlos verschwunden. Wir hatten noch die schwache Hoffnung, dass es ihnen vielleicht gelungen sein könnte, Kap Flora zu erreichen, während wir auf dem Eisberg schliefen oder nach dem wenig angenehmen Bad zu der Insel Bell zurückpaddelten. Auf ihrem Kajak befand sich unser einziges Gewehr, die gesamte Munition, Tagebuchblätter und einige Dokumente. In unserem Besitz war nur die Doppelflinte mit vierzig Patronen, davon dreißig Schrotund zehn Kugelpatronen. Dieser Vorrat würde natürlich nicht lange vorhalten, und deshalb stand uns bevor, nach unserer Ankunft auf Kap Flora Bogen und Pfeile herzustellen sowie verschiedenartige Schlingen und Fallen zu konstruieren. Ich habe einmal eine Schilderung gelesen, dass vor vielen Jahren eine Gruppe russischer Seetierjäger, die Schiffbruch erlitten hatte, auf einer der zahlreichen Inseln Spitzbergens gelandet war, ohne im Besitz irgendwelcher Waffen zu sein. Diese Eismeer-Robinsons verbrachten sieben Jahre auf der Insel und überstanden verhältnismäßig gut alle Entbehrungen und Strapazen. Kleidung und Nahrung beschafften sie sich durch die Jagd, wozu sie ausschließlich Pfeil und Bogen sowie allerlei selbst gefertigte Fanggeräte benutzten. Später wurden sie von einem Fangschiff, das zufällig die Insel anlief, aufgenommen.16
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Doch jetzt, da wir die Miers-Straße im Kajak überquerten, spähten wir ängstlich nach allen Seiten, ob nicht irgendwo ein Walross auftauchte. Mit einer Doppelflinte, wenn auch mit Kugelpatronen geladen, lässt sich mit diesen Ungeheuern schlecht Krieg führen, jedenfalls zogen wir es vor, ihnen nicht zu begegnen. Sosehr wir auch stets die Begegnung mit Eisbären suchten, so gingen wir der mit Walrossen eifrig aus dem Wege, vor allem auf dem Wasser. Trotz angestrengten Paddelns kamen wir nur langsam vorwärts. Zu unserem Glück war diesmal das Wetter sehr schön und die Fahrt sogar angenehm. Gegen neun Uhr früh befanden wir uns bereits in der Nähe der Insel und schauten mit gespannter Neugier zu der Küste hinüber, in der Hoffnung, dort Anzeichen menschlicher Behausungen zu entdecken. Unsere Augen tasteten so sorgfältig die Ufer ab wie damals auf dem Eis den Horizont, als wir das rettende Land suchten. So war es denn auch kein Wunder, dass unser brennender Wunsch, unterstützt von einiger Fantasie, uns zuweilen ein Haus vorgaukelte, das sich aber dann beim Näherkommen als ein großer Felsblock entpuppte. Als wir die Westspitze der Insel erreichten, wandten wir uns nach steuerbord und fuhren an der Küste entlang in östlicher Richtung, wo das Gelände für eine Landung günstiger zu sein schien. Auf den vorbeitreibenden Eisschollen sahen wir viele Walrosse, doch sie nahmen von uns keine Notiz und ließen sich ruhig von der Sonne bescheinen. Auch wir hatten jetzt andere Sorgen. Nach einiger Zeit entdeckten wir eine geeignete Landungsstelle, die es uns erlaubte, dicht ans Ufer heranzukommen. Wir drehten bei und legten an. Ich 250
glaube, Kolumbus konnte bei der Landung in der Neuen Welt kaum erregter gewesen sein als wir in diesem Augenblick. Man denke nur, drei volle Monate strebten wir dieser Insel zu, die Vorbereitungen zur Reise hatten aber schon viel früher, bereits vor sechs Monaten, begonnen! Und nun endlich war das lang ersehnte Ziel erreicht. Wir standen auf Kap Flora. Doch schon ergaben sich neue Probleme: Die Beine versagten den Dienst, und wir mussten uns niederlegen. Noch nie waren wir so geschwächt gewesen, so erschöpft, dass wir nicht einen Schritt hätten tun können. Würden wir denn wirklich jetzt, da die größte Not überstanden war, von der tückischen Krankheit heimgesuchte Gingen wir demselben jämmerlichen Schicksal entgegen wie Archijerejew und Nielsen? Aber abgesehen von den Beinen, fühlten wir uns auch im Allgemeinen ganz krank und elend, und nur die Neugier, was wir hier wohl vorfinden würden, trieb uns noch an. Wir legten uns auf den Rücken und machten, so gut es ging, mit den Beinen gymnastische Übungen und begannen sie dann tüchtig zu massieren. Jetzt wagten wir schon, uns an unserem Kajak festhaltend, Springübungen. Nach zehn bis fünfzehn Minuten Gymnastik wurden unsere Beine gelenkiger und gehorchten wieder unserem Willen. Wir nahmen die Doppelflinte und das Fernglas und begaben uns auf die Suche nach den Spuren des JacksonHauses. Wir hegten schon keine Hoffnung mehr, etwas anderes als Spuren oder Trümmer zu finden. 251
Das Gelände stellte eine große, wellige Fläche dar, die sich von Westen nach Osten ausdehnte und nach Norden zu terrassenförmig anstieg, wo sie durch steile, sich parallel zum Ufer hinziehende Felswände begrenzt wurde. Die Felsenstruktur war dieselbe, wie wir sie schon früher auf den anderen Kaps beobachten konnten. Doch hier war alles in einem viel größeren Maßstab, sowohl die Felsen selbst, die fast von gleicher Form und ohne einzelne Gipfel waren, als auch die Breite der Uferplatte und die Höhe der Küste. Der Uferrand und der daran anliegende Teil der Platte war durchweg felsig, doch weiter einwärts fanden wir Erde und Lehm. Das gesamte Plateau schwenkte etwas nach links ein, so dass nicht das ganze Ufergelände mit einem Blick übersehen werden konnte. Hinter der Felswand, nach Norden zu, stießen wir auf einen Gletscher, der sich anscheinend über die ganze Länge der Insel erstreckte. Diesen Gletscher hatten wir gesehen, als wir uns auf dem Kajak der Insel näherten, doch von Südwesten aus war er nicht sichtbar. Die ganze Insel machte durch die viele Erde auf uns einen überaus wohltuenden Eindruck. Bäche stürzten tosend herab und liefen in unzähligen Rinnsalen über die Terrassen zum Meer. An offenen Stellen war der Schnee bereits geschmolzen, überall wuchs Moos, das stellenweise schon blühte, und an den Hügeln entdeckten wir dieselben gelben Blümchen, die wir schon auf Kap Harmsworth gefunden hatten. Die Vegetation war hier überhaupt bedeutend reichhaltiger als auf den anderen von uns besuchten Kaps; aber das musste ja auch so sein, denn nicht umsonst hatte das Kap den Namen Flora erhalten.
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Der Boden war noch nicht trocken, überall befanden sich Wasserlachen und viel Schmutz. Stellenweise durchschnitten breite und tiefe Schluchten, die ihre Entstehung dem Gletscherwasser verdankten, das Plateau, auf deren Grund schäumende Bäche liefen. Hoch oben in den Felsen nisteten unermessliche Scharen von Vögeln, und ihr ununterbrochener Lärm wirkte nach der stillen Kajakfahrt förmlich betäubend auf uns. Zwischen den Steinen stolzierten kleine graue Vögel umher, die nach Art und Wesen lebhaft an Schnepfen erinnerten. Die Küstenlinie war fast völlig eisfrei; nur hier und da sah man noch Ufereis als vereinzelte schmale, schmutzige Schollen. Wir beschleunigten unsere Schritte, stolperten häufig über Steine und mussten ab und zu der kranken Beine wegen rasten. Wir gingen gen Osten am Ufer entlang und hielten begierig Ausschau. Hinter der Biegung kam es uns vor, als sähen wir etwas Ähnliches wie einen Bau, doch bald verschwand er wieder hinter einem Hügel. Wir gingen noch etwa 150 Faden weiter, da erblickten wir plötzlich eine über dem Hügel sich erhebende Stange. Jetzt war sie schon ganz klar zu erkennen. Kein Zweifel, hier erwartete uns eine ganz besondere Überraschung! Ein Baum konnte es nicht sein, denn es gibt keine Bäume auf Kap Flora. So musste es eine von Menschenhand errichtete Stange sein. Links entdeckten wir eine zweite; an den Spitzen der Stangen war etwas befestigt. Doch da kam auch das Haus in Sicht, ein richtiges, aus Balken zusammengefügtes Haus mit fast flachem, nach einer Seite abfallendem Dach und einem Schornstein. Ja, 253
das war beileibe keine Ruine, sondern ein fest gefügtes Haus! Gleich darauf entdeckten wir noch ein Haus und noch ein Gebäude und waren nun schon fest davon überzeugt, dass wir wenn auch nicht eine Stadt, so doch zumindest eine größere Siedlung vor uns hatten. In unserer Erregung hielten wir nämlich alle großen Steine für Bauten. Wir waren so in den Anblick dieser Siedlung versunken, dass wir den nächsten Gegenständen keine Beachtung schenkten. Plötzlich sahen wir ganz unerwartet, etwa dreißig Faden von uns entfernt, am Rande einer Schlucht ein großes Fangboot norwegischen Typs. Es lag kieloben und war noch in tadelloser Verfassung. Daneben fanden wir allerlei Zubehörteile: Riemen, Bodenroste etc. … Es schien, als sei das Boot noch unlängst benutzt worden, vielleicht sogar in diesem Jahr. Im Laufschritt eilten wir weiter zum größten der Häuser, in der Hoffnung, dort Menschen anzutreffen. Hätten wir sie jetzt erblickt, wären wir wahrlich nicht erstaunt gewesen, weil wir ernstlich glaubten, vor einer Fangsiedlung zu stehen, von deren Existenz wir früher nichts gewusst hatten. Wir achteten nicht darauf, in welchem Zustand sich diese jetzt schon nahen Häuser befanden. Sie schienen uns noch ganz neu und bestimmt bewohnt zu sein. Vielleicht öffnete sich auf einmal eine Tür, wir würden fremde Laute vernehmen und einen norwegischen oder englischen Schiffer erblicken, der eine brennende Pfeife zwischen den Zähnen hielt. Doch als wir dicht vor dem Haus standen, erkannten wir, dass es unbewohnt war. Alle Fenster waren mit Brettern verschlagen, die Glasscheiben teilweise entzwei. Die Tür 254
stand halb offen, der Eingang war fast vollständig mit Schnee zugeweht, der sich bereits in schmutziges Eis verwandelt hatte. An den unteren Balkenlagen häufte sich ebenfalls schmutziger Schnee, doch der Oberteil des Baus hatte sich frisch erhalten und machte den Eindruck, als sei das Gebäude erst vor kurzem errichtet worden. Aber jetzt achteten wir nicht auf Einzelheiten. Unsere Aufmerksamkeit wurde durch einige große, merkwürdig aussehende Kisten abgelenkt, die, zur Hälfte in Schnee eingebettet, vor dem Blockhaus standen. Wir rissen den Deckel von einer der Kisten und fanden darin eine zweite Kiste aus Zinkblech. Schnell entschlossen schnitten wir das Blech mit dem Messer auf, und – o Glück! Die ganze Kiste war mit weißem Zwieback gefüllt. Sogleich hatten wir den Mund und die Taschen voll dieses köstlichen Gebäcks, von dem wir so lange Zeit nur träumen konnten. Wir öffneten die zweite Kiste. Auch diese enthielt Zwieback, sogar von noch besserer Qualität. Fünf solcher Kisten standen nebeneinander, und es bestand kein Zweifel, sie enthielten sämtlich Zwieback. Um unsere Freude bei dieser unerwarteten Entdeckung zu verstehen, muss man einige Monate Roggenzwieback in beschränkten Rationen erhalten haben, zwei Wochen lang überhaupt keinen Krümel Brot oder Zwieback gesehen und sich ausschließlich von dem Fleisch erbeuteter Tiere, ohne jegliche Zutaten, außer Meerwasser, ernährt haben. Wenn Sie, lieber Leser, sich an den Tisch setzen und man Ihnen das Essen serviert, das sowohl Gemüse als auch Kartoffeln oder Graupen enthält, so lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit auf die heißen oder kalten Speisen, ohne jene dünn geschnittenen Scheiben Brot, die 255
gewissermaßen als Zugabe zur Mahlzeit dienen, zu beachten. Auch mir ging es früher ähnlich, und ich machte mir über das Brot keine besonderen Gedanken. Ich ahnte nicht, dass man sich nach Brot, ja sogar nach Zwieback sehnen kann, sehnen im buchstäblichsten Sinne des Wortes, selbst dann, wenn man genug Fleisch zu essen hat. Als ich vor langer Zeit die Schilderung las, wie Jansen und Johansen in der selbst gebauten Hütte auf der Jackson-Insel überwinterten, wie sie sich während des ganzen langen Winters ausschließlich von Fleischkost ernährten, schienen mir ihre Träume vom Zwieback, den sie auf einem Fangschoner irgendwo bei Spitzbergen finden sollten, etwas übertrieben, übertrieben wie ihr Jubel, als sie dieses Brot tatsächlich bei Jackson auf Kap Flora fanden. Doch jetzt erkannte ich, dass ich mich geirrt hatte. Es lässt sich leichter ohne Fleisch auskommen als ohne Brot oder Zwieback; das war mir schon klar, nachdem ich den Zwieback nur einen halben Monat entbehren musste. Jetzt weiß ich genau, was Brot bedeutet. Nun, da wir volle fünf Kisten Zwieback vorgefunden hatten, waren wir glücklich wie nie zuvor. Erst jetzt entdeckten wir ein senkrecht über dem Eingang angeschlagenes Brett, das sich etwa einen Faden über das Dach des Hauses erhob. Daran war oben quer ein zweites, kleineres Brett angenagelt, das sehr deutlich die nachstehende Inschrift in lateinischen Buchstaben aufwies: »Expedition des Oberleutnants Sedow 1913.«
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Da hatten wir's! Also statteten wir dem Lager Sedows einen Besuch ab! Aber warum war hier das Jahr 1913 angegeben, obwohl Sedow bereits im Jahre 1912, fast zur gleichen Zeit wie wir aufgebrochen war? Merkwürdig … Unter dem Querbrett hingen, mit Draht befestigt, zwei verlötete Blechbüchsen, in denen wohl Kakao gewesen war. Das wird die Post sein, dachte ich; sicher erwartet man die Ankunft eines Schiffes. Als wir an die Tür traten, bemerkten wir eine weitere, mit Blaustift geschriebene Inschrift: »Die erste russische Polarexpedition des Oberleutnants Sedow landete am 30. August 1913 auf Kap Flora und ist am 2. September nach der Teplitzbucht weitergezogen.« Teplitzbucht – der Name war mir bekannt. Sie lag auf dem Rudolph-Land. Die Expedition war also am 30. August angekommen und am 2. September weitergezogen … Anscheinend mit Hundeschlitten, sonst hätten die Leute diese Kisten und anderes Inventar, das in der Umgebung herumlag, hier nicht ausgeladen. Doch wie hatten sie es fertig gebracht, dieses Haus innerhalb von vier Tagen zu zimmern und es dann, was noch eigentümlicher war, so verwahrlosen zu lassen? Offenbar waren sie im Winter oder im zeitigen Frühjahr ein zweites Mal hergekommen, hatten hier gewohnt, mitgenommen, was sie benötigten und fortbringen konnten, die Post in Blechbüchsen hinterlassen und waren wieder nach der Teplitzbucht abgereist. Wir warfen einen Blick in das Innere des Hauses, doch dort herrschte solche Unordnung, wie man sie sich kaum vorstellen kann: Schmutziges Eis füllte das untere Drittel des Raumes, und darin waren Trümmer von Möbeln, 257
allerlei Lumpen, Proviantbüchsen, Geschirr und viele andere Dinge eingefroren. Wir verzichteten zunächst auf die weitere Besichtigung und begaben uns zu dem in etwa dreißig Faden Entfernung stehenden Lagerschuppen. Dieser Schuppen hatte die Form eines großen Blockbaus, der aus dicken Brettern zusammengefügt und innen durch eine Querwand in zwei Räume geteilt war, jeder mit einer Türöffnung. Doch die Türen fehlten, sie waren offensichtlich herausgerissen worden. Der größte Teil des Daches und der Decke war ebenfalls nicht vorhanden. Innen war der Schuppen zur halben Höhe mit Eis angefüllt, aus dem Kisten, ganze Reihen von Büchsen, Fässer, große Blechkannen, Kleidungsstücke, Segeltuch und eine Menge Holztrümmer herausragten. Im anderen Raum sahen wir außer dem oben Genannten einen ehemals sicher sehr schönen grünen Kajak im Eise stecken. Außen lehnte an einer Seitenwand des Schuppens ein kleiner, bereits gänzlich verfallener Verschlag, in dem klein gesägtes Holz aufgestapelt war. Ringsumher eine Menge Pferdemist, undurchdringlicher Schmutz und Wassertümpel. In diesem Morast lagen weit verstreut Kisten mit Konserven, unverpackte Büchsen, Fässer, Bootsriemen, zerbrochene Schlitten, Teile von Ledergeschirren und zahlreiche andere Gegenstände. Ein großer Teil der Büchsen war verrostet oder zerschlagen und der Inhalt völlig unbrauchbar geworden; doch viele waren noch heil und ganz. Wie hatten folgende Vision: Hier stand ein Vorratsschuppen, in dem eigentlich alles vorhanden war, was man sich nur wünschen konnte. Doch da brach plötzlich Feuer 258
aus, die Feuerwehr kam, zertrümmerte das Dach und die Decke, schlug Fenster und Türen ein, warf die Vorräte durcheinander, brach alles, was ihr im Wege stand, in Stücke, überflutete den Schuppen mit Wasser, das sich alsbald in Eis verwandelte, und zog wieder davon … Doch der Brand hatte nicht stattgefunden, das war klar. Die Wände und der Rest der Decke waren nicht einmal von der Zeit geschwärzt, das Holz hatte sich noch ganz frisch erhalten. Wir öffneten einige Konservenbüchsen und fanden darin Schweine- und Kaninchenfleisch, geräucherte und marinierte Heringe und vieles mehr. An Ort und Stelle nahmen wir Kostproben und fanden die Konserven so ausgezeichnet, als kämen sie eben aus dem feinsten Delikatessengeschäft. Wir steckten ein paar Büchsen zu uns und setzten unseren Erkundungsgang fort. In einer anderen Fluchtlinie, etwa dreißig Faden vom Schuppen entfernt, stand ein Haus von sonderbarer Architektur. Es war sehr leicht gebaut, in seiner Form achteckig, wobei jede Seite, ein wenig nach innen geneigt, aus einem einzigen Holzschild bestand; sicher konnten diese Schilde schnell auseinander genommen und wieder aneinander gefügt werden. Das Dach wies eine zeltartige, konische Form auf, der Innenraum war durch eine Art Vorzimmer getrennt, und das Ganze machte den Eindruck eines kleinen Zirkusgebäudes. Die Innenwände waren mit Segeltuch bespannt, und an den Seiten befanden sich regelrechte Schlafkojen. Einst musste dieser Bau sehr schön gewesen sein, alles war sauber und sorgfältig ausgeführt, doch der Zahn der Zeit hatte schon daran 259
genagt. Natürlich war das Häuschen nicht für das hiesige raue Klima bestimmt; aller Wahrscheinlichkeit nach hatte es einmal für kürzere Aufenthalte in wärmeren Gegenden gedient. Auch hier war der Fußboden mit einer dicken Eisschicht bedeckt, herrschte derselbe Schmutz und Verfall wie in den anderen beiden Gebäuden. In der Mitte des Raumes stak ein eiserner Ofen im Eis, ragten überall Lumpen, Trümmer von Möbeln, Kisten und anderer Kram hervor. Auf den Kojen fanden wir etwas für uns überaus Wertvolles: in einer Kiste und auf den Kojen verstreut lag Munition. Alle Patronen wiesen Kaliber zwölf auf, das gerade für unsere Flinte passte. Es waren Schrot- und auch einige Kugelpatronen. Dieser Fund kam uns sehr gelegen und hat uns wohl am meisten erfreut, es war ein prachtvolles »Geschenk«. Auf einer Koje stand eine große Apothekerkiste, voll mit allerlei Medikamenten und Verbandmaterial. Sie schien sich von allen umherliegenden Gegenständen noch weitaus am besten erhalten zu haben. Doch vorläufig fesselte sie uns nur insofern, als wir darin ein Glas mit Pfefferminzpastillen entdeckten, das wir auch einsteckten, »zum Tee«. Zwischen den Gebäuden und dem Ufer befand sich ein regelrechter Schutthaufen. Hier lagen leere Konservenbüchsen, Töpfe, Teller, Bratpfannen, Teekessel, Löffel etc. Alles war alt, beschmutzt und angeschlagen; es fehlten Henkel, Deckel, Tüllen, doch fanden wir Dinge darunter, die wir noch gut gebrauchen konnten. Außerdem lagen dort zerbrochene Schlitten, Skier, Reste von Hunde- und Pferdegeschirren, defekte Geräte, die wir nicht kannten, 260
und vieles, vieles mehr. Der ganze Haufen erinnerte an den Hof eines Altwarenhändlers. Angesichts all dieser Schätze waren wir sprachlos. Es wurde uns klar, dass wir für lange Zeit mit allem Notwendigen, ja sogar mit »Luxusgegenständen« reichlich versorgt waren. Jetzt mussten wir uns nur noch nach einer anständigen »Wohnung« umsehen. Weder im Hauptgebäude noch im Lagerschuppen oder im »Zirkus« konnte man, so wie sie jetzt aussahen, wohnen. Hinter dem Hauptgebäude, nach den Felsen zu, stand ein viertes, in einem ebenso merkwürdigen Stil erbautes Haus wie der »Zirkus«. Wie wir bald darauf feststellen konnten, handelte es sich um eine so genannte »Schiffshütte«, die entweder ganz von Bord herübergebracht oder aus Einzelteilen am Ufer zusammengesetzt worden war. Im Abstand von etwa einem Fuß von den Außenwänden umgab die Hütte ein dichter Zaun aus Bambusstäben, die in die Erde gesteckt und mit Latten und Draht gitterartig miteinander verbunden waren. Der Raum zwischen den Wänden und der Gitterkonstruktion war mit Torf oder Moos ausgefüllt. Die Füllung war jedoch im Laufe der Zeit so zusammengesackt, dass sie nur noch bis zur halben Höhe der Wände reichte. Das gleiche Bambusgitter umfriedete einen kleinen Platz vor dem Eingang und bildete eine Art überdachten Zaun oder Käfig mit einer eigenen Tür. Die Bambusstäbe waren früher wahrscheinlich zu Vermessungszwecken verwendet worden, denn viele von ihnen trugen an der Spitze noch die typischen kleinen Signalwimpel. Diese kleine originelle »Villa« mutete uns recht sympathisch an. Um sie herum war es 261
weder schmutzig noch nass, da sie auf einer Anhöhe stand; sie zeigte auch keinerlei Spuren des Verfalls wie die anderen Gebäude. Wir traten ein. Im »Vorgarten« war eine kleine Schmiede eingerichtet; der Blasebalg war von eigenartiger Konstruktion, wie ich es noch nirgends gesehen hatte. Die Tür der Hütte war verschlossen. Daran war ein Hufeisen genagelt, das anscheinend überall als Glückssymbol angesehen wird. Als wir den Innenraum betraten, sahen wir gleich, dass es sich hier durchaus leben ließe: Zur linken Hand ein eiserner Ofen, daneben eine Kiste mit klein gespaltenem Holz, zur rechten ein Tischchen und geradeaus, gegenüber der Tür, befand sich eine breite Koje. Auch an einigem Mobiliar fehlte es nicht: Wir entdeckten eine Lampe und Essgeschirr. Gewiss, den Fußboden bedeckte auch hier eine Eisschicht, doch sie war bei weitem nicht so dick wie in den anderen Gebäuden, und es würde nicht schwer fallen, sie wegzuräumen. Wir legten also unsere »Einkäufe« – Konserven und Zwieback – auf den Tisch und ließen uns häuslich nieder. Bald flackerte ein lustiges Holzfeuer im Ofen, es wurde warm, und wir konnten endlich unsere von dem unfreiwilligen Bad noch feuchten Kleider ablegen. Sodann gingen wir eiligst daran, ein leckeres Mahl zuzubereiten, kochten Suppe aus gutem fettem Konservenfleisch, taten gefundene Dörrkartoffeln dazu, und mit dem lang ersehnten Zwieback gab es nach langer Zeit wieder einmal ein Essen, dem wir mit großem Appetit zusprachen. Wie angenehm war es doch, nach dreimonatigem Aufenthalt in der Kälte sich in einem behaglich durchwärmten Raum auszukleiden! Wir 262
waren zu Hause, waren satt und hatten alles, was wir uns nur wünschen konnten. Kap Flora hatte unsere kühnsten Träume weit übertroffen. Ermüdet von den Strapazen und den mannigfaltigen neuen Eindrücken gingen wir schlafen in einer Umgebung, an die wir nicht mehr gewöhnt waren. Wie oft hatten wir von diesem Augenblick geträumt, von dieser Wärme, als wir uns im Schneetreiben nass, frierend und vom Hunger geplagt über zerklüftetes Eis dahinschleppten, hoffnungslos den Horizont absuchten und uns den Kopf zerbrachen, wie wir uns Heizmaterial beschaffen sollten, um wenigstens vor dem Schlafengehen Trinkwasser aus Eis schmelzen zu können. Ja, jetzt waren wir geborgen, jetzt brauchten wir nicht mehr um die Zukunft zu bangen. Wenn wir doch bloß unsere vermissten Gefährten wieder finden würden! Wo mochten sie jetzt sein?
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Vorbereitungen zur Überwinterung Wir schliefen wie Tote und wahrscheinlich sehr lange. Nach dem Frühstück machten wir uns an die Arbeit. Es gab viel zu tun. Zunächst musste der Kajak, den wir etwa zwei Werst vor der Siedlung zurückgelassen hatten, herangebracht, an einer sicheren Stelle an Land gezogen und die Reste unserer Ausrüstung in die neue Wohnstätte geschafft werden. Es war uns wahrlich nicht viel übrig geblieben: der Kompass, das Chronometer, der Sextant, zwei Bücher, das Segel, das Beil, Streichhölzer und zwei oder drei Büchsen, von denen eine die Post enthielt. Dann galt es, eine große, eilige Arbeit zu bewältigen – den Proviant zu bergen, der in Wasser und Schmutz umherlag und mit jedem Tage mehr verdarb. Um die Vorräte, die im Eise eingefroren waren, brauchten wir uns nicht besonders zu bemühen, die hatten noch Zeit. Vorläufig gingen wir daran, die Büchsen mit Konserven einzusammeln, sie waren sehr zahlreich. Doch bald mussten wir zu unserem Bedauern feststellen, dass mindestens die Hälfte davon unbrauchbar geworden war: Viele Büchsen waren zerschlagen, verrostet und ihr Inhalt verdorben. Die restlichen wurden jedoch alle zusammengetragen, getrocknet und sortiert. Einstweilen hatten wir noch keine geeignete Vorratskammer, daher stellten wir die Büchsen teils in unserem »Vorgarten« ab, teils einfach auf Brettern neben dem Lagerschuppen. Dann machten wir uns daran, die halb eingefrorenen und oben mit Schmelzwasser bedeckten Kisten und Büchsen aus dem Eis herauszubacken. Dieses Unternehmen glich 264
den »Ausgrabungen von Pompeji«. Allmählich, Kiste für Kiste, Büchse für Büchse, wurden die Vorräte ans Tageslicht befördert. Wir arbeiteten mit Beil und Messern, vorsichtig, geduldig und ängstlich bemüht, nichts zu beschädigen. Dafür wurden wir auch reichlich belohnt durch unerwartete Entdeckungen und angenehme Überraschungen. Was haben wir nicht alles während dieser »Ausgrabungen« gefunden! Konserviertes Hundefutter, Rind-, Schweine-, Hammel- und Kaninchenfleisch, allerlei Fisch, Butter, Würste in zugelöteten Dosen, gepresstes Dörrgemüse, Kartoffelflocken, große Tafeln ungesüßter Schokolade, Eipulver zum Backen und vieles mehr. Manches war bereits schlecht geworden, obgleich es ebenfalls unter einer Eisschicht gelegen hatte. Allem Anschein nach war es schon früher verdorben, als sich dieses Eis noch nicht gebildet hatte, also nicht erst in diesem Jahr. Ebenfalls im Eise, unter Wasser, fanden wir große Mengen Tee in Halbpfunddosen aus Weißblech. Fast der ganze kostbare Inhalt war feucht und verschimmelt, da die Dosen durchgerostet waren. Trotzdem nahmen wir einige am besten erhaltene mit, trockneten den Tee und tranken ihn später mit Hochgenuss. In großen offenen Blechbüchsen, vom Wasser überspült, entdeckten wir einige Pud Kaffee, mit dem allerdings nichts mehr anzufangen war. In Blechbehältern, ebenfalls unter Wasser, war Hafer, den man wohl als Pferdefutter verwandt hatte. Obwohl er feucht war, versuchten wir doch, Schleimsuppe daraus zu kochen, und erhielten eine durchaus genießbare Speise. 265
Wir beschlossen daher, diesen Hafer im Winter zu verbrauchen. Im Schuppen fanden wir zwei Kisten mit Weizenzwieback, der vollständig aufgeweicht war und sich in Brei verwandelt hatte. Wir entdeckten auch einige Pud Petroleum und eine Kiste mit Stearinkerzen. Dieser Fund war sehr wertvoll, er würde uns während der langen Winternacht sehr zustatten kommen. Äußerst erstaunt waren wir, als wir leichte Seidenzelte mit der eingestickten Aufschrift »Zieglers North Polar Expedition« und einer Nummer, anscheinend der Nummer des Zeltes, fanden. Dieselbe Aufschrift hatten auch viele der anderen Gegenstände: Beile, Skier, der grüne Kajak, eigens für Polarexpeditionen angefertigte Kocher, Spaten etc. Alle diese Dinge waren von bester Qualität, und jedes war nummeriert. Dieser uns unbekannte Ziegler brachte mich endgültig aus dem Konzept. Wie ich schon erwähnte, waren wir anfangs der Meinung, wir hätten Jacksons Winterquartier noch nicht gefunden und befänden uns im Lager Sedows. Gewiss, ein wenig verwirrte uns die Fülle von allerlei altem Zeug und die Verwahrlosung der Bauten; dabei lag noch ein Teil der Lebensmittel und Ausrüstung unter Schnee und Eis. Dies erklärten wir uns damit, dass Sedow mitten im Winter nach einem wiederholten Besuch auf Kap Flora eiligst abgezogen sei. Sedows Schiff aber war wahrscheinlich nach Archangelsk zurückgekehrt, nachdem es die Expedition, wie beabsichtigt, im Jahre 1912 auf Kap Flora abgesetzt hatte. Es musste also im Spätsommer hier wieder eintreffen; in den Büchsen, die am Brett über dem Hauptgebäude hingen, hatte man Post hinterlassen, falls die 266
Expedition erst nach Ankunft des Schiffes zurückkehren sollte. Wie sich in mir diese falsche Vorstellung herausbilden konnte, vermag ich mir selbst nicht zu erklären. Das Haus, das außen sehr gut erhalten war und das man auf den ersten Blick eher auf ein Jahr als auf zwanzig Jahre schätzen konnte, zwei Inschriften von Sedow, unsere vorgefasste Meinung, auf Kap Flora nur die Trümmer des Jackson-Lagers vorzufinden, die von Sedow zurückgelassene Post, zwei oder drei leere Konservenbüchsen russischer Herkunft, die wir in unserer neuen Wohnstätte entdeckten – dies waren die Gründe meines Irrtums. Einmal jedoch, als wir uns wieder in dem Hauptgebäude zu schaffen machten, das innen mehr einer Abfallgrube glich und in dem die Schmutz- und Eisschicht eine Höhe von bis zu zwei Fuß erreichte, bemerkten wir an einer Wand zwischen den Kojen einen merkwürdigen, fast vermoderten Stofffetzen. Er war nicht groß und mochte wohl ein Rest der einstigen Wandbespannung sein. In dem hier herrschenden Dämmerlicht konnte man weder Stoffart noch Farbe erkennen. Doch als wir bei Sonnenschein näher hinsahen, erkannten wir, dass es Tuch von ehemals grüner Farbe und jetzt völlig vermodert war. Da erinnerte ich mich plötzlich, dass Nansen, als er Jacksons Haus beschrieb, den grünen Stoff erwähnte, mit dem die Innenwände verkleidet gewesen waren. In der Mitte des großen Zimmers stand ein stabiler eiserner Ofen, und darüber waren an der Decke sauber gehobelte Holzstäbe angebracht, die offensichtlich dazu bestimmt waren, die durchnässten Kleidungsstücke über dem Ofen zu trocknen. Davon hat Nansen ebenfalls berichtet. Als ich die Wände und Decke sowie die Küche, 267
die durch eine Wand von dem Hauptraum getrennt war, näher betrachtete, fand ich, dass das Haus bei weitem nicht so neu sein konnte, wie es mir anfangs erschien. Natürlich war dies das Jackson-Haus! Andererseits sah es gar nicht danach aus … Jenes war freundlich und gemütlich ausgestattet, hatte saubere, bequeme Räume »mit viel Platz«, wie Jackson selbst bei der Begegnung mit Nansen sagte; er hatte auch nicht viele Leute bei sich. Und hier waren die Kojen in drei Etagen übereinander eingerichtet, für fünfunddreißig bis vierzig Mann. Überall Ecken, Winkel, Dunkelheit. Die Kojen waren sogar aus schlecht gehobelten Brettern, offenbar in aller Eile »zusammengehauen« worden. Die Matratzen waren derart verfault, dass man sie nur mit dem Spaten abzustechen vermochte, und daneben stand ein einstmals sehr schöner Sessel. Ein früher sicherlich tadelloser Tisch, der vielleicht als Schreibtisch gedient hatte, war mit einem ungehobelten Brett grob ausgebessert. An der Decke hingen unterhalb jeder Fuge an Drähten lange, auf die Schnelle zurechtgebogene Blechrinnen, um das ständig tropfende Wasser aufzufangen. An der ganzen Decke hingen diese hässlichen verrosteten Rinnen. An jeder Koje waren Wandbretter und Kästchen angebracht, die sämtlich schmutzige Dosen und Flaschen mit Arzneien enthielten; offenbar war von den Medikamenten auch des Öfteren Gebrauch gemacht worden. Nein, in einem solchen verschmutzten, verwahrlosten, ungesunden Raum konnte Jackson unmöglich gewohnt haben, Jackson, dieser Gentleman, der, wie man berichtete, zum Essen stets im Frack erschien. Es ist klar, hier haben während der zwanzig Jahre andere Menschen 268
gehaust, und das Gebäude hatte mehr als einmal seine Belegschaft gewechselt. Ursprünglich stand hier ein helles, einladendes Unterkunftshaus mit allen nur erdenklichen Bequemlichkeiten, die Wände waren mit dickem Tuch verkleidet, die Einrichtung zeigte sogar gewissen Komfort, und alles war für einen langen, mehrere Winter währenden Aufenthalt bei annehmbaren Bedingungen vorgesehen. In diesem Zustand hatte Nansen es auch vorgefunden. Doch da erschienen von irgendwoher andere Menschen, es mussten ihrer viele gewesen sein. Sie kamen zu vorgeschrittener Jahreszeit, mussten sich beeilen, um noch rechtzeitig, vor Einbruch des Winters, ein Quartier herrichten zu können. Und nun begannen sie in aller Hast Blechrinnen anzubringen, da die Decke zu jener Zeit offenbar schon undicht war. Sie hatten wohl auch einige Pferde mit, deren Schädel und Gerippe wir an verschiedenen Stellen in der Nähe des Lagerschuppens und des »Zirkus« fanden. Die zerbrochenen Schlitten, die wir auf dem Abfallhaufen sahen, waren für Hunde zu groß und anscheinend für Pferdebespannung bestimmt. Im Hause entdeckten wir an der Wand auch einen Pferdehalfter; daneben hing ein Gewehr, das so verrostet war, dass es einstweilen nicht benutzt werden konnte. Am Kolben dieses Gewehrs war ein Zeichen eingebrannt: »Zieglers North Polar Expedition«. Dasselbe Zeichen entdeckten wir auf dem langen Griff eines Beils. Nein, die Verwahrlosung der Häuser war bestimmt nicht auf die Sedowsche Expedition zurückzuführen. Es gehörte viel Zeit dazu, bis diese Matratzen und Lumpen verfaulten. Wahrscheinlich handelte es sich um eine Expedition, die 269
vor Sedows Ankunft in den Räumen gehaust hatte, die ebenso übereilt aufgebrochen wie angekommen war. Die Leute hatten sich nicht einmal die Mühe gemacht, den Unrat fortzuschaffen, die Fenster ordentlich zuzunageln und die Türen fest zu verschließen. Aller Wahrscheinlichkeit nach war dies die Expedition Zieglers, von der ich absolut keine Kenntnis habe. Woher kam dieser geheimnisvolle Ziegler, und wohin mag er mit seiner Expedition gezogen sein? Hier ist, glaube ich, die Antwort auf diese Frage. Auf einer der Kojen fanden wir einen großen Bogen Papier; es war eine Art humoristischer Zeitung, die offenbar anlässlich einer Neujahrsfeier auf Kap Flora verfasst worden war und witzige Zeichnungen enthielt. Das erste Bild stellt zwei Gentlemen dar, die am Tisch sitzen und Whisky trinken, darunter der Dialog: »Schön wär's, den Nordpol zu entdecken!« – »Gewiss, keine üble Sache«, antwortet der andere. Und nun ist das Schiff, vermutlich mit den beiden Herren an Bord, schon auf See. Doch an einem hohen Kap, wohl nördlich von Kap Flora, geht es aus unbekannten Gründen unter, und aus dem Wasser ragt nur sein Achterteil heraus. Das nächste Bild stellt die Rückreise nach Süden zum Franz-Joseph-Land dar. In langen Reihen ziehen sich die Pferde- und Hundegespanne hin, alle Expeditionsteilnehmer kommen offenbar nach Kap Flora. Schließlich wird noch gezeigt, wie diese ganze Gesellschaft vermutlich im darauf folgenden Jahr auf irgendeine Weise in bewohnten Gegenden erscheint und mit der Eisenbahn in die Heimat zu270
rückkehrt. Natürlich werden diese Globetrotter eines schönen Tages wohlbehalten bei den Ihrigen eintreffen. Aus diesen »Quellen« erfuhren wir von der Expedition Zieglers. Neben dem Lagerhaus fanden wir unter einigen leeren Fässern auch eins, das früher Wein enthalten hatte und auf dem die Aufschrift »Nordpol« eingebrannt war. Sollte es nicht die Expedition Zieglers gewesen sein, die sich vorsorglich mit Wein eingedeckt hatte, um ihn bei der Ankunft am Nordpol als festlichen Trunk zu kredenzen? Wie dem auch sei, für uns war dieser Ziegler oder, richtiger gesagt, waren die Reste der Ausrüstung dieser Expedition und der »Müllhaufen« vor der Siedlung eine unversiegbare Quelle von allerlei Schätzen, etwa wie ein »Warenhaus«. Wenn wir diesen oder jenen Haushaltsgegenstand benötigten, gingen wir ins Hauptgebäude, in den Lagerschuppen, in den »Zirkus« oder zum »Müllhaufen« und fanden immer das Gesuchte. »Man muss zu Ziegler gehen, vielleicht kann man Löffel bei ihm bekommen?« Und wir bekamen. »Alexander2, geh zu Ziegler und hole ein Sieb, um den Haferbrei durchzuseihen.« Und Alexander ging und holte. Auf diese Weise hatten wir bei Ziegler eine Kaffeemühle, eine noch gut erhaltene Lampe, Messer und Gabeln, verschiedene Werkzeuge und allerlei Geschirr »eingekauft«. Das Zieglersche Gewehr war auseinander genommen und die Teile in Petroleum gelegt worden, wodurch wir die Büchse wieder in brauchbaren Zustand zu bringen hofften. 2
Rufname meines Gefährten Konrad. 271
Als ich eines Tages in östlicher Richtung wanderte, erblickte ich hinter einem Hügel einen hohen, schmalen Stein von regelmäßiger Form. Ich kam näher und sah zu meinem größten Erstaunen, dass es ein wunderschöner Obelisk war. Aus der Inschrift, die mit goldenen Buchstaben eingegraben war, entnahm ich, dass dieser Stein im Jahre 1900 von der Besatzung der »Stella Polare« zum Gedenken an die verschollene Schlittengruppe aufgestellt worden war. Offenbar war es die zweite Expedition des Herzogs der Abruzzen, die dieses Denkmal für ihre vermissten Kameraden aus dem fernen Süden hergeschafft und auch nicht vergessen hatte, alles Erforderliche für den Aufenthalt im Hohen Norden mitzubringen. Sicher war aus den Beständen dieser Expedition manches hier im Lager zurückgeblieben, doch jemand hatte später darin herumgewühlt und einen großen Teil verderben lassen. Obwohl wir also alle unsere Funde als »Einkauf bei Ziegler« bezeichneten, war es doch klar, dass wir sie nicht ihm allein zu verdanken hatten. Es ist durchaus möglich, dass sich die Zieglersche Expedition an vielem gütlich getan hatte, was im Lagerschuppen untergebracht war. Unweit von unserer Wohnstätte, mehr den Felsen zu, entdeckten wir ein namenloses Grab mit rot gestrichenem hölzernem Kreuz. Wer wohl der Ärmste ist, der hier seine ewige Ruhe gefunden hat? Hier war Erde, waren alle nötigen Werkzeuge vorhanden, um ein Grab zu schaufeln, und deshalb war dieses Grab besser hergerichtet als das unseres Kameraden Nielsen. Dort vermochten wir nur einen Steinhügel über 272
seine sterblichen Überreste zu schichten, doch für ein Kreuz hatten wir kein Material. Nach und nach war fast der ganze Proviant aus dem Eise herausgehauen, es blieb nur noch Unwesentliches übrig, das wir uns für später ließen. Jetzt aber galt es einzubringen, was zu Tage gefördert worden war. In dem großen Hause war ein Teil des Vorraumes als Vorratskammer durch eine Wand getrennt. Hier lag der gleiche Unrat und das gleiche Eis wie überall. Nachdem wir den Raum gesäubert und zusätzliche Regale errichtet hatten, stellten wir dort sämtliche Konserven in Reihen sortiert auf. Dieses Depot machte schließlich einen sehr stattlichen Eindruck und konnte sich sehen lassen. Die langen Reihen der Büchsen von verschiedener Form und Größe, sogar mit neuen Etiketten versehen, erinnerten an ein gutes Delikatessengeschäft, die Vorratskammer war voll. Den größten Teil dieser Arbeit, das Freilegen des Proviants und seine Sortierung, hatte Alexander bewältigt. Die Arbeit war schwer und sehr langwierig, doch er führte sie sehr gewissenhaft aus. Von früh bis spät verbrachte er die Zeit in »Pompeji«, nur ab und zu besuchte er mich, um mir seine erfreulichen Entdeckungen mitzuteilen. Ich aber war seit meiner Ankunft auf Kap Flora krank und fühlte mich mit jedem Tage schlechter. Fieber und Schüttelfrost verließen mich nicht. Die meiste Zeit lag ich im Dämmerzustand, und es schien mir immer, als lebten wir zu dritt auf der Insel. In meinen Fieberdelirien sprang ich oft auf und lief zu Alexander, der, wie ich wusste, mit den »Ausgrabungen« beschäftigt war, und fragte ihn nach dem 273
dritten Kameraden. Ich konnte lange nicht begreifen, wo »er« geblieben sei; auch wer »er« sei, wusste ich nicht zu deuten. In der frischen Luft kam ich ein wenig zu mir, erinnerte mich an alles, was mit uns geschehen war, dass nur wir zwei übrig geblieben waren, und ging ganz melancholisch wieder zurück auf meine Koje. Zum Fieber gesellte sich noch ein anderes Leiden, das in wachen Minuten die ernstesten Befürchtungen in mir hervorrief. Meine Beine schwollen nämlich unter heftigen Schmerzen immer mehr an. Übrigens hatte auch Konrad zuweilen dieselben Beschwerden. Der Gedanke an die verschollenen Kameraden, besonders an Lunjajew und Spakowski, ließ uns nie recht zur Ruhe kommen. Manchmal, wenn es mir besser ging, setzten wir uns beide vor die Tür unserer »Villa«, blickten auf das sich vor uns ausbreitende Meer und hatten die stille Hoffnung, in der Ferne den Kajak mit den Verschollenen auftauchen zu sehen. Wir glaubten immer noch daran. Es konnte ja sein, dass sie in ihrem Kajak oder auf einer Eisscholle weit abgetrieben worden waren. Aber dort hinter dem Horizont musste ja Eis sein, viel Eis. Wir konnten uns nicht vorstellen, dass sich dieses freie Meer bis zur Murmanküste oder bis Nowaja Semlja erstrecken sollte. Es war eher anzunehmen, dass sich südlich von Kap Flora große Flächen Eises ausdehnten, genau solches Treibeis wie das, über das wir einst gegangen waren. Vielleicht waren unsere Gefährten zu diesen Eisfeldern verschlagen worden, hatten dort einige Seehunde erlegen können und, ausreichend mit Nahrung versehen, bei günstigem Wind und klarer Witterung beschlossen, eine Fahrt zurück zu den 274
Inseln zu unternehmen. Ihr Kajak war fest und stabil, und sie konnten darauf schon die Überfahrt wagen. Doch umsonst spähten wir zum Horizont, umsonst beobachteten wir durch den Feldstecher die fernen Eisschollen, nichts war zu erspähen, was einem Kajak glich. Langsam zogen die Schollen dahin, durch die Gezeiten bald nach Westen, bald nach Osten getrieben, oft lagen darauf sich friedlich sonnende Walrosse, doch von unseren vermissten Kameraden war nichts zu sehen. Am 15. (28.) Juli, frühmorgens, entschloss sich Konrad zu einer Fahrt nach der Insel Bell. Er wollte versuchen, falls die Verhältnisse es gestatteten und das Eis im Sund noch nicht aufgebrochen war, bis Kap Grant vorzustoßen, um nach der Skigruppe zu forschen oder wenigstens ihre Spuren ausfindig zu machen. Zu jener Zeit war es mir unmöglich mitzufahren, weil sich mein Zustand nur zuweilen so weit besserte, dass ich laufen konnte; meist lag ich jedoch in meiner Koje und fühlte mich sehr schlecht. Ich wäre nur ein überflüssiger Ballast im Kajak gewesen. Und mein Gefährte wurde bei seinem Entschluss wohl auch von der Furcht getrieben, im Winter allein zurückbleiben zu müssen. Nachdem Alexander eine Kiste Proviant, die Doppelflinte und die nötige Munition im Kajak verstaut hatte, begab er sich bei schönem Wetter und günstigem Wind unter Segel auf den Weg. Bald war von dem Kajak nur noch ein winziger Punkt zu sehen, und eine Stunde später verlor sich auch dieser in der Ferne. Ich blieb allein. Diese Tage der Einsamkeit waren sehr schwer für mich. Im Dämmerzustand daniederliegend, durchlebte ich nochmals 275
verschiedene Episoden unserer Irrfahrt, die sich mit furchtbaren Fieberträumen verwoben. Oft glaubte ich, draußen Stimmen zu hören; manchmal war mir, als öffne jemand die Tür. Ich sprang auf und lief hinaus; natürlich war niemand dort. Für kurze Zeit kam ich wieder zur Besinnung, erinnerte mich, dass ich allein war, doch dann setzten von neuem Angstzustände und Fieberträume ein. Neben mir auf dem Tisch befanden sich geöffnete Büchsen mit Konserven, Wasser, Zwieback und Chinintabletten, die wir der Apothekerkiste entnommen hatten. Doch ich hatte keinen Appetit, schluckte nur ab und zu eine Chinintablette mit Wasser, dann warf ich gewöhnlich ein paar Holzstücke in den Ofen, damit das Feuer nicht ausging, und kroch wieder in meine Koje. Gleich nach der Ankunft auf Kap Flora hatten wir die Pritschen in unserem Häuschen umgebaut, weil sie zu viel Platz einnahmen. Statt ihrer errichteten wir uns zwei Kojen, eine über der anderen, da wir es so bequemer fanden. Die untere war meine. Als Konrad nach zwei Tagen noch nicht zurückgekehrt war, wurde ich unruhig, ihm konnte ja etwas zugestoßen sein! Am Abend des 17. (30.) Juli zog ich meine Maliza an, setzte mich auf eine Kiste vor der Tür und beschloss, ihn hier zu erwarten. Dieses unaufhörliche Spektakel auf den Felsen, das zuweilen von merkwürdigem wildem Aufheulen unterbrochen wurde, war imstande, auch einen gesunden Menschen in trübsinnige Stimmung zu versetzen. Ohne Unterlass rauschten die Sturzbäche von den Felsen, das Wasser unterspülte irgendwo oben die Eis- und Schneeschichten, 276
die dann von Zeit zu Zeit mit Getöse zu Tal rollten. Es schien, als gingen dauernd Lawinen ganz in der Nähe unseres Häuschens nieder, so groß waren das Gepolter und die Erschütterung der Luft. Ich wartete die ganze Nacht. Nur ab und zu ging ich ins Haus, um eine Tablette zu nehmen und nach dem Ofen zu sehen. Gegen vier Uhr früh gewahrte ich in der Richtung der Insel Bell einen verschwommenen beweglichen Punkt, doch ich glaubte noch nicht daran, dass es Konrads Kajak sein könnte. Während das Eis langsam nach Süden trieb, schien sich dieser Punkt nach Norden zu bewegen. Und nach einer Weile bemerkte ich bald an der einen, bald an der anderen Seite dieses Punktes in regelmäßigen Zeitabständen ein eigentümliches Blinken. Ja, natürlich, es konnte kein Zweifel mehr bestehen, dass es der Kajak war, und zu beiden Seiten blitzte in der Sonne das Paddel auf, das sich abwechselnd links und rechts ins Wasser senkte und wieder hob. Eine Stunde später verschwand das Fahrzeug hinter dem hohen Felsufer. Gegen sechs Uhr sah ich von weitem meinen Gefährten auf mich zukommen. Langsam ging ich ihm entgegen. Konrad kam allein. Als ich zu ihm trat, konnte er nicht mehr an sich halten und brach in Tränen aus. Es erübrigte sich, ihn auszufragen; ich begriff, dass er niemanden gefunden und auch keine Spuren entdeckt hatte. Es war ihm nicht gelungen, Kap Grant zu erreichen. Die Küste war mit einem Treibeisgürtel umgeben, doch das Kap im Feldstecher gut sichtbar; man konnte jeden Steinblock genau unterscheiden. Konrad hatte Schüsse abgegeben, gerufen und sogar in Sicht des Kaps eine Nacht auf dem 277
Eise zugebracht; aber alles vergeblich. So musste er unverrichteter Dinge zurückkehren. Doch wir gaben die Hoffnung noch immer nicht auf. Wir fassten den Entschluss, gemeinsam noch eine zweite Erkundungsfahrt nach Kap Grant zu unternehmen, sobald wir unser Winterquartier vollständig eingerichtet haben würden. In dem kleinen Häuschen gedachten wir nicht zu überwintern, da es darin sicherlich sehr kalt sein würde. Es war unerlässlich, das große Haus in Ordnung zu bringen. Ein paar Tage später schon gingen wir ans Werk. Es war schwere Arbeit, und man musste ganz systematisch vorgehen. Zunächst wurden die Bretter von sämtlichen Fenstern abgerissen und die Rahmen herausgenommen; dann machten wir uns daran, die Kojen restlos abzubrechen und das noch vorhandene Mobiliar hinauszutragen. Lediglich die Öfen ließen wir stehen. Nur auf diese Weise konnte man hoffen, die Räume einigermaßen trocken zu bekommen. An den Wänden hafteten allerlei undefinierbare nasse Lumpen, Fetzen von Leder und Pappe, Leisten und triefende halb verfaulte Filzlagen waren angenagelt. Ein Schmutz und ein Gestank, wie man ihn sich nur schwer vorstellen kann. Der gusseiserne Ofen, der in der Mitte des Raumes stand, war entzwei. Deshalb beschlossen wir, einen Ziegelofen zu setzen, der die Wärme besser halten würde; wir konnten darin auch gleichzeitig unser Essen kochen. Die nötigen Ziegelsteine lieferte teils die Schmiede, die in unserem »Vorgarten« stand, teils sammelten wir sie an verschiedenen Stellen in der Nähe der Bauten. Auch der Ofensetzer war zur Stelle: Konrad 278
hatte, bevor er sich auf der »St. Anna« anheuern ließ, bereits als Ofensetzer gearbeitet und war nach seinen eigenen Worten auf diesem Gebiet sehr gut bewandert. Außerdem mussten wir die Decke und das Dach reparieren. Zu diesem Zweck mussten möglichst viel Moos und Rasenplatten hinaufgetragen werden, aber auch an diesem Material mangelte es nicht. In der Nähe fanden wir einen großen Haufen Rentierflechte, die den Rentieren zur Nahrung dient. Wahrscheinlich hatte schon Jackson diese Vorräte herbringen lassen, denn er soll den Versuch gemacht haben, diese Tiere hier zu züchten. Pünktlich um sieben Uhr früh gingen wir an die Arbeit und verbrachten den ganzen Tag im großen Haus, wobei wir nur kurze Pausen für das Mittagessen und den Tee einlegten. Bei den Aufräumungsarbeiten fanden wir unter den Kojen mehr als tausend Patronen für das »Zieglersche« Gewehr. Es war für uns ein wertvoller Fund, hofften wir doch, die Büchse in Ordnung bringen zu können, denn ein Gewehr vermissten wir sehr. Drei Mal schon hatten uns Eisbären einen Besuch abgestattet, aber sie waren sehr vorsichtig und ließen uns nicht nahe heran, deshalb konnten wir sie nicht mit der Doppelflinte erlegen. Jedes Mal, wenn sie sich verfolgt sahen, gaben sie Fersengeld, rannten zum Meer, stürzten sich ins Wasser und schwammen zu den Eisschollen, die an der Insel vorbeitrieben. Dort kletterten sie auf eine der Schollen und setzten ihre Reise fort. Und dabei mussten wir unbedingt vor Einbruch des Winters einige Bären erlegt haben. Obwohl wir genügend Konserven hatten, wäre uns frisches Fleisch sehr willkommen gewesen. Außerdem bedurfte unsere Kleidung 279
einer dringenden Reparatur und musste ergänzt werden; gerade die Bärenfelle eigneten sich ausgezeichnet für diesen Zweck. Das Gewehr benötigten wir übrigens auch für die Walrossjagd, denn wir beabsichtigten, ihr noch sehr ausgiebig nachzugehen. Das Fleisch und die Häute der Walrosse würden uns ebenfalls sehr zustatten kommen. Fetzen von Kleidungsstücken und Rentierfellen, die überall verstreut umherlagen, wurden von uns sorgfältig gesammelt und auf dem Dach des Hauses getrocknet. Dieser Plunder würde uns bei der Instandsetzung unserer Garderobe noch gute Dienste leisten. Nähnadeln und Zwirn fanden wir im Hause, und als Material für unsere künftige Leibwäsche sollten einige Kajaksegel verwandt werden, die wir seinerzeit aus großen Bettlaken angefertigt hatten und die uns erhalten geblieben waren. Zu demselben Zweck hatten wir vor, eines von den am meisten zerrissenen Zieglerschen Seidenzelten zu benutzen. Wir hatten die Absicht, mit dem Nähen und Ausbessern unserer Kleidung erst nach unserer Fahrt zum Kap Grant in der »neuen« Wohnung zu beginnen, wenn die dunklen Abende anbrechen und die Außenarbeiten beendet sein würden. Eines Tages fand Konrad im Schutt, den wir aus dem großen Hause entfernten, einen gewöhnlichen russischen Tabaksbeutel aus Kattun, der Machorka enthielt. Wie er hierhergeraten war, konnte ich mir nicht erklären. Offenbar hatte ihn einer von Sedows Leuten verloren. Für solche eingefleischten Raucher wie Konrad und mich war das ein kostbarer Fund. Auf der »St. Anna« war der Tabak bereits 280
ein Jahr zuvor ausgegangen, und ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass es für einen Raucher eine sehr lange Zeit ist, ein ganzes Jahr ohne Tabak auszukommen. Was hatten wir alles zu schmauchen versucht, als wir auf der »St. Anna« weilten. Getrockneter Hopfen, Tee, ja sogar Seegras aus den Matratzen wurde als Tabakersatz verwandt. Doch leider vermochten alle diese Surrogate den Tabak nicht zu ersetzen, sie wirkten auf den Raucher nur aufreizend. Man kann sich vorstellen, mit welchem Genuss wir uns jetzt nach der Mittagsmahlzeit eine Zigarette aus getrocknetem Machorka drehten und blaue Wölkchen in die Luft steigen ließen. Nach der langen Rauchpause waren wir wie trunken, ja, es befiel uns sogar ein leichter Schwindel. Abends, nach Arbeitsschluss, wenn wir Abendbrot gegessen hatten, saßen wir in unserem Häuschen bei allerlei Kleinarbeit, tauschten Hoffnungen und Vermutungen aus und schmiedeten manchen Zukunftsplan. Hierbei muss ich einen merkwürdigen Umstand erwähnen, der bezeichnend für unsere seelische Verfassung nach der Ankunft auf Kap Flora war. Als ich die Inschriften der Sedow-Expedition und die beiden über dem großen Hause hängenden Blechbüchsen3 3
Eine der verlöteten Blechbüchsen enthielt einen Brief des stellvertretenden Leiters der Sedow-Expedition, Luschakow, über Standort und Lage der Expedition. Dieser Brief wurde Ende März 1914 durch N. W. Pinegin von der Stillen Bucht auf der Hooker-Insel, wo das Expeditionsschiff »St. Foka« überwinterte, auf Hundeschlitten 281
zum ersten Mal sah, tauchte plötzlich der Gedanke in mir auf, dass noch in diesem Jahr ein Fahrzeug aus Archangelsk hier eintreffen müsse, um die SedowExpedition abzuholen. Im Laufe der Zeit wurde diese Vermutung aus irgendeinem Grunde zur festen Überzeugung. Ich rechnete damit, dass das Schiff im August ankommen müsse. Gewiss, es könnte der Fall eintreten, dass große Eisansammlungen, die unzweifelhaft irgendwo südlich des Franz-Joseph-Landes vorhanden sein mussten, das Eintreffen des Schiffes verhinderten. Das wäre der einzige Grund, warum sich seine Ankunft bis zum nächsten Jahre verzögern könnte. Für diesen möglichen Fall trafen wir unsere Vorbereitungen zur Überwinterung, sammelten Proviant, setzten das große Haus in Stand, bereiteten die Kleidung vor. Doch wir hatten von Kap Mary Harmsworth aus und weiter nach Osten bis Kap Flora eisfreies Meer gesehen, das sich über neunzig Seemeilen weit erstreckte, und ich nahm an, dass in diesem Jahr große Eisansammlungen überhaupt nicht zu erwarten seien. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde das Schiff sich also bis Kap Flora durchschlagen können. Mein Glaube daran war so felsenfest, dass ich es gar nicht für nötig hielt, die am großen Hause angehängten Blechbüchsen zu öffnen. Aus den Briefen, die sie enthielten, hätte ich vieles für mich Interessantes erfahren können, und ich bin überzeugt, dass jeder andere an meiner Stelle zuallererst die Büchsen geöffnet hätte. Jetzt, da ich zurückblicke, erscheint mir mein Glaube an nach Kap Flora gebracht. (Anmerkung N. W. Pinegins.) 282
die Ankunft des Schiffes merkwürdig, und ebenso merkwürdig ist es, dass ich die Büchsen nicht öffnete, die doch gerade deshalb aufgehängt worden waren, damit man sie öffne und die Briefe lese. Damals aber ging ich Dutzende Male am Tage an ihnen vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Vielleicht tat ich auch gut daran, den Inhalt dieser Büchsen nicht zu lesen. Vieles mir ganz Unerwartete hätte ich erfahren, das unseren Plänen und unserer Tätigkeit eine völlig andere Richtung gegeben hätte, und wer weiß, vielleicht hätten wir etwas unternommen, das für uns recht gefährlich geworden wäre. Wie dem auch sei, wir harrten geduldig der Dinge, die da kommen sollten. Die Aufräumungsarbeiten im großen Hause näherten sich ihrem Ende. Es blieb nur noch übrig, einige Dutzend Schaufeln Eis und Unrat fortzuschaffen, Wände und Fußboden zu scheuern und die neu errichteten Öfen zu heizen, damit der Raum so rasch wie möglich austrocknete.
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Das Schiff ist da! Am 20. Juli (2. August) gegen sechs Uhr abends beendete ich meine Arbeit im großen Haus und begab mich in unsere Wohnstätte, um Abendbrot zu bereiten. Konrad aber blieb noch zurück, in der Absicht, unter allen Umständen heute die Aufräumungsarbeiten zum Abschluss zu bringen. Auf dem Platz vor dem Hause blieb ich stehen, um mich ein wenig auszuruhen und nach der Arbeit im dumpfen, feuchten Raum frische Luft zu schöpfen, und ließ meine Blicke völlig ziellos über das Meer schweifen. Das Wetter war ruhig und warm. Über dem Meer hing leichter Nebel, und der Horizont bot schlechte Sicht. Wie immer zogen, von der Ebbe getrieben, Eisschollen langsam an der Insel vorbei, wie immer schlummerten Walrosse darauf, und der Anblick ihrer trägen Körper brachte mich auf den Gedanken, dass es höchste Zeit sei, so schnell wie möglich das Gewehr gebrauchsfertig zu machen. Die Überlegung teilte ich auch Konrad durch die offen stehende Tür mit. Von den Walrossen wanderte mein Blick zufällig etwas weiter nach links, da sah ich plötzlich etwas, das mir für einige Sekunden den Atem verschlug. Ich sah deutlich zwei Masten; der vordere hochragend, mit einer Stenge und einer Tonne darauf, der Hintermast etwas kürzer und ohne Stenge. Zwischen den Masten trat aus dem Nebel der Oberteil des Schornsteins hervor, aus dem leichter, kaum sichtbarer Rauch emporstieg. Der Schiffsrumpf war im Nebel nur sehr schwach erkennbar. Die Entfernung bis 284
zum Schiff betrug schätzungsweise eineinhalb oder zwei Seemeilen. Ich stand da, unfähig, mich zu regen, starr vor Überraschung, schaute zum Schiff und traute meinen Augen nicht. Als ich mich endlich gefasst hatte, brüllte ich meinem Gefährten Konrad zu: »Ein Schiff, ein Schiff, komm!« Im nächsten Augenblick erkannte ich es auch schon. Es war die »St. Foka«, die ich früher des Öfteren in Archangelsk gesehen hatte. Das Schiff sollte die Sedow-Expedition zu ihrem Bestimmungsort auf dem Franz-Joseph-Land bringen. Ich schrie wie besessen: »Alexander, die ›Foka‹ kommt! Die ›Foka‹ kommt!«, wenngleich sich alles in mir gegen diese Feststellung sträubte; es war zu unwahrscheinlich, dass es die »St. Foka« sein könnte. Doch ich sah es mit eigenen Augen, ein Irrtum war ausgeschlossen. Als ich so schrie, kam Konrad erschrocken aus dem Hause gelaufen; er glaubte wahrscheinlich, ich sei irrsinnig geworden, denn er schaute mich zunächst prüfend an. Ich aber wies mit der Hand aufs Meer hinaus, in die Richtung des Fahrzeuges, das im Nebel gerade noch sichtbar war. Das Schiff hatte inzwischen gestoppt, offenbar um sich zu orientieren und freies Fahrwasser zwischen den Eisschollen ausfindig zu machen. Nur langsam, kaum merklich bewegte sich die »St. Foka« vorwärts, doch es war offensichtlich, dass der Kapitän beabsichtigte, Kap Flora anzulaufen. Wo sollte das Schiff denn auch sonst hin? Natürlich war es gekommen, um die Sedow-Expedition abzuholen, die im vergangenen Jahr hier gelandet war. Ein paar Minuten später waren wir schon auf dem Dach des großen Hauses, hatten dort auf hohem Flaggstock unsere 285
von der »St. Anna« mitgebrachte Flagge gehisst und schossen, schossen ohne Unterlass … Ich erinnere mich, dass ich in der Aufregung beide Hähne spannte und gleichzeitig zwei Schüsse aus der Doppelflinte in die Luft abgab und mir dabei beim Rückschlag den Zeigefinger der rechten Hand verletzte. Doch ich fühlte den Schmerz zunächst nicht einmal und feuerte unausgesetzt weiter. Man wird mich vielleicht fragen, weshalb wir so überaus erregt waren, da wir doch fest mit der Ankunft des Schiffes gerechnet hatten. Das lag wohl daran, dass wir das Schiff aus Archangelsk erst im August, während der für die Schifffahrt in diesen Breiten günstigsten Zeit, erwartet hatten, und die »St. Foka« also völlig überraschend bereits am 20. Juli (2. August) hier ankam! Unsere Freude über dieses vorzeitige Eintreffen war nur zu begreiflich, traf doch das Schiff sogar beinahe »fahrplanmäßig« hier ein. So freute sich Jackson über die Ankunft der lang ersehnten »Windward«, so freute sich einst Nansen, als dieses Schiff kam, und so freuen sich schließlich jedes Jahr die Kolonisten von Nowaja Semlja, wenn der Personendampfer, der zweimal im Jahr die Küste anläuft, bei ihnen eintrifft. Man darf auch nicht außer Acht lassen, dass wir zwei Jahre lang von der Welt, von der Menschheit abgeschnitten waren. Auf diesem Schiff, das sich nur langsam im Nebel vorwärts bewegte, sollten wir ja in die Heimat zurückkehren. Unsere Signale und Schüsse wurden vom Schiff aus nicht erwidert: Wahrscheinlich hatte man die Schüsse gar nicht gehört. Der Nebel verdichtete sich und hüllte das Fahrzeug völlig ein. Es wird bestimmt anlegen, wird nicht 286
vorüberfahren! Erregt und erwartungsvoll eilten wir, uns für die Begegnung mit den fremden Menschen vorzubereiten. Wir wollten vor ihnen nicht in einem solchen Aufzuge, in unseren schmutzigen, zerlumpten Segeltuchanzügen, erscheinen. Schon seit einigen Tagen lagen unsere Kleider, die wir vorher dreimal mit Holzasche ausgekocht hatten, auf Steinen zum Trocknen ausgebreitet. Es blieb nur übrig, die »Läuseleichen« daraus zu entfernen, uns dann mit der im großen Hause gefundenen Seife ordentlich zu waschen, uns umzukleiden – und schon sahen wir durchaus passabel aus. Sogar die Stiefel hatten wir, damit sie glänzten, eingefettet. Nachdem wir einigermaßen »salonfähig« waren, gingen wir ans Ufer, um abzuwarten, bis das Schiff aus dem Nebel auftauchte, und ihm im Kajak entgegenzufahren. Jetzt waren schon Satzfetzen, einzelne Worte und Hundegekläff zu hören … Endlich wurde eine dunkle verschwommene Masse sichtbar … Ich setzte mich in den Kajak und paddelte dem Schiff entgegen. An Bord hatte man mich ebenfalls bemerkt. Zum Willkommensgruß schwenkte ich meine Mütze. Die Besatzung stand dicht gedrängt an der Reling und auf der Brücke und musterte mich sehr neugierig. Nun wurden auch hier die Mützen geschwenkt, und ein kräftiges »Hurra« klang mir entgegen. Die Gesichter waren freudig erregt. Dieser herzliche Empfang verwirrte mich etwas. Mir kam der Gedanke, dass man mich für Sedow oder einen seiner Begleiter hielt. Ich musste diesen Irrtum so schnell wie möglich aufklären und rief: »Meine Herren! Die Sedow-Expedition befindet sich nicht auf Kap Flora!«
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Diese Mitteilung machte nicht den geringsten Eindruck auf die Leute. Und nun stellte ich mich vor: »Ich bin Steuermann Albanow von der Expedition des Leutnants Brussilow. Habe vor drei Monaten die ›St. Anna‹ verlassen und bin vor kurzem auf Kap Flora eingetroffen.« Als Antwort vernahm ich erstaunte Ausrufe, und dann schallte mir noch lauter als zuvor ein »Hurra« entgegen, in das auch ich einstimmte. »Haben Sie vielleicht Post für die ›St. Anna‹ an Bord?« fragte ich, ohne selber zu wissen, warum. Jetzt erst erfuhr ich, dass die »St. Foka« nicht aus Archangelsk, sondern von der Hooker-Insel kam, wo sie überwintert hatte. Diese Insel befindet sich 45 Seemeilen von Kap Flora entfernt in nordöstlicher Richtung. Ich erfuhr ferner, dass Georgi Jakowlewitsch Sedow auf dem Wege zum Pol den Tod gefunden hatte und auf dem Rudolph-Land bestattet worden ist. Die Besatzung selbst hatte bereits seit zwei Jahren keinerlei Nachrichten aus der Welt. Während dieser erregenden Unterhaltung fuhr ich im Kajak langsam am Schiff entlang. Plötzlich wurden Rufe laut, die mich zur Vorsicht mahnten: »Vorsicht, Vorsicht! Walross achtern. Gehen Sie längsseits!« Und im selben Augenblick krachten schon mehrere Schüsse. Ich schaute mich um und sah einen meiner alten Feinde auf mich zu schwimmen. Doch die Kugeln mochten ihre Wirkung getan haben, denn das Walross verschwand augenblicklich im Wasser.
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Inzwischen ging die »St. Foka« vor Anker, und ich kletterte an Deck. Sogleich machten wir uns miteinander bekannt und wechselten Begrüßungsküsse. Es war ein sehr herzlicher Empfang. Neuigkeiten wurden ausgetauscht. Ich erfuhr unter anderem, dass Leutnant Sedow im vergangenen Jahr, noch von seinem Winterlager auf Nowaja Semlja aus, in St. Petersburg nachgesucht hatte, ihm schnellstens Kohle zu schicken, da die »St. Foka« nur noch einen geringen Kohlenvorrat hatte. Als mich die Männer sahen, glaubten sie zunächst, dass es dem Kohlenschiff gelungen sei, bis Kap Flora vorzustoßen, und dass es irgendwo hinter der westlichen Spitze der Insel liege. Mich aber hielten sie für den Kapitän oder den Steuermann dieses Schiffes. Die »St. Foka« war ohne jegliches Heizmaterial. Für die Fahrt von der Hooker-Insel waren schon Teile des Schiffes verheizt worden: das Zwischendeck, das Dullbord, das Gestenge. Sogar die vor der Insel Northbrook erlegten Walrosse wurden unter den Kesseln verfeuert. Vor einer Stunde hatte die »St. Foka« tatsächlich stillgelegen, weil der Dampfdruck im Kessel nicht mehr ausreichte; um die Maschine wieder in Gang zu bringen, musste man noch einige von den Holzteilen des Schiffes verfeuern. Die »Foka« war lediglich aus dem Grunde zum Kap Flora gekommen, um das große Jackson-Haus, das wir für unsere Überwinterung in Stand gesetzt hatten, sowie den Lagerschuppen, die Fundstätte der vielen Vorräte, abzureißen. Man hoffte, mit diesem Holz wenigstens den sich zweifellos in südlicher Richtung erstreckenden 289
Eisgürtel zum freien Meer zu durchstoßen, um dann ausschließlich unter Segeln weiterzukommen. Als die Männer von meinen verschollenen Gefährten erfuhren, äußerten sie lebhaftes Bedauern und beschlossen, zunächst das Holz zu verladen und dann Kap Grant aufzusuchen. Bald wurde auch Konrad an Bord geholt, und man lud uns zum Abendbrot in die Messe ein. An diesem festlichen Mahl nahmen teil: der stellvertretende Leiter der Expedition, der Veterinär P. G. Kuschakow, der Kapitän des Schiffes, Steuermann N. M. Sacharow, der Meteorologe und Geograph der Expedition W. J. Wiese, der Geologe M. A. Pawlow und der Maler N. W. Pinegin. Alle waren überaus nette und gastfreundliche Menschen. Das Essen, das man uns auf der »St. Foka« servierte, war wahrhaft fürstlich. Es gab »richtiges« weiches Brot; frische Eier, Konserven und Seehundsbraten, vor dem man zur Feier des Tages ein Gläschen Wodka genehmigte. Nach dem Essen gab es Tee mit Milch und richtigem Zucker und Gebäck. Die gastfreundlichen Wirte boten uns immer wieder bald von dieser, bald von jener Speise an, wobei die Gespräche keinen Augenblick abrissen. In der Messe stand ein gutes Klavier, auf dem W. J. Wiese meisterhaft zu spielen verstand. Hier war auch ein Grammophon mit einer reichhaltigen Auswahl von Platten. Gleich nach dem Abendessen bat ich, meinem Gefährten und mir die Möglichkeit zu geben, uns ordentlich zu reinigen und die Kleider zu wechseln, weil ich ständig fürchtete, es könnte, obwohl unsere Kleidung gewaschen war, während der Unterhaltung bei Tisch eine Laus über 290
meinen Ärmel kriechen. P. G. Kuschakow gab mir eine Jacke und eine Hose, ein anderer Leibwäsche, ein dritter Socken, und auf diese Weise hatten Konrad und ich nach dem Sprichwort »Ein Faden von vielen gibt für den Bettler ein Hemd« in wenigen Augenblicken eine komplette Garderobe zusammen. Wir wurden in den Maschinenraum geführt, wo wir uns gründlich wuschen, rasierten, Haare schnitten und uns umkleideten. Fürwahr, wir fühlten uns nun wie neu geboren. Ein sonderbares Glücksgefühl durchströmte mich, als ich mich so unerwartet in der gewohnten Schiffsumgebung befand. Mochte das Fahrzeug jetzt auch in schwieriger Lage sein und an Brennstoffmangel leiden, so hörte ich doch im Maschinenraum die mir so vertrauten Geräusche, das Zischen des Dampfes und das zeitweilige Pochen der Dampfpumpe. Ringsum Menschenstimmen, und alle Gespräche drehten sich um die bevorstehende baldige Reise in bewohnte Gegenden. Am Abend machte mich Kuschakow mit der Geschichte der Sedow-Expedition bekannt und zeigte mir ihre Fahrtroute auf der Karte. Ich erfuhr, dass während des Aufenthaltes der »St. Foka« vor der Hooker-Insel in der Tat einige Männer der Expedition mit W. J. Wiese an der Spitze im Winter Kap Flora besucht und hier die Post hinterlassen hatten.4 Wiese 4
An dieser Stelle ist in Albanows Tagebuch ein Fehler enthalten. W. J. Wiese war im Winter nicht auf Kap Flora gewesen. Die Post der Sedow-Expedition ist von N. W. Pinegin dorthin gebracht worden, der auch den Bau in Ordnung gebracht hatte, den Albanow zum Wohnen 291
hatte in demselben kleinen Häuschen, in dem auch Konrad und ich gewohnt hatten, einige Tage zugebracht. Deshalb hatte auch dieses Häuschen die Spuren von Menschen bewahrt, die sich vor kurzem dort aufgehalten hatten. W. J. Wiese war im Winter auch auf der Insel Bell gewesen. Ich erfuhr nun etwas, das zu wissen mir nicht geschadet hätte, als ich mich noch auf der Insel Bell befand. Es stellte sich nämlich heraus, dass an der nordwestlichen Küste der Insel, gar nicht weit von der Stelle, wohin wir uns begeben hatten, um Eiderentennester zu suchen und den »EiraHafen« zu besichtigen, auch heute noch ein kleines Unterkunftshaus stand, das vor vierzig Jahren von Leigh Smith17 errichtet worden war. Diese Hütte war noch gut erhalten und zum Wohnen geeignet; dort befand sich sogar ein kleines Proviantdepot. In der Nähe des Hauses lag ein großes Boot, das noch seetüchtig war. Als wir damals an der nördlichen Küste entlangstreiften, hatten wir die Hütte nicht gesehen, obgleich wir nur etwa zweihundert oder dreihundert Schritt davon entfernt gewesen waren. Es ist deprimierend, darüber nachzudenken, dass es vielleicht ganz anders gekommen wäre, hätten wir damals diese zweihundert oder dreihundert Schritt getan; wer weiß, vielleicht säßen jetzt nicht nur wir beide, Konrad und ich, auf der »St. Foka«, sondern vier von uns. Gewiss hätte wählte. Dieser Bau war von der Expedition Fiala aus Bambusstäben und anscheinend aus den Resten von Leigh Smith' Winterquartier errichtet worden. (Anmerkung von N. W. Pinegin.) 292
diese Hütte Nielsen nicht retten können, mit dem es damals schon sehr schlecht stand. Doch Lunjajew und Spakowski wären vielleicht am Leben geblieben. Es hätte schon genügt, das Häuschen mit dem Boot und dem Proviant aufzufinden, um den entkräfteten Menschen neuen Mut einzuflößen. Wir hätten vielleicht drei Tage auf der Insel Bell in dieser Hütte verbracht und wären dann natürlich nicht auf Kajaks weitergefahren, sondern im Boot, alle vier mit genügend Proviant versehen und sogar mit Kenntnis von dem Aufenthaltsort der Expedition Sedows, da W. J. Wiese in dem Häuschen eine Mitteilung hinterlassen hatte. Jedenfalls wären wir damals nicht in jenes stürmische Wetter hineingeraten, das uns ins Meer abgetrieben und den Untergang Lunjajews und Spakowskis zur Folge hatte. Es ist schwer, sich all das klarzumachen, aber auch sinnlos, darüber nachzugrübeln, da sich das Geschehene nicht ungeschehen machen lässt und man die Toten nicht wieder zum Leben zurückrufen kann. Sehr erstaunt waren die Männer der »St. Foka« darüber, dass ich es unterlassen hatte, ihre Briefe zu lesen, die sich in den Büchsen über dem großen Hause befanden. Sie fragten mich, warum ich dies nicht getan hätte; ich aber konnte mir das selbst nicht erklären. Es kam mir allerdings folgende Überlegung: Aus den Briefen hätte ich erfahren, dass die »St. Foka« vor der Hooker-Insel, 45 Meilen von Kap Flora entfernt, überwinterte. Was hätte ich dann unternommen? Natürlich wäre ich mit Konrad dorthin gefahren, da wir befürchtet hätten, die »St. Foka« könnte, ohne Kap Flora anzulaufen, von ihrem Standort aus gleich ins offene Meer stechen. Wir hätten also die Fahrt auf dem 293
Kajak angetreten, da das Boot, das wir auf Kap Flora gefunden, zu schwer für zwei Mann war, besonders dort, wo eine Begegnung mit dem Eis nicht ausgeschlossen schien. Wir wären nicht vor dem 18. oder 19. Juli (31. Juli oder 1. August) aufgebrochen, da ich dann erst von meiner Krankheit so weit genesen war, dass ich hätte im Kajak fahren können. Wir wären natürlich an der westlichen Küste der Insel Northbrook entlang, also durch die MiersStraße, gefahren, da wir dort freies Wasser angetroffen hatten, die östliche Passage uns aber völlig unbekannt war und uns außerdem für eine Fahrt im Kajak zu breit und zu offen dünkte. Die »St. Foka« aber war am 20. Juli (2. August) gerade durch diese Ostpassage gekommen, so dass wir uns unterwegs sicher verfehlt hätten. Wenn wir die Hooker-Insel erreicht und dort das Schiff nicht angetroffen hätten, wären wir zurück nach Kap Flora gepaddelt, hätten also einen Weg von insgesamt neunzig Seemeilen zurücklegen müssen, eine Strecke, die der von Kap Mary Harmsworth bis Kap Flora gleichkommt. Dieser Weg ist sehr lang und gewiss reich an allerlei Überraschungen, besonders für Leute, die im Kajak fahren, schon gar nicht davon zu reden, dass die »St. Foka« Kap Flora während unserer Reise möglicherweise bereits wieder verlassen haben könnte. Gleich frühmorgens am nächsten Tage begannen wir das Jackson-Haus und den Lagerschuppen abzureißen und das Holz aufs Schiff zu tragen. Diese Arbeit nahm einige Tage in Anspruch, da es die ganze Zeit über sehr windig war, wodurch das Verladen stark behindert wurde. 294
Der Proviant, den wir gesammelt und in der Vorratskammer im großen Haus untergebracht hatten, musste in unsere einstige »Villa« geschafft werden. Aus den Beständen der »St. Foka« wurden die Vorräte durch Konserven, Zwieback und noch einige Lebensmittel, fünfhundert Stück Gewehrpatronen, ein Zelt und andere notwendige Dinge ergänzt, die wir uns einst selbst gewünscht hatten und die natürlich für die freiwilligen und unfreiwilligen Robinsons, denen es in Zukunft beschieden sein würde, sich auf dieser »Polar-Rettungsstation« aufzuhalten, sicher von Nutzen sein dürften. Es wäre zu viel gesagt, wenn wir behaupten würden, dass wir uns auf der »St. Foka« völlig sicher und geborgen fühlten. Der geringe Vorrat an Brennmaterial auf dem Schiff und dazu der Gedanke an die unausbleibliche Begegnung mit dem Eise bereiteten vielen von uns große Sorge. Man vertraute auch der alten »Foka« nicht mehr so recht, die stark leckte. Wir mussten abwechselnd allesamt zwei Mal am Tage die Handpumpe bedienen, und das jedes Mal mindestens drei Stunden. Alle seufzten: »Ach, hätten wir uns nur erst glücklich nach Hause durchgeschlagen!« Am 23. Juli (5. August) zwangen heftiger Seegang und der steife Wind die »Foka«, ihre Anker zu lichten und die Günther-Bucht an der Nordküste der Insel anzulaufen. Auf Kap Flora fanden wir bei dieser Gelegenheit ein zweites Boot, das dem von uns zuerst gefundenen vollkommen glich und etwas weiter westwärts lag. Es wurde beschlossen, es für den Fall an Bord zu nehmen, dass das Schiff im Eis eingeschlossen würde und wir gezwungen wären, uns auf Booten zu retten. 295
Freitag, 25. Juli (7. August). Nun ist endlich die lang ersehnte Stunde gekommen; endlich sind wir wieder auf einem fahrenden Schiff, spüren den gleichmäßigen Lauf der Schiffsschraube und hören das Zischen des Dampfes! In verlöteten Blechbüchsen haben wir zwei Briefe auf der Insel hinterlassen. Einer ist von Kuschakow, der andere von mir. In diesem Brief habe ich das Schicksal der Expedition Leutnant Brussilows geschildert. Hier der Inhalt: »Der Steuermann des Dampfschoners ›St. Anna‹, V. I. Albanow, und der Matrose A. Konrad verlassen Kap Flora auf dem Dampfschoner ›St. Märtyrer Foka‹, dem Expeditionsschiff des Oberleutnants Sedow. Die Geschichte der Expedition Leutnant Brussilows ist Folgende: Im Oktober 1912 wurde der Schoner ›St. Anna‹ im Karischen Meer im Eis eingeschlossen und auf 71° 45' nördlicher Breite an die Halbinsel Jamal gedrückt, wo er dann zwei Wochen gelegen hat. Durch den Südostwind wurde der Schoner zusammen mit den Eismassen von der Küste losgerissen und begann nach Norden zu driften. Am 10. April 1914 verließ Steuermann Albanow mit dreizehn Matrosen auf 82° 55,5' nördlicher Breite und 60° 45' östlicher Länge das Schiff, um in Fußmärschen bewohntes Land zu 296
erreichen. An Bord blieben zehn Mann zurück, der Kommandant Brussilow mit eingerechnet. Sie waren für gut anderthalb Jahre mit Proviant versorgt. Zwei Tage später wurde vom Schoner die Nachricht übermittelt, dass sein derzeitiger Standort 83° 18' nördlicher Breite und 60° östlicher Länge sei. Etwa vierzig Werst von dem Schiff entfernt kehrten die Matrosen Ponomarjow, Schabatura und Schachnin infolge Übermüdung um, während Albanow mit zehn Mann den Weg nach Süden fortsetzte. Die Namen der zehn Männer sind Folgende: Maximow, Lunjajew, Archijerejew, Spakowski, Bajew, Gubanow, Konrad, Nielsen, Smirennikow und Regald. Am 3. Mai begab sich der Matrose Bajew auf Erkundungsgang und kehrte nicht zurück. Trotz einer drei Tage währenden Suchaktion wurde er nicht gefunden. Am 9. Juni wurde von den Wandernden in Richtung SO Land gesichtet, auf das sie auch Kurs nahmen. Erst am 25. Juni gelang es, dieses Land zu betreten, das sich als der WorcesterGletscher auf dem Alexandra-Land erwies. Am 29. Juni gelangten sie an das Südufer des Kaps Mary Harmsworth, wo sie eisfreies Meer erblickten. Da für zehn Mann zwei Kajaks übrig geblieben waren, die nur fünf Mann aufnehmen konnten, wurde beschlossen, sich in zwei Gruppen zu teilen, von denen die eine in den beiden Kajaks fahren, die andere sich auf Skiern über Land längs der Küste bewegen sollte. Als der Skitrupp auf Kap Neale mit den in Kajaks Fahrenden zusammentraf, teilten die 297
Leute mit, dass unterwegs der Matrose Archijerejew, der sich während der ganzen letzten Zeit krank gefühlt hatte, gestorben sei. Da keinerlei Proviant mehr vorhanden war und neuer nur sehr schwer beschafft werden konnte, wurde der Beschluss gefasst, die Kajaks vorausfahren zu lassen, um so schnell wie möglich Kap Flora zu erreichen. Nachdem die Kajaks Kap Grant angelaufen – wo ein Zusammentreffen mit der Skigruppe verabredet worden war – und länger als vierundzwanzig Stunden vergebens auf sie gewartet hatten, fuhren sie weiter zur Insel Bell, wo sie am 5. Juli eintrafen. Unterwegs erkrankte der Matrose Nielsen und starb in der Nacht zum 6. Juli auf der Insel Bell; dort wurde er auch bestattet. Am 7. Juli brachen die Kajaks zum Kap Flora auf. In dem ersten fuhren Steuermann Albanow und Matrose Konrad, in dem zweiten die Matrosen Lunjajew und Spakowski. Auf halbem Wege setzte ein heftiger Nordwind ein, gegen den die Kajaks nicht ankämpfen konnten, und sie begannen ins offene Meer abzutreiben. Dem ersten Kajak gelang es, sich an eine große schwimmende Eisscholle zu klammern, der andere kam jedoch bald außer Sicht. Bei dem starken Wellengang war es unmöglich, dem Kajak Hilfe zu bringen. Am 8. Juli gelang es dem ersten Kajak, bei abflauendem Wind wieder an die Insel Bell heranzukommen, wo sich seine Besatzung bis zum Morgen des 9. Juli aufhielt. Da der vermisste Kajak bis dahin nicht eingetroffen und nirgends zu sehen 298
war, wurde beschlossen, nach Kap Flora zu fahren, wo man auch am selben Tag landete. Am 15. Juli begab sich Konrad auf dem Kajak (mit Proviant) nach Kap Grant, vermochte dort aber die Fußgängergruppe nicht aufzufinden und kehrte am 18. Juli morgens nach Kap Flora zurück. Am 20. Juli kam der Schoner ›St. Märtyrer Foka‹ zum Kap Flora, und als die Mitglieder der Sedow-Expedition von dem Schicksal der Verschollenen erfuhren, äußerten sie ihr Einverständnis, mit dem Schoner auf die Suche nach den Vermissten zu fahren, sobald die Verladung des Holzes beendet sei. Auf Kap Flora und auf Kap Grant werden Depots mit Proviant und anderen notwendigen Ausrüstungsgegenständen hinterlegt. Steuermann zur See Valerian Iwanowitsch Albanow Kap Flora, 25. Juli (7. August) 1914
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Nach Hause! Gegen neun Uhr abends lichteten wir den Anker und fuhren zur Insel Bell, um zunächst zu sehen, ob sich vielleicht meine Gefährten im »Eira-Hafen« eingefunden hätten. Die »St. Foka« fährt nicht, sie »schreitet« feierlich mit einer Geschwindigkeit von zweieinhalb bis drei Seemeilen in der Stunde. Dieses »Schreiten« ist eine Eigenschaft aller ehrwürdigen Polarveteranen, die sich nicht zu beeilen brauchen, keine Konkurrenz zu befürchten haben und so weniger Wert auf Fahrgeschwindigkeit als auf möglichst sparsamen Brennstoffverbrauch legen. Die alte »St. Foka« hat jetzt Brennstoff für zwei, drei, höchstens vier Tage an Bord, und mit diesem Vorrat wird sie sich bemühen müssen, eine möglichst weite Strecke zurückzulegen. Schön wäre es, wenn wir unterwegs so wenig wie möglich Eis antreffen und günstige Winde es uns erleichtern würden, voranzukommen. Doch hoffen wir das Beste, das Schlechte kommt von selbst! Sonntag, den 17. Juli (9- August). Gestern habe ich keine Zeit gefunden, Eintragungen in meinem Tagebuch vorzunehmen, da ich jetzt ebenfalls Wache stehen muss, und die übrige Zeit vergeht so schnell, dass sie kaum für den Schlaf ausreicht. Um zwei Uhr nachts näherten wir uns der nordwestlichen Küste der Insel Bell und sahen die Hütte von Leigh Smith. Ich kann 300
überhaupt nicht verstehen, warum wir sie früher nicht bemerkt haben, denn sie steht auf einem offenen, ebenen Platz und ist gar nicht zu übersehen. Wir waren östlich von ihr gewesen, ganz nah heran kamen wir nicht, weil hier alles noch mit Schnee zugeweht war. Soweit wir sie durchs Fernglas erkennen konnten, war die Hütte noch sehr gut erhalten. Sie ist aus Brettern gezimmert und anscheinend von leichter Bauart, da sie von allen Seiten durch merkwürdige Zugseile gehalten wird.5 Am Ufer war auch das kieloben liegende Boot sehr gut zu sehen. Das Schicksal hat es eben nicht gewollt, dass wir dieses Häuschen mitsamt Proviant und Boot schon vor neunzehn Tagen entdeckten. Vielleicht waren wir auch deshalb nicht hingegangen, weil die Meerenge hier noch zugefroren war 5
Dieses Häuschen ist im Jahre 1880 von dem englischen Yachtmann Leigh Smith als notdürftige Unterkunft für den Fall, dass sein Schiff untergehen sollte, erbaut worden. Tatsächlich aber hatte Leigh Smith die Schutzhütte nicht benutzen können, weil während der Havarie der Yacht »Eira« die Meerenge zwischen den Inseln Northbrook und Bell mit großen, für Boote unpassierbaren Eismassen blockiert war. Außer einer recht kalten Unterkunft hätte Albanow dort nichts vorfinden können. Die Hütte wurde nicht ganz fertig gestellt und hatte keinen Ofen. Einst hatte Jackson darin ein Proviantdepot eingerichtet, doch offenbar später selbst die Vorräte verbraucht, denn als Pinegin am 31. März 1914 in dem Häuschen weilte, waren dort nur fünf oder sechs Konserven und etwa hundertfünfzig Kilogramm Steinkohle vorhanden. (Anmerkung N. W. Pinegins.) 301
und wir das flache Ufer für Küsteneis hielten. Man könnte viele Gründe anführen, warum wir es unterlassen hatten, unsere Schritte dorthin zu lenken. Wir wussten eben nichts von der Existenz dieser Hütte, und es war einfach unmöglich, jeden Winkel der Insel auszukundschaften. Durchs Fernglas konnte man in dem weißen Schnee keinerlei Spuren entdecken, die auf die Anwesenheit von Menschen hätten schließen lassen. Für alle Fälle gaben wir Signale mit der Dampfsirene, und eine Viertelstunde später fuhren wir weiter in Richtung Kap Grant. Es gelang uns nicht, das Kap anzulaufen, da vor der Küste ein etwa vier Seemeilen breiter Treibeisgürtel lag. Durch dieses Eis näher an das Kap vorzudringen war für die »St. Foka« mit ihrem beschränkten Brennstoffvorrat sehr gewagt. Wir beschlossen daher, kehrtzumachen und Kurs aufs offene Meer zu nehmen. Wenn jemand auf Kap Grant gewesen wäre, hätte er gewiss das Heulen der Dampfsirene hören und das Schiff sichten müssen. Allein wir vermochten weder auf dem Kap noch auf dem Eis, das uns von ihm trennte, etwas zu erkennen, was nur annähernd an eine menschliche Gestalt erinnerte. Wir drehten also bei und wandten uns nach Süden. Zunächst fuhren wir unter Segeln, dann aber brachten wir auch die Maschine in Gang. Gegen zwölf Uhr mittags begannen die Inseln des FranzJoseph-Landes aus unserem Gesichtsfeld zu entschwinden. Leb wohl, Kap Flora! Volle vierundzwanzig Stunden sahen wir kein Eis. Heute gegen drei Uhr nachts gerieten wir aber doch in Treibeis, das uns allmählich nach Westen abzudrängen begann. Dieses Eis war zwar nicht kompakt, doch es war 302
schwierig, nur mit Segeln allein zwischen den Schollen zu lavieren. Die Wassertemperatur sank. Um Mittag betrug unsere Breite 78° 23'. Das ist günstig. Holz verbleibt uns nur noch für anderthalb Tage, und deshalb nutzten wir heute gegen Abend den günstigen Wind aus, ließen die Maschine stillstehen und fuhren nur unter Segeln, unter denen die »Foka« sehr gut läuft, obwohl sie jetzt vollständig leer ist. Wir laufen, zwischen den Eisschollen lavierend, im Mittel nach SSW. Als wir am Tage an einem großen Eisfeld vorbeifuhren, sahen wir dort eine Eisbärin mit zwei Jungen. Wir ließen die Sirene aufheulen, die Bären suchten schleunigst das Weite und waren bald unseren Blicken entschwunden. An Bord der »Foka« befinden sich vier Bärenjunge, von denen drei bereits zwei Jahre alt sind. Das größte von ihnen ist die Bärin »Wune«, sie sieht sehr würdevoll aus. Alle sind sie ganz zahm, und wenn wir sie an die Kette legen, so nur deshalb, weil sie lauter Unfug treiben und alles stehlen, was ihnen unter die Tatzen kommt. Menschen gegenüber sind sie höchst friedfertig, mit den Hunden balgen sie sich herum, und wenn sie in Streit geraten, so ziehen die Bären meist den Kürzeren. Entsteht aber doch einmal ein ernsteres »Missverständnis« zwischen den Vierbeinern, so stürzt sich Pinegin mit der Peitsche in der Hand mutig dazwischen, um den Frieden wieder herzustellen. Montag, den 28, Juli (10. August). Bis vier Uhr fuhren wir im Nebel unter Segeln, zwischen Eisschollen lavierend, und hielten im Mittel Kurs nach S. 303
Bei einer Wendung wurden wir an ein großes Eisfeld gedrückt und vermochten uns nicht davon zu lösen; wir versuchten es auch nicht mit letzter Kraft, weil wir abwarten wollten, bis sich der Nebel etwas teilte. Um neun Uhr dreißig Minuten fuhren wir weiter unter Dampf und Segeln. Das Treibeis ist lose und leicht passierbar, wir haben nicht einmal nötig, uns durchzuschlagen, und müssen nur von WNW bis SO lavieren. Zwei Stunden später wurde das Fahrwasser noch besser, es bildete sich ein breiter Kanal mit Richtung nach SSO. Wir nahmen Kurs durch diesen Kanal, wobei wir uns bei Ostwind sowohl der Segel als auch der Maschine bedienten. Die annähernde Meridianhöhe der Sonne ergab die Breite von 77° 48'. Wir sind der Meinung, dass wir, wenn es uns gelänge, wenigstens für weitere anderthalb Tage Holz zu beschaffen, vielleicht das Eisgebiet durchstoßen könnten. Doch leider ist nur noch für eine oder anderthalb Stunden Fahrt Brennstoff vorhanden. Eben geht ein forcierter Abbruch der Zwischenwände in allen Räumen vor sich. Die »Foka« war ohnehin schon ziemlich abgerissen, als sie nach Kap Flora kam. Jetzt aber wird alles abgebrochen, was irgend entbehrlich ist und die Stabilität des Schiffes nicht beeinträchtigt. Es bleibt nicht eine einzige Kajüte, nicht eine einzige Innenwand übrig. Schlafen werden wir auf den Planken, alle in einer Reihe. W. J. Wiese versucht uns dauernd zu überreden, auch das Klavier den Flammen zu übergeben. Doch vorläufig ist es noch nicht so weit. Unsere Gedanken kreisen vielmehr um die Vorderstenge und den Klüverbaum. Es ist nichts zu machen, so oder so, wir müssen aus dem Eis heraus. 304
Dienstag, den 29. Juli 11. August). Nun haben wir die Bescherung! Wir liegen im Eise fest. Gestern um elf Uhr abends wurde das Eis derart dicht, dass es sogar schwer fiel, mit Dampfkraft voranzukommen, besonders wenn man sich unseren spärlichen Holzvorrat vor Augen hält. Wir mussten an einer Eisscholle festmachen und auf ein günstiges Geschick warten. Eben ist es zehn Uhr vormittags. Von der Tonne aus sieht man viele Wunen, doch zwischen ihnen dehnen sich große Eisflächen. Von Süden her dringt seit gestern ein undefinierbares Rauschen, das an das ferne Tosen einer Brandung erinnert. Aller Wahrscheinlichkeit nach verursacht die Verschiebung der Eismassen das Geräusch. (Abends.) Um ein Uhr mittags kamen wir frei und liefen unter Dampf, zwischen den Eisschollen lavierend, zunächst die schmalen Kanäle entlang; doch dann wurden diese immer breiter und zahlreicher. Eine Zeit lang hatten wir sogar fast freies Fahrwasser mit nur spärlichen Schollen, doch gegen sechs Uhr abends, als wir in dichten Nebel gerieten, saßen wir wieder im Eis fest. Bald öffnete sich freilich abermals ein Durchgang nach Süden, doch heute liegen wir still, da der Nebel sehr dicht ist und wir auf der blinden Suche nach Durchgängen nicht unseren letzten Brennstoff verbrauchen wollen. Wir machten uns also mit dem Eisanker an einer Scholle fest und richteten uns darauf ein, hier die Nacht zu 305
verbringen. Du meine Güte, wenn nur jemand sehen könnte, was für ein Chaos in unseren Räumen herrscht! Alles ist zerstört, Trennwände und Kojen sind verbrannt. Wir schlafen auf Matratzen zwischen Kisten und umherliegenden Brettern, jeder wo er gerade Platz hat. Donnerstag, den 31. Juli (13. August). Den ganzen Tag lagen wir wegen dichten Nebels im Eis. Haben die Vorderstenge eingezogen, den Klüverbaum und die blinde Gaffel abgebaut und sägen sie zu Brennholz. Aus dem Laderaum werden Reservesegel, Trossen, Blockrollen, Matratzen und anderes entbehrliches Inventar hervorgeholt. All dieses Brennmaterial wird in die Kohlenbunker geschafft, dort aufgestapelt und bis zu dem Augenblick verwahrt, da es gilt, diesen ganzen »Einsatz« »va banque« auszuspielen. Auch wird schon lebhaft erwogen, das ganze Hinterdeck abzutragen. Doch vorläufig ist es noch nicht an der Reihe. Wenn wir es doch abbrechen müssen, so gedenken wir uns über dem Maschinenraum zu etablieren. Unsere Lage wird durch das große Leck unseres Schiffes immer bedenklicher. Alltäglich strömt Wasser in Höhe bis zu fünfzig Zoll in den Kielraum. Jeder von uns muss zwei Mal am Tage drei Stunden an die Handpumpe, weil der Brennstoff zu kostbar ist, um die Dampfpumpe in Betrieb setzen zu können. Ja, alt und gebrechlich ist die »Foka« geworden! Schwer, sich vorzustellen, wie dieses vor gar nicht so langer Zeit noch gute, stabile Schiff, das überall im Norden bekannt war, zu Schanden gefahren worden ist. Eine ganze Reihe seiner letzten Besitzer, an die 306
es jedes Mal auf ungewöhnliche Weise geriet, suchten aus diesem Fahrzeug herauszupressen, was es nur hergeben wollte, ohne dafür ernstlich etwas zu tun, sondern sich lediglich mit kläglichem Pfuschwerk zu begnügen, um Reparaturen vorzutäuschen. Ein trauriges Schicksal hatte dieses Schiff in Russland betroffen, wo man mit Recht eine »Märtyrer-Foka« aus ihm machte. Vergleiche ich die »St. Foka« mit der »St. Anna«, so muss ich feststellen, dass man das eigentlich gar nicht kann. Obwohl die »St. Anna« drei Jahre älter ist als die »St. Foka«, ist sie noch verhältnismäßig gut erhalten, so dass man sie schwerlich älter als zwanzig Jahre schätzen könnte, auch wenn man noch so eifrig nach Mängeln in ihren Spanten, Deckbalken, Kniestücken und Verkleidungen suchen würde. Erst spät am Abend schlug das Wetter um, der Nebel lichtete sich, und es kam ein Nordwind auf, der aufzufrischen versprach. Das lockere Eis und wir mit ihm wurden nach Süden getrieben. Nachts frischte der Wind auf, und gegen Morgen verschwand auch der Nebel. Früh um fünf Uhr dreißig Minuten holten wir den Eisanker ein und fuhren unter Segeln südwärts. Das Fahrwasser wurde ständig breiter, die Geschwindigkeit betrug vier bis fünf Seemeilen in der Stunde, und wir sprachen bereits ernsthaft davon, dass wir bald aus dem Eis ins freie Meer hinauskommen würden. Wir fuhren ohne Dampfkraft, um den Brennstoff für den äußersten Fall aufzusparen. Nach zwölf Uhr mittags erreichte die Geschwindigkeit sechs Seemeilen, doch leider hielt sie nicht lange an. Um drei Uhr befanden wir uns wieder vor dichten Eismassen, und ein Durchgang war nirgends zu sehen. Rings307
umher nicht allzu dickes, einjähriges Eis, stellenweise stark mit Erde und Sand beschmutzt. Wir zogen die Segel ein, und es blieb uns nichts weiter übrig, als uns in Geduld zu fassen und zu warten. Wind aus N. Stärke etwa fünf. Mittwoch, den 6. (19.) August. Fünf Tage habe ich mein Tagebuch nicht aufgeschlagen. Es war mir sogar zuwider, den Bleistift in die Hand zu nehmen. Der Grund hierfür ist unser langer Aufenthalt im Eis; und dabei hatten wir gerade erst vor kurzem die Hoffnung geäußert, bald aufs freie Meer hinauszukommen. Ringsum waren wir von riesigen Eisfeldern umgeben, und es sah so aus, als ob diese Felder niemals auseinander treiben würden. Die »Landschaft« hatte einen ganz winterlichen Charakter. Die Lage schien in solchem Maße hoffnungslos, dass wir uns allmählich darauf vorbereiteten, die Reise nach Nowaja Semlja auf dem Eis fortzusetzen. Es würde eine ähnliche Reise werden, wie es die meine gewesen, nur mit dem Unterschied, dass wir nicht Kajaks, sondern eine große Karbasse mitschleppen wollten. Der Proviant hierfür war schon längst bereitgestellt. Es wäre gar nicht daran zu denken gewesen, den Winter über auf dem Schiff zu bleiben. Alle Wohnräume waren abgebrochen, wo sollte man also überwintern? Proviant war ebenfalls nur noch wenig an Bord. So blieb uns also keine Wahl: Wenn es nicht gelingen sollte, das Fahrzeug aus dem Eis freizubekommen, mussten wir versuchen, in Fußmärschen Nowaja Semlja zu erreichen. Nach längerer Beratung wurde beschlossen, noch einige Tage abzuwarten, alles 308
Entbehrliche zu Brennholz zu verarbeiten und mit diesem Holz so lange weiterzufahren, bis es verbraucht sein würde. Dann aber konnte es nur eine Parole geben: Bitte schön, aufs Eis, Herrschaften! Nehmt gefälligst eure Beine in die Hand! Leider wäre das aber nicht allen möglich gewesen. Unter der Besatzung sind zwei Mann, die sich buchstäblich nicht auf den Beinen halten können und sich nur auf »allen vieren« vorwärts bewegen; an und für sich ist ihr Gesundheitszustand befriedigend, denn sie kriechen den ganzen Tag auf Deck umher, und einer von ihnen erfüllt sogar die Obliegenheiten des Heizers und Maschinisten. Es sind Opfer der polaren Überwinterung. Sie sind bereits lange von dieser Krankheit befallen, die schon keinen akuten Charakter mehr hat. Was das für eine furchtbare Krankheit ist, weiß hier niemand.6 Sollten die beiden Ärmsten jemals wieder laufen können, ohne dabei die Hände zu Hilfe zu nehmen, so müssen sie Gott sehr dankbar sein. Am 4. (17.) August setzte ein frischer Nordwestwind ein. Es wurde noch kälter und winterlicher, doch dafür kam das Eis in Bewegung. Gestern gegen Abend begannen sich Rinnen und Wunen zu bilden, und es öffnete sich ein Kanal nach S. In derselben Richtung war auch »Wasserhimmel« sichtbar, und vom Mast aus konnte man sogar freies Wasser feststellen. Der Kapitän des Schiffes, N. M. 6
Die Beinleidenden auf der »Foka« litten an Skorbut. Die Lähmung der Beine ist eine der häufigen Folgen dieser Erkrankung. (Anmerkung N. W. Pinegins.) 309
Sacharow, kommt fast gar nicht vom Mast herunter; er hält nach Wasser Ausschau und überlegt, wie es am bequemsten zu erreichen sei. Sogleich wurde Feuer unter die Kessel gelegt, und in der Nacht um zwölf Uhr zehn Minuten setzten wir uns unter Dampf und Segeln in Bewegung mit Kurs nach S. Bald hatten wir die uns so verhassten Eisfelder hinter uns gelassen und liefen nun, zwischen gelichteten kleineren Schollen lavierend, unserem Ziel, dem offenen Meere, zu. So fuhren wir den ganzen Tag. Alles, was irgend brennbar war, wanderte unter die Kessel: Der Aufbau auf der Back wurde abgetragen, das auch ohnehin schon arg gerupfte Dullbord noch mehr verkleinert, zwei riesige Querbalken des Zwischendecks abgesägt, ja sogar ein im Laderaum gefundenes Fass Teer wurde in die Feuerung befördert. Doch trotz all dieser Opfer reichte der Brennstoff nur bis neun Uhr abends. Der Dampfdruck wurde immer niedriger, die Maschine stampfte schon weniger energisch und stand schließlich still – der Dampfdruck war endgültig gefallen. Eine schwache Brise trieb uns noch ein Weilchen nach S, aber dann ebbte auch diese ab … Doch schon ist die freie See nahe! Wir sehen vor uns kleinscholliges, stark gelichtetes Eis und spüren sogar – welches Glück! – die kaum wahrnehmbare Dünung des Meeres. Der Bugspriet fängt an, sich langsam zu heben und zu senken. Dies ist das sichere Zeichen des freien Meeres, es trügt nicht! Rings um uns zwischen den Eisschollen zeigen sich jetzt zahlreiche große Robben, oft in ganzen Herden. Sie recken ihre Körper hoch aus dem Wasser und äugen neugierig zur 310
»Foka« herüber. Sturmvögel schwimmen um das Schiff herum; sie schaukeln auf der leichten Dünung und wollen durchaus nicht hinter uns zurückbleiben. Donnerstag, den 7. (20.) August. Nachts herrschte völlige Windstille, doch gegen Morgen kam ein schwacher Nordost auf; er schwellte kaum merklich unsere Segel, und wir fuhren den ganzen Tag mit einer Geschwindigkeit von nicht mehr als einer Seemeile in der Stunde. Die Meridianhöhe der Sonne ergab die Breite von 75° 16'. Um drei Uhr nachmittags wurde nochmals die Sonnenhöhe gemessen und dabei die östliche Länge von 45° 45' festgestellt. Das Eis lichtet sich immer mehr. Das Wetter ist sonnig und warm, doch der Horizont bleibt in Dunst gehüllt. Nachmittags gegen vier Uhr kamen wir endlich aus der Eisregion heraus in den offenen Ozean. Ein großer Augenblick für uns alle! Zwei Jahre lang hatte ich nichts als Eis um mich gesehen, und wenn es auch Tage gab, da ich im Süden freies Wasser vor mir hatte, so war doch hinter diesem Wasser irgendwo – fern oder nah – eine Eisbarriere, die mich von der Welt, von den Menschen schied. Auch die große Wasserfläche, die ich vom FranzJoseph-Land aus gesichtet hatte, war der gleiche Käfig, nur in größerem Maßstabe. Nun aber lag nach Süden die glitzernde, sich leicht kräuselnde Meeresbahn vor uns, diesmal schon bis zur Murmanküste, bis zu den Gestaden Russlands. Das Wasser war von jenem tiefen, herrlichen 311
Blau, das für den Golfstrom charakteristisch ist. Jetzt waren wir auf die große Straße gelangt und entschlossen uns, auf etwas andere Weise von ihr Gebrauch zu machen, als ursprünglich vorgesehen war. Wir gaben also aus unseren Fangkanonen den hinter uns liegenden Eisfeldern einen Abschiedssalut und nahmen direkten Kurs auf Swjatoi Nos, obgleich wir früher geplant hatten, den Weg längs der Küste von Nowaja Semlja einzuschlagen. Gewiss, das Letztere wäre vernünftiger gewesen, besonders wenn man den jämmerlichen Zustand der »St. Foka« und ihr großes Leck in Betracht zog. Wären wir an Nowaja Semlja entlanggefahren, hätten wir genügend Treibholz für die Kessel sammeln und im Falle besonders stürmischen Wetters eine geschützte Bucht anlaufen können. Beim Kurs direkt auf Swjatoi Nos aber stand uns ein Weg von 420 Seemeilen durch völlig offenes Meer bevor. Dabei mussten wir die Strecke unter Segeln auf einem Schiff zurücklegen, das gänzlich leer war und das nur über einen unbedeutenden Teil seiner Segelfläche verfügte, also nicht gerade die besten Eigenschaften eines Segelfahrzeuges besaß. Doch es war so verlockend, die Wegstrecke um zweihundert Seemeilen und mehr abzukürzen, dass wir das Wagnis auf uns nahmen und direkt auf die Murmanküste zusteuerten. Die Besatzung wurde vom Ruderdienst befreit und musste die ganze Zeit abwechselnd die Handpumpe bedienen. Die Steuerung übernahmen Kapitän Sacharow, der Maler Pinegin und ich. Während des ganzen heutigen Tages weht kaum noch ein Lüftchen, die Segel hängen fast schlaff. Es ist nicht einmal erforderlich, die ganze Zeit am Ruder zu stehen. 312
Doch die Windstille kann uns nicht beunruhigen, denn in diesen Breiten muss man um diese Jahreszeit eher das Gegenteil befürchten. Freitag, den 8. (21.) August. Trotz schwachen Windes kamen wir doch allmählich voran und glaubten sogar, bereits am Morgen den 75. Breitengrad überschritten zu haben. Wie groß aber war unsere Enttäuschung, als die Mittagshöhe der Sonne die Breite von 75° 16' ergab, also genau dieselbe wie gestern zur gleichen Zeit. Der Horizont war heute ganz klar, es stand außer Zweifel: wir hatten richtig gemessen. In diesem für uns so unangenehmen Fall war bestimmt der Ausläufer des Golfstroms schuld, dessen Geschwindigkeit wir bei dem schwachen Wind nicht zu überwinden vermochten. Frühmorgens ermittelten wir eine Wassertemperatur von – 0,2° C, um die Mittagszeit +2° C und heute Abend sogar +3,4° C. Eis treffen wir nicht mehr an. Der Wind kam am Morgen von NO, drehte jedoch später nach O. Das Schiff schaukelt in der Dünung ganz beträchtlich. Nachmittags hatten wir schon eine wesentlich bessere Fahrt, und abends machten wir schon fünf Seemeilen in der Stunde. Schön wäre es, wenn diese Geschwindigkeit anhielte. Ich schloss mit Wiese eine Wette ab: Wenn wir die Murmanküste noch vor dem 15. (28.) August in Sicht bekommen, so gewinne ich, wenn es am 15. oder später der Fall sein sollte, so gewinnt er. Schon seit einigen Tagen sehen wir keine Mitternachtssonne mehr, und heute gegen zwölf Uhr nachts wurde es in den Schiffsräumen so finster, dass wir Kerzen 313
anzünden mussten; das werden wir wohl morgen auch im Kompasshäuschen tun müssen. Kurz, an diesem Tage sind wir nach Süden gut vorangekommen, es ist an allem zu merken. Das Schiff schlingert. P. G. Kuschakow und Pawlow haben am meisten darunter zu leiden und liegen die ganze Zeit danieder. Sonntag, den 10. (23.) August. Gestern hatten wir von früh an eine gute Fahrt – etwa fünf Seemeilen die Stunde. Rechneten damit, weiß Gott wie weit voranzukommen, wurden aber leider wiederum enttäuscht. Die Mittagshöhe ergab gestern die Breite von 74° 18', also hatten wir in vierundzwanzig Stunden nicht einmal 1° zurückgelegt. Die Wette werde ich sicher verlieren. Zweifellos hemmt die Gegenströmung unsere Fahrt stark. Heute beträgt die Wassertemperatur +5,8° C. Welche Ursachen dafür auch immer vorliegen mochten, wir kamen nur langsam vom Fleck. Die Winde waren meist ungünstig, scharfe Rückenwinde fehlten ganz, und die starke Strömung hemmte das Schiff in seinem Lauf. Der Termin, den ich für das Sichten der Küste ausgemacht hatte, war verstrichen, und ich verlor meine Wette. Am 16. (29.) August, gegen fünf Uhr abends, hielt ich Schiffswache. Ein schwacher Ostwind blähte kaum merklich die Segel. Es war recht warm, und ich konnte mir schwerlich vorstellen, dass wir erst unlängst in dichten Eismassen festgesessen hatten und sogar nahe daran gewesen waren, 314
das Schiff zu verlassen, um zu Fuß und mit der Karbasse Nowaja Semlja zu erreichen. Jetzt näherten wir uns schon der Murmanküste und erwarteten jeden Augenblick, dass der Wind die Dunstschleier am Horizont etwas auflockern und vor unseren Blicken in der Ferne die Küste auftauchen würde. Aufmerksam spähte ich nach dem nebelverhangenen Horizont, um als Erster die lang ersehnte Küste zu entdecken oder ein entgegenkommendes Schiff zu sichten. Wir befanden uns ja schon auf der »großen Straße«, die von Russland nach dem Ausland führt. Auf der Brücke hatte ich keine Langeweile, jeden Augenblick kam der eine oder andere herauf und schaute durch das Fernglas. Alle zeigten lebhaftes Interesse und waren voller Erwartung. Plötzlich war mir, als zeichne sich im Nebeldunst verschwommen eine wellige Linie ab. Ich sah durchs Glas genauer hin, der Dunst teilte sich ein wenig, und die Linie wurde nun klarer sichtbar. Es war die Murmanküste, darüber konnte kein Zweifel bestehen. Sie war nicht sehr weit von uns entfernt, und möglicherweise konnten wir sie schon zur Nacht erreichen. Hurra! Ich hatte als Erster die Küste gesichtet, und wenn auch die Wette mit Wiese verloren war, so hatte ich doch bei P. G. Kuschakow eine Flasche Kognak gewonnen. Wir hatten die langsame Segelei gründlich satt und träumten davon, einem Dampfer zu begegnen, der uns in Schlepp nehmen und wenn auch nicht gleich nach Archangelsk, so doch in eine der Küstensiedlungen bringen oder uns wenigstens etwas Kohle geben würde, damit wir aus eigener Kraft die Siedlung anlaufen könnten. Jetzt 315
bemühten wir uns, keinen Dampfer zu verpassen, am Mast lagen schon die entsprechenden Signalflaggen bereit. Es war wohl eine Stunde verstrichen, seit ich die Küste gesichtet hatte, da zeigte sich über dem Dunst, der den Horizont verdeckte, eine dichte schwarze Rauchfahne; doch bald zerging sie wieder: Anscheinend hatte der unbekannte Dampfer, der durch den »Hals« des Weißen Meeres kam, geschürt. Erst eine gute halbe Stunde später bekamen wir den Dampfer selber zu Gesicht. Es war ein Norweger, der mit einer Ladung Holz, das hoch auf dem Deck aufgestapelt war, aus Archangelsk kam. Sein Kurs wich weit von dem unseren ab, und wir zweifelten, ob er überhaupt stoppen würde, weil wir doch noch unter Segeln liefen. Für alle Fälle hissten wir die Notsignale, doch wahrscheinlich wurden sie vom Dampfer aus nicht bemerkt. Indessen bewegten wir uns bei ungünstigem Wind langsam vorwärts, und die Küste kam immer näher. Wir bemühten uns, die Stelle zu ermitteln, der wir uns näherten. Kapitän Sacharow behauptete, wir hätten die Sieben Inseln vor uns, doch merkwürdigerweise sahen wir den Leuchtturm »Charlow« nicht, obgleich er schon längst hatte auftauchen müssen. Es wurde dunkel. Wir schlugen Südwestkurs längs der Küste ein. Nach dem Abendessen, bereits gegen zehn Uhr, tauchten vor uns die Lichter eines uns entgegenkommenden Dampfers auf. Er war nicht weit entfernt, und wir hofften, ihn nicht zu verfehlen. 316
Der Dampfer war hell erleuchtet und kam rasch näher. Anscheinend handelte es sich um einen Post- und Passagierdampfer der Murman-DampfschifffahrtsGesellschaft. Mehr konnten wir uns gar nicht wünschen, denn dieser Dampfer würde uns sicher zu einem beliebigen Küstenort abschleppen. Augenblicklich drehte unser Kapitän bei. Signalraketen flogen empor und Leuchtfeuer wurden abgebrannt. Wir erwarteten, dass der Dampfer sofort seinen Kurs ändern und auf uns zusteuern würde, um zu erfahren, was los sei. Doch dies geschah nicht. Hatte man denn unsere Raketen und das Signalfeuer nicht bemerkt? Jetzt verbrannten wir auf der Back mit Petroleum getränkte Wergbündel; es entstand eine Flamme, als sei an Bord ein Brand ausgebrochen, doch der Dampfer setzte nach wie vor seinen Kurs fort und nahm von unserem Signal keine Notiz. Es stand uns noch ein Mittel zur Verfügung, um uns bemerkbar zu machen: unsere Walfangkanonen. Das musste wirken! Nun begann eine regelrechte Kanonade, unsere Artilleristen hatten alle Hände voll zu tun, um die Geschosse abwechselnd bald in die Steuerbord-, bald in die Backbordkanone einzuführen. In der Tat, dies hinterließ einen starken Eindruck auf dem Passagierdampfer. Doch das Ergebnis war ein für uns völlig verblüffendes. Blitzschnell verschwand der Dampfer, der doch gar nicht mehr so weit von uns entfernt gewesen war, wie ein Traum im Dunkel der Nacht. Unwillkürlich rieben wir uns die Augen: War denn dort eben wirklich ein hell erleuchtetes Schiff gefahren, oder hatten wir uns allesamt getäuscht^ 317
Nein, der Dampfer war da gewesen, nur hatte er aus unbegreiflichen Gründen seine Lichter gelöscht und war verschwunden. Wir waren alle aufs Höchste betroffen. Während der ersten Minuten brachte niemand ein Wort über die Lippen, doch dann prasselten so drastische Schimpfworte an die Adresse des Dampfers los, dass sein Kapitän wahrscheinlich noch lange danach einen Schluckauf gehabt hat. Wir waren nicht böse, als uns vor einigen Stunden der »Ausländer«, der weitab von der Küste lief und den wir in der Tat nur behindert hätten, nicht bemerkte; doch dieser russische Passagierdampfer, der alle Orte an der Murmanküste anlief, der die Möglichkeit hatte, uns mühelos Hilfe zu bringen, dies aber einfach nicht wollte und auf so »gemeine« Art in der Dunkelheit verschwand, brachte uns in Wut. Kapitän Sacharow erklärte das Verschwinden des Dampfers damit, dass die russischen Küstenfischer oft auf ihren Segelschiffen Unfug trieben, indem sie große Feuer anzündeten und so täten, als erbäten sie Hilfe von einem vorbeifahrenden Dampfer; wenn man sich ihnen dann aber näherte, stellte sich heraus, dass sie alle sternhagelvoll waren. Aber hatten wir vielleicht Schuld daran, dass betrunkene Fischer Unfug trieben? Und weshalb musste man auf eine so »mystische« Weise verschwinden, indem man einfach die Lichter löschtet Es hätte ja sein können, dass wir wirklich in Seenot waren. 318
Doch der Dampfer, auf den wir alle unsere Hoffnung gesetzt hatten, war weg, und da wir noch nicht am Versinken waren, trieben wir die ganze Nacht unter Segeln fast auf ein und derselben Stelle. Morgens, als es hell wurde, konnten wir endlich die Küste erkennen und feststellen, dass sich Kapitän Sacharow gestern nicht geirrt hatte. Da nur ein schwacher, ungünstiger Wind wehte, hätten wir sehr lange gebraucht, um unter Segeln ins Weiße Meer zu gelangen. Deshalb machten wir kehrt und fuhren längs der Küste zurück, in der Hoffnung, eine Siedlung ansteuern und ein Telegramm nach Archangelsk aufgeben zu können, mit der Bitte, uns entweder einen Schlepper oder Kohle zu schicken. Gegenüber dem Küstenort Rynda näherte sich uns ein kleiner Fischerkahn. Die Insassen hatten die »Foka« sofort erkannt, und da sie ihren jammervollen Zustand bemerkten, gingen sie längsseits. Die Fischer vermittelten uns als Erste die Nachricht von den großen Ereignissen, die sich in unserer Abwesenheit abgespielt hatten. Ich erinnere mich, dass wir ihnen selbst die Frage stellten, die gewöhnlichste und zugleich für uns interessanteste nach zweijähriger Abwesenheit: »Hört mal, ist kein Krieg ausgebrochen?« »Was, das wisst ihr nicht? Ein großer Krieg ist im Gange; die Deutschen, Österreicher, Franzosen, Engländer, Serben, allesamt führen sie Krieg. Wegen Serbien hat's angefangen.« »Nun, und wie steht es denn mit Russland? Führt es auch Krieg?« 319
»Aber gewiss! Natürlich führt Russland auch Krieg!« »Aber das ist ja dann ein großer, europäischer Krieg!«, entfuhr es einem unserer Leute. »Das stimmt. So nennt man ihn auch: Europäischer Krieg!« Wir erfuhren dann Einzelheiten, wie man sie eben von Fischern erfahren kann, denen man an der Murmanküste begegnet. Der Dampfer, der uns gestern entwischt war, gehörte tatsächlich der Murman-Dampfschifffahrts-Gesellschaft. Es war die »Lomonossow«. Sie hatte vor unseren Schüssen Angst bekommen und die arme »Foka« für ein feindliches Kriegsschiff gehalten. An der Murmanküste herrschte jetzt Unruhe. Die Fischer gaben uns frische Fische und – zwei ganze Päckchen Machorka, der uns, die wir schon lange gefastet hatten, trefflich mundete. P. G. Kuschakow schenkte den Fischern eine Flasche Rum, nicht ahnend, was der Rum jetzt in Russland bedeutete, da hier seit Beginn des Krieges Fabrikation und Verkauf von Spirituosen verboten war. Rynda vermochten wir bei dem schwachen Wind und der beginnenden Ebbe aus eigener Kraft nicht anzulaufen. Deshalb begab sich Kuschakow mit den Fischern auf ihrem Kahn in den Ort, um nach Archangelsk zu telegrafieren, und die »Foka« begann vor Rynda zu kreuzen. Gegen vier Uhr nachmittags löste sich aus dem Hafen von Rynda ein großer Motorkutter, der sich uns rasch näherte. Es war der Fischereiunternehmer und Kaufherr Skobelew, der es sich nicht nehmen ließ, uns sofort zu Hilfe zu eilen. Eine Weile 320
später tauchte noch ein zweiter Kutter auf, und nachdem alle genügend lange, so wie es sich gehört, »Hurra« geschrien hatten, nahmen die beiden Kutter die »Foka« ins Schlepptau und brachten sie nach Rynda. Skobelew hatte auch nicht vergessen, einen ganzen Packen Zeitungen mitzubringen, aus denen wir uns genau mit den großen Ereignissen in Europa bekannt machen konnten. Ein merkwürdiger Zufall wollte es, dass wir in diesen Zeitungen von den Suchexpeditionen lasen, die vom Hydrographischen Amt des Marineministeriums für das Auffinden der Expeditionen des Jahres 1912 – der von Sedow, Brussilow und Russanow – ausgerüstet worden waren. Die Suchexpeditionen waren bereits unterwegs. Die »St. Anna« wurde, wie wir erfuhren, im Karischen Meer gesucht. Um acht oder neun Uhr abends waren wir schon im Post- und Telegrafenkontor Rynda, wo Kuschakow auf uns wartete und die Telegramme über unsere Rückkehr ins Leben aufgegeben wurden. Der Reichste von uns war Kuschakow, der über einige hundert Rubel verfügte; der Nächste war Konrad, er nannte ein Pfund Sterling sein eigen. Den Schein hatte er im vorigen Jahr auf der »St. Anna« beim Abbrechen der Zwischenwände und Kojen auf dem Unterdeck gefunden. Die anderen besaßen anscheinend nicht eine einzige Kopeke. Jedenfalls bezahlte P. G. Kuschakow meine Telegramme. Es ist auch nicht verwunderlich, dass wir kein Geld bei uns hatten, ohne das man ja auf dem FranzJoseph-Land und auf dem Eis leichter auskommen konnte 321
als hier. Deshalb erbaten die meisten von uns in ihren Telegrammen Geld, Geld und nochmals Geld! Abends, als wir bei Skobelew am Teetisch saßen, erfuhren wir, dass am kommenden Tage der Passagierdampfer »Imperator Nikolaus II.«, mit Kurs auf Archangelsk, Rynda anlaufen werde. Am nächsten Tage gingen Wiese, Pinegin, Pawlow, Konrad18 und ich an Bord des Dampfers und fuhren nach Archangelsk. Der Kapitän dieses Schiffes, Walnew, war so liebenswürdig, uns kostenlos mitzunehmen und uns unterwegs sogar auf »Pump« zu verpflegen. Da der Dampfer überfüllt war und freie Plätze der ersten Klasse nicht zu haben waren, trat Walnew vieren von uns eine seiner Kajüten ab, in der wir dann höchst komfortabel Archangelsk erreichten. Der schwere, vier Monate währende Weg von der »St. Anna« war beendet und damit auch meine zweijährige Polarreise abgeschlossen. Am 10. (23.) August 1912 war ich von Petersburg aufgebrochen, und am 1. (14.) September 1914 traf ich wieder in Archangelsk ein.
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Kommentare und Bemerkungen 1 Die russische Polarexpedition unter Leitung des Oberleutnants Georgi Jakowlewitsch Sedow hatte sich das Ziel gesetzt, den Nordpol zu erreichen. Das Expeditionsschiff »St. Märtyrer Foka« verließ im Sommer 1912 Archangelsk und überwinterte an der nordwestlichen Küste von Nowaja Semlja. In der darauf folgenden Navigationsperiode erreichte die Expedition das FranzJoseph-Land und überwinterte dort auf der Hooker-Insel in der Stillen Bucht zum zweiten Mal. Auf Nowaja Semlja und dem Franz-Joseph-Land haben die Mitglieder der Expedition eine ganze Reihe wertvoller wissenschaftlicher Forschungsarbeiten und Beobachtungen durchgeführt. Ungeachtet seiner Krankheit begab sich der Expeditionsleiter G. J. Sedow im Februar 1914 mit zwei Matrosen, Linnikow und Pustoschny, auf Hundeschlitten zum Pol und starb am 5. März in der Nähe des Rudolph-Landes. Die Arbeiten der Expedition wurden durch Kohlenmangel stark beeinträchtigt. Die Kohlenvorräte waren bereits in der ersten Navigationsperiode verbraucht und die Expeditionsteilnehmer gezwungen, Treibholz zu sammeln und schließlich die Holzteile des Schiffes unter den Kesseln zu verfeuern. 2 Die englische Expedition Frederick Jacksons erforschte in den Jahren 1894-1897 von Kap Flora aus, wo sie ihren festen Standort hatte, den westlichen und nordwestlichen Teil des Franz-Joseph-Landes. Anfangs beabsichtigte 323
Jackson, den Nordpol mit Ponygespannen auf dem Landwege zu erreichen. Er stützte sich dabei auf die damals weit verbreitete Hypothese über das angebliche Petermann- und Oskar-Land, die sich vom Franz-JosephArchipel weithin nach Norden erstreckten sollten. Der Urheber dieser Hypothese war Julius Paier, einer der Leiter der österreichischen Polarexpedition auf dem Schiff »Tegetthoff«, der im Spätsommer des Jahres 1873 zufällig den Archipel entdeckte und ihm den Namen Franz-JosephLand gab. Dies geschah drei Jahre später, nachdem der russische Geograph P. A. Kropotkin auf Grund der Analyse der Eisdrift im Polarbecken dieses Land theoretisch entdeckt hatte. 3 Die hydrographische Expedition zur Erforschung des Nördlichen Eismeeres wurde im Jahre 1910 gegründet. Im Laufe von fünf Jahren (bis 1915) hatte sie auf den eigens dazu erbauten Eisbrechern »Taimyr« und »Waigatsch« zahlreiche Fahrten ins Eismeer unternommen und fast alle nördlichen Küsten Russlands auf der Karte eingetragen. Im September 1913 wurde der große arktische Archipel Sewernaja Semlja von ihr entdeckt. 4 Der Schoner »St. Anna« (241 Bruttoregistertonnen) war im Jahre 1867 in England eigens für Fahrten in Polargewässern erbaut worden. Die Länge des Schiffes betrug 146 Fuß, die Breite 25 Fuß, die Tiefe des Laderaumes 12 Fuß, die Leistung der Dampfmaschine 41 PS. Unter Dampf entwickelte das Fahrzeug eine Geschwindigkeit von 51/2 Knoten. Ursprünglich diente es als 324
Patrouillenschiff »Newport«, dann wurde es nacheinander in »Pandora II«, »Blancathra« und schließlich in »St. Anna« umbenannt. 5 Die Expedition des russischen Polarforschers und Geologen Wladimir Alexandrowitsch Russanow auf dem Schiff »Herkules« erforschte im Sommer 1912 die Steinkohlenvorkommen auf Spitzbergen. Nach Beendigung der Arbeiten fuhr die Expedition nach Osten, um durch die so genannte Nord-Ost-Passage in den Stillen Ozean zu gelangen, ging jedoch unterwegs mit der ganzen Besatzung zu Grunde. 6 Das Dampfschiff »Varna« mit der holländischen Expedition des Ersten Internationalen Polarjahres an Bord, mit Kurs auf die Insel Dickson, und das Dampfschiff »Dymphna« mit einer dänischen Expedition, mit Kurs auf Kap Tscheljuskin, wurden im September 1882 im Karischen Meere von driftenden Eismassen eingeschlossen. Im Sommer des darauf folgenden Jahres wurde die »Varna« zerdrückt. Ihre Besatzung gelangte über das Eis nach Nowaja Semlja. Der »Dymphna« jedoch gelang es etwas später, sich mit eigener Kraft aus dem Eise zu befreien. 7 Der norwegische Polarforscher Fridtjof Nansen erforschte in den Jahren 1893-1896 mit der »Fram«, einem Fahrzeug besonderer Konstruktion, die zentralen Gebiete des Polarbeckens. Nach dem von Nansen vorgefassten Plan 325
fror die »Fram« vor den Neusibirischen Inseln im Eise ein und begann zusammen mit den Eismassen die Drift in nordwestlicher Richtung. Im März 1895 verließ Nansen mit einem anderen Expeditionsmitglied, Johansen, das Schiff und begab sich zum Nordpol. Auf 86° 14' nördlicher Breite waren die Forscher gezwungen, 420 Kilometer vor dem Pol nach Süden umzukehren. Nach einer fünfmonatigen Irrwanderung über driftendes Eis erreichten sie das Franz-Joseph-Land und überwinterten dort in einer aus Steinblöcken und Walrosshäuten erbauten Hütte. Im darauf folgenden Sommer setzten sie ihren Weg nach Süden fort und trafen auf Kap Flora mit der Expedition F. Jacksons zusammen (siehe Anmerkung 2). Die »Fram« jedoch setzte ihre Drift durch das Polarbecken fort, befreite sich im Sommer 1896 aus dem Eis und traf fast gleichzeitig mit Nansen in Norwegen ein. 8 Konstante Strömung (Meeresströmung), verläuft jahraus, jahrein im Durchschnitt in einer Richtung, wobei sie stets an den gleichen Stellen die mittlere Geschwindigkeit und die Masse bewahrt. Man hat festgestellt, dass die mittlere Geschwindigkeit der konstanten Strömung des Nördlichen Eismeeres, die von den Küsten Eurasiens in die Grönlandsee verläuft, eine bis vier bis Seemeilen innerhalb von vierundzwanzig Stunden beträgt. Sie nimmt an Geschwindigkeit zu, je näher man an Grönland herankommt, wo die so genannte Ostgrönländische Strömung bereits eine Geschwindigkeit von zehn bis zwanzig Seemeilen in der Stunde erreicht. Die Drift der »St. Anna« im Karischen Meer nach Norden war durch die hier 326
wirkende Strömung verursacht worden, die heute unter dem Namen »Annaströmung« bekannt ist und einen der Ausläufer der so genannten Ob-Jenissej-Strömung darstellt. 9 Dr. Kogan stand im Jahre 1915 an der Spitze einer Suchexpedition an Bord des Dampfers »Hertha«. Der Expeditionsleiter auf der »Andromeda« war der Kapitän des Schiffes, G. I. Pospelow. 10 Die »Jeannette«, das Schiff der amerikanischen Nordpolexpedition unter der Leitung von George De Long, wurde im September 1879 vor der Wrangel-Insel im Eis eingeschlossen und begann seine 21-monatige Drift in nordöstlicher Richtung. Im Juni 1881 wurde es auf 77° 15' nördlicher Breite und 154° 59' östlicher Länge vom Eis zerdrückt. Die Besatzung begab sich zu Fuß über das Eis zu den nächstliegenden Neu-Sibirischen Inseln und von dort auf das Festland zur Lenamündung. Hier erlitt eine Gruppe der Expeditionsteilnehmer, darunter auch der Kapitän De Long, den Tod durch Hunger und Erschöpfung. Die übrige Besatzung wurde von Jakuten gerettet. Drei Jahre nach dem Untergang der »Jeannette« wurden an der Küste Südgrönlands einige Gegenstände gefunden, die den Gefährten von De Long gehört hatten. Der Fund brachte die Polarwissenschaftler auf den Gedanken, dass eine ständige Eisdrift von der sibirischen Küste aus durch das Polarbecken in die Grönlandsee und weiter südwärts in den Atlantischen Ozean vorhanden sein müsse. Diesen
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Gedanken machte sich F. Nansen zu Nutze, als er seine Expedition auf der »Fram« unternahm. 11 Der schwedische Ingenieur Salomon August Andree unternahm im Juni 1897 gemeinsam mit dem Physiker Strindberg und dem Techniker Frenkel den Versuch, den Nordpol mit einem Ballon zu erreichen. Die Aeronautiker starteten in der Bucht Virgo (an der nordwestlichen Küste Spitzbergens) und waren am dritten Tage gezwungen, auf dem Eise zu landen. Nach einer zweimonatigen außerordentlich schweren Wanderung über das Eis erreichte die Gruppe die Weiße Insel (östlich von Spitzbergen) und fand dort den Tod. Die sterblichen Überreste Andrees und seiner Gefährten wurden erst im Jahre 1930 zufällig aufgefunden. 12 Die italienische Expedition des Herzogs der Abruzzen auf dem Schiff »Stella Polare« führte in den Jahren 18991901 auf dem Franz-Joseph-Land Forschungsarbeiten durch und erbaute auf der nördlichsten Insel des Archipels – dem Rudolph-Land – eine Station. Von hier aus versuchte sie, zum Nordpol zu gelangen. Neue geographische Entdeckungen sind von ihr nicht gemacht worden, doch während der Reise der Nordpolabteilung wurde bewiesen, dass das Petermann-Land in Wirklichkeit gar nicht existiert. Von dieser Tatsache hatte in Russland nur ein beschränkter Kreis von Personen Kenntnis, deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass weder Brussilow noch Albanow etwas davon wussten.
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Unter dem Namen der Ziegler-Fiala-Expedition ist ein Unternehmen bekannt, das von dem amerikanischen Millionär Ziegler ausgerüstet worden war, und an dessen Spitze der Fotograf Fiala stand. Im Jahre 1903 versuchte diese Expedition ebenfalls, vom Rudolph-Land aus auf Pony- und Hundegespannen den Pol zu erreichen. Der Versuch misslang. 13 V. I. Albanow meint das bekannte zweibändige Werk F. Nansens »In Nacht und Eis«, in dem die Drift der »Fram« und Nansens und Johansens Reise zum Franz-Joseph-Land beschrieben werden. 14 V. I. Albanow meint die Aufzeichnungen Nansens vom 10. August 1895, dem Tage der Entdeckung einer Inselgruppe, die von ihm »Hvidtenland« (Weißes Land) benannt wurde. Nansen schreibt: »Zwischen den Inseln und soweit wir nach Südosten und Osten sehen konnten, war die See mit vollständig flachem Buchteneis bedeckt, doch war in dieser Richtung kein Land zu erkennen. Eisberge waren hier nicht zu sehen.« (F. Nansen, In Nacht und Eis, F. A. Brockhaus, Leipzig 1897, Bd. II, S. 195.) 15 V. I. Albanow erwähnt die Aufzeichnung Nansens vom 24. Juli 1895: »Am 23. Juli entdeckte ich noch ein neues Land westlich von uns. Es lag wie ein Schild da, regelmäßig gewölbt … (Später ergab sich, dass dies Kronprinz-Rudolph-Land sein musste.)« (F. Nansen, In
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Nacht und Eis, F. A. Brockhaus, Leipzig 1897, Bd. II, S. 178.) 16 V. I. Albanow spricht hier von den vier russischen Pomoren aus Mesen: dem Steuermann Alexej Chimkow und den Matrosen Iwan Chimkow, Stepan Scharapow und Fjodor Werigin. Durch einen Sturm zur Insel Edge (Kleiner Berun) im östlichen Teil Spitzbergens (Grumants) verschlagen, verloren hier die Seefahrer ihr Schiff und lebten von 1743 bis 1749 sechs Jahre und drei Monate lang auf der Insel. Nur einer von ihnen, Werigin, starb im sechsten Jahr ihres dortigen Aufenthalts. 17 Die Motoryacht »Eira« des schottischen Amateurforschers Leigh Smith wurde im Sommer 1881 bei Kap Flora vom Eis zerdrückt. Nachdem die Expeditionsteilnehmer in einer aus Steinen und Trümmern der »Eira« erbauten Hütte überwintert hatten, erreichten sie auf Rettungsbooten Nowaja Semlja. Auf der Insel Bell befindet sich noch eine von Leigh Smith errichtete Hütte. 18 Kurz etwas über das weitere Schicksal A. E. Konrads: Nach der Rückkehr von der Expedition diente er zusammen mit Albanow eine Zeit lang auf dem Eisbrecher »Kanada« (heute »Litke«). Nach Errichtung der Sowjetmacht fuhr er weiter auf Handelsschiffen. Er starb im Jahre 1940 in Leningrad. 330
Glossar Hodometer Gerät zur Messung der zurückgelegten Strecke, das aus einem Fahrrad und dem daran befestigten Umdrehungszähler besteht. Albanow benutzte für das Hodometer den Zähler des mechanischen Logs. Maliza Pelzoberbekleidung aus Hunde- oder Rentierfellen in der Art eines Hemdes mit Kapuze. Sie wird mit dem Fell nach innen getragen und ist außen mit Stoff bezogen. Schlammeis Lockere Eisstücke, die sich gewöhnlich aus dem durch Wind und Strömungen verdichteten Speck bilden. Sowik Der Maliza ähnliche Kleidung aus Rentierfell, die man mit dem Fell nach außen trägt. Sie wird über die Maliza gezogen und ist für lange Fahrten bei starkem Frost bestimmt. Speck Dünne Eiskruste, die die Meeresoberfläche mit matten Flecken oder Streifen bedeckt und die beginnende Eisbildung anzeigt.
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Längen-, Maß- und Temperatureinheiten 1 Faden = 1,829 m 1° Reaumur = 1,25° Celsius 1 Pud = 16,38 kg 1 Zoll = 0,0254 m 1 Fuß = 12 Zoll = 0,3048 m 1 Werst = 1066,80 m
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Über den Autor Valerian Iwanowitsch Albanow wurde 1881 in der Stadt Woronesch geboren, knapp fünfhundert Kilometer südlich von Moskau, nahe am Don in Zentralrussland. Sein Vater war Tierarzt und starb, als Albanow noch ein Kind war. Daher wurde der Junge von einem Onkel aufgezogen, der in Ufa lebte, einer Hafenstadt am Fluss Bjelaja im südwestlichen Ural. Von Kindheit an war Albanow von Seefahrergeschichten fasziniert, und sein erstes Abenteuer zur See bestand er noch als Schuljunge, doch er musste nach Hause zurückkehren, als sein kleines Boot sank. Sein Onkel hatte zwar eine Ingenieurslaufbahn für ihn vorgesehen, Albanow aber war entschlossen, Seefahrer zu werden, und mit siebzehn ging er auf die Seefahrtsschule in St. Petersburg. Während der vier Jahre, die er dort studierte, verdiente er seinen Lebensunterhalt mit dem Bau von Modellschiffen. Nach seinem Abschluss im Jahre 1904 lernte Albanow auf verschiedenen Schiffen auf der Ostsee, bevor er nach Krasnojarsk in Zentralsibirien reiste und dort als Erster Offizier auf dem Dampfer »Ob« den Jenissej bis zur Karasee hinauffuhr. Von 1909 bis 1911 unternahm er auf dem Dampfschiff »Kildin« zahlreiche Reisen zwischen Archangelsk und britischen Häfen. 1912 heuerte Albanow dann als Steuermann auf dem Schoner »St. Anna« an. Kapitän war Georgi Brussilow, und man wollte durch die Nord-Ost-Passage nach Wladiwostok fahren – diese unglückliche Reise wurde vorher so lebendig geschildert. Nachdem Albanow und Alexander 333
Konrad sich den Weg in die Zivilisation zurück erkämpft und von der Notlage ihrer noch im Eis eingeschlossenen Schiffskameraden erzählt hatten, brachen mehrere Suchtrupps auf (einer wurde von dem erfahrenen Arktisforscher Otto Sverdrup) geleitet, aber man fand keine Spur von der »St. Anna«. Im Oktober 1914 lernte Albanow den Hydrographen Leonid Breitfuss kennen, der ihn überredete, einen Bericht über die Torturen zu verfassen, die er gerade ertragen hatte. Albanows Erinnerungen, die ursprünglich den Titel Südwärts nach Franz-Joseph-Land trugen, wurden 1917, kurz vor der Oktoberrevolution, in St. Petersburg veröffentlicht, als Anhang zu dem Bericht Anmerkungen zur Hydrographie. Darauf folgten verschiedene russische Ausgaben des Werkes unter den Titeln Zwischen Leben und Tod (1925), Verloren im Eis (1934 und 1978) und Die Leistungen des Steuermanns V. I. Albanow (1953). Das Buch wurde auch ins Deutsche übersetzt: Irrfahrten im Lande des weißen Todes, 1925, und später ins Französische unter dem Titel Im Land des Weißen Todes (Au pays de la mort blanche, 1928 und 1998). In jüngerer Zeit wurden Albanows unbekannte Briefe in der Zeitschrift Memoiren aus dem Norden (Letopis severa; Moskau 1985 (11), S. 174-181) abgedruckt. Obwohl Albanow nur mit knapper Not dem Tod entkommen war, fuhr er weiter zur See. Eine Weile tat er zusammen mit seinem früheren Kameraden Konrad Dienst auf der »Kanada«, einem Eisbrecher, der im Hafen von Archangelsk stationiert war. Nach einem kurzen Aufenthalt in einem Militärkrankenhaus in St. Petersburg unternahm er auch Fahrten von den Ostseehäfen Tallinn und Haapsalu 334
und von Krasnojarsk am Jenissej aus. Valerian Albanow starb im Herbst 1919. Einigen Berichten zufolge erlag er dem Typhus, andere Quellen geben an, er sei auf dem Weg durch die sibirische Stadt Achinsk umgekommen, als in einem Bahnhof ein mit Munition beladener Güterwagen explodierte. An Albanows dreizehntem Todestag würdigte der bekannte russische Gletscherforscher und Arktisentdecker Wladimir Vize ihn in der Zeitschrift Memoiren aus dem Norden (Letopis severa; Moskau, 1949 (1), S. 279-281): »Albanow verdankte sein Überleben seinen persönlichen Qualitäten: Tapferkeit, Energie und Willenskraft. […] Mit seiner fesselnden Dramatik und der faszinierenden Schlichtheit und Aufrichtigkeit gehört sein Buch zu den bedeutendsten Werken über die Arktis, die es in der russischen Literatur gibt.« (Aus dem Amerikanischen von Sabine Schulte)
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