T A S C H E N B Ü C H E R V O N J O N LAND BASTEI-LÜBBE-Programm:
13 135 Das Omega-Kommando 13 148 Der Rat der Zehn 13 ...
21 downloads
936 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
T A S C H E N B Ü C H E R V O N J O N LAND BASTEI-LÜBBE-Programm:
13 135 Das Omega-Kommando 13 148 Der Rat der Zehn 13 169 Das Vortex-Fiasko 13 186 Die Lucifer-Direktive 13 199 Der Alabaster-Agent
JONLAND
Im Labyrinth Des Todes
Polit-Thriller Gescannt von Zweier2
Prolog
Lübeck hielt sich das Fernglas vor die Augen. Der Schweiß auf seiner Stirn beschlug die Linsen, er mußte sie mit dem Ärmel sauberwischen. Die südamerikanische Sonne brannte ihm auf den bloßen Schädel. Er hatte das Gefühl, sein eigenes Fleisch unter der Hitze schmoren zu hören. Doch er konnte sich jetzt nicht damit befassen. Er preßte das Glas noch näher an die Augen. Er fragte sich, ob die Männer auf dem Truck ihn nicht ihrerseits ebenfalls durch Ferngläser beobachteten. Er drehte an der Scharfeinstellung. Es waren jetzt drei Trucks. Einer war offenbar aufgegeben worden, der sengenden Sonne überlassen. Die Soldaten dieses Trucks waren offenbar auf die beiden anderen verteilt worden und zwängten sich zusätzlich auf die Ladefläche. Das ganze Kommando war aber noch genau das gleiche wie in Florencia. Die Männer hatten die Gewehre über den Schultern hängen, ließen Zigaretten durch die Reihe wandern und tranken ab und zu einen Schluck Wasser. Lübeck fuhr sich instinktiv mit der Zunge über seinen ausgedörrten Gaumen und faßte nach seiner Feldflasche. Er hatte nur noch wenig kostbares Wasser übrig und durfte nichts davon in einer plötzlichen Laune vergeuden. Auch wenn die Soldaten dort unten sich ganze Kanister voll in den Mund laufen ließen und es dann wieder neben ihre Kampfstiefel ausspuckten. Lübeck lief ein Schauer über den ganzen Körper. Es war ein Wunder, daß er sie überhaupt gefunden hatte. Sein Jeep war vor etwa zehn Meilen stehengeblieben. Nur mit einem Querfeldein-Gewaltmarsch ohne Rast und Pause war es ihm überhaupt gelungen, dem Konvoi auf den Fersen zu bleiben. Wenn
auch nur auf Kosten schlimm schmerzender, wundgelaufener Füße, und fast totaler Hitzeerschöpfung. Er wußte immerhin, daß er noch immer in Kolumbien war, wenn auch weit unten in jenem schmalen Zipfel des Dreiländerecks, unweit des Flusses Putumayo, wo das Land an Peru und Brasilien grenzte. Unklar war nur, was ein bewaffneter Konvoi, der kein bestimmtes Land vertrat, hier zu suchen hatte. Es ergab keinen Sinn und war allenfalls ein weiteres Puzzleteil einer Geschichte, die bisher nur aus solchen Fragmenten bestand. Einer der Männer dort unten schien zu ihm heraufzublicken. Lübeck kauerte sich auf seine Ellbogen nieder und preßte das Fernglas eng an die Augen — mit seiner rechten Hand und mit dem Stahlgreifer, der die linke Hand ersetzte. Er staunte immer wieder, was man mit diesem Ding alles anstellen konnte. Ein Wunder der modernen Wissenschaft und Technik . . . Der Unfall hatte ihn von Nam ferngehalten, nicht aber vom Nachrichtendienst und aus der Branche. Im Gegenteil, er wurde der Beste, weil man ihn ständig unterschätzte und nur bemitleidete. Von ihm erwartete man eben nur, er solle - und werde - das Los eines Krüppels tragen. Aber er selbst hatte hatte sich nie als Krüppel gefühlt. Falls er daran überhaupt dachte, dann war für ihn seine Prothesenhand eine Zusatzausrüstung. Wenn er den Greifer schloß, war dieser auch als tödliche Waffe zu benutzen — eine, die immer verfügbar und stets bereit war. Immer. Er erinnerte sich an das erste Mal, da er sie benutzt hatte, vor fast fünfzehn Jahren . . . In Brüssel. Er hatte in einer Bar mit einem Ostagenten zusammengesessen, um Überlaufbedingungen auszuhandeln. Der Mann war hervorragend im Gebrauch von Schußwaffen gewesen, einer der besten. Die Unterhaltung war nicht gut verlaufen. Sie fanden nicht den rechten Umgangston, und der Zeitpunkt war ebenfalls nicht gut gewählt. Noch ehe des Mannes Augen frostig wurden und sein berühmtes blitzartiges Ziehen ankündigten, spürte Lübeck, das sich etwas vorbereitete. Und seine Handzange war dem anderen im Bruchteil einer Sekunde, ehe dessen Hand am Schulterhalfter war, ins Gesicht gefahren. Der Zangengreifer schnitt durch Fleisch wie durch Butter. Lübeck wurde mit ihm zum wahren Meister im Nahkampf. Pistolen, Messer, Hände — seinem Zangengreifer war nichts ebenbürtig. Er hatte keine Gelegenheit mehr, sich auch den verfluchten Vorfall noch einmal in Erinnerung zu rufen, dem er diese eiserne Hand überhaupt zu verdanken hatte. Die Männer auf den Trucks erforderten wieder seine volle Aufmerksamkeit. Sie bestiegen alle wieder die beiden Wagen, und die Fahrer hatten einige Mühe, bis diese ansprangen. Die auf zwei Fahrzeuge zusammengeschrumpfte Kolonne fuhr weiter. Die Straße war so eng, das die Lastwagen nur langsam vorankamen. Lübeck konnte im Laufschritt fast das Tempo mithalten. In der gnadenlosen Hitze ermüdete er freilich rasch. Er trank etwas Wasser und beschränkte sich darauf, so schnell zu bleiben, daß er sie wenigstens nicht außer Sicht verlor, bis sie am Ziel waren. Die ganze Sache hatte in London mit einem Routineauftrag begonnen, der ihn geärgert hatte, weil er so unglaublich banal erschien. Wenn man einmal Lübecks Level erreicht hatte, konnten einem die Vorgesetzten nicht mehr gut Kleinkram zumuten. Sie hatten einen wenigstens sorgsam und mit Samthandschuhen auf das Unvermeidliche vorzubereiten, ehe es so weit war. Einfach in Pension geschickt zu werden, das gab es sowieso nicht. Statt eine goldene Uhr zu bekommen, wurde man eben Stationschef in einem angenehmen tropischen Land, wo es viel Rum gab und wo man für niemanden erreichbar war und auch selbst niemanden zu fassen bekam. Für Lübeck war London der Beginn eines ruhigeren Lebens gewesen. Das Problem war nur, das er nicht davon überzeugt war, es sei wirklich schon so weit für ihn. Mit anderen Worten, er mußte etwas beweisen. Dann war dieser kolumbianische Diplomat mit seiner unglaublichen Geschichte aufgetaucht. Lübeck hatte ein wenig zu forschen und zu stochern angefangen und war auf eine Spur mit manchen Sackgassen und Umleitungen geraten, und der einzige Wegweiser war nichts als ein Stichwort, das keinerlei Anhaltspunkte bot: TANTALUS. Er hätte sich zum Gespött der ganzen Abteilung gemacht, hätte er zu diesem Zeitpunkt bereits die Reserven mobilisiert, über die er verfügen konnte. Also folgte er allein und auf eigene Faust dieser seltsamen Spur, die nach Südamerika und zu Truppenkonvoi mit achtzig vollausgerüsteten Kampfsoldaten. Er hatte sie in Bogota aufgespürt und war ihnen dann in dem Jeep, der ihm vor wenigen Stunden unter dm Hintern verreckt war, quer durch ganz Kolumbien gefolgt. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis er wußte, was sie taten, und damit auch die anderen Puzzleteilchen richtig zusammenpaßten. Er spürte, das er der Antwort nahe war. Er wechselte sein Gepäckbündel von der linken auf die rechte Schulter. Zum Glück war das Radio aus der Station in Bogota klein, kompakt und mit Mikrochips gebaut. Er war dorthin gekommen, ohne ganz genau zu wissen, was er wollte. Der Stationschef hatte ihm aufmerksam zugehört, sich seine Bitten angehört und versprochen, in Bereitschaft zu bleiben. Dann hatte er sich wieder seinem Rum gewidmet. Die Trucks unten rumpelten langsam weiter über die schmale, schlechte Straße. Sie war so schlecht, das die Fahrer fast nur im Schrittempo fahren konnten. Das ermöglichte es Lübeck, wieder etwas aufzuschließen. Er hätte nun natürlich sein Radio benutzen können, wenn er seine Position gekannt hätte. Es war klar, daß es in dieser Gegend hier nur ein paar kleine, abgelegene, unbedeutende Städtchen und Orte gab, deren Bewohner vorwiegend Bauern waren, und die noch so gut wie im Mittelalter lebten. Wozu um Himmels willen, sollte irgendwer Truppen hierher schicken? Lübecks Nerven wurden allmählich empfindlich. Er wischte sich wieder über die schweißnasse Stirn. Aber sein Ärmel war bereits so nass, das es sinnlos war. Der Schweiß brannte ihm in den Augenwinkeln. Und in seiner Stahlgreifzange hämmerte der Phantomschmerz. Die Trucks verschwanden hinter einer Wegbiegung. Über ihm führte der Bergweg, auf dem er sich befand, in die andere Richtung, und das bedeutete, er mußte nach unten, um dort zuzusehen, das er dranblieb. Er beschleunigte seine Schritte etwas, um nach Möglichkeit zu sehen, wohin der Konvoi sich bewegte, bevor er einen falschen Schritt tat. Fünfzig Meter weiter holte er wieder das Glas hervor und hielt es allein mit seinem Greifer. Die Trucks hatten angehalten. Ein paar Männer, offenbar Offiziere, berieten sich. Ein verwitterter Wegweiser stand am Straßenrand: SAN SEBASTIAN. Das Holz war bereits morsch, die Schrift kaum noch lesbar, aber er konnte sie immerhin noch klar entziffern. Bestimmt eines dieser kleinen Bauernstädtchen. War dies etwa das Ziel der Soldaten? Aus der Stadt kam ihnen tatsächlich ein Jeep entgegengerumpelt. Drei Leute saßen darin. Lübeck richtete sein Fernglas auf sie. Der Fahrer war ein Soldat in der gleichen Uniform wie die Männer im Konvoi. Der Mann neben ihm allerdings schien bedeutender zu sein, obwohl er ebenfalls diese Uniform trug. Sein Haar war lang und gut geschnitten, sein Teint dunkel, die Augen schwarz und glänzend. Von ihm ging eine selbstverständliche Autorität aus, die selbst aus der Entfernung durch ein Glas sichtbar war.
Der Jeep blieb vor den Trucks stehen. Lübeck visierte mit dem Feldstecher nun den dritten Passagier an. Er erstarrte fast und fühlte sein Blut stocken. Der Mann stieg aus dem Fond des Jeeps aus und blieb dicht hinter dem dunkeläugigen Anführer. Er war ein Hüne von nahezu zwei Meter zehn und fast ebensoviel Umfang. Er trug einen weißen Anzug, der bei dieser Hitze von über vierzig Grad ziemlich übertrieben wirkte. Seine Augen standen eng beieinander und hatten einen mandelförmigen asiatischen Schnitt. Offensichtlich ein Orientale, auf jeden Fall Her größte, den Lübeck jemals gesehen hatte. Sein schwarzes Haar war glatt nach hinten gekämmt, die Haut war sehr braun. Chinese, vermutete Lübeck. Er trug einen kleinen Lippenbart über einem offenbar ständig leicht lächelnden Mund. Sie gingen zu zweit auf den Konvoiführer zu, man begrüßte sich mit einem Kopfnicken, aber es gab kein Händeschütteln oder Salutieren. Lübeck versuchte, etwas von den Lippen des Autoritären abzulesen, aber dazu waren sie doch zu weit entfernt. Die Offiziere hörten ihm aufmerksam zu und nickten zustimmend. Das Gespräch war nur kurz. Der Dunkeläugige ging alsbald zu seinem Jeep zurück. Die Offiziere bestiegen ihre Trucks wieder. Der Jeepfahrer stieß zurück und wendete, um dann den Konvoi in die Stadt zu führen. Die Trucks folgten. Hinten im zweiten Truck erkannte Lübeck, wie die Soldaten ihre Waffen überprüften. Eine Ahnung von Furcht überkam ihn, sogar froh darüber, denn sie warnte ihn, auf der Hut und spornte ihn zugleich an, nicht aufzugeben. Die Trucks fuhren wieder im Schrittempo. Er kletterte nach unten und hielt sich immer ein paar hundert Meter hinter ihnen. Er überlegte noch einmal, ob es nicht sinnvoll sei, über Radio Bogota zu rufen, aber er beschloß zu warten, bis er etwas Konkretes mitzuteilen haben würde. Er stieg auf der anderen Bergseite nach oben und hielt sich so zum Konvoi. Die Stadt San Sebastian kam in Sicht. Von staubigen, kaum asphaltierten Straßen stiegen Staubwolken auf und überzogen die Fenster der Häuser, die voller Sprünge waren, mit einer Schmutzschicht. Der Giebelturm einer Kirche ragte über der armseligen Stadt empor, und wenn der Wind durch den Turm blies und den Klöppel der kleinen Glocke bewegte, wehten dünne und leise Töne durch die Luft. Lübeck griff wieder nach seinem Glas. In den Straßen standen noch andere Militärtrucks. Uniformierte gingen, ihre Waffen offen und jederzeit anschlagbereit im Arm, hin und her und widmeten nun allmählich ihre ganze Aufmerksamkeit den Neuankömmlingen. Aber wo waren die eigentlichen Bewohner des Ortes? Lübecks Angst ließ nicht nach. Irgend etwas stimmte hier ganz und gar nicht. San Sebastian, ein einfacher kleiner Bauernort am Ende der Welt . . . Da ging doch etwas vor? Die ankommenden Trucks hielten. Die Soldaten sprangen von ihnen herunter und stellten sich in Gruppen auf. Der Dunkeläugige schrie ihnen auf spanisch Befehle zu. An Lübecks Ohr drangen noch genug Bruchstücke davon, daß er den Zusammenhang erfassen konnte. »Durchkämmt alle Häuser! Ich will sie alle leer haben. Alle, einschließlich Anbauten und Hütten! Jeder einzelne Raum ist zu durchsuchen! Los jetzt, bewegt euch, rasch!« Drei Viertel der Soldaten verteilten und entfernten sich. »Paßt auf Umherstreunende auf!« rief ihnen der Dunkeläugige noch nach und nickte einer anderen Gruppe zu, die sich nun in Richtung Kirche in Bewegung setzte. Lübeck ließ das Fernglas vor seiner Brust hängen und fing an zu laufen, um einen besseren Blickwinkel zu finden. Sein Mund war ausgetrocknet. So trocken, daß alles Wasser von ganz Kolumbien nicht hätte helfen können. Er hatte nun kaum noch einen Zweifel, worum es ging. Aber nach wie vor tappte er im dunkeln, was den Grund anging. Er blieb auf einem Hügel stehen, der sich auf gleicher Höhe mit der Kirche befand. Er war gerade noch hundert Meter davon entfernt. Eine Gruppe Soldaten begann große Silberkannen von den Trucks in den Jeep umzuladen. Als zehn Kannen im Jeep waren, raste der Jeep los. Ein Mann hinten machte sich an den Schnuten der Kannen zu schaffen. Lübeck richtete das Fernglas auf die Kirche. Sie leerte sich eben. Menschen, die praktisch ausnahmslos in schmutzigweißen Bauernanzügen steckten, strömten auf den Platz vor der Kirche. Die Soldaten trieben sie mit vorgehaltenen Gewehren zu einer dichtgedrängten Masse zusammen und hielten sie in Schach. Die Menge wurde immer größer. Lübeck sah kleine Kinder, die sich an ihre Mütter drängten, und Teenager, die sich mutig neben ihre Väter stellten. Alte Leute stolperten und fielen und wurden von den Soldaten brutal wieder hochgezerrt und weitergestoßen. Selbst aus seiner Entfernung konnte er ihre Bitten und Gebete um Hilfe noch vernehmen. Es gab viele, die knieten und die Hände zum Himmel emporhoben. Stöße mit Gewehrkolben brachten sie rasch zum Schweigen. Aber unablässig stieg aus der Menge und aus ihrem Gemurmel immer wieder weiter das eine Wort hervor: »Porque?« Warum? Aus allen Richtungen trieben Soldaten Leute herbei, die sich offenbar versteckt hatten oder fliehen wollten. Vielleicht waren sie auch einfach nur zu der allgemeinen Versammlung in der Kirche nicht erschienen. Jedenfalls wurden sie nun zu den anderen getrieben. Alle zusammen mochten mittlerweile etwa zweihundert sein, mindestens ein Drittel von ihnen Kinder. Die Soldaten trieben mit ihren Gewehren die Menschen noch enger zusammen, bis sie als Einzelwesen kaum noch erkennbar kaum noch atmen, geschweige sich bewegen Der Dunkeläugige rief nun wieder Befehle. Die Soldaten bildeten einen Halbkreis um die Menge und hoben ihre Gewehre. Die Menschen begannen zu schreien und zu wimmern, zu flehen, zu bitten, die Arme zum Himmel zu strecken oder mit ihnen zu rudern, um zu fliehen, obwohl es nicht den Hauch einer Chance für sie gab, zu entkommen. Und über das allgemeine Wehgeschrei hinweg schallte der Befehl »Feuer!« Lübeck wollte in diesem Augenblick nur sein Fernglas fallen und die Augen schließen. Aber er konnte nicht. Die feuerten direkt in die Menge, pausenlos, bis ihre rauchten und ihre Mündungsfeuer sich zu einem nicht enden wollenden Blitz vereinten. Die ersten Soldaten wechselten die Magazine aus. Das Feuer ging pausenlos weiter. Die Schreie der Menschen drangen an Lübecks Ohren. Er vermochte das Fernglas noch immer nicht abzusetzen. Die erste Reihe der Menschen war gefallen, der Platz war rot und weiß von ihren blutbespritzten und durchtränkten groben weißen Kleidern. Die nächste Reihe fiel, so weiter, bis die Toten am Ende übereinander auf einen Haufen fielen. Lübecks Stahlgreifer drückte sich durch das Gehäuse des Fernglases. Er beugte sich nach vorne und erbrach sich. Als er wieder auf den Platz hinuntersah, schien der eine einzige Blutlache zu sein. Vom Stapel der Toten kullerte ein kleiner Junge herunter und fiel in die Blutpfütze. Lübeck erbrach sich noch einmal. Auf dem Platz begannen die Soldaten damit, den Inhalt der Kannen, die auf den Jeep geladen worden waren, über die Leichen zu gießen. Inzwischen hatte Lübeck wieder in die Realität zurückgefunden. Das Massaker, das er hatte mitansehen
müssen, hatte das Seine dazu getan. Er griff sein Bündel und entfernte sich eiligst. Hundert Meter weiter am Hügel blieb er wieder stehen, wenn es auch nach seinem Geschmack immer noch zu nahe bei der Stadt war. Er mußte dies melden. Doch was und wie genau? Die Station in Bogota konnte unmöglich so rasch reagieren, das es noch irgend etwas nützte oder bewirkte. Zeit war also nicht das Problem. Seine rechte Hand zitterte. Und sein Stahlgreifer links, bemerkte er, ebenfalls. Er hielt das beschädigte Fernglas wieder an die Augen. Jenseits auf der anderen Bergseite blitzte kurz etwas auf. Irgend etwas Metallisches in der Sonne. Offenbar noch jemand, der Zeuge des Massakers geworden war. Wer konnte das wohl sein? Dann sah er die Jeeps mit den Silberkannen. Sie rasten sternförmig in alle Richtungen. Je ein Mann ließ den Inhalt einer Kanne nach hinten auslaufen. Eine klare Flüssigkeit, die in den Boden sickerte. Das Land! Zur gottverdammten . . . »O Gott!« murmelte Lübeck. Das durfte doch nicht wahr sein. Er zerrte sein Radio aus dem Bündel, ging auf die richtige Frequenz, zog die Antenne aus und hielt sich das Gerät vor den Mund. »Hallo, Station Bogota, bitte melden.« Er bemühte sich, das Gerät ruhig zu halten. »Hier Feldmaus. Hören Sie mich, Station Bogota?« »Wir hören Sie, Feldmaus«, kam eine Männerstimme durch ein ziemlich kräftiges Rauschen. »Aber mit Störungen. Können Sie besser einstellen?« »Negativ«, brüllte Lübeck halb in seiner Atemlosigkeit. »Keine Zeit. Hört nur zu. Nehmt ihr das auf?« »Positiv, Feldmaus, wir nehmen grundsätzlich alle Übermittlungen auf Band. Das ist Standardprozedur . . .« »Steckt euch euren Standard in den Arsch! Quatscht mir hier nicht die Hucke voll, sondern hört zu. Ich bin in San Sebastian. Die ganze Stadt ist ausgelöscht worden.« In der Stadt unten waren andere Soldaten inzwischen dabei, auch die Häuser innen und außen mit der Flüssigkeit zu überschütten. »Alle sind tot, ein Massaker . . ,« »Hallo, Feldmaus, sagten Sie tatsächlich . . .« »Halten Sie die Schnauze, Mann, und hören Sie einfach nur zu, was ich sage! Ich habe jetzt keine Zeit für einen ausführlichen Bericht. Aber ich glaube, ich weiß, warum die Stadt ausgelöscht worden ist.« Lübeck griff mit dem Greifer wieder nach dem Fernglas und hielt es sich vor die Augen, so gut es ging. Es war klar, das sie die ganze Stadt auch noch niederbrennen würden, und das ganze Land rundherum. Und sie hatten in der Tat gute Gründe dafür. »Übermitteln Sie meine Botschaft unverzüglich nach Washington. Aber entsprechend codiert. Benützen Sie den Gammakanal. Sagen Sie ihnen, das ich die ganzen Einzelheiten nachliefere, sobald es mir möglich ist.« »Bestätigt.« Lübeck schwenkte mit dem Fernglas sein Blickfeld ab. Ja, langsam kam Licht in die Sache. »San Sebastian war eine kleine Bauernstadt. Ich kann von hier aus die ganzen Felder rings um sie herum sehen. Es sieht so aus . . .« aber dann wurde sein Blick starr. Er versuchte das Glas wieder scharf einzustellen, aber mit dem Greifer schaffte er es nicht. »O Gott!« keuchte er in das Funkgerät. »Das kann nicht sein! Das kann nicht sein! Ich sehe direkt auf . . .« Er spürte, das jemand hinter ihm war. Er spürte es gerade noch rechtzeitig, um sich zu ducken. Aber nicht mehr rechtzeitig genug, um dem Schlag ganz ausweichen zu können. Dieser traf ihn noch am Schlüsselbein, das buchstäblich krachend und splitternd brach. Er schrie vor Schmerz auf und fiel zur Seite. Das Funkgerät fiel ihm aus der Hand. »Hallo, Feldmaus, hören Sie? Hören Sie, Feldmaus? Was ist bei Ihnen los?« Lübeck blickte mitten in das grinsende Gesicht des asiatischen Hünen in Weiß. Ganz zweifellos ein Chinese, dachte er. Als wäre das jetzt noch wichtig. Der Riese kam unbewaffnet auf ihn zu und hielt es offensichtlich nicht für nötig, besonders vorsichtig zu sein. Lübeck taumelte wieder auf die Füße, blieb aber in gebückter Haltung, um den Schlüsselbeinschmerz nicht zu vergrößern. Der Riese wollte ihn mit bloßen Händen erledigen. Sehr gut. Schließlich hatte Lübeck seinen Greifer. Er hielt ihn unten und noch auf dem Rücken, damit der Hüne ihn nicht sehen konnte. Wenn er ihn dann sah, war es zu spät, und der Greifer hatte ihm bereits die ganze Seite aufgeschlitzt, so leicht wie das Sperrholz, an dem Lübeck zu üben pflegte. Er beugte sich noch weiter vor, wich etwas zurück, alles, um sich selbst als leichtes Ziel anzubieten. Und der Riese kam mit ruhigen, gleichmäßigen Schritten. Lübeck lockte ihn durch seine Haltung noch weiter heran, täuschte ein Stolpern vor und hielt seinen Greifer bereit. Der Riese war nun in Reichweite und griff nach ihm. Aber Lübeck stieß blitzschnell und überraschend seine Greiferhand nach vorne. Er zielte auf den Leib, wollte aber, wenn dieser sich duckte, dem Chinesen an die Kehle. Der grinste noch immer, als ihn der Stahlgreifer traf. Lübeck fühlte, wie er auf etwas stieß und hielt es zuerst für eine Täuschung, weil der Greifer normalerweise so rasch durch Fleisch drang. Aber seine Stahlzange war in gar nichts eingedrungen. Sein ganzer Körper zitterte von dem Abprall wie von Eisen. Sein Stahlgreifer war auf etwas noch Härteres getroffen. Er versuchte noch einmal, den Leib des Chinesen zu treffen, aber sein Schlag war diesmal nur halbherzig und prallte wieder einfach ab. Als er den Greifer zurückzog, ergriff der Riese ihn und drehte ihn herum. Die Prothese riß ab und der Schmerz war so heftig, wie Lübeck es nie für möglich gehalten hatte. Seine Zähne bissen sich durch die eigene Zunge, und im Nu war sein Mund voller Blut. Die ganze Welt verschwand hinter einem Schleier, und er nahm nur noch entfernt wahr, wie die Faust des chinesischen Riesen auf seine Nase krachte, deren Splitter sich in sein Gehirn bohrten. Das Letzte, was er sah, war das grinsende Gesicht des Riesen. »Hallo, Feldmaus, melden Sie sich!« krächzte es fortwährend aus dem Lautsprecher über das Frequenzrauschen hinweg. »Hallo, Feldmaus . . .« Der Riese zerquetschte das Funkgerät mit der Ferse wie ein Insekt. Unten begannen die Flammen das tote San Sebastian zu verbrennen.
Erster Teil Washington Montag Nachmittag Brian Charney stellte seinen Chivas Regal on the Rocks auf dem Kaffeetisch ab, ohne sich um den Untersetzer zu kümmern. Er lehnte sich von seinem Sitz auf der Couch nach vorne und fingerte am Kassettengerät herum. Diese Kassette war der Grund für den Tod eines Mannes und wahrscheinlich Anlaß für «den Tod eines weiteren Menschen. Charney war an diesem Todesurteil beteiligt, und daran änderte auch der Whisky nichts, wie sanft und glatt er auch durch die Kehle rann. Charney trank ihn trotzdem aus. Er war zu Fuß vom State Department in sein Apartment in dem Mietshaus aus braunem Sandstein zurückgekehrt. Er hatte sich gedacht, der Spaziergang würde ihm vielleicht zu einem klaren Kopf verhelfen. Tatsächlich war alles nur noch wirrer geworden. Zu Hause hatte er nur ein Licht eingeschaltet und die Jalousien zugezogen gelassen, damit die helle Frühlingssonne nicht hereindrang. Das schummrige Dämmerlicht war ihm lieber, auch wenn dadurch die Wohnung nicht so zur Geltung kam. Sie war teuer und erlesen eingerichtet. Charney mochte das Haus in Arlington zwar viel lieber, aber das war bei den Scheidungsvereinbarungen Karen und den beiden Jungen zugefallen. Die sah er jedes zweite Wochenende. Manchmal jedenfalls. Er goß sich noch einen ein und rekapitulierte den Tag noch einmal. Von den zwei besten Freunden, die er je gehabt hatte, war einer tot und der andere sollte ihm folgen, das war beschlossene Sache. Charney war früh nach Hause gekommen, weil ihm sein Job alles bedeutete, und weil sein Job eben dies verlangt hatte. Verdammt, wie er diesen Job haßte! Doch er wußte, ohne ihn war er verloren. Er hatte am Morgen lediglich zehn Minuten im Vorzimmer von Unterstaatssekretär Calvin Roy warten müssen, ehe er hineingebeten wurde. Roy war sein direkter Vorgesetzter in Geheimdienstangelegenheiten. »Ich hoffe, es ist wirklich wichtig«, sagte er in seinem typischen Südstaatenakzent, während er Charney den üblichen Besucherstuhl anbot. »Das ist es«, versicherte Charney. »Junge, ich habe einen Haufen Termine für Sie abgesagt, und ein paar Leute, die deswegen von weit her gekommen sind, werden darüber ziemlich sauer sein. Also.« »Auch das hier kommt von weit her.« Er reichte ihm das Band. Roy richtete sich leicht in seinem Stuhl auf, um es sich anzusehen. Er war ziemlich klein, wurde schon kahl und hatte ein dünnes Lächeln, Ausdruck eines unverbindlichen, oftmals zynischen Verhältnisses zu seiner Position und zur Politik im allgemeinen, umspielte seine Lippen. Mehr als seine jetzige Stellung würde er wohl nie erreichen, und offenbar legte er es auch gar nicht darauf an. Hinter den Kulissen zu arbeiten, reichte ihm völlig. Es gab ihm Platz zum Atmen und zum Manövrieren. Er war Texaner, im Wohlstand aufgewachsen, doch anspruchslos, fast sauertöpfisch. Sein besonderer Vorzug war, daß er niemandem irgend etwas schuldete und niemandem verpflichtet war - selten genug in Washington. Das machte ihn zu einem Mann, der gleichermaßen respektiert und gemieden wurde. Er brauchte keinerlei Rücksichten zu nehmen, deshalb war es ihm auch egal, ob er jemandem auf die Zehen trat, selbst wenn er sie dabei zerquetschte. »Auf dem Band ist Alvin Lübecks letzter Bericht«, sagte Charney, und schob die Kassette in das Abspielgerät auf dem Schreibtisch des Unterstaatssekretärs. »Zwar recht unvollständig, aber trotzdem hochinteressant.« Er schaltete ein. Lübecks Stimme wurde hörbar, überlagert vom atmosphärischen Rauschen. Seine Angst und die Panik bei seinen letzten Worten, waren unüberhörbar. San Sebastian war eine kleine Bauernstadt. Ich kann von hier aus die ganzen Felder rings um sie herum sehen. Es sieht so aus — o Gott . . .! Das kann nicht sein! Ich sehe direkt auf. . . Charney schaltete ab. Roys Gesicht hatte sich verdüstert. »Wenn Sie mir vielleicht sagen möchten, wo San Sebastian ist?« »In der südöstlichsten Ecke Kolumbiens.« »Lübeck hat dies also an die Station Bogota übermittelt? Haben die dort jemanden nach ihm suchen lassen?« »Ja. Aber der Suchtrupp kam gar nicht bis San Sebastian, nicht mal in die Nähe. Die ganze Gegend ist ein einziger Brand. Sie beten um Regen.« Roy sagte kühl: »Was Lübeck auch immer gesehen hat, es existiert nicht mehr.« »So ist es«, sagte Charney. »Und was schließen Sie daraus, Junge?« »Das jemand das Feuer absichtlich gelegt hat, um etwas zu vertuschen. Und das Lübeck aus demselben Grund aus dem Verkehr gezogen wurde.« »Das hat Lübeck aber zweifellos nicht so einfach mit sich geschehen lassen, oder? Wie kommt es, das er Gast bei dieser Riesengrillparty in einem südamerikanischen Pissland war?« »Er hat von London aus eine Spur verfolgt.« »Was für 'ne Spur?« »Wir hatten ihn beauftragt, sich auf der Welthungerkonferenz etwas umzutun. Sie soll in zwei Wochen in Genf beginnen.«
Roy zog die Stirn in Falten. »Ein Auftragsjob, oder?« »Nun ja, seine beste Zeit lag hinter ihm«, sagte Charney schmerzlich. »Wir wollten ihn auf die sanfte Tour pensionieren, aber er tat, als merkte er es nicht.« »Und war offenbar entschlossen, es euch zu zeigen? Und offenbar hat er es euch auch gezeigt? Weiht mich mal in die Feinheiten eurer Personalpolitik ein.« Dann schüttelte er den Kopf und wurde wieder ernst. »Was zum Teufel hat er dort entdeckt, was so wichtig war, das deswegen gleich eine ganze Stadt ausgerottet wurde? Hat er noch mehr berichtet?« Charney verneinte. »Dies hier war das Erste und Letzte, was wir offiziell von ihm hörten. Er wollte wohl erst ganz sicher sein, ehe er berichtete. Und wenn er hinter einem dicken Hund her war, wollte er bestimmt verhindern, das wir ihn abzogen oder ihm die Kavallerie hinterherschickten.« »Scheint eine Sache zu sein, die mächtig zum Himmel stinkt, wie?« sagte der Unterstaatssekretär. Dann wurde sein Blick ernst. »Junge, wir müssen rausfinden, was er da unten gesehen hat und was er wußte.« Charney nickte. »Nun sind Sie damit aber nicht nach Langley gegangen, sondern zu mir gekommen. Muß doch 'n Grund haben!« »Lübeck hat bei diesem Auftrag nicht in offizieller Mission gehandelt. Ich dachte, Sie sollten das als erster erfahren, Sir.« »Komm, Junge, komm, komm. Kommen Sie mir nicht mit solchem Scheiß.« Charney holte tief Luft. »Nun ja, ich bin der Meinung, Langley ist nicht die richtige Adresse für diese Geschichte. Ich dachte, die ganzen Dreibuchstabenleute sollten da vorerst rausgehalten werden.« »CIA, NSA, et cetera. Muß 'n Grund haben, oder?« »'n ganzen Haufen Gründe. Erstens rühren wir noch mit der Stange im Nebel mm, so das ich nicht wüßte, wo wir offiziell anfangen sollten. Wir setzen die Firma oder die NSA auf Lübecks Spur an, und auf einmal ist da keine Spur mehr. Ist doch alles schon dagewesen. Ich glaube nicht, das Lübeck der Anlaß war, das die in San Sebastian ihre Pläne änderten. Wer immer sie waren. Mir scheint eher, er ist einfach zufällig auf etwas gestoßen und mußte deshalb sterben. Also haben die von der Gegenseite so lange keinen Anlaß, an ihren Plänen etwas zu ändern, bis wir ihnen den Grund liefern, indem wir mit dem Säbel rasseln und Truppen hinschicken. Das eigentliche Problem ist die Zeit. Es ist ja wohl klar, das Lübeck hinter einer Sache her war, die irgend etwas mit dieser Welthungerkonferenz in zwei Wochen zu tun hat.« »Sie scheinen sich dieses Zusammenhangs ziemlich sicher zu sein?« Charney schluckte schwer. »Schauen Sie, Lübeck und ich kannten uns sehr lange. Er war in jeder Beziehung ein Vollprofi wie aus dem Lehrbuch. Er ist niemals einen Fingerbreit von seinem Auftrag abgewichen. Und wenn wir ihn auf die irrsten Himmelfahrtskommandos schickten, er kam wieder und hatte etwas für uns.« »Na schön. Also was machen wir?« »Wir setzen einen einzelnen Mann auf seine Spur an. Vielleicht hat der Glück.« »Junge, auf Glück verlasse ich mich grundsätzlich nicht.« »Es wäre ein Versuch so wie alles andere auch.« Calvin Roy zog die Brauen etwas hoch. »So, so. Ein Einmannspiel also, wie? Und welche Spieler stehen zur Verfügung?« Das war der Augenblick. »Kein Profi. Ich möchte einen Amateur einsetzen.« »Was denn? Das ist ja wohl nicht Ihr Ernst?« »Durchaus. Bedenken Sie Folgendes: auf was Lübeck dort auch immer gestoßen ist, es ist eine große Sache. Und wer immer dahinter steckt, ist folglich auch groß. Und organisiert. Also würden die einen Profi in Null Komma nichts erkennen. Sie werden ja inzwischen wissen, daß Lübeck uns mit der Nase auf etwas gestoßen hat und versuchen, ihre Spuren zu verwischen.« »Und?« »Nehmen wir also mal an, sie gehen davon aus, Lübeck sei nicht nach Bogota durchgekommen oder konnte zumindest nicht so viel durchgeben, das wir daraus schlau wurden. Sie ändern also nichts an den Plänen, auf die Lübeck gestoßen ist. Ein Amateur hätte es dann viel leichter, die Spur wieder aufzunehmen.« Roy musterte Charney mit dem leichten Anflug eines amüsierten Lächelns. »Soll ich Ihnen mal was sagen? Bei mir zu Hause gibt es 'ne Redensart. Man sieht es einem Bullen immer an, wenn er was im Schilde führt. Sie haben sich die ganze Geschichte schon fix und fertig überlegt, wie?« Charney lehnte sich zurück. »Sie wissen doch, das Lübeck statt der linken Hand einen Stahlgreifer hatte?« »Mit dem nicht zu spaßen war.« »Wissen Sie auch, wie er dazu kam?« »Ist mit der Hand irgendwo reingeraten, oder so?« »Nein, die Umstände, meine ich.« »Nicht, das ich wüßte, Junge.« »Dann, Sir, werde ich Ihnen eine Geschichte erzählen.« Charney stemmte sich in seinen Stuhl und versuchte, sich bequem zu setzen. Die Polsterung schien etwas gegen ihn zu haben. »Vor zwanzig Jahren waren Lübeck und ich zusammen im College. An der Brown University oben in Providence, Rhode Island. Da sind wir uns gleich zu Anfang begegnet. Wir waren beide Footballspieler. Da war noch einer, der versuchte, die Mannschaft als Sprungbrett zu benützen, schaffte es aber nicht. Trotzdem wurden wir Freunde, und in den nächsten vier Jahren hingen wir drei wie die Kletten zusammen.« »Sollte ich jetzt Tränen der Rührung vergießen, Junge?« »Er hieß Christopher Locke, und im Augenblick ist er noch Englischprofessor in Georgetown.« »Im Augenblick noch!« »Er hat seine letzten Habilitationsanhörungen geschmissen. Dies ist sein letztes Semester.« »Das haben Sie überprüft?« »Hab' ich überprüft.« »Ich nehme doch an, das gehört irgendwie zum Thema, oder?« Charneys Gesicht nahm einen abwesenden Ausdruck an. »Locke war schuld daran, das Lübeck seine Hand verlor. Es war ein Unfall. An der Akademie, im sechsten Monat unseres Trainings. Wie ich schon sagte, wir hingen dauernd zusammen wie die Kletten. Wir waren die drei Musketiere.« Charney lächelte etwas. »Aber die Details des Unfalls selbst tun an sich nichts zur Sache.«
Calvin Roy unterbrach ihn. »Aber dann ist dieser Locke auch kein eigentlicher Amateur . . .?« »Er verließ die Akademie eine Woche nach dem Unfall. Die Ironie an der Sache war, das er der Beste des ganzen Lehrgangs war. An Talent und Begabung übertraf ihn keiner von uns. Nur eines fehlte ihm. Auch schon vor der Geschichte. Er hatte es immer nur im Kopf. Aber nicht im Herzen.« »Und Sie meinen, das hat sich mittlerweile geändert?« »Was sich auf jeden Fall nicht geändert hat, ist sein Schuldgefühl. Er flüchtete damals einfach. Von der Akademie ins Akademische, wenn Sie verstehen, was ich meine. Und da ist er heute noch. Georgetown ist keineswegs die erste Schule, von der er wieder weggeht. Oder weggegangen wurde. Es sieht so aus, als habe der Unfall Lübecks sein ganzes weiteres Leben bestimmt. Eine Kette von Fehlschlägen und Unvollkommenheiten. Ich nehme an, er hat die Sache nie verwunden. Von wegen, die Zeit heilt alle Wunden. Bei ihm trifft das jedenfalls nicht zu.« Er machte eine kurze Pause. »Aber wir könnten ihm helfen, sie zu heilen.« »Indem wir ihn ins Feld schicken?« »Indem wir ihn den Mann suchen und jagen lassen, der Lübeck umbrachte.« Roy zögerte. »Er ist immerhin ein Amateur.« »Das einzige, was ihn daran hinderte, ein Profi zu werden - und ein sehr guter obendrein -, war nur, das er nie eine Motivation fand, keinen Sinn in dem sah, was er tat. Den bekommt er jetzt. Die Jagd nach Lübecks Killer wird die Motivation seines Lebens sein. Es wäre ihm unmöglich gewesen, Lübeck mit seiner Prothese jemals wiederzubegegnen. Jetzt, wo Lübeck tot ist, ist auch dieses Problem weggefallen. Herauszufinden, wer ihn tötete, gibt ihm die Chance, mit der Geschichte endlich fertig zu werden. Vergessen Sie nicht, das wahrscheinlich Wichtigste in seinem Leben, seine Freundschaft mit Lübeck und mir, wurde nie beendet, und davor ist er weggelaufen. Er hat das jetzt lange genug in sich reingefressen. Wir können ihm jetzt das Ventil verschaffen, das alles abzulassen.« »Gott, sind wir großzügig und edel.« »Er ist unser Glücksfall«, fuhr Charney unbeirrt fort. »Er ist wie geschaffen für diese Sache und bei weitem allen anderen Kandidaten vorzuziehen. Schon allein angesichts des Zeitdrucks. »Und wieviel erzählen wir unserem Glücksfall?« »Nur, was er unbedingt wissen mus.« Charney überlegte. »Und das heißt: kein Wort über das Massaker.« »Also wir hetzen ihn blind ins Feld und sagen: Renn, Junge, renn.« »Ich werde sein Kontaktmann sein«, sagte Charney leise. »Und sein Auge. Ich bewache jeden seiner Schritte. Anlaufstation, Code, Kontakte - so etwas hat er schon früher gemacht. Das schafft er an einem einzigen Nachmittag. Und wenn es soweit ist, kann man Langley mit einem einzigen Anruf informieren.« »Sie haben sich das wirklich ganz genau ausgedacht.« Charney nickte wieder. Calvin Roys Augen blitzten auf. »Junge, ich komme vom Land, und trotzdem begriff ich nicht, das man Scheiße braucht, damit etwas wachsen kann. Bis ich nach Washington kam. Das alles war wohl nicht leicht für Sie, Brian?« Charney sah ihn nur an. »Gut, Junge, einer Ihrer Freunde ist tot. Warum belassen Sie's nicht dabei? Warum halsen Sie den ganzen Mist nicht einfach denen in Langley auf, wo er hingehört?« »Das raten Sie mir wirklich?« Calvin Roy seufzte. »Schon gut, natürlich nicht. Aber behalten Sie im Auge, das Lübeck ein harter Profi war und trotzdem bei dieser Sache umkam, auf die er da stieß. Und es ist mir ziemlich wurscht, ob der liebe Locke vor zwanzig Jahren in eurem Jahrgang geglänzt hat wie ein Kinderpopo. Das alles allein kann ihm offensichtlich bei dieser gefährlichen Geschichte nicht viel helfen.« »Ich paß' schon auf ihn auf.« Roy nickte. »Also gut, Junge, dann zu. Sie müssen für den Rest Ihrer Tage damit leben, wenn's schief geht.« Die letzten Worte Roys gingen Charney jetzt bei seinem dritten Chivas Regal noch einmal durch den Kopf. Er konnte damit leben, vermutete er. Noch weniger als ohnehin schon konnte er sich selbst kaum mögen. Er tat, was nötig war, was sein Job verlangte, das mußte reichen. Nur, vielleicht war genau dies sein wirkliches Problem. Er war schon zu lange in Washington und hatte sich von seiner Rolle überrollen lassen. So lange, bis sein Gewissen dabei draufgegangen war. Na und. Locke war der beste Mann für diesen Auftrag, also würde er ihm diesen so schmackhaft machen, das er gar nicht ablehnen konnte. Er wußte, das er in solchen Dingen gut war. Er besaß da Erfahrung. Er rief sich seine frühesten Erlebnisse mit Locke ins Gedächtnis zurück, an der Brown-Universität beim Fußballtraining. Keiner hatte einen härteren Schuß als Locke, keiner lief schneller über die Feldlinien als er, keiner war eifriger bei der Sache als er. Und am Ende unterlag er doch immer gegen gesichtslose einfache Nummern. Das war immer schon seine Tragik gewesen. Eine solche gesichtslose, einfache Nummer war er selbst, Charney, ja auch gewesen. Er war auch einer dieser anonymen Praktiker der Macht geworden. Es machte ihm nicht einmal Spaß, diese Macht zu haben. Aber er lehnte sie auch nicht ab. Sie war Teil seines Jobs, und sein Job und er waren identisch. So war das. Er warf einen Blick auf das Telefon auf dem Kaffeetisch in seiner dämmerigen Wohnung. Ein Anruf und die Räder rollten, waren nicht mehr zu stoppen. Christopher Locke hatte Frau und drei Kinder. Charney wunderte sich, das Calvin Roy ihn danach überhaupt nicht gefragt hatte. Dann begriff er. Logisch, Roy wollte das gar nicht wissen. Je weniger darüber gesprochen wurde, umso besser, glaubte er wohl. Charney sah wieder auf das Telefon. Die tatsächliche Entscheidung blieb so und so an ihm hängen. Er lehnte sich zurück und kniff die Augen zu. Seit einiger Zeit hatte er leichte Kopfschmerzen. Ein Pochen in den Schläfen, noch war es erst ein etwas kräftiger Druck. Aber er wußte, es würde sich zu heftigen Kopfschmerzen auswachsen. Ich sehe direkt auf. . . Worauf hatte Lübeck direkt gesehen? Der einzige Mann, der das herausfinden konnte, war Christopher Locke. Charney goß sich noch einen Whisky ein.
»UND HIER DIE NACHMITTAGSNACHRICHTEN . . . Christopher Locke drehte das Radio ab. Auf der 16. Straße gab es einen Stau, und die Lüftung war wieder einmal hinüber wie üblich, so das er ein Opfer der Frühlingsluft wurde. Er drückte aus reiner Frustration wütend auf die Hupe. Die Nachricht vom Ergebnis seiner letzten Habilitationsanhörung hatte ihn nicht mehr überraschen können. Er hatte das seit Monaten auf sich zukommen gesehen. Alle Anzeichen waren klar und eindeutig. Der Fakultätsdekan mochte seine Lehrmethode nicht. Beliebtheit bei den Studenten zählte schon gar nicht. Natürlich war er beliebt, sagten sie ihm. Schon weil in seinen Kursen regelmäßig die meisten Bestnoten der ganzen Englisch-Abteilung herauskamen. Locke hatte aus Benotungen tatsächlich nie eine besondere Affäre gemacht. Der akademische Druck auf die Studenten in Georgetown, so fand er, war groß genug. Da mußte er nicht auch noch besonders dazu beitragen. Ihm war wichtiger, das sich die Studenten in seinen Vorlesungen eher entspannten und wirklich lernten - und das mit Spaß an der Sache, ohne sich ständig Sorgen über ihre Noten machen zu müssen. Dadurch stand er in dem Ruf, das man bei ihm Examina leichter schaffte als bei anderen. Auch wenn er sonst durchaus als korrekt galt. So überließ er beispielsweise Korrekturen niemals seinen Tutoren. Das alles half ihm bei der Habilitationskommission freilich wenig. Er verkörperte die Ausnahme, nicht die Regel. Kein »ordentlicher« Betrieb legte Wert auf Ausnahmen. Die Regel war gefragt. Kurz, er war wieder einmal ohne Stellung. Jetzt würde er genug Zeit haben, an seinen Romanen zu arbeiten. Doch warum sich etwas vormachen? Tatsache war schließlich, das ihm alle Zeit der Welt nicht helfen konnte. Er war eine Niete. Als Schriftsteller. Und jetzt auch, wie es schien, als Lehrer. Hinter ihm hupte ein anderer wie wild. Er schreckte auf. Er hatte nicht bemerkt, das es weiterging. Er winkte entschuldigend nach hinten und schloß in der Kolonne auf. Mittlerweile klebte sein schweißnasses Hemd an der Rückenlehne. Am Ende, dachte er, läuft alles auf Sicherheit hinaus. Man arbeitet sein ganzes Leben lang, um ein Stadium zu erreichen, in dem einen keine Existenzsorgen mehr quälen, in dem man zumindest einen Minimalzustand von Glück und Zufriedenheit erreicht hat und das mit einem Minimum an lästigem Aufwand. Was würde mit dieser Sicherheit jetzt passieren, ohne das Gehalt und alle die anderen Vorteile aus Georgetown? Wie sollte er seine Familie unterhalten? Das meiste seiner Ersparnisse war für das Studium der Kinder reserviert. Und die Hypothek auf sein Haus in Silver Spring lief noch. Und was an laufenden Rechnungen ständig hereinkam, konnte er auch nur abdecken, weil seine Frau wieder arbeitete, in einem Immobilienbüro. Ihre gesamte Existenz hing, genau genommen, an einem seidenen Faden. Und das alles würde jetzt noch schwieriger werden. Wie sollte er seiner Familie seine neuerliche Entlassung^ beibringen? Beth würde ihn nur wieder einmal mit verdächtiger Ruhe daran erinnern, wie oft sie ihn nun schon dazu gedrängt habe, sich ins Geschäftsleben zu begeben. Aber er hatte das mit der Begründung, er ziehe das akademische Leben nun einmal vor, stets zurückgewiesen. Mit ihrer praktischen Veranlagung, wie sie nun einmal war, hatte sie noch nie verstanden, was ihn denn wirklich davon abhielt, das College zugunsten einer »richtigen Arbeit« zu verlassen. Von seinen älteren Kindern, dem Jungen von inzwischen siebzehn, der Tochter von fünfzehn Jahren, wußte er von Tag zu Tag weniger, wollte auch gar nichts wissen, und war jetzt nur besorgt, wie sie wohl die schlechte Nachricht aufnehmen würden. Nur noch bei seinem jüngsten Sohn konnte er damit rechnen, die Liebe und den Beistand zu finden, deren er jetzt so sehr bedurfte. Greg war gerade zwölf geworden und seines Vaters ganzer Stolz. Am liebsten hätte er ihn in dem Alter, in dem er jetzt war, eingefroren. Um ihn immer so zu bewahren. Ihn für ewig von dem schrecklichen Alter fernzuhalten, das mit der Pubertät einsetzte und in dem sich die Kinder von einem zurückzogen und einem, statt wie bisher mit liebe- und vertrauensvollem Lächeln, mit muffelnden Gesichtern, Aufsässigkeit und ständiger Opposition begegneten. Er wäre, dachte er, gern ein besserer Vater gewesen, genauso wie er gern ein besserer Autor, Professor und Ehemann gewesen wäre. Es war leicht zu sehen, warum alle Leute so fanatisch »für ihre Kinder« lebten: weil dies sie für alle ihre eigenen Niederlagen, Fehlschläge und verpassten Gelegenheiten entschädigte. Er für seinen Teil jedenfalls hatte nicht die Absicht, sich da etwas vorzumachen. Seine älteren Kinder waren mittlerweile Fremde für ihn, und auch vom Jüngsten konnte er nicht erwarten, das er ewig so blieb wie jetzt. Bis er zu Hause in Silver Spring war, hatten sich diese ganzen Überlegungen bereits zu einem drückenden Knoten in seinem Magen verdichtet. Er blieb noch eine Weile ruhig sitzen, ehe er ausstieg. Heftiges Herzklopfen hatte ihn mit einem Mal befallen. Aber als er ins Haus trat, begrüßte ihn Whitney liebevoll, ließ das Telefon im Flur, an dem sie gerade gehangen hatte, einfach an der Strippe herunterhängen und umarmte ihn. »Hi, Daddy!« »Tag, Kind.« Sie schien überhaupt nicht zu bemerken, das er etwas abwesend und gedrückter Stimmung war, und wußte vielmehr absolut aufregende Dinge zu berichten von einer Einladung in den Tanzkurs durch einen tollen Jungen, aus der Klasse über ihr, denk' mal an, wo er absolute Spitze war, und den sie schon lange auf sich aufmerksam zu machen versucht hatte . . . Locke betrachtete seine einzige Tochter, wie sie da völlig hingebungsvoll und pausenlos plapperte, während sie mit seltsam abwesendem Blick zum Telefon zurückging. Sie trug ausgewaschene Jeans, was sonst, und hatte das Haar zu einem Knoten aufgesteckt, das trug man im Augenblick offenbar so. Es war etwas von frischer, natürlicher Schönheit an ihr. Also auch eigentlich gar kein Wunder, wenn die Jungs anfingen, sich um sie zu reißen. Kam sie damit zurecht? Er hätte wirklich gerne einmal mit ihr über alle diese Dinge gesprochen. Aber es war völlig klar, das sie sich sofort ins Schneckenhaus zurückziehen würde, wenn er es tatsächlich versuchte. »Ich brauche aber ein Tanzkleid dafür«, sagte sie genau mit dem sanften Schnurren, das Töchter wie von selbst zur Verfügung haben, wenn sie etwas vom Vater wollen. »Du hast doch zu Weihnachten eines bekommen, das dafür bestens geeignet ist?« »Aber Daddy, das alte Ding? Wirklich, ich kann das doch nicht schon wieder anziehen! Niemand macht so was!« »Ach, meinst du, irgendwer weiß, was du zu Weihnachten anhattest?« Und da waren sogleich die Stirnfalten und der Schmollmund und das Hineinkriechen in den Telefonhörer, das Gemurmel und Geflüster. »Kann ich zu Debbie zum Essen heute Abend?« »Hast du schon mit Mama darüber gesprochen?« »Heute ist doch Montag, Dad. Mama arbeitet.« Wie könnte ich das vergessen? fragte sich Locke selbst. »Also gut.« »O vielen Dank, Dad, tausend Dank!« Und in der nächsten Sekunde war sie wieder völlig in ihre Telefonkonversation vertieft.
Was sind Väter? Er blätterte die Post durch, sortierte die Rechnungen aus und ging während dessen in die Küche. Plötzlich merkte er, das er sehr durstig war. In der Küche saß Bob mit übergeschlagenen Beinen und nuckelte an einer Coca-Cola, dabei blätterte er die neueste Rock-Zeitschrift durch. »Na, Paps?« Locke seufzte. Er konnte sich nicht daran gewöhnen, das Bobby angefangen hatte, ihn Paps zu nennen. Irgendwie war das Wort herabsetzend. Er setzte sich zu ihm. »Wie geht's in der Schule?« »Na ja«, sagte Bobby, ohne ein Auge von seiner Zeitschrift zu wenden. »Der übliche Quatsch.« »Hast du nochmal über unser Gespräch nachgedacht?« »Wegen des College, meinst du? Nein, noch nicht. Werd' ich aber schon noch, mach' dir keine Sorgen. Aber wir sind gerade so mit unserer Band beschäftigt, das fängt jetzt an, was zu werden, da hab' ich noch keine Zeit gehabt. Wir haben zwei Termine bekommen, an denen wir spielen sollen. Bringt nicht sehr viel, aber es ist ein Anfang für uns. Das ist natürlich toll, das sich was tut.« »Freut mich für euch«, sagte Locke. »Freut mich wirklich.« Aber es klang wenig überzeugt. Er bemerkte, das Bobby sein übliches Stirnband nicht trug, so das sein langes lockiges Haar ihm fast bis in die Augen fiel. Ein Sportstyp war Bobby ja nie gewesen, und selbst jetzt, da er größer wurde, besaß er immer noch seine knabenhafte Hübschheit. Die Mähne war für einen kommenden Rock-Star offenbar unvermeidlich. So wie der eine Ohrring. Im linken Ohr. Und auch er: selbstredend ausgewaschene Jeans und eine ebenso verblichene Jeansjacke, alles schon leicht brüchig und da und dort bereits mit Nadeln zusammengehalten. Auf dem Jackenrücken ein Eingestickter Adler, das Symbol irgendeiner Band, die er mal angehimmelt hatte. Nun ja, das alles mußte wohl so sein. Dagegen konnte man wohl wenig machen. Bobby sagte, und vermied es dabei angelegentlich, ihn anzuschauen: »Ich habe mir überlegt, ob ich nicht ein Jahr pausieren soll, damit ich mich voll auf die Band konzentrieren kann.« Obwohl das wirklich kaum eine Überraschung für ihn sein konnte, riss Locke diese Mitteilung nun doch hoch. Wie war das? Sein Sohn überlegte ernsthaft, einfach den Weg aufs College zu unterbrechen? Undenkbar. Aber er beherrschte sich noch. Wenn er zu aggressiv reagierte, würde Bobby erst recht losstürmen und auf der Stelle fortrennen. Ruhig Blut, sagte er sich. »Hast du da etwa schon genauere Pläne?« Es gelang, ihm, scheinbar ganz ruhig zu sein. Bobby machte Ausflüchte, schien Beistand zu suchen. »Ich dachte — ich wollte an die Westküste rüber. Da passiert es schließlich alles. Mit Platten und so, meine ich.« »Und wovon willst du da leben?« Bobby schien überrascht darüber zu sein, das das Gespräch überhaupt so weit gediehen war. »Tja, ich habe mir gedacht, Dad . . .«, sagte er, und da wußte Locke bereits sehr genau, was nun kam. »Dad« nannte Bobby ihn nur, wenn er etwas von ihm wollte. »Es ist doch so«, sagte Bobby, »selbst wenn du in Georgetown weniger zahlen mußt, weil du da schließlich selbst unterrichtest, dann kostet dich mein College doch immerhin mindestens fünf Riesen, oder? Und wenn du mir statt dessen nun eine Art Vorschuß geben würdest, als Art Kredit, meine ich . . . Damit käme ich dann schon zurecht.« »Mit fünftausend könntest du da drüben im Westen nicht mal die Miete zahlen, ist dir das nicht klar?« »Ich würde natürlich ganz billig leben. Außerdem sind wir eine ganze Clique. Da kann man sich alle Kosten teilen.« »Und was wäre nach diesem Jahr?« »Bis dahin haben wir es längst geschafft. Jeder sagt, wir haben das Zeug zum großen Erfolg. Jeder sagt . . .« Die zuknallende Küchentür unterbrach ihn. Beth kam hereingestürmt, hinter ihr Greg in seinem Baseball-Dreß. Sie warf einen schnellen Blick auf Bobby. »Hast du's ihm gesagt?« »Was gesagt?« fragte Locke. »Sag' es ihm, los!« Aber Bobby sagte nichts. Beth wandte sich an ihren Mann: »Unser stolzer Erstgeborener hier ist heute aus der Schule geflogen.« »Was?« »Sie haben ihn beim Rauchen auf dem Parkplatz erwischt!« »Ich dachte, sie erlaubten euch Zigaretten?« »Wer redet von Zigaretten? Pot! Marihuana!« »O mein Gott . . .« »Der Stellvertreter des Schuldirektors hat mich im Büro angerufen. Ich war mitten in einer Kundenbesprechung. Gott, war das peinlich! Ich habe ihn also nach Hause geschickt und ihm gesagt, das wir uns mit der Sache später beschäftigen würden, weil ich nicht einfach vom Büro wegkonnte.« Beth war ehrlich zornig. »Und ich sagte ihm auch noch: du kannst den Wagen nehmen, aber hol deinen Bruder vom Baseballtrainig ab.« Greg versuchte instinktiv seinem Bruder beizustehen. »Ach, Mam, es war ja nicht so schlimm. Ich hätte auch zu Fuß nach Haus kommen können. Oder jemand hätte mich mitgenommen.« »Mitgenommen?« Beth war außer sich. »Hast du das gehört, Chris? Hast du das gehört? Jedenfalls, der Herr Sohn holt ihn nicht ab und was passiert? Ich werde wieder angerufen, diesmal vom Baseballtrainer: das Training ist zu Ende, und warum ihn niemand abholt. Ich muß mir also Sallys Auto ausborgen und schnell hinfahren und Greg holen, dabei bin ich ohnehin schon zu spät dran für einen anderen Termin!« Sie stieß den Zeigefinger so hart vor, das Bobby erschreckt zurückwich. »Verdammt noch mal, verdammt, ich habe es jetzt satt, junger Mann!« Sie wandte sich an Locke: »Vielleicht wäre ein Internat das einzig Richtige für ihn.« Mit zehntausend im Jahr, dachte Locke automatisch. »Chris, wir müssen jetzt endlich einmal miteinander reden! So geht das nicht weiter. Ich sehe die anderen Frauen schon jetzt beim nächsten Fakultätsessen tuscheln!« Locke war nahe dran, ihr bereits jetzt zu sagen, das dies mittlerweile kein aktuelles Problem mehr war. »Ich habe es wirklich satt«, schimpfte Beth aufgebracht weiter. »Sobald ich nach Hause komme, muß darüber geredet werden. Ich muß jetzt noch einmal weg. Bin ohnehin schon viel zu spät dran für diesen Termin. Außerdem muß ich Sally ihren Wagen zurückbringen.«
Als sie fort war, herrschte langes Schweigen. Locke wandte sich langsam wieder Bobby zu und suchte nach einem geeigneten Anfang für die passenden Worte, die nun ja wohl unvermeidlich waren. Aber ehe er dazu kam, war Bobby weggerannt, die Treppe hinauf und schloß sich in seinem Zimmer ein. Und in der nächsten Sekunde röhrte sein Plattenspieler in voller Lautstärke im RockRhythmus los. Damit war eine dicke, unüberwindliche Wand zwischen Bobby und denn Rest der Welt. »Stell den Mist ab, du Blödian!« kreischte Whitney von irgendwoher. Locke stützte am Küchentisch aufseufzend das Gesicht in seine Hände. Greg faßte ihn an der Schulter. »Hast du was, Dad?« »Ist schon gut, mein Junge. Ich hab' nur einen schweren Tag gehabt.« Greg runzelte die Stirn. »Mam ist ganz schön sauer, nicht?« »Ja.« »Du auch?« Locke versuchte zu lächeln. Er tätschelte Greg die Wange und strich ihm über das widerspenstige Haar. »Aber nicht auf dich. Tja, sieht so aus, als wären wir beide die einzigen zum Essen.« Greg wiederholte seines Vaters Geste an ihm und streichelte ihn liebevoll. »McDonald's?« fragte er hoffnungsvoll. »Überredet«, sagte Locke. Sie fuhren los und er bestellte die üblichen zwei Viertelpfünder für sie, nur mit Ketchup. Er kriegte seinen allerdings kaum herunter, während Greg seinen Big Mac mitsamt den Pommesfrites wie nichts wegputzte, dazu eine große Cola. Und Locke schob alle Gedanken, das Greg jemals größer werden und ihre augenblicklichen Gewohnheiten einmal aufhören könnten, mit Gewalt von sich. Er wollte, das es mit ihm immer so wie jetzt bleiben sollte. Heute war Greg an der Reihe, zu bezahlen. Er tat es routiniert, indem er das Geld aus der Tasche zog und versuchte, mit Kleingeld den genauen Betrag zusammenzubekommen. Und es ging genau auf. Sie spielten dieses Spiel immer. Greg war wild darauf, zu bezahlen, wenn sie zu McDonald's gingen, um zu beweisen, wie selbständig er schon war. Und Locke hatte ihn auch immer dazu ermutigt. Später am Abend, wenn Greg bereits schlief, würde er wie üblich in sein Zimmer schleichen und ihm das Geld für die Rechnung wieder in den Strumpf legen, in dem er seine Finanzen vor allen streng geheim hielt - mit Ausnahme seines Vaters. Vielleicht wußte er es und spielte seinerseits das Spiel mit, oder auch nicht, was spielte das für eine Rolle. Als sie zurückkamen und er eben den Familienkombi in die Garage fahren wollte, klingelte im Haus das Telefon. Er eilte hin und griff sich den Hörer, obwohl er eigentlich sicher war, das der Anrufer inzwischen bestimmt aufgelegt hatte. Aber das hatte er nicht. »Hallo, Chris? Hier ist Brian Charney.« Sie verabredeten sich zum Lunch im THE TOMBS; frühzeitig, denn Dienstag war Lockes Seminartag, da war er immer den ganzen Nachmittag beschäftigt. Der frühe Termin war aber auch insofern günstig, weil man im THE TOMBS mit dessen prominenter Politikerklientel nach zwölf ohnehin nur sehr schwer einen Platz bekam. Locke war als erster da und wurde an einen Tisch ganz hinten in der Ecke geführt, etwas abseits vom Geplapper und Geschnatter der übrigen Gäste, in einer Ecke, die eher seriösen und ruhigen Chefs vorbehalten war. Er hatte Brian Charney zum letzten Mal vor einem halben Jahr gesehen, aber auch nur ganz kurz während eines Empfangs in Georgetown. Ihre Unterhaltung war sehr gezwungen gewesen. Es stand noch zu viel zwischen ihnen. Und es hatte keinen Sinn, harmlos zu tun. Kurze Zeit später erschien Brian Charney, entdeckte Locke sofort und kam auf ihn zu. Chris stand zu seiner Begrüßung auf. Wie immer, war er beeindruckt von Brians Erscheinung. Die Jahre hatten ihn nur stattlicher gemacht. Natürlich hatten sich mittlerweile Falten in sein Gesicht gegraben, und etwas in seinem Blick war sehr fremd. Aber meistens sah er doch zehn Jahre jünger aus als die zweiundvierzig, die er tatsächlich war. Er selbst hatte sich mit der Zeit dazu gebracht, eisern seine drei Bewegungs- und Trainingsstunden pro Woche in Georgetowns Sporthalle einzuhalten. Er mußte sich freilich jedesmal wieder dazu überwinden, wenigstens soviel zu tun, das er nicht ganz einrostete. Seine Muskeln waren nicht mehr so geschmeidig; und eigentlich hatte er hinterher immer einen Muskelkater. »Schön, dich mal wieder zu sehen, Bri«, sagte er und versuchte, ehrlich zu klingen. Charney nahm seine ausgestreckte Hand mit einem leichten Lächeln. »Gleichfalls, Chris, gleichfalls. Schon 'ne Weile her.« Sie setzten sich. »Ich hoffe, der Tisch gefällt dir«, meinte Charney. »Ich dachte, ein wenig Abgeschiedenheit wäre ganz nützlich.« »Ach, du hast den extra bestellt?« sagte Locke, ohne seine Überraschung zu verbergen. »Da mußt du ja ziemlich einflußreich sein. Die Regierung scheint gut zu dir gewesen zu sein. Was machst du jetzt? Immer noch CIA?« »Ach, seit Jahren schon nicht mehr«, sagte Charney. »Nanu? Du sagtest mir aber doch . . .?« »Ich habe dir gar nichts gesagt. Überhaupt nichts und nie. Ich habe höchstens genickt und jede Menge Ausflüchte gemacht. Das sind nur deine eigenen Schlußfolgerungen.« »Na schön. Aber für wen arbeitest du nun tatsächlich?« »Das ist viel zu kompliziert, um es zu erklären. Ich bin eine Art Verbindungsmann zwischen dem Außenministerium und verschiedenen Sparten der Geheimdienste. Die Firma ist nur eine davon. Im Grunde bin ich lediglich ein einfacher Bürokrat.« »Nun, einfache Bürokraten pflegen normalerweise keine Spezialtische im THE TOMBS reserviert zu bekommen.« »Du vergißt, das wir in der Stadt der Bürokratie sind.« Eine Bedienung kam und sie bestellten ihre Drinks. Perrier mit Schuß für Locke, Gin-Tonic für Charney. »Und wie geht es dir so?« fragte Charney. »Ehrlich, meinst du?« Und plötzlich war da wieder ein Hauch davon, als wären sie noch immer — oder wieder — die besten Freunde. Locke fühlte, daß er offen reden konnte. »Nicht besonders«, sagte er, »und das ist noch eine Untertreibung. Ich habe drei Kinder, von denen mir zwei fremd geworden sind, und eine Frau, mit der ich einen Hausbesichtigungstermin vereinbaren muß, falls ich mal mit ihr sprechen möchte. Ich habe zwei ungedruckte Romane in der Schublade liegen, aus der sie vermutlich nie herauskommen. Gar nicht zu reden davon, das ich mit der Direktion in Georgetown, sagen wir mal, nicht auf allerbestem Fußstehe.« Das er bereits entlassen war, wollte er lieber verschweigen.
Fehlschläge im Privatleben einzuräumen war erheblich leichter als im Beruf, jedenfalls jemandem von Charneys Position gegenüber. »Irgendwie ist es etwas Tolles, in die Vierziger zu kommen, Bri. Zum ersten Mal merkt man, das man von jetzt an nicht mehr ganz von vorne anfangen kann, wenn alles schief gegangen ist. Trotzdem hört man nicht auf, es doch zu versuchen. Ich jedenfalls nicht.« »Das nennt sich Midlife Crisis«, sagte Charney leichthin. »Ach Gott, geschenkt! Meine Midlife Crisis hat schon angefangen, als ich fünfundzwanzig war. Das ist noch schlimmer.« Locke sagte das mit schwachem Lächeln, und Charney lächelte ebenso schwach zurück. Ja, er war immer noch derselbe, sein engster Freund im College, wo sie nicht nur ein Zimmer, sondern ihr ganzes Leben geteilt hatten. Er hatte eigentlich gedacht, dies alles beiseite lassen zu können. Immerhin lag es zwanzig Jahre zurück und in zwanzig Jahren verändert sich vieles, man selbst ändert sich auch. Dennoch, im Grunde waren sie beide in Wirklichkeit die gleichen geblieben, dieselben wie damals. Und genau dies würde seinen Auftrag hier so schwierig machen, das wußte Charney genau. Er hatte seitdem mehr als einen Mann in den Tod geschickt, gewiß. Aber noch nie einen alten Freund. »Ich weiß über dein Verfahren Bescheid«, sagte er nun unvermittelt, seine Chance wahrnehmend. Er mußte jetzt angreifen, wenn er die Sache durchbringen wollte. »Du weißt was?« rief Locke. »Ich habe noch gestern den ganzen Bericht darüber durchgelesen.« »Aber der ist doch streng vertraulich!« »In der Tat.« »Und trotzdem hast du ihn gelesen?« »Mußte sein. Und Muß bricht Vertraulichkeit.« »Nun mal langsam, Bri. Sonst wird dies der kürzeste Lunch aller Zeiten.« Die Bedienung kam mit den Drinks. »Paß auf«, sagte Charney und nippte an seinem Gin-Tonic, »Das dämmert mir allmählich auch.« »Ich brauche deine Hilfe, Chris. Dafür kann ich dir dann vielleicht auch helfen.« »Aha.« »Unser Lube ist tot.« Locke fiel der Unterkiefer herunter. Er war wie vor den Kopf geschlagen. Das Glas fiel ihm fast aus der Hand. Er wollte etwas sagen, fand aber keine Worte. Die grimmige Endgültigkeit in Charneys Mitteilung hatte jede mögliche Entgegnung unmöglich gemacht. »Er ist am vergangenen Wochenende umgebracht worden«, erläuterte Charney. »Wie?« »Wir wissen es nicht genau.« »In Ausübung seiner Pflicht?« »So sieht es aus.« »Wo?« »In Kolumbien unten.« »O Gott.« Locke fuhr sich zweimal mit der Hand über das Gesicht. »Wieso dort?« »Wieso nicht dort? Irgendwo ist es immer. Und dabei sollte es überhaupt sein letzter Auftrag sein.« »Nicht doch. Unser Lube hätte sich doch niemals zur Ruhe gesetzt.« »Er sich nicht, aber wir ihn«, sagte Charney. »Das gibt es doch nicht . . .!« »Er war in unserem Alter, Chris. Denk' daran, was du mir eben über dein Leben gesagt hast. Alle die Fragen, alle die Zweifel. Du fängst an, die Schatten zu sehen. Der gute Lube auch. Nur, das man in unserem Geschäft, wenn das passiert, umkommt. Manchmal zusammen mit anderen. Er wußte das von Anfang an, Chris.« Ihre Augen begegneten sich, er sah Locke fest an und gab seinen Worten gerade so viel Nachdruck, wie er für nötig hielt. »Das haben wir drei doch damals zusammen alles gelernt.« »Aber der Lube hat seine Lektion anscheinend nicht gut genug gelernt.« »Nein«, bestätigte Charney, »das hat er wohl nicht. Er konnte das in seinem eigenen Fall einfach nicht akzeptieren. Er wußte ganz genau, was kam, und war doch nur besessen davon, uns zu beweisen, das wir im Unrecht wären. Nun ja, fürs angenehme Leben in der Sonne war er nicht geschaffen. Noch nie. Er hatte eine Spur gefunden und konnte nicht mehr von ihr ablassen. Es war eine große Sache, das war klar, aber er hatte keine Chance mehr, uns zu sagen, was genau es war.« »Warum erzählst du mir das eigentlich alles, Bri? Zweifellos ist das doch alles geheim? Und einer in deiner Position plappert so was doch nicht leichtfertig aus?« »Richtig, Chris. Ich möchte, das du für ihn weitermachst.« Locke blieb der Mund offen stehen. »Hast du sie nicht alle?« »Doch, doch. Wir glauben, das die Sache, hinter der unser Lube her war, irgendwas mit der Welthungerkonferenz zu tun hat. Sie beginnt in genau dreizehn Tagen. Viel Zeit haben wir also nicht. Wenn wir Profis losschicken, können wir die gerade so gut Hier! schreien lassen. Aber ich glaube — wir glauben -, du könntest unbemerkt bleiben. Dich würde keiner verdächtigen.« »Weil ich sechs glorreiche Monate an der Akademie zugebracht habe, meinst du das?« »Nein, sondern weil du ein ganz persönliches Interesse hast. Weil unser Lube dein bester Freund war. Und weil du ihm . . . was schuldig bist.« Locke wurde augenblicklich steif. Sein Gesicht lief rot an. Eine dunkle Erinnerung stieg in ihm auf: ein Erdloch, dessen Seiten zusammenrutschten und ihn zu zerquetschen drohten, und aus dem Lube ihn zog. »Falls du es darauf abgesehen hast, mich wütend zu machen«, sagte er mühsam, »ist dir dies hervorragend gelungen.« »Mir ist alles recht, wenn ich dich nur dazu bringe, anzunehmen.« Die Bedienung kam wieder und nahm ihre Bestellungen für das Essen auf. Zwei Truthahn-Sandwiches, Tombs-Spezial, obwohl beiden mittlerweile nicht mehr sehr nach Essen zumute war. Charney bestellte noch einen Gin-Tonic, »Mit viel Tonic, diesmal!« Als die Bedienung wieder fort war, sprach er bedächtig weiter: »Selbstverständlich erwartet niemand, das du es umsonst machst.« »Kannst du mir auch mein Leben wiedergeben?«
»Beruflich gesehen können wir das, ja. Du kannst die Zusage erhalten, eine gut dotierte Stellung an einer Universität deiner Wahl zu bekommen.« »Das ist eine Menge.« »Und noch mehr, Chris. Was deine beiden ungedruckten Romane in der Schublade angeht — wir haben da zwei Verlage an der Hand, die sie gerne herausbringen würden, Und nicht nur als Taschenbücher. Und mit allerlei Vergünstigungen. Und mit einem Optionsvertrag samt großzügigem Vorschuß für zwei weitere.« »Sag' mal, willst du mich kaufen?« »Chris, dies ist kein Kaffeeklatsch, wir reden übers Geschäft. Zeig' mir den, der nicht zu kaufen ist und der sich nicht verkauft hat, auf diese oder jene Weise. Das ist nun mal so im Leben, es gehört dazu. Es kommt allein auf die Ebene an, auf der es stattfindet. Ich spreche ganz konkret davon, dir deine Lebensträume zu erfüllen.« »Diesmal hast du nicht >wir< dazugesagt.« »Ich habe Spielraum für persönliche Initiative.« »Und offenbar ziemliche Macht?« »Es kommt nur darauf an, das man sie vernünftig einsetzt.« Locke musterte ihn. »Bei dieser Schulstunde muß ich seinerzeit gefehlt haben.« Er zögerte und war plötzlich unsicher. »Habe ich sonst noch viel versäumt? Wie zum Teufel soll ich mich nach zwanzig Jahren an all das noch erinnern?« »Du wirst bei dem Job nicht alleingelassen. Ich beschatte dich persönlich auf Schritt und Tritt. Und die reitende Kavallerie wird nie weiter als einen Telefonanruf entfernt sein.« Er unterbrach sich wieder, bis der zweite Gin-Tonic serviert war. »Du brauchst nicht auf dich allein gestellt zu arbeiten. Du sollst höchstens zwei Wochen lang der Köder für die Mistkerle sein, die unseren Lube auf dem Gewissen haben.« »Als Köder war ich nie gut. Wenn du dich an meine kurze Football-Karriere erinnerst . . . Bri, ehrlich, du mutest mir da eine mächtig riskante Sache zu.« »Das ist mir vollkommen klar, Chris.« »Ich weiß nicht, alter Kumpel. Ich weiß wirklich nicht.« Charney hatte noch ein As im Ärmel, und gehofft, er müsse es nicht ausspielen. »Du bist nicht hier im Land geboren, Chris.« »Ich habe nie ein Geheimnis daraus gemacht.« »In deinen Akten steht, dein Vater hat dich während des Zweiten Weltkriegs von England herübergebracht, wo deine Mutter bei einem Luftangriff umgekommen ist.« Locke schwieg und wartete, das Charney fortfuhr. Dessen Augen wurden kalt. »Ich weiß auch darüber die Wahrheit. Sie stammte aus Deutschland und war eine Spionin. Dein Vater kam nach Amerika, weil er sich entsetzlich schämte, als das bekannt wurde.« »Hör auf.« »Ruhig Blut. Ich bin noch nicht fertig. Tatsache ist doch, nicht wahr, das sie keineswegs im Luft-Blitzkrieg umkam? Sondern euch verließ, als sie aufflog, und versuchte sich nach Deutschland durchzuschlagen. Sie wurde geschnappt, und eure Engländer hängten sie.« Locke sagte: »Wir hatten unsere Personalien völlig geändert.« »Ja, aber man kann die Wahrheit nicht wirklich begraben, Chris. Es gibt immer irgendwen, der bereit ist, so tief wie nötig zu graben, um sie wieder auszubuddeln. Das weißt du doch selbst. Dieses Land hat deinen Vater und dich damals aufgenommen und euch ein neues Leben ermöglicht. Du bist ihm dafür vielleicht auch etwas schuldig.« »Und jetzt soll ich zahlen, meinst du?« »Zum Beispiel.« Christopher Locke sah seinen einstigen Schulfreund lange wortlos an. Er hatte ja recht. Niemals konnte man sogenannte alte Geschichten einfach begraben. Aber durfte Charney ihn damit und auf diese Weise erpressen? »Hör zu, alter Freund. Ich werde dir jetzt ein für allemal etwas sagen. Wenn ich mache, was du von mir verlangst, dann einzig und allein wegen der Bastarde, die unseren Lube auf dem Gewissen haben. Sonst gibt es keinen Grund. Damit das völlig klar ist.« »In Ordnung«, sagte Charney. Er wußte, er hatte gewonnen. »Du hast mir noch immer nicht gesagt, hinter was genau Lube her war«, sagte Locke. »Wir wissen es auch nur ungefähr. Sicher ist nur, es hat etwas mit Lebensmitteln zu tun.« »Lebensmittel?« »Es ging um die Welthungerkonferenz, wie ich schon sagte. Und er kam in einem Bauerndorf um.« Charney brach ab. Er hatte ausdrücklich nichts von dem Massaker erwähnen wollen, um Locke nicht noch kopfscheu zu machen. »Er hat dort noch während seines letzten Funkberichts auf den Feldern irgendwas entdeckt, und das hat ihn zu Tode erschreckt. Ich spiele dir das Band noch vor.« »Und ihr wißt nicht, was es war?« Charney schüttelte nur den Kopf. »Was hält euch davon ab, einfach Leute hinzuschicken und es herauszufinden?« »Wir . . . versuchen es ja.« Locke suchte Charneys Blick. »Irgendwas verschweigst du mir doch.« »Glaub' mir, nur etwas, was du besser nicht erfährst.« »Deine Theorie mit den Lebensmitteln ist ein bißchen arg dünn.« »Mehr haben wir nicht.« »Was soll ich also tun?« »Wir haben den Weg rekonstruiert, den unser Lube nach Kolumbien genommen hat. Wir wissen auch ungefähr mit welchen Leuten er sprach. Und wir möchten, das du ganz au denselben Weg noch einmal machst. Die Einzelheiten erfährst du rechtzeitig.« Lockes Gesichtsmuskeln spannten sich. »Augenblick, mein Lieber. Schritt für Schritt Lubes Weg nachgehen, ja? Sehr schön. Irgendwann muß ich aber dann ja wohl auch seine letzte Station erreichen? Auf die bin ich jedoch kein bißchen scharf. Und versuche nicht, mir weiszumachen, das diese Möglichkeit nicht existiert.« »Nun ja . . .« »Nur, wenn Vorsorgen für den Fall getroffen werden, das ich nicht zurückkomme.« »Zum Beispiel?« »Meine Familie muß versorgt sein.«
Charney nickte nur. »Das versteht sich von selbst, Chris.« »Nein, der Meinung bin ich nicht.« Er war jetzt sehr entschieden. »Ich will einen von der Regierung garantierten Barscheck über fünfhunderttausend Dollar, zu hinterlegen bei meinem Anwalt in einem verschlossenen Umschlag, und zu öffnen, im Falle meines Todes.« »Das klingt, als vertrautest du mir nicht, Chris.« »Sehr viel Anlaß dazu hast du mir nicht gegeben.« Die Club-Sandwichs kamen, aber sie ließen sie beide unberührt. »Gut, ich regle das heute nachmittag«, sagte Charney schließlich. »Das Geld ist steuerfrei.« »Das bitte ich mir auch aus.« »Es wird niemals ausbezahlt werden müssen, Chris. Denn du kommst wieder.« »Lieber Bri, damit das ganz klar ist: ich tue das nicht für mich und schon gar nicht für dich oder für den verdammten Verein, für den du arbeitest. Ich tue es allein für meine Familie. Und für unseren Lube.« Und weil er das Gefühl hatte, nach dieser entschlossenen Erklärung einen entschlossenen Schlußpunkt setzen zu müssen, griff er sich entschlossen sein Sandwich, zog mit einem Ruck das Stäbchen heraus und biss wild entschlossen hinein. »Und wann fange ich an?« »Du fliegst morgen abend nach London«, sagte Charney ruhig und unterdrückte gewaltsam das Schuldgefühl, das, hartnäckig in ihm aufsteigen wollte. Der nächste Tag war für Locke überaus hektisch. Es waren eine Menge Dinge zu regeln. Sein Paß war abgelaufen und mußte erneuert werden. Aber in einem Tag einen neuen zu bekommen, hätte sich als unmöglich erwiesen, wäre nicht Charney . gewesen, der versprach, sich um alles zu kümmern. Er brauchte ihm lediglich die Paßfotos zu bringen. Komplizierter war schon der restliche Papierkrieg. Das gewaltige Räderwerk der Bürokratie von Georgetown mußte in Bewegung gesetzt werden, um eine eilige Sofortbeurlaubung zu erwirken. Er schuldete Georgetown mittlerweile nichts mehr und hatte deshalb keinerlei Bedenken oder Hemmungen, mitten im Semester einfach zwei Wochen Urlaub zu beantragen. Wenn er es überhaupt bedauerte, dann allenfalls seiner Studenten wegen. Seine Klassen mußten von Kollegen übernommen werden oder ganz ausfallen. Er stellte seinen Antrag offiziell aus gesundheitlichen Gründen, ohne sich näher zu erklären. Nach seinem Vertrag, der im Mai ohnehin enden würde, war er dazu auch nicht ausdrück-ich verpflichtet. Er gab sich überall sehr gelassen und überlegen und fühlte sich auch wirklich so. Brian Charney konnte und mußte ihm, ihrer Abmachung gemäß, jederzeit seinen Job wiederbeschaffen, wenn nicht überhaupt eine noch bessere Position woanders. Je weiter der Tag fortschritt, desto erregter, ja ekstatischer wurde er. Für zwei Wochen seiner Zeit hatte er Charney einen hohen Preis abgerungen. Über die Gefahren machte er sich weiter keine Gedanken. Ein besonderes Risiko konnte mit seinem Auftrag überhaupt nicht verbunden sein, andernfalls hätte es sich eine Regierungsbehörde auf keinen Fall erlauben können, einen reinen Amateur damit zu befassen. Genau betrachtet, war dies in jeder Hinsicht sogar seine goldene Chance. Charney hatte ihm als Gegenleistung genau das zu ; verschaffen, was er am meisten begehrte, und die Mörder von Lube ausfindig zu machen, war es allein schon wert. Als sein Freund Lube noch am Leben war, hatte er ihm nie seine Trauer und sein Bedauern auszudrücken vermocht. Dies hier war, auch wenn Lube nun tot war, seine Gelegenheit, es jetzt noch zu tun. Später am Nachmittag überlegte er, wie er das alles seiner Familie beibringen sollte. Nachdem er noch kein Wort von seiner Entlassung in Georgetown gesagt hatte, würden sie einen doppelten Schock zu verkraften haben. Doch vielleicht war dies auch nützlich. Der Schock würde sie davon abhalten, allzu viele Fragen zu stellen. Er beschloß, es zuerst Beth zu sagen und den Kindern später. Zunächst würde er erklären, er verließe Georgetown auf eigenen Wunsch, weil man ihm dort das Leben unerträglich gemacht habe. Andere Angebote lägen bereits vor und er reise jetzt erst einmal zwei Wochen nach Europa, um einen klaren Kopf zu bekommen und sich über seine endgültigen Entscheidungen klar zu werden. Die ganze Wahrheit konnte er seiner Frau nicht sagen. Die würde sie ganz und gar nicht verstehen. Er war ja nicht einmal sicher, ob er selbst sie verstand. Auf dem Weg zu Charneys Büro im Außenministerium fuhr er noch bei seinem Rechtsanwalt vorbei. Kaum zu glauben, der bewußte Umschlag war tatsächlich dort eingetroffen, alles wie besprochen, der Scheck in der vereinbarten Höhe. Er legte ihn zurück in den Umschlag und versiegelte diesen zusammen mit einem Brief, den er noch in Georgetown geschrieben hatte, in einem zweiten, größeren. Der Brief an seine Familie war rein sachlich und enthielt nur die erforderlichen Informationen für den Fall, daß ihm etwas zustieß; er hatte ihn eigentlich auch in der Erwartung geschrieben, ihn nach seiner Rückkehr ungele-sen selbst wieder in Empfang nehmen zu können. Charney erwartete ihn bereits. Sie setzten sich und kamen! ohne weitere Vorreden oder Höflichkeitsfloskeln sofort zum Thema. »Wir setzen noch immer die letzten Mosaiksteinchen von Lübecks letzten Tagen zusammen«, sagte Charney. »Er fing, wie gesagt, in London an, wo er einen Diplomaten der kolumbianischen Botschaft namens Juan Alvaredejo traf.« »Kolumbier«, wiederholte Locke automatisch. In Kolumbien war Lube umgekommen. »Wißt ihr, warum?« Sie hatten früher schon mal zusammengearbeitet. Alvaredejo war der Delegierte seines Landes für die Welthungerkonferenz. Wahrscheinlich wollte unser Lube nur einige allgemeine Informationen von ihm und stieß dabei auf etwas viel Größeres.« »Und das soll ich von Alvaredejo herauskriegen?« »Versuch einfach nur herauszukriegen, über was er mit Lube gesprochen hat. Wir müssen die Verbindung herausfinden, die da besteht.« »Und danach?« »Deine nächsten Stationen sind dann Liechtenstein und Florenz.« »Der gute Lube ist scheinbar ziemlich herumgekommen.« »Ja, aber genau wissen wir nur, was er in London gemacht hat. Und das ist auch vorläufig nur für dich von Bedeutung. Den Rest deiner Route liefere ich dir sukzessive nach, mit allen Namen. Du wohnst im Dorchester.« »Ihr laßt euch das was kosten, wie?« »Was sein muß, muß sein. Außerdem ist das für deine Tarnung besser.« »Ah? Bisher wußte ich nicht, das ich überhaupt eine brauche.« »Wahrscheinlich brauchst du auch wirklich keine. Reine Vorsorgemaßnahme. Und wir gehen genau nach Textbuch vor. Du bist auf einer Informationsreise für dein nächstes Buch.« Locke nickte. »Das paßt wirklich nicht schlecht. Also auch keine Decknamen, geheimen Treffs und diese Art Sachen?« »Nur eines«, sagte Charney und schlug die Beine übereinander. »Wir brauchen eine Abmachung, wie du mich, falls nötig, jederzeit erreichen kannst. Ich gebe dir also eine Telefonnummer, unter der ich erreichbar bin. Du rufst sie an, hinterläßt deine eigene Nummer, und ich werde mich innerhalb von zwei Minuten dort melden.« »Soll das heißen, du läßt mich gar nicht pausenlos überwachen?«
»Pausenlos? Nein, das ist ganz unmöglich. Falls irgend and sich für deine Reiseroute interessieren sollte, wäre es schlimmste Fehler, dich ständig zu beschatten, weil der andere das natürlich sofort bemerken würde und die Schlüsse daraus zöge, an denen uns ganz und gar nicht gelegen sein könnte. Es würde deine Risiken nur unnötig erhöhen statt verringern. Ich halte es so für besser. Solltest du wirklich in Schwierigkeiten geraten, kannst du mich, wie gesagt, von jedem Telefon aus in zwei Minuten erreichen. Du mußt dich allenfalls mit dem englischen System der anrufbaren Telefonzellen vertraut machen.« »Das kenne ich. Ich war schon mal in England. Auch seitdem, meine ich.« »Ach ja, richtig.« Das hatte Charney fast vergessen. »Deine Tickets und das Reisegeld bringe ich dir mit, wenn wir zum Flughafen fahren. Was wirst du übrigens deiner Frau sagen?« »Ich weiß es noch nicht genau.« »Erzähle ihr auf jeden Fall nicht zu viel. Es wäre nicht gut, wenn sie jemandem, der eventuell auf deine Spur gesetzt wird, unabsichtlich Hilfestellung gäbe.« »Allmählich fängst du an, mir Angst einzujagen, Bri.« »Keine Bange. Alles reine Routinemaßnahmen, vorläufig. Wir wissen ja nicht, womit oder mit wem wir es da zu tun haben. Und solange das so ist, gehen wir einfach ganz auf Nummer Sicher. Du bist erst mal voll abgeschirmt. Berufliche Informationsreise, wie gesagt.« »Ja, aber wie komme ich an diesen Alvaredejo überhaupt heran? Welchen Grund soll ich ihm nennen, wenn ich ihn sprechen will?« »Ganz einfach: Lube. Nenne ihm seinen Namen und du bist drin. Er wird dir sofort alles Nötige sagen. Zeit, Ort, alles. Laß ihn einfach machen. Er wird ebenfalls ganz auf Nummer Sicher gehen wollen.« »Kann ich ihm von unserer Verbindung erzählen? Von der mit deinem Verein, meine ich?« »Wird nicht nötig sein. Vermutlich wird er solche Dinge ganz bewußt gar nicht wissen wollen.« Sie besprachen noch eineinhalb Stunden lang Details dieser Art. Locke erinnerte sich an seine Intensivschulung vor zwanzig Jahren und ging in die kleinsten Einzelheiten. Charney beantwortete alles geduldig, wenn auch mit dem ständigen Anflug eines Lächelns auf den Lippen. Aber er war njcht unbeeindruckt von Lockes fast professioneller Präzision. Dieser blieb mit Bedacht kühl, sachlich, leidenschaftslos und bemühte sich, seine tatsächlich durchaus widerstreitenden Emotionen zu verbergen. Er hatte einerseits das Gefühl, wieder in den alten Tagen mit Bri und Lube zusammen in einem Lehrgang zu sein. Andererseits stand auch jetzt ständig Lubes tragischer Unfall wieder vor seinen Augen, den er in der Vergangenheit zumindest zeitweise hatte verdrängen können, jetzt aber mit Macht wieder nach vorne und in sein bewußtsein drängte. Sie hatten damals die Standardlehrgänge für fortgeschrittene Agenten mitgemacht, dazu mehrmals Überlebenstraining im Disneyland« der MilitärAkademie, das war ein großes Waldgelände mit allerlei eingebauten Schikanen gewesen. Es darum gegangen, die Serpentinenpfade so sicher und mit »wenigen Zwischenfällen wie möglich hinter sich zu bringen, und Zweck der Sache bestanden darin, Agentenschüler Lockes und Lubes Kaliber mit den Risiken und Gefahren deren Bewältigung vertraut zu machen. Die Instinkte Uten geweckt und geschult werden. Im Ernstfall nämlich de es keine zweiten Versuche geben. Das Überlebenstraining sollte, mit seinem harten Drill, dieser Tatsache Rechnung tragen. Nach drei Tagen einer Übung hatte Locke einmal einen Weg gewählt, der eine Abkürzung durch einen bestimmten Teil des Geländes darstellte. Je schneller sie durch waren, desto eher die Übung zu Ende. Lübeck wollte nicht, er drängte zur sieht. Locke hörte nicht auf ihn und ging los. Er war gewappnet und auf alles gefaßt. Glaubte er. Aber nach dreißig Metern tat sich hinter ihm die Erde auf wie ei einem heftigen Erdbeben. Es war eine Erdfalle, er rutschte ein und sah mit Entsetzen, das sie sich wieder zu schließen begann und ihn zerquetschen würde, wenn er nicht rasch auskam. Da griff Lübeck ein, packte ihn am Kragen und zog hoch. Er war vor Schrecken wie gelähmt gewesen und atmete jetzt befreit auf. Er war in Sicherheit. Glaubte er jedenfalls. Bis die sich schließende Falle noch seinen Fuß erfaßte. Er schrie vor Schmerz auf, während Lübeck heruntergriff und seine schon eingequetschte Wade und seinen Fuß zu befreien versuchte, während die Falle sich immer weiter schloß und sein Bein noch einmal erfaßte. Sein Fuß war immer noch eingeklemmt. Mit letzter Kraft zog Lübeck ihn schließlich heraus. Dann aber hallte ein zweiter Schrei durch den Wald, diesmal von Lübeck. Seine linke Hand, die ihn, Locke, eben noch herausgezogen hatte, geriet in die sich schließende Falle. Locke zog wie wild, um Lube zu befreien, obwohl keine Spalte mehr vorhanden zu sein schien, durch die er die Hand noch herausbekommen konnte. Dann fand er noch eine und zog mit aller Macht. Lübeck schrie wie ein Tier, die Ohren dröhnten ihm davon. Seine Hand war zwar frei, aber nur noch eine zerquetschte Masse aus Knochen und Fleisch, mit Stellen, wo die Haut völlig abgefetzt war. Er wickelte die Hand sofort in seinen Reservepullover ein. Lübeck hatte einen Schmerzschock erlitten und fiel in tiefe Bewußtlosigkeit, aus der er in den folgenden eineinhalb Tagen nur gelegentlich und für kurze Zeit erwachte, während Locke ihn durch den Irrgarten des Waldes schleppte und Hindernis um Hindernis überwand. Als er endlich im Lager ankam, wurde Lübeck eilig ins Lazarett geschafft, aber die Hand war nicht mehr zu retten. Die Ärzte sagten, sie seien froh, das sie ihm wenigstens das Leben retten konnten. Eine Woche darauf verließ Locke die Akademie. Er hatte jeglichen Antrieb verloren. Statt dessen quälten ihn Entschlußlosigkeit und Schuldgefühle. Er sank zurück in die ewig gleichbleibende, unklompizierte Welt des Colleges und der akademischen Routine, um seine Abschlüsse und später seinen Doktor zu machen. Er fand sich hinter den efeubewachsenen Mauern von Schulen besser aufgehoben als draußen in der Welt, von der er sich zu isolieren suchte - das war der einzige Grund. Es folgte eine lange Reihe von Lehranstalten, in denen er Stellungen fand. Er fand nirgendwo das, was er suchte. Nirgends war er zufrieden oder fand Ruhe. Und so folgte ein Wechsel auf den anderen, der eine freiwillig, der andere gezwungenermaßen.
In seiner dritten Stellung lernte er Beth kennen, die dort gerade ihren Abschluß machte. Zwei Monate danach heiratete er sie. Anfangs war das Leben verhältnismäßig leicht und einfach. Die drei Kinder kamen. Doch danach war ihre Ehe allmählich erstarrt und in eine Sackgasse geraten. Und er hatte keine Möglichkeit mehr gesehen, etwas dagegen zu unternehmen. Sie entfremdeten sich langsam, aber sicher. Ganz allmählich. Fast unmerklich. Ohne irgendwelche dramatischen Vorfälle oder Ereignisse. Nach achtzehn Jahren waren sie beide längst nicht mehr die, die sich einmal in einem Kurs über amerikanische Literatur begegnet waren. Sie waren wie Fremde. Die Fassade blieb aufrechterhalten, und sie richteten sich mit ihrer Lebenslüge ein und fühlten sich sogar einigermaßen vom Glück begünstigt, das es so blieb. Immerhin, er mußte einräumen, daß es Beth gewesen war, durch die er zur Ruhe gekommen war, zu Disziplin und Ausdauer, ohne die er die Stellung in Georgetown nie erhalten hätte. Er hätte nicht mit Sicherheit sagen können, ob er sie eigentlich jemals wirklich geliebt hatte. Aber er wußte, das sie Wärme in sein Leben gebracht hatte — zu einer Zeit, da er in der ihn umgebenden Kälte zu erfrieren drohte. Wenn er sie nicht geliebt hatte, so hatte er sie zumindest dringend gebraucht - und war das am Ende, genau besehen, nicht dasselbe? Beths Auto stand in der Einfahrt, als er mit seinem LTD ankam. Die Kinder waren fort. »Wir müssen reden«, sagte er. Sie hatte es sich auf der Couch im Wohnzimmer bequem gemacht und studierte die Prospekte der neuesten Kücheneinrichtungen. »Ich muß gleich zur Arbeit los. Hat das nicht Zeit?« »Nein, keine Minute«, sagte er. Es hatte keinen Sinn, noch lange darum herumzureden. »Ich verlasse die Universität.« Sie sah ihn völlig perplex an. »Das ist doch wohl nicht dein Ernst?« »Mein voller.« Er setzte sich neben sie. Es war erstaunlich, das man mit einem Menschen so lange zusammenleben und ihn doch so wenig kennen konnte. »Es ist unerträglich geworden, wie sie mich unter Druck gesetzt haben. Sie haben eine Situation geschaffen, die für mich unmöglich wurde.« »Und du wirfst einfach alles hin und machst es damit nur noch unmöglicher.« »Hör mir erst mal zu. Ich habe andere Angebote erhalten.« Er unterbrach sich und versuchte seine Gedanken zu ordnen und überzeugend zu wirken. »Ich habe das schon seit längerem kommen sehen und mich darauf eingestellt. Andere Universitäten haben sich bereits interessiert gezeigt.« »Welche? Was sind das für Universitäten?« »Da und dort, überall.« »Jedenfalls nicht in Washington, entnehme ich daraus. Wir sollen also wieder einmal umziehen? Wieder die ganze Familie verpflanzen? Denk doch auch einmal an die Kinder, Chris! Ist das ihnen gegenüber fair?« »Mein Gott, andere Kinder passen sich auch einer neuen Umgebung an. Warum sollten unsere das nicht können? Sie sind doch ganz normal.« »Wir hätten darüber reden müssen.« »Jetzt reden wir ja darüber.« »Und was ist mit mir, meinst du? Ich habe hier eine Stellung!« »Es gibt auch anderswo Immobilienfirmen.« »Ach, und das genügt dir als Ausrede?« fuhr Beth unvermittelt auf. Locke wußte, das seine Strategie nicht funktioniert hatte. Er mußte mit mehr herausrücken. »Es muß nicht unbedingt ein Umzug damit verbunden sein. Es gibt auch neues Interesse an meinen Romanen und wenn alles klappt, kann ich den Beruf ohnehin aufgeben, zumindest für eine Weile, und mich vielleicht mit George Washington wegen einer Teilzeitarbeit arrangieren.« Beth musterte ihn mißtrauisch. »Ich dachte, die Manuskripte liegen nach wie vor in deiner Schublade?« »Ich habe neue Kopien verschickt.« »Welcher Verlag interessiert sich dafür?« »Beth, du weißt, das ich über ungelegte Eier nicht sprechen mag, solange nichts definitiv entschieden ist.« Er holte Atem. Jedenfalls ist der betreffende Verlag interessiert genug, um mir zwei Wochen Europa zu finanzieren.« Tatsächlich?« Beths Gesicht hellte sich auf. »Wann?« Locke wurde sich klar, das Beth selbstverständlich annahm, sie käme mit. »Es ist so«, stotterte er etwas, »Sie wollen nur mich allein losschicken. Für diesmal jedenfalls. Es ist ohnehin nur eine reine Vorbereitungsreise für zwei Wochen, für ein Buch. Besichtigungen, Lokalkolorit und so etwas. Ich soll einen neuen Schauplatz für mein drittes Buch finden.« Das Schauplätze für deine Bücher so wichtig sind, höre ich zum ersten Mal.« Je aktueller und bedeutender ein Buch werden soll, um so wichtiger werden sie. Für mich ist das eine einmalige Chance, Beth. Die will ich nutzen.« Beths Brauen zogen sich zusammen, und er hatte das Gefühl, ihre Gedanken lesen zu können. Die Vorstellung, die Frau es anerkannten Autors zu sein, gefiel ihr durchaus. Und wann soll das sein?« fragte sie. Heute Abend.« Was?« Es hat sich alles sehr schnell ergeben. Mein Flugzeug geht halb acht.« Und dann bist du zwei Wochen weg? Und was ist mit dem wichtigen Dinner am Freitag in einer Woche?« Du mußt mich eben entschuldigen.« Ich hoffe nur, es ist zu deinem Besten.« Das ist es ganz bestimmt.« Sie saßen eine ganze Weile schweigend da, und eine deutliche Spannung hing zwischen ihnen. Irgendwie wünschte er. das sie ihm mehr Fragen stellte, Erklärungen forderte, die eingehender waren als die dürren Eröffnungen, die er ihr gemacht hatte. Es war ganz klar, die Kluft zwischen ihnen war noch größer geworden; und sie ließ erkennen, das sie das entweder gar nicht bemerkte oder das es ihr gleichgültig war. Seit sechs Monaten hatte sich schon nichts mehr zwischen ihnen abgespielt, und er hatte bereits angefangen, sich an das Leben ohne Sex zu gewöhnen. Mehr als das machte ihm ohnehin das Leben ohne Liebe zu schaffen. »Soll ich dich zum Flughafen fahren?« bot Beth ohne viel Nachdruck an. »Ich werde abgeholt«, sagte er. »Trotzdem danke.« Er war eben damit fertig, seine Koffer nach unten zu tragen und vor die Haustür zu stellen, als Brian Charney angefahren kam. »Wir sind spät dran«, sagte Locke. »Wir müssen uns beeilen.« »Keine Sorge, das Flugzeug wartet, wenn nötig.« Als sie seine Koffer einluden, sah Locke, das Charney kein Gepäck bei sich hatte.
»Du kommst nicht mit? »Nicht in deiner Maschine, Chris. Viel zu riskant. Ich komme später nach. Wir müssen auch die entfernteste direkte Verbindung vermeiden, auch wenn wir in London sind. Wenn die anderen auf Draht sind, wissen sie, das Lube für mich gearbeitet hat, folglich werden sie mich im Auge behalten. Schon deshalb könnte ich die Spur nicht selbst verfolgen.« »Ich bin also in London ganz auf mich selbst gestellt?« »Geh einfach vor, wie wir es besprochen haben. Du ziehst ins Dorchester und telefonierst sofort mit Alvaredejo. Dann rufst du unsere Kontaktnummer an und hinterläßt, wie ihr verblieben seid. Ich komme bereits eine Stunde nach dir in London an.« Auf dem Dulles-Airport herrschte lebhafter Abendbetrieb. Das war Charney nur recht. In der Menge konnte man sich besser verstecken als in halbleeren Flughafenhallen. Er verabschiedete sich, sobald Locke eingescheckt hatte, und niemand konnte dahinter mehr vermuten, als daß einer seinen alten Schulfreund zum Flughafen gebracht hatte. Als Locke sich mit seinem Handgepäck zum Flugsteig begab, ging in der Halle ein Mann in einem Sportsakko zu einem Münztelefon und wählte eine Nummer in Übersee. »Er steigt gerade in sein Flugzeug«, sagte er und hängte sofort wieder auf.
Zweiter Teil Paris und London Donnerstag morgen Ross Dogans Blicke schössen rasch hin und her, während er sich, auf der Place du Tertre herumschlendernd, den Anschein eines ganz normalen Touristen zu geben versuchte. Der Russe hatte auf einem öffentlichen Ort für sein Überlaufen bestanden, und Dogan hatte diesen Platz ausgewählt, weil er zweifellos zwar sehr öffentlich war, aber dennoch auch in sich geschlossen und überschaubar. Die Tische des Straßencafes standen auf dem alten Kopfsteinpflaster des Platzes. Künstler verkauften ihre Bilder an Ständen. Einige waren bereits bei Sonnenaufgang erschienen, um sich einen günstigen Standort an einem Baum oder vor einem Laden zu sichern. Andere arbeiteten dort und schufen so eine zusätzliche Touristenattraktion. Die Place du Tertre war alles andere als eine moderne Fußgängerzone. Geschäftsinhaber und Straßenverkäufer hielten gleichermaßen eine Atmosphäre der Ruhe und Behaglichkeit aufrecht, in der die Besucher unbedrängt und ohne Hast nach Belieben bummeln, flanieren, essen und trinken und ein wenig Sonne genießen konnten. Dies war kein Platz für Eile. Dogan fand Keyes an einem der vielen Tische mit rotkarierten Tischdecken und setzte sich zu ihm. »Alles bereit?« fragte er. Keyes sah ihn mit einer gewissen Ehrerbietung an. »Ja, Sir.« »Nennen Sie mich nicht Sir.« »Bitte sehr. Ja, es ist alles bereit.« Keyes griff an das Miniatur Walkie-talkie -in einer Brusttasche. »Alle Einheiten an ihrem Platz. Ich habe je vier Mann am vorderen und hinteren Ende der Straße stehen, das dürfte ein ausreichender Schutz sein. Außerdem sind noch ein Dutzend weiterer Leute in der näheren Umgebung des Treffpunktes postiert.« »Hier.« »Hier«, bestätigte Keyes. Er war fünfzehn Jahre jünger als Dogan, einer aus der jungen Agentengeneration — der ersten übrigens, die ihre Grundausbildung nicht mehr in Südostasien erworben hatte. Langley hatte versucht, dieses verlorene Übungsgebiet durch sporadische Unternehmungen in Südamerika und Afrika zu ersetzen, aber heutzutage waren auch die Medien informierter und wachsamer, also mußte man sich "mehr zurückhalten als je zuvor. Dessenungeachtet waren die Außendienstagenten von heute auch selbstbewußter und risikofreudiger denn je. Und die CIA war inzwischen auch wieder ziemlich »in«. Dogan bestellte Cafe au lait und musterte Keyes. Einszwei-undachtzig groß, tadellose Figur, imstande, jederzeit zu töten, gleich, ob mit der Waffe oder mit den eigenen Händen. Was den jungen Spunden der »Firma« an Erfahrung fehlte, machten sie auf jeden Fall an Training wett. Jedenfalls war das ihre Überzeugung. Doch Dogan hatte keine Geduld mit Leuten wie Keyes. In dieser Branche hatte man auf die Dauer nur Erfolg, wenn man auch geschmeidig war und nachgeben konnte, statt immer nur »auf sie mit Gebrüll« zu praktizieren. Die jungen Kerle von heute hatten gerade dafür kein Gespür. Für sie war alles entweder schwarz oder weiß. Ihr alles beherrschendes Motiv war ausschließlich, zu »punkten«, wie sie das im Sportjargon nannten. Pluspunkte bei den Vorgesetzten sammeln, um vorwärtszukommen. Unwichtig, ob es der Operation auch wirklich und auf lange Sicht nützte oder nicht. Nein, auch Keyes war in dieser Beziehung genau wie alle anderen. Und für keinen von ihnen hatte Dogan viel übrig. Da Nam ausfiel, war es an erfahrenen alten Hasen wie Dogan hängen geblieben, die Nachwuchsleute für die Abteilung Sechs der »Firma« unter sogenannten Echtbedingungen zu führen. Die Abteilung Sechs war die tatsächlich existierende US-Version der mehr fiktiven Doppel-Null-Agenten-Abteilung von
MI-5 in England. Für sie vermochten sich nur ganz außerordentlich wenige Agentenanwärter zu qualifizieren. Keyes war einer von ihnen. Trotzdem hatte Dogan seine Zweifel. Der Junge hatte noch zu viele ungeschliffene Kanten, angefangen von der Art, wie er sein kurzgeschorenes schwarzes Haar trug, bis zu seinen sorgfältig manikürten Fingernägeln, und wie er ständig die Fäuste ballte und wieder öffnete. Der junge Mann hatte noch eine ziemliche Blickverengung. Er mußte erst noch seine Scheuklappen ablegen. »Gestatten Sie mir eine Frage?« sagte Keyes plötzlich. Dogan hielt in seinem ununterbrochenen beobachtenden Rundblick über die ganze Place du Ter'tre, auf der der Überläufer erwartet wurde, inne. »Ja?« »Wissen Sie alles über diesen Russen?« »Chef der Abteilung Waffenforschung, soviel ich weiß. Bringt einen Mikrofilm mit, auf dem alle möglichen Planzeichnungen und Konstruktionspläne sein sollen. Ich versuche, bei Details möglichst wenig hinzuhören. Das ist nur hinderlich für den Job.« »Sie scheinen nicht sehr beeindruckt von ihm zu sein.« Dogan sah den jungen Agenten eindringlich an. »Wissen Sie, mein Junge, ich bin schon lange in dem Geschäft und habe schon so viele angebliche Überläufer gesehen, die uns hinterher hereingelegt und in die Pfanne gehauen haben . . . In der Regel haben wir uns mit solchen Burschen am Ende mehr Nachteile als Vorteile eingehandelt. Die Russen sind auf dem Gebiet schlicht und einfach cleverer als wir. Wenn Sie da drüben bei denen auch nur den Fotokopierer ohne Erlaubnis benützen, hacken die Ihnen einen oder zwei Finger ab und Sie finden sich in Sibirien wieder, ohne Rückfahrkarte. Also. Im Klartext: die meisten sind falsche Fuffziger und ganz offiziell ausgeschickt.« »Der hier auch?« »Kann man frühestens nach den ersten Vernehmungen sagen.« Keyes zögerte. »Darf ich Sie noch etwas fragen?« Dogan sah sich um. »Von mir aus. Wir haben Zeit.« »Ihr Code-Name ist doch Grendel? Haben Sie sich den selbst ausgesucht?« »Er wurde mir zugeteilt.« »Grendel war doch so ein Monster, das Menschenfleisch fraß, nicht?« »Und die Leute auf dem Land terrorisierte«, ergänzte Dogan sachlich. »Die Leute lebten in Angst und Schrecken vor ihm. Niemand wagte, sich ihm entgegenzustellen.« »Und so sind Sie auch?« wollte Keyes wissen und sah zu Dogan mit der Art Blick auf, wie C-Klassen-Spieler zu einem großen Profistar. »Nur so geht's. Einschüchterung ist alles. Die Gegenseite fürchtet sich, dir die Killer auf den Hals zu hetzen, weil ein Fehlschlag bedeutet, daß du den Spieß umdrehen mußt und deine Killer hinter ihnen herschickst. Und dieser Preis ist jedem zu hoch. Also will niemand Eskalation oder, daß die Leute einander gegenseitig wegen persönlicher Dinge umlegen. Leute wie Waslow und ich sind in erster Linie Profis.« »Waslow«, murmelte Keyes. »Ich habe das Dossier über ihn gelesen.« »Exzellenter Mann. Mein Amtskollege auf der anderen Seite bei den Sowjets.« »Das klingt, als mögen Sie ihn.« »Respekt ist das bessere Wort. Wir respektieren einander. Er ist genauso lange im Geschäft wie ich, ich glaube sogar, noch länger. Wir beide sind inzwischen Anachronismen. Ich habe keinen Zweifel, daß er das genauso sieht wie ich.« »Haben Sie je mit ihm gesprochen?« Dogan musterte Keyes noch einmal abschätzend. Groß, stark, clever. Doch, doch, die Firma suchte sich nicht die schlechtesten Leute aus. Nur, er — Dogan — war nicht bereit, solchen Leuten wie diesem jungen Mann die Sicherheit des Landes anzuvertrauen. Dieser Art Burschen fehlte bei all ihren Qualitäten etwas Entscheidendes. Die wirkliche Überzeugung bei dem, was sie taten. Das, was es zu mehr als einem Karriere-Job machte. Und das Verständnis und die Übersicht. So ähnlich empfand er es, ganz exakt konnte Dogan es nicht formulieren. Das Walkie-talkie von Keyes begann leise zu quäken. Ich übernehme das«, sagte Dogan kurz und streckte die Hand fordernd aus. Keyes reichte ihm das kleine Gerät nur wiederstrebend und mit einem beleidigten Blick von der Art Das wollte ich doch selber machen. Dogan ignorierte das einfach und hielt sich das kleine Ding vor den Mund. »Grendel hier.« Grendel?« knallte eine Stimme aus dem kleinen Lautsprecher. Leute an den Nachbartischen blickten auf. Können Sie vielleicht noch lauter brüllen?« zischte Dogan in das Gerät. Die Stimme sprach leise und gedämpft weiter. »Entschuldigung. Person hat Platz von Sacre-Coeur aus betreten.« Das bedeutete, er mußte genau auf ihn zukommen, überlegte Dogan. »Ist er allein?« »Allein.« »Kleidung?« »Schwarzer Mantel, offen. Brauner Anzug.« Scheiße noch mal! dachte Dogan. Fünfundzwanzig Grad, und dieser russische Affe läuft im Mantel herum! Denkt wohl, er ist ner noch in Moskau. Damit er ja richtig auffällt hier! Man mußte ihn abschirmen. »Schicken Sie zwei Ihrer Leute direkt hinter ihn. Klar?« »Verstanden, Grendel. Zwei Mann zum Beschatten.« »Quatsch! Nicht zu nahe. Wenn wir ihn zu offensichtlich abschotten, fällt er noch mehr auf. Er soll nicht merken, daß sie da sind.« Dogan spürte, wie ihm Schweiß den Rücken hinunterrann und sein Hemd durchnäßte. Er fühlte sich klebrig. Verdammt nochmal, irgendwas stank, ziemlich sogar. Er suchte mit flinken Augen die ganze Place du Tertre ab, bis hin in die einmündenden Straßen mit ihren Geschäften. Aber alles sah völlig normal aus. »Ist was?« fragte Keyes. »Schnauze!« knurrte Dogan nur. Seine Augen flogen weiter hin und her von den Malern mit ihren Leinwänden, Farben und Pinseln, über die neugierigen Touristen, die ihre potentielle Kundschaft waren, bis zu dem blinden Bettler an der
Ecke. In einer der Seitenstraßen kam ein vereinzeltes altes Auto angefahren, mit einer alten Frau am Steuer. Sie hielt an und ließ zwei Männer, die Kinderwagen schoben, über die Straße, um dann den Motor abzuwürgen. Sie versuchte, ihn wieder anzukriegen, während hinter ihr ein Hupkonzert losging. »Wo ist er?« fragte Dogan hastig ins Walkie-talkie. »Halb die Straße runter«, kam die Antwort. »Müßte bereits in Ihrem Blickfeld sein.« »Irgendwer außer uns hinter ihm her?« »Sieht nicht so aus. Soll ich den Rest meiner Leute einsetzen?« »Auf keinen Fall!« befahl Dogan. »Ihr rührt euch nicht von der Stelle, bis ich weitere Anweisungen gebe. Behaltet ausschließlich das Straßenende vorne im Auge. Wir sind noch lange nicht aus dem Schneider.« Er sah sich noch einmal auf dem Platz selbst um. Der Mann im schwarzen Mantel bahnte sich seinen Weg durch die Menge, und die beiden Agenten hinter ihm waren allzu; sichtlich bemüht, an ihm dran zu bleiben. Der Überläufer blieb am Stand eines der Maler stehen. Die beiden Männer mit den Kinderwagen, die wie Butler angezogen waren, begannen auf die Tische mit den rotgewürfelten Decken zuzukommen. »Wir hauen ab«, sagte Dogan zu Keyes. Die Kinderwagen näherten sich rasch. Der junge Agent sah verwirrt aus. »Das ist nicht nach Plan.« »Schnappt ihn euch!« schrie Dogan Keyes an und zugleich ins Sprechgerät, während er selbst aufsprang. Die Kinderwagen waren direkt hinter ihm. Das Walkie-talkie plärrte. Dogan hatte keine Zeit mehr, weiter darauf zu achten, warf sich genau überlegt im richtigen Moment auf sie und hatte die beiden Butler im nächsten Moment am Boden. Er hielt fest, damit sie nicht an ihre Waffen konnten. Einer der Kinderwagen schleuderte und fiel um. Ein Baby kullerte heraus und schrie, mehr aus Schock als vor Schmerz Dogan sah auf die Butler. Sie hatten Angst im Blick und brabbelten französisch. »Hallo, Grendel, Grendel, kommen! Ich ziehe meine Leute a b , wiederhole, ziehe meine Leute ab!« Nein!!« schrie Dogan so laut, als könne der Mann vorne am Ende der Straße ihn hören, während er die beiden Butler hochzog und ihnen wieder auf die Beine half. Wo war das verdammte Walkie-talkie? Wo hatte er es verloren? Er entdeckte es neben einem der nächsten Tische. Er griff es sich hastig und hielt es sich vor den Mund. Mit einem Schlag war ihm das ganze Doppelspiel klar. »Nein! Hören Sie mich? Sie bleiben, wo Sie sind, verstanden! Wiederhole, Sie bleiben unbedingt und rühren sich nicht von Stelle! Wir sind hereingelegt worden. Bleiben Sie, wo Sie sind!« Aber es kam keine Antwort mehr. Der Idiot hatte seine Leute bereits abgezogen. »Scheiße, verdammte!« Und dann rannte er los, sprang über einen der Tische und rannte durch die Menschengruppen. Am Stand des Malers zogen Keyes und ein paar andere den Mann im schwarzen Mantel eiligst mit sich fort. »Mir nach!« schrie Dogan im Vorbeirennen. Keyes zögerte eine Sekunde, kam dann aber rasch mit. Er hatte Dogan fast eingeholt, als der Mann mit dem Walkie-talkie zu ihnen stieß und keuchend stehen blieb. »Arschlöcher!« schimpfte Dogan wütend. Sie waren fast schon ganz vorne am Ende der Place du Tertre, die Basilika Sacre-Coeur ins Blickfeld kam. Und ein weißhaariger Mann. Der der Zwilling des anderen hätte sein können, welchen hinten bei dem Maler die Agenten eben wegzerrten. Nur, daß dieser hier keinen Mantel anhatte. Dogan mußte, weil er noch zu weit weg war, tatenlos zusehen, wie ein gutkleideter Herr diesen Mann an beiden Ellbogen faßte und zu einem wartenden Peugeot geleitete. Und der echte Überläufer - denn das war er - zögerte nur kurz, ehe er nachgab, darauf brauste der Peugeot davon, Dogans Blick fiel auf den blinden Bettler von der Ecke, der lieh fünfzehn Meter vor ihm und ganz offensichtlich auch nicht mehr blind war. Er grüßte sogar kurz, an seine Mütze tippend. Waslow! Ganz unwillkürlich machte Dogan eine Andeutung einer Erwiderung dieses Kollegengrußes. Er zog nicht einmal in Erwägung, die Pistole zu ziehen. Inzwischen kam Keyes hinter ihm herbeigesaust, blieb nach Luft ringend bei ihm stehen und zeigte mit dem Finger hinter dem enteilenden Bettler her. »Das ist Waslow!« schrie er. »Waslow!« Bettler Waslow verließ gerade die Place du Tertre und verschwand in der Menge. »Und Sie lassen ihn einfach laufen!« Keyes wollte hinter ihm her und zog bereits seine Pistole. Mordskanone, dachte Dogan. »Lassen Sie ihn gehen!« befahl er. »Lassen Sie ihn!« Aber Keyes hörte schon nicht mehr und war bereits an der Einmündung der Straße. Er ging in Anschlag, um bei erster Gelegenheit in die Menge zu schießen, unter die der Bettler sich gemischt hatte. Der junge Blödian mißachtete einen klaren Befehl! Aber mit Dogan konnte so einer das nicht machen. Zugegeben, der Junge hatte den Profiriecher. Er hatte immerhin Waslow nach den Fotos im Dossier sofort erkannt. Er war offenbar gut. Viel besser, als Dogan ihn eingeschätzt hatte. Aber er war noch zu grün hinter den Ohren, um alles zu begreifen. Passanten, die Keyes Waffe sahen, begannen zu schreien. Dogan stürzte auf ihn zu und stieß ihn zur Seite. Aber der impertinente Bursche, heiß, im Jagdeifer, stieß einfach zurück und leistete Widerstand! Er hielt die Pistole weiter schußbereit im Anschlag. »Ich sagte, Sie sollen ihn gehen lassen!« zischte Dogan in kaltem plötzlichem Zorn. Er packte Keyes am Handgelenk und drehte es ihm hart herum. Keyes schrie vor Schmerz auf. Er holte mit der freien Hand gegen Dogan aus. Doch Dogans| Abwehr war genauso schnell. Er blockierte den Schlag mühelos ab und hieb dem Jüngeren die Faust glashart ans Kinn. Er fiel sofort um. K. o. Vermutlich würde sein Unterkiefer nie mehr richtig funktionieren. Und mit dem Töten mit bloßen Händen und dem blitzschnellen Ziehen war es fortan für ihn wohl ebenfalls vorbei. Zehn Sekunden heller Zorn Dogans hatten dafür genügt. Inzwischen waren die übrigen Agenten herbeigekommen. Zwei hielten noch immer den falschen Überläufer, den ihnen Waslow zugespielt hatte. Passanten blieben neugierig stehen fand wollten sehen, wie sich zwei Männer um einen bewußtlosen dritten bemühten. »Rufen Sie eine Ambulanz«, sagte Dogan. Er wußte, daß er wegen dieser Geschichte Ärger bekommen «würde. Dieser junge Schnösel Keyes stellte immerhin eine erhebliche Investition der Firma für die Zukunft dar, und die hatte er hier, einfach so, ruiniert. Auch wenn er ihnen damit wahrscheinlich am Ende nur einen Gefallen getan hatte, würden sie das sicher nicht so sehen.
Er ging angewidert weg und fragte sich, ob Waslow ihn noch immer beobachtete. Locke hatte versucht, während des Flugs zu schlafen, aber er konnte nicht. Er kehrte zurück nach England, das sein Geburtsland, aber nie seine Heimat gewesen war. Seine Erinnerungen an England waren nur noch sehr verschwommen. Er versuchte, während die 747, in der er saß, den Atlantik überquerte, sich die bruchstückhaften Erinnerungen ins Gedächtnis zurückzurufen, zum tausendsten Mal übrigens, indem er die eigenen wenigen Erinnerungsbilder mit zusammenfügte, was er im Lauf der Jahre seinem Vater am hatte entlocken können, der erst vor einem Jahr, achzigjährig, in einem Altersheim in Virginia gestorben war. Erst in seinen allerletzten Tagen war er etwas gesprächiger vorden, was ihre Jahre in London und den Flug nach Amerika betraf. Er hatte vor sich hingebrabbelt, wirr und zusmmenhangslos, zwischen den Jahren hin- und herspringend. Aber Locke konnte sich dennoch manches daraus zusammenreimen. Sein Vater war im diplomatischen Dienst gewesen und hatte sich Mitte der dreißiger Jahre in Deutschland aufgehalten. In wenigen Monaten vermochte er dort die Lage einzuschätzen und zu erkennen, was kommen würde. Man nahm seine Berichte auch durchaus zur Kenntnis. Aber gehandelt wurde nicht. Er heiratete ein junges deutsches Mädchen und brachte sie heim nach England, als die diplomatischen Verbindungen abrissen und Hitlers Kriegsmaschine sich in Bewegung setzte. Sohn Christopher wurde 1942 in London geboren, mitten in der für das Land schlimmsten Kriegszeit. Zu dieser Zeit war sein Vater bereits Ratgeber in Churchills Kriegskabinett, was automatisch mit sich brachte, daß er oft tagelang verschwunden blieb, ehe er in die Arme seiner liebenden Gattin zurückkehrte, die er anbetete. Und das schien auf Gegenseitigkeit zu beruhen. Chris hatte ganz konkrete, wenn auch vage Erinnerungen an die liebevollen Umarmungen seiner Eltern. Noch auf seinem Totenbett hatte sein Vater unter Tränen den Schmerz beschrieben, den ihm die Erinnerung an all dies noch im nachhinein bereitet hatte — als er erst wußte, daß die ganze , liebevolle Zuwendung seiner Frau nur Tarnung gewesen war. Seit Jahren existierte ein gutorganisiertes deutsches Spionagenetz in England, dem sie angehörte. Er hatte von alledem keinerlei Ahnung gehabt. Was um so schlimmer war, als es ausdrückliche Anweisungen, Instruktionen und Vorkehrungen gab, vor allem für Regierungsmitglieder und ihre Umgebung, sich vor Anfälligkeit gegen Spione oder sogar direkte Infiltration durch sie zu schützen. Um so schlimmer und entsetzlicher hatte ihn dann die Entdeckung getroffen. Es schien, als versuche er, sich am Ende seines Lebens von dieser Last noch zu befreien. Er sprach davon, wie allmählich der erste leise Verdacht in ihm aufkeimte, als Rosa immer häufiger seltsame Nachtspaziergänge unternahm, wenn sie ihn schlafend glaubte. Und wie er eines Nachts vorgegeben hatte, an einer dringenden Kabinettssitzung teilnehmen zu müssen, während er in Wirklichkeit vor dem Haus wartete. Tatsächlich war sie kurz danach in dunklen Kleidern aus dem Haus gegangen, und er war ihr gefolgt; zu einem Treffen in einer dunklen abgelegenen Lagerhalle mit mehreren Leuten, die ausschließlich deutsch sprachen und wo sie offensichtlich das Kommando führte, die Vorgesetzte war. war nach Hause zurückgekehrt und hatte seine Pistole rausgeholt, fest entschlossen, erst seine Frau und dann sich selbst zu töten. Nur der Anblick des Jungen, der friedlich in seinem Bett schlief, hielt ihn davon ab. Er hatte bezweifelt, daß er es fertigbringen würde, seine Frau zu erschießen, die er trotz allem nach wie vor heftig liebte. Aber so wie er sie liebte, liebte — andererseits auch sein Land. Er gab ihr also, als sie zurückkam, nur mit knappen, geflüsterten Worten, damit das Kind nicht aufwachte, zwei Stunden Zeit. Sie verstand auf der Stelle, machte keinerlei Umstände und verschwand mit einem kleinen Koffer. Er wartete die versprochenen zwei Stunden, rief dann die Polizei an und weinte danach bis zum Morgengrauen. So sehr er gehofft hatte, die zwei Stunden würden ihr genügen, außer Landes zu kommen, auch wenn ihm dies in doppelter Hinsicht das Herz brach, sie wurde noch gefaßt, als auf ein deutsches U-Boot wartete, das sie abholen sollte, Binnen drei Tagen wurde gegen sie verhandelt, das Urteil gefällt und vollstreckt. Er war der einzige Mensch bei ihrem Begräbnis gewesen, aber er lehnte es ab, ihr einen Grabstein setzen zu lassen. Er beweinte sie, aber er zwang sich, sie zu vergessen. Als sich das Ereignis herumsprach, bestand keine Chance mehr, im Lande zu bleiben, obwohl er sich persönlich nichts vorzuwerfen hatte. Die Regierung, die das ebenfalls klar erkannte, verhalf ihm schließlich zu einer neuen Identität und Auswanderung nach Amerika, damit er dort mit seinem Sohn ein neues Leben beginnen konnte. Der Schlag jedoch war zu schlimm für ihn gewesen. Er erholte sich nie mehr davon, zog sich in sich zurück und kapselte sich ab. So sehr, daß auch sein heranwachsender Sohn außer der finanziellen jede emotionale Sicherheit entbehrte. Der Vater ertränkte den Kummer es Lebens in Alkohol, bis er sich damit zerstört hatte, noch das Herz nicht mehr mitmachte. Die letzten zehn Jahre es Lebens waren für Charles Locke ein einziges Leiden, aber eben dies schien er bewußt zu suchen. Erst in den letzten paar Tagen seines Lebens empfand Christopher mehr für ihn als die bisherige Bitterkeit und Fremdheit. Lange zuvor schon hatte er beschlossen, seinen Kindern ein besserer Vater zu sein. Aber da hatte er die Gründe noch nicht gekannt, warum sein Vater der Mann geworden war als den er ihn kennengelernt hatte. Seine eigenen Kinder sollten rückhaltloses Vertrauen zu ihm haben können, anders als er zu seinem Vater. Er wollte all das für seine Kinder und seine Familie sein, was, wie er damals geglaubt hatte, Charles Locke für ihn nie gewesen war. Doch gerade, weil er das so verbissen anstrebte, gelang es nicht, kippte ins Gegenteil um. Das Motto der Akademie Man bekommt immer nur eine Chance war ihm durchaus bekannt und geläufig, so akzeptierte er den Fehlschlag seines Lebens, als er ihn erkannt hatte, wenn auch gebrochen, so doch ohne Klagen. Das Flugzeug landete rumpelnd und polternd. Die Triebwerke heulten donnernd auf, als die Maschine abgebremst wurde. Immer nur eine Chance. Genau dies war doch wohl das eigentliche, fast unbewußte Motiv gewesen, Charneys Angebot anzunehmen. Natürlich war das Geld, das damit verbunden war, ein gewichtiges Argument gewesen. Aber dennoch bei seiner Entscheidung nicht ausschlaggebend. Locke versuchte gerade seine Gedanken abzuschütteln und in die Wirklichkeit zurückzufinden, als die Passagiere die letzten Anweisungen erhielten. Es war halb acht Uhr morgens Londoner Ortszeit. Er war hundemüde. Und dabei standen noch die Gepäckabfertigung und die Einreise- und Zollformalitäten bevor. Das alles zog sich in der langen Warteschlange schier endlos hin. Aber dann sprach ihn plötzlich jemand an. »Mr. Locke?« Er drehte sich herum. Ein tadellos uniformierter Zollbeamter stand vor ihm. »Ja?« »Robert Trevor, Sir.« Der britische Akzent des Mannes traf ihn ganz unvorbereitet und kam ihm komisch vor, so selbstverständlich er hier in London doch war. »Wenn Sie mir bitte folgen wollen. Ich habe den Auftrag, sie abzuholen und Ihnen behilflich zu sein.« Er führte ihn in ein Büro, bat um den Paß und erledigte die nötigen Stempel. »Ihr Gepäck steht ebenfalls bereits zur Verfügung. Ein Wagen wartet auf Sie.« »Sehr freundlich«, murmelte Locke.
»Ihre Suite im Dorchester steht bereit, soll ich Ihnen ausrichten. Im Auftrag von Mr. Charney. Und dann sollen Sie auch noch dies hier bekommen.« Trevor entnahm einem Wandschrank in dem fensterlosen Büro eine 45er Standard-Armeepistole. Locke nahm die Waffe zögernd und überrascht. Über Waffen war bisher mit Charney nicht gesprochen worden. Was hatte sich geändert? Brian hätte ihn doch sicher nicht mit einer Waffe versorgt, wenn nicht die Möglichkeit bestand, daß er sie brauchte. Irgend etwas stimmte nicht. Es waren inzwischen offenbar neue Umstände eingetreten, die vorher gar nicht zur Debatte gestanden hatten. Andererseits war es jetzt und hier zu spät, umzukehren. Trotzdem, die Sache blieb merkwürdig — auch, daß man ihm die Waffe durch einen untergeordneten, fremden Zöllner überreichen ließ. Das sah so gar nicht nach Bri Charney aus. Aber bei ihm war man auch nie vor Überraschungen sicher. Und schließlich, hätte er schon zu Hause von Waffen gesprochen, hätte er natürlich gar nicht erst weiterzusprechen brauchen. Weil er, Locke, sich dann von vorneherein nie darauf eingelassen hätte. Dies hatte selbstverständlich auch Bri genau gewußt. Trevor kümmerte sich auch noch zuvorkommend um ein Taxi, wünschte guten Aufenthalt und sah ihm noch eine ganze Weile nach, als er abfuhr. Ein wirklich ausnehmend freundlicher Zöllner, konnte Locke nicht umhin zu denken. Wieso eigentlich? War er von solcher VIP-Bedeutung? Brian Charney war ja wirklich rührend um ihn besorgt. Die Fahrt vom Flughafen Heathrow ins Dorchester in der City kam ihm länger vor als erwartet. Aber vielleicht, dachte er, war er auch nur zu ungeduldig und unruhig. Alles, was er wollte, war ankommen, sich erfrischen und vielleicht ein Stündchen Schlaf, ehe er Kontakt zu diesem Alvaradejo in der Kolumbianischen Botschaft aufnahm. Es war genau Viertel nach acht, als er in seine Suite geführt wurde. Sie war renoviert und in Braun und Apricot gehalten. Es gab eine Zimmerbar und einen Kühlschrank. Er zog die Vorhänge zurück, um die wenige Sonne einzulassen, die an diesem Londoner Morgen schien. Es war, genau genommen, kein strahlender Tag, die Temperatur kaum über zehn Grad, mit wenig Aussicht, daß sie noch stieg. Typisches Londoner Frühlingswetter. Jeder Sonnenstrahl eine Zugabe. Er ließ sich in einen der komfortablen, weichen Sessel fallen und fühlte sich etwas unwirklich. Dies war wie ein Traum. Christopher Locke, kleiner, erfolgloser amerikanischer Schullehrer, in einem der besten Londoner Hotels, obendrein in einer Luxussuite . . . Da gehörte er doch nicht hin, dies alles hier war für andere Leute als ihn gemacht. Er war zu aufgeregt, um schlafen zu können. Er entschloß sich, statt dessen lieber zu duschen. Vielleicht erreichte er, wenn er damit fertig war und frische Kleider anhatte, Charney bereits unter der Kontaktnummer. Das gäbe ihm gewiß mehr Sicherheit. Er ließ sich das heiße Wasser über den Körper strömen, eingehüllt in Dampf, und spürte, wie das in der Tat die Reisemüdigkeit von ihm spülte. Er blieb volle zwanzig Minuten unter der Dusche, bis er ganz erfrischt war. Er sah in den Spiegel und stellte fest, daß er eine Rasur gut vertragen konnte, und auch dies beschäftigte ihn und ließ die Zeit vergehen. Danach versuchte er sich durch penibles Auspacken von seiner wachsenden Unsicherheit und der ungewohnten, einschüchternden Umgebung abzulenken, warf dann aber mittendrin alles hin und ging zum Telefon, um seine Kontaktnummer zu wählen. »Ja, bitte?« fragte jemand. »Ich, äh . . . Brian Charney, bitte.« Er war ärgerlich, daß er stammelte. »Ihr Name und Ihre Nummer?« sagte die Stimme teilnahmslos und mechanisch. »Christopher Locke.« Er gab die Telefonnummer des Dorche-ster und seine Zimmernummer an. »Mr. Charney ist leider nicht erreichbar.« »Dann rufe ich später noch einmal an.« Er legte auf. Auch wenn Charney noch nicht in London angekommen war, hatte ihm dieser Anruf etwas mehr Sicherheit verliehen. Diese Kontakt-Telefonnummer, so anonym sie war, gab ihm das Gefühl, weniger allein und verlassen zu sein. Als sei er Teil von etwas Größerem, Glied einer Gemeinschaft, die ihn schützte. Er erinnerte sich an Charneys Worte, den Kontakt mit Alvaradejo unverzüglich aufzunehmen und dazu keineswegs zu warten, bis er, Charney, in London eingetroffen sei. Es war fast neun Uhr. In der Botschaft wurde sicher bereits gearbeitet. Er ließ sich verbinden und verlangte Juan Alvaradejo. »Wen bitte soll ich melden?« fragte die Telefonistin in spanisch gefärbtem Englisch. »Christopher Locke. Senor Alvaradejo kennt mich nicht, ich habe jedoch eine wichtige Nachricht für ihn.« Er zögerte etwas. »Ich rufe auf Empfehlung eines Freundes an.« »Augenblick, bitte.« Es dauerte etwas. Dann meldete sich eine Stimme. »Hier ist Juan Alvaradejo. Was kann ich für Sie tun?« Locke erinnerte sich an Charneys Anweisung, ohne Umschweife zur Sache zu kommen. »Ich muß Sie treffen, Mr. Alvaradejo. Es betrifft Ihr Gespräch mit Alvin Lübeck.« Es blieb still am anderen Ende der Leitung. Nur ein etwas nervöses Atmen, wie Locke fand, war hörbar. »Mr. Alvaradejo? Sind Sie noch da?« »Ja, ja, Senor. Also Sie möchten mich treffen.« »Sobald wie möglich, Senor. Ich habe eine lange Reise deshalb hinter mir.« »Und Sie waren ein Mitarbeiter von Mr. Lübeck?« »Ein Freund.« »Wo wohnen Sie, Senor?« »Im Dorchester.« Alvaradejo dachte etwas nach. »Kennen Sie London!« »Ein wenig.« »Erwarten Sie mich in einer Stunde an der Achillesstatue im Hydepark.« »Wie erkenne ich Sie?« »Stellen Sie sich einfach neben die Statue, Senor. Ich werde S i e erkennen.« »Gut, also dann in einer Stunde. Ich . . .« Aber Alvaradejo hatte bereits aufgelegt. Das Dorchester befand sich direkt am Hydepark, und man hatte von dort aus einen guten Überblick über die weiten Park-und Rasenflächen, dem einstigen Jagdrevier von Henry VII. Bis zu dieser Statue war es nicht weit, vielleicht eine Viertelstunde zu Fuß. Er mußte also noch eine Dreiviertelstunde totschlagen. Er rief den Zimmerservice an und bestellte sich ein leichtes Frühstück. Es kam, als er eben mit dem Anziehen fertig war. Er aß und wartete dann bis zur letztmöglichen Minute, um noch einmal die Kontaktnummer anzuwählen. »Kann ich etwas bestellen!« fragte die gleiche ausdruckslose, automatenartige Stimme wie vorhin. »Ich möchte Brian Charney sprechen.« »Ihr Name und Ihre Nummer, bitte.« Er wiederholte die Prozedur von vorhin. »Mr. Charney ist noch immer nicht zu
sprechen.« »Dann bestellen Sie ihm, wenn er kommt: Das Treffen findet jetzt statt und ich werde in Kürze darüber berichten. Ja, und . . . richten Sie ihm meinen Dank aus. Für das . . . Geschenk.« »Wird erledigt.« Und schon war am anderen Ende der Leitung wieder aufgelegt. Es war draußen so frisch, daß man einen Mantel vertragen konnte. Das war ganz günstig; so fiel seine 45er unter der Jacke nicht auf. Locke selbst hatte allerdings das Gefühl, jedermann auf der Straße starrte dorthin und wisse, daß er bewaffnet war. Er blickte häufig nach unten, um sich zu vergewissern, daß die Waffe auch wirklich nicht zu sehen war. Natürlich war sie das nicht. Er hatte immerhin gelernt, wie man eine Pistole so in den Gürtel steckt, daß sie nicht sichtbar war — selbst, wenn man nur einen Pullover darüber trug. Himmel nochmal, wieso fallt mir das gerade jetzt ein? Er blieb noch einige Augenblicke vor dem Eingang des Dorchester stehen, um in den Morgen zu schnuppern. Falls es zuvor noch nach etwas Sonne ausgesehen hatte, so war diese Hoffnung inzwischen vorbei. Der Himmel hatte sich bedeckt, es war neblig trüb. Er schlug den Mantelkragen hoch und ging über die Park Lane zum Hydepark. Die Park Lane bestand eigentlich aus zwei Straßen, die nebeneinander lagen, jede einbahnig in entgegengesetzte Richtungen. Er schaffte es bis zum Mittelstreifen, der sie trennte, und mußte ziemlich lange warten, bis die Ampeln umschalteten und er auf die Hydepark-Seite gelangte, auf einen der vielen Wege, die durch den Park führten. Er nahm die Richtung zur Serpentine Road, der größten Straße innerhalb des Parks, und bog dann nach links ab zur Achillesstatue an der berühmten Carriage Road. Er lehnte sich an den Sockel des Denkmals und sah auf die Uhr. Er war pünktlich. Weit und breit war niemand zu sehen. Er rieb sich die Hände und wünschte, er hätte Handschuhe angezogen. Es war doch ziemlich frisch. Minuten vergingen. Nichts passierte. Nirgends eine Spur von Jüan Alvaradejo. Er wurde langsam nervös. Durch sein akademisches Berufsleben war er an Ordnung und Pünktlichkeit gewöhnt, an präzise, immer gleiche Abläufe. Alles verlief nach Plan. Er war ran gewöhnt, daß die Minuten so vergingen, wie es vorgesehen war. Alvaradejo hatte Ort und Zeit bestimmt, also wo war er? Sein Unbehagen wuchs. »Ich wußte, Sie würden kommen, Senor«, sagte dann plötzlich eine Stimme von der anderen Seite der Statue, der Seite Carriage Road. Es war unverkennbar Alvaradejos Stimme. »Ich wußte, sie würden jemand schicken.« Locke wandte sich um, verblüfft über diesen überraschenden Auftritt. Aber er sah nur in die Mündung einer Pistole. »Carniceros!« rief der Kolumbianer. »Schlächter! Tiere! Ihr werdet dafür bezahlen! Alle werdet ihr bezahlen! Als Rache für die Toten von San Sebastian!« Er hob die Pistole. Im Bruchteil einer Sekunde rasten tausend Erinnerungen und Gedanken zugleich durch Lockes Gehirn. Doch keiner bewegte ihn vorwärts. Dafür übernahm lange trainierter, aber längst auch wieder verschütteter Instinkt das Kommando. Der endlose und bis zum Überdruß wiederholte Drill von einst erwachte wieder. Renn los und hör nicht auf zu rennen. Ein fliehendes Ziel ist schwierig für einen in Panik geratenen Schützen . . . Die Pistole des Kolumbinaers knallte einmal, zweimal, die Kugeln prallten singend vom Asphalt ab. Sie hatten Lockes Kopf nur knapp verfehlt. Er stürzte hart zu Boden, rollte sich zweimal um die eigene Achse und versuchte, hinter die Statue zu gelangen. Noch einmal spritzten Asphaltpartikel hoch. »Bastarde!« fluchte Alvaradejo. »Mörder! Asesinosl« Locke riß seine 45er aus dem Gürtel. Überleben war jetzt alles. Er hatte keine Zeit, über das was er tat, nachzudenken. Er wälzte sich vor einem neuen Schuß noch einmal weg, ins Gras. Alvaradejo zielte schimpfend und fluchend noch immer auf ihn. »Asesi . , .« Aber da hatte Locke den Abzug durchgedrückt. Es ging überraschend leicht, und der Rückstoß war kaum merkbar. Er schoß dreimal schnell hintereinander, sein Finger bewegte sich völlig automatisch. Die erste Kugel traf den Kolumbianer in den Leib, die zweite riß ihm die Brust auf, die dritte traf ihn nicht mehr, weil er bereits zurücktaumelte. Locke sprang auf, alles an ihm zitterte. Er ging wie in Trance auf den Mann zu, dessen Hände und Füße sich im Todeskampf verdrehten. Die ganze Szene war absolut unwirklich. Absolut unmöglich, fand er. Der ganze Ablauf, alles. Ein Mann hatte ihn zu erschießen versucht, aber er hatte ihn erschossen . . . Unmöglich, das alles! Er mußte endlich aufwachen! Das war nur ein böser Traum. Aber Alvaradejo blieb tot vor ihm liegen. Aus seiner Brust lief Blut. Auch aus seinem weit geöffneten Mund. Erst näherkommende Laufschritte brachten ihn in die Wirklichkeit zurück. Seine Sinne waren mit einem Schlag wieder scharf. Alvaradejo hatte versucht ihn umzubringen. Vielleicht war er gar nicht allein gekommen? Es war der reine Reflex. Er schob die Pistole in den Gürtel und rannte los, weg von den sich nähernden Schritten, hinüber zur Carriage Road, über sie hinweg. Er warf nur einmal einen kurzen Blick zurück. Sein Herzschlag dröhnte im ganzen Körper. Er rannte geradeaus weiter auf den Verkehrslärm der Park Lane zu. Dort in der Menge war er in Sicherheit. Jedenfalls fand er dort Deckung. Auch das eine Lektion von einst. Ein freies Taxi stand an der Ecke. Er sah sich noch einmal um. Falls andere da waren, konnte er sie nicht entdecken. Er mußte sofort ins Dorchester zurück, außer Sicht. Kontakt mit Charney aufnehmen. Er rannte auf das Taxi zu und ließ sich atemlos auf den Rücksitz fallen. Der Taxifahrer sah sich verwundert nach ihm um. »Geht's Ihnen nicht gut?« »Fahren Sie los, sonst nichts!« Der Fahrer stellte die Uhr an. »Wohin?« »Einfach erst mal los!« Der Taxifahrer fuhr los. Locke versuchte in Ruhe zu überlegen und sich zu beruhigen. Er war noch immer atemlos und keuchte. Das war alles zuviel. Zu schnell zuviel. Zu unerwartet zuviel. Und die Wirklichkeit traf ihn jetzt wieder, nachdem der erste Schock der Panik allmählich wich. Die Waffe steckte in seiner Tasche, noch immer heiß. Er hatte einen Menschen erschossen! Kein Training konnte jemals eine solche Erfahrung hervorrufen, das Gefühl im Magen simulieren, das er nun hatte. Aber schließlich hatte dieser Kolumbianer versucht, ihn zu ermorden! Das mußte er sich immer vergegenwärtigen! Er hatte schließlich in Notwehr gehandelt, nur sein eigenes Leben gerettet. Ein Wahnsinn! Charney mußte ihn da herausholen. Zum Glück hatte er ihn, sein guter Freund, mit dieser Pistole versorgt. Andernfalls . . . »Fahren Sie mich zum Dorchester«, sagte er schließlich zu dem Taxifahrer. »Sind wir grade dran vorbeigefahren, Mister.« Locke holte eine Fünfpfundnote heraus. »Dann fahren Sie zurück, Mann.«
Der Fahrer ergriff den Schein. »Klar, Mister.« Etwas an der Stimme dieses Fahrers störte ihn, irgend etwas kam ihm vertraut vor. Aber was, wer, wo? Klar, Mister. Der Akzent war nicht eigentlich britisch, das klang eher nach . . . Locke erstarrte. Der Akzent war spanisch! Er beugte sich vor und suchte nach der Taxilizenz, sah aber keine. Nun ja. Schließlich war dies hier nicht New York oder Washington. Er hatte keine Ahnung, ob es hier in London ebenso Vorschrift war, die Lizenz sichtbar auszuhängen, oder nicht. Hier, wo selbst das verdammte Steuerrad auf der falschen Seite war. Ruhe. Wahrscheinlich ging nur seine aufgescheuchte Phantasie mit ihm durch. Der Schock und alles. Ein spanischsprechender Mann hatte ihn umzubringen versucht, und jetzt hörte er überall einen spanischen Akzent heraus. Ruhe, Mann, Ruhe. Aber es gelang ihm nicht, Ruhe zu bewahren. Der Taxifahrer fuhr langsam im Verkehrsstrom weiter die Park Lane an der Hydepark-Seite entlang, entfernte sich immer mehr vom Hotel. Er sah ab und zu prüfend in den Rückspiegel. Locke spürte, daß er ihn beobachtete. Sobald eraufsah, blickte der Fahrer rasch wieder nach vorn auf die Straße. Genug damit! kommandierte er sich selbst. Doch dieses Gefühl: etwas stimmt nicht, blieb trotzdem. Er griff nach der 45er im Gürtel. Das Taxi hielt an einer Ampel an. Locke warf einen Blick hinter sich. Das Dorchester war etwa vier Blocks entfernt. Rausspringen, das war es. Rausspringen und lossprinten, solange das Taxi noch stand. Er griff zur Tür. Sie war verschlossen. Er suchte nach dem Türgriff. Er war entfernt, es gab keinen. Er saß in der Falle! Der Motor lief im Leerlauf, er sah auf. Der Taxifahrer hatte nur eine Hand am Steuer, die andere hielt er an der Seite. Die Ampel sprang auf Grün. Er sah plötzlich, wie sich des Fahrers Schulter bewegte. Ehe er es bewußt wahrnehmen und begreifen konnte, hatte sein alter Instinkt wieder reagiert. Er warf sich automatisch nach vorne und hieb dem Fahrer die Hand ins Genick. Der flog mit dem Gesicht auf das Steuerrad. Das Taxi schlitterte in die Kreuzung und drehte sich schleudernd. Locke sah die Pistole in der Hand des Taxifahrers und versuchte, ihn am Gelenk festzuhalten. Dann spürte er jedoch, wie eine Hand auf sein Nasenbein krachte. Ein heftiger Schmerz explodierte in seinem Kopf. Seine Augen füllten sich mit Wasser. Er konnte kaum noch etwas sehen. Er sah die Pistole nicht mehr, vergaß auch seine eigene und griff verzweifelt um sich. Da kam die Pistole bereits auf ihn zu. Sie füllte sein gesamtes Blickfeld. Er versuchte sie mit aller Macht abzuwehren. »Mörder!« schrie der Taxifahrer. »Carcinero! Asesino!« Die gleichen Worte, die auch Alvaradejo gebraucht hatte. Das Taxi schleuderte und schlitterte immer noch weiter, mittlerweile völlig außer Kontrolle. Es rammte einen Bus, prallte ab und gegen einen Lichtmasten. Locke wurde in die Windschutzscheibe geschleudert, mit dem Rücken voraus. Der Kopf des Fahrers knallte hart gegen das Armaturenbrett und prallte zerschunden und blutig zurück. Die Tür war bei dem Anprall von allein aufgesprungen. Locke warf sich ins Freie. Die Hupe plärrte, sie hatte sich verklemmt. Er fiel aus dem Taxi auf das Pflaster. Menschen versammelten sich. Man half ihm auf die Füße, aber seine Beine waren wacklig und seine Knie weich. Es schien ihm, als gehorchten seine Beine den Befehlen des Gehirns nicht mehr. Sein Hinterkopf schmerzte heftig, auch sein Genick. Aber wunderbarerweise war es kein stechender scharfer Schmerz von der Art, die anzeigte, daß etwas gebrochen war. Da ist er! Da ist er! Das wurde auf spanisch gerufen, und wieder hörte er dazu näherkommende Laufschritte aus der Richtung, aus der sie mit dem Taxi gekommen waren. Wie viele waren sie eigentlich? Zuerst Alvaradejo, dann der falsche Taxifahrer, und jetzt . . . Ebenso plötzlich wie verzweifelt riß er sich von den Leuten, die sich um ihn bemüht hatten, los und fing an zu laufen. Er hörte hinter sich noch weitere Anweisungen, die auf spanisch gerufen wurden, und hörte, daß er wieder verfolgt wurde. Sein Kopf und seine Schultern schmerzten wie verrückt. Seine Füße trampelten auf das Trottoir, und bei jedem Auftreten durchfuhr ihn ein stechender Schmerz das ganze Rückgrat hinauf. Er fühlte sich schwindlig, aber er wußte, daß er nicht stehenbleiben durfte. Er wagte nicht, sich umzusehen. Er wußte, was er dann sehen würde: seine Verfolger, die zweifellos bewaffnet waren. Alvaradejo hatte eine Pistole gehabt, der Taxifahrer ebenso . . . Seine einzige Hoffnung bestand darin, daß viele Menschen auf der Straße waren und es also auch viele Augenzeugen gäbe, falls geschossen würde. Er brach sich brutal Bahn durch die Menge, im vollen Bewußtsein, daß aller Augen auf ihm ruhten. Er rannte, so schnell er konnte, in Richtung Dorchester. Noch waren mehrere Straßen zu überqueren, und er war ohnehin auf der ganzen Strecke ein leichtes Ziel. Aber er hatte keine Wahl. Trotz der starken Schmerzen, die ihm jeder Schritt bereitete und den Wunsch in ihm immer stärker werden ließen, einfach aufzugeben. Er dachte daran, nach der Pistole zu greifen und einfach stehenzubleiben. Aber die 45er war weg! Er mußte sie bei dem Kampf im Taxi verloren haben. Hinter sich hörte er noch immer spanische Rufe. Er wandte sich kurz um. Ja, sie waren hinter ihm her. Drei, glaubte er zu sehen. Er rannte am Dorchester vorbei, bekam kaum noch Luft, und spürte erste Krämpfe in den Beinen. Dann sah er den Doppeldeckerbus, der an der Ecke Park Lane und Curzon Street hielt. Er brach rücksichtslos durch Menschenmengen und hektisches Verkehrsgewühl und versuchte den Bus zu erreichen, ehe der weiterfuhr. Er hoffte verzweifelt, die kurze Schlange der Wartenden würde so lange zum Einsteigen brauchen, bis er dort war. Einen Augenblick lang sah es nicht so aus. Dann ließ eine Frau ihre Handtasche fallen und beugte sich hinunter, um sie aufzuheben. Der Fahrer mußte warten, ehe er die Tür schließen konnte. Locke kam genau in dem Moment am Bus an, als die Frau ihre Tasche aufhob. Er sprang hinein und direkt hinter ihm schlössen sich die automatischen Türen mit leisem Zischen. Der Fahrer fuhr los. Er blieb fast eine Stunde im Bus. Die genaue Zeit konnte er nicht feststellen. Seine Uhr war zerbrochen, als es ihn gegen die Windschutzscheibe geschleudert hatte. Aber die Fahrt gab ihm Gelegenheit, sich wieder zu beruhigen und seine Situation zu überdenken. Seine Muskeln konnten sich etwas entspannen, und die Schmerzen ließen nach. Soweit er es beurteilen konnte, hatte er keine schweren Verletzungen. Nichts Ernsthaftes. Schnitte und Schrammen, im wesentlichen. Vom Nasenbein abgesehen, auf das die zuschlagende Hand des Taxifahrers getroffen hatte. War es gebrochen oder nicht? Er vermochte es nicht zu sagen. Es tat jedenfalls höllisch weh. Als er schließlich eine der roten Telefonzellen kommen sah, griff er nach der Klingelleine, um den Bus anhalten zu lassen. Seine Muskeln gehorchten nur widerwillig, aber wenigstens ohne Schmerzen. Er stieg in der Mitte aus und stolperte mit weichen Knien über den Gehsteig zur Telefonzelle. Zum Glück fand er einige passende Münzen. Aber die Nummer! Verdammt, wie war noch die Nummer? Er zwang sich, sein Gedächtnis nach der Telefonnummer zu durchforschen. Es gelang. »Ja, bitte?« meldete sich die bereits bekannte ausdruckslose Männerstimme wieder, aber für seine Ohren war sie nun der reinste Engelschor. »Charney«, sagte er nur. »Ich muß mit Briari Charney sprechen. Sofort.« »Ihr Name und Ihre Nummer bitte?«
Er sagte wieder seinen Namen und las die Nummer der Telefonzelle ab. »Bleiben Sie, wo Sie sind. Warten Sie auf den Rückruf.« Es klickte. Er legte sofort den Hörer auf. Fast unmittelbar danach klingelte es. Er hob zitternd ab. Brian? Hallo, Chris, ich versuche bereits dauernd, dich zu erreichen. Wo zum Teufel steckst du die ganze Zeit und was ist das mit der. . « Locke fand seine Stimme wieder und unterbrach ihn abrupt. »Ich habe Alvaradejo erschossen.« »Du hast was?« »In Notwehr, Brian. Er versuchte mich umzubringen. Ich habe ihn, wie wir besprochen haben, Zeit und Ort des Treffens bestimmen lassen. Und dort hat er sofort auf mich geschossen. Hätte ich nicht die Waffe gehabt, die du mir . . .« »Augenblick, Augenblick. Welche Waffe?« »Die mir der Zöllner am Flughafen in deinem Auftrag übergab!« »Hab ich nie veranlaßt.« »Was soll das heißen?« »Also das war das Geschenk, das du in deiner Nachricht an mich erwähnt hast. O Gott! Und damit hast du Alvaradejo erschossen? « »Verdammt, ich sagte dir doch, in Notwehr, weil er zuerst geschossen hat!« »Ruhe, Junge, Ruhe. Ich glaub's dir ja. Ich versuche ja nur, das Puzzle zusammenzusetzen. Also, jemand hat dich benutzt.« »Ich brauche Hilfe, Brian. Du mußt mich da rausholen. Da war noch einer, auch einer mit einer Waffe. Ein Taxifahrer, der auf mich wartete. Und noch ein paar, die hinter mir her waren. Lauter spanisches Geschrei.« »Was zum Beispiel?« »Was, was?« »Das spanische Geschrei.« »Viel Abwechslung war nicht drin. Schlächter, Killer, Mörder, Tier, alles Singular und Plural. Und Alvaradejo sagte etwas von Rache für die Toten von San Sebastian.« Darauf trat Stille ein. »Brian? Bist du noch da?« »Ja, ja, natürlich. Bist du sicher, das er San Sebastian sagte?« »Ganz sicher. Sagt dir das was?« »Möglicherweise.« Locke sah sich um. Er fühlte sich unbehaglich. Er war schon zu lange an der gleichen Stelle. Seine Schuhe stießen nervös und ganz unwillkürlich gegen die Gehsteigplatten. »Wie geht das nun weiter hier? Brian, die suchen noch immer nach mir. Ich kann es vielleicht bis zurück ins Hotel schaffen, wenn . . .« »Auf keinen Fall!« fiel ihm Charney ins Wort. »Gerade dort warten sie doch auf dich. Geh' nicht einmal in die Nähe des Dorchester, hörst du? Wir treffen uns irgendwo anders.« »Wo denn, wann?« »Es wird eine Weile dauern. Ich muß telefonieren, mir einen Überblick verschaffen. Sagen wir um fünf.« »In fünf Stunden?« »Viereinhalb, ganz genau. Glaub' mir, das muß sein. Ich habe solche Situationen schon durchgemacht.« Er überlegte etwas. »Kennst du den St. James Park?« »War schon mal dort.« »Da ist eine Brücke über den chinesischen Teich.« »Ja, kenne ich.« »Warte mitten auf ihr auf mich, genau um fünf. Ich brauche so viel Zeit.« »Wozu?« »Um die Kavallerie herbeizurufen.« Der hochgewachsene Mann sah sein Ziel aus der Telefonzelle kommen und eine Weile regungslos an ihr lehnen, sei es aus Erleichterung oder aus Erschöpfung. Sie hatten ihn im Park verfehlt, und in den Straßen der Stadt ebenfalls. Es war höchste Zeit, diese Mißgeschicke zu korrigieren. Er beschleunigte seine Schritte. Seine Hand griff nach dem Kolben des Revolvers unter seiner Jacke. Er hatte schon viele Menschen getötet, oft und meistens ordentlich. Dies hier würde eine leichte Aufgabe sein. Und besonders befriedigend, angesichts der Tatsache, daß die anderen alle versagt hatten. Sein Ziel an der Telefonzelle bewegte sich. Er zog die Waffe heraus. Er mußte nur zu ihm auf schließen, einmal direkt am Körper des Opfers abdrücken, was schalldämpfend wirken würde, und sich dann rasch entfernen. Ganz einfach, zumal die Gegend praktisch menschenleer war. Er machte sich langsam an sein Ziel heran. Da stolperte von hinten eine Frau mit langem, blonden Haar und stieß ihn an. Ihr Einkaufskorb fiel zu Boden, alles fiel heraus. Er war wütend; einen albernen Zwischenfall wie diesen konnte er ausgerechnet jetzt überhaupt nicht gebrauchen. Er versuchte die Frau einfach zur Seite zu schieben. Zu seiner größten Verblüffung ergriff sie jedoch blitzschnell seinen Arm, in dem er den Revolver noch halb verborgen hielt, und drehte ihn ihm nach hinten. Dann sah er das Messer. Es fuhr nach oben und zur Seite. So schnell, dachte der großgewachsene Mann noch, daß sie ihn, kaum zu glauben, verfehlt hatte. Bis er das warme Blut aus dem Schnitt in seiner Kehle fließen spürte. Er sank in sich zusammen, noch im Augenblick seines eintretenden Todes verwundert. Die Frau mit dem langen blonden Haar erhob sich ruhig, ließ ihn und den Einkaufskorb einfach liegen und ging weg. Locke war immer noch nervös, aber nicht mehr so in Panik als er den Hörer aufhängte. Charney hatte ihn in diese verdammte Situation gebracht, und er mußte und würde ihn da auch wieder herausholen. Jetzt mußte er allerdings erst einmal fast fünf Stunden Zeit totschlagen. Er verließ die Telefonzelle und kehrte zurück in den, hier etwas spärlich fließenden Strom der Passanten. Er zwang sich, einfach weiterzugehen. Er war an der Vauxhall Bridge an der Themse. Sein Ziel war das Zentrum mit seinem Trubel, wo er in der Menge untertauchen konnte. Zu Fuß hingehen kam allerdings nicht in Frage. Was Taxis anging, hatte er zumindest für heute die Nase voll. Blieb nur die U-Bahn übrig. Er sah weiter vorne den Eingang zu einer U-Bahn-Station und ging bedächtig darauf zu.
Er nahm sich Zeit, sich in Ruhe über die verschiedenen Linien zu informieren. Er hatte es schließlich überhaupt nicht eilig. Er entschied sich für die Nordlinie und stieg am Soho Square aus. Der Nebeldunst war inzwischen einem unangenehmen Nieselregen gewichen. Er fröstelte. Er überlegte, was er anfangen solle. Vier Stunden bei diesem Wetter im Freien zu verbringen, war unmöglich. Bereits jetzt dehnten sich die Minuten endlos. Er ging an den Läden und Restaurants vorbei, die hier in großer Zahl vorhanden waren und fand sich schließlich auf der pulsierenden, hektischen Oxford Street wieder, wo er die Lösung seines Problems beim Anblick einiger Kinos fand. Zwei Filme würden ihm wohl die Zeit bis zum Treffen mit Charney vertreiben. Er kaufte sich gleich Tickets für beide im voraus, um nicht Schlange stehen zu müssen. Die Filme selbst spielten keine Rolle. Egal, was er sehen würde, ihn würden sie so oder so nicht besonders interessieren. Auf seinem Platz im dunklen, fast leeren Kino fühlte er sich allmählich wieder ruhig und sicher. Er streckte bequem die Beine aus, massierte sie etwas und knetete sich auch Nacken und Schultern. Danach lehnte er sich enstpannt zurück und schloß die Augen. Müdigkeit kroch an ihm herauf. Nach einer Weile schreckte er hoch und bemerkte, daß er eingedöst war. Das wiederholte sich noch mehrmals. In der Pause kaufte er sich deshalb zwei Coca-Cola, da er keinen Kaffee bekommen konnte, und hoffte, daß ihn wenigstens das bißchen Coffeiii in der Limonade ein wenig aufwecken würde. Es weckte freilich hauptsächlich seinen Hunger, und so kaufte er noch drei Packungen Popcorn. Etwas später ging er auf die Toilette und betrachtete dort im Spiegel prüfend seine Gesichtsverletzungen. Sie waren zu auffallend und das war von Nachteil. Zum Glück war es nicht allzu schlimm. Einige Eiswürfel, die er sich am Erfrischungsstand erbat, und mit denen er sein Gesicht behandelte, ließen es schon etwas abschwellen. Gegen halb fünf fühlte er sich wieder einigermaßen fit. Es war jetzt Zeit, sich zu dem Treffen mit Charney aufzumachen. Bald würde dieser ganze Alptraum vorbei sein. Gut, er hatte von vorneherein gewußt, daß die Sache mit gewissen Risiken verbunden war. Aber auf diese Art von Risiken wie er sie heute morgen erlebt hatte, war er doch nicht gefaßt gewesen. Schon gar nicht darauf, daß er gleich zu Beginn, um sein eigenes Leben zu retten, -einen Menschen töten mußte. Damals, vor vielen Jahren, in den Lehrgängen hatte man ihn mit dieser Möglichkeit vertraut gemacht. Aber das war Theorie gewesen. Außerdem eine andere Zeit und ein anderes Lebensalter. Damals hatten sie versucht, einen psychologisch fit zu machen. Das Schuldgefühl war der eigentliche Feind, hatte man ihnen eingebleut, nicht die Kugeln: Schuldgefühl lahmt dich, läßt dich zögern. Er hatte diese Art von Gehirnwäsche nie akzeptiert. Sie war, im Gegenteil,- einer der Gründe gewesen, warum er aufgehört hatte und ausgestiegen war. Die Erinnerungen daran waren ihm unbehaglich. Er versuchte sie zu verscheuchen, indem er sich darauf konzentrierte, die Ereignisse von heute mittag noch einmal zu rekapitulieren. Aber es blieben nur lauter Fragen übrig. Wenn dieser Alvaradejo auf Lübecks Seite gewesen war, warum hatte er versucht, ihn umzubringen? Wo er doch ausdrücklich Lübecks Namen als Parole benutzt hatte? Irgend etwas paßte da nicht zusammen. Und dann die Sache mit der Pistole. Wenn sie nicht von Charney stammte, von wem war sie dann? Und warum und wozu? Alles ziemlich verrückt. Und was war das mit diesem San Sebastian oder wie das hieß? Und welche Geschichte war das? Und vor allem, wer waren die Leute, die da hinter ihm her waren und ihm nach dem Leben trachteten? Die Antworten konnte ihm wohl nur Charney geben. Er fuhr mit der Underground zum St. James Park und kam dort zehn vor fünf an, wie die Uhr in der Station anzeigte. Er ließ sich Zeit, von dort aus bis zu der verabredeten Brücke zu gehen und lief noch etwas herum, um genau pünktlich am Treffpunkt anzukommen. Charney war nirgendwo zu sehen. Sein Herzschlag beschleunigte sich wieder. Panik stieg erneut in ihm auf. Man hatte ihn heute schon einmal an einem Treffpunkt warten lassen. Der ständige kräftige Nieselregen durchnäßte ihn rasch. Nun war es neblig geworden, nicht mehr nur dunstig wie am Morgen. Der Park war vollkommen menschenleer. Dann hörte er Schritte. Sie kamen näher. Aus nördlicher Richtung. Er wandte sich rasch um und ließ das Geländer los, an dem er sich festgehalten hatte. Brian Charney kam mit schnellen Schritten näher, äußerlich gelassen und ruhig, sah aus wie ein Mann, der seinen üblichen Nachmittagsspaziergang absolvierte, egal ob die Sonne schien oder ob es in Strömen regnete. Er tat so als kenne er Locke nicht. Locke wollte etwas sagen, ließ es aber sein. Es war Charneys Sache, das Kontaktzeichen zu geben. Er wollte keine neuen Risiken eingehen. Charney blieb stehen und bückte sich, um seinen Schnürsenkel zu binden, als er an der Brücke war. »Geh los«, sagte er. »Geh ganz normal und ruhig. Ich bleibe immer ein paar Meter hinter dir.« »Was?« »Tu, was ich sage, und halt den Schnabel. Geh ganz ruhig und gemächlich, und sieh' dich nicht um. Hast du gehört, nicht umschauen. Ich werde beobachtet.« Locke ging los und behielt die Hand auf dem Geländer, um deutlich sichtbar zu machen, wie absichtslos er spazierenging. Aber seine Finger zitterten. »Ich habe dir nicht die Wahrheit gesagt, Chris«, hörte er Charney hinter sich mit gedämpfter Stimme sagen, er konnte ihn kaum verstehen. »Ich habe dir von Anfang an etwas vorgemacht. Du warst von vorneherein als Köder bestimmt. Als Kanonenfutter sogar. Wir haben . . . ich sollte sagen: ich habe keinen Augenblick geglaubt, daß du hier wieder lebend rauskommen würdest.« Locke hörte es fassungslos. Ein jäher, mächtiger Zorn wallte in ihm auf. »Was zum Teufel . . .« »Geh weiter, verdammt. Du sollst dich nicht umdrehen, habe ich gesagt. Schau mich nicht an. Ich versuche, dich da rauszuholen. Und mich dazu, wenn du es genau wissen willst. Es ist ein Scheißspiel, Chris. Ein Scheißspiel, sag' ich dir. Tausendmal schlimmer, als ich selbst geahnt habe.« »Was denn?« »Die ganze Geschichte dreht sich um dieses Massaker. Ich hätte es wirklich wissen und voraussehen müssen.« »Was für ein Massaker?« »Das in San Sebastian.« »San Sebastian. Davon hast du mir kein Sterbenswörtchen . . .« »Ja, natürlich nicht, Mann. Und behalt deine Scheißnase vorne, verdammt! Oder ich nehme unseren lieben Freunden ihre Arbeit ab und blas' dir den Kopf von den Schultern!« »Wo sind sie?« »Weiß nicht. Jedenfalls nicht weit weg. Ich hab' sie nicht abschütteln können.« »Und was ist mit der Kavallerie?«
»Nichts. Gibt keine. Jedenfalls nicht für uns und nicht hier. Ich weiß nicht einmal mehr, auf wen ich mich noch verlassen kann, und wie weit das alles reicht.« Locke konnte die Panik in Charneys Stimme durchaus wahrnehmen. Er spürte, wie sie auf ihn selbst übergriff. »Hör zu, Brian . . .« »Ich kann nicht weiterreden. Geh in dein Hotel zurück und warte dort auf mich.« »Du hast mir doch selbst gesagt, daß ich dort nicht sicher bin.« »Nirgendwo ist es sicher. Was Besseres können wir im Augenblick jedenfalls auch nicht tun. Sie sind hinter dir her und hinter mir auch und damit hat sich's. Nichts dazwischen.« »Wer ist hinter uns her, zum Teufel?« »Nicht jetzt. Schließ dich in dein Hotelzimmer ein. Warte dort auf mich. Mach kein Licht an. Antworte nicht, wenn das Telefon klingelt. Ich versuch' sie abzuschütteln und komm' dann zu dir. Halte dich bereit, in aller Eile aufzubrechen.« »Na gut.« Sie waren am Ende der Brücke angelangt. »Ich gehe jetzt nach rechts weg. Geh du weiter geradeaus. Mische dich in eine Menschenmenge und laufe so eine Weile durch die Gegend, zur Sicherheit, ehe du ins Hotel gehst.« Locke drehte die Schultern etwas. »Und behalt deine verdammte Nase vorne!« zischte Chanrey sofort wieder. »Ich versuche, deinen Kopf zu retten, das habe ich dir doch gesagt. Also tu, was ich sage. Und stell jetzt keine Fragen, tu mir den Gefallen!« Dann war er weg. Locke hatte die Dringlichkeit seiner Worte verstanden. Er ging ruhig weiter, sah sich nicht um und ging auf der Hauptstraße bis Piccadilly. Was für ein Alptraum, dachte er immer nur. Und er geriet offenbar immer tiefer da hinein. Was ihm Charney da erzählt hatte und vor allem wie, schien zu beweisen, daß er selbst in der Klemme steckte. Obwohl er, Locke, nach wie vor so gut wie nichts verstand. Nur soviel war offenbar klar: Sein Leben war in akuter Gefahr. Das Nieseln war mittlerweile in kräftigen Strichregen überge-• gangen. Er war weit und breit der einzige ohne Regenschirm. Er fiel also schon allein dadurch auf. Er setzte sich seitwärts in einige kleinere, unbelebtere Straßen ab und schlängelte sich so bis zum Dorchester durch. Er brauchte eine Viertelstunde, war aber dann ziemlich sicher, daß er nicht direkt verfolgt wurde. Unter der Markise vor dem Haupteingang blieb er erst eine Weile stehen, um sich unauffällig einen Überblick über die Hotelhalle zu verschaffen. Innen an der Drehtür standen zwei Männer, die jeden Mann beobachteten, der aus- und einging. Nur die Männer. Er konnte ihre Gesichter nicht erkennen, aber ihre Absicht war desto deutlicher erkennbar. Sie suchten jemanden. Ihn, vermutlich, nein, sogar bestimmt. Er wandte sich rasch ab und folgte den Pfeilen zur Hoteltiefgarage. Er ging die Rampe hinunter, Verbotsschilder für Fußgänger nicht beachtend. Tatsächlich bekam er Ärger mit dem Fahrer eines Wagens, der mit quietschenden Reifen gerade hinausfahren wollte. Er drückte sich an die Wand, ließ sich anschreien, sich den Vogel zeigen, und ging weiter. Ungehindert kam er zu den Aufzügen und mit einem von ihnen fuhr er hinauf in den achten Stock. Der Korridor war leer. Er versuchte, auf raschestem Wege zu seinem Zimmer zu kommen, wobei er darauf achtete, jeden Vorsprung und jede Nische zum Anhalten und Sichern zu benützen. Er holte den Zimmerschlüssel aus der Tasche und sperrte hastig auf. Was sich ihm bot, als er eintrat, war ein Chaos. Die ganze Suite war ein einziges Durcheinander. Kleider waren überall verstreut, die Matratze des Bettes herausgerissen und umgedreht, Schubladen herausgezogen und entleert. Sein Koffer war buchstäblich in seine Einzelteile zerlegt worden. Sie hatten ihn offenbar auf Geheimfächer untersucht. Aber wonach, verdammt, hatten sie gesucht? Er zog die Tür hinter sich zu, nachdem er sich vom ersten Schreck erholt hatte, und zog, gerade noch rechtzeitig, bevor er automatisch das Licht anknipste, die Hand vom Schalter zurück. Angesichts dessen, was er da vor sich sah, schnürte ihm die nackte Angst die Kehle zu. Dies war kein Ausflug mehr, und es handelte sich auch nicht mehr um ein kleines Abenteuer. Dies war vielmehr eine systematische Jagd auf ihn. Warum? Seine Kleider waren in Fetzen gerissen. Sie hatten nichts ausgelassen. Selbst das Bad hatten sie auseinandergenommen. In der Ecke des Salons war der Schreibtisch zur Seite gerückt. Er rannte hin, voll böser Ahnungen. Wie er befürchtet hatte. Sein Paß war weg. Und das ganze Geld. Er hatte jetzt nur noch das, was er bei sich gehabt hatte. Draußen klatschte der Regen heftig gegen die Fensterscheiben. Über London brach eine trübe Nacht herein. Er drückte sich gegen die Wand, als habe er Angst, selbst hier oben noch von draußen beobachtet zu werden. Vielleicht durch ein Fernglas von irgendwoher. Vielleicht durch ein Zielfernrohr an einem Gewehr . . .? Das Telefon klingelte. Erschreckend laut. Erschreckend hartnäckig und bösartig, schien es. Diese zwei kurzen Klingelstöße, endlos wiederholt . . . zum Verrücktwerden. Er ließ sich zu Boden sinken und kroch zum Telefon. Erst im letzten Moment widerstand er dem schier übermächtigen Verlangen, abzuheben. Angenommen, es war etwas schief gelaufen und Brian rief an, um ihn zu warnen? Wie konnte er dessen sicher sein? Aber es war klar, er mußte sich an die Instruktionen halten, so oder so. Das Läuten des Telefons hörte auf. Er blieb auf dem Boden liegen und war jetzt ganz in Panik geraten. Seine Muskeln verkrampften sich. Er streckte sie vorsichtig und langsam, als verriete jede hastige Bewegung ihn denen, die hier Kleinholz aus seiner Suite gemacht hatten. Den beiden, die da unten in der Halle an der Drehtür warteten, möglicherweise. Oder ihren Freunden. Wer waren sie? Tiere . . .! Carniceros! Was hatte diesen Alvaradejo veranlaßt, ihm die anklagenden Worte entgegenzuschleudern, ohne auch nur ein Wort mit ihm gesprochen zu haben? Für wen hatte der Kolumbianer ihn gehalten? Was hatte er seiner Meinung nach verbrochen? Rache für die Toten von San Sebastian! Wie hing das alles zusammen? Er blieb starr und stocksteif am Boden liegen. Minuten vergingen. Zeit hatte keine Bedeutung mehr. Wo blieb Brian Charney so lange? Er lag im Dunkeln, das nur vom Widerschein der Lichter der Skyline der Stadt etwas erhellt wurde. Draußen die Londoner Regennacht. Alles war höchst unwirklich.
Ein kaum hörbares Klopfen an der Tür machte ihn aufmerksam. Er kroch langsam zur Tür und zog sich vorsichtig hoch, um durch den Türspion zu sehen. Brian Charney. Er klopfte noch einmal leise. Er öffnete lautlos. Dann erst sah er das Blut. Er war über und über voll Blut. Man hatte auf ihn geschossen. Mehrmals, offensichtlich. Er hatte die Lippen zusammengepreßt und zitterte am ganzen Leib. Auch aus seinem Mund tropfte Blut. Sein Gesicht war geisterbleich, die Augen irrten flackernd umher. Sein Freund war am Sterben. Er stützte den Kopf des Freundes in seinen Schoß. »Tut mir leid, Chris«, murmelte Charney mit letzter Kraft. »O Gott, wirklich, es tut mir leid.« »Sprich jetzt nicht«, sagte Locke. Es fiel ihm nichts anderes ein. »Ich weiß, wie schwer es mich erwischt hat«, flüsterte Charney dennoch mit rasselndem Atem. »Es gibt jetzt wichtigere Dinge. Lübeck wußte alles. Deshalb mußte er sterben.« Er faßte unvermittelt mit sich verkrampfender Hand nach Lockes Arm. Seine Augen blitzten noch einmal auf. »Man muß ihnen das Handwerk legen.« »Wem?« »Sie sind überall, sie haben ihre Finger in allem. Lübeck hat es gesehen. Er wußte alles. Sie werden die Welt regieren, wenn man ihnen nicht das Handwerk legt.« »Wer denn?« Charneys Augen verloren ihren Halt. Seine Finger wurden kraftlos und glitten von Lockes Arm ab, in den sie sich verkrallt hatten. Sie hingen schlaff in der Luft. »Ich habe dich als Köder benutzt. Aber jemand anderer ebenfalls. Alvaradejo mußte sterben, dann die anderen . . . Verbindungsleute auch.« Ein Blutsturz unterbrach ihn. »O Gott, meine Kinder! Was wird aus meinen Kindern?« »Ich gehe zur Amerikanischen Botschaft und erzähle dort alles«, versprach Locke. »Alles.« Doch da wurden Charneys Augen noch einmal lebendig. Noch einmal verkrallten sich seine Finger in seinen Arm. »Nein. Nein. Auf keinen Fall. Tu das nicht. Vertraue keinem. Ich weiß . . . nicht . . ., wie tief das alles geht. Sie sind nicht davor zurückgeschreckt, eine ganze Stadt auszurotten. Wie kannst du da irgend etwas für sicher halten?« »Was für sicher?« Es war ganz offensichtlich, Charney war nicht mehr imstande, klar und zusammenhängend zu sprechen. Locke hatte keine Ahnung, was ihm die Kraft gab, noch immer zu reden und durchzuhalten. »Liechtenstein«, murmelte er, nach Atem ringend. »Felderberg war Lübecks nächste Station. Der Makler. Finde ihn. Finde ihn.« Charney seufzte etwas. »Meine Tasche . . .« Locke zog ein blutgetränktes Blatt Papier aus der Jacke seines sterbenden Freundes. Es war etwas darauf geschrieben. »Fahr nach Cornwall«, flüsterte Charney, »finde Burgess. Er wird dich . . . zu . . .« Mehr konnte Charney nicht mehr sagen. Er war tot. Sein letzter Atemzug kam wie ein verwehender Hauch, dann brachen seine Augen und wurden starr. Locke ließ Charneys Kopf auf den Teppichboden sinken und stand auf. Starr und bewegungslos stand er da, unfähig, etwas zu tun. Er wünschte, er könnte jetzt zusammenbrechen und seinen Freund — und sich selbst - eine Weile beweinen, dann einfach noch eine Zeitlang sitzen bleiben, dann alles aufgeben und hinter sich lassen. Aber er konnte nicht. Die Mörder Charneys, wurde ihm klar, waren nahe. Womöglich sogar hier in diesem Hotel. Mit ziemlicher Sicherheit sogar. Vielleicht schon auf dem Weg in seine Suite. Er mußte rasch handeln, kein Zweifel. Doch sein Kopf spielte nicht mit. Er war unfähig, etwas zu tun. Es war einfach zu viel. Alle Erinnerungen an diesen entsetzlichen Unfall vor nunmehr zweiundzwanzig Jahren tauchten wieder vor seinen Augen auf. Wie er hilflos zusehen mußte, als die Ärzte den bewußtlosen Lübeck auf die Bahre legten und ihm den Kampfanzug aufrissen, um sich die zerquetschten Überreste seiner Hand und seines Armes anzusehen. Nie seither hatte er diesem Alptraum ganz entrinnen können. Und jetzt war er wieder da, so als wäre er lebendige Gegenwart. Sein Alptraum hatte sich verdoppelt. Er hatte zwei Freunde in seinem Leben gehabt. Den einen hatte er als Krüppel gesehen, der andere lag hier tot vor ihm, und der eine, der verkrüppelte, war ebenfalls tot. Und jetzt war er also allein, gottverdammt allein . . . Er mußte handeln, er mußte etwas tun. Der Selbsterhaltungs trieb meldete sich. Brian Charney meldete sich. Die Lehrgänge von einst meldeten sich. Sie sind überall, sie haben ihre Finger in allem. Wer, wo? Wovon hatte Charney gesprochen? Seine Gedanken drehten sich allmählich wie in einem Wirbel, rundherum, mahlend, immer stärker. Er mußte handeln. Er mußte fliehen. Er mußte überleben. Er hatte keinen Paß mehr und kein Geld. Alles, was er hatte, war eine Adresse. Er besah sich das blutdurchtränkte Blatt Papier, das er aus Charneys Tasche gezogen hatte. Colin Burgess, Bruggar House, Cadgwith Cove, Cornwall. Krampfhaft versuchte er sich an die englische Geographie zu erinnern. Cadgwith Cove, Cadgwith Cove, Cadgwith Cove. Ein schmaler Landstrich am südöstlichsten Ende Englands, genannt Lizard. Leicht erreichbar mit der Eisenbahn. Ich brauche also als erstes ein Taxi zum Bahnhof. Augenblick. Die Kleider sind blutig. Ich muß mich erst umziehen. Er zog sich aus und suchte sich am Boden aus dem Durcheinander zusammen, was noch brauchbar war, entnahm aus den alten Sachen alles Geld, das er bei sich gehabt hatte und das nun seine gesamte Barschaft darstellte. Er steckte sich auch Charneys Papiere ein, warf einen letzten Blick auf den toten Freund und ging zur Tür. Was konnte er noch für ihn tun? Eigentlich mußte es noch etwas geben. Er konnte ihn doch nicht einfach hier so liegen lassen. Irgendwie war das nicht recht. Doch was hatte er für eine Wahl? Er trat hinaus auf den Korridor und bewegte sich vorsichtig und langsam bis zum nächsten Korridor. Wohin, seitlich oder geradeaus?
Er brauchte nicht lange zu zögern. Die beiden Männer, die vorhin unten an der Drehtür am Eingang gewartet hatten, kamen vorne um die Ecke. Er rannte den Seitenkorridor entlang bis zur nächsten Ecke. Hatten sie ihn noch gesehen? Er wußte es nicht. Auf jeden Fall machte ihr Auftauchen klar, daß noch andere da waren. Einen Ausweg. Er brauchte einen Ausweg. Klaren Kopf bewahren, keine Panik. Er mußte verschwinden. Aber wie? Er hatte den Ausweg direkt vor sich. Natürlich. Hier in Augenhöhe war er. Er schlug zu und drückte. Augenblicklich jaulte der Feueralarm los. Zu dieser verhältnismäßig frühen Abendstunde waren die meisten Gäste auf ihren Zimmern, um sich für das Dinner umzuziehen. In Sekundenschnelle waren die Korridore voller verwirrter Menschen, die ziellos und aufgeregt herumliefen und gegenseitig voneinander Erklärungen forderten oder den Rauch des Feuers zu erschnüppern versuchten. Die Aufzüge hatten sich automatisch geschlossen und waren stehengeblieben. Acht Treppen abwärts mußten zurückgelegt werden, während sich die aufgeregten Hotelgäste zu den nächsten Ausgängen drängelten. Locke ließ sich von dieser Menge aufsaugen und mitnehmen, die desto langsamer vorankam, je weiter nach unten sie gelangten, weil dort in jedem Stockwerk neue Menschen voller Aufregung und Panik dazudrängten. Erst im fünften Stock merkte Locke, daß niemand mehr von hinten nachdrängte. Erleichtert kam er endlich inmitten anderer Leute unten in der Halle an, wo die Leute ratlos und aufgeregt herumliefen, während diejenigen, für die kein Platz mehr war, nach draußen auf die Straße gedrängt wurden. Zu ihnen ließ auch er sich treiben, immer darauf bedacht, in der Menge zu bleiben, während er ein Taxi suchte. Vertraue absolut niemandem. Es drängte ihn eigentlich schon, direkt zur Amerikanischen Botschaft zu fahren und dort die ganze Geschichte zu erzählen. Aber Charneys entschiedenes Abraten hielt ihn zurück. Wer wußte wirklich, wie weit dies alles ging? In Washington hatte ihm Charney erklärt, eine ganze Armee stehe hinter ihm, und die Hilfe sei nur einen Telefonanruf entfernt. Wo also war diese Armee gewesen, als er sie gebraucht hatte? Warum hatten sie sich nicht bemerkbar gemacht, gemeldet, ein Zeichen gegeben? Es war wohl so: sein Freund war Mächten begegnet, auf die er nicht gefaßt und gegen die er nicht ausreichend gerüstet gewesen war. Wenn es sich so verhielt, welche Chance hatte er, Locke, dann noch gegen sie? Dogan hatte den Anruf seines Commanders eigentlich schon den ganzen Tag erwartet. Als er dann tatsächlich kam, war er eher erleichtert als überrascht. Solche Dinge brachte man immer am besten so rasch wie möglich hinter sich. Operationen der Abteilung Sechs gingen nur selten schief, aber wenn, dann war der Teufel los. Und Dogan hatte sich einen dicken Hund geleistet. Der Commander verlangte ein Treffen abends um neun in seinem Lieblings-Straßencafe auf den Champs-Elysees. Dogan war es recht. Er hatte sich bereits gewappnet, den Anschiß mit stoischer Fassung hinter sich bringen; wenn es sein mußte, auch mit zusammengebissenen Zähnen. Aber dann mußte wieder Ruhe eintreten. Der Commander erwartete ihn bereits an einem etwas abseits stehenden kleinen Zweiertisch in der hinteren Ecke. Mit seinem dünner werdenden Haar, der randlosen Brille und einem dicken Schnauzbart, der nicht einmal bis zu den Mundwinkeln reichte und hart abgeschnitten war, sah er eher wie ein Franzose aus. Wie üblich, las er Zeitung. Sein Ton würde ganz neutral sein und auch seine Augen würden völlig teilnahmslos bleiben. Der Mann konnte einen runterputzen, ohne einen auch nur einmal scharf anzusehen. Einfach nur durch diese Haltung, so als sei man seiner Aufmerksamkeit gar nicht würdig. Dogan konnte sich nicht erklären, wie dieser Mann Chef der Abteilung Sechs, Sektion Europa, geworden war. Aber was das anging, so konnte er sich in letzter Zeit so manches nicht erklären. »Guten Abend, Grendel«, sagte der Commander, ohne auch nur von seiner Zeitung aufzusehen. »Setzen Sie sich doch.« Dogan setzte sich. »Sehr unangenehm, das alles.« »Hab'schon Schlimmeres erlebt.« »Aber nur selten, hoffe ich doch. Ich habe inzwischen den medizinischen Bericht über Keyes. Sieht so aus, daß er den Rest seiner Karriere am Schreibtisch verbringen wird. Das Handgelenk.« »Dort ist er auch am besten aufgehoben.« »Dafür haben wir allerdings nicht so viel Geld für seine Ausbildung aufgewendet.« »War eben eine Fehlinvestition.« »Ein Bericht hätte vollauf genügt. Ihn gleich derart fertigzumachen, dazu gab es keinen Anlaß.« Dogan spürte, wie Zorn in ihm aufstieg. »Er hat einen direkten und ausdrücklichen Befehl mißachtet.« »Ja, Grendel«, antwortete der Commander nachsichtig, »Ich habe die Berichte alle gelesen, auch die der anderen. Sie haben ihm ausdrücklich und direkt befohlen, Waslow laufen zu lassen, nicht?« »Richtig.« »Den von uns meistgesuchten KGB-Mann. Und Sie befehlen, ihn laufen zu lassen. Keyes macht geltend, er habe ihn schußbereit im Visier gehabt.« »Es war absolut keine Schußsituation. Die ganze Gegend war voller Passanten. Hätte ich den Knaben losballern lassen, wären unschuldige Leute reihenweise zu Boden gesunken.« »Aber doch wohl zusammen mit Waslow?« »Schon möglich. Jedenfalls war das Risiko zu groß. Unakzeptabel.« Dogan bemühte sich zu seiner eigenen Verwunderung nachdrücklich, sich zu rechtfertigen. Obwohl die Wahrheit sehr viel einfacher war. Waslow hatte ihn diesmal geschlagen, also nach den Spielregeln das Recht auf freien Abzug gehabt. Aber er sagte: »Commander, solche Ballereien auf Western-Art sind aus der Mode, wie Sie selbst wissen. Weil Sie es waren, der es mir bei mehr als einer Gelegenheit gesagt hat.« Der Commander sah nun doch kurz hoch. »Darum geht es hier nicht. Und bitte erläutern Sie mir nicht meine eigenen Ansichten. Der springende Punkt ist, daß Sie Keyes nicht einfach nur davon abgehalten haben, übereifrig in eine Menschenmenge zu ballern. Sondern Sie haben ihm gleich das Handgelenk kaputtgeschlagen, und das derart, daß er für den Rest seines Lebens Schwierigkeiten haben wird, auch nur einen Telefonhörer zu halten. Begeistert ist er nicht darüber. Und die Abteilung ebenfalls nicht.« «Sie erwarten hoffentlich nicht von mir, daß ich Tränen der Reue vergieße.«
»Was würde das nützen. Sie haben heute morgen eine Grundregel unserer Branche verletzt: Sie haben ihren Zorn an einem anderen ausgelassen.« »Nicht Zorn, Commander. Das richtige Wort ist Frustration. Sie haben mir einen halben Kindergarten zugeteilt, der nicht mal imstande war, bei einer einfachen Routine-Übernahme-Aktion normale Arbeit zu leisten und klare Anweisungen auszuführen.« »Augenblick, Grendel. Es war Ihre Operation. Also ist es auch Ihre Verantwortung, daß sie schiefgelaufen ist.« »Vor der Verantwortung drücke ich mich gar nicht. Nur, die Aktion hätte klappen müssen. Sie war sauber und ordentlich vorbereitet.« »Das Resultat zeigt etwas anderes.« »Das liegt daran, daß Waslow und seine Russen uns für diesmal geschlagen haben. Ihr Spiel war einfach besser. Sie sind uns überlegen, weil es bei ihnen nicht daraum geht, daß jeder einzelne sein Ego befriedigt und besonders glänzt. Bei denen heißt es: das ist der Job, und der wird gemacht. Aus.« »Und Ihnen haben Sie einen falschen Oberläufer geschickt. Aber außerdem auch noch ein halbes Dutzend andere Ablenkungsmanöver veranstaltet, die uns mattgesetzt haben. Ein abgewürgtes Auto, ein paar Kinderwagen, ein blinder Mann —alles seine Inszenierung.« Der Commander blätterte die Zeitung um. »Erzählen Sie mir mal die Einzelheiten.« »Der Überläufer hat uns über seine Kontaktleute Zeit und Ort mitgeteilt. Er war ungeduldig. Er hielt sich schon zwei Wochen lang in Paris versteckt und wollte raus.« »Da muß man wohl annehmen, daß Waslow selbst ebenfalls von dem Plan wußte.« »Wahrscheinlich nur in vagen Umrissen. Aber das war ihm genug. Der Kontaktmann des Überläufers hat wohl ein bißchen zuviel erzählt. Also hat Waslow sich für einen Doppelgänger des Überläufers entschieden und es so durchgezogen. Wir wurden nach Kräften abgelenkt und als wir auf den Köder anbissen, konnten seine Leute den echten Mann in aller Ruhe kassieren. Schlicht und einfach: wir haben verloren. Wie ich schon sagte.« Des Commanders Zeitung raschelte, als eine frische Abendbrise aufkam. Zum ersten Mal sah er Dogan voll an. »Ganz so schlicht möchte ich das nicht sehen, Grendel. Vielleicht sind Sie auch einfach nur leicht berechenbar geworden?« »Angesichts der Mittel und Möglichkeiten, mit denen ich zurechtkommen muß, tue ich das Bestmögliche. Die Leute, gegen die wir heute verloren haben, sind ebenbürtige Profis.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Wie wir es einmal waren.« »Aha«, sagte der Commander. »Hab' schon verstanden.« Er wandte sich wieder seiner Zeitung zu. Dogan faßte ihn hart am Oberarm. Der Commander spannte zwar reflexartig die Muskeln an, machte sich aber nicht die Mühe, sich loszureißen. Nur sein Blick drückte aus, daß er sich belästigt fühlte. »Das glaube ich nun wieder nicht, Sir«, sagte Dogan angriffslustig. »Ich würde Ihnen das gerne erklären. Leute wie dieser Keyes beispielsweise haben nicht die Fähigkeit, zwischen den Zeilen zu lesen. Sie haben nicht den Instinkt, den nächsten Zug ihres Gegners vorauszusehen. Alles muß genau abgezirkelt, nach Plan verlaufen, durchdiskutiert sein. Doch draußen im Einsatz, in der Wirklichkeit, spielt sich das alles ganz anders ab. Anders ausgedrückt, wir gewöhnen uns besser daran, mehr oder weniger ständig gegen die Russen zu verlieren.« »Eine interessante Erklärung für Ihr Versagen von heute morgen.« »Das können Sie nennen, wie Sie wollen.« »Wenn Sie jetzt gütigst meinen Arm loslassen würden.« Dogan ließ los, der Commander strich sich demonstrativ den Ärmel glatt. »Wenn Sie schon mal beim Erläutern sind, Grendel, dann erläutern Sie doch als nächstes bitte den tatsächlichen Grund, warum Sie es vorzogen, statt Waslow einen Kollegen außer Gefecht zu setzen.« »Er hatte uns ausgespielt, wir hatten verloren. Es gab keinen Grund, noch alle möglichen sinnlosen Rückzugsgefechte zu liefern. Davon abgesehen, weiß zumindest ich genau, was ich von Waslow zu halten habe. Das ist bei unseren eigenen Leuten keineswegs mehr selbstverständlich.« Der Commander ließ seine Zeitung sinken. Wirklich sinken. »Das ist ein Vorwurf, der sich gewaschen hat.« »Das haben Sie gesagt. Aber bedenken Sie auch dies: Hätte ich heute zugelassen, daß Keyes Waslow erledigt, was wäre die Folge gewesen? Die Russen hätten Waslow durch einen neuen Mann ersetzt. Und mit dem hätte ich es fortan zu tun. Mit einem Mann, den ich nicht kenne, an dessen Methoden ich mich erst gewöhnen muß. Den ganzen Bürokratiekram, mit dem wir ja auch zu tun haben, eingerechnet, hätte uns das insgesamt viel weiter zurückgeworfen als den KGB. Ich kenne Waslow. Und ich kann gut und gerne darauf verzichten, mich auf ganz neue Leute und Methoden des KGB einstellen zu müssen, wenn es keinen zwingenden Anlaß dafür gibt.« »Nur hat Ihnen auch die Tatsache, daß Sie Waslow so gut kennen, heute morgen nicht viel geholfen.« Der Commander saß bewgungslos auf der anderen Seite des Tisches und bemühte sich längst nicht mehr, die Zeitung gegen den aufgekommenen Wind ruhig zu halten. »Tatsache ist doch, werter Grendel, daß das Fiasko von heute morgen weit über eine gewisse Peinlichkeit hinaus eskaliert ist. Es hat mittlerweile das Stadium eines sogenannten Vorfalls erreicht. Herzliche Gratulation, Grendel.« Dogan schwieg. »Ich hätte gute Lust«, redete sich nun der Commander seinerseits warm, aber seine Augen waren eiskalt und starrten ihn an, »Sie vor einen Disziplinarausschuß zu bringen. Nur haben wir leider keinen solchen. Bei uns gibt es kein Gericht, daß sich derartiger Fälle annimmt. Sie haben hier soeben die Firma und die Abteilung beschuldigt, ihren Professionalismus zu verlieren. Könnte nicht eben dies Ihr ganz persönliches Problem sein? Die Zeiten haben sich geändert. Die Tage der einsamen Jäger sind vorüber. Tatsache ist, Sie sind kein Mannschaftsspieler, Grendel. Ganz klar ausgedrückt, Sie passen nicht mehr in die Landschaft.« Der Commander zögerte ein wenig. »Suchen Sie sich ein schönes Land aus. Was Warmes, Tropisches vielleicht.« »Haben Sie die goldene Uhr dabei, Commander?« »Sie kennen die Prozedur, Grendel. Sie ist überaus großzügig, wie ich hinzufügen darf.« Dogan spürte wieder heftigen Zorn in sich aufsteigen.
Des Commanders rechte Hand verschwand unter dem Tisch. Doch nicht etwa zu einer Waffe? dachte Dogan. Na und wenn schon. Jeder mußte wissen, wie weit er gehen konnte. Und was das anging, wußte der Commander ja wohl genau, daß er ihm mit einem Handkantenschlag an die Kehle fahren konnte, bevor dieser noch die Zeit hatte, den Abzug durchzudrücken. Der Gedanke tröstete ihn seltsamerweise etwas und das drückte sich in seinem Blick aus. Die Hand des Commanders kam wieder nach oben und durchblätterte weiter die Zeitungsseiten. »M-m«, sagte Dogan kopfschüttelnd. »Ich habe noch keine Lust auf die warmen Tropen.« »Das war kein Auswahlangebot.« »Während Sie sich selbst eine offen ließen, nicht wahr, Commander? Wie viele Leute beobachten uns hier? Wie viele Waffen sind auf mich gerichtet? Natürlich warten alle auf Ihr Signal. Sie werden das Zeichen geben, falls ich widerspenstig bleibe und nicht still und ohne Aufsehen gehe.« Er lehnte sich zurück. »Na, dann geben Sie mal Ihr Signal, Commander. Sie wissen ebenfalls ganz genau, daß Sie keine Chance haben, das zu tun, ohne daß Sie zuerst dran glauben müssen, ehe die anderen mich erwischen. Denken Sie darüber nach, sonst fahren wir gemeinsam in die Ewigkeit. Wenn auch in entgegengesetzten Richtungen, wie ich vermute.« Der Commander schluckte. »Natürlich können Sie mich für diesmal auch laufen lassen, damit die Burschen den Job dann später erledigen. Wer weiß, vielleicht sogar erfolgreich. Wenn ich auch in dieser Hinsicht kaum etwas befürchte, denn sie sind alle Typen wie der kleine Keyes. Und für jeden, den Sie dazu zwingen, den Versuch zu machen, mich umzulegen, reiße ich Ihnen zuvor ein Bein oder einen Arm aus. Sie kriegen kein Dutzend von denen zusammen, die mit mir fertig würden, bevor ich nicht bereits mit Ihnen fertig wäre. Und das wissen Sie auch.« Der Commander nahm seine randlose Brille ab und putzte sie umständlich. Dann sagte er: »Ich ziehe mein Angebot zurück. Sie sind draußen, Grendel, schlicht und einfach rausgeschmissen.« »So ganz ohne Abschiedsparty und alles? Gott, wie weit ist es mit der Welt gekommen!« Der Commander schüttelte den Kopf. »Sie hätten es auf die sanfte Tour haben können, Grendel. Sie hätten einfach nur den Schreibtischstuhl anzunehmen brauchen, den wir Ihnen angeboten haben. Man muß wissen, wann seine Zeit um ist.« Dogan stand auf. »Keine Bange, ich werde das schon wissen, wenn es wirklich so weit ist.« Er drehte sich um und ging. Was ließ er hinter sich zurück? Einen großen Müllhaufen, der Leben hieß. Er hatte immer gewußt, daß dieser Tag kommen würde, unausweichlich. Aber er fragte sich jetzt doch, ob er nicht etwas hätte sagen können, was den Commander umgestimmt hätte. Schließlich bedeutete die »Branche« ihm alles. Ohne sie war sein ganzes Leben ohne Sinn und Zweck. Gut, er konnte sich immer noch frei verdingen, und das war auch durchaus lukrativ. Aber bei solcher Söldner- und Legionärsarbeit mußte man seine eigene Identität verleugnen. Dazu war er zu lange im Geschäft gewesen. Es war klar, der Commander würde ihn beschatten lassen und unverzüglich Schritte unternehmen, ihn eliminieren zu lassen. Er sah sie nicht, aber selbstverständlich waren sie da. Vermutlich war mehr als einer dabei, den er selbst ausgebildet hatte. Doch ein guter Lehrer gibt nie sein allerletztes Wissen preis. Sie abzuschütteln, bereitete ihm keine Mühe. Er spielte einen Augenblick lang mit dem Gedanken, dem Commander, einfach so als Gag, einen von den Burschen verschnürt und verpackt ins Bett zu legen. . Der Gedanke ließ ihn nicht mehr los, bis er schließlich den Place de la Concorde erreichte und an der Stelle stehenblieb, an der Ludwig XVI öffentlich guillotiniert worden war. Der große Brunnen warf majestätische Fontänen in die Luft. Im Wasser spiegelten sich die Lichter des nächtlichen Paris, ein Kaleidoskop der Lebensfreude von beängstigender Schönheit. Doch heute nacht bemerkte Dogan die Schönheit nicht. Sein Lebensinhalt war die Abteilung gewesen, und nun hatte man ihm die Abteilung genommen. Es gab niemanden, der ranghöher war, als der Commander, und dem er seinen Fall vortragen konnte — wenn es überhaupt so etwas wie einen Fall gab. Der Alte war der einzige, dem er verantwortlich war. Für die übrigen Männer der Firma war er lediglich ein Name in einer Geheimakte. Dogan warf einen Blick empor zu den nackten Marmorfiguren, die sich im Wasser räkelten und erwischte sich bei dem Gedanken, wie Ludwig sich wohl gefühlt haben mochte, als der kalte Stahl seinen Kopf in den Weidenkorb springen ließ. Das Gefühl schien ihm vertraut. Er setzte sich auf eine Bank und richtete den Blick auf die perfekte Symmetrie des Musters, das vom Pflaster des Place de la Concorde gebildet wurde. Ein Anachronismus, genau wie er auch. »Darf ich mich zu Ihnen setzen, Genösse?« Dogan blickte auf und sah, daß Waslow vor ihm stand. Irgendwie hatte er so etwas geahnt. »Bitte sehr.« Waslow nahm neben ihm Platz. Er trug einen schicken Anzug, französisches Fabrikat, der seine feingeschnittenen Züge noch unterstrich. Seine elegante Frisur hatte westlichen Chic, und seine Augen glänzten hell und lebendig. »Wie haben Sie mich gefunden?« fragte Dogan. »Weil ich Ihnen natürlich gefolgt bin. Wunderbare Arbeit, übrigens, wie Sie sie abgeschüttelt haben.« »Sie jedenfalls nicht.« Der Russe machte eine Kopibewegung, die bedeuten mochte, daß das ja wohl etwas anderes sei. »Dann haben Sie wohl auch mein Treffen mit dem Comman-der verfolgt?« Waslow nickte. »War auch nicht schwer, zu erkennen, wie es verlief. Wundert mich nicht. Sie hätten den jungen Mann heute morgen schießen lassen sollen.« »Nein, nicht mein Stil.« »Tut es Ihnen gar nicht leid?« »Höchstens, daß ich dem Knilch nicht auch noch die Stimmbänder ruiniert habe.« Waslow lehnte sich zurück und lachte belustigt. »Schauen Sie sich das an. Da hocken wir nun, wir zwei. Zwei kalte Krieger in herrlicher französischer Umgebung. Ich hätte dran denken und Wein mitbringen sollen.« »Da hätten wir auf Ihren heutigen Erfolg anstoßen können. Gekonnte Arbeit, muß ich schon sagen.« »Na, Sie haben mich auch mal ausgetrickst. Auf ähnliche Art. In Prag. Wann war das noch, 77? 78?« »79. Im Winter.« »Also, Sie wissen es noch?« »Ich weiß noch, wie saukalt es war.« Er dachte eine Weile nach. »Sie haben mich damals davonkommen lassen. So wie ich Sie heute.«
»Aus gutem Grund, lieber Freund. Wenn wir erst einmal unseren Stil verloren haben, was sind wir dann noch? Nichts weiter als simple Mörder, keine hehren Ritter im Kampf zu Ehren unserer Länder mehr.« »Romantisch.« »Haben Sie Nachsicht, Freund. Mir gefällt unsere Rivalität. Weil sie eine ständige Herausforderung ist. Ständig höchste Perfektion verlangt. Ich hätte mir diesen Überläufer auch gestern schon ganz still und ohne Aufsehen schnappen und nach Moskau zurückschaffen können. Die ganze Show heute war an sich völlig überflüssig. Aber das hätte mich um das Vergnügen eines neuen Waffengangs in unserem Dauer-Turnier gebracht.« »Dafür sind Sie aber ein ziemliches Risiko eingegangen.« »Das war es wert. Was haben wir denn am Ende schon außer uns selbst und unser Spiel? Heute war ich mit dem Gewinnen dran. Ein anderes Mal mag's wieder anders sein.« »Mit Sicherheit. Von morgen an spielen Sie nämlich allein.« Waslow seufzte. »Also, man hat Sie rausgeschmissen, lieber Freund?« »Ja, aber ich war nicht ganz schuldlos daran.« »Heute morgen?« »Und vor allem vorhin.« »Die sind Idioten, Freund. Genau wie meine Vorgesetzten im Kreml. Nur daß ich manchmal glaube, die im Kreml wissen wenigstens, daß sie Idioten sind, und lassen mich deshalb auch in Ruhe und meine Arbeit so machen, wie ich sie für richtig halte.« »Da haben Sie Glück, Freund.« Seltsam, es fiel ihm überhaupt nicht schwer, Waslow ebenfalls »Freund« zu nennen. Das hier war die längste Unterhaltung, die sie jemals miteinander geführt hatten. In all den Jahren hatten sie Gemeinsamkeiten entwickelt, die größer waren als man in Worten ausdrücken konnte. »Ich wußte natürlich, daß Sie Schwierigkeiten bekommen würden«, sagte Waslow etwas ernster. »Und mir war klar, daß Sie künftig viel Zeit haben werden. Da trifft es sich gut, daß ich ein Projekt an der Hand habe, dem Sie vielleicht einen Teil dieser Zeit widmen können.« »Sie meinen, für Sie arbeiten?« »Nicht eigentlich. Mal angenommen, wir hätten einen gemeinsamen Feind. Einen, der sämtliche Ideale, für die wir beide so hingebungsvoll kämpfen - zusammen mit unseren jeweiligen Völkern natürlich —, zerstören könnte.« In Dogans dichtem braunem Haar spielte der Nachtwind. »Meinen Sie da etwas ganz Bestimmtes?« »Im Augenblick wird erst darüber geredet. Es gibt einzelne Puzzleteilchen, aus denen noch niemand so recht schlau wird. Aber irgend etwas ist im Gange, soviel weiß ich. Unsere beiden Länder sind stark und mächtig, aber gerade deshalb auch verwundbar. Durch Dritte, die genau wissen, wo die schwachen Stellen sind.« »Ein anderes Land?« »Glaube ich nicht«, sagte Waslow. Er zögerte und schlug die Beine übereinander. »Haben Sie schon mal was vom Komitee gehört?« »Nur Gerüchte. Keiner weiß, ob es überhaupt existiert.« »Genau das ist seine Stärke. Keiner glaubt daran, also macht sich auch keiner die Mühe, den Mitgliedern das Handwerk zu legen.« »Bei uns heißt es, daß die Geschichte Falschinformation ist, ausgestreut von euch.« »Eben. Bei uns genau dasselbe, umgekehrt. Beide jagen wir unserem eigenen Schwanz hinterher, und inzwischen kochen die völlig ungestört ihr Süppchen und das direkt vor unseren Augen. Habe ich recht?« »Vermutlich.« »Dann sagen Sie mir mal, was Sie über dieses sogenannte Komitee wissen.« »Alles, was ich bisher herausgekriegt habe, ist, daß es sich um eine internationale Organisation handelt, die sich die Weltherrschaft durch wirtschaftliche Manipulationen sichern will.« Waslow nickte. »Auf ihrem eigenen Sektor jedenfalls. Es läuft wie immer alles auf die Verwundbarkeit hinaus. Wenn sie über unsere Schwächen ausreichend Bescheid wissen, können sie das auf eine Weise gegen uns verwenden, die wirksamer wäre als jede Bombe.« »Ja, das ist denkbar. Es gibt Leute, die behaupten, daß dieses Komitee Terroristen und andere Spezialisten für subversive Aktivitäten auf seiner Gehaltsliste hat. Man beabsichtigt, Regierungen ins Wanken zu bringen und die wirtschaftliche Struktur des jeweiligen Landes zu schwächen und zu unterminieren - um dann auf den Plan zu treten und die Märkte zu besetzen, vielleicht sogar das gesamte Land zu kontrollieren.« »Die übrigen werden nacheinander ebenfalls fallen. Nach der Dominotheorie. Stößt man nur einen an, fallen alle nacheinander.« »Weiß ich nicht. Falls nämlich dieses Komitee tatsächlich existieren sollte, hätten die Leute, aus denen es sich zusammensetzt, längst erkannt, daß die Geschichte gar nicht funktionieren kann. Der ganze Prozeß ist viel.zu umständlich und langwierig. Man kann die Weltherrschaft nicht scheibchenweise erringen. Weil kleine Scheibchen gar nichts bringen.« »Und wie, lieber Freund, ist es mit den großen Scheiben? Angenommen, das Komitee hat Mittel und Wege gefunden, die Länder lahmzulegen, auf die es ihm am meisten ankommt?« »Unsere beiden Länder? USA, Sowjetunion?« »Genau, Freund. Das Komitee ist wohl geduldig, aber Sie haben recht, nach der Dominomethode dauert es viel zu lange, bis alle Steine gefallen sind. Und die Welt verändert sich heutzutage sehr rasch. Es kann auch sein, daß Hindernisse vor die Dominosteine fallen und sie blockieren. Also mußte das Komitee einen Weg finden, unsere Länder direkt zu treffen.« »Sie sprechen plötzlich in der Vergangenheitsform.« »Richtig. Weil ich davon überzeugt bin, daß es diesen Weg tatsächlich schon gefunden hat und praktiziert.« »Wie?« »Es wird dies und das geredet. Es sind Leute sang- und klanglos verschwunden, und vor allem spurlos. Erhebliche Geldmittel wurden gesammelt. Unvorstellbare Summen wandern von Hand zu Hand. Und das alles deutet meiner Überzeugung nach auf einen gleichzeitigen Schlag gegen unsere beiden Länder hin.« Einige Böen wehten Wasser von den Brunnenfontänen zu ihnen herüber. Dogan machte sich nicht einmal die Mühe, sich die Tropfen vom Gesicht zu wischen.
»Atomgeschichten?« fragte er. »Um einen Krieg zwischen uns zu provozieren, meinen Sie? Nein, Grendel. Eine Welt, in der Kriege toben, wäre nicht das, was die Business-orientierten Leute, aus denen das Komitee besteht, sich wünschten. Deren Ideale beschränken sich auf das Wirtschaftsleben. Ihnen kommt es auf die Weltherrschaft durch vollständige Kontrolle über die Rohstoffe und Produktionsmittel an. Daher weht der Wind.« »Ja, aber das alles sagt uns noch nicht sehr viel.« Waslow dachte kurz nach, dann wägte er seine Worte sorgfältig ab. »Worin ihr erster Schlag auch bestehen mag, sicher ist, er wird sich gegen etwas richten, das für unsere beiden Länder von Bedeutung ist, gegen eine Stelle, an der wir beide gleichermaßen verwundbar sind. Denn wir, die beiden Supermächte, stehen ihnen im Wege. Wollen sie die Weltherrschaft erreichen, muß unsere Macht neutralisiert werden. Militärisch sind wir nicht verwundbar. Wir nicht, und ihr auch nicht. Der Schlag muß also wirtschaftlicher Art sein. Da, wo unsere kurzsichtigen, auf militärische Stärke fixierten Politiker die Türen für alle möglichen Gegenstrategien offen gelassen haben.« Dogan merkte, daß sein Mund trocken war. »Eine ganz schöne Schreckensvision, die Sie da entstehen lassen, mein Lieber. Aber es alles ist viel zu vage und zu wenig handfest.« »Weil das Komitee genau dies anstrebt, mein Freund. Aber diesmal wäre es möglich, daß sie sich eine entscheidende Blöße gegeben haben, die uns auf ihre Spur führen könnte. Unsere Waffe wird die Entdeckung des Komplotts sein. Einmal bekannt geworden, kann die Sache nicht mehr funktionieren.« »Und wo ist die entscheidende Blöße?« »In Kolumbien. In einer Stadt namens San Sebastian.« . ..
Dritter Teil Cadgwith Cove Freitag morgen Die Fahrt nach Cadgwith Cove, Bruggar House, zu Colin Burgess dauerte für Locke die halbe Nacht. Bei seiner Ankunft war es deshalb rechtschaffen müde. Er hatte vor dem Dorchester ein Taxi gefunden und sich von ihm zur Paddington Station fahren lassen, wo er einen Zug nach Südengland nahm. Es war ein normaler Personenzug, der fast überall hielt — in Reading, Somerset, Taunton, Exeter und Newton Abbot, das ging einem ganz schön auf die Nerven, zumal es sich als unmöglich erwies, die Fahrt einfach zu verschlafen, besonders zwischen Exeter und Newton Abbot. Da rumpelte der Zug in Dartmoor über uralte, höchst unebene Geleise. Außerdem mußte er noch in Plymouth umsteigen, bevor er endlich in Truro ankam. Vor dem Bahnhof stand ein einziges Taxi. Mit ihm fuhr er die letzte Strecke durch Helston und Lizard und kam nach einer Stunde endlich in das entlegene Dorf Cadgwith Cove. Es war zwei Uhr morgens, als das Taxi in die Kieseinfahrt des ansehnlichen alten Herrenhauses einbog, das als Bruggar House bekannt war. Von unten war die heftige Brandung der See gegen die Felsen zu hören und Locke spürte die salzige Seeluft. Er stieg aus, bezahlte den Taxifahrer, der sofort wendete und wieder davonfuhr. Nun stand er vor dem Haus, in dem sofort ein entsetzliches Hundegebell losging. Er ging auf die Tür zu mit dem Gefühl, sich plötzlich in grauer Vorzeit wiederzufinden. Dieses Bruggar House war mindestens einige Jahrhunderte alt, massiv, aus Granit, majestätisch erhob es sich über den Klippen, in der Mitte mit einem Turm, der sich in den Nachthimmel emporreckte. Er konnte nur hoffen, daß er nicht vergeblich gekommen war. Was, wenn Burgess, der ihm völlig fremd war, ihn abwies? Oder, schlimmer noch, wenn er gar nicht da war? Locke war an der Tür und griff nach dem schweren Messingtürklopfer. Er klopfte dreimal damit. Die Antwort war ein wütendes Knurren und Bellen der Hunde, die zur Tür gerannt kamen. Gerade wollte er ein viertes Mal klopfen, als drinnen ein Riegel zurückgeschoben wurde und die Tür sich knarrend öffnete. »Ja?« fragte eine heisere, müde Stimme. Ein Mann in gebückter Haltung war durch den Türspalt zu sehen. Es stellte sich heraus, daß der Rest einfach war. Die Nennung des Namens Brian Charneys genügte, und die Tür öffnete sich weit. Noch im Foyer, belauert von den hechelnden Hunden trug er seine Geschichte vor. Er konnte sich kurz fassen. Wenige Worte genügten, Mr. Burgess von seiner echten Verzweiflung über die Ereignisse und seine Lage zu überzeugen. Dieser lehnte sogar ausdrücklich ab, vor dem nächsten Morgen Einzelheiten zu hören, zumal auch Locke inzwischen so erschöpft war, daß er kaum noch eine zusammenhängende Schilderung zustandebrachte. Gegen ein paar Stunden Schlaf hatte auch er nichts einzuwenden. Er war in der Tat eingeschlafen, sobald sein Kopf auf dem Kissen des Bettes lag, zu dem ihn sein Gastgeber geführt hatte. Er erwachte erst, als ihn das Gebell der Hunde weckte, als am Morgen der Postbote kam. Er stand auf, schlüpfte in seine Kleider und ging nach unten. Der Geruch von starkem Kaffee erfüllte das ganze Haus. »Ich hörte Sie aufstehen«, sagte Burgess. »Haben Sie gut geschlafen?« »Wie ein Murmeltier, ja. Verblüffenderweise.« »So verblüffend ist das nicht. Der Körper nimmt sich sein Recht, wenn er es nicht bekommt. Das weiß man als alter Soldat wie ich.« »Ich bin Ihnen zu großem Dank verpflichtet.« Der alte Engländer sah ihn an. »Das ist schon in Ordnung. Ich schuldete Brian Charney noch größeren Dank.« Locke schätzte Burgess auf etwa Mitte sechzig. Er hatte dichtes weißes Haar. Lebenserfahrung und Zeit hatten tiefe Furchen in sein Gesicht gegraben. Auch einige Narben, übrigens. Die sichtbarste zog sich von der Stirn mitten durch die linke Augenbraue.
Seine Finger strichen ständig darüber. Große Finger mit den Spuren der Landarbeit daran. Trotzdem aber von einer gewissen Sanftheit, die auch durch die eisblauen Augen schimmerte. Augen eines Mannes, dessen Jugendjahre zwar lange zurücklagen, in denen aber die Ideale der Jugend noch keineswegs erloschen waren. Das Alter hatte ihn bereits etwas gebeugt, wenn auch erst wenig. Früher mußte er ein Hüne von einem Mann gewesen sein, vermutete Locke, einer, der eine Menge Stürme durchgestanden hatte. Auch heute noch füllte er den Stuhl ganz aus, auf dem er saß. Er erhob sich etwas, um seinem Gast Kaffee einzuschenken, und ließ sich dann wieder zurücksinken. Er hatte harte Augen, aber sie waren jetzt zugleich auch traurig. »Junger Freund, ich schwöre Ihnen, die Burschen, die Brian auf dem Gewissen haben, kriegen es mit mir zu tun.« »Wir waren alte Freunde.« »Um so besser, dann jagen wir die Scheißkerle gemeinsam, abgemacht?« »Für den Augenblick allerdings will ich nichts als möglichst schnell nach Hause.« »Sie sagten was von Liechtenstein heute nacht.« Locke trank etwas Kaffee. Es war erstaunlich, wie ihn dieser fast sofort belebte. »Ja, da will ich zuvor noch hin. Brian meinte, Sie könnten mir dabei helfen.« »Worauf Sie sich verlassen können. Sofern es das Ländchen noch gibt. Ich schaffe Sie persönlich bis zur Grenze. Und der Teufel soll jeden holen, der mich daran hindern will. Wüßte allerdings gern, was Sie da zu tun haben. Wofür Brian eigentlich starb.« »Ich auch. Aber Genaues weiß ich selbst nicht.« »Ich wette, Sie wissen mehr, als Sie selbst glauben, junger Freund. Kommt immer nur darauf an, die einzelnen Teile eines Puzzles richtig zusammenzusetzen. Lassen Sie uns das mal versuchen. Erzählen Sie mal der Reihe nach, alles. Wie Sie da reingekommen sind.« Und Locke erzählte ihm die Geschichte von Anfang an. Von Brians Angebot bis zu dem falschen Zöllner am Flughafen, von der seltsamen Begegnung mit Alvaradejo bis zu den letzten Worten Brians. »Erkennen Sie in alledem einen Zusammenhang und Sinn, Sir?« fragte er, als er fertig war. Seine eigene Rekapitulation der Ereignisse hatte ihn wieder verwirrt und frustriert. »Genug Sinn, daß es ausreicht, junger Freund. Aber das ist keineswegs angenehm.« Locke zögerte etwas. Er hatte das Bedürfnis, sich weiter zu rechtfertigen. »Er hatte von Anfang an die Absicht, mich bei der Geschichte hops gehen zu lassen.« »Die Absicht wohl nicht. Allenfalls kalkulierte er dies als Risiko mit ein. Er hat auf Sie gesetzt, Junge. Schließlich hatten .Sie ja auch die Ausbildung hinter sich.« »Gott, vor zwanzig Jahren. Und niemals abgeschlossen.« »Immerhin haben Sie sich gestern an das erinnert, was Sie damals gelernt haben, oder? Lieber Freund, Profis wie Brian und ich tun uns was darauf zugute, die Fähigkeiten eines Mannes mobilisieren zu können. Die Tatsache, daß Sie es immerhin bis zu mir hierher geschafft haben, zeigt zur Genüge, daß Brian Sie durchaus richtig einschätzte. Er hat nur seine Arbeit getan, mein Lieber. Und das macht ihn nicht weniger zu einem Freund. Ich habe die ganzen siebziger Jahre mit ihm zusammengearbeitet, und ich habe nie einen Mann erlebt, der sein Land so liebte wie er.« Burgess strich sich mit dem Ärmel schnell über die Augen und räusperte sich. »Also gut, analysieren wir mal alles, was gestern passierte. Von Anfang an. Der vermeintliche Zöllner hat Ihnen also eine Waffe übergeben.« »Angeblich im Auftrag von Brian. Aber der wußte von nichts.« »Und dieser Kolumbianer war Ihr erster Kontakt hier, so wie seinerzeit auch für Lübeck.« »Ja, bei ihm beginnt die Spur.« »Und Lübeck ist in Kolumbien umgekommen.« »In einer Stadt namens San Sebastian.« Rache für die Toten von San Sebastian . . . »Er hat dort ein Massaker mitangesehen.« Burgess schüttelte nachdenklich den Kopf. Sein Mund wurde zu einem dünnen Strich. »Junger Freund, wir haben es da mit Kreaturen zu tun, die buchstäblich vor nichts zurückschrecken. Tiere sind das. Die haben absolut nichts zu verlieren. Aber offenbar eine ganze Menge zu gewinnen.« ' Locke krampfte sich der Magen zusammen. Wie oft hatte er gestern das Wort Tiere gehört? »Die Leute von San Sebastian waren also Augenzeugen von irgend etwas«, fuhr Burgess fort, »das so schlimm war, daß sie deshalb alle sterben mußten.« Er legte seine Stirn in Falten. »Hat dieser Botschaftsmensch damals von sich aus den Kontakt zu Lübeck aufgenommen?« »Weiß ich nicht.« »Dann wollen wir das mal annehmen, junger Freund. Er hat offenbar irgendwas gewußt, irgendwas gehört, und deswegen Lübeck alarmiert. Was es auch war, es führte Lübeck dann als erstes nach Liechtenstein. Diese Kreaturen erfuhren, daß er eine Spur dorthin aufgenommen hatte. Nur wußten sie nicht, worum es ging. Und jetzt erscheinen auch noch Sie auf der Bildfläche. Offenbar, um dieser Spur noch einmal nachzugehen.« »Augenblick«, unterbrach ihn Locke. »Die Frage ist doch, woher sie überhaupt irgend etwas von mir wußten. Mein Einsatz war schließlich absolut geheime Kommandosache.« »Nun ja. Einsätze dieser Art müssen zwangsläufig vorher bestimmte Kanäle passieren. Und den Kanal, der kein Leck hat, gibt es nicht. Unsere lieben Freunde scheinen gute Verbindungen zu haben.« Er beugte eich etwas vor und stützte sich auf seine Ellbogen. »Sie tauchen also auf und die sehen eine wunderbare Gelegenheit, die von Lübeck aufgegrabene Spur wieder zuzuschütten. Mit Ihnen als Schaufel sozusagen. Alles, was sie tun müssen, so sagen die sich, ist, diesem Kolumbianer einzuflüstern, daß die Menschen, die seine Stadt auslöschten und Lübeck umbrachten, jetzt hinter ihm her sind und ihm einen Killer schicken.« »Nämlich mich«, zog Locke nickend die Schlußfolgerung. »Deshalb arrangierte man die Geschichte mit der Waffe für Sie; man konnte darauf bauen, daß Sie das Schießeisen benutzen würden, wenn man Sie dazu zwang.« »Alvaradejo hat mich für ein Rädchen in einer großen Maschinerie gehalten. Er sprach immer nur in der Mehrzahl. Aber was wäre passiert, wenn ich nicht davongekommen wäre?«
»Dann wären Sie jetzt tot. Diese Kreaturen hätten Alvaradejo selbst liquidiert und sich anschließend etwas anderes ausgedacht, um Lübecks Spur zu verwischen.« »Schon«, überlegte Locke. »Aber Alvaradejo muß ja seinerseits Teil einer größeren Organisation gewesen sein. Die Burschen, die mich jagten, sprachen spanisch wie er und gebrauchten dieselben Anklagen und Wörter wie er.« Burgess strich beim Nachdenken wieder über seine Stirnnarbe. »Eine Organisation, ja. Der Taxifahrer. Und ihn so geschickt zu plazieren. Das ist keine Amateurarbeit.« »Also haben wir es mit zwei Gegnern zu tun.« »Mindestens, junger Freund, mindestens. Aber mit den üblen Gestalten müssen wir uns wohl vordringlich beschäftigen. Die anderen — Alvaradejos Leute — sind zwar auch gefährlich, aber sie arbeiten nicht annähernd so professionell. Echte Profis schreien nicht auf der Straße herum.« Locke fragte zögernd, und ein Kloß saß ihm im Hals: »Und Brian?« Die Augen des Engländers wurden hart. »Zwischen Ihren verzweifelten Kontaktanrufen und Ihrem Treffen im Park hat er fieberhaft nach Antworten gesucht. Offensichtlich aber haben die Antworten ihn zuerst gefunden.« Sie sind überall, sie haben ihre Finger in allem . . . »Er sagte: sie seien überall. Und daß sie die Welt beherrschen würden, wenn man sie nicht aufhielte. Ist Ihnen klar, daß die mich jederzeit hätten aus dem Weg räumen können?« »Aber sie zogen es vor, Sie statt dessen zu benutzen. Ihr Freund Lübeck hat eine Spur entdeckt, die durch seinen Tod wieder verschüttet ist. Doch es kann weiterhin gefährlich für diese Kreaturen sein, wenn ein anderer kommt und sie wieder finden will. Sie begann bei Alvaradejo und sie führt weiter nach Liechtenstein. Indem man Sie verfolgt, verwischt man die Spur.« »Wer waren aber dann die Burschen im Hotel?« »Vermutlich weitere Leute des Kolumbianers. Trotzdem waren es wohl die anderen, die Charney auf dem Gewissen haben. Vermutlich, weil er ihnen schon zu nahe auf die Pelle gerückt war.« Locke trank seinen Kaffee aus. Das Koffein belebte ihn zwar, aber seine Angst und das Gefühl von Hilflosigkeit wuchsen, als Burgess seine Kombinationen und Erläuterungen fortsetzte. »Wenn ich also nach Liechtenstein gehe«, überlegte er, »nutze ich im Grunde nur der Sache derer, die nach Brians Worten eigentlich aufgehalten werden müssen.« Burgess schüttelte energisch den Kopf. »Vorher vielleicht, jetzt nicht mehr.« Er tippte sich mit dem Zeigefinger an die Brust. »Jetzt haben Sie mich an Ihrer Seite. Ich werde Ihnen sagen, was Sie zu tun haben, um immer einen Schritt voraus zu sein. Die krümmen Ihnen kein Haar, solange Sie nützlich für Sie sind. Das müssen wir ausnützen, Freund. Außerdem haben die keine Ahnung, was Ihr nächstes Ziel sein wird. Mit anderen Worten, die Zeit arbeitet für uns und auch das müssen wir ausnutzen.« Er setzte sich mit verschränkten Armen zurück. »Sie haben erwähnt, daß Brian einen Zusammenhang zwischen den Ereignissen herzustellen versuchte.« »Aber es kam nicht viel dabei heraus«, sagte Locke. »Er war .der Ansicht, der Schlüssel zu der ganzen Geschichte seien Nahrungsmittel.« »Was?« »Lübeck hatte etwas wegen dieser Welthungerkonferenz zu recherchieren. In diesem Zusammenhang traf er sich mit Alvaradejo. Später starb er dann dort in Kolumbien, weil er Augenzeuge irgendeiner Geschichte auf den Feldern dort wurde. Das Letzte, was er sagte als er noch lebte, bezog sich darauf.« »Ohne daß er es vollenden konnte. Und was sagte Brian in bezug auf Liechtenstein?« »Ich solle dorthin reisen und einen gewissen Felderberg suchen. Mehr nicht.« »Felderberg?« rief der Engländer erstaunt. »Kennen Sie ihn?« »Jeder, der in unserer Branche zu tun hat, kennt ihn. Oder genauer gesagt: weiß, daß es ihn gibt. Ich werde Ihnen etwas sagen, mein Lieber. Glauben Sie nicht alles, was man Ihnen über die Schweiz erzählt. Finanzhochburg der Welt, und das alles. Gut, die Leute schaffen ihr Geld nach wie vor dorthin auf Nummernkonten, weil es nirgendwo diskreter zu verstecken ist. Aber wer mit seinem Geld arbeiten und herumjonglieren will, der geht nicht in die Schweiz, der geht nach Liechtenstein. Dort spielen sich die Geschäfte ab. Die großen, die halbseidenen, und die windigen. Dorthin werden Summen transferiert, vor deren Höhe Ihnen schwindlig würde. Und warum? Dort ist alles machbar und das mit äußerster Diskretion, ohne daß irgendeine Regierung, geschweige denn ein Finanzamt, etwas davon erfährt. Und wissen Sie, wer in dem ganzen Netz als dicke Spinne in der Mitte sitzt, als Mittelsmann und Makler? Richtig. Ein gewisser Claus Felderberg. Wer immer einen Strohmann braucht, einen diskreten Vermittler, ein Rangiergleis: Claus Felderberg ist die Adresse, an die man sich wenden muß. Er hat sozusagen alles im Blick, sein Ruf gründet sich vor allem auf absolute Diskretion.« »Mit dem hat Lübeck sich also getroffen«, sagte Locke. »Der ist das nächste Glied in der Kette?« »Ohne daß wir wissen, wohin er uns führen wird, Junge. Denn was hat ein internationaler Finanzmakler mit einem brutalen Massaker in einer gottverlassenen kolumbianischen Stadt am Ende der Welt zu tun?« »Das wußte vermutlich nur Lübeck.« »Also müssen auch wir es ausknobeln. Sie sind schon an der richtigen Adresse. Ich bin Brian Charney das schuldig. Und noch viel mehr.« Er unterbrach sich und fragte Locke, ob er nicht hungrig sei, packte ihm ein gewaltiges Frühstück, bestehend aus Steak und Eiern, Tomaten und Würstchen auf den Teller und goß ihm noch einmal Kaffee ein. Während sie gemeinsam aßen, erzählte Burgess ihm von sich. Er hatte sich zu Beginn des Zweiten Weltkrieges freiwillig gemeldet und das Ende, dreimal wegen Tapferkeit ausgezeichnet, an der deutschen Front erlebt. Er hatte zwei Verwundungen überstanden und sich beide Male nicht heimschicken, sondern wieder zurück an die Front versetzen lassen. Erst die dritte Verwundung brachte ihm dann die unwiderrufliche Fahrkarte nach Hause ein. Es war wirklich nichts mehr zu machen. Er hatte eine Ladung Granatsplitter abbekommen. Einige saßen so tief, daß sie nicht mehr zu entfernen waren. »Sah so aus, als ob ich für den Rest meiner Tage in diese Plastikpäckchen scheißen müßte, verstehen Sie, die Dinger die sie einem in solchen Fällen umhängen.« Aber er hatte sich überraschend gut erholt. Das einzige Überbleibsel war, daß er seitdem hinkte. Dazu kam, daß er keine abrupten Bewegungen mehr machen konnte. Man fand also eine andere Beschäftigung für ihn. Im britischen Oberkommando. Wichtiger als der Frontkampf und interessanter. Er kam zur OSS, Abteilung Aufspüren und Entlarven von Spionen. Nach dem Krieg setzte er diese Art Tätigkeit bei der MI-6 fort, dem britischen Pendant zur bald danach entstandenen amerikanischen CIA. Dreißig Jahre lang. Dabei lernte er Brian Charney kennen und arbeitete des öfteren mit ihm zusammen. Das letzte Mal in Ost-Berlin. Es lief nicht gut. Sie tappten in eine Falle, und Burgess bekam zwei Kugeln in die Seite ab. Charney erledigte die beiden Angreifer und
schleppte ihn dann mühsam drei Meilen weit zu einem Treffpunkt an der Mauer, während KGB-Agenten sie jagten. Von da an waren sie ständig miteinander in Kontakt geblieben, wobei der altgediente englische Kämpe zu einer Art Vaterfigur für den jungen amerikanischen Wunderknaben wurde und ihm alle Tricks der freien Wildbahn beibrachte, von denen man im Ausbildungslehrgang keinen Ton hörte, geschweige denn sie lernte. Auch als Burgess dann in Pension ging, holte Charney sich oft Rat von ihm. Er sprach von dem stämmigen Briten immer als seinem wahren Mentor. »Er war für mich wie ein Mitglied meiner Familie«, sagte Burgess bitter. »Den Kerl, der ihn auf dem Gewissen hat, schnappe ich mir, darauf können Sie sich verlassen.« Bei diesen Worten krampfte sich Lockes Magen zusammen. »A propos Familie«, sagte er. »Was ist mit meiner? Ich muß mich mit ihr in Verbindung setzen, und sie muß in Sicherheit gebracht werden.« Burgess nickte und überlegte. »Ich kümmere mich darum.« »Aber Charney hämmerte mir ausdrücklich ein, mich auf niemanden zu verlassen - auf absolut niemanden.« »Bei seiner Regierung vielleicht. Nicht bei meiner. Ich habe noch genug Kontakte, auch inoffizielle. Inoffiziell läßt sich so etwas ohnehin am besten arrangieren. Verlassen Sie sich darauf, innerhalb von acht Stunden ist das erledigt und Ihre Familie unter Beobachtung und Bewachung. Machen Sie sich keine Sorgen, was das betrifft.« Locke schüttelte schwer den Kopf. »Es geht nicht allein darum. Tatsache ist, ich bin nicht sicher, ob ich das weitermachen kann. Ob ich das durchstehe.« Burgess sah ihn intensiv an. »Aber ich, Junge. Sehen Sie, Brian Charney war keiner, der irgend etwas dem Zufall überließ. Er hat mich noch gestern nachmittag angerufen und mir gesagt, es sei möglich, daß ich von Ihnen hörte. Wenn aber, dann bedeute es, daß er tot sei. Er informierte mich über einige Details aus Ihrer Personalakte, die ich wissen sollte, wie er meinte. Und eben diese haben mich davon überzeugt, daß Sie durchaus der Mann sind und das Zeug dazu haben, diese Sache zu erledigen und sie an seiner Stelle zu Ende zu bringen. Daß Sie herausbekommen können, was hinter der ganzen Geschichte eigentlich steckt. Was tatsächlich passiert ist. Und verhindern können, was möglicherweise noch geplant ist. Denn Sie haben das im Blut.« Locke sah überrascht auf. Dann begriff er. »Sie wissen das von meiner Mutter, wie?« »Mehr als das, Junge«, sagte Burgess ohne Anzeichen von Emotion in der Stimme. »Ich war es, der sie geschnappt hat.«
»Was wir hier vor uns haben Gentlemen«, sagte Calvin Roy, der Unterstaatssekretär, hart, »ist ein Misthaufen, der mehr stinkt als jeder Getreideacker vor der Aussaat.« Er beugte sich vor und fixierte die beiden Männer auf der anderen Seite seines Büroschreibtisches: Louis Auschmann, stellvertretender Nationaler Sicherheitsberater, und Major Peter Kennally, Direktor der CIA. »Charneys Autopsieberichte sind gerade gekommen«, sagte Roy. »Vier Kugeln haben sie ihm reingepumpt. Und der Mann, den er vorgeschickt hat, ist wie vom Erdboden verschwunden.« »Man hätte mich über die Geschichte informieren müssen«, sagte Kennally trocken. »Es geht einfach nicht, Amateure ohne offizielle Genehmigung und Rückendeckung als Kanonenfutter einzusetzen.« »Ach, versprühen Sie Ihre Jauche doch woanders«, fuhr ihm Roy über den Mund. »Charney hatte volle Genehmigung für gottverdammt alles, samt einer unbeschränkten Generalvollmacht, wenn Sie's genau wissen wollen. Darum geht es doch nicht. Er war ausschließlich seiner eigenen Behörde verantwortlich und ich persönlich habe seinem Vorschlag für seine . . . Personen wähl zugestimmt. Übrigens der Minister ebenfalls.« »Mit dem tollen Ergebnis, daß eure . . . Personenwahl jetzt wie ein Hase auf der Treibjagd durch London gehetzt wird! Weil er einen kolumbianischen Diplomaten über den Haufen schoß und zusätzlich auch noch fast einen Taxifahrer umgebracht hätte.« »Ist ja gut, ja. Ich bin ziemlich sicher, daß er dafür einen Grund hatte, Charneys Tod bestätigt das nur.« »Vorausgesetzt, daß er nicht auch derjenige ist, der Charney erledigt hat. Kann doch von vornherein ein faules Ei gewesen sein. Es muß geklärt werden, ob sie uns den Burschen nicht von Anfang an gezielt ins Nest gesetzt haben.« »Nun, die Kugeln, die man in dem Kolumbianer fand, und die, die Charney umbrachten, sind jedenfalls nicht vom gleichen Kaliber«, gab Auschmann zu bedenken. »Na, wenn schon«, sagte Kennally. »Das gehört doch zur Grundausbildung, daß Anfängern klargemacht wird, daß sie nicht zweimal die gleiche Waffe verwenden dürfen.« »Lieber Major«, polterte der bodenständige Texaner Roy wieder grimmig los, »stecken Sie sich Ihre Vorschriften doch in Ihren Arsch! Ich habe Sie hergebeten, mir zu helfen, damit wir rauskriegen, was da vorgefallen ist, nicht, damit Sie uns die Paragraphen des Handbuchs für Spione rezitieren. Haben Sie denn meinen Bericht, den ich Ihnen über Charney und seine Vermutungen schickte, nicht gelesen?« »Natürlich«, nickte Kennally ungerührt, »Und alles, was ich daraus entnehmen konnte, war, daß nicht viel Konkretes hinter diesen Vermutungen zu stecken schien.« »Zu der Zeit vielleicht nicht, zugegeben. Aber nach dem, was inzwischen passiert ist, sieht die Sache ja wohl erheblich anders aus; oder etwa nicht? Und ich bin der Ansicht, daß wir verdammt noch mal was unternehmen sollten, und zwar schnell, ehe wir noch mehr Beerdigungen arrangieren müssen. Charney war bekanntlich durch und durch Profi. Er hat schließlich lange genug für Sie gearbeitet, so daß Sie das wissen müßten.« »Das ändert nichts daran, daß das meiste an seinem Bericht über Lübeck eben nur Vermutungen sind.« »Na, was? Sie haben doch Lübecks Tonband auch gehört? Wie sollte er da mehr Konkretes herausholen?«
»Also Sie jedenfalls sind der Ansicht, daß es einen Zusammenhang zwischen Lübecks und Charneys Tod gibt.« Roy warf demonstrativ die Arme in die Luft. »Lieber Gott, da haben wir ja eine richtige Intelligenzbestie unter uns. Der merkt tatsächlich alles.« »Und wie paßt dieser Locke da ins Bild?« »Im Augenblick, werter Major, überhaupt nicht. Weit und breit ist er in diesem Bild nicht zu sehen. So steht's!« »Und San Sebastian, was ist damit?« »Seit gestern abend haben sie das Feuer endgültig gelöscht. Der erste Bericht von der Mannschaft, die da hingeschickt wurde, kam ebenfalls gerade erst. Im Umkreis von zwanzig Meilen ist auch nicht der kleinste Grashalm übriggeblieben, der uns was verraten könnte. Allenfalls jede Menge Menschenknochen, allerdings ganz verkohlt, so wie die ganze Stadt, total abgebrannt.« »Ganz offensichtlich also«, meldete sich Auschmann pedantisch zu Wort, »da hat irgend jemand große Mühe und Sorgfalt darauf verwendet, jede Spur zu vernichten.« »Ich weiß, Louie«, raunzte Roy wieder sarkastisch-grob, »daß ich immer auf Sie zählen kann, wenn wir jemanden brauchen, der ordentlich zusammenfaßt, was ohnehin schon auf dem Tisch liegt. Aber wie war's, wenn Sie mir zur Abwechslung auch mal etwas weniger Offensichtliches erzählen würden? Beispielsweise, was in Dreiteufelsnamen mit Charney passiert ist?« »Was meinen Sie damit?« »Er hat sich mit niemandem in Verbindung gesetzt, das meine ich. Statt die üblichen Kanäle zu benutzen und dann einen Notruf loszulassen, was tut er? Er läßt sich abknallen, während er versucht, seine Nachricht unserem lieben Professor Locke weiterzugeben.« »Es gibt keine Meldung darüber, daß er gestern zu irgendeinem Zeitpunkt Hilfe verlangt hätte«, berichtete Auschmann. »Auch mit unseren Leuten in der Botschaft hat er keinerlei Kontakt aufgenommen.« »Schon seltsam«, bemerkte Major Kennally, »Charney war nie der Solo-Typ.« »Also, was kann er für einen Grund gehabt haben, sich in dem Punkt anders als gewohnt zu verhalten?« fragte Roy. »Kann es sein, daß er die >üblichen Kanäle< nicht beansprucht hat, weil er fürchtete, sie brächen ein?« »Undichte Stellen, meinen Sie?« forschte Kennally. »Vielleicht.« Roy dachte nach. »Womöglich was viel Schlimmeres als bloß ein Leck.« »Zum Beispiel«, bot Auschmann an, »die Entdeckung, daß bestimmte Kräfte in unserer Regierung an dem, was er aufdeckte beteiligt sind?« »Genau das meine ich. Er muß rausgefunden haben, daß die Spur der Scheiße, die er an bestimmten Schuhen fand, bis zu unserer eigenen Tür führt.« »Also meldete er nichts, weil er fürchten mußte, daß er an die verkehrte Adresse geraten könnte«, folgerte Auschmann unverdrossen mit Eifer. Er war einer dieser klugen jungen Männer Anfang Dreißig, mit Harvardabschluß und großen Karrierehoffnungen. »Vermutlich war er auch unter Zeitdruck und mußte schon deshalb alleine handeln.« »Aber zu Locke ging er«, sagte Kennally. »Weil er der einzige war, von dem er wußte, daß er ihm vertrauen konnte, als sie in die Klemme gerieten.« »Durch wen in die Klemme gerieten, meine Herren?« fragte Roy mit erhobener Stimme. »Das interessiert uns doch wohl vor allem. Herrschaften, ich habe hier auf dem Tisch einen toten Agenten und einen Collegeprofessor, der im Augenblick in England herumrennt und wegen Mordes gesucht wird.« »Was ist mit Scotland Yard, kooperieren die?« wollte Kennally wissen. »Ach, diese Blödmänner, die würden doch einen Scheißhaufen nicht finden, selbst wenn sie knieftief drinstünden. Übers ganze Dorchester haben sie ein Riesennetz geworfen, sagen sie. Trotzdem ist ihnen der Amateur Locke ungesehen durch die Maschen geschlüpft. Das haben sie erst gemerkt, bis ihnen endlich einfiel, sie könnten einen Mann in seinem Zimmer plazieren. Dort fanden sie dann den toten Charney und Hinweise darauf, daß der liebe Professor grade eben rausspaziert sein mußte. Die Spur war noch heiß, aber ehe sie ihr folgen konnten, löste irgendwer diesen Scheißfeueralarm aus.« »Vielleicht Locke selbst«, schlug Auschmann vor. »Was hieße, daß er erheblich cleverer ist, als wir annahmen. Es sei denn, Major, ihr lehrt das bei der Grundausbildung eurer Akademie.« »Tun wir nicht«, gab Kennally zurück, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. »Und jetzt ist der Bursche allein.« »Vielleicht nicht«, überlegte Roy. »Kann mir nicht vorstellen, daß Charney ihn nicht zu irgendwem schickte. Der arme Hund hat sich doch nicht für nichts und wieder nichts mit vier Kugeln im Bauch noch da raufgeschleppt, in Lockes Zimmer, nur um dort malerisch auf dem Teppich zu sterben. Nein, nein, er tat das, um Locke noch irgendwas zu sagen. Und zwar vermutlich wesentlich mehr, als wir bis jetzt wissen.« »Worauf warten wir dann noch?« sagte Kennally, durch nichts aus seiner distanzierten Ruhe zu bringen. »Der Mann ist die Lösung. Ihn müssen wir finden.« Er lehnte sich zurück. »Die Frage ist natürlich, wo fangen wir an? Charney kann ihn weiß Gott wo hingeschickt haben.« »Eben nicht«, konterte der clevere Auschmann, »eben nicht weiß Gott wohin. Nachdem er weder mit einer Niederlassung unserer Regierung noch mit der Botschaft Kontakt aufgenommen hat, wird er auch Locke in eine andere Richtung geschickt haben.« Roy sah ihn aufmerksam an und verschränkte die Finger. »Da ist was dran«, räumte er nickend ein. »Forsten Sie Charneys Akte durch, Louie, und zwar mit der Lupe. Brian Charney hatte eine Menge Kontakte in England. Picken Sie uns den raus, zu dem er Locke vermutlich geschickt hat.« »Wieso gerade in England?« »Weil Charney ein Profi war und wußte, daß Locke keiner ist. Also sind für Locke auch Entfernungen ein Problem. Mit anderen Worten, er mußte und wollte ihm auf jeden Fall eine längere Reise ersparen.« »Nachdem Locke sich bisher nicht gemeldet hat«, sagte Kennally wieder, »besteht die Möglichkeit, ja sogar Wahrscheinlichkeit, daß Charney ihm auftrug, seinen eigenen Platz einzunehmen.« »Was ihn für Charneys . . . und Lübecks . . . Mörder hochinteressant machen würde«, faßte Auschmann zusammen. »Sofern wir ihn nicht vor denen aufspüren«, sagte Roy. »Und genau das, Herrschaften, werden wir tun. Damit das klar ist.«
Der Einäugige betrat ruhig die Bar. Er tat sein Bestes, nicht weiter aufzufallen, was freilich nicht ganz leicht war. Er war ein Hüne, mit breiten Schultern, finsterem Gesicht, schwarzem Haar und stechendem Blick. Die Leute gingen ihm automatisch aus dem Weg und sahen unsicher weg. Er ging zu einem Tisch weiter hinten, an dem eine dunkelhaarige Frau allein saß, kettenrauchend ein halbes Glas voller geschmolzener Eiswürfel vor sich. »Er ist uns entwischt«, sagte die Frau. »Das dachte ich mir schon«, antwortete der Mann und setzte sich. »An deinem Bericht irritiert mich etwas. Du sagst, der Amerikaner kam allein in den Park?« »Ja.« »Das kann nicht sein. Es müssen andere dabei gewesen sein.« »Gott, sie glaubten, nur Alvaradejo käme. Da waren keine anderen nötig.« Der Einäugige zog seinen Stuhl etwas näher. »Dann berichtest du, der Amerikaner lief aus dem Park hinaus. Wie würdest du dieses Laufen beschreiben. Als panikartig?« »Verzweifelt vielleicht. So drückte sich unser Mann im Taxi aus.« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Er wird übrigens bald wieder auf dem Damm sein.« »Seit Wann drehen Profis durch? Was zu erwarten gewesen wäre, ist, daß der Amerikaner seine Waffe ins Gebüsch wirft und ganz ruhig davongeht. Statt dessen rennt er davon, als habe ihn etwas völlig Unerwartetes überrascht.« »Nun, Alvaradejo schoß schließlich auf ihn.« »Das müßte er doch einkalkuliert haben.« »Jedenfalls schoß der Amerikaner wie ein Profi«, sagte die Frau und zündete sich schon wieder eine Zigarette an. »Das heißt gar nichts. Aus der kurzen Entfernung.« »Er könnte von unserer Taxifalle etwas gewußt oder es geahnt haben. Seine Panik könnte gespielt gewesen sein, um die Aufmerksamkeit unseres Mannes abzulenken. Hat ja auch bestens funktioniert, so wie es aussieht.« Der Einäugige war noch nicht überzeugt. »Warum wartet er dann, ohne etwas zu tun, bis unser Mann die Waffe zieht?« »Show vielleicht. Die Amerikaner müssen doch immer Cowboy spielen, wer zieht am schnellsten, und dieser Quatsch. Als es dann soweit war, hat er ja auch wirklich keine schlechte Schau abgezogen, das muß man ihm lassen.« »Und hat unseren Mann am Leben gelassen. Kein Profi würde so etwas tun. Und kein Profi würde mitten auf der Straße anfangen davonzurennen, nur um noch mehr Chaos zu verursachen.« »Wenn das nicht auch Teil der Show war. Oder des Plans. Und auch seine Falle hat bestens funktioniert. Arturo ist voll hineingetappt. Seine Finger waren noch am Abzug, als sie ihn fanden. Nur ein Profi kann so schnell sein.« Der Einäugige zuckte mit den Schultern und wedelte den Rauch weg. »Noch so ein Punkt, der nicht ins Bild paßt. Eine so perfekte Liquidierung ohne jeden Zeugen . . .« »Ich sagte ja, Profiarbeit«, erwiderte die Frau und drückte ihre Zigarette aus, um den anderen nicht mit ihrem Rauch zu belästigen. »Das läßt sich nicht leugnen«, bestätigte er. In seinem Gesicht zuckte es nervös. »Und es war der Amerikaner, der sich um das Treffen mit Alvradejo bemühte?« »Genau, wie man uns mitgeteilt hat. Sie haben ihn auf Lübecks Spur gesetzt. Er sollte alle liquidieren, mit denen Lübeck zu tun hatte und die zu viel wußten.« »Ein College-Professor . . .« »Ja, aber mit einem sechsmonatigem CIA-Lehrgang im Lebenslauf«, sagte die Frau. »Sie behaupten zwar, er sei damals abgesprungen. Aber eine idealere Tarnung hätten sie doch gar nicht finden können.« »Aber warum steht dann diese Ausbildung noch in seinem Dossier?« »Spielt keine Rolle. Ganz offensichtlich führt dieser Locke ein Doppelleben. Seine Lehrtätigkeit läßt ihm ausreichend Zeit für anderes. Niemand findet es ungewöhnlich, wenn ein Lehrer häufig reist. Es ist eine perfekte Tarnung. Und meinst du etwa, es ist ganz und gar Zufall, daß er ausgerechnet an dieser Georgetown-Universität ist — in Washington?« Der Einäugige sagte nichts. »Paßt alles zusammen«, erklärte die Frau kühn. »Dieser Locke ist einer von der schlimmsten Profi-Sorte. Unkalkulierbar, mit anscheinend ungezügelten Emotionen, während in Wirklichkeit jeder Schritt.aufs raffinierteste ausgeklügelt ist.« Sie dachte ein wenig nach. »Ich habe Arturos Leiche gesehen. Der Schnitt an seiner Kehle stammt von keinem Amateur, soviel steht fest. Unser Problem ist jetzt, daß wir Locke überhaupt erst auf uns aufmerksam gemacht haben. Jetzt ist er gewarnt und erwartet unseren nächsten Zug. Und er ist gut. Unser Vorteil ist dahin.« »Wer weiß. Wo hatte Alvaradejo Lübeck hingeschickt?« »Zu Claus Felderberg nach Liechtenstein.« »Dann müssen wir unsere Strategie wohl ein wenig ändern . . .«
Der Schock war groß für Christopher Locke. Er traf ihn wie eine Ohrfeige. Der Mann, der seine Mutter auf dem Gewissen hatte! »Ich habe sie gerade noch erwischt, kurz vor Tagesanbruch am Strand«, erläuterte Burgess. »Eine halbe Meile draußen auf See tauchte bereits das U-Boot auf, das sie abholen sollte. Als man uns ausmachte, tauchte es wieder ab. Ihre Mutter leistete keinerlei Widerstand. Sie wußte, daß es vorbei war.« Er suchte Lockes Augen und zögerte. »Profis wissen so etwas.« »Die Welt ist klein, wie?« sagte Locke mit einer Ruhe, die ihn selbst überraschte. Burgess nickte. »Und meistens nicht besonders erfreulich. Sie haben natürlich das Recht, nun gegen mich voreingenommen zu sein, junger Freund.« Locke sah ihn nachdenklich an. »Ja, aber ich kann nicht. Ich empfinde nichts. Das ist alles vorbei und weit weg. Wichtiger ist das Jetzt. Brian ist tot, und Sie sind der einzige, den ich habe. Die Vergangenheit liegt weit hinter uns.«
Aber schon während er das sagte, wußte er, daß es nicht die volle Wahrheit war. Denn wie tief in seinem Gedächtnis diese Vergangenheit auch vergraben sein mochte, sie blieb fest mit der Gegenwart verwoben. Daß er überhaupt hier saß, hing ja schon mit seiner Mutter zusammen. Er konnte es leichter ertragen, weil er zu erkennen glaubte, daß sich hier der lange vorbestimmte Lauf des Schicksals zeigte, dem man nicht entrinnen konnte. Und als Burgess noch hinzufügte: »Das Leben macht uns alle zu Waisen«, war ihm klar, daß dies die Wahrheit sein mußte, die sein Leben bestimmte. Burgess verließ kurz danach das Haus, nachdem er sich noch Lockes Maße hatte geben lassen. Er brauchte neue Kleider und mußte in der nächsten Zeit viel reisen. Es mußten Arrangements getroffen und Informationen eingeholt werden. Felderberg war ein mächtiger Mann. Locke konnte ihn nicht einfach anrufen, wie etwa Alvaradejo, um einen Termin auszumachen. Es mußte eine passende Tarnung gefunden werden und ein Weg für die Kontaktaufnahme. Und vor allem war Eile geboten. Dieser letzte Punkt machte Locke zu schaffen. Lübeck hatte zweifellos alles getan, was er konnte, und noch ein bißchen mehr dazu. Und trotzdem hatten sie ihn gekriegt, den alten Lube. Konnte er, Locke, bei realistischer Betrachtung irgend etwas anderes erwarten? London? Da hatte er ganz einfach Glück gehabt. Unerhört viel Glück. Aber Glück hatte man allenfalls dann und wann. Nicht regelmäßig. Schon gar nicht immer. Und ausschließlich auf Glück angewiesen zu sein . . . Er versuchte, sich zu beruhigen, etwas zu schlafen. Es ging nicht. Binnen so kurzer Zeit ein zweites Mal mit seiner Mutter, ihrer für sein ganzes Leben so traumatischen Rolle, und ihrem Schicksal konfrontiert zu sein, trug dazu sicherlich sein Teil bei. Dazu seine eigene Verwundbarkeit in seiner jetzigen Lage. Er war längst keine beliebige Wachsfigur mehr. Er war zur entscheidenden Figur geworden, die ihre Züge ganz allein und unabhängig bestimmen mußte. Jedenfalls, sobald er Liechtenstein erreicht hatte. Ehe Burgess aus dem Haus ging, bat Locke ihn noch darum, Kontakt mit seiner Familie aufnehmen zu dürfen. »Die Idee ist nicht gut, Junge«, sagte Burgess entschieden. »Wird viel zuviel abgehört heutzutage. Sie könnten damit allzuleicht Ihren Aufenthaltsort verraten und würden damit Ihren einzigen derzeitigen Vorteil verlieren.« »Über eine abhörsichere Leitung ginge es doch?« »Unmöglich, hier draußen eine zu installieren.« »Meine Angehörigen warten auf Nachricht von mir«, beharrte Locke. »Sie werden in Panik geraten, wenn sie nichts hören, und selbst anfangen herumzutelefonieren, und sich möglicherweise eben dadurch in Gefahr bringen. Das halte ich nicht aus.« »Dann, lieber Freund, machen Sie sich besser gleich mit dem Gedanken vertraut, nicht mehr lange zu leben. Denn genau das wird Ihnen passieren, wenn Sie unbedingt überflüssige Risiken eingehen wollen. Warten Sie wenigstens ein paar Tage. Bis sie in Liechtenstein sind, vielleicht.« Er fügte sich diesen Argumenten schließlich. Nach vier Stunden kündigte das freudige Gebell der Hunde die Rückkehr von Burgess an. Locke sah ihn vom oberen Stockwerk aus kommen und ging hinunter zur Tür, um ihm zu öffnen. »Wie ging es?« Burgess wiegte den Kopf und ließ sich auf den nächstbesten Stuhl fallen. Er sah müde aus. »Ich bin das alles nicht mehr gewöhnt«, sagte er. »Ich bin zu alt für das Geschäft.« Er atmete tief durch. »Ich habe alles für Sie arrangiert, aber leicht war es nicht. Zu viele Leute mußten eingeschaltet werden, und das erhöht die Risiken, daß irgend etwas durchsickert und an die falsche Adresse gerät.« »Aber Sie haben jedenfalls alles?« Burgess klopfte an seine Brusttasche. »Alles da drin. Inklusive ein neuer Paß für Sie. Ich habe auch einen Koffer mit Kleidern und Reiseutensilien im Auto. Die Tricks kenne ich alle noch, mein Lieber. Und wir werden sie, verdammt, alle nötig haben, wenn wir das Spielchen gewinnen wollen.« Er holte noch einmal Luft. »Sie fahren heute abend um neun nach Liechtenstein. Ich hatte keine Zeit mehr, einen Sondertransport zu arrangieren. Ist wahrscheinlich auch besser so. So was erregt oft nur mehr Aufmerksamkeit, als gut ist. Sie reisen durchgehend mit öffentlichen Verkehrsmitteln, und es wird ziemlich strapaziös und hektisch werden, darauf können Sie sich schon mal einstellen. Die anderen werden überall nach Ihnen Auschau halten. Wir müssen Ihnen was zu tun geben.« Er sah ihn intensiv an. »Nicht nur der anderen Seite. Ich habe gehört, daß auch die Polizei im ganzen Land fieberhaft nach einem Amerikaner sucht, der einen kolumbianischen Diplomaten ermordet hat.« »Was? Aber das war doch kein Mord!« »Mein lieber junger Freund, Macht besteht, unter anderem, auch darin, daß man alles so aussehen lassen kann, wie man will. Ihre wirklichen Gegenspieler haben verständlicherweise kein Interesse daran, daß Ihnen Ihre eigene Regierung als Verbündeter zur Seite steht. Falls es Sie interessiert: man sucht Sie ganz offiziell. Zum Zwecke der Einvernahme im Zusammenhang mit der Ermordung eines Verbindungsbeamten des amerikanischen Außenministeriums.« »Man will mir auch Brian . . .?« ». . . in die Schuhe schieben, ja. Auch seinen Tod wird man Ihnen anhängen.« . »Aber das ist doch . . .« »Damit müssen Sie leben, mein Lieber. Wenn unsere Gegner so stark sind, wie Sie sie mir geschildert haben, dann ist es auch sehr wahrscheinlich, daß ihr Einfluß überall bis in höchste Kreise reicht. Ermittlungen lassen sich jederzeit in jede beliebige Richtung dirigieren. Entscheidend ist im Augenblick nur die Tatsache, daß eine ganze Menge Leute nach Ihnen sucht, wir Sie also nicht auf dem direktesten Weg nach Liechtenstein transportieren können. Also. Sie werden mit der Eisenbahnfähre nach Frankreich fahren, bis Paris. Von dort aus fliegen Sie nach Genf, über zwei Etappen mit wechselnden Flugzeugen, und dann nehmen Sie wieder den Zug, bis Liechtenstein. Dort kommen Sie etwa morgen Mittag an.« Locke hatte sich Burgess gegenüber gesetzt. »Und dann?« Burgess zog den neuen Paß aus seiner Jackentasche. »Hier. Sie reisen als amerikanischer Geschäftsmann Sam Babbit und haben in dem Ländchen eine größere Finanztransaktion vor. Dazu haben Sie als Makler, aus Gründen der Diskretion und seiner Bereitschaft wegen, auch kurzfristig tätig zu werden, Mr. Felderberg auserkoren. Für eine exorbitante Provision, übrigens.« »Die ich aber auch zur Verfügung haben muß, wenn das Manöver klappen soll.« »Haben Sie«, nickte Burgess. »Einer wie Sam Babbit muß
selbstverständlich das Geld packenweise in der Tasche herumtragen und großzügig unter die Leute bringen. Wäre er einer, der Angst vor Spesen hat, brauchte er gar nicht erst nach Liechtenstein zu fahren. Keine Bange, das Geld ist da. Ich habe so an die fünfundsiebzigtausend Pfund mitgebracht.« Er klopfte wieder an seine Brieftasche. »Von wem kommt das?« »Ganz einfach von meinem eigenen Bankkonto, lieber Freund.« Sein Gesicht spannte sich etwas an. »Brian war mein Freund, und was ich ihm schuldig bin, läßt sich nicht in Geldbeträgen ausdrücken. Also genug davon. Sie kommen jedenfalls morgen in Vaduz an und haben reichlich Zeit, sich in Ihrem Hotel auszuruhen und frisch zu machen, ehe Sie Felderberg treffen. Er erwartet Sie um vier Uhr nachmittags in einem Restaurant in der Nähe des Schlosses. Es liegt auf einem steilen Berg und ist nur mit einer Seilbahn erreichbar. Sie brauchen nur dort hinzufahren, alles andere ist arrangiert.« »Und was erzähle ich dem Mann?« »Das müssen Sie sich allerdings selbst einfallen lassen. Er wird ohnehin sehr rasch dahinterkommen, daß Sie nicht der sind, als der Sie sich ausgeben. Ein internationaler Finanzmakler wie er ist schon von Berufs wegen ein sehr geschulter Menschenkenner. Seien Sie ganz direkt, aber erzählen Sie ihm nicht zu viel auf einmal. Denken Sie daran, es ist sehr wohl möglich, daß er zur Gegenseite gehört.« Lockes Augen wurden groß. »Oh, daran habe ich überhaupt nicht gedacht . . .« »Dann machen Sie sich darüber auch jetzt keine Sorgen. Es ist sowieso unwahrscheinlich, wenn auch nicht ausgeschlossen. Lübeck hätte sich ganz bestimmt nicht die Mühe gemacht, bis .San Sebastian zu reisen, wäre Felderberg einer von der anderen Seite.« »Er hat wohl auch Leibwächter, oder?« »Sicher, mehrere. Aber das Restaurant Hauser hält auch immer ein privates Nebenzimmer für ihn reserviert. Dort trifft er seine Kunden grundsätzlich unter vier Augen. Diskretion ist schließlich ein wesentlicher Teil seines Geschäfts. Sie werden also ebenfalls ganz allein mit ihm sein, sofern er keine anderen Anweisungen gegeben hat.« Burgess sah ihn eindringlich an. »Ich will Ihnen nichts vormachen, Freund, ungefährlich ist es keineswegs. Ganz im Gegenteil, offen gesagt. Aber Felderberg ist nun mal für uns der Dreh- und Angelpunkt in der ganzen Sache. Der Schlüssel zu dem, was Lübeck entdeckt hat. Gern schicke ich Sie nicht ganz allein in die Schlacht, aber . . . « E r zuckte mit den Schultern. »Immerhin können Sie darauf vertrauen, daß auch ich nur einen Telefonanruf weg bin.« »Sie haben doch überhaupt kein Telefon hier!« »Sie bekommen die Nummer einer jungen Dame, die in wenigen Minuten mit mir Kontakt aufnehmen kann. In dringenden Notfällen sagen Sie ihr einfach, Sie möchten Onkel Colin sprechen.« »Und?« »Dann gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder, das Mädchen fragt nach Ihrer Nummer und ruft sofort zurück, um Ihre Nachricht aufzunehmen. Oder sie sagt, Onkel Colin ist beim Fischen. Das bedeutet dann, sie haben mich geschnappt und Sie müssen allein weitermachen.« »Wie geht es nach dem Treffen mit Felderberg weiter?« »Ganz einfach, Sie fahren exakt dorthin, wo er auch Ihren Freund Lübeck hinschickte. Das ist das nächste Glied in der Kette.
Dogan erhielt die Nachricht seines Commanders am späten Freitagabend. Seine erste Reaktion war Ablehnung. Schließlich schuldete er dem Kerl nichts mehr. Aber es wurde dann doch rasch eine schlaflose Nacht. Vielleicht hatte sein Ex-Boß es sich doch noch einmal überlegt und wollte die Entscheidung vom Donnerstag rückgängig machen? Nicht, daß er bei der Vorstellung wieder zur Abteilung Sechs zurückzukehren in Ekstase geraten wäre. Die Voraussetzungen wären nun ohnehin völlig anders. Um eine leitende Stellung wie bisher würde es mit Sicherheit nicht mehr gehen, das war völlig klar. Also, was sollte es. Doch Tatsache war schließlich: was sonst sollte er anfangen? Seine bisherige Arbeit war sein ganzes Leben. Die »Branche«, der Ehrenkodex, der ihn mit Leuten wie Waslow verband. Das alles hatte er im Blut, und daran konnte auch keine Transfusion irgend etwas ändern. Er stellte keinen Wecker und ließ sich auch nicht vom Auftragsdienst wecken. Er erwachte automatisch immer um sieben, da konnte kommen, was wollte. Nach einer raschen Dusche begab er sich zu den Champs-Elysees. Der Commander saß bereits an seinem Tisch. Wie üblich, blickte er auch nicht einmal von seiner Zeitung auf, als Dogan kam, und nahm keinerlei Notiz von ihm, bis er ihm gegenübersaß und ihm die Sonne verdeckte. »Schön, daß Sie gekommen sind«, sagte er. »War ganz zufällig in der Gegend.« Ein kurzer amüsierter blinzelnder Blick gegen die Sonne war die Reaktion. »Frühstück, lieber Grendel? Ein Croissant vielleicht, oder zwei?« Er deutete auf den Korb auf dem Tisch, der mit einer gewürfelten Serviette zugedeckt war. »Cafe au lait?« »Gern.« Der Commander goß ihm fürsorglich eine Tasse Kaffee ein und schoß ihm einen kurzen Blick über den Tisch zu. »Man hat es sich überlegt«, sagte er nur. »Was?« »Lieber Freund Grendel! Als wenn Dummstellen zu Ihnen paßte! Man hat eingehend über Ihre Wiedereinstellung nachgedacht.« »Und womit habe ich mir in den letzten sechsunddreißig Stunden diese hohe Ehre verdient?« »Bisher noch durch gar nichts. Aber Sie werden sie sich verdienen.« Dogan war etwas unsicher. Er wartete. »Wir brauchen jemanden, der so geräuschlos wie möglich einen Mann aus dem Wege räumt.« »Und warum nehmen Sie dazu nicht einen Ihrer neuen Superstars? So einen aus der Musterknaben-Klasse von Keyes?« Der Commander zögerte und blätterte nervös eine Zeitungsseite um. Es sah nicht so aus, als lese er die Zeitung sehr intensiv. »Für diesen Auftrag«, sagte er schließlich, »bedarf es einer . . . sehr taktvollen Methode. Nichts darf offiziell geschehen, keine Spur darf zu uns führen.« »Völlig klar. Ich gehöre nicht mehr zu Ihrer Abteilung, also bin ich der perfekte Mann für den Job. Wissen Sie . . .« »Ich sagte bereits, wenn Sie diesen Job für uns erledigen, kann dieser Zustand als vorübergehend angesehen werden.« »Wer oder was garantiert mir das?« »Würde Sie so etwas vielleicht weniger mißtrauisch machen? Ganz einfach, die Abteilung braucht Sie. Sie haben da durchaus Ihre Spuren hinterlassen.«
»Die aber leicht meine Grabinschrift werden könnten, weil es sich womöglich um ein Himmelfahrtskommando gegen irgendeinen Dritte-Welt-Bonzen handelt! Ghaddhafi vielleicht? Oder Khomeini?« Der Commander schüttelte den Kopf und hob den Blick. Seine Augen hinter der Brille sahen ihn scharf an. »Leider handelt es sich um etwas weniger Ausgefallenes. Gestern ist ein Geheimdienstmann vom Außenministerium namens Brian Charney von einem seiner eigenen wildgewordenen Agenten umgelegt worden. Der Mann sucht Käufer bestimmter Informationen. Sehr delikater Informationen, die in seinem Besitz sind, und die uns erheblichen Schaden zufügen, wenn sie in die falschen Hände geraten. Wie Sie mit Ihrer Erfahrung jetzt bereits wissen, erfordert dies schnelles Handeln ebenso wie äußerste Diskretion des Vorgehens.« »Sie haben doch sicher ein Dossier über die Zielperson?« Der Commander nickte nur knapp und holte einen Aktenordner von seinem Schoß auf den Tisch. »Ein gewisser Christopher Locke.«
»Weiß man etwas, wer ihn im Augenblick an der Leine hat?« »Nein, aber das spielt auch keine Rolle. Wir wollen ihn so schnell wie möglich aus dem Verkehr gezogen haben. Wir wissen lediglich, daß er auf dem Weg zu einem Treffen in Liechtenstein ist. Und im nächsten Flugzeug dorthin sollten Sie sitzen.« »Noch habe ich überhaupt nicht zugesagt«, erklärte Dogan, um nach einer kurzen Pause zu fragen: »Was will er da, in Liechtenstein? Mit wem trifft er sich da?« »Mit Claus Felderberg. Ich habe Ihnen die ganzen Details zusammenstellen lassen. Sie können Sie später studieren.« Er schob einen Umschlag über den Tisch. »Felderberg«, sinnierte Dogan. »Dieser Finanzier. Der handelt mit Dollars, nicht mit Informationen. Klingt merkwürdig, daß er sich den ausgesucht haben sollte.« Der Commander räusperte sich nervös. »Keine Fragen, Grendel. Tun Sie's oder tun Sie's nicht?«
Dogan riß ein Croissant in der Mitte auseinander und stand auf, ohne seinen Kaffee angerührt zu haben. Er griff nach dem Umschlag. »Ich schreibe Ihnen eine Postkarte. Aus Liechtenstein.«
Vierter Teil Liechtenstein und Österreich Samstag nachmittag Er kam planmäßig in Genf an und nahm dort den Arlberg-Expreß, der ohne Halt durch das ganze kleine Land bis zur Grenzstation St. Gallen fuhr. Von dort aus brachte ihn ein Taxi in einer knappen Viertelstunde nach Liechtenstein in die Hauptstadt Vaduz. Er war überrascht, daß keinerlei Kontrollen und Formalitäten stattfanden, obwohl er eine Grenze überschritt. Um so besser. Die Schönheit der Landschaft überwältigte ihn. Die schmale Straße wand sich sanft durch das obere Rheintal, wo eben die Frühlingsblüte begann. Auf den Bergen oben lag noch Schnee. Es war kühl, kaum mehr als zehn Grad. Er wünschte, er hätte einen wärmeren Mantel an. Aber die Landschaft lenkte ihn von der Kälte ab. Das Taxi setzte ihn in der malerischen Stadt Vaduz genau um halb drei Uhr vor dem Hotel Sonnenhof ab. Er bezahlte mit den Schweizer Franken, die er in Genf umgetauscht hatte, und gab ein großzügiges Trinkgeld dazu. Ein Page kam vom Hotel herbeigeeilt und kümmerte sich um sein Gepäck. Locke blieb einen Augenblick stehen, um sich das Schloß anzusehen, das auf dem Berg hinter dem Hotel emporragte. Unterhalb des Schlosses, als dunkler Schatten im überall sich ausbreitenden Grün, lag das Restaurant Hauser, das schloß er aus der Beschreibung, die er bekommen hatte. In etwas mehr als einer Stunde sollte er dort Felderberg treffen. Die Seilbahn, die dort hinauffuhr, war von hier aus nicht zu sehen. Sie mußte hinter den Bäumen verborgen sein. Er hatte Zeit genug, sie zu finden. Der Portier hielt ihm die Tür auf. Er erhielt ein ebenso großzügiges Trinkgeld wie der Taxifahrer. Es war wichtig, daß sich seine Großzügigkeit, das viele Geld, über das er verfügte, rasch herumsprachen. Man würde sich gewiß nach ihm und über ihn erkundigen, würde ihn vielleicht sogar beobachten lassen. Der amerikanische Geschäftsmann Sam Babbit mußte unbedingt den Eindruck hinterlassen, den man von ihm erwartete. Auf seinem ganzen Weg von der Rezeption bis in seine Suite verteilte er weiterhin großzügig Trinkgelder. Zur Suite gehörte eine Sonnenterrasse, und Locke ließ sich erst einmal auf einen Stuhl fallen, das Gesicht der Sonne zugewandt. Es wehte ein kalter Wind, aber nach der langen, ermüdenden Reise brauchte er frische Luft. Es war jetzt fast drei Uhr, er hatte noch eine Stunde Zeit bis zu seinem Treffen mit Felderberg. Chris fühlte sich plötzlich unbehaglich. Er hatte nicht nur eine anstrengende Reise hinter sich, er befand sich in einem fremden Land, unter falschem Namen, sollte eine Zusammenkunft mit einem mächtigen Mann haben, der auf irgendeine Weise Teil einer geheimnisvollen, noch undurchschaubaren Verschwörung war. Wenn ihm jemand das alles erzählt hätte, hätte er es vielleicht komisch gefunden; er fühlte sich elender als je zuvor. Auch Lübeck war bei diesem Felderberg gewesen. Und war jetzt tot . . . Er fröstelte, ging zurück ins Zimmer, schloß die Terrassentür, und ließ sich von der Hotelzentrale mit der Kontaktnummer verbinden, über die er Burgess erreichen konnte. Er hatte zuletzt von Genf aus angerufen. Onkel Colin ist beim Fischen . . . Alles, nur das nicht, betete Locke.
»Hallo«, meldete sich die freundliche Frauenstimme mit dem starken britischen Akzent. »Ich möchte Onkel Colin sprechen.« »Wie ist Ihre Nummer, bitte?« Er gab ihr die Hotelnummer. »Sofort, Sir. Ich rufe zurück.« Er legte auf. Drei Minuten später rief sie zurück. »Kann ich etwas für Sie tun?« fragte sie. »Ich habe eine weitere Nachricht für Ihren Onkel.« »Bitte.« »Richten Sie ihm aus, ich sei in Vaduz angekommen und alles schiene gut zu verlaufen. Ich werde mich mit Fei ..« »Nennen Sie bitte keine Namen«, unterbrach ihn die Frau. ». . . wie geplant treffen.« Er überlegte einen Augenblick. »Besteht die Möglichkeit, Colin direkt zu erreichen?« »Ich könnte ihm ausrichten, er möge Sie selbst unter der angegebenen Nummer anrufen. Doch das könnte ein Weilchen dauern.« Er mußte spätestens in einer halben Stunde das Hotel verlassen, um Felderberg zu treffen. »Lassen wir das vorerst. Ich rufe nach dem Treffen noch einmal an.« Er zögerte noch einmal. »Es geht ihm doch gut, oder?« »Alles in Ordnung, Sir. Er beachtet alle nötigen Vorsichtsmaßnahmen.« »Sehr schön.« Er legte auf, etwas nagte an ihm. Was bedeutete das: alle nötigen Vorsichtsmaßnahmen? Hieß das, jemand war hinter Burgess her? Der Gedanke, völlig auf sich allein gestellt zu sein, war ihm fast unerträglich. Burgess war jetzt seine einzige Hoffnung und sein einziger Verbündeter, falls ihm etwas zustieß . . . Er legte sich auf das Bett und zwang sich dazu, an etwas anderes zu denken. Die Sache in London hatte ihn gelehrt, daß Hotels keineswegs immer sichere Aufenthaltsorte waren. Auch hier war es schließlich jederzeit möglich, daß unerwartete Ereignisse dort oben auf dem Berg eine Rückkehr ins Hotel nicht erlaubten. Er mußte also Vorkehrungen treffen, daß er Kleider, Reiseutensilien und seinen Paß im Notfall von einem sicheren Ort wieder abholen konnte. Er konnte nicht alles bei sich tragen, aber hier im Hotelzimmer wollte er es auch nicht lassen. Angestrengt versuchte er sich an das zu erinnern, was man ihnen in den Lehrgängen beigebracht hatte. Immer wieder hatte man es ihnen eingehämmert: Wenn du dich verbergen mußt, halte dich an öffentlichen Orten auf, dort, wo ständig Menschen sind. Das beste sind Bahnhöfe, Busstationen, Flughäfen. Benutze ein Schließfach. Der Bahnhof von Vaduz. Bestimmt waren dort Schließfächer. Er zog sich um und packte zwei Kleidergarnituren zum Wechseln, Toiletteartikel, seinen Paß, und für alle Fälle, einige Utensilien zur Tarnung und Verkleidung, die ihm Burgess besorgt hatte, zusammen. Es waren noch vierzig Minuten bis zum vereinbarten Treffen mit Felderberg. Er ließ sich ein Taxi rufen und fuhr zum Bahnhof, wo er den Fahrer warten ließ. Im Bahnhof gab es eine ganze Wand mit Schließfächern. Allerdings mußte man sich die Schlüssel an einem Schalter holen, wo man eine Vorauszahlung zu leisten hatte. Das war schlecht. Es bedeutete, daß man sich möglicherweise Aufmerksamkeit und Beobachtung aussetzte. Er zögerte. Andererseits war das Schließfach wichtig und auch ein gewisses Risiko wert. Ein Fach kostete fünfzehn Franken pro Tag. Man bekam keinen Schlüssel, sondern eine Karte, gegen die ein stets anwesender Beamter das Schließfach auf Verlangen öffnete, nachdem die Gebühren bezahlt waren. Umständlicher als das übliche Schlüssel-MünzenSystem, doch da er keine andere Wahl hatte, mußte er es in Kauf nehmen, wie es war. Das Taxi brachte ihn bis zur Seilbahn, die auf den Berg führte. Er kam eine Viertelstunde vor dem Treffen an der Station an. Die Skisaison war zu Ende, deshalb herrschte wenig Betrieb. Es waren zwei Beamte da, einer, der die Fahrkarten an die wenigen Touristen verkaufte, die Vaduz aus der Vogelperspektive betrachten wollten, ein anderer, der ihnen in die kleinen grünen Kabinen half. Locke bekam eine für sich allein. Die Tür verschloß sich automatisch. Die Kabine glitt aufwärts. Die Kabel quietschten leicht. Die Kabine ruckelte etwas, wenn die Rollen über die Stützmasten fuhren. Auf halbem Wege war das Restaurant Hauser bereits gut erkennbar. Es war gar nicht groß, aber hochherrschaftlich. Wie eine kleinere Nachbildung des darüber liegenden Schlosses. Es mochte einst als Marstall oder Gästehaus für das Schloß gedient haben. In den sechziger Jahren hatte man es zum Restaurant umgebaut, um so aus dem blühenden Tourismus besser Nutzen ziehen zu können. Von der Bergstation der Seilbahn führte ein Fußweg zum Restaurant. Er wollte gerade losgehen, als ein Mann ihn ansprach, der von zwei anderen flankiert wurde. »Mr. Babbit?« »Ja?« Der Mann hatte eisblaue Augen, welliges blondes Haar und einen Nacken, der so breit wie sein Kopf war. »Wir sind hier, um Sie zu Ihrem Treffen mit Mr. Felderberg abzuholen. Sind Sie allein?« Er warf einen Blick auf die Kabine der Seilbahn. »So war es abgemacht.« »Wir möchten nur sicher gehen, Vorsichtsmaßnahmen, Sie verstehen doch?« »Gewiß.« Der Mann schien unter einer gewissen Anspannung zu stehen, stellte Locke fest. Als sei er augenblicklich sprungbereit. Er lächelte nicht, sein Gesicht war völlig ausdruckslos. Irgendwie kam er Locke bekannt vor, und erst als sie schon am Restaurant angekommen waren, wußte er warum. Vor zwanzig Jahren, bei den Lehrgängen auf der Akademie, war er buchstäblich Hunderten dieser Typen begegnet: eiskalt, mit der Fähigkeit und Bereitschaft, ohne Zögern zu töten. Dieser Felderberg ging offensichtlich keinerlei Risiko ein. Der Blonde geleitete ihn ins Haus. Dort herrschte dämmriges Licht, es war kaum besucht, doch Einrichtung und Stil waren beeindruckend. Man hatte hier den Versuch gemacht, mit dicken, schweren Holztischen und offenen Kaminen einen Landgasthof aus dem 17. Jahrhundert nachzubilden. In der Mitte des Erdgeschosses war eine gewaltige Bar, in Regalen standen dort riesige Krüge mit dem Wappen von Liechtenstein. Nur wenige Restauranttische waren besetzt, und auch an der Bar saßen nur drei Personen. Ein Mann, der dort saß, mit dichtem Haar, sah aus, als sei er Amerikaner. Er begegnete seinem Blick kurz im Vorübergehen. Irgend etwas veranlaßte Chris, sich noch einmal nach ihm umzudrehen, aber der Mann hatte sich bereits wieder seinem Bierkrug zugewandt.
»Hier entlang bitte«, sagte der gesichtslose Blonde. Locke folgte ihm. Hinter ihnen bildeten die beiden Begleiter den Abschluß. Sie kamen in einen langen Korridor, wo vor einer schweren Holztüre mit Messingklopfer zwei weitere Leibwächter standen. »Wir müssen Sie durchsuchen«, sagte der Blonde. Er wurde nach verborgenen Waffen abgetastet. Dann hob der Blonde den schweren Türklopfer und schlug ihn an. Danach öffnete er sofort, ohne zu warten, und ließ Locke eintreten. »Vielen Dank, Peale«, sagte jemand. Er stand dem legendären Felderberg gegenüber. Hinter ihm schloß sich die Tür. Sie waren allein. Felderberg erhob sich vom Tisch und trat näher, um Locke zu begrüßen. Sie trafen sich auf halbem Wege. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr. Babbit.« »Ganz meinerseits.« Er nahm die ausgestreckte Hand. Die Hand war kalt und feucht, Felderberg war dick, hatte ein fleischiges Gesicht und ein Dreifachkinn. Sein dunkelblauer Maßanzug war teuer und erstklassig, das wenige Haar, das er noch besaß, war quer über den Kopf gezogen, um die kahlen Stellen zu verdecken und es fülliger aussehen zu lassen. Am auffallendsten an seinem Gesicht war der dicke Schnurrbart; nicht zuletzt deshalb, weil er rötlich schimmerte. Felderbergs Atem ging schwer und hörbar durch die Nase. »Ich bin Ihnen sehr dankbar für diese Zusammenkunft«, sagte Locke. »Keine Ursache. Aber setzen wir uns doch.« »Ich meine, ich weiß, wie knapp Ihre Zeit ist. Ich weiß das zu schätzen.« Wie aufs Stichwort zog Felderberg seine goldene Taschenuhr aus der Westentasche und warf einen Blick darauf, während sie sich zum Tisch begaben. »Etwas Zeit habe ich, Mr. Babbit. In der Tat aber ist sie knapp. Überall herrscht Wirtschaftsaufschwung und der bringt es mit sich, daß viel Kapital transferiert werden muß.« Eine interessante Ausführung, dachte Locke. Sie setzten sich einander gegenüber. »Wie ich bereits sagte«, erklärte Felderberg schließlich geschäftsmäßig, »ist meine Zeit knapp. Sie sind darum sicher einverstanden, wenn wir auf Formalitäten verzichten. Nur soviel: mein linker Fuß steht im Augenblick auf einem Druckknopf. Sobald ich darauf drücke, leuchtet draußen ein Signal auf und ruft meine Leute auf den Plan. Sie werden dafür bezahlt, daß sie in solchen Fällen ebenso rasch, wie nachdrücklich, wie unauffällig reagieren.« »Ich verstehe.« »Das glaube ich nicht, Mr. Babbit. Sehen Sie, in meinem Geschäft sind Vorsichtsmaßnahmen unerläßlich. Die persönliche Sicherheit steht über allem. Ich werde Ihnen jetzt eine Frage stellen. Und wenn Ihre Antwort mich nicht befriedigt, trete ich auf diesen Knopf und dann werden meine Leibwächter sich um Sie kümmern.« Locke hörte Furcht in Felderbergs Stimme. Dessen Augen bohrten sich in die seinen. »Wer sind Sie?« »Sam . . .« »Nicht doch. Sie heißen nicht Sam Babbit und Ihre Anwesenheit hier hat nichts mit finanziellen Transaktionen zu tun, wie man mich glauben machen wollte.« Locke war wie gelähmt. Die Sache war aufgeflogen. Es war sinnlos, damit fortzufahren. Es gelang ihm ein Lächeln. »Ich gratuliere Ihnen zu ihrem feinen Gespür.« »Mit Gespür hat das weniger zu tun«, sagte Felderberg. »Ich habe sie im Hotel beobachten lassen. Ihre großzügige Verteilung von Trinkgeld war eindrucksvoll, doch kein Mann in der Position, die zu haben Sie vorgeben, würde seine Hotelrechnung bar bezahlen. Sie haben nicht eine einzige Kreditkarte in Ihrer Brieftasche, wie mir Peale bei Ihrem Eintreten signalisiert hat. Meine Klienten pflegen die stapelweise mit sich herumzutragen. Außerdem haben Sie auf dem Weg hierher am Bahnhof angehalten.« Locke machte eine anerkennende Geste. »Ihre Gründlichkeit ist beeindruckend.« »Ich habe viele Feinde. Es wäre nicht das erste Mal, daß man mir einen Killer auf den Hals hetzt.« »Für einen solchen halten Sie mich aber nicht.« Felderberg zuckte die Achseln. »Mein Fuß steht nach wie vor auf dem Alarmknopf«, sagte er. »Aber, nun ja, ich bin eigentlich nicht der Meinung, daß Sie Gewalt im Sinn haben. Ihre Tarnung war dünn, reichlich billig. Killer kommen mit makellosen Referenzen und ganzen Bergen von Empfehlungen. Peale erkennt sie auf Anhieb, er hat einen Blick dafür und wird spielend mit ihnen fertig.« »Das bezweifle ich nicht.« »Jeder einzelne Ihrer Schritte hat mir verraten, daß Sie es nicht auf mein Leben abgesehen haben. Das fängt schon bei der seltsamen Vereinbarung für dieses Treffen an.« »Warum haben Sie mich dann überhaupt empfangen?« »Neugier, wahrscheinlich. Da ich wußte, daß Sie nicht von meinen Feinden angeheuert sein konnten, blieb die Frage, wer sie tatsächlich sind und was Sie wollen. Exakter ausgedrückt, welche verzweifelte Situation Sie zu mir führte.« »Verzweifelte Situation . . . Das trifft es ziemlich gut.« »Wer sind Sie?« »Mein Name ist Christopher Locke, und Sie haben in einem Punkt absolut recht: ich bin kein professioneller Killer. Ich war mal College-Professor. Was ich im Augenblick bin, weiß ich, um Ihnen die Wahrheit zu sagen, selbst nicht so genau.« »Aber der Anlaß Ihres Besuches ist auch nicht der, daß Sie sich von mir über die Finanzierung Ihrer Pension beraten lassen wollen?« »Was meine Pension betrifft, so habe ich im Augenblick nur die Sorge, ob ich überhaupt jemals in ihren Genuß komme. Ein Freund von mir hat es nicht geschafft. Ein gewisser Alvin Lübeck. Er war erst vor kurzem bei Ihnen, soweit ich informiert bin.« Fslderbergs schweres Atmen hörte mit einem Schlag auf. Er leckte sich über die Lippen. Sie zuckten ganz deutlich. »Ich bin hier, um herauszufinden, was Sie ihm gesagt haben«, fuhr Locke fort. »In wessen Auftrag?«
»Sie meinen, an wessen Leine ich laufe? Das ist doch der Ausdruck, den Spione benutzen, nicht? Na, spielt keine Rolle. Die Antwort ist: in niemandes Auftrag. Ich bin in eigener Verantwortung hier. Es gab noch jemanden, bis vor zwei Tagen, aber auch er wurde getötet. Und soviel ich inzwischen mitbekommen habe, gibt es eine Menge Leute, denen nichts lieber wäre, als wenn ich möglichst bald der Dritte im Bunde wäre.« Felderberg atmete noch schwerer als vorher. Über seinen Brauen standen feine Schweißperlen. »Wer war dieser andere?« »Ein Geheimdienstmann vom US-Außenministerium, der einmal mein bester Freund war. Er hatte mich gebeten, Lübecks Spur nachzugehen. Er war der Ansicht, ich könnte am besten und unauffälligsten herauskriegen, was Lübeck entdeckt hat. Und ich habe tatsächlich offenbar eine sehr heiße Spur erwischt. Allerdings hat sie ihn das Leben gekostet. Doch zuvor hat er mich an Sie verwiesen. Ein englischer Kollege von ihm hat die Arrangements für meinen Besuch hier bei Ihnen getroffen.« »Erzählen Sie mir alles. Von Anfang an.« Locke gab sich Mühe und brauchte dazu zwanzig Minuten. Gelegentlich mußte er fast lachen, so unglaublich war seine Geschichte. »Sehen Sie vielleicht einen Sinn dahinter?« fragte er zum Schluß. »Doch«, antwortete Felderberg. »Einigermaßen, ja. Ausreichend jedenfalls. Ich weiß zwar nichts von diesen spanischsprechenden Leuten, die versucht haben, Sie zu töten, aber die anderen, die hinter den Kulissen die Fäden ziehen, die, die Sie und Ihr Freund >Gegner< nennen, das sind die, derentwegen Lübeck zu mir kam.« »Und wie kam er zu Ihnen?« »Durch Peale, interessanterweise. Sie hatten einige Male zusammengearbeitet, ehe Peale in meine Dienste trat. Er hatte sich mit diesem kolumbianischen Diplomaten getroffen, der Sie zu erschießen versuchte. Das Treffen hatte bestimmte Fragen aufgeworfen, die ich glaubte, beantworten zu können.« »Und? Konnten Sie sie tatsächlich beantworten?« »Einigermaßen.« Felderberg beugte sich vor und verschränkte die Hände vor sich auf dem Tisch. »Dieser Diplomat war der Delegierte seines Landes bei der Welthungerkonferenz. Als er erfuhr, daß Lübeck mit einer Routine-Sicherheitsüberprüfung beauftragt war, nahm er Kontakt mit ihm auf und behauptete, er wisse, daß es eine sehr mächtige Person oder Gruppe gebe, die diese Konferenz zu sabotieren versuche . . . und daß diese Leute durch rücksichtslose Manipulationen praktisch Eigentümer von ganz Kolumbien geworden waren.« »Eines ganzen Landes?« »Was überrascht Sie daran? Woraus besteht ein Land, wenn nicht aus Grund und Boden? Und Grund und Boden kann man kaufen — wenn man den angemessenen Preis dafür zahlt. Glauben Sie etwa, in Ihrem Land verhält sich das anders? Sehen Sie sich doch einmal an, wohin heutzutage das ganze arabische Geld fließt! Bei weitem die größten Investitionen der heutigen Zeit betreffen Grundbesitz; das ist das einzige Mittel, sich vor Rezessionen und Inflationen zu schützen.« »Dieser Alvaradejo muß Lübeck aber auf etwas gebracht haben, was sehr viel bedeutsamer ist als lediglich geschickte Geldanlage.« »Ganz zweifellos. Was ich über diese mächtige Gruppe sagte, die buchstäblich in den Besitz Kolumbiens gelangt ist, war vielleicht ein wenig irreführend, Mr. Locke. Dieser Mann oder diese Leute sind ausschließlich an großen Flächen kultivierbaren Landes interessiert, also an Land, das für landwirtschaftliche Nutzung geeignet, besser noch: ideal dafür ist. Das dürfte alles in allem freilich nicht mehr als zwanzig bis fünfundzwanzig Prozent des gesamten Staatsgebiets ausmachen. Andererseits ist fast das gesamte restliche Gebiet unfruchtbar. Anders augedrückt, wer diese fünfundzwanzig Prozent besitzt, kontrolliert das ganze Land.« »Wieso?« »Weil sich dort die gesamte Entwicklung, die ganze Industrie und aller Reichtum konzentrieren wird.« Locke nickte verstehend. »Und Alvaradejo hat Lübeck zu Ihnen geschickt, weil Sie der Makler waren, der alle diese Aufkäufe kolumbianischen Landes für diese unbekannte . . . Gruppe getätigt hat.« »Ja, das stimmt«, bestätigte Felderberg. »Aber es ging keineswegs nur um Kolumbien. Es ist kein Fleckchen nutzbaren Landes in ganz Südamerika davon ausgenommen. Es geht immer nach dem gleichen Schema vor sich. Es werden genaue Pläne ausgearbeitet, wie man bestimmte Fonds in Milliarden höhe umleiten kann, bis durch endloses Herumjonglieren niemand mehr durchblickt und niemand mehr erkennen kann, daß eine einzige Gruppe oder sogar nur ein einziger Mann am Ende die ausschließliche Kontrolle darüber hat. Diese Art Arbeit und Geschäfte betreibe ich bereits seit zwanzig Jahren, Mr. Locke. Nur habe selbst ich noch nie zuvor etwas Derartiges erlebt wie hier. In einer solch gigantischen Größenordnung.« Es klopfte leise an die Tür. »Der Kellner«, sagte Felderberg und rief: »Ja, bitte?« Die Tür öffnete sich. An Peales Seite erschien der Kellner. »Etwas Wein vor dem Essen, Mr. Locke?« »Ja, gern.« Felderberg bestellte einen bestimmten Wein, der Ober notierte es auf einem Block und verschwand wieder. Locke spürte, wie seine Magennerven zu zittern begannen. Es war die Erregung. Ganz allmählich ahnte er, worum es bei der ganzen Sache, in der er längst drinsteckte, eigentlich ging. »Der gemeinsame Nenner bei all den Ländern und Geschäften, für die und bei denen Sie tätig wurden, war also landwirtschaftlich nutzbares Land?« faßte er zusammen. »Ein großer Teil davon ist noch völlig unentwickelt, verstehen Sie? In südamerikanischen Ländern ist es ziemlich selten, daß sinnvoll und vernünftig mit dem Boden umgegangen wird. Aber das Potential ist da. Hunderte von Bodenproben aus hunderten von Regionen in vielleicht einem Dutzend Länder sind über meinen Schreibtisch gegangen. Das ist auch ein gemeinsamer Nenner.« »Kurz, Ihr Kunde kauft im großen Stil Farmland zusammen.« »So ist es.« Felderberg sah ihn eindringlich an. »Das interessiert Sie sichtlich sehr.« »Charney war der Ansicht, daß der Schlüssel zu der ganzen Geschichte Nahrungsmittel seien, wie er sagte. Und Lübeck ebenfalls.«
Felderberg nickte und lehnte sich zurück. »Und das alles begann mit Alvaradejo. Er nahm Kontakt mit Lübeck auf und schickte ihn zu mir.« Weil er fürchtete, jemand kaufe sein ganzes Land auf?« »Nicht ganz«, sagte Felderberg. »Er fürchtete, jemand sei dabei, es zu vernichten.« »Zerstören?« sagte Locke ungläubig. Felderbergs Wort hatte ihn wie ein Schlag in den Magen getroffen. »Nicht das Land an sich, meine ich. Alvaradejos Befürchtungen gründeten sich auf die Überzeugung, mein — Klient würde sein Volk zu Sklaven machen und es von dem Land vertreiben, das es für sein eigenes hielt, und alle Menschen dort der Armut preisgeben.«" »Es paßt aber«, sagte Locke. »Ich habe Ihnen von San Sebastian erzählt.« »Was paßt da?« wollte Felderberg wissen. »Entschuldigen Sie meine Unverblümtheit, aber in meiner Position ist die Kontrolle über die Lage allesentscheidend. Und in diesem Falle habe ich sie offenbar verloren. Sie haben mir ein Massaker beschrieben, bei dem Hunderte von Menschen ohne jeden Grund abgeschlachtet worden sind.« »Es sei denn, der Grund war, daß sie etwas wußten oder gesehen haben.« »Etwas, auf das auch Ihr Freund Lübeck stieß . . .« »Die Felder«, sagte Locke. »Damit muß es zu tun haben. Er war über irgend etwas, das er dort sah, entsetzt. Und die Leute dieser Stadt wußten es ebenfalls, waren Augenzeugen, so wie Lübeck dann einer wurde.« »Ja, aber was sahen und wußten sie und Lübeck?« »Ihr Klient tat irgend etwas auf diesem Land. Vielleicht testete er eine neue Waffe oder etwas dergleichen.« »Die dann in diesem Riesenfeuer verbrannt wurde, meinen Sie?« »Nein, das Feuer verbrannte nur die Spuren davon, so scheint es jedenfalls.« Felderberg schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Das Land ist der entscheidende Faktor im Zusammenhang mit Nahrung.« »Aber man rottet doch nicht eine ganze Stadt wegen Nahrungsmitteln aus.« »Es sei denn, Mr. Locke, daß irgend etwas diese Stadt zur Miniaturausgabe einer sehr viel größeren Szenerie machte.« »Wie beispielsweise ganz Südamerika, vielleicht . . .?« »Oder zumindest die Teile davon, die mein Klient aufgekauft hat.« Locke dachte eine Weile nach. »War Lübeck bereits zu einem dieser Schlüsse gekommen!« »Nein. Er hatte, als ich mit ihm zusammentraf, lediglich ganz vage Ahnungen. Das Massaker von San Sebastian war ja noch nicht geschehen. Ich bin ganz sicher, daß dieses Ereignis irgendwie der Schlüssel zu allem ist.« »Zusammen mit dem Stichwort Nahrungsmittel.« Locke strich sich über das Gesicht. »Aber was für eine Rolle spielt es? Wo liegt die Bedeutung für Ihren Klienten?« Felderberg sah ihn mit einiger Nachsicht an. »Hören Sie, die Hälfte der Menschheit geht jeden Abend hungrig zu Bett! Für die meisten dieser Menschen ist das ein Dauerzustand. Ein so mächtiges Land wie die Sowjetunion kann es sich leisten, seine Versorgungsprobleme durch teure Käufe der Überschüsse aus den USA zu lösen. Bei der Ölkrise lösten die Ingenieure in den Industriestaaten das Problem einfach dadurch, daß sie Wagen mit niedrigerem Benzinverbrauch bauten. Aber was machen arme Länder, wenn sie unter Nahrungsmittelknappheit zu leiden haben? Die Mägen der Menschen lassen sich nicht auf geringeren Verbrauch umkonstruieren.« »Sie sagten wenn, nicht falls.« »Ja, sicher. Weil die Eskalation unvermeidlich ist. Ein paar schlechte Ernten der Sowjets hintereinander, Kriege in den Agrarländern, ein Wechsel des politischen Klimas in Ihrem Land — jede einzelne oder alle dieser Ursachen, können eine Krise auslösen, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat. Mit einer weltweiten Revolution als Folge. Und deren Folgen wären schlicht katastrophal.« »Das begreife ich nicht . . .« »Natürlich nicht!« rief Felderberg mit rotem Gesicht. »Niemand begreift es. Das ist ja das Problem! Glauben Sie wirklich, Plutonium sei der wichtigste und wertvollste Rohstoff der Welt? Oder Gold? Oder Diamanten? Oder das Öl? Pah! Der bei weitem wichtigste und wertvollste >Rohstoff< für die Welt sind die Nahrungsmittel, so sieht es aus. Und gerade auf diesem Sektor wird, mehr als auf jedem anderen, Mißwirtschaft getrieben, und die Planung ist geradezu miserabel. Sehen Sie sich Ihr eigenes Land an! Was da für ein sinnloser Raubbau mit dem Land getrieben wird! Immer noch mehr und noch schnellere Rekordernten! Gigantische Monokultur. Der Boden wird so ausgelaugt, daß er sich nicht mehr erholen kann. Die Natur braucht ein Jahrtausend, um zweieinhalb Zentimeter Humusschicht zu bilden. Die sogenannte moderne Landwirtschaftstechnik der USA aber verbraucht mit ihren exzessiven Anbaumethoden eben diese Humusschicht in atemraübenden fünfundvierzig Jahren! Wundert es Sie da, daß mein Klient mit einer solchen Krise rechnet?« »Aber glauben Sie tatsächlich, daß man mit dem Aufkauf von Brachland eine landwirtschaftliche Macht begründen kann?« Felderberg zog die Stirn in Falten. »Ich gebe zu, es erklärt nicht die Geheimnistuerei bei dieser ganzen Aktion, auch nicht diese Hast. Landwirtschaftliche Produkte, vor allem, wenn sie hochwertig und zum Export geeignet sein sollen, brauchen Monate und Jahre intensiver Arbeit. Die Motive meiner Klienten sind mir in der Tat auch nicht klar. Hinter was sind sie her? Was lohnt die Investition von Milliarden?« Sie blickten einander an. Keiner wußte eine Antwort. Schließlich sagte Locke: »Vielleicht würde es weiterhelfen, wenn ich erführe, wer dieser — Klient ist.« Felderberg stieß ein kurzes Lachen aus, aber darin war keine Spur von Amüsiertheit. »Sie glauben doch wohl nicht im Ernst, daß diese Leute angesichts einer Situation wie dieser ihre wirkliche Identität preisgeben würden? Nicht doch! Das spielt sich selbstverständlich über Mittelsmänner ab; meistens Anwälte und Briefkastenfirmen. Aber alles spielte sich stets völlig korrekt ab. Außerdem sind meine Provisionen stets prompt und ordnungsgemäß bezahlt worden. Es gab also keinerlei Notwendigkeit für weitere Fragen oder Überlegungen.« »Aber die scheinen Sie sich doch zu stellen, Mr. Felderberg. Sie haben heute mit großem Aufwand Nachforschungen über mich angestellt. Deshalb muß ich doch annehmen, daß das bei Ihnen zum normalen Geschäftsgebaren gehört.« »In gewissen Grenzen. Die Leute, die hinter diesem südamerikanischen Landkauf und damit wohl auch hinter dem Massaker von San Sebastian stehen, haben ihrerseits keine Mühen gescheut, ihre Identität zu verbergen.« Er überlegte etwas. »Es gibt natürlich gewisse Hinweise und Spuren. Wenig genug, zusammengenommen; aber immerhin . . .« »Ja?«
»Beispielsweise sind alle meine Provisionen von der Wiener Bank bezahlt worden.« »Aha.« »Ja, aber so besonders aufschlußreich ist das auch noch nicht. Allenfalls, daß die Wiener Bank dafür bekannt ist, eine besondere Bereitschaft für ganz außergewöhnlich große Finanzierungsgeschäfte zu besitzen.« »Eigentlich werden solche Geschäfte in der Regel doch von Schweizer Banken abgewickelt, nicht wahr?« »Nicht mehr so ausschließlich wie früher mal. Politischer Druck aus dem Ausland hat die Schweizer Banken gezwungen, restriktiver zu werden und nicht mehr so absolut verschwiegen, wie das einst ihrem Ruf entsprach. Folglich müssen sich Leute, die sehr große Finanztransaktionen planen, heute anderswo umsehen.« Felderberg räusperte sich und drehte sein Weinglas zwischen den Fingern. »Damals wurde offenbar, seit wann mein Klient sein Konto bei der Wiener Bank schon unterhielt. Ich besaß die Kontonummer und wußte, es mußte Mittel und Wege geben, mit ihrer Hilfe die Informationen zu bekommen, die ich haben wollte.« »Die meisten Banken treffen aber doch Vorkehrungen, um eben so etwas zu verhindern.« »Bis zu einem gewissen Grad, sicher. Aber irgendwo müssen sie sich alle den Erfordernissen beugen, die besonders die Computerisierung mit sich brachte. Die Kontonummern muß ten für den Computer kodifiziert werden. Es hat viel Zeit und Mühe gekostet, aber die sorgfältige Analyse der Kontonummer und der Vergleich mit anderen, deren Inhaber mir bekannt waren, führten schließlich dazu, daß wir herausbekamen, daß das fragliche Konto seit siebzehn Jahren existiert.« »Und besteht irgendeine Chance, auch den Kontoinhaber zu ermitteln?« »Jedenfalls nicht auf Wegen, die mir zur Verfügung stehen.« »Das heißt also, alles, was wir als einigermaßen sicher annehmen können, ist: Ihr Klient sitzt in Wien, wenigstens in Österreich, und zwar schon seit längerer Zeit.« »Noch etwas. Ein Memorandum, das ich erhielt, enthielt noch Spuren eines Stempels. Zwar nur die obere Hälfte und kaum noch sichtbar. Etwa so, als sei der eigentliche Stempel von einer darunterliegenden Seite nur leicht durchgeschlagen. Ich ließ das vergrößern und verstärken und habe eigens Detektive aus Zürich darauf angesetzt, es zu entziffern. Mit dem Ergebnis, daß die Spur bis in meine Nähe führte: zu einer Firma Sanii in Schaan. Das ist keine zwanzig Kilometer von hier entfernt.« »Und was macht die Firma Sanii?« »High-Tech, Erprobung und Entwicklung.« »Waffen?« »Nehme ich an.« »Damit wären wir wieder in San Sebastian und bei dem, was die Leute dort sahen, ehe sie umgebracht wurden.« »Nein, nein, das dort hatte nichts mit irgendeiner Waffe zu tun, Mr. Locke. Das Stichwort ist >NahrungsmittelZwerg< geschickt.« »Zu wem?« »Ich mäkle große Finanztransaktionen, Mr. Locke. Der >Zwerg< mäkelt große Informationstransaktionen. Er unterhält Spione und Informanten in der ganzen Welt. Jeder offizielle Geheimdienst kann ihn um dieses Netz nur beneiden. Seine Provisionen sind oft noch höher als die meinen, und das will etwas heißen. Nichts von dieser Größenordnung könnte seiner Aufmerksamkeit entgehen.« »Wieso haben Sie nicht schon selbst Kontakt zu ihm aufgenommen?« Felderberg lächelte. »Das gehört zu den Dingen, die man nicht tut, Mr. Locke. Unsere Interessen sind oft entgegengesetzter Natur. Wir haben Respekt voreinander, aber wir sind wohl kaum Verbündete. Nein, nein, das geht nicht. Sie müssen sich schon selbst um diesen Kontakt bemühen und den >Zwerg< aufsuchen. Genau wie Lübeck. Er lebt in Florenz. Sie finden ihn dort . . .« Genau in diesem Augenblick klopfte es an der Tür. Der Ober kam mit einer Flasche Wein, hinter ihm trat Peale ein und ließ den Ober mit verschränkten Armen keine Sekunde aus den Augen, als er die Flasche öffnete, Felderberg den Korken zur Begutachtung reichte, der genießerisch daran schnüffelte, und auf Felderbergs Nicken hin den Probeschluck eingoß. Diesen kostete jedoch nicht etwa Felderberg selbst, sondern Peale. Als Peale nickte, konnte der Ober endlich die Gläser füllen. »So ist Peale also auch Vorkoster?« fragte Locke. Felderberg blieb ganz ernst. »Ja. Für den Fall, daß man einen Giftanschlag auf mich plant.« »O Gott!« »Man kann nicht vorsichtig genug sein, Mr. Locke. Und ich verlange Loyalität von meinen Leuten. Ihre Stellungen sind zweifellos mit Risiken verbunden. Aber dafür werden sie auch besonders gut bezahlt.« Er nippte an seinem Wein und fuhr fort: »Also, wie ich sagte, Sie erreichen den >Zwerg< über . . .« Aber er sprach nicht weiter. Sein Gesicht verkrampfte sich, aus seinem offenen Mund floß Speichel und er rang nach Luft. Locke war aufgesprungen, um ihm zu Hilfe zu kommen, als ein heftiger Krampf Felderberg zurückwarf, dann fiel er vornüber auf den Tisch, stieß das Weinglas um, dessen Inhalt sich über das Tischtuch ergoß, und das den Korken der Flasche traf, der danach durch die Luft flog. Der Korken! Locke begriff sofort. Es mußte ein Gift gewesen sein, das er eingeatmet hatte!
Er hob Felderbergs Kopf. Er war dunkelrot angelaufen. Seine Augen quollen hervor, die Adern traten heraus. Der ganze Leib wurde von krampfartigen Zuckungen geschüttelt, und er rang verzweifelt nach Atem. Eine Lähmung überfiel ihn, er hörte auf zu atmen, die Augen starr geöffnet. Er schüttelte den Finanzier ungläubig, um ihn wieder zu sich zu bringen, und überlegte, ob er ihm durch eine Mund-zuMundBeatmung helfen könnte, als der Körper sich ein letztes Mal aufbäumte. Damit löste er den Alarmknopf unter seinem Fuß aus. Locke bog ihm eben den Kopf zurück, um ihn zu beatmen, da flog die Tür auf und Peale kam hereingestürzt, hinter ihm einer der Leibwächter. Es blieb nicht einmal Zeit für den Versuch einer Erklärung. Der blonde Hüne hatte ihn bereits mit so kräftigem Griff gefaßt, wie er es nie zuvor erlebt hatte, und schleuderte ihn gegen die Wand. Er knallte direkt mit dem Kopf gegen die Mauer. Er sah Sterne, in seinem Schädel blitzte etwas auf, und dann wurde es dunkel. Zeit verging, ob Minuten oder Sekunden, wußte er nicht. Er nahm Männer wahr, die im Raum standen. »Er ist tot«, sagte eine Stimme neben Felderberg. »Scheiße, verdammte«, zischte Peale und kam auf Locke zu, der spürte, wie er hochgezogen wurde. Noch immer drehte sich alles um ihn. »Wer hat Sie geschickt?« herrschte ihn Peale an. »Von wem sind Sie angeheuert worden?« Locke machte den Mund auf, aber er brachte kein Wort hervor. Peale schlug ihm so heftig die Faust in den Leib, daß er sich vor Schmerz, der in ihm förmlich explodierte, zusammenkrümmte. Er bekam keine Luft mehr und spürte, wie ihm die Galle hochkam. Ein heftiger Brechreiz würgte ihn. Er krümmte sich zusammen, aber im gleichen Moment riß ihm Peale den Kopf hoch und hieb ihm noch einmal die Faust in den Magen. »Für wen Sie arbeiten, will ich wissen!« schrie er. »Nicht . . . ich«, stammelte Locke. Er suchte verzweifelt mit den Augen nach dem Korken, dem Beweisstück. »Der Korken, der Kellner . . .« Peale schlug erneut zu, diesmal war es ein genauer Kinnhaken. Locke ging kunstgerecht k. o. »Schafft ihn hinunter ins Büro«, kommandierte Peale. »Er wird reden, das garantiere ich, und wenn ich es aus ihm herausprügeln muß.« Zwei seiner Leute zogen Locke hoch und schleppten ihn weg. Er versuchte zu stehen, aber seine Knie waren weich. »Ich war das nicht«, murmelte er und bemühte sich, die Worte zu artikulieren, und wußte nicht, ob irgendwer sie überhaupt hörte. »Ihr müßt euch den Kellner schnappen. Der Kellner war es.« »Was murmelt er?« fragte Peale. »Nicht zu verstehen«, sagte einer der beiden, die ihn schleppten. »Wir haben genug Zeit«, sagte Peale. »Eine Ewigkeit. Zuerst müssen wir uns um den Chef kümmern.« Er sagte es voll echten Bedauerns, aber auch mit der verwunderten Bitterkeit eines Mannes, der an Niederlagen nicht gewöhnt ist. Irgendwer mußte dafür büßen, dachte Locke. Vermutlich er selbst. Peale war einer von denen, die alles persönlich nahmen. Er spürte, daß er wieder stehen konnte, fand es aber klüger, das nicht zu zeigen und sich weiter schleppen zu lassen. Vielleicht ergab sich eine Chance zur Flucht. Sie hielten ihn dicht an sich. Er konnte ihre Pistolen unter den Jacken spüren. Es war also nicht allein damit getan, sie zu überrumpeln und sich von ihnen loszureißen. Er mußte sie auch entwaffnen. Sie schleppten ihn quer durch das Restaurant, ohne sich um die verwunderten Blicke der wenigen Gäste des Hauses zu kümmern. Der Mann mit dem dichten Haar saß noch immer an der Bar. Ihre Augen trafen sich. Er hätte schwören können, in denen des Mannes mehr als nur Überraschung und Verblüffung zu erkennen. Dann waren sie draußen auf dem Pfad hinunter zur Seilbahn. Er mußte schnell handeln. In der engen Gondel war sein winziger Vorteil vorbei. Denke nach! Nein, denke nicht nach. Es kostet zu viel Zeit. Erinnere dich an das Training. Das Training . . . Reagiere! Handle! Packe jede Gelegenheit beim Schöpf und nutze sie zu deinen Gunsten. Sie hatten ihn bereits an der Einstiegplattform, um auf die nächste Gondel zu warten. Ein einziger Mann saß an der Sperre. Dann ging alles blitzschnell. Er war nicht sicher, was der Auslöser war. Vielleicht die sich nähernde Gondel. Ein Stoß und dem Mann rechts von ihm krachte der Stahlrahmen der Gondel an den Hinterkopf, daß er zur Mauer taumelte. Fast gleichzeitig preßte er sich gegen seinen Bewacher zur Linken und blockierte ihm so den Arm, daß er die Waffe nicht aus dem Halfter ziehen konnte. Aber der reagierte blitzartig und im nächsten Augenblick fuhr ihm seine linke Faust in den Magen. Während Locke sich krümmte, sich sofort aber wieder aufrichtete, griff er nach seiner Pistole. Doch Locke nutzte diesen Augenblick blitzschnell, fuhr ihm mit der Hand ins Gesicht und stieß ihn rückwärts, so daß er gegen einen Pfosten der Plattform knallte. Der Mann versuchte, sich aufzurappeln und sich sofort wieder auf ihn zu stürzen, aber Locke fing ihn ab und schmetterte ihn noch einmal gegen den Pfosten, an dem nun Blut herabrann. Mit einem dritten Hieb schickte er den Mann endgültig zu Boden. Er bückte sich zu ihm hinunter und entwand ihm die Pistole, um sich sofort nach hinten abzusichern. Der andere aber lehnte noch immer bewußtlos, halb aufrecht an der Mauer. Seine Augen waren geschlossen. Dafür war der Mann an der Sperre bereits dabei, eine ganze Reihe roter Alarmknöpfe zu drücken. Locke war mit einem Satz bei ihm, schlug ihm die Hände weg und hielt ihm den Revolver an die Schläfe. »Ist das Ihre einzige Möglichkeit, mit der Talstation in Verbindung zu treten?« Dem Mann stand der Angstschweiß im Gesicht. Er nickte nach einigem Zögern. »Können Sie die Bahn von hier oben aus anhalten?« Der Mann nickte wieder. »Mit dem Notschalter. D-dem hier.« Er deutete auf einen Sicherungskasten an der Wand über dem ersten k. o.-gegangenen Wächter. Locke riß den Hörer aus der Telefonzelle. Dann ging er zum Sicherungskasten, aus dem zwei Kabel führten. Er riß sie mit einem Ruck heraus. Er warf einen schnellen Blick auf den Pfad vom Restaurant, auf dem Peale und seine übrigen Leute jeden Augenblick erscheinen konnten. Er mußte weg hier. Er ließ den verdatterten Techniker stehen, setzte sich in die nächste Gondel, die vorbeikam, und schloß die Tür. Auf der Fahrt ins Tal sah er nach hinten. Der Techniker lief den Pfad hinauf zum Restaurant. Peale und seine Leute waren immer noch nicht auf der Plattform erschienen, die aus seinem Blickfeld verschwand, als die Gondel über den nächsten Tragemasten rollte und steil nach unten sank.
Er atmete tief durch und versuchte seine Gedanken zu ordnen. Er war entkommen, gut, aber noch war er nicht in Sicherheit. Er würde fortan überhaupt nicht mehr sicher sein. Sein Gespräch mit dem Finanzier Felderberg war am Ende noch sehr instruktiv verlaufen, gewiß. Doch würde es ihm jetzt noch gelingen, sein Wissen Burgess oder sonstwem mitzuteilen? Irgend jemand in Österreich war die Schlüsselfigur, und von ihm oder ihnen aus gab es eine Verbindung zu dieser Firma
Sanii in Schaan. Dann war da noch der sogenannte Zwerg, ein Makler in Informationen mit Sitz in Florenz; der Mann, der möglicherweise über die letzten noch fehlenden Puzzleteile verfügte. Er mußte ihn finden, und zwar bald. Zuvor allerdings war noch in Schaan zu recherchieren — jetzt gleich, sobald er aus der Seilbahn ausstieg und Vaduz verließ. Die Bahn war auf halbem Weg ins Tal. Er blickte noch einmal zurück und glaubte auf der Plattform oben Gestalten auszumachen. Stiegen sie in eine Gondel? Wenn schon. Mehr als fünfzehn Meter lagen zwischen jeder Gondel und er war ihnen fünfzehn Gondeln voraus, vielleicht sogar zwanzig. Das konnte niemand einholen, zumal er die Möglichkeit unterbunden hatte, die Bahn von oben aus anzuhalten oder in die Talstation hinunter zu telefonieren. Falls nicht — falls nicht vom Restaurant aus ins Tal telefoniert worden war. Er prüfte nach, ob die Pistole in seinem Gürtel noch da war. Er war froh, daß er nicht gezwungen gewesen war, sie zu benutzen. Er wollte, sobald er unten war, Burgess unter seiner Kontaktnummer in Falmouth anrufen. Damit er nicht zu lange an einem Ort bleiben mußte, würde er der jungen Frau sagen, Burgess solle auf seinen nächsten Anruf eine halbe Stunde später warten. Diese professionelle Art, die Dinge zu handhaben, würde Burgess zweifellos gutheißen. Hinter dem nächsten Trägermast nach einer Zwischenstation blieb die Bahn plötzlich mit einem Ruck stehen. Angst durchfuhr Locke. Er konnte nur hoffen, daß dies ein normaler Vorgang war, ein kurzes Anhalten. Doch die Bahn setzte sich nicht wieder in Bewegung. Die Gondeln schwangen im Wind. Locke sah nach oben zur Bergstation. Auf einem Grasweg, der genau unter der Seilbahn verlief, kamen drei Gestalten talwärts gelaufen. Also hatte es doch eine Möglichkeit gegeben, die Bahn zu stoppen oder zur Talstation zu telefonieren. Sie hatten ihn in der Falle. Er hing hier in der Luft als bequeme Zielscheibe. Drei zweifellos gute Schützen waren unterwegs. Er schätzte die Höhe seiner Gondel über dem Boden. Mehr als fünfzehn Meter. Mindestens. Keine Chance. Dann fiel es ihm ein. Sie hatten das dutzende Male geübt, damals, bei den Übungen in der Akademie. An Seilen, die zwischen Bäumen oder über Wasserläufe gespannt waren. Er hatte zwar nicht die nötige Ausrüstung dafür, aber . . . Einen Gürtel hatte er. Der Gürtel, ja. Er schnallte den Gürtel auf und zog ihn aus den Schlaufen, dann nahm er ihn zwischen die Zähne, öffnete die Tür der Gondel, stellte sich in die Türöffnung und schaukelte die Gondel in Fahrtrichtung. Er war nicht weit vom nächsten Trägermast entfernt. Schließlich bekam er, als die Gondel fast wie eine Schiffschaukel auf dem Rummelplatz schwang, eine der Streben zu fassen und hangelte sich hinüber zum Mast, wo er sich festhielt und sich erst einmal umsah. Die Verfolger oben waren auf etwa hundert Meter herangekommen. Einer blieb stehen und zielte mit einer Waffe. Locke dachte und wußte nicht, was zuerst kam, der Knall oder das Splittern des Holzes, als die Kugel dicht neben seinem Kopf im Mast einschlug? Jetzt galt es keine Zeit zu verlieren. Er warf den Ledergürtel über das Seil und wickelte sich die beiden Enden fest um die Hände. Dann stieß er sich, so kraftvoll es nur ging, ab. Er war in keiner Weise darauf gefaßt gewesen, daß er so schnell abwärts gleiten würde, wie es nun der Fall war. Der Wind pfiff ihm nur so um die Ohren. Viel zu rasch kam die nächste Gondel auf ihn zu. Er versuchte abzubremsen, es bestand keine Chance. Er streckte die Beine nach vorne, um den Aufprall abzufangen. Aber er knallte trotzdem heftig gegen die Gondel. Er rang nach Atem, zog sich dann auf das Dach der Gondel hoch, während ihm von unten die Kugeln um die Ohren pfiffen, dann legte er auf der Talseite dieser Gondel den Gürtel wieder über das Seil, um bis zur nächsten zu rutschen. Diesmal stieß er sich nicht so heftig ab und versuchte, die Geschwindigkeit von vorneherein zu drosseln, um nicht ein zweites Mal krachend gegen die Gondel zu prallen. Es ging mit Gewichtsverlagerungen und regulierenden Bewegungen verhältnismäßig gut. Die zweite Gondel überkletterte er fast schon routiniert und bei der folgenden ging es noch besser. Er hatte noch acht Gondeln vor sich. Peale und seine Leute liefen unten inzwischen weiter, aber er vermochte jetzt den Abstand zu halten. Als nur noch drei Gondeln übrig waren, und der Abstand zum Boden etwa sieben Meter betrug, konnte er kaum noch. Das Hängen an dem Ledergürtel hatte nicht nur viel Kraft gekostet, so daß er sich inzwischen kaum noch zu halten vermochte, seine Hände waren zudem aufgeschürft und schweißnaß, so daß er sich schon deshalb nicht mehr sehr sicher festhalten konnte. Er konnte es aber auch nicht riskieren, eine Pause zu machen, oder auch nur langsamer zu werden. Er hatte nicht einmal die Zeit, sich die Hände trockenzuwischen. Die Verfolger waren zu nahe, von ihren Kugeln ganz zu schweigen. Nach der letzten Gondel folgte noch eine längere, etwa vierzig Meter lange Strecke, die langsam abflachte, ehe die Gondeln auf die Plattform der Talstation fuhren. Er versuchte, genug Schwung zu behalten, um diese ganze Strecke noch zu gleiten, aber er spürte, wie er langsamer wurde. Und er war auch mit seiner Kraft am Ende. Fünfzehn Meter vor der Einfahrt in die Talstation, etwa sechs Meter über dem Boden, rutschte er endgültig ab, der Gürtel entglitt ihm, als sei er geölt. Er versuchte sofort sich abzurollen, wie er es einst gelernt hatte, als er nach dem Sturz den Boden erreichte. Trotzdem knickte ihm ein Fuß ein und er rollte den Hügel hinunter auf die Talstation zu. Zum Glück warteten dort kaum Touristen. Der Himmel hatte sich inzwischen bewölkt. Schließlich blieb er liegen und versuchte, auf die Füße zu kommen, mußte aber wegen des verstauchten Knöchels, der verteufelt weh tat, hinken. Er humpelte eilig los, stolperte und fiel, rappelte sich erneut hoch und blickte sich um. Sie waren bis auf fünfzig Meter herangekommen. Er lief, so schnell es unter den Umständen ging. Wieder pfiffen ihm Kugeln um die Ohren, sie hatten ihn fast, er wandte sich um und feuerte einige Schüsse nach hinten ab. Die drei Verfolger stoben auseinander und gingen in Deckung. Er mußte nun rasch handeln, um seine Chance zu nützen. Er rannte um das Gebäude der Talstation herum auf den Vorplatz. Gebe Gott, daß da ein Taxi stand'!
Er rannte um die Ecke. Aber sogleich pfiffen ihm wieder Kugeln um die Ohren. Tatsächlich fuhr gerade ein frustrierter Taxifahrer auf Kundensuche langsam an der Talstation vorbei. »He!« schrie Locke, »hierher!« und rannte auf das Taxi zu, während er seine letzten Reserven mobilisierte. Das Taxi rollte noch einige Meter weiter, ehe die Bremslichter endlich angingen. Locke erreichte die Tür, als auf der anderen Seite Peale und seine beiden Gorillas eben um die Ecke bogen. Er warf sich hinein, ehe sie auf ihn anlegen konnten, und schrie: »Los! Weg hier!« Der Fahrer hatte noch nicht begriffen, was vor sich ging. Ein verrückter Tourist. Von denen gab es viele. »Wohin?« fragte er und trat aufs Gas. »Nur raus aus diesem Alptraum«, war Lockes erste Versuchung zu antworten. Statt dessen sagte er einfach nur: »Zum Bahnhof.« Er stieg zwar am Bahnhof aus, aber er ging nicht hinein. Felderberg hatte gewußt, daß er dort gewesen war und etwas deponiert hatte. Also wußte Peale es auch, denn von ihm hatte es Felderberg erst erfahren. Er wurde zweifellos auch jetzt beobachtet. Er mußte sich etwas einfallen lassen. Auf der anderen Seite stand ein Taxi. Andere Automarke, andere Taxifirma, andere Farbe. Es stand vorne in einer Reihe wartender Taxis. Er humpelte hinüber und stieg ein. »Fahren Sie einfach eine Weile herum«, sagte er und reichte zehn Franken nach vorne. Der Fahrer brummte etwas, was sich zustimmend anhörte. Locke lehnte sich ganz in eine Ecke und machte sich so klein wie möglich, um nicht gesehen, auf keinen Fall aber erkannt zu werden. Sein Knöchel schmerzte heftig und schwoll an. Doch es war klar, daß die Verletzung harmlos war. Es konnte nichts gebrochen sein. Er versuchte noch einmal, die Informationen Felderbergs zu durchdenken. Es gab kaum noch einen Zweifel darüber, daß sich die ganze Affäre wirklich um Nahrungsmittel drehte. Jemand - oder eine Gruppe - kaufte in ungeheurem Ausmaß landwirtschaftlich nutzbares Land in Südamerika auf. Aus einem Grund, über den Lübeck in San Sebastian gestolpert war. Die Hintermänner, wer immer sie waren, saßen in Östereich, und irgendwie war die High-Tech-Fabrik der Firma Sana in Schaan in die Geschichte verwickelt. Sie sind überall, sie haben ihre Finger in allem . . . Charneys Worte klangen immer prophetischer. Felderberg war auf überaus raffinierte Weise mit einem vergifteten Korken umgebracht worden, hatte ihm freilich noch Lübecks nächste Station mitteilen können: den »Zwerg« in Florenz. Ihn selbst, Locke, hatte man dazu benutzt, in London Alvaradejo aus dem Weg zu räumen, ihn dann aber bis zu Felderberg »entkommen« lassen, um dann auch diesen zu beseitigen. Jetzt warteten sie zweifellos darauf, daß er sie nach Florenz zu diesem »Zwerg« führte . . . Er ließ sich zum nächsten Cafe fahren, um von dort aus zu telefonieren. Er mußte sich mit Burgess besprechen. »Wie lange dauert es, bis Sie Ihren Onkel ans Telefon bekommen?« fragte er, als sich'seine Kontaktnummer meldete. »Eine halbe Stunde, vielleicht auch etwas mehr.« »Eine halbe Stunde, mehr nicht. Sagen Sie, es ist dringend. Ich rufe zurück. Sagen Sie ihm, er soll vorsichtig sein. Es ist äußerst dringend.« Er verließ das Cafe mit einem Eiswürfel in der Hand, den er sich hatte geben lassen. Er drückte sich wieder in die Ecke des Taxis, ließ weiterfahren, und preßte das Eis gegen den geschwollenen Knöchel. »Fahren Sie ein wenig in Vaduz und der Umgebung herum«, sagte er dem Fahrer. »Und versuchen Sie, keine Straße zweimal zu fahren.« »Das ist bei uns in Vaduz ein bißchen schwierig«, sagte der Taxifahrer. Das Eis milderte die Schmerzen etwas, er konnte besser überlegen. Er mußte zum Bahnhof zurück, um an seinen Paß zu kommen und Burgess noch einmal anzurufen. Doch Peale hatte inzwischen mit Sicherheit überall seine Leute postiert. Ein Auslandsgespräch von einer offenen Telefonzelle aus war jedoch völlig ausgeschlossen. Er mußte versuchen, sich die nächste halbe Stunde einfach herumfahren zu lassen, um dann Burgess wieder von einem Lokal aus anzurufen. Danach konnte er versuchen, zur lebhaftesten Zeit am späten Nachmittag, wenn schon nicht ungesehen, so jedenfalls inmitten der Menge, unbehelligt in den Bahnhof zu gelangen. Draußen begann es bereits zu dämmern, die ersten Autos schalteten die Scheinwerfer ein. Wenn er zum Bahnhof zurückkam, war es wahrscheinlich bereits dunkel, was ebenfalls günstig für ihn wäre. Hätte er nicht unbedingt seinen Paß gebraucht, wäre es am einfachsten gewesen, mit dem Taxi gleich nach Schaan zu fahren. Doch sein Plan, der am frühen Nachmittag noch sehr umsichtig zu sein schien, erwies sich nun als überaus kompliziert. Er schalt sich selbst deswegen. Zu ändern war freilich nichts mehr. Der Fahrer hatte die Stadt inzwischen verlassen. Locke ließ ihn an einem Berggasthof, an dem sie vorbeikamen, anhalten. Er sah abgelegen genug aus, um ein Telefonat von hier aus riskieren zu können. Die halbe Stunde, nach der er wieder anrufen wollte, war nahezu um. Er ging hinein. An der Rezeption saß eine ältere Frau. »Ein Zimmer, der Herr?« fragte sie hoffnungsvoll. »Wie sind die Preise?« fragte er dagegen. »Wir haben einen günstigen Dreitagetarif für hundertzwan-zig Franken.« Er zog einen Fünziger aus der Tasche. »-Hier, ich zahle dies für ein paar Minuten. Ich brauche nur für kurze Zeit ein Zimmer. Ich muß in Ruhe telefonieren. Ich gebe Ihnen weitere fünfzig, wenn Sie mir ein direktes Amt geben, davon können sie die Kosten des Gesprächs abziehen.« »Bitte sehr«, sagte die Frau. »Sie sind Gast des Hauses.« Sie reichte ihm einen Zimmerschlüssel. »Zimmer elf, direkt dort den Gang hinunter.« Er ging in sein Zimmer und verschloß es. Er ließ sich das Amt geben und brauchte fast fünf Minuten, bis er durchkam. Die bekannte Frauenstimme meldete sich. »Ist er jetzt da?« fragte er ohne weitere Umschweife. »Augenblick.« Burgess meldete sich. »Hallo, junger Freund. Was ist los, was ist so dringend?« »Felderberg ist tot.« »O Gott . . . nicht auch er von Ihrer Hand, hoffe ich.«
»Nein. Aber seine Gorillas sind dieser Meinung. Sie jagen mich.« Er berichtete kurz. »Korken, sagen Sie? Verdammt, die Burschen sind clever,, das muß man ihnen lassen. Wir müssen uns vorsehen!« »Aber ich habe eine Adresse. Die Firma Sanü direkt hier in Schaan.« »Kenne ich nicht.« »High-Tech. Vermutlich alles mögliche mit Zukunftstechnologie. Irgendwie hängen die in der Sache mit drin. Ich bin sicher, es gibt dort Interessantes zu erfahren.« »Um so riskanter und gefährlicher wird es sein, dort aufzutauchen. Ich würde an Ihrer Stelle da wegbleiben, Junge.« »Nun bin ich schon mal da.« »Denken Sie an Ihre Familie, Junge. Man soll sein Glück nicht überstrapazieren. Alte Spielerweisheit.« »Charney hatte recht, wissen Sie. Diese Geschichte ist eine mächtige Sache. Viel größer, als wir uns träumen ließen. Wenn ich jetzt aussteige, kriegen sie mich zwar morgen nicht. Aber was ist übermorgen oder nächsten Monat? Irgendwann kriegen sie mich doch. Solange werden sie mich jagen. Da kann ich genausogut auch jetzt dranbleiben.« Er dachte einen Augenblick nach. »Sie haben auch Felderberg gekriegt. Und der war sehr viel besser geschützt als ich es jemals sein kann. Meine einzige Chance ist, diese Sache aufzudecken. Und ich bin auch der einzige, der das kann, so wie es jetzt aussieht.« Nun, als er es so direkt und unumwunden aussprach, erkannte er, wie exponiert er tatsächlich war und in welchem Maße hier seine ganze Existenz auf dem Spiel stand. Ein Zittern der Erregung durchlief ihn und ließ sich schwer unter Kontrolle bringen. »Hat Ihnen das Gespräch mit Felderberg etwas genutzt?« »Eine Menge. Er hat bestätigt, daß sich alles um das Stichwort Nahrungsmittel dreht. In Südamerika werden Riesenflächen Bauernland aufgekauft.« »In Kolumbien?« fragte Burgess. »Bei San Sebastian?« »Richtig. Das ist nur die Spitze des Eisbergs. Es gibt uns aber immerhin einen Einstieg, wo wir anfangen können. Felderberg hat Lübeck nach Florenz geschickt, zu jemandem, der unter dem Namen Der Zwerg bekannt ist. Haben Sie schon mal von dem Mann gehört?« »Sie machen mir Spaß, junger Freund«, sagte Burgess. »Das ist etwa so, als fragten Sie einen Amerikaner, ob er schon mal was von seinem Präsidenten gehört hat. Hätte MI-6 ihn auf der Gehaltsliste, hätten wir keinen einzigen Überläufer verloren. Der Mann ist die Informationsquelle schlechthin. Was er nicht weiß, existiert nicht.« »Warum nennt man ihn den Zwerg?« »Weil er einer ist, genau deshalb. Er ist kaum einen Meter dreißig groß, und das meiste davon ist Kopf. Und was für ejn Kopf! Auf seine Art der beste der Welt. So leicht werden Sie ihn nicht finden. Ich kann Ihnen dabei auch nicht viel helfen.« »Ich finde ihn. Ich bin sehr vorsichtig.« »Selbst wenn Sie vorsichtig sind, wird das auf keinen Fall reichen. Nicht gegen die Leute, die Sie aufgeschreckt haben und die sich nun für Sie interessieren.« Burgess atmete tief. »Hören Sie zu, ich gebe Ihnen jetzt die Adresse des Mädchens hier, das unsere Gespräche vermittelt. Wenn mir irgend etwas zustößt und Sie sich absetzen müssen, dann flüchten Sie zu ihr. Dort sind Sie sicher. Haben Sie etwas zum Schreiben zur Hand?« »Nein. Aber ich präge es mir ein. Sagen Sie es mir.« »Zwo-Null-Fünf Longfield in Falmouth, Cornwall. Haben Sie das?« »Alles klar. Ich rufe morgen wieder an.« »Viel Glück, Junge.« »Augenblick, warten Sie. Was ist mit meiner Familie?« »Ein Freund von mir in Amerika wird sie informieren. Telefonieren ist zu riskant. Etwas Gefährlicheres könnte man im Augenblick gar nicht tun. Bei Ihren Leuten ist alles in Ordnung, glauben Sie mir. Vertrauen Sie mir.« Burgess hatte aufgelegt. Locke widerstand nur mit Mühe dem schier übermächtigen Bedürfnis, seine Frau trotzdem auf der Stelle anzurufen. Gleichfalls nur mit Mühe widerstand er der Versuchung, sich auf das bequeme Bett sinken zu lassen und die Augen zu schließen, um einfach nur zu schlafen. Er war müde. Seinem Fußknöchel ging es zwar inzwischen schon wieder etwas besser, aber eigentlich vor allem deshalb, weil er sich darauf konzentrierte, die Schmerzen zu ignorieren. Er blieb noch eine ganze Weile unschlüssig vor dem Telefon sitzen, ehe er sich losriß, aufstand, und das Zimmer wieder verließ. Er bezahlte die versprochenen fünfzig Franken und ging zu seinem Taxi zurück. Es war inzwischen dunkel geworden. Die Nacht schien sehr klar zu werden. Das Thermometer würde wohl stark fallen. Es war Zeit, zum Bahnhof zurückzukehren. Am Bahnhof angekommen, bezahlte er das Taxi und ging hinein. Jetzt herrschte Hochbetrieb. Wie es aussah, wartete bei den Schließfächern niemand auf ihn. Falls er beobachtet wurde, geschah es sehr verdeckt. Er kaufte sich eine Zeitung und setzte sich auf eine der Bänke im Wartesaal. Er hielt sich die Zeitung vor das Gesicht, so als lese er intensiv. Er brauchte Zeit, um sich zu orientieren und sicherzugehen, daß er nicht beobachtet wurde. Es war sinnlos, vorher etwas zu unternehmen. Ein Mann mit einer zerlesenen Zeitung setzte sich neben ihn. Ihre Blicke begegneten sich. Der andere war etwa fünfzig, sah unrasiert aus und lächelte. Locke kam plötzlich eine Idee. »Sprechen Sie englisch?« fragte er. »Aber natürlich«, sagte der Mann. Sein Akzent war schlicht grausam. »Wie meine Muttersprache. Yeees, Sir.« O Gott, dachte Locke. »Ich habe eine Bitte«, sagte er. »Wollen Sie sich etwas Geld verdienen?« »Wieviel?« fragte der Mann. »Hundert Franken.« »Was soll ich tun?« Sein Englisch war wirklich zum Steinerweichen. Locke griff in die Tasche, holte die Schließfachkarte und gab sie ihm. »Gehen Sie damit zum Schalter und sagen Sie, Sie wollen . . .« »Ja, ja«, sagte der Mann. »Ich weiß, wie das geht.« Er schien so etwas nicht zum ersten Mal zu machen. »Im Schließfach liegt ein kleines Bündel. Bringen Sie es mir zum Gleis 2.« Der nächste Zug nach Schaan, hatte er festgestellt, ging in einer Viertelstunde von dort ab. »Ist das alles?« Sein Englischgestammel war kaum noch zu ertragen. »Ja. Das und keine Fragen.« Der Mann nickte. »Und das Geld?«
Locke gab ihm die hundert Franken. »Dann gehe ich jetzt«, sagte der. Mann und stand auf. Er sah Locke noch einmal an und blinzelte vertraulich. »Sie in Trabbel, wie?« »Ein klein wenig.« »Weib?« »Keine Fragen, habe ich gesagt.« Der Mann hob eine Hand des totalen Einverständnisses. »Ich verstehe schon. Sie sich verlassen — auf mich.« Er ging. Locke stand auf und ging ruhig durch die Halle zum Gleis 2. Er versuchte, sich immer in der Menge zu halten und nicht aufzufallen. Als er am Eingang zu den Gleisen war, war sein Beauftragter mit dem Beamten gerade bei den Schließfächern angekommen. Im gleichen Moment, als der Beamte den Schlüssel eingesteckt hatte, waren beide wie aus dem Nichts von einer ganzen Schar Männer umringt. Der völlig verblüffte Beamte wurde weggedrängt, sein Bote zu Boden gestoßen und festgehalten. Er fing an laut zu schreien, aber sie schleppten ihn ebenso wie den Beamten schnell und entschlossen weg. Immerhin entstand Unruhe und neugierige Aufregung. Sie zu nutzen, war Lockes Chance. Er würde also nicht an seine Sachen und vor allem nicht an seinen Paß kommen. Aber immerhin konnte er entkommen. Selbst das war unter diesen Umständen etwas. Er wandte sich rasch um. Er stolperte fast über eine schmutzige Landstreicherin. Sie faßte ihn sogleich an der Jacke und streckte die Hand aus. »Haben Sie Geld, Amerikaner?« Locke schob sie ungeduldig zur Seite. Er mußte aufmerksam bleiben und feststellen, ob man ihn gesehen hatte. Die Alte ließ jedoch nicht los. »Sie haben doch Geld, Amerikaner. Geben Sie mir etwas. Ich habe Hunger.« Locke versuchte sich ungehalten, ihrer zu entledigen. Aber dann fühlte er, wie sich unter dem dicken Pullover der Alten etwas in seine Rippen drückte. »Keine Bewegung und kein Wort«, zischte sie, »oder Sie sind ein toter Mann.« Er versuchte etwas zu sagen, aber sie drückte ihm ihren Pistolenlauf noch fester in die Seite. »Gehen Sie ganz normal zum Bahnsteig«, meinte sie. Er folgte der Aufforderung widerstandslos und ging zum Bahnsteig, auf dem eine ganze Menge Leute auf den Zug nach Schaan warteten. Es hatte keinen Sinn, etwas zu unternehmen. Selbst wenn es gelänge, der Alten die Waffe durch eine rasche Bewegung wegzuschlagen, würde unvermeidlich Aufsehen entstehen, das konnte er im Augenblick am allerwenigsten gebrauchen. Noch war der Bahnhof sicherlich voll von Peales Leuten. »Versuchen Sie nicht stehenzubleiben«, sagte die Frau. Sie hielt sich weiterhin dicht bei ihm, und es bestand kein Zweifel daran, daß ihre Waffe nach wie vor auf ihn gerichtet war. Locke überlegte verwirrt, wer sie wohl sein mochte, vor allem, von wem sie kam. Zu Felderbergs Leuten gehörte sie gewiß nicht, sonst hätte sie ihn wohl nicht zum Zug geführt, sondern zurück in den Bahnhof gebracht. Sie dirigierte ihn an der wartenden Menge vorbei und in einen Tunnel mit einem fünfsprachigen Schild am Eingang: KEIN DURCHGANG FÜR REISENDE. Er war nur sehr schwach und in unregelmäßigen Abständen von einigen nackten Glühbirnen beleuchtet, und feucht. Jetzt war es klar, die Frau hinter ihm führte ihn an die berühmte »abgelegene Stelle«, um ihn dort zu erledigen. Doch er wagte nicht, etwas zu unternehmen, solange sie noch in Hörweite des Bahnsteigs waren. Die Frau in der Pennerverkleidung hinter ihm ging langsamer und suchte nach einer geeigneten Stelle. Das war der Augenblick. Er warf sich herum und schlug als erstes die Mündung ihrer Waffe zur Seite. Ein heftiger Ruck und der Lauf riß durch das brüchige Material des alten Sweaters. Mit der anderen Hand war er bereits an ihrer Kehle. Sie wich aus, versuchte ihre Waffe wieder in den Griff zu bekommen und biß ihn im nächsten Augenblick in die Hand. Er riß den Mund auf, konnte den Schmerzensschrei aber eben noch unterdrücken, der das unliebsame Aufsehen, welches er unter allen Umständen vermeiden mußte, doch noch erregt hätte. Sie ließ nicht los, sondern biß noch fester zu und versuchte gleichzeitig, ihm mit der freien Hand das Gesicht zu zerkratzen. Er versuchte sich zu befreien, indem er sich seitwärts gegen die Mauer warf, aber das hatte vor allem den Effekt, daß ihm ihre Fingernägel buchstäblich Furchen ins Gesicht zogen. Er konnte mit der linken Hand kurz noch einmal den Lauf ihrer Waffe festhalten und wegdrücken. Ein Schuß löste sich, prallte am Betonboden ab und spritzte Schmutz und Steinpartikel hoch. Locke riß seine Hand aus dem Biß der Frau los und schlug sie ihr hart ins Gesicht. Sie stöhnte auf, taumelte etwas, warf sich aber sofort wieder auf ihn. Sie versuchte mit ihren Fingernägeln seine Augen zu zerkratzen. Es gelang ihm, mit einer Seitwärtsbewegung auszuweichen und ihre Hand umzudrehen. Sie konnte einen Schmerzensschrei nicht unterdrücken, trat mit ihren Beinen nach ihm. Er sprang zur Seite, doch ihre Schuhspitzen hatten ihn bereits schmerzhaft an den Fesseln getroffen. Er versuchte noch immer verzweifelt, ihr die unter dem Sweater verborgene Pistole zu entreißen. Doch die Frau war zäh und verblüffend kräftig. Ihr Griff war eisern. In ihren Augen funkelte Zorn. Er ließ ihre Finger los, nachdem er sie ihr umgebogen hatte, und schlug ihr die Faust direkt auf die Nase. Wieder schrie sie vor Schmerz auf, Blut floß ihr aus den Nasenlöchern. Ihre Hand schoß nach vorne und nach unten und ein wilder Schmerz in den Leisten durchfuhr ihn im nächsten Moment. Es raubte ihm buchstäblich den Atem. Er krümmte sich. Die Frau schrie wie wild und drückte, so stark sie konnte. Er versuchte ihre Hand wegzureißen, es ging nicht. Es tat entsetzlich weh. Als der Schmerz kaum noch zu ertragen war, verlieh er ihm so viel verzweifelte Kraft, daß er, sich wild aufbäumend, mit beiden übereinandergelegten Händen die Pistole durch ihren Pullover reißen konnte. Die Augen der Frau weiteten sich in entsetztem Erkennen. Sie versuchte die Situation zu retten, indem sie mit ihrer Hand in seiner Leiste noch heftiger zudrückte. Es gab nun keine Möglichkeit mehr, den wahnsinnigen Schmerzensschrei zu unterdrücken, den dieser so schamlose wie brutale Griff auslöste. Gleichzeitig riß er mit einer einzigen heftigen Bewegung die Pistole hoch und schlug sie ihr voll ins Gesicht. Sie flog aufstöhnend und blutend zur Seite. Locke sank selbst an der Wand zu Boden und war kaum noch bei Bewußtsein, so wild schmerzte es zwischen seinen Beinen. Er hatte das Gefühl, als habe sie ihm die Hoden zu Brei zerquetscht. Mit zitternden Händen hielt er die Pistole umklammert. Ihm wurde übel, er beugte sich vor und spuckte sich die Seele aus dem Leib. Es schmerzte, als sei er mitten entzwei gerissen worden. Die Frau versuchte das auszunutzen und sich, noch kniend, erneut auf ihn zu stürzen. Locke richtete die Waffe auf sie und entsicherte. Sie hielt inne. »Wer sind Sie?« stöhnte er atemlos. Er rappelte sich hoch.
Sie spuckte nur nach ihm. »Ich werde sie ganz langsam erledigen«, drohte er. »Hier eine Kugel, dort eine. Ich habe Ihnen verdammt große Schmerzen zu verdanken.« Sie spuckte wieder. »Bastard! Sie haben anderen genug Schmerzen zugefügt.« »Was habe ich? Wovon sprechen Sie überhaupt?« »Sie schreien nach Rache! Alle die Kinder, die Sie umgebracht haben. Sie sind der Abschaum der Menschheit!« Jetzt begriff er. »Also zu den Leuten in London gehören Sie, die mich dort schon zu töten versucht haben.« Sie spuckte ihn ein drittes Mal an. »San Sebastian wird niemals vergessen werden. Ihr werdet alle dafür bezahlen!« Es donnerte im Tunnel. Ein Zug fuhr ein. »Also schießen Sie schon«, schrie sie. »Was spielt das für eine Rolle. Andere werden für mich kommen. Wir sind viele, und wir werden euch noch in der Hölle braten sehen!« Der Zug kam näher. Die Frau richtete sich auf. Sie achtete nicht auf das Blut, das ihr über das Gesicht rann. Er ging auf sie zu. Sie wich zurück. »Wer seid ihr?« fragte Locke. »Sagen Sie mir doch, wer Sie schickt. Und für wen halten Sie mich? Bitte, sagen Sie es mir!« »Sie werden sterben! Rache für San Sebastian!« war ihre einzige Antwort. Der Zug donnerte näher. Seine Scheinwerfer erfaßten sie beide. Die Frau wandte sich um und lächelte. »Nein!!« schrie Locke, der begriff, was sie vor hatte. Er sprang vor, um sie zurückzureißen. »Nein, nein!!« Aber es war-zu spät. Die Frau stieß einen entsetzlichen Schrei aus und sprang direkt vor den Zug, der nun herangekommen war. Er donnerte vorbei, die Frau war verschwunden. Locke starrte auf den Fleck, wo sie eben noch gestanden hatte. Ihm wurde übel. Er beugte sich vor und erbrach sich wieder. Töten Sie mich. Es spielt keine Rolle. Wir sind viele, und wir sehen euch noch alle in der Hölle braten.
Sie hatten ihm alle nach dem Leben getrachtet, weil sie ihn für einen von denen hielten, hinter denen er selbst her war. Damit war er, so verrückt es war, auf ihrer Seite. Nur wußten sie das nicht. Und er wußte nicht, wer sie waren. Wohin er sich auch wandte, fand er Puzzleteilchen, die nicht ins Bild paßten. Langsam und noch immer hinkend ging er zum Bahnsteig zurück. Es war Zeit für den Zug nach Schaan. Vielleicht fand er bei der Firma Sanii einige Antworten. Gegenüber dem Bahnhof von Schaan wartete Peale im Halbschatten eines Hauses. Der kleine Bahnhof hatte nur einen einzigen Ausgang. Er wußte also genau, wann sein Mann herauskommen würde. Er zog den Schalldämpfer an seiner Browning noch einmal fest und legte ihn, um ruhig und sicher zielen zu können, über seinen linken Unterarm, den er aufstützte. Er kniff ein Auge zu und zielte. Inzwischen wußte er, daß Locke nicht zu unterschätzen war. Von der Bandaufzeichnung seines Gespräches mit Felderberg wußte er auch, daß Locke zu Sanii nach Schaan fahren würde, über die Motive oder Absichten, die dahintersteckten, machte er sich weiter keine Gedanken. Der Mann hatte seinen Chef umgebracht und das genügte. Peale war noch keiner entkommen, und das würde sich nicht ändern, soviel stand für ihn fest. Er hatte die Mentalität eines Soldaten, fragte nicht nach dem Warum. Das Leben war einfacher so. Aus dem Bahnhof kamen die ersten Leute. Er wartete. Vor kaum einer halben Stunde hatte er noch mit seinen Leuten in Vaduz gesprochen und von ihnen erfahren, daß Locke ihnen entkommen war. Damit hatte Peale fast gerechnet. Er umfaßte seine Pistole fester und duckte sich in der Dunkelheit. Dann kam Locke. Er sah sich suchend nach einem Taxi um. Im Augenblick war keines da, also mußte er gehen. Peale bemerkte, daß er humpelte. Gut. Das ermöglichte mehr als einen Schuß, falls es nötig werden sollte. Peale zielte. Der Finger lag am Abzug. Ein leises Geräusch hinter ihm ließ ihn herumfahren. Er sah die Silhouette einer Gestalt und sah etwas aufblitzen. Ein seltsames Zucken oder Kitzeln fuhr durch sein Handgelenk. Langes blondes Haar tanzte vor seinen Augen. Eine Frau! Er riß die Pistole hoch. Aber die Pistole war nicht mehr in seiner Hand. Es war nicht einmal eine . . . Hand da. Er starrte ungläubig hin und wußte plötzlich, daß das seltsame Gefühl der Schnitt einer rasiermesserscharfen Klinge gewesen war, die seine Hand mit einem einzigen Schnitt . . . Er schrie wie ein Wahnsinniger auf, als dieses blitzende Etwas bereits zum zweiten Mal auf ihn zukam und in seine Schulter oder seinen Hals oder . . . Er wußte sofort, daß dies der Tod war. Doch wenn, wollte er seine Mörderin mitnehmen. Er warf sich nach vorne. Nur um zu erkennen, daß sie zwei Messer hatte. In jeder Hand eines. KuMri-Klingen! Die Waffen der indischen Gurkas. Er stürzte und fiel direkt vor seine abgetrennte Hand, die dort lag und noch immer die Pistole umklammerte. Er riß die Waffe mit seiner verbliebenen Hand los und taumelte noch einmal hoch, brüllend, in Agonie und Schmerz. Doch da saßen ihm die beiden Kukhri-Klingen bereits in der Brust und rissen sie buchstäblich auf. Das Letzte, was er in seinem Leben sah, waren die Augen der Blondine. Es waren die härtesten und kältesten Augen, die er gesehen hatte.
Die Konferenz begann mit Verspätung. Die meisten Teilnehmer waren darüber nicht glücklich. Sie waren von weither angereist und besonders darauf bedacht, daß ihre Abwesenheit in ihren Heimatorten auf keinen Fall bemerkt und registriert wurde. Sie waren aus allen Himmelsrichtungen gekommen. Ihr Ziel war das kleine österreichische Dorf Greifenstein an der Donau gewesen. Von dort aus waren sie abgeholt und auf einer schmalen Bergstraße zum nahegelegenen Schloß Kreuzenstein
hinaufgefahren worden. Dieses Schloß hatte die Frau, die den Vorsitz ihrer Runde führte, vor einigen Jahren gekauft und vollständig renovieren lassen. Das Schloß, eigentlich eine alte Burg, war das Symbol ihres Kreises geworden. Seine Türme und Zinnen erinnerte sie alle stets an die Länder, die sie repräsentierten, deren Zerstörung jedoch ihr Ziel war. Die Burg Kreuzenstein war achthundert Jahre alt und hatte in dieser ganzen Zeit nur ein einziges Mal neu aufgebaut werden müssen, nach der Zerstörung durch die Schweden im Dreißig jährigen Krieg. Die Burg hatte zahllosen Stürmen und Belagerungen getrotzt, hatte als Zuflucht vor dem Schwarzen Tod — der Beulenpest - gedient. Sie war im Zweiten Weltkrieg Kommandozentrale gewesen, als überall Bomben fielen, nur hier nicht. Die Mitglieder der Konferenz betrachteten das als göttliche Vorsehung. Die Wahl dieser Burg zu ihrem Hauptquartier war durchaus kein Zufall. An diesem Tag waren vier Personen, alle Mitglieder des Vorstandes, anwesend. Nur der britische Delegierte fehlte. Sie trafen sich im gewaltigen, hohen Burgsaal, der einst Königen und Fürsten für glanzvolle Feste zu Ehren ihrer königlichen Gäste gedient hatte. Der riesige Eichentisch in der Mitte, an dem alle hundert Delegierten der Gesellschaft Platz hatten, wurde auch jetzt benutzt, da die Dame, die nicht nur die Gastgeberin war, sondern auch das waghalsigste Projekt entworfen hatte, das sie je in Angriff genommen hatten, legte aus Gründen der Tradition großen Wert darauf. Sie hatten sich in gedämpftem Ton bereits etwa zwanzig Minuten lang — mit wachsender Ungeduld — unterhalten, als, draußen hinter den Fenstern ging die Sonne bereits unter, die große Flügeltür endlich aufging und Audra St.Clair ihren majestätischen Auftritt hatte. Die vier Herren erhoben sich, ebenso aus Höflichkeit wie aus Respekt. Audra St.Clair hatte die siebzig bereits überschritten, sah jedoch mindestens zwanzig Jahre jünger aus. Ihr silberweißes Haar war konservativ frisiert. Der graue Hut darüber paßte genau zu ihrem eleganten Tweedkostüm, das ihre sorgfältig in Form gehaltene Figur ausgezeichnet betonte. Ihr Gesicht war fast faltenlos. Sie sah aus, als verliehe die Macht ihr die Kraft, über Zeit und Alter zu triumphieren. »Es gibt viel zu besprechen, meine Herren«, sagte sie, und nahm ihren Platz am Kopfende des Tisches ein. »Ich bitte um Entschuldigung für meine Verspätung. Aber eben ist noch ein Bericht von unserem Agenten eingegangen, den ich nach Liechtenstein geschickt habe, um das Chaos zu beseitigen, das Mr. Mandala dort leider angerichtet hat. Beginnen wir also am besten mit der Erörterung dieser ungeschickten Handlungsweise, die unsere Sicherheit erheblich gefährdet hat.«
Mr. Mandala beugte sich vor. Er war von auffallend dunkler Gesichtsfarbe, als besitze er eine dauerhafte Sonnenbräune. Sein Haar war sorgfältig bis über die Ohrenspitzen frisiert. Seine langen Zähne blitzten makellos. Am auffallendsten aber waren seine schwarzen und stechenden Augen. »Ich habe mich, Madame, genau nach den Anweisungen gerichtet, das möchte ich doch klarstellen«, sagte er. »Ich sehe keinen Anlaß für Entschuldigungen.« »Die erwarte ich auch gar nicht«, sagte Frau St.Clair spitz. »Entschuldigungen sind für das Komitee bedeutungslos.« Mandala lehnte sich zurück. Er antwortete nicht darauf, aber es war unschwer zu erkennen, daß ihn das Mühe kostete. Er war es keineswegs gewöhnt, getadelt oder kritisiert zu werden. Es gab Männer und Frauen, die für sehr viel weniger als die scharfzüngigen Bemerkungen der alten Hexe mit ihrem Leben bezahlt hatte. Doch im Augenblick schien es ihm nicht ratsam, sich mit ihr anzulegen. Seine Zeit würde kommen. Statt dessen setzte er sein charmantestes Lächeln auf, durch das er bereits zahllose Freunde gewonnen hatte, Einfluß — und Frauen. Damit demonstrierte er, daß er die Kritik der St.Clair akzeptierte. Sie fuhr fort: »Die Angelegenheit in San Sebastian war grobschlächtig und überzogen. Sie haben mit der Eliminierung dieser Stadt schlechthin alles gefährdet.« »Nun ja«, mischte sich der amerikanische Delegierte beschwichtigend ein. Er war ein silberhaariger Mann, der mit Hilfe des Komitees eine sehr hohe Stellung in der amerikanischen Regierung einnahm. »Immerhin lag es nur am völlig unerwarteten Auftauchen dieses amerikanischen Agenten, daß das Massaker zum Problem wurde.« »Tatsache ist jedenfalls«, sagte Frau St.Clair, »daß es geschehen ist und uns gezwungen hat, unsere ganze Strategie zu ändern.« »Was jedoch nur nützlich sein konnte, alles in allem«, bemerkte der deutsche Delegierte Werenmauser, ein großer, bulliger Mann. »Dank San Sebastian kam dieser Locke ins Spiel. Und mit seiner Hilfe sind wir jetzt in der Lage, die Löcher zu stopfen, die sich auf unserem langen Weg gebildet haben.« »Und es hat uns«, sprang ihm der kraushaarige russische Delegierte Kresowlowski bei, »obendrein die Gelegenheit gegeben, unseren geheimnisvollen Feind erstmals von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen. Ein Feind, der sein Äußerstes tat, uns monatelang unser Unternehmen Südamerika zu erschweren.« »So von Angesicht zu Angesicht auch wieder nicht«, widersprach Audra St.Clair, »schließlich wissen wir nach wie vor nicht, um wen es sich handelt.« »Die Personalien des Mannes, den Ihr Agent in London zur Strecke brachte, können doch wohl erheblich dazu beitragen.« »Wie denn? Er hatte keinerlei Papiere bei sich. Absolut nichts. Seine Identität ist völlig unklar. Es gibt keine direkten Hinweise. Und seine Leiche wird uns auch nichts verraten, fürchte ich. Meine Herren, wenn uns überhaupt einer auf die Spur bringen oder sogar direkt zu unserem Gegner führen kann, dann dieser Locke.« Der Amerikaner wiegte nervös den Kopf. »Es ist aber ein sehr großes, vielleicht sogar zu großes Risiko, ihn am Leben zu lassen. Er ist längst zu gefährlich geworden, als daß wir in ihm weiterhin einen Vorteil sehen könnten.« »Nur keine Übertreibungen«, sagte Audra St.Clair wegwerfend. »Der Mann ist nach wie vor nichts weiter als eine Marionette.« Das flackernde Kerzenlicht tanzte über ihr Gesicht. »Wir können ihn nach wie vor nach Belieben lenken. Ich würde es für einen sehr großen Fehler halten, seine Marionettenschnüre jetzt schon durchzuschneiden.« Der Amerikaner schüttelte hartnäckig den Kopf. »Nein. Sie scheinen meine Lage nicht zu verstehen. Für die übrigen Mitglieder dieses Komitees ist es sehr viel einfacher, die Tatsache zu verbergen, daß sie dem Komitee angehören. Ich werde ständig überwacht. Allein meine Anwesenheit hier ist ein ungeheures Risiko. Wenn es Locke gelingt, sich unserer Kontrolle zu entziehen, bin ich der erste, der auffliegt.«
»Mr. van Dam«, sagte die Vorsitzende nun bereits einigermaßen ungeduldig und nicht ohne Schärfe, »ich fürchte eher, Sie sind derjenige, der nicht versteht. Dieser Locke ist das einzige Bindeglied zwischen uns und jenen nicht unbedeutenden Kräften, die allein imstande sein könnten, das Projekt Tantalus zu gefährden. Es bleibt uns also gar nichts anderes übrig, als ihn beständig im Auge zu behalten. Um nämlich die Löcher, die er uns zeigt, zu stopfen. Wir haben die Chance, daß er uns am Ende sogar vielleicht auch direkt., zu unserem bislang unsichtbaren Feind führt.« »Und wo genau hält er sich im Augenblick auf, Madame, können Sie mir das auch sagen?« fragte van Dam seinerseits nicht ohne Schärfe zurück. »Ich werde Ihnen etwas sagen. Da gibt es beispielsweise einen Mann namens Calvin Roy im amerikanischen Außenministerium. Ein Mann mit einer Nase wie ein Bluthund. Er hat Lockes Einsatz gutgeheißen und genehmigt, und er könnte ihn früher oder später überraschend wieder aus dem Verkehr ziehen und ihn unserer Reichweite entziehen.« »Dann muß er sich allerdings sehr beeilen, Mr. van Dam. Die Operation Tantalus beginnt in genau acht Tagen. Mr. Kresowlowski, Ihr Bericht bitte.« Der Russe räusperte sich und schlug einen Aktendeckel auf, den er vor sich liegen hatte. »Die Produktion der Kanister wird im Laufe der Woche planmäßig abgeschlossen sein. Ihr Transport zum Ziel Alpha ist bereits in die Wege geleitet. Sie sind genau nach den Anweisungen Mr. Mandalas hergestellt.« Mandala ergänzte: »Alles erforderliche Material und Personal wird zum geplanten Zeitpunkt zuverlässig zur Verfügung stehen. Es läuft alles nach Plan, einschließlich der Vorbeu-gungs- und Abwehrmaßnahmen für den Fall vorzeitiger Entdeckung oder potentieller Gegenmaßnahmen. Ich habe für eine sehr sorgfältig ausgesuchte und bestens ausgerüstete Sicherheitsgruppe gesorgt. Es gibt keinerlei Probleme auf diesem Sektor.« »Wann sind nennenswerte Resultate zu erwarten?« fragte Frau St.Clair. Kresowlowski antwortete: »Auf Grund der Daten aus dem Experiment San Sebastian läßt sich sagen: nach etwa vier Tagen im Areal Maria, nach einer Woche in den Arealen Peter und Paul, nach zehn Tagen in Markus und Matthäus, und höchstens zwei Wochen in Lukas.« »Gut. Nun zu Mr. Werenmauser.« Der Deutsche rieb sich die dicken Wangen. »Auch bei mir ist alles in den Startlöchern. Die letzten Experimente laufen in diesen Tagen in Schaan, um die optimale Verpackungsart zu ermitteln. Nach unserer Schätzung kann der Versand an die Adressen Delta, Gamma, Sigma und Zeta in zehn Tagen beginnen. Schwierigkeiten oder Komplikationen zeichnen sich keine ab.« »Was ist mit unserem Personal?« »Es empfiehlt sich, es solange nicht in Bewegung zu setzen, bis die ersten Auswirkungen von Tantalus in Amerika sichtbar geworden sind. Dann kann die entsprechende Verwirrung, das Chaos, das sich ergibt, eine günstige Ablenkung für die überraschende Einschleusung von Personal nach Südamerika sein, was normalerweise einige Aufregung verursachen und zu allerlei hartnäckigen Fragen führen würde. Es ist entscheidend, daß zu dem Zeitpunkt, zu dem die vollen Auswirkungen von Tantalus offenkundig werden, alles definitiv etabliert ist und keine Macht der Erde mehr etwas dagegen unternehmen kann.« Audra St.Clair lehnte sich zurück. »Es scheint also, meine Herren, vom rein technischen Aspekt aus betrachtet, alles aufs beste zu laufen. Ich möchte mich deshalb jetzt noch besonders dem Thema Sicherheit zuwenden. Mr. Mandala, zu welchen Schlußfolgerungen sind Sie gekommen was unseren unsichtbaren Feind angeht?« »Er ist wohlorganisiert, wenn auch nicht sehr mächtig oder rein zahlenmäßig besonders stark«, antwortete Mandala präzise. Er gab sich kooperativ und bereitwillig. Wenn sein eigener Plan funktionieren sollte, durfte er auf keinen Fall den Arger oder sogar den Verdacht der alten Hexe auf sich lenken. »Es scheint, daß er nicht direkt Regierungen oder vergleichbare offizielle Körperschaften repräsentiert. Sonst hätte man versucht, uns direkt zu entlarven und sich nicht auf dieses läppische Katz-und-Maus-Spiel eingelassen.« »Es mag läppisch sein«, widersprach die Vorsitzende, »aber es hat sie immerhin näher an uns herangeführt, als es im Laufe einer ganzen Generation jeder anderen Gruppe gelang.« »Was das betrifft, so wird das bald geregelt sein. Und zwar könnte ich das genausogut auch ohne diesen Locke erledigen. Ich bin nach wie vor der Meinung, wir sollten ihn aus dem Verkehr ziehen, solange wir ihn noch unter Kontrolle haben.« »Das werden wir nicht«, sagte Frau St.Clair mit scharfer Stimme. »Locke bleibt solange am Leben, bis ich etwas anderes anordne.« »Dann darf ich Sie darauf hinweisen, daß dies eine Verletzung Ihrer eigenen Grundsätze für die Sicherheit ist«, sagte Mandala. »Und der des ganzen Komitees, im übrigen.« Die Frau Vorsitzende beugte sich vor, und ihre Augen verengten sich in mühsam beherrschtem Zorn. »Belehren Sie mich gefälligst nicht über die Politik des Komitees, Mr. Mandala. Sie sind nicht sehr viel mehr als ein angestellter Killer, wenn ich Sie darauf hinweisen darf. Wir existieren seit fünfundzwanzig Jahren, weil wir uns Typen Ihrer Art rechtzeitig entledigt und auf subtilere Methoden gesetzt haben!« »Sehen Sie, wohin ihre subtilen Methoden Sie gebracht haben! Meine Methoden waren es, die uns vor das Ziel Ihres größten und ehrgeizigsten Projekts gebracht haben.« In ihrer Stimme war glatte Verachtung; und gefährlicher Hochmut: »Sie, Mr. Mandala, sind hier bei uns lediglich ein Söldner und Legionär. Ein Soldat. Nichts weiter. So ist die Lage!« Wenn die alte Hexe etwa glaubte, ihn auf diese Weise provozieren zu können, dachte Mandala, sollte sie sich getäuscht haben. Sie sollte wissen, daß er hart argumentieren konnte. Aber sie würde es nicht schaffen, ihn zu unbedachten emotionellen Ausbrüchen zu veranlassen. »Es waren immerhin die Übersicht und das strategische Denken eines - Soldaten nötig«, konterte er deshalb kühl, »einen Aufmarschplan, den Sie allenfalls in groben Umrissen zu zeichnen imstande waren, in die Tat umzusetzen.« Er blickte sich demonstrativ in dem kostbar möblierten Saal um. »Sie zitieren mich hochmütig hierher und erwarten vielleicht, daß ich von allen Ihren schönen Möbeln und Gemälden hier ganz überwältigt bin. Während Sie sich in den Jahren elegant und souverän auf Konferenzen in wohlklimatisierten Sälen aufgehalten haben, habe ich auf Schlachtfeldern gekämpft, die nach Tod stanken, um die Welt aus den Angeln zu heben, damit Sie sie danach kontrollieren können. Übersehen Sie nur die Tatsache nicht, daß Sie zu mir gekommen sind - nicht ich zu Ihnen -, als Sie jemanden brauchten, der Pläne, die vorläufig nur "im Kopf existierten, auch in Realität umsetzen kann. Seitdem war ich Ihnen stets
willkommen und unentbehrlich, wenn Sie jemanden brauchten, der sich für Sie die Hände schmutzig machte. Gut, aber mokieren Sie sich jetzt gefälligst auch nicht darüber, daß meine Hände nicht sauber sind!« »Mr. Mandala«, sagte die Dame, nun doch etwas sanfter, »wir tolerieren Ihre Methoden. Aber wir akzeptieren sie nicht.« »Madame, wir sollten uns nicht naiv stellen. Wir haben bis jetzt die Aktion Tantalus ausschließlich operationeil diskutiert: wann, wo, wie, direkte Auswirkungen. Aber was kommt danach? Die Welt wird dann äußerst instabil, also verwundbar sein. Das heißt, wir können die ganze Welt in die Knie zwingen, nicht allein die USA!« »Auf den Knien können die Menschen die Bankschalter nicht erreichen, Mr. Mandala. Sie übersehen, daß wir keine militärische und politische, sondern eine wirtschaftlich orientierte Organisation sind. Politik ist für uns nur Mittel zum Zweck, wenn wir sie für unsere wirtschaftlichen Absichten einsetzen. Die Operation Tantalus wird, verlassen Sie sich darauf, die USA, und damit die ganze Welt, durchaus in die Knie zwingen. Nur kommt es uns darauf an, daß sie danach wieder aufstehen kann. Nur mit unserer Hilfe, versteht sich.« »Macht, Madame, besteht darin, die Menschen zu kontrollieren, nicht ihre Bankkonten.« »Ach, Mr. Mandala! Die Menschen, das sind ihre Bankkonten!« »Wir haben die Möglichkeit, das totale Chaos zu verursachen und die alles bestimmende Ordnungsmacht zu werden.« »Eben das turt wir ja. Wirtschaftlich.« »Politisch wäre es sehr effektiver und weitreichender. Und es würde die wirtschaftliche Kontrolle automatisch einschließen.« »Sie sehen die ganze Sache falsch, Mr. Mandala«, sagte Frau St.Clair belehrend. »Wirtschaft und Politik sind zwei völlig untrennbare Gebiete. Politik ist nichts als eine Funktion der Wirtschaft. Das politische Urteil der Menschen hängt immer nur davon ab, wie voll ihre Brieftasche ist. Die Operation Tantalus wird uns die Möglichkeit eröffnen, eben diesen Faktor ganz nach unseren Wünschen zu kontrollieren.« Mandala nickte nur noch. Er zwang sich zur Zurückhaltung. Dies war weder der richtige Ort noch die richtige Zeit, die alte Hexe doch noch mißtrauisch zu machen. Hinsichtlich des Planes nämlich, vor dessen unmittelbarer Ausführung er stand. Niemand fand Mandalas Schweigen ungewöhnlich. Schweigen zu den Belehrungen der alten Dame war im Gegenteil alte Tradition in diesem Kreise. »Kommen wir auf die Angelegenheit Locke zurück«, sagte van Dam schließlich. »Falls er also nicht aus dem Weg geräumt werden soll, muß auf andere Weise sichergestellt werden, daß er uns nicht aus dem Ruder läuft.« »Ich bin dabei, Vorkehrungen zu treffen«, sagte Mandala. »Nehmen wir mal an, es funktioniert nicht«, sagte van Dam, »was dann? Wenn es ihm gelingt, Kontakt zu mächtigen Leuten aufzunehmen, die uns gefährlich werden können, ohne daß wir es erfahren oder verhindern können? Ich fürchte beispielsweise, daß Charney mich so gut wie enttarnt hatte. Es ist immer denkbar, daß er Locke noch darüber informieren konnte. Oder sonst jemanden, zumindest andeutungsweise. Jede Stunde, die wir ihn noch am Leben lassen, vergrößert die Gefahr, daß ich auffliege. Sie müssen meine Position verstehen«, wiederholte er. und wandte sich dabei vor allem an die Vorsitzende. »Ich wußte nicht, welche bedeutende Rolle dieser' Mann plötzlich in unseren Plänen spielt. Ich war der Meinung, seine - Nützlichkeit wäre längst beendet. Ich kann dieses Risiko einfach nicht eingehen. Ich kann nicht!« »Was haben Sie unternommen?« fragte ihn Frau St.Clair mit plötzlichem Argwohn. »Ich habe jemanden beauftragt, ihn zu eliminieren.« Sie starrte ihn an. »Rufen Sie den Mann augenblicklich zurück, Sie Narr!« »Zu spät«, sagte van Dam.
Fünfter Teil Schaan Montag vormittag »Wir kommen jetzt in die Abteilung, in der die Firma Sanii neue Technologien für die Entnahme von Erdproben auf anderen Planeten entwickelt hat«, sagte die Besucherführerin. Locke ließ seine Augen umherschweifen. Am Samstagabend hatte er ein einfaches Berggasthaus gefunden, das ein Zimmer frei hatte. Den Gedanken, jemanden gegen Bezahlung Kleider für ihn kaufen zu lassen, hatte er aufgegeben. Der Portier am Empfang hatte ihn auf eine bessere Idee gebracht. Er hatte ungefähr seine Figur, vielleicht etwas kleiner und stämmiger. Besonders gut würden ihm dessen Sachen nicht passen, aber immerhin, es würde gehen. Der Portier hatte keine Fragen gestellt, als er Bargeld sah. Einige zusätzliche Scheine verschafften Locke auch Salben und Binden für seine von den Bissen der angeblichen Landstreicherin mitgenommenen Hände, sowie ein herzhaftes Essen. Da die Firma Sanii am Sonntag geschlossen hatte, blieb ihm ein ganzer Tag, sich auszuschlafen und ein wenig zu kurieren. Er schlief bis zum Nachmittag und erfuhr dann vom Portier, daß die Führungen bei Sanii jeden Montag um zehn Uhr begannen. Sanii war eine der wenigen großen Firmen, die auch ihre eigenen Anlagen in Liechtenstein hatten, und also eine der Besucher-Sehenswürdigkeiten; zumal sie auf Zukunfts-High-Tech spezialisiert waren. Das bedeutete zweifellos auch eine landwirtschaftliche Versuchsabteilung. Gut möglich, daß er dort den gesuchten Hinweis auf die südamerikanischen Landkäufer fand, mit denen Felderberg zu tun gehabt hatte. »Es ist heute möglich«, sagte die Führerin eben, während die Besucher durch die Glaswand auf Miniaturmodelle seltsamer Bodenbearbeitungsmaschinen blickten, »Robotersonden selbst Millionen Kilometer ins Weltall zu schicken, damit sie dort
auf fremden Himmelskörpern automatisch Bodenproben entnehmen und damit wieder zur Erde zurückkehren. SaniiWissen-schaftler haben nun eine neue Möglichkeit entdeckt . . .« Lockes Augen wanderten wieder umher. Kein Zweifel, er war in der richtigen Abteilung. Er spürte es geradezu. Hier ging es um Bodenproben, Landwirtschaftliche Experimente mußten ganz in der Nähe gemacht werden. Er war früh genug dagewesen, um sich in aller Ruhe noch das ganze Firmengelände anzusehen. Es war von eindrucksvoller Größe. Vier getrennte Gebäudekomplexe. Einer so riesig, daß er fast die gesamte Länge des Geländes einnahm. Neben ihm, an der Schmalseite, ein kleiner, der fast dahinter verschwand. Der dritte quer dazu ganz hinten und mindestens halb so lang wie der große Hauptkomplex. Der vierte ein verspiegelter Bürokomplex, wo die Verwaltung und Büros untergebracht waren. Die Führung begann im großen Gebäude, auf dessen Dach in riesiger Leuchtschrift der Firmenname prangte. Eine Stelle dieses Dachs war flach. Von dort waren die charakteristischen Geräusche einer riesigen Belüftungs- und Klimaanlage zu hören, mit der in den verschiedenen Abteilungen auch jeweils nötigen klimatischen Verhältnisse für Agrarexperimente erzeugt werden konnten. Die Führerin hatte ihre Erklärungen zum Thema Entnahme von Bodenproben aus fremden Himmelskörpern beendet, als Locke noch die Hand hob. »Ja, bitte, Sie haben noch eine Frage?« »Ich interessiere mich für Agrarexperimente, die nicht so weit von der Erde entfernt sind. Werden hier auch solche gemacht?« Die Fremdenführerin sah etwas verwirrt drein. »Sicher, wir haben eine Agrarversuchsabteilung für Standardexperimente. Sie befindet sich hinten im kleinen Gebäudekomplex, ist aber von wenig allgemeinem Interesse. Bitte, meine Herrschaften, hier entlang . . .« Ja, das war es. Da hatte er seine Antwort, dachte Locke. Jedenfalls eine Stelle, wo man ansetzen konnte. Als sich die Besuchergruppe um die nächste Ecke begab, blieb er unauffällig zurück und setzte sich ab. Er ging zurück zum Eingang. Ein Aufseher befragte ihn, und er gab Übelkeit vor: er brauche frische Luft. Der Aufseher wünschte gute Besserung, gab ihm seinen Besucherausweis wieder und hielt ihm die Tür auf. Locke sah sich rasch nach rechts und links um und ging, so schnell es eben möglich war, auf das kleine, parallel zum Haupttrakt liegende Gebäude zu. Er hoffte, niemandes Aufmerksamkeit zu erregen. Am Eingang des kleinen Gebäudes stand das übliche Schild: UNBEFUGTEN IST DER ZUTRITT VERBOTEN. Um das zu unterstreichen, standen innen, hinter der Glastür des Eingangs, zwei Wächter. Keine Chance also hier durch den Eingang hineinzugelangen. Er ging selbstsicher weiter. Auf der anderen Seite des Gebäudes gab es zwei große Garagentore. Sie standen offen. Arbeiter luden eben sackweise irgend etwas ab und trugen es in ein großes Lager hinein. Er schätzte sich glücklich, vom Portier seines Gasthofes einheimische Arbeitskleidung bekommen zu haben, und stellte sich mit der größten Selbstverständlichkeit ans Ende der Schlange. Niemand schien Notiz von ihm zu nehmen. Die Wachposten der Firma Sanii hielten ihn wahrscheinlich für einen der Arbeiter, und diese dachten vermutlich umgekehrt. Nur vorsichtshalber bemühte Locke sich, die Säcke, die er auf die Schultern gepackt bekam, so zu halten, daß sein Gesicht nicht zu erkennen war, und vermied es, irgendwen direkt anzusehen. Als drinnen so viele Säcke gestapelt waren, daß man hinter ihnen verschwinden konnte, tat er das in einem unbeobachteten Moment und ging ohne sich aufzuhalten auf der Rückseite der Lagerhalle zur nächsten Tür hinaus. Sie führte direkt in das eigentliche Gebäude. Er befand sich nun in einem langen, weißen, hellerleuchteten Korridor. Jemand, der herumgeht, kann Aufmerksamkeit erregen, aber jemand, der herumsteht, erregt sie mit Sicherheit. Er erinnerte sich auch an diesen Satz.aus den einstigen Lehrgängen sehr gut. Er ging also ganz selbstverständlich und mit festen, sicheren Schritten weiter, bevor er es sich anders überlegen konnte. Im Korridor war zum Glück kein Mensch. Doch das war sicherlich nur ein vorübergehender Zustand. Er kam an eine Kreuzung und versuchte sich zu orientieren, wohin der quer zu seinem Gang verlaufende Weg führte. Rechts lag ein Raum mit Spinden. Er entschloß sich, dort hinein zu gehen. Vielleicht fand er etwas, das ihm weiterhelfen konnte. Er kam in einen typischen Umkleideraum. Kabinen, Duschgeräusche und Dampf, Holzbänke. Zwei Männer kamen ihm entgegen. Er ging an ihnen vorbei, ohne sie weiter zu beachten. Nur gut, daß dies ein großer Betrieb mit vielen Beschäftigten war. Draußen auf den Parkplätzen hatten mindestens 750 Autos gestanden. Es war kurz vor Mittag, also Zeit für die allgemeine Mittagspause, die hier vermutlich in Schichten ablief. Der Umkleideraum war tatsächlich bereits voller Leute. Er ging rasch in die Toilette und schloß sich in einer Kabine ein. Er setzte sich auf den Toilettensitz und versuchte ruhig durchzuatmen. Seine Nerven würden ihn eher als alles andere verraten, verdammt. Ein ruhiges Äußeres war die beste Tarnung. Tarnung. Natürlich. Die beiden Männer, denen er am Eingang begegnet war, hatten einfach weiße Labormäntel getragen. Wenn er einen solchen trüge, würde ihn kein Mensch behelligen. Er strengte sein Gedächtnis an. An den Labormänteln waren Plaketten gewesen, Identitätskarten mit Fotos. Er mußte sicherstellen, daß ihn niemand zu nahe unter die Lupe nahm. Er zog die Toilettenspülung und ging hinaus, stellte sich irgendwo, an eines der Waschbecken zwischen die anderen Männer und wusch sich die Hände. Dann trat er ganz normal und unauffällig zurück und nahm sich aus dem nächsten offenen Spind den dort hängenden weißen Laborkittel, schlüpfte hinein und ging hinaus, zurück in den Korridor. Der Kittel paßte schlecht. Viel zu kurze Ärmel. Das Foto auf der Plakette sah ihm überhaupt nicht ähnlich, abgesehen von der Haarfarbe. Vielleicht genügte das, um durchzukommen. Er mußte es darauf ankommen lassen und ging weiter. Kurze Zeit später stand er am Eingang eines riesigen Gewächshauses. Eine Menge Leute waren überall damit beschäftigt, Wässerungsleitungen zu überprüfen und nachzustellen oder Eintragungen in Listen und Karteikarten zu machen, die sich bei jeder der zahllosen Einzelpflanzen oder Pflanzengruppen befanden. Er schien sich in einer Abteilung zu befinden, die damit befaßt war, dafür zu sorgen, daß auch wirklich keine einzige Pflanze dieser Erde ausstarb. Er ging zügig weiter und kam zu einer Doppeltür, die gerade breit genug war, daß das Warnschild auf ihr Platz hatte: GESCHLOSSENE SICHERHEITSZONE, EINTRITT NUR MIT ROTER KARTE.
Er sah auf seine Karte. Nicht zu fassen: sie war rot. Er versuchte durch die Schwingtür zu gehen. Aber sie öffnete sich nicht. Jetzt erst sah er den stählernen Schlitz an der Wand rechts. Eine eigene Einsteckkarte war also erforderlich, damit die Tür aufging. Er begann in den Taschen seines Kittels zu suchen. »Gibt's Probleme?« sagte jemand hinter ihm. Er drehte sich um. Ein Mann mit Schnurrbart, ungefähr sein Alter. »Na«, sagte er geistesgegenwärtig. »Die blöde Karte funktioniert schon mal wieder nicht. Hat wahrscheinlich in der Brieftasche einen Knick gekriegt.« »Ich geh' sowieso grade rein«, sagte der andere in akzentfreiem Englisch, das offenbar ohnehin die offizielle Sprache in dieser Firma war. Er steckte seine Karte in den Schlitz. Sie kam kurz danach wieder heraus. Ein Summzeichen ertönte und das Türschloß schnappte auf. »Bitte, Kollege«, sagte der Mann und ließ ihn zuerst hineingehen. »Vielen Dank, Kollege«, antwortete er. Er war selbst überrascht, wie kühl und geistesgegenwärtig er bisher gehandelt und die Situation gemeistert hatte. Nichts war vorausgeplant oder überlegt gewesen. Alles hatte sich spontan aus der augenblicklichen Situation ergeben, schnell und sicher, wie ein Schauspieler hatte er seine Rolle gespielt. Dies stärkte seine Zuversicht, mit der Situation fertig zu werden. Er kam an einem großen Fenster vorbei, hinter dem ein etwa zehn Quadratmeter großer Raum lag. Darin waren seltsame strauchartige Gewächse, jedes unter einer speziellen Leuchtröhre. An der Wand hing, an einer leichten Kette befestigt, eine Notizenklemmtafel aus Metall. Locke tat, als studiere er sie, um sicherzugehen, daß niemand in unmittelbarer Nähe war, und riß sie dann mit kurzem Ruck von der Kette ab. Er trug sie in der rechten Hand und ging ruhig weiter. Wenn er nur eine Ahnung gehabt hätte, wohin er ging! Schön, er war mit viel Glück in diesen geheimen Sicherheitsbereich gelangt. Aber schließlich gab es hier noch Dutzende von Korridoren, Fluren, Labors, Räumen. Was suchte er? Und wo konnte er es finden? Er begegnete ständig irgendwelchen Leuten in gleichen Kitteln wie er. Er beachtete sie nicht, und niemand beachtete ihn. Ein Labor reihte sich an das andere, und an jeder Labortür hing neben dem Eingang die Bezeichnung. Dann kam eine Tür, neben der es kein Hinweisschild gab, dafür stand unübersehbar ein Wächter davor. Er spürte, wie es in seinem Magen kribbelte. Er mußte da hinein. Er beugte sich über einen Trinkbrunnen und ließ sich viel Zeit. Inzwischen kam eine Gruppe Wissenschaftler raschen Schrittes den Gang herunter. Als sie an ihm vorbeikam, sah er, daß ihre Ansteckkarten alle rot waren, allerdings alle mit einem schwarzen Kreuz darüber. Auf seiner Karte war kein Kreuz, dennoch schloß er sich der Gruppe einfach an. »Guten Morgen, Professor«, begrüßte der Wächter an der Tür den bärtigen Mann, der vorausging, und hielt die Tür auf, bis alle durchgegangen waren. Er nickte jedem einzeln zu. Locke ging als letzter einfach mit. Er drehte nur seine Schulter etwas, so daß der Wächter seinen Anstecker nicht ganz sehen konnte. Voller Spannung hielt er den Atem an. Jetzt mußte ihn der Mann anhalten. Aber er tat nichts dergleichen und ließ ihn ungefragt durchgehen. Hinter ihnen ging die Tür zu. Sie verursachte ein Echo. Locke löste sich wieder von der Gruppe, mit der er gekommen war, und ging einfach in eine andere Richtung, immer festen, zügigen, selbstsicheren Schrittes. Er befand sich in einem riesigen Terrarium mit vier Reihen verschiedener Getreidearten. Er erkannte sie auch ohne die Beschriftung: Mais, Hafer, Weizen und Gerste. Doch welche Unterschiede in den Größen! Ein Teil war offensichtlich ausgewachsen und erntereif, ein anderer fing gerade eben erst an zu sprießen. Er ging einfach aufs Geratewohl eine der Reihen entlang und besah sich die einzelnen Beschriftungstäfelchen vor jeder Pflanze. Er überflog sie freilich nur. Er wollte es nicht riskieren, irgendwo länger stehenzubleiben. Es waren zu viele Leute anwesend. Auf keinen Fall durfte er sich Fragen stellen lassen oder sich gar in Gespräche verwickeln lassen. Es war ihm klar, daß er hier irgend etwas sah, was ein bestimmtes Muster ergab, das er jedoch nicht erkennen konnte. Er war am Ende der Reihe, wo sich die größten Weizenpflanzen befanden, als ihn etwas stutzig machte. Er las nicht weniger als sechsmal, was auf dem Täfeichen stand, ehe er es glaubte. Aussaat: 26. März. Unmöglich. Diese Weizenhalme waren in 21 Tagen bis zur Erntereife hochgewachsen? Er ging völlig perplex zum Anfang der Reihe zurück. Jedes der etwas mehr als drei Quadratmeter großen Felder dokumentierte ein anderes Aussaatdatum — unterteilt in sieben Dreitageperioden. Wenn die Angaben auf den Tafeln und Blättern stimmten, dann war hier das Getreidewachstum in einem geradezu unglaublichen Maße beschleunigt worden. Das war von ungeheurer Bedeutung! Er versuchte zu rekonstruieren, was ihm Felderberg bei ihren Gespräch in Vaduz erzählt hatte, doch es hatte keinen Zweck. Er konnte sich jetzt nicht darauf konzentrieren. Er mußte das später versuchen. Wenn er hier wieder raus war. Er ging noch einmal bis ans Ende der Reihe. Als er sich umwandte, war ihm der Weg versperrt. Der bärtige Professor Stand vor ihm. »Wer sind Sie? Ich habe Sie noch nie gesehen.« Sein Blick fiel auf den Anstecker am Kittel. »Moment mal. Sie gehören doch überhaupt nicht . . .« Locke hatte sich bereits umgedreht und begann zu laufen. »Haltet den Mann!« rief der Professor aufgeregt. »Haltet den Mann fest!« Einer seiner Gruppe stellte sich Locke in den Weg. Dieser zögerte keinen Augenblick, hob die metallene Notizenklemmtafel und hieb sie dem verblüfften Mann ins Gesicht; er fiel hintenüber zu Boden. Locke ließ die Tafel fallen und begann quer durch die Miniaturkornfelder zu rennen, vom Weizen in den Hafer, von dort in den Mais. Er sah bereits die rettende Tür vor sich. Aber da stand auch der Wächter, der schon dabei war, seine Waffe zu ziehen. Es war eine Sache von Sekunden. Der Wächter hatte die Waffe kaum gezogen, als sich Locke mit einem mächtigen Sprung seitwärts mit den Schultern voraus auf ihn warf, so daß er taumelte und die Balance verlor. Er stolperte überrascht und fiel und ließ dabei die Waffe fallen. Locke raste den Korridor entlang. Hinter ihm waren die Schritte seiner Verfolger zu hören, nachdem der Wächter Alarm geschlagen hatte. Er rannte weiter, versuchte, sich zu orientieren und daran zu erinnern, wie er hereingekommen war, und den nächsten Ausgang zu finden. Bei der nächsten Kreuzung von Korridoren rannte er nach rechts. Da kam ihm bereits ein ganzer Trupp Wächter entgegen. Er blieb stehen und lief einen anderen Gang hinunter. Offenbar war es jetzt Zeit für die zweite Mittagsschicht, denn zahlreiche Leute in weißen Kitteln waren hier unterwegs. So unauffällig wie möglich mischte er sich unter sie. Er mußte bei ihnen bleiben, solange es nur ging, um einen günstigen Augenblick zum Entkommen abzuwarten. Über einer Tür am Ende des Korridors war ein rotes Schild NOTAUSGANG. Sein Herz schlug heftig, als er sich schneller durch die Menge drängte, um einen kostbaren Vorsprung vor seinen Verfolgern zu bekommen. Er griff nach dem Türhebel, zog ihn
hoch, stieß die Tür auf und lief hinaus ins helle Tageslicht. Die Sonne schien, und es war plötzlich so hell, daß er blinzeln und seine Augen bedecken mußte. Aber er blieb nicht stehen. Die Wächter würden nicht lange brauchen, um hinter ihm herzukommen. Zum Glück hatte er einen günstigen Zeitpunkt erwischt. Es war viel Betrieb, die Menge bewegte sich dicht aber auch gemächlich, so daß es für die Wächter schwierig war, sich rasch einen Weg durch sie hindurch zu bahnen. Er ging zügig, aber nicht zu schnell. Er durfte nicht auffallen. Er ging auf den großen Parkplatz zu. Vielleicht gab es dort ein Taxi, einen Bus oder einen Angstellten oder Arbeiter, der ihn mitnahm. Er wurde nun doch schneller, gab seiner Ungeduld nach, wagte nicht, sich umzusehen, ob die Wächter vielleicht schon hinter ihm waren. Und dann stand plötzlich jemand vor ihm, groß, mit dichtem Haarwuchs, und mit einer Pistole im Anschlag. »O nein!« rief Locke und wußte zugleich, daß es schon zu spät war. Da schoß der Mann auch schon. Locke taumelte instinktiv nach hinten, hatte das Gefühl bereits den Schlag zu spüren, den der Schuß ihm versetzen mußte. Statt dessen hörte er hinter sich ein kurzes Aufstöhnen und gleich darauf einen dumpfen Fall. Er drehte sich um. Am Boden lag ein Hüne von einem Wächter mit blutender Schulter, eine Pistole war ihm aus der Hand gefallen und lag nun außerhalb seiner Reichweite am Boden. Überall schrien Menschen auf, liefen durcheinander, riefen um Hilfe. Und der Mann mit der noch rauchenden Pistolenmündung faßte nach Locke. »Los!« rief er. »Raus hier. Aber schnell.« Dogan war am Samstagabend in Vaduz auf dem Bahnhof angekommen. Er hatte sogleich versucht, die Spur seines Mannes aufzunehmen. Statt dessen lief ihm jemand anderer über den Weg. Zuerst erkannte er ihn gar nicht. Der Mann saß mit einer Zeitung im Schoß auf einer der Holzbänke und lächelte ihn an. Als er näher kam, mußte er ebenfalls lächeln. »Hallo, Grendel«, sagte der andere. »Ich habe schon auf Sie gewartet. Was führt Sie nach Liechtenstein, mein Lieber?« Dogan machte eine Kopfbewegung. Er setzte sich neben den Russen. Die Bahnhofshalle war sehr belebt. »Geschäfte. Ich soll einen Mann aus dem Weg räumen.« »Ja, weiß ich«, sagte Waslow nickend. »Christopher Locke.« Dogan machte gar nicht erst den Versuch, seine Überraschung zu verbergen. »Mein Lieber, Sie verblüffen mich immer wieder.« »Na ja, unsere Leute haben den richtigen Riecher gehabt«, sagte Waslow. »Mich haben sie hergeschickt, um dafür zu sorgen, daß Sie genau das nicht tun.« Dogan sah ihn mit hochgezogener Stirn fragend an. »Man benutzt Sie nur, mein Lieber«, sagte Waslow. »Nicht Ihre Regierung will diesen Locke aus dem Weg haben. Sondern jemand vom Komitee.« »Augenblick. Wovon reden Sie eigentlich, sagen Sie?« »Locke ist der Schlüssel, Freund und Genösse. Erinnern Sie sich, was ich Ihnen von San Sebastian erzählt habe? Wir haben die Übermittlung einer Botschaft von einem Band aufgefangen, die ein Agent eurer Seite gesendet hat. Ein gewisser Lübeck. Wir glauben, daß er auf der Spur des Komitees war. Als er zusammen mit der ganzen Stadt eliminiert wurde, heuerte man diesen Locke an, die Spur wiederaufzunehmen.« »Sagen Sie mal, Waslow, gibt es auch etwas von meiner Regierung, das Sie zufälllig nicht wissen?« »Man lernt mit der Zeit, wie Sie wissen, sich aus kleinen Stücken und Fragmenten ein Bild zusammenzusetzen, Schlüsse zu ziehen, zu kombinieren. Ich glaube, in diesem Fall liege ich im großen und ganzen richtig, auch wenn ich den genauen Reiseplan Lockes natürlich nicht kenne. Daß er beispielsweise in London war, erfuhr auch ich erst, als es Berichte gab, die ihn des Mordes an einem kolumbianischen Diplomaten beschuldigten.« »Mir hat man nicht einmal das gesagt.« »Weil Sie dann angefangen hätten, unerwünschte Fragen zu stellen. Ihnen hat man lediglich mitgeteilt, daß er einen Attache des State Departments erschossen habe. Tatsächlich war dieser Mann sein direkter Auftraggeber. Sie brauchten Locke als in der Branche nicht bekannten Einzelgänger, um ihn so besser führen zu können. Die ganze Geschichte ergab für mich solange keinen Sinn, bis ich erfuhr, mit wem dieser Locke sich hier treffen sollte.« »Felderberg, meinen Sie?« Waslow nickte. »Wir wissen aus neueren Informationen, daß er der finanzielle Mittelsmann des Komitees ist.« »War.« »Richtig, lieber Freund. Sie waren ja da. Und trotzdem haben Sie Ihren Auftrag nicht ausgeführt, als sich die Gelegenheit dazu ergab.« »Irgendwas an der Geschichte hat von Anfang an gestunken«, sagte Dogan. »Man hat mich benutzt und das hat mir gar nicht gefallen. Die Geschichte im Hauser kam mir komisch vor. Wenn Locke dort war, um Felderberg etwas zu verkaufen, dann hatte er überhaupt keinen Grund ihn umzubringen. Als Felderbergs Gorillas ihn hinausführten, habe ich mich ein bißchen schlau gemacht. Man hat Felderberg mit einem vergifteten Korken umgebracht; dafür kam Locke jedoch überhaupt nicht in Frage.« »Ja«, warf Waslow ein, »ich habe die Methode auch schon einige Male mit Erfolg angewandt. Ihr habt sie auch bei Fidel Castro versucht, bis ihr herausfandet, daß der ausschließlich Bier trank.« »Locke hatte man nur vorgeschickt«, sagte Dogan, »und das bedeutet, mich auch.« »Und sie drehten Felderbergs Tod so hin, daß es aussah, als sei es Locke gewesen. Auch das hat wieder das Komitee inszeniert. Sie benutzen ihn ihrerseits. Indem er der Spur seines Vorgängers bis San Sebastian folgt, zeigt er ihnen, wie sie genau diese Spur hinter ihm wieder verwischen können.« »Mag alles sein. Aber warum eliminieren sie ihren eigenen Mittelsmann?« »Felderberg hatte ausgedient. Das bedeutet natürlich zugleich, daß ihr großer Abschlußcoup kurz bevorsteht.« Waslow zuckte mit den Achseln. »Dabei hatte ich gehofft, Felderberg zu uns herüberziehen zu können.« »Und jetzt kann er uns nichts mehr erzählen.« »Dafür haben wir einen anderen.«
»Locke, ja.« Waslow schlug die Beine übereinander und legte seine Zeitung neben sich auf die Bank. »Und deshalb ist es so wichtig, daß wir ihn unter allen Umständen am Leben halten. Wir haben mittlerweile nicht nur die eindeutige Gewißheit über die Existenz des Komitees, sondern wissen auch, daß es.schon für die allernächste Zeit eine große Aktion plant. Dieser Christopher Locke könnte der einzige Mensch sein, der weiß, was da alles daranhängt.« »Oder aber er weiß überhaupt nichts.« »Lieber Freund: wie lange war er bei Felderberg?« »Halbe Stunde. Vielleicht ein paar Minuten länger.« »Also. Genug Zeit für Felderberg, ihm eine Menge zu erzählen, zumindest so viel wie seinem Vorgänger, dem Mann von San Sebastian. Nein, nein/ Locke weiß etwas. Was er wahrscheinlich nicht kennt, sind die Zusammenhänge.« »Die wir kennen.« »Die wir kennen«, nickte Waslow wieder. »Allerdings gibt es da ein paar Dinge, die nicht zusammenpassen. Zuerst einmal ist das Verhalten des Komitees alles andere als konsequent. Man räumt in London Lockes Hintermann aus dem Weg, um Locke für die eigenen Zwecke gefügig zu machen. Und gleich danach werden Sie angeheuert, um den gleichen Locke aus dem Verkehr zu ziehen.« »Vielleicht ist jemand nervös geworden.« »Genau das glaube ich auch. Irgend jemand ist in Panik geraten, weil dieser Locke noch frei herumturnt. Der Comman-der hat von höherer Stelle Weisung bekommen. So paßt es ins Bild.« »Was ist mit den anderen Dingen, die nicht zusammenpassen?« »Die zweite Sache ist ein bißchen komplizierter. Vorhin hat einer meiner Leute beobachtet, wie Locke von einer Frau wegeskortiert wurde, die als Auftragsmörderin bekannt ist. Er hat sich nicht eingemischt, weil er strikte Anweisung hatte, nur zu beobachten. Inzwischen hat er gemeldet, daß ein paar Überreste der Dame auf dem Gleis gefunden wurden.« »Sie meinen, Locke hat sie erledigt?« »Ja, aber sie hatte zuvor offensichtlich die gleiche Absicht. Der springende Punkt ist: wenn sie von Felderbergs Leuten angeheuert gewesen wäre, hätte sie Locke denen zugeführt, nicht von ihnen weggebracht.« »Mit anderen Worten, es gibt noch jemanden, der unseren Professor gerne aus dem Weg haben möchte.« »Würde ich so sagen, ja, Grendel. Und um das herauszufinden, müssen wir wissen, zu welchem Verein die Dame gehörte. Und das wiederum weiß ich genau. Ich habe mich der Dame in der Pennerinnen-Maske selbst ein paarmal bedient. Ich werde die Spur zu ihren Kontaktleuten aufnehmen, sobald wir uns hier getrennt haben.« »Noch ein kritischer Punkt?« »Nummer drei, ja. Eigentlich der irritierendste. So sehr manche Locke tot zu sehen wünschen, so sehr ist irgendwer daran interessiert, daß ihm kein Haar gekrümmt wird.« Er sah Dogan an, der gespannt auf seine Erklärung wartete. »Nachdem er die Alte los war, fuhr Locke nach Schaan. Und dort vor dem Bahnhof fand man Felderbergs Sicherheitschef mit aufgeschlitztem Brustkasten.« Dogan nickte. »Schaan ist schön um diese Jahreszeit.« »Muß Locke auch gefunden haben.« Dogan stand auf. »Na gut, ich muß los. Arbeiten.« Waslow zog eine blaue Sporttasche unter der Bank hervor. »Hier. Geben Sie Locke seine Sachen, wenn Sie ihn finden. Sein Paß ist dabei. Er wird ihn brauchen.« »Nanu? Wie kommen Sie denn daran?« »Er hat mir hundert Franken dafür bezahlt, daß ich sie ihm abhole.« Er drehte seine schmerzenden Schultern. »Felderbergs Leute haben mich spüren lassen, daß ich nicht mehr der Allerjüngste bin. Aber es war mir am Ende eine Freude, Mr. Locke zu Diensten zu sein.« Der Unbekannte führte Locke zu einem, halb auf dem Gras zwischen den Reihen der anderen abgestellten Autos, geparkten Audi. Sie sprangen hinein und rasten mit quietschenden Reifen los. Locke sah den Fahrer an und versuchte sich zu erinnern, wo er ihn schon einmal gesehen habe. »Im Hauser!« rief er dann, als der Audi aus dem Werksgelände hinausjagte. »Natürlich, im Häuser habe ich Sie gesehen. Wer sind Sie? Wieso haben Sie mich da rausgeholt?« Dogan beobachtete inzwischen angespannt die Straße vor sich und über den Rückspiegel die Gegend hinter sich. »Eins nach dem anderen«, sagte er dazwischen. »Dogan heiße ich. ROSS Dogan. Von der einstmals stolzen CIA.« »Da Sie bereits im Hauser waren, sind Sie offenbar schon eine ganze Weile hinter mir her?« »Lieber Locke, was glauben Sie eigentlich, warum ich im Hauser saß, ehe Sie dort waren? Wie kann ich da hinter Ihnen her sein? Ich bin vor Ihnen her. Mit sechs Monaten Akademie sollten Sie doch genug über die Branche wissen.« Locke starrte ihn an. »Woher wissen Sie so gut über mich Bescheid?« »Hauptsächlich deshalb, weil ich nach Liechtenstein geschickt wurde, um Sie abzuknallen.« »Wie bitte??« »Immer mit der Ruhe. Eine sorgfältige Analyse der Situation in Vaduz verlangte eine Änderung des Plans.« Dogan jagte den Audi mit Höchstgeschwindigkeit die zweispurige Straße hinunter. An der nächsten Kreuzung bog er quietschend nach rechts ab. »Wieso schickt die CIA Sie los, um mich abzuknallen, möchte ich wissen?« »Nicht die CIA direkt. Mehr eine Unterorganisation namens Abteilung Sechs, schon mal gehört? Lassen Sie sich nicht verwirren. Die Firma hat mehr versteckte Schubladen als das Haus einer reichen Witwe. Es fing damit an, daß Sie einen Mann des State Department namens Charney umgebügelt hatten.« »Aber nein! Er war doch derjenige, der mich überhaupt in die ganze Geschichte hineinbugsiert hat. Aber ich habe ihn nicht getötet. Das war jemand anders.« »Weiß ich ja«, nickte Dogan. »Charney war denen zu nahe auf die Pelle gerückt. Seine Beseitigung diente nicht nur dazu, eine akute Bedrohung auszuschalten, sondern auch dazu, Sie zu isolieren.« »Wem war er zu nahe auf die Pelle gerückt?« »Geduld, Geduld«, sagte Dogan. »Zuerst mal möchte ich wissen, wer Sie nach Liechtenstein und zu Felderberg geschickt hat.«
»Na, Charney. Mit seinen letzten Worten.« »War Felderberg auch Lübecks zweite Station?« »Verdammt, woher wissen Sie denn etwas von Lübeck?« »Mann, fragen Sie doch nicht so viel! Ich weiß es eben. Viel wichtiger ist, was Sie wissen. Was hat Ihnen Felderberg erzählt?« »Brian — Charney, mein alter Schulfreund, aber das wissen Sie dann vermutlich auch - hat mir gesagt, das Stichwort hieße >NahrungsmittelDer Zwerg* bekannt sein soll.« Dogan nickte zustimmend. »Ja, sieht so aus, als stecke er mit in der Sache drin.« »Felderberg nannte ihn einen Makler in Informationen.« »Wenn man Waffen nicht mitrechnet, Erpressung, Nötigung und was sonst noch für Geld zu haben ist. Ich habe schon mit ihm zu tun gehabt. Ein aalglatter Bursche. Ich gehe jede Wette ein, daß der sich mittlerweile längst dünngemacht hat. Was nicht heißt, daß es keine Möglichkeiten gäbe, ihn aufzuspüren.«
Locke überlegte rasch. »Passen Sie auf, da ist noch jemand mit im Spiel. Ein Engländer namens Burgess. Alter Freund von Charney, der mich auch zu ihm geschickt hat. Er hat mir den Weg nach Liechtenstein geebnet. Sollen wir ihn verständigen?« »Ich bezweifle sehr, daß er uns viel helfen kann«, sagte Dogan mißtrauisch. »Sie müssen mir das noch genau erzählen. Könnte ein Mann des Komitees sein.« »Das würde wenig Sinn ergeben«, meinte Locke. »Der Mann ist in Ordnung.« »Um so schlimmer, das sieht für seine Versicherungsgesellschaft schlecht aus. Dann steht er über kurz oder lang beim Komitee auf der Abschußliste.« »Er ist hartgesottener Bursche. So einfach kriegt den keiner.« »Machen Sie sich da nur keine Illusionen. Das Komitee kriegt jeden, den es haben will. Da können Sie jede Wette eingehen. Die haben ihre Mittel und Wege.« »Wenn Sie meinen. Aber was machen wir inzwischen? Wie stehen unsere Chancen?« »So schlecht nicht, würde ich sagen. Erstens sind wir ihnen entwischt. Noch wichtiger, sie haben bis jetzt keine Ahnung, daß ich mittlerweile im Spiel bin. Noch liegt ihnen daran, daß Ihnen nichts widerfährt. Sie sollen denen ja die Spur zeigen, die Lübeck aufdeckte.« Er zögerte ein wenig. »Einer von Felderbergs Leuten wartete am Bahnhof in Schaan.auf Sie, als Sie ankamen. Doch jemand hat ihn dabei buchstäblich in Stücke geschnitten.« »Und es gibt noch andere Leute, die mich tot sehen wollen.« »Sie meinen die Alte im Bahnhof in Vaduz?« »Ja! Das wissen Sie auch? Woher wissen Sie so etwas?« »Spielt doch keine Rolle. Die Dame war eine bekannte Auftragsmörderin. Hatte einen guten Ruf auf ihrem Gebiet, falls man das so nennen kann. Sie haben eine Menge Glück, daß Sie noch leben, wissen Sie das?« »Das hatte ich auch zuvor schon zweimal.« Er erzählte Dogan kurz die Ereignisse seines Treffens mit Alvaradejo, und was danach folgte. »Wer es also auch sein mag«, schloß er, »wer diese ganzen Killer in der Weltgeschichte herumschickt, muß zu den Leuten gehören, die am Anfang Alvaradejo dazu benutzten, Lübeck zu alarmieren. Das hieße doch, daß sie auf unserer Seite stehen. Mein, oder unser, Problem ist nur, daß sie das nicht wissen. Für sie sieht es so aus, als sei ich ein Werkzeug des Komitees, und deshalb versuchen sie, mich zu eliminieren.« Dogan nickte nur, etwas verblüfft über Lockes scharfsinnige Schlußfolgerungen. »Und das bedeutet«, sagte er, »daß diese mysteriösen Dritten genau wußten, was das Komitee in San Sebastian vorhatte — und anrichtete. Warum also gingen sie das Problem durch Lübeck an? Warum deckten sie die ganze Machenschaft nicht selbst auf?« »Vielleicht aus Angst vor Vergeltung.« »Nein, nein, das paßt nicht ins Bild. Warum hätten sie sonst so viel Mühe darauf verwenden sollen, Sie aus dem Weg zu räumen? Was war es noch, was die Alte im Bahnhof zu Ihnen sagte?« »Daß es egal sei, ob ich Sie töte oder nicht. Weil andere an ihre Stelle treten würden. Daß sie viele seien. Und sie uns alle noch in der Hölle braten sähen.« »Wobei >uns< das Komitee,bedeutete.« »Sieht so aus, ja. Aber einen spanischen Akzent hatte sie nicht.« »Das ist nicht uninteressant. Diese unbekannte Gruppe besteht offensichtlich nicht nur aus ein paar spanischsprechen Fanatikern. Es sind spezielle Teams, oder einzelne, die zu Kamikaze-Aktionen bereit sind. Himmelfahrtkommandos, meine ich.« »Dann frage ich Sie noch einmal: wozu war dann überhaupt Lübeck nötig?« »Das frage ich Sie, lieber Freund. Welchen Vorteil konnten sie von Lübeck haben?« »Legitimität vielleicht?« überlegte Locke. »Genau das«, sagte Dogan. »Unsere unbekannten Verbündeten, denen nicht klar ist, daß sie es tatsächlich sind, können es unter keinen Umständen riskieren, sich zu erkennen zu geben. So wenig wie das Komitee.« »Anders ausgedrückt, auch sie sind ein Ableger von irgcndwem oder -was.« »Mit der Möglichkeit und Absicht, ihre Flagge nach Belieben und Nützlichkeit immer einmal kurz zu zeigen: hier sind wir. Doch das kriegen wir raus. Ein Freund von mir ist der Dame schon auf der Spur. Wenn wir wissen, wer sie angeheuert hat, haben wir die Antwort.« »Eine der Antworten, wollen Sie wohl sagen«, korrigierte Locke. Er rekapitulierte zum tausendsten Male, leicht abwesend: »Lübeck hat auf den Feldern von San Sebastian etwas gesehen, was bei ihm blankes Entsetzen hervorrief, kurz darauf starb er. Und alles dreht sich immer wieder um Land . . . und um genetisch manipuliertes Getreidewachstum . . .« »Ihr Lübeck«, präzisierte Dogan, »hat ganz offensichtlich eine Menge mehr als nur genetisch manipuliertes Getreide gesehen. Und was das war, müssen wir herausfinden, darum geht es. Das ist der Schlüssel zu dem ganzen Mist.« Sie hatten inzwischen die Grenze zur Schweiz überquert, aber das bedeutete wenig. Zweifellos hatte man Möglichkeiten, ihnen auch in der Schweiz Schwierigkeiten zu machen. »Wie haben Sie mich überhaupt gefunden?« fragte Locke plötzlich. »Indem ich mich in Ihre Lage versetzte«, erklärte Dogan, »und die paar Gasthäuser und Hotels in Schaan abklapperte, in denen ich abgestiegen wäre, wenn ich an Ihrer Stelle wäre. Ich habe auch tatsächlich bis heute morgen gebraucht, bis ich das richtige Gasthaus gefunden hatte. Dann war es nicht mehr schwierig, Ihnen bis zur Firma Sanii zu folgen und draußen auf Sie zu warten, um Ihnen beizuspringen, falls es nötig würde.« »Was es tatsächlich wurde.« »Ich sagte Ihnen ja, Sie sind ein Glückspilz.« Er warf ihm einen Blick zu. »Obwohl - dieser Charney war ein ganz schöner Bastard, Sie da hineinzuziehen.« «Was blieb ihm übrig.« »Ach, Quatsch. Seit wann holt man sich in unserem Gewerbe Amateure. Eisernes Gesetz: niemals Amateure.« »Ich hatte immerhin sechs Monate Ausbildung, wie Sie wissen.« »Und die wenigsten, die ihr Leben lang in unserem Beruf sind, hätten es so lange durchgestanden wie Sie.« Er mußte an einer Kreuzung halten. Er musterte Locke scharf. »Die normale Reaktion wäre Abhauen gewesen.« »Mag sein. Aber ich hatte von einem bestimmten Zeitpunkt an beschlossen, das durchzustehen.« Er dachte nach. »Ich würde ja gerne sagen aus Patriotismus. Aber das war nicht der Grund. Diese Scheißkerle haben meine beiden besten Freunde umgelegt, die einzigen, die ich in meinem ganzen Leben hatte. Das ist ein Grund. Der andere Grund, der wahrscheinlich noch entscheidender war, ist die Angst. Sehen Sie, ich hatte im Grunde in meinem ganzen Leben immer Angst. Man hat mir in
meinem Leben viel Angst eingejagt, doch ich wurde nicht damit fertig, weil diese Angst für mich nicht greifbar war. Das ist jetzt zum ersten Mal anders. Sie ist da, sie lauert an jeder Ecke auf mich, ich weiß es, sie ist allgegenwärtig. Und wenn ich es schaffe, mich nicht von ihr lahmen zu lassen wie das Kaninchen von der Schlange, bedeuten künftig die anderen Ängste meines Lebens nicht mehr so viel und ich werde endlich in den Spiegel sehen können, ohne mich zu schämen. Ein Versager zu sein, ist nicht das Schlimmste. Viel schlimmer ist, das mit zweiundvierzig zum ersten Mal ganz klar und deutlich zu erkennen.« Dogan schwieg. Er verstand ihn sehr gut, gerade jetzt. Mehr, als Locke ahnen konnte. Sie waren ja alle beide dabei, endlich mit dem Davonlaufen aufzuhören. Aber es wäre natürlich zu kompliziert gewesen, darüber jetzt mit Locke ein Gespräch zu führen. So beschränkte er sich auf die Notwendigkeiten des Augenblicks. »Sobald wir in Zürich sind, werde ich alles Nötige arrangieren, daß Sie nach Florenz fahren und den Zwerg treffen können. Das ist kein Problem. Er schuldet mir einen großen Gefallen.« »Und was machen Sie?« »Ich begebe mich dorthin, wo alle Antworten zu finden sind.« »Sie meinen, nach Südamerika?« »Nach San Sebastian, um ganz genau zu sein.«
»Ich grüße Sie, lieber Freund.« »Warten Sie erst mal ab, was ich für Neuigkeiten habe.« Dogan hatte sogleich nach seiner Ankunft im Staadhof, im Zentrum von Zürich, Waslow angerufen. »Sie klingen müde«, bemerkte Waslow. »Und ich habe Angst. Ich habe Locke aufgespürt.« »Ich habe nichts anderes erwartet.« »Ja, aber sein Treffen mit Felderberg verlief sehr viel informativer, als wir beide uns träumen ließen.« Er informierte Waslow in großen Zügen über das, was er selbst von Locke erfahren hatte. »Sie sehen, Ihre Befürchtungen waren begründet«, schloß er. »Das Komitee ist in der Tat dabei, unsere beiden Länder gegeneinander auszuspielen, und das Instrument dazu ist tatsächlich das Stich wort > Nahrungsmittel. Die einzige konkrete Frage, die noch bleibt, ist, wie sie zuzuschlagen beabsichtigen.« »Ein besseres Gebiet hätten sie sich nicht aussuchen können, was, lieber Freund? Nahrungsmittel, der Schlüssel zu jeder Art von Kontrolle. Wir sind auf Ihre Erzeugung angewiesen, ihr auf eure Exporte an uns. Aber ich bin auch der Überzeugung, dass hier noch viel mehr im Spiel ist als lediglich neue Gentechniken für Getreideanbau, die Locke bei Sanii entdeckt hat. Das Problem besteht immer noch darin herauszufinden, was dieses andere, Zusätzliche ist,« »Locke hat erfahren, daß das Komitee von Österreich aus operiert. Kann uns das weiterhelfen?« »Ich werde einmal ein wenig bohren, ob sich ein Ansatzpunkt findet. Vielleicht geben die KGB-Computer etwas her. Möglicherweise wiederholte Reisen bestimmter Leute nach Österreich, etwas in dieser Richtung. Vielleicht bringt uns das auf die Spur zu Mitgliedern des Komitees.« »Wird wohl eine langwierige Arbeit werden.« »Fürchte ich auch«, bestätigte Waslow. »Vor allem, weil wir im Grunde keine Zeit mehr haben. Da ist die Tatsache - die Sie gar nicht erwähnt haben —, daß in einer Woche- diese Welthungerkonferenz beginnt.« »Ich hielt sie nicht für so bedeutsam in diesem Zusammenhang.« »Das ist sie aber ganz entschieden. Nehmen Sie einmal an, alle unsere Spekulationen über die Absicht des Komitees, einen massiven Schlag gegen unsere beiden Länder zu führen, träfen zu. Was wäre dann das Schlimmste, was ihnen in die Quere kommen könnte?« Dogan dachte kurz nach. »Irgendein Pakt vermutlich. Zwischen unseren Ländern. Aber das scheint doch ziemlich unvorstellbar.« »Militärisch vielleicht, aber warum wirtschaftlich? Nach dem, was ich in letzter Zeit erfahren habe, ist genau das ohnehin der Zweck dieser ganzen Welthungerkonferenz: ein Handelsabkommen UdSSR-USA, in einer Größenordnung, wie es bisher gar nicht denkbar war. Ihr Präsident hat das sogar sehr klar erkannt und ausgesprochen: daß der Weg zur Vermeidung von Krieg über den Magen führt. Es soll, mit anderen Worten, der Weg für offenen Handel mit allem - mit Ausnahme lediglich des Bereichs der hochentwickelten Computertechnik — geöffnet werden. Im Austausch gegen bestimmte politische Konzessionen - einschließlich des langsamen Rückzugs aus Afghani stan — soll der Sowjetunion dabei sogar ein besonders bevorzugter Status eingeräumt werden.« »Eine kräftige Mixtur: Ernährung und Politik.« »Das ist noch nicht alles. Auf dieser Konferenz sollen unsere beiden Länder ein Memorandum vorlegen, das sich mit der gemeinsamen Hungerhilfe für die dritte Welt befaßt. Man setzt auf unsere Zusammenarbeit, da wir zusammen praktisch alles zuwege bringen können. Und das könnte durchaus stimmen. Man wird neue Versorgungskanäle schaffen, gemeinsame Aktionen zur Landurbarmachung und -kultivierung starten, um dort Getreide ernten zu können, wo noch nie welches gewachsen ist.« »Das wäre natürlich ein tödlicher Schlag für die Projekte des Komitees in Südamerika.« »Wenn nicht, wie wir wissen, lieber Freund, dabei viel bedeutendere Süppchen gekocht würden. Das Komitee hat den Zeitpunkt, zu dem es zuschlagen will, mit Sicherheit nicht rein zufällig gewählt. Der einscheidende Zeitpunkt ist auch dort diese Hungerkonferenz.«
»Wobei eine einige Front von USA und Sowjetunion für das Komitee eine Katastrophe wäre.« »Vermutlich. Aber noch wissen wir nicht alles. Vor allem nicht, welche Mittel und Möglichkeiten es hat.« »Es läßt sich vermuten, daß eines ihrer Ziele ist, diese Konferenz zu torpedieren.« »Ja. Es wäre nicht das erste Mal, daß sie sich des Terrorismus bedienen. Daß diese großartige Nachricht in den Mittelpunkt des Weltinteresses gerückt wird, kann nicht in ihrem Sinne sein.« »Nicht im Sinne des Komitees, aber was ist mit den Interessen der anderen, die die ganze Zeit schon mit im Spiel sind? Wissen Sie schon irgend etwas über die Hintermänner der Frau in der Pennermaske?« »Nicht sehr viel«, räumte Waslow ein. »Und das Wenige, das ich erfahren habe, macht die Geschichte noch verwirrender. Die Spur führt nach Südamerika.« - »Gibt es Namen, Orte?« »Nichts Genaues, nein. Lediglich, daß die Kommunikations kanäle in erster Linie von Terroristengruppen benutzt werden.« »Soll das heißen, hinter den wiederholten Anschlägen auf Lockes Leben steckt eine südamerikanische Terroristenorganisation?« »Weiß ich nicht. Aber es gibt bestimmte Hinweise und Anzeichen dafür. Alles paßt.« Der Russe klang etwas frustriert. »Trotzdem ergibt das Ganze keinen Sinn. Meine Leute in Moskau, die sich nur mit dem Terrorismus befassen und jede noch so kleine Gruppe im entlegensten Winkel der Welt kennen, schwören Stein und Bein, daß keine der bekannten Terroristengruppen dahinter steckt. Das ist genau untersucht worden. Negativ.« »Untersuchungen, die von vornherein überflüssig gewesen wären, wenn man diese Gruppe schon als Teil des internationalen Terrorismus gekannt hätte, meinen Sie?« »Richtig. Aber das alles bringt uns ja nicht weiter.« »Nun, es bringt uns wieder nach San Sebastian.« »Das nicht mehr existiert.« »Ja, aber die Antwort liegt dort. Darüber gibt es keinen Zweifel, oder? Ich fliege heute noch nach Kolumbien.« »Das ist ein Schuß ins Blaue, Freund.« »Was bleibt mir übrig.?« »Schauen Sie, wir sind alle frustriert, aber Sie offenbar ganz besonders.« Waslow zögerte etwas. »Ihr Bericht ist seit Tagen überfällig, Ihre Vorgesetzten, die Sie so großmütig wieder eingestellt haben, sind sich der Tatsache bewußt, daß Sie nicht beabsichtigen, den erteilten Auftrag auszuführen. Und es wird kaum noch lange dauern, bis man erfährt, daß Sie genau dem Mann, den Sie eigentlich ausschalten sollten, zu Hilfe gekommen sind. Was, mein lieber Grendel, glauben Sie wohl, wird man dann unternehmen?« Dogan wagte es nicht, daran zu denken. Die Sondersitzung des Komitees begann um zehn Uhr auf Schloß Kreuzenstein. »Sie haben uns da eine schlimme Geschichte eingebrockt, Mr. van Dam«, fuhr Audra St.Clair den amerikanischen Delegierten direkt an. Wieder waren in dem nur schwach beleuchteten Saal die gleichen fünf Personen anwesend, die bereits am Samstag zusammengetroffen waren. Diesmal war auch der sechste Stuhl besetzt, der bei der letzten Sitzung leer geblieben war, der britische Delegierte nahm heute an der Sitzung teil. Van Dams Mund zuckte. »Ich mußte meine eigene Sicherheit im Auge behalten.« »Mit dem Ergebnis, daß unser aller Sicherheit jetzt gefährdet ist«, gab die Vorsitzende zurück. »Mr. Mandala, wollen Sie uns bitte die Schadensliste vortragen?« Mandala beugte sich vor und vermied es auffällig, den Amerikaner anzusehen. »Locke ist wie erwartet in die Fabrik gekommen. Unser Plan war es, ihn dort gefangenzuhalten, ihm dann aber die Flucht zu ermöglichen, damit er uns zum >Zwerg< führt. Ein Mann, der später als ROSS Dogan identifiziert wurde, in der Branche bekannt als Grendel, half ihm zu entkommen.« »Und das war genau der Mann, der den Auftrag hatte, Locke zu töten, Mr. van Dam«, sagte Audra St.Clair. »Wollen Sie mir das zum Vorwurf machen? Konnte ich das etwa voraussehen? Ich habe lediglich die Anweisung erteilt. Die Ausführung, einschließlich der Auswahl des Mannes, war nicht meine Sache.« »Was ich sagte, war keine Frage, sondern eine Feststellung. Grendel war der Mann, der ausgeschickt wurde, und wir kennen seinen Ruf alle. Soweit ich sehe, gibt es nur einen Grund, warum er einfach seinen Auftrag mißachtete. Er muß erfahren haben, daß Locke nur ein winziges Rädchen in einem großen Getriebe ist. Und das ist schlecht für uns, Mr. van Dam. Sehr schlecht. Wie Sie es auch drehen, Sie haben das zu verantworten. Locke hat jetzt einen Top-Agenten als Helfer und Partner, der ihm nun die Informationen zukommen läßt, die er bisher von uns erhielt - im Glauben und in der Absicht, daraus Nutzen zu ziehen. Die Szene hat sich nun dramatisch verändert. Wir können Lockes Bewegung jetzt nicht mehr kontrollieren, geschweige denn, überhaupt bestimmen. Gren del hat sich an unsere Stelle gesetzt.« Sie wandte sich an den britischen Delegierten. »Wieviel könnte Felderberg ausgeplaudert haben?« Der Engländer zuckte mit den Schultern. »Hauptsächlich die Angelegenheit der Landkäufe. Aber nichts, was Locke zu einem klaren Bild verhelfen könnte. Vor allem konnte er ihm keinen Hinweis auf Tantalus geben.« »Was ist mit Grendel? Bedenken Sie, daß er jetzt auch alles erfährt, was Locke weiß. Das könnte g'anz besonders gefährlich werden.« »Nur, wenn er dadurch von unserer Existenz erfährt«, sagte der Engländer. »Bisher kann er nur mit Gerüchten und vagen Kombinationen arbeiten.« »Geben Sie sich da keinen Illusionen hin«, sagte Audra St.Clair, »er wird dahinter kommen, darauf ist er spezialisiert. Was mich beunruhigt, ist auch gar nicht der Schaden, den er persönlich anrichten könnte, sondern, daß der Verdacht, dem er nachgeht, auch bis in hohe Ränge der amerikanischen Regierung reicht.« »Damit«, warf van Dam ein, »ließe sich fertigwerden. Seine Weigerung, den erteilten Auftrag auszuführen, reicht aus, ihn kaltzustellen. Er wurde dadurch zum Paria, das sollte ausreichen, daß er keinen Schaden mehr anrichten kann.« »Der einzige Weg, das wirklich sicherzustellen«, sagte Mandala, »ist die Eliminierung.« »Das versteht sich, für den Fall, daß ich die Anweisung erteile, ihn abzulösen. Inoffiziell, selbstverständlich, verstehen Sie?« »Ich verstehe sehr gut, und trotzdem sind Ihre Vesicherun-gen keinen Pfifferling wert, Mr. van Dam.« Mandala schoß blitzende Blicke in die Runde, ehe er sich an die Vorsitzende wandte. »Grendel ist ein zu ausgebuffter Mann, als daß ihm mit
den üblichen Mitteln beizukommen wäre. So rasch kommt keiner an ihn heran. Und Töten macht ihm überhaupt nichts aus, es gehört zu seinem Geschäft. Ich schlage vor, wir unterstützen Mr. van Dams Vorschlag der inoffiziellen Ablösung. Ich werde dann dafür sorgen, daß die Eliminierung zum frühesten Zeitpunkt erfolgt.« Er wartete ein wenig, ehe er mit einem kleinen Lächeln hinzufügte: »Ich habe genau den richtigen Mann für diese Aufgabe.« »Zunächst einmal«, bremste ihn Audra St.Clair, »müssen wir Dogan natürlich finden. Haben Sie irgendeine Ahnung, wo man beginnen könnte?« »In der Schweiz«, schlug der britische Delegierte vor. »Dogan hat dort eine Menge Kontakte. Und die Nähe zu Liechtenstein spricht dafür, daß er sich dort aufhält. Er wird natürlich ständig seinen Aufenthaltsort wechseln. Schon weil Lockes Informationen Nachforschungen notwendig machen.« »Dann ist es auch wahrscheinlich, daß wir ihn über Locke aufspüren können«, vermutete Mandala. »Und den aufzuspüren, ist bestimmt viel leichter. Ich habe die Mittel, dafür zu sorgen, daß er voll und wissentlich mit uns kooperiert. Sobald er seine Funktion erfüllt hat, kann er dann ebenfalls eliminiert werden.« »Das halte ich nicht für sinnvoll«, wandte die Vorsitzende ein. »Wir müssen herausfinden, ob er noch irgendwelche anderen Kontakte aufgenommen hat. Von Grendel werden wir kein Sterbenswörtchen erfahren, selbst wenn wir ihn lebend schnappen. Also muß Locke vor jeder Gefahr beschützt und hierhergeschafft werden. Ist das klar, Mr. Mandala?« Mandala nickte, so überzeugend er es nur vermochte, wenn er auch nicht die mindeste Absicht hatte, den Anweisungen der alten Hexe zu folgen. Jedenfalls dann nicht, wenn sie seinen eigenen Plänen zuwiderliefen. Ihre Herrschaft im Komitee neigte sich ohnehin dem Ende zu. Dann kam seine Zeit. Mandala unterdrückte beim Gedanken daran nur mühsam ein Lächeln. »Also gut«, sagte Audra St.Clair, »alle verfügbaren Mittel werden aufgeboten, alle unsere Kontaktleute eingesetzt und verständigt, speziell die schweizerischen.« Sie sah sich in der Runde um. »Die Welt ist klein, meine Herren. Wir werden auch dieses Problem bald gelöst haben.« Calvin Roy preßte die Finger an seine Stirn, als könnten die Druckstellen, die er damit erzeugte, seine Frustrationen der vergangen fünf Tage vertreiben. »Verflucht und zugenäht, Major, ist das vielleicht alles, was Sie zu bieten haben? Das ist genausoviel wie am Anfang!« »Aus Liechtenstein kamen die Informationen nur langsam herein. Jedenfalls wissen wir jetzt, daß Locke ein Ferngespräch geführt hat. Er wählte eine Nummer in England — in Falmouth, um genau zu sein. Wir hören diesen Anschluß ab und halten das Haus unter Bewachung.« »Und? Hat er noch öfter dort angerufen, unser abtrünniger Professor?« »Nein.« »Und bei sich zu Hause?« »Auch nicht.« Major Kennally schüttelte den Kopf. »Und ich habe Liechtenstein mit Agenten geradezu übersät. Aber wir können ihn nicht finden. Vorausgesetzt, er ist noch immer dort.« »Major, sind Sie schon mal nachts über ein frisch bestelltes Feld gegangen? Es stinkt überall infernalisch nach Jauche und es kommt darauf an, in keinen der Scheißhaufen hineinzutreten. Und das geht. Weil es mehr Stellen gibt, wo keine liegen, als Stellen, wo welche liegen. Nur, in der Regel pflegt man ausgerechnet da hinzutreten, wo eine ist. Verstehen Sie, was ich meine? Genauso ist es mit diesem Locke. Wir müssen dem Burschen einfach auf der Spur bleiben.« »Ja, nur hat er keine hinterlassen.« Roy schien das gar nicht zur Kenntnis zu nehmen. »Hat sich irgend etwas Ungewöhnliches ereignet, bevor er nach England telefonierte?« »So könnte man das nennen, ja. Ein Mord«, sagte der CIA-Chef. »Aber noch wissen wir davon nur in groben Zügen.« »Na, und wie war's damit?« »Ein Finanzmakler namens Felderberg ist umgebracht worden. Die Behörden in Liechtenstein sind noch sehr zurückhaltend, aber es scheint ziemlich klar zu sein, daß man Locke die Sache nicht anhängen kann.« Calvin Roy lächelte und strich sich über seinen kahlen Schädel. »Mir scheint, Major, daß Locke und Felderberg zusammenhängen wie Stierhoden. Ich weiß nur noch nicht wodurch.« »Nun«, stellte Louie Auschmann fest, »Locke ist auf Lübecks Spur losgezogen. Und wir wissen, daß Lübeck irgendwann vor San Sebastian in Liechtenstein war. Wenn Locke nun Lübecks Spur immer noch folgt? Das würde erklären, warum er nicht auftaucht und sich meldet.« »Nur, Louie, da er Charney nicht mehr hat, der ihn führt und leitet, braucht er doch Hilfe. Was ist übrigens aus der Überprüfung von Charneys Kontakten in England geworden?« »Negativ.« »Gibt's doch nicht. Leuchtet mir nicht ein. Da muß was sein. Haben Sie die Akte noch, Louie?« »In meinem Büro.« »Bringen Sie sie mir doch bei Gelegenheit vorbei.« »Meinen Sie, wir hätten etwas übersehen?« »Vielleicht«, sagte Roy. »Wissen wir irgendwas darüber, wo Locke nach Liechtenstein hin will?« »Nach Florenz. Vorausgesetzt, er folgt weiter Lübecks Spur. Aber wir haben keine Möglichkeit, festzustellen, was er dort will.« »Dann«, sagte Calvin Roy, »lassen Sie jeden verfügbaren Mann der ersten Kategorie, nach Florenz schaffen, Major Pete. Alle die wir haben. Ich gehe jede Wette ein, daß Locke in Florenz auftaucht.« »Vorausgesetzt, er lebt noch«, sagte Kennally sachlich. »Zumindest lebt seine Familie noch. Haben Sie sie von der Bildfläche verschwinden lassen, wie ich angeordnet habe?« Kennally zögerte. »Da hat es — eine Komplikation gegeben.« Calvin Roy runzelte die Stirn. »Aha. Na, dann putzen Sie die Ackerscheiße mal von Ihren Schuhen, Major, und erzählen Sie's mir.« Die Frau stieg hinten in das wartende Auto ein, in dem der VIann mit der Augenklappe saß. »Wir finden ihn nicht«, sagte sie. Sie sprach spanisch. »Wie war das möglich? Die Alte war doch wirklich erste Garnitur.« »Er wird es uns büßen«, sagte die Frau. »Auch ihren Tod.«
»Nun ja«, sagte der Man, »Selbstverteidigung und Notwehr kann man keinem übelnehmen.« »Du verteidigst ihn? Ausgerechnet du?« »Irgend etwas an- der ganzen Geschichte stimmt nicht. Von Anfang an. Mich hat schon London irritiert. Alvaradejo hatte vier Schuß Vorsprung, ehe Locke ihn kriegte. Und auch der Taxifahrer sagte, daß es eigentlich nur der Unfall war, der Locke rettete, nicht seine eigenen Aktivitäten.« »Ja, aber Pablos Kehle war ganz professionell durchgeschnitten.« »Du kennst den Autopsiebericht nicht. Der Schnitt wurde von unten her geführt. Von jemandem, der kaum einssechzig groß gewesen sein kann. Locke ist einsfünfundachtzig groß.« »Du meinst — er hat noch einen Helfer?« fragte die Frau ungläubig. Der große Mann schüttelte den Kopf und fingerte an seiner Augenklappe herum. »Nein, das würde nicht ins Bild passen. Locke war genauso gut, wie er sein mußte, um mit diesem Auftrag betraut zu werden. Andere wären da völlig fehl am Platze gewesen, und überflüssig. Immer vorausgesetzt, die ganze Sache war nicht von Hause aus ein Täuschungsmanöver.« »Verstehe ich nicht.« »Man hat uns verladen. Locke ist nichts weiter als eine Ablenkung. Wir müssen rasch handeln. Es könnte bereits zu spät sein.« »Du meinst, sie wissen, wer wir sind?« fragte die Frau in aufkeimender Sorge. »Sobald sie es wissen, sind wir erledigt«, sagte er. »Wie sollen sie es wissen? Von den Toten war keiner mehr zu identifizieren.« »Sie haben sich anderer Methoden bedient, um uns auf die Spur zu kommen. Sie haben uns die Marionette Locke hingehalten und ihn an den Schnüren wieder hochgezogen, sobald wir ihm auf den Pelz rückten. Sie haben uns lange genug abgelenkt, um selbst Zeit zu gewinnen. Wenn sie herausbekommen, wer wir sind, spielt Zeit aber keine Rolle mehr. Weil dann wir die Gejagten sein werden.« »O Gott . . .« »Noch sind wir nicht erledigt«, beruhigte er sie. Sein gesundes Auge wurde schmal. »Unsere Basis in Spanien ist sicher, unsere noch übriggebliebenen Kämpfer sind es ebenfalls. Wir werden unsere Aufmerksamkeit jetzt auf die Konferenz richten und dort zuschlagen.« »Und dann?« »Wenn es ein Fehlschlag wird, gibt es auch kein mnd dann< mehr«, sagte er sachlich. »Für uns jedenfalls nicht. Und für Südamerika.«
Der Commander legte seine Zeitung an seinem üblichen Tisch in seinem üblichen Cafe auf den Champs-Elysees beiseite und sagte: »Sie haben sich bewunderswert erholt.« Keyes auf dem Stuhl gegenüber knurrte zustimmend. Das Sprechen fiel ihm schwer. Aus seinem verletzten Kehlkopf kam kaum ein verständliches Wort. Die Silben flössen nur blubbernd aus dem Mund, so, als habe er den ständig voll Wasser. »Ich hätte da einen Auftrag für Sie«, sagte der Commander. »Trauen Sie sich das zu?« Keyes nickte. »Behindert Ihre Hand Sie nicht?« Keyes blickte auf den Handschuh, den er über seiner von Dogan so malträtierten Hand trug. Es würde seine Zeit dauern, hatten die Ärzte gesagt. Scheißzeit, dachte Keyes. Er Schüttelte den Kopf. Nein, die Hand sollte ihn nicht behindern. »Finden Sie Grendel und liquidieren Sie ihn«, sagte der Commander. »Er hat sich selbst disqualifiziert, und wir wollen ihn vom Hals haben.« Er musterte den jungen Mann und genoß die Tatsache, daß er für diese Aufgabe keinen Besseren hätte auswählen können als Keyes. Es war bereits durchgesik-kert, daß Dogan auf der schwarzen Liste stand. Der Commander wußte jedoch, daß das nicht ausreichte. »Ich dachte mir, Sie würden diesen Auftrag gern übernehmen?« Er lächelte. »Selbstverständlich ist alles inoffiziell. Kein Bericht oder ähnliches. Dinge dieser Art fallen nicht jeden Tag an. Sie werden deshalb auch keine Rechenschaft über irgend etwas ablegen müssen, was Sie im Verlauf Ihrer Mission unternehmen. Sie können also völlig frei und selbständig handeln, so lange sie es schnell tun. Das ist die einzige Bedingung. Noch Fragen?« Keyes schüttelte den Kopf und lächelte nur.
Sechster Teil Florenz und San Sebastian Dienstag nachmittag Locke konnte es überhaupt nicht glauben, als Dogan am Montag abend seinen Paß brachte. »Ein russischer Freund hat die Sachen aus dem Bahnhof in Vaduz herausgeholt«, war alles, was Dogan sagte. »Ohne den Paß wäre es schwierig für Sie zu reisen.« »Ich dachte, ihr Burschen habt so weltweite Kontakte, daß ihr im Handumdrehen einen neuen besorgen könntet?« »Ja, besonders jetzt, wo alle Welt nur darauf wartet, daß ich genau das versuche!« »Das heißt also, ich bin laut Paß auch weiterhin Sam Babbit.«
»Nachdem Felderberg der einzige war, der Sie unter diesem Namen kannte, dürfte das kein Sicherheitsrisiko sein.« »Auch Burgess weiß es«, erinnerte ihn Locke. »Er hat mir diese Papiere überhaupt erst verschafft. Und Sie haben doch bestimmte Vorbehalte gegen ihn geltend gemacht.« »Nach dem, was Sie mir erzählten, glaube ich nicht, daß wir von ihm wirklich etwas zu befürchten haben. Abgesehen davon bleibt uns sowieso nichts anderes übrig.« »Dann sollte ich aber vielleicht doch die Kontaktnummer anrufen und ihm Bescheid sagen.« »Nein, das nicht. Vermutlich hat irgend jemand inzwischen seine Kontakte zu Charney schon ermittelt. Was bedeutet, daß er bereits überwacht wird. Sie bringen ihn also nur in noch größere Gefahr und verraten sich gleichzeitig selbst.« Locke sah auf den gefliesten Boden des Balkons, der zu seinem Zimmer gehörte. »Das gilt wohl auch für Kontakte mit meiner Familie, wie?« »Mehr denn je«, sagte Dogan sanft und versuchte ihn damit zu trösten, so gut es ging. »Ihre Angehörigen würden Ihnen unweigerlich Fragen stellen, die Sie nicht beantworten könnten. Sie um Erklärungen bitten, die Sie unmöglich geben können. Mehr noch, mit ihr jetzt in Kontakt zu treten, wäre für Ihre Familie lebensgefährlich.« »Und wenn das längst der Fall ist?« fragte Locke plötzlich. »Das Komitee schreckt vor nichts zurück, haben Sie mir selbst gesagt. Meine Familienmitglieder bieten sich als Geiseln geradezu an.« »Ja, aber nur als Druckmittel gegen Sie, und das war ja bis gestern noch gar nicht nötig. Und vorläufig bedeutet das gar nichts, weil das Komitee nicht weiß, wo Sie stecken. Es schreckt vor nichts zurück, richtig. Aber es unternimmt auch nichts Sinnloses. Darauf können Sie sich verlassen.« »Seien Sie mir nicht böse, wenn ich es trotzdem nicht tue«, sagte Locke müde. »Mein Gott, diese ganze Geschichte ist so verrückt. Noch vor einer Woche habe ich mein Leben gehaßt. Ein einziger Zusammenbruch. Ich war bereit, nach jedem Strohhalm zu greifen, um den Kopf über Wasser zu halten. Das war vermutlich auch der Hauptgrund, warum ich mich auf Charneys Angebot überhaupt einließ. Aber wo stehe ich jetzt? In einem Labyrinth. Darin tappe ich nun herum, und wohin ich auch gehe, ich stoße gegen Wände. So bescheuert es klingen mag, aber jetzt habe ich das Gefühl, meine früheren Sorgen waren gar nicht so schlimm, und meine häuslichen Probleme waren kaum gravierender als die, die jeder hat.« »Ich kann Sie gut verstehen.« »Wirklich? Haben Sie zu Hause in den Staaten ein Leben, in das Sie vermutlich nie mehr zurückkehren werden?« fragte Locke herausfordernd. Im gleichen Augenblick bereits tat es ihm leid; noch ehe er sah, daß er Dogan damit wirklich verletzt hatte. Dogan blickte zur Seite. »Nun, ich habe nie eine Familie gehabt. Ich glaubte immer, sie wäre mir nur hinderlich. Es ginge ja auch wirklich nicht, in meinem Geschäft, nicht?« »Brian Charney hat es versucht. Es ging tatsächlich nicht.« »Es geht meistens nicht. Man muß den Beruf in diesem Geschäft über alles andere stellen. Sonst kann man es gleich bleiben lassen.« Ein bitterer Ton war in Dogans Stimme vernehmbar. »Das galt ganz besonders für mich. Weil ich der beste Mann war. Aber was hat man davon, der Beste zu sein? Letzten Endes nur, daß man zu einem ganz besonderen Zielobjekt wird. Für die Gegenseite wie für die eigenen Leute. Die eigenen Leute sind sogar noch schlimmer als die von der anderen Seite. Denn wenn man zu gut wird, bekommen sie Angst, sie glauben, man hat eine zu hohe Machtposition inne. Das ist dann der Punkt, an dem man ihnen lästig wird. Man hat sein ganzes Berufsleben gearbeitet und gekämpft, etwas zu erreichen. Und wenn man es dann hat, nehmen sie es einem weg. Weil man für sie nur eine Maschine ist - nein, weniger als eine Maschine; eine Nummer. Eine Nummer, die sich mit einem einzigen Tastendruck aus dem Computer löschen läßt. Und dann existiert man nicht mehr. Weil man das möglicherweise schon von Anfang nicht tat.« Dogan atmete ganz ungewöhnlich schwer. Locke mußte lächeln. »Da sitzen wir nun und weinen uns aus, einer an des ändern Schulter.« Auch Dogan lachte kurz auf und sah dann auf seine Uhr. »Ja. Während ich eigentlich mein Flugzeug kriegen muß. Ich fliege in einer Stunde nach Bogota. Ihr Flugzeug nach Rom geht morgen früh. Anschließend haben Sie eine wunderschöne Fahrt mit dem Zug nach Florenz vor sich. Ich habe mit den Leuten des >Zwergs< schon Kontakt aufgenommen. Er erwartet Sie.« »Sie meinen, ich marschiere einfach in sein Büro und sage, Sie hätten mich geschickt . . .?« »Nicht gerade. Irgend etwas scheint den kleinen Mann heftig verschreckt zu haben, und das hat ihn veranlaßt unterzutauchen. Sie können davon ausgehen, daß es einigermaßen umständlich sein wird, zu ihm zu gelangen. Und er wird Sie eingehend überprüfen lassen. Es könnte leicht ein sehr langer Nachmittag werden.« »Florenz soll zu dieser Jahreszeit sehr schön sein.« »Um so besser, denn Sie werden notgedrungen eine Menge Florenz zu sehen bekommen. Es ist allgemein üblich, jemanden in dieser Situation eine ganze Weile herumlaufen und herumfahren zu lassen, bis man sicher ist, daß er auch wirklich allein ist. Und außerdem nicht beobachtet wird. Befolgen Sie auf jeden Fall alle Anweisungen. Der Zwerg trifft seine Vorsichtsmaßnahmen, aber wenn Sie kooperieren, wird er sich am Ende mit Ihnen treffen.« »Und danach?«
»Danach fahren Sie nach Rom zurück, ins Hilton. Da ist bereits für Sie ein Zimmer reserviert. Von dort rühren Sie sich nicht weg, bis Sie von mir hören. Der Kontakt wird über den Hotelmanager gehen, per Code. Ich habe mit dem Mann schon zusammengearbeitet. Er ist sehr zuverlässig. Wenn er nichts anderes signalisiert, weiß ich, daß die Luft rein ist und dann kann ich kommen. Ich nehme nicht an, daß ich lange in San Sebastian bleiben werde. Wenn alles glatt läuft, möchte ich am Mittwochabend in Rom sein.« »Sehr viel ist bisher nicht glatt gelaufen.« »Aber immerhin leben wir noch, Freund. Und das ist ja auch schon etwas.« Calvin Roy las nun schon zum sechsten Mal Brian Charneys Personalakte durch. Nach wie vor hatte er das untrügliche Gefühl, daß etwas fehlte. Er hatte bereits rotentzündete, brennende Augen vor Müdigkeit, aber er blätterte dennoch zum siebten Mal das Dossier durch.
Er war ganz sicher, daß das, was er suchte, darin zu finden war. Er mußte es nur finden. Erkennen. Ein Beweis, daß an einer Personalakte mit höchster Sicherheitsstufe manipuliert worden war, hätte seine — und Charneys - schlimmsten Befürchungen bestätigt: nämlich die, daß die ganze Sache weit in US-Regierungskreise hineinreichte. Er las und las. Charney mußte Locke zu jemandem in England geschickt haben, zu jemandem, dessen Name irgendwo in der Personal akte des toten Agenten stehen mußte. Das war der Schlüssel, der die Antwort liefern würde. Aber wo war er? Und dann erstarrte er plötzlich. Er las den Absatz noch einmal. Und ein drittes Mal. Er nahm die Seite heraus und besah sie sich genau. Das war es. Er hatte es. Ganz einwandfrei, im Dossier war herumgepfuscht worden. Kein Zweifel. Ganz offensichtlich. Aber warum? Und von wem? Etwas stank da ganz gewaltig, und der unschuldige College-Professor steckte mitten in der Scheiße. Er griff nach dem Telefon und drückte auf einen Knopf. »Roy hier. Geben Sie mir den Außenminister über die abhörsichere Leitung. Wo immer er ist. Und zwar dalli.« Locke kam mit dem Zug um vier Uhr nachmittags am Bahnhof Florenz an. Es war eine etwas hektische Reise gewesen, aber, so unglaublich es war, nichts war passiert. Er nahm sich ein Taxi und ließ sich zum Palazzo Vecchio fahren, wo er hinbestellt war. Er fühlte sich auf alles vorbereitet und gefaßt. Der Palast, auch Palazzo della Signoria genannt, war ein mächtiges Gebäude auf der majestätischen Piazza della Signoria im Herzen der Stadt. Sein Turm, der Torre di Arnolfo, praktisch das Wahrzeichen der Stadt, ragte hoch zum Himmel empor — er war genau 94 Meter hoch — und hatte eine große alte Uhr mit lateinischen Zahlen auf dem Zifferblatt. Vor dem Palast standen Statuen in verschiedenen Größen und in eingebauten Nischen befanden sich zahlreiche Wappentafeln. In seinem Inneren beherbergte er Kunstschätze, die die Jahrhunderte überdauert hatten. Lockes Instruktionen lauteten, daß er draußen bei den Statuen, Tauben und Pferdekutschen warten sollte. Er gesellte sich zu den Einheimischen und den Touristen. Er sollte sich, wenn auch unauffällig, nur zeigen, und abwarten. Neben ihm kam eine Pferdekutsche heran und wurde etwas langsamer.
»Kutsche, Mister?« fragte der Kutscher in gebrochenem Englisch. »Nein, danke«, sagte Locke und wandte sich ab. Aber der Kutscher blieb hartnäckig. »Kutsche, Mister?« »Nicht jetzt«, sagte Locke so höflich er konnte. Der Kutscher lächelte schwach und streckte seinen rechten Arm aus, während er die Zügel nur mit der linken Hand hielt. »Kutsche, Mister?« wiederholte er zum dritten Mal. »Hören Sie, ich sagte doch . . .«
Sein Blick fiel auf den ausgestreckten Unterarm des Kutschers. Eine Tätowierung. Ein kleiner Mann der zwischen zwei sehr großen Männern stand. Ein sehr kleiner Mann. Ein Zwerg. Locke sah den Kutscher verblüfft an. Der zwinkerte ihm leicht zu. »Kutsche, Mister?« »Also gut«, sagte Locke, für alle Fälle, und stieg ein. Das Pferd trottete langsam durch die Altstadt von Florenz. Es ließ sich auch nicht durch das drängelnde Auffahren der vielen kleinen Autos mit ihren lauten und ständig tönenden Hupen aus der Ruhe bringen. Es trabte weiter, als gehöre die ganze Straße ihm, und als seien die Autos nur lästige Eindringlinge. Sie kamen schließlich in die gesperrte Zone mit den engen Straßen dorthin, wo Autoverkehr nicht mehr zugelassen war. Fünf Minuten danach blieb die Kutsche auf einem Platz vor einem Bauwerk stehen, das Locke sofort als das berühmte Baptisterium erkannte. Eines der ältesten Bauwerke von Florenz. Der Kutscher zog die Zügel hart an. Das Pferd blieb abrupt stehen. Locke wurde fast nach vorne geschleudert. Der Kutscher bedeutete ihm auszusteigen. Er griff in die Tasche und suchte nach einigen Lire, die er schon in Zürich eingewechselt hatte. Aber der Kutscher winkte ab, nahm die Zügel, damit das Pferd wieder antrabte, und fuhr davon. Locke lief auf dem Platz herum. Das Baptisterium war ein ganz ungewöhnliches, achteckiges Gebäude aus verschiedenfarbigem Marmor und bogentragenden Pilastern rundum. Er ging darauf zu und versuchte, keine der vielen Tauben zu treten, die auf dem Platz herumliefen, ohne sich groß um die vielen Menschen zu kümmern, die hier so gut wie immer herumliefen, und von denen sie mit Brotkrumen gefüttert wurden. Eine alte weißhaarige Frau warf ihnen händeweise Körnerfutter hin und sie folgten jeder ihrer Bewegungen. Er ging an der Frau vorbei, da fiel eine Handvoll Brotkrumen auf seinen Fuß, woraufhin sofort und ohne jede Scheu einige Tauben herbeihüpften, um sie ihm buchstäblich vom Schuh zu picken. Die alte Frau entfernte sich rasch. Zu seinen Füßen lag ein gerolltes Stück Papier. Er bückte sich vorsichtig, um es aufzuheben und verbarg das Papier in der Hand, als er es aufrollte und las: Uffizien, Thronende Madonna.
Die Uffizien an der Piazza delle Uffizi, unmittelbar neben der Piazza della Signoria mit dem Palazzo Vecchio, an dem die Reise durch Florenz ihren Anfang genommen hatte! Eine der großen Gemäldegalerien der Welt. Unter anderem hing dort die Madonna von Giotto; offiziell die Maesta oder Madonna in der Glorie; zusammen mit den beiden anderen, fast gleichen Maestas/Thronenden Madonnen von Duccio und Cimabue . . . Der »Zwerg« war offenbar ein Kunstliebhaber. Der Weg war zwar nur kurz, aber er kannte ihn nicht und konnte auch die Entfernungen nicht abschätzen. Er winkte sich ein Taxi heran, um sich zu den Uffizien fahren zu lassen. Es mußte der gesperrten Zone wegen lange Umwege durch dichten Verkehr fahren und brauchte zehn Minuten. Zu Fuß hätte es keine fünf gedauert . . . Es waren an diesem Tag erstaunlich wenige Besucher da, und er hatte keine Mühe, die riesige Giotti-Moesta zu finden, die eine ganze Wand für sich allein beanspruchte. Im Augenblick hielt sich niemand vor diesem Bild auf. Er erwartete, daß ihm irgend jemand auf die Schulter klopfte oder ihm etwas in die Tasche schob. Statt dessen entdeckte er, daß in der Beschriftungstafel neben dem Rahmen des Bildes unten etwas steckte. Er tat, als wolle er die Beschriftung aus der Nähe lesen, und zog es heraus. Ein gefalteter Zettel! Er sah sich um, ob er von niemandem beobachtet werde, und entfaltete ihn.
Ponte Vecchio, Westseite, weißer Alfa Romeo.
Der Weg über die mittelalterliche Brücke mit ihren Verkaufsläden und -ständen bis zur Westseite nahm kaum zehn Minuten in Anspruch, aber es kam ihm viel länger vor. Die Frühlingswärme der Toskana machte sich inzwischen bemerkbar. Sein Hemd war durchgeschwitzt, und er widerstand der immer größer werdenden Versuchung, seine Jacke auszuziehen und über den Arm zu legen, aus Angst, die Leute des »Zwergs« könnten ihn in der dichten Menschenmenge dann aus den Augen verlieren. Sein Mund war trocken. Er war ziemlich durstig. Zuletzt hatte er an einem Brunnen in Rom kurz vor Abfahrt des Zuges einen Schluck Wasser getrunken. Als er am Ende des Fönte Vecchio angekommen war, hörte er irgendwo einen Motor starten. Er drehte sich sofort suchend herum. Da war bereits der weiße Alfa Romeo, der sich zentimeterweise den Weg durch den Verkehr bahnte. Er blieb direkt neben ihm stehen. Durch die getönten Scheiben konnte er nicht erkennen, wer am Steuer saß; aber er öffnete einfach die hintere Tür und stieg ein. »Guten Tag, Mr. Locke«, sagte der Mann am Steuer sofort. »Wir freuen uns, daß Sie wirklich der sind, der zu sein Sie vorgaben, und daß Sie allein gekommen sind.« Der Fahrer sprach ein korrektes Englisch. Locke wollte eben etwas erwidern, als er weitersprach: »Ich bringe Sie nun zum >Zwergsie