Scan by Schlaflos Buch: Zwei der vier Domänen des Landes Dhrall wurden bereits von den monströsen Horden des Vlagh, des ...
50 downloads
832 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Scan by Schlaflos Buch: Zwei der vier Domänen des Landes Dhrall wurden bereits von den monströsen Horden des Vlagh, des Erzfeindes von Menschen und Göttern, angegriffen. In banger Ungewissheit fragen sich die vier Götter, wo sich die nächste Attacke ereignen wird. Keiner der Träumer hatte bislang eine entsprechende Vision. Da bricht zwischen den Göttern ein erbitterter Streit aus, denn Aracia, die furchtsame Bewahrerin der östlichen Domäne, versucht alles, um die aus fremden Ländern angeheuerten Armeen in ihren Bereich zu holen. Um ihr Ziel zu erreichen, schreckt sie auch vor einer arglistigen Täuschung der anderen Götter nicht zurück. Als der Tag des
befürchteten Angriffs schließlich gekommen ist, sind die Befestigungsanlagen in der Kristallschlucht, durch welche die Kreaturen des Ödlands heranmarschieren, dem Ansturm nicht gewachsen. Den Verbündeten bleibt nur die Hoffnung auf die ominöse dritte Macht, die »unbekannte Freundin« ... Autoren: David Eddings, geboren 1931 in Spokane, Washington, wurde 1982 mit seinem ersten Fantasy-Epos, der »Belgariade«, bekannt. Seither hat er teils alleine, teils in Zusammenarbeit mit seiner Frau Leigh von der Kritik viel beachtete Werke in der Tradition Tolkiens verfasst, die ihm eine ständig wachsende, begeisterte Leserschaft eingetragen haben. David und Leigh Eddings leben in Carson City /Nevada. Außerdem bei Blanvalet erschienen: GÖTTERKINDER: I. Das wilde Land (24279), 2. Dämonenbrut (24280), 3. Im Flammenmeer (24281)
David & Leigh Eddings
Im Flammenmeer Götterkinder 3 Deutsch von Andreas Heiweg blanvalet Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Dreamers, vol. 3, Crystal Gorge« bei Aspect, Warner Books, New York. Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-OIOO Das für dieses Buch verwendete Fsc-zertifizierte Papier München Super liefert Mochenwangen. 1. Auflage Deutsche Erstveröffentlichung Juni 2006 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München Copyright © der Originalausgabe 2005 by David and Leigh Eddings Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2006 by Verlagsgruppe Random House GmbH, München Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustration: Hanka Steidle und Luserke/Fedorov Redaktion: Werner Bauer UH ■ Herstellung: Heidrun Nawrot Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin Druck und Einband: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany ISBN-10: 3-442-24281-9 ISBN-13: 978-3-442-24281-8 www.blanvalet-verlag.de
Vorwort So sind wir nun beschämt, denn auch unsere Wanderung ins Land der längeren Sommer endete in einem Desaster. Die Menschenwesen dieser Region erwiesen sich als noch grausamer als diejenigen, denen wir im Lande des Sonnenuntergangs begegneten, und unser geliebtes Vlagh schrie auf in höchster Pein, während wir es rasch von dem weiten Wasser forttrugen, welches sich mehr und mehr ausdehnte mit jedem Vorüberziehen dessen, was Licht in das Reich bringt. Denn siehe, die Menschenwesen aus dem Land der längeren Sommer überschwemmten uns mit Wasser, ebenso wie die Menschenwesen aus dem Land des Sonnenuntergangs uns mit dem heißen Licht überspült hatten, das aus den Bergen sprühte. Und der Verlust an Dienern unseres geliebten Vlagh nahm größere Ausmaße an als im Land des Sonnenuntergangs. Der Überverstand, an dem wir alle teilhaben, schrumpfte aufgrund dieses Verlustes, denn wir alle wurden weniger. Und unser Leid war groß. Diejenigen von uns, die Wissen suchen, unterscheiden sich sehr von denen, deren einzige Aufgabe darin besteht, für die Mutter zu sorgen, die uns alle hervorgebracht hat, da wir weit in die Lande der Menschenwesen vorgedrungen sind und vieles gesehen haben, was sich als nützlich erweisen könnte.
7 Viel haben wir im Land der Gedanken entdeckt, und wahrheitsgetreu präsentieren wir es der Mutter, die uns hervorgebracht hat, und der Überverstand nimmt Anteil an dem, was wir der Mutter berichten. Zunächst zeigte sich der Überverstand, der uns alle führt, verwirrt angesichts dessen, was wir herausgefunden hatten. Entsetzen befiel den Überverstand, als er nach unseren Schilderungen begriff, dass die Menschenwesen auch dann Aufgaben ausführen können, wenn sie nicht unter der Kontrolle anderer Gedanken als ihrer eigenen stehen. Furchtbarer noch war das Wissen, dass diese Menschenwesen, die uns wieder und wieder besiegt hatten, Lebendgebärende sind und nicht, wie wir, Eier legen. Wahrlich, diese Menschenwesen stellen eine Abscheulichkeit dar, deren Existenz nicht länger erlaubt sein sollte, denn, wie alle Welt weiß, sollten Lebendgebärende keine andere Aufgabe haben, als sich mit denen zu paaren, welche die Eier legen, welche wiederum die Anzahl der Diener derjenigen erhöhen, die sie alle hervorgebracht hat. Diese Menschenwesen verfügen über eine weitere Eigenheit. Sie erzeugen Laute, mit denen sie anderen eine Art Informationen übermitteln können. Manche derjenigen, die Wissen suchen, haben diese Laute nachgeahmt, aber sie entdeckten bald, dass die Menschenwesen häufig Laute erzeugen, die nicht stimmen. Und es wurde uns eines klar: Wenn die Menschenwesen keine Möglichkeit haben, zu unterscheiden, welche Laute wahr und welche unwahr sind, könnten wir auch unwahre Laute machen, und dadurch könnten wir die Wahrheit vor den Menschenwesen verbergen, was uns zu einem großen Vorteil verhelfen würde. Wie wir sehr zum Leid des Überverstandes erfahren haben, verfügen die Menschenwesen über viele Stöcke mit Zähnen, mit denen sie bei den Dienern des Vlagh Schmerzen - und sogar unseren Tod - verursachen können, aber diese Stöcke mit Zähnen sind nicht Teil ihres eigenen Körpers, sondern von ihm getrennt 8 und können leicht von denjenigen davongetragen werden, die unserem geliebten Vlagh dienen, und der Überverstand in seiner Weisheit hat uns geraten, diese Stöcke mit Zähnen zu sammeln, die von vielen Menschenwesen getragen wurden, die in den Kämpfen mit uns gestorben sind. Aber dann fiel dem Überverstand auf, dass uns noch das mächtigste dieser Dinge, die töten, fehlte, und das ist das Ding, das flackert und Wolken auf dem Boden oder oben am Himmel erzeugt. Und als der Überverstand begriff, dass dieses Ding flackert und Licht aussendet und Wolken erzeugt, die sich nahe dem Boden oder weit oben am Himmel befinden, erfuhren wir alle davon, und wir waren alle der Ansicht, dieses Ding, das flackert und Licht aussendet, sei das beste der Dinge, die töten, denn wenn wir dieses Ding, das tötet, in unserem Besitz hätten, könnten wir viele Menschenwesen aus der Ferne töten, und dann könnten uns die Stöcke mit Zähnen der Menschenwesen nicht mehr erreichen. Doch obwohl wir weit und breit suchten, fanden wir keines dieser Dinge, die flackern und Licht aussenden, und wieder waren wir beschämt. Schließlich kam der Überverstand auf die Idee, wir sollten nicht nach dem Flackern oder dem Licht suchen, sondern nach den Wolken, die nahe dem Boden liegen oder oben am Himmel schweben, suchen, denn diese Wolken seien ja ein sicheres Zeichen dafür, dass das Ding, das flackert und Licht aussendet, sich nahe der Quelle dieser Wolken befindet. Und viele Wolken, die aus den Nestern der Menschenwesen aufstiegen, suchten wir auf, doch wagten wir es nicht, diese Nester zu betreten, denn die Menschenwesen, die dort leben, haben viele Stöcke mit Zähnen und würden, sollten sie uns in der Nähe ihrer Nester sehen, gewiss ihre Stöcke mit Zähnen durch die Luft schleudern und uns alle töten. Aber dann erfuhren diejenigen von uns, die Wissen über die 9 Menschenwesen im Lande der längeren Sommer gesucht hatten, dass die Menschenwesen häufig eine bestimmte Art von niedrigem Baum verwendet hatten, um uns von ihren Dingen-zum-Essen zu vertreiben, denn die niedrigen Wolken, die diesem besonderen Baum entströmen, machen es uns schwer, zu atmen, und im Verlaufe vieler Perioden von Licht und Dunkelheit waren viele von unserer Art gestorben, weil sie nicht mehr atmen konnten. Und so geschah es, dass viele Sucher des Wissens das neue Wasser, das vielen Dienern unseres Vlagh den Tod gebracht hatte, umrundeten und nach einem niedrigen Baum suchten, der die Wolken hervorbrachte, die das Atmen schwierig machten. Und nach langer Suche sahen sie eine dünne, dunkle Wolke, die von einem einzigen niedrigen Baum aufstieg. Vorsichtig gruben sie sich durch die Erde zu dem niedrigen Baum heran, um die Glieder loszumachen, die er in den Boden gestreckt hatte, damit er sich halten konnte, und als der niedrige Baum sich nicht mehr festkrallen konnte, brachten sie ihn aus dem Land der längeren Sommer mit. Und jetzt hatten wir das, was flackert und Licht aussendet - aber nur ein Einziges. Es dämmerte dem Überverstand, dass wir viele dieser Flackerdinge, die Licht aussenden, haben sollten. Und daher untersuchten wir den einzigen niedrigen Baum und kehrten erneut ins Land der längeren Sommer zurück, um weitere dieser Bäume zu sammeln, und wir trugen sie zu dem Ort, wo unser erster niedriger Baum flackerte und Licht aussendete und dicke Wolken erzeugte, die so dunkel waren wie der Teil des Tages, wenn das Licht am Himmel verschwunden ist. Und dann legten wir viele der niedrigen Bäume auf den einsamen niedrigen Baum, der flackerte und Licht aussandte, und siehe! Hatten wir zuerst nur einen gehabt, so besaßen wir jetzt viele.
Es folgte eine Zeit der Verwirrung für den Überverstand. Das Land des Sonnenuntergangs und das Land der längeren Sommer 10 waren für uns nicht mehr erreichbar, wegen der roten zähen Glut, die sich aus den Bergen im Land des Sonnenuntergangs ergoss, und des Wassers, das aus dem Land des längeren Sommers heranfloss. Doch blieben noch zwei Länder, in die wir aufbrechen konnten - das Land des Sonnenaufgangs und das Land der kürzeren Sommer. Nun lag das Land des Sonnenaufgangs viel näher, aber es war auch für die Menschenwesen leichter zu erreichen, die so viele Diener unseres geliebten Vlagh getötet hatten. Das Land der kürzeren Sommer war weit von dem Ort entfernt, an dem wir lebten, aber es war auch fern der Menschenwesen. Viele Sucher des Wissens stimmten für »Sonnenaufgang!«, und viele andere verlangten: »Kürzere Sommer!« Und zwischen diesen beiden konnte sich der Überverstand nicht entscheiden. Und dann nahmen die Sucher des Wissens zum ersten Mal Stöcke mit Zähnen zur Hand, und diejenigen Sucher, die »Sonnenaufgang« meinten, töteten diejenigen, die für »kürzere Sommer« stimmten, während diejenigen, die sich für »kürzere Sommer« aussprachen, diejenigen töteten, die für »Sonnenaufgang« waren. Und so verminderte sich die Zahl der Diener des Vlagh immer mehr, und unser geliebtes Vlagh schrie auf in höchster Pein, während die Kinder sich gegenseitig umbrachten, was zuvor nie geschehen war. Wir werden nicht erfahren, was unser geliebtes Vlagh zu seiner Entscheidung trieb, doch plötzlich zeigte es in die Richtung des Landes der kürzeren Sommer und rief: »Geht dorthin!« Und das Töten fand ein Ende, und wir nahmen unsere Dinge-die-Schmerzen-machen und drehten uns um und zogen in Richtung des Landes der längeren Sommer davon und trugen unsere niedrigen Bäume, die flackern und Licht aussenden, und erzeugten viele dunkle Wolken hinter uns. Der widerspenstige Häuptling 1 In den Ländern des Westens herrschte Sommer, und der Junge mit dem roten Haar erwachte, bevor die Sonne über den Bergen im Osten des Dorfes Lattash aufging. Er entschied, es könnte ein guter Tag zum Angeln in dem kleinen Fluss sein, der aus dem Gebirge herunterkam. Es stand zwar eine Reihe von Aufgaben an, die er an diesem Tag zu erledigen hatte, doch der Fluss schien ihn regelrecht zu rufen, und es wäre nicht höflich gewesen, einer solchen Aufforderung nicht nachzukommen - vor allem nicht, wenn die Fische sprangen. Leise zog er sich die weiche Hirschlederkleidung an, nahm seine Angelleine, verließ die Hütte seiner Eltern und begrüßte den neuen Sommertag. Der Sommer war für den Jungen die schönste Jahreszeit, denn es gab immer genug zu essen, der Schnee türmte sich nicht hoch auf den Hütten, und es wehte kein bitterkalter Wind aus der Bucht. Er stieg über den Damm, der zwischen Dorf und Fluss lag, und ging ein gutes Stück flussaufwärts. Oberhalb des Dorfes befanden sich die besseren Angelplätze, und überhaupt wäre es vermutlich keine gute Idee, in der Nähe zu bleiben, für den Fall, dass sein Vater nach ihm suchte, um ihn an seine Pflichten zu erinnern. Die Fische bissen an diesem Morgen voller Begeisterung, und der Junge hatte bereits mehrere Dutzend gefangen, noch ehe die Sonne ganz über die Berge geklettert war. 13 Am Vormittag erschien auf dem Kiesufer des Flusses sein großer Onkel, der älteste Sohn des Stammeshäuptlings. Wie alle Angehörigen des Stammes, so trug auch sein Onkel Kleidung aus goldfarbenem Hirschleder, und mit seinen weichen Schuhen verursachte er kaum ein Geräusch, als er sich zu seinem jungen Neffen gesellte. »Dein Vater möchte dich sehen, Junge«, sagte er leise. »Du wusstest doch, dass du heute einiges für ihn erledigen sollst, oder?« »Ich bin heute Morgen früh aufgewacht«, erklärte der Junge. »Da dachte ich, es wäre nicht höflich, die anderen zu wecken, und so ging ich hier herauf, um zu sehen, ob ich genug Fische für das Abendessen fangen kann.« »Beißen die Fische denn?« »Sie scheinen sehr hungrig zu sein, Onkel«, erwiderte der Junge und zeigte auf die vielen Fische, die im Gras am Ufer lagen. Sein Onkel zeigte sich überrascht angesichts der morgendlichen Ausbeute. »Du hast schon so viele gefangen?«, fragte er. »Sie beißen heute Morgen wie verrückt, Onkel. Ich muss mich hinter einem Baum verstecken, wenn ich den Köder am Knochenhaken befestige, sonst springen sie aus dem Wasser und reißen mir den Köder aus der Hand.« »Also dann«, sagte sein Onkel begeistert. »Warum angelst du nicht weiter, Junge? Ich gehe zu deinem Vater und erzähle ihm, du hättest im Augenblick zu viel zu tun und könntest dich nicht um deine Aufgaben kümmern. Einen Tag, an dem die Fische wie verrückt beißen, gibt es jedes Jahr nur ein- oder zweimal, und ich denke, vielleicht wird unser Häuptling alle Männer des Stammes auffordern, alles stehen und liegen zu lassen und sich hierher zu dir ans Ufer zu gesellen. Was hat dich eigentlich dazu gebracht, dich heute Morgen für das Angeln zu entscheiden?« »Ich bin mir nicht ganz sicher, Onkel. Ich hatte so ein Gefühl, als würde mich der Fluss rufen.« 14 »Wenn er dich wieder ruft, geh und schau nach, was er möchte, Junge. Ich glaube, er mag dich, also enttäusche ihn nicht.«
»Das würde mir im Traum nicht einfallen, Onkel«, erwiderte der Junge und zog den nächsten Fisch aus dem Wasser. Und so versammelten sich alle Männer des Stammes am Fluss und gesellten sich zu dem rothaarigen Jungen. Einen derart guten Fang hatten viele von ihnen noch nicht erlebt, und wieder und wieder bedankten sie sich bei dem Jungen. Die Sonne stand schon tief über dem Horizont im Westen, als der Junge die vielen Fische, die er an diesem Tag aus dem Fluss geholt hatte, über den Damm zu den Hütten von Lattash trug, und alle Frauen des Stammes kamen ihm entgegen und bewunderten den Fang, und sogar Pflanzerin, die selten lächelte, grinste breit, als er ihr die Fische überreichte. Der Junge ging hinunter zum Strand, um sich den wunderschönen Sonnenuntergang anzusehen, und das Licht der untergehenden Sonne bildete einen glänzenden Pfad auf dem Wasser, der den Jungen irgendwie einzuladen schien, über das Wasser hinauszugehen bis zu dem schmalen Kanal, der sich zum Antlitz von Mutter Meer öffnete. »Schläfst du noch, Rotbart?«, fragte Langbogen. »Jetzt nicht mehr«, erklärte Rotbart seinem Freund sauer. Er setzte sich auf und blickte sich in seinem Zimmer im Hause von Veltan um. Es war ein recht hübsches Zimmer, musste Rotbart zugeben, doch die Steinmauern fand er nicht so schön, wie die Hütten von Lattash gewesen waren. »Ich habe von den alten Zeiten im Dorf Lattash geträumt, und ich hatte gerade genug Fisch gefangen, um den ganzen Stamm satt zu machen. Alle waren sehr glücklich. Dann ging ich hinunter zum Strand, schaute mir den Sonnenuntergang an und wollte gerade einen Spaziergang über die Bucht machen, um der Mutter Meer Guten Tag zu sagen, da kamst du vorbei und hast mich geweckt.« 15 »Möchtest du jetzt weiterschlafen?«, fragte ihn Langbogen. »Ich denke nicht«, entgegnete Rotbart. »Wenn ich jetzt wieder eindöse, würden die Fische mir vermutlich in die Zehen beißen und nicht den Köder nehmen, den ich benutzt habe. Ist dir das schon einmal aufgefallen, Langbogen? Wenn du einen schönen Traum hast und aufwachst, ehe er zu Ende ist, wird dein nächster Traum mit Gewissheit scheußlich sein. Gibt es Neuigkeiten, die ich wissen sollte?« »In Veltans Kartenraum spielt sich ein kleiner Familienstreit ab, mehr nicht. Aracia und Dahlaine schreien sich schon seit einer Stunde an.« »Vielleicht lege ich mich dann doch lieber wieder schlafen«, meinte Rotbart. »Du brauchst ja niemandem zu verraten, dass ich es gesagt habe, aber die alten Götter lassen jeden Tag mehr nach.« »Es ist dir also aufgefallen«, erwiderte Langbogen trocken. »Muss das eigentlich ständig sein?«, wollte Rotbart wissen, warf die Decke zur Seite und erhob sich umständlich. »Was denn?« »Musst du immer versuchen, dich über alles lustig zu machen?« »Tut mir Leid. Ich wollte nicht auf deinem Territorium wildern. Sollen wir gehen?« »Es steht ziemlich fest, dass die Wesen des Ödlands nach Osten ziehen, Dahlaine«, behauptete Aracia gerade entschlossen, als Rotbart und Langbogen in Veltans Kartenzimmer eintraten. »Nachdem Yaltars Vulkan die Angreifer in Zelanas Domäne vernichtet hatte, wandten sie sich nach Süden und griffen den ihnen nächstgelegenen Teil des Landes Dhrall an, und der Osten liegt dem Süden näher als der Norden. Als Nächstes werden sie über mich herfallen. Das dürfte doch wohl offensichtlich sein.« »Du übersiehst etwas, Aracia«, widersprach Dahlaine. »Die 16 Diener des Vlagh fassen tausende oder sogar Millionen von Jahren evolutionärer Entwicklung in einer sehr kurzen Zeitperiode zusammen. Wenn wir davon ausgehen, dass sie weiterhin auf der primitivsten Ebene denken, werden wir, so fürchte ich, ein paar üble Überraschungen erleben. Ihr >Überverstandnäher< wenig attraktiv sein. Aus diesem Grund bin ich davon überzeugt, dass der nächste Angriff so weit wie möglich von hier entfernt stattfinden wird.« »Übertreiben wir es nicht ein wenig?«, warf Zelana ein. »Wir werden nicht erfahren, in welche Richtung sich die Insekten bewegen, ehe uns nicht einer der Träumer einen Hinweis gibt. Ich würde vorschlagen, wir warten ab. Angesichts dessen, was in meiner und in Veltans Domäne geschehen ist, verfügen wir einfach nicht über genug Informationen, um irgendetwas als gesichert anzunehmen.« »Zelana hat Recht, finde ich«, stimmte Veltan zu. »Nichts ist entschieden, ehe nicht eines der Kinder einen >dieser< Träume hatte.« »Darf ich vielleicht einen Vorschlag machen?«, fragte der silberhaarige Trogit Narasan. »Ich werde mir zunächst einmal alles anhören«, erwiderte Dahlaine. »Nun, ich bin, wie ihr wisst, mit den Ländern im Norden und Osten nicht so vertraut, doch würde es nicht Sinn ergeben, die dortige Bevölkerung vor einer bevorstehenden Invasion zu warnen? Wenn die Menschen in beiden Gebieten wissen, dass die Möglichkeit eines Angriffs der Insektenmenschen besteht, können sie schließlich Vorkehrungen treffen.«
»Das erscheint mir sinnvoll, Aracia«, räumte Dahlaine ein. »Wenn das, was hier und drüben im Westen geschehen ist und sich in deiner und meiner Domäne höchstwahrscheinlich wie17 derholen wird, einen Schluss zulässt, dann den, dass die ansässige Bevölkerung eine wichtige Rolle dabei spielen wird, den nächsten Sieg zu erringen.« Aracia starrte ihren Bruder böse an, entgegnete jedoch nichts. Langbogen tippte Rotbart auf die Schulter. »Warum schnappen wir nicht ein wenig frische Luft?«, schlug er im Flüsterton vor. »Hier drin ist es in der Tat ein bisschen stickig«, meinte auch Rotbart. »Geh voraus, Freund Langbogen.« Sie verließen den Kartenraum und gingen ein Stück durch den trübe beleuchteten Korridor. »Bilde ich es mir nur ein, oder benimmt sich Zelanas ältere Schwester ein wenig kindisch?«, fragte Langbogen. »Ich kenne sie nicht so gut«, antwortete Rotbart, »und ich glaube, mir würde es gefallen, wenn es so bliebe. Offensichtlich hat sie Schwierigkeiten, sich zu benehmen.« »Oder vielleicht hat sie sogar ein schlimmeres Problem. Erinnerst du dich, was in der Schlucht passiert ist? Plötzlich und ohne jeden Grund sprang Zelana auf, packte sich Eleria und floh zu ihrer Grotte auf der Insel Thurn.« »Oh ja«, sagte Rotbart. »Sorgan hätte fast einen Anfall bekommen, als sie davonrannte, ohne ihm das versprochene Gold zu geben. Wenn ich mich recht erinnere, ist es erst Eleria gelungen, sie wieder zur Vernunft zu bringen.« »Ich weiß nicht viel über Aracia«, gestand Langbogen, »aber von ihr scheint ein starker Duft nach Unvernunft auszugehen. Ihr Verstand scheint nicht mehr richtig zu funktionieren.« »Da wäre ich mir nicht so sicher, Langbogen«, widersprach Rotbart. »Möglicherweise funktioniert er noch ganz gut. Nach allem, was ich gehört habe, tritt jeder, der sich vor ehrlicher Arbeit scheut, in ihre Priesterschaft ein und verbringt seine Zeit damit, sie zu verehren.« »Das habe ich auch gehört.« 18 »Soldatentum ist doch auch eine ehrliche Arbeit, oder?« »Nicht so anstrengend wie Ackerbau, aber doch härter, als jemanden zu verehren.« »Wenn die Dinge in ihrer Domäne so stehen, lässt das nicht vermuten, dass sie dort drüben über nichts verfügt, das mit einer Armee vergleichbar wäre? "Würde das nicht erklären, warum sie alle Soldaten, die Zelana und Veltan angeheuert haben, auf ihr Gebiet holen möchte, damit sie Schutz hat, falls sich die Insektenmenschen tatsächlich entscheiden, in ihre Richtung zu ziehen?« »Also gut, Rotbart«, sagte Langbogen. »Vielleicht ist sie gar nicht so unvernünftig, wie es nach außen wirkt. Falls ihre Domäne vollkommen ohne Verteidigung dasteht, braucht sie jeden Mann, der ein Schwert oder einen Bogen halten kann, um ihr Land zu beschützen. Das ist natürlich ausgesprochen egoistisch, aber das wiederum dürfte sie am wenigsten stören, glaube ich. Anscheinend hält sie sich für das wichtigste Wesen der Welt, und aus ihrer Sicht der Dinge gibt es für uns alle nur die eine Pflicht, nämlich zu ihrer Verteidigung zu eilen.« »Daran können wir im Augenblick nicht viel ändern, Freund Langbogen - außer Zelana vielleicht vorzuschlagen, sie möge ihre große Schwester genau im Auge behalten.« »Gewiss kennt Zelana die Eigenheiten ihrer Schwester längst, doch könnten wir für alle Fälle Sorgan und Narasan warnen.« »Damit hast du vermutlich Recht. Sollen wir zurückgehen und uns das Geschrei anhören? Oder würdest du lieber angeln gehen?« Die Streiterei von Dahlaine und Aracia setzte sich noch eine gute halbe Stunde fort, dann gesellte sich Omagos wunderschöne Gemahlin zu ihnen auf die Galerie des Kartenraums. »Das Abendessen ist fertig«, verkündete sie. »Das ist die beste Nachricht des ganzen Tages«, rief Sorgan Hakenschnabel. »Beeilen wir uns, bevor alles kalt wird.« 19 Damit brachen sie zu Veltans improvisiertem Esszimmer auf. Diese Eigenschaft der älteren Götter hatte Rotbart nie ganz begriffen. Es hatte natürlich etwas Praktisches an sich, dass sie nicht schlafen mussten. Wenn ein Notfall eintrat, konnte man mit einem schlafenden Gott nichts anfangen, aber in seinem ganzen Leben würde Rotbart nicht verstehen, weshalb sie nicht aßen. Sicherlich brauchten sie sich nicht zu ernähren, aber Essen ging doch weit darüber hinaus, nur den knurrenden Magen zu füllen. Insbesondere das Abendessen war für gewöhnlich ein soziales Ereignis, bei dem man sich näher kam und die eine oder andere Meinungsverschiedenheit ausräumen konnte. Rotbart war sich ziemlich sicher, dass es das kunstvolle Esszimmer in Veltans Haus noch gar nicht gegeben hatte, ehe die Ausländer eingetroffen waren, und bestimmt stammte die Idee für diesen Raum zum Speisen von Ära. Omagos Frau war vermutlich die beste Köchin in der ganzen Welt, aber sie war weise und wusste: Die Menschen zusammenzubringen und Freundschaft zu schließen musste als wichtiger erachtet werden als das Essen an sich. Allerdings gab es auch bei Ära einige Eigenheiten, die Rotbart nicht vollkommen verstand - bisher jedenfalls. Nun, er würde diese Ungereimtheiten nicht aus den Augen verlieren. Seltsamerweise begleiteten Veltan und Zelana sie ins Esszimmer. Da diese beiden kein Essen brauchten - oder
wollten -, hatten sie wohl etwas anderes im Sinn. Das Gespräch am Tisch drehte sich um allgemeine Themen, doch nachdem man gespeist hatte - mehr als reichlich, versteht sich -, nahmen Zelana und Veltan den Maag Sorgan und den trogitischen Kommandanten Narasan zur Seite und unterhielten sich lange mit ihnen. Rotbart stupste seinen Freund Langbogen nach dem Essen an. »Ich könnte mich ja irren, aber ich glaube, Zelana und Veltan haben einen Weg gefunden, den Familienfrieden wiederherzustel20 len, und vermutlich werden Sorgan und Narasan dabei eine Rolle spielen.« »Was für eine seltsame Idee«, murmelte Langbogen. »Du hast es doch auch gesehen, oder?« »Es war offensichtlich, Freund Rotbart. Ich denke, die heilige Aracia könnte trotzdem ein wenig enttäuscht reagieren.« »Wie schade«, meinte Rotbart und grinste breit. »Wie hässlich von dir, so etwas zu sagen.« »Dann hau mich doch.« Als sie in den Kartenraum zurückkehrten, räusperte sich Sorgan Hakenschnabel, um anzudeuten, dass er das Wort ergreifen wollte. »Narasan und ich haben die Angelegenheit besprochen, und ich denke, wir sind zu einer Lösung gelangt, wie wir uns des Problems annehmen können«, verkündete er. »Weil wir nicht sicher sein können, wo die Insektenmenschen als Nächstes zuschlagen, müssen wir beide Möglichkeiten in Betracht ziehen. Da nun das Territorium des werten Herrn Dahlaine weiter entfernt ist als das seiner Schwester, stimmten Narasan und ich darin überein, dass ich diesen Teil des Landes Dhrall übernehmen sollte - nicht, weil meine Männer bessere Krieger wären, sondern weil unsere Schiffe schneller sind als die von Narasan. Im Lande Maag besteht unser Hauptgeschäft darin, die trogitischen Schiffe zu jagen und auszurauben, aber darüber können wir uns bei einer anderen Gelegenheit unterhalten. Während meine Leute also den Norden übernehmen, zieht Narasan gen Osten.« Er deutete auf Veltans »Skulpturenkarte«. »Wenn diese Karte auch nur einigermaßen genau ist, braucht Narasans Flotte nur wenige Tage, um das Territorium der hochverehrten Dame Aracia zu erreichen, und dann kann er dieses Gebiet beschützen. Demnach haben wir dann im Osten und im Norden Leute vor Ort, welche die Insektenmenschen abwehren können, und unsere werten Arbeitgeber vermögen sich ja sowieso binnen kürzes21 ter Zeit von einem Ort zum anderen zu bewegen. Sollte der Angriff also im Osten stattfinden, segele ich nach Süden und vereine meine Truppe innerhalb weniger Wochen mit Narasans. Falls die Insektenmenschen hingegen in den Norden marschieren, sollten wir Maags in der Lage sein, sie aufzuhalten, bis Narasan bei mir eintrifft. Wenn wir die Pferdesoldaten im Norden und die Kriegerinnen im Osten einsetzen, haben wir ausreichend Leute, um jede Insekteninvasion zum Stillstand zu bringen. Sobald dann die anderen eintreffen, können wir die Eindringlinge einmachen und den dritten Krieg im Lande Dhrall gewinnen.« »Also wird es so ähnlich laufen, wie wir die Dinge vor diesem Krieg in der Domäne der werten Dame Zelana gehandhabt haben«, fügte Narasan hinzu. »Es sind genug Leute von uns in jedem Gebiet, um eine Invasion zu verhindern, bis sich unsere Freunde zu uns gesellen. Danach ziehen wir los zum großen Einmachen.« »Wie klug ausgedrückt, Narasan«, merkte Sorgan an. »Mit Worten konnte ich schon immer gut umgehen«, erwiderte Narasan bescheiden. »Ich will mich ja nicht einmischen«, sagte der narbengesichtige Ekial, »aber auf welche Weise werden wir mein Volk - und die Pferde - hinauf in Herrn Dahlaines Territorium schaffen? Pferde können schnell laufen, allerdings vermutlich nicht schnell genug, um über die Oberfläche des Meeres zu galoppieren.« »Ich glaube, ich weiß schon, wie wir das schaffen«, meinte Narasan leichthin. »Gunda hat doch diese kleine Fischerjolle, die fast fliegen kann. Er kann dich nach Castano bringen, und dort könnt ihr Schiffe anheuern. Damit segelt ihr beiden nach Malavi und nehmt die Männer und Pferde an Bord. Daraufhin fahrt ihr nach Norden zum Territorium des werten Herrn Dahlaine weiter.« »Ich denke, ich sollte sie vielleicht begleiten, Kommandant«, mischte sich Veltan ein. »Wenn man trogitische Schiffe anheuert, 22 braucht man Gold, und ich weiß recht gut, wie ich verhindern kann, dass Gundas Jolle durch zu viel Gold an Bord sinkt.« »Also hätten wir, wie ich glaube, unsere Probleme gelöst«, meinte Narasan und blickte in die Runde. »"Wann, denkt ihr, sollten wir loslegen?« »Hast du morgen schon etwas auf dem Feuer?«, fragte Sorgan ihn. »Nicht dass ich wüsste«, antwortete Narasan. »Gut, dann morgen«, verkündete Sorgan. Rotbart hatte Zelanas Schwester beobachtet, während Sorgan und Narasan ihr langsam den Boden unter den Füßen wegzogen. Es war offensichtlich, dass sie protestieren wollte, doch die beiden klugen Ausländer hatten ihr nicht viel Grund gegeben, sich zu beschweren. Offensichtlich wollte sie alle Ausländer zum Schutz ihrer Domäne nach Osten holen, doch Sorgan und Narasan hatten, augenscheinlich auf Zelanas und Veltans Vorschlag
hin, jegliche Einwände ausgeräumt, die sie erheben konnte. »Ich weiß nicht, ob du zugeschaut hast, Freund Rotbart«, sagte Langbogen leise, »aber scheint es dir nicht auch so, dass sich die Kriegerkönigin namens Trenicia ständig in der Nähe von Kommandant Narasan aufhält und offensichtlich sehr von ihm beeindruckt ist?« »Meinst du etwa, sie könnte möglicherweise gewisse Gedanken hegen, was den guten alten Narasan angeht?«, fragte Rotbart. »Nun, sicher bin ich mir da nicht«, gab Langbogen zurück, »aber es wäre doch höchst interessant, wenn das gerade jetzt passieren würde, oder was sagst du dazu?« »Solange ich einigermaßen bei klarem Verstand bin, würde ich sagen - nein.« 23 2 Beim ersten Licht am folgenden Tag brachten die Bauern aus Veltans Domäne riesige Mengen an Vorräten zum Strand, um die Schiffe der beiden Flotten auszurüsten. Solch stahlgraues Licht wie an diesem Morgen weckte stets Rotbarts Instinkte. »Es wäre bestimmt ein guter Tag zum Jagen«, sagte er zu Langbogen, während dieser die Bauern beobachtete. »Ich glaube, Veltan würde es nicht gerade mögen, wenn du jetzt anfängst, Pfeile auf seine Bauern abzuschießen«, erwiderte Langbogen. »Lustig, Langbogen, sehr lustig«, antwortete Rotbart. »Dieses erste Licht vor Sonnenaufgang erzeugt in mir immer das Gefühl, es könnte einer dieser perfekten Tage werden - weißt du, einer dieser Tage, an denen nichts schief geht.« Langbogen blickte hinauf zum farblosen Himmel. »Da könntest du Recht haben, Freund Rotbart«, stimmte er zu, »und wenn du sehr viel Glück hast, wird heute bis zum Vormittag tatsächlich nichts schief gehen.« Er schaute zu den Schiffen der Trogiten und Maags hinüber. »Wahrscheinlich brauchen sie den größten Teil des Morgens, um die Vorräte auf ihre Schiffe zu laden«, sagte er. »Gehen wir doch zu Zelana und fragen sie, ob sie noch etwas für uns zu tun hat, ehe wir Veltans Territorium verlassen.« Zelana und ihre beiden Brüder beobachteten die Bauern von einem Hügel aus, der ein Stück entfernt vom Strand lag. Rotbart und Langbogen gesellten sich zu ihnen. »Ich will dir ja nicht vorschreiben, was du zu tun hast, kleiner Bruder«, meinte Zelana gerade zu Veltan, »aber ich finde, du solltest zumindest einmal darüber nachdenken, ob du nicht ein wenig >herumpfuschen< möchtest, damit Gunda und Ekial so schnell wie möglich nach Castano gelangen. Wir wissen schließ24 lieh nicht genau, wo die Wesen des Ödlands ihren nächsten Angriff starten werden, bis eines der Kinder wieder träumt. Von hier bis zu Aracias Domäne ist es nicht weit, daher sollte Narasan dort in wenigen Tagen eintreffen, und von Aracias Tempel zur Insel Akalla, wo Trenicias Kriegerinnen leben, dauert die Reise nicht so lange. Bis zu Dahlaines Domäne ist es viel weiter. Sorgans Schiffe sind schnell genug, um diesen Teil des Landes Dhrall rechtzeitig zu erreichen, aber du wirst eine Weile brauchen, um in Castano trogitische Schiffe anzuheuern, und dazu einige Tage mehr, um hinunter ins Land der Malavi zu segeln. Dann hast du außerdem die lange Reise auf den schwankenden Trogiten-Schiffen von dort zu Dahlaines Land vor dir.« »Im Herumpfuschen bin ich sehr begabt, liebe Schwester«, erklärte Veltan ihr und lächelte schwach. »Mutter Meer ist zu dieser Zeit des Jahres freundlich, und sicherlich werden die Malavi die Schiffsreise sehr genießen, aber im Augenblick hat eine Vergnügungsfahrt nicht unbedingt Vorrang, also werden wir auf den Spaß verzichten und uns beeilen. Es wird Ekials Malavi so erscheinen, als würde sich die Domäne des großen Bruders gar nicht so weit im Norden befinden, aber das spielt keine große Rolle.« Dann wandte er sich zu seinem älteren Bruder um. »Sind uns die Bewohner deiner Domäne von Nutzen, wenn die Wesen des Ödlands sich entscheiden, nach Norden zu ziehen?« »Die Eingeborenen der Tonthakan-Region sind ziemlich gute Bogenschützen«, erwiderte Dahlaine. »Ihr Territorium ähnelt der Domäne von Schwester Zelana, die Tonthakaner sind in erster Linie Jäger. In der mittleren Region, Matakan, findet man offenes Grasland, wo man vor allem auf Bisons Jagd machen kann. Die sind größer als das Wild im Wald, und ihr Fell ist viel dicker. Gegen solche Tiere sind Pfeile nicht besonders wirksam, daher benutzen die Matakaner Speere anstelle von Pfeil und Bogen.« »Beschränkt das nicht die Reichweite?«, wollte Langbogen wissen. 25 »Bisons sind nicht so ängstlich wie Hirsche«, erklärte Dahlaine. »Sie geraten auch nicht so leicht in Panik. Die Matakaner benutzen die so genannte >SpeerschleuderSpeerschleuder< habe ich noch nie gehört«, gab Rotbart zu. »Wie funktioniert die?« »Im Wesentlichen handelt es sich um eine Verlängerung des Wurfarms. Es ist ein Stock mit einer Art Becher am Ende. Der Jäger steckt das hintere Ende des Speers in diesen Becher, und dann schleudert er den Stock nach vorn. Durch die zusätzliche Länge wird die Hebelkraft erhöht, und auf diese Weise fliegt der Speer fast doppelt so weit. Die Speerspitze ist aus Stein und viel schwerer als eure Pfeilspitzen, deshalb kann sie durch das Fell und die dicke Haut des Bisons dringen. Das klingt vielleicht wenig elegant und ein bisschen primitiv, aber die Matakaner haben regelmäßig zu essen. Vermutlich werdet ihr, wenn wir dort ankommen, die Gelegenheit erhalten, euch anzuschauen, wie gut die Speerschleuder funktioniert.«
»Gibt es weitere Regionen dort oben?«, erkundigte sich Veltan. Dahlaine schnitt ein säuerliches Gesicht. »In Atazakan hätte ich schon vor einiger Zeit etwas unternehmen müssen, aber ich war leider hier zu sehr beschäftigt. Die Atazakaner haben eine übertrieben hohe Meinung von sich - was vermutlich mit dem zusammenhängt, was man in jener Gegend als >königliche Familie< bezeichnet. Ich hatte nie Gelegenheit, das Phänomen des >vererbten Wahnsinns< zu studieren, aber der Begriff scheint mir in Hinsicht auf Atazakan genau zutreffend zu sein. Ihr gegenwärtiger Häuptling, Anführer, König - oder was auch immer -ist vollkommen verrückt. Er ist absolut davon überzeugt, ein Gott zu sein, und er hält mich für einen Usurpator, der versucht, ihm zu entreißen, was rechtmäßig seines ist.« »Aha?«, meinte Zelana. »Und was ist es für ein wertvolles Ding, das du ihm stibitzt hast?« z6 »Die Welt, natürlich - oder womöglich gar das gesamte Universum.« »Warum befreien sich die Bewohner nicht einfach von ihm -vielleicht mit einem Messer oder einer Axt?«, fragte Rotbart. »Weil er tausende von Wachen hat«, erklärte Dahlaine. »Nach meiner Schätzung ist jeder dritte Mann in Palandor Mitglied dessen, was der Heilige Kaiser Azakan >die Wächter der Göttlichkeit nennt - und diese Wächter führen ein angenehmes Leben. Ihre einzige Pflicht besteht darin, vor Sonnenaufgang und Sonnenuntergang herumzustehen und dabei eine grimmige Miene aufzusetzen.« »Wie ist denn das Wetter da oben?«, wollte Rotbart wissen. »Im Herbst gar nicht so schlecht«, antwortete Dahlaine. »Ein warmer Strom draußen in Mutter Meer mildert das Wetter im Herbst, aber am Ende des Herbstes ändert er die Richtung, und dann wird es sehr kalt. Schneestürme können wochenlang anhalten, und die Frühjahrsschmelze setzt wesentlich später ein als im übrigen Land Dhrall. Die Sommer sind angenehm, aber hin und wieder haben wir Schlechtwetterperioden. Auf dem Meer im Osten meiner Domäne bilden sich heftige Orkane, die über die Küste von Atazakan hinwegfegen.« Er lächelte zaghaft. »Der Heilige - oder verrückte - Azakan versucht immer, diesen Stürmen zu befehlen fortzugehen, aber sie gehorchen ihm nie.« »Stürme gehorchen eben nicht gut, großer Bruder«, sagte Zelana. »Wenn Mutter Meer miesepetrig wird, sollte man lieber Deckung suchen.« »Glücklicherweise müsste die von den Menschen in Matakan so genannte >Wirbelwindzeit< schon dem Ende zugehen.« »Mein Volk nennt diese Orkane >Zyklone