Seewölfe 186 1
Fred McMason 1.
Die Suche nach der sagenhaften NordwestPassage wurde für die Seewölfe der „Isabella VII...
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Seewölfe 186 1
Fred McMason 1.
Die Suche nach der sagenhaften NordwestPassage wurde für die Seewölfe der „Isabella VIII.“ langsam, aber sicher zu einem entnervenden Alptraum. Kreuz und quer waren sie gesegelt, seit dieser lausige Sturm sie in nördliche Breiten verschlagen hatte. In dem guten Glauben, auf Südkurs endlich aus dieser Bai wieder herauszufinden, waren sie nur noch tiefer landeinwärts gesegelt, bis sich herausgestellt hatte, daß es nicht mehr weiterging. Die Reise war zu Ende, und nachdem sie mit den Irokesen aneinander geraten waren, hatte Hasard nach dem glücklichen Abschluß wieder Nordkurs steuern lassen. Die Stimmung an Bord ähnelte dem Wetter. Sie war so grau Wie der verhangene Himmel und so kühl wie das Wasser. Seit langer Zeit wurde an Bord wieder einmal gemurrt, mehr oder minder versteckt, mitunter auch ganz offen. Der hitzigste Bursche an Bord, Luke Morgan, stand frierend und schnatternd neben Carberry und Matt Davies an der Nagelbank, wo sie seit dem letzten Segelmanöver Taue und Fallen klariert hatten. „Ich pfeif auf diese Scheiß-Passage“, sagte er giftig. „Die ist mir so gleichgültig wie sonst was. Du brauchst mich nicht so schräg anzustarren, Profos, ich sage meine Meinung ganz ehrlich.“ Der bullige Profos schob sein Rammkinn vor. Seine kalten Hände hatte er unter die Achselhöhlen geschoben und das Genick eingezogen. So wirkte er noch breiter und bulliger. „Hier kann jeder seine Meinung sagen“, brummte er. „Das gilt auch für dich stinkenden Seeotter.“ Luke Morgan starrte den Profos Carberry an. Seine Augen funkelten, jedesmal, wenn er die Luft ausstieß, stand eine Wolke von Rauhreif vor seinem Gesicht. An der Stirn und an den Wangen zeigten sich noch immer die Narben von den Verbrennungen, die er bei dem
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Branderangriff auf die Armada davongetragen hatte. Die Haut war an jenen Stellen dünn und hell, und so würde sie aller Voraussicht nach auch bleiben, wie der Kutscher und Feldscher versichert hatte. „Stinkenden Seeotter?“ wiederholte er gallig. „Das ist noch lange kein Grund, einen zu beleidigen, nur weil ich sage, was ich will.“ „Kannst du auch, du aufgedockter Wanderkrebs“, sagte Carberry gemütlich. „Du hast bloß Angst, daß dir dein Affenarsch eines Tages an Deck anfriert, und sonst nichts. Wenn der Kapitän sagt, er sucht die Nordwest-Passage, dann sucht er sie auch, und keiner wird ihn daran hindern. Und wenn dir das nicht paßt, du kalfaterte Seegurke, dann beschwere dich bei dem Seewolf oder laß dich an Land pullen und warte so lange, bis wir zurückkehren.“ „Sag bloß, du fühlst dich hier wohl?“ fragte Luke angriffslustig. „Wohl fühlen würde ich mich an einem weißen Strand in der Karibik, wo die Sonne scheint, barbusige Mädchen um einen herumtändeln und einem die Südfrüchte in das aufgesperrte Maul fallen. Ja. dort würde ich mich wohler fühlen“, sagte der Profos und grinste infam, als in Lukes Augen richtige Gier aufblitzte. „Aber das hier, das ist was für wagemutige Männer, für Kerle, die sich etwas zutrauen. Hosenscheißer haben im hohen Norden nichts verloren, die haben Angst vor Kälte, Wind und Eis. Na, von dir kann man nun wirklich nicht behaupten, daß du Angst hast“, sagte Ed lauernd. Luke Morgan räusperte sich. Seine Zornesfalte auf der Stirn glättete sich und verschwand. Trotzdem warf er Carberry noch einen drohenden Blick zu. „Du – du bist der lausigste Profos, den ich kenne. Du verstehst es herrlich, einen immer an der Ehre zu packen, was? Trotzdem ist und bleibt das eine ScheißPassage.“ Carberry grinste immer noch, und als jetzt seine Zähne sichtbar wurden, sah er mit seinem Narbengesicht zum Fürchten aus.
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„Plüschenlogisch nennt man das“, sagte er. „Oder so ähnlich hat es der Kutscher genannt.“ „Und was soll das heißen?“ fragte Luke etwas versöhnlicher. „Das muß was mit der Seele zu tun haben. Aber wie das zusammenhängt, ist eine Wissenschaft, die man Plüschendings nennt.“ Der Kutscher und Feldscher, der mit einer Kanne heißer Getränke gerade nach achtern ging, blieb stehen, zuckte zusammen und verzog peinlich berührt das Gesicht. „Du hast nicht zufällig Hagelkörner in den Ohren, wie?“ fragte er den verdutzten Profos. „Hagelkörner?“ wiederholte Ed. „Du spinnst wohl, du lausiger Portionenschwenker.“ „Du scheinst dich dauernd zu verhören“, sagte der Kutscher ungerührt. „Wenn Fachausdrücke schon nicht in deinen knorrigen Schädel gehen, dann wende sie auch nicht an. Sir Freemont wäre jetzt schon an einem Schock gestorben, hätte er das gehört. Das heißt psychologisch, du Plattfisch, und hat mit Plüsch nicht das geringste zu tun.“ Der Kutscher zog ein hoheitsvolles Gesicht, ließ den verdatterten Profos stehen und ging weiter nach achtern. „Daß diese gelehrte Kombüsenwanze immer alles besser weiß“, knurrte Ed sauer. „Den muß ich wohl wieder mal auf Vordermann bringen, damit er weiß, wer ich bin!“ Davies und Morgan grinsten jetzt ebenfalls. Der Kutscher nahm kein Blatt vor den Mund, und er geriet mit dem Profos wegen solcher Kleinigkeiten oft aneinander. Dann brüllten sich beide an, aber ein paar Minuten später war alles wieder vergessen. „Wie weit gehen wir denn nach Norden hinauf?“ fragte Matt Davies und kratzte mit seiner Hakenprothese am Schädel herum. „Nicht sehr weit“, versicherte Ed. „Denn wenn wir oben sind, segeln wir schon wieder nach Süden.“
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Er schlug dem verblüfften Matt auf die Schulter, grinste die beiden Männer an und ging ebenfalls nach achtern. „Das ist die blödeste Antwort, die er je gegeben hat“, sagte Luke empört. Matt winkte ab: „Laß mal, es war auch eine reichlich saudumme Frage von mir. Wie soll Ed das schließlich wissen? Aber du hast recht, Luke, ich würde auch gern darauf verzichten, die Passage zu suchen. Vielleicht gibt es sie gar nicht, und selbst wenn wir sie finden, was haben wir davon?“ „Auf alle Fälle einen kalten Hintern. Der Seewolf hat gesagt, wenn es diese Nordwest-Passage wirklich gibt, braucht man nicht mehr um das Kap der Stürme zu segeln und spart Monate an Zeit dadurch. Er vermutet, daß wir dann wieder in den Pazifischen Ozean gelangen.“ „Das kann ich mir nicht vorstellen“, sagte Matt zweifelnd. „Ich mir auch nicht, aber an Hasards Vermutungen ist immer etwas dran. Trotzdem finde ich es beschissen.“ „Beschissen ist geprahlt“, sagte eine tiefe Stimme hinter ihnen. Es war der riesenhafte Neger Batuti, der seine klammen Hände rieb. Er trug eine Mütze, die ihm weit über die Ohren reichte, und war so vermummt und eingepackt, daß man nur noch seine rollenden Augen und die Nase sah. „Batuti frieren, immer sich frieren“, sagte er in seinem immer noch nicht einwandfreien Englisch. „Wenn morgens waschen, frieren Wasser an Körper, und Batuti wandelndes Eiszapfen. Batuti lieber zurück nach warmes Land, nach warme Brüder, wo Sonne scheint.“ Luke Morgan und Matt Davies begannen schallend zu lachen. Sie hieben sich auf die Schenkel und konnten sich nicht beruhigen, weil der Neger sich wieder einmal unglücklich ausgedrückt hatte. Das hob ein wenig die düstere Stimmung, und als ein paar andere Seewölfe erschienen und sich nach dem Grund des unbändigen Gelächters erkundigten, mußte sich der Gambianeger eine ganze Menge anhören.
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„Ihr kalte Brüder!“ schrie der Neger. „Ihr nix verstehen. Immer dumm grinsen, wenn Batuti was sagen. Ihr Krummhund, Trittarsch!“ Auf der Kuhl bogen sich die Männer vor Lachen, und als der Seewolf die grölende Meute vom Achterkastell aus sah, wie sie brüllten, lachten und sich amüsierten, mußte auch er lächeln, denn das Gelächter wirkte ansteckend. Außerdem entspannte es. „Da hat unser guter Batuti wohl wieder mal was Falsches gesagt“, meinte er zu Ben Brighton, der dick vermummt neben ihm stand. „Aber ich bin froh, wenn sie wieder lachen können. Die Stimmung war ziemlich mies, und sie wurde immer schlechter, je höher wir nach Norden segelten.“ „Die gute Laune wird sich bald wieder legen“, prophezeite Ben. „Die meisten wollen nicht einsehen, daß wir immer höher in die kalten Zonen segeln.“ Hasards Gesicht blieb unbewegt. Sein Lächeln war verschwunden. „Und wie denkst du darüber?“ fragte er seinen Bootsmann. Ben Brighton war nicht der Typ, der herumdruckste. Wenn ihm etwas nicht paßte, sagte er es frei heraus. „Mir gefällt es auch nicht so richtig, Sir.“ „Steck dir deinen Sir an den Hut! „Aber weshalb denn?“ fragte Ben gelassen. „Du bist doch zum Ritter geschlagen worden und demnach ein Sir. Also, ich finde die Idee nicht besonders gut.“ „Der Grund?“ fragte der Seewolf hart. „Erinnerst du dich an das südliche Polarmeer? Dort begegneten uns nur Strapazen, Hunger, Durst und Krankheit. Und beinahe hätte uns das ewige Eis eingeschlossen. Allerdings haben wir da nichts gesucht, der Sturm hat uns verschlagen.“ „Diesmal suchen wir gezielt. Ich möchte einen neuen Seeweg finden, und ich bin sicher, daß es ihn hier gibt.“ „Vorteile haben wir kaum davon“, sagte Ben. „Das ist auch die Ansicht der meisten anderen. Für sie gibt es nichts zu holen, keine Spanier, keine Kämpfe, es dürfte
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ausgesprochen langweilig werden. Eine entbehrungsreiche Reise, die uns nichts einbringt. Das ist meine Meinung. Du wolltest sie ja hören, Sir.“ Der Seewolf nickte. Mit der Hand strich er sich die schwarzen Haare aus der Stirn. „Viele andere vor uns haben auch Entbehrungen auf sich genommen. Wer nichts wagt, gewinnt auch nichts. Wenn jeder so denkt, wird die Welt nie erforscht werden. Dann können wir uns genauso gut an Land niederlassen, Häuser bauen und Kinder zeugen. Aber da uns der Sturm hierher geweht hat, will ich die Gelegenheit ausnutzen. Und ich werde die Passage finden, verlaß dich darauf, Mister Brighton. Und wem es nicht paßt, der soll es mir selbst ins Gesicht sagen.“ Seit langem hatte es keine Unstimmigkeiten an Bord der „Isabella“ mehr gegeben, dachte Hasard. Aber er konnte seinen Männern die Stimmung nicht verübeln. Sie hatten nicht vor, zu meutern. Er hatte 'sie um ihre Meinung gefragt, und sie hatten ehrlich geantwortet. Sie würden ihm geschlossen in die Eismeerhölle folgen, das stand fest. Und ihre Bedenken durften sie jederzeit äußern. Er war sich selbst nicht sicher, ob er sich diesmal nicht etwas übernahm, denn freiwillig in die kalte Todeszone segelte so schnell niemand, der nicht vom Ehrgeiz gepackt war. Außerdem dachte er daran, daß er seine beiden Söhne und Siri-Tong an Bord hatte. Die Rote Korsarin hatte auch schon mit ihm über das Für und Wider dieser Reise debattiert - und gekuscht, als sie seine Argumente hörte. „Lege den Männern das bitte nicht falsch aus“, sagte Ben. „Sie gehen für dich durchs Feuer, und die Borddisziplin wird unter dem bißchen Gemecker nicht leiden.“ „Das weiß ich, Ben“, erwiderte Hasard versöhnlich. „Mich regt es auch auf, wenn wir hier herumsegeln und aus der verdammten Bai nicht herausfinden. Die Karten zeigen hier ja nichts weiter an als trostlose Einöde, eben weil diese Ecke noch nicht erforscht worden ist. Es gibt jedenfalls kein genaues Material darüber, aber wir werden welches anfertigen.“
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„Warum bist du eigentlich so sicher, daß es eine Passage gibt, die wieder in den Pazifik führt?“ wollte der Bootsmann wissen. „Ich fühle es einfach. Dieses endlose Inselgewirr hat mit Sicherheit einen Ausgang in ein anderes Weltmeer. Hier findet sich Insel an Insel, man muß nur wissen, wie man richtig hindurchlaviert. Und das werden wir feststellen.“ Brighton nickte nur. Gewiß, sie würden es zumindest versuchen. Männer wie Magellan hatten die Straße zwischen Südamerika und Feuerland gefunden und entdeckt, durch die man sich den beschwerlichen Weg um das Kap der Stürme ersparte. Weshalb sollte es ihnen nicht ebenfalls gelingen, die sagenhafte Nordwest-Passage zu finden? „Land voraus!“ ertönte eine Stimme aus dem Großmars. Es war der Schwede Stenmark, der es rief und dick vermummt im Großmars seinen Posten als Ausguck ging. Hasard hob die Hand zum Zeichen, daß er verstanden hatte. Das Land voraus konnte nur die kleine namenlose Insel sein, eine von vielen, die sie auf der Herfahrt passiert hatten. Und gegenüber dieser trostlosen Insel lag eine weitere. Das war der Ausweg. Hatten sie die Inseln passiert, mußten sie auf Ostkurs gehen. Nur so konnten sie wieder in den Atlantischen Ozean segeln. Von dort aus, so überlegte der Seewolf, ging es mit Nordkurs weiter, und später würde man in nordwestlicher Richtung auch die Passage finden - wenn es sie gab. Gleich darauf meldete Stenmark noch einmal Land, diesmal zwei Strich an Backbord, und da hatte Hasard die Gewißheit, nicht länger in dieser verdammten Bai herumkrebsen zu müssen. Zumindest war jetzt wieder der Rückweg gefunden. Er sah es an den Gesichtern der Seewölfe, die jetzt erleichtert wirkten. Vom Achterkastell aus nickte er den Männern zu.
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Die ernsten Gesichter lösten sich, und einige fingen an zu grinsen, bis die harten Kerle schließlich alle grinsten. Carberry hob die Faust in die Luft. „Auf die verdammte Passage!“ rief er. „Arwe-nack!“ Damit war der Bann gebrochen, und die Beklemmung wich, als die anderen in den Chor einfielen und den alten Schlachtruf der Seewölfe anstimmten. Die „Arwenacks“ waren bereit, ihrem Kapitän in die Hölle zu folgen. In die Eishölle diesmal. 2. Rauher, kalter Wind fegte über Deck, als sich die „Isabella“ mit Steuerbordhalsen auf Backbordbug liegend durch die Hudsonstraße wälzte und schob wie ein gigantischer Pflug, der das Wasser zerteilte, auftürmte und hinter sich herzog. Es war kalt, um nicht zu sagen, saukalt. Der Atem gefror vor den Lippen, die Nasenflügel klebten, und in den Ohren war ein Prickeln, das von saftigen Ohrfeigen herrühren könnte, wie der Profos sagte. Der Wind pfiff, heulte und toste von Südost und türmte die See immer höher auf. Hier, über dem sechzigsten Grad nördlicher Breite, war das Land karg und dürftig. Die Vegetation bestand aus ein paar armseligen dürren Sträuchern, Flechten und Moosen. Hier blühte keine Blume, hier gab es keine weißen Sandstrände mit sanft geschwungenen Buchten. Das ferne Ufer war flach, großsteinig und kahl. Die nahende Polregion ließ sich bereits überdeutlich ahnen. In den dunkelgrauen, schnell dahinjagenden Wolken erschienen ab und zu kleine Punkte, die vom Himmel fielen, weit entfernt von dem Rahsegler in die See klatschten, nach einem Fisch schnappten und wieder auftauchten. „Die haben vielleicht einen sonnigen Humor“, meinte der Profos und wies auf die Seevögel, deren Namen sie nicht kannten. „Wenn ich fliegen könnte, würde ich mich in den Süden verziehen und nicht
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den Bauch ins kalte Wasser hängen. Die Viecher sind doch ausgesprochen dämlich.“ Dan O'Flynn, der jetzt am Ruder stand und Pete Ballie abgelöst hatte, lachte leise. „Wie sollen die denn in den Süden finden, wenn sie keine Seekarten und keinen Kompaß haben, Ed? Vielleicht gefällt es ihnen hier im kalten Wasser besser.“ „Quatsch! Die wissen nur nicht, daß es überhaupt einen Süden gibt, sonst wären sie längst abgehauen“, sagte Ed bestimmt. „Ja, so wie Arwenack und Sir John, die haben es ebenfalls vorgezogen, unter Deck zu bleiben.“ Der kälteempfindliche Papagei hockte schon seit einigen Tagen ziemlich lustlos und aufgeplustert herum. Deshalb hatte ihn der Profos in den von Ferris Tucker gezimmerten Vogelkäfig gesperrt und ihn in die achtere Kammer gebracht. Der Schimpanse dagegen hielt sich ebenfalls unter Deck auf, nur wußte keiner, wo er sich gerade befand. Mal erschien er beim Kutscher in der Kombüse, mal im Vordeck, dann wieder achtern, und ab und zu verirrte er sich ins Ruderhaus, aber wenn ihn da die Männer nicht verscheuchten, trieb ihn die Kälte wieder unter Deck. Der Ausguck wurde jede halbe Stunde abgelöst. Bei dem eisigen Wind hielt es keiner lange in der luftigen Höhe aus. Immer weiter segelte die „Isabella“ durch die Hudsonstraße, bis sie Baffin-Land rundete und wieder Nordkurs steuerte. Der Wind wurde böig und noch kälter. Mitunter fiel er so hart ein, daß der schlanke Rahsegler hart überkrängte. Dan O'Flynn nutzte die Böen aus, so gut es ging. „Wir kriegen verdammt hartes Wetter“, sagte er zu Carberry, der sich ebenfalls im Ruderhaus aufhielt. „Und weißt du, was das bedeutet, Ed?“ „Glaubst du, ich renne mit geschlossenen Augen an Deck herum, was, wie? Klar weiß ich das. Aber das geht vorerst nicht.“ „Weißt du wirklich, was ich meine?“ „Klar!“ schrie Ed. „Wir hätten schon früher daran denken sollen. Du meinst die
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Schlechtwettersegel. Die brauchen wir hier oben, wenn wir nicht wollen, daß die anderen davonfliegen. Ich werde mit Hasard reden, vielleicht können wir eine Bucht anlaufen, vielleicht aber hält er die anderen Segel gar nicht für nötig.“ Er ging über das stürmische Deck zur Segellast, wo der alte Will Thorne, der Segelmacher und älteste Mann an Bord, ein relativ warmes Plätzchen hatte. Beim Eintritt sah Ed den Alten inmitten der Segelleinen, Taue, Persenninge und Segelkleider hocken. über seinem Kopf pendelte eine Öllampe und spendete milchig-warmes Licht. Carberry wunderte sich immer wieder über den ruhigen, grauhaarigen und besonnenen Mann. Wenn andere mal faulenzten, fand Will Thorne das ganz natürlich, daß sie sich ausruhten, aber er selbst brachte es nicht fertig. Er war einer von denen, die immer beschäftigt sein mußten, sonst fühlte er sich nicht wohl. Daher gab es auf der „Isabella“ in der Last auch keine stickigen, modrigen und dumpf riechenden Segel. Bei Will Thorne sah immer alles so aus, als wäre es frisch gewaschen. Sie konnten froh sein, diesen Mann, dessen Existenz sich fast ausschließlich im Hintergrund abspielte, an Bord zu haben, denn der grauhaarige Mann verstand sich nicht nur aufs Segelmachen oder Schneidern, er war auch ein hervorragender Seemann. Bei seinem Eintritt blickte Will hoch. Der Profos kratzte sich sein unrasiertes Kinn. Es hörte sich wieder einmal so an, als schliche ein ganzer Hügel Ameisen knisternd davon. „Will“, sagte er, „ich glaube, wir werden die Schwerwettersegel brauchen. Wie sieht es damit aus? Je höher wir nach Norden segeln, umso steifer und härter werden die anderen Segel. Es wird ja auch immer kälter.“ „Daran habe ich längst gedacht. Sie sind alle in den großen Segelsäcken verstaut, ich habe sie heute morgen kontrolliert. Wir haben sie seit langer Zeit nicht mehr
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gebraucht. Nur ab und zu haben wir sie zum Auslüften an Deck gebracht.“ „Ja, gut“, sagte Ed lahm. Er druckste herum, überlegte, kratzte sich wieder das Kinn und rang sich schließlich zu einem Entschluß durch. „Du hast doch mal für Hasards Söhne Hosen und Jacken geschnitzt, äh, geschneidert oder genäht, meine ich. Weißt du noch?“ „Klar, auch für die anderen schon. Brauchen sie Kleidung?“ Carberry dachte daran, daß sie sich schon bald alle die Knochen in den Polarzonen abfrieren würden, und er dachte dabei mehr an die anderen als an sich selbst. „Ich habe doch das Eisbärenfell; weißt du! Ich hatte es fast vergessen, aber ich erinnere mich jetzt wieder, daß ich es versprochen hatte, als wir die Flaschenpost fanden. Unter uns gesagt, Will: Es ist ein schweres, dickes Fell und ganz weiß, aber ich glaube nicht, daß es von einem Eisbären stammt. Ich kann mir nicht vorstellen, daß es so große weiße Bären überhaupt gibt. Schon gar nicht hier, wo es so lausig kalt ist.“ „Hendrik Laas, der Däne, hat es aber gesagt, als er es dir damals schenkte.“ „Ja, schon, aber vielleicht hat er ein bißchen gemogelt mit den Eisbären. Egal, ob es nun welche gibt oder nicht, ich selbst zweifle ja daran, aber ich möchte dich um etwas bitten.“ „Ich weiß schon, was du willst, Profos.“ „Komisch, alle wissen immer schon, was ich will, und ich erfahre es meist als letzter“, sagte Ed. „Kannst du aus dem Fell für die beiden Rübenschweinchen nicht ein paar Klamotten nähen? Damit die Lausebengels nicht frieren, wenn sie mal an Deck gehen. Ich lasse es dir dann bringen, Will.“ „Natürlich kann ich das. Das Fell ist riesengroß, daraus lassen sich leicht zwei feine Kleidungsstücke nähen. Hosen und Jacken, und dann bleibt noch immer etwas übrig. Vielleicht eine Pelzmütze für SiriTong?“
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„Das wäre sehr gut, Will. Ich bring dir dafür auch eine Flasche guten KaribikRum.“ „Darum geht es mir nicht, Profos. Aber wolltest du dir nicht selbst eine Hose aus dem Fell schneidern lassen? Für dich?“ „Mein Achtersteven hält Kälte aus“, versicherte Ed. „Der friert so schnell nicht an. Ja, dann hätte ich noch etwas. Du hast doch sicher alte Persenninge oder altes Segelleinen, das nicht unbedingt gebraucht wird, oder?“ „Ja, für alle möglichen Zwecke. Was willst du damit?“ „Damit könnten wir das Ruderhaus von innen auskleiden, damit der Wind nicht so durch die Ritzen pfeift und die Rudergänger es wärmer haben. Es wird noch so oder so lausig kalt.“ „Eine gute Idee“, sagte Will und stand auf. „Womit beginnen wir zuerst?“ „Mit dem Bärenfell.“ „Gut, mit dem Fell also. Und dann mit dem Ruderhaus.“ Der Profos grinste Will Thorne an, hieb ihm auf die Schulter und ging zurück. Etwas später brachte Bill das flauschige weiche Riesenfell zu Thorne, blieb gleich da und half ihm. Unterdessen hatte der Profos wieder das Achterkastell geentert, wo Hasard stand und die See mit dem Kieker absuchte. Diesmal trug der Seewolf sein Hemd nicht mehr offen, denn hier oben pfiff und heulte der Wind noch stärker als unten an Deck. Über dem Hemd trug Hasard sein Lederwams und darüber eine schwere Jacke. „Ein ödes, trostloses Land“, sagte er zu Ed. „Hier geht man ja vor lauter Monotonie zugrunde.“ „Ja, hier kann man schnell krank werden“, sagte Carberry. „Ist das so etwas Ähnliches wie Skorbut, Sir?“ Hasard lachte laut. „Nein, das ist Eintönigkeit. Ich denke, wir werden heute nacht irgendwo ankern, wenn sich eine stille Bucht findet. Ich möchte ausgeruhte Männer für den harten Törn und keine halberfrorenen Gestalten. Mit frischen Kräften ist das besser zu
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packen, und die Nordwest-Passage läuft uns schließlich nicht davon.“ „Das trifft sich gut“, sagte Ed Hände reibend. „Dann tauschen wir die Segel gegen die Schlechtwettersegel, das wird nämlich verdammt nötig. Die Burschen werden noch einmal richtig ranklotzen können und wieder schwitzen. Wenn dann jeder anschließend noch einen ordentlichen Schluck erhält, dann sind wir wieder die Fürsten der See, Sir. Ich habe übrigens veranlaßt, daß wir das Ruderhaus mit alten Segeln von innen auskleiden. Was sagst du dazu, Sir?“ „Nur sechs Worte.“ „Und die lauten, Sir?“ „Daß du ein hervorragender Profos bist.“ Wenn Carberry sich jetzt im Spiegel gesehen hätte, dann wäre er erschrocken zurückgezuckt. So aber sah es nur der Seewolf. Zunächst ging über das stoppelbärtige Gesicht ein Grinsen, das immer breiter wurde. Carberry entblößte eine Zahnlücke, die man sonst kaum sah, und die vielen Narben in seinem Amboßgesicht traten stärker und deutlicher hervor. Dazu reckte sich sein mächtiges Kinn vor, und er war jetzt mit Abstand einer der häßlichsten Profosse, die der Seewolf je gesehen hatte. Aber er war auch der beste, und das war entscheidend, und er hatte das Herz immer auf dem rechten Fleck, wenn er auch ein großer Sprücheklopfer war. Was wäre die „Isabella“ ohne ihren markanten Profos? dachte Hasard und beglückwünschte sich noch heute dazu, ihn an Bord genommen zu haben – damals bei Francis Drake. „Gut“, sagte der Seewolf schließlich. „Dann werden wir die nächste Bucht anlaufen, die hinter den Hügeln liegt. Da sieht es aus, als befände sich ein tiefer Einschnitt im Land.“ „Aye, aye, Sir!“ brüllte Ed. „Und jetzt werde ich die triefäugigen Kakerlaken an Deck treiben; daß sie ihre helle Freude haben.“ „Aber erst in der Bucht, Ed. Bei dem Wind können wir doch nichts unternehmen.“
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Die Bucht fand sich am späten Nachmittag, und dann waren alle Seewölfe an Deck versammelt. Ed wurde von der ganzen Horde umringt. „Ihr friert doch alle, was, wie?“ sagte er laut, und als zustimmendes Gemurmel laut wurde, hob er die Hand. „Das ist jetzt gleich vorbei. Sobald wir in die Bucht einlaufen, lasse ich die Sonne für euch scheinen, und euch wird allen verdammt warm ums Herz werden.“ Die meisten blickten ihn verständnislos an. Der alte O'Flynn musterte den Profos aus verkniffenen Augen. „Versündige dich bloß nicht!“ rief er. „Wie willst du denn die Sonne scheinen lassen, he? Wie soll uns denn warm werden?“ „Indem ihr die Rahen abfiert, die Segel abschlagt, schön verpackt und neue anschlagt“, erklärte Ed genüßlich. „Und das geht hopphopp und noch schneller, ihr lausigen Eisbeine. Und wer dann immer noch friert, den klopfe ich so lange durch, bis er es vor Hitze nicht mehr aushält. Ich werde mit der Sanduhr daneben stehen, und wenn sie umgedreht wird, dann hängt ein neues Schlechtwettersegel an der Rah. Und wenn ich sie wieder umdrehe, hängt das nächste dran und so weiter.“ „Und wenn du vergißt, sie umzudrehen“, schrie Smoky, „dann hängst du an der Rah, schön aufgegeit und angeschlagen!“ „Die Wette halte ich, Smoky. Euch tranäugige Seedisteln werde ich schon auf Trab bringen.“ Sie lachten alle, sie kannten ihren Profos, der ihnen die schlimmsten Strafen in Aussicht stellte, aber es nie so rauhbauzig meinte, wie er es sagte. „Fallen Anker!“ brüllte Eds Stentorstimme etwas später über Deck. „Runter mit dem Hammer, oder sollen wir auf Land laufen, was, wie?“ Der Stockanker donnerte ins Wasser und faßte Grund. Die Segel waren aufgegeit. In einem weiten Bogen schwoite die „Isabella“ dem Land entgegen, bis sie endlich festlag. 3.
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Die Bucht, in der sie jetzt lagen, war von der Natur in der übelsten Weise vernachlässigt, wenn man sie mit anderen, südlichen 'Buchten verglich. Es gab keinen Strand, nur aus dem Wasser ragende Felsen und dazwischen Steine allen Kalibers. Fingerhohe, blattlose dürre Gerippe reckten sich aus dem Boden, die man weder als Strauch noch als Pflanze bezeichnen konnte. Die spärlichen Grashalme ließen sich an einer Hand abzählen, und dazu benötigte man noch nicht einmal alle Finger. Das karge Ufer war von graubraunen Flechten überzogen. Ganz dicht vor der Küste gab es immer wieder helle weiße Flecken. Es war Flockeneis, das vom Grund hochstieg und sich an den Ufern verteilte. Der rauhe Wind trieb es zusammen, bis das Eis winzige Teppiche bildete. Das Eigenartigste war jedoch der Himmel, der noch immer die Farbe von kaltem Haferbrei aufwies. Es wollte nicht dämmrig werden wie in den anderen Landzonen. Es war weder Tag noch Nacht, es war mehr eine Art Zwielicht, an einzelnen Stellen leicht rötlich durchsetzt. Wenigstens war die See in der langgestreckten Bucht einigermaßen ruhig, und die „Isabella“ dümpelte nur leicht. Die Seewölfe hatten die Schwerwettersegel an Deck geschleppt, und jetzt nahm Carberrys Versprechen langsam Gestalt an. Den ersten liefen bereits Schweißtropfen über die Gesichter. Ed hielt aber keineswegs die Sanduhr in der Hand, wie er angekündigt hatte. Er war bei der üblen Plackerei dabei, lud sich eins der schweren Segel auf sein breites Kreuz und schleppte es, wozu normalerweise zwei Mann mindestens nötig waren, allein zum Mast. Alle Hände packten an, außer Will Thorne und dem Moses Bill. Thorne hatte sein Eisbärenfell liegenlassen, denn jetzt war die Gelegenheit, das Ruderhaus auszukleiden, am günstigsten, weil sich niemand darin aufhielt und ihnen keiner im Weg stand. Mit kleinen Kupfernägeln wurden die alten Segel an die Holzbretter genagelt.
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„Richtig gemütlich ist es jetzt“, sagte der Moses Bill und strich sich seine Haarsträhnen aus dem Gesicht. „Man könnte auf den Rudergänger direkt neidisch werden, Mister Thorne.“ Ja, das fand der Segelmacher auch. Kein Wind konnte mehr durch die Ritzen pfeifen und die Kälte hereinjagen. Unterdessen schufteten die anderen weiter, bis nach und nach die Segel gegen die anderen ausgetauscht waren. Die Rahen wurden wieder hochgehievt, und Carberry sah sich stolz im Kreis der Männer um, die jetzt wirklich nicht mehr froren. „Jetzt gibt's noch einen kräftigen Schluck“, sagte er. „Und dann könnt ihr lahmarschigen Wanzen euch auspennen bis morgen früh. Die Männer, die gern Landgang haben wollen, melden sich anschließend bei mir.“ Aber da wartete er vergebens. „Hä - Landgang?“ fragte Smoky verdattert. „Was sollen wir denn dort anfangen?“ „Hast du nicht die Kneipe gesehen?“ fragte Ed. „Vorhin, etwas weiter südlich, so um die zweitausend Meilen.“ „Selten so gelacht“, sagte Smoky. Nach einem kräftigen Schluck wollte jeder das Ruderhaus sehen, und alle klopften dem Profos liebevoll auf den Rücken, weil er die Idee gehabt hatte. „Aus dir wird noch mal ein richtiger Profos“, sagte Stenmark lachend. „Weiter so, junger Mann!“ „Schließlich habe ich auch den größten Kopf an Bord“, meinte Carberry überzeugt. „Da muß ja was drin sein.“ „Ganz richtig“, sagte der Kutscher, der den Rum verteilte und ohne saftige Sprüche nicht leben konnte. „Es wälzt in seinem Riesenkürbis sich der Gedanke, bis er mürb' ist.“ Als das Gelächter wie eine Riesenwoge durch die Kuhl wogte, verzog der Profos trotz allem amüsiert das Gesicht. „Ich weiß, daß man gegen diesen gelehrten Affen nicht anstinken kann“, sagte er ohne Groll. „Der ist ja so vornehm, daß er sogar einen kennt, der lesen und schreiben kann. Außerdem hat es noch keine lausige
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Küchenschabe geschafft, mich zu beleidigen.“ Der Seewolf, der ebenfalls mit angepackt hatte, lachte und ließ sich vom Kutscher noch einen Schluck geben. Ja, so waren die Kerle, dachte er. Erst gerieten sie sich in die Haare, fluchten auf das nördliche Eismeer, und jetzt fanden sie es ganz in Ordnung. Jedenfalls gaben sie sich unbeschwert. „Seid froh, daß wir uns mitten im arktischen Sommer befinden“, sagte er. „Sonst wäre es hier noch viel kälter.“ „Sommer?“ fragte Jeff Bowie entsetzt. „Ist das ein Witz, Sir?“ „Nein, ich meine es ernst. Hendrik Laas hat es mir gesagt. Wir befinden uns tatsächlich im Sommer, der Däne kennt sich hier gut aus und weiß, was er sagt.“ „Na, dann möchte ich hier nicht den Winter erleben“, meinte Bob Grey, „der muß ja erst recht lausig sein. Und dabei wird es immer kälter, je höher wir segeln, oder nicht?“ „Allerdings“, gab Hasard zu. „Das hier ist erst der Anfang. Wir kriegen es noch knüppeldick.“ „Also sind wir wieder mal am Arsch der Welt“, sagte Blacky. „Dort waren wir schon einmal, damals im Packeis. Demnach hat die Welt also zwei Ärsche, wenn ich das richtig sehe. Einen oben und den anderen unten.“ „Genau wie du“, sagte der Profos. „bei dir weiß man mitunter auch nicht, was oben und unten ist.“ Daß die Männer sich gegenseitig anpflaumten, trug immer wieder zur allgemeinen Fröhlichkeit bei und wirkte erheiternd. Das empfand auch der Seewolf, und er nickte. „So unrecht hast du gar nicht einmal, Blacky. Wenn wir höher nach Norden segeln, befinden wir uns genau entgegengesetzt der Stelle, an der wir damals waren. Wir haben also dadurch Erkenntnisse gewonnen, die uns befähigen, sich die Erde als Kugelgestalt vorstellen zu können. Sie ist an allen Ecken rund“, sagte er lächelnd, „und aus diesem Grund reizt es mich, einen anderen Weg zu finden.
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Haben wir den entdeckt, dann wissen wir eine ganze Menge mehr über diesen Planeten. Finden wir die Passage nicht, dann ist zwar nicht gesagt, daß es sie nicht gibt, aber wir haben es immerhin versucht und sind ebenfalls an Erfahrung reicher geworden. Darüber solltet ihr einmal nachdenken.“ „Oh, wir haben das schon begriffen, Sir“, sagte Matt Davies. „Ich kann mir das jetzt auch einigermaßen gut vorstellen.“ Er blickte zum Himmel und sah den Seewolf wieder an. „Eigentlich müßte es längst dunkel sein, Sir“, sagte er dann. „Falls mich mein Gefühl nicht trügt“, setzte er hinzu. „Normalerweise schon, aber hier gelten andere Gesetze. Es ist mir selbst neu, und ich hätte mich darüber gewundert, wenn Laas mir nicht auch das gesagt hätte. In dieser Zeit gibt es keinen Sonnenuntergang, die Sonne beschreibt nur eine ziemlich flache Kurve am Himmel, mehr nicht.“ Die meisten zweifelten und fragten sich insgeheim, ob ihr Kapitän sie diesmal nicht selbst auf den Arm nahm. Aber Hasards Gesicht blieb ernst, und nichts deutete darauf hin. Er wandte sich um und blickte zu Dan O'Flynn, der angestrengt zum nahen Ufer starrte, als gäbe es dort etwas ganz Besonderes zu sehen. „Was ist los, Dan?“ fragte der Seewolf. Der junge O'Flynn schüttelte verwundert den Kopf. „Dort vorn zwischen den Hügeln bewegt sich etwas. So, als ob das Land in Wallung gerät. Die Steine da drüben scheinen zu wandern und bewegen sich in Richtung der fernen Klippen.“ Carberry stemmte die Arme in die Hüften, beugte sich über das Schanzkleid und versuchte Dans Blick zu folgen. Aber er sah nichts. „Wieviel Rum hast du jetzt getrunken?“ fragte er. „Eine Muck voll“, erwiderte Dan. „Ich dachte immer, du würdest mehr vertragen, und jetzt siehst du wandernde Steine“, sagte er vorwurfsvoll.
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„Wenn du deine Klüsen auf Fernsicht stellst“, sagte Dan ungerührt, „dann wirst du das zweifellos auch feststellen können.“ Aber sosehr Carberry und die anderen sich bemühten, die wandernden Steine zu entdecken - sie sahen nichts. Nur einmal war dem Seewolf, als würde sich das Land an einzelnen Stellen wie eine kleine Welle vorwärts schieben. Er warf Bill einen Blick zu, und der verstand. Er ging nach achtern und brachte das Spektiv, das er dem Seewolf überreichte. Hasard fixierte den Punkt, schob den Kieker auseinander und sah lange hindurch. Es war ein eigenartiges Phänomen, das er betrachtete, und er setzte das Spektiv mehrmals ab und wischte sich ungläubig über die Augen. Doch das Bild blieb. Kleine, höchstens faustgroße Steine bildeten einen langen Keil und schoben sich unaufhaltsam vorwärts drängend durch die tundren- ähnliche, spärlich bewachsene Vegetation. Wie ein leicht auf- und abwallender Teppich sah es aus, ein Teppich in unaufhörlicher Bewegung, der einem festen Ziel entgegenstrebt. Er gab das Spektiv weiter, und jetzt zeigte sich in den Gesichtern der anderen Männer ebenfalls ungläubiges Erstaunen. „Ich muß mich bei dir entschuldigen“, sagte der Profos zu Dan. „Das sind wahrhaftig wandernde Steine, Mann! Wie ist so etwas nur möglich?“ Noch während er das sagte, warf er gleichzeitig dem alten O'Flynn einen drohenden Blick zu, denn der wollte gerade wieder eine seiner Schauergeschichten zum besten geben. „O'Flynn“, sagte der Profos warnend. „erzähle jetzt bloß nicht, ihr seid mit eurer lausigen ,Empress of Sea` auch schon hier oben gewesen, sonst lasse ich dein Holzbein zersägen und in der Kombüse verfeuern.“ „Noch habe ich gar nichts gesagt“, maulte der Alte. „Ich werde mich hüten, dir zu erzählen, daß es Zaubersteine sind, du Stint!“
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„Zaubersteine?“ fragte Ed, und damit hatte er auch schon angebissen. Aber Old O'Flynn gab sich verbiestert und eigensinnig. Allen neugierigen Fragen des Profos wich er aus, mit der Bemerkung, auf ihn würde ja doch keiner hören, und wenn, dann sei es ohnehin meistens zu spät. Der Seewolf fand sich mit diesem eigenartigen Bild immer noch nicht ab. Er wollte ergründen, was es mit diesen bräunlichen Steinen auf sich hatte. Er dachte an einen dicht unter der Erdoberfläche dahinziehenden Flußverlauf, der Geröll mit sich schob, aber diese Annahme befriedigte ihn auch nicht. Es mußte etwas anderes sein, etwas, das sie noch nie in ihrem Leben gesehen hatten. „Laß das kleine Boot abfieren, Ed“, sagte er. „Etwas, das man noch nicht gesehen hat, reizt die Neugier. Ich bin gespannt, ob ich mit meiner Vermutung recht behalte.“ „Aye, Sir. Wer soll mit?“ „Dan und du, das genügt. Den anderen erzählen wir, was wir gesehen haben.“ Das kleine Beiboot der „Isabella“ wurde abgefiert und lag gleich darauf dümpelnd in der Bucht. Der Seewolf, Carberry und Dan O'Flynn, der die merkwürdigen Gebilde entdeckt hatte, nahmen Platz. Carberry pullte das Boot an den steinigen Küstengrund, sprang heraus und zog es an Land. Die Männer gingen über den steinigen Boden, bis sie die kleinen Hügel erreichten, hinter denen die seltsame Bewegung entdeckt worden war. Der Untergrund bestand aus ein paar Grashalmen, Felsen, großkörnigem Sand und Steinen. Dazwischen wuchsen ab und zu farnähnliche graue Gebilde oder fingergroße krüppelige Hartpflanzen. Hasard blieb stehen und schluckte hart. Der Profos starrte ungläubig auf den Boden, und Dan brachte kaum ein Wort hervor. Nicht weit von ihnen, höchstens zwanzig Yards entfernt, krabbelte, schob, drängte und kroch eine unübersehbare Menge
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walzenförmiger dunkelbrauner Tiere über das Land. „Ratten“, sagte der Profos entgeistert. „Nein, das sind keine Ratten, Ed“, sagte der Seewolf. „Die sehen eher wie Wühlmäuse aus. Sie haben keine Schwänze wie Ratten. Mein Gott, das sind ja Hunderttausende!“ Ein gigantischer Strom von Leibern quoll an ihnen vorbei, und alle schienen nur ein einziges Ziel zu haben: die Klippen, die weiter nördlich ins Wasser ragten. Fassungslos sahen die drei Männer auf die unglaubliche Menge kleiner Nagetiere. Alles schob und drängte, die Schar wurde immer größer, und die Hektik, mit der das alles geschah, nahm zu. Es quirlte und brodelte, und erst jetzt vernahmen sie das eigenartige Zirpen und Pfeifen, von dem die Luft erfüllt war. Die eiligen Nager nahmen keine Notiz von den Menschen, sie reagierten auch dann nicht, als die Männer näher herantraten. In der Formation der scheinbar flüchtenden Nagetiere lag eine gewisse Ordnung. Keins der walzenförmigen Tiere tanzte aus der Reihe, sie alle rannten, schoben und drängten der vorausflutenden Menge nach, die längst die Klippen erreicht hatte und damit für die Seewölfe unsichtbar wurde. Nur noch zwei Yards trennten die Männer von der ungeduldig vorwärts stürmenden Flut, und als Hasard einen weiteren Schritt nach vorn tat, gab es in der Masse lediglich eine kleine Ausbuchtung. Die Ordnung wurde dadurch keinesfalls gestört, die Nager rannten ihrem Ziel unbeirrbar entgegen. „Wie Meerschweinchen sehen die aus“, sagte Dan schließlich. „Aber wovor flüchten die denn?“ Das wußte niemand, auch der Seewolf stand vor einem Rätsel, das er nicht zu lösen vermochte. Er bückte sich und sah sich die vorüberziehende Schar aus der Nähe an. Die Tiere waren an der Bauchunterseite fast hell, erst weiter oben wurde das dichte Fell dunkler, bis es an Kopf und Rücken fast schwarz wurde. Dunkle Knopfaugen blickten stur in eine Richtung, und die
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langen Barthaare der Tiere schienen erregt zu zittern. Sie rannten und rannten, und der Strom nahm kein Ende. Soweit man die dunkle Flut überblicken konnte, war sie mindestens sechs Yards breit und einige hundert Yards lang. Es war die größte Ansammlung von Tieren, die die Seewölfe jemals gesehen hatten. „Die rennen wie hypnotisiert“, sagte der Profos. „Ich frage mich nur, wovon die Biester eigentlich leben. Hier wächst doch weit und breit nicht einmal der zehnte Teil von dem, was sie brauchen.“ „Ja, und sie ziehen nach Norden, wo es noch weniger gibt. Aber allem Anschein nach scheint ihr Weg hinter den Klippen am Ufer weiterzuführen. Das ist wirklich eigenartig“, sagte Hasard. „Gehen wir ihnen doch einfach nach“, schlug Dan vor. „So weit ist es bis zu den Klippen ja nicht mehr.“ „Ja, das tun wir“, sagte Hasard. Ganz dicht folgten sie der merkwürdigen Gesellschaft, die immer noch keine Notiz von ihnen nahm. Sie reagierten selbst dann nicht, als Dan noch dichter heranging. Sie wichen lediglich in einem kleinen Bogen aus, liefen aber stur weiter. Bis zu den Klippen waren es annähernd dreihundert Yards, und die Seewölfe beschleunigten ihre Schritte, um zu sehen, wie das eigenartige Naturschauspiel weiterging. Die größte und verblüffendste Überraschung stand ihnen jedoch noch bevor, als sie die Klippen erreichten, die hier steil ins Meer abfielen, scharfkantig und zerklüftet. Hasard hatte die Stelle als erster erreicht, wo die braunen Nagetiere verschwanden. Er erwartete, daß sie jetzt in unübersehbaren Scharen nach unten kletterten. Als er aber über die Klippen blickte, sah er, daß es da kein Ufer gab. Von dort ging es direkt ins Wasser aus einer Höhe von mehr als fünfzehn Yards. Lediglich ein paar kleinere Eisbrocken trieben zwischen den Felsen.
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Wie erstarrt blieben auch die beiden anderen stehen, denn der Anblick, der sich ihnen jetzt bot, wirkte nicht nur beklemmend, er war auch unheimlich. Pfeifend und zirpend erreichten die Tiere die Klippen und rannten weiter, als gäbe es dort einen Weg. Sie stürzten sich in das eiskalte Wasser, zappelten und gingen unter. Sofort drängten die nächsten nach, schoben sich über den Rand der Klippe und stürzten sich ebenfalls mit einer Vehemenz ins Wasser, die an einen gigantischen Massenselbstmord erinnerte. Es gab kein Zögern und kein Halten für die anderen. Sie drängten nach, drückten, schoben und fielen hinunter. Die See verschlang sie fast augenblicklich, und nur ganz selten tauchte einer der kleinen Körper noch einmal auf, ehe er wieder versank. Carberry schlug die Hände vor das Gesicht. „Um Himmels willen“, sagte er schwer atmend. „die werden doch nicht an Bord schwimmen! Vielleicht haben sie gerochen, daß es da etwas zu holen gibt. Wir müssen zurück, Sir, schnell!“ „Die schwimmen nicht an Bord“, sagte der Seewolf gepreßt. „Die ertrinken alle, sie können nicht schwimmen wie Ratten, die stürzen sich einfach ins Meer, und weg sind sie.“ „Sie scheinen Angst zu haben“, meinte Dan. „Es ist doch schade um die possierlichen Tierchen. Sie wissen gar nicht, daß sie genau in ihren Tod rennen. Ich werde versuchen, sie aufzuhalten oder sie in die andere Richtung zu lenken.“ „Ich glaube, das wird nicht viel nutzen“, sagte Hasard. „Aber einen Versuch ist es immerhin wert.“ Es war nur natürlich, daß sich keiner das todeswütige Verhalten der kleinen Nager erklären konnte, und so hatte Dan auch nichts anderes im Sinn, als ihnen zu helfen. Er wußte nicht, daß die Natur das selbst regelte, und er hätte es auch kaum geglaubt. Er drang bis zur Klippe vor und stellte sich der anrennenden Schar in den Weg. Dabei klatschte er in die Hände und brüllte laut.
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Der braune, lebende Teppich dachte nicht daran, sich aufhalten zu lassen. Die fließende Bewegung wurde lediglich für kurze Zeit unterbrochen, als die vorderen Tiere nach links schwenkten und die anderen folgten. Kaum waren sie abgedreht, da wiederholte sich das Schauspiel an anderer Stelle. Wie in einem Rausch stürzten sich die mausähnlichen Tiere ins Meer und ertranken jämmerlich. Es hatte ganz den Anschein, als täten sie es mit voller Absicht, und nichts und niemand vermochte sie aufzuhalten. Auch Dans zweiter und dritter Versuch schlugen fehl. Er schaffte es lediglich, die Richtung zu ändern. Aber an ihrem sicheren Tod änderte das nichts, es verzögerte ihn nur um kurze Zeit. Weder Hasard noch ein anderer begriffen das seltsame Verhalten. Sie hielten nach anderen Tieren Ausschau, die die kleinen Nager womöglich verfolgten, aber weit und breit gab es kein anderes Tier, das zum Anlaß der tödlichen Flucht geworden wäre. Der ganze Teppich stürzte aufklatschend ins Meer, die nächste Welle folgte und raste über die Klippen. Die kleinen Tiere konnten tatsächlich nicht schwimmen. Die meisten sackten wie Steine ab, sobald sie ins Wasser fielen. Das Drama, das sich vor ihren Augen abspielte, dauerte länger als eine Viertelstunde, aber dann war es nur teilweise vorbei. Immer wieder erschienen in kleinen Scharen Nachzügler, die unbeirrbar ihren Weg ins Wasser suchten und auch fanden. Zum Schluß trippelten nur noch ein paar heran, aber auch die zögerten nicht und warfen sich todesmutig in das eisige Wasser. Dann war der Spuk vorbei. Das Gezirpe und leise Fiepen der Tiere hatte aufgehört. „Vielleicht hat der Kutscher dafür eine Erklärung“, sagte Hasard. „Der weiß doch immer mehr als alle anderen.“ Aber als sie etwas später an Bord zurückkehrten und die Geschichte den ungläubig zuhörenden Männern erzählten, hatte der Kutscher auch keine Erklärung zur Hand.
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„Nein, wirklich nicht“, sagte er kopfschüttelnd. „Vielleicht hatten sie alle die Tollwut, oder eine Seuche hat sie ergriffen, und dann sind sie planlos davongerannt. Etwas anderes kann ich mir nicht vorstellen.“ Aber auch diese Erklärung befriedigte Hasard nicht, denn die Tiere hatten keineswegs krank oder verseucht ausgesehen. So blieb das Rätsel um den Massenselbstmord ungelöst. Es gab keine vernünftige Erklärung dafür. 4. Am nächsten Morgen, genau genommen hatte es keine Nacht im üblichen Sinn gegeben, blies der Wind aus West. Er brachte den fernen Hauch von Eiskristallen mit. Es roch nach Schnee. Ein merkwürdiges Zwielicht herrschte, ein Geisterlicht, wie Old O'Flynn es insgeheim bezeichnete. Die Kälte hatte noch zugenommen, als die „Isabella“ ankerauf ging, um ihren Kurs nach Norden fortzusetzen. Die Seewölfe waren ausgeruht und frisch, aber die Kälte, die der scharfe Westwind mitführte, drang ihnen in alle Knochen. Carberry ließ beim Ankerhieven laut singen und grölte am lautesten mit, als die Männer sich in die Spillspaken stemmten und den Stockanker vom Grund hievten. Das Schiff zerrte schon ungeduldig an der Trosse, es wollte hinaus in sein Element, jeder spürte das überdeutlich. Hasard blickte vom Achterdeck nach vorn zu den Männern und wartete auf das Zeichen des Profos. Zwischendurch rieb er seine klammen Finger und sah zu den Flögeln hoch. Die „Windbüdel“ hingen waagerecht in der Luft. Der stramme Westwind blies kraftvoll in sie hinein. „Der Wind gefällt mir gar nicht“, sagte Hasard zu Pete Ballie, der jeden Morgen das Ruder übernahm. „Südostwind wäre mir am liebsten, aber leider kann man sich das nicht aussuchen. Wenn er stärker bläst, werden wir alle Mühe haben, in Küstennähe zu bleiben. Sobald wir die
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Bucht verlassen haben, Pete, gehst du auf einen Kurs, der uns immer in Sichtweite der Küste führt. Zu dicht möchte ich da nicht heran, anscheinend ist die Küste stark zerklüftet. Hier unverhofft auf ein Riff zu laufen, stelle ich mir gar nicht spaßig vor.“ Bevor Pete Ballie antworten konnte, hob der Profos den Daumen und zeigte an, daß der Anker aus dem Grund war. Sam Roscill stieg als erster in den Großmars auf, schüttelte sich wie ein nasser Hund und suchte seinen Platz hinter der Segeltuchverkleidung auf. Die „Isabella“ fiel ab, sie fuhr augenblicklich nur zwei Segel, aber der Profos war schon dabei, die anderen auch noch zu setzen. Mit achterlichem Wind ging sie glatt aus der Bucht und erreichte jene Stelle, wo sich das Wasser stark zu kräuseln begann. Dahinter sah es ziemlich übel aus. Dort liefen yardhohe Seewalzen kreuz und quer durcheinander und schlugen unter Getöse zusammen. Kreuzseen entstanden dort, und die „Isabella“ mußte hindurch. Sie schüttelte sich in allen Spanten, fing an zu bocken und benahm sich so, als würden von zwei Seiten zugleich riesige Fäuste auf sie einschlagen. Kabbelwasser nannte der Profos das verächtlich, aber das Kabbelwasser hatte es in sich und erschütterte das Schiff bis in die Mastspitzen. „Beeilung, ihr Eismeer-Ratten!“ rief Ed. „Gleich legen wir die Lady auf Steuerbordbug, sobald wir gerundet haben. Und dann will ich kräftige Fäuste an den Tampen sehen und keine Säuglingsgriffel. Und wenn euch die Hände frieren, dann laßt die Schoten und Fallen schneller durchlaufen, das wärmt so gut, daß ihr glaubt, ihr würdet des Teufels Großmutter an den heißen Hintern langen.“ Die Segel wurden nachgetrimmt, und dann ging der Rahsegler auf Nordkurs. Die See wurde knüppelhart. Der harte Westwind türmte sie in Luv auf und warf sie donnernd gegen die Planken. Die „Isabella“ holte stark über, eine Gischtwand nach der anderen donnerte schäumend in die Kuhl, wo sie sich verlief.
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Carberry und Ferris Tucker waren dabei, Strecktaue über Deck zu spannen, denn was ihnen hier passierte, war erst der Anfang von einem üblen Spiel. „Das gibt ein Wetterchen, Ed“, sagte der Schiffszimmermann. „Daran werden wir noch eine Weile denken, das verspreche ich dir.“ „Das glaube ich. Vor allem wenn die verdammte Eiskratzerei wieder losgeht, so wie damals. Das Zeug gefriert schon ganz zart auf dem Vordeck. Hast du es bemerkt?“ Tucker nickte, er mußte schon brüllen, um sich verständigen zu können. Der Wind riß ihm die Worte von den Lippen und wehte sie fort. Verbissen spannte er die Taue und schüttelte sich, wenn schwere See überkam und ihn durchnäßte. „Das hätten wir schon in der Bucht sollen, aber da hat man ja nicht sehen, daß es so bläst!“ schrie der Profos. Ferris Tucker deutete mit dem ausgestreckten Zeigefinger nach achtern und verzog das Gesicht zu einem Grinsen. Als Carberry der Blickrichtung folgte, mußte er lachen. Aus der achteren Kammer waren die Zwillinge erschienen, und alle beide, Hasard wie aus dem Gesicht geschnitten, schickten sich nun an, den Niedergang zum Achterkastell zu entern, um ihrem Vater stolzgeschwellt das vorzuführen, was sie auf dem Leib trugen. Thorne hat verdammt gute Arbeit geleistet, dachte der Profos, und das Zeug auch gleich abgeliefert. Wahrscheinlich hatte er wieder einmal die halbe Nacht durchgearbeitet. Die beiden sahen aus wie zwei Eisbärenjunge. Von oben bis unten waren sie in den dichten flauschigen Pelz gehüllt, so daß nur noch die Gesichter aus der weißen Kluft schauten. Die Kälte und der Seegang schienen ihnen nichts zu bedeuten, sie gaben sich ganz gelassen. Den beiden waren in der Zeit an Bord schon Seebeine gewachsen, und sie bewegten sich auf dem schwankenden Schiff nicht anders als die Seewölfe auch.
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Als sie Carberry sahen, hoben sie wie auf ein Kommando die Hände hoch und brüllten etwas herüber, was Ed jedoch nicht verstand. Vermutlich sollte es ein Dank sein. Auf dem Achterkastell stolzierten sie vor ihrem Vater hin und her und zogen eine richtige Schau ab, bis Hasard sie wieder amüsiert nach unten schickte. Sie gingen nur widerwillig, das sah man ihren Gesichtern an, aber der Seewolf wollte nicht riskieren, daß sie auf dem immer glatter werdenden Deck ausrutschten und über Bord gingen. Hasard selbst zog sich, als der Wind immer schneidender und kälter wurde, ins Ruderhaus zu Pete Ballie zurück. Ein Großteil der anderen Männer hielt sich in dem achteren Raum auf, der als Messe und Aufenthaltsraum diente. Auf dem Vordeck waren der Decksälteste Smoky und Bob Grey damit beschäftigt, ebenfalls Taue zu spannen. Der einzige, der bei diesem Dreckwetter immer insgeheim beneidet wurde, war der Kutscher. Er hockte im Warmen und fühlte sich wohl, obschon er alle Hände voll zu tun hatte. Als Smoky und Bob Grey mit den Tauen fertig waren und nach achtern gehen wollten, riß der Kutscher das Schott auf. Er hielt jedem eine dampfende Muck hin. „Stellt euch so lange unter, bis ihr getrunken habt“, sagte er. „Und seid froh, daß wir diesen Tee aus China mitgebracht haben, sonst gäbe es nur heißes Wasser. Ich habe etwas Zucker und Essigwasser hineingetan.“ „Keinen Rum?“ fragte Smoky. „Nein, keinen Rum“, betonte der Kutscher nachdrücklich. „Ihr sollt euch endlich mal an den edlen und aromatischen Geschmack dieser getrockneten Pflanze gewöhnen und ihn nicht immer mit Rum versauen. Außerdem wird der Rum knapp, und ich kann euch nicht den ganzen Tag an dem scharfen Zeug schlabbern lassen.“ Er sah, wie die beiden Männer sich erst die Hände an der Muck wärmten und den Tee dann in kleinen Schlucken tranken.
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„Sag mal, Kutscher“, begann Bob Grey, „wird dir die viele Arbeit in der Kombüse nicht über den Kopf wachsen? Ich meine, du brauchst doch ganz sicher eine Hilfe, oder?“ Der Kutscher grinste hinterhältig. „Das könnte dir so passen, was? Jetzt, wo dir der Achtersteven anfriert auf Deck, willst du mir plötzlich helfen. Als wir in den Tropen waren und es in der Kombüse zehnmal heißer war als an Deck, wo wenigstens noch ein Lüftchen wehte, da hast du über mich gelästert. Gerade du, und hast noch gesagt, ich solle in der Kombüse nur nicht ersticken und Koch zu sein wäre der letzte Scheiß beruf. Damals hast du nicht gefragt, ob du helfen sollst, und jetzt habe ich als Hilfe Madame Siri-Tong, ihr Stinte!“ „Die hilft dir?“ fragte Smoky. „Ja, sie hilft mir“, sagte der Kutscher. „Sie will schließlich nicht den ganzen Tag tatenlos in der Kammer hocken. Und wenn sie in der Kombüse hilft, dann geht alles viel schneller.“ „Deshalb war das Essen in letzter Zeit auch so gut“, sagte Bob Grey, doch dann mußte er sich in Sicherheit bringen, denn der Kutscher knallte ihm das Schott hart vor der Nase zu, und es hätte nicht viel gefehlt, dann wäre Bob jetzt mit einer geschwollenen Nase herumgelaufen. Smoky vergewisserte sich noch einmal genau, ob auf dem Vordeck, für das er zuständig war, alles in Ordnung war. Es war alles in Ordnung, wie er feststellte, doch als er von der Back einen Blick auf das Galionsdeck warf, erschrak er leicht. Das Galionsdeck war handbreit mit Eis überzogen. Es ähnelte der Grotte einer Tropfsteinhöhle. Spritzte die See darüber, so bildeten sich an einigen Stellen armlange Stalagmiten, die beängstigend rasch an Höhe gewannen. Tropfte das Wasser von der Blinde, so wuchsen Stalaktiten herab, die sich nach einer Weile lösten, wenn sie zu schwer wurden. „Verflucht“, murmelte der Decksälteste. Er ging nach achtern, um es dem Profos zu melden. Carberry sah ihn mürrisch an.
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„Ausgerechnet da vorn“, brummte er. „Da kann ich keine Leute hinschicken; nicht bei diesem Sauwetter. Sag mir Bescheid, Smoky, wenn die Schicht noch dicker wird, dann müssen eben ein paar Mann gut angeseilt Eis klopfen, sonst werden wir zu kopflastig.“ „Tu ich freiwillig“, sagte Smoky und verschwand wieder. Sehr lange dauerte es dann doch nicht, bis der Eispanzer immer dicker wurde, und die ersten Männer fluchten, weil sie wußten, was ihnen jetzt bevorstand: Eisklopfen, eine der unangenehmsten Arbeiten, die es gab, und gefährlich noch dazu. Es hörte sich so einfach an. Man nahm Hämmer, Äxte oder Beile und schlug das Eis weg. Damit war der Fall erledigt, aber es war nicht so einfach, wie es den Anschein hatte. Um nicht völlig von dem eisigen Wasser durchnäßt zu werden, mußte die „Isabella“ zunächst beidrehen. Dazu war erforderlich, daß die Segel aufgegeit wurden – und die waren bretthart gefroren. Der Seewolf ließ das Schiff vor Topp und Takel lenzen, als die Männer von der Back auf das Galionsdeck kletterten. Taue verbanden sie miteinander, -und durch die Taue liefen Eisenhaken, die sie zusätzlich sicherten. Big Old Shane, Ferris Tucker, Matt Davies, Ben Brighton, Batuti, Stenmark und Gary Andrews hieben drauflos, was das Zeug hielt. Der Profos überwachte die Leinen und hielt einige der Männer noch zusätzlich fest. Diesmal sprach er kein Wort und feuerte sie auch nicht an, wie es sonst seine Art war, sondern ab sich direkt geduldig. Eisbrocken flogen nach allen Seiten davon, klatschten in die See und begleiteten das Schiff eine Weile. Die Seewölfe klotzten ran, daß Stalagmiten und Stalaktiten nach allen Seiten krachend davonflogen. Mit sieben Männern gelang es rasch, die Fläche zu enteisen. Ab und zu, wenn einer ausrutschte und von der Leine gerade noch gehalten wurde, gab er einen unterdrückten Fluch von sich.
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Solange kein Wasser bei dieser Plackerei überkam, war es nicht ganz so schlimm, dann wurden sie wenigstens nicht bis auf die Haut durchnäßt, denn das Zeug, das sie am Körper trugen, war keinesfalls wasserdicht und auch nicht warm. Etwas später war die Arbeit geschafft. Gary Andrews schlug vor, der Kutscher könne doch alle halbe Stunde einen Kessel heißen Seewassers auf das Galionsdeck gießen, sobald sich erste Eisschichten bildeten. Das erwies sich jedoch als ausgeschlossen, denn zum einen half es nicht, und zum anderen hätte der Kutscher nichts anderes zu tun gehabt, als ständig Seewasser zu erhitzen. Als die Segel wieder gesetzt wurden, war die „Isabella“ ein ganzes Stück von der Küste abgedriftet. Auch jetzt drückte der harte Westwind das Schiff immer weiter ab. Allmählich verschwand das Land aus dem Sichtbereich. Carberry trommelte die Männer zusammen, die Eis geklopft hatten. Bei einigen waren die Gesichter blaurot verfärbt und die Finger so verkrümmt, daß sie sie nicht mehr ausstrecken konnten. Batuti war am schlimmsten dran von allen. Er konnte sich an die Kälte nicht gewöhnen, trotzdem meldete er sich immer wieder freiwillig, um sich abzuhärten, wie er sagte. „Ihr wechselt jetzt die Klamotten“, sagte Ed, „dann laßt ihr euch heißen Tee vom Kutscher geben und ruht euch aus, bis ihr wieder an Deck gebraucht werdet. Geht zu Will, wir haben noch die Sachen der Spanier an Bord, mit denen wir uns oft verkleidet haben. Da sind Lederwämser und warme Jacken dabei. Zieht euch alles an, was auf den Körper paßt. Später kriegen wir schon Gelegenheit und werden uns Felle beschaffen.“ Er warf dem bibbernden Batuti einen Blick zu. „Und wenn du dich bei dieser Hundekälte noch einmal freiwillig zum Eisklopfen meldest, dann hänge ich dich so lange in den Mast, bis die Sonne dich wieder erwärmt. Das kann ein paar Wochen dauern. Hast du das verstanden, du Dickschädel?“
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Batuti grinste, wobei ihm die Zähne klapperten. „Batuti nicht kann faulenzen, wenn andere arbeiten, Profos“, sagte er. „Batuti so was nicht tun.“ „Ob du das verstanden hast, du Eisklotz, will ich wissen“, fuhr Carberry den Neger an. „Batuti verstanden, Profos.“ „Gut. Du kannst später wieder ranklotzen, wenn wir irgendwo im Dschungel landen. Was meint ihr?“ fragte er die anderen. Ja, sie alle waren einverstanden. Für den Mann aus Gambia war es hier zu kalt, viel zu kalt. Und sie alle mochten ihn gern, deshalb wurde beschlossen, Batuti nicht mehr einzusetzen. Es gab auch genug andere Arbeit an Bord, die er verrichten konnte. Die Männer verschwanden und holten sich kochendheißen Tee in der Kombüse. Dann gingen sie zu Will Thorne und verschwanden unter Deck. Der Profos überprüfte mit wachsamen Augen noch einmal, ob alles in Ordnung war, ob die Boote richtig festgezurrt waren, die Laderäume verschalkt, die Fallen und Schoten nicht zu dicht geholt worden waren, damit sie bei der klirrenden Kälte nicht brachen. Dann ging er nach achtern und schob sich ins Ruderhaus, wo der Seewolf und der Rudergänger sich aufhielten. Hasard hatte eine große Kerze aus wildem Bienenwachs, die der Kutscher selbst angefertigt hatte, aufgestellt. Ihr breiter Docht, auf dem eine große Flamme stand, rußte nur ganz wenig. Aber die Flamme verbreitete etwas Wärme und vermittelte ein Gefühl der Behaglichkeit. Im Ruderhaus ließ es sich aushalten, im Gegensatz zu draußen war es sogar behaglich warm, und vor allem pfiff der Wind nicht mehr durch die Ritzen, seit es mit Segelleinen ausgekleidet war. „Alles in Ordnung an Deck, Ed?“ fragte der Seewolf seinen Profos. „Alles überprüft, Sir. Das einzige, was mich jetzt noch stört, ist, daß wir so weit abdriften.“
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Carberry warf einen Blick auf den Kompaß, dann wärmte er seine klammen Hände über der Kerzenflamme. „Wir driften ziemlich schnell“, gab Hasard zu. „Außer dem ruppigen Westwind scheint hier eine Strömung zu herrschen, die uns versetzt. Sie muß ziemlich stark sein.“ „Das bedeutet, daß wir nach Osten driften, bis wir dort Land erreichen, nicht wahr? Wie heißt es noch?“ „Grönland. Nur hilft uns das nicht weiter. Ich wollte nicht nach Osten, sondern eher umgekehrt.“ Die Küste war längst nicht mehr zu sehen. Dafür tauchten am dunstigen Horizont wieder kleine weiße Wolken auf, die dicht über dem Wasser zu schweben schienen. Hasard schüttelte auf Carberrys fragenden Blick den Kopf. „Eis“, sagte er lakonisch. „Eisschollen, Eisklumpen oder kleine Eisberge, nichts anderes. Noch sind sie dünn gesät, aber das kann sich schon sehr bald ändern.“ Dem Profos lief ein Schauer des Unbehagens über den Rücken. Er dachte an damals, an die Packeisgrenze, an die riesigen treibenden Giganten, die lebensbedrohende, feindliche Umwelt und die Trostlosigkeit der Eiswüste. Das alles schien ihnen hier wieder in der gleichen Form zu begegnen. Sie schwiegen lange und starrten aufs Meer hinaus. Dabei beobachteten sie die merkwürdige Veränderung, die mit dem Wetter vor sich ging. Es war ein unmerklicher Übergang, und doch vollzog er sich erstaunlich schnell. Die Wolken wanderten, wobei sich die Richtung nicht einmal genau bestimmen ließ. Ständig verschoben sie sich nach allen Seiten und bildeten schnell zerfließende, merkwürdig abstrakte Gebilde. Brach einmal sekundenlang die Sonne durch, dann stand sie fern am Horizont als schwach glosender kleiner Punkt, der keinerlei Wärme verstrahlte. Seltsam milchig und trüb wirkte alles um diesen schwachgelben Punkt. Dann verschwand er wieder hinter grauen Wolken, gelblichen Fetzen und quirligem
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Durcheinander, als hätte jemand in einem großen Kessel Haferbrei gerührt und würde ständig Farbe dazugießen. Die Wogen waren ein lang gezogenes Auf und Ab, dessen Rhythmus die „Isabella“ in stumpfer Eintönigkeit folgte. Sie schien sich aus dem Meer zu stemmen, ließ sich von Brechern überrollen und stemmte sich wieder daraus hoch, wobei sie leicht rollte. Es roch immer stärker nach Schnee, und nicht lange danach fiel er in winzigen, nadelscharfen Flocken, die schräg von Backbord heranrasten. Fast übergangslos begann es dunkler zu werden. Die Eiskristalle pfiffen grell, von einem wilden Heulen begleitet, fielen sie das Schiff an und setzten sich fest. Die Sicht zum Vordeck, durch die Segel ohnehin stark eingeengt, wurde immer schlechter, das Jaulen und Tosen nahm zu. Pete Ballie stand mit ausdruckslosem Gesicht am Ruder, und als der Profos ihm anbot, für eine Weile das Ruder zu übernehmen, winkte der Mann mit den großen Händen lachend ab. „Ich stehe gern hier, Ed“, sagte er. „Von morgens bis abends, ich bin es nicht anders gewöhnt. Ich denke nur immer daran, wie es ist, wenn ich jetzt auf offenem Deck am Kolderstock stehen müßte und dieses Wetterchen sich austobt. Deshalb ist es für mich eine einzige Freude, hier zu stehen. Hm, man sollte direkt ein Loblied auf unseren guten alten Ferris Tucker anstimmen, der das erdacht hat.“ „Soll ich dir eine Fiedel bringen lassen?“ fragte Ed ironisch. „Ach, hör doch auf! Du selbst bist doch auch ganz froh.“ „Allerdings“, gab Ed grinsend zu. „Mann, jetzt sieht man ja überhaupt nichts mehr“, sagte er gleich darauf. Der Schneesturm begann sich auszutoben. Es röhrte dumpf, und sie hörten das Ächzen, Knarren und Singen der Takelage, über die der Schneesturm wie wild herfiel. Vom Ruderhaus war die Sicht bis zur Schmuckbalustrade des Achterkastells jetzt eingeschränkt. Die Masten einschließlich ihrer großen Besegelung waren verschwunden.
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Carberry hatte das dumpfe Gefühl, als segele das Achterschiff ganz allein durch den Sturm wie der Rest eines Wracks, der nicht untergehen will. Die seitliche Versetzung nach Ost nahm weiter zu und wurde immer stärker. Das ließ sich zwar nicht feststellen, aber jeder der drei Männer fühlte es überdeutlich. Wenn man mit dem Schiff verwachsen ist, dachte Ed, dann spürt man das einfach. Das doppelte Bleiglasfenster an Backbord war zugeschneit, und nun legten sich die pfeifenden Kristalle auch auf die kleinen Scheiben vorn wie eine Eisschicht. Winzige Blumen überzogen das Glas von innen. Der Profos stellte die Bienenwachskerze ganz nahe an die Scheibe, doch es half nicht. Er nahm die Muck, aus der Pete Ballie seinen Tee getrunken hatte, in die Hand und ging hinaus. Draußen umfing ihn das Heulen und Jaulen, Pfeifen und Orgeln noch lauter. Es war eine Kakophonie schriller, greller Töne, die in den Ohren schmerzten. Wie mit tausend winzigen Nadeln stach es dem Profos ins Gesicht. Er sah kaum noch etwas und legte schützend eine Hand vor die Augen. Mit dem Rand der Muck kratzte er den gefrorenen Schnee von der kleinen Bleiglasscheibe, bis sie einigermaßen sauber war. In der kurzen Zeit war er bis auf die Knochen durchgefroren und schalt sich einen Narren, daß er ausgerechnet in diesem Augenblick an weitgeschwungene sanfte Buchten und hohe Palmen dachte. Als er das Schott zum Ruderhaus hinter sich zuzog, war die Scheibe schon wieder vereist, und er stieß einen ellenlangen Fluch aus. „Das hat keinen Zweck“, sagte Hasard. „Wir segeln blind, und daran wird sich vorläufig nichts ändern. Laß den Ausguck ablösen, Ed, der sieht auch schon längst nichts mehr. Jede halbe Stunde wird gewechselt, und der nächste soll sich alles an Klamotten überziehen, was er auf dem Körper tragen kann.“
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Der Ausguck hatte es jetzt am schlimmsten. Als er nach Eds gellendem Pfiff abenterte, sah er wie ein Schneemann aus. Der Profos schickte ihn sofort unter Deck. Der nächste Mann, Luke Morgan diesmal, enterte auf, und er glaubte, direkt in den Himmel zu klettern, so hatten sich die Dimensionen verändert. Ed kehrte wieder zurück. An Deck konnte man sich bei diesem Wetter nicht aufhalten, was sollte er auch dort? Nach unten zu gehen, hatte er ebenfalls keine Lust, also blieb er lieber hier. Hasard hatte zwei Karten ausgebreitet, aber die zeigten nicht viel von der kalten Polarzone, und so gab er es nach einer Weile wieder auf. Sie wußten jetzt nicht mehr, wo sie waren, sie kannten die Geschwindigkeit nicht genau, sie wußten nicht viel über die Abdrift, und so blieb ihnen gar nichts anderes übrig, als weiterzusegeln. Hinein ins Ungewisse, weiter nach Osten treibend, denn gegen den harten Westwind vermochten sie nicht anzukreuzen. Den ganzen Tag ging es so. Der Schneesturm tobte mit unverminderter Heftigkeit. Es änderte sich nichts. 5. Die „Isabella“ fuhr seit mehr als einem Tag nur noch zwei Sturmsegel. Am späten Nachmittag erhielt das Schiff einen harten Schlag, gleich darauf einen zweiten. Es schüttelte sich einmal hart und lief weiter. Die Seewölfe erschienen an Deck. Carberry brauchte sie nicht erst hochzupurren, die beiden harten Schläge hatten sie selbst an Deck getrieben. „Das waren Eisbrocken“, erklärte Tucker, der so dick vermummt war, daß man nur noch die Nasenspitze von ihm sah. Die Gestalten, die nun an Deck standen, sahen abenteuerlich aus. Viele von ihnen trugen über ihrer Kleidung die spanischen Klamotten. Smoky, Blacky und Gary Andrews hatten sich außerdem noch spanische Kupferhelme auf die Schädel gestülpt. Die Not machte erfinderisch.
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„Versucht, die Segel zu bergen!“ schrie der Profos. Der Sturm riß ihm immer wieder die Worte von den Lippen und hüllte ihn in weiße Schneeschleier. „Wir lenzen vor Topp und Takel, wenn wir die brettharten Lappen überhaupt noch runterkriegen, sonst laufen wir auf irgendeinen der Kolosse zu hart auf. Ferris, wir sehen nach, ob wir irgendwo einen Wassereinbruch haben, die beiden Schläge waren verdammt hart.“ „Beide an Steuerbord“, sagte Tucker. „In Höhe der Kuhl etwa, da hat es geknallt.“ Unter unendlichen Schwierigkeiten wurden der Laderaum in der Kuhl geöffnet und die Luken sofort wegen überkommender Seen darüber geschoben. Erst unten, in absoluter Finsternis, entzündete der Schiffszimmermann mit Stahl und Lunte die mitgebrachte Lampe. Er leuchtete in alle Ecken, blieb stocksteif stehen und horchte, ob irgendwo das Geräusch eindringenden Wassers zu vernehmen war. Aber der Sturm und die harte See übertönten jedes andere Geräusch. Er fand nichts und atmete erleichtert auf. Die „Isabella“ hatte die beiden harten Rammstöße verkraftet. Es schienen kleinere Eisbrocken gewesen zu sein, die sie beiseite gedrängt hatte. Tucker stieg wieder nach oben und gab Zeichen. Er war kaum an Deck, als ein Brecher darüber hinwegfegte und ihn in eiskalte Gischt hüllte. Unter lautstarkem Fluchen wurde der Raum verschalkt. Inzwischen mühten sich die anderen Männer immer noch damit ab, die Segel zu bergen. Flüche, Gebrüll und Kommandos begleiteten die schwere Plackerei. Die Segel waren voller gefrorenem Schnee und hart wie Glas. Eins konnten sie bergen, das Segel am Fockmast jedoch mußte bleiben. Die Rah ließ sich weder abfieren noch bewegen. Wie festgeklebt hing sie am Mast. „Gut“, entschied der Profos. „Dann bleibt der Lappen eben stehen. Er ist zum Glück nicht der größte, und zerschneiden möchte ich ihn auf keinen Fall.“
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Die „Isabella“ hob und senkte sich, rollte stark in der See und nahm immer wieder Wasser über. Durch den Schneesturm sahen sich die Männer gegenseitig nur als undeutliche, verschwommene Schatten. „Möchte wissen, wo wir stecken“, sagte Ferris Tucker. „Man sieht ja seit bald zwei Tagen kaum noch die Hand vor den Augen.“ Ein leises Schurren begleitete seine Worte, und die Männer zuckten zusammen. Ein weiterer Schatten trat hinzu. Es war Old O'Flynn, der auf seinem Holzbein heranhumpelte. Erst als er näher heran war, sahen die Männer seine Kleidung. Der Alte hatte sich ebenfalls einen spanischen Kupferhelm aufgesetzt und trug über seiner langen Leinenhose eine gestreifte spanische Pumphose, die ihn wie ein riesengroßer Kürbis umhüllte. Der hagere Mann wirkte jetzt doppelt so breit, und als sie ihn sahen, verzogen die ersten Männer die Gesichter. Klar war das alles zweckmäßig in dieser beißenden Kälte, und jeder wehrte sich dagegen, so gut er konnte, indem er alles, was greifbar war, übereinander anzog, bis er einer wandelnden Tonne glich. Aber der alte O'Flynn paßte in diese merkwürdigen Klamotten überhaupt nicht hinein. Aus der spanischen Halskrause blickte sein verwittertes, pergamentartiges Gesicht grimmig in die Welt. Wenn er sich umdrehte, konnte er den Hals nicht bewegen, und so vollführte sein Oberkörper die ganze Drehung mit. Old O'Flynn sah aus, als hätte er das Zipperlein oder zumindest starke Halsschmerzen. Der Profos konnte nicht anders, er lachte laut, woraufhin Old O'Flynns Gesicht noch grimmiger wurde. Der Alte ignorierte die Wellen, die über Deck spülten, und hielt sich an der Nagelbank fest. „Lacht nur, ihr lausigen Bilgenratten!“ schrie er. „Das ist mir lieber, als elend zu frieren.“ „Er sieht aus wie Medina Sidonia oder der Herzog von Alba“, sagte Matt Davies. „Nur um ein paar Jährchen gealtert.“
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„Ihr seht auch nicht besser aus“, wetterte Old O'Flynn. „Jede Landratte würde sich bei eurem Anblick kranklachen.“ „Wenn unser spanischer Generalkapitän vielleicht belieben, unter Deck zu gehen“, sagte der Profos lachend, „dann wird er sich noch lange guter Gesundheit erfreuen.“ Die Männer gingen lachend davon, nur Old O'Flynn blieb verblüfft stehen. „Verdammt!“ schrie er laut. „Ich kann nicht weg!“ Die Männer kehrten wieder zurück und sahen ihn an. In den Augenbrauen saß dichter Schnee, und die Nasen froren ihnen fast zu, und so hatte keiner etwas dagegen, so schnell wie möglich zu verschwinden. Aber Old O'Flynns Geschrei hörte sich in dem dichten Schneetreiben fast nach einen Hilfeschrei an. „Was heißt, du kannst nicht weg?“ fragte der Profos. „Mein Bein ist angefroren“, sagte der Alte jämmerlich. „Hä? Dein Holzbein etwa?“ „Was denn sonst, du Walroß! Ich klebe fest.“ Old O'Flynn zerrte und riß, aber es ging nicht. Sein Holzbein war tatsächlich von Schnee und ständig überkommendem Wasser der Länge nach am unteren Teil der Nagelbank angefroren. Die Hose, die es weiter oben bedeckte, hing ebenfalls fest. „Bei allem Respekt vor deinem Alter“, sagte Carberry; „aber da hilft nur ein kräftiger Arschtritt!“ Der Alte zerrte ungeduldig und warf dem Profos einen galligen Blick zu. Sein Gesicht wurde noch zerknitterter. „Wage es ja nicht“, drohte er. „Das wird doch wohl noch anders zu lösen sein.“ Tucker versuchte es ganz vorsichtig, indem er an Old O'Flynns Hose drehte und zerrte, aber dabei ging nur der Stoff kaputt. „Wartet“, sagte Ed, „ich hole heißes Wasser.“ Der Kutscher warf ihm einen mißtrauischen Blick zu, als Carberry ihn um heißes Wasser bat. Bei dem Profos war
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er immer etwas mißtrauisch, denn er kannte Eds derbe Späße zur Genüge. „Wozu heißes Wasser?“ fragte er. „Old O'Flynn ist an Deck angefroren, und wenn du das nicht glaubst, dann sieh gefälligst selber nach, du Quacksalber.“ „Tatsächlich“, sagte der Kutscher verblüfft, als er den Schädel aus der Kombüse streckte. Carberry kehrte mit dem Eimer zurück, tauchte einen Lappen in die heiße Brühe und klatschte ihn ein paarmal an die Stelle, wo sich Holz mit Holz verband und durch das Eis zusammengehalten wurde. Die anderen gaben inzwischen ihre haarsträubenden Vorschläge dazu, vor denen es den Alten regelrecht grauste. „Wir könnten das Bein natürlich absägen“, meinte Tucker und holte probehalber mit der gewaltigen Axt aus, bis Old O'Flynn vor Entsetzen rast die Augen aus dem Kopf fielen. Wer den Schaden hat, dachte er, der brauchte für den Spott wirklich nicht zu sorgen, das bewahrheitete sich wieder einmal in aller Deutlichkeit. Er wußte, daß diese verflixten Kerle das nie tun würden, aber so sicher konnte man sich seiner Sache bei den Seewölfen auch nicht immer sein. „Wir könnten Donegal auch als Galionsfigur hier ein paar Tage stehen lassen“, schlug Stenmark vor. „Wenn er dann richtig steif und hart gefroren ist, hängen wir ihn unter den Bugspriet.“ „Klar, dann sieht er wie ein eingemachter Spanier aus“, sagte Ed und rieb sich den Schnee aus dem Gesicht. Carberry ließ endlose Flüche über sich ergehen, aber so langsam taute das Eis wieder auf. Donegal blickte mit knallrotem Schädel auf den Profos und die Männer und fluchte auf Gott und die Welt. Sie alle mußten höllisch achtgeben, denn das Deck war glatt und ohne die Strecktaue wäre schon so manch einer über Bord gegangen und hoffnungslos achteraus gesackt. „Zum Teufel!“ schrie der Alte. „Wie lange dauert das denn noch, he? Oder tut ihr absichtlich so langsam?“
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„Du bist ja auch langsam angefroren“, sagte Ed trocken. „Was hast du bei diesem Wetter überhaupt an Deck zu suchen? Konntest ja unten bleiben, niemand hat dich gerufen.“ „Ich stehe auch meinen Mann, du Klotzkopf, auch wenn ich etwas beim Gehen behindert bin. Wenn es Arbeit gibt, dann bin ich dabei. Geht das in deinen Profosschädel hinein, du grüner Hering?“ „Klar“, versicherte Ed lachend. „So, gleich ist es soweit, du verbogener Spanier.“ Wieder gab es einen leichten Ruck, und einige der Seewölfe gingen zum Schanzkleid und beugten sich darüber. Aber das Wasser war nicht zu sehen, dichtes Schneetreiben behinderte die Sicht. Es kratzte, schabte und knackte an allen Stellen des Rumpfes, und jeder glaubte deutlich zu spüren, daß die „Isabella' immer langsamer in ihren Bewegungen wurde. Das Rollen hatte aufgehört, und der Rahsegler krängte nicht mehr so stark. Besorgt sahen sich die Männer an. Es war unangenehm, nicht zu wissen, was um sie herum geschah, wie alles aussah und was sich tat. Old O'Flynn kriegte wieder seinen „Geisterblick“, wie der Profos das bezeichnete. „Wenn du jetzt von Geistern anfängst, Donegal“, drohte der Profos, „nehme ich statt des heißen eiskaltes Wasser. Dann kannst du dich mit den Meermännern so lange unterhalten, wie du willst.“ Donegals Gestalt straffte sich, ein harter Ruck, und sein verdammtes Holzbein war frei. Nur ein paar kleine Splitter hatte er dabei verloren. „Die werden später glatt geschliffen“, sagte Ferris. „Und nun geh lieber nach unten, damit das nicht noch einmal passiert.“ Der Alte gehorchte murrend und verzog sich. Carberry und Smoky bewaffneten sich mit langen Haken und stießen damit über Bord. Das Gesicht des Profos zeigte deutlich Verblüffung, als er augenblicklich auf Widerstand stieß.
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„Verdammt, alles Eis“, sagte er schwer atmend, „und wir befinden uns mittendrin!“ Smoky hatte ebenfalls Eis erstochert. „Mann, Ed“, sagte er, „ich glaube, unsere Lady hat sich auf eine Scholle geschoben, wir laufen ja gar keine Fahrt mehr.“ „Geh nach achtern, Smoky, und sage das sofort dem Kapitän.“ Smoky war schon nach zwei Yards nicht mehr zu sehen. Nur ein unkenntlicher Schatten huschte davon. Ed ließ immer wieder den langen Haken über Bord und versuchte, etwas zu ertasten. Aber wohin er den Haken auch bewegte, er stieß immer wieder auf Eis, das nicht nachgab. „Da haben wir den Mist“, sagte er laut. „Laufen auf und merken es nicht einmal. Nur einmal kürz geschüttelt hat sich die alte Lady, als wenn der Bock auf sie springen wollte.“ Etwas später erschien der Seewolf in der Kuhl. „Binde mir eine Leine um, Ed“, sagte er. „Wahrscheinlich sind wir nur in immer dichter werdendes Eis gelaufen, das uns unmerklich abbremste, so daß wir jetzt festsitzen. Aber auf einer Scholle hängen, das glaube ich nicht. Die Leine, Ed!“ „Sir“, beschwor ihn der Profos. „Du kannst da nicht einfach hinaus. Das Eis ist nicht gleichmäßig dick, und wenn ...“ „Profos!“ sagte Hasard leise, und es hörte sich verdammt verbindlich und freundlich an. Da wußte Ed sofort, wo die Glocken für ihn hingen, und nickte hastig. „Die Leine, Sir, sofort!“ Himmel, dachte er. Wenn der Seewolf in diesem Zungenschlag mit ihm sprach, dann war das Schneetreiben dagegen so freundlich, als würde jemand die Federbetten ausschütteln. Daher beeilte er sich, ihm die steif gefrorene Leine unter den Schultern zusammenzubinden. „Knallhart gefroren, die Leine, Sir“, versuchte er es noch einmal, um den Seewolf von seinem Ausflug abzuhalten. „Tatsächlich“, sagte Hasard. „Was du nicht alles merkst.“
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Er kletterte über das vereiste Schanzkleid, und Carberry stemmte sich von innen mit dem Stiefel dagegen. Ganz langsam fierte er nach, bis ein undeutliches „Halt“ erklang. Gleich darauf spürte Ed, wie die Leine locker wurde. „Sir!“ schrie er durch den dichten weißen Vorhang. „Bist du noch dran, Sir?“ „Nein, ich gehe gerade am Strand spazieren“, erklang es schwach. Und etwas später: „Hiev auf, Profos!“ Carberry zog und zerrte, bis Hasard wieder an Deck war. „Erkennen läßt sich nichts“, sagte er, „nur erahnen und ertasten. Wir befinden uns inmitten einer vermutlich ausgedehnten Eiszone, deren Stärke ich nicht feststellen kann. Merkst du nicht, daß wir uns kaum noch bewegen?“ „Das merke ich schon lange. Jedenfalls holen wir nicht mehr über, aber die Bewegungen sind noch da. Es läuft ja auch kein Wasser mehr an Deck wie vorhin.“ Der Übergang vom harten Rollen bis zum fast gleichmäßigen Schaukeln war auch fast unbemerkt vor sich gegangen. Hasard hatte die Veränderung zunächst am Ruder gespürt, das sich nur noch mühsam bewegen ließ. Dem Kompaß nach lagen sie allerdings noch auf fast demselben Kurs wie zuvor. Das hieß also, sie waren von allen Seiten von dichtem Treibeis eingeschlossen und saßen fürs erste hoffnungslos fest. „Feine Aussichten“, knurrte der Profos. „Was tun wir jetzt?“ Hasard zuckte mit den Schultern. „Solange das Schneetreiben anhält, tun wir gar nichts“, sagte er. „Der Kutscher kann das Essen zubereiten, und dann werdet ihr dafür sorgen, faß es im Aufenthaltsraum immer schön warm ist. Wie ihr das anstellt, ist eure Sache. Da wird euch schon was einfallen.“ Der Aufenthaltsraum oder das, was die Seewölfe als Messe bezeichneten, war eigentlich der verlängerte achtere Laderaum gewesen, den Ferris Tucker gleich nach dem Kauf des Schiffes auf Hasards Anordnung hin abgeschottet hatte.
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Dieser Raum befand sich hinter der Kuhl und lief ein Stück in den Unterteil des Quarterdecks hinein. Kaum ein anderes Schiff hatte das aufzuweisen. Aber der Seewolf wollte keine Männer, die sich im Vorschiff in einem kleinen Raum drängten und sich gegenseitig auf die Zehen traten. Das gab nur Ärger und führte zu nichts, und außerdem gehörte das Schiff ihnen allen, und jeder hatte einen Anteil daran. So war die achterlich gelegene Messe ein Raum, in dem sich notfalls zwanzig Männer aufhalten konnten, ohne sich allzu sehr beengt zu fühlen. Hasard hatte sogar nachträglich ein paar Kojen in die Wände einbauen lassen. „Wir bauen einen Herd, ähnlich dem, wie er in der Kombüse steht, Sir“ sagte Carberry freudestrahlend. „Bloß mit dem Heizen wird es einige Schwierigkeiten geben, denn, der Kutscher braucht die Holzkohle zum Kochen und wird wohl nicht viel herausrücken.“ „Ja, das ist ein Problem, Ed. Sprich mal mit Ferris darüber, der hat im Laderaum noch altes Holz. Davon kann er ganz sicher einiges entbehren.“ Carberry nickte. Er dachte mit Unbehagen daran, daß sie hier im Eis eine ganze Weile festsitzen konnten, und dann würde es sehr, sehr ungemütlich werden, wenn die Messe nicht beheizt werden konnte. Hasard ging wieder nach achtern. Er regte sich nicht auf. Er nahm es als eine Tatsache hin, die niemand ändern konnte. Zuerst mußte das Ende des Schneesturms abgewartet werden, damit man wußte, wo man sich überhaupt befand und wie es aussah. Erst danach würde man weitersehen. Noch einmal versuchte Ed, das letzte Segel abzufieren, und diesmal glückte es nach langer Plackerei. Jetzt lag die „Isabella“ ganz ruhig, als wäre sie in einen stillen Hafen eingelaufen. Der scharfe Wind hob und senkte das Schiff nicht mehr, er heulte nur durch die Takelage und trieb Unmengen Schnee vor sich her.
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Das schien sich überhaupt nicht mehr zu ändern. Um sie herum war eine weiße Hölle, die brauste, tobte und heulte. Und aus dieser Hölle gab es vorerst kein Entrinnen. 6. Noch am selben Tag bauten Ferris Tucker, Big Old Shane und der alte O'Flynn den Herd. Da sie schlecht an Land gehen, Steine und Lehm holen konnten, mußten sie sich anders behelfen, und diese Idee stammte ebenfalls von dem rothaarigen Schiffszimmermann, dem ewigen Tüftler und Neuerer. Als er sie vorbrachte, wurde er im ersten Augenblick sogar von Hasard sprachlos angesehen. „Wir haben weder Steine noch Lehm, keine eisernen Platten und auch keinen Mörtel zum Zusammenfügen“, sagte Ferris. „Aber wir haben jeder noch unseren Anteil an Silberbarren. Mit den Barren können wir hier weder handeln, noch nutzen sie uns irgendwie anders. Also verwenden wir sie zum Bau des Herdes, bohren die Barren durch und verbinden sie mit langen Nägeln. Verankert werden sie im Boden. Silber speichert sehr lange die Wärme, das habt ihr beim Gießen gesehen. Es dauert Ewigkeiten, bis es abkühlt.“ „Hör mal, Ferris, du bist zwar mein Freund“, sagte Carberry, „aber so was habe ich noch nie gehört. Du spinnst wohl, Mann! Wie kann man einen Herd aus Silberbarren bauen, he?“ „Wenn hier einer spinnt, dann bist du das“, sagte Tucker gereizt. „Hast du einen besseren Vorschlag?“ „Nein“, gab Ed zu. „Aber Silberbarren...“ Der rothaarige Tucker sah Carberry fast drohend an. „Wenn du nichts Besseres weißt, dann sei still, Ed, verdammt noch mal. Ich weiß, daß es geht.“ Carberry wurde zusehends kleinlauter. „Und wie willst du den verkleiden? Und wie soll der Qualm abziehen, was, wie?“ „Verkleidet wird der Herd mit den Kupferblechen, die wir noch an Bord
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haben und die normalerweise unter den Schiffsboden gehören. Aber die brauchen wir augenblicklich auch nicht - oder etwa doch?“ fragte Ferris Tucker angriffslustig. „Eigentlich nicht“, sagte Ed lahm. „Na also.“ Tucker geriet richtig in Fahrt. „Der Abzug an der Holzdecke wird ebenfalls mit Blechen ausgeschlagen, damit nichts brennen kann. Dann sägen wir ein kleines Loch, mit Hasards Zustimmung selbstverständlich, ins Quarterdeck und rollen das Blech zusammen. Das wird oben reingesteckt, und dann kann der Qualm herrlich abziehen. Damit es nicht hereinschneit oder reinregnet, wird das Kupferblech halbrund gebogen. Habt ihr das jetzt alle kapiert, ihr Stinte, oder braucht ihr dazu Zeichnungen?“ fragte Tucker sarkastisch. Hasard starrte seinen Zimmermann sprachlos an. Er wußte im ersten Augenblick tatsächlich nicht, was er sagen sollte, aber dann überschlug er die Sache im Geist und mußte Tucker recht geben. Das war einfach genial, was der rothaarige Riese hier vorbrachte. Typisch Ferris, dachte er bewundernd. Auf die Idee wäre nicht einmal er selbst verfallen. Während es draußen immer noch heulte, pfiff und tobte, ging Ferris augenblicklich an die Arbeit. Er hatte noch einmal gefragt, ob jemand eine andere oder bessere Idee hätte. Aber die Kerle grinsten ihn nur an und feixten anerkennend. „Du rothaariges Borstenvieh hast doch verdammt was auf dem Kasten“, lobte Carberry seinen Freund überschwenglich. „Neuer Herd ist Silber wert“, murmelte Smoky grinsend. „Um eure Silberbarren braucht ihr keine Angst zu haben“, sagte Ferris. ..Denen schadet es nichts, und außerdem haben wir das Zeug noch tonnenweise auf der Schlangeninsel liegen. Die verfärben sich nur schwarz und können später poliert werden, wenn wir den Herd nicht mehr brauchen. Damit sind sie gleichzeitig gut getarnt.“ „Ausgezeichnet, Ferris“, lobte Hasard seinen Zimmermann. „Ich selbst hätte nicht daran gedacht. Aber auf diese Art
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werden wir uns wenigstens nicht die Knochen abfrieren, denn ihr habt ja selbst gemerkt, daß es immer kälter wird.“ Hasard ging wieder an Deck und von da aus ins Ruderhaus, wo Pete Ballie hilflos die Schultern hob. Er konnte nicht mehr steuern, aber er verließ seinen Platz nicht, weil er auf ein Wunder hoffte. Inzwischen ging es unten weiter frisch ans Werk. Aus dem Laderaum wurden die Barren, Bleche und das Zeug geholt, das zum Bau nötig war, und in die Messe gebracht. Immer mehr Männer meldeten sich zum Helfen, und Tucker ließ sie die Barren durchbohren, die er auf das angenagelte Blech auf dem Boden setzte und miteinander verband, so daß sie auch bei schwerstem Seegang nicht auseinander fallen konnten. Unter den geschickten Händen der Männer nahm der Herd langsam Form und Gestalt an. Es war eine dringend notwendige Arbeit, von der unter Umständen ihr Leben abhing. „Einen Herd aus Silberbarren hat nicht einmal unsere Lizzy aufzuweisen“, sagte Dan O'Flynn stolz. „Das kann sich nicht einmal die Königin leisten.“ Barren um Barren wurde durchbohrt. Tucker schichtete sie auf, verband sie, umkleidete sie mit Kupferblech und nagelte weiteres Kupferblech um den Abzug. In der Beziehung war er ohnehin pingelig. Nicht der geringste Funken durfte davonfliegen und auf Holz treffen, deshalb arbeitete er so genau wie nur möglich. Es wurde ein verdammt schwerer Herd, und als er seine eigentliche Höhe erreicht hatte, wog er nach Tuckers Schätzung fast eine Tonne. Aber es war auch ein solider Herd, den nichts erschüttern konnte. Das Loch ins Quarterdeck wurde gebohrt und die halbgebogene Kupferrolle hineingeschoben. Im Schneesturm hockte der Zimmermann an Deck und nagelte eine Krause um die Öffnung, die er mit Werg verstopfte, damit kein Wasser hindurchdrang. Der Zimmermann arbeitete wie besessen, und nur ab und zu trank er einen Schluck heißen Tee, den man ihm brachte. Er freute
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sich darauf, wenn der Herd endgültig fertig war und in Betrieb genommen werden konnte. Dann ließ sich das Leben leichter ertragen, und jeder einzelne konnte sich von Zeit zu Zeit aufwärmen, wann immer er Lust dazu hatte. Im Laderaum sägten unterdessen Batuti und Sam Roscill Holz in handlange Stücke und schafften es in die Messe. Das einzige, was Tucker leichtes Kopfzerbrechen bereitete, waren der Rost im Herd und die Feuertür. Aber auch das Problem löste er mit fast spielerischer Leichtigkeit. Die Feuertür schnitt er aus doppelten Kupferplatten zurecht, und den Rost baute er wie eine Gräting aus kreuz und quer verlaufenden Kupferstreifen. Die Feuertür wurde mit Bolzen zwischen den Silberbarren verankert, die Big Shane mit wuchtigen Hieben hineintrieb. Mit Hilfe eines hineinschiebbaren langen Nagels ließ sie sich öffnen und schließen, ohne daß man Brandblasen kriegte. Anschließend betrachteten die Seewölfe fast andächtig Tuckers Werk. „Der Herd kann zu unserem Lebensretter werden“, sagte Smoky ernst. „Und er ist nicht nur teuer, sondern direkt schön geworden. Wollen wir ihn gleich einweihen?“ „Was dachtest du denn?“ Carberry war schon dabei, die ersten dünnen Späne auf dem Kupferrost aufzuschichten. Darüber legte er größere Holzstücke und hielt die Lampe daran. Die ersten Qualmwolken stiegen auf und vernebelten prompt die Messe. „Irgend etwas haben wir falsch berechnet“, sagte Dan und kratzte sich nachdenklich den Kopf. „Mit dem Abzug stimmt etwas nicht, Ferris.“ „Der ist schon in Ordnung“, erwiderte Tucker. „Weshalb qualmt er dann?“ fragte Carberry und schob sein Rammkinn vor. „Er ist eben nicht in Ordnung.“ „Und er ist doch in Ordnung. Die kalte Luft staut sich in dem Abzug und muß sich erst erwärmen, dann geht sie durch. Das
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stellt der Kutscher jeden Morgen fest, nur du weißt es noch nicht.“ Immer noch schlug der Qualm nach innen, und Carberry betrachtete mißtrauisch den Herd und den Abzug. Aber erst als eine kleine Flamme auflohte und rötlich zu zucken begann, sammelte sich der Qualm vor dem Stutzen und zog durch das Rohr an Deck. Tucker grinste seinen Freund überlegen an, doch der tat so, als hätte er nicht im geringsten an dem einwandfreien Abzug des Herdes gezweifelt. „Du altes Schlitzohr“, murmelte Ferris. „Wieviel Holz haben wir?“ erkundigte sich Big Old Shane. „Das ist unser größtes Problem, Big. Wir haben leider nicht viel, nur ein paar Planken, drei oder vier Rahen, ein paar kleine Spieren und zwei Ersatzmasten. Die können wir aber schlecht verheizen, falls mal etwas passiert.“ „Wenn es uns ernsthaft an den Kragen geht und wir dicht vor dem Erfrieren sind, wird uns wohl nichts anderes übrig bleiben, als auch die Masten zu verheizen“, sagte der ehemalige Schmied von Arwenack. „Vielleicht verheizen wir eines Tages sogar unser eigenes Schiff, nur um uns am Leben zu erhalten.“ „Mal bloß nicht den Teufel an die Wand!“ rief der alte O'Flynn, der beim Bau kräftig mitgeholfen hatte. „Ohne Schiff sind wir hier den Nordgeistern hilflos ausgeliefert.“ „Ach! Nordgeister gibt's hier also auch?“ fragte Big Old Shane und grinste in seinen grauen Bart hinein. „Habt ihr das etwa noch nicht gehört?“ ereiferte sich der Alte. „Hier gibt's den nordischen Troll, einen ganz üblen Gesellen. Er ist zottelig, mit einem Gesicht voller Runzeln und ...“ Er brach ab, als er in infam grinsende Gesichter sah. „Trägt der etwa auch eine spanische Halskrause und Kürbishosen?“ fragte Tucker anzüglich. Dabei blickte er den Alten geradezu provozierend an. „Halskrause, Kürbishosen?“ wiederholte Old O'Flynn und griff sich unwillkürlich an den mächtigen Krauskragen, der seinen
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eigenen Hals in belustigender Weise zierte. „Ach so meint ihr das“, knurrte er beleidigt. „Damit soll ich wohl gemeint sein, was? Wartet nur ab, bis ihr ihn zu Gesicht kriegt. Dann wird euch das dämliche Grinsen in euren verfrorenen Visagen schon vergehen.“ Die anderen wandten sich wieder ihrem Prunkstück zu, dem neugebauten Herd. Als Smoky die Hand an die Silberbarren legte, zog er sie mit einem Fluch wieder zurück. „Verflixt!“ schrie er. „Der glüht ja schon. Daran kann man sich schon jetzt die Flossen verbrennen.“ „Wir sparen viel Holz durch die Silberbarren“, sagte Tucker. „Wir brauchen nicht den ganzen Tag zu feuern. Einmal kräftig anheizen, dann hält er die Wärme fast den ganzen Tag.“ Es wurde immer wärmer in der Messe. Mittlerweile war auch der Qualm abgezogen, und es herrschte eine fast heimelige Atmosphäre in dem Raum. „Alle Mann an Deck!“ ertönte die Stimme des Seewolfs von oben. Die Seewölfe blickten sich an, Vor lauter Eifer und Gerede war ihnen gar nicht aufgefallen, daß auf der „Isabella“ eine fast unnatürliche Ruhe herrschte. Der Wind hatte sich gelegt. An Deck erwartete sie eine grenzenlose Überraschung. Ihr Schiff glich einer riesigen Schneewehe. Von den Masten bis zum Deck hatten sich die Konturen verändert und ihr ein plumpes Aussehen verliehen. Das war es aber nicht, was die Männer so erstaunte. So weit das Auge blicken konnte, dehnte sich eine Eiswüste um sie herum. Von einem graublauen Himmel schien schwach die gelbliche Sonne, die tief am Horizont stand und keine Wärme abstrahlte. Der schockierendste Anblick war jedoch der gigantische Dom, der sich hoch über der „Isabella“ wölbte und einen riesigen Überhang bildete, der jeden Augenblick mit Tausenden von Tonnen Eismassen herabstürzen konnte. Wie eine festgefrorene Riesenwelle sah er aus, die
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beim Überschlagen in der Bewegung erstarrt war. Aus den Gesichtern der Seewölfe wich alle Farbe. Niemand rührte sich, alle starrten fassungslos dieses himmelhohe Ungetüm aus blankem. Eis an, das wie ein vorsintflutliches Ungeheuer seine Titanenpranken nach dem Schiff ausstreckte. Und fast alle bewog das gleiche Gefühl: Wenn jetzt einer nur laut nieste, dann würde sich dieser Gigantenblock lösen und die „Isabella“ kurz und klein schlagen. Keine Spur würde mehr von ihr übrig bleiben. Eismassen hatten den Rahsegler zusammen mit dem harten Westwind direkt in den Dom hineingeschoben, und Eismassen hatten sie jetzt von allen Seiten umschlossen. Hasard sah seinen Männern an, daß sie restlos entnervt waren. Blicklose Augen starrten nach oben, wo sich die gewaltige Eisdecke mehr als fünfzig Yards über den Masten nach vorn wölbte. Der Anblick verlangte starke Nerven, denn durch die kleinste Erschütterung konnte diese Masse abbrechen und kalben. Das Schiff lag bewegungslos unter ihr wie eine unbedeutende Nußschale. Ja, das war das Ende für die „Isabella“, das empfand in diesem Augenblick jeder einzelne überdeutlich. Und wenn sie nicht ganz schnell verschwanden, dann war es auch das Ende für die Männer. Hasard hatte das als erster erkannt. Ganz ruhig stand er an Deck, sah die Seewölfe an und sagte leise: „Fiert die beiden Boote ab, so ruhig wie möglich, ohne jede Schreierei, ohne Hast und Eile. Wir geben das Schiff auf!“ Es ging gar nicht richtig in ihre Schädel, und niemand konnte es glauben, was der Seewolf da eben in aller Ruhe gesagt hatte. „Wir geben das Schiff auf!“ Dieser unheilschwere Satz war noch nie ausgesprochen worden. Es hatte immer eine Möglichkeit gegeben, eine winzige Chance, aber kampflos hätten sie nicht einmal in Erwägung gezogen, ihr Schiff aufzugeben. Und doch gab es keine andere Möglichkeit.
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Wozu dann noch die Boote abfieren? dachten die meisten insgeheim. Sie würden ja doch nur auf dem Eis landen und waren nicht einsatzfähig. Hasards Daumen zeigte auf Carberry, Tucker und Big Shane, die wortlos an ihre Plätze gingen. Ganz unbewußt nahmen die Männer SiriTong und die beiden Zwillinge wahr, die wie versteinert dastanden und nach oben blickten, als könnten sie nicht glauben, was sie sahen. Hasard nahm die gefrorene Jakobsleiter und hängte sie über Bord. „Verlaßt das Schiff!“ befahl er unmißverständlich. „Das Eis ist stark genug, um euch zu tragen. Wenn die Boote abgefiert sind, werden sie mit langer Leine über das Eis aus der Nähe des Schiffes weggezogen.“ „Sir“, sagte Smoky, „wir können ...“ Hasards eisblaue Augen nagelten den Decksältesten auf der Stelle fest. Der Blick war so drohend wie die riesige Eiswand, die ihr Leben bedrohte. „Wer mir jetzt auch nur einmal widerspricht, erlebt die Hölle“, sagte er ruhig. „Und jetzt von Bord!“ Bei seinem letzten Wort löste sich aus großer Höhe von der schräg gewölbten Eisdecke ein mehr als vier Yards langer Eiszapfen. Er hatte den Umfang eines ausgewachsenen Mannes. Sie konnten seinen Fall verfolgen, als er in der Luft zerbrach und dann mit unwahrscheinlichem Getöse auf dem Achterdeck zersplitterte. Eissplitter flogen nach allen Seiten und sausten über ihr Köpfe. Das Grauen stand in ihren Gesichtern, die vor unterdrückter Erregung kalkweiß waren, als sie ganz diszipliniert über die Jakobsleiter abenterten. Smoky als erster, der Siri-Tong und die Zwillinge abnahm. Dann folgten die anderen, scheinbar gefaßt, aber in Wirklichkeit würgte sie nackte Angst. Carberry, Tucker und Shane fierten das Beiboot ab, zuerst das große, dann, als es auf dem Eis lag, das kleine. Die Männer hatten instinktiv das Genick eingezogen,
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als ob das etwas helfen würde, wenn das Eis herabfiel. Als die beiden Boote auf dem Eis waren, sahen sich die Männer noch einmal an. Hasard hatte diese Blicke noch nie bei ihnen gesehen, aber sie sagten mehr als alle Worte. Stocksteif stand er da, hoch über sich mehrere tausend Tonnen Eis, die kalt und gefährlich glitzerten. Carberry zuckte ratlos mit den Schultern, als er abenterte. „Verdammt, Sir“, war alles, was er hervorbrachte. Einer nach dem anderen verließ das Schiff, bis der Seewolf als letzter auf der Kuhl stand. Er bedauerte zutiefst, daß sie den Schimpansen und den Papagei nicht mitnehmen konnten, denn die wären alle beide in kürzester Zeit jämmerlich erfroren. Fiel das Eis aber herab, dann hatten sie einen gnädigen Tod, den sie nicht mehr spüren würden. Hart schluckend wandte er sich ab und verließ als letzter die bedrohte „Isabella“, die so friedlich und ruhig in dem Eis lag, als schmiege sie sich dort liebevoll hinein. „Noch weiter weg vom Schiff!“ befahl der Seewolf rauh. „Packt die Leine und zieht das große Boot zuerst weg.“ Carberry griff zu, die anderen ebenfalls, und langsam wurde das schwere Boot von kräftigen Fäusten über das Eis gezerrt. „Der beschissenste Tag meines Lebens“, sagte Carberry. „Wie konnte uns die Lady das nur antun!“ Das zweite Boot wurde ebenfalls weggezogen, bis es neben dem anderen lag. Dann erst begriffen auch alle anderen, was jetzt passieren würde. Die Reise war zu Ende, daran gab es keinen Zweifel. Sie besaßen nur noch das, was sie auf dem Leib trugen, und das war in dieser Hundekälte verdammt wenig. Ihr Schiff waren sie los, ihr weiteres Schicksal stand ihnen mit brutaler Deutlichkeit vor Augen. Diesmal hatte es sogar den quirligen Zwillingen die Sprache verschlagen, die sich an Siri-Tong drückten und bei ihr
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Schutz suchten. Die beiden Kerlchen hatten begriffen, um was es ging. Hasard sah sich im Kreis seiner Seewölfe um. Er blickte in ernste Augen, harte Gesichter und konnte die Gedanken der Männer von ihrer Stirn ablesen. „Alles ist irgendwann einmal zu Ende“, sagte er gefaßt. „Und auf Wunder kann man nicht ständig hoffen. Diesmal wird es keine geben, darüber sind wir uns wohl einig. Seht euch um!“ forderte er die Männer auf. „Die ,Isabella` zu betreten, wäre Selbstmord, ich kann das nicht verantworten. Dieser Eisberg, in den wir hineingetrieben sind, ist mindestens zwei Meilen lang und gut zweimal so hoch wie unser Schiff. Er kann jeden Augenblick kalben, und wenn das der Fall ist, wird das Eis sogar noch hier aufbrechen. Dort hinten“, er wies mit der ausgestreckten Hand nach Westen, „haben wir noch offenes Wasser. Wir werden die Boote dorthin bringen und versuchen, nach Süden zu segeln. Hat jemand einen besseren Vorschlag? Dann soll er ihn vorbringen.“ Der Profos trat vor. Sein Gesicht war düster umwölkt. „Bisher hatten wir es immer so gehalten, daß sich Freiwillige meldeten, Sir“, begann er. Hasard unterbrach ihn abrupt. „Niemand geht an Bord, auch kein Freiwilliger“, entschied er. „Ich kann und will das nicht verantworten.“ „Und wie, Sir, stellst du dir das vor, wie wir ohne Wasser und ohne Proviant nach Süden segeln? In zwei Tagen sind Wir erledigt. Was Hunger und Durst nicht schaffen, das erledigt die Kälte.“ „Wasser brauchen wir nicht, Ed. Die Gletscher bestehen aus gefrorenem Süßwasser, das wissen wir inzwischen. Und für den nötigen Proviant werde ich selbst sorgen.“ „Das heißt also, du gehst doch freiwillig an Bord, Sir!“ „Genau das heißt es.“ „Damit bin ich nicht einverstanden, Sir.“ „Du wirst damit einverstanden sein, Mister Carberry, solange ich der Kapitän bin.“
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Der bedächtige und ruhige Big Old Shane sah dem Seewolf in die Augen. „Du bist die Autorität an Bord“, sagte er. „Du hast die Verantwortung für deine Söhne, für das Schiff, für die Mannschaft. Wir sollten deshalb nichts übereilen, vielleicht gibt es doch noch eine Lösung. Du hast nicht immer und unbedingt bis in die letzte Konsequenz recht, Sir. Wir alle rechnen dir das hoch an, daß du das Leben der anderen nicht gefährden willst. Aber du riskierst dein eigenes, und das lassen wir nicht zu.“ „Heißt das, ihr widersetzt euch meinen Anordnungen?“ Shane reckte sich, seine Augen wurden hart. „Nein, das heißt es nicht, Hasard. Aber wir werden einen Trupp Freiwilliger zusammenstellen, und ich bin auf jeden Fall dabei, daran wird mich nichts hindern. Ich gehe an Bord und hole Proviant und alles, was wir benötigen. Wenn mich dabei der Teufel holt, dann ist es mein eigenes Leben. Denk an deine Söhne, Sir! Du bist ihr Vater, der Erzieher, und wenn ich dir nie in meinem Leben widersprochen habe, dann tue ich es jetzt!“ Shanes Augen schimmerten. Beide Männer sahen sich an, doch keiner senkte den Blick. Was Shane vorbringt, hat Hand und Fuß, dachte Hasard. Natürlich hielt die ganze Bande jetzt zusammen, der Profos, sogar Ben Brighton, Tucker und der alte O'Flynn. Auch in den Augen Siri-Tongs las er etwas, das er sonst nicht darin gesehen hatte. Hasard und Philipp junior starrten ihren Vater ebenfalls schweigend an. „So“, sagte er leise, „ihr wollt mich daran hindern, mein eigenes Schiff zu betreten. Notfalls mit Gewalt, ja?“ Die Blicke senkten sich auf das Eis, dann schüttelte Carberry den Kopf und sagte: „Nein, Sir, es sind nur ganz logische, vernünftige Gründe, die deine Söhne betreffen. Entweder wir schließen einen Kompromiß, oder ich setze mich über deine Anordnungen hinweg und gehe an
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Bord. Ich weiß, daß du kompromißlos bist, Sir“, setzte er hinzu. Sie stellten ihn vor eine Entscheidung. Sie waren genauso dickschädelig wie er, wie Siri-Tong, wie Shane oder der Profos. Hasard blickte sie alle an, wie sie da als ein verlorener, armseliger Haufen auf dem Eis standen, und dann entschloß er sich in diesem Fall doch zu einem Kompromiß. Er wollte nicht mit dem Kopf durch die Wand, nicht in diesem alles entscheidenden Fall. Sie mußten überleben, aber sie konnten es nur, wenn sich tatsächlich Freiwillige dazu hergaben. „Also gut“, sagte er, „beenden wir die Kraftprobe. Unser aller Leben hängt davon ab. Shane und ich gehen an Bord, mehr nicht. Seid ihr damit einverstanden?“ Der Profos wäre zu gern mitgegangen, aber Hasard stellte sich taub und ließ es nicht zu. Schließlich waren die Männer mit diesem Kompromiss einverstanden, bis auf Siri-Tong, die Hasard nicht an Bord lassen wollte. „Setzt euch in die Boote. Das Eis ist an einigen Stellen ziemlich dünn, ich möchte nicht, daß jemand einbricht“, sagte Hasard. Die beiden Männer gingen los. 7. Hasard und Shane fühlten sich angesichts des gigantischen Eisberges wie Zwerge. Sie mußten den Kopf in den Nacken legen und hoch nach oben blicken, wollten sie die überhängende Eiswächte sehen. Sie mochte etwa tausendmal soviel wiegen wie die „Isabella“. Stellenweise knackte und knisterte es im Eis, und der Untergrund, auf dem sie sich bewegten, geriet in kaum merkliche Bewegung. „Anscheinend schiebt sich neues Eis darunter“, sagte der graubärtige Riese Shane. Vor der „Isabella“ blieben sie stehen und blickten hinauf. „Es gibt vielleicht doch noch eine Möglichkeit“, meinte Hasard.
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„Es kommt darauf an, wie tief das Schiff im Eis steckt. Ich glaube, achtern hat es sogar ein wenig Spielraum.“ Das Eis war dicht am Rumpf stark und verklumpt, weiter achtern jedoch tatsächlich dünner, wie sie feststellten. „Wenn es uns gelingt, eine Rinne durch das Eis zu hacken, zu sägen und zu sprengen, könnten wir einzelne Schollen abtrennen und sie ins freie Wasser hinausziehen. Das bedeutet aber eine Knochenarbeit, die sich über etliche Tage erstreckt.“ „Und kurz bevor wir damit fertig sind, fällt uns das ganze Eis auf den Schädel und zermalmt das Schiff“, sagte Shane grimmig. „Ja, damit müssen wir sogar jeden Augenblick rechnen.“ Was hinter dieser gewaltigen Eisbarriere lag, entzog sich ihren Blicken. Vielleicht gab es dort Land oder weitere Eisberge. Hasard beschloß jedenfalls, das noch zu erkunden, wenn sie ihr Schiff schon kampflos aufgeben mußten. Unter diesen extremen Umständen bot sich ohnehin keine andere Lösung an, denn immer wenn der Seewolf nach oben blickte, hatte er das mulmige Gefühl, die riesige überhängende Wand würde sich lösen und auf sie herabstürzen. Zuerst brachten sie Arwenack und den Papagei in die Messe, wo es jetzt wärmer war als in den achteren Räumen. „Die armen Viecher“, sagte Hasard leise. „Es tut mir weh, sie an Bord zurückzulassen, aber es geht nicht anders.“ Lange konnten sie sich nicht aufhalten, daher schob Shane noch ein paar Holzstücke in Tuckers neue Konstruktion und ging nach vorn zur Proviantlast. Shane warf eine Gräting und Werkzeug über Bord. Mit der Gräting konnten sie Proviant und alles was sie dringend benötigten, über das Eis ziehen. Sie vermieden nach Möglichkeit jede größere Erschütterung, um die verhängnisvolle Lawine nicht auszulösen. Hasard warf alles aufs Eis, was greifbar war und gebraucht wurde. Er vergaß auch Tuckers Axt nicht.
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Nachdem sich genügend Proviant gestapelt hatte, luden sie ihn auf die Gräting. Shane befestigte eine Leine daran, und dann zogen sie den gewaltigen Berg weiter aufs Eis. Schon nach ein paar Yards standen die anderen da und griffen zu, ohne daß jemand ein Wort sprach. „Habt ihr Segelleinen mitgenommen?“ fragte Ed. „Ja, natürlich. Daraus werden wir um die Boote herum eine provisorische Unterkunft bauen, damit wir wenigstens vor dem nächsten Schneetreiben geschützt sind. Kann sein, daß wir uns eine Weile hier häuslich einrichten werden.“ „Nicht nach Süden segeln?“ fragte der Profos. Hasard schüttelte den Kopf. „Nicht, bevor wir alle Möglichkeiten ausgeschöpft haben. Vielleicht gibt es doch noch eine, um das Schiff zu retten. Aber das will ich mir erst einmal aus der Nähe ansehen.“ „Diesmal gehe ich mit“, erbot sich der Profos. „Wir brechen sofort auf, Ed. Schling dir eine der dünnen Leinen um den Körper, falls jemand von uns im Eis einbricht.“ „Ich glaube, wir bauen aus den Segelleinen doch lieber gleich an Ort und Stelle eine Unterkunft“, sagte Tucker. „Damit sind die Männer beschäftigt und frieren nicht an. Außerdem kann es hier ganz schnell einen Wetterumschwung geben.“ „Ja, tut das“, sagte Hasard. „Wenn alle beschäftigt sind, hängen sie wenigstens keinen krausen Gedanken nach.“ Er und Ed gingen los. An ‚manchen Stellen schimmerte dunkles, fast schwarzes Wasser durch das Eis, und der Profos trat hastig einen Schritt zurück. Es stellte sich jedoch heraus, daß das Eis fest war und man nicht einbrach. „Wir gehen an Steuerbord an der Barriere entlang“, sagte Hasard. „Dort haben wir den kürzesten Weg und vermutlich einen besseren Überblick.“ Einmal traten sie auf eine Scholle, die sich unendlich langsam neigte und aufkantete.
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Bevor sie sich weiter aufrichtete, sprangen sie auf festeres Eis. „Es ist so, wie ich vermutet habe, Ed. Unser Schiff geriet mit dem Flockeneis langsam in festeres Eis, und die Abdrift hat uns ganz sanft ausgerechnet vor diesem Riesenberg abgesetzt. Danach hat sich das Eis durch den Westwind weiter zusammengeschoben. Es ging so langsam, daß wir es nicht bemerkt haben. Sehen konnten wir bei dem Schneetreiben sowieso nichts.“ „Dann besteht vielleicht Hoffnung, daß sich das Eis wieder auflöst oder zurücktreibt, falls der Wind mal aus anderer Richtung bläst.“ „Darauf können wir aber lange hoffen. Ich besprach mit Shane vorhin, daß wir einzelne Schollen abtrennen könnten und sie ins offene Wasser ziehen. Wenn wir uns dann mit zwei Booten kräftig in die Riemen legen, kriegen wir die Lady frei. Dabei ist natürlich der Wunsch der Vater des Gedankens. In der Praxis sieht das wesentlich anders aus.“ „Aber es ist eine Hoffnung“, sagte Ed, „und daran können wir uns klammern. An unserem Arbeitseifer soll es jedenfalls nicht liegen. Aye, Sir, ich werde diese Rübenschweine auf Trab bringen, wenn es soweit ist. Die werden schuften, bis ...“ „Bekannt, Ed. Noch sind wir nicht soweit. Wir dürfen nicht leichtsinnig werden und zu dicht an das Schiff herangehen. Stell dir nur vor, dieses Monstrum da oben bricht ab!“ „Das habe ich mir schon ein paarmal vorgestellt, dabei wird mir jedesmal ganz übel. Von der ,Isabella` würden nur fingerlange Späne übrig bleiben, mehr nicht.“ Der Eisberg - von einer Größe, wie sie noch nie einen gesehen hatten - wuchtete unglaublich hoch in den Himmel. An den Kanten erstrahlte er in allen Farben von hellem Rot bis in eisiges Blau. Die eine Wand bestand aus bizarren, abstrakten Formen, die andere war glatt wie poliert, und eine andere Stelle war wild zerklüftet. Da hatte der Eisberg wahrscheinlich einen großen Teil abgestoßen.
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Die „Isabella“ selbst lag wie in Abrahams Schoß. Vor Wind und Wetter geschützt, nur bedroht von der mächtigen überhängenden Wand. Aus dieser Perspektive graute es den beiden Männer jetzt noch, und es war das einzig richtige gewesen, das Schiff so schnell wie nur möglich zu verlassen. Sie brauchten lange, bis sie die Kantenseite des Eisbergs erreicht hatten, der hier senkrecht ins Meer abfiel. Packeis hatte sich an den unteren Rand geschoben, die tief unter Wasser liegenden Ausläufer des Berges ließen sich nicht einmal erahnen. Er ragte nur zu einem Bruchteil aus der Eiswüste heraus, alles andere, ein unvorstellbar großes Gebirge aus Eis, befand sich darunter. Hasard blieb stehen und sah das Ungetüm an, das sich majestätisch und unbezwingbar hier aufgepflanzt hatte wie ein Gigant aus einer anderen Welt. „Es kann sein“, sagte er langsam, „daß unser Schiff sich mit der ganzen Länge direkt auf die Ausläufer des Eisberges gesetzt hat. Das müssen wir auch noch überprüfen, denn wenn das der Fall ist, können wir die Lady total vergessen.“ „Achtung!“ rief Carberry. „Hier rüber, Hasard!“ Wieder gab ein Stück Eis nach und verkantete. Hasard sprang mit einem weiten Satz zu Carberry hinüber, ehe die Scholle sich aufrichtete. „Hier wird es dünner, aber wir können an den Eisberg nicht zu dicht heran, sonst haben wir keinen richtigen Überblick über seine wirkliche Größe.“ Sie gingen wie durch eine Traumlandschaft. An der Stirnseite tat sich eine riesige glitzernde Grotte in dem Giganten auf. Mehr als yardlange Eiszapfen hingen zu Tausenden herab und bildeten einen frostigen Vorhang, hinter dem es in allen Farben glitzerte. Der Anblick war schaurig und schön zugleich. Die Riesengrotte führte so tief in den Eisberg, daß man ihr Ende nicht sah. Die beiden Männer blieben stehen und starrten das Naturwunder schweigend an. So stolz, gigantisch und majestätisch dieser Berg
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aus gefrorenem Wasser auch anzusehen war, er war eine permanente tödliche Bedrohung und verkörperte in seiner gewaltigen Größe den eisigen Tod, der alles zermalmte, wenn er in Bewegung beriet. Dieser Eisberg war ihr Schicksal, dachte Hasard, hier entschied es sich, hier trennten sich alle Wege, die in die Zukunft führten, die guten und die schlechten. Es war ein Kreuzweg. „Land“, sagte Carberry plötzlich in die Grabesstille hinein. In weiter Ferne schimmerten Gebirgsketten, blau, teilweise von Eis und ewigem Schnee bedeckt, geheimnisvoll herüber. Eine schweigende Welt des Todes, die den Atem anhielt, eine Welt ohne Leben, in der scheinbar nichts existierte. „Das muß Grönland sein“, sagte Hasard. „Aber wir wissen nicht, in welcher Ecke wir uns befinden. Nun, es nutzt uns zur Zeit nicht viel, außer daß wir vielleicht an Land ziehen könnten, statt auf dem Eis zu sitzen, wenn wir die ,Isabella` nicht freikriegen.“ Vor dem noch fernen Land war alles mit Eisbergen bedeckt, nur ganz selten hob sich eine dunkle Stelle aus dem ewigen Weiß hervor, die Wasser ankündigte. Erst ganz dicht vor der Küste gab es wieder einen schmalen dunklen Streifen, eine kleine, unbedeutende Wasserrinne. Den Eisblock hatten sie noch nicht einmal zu einem Drittel umrundet, obwohl die Seewölfe und die „Isabella“ schon seit langem aus ihrem Gesichtskreis verschwunden waren. Die tiefe Ruhe wurde nur von leisem, geheimnisvollem Knistern unterbrochen, wenn Schollen unter dem Eis sich bewegten, sich verschoben oder leicht zusammenstießen. Mitunter erzitterte die gesamte Eisfläche leicht, und das Zittern pflanzte sich meilenweit fort. Hasard blieb wieder stehen und sah zu der gigantischen Wächte hinauf. Hier, aus dieser Perspektive, wirkte sie längst nicht mehr so bedrohlich wie von vorn. Der mächtige Überhang fiel langsam
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nach achtern ab und wurde zu einer langgestreckten Linie ohne Ende. Neue Hoffnung keimte in Hasard auf. Ein dünnes Lächeln stahl sich um seine Lippen. „Sieh dir diese Fläche an und dann sage mir, was du denkst“, forderte er den Profos auf. Ed kniff die Augen zusammen, nahm Maß, blickte auf den Grat, sah wieder zurück und starrte dann verwundert auf die endlos lang auslaufende Linie, die sich in einer schräg geneigten Ebene bis zum Eis und damit bis zum Wasser fortsetzte. Er räusperte sich, sagte aber noch nichts, sondern wedelte nur mit der Hand in der Luft herum. Dann ging er in die Hocke und blickte aus dieser Stelle auf das lang gezogene Ungetüm. „Hin, ich weiß nicht genau, was du meinst“, begann er zögernd, „aber eigentlich, ja, hm, eigentlich, also, wenn man es ganz genau betrachtet, dann kann gar nichts passieren, oder sehe ich das etwa nicht richtig?“ Hasard schlug dem Profos hart auf die Schulter. „Druckse nicht lange herum, sage es endlich. Ich sehe das doch nicht nur allein oder doch? Also raus mit der Sprache!“ Ed blickte nochmals genau hin. „Ja, du hast recht, Sir. Das Eis ist ein einziger kompakter Block, zu dem der überhang gehört. Dadurch, daß diese- Seite nicht senkrecht abfällt, bleibt alles sozusagen stabil. Es ist also unmöglich, daß der Überhang auf die ,Isabella` stürzen kann. Oder sehe ich das nicht richtig?“ fragte er beklommen. „Du siehst das schon richtig, du trotzköpfiger, sturer Hammel. Der Verlauf dieser Eismasse ist so gestaltet, daß er nicht überkippen kann, denn, sein Schwergewicht liegt auf der anderen Seite und zieht ihn dort hinunter. Das ist, als wäre die ,Isabella` stark achterlastig und der Fockmast würde kippen. Er kann also nur nach achtern kippen, aber niemals nach vorn, denn dieser Rücken ist mehr als zwanzigmal länger als das Vorderteil und dementsprechend schwerer.“
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Carberry grinste über sein narbiges Gesicht, und in seinen Augen war ein fröhliches Funkeln. „Dann können wir zurück an Bord?“ „Ja! Das Vorderteil muß früher mal tief im Wasser gelegen haben, und die Wächte wurde dadurch mit der Zeit ausgewaschen. Der Eisberg ist im Begriff, im Lauf der Zeit nach achtern abzusacken. Bis er das tut, werden wohl noch einige Jahre vergehen. Aber wir überzeugen Uns noch genauer, indem wir noch weiter herumgehen.“ Eine bedrückende Last war von ihnen genommen, als sie die Beschaffenheit dieses gewaltigen Berges weiter erkundeten. Das, was man von vorn sah, dort, wo die „Isabella“ lag, war nichts als eine gewaltige optische Täuschung, hervorgerufen durch den Eindruck, der Eisberg wäre auf der Vorderseite instabil in seiner Lage. Daß er es nicht war, bewies sein „Achtersteven“, der sich meilenweit zum fernen Land hinzog und erst dort ganz allmählich mit der See verschmolz. Es hatte sogar den Anschein, als wäre er mit den Landmassen verschmolzen zu einem gigantischen kompakten Block, aber auch das war eine optische Täuschung in dieser Welt des Schweigens, wie sich etwas später einwandfrei herausstellte. Es war fraglos ein langsam irgendwohin driftender Koloß, vermutlich auf dem Weg nach Süden, wo er im Lauf der Zeit immer schwächer wurde, bis ihn wärmeres Wasser oder die Sonne fraß. Nein, das Ungetüm konnte nicht nach vorn sacken und die gigantische Wächte abwerfen, das war einfach ausgeschlossen. Genauso gut hätte sich die ganze Welt von einer Stunde zur anderen verkanten können. Mit dieser absoluten Gewißheit kehrten sie wieder zurück, und der narbige Profos grinste vor sich hin, wie er schon lange nicht mehr gegrinst hatte. Die größte Sorge war von ihnen genommen. Der Rest waren Probleme, die sich irgendwie lösen ließen. 8.
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Die Überraschung schlug ein wie Ferris Tuckers berüchtigte Höllenflaschen. Die Seewölfe sahen sich ungläubig an, als Hasard ihnen diese Neuigkeit mitteilte. „Zurück an Bord!“ befahl Hasard. „Und laßt euch von dem Anblick nicht täuschen. Es gibt immer wieder Situationen, die viel schlimmer aussehen, als sie sind. Wir werden zwar ständig das Gefühl haben, der Berg würde über uns zusammenbrechen, aber ihr wißt, daß ich euch dieser Gefahr niemals aussetzen würde. Das einzige, was an dem Klotz bald herabfallen wird, sind die riesigen Eiszapfen vor der Grotte, aber mehr auf keinen Fall. Wenn die aufs Eis donnern, wird sogar die ,Isabella` geschüttelt, aber mehr passiert nicht. Und jetzt packt den ganzen Kram zusammen, wir gehen zurück.“ Das gab ein Händeschütteln, Schulterklopfen und ein freudiges Gebrüll wie schon lange nicht mehr. Ihre hoffnungslose Situation hatte sich schlagartig gebessert. Sie hatten ihr Schiff wieder, konnten sich wärmen und ihr einigermaßen normales Leben wie bisher weiterführen. Carberry begann in seiner typischen Art zu prahlen, jetzt, da er wieder Oberwasser hatte. „Was das Festsitzen betrifft“, sagte er, „das ist nur noch ein Klacks. Das tue ich mit links. Ein kurzer Stoß mit der Hand, und unsere Lady schwimmt wieder. Das bißchen Holz von dem Eis zu hieven, ist für uns doch nur ein Spiel.“ An die großen Worte sollte sich der Profos später noch erinnern, denn es wurde alles andere als ein Spiel, aber zunächst bedrückte sie das nicht weiter. Sie hatten ihr Schiff zurück, das war das einzige, was vorerst zählte. Wieder vor dem Schiff, sah für Hasard und den Profos alles ganz anders aus, und alle beide hätten geschworen, daß die Eisbarriere jeden Augenblick mit urweltlichem Getöse auf sie niederfallen könnte. „Verdammt“, schimpfte Ed, „daß einen die
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eigenen Augen aber auch so täuschen können, das hätte ich nie geglaubt.“ „Zweifelst du daran, was du gesehen hast?“ fragte Hasard spöttisch. „Jetzt nicht mehr, aber das bedrückende Gefühl bleibt, obwohl ich es besser weiß.“ Auch die anderen erkundigten sich ständig, ob der Seewolf und Ed nicht doch einem Irrtum erlegen waren. „Ich gebe euch mein Wort darauf, daß nichts passiert“, sagte der Seewolf und erklärte es noch einmal an genau demselben Beispiel mit dem Fockmast, den er Ed vorhin auch erklärt hatte. Sie glaubten ihm, und als sie in die Messe gingen, wurden Arwenack und der Papagei begrüßt, als hätten sie sich jahrelang nicht gesehen. Der Schimpanse wußte nicht, wie ihm geschah, und Sir John hüpfte in seinem Käfig aufgeregt von einer Stange zur anderen, spreizte das Gefieder und wollte raus. „So, ihr Triefaugen“, sagte Carberry und rieb sich die Hände. „Jetzt wird das gesamte Zeug wieder an den alten Plätzen verstaut, und dann werden wir arbeiten, daß es eine Freude ist. Da hier die Sonne nicht untergeht, gibt's auch keine Nacht, und wo es keine Nacht gibt, braucht man auch nicht zu schlafen. Der Schlaf ist also das erste, was ich euch grinsenden Kakerlaken abgewöhnen werde. Der Kutscher wird uns jetzt ein paar Ochsen in die Pfanne hauen, und dann geht es los, willig, willig. Wir werden feststellen, ob wir direkt auf dem Eis liegen oder ob wir uns erst raushacken müssen. Zunächst wird eine eisfreie Rinne geschlagen.“ „Zunächst wird eine Muck Rum für jeden ausgegeben“, sagte Hasard lachend. Dann wird kräftig gegessen, und erst dann sehen wir weiter. Und wir kriegen die Lady wieder vom Eis, verlaßt euch darauf!“ Ein kleines Fäßchen Rum wurde geöffnet, und jeder nahm einen tiefen Zug. Bis der Kutscher das Essen zubereitet hatte, wurde alles wieder an Bord verstaut und an die Plätze zurückgebracht. Bis das geschehen war, verging eine ganze Weile.
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Niemand wußte genau, welche Tageszeit sie gerade hatten. Nach der Sonne konnte man sich nicht richten, die „ging nicht mehr richtig“, wie Dan sagte, und genau genommen war es ihnen auch ziemlich gleichgültig. Sie hatten alle Zeit der Welt, es interessierte sie jetzt nur noch, dieses anheimelnde Plätzchen so schnell wie möglich wieder zu verlassen und offenes Wasser zu erreichen, denn unter dem gewaltigen Berg aus blankem Eis fühlte sich keiner wohl. Er verursachte bei jedem scheuen Blick ein Gefühl der Lähmung, mochte er auch nicht daran denken, herabzufallen. Nach einem kräftigen Essen, bei dem jeder zulangte, als hätte er tagelang nichts mehr zwischen die Zähne gekriegt, teilte der Profos die Männer zum Eishacken ein. Sie wurden angeseilt, damit sie von losgeschlagenen Schollen nicht in die Tiefe gerissen wurden. Aber bevor die Arbeit, begann, prüften Carberry, Tucker und Smoky den Untergrund, und dabei gab es neue, unangenehme Überraschungen. Die Annahme, die „Isabella“ hätte sich zusammen mit kleineren Eisschollen oder verdichtetem Flockeneis in die Fläche des Eisbergs geschoben, war nur teilweise richtig, wie sich herausstellte. Sicher, sie hatte sich unmerklich und sanft auf die glatte Unterfläche des unter Wasser aufragenden Giganten geschoben, aber dazwischen hatten sich weitere Schollen geschoben, die einen Packeisgürtel unter ihr bildeten. Diese gesamte Fläche lag nun unverrückbar fest auf dem kompakten Eis. Das hatte den Vorteil, daß der Rahsegler von nachdrängendem Eis nicht zermalmt werden konnte, aber es hatte auch den Nachteil, daß sie das Schiff nicht so einfach loskriegten, denn Eis klebte fest an Eis, und darauf klebte die „Isabella“ wie auf einer Helling. Das Eis pellte sie nach allen Seiten buchstäblich ab, so daß ihre Lage nicht verändert werden konnte. „Ich hatte mir vorgenommen, ein anständiger Mensch zu werden“, motzte der Profos, „und das Wort Scheiße nicht mehr zu gebrauchen, schon aus lauter
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Dankbarkeit, daß wir die Lady wiederhaben, aber jetzt kann ich nur sagen, daß ich mich an das Wort wieder ganz deutlich erinnere. So ein verdammter Scheiß“, setzte er hinzu. „Jetzt müssen wir diesen lausigen Berg spalten, und glaubt ja nicht, daß wir es wieder mit Sprengungen schaffen werden. Das können wir vergessen, wenn uns nicht alles um die Ohren fliegen soll.“ „Nein, sprengen können wir nicht“, sagte auch Ferris Tucker. „Das ging damals, aber hier ist die Lage weitaus schlechter.“ Carberry zeigte mit dem Finger auf die glatte milchige Seite des Eisklotzes, die wie blank geschliffen und poliert aussah. „Da kannst du dich mit der Axt austoben, solange du willst, Ferris, und kriegst doch kaum etwas ab. Wie fangen wir das nur an?“ Tucker versuchte es immerhin, nahm Maß und schlug mit seiner gewaltigen Axt auf die Eisfläche. Nur ein paar Stücke flogen heraus, Splitter, die kaum der Rede wert waren. Hasard stand ebenfalls auf der Eisfläche. Die „Isabella“ lag so dicht an der gigantischen Wand, daß nur ein paar Männer an der Schmalseite stehen konnten. Beim - Arbeiten mußten sie sich zwangsläufig gegenseitig behindern. Sie lag wie auf einem Sockel, und der Kiel befand sich ein kleines Stück im Eis. Hasard war ratlos und schüttelte den Kopf. „So einfach aufzuhacken ist das nicht“, erklärte er. „Es wird uns nichts anderes übrig bleiben, als auf der Steuerbordseite zuerst eine eisfreie Fläche zu schaffen. Das andere auf Backbord müssen wir aufsägen und in Stücke spalten.“ „Ganz recht, Sir“, sagte der Schiffszimmermann. „So sehe ich das auch, es geht nicht anders.“ „Gut, dann. werden alle verfügbaren Männer zuerst das Eis auf Steuerbord aufhacken. Ein paar andere fangen an zu sägen, aber auch dafür müssen wir erst Löcher ins Eis hacken.“ Es wurde hin und her beraten, doch selbst nach Durchspielung aller Möglichkeiten bot sich keine andere Lösung an. Zwar war
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das Eis an manchen Stellen nur dünn und trug gerade noch einen Mann, aber an anderen, da, wo sich die Schollen druntergeschoben hatten, war es ziemlich stark. Zehn Männer begannen an Steuerbord Eis zu hacken, ein paar andere befreiten die „Isabella“ von den aufgetürmten Schneemassen und dem Eis an Wanten und Pardunen. Stenmark und der alte O'Flynn hieben eine schmale Rinne in das Eis, die vom Schiff wegführte. Sie wurde schließlich so breit, daß eins der Beiboote wieder im Wasser schwamm. Tucker blickte zu den beiden Männern hin, die emsig hackten. Donegal stemmte sein Holzbein ins Eis, hackte und fluchte wie ein Rohrspatz auf Gott und die Welt. „He, ihr Stinte!“ rief Ferris. „Setzt euch in das kleine Boot und fangt an zu schaukeln. Auf die Art könnt ihr das dünne Eis viel schneller und leichter zerbrechen.“ Weder Stenmark noch der Alte kapierten, was Tucker meinte. Der Zimmermann warf die Axt aufs Eis und ging hinüber. Mit einem Satz sprang er in das kleine Boot. „Los, Stenmark, auf die andere Seite!“ Einer befand sich jetzt auf Backbord im Boot, der andere auf Steuerbord. Tucker verlagerte sein Gewicht, bis das Boot überzukippen drohte. Dann tat der Schwede Stenmark das gleiche, und das Boot schwankte bedrohlich hin und her. Dabei zerbrach es das Eis auf seiner gesamten Länge und Breite. Immer mehr Stücke brachen ab, die dünneren Schollen zerbarsten und wurden von O'Flynn mit einem langen Haken unter die anderen geschoben. „Mann, das geht ja prächtig“, sagte Stenmark, „und es erspart eine Menge Knochenarbeit.“ Mitunter schwankte das Boot so stark, daß Wasser hereinschwappte. „Mehr Männer her, und dann das große Boot“, sagte Tucker. „Damit könnt ihr ganze Schollen spalten, wenn sie nicht zu dick sind. Und was sich nicht unters Eis schieben läßt, das hängt ihr ans Boot und zieht es später ins freie Wasser hinaus.“
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Die Idee fand auch der Seewolf sehr gut. Gleich darauf wurde die Schaluppe genommen und mit mehreren Leuten besetzt, die jetzt einen Höllentanz aufführten, wild brüllten, sich gegenseitig anfeuerten und das Eis in Stücke „schaukelten“. Immer wieder knirschte es, und immer wieder brachen große Teile der Scholle ab, die von anderen unters Eis geschoben wurden. Tucker war inzwischen zur Backbordseite der „Isabella“ zurückgekehrt und untersuchte noch einmal, ob sich das Eis vielleicht doch an einigen Stellen wegsprengen ließ. Es ging nicht, sosehr er das auch bedauerte. Es ließ sich nicht ausschließen, daß die „Isabella“ dabei in Mitleidenschaft gezogen wurde, und das wollte keiner riskieren. Also mußte mit herkömmlichen Methoden gearbeitet werden. Er, der Profos, Shane und Batuti begannen zu hacken. Sie schlugen Löcher in die kompakte Masse, um die Trummsäge ansetzen zu können. Alle Viertelstunde mußte Tucker die Äxte und Beile nachschärfen, die durch das harte Eis schnell stumpf wurden. Verbissen schufteten die Männer, bis ihnen der Schweiß über die Gesichter lief und die Kälte nicht mehr zu spüren war. Die ersten Löcher waren geschlagen. Batuti, der gerade wieder mit der Axt ausholte, ließ sie plötzlich sinken und stierte auf das Eis. „Was gibt's denn?“ fragte Carberry. „Batuti glauben, sehen Holz“, sagte der Neger. „Was heißt da glauben? Entweder du siehst Holz, oder du siehst kein Holz. Wird vielleicht eine Planke sein, die das Eis gefangen hat, oder ein Stück von einem Mast.“ Als der Neger vorsichtig weiter- hackte, hielt der Profos es doch nicht mehr aus. Die Neugier wurde übermächtig in ihm, und so ging er zu der Stelle, die Batuti bezeichnet hatte. Das Eis war an den weiter höher gelegenen Stellen wie Glas, man sah wie durch ein
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Fenster. An anderen Stellen war es milchig-trübe und teilweise schmutzigweiß. Es schillerte in allen Farben, je höher es sich befand. „Tatsächlich ein Stück von einer Planke“, sagte Ed und rief den Seewolf herbei. Hasard sah sich das Bruchstück an. Noch befand es sich mehr als eine Handbreit unter dem Eis, aber die Umrisse waren klar und deutlich zu erkennen. Es war eine gebrochene Planke aus dem Vorderteil eines Schiffes, soviel ließ sich erkennen. „Treibgut, vielleicht von einem untergegangenen Schiff“, vermutete Hasard. „Das kann schon jahrelang hier stecken. Nicht wegwerfen, Batuti, das gibt Brennholz, wir brauchen es bitter nötig, denn wir haben leider nicht viel.“ „Batuti wissen, Sir!“ Mit Feuereifer hackte Batuti weiter. Seit der Schneesturm abgeflaut war, fror er nicht mehr, und -jetzt, beim Eishacken, lief auch ihm der Schweiß in langen Bächen über das dunkle Gesicht. Bald hatte er die Planke herausgehackt und nahm sie in die Hand. Sie war schwer, und als er sie einmal an den Eisberg schlug, zersplitterte sie wie Glas, und die Reste flogen ihm um die Ohren. „Gut“, sagte der Neger grinsend, „Batuti brauchen nicht mehr Holz hacken, nur schlagen auf Eis und schon gehackt.“ Die einzelnen Stücke warf er nach oben in die Kuhl. Etwas später konnten sie die Säge ansetzen. In dem Eisloch stand Wasser, und Ferris begann zu sägen, bis nach einer Weile ein stattlicher Block aus der Masse herausgesägt war. Er war so schwer, daß er mehrmals gespalten werden mußte, ehe sie ihn in die Eisrinne warfen und unter die Fläche stießen. Seit die schweißtreibende Arbeit begonnen hatte, befand sich jetzt auf der anderen Seite zum Meer hin eine lange eisfreie Rinne, die von den Männern ständig vergrößert wurde. Unter der Stelle, etwas seitlich zu dem Eisberg versetzt, begann es dunkel zu schimmern.
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Tucker ging in die Hocke, weil er sich die dunkle Stelle nicht erklären konnte. „Ist das nun Wasser, oder was?“ fragte er den Profos. „Das kann doch gar nicht möglich sein. Der Berg besteht doch aus kompaktem Eis, und wenn da Wasser hineinfließt, würde es doch sofort gefrieren.“ Carberry legte sich auf den harten Untergrund und spähte ebenfalls in das höhlenähnliche Ding hinein, das sie ausgesägt hatten. „Vielleicht sind das noch mehr Planken“, meinte er. „Irgendwo ist mal ein Kahn abgesoffen, und die Trümmer hat das Eis festgehalten. Wir sägen etwas tiefer, dann läßt es sich erkennen.“ Eisbrocken um Eisbrocken flog aus der Grube, und jetzt sahen sie deutlich, daß es sich tatsächlich um weitere Planken oder den Teil eines Mastes handelte, der da eingeschlossen war. Von der anderen Seite drang lautes Geschrei herüber. Carberry zog sich am Schanzkleid hoch und stellte sich auf die Kuhl, um zu sehen, was da los war. Das war der beste und einfachste Weg, so ersparte er sich den Umweg um das ganze Schiff. Und dann sah er und hörte, was das Geschrei der Seewölfe zu bedeuten hatte. Weiter draußen, wo die kleine eisfreie Zone war, wurden gewaltige Fontänen in die Luft geblasen. Es sah aus, als wären Siebzehnpfünder in die See geklatscht und hätten diese Staubfahnen aus Wasser und Luft auf gewirbelt. Aber es war etwas anderes, wie der Profos schnell erkannte. Eine Walherde zog dort draußen vorbei, und die gigantischen Tiere bliesen gerade Luft aus ihrem gewaltigen Atmungsorgan ab. Die dunklen Leiber waren deutlich zu erkennen, langgestreckte schwarze Flächen von gewaltigen Ausmaßen. Eins der Tiere schob sich noch weiter aus dem eisigen Wasser und blies eine gewaltige Fontäne ab. „Wale“, sagte Carberry zu Tucker. „Mann, unser Proviant ist sowieso nicht besonders reichhaltig. Wenn man eins dieser Tiere zu
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fassen kriegte, dann hätten wir alles, was wir für die nächste Zeit benötigen. Weißt du noch, wie wir damals bei den FalklandInseln einen dieser Kolosse gejagt haben? Dabei wären wir beinahe hops gegangen. Und jetzt treiben sich diese Giganten sogar hier oben herum.“ Ferris nickte. Natürlich hatte er das noch nicht vergessen, wenn es auch schon eine Weile zurücklag. Der Kampf mit dem Wal - es war ein mörderisches und tollkühnes Unternehmen gewesen. „Die kriegen wir nicht mehr“, sagte Tucker, „die Jagd müssen wir auf einen anderen Tag verschieben. Wenn unsere Lady wieder frei ist, ja, dann vielleicht.“ Der Profos starrte den glänzenden mächtigen Leibern so lange nach, bis sie wieder auf Tiefe gingen und verschwanden. Nur ab und zu tauchte noch mal eins der Tiere auf, um seine Lungen zu füllen. Dann war der gewaltige Spuk vorbei, und sie hackten und sägten wieder am Eisberg herum, um die „Isabella“ loszulösen. Das Dunkle im Eis wurde deutlicher, als weitere Schichten von den Seewölfen abgetragen wurden. Ein abgebrochener Topp erschien, an dem ein längeres Tau hing. Das Stück wog gut und gern drei Zentner, und als sie es endlich oben hatten, gähnte unter der Stelle eine pechschwarze Ausbuchtung. Eine kompakte Holzmasse lag darunter, nur noch von einer ganz dünnen Eisschicht überzogen. Carberry ließ wieder den Seewolf rufen. „Sieh dir das an, Sir“, sagte er aufgeregt. „Das sieht ganz so aus, als sei hier ein Schiff untergegangen, oder das Eis hat es buchstäblich gefressen. Das sind solide harte Planken, manche scheinen etwas zerquetscht zu sein, so genau läßt sich das nicht erkennen.“ „Ein im Nordmeer verschollenes Schiff“, sagte Hasard. „Versuch, soviel wie möglich davon freizulegen. Vielleicht sind es auch nur einzelne Teile davon.“ „Glaube ich nicht, das sieht verdammt nach einem Wrack aus.“ „Und das hier könnte die Mitte des Schiffes gewesen sein“, meinte Ferris nach
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einem langen, prüfenden Blick. „Wer weiß, vielleicht erleiden wir das gleiche Schicksal, wenn wir hier nicht mehr herauskönnen.“ „Noch ist gar nichts bewiesen, Ferris. Selbst wenn es ein ganzes Schiff ist, können wir es nicht herauslösen, das würde wochenlange Knochenarbeit erfordern.“ Verständliche Aufregung hatte sich der Männer bemächtigt, und der Schiffszimmermann versuchte, sich so einiges zusammenzureimen. Konnte es nicht sein, daß dieses Wrack — oder zumindest die Teile eines ehemaligen Schiffes — genauso im Eis gefangen war wie sie selbst? Es war eine Parallele zu ihnen, gewiß, vermutlich hatte der Sturm schon viele Schiffe an diese Küste geblasen, die eigentlich ganz woandershin wollten und dann hier im ewigen Eis gelandet waren. Und dieses Schiff hatte eben Pech gehabt und sich aus der tödlichen Umklammerung nicht mehr lösen können. So hatten es im Laufe der Zeit Schneeschauer zugedeckt, und der Eisberg war immer weiter angewachsen und hatte den Fremdkörper mit gefrorenem Wasser umhüllt und in sich aufgesaugt, ihn bedeckt, bis er unter der dichter werdenden weißen Decke verschwunden war. Tucker hieb jetzt verbissen weiter und feuerte auch Batuti an, denn jetzt wollte er es ganz genau wissen. Stück um Stück sprang aus dem Eis, wurde hochgewirbelt und verschwand im Wasser. Das Eis gab immer mehr von seinem Geheimnis preis, je mehr von ihm abgespalten wurde. Jetzt war die dunkle Wand schon ganz deutlich zu sehen, sie schimmerte auch an weiter entfernten Stellen im Eis hindurch. Ferris Tucker holte zu einem gewaltigen Schlag aus. Es knackte und krachte laut, als die mächtige Axt die ersten beiden Planken zersplitterte. Mit einem dumpfen Geräusch fielen Holzteile, die hart wie Glas waren, in das Innere des Eisbergs. Ein dunkles Loch im Eis gähnte die Seewölfe an.
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Schwer atmend stand Tucker da, in der Hand immer noch die schwere Axt, und starrte in die finstere Öffnung. Kein Zweifel, dachte er, er hatte die Planken eines alten Schiffes durchschlagen, das sich unter dem Eis versteckt hatte, das der gewaltige Druck teilweise zermalmt haben mußte und das jetzt durch einen Zufall wieder ans Tageslicht geriet. Hinter der dunklen Öffnung war nichts zu erkennen. Ferris nahm einen Eisbrocken und warf ihn nach unten. Neben ihm standen Hasard, der Profos und Batuti. Der Neger blickte fast ängstlich in die unheimliche Schwärze hinunter. Der Eisbrocken prallte irgendwo auf Holz auf und kullerte dann durch einen Raum, bis er endlich liegen blieb. „Der Laderaum eines Schiffes“, sagte Ferris. Alle beugten sich vor, um in die Öffnung zu blicken. Ein Geruch nach Jahrhunderten drang aus dem Innern des zermalmten Schiffes. Soweit sich erkennen ließ, lag es fast gerade in der Höhle, nur wesentlich tiefer als die „Isabella“. „Was kann das für ein Schiff sein?“ fragte der Profos. Schulterzucken antwortete ihm. Niemand wußte es. Alle starrten wie gebannt in das finstere gezackte Loch hinunter. Welches traurige Schicksal mochte sich hier erfüllt haben? Hasard winkte dem Moses, der mit großen Augen nicht weit von den Männern entfernt stand und verwundert und erstaunt zugleich in die Öffnung blickte. „Bring zwei Lampen, Bill“, sagte der Seewolf, „und laß sie vom Kutscher in der Kombüse gleich entzünden.“ Mittlerweile schien es sich bei den anderen herumgesprochen zu haben, daß ein paar Männer auf etwas Merkwürdiges bei ihrer Eishackerei gestoßen waren. Wie ein Lauffeuer war es herumgegangen, und jetzt erschien einer nach dem anderen scheu und mit erwartungsvollen Blicken,
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bis sich der größte Teil der Crew auf der Backbordseite drängte. „Verschwindet!“ rief Carberry. „Ich kann eure Neugier ja verstehen, aber wenn ihr hier herumlatscht, treten wir uns gegenseitig nur auf die Zehen. Wer also unbedingt glotzen will, geht an Bord und sieht von der Kuhl aus zu, was hier los ist.” „Liegt da wirklich ein Schiff im Eis?“ fragte Smoky ungläubig. „Scheint so“, erwiderte Ed einsilbig. Bill kehrte mit zwei Lampen zurück, die bereits entzündet waren, und reichte sie von der Kuhl den Männern auf das Eis hinunter. Hasard zog prüfend die Luft ein. Sie riecht wirklich nach Jahrhunderten, dachte er. Wie aus einer eisigen Gruft, die seit Ewigkeiten kein Mensch mehr betreten hatte, roch es. „Lassen wir doch die Jakobsleiter hinunter“, sagte Ferris Tucker. „Das geht einfacher.“ Er ließ die Leiter umhängen, nahm sie entgegen und sicherte sie mit Tauen am Poller der „Isabella“. Hasard hängte sich die eine Lampe in den Gürtel, die andere reichte er dem rothaarigen Schiffszimmermann. „Zwei Mann können mitkommen“, entschied er. „Du und der Profos!“ „Bin gespannt, was wir da sehen“, sagte Ed leise. Sie mußten aufpassen, denn die Ränder des gezackten Loches waren wie scharfgeschliffene Dolche, die sich in die Haut bohrten. Der Seewolf stieg als erster in die eisige Gruft hinunter, bis er auf festem Boden stand. Ihm folgten Carberry und der Schiffszimmermann, bis sie neben Hasard standen. Jedes noch so kleine Geräusch hallte wie ein dumpfes Echo und schien sich durch den ganzen Eisberg fortzupflanzen. Sie hoben die Lampen und sahen sich um. Kein Zweifel, es war der Laderaum eines Schiffes, in dem sie sich jetzt befanden. Eisdruck hatte die Planken zusammengequetscht und die Perspektiven unglaublich extrem verzogen. Über ihren
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Köpfen war das Deck gespalten. Ein Maststück ragte ins Innere und war von glänzendem Eis bedeckt. Die Innenseite des Rumpfes war verzogen, eisgepanzerte Planken standen bizarr nach allen Seiten heraus. „Das sieht aus wie in einer Eisgrotte“, sagte Tucker. Obwohl er leise sprach, hallte seine Stimme wie in einem Dom von den zerborstenen Wänden wider. Teilweise war auch der Boden unter ihnen mit blankem Eis bedeckt, und einmal stieß der Profos sich den Schädel, als er einen yardlangen Eiszapfen streifte, der neben ihm zu Boden polterte. Sie wandten sich in die Richtung, die normalerweise nach vorn führen mußte. Von innen ließ sich nicht erkennen, wo es nach achtern oder vorn ging, dazu hatte sich das Holz zu sehr verzogen. Carberry riß eine der herausragenden Planken mit den Händen ab. Sie zersplitterte sofort. Er hob die Lampe und sah nach. Hinter der zerborstenen Planke zeigte sich schimmerndes glattes Eis. Es war ein Wunder, daß es das Schiff nicht total zerquetscht hatte. Aber wahrscheinlich war es nach und nach eingeschneit und hatte die Blase im Eis geschaffen. Vor dem ersten Schott ging es nicht mehr weiter. Eine Eisbarriere versperrte ihnen den Weg. „Ich hole die Axt“, sagte Ferris und ging ein paar Yards zurück. Bill reichte ihm durch die Öffnung die Axt und erkundigte sich neugierig, wie es da innen aussähe. „Ihr könnt euch das nachher alle ansehen“, sagte Tucker. „Allem Anschein nach aber ist es ein komplettes Schiff, nur vom Eis zerquetscht und total verschoben.“ Als er zurückkehrte, standen Hasard und Ed neben der Jakobsleiter. „Das Eis scheint ziemlich dick zu sein“, sagte der Seewolf. „Versuchen wir es einmal auf der anderen Seite.“ Tucker sah sich noch einmal fachmännisch die Plankenführung an, um festzustellen, wo jetzt vorn und achtern war. Es dauerte lange, ehe er es herausfand.
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„Genau umgekehrt, Sir“, sagte er. „Was wir für vorn hielten, ist achtern.“ Unter ihren Füßen befand sich eine spiegelglatte Eisschwelle, als sie den anderen Weg einschlugen. Auch der endete genau wie der andere vor einer Eiswand, aus der ein paar zersplitterte Planken ragten. Der Boden war tückisch glatt, und die Holzteile ragten wie Glasscherben daraus hervor. „Da ist die Welt zu Ende“, murmelte der Profos. „Nicht für uns, wir haben ja noch die Axt. Soll ich mal an die Eiswand klopfen, Sir?“ „Ja, tu das!“ Tucker holte aus, aber die Axt sprang ab und glitt ihm fast aus der Hand. Mit einem häßlichen Singen fegte sie an Carberrys Schädel vorbei. „Mann“, schnaufte Carberry, „ich weiß, daß deine Axt stärker ist als mein Schädel. Du brauchst es nicht erst auszuprobieren.“ Tuckers zweiter Hieb ließ die Schottwand erbeben und knistern. Durch das Eis lief ein gezackter Riß von oben bis unten. Ein zweiter Schlag sprengte eine Eiswand ab, die klirrend in sich zusammenfiel wie ein Haufen größer Scherben. Der gewaltige Hieb dröhnte ihnen nachhallend in den Ohren und kehrte als dumpfes Echo zurück. Durch das eingefrorene Schiffswrack lief ein Knistern und Beben, und von oben lösten sich mehrere Eisstücke. Kaum war die erste Barriere abgeblättert, tauchte eine zweite auf, noch dicker und mächtiger als die erste. Ferris hob die Axt, ließ sie aber wieder sinken. „Das hat keinen Zweck“, sagte er resignierend. „Da können wir stundenlang herumklopfen. Versuchen wir es lieber noch einmal auf der anderen Seite.“ Seit sie in diese Eisgruft eingedrungen waren, hatte sich irgendetwas verändert. Die Ruhe wär unterbrochen worden, und in dem alten Schiff regte sich zum erstenmal wieder Leben. Ächzen drang aus den Planken, es knisterte und knackte geheimnisvoll, und ein lautes Krachen ließ sie zusammenfahren.
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„Verdammt“, sagte der Profos, „die Höhle wird doch nicht ausgerechnet jetzt einstürzen wollen.“ „Glaube ich nicht“, erwiderte Hasard. „Das Holz steht unter unheimlicher Spannung, und die beginnt sich langsam zu lösen. Das kompakte Eis wird nicht niederstürzen.“ Tucker versuchte es jetzt an dem Schott, das nach vorn führte. Harte Schläge ließen die Grotte erzittern, und es zeigte sich, daß das Eis hier nicht so stark war wie auf der anderen Seite. Carberry warf die abgespalteten Eisbrocken zur Mitte hin: Tuckers kraftvolle Schläge trieben eine Breche durch das Eis, bis das Holz des Schottes sichtbar wurde. Er stand kniehoch im Eis und schlug immer wieder gegen das Schott. Nachdem das letzte Eis zerschlagen war, gab das Holz nach, und bei dem letzten Schlag wurde Tucker durch die Wucht nach vorn getrieben Einschließlich seiner gewaltigen Axt sauste der Zimmermann, von seinem eigenen Schwung getrieben, durch das zersplitterte Schott und verschwand dahinter. Sein lautes Fluchen entlockte dem Profos ein anerkennendes Grinsen. „Ja“, sagte er, „Ferris versteht das. Wo der hinschlägt, da bleibt kein Schott mehr stehen.“ Hasard hob die Lampe etwas höher und leuchtete in den Raum, in dem Tucker auf dem Boden lag und sich abmühte, aufzustehen. Er leuchtete in eine enge Eisgruft. Sie sah aus wie eine Tierfalle der Eingeborenen, eine schmale Grube, kreuz und quer von scharfkantigen Splittern durchzogen. „Bist du verletzt, Ferris?“ fragte der Seewolf. „Nein, ich glaube nicht.“ „Vorsicht, über dir!“ rief Hasard. Tucker stand unendlich vorsichtig auf. Dann suchte er nach seiner Axt und hieb die Splitter weg, die ihm fast ins Gesicht gedrungen wären. Der Raum war so schmal, daß zwei Leute kaum nebeneinander stehen konnten. Eis hatte sich hineingeschoben und die
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Planken zerdrückt. Aber dieser zerquetschte Gang führte weiter nach vorn, dorthin, wo sich das Mannschaftsquartier befinden mußte. Tucker tastete die Wände ab. „Hier finde selbst ich mich nicht mehr zurecht“, sagte er. „Das Schiff hat keine Formen mehr, es ist nur noch ein zusammen geschobener Holzhaufen. Über uns müßte das Vordeck mit der Kombüse sein, aber da werden wir nie hinaufkommen. Hier sind nur die Räume unter Deck erhalten, wo das Eis nicht weit genug vorgedrungen ist. Oben wird alles mit dem Eis zu einer Masse verwachsen sein.“ Als er vorsichtig weiterging, wurde der schmale Gang unvermittelt höher. Tucker blieb stehen und blickte nach oben. „Fünf Yards hoch, wenn es langt“, sagte er. „Seht euch das mal an, hier hat das Eis ja merkwürdige Formen geschaffen.“ Das Oberdeck oder das, was vormals etwa das Oberdeck gewesen sein konnte, hatte sich wie ein spitzer Giebel aufgeworfen und bildete ein Dach, von dessen Unterseite es in allen Farben schimmerte und gleißte. Bizarre Eisgebilde ragten herab, einige hatten es sogar bis auf den Boden geschafft, wo sie armdicke Säulen bildeten. Dieser Teil sah wie eine unwirkliche Welt aus, fand Hasard. Man hätte nie geglaubt, sich auf einem Schiff zu befinden, denn damit hatte dieser Raum kaum noch etwas gemeinsam. Ein eisüberwucherter Balken, von dem ebenfalls bis zum Boden bizarre Eisformen herabhingen, lag vor ihnen. Dahinter befand sich nochmals eine zerdrückte Wand. Tucker wandte sich bedauernd an den Seewolf. „Schade, daß wir dieses Holz nicht herausholen können“, meinte er. „Es würde uns gute Dienste leisten, aber es wäre auch eine unvorstellbare Plackerei, das alles aus dem Eis zu lösen. Außerdem sind die Planken und Holzstücke voller Wasser, das gefroren ist. Man müßte sie wochenlang
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auftauen, ehe sie einigermaßen trocken wären.“ „Ja, das ist bedauerlich, aber nicht zu ändern. Diese oder jene Planke werden wir herauskriegen, das meiste jedoch nicht.“ „Glaubst du, Sir, daß sich. noch Leute an Bord befinden?“ fragte der Profos leise. Hasard schüttelte den Kopf. „Nein, das glaube ich nicht. Da das Schiff nicht von einer Stunde zur anderen im Eis festfror, werden die Leute ihr Schiff verlassen haben. Zeit genug dazu hatten sie sicherlich. Wir wären ja auch nicht an Bord geblieben.“ „Trotzdem habe ich ein ungutes Gefühl“, sagte Ed. „Dieser Raum müßte jetzt das Mannschaftslogis sein. Sollen wir ihn aufbrechen?“ „Natürlich, aber geht zur Seite, denn gleich wird der ganze Segen von da oben herabfallen.“ „Ich werfe die Axt durch“, sagte Tucker. „Geht bis an das zersplitterte Schott zurück!“ Er nahm die Axt und schleuderte sie ' zwischen die herabhängenden Eiszapfen. Die Erschütterung löste ein Grollen aus. Die armdicken Säulen fielen klirrend und unter lautem Getöse zusammen, und von oben regneten scharfkantige Eissplitter nieder, die den Gang fußhoch anfüllten. Ein gewaltiges Dröhnen Lief durch den Berg und ließ ihn erzittern. Schallwellen pflanzten sich durch die Masse des Giganten durch. Den gewaltigen Klotz vermochte das zwar nicht zu erschüttern, aber dennoch glaubten die Männer deutlich das Beben zu spüren, das ihn wie eine Welle durchlief. Das Eis um sie herum begann zu knistern. Es hörte sich an, als wenn tausend wispernde Stimmen aus weiter Ferne durcheinander sprachen. Einen Augenblick standen die drei Männer mit angehaltenem Atem da und lauschten den unnatürlichen Geräuschen. Stimmen drangen von weiter Ferne zu ihnen, aber sie ließen sich nicht unterscheiden.
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„Das sind unsere Leute“, sagte Ed. „Die rufen anscheinend etwas, oder sie meinen uns.“ Das Knistern durch den Eisberg pflanzte sich weiter fort. Kaum spürbare Erschütterungen durchliefen ihn jetzt kreuz und quer von allen Seiten. „Zurück“, sagte Hasard. „Da stimmt etwas nicht, das sind keine normalen Geräusche.“ Ein kurzer, harter Ruck drang aus dem Boden. Hasard dachte schaudernd an die riesige Wächte über der „Isabella“. Es war ausgeschlossen, daß sie sich zu lösen begann, aber es stand auch fest, daß etwas nicht in Ordnung war. Sie hasteten übereilt zurück, denn wenn das Eis hier in der Grotte brach, würde es zum Grab für sie werden. Immer bedrohlicher wurde das Knistern und Knacken, mit dem der Berg nun reagierte, seit sie seine Ruhe gestört hatten. Sie waren gerade an dem zweiten Schott, als Smoky sie anrief. „Schnell raus!“ schrie er. Er stand neben der Jakobsleiter und hatte die Hände trichterförmig an den Mund gelegt. Seine Stimme dröhnte wie eine Riesenglocke. „Was ist passiert?“ fragte Hasard im Laufen. „Das Eis bebt überall. Von der anderen Seite dringen knallende Geräusche herüber, und das Wasser bewegt sich leicht.“ Vorsichtig zwängte sich einer nach dem anderen aus der scharfkantigen Öffnung. Niemand wußte so richtig, was denn nun los war. 10. Für den Vorfall gab es nur drei Zeugen, und das waren der alte O’Flynn, Pete Ballie und der Schwede Stenmark. Sie befanden sich noch allein in dem Boot, seit die anderen weggelaufen waren und sich für das Wrack interessierten. Von hier aus sahen sie schräg hinüber zu jener Stelle, wo es im Eisberg den gewaltigen Dom gab und wo so große
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Zapfen hingen, wie sie noch niemand von ihnen gesehen hatte. Das Gewicht dieser gigantischen schimmernden Säulen mochte nach O'Flynns Schätzung etwa das Zwanzigfache der „Isabella“ betragen, und das war noch sehr kleinlich geschätzt. Wahrscheinlich wog die Masse noch mehr. Sie hatten gerade zwei große Schollen an die Schaluppe gehängt und durch die Eisrinne so weit hinausgezogen, daß sie die in weiter Ferne liegenden Festlandberge sahen. Zum erstenmal bemerkte Old O'Flynn jetzt den riesigen Dom und zeigte es Stenmark und Pete Ballie. Sie fanden es beeindruckend und starrten das Wunder lange an. „Wenn der mal runterkippt“, sagte der Alte, „dann wackeln hier die Wände. Dann geht der obere Teil bestimmt auch mit.“ Auf seinem Gesicht malte sich tiefe Bestürzung. Als hätte der Alte das Unheil mit seinen Worten beschworen, löste sich einer der gigantischen Zapfen und fiel senkrecht und, wie es den Anschein hatte, ganz langsam nach unten. Am Fuß des Berges zerschellte er auf dem Eis. Es sah aus wie eine Explosion, als die Stücke, kristallklar und leuchtend, nach allen Seiten davonflogen. Old O'Flynn schluckte. „Zufall“, sagte er lakonisch. „Aber das sieht höllisch beeindruckend aus, verdammt!“ Ein zweiter Riesenzapfen löste sich, der noch in der Luft zerbarst und in einem Trümmerregen den Hang hinunterpolterte. Old O'Flynn schluckte wieder. Er reckte den Kopf vor, und jetzt erinnerte er Pete Ballie an einen Geier, wie er so dastand, die spanische Halskrause um den Hals. Der Knall hörte sich nach einer Detonation an, und er brauchte eine ganze Weile, bis er die Ohren der Männer erreichte. „Noch mal Zufall, was?“ sagte Stenmark grinsend. Old O'Flynn konnte nicht wissen, daß hier der Zufall überhaupt keine Rolle spielte. Es war eine ganz natürliche Ursache, zurückzuführen auf die Schläge und fallenden Eisbrocken, die im Innern des
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Berges ausgelöst wurden und die sich ringund wellenförmig nach allen Seiten fortpflanzten. Diese unmerklichen Erschütterungen genügten jedoch, um das Abkalben der Eismassen auszulösen. Eine wesentlich leichtere Erschütterung hätte dafür schon gereicht. „Na, du hast die Geister aber ganz schön beschworen“, sagte Stenmark, als der dritte Zapfen seine tosende Reise in die Tiefe antrat. Er löste eine weitere Kettenreaktion aus, die Old O'Flynn mit erstaunten Augen betrachtete. Die weiter unten an der Grotte hängenden Eismassen brachen ab und erzeugten eine Wolke aus feinstem Kristallregen. Es funkelte und blitzte, als die Trümmer sich in Staub verwandelten. Das harte Rollen und Poltern war erst eine Weile später zu hören. „Verflixt, ich hab überhaupt nichts beschworen“, wehrte sich der Alte empört. „Ich kann doch nichts dafür.“ Er fuchtelte mit beiden Händen in der Luft herum. „Mann, wenn das nur gut geht“, jammerte er. „Da wird doch nicht etwa der ganze Krempel abbrechen.“ Der „Krempel“ brach tatsächlich ab. Selbst von hier aus sahen sie deutlich, wie sich oberhalb der Grotte ein langer dunkler Riß im Eis bildete, wie dieser Riß sich wie ein gezackter Blitz durch die ganze Flanke fraß und immer breiter wurde. Und sie konnten die Leute auf der „Isabella“ nicht warnen, dazu waren sie zu weit entfernt. Ein dumpfes. Grollen erfüllte jetzt die Luft. Es dröhnte unheilvoll, und aus der Ferne erklang tiefes Pochen. Der Riß wurde noch breiter, und dann stürzte die Grotte und mit ihr der gewaltige Aufbau ab. Eine unvorstellbar große Masse. geriet in hektische Bewegung. Weißer Dampf quoll auf, explosionsähnliche Pilze wallten hoch, und Eisbrocken, so groß wie die „Isabella“, rauschten unter entnervendem Getöse und Donnern in die Tiefe.
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Feierlich und majestätisch rutschte der Block aus Eis, Splittern und Pulver die Flanke hinunter, spaltete sich, erzeugte immer neue große Brocken und hüllte alles in den weißen Staub ein. Old O'Flynn war keines Wortes mehr mächtig, als das dumpfe Orgeln und die Schallwellen sie erreichten. Es hörte sich an, als ginge die Welt unter in Brüllen und Donner, Tosen und Kreischen. Die Masse schlug unten auf und durchbrach das andere Eis, das sich unter der gewaltigen Belastung aufwölbte, hochkantete und in den Himmel getragen wurde. Von dort regnete es jetzt pausenlos Trümmerbrocken zur Erde. In einer nicht enden wollenden Wolke aus Eis schien das gesamte Nordmeer zu versinken. „Halt dich fest, Donegal!“ schrie eine Stimme. Old O'Flynn hörte sie wie aus weiter Ferne, und er wußte auch nicht, wer geschrien hatte. Noch immer stand er bewegungslos im Boot und sah dem Schauspiel zu, wobei ihm eine Gänsehaut nach der anderen über den Körper lief. Rein instinktiv klammerte er sich im Boot fest und duckte sich, denn das, was jetzt dumpf brausend aus dem Meer stieg, schmutziggrau, pulverig und gigantisch, mit riesenhaften Eisbrocken durchsetzt, war eine Flutwelle, die sich träge hob, aufbäumte und dann immer größer und höher wurde. Das Eis bremste sie zwar, aber die Schollen, die sie vor sich her schob, konnten die gewaltige Energie nicht aufhalten. Durch das feste Eis lief ein Prasseln, blitzschnell entstanden lange Risse und Spalten, und dann wurde die Eisdecke aufgebrochen. Wozu die Seewölfe tagelang gebraucht hätten, das schaffte das abgekalbte Eis in wenigen Sekunden. Das Boot wurde von dem ersten Vorläufer erfaßt und hart durchgeschüttelt, als hätte eine Grundsee es gepackt. Zerbrochene Eisschollen knallten an den Bug und warfen es halb um die Achse herum.
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Pete Ballie und Stenmark hatten sich an der Ducht festgeklammert. Donegal hielt sich krampfhaft und mit merkwürdig starrem Gesicht ebenfalls an der Ducht fest und verkrallte sich darin. Der Lärm wurde jetzt so laut, daß keiner mehr verstand, was der andere ihm zubrüllte. Es war auch unwichtig, jeder sah das Unheil selbst in Gestalt der Welle heranbrausen, die sich wie ein jähzorniger Wassergott erhob und brüllend und schnaubend ihren Weg suchte, bis sich ihre gigantischen Kräfte austobten. Der Bug des Bootes ragte steil in die Luft, die Männer verloren den Halt. O'Flynn fluchte laut. Er hatte das Gefühl, als würde die Welle das Boot auf den Gipfel des Eisberges hinauftragen und von dort weiter .in den gähnenden Abgrund schleudern. Wie ein Kreisel drehte sich das Boot um seine Achse und wurde davongetragen. Eisschollen schoben sich krachend zusammen, wurden wieder auseinander gerissen und zerbarsten in kleine Teile. Die Welle hob das Boot noch höher, und die drei Männer sahen in einen gähnenden Abgrund, in dem Eis auf schwarzem Wasser schaukelte. Dann hatte sie die Schaluppe unterlaufen und ließ sie fallen. Die drei sausten so schnell in die Tiefe, daß sie fest damit rechneten, die Schaluppe würde jetzt bis in die letzte Planke zerlegt und zertrümmert. Aber es wurde ein fast sanftes Gleiten aus dem vermeintlichen Sturz, denn der Sog schleppte das Boot mit sich hinaus, jagte es über Eis, durch Wasser und brüllende Staubmassen aus Kristall. Als alles vorüber war, hob Stenmark ungläubig den Kopf. Die Welle war noch zu sehen, sie raste weiter ins offene Meer hinaus und wurde schnell kleiner. Aber sie hinterließ Eismassen, die jetzt träge auf dem Wasser schaukelten und nicht zur Ruhe kamen. Die großen Schollen waren zerkleinert und zerhackt. O'Flynn äugte über den Rand des Bootes und sah die anderen Eisbrocken, die träge heranschwappten, dicht vor dem Boot. Er
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konnte noch nicht glauben, daß sie so glimpflich mit heiler Haut davongekommen waren, und richtete sich stöhnend auf. „Das - das war ja furchtbar“, meinte er mit schwacher Stimme. Stenmark und Ballie hatten ihren Schreck ebenfalls überwunden, obwohl ihre Gesichter noch wie frisch gekalkt aussahen. Stenmark befühlte seine Knochen. „Junge, nach diesem Höllenritt müßte ich mir eigentlich jeden Knochen einzeln gebrochen haben, aber mir fehlt nichts. Und wie sieht es bei euch aus?“ „Bis auf den überstandenen Schrecken fühle ich mich ganz wohl“, gab Pete zu. „Und Donegal geht es anscheinend auch ganz gut. Er sieht aber genauso aus wie das 'zertrümmerte Eis.“ „Lästert nur, ihr schieläugigen Flundern“, sagte Old O'Flynn. „Ihr seht auch so aus, als hätte man euch nach wochenlangem Faulenzen wieder aus dem Friedhof gebuddelt.“ „Jedenfalls sollten wir Gott danken, daß wir nichts. weiter abgekriegt haben. Die Welle hat sich jetzt verlaufen. Wir pullen zurück und sehen nach, ob den anderen nichts passiert ist.“ Stenmark zeigte auf das Eis. „Das hat uns eine Menge Arbeit erspart, und jetzt können wir die Eis- rinne mühelos offen halten.“ Ballie deutete auf die Flanke des Eisberges, wo der große Dom jetzt verschwunden war. Das Teil darunter sah aus, als wäre es peinlich genau abgesägt und anschließend geschliffen worden. Nur am Fuß der Flanke ragten noch schiffsgroße Eisbrocken wie Trümmer hervor. Der schwache Wind erlaubte es wenigstens, daß sie das Segel setzen konnten. Aber der Weg durch das Eis war doch nicht so leicht zu bewältigen, obwohl es jetzt nur noch aus Trümmern bestand. Immer wieder blieben sie stecken und mußten das Eis mit den Bootsriemen zur Seite schieben.
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„Ich glaube nicht, daß den anderen etwas passiert ist“, sagte Pete Ballie. „Die Flutwelle ist an der Flanke entlanggelaufen und dann ins Meer gerast. Vielleicht ist unser Schiff nur ein wenig erschüttert worden.“ „Hoffentlich“, sagte O'Flynn nur. * Zunächst war es nur wie ein tiefes Aufatmen durch den ganzen Berg gegangen. Dann schien er sich unendlich langsam zu heben, so langsam, daß man die Bewegung des Giganten mehr ahnte als fühlte. Das Donnergrollen erfolgte erst etwas später, gerade als Hasard, Carberry und Tucker die Eishöhle verlassen hatten. Der Seewolf lauschte dem Geräusch nach. „Geht an Bord!“ befahl er ruhig. „Alle, ohne Ausnahme. Da scheint irgendwo ein Eisberg zu kalben.“ Ohne Hast verließen sie die Eisfläche, hängten die Leiter wieder um und kletterten einer nach dem anderen auf die Kuhl des Schiffes. Von dort aus blickten sie auf das Eis. „Es steigt“, sagte Gary Andrews, der am Schanzkleid lehnte und sich darüber beugte. „Was steigt?“ fragte Ed. „Das Wasser. Sieh nur!“ „Ja, du hast recht. Aber es steigt unheimlich langsam. Was mag das wohl zu bedeuten haben?“ „Keine Ahnung. Der verdammte Eisberg müßte doch mitsteigen, aber er tut es nicht. Nur das Eis hebt sich, und an einzelnen Stellen kann man das Wasser sehen.“ Das Donnergrollen wurde lauter. Es hörte sich an wie ein in der Ferne vorbeiziehendes Gewitter, das sich austobte. Merkwürdigerweise aber drangen falls laute Geräusche aus der ins Eis gehackten Höhle. Im Innern brauste und orgelte es, und dazwischen erklang ein hohles Pfeifen, als würde Luft durch feine Risse gepreßt. Durch die „Isabella“ ging plötzlich ein leichter Ruck, der die Masten bis ins
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Kielschwein erzittern ließ. Das Schiff bewegte sich einmal, als würde eine riesige Faust an ihm rütteln. Dann lag es so still da wie zuvor. Die Blicke der Seewölfe wanderten stumm nach oben. Sie legten den Kopf in den Nacken und sahen zu der riesigen Fläche hoch, ob sich da etwas bewegte. Doch die überhängende Eiswächte rührte sich nicht. Sie bildete einen kompakten Block mit dem Berg und wurde von dem Grollen nicht im geringsten erschüttert. Immer noch rumorte es leise in weiter Ferne. Die Eismassen um das Schiff hoben sich unmerklich, als würden sie tief einatmen, dann begann es überall zu knacken, und feine Risse entstanden rund um den Eisberg auf den Schollen. „Wie damals, als uns der Sog erfasste“, sagte Jeff Bowie. „Da stieg das Wasser leicht an, dann zog es sich zurück, und plötzlich war eine Riesenelle da. Ob das etwas Ähnliches „Eine Welle kann es schon sein, aber sie wird uns nicht viel anhaben können“, meinte Hasard. „Wenn in der Nähe ein Eisberg riesige Massen abwirft, gibt es natürlich eine Welle. Aber wir liegen hier ziemlich gut geschützt. Die Welle müßte an den Flanken vorbeilaufen und sich verlieren.“ So schätzte der Seewolf die Lage ein, aber dann wurde es doch um eine Kleinigkeit anders. Das eben noch wie angestaut wirkende Wasser floß mit schmatzenden Geräuschen von der Unterkante des Eisbergs ab und zog sich zurück. Das Eis war unvermittelt um die „Isabella“ herum hohem Druck ausgesetzt. Die Folge war, daß die aufliegenden Schollen durchsackten und zerbrachen, verkanteten und auf Tiefe gingen. Aber gleich darauf schossen sie mit Gewalt nach oben. Das war der Augenblick, als das Wasser wiederkehrte. Es ging ziemlich rasch, und die meisten hatten auch damit gerechnet. Unter dem festsitzenden Kiel gurgelte und schäumte es. Brodelnd quoll Wasser nach,
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und dann erhob sich eine langgestreckte Dünung und überschwemmte die Eisunterkante um fast zwei Yards. Das Schiff bewegte sich erneut, und es hatte den Anschein, als würde es sich hart auf die Seite legen. Die eben noch ausgehackten Eisrinnen begannen sich mit Wasser zu füllen und verschwanden darunter. Ein riesiger Schwall Wasser drang in die Öffnung, hinter der das vom Eis umklammerte Wrack lag. Hasard dachte mit Schrecken daran, daß sie da unten jämmerlich ertrunken wären, denn einen Rückweg gab es nicht mehr. Den schnitten die Wassermassen ab, die gurgelnd und fauchend in die Öffnung drängten und sie füllten. Luftblasen stiegen auf, es blubberte und kochte, als sich der nächste Schwall ergoß. Pfeifend entwich die Restluft aus der Eiskaverne, dann drängte das Wasser machtvoll zurück. Noch einmal versetzte es die „Isabella“ leicht, dann ebbte die Welle ab, und nur ein leises Murmeln drang noch aus dem Wasser. Die Welle aber lief weiter, kaum sichtbar, nur an den Erhebungen erkennbar, wenn sie die weiter entfernten Eisschollen hob und senkte. Das Geräusch berstenden Eises durchbrach die anschließende Ruhe. Die Welle ließ sich noch so lange verfolgen, bis sie im offenen Wasser zusammensackte und sich verlor. An der Flanke des Eisberges mußte sie jedoch fürchterlich gehaust haben. Der Profos begann zu schimpfen. „Verdammt noch mal“, sagte er sauer und deutete über Bord. „Jetzt war die ganze Arbeit umsonst, und wir können wieder von vorn anfangen. Das Wasser gefriert doch gleich wieder. Mist verdammter. Wie kriegen wir das weg? Abpumpen?“ „Ja, und zwar so schnell wie möglich“, sagte Hasard. Er wollte noch etwas hinzufügen, doch dann fiel ihm siedend heiß etwas ein. „Die Schaluppe befindet sich an der Flanke“, sagte er. „Die Männer haben die
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Welle mitgekriegt, Wer war alles an Bord?“ „Donegal, Stenmark und Pete“, zählte der Profos auf. „Um Himmels willen, Sir, ich sehe sofort nach.“ Carberry traf Anstalten, in das kleine Boot zu klettern, doch da ertönte Smokys Stimme. „Da ist das Boot!“ Die drei Männer pullten und segelten, schoben sich durch die zertrümmerten Schollen und näherten sich nur langsam. „Ein Glück, alle drei sind drin“, sagte Hasard. „Dann kann ihnen ja auch nicht viel passiert sein.“ Old O'Flynn war ganz aufgeregt und fuchtelte mit den Armen in der Luft herum. Immer wieder setzte er zum Sprechen an, und immer wieder versagte ihm die Stimme. „Reg dich wieder ab“, sagte Carberry. „Ihr habt es überstanden und wir auch. Oder ist euch was passiert?“ „Passiert?“ schrie Donegal, der jetzt endlich wieder zu seiner normalen Lautstärke zurückfand. „Passiert nennst du das? Es war wie ein Ritt in die finsterste Hölle, sage ich euch!“ Das Boot legte an, und die drei Männer kletterten auf die Kuhl, wobei hilfreiche Hände ihnen halfen, nicht an den eisüberzogenen Planken abzurutschen. Sie sahen blaß aus, grinsten aber schon wieder bis auf Donegal, der immer noch reichlich verstört wirkte. „Von diesem lausigen Eisberg ist ein großer Teil runter gefallen“, berichtete er. „Wir waren gerade an der Flanke und sahen, wie die ersten Zapfen abbrachen.“ „Meinst du die Grotte ganz oben?“ fragte Ed. „Genau die meine ich. Da, wo haushohe Eisbrocken hingen. Immer mehr fielen herab, bis sich auf einmal der ganze Krempel löste und in die Tiefe sauste. Da waren alle Geister der Hölle persönlich drin, und die sind mit Donnergetöse nach unten gefahren.“ Old O'Flynns abgespreizter Daumen wies nachdrücklich auf die Planken der Kuhl, damit auch jeder wußte, was gemeint war.
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„Dann flog das Eis auseinander, und wie! Ein ganzes Land versank im Meer, und kaum war es verschwunden, da erschien eine Flutwelle, hundertmal höher als die, die damals den Jonas davongetragen hat. Ach, was sage ich! Tausendmal höher war sie und noch ein Stück höher. Sie wuchs in den Himmel, bis man sie fast nicht mehr sehen konnte und ihr Kamm hinter den Wolken verschwand.“ „Na, na“, dämpfte Pete Ballie den Eifer des Alten, bei dem sich mitunter oft die Perspektiven verzogen und der es liebte, alles immer großartig aufzubauschen und auszuschmücken. „So wild war es nun auch wieder nicht. Wir wurden ganz schön durchgerüttelt, und die Welle trug uns davon.“ „So einfach war das also“, sagte Old O'Flynn empört. „Jetzt stellt dieser Kerl es hin, als wäre ein laues Lüftchen über uns weg gestrichen. Ein Wunder, daß du es überhaupt bemerkt hast“, setzte er gallig hinzu. „Die Fläche ist also abgerutscht“, stellte Ben Brighton sachlich fest, im Meer versunken und hat die Flutwelle erzeugt. Wie sieht die abgebrochene Stelle jetzt aus. Donegal? Besteht die Gefahr, daß da noch mehr abbricht?“ „Wie die jetzt aussieht?“ murmelte O'Flynn. „Hm, also genauso wie die Rutschbahn des Teufels.“ „Kann sich jemand darunter etwas vorstellen?“ fragte Ben. Alle schüttelten die Köpfe, grinsten aber mehr oder minder versteckt. Old O'Flynn erklärte es auf seine Art. „Die Stelle ist ganz glatt, wie poliert sieht sie aus. So, als hätte sie der Teufel selbst blank gescheuert. Wenn er in die Hölle will, setzt er sich auf den Hosenboden und saust hinunter.“ „Also schräg und glatt“, faßte Hasard die Beschreibung zusammen. „Es kann nichts weiter davon abbrechen, nicht wahr?“ „Nein, das ist ausgeschlossen“, sagte Stenmark. „So weit man den Eisberg übersehen kann, hat er jetzt keine unebenen Flächen mehr. Die gesamte Flanke bildet ein einziges Massiv.“
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„Gut, damit sind wir eine Sorge los. Es muß übrigens später Abend sein, wenn mich meine Sinne nicht täuschen, und wir sollten uns auf die Nachtruhe vorbereiten, aber das können wir nicht. Wenn wir zu lange warten, friert das eingedrungene Wasser, und die ganze Plackerei beginnt von vorn. Wir hätten also nichts gewonnen. Daher werdet ihr euch jetzt noch einmal stärken, und dann geht es wieder an die Arbeit. Wir versuchen, das Wasser aus der . Rinne abzupumpen, sonst bleiben wir bis in alle Ewigkeit hier auf dem Eis sitzen, und es geht uns ähnlich wie dem anderen Schiff.“ Old O'Flynn wollte es genau wissen und ließ sich von Hasard und dem Profos alles erklären. Als er den Mund öffnen wollte, um seinen Kommentar dazu zu geben, hob Carberry die Hand. „Du brauchst gar nicht erst anzufangen, Donegal. Was da drin liegt, ist weder ein Geisterschiff, noch hat der Teufel es gebaut. Es ist nichts anderes als ein ganz normales Schiff, das hier irgendwann einmal gestrandet ist. Das Eis hat es verbogen und zerquetscht, und seitdem liegt es hier. Und wenn du grauhaariger Hering nicht bald an der Pumpe stehst, dann wirst du auch hier liegen bis in alle Ewigkeit, und dir wird der Achtersteven am Eisberg anfrieren.“ Old O'Flynn sagte gar nichts. Er maß den Profos nur von oben bis unten mit einem Blick, der mehr sagte als alle Worte, und dieser Blick hieß soviel wie: Was weißt denn du schon von Schiffen, die im Eis liegen! Und die vielleicht doch der Teufel gebaut hat! Der Kutscher, Bill und Siri-Tong brachten heiße Getränke, und außerdem schleppte sie noch einen Kübel in die Messe, aus dem es verlockend duftete. Nach dem kurzen Essen ging es an die Arbeit, und die Männer holten die Pumpen an Deck. Das erwies sich nach einiger Zeit jedoch als Reinfall, und Ferris Tucker schüttelte den Kopf.
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„Damit pumpen wir in drei Wochen noch“, sagte er. „Wir müssen das anders anpacken.“ „Und wie stellst du dir das vor?“ fragte Carberry. Tucker deutete auf die linke Kante des Eisfelsens. „Wenn wir dort etwas weiter unten ein Loch ins Eis bohren können, läuft das Wasser von allein ab. Wir müssen es nur tief genug anbringen und etwas schräg bohren. Das Eis ist an der Stelle gar nicht so stark, wie es von hier aussieht. Haben wir erst einmal ein kleines Loch gebohrt, können wir es mit einer Höllenflasche erweitern.“ „Ich denke, dann fliegt uns alles um die Ohren.“ „Bei einer Flasche nicht, sie darf auch nicht zu stark sein.“ Tuckers Vorschlag wurde noch diskutiert und dann für gut befunden. Sie würden sich dadurch eine Menge Arbeit sparen. Das Loch wurde ins Eis gehackt, tief unter jener Stelle, wo der Sockel sich befand, und so dicht am Wasserspiegel, daß die Höhle wieder leer laufen würde. Anschließend verstaute Tucker seine selbstgebastelte Höllenflasche, verdämmte das Loch mit Eis und entzündete die Lunte, bis sich die Glut langsam durch den Korken fraß. Es gab keine große Explosion, nur einen dumpfen Knall, und ein paar kleinere Eissplitter flogen an den Rumpf der „Isabella“. „Hat wohl nicht geklappt?“ sagte Ed bedauernd. „Ja, sieht ganz so ...“ Ein Teil der Eiswand brach auseinander, und ein riesiger Schwall Wasser drängte heraus. Es hörte nicht mehr auf zu sprudeln, und von der Kuhl aus sah man,
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wie der Wasserspiegel in der Höhle langsam sank und immer mehr abnahm. Der Rest lief in die Rinne, und daraus ergoß sich nun ein Strom unterhalb des Sockels ins Meer. Fast zwei Stunden lief das Wasser, dann floß nur noch ein spärliches Rinnsal heraus, und auch das versiegte schließlich. „Morgen werden wir uns das Wrack weiter ansehen“, sagte der Seewolf. „Für heute ist es dazu zu spät. Ihr habt den ganzen Tag geschuftet, und jetzt ist Schluß. Das Wrack läuft uns nicht davon.“ Sie blickten demonstrativ zum Himmel, wo ein trübe glosender Sonnenball stand, aber der Seewolf schüttelte den Kopf. „Das hat nichts zu bedeuten“, sagte er. „An diesem merkwürdigen Licht wird sich auch in der nächsten Zeit nichts ändern. Trotzdem gibt es Tag und Nacht, genau wie sonst auch. Zwei Mann gehen Wache, die anderen schlafen sich aus.“ Müde waren sie alle, das spürten sie jetzt erst richtig. Auf der „Isabella“ kehrte allmählich Ruhe ein, als einer nach dem anderen verschwand. Der Seewolf nahm noch einmal eine Lampe mit, stieg hinunter und leuchtete in die Höhle. Die gesamte Grotte war von einem milchigen Weiß überzogen, das an einigen Stellen leicht glitzerte, wenn der Schein der Lampe darauf fiel. Das Wasser war abgelaufen, bis auf die dünne Eisschicht, aber die würde sie nicht mehr stören. Er fragte sich, was sie auf dem eingeschlossenen Schiff wohl vorfinden mochten, wenn es ihnen gelang, vorn oder achtern einzudringen. Irgendein Geheimnis barg dieses Schiff jedenfalls, das stand für ihn fest. Morgen wollten sie es ergründen...
ENDE