C.H.GUENTER
IM AUFTRAG DES KANZLERS
VERLAGSUNION ERICH PABEL-ARTHUR MOEWIG KG, 7550 RASTATT
In einer Spätsommernach...
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C.H.GUENTER
IM AUFTRAG DES KANZLERS
VERLAGSUNION ERICH PABEL-ARTHUR MOEWIG KG, 7550 RASTATT
In einer Spätsommernacht dieses Jahres gab es mehrere tausend Kilometer voneinander entfernt zwei Ereignisse. Jedes einzelne von ihnen wäre mühelos zu meistern gewesen. Aber zwischen dem Vorfall in Bonn und dem in Südspanien bestanden geheime Zusammenhänge. Auch wenn der betrunkene Mann in Bonn Präsident eines Balkanstaates und der Mann in Spanien nur ein alter Pensionär war. Der Balkanstaat hatte politisch etwa die Bedeutung von Disney Land, und den Pensionär in Spanien kannten nur zwei Barmixer. Zusamme n jedoch waren sie wie Benzin und Feuer. Bei der nötigen Distanz ungefährlich und nützlich, konnten sie bei Kontakt eine verheerende Katastrophe auslösen.
1. Er hatte etwas Geld und wenig Verstand. Und den versoff er auch noch. Seit dem Tod seiner Ehefrau lebte er allein in seinem Haus an der spanischen Mittelmeerküste. Dabei kam er allmählich herunter, wie jeder, der tagsüber schlief und nachts durch die Kneipen zog. Sommer und Winter, jahraus, jahrein. Er hieß Heinrich Weiß. Die Spanier taten sich mit der Aussprache seines Familiennamens schwer und nannten ihn Senor Enrique Blanco. Sein hochbetagter Volkswagen, Baujahr 54, war an der Costa del Sol bekannter als der weißgoldene Rolls-Royce des Scheiks von Kuweit. Eines Abends, als er wieder in einer Bodega zwischen Marbella und Fuengirola herumhing und gerade dabei war, vom Aperitif auf Hardware umzusteigen, machte sich ein blonder gutaussehender Bursche an ihn heran. Der Tauch- und Surflehrer-Typ fragte: 3
„He, Enrique, wie geht’s? „Schlecht“, sagte der Alte. „Dein Auto macht es auch nicht mehr lange.“ „So lange wie ich“, sagte der Alte im zerknitterten Leinenanzug, der aus weißer Hose und einem dunkelblauen Sakko bestand. Der Sakko hatte goldene Knöpfe mit Ankerprägung, „und keinen Tag länger. Aber noch sehr lange. – Gibst du einen aus?“ Sie machten mit spanischem Cognac weiter. „Ich gehe im Winter nach Santa Cruz“, sagte der Blonde, das Hemd bis zum Nabel offen. „Kannst meinen Mini kriegen. Günstig.“ Der Alte blickte auf. In seinen Seemannsaugen war nichts als die Ferne zu sehen, vorausgesetzt man hielt sie nicht für die wäßrigen Augen eines Säufers. „Hör zu, Amigo“, sagte der Alte. „So ein Mini ist gegen meinen Uraltkäfer ein Scheißauto, das nur Scheißer wie du fahren können. Meine Karre verliert Benzin, Öl und Luft. Aber das ist wie die Duftspur einer rassigen Frau gegen… gegen den Gestank von Miß Mini Pulleputz. Also, komm mir nie mehr mit so unsittlichen Angeboten. – Nicht geschenkt möchte ich einen Mercedes, verstehst du. – Salud!“ Sie soffen und rauchten, knabberten mal an Mandeln, mal an gesalzenen Krabben. „Wer erbt ihn?“ fragte der Blonde. „Kaiser Wilhelm?“ „Die Schrottpresse. Bevor ich abkratze, wird er verschrottet. Ich leere meine letzte Flasche Fundador, zünde mein Haus an, und ab geht’s wie Jung Siegfried durch die Waberlohe.“ „Du bist Deutscher, Enrique.“ „War ich mal.“ „Wie alt ist dein Auto?“ 4
„Ich habe es an dem Tag gekauft, an dem sie mich pensionierten.“ „Du bist siebzig. Dann wäre dein Auto ja erst fünf Jahre alt.“ „Es ist vierundzwanzig Jahre alt, denn ich wurde zwangspensioniert. Ich kaufte ihn, zog damit südwärts und siedelte mich hier an, als du ein Haus und einen Hektar Grund noch für tausend Dollar bekommen konntest. Und damit du auch den Rest weißt: Vor zehn Jahren starb meine Frau. Seitdem saufe ich. Erst auf die Leber. Seitdem die steinhart ist, auf die Nieren, und seitdem die kaputt sind, auf den Verstand. Zufrieden, du kleiner Pisser?“ Der Eierblonde gab noch einen aus und schlug dann Enrique auf die Schulter. „Darf ich dir meinen Amigo vorstellen?“ Auf seinen Wink hin richtete sich unter dem Gewölbe eine hagere lange Gestalt auf. Auch einer von den energiegeladenen ewig unruhigen Abenteurern, aber mehr von der dunklen Sorte. Er hatte schwarzes Haar, schwarze Augen und die Hautfarbe von Kreolen. „Capitan Enrique, das ist Turbo.“ Turbos Händedruck war so schmerzhaft wie sein Blick. Er schob sich auf den freien Barhocker neben dem Alten. Nach zwei Drinks kam er zur Sache. „Ich schreibe für Manana. Das ist ein Wochenmagazin und erscheint in Madrid. Bin immer hinter einer heißen Story her. Hörte, Sie hätten ein aufregendes Leben hinter sich, Enrique.“ Der Alte wischte einen Tropfen Speichel, der ihm aus dem Mundwinkel sickerte, ab und sagte: „Halb und halb. Die erste Hälfte meines Lebens war irre. Die zweite eine ruhige. Bekalmt, wie man in der Seefahrt sagt. Als hätte sich alles, was in einem Leben an Stürmen möglich ist, in den ersten siebenundvierzig Jahren ausgetobt.“ 5
„Mich interessiert die erste Hälfte“, sagte der Reporter. „Warum?“ „Ich habe dies und das gehört. Sie sollen ein toller Mann sein.“ „Bin ich“, sagte der Alte. „Wer in meinem Alter noch eine Flasche von diesem fürchterlichen spanischen Cognacgesöff stehend wegputzt, der ist ein toller Mann. Aber, diablo, über die erste Hälfte meines Lebens… hab’ ich alles aufgeschrieben und vergessen.“ „Kann man da mal reingucken?“ „Weiß nicht mehr, wo es abgeblieben ist.“ „Und wenn ich suchen helfe?“ „Dann finden wir es vielleicht“, befürchtete der Alte. „Aber wenn es auftaucht, dann wird es vernichtet, so wie der alte Enrique. Salud! Und so wahr wie Milch keine Rotweinflecke macht. Comprende?“ „Comprendo“, sagte der Reporter. Sie tranken. Als der Eierblonde ging, füllte der Mann, der Turbo hieß oder sich als Reporter so nannte, den Alten weiter und weiter mit Cognac voll. Gegen 2.00 Uhr morgens war der Alte so blau, daß Turbo ihn beim Gehen stützen mußte. Der Alte wollte unbedingt noch fahren, aber der Reporter hinderte ihn daran. Er schob ihn nach links, nahm ihm den Zündschlüssel aus der Hand und ließ den Motor an. Im Auspuff knatternd, in den Ventilen rasselnd, sprang der luftgekühlte Vierzylinder an. „Ich fahr’ dich nach Hause“, sagte der Reporter. „Basta.“ „Aber nicht zu sehr hochjubeln“, bangte Enrique. „Das schätzt er wenig. Alte Hunde hetzt man nicht.“ Turbo fragte nicht, wie er fahren müsse. Er schien zu wissen, wo der Alte wohnte. Er brachte ihn auch nicht nach Hause, sondern fuhr in Richtung Torremolinos. Bald verließ er die 6
Straße und rollte zur Stadt hinaus. Dort betäubte er den Alten mit Äther, fesselte ihm die Hände, stülpte ihm eine Plastiktüte über den Kopf und band sie am Hals zusammen. Jetzt fuhr er zu Don Enrique nach Hause. Als sie dort ankamen, lebte der Alte schon nicht mehr. Der Reporter trug ihn ins Schlafzimmer. Dann begann er, das Haus zu durchsuchen. Wann er es wieder verließ, wurde nie festgestellt. Gegen Morgen merkten die Nachbarn, daß das Haus brannte. Der alte Don Enrique und sein VW-Käfer wurden Opfer der Flammen.
Er hatte weniger Geld als Verstand, denn er war der Staatschef eines armen Landes auf dem Balkan. Er war nach Bonn gekommen, um einen Tropfen aus der Geldbrause, mit der die Bundesregierung die Groschen ihrer Steuerzahler über die weite Welt verspritzte, zu erhaschen. Bevor der Kanzler der wirtschaftlichen Großmacht Bundesrepublik Deutschland den Repräsentanten eines Fuzzi-Landes empfing, wurden die anstehenden Fragen erst auf Referentenund Ministerebene abgeklärt. In seiner bescheidenen Art fragte der Balkanpräsident, ob es nicht möglich wäre, die Kreditlinie um eine Milliarde Dollar anzuheben. Dies in Anbetracht der Summen, die nach Afrika oder Südamerika gepumpt würden, wo sie etwa so verzischten wie ein Wassertropfen auf einer heißen Herdplatte. Daraufhin wurde der Präsident des Balkanstaates erst einmal wie folgt belehrt; „Exzellenz“, begann der Wirtschaftsfachmann dritter Kategorie. „Wenn wir über Kredit reden, dann nicht über Dollar, sondern über D-Mark.“ 7
„Verzeihung“, sagte der Präsident. „Wir kaufen Ihrem Land doch eine Menge Waren ab?“ „Leider nur Erzeugnisse, die wir selbst dringend benötigen.“ „Aber wir zahlen in harter Währung.“ „Natürlich. Aber wir verwenden Ihre harte Währung zur Schuldentilgung, und unsere Bevölkerung hungert.“ „Ihre alten Milliardenschulden wurden zum Aufbau einer Industrie verwendet, die heute dahinsiecht und nur noch Schrottwert hat.“ „Das war unter einer anderen Regierung“, bedauerte der Präsident. „Man nennt das Altlasten, die eben übernommen und mitverantwortet werden müssen.“ „Aber ein zusätzlicher Kredit würde uns über de n Winter helfen.“ „Und wie sieht es im nächsten Jahr aus? Nach jedem Sommer kommt ein Winter, Exzellenz.“ „Wir erwarten leider eine schlechte Ernte.“ „Und unsere Mittel sind verplant, Exzellenz.“ Die Deutschen waren bereit, gewisse Summen lockerzumachen, aber sie wollten Gegenleistungen dafür. Deshalb schilderten sie ihre Finanzlage als schwierig. „Es würde helfen“, deutete der Präsident an, „uns aus dem Verband des Comecon zu lösen.“ „Nur wirtschaftlich“, bedauerte der verhandelnde Referent. „Uns liegt aber auch an einer politischen Lösung.“ Der Präsident hob entsetzt die Hände. „Das würde eine Einmischung in innerstaatliche Belange bedeuten, meine Herren.“ Der Minister kam hinzu und erweiterte den Forderungskatalog. „Eine deutsche Volksgruppe in Ihrem Land, Exzellenz“, sag8
te er, „nahezu eine Million Menschen, werden unterdrückt. Man verfolgt sie, verbietet ihnen jedwede kulturelle Eigenständigkeit, möchte sie voll integrieren. Sie dürfen ihre Sprache nicht mehr sprechen, werden umgesiedelt, ja vertrieben. Ihre Dörfer werden zerstört und eingeebnet. Verlangen Sie unter diesen Umständen erns thaft ein Entgegenkommen meiner Regierung?“ Der Präsident wollte daraufhin die Sache auf höchster Ebene klären. Wie es aussah, hoffte er auf einen Kompromiß. In jedem Land gab es Tauben und Falken. Es galt, einen Weg einzuschlagen, der keinen zu sehr enttäuschte, mithin alle befriedigte. „Wann treffe ich Ihren Kanzler?“ fragte der Balkanpräsident. Der Minister streifte die Manschette von seiner Cartier-Uhr. „In wenigen Stunden, Exzellenz. Sobald er aus den USA zurück ist.“
Das Gespräch mit dem deutschen Bundeskanzler verlief sachlich, kühl und kurz. „Herr Bundeskanzler“, begann der Präsident des Balkanstaates. „Die extremen Bedingungen für unseren Kredit sind Ihnen gewiß bekannt.“ „Sie wurden im Kabinett besprochen und so und nicht anders genehmigt“, bestätigte der deutsche Regierungschef. Der Präsident faßte s ich ans Herz. „Und Sie, Herr Bundeskanzler, vertreten diese Forderung?“ Der Deutsche nickte. „Ich kann mich nicht über Kabinettsbeschlüsse hinwegsetzen, Exzellenz.“ Da sie nur unzureichend Englisch konnten, bedienten beide 9
sich ihrer Landessprache. De r Dolmetscher mußte hin und her übersetzen. „Herr Bundeskanzler“, setzte der Präsident, schon schwer atmend und transpirierend, noch einmal an. „Von Regierungschef zu Regierungschef, gibt es denn keinen Kompromiß? Ich kann Ihre Forderungen, die unserer offiziellen Politik entgegenstehen, nicht sofort erfüllen.“ Der deutsche Kanzler nahm einen Schluck Mosel und steckte sich eine Zigarette an. „Exzellenz“, äußerte er. „Wir leben hier in einer Demokratie. Ich bin an Mehrheitsentscheidungen gebunden.“ „Wenn“, erklärte der Besucher, „ich Ihre Forderungen durchsetze, bin ich die längste Zeit Präsident gewesen.“ „Und ich“, erwiderte der Bundeskanzler, „bin ebenfalls auf Wählerstimmen und die Mehrheit im Parlament angewiesen.“ Stille trat ein, nur manchmal unterbrochen von einem Stöhnen des Mannes vom Balkan. Es klang nicht wie ein Seufzer oder wie ein unterdrückter Fluch, sondern wie der Hilferuf eines Mannes, der einen Herzanfall erlitt. Der etwas füllige Präsident sackte deutlich zusammen. Er wäre vornübergefallen, wenn nicht der Dolmetscher ihn aufgefangen hätte. Von herbeieilenden Männern seiner Begleitung wurde er auf ein Sofa gelegt. Der im Kanzlerbungalow anwesende Arzt horchte dem Präsidenten das Herz ab, maß Blutdruck, Puls und fühlte die Temperatur. Dann flüsterte er dem Minister etwas zu. Der gab es an den Kanzler weiter. „Möglicherweise Infarkt. Er hat ein krankes Herz. Jetzt scheint es ihn erwischt zu haben.“ Im Verlauf der nächsten Minuten wurde alles getan, um den Staatsbesucher am Leben zu erhalten. Sein Tod in Bonn hätte zu bösen Gerüchten Anlaß gegeben. 10
Zwei Herzspezialisten wurden alarmiert. Sie spritzten ihm Actilyse, ein in der Bundesrepublik hergestelltes Präparat, das weitbeste Mittel gegen Markt, von dem sie zufällig eine Ampulle verfügbar hatten. „Es löst die Adersperre“, hoffte der Arzt, „falls eine solche vorliegt“ Mit Blaulicht, Sirene und Eskorte wurde der Staatsbesuch ins Hospital gefahren und dort ve rsorgt Als der Kanzler am nächsten Morgen den Innenminister anrief, um zu erfahren, wie es um den Präsidenten stand, erhielt er etwas Unglaubliches als Antwort „Er hat das Hospital verlassen.“ „Es geht ihm also besser“, folgerte der Kanzler. „Nein.“ „Wie konnte er dann das Hospital verlassen dürfen?“ „Er verließ es nicht auf eigenen Beinen, sondern auf einer Trage.“ „Und wo ist er jetzt?“ „Vermutlich in einer Sondermaschine.“ „Wo? Noch am Flugplatz oder…?“ „Schon unterwegs nach Hause.“ Der Kanzler war außer sich. „Wer hat ihn aus dem Hospital geholt? Er lag auf der Intensivstation.“ „Leute seiner Begleitung. Vielleicht im Auftrag seines Politbüros.“ „Durften wir das denn zulassen?“ „Sollten wir es ihnen verbieten?“ „Und wenn er den Transport nicht überlebt… nicht auszudenken.“ „Dann kommt einiges auf uns zu“, befürchtete der Minister. 11
Der Bundeskanzler besprach sich daraufhin mit dem Außenminister und seinem Amtschef. „Schicken Sie ein Telegramm“, ordnete er an, „mit den besten Wünschen für rasche Besserung und ein baldiges Wiedersehen. Nein, die letzten vier Worte streichen Sie.“ „Und Blumen?“ fragte der Chef im Kanzlerbüro. „Wozu Blumen“, bemerkte der Kanzler. „Wozu Eulen nach Athen tragen, Tulpen nach Amsterdam? Blumen sind das einzige, was sein Land exportiert.“ „Und geräucherte Gänsebrüste.“ „Zu Scherzen“, sagte der Kanzler zu dem ihm vertrauten Amtschef, „bin ich heute wahrlich nicht aufgelegt.“ 2. Vor dem Krankenhaus in der Hauptstadt des Balkanlandes warteten die Journalisten, Im wesentlichen handelte es sich um die Ostblock-Korrespondenten internationaler Blätter. Sie kamen aus den USA, aus England, Skandinavien, Frankreich, Italien und Deutschland. Einige auch aus Ostberlin, Moskau und Warschau. Im Presseclub hatten sie von dem Termin erfahren. Jetzt standen sie da, jeder begleitet von seinem Fotografen. Vor einer Stunde noch hatte es geregnet. Inzwischen machten die Wolken sich davon. Es wurde sengend heiß. Alles dampfte. Der Amerikaner, Korrespondent der Washington-Post, blickte an der grauen Betonmauer des Krankenhauses nach oben und deutete auf ein verhangenes Fenster im vierten Stock. „Die Intensivstation.“ „Waren Sie schon einmal da?“ fragte der Mann vom Paris Soir. 12
„Sie haben nicht mal Klimaanlagen.“ „Was ist das dann für eine Intensivstation?“ „Aus dem vorigen Jahrhundert“, höhnte der Amerikaner. „Vor zwanzig Jahren, als wir die ersten Intensivstationen aus unseren Hospitälern herausrissen, um sie durch neue zu ersetzen, haben wir sie ihnen geschenkt.“ „Dann arbeiten sie dort also mit uralten Maschinen.“ „Kann man wohl behaupten.“ Der Franzose steckte sich eine Maispapierzigarette an. An jeder Hand hatte er davon zwei gelbe Finger. „Und woher wissen Sie das, Bill?“ „Ich war mal da“, sagte der Amerikaner. „Damals beim Absturz dieses Flugzeugs. Ein Wallstreet-Banker wollte nach Moskau zu Verhandlungen. Sie holten ihn schwerverletzt aus den Trümmern und brachten ihn hierher. Die Botschaft hat ihn jedoch schleunigst verlegt und nach Athen geflogen. Ich will nicht behaupten, daß in Athen die besten Chirurgen der Welt arbeiten, aber sie sind imme r noch besser als die hier.“ „War das nicht John As tor?“ „Er starb leider. Es lag an der mangelhaften medizinischen Behandlung gleich zu Anfang. – Man ließ uns hinauf. Wir durften ihn durch die Tü r fotografieren. Daher weiß ich, was sie hier Intensivstation nennen. Die Maschinen und Geräte stammen aus unserer Mayo-Klinik.“ Der Italiener stieß zu der Zweiergruppe. Auch er hatte einiges aufgeschnappt. „Und da oben liegt also der Präsident.“ „Angeblich.“ „Nun, wenn er nicht da läge, hätten sie uns keinen Fototermin eingeräumt.“ „Natürlich wäre er überall im We sten besser versorgt worden. Aber um das zuzugeben, dazu sind sie zu stolz. Außerdem 13
haben sie mit dem Präsidenten ein fabelhaftes Druckmittel in der Hand.“ „Das müssen Sie uns erklären“, bat der Italiener. Der Franzose wollte gerade ansetzen, als ein Offizier des Staatssicherheitsdienstes die Treppe vom Eingang herunterkam und rief: „Gentlemen, Sie haben jetzt Gelegenheit, den Chef unseres Staates kurz zu sehen und zu fotogr afieren. Aber bitte nicht alle gleichzeitig, sondern hübsch nacheinander.“ Der Offizier, ein Major der Volksarmee, bat nun die Zeitungsleute, sich in Reihe aufzustellen. Sie taten es unwillig. Als man sie aufforderte, Pässe und Presseausweise vorzuzeigen, löste dies Gelächter und Fragen aus: „Sind wir hier in einem Polizeistaat?“ Die Antwort lautete: „Ja, wir sind in einem Polizeistaat.“ Der Offizier prüfte jeden Ausweis so genau, wi e er an den Grenzen überprüft wurde. Als er zu einem Mann kam, der nicht unbedingt wie ein Deutscher aussah, aber Deutscher war und für die Frankfurter Allgemeine Zeitung arbeitete, entschied der Offizier: „Sie nicht.“ „Was heißt das? Ich bin hier akkreditiert.“ „Sie nicht. Gehen Sie nach Hause.“ Die anderen Zeitungsleute protestierten. Für kurze Zeit entstand so etwas wie Solidarität mit dem deutschen Kollegen. Es sah so aus, als würden sie geschlossen auf den Termin beim kranken Staatspräsidenten verzichten. Dann aber siegte die journalistische Neugier. Der Engländer flüsterte dem deutschen Kollegen etwas zu. „Das ist der positive Aspekt von Feindschaft. Man braucht keine Rücksichten zu nehmen. Sie kriegen die Fotos von mir, Peter.“ 14
Die Zeitungsleute wurden ins Foyer des Krankenhauses gebeten. Der Deutsche bestieg seinen Wagen und fuhr in sein Hotel zurück.
Niemand im Ostblock nahm den Balkanstaat sonderlich ernst. Er war schon zu Zeiten der K. u. K.-Monarchie und auch zwischen den beiden Weltkriegen nicht sonderlich ernst genommen worden. Seine Regierung und die Bevölkerung litten darunter, daß man für ihr Land nur eine Vorliebe zeigte, nämlich als Operettenschauplatz. Das hatte sie auf besondere Art stolz und empfindsam für Kränkungen gemacht. Nur so war es zu erklären, daß deutsche Journalisten keine Einladungen mehr erhielten. Weder zu kulturellen und politischen Veranstaltungen noch zur Einweihung von neuen vier Kilometer Autobahn, nicht zu Sport- oder anderen Festen. Ein Kamerateam des ZDF – es drehte einen Film über die Vogelwelt im Donaudelta – mußte das Land verlassen. Die deutsche diplomatische Vertretung wurde behandelt, als wäre sie nicht vo rhanden. Noch gab man dafür keinen offiziellen Grund an. Die Presse des Landes schwieg, ebenso die Radio- und Fernsehstationen. Als der schwerkranke Präsident in einem Sonderflugzeug von der Hauptstadt an die Schwarzmeerküste geflogen werden sollte, hinderte man die deutschen Repo rter am Betreten des Flugplatzes. Die übrige internationale Presse durfte den Präsidenten fotografieren, als er vom Krankenwagen in die Iljuschin verfrachtet 15
wurde. Sie durften sogar die Arzte interviewen. Ihre Fragen lauteten zum Beispiel: „Warum bringen Sie den Präsidenten an die Küste?“ „Das Wetter dort ist milder und ihm zuträglicher.“ „Geht es ihm jetzt besser?“ „Leider nein.“ „Also unverändert.“ „Das kann man so sagen.“ „Also schlecht“, kombinierte der Amerikaner. „Warum setzen Sie ihn dann der Strapaze des Fluges aus?“ „Wir haben dort, wohin wir ihn bringen, bessere Versorgungsmöglichkeiten“, lautete die Antwort. „Welcher Art?“ „Nun, der Infarktbehandlung.“ „Liegt der Präsident im Koma?“ „Nein.“ „Er ist also bei Bewußtsein?“ „Mit Sicherheit.“ „Planen sie eine Bypass-Operation, eine Herztransplantation oder ähnliches?“ Die Antwort des Arztes bestand aus einem Schulterzucken. Draußen wurde die Trage mit dem Präsidenten in die Iljuschin geliftet. Näher als auf dreißig Meter war nicht an ihn heranzukommen. Eine dichte Kette von Soldaten mit Maschinenpistolen schirmte ihn ab. Das Flugzeug ließ die Motoren an und rollte zum Statt Da waren die Zeitungsleute schon nach Hause gefahren. Startende Flugzeuge, egal mit wem an Bord, gaben bei Nacht und Nebel wenig her.
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Die Gerüchte, an dem kranken Staatspräsidenten solle eine Herztransplantation durchgeführt we rden, verdichteten sich. Das Außenministerium streckte über seine Botschaften Fühler aus. In den Ländern mit hochentwickelter Herzmedizin wurden Experten kontaktiert. Wo immer die Diplomaten sich an Spezialisten und weltbekannte Kapazitäten wandten, fiel stets ein Name: Professor Dr. Eberhard von Evermann aus München. Er galt als der beste Diagnostiker für Infarktschädigungen und hatte eine nobelpreiswürdige Untersuchungsmethode entwickelt. Man behauptete, Evermann sei in der Lage, das Innere eines menschlichen Herzens besser zu beurteilen als jeder andere lebende Arzt. Doch immer wieder hieß es von Seiten der Diplomaten des Balkanstaates: „Professor Evermann hat keine Zeit.“ „Er würde Ihrem Ruf sofort folgen“, erhielten die Emissäre zur Antwort. Endlich ließ man die Katze aus dem Sack. „Danke, aber wir legen auf eine Konsultation vo n Professor Evermann keinen Wert.“ „Er ist der Größte.“ „Aber auch Deutscher“, ließen sie erklären. Offenbar ließen sie ihren Präsidenten liebe r sterben, als einen Deutschen um Hilfe zu bitten. Die nächste Reaktion war noch deutlicher. – Herzchirurgen des Balkanstaates begannen, ein Spenderherz zu suchen. Die Verträglichkeitswerte, die das gesuchte Herz haben sollte, liefen über Fernschreiber zum europäischen Organzentrum nach Leyden in Holland. Nach dem Gewebe-, Blut- und Volumenwerten zu urteilen, würde es schwer sein, in so kurzer Zeit ein passendes Spender17
herz zu bekommen. Trotzdem bemühte man sich weltweit. – Und man hatte Glück. Schon zweiundsiebzig Stunden nach der Anforderung stand ein Herz zur Verfügung. Es war einem tödlich verunglückten Motorradfahrer entnomme n worden und entsprach der Anforderung optimal. Das Organzentrum übermittelte die Nachricht per Telex zur Hauptstadt des Balkanstaates. Dort wurde dankend akzeptiert. Für die Vorbereitung der Operation sowi e Anreise des Teams veranschlagte man zwei Tage. Erst im letzten Moment sollte das Herz im eisgekühlten Thermosbehälter eingeflogen we rden. Als die Vorbereitungen schon liefen, ging in Leyden ein Anruf ein. Ein Mann aus der Botschaft des Balkanstaates in Den Haag meldete sich. Er hatte zum Spender noch einige Fragen. „Wie alt“, wollte er wissen, „war der Organspender?“ „Mitte Zwanzig“, erfuhr er, „Und wo geschah der Unfall?“ „Auf der Autobahn von Duisburg nach Nijmwegen.“ „Auf deutschem Gebiet?“ „Nein, auf holländischem Gebiet.“ Der Anrufer war offenbar zufrieden. Hängte aber noch eine Frage an. „Der Spender ist Holländer?“ „Nein, Deutscher.“ Für Sekunden war Pause im Draht. Der Anrufer schien sich mit anderen Personen zu besprechen. „Dann“, erklärte er, „ja, dann müssen wir leider bedauern, Mijnheer.“ „Was heißt das?“ 18
„Wir müssen verzichten.“ „Sie meinen, auf das Spenderherz?“ „So ist es.“ „Aber“, wandte der Arzt im Organzentrum ein, „alles ist vorbereitet, die ganze Prozedur läuft schon.“ „Machen Sie“, bedauerte der Diplomat des Balkanstaates, „bitte alles rückgängig, Doktor. Wir verzichten. Es bleibt dabei.“ Am nächsten Tag lief die Kampagne gegen die Bundesrepublik Deutschland an. Die Ablehnung eines deutschen Spenderherzens war wohl der Auslöser. Daß der Präsident des Staates zwischen Leben und Tod schwebte, wurde der deutschen Bundesregierung angelastet. Durch sein erpresserisches Ve rhalten hätte der Kanzler eine Krise bei dem herzkranken Staatspräsidenten ausgelöst, hieß es. Man hätte unerfüllbare Forderungen gestellt und mit NaziMethoden gearbeitet. Die Folgen müßte nun Bonn tragen. – Der Präsident wäre guten Willens nach Bonn gereist und als sterbender Mann zurückgekehrt. Das sei weder durch Bedauern noch durch Kredite oder sonst irgend etwas jemals wiedergutzumachen.
In Bonn wurde die Taktik festgelegt. – Man hatte erwartet, daß der Balkanstaat den Vorfall ausschlachten würde, hatte aber nicht mit einer so massiven internationalen Kampagne gerechnet. „Das ist glatte Verleumdung“, sagte Kanzler. „Wie verhalten wir uns?“ „Dementieren“, schlug der Außenminister vor. „Wir können uns doch die Seele aus dem Hals dementieren, 19
wie es wirklich war, glaubt ja doch keiner. Die Presse hat uns als Opfer in den Krallen. Dementis heizen die Sache eher noch mehr an.“ „Also schweigen.“ „Schweigen kann als Schuldeingeständnis ausgelegt werden.“ „Ich bitte um Vorschläge“, drängte der Kanzler. „Irgend etwas müssen wir tun, Freunde.“ „Ich würde“, sagte der Berater des Kanzlers, „dem anerkannt besten Journalisten der USA ein Exklusivinterview gewähren.“ „Und was sage ich ihm?“ fragte der Kanzler. „Die Wahrheit.“ „Damit kompromittiere ich meinen Staatsgast.“ „Und was, bitte, tut Ihr Staatsgast mit uns? Er verdreht die Ereignisse und Vorgänge.“ Der Kanzler dachte nach. „Inhalt des Gespräches mit Percy Shryder – an den dachten doch wohl alle – müßte also sein, daß wir den Präsidenten ersuchten, die Deutschen in seinem Lande nicht zu unterdrükken, sondern auswandern zu lassen. – Daß der Präsident dafür pro Kopf eine Prämie von hunderttausend Dollar forderte, egal ob Kind oder Greis, und wir diese Kopfprämie als Wirtschaftshilfe tarnen sollten, mußten wir ablehnen. Daraufhin geriet sein Herz außer Takt. – Und das soll ich dem Amerikaner offenbaren? Das wäre unfair.“ „Was da unten auf dem Balkan läuft, ist nicht nur unfair, sondern infam“, warf der Staatssekretär ein. „Schön, aber wie macht man Glaubhaftes unglaubhaft?“ „Gibt es Tonbandprotokolle?“ „Wir zeichnen solche Gespräche nie auf.“ „Es fehlen also die Beweise.“ „Und wie kriegen wir die?“ 20
Alle blickten sich an. Dann fiel das Dreibuchstabenwort: Been-de. Der Kanzler verließ die Runde, ging in sein Büro und ließ sich eine Verbindung mit München herstellen. Er wollte einen Mann seines Auslandsgeheimdienstes sprechen. Einen ganz oben. Wenn nötig, konnte der Kanzler äußerst griffig formulieren. Nach ein zwei Sätzen wußte der BND-Chef, um was es ging. Er mußte aber bedauern. Zwar hatte der BND die Affäre verfolgt, doch nur am Rande. „Es geht um folgendes“, sagte der Kanzler: „Spielen die da unten nur großes Theater, um auf balkanische Art unsere Kasse anzuzapfen? Ist der Präsident wirklich so übel dran, und sind wir schuld an seinem Zustand? Es gibt ja schon Pressestimmen, die uns KZ-Aufseher, SS-Erben und schlimmeres nennen.“ „Dieser Balkan-Staat war nie so bedeutend, daß wir dort ein leistungsfähiges Agentennetz installierten“, mußte der BNDChef einräumen. „Dann schicken Sie sofort einen tüchtigen Mann dorthin. Den besten, den Sie zur Verfügung haben.“ „Das kann nur ein Agent mit universellen Fähigkeiten erledigen.“ „Nun, das ist Ihr Problem“, delegierte der Kanzler. „Ich denke da an einen bestimmten Mann. Sie kennen ihn auch, Herr Bundeskanzler.“ Der BND-Chef nannte einen Namen. Die Leitung war abhörsicher, und er konnte es riskieren. „Ist das dieser Bursche, den sie Mister Dynamit nennen?“ „Das hören wir gar nicht gerne.“ „Aber vorher möchte ich ihn sprechen“, entschied der Kanzler. „Umgehend. Die Sache verträgt keinen Aufschub. Hier will offenbar jemand Krieg haben. Und wenn jemand Krieg haben will, dann, bitte, soll er ihn allein führen.“ 21
„Und andere nicht zwingen, mitzumachen“, fügte der BNDChef hinzu. „Die Zeiten, wo man einen Fehdehandschuh aufhebt, sind vorbei.“ „Aber heute“, meinte der Kanzler, „gibt es leider subtilere Methoden.“ 3. „Nur ein unbedeutender Rentner“, sagte der Comisario criminal aus Marbella. „Deutscher“, ergänzte sein Assistent. „Auch wenn ein Spanier in seinem Haus ve rbrennt, weil er mit der Zigarette im Bett einschläft, ist leider zu Mären, ob nicht eine Gewalttat vorliegt, zum Teufel.“ „Er war Nichtraucher.“ „Aber ein stadtbekannter Säufer.“ „Von einer Alkoholfahne brennt kein Haus nieder“, wagte der Assistent einzuwenden. „Dann ließ er eben die Kochgasflasche offen. Gas strömte aus, und als er den Lichtschalter betätigte, flog alles in die Luft.“ „Es war keine Explosion, Comisario.“ „Sie machen es mir aber schwer heute.“ „Er lebte schon seit vielen Jahren hier, Senor.“ „Ich lebe seit fünfzig Jahren hier. Na und?“ „Er ließ sich nichts zuschulden kommen, Comisario. Enrique Blanco war beliebt. Ein sonderbarer Kauz, aber beliebt.“ „Bueno! Rufen Sie über Funk die Brandexperten.“ Der Assistent verschwand und kam nach einer Weile wieder. „Blanco war früher ein hoher Offizier.“ „General?“ „Nein, Admiral. Es heißt, sie pensionierten ihn als Admiral.“ 22
Der Chef der Mordkommission Marbella hätte den Fall gerne flott erledigt. Ein Mann, sein Haus und sein Auto waren ve rbrannt – das kam vor. Don Enrique, wie sie Heinrich Weiß hier nannten, hatte keine Kinder, keine Verwandten, keine Erben. Auch das kam vor. – Wem außer der Gerechtigkeit war damit gedient, wenn man mit unendlichen Mühen die Ursachen seines Todes ermittelte? Abgesehen davon, daß immer alles nur Theorie blieb, war auch die Gerechtigkeit ein dehnbarer Begriff. „Vamos!“ entschied der Comisario. „Wenn es unbedingt sein muß, dann ist es Ihr Fall. Buenos dias. Ich bin mit dem Gouverneur verabredet.“ Er bestieg seinen Dienstwagen und fuhr weg. Sein Assistent, ein junger Substitute, der erst vo r einem Jahr die Polizeiakademie in Alicante absolviert hatte, ging weiter den Hinweisen nach. Nachbarn sagten aus, daß der Volkswagen gegen Morgen die Bergstraße heraufgerattert sei. Don Enrique habe sich wohl in einer Bodega vollaufen lassen, wie immer. Der Vize-Comisario fragte in Bars nach. In einer sagte man ihm, Senor Enrique sei volltrunken von einem unbekannten Gast nach draußen befördert worden. Mit Sicherheit war er fahruntüchtig gewesen. Der junge Kommissar ließ sich den unbekannten Gast beschreiben. – Mühevoll puzzelte er zusammen, daß der Mann Turbo hieß und Reporter war. In Spanien hieß niemand Turbo, also war es ein Pseudonym. Er begann, diesen Turbo zu suchen, und stieß auf den Mann, der die Surf- und Taucherschule am Puerto Banuz in Marbella betrieb. Den Polizisten nahm sofort gegen ihn ein, daß er blond war wie ein Schwede, nahezu perfektes Spanisch sprach wie ein 23
Andalusier, behauptete, Kanadier zu sein, aber einen irischen Paß vorwies und heute geschäftlich nach Santa Cruz fliegen wollte. Solche Leute packte der Substitute unfreundlicher an als andere. Er behauptete, an diesem und jenem Abend sei der Ire in einer Bodega mit einem Mann folgenden Aussehens beobachtet worden. „Stimmt das?“ „Kann nur Turbo gewesen sein“, sagte der Surfmeister aller Klassen. „Turbo brachte Enrique Blanco nach Hause.“ „Da war ich schon lange weg.“ „Sie kannten den Deutschen?“ „Den Admiral, meinen Sie. Wer kannte Enrique Blanco, diese Type, nicht. Heinrich Weiß, glaube ich, ist sein echter Name.“ „Dieser Turbo interessiert mich mehr. Wie ist sein richtiger Name?“ „Ich kenne ihn nur als Turbo. So unterschreibt er seine Artikel und Kolumnen.“ „Woher kommt er?“ „Aus Madrid.“ „Für wen schreibt er?“ „Für Manana und andere Magazine.“ „Schildern Sie ihn mir.“ „Nicht nötig.“ Der Surflehrer ging in seinen Wohnwagen, in dem er das Büro unterhielt, und kam nach einiger Zeit mit einem Foto wieder. „Wenn ein Kurs zu Ende ist, machen wir Fotos. Eines davon für das Album. Turbo hatte bei mir einen Kurs belegt.“ „Surfen?“ 24
„Nein, einen Taucherkurs.“ Der Kriminalbeamte ließ sich Turbo auf dem Foto zeigen. Es war ein sehniger, langer Bursche, aber mit einem schiefen Gesicht, bei dem Kinder leicht in Angstträume verfielen. Entweder hatte er seine Züge verkniffen, oder es lag an der Sonne. Der Kriminalbeamte steckte das Foto ein. „Sie kriegen es wieder.“ „Turbo soll also den Admiral nach Hause gebracht haben“, zweifelte der Eierblonde. „Es gibt Zeugen. Der Alte konnte nicht mehr gehen. Aber das Auto fuhr weg.“ „Das besagt gar nichts“, meinte der blonde Surflehrer. „Ich kenne Leute, die kriegen seit Jahren den Arsch nicht mehr hoch, aber ihr Auto bewegen sie wi e Fangio.“ Der Comisario hatte noch eine Frage. „Bekam Turbo rein zufällig mit dem Admiral Kontakt?“ Vor jeder Antwort dachte der Surflehrer erst nach. Er wollte sich nicht in einen Mordfall hineinziehen lassen. Trotzdem versuchte er, einigermaßen bei der Wahrheit zu bleiben. „No, Senor, nicht zufällig. Er fragte mich, ob ich Admiral Blanco, den alten Aufschneider, kenne. Er würde ihn gerne aushorchen und eine Story über ihn bringen. Der Alte hatte eine recht aufregende erste Lebenshälfte. Ich tat Turbo den Gefallen und stellte den Kontakt her. Mehr weiß ich nicht.“ „Und Turbos Adresse?“ „Bedaure, Senor. Unbekannt.“ Als der junge Beamte seinem Chef berichtete, fluchte der Comisario. „Die Aussage von diesem Surf-Burschen ist klar wie Kristall, frisch wie Frühlingsduft, vom Tau gebadet. Gefällt mir alles nicht.“ „Ja, die Sache entwickelt sich.“ 25
„Verwickelt sich“, verbesserte der Comisario. „Warten Sie den Befund des Brandexperten ab. Dann schreiben Sie einen Bericht, und ab damit zum Staatsanwalt nach Malaga. Die sollen damit machen, was sie wollen. Für mich ist Schluß. Laden zu. Nichts geht mehr. Der Boß fährt nach Hause.“ Das mußte man dem Chef lassen. Er hatte ein Gefühl für Fälle, die entweder nicht lösbar waren oder Dimensionen annahmen, die weit außerhalb der Kompetenzen eines Provinzkommissars lagen.
Vier Punkte waren es, die den Staatsanwalt in Malaga veranlaßten, den Fall an Interpol weiterzureichen. Er erklärte sie dem zuständigen Beamten in Madrid. „Enrique Blanco wurde vermutlich ermordet, war Deutscher und hoher Marineoffizier. Und der Tatverdächtige, ein gewi sser Turbo, ist in ganz Spanien nicht zu finden. Wer bringt einen Siebzigjährigen um, der kein nennenswertes Vermögen hat, nur eine kleine Pension, die er auch noch regelmäßig auf den Kopf haut. Dafür muß es Gründe geben, die möglicherweise im politischen Bereich liegen.“ „Oder im Geheimdienstbereich“, ergänzte der Interpolbeamte. „Der übliche Dienstweg geht von der Kripo übe r den Bezirksstaatsanwalt zur Brigada investigación.“ „Für uns hier war es Mord“, erwiderte der Staatsanwalt. „Wenn Sie mehr herausfinden, dann ist es Ihre Sache, andere Behörden zu unterrichten.“ Der Staatsanwalt verschwieg, daß er in einem ähnlichen Fall schon schwer auf die Nase gefallen war. Er hatte den rätselhaften Autounfall eines Engländers, den er für einen Agenten 26
hielt, der spanischen Abwehr gemeldet. Wie sich später herausstellte, war der Engländer mit überhöhter Geschwindigkeit von der Straße abgekommen. Der Vorgesetzte des Staatsanwalts hatte es ihm als Überreaktion und Falschbeurteilung ausgelegt. Erst vier Jahre später, als der Plan es vorsah, war er befördert worden. „Sie haben morgen die Akten“, sagte der Staatsanwalt von Malaga Interpol hatte den Fall erst zwei Tage später, denn vom Süden herauf lief die Post nicht so schnell. Dann aber sah der Interpolbeamte nach kurzer Lektüre die einzige Öse, wo es sich einzuhaken lohnte. Er rief beim Presseclub an und in dem Büro, das die Presseausweise vergab. Dort kannte man keinen Journalisten mit dem Pseudonym Turbo. Der Interpolbeamte ließ seine Verbindungen we iterspielen. Aber auch bei Manana und anderen Magazinen war kein Mitarbeiter namens Turbo bekannt. Nun wurde die Fahndung ausgeschrieben. Der Steckbrief mit Foto ging laut Verteiler A hinaus. Der Verteiler A berücksichtigte alle geogr aphischen Punkte, wo ein Mann Spanien verlassen konnte. Also Flugplätze, Häfen sowie Bahn- und Straßenübergänge an den Grenzen. Verteiler A bezog aber auch alle übrigen Länder ein, in denen Spanisch gesprochen wurde. Das waren nicht nur Mexiko, Argentinien, Paraguay, Kolumbien und Chile, sondern genaugenommen ganz Süd- und Mittelamerika, mit Ausnahme von Brasilien. Die Philippinen, wo ebenfalls Spanisch gesprochen wurde, klammerte der Interpolmann zunächst einmal aus. Die Fahndung nach Turbo lief. Im Augenblick konnten die internationalen Polizeibehörden nichts tun als warten. Nach drei Tagen – der Beamte von Interpol in Madrid hatte 27
den Fall fast schon abgelegt – erhielt er einen Anruf von der Interpol-Zentrale in Paris. „Eigentlich“, sagte der dortige Vorgesetzte, „betrachteten wir Ihren Fahndungsauftrag, aufgrund eines ungeklärten Mordes einen nur vage beschriebenen Täter unter mehreren hundert Millionen Spanisch sprechender Menschen zu suchen, mit gemischten Gefühlen. Trotzdem meine Gratulation, Inspektor.“ „Sie haben ihn, Monsieur Directeur?“ „Nun, nicht direkt“, schränkte der Franzose ein, „aber der Gesuchte ist mit Sicherheit in Argentinien eingereist.“ „Madonna, das ist ein ziemlich anderer Erdteil.“ „Es beweist die Effizienz unserer Organisation im Vergleich zu FBI oder Interkrim. Die argentinischen Kollegen versuchen, eine Spur aufzunehmen. Wie es aussieht, führt sie von Buenos Aires weiter nach Rio Gallegos.“ Der Interpolmann in Madrid hatte vor vielen Jahren einen Fall dort bearbeitet und kannte die Gegend. „Das liegt ja schon südlich von fünfzig Grad Breite auf den Pol zu.“ „Nun, wir wollen nicht übertreiben. Die Lage vo n Rio Gallegos auf der Südhalbkugel entspricht de r Linie von LondonKöln-Kiew in unserer Zone,“ „Ich war mal da“, erwähnte der Beamte in Madrid. „Rio Gallegos ist nicht weit von den Falklandinseln entfernt. Eine ve rdammt windige Gegend. – Augenblick bitte, Monsieur.“ Dem Spanier war etwas eingefallen. Er nahm das Telefon mit hinüber zu der großen Wandkarte in seinem Büro und hatte es rasch gefunden, weil er wußte, wo er zu suchen hatte. „El Turbio!“ rief er. „Heißt der Mensch nicht Turbo?“ „Richtig. Und zweihundertfünfzig Kilometer westlich von Rio Gallegos, wo der Gesuchte zum letztenmal gesehen wurde, 28
liegt landeinwärts eine kleine Stadt, nahe der chilenischen Grenze. Sie heißt El Turbio.“ „Möglicherweise stammt er von dort.“ „Warum sonst sollte er sich wohl Turbo nennen.“ Der Abteilungsdirektor in der Zentrale wollte sofort die Argentinier verständigen. „Fällt Ihnen sonst noch etwas dazu ein?“ fragte er. „Turbo ließ sich in Manerba als Taucher ausbilden.“ „In Feuerland ist das Meer kalt und sturmbewegt. Und was gibt es dort schon zu finden.“ Der Interpolmann in Madrid blieb eine klare Antwort schuldig. Er wußte nur, daß weit im Süden, auf Feuerland und Kap Hoorn zu, die unfreundlichste und unwegsamste Ecke der Erde begann. Dieses ungefähr eine halbe Million Quadratkilometer große Gebiet gehörte zu den unerschlossensten der Erde. Ein Archipel mit zehntausend Inseln, Fjorden, Buchten und Channels war der grandioseste Abenteuerspielplatz dieses Planeten, aber auch eisig, stürmisch, neblig und unwirtlich. „Wenn Turbo dorthin verschwand“, sagte der Mann in Madrid, „dann finden wir ihn niemals wieder. Oder nur mit ungeheurem Aufwand.“ „Wegen eines einzigen Panthers“, meinte der Interpoldirektor, „lohnt es sich wohl nicht, eine Armee von Jägern in Marsch zu setzen. Oder?“ „Wohl kaum, Monsieur“, pflichtete der Mann in Madrid ihm bei. So kam es, daß auch die Argentinier die Spur des Mörders nur mit halbem Herzen verfolgten.
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4. Wer ihn schlafen sah, der dachte, er wäre tot. Bis er dann die grauen Augen öffnete, herzhaft gähnte und mit einem athletischen Sprung auf den Beinen stand. An diesem frühen Morgen war der BND-Agent Robert Urban vom Telefon geweckt worden. „Er ist da“, übermittelte man ihm. „Er wartet.“ „Ich komme.“ Vier Uhr. Noch dunkle Nacht. Urban duschte, rasierte sich, nahm als Rasierwasser wie üblich Bourbon-Whisky. Die Haut mochte das, und seine Nase auch, Ein Stimulans den ganzen Tag über bis Bourbon-Time. Wenige Minuten später fuhr er von seine m Penthouse hinunter in die Tiefgarage, saß in seinem BMW und fuhr los. In München herrschte kaum Verkehr. Aber schon halbwegs auf Erding zu stiegen die ersten Herbstnebel aus den kahlen Feldern und wälzten sich übe r die B 388. Urban ließ die Stadt im Norden liegen und tastete sich weiter bis zur Abzweigung Bundeswehrflugplatz. – Erstes Tor, zweite Kontrolle. Heute nahmen sie es besonders genau, und das mit gutem Grund. Dann wurde er gestoppt. Ein BW-Jeep setzte sich vor ihn und geleitete ihn zwischen Kasernen, Baracken und Hangars hindurch zu einer entfernten Ecke des Rollfeldes. Im Licht von Tiefstrahlern sah Urban die ve rschwommenen Umrisse eines großen Flugzeuges. Die vierstrahlige Boeing 707 schien wie von Dampf umwölkt. Er stieg aus. Das Gras war naß. An der Gangway standen Posten mit Stahlhelm und MPi. Hinter der offenen Rumpftür wie hinter den Bulleyes schimmerte orangefarbenes Licht. 30
Letzte Gesichtskontrolle. Ein Oberst der Bundesluftwaffe sagte: „Hallo, Bob!“ Dann die offizielle Meldung: „Oberst Urban!“ Urban nahm die Gangway. Ein dicker Vorhang wurde beiseite geschoben, die Tür, die in den hinteren Teil der Kabine führte, geöffnet. Wärme und Kaffeeduft schlugen Urban entgegen. An einem runden Tisch in einem Sessel saß ein ziemlich großer Mann, mindestens hundert Kilo schwer, und frühstückte ganz alleine. Er war gerade dabei, das Ei mit einem Messerschlag der Länge nach zu halbieren, eine Technik, die Erfahrung und Geschick voraussetzte. Er traf das auf seiner Hand liegende Ei zielgenau. Das Messer fuhr durch die zartbraune Schale. Die offenen Hälften zeigten ihr Inneres: weiß, gelb, nicht ganz hart. Der Kanzler der Bundesrepublik Deutschland blickte auf und lächelte. „Landeier“, sagte er, „von freihinkenden, besonders unglücklichen Hennen. – Die grüne Opposition mag mir eine Menge vorwerfen, aber ich verzehre keine KZ-Eier. – Setzen Sie sich, Oberst. Kaffee? Tee?“ Der Kanzler schnupperte. „Wer trinkt hier schon vo r Sonnenaufgang Whisky?“ „Mein Rasierwasser“, entgegnete Urban. „Von wegen“, bemerkte der Kanzler, selbst kein Kostverächter, verständnisvoll. Und dann: „Wie geht es Ihnen?“ „Hervorragend“, antwortete Urban. „Also beschissen. Mir auch. Aber was soll’s. Niemand hat uns gezwungen, unseren Beruf zu ergreifen. Ich dachte immer, ich würde mal ein guter Kanzler werden, zu Besserem fühlte ich mich nicht berufen. Und nun haben wir es.“ 31
Er lachte und löffelte seine Eihälften aus. Urban goß sich Kaffee ein. „Habe meine Reise nach Rom hier unterbrochen. Sie wissen schon. Weltwirtschaftsgipfel plus kleiner Kniefall im Vatikan. Beginn um zehn Uhr. Noch jede Menge Zeit. Vielleicht sind Sie in der Lage, mir ein wenig von dem Druck wegzunehmen.“ Urban hatte sich bereits vorausinformiert. Er gab das Stich wort. „Ludenko?“ Der Kanzler wirkte nun schon um zehn Prozent lockerer. „Brav Hausarbeiten gemacht.“ „Man hält sich fit“, äußerte Urban. Der Kanzler aß ein mit Mettwurstscheiben belegtes halbes Brötchen, leerte dann die Kaffeetasse, tupfte sich den Mund ab und warf die Serviette auf das silberne Tablett. „Sie dürfen rauchen, Oberst. Kein Körnli-Fresser schaut uns zu.“ „Danke.“ Der Kanzler stopfte sich die Pfeife und begann unvermittelt. „Diese Balkanregierung kommt mir nicht geheuer vor.“ „Man kann sogar Herzanfälle vortäuschen“, pflichtete Urban ihm bei. „Nun, unser lieber Freund vom Balkan mag durchaus ein wenig angeschlagen sein, sein Herz ist angeblich nicht das beste, und er war schon immer ein listiger Fuchs. Aber daß man es so weit treibt, nun, das finde ich leicht übertrieben. Oder?“ Urban ließ sich aus erster Hand informieren. „Wir waren“, berichtete der Kanzler, „durchaus guten Willens. Wir hatten eine Taktik festgelegt und auch ein Limit für das Finanzielle gesetzt. Aber dann, mit einemmal diese nahezu erpresserische n Töne. Nicht mehr von Wirtschaftshilfe gegen 32
Erleichterungen für unsere deutschstämmigen Landsleute war die Rede, sondern von Kopfgeld. Und das nun, ich bitte Sie, das nennt man doch nicht beim Namen. Ist das die feine staatsmännische Art?“ „Man machte ihm das deutlich?“ „Überdeutlich sogar. Und dann ging es los. Wie es endete, ist, sofern man den Bulletins und den Zeitungsmeldungen trauen darf, bekannt.“ Der Kanzler zeigte sich empört darüber, daß er schuldlos angefeindet und angegriffen, im Grunde zur Sau gemacht wurde und faßte es in einem kurzen Satz zusammen: „Ja, ja, immer die bösen Deutschen.“ „In Geheimdienstkreisen“, erläuterte Urban, „macht man sich ein ganz anderes Bild.“ „Geheimdienstkreise sind leider nicht die Weltöffentlichkeit“, bedauerte der Kanzler. „Und welches Bild macht man sich, bitte, in Geheimdienstkreisen?“ „Nun, es gibt Gerüchte.“ „Welcher Art?“ „Sie führen ein infames Drama auf. Sie spielen die Krankheit Ludenkos ganz hoch, um uns ganz kleinzukriegen. Tatsache ist, daß Ludenko einer massiven Opposition in seinem eigenen ZK gegenübersteht. Man würde ihn am liebsten sterbe n sehen, mindestens aber von einem Infarkt geschwächt wissen, also manipulierbar. Was den Herrschaften gewiß nicht in den Kram paßt, wäre eine Enthüllung, daß es Ludenko gar nicht so schlecht, sondern eher glänzend geht.“ Der Kanzler schloß die Augen. „Ich hatte ein Gespräch mit dem US-Präsidenten. Er ist der gleichen Meinung. Sie treiben irgendein doppeltes Spiel.“ „Man kommt nur mit der Wahrheit dagegen an. Mit Beweisen.“ 33
„Die haben wir leider nicht. Also können sie das Spiel sehr lange durchhalten.“ Urban philosophierte: „Einer, der alle Schliche kennt, hält immer länger durch als die redlichen, weil sich alles andere leichter vergißt als ein fieser Charakter.“ „Und am Ende kriegen die doch, was sie fordern“, befürchtete der Kanzler. „Es sei denn, wir besorgen uns das Rollenbuch für diese Aufführung. Dann wäre sie allerdings als Schmierenkomödie entlarvt.“ „Niemand hat dieses Land je ernst genommen“, sagte der Kanzler, „aber um eine Totalpleite ihrer Republik zu vermeiden, werden sie ihre Geheimnisse gut hüten.“ „Es gibt keine unergründbaren Geheimnisse“, bemerkte Urban. Der Kanzler schien Hoffnung zu schöpfen. „Sehen Sie einen Weg, mir aus dieser Sache herauszuhelfen?“ „Noch nicht“, gestand Urban. „Doch ich werde darüber nachdenken.“ Der Kanzler, unter Druck stehend, hätte gerne Genaueres gewußt. „Wie lange dauert das bei Ihnen, Herr Oberst?“ „Ich habe soeben darüber nachgedacht“, eröffnete der BNDAgent. „Ich werde mich in dieses Knoblauchland auf dem Balkan begeben, auch wenn ich Knoblauch als Gewürz nicht sonderlich schätze.“ „Wann?“ „Die Sache ist nicht nur aktuell, sondern akut“, fuhr Urban fort. „Ich mache mich auf den Weg. Heute noch. Allerdings kann man als Deutscher nicht einfach hinfahren, grüß Gott 34
sagen, seinen Paß vorzeigen und erwarten, daß sie einen abküssen.“ Niemand war im Raum. Trotzdem beugte de r Kanzler sich vor, senkte die Stimme und sagte: „Nur Sie und ich und ein Mann im BND wissen davon.“ „Je weniger desto besser.“ „Wenn man Sie schnappt, Oberst, ich kann Ihnen keinen Schutz bieten.“ „Das bin ich so gewohnt“, gestand Urban. „Aber ich schätze klare Verhältnisse. Was nützt mir eine garantierte Rückendekkung, wenn sie dann nicht vorhanden ist.“ „Das ist ein streng geheimer Kanzlerauftrag“, betonte der Regierungschef noch einmal. „Berichte nur an mich persönlich oder über einen Vertrauten im BND. Wen schlagen Sie vor?“ „Den Vizepräsidenten.“ „Einverstanden“, sagte der Chef der Regierung dieses unseren Landes. „Und Gott mit Ihnen.“ Noch ein fester Händedruck, und Urban war unterwegs auf dem ersten Kilometer eines möglicherweise tödlichen Weges. 5. Der türkische Fischkutter hatte zwar einen Diesel, lief aber jetzt, in der Nähe der bulgarischen Schwarzmeerküste, unter Segel. Lautlos machte er mit der großen Genua vier Knoten Fahrt. Es war eine laue Nacht. Der BND-Agent Robert Urban lag auf der Motorluke und schlief. Er erwachte nicht, weil der Türke ihn rüttelte, sondern durch den feinen Duft von Knoblauch und Hammelfett, der von ihm ausging. Da Urban wenig Türkisch sprach, unterhielten sie sich meist auf englisch. 35
„Du Ruder, Ali Pinsel“, sagte der Fischer in seinem PidginSlang. Es war ausgemacht, daß sie, wenn Varna querab lag, dem Kutter ein wenig Make-up geben würden, und zwar die Bemalung bulgarischer Fischerboote. „Ruder fest“, antwortete Urban. „Wir beide pinseln.“ „Nein“, wehrte der Türke ab. „Du haben bezahlt. Dreitausend Dollar. Ich habe eine Ewigkeit nicht mehr so viel gesehen.“ „Von mir aus.“ Urban trat ins Ruderhaus und hielt sauber Nordostkurs, damit das Genuasegel immer voll Wind stand. Der Fischer, ein Mann von der Sorte, die immer ein wenig vornübergebeugt gingen wie alle, be i denen die Muskulatur in einem zu großen Verhältnis zum übrigen Körpergewicht stand, stemmte einen Farbkübel auf. An zwei Dingen merkte Urban, daß Ali mit der Arbeit begonnen hatte und bei bester Laune war: es stank nach Terpentin, und Ali fluchte. Er konnte fürchterlich und endlos fluchen. Urban hörte ihm immer gern dabei zu. Es dauerte ungefähr zwei Stunden, bis Ali seinem türkischen Kutter zwischen Deckkante und Scheuerleiste einen gelben Strich und eine andere Nummer aufgemalt hatte. Mit einem benzingetränktem Twistlappen reinigte er Hände und Arme und stieg zu Urban ins Ruderhaus. „Bis Sonnenaufgang Farbe trocken.“ „Der Wind läßt nach.“ „Wind kommt, Wind geht“, sagte Ali. „Wenn bulgarische Fischer in Sicht, ich reden, du halten Schnabel. Sie immer nur fragen, ob was gefangen. Ich antworten nix gefangen.“ Urban hatte die Karte zwischen Ruder und Kompaß eingeklemmt. Noch zwanzig Meilen, und sie kamen in die Hoheits36
zone des anderen Balkanstaates. Aber dort wurden bulgarische Fischer ebenso geduldet wie russische. Die Donaumündung war noch ungefähr hundertvierzig Meilen entfernt „Ali machen Tee“, sagte der Fischer. Als er mit der Kanne und den Bechern wieder heraufkam, war es kalt geworden. Urban wärmte sich die Hände an dem Pott. Ali schlürfte den Te e über einem Stück Zucker, das er zwischen den Zähnen hatte. Dann zeigte er in Richtung Sonnenaufgang. Der Osthimmel wurde schon heller mit Wolken von einer bestimmten zerzausten Art. „Gibt Sturm“, verkündete Ali. „So ein Kutter hält einiges aus.“ Ali grinste. Und Urban wußte Bescheid. Dieser Kutter hatte in den sechzig Jahren, seitdem es ihn gab, bedeutend weniger Fische als Schmuggelgut an Bord gehabt, und das schon zu Zeiten von Alis Vater. Die beiden Alis, Vater und Sohn, waren oft und gerne für die deutschen Geheimdienste tätig gewesen. Erst für Canaris, jetzt für den BND. Es war längst so, als gehörten sie dazu. Sie wußten, worauf es ankam, waren verschwiegen und verdienten auch nicht schlecht. „Feines Leben“, rief Ali. „Wie Hurenleben. Nur machen Huren Liebe nicht mehr umsonst.“ „Wie Ratten, die nie mehr Abfall fressen, wenn sie in Schlachthäusern geboren sind“, ergänzte Urban. Erst schlief der Wind ein, dann kam er aus der falschen Richtung. Ali warf den Diesel an und nahm alle Segel bis auf einen Fetzen Sturmfock weg. Später mußte Urban unter Deck, denn bulgarische Fischer tauchten auf. Aber wegen des zunehmend schweren Wetters gab es kein langes Hin und Her. 37
Der Tag wurde nicht richtig hell. Schon nach wenigen Stunden ging er in die Nacht über. Der Wetterlage entsprechend setzten sie die Segel und machten einen Schlag auf die Küste zu. Wo sie einsam war, zwischen dem Delta und Sulina, wagte Ali sich bis auf Sichtweite an die Küste heran. Urban hatte die Ausrüstung ins Dingi geworfen und holte es an der Schleppleine an Backbordseite heran. Über seinem normalen Straßenanzug trug er einen wasserdichten Overall, wie ihn Motorradfahrer bei schlechtem Wetter benutzten. Allerdings in Grauschwarz. „Bin morgen wieder hier“, sagte Ali. „Und noch einmal zwei Tage später. Wenn du kommen, ist gut, wenn nicht kommen, ist auch gut. Bob guter Mann. Guter Mann ist wie Unkraut. Unkraut vergeht nicht.“ Sie schüttelten sich die Hände. „Und hau ihm auf die Schnauze“, wünschte Ali. Urban kletterte über die Bordwand ins Dingi. Der Kutter arbeitete schwer in der Dünung, die jetzt im flachen Wasser landwärts rollte. Offenbar dachten Transporteure wie Ali, wenn sie einen Agenten heimlich irgendwo an Land setzten, es ginge immer darum, jemandem auf die Schnauze zu hauen. „Merk dir eines, Aleman“, sagte der Türke noch. „Immer der erste sein, wie bei Frauen. Und bei stinkendem Feind sofort zuschlagen. Besser der andere tot als du.“ „Danke“, rief Urban. „Ein deutscher Oberst stinkt, wenn sie ihn begraben leider ebenso wie ein stinkender Türke.“ „Was du hast gesagt?“ Aber Urban hatte sich schon in die Ruder gelegt und war zu weit entfernt, um seine Bemerkung noch einmal zu wiederholen. 38
Über den Straßenanzug trug er jetzt einen Trenchcoat, wie britische Zeitungsleute ihn hatten, und über der Schulter den Riemen mit der Kameratasche. Er mußte lange nach Norden marschieren, bis er zu einer Straße kam. Und es dauerte noch länger, bis ein Lastwagen auftauchte. Der LKW-Fahrer nahm ihn mit. Wer nach Ausländer roch, wurde gern aufgepickt, denn fast jeder bezahlte in Dollar. – Nur damit war in diesem verarmten, ausgehungerten Land etwas anderes zu kriegen als Kartoffeln und faules Gemüse. Der Fahrer steckte den Fünfdollarschein ein und stellte keine Fragen. Für die fünf Dollar konnte er mehr kaufen, als für einen Monatslohn. In der nächsten kleinen Stadt fragte Urban: „Taxi?“ Der schweigsame Fahrer nickte und setzte Urban an der Bahnstation ab. Dort stand nur leider kein Taxi, aber in der nächsten Stunde kam eines vorbei. Der Fahrer war jedoch anderweitig beschäftigt. Urban mußte weiter warten. Am Nachmittag kam ein uralter Renault angedieselt. „Frei?“ Urban sprach Russisch. Sie verstanden hier alle etwas Russisch, denn schon auf der anderen Donauseite fing die Sowjetunion an. „Wohin?“ fragte der Fahrer. Er war jung und trug Jeans, die so eng waren, daß es aussah, als hätte er zwischen den Beinen eine Pistole versteckt. Außerdem war er so klein, daß er extra auf einem zerfetzten Sofapolster saß. Wenn er sich Mühe gab, konnte er einen Vergaser von innen reparieren. „Stintu“, sagte Urban. 39
„Ist Sperrgebiet.“ „Weiß ich.“ „Haben Sie Permit?“ „Ja.“ Urban zeigte ihm eine Zehndollarnote. „Das da.“ Der Fahrer zögerte erst. „Die Fahrt extra. Sie sind Reporter?“ Urban nickte. Der Fahrer nahm die Banknote und schob sie, sorgsam gefaltet, in seine Hemdtasche. „Ins Sperrgebiet kommt keiner hinein. Haben schon viele versucht.“ „Ich möchte es trotzdem versuchen.“ Der Fahrer ließ an. Der alte Diesel stieß hinten eine schwarze Rußwolke aus. Sie fuhren los. Die Straßen waren schlimmer als die in Montenegro vor hundert Jahren. Damals zur Kutschenzeit gab es zum Glück noch keinen Makadam. Makadam muß man pflegen. Hier aber hatte man die Straßen einmal asphaltiert und dann sich selbst überlassen. Der Abstand von Schlagloch zu Schlagloch betrug selten mehr als drei Meter. Der Fahrer blieb verbissen am Gas, denn nur mit Dauertempo vierzig war die Straße zu ertragen. Allmählich wurde er nervös. „Sie haben das Sperrgebiet erweitert.“ „Manöver?“ fragte Urban. „Nein. Sperrschilder. Bei Stintu liegt die Villa des Präsidenten. Als ob Sie das nicht wüßten. Alle wissen es. Alle wollen ein Foto von der Villa.“ „Ohne den Präsidenten?“ zweifelte Urban, „Letzte Woche noch konnte man von den Bergen nach unten ins Tal fotografieren. Dann haben sie einen erwischt. Jetzt hat die Sperrzone zehn Meilen Durchmesser.“ 40
Es wurde schon dunkel, und Urbans Plan sah vor, es trotzdem zu versuchen. Er hatte alle über dem Sommerpalast bekannten Veröffentlichungen studiert. Es gab eine Möglichkeit, nahe heranzukommen. Vorausgesetzt, sie hatten nicht auch den Zufluß für den kleinen Stausee vermint. Der Stausee, ein besseres Süßwasserbecken, lag etwa hundertzwanzig Meter oberhalb der Villa. Vor ihnen rollte ein Armeelastwagen. Sie folgten ihm. Die Soldaten hinten auf dem LKW grüßten, und sie grüßten zurück. Bald bog der LKW in die Kukuruzfelder ab. Nun dauerte es nicht mehr lange, und der Fahrer ging vom Gas. „Da vorne!“ rief er. „Halten Sie Paß, Presseausweis und Akkreditiv bereit, Genosse Reporter.“ Woher, fragte Urban sich, wußte der Fahrer, welche Papiere ein Reporter brauchte, um in diesem Land arbeiten zu dürfen. „Biegen Sie ab“, befahl Urban im letzten Moment. Der Fahrer riß den Renault nach rechts. Er grinste, als habe er damit gerechnet. Im schrägen Schein der Sonne glänzte das Meer silbrig. Urban ließ den Fahrer anhalten. Dann öffnete er die Kameratasche, holte das Teleobjektiv heraus und benutzte es als Fernglas. Die Boote draußen auf See gehörten nicht zu den Fischern. Sie waren flach und grau, hatten Antennen und mindestens eine Maschinenkanone auf der Back Der Landsitz des Regierungschefs war also auch von See her stark geschützt. Der Fahrer ließ an und bewegte den Wagen unter die dichte Krone einer Korkeiche. Bald wußte Urban warum. Er vernahm das Flappern eines Kontrollhubschraubers. Trotzdem wollte er es versuchen. „Könnten Sie warten?“ fragte er den Fahrer. 41
„Nicht bis Weihnachten.“ Urban schaute auf die Uhr. Zwei oder drei Stunden würde er wohl benötigen. Er machte noch einen Zehner locker. „Was nützt mir das, wenn ich verhaftet werde“, maulte der Fahrer. „Dein Risiko“, sagte Urban. „Noch mal zwanzig, wenn ich zurück bin.“ Aber der Mut des Taxifahrers schmolz dahin wi e eine Eisscholle, die in warme Strömung geraten war. „Ich kriege Gallenschmerzen“, jammerte der Fahrer, „und die lassen keine Abenteuerlust aufkommen, Genosse Journalista“ „Es ist kein Abenteuer“, sagte Urban, „nur ein Geschäft.“ Er stieg aus und verschwand im Gebüsch. Bald konnte er das Taxi nicht mehr sehen.
Mit Sicherheitsabstand zur Postenkette streifte Urban bei zunehmender Dunkelheit durchs Gelände. Er wollte Höhe gewi nnen, was nur in Richtung auf die Hügel möglich war. Von dort hatte er bessere Sicht und konnte seinen Restlichtverstärker benutzen, der ihm die Bewegungen der Posten anzeigte. Dann wollte er sich durch die Postenkette stehlen und dem Palastbereich nähern. Bis 21.00 Uhr kam er gut voran. Plötzlich vernahm er das Husten eines Hundes und Gebell. Das zwang ihn, die Richtung zu ändern. In der Ferne hörte er einen Bach rauschen, fand ihn und watete bachaufwärts. So vermied er eine Geruchsspur. Von zwei Hügeln erkletterte er den dichter bewachsenen. 42
Dann sah er hinter Pinien die ersten Wachtürme aufragen. Wachtürme standen nicht einfach so in der Gegend herum. Die Entfernung betrug ungefähr 1500 Meter. Er beschloß, es zu riskieren. Immer wieder blieb er stehen, lauschte und suchte die Gegend mit seinem Nachtsichtgerät ab. Nichts, was Wärme ausstrahlte, zeigte sich. Doch dann mit einemmal ein Anruf: „Stoi!“ Knacken im Gebüsch. Wenige Schritte vo r ihm trat ein Posten frei. Er hatte keinen Hund bei sich, war aber schwer bewaffnet. Als er im Begriff war, die Maschinenpistole in der bekannten ausholenden Armbewegung von der Schulter in Schußposition zu bringen, schlug Urban zu. Mit Worten war dem Mann nicht beizukommen, nur mit einer Faust wie ein Dampfhammerkolben. Der Soldat schüttelte den Treffer jedoch ab. Sie rekrutierten sie meist vom Land. Bauernsöhne waren hart im Nehmen. Der Soldat brachte die MPi in Anschlag und seinen Finger bis auf wenige Zentimeter Abstand zum Abzug. Dann erwischte ihn Urbans zweiter Schlag. Diesmal nicht gegen die mit Lederriemen gepanzerte Brust, sondern am Kinn. Der Soldat vollführte eine n regelrechten Salto rückwärts, landete aber nicht auf den Beinen, sondern auf dem Rücken. Der Stahlhelm schepperte gegen die MR. Aus seinem Sprechfunkgerät dröhnte eine Durchsage. Urban verklebte ihm den Mund mit Leukoplast und band seine Arme mit einer Patentfessel. Dann machte er, daß er weiterkam. Im Dunkeln kostete es Mühe, das Taxi zu finden. Der Fahrer erwachte aus seinem Halbschlaf. 43
„Los, wenden und weg von hier“, zischte Urban. „Ging schief, wie? Genosse Journalista.“ „Ein Reporter riskiert lieber sein Leben als seine Existenz“, sagte Urban, „Beeil dich!“ Der Fahrer glühte eine Ewigkeit vor. Endlich donnerte der Diesel los. Sie fuhren zurück zu der kleinen Stadt. „Und wenn ich Sie verpfeife?“ fragte der Fahrer. „Dann kriegst du was in die Fresse, mein Junge.“ „Was, zum Teufel, ist an der Villa da draußen so interessant? Der Präsident ist nicht da. Er liegt im Krankenhaus. Warum verbrennt ihr euch alle die Finger?“ „Das verstehst du nicht. Es sei denn, du weißt, was ein Hit ist, Genosse Taxista.“ „Na ja, so was wie eine Zeitungssensation“, meinte der Fahrer. „Aber die kriegst du ebensowenig wie dieser Mister Co ugat oder wie er heißt. Der soll auch bis nahe an die Villa gekommen sein. Dann legte er einen Posten um. Er konnte sogar noch fliehen, aber dann stoppten sie das Auto und holten ihn heraus. Jetzt sitzt er irgendwo im Loch.“ Urban hatte davon gehört, daß sie einige neugierige Journalisten verhaftet hatten. Aber er wußte nicht, das es hier gewesen war. Auf die Idee, in Stintu nachzusehen, waren also schon andere vor ihm gekommen. Wie es schien, jedoch ohne Erfolg. Plötzlich entde ckte er eine Möglichkeit. Angenommen er setzte sich für Cougat ein, suchte ihn auf, falls er eine Erlaubnis bekam, und sprach mit ihm. „Wo hat man ihn hingebracht?“ „In die Hauptstadt. Sie werden alle in die Hauptstadt gebracht. Und wenn wir Pech haben, Genosse, dann landest du auch dort.“ Sie fuhren im müden Scheinwerfergefunzel übe r die miesen Straßen der Dobrutscha. Der Taxifahrer hatte alle Mühe, sein 44
Auto so zu bewegen, daß es nicht in Trümmer ging, und Urban dachte nach. Dieser Cougat konnte der Schlüssel sein. „Hatte Cougat sein eigenes Auto?“ „Ein Kollege von mir fuhr ihn. Bekam danach gewisse Schwierigkeiten, ist aber Parteigenosse und wird mit einer Verwarnung davonkommen.“ „Was weißt du noch?“ „Wenig.“ „Und dein Kollege?“ „Vielleicht mehr.“ „Bring mich zu ihm.“ „Er wird keinen Wert darauf legen“, befürchtete der Fahrer. „Aber ich“, sagte Urban.
Noch vor Mitternacht saß Urban in der Stube in dem kleinen Haus, in dessen Vorgarten meterhohe Sonnenblumen standen. Der Mann, den er suchte, radebrechte Englisch und benutzte gern das Wort Sir. „Ich weiß nichts, und ich sage nichts“, erklärte er, „denn es ist auch nichts gewesen, Sir.“ „Cougat ist ein Freund von mir“, log Urban drauflos. „Wo steckt er?“ „Keine Ahnung. Sie haben ihn aus meinem Wagen geholt und ab mit ihm.“ „Man hat Sie nicht verhaftet?“ „Der Polizeikommandant ist ein Schwager vo n mir.“ „Wann war das?“ „Vor drei Tagen, Sir.“ Offenbar glaubte der Taxifahrer, schon zu viel geredet zu ha45
ben. Aber Urban war nicht schofel. Er legte zwei Dinge auf den Tisch: eine Banknote und eine Münze. „Papier oder Gold?“ Der schlechtrasierte, aufgedunsene Mann bekam runde Augen. „Wie wär’s mit beiden.“ „Wenn ich gut bedient werde.“ „Fragen Sie, Sir.“ Urban erfuhr alles, was er wissen wollte. Dabei war ihm etwas aufgefallen. „Cougat hat fotografiert?“ „Aber gewiß, Sir.“ „Er hatte eine Kamera bei sich, als er zurückkam?“ „Er hielt sie fest, bis man ihn aus dem Wagen zog.“ „Und dann?“ „Versteckte er sie noch unter dem Sitz.“ „Er nahm sie also nicht mit?“ „Hatte wohl Angst, der Film wäre ein Beweismittel gegen ihn.“ „Wo“, fragte Urban, „ist die Kamera?“ Der Taxifahrer bedauerte. „Nicht mehr da, Sir.“ „Wer hat sie…?“ „Ist wohl schon verkauft, Sir.“ Aber diese Burschen waren schlau. Der stete Kampf ums Überleben hatte ihren Verstand geschärft. „Vorher wurde gewiß der Film herausgenommen, stimmt’s.“ „Mag schon sein, Sir.“ Urban mußte unbedingt diesen Film haben. „Der Film wäre mir fünfhundert Dollar wert.“ Der Mann schluckte mehrmals. Sein Adamsapfel hüpfte. „Auch in Gold?“ 46
Urban nickte. Der Taxist stand auf, schlüpfte in die Jacke und fuhr weg. Urban glaubte zu wissen, wohin er fuhr. Zu seinem Schwager, dem Polizeikommandanten. Eine Stunde mochte vergangen sein, als der Taxifahrer mit einem Uniformierten wiederkam. Der Polizist behandelte Urban zunächst wi e einen Feindagenten. Er durchsuchte ihn auf Waffen und war unfreundlich. „Sie sind verhaftet. Los, mitkommen!“ Sie gingen hinaus. Urban mußte in den Polizei-Lada einsteigen. Der Kommandant fuhr los, die Dienstwaffe in der Rechten gegen Urban gepreßt. Doch dann riß er den Wagen in einen Seitenweg, hielt an, löschte das Licht und lachte dröhnend. „Hast du dir in die Hose geschissen, Mann.“ „Beinah.“ „Macht nichts. Hier der Film. Tausend Dollar.“ „Soviel habe ich nicht.“ „Zahle, was du hast.“ Urban bekam zwei Spulen im Kleinbildformat. Beide steckten in Aluhüllen. „Die waren also in seinen Kameras?“ „In der Nicon und in der anderen. Beide Filme wurden sorgsam behandelt. Vorgespult, herausgenommen, in Silberpapier gewickelt und in die Büchse geschoben. Zufrieden?“ Urban bezahlte und steckte die Filme ein. „Jetzt trinken wir einen“, schlug der Polizeichef vor. „Nein. Jetzt bringst du mich zur Straße nach Sulina“, wünschte Urban, „und läßt mich da raus. Und zu niemanden ein Wort.“ „Bin ich lebensmüde?“ fragte der Polizeichef, ein Auge zukneifend. 47
Es war schon weit nach Mitternacht, als Urban die Markierung im Mondlicht sah. Den Baum, den Hügel, das verfallene Bauernhaus. „Du bist kein Reporter“, sagte der Polizeichef. „Ich bin ein deutscher Spion“, bluffte Urban mit der Wahrheit. Der Polizeikommandant lachte. „Du und Spion! Die sehen anders aus. Außerdem sind Spione immer gute Schauspieler. Denn wenn sie im Text hängenbleiben, werden sie umgelegt. Du bist ein schlechter Schauspieler, aber du hast Glück. Falls du mich wieder einmal besuchst, dann bring Dollars mit.“ Urban stieg aus und wartete, bis der Polizeikommandant weggefahren war. Dann marschierte er zum Strand, suchte das Dingi im Gebüsch, brachte es zu Wasser und ruderte hinaus. Doch Alis Kutter war nicht zu sehen. Schöne Bescherung, dachte Urban. Da hatte er möglicherweise Topmaterial beschafft, und wie es aussah, konnte er es nicht weitergeben. Es dämmerte schon, als endlich das Segel auftauchte. „Mußte erst um Küstenschutzboot Bogen machen“, erklärte Ali und half Urban an Deck. Das Dingi hängten sie achtern an. „Du hast es, Aleman?“ fragte der Fischer. „Nein. Aber wir machen das Beste daraus.“ „Woraus, Aleman?“ „Aus dem, was wir haben.“ „Und was haben wir?“ „Gar nichts“, sagte Urban. „Hauptsache, du nicht tot“, freute Ali sich. Sie wendeten, setzten alle Segel und warfen den Motor an. Jetzt galt es, aufzupassen und nichts wi e weg. 48
6. Der Mann kam mit einem alten Jeep zur argentinischen Seite von Ostfeuerland. Dort brach erst das alte Willys-Getriebe zusammen, dann er. Schafhirten fanden ihn. Der Arzt in dem erbärmlichen Nest auf Kap San Diego diagnostizierte Ruhr, ferner körperlicher Zusammenbruch wegen totaler Erschöpfung. Der Mann lag einige Tage in der Krankenbaracke, bis er wieder ansprechbar war. Er behauptete, er wäre Meeresbiologe und hätte drüben auf der chilenischen Seite Forschungen beirieben über Meeresströmungen, Fischwanderungen et cetera. Sein Name wäre Marcias Julianales, geboren in El Turbio. Mit den wenigen Medikamenten, die sie hatten, päppelten sie ihn auf. Als er sich einigermaßen erholt hatte, zeigte er sich höchst undankbar. Eines Nachts war er fort. Bald sprach sich herum, daß einer der Piloten, die mit betagten DC-3-Maschinen gelegentlich Versorgungsflüge nach Kap San Diego ausführten, ihn mitgenommen hatte. „Er muß ihn überredet haben“, mutmaßte der Arzt, „denn in seinen Klamotten fanden wir nicht einen Peso.“ „Wie“, fragte der Ortspolizist, „machte er sich verständlich? Hatte er überhaupt eine Stimme? Von dem Tag, als die Hirten ihn brachten, bis gestern sagte er keine drei Wörter.“ „Wir haben noch seinen Jeep“, bemerkte der Leuchtturmwärter zusammenhanglos. „Den kannst du verschrotten“, meinte der ComestiblesHändler, der auch Benzin verkaufte. „Er hat ihn zuschanden gefahren. Weiß der Teufel, wo er gewesen ist Normalerweise geht ein C7 nicht kaputt.“ 49
„Und was ist kaputt?“ „Getriebe und die Differentiale. Der Motor, na ja, der dreht noch.“ „Keine Hinweise in seinem Gepäck?“ fragte der Polizist. „Läuse“, steuerte der Arzt bei. „Wir haben die Fetzen verbrannt, bis auf die Schwimmflossen und den Schnorchel.“ „Er hat also getaucht.“ „Bei der Kälte da unten, von wo er herkommt, no Senor.“ „Ein Spinner.“ „Und das ist wirklich alles?“ „Bis auf das.“ Der Tankwart holte einen fingernagelgroßen Stein aus der Overalltasche. „Den fand ich im Dreck unter dem Autositz. Ein Kiesel.“ Der Stein war glashell, aber matt. Der Arzt nahm ihn, suchte daran eine Kante und zog den Stein mit der Kante an einer Glasscheibe herunter. Der Stein hinterließ eine tiefe Rille im Glas. „Kein Kiesel“, entschied er. „Ein Diamant.“ „Das Ding wiegt mindestens zehn Gramm.“ „Schleif ihn, und du hast einen Solitär.“ „Wert?“ „Paartausend Dollar.“ „Muß man davon ausgehen“, fragte der Mann von der Handelsstation, „daß dort, wo der Stein war, noch andere sind?“ Der Arzt und der Polizist fluchten unisono. „Scheiße, ich wußte gleich, daß mit dem etwas nicht stimmt.“ Der Polizeiposten sprach per Funk mit Rio Gallegos und gab die Beschreibung des Mannes durch. „Was liegt gegen ihn vor?“ fragte man in Rio Gallegos. „Nichts, nur daß er von der Magellanstraße heraufkam, halb tot war, keinen Peso in der Tasche, aber ‘nen Diamanten im 50
Jeep hatte. Wert Tausende von Dollar. Immer noch viertel tot, ist er dann abgehauen. Man sollte ihm den Fund zustellen.“ Einen Tag später erfuhr der Polizist auf Kap San Diego, daß der Gesuchte zwar in Rio Gallegos angekommen sei, am dortigen Flugplatz sich aber seine Spur verloren hatte.
Der Mann aus El Turbio verkaufte in Buenos Aires mehrere Rohdiamanten und einen geschliffene n Zwölfkaräter. Da er sich einiger Mittelsmänner der Unterwelt bediente, erzielte er einen Preis, der im unteren Drittel des wahren Wertes lag. Immerhin verfügte er damit über zwanzigtausend Dollar. Er kleidete sich neu ein, besorgte sich einen Paß und legte sich für fünf Tage in eine der Luxuskliniken in der Hauptstadt. Bei der Generaluntersuchung stellten sie fest, daß er knapp einer Gelbsucht, ausgelöst durch den Genuß einer vergammelten Muschel oder eines nicht einwandfreien Fisches, entronnen sei. „Sie haben das ihrem vorzüglichen körperlichen Gesamtzustand zu verdanken“, sagte der Arzt. „Die kaputte Darmflora kriegen wir schon wieder hin.“ Zunächst bekämpften sie seine ständige Übelkeit und die Durchfälle. Bald aß er wieder mit Appetit, nahm an Gewicht zu und fühlte sich kräftig für die Durchführung der nächsten Pläne. Noch in der Klinik bestellte er einen Schneider und ließ sich drei Maßanzüge anfertigen. Einen dunklen, einen hellen in Seide und eine graue Flanellhose mit sandfarbenem Blazer. Er kaufte einen Lederkoffer, einen Burberrys-Regenmantel, zwei Paar erstklassige Schuhe, schwarze und bordeauxrote, und mehrere Hemden. 51
Drei Wochen, nachdem er in miserablem Zustand aus Feuerland in die Zivilisation zurückgekehrt war, buchte er einen Flug nach New York. Dort verkaufte er weitere Diamanten aus dem Bestand, den er stets bei sich trug. Mit genug Barem im Koffer reiste er nach Paris und von dort in die Schweiz. In der Nähe \on Genf, dem für internationale Geschäfte günstigsten Platz in Europa, mietete er eine Villa am Lac Leman. Dies in der Absicht, sie gelegentlich zu kaufen. Das Hauspersonal vermittelte ein Immobilienservice. Als Fahrzeug besorgte er sich einen fast neuen und noch zugelassenen Mercede s 500 SE. Mit der nötigen Diskretion ging er seinen Geschäften nach. Er reiste an verschiedene Diamantenhandelsplätze, verkaufte hier einige Steine, dort ein Dutzend. Den Erlös legte er in einen Safe oder brachte ihn auf ein Bank-Nummernkonto. Der Mann aus El Turbio nannte sich jetzt, gemäß seinem gefälschten amerikanischen Paß, Sherman. Tony P. Sherman aus Tulsa/Oklahoma. Schon in der Zeit, als er sich Turbo oder anders genannt hatte, war er nie ein Frauenfeind gewesen. Was Bedürfnisse in dieser Richtung betraf, so pflegte er sie in besseren Clubs zu stillen, wo Mädchen aller Farben, ohne Fragen zu stellen, Liebe verkauften. Auch in seinem Leben hatte es Frauen gegeben, die mehr als reine Sexpartnerinnen für ihn waren. Doch meist hatte er sie schnell satt gehabt und verlassen. Eine von ihnen hatte er besonders geschätzt, aber auch besonders schäbig behandelt: Michele Martin, Kosename Michou, eine dunkelhaarige Französin. An sie erinnerte er sich. Seit Monaten hatte er sie nicht mehr gesehen. Er machte ihre Adresse ausfindig. Sie hatte noch die kleine Wohnung am Jardin du Luxembourg. 52
Er schickte ihr eine Geldanweisung in Höhe vo n fünfzigtausend Francs. Unter der Rubrik Absendervermerk schrieb er: Gruß von Turbo – durch Tony P. Sherman. Dieser späte Ausgleich einer Schuld war eine Sentimentalität, die nicht zu ihm paßte und die er sich besser verkniffen hätte. 7. Da sein Passagier, der Aleman, höchste Eile hatte, trieb Ali den Kutter mit Motor und Segeln voran. Für die zweihundert Meilen bis in die türkischen Hoheitsgewässer brauchte er knapp fünfundzwanzig Stunden. Als sie in Ingeada, dem ersten Hafen westlich der bulgarischen Grenze einliefen, war es sechs Uhr morgens. Auf den Dickdalben tänzelten die Möwen in der Kälte. Urban trug sein Gepäck von Bord und nahm im erstbesten Hotel ein Zimmer. Er badete, rasierte sich, zog frische Wäsche an und frühstückte in einer Kneipe, die schon offen hatte, einen frischen Sesamkringel und eine Tasse Kaffee. Dann suchte er einen Fotoladen. „Zwei Filme“, sagte er zu dem Inhaber. „Wie lange?“ Der Mann im weißen Mantel zog die Spulen aus den Kapseln. „Farbe kann ich nicht selbst entwickeln“, sagte er, „nur schwarz-weiß. Also bis morgen.“ „Sofort.“ Urban schob zehn Dollar auf den Tisch. „Ich warte.“ „Gehen Sie einen Kaffee trinken.“ „Nein. Ich bleibe dabei“, entschied Urban. Die Dunkelkammer war so eng, daß die Besatzung von zwei Mann beinah erstickte. Aber Urban überwachte jeden Hand53
griff des Fotografen. Eine halbe Stunde später hatte er die Ko ntakte. Er betrachtete sie mit der Lupe und markierte einige Bilder. „Von dem, diesem und den letzten vier brauche ich Abzüge und Vergrößerungen.“ Bis 8.30 Uhr hatte er die Auswertung des ersten Filmes aus der Kamera des Amerikaners Cougat in der Tasche. Im Hotel sah er die Bilder genau an. Sie zeigten das Präsidentenpalais aus mehreren Blickwinkeln und Perspektiven. Und immer den gleichen Mann. Einmal auf der Terrasse, dann unter dem Segel einer Luxusyacht, im Fond einer sowjetischen SIL-Limousine, Typ gepanzerte Funktionärsausführung, einmal auch im Park sowie auf dem Tennisplatz des ausgedehnten Landsitzes. Der Mann bewegte sich wie ein gesunder, ein wenig übergewichtiger Mensch, ohne Krücken oder die Hilfe eines Krankenpflegers. Und doch war dieser Mann der Staatspräsident Dr. Ludo Ludenko. Darüber herrschte kein Zweifel. Urban meldete ein Gespräch nach München an. Während er noch die Tüchtigkeit und den Mut des amerikanischen Reporters Cougat bewunderte, zog er bereits seine Schlüsse aus dem Material. Dabei schlief er ein. Das Telefon weckte ihn. Der Vizepräsident, eine seiner zwei Kontaktpersonen, war am Apparat. Urban schilderte den Ablauf der Operation mit wenigen Worten. Dann beschrieb er die Fotos. „Kontakte, die Abzüge und der Color-Film gehen mit der nächsten Lufthansa-Maschine von Istanbul nach München. Vorausgesetzt, sie schicken einen Kurier von der Residente in Istanbul herüber.“ „Wird veranlaßt“, versprach der Vize. „Gute Arbeit, Bob. Wir begießen das noch tüchtig. Wann sind Sie zurück?“ 54
„Sobald ich ausgeschlafen habe. Zwei, drei Tage.“ „Bis übermorgen also“, sagte der zweite Mann im BNDHauptquartier in Pullach bei München.
Der Wind setzte morgens zeitig ein. Er kam kühl über das Meer von Anatolien herauf und riffelte das Wasser im Hafen. Die Fischkutter bewegten sich und rieben ihre Rümpfe aneinander, daß die Fender knirschten. Robert Urban machte sich reisefertig. Um 14.0 0 Uhr ging seine Maschine nach München. Die Fahrt nach Istanbul dauerte zwei Stunden. Das Taxi war für zehn Uhr bestellt. Urban ging zur anderen Seite des Hafenrunds in das kleine Cafe, um zu frühstücken. Kaum war er fertig und rauchte die erste Zigarette, keuchte der Junge aus dem Hotel herüber und holte ihn ans Telefon. München war noch in der Leitung. Der Vizepräsident hatte geschlagene zehn Minuten gewartet. Also mußte etwas aus dem Lot sein. „Wir sehen uns am späten Nachmittag“, sagte Urban. „Bin schon gar nicht mehr hier.“ „Gut, daß Sie noch da sind.“ Das klang nicht ermutigend. Zwar liebte Urban die Türkei und die Türken, denn sie waren ehrliche, zuverlässige Leute und die besten Kumpels, wenn es um Hauen und Stechen ging, aber ihre Küche und ihre Weine lagen nicht unbedingt in seiner Marschrichtung. Urban haluzinierte schon vo n Schweinshaxen. „Sie haben die Filme. Was gibt es noch?“ „Alles ist ausgewertet“, erklärte der Vizepräsident, „und es ist so gut wie sicher, daß wir eine m ungeheuren Schwindel aufsitzen, Aber nicht nur wir in der Bundesrepublik.“ 55
„Man kann nicht gleichzeitig auf einer Intensivstation liegen“, verstand es Urban, „und Tennis spielen.“ „Wir haben uns den Mann, der der Staatspräsident sein soll, genau angesehen. Wir analysierten aus der Schattenlänge, aus dem Vergleich mit Bäumen, der Größe von Stühlen, Tischen und Gläsern, der Breite seiner Schultern und der Körperlänge sein Gewicht. Ebenso bestimmten wir die Proportion seiner Gliedmaßen und das Verhältnis zwischen Muskulatur und anderem Gewebe. Wir vergrößerten die Fotos bis zur Grenze des technisch Möglichen, wir maßen die Stellung seiner Ohren, bestimmten die Farbe der Augen, die Form seines Gebisses.“ „Und das Ergebnis?“ erkundigte Urban sich. „Es gibt feine Unterschiede, hier größere, dort winzige Narben an Stellen, wo sie bei Gesichtsko rrekturen auftreten. Kurzum: Der Mann im Palais in Stintu ist nicht der Staatspräsident.“ Urban zog den einzig möglichen Schluß: „Ein Doppelgänger.“ „Was auch immer man darunter versteht.“ Völlig überrascht war Urban nicht davon. Es gab zu viele Ungereimtheiten. Einmal ein Mann auf der Intensivstation, dann derselbe Mann auf dem Tennisplatz. Jetzt hatte er die Bestätigung. Die Gründe für diese Manipulation ließen sich leicht auflisten. Allerdings wurde die Liste so lang wie ein Unterarm. „Das sind die Beweise“, bemerkte Urban. „Nur reichen diese noch nicht aus.“ „Klar. Wir haben nur Fotos.“ „Eben, wir brauchen mehr. Am besten den echten Dr. Ludenko. Seitdem man ihn aus dem Hospital wegbrachte, ist sein Aufenthaltsort unbekannt.“ „Nur geheim“, präzisierte Urban. „Er ist verschwunden“, nannte der Vizepräsident es beim 56
Namen. „Und die Burschen haben uns in der Hand. Es ist also eine akute Notwendigkeit, daß wir herausfinden, wo der wahre Ludenko sich aufhält. Nur so ist dieses Doppelgängerspiel zu enthüllen.“ Mehr zu sagen war unnötig. Das bedeutete aber, daß Urban noch einmal in den Balkanstaat an der Donaumündung zurückmußte. „Abwarten wäre auch eine Möglichkeit“, wandte Urban ein. „Dazu fehlt uns die Zeit. Sie betreiben eine internationale Hetzkampagne. Sie kennen das doch. Fette Schlagzeilen, dicke Lügen. Aber wenn die Wahrheit ans Licht kommt, wird auf der letzten Seite hinten unten mit drei Zeilen Kleingedrucktem dementiert. Und ist der Ruf erst einmal angekratzt, so wie der unsere…“ „Verstanden“, signalisierte Urban. „Ich weiß, was das bedeutet, und der Kanzler weiß es auch.“ „Ich ebenfalls“, äußerte Urban betroffen. „Dann mit Gott! Und passen Sie auf. Immer daran denken: hinter Ihnen steht einer.“ Urban schätzte den Vizepräsidenten durchaus. Aber in diesem Moment kam es ihm hoch. Wenn einer von all diesen Klugscheißern ein guter Agent wäre, dann verzichtete er einem guten Agenten gegenüber auf die Ratschläge, wie man sich als Agent verhielt.
Urban schlenderte um das Hafenbecken zu den Kuttern. Erst fand er Ali nicht an Bord. Dann entdeckte er ihn im Motorraum bei seinem halbzerlegten Diesel. Um sich herum hatte er die Einspritzpumpe, die Leitungen, die Düsen verteilt. Der Kopfdeckel war abgenommen. Er hatte die Ventile nachgestellt und 57
die Filter gereinigt. Jetzt nahm er sich den Wärmetauscher vor, wo der Kühlwasserkreislauf durch den Seewasserkreislauf geführt wurde. „War ein wenig zuviel für ihn“, sagte Ali. „Mercedes Diesel gut, aber ein Tag lang Vollgas tut weh.“ „Er wird es wieder und wieder machen können.“ „Ja, bis er zum Teufel geht.“ „Was kostet ein neuer?“ fragte Urban. „Dollar oder Türkische Pfund? Egal, immer viel zuviel.“ Urban ging in die Hocke und zupfte die Twistfaser von einer der Bosch-Düsen. „Hast du Zeit, Kamerad?“ „Kommt darauf an, Aleman.“ „Noch einmal die gleiche Tour.“ Ali grinste. „Richten wir ständige Fährverbindung ein, he?“ „Hast du Zeit?“ „Nein. Tochter heiratet.“ „Wann?“ „Oktober.“ „Bis dahin sind wir längst zurück.“ Ali wischte sich über das Gesicht. Schwarze Ölschmiere blieb auf der Wange zurück. „Oder tot.“ „Solche zwei wie wir zwei.“ „Sagte dir schon einmal. Job ist wie Krieg. Und Krieg überlebt nur Feigling, General oder Hure.“ „Wir machen wieder das alte Spiel mit dem Farbkübel.“ „Spiel wie U-Boot wäre besser“, sagte der Türke. „Tauchen und verschwinden.“ Urban ging in die Kajüte, suchte nach der Arrakflasche. Sie war noch halb voll. Mit zwei Gläsern stieg er ins Motorschapp. 58
Sie tranken, und sie redeten. Alis Haar sah aus, wie ein schmutziger Besen, und in seinen Augen stand Mordlust. Aber weil ein Türke nie und nimmer einen Freund im Stich läßt, fragte er: „Wann geht es los?“ „Wann bist du fertig?“ „Auftanken, Proviant, Wasser – nachmittag.“ Urban wollte sein Gepäck holen. „Ich bin nur Chauffeur“, sagte Ali. „Du mußt machen. Aber gegen neue Reise ist Hölle wi e Kuraufenthalt.“ „Was möchtest du zu Abend essen? Ich bringe etwas mit.“ „Pommes frites, Ketchup und Bier“, wünschte der Türke. „Ali schon immer berühmter Feinschmecker.“ „Robert auch“, sagte Urban. „Darf es statt Bier auch Champagner sein?“ „Bier mit Champagner“, meinte Ali, „immer gut.“ 8. Der Chef des britischen Auslandsgeheimdienstes MI-6 fuhr, wie es einem Lord zustand, Rolls-Royce. Seine Abteilungsleiter mußten sich mit Jaguar, die Ebene darunter mit Rover begnügen. Aber alle stets in Dunkelblau. An diesem Freitag nachmittag – die Cityangestellten in ihren dunklen Anzügen, Bowlerhüten, links den Aktenkoffer, rechts den Regenschirm, eilten schon zu den Subway- und Bahnstationen – rollte ein dunkelblauer Rover von der MI-6-Zentrale in der Queen Anne’s, Gate Nr. 21, am St. James Park entlang in Richtung Whitehall. Im Stau quälte der Rover sich bis zum Trafalgar Square und von dort zum Piccadilly Circus. „Wie weiter, Sir?“ fragte der Fahrer den Mann im Fond. „Halten Sie kurz vor Harry’s Pub.“ 59
„Wenn ich kann, Sir.“ „Versuchen Sie zu können“, sagte der Mann im Fond, der aussah wie ein in die Jahre gekommener Eton-Boy. Der Fahrer parkte in der zweiten Reihe. Sein Fahrgast, ein MI-6-Referent, eilte in den Pub. Nach einer halben Minute kam er mit einem Mann heraus, der so gewiß ein Amerikaner wie eine Ameise eine Ameise war. Aus der Tatsache, daß sie die schalldichte Trennscheibe hochfuhren, schloß der Chauffeur, daß es sich um ein Gespräch handelte, das er nicht mithören durfte, um ein Geheimgespräch also. Die Gentlemen hielten sich nicht lange mit Vorreden auf. Was brachte schon die Antwort Schlecht! auf die Frage Wie geht es Ihnen? – In diesem verantwortungsvollen Job ging es jedem immerzu nur schlecht. „Ich soll Sie von Lord Babington grüßen“, bestellte der Engländer. „Er bedauert, Sie nicht empfangen zu können. Termine, Termine.“ „Wie geht es dem Lord?“ „Wie schon“, bemerkte der Engländer. „Um siebzehn Uhr empfängt der Außenminister ihn im Foreign Office zur Berichterstattung.“ „Dann lassen Sie uns gleich loslegen.“ ,Jm Sinne von Zusammenlegen“, schlug der Brite vor, kurbelte die Trennscheibe ein Stück herunter und gab dem Fahrer Anweisung. „Oxford Street, Bayswater Road. Immer um den Hyde Park, bitte.“ Die Scheibe surrte wieder hoch. „Die Gerüchte verdichten sich“, begann der Amerikaner, „dank eines wichtigen BND-Beitrages.“ „Sie haben einen tüchtigen Mann vor Ort.“ 60
„Den Deutschen geht die Muffe“, fuhr der CIAMannfort. „Sie behaupten, vielmehr sie glauben, Beweise zu haben, daß da unten auf dem Balkan mit einem As zu viel gepokert wird.“ „Die Doppelgänger-Theorie“, warf der Brite ein. „Bißchen stark, finden Sie nicht auch.“ „Wie kommt es dann, daß der Staatspräsident sowohl am Tropf hängt, als auch Tennis spielt?“ „Nun ja, merkwürdig ist es, bei Gott. Vielleicht stimmt das eine oder andere nicht.“ „Laut Korrespondentenberichten hat man ihn irgendwohin in eine Spezialklinik gebracht, um eine Herztransplantation vo rzunehmen. Und nun die Fotos dieses BND-Agenten. Danach spielt er Tennis, flirtet mit Damen und ist putzmunter.“ „Die Sache ist von langer Hand vorbereitet.“ „Und führt zu Spannungen.“ „Und Bonn ist der Anlaß.“ Der Amerikaner winkte ab und verbesserte. „Man nahm Bonn zum Anlaß. Die Deutschen sind recht blauäugig in die Falle gestolpert. Aber zwe ifellos kann es, nein, wird es zu Spannungen kommen.“ Der Engländer entwickelte nun seinerseits ein Szenarium, wie man im Geheimdienst Ihrer Majestät die Lage betrachtete. „Präsident Ludenko, ich meine damit den, den wir alle kennen, ist ein Weichliner. Wenn man ihn auswechselt, dann nur gegen einen eiskalten Stalinisten, also einen Mann, der die alte harte Linie vertritt. Und warum dies. – Man fürchtet die allgemeine Aufweichung im Ostblock könnte auch das eigene Land erreichen. Im Ostblock nehme n separatistische Bewegungen Überhand. Eruptionen in der CSSR, eine neue Regierung und Politik in Polen, Ungarn ist dabei, aus dem Comecon zu driften, in der DDR geht es rund. Nationalitätenkonflikte überall in 61
der Sowjetunion, angefangen von den Baltischen Staaten über die Ukraine bis Armenien. Und nun der Balkan. Das rote Imperium zerfällt. Irgendwann werden die alten Konservativen in Moskau das nicht mehr hinnehmen und das Ruder herumreißen. Die denkbaren Folgen sind militärische Interventionen mit Konsequenzen für den Westen. – Deshalb wollte man etwas tun. Man sägte Ludenko nicht einfach ab, denn er wird vom Volk geliebt, also vertauschte man ihn mit einem Ludenko, der ein williges Instrument der Falkenriege ist.“ Der Wagen bog jetzt in die Kensington Road ab. „Es geht noch weiter“, ergänzte der Amerikaner. „Eine harte Linie hat noch andere Konsequenzen im Verhalten dieses Staates in Nahost. Diese unbelehrbaren Betonköpfe stehen auf Seiten derer, die gegen Israel sind, auf der Seite von Libyen, Syrien, der El Fatah, der PLO und wie sie alle heißen. Man verkauft ihnen Waffen, die sie anderswo nicht kriegen, weil auch Moskau sich im Libanon und am Golf zurückhält.“ „Wenn Israel in Bedrängnis kommt“, ruft es seine Schutzmacht, die USA, zu Hilfe.“ Der Amerikaner entwickelte das Szenarium zu Ende. „Was derzeit mit den Russen läuft, ist durchaus in unserem Sinne. Doch wenn überall die Mäuse auf dem Tisch tanzen, wird mit einem Schlag Schluß sein. Dann kommt der große Mäusejäger, und mit der Perestroika ist es aus. Von heute auf morgen.“ „Moskau könnte eine Wende da unten auf dem Balkan also nur recht sein.“ „Leider nein“, erwiderte der Amerikaner. „Denn hat ein Volk einen Hauch des süßen Duftes der Freiheit geschnuppert, dann ist es nicht mehr aufzuhalten. Wenn da unten erst der Tiger los ist, löst das eine Revolution aus, und die Talfahrt des ganzen Bündnissystems wird rasant.“ 62
„Das kann noch dauern.“ „Die schwarzen Wolken stehen schon am Himmel. Ein Blitz, und das Unwetter bricht los.“ Von Natur aus sahen Geheimdienstleute die Lage meist für kritischer an, als sie war. Aber das setzte man bei ihnen voraus. In diesem Fall war es nicht anders. Zum Schluß steuerte der Amerikaner noch etwas bei, das dem Engländer nicht bekannt war. „Der KGB entwickelt starke Aktivitäten.“ „Wie immer und wo nicht,“ „Auch in diesem Balkanland.“ „Er tut es in allen Ländern, wo gefährliche Entwicklungen vor sich gehen.“ „Das beweist, daß der KGB, das Auge des Bären, ebenso im dunkeln tappt wie wir. Man will die Dinge unter Kontrolle kriegen, denn man weiß nicht, wohin sie laufen. Aber man fürchtet, sie laufen schlecht.“ Der Brite steckte sich eine Zigarette an, der Amerikaner wi kkelte einen Kaugummistreifen aus. „Wie werden Sie nun den Lord munitionieren?“ „Scharf, sagte der Brite. „Und, bei Gott, nicht mit Platzpatronen.“ Er nahm den Hörer von der Klemme des Autotelefons und begann zu sprechen. Als er fertig war, fragte er seinen CIAKollegen: „Darf ich Sie zum Lunch einladen. Mein Club hat einen neuen, ganz vorzüglichen balkanesische n Küchenmeister.“
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9. „Ganz ruhig, Kommandant.“ Urban richtete sich vom Rücksitz auf und drückte dem Polizisten de n Kugelschreiber ins Genick. „Nicht erschrecken, Gospodin.“ „Echt Schiß“, gestand der Polizist, „habe ich nur vor meiner Alten.“ Es war eine stockdunkle Nacht, und die Straße, wo das Haus des Polizisten stand, lag in einer einsamen Gegend. „Muß mit dir reden“, sagte Urban. „Schon wieder?“ fragte der Kommandant. „Dachte, du seist über alle Berge.“ „Bin wieder da.“ „Gefällt es dir so gut bei uns, Meisterspion?“ „Fahr los!“ zischte Urban. Der Kommandant drehte sich halb um, als könnte er nicht fassen, wie ein Mensch jemals die Grenze dieses Landes überschreiten konnte, wo man ihn jagte wie einen tollen Hund. „Sag nicht immer Kommandant zu mir. Ich bin Laszlo.“ Laszlo ließ an, würgte den Gang hinein, fuhr aber erstaunlich sanft an. „Wie hast du mich gefunden, Spion?“ Urban verspürte wenig Lust, zu erzählen, unter welchen Schwierigkeiten er zurückgekehrt war. „Ich wartete drüben im Wald, bis es dunkel wurde.“ „Ich fahre nur nachts“, witzelte der Kommandant. „Hab1 nämlich keinen Führerschein.“ „Und deine Geschäfte vertragen das Tageslicht nicht“, ergänzte Urban. „Deine etwa?“ „Darin sind wir gleich.“ Urban kletterte nach vorn und setzte sich nebe n den Kom64
mandanten des Polizeipostens der kleinen Stadt in der Dobrudscha. Der Polizist steckte sich eine Zigarette an. Sie duftete aromatisch. Tabak war noch das beste Produkt, das dieses Land hervorbrachte. „Du mußt lebensmüde sein, Bruderherz.“ „Sag Robert zu mir.“ „Du bist trotzdem lebensmüde, Robertowitsch.“ „Es liegt an dir, das zu ändern, Laszlo.“ Der Polizist fuhr ohne Licht. Das war hier so die Art der Polizei, herumzuschleichen. „Für wie viel und wofür?“ fragte Laszlo. „Tausend Dollar.“ Urban bot nicht zu viel und nicht zu wenig. „Papier oder Gold.“ „Wie du es haben willst.“ Der Polizist kicherte erst leise, dann lauter. „Gut, daß ich dich nicht umgelegt habe, letzte Woche. Dachte mir nämlich, als du zum Strand gingst, gib ihm eine Kugel ins Hirn, nimm alles, was er hat und wirf ihn ins Wasser. Was hätte ich geerbt?“ „Ich war nahezu blank“, log Urban. „Und wo hast du getankt?“ „Machen wir das Geschäft“, schlug Urban vor, „und es soll nicht das letzte gewesen sein.“ „Ich tue, was in meiner Macht steht“, versprach der Kommandant. „Aber mach es mir nicht zu schwer.“ Der Kommandant bog in die Kukuruzfelder ab. Die Ernte war in vollem Gang. Nur hie und da standen die Maiskolben noch auf den mannshohen gelben Hahnen. „Wo ist der Präsident?“ fragte Urban unvermittelt. 65
„Welcher Präsident, der vom Kolchos oder der vom Karnikkelzuchtverband?“ „Ludenko.“ „Ach, der.“ ,,Der geliebte Landesvater.“ „Irgendwo in einem Krankenhaus“, mutmaßte Laszlo. „Eben nicht“, erwiderte Urban. „Mal herumhorchen“, versprach Laszlo. „Was noch?’ „Nur das eine: Wo -ist-Ludenko?“ „Und dafiir riskierst du Kopf und Kragen?“ staunte Laszlo. „Du spinnst, Genosse Amerikanowitsch.“ Sie fuhren an einem Fluß entlang, als Urban fragte: „Wie lange kann es dauern?“ ,,Kommt darauf an. Stunden, Tage, Wochen.“ „Ich verstecke mich irgendwo.“ „Wird schon kalt in der Nacht Bald kommt Frost. Ich bringe dich zu Odilo, dem alten Dieb und Säufer.“ „Ist er zuverlässig?“ „Wie ich.“ „Also nein.“ „Ansprüche stellst du.“ „Und wer ist Odilo?“ „Mein Vater“, sagte Laszlo.
Achtunddreißig Stunden hatte Urban sich in der Kate versteckt. Hühner, Schweine und ein alter Mann, der schweigsam und dazu ständig betrunken war, wohnten in einem Raum. Erst bei Dunkelheit wagte er sich hinaus. Als er von dem Spaziergang zurückkam, stand Laszlos Streifenwagen neben dem Ziehbrunnen. 66
Sie gingen hinein. Der Alte schlief, die Hühner und die Schweine auch. Laszlo steckte eine Kerze an und entkorkte eine Flasche von dem aromatischen Schnaps, den sie hier aus Pflaumen brannten. „Alles Verrückte“, sagte er. „Alle, die ich fragte. Außerdem ich, weil ich sie fragte, und du, we il du solche idiotischen Fragen stellst, die keiner beantworten kann.“ „Wo ist der Präsident?“ war alles, was Urban interessierte. Laszlo, unrasiert wie immer, in der graugrünen Uniform, die angeschmutzt, aber stets fein gebügelt war, begann, mit dem Kopf zu schütteln. „Hör zu, Spion. Unser Staatspräsident, Doktor Ludi Ludenko, der von uns allen heiß geliebte Landesvater ist erstens tot, zweitens sterbenskrank, drittens kerngesund, viertens in seiner Staatsdatscha, fünftens gar nicht mehr im Lande. Und das ist die reine unverfälschte Wahrhaftigkeit. Amen.“ „Woher hast du sie?“ Laszlo zählte wieder auf. „Erstens aus der Zeitung, zweitens aus dem Radio, drittens von Freunden, viertens von Feinden, fünftens von Kollegen meiner vorgesetzten Dienststelle, sechstens…“ „Danke“, bremste Urban ihn ab. „Und was davon sind Gerüchte?“ „Das überlasse ich deinem Scharfsinn, Spion“, spottete Laszlo. Urban machte sich ans Aussortieren. Irgendeine Information mußte schließlich zutreffen. „Warum soll er tot sein?“ „Weil man ihn nicht sieht und nicht hört. Keine Fotos, keine Ansprachen, keine von seinen Ermahnungen. Ständig ermahnte er sein geliebtes Volk, forderte Sparsamkeit, Geduld und Fleiß wie jeder ach so gütige Vater.“ 67
„Wie kann er das, wenn er auf ein neues Herz wartet.“ „Und wie soll er auf ein Herz warten, wenn er angeblich in seiner Staatsdatscha weilt und Feste feiert?“ „Und wie“, hakte Urban nach, „kann er Feste feiern, wenn er gar nicht mehr im Lande ist.“ Laszlo hatte in rascher Folge drei Schnäps e getrunken. Das vierte volle Glas führte er an die Lippen und setzte es wieder ab. Der Schnaps schwappte über und befeuchtete seinen Handrücken. Er leckte die Tropfen ab und musterte Urban dabei wie ein Tiger, der überlegte, ob er noch satt oder schon wieder hungrig sei. „Das verstehe, wer will“, sagte er, „und gerade das stammt aus meiner zuverlässigsten Quelle, vo n einem Kameraden aus der Kaderschule. Sein Sohn dient bei der Luftwaffe. Er behauptet, ein Flugzeug hätte den Präsidenten außer Landes gebracht.“ „Wohin?’ „Nicht nach Osten.“ „Was für ein Flugzeug?“ „Düsenmaschine. Iljuschin.“ „Vielleicht in eine Herzklinik im Westen.“ Laszlo schüttelte den Kopf. „Wo sind die besten Herzchirurgen der Welt?“ „In England und Amerika. Deutschland kommt aus politischen Gründen nicht in Betracht.“ „Welches Amerika?“ „Nord. Die USA.“ Laszlo kniff das linke Auge schmal. „Und warum fliegen sie ihn dann nach Südamerika?“ Urban packte ihn am Arm. „Was weißt du noch? Jedes Wort ist jetzt wichtig.“ 68
„Der Sohn meines Kameraden sagte, die Iljuschin sei nach Südamerika geflogen. Sie hatten Kartenmaterial für Südamerika an Bord genommen und nur Piloten, die perfekt Englisch und Spanisch sprechen. Deshalb mußte er sein Kommando abgeben, weil er nicht Spanisch spricht.“ Erst war Urban fasziniert, wurde aber sofort wieder nüchtern. „Na schön, der eine ist tot, der andere feiert Feste, der dritte ist in Argentinien, wie viele Präsidenten habt ihr noch zur Verfügung?“ „Nur noch einen“, erklärte Laszlo, „aber auch die Geschichte stinkt wie der Furz eines räudigen Hundes. Der Präsident soll an einem geheimen Ort operiert worden sein.“ „Wo?“ hakte Urban nach. „Auf dem Himalaja.“ „Bitte keine Witze für tausend Dollar“, verbat Urban sich. „Wollte damit nur ausdrücken, daß es dort so sicher ist wie am Himalaja.“ „Am Himalaja, das kann überall sein“, bemerkte Urban. „Sag, wo es ist, oder ich leere diese Flasche ohne dich.“ Eine Vorstellung, die Laszlo nicht ertrug. „Schon mal den Namen Babadag gehört?“ Urban erinnerte sich dunkel. Der Name Babadag war in den Frontberichten des Zweiten Weltkriege s aus dem Jahre 1944 mehrmals aufgetaucht. „Das Grenzfort?“ „Richtig.“ Laszlo erzählte, „Es dürfte eine der am häufigsten umkämpften, zerstörten, aufgebauten, zerstörten und wieder errichteten Grenzbefestigungen sein. Die Türken zerstörten das Fort, die Russen, die Griechen, die Österreicher und die Deutschen. Und es steht noch immer.“ „Bei den neuen Waffen heutzutage dürfte es ziemlich nutzlos sein“, befürchtete Urban. 69
„Aber Ludenko war dort“, beharrte der Ko mmandant, „soll dort gewesen sein, behauptet man, hörte ich. Ach, zum Teufel, vergiß es. Laß uns trinken. Pfeif auf Ludenko, pfeif auf Babadag, scheiß auf alles.“
Nicht für alle Dollars und Mariatheresientaler, die Urban bot, ließ Laszlo sich breitschlagen, ihn nach Babadag zu bringen. So betrunken konnte der Kommandant gar nicht sein. „Nur das Grenzfort noch“, drängte Urban, „und du kriegst lebenslänglich ein Care-Paket von mir mit Kaffee, Nylons, Digitaluhren, Taschenrechnern, Jeans, was immer du anforderst, jeden Monat eines.“ Obwohl ihm das Herz beinah brach, lehnte Laszlo ab. Doch bevor er wegfuhr, rückte er damit heraus, daß er einen kannte, der es vielleicht machen würde. „Ist er zuverlässig?“ Laszlo legte die Hand auf seine Brust. „Dann bring ihn her.“ Es dauerte wieder bis zum Abend, bis die Lampen eines Autos sich der Kate näherten. Den Umrissen nach handelte es sich um einen UAZ-Jeep, wie die Armee ihn fuhr. Am Lenkrad saß ein Mann, der stur geradeaus schaute. „Los, einsteigen!“ „Guten Abend, Laszlo“, rief Urban, der ihn trotz der Tarnung erkannte. Der Kommandant ließ kein Geschäft aus, das sich lohnte, und wenn er dazu in die Uniform eines Offiziers der Armee schlüpfen mußte. „Du hast es dir überlegt?“ 70
„Nicht ich, sondern meine Alte. Sie will einen Farbfernseher und einen Pelzmantel.“ Sie fuhren los. Urban hatte die Karte studiert. Bis nach Fort Babadag, das schon seit tausend Jahren die Straß e zur Hauptstadt schützte, waren es etwa sechzig Kilometer. Aber sie mußten die große Lagune umfahren. „Du hast zwei Stunden Zeit“, erklärte Laszlo. „Dann bin ich weg.“ „Das genügt mir.“ „Was hast du vor, Robertowitsch?“ „Babadag war in den letzten Jahren nur noch ein Museum, ein Kriegerdenkmal. Ist es noch immer ein Museum, dann war alles nur ein Gerücht. Hat es aber Besatzung, dann sieht es schon anders aus.“ „Wie sieht es dann aus?“ „Dann hat man es reaktiviert. Vielleicht für Ludenko?“ „Als was?“ „Als Krankenhaus, Gefängnis oder was weiß ich.“ „Zum Teufel, warum interessiert euch das alles?“ „Neugier“, erklärte Urban, „nichts als Neugier.“ Je mehr sie sich Babadag näherten, desto besser wurden die Straßen. Zuletzt hatten sie autobahnähnlichen Charakter. Am Ende einer kilometerlangen Geraden – man konnte auf dem Hügel die gezinnten Mauern des Forts erkennen – sah Urban einen merkwürdigen schwarzen Fleck auf dem hellen Beton. Er war oval, unregelmäßig und mindestens zwanzig Quadratmeter groß. Er ließ Laszlo anhalten, stieg aus und prüfte die Schwärzung. Er kratzte etwas davon ab und machte eine Geruchsprobe. „Ein Brandfleck“, vermutete Laszlo und fuhr weiter. „Es stinkt wie Naphthalin.“ 71
„Dann hat ein Tanklaster Heizöl verloren.“ „Heizöl“, bemerkte Urban, „ist wie Diesel, und Diesel ist wie Kerosin. Mit Kerosin werden Flugzeugturbinen betrieben.“ „Flugzeugturbinen! Du hast nicht alle beisammen.“ Urban blieb dabei. „Jetzt spinnst du aber total.“ „Mach das Licht aus“, bat Urban, „und sobald ich es sage, geht’s seitwärts in die Büsche. Okay?“ Der Mond war nur noch schmal und bereits am Untergehen. Die grauen Festungsmauern des Fo rts kamen näher. Urban schätzte den Abstand auf zwe i Kilometer. Als der Abstand nur noch einen Kilometer betrug, bemerkte er: „Wenn Babadag besetzt wäre, stünden hier bereits Posten.“ „Schätze, du wirst es bald genau wissen“, sagte Laszlo, nahm den Feldweg und stellte den Motor ab.
Der BND-Agent Robert Urban hatte nicht das Gefühl, etwas Außergewöhnliches zu tun. Er registrierte keine besondere Gefahr. – Sie waren nicht verfolgt worden. Die Straßen waren so leer gewesen wie nachts in jedem Land, wo auf hundert Einwohner ein halbes Kraftfahrzeug kam. Nun gewann er den Eindruck, daß dieses Fort genau das war, wie es der Baedeker beschrieb, ein historisches Kriegsmuseum, eine Gedenkstätte. Das Tor war geschlossen. Urban suchte an der Ostmauer eine Stelle mit grobem Gestein. Für eine n guten Freikletterer stellte es kein Problem dar, für Urban ein überwindbares. Die Mauer war oben meterbreit, hatte Schießscharten und Zinnen. Zwischen den Zinnen standen uralte VorderladerKanonen. Auf der Mauer umrundete Urban den weiten Innen72
bereich, kam in einen gedeckten Wehrgang und zu einer Treppe, die um einen der Türme herumführte. Im Innenhof gab es Stallungen, Pulverbunker, kasernenartige Gebäude für die Mannschaften und eine Art Kommandantur. Alles war für Touristen beschildert. Urban folgte den Pfeilen, welche die Herde der Besucherschar durch das Fort führten. Die Türen waren abgeschlossen, aber für einen geübten Finger leicht zu öffnen. Selten hatte Urban eine solche Anhäufung vo n Waffen, Uniformen, Reliquien von der Hunnenzeit bis zur Gegenwart vo rgefunden. – Doch das interessierte ihn jetzt kaum. Erst recht nicht, als seine hochentwickelte Nase eine Mischung aus Lysol und Chloroform wahrnahm. Er folgte dieser Spur, verlor sie, nahm sie wieder auf und kam über Treppen, Gänge und Nebenräume in einen offenbar leeren Flügel des Kommandanturgebäudes. Die Lampe setzte er immer nur kurz ein. Das Punktlicht zeigte ihm den Weg für die jeweils nächsten zehn Schritte. Zu dem Gestank nach Krankenhaus gesellte sich jetzt noch der eines scharfen Putzmittels, aber auch der von Müll. Urban machte wieder Licht. Nach rechts ging es eine Treppe abwärts bis zu einer eisernen Tür. Über einem roten Blitz stand Generatorraum. Ein grauschwarzer Tennisball mit dickem Schwanz daran huschte aus dem Licht. – Eine Ratte. Urban schlich weiter durch einen Mauerboge n und neue Gänge. Der Müllgestank verlor sich, der nach Lysol verstärkte sich. Im kurzen Lichtstrahl tauchte eine schwere Doppeltüre auf. Sie war verschlossen. Er nahm den Universaldietrich zu Hilfe. Hineinstochern, herumtasten, abschätzen des Widerstandes. – Dann Druck geben. – Keine Reaktion. Erneutes Tasten, wieder Druck. Etwas schnappte. 73
Der Riegel zog sich zurück. Der Türflügel schwang auf. – Licht. Ein Raum, groß wie eine Tanzdiele. Steinboden, geweißte Wände, Balkendecke. Hinten ein Kamin. Links ein weißer Glasschrank und in der Mitte ein Operationstisch. Einer von den älteren schweren Dingern mit verchromten Handrädern, um Hohe und Neigung zu verstellen. Die lederne Pritsche war zur Hälfte mit einem Laken bespannt. Der Steinboden glänzte sauber. Im weißen Schrank lagen, wi e Soldaten ausgerichtet, ärztliche Instrumente. Zangen, Löffel, Pinzetten, Skalpelle, Klemmen. Aber bestenfalls tauglich, um einen kleinen Eingriff durchzuführen. Ein menschliches Herz konnte mit dieser Ausrüstung nicht transplantiert werden. Im Nebenraum entdeckte Urban weder Narkosegerät noch Spuren von den Rollen medizinische r Apparaturen. Vermutlich handelte es sich um die Ausrüstung eines Hauptverbandsplatzes aus dem Zweiten Weltkrieg. Man hatte den Operationssaal dem neuen Museum angegliedert. – Aber woher der frische Chloroformgeruch? So etwas verlor sich schnell. Die Zeit, als um das Fort gekämpft wurde, lag fünfzig Jahre zurück. Hinten stieß das Kommandanturgebäude an die nördliche Festungsmauer. Urban wollte es gerade verlassen, als das Punktlicht seiner Lampe noch einmal auf die graue Tür mit dem roten Blitz fiel. Die Ratte war wieder da und huschte um die Ecke. Urban folgte ihr. Der Müllgeruch verstärkte sich. Die Ratte hatte ihm den Weg in eine Nische gezeigt. Dort stand ein Abfallcontainer aus Blech. Er öffnete ihn. Man hatte ihn nicht geleert. Auf Flaschen, Dosen und Kartons lag weißes Zeug. Zerknülltes Kreppapier, Watte und Mull. 74
Er schob das Kreppapier beiseite. Ein menschliches Gesicht starrte ihn an. Es war weiß und hatte anstelle von Augen, Nase und Mund Löcher. Urban hielt es zuerst für eine venezianische Karnevalsmaske. Der rote Fleck an der Wange konnte ein aufgemalter Schö nheitspunkt sein, war aber Blut. – Die Maskenform war durch Mullbinden, die längere Zeit auf einem Gesicht gelegen hatten, entstanden. Urban drehte das Innere der Maske nach oben. Sie zeigte dort Verfärbungen von gelblichem Wundsekret, Eiter und getrocknetem Blut. Kein Zweifel, diese Maske hatte das Gesicht eines Menschen nach einer Gesichtsoperation bedeckt. Eine Herztransplantation ließ sich hier nicht durchführen, die Veränderung von Kinn, Mund, Nase, Wangen und Augenlidern mit Hilfe eines Messers hingegen schon. – Beweismittel Nr. 2 – notierte er. Ob er die noch sichtbaren Kufenabdrücke eines Hubschraubers im Festungshof ebenfalls als Beweismittel werten sollte, diese Überlegung wurde mitten im Denkprozeß gestoppt. Ein Lichtstrahl, schärfer und heller als die Mittagssonne, erfaßte ihn, und eine Stimme schrie: „Halt! Keine Bewegung! – Langsam die Hände hoch!“
Bis zur Blindheit geblendet, stand Urban im Kegel des Flakscheinwerfers. Langsam drehte er sich um, denn das Licht schmerzte und drang durch die geschlossenen Lider. Urban warf einen langen Schatten bis zur östlichen Mauer. Demnach stand der Scheinwerfer erhöht und dreißig Meter hinter ihm. 75
Urban hörte zwei Männer gedämpft miteinander sprechen, dann das Scheppern, mit dem eine Faustfeuerwaffe durchgeladen wurde. Klickknack, so als würde man zwei eiserne Töpfe unterschiedlicher Größe Aneinanderstoßen. Der Scheinwerfer warf einen großen Kreis, den die Mauer nach oben hin abwinkelte. Deutlich sah Urban die aufgeschreckten Käfer im Moos der Mauer krabbeln. Neben seinem Schatten tauchte der Kopf eines Mannes auf. „Wer sind Sie?“ „Reporter.“ Etwas anderes fiel Urban nicht ein. „Mein Name ist Jim Collins. Ich arbeite für Time Magazin.“ „Und da kommen Sie bei Nacht?“ „Es wird bald Tag. Sonnenaufgang ist bestes Licht zum Fotografieren.“ „Und wo sind Ihre Kameras?“ ,Jm Wagen.“ Der Schatten des Kopfes bekam Schultern. Der Mann trat also näher. „Haben Sie die Schilder nicht gelesen?“ „Welche?“ „Die mit dem Totenkopf und der Warnung, daß jeder Unbefugte ohne Anruf erschossen wird.“ „Es gibt keine Schilder“, entgegnete ihm Urban. Der andere, der ein recht klappriges Englisch sprach, bemerkte höhnisch: „Klar, neben der Straße im Gelände stehen keine Schilder. Ich habe den Befehl, jeden, den ich hier antreffe, ohne Ansehen der Person zu erschießen. Ich werde diese Anordnung jetzt befolgen.“ An dem Schatten bewegte sich ein Arm. Der Ar m wurde lang, in der Faust befand sich eine Pistole. In Urban wurde das Rasen der Gedanken zu einem wilden 76
Hämmern. Mit diesem Mann wurde er vielleicht fertig, aber da waren noch andere. Gewi ß schossen sie, sobald er den anderen angriff. Die Qual der Entscheidung wurde ihm abgenommen. Der Liquidator rief: „MG!“ „Maschinengewehr ist feuerbereit.“ Urban schielte nach links, sah die Waffe im Licht schimmern und fühlte ihren festen Druck an der Schläfe. Ansatzlos und unvermittelt, plötzlich und viel zu schnell fiel ein Schuß. – Aber es war nicht der Schuß, der Urban tötete. Dieser Schuß klang anders. Er kam aus einem Gewehr. Glas splitterte. Zischend verlöschte der Flakscheinwerfer. Der Liquidator war so überrascht, daß er nicht durchzog. Urban packte seinen Arm, zog den Mann über die Schulter und hebelte ihn auf den Rücken. Dann hämmerte seine Handkante auf die Stelle, wo er den Nacken des Gegners vermutete. Jetzt spie das Maschinengewehr los. Urban fühlte sich von einer Kralle gepackt und von einer gespannten Stahlfeder vom Schauplatz weggerissen. Er flog ein Stück quer durch die Luft, ehe er auf etwas Weichem landete. Das Weiche stank süßlich nach Veilchenparfüm und hatte Arme und Beine. Sie taumelten hoch. Eine Hand zerrte Urban weiter an der Mauer entlang, am Wachturm vorbei durch eine in der Mauer versteckte Pforte. Als sie draußen waren und der Nachtwind sie erfaßte, sagte der unbekannte Retter: „Hau ab, Mann! Lauf, so weit deine Beine dich tragen.“ „Wer bist du?“ „Du hast uns geholfen. Jetzt helfen wir dir. Aber nur einmal. Nur ein einziges Mal. Verstehst du?“ Der Mann war verschwunden. Urban rannte los, ungefähr in 77
die Richtung, wo Laszlo wartete. Es war die Richtung auf den dünnen, verblassenden Mond zu. Er stolperte, hastete, lief, brach durch Ginster, stieß gegen Hindernisse, sprang über Gräben. Er geriet in ein Karnickelloch, stürzte, raffte sich auf. Er lief um sein Leben. Er wußte, diesmal würde er schneller sein als der Tod. Aber eines wußte er nicht, warum sein Retter Russisch gesprochen hatte. Wenn es darauf eine Antwort gab, dann nur eine sehr phantasievolle. 10. Das Fotomodell Michele Martin verließ die Wohnung am Luxembourg gegen 14.00 Uhr, um einen Termin wahrzunehmen. Die schlanke Schöne mit dem glatten schulterlangen Haar fuhr mit dem Lift in die Tiefgarage. Als sie ihren Mini besteigen wollte, traten zwei Männer hinter einer Betonsäule hervor. Normalerweise hätte sie aus Angst die Flucht ergriffen. Aber der eine war ein Flic, ein Polizist, und der andere ein biederer Beamter mit Nickelbrille und Aktentasche. Sie fragten nach dem Namen. Als sie siche r waren, die gesuchte Person zu haben, wiesen sie sich aus. Der Flic sagte: „Ich muß Sie festnehmen, Mademo iselle.“ Sie tat so, als verstehe sie nicht. „Bin ich falsch gefahren, oder was?“ „Sie ignorieren nun seit Monaten gewisse Zahlungsaufforderungea“ Der Beamte nahm einen Aktenhefter aus seiner Tasche und gewährte Michele Martin Einblick. Zwei Banken hatten Forderungen von je zwanzigtausend Francs einzutreiben versucht. 78
Bis jetzt vergebens. „Sie haben für einen Monsieur Juan Turbo gebürgt“, sagte der Beamte, „selbstschuldnerisch. Nicht einmal die Zinsen wurden bezahlt.“ „Man hat mich nicht aufgefordert“, entgegnete sie. „Aufgefordert schon, aber die Mahnungen kamen zurück. Sie wechselten die Adresse oder nannten eine falsche.“ Sie las die Verfügung und bemerkte höhnisch: „Aber jetzt haben Sie mich gefunden.“ „Mit Hilfe von Interpol.“ Das machte sie stutzig. „Seit wann kümmert Interpol sich um so kleine Fische?“ „Das müssen Sie Inspektor Demonde fragen. „Mademoiselle“, antwortete der Justizbeamte. „Lange Rede – kurzer Sinn. Können Sie zahlen?“ „Nein.“ „Dann müssen wir Sie bitten mitzukommen.“ Sie protestierte. „Wegen lächerlicher zwanzigtausend Francs?“ „Sie können wegen des Diebstahls eines Apfels eingesperrt werden, Mademoiselle“, erklärte der Polizist „Sind Sie im Besitz von Wertgegenständen, die ich pfänden kann?“ fragte der dicke, aber nicht besonders gutmütige Justizbeamte. „Nicht hier, Monsieur“, bat sie. Sie gingen hinauf in ihre Wohnung. Michele Martin begann zu handeln. Schließlich gab der Beamte sich mit einer Abschlagszahlung von zehntausend Francs zufrieden. Er zählte nach, schrieb die Quittung aus, und als er ging, fragte Michele Martin: „Warum kassieren Sie bei mir und nicht bei Juan Turbo?“ 79
„Einem Spanier?“ „Für Interpol ist das doch wohl kein Problem, oder?“ „Wir wissen nicht, wo er steckt.“ Michele Martin wußte es. Sie hatte die Zehntausend vom Rest der Fünfzigtausend aus Genf bezahlt Turbo, dieses Schwein, dachte sie wütend, er hat mich reingelegt, und jetzt reitet er mich noch tiefer hinein. Das Geld stammte aus der Schweiz. Vielleicht kam sie über Interpol weiter. Sie bat um die Nummer des Beamten, der den Fall bearbeitete. Dann beeilte sie sich, um ihren Fototermin einzuhalten. Die beiden Männer betraten das nächste Bistro. Der Justizbeamte telefonierte. Er gab eine kurze Meldung durch. „Betrifft Michele Martin“, sagte er. „Wir haben sie. Es läuft, Inspecteur.“
„Können Sie uns helfen, Madame?“ fragte der Beamte, nachdem Michele Martin im ersten Stock, Zimmer 122, im Gebäude des Interpol-Hauptquartiers Platz genommen hatte. „Ich Ihnen?“ tat sie erstaunt. „Ich dachte, Sie helfen mir.“ „Wie war’s, wenn wir uns gegenseitig helfen“, schlug der gutaussehende, ein wenig halbseiden wirkende Demonde vor. „Gern. Aber erst möchte ich wissen, wie es kommt, daß Sie wegen so einer Lapalie Ihren kostspieligen Apparat in Bewegung setzen.“ Der Inspektor ließ Kaffee bringen und bemerkte dann: „Mord ist keine Lapalie, Madame.“ Mit wenigen trockenen Sätzen schilderte er den Fall Blanco. „In Marbella wurde der deutsche Heinrich Weiß, genannt 80
Enrique Blanco, getötet. Tatverdächtiger ist ein Reporter namens Juan Turbo. Er verschwand in Richtung Südamerika Zeugenaussagen brachten uns auf Ihre Spur, Madame. Sie waren mit ihm befreundet.“ „Verlobt“, betonte die Besucherin. „Einer Verlobung folgt meist eine Heirat.“ „Er ließ mich sitzen. Von einem Tag zum anderen. Er fuhr weg. Adresse unbekannt.“ Der Beamte spielte mit seinem Feuerzeug, steckte sich endlich die Schwarze an und fuhr fort; „Sie kennen Admiral Weiß?“ „Nein.“ „Sie reagierten auffällig, als ich den Namen erwähnte.“ „Der Name ist mir nicht bekannt“, antwortete sie. „Juan, der angeblich als freier Mitarbeiter für Mamma schrieb, war auf der Jagd nach einer heißen Geschichte. Keine Ahnung, wie er davon erfuhr. Ich weiß nur, daß er diesen Admiral unbedingt kennenlernen wollte. Blanco sitze auf einer Goldgrube, deutete er an.“ „Die Goldgrube war nicht in Marbella. Blancos Haus wurde niedergebrannt, und er verbrannte mit.“ „Ich kann dazu nichts sagen“, bedauerte Michele Martin immer wieder. Und nicht nur, weil sie sehr schön war, versuchte der Interpolbeamte ihr zu glauben. „Es gibt Hinweise, daß Turbo wieder in Europa ist“, erwähnte Demonde. „Ich bin fertig mit ihm“, reagierte sie zornig. „Er kam als reicher Mann zurück.“ „Und wenn er Millionär wäre, er kann mir gestohlen bleiben.“ „Hassen Sie ihn, Madame?“ „Und nicht zu knapp“, gestand die schöne Schwarzhaarige. 81
„Er hat mich schändlich benutzt und betrogen. Seinetwegen komme ich noch ins Gefängnis.“ Der Beamte kam zum Schluß. „Letzte Frage: Den Teilbetrag von zehntausend Francs haben Sie locker aus der Handtasche bezahlt. Woher haben Sie diese Summe?“ „Ich verdiene gut“, äußerte sie unfreundlich. „Merci, Madame.“ Demonde brachte sie zum Lift. 11. Einigermaßen unbeschädigt von seinem Balkaneinsatz zurückgekehrt, erstattete der BND-Agent Urban Bericht. Er ergänzte die Fotos durch Fakten und Rückschlüsse, die sich aus den Fakten ergaben. „Der Mann in der Staatsvilla am Schwarzen Meer sieht zwar aus wie Präsident Ludenko, die Zweifel daran, daß er Ludenko ist, wachsen jedoch allmä hlich bis zur Gewißheit, daß er es nicht ist. Die Falken in der Regierung haben von langer Hand einen Ersatzmann für Ludenko vorbereitet, der ihr williges Werkzeug ist. Ludenkos Herzinfarkt in Bonn, möglicherweise durch einen Arzt seine r Begleitung medikamentös ausgelöst, war das Signal. Der bis zur Perfektion als Ludenko aufgebaute Doppelgänger übernahm seine Rolle. – Noch gilt der echte Präsident als krank, weshalb der Ersatzmann sich auch in der Öffentlichkeit nicht sehen läßt. Unter strengster Geheimhaltung fand sein Training und die Gesichtsoperation in der Festung Babadag statt. Beweisstück Nummer zwe i ist die Mullmaske, wie sie frisch Operierte tragen müssen, um der Infektionsgefahr vorzubeugen. Die Festung wird von einem Spezialkommando bewacht. Ich entging der Liquidation nur mit Hilfe 82
eines Unbekannten, der entweder derselben Spur, oder, was wahrscheinlicher ist, meiner Spur folgte.“ „En Russe?“ „Vermutlich ein KGB-Agent. Noch wichtiger als für uns ist es für die Sowjetunion, zu wissen, was in diesem Land vorgeht.“ „Und was geht vor?“ wollte der Vizepräsident genau erfahren. Seine Pianistenfinger, mit denen er eine NIL-Zigarette aus der blauen Klappschachtel zog und sie ansteckte, verrieten Nervosität und Spannung. Doch nun betrat Urban den Bereich der Vermutungen. „Es gibt genug Hinweise, daß Dr. Ludenko außer Landes gebracht wurde. Und zwar mit einer Langstrecken-Iljuschin.“ „Wohin?“ „Rußland kommt nicht in Frage, der Westen auch nicht, Nahost wohl kaum. Man spricht von Südamerika.“ „Und was soll er dort?“ „Zunächst einmal ist er fünfzehntausend Kilometer vom Schauplatz der Ereignisse entfernt.“ „Warum ließ man ihn nicht einfach ve rschwinden?“ „Vielleicht wurde sein Tod gefordert, aber es gab Leute, die es verhinderten. Der Balkan ist mitunter so rätselhaft wie eine ferne Galaxis.“ „Was“, der Vizepräsident seufzte, „sage ich bloß dem Kanzler.“ Wie immer, wenn eine Sache nicht schlecht, aber auch nicht gut gelaufen war, tranken sie ein Glas von des Präsidenten spanischem Lieblingscognac. Als er Urban und sich nachgoß und auf das Tablett blickte, schien ihm noch etwas einzufallen. „Auf ihrem Schreibtisch liegt eine Interpolanfrage. Sie hat mit Spanien und einem ermordeten deutschen Ex-Admiral zu tun. Kümmern Sie sich bitte darum.“ 83
Urban schaute auf die Stahlrolex. Er war jetzt mehrere Wochen unterwegs gewesen und hatte vo n den letzten zweiundsiebzig Stunden ganze sechs geschlafen. Man sah es ihm an. Er hatte Ringe unter den Augen wie der Saturn, und aller Glanz war weg Er preßte die Zeigefinger auf die Augen. Vo n seinem angeborenen Lächeln war kaum noch etwas übrig. „Morgen“, sagte er, „auch wenn inzwischen der liebe Gott ins Schleudern kommen sollte,“ Er fuhr nach Hause. Danach schlief er wie ein erschöpfter alter Jäger. Um seine Hütte bellten zwar die Wölfe, aber er schlief trotzdem, denn er fühlte sich sicher, weil e r die Hütte selbst gebaut hatte.
Zwei Tage später flog Urban mit der Frühmaschine nach Paris. In Orly holte Demonde von Interpol ihn ab. „Freue mich, Sie zu sehen“, sagte der Interpol-Inspektor, „aber es wäre nicht nötig gewesen.“ „Oder sogar sehr“, erwiderte Urban. „Hat es mit diesem Ex-Admiral zu tun?“ „Nicht nur.“ Urban zog zwei mit Maschine beschriebene Blätter aus seiner Sakkotasche. Das zweite war die französische Übersetzung des ersten. „Das Weiß-Dossier, um das Sie uns baten.“ Der Interpolbeamte las die französische Version. „Damit haben Sie bei mir einen Stein im Brett.“ „Das hoffe ich“, sagte Urban. Der Citroen rollte stadteinwärts. Der Inspektor fragte Urban, wohin er ihn bringen dürfe und was er in Paris für Pläne habe. 84
Doch Urban schob die Antwort hinaus. „Wie wir den historischen Marineakten in Berlin entnehmen konnten“, ergänzte Urban die Notizen, „war Heinrich Weiß, damals Korvettenkapitän, beim Befehlshaber der U-Boote tätig. Sein Aufgabenbereich ab 1944, als im Nordatlantik der U-Boot-Krieg zum Erliegen kam, waren die südlichen Meere. Dort operierten noch die Langstrecken-Boote, und zwar vom Indischen Ozean über den Pazifik bis zum Südatlantik. Da ihre Versorgung immer schwieriger wurde, richteten Tank-UBoote, sogenannte Seekühe, geheime Depots ein. Unter anderem auch bei den südlichen Chilenischen Inseln und um Feuerland herum. Diese Depots wurden immer in beinah unzugänglichen, kaum kartographierten Gegenden angelegt.“ „Südamerika also“, faßte der Interpolmann zusammen. „Und nach Südamerika führt die Spur des Mörders von Weiß“, erinnerte Urban. „Bereits im letzten Kriegsjahr, als die U-Boot-Waffe ihre Tätigkeit bis nahezu Null reduzierte und man auf den neuen radarunempfindlichen Typ XXI wartete, hatte Dönitz keine Verwendung mehr für Weiß. Er wurde an die russische Südfront abkommandiert, um den Rückzug der Krim-Truppen auf dem Seeweg zu organisieren.“ „Unwichtig für uns“, befürchtete Demonde. „Um so bedeutender für mich“, erwiderte Urban. „Denn Weiß geriet in die Gefangenschaft von rumänischen Einheiten der Roten Armee. Er wurde verhört, kam in ein Lager, sollte liquidiert werden, konnte aber entfliehen. – Weiß wurde nach dem Krieg von der Bundesmarine übernommen und als Konteradmiral in Pension geschickt.“ „Was hat das alles mit unserem Fall zu tun?“ „Mit Ihrem wenig“, räumte Urban ein, „viel mit unserem. Hier beginnen sich zwei hochbrisante Fälle zu bündeln. Sie suchen einen Killer, der nach Südamerika entkam. Der Mann 85
soll Weiß getötet haben. – Wir suchen einen Staatsmann, der aus jenem Land, in dem Weiß Kriegsgefangener war und scharfen Verhören unterzogen wurde, spurlos verschwand. Allem Anschein nach Richtung Südamerika. – Merken Sie etwas, Demonde?“ „Klar, sieben und vier gibt zwölf“, scherzte der InterpolInspektor. „Und weil es keine Verbindungen gibt, stellt man welche her. Sie suchen diesen Staatsmann, und wir suchen den Killer. Vielleicht, wenn der Teufel es will, bestehen wirklich Zusammenhänge. Das wäre ein unglaubliches Stück Glück.“ „Das man in unserem Beruf haben muß. In jedem Fall, den wir bearbeiten, taucht einmal ein Hinweis auf, den man mit Glück bezeichnen könnte. Nur ist er meist so winzig, daß man ihn leider nicht beachtet oder erst zu spät entdeckt. Vielleicht ist das alles nur ein Luftballon. Aber für uns hängt eine Menge davon ab.“ „Geht es um Ludenko und die Lage in Bonn?“ tippte der Interpolmann. Urban nickte nur. „Und was können wir für den BND tun?“ erkundigte Demonde sich. „Es gibt da…“ Urban verbesserte sich: „Es ist da eine Michele Martin aufgetaucht. Ehemalige Verlobte dieses Juan Turbo. Ich muß sie sprechen.“ „Sie weiß nichts.“ „Kommt immer darauf an, wie man fragt“, bemerkte Urban. „Ich war vielleicht zu freundlich“, räumte der Interpolmann ein. „Gehen Sie davon aus“, bemerkte Urban, „daß ich es nicht sein werde. Sie wohnt in der Nähe de s Luxembourg-Park? Könnten Sie mich dort absetzen?“ Inspektor Demonde gab dem Fahrer neue Anwe isungen. 86
„Sie sind ein As“, gestand er Urban zu. „Ich ahnte, daß Sie etwas im Schilde führen.“ „Wissen Sie, Demonde“, sagte Urban, „es wird Herbst, die Tage werden kurz, die Nächte lang. Man muß sich sputen.“ „Erst elf Uhr“, meinte Demonde. „Noch nicht aller Tage Abend.“
Sie war schon von Natur aus so schön wie di e Monroe auf dem kunstvollsten ihrer Fotos. Das erkannte Urban in der halben Sekunde, in der sie sich im Türspalt zeigte. Sie musterte ihn radarschnell mit ihren blaugrünen Augen und schlug die Tür wieder zu. Sie sperrte mehrmals, legte die Kette vor und schaltete dann das Radio überlaut. – So laut, daß sie den Summer nicht mehr hörte. Aber auch nicht den Summer der Wohnung nebenan. – Urban ging eine Tür weiter und läutete dort. Eine ältere Dame öffnete lächelnd, als freue sie sich über jeden Besuch. Urban zeigte seinen Paß kurz vor und steckte ihn wieder ein. „Lokale Baukommission“, stellte er sich vor. „Wir müssen die Balkone prüfen. Geht schnell, Madame. Macht auch keinen Dreck.“ „Kommen Sie herein“, rief die alte Dame. „Und lassen Sie sich Zeit, junger Mann.“ Von drüben donnerte Rockmusik durch die Wände. Urban ging durch den Wohnraum und von dort auf den Balkon. Die Balkone waren durchlaufend und nur durch Luftziegelmauern voneinander getrennt. Ein Blick hinüber. Die Balkontür der Martin war angelehnt. Schon flankte er auf die andere Seite, drückte die Balkontür auf und riß den Vorhang beiseite. 87
„Mich werden Sie nicht so leicht los“, sagte er. Sie war weniger erschrocken als wütend. Sie saß am Tisch, spielte mit einer Katze und sagte ruhig, aber voller Gift: „Turbo hat mich benutzt wie eine Hure. Die Banken verfolgen mich wie eine Betrügerin unter Einsatz von Justiz, Polizei und Interpol. Wer Sie auch sein mögen, von mir hören Sie kein Wort. Null Kooperation.“ Er nannte erst einmal seinen Namen, dann schaute er sich um. Es war eine im Art-deco-Stil möblierte Atelierwohnung mit großem Nordfenster in der Dachschräge. In der Ecke stand eine Malerstaffelei. Das Bild darauf war zugehängt Er ging zur Stereoanlage, drückte eine Reihe Knöpfe, ohne daß sich etwas an dem Lärm änderte. Dann zog er den Stecker heraus. „Ist es nicht besser, Sie lassen den Lärm“, fragte sie, „für den Fall, daß ich schreie.“ „Warum sollten Sie das?“ antwortete er. „Ich fasse Sie nicht an.“ Urban setzte sich. Sie trug T-Shirt und Hotpants, also eine Ar t dünnes Turntrikot und kurzes, enges Höschen. „Madame Martin“, legte er los. „Ich bin mit Sicherheit nicht der letzte, der Sie in der Sache belästigt, aber mit Garantie der Netteste.“ „Der eine rupft dich, der andere brät dich, sagte der Fuchs zur Henne, ich beiße dir nur das Genick durch, denn ich bin der Netteste. Hauen Sie besser ab, Mann!“ „Es hängt von Ihnen ab, wie schnell Sie mich los sind“, sagte Urban, „Es geht nur um zwei Dinge.“ Er nannte erst das Unangenehme. „Der Spanier Juan Turbo hat in Marbella einen Mann getötet, 88
um an seine Aufzeichnungen zu gelangen. Sie waren in Turbos Pläne eingeweiht, und es wird dem Staatsanwalt leichtfallen, aus dem Tatbestand eine Mitwisser- und Mittäterschaft zu konstruieren. Das kostet Sie nicht weniger als zwei Jahre Frauenhaftanstalt.“ „Wer will das beweisen?“ „BIS Madrid“, erwähnte Urban. „Die Brigade investigación hat sich damit befaßt.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Gott ist mein Zeuge. Ich hatte nichts damit zu tun. Turbo wollte irgendwo in Südamerika groß absahnen. Er hoffte, dadurch aus den Schulden herauszukommen. Aber da waren wir schon längst auseinander. Gott ist mein Zeuge.“ „Wo ist Turbo jetzt?“ fragte Urban. „Ihre spanischen Freunde, die Polizei, Interpol und der Verein, dem Sie angehören, wissen mehr als ich. Sie haben ganz andere Möglichkeiten.“ „Die sind ausgeschöpft“, bedauerte Urban, „bis auf die letzte, die Martin-Quelle.“ Sie lachte gequält auf. „Bin froh, wenn ich mit Turbo nichts mehr zu tun habe.“ „Er schuldet Ihnen Geld.“ „Wer behauptet das?“ „Es gibt Hinweise.“ Er blickte ihr so lange in die Augen, bis sie wegschaute. Sie nahm die Katze vom Schoß und setzte sie neben sich auf den Teppich. Die Katze machte einen Buckel. Mit einemmal war Michele Martins Stimme rauh und weinerlich. „Er bringt mich um.“ „Wir können Sie schützen.“ „Er ist rabiat. Er bringt auch Sie um.“ 89
„Wie sollte er erfahren, daß Sie uns helfen?“ „Wenn Sie gegen ihn vorgehen.“ Allmählich wurde klar, daß sie wußte, wo und vielleicht sogar unter welcher Tarnung Juan Turbo sich aufhielt. Aber sie hatte auch Angst, Angst vermischt mit Wut. Zwei schwer überwindbare Barrieren. Urban versuchte es anders. „Als Turbo nach Südamerika ging, war er arm wie eine Kirchenmaus. Als er zurückkam, dürfte sich das geändert haben. Es gibt ungefähre Vorstellungen, wo er sich finanziell sanierte. Es ist nicht sein Geld, nicht anderer Leute Geld, es ist niemandes Geld. Man kann es ihm nicht ohne weiteres lassen, man kann es ihm auch nicht wegnehmen. – Aber wie ich hörte, steht er bei Ihnen mit nahezu hunderttausend Francs in der Pflicht. Sie haben Anspruch, zumindest diese Summe plus Zinsen und vielleicht einem Zuschlag an Schmerzensgeld zurückzubekommen.“ „Falls ich Ihnen helfe“, nahm sie die Bedingung vorweg. Urban stimmte ihr gerne zu. „Rasch und unbürokratisch, wie es so schö n heißt.“ Er stand auf. „Sie erreichen mich im Hotel George V.“ Bevor er ging, steckte er das Stromkabel des Stereoturms wieder in die Dose. Rockmusik hämmerte los. Es klang nach Heavy Metall. Draußen löste er die Kette und sperrte auf. Mit einemmal war wieder Stille, und sie stand hinter ihm. „Sie gefallen mir so wenig wie diese anderen Typen. Nur Ihre Augen…“ „Wie die Augen, so der ganze Kerl. Die Augen sind der Spiegel der Seele, Madame.“ „Turbo schickte mir“, sie zögerte und setzte erneut an, „fünf90
zigtausend Francs. Das Geld kam aus der Schweiz. Es wurde aufgegeben in einem Nest namens…“ Sie ging hinein, suchte in ihrem Sekretär und zeigte Urban den Abschnitt der Postanweisung. Er entzifferte den Stempel. „Montreux“, brachte er zusammen. Unter Beme rkung des Absenders stand: Gruß von Turbo, durch Tony P. Sherman. „Wer ist Sherman?“ fragte Urban vorsichtshalber. „Sherman ist Turbo.“ „Erkennen Sie seine Schrift?“ „Keiner sonst hat so eine Schandpfote.“ Er sagte ihr, wie sie sich zu verhalten habe, nämlich nicht anders als sonst. „Wir kriegen ihn“, versprach er. „Und wenn wir Sie brauchen, dann melden wir uns.“ „Aber rufen Sie vorher an“, bat sie ihn. Als er ging, schaute sie versonnen hinter ihm her.
„Es muß da eine alte U-Boot-Basis in Feuerland geben“, meldete Urban nach München. „Ex-Admiral Weiß richtete sie damals ein. Er erzählte davon, wenn er betrunken war, machte Andeutungen, übertriebene vielleicht. Turbo hörte davon. Er beschaffte sich die vorhandenen Tagebücher, zü ndete das Haus des alten Mannes an und machte sich auf den Weg, die DönitzBank auszurauben. Jetzt wird es interessant. Noch eine andere Südamerika-Linie wird sichtbar und die beiden bündeln sich.“ „Die Gefangenschaft von Weiß, beim Rückzug an der Schwarzmeerküste“, erinnerte der BND-Vize sich. „Weiß wurde verhört, sagte aus und enthüllte wohl auch seine Tätigkeit beim Befehlshaber der U-Boote. Sie holten die 91
Position der Basen aus ihm heraus. – Heute nun nützt man die fünfundvierzig Jahre alten Protokolle. Alles deutet darauf hin, daß sie den echten Ludo Ludenko nach Feuerland brachten.“ „Und wie kriegt man ihn dort?“ „Nur mit Hilfe von Turbo, der vermutlich einen amerikanischen Paß auf den Namen Sherman benutzt.“ „Da geht nichts ohne Interpol und nicht ohne die Schweizer.“ „Interpol wird mitmachen“, vermutete Urban, „aber die Schweizer mit ihrem stark ausgeprägten Sinn für Neutralität und ihrem gering ausgeprägten Verständnis für die Probleme der angrenzenden Ortschaften wohl kaum.“ Der Vize sagte nur „hm“, aber es klang wie Ratlosigkeit und Fluch in einem. Dann brach es aus ihm heraus. „Wie, zum Teufel, ist es möglich, daß es heutzutage, im Zeitalter der Satelliten, der Fernaufklärer, die jede Quadratmeile unserer Erde vermessen, noch versteckte Basen und weiße Punkte auf dem Globus geben kann?“ „Feuerland liegt meist unter einer dichten Wo lkendecke.“ „Es gibt Infrarotkameras.“ „Richtig. Aber Satellitenvermessungen müssen stets durch terrestrische Messungen ergänzt und bestätigt werden. Erstens lassen Argentinien und Chile da keine Meßtrupps hinein, zweitens wäre das eine äußerst schwierige Arbeit, die viel Geld kostet und Jahrzehnte lang dauern würde. – Allerdings gibt es eine geheime Karte des Feuerländischen Archipels. Ein gewi sser Pagel hat sie angefertigt. Aber das mit Pagel ist eine andere Geschichte.“ „Lebt dieser Pagel noch?“ „Nein, er ist tot“, sagte Urban. „Kann Juan Turbo Pagels Karte benutzt haben? Vielleicht besaß Heinrich Weiß eine Kopie davon.“ 92
„Vermutlich nahm Turbo einen Kutter, steuerte damit den La-Plata-Strom an, lief in die Magellan-Straße ein, stahl sich durch den Barbarakanal und verschwand dort, wo ihn niemand finden konnte. So wie damals die deutschen U-Boote.“ Es gab nur eine Konsequenz. Der Vize hatte sie erspäht „Dann muß man alles tun, um Juan Turbo alias Sherman zu kriegen. Denn mit ihm finden wir vielleicht Ludenko. Haben Sie eine Taktik, Urban?“ „Ob ich sie anwende“, sagte Urban, „hangt davon ab, was Interpol erreicht.“ „Ich werde mit meinen Freunden in Paris reden“, versprach der Vizepräsident. Urban ließ eine Flasche Rose kommen. Geöffnet und geeist brachte der Kellner sie. Während er sie zu leeren begann, auf dem Hotelbett lag und eine MC nach der anderen dazu rauchte, dachte er an diesen Mann in Südamerika, den merkwürdigen Senor Pagel.
Auf der Suche nach Material im Archiv über Heinrich Weiß war Urban darauf gestoßen. Pagel, ein Deutsch-Chilene, wohnte 1914 in Punta Arenas. Er hatte sein Leben damit verbracht, jene Kanäle zu durchforschen, welche die Tausenden von Inseln zwischen San Diego und dem Pazifik im Norden von Kap Hoorn durchzogen. Diese Inseln waren nicht einmal auf den wenigen damals existierenden Seekarten, den Karten der britischen Admiralität, präzise verzeichnet. Deshalb boten sie Schiffen aller Art uneinsichtbare Ankerplätze. Pagel und Indianer vom Stamme der Alakalof und Jagan – sie bewegten sich mit Kanus ebenso geschickt wie Eskimos – 93
waren die einzigen Menschen, die das Inselgewirr kannten. Das war der Grund, warum Pagel im Ersten Weltkrieg für kurze Zeit eine bedeutende Rolle spielte, als das Geschwader des Admirals Graf Spee 1914 vor den Falklandinseln von weit überlegenen britischen Seestreitkräften schwer angeschlagen wurde. Das einzige überlebende Schiff war der Kreuzer Dresden gewesen. In der Nacht vom 17. auf den 18. Dezember 1914 erschien der Kreuzer vor Punta Arenas, Sein Kommandant, Kapitänleutnant Lüdecke, kannte Pagel. Er ließ ihn von einem Boot abholen. Pagel übernahm die Rolle des Lotsen – der deutsche Kreuzer verschwand mit Kurs Süd. Wäre die Dresden der Magellanstraße durch die Feuerlandinseln gefolgt, hätte sie im Pazifik herauskommen müssen, wo schon die Engländer auf sie warteten. Pagel steuerte den schweren Kreuzer deshalb in immer enger werdende Fjorde, in die sich nicht einmal die ortskundigen Kapitäne hineinwagten. Die Dresden ankerte in einer Bucht südlich der Insel Santa Agnes, wo sie niemand finden konnte. Und dies aus einem einfachen Grund: Die britischen Admiralskarten verzeichneten diese Stelle als Festland. Zwei Monate lang suchten die Engländer mit großem Aufwand die Dresden. Sie hätten sie wohl niemals gefunden. Aber der Kommandant mußte aus mehreren Gründen das Versteck verlassen. Die Versorgungslage wurde immer schwieriger, das Wetter wurde miserabel, die erzwungene Untätigkeit beeinträchtigte die Moral der Besatzung. – Deshalb verließ Lüdecke die Bucht, um in den Südpazifik zu laufen und dort Kreuzerkrieg zu fuhren. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges erinnerte man sich des alten Herrn, holte sich Pagel, der jetzt seine Erfahrungen an die U-Boot-Flotte weitergab. 94
Das war die andere Geschichte. Pagel war tot. Weiß war ebenfalls tot. Es gab nach wie vor keine präzisen Karten. Und nur einer wußte vielleicht mehr. Aber Juan Turbo zu kriegen war Sache anderer Leute. Die Flasche Rose war leer. Urban lag da und starrte zur Dekke. Um die rastlos rotierenden Gedanken zu ordnen und um einem Kater vorzubeugen, wählte er die Methode Thomapyrin. Er tastete zu seinem Sakko. Oben in der Reverstasche fand er den Plastikstreifen. Mit geschlossenen Augen drückte er eine Tablette aus der Folie. Er legte die Thomapyrin auf die Zunge und schluckte sie mit dem Rest aus dem Glas. Es waren nur zwei Tropfen, aber sie genügten. 12. In Moskau traf sich der politische Zirkel des KGB, bestehend aus den Chefs der drei Hauptabteilungen. Zwischen den drei Männern in Zivil, von denen jeder mindestens Generalsrang hatte, entwickelte sich folgender kurzer Dialog: „Unruhen an der Donaugrenze waren scho n immer gefährlich.“ „Ja, sie steuern wieder den alten harten Kurs.“ „Ludenko ist wie umgewandelt.“ „Es kommt vor, daß derjenige, der das Krankenbett verläßt, ein anderer Mensch ist, als der, der sich hineinlegte.“ „Wie meinen Sie das, Gospodin?“ „Operationen, Medikamente, Todesangst üben nachhaltige Einflüsse aus.“ „Oder es liegt daran, daß Ludenko gar nicht Ludenko ist.“ „Seine alten Genossen verhalten sich so, daß wi r die Gerüchte doch wohl in das Reich der Fabel verweisen dürfen.“ 95
„Und die Gesichtsoperation im Fort Babadag, wie ist sie zu bewerten?“ „Und die Tatsache, daß ein sterbenskranker Mann Tennis spielt?“ „Wir haben beobachtet, daß ein Langstreckenflugzeug ihrer staatlichen Luftlinie das Land in Richtung Schwarzes Meer Türkei verließ und mit. Kurs Mittelmeer-NordafrikaSüdamerika weiterflog.“ „Würde das bedeuten, daß man den Infarkt bei Ludenko benutzte, um einen anderen Mann vorzuschieben?“ „Einen manipulierbaren.“ „Einen nach außen hin stahlharten.“ „Ludenko war ihnen zu reformfreudig. Er lag auf unserer Linie, galt als Freund des Generalsekretärs. Mit Ludenko war die Wende nicht gefährdet. Schwenken sie nun wieder auf die alte Stalinlinie, gibt das auch den anderen Opponenten Auftrieb.“ „Die Wende scheitert, oder wir müssen eingreifen.“ „Das ist nicht unsere neue Politik.“ „Dann müssen wir dafür sorgen, daß diesem Theater ein Ende gemacht wird.“ „Und wie, bitte?“ Hier trat die erste längere Unterbrechung des Gesprächs ein. Zögernd wurden Vorschläge gemacht, Ideen entwickelt, geprüft und verworfen. „Ludenko, der echte, muß wieder her“, lautete die Forderung. „Wo ist er?“ „Auch die Deutschen suchen ihn.“ „Das wissen wir. Wir hingen an der Spur eines ihrer Agenten. Aber bringt uns das Ludenko zurück?“ „Die Leute, die Ludenko ausgemustert haben, müssen gezwungen werden, Ludenko zu reaktivieren.“ Diese Forderung wurde mit Gelächter quittiert. 96
„Diese Betonköpfe zertrümmert keiner“, hieß es. „Man muß sie dazu zwingen.“ „Aber wie, bitte?“ „Indem man…“ „Was?“ „Wenn man ihnen ihren falschen Ludenko, diesen Doppelgänger, wegnimmt.“ „Was dann?“ „Sie können nicht zulassen, daß es nur den falschen Ludenko erwischt hat. Dann müssen sie auch den echten Ludenko umbringen.“ „Oder aus dem Kühlschrank zurückholen.“ „Genau das ist es. Das meinte ich, Genossen.“ „Was“, fragten sie durcheinander, „ist damit gemeint?“ „Indem wir…“ Der Mann mit der Idee senkte die Stimme. „Indem wir den Doppelgänger ausschalten. – Wenn sie das nicht in Zugzwang versetzt, was dann?“ Die Sache wurde bis ins Detail diskutiert. Schließlich beauftragten sie den Leiter der Hauptabteilung Operationen/Europa, den besten Mann für das geheimste aller Unternehmen dieses Jahres zu suchen.
Obwohl erst dreißig Jahre alt, trug er schon die höchsten Verdienstorden der Sowjetunion, unter anderem den Roten Stern mit dem goldenen Adler. Wofür er sie erhalten hatte, stand nur in seiner Personalakte und die lag wohl verwahrt in einem sicheren Safe des KGB. Nachdem er sich für diesen Einsatz vorbereitet hatte, war er kein Russe mehr. Bis auf die letzte Faser seiner Kleidung wurde er Deutscher. Er verwendete deutsche Seife und deutsches 97
Schampon. Er trug deutsche Schuhe und benutzte eine n deutschen Kamm. Er hatte deutsche Zigaretten bei sich, der Hubschrauber war ein deutscher Bölkow, und die Splitterbomben stammten aus einem deutschen Bundeswehrdepot. Der KGB-Agent startete von der westlichsten Luftbasis Vikovo um 15.00 Uhr. Die Entfernung betrug 45 Kilometer. Über die Grenze und das Donaudelta hinweg bis Stintu bedeutete das nur wenige Minuten Flug. Fünfzehn Uhr plus/minus zwanzig Minuten war die Zeit, in der der Staatspräsident Tennis spielte. Allerdings nur bei schönem Wetter, nicht zu warm, nicht zu windig. Im Tiefflug, mit etwa 180 km/h Geschwindigkeit, flog der zweimotorige Bölkow nach Süden, immer an der Küste entlang. In Nachtarbeit hatte er einen graugrünen Anstrich erhalten. Vorher jedoch hatte man unter die matte Lackschicht deutsche Kennzeichen aufgemalt. Dies für alle Fälle. Der KGB-Agent, ein Mann, der Hubschrauber bewegte wie MiG-Jäger, Motorboote und Rennboote, flog so tief, daß sich die See im Rotorwind kräuselte. Er sah das Cap Stintu liegen und die Hügel an der Straße nach Sulina. Sicherheitshalber verfolgten sie seinen Flug mit Radar. Sekundengenau bekam er den Code: Ablaufpunkt erreicht. Der Ablaufpunkt war jener Punkt, von dem aus der Beginn einer Operation berechnet wurde, und von wo an es keine Umkehr mehr gab. Der KGB-Agent nahm nun direkten Kurs landeinwärts. Er sah die Sicherungsboote, die weiße Datscha des Präsidenten, dann die roten Tennisplätze zwischen Palmen und Pinien. Er hatte sich die Topographie genau eingeprägt. Rechts lag der Pool, die Tennisplätze links und der Hubschrauberlandeplatz hinter der Villa. Diesen steuerte er pro forma an, um die Schonfrist zu verlängern. 98
Dabei ging er so tief, als wollte er am Landekreuz aufsetzen. Er flog über den Pool hinweg und sah auf einem der Tennisplätze zwei Spieler. In der Annahme, daß es sich um Ludenko und seinen Trainer handelte, riß er den Hubschrauber herum Im Endanflug auf den letzten zweihundert Metern Entfernung machte er die Waffen scharf. Jetzt brauchte er nur genau zu visieren und den roten Knopf zu drücken. Es gab keine erkennbare Abwehr. Er hielt direkt auf den Tennisplatz und die Spieler zu. Noch etwa hundert Meter Distanz. Der rote Feuerknopf lag oben am Pitch, jenem Knüppel, mit dem man bei Hubschraubern die Höhe korrigierte. In einer Sekunde würde er auslösen, hochziehen, abkippen und hinter sich Sodom und Comorra zurücklassen. Er sah sich schon als Sieger, der nach getaner Arbeit den Heimweg einschlug, da vernahm er ein Zischen. Dann folgte in seinem Rücken ein ungeheurer Schlag. Etwas hatte die Turbinen, den Kerosintank getroffen und loste eine Explosion aus. Der Hubschrauber wurde, ehe er platzte, unsteuerbar. Der Pilot wurde herausgeschleudert, bevo r der Helikopter torkelnd und taumelnd stürzte und aufprallte und von wenigstens drei Infernos zerstört wurde. – Durch die Sprengkraft der BodenLuft-Rakete, durch den Treibstoff und durch die an Bord befindlichen Splitterbomben.
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Die Sicherheitskräfte des Sommerpalastes brachten erst den leichtverletzten Staatspräsidenten in den Bunker – weitere Angriffe schienen durchaus möglich –, dann löschten sie die Wracktrümmer. Andere Experten kümmerten sich um den toten Piloten. „Ein deutscher Hubschrauber“, stellten sie fest. „Und ein deutscher Pilot. Vermutlich Operativagent.“ „Er wollte den Präsidenten ermorden.“ Das Wrack und der Hubschrauberpilot wurden auf das genaueste untersucht. Zunächst bestand kein Zweifel, daß es sich um einen Agenten des deutschen Geheimdienstes BND handelte. Alles, aber auch alles deutete darauf hin. Bis einem der Ärzte die nikotingelben Finger an der rechten Hand des Toten auffielen. „Er war starker Raucher.“ „Er hatte deutsche Zigaretten bei sich.“ „Mit oder ohne Filter?“ „Mit Filter.“ „Filterzigaretten hinterlassen nicht so gelbe Nikotinflecken,“ Dem Toten wurde Haut abgenommen. Das tief in den Poren haftende Nikotin wurde analysiert. Bald stand fest, daß es nicht von der Zigarettenmarke stammte, die der Pilot bei sich hatte. „Er rauchte Schwarze.“ „Was für Schwarze?“ „Die Nikotinstärke deutet auf Machorkas hin.“ „Also russische.“ „Woher kam der Hubschrauber?“ „Aus Osten.“ Sie fanden noch andere Hinweise. So etwa bei der Obduktion. Der Pilot hatte vor kurzem Blini mit Sahne zu sich genommen. Damit stand mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit 100
fest, daß man den Killer vorsätzlich als Deutschen getarnt hatte. „Ein Russe, also“, wiederholte der Mann, der dem ZentralKomitee für die Sicherheit verantwortlich war. „Ein KGB-Agent“ „Ein Russe“, beharrte er. „Sie wollten unseren Staatspräsidenten töten. Aber warum?“ „Ein Russe. Kein Deutscher, sondern ein Russe.“ „Ist das nun besser oder schlechter?“ „Viel schlechter“, befürchtete einer der Männer aus dem inneren Kreis der Eingeweihten. 13. Es kostete Interpol insofern Mühe, den Wohnsitz von Turbo alias Sherman in Montreux ausfindig zu machen, als die Fahndung an den Schweizer Behö rden vorbeilaufen mußte. Es gelang ihnen erst nach zwei Tagen. Dann holten sie Michele Martin aus Paris. Sie zeigte sich durchaus kooperativ, auch dann noch, als man sie in ein Wohnmobil sperrte. Es stand nahe der ersten Ampelkreuzung, bevor die Seeuferstraße nach Lausanne hineinführte. „Er kommt täglich hier vorbei“, erläuterte man dem Fotomodell. „Er ändert gern sein Verhalten“, bemerkte sie. „ Wenn er etwas haßt, sind es eingefahrene Gewohnheiten. Ich kenne ihn.“ „Nun, er fuhr an drei Tagen vormittags nach elf Uhr stets nach Lausanne oder Genf, um Geschäfte zu tätigen.“ Hinten im Wohnmobil hatten sie auf einem Stativ ein schweres Fernglas montiert. Getarnt durch den Vorhang, war es auf die Ampelkreuzung gerichtet, und zwar so, daß es die aus Montreux kommenden Autos schräg von rechts vorne erfaßte. 101
Michele Martin blickte durch das Glas. „Eine ungünstige Position“, kritisierte sie. „Wir haben keine bessere.“ „Die Entfernung ist zu groß, und der Fahrer sitzt zu weit links. Besser wäre es, ihn von der anderen Seite zu sehen, wo er dicht am Fenster ist.“ „Der Gegenverkehr würde ihn zu häufig abdecken“, befürchtete man. „Und hier blendet die Sonne, oder die Scheiben spiegeln.“ „Ein Blick genügt Ihnen gewiß.“ Sie musterte den Mann von Interpol. „Wollen Sie ganz sicher sein, daß er es ist, ode r nur ungefähr, Monsieur?“ „Er darf unsere Beschattung nicht merken.“ „Und die Schweizer Behörden wohl auch nicht“, ergänzte sie ironisch. Das Fernglas wurde auf ihre Augen scharf eingestellt. „Sechshundert Meter von hier“, erklärte man Michele Martin, „wartet ein Mann auf einer Parkbank. Sobald der Mercedes kommt, meldet er sich über Sprechfunk. Das Gerät muß also ständig eingeschaltet bleiben.“ „Und warum sitze ich nicht auf der Parkbank?“ wollte sie wissen. „Der Verkehr fließt dort noch zu schnell vorbei.“ „Und wenn er hier Grün hat, dann rast er durch wie die Feuerwehr.“ „Daß es dazu nicht kommt, dafür haben wir einen Mann mit Motorrad. Er wird ihn behindern und dafür sorgen, daß er auf keinen Fall die grüne Phase erwischt. Turbo verhält sich sehr vorsichtig. Er parkt weder falsch, noch würde er bei Gelb die Kreuzung passieren.“ „Na schön“, sagte sie. „Eh bien, von mir aus.“ 102
Michele Martin richtete sich auf ein langes Warten ein. Und sie tat gut daran, denn ausgerechnet an diesem Tag kam der Mercedes mit der Zweifarbenlackierung in Silber und Dunkelblau nicht vorbei. Am nächsten Morgen bezogen sie wieder die Position. Elf Uhr war schon vorbei, als der Beobachter auf der Parkbank den Mercedes meldete. – Aber mit dem Motorrad gab es eine Panne. Der Mercedes hatte grüne Welle und passierte mit sechzig Stundenkilometer das Wohnmobil. „Wieder ein Tag verloren“, fluchte Inspektor Demonde. „Die Honda sprang nicht an.“ Gerade jetzt kurvte der Motorradfahrer auf den Campingplatz ein, winkte und nahm seinen Sturzhelm ab. Die Martin verstand sofort. Sie eilte hinaus, setzte den unförmigen Helm auf und schwang sich hinter den Fahrer auf die Honda-Sitzbank. Sie rasten los und holten den Mercedes noch im Vorort Pully ein. An der nächsten Ampel hielt die Honda unmittelbar neben dem Mercedes. Drüben hatte der Fahrer die Scheibe ein Stück heruntergekurbelt. Die Distanz zwischen ihm und Michele Martin betrug weniger als zwei Meter. Der Mercedesfahrer musterte ihre Beine in de n hautengen Jeans, ihren Pullover, unter dem sich die halterlosen Brüste abzeichneten, und grinste. Michele Martin umfaßte den Hondafahrer vo n hinten, drückte sich eng an ihn und blickte weg. Die Ampelphase dauerte nur zwanzig Sekunden, aber viel zulange für die forschenden Augen des Mannes im Mercedes. Endlich ging es weiter. „Das Ganze noch mal“, fragte der Hondafahrer. „Wir können umdrehen.“ 103
„Und?“ „Er ist es“, sagte Michele Martin.
Sie warteten die Rückkehr von Juan Turbo, alias Tony. P. Sherman ab, warteten, bis er den Mercedes in die Garage gesetzt und die Seeufervilla betreten hatte. – Dann klingelten sie. Die Italienerin, die das Haus besorgte, öffnete. Sie zeigten ihre Ausweise. „Fremdenpolizei.“ Schon tauchte hinter ihr Juan Turbo auf. „Was gibt’s?“ „Ausländerpolizei“, sagte Demonde diesmal. Turbo ließ sie nicht herein, sondern konterte forsch: „Ich bin Gast in diesem Land.“ „Sie haben eine Villa gemietet mit der Absicht, sie zu kaufen, also planen Sie einen längeren Aufenthalt hier. Das ist anmeldepflichtig. Außerdem verhandeln wir nicht zwischen Tür und Angel.“ Er konnte nicht anders. Er ließ sie in die Wohnhalle, bot ihnen aber keinen Platz an. „Übrigens“, sagte er in seinem recht guten Französisch, „ich habe mich bereits angemeldet.“ Er ging zu dem kleinen Safe neben dem Kamin, der eigentlich nur eine in die Mauer eingelassene Stahlkassette war, und nahm ein Papier heraus. „Meine Anmeldung, Messieurs.“ Sie prüften sie. „Das war gestern.“ „Etwa zu spät?“ „Ihren Paß, bitte.“ 104
Im Safe lag auch der Paß. Demonde trat zum Fenster ans Licht, blätterte den Paß nach hinten und wieder nach vorn. „Der Paß ist gefälscht“, äußerte er. „Überprüfen Sie ihn“, entgegnete Juan Turbo herablassend. „Dort ist das Telefon. Rufen Sie in Tulsa/Oklahoma an, auf meine Rechnung. Aber danach werden Sie mich nie mehr belästigen, hoffe ich.“ „Das Foto wurde ausgewechselt“, behauptete Demonde. „Gute Arbeit, aber nicht perfekt. Und das Stempelsegment wurde ergänzt Ebenfalls gut, aber eben auch nicht perfekt.“ Zornesröte überflog das Gesicht des angeblichen Amerikaners. „Was, zum Teufel, wollen Sie damit ausdrücken, Inspektor?“ „Nur, daß Sie sich diesen Paß irgendwo besorgt haben. – Ausreisestempel Argentinien. Interessant.“ „Na und. Ich reise viel.“ „Was Ihnen niemand verwehrt“, erklärte Demonde. „Es sei denn, Sie reisen unter gefälschtem Namen.“ Turbo schien die Geduld zu verlieren. „Ich spreche ohne meinen Anwalt kein Wort mehr mit Ihnen.“ „Wie Sie wünschen, Senor Juan Turbo.“ Turbo stand im Halbdunkel. Man konnte nicht erkennen, ob er zusammenzuckte oder ob es nur eine Reaktion war, die Ve rblüffung ausdrückte: Er hob die Brauen, wischte sich übers Gesicht, ging kopfschüttelnd auf und ab. „Unglaublich. – Wer, bitte, soll ich sein?“ Demonde ließ sich nicht ablenken, „Wo waren Sie in der Nacht vom elften zum zwölften letzten Monats?“ „Moment bitte. Ich führe zufällig einen Terminkalender.“ 105
Auch der Kalender lag im Safe. Turbo blätterte ihn durch. „In Philadelphia“, sagte er dann. „Nicht in Marbella?“ „Marbella, wo ist das, bitte?“ „Eine Stadt in Südspanien. Dort wurde ein Mann ermordet.“ „Was“, fragte Turbo die Beamten, „habe ich damit zu tun? Ich habe ein Alibi, Zeugen, Freunde, hundert Leute.“ „Das wird überprüft.“ „Und jetzt keine Frage, keine Antwort mehr ohne meinen Anwalt.“ „Wer ist Ihr Anwalt?“ „Maitre Lasalle in Genf.“ Demonde war von Interpol Paris und kein Schweizer. Er wagte hier ein gefährliches Spiel, indem er sich ein Amt anmaßte. Aber diesen Maitre Lasalle in Genf kannte jeder. Er war einer der besten, wenn nicht sogar der gerissenste Anwalt der französischen Schweiz. – Wer diesen Mann als Rechtsbeistand hatte, dem war nur schwer beizukommen. Lasalle würde jeden Mandanten überall gegen Kaution herauspauken. Demonde gab Turbo den Paß zurück. „Wir kommen wieder“, versprach er. „Sie dürfen vorerst die Schweiz nicht verlassen.“ „Melden Sie sich vo rher telefonisch an“, höhnte Turbo hinter ihnen her, „damit ich meinen Anwalt…“ Sie schlugen die Haustür zu und fuhren weg. Ihr Versuch, Juan Turbo zu überführen, war ein Reinfall gewesen. „Nicht nur ein Reinfall“, befürchtete Demonde, „sondern sogar ein Riesenfehler.“ Der BND-Agent Robert Urban wartete seit drei Tagen auf eine Nachricht von Interpol. „Es ging total in die Hosen“, meldete Demonde endlich. „Hat die Martin ihn erkannt?“ 106
„Er ist Juan Turbo, aber wir kommen nicht an ihn heran. Er bringt Alibis bei, beschäftigt den besten Anwalt von Genf und hat genug Mittel. Gegen solche Leute kann man nicht anstinken. Schon gar nicht, wenn man illegal arbeitet.“ Das Wort illegal stach bei Urban. „Es gibt zwei Möglichkeiten“, erklärte er. „Erstens: Interpol bittet die Schweizer Behörden um Ermittlungshilfe.“ „Das dauert Tage, wenn nicht Wochen. Wir kennen doch die Kollegen aus der Eidgenossenschaft. Gegen Leute mit Geld schreiten sie ungern ein, und wenn überhaupt, dann nur mit Handschuhen, außen Samt, innen Watte.“ „Dann muß ich mir den Burschen vorknöpfen“, beschloß Urban. „Auf die Brutaltour?“ „Auf die pseudobrutale. Auch Worte können wi e Folterinstrumente wirken.“ „Dieser Turbo ist abgebrüht wie ein Truthahn vo r dem Rupfen.“ Urban hatte schon eine Idee. „Man muß etwas tun“, sagte er, „das ihn zwingt zu handeln.“ „Es gibt nichts, das ihn zwingt, seine Festung zu verlassen. Er hockt dort mit seinem Hintern aus Gold.“ „Überlaßt mir das“, bat Urban. „Was haben Sie vor?“ fragte Demonde ahnungsvoll. „Erst muß ich mir die Genehmigung dafür besorgen. Von höchster Stelle, als Rückendeckung für den Fall… Nein, es darf, es kann gar nicht schiefgehen. Vor allem dann nicht, wenn man auf die Mithilfe von Profis der Internationalen Polizeiorganisation rechnen kann.“ „Allmählich wird die Schweiz für uns ein heißes Pflaster“, äußerte Demonde. „Die Kollegen in Genf sind ja nicht blind. Man kann erwarten, daß sie den Kopf für eine Weile in den 107
Sand stecken, aber nur solange wir ihnen nicht auf die Füße steigen.“ „Beobachtet Turbo“, forderte Urban ihn auf. „Er wird mal zum Essen fahren, ins Kino, in einen Club. Beobachtet ihn. Ich bin spätestens morgen in Genf.“ „Oder Turbo wittert Gefahr und zieht Leine“, wandte Demonde ein. „Kann mir nicht vorstellen“, äußerte Urban, ,4aß er sich irgendwo anders sicherer fühlt als dort, wo er gerade sitzt.“ „Ist das nun Psychologie oder nur Erfahrung?“ Einfühlungsvermögen“, gestand Urban. „Ich versetze mich in seine Lage und würde an seiner Stelle so und nicht anders handeln.“ „Mit dem kleinen Unterschied“, wandte Demonde ein, „daß Sie Agent sind und er ein Verbrecher ist.“ „Aber Kriminalbeamte, Agenten und Gangster“, entgegnete Urban, „haben die gleiche Urgroßmutter.“ 14. Der Fehlschlag der KGB-Operation in Stintu wirkte in Moskau wie ein Bombentreffer ins Schwarze. Die Verantwortlichen zogen die Köpfe ein und schwiegen. Die gepfefferten Proteste aus dem Balkanland liefen zunächst ins Leere, Dann wurden Sie mit der bei Schuldigen üblichen Entrüstung zurückgewiesen. Die Genossen vom politischen Zirkel der KGB-Führung trafen sich zu einem neuen Gespräch in der alten GPU-Zentrale in der Dzerzhinskystraße. Wie immer wurde die Unterhaltung ohne namentliches Ansprechen der Partner geführt. „Wie konnte das passieren?“ fragte der weißhaarige General, 108
der sogar Mitglied des Politbüros war. „Dachte, hier wären Profis am Werk.“ „Ein Fehlschlag schien undenkbar. Der Einsatz von Raketen war nicht zu abzusehen.“ „Auch Verrat liegt nicht vor.“ „Dachte, man hätte einen Deutschen oder eine n Amerikaner aus dem Piloten gemacht.“ „Einzelheiten sind bis zur Stunde nicht bekannt“, berichtete einer der Anwesenden. „Aber ihre Schlüsse ziehen sie wohl aus der Analyse mikroskopischer Spuren.“ „Miskroskopische Spuren ergeben nur mikroskopische Beweise, oder etwa nicht?“ „Deshalb weisen wir ihre Anschuldigungen auch zurück und ignorieren im übrigen ihr unfreundliches Verhalten.“ „Mehr als unfreundlich“, kommentierte einer der Generäle. „Sie drohen schon mit Austritt aus dem Warschauer Pakt.“ „Nun, das sind vereinzelte Stimmen, die gibt es immer. Und ganz linientreu waren sie ja nie.“ Man kam überein, daß man sich in einer Krise befand, aber anders, als in jenen Bruderländern, wo der Gedanke der Freiheit Fuß faßte. Wenn es in dem Balkanstaat zu einer Krise kam, dann dadurch, daß die Stalinisten wieder Oberwasser erhielten. „Wenn sich in dieser Situation die USA anbiedern, dann bitte ich um Nachhilfeunterricht in Strategie. Dann weiß ich nämlich nicht, wie wir diese Lage im Griff behalten.“ Einer der jüngeren Teilnehmer sagte: „Denken wir so weiter, wie wir vor einer Woche zu denken begonnen haben. Unsere Freunde an der südlichen Westgrenze haben mit Hilfe eines Do ppelgängers ihren Staatschef ausgeschaltet. Wir wollten sie zwingen, den uns genehmen Altpräsidenten Ludenko wieder in Amt und Würden zu versetzen, 109
indem wir seinen Doppelgänger killen. Die Operation mißlang. Es gibt Hinweise, daß Ludenko lebt, und zwar irgendwo am Ende der Welt. Ich sehe nur eine Lösungsmöglichkeit. Sie besteht darin, alles dafür zu tun, um unseren Freund, den wahren Ludo Ludenko zu suchen, zu finden und zu befreien.“ „Das beweist generalstabsmäßiges Denken, Gospodin“, sagte der Mann aus dem Polit-Büro und applaudierte durch zweimaliges Klatschen mit den Händen. „Und wie sieht das in der Praxis aus?“ „Miserabel.“ „Miserabler als dieses unwürdige Täuschungsspiel hinzunehmen, kann es auch nicht sein.“ „Es kostet uns soviel, wie es eine Nonne kostet, ne Hure zu werden, oder eine Hure kostet, eine Nonne zu werden.“ „Klartext, bitte“, lautete die allgemeine Forderung. Der Mann, der die Strategie entwickelte, sagte: „Kooperation lautet die Devise.“ Sie wollten wissen, was das bedeutete. Wurde die Nonne zur Hure oder umgekehrt. „Mit dem Westen“, präzisierte der Jüngste in der Runde. „Huren suchen Freier mit Geld. Nonnen die Liebe Gottes.“ Ein weniger hochrangiger General stellte die Frage, wie das politisch zu vertreten sei, wie es der Regierung klargemacht werden könne und was der Generalsekretär wohl dazu sage. Aber die meisten Anwesenden stellten selbst einen Teil der Regierung dar, und der KGB hörte auf ihr Kommando. „Man kann“, sagte der General aus dem Politbüro, „alles erklären. Aber wir werden nichts erklären müssen, denn niemand wird etwas darüber erfahren. – Abstimmung bitte.“ Nur einer enthielt sich der Stimme . „Und nun das Procedere.“ „Bei allen westlichen Diensten gibt es Leute, die mit Leuten von uns Verbindung halten. Zum Teil haben sich sogar freundschaftliche Affinitäten entwickelt. Solche Verbindungen gibt es 110
zum BND, zu MI-6, zu CIA und anderen. Diese Leute schicken wir als Fühlungshalter an die Front. Ihr Ziel ist de r Vorschlag für Zusammenarbeit.“ „Die westlichen Dienste kochen doch ihre eigene Suppe „Aber sehr gut schmeckt zum Beispiel deutsche Kartoffelsuppe mit russischem Kaviar.“ „In der Tat, bei weltweiten Operationen stoßen sie immer auf Gegenwind, der meist aus dem Osten bläst. Und wir sind die Herren der herrschenden Winde.“ „Wie man hört“, erwähnte einer der Anwesenden, „haben die Amerikaner ihre Delta-Force alarmiert.“ „Und die Engländer ihre Air-Service-Einheiten.“ „Ich halte das für voreilig“, erklärte der Operationschef des KGB. „Aber für alle Fälle sollte man dem Befehlshaber von Spetznaz einen Wink geben.“ Die Funktionäre trennten sich nicht, ohne ein neues Treffen binnen der nächsten achtundvierzig Stunden zu vereinbaren. 15. Endlich tat Juan Turbo ihnen den Gefallen, auf den sie nahezu eine Woche gewartet hatten. Er fuhr wieder einmal nach Evian auf die französische Seite des Genfer Sees, um das Spielcasino zu besuchen. Kaum hatte er an einem der Bakkarat-Tische Platz genommen, näherte ein Angestellter sich und flüsterte: „Monsieur, Sie werden ins Direktionsbüro gebeten.“ Um kein Aufsehen und keinen Verdacht zu erregen, folgte der Gast dem Casino -Angestellten. Doch der brachte ihn nicht zum Direktor, sondern zum Büro des Casinodetektivs. Dort erwarteten ihn zwei Herren. 111
Einen davon kannte Turbo. Es war der Genfer Fremdenpolizist. Der andere wies sich als Kriminalbeamter aus. „Sie sind festgenommen“, erklärte der Beamte, „im Auftrag der Schweizer Fremdenpolizei. Ihren Paß, bitte. Und leeren Sie alle Taschen aus.“ Juan Turbo bestand darauf, seinen Anwalt anzurufen. Sie gestatteten es ihm, hatten aber dafür gesorgt, daß Turbo nur das Besetztzeichen zu hören bekam „Was wirft man mir vor?“ protestierte er wi e üblich, „Verlassen der Schweiz gegen meine ausdrückliche Anordnung“, antwortete Demonde. „Wo ist der Haftbefehl?“ „Den kriegen Sie morgen früh. Vorerst sind Sie festgenommen.“ Sie überprüften den Tascheninhalt. Dann brachten sie ihn weg und sperrten ihn in eine der zwe i Zellen, über die das Casino verfügte. Kaum hatte Turbo das Büro verlassen, öffnete sich eine Tür. Robert Urban trat ein. Von Turbos Sachen nahm er nur den Schlüsselbund. „Wieviel Zeit habe ich?“ fragte er. „Drei Stunden.“ Urban eilte hinaus, durch den Casinopark über die Promenade zur Bootsanlegestelle. Der Steuerer in dem Rennboot sah ihn kommen und startete seine Motoren. Sie mußten nur den See überqueren. Allerdings in der Diagonale. Entfernung Evian-Montreux 28 Kilometer. Das Boot machte Tempo sechzig. Sie schafften es also in weniger als einer halben Stunde – doppelt so schnell wie mit dem Auto – um den See herum. Gegen Mitternacht kamen sie drüben an, sie machten am Steg der von Turbo gemieteten Villa fest. Urban ging mit dem 112
Schlüssel ins Haus, als wäre er der Eigentümer. Von Demonde wußte er, wo der Safe lag. – Schon der zweite Schlüssel paßte. Im Safe lagen etwa fünfzehntausend Schweizer Franken, zehntausend Dollar, französische Francs und ein Säckchen mit Diamanten. Urban nahm alles mit und studierte noch das Notizbuch. Zwei Zahlen darin und die Abkürzung BGI und SCG merkte er sich. Anschließend verschloß er den Safe, ebenso wi e das Haus, und ging zum Anleger zurück. Kurz nach 2.00 Uhr betrat er wieder das Büro des Casinodetektivs in Evian. „Sollen wir ihn laufenlassen?“ fragte Demonde. Urban zeigte ihm die zwei Nummern und die Kürzel. „Was bedeutet das?“ „Schweizer Cantonalbank Genf und Bank Genf International.“ „Die Ziffern sind Kontennummern.“ „Die ich um neun Uhr heute morgen bis auf einen Franken abräumen werde.“ Demonde überlegte. „Wenn wir ihn jetzt freilassen, besteht die Gefahr, daß er zu Hause den Safebruch bemerkt, seinen Anwalt alarmiert und vor uns die Schatztruhe ausräumt.“ „Laßt ihn zum Frühstück heraus“, sagte Urban. „Das genügt mir.“ Demonde, dem längst klar war, um was es Urban ging, fragte: „Das ist schwerer Einbruch, Betrug und unberechtigte Inhaftierung alles in einem.“ „Turbo ist ein Verbrecher. Und es ist Geld, das keinem gehört.“ 113
„Und Sie sind sicher, Commander, daß es so läuft, wie Sie es erhoffen?“ Urban nickte zuversichtlich. „Jetzt ist er total blank. Er steht mit leeren Taschen da. Er muß wieder zu Geld kommen. Und wo holt er es? Von dort, wo er die Diamanten her hat. Ich bin sicher, er wird die Flucht ergreifen und uns dorthin führen, wo der Schatz verborgen liegt.“ „In Feuerland. Das ist mir zu phantastisch.“ „Mir auch“, gestand Urban. „Aber nennen Sie mir eine andere Chance.“ „Und daß die Rumänen dort ihren Präsidenten verstecken, ist noch viel unwahrscheinlicher.“ „Gegen Hansel und Gretel ist das eine absolut realistische Story“, behauptete Urban. „Vergessen Sie nicht, der Admiral war der Drehpunkt.“ „Eh bien und bon“, gab Demonde auf. „Wir halten Turbo bis zum Frühstück fest. Von da ab höre, sehe und sage ich nichts mehr. Ich weiß nichts, ich habe nie etwas gewußt.“ „Wie alle schlauen Leute“, höhnte Urban.
Eiskalt und mit der Chuzpe eines ostfriesische n Analphabeten zog Urban sein Programm durch. Er räumte Juan Turbos Nummernkonten ab. Den einen Franc, den er jeweils stehen ließ, abgerechnet, hatte er in der großen Reisetasche 345 786 Franken und ein paar Rappen. Mit dem Taxi fuhr er nach Lausanne zurück. „Hotel Imperial“, sagte er zu dem Fahrer. Der Morgen war frisch, die Luft wie im Frühling. Mitunter gab es solche Tage im Herbst. Alle Leute zeigten fröhliche 114
Gesichter, zumindest kam es ihm so vor. Im Imperial nahm er den Lift. In der dritten Etage klopfte er. Die Martin öffnete ihm. Sie hatte nur wenig an, und das wenige war ziemlich durchsichtig. Urban achtete nicht darauf, sondern stellte die Tasche auf ihr Bett und Öffnete sie. Sie blickte hinein, dann zu ihm auf. „Bediene dich“, sagte er. „Gern“, antwortete sie verblüfft. „Nimm, was er dir schuldet, plus Zinsen plus Schmerzenszuschlag.“ „Turbos Geld?“ „Niemandes Geld“, erklärte Urban. „Es ist absolut herrenlos. Der Staat, dem es einst gehörte, existiert nicht mehr. Keiner wird Ansprüche erheben. Mach damit, was du willst. Nur ein paar Franken laß mir. Damit werde ich einen amerikanischen Fotografen aus einem Gefängnis im Balkan freikaufen. Das war’s dann.“ Er wollte gehen, aber sie versperrte ihm den Weg. Sie bestand aus totaler Euphorie. „Ich bin in fantastischer Laune“, gestand sie. „Ich möchte irgend etwas Verrücktes tun.“ ,Zum Beispiel?“ „Champagner trinken, den Erfolg feiern.“ Ihre Brüste waren rund wie alte preußische Polizistenhelme, und die Spitzen hatten mit dem Feiern schon begonnen. In jedem gutgeführten Hotel hatten sie geeisten Champagner vorrätig. Kaum war sie im Badezimmer verschwunden, um sich frisch zu machen, wie sie sagte, klopfte der Zimmerkellner. Er brachte den Kübel mit dem Pommery. Urban öffnete die Flasche. Der Knall veranlaßte Madame zu ihrem Auftritt. 115
„Bühne frei!“ rief sie. Sie hatte das Haar nach oben gesteckt und das Neglige nach unten fallen lassen, wo die Seide noch ihre Füße umfloß. „Champagner“, sagte sie, „und zum Beispiel das.“ Urban goß die Schalen voll und reichte ihr eine mit perlendem Wein. Sie tranken, und er verhielt sich so desinteressiert, als würde sie in einem hochgeschlossenen Baumwollfutteral stecken, „Das macht dich nicht an?“ fragte sie, mit den Händen über die Brüste nach unten streichelnd. „Champagner immer. Es ist ein guter Jahrgang.“ „Ich bin auch ein guter Jahrgang,“ „Das bezweifelt niemand, Gnädigste.“ Sie leerte das Glas, setzte es ab und schob ihr nacktes Knie und den ganzen Oberschenkel zwischen seine Beine. „Willst du Tango tanzen?“ fragte Urban. „Ohne Musik?“ „Ich kann dazu pfeifen.“ Seine schroffe Kühle reizte sie nur noch mehr. „Bist du schwer von Begriff, Urban?“ „Warum willst du das jetzt?“ „Weil mir danach ist“, flüsterte sie. „Für uns ist das Problem Juan Turbo aus der Welt. Ich habe nicht vor, dich auszunutzen, und du hast nicht vor, mich auszunutzen. Das Ergebnis hat uns neutralisiert. Ich liebe gerne ohne Bedingungen.“ Zum Teufel, sie gefiel ihm, aber er hatte tausend andere Dinge im Kopf. Sie merkte, daß er überhaupt nicht in Fahrt kam. „Komm her!“ Er blieb, wo er stand. „Komm bitte her. Noch näher.“ „Und jetzt?“ 116
„Leg deinen linken Arm um mich und den rechten auf meinen Hintern.“ „Ist das Methode vierzehn?“ „Methode Michele.“ Sie küßte ihn, saugte und biß sich an ihm fest. Sie rieb sich an ihm und löste aus, was bei einem gesunden Mann stärker war als alles andere. Eigentlich hatte er keine Zeit und keine Lust. Aber er nahm sich die Zeit, und für Lust sorgte dieses sinnliche schwarzhaarige Weib. In diesem Jahr gab es keine Olympiade und schon gar nicht in der Schweiz. Aber sie trieben es, als ginge es um die Goldmedaille im Zehnkampf. Um Mittag herum lagen sie erschöpft nebeneinander auf dem französischen Grand Lit, und der Champagner war alle. Ihre Hände betasteten seine Brust und seine Narben. Das erregte sie aufs neue. Dann fiel ihr Blick auf das Geld in der Elchledertasche, und das erregte sie noch stärker. „Was hältst du davon“, fragte sie, „wenn wir es gemeinsam ausgeben?“ Das Telefon summte und enthob ihn zunächst der Antwort. Michele übergab an Urban. „Demonde“, signalisierte sie mit stummen Lippenbewegungen . Der Interpol-Kommissar meldete Anfangserfolge. „Turbo registrierte den Einbruch in seinem Safe. Wenig später fuhr er nach Genf zu seiner Bank. Dort dürfte die Nachricht über den Kontostand einen Schock bei ihm ausgelöst haben. Er betrat sein Haus nicht mehr, sondern reist jetzt auf der Autobahn in Richtung Zürich. Wir sind hinter ihm her. Ich glaube, die Sache läuft.“ „Sieht so aus“, pflichtete Ur ban ihm bei und legte auf. 117
„Gute Nachrichten?“ fragte Michele. „Es geht.“ Sie wiederholte ihre Frage wegen eines gemeinsamen Ausstiegs. – Da machte er ihr mit wenigen, aber deutlichen Worten klar, daß sein Leben dafür leider zu kurz sei. „Dann werde ich die ganzen Kohlen dazu verwenden, diesen Hundesohn Juan Turbo zu finden.“ Ihr Eifer wirkte ehrlich. „Und wenn du ihn hast, was dann?“ wollte er wissen. „Dann schneide ich ihm das ab, was bei einem Spanier die Männlichkeit ausmacht. Ritsch, ratsch!“ „Das solltest du dir überlegen“, riet er. „Kommt nur auf dich an, Cherie.“ „Das ist Erpressung, Michele.“ „Laß uns an die Riviera fahren und die Fränkli auf den Kopf hauen oder…“ „Turbo ist jetzt gefährlich wie ein hungriger Löwe, dessen Kinder auch hungrig sind.“ „Ich wüßte schon, wie ich ihn kriege.“ „Vorsicht“, warnte Urban. „Das ist ein Job, für den es kein Vollkasko gibt.“ „Um so besser“, gestand sie, „das einzige, was mich nicht anmacht, ist eine Gesellschaftsreise mit Unfallversicherung.“ 16. Juan Turbo handelte so, wie er nach Lage der Dinge handeln mußte. Er würde wegtauchen, um die Verfolger abzuschütteln, wü rde den leeren Tank auffüllen und danach endgültig mit anderem Namen ein neues Leben beginnen. Aber zunächst brauchte er Bares. – Er hatte noch neunhun118
dert Franken, damit kam er nicht weit. Aber da war noch sein Mercedes und die brillantenbesetzte goldene Rolex. Obwohl der 500 SE korrekt zugelassen und versichert war, brachte er ihn in Zürich nur zu einem Schandpreis an den Mann. – Hauptsache, die Abwicklung ging problemlos und schnell. – Der Gebrauchtwagenhändler bezahlte zehntausend Franken Cash für ein Automobil, das das Dreifache wert war. Den ganzen Tag entging Turbo nicht, daß er verfolgt wurde. Trotzdem nahm er ein Hotelzimmer und rief einen seiner besten Freunde an. Sie trafen sich abends in der Hotelbar. In einer Nische zog Turbo die Rolex vom Handgelenk. „Sie hat mich vierzigtausend gekostet. Ich schenke sie dir.“ „Wofür?“ „Für deinen Wagen und deinen Paß als Leihgabe. Ich muß nach Italien. Aus Mailand oder Genua rufe ich dich an, wo der Wagen steht. Der Paß wird im Handschuhfach liegen.“ Der Schweizer, ein Mann, der schon bei vielen Zeitungsredaktionen wegen Faulheit und Abschreibens rausgeflogen war, witterte ein Geschäft. „Wie lange dauert die Reise?“ „Höchstens einen Tag.“ Der Schweizer steckte die Uhr ein. Turbo bekam den Autoschlüssel und den Paß. „Siehst du den Burschen dort an der Bar?“ flüsterte Turbo. „Den im Kaschmirblazer?“ „Nein, den im Pullover. Er ist hinter mir her.“ „Was hast du ausgefressen, Turbo?“ „Nicht der Rede wert. Ich gehe jetzt hinaus aufs WC, dann durch die Küche und den Hof zur Straße. Wo steht dein Wagen?“ ,,Limmatquai.“ 119
„Typ, Farbe?“ „CX in Weiß.“ Turbo stand auf und rief zum Barmixen „Nochmal zwei Scotches!“ Dann verschwand er durch die Tür, die zum Waschraum führte. Als er nach zehn Minuten nicht wiederkam, folgte der Fahnder im Pullover ihm. Doch da war Turbo schon unterwegs Richtung Autobahn Zug-Andermatt-Gotthard-Paß.
Drüben in Italien, am großen Rasthof vor Como nahm er den ersten Espresso. Dann checkte er die geparkten Fernlastzüge auf Brauchbarkeit. Er fand einen Spanier mit dem Kennzeichen M wie Madrid. Offenbar frühstückte der Fahrer. Turbo ging in die Cafeteria. Als guter Beobachter fiel es ihm leicht, einen Spanier daran, wie er aussah, was er zu sich nahm und welche Zigaretten er rauchte, zu erkennen. Hinten saß ein dicker behäbiger Bursche, dunkel, die Arme bis zu den Fingern behaart. Um den Hals trug er eine goldene Kette mit Madonna. Zum Salat verdrückte er eine Extraportion Zwiebeln, und neben ihm lag eine Packung Almerias. Außerdem ging ein Duft von Maja-Seife von ihm aus. Juan Turbo nahm an seinem Tisch Platz und fragte in Spanisch: „Ist es erlaubt?“ Der Fernfahrer blickte hoch. „Landsmann?“ „Bin unterwegs nach Zaragoza, und ausgerechnet hier geht mir die Kupplung in die Binsen.“ „Man kann auch ohne Kupplung schalten“, meinte der Driver. 120
„Ich nicht.“ „Was willst du machen, Mann?“ „Abschleppen lassen. Ich muß dringend weiter. Nächste Woche komme ich zurück und hole den Schlitten.“ „Das kommt teuer.“ Der Fernfahrer rieb den Daumen auf dem Zeigefinger. „Scheißautos.“ Wie sich herausstellte, hatte der Spanier Sherry von Malaga nach Basel gebracht, nun Käse geladen, den er nach Barcelona zu liefern hatte. „Bis heute abend“, setzte er hinzu. „Wird ‘ne harte Tour.“ „Eine hundsgemeine Tour.“ Turbo tat so, als hätte er eine Erleuchtung. „Kannst du mich nicht mitnehmen?“ Der Fahrer zögerte. „Das ist uns von der Spedition aus verboten.“ „Ich zahle dir, was mich der Flug kosten würde.“ Der Spanier leerte sein Rotweinglas und nickte. „Vamos! Kannst einsteigen.“ „Muß nur noch mit einer Werkstatt telefonieren.“ Turbo rief seinen Züricher Freund an und sagte ihm, wo sein Citroen stand. Als die Sonne aufging, waren sie schon unterwegs in Richtung Mailand-Genua-Marseille. In Barcelona, das sie am späten Nachmittag erreichten, nahm Juan Turbo den Schnellzug über Madrid nach Lissabon.
Im Glauben, seine Verfolger abgeschüttelt zu haben, buchte Turbo einen Platz in der Direktmaschine nach Rio. Allerdings nicht auf den Namen Tony P. Sherman. Die Ver121
einbarung mit seinem Schweizer Freund hatte er nur insofern eingehalten, als er ihm den Citroen unbeschädigt zurückerstattete. Den Schweizer Paß hatte er behalten. Er dachte, das sei schlau. Wenn sie ihn verfolgten, dann suchten sie in den Buchungscomputern der Airlines nach Tony Sherman. Zwar bestand die Gefahr, daß der Beschatter in der Züricher Hotelbar sich an seinen Freund herangemacht hatte, der aber würde sich dumm stellen. Die Frage, warum sie so verbissen hinter ihm her waren, stellte er sich längst nicht mehr. Allerdings fragte er sich, ob der Einbruch in seiner Villa in Montreux und die Bankaktionen in Genf damit zusammenhingen. Eher glaubte er, daß sie nicht damit zusammenhingen. Die Polizei, ob Schweizer oder Interpol, arbeiteten nicht mit solchen Methoden. Und wer war er denn schon. Ein kleiner Fisch. Kein internationaler Rauschgiftboß, sondern nur ein Mann, dem sie den Mord an einem siebzigjährigen Greis nachzuweisen versuchten. – No, Senor, in solchen Fällen hielt sich die Fahndung in Grenzen. Juan Turbo holte zunächst den entgangenen Schlaf nach. Fünfzehn Stunden später, in Rio, buchte er einen Inlandsflug nach Porto Alegre. Um Argentinien machte er lieber einen Bogen und beschloß, übe r Chile nach Feuerland zu gelangen. Er lag gut in der Zeit. Seit seiner Flucht in Genf waren knapp vier Tage vergangen, und er hatte ein Drittel des Erdumfanges hinter sich gebracht. Von Porto Alegre war es nur noch ein Katzensprung bis zur chilenischen Pazifikküste. Es war Nacht, als er in Punta Arenas ankam. An der Kälte und am stetigen Wind merkte man, daß Kap Hoorn kaum fünfhundert Kilometer entfernt im Süden lag. 122
Am Morgen sah er Neuschnee auf den Bergen. Turbo ging vom Hotel in die Stadt. Er hatte soviel Geld, um sich einen Jeep zu besorgen, Ausrüstung, Zelt, Konserven, warme Klamotten und ein Schlauchboot mit Motor. Einen Tag später fuhr er los.
Die kleine Stadt, wo die Fähre über den Magellan-Kanal setzte, war die letzte Ansiedlung auf dem südamerikanischen Kontinent, aber auch die allerletzte Gegend. Schlimmer als Marseille und Shanghai zu ihrer Glanzzeit. Jeder, der hier lebte, hatte etwas auf dem Kerbholz. Freiwillig hielt sich hier niemand auf, nicht einmal die rüden Soldaten der Garnison. Für verfolgte Kriminelle war der windige, schroffe, eisige Inselarchipel jenseits der Magellanstraße vielleicht die Rettung. Aber er bot nur wenig mehr als den Tod. Hier schreckten sie alle davor zurück, weiterzuziehen. Deshalb war Santa Nicolo ein Ort, wo man am besten nicht anhielt, sondern durchfuhr. Wenige hundert Meter vor der Fähre wurde Turbo angehalten. „Woher und wohin?“ fragte der Soldat. „Ich bin Geologe. Wir messen Krustenbewegungen und Erdbeben wellen.“ „Den Paß, Senor.“ Juan Turbo zeigte den seines Freundes aus Zürich. „Schweizer?“ „Paßt Ihnen das etwa nicht?“ Man mußte hier entweder arrogant auftreten oder einen Geldschein in den Paß legen. – Der Schein lag im Paß. Trotzdem holte der Soldat seinen Unteroffizier, und der seinen Leutnant. Sie steckten die Köpfe zusammen. 123
„Aussteigen! Personen- und Gepäckkontrolle“, lautete die Aufforderung. „Ich protestiere!“ rief Turbo. „Schicken Sie uns den Protest mit Telex“, sagten sie. Sie zerrten ihn aus dem Jeep und brachten ihn in eine Wellblechbaracke. Während sie draußen de n Jeep zerlegten, mußte er sich bis auf die Haut ausziehen. Ein Soldat mit dem Abzeichen des Sanitäters untersuchte ihn in einem Nebenraum. „Was ist los, por favor?“ „Alles verrückt geworden“, sagte der Chilene kopfschüttelnd. „Sucht ihr Terroristen? Was, por diablo, gibt es hier zu terrorisieren.“ „Rauschgift“, sagte der Sanitäter. „Sie suchen immer neue Wege, um Kokain aus dem Land zu schaffen. Dabei verfallen sie sogar auf ‘ne Gegend wie diese hier.“ Während Turbo im Nebenraum festgehalten wurde, kümmerte einer der Soldaten sich um seine n linken Stiefel. Geübt wie ein gelernter Schuhmacher, hebelte er den Absatz ab und bohrte ein ovales Loch in die zwei Lederschichten, welche den Gummiabsatz trugen. In die Öffnung drückte er eine Art Amulett, oval, flach wie ein Silberpeso und glänzend wie mattierter Stahl. „Funkprobe?“ fragte er. „Positiv“, kam es von nebenan. Der Soldat befestigte den Absatz wieder sachgemäß an dem halbhohen Schnürstiefel. „Funkprobe!“ forderte er wieder. „Noch positiv.“ „Hält der Absatz auch?“ erkundigte der Leutnant sich. „Geklebt und genagelt“, sagte der Soldat. „Kann er kommen?“ 124
„Noch fünf Minuten, Sergeant. Der Kleber muß erst abbinden.“ Sie warfen Turbos Klamotten in den Nebenraum. Er konnte sich anziehen. Dann gaben sie ihm seinen Paß, seine Papiere, Geld, das Messer und auch den Revolver zurück. „Und was soll das Ganze?“ fragte Turbo wütend. „Verpiß dich, Mann“, sagten sie. Draußen brachte er den Jeep in Ordnung und fuhr auf die Fähre. Aus einem Nebenraum der Militärbaracke trat ein Mann. Er trug helle Jeans, die in Cowboystiefeln steckten, ein dickes Wollhemd und eine Lederjacke darüber. Er war ungefähr hundertachtundachtzig Zentimeter groß, athletisch gebaut, mit einer braunen Haartolle, die sich schwer bändigen ließ, hellgrauen Augen und einem herablassenden Grinsen um die Mundwinkel. Aber dafür konnte er nichts. Das war ihm angeboren. „Zufrieden, Coronel?“ fragte der chilenische Offizier. „Gracias, Caballeros“, sagte der BND-Agent Robert Urban. 17. Robert Urban steckte den Peilempfänger – er war kleiner als ein Funksprechgerät – in die Hemdtasche. Er arbeitete auf der Frequenz des Minisenders in Turbos Stiefelabsatz. Jede Minute gab er einen Piepton von sich. – Solange sie diesen Piepton hörten, hatten sie Turbos Spur. Urban verließ die Baracke. Draußen wartete sein Scout. „Wir können“, sagte Barba. „Der Jeep ist auf dem Kutter, und der Kutter steht unter Dampf.“ In Urbans Tasche piepte es. 125
„Das ist er.“ „Der Herzschlag des Teufels“, sagte der Scout. „Auf welche Entfernung ist er noch zu hören?“ „In der Ebene dreißig Meilen, in den Bergen so gut wie gar nicht.“ „Gar nicht ist Shit“, bemerkte der Mann mit den wilden Haaren rund ums Gesicht. „Wir werden es nicht soweit kommen lassen“, sagte Urban. Die Kutterleute, stumme, in Seehundjacken gekleidete ortskundige Männer, lösten die Leine n und folgten der Fähre hinaus in den Strom. Sie gerieten in Nebel. Bald wurde der Nebel wi e Grießpudding, denn es schneite. Im Nu war das Kutterdeck weiß und glitschig. Der Eigner des Kutters wandte sich an Urban. „Die Fähre ist schneller.“ „Welchen Vorsprung hat sie auf der anderen Seite?“ „Mehr als eine Stunde, Senor.“ „Nebel, Dunkelheit und Schnee“, zählte Barba, der Scout, auf und spuckte in weitem Bogen seine Verachtung über Bord. „Kannst ja umkehren.“ „No, Senor. Es gibt zu wenig Abenteuer.“ „Und wenn es nun eine stinkroutinemäßige Ermittlung wird?“ Der Scout zeigte seine gelben Hauer. „Dann bleiben immer noch die dreitausend Dollar Lohn, Senor. – Aber dieser Turbo ist eine Hyäne, das sah ich sofort. Wird mir eine Wonne sein, ihn aufs Kreuz zu legen, das Miststück.“ „Unter feinen Leuten“, bemerkte Urban, „gibt es ein Gesetz: nie über Abwesende lästern.“ 126
„Und bei unfeinen Leuten“, sagte Barba, „gibt es auch ein Gesetz: nur über Abwesende lästern.“ Urban stieg hinunter in die Kajüte und legte sich aufs Ohr. Er geizte mit jeder Minute Schlaf, denn er fürchtete, bald würde er sich danach sehnen, ein Auge zumachen zu dürfen.
Sie verloren den Peilton, denn die Berge wurden hoch und die Täler tief. Sie fuhren die ganze Nacht quer durch eine Landschaft, gegen die Mond, Mars oder der Saturn eine freundliche Gegend waren. Endlich härten sie den Peilton wieder. „Dieser verdammte Hundesohn braucht keinen Schlaf“, fluchte Barba, der Scout. „Solange seine Aufputschmittel reichen“, vermutete Urban. „Wir sind zwei, er ist allein.“ Sie lösten sich ab. Einer versuchte zu entspannen oder, wenn der schwer im Gelände arbeitende Jeep es zuließ, zu schlafen. Es war so kalt, daß sie zu den daunengefütterten Windjacken Pelzmützen und Handschuhe trugen und immer noch froren. Aber eines stand bald fest: Turbos Generalrichtung war Südost, auf die argentinische Grenze zu, auch wenn ihn von ihr noch Dutzende von Fjorden sowie hundert Inseln trennten. Wie es aussah, kannte Turbo immer wieder eine schmale Landbrücke, auf der er weiterkam, ode r einen passierbaren Fluß. „Aber am Barbara-Kanal ist Schluß“, sagte der Scout…Die andere Seite erreicht er nur per Schiff.“ „Vorausgesetzt, unsere Karte stimmt.“ 127
Sie folgten dem Spanier den ganzen Tag, die Nacht hindurch und wieder einen Tag. „Er hat ein Schlauchboot dabei“, erwähnte Barba. „Und mindestens zehn Kanister Benzin.“ „Wir werden allmählich knapp.“ Doch dann schien es den Spanier erwischt zu haben. Der Peilton wurde lauter. Sie hielten an. Der Peilton blieb konstant. „Er biwakiert“, vermutete der Scout. Man könnte ihn überraschen, dachte Urban, im Schlaf der Erschöpfung. – Aber was wäre damit erreicht? Mit einemmal wurde der Signalton wieder schwächer. „Er hat sich nur eine warme Mahlzeit zubereitet“, sagte der Scout. Urban rechnete. Sie waren jetzt zwei Tage hinter dem Spanier her. Sie teilten sich die Arbeit und waren trotzdem ziemlich mitgenommen. Es war rätselhaft, wie Turbo das allein schaffte, wie er so lange durchhielt „Ein verdammt knochenharter Bursche “, fluchte Barba. „Nein“, erwiderte Urban. „Da steckt etwas anderes dahinter.“
Den Rest des Tages und die ganze Nacht hindurch fuhren sie dem Spanier durch eine Landschaft hinterher, die nur aus Geröll, niedrigem Gebüsch, Sümpfen und Wind bestand. Am Morgen erreichten sie das Ende der Insel. Vor und unter ihnen dehnte sich ein fjordartiger Meeresarm. Urban holte die Karte heraus. Sie hatte sich als ungenau erwiesen, aber soviel sagte sie aus, daß es selbst mit Allradfahrzeugen nicht mehr weiterging. 128
Und der Peilton wurde schwächer. Turbo entfernte sich. „Er haut ab“, bemerkte der Scout. „Was jetzt, Capo?“ „Er muß den Jeep zurückgelassen haben.“ „Klar, es ist kein Amphibienauto.“ Sie begannen, den Jeep zu suchen, und fanden ihn dort, wo die hohe Steilküste zum Fjord hin abfiel. Der C-7 stand unter einem Tarnnetz. – Doch das war nicht alles. Unter dem Tarnnetz lag auch ein Mensch. Der Scout war als erster dort. Kopfschüttelnd starrte er Urban an. „Eine Frau.“ Sie war gefesselt und schlief. Urban versuchte, sie wachzurütteln. Es gelang ihm nicht. „Narkose“, schätzte er. „Tabletten oder eine Spritze. Aber sie wird aufwachen. Sie ist hart im Nehmen. Sie steht das durch.“ „Du kennst sie, Senor?“ fragte Barba. „Nicht besonders gut“, sagte Urban, „aber doch so gut, um zu wissen, warum sie hier ist.“ Sie warteten, bis Michele Martin erwachte. Erst schien sie nicht zu wissen, wo sie war. Dann, als sie es begriff, verfiel sie in Weinkrämpfe. „Spiel uns nichts vor.“ Urban ohrfeigte sie. Nur so war der Schock zu überwinden. „Wie kommst du hierher?“ „Ich, ich bin dir gefolgt“, gestand sie. „Und wo hast du Turbo getroffen?“ „Auf der Fähre.“ „Und er nahm dir ab, daß dich Liebe und Sehnsucht auf seine Spur geführt hatten?“ „Nein. Er behauptete, ich hätte ihn verraten und behandelte mich wie eine Gefangene.“ „Trotzdem hast du vier Tage und Nächte nichts unternommen, um ihn unschädlich zu machen, zum Beispiel wenn er vor Erschöpfung schlief.“ 129
„Ich mußte den Jeep fahren, und er drohte mir mit dem Messer.“ „Aber er schlief auch“, betonte Urban. „Gib zu, du hast Gefallen an der Sache gefunden, du hast dich wieder an ihn rangeschmissen.“ Sie nickte. Allmählich holten sie aus ihr heraus, daß das auch der Grund dafür gewesen sei, weshalb Turbo sie zurückgelassen hatte. „Er mißtraute mir und fürchtete, ich spioniere ihn aus.“ „Er ist kein Idiot.“ „Ich wäre krepiert“, sagte sie. „Er kommt zurück.“ „Er kommt nicht“, erklärte sie. „Dort, wo er hingeht, liegt ein Motorboot. Er wird, sobald er das Gold und die Diamanten hat, über die argentinische Grenze zurückfahren.“ „Und wo ist das Depot?“ fragte Urban. „Hier auf der Insel, auf der anderen Seite des Kaps. Aber man kommt ohne Boot nicht hin. Die Berge sind zweitausend Meter hoch. Sie liegen voll Schnee und Eis.“ „Wir kommen hin“, entschied Urban mit der Verbissenheit des Jägers. 18. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges hatte es zwischen den westlichen Geheimdiensten und dem KGB keine Zusammenarbeit mehr gegeben wi e diese. In London trafen sich drei Herren in Zivil. Zwe i trugen Anzüge von westlichem Schnitt, während, der des dritten Moskauer Schneiderkunst verriet. Die Hosen waren ein wenig zu eng, der Sakko zu stark tailliert und die Revers zu breit geraten. Aber sie stellten eine Gemeinsamkeit fest. Sie hatten etwas 130
übrig für Scotch ohne Eis und Wasser. „Warum“, sagte der Amerikaner „sollte ich Scotch mit Wasser trinken, wenn ich schon mal echten schottischen kriege.“ Der Brite rauchte Pfeife, und der Russe ließ sich eine Pakkung Navy-Cut ohne Filter aus dem Automaten holen. Sie legten ihre Karten mit der Vorderseite auf den Tisch. „Uns geht es um die Wiener Abrüstungsverhandlungen“, sagte der Amerikaner. „Krisen stören die Konferenz.“ „Meine Regierung“, erklärte der Brite, „mit ihren traditionellen Bindungen zu Nahost, wünscht dort keine Verschärfung der Lage, hervorgerufen durch wachsenden Einfluß Libyens, Syriens, der PLO und ihrer Führer.“ „Und wir“, ergänzte der Russe, „wünschen den Status quo ante, die Lage wie vorher.“ „Und die Deutschen?“ „Sie tun alles, weil Niederlagen schmerzen“, äußerte der Mann von der CIA. „Was unternehmen sie?“ „Rufen wir doch mal in Pullach an.“ „Der deutsche Kanzler“, erklärte der Brite, „ist schwer in der Klemme. Aus der will er heraus. Das schafft er nur, wenn sie Ludenko finden.“ „Den einzigen und wahren.“ „Sie folgen einer Spur nach Südamerika.“ „Feuerland“, ergänzte der Amerikaner. „Man hält uns auf dem laufenden. Nicht die Deutschen, aber die Chilenen.“ „Die Germans haben ihren Stolz. Sie wollen das Problem alleine lösen.“ „Wenn sie da bloß nicht auf die Schnauze fallen.“ „Nun, ihre Streitmacht hat nicht das Ausmaß einer Invasionsarmee.“ „Bestenfalls einer Ein-Mann-Armee.“ 131
„Er ist ein Spitzenmann.“ „Jeder stößt an seine Grenzen“, meinte der Russe. „Das Risiko beim Einsatz von Ein-Mann-Kommandos ist meiner Regierung zu groß.“ „Was schlagen Sie vor?“ fragte der Amerikaner. „Unsere Spezialeinheit steht abrufbereit.“ „Unsere Delta Force auch.“ „Gehen Sie davon aus, Gentlemen, daß die Regierung Ihrer Majestät nicht untätig bleibt“, äußerte der Brite. In dieser Stunde wurde in einem Londoner Club eine Entscheidung getroffen, mit der man die Krise zu bewältigen hoffte. Über militärische Bedenken hinweg, unter Mißachtung aller ideologischen Unterschiede, kam es zwischen den Geheimdiensten des Westens und dem sowjetischen KGB erstmals nach 1945 zu so etwas wie einer geheimen Strategie. 19. Die Berge trugen oben Eis und Schnee. Die Gipfel ragten nahezu dreitausend Meter empor. Aber zwischen ihnen gab es einen Einschnitt, einen Paß. Sie ließen den Jeep zurück, arbeiteten sich durch den erst kniehohen, dann hüfthohen Neuschnee. Sie hatten nur das Nötigste mitgenommen. Die Männer schleppten je fünfundzwanzig Kilo, und der Schweiß troff ihnen aus allen Poren. Die Sonne war nur ein schwacher heller Punkt am Horizont. Die Temperatur lag auch tagsübe r nahe Null. Sieben Stunden schleppten sie ihre Ladung schon bergauf. Jetzt traf sie der Wind vo m Kap Hoorn wie mit Peitschen. Der Aufstieg war endlos. Schließlich war Michele Martin am Ende. Barba, der Scout, übernahm Urbans Packsack, und Urban schleppte das Mädchen weiter. 132
Nach neun Stunden Aufstieg erreichten sie den Paß. Dann ging es meilenweit flach dahin, ehe das Gelände abfiel. An der Südseite lag vorwiegend alter Firnschnee. Am Rand ging er in Geröllfelder über. Sie dehnten sich endlos. Abtauende Gletscher hatten breite Wasserrinnen in das Geröll gegraben. In so einer Rinne bleibend, stießen sie am nächsten Mittag an eine dreihundert Meter hohe Steilkante, die nahezu senkrecht ins Wasser des Fjords abfiel. Die Sonne leuchtete schräg in den nach Westen geöffneten Fjord hinein und färbte das Wasser für Minuten blaugrün. Man konnte bis zum Grund sehen. „Walfische?“ „Es ist so still“, zitierte Michele falsch, „wenn Walfische sterben.“ „Hemingway“, erwiderte Urban, „dachte mehr an Goldfische, als er das schrieb. Außerdem schwimmen tote Walfische an der Oberfläche und sind ein Stück kleiner. Diese Dinger haben wenigstens tausend Tonnen und sind aus Eisen. Aber es ist auch verdammt still, wenn U-Boote sterben. Insofern hast du leider recht.“ „Die U-Boote! „ Barba pfiff leise. „Bedeutet das, wir sind da, Senor?“ „Der graue Finger, der sich in den Fjord hineinkrümmt, ist der Anleger.“ „Dann birgt das schwarze Loch in der Felswand die Basis.“ „Ja, wir sind wohl am Ziel“, sagte Michele. „Erst wenn wir unten sind“, schränkte Urban ein. „Erst müssen wir den Abstieg finden. Das wird heute nichts mehr. In einer Stunde ist es dunkel.“ Sie schlugen das Biwak auf. 133
Urban entschied, das Gepäck zurückzulassen. Auch das orangefarbene Zelt blieb in der windgeschützten Mulde. Sie nahmen nur das Allernötigste mit und machten sich im Graupelregen an den Abstieg. Sie brauchten vier Stunden, um auf halbwegs sicheren Pfaden und Steigen Meereshöhe zu erreichen. Ein etwa hundert Meter breiter Streifen vo n Urgestein, mannshohen Granitbrocken, so aufeinandergetürmt wie sie in der Eiszeit heruntergekommen waren, bildeten den Strand. Aber es gab auch Höhlen. In einer der großen hatte der Befehlshaber der deutschen UBoote vor fünfzig Jahren seine Feuerland-Basis eingerichtet. Verdreckt, erschöpft und in der regennassen Kleidung frierend, erreichten sie den Anleger. Die schweren Stürme hatten kaum daran genagt. Offenbar hatte man guten Beton dazu ve rwendet. In Deckung neben dem Anleger schlichen sie auf das offene schwarze Maul in der Felswand zu. Urban ließ Barba und das Mädchen zurück und ging allein auf Erkundung. Dabei stellte er fest, daß vom Wasser her ein Kanal in die Höhle hineinführte. Er war breit genug für eines der großen IX-D-Boote, um einzulaufen und in der Höhle Schutz zu finden. Vor der Höhle hatte man einen etwa fußballfeldgroßen Platz aufgeschüttet, um Versorgungsgüter zu stapeln. Es gab noch vermoderte Kisten und einen rostigen Kran. Verbeulte Treibstoffässer lagen herum, dazwischen ein U-Boot-Diesel, wie ein Monument aus Stahl. Die haushohen Tore an der Höhle waren aus den Angeln gerostet, von Orkanen zerstört oder auch gesprengt worden. Das linke lehnte an der Wand, das rechte bildete nur noch ein Gerippe. Urban kehrte zu Barba und dem Mädchen zurück. 134
Das Gerät in der Tasche gab einen Piepton vo n sich. Das erste Mal seit zwei Tagen hatte es den Sender in Turbos Stiefelabsatz geortet. „Was ist das?“ fragte die Martin. „Mein Telefon.“ „Willst du mich verkohlen?’ „Nur ein Geigerzähler“, log Urban weiter. „Möglicherweise lagert hier radioaktives Material.“ Sie schlichen, in Deckung bleibend, auf die Basiseinfahrt zu. Von ihrer Position aus konnten sie etwa dreißig Meter in den Tunnel hineinblicken. Barba, mit den Falkenaugen, buchstabierte etwas. „Stützpunkt B – Dresden.“ Jetzt konnte auch Urban es lesen. „Aber niemand zu Hause.“ Im selben Moment gab der Empfänger wieder ein Signal von sich. Urban und Barba blickten sich an. „Nur eines verstehe ich nicht“, sagte Urban. „Wo ist Turbos Boot?“ Sie warteten noch eine Weile, dann gingen sie hinein und fanden nichts. Nicht einmal Ratten. Nur verlassene Reparaturwerkstätten, rostiges Material, Drehbänke, Schweißgeräte, nahezu leere Öltanks. „Sie haben sich hier versorgt“, mutmaßte Urban, „bis sie den letzten Tropfen Diesel und die letzte Konserve verbraucht hatten. Dann versenkten sie ihre Boote.“ Von Turbo noch immer keine Spur. Aber der Peiler gab weiter ein Signal, daß er in der Nähe sein mußte. Seitlich am Höhlengewölbe, das groß und hoch wie ein Kubikwürfel mit der Bodenfläche eine s Fußballfeldes war, entdeckten sie einen Pfeil. Darunter stand: Berlin 20 000 Kilometer und Stützpunkt A – Tirpitz 4 Kilometer. 135
„Aber wie finden wir Tirpitz?“ fragte Barba. „Schwimmend?“ Sie suchten und fanden ein Marineponton aus Zinkblech. Es hatte mehrere Löcher, in die sie Holzkeile trieben. Als Riemen benutzten sie Bretter, die sie von den Kojen im StützpunktLazarett rissen. Gegen Mittag ruderten sie um das Kap. Gegen Abend waren sie da. Am Pier lag ein Schlauchboot mit Motor.
Bei Stützpunkt Tirpitz handelte es sich mehr um ein Küstenfort. Man hatte Schiffsgeschütze in Stellung gebracht. Mit ihnen konnte man die Fjordeinfahrt sichern, falls sich ein fremdes Schiff hereinwagen sollte. Die schweren 22-cm-Kanonen trugen sogar noch Spuren grauer Farbe. Unweit davon ragte ein dickes Rohr horizontal über die Pier hinaus. „Eine Torpedoabschußvorrichtung. Früher nannte man das Lancierrohre.“ Die Torpedos und die Granaten hatte man auf Loren herausgefahren. Sie folgten den moosbewachsenen Geleisen durch die Mannpforte des Haupttores. „Warum zwei Stützpunkte?“ fragte Barba. „Tirpitz sicherte die Zufahrt.“ „Dann muß Tirpitz ständig bemannt gewesen sein. Auch nicht gerade ein Traumjob.“ „Es gibt Leute, die lieben die Einsamkeit. Sie hatten ausreichend zu essen, zu trinken und auch ein paar Bücher zum Lesen.“ 136
„Und jede Menge Weiber“, ergänzte Barba spöttisch. Sie gingen durch die tunnelähnlich ausgebaute Felsenröhre. In Schulterhöhe verliefen Kabelstränge, Telefonleitungen und Starkstromleitungen. Etwas tiefer Druckluft-, Wasser- und Treibstoffrohre. Hier war jahrelang mühsam gewerkelt worden, um den Stützpunkt einzurichten, ohne daß jemand etwas davon bemerken durfte. Aber wer kam schon jemals hierher. Im Sommer ein paar Robben, im Winter Eisbären. In zehn Jahren vielleicht ein chilenischer Fischer, der Schutz vor den Kap-Hoorn-Stürmen suchte. Der Peilton wurde so laut wie noch nie. Urban blieb stehen und hielt die anderen zurück. Er legte den Finger an die Lippen und zog die Waffe aus dem Hosenbund. Es war seine Absicht, Turbo zu überraschen. Lautlos entfernte Urban sich, durchsuchte die Kasematten links und rechts, stieg eine Treppe nach oben, kam zurück. „Nichts“, flüsterte er und lotste seine Begleiter weiter, bis ein Geräusch sie in Deckung springen ließ. Es klang, als wäre ein Werkzeug auf Stein gefallen. Der Piepton wurde jetzt überlaut. Und mit einemmal rief Michele Martin: „Vorsicht, Juan! Sie sind bewaffnet!“ Ehe Urban sie festhalten und die Hände auf ihren Mund pressen konnte, rannte sie los. „Juan! Nicht schießen! Ich bin es!“ Dann hörte man ihre Schritte nicht mehr. Dafür hallte ein gellender Schrei durch das Gewölbe und kehrte mit Echo zurück. Urban machte Licht, um zu sehen, was geschehen war. Der Strahl seiner Taschenlampe schwenkte den Boden des Tunnels ab. 137
Dort, wo er sich zu einer Halle weitete, lag Michele am Boden. Ein Mann hatte seinen Fuß auf ihren Hals gesetzt. Ein anderer stand mit gesenkter Maschinenpistole daneben, und ein dritter betrachtete sie, die Hände in die Seiten gestützt. Die Männer trugen gefleckte Kampfoveralls, Springerstiefel, Cordgürtel und Stahlhelme sowj etischer Bauart. Nichts wie weg, dachte Urban. Mein Gott, bloß raus aus dieser Falle. Es war zu spät. Soldaten waren aus den Kasematten getreten und versperrten ihnen den Fluchtweg. Scheinwerfer flammten auf. „Wir haben Sie erwartet“, sagte der einzige Unbewaffnete. „Wo einer ist, sind die anderen nicht weit.“ Sie wurden mit Draht gefesselt und in die Tiefe von Stützpunkt Tirpitz geführt. Der Offizier öffnete die Stahltür einer leeren Munitionskammer und stieß Michele Martin hinein. Was sie sah, erschütterte sie dermaßen, daß sie nicht fähig war, einen Laut von sich zu geben. Sie deutete stumm auf den Mann am Boden. Ein hochbrisantes Geschoß hatte ihm das halbe Gesicht weggefetzt. Er lag in seinem getrockneten Blut, um ihn herum glitzerten Diamanten und schimmerten Goldbarren. Juan Turbo hatte in seiner Schatzkammer sterben müssen. „Wieso“, fragte Urban, „konnten Sie uns erwarten?“ „Er gab uns seine Pläne preis“, sagte der Offizier auf englisch mit Balkanakzent. „Als er entdeckte, daß wir Stützpunkt B besetzt hatten, ließ er die Frau zurück. Sie sollte Sie hierherführen, um uns abzulenken. In der Zwi schenzeit hätte er seine Schätze in Sicherheit gebracht.“ Urban blickte Michele an. „Ist es so?“ Sie nickte. 138
Ob Turbo sie dazu gezwungen hatte oder ob sie freiwillig seine Komplizin geworden war, das spielte jetzt keine Rolle mehr. „Euch“, wandte Urban sich an den Offizier, „geht es nicht um die Zweigstelle der ehemaligen deutschen Reichsbank Berlin, denke ich.“ „Erst in zweiter Linie“, erklärte der Offizier. „In erster Linie geht es Ihnen um die Sicherheit von Dr. Ludenko, den Sie nach Feuerland brachten und hier festhalten, bis das Kommando kommt, ihn zu liquidieren.“ „Ich bin Soldat“, erwiderte der Offizier, „und führe Befehle aus. Mein Befehl lautet; jeden Fremden, der hier auftaucht, zu töten. Egal wer es ist, ob Fischer oder Jäger, Argentinier oder Chilene, Mann oder Frau.“ Urban hatte verstanden. Mit makabrer Korrektheit fragte der Offizier jeden einzelnen: „Haben Sie noch einen Wunsch?“ „Eine Zigarette“, bat Urban. „Ich darf Ihnen versichern“, erklärte der Offizier, „daß wir Sie fair und professionell, also schmerzlos töten werden.“ Urban bekam seine Zigarette. – Befehle hallten aus Lautsprechern. Das Erschießungskommando trat zusammen. Urban rauchte langsam und mit Genuß. „Danke“, sagte er.
Vor ihnen marschierten sechs Mann in zwei Dreierreihen. Hinter ihnen drei in einer Reihe. Dazwischen Barba links, Urban rechts, in der Mitte die Französin. Die Schritte der Soldaten waren gedämpft, denn sie trugen Stiefel mit Gummiprofilsohlen. 139
Urban nahm an, daß sie am Ende des Tunnels liquidiert werden sollten. – Na schön, nichts zu ändern. Das Aus kam immer dann, wenn man nicht damit rechnete. Wie zum Hohn piepte das Peilsignal des toten Turbo noch im Empfänger. Der Spanier hatte es im Grunde nicht anders ve rdient. Aber für Barba und das Mädchen war es hart. – An sich selbst dachte Urban zuletzt. Ihn hatte das Schicksal ohnehin nicht dazu ausersehen, im Bett zu sterben. Sie hatten das Freie erreicht. Noch eine Stunde, und die Nacht brach herein. Der Wind hatte nachgelassen. Aber das bedeutete hier, am Ende der Welt, nur ein kurzes Atemholen. Der Himmel war blau mit segelnden Wolkenschleiern. Es konnte auch schon aufkommender Nebe l sein. Sie wurden draußen an der Pier aufgestellt. Wenn sie im Kugelhagel fielen, stürzten sie gleich ins Meer. Die Strömung trieb sie fort, und man hatte keine Mühe, ihre Leichen zu beseitigen. Kommandos ertönten auf balkanesisch: „Das Ganze halt! In Reihe abschwenken! Stillgestanden! Ausrichten! Rührt euch! Waffen durchladen und sichern!“ Die Delinquenten standen nebeneinander dicht an der Kante des Anlegers. Sich ins Meer zu werfen, ehe die Schüsse fielen, brachte nichts. Mit den Händen auf den Rücken gefesselt, kam man nicht weit. Zwar war Ertrinken nicht gar so schlimm, aber doch weit unangenehmer, als erschossen zu werden. Während sie so dastanden und auf den Tod warteten, glaubte Urban, etwas gehört zu haben. Er drehte sich um und schielte nach oben. – Nur das Summen des Dieselaggregates. Dann sah er doch etwas. Einen Vogel mit gespreizten Schwingen. – Was gab es hier für Vögel? Kondore, Kormorane, Seeadler, Fischadler. 140
Die Vögel waren zu weit. Ein Paar. Sie floge n gestaffelt in gerader Linie. Deutlich kam noch ein dritter Vogel hinzu und die ersten fernen Frequenzen eines hellen Singtones. Die Soldaten hatten die Maschinenpistolen in Schulteranschlag gebracht. Urban sah die Läufe. Neun schwarze Kalaschnikowschlünde, Kaliber 7,65, schätzte er. Wie kannst du jetzt an Kaliber denken und an Schußfolgen, dachte es in ihm. Wieder schaute er nach oben. – Noch ein Vogel. Warum schossen die Soldaten nicht? – Der Offizier brauchte nur noch Feuer zu kommandieren. Aber er zögerte. Er machte jetzt ebenfalls die Vögel aus. Er schien sie zu zählen. – Und dann hämmerte ein schweres MG los. „Deckung!“ schrie der Offizier. Die Soldaten warfen sich hin. Urban und seine Begleiter blieben stehen. Instinktiv hofften sie, dadurch besser erkannt zu werden. Und dann lief alles ab wie im Zeitraffer. Eine Bombe taumelte aus der Höhe und explodierte im Fjord. Eine Riesenfontäne spritzte hoch. – Das war offenbar das Signal. Die Vögel, die Flugzeuge waren, stießen herunter und donnerten durch den Fjord. Ihre Rumpfklappen öffneten sich und verloren schwarze kugelige Gegenstände. Nach kurzem Fall öffneten sich die Schirme der Springer und Froschmänner. Die Bordwaffen der Flugzeuge ratterten, MPi-Feuer antwortete, verstummte aber bald. Getroffene Schützen stürzten, blieben liegen. Auf dem Anleger schrie ein Verwundeter. Ein schwarzes Pionierschlauchboot raste um die Felsnase des Kliffs auf den Anleger zu. Geduckt darin Einzelkämpfer, bis an die Zähne bewaffnet, mit Stahlhelmen und kugelsicheren Westen. Um die Stahlhelme trugen sie farbige Bänder wie im Manöver. Blau, weiß und rot 141
Die Boote preschten auf den Kies. Die Kommandos stürmten feuernd und Handgranaten werfend an Land. Wo sie Widersacher vermuteten, schössen sie Nebel- und Blendgranaten. Ein Werfer gab Steilfeuer. Plopp-plopp! In einem wütend geführten Angriff drangen sie vor. Drinnen im Stützpunkt gab es noch eine Explosion – dann war Stille. Ein Soldat in Tarnuniform entwaffnete das Erschießungskommando und gab auf russisch Befehle. Er trug ein rotes Band um den Stahlhelm. Ein anderer, mit weißem Band, kam auf Urban zu. Sie kannten sich. Der Colonel gehörte der amerikanischen Alarmeinheit Delta Force an. „Ein konzertiertes Unternehmen“, sagte er. Wä hrend er Urban, dem Mädchen und Barba die Fesseln aufschnitt, quäkte im Sprechfunk eine Meldung. „Unsere britischen Kameraden haben ihn. Er lebt.“ „Ludenko?“ fragte Urban. Der Amerikaner nickte und bot Zigaretten und Whisky aus der Feldflasche an. „Dein orangefarbenes Zelt oben am Kliff“, erklärte er Urban. „Wir erkannten es. Es war eure Rettung.“ Urban war sicher, daß dieses Unternehmen in die Geschichte der Geheimdienste einging. – Aber man würde es so geheimhalten, daß kein Außenstehender je davon erfuhr. Draußen im Fjord wasserten bei letztem Licht noch zwei Flugboote.
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Es war schon Herbst, aber ein Tag wie im Sommer, der Himmel war strahlend blau mit vereinzelten hohen Wolken. Eine Airbus-Maschine der Bundesflugstaffel zog ihre Kondensstreifen nach Südosten. Begleitet wurde sie von zwei To rnado-Abfangjägern. An der Grenze von Griechenland nach Bulgarien schwenkte der Jet mit dem Eisernen Kreuz an Rumpf und Tragflächen nach Osten. Nun übernahmen seinen Schutz zwei MiG-Jäger der sowjetischen Luftflotte. Pünktlich landete der Airbus auf einem Rollfeld südlich der Hauptstadt eines Balkanstaates. Vier Personen verließen das Flugzeug. Ein Offizier des sowjetischen Geheimdienstes, ein Major der CIA, Dr. Ludo Ludenko und zuletzt Robert Urban. Sie fanden alles so vor, wie es von den Diplomaten ausgehandelt worden war. Zehn Meter entfernt von dem Flugzeug wartete eine schwarze Funktionärslimousine, Typ ZIL, in der gepanzerten Ausführung. Im Wagen saß der Fahrer, an der offenen Fondtür stand der Innenminister. Jeder Schritt, jeder Händedruck war protokollarisch vereinbart worden. Dr. Ludenko und seine Begleiter nahmen in dem Siebensitzer Platz. Auf ein Zeichen des Ministers setzte der Fahrer den Motor in Gang. Sanft brachte das automatische Getriebe den viertürigen Wagen in Fahrt. „Gentlemen“, fragte der Innenminister auf englisch, „wohin?“ „Wo man uns erwartet“, antwortete der Mann, den sie vom Ende der Welt nach Hause gebracht hatten. ,Zum Staatsrat unserer Sozialistischen Republik. Zu den alten treuen Genossen und zu jenem Mann, der sich das Verdienst erwarb, mich während meiner Abwesenheit zu vertreten.“ 143
Die gepanzerte Limousine wurde außerhalb des Flughafens von Begleitfahrzeugen in die Mitte genommen und rollte nun in die Stadt hinein, die einmal eine der schönsten Europas gewesen war. Der Minister starrte stumm geradeaus. Nur einmal richtete er eine kurze Frage an den BND-Agenten Robert Urban: „Und Sie, was veranlaßte Sie, unbedingt dabeisein zu müssen?“ Urban überlegte nur kurz. „Der Auftrag meines Kanzlers“, antwortete er. „Denn wir lassen uns nicht noch einmal verscheißern, Exzellenz.“ ENDE
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