Ren Dhark - Im Auftrag des Nareidums Lhera weckte ihren Mann lange vor Beendigung seiner Schlafperiode. "Wach auf, Shodo...
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Ren Dhark - Im Auftrag des Nareidums Lhera weckte ihren Mann lange vor Beendigung seiner Schlafperiode. "Wach auf, Shodonn! Komm zu dir – schnell…!" Er wußte sofort, daß etwas passiert war, etwas sehr Schwerwiegendes. Normalerweise war Lhera die Ausgeglichenheit in Person; ihrer Ruhe hatte er es zu verdanken, daß er aus mancher Krise ohne bleibende seelische Blessuren wieder herausgekommen war. Doch nun schien sie es zu sein, die Zuspruch benötigte. Etwas hatte sie aus der Bahn geworfen. Shodonn richtete sich auf. Er registrierte kaum, wie sich das A-Gravfeld den neuen Erfordernissen anpaßte und seinen Rücken nun in der sitzenden Haltung stützte. Vor ihm, im Halbdunkel, stand die Frau, an deren Seite er sein Leben nun schon im zehnten Jahre führte. In dieser Zeit war sie älter geworden, natürlich, aber sie hatte nichts von ihrer Anziehungskraft für Shodonn verloren. Manchmal bedauerte er, daß sie keine Kinder haben konnten – allein schon aus dem Grund heraus, weil er sich gerne vorstellte, daß seine möglichen Töchter ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten wären. "Was ist passiert?" fragte er. "Beruhige dich." Er streckte die schlanke, viergliedrige Hand aus und forderte Lhera auf, sich neben ihn zu setzen. Sie hatte andere Schlafzeiten als er. Weibliche Galoaner benötigten gegenüber männlichen nur die Hälfte an täglicher Regenerationszeit. Die Natur hatte es so gewollt. Die Natur hatte auch gewollt, daß Lhera keine Kinder gebären konnte. Und ihr beider Glaube verbot es, dieses biologische Urteil anzufechten. Sie hatten sich damit arrangiert. Inzwischen waren sie ohnehin dem Alter entwachsen, in dem Galoaner üblicherweise ihre Familien gründeten. "Ich bin durch den HyCyber gereist", sagte sie, "wie jede Nacht, solange ich allein bin." Der HyCyber verknüpfte sämtliche Welten des Netzwerks, wie die Galoaner ihre viele hundert Sonnensysteme umfassende Einflußsphäre nannten. Jeder Privathaushalt besaß einen Medienkubus, in dem man die Weiten des HyCy virtuell bereisen konnte. Da die Verbindung durch den Hyperraum erfolgte, war es auf diese Weise möglich, praktisch in Nullzeit Bereiche zu besuchen, die viele Lichtjahre entfernt lagen. Gleichzeitig war der HyCy das Nachrichtensystem, über das jeder Galoaner zu jeder Zeit über die wichtigsten Vorkommnisse im Netzwerk informiert wurde. "Und?" "Ich wollte mich gerade in ein anderes System einloggen, als mir schwindelig wurde. Vielleicht verlor ich sogar kurz das Bewußtsein. Jedenfalls gibt es eine beachtliche Erinnerungslücke, bis die Dringlichkeitsmeldung mich aus meinem seltsamen Zustand weckte." Shodonn machte sich sofort Sorgen um Lheras Gesundheit. Dennoch fragte er: "Dringlichkeitsmeldung?" Ihre Miene verdüsterte sich. Noch nie in all den Jahren hatte er sie so in Angst gesehen. Ihre Mundöffnung sog den Atem heftig wie eine Erstickende ein. Ihr Sinnesring, der den Kopf umlief, glitzerte, als wäre er mit dem Blütenstaub einer Lamurblume bedeckt. "Du mußt es dir selbst ansehen – ich… ich finde keine Worte dafür…" Keine Worte. Shodonn wollte sich an das Haus wenden und eine Diagnose von Lheras Befindlichkeit verlangen. Seine Sorge wuchs und ließ auch nicht nach, als sie fragte: "Du hast… nichts bemerkt?" "Ich habe geschlafen." "Ich meine ja im Schlaf." "Nein. Was sollte ich bemerken? Rede doch endlich." Sie flocht ihre Hand in die seine und zog ihn mit unerwartetem Nachdruck von dem unsichtbaren Gespinst, in dem sie die kurzen gemeinsamen Stunden nebeneinander liegend verbrachten. "Komm… sieh es dir an… hör es dir an… bitte!" Shodonn gab seinen Widerstand auf und folgte ihr in den Nebenraum, wo der HyCy-Würfel stand. Es gab die Kuben in unterschiedlichen Größen, dieser hier bot Platz für zwei Personen.
Gemeinsam nahmen sie darin Platz. Schnittstellen koppelten sich drahtlos mit ihren Sinnesringen. Und dann versanken beide in der flüsternden Flut bestürzender Nachrichten, die aus allen Teilen des Netzwerks nach Galoa strömten. Berichte einer Katastrophe nie dagewesenen Ausmaßes, die auch Shodonn in ihren Bann schlugen und ihn der schlimmsten nervlichen Prüfung seines Lebens unterzogen… * Shodonn stand noch völlig unter dem Eindruck des Gehörten und Gesehenen, als der Kubus abschaltete. Das HyCy-Überwachungsmodul hatte festgestellt, daß der Mentalstreß eines seiner Insassen – vielleicht auch beider – in gesundheitsbedrohendem Maß angestiegen war. "Das ist… unvorstellbar!" Shodonn rang nach Worten. Und er bewunderte Lhera dafür, daß sie nicht völlig in lähmende Hysterie verfallen, sondern noch in der Lage gewesen war, ihn zu wecken. Er selbst saß wie paralysiert in dem Sitz, der sich den Konturen seines Körpers perfekt angepaßt hatte. Perfektion. War es nicht das – und Friede! – wonach Galoaner vor allem anderen strebten? Falls dem so war, konnte das Ereignis das Ende der Kultur, den Untergang der Zivilisation bedeuten… "Stell dir all die hilflos treibenden Schiffe vor", hörte er Lhera sagen. "Stell dir die Familien vor, die zu Hause sitzen und nicht wissen, ob sie ihre Angehörigen jemals wieder in die Arme schließen können." Shodonn war völlig in seinen eigenen Gedanken gefangen, eingekerkert wie hinter dickem Stahl. Er überlegte, was er gerade erfahren hatte, versuchte, sich die Konsequenzen auszumalen. Der virtuelle Moderator, der sich um einen repräsentativen Querschnitt der Geschehnisse in der Galaxis bemüht hatte, war völlig überfordert gewesen. Jeder wäre das gewesen, mit Ausnahme vielleicht – Shodonns Gedankenkette endete wie abgeschnitten. Er taumelte aus dem Kubus und begriff erst, als Lhera ihn losließ, daß sie ihn unter Aufbietung ihrer ganzen Kraft herausgezerrt hatte. Zitternd stand sie vor ihm. "Shodonn – was geschieht da draußen?" Die Wohnung hatte sich verändert. Shodonn tastete das Inventar mit seinen Sinnen ab und rätselte darüber, wie er sich je darin hatte wohlfühlen können. Die Vorstellung, zeitlebens in einer Illusion gelebt zu haben, ließ ihn schaudern. Nein, dachte er. Was tue ich? Ich darf nicht alles in Frage stellen. Ich… es gibt eine Erklärung – es muß sie geben. Es kann sich nur um ein zeitlich begrenztes Phänomen handeln… … aber wodurch war es hervorgerufen worden? Wovon? Überall in der Galaxis, nicht nur im galoanischen Hoheitsgebiet, auch bei den Markomanen und Sofiden, berichteten die Nachrichten, war es von einem Moment auf den anderen unmöglich geworden, über größere Distanzen hinweg zu reisen. Die Transitionstriebwerke sämtlicher Schiffe, ganz gleich welchen Volkes, streikten – und zwar nicht so, daß sie prinzipiell ihren Dienst versagten. Nein, aber doch insofern, als nur noch Maximalsprünge über wenige Lichttage Entfernung möglich waren…! Welch ein Aberwitz. Welch ein Wahnsinn. Shodonn hatte das Gefühl, einen Celen-Wurm verschluckt zu haben, der sich nun in seiner Speiseröhre verhakte und fortwährend krümmte. Gleichzeitig weigerte sich sein Verstand zu glauben, was er aus dem HyCyber erfahren hatte. Es widersprach den Grundsätzen der Physik, den Naturgesetzen… "Shodonn!" Sie war immer noch da, natürlich. Obwohl er sich wünschte, allein und fern dieses Alptraums zu sein, steckte er noch immer in dem Kerker seiner Wohnung.
Lhera stand so verloren vor ihm, daß er sich dafür haßte, sie nicht in die Arme nehmen zu können. Was war los mit ihm? Hatte er nicht immer geglaubt, die Welt könne zerbersten, aber nichts sei in der Lage, seine Liebe zu Lhera zu unterdrücken? Zum erstenmal in seinem Leben wurde ihm bewußt, wie schwach er war. Weil sich plötzlich alles als Lüge erwies. Es gab keine Perfektion. Es gab keine Allwissenheit. Und keine Unsterblichkeit. Nicht wirklich. Alles konnte von einem Augenblick auf den anderen enden. Und da draußen im All, jenseits der dünnen Schale aus Luft, die Galoa vom eisigen Vakuum trennte, war genau das passiert. Etwas hatte geendet… * Die künstlich modulierte Stimme drang wie durch eine dicke Kruste gedämpft an Shodonns Bewußtsein. Das Kommunikationssystem des Hauses meldete einen Anruf. Lhera nahm ihn entgegen. Kurz darauf hörte Shodonn sie sagen: "Ja, er ist hier. Einen Moment…" Ein Vorhang fiel. Shodonn sah an Lhera vorbei auf das Emblem, das sich auf dem Übertragungsmonitor der Komm-Verbindung abzeichnete. Er hielt den Atem an. Das Nareidum, dachte er. Der Boden unter ihm schien sich in Treibsand zu verwandeln. Er stakste näher an den Monitor heran. "Was kann ich für Euch tun?" "Mein Name ist Theris", sagte die gesichtslose Stimme hinter dem Emblem. "Ich bin der gegenwärtige Sprecher des Bundes. Ein Fahrzeug ist unterwegs. Es wird dich abholen und zu uns bringen." "Mich? Aber –" Die Verbindung erlosch. Shodonn starrte Lhera an. Lhera starrte ihn an. Er hätte geschworen, daß sie beide in diesem Moment dasselbe dachten: Etwas hatte nicht nur geendet – etwas hatte auch begonnen. Und im Gegensatz zu ihm hätte Lhera wahrscheinlich alles darum gegeben, es aufhalten zu können. * Die Stadt lag zu Füßen mächtiger Gebirgszüge. Galoa war der vierte Planet eines Zwölfplanetensystems. Die Sonne trug den Namen Wanar, was sich von "War Naar" ableitete und soviel bedeutete wie "allsehendes Auge". Shodonns Heimatwelt, die auch Sitz des Nareidums war, umlief ihren Stern einmal in 403 Tagen. Shodonn selbst war vierzig dieser Jahre alt und hatte damit den Zenit seines Lebens bereits überschritten. Im Durchschnitt wurden männliche Galoaner nur knapp siebzig Sonnenumläufe alt, Frauen sogar noch um gut fünf Jahre weniger. Während sich das Schienenfahrzeug durch die Schluchten der ästhetisch geformten Stadt bewegte, bemühte sich Shodonn, seine überschäumenden Gedanken im Zaum zu halten. Sollte es möglich sein…? Er schloß die eine Hand so fest um den anderen Arm, daß es wehtat. Doch nicht einmal der absichtlich zugefügte Schmerz konnte ihn davon abhalten, über den Grund seiner Audienz zu spekulieren. Es mußte mit der Katastrophe zusammenhängen. In den letzten Jahren hatte er unzählige Anträge gestellt, beim Bund der Weisen Toten vorsprechen zu dürfen. Alle waren abgelehnt worden, teilweise, wie es Shodonn vorgekommen war, aus fadenscheinigen Gründen. Man habe kein Interesse, seine Erkenntnisse und Ideen stünden auf zu wackligen Füßen, würden von kaum einem anderen Wissenschaftler als realisierbar eingestuft – auch nicht von den genialen Geistern, die das Konglomerat der Seelen bildeten…
Bei der ersten Absage hatte Shodonn alles hinwerfen, sich dem niederschmetternden Gutachten beugen und aufgeben wollen. Doch dann hatte der Trotz gesiegt. Jetzt erst recht! – Nach dieser Maxime hatte er fortan gelebt und gearbeitet. Aber nicht einmal er hätte eine Situation wie diese voraussagen können. Eine Situation, von der niemand wußte, wie lange sie wohl andauern würde. Sicher war jedoch, würde es länger sein, dann stand der Zerfall nicht nur der galoanischen Zivilisation bevor, und auch die Möglichkeit des HyCyber würde ihn nicht aufhalten können. Die intelligenten Völker dieser Galaxis waren darauf angewiesen, in Raumschiffen zu reisen, und deshalb… … deshalb bin ich plötzlich wichtig geworden, dachte Shodonn. Wichtig genug jedenfalls, um eingeladen zu werden – ohne vorher darum ersucht zu haben… Das Fahrzeug erklomm eine steil nach oben führende Schiene, die zum hoch über dem Erdboden gelegenen Portal eines Turms führte, der alle anderen Türme der Stadt an Imposanz und Höhe übertraf. Der Sitz des Nareidums. Er war angekommen. * Der in allen Farben leuchtende Raum war kreisrund. In seiner Mitte erhob sich eine freischwebende, transparente Kugel, deren Innenleben aus hochkomplizierter Elektronik bestand. Aber nicht nur. Die Kugel allein hätte niemandem Schauer der Ehrfurcht über die Haut gejagt, wie sie auch Shodonn empfand, wäre nicht das Wissen um ihre wahre Bedeutung dazugekommen. Der in eine blendendweiße Robe gehüllte Diener des Nareidums, der Shodonn nach seiner Ankunft empfangen und hierher geführt hatte, verabschiedete sich mit einer stummen Geste. Shodonn sah ihm kurz hinterher. Er fühlte sich unbehaglich im Schatten der Kugel, den Blicken unsichtbarer Augen ausgeliefert. Geprüft, gewogen und… für würdig genug befunden…? Sonst hätten sie dich nicht kommen lassen, versuchte er, sein Selbstbewußtsein wiederherzustellen. Übergangslos wurde es finster. Selbst die Kugel verschwand in absoluter Schwärze. Shodonns Unbehagen wuchs, aber er wagte nicht, die Stimme zu erheben. Als würden sie bis auf den Grund meiner Seele blicken, dachte er. Seelen. Unsterbliche Seelen. Die besten der Besten. Die weisesten der Weisen. "Willkommen!" Die Stimme klang neutral, aber nicht einfach nur so, als hätte ein Gerät sie erzeugt. Sie besaß durchaus… Charisma. Shodonn überwand seine Befangenheit. "Ich grüße dich, Theris." Auf der Fahrt hierher hatte Shodonn sich Informationen über die Person des momentanen Nareidumssprechers besorgt. Er wollte ihm nicht völlig unvorbereitet gegenübertreten. Theris, so war im planetaren Archiv vermerkt, auf das jeder Galoaner – abgesehen von hochbrisanten Sektionen, für die man eine spezielle Autorisierung benötigte – Zugriff hatte, war zu Lebzeiten ein hochgeachteter Philosoph gewesen. Seine Thesen hatten das Leben der Galoaner grundlegend geprägt. Im Grunde, so stand zu lesen, basierte die friedliebende und nach Harmonie mit dem Universum strebende Gesellschaftsform dieses Volkes auf dem Fundament, das Theris gelegt hatte – vor mehr als dreihundert Jahren. Und noch etwas hatte Shodonn erfahren: Theris war einer der ersten gewesen, vielleicht sogar der allererste, dem die Ehre zuteil geworden war, den Tod zu überdauern. Damals war die Technologie endlich weit genug fortgeschritten, um den wichtigsten Sieg, den eine Spezies überhaupt erringen konnte, zu feiern: den Triumph über die Unausweichlichkeit des Todes. Jedoch war dieses Verfahren auch heute noch mit solch immensem Aufwand verbunden, daß nur wenige Auserwählte in den Genuß kamen. Theris, wie gesagt, war einer der ersten oder der erste gewesen, der Aufnahme in einen Seelenchip gefunden hatte – doch es hatte noch einmal Jahrzehnte gedauert, bis die Galoaner sich in einer Volksabstimmung dazu entschieden, ihre Geschicke fortan von einem Verbund der verdientesten Geister bestimmen zu lassen. Nach deren Ableben. Es hatte sich bewährt. Über all die Jahrhunderte, die seither verstrichen waren.
Das Regulativ war die Vielfalt der Individuen, die außerdem zu Lebzeiten bewiesen hatten, daß ihnen das Wohl des Volkes über das eigene Wohl ging. Niemand, der selbstsüchtig handelte, fand Aufnahme in das Kollektiv. Niemand, der sich Böses hätte zu Schulden kommen lassen. Niemand, der nicht unerhört klug und gleichzeitig weitsichtig handelte. Alle Angehörigen des Bundes hatten Großes vollbracht und sich die Ewigkeit verdient. All die genialen Geister der Prä-Nareidum-Zeit hingegen waren unwiederbringlich verloren. Von manchen gab es noch heute schriftliche Aufzeichnungen. Großartige Romane, Musikstücke, Bauten… aber sie selbst, ihr unerhörter Schatz an Wissen und Erfahrung, der jedes Buch, jede Komposition, jedes architektonische Kleinod weit übertroffen hatte, war verloren. War mit ihnen gestorben! Shodonn hegte dennoch zwiespältige Gefühle, was das "Überleben" der Weisen anging. Er war froh, ein Geschöpf aus Fleisch und Blut zu sein. "Ein jeder von uns", sagte Theris, "würde gerne mit dir tauschen. Sei dir dessen versichert." Shodonn stockte der Atem. Er hatte das Gefühl, in der Finsternis zu versinken wie in einem Moor. "Keine Sorge", sagte Theris. "Wir können keine Gedanken lesen. Weder ich noch ein anderes Mitglied des Konglomerats. Aber es steht dir ins Gesicht geschrieben, was du denkst. So viele haben schon da gestanden, wo du jetzt stehst. Es geht ihnen allen gleich. Niemand möchte in ein Ding eingesperrt sein – wir beugen uns lediglich der Notwendigkeit, die wir eingesehen und für die wir uns entschieden haben. Vielleicht…" Die Stimme stockte kurz. "Vielleicht wirst du eines Tages besser verstehen, was es wirklich bedeutet, den Tod auf diese Art zu überlisten. Aber wir sind nicht zusammengekommen, um darüber zu reden." "Nein", sagte Shodonn. "Das ist mir klar."
"Und hast du auch eine Vorstellung, worüber wir dann sprechen, wozu wir deine Meinung hören
wollen?"
"Die Katastrophe?"
"In der Tat.
Und warum haben wir dich und keinen anderen zu uns gerufen?"
Shodonn zögerte. Dann nahm er sich ein Herz und sagte: "Ihr habt mir immer das Gefühl
gegeben, nichts von meinen Arbeiten zu halten…"
"Es waren andere Zeiten. Es bestand kein Bedarf. Niemand, auch wir nicht, konnte voraussehen,
daß sich die Erfordernisse einmal grundlegend ändern werden."
"Ihr haltet es nicht für ein lediglich kurzfristiges Phänomen? Für eine Laune der Natur?"
"Nein", sagte Theris. Sein Ton verriet, daß er nicht gewillt war, Shodonn die Gründe für diese
Überzeugung zu nennen. Zumindest nicht in diesem Stadium der Konversation.
"Was erwartet ihr von mir?"
"Wir haben deine Forschungen mit großem Interesse verfolgt."
Shodonn spürte den Wunsch nach Aufbegehren in sich wachsen. Tatsächlich verspürte er, je
länger Theris mit ihm sprach, immer mehr Wut auf das Nareidum.
"Was erwartet ihr von mir – Wunder?"
"Nein."
"Damit könnte ich auch nicht dienen. Ihr hättet meinen Bitten und Ersuchen vor Jahren Gehör
schenken müssen, dann besäßen wir vielleicht jetzt schon einen alternativen Antrieb, der
Fernreisen über Lichtjahrdistanzen ermöglicht, aber so…"
"Wie weit bist du aktuell?"
Shodonn überlegte kurz, ob er die Wahrheit sagen sollte. Da er Komplikationen fürchtete, die auf
ihn zurückfallen könnten, entschied er sich dafür. "Leider nur unwesentlich weiter als bei meinem
letzten Versuch, euch die neue Technik schmackhaft zu machen."
"Wo bewahrst du deine Arbeiten auf, zu Hause?"
"Ja."
"Bist du einverstanden, wenn wir darauf zugreifen?"
"Hätte ich denn eine Wahl?"
"Es wäre mir angenehm, wenn du es von dir aus erlauben würdest."
Es wäre mir angenehm… Shodonns Innerstes zog sich zusammen wie ein Knoten.
"Ich bin einverstanden." Er nannte Theris den Zugriffskode. Kurz darauf veränderte sich die Schwärze um Shodonn. Buchstaben und Zahlenkolonnen wurden hineinprojiziert. "Beachtlich", kommentierte Theris. "Darauf läßt sich aufbauen." * Plötzlich veränderte sich die Dunkelheit erneut. Shodonn hatte in viele Abgründe geblickt. Er liebte die Berge und die Ausblicke, die man von den höchsten Gipfeln genoß. Aber noch niemals hatte er irgendwo gestanden und sich umgeben von einer Kluft gefühlt, die breit und tief wie das Universum war. Es war, als stünde er auf einem winzigen Felsbrocken, gerade groß genug, seine Füße zu tragen, und um ihn herum gähnte der Weltraum. "Was bedeutet das?" "Wir wollen dir etwas zeigen", sagte Theris. "Etwas, von dem die Öffentlichkeit noch nichts weiß." "Unter" Shodonn drehte sich Galoa in dieser holographischen Simulation. Im Hintergrund lohte der Glutofen Wanars, und auch die anderen Planeten und Monde des Systems waren deutlich hervorgehoben. "Richte deine Aufmerksamkeit in fernere Regionen", sagte Theris. "Wohin?" "Wir befinden uns in einem Seitenarm unserer Galaxis. Wende deinen Blick über ihre Grenze hinaus. Zu den Sternbildern, die dein Cy-Lehrer dir nahegebracht hat. Als du noch ein Schüler warst." Shodonn tat, wie ihm befohlen. Die Sterne und fernen Galaxien blinkten kalt. Kälter und feindlicher als jemals zuvor. "Erkennst du die Wahrheit?" "Nein, ich…" "Was siehst du?" "Zeigt mir das wahre Firmament! Warum wollt ihr mich verwirren? Das – das sind nicht die Bilder, die ich einst lernte." "Nein", sagte Theris. "Es sind andere Bilder – fremde, nie gesehene Muster… wende deinen Blick. Schau in Richtung Zentrum unserer Galaxis und darüber hinaus. Irgendwo dort lag einst das Reich der Rahim." Shodonn befolgte auch diese Anweisung. "Dieser Anblick ist mir vertraut. Es hat sich nichts verändert. Die Sterne stehen an ihrem angestammten Platz – wenn ich das richtig erkenne." "Korrekt." Shodonn wandte sich wieder der Fremde zu. "Ich verlange eine Erklärung. Warum manipuliert ihr die Sicht galaxisauswärts?" Theris wirkte beinahe erheitert, als er behauptete: "Wir manipulieren nichts. Dies ist die Realität, mit der wir uns ebenso auseinandersetzen müssen wie mit dem Umstand, daß unsere Schiffe und die anderer Völker augenblicklich hilflos durch den Raum driften." "Ich verstehe wirklich nicht –" "Niemand versteht es – es ist nicht zu verstehen. Aber eine augenscheinliche Tatsache." "Was?" "Unsere komplette Galaxis", sagte Theris, "hat ihre Raumkoordinaten gewechselt. Sie ist transitiert, als wäre sie das gewaltigste Raumschiff, das jemand je erdachte. Die Sterne und Galaxien da draußen, die Bilder, die niemand kennt, weder du noch wir, sie markieren das neue Gebiet, die neue Umgebung, in die unsere Sterneninsel eingebettet wurde. Und frage jetzt nicht, wie dies geschehen konnte. Es ist passiert. Und offenbar hängt der Leistungsabfall aller Raumschiffstriebwerke damit zusammen, was unserer Galaxis passiert ist. Die Katastrophe, die sämtliche bewohnten Welten in Aufruhr und Panik versetzt, ist von noch weit größerem Ausmaß, als unser Volk bislang ahnt…" * "Was wollten sie?" Lhera stand vor dem Fenster, als Shodonn nach Stunden heimkehrte. Draußen dämmerte es
bereits. Die Sonne versank glutrot wabernd hinter den Gebirgskanten.
Shodonn kam auf Lhera zu, blieb aber zwei Schritte von ihr entfernt stehen. "Ich darf nicht darüber
sprechen."
Sie kehrte ihm den Rücken, aber natürlich konnte sie ihn sehen. Das Augenband ermöglichte den
gleichzeitigen Blick nach allen Seiten.
"Du darfst nicht mit mir sprechen?"
"Nicht darüber."
Nun wandte sie sich doch um, mit verschränkten Armen. "Was ist nur passiert?" fragte sie. "Bis
heute dachte ich, wir wären das ideale Paar…"
"Vielleicht sind wir schon zu lange zusammen…"
Sie war so fassungslos, daß sie nicht einmal etwas erwidern konnte. Wortlos ging sie an ihm
vorbei in Richtung des Schlafzimmers.
"Warte", sagte er.
Sie blieb stehen. An ihrer Haltung erkannte er, daß sie glaubte, er würde sich für seine Schroffheit
entschuldigen. Doch Shodonn hatte lange nachgedacht.
"Ich bin nur gekommen, um ein paar persönliche Dinge abzuholen."
"Persönliche Dinge?" Sie schien immer noch nicht zu verstehen.
Und Shodonn selbst erschrak über die Gefühllosigkeit, mit der er seinen Entschluß vertrat. Für
einen Moment kam ihm in den Sinn, daß die Weisen ihn vielleicht manipuliert haben könnten.
Aber er verwarf den Gedanken als absurd.
"Die Weisen möchten, daß ich meine Forschungen fortsetze – sie gewähren mir dafür jede
Unterstützung. Das ist es, wovon ich immer träumte. Sie… sie glauben an mich."
Lhera schwieg. Ihr Sinneswulst hatte jeglichen Glanz verloren, wirkte fast so stumpf wie bei einem
Toten.
"Ich werde in die unmittelbare Nähe der Weisen ziehen. Sie haben es mir angeboten. Ich – konnte
nicht ablehnen."
"Sie haben dich gezwungen?"
"Nein! Nein… sie haben mich nur von den Vorteilen überzeugt…"
Shodonn erwartete eine Beschimpfung, schwerste Vorwürfe, aber alles, was Lhera sagte, war:
"Ich hätte nie gedacht, daß es einmal so enden würde."
Sie verließ den Raum.
Shodonn fühlte sich elend – aber auch seltsam befreit.
Bald darauf ging er mit wenig Gepäck. Es gab keinen Abschied.
Und, was er selbst zu diesem Zeitpunkt nicht ahnte, auch nie mehr ein Wiedersehen.
* Die erste Zeit brachte Shodonn damit zu, sich im Sitz des Nareidums einzurichten – aber nicht nur damit allein, er begann auch unverzüglich mit seiner eigentlichen Arbeit. Die von den Weisen gestellt Aufgabe lautete nicht etwa, daß er allein einen Ausweg aus der Misere finden sollte, nein. Er würde mit allen erdenklichen fähigen Köpfen kooperieren. Und dazu zählten nicht nur das Konglomerat der Seelen selbst, sondern auch ausgesuchte galoanische Wissenschaftler, die überall im Netzwerk beheimatet waren, und… andere Spezies. Das Netzwerk erstreckte sich zwar, was das unmittelbare Einflußgebiet der Galoaner anging, nur auf ein begrenztes Gebiet dieses Spiralarms, doch hatte man im Laufe der Zeit diplomatische Beziehungen mit den Sofiden und Markomanen aufgenommen. Auf den Zentralwelten beider Reiche befanden sich Botschaften der Galoaner, und diese wiederum waren mit den Welten des Netzwerks via HyCyber verknüpft. In der Folgezeit nun entstand auf Basis dieser permanenten Verbindung ein reger Gedankenaustausch. Was Shodonn nur am Rande mitbekam, war, daß durchaus Hürden genommen werden mußten, um die sich jedoch das Nareidum kümmerte. Das Mißtrauen unter den verschiedenen Rassen war groß. Überall spielten sich Tragödien ab, im kleinen wie im großen, und verständlicherweise schürte dies die Angst, jemand könnte sich die allgemeine Schwäche zunutze machen, indem er als erster einen Antrieb entwickelte, der nicht mehr darauf basierte, durch das übergeordnete Kontinuum zu "springen". Komplizierte, langwierige Verhandlungen führten jedoch schlußendlich zu einer Agenda, der sich
alle beteiligten Völker verpflichteten. Eine Art Kodex, dessen Inhalt nichts anderes vorschrieb, als daß die Erforschung des Phänomens und die Entwicklung eines alternativen Antriebs von Galoanern, Sofiden und Markomanen zum Gemeinwohl erfolgen würde. Jede Spezies verpflichtete sich zur uneingeschränkten Kooperation. Grundlage, um dies zu ermöglichen und auch zu kontrollieren, war der HyCyber, der jede Partei in Nullzeit über jeglichen Fortschritt der anderen in Kenntnis und damit in die Lage versetzte, ihn sich ebenfalls nutzbar zu machen. Für Shodonn eine ungewohnte Form der Zusammenarbeit. Bislang hatte er sich immer nur auf sich selbst verlassen. Doch er lernte diese neue Art der Forschungsarbeit schätzen – und wurde vom Nareidum täglich darin bestärkt, auf dem richtigen Weg zu sein. Seine Ideen waren die Grundlage des Großprojektes, dem sich auch die anderen Völker nach eingehender Prüfung angeschlossen hatten. Niemand hatte eine Alternative mit ähnlicher Aussicht auf Erfolg anbieten können. Shodonn beschäftigte sich seit Jahren mit der Möglichkeit, künstliche Wurmlöcher zu erzeugen und sie als eine Art "Abkürzung" durch den Raum zu gebrauchen. Die Idee an sich war nicht neu. Schwarze Löcher gab es überall in der Galaxis. Aber keines davon wäre als Transportmedium für ein Objekt wie ein Raumschiff nutzbar gewesen – nicht mit den Mitteln, die den intelligenten Völkern dieser Sterneninsel zur Verfügung standen. Nein, es ging darum, diese auch natürlich und sehr viel gigantischer vorkommenden Wurmlöcher künstlich zu erzeugen. Ihre Haltbarkeit mußte lediglich für die Dauer der geplanten Schiffspassage garantiert werden. Lediglich… Shodonn verzog die Mundöffnung. Täglich bereiste er mit seinem Geist ferne Welten, um sich mit anderen Wissenschaftlern zu beraten. Längst hatte er ihnen dargelegt, woran seine theoretisch bereits fertige Konstruktion krankte: daran nämlich, einen geeigneten Mechanismus zu finden, der in der Lage war, ein künstliches Wurmloch von einem Raumschiff aus zu projizieren. Der Mechanismus dafür mußte sich zweckmäßigerweise an Bord des Raumschiffes selbst befinden. Und er mußte in der Lage sein, nicht nur ein Tor dort zu öffnen, wo das Schiff in den Wurmloch "Tunnel" eindrang, sondern diesen "Schlauch" gleichzeitig stimulieren, damit er sich bis zum errechneten Austrittsort, dem jeweiligen Ziel, hin erweiterte. Dies von der Theorie in die Praxis umzusetzen dauerte Jahre und forderte unzählige Opfer. Kaum eines der Raumschiffe, die interstellar unterwegs gewesen waren, schaffte es, einen rettenden Hafen zu erreichen. Entweder überlasteten sie ihre Triebwerke durch die unabdingbare Folge von Kurztransitionen so sehr, bis ihre Konverter verschlissen waren und ihr Raumer explodierte. Oder aber sie trieben so lange durch die Abgründe zwischen den Sternen, bis Atemluft oder Lebensmittel aufgebraucht waren – oder, oder, oder… Der Todesarten gab es viele. Shodonn bekam all dies mit, und es deprimierte ihn, weil er sich eine Teilschuld am Tod all dieser Lebewesen zuschrieb. Allein schon deshalb, weil die vernetzten Wissenschaftler unzähliger Welten noch immer keine Lösung gefunden hatten. Dann, drei Jahre nachdem er sein erstes Gespräch mit Theris geführt hatte, drei Jahre nachdem die Katastrophe eingetreten war, machte er eher zufällig eine Entdeckung, deren Tragweite ihm erst nach und nach klar wurde. Es begann damit, daß er in den Archiven der Sofiden stöberte – und auf einen ersten Hinweis stieß, der zunächst nur als unerklärter Begriff im Netz des HyCyber schwebte. Muun. Shodonn wußte nicht, woher er die Ahnung nahm, aber er war sofort wie elektrisiert und forschte weiter. Muun-Kristalle… Die Sofiden verehrten sie als einzigartige Schätze. Es gab offenbar nur eine einzige Stelle in ihrem Sonnensystem, einen Asteroiden, auf dem diese funkelnden Kleinode vorkamen – und mühevoll abgebaut wurden. Aber je länger sich Shodonn mit den physikalischen Eigenschaften dieser vermeintlichen Schmuckstücke auseinandersetzte, desto überzeugter wurde er, daß die Kristalle der lange gesuchte Schlüssel waren.
Aber erst nachdem er seine Entdeckung ausgiebig geprüft und auf alle Eventualitäten hin
abgeklopft hatte, nahm er Kontakt zum Nareidum auf.
Von da ab verging nicht einmal mehr ein halber Sonnenumlauf, bis das erste – noch winzige –
Testschiff fertiggestellt war.
* Es war nur eine Sonde, unbemannt und rechnergesteuert. Von der Form her entsprach es den Schiffen, die auf dem Raumhafen nahe der Stadt standen – die Schiffe, die das Glück gehabt hatten, sich zum Zeitpunkt der Katastrophe nicht auf irgendeiner Außenmission befunden zu haben. So wie das, an Bord dessen sich Shodonn gerade befand. Der Name des Zylinderraumers war Sharuc. Die Sharuc war ein leicht bewaffnetes Forschungsschiff. Shodonn überprüfte noch einmal alle Systeme. Mit ihr war Shodonn zur äußersten Grenze des Waran-Systems gereist – eine Entfernung, die auch in diesen dunklen Jahren keine Schwierigkeit darstellte. Es war nicht das erste Mal, daß Shodonn sich in einem Schiff aufhielt. Aber es war das erste Mal seit die Entartung des Hyperraums begonnen hatte. Entartung… Bis heute wußte niemand, worauf sie genau beruhte – weshalb sie Funkimpulsen die Passage wie zuvor gestattete, Schiffe aber im Sprung ausbremste. Alle Bemühungen, die Ursache der Veränderung zu ergründen, waren fehlgeschlagen. Auch Jahre später stand man, was das anging, am Anfang. Am Nullpunkt. "Position erreicht", meldete Nhorac, der Kommandant der Sharuc. "Ich erwarte deine Befehle." Shodonn hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt, daß andere Galoaner – insbesondere Galoaner, die es normalerweise gewohnt waren, daß ihre Befehle befolgt wurden – Anweisungen von ihm entgegennahmen. Für einen flüchtigen Moment schweifte seine Erinnerung zu Lhera. Was wohl aus ihr geworden war? Sie hatten ihre Partnerschaft offiziell auflösen lassen. Ohne noch einmal persönlich miteinander gesprochen zu haben. Er wußte, daß sie ihn nicht verstand. Und daß er ihr wehgetan hatte. Bis heute hätte er nicht sagen, nicht wirklich erklären können, warum er sie verlassen hatte. Manchmal kam es ihm vor, als hätte er nur auf eine Gelegenheit gewartet. Als hätte er ihr nie verziehen, daß sie keine Kinder miteinander haben konnten… "Die Befehle?" Die Stimme klang nun drängender. Shodonn fiel auf, daß Nhorac beinahe aufgeregter war als er. Natürlich, dachte er. Er ist Kommandant eines Schiffes, mit dem er gewohnt war, die Ozeane zu durchkreuzen. Und nun dümpelt er damit seit quälend langer Zeit nur noch auf einem öden Tümpel. Sie fanden sich in einem der Hangarräume des Zylinderraumers. Nur Nhorac war persönlich bei
Shodonn. Alle anderen Zeugen des Experiments waren über HyCyber zugeschaltet. Nicht nur
Galoaner, auch die Aquageschöpfe von Sofid und die vogelartigen Markomanen.
Aller Augen, alle Hoffnung ruhte auf diesem Moment.
Shodonn hatte einen winzigen Muun-Kristall, mit dem bloßen Augenband kaum erkennbar,
synthetisch herstellen lassen. Das Nareidum hatte es ihm gestattet, in Anerkennung seiner
Verdienste. Obwohl es einen kaum zu rechtfertigenden Aufwand bedeutet hatte, kam der Muun-
Kristall doch bei den Sofiden in natürlicher Form vor.
Entsprechend waren von den Sofiden auch die heftigsten Einwände gekommen. Die Agenda sah
vor, daß kein beteiligtes Volk einen Vorsprung vor dem anderen erringen durfte. Das Nareidum
hatte jedoch sowohl die Aquabewohner Sofids als auch die Luftbewohner Markomas davon
überzeugt, daß es den Galoanern nicht darum ging, sich einen Vorteil zu erschleichen. Letztlich
hatte der gute Leumund der Vergangenheit die anderen Völker einlenken lassen. Niemand
zweifelte die Friedensliebe der Netzwerk-Bewohner an. Niemand traute ihnen ernsthaft zu,
Machtgelüste ausleben zu wollen.
Shodonn hatte sich in dieser Phase, als er letzte Hand an die Fertigstellung des Testfahrzeugs
legte, häufig gefragt, ob es nicht noch eine andere Partei gab, die ihr Bemühen kritisch beäugte.
Womit er die Rahim meinte. Von denen alle zu glauben schienen, es gebe sie nicht mehr. Sie waren zur Legende geworden. Zu sagenumwobenen Mächtigen, von denen kein Lebender mehr hätte sagen können, ob es sie überhaupt einmal gegeben hatte. Das Netzwerk reichte nicht annähernd bis in den Teil der Galaxis, in dem die Rahim einst beheimatet gewesen waren und von dem aus sie die Geschehnisse in der gesamten Sterneninsel kontrolliert haben sollten. Ein so mächtiges Volk verschwindet nicht einfach, war Shodonn überzeugt. Oder hatten sie schon damals, vor Jahrhunderten, gewußt, daß eines Tages eine Katastrophe über die Völker hereinbrechen würde, wie sie nun geschehen war? Waren sie davor geflohen? Wenn ja, warum hatten sie die anderen nicht gewarnt und sie völlig ahnungslos ins Verderben treiben lassen…? Auch jetzt, im Angesicht der Testsonde, mußte Shodonn wieder an die Rahim denken. Und daran, daß sie – egal, wie wenig Galoaner, Sofiden und Markomanen noch über sie wußten – ebensogut die Entartung des Hyperraums auch verursacht haben konnten… * Die Sonde verließ die Schleusenkammer, nachdem Shodonn und Nhorac in die Schiffszentrale zurückgekehrt waren, von wo aus sie den weiteren Ablauf bis in kleinste Detail verfolgen konnten. Die Sonde beschleunigte mit einem herkömmlichen Impulstriebwerk. Der Kurs war programmiert. Ziel war die Wanar am nächsten gelegene Sonne in einer Entfernung von 4,3 Lichtjahren. Sie hieß Gorar. 4,3 Lichtjahre – noch vor Jahren wäre dies eine lächerliche Distanz gewesen. Inzwischen war sie schier unüberbrückbar… … bis heute? Shodonn wartete, bis die Sonde auf annähernd Lichtgeschwindigkeit beschleunigt hatte. Seinen Berechnungen zufolge würde die Passage um so schneller erfolgen, je höher die Eintrittsgeschwindigkeit in das künstliche Wurmloch war. Er fühlte die Blicke der Gaolaner auf sich ruhen, die sich mit ihm in der Zentrale versammelt hatten. Neben Nhorac handelte es sich um weitere Besatzungsmitglieder und Wissenschaftler, mit denen Shodonn eng zusammenarbeitete. Er blickte auf die Zeit, die in den Übertragungsschirm eingeblendet war. "Jetzt", murmelte er. Wie auf Stichwort bildete sich vor der Sonde ein grausig anzusehender Schlund, der aussah, als hätte etwas eine blutende Wunde in die Schwärze des Weltalls geschlagen. Shodonn kontrollierte die Werte, die ihm von der Sonde übermittelt wurden. Im nächsten Moment tauchte sie bereits in das Wurmloch ein, und der Kontakt brach ab. Die klaffende "Wunde" schloß sich. Niemand wagte etwas zu sagen. Shodonn schaltete unbeirrt auf HyCyber. Das Bild auf dem Schirm wechselte. Es zeigte jetzt die Umgebung des Gorarsystems. Speziell für diesen Test waren von der dortigen Kolonie eine Vielzahl von Übertragungsbojen ausgesetzt worden. Das Warten begann schließlich auch an Shodonns Nerven zu zerren. Bharag, der aktuelle Nareidums-Sprecher, meldete sich über die permanent offene Phase. "Es dauert lange", sagte er. "Vielleicht ist etwas schiefgegangen." In diesem Moment aktivierte sich eine der Bojen im Gorarsystem selbsttätig. Das Weltall platzte auf. Derselbe Effekt, der schon außerhalb des Wanarsystems beobachtet worden war, wiederholte sich jetzt in 4,3 Lichtjahren Entfernung. Nur daß diesmal kein Objekt in das Phänomen eintauchte, sondern davon ausgespien wurde. Shodonns nächster Seufzer ging im frenetischen Geschrei der Versammelten unter. Er hörte nicht einmal, wie Bharag ihm gratulierte. Als die Sharuc nach Galoa zurückkehrte, wurde Shodonn wie ein Held empfangen und gefeiert. * Ein Etappenziel war erreicht, die eigentliche Arbeit schien erst jetzt zu beginnen – jedenfalls konnte sich Shodonn dieses Eindrucks zunehmend nicht mehr erwehren. Es blieb nicht bei dem einen Testflug, die Sonde wurde noch häufiger eingesetzt. Die dabei ermittelten Daten flossen in die Entwicklung eines sehr viel leistungsstärkeren Wurmlochgenerators ein. Das entsprechende Schiff, der allererste Prototyp des künftigen
Standards, würde auf Sofid entstehen. Dort, wo man das bislang einzige Muun-Vorkommen entdeckt hatte. Es wäre technisch weder machbar noch wirtschaftlich verantwortbar gewesen, einen Kristall von der erforderlichen Größe mit dem aufwendigen künstlichen Verfahren herzustellen. Die Sofiden ihrerseits faßten es als Ehre auf, den Prototyp nach Entwürfen Shodonns, der den Vorsitz über sämtliche Konstruktionsarbeiten führte, herstellen zu dürfen. Niemand protestierte dagegen. Alle sahen ein, daß es überhaupt keine Alternative gab. Zeitgleich zu dem Prototyp auf Sofid wurde jedoch ein absolut identisches Schiff sowohl auf Galoa als auch auf Markoman erbaut. Diese Duplikate waren ebenfalls mit Wurmlochgeneratoren ausgerüstet – nur mit dem Unterschied, daß ihnen noch der entscheidende Katalysator, der Kristall, fehlte. Dementsprechend waren die ersten Ziele des sofidischen Prototyps nach seiner Fertigstellung die Zentralplaneten der Galoaner und Markomanen, und in den Frachträumen lagerten so viele MuunKristalle, wie die Sofiden zum gegenwärtigen Zeitpunkt für entbehrlich hielten. Der Jungfernflug des ersten vollwertigen Schiffes mit Wurmlochantrieb ging ebenso reibungslos vonstatten wie die Flüge der Testsonde. Nachdem es die Hälfte seiner Fracht gelöscht hatte, startete es aus dem Orbit von Galoa heraus zu den Markomanen, die ebenfalls beliefert wurden und so von diesem Tag an wieder über ein erstes funktionsfähiges Fernraumschiff verfügten. Sofort gingen die beteiligten Spezies zur Serienfertigung über. Das vorrangige Ziel war dabei, zunächst einmal möglichst viele Schiffe für eine Suche verfügbar zu machen. Der Suche nach Muun-Vorkommen irgendwo in der Galaxis. Denn es stand zu befürchten, daß um die begrenzte Ressource im System der Sofiden irgendwann ein kriegerischer Konflikt entbrennen würde. Und das wollte schließlich niemand. Niemand? * Innerhalb der kommenden Jahre schwärmten die neuentstandenen Schiffe aus, bargen überall in der Galaxis Schiffe, die sich in Särge verwandelt hatten, und ergänzten deren Triebwerke mit Wurmlochgeneratoren. Nach und nach fanden so auch all die Opfer der Katastrophe ihren Weg zurück zu ihren Heimatwelten und Angehörigen. Was niemand je zu hoffen gewagt hatte, geschah: Die Verhältnisse normalisierten sich wieder. Mit einer Ausnahme. Die neuen, unbekannten Sternbilder an den Firmamenten der bewohnten Welten blieben. Wer immer des nachts zum Himmel emporschaute, glaubte die Fremde zu spüren, die außerhalb der Grenzen der Spiralgalaxis lauerte. In unmittelbarer Nachbarschaft lag eine andere Sterneninsel, auch spiralig ausgebildet, die früher nicht dagewesen war. Sie erhielt keinen Namen, nur eine Nummer in den Katalogen: Z/X 30473 H. Niemandem kam in den Sinn, die relativ schmale Kluft zu dieser Galaxis überbrücken zu wollen. Dafür begann die Jagd nach Muun-Vorkommen. Shodonn beobachtete all dies von Galoa aus. Er hatte den Turm des Nareidums verlassen und war wieder in die Stadt gezogen. Seine alte Wohnung, obwohl frei, wollte er nicht mehr. Lhera war im Jahr davor bei einem Unfall ums Leben gekommen. Und nun, da sie nicht mehr lebte, fühlte Shodonn plötzlich, wie stark er sie vermißte. Zum erstenmal erfuhr er die Grausamkeit des Todes an eigenem Leib und bewußt. Doch dann kam Ablenkung von unerwarteter Seite. Schiffe verschwanden. Mehrere binnen weniger Tage. Das Nareidum schlug Alarm. Und bei Shodonn meldete sich unverhofft wieder der Allererste. Theris. * "Ich möchte, daß du mich begleitest." Zunächst war Shodonn gar nicht in der Lage, die Tragweite dieser Eröffnung zu begreifen. Wie
auch? Hätte Theris gesagt: "Ich möchte, daß du zu mir kommst", wäre es logisch gewesen, aus
welchem Beweggrund der Weise darum auch gebeten hätte. Aber er sagte "begleiten".
"In Kürze startet die LHERA. Ich möchte, daß du mitfliegst."
Shodonn zuckte zusammen, als hätte ihn jemand geschlagen. "Die – LHERA?"
Theris antwortete: "Wir haben ihr diesen Namen gegeben. Glaubst du, wir wüßten nicht, was du
damals aufgegeben hast, um deinem Volk zu dienen?"
Wie benommen sagte Shodonn: "Aber… meine Arbeit ist getan. Ich bin aus dem Nareidum
ausgezogen, weil ich wieder ein normales Leben führen will. Ich habe nicht vor –"
"Du hast von den Schiffen gehört?"
"Die verschwunden sind, spurlos?"
"Ja."
"Ich habe davon gehört. Es handelt sich um Schiffe aller Völker, nicht nur galoanische."
"Das ist richtig."
"Ihr Schicksal ist noch immer ungeklärt?"
"Es gibt nicht den leisesten Anhaltspunkt darüber, was ihnen zugestoßen sein könnte. Das muß
sich ändern. Bald, sonst –"
"Sonst?"
"Der Friede ist gefährdet. Niemand spricht offen darüber, aber die Allianz, die einst fähig war, sich
ohne Vorbehalte und Einschränkung zusammenzuschließen, um den Muun-Generator zu
entwickeln, könnte an dem Mißtrauen, das wuchert, zerbrechen."
"Du meinst, die Sofiden und Markomanen könnten denken, wir steckten hinter dem Verschwinden
der Muun-Suchschiffe?"
"Die Sofiden denken eher, die Markomanen stecken dahinter – und die Markomanen zweifeln an
den Sofiden", erwiderte Theris. "Dennoch sieht das Nareidum sich in der Verantwortung. Wir
haben uns entschlossen, aktiv zu werden. Bevor es zu spät ist."
"Was hat das Nareidum genau entschieden?"
"Wir entsenden ein Schiff zu allen Orten, an denen bislang ein Schiff verschwand. An Bord
befinden sich die neusten Meßinstrumente, um vielleicht doch eine Spur zu finden, die früheren
Schiffen entgangen ist."
"Die LHERA?"
"Die LHERA. Sie wird begleitet von vier weiteren, schwerstbewaffneten Schiffen."
Die Galoaner waren Pazifisten, aber auch Realisten. Sie wußten um die Notwendigkeit eigener
Wehrhaftigkeit. Hauptaugenmerk legten sie normalerweise auf die Optimierung der Schilde. Theris
jedoch hatte eindeutig von "schwerstbewaffnet" gesprochen.
Und noch ein Satz des Weisen ging Shodonn nicht aus dem Kopf.
"Warum sagtest du, du möchtest, daß ich dich begleite?"
"Du bist ein außergewöhnlicher Galoaner. Deine Fähigkeiten –"
"Davon rede ich nicht", unterbrach Shodonn ihn ungehalten. "So wie du dich ausgedrückt hast,
klang es, als wolltest du an der Expedition teilnehmen. Persönlich."
"Das werde ich", antwortete Theris, als sei es das Selbstverständlichste der Welt. "Das werde ich,
Shodonn."
* Sie trafen sich an Bord der LHERA. Shodonn trug ein münzgroßes Gerät vor der gewölbten Tonnenbrust, über das Theris mit ihm kommunizierte – und umgekehrt. "Willkommen", sagte der Weise. Shodonn sah sich staunend in dem riesigen, mit Aggregaten vollgestopften Raum um, in den er gelotst worden war. "Das – bist du?" "Ich wünschte, ich bräuchte weniger Platz – aber hier ist nicht Galoa. Dies ist nicht das Nareidum, von dem die Kugel jedoch auch nur den sichtbaren Teil darstellt. Du hast sicher davon gehört, wie immens der Aufwand ist, die Seele eines Galoaners vor dem Verlöschen im Tode zu bewahren – aber auch der Erhalt ist mit immensen technischen Anstrengungen verbunden. Irgendwann vielleicht einmal, in Jahrhunderten, wenn unser technologisches Können weit genug fortgeschritten ist, wird es auch einmal handlichere Geräte geben, in denen wir Weisen das
Nareidum kurz- oder längerfristig verlassen können… ich würde es mir wünschen."
"Wann starten wir?"
"Wir haben nur noch auf dein Eintreffen gewartet. Ich bin froh, daß du dich entschieden hast,
mitzukommen."
"Darf ich offen reden?"
"Handhabten wir das nicht immer so?"
Shodonn ging nicht darauf ein. "Eigentlich begleite ich dich nur aus einem einzigen Grund."
"Und der wäre?"
"Ich habe über das Verschwinden der Schiffe nachgedacht. Was, wenn kein Aggressor
dahintersteckt?"
"Was meinst du damit?"
"Ich meine, könnte es nicht auch sein, daß uns bei der Entwicklung des Wurmlochgenerators ein
gravierender Fehler unterlaufen ist, der in keiner Überprüfung zutage trat und der keinem der
beteiligten Entwickler auffiel?"
"Du glaubst, die Schiffe seien einfach verunglückt, in ein Wurmloch eingetaucht und darin
explodiert?"
"Wäre dies nicht eine plausible Erklärung dafür, daß man nie Trümmer oder andere Spuren fand?"
"Es ist eine Möglichkeit – die wir ebenso überprüfen werden wie jede andere", erwiderte Theris.
Seine Stimme klang nicht anders als zuvor.
Shodonn war nicht gewillt, es darauf beruhen zu lassen. "Du weißt aber auch, was das in seiner
letzten Konsequenz bedeuten könnte."
"Natürlich. Daß auch wir möglicherweise nicht von diesem Flug zurückkehren und auch ohne
Feindeinwirkung sterben könnten…"
Worte eines Unsterblichen.
Worte eines Mannes, der im sicheren Hort des Nareidums ewig hätte überdauern können…
Shodonn verstand Theris weniger denn je.
* Die Koordinaten, an denen Schiffe letztmalig Kontakt mit einer Außenstation oder einem anderen Raumer gehabt hatten, lagen allesamt weit verstreut. Riesige Entfernungen klafften dazwischen, wobei die Orte des Verschwindens in keinerlei Bezug zueinander zu stehen schienen. Es gab kein erkennbares System, kein sich wiederholendes Muster. Nur der Totalverlust an Besatzung und Material war der gemeinsame Nenner, nichts anderes. Auch die LHERA, eskortiert von vier Schlachtschiffen, fand nichts, was über die Ursache des Verschwindens hätte Aufschluß geben können, so sehr sich ein jeder auch bemühte, allen voran Theris und Shodonn. "Nichts", sagte Shodonn frustriert, während sie einen Quadranten durchkämmten, in dem ein Schiff der Sofiden verschollen war. "Als hätte es die VOGDANEE nie gegeben. Weg. Einfach weg… wie bei den anderen… es gibt auch keine Energiefahnen, die auf den Einsatz entsprechender Waffen in letzter Zeit hätten schließen lassen." "Vielleicht sollten wir uns tatsächlich mit dem Gedanken vertraut machen, daß es während der Wurmlochpassage passierte", sagte Theris. Er sprach aus dem Übermittler. Shodonn hielt sich in der Bordzentrale auf. "Also doch ein Konstruktionsfehler?" "Nicht unbedingt." "Was meinst du damit?" "Ebensowenig wie wir ein Versagen unsererseits bei der Entwicklung der Generatoren mit letzter Sicherheit ausschließen können", erwiderte Theris, "können wir ausschließen, daß es einen Gegner gibt, der in der Lage ist, Schiffen in die Wurmlöcher zu folgen und sie dort zu vernichten." Der Weise schaffte es immer wieder, Shodonn in Momenten zu verblüffen, da er es am wenigsten erwartete. "Ist das dein Ernst? Wer sollte dazu in der Lage sein?" "Wir nicht – noch nicht. Aber vor langer Zeit gab es eine Rasse, der ich es zutrauen würde. Sie waren die Herren dieser Galaxis." "Die Rahim?"
"Ich weiß, daß sich niemand mehr an sie erinnern kann. Die Legenden, die sie umweben, sind
widersprüchlich. Alles über sie fixierte Wissen wurde irgendwann von irgendwem aus den
Datenspeichern aller Völker gelöscht. Dennoch… sie zogen sich auf dem Zenit ihrer Macht zurück.
Niemand kennt die wahren Gründe dafür. Und niemand kann ausschließen, daß sie noch immer
da sind und…"
"Und?"
"… über die Geschicke der anderen Völker wachen."
"Selbst wenn du recht hättest, was für ein Interesse sollten sie daran haben, unsere Schiffe zu
bekämpfen?"
"Ich weiß es nicht. Aber könnte es nicht sein, daß jemand die drei maßgeblichen Völker, die nach
dem Rahim-Rückzug geblieben sind, daran hindern will, zu fortschrittlich und damit zu mächtig zu
werden?"
"Die Rahim?"
"Ich kenne sonst niemanden, dem ich dies zutrauen würde."
"Wir befinden uns in einer fremden Region des Kosmos – das sollten wir nicht völlig vergessen."
"Du hast recht. Und das ist auch die große Unbekannte, die ich einräumen muß. Die andere
Galaxis, die uns seit dem Transfer am nächsten liegt… auch dort können Feinde lauern…"
"… die im Gegensatz zu uns nicht gezögert haben, einen Ausflug in die neue Nachbarschaft zu
wagen?"
Als Theris zustimmte, klang seine Stimme, als würde er innerlich dazu lächeln. Oder war es
lediglich milder Spott, mit dem er Shodonns Einwürfe quittierte? "Wie weise du bist…"
Shodonn schwieg eine Weile, dachte nach. Schließlich sagte er: "Falls sich dein Verdacht
bewahrheiten würde, könnten diejenigen, die die Schiffe vernichten oder entführen – wir wissen ja
nicht einmal sicher, ob sie nicht noch irgendwo existieren – auch für die Entartung des
Hyperraums und für die Versetzung einer ganzen Galaxis verantwortlich sein?"
"Ich weiß es nicht", sagte Theris. "Ich weiß es wirklich nicht. Aber wäre es so, daß bereits die
Entartung gewollt war, dann deutete dies darauf hin, daß sich unser unbekannter Feind nicht mit
dem Versuch begnügen wird, Zwietracht zwischen den Galoanern, Sofiden und Markomanen zu
säen. Dann dürfte sein Ziel sein, unsere Zivilisationen ins Prä-Raumfahrtzeitalter zurückzuwerfen.
– Ergäbe das einen Sinn?"
"Ja", antwortete Shodonn mit belegter Stimme. "Es ergäbe einen. Aber es macht mir auch Angst.
Schreckliche Angst…"
* Die LHERA wollte gerade beschleunigen, um in ein bereits geöffnetes Wurmloch einzutauchen, als ihre Ortungssysteme eine Kampfhandlung in rund zehn Lichtjahren Entfernung meldeten. Sofort wurde das Manöver gestoppt. Die künstliche Raumverwerfung schloß sich. Sowohl die Begleitschiffe als auch die LHERA fuhren die Generatoren zurück, behielten jedoch ihre hohe Unterlichtgeschwindigkeit bei. "Waffenart?" "Unbekannt." "Neuen Kurs festlegen – Ziel: das Kampfgebiet!" ordnete Theris an. Und Shodonn seufzte: "Endlich…" "Endlich?" "Endlich habe wir eine handfeste Spur." "Was verwunderlich genug ist, kam es doch bislang noch nie zu einem ortbaren Konflikt", erwiderte Theris reserviert. "Wir wollen nicht hoffen, daß der Konflikt unter den Völkern der Allianz, den wir verhindern wollen, bereits offen ausgebrochen ist…" Shodonn erbleichte. Kurz darauf entstanden erneut Raumzeitverwerfungen, in welche die fünf galoanischen Schiffe wie in sich öffnende, bizarre Blütenkelche hineintauchten. * Diese Art der Distanzüberbrückung, dessen war Shodonn sich sicher, würde für ihn nie zur Routine werden. Das Eindringen in das schlauchartige Gebilde, das der Muun-Generator stabil
hielt, solange die Reise dauerte, war mit nichts vergleichbar. Niemand wußte, wie der Hyperraum
aussah, durch den die alten Transitionsschiffe gesprungen waren. Ent- und Rematerialisation
hatten keine meßbare Zeit in Anspruch genommen. Die Sinne der Besatzungen waren für die
Dauer des Sprungs "ausgeschaltet" gewesen. Und nicht einmal die Sensoren der Schiffe hatten
mehr aufzeichnen können als verwaschene Schatten, Farben, Schemen.
Eine Wurmlochpassage war anders.
Shodonn konnte sich nicht sattsehen an den Schimären, die von den externen Kameras erfaßt
wurden.
Schimären – Trugbilder, von Energie und Gravitation geformt.
Shodonn war sicher, daß die Bilder, die er sah, dem entsprachen, was seine Sinne überhaupt zu
verarbeiten imstande waren – nicht der Realität. Nicht der absoluten Realität.
Gab es die überhaupt?
"Wahrscheinlich werden wir in ein Gefecht verwickelt werden", sagte Theris. "Es gibt keine
Garantie, daß wir es überstehen werden."
"Ist das für dich nicht ein viel größeres Problem als für mich?" fragte Shodonn.
"Wäre ich dann mitgekommen?"
"Ich weiß es nicht", gab Shodonn offen zu. "Ich werde nicht schlau aus dir."
"Das werde ich oft selbst nicht."
"Bei unserer ersten Begegnung", fuhr Shodonn fort, "warst du ein unnahbares Idol für mich. Fast
ein Wesen, wie es von anderen Völkern als Gottheit verehrt wird. Das hat sich geändert. Ich fühle
mich dir verbunden wie einem alten Freund. Obwohl ich nicht weiß, wie du einmal ausgesehen
hast, bist du viel mehr für mich als eine Stimme. Aber ich würde mir auch heute noch nicht
anmaßen zu behaupten, ich würde dich kennen. Oder auch nur wissen, was dich antreibt…"
"Vielleicht findet sich irgendwann die Gelegenheit, unsere Freundschaft zu vertiefen", sagte
Theris. "Aber nur, wenn wir das hier überstehen."
Bevor Shodonn etwas erwidern konnte, wechselte das Bild auf den Übertragungsschirmen der
Zentrale. Die LHERA kehrte ins Weltall zurück. Und mit ihr die vier Begleitschiffe.
"Schilde auf Vollast."
Der Befehl kam keine Sekunde zu früh.
Und dennoch zu spät für einen der anderen galoanischen Zylinder, der genau einen der
gleißenden, die Weltraumschwärze zerschneidenden Kampfstrahlen kreuzte.
Das Schiff schien wie im Zeitraffer zu schrumpfen.
Bis es völlig jeder Wahrnehmung entschwunden war.
* Shodonn hatte das Gefühl, innerlich zu erstarren. "Weg hier!" keuchte er. "Wir müssen sofort weg von hier!" "Nein!" Theris Stimme klang unbeugsam. "Noch nicht!" Er wandte er sich an die Galoaner, die an den Instrumenten saßen: "Auswertung!" "Kampfhandlungen zwei Lichtminuten voraus. Der… der Strahl traf unsere Eskorte aller Wahrscheinlichkeit nach zufällig…" Der Mann, der Bericht erstattete, zitterte, während er seine vorläufige Analyse des Geschehens aussprach. Shodonn hatte mit jedem Verständnis, den die Situation überforderte. "Zufall?" Er gab ein hysterisches Lachen von sich. "Selbst wenn das stimmen würde, müßten wir weg, bevor –" "Details des Kampfes auf den Hauptschirm!" verlangte Theris. Er hatte das Oberkommando. Sein Wort war Gesetz. "Auf höchste Vergrößerungsstufe – simultane Auswertung der Bilder. Alles versuchen, die kriegführenden Parteien zu identifizieren!" Die Art, wie Theris seine Führungsposition behauptete, ließ ihn wie einen zu allem entschlossenen Feldherrn erscheinen, nicht wie einen Mann, der sein Leben in den Dienst der Wissenschaften gestellt hatte. Sogar das Leben nach dem Leben. Shodonn starrte auf die Bilder, die das Schiffsauge heranholte. Sie raubten ihm den Atem. "Da ist… nur eine Partei…", flüsterte er. Die Worte waren für niemanden bestimmt. Tatsächlich sah es auf den ersten Blick aus, als attackierte der Dreierpulk fremder Schiffen eine
verwaiste Stelle im All.
"Wer ist das? Ich habe solche Konstruktionen noch niemals gesehen…" Shodonns Stimme,
diesmal an Theris gerichtet, versagte.
Die Raumer besaßen die Form von dicken Ringen – Röhren, die zu einem vollendeten Kreis
gebogen waren, ohne Anfang und ohne Ende. Sie schimmerten bläulich in dem Strahlengewitter,
das sie selbst auslösten. Um sie herum waberten Energien, die sich jedem Analysierungsversuch
entzogen.
Schilde unbekannter Bauart?
Alle drei Ringschiffe feuerten mit blaßroten, scharf gebündelten Strahlen ins scheinbare Nichts.
Diese Strahlen waren nicht identisch mit dem, der einen der galoanischen Zylinder ins Verderben
gerissen hatte.
"Sektor vergrößern, auf den sich das Geschützfeuer der Ringe konzentriert", befahl der Weise.
Augenblicklich wechselte das Bild auf dem Schirm.
"Womit wir unseren zweiten Irrtum erkennen…" sagte Theris.
"Zweiten Irrtum?" echote Shodonn. "Was war der erste?"
"Unsere Annahme, der Verlust unseres Begleitschiffes beruhe auf Zufall."
"Du meinst…?"
"Es wurde gezielt vernichtet, ja." Theris schwieg kurz. "Und wie ein jeder erkennen kann, ist die
Stelle, auf die von den Ringen gefeuert wird, keineswegs so leer oder verlassen, wie wir zunächst
glaubten… – Befehl an alle! Rückzug! Sofort!!"
* Die Schiffe aktivierten die Muun-Generatoren. Die Eintrittskelche aus Superschwerkraft entstanden. "Ausweichmanöver!" Es war Theris, der schrie. Aus dem Gerät vor Shodonns Brust heraus. Gleichzeitig nahm er von dem Sitz seiner Seele aus Direktzugriff auf die Schiffsnavigation, überbrückte alle Schranken – eine Notfallsequenz, über deren Existenz nicht einmal Shodonn eingeweiht war. Die LHERA vollführte ein Radikalmanöver, ohne die Wurmlochprojektion abzuschalten, scherte sie um neunzig Grad aus dem Verband aus. Keines der anderen Schiffe konnte schnell genug folgen. Ein jedes wurde von jener Strahlform erfaßt, die schon einmal einen galoanischen Zylinder ins Verderben gerissen hatte. Die nächsten drei folgten jetzt. Die komplette Eskorte! Die LHERA passierte den Ereignishorizont des künstlichen Wurmlochs. Das Inferno blieb hinter ihr zurück. * In einem Lichtjahr Entfernung vom Schauplatz der verheerenden Begegnung mit den Fremden – nein, dachte Shodonn in seinen Grundfesten erschüttert, mit dem Fremden, dem absolut Fremden – kehrte die LHERA ins Normaluniversum zurück.
Shodonn betrachtete es immer noch als Wunder, davongekommen zu sein.
"Was, bei allen Ahnen, war das?!"
"Meinst du die Ringschiffe oder die Anomalie?"
"Die – Anomalie!"
Das Gerät vor Shodonns Brust, aus dem Theris’ Stimme zu ihm sprach, schien sich zu erwärmen
– oder kam die Wärme aus seiner Brust selbst?
"Computer", sagte der Weise, "Aufzeichnung auf den Schirm. Wenn ich ›Jetzt!‹ sage, Sequenzen
auf Superzeitlupe schalten – bei ›Zoom!‹ auf Maximalvergrößerung gehen."
"Ab wo soll die Aufzeichnung starten?" fragte der Rechner.
Theris nannte ihm die Parameter.
Noch einmal wurde die Zentralebesatzung der LHERA mit dem Desaster konfrontiert, das sich in
einem Lichtjahr Entfernung abgespielt hat.
"Es wird immer noch gekämpft", meldete ein Galoaner, der die Ortungsinstrumente überwachte.
Theris ging nicht darauf ein.
Die "Augen" der LHERA hatten sämtliche relevanten Details im Kriegsgebiet eingefangen. Mittels
der Rechner war es nun möglich, die Ereignisse nach Belieben aufzulösen.
Zunächst widmete sich Theris der Anomalie. Der Stelle, auf die sich der Beschuß der Ringschiffe
konzentriert hatte.
"Zoom!" befahl Theris.
"Die… die Kampfstrahlen der Ringschiffe werden um die Anomalie ›herumgeleitet‹…" flüsterte
Shodonn. "Worum handelt es sich – um ein natürliches Phänomen?" Noch während er die Frage
stellte, wurde Shodonn bewußt, wie unsinnig sie war.
Entsprechend fiel Theris’ Antwort aus: "Würde ein natürliches Phänomen auf uns schießen?
Würden die Ringschiffe ihr Feuer darauf eröffnen?"
Die Anomalie war auch in der höchsten Auflösung nur daran auszumachen, daß sich die
Kampfstrahlen um sie "herumbogen".
"Was mag sich dahinter verbergen?"
"Der Feind", sagte Theris. "Dem all die Schiffe, die verschollen sind, zum Opfer fielen – nicht nur
unsere Eskorte."
"Und die Ringschiffe?"
"Sie sind Feinde des Feindes."
"Offenbar sind sie ihm nicht gewachsen."
"Das würde ich nicht unbedingt sagen."
"Aber –"
"Es gibt sie noch, oder? Im Gegensatz zu unserem Verband", fiel Theris ihm ins Wort. "Ihre
Schilde sind anders als alles, was ich je auf diesem Gebiet sah. Nicht einfache Energieschirme…
Hier, sieh dir die Auswertungen an…"
"Als hätten sie sich mit einem eigenen Universum ummantelt", erkannte jetzt auch Shodonn. Er
staunte. Ein Verdacht erwachte. "Wie sahen die Schiffe der Rahim aus?" fragte er. "Weißt du es?
Gibt es dazu eindeutige Überlieferungen?"
"Nein", sagte Theris. "Aber falls die Rahim an diesem Kampf beteiligt sind, könnten sie sich
ebensogut hinter der Anomalie verbergen."
"Sie waren böse?"
"Was bedeutet dieses Wort schon? Jedes Volk hat seine eigene Mentalität und setzt sich seine
eigenen moralischen Grenzen. – Ich weiß nicht, ob die Rahim böse waren oder gut, in dem Sinne,
was wir darunter verstehen. Ich weiß auch nicht, ob es sie überhaupt noch gibt. Die Kämpfenden
könnten von überallher gekommen sein. Aus der anderen Galaxis… aus einer unvorstellbar fernen
Sternenballung… alles ist möglich. Konzentrieren wir uns auf die Fakten."
"Und dann?"
"Müssen wir abwarten, wer den Kampf gewinnt und darauf unser weiteres Handeln abstimmen."
"Sollen wir Verstärkung anfordern, einen Notspruch absenden?"
"Und noch mehr ins sichere Verderben schicken? Nein."
* Die weitere Analyse der Geschehnisse im Kampfgebiet ergab, daß die Strahlart, die der Eskorte zum Verhängnis geworden war, sowohl eine Schrumpf- als auch eine Sogwirkung auf die galoanischen Zylinderschiffe ausgeübt hatte. Einmal erfaßt, hatten auch ihre konventionellen Schilde nicht verhindern können, daß sie quasi implodierten und während dieser Implosion auf die Anomalie zugezogen, von ihr aufgesaugt wurden. Shodonn hatte noch keine fürchterlichere Waffe wüten sehen. Die Aufzeichnung belegte, daß auch die Ringschiffe von derselben Waffengattung attackiert worden waren. Zeitgleich mit dem Angriff auf die Eskorte. Die andersgearteten Schutzfelder der Unbekannten absorbierten die verderbenbringenden Strahlen jedoch scheinbar mühelos. Theris hatte recht: Die Ringschiffe waren keine leichte Beute für die Anomalie. Wer war hier Jäger, wer der Gejagte? Der Kampf in der Ferne tobte weiter, schien an Intensität sogar noch zugenommen zu haben. Über die Fernortung war es unmöglich, Einzelheiten davon mitzubekommen. Theris traf eine Entscheidung. "Wir entsenden eines der von dir entworfenen Einmann-Boote als Kundschafter. Die begrenzte Leistungsstärke reicht für diese Distanz völlig aus. Meldet sich
jemand freiwillig für diesen riskanten Einsatz?"
"Ja", sagte Shodonn, "ich."
"Unter keinen Umständen!"
"Ich habe es mir genau überlegt", hörte Shodonn sich sagen. "Ich bestehe darauf. Ich habe nie um
ein persönliches Vorrecht gebeten, aber hier bestehe ich darauf."
"Warum?"
"Ich weiß es nicht", sagte er – und dachte: Große Tiefe, ich weiß es wirklich nicht…
* Eine Lüge. Er hatte sich selbst etwas vorgemacht. Aber erst, als der kleine Zylinder mit ihm als einzigem Insassen in das Wurmloch eintauchte und Shodonn völlig abgeschnitten war von Theris und allen anderen Besatzungsmitgliedern der LHERA, wurde ihm klar, daß er insgeheim den Grund für seinen Entschluß wohl doch kannte. Es hatte mit Lhera zu tun. Mit ihrem einsamen Sterben – an dem er sich noch heute eine Mitschuld gab. Er war der festen Überzeugung, ihr Unfall wäre nie passiert, alles wäre anders gekommen, wenn er sich damals nicht für seine Arbeit, sondern für sie entschieden hätte. Zumindest für einen Kompromiß, in dem auch sie weiterhin ihren Platz in seinem Leben gehabt hätte, und er den seinen in ihrem… Es war nicht wiedergutzumachen. Eine verpaßte Chance. Er hatte die Liebe seines Lebens geopfert für etwas, was den Verlust nicht aufwiegen konnte. Niemals. Ruhm, Ehre, Anerkennung… Das alles würde ihn im Alter nicht vor der Einsamkeit bewahren. Im Nachhinein wurde ihm klar, daß er sich auch deshalb von Theris’ Angebot, an der Expedition teilzunehmen, hatte locken lassen, weil etwas in ihm sich nach Sühne sehnte. Und letztendlich konnte er nur mit dem eigenen Tod abgelten, was er an Schuld auf sich geladen hatte. Unfug! Seine Hände umklammerten die Lehnen des Sitzes. Der Monitor zeigte die verzerrte Wiedergabe einer Umgebung, die surrealer nicht sein konnte. Ich suche nicht den Tod! Ich – suche Antworten! Handelt es sich bei einer der Kampfparteien um die geheimnisvollen Rahim? Und wenn ja, wer sind dann ihre Gegner? Auf was für Geschöpfe sind wir hier gestoßen, Jahre nachdem unsere Raumfahrt völlig darnieder lag…? Das Wurmloch spie ihn zwei Lichttage vom Kampfgeschehen entfernt aus.
Shodonn hoffte, daß diese Distanz ausreichen würde, ihn zu schützen. Er schaltete den Antrieb
auf Null, um so wenig verräterische Emissionen abzugeben wie möglich. Nur das
Beobachtungsinstrumentarium lief auf vollen Touren.
Und doch wurde er ganz anders als erhofft Zeuge der weiteren Ereignisse.
Ein Strahl raste zielgenau selbst über diese Entfernung auf das Kleinstschiff zu, in dem er saß.
Ein Strahl, abgefeuert von der Anomalie, hüllte ihn ein, ließ jäh alles transparent erscheinen, alles,
die Technik um ihn herum, seinen eigenen Körper… bis –
Vorbei, dachte Shodonn. Verzeih mir, Theris, verzeih mir, Lhera – vorbei…
* Das Erwachen war Qual. Und Verwunderung. Ich lebe?! Die Umgebung hätte fremdartiger nicht sein können. Wo bin ich? Zumindest nicht mehr an Bord seines Bootes… er lag in einem Sitz mit zurückgeklapptem Rückenteil. Er war gefesselt an diesen Sitz. Und vor ihm bewegten sich Gestalten, wie sie vielleicht noch kein Galoaner gesehen hatte – zumindest keiner, der noch davon hätte berichten können. Sie sahen aus wie aufrecht dahingleitende… Würmer. Doch sie besaßen Extremitäten. Kurze Beine, kurze Arme. Aus letzteren wuchsen Finger, die sich zum Ende hin immer mehr verjüngten, so daß sie an ihren Spitzen nur noch wie feine Fäden aussahen. "Wer seid ihr? Was wollte ihr von mir? Löst meine Fesseln! Ich – komme in Frieden!"
"Wir nicht", spottete die Gestalt, die ihm am nächsten stand. Sie war gerade groß genug, daß sich
ihre Kopfpartie in Höhe von Shodonns Haupt befand – aber Shodonn lag.
Kälte breitete sich in ihm aus. Hervorgerufen von der Erkenntnis, daß es Schlimmeres gab als den
Tod, nach dem er sich vielleicht unterbewußt gesehnt hatte.
Der Fremde hielt ein unbekanntes Werkzeug in der Hand, vielleicht auch eine Waffe.
"Was wollt ihr mir antun – und warum?"
"Wenn deine Sorge deinem Leben gilt, kann ich dich beruhigen. Du hast noch eine große Karriere
vor dir… allerdings in unseren Diensten."
Das Wurmwesen kam näher. Hob das Ding in seiner Hand. "Du wirst wenig spüren", sagte es.
"Aber danach wirst du nie mehr allein sein…"
"Nein!" keuchte Shodonn in seiner Heimatsprache, die der andere zu verstehen schien – nicht nur
das, er bediente sich des Galoanischen so flüssig, als hätte er nie einen anderen Idiom erlernt.
"Doch", erwiderte er. "Danach wirst du an Bord eines eurer Schiffe gehen. Und wieder unter
deinesgleichen sein. Sie warten schon auf dich. Sie sind bereits fertig."
Sie? Redete das Wesen von den Schiffen der Eskorte? Waren sie ebensowenig vernichtet worden
wie sein Boot? Lebten die Insassen noch immer und war ihnen angetan worden, was auch ihm
jetzt angetan werden sollte?
Die Fragen überschlugen sich in Shodonns Verstand. Bei alledem wußte er eines: So wollte er
nicht weiterleben – unter keinen Umständen!
Noch näher kam die Mündung des Geräts, das der Wurm auf ihn richtete.
Bevor das Metall Shodonn jedoch berühren konnte, geschah noch etwas anderes:
Erschütterungen. Heftigste Erschütterungen. Explosionen? Shodonn sah den Wurm taumeln.
Irgendwo in der Nähe kam es zu einer gleißenden Entladung. Aus den Augenwinkeln sah
Shodonn einen unheimlichen Riesen durch eine Tür brechen. Dann ein Schuß, ein grüner Strahl,
der den Wurm einhüllte…
… und das Instrument in seinen Fadenfingern zu Staub zerfallen ließ.
* Shodonn erlebte die folgenden Ereignisse wie in einem Traum. Der Wurm sank in sich zusammen, begann konvulsivisch zu zucken – und erschlaffte. Dafür stapfte der rötlich schimmernde Koloß auf Shodonn zu und hielt kurz inne. Ein unbekanntes Licht wanderte über Shodonns Körper; er hatte das Gefühl, komplett durchleuchtet zu werden. Nachdem die schmerzlose Prozedur abgeschlossen war, befreite der Riese ihn von den Fesseln. Auf Fragen erhielt Shodonn jedoch keine Antwort. Am Ende packte ihn der Koloß wie ein Spielzeug und trug ihn auf seinen ebenso stählernen wie geschmeidigen Armen aus dem Raum. Shodonn begriff, daß er es mit einem Roboter zu tun hatte. Einem annähernd humanoid geformten Roboter, dessen Gesicht jedoch nicht modelliert war, als hätten die unbekannten Erbauer darauf keinerlei Wert gelegt. Unterwegs begegneten sie anderen Robotern gleicher Bauart. Sie durchkämmten die Räume. Manchmal fielen Schüsse. Die Umgebung, durch die der Riese Shodonn trug, war von nie gesehener Architektur, vor deren abstrusen Formen die Wahrnehmungsfähigkeit des Galoaners schlichtweg kapitulierte. Ihn schwindelte, er verlor das Bewußtsein – – und kam erst in vertrauterer Umgebung wieder zu sich. * Der Koloß war immer noch in Shodonns Nähe. Er schien mit den Instrumentenkonsolen eines Raumschiffs verschmolzen zu sein… ja, Shodonn befand sich in einem der Ringschiffe! Vor ihm und dem Robot schwebte eine holographische Kugel, in der sich der umgebende Weltraum abzeichnete. Darin zu sehen waren nicht mehr nur die Ringschiffe, sondern auch etwas, was Shodonns Verstand erneut durch seinen bloßen Anblick zu zermürben drohte. "Sprich mit mir!" wandte er sich an seinen Retter. "Was – ist das? Was hat das alles zu bedeuten? Und wer… bist du?" Wider Erwarten meldete sich eine Stimme, die von überallher gleichzeitig, wie aus mehreren verborgenen Lautsprechern zu kommen schien. Der Robot schien selbst keine Artikulationsmöglichkeit zu besitzen, aber externe Mittel nutzbar machen zu können.
"Ich bin ein Wächter. Und du hattest Glück."
"Glück?"
"Daß du noch nicht verseucht warst. Sonst hätte ich dich töten müssen."
"Verseucht – womit?"
"Mit Nanomaschinen."
"Nanomaschinen?"
Der Koloß schwieg.
"Was… was ist aus den anderen geworden?" fragte Shodonn schaudernd. "Der Wurm machte
Andeutungen, daß sich auch die Besatzungen von vier unserer Schiffe in ihrer Gewalt
befanden…"
"Sie waren bereits verseucht."
Shodonn begann seinen "Retter" mit anderen Augen zu sehen. Der Erleichterung folgte pures
Grauen. "Ihr habt sie… getötet?"
"Uns blieb keine Wahl. Sie waren verseucht."
"Was bedeutet das?"
"Die Nanomaschinen werden in den Körper injiziert, sie können sich selbst reproduzieren und
vermehren sich, bis sie alles unter ihre Kontrolle gebracht und das eigentliche Bewußtsein ihres
Wirtes abgetötet haben."
"Ich sah, wie du eine Strahlenart benutzt hast, die nur das Instrument in der Hand des Wurms
zerstörte, ihn aber unversehrt ließ… Oder irre ich mich? Kurz darauf fiel er einfach zu Boden."
"Weil er Selbstmord beging."
"Selbstmord?"
"Wir bekamen noch nie ein Exemplar dieser Spezies lebend in unsere Hände."
"Die Strahlung", kam Shodonn auf sein eigentliches Anliegen zurück, "die nur anorganisches
zerstört – hättet ihr damit nicht meine Artgenossen bestreichen können? Wenn es sich um
Maschinen handelt, die ihnen injiziert wurden, dann…"
"Sie waren verloren. Keine Möglichkeit. Die Nanopest übernimmt schon nach Augenblicken
lebenswichtige Funktionen des Körpers. Mit der Zerstörung der Maschinen wären auch die Wirte
gestorben. Qualvoller als der Tod, den wir ihnen schenkten. Er war Erlösung für sie."
Shodonn war wie betäubt.
"Wer sind sie? Wir hatten nie mit ihnen zu tun! Stecken sie auch hinter dem Verschwinden unserer
Schiffe? Weißt du etwas darüber?"
"Es ist ihre Art, Zwietracht zu säen, Rassen gegeneinander aufzuhetzen… Wir selbst kamen ihnen
erst vor wenigen Zeiteinheiten auf die Spur – und folgten ihnen in diese Galaxis, die auch ihre
Aufmerksamkeit geweckt hat."
In diese Galaxis…
Die Fremden kamen also tatsächlich aus einer anderen Sterneninsel, wahrscheinlich jener in
unmittelbarer Nachbarschaft!
"Ist das…" Shodonn wies auf das alptraumartige Gebilde, um das herum sich die Ringschiffe
gruppiert hatten "… das Objekt, das sich hinter der… Anomalie verbarg?"
"Ja."
"Es ist groß wie eine Stadt!"
"Jetzt, da wir es aus seiner Nanozone herausgezerrt haben, ja."
"Was meinst du damit?"
Der Robot, der sich selbst als Wächter apostrophiert hatte, gab keine Antwort.
"Was geschieht mit diesem Ding? Gibt es noch Leben darin?"
"Ja. Wir konnten nicht alle ausfindig machen. Aber es wird sie nicht retten."
"Und das heißt?"
"Wir werden sprengen."
* Die Ringschiffe zogen sich zurück. Dabei benutzten sie einen Antrieb, wie er Shodonn völlig unbekannt und nicht einmal in seinem Prinzip erklärbar war. Mit x-facher Lichtgeschwindigkeit entfernten sie sich vom Ort des Geschehens, ohne dabei zu transitieren oder in ein Wurmloch einzutauchen.
Der Wächter beantwortete keine diesbezügliche Frage.
Doch dann tauchte eine vertraute Silhouette vor dem samtschwarzen Hintergrund des Alls auf,
und Shodonn wußte, wie weit sie sich binnen weniger Atemzüge von der ursprünglichen Position
weg bewegt hatten.
Vor ihnen trieb die LHERA.
"Ihr habt doch nicht vor…?" In Shodonns Stimme schwang Panik.
In diesem Moment raste eine Schockwelle auf sie zu.
Die Ringschiffe blieben von ihr unangetastet, die LHERA jedoch wurde wie ein Blatt im Wind
geschüttelt. Trotz ihres Schildes.
"Die Sprengung verlief erfolgreich", sagte der Wächter. "Nun zu dir."
"Zu mir?"
"Wir übergeben dich an die deinen."
Damit hatte Shodonn kaum noch gerechnet. "Unser Volk ist euch zu großem Dank verpflichtet –
und ich auch."
"Ich weiß."
"Ohne Theris vorgreifen zu wollen, aber ihr seid willkommen, uns nach Galoa zu begleiten. Das
Nareidum…"
"Theris?" Er fragte nicht nach dem Nareidum, so als wäre ihm durchaus bekannt, was darunter zu
verstehen war.
"Der Kommandant des Schiffes dort."
"Ich werde jetzt Kontakt zu ihm aufnehmen und dich hinüberbringen."
Und so geschah es.
Eingehüllt in eine Energieblase, die Shodonn vor den Unbilden des Weltraums schützte, trug der
Wächter ihn in eine offene Schleuse der LHERA. Theris hatte sofort eingewilligt, obwohl er ein
Restrisiko – daß die Ringschiffe vielleicht doch feindlich gesinnt waren – nicht ausschließen
konnte.
Der Wächter begleitete Shodonn trotz allen Zuredens nicht in die Zentrale. Er machte unverzüglich
kehrt und schwebte zu seinem Schiff zurück.
Dann eröffneten alle drei Ringe gleichzeitig das Feuer auf die LHERA. Ein Feuer, ein Licht, das
mühelos den sich automatisch aufbauenden Schild und jede Wandung durchdrang…
* "Was ist geschehen?" Shodonn erwachte wie aus einem Trancezustand. "Ich… ich erinnere mich an nichts mehr… Nur noch an… an eine Lichtflut, dann…" "Auch ich erinnere mich an nichts – ab dem Zeitpunkt, da wir Kampfhandlungen orteten", sagte Theris aus dem Übermittler vor Shodonns Brust. "Und wie uns geht es der kompletten Besatzung der LHERA. Darüber hinaus…" "Darüber hinaus?" "… wurden sämtliche Datenspeicher des Schiffes gelöscht. Nur die erforderlichen Programme zur Schiffsführung blieben erhalten. Außerdem sind unsere Begleitschiffe verschwunden…" "Aber… wieso?" "Wie ich schon sagte: Ich weiß es nicht. Aber wir haben Trümmerfelder geortet. In einem Lichtjahr Entfernung. Vielleicht finden wir dort Antworten…" Shodonn zweifelte daran, ohne daß er den Grund dafür hätte benennen können. * Die Trümmer entpuppten sich als Wrackteile galoanischer Schiffe. Nach eingehenden Untersuchungen stellte sich heraus, daß es die Einheiten der verschwundenen Eskorte waren. Aber es wurden weder Überlebende noch Leichen gefunden, nicht einmal verstümmelt. Darüber hinaus schwebten überall feinste Partikel eines unbekannten Materials, jedes einzelne nicht einmal staubkorngroß. Theris ließ Proben davon einsammeln. Es konnte jedoch nie ermittelt werden, worum es sich dabei handelte. Die LHERA kehrte zu ihrem Heimathafen zurück, Theris ins Nareidum. Auf Galoa wurde festgestellt, daß am Gedächtnis der Besatzung manipuliert worden war – aber niemand war in der Lage, diese Manipulationen rückgängig zu machen. Das Erstaunliche dabei:
Die partielle Amnesie hatte nichts mit Veränderungen am Gehirn zu tun (sonst wäre nicht auch
Theris davon betroffen gewesen), sondern es hatte den Anschein, als wären – wie in den
Datenbänken des Schiffes – auf Bewußtseinsebene gezielt Sequenzen gelöscht worden.
Ein Rätsel, das nie gelöst wurde.
Aber von jenem Tag an kam es nie wieder zum unerklärlichen Verschwinden von Schiffen in Serie.
Der Friede unter Galoanern, Sofiden und Markomanen hatte Bestand.
Für lange, lange Zeit…
Ende