Ich darf Sie nicht erhören, Lord Lyndon
Amanda McCabe
MyLady 405 2-1/04
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In dem zauberh...
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Ich darf Sie nicht erhören, Lord Lyndon
Amanda McCabe
MyLady 405 2-1/04
Gescannt von Administrator
In dem zauberhaften Seebad Wycombe-on-Sea hat Caroline Aldritch für sich und ihre jüngere Schwester ein Haus gemietet. Das Schicksal will es, dass der attraktive Lord Lyndon mit seiner Familie ebenfalls hier den Sommer verbringt. Als seine Mutter entdeckt, dass Caroline die Tochter einer alten Schulfreundin ist, folgen Einladungen zu Bällen, Liederabenden und Picknicks. Lord Lyndon genießt die Gesellschaft der zauberhaften jungen Witwe, die ihm irgendwie bekannt vorkommt. Seine Zuneigung zu ihr wächst mit jedem Tag, aber werden seine Gefühle erwidert? Er ahnt nicht, dass Caroline ihn liebt, ein dunkles Geheimnis es ihr jedoch verbiete, ihn zu erhören …
PROLOG
London, 1810 „Bin ich tot?“ Justin Seward sank gegen die Rücklehne der schlecht gefederten Kutsche und betastete vorsichtig die schmerzende Stelle an seiner Schulter. Als er die Hand zurückzog, klebte Blut an seinen Fingern. „Sei nicht albern, Justin“, erwiderte sein Freund, der Ehrenwerte Frederick Reed, kopfschüttelnd. „Du hast kaum einen Kratzer abbekommen. Der alte Holmes konnte noch nie gut schießen. “ „Noch lebst du“, schaltete Justins zweiter Sekundant, James Burne-Jones, sich grinsend ein. „Aber sobald dein Vater von dem Duell erfährt, wirst du dir wünschen, du tätest es nicht mehr. Ich erinnere mich noch gut, wie wütend er beim letzten Mal war“. Justin stöhnte und schloss gequält die Augen. Die Standpauke, die ihn erwartete, würde fürchterlich sein. Nach dem zweiten Duell waren ihm grässliche Konsequenzen angedroht worden, falls es noch jemals zu einem derartigen Skandal kommen sollte. Am liebsten hätte er die Freunde aufgefordert, zum Ort des Geschehens zurückzukehren, damit er Holmes anflehen konnte, ihn doch noch zu erschießen. Der Tod war dem, was ihn daheim erwartete, gewiss in jedem Falle vorzuziehen. Er war wirklich bemüht gewesen, nicht in Schwierigkeiten zu geraten, und hatte monatelang alle sonst von ihm frequentierten Spielclubs und Lasterhöhlen gemieden. Natürlich hatte er nicht ahnen können, dass Pamela, deren parfümierte Briefe so aufreizend gewesen waren, einen eifersüchtigen Gatten besaß. Der hatte ihm aufgelauert, als er zum Rendezvous erschien, und ihn prompt zum Duell gefordert. Seit dem Ende seines Studiums in Cambridge vor zwei Jahren schien er vom Pech verfolgt zu sein, ganz im Gegensatz zu seinem älteren Bruder Eduard, diesem Musterknaben, der nie etwas falsch machte. Die Kutsche kam vor der Residenz der Sewards zum Stehen. Im Licht der aufgehenden Sonne wirkte das Haus nie ein Hort des Friedens, aber Justin wusste, dass ihn hinter den würdevollen Mauern das väterliche Strafgericht erwartete. In der letzten Zeit hatte er Auseinandersetzungen geschickt vermieden, doch dieses Mal würde der Kelch nicht an ihm vorübergehen. Ihm war klar, dass er seine letzte Chance vertan hatte. Bisher hatte er den Zorn des Vaters und die Enttäuschung der Mutter mit einem Schulterzucken abgetan und sich ins nächste Abenteuer gestürzt. Nun jedoch waren seine Schuldgefühle so schlimm, dass sie ihn sogar von den Wundschmerzen und der Wut über Holmes’ Duellforderung ablenkten. Er litt unter seinem Versagen und der Erkenntnis, dass er den in ihn gesetzten Erwartungen der Eltern nicht gerecht geworden war. „Wir sind da, Justin“, verkündete Frederick. Bedrückt schaute Justin aus dem Kutschenfenster, sah den Butler aus dem Haus kommen und die Freitreppe heruntereilen. Der Bedienstete öffnete den Wagenschlag, riss beim Anblick des Bluts auf Justins Schulter erschrocken die Augen auf und fragte bestürzt: „Sind Sie schwer verletzt, Sir? Ich glaube, es ist besser, wenn ich gleich den Arzt benachrichtigen lasse.“ Frederick entstieg dem Fahrzeug, streckte Justin, den James mit einem Griff unter die Achseln stützte, die Hände entgegen und half ihm beim Verlassen der Kutsche. Justin versagten die Beine, und er wäre gestürzt, hätten Frederick und James ihn nicht aufgefangen. „Ein Arzt ist nicht erforderlich, Richards“, brachte er, an den Buttler gewandt, mühsam heraus. „Die Wunde ist nicht der Rede wert.“ Er sah zum Haus und erblickte seine Mutter, die im Türrahmen lehnte, ein Spitzentaschentuch auf den Mund gepresst. Sie war schon seit einiger Zeit leidend und wirkte,
als könne der leiseste Windhauch sie umwerfen. Und neben ihr stand sein jüngerer Bruder Harold, dessen Augen vo r Aufregung glänzten. Justin machte sich Vorwürfe, dass Harry ihn so sah. Der Junge war so leicht zu beeindrucken. „Du lebst, Justin!“ schluchzte Amelia, Countess of Lyndon, erleichtert. „Ich hatte solche Angst um dich!“ Die Schuldgefühle wurden noch stärker. Justin war froh, von den Freunden gehalten zu werden, da er sonst der Mutter vor die Füße gefallen wäre und sie weinend um Verzeihung angefleht hätte. Frederick und James brachten ihn, gefolgt von dem höchst beunruhigten Richards, die Treppe hinauf und führten ihn in die geräumige Marmorhalle, wo sie ihn sacht in einen Fauteuil drückten. Dann verabschiedeten sie sich hastig. Feiglinge. „Natürlich lebe ich, Mutter“, erwiderte Justin, als sie sich zu ihm beugte und die Schulterwunde mit ihrem Taschentuch betupfte. „Holmes ist ein schlechter Schütze. Wieso bist du nicht im Bett?“ „Wie soll ich schlafen können, wenn ich nicht weiß, ob du noch lebst oder nicht?“ fragte Amelia vorwurfsvoll. „War es aufregend, Justin?“ wollte Harold wissen. „Ich wünschte, ich wäre dabei gewesen! “ Entsetzt schaute Amelia ihren jüngsten Sohn an. „Nein, es war langweilig, murmelte Justin. „Du hast nichts verpasst.“ „Beim nächsten Duell werde ich dein Sekundant sein“, erwiderte Harold eifrig. „Du wirst nichts dergleichen tun, Harold !“ ließ sich eine donnernde Stimme vom oberen Treppenabsatz vernehmen. „Oder willst du genauso ein Dummkopf werden wie dein Bruder? Eher schicke ich dich zum Studium nach Schottland.“ Wie Justin und die Mutter schaute auch Harold zu dem hoch gewachsenen, sich gerade haltenden weißhaarigen Vater hin, errötete und äußerte betroffen: „Ich meinte doch nur...“ „Ich weiß genau, was du gemeint hast“, unterbrach der Earl of Lyndon ihn schroff. „Lungere nicht herum, sondern bring deine Mutter nach oben und sorg dafür, dass Minette ihr ihre Tropfen gibt!“ „Ich möchte bleiben, Walter“, widersprach Amelia ruhig. Der Earl kam die Treppe herunter, ergriff die Hand seiner Gattin und sagte weich: „Dr. Reynolds hat dir verboten, das Bett zu verlassen, meine Liebe. Die Strapazen sind zu viel für dich. Bitte lass dich von Harold in dein Zimmer bringen, und nimm deine Medizin ein. “ Unschlüssig sah Amelia ihren mittleren Sohn an, beschloss jedoch, sich dem Wunsch ihres Gatten zu fügen. Sie nickte, hängte sich bei Harold ein und ging, unsichere Blicke auf Justin und ihren Mann werfend, die Stufen hinauf. Sobald sie und Harold nicht mehr zu sehen waren, wandte der Earl sich an den Butler: „Lassen Sie bitte Dr. Reynolds herkommen, Richards, und ihm ausrichten, dass sowohl meine Gemahlin als auch mein Sohn Justin ihn benötigen. “ „Sehr wohl, Mylord. Ich erledige das sofort“, antwortete der Bedienstete, verbeugte sich und verließ rasch das Entree. Seine Lordschaft nahm in einem Sessel neben dem seines Sohnes Platz, ehe er leise erklärte: „Dieses Mal bist du zu weit gegangen, Justin. “ Justin ließ den Kopf hängen. Der in der Stimme des Vaters mitschwingende Unterton stiller Resignation war ihm schlimmer als ein lautstarker Wutausbruch. „Ich weiß, Vater“, murmelte er kläglich. „Ich habe deine Spielschulden beglichen, deine Balletttänzerin, die so aufdringlich wurde und mir eine Szene machte, finanziell abgefunden und dafür gesorgt, dass über deine anderen Duelle nicht geredet wird. Jeder Mensch begeht in der Jugend Fehler, die man ihm nachsehen
kann. Aber was dich betrifft, so ist meine Geduld zu Ende. Du hast unserem guten Namen, der seit dreihundert Jahren in höchstem Ansehen gehalten wird, große Schande gemacht.“ Justin spürte die Augen feucht werden und zwang sich, nicht zu weinen. Tränen hätten seine Schmach nicht tilgen können. „Ich bin zur Besinnung gekommen, Vater“, erwiderte er spröde. „Ich verspreche dir, mich zu bessern. “ „Das behauptest du jedes Mal“, entgegnete der Earl kopfschüttelnd. „Nein, ich furchte, diesmal sind drastische Maßnahmen vonnöten. Ich habe dir ein Offizierspatent gekauft“, fügte er hinzu und zog das Dokument aus der Tasche seines Hausmantels. „Sobald du von der Verletzung genesen bist, wirst du nach Indien reisen und den Dienst in der Einheit meines alten Freundes Colonel Paget antreten. Sein Regiment ist in Mangalur in Kanara stationiert.“ Indien! Es entsetzte Justin, dass der Vater ihn so weit fortschickte. Diese Konsequenz war schlimmer als alle anderen Folgen, mit denen er auf der kurzen, ihm jedoch endlos erscheinenden Fahrt nach Hause gerechnet hatte. Er nickte, in sein Los ergeben, und nahm sich fest vor, seiner Familie wenigstens in der Ferne Ehre zu machen.
„Ich befürchte, Madam, mehr ist nicht vorhanden. “ Äußerlich unbeteiligt, schaute Caroline Aldritch den blässlichen Anwalt an, wenngleich sie nun mit erschreckender Deutlichkeit erfahren hatte, dass sie mittellos war. Offenbar rechnete der Gentleman damit, dass ihr die Sinne schwinden würden, da er hastig eine der Schubladen seines Schreibtisches aufzog und ihr ein Riechsalzfläschchen entnahm. Nun, es wäre verständlich gewesen, hätte sie einen Weinkrampf bekommen oder laut mit dem Schicksal gehadert. Sie fühlte sich jedoch, seit sie vom Tod ihres Gatten erfahren hatte, innerlich wie betäubt und sagte sich, sie habe seit langem gewusst, dass ihre Ehe kein anderes Ende nehmen werde. Lawrence war betrunken gewesen und hatte die Straße überquert, ohne auf den Verkehr Acht zu geben, und war von einer Kutsche überrollt worden. „Nach der Regulierung der Schulden meines Gatten bleiben mir noch zwanzig Pfund, wenn ich Sie richtig verstanden habe, Mr. Atherton“, erwiderte Caroline gefasst. „Vielleicht ein wenig mehr, Mrs. Aldritch“, entgegnete der Anwalt beschwichtigend. Mit diesem Betrag würde sie die Miete für die schäbige Unterkunft noch eine Weile zahlen können. Phoebe hingegen würde Mrs. Medlocks Schule für höhere Töchter umgehend verlassen müssen. Bei dem Gedanken an die jüngere Schwester empfand Caroline einen Stich ins Herz. Phoebes Briefe waren stets angefüllt mit allem, was das junge Mädchen beschäftigte – Berichten über den Unterricht, Schilderungen von Ausflügen und Beschreibungen von Freundinnen, jungen Damen aus guter Familie, die zu kennen der Schwester in Zukunft sehr dienlich hätte sein können. Caroline seufzte unhörbar. Das einzige Vernünftige, das Lawrence während ihrer Ehe getan hatte, war, nach dem Tod der Eltern für die Ausbildungskosten ihrer Schwester aufzukommen, wenngleich sie sich nicht vorstellen konnte, wie er das vermocht hatte. Gleichviel, sie musste eine Möglichkeit finden, dafür zu sorgen, dass Phoebe weiterhin Mrs. Medlocks Alumnatbesuchte und eines Tages ihr gesellschaftliches Debüt gab. Caroline war nicht willens zuzulassen, dass die Schwester in die gleiche desolate Lage geriet wie sie. Jäh erhob sie sich, strich fahrig den Rock ihres schwarzen Kleides glatt und sagte förmlich: „Ich danke Ihnen, Sir. Sie waren mir eine große Hilfe.“ Mr. Atherton begleitete sie zur Tür und erwiderte höflich: „Bitte, zögern Sie nicht, Madam, sich an mich zu wenden, falls Sie glauben, dass ich noch etwas für Sie tun kann. “ „Sehr liebenswürdig“, erwiderte sie, verabschiedete sich von ihm und verließ das Haus. Auf der Straße angekommen, musste sie nach der in der Kanzlei herrschenden Düsternis die Augen vor dem sie blendenden Tageslicht verschatten, und schlug den Schleier herunter, obwohl es kein besonders sonniger Tag war. Dann hielt sie Ausschau nach einer Droschke,
dachte plötzlich daran, wie wenig Geld sie bei sich hatte, und beschloss tapfer, den Heimweg zu Fuß anzutreten. Sie befand sich bereits in der Nähe ihrer Unterkunft, als sie jemanden laut ihren Namen rufen hörte. Sie blickte über die Schulter und bemerkte einen Freund ihres verstorbenen Gatten, der sich durch die Passanten einen Weg zu ihr bahnte. Sie kannte den Mann nur flüchtig und mochte ihn nicht, weil er zu Lawrence' Begleitern in Spielhöllen und auf der Pferderennbahn gehört hatte. Endlich hatte er sie eingeholt und sagte erleichtert: „Ein Glück, dass ich Sie getroffen habe, Mrs. Aldritch. Ihre Wirtin Mrs. Wittacker sagte mir, Sie seien außer Haus.“ Caroline fiel auf, dass er ein in Packpapier gewickeltes Päckchen bei sich trug. „Ja, ich hatte etwas zu erledigen, Mr. …“, erwiderte sie. „Pardon, ich habe Ihren Namen vergessen. “ „James Burne-Jones, Madam“, erwiderte der Gentleman und verbeugte sich leicht. „Wir sind uns vergangenen Monat bei den Bedfords begegnet.“ Sie entsann sich des Festes, das von den letzten Mitgliederndes niederen Adels veranstaltet worden war, die ihren Mann noch zu sich einluden. Sie hatte am Rand des Parketts gestanden und die Tanzenden beobachtet, derweil Lawrence sich im Spielsalon aufhielt. „Ach, ja, ich erinnere mich“, erwiderte sie, obwohl das nicht der Fall war. „Ich verlasse heute Nachmittag die Stadt, wollte aber nicht abreisen, ohne Ihnen dies hier gegeben zu haben“, erklärte Mr. Burne-Jones und hielt Caroline das Päckchen hin. Sie nahm es entgegen und fragte misstrauisch: „Was enthält es, Sir?“ „Nichts Anstößiges, Madam“, versicherte er. „Es gehörte Larry. Er hat es mir kurz vor seinem ... seinem Ableben zur Aufbewahrung anvertraut.“ Vermutlich war es die seit dem Unfall verschwundene Uhr, und vielleicht lag etwas Geld dabei. „Ich danke Ihnen, Mr. Burne-Jones“, erwiderte Caroline in unverbindlichem Ton. „Es war sehr freundlich, mir das Päckchen zu bringen. “ „Für Larrys Witwe jederzeit, Madam“, erklärte der junge Mann überschwänglich. „Wir mochten ihn, und es tut uns schrecklich Leid, dass er tot ist. Er war ein guter Mensch. “ „Danke“, äußerte sie höflich und bemerkte mit einem Blick zu ihrem Wohnquartier, dass Mrs. Whittacker, ihre Vermieterin, hinter dem Salonfenster stand und sie durch einen Spalt im Vorhang argwöhnisch beobachtete. Sie seufzte und fand, es würde ihr gerade noch fehlen, ihre ohnehin schon erbärmliche Unterkunft verlassen zu müssen, weil die Hausbesitzerin sie für eine lebenslustige Witwe hielt. Rasch verabschiedete sie sich von Mr. Burne-Jones, betrat das schmale, mehrstöckige Gebäude und huschte an der geschlossenen Tür von Mrs. Whittackers Wohnung vorbei die Treppe hinauf. In ihrem kleinen, aus zwei Räumen bestehenden Appartement angekommen, versperrte sie die Tür hinter sich und lehnte sich einen Moment lang erschöpft dagegen. Dann legte sie das Päckchen auf dem ungemachten Bett ab und zog die Handschuhe aus. Neugierig entfernte sie das Einwickelpapier, und ein kleines Blechkästchen kam zum Vorschein. Sie schüttelte es, vernahm ein metallisches Geräusch und hoffte inständig, sie möge genügend Geld vorfinden, um die Miete zahlen zu können. Eifrig drehte sie den kleinen Schlüssel herum, klappte den Deckel auf und blickte sprachlos auf die Münzen und die Banknoten. Das Kästchen enthielt so viel Geld, dass sie Mrs. Whittacker noch eine ganze Weile bei Laune halten konnte, außerdem einen Schlüssel und ein säuberlich gefaltetes Blatt Papier. Neugierig nahm sie es heraus, glättete es und stellte fest, dass es sich um eine Urkunde handelte, in der ein gewisser Mr. Ephraim Samuels ihrem Mann das Besitzrecht an einem Spielsalon namens „Goldene Feder“ übertragen hatte, und zwar am selben Tag, an dem Lawrence den Tod gefunden hatte. Welche Ironie des Schicksals! Ausnahmsweise einmal nicht vom Pech verfolgt, war der arme Larry nicht mehr in der Lage gewesen, sich an seinem Gewinn zu erfreuen. Caroline sah zum Kaminsims und betrachtete die ihren Gatten darstellende Miniatur. Das Bild war einige Jahre zuvor entstanden und zeigte Lawrence nicht als verlebten Mann mit
blutunterlaufenen Augen, sondern als jungen Bräutigam, dessen Blick einen idealistischen und ehrlichen Ausdruck hatte. Sie entsann sich, welch hohe Erwartungen Lawrence und sie an ihrem Hochzeitstag genährt hatten, wie ungeduldig sie gewesen waren und wie verliebt. Sie waren noch viel zu jung gewesen, erst siebzehn Jahre alt. Ihrer beider Liebe hatte die familiären Probleme und die Armut, in die sie geraten waren, nicht überlebt. Denn sowohl Carolines Eltern als auch die ihres Mannes waren nicht gut situiert gewesen und hatten auf eine gute Partie gerechnet, aber nicht auf die heimliche Heirat mit einem ebenfalls mittellosen Partner. Caroline nahm ihren Hut ab, legte ihn neben sich auf das Bett und dachte daran, dass die Liebe zwischen ihr und Lawrence nicht stark genug gewesen war, um die Schwierigkeiten, denen sie sich ausgesetzt gesehen hatten, gemeinsam zu überwinden. Sie hatte sich bemüht, ihm ein Heim zu schaffen, wohingegen er der Spielleidenschaft und Trunksucht verfallen war. Er war überzeugt gewesen, dass er gut für sie beide aufkommen könne, wenn er nur ein Mal Glück beim Spiel hatte. Sie besah sich die Urkunde und fand, er habe nun doch, wenn auch auf eine eher ungewöhnliche Weise, dafür gesorgt, dass sie ein Auskommen hatte. Sie würde es jedoch nur dann wirklich haben, wenn sie den Mut aufbrachte, es für sich zu beanspruchen.
Caroline vergewisserte sich, dass die Adresse stimmte, und ließ ihren Blick prüfend über die Fassade des Hauses schweifen, das sie geerbt hatte. Von außen war dem gediegenen Gebäude nicht anzusehen, dass es einen Spielsalon beherbergte. Der Zugang war ordentlich gefegt, die Metallbeschläge der Haustür glänzten, und die Fensterscheiben waren tadellos sauber. Lediglich der auf dem Messingschild neben der Eingangstür angebrachte Name des Etablissements und der Hinweis, der Zutritt sei nur Mitgliedern gestattet, ließen erkenne n, dass das Haus einem bestimmten Zweck diente. Sie atmete tief durch, schloss die Eingangstür auf und betrat das Foyer, in dem lediglich ein kleiner Bureau und ein Sessel standen. Eine Treppe führte ins Obergeschoss. Neugierig suchte Caroline den nächsten Raum auf, ging zu den Fenstern und zog die schweren grünen Samtportièren zur Seite. Überrascht stellte sie fest, dass er sehr geschmackvoll eingerichtet war, mit Seidentapeten, hübschen Gemälden, erlesenen Teppichen, vergoldetem Mobiliar und mehreren Spie ltischen. Ein Durchgang gewährte einen Blick in das angrenzende, gleichermaßen kostbar ausgestattete Speisezimmer. Dieses Unternehmen musste eine hervorragende Einnahmequelle sein. Caroline strich über die Rücklehne eines hübschen Fauteuils und stellte sic h die Räumlichkeiten voller elegant gekleideter Besucher vor, die sich hier verlustierten, Champagner tranken und ein Vermögen ausgaben. An sich hatte sie vorgehabt, das Anwesen zu veräußern, um genügend Geld für Phoebe, und sich zu haben. Nun jedoch kam ihr der Gedanke, selbst die Leitung des Spielsalons zu übernehmen, zumindest einige Jahre lang, da ihr dann weitaus höhere Einnahmen zur Verfügung stehen würden, die reichten, um der Schwester ein angemessenes gesellschaftliches Debüt und eine beträchtliche Mitgift zu ermöglichen. Vielleicht erzielte sie sogar so hohe Gewinne, dass sie ein Häuschen auf dem Land erstehen konnte. Sie war oft genug mit Lawrence in ähnlichen Salons gewesen und wusste, wie ein solches Unternehmen geleitet wurde. Natürlich benötigte sie Hilfe, doch da sie eine rasche Auffassungsgabe hatte, war sie überzeugt, die Aufgabe meistern zu könne. Und wenn sie Erfolg hätte, würde sie nicht noch einmal heiraten müssen und von der Gnade eines unbedachten, verantwortungslosen Mannes abhängig sein. Caroline überlegte, wie sie ihr Ansehen in der Öffentlichkeit wahren konnte, und fand, es würde nicht schwer sein zu behaupten, ihr verstorbener Gatte habe die „Goldene Feder“, nachdem er sie gewonnen hatte, umgehend an eine geheimnisvolle Dame verloren.
Sie setzte sich in einen Fauteuil und grübelte darüber nach, wie sie sich verhalten solle. Wenn sie für das Etablissement verantwortlich war, würde sie täglich in einer Welt leben müssen, die sie verabscheute, einer Umgebung, die Lawrence korrumpiert und ihre Ehe zerstört hatte. Sie hasste Glücksspiele, fragte sich indes, welche Wahl sie habe. Wenn sie die Leitung der „Goldenen Feder“ nicht übernahm, stand sie vor dem Nichts. Sie verfügte nicht über Fähigkeiten, die es ihr erlaubten, ihren Lebensunterhalt anders zu verdienen, und in ihrer Situation durfte sie nicht damit rechnen, sich ein zweites Mal zu vermählen. Phoebe und sie würden ins größte Elend gestürzt. Tapfer entschloss sie sich, das Wagnis einzugehen, und dämpfte die vorhandenen Zweifel mit dem Gedanken, sie müsse den Spielsalon schließlich nicht bis an ihr Lebensende leiten.
1. KAPITEL
London, 1814 „Du bist da, Justin! Endlich bist du wieder zu Hause!“ Rasch übergab Justin dem Butler Hut und Handschuhe und ließ sich von ihm aus dem Mantel helfen. Dann breitete er die Arme aus und drückte seine Mutter an sich, die aufgeregt die Treppe heruntergekommen und zu ihm geeilt war. „Es ist so lange her“, flüsterte sie bewegt. „Viel zu lange “ erwiderte er und erinnerte sich, dass er in Mangalur oft geglaubt hatte, er werde seine Angehörigen und sein Heim nie wieder sehen. Und die Befürchtungen hatten sich zum Teil bewahrheitet, denn sein Vater und Edward waren bei einem Unfall ums Leben gekommen, so dass jetzt er den Titel trug. Sacht schob er seine Mutter ein Stück von sich, betrachtete sie und stellte fest, dass sie sich verändert hatte. Ihre Wangen waren rosig überhaucht, ihre Augen strahlten, und im Gegensatz zu früher, da sie schmal und zerbrechlich gewesen war, hatte sie zugenommen und sah viel gesünder aus. Offenbar hatte sie aufgehört, die Medizin zu nehmen, von der sie abhängig gewesen war. „Nachdem ich deinen Brief erhalten hatte, bin ich sofort abgereist“, fuhr er fort. „Es tut mir Leid, dass ich erst jetzt hier sein konnte.“ „Es war schwer für mich“, gab Amelia zu und lächelte unter Tränen. „Ohne deinen Vater und Edward fühle ich mich schrecklich einsam. Aber jetzt bist du hier, und nur das ist von Bedeutung. Ich bin sicher, nun wird alles gut.“ „Was meinst du damit, Mutter?“ fragte Justin verwundert. „Das werde ich dir später erzählen“, antwortete sie ausweichend. „Du musst sehr müde sein. Komm mit in mein Boudoir, erfrisch dich und erzähl mir von der Fahrt und Indien. “ Justin nickte und begleitete seine Mutter, nachdem sie Richards angewiesen hatte, den Tee in ihrem Salon zu servieren, in ihr privates Reich. Er half ihr, sich auf die Vielleuse zu setzen, nahm in einem Fauteuil Platz und hörte ihrem fröhlichen Geplauder über die soeben zu Ende gegangene Saison zu. Sie unterbrach ihre Erzählungen nur kurz, als der Butler den Tee servierte, und sprach dann eifrig über die Pläne, die sie für den Sommer hatte. Lächelnd stärkte Justin sich und warf bei passender Gelegenheit ein: „Harry ist also noch in Cambridge?“ Amelia wurde ernst und mied den Blick ihres Sohnes. Ihr Benehmen befremdete Justin. „Stimmt etwas nicht mit dem Jungen, Mutter?“ erkundigte er sich besorg, beugte sich vor und legte die Hand auf ihre. „Ist er krank?“ „Nein“, antwortete sie und schüttelte den Kopf. „Aber ... Oh, Justin! Ich bin so froh, dass du daheim bist! Ich weiß nicht. Was ich tun soll.“ Justin ließ ihre Hand los, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Sag mir, worum es geht, ganz gleich, was es ist“, forderte er sie auf. „Harry ist relegiert worden. “ „Relegiert!“ wiederholte Justin bestürzt. „Gewiss lässt diese Entscheidung sich rückgängig machen, wenn man mit den richtigen Leuten redet.“ „Nein, es ist schon das dritte Mal, und der Rektor hat mir zu verstehen gegeben, dass sein Beschluss unumstößlich ist.“ Justin meinte sich verhört zu haben. Der Bruder musste etwas Unerhörtes angestellt haben, das eine derart drastische Maßnahme rechtfertigte. „Wann ist das passiert?“ wollte er wissen.
„Kurz bevor dein Vater ums Leben kam. Walter war schrecklich wütend auf Harry“, sagte Amelia bekümmert. „Ich habe ihn nie so außer sich erlebt.“ Justin wusste nicht, was er sagen sollte. Der Vater hatte ihn, weil er unbotmäßig gewesen war, nach Indien geschickt, nur um dann feststellen zu müssen, dass sein jüngster Sohn es ihm gleichtat. Fassungslos schüttelte er den Kopf. Er hatte gehofft, sein jüngerer Bruder würde nicht in seine Fußstapfen treten, doch offenbar war aus Harold ein höchst leichtsinniger junger Mann geworden. Und nun erwartete die Mutter, dass er ihn zur Raison brachte. „Was treibt er jetzt?“ erkundigte Justin sich argwöhnisch. „Ich sehe ihn nur selten“, antwortete Amelia. „Folglich weiß ich nichts Genaues. Er hat kein Interesse daran, mich zu Bällen und dergleichen zu begleiten. Mir sind Gerüchte über ihn zu Ohren gekommen, wenngleich ich keine Ahnung habe, ob sie zutreffen. Aber ich befürchte, er amüsiert sich in zwielichtiger Gesellschaft.“ Innerlich stöhnte Justin auf. Er war davon ausgegangen, dass er heiraten, Nachkommen haben und in heimische r Umgebung ein beschauliches, zurückgezogenes Dasein führen würde. Das schien ein Trugschluss gewesen zu sein. „Ich hoffe, Harry kommt zur Ruhe, wenn wir nach dem Ende der Saison in Waring Castle sind“, fuhr Amelia fort. „Auf dem Land dürfte er keinem schädlichen Einfluss ausgesetzt sein. “ „Er ist einverstanden mitzufahren? “ „Noch hat er nicht zugestimmt“, sagte Amelia seufzend. „Ich bin jedoch davon überzeugt, dass du ihn dazu überreden wirst.“ Justin war nicht sicher, ob ihm das gelingen würde, da er aus eigener Erfahrung wusste, wie uneinsichtig ein auf sein Vergnügen bedachter junger Mann sein konnte. „Ich werde sehen, was ich tun kann, Mutter“, versprach er dennoch. „Danke“, erwiderte Amelia erleichtert. „Ehe tout le monde die Stadt verlässt, findet noch ein Ball statt, an dem wir teilnehmen sollten. Lady Bellweather, mit der ich gut befreundet bin, hat eine entzückende Tochter, die in dieser Saison ihr gesellschaftliches Debüt gegeben hat. Ich bin sicher, Sarah wird dir gefallen. “ In diesem Moment wurde die Tür geöffnet, und Harold betrat den Salon. Verblüfft registrierte Justin, dass der Bruder nicht nur wie ein Geck gekleidet, sondern auch unrasiert und nichtkorrekt frisiert war. Das Erscheinungsbild des jungen Mannes gab ihm zu denken und ließ ihn befürchten, dass er mit ihm größere Probleme haben würde als gedacht. „Ach, du bist endlich zu Hause?“ fragte Harold, während er zu dem Sessel ging, der neben dem der Mutter stand. Er setzte sich, streckte die langen Beine von sich und äußerte grinsend: „Offe nsichtlich warst du für die indischen Eingeborenen zu gerissen. Dir scheint nicht einmal ein Elefant auf die Füße getreten zu haben. “ „Nein“, erwiderte Justin trocken. „Schön, dich wiederzusehen, Harry. “ „Ich wette, Mama hat dir bereits erzählt, dass ich von den alten Spießern in Cambridge an die Luft gesetzt worden bin“, sagte Harold feixend. „Sie hat etwas in dieser Hinsicht erwähnt “, räumte Justin ein. „Es war nicht gerechtfertigt, mich zu relegieren!“ schimpfte der Bruder. „Der Vorfall, den man zum Anlass genommen hat, war ganz harmlos. Es handelte sich um ein Missverständnis.“ „Wenn ich richtig informiert bin, war es das dritte, von dem du betroffen warst.“ „Ach, du weißt doch, wie so etwas ist“, erwiderte Harold schulterzuckend. „Gleichviel, durch den Verweis von der Universität habe ich mehr Zeit für erbauliche Dinge “, setzte er auflachend hinzu. „Du kannst dir denken, was ich meine.“ Die Mutter errötete, und Justin hätte dem Bruder am liebsten eine Ohrfeige gegeben. „Heute Abend gehe ich mit Freunden in die ‚Goldene Feder’“, fuhr Harold unbekümmert fort. „Komm doch mit, dann können wir deine Heimkehr gebührend feiern. “
„Und was bitte ist die ,Goldene Feder'?“ erkundigte Justin sich misstrauisch. „Ein exzellenter Spielsalon, der sehr en vogue ist“, erklärte Harold. „Ich bin mit meinen Freunden mehrmals in der Woche dort.“ „Ein Spielsalon! “ wiederholte Amelia erschüttert. „Ich bin entsetzt, Harry! “ „Ach, du machst dir ein falsches Bild von der ,Goldenen Feder', Mutter“, entgegnete Harry gleichmütig. „Das ist keine Spielhölle, sondern ein respektables Etablissement, zu dem allein Mitglieder Zutritt haben. Nur Leute aus den besten Kreisen verkehren dort. Mrs. Archer, die Besitzerin, würde nicht zulassen, dass Gesindel sich bei ihr einfindet. Sie ist eine sehr attraktive, aber irgendwie geheimnisumwitterte Frau, die stets ein Cachenez trägt. Du solltest unbedingt mitkommen, Justin! Es heißt, sie habe die Absicht, die ‚Goldene Feder’ zu verkaufen, und wenn der Salon nicht mehr ihr gehört, wird es dort längst nicht mehr so interessant sein. “ Justin sah die Mutter an und fand deren bittenden Blick auf sich gerichtet. Offenbar glaubte sie, er könne verhindern, dass sein Bruder irgendetwas Törichtes anstellte. Wiewohl er sich nach der langen, ermüdenden Reise nach Ruhe sehnte, nickte er leicht und willigte ein: „Also gut, Harry. Ich werde dich begleiten. “
Caroline stand in der kleinen Abstellkammer hinter dem Spielsalon und lugte durch den Spion in der Wand. Sie stellte fest, dass die Besucher sich in dem Raum drängten. Alle Plätze waren besetzt, der Champagner floss reichlich, und an den Tischen wurde um hohe Einsätze gespielt. Sie lächelte zufrieden, denn dieses Bild hatte sich ihr in den vergangenen vier Jahren an fast jedem Abend geboten. Besser und glanzvoller konnte sie die Geschäfte nicht zum Abschluss bringen. Niemand, der je Gast bei ihr gewesen war, würde die geheimnisvolle Mrs. Archer vergessen. Sie schob die kleine hölzerne Klappe vor das Guckloch und begab sich diskret über die hintere Treppe zu ihren Privatgemächern im oberen Stockwerk. Dort betrat sie ihr Büro, ging zu ihrem mit Portefeuilles und Schriftstücken übersäten Schreibtisch und nahm den vor einer Woche eingetroffenen, bereits mehrfach gelesenen Brief zur Hand, in dem Phoebe ihr mitteilte, dass sie das Mädchenpensionat nach dem herannahenden Ende der Schulzeit so bald wie möglich verlassen wolle. Aus jedem Wort, das die Schwester geschrieben hatte, sprachen ihre jugendliche Aufgeregtheit und Erwartungsfreude, die sich ein wenig auf Caroline übertragen hatten. Auch sie stand vor dem Ende eines Lebensabschnitts, denn sie konnte den Spielsalon, der die mit ihm verbundenen Hoffnungen voll und ganz erfüllt hatte, in wenigen Tagen aufgeben. Sie hatte ein beträchtliches Vermögen erwirtschaftet und würde, wenn die ‚Goldene Feder’ verkauft war, noch reicher sein. Sie war jetzt sehr gut situiert, so dass weder sie noch die Schwester je Geldsorgen haben würden. Diese finanzielle Sicherheit war es wert gewesen, Abend für Abend durch die Räumlichkeiten zu schlendern, die Leute sich vergnügen und ihr Geld verlieren zu sehen, sich anzügliche Bemerkungen anhören zu müssen und trotzdem die Contenance zu wahren, Caroline faltete den Brief zusammen, legte ihn in die oberste Schublade des Schreibtisches und versperrte sie. Zufrieden dachte sie daran, dass sie die Schwester in Zukunft nicht nur in den Ferien, sondern das ganze Jahr bei sich haben würde. In Wycombe-on-Sea, wo sie und Phoebe als Kinder in den Ferien mit den Eltern gewesen waren, hatte sie bereits ein Anwesen gemietet, um sich in den Sommermonaten erholen und das gesellschaftliche Debüt ihrer Schwester vorbereiten zu können. Sie war überzeugt, dass Phoebe dank des guten Ansehens ihrer Eltern Zugang zu den besseren Kreisen bekommen würde. Es klopfte. „Wer ist da?“ fragte Caroline misstrauisch. „Ich bin es, Madam. Mary.“
„Komm herein“, forderte Caroline die Zofe auf, die früher ihr Kindermädchen gewesen war und der sie rückhaltlos vertraute. Außer Mary Lyall gab es niemanden, der wusste, wer die Besitzerin der ‚Goldenen Feder’ war. Die Bedienstete betrat den Raum, schloss die Tür und sagte: „Es ist fast Mitternacht, Madam. Die Gäste erwarten sie bald zu sehen. “ „Ja, leider“, erwiderte Caroline seufzend. „Ach, wir werden nicht mehr lange hier sein, falls der Kaufinteressent sich zum Erwerb des Hauses entscheidet“, erwiderte Mary tröstend. „Ich rechne damit, dass er seine Entscheidung innerhalb der nächsten zwei Wochen trifft“, erwiderte Caroline und begab sich in das nebenan gelegene Ankleidezimmer. „Jedenfalls wäre das sehr wünschenswert.“ Sie nahm auf dem Polsterhocker vor dem Frisiertisch Platz, ließ sich von Mary die mitgebrachte rothaarige Perücke geben und setzte sie auf. Die Zofe steckte sie ihr mit Elfenbeinkämmchen fest, die mit kleinen Rubinen verziert waren, hielt ihr anschließend das Cachenez vor die Augen und verknüpfte die kurzen Bänder unter dem Haar, damit die Schleife nicht zu sehen war. Dann schminkte sie Caroline, legte ihr Smaragdbriolets, Kollier und Armband an und drapierte die Bayadère um ihre Schultern. Caroline schlang die Enden des langen Schals um die Armbeugen, stand auf und betrachtete sich im Spiegel. Mit ihrem Erscheinungsbild zufrieden, sagte sie lächelnd: „Ich bin soweit.“
Gelangweilt beobachtete Justin das Treiben im Speisesaal und dem angrenze nden Spielsalon und fand, die ‚Goldene Feder’ unterscheide sich kaum von ähnlichen Etablissements, die er vor vier Jahren frequentiert hatte. Auch hier drückten die Mienen der Spieler Hoffnung, Enttäuschung, Erwartung und Erregung aus. Unwillkürlich fragte er sich, warum er sich früher in einer derartigen Umgebung wohl gefühlt hatte, und wäre am liebsten gegangen. Das war indes nicht möglich, da Harold noch Karten spielend an einem der Tische saß, mehrere säuberlich aufgeschichtete Stöße von Münzen vor sich. Die maskierte Dame neben ihm legte ihm vertraulich die Hand auf den Arm und raunte ihm etwas zu. Daraufhin nickte er und lachte auf. Schon im Begriff, zu ihm zu gehen, sah Justin zu seiner Überraschung Frederick Reed in Begleitung einer nicht maskierten blonden Dame aus dem Speisesaal auf ihn zukommen. Sein Freund wirkte um mindestens zwanzig Jahre gealtert. Er war feist geworden und hatte ein fahles, kränklich aussehendes Gesicht, blutunterlaufene Augen und Tränensäcke. Es war offenkundig, dass er seinen ausschweifenden Lebenswandel in den vergangenen Jahren nicht aufgegeben hatte. Erschüttert hielt Justin sich vor, dass er vermutlich ebenso verlebt aussehen würde, hätte der Vater ihn nicht nach Indien geschickt. „Hallo Freddie“, sprach er den sichtlich bezechten Freund an. „Wie geht es dir?“ Verdutzt schaute Frederick den von der Sonne gebräunten Gentleman an, erkannte ihn plötzlich und erwiderte erstaunt: „Parbleu, Justin! Man könnte fast glauben, du wärst ein Inder! Seit wann bist du zurück?“ „Ich bin gestern eingetroffen“, antwortete Justin höflich, „und nur hier, weil ich Harry begleite.“ „Ach, ja, dein jüngerer Bruder! Er hat sich an dir ein Beispiel genommen. Ich sehe ihn oft hier. Mein Freund Justin, der Earl of Lyndon“, stellte er ihn seiner Begleiterin vor. „Und das ist Miss Harriet Thomson. Justin war früher einer der unternehmungslustigsten Bonvivants der ganzen Stadt. Dann hat er sich vier Jahre in Indien aufgehalten und ist jetzt ein sittsamer, ehrbarer Gentleman. “ „Sehr erfreut, Mylord“, murmelte die junge Dame.
„Sei so nett, Harriet, und warte am Pharotisch auf mich“, bat Frederick. „Ich möchte ein Weilchen mit Justin reden. “ Schmollend sah die junge Dame Mr. Reed an, nickte schließlich und sagte mit kokettem Augenaufschlag: „Nun, vielleicht haben wir später noch das Vergnügen, Mylord.“ Frederick wartete, bis sie sich entfernt hatte, und äußerte dann: „Seit Lawrence tot ist und unser Freund James die Stadt verlassen hat, ist es hier längst nicht mehr so amüsant wie früher.“ „James ist nicht mehr in London? “ fragte Justin überrascht. „Nein“, bestätigte Frederick. „Er ist einen Tag nach dem Duell mit Holmes von seinem Vater nach Amerika verbannt worden und hat später in Boston eine reiche Witwe geheiratet. Schade, wir hatten viel Spaß miteinander, nicht wahr? Aber dieses Etablissement kann sich sehen lassen. Oder bist du anderer Meinung?“ „Nein“, antwortete Justin gleichmütig, warf einen Blick auf die Gäste und bemerkte, dass Harry noch mit der neben ihm sitzenden Schönen sprach. „Ich bin mindestens zwei Mal in der Woche hier.“ „Tatsächlich? “ „Ja, denn hier wird um hohe Einsätze gespielt, und Mrs. Archer, der dieses Haus gehört, ist eine wahre Schönheit. Leider trägt sie stets eine Halbmaske, so dass ihr Gesicht nicht zu erkennen ist. Aber das macht sie umso reizvoller. Ihre Figur ist hinreißend, und ihre Stimme klingt unglaublich sinnlich. Bedauerlicherweise verhält sie sich sehr distanziert und würdigt keinen Mann eines zweiten Blickes. Aber was rede ich? Überzeug dich selbst. Da ist sie“, fügte Frederick hinzu und fixierte einen Punkt hinter Justin. Justin sah sich um. Im Salon war unvermittelt Stille eingetreten. Durch die offene Flügeltür konnte er auf dem oberen Absatz der Treppe im Foyer eine mittelgroße rothaarige Frau in einem grünen, tief dekolletierten Seidenkleid stehen sehen. Sie trug eine smaragdfarbene Halbmaske und mit Smaragden besetztes Geschmeide. Die Dame verweilte einen Moment, offenbar die Wirkung genießend, die sie auf ihre Gäste ausübte, und kam dann langsam die Stufen herunter. Ihr Anblick verschlug Justin die Sprache, und wie gebannt hielt er die Augen auf sie gerichtet, als sie den Salon betrat. „Habe ich übertrieben? “ fragte Frederick leise. „Nein“, antwortete Justin und bedauerte, dass sie mittlerweile zwischen den in ihre Richtung drängenden Gästen kaum noch zu sehen war. Etwas Unerklärliches war plötzlich mit ihm geschehen, das ihn verunsicherte und ihn vollkommen aus dem Gleichgewicht brachte. Nicht fähig, den Blick von ihr zu wenden, ärgerte er sich, dass die anderen Besucher ihm die Sicht auf sie verdeckten. Hin und wieder sah er sie lächelnd mit jemandem plaudern, einen Schluck Champagner trinken oder über die Bemerkung eines Besuchers lachen. Langsam näherte sie sich dem Durchgang zwischen dem Speisesaal und dem Spielsalon. Unversehens fing Justin einen Blick von ihr auf und hatte das Gefühl, der Boden schwanke ihm unter den Füßen.
Caroline war sicher, den Gentleman, der beim Durchgang stand, noch nie gesehen zu haben, denn sonst hätte sie sich an ihn erinnert. Er sah, wie sie fand, ausnehmend gut aus. Er war von hohem, stattlichem Wuchs, sein hellbraunes Haar, das wie von der Sonne gebleicht wirkte, modisch geschnitten, und sein Gesicht stark gebräunt, als würde er viel, Zeit im Freien verbringen. Anders als die meisten männlichen Gäste machte er einen äußerst gesunden und vitalen Eindruck. Irgendwie verband Caroline mit ihm den Gedanken an ein beschauliches, gesittetes Leben auf dem Land, Ausritte am frühen Morgen in gelöster, heiterer Stimmung und ange nehme Spaziergänge in einem gepflegten Park.
Unwillkürlich musste sie lächeln, weil kaum zu erwarten war, dass diese Annahme zutraf. Wenn der Gentleman sich bei ihr eingefunden hatte, konnte er nicht so rechtschaffen sein. Zweifellos war er ebenso wie Lawrence der Spielleidenschaft verfallen und folglich nur ein weiterer Gast. Vermutlich weilte er zu Besuch in London, möglicherweise bei Mr. Reed, neben dem er stand. Aber er war jemand, den Caroline unbedingt kennen lernen wollte. Schließlich war es ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass jedermann sich in ihrem Etablissementwohl fühlte. Zielstrebig näherte sie sich ihm, und es entging ihr nicht, dass er sie aufmerksam beobachtete. Es dauerte eine Weile, bis sie ihn und Mr. Reed erreicht hatte. „Guten Abend, Gent lemen“, sagte sie freundlich. „Wie schön, Sie wiederzusehen, Mr.Reed.“ „Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite, Mrs. Archer“, erwid erte Frederick und verneigte sich. „Sie sehen wie immer hinreißend aus, Madam. “ „Vielen Dank für das reizende Kompliment, Sir“, äußerte sie lächelnd und schaute fragend zu seinem Begleiter. „Pardon“, entschuldigte sich Frederick. „Darf ich vorstellen? Mein Freund Justin, der Earl of Lyndon. Er ist zum ersten Mal hier.“ „Sehr erfreut, Mrs. Archer“, murmelte der neue Besucher, verneigte sich und hob ihre Hand zum Kuss an die Lippen. „Willkommen in meinem Salon“, erwiderte sie und fügte hinzu: „Ich hoffe, Sie genießen Ihren ersten Abend bei mir.“ „Dessen bin ich mir sicher“, äußerte der Earl charmant. „Wer könnte sich in dieser bezaubernden Umgebung nicht gut amüsieren? “ Caroline fand den Ausdruck in seinen blauen Augen eigenartig unergründlich und bemerkte, dass sein Blick flüchtig an ihr vorbeiging, ehe er ihn wieder auf sie richtete. Unwillkürlich überlegte sie, ob eine andere Frau sein Interesse geweckt haben mochte, und spürte Arger in sich aufsteigen. Sie fühlte sich in ihrer Eitelkeit gekränkt und wünschte sich entgegen ihrer sonstigen Einstellung, er möge sie ebenso bewundernd betrachten, wie die meisten der anderen männlichen Gäste das taten. „Sein Bruder Harold frequent iert Ihr Haus regelmäßig, Madam“, schaltete Frederick sich ein. „Ach, ja?“ fragte sie und schaute Mr. Reed an. „Und welcher der Herren ist das?“ Justin wies auf Harold und antwortete: „Dieser dort, der neben der Dame im weißen Kleid sitzt.“ Caroline sah in die angegebene Richtung und wurde sich im gleichen Moment bewusst, dass der Earl vorher zu seinem Bruder geblickt hatte. Viscount Keir war tatsächlich mehrmals in der Woche zu Gast und pflegte sein Geld beim Kartenspiel zu verlieren. Er benahm sich nicht immer untadelig, hatte jedoch noch nie größere Schwierigkeiten gemacht. Sie fand es schwer zu glauben, dass er der Bruder des seriös wirkenden Earl of Lyndon war. „Ach, ja, ich kenne ihn“, sagte sie leichthin. „Und die Dame neben ihm ist Mrs. Scott.“ „Ich habe gehört, dass er häufig hier ist“, erwiderte Justin etwas steif. Sogleich gewann Caroline den Eindruck, dass er mit dem Lebenswandel seines Bruders nicht einverstanden war. Und das bedeutete, dass er auc h ihre Tätigkeit missbilligte. Plötzlich sah sie den Viscount sich erheben und sichtlich wütend auf den am selben Tisch sitzenden Lord Burleigh einreden. Das Gesicht des jungen Mannes rötete sich zunehmend, und auch seine Stimme wurde lauter. Er ballte die Fäuste, doch Mrs. Scott legte ihm begütigend die Hand auf den Arm und versuchte ihn in den Sessel zu ziehen. Ungehalten machte er sich los und schrie in der jäh einge tretenen Stille wieder den Baron an. Befremdet starrten einige Besucher zu ihm hinüber, während andere sich neugierig um den Tisch scharten. Caroline fand das Geschehen alarmierend. Zu einer tätlichen Auseinandersetzung durfte es nicht kommen. Diskret hielt sie Ausschau nach den Saaldienern, die gleichzeitig als Aufpasser fungierten, und beruhigte sich, als sie zwei von ihnen sah, mit den Gedanken, dass
die Männer bewaffnet waren und jeden, der zu einer Bedrohung für die Gäste wurde, in Schach halten konnten. „Entschuldigen Sie mich bitte“, sagte der Earl in diesem Mome nt und wollte zu seinem Bruder eilen. Flink hielt sie ihn am Arm fest und äußerte eindringlich: „Nein, bleiben Sie bitte hier, Sir. Ich regele das.“ „Da er mein Bruder is t ...“ „Dergleichen kommt heute nicht zum ersten Mal vor“, unterbrach sie ihn. „Ich weiß, wie ich mit solchen Situationen umzugehen habe. Lassen Sie mich mit Ihrem Bruder reden. “ „Ich habe befürchtet, dass er sich so unmanierlich aufführen wird“, erwiderte der Earl erbost. „Aber bitte, wie Sie wünschen, Madam. “ Sie ging einige Schritte auf Viscount Keir zu, hörte Lord Burleigh wütend eine Verwünschung ausstoßen und sah im selben Augenblick den Tisch umstürzen. Gläser, der silberne Champagnerkühler, Spielkarten, Münzen und Geldscheine flogen zu Boden; die Umstehenden schrien auf und wichen erschrocken zurück, während eine schrill kreischende Mrs. Scott ihre vom Champagner durchnässten Röcke auszuschütteln versuchte. „Oh nein!“ murmelte Caroline erschüttert. Ein solcher Aufruhr hatte ihr so kurz vor dem Verkauf des Betriebs gerade noch gefehlt. Sie hastete weiter und blickte über die Schulter. Der Earl of Lyndon folgte ihr. Im Nu war ein fürchterliches Handgemenge ausgebrochen, an den sich nicht nur der Viscount und Lord Burleigh beteiligten, sondern auch andere Gäste, die irgendwelche Differenzen hatten und als Nächstes sah sie Lord Lyndons Bruder dem Baron einen wuchtigen Fausthieb versetzen, der seinen Gegner rückwärts schleuderte und zu Fall brachte. Kurzentschlossen strebte Caroline zur Konsole, riss das Blumenbouquet aus der darauf stehenden chinesischen Vase, warf es achtlos zu Boden und kippte das Wasser schwungvoll über den beiden Streithähnen aus. Bedauerlicherweise hatte der Versuch, die Gentlemen zur Raison zu bringen, nicht viel Erfolg, führte jedoch dazu, dass Mrs. Scott deren Kleid jetzt vollkommen durchnä sst war, die Besinnung verlor. lnzwischen ebenfalls auf dem Kampfplatz angekommen, packte Justin den Bruder bei den Revers seines Abendfracks, schüttelte ihn und herrschte ihn an: „Hör augenblicklich auf, Harry!“ Der Viscount fuchtelte noch einen Moment hilflos mit den Armen, wischte sich mit dem Jackenärmel das Blut vom Kinn und erwiderte keuchend: „Dieser ... Schuft hat ... Mrs. Scott eine …eine … „ „Es ist unwichtig, was er zu ihr gesagt hat“, fiel Justin ihm scharf ins Wort. „Du hättest hier drinnen keine Händel anfangen dürfen, sondern die Meinungsverschiedenheit auf der Straße bereinigen sollen! Es ist unentschuldbar, wie du dich im Haus einer Dame aufführst!“ Im Haus einer Dame? Verblüfft schaute Caroline den Earl an. „Jetzt entschuldige dich bei Mrs. Archer“, fuhr Justin fort und schüttelte Harold erneut. „Und anschließend gehen wir.“ Sobald sein Bruder ihn losgelassen hatte, wandte der Viscount sich betreten an Caroline und murmelte: „Es tut mir Leid, Madam. Mein Benehmen war unverzeihlich.“ „Schon gut Lord Keir “, erwiderte sie freundlich. „Ich vergebe Ihnen. “ Justin drehte sich um, winkte den noch beim Durchgang stehenden Freund zu sich und fragte, sobald Frederick bei ihm war: „Würdest du bitte Mrs. Scott, Miss Thomson und meinen Bruder zu meiner Kutsche begleiten und dort mit ihnen auf mich warten?“ „Selbstverständlich“, antwortete Frederick, nahm den Viscount fest am Arm und bat die wieder zu sich gekommene, leise vor sich hin schluchzende Mrs. Scott, sich bei ihm einzuhängen. Dann bahnte er sich mit den beiden einen Weg durch die teils befremdet, teils spöttisch blickenden Gäste und verließ den Salon.
Sobald er aus dem Raum war, wandte Justin sich an Mrs. Archer und äußerte höflich: „Auch ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, Madam. Hoffentlich führt mein Bruder sich nicht jedes Mal so ungehörig auf!“ „Nein“, sagte sie lächelnd. „Im Allgemeinen benimmt er sich manierlich. “ „Das freut mich zu hören. Selbstverständlich komme ich für den von ihm angerichteten Schaden auf.“ „Ich danke Ihnen, Sir “, erwiderte sie und zog überrascht eine Braue hoch. Nie zuvor hatte jemand sich erboten, Wiedergutmachung zu leisten. Im Allgemeinen musste sie demjenigen, der Unheil angerichtet hatte, damit drohen, die Konstabler holen zu lassen, und selbst das hatte nicht immer den gewünschten Erfolg. „Wenn es Ihnen recht ist, suche ich Sie morgen Nachmittag zwecks Regelung der Angelegenheit auf.“ Bei der Aussicht, diesen attraktiven Mann wiederzusehen, klopfte Caroline das Herz schneller. Im Stillen ermahnte sie sich jedoch, sachlich zu bleiben, denn schließlich ging es nur um einen geschäftlichen Vorgang. „Gern“, sagte sie zuvorkommend. „Bitte, melden Sie sich dann am Seiteneingang. “ Justin ließ den Blick über das entstandene Durcheinander schweifen. Die Tätlichkeiten unter den Gästen hatten zu beträchtlichen Schäden geführt. Der Fußboden war mit zerbrochenem Kristall bedeckt, Champagnerkübeln, ausgelaufenen Flaschen, zertretenen Spielkarten und Münzen. Tische und Fauteuils waren umgestürzt, und bei einigen Sesseln Armlehnen oder Beine abgebrochen. In Gedanken schüttelte Justin den Kopf darüber, dass die feinen Besucher des Etablissements sich wie primitive Raufbolde aufgeführt hatten. „Gut, dann darf ich mich jetzt verabschieden“, äußerte er und verneigte sich leicht vor Mrs. Archer. „Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Abend, wenngleich davon bisher kaum die Rede sein kann. “ „Wie man es nimmt, Sir “, entgegnete Caroline. Im Stillen gab sie ihm Recht, soweit es den Krawall betraf, den sein Bruder ausgelöst hatte. In anderer Hinsicht jedoch war es ein bemerkenswerter Abend für sie gewesen. Sie hatte den faszinierenden Earl of Lyndon kennen gelernt. „Auf Wiedersehen, Mylord“, sagte sie lächelnd. Er hob ihre Hand zum Kuss an die Lippen, wandte sich ab und verließ den verwüsteten Raum. Sie schaute ihm hinterher, bis er im Vestibül verschwunden war, drehte sich um und sorgte dafür, dass Ordnung geschaffen wurde. Ihre Gedanken kehrten ständig zu Lord Lyndon zurück, und sie gestand sich ein, dass sie sich darauf freute, ihn am nächsten Tag wieder zu sehen. Belustigt schüttelte sie über sich selbst den Kopf, denn es war unsinnig, sich für jemanden wie ihn zu interessieren. Das konnte nur zu Problemen führen, die sie sich nicht einhandeln wollte, da sie endlich frei von Sorgen war und einer unbeschwerten Zukunft entgegensah.
Nachdem erst Frederick und Miss Thomson nach Hause gebracht worden waren und man anschließend Mrs. Scott heimgefahren hatte, herrschte Justin den ihm bedrückt gegenübersitzenden Bruder an: „Was zum Teufel hast du dir nur dabei gedacht, Harry?“ Harold presste das Taschentuch auf die immer noch blutende Platzwunde am Kinn und äußerte gereizt: „Was soll die dumme Frage? Du tust gerade so, als hätte ich einen Mord oder ein ähnlich schweres Verbrechen begangen!“ „Versuch nicht den Anschein zu erwecken, als sei das, was du in der ,Goldenen Feder’ angestellt hast, nur ein harmloser Spaß gewesen!“ entgegnete Justin entrüstet. „So würde ich das nicht nennen“, erwiderte Harold verbissen. „Aber was hättest du an meiner Stelle getan? Burleigh, dieser unverschämte Kerl, hat Mrs. Scott beleidigt, und das konnte ich nicht dulden. “
„Ein Gentleman führt sich in der Öffentlichkeit nicht so auf, wie du das getan hast!“ erklärte Justin scharf. „Du hast dich vor allen Gästen unmöglich gemacht!“ „Das musst du gerade sagen! “ brauste Harold auf. „Im Gegensatz zu dir habe ich mich noch nie duelliert. Und ist dir entfallen, welch lächerliche Figur du abgegeben hast, als diese Balletteuse nachts vor unserem Haus auf der Straße stand, stundenlang Kiesel gegen die Fensterscheiben warf und laut deinen Namen rief?“ Justin wusste sehr gut, auf welche seiner Amouren der Bruder anspielte. „Ich gebe zu, dass ich mich früher nicht immer vernünftig benommen habe“, räumte er widerstrebend ein. „Ich habe jedoch meine Lektion gelernt, und es war fürwahr nicht leicht. Das sollte dir erspart bleiben. “ „Wenn du dich so über mich aufregst, dann schick mich doch nach Indien! “ platzte Harold aufsässig heraus. „So unangenehm kann das Leben dort nicht sein!“ „Du hast keine Ahnung! “ widersprach Justin erzürnt. „Es gibt so viele Gefahren, von denen du dir keine Vorstellung machst - Giftschlangen, deren Biss sofort tödlich ist, Einheimische, die dich attackieren, wenn du ihnen nur einen Blick zuwirfst, und tödliche Krankheiten, die einen binnen Stunden dahinraffen. Die Luftfeuchtigkeit ist so hoch, dass man kaum richtig atmen kann, und in der Hitze verliert man alle Energie. Und was das Amüsement betrifft, so ist die Auswahl sehr beschränkt. In Kanara haben sich meines Wissens nur wenige Engländerinnen aufgehalten und von Spielsalons und ähnlichen Etablissements kann nicht die Rede sein. Die Nächte sind zu warm, um gut schlafen zu können“, fügte er hinzu und dachte daran, wie oft er wach gelegen und den in sein Schlafzimmer dringenden Geruch des Sandelholzes und der vielen fremdartigen Blumen wahrgenommen hatte. Dieses Erlebnis hatte zu den angenehmeren Seiten des Aufenthaltes gehört, wie auch der Anblick der in silbriges Mondlicht getauchten Tempelruinen in der Nähe seines Hauses. Als er Mrs. Archers gesehen hatte, hatte er sich unwillkürlich an dieses facettenreiche Land erinnert gefühlt, denn auch sie strahlte etwas Geheimnisvolles, Verlockendes, Berückendes aus, doch er sagte sich, dass Frauen wie sie in seinem Dasein keinen Platz mehr hatten. „Ich habe immer befürchtet, durch den Aufenthalt in Indien würdest du zum Spießer“, murmelte Harold. „Und das scheint zuzutreffen, denn du redest genauso wie Vater. Dabei warst du früher so ein Draufgänger.“ Die Worte sollten trotzig klingen, doch sie hörten sich fast ängstlich an. Harry war verunsichert, wie Justin im Stillen feststellte, und das war gut so. Die Kutsche verlangsamte ihre Fahrt und kam einen Augenblick später vor dem Stadthaus der Sewards zum Stehen. Justin wartete, bis der Lakai den Wagenschlag geöffnet und den Tritt heruntergeklappt hatte. Dann stieg er aus, drehte sich zu Harold um und äußerte streng: „Geh jetzt schlafen, Harry. Wir reden morgen über das, was du dir heute Abend geleistet hast.“ Sein Bruder sah ihn an und fragte misstrauisch: „Wirst du es Mutter erzählen?“ „Das werden wir sehen“, antwortete Justin ausweichend.
2. KAPITEL
Es war ein ungewöhnlich heißer Tag. Barfuß ging Caroline zum Fenster und öffnete es. Sogleich drang mit der warmen Luft auch der Straßenlärm in ihr Arbeitszimmer. Caroline kehrte zu ihrem Schreibtisch zurück, nahm wieder Platz und setzte die Eintragungen im Rechnungsbuch fort. Seufzend rieb sie sich die bei warmem Wetter stets juckende breite Narbe am linken Fußgelenk, eine unschöne Erinnerung an eine heftige Auseinandersetzung, die sie vor Jahren mit Lawrence gehabt hatte. Er war betrunken gewesen und hatte eine Vase nach ihr geschleudert, die vor ihren Füßen zerborsten war. Zu Tode erschrocken hatte sie hastig zur Seite springen wollen, war umgeknickt und hatte sich an einer großen Scherbe geschnitten. Noch am selben Abend hatte sie eine Fehlgeburt erlitten. Sie richtete die Aufmerksamkeit wieder auf die Zahlenreihen. Ihr lag viel daran, den Verkauf des Spielsalons bald abzuwickeln, und deshalb wollte sie sicherstellen, dass alles seine Ordnung hatte, ehe sie eine der beiden ausgezeichneten Offerten akzeptierte. Irgendwie fehlte ihr jedoch die rechte Konzentration, weil sie immer wieder an Lord Lyndon denken musste. Ihr war unerklärlich, warum er ihr nicht aus dem Sinn ging, denn schließlich hatte sie seit Lawrence' Tod viele attraktive, reiche und charmante Männer kennen gelernt. Gewiss, er sah beeindruckend gut aus, und wenn man nach den von ihm getragenen Schmuckstücken urteilte sowie der Gleichgültigkeit, mit der sein Bruder viel Geld verlor, musste er vermögend sein. Aber charakterlich unterschied er sich vermutlich nicht von den Gästen, die gewöhnlich in der ‚Goldenen Feder’ verkehrten. Eine innere Stimme widersprach diesem Gedanken, und Caroline gestand sich ein, dass der Earl of Lyndon in der Tat unter den Gentlemen, die sie näher kennen gelernt hatte, eine Ausnahmeerscheinung darstellte. Er hatte sich ihr gegenüber nicht herablassend benommen, sie nicht mit lüsternen Blicken belästigt und keine Anzüglichkeiten geäußert, sondern mit Respekt und Höflichkeit behandelt, sich sogar für das skandalöse Betragen seines Bruders entschuldigt und sich erboten, den entstandenen Schaden wieder gutzumachen. Ein solches Gebaren war zweifellos recht ungewöhnlich. Möglicherweise führte er sich jedoch ganz anders auf, wenn er sie wie versprochen aufsuchte, falls er sich tatsächlich bei ihr einfand. Es wäre nicht überraschend, wenn er sich dann wie die meisten Männer gab - achtlos, anmaßend und aufdringlich. Caroline zwang sich, die Aufmerksamkeit wieder auf die Arbeit zu richten, denn sie konnte es sich nicht erlauben, durch einen Mann, selbst wenn er attraktiv, reich und manierlich war, abgelenkt zu werden. Es gab Dinge, die wichtiger waren – der Verkauf des Etablissements, die Gestaltung ihrer Zukunft und der ihrer Schwester, der Wiedereintritt in das öffentliche Leben als die von der Gesellschaft geachtete Mrs. Aldritch. Sie überprüfte die Eintragungen auf den beiden aufgeschlagenen Seiten des Rechnungsbuchs und zuckte, als jemand an die Tür klopfte, erschrocken zusammen. „Herein!“ rief sie irritiert und drehte sich halb um. Ihre Zofe, die wie angeordnet ein Cachenez trug, wenn Besucher ins Haus gelassen wurden, betrat das Zimmer. „Ein Herr wünscht Sie zu sprechen, Madam“, verkündete sie knicksend. Wenngleich Caroline sich vorgenommen hatte, Lord Lyndon mit Gleichmut zu begegnen, erkundigte sie sich aufgeregt, während sie rasch das Rechnungsbuch schloss: „Hat er seinen Namen nicht genannt, Mary?“ „Er hat mir das hier gegeben“, antwortete die Bedienstete und händigte ihrer Herrin seine Visitenkarte aus.
„Justin Seward, Earl of Lyndon“, las Caroline halblaut vor und glaubte sich vage zu erinnern, den Namen schon einmal in der Zeitung gelesen zu ha ben. „Ich habe Seiner Lordschaft gesagt, dass Sie vor dem frühen Nachmittag keine Besuche empfangen“, erklärte Mary. „Er behauptet jedoch, Sie würden ihn erwarten. “ „Das stimmt“, bestätigte Caroline und legte die Visitenkarte auf den Schreibtisch. „Er hat sich erboten, für den Schaden aufzukommen, den sein Bruder gestern Abend angerichtet hat.“ „Meiner Treu! So etwas geschieht zum ersten Mal!“ sagte Mary verdutzt. „Wie wahr!“ erwiderte Caroline trocken und stand auf. „In fünf Minuten kannst du den Earl zu mir vorlassen“, fügte sie hinzu und ging ins Ankleidezimmer. Sie ließ sich auf dem Tabourett nieder, verzichtete angesichts der gebotenen Eile darauf, die Strümpfe überzustreifen, und schlüpfte mit bloßen Füßen in die Escarpins. Nachdem sie hastig die daran befindlichen Seidenbänder verknotet hatte, setzte sie sich die Perücke auf, sorgfältig darauf achtend, dass ihr Haar gut verborgen war. Dann befestigte sie das Cachenez, kehrte ins Arbeitszimmer zurück und nahm wieder hinter dem Schreibtisch Platz, der Be gegnung mit Seiner Lordschaft erwartungsvoll entgegensehend.
Neugierig, wie es in den privaten Räumen des Spielsalons wohl aussehen mochte, folgte Justin der Bediensteten durch einen dämmrigen Korridor und konnte von einigen Zimmern, deren Türen halb offen standen, einen Blick erhaschen. Erfand die Ausstattung im Gegensatz zu den öffentlichen Sälen sehr schlicht und einfach gehalten. Dennoch machten die Räumlichkeiten einen anheimelnden und gemütlichen Eindruck. Falls sie von Mrs. Archer eingerichtet worden waren, hatte sie Geschmack. Nachts hatte Justin, weil er lange nicht eingeschlafen war, an die Eigentümerin der ‚Goldenen Feder’ gedacht und war zu dem Schluss gelangt, sie müsse aus guter Familie stammen. Sie gab sich wohlerzogen, drückte sich gepflegt aus, hatte ein kultiviertes Auftreten und unterschied sich daher sehr von den Besitzerinnen ähnlicher Etablissements, die Justin früher kennen gelernt hatte. Vielleicht war sie vornehme r Herkunft, durch irgendwelche Umstände vom rechten Weg abgekommen und die Mätresse eines reichen Kavaliers geworden, so dass sie sich nach der Trennung von ihm mit dem erworbenen Vermögen den Kauf des Spielsalons hatte ermöglichen können. Andererseits gründeten sich diese Beobachtungen und Mutmaßungen lediglich auf die kurze Begegnung mit ihr. Möglicherweise stellte sich bald heraus, dass er sich gravierend in ihr getäuscht hatte. Justin hielt es für ausgeschlossen, dass sie tatsächlich in allem dem Bild entsprach, das er sich von ihr gemacht hatte. Die Zofe geleitete ihn in ein Büro und kündigte ihn an. Überrascht sah er, dass Mrs. Archer wieder das Cacherrez trug. Befremdet fragte er sich, warum sie ihm ihr Gesicht nicht zeigen mochte, und verspürte unwillkürlich den Wunsch, ihr die Halbmaske abzunehmen. „Guten Tag, Lord Lyndon“, begrüßte sie ihn, stand auf und wies lächelnd auf den vor dem Schreibtisch stehenden Fauteuil. „Bitte, nehmen Sie Platz. “ „Guten Tag, Mrs. Archer“, erwiderte er, verneigte sich und übergab der Dienerin Hut, Handschuhe und Spazierstock. „Ich hoffe, Sie haben den gestrigen Arger gut überstanden“, fügte er hinzu. Caroline wartete, bis Mary die Sachen auf den Konsoltisch gelegt, sich zurückgezogen und die Tür geschlossen hatte. „Ja“, antwortete sie dann und setzte sich wieder. „Ich versichere lhnen, es müsste etwas Schlimmeres passieren, um mich wirklich aus der Fassung zu bringe n“, äußerte sie, während der Earl of Lyndon sich im Sessel niederließ. „Dennoch freue ich mich, Sie zu sehen, Sir.“
Verblüfft schaute er sie an und konnte sich nicht erklären, weshalb sie so davon angetan war, dass er sie aufgesucht hatte. „Wie ich sehe, wundern Sie sich über meine letzte Bemerkung“, fuhr sie fort. „Ich will sie Ihnen erläutern. Ich habe zwei sehr gute Offerten für die ,Goldene Feder’ erhalten und hätte die notwendigen Reparaturen aus eigener Tasche begleichen müssen. Dank Ihres Angebotes bin ich nicht dazu genötigt.“ „Mein Bruder erwähnte, dass Sie sich mit Verkaufsabsichten tragen“, erwiderte Justin und stellte erstaunt fest, dass Mrs. Archers Mitteilung ihn betroffen machte. Das war absonderlich, denn schließlich hatte er nicht die Absicht gehabt, das Etablissement erneut aufzusuchen, selbst wenn die Dame es weitere zehn Jahre leiten würde. „Sie geben Ihren Salon also wirklich auf?“ fragte er dennoch enttäuscht. „Ja“, bestätigte sie. „Ich hoffe, dass der Verkauf bald abgeschlossen ist.“ „Ich bin überzeugt, Ihre Gäste werden Sie sehr vermissen“, meinte Justin. „Ich nehme an, der neue Eigentümer wird den Betrieb wie bisher führen“, vermutete Caroline. „lnsofern wird man kaum merken, dass die Besitzverhältnisse sich geändert haben. “ „Das wage ich zu bezweifeln“, sagte Justin lächelnd. „Mein Bruder behauptet, die meisten Besucher kämen nur Ihretwegen her.“ „Ach, wirklich? Wie reizend von ihm. Ich hoffe, er leidet nicht unter Nachwirkungen des gestrigen Abends.“ „Das kann ich nicht beurteilen“, erwiderte Justin trocken. „Er lag noch im Bett, als ich das Haus verließ.“ „In solchen FäIlen ist Schlaf die beste Medizin“, meinte Caroline schmunzelnd. „Natürlich könnte er, um sich schneller wohler zu fühlen, ein Glas Mohrrübensaft trinken, in den ein rohes Ei verquirlt wurde. Jedenfalls hat das meinem Gat...“Jäh hielt sie inne, schluckte und fuhr dann verlegen fort: „Nun, ich habe mir sagen lassen, bei starken Kopfschmerzen sei das ein gutes Hausmittel.“ Justin war nicht entgangen, dass sie ihren Gatten hatte erwähnen wollen. Ohne es zu wollen war er eifersüchtig und überlegte, wie der Mann sein mochte, mit dem sie verheiratet war. „Leider hat mir in meinen jüngeren Jahren niemand ein solches HausmitteI empfohlen“, erwiderte er und lächelte flüchtig. „Waren Sie ein Draufgänger, Sir?“ „Ich war schrecklich!“ gestand er nickend. „Viel zügelloser als mein Bruder. Aber der Aufenthalt in Indien, von dem ich soeben zurückgekehrt bin, ha t mich viele Dinge in einem ganz anderen Licht sehen lassen. In der Hitze ist es reichlich anstrengend, ein ausschweifendes Leben zu führen. Und außerdem muss man ständig auf Gefahren achten, mit denen man hier nicht zu rechnen hat, zum Beispiel Giftschlangen. Ich hatte das Pech, einmal von einer Kobra und einige Monate später von einer Königshutschlange gebissen zu werden ...“ „Du meine Güte!“ rief Caroline bestürzt aus. „Wie haben Sie das überlebt?“ „Mein einheimischer Diener wusste, welches Gegengift notwendig war, und hat es mir eingegeben. Nach dem zweiten Vorfall bin ich sehr viel vorsichtiger geworden. “ „Indien muss ein faszinierendes Land sein.“ Erneut war Justin von ihren dunkelbraunen Augen beeindruckt, die ihn schon am vergangenen Abend gefesselt hatten. „Nun, ich kenne nicht das ganze La nd“, erwiderte er. „Aber Kanara und vor allem die Hauptstadt Mangalur fand ich in jeder Hinsicht beeindruckend. „ Einen Moment lang schaute Caroline ihn nachdenklich an, rief sich schließlich den Zweck seines Besuc hs in Erinnerung räusperte sich. „Ich habe eine Aufstellung der Schäden angefertigt und die geschätzte Höhe der Reparaturkosten am Ende vermerkt“, sagte sie geschäftsmäßig.
Justin riss sich vom Anblick ihrer bezaubernden Augen los und zwang sich, die ihm hingehaltene Liste entgegenzunehmen und durchzulesen. Nach einer Weile gab er sie Mrs. Archer zurück, streifte dabei ihre Finger und bemerkte den Ehering. Der Anblick erschütterte ihn und rief ihm ins Gedächtnis, dass sie verheiratet und es also müßig war, sich für sie zu interessieren. „Ich habe keine Einwände“, sagte er ruhig. „Gut! Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie den Betrag meiner Zofe aushändige n würden“, erwiderte Caroline. „Damit wäre der Schaden dann reguliert“, fügte sie hinzu und erhob sich. „Ich bin sicher, dass Sie sehr beschäftigt sind, Sir. Daher möchte ich Sie nicht länger aufhalten. Ich begleite Sie zur Tür.“ Er stand auf und erschrak, als sie, um den Schreibtisch kommend, plö tzlich stolperte. Rasch stützte er sie und er sie und erkundigte sich: „Ist Ihnen nicht wohl, Madam?“ „Doch“, antwortete sie verlegen. „Ich habe anscheinend die Schleife an einem meiner Schuhe nicht richtig gebunden. Und nun scheine ich auf das Band getreten zu sein. “ „Gestatten Sie, Madam“, sagte Justin lächelnd. „Diese Unachtsamkeit werde ich gleich behoben haben. “ Widerstrebend nickte Caroline. Justin ging vor ihr in die Hocke und hob sich ihren zierlichen, schmalen linken Fuß in dem eleganten Escarpin auf den Schoß. Er verknüpfte die Seidenbänder zu einer Schleife und zog sie fest zu. Dabei bemerkte er eine breite Narbe an der Fessel und sagte, während er sich aufrichtete: „Ich weiß, es ist ungehörig, Ihnen diese Frage zu stellen. Aber darf ich wissen, wie Sie sich die Verletzung zugezogen haben? “ „Oh, ich habe sie scho n lange “, antwortete Caroline ausweichend und war froh, dass im selben Moment an die Tür geklopft wurde. „Herein!“ rief sie erleichtert. Mary betrat das Arbeitszimmer, knickste und erkundigte sich: „Möchten Sie, dass ich Tee serviere, Madam?“ „Sehr liebenswürdig“, schaltete Justin sich rasch ein. „Aber ich bin bereits im Begriff zu gehen. Sie können sich darauf verlassen, Mrs. Archer, dass ich den von meinem Bruder verursachten Schaden in der von Ihnen gewünschten Form regulieren werde. Auf Wiedersehen, Madam.“ „Leben Sie wohl, Sir “, erwiderte Caroline freundlich.
Amelia blickte von ihrer Stickerei auf, als Justin hereinkam, und erkundigte sich lächelnd: „Konntest du dein geschäftliches Anliegen zu deiner Zufriedenheit erledigen, mein Lieber?“ „Ja“, bestätigte er und dachte, während er seiner Mutter gegenüber Platz nahm, amüsiert daran, wie sehr er Mrs. Archers hübschen Fuß bewundert hatte. „Zum Essen war ich im Club und habe überrascht festgestellt, dass ich nach all den Jahren noch immer als Mitglied geführt werde. Wo ist Harry? Ist er ausgegangen? “ „Nein“, antwortete Amelia. „Er hat sein Schlafzimmer noch nicht verlassen.“ „Wie bitte? Es ist fast vier Uhr!“ „Er hat eine kleine Dosis von meinem Laudanum eingenommen“, erklärte Amelia und lächelte leicht. „Seit dem Tod eures Vaters war ich nicht mehr darauf angewiesen, und Harry bekommt es auch nur sehr selten, damit er nicht abhängig wird. Ich bin so froh, dass ich davon losgekommen bin. Heute war ich jedoch der Ansicht, er solle daheim bleiben, weil du gewiss später mit ihm reden willst.“ „Ich befürchte, Mutter, dass es ihn nicht sehr beeindrucken wird, wenn ich ihm Vorhaltungen mache “, äußerte Justin ernst. „Ich habe das Gefühl, dass alles, was ich sage, bei ihm zum einen Ohr hinein- und zum anderen wieder hinausgeht.“
„Nun, ich kenne jemanden, bei dem das früher auch der Fall war“, sagte Amelia trocken. „Und was Harry angeht, so habe ich mir gedacht, dass er, wenn er sich tüchtig ausschläft, für meine Pläne empfänglicher sein wird.“ „Und welcher Art sind diese Pläne?“ fragte Justin neugierig. „Fahren wir nach Waring Castle?“ „Das können wir tun, wenn du das möchtest. Ich habe jedoch einen, wie ich finde, besseren Einfall, auf den Dorothy mich heute Morgen bei ihrem Besuch gebracht hat.“ Justin erinnerte sich, dass diese Freundin der Mutter eine Tochter namens Sarah hatte, die ihm angeblich sehr gefallen würde. „Und worum handelt es sich? “ erkundigte er sich misstrauisch. „Dein Ton lässt vermuten, dass du befürchtest, ich hätte Schreckliches mit dir vor“, erwiderte Amelia schmunzelnd. „Nein, dem ist nicht so. Dorothy fä hrt mit ihren Kindern im Sommer nach Wycombe-on-Sea, und ich würde mich freuen, dieses reizende Städtchen wieder zu sehen. Kurz nach der Hochzeit war ich mit deinem Vater dort. Walter hat es jedoch später immer vorgezogen, den Sommer in Waring Castle oder auf unserem schottischen Jagdsitz zu verbringen. Daher …“ Justin bemerkte einen versonnen Ausdruck in den Augen der Mutter und ahnte, dass der Aufenthalt in dem Badeort ihr mehr bedeutete, als sie zu erkennen gegeben hatte. „Ich würde den Ort gern wieder besuchen“, wiederholte Amelia. „Natürlich wird er nicht mehr so aussehen wie vor dreißig Jahren. Dorothy verbringt jeden Sommer dort, auch wenn Brighton viel populärer ist. Sie meint, es lohne sich, weil man in Wycombe-on-Sea viel Abwechslung hat. Im Übrigen kann uns allen frische Seeluft nur gut tun. Also, was hältst du von dieser Idee?“ Justin wäre lieber nach Waring Castle gefahren, um seine Ruhe zu haben, statt sich in das gesellschaftliche Treiben eines Badeorts zu stürzen. Da die Mutter ihn jedoch gespannt und sichtlich erwartungsvoll anschaute, brachte er es nicht übers Herz, ihr eine abschlägige Antwort zu geben. „Ich bin einverstanden“, antwortete er lächelnd. Sie ließ den Stickrahmen fallen, sprang auf und drückte ihrem Sohn einen Kuss auf die Wange. „Es wird dir nicht Leid tun, Justin“, sagte sie aufgeregt. „Wir werden eine herrliche Zeit haben. Und außerdem wirst du Sarah kennen lernen. Sie ist wirklich ein liebreizendes Geschöpf. Oh, ich muss mich sofort darum kümmern, welche Sachen ich mitnehme! Entschuldige mich bitte“, fügte sie hinzu und eilte aus dem Raum. Justin hörte sie nach ihrer Zofe rufen und dachte daran, dass der Preis, den er dafür zu zahlen hatte, dass sie sich auf den Aufe nthalt in Wycombe freute, der Umgang mit Lady Bellweathers Tochter sein würde. Dagegen war nichts einzuwenden, falls die junge Dame tatsächlich so anziehend sein sollte, wie die Mutter sie hingestellt hatte. Vermutlich war sie genau die junge Dame aus gutem Haus, die er als seine Gattin in Betracht ziehen sollte. Trotz dieser Überlegungen kam ihm indes immer wieder Mrs. Archer in den Sinn, und in Gedanken sah er ihre bezaubernden braunen Augen und ihren entzückenden linken Fuß vor sich.
Vier Tage nach dem Besuch des Earl of Lyndon war die ‚Goldene Feder’ verkauft und Caroline im Begriff, ihre Habseligkeiten zu packen. In dem Moment, da sie den Spielsalon ein für alle Mal verließ, würde sie alles, was mit diesem Leben verbunden gewesen war, hinter sich zurücklassen. Die in den Schränken hängenden Kleider waren ordentlich nach dem ihnen zugedachten Verwendungszweck sortiert worden. Ein Teil bestand aus ihrer schlichten persönlichen Garderobe, die sie nach Wycombe-on-Sea mitzunehmen gedachte, der andere aus den auffallenden, abends im Salon getragenen Gewändern. Sie hatte beschlossen, die Letzteren zu verschenken.
Plötzlich fiel ihr Blick auf das grüne Seidenkleid, das sie an dem Abend getragen hatte, als sie zum ersten Mal dem Earl of Lyndon begegnet war. Sie nahm es aus dem Schrank, legte es auf einen Fauteuil und bemerkte, dass der Stoff etliche Wasserflecke aufwies. Gedankenverloren betrachtete sie die Robe und entschied sich spontan, sie zu behalten, als ein Erinnerungsstück an jemanden, den sie nie wiedersehen würde. Über den törichten Einfall den Kopf schüttelnd, wies sie Mary an, die Abendtoilette sorgfältig einzupacken, ging dann zum Schreibtisch und nahm die in der obersten Schublade untergebrachte Miniatur ihres vor vier Jahren verstorbenen Gatten heraus. Mit sehr gemischten Gefühlen betrachtete sie das Bildnis, zwischen Mitleid und Verärgerung über seinen schwachen Charakter schwankend, und hatte plötzlich den Eindruck, auf das Gesicht eines Fremden zu blicken. Seufzend gestand sie sich ein, dass es ironischerweise seine Haltlosigkeit gewesen war, die ihr eine gesunde finanzielle Lebensgrundlage zu schaffen ermöglicht hatte, und dafür war sie ihm nachträglich dankbar. Sie nahm eine Seidenbayadère, hüllte die Miniatur darin ein und legte sie zu den einzupackenden Sachen. „Haben Sie entschieden, welche Hüte Sie mitnehmen wollen, Madam? “ „Ja“, antwortete Caroline. „Ich habe alle, die mir geeignet erscheinen, herausgelegt. Dabei ist mir aufgefallen, dass ich vor der Abreise noch einmal zur Putzmacherin und zur Modistin fahren sollte. Ich habe zwar sehr viel Garderobe für tagsüber, aber keine große Auswahl an Abendroben, die sich für eine Stadt wie Wycombe eignen. Außerdem benötige ich ein Badekostüm. “ „Ich bin froh, Madam, dass wir London bald verlassen“, murmelte Mary, während sie behutsam eine Capote in einer Hutschachtel unterbrachte. „Dann ergeht es Ihnen wie mir“, erwiderte Caroline. „Heute ist ein Brief von Ihrer Schwester eingetroffen, nicht wahr?“ „Ja“, bestätigte Caroline. „Sie dankt für das Geld, das ich ihr für ihre neue Ausstattung geschickt habe. Sie kann es kaum erwarten, uns in der nächsten Woche zu sehen. Ich glaube, sie ist es leid, bis dahin in Mrs. Medlocks Alumnat ausharren zu müssen. “ „Das können Sie ihr nicht verargen, Madam. Schließlich hat sie ein Jahr länger als für ihre gleichaltrigen Freundinnen in dem Pensionat verbringen müssen. “ „Das ließ sich nicht vermeiden, Mary“ sagte Caroline seufzend. „Gleichviel, nun hat sich alles zum Besten gewendet. Jetzt ist Phoebe genau im richtigen Heiratsalter, und ich hoffe, dass wir in Wycombe einen jungen, vernünftigen Herrn kennen lernen, der für sie geeignet ist und der gut für sie sorgt.“ „Vielleicht sollten auch Sie sich nach einem Gatten umschauen“, warf Mary schmunzelnd ein. „lch habe nicht vor, noch einmal zu heiraten“, entgegnete Caroline irritiert. „Die Ehe mit Lawrence hat mir gereicht.“ „Möchten sie denn keine Kinder haben? Mit achtundzwanzig Jahren sind Sie dafür doch noch nicht zu alt.“ „Nein“, antwortete Caroline betroffen und wandte den Blick von Miss Lyall ab. Früher hatte sie sich Kinder gewünscht und war nach der Fehlgeburt niedergeschmettert gewesen. Mit der Zeit hatte sie es jedoch als besser empfunden, keinen Nachwuchs zu haben, weil die häuslichen Verhältnisse nicht dazu angetan waren. „Nein!“ wiederholte sie nachdrücklich. „Ich werde mich damit begnügen, Phoebes Kindern, die sie irgendwann haben wird, eine gute Tante zu sein. “ „Aber was ist wenn Sie jemandem begegnen, den sie wirklich gern haben? “ „lch reise nicht in die Sommerfrische, um mich dort zu verlieben“, antwortete Caroline und dachte unwillkürlich an den Earl of Lyndon.
3. KAPITEL
Die Kutsche hatte soeben vor Mrs. Medlocks Schule für höhere Töchter Halt gemacht. Caroline wartete, bis der Wagenschlag geöffnet wurde, stieg aus und sah im gleichen Moment ihre Schwester die Freitreppe herunterstürmen. Sie breitete die Arme aus und drückte das junge Mädchen bewegt an sich. „Endlich bist du da, Caroline! Ich habe stundenlang auf dich gewartet!“ seufzte Phoebe erleichtert. „Dummchen! “ erwiderte Caroline lächelnd. „Ich hatte dir doch geschrieben, dass ich frühestens am Spätnachmittag ankommen würde. Lass dich anschauen“, fügte sie hinzu und schob die Schwester auf Armeslänge von sich fort. Stolz drehte Phoebe sich hin und her, damit Caroline sie von allen Seiten betrachten konnte. „Habe ich mich seit deinem letzten Besuch sehr verändert?“ wollte sie wissen. „Ja“, antwortete die Ältere beeindruckt. Im vergangenen Herbst war Phoebe noch ein halbes Kind gewesen, das sich wie jedes Schulmädchen in seinem Alter benommen hatte. Jetzt jedoch trug sie statt der im Pensionat vorgeschriebenen Uniform ein leuchtend messingfarbenes Tageskleid mit Mamelukenärmeln, war elegant frisiert und sichtlich bemüht, einen wohlerzogenen Eindruck zu machen. Caroline fand sie viel hübscher als sich selbst und staunte, wie schnell aus ihrer kleinen Schwester eine junge Dame geworden war. „Du siehst hinreißend aus “, stellte sie anerkennend fest. „Danke“, erwiderte Phoebe strahlend. „So, nun komm ins Haus. Nach der langen Reise bist du gewiss erschöpft. Wo ist Mary? “ „Sie ist bei unserem Gepäck im Gasthaus geblieben“, erklärte Caroline. „Du weißt, wie argwöhnisch sie ist. Sie traut den Leuten dort nicht über den Weg. “ „Ich kann es kaum erwarten, sie zu sehen. Gewiss erkennt sie mich nicht wieder!“ „Das würde mich nicht wundern“, erwiderte Caroline schmunzelnd und sah die Leiterin des Instituts in der offenen Haustür erscheinen. Mrs. Medlock kam die Stufen herunter, begrüßte die Besucherin und sagte dann, an Phoebe gewandt: „Ihre Schwester möchte sich sicher erfrischen. Es ist viel zu warm, um hier draußen herumzustehen. Bitte, sorgen Sie dafür, dass Tee serviert wird.' „Wie Sie wünschen, Mrs. Medlock“, erwiderte das Mädchen eifrig, drückte Caroline einen Kus s auf die Wange und eilte ins Haus. „Wenn Sie mir bitte folgen würden, Mrs. Aldritch“, forderte die Leiterin sie höflich auf. „Ihre Schwester ist ganz aufgeregt wegen der Ferien an der See“, fügte sie auf dem Weg in die Eingangshalle hinzu. „Das bin ich auch“, gestand Caroline. „Mir kommt es so vor, als habe es eine Ewigkeit gedauert, bis sie mit der Ausbildung fertig war. Aber jetzt fängt für sie das Leben richtig an. “ „Ich nehme an, Sie werden sie bald verheiraten wollen. “ „Das hängt ganz davon ab, ob sich ein geeigneter Gentleman für sie interessiert“, sagte Caroline ausweichend. „Sie ist sehr hübsch“, meinte Mrs. Medlock. „Ich bin überzeugt, an Verehrern wird es ihr nicht mangeln. Allerdings will ich Sie, auch wenn mir das nicht zusteht, darauf hinweisen, dass sie eine meiner leichtsinnigsten Schülerinnen war. Ich habe sie ins Herz geschlossen und wäre sehr traurig, wenn sie sich durch ihr unbesonnenes Wesen in Schwierigkeiten brächte. In diesen Badeorten verkehren die unterschiedlichsten Leute, und vor manchen Männern muss man sehr auf der Hut sein.“ „Mit anderen Worten, Mrs. Medlock, Sie raten mir, gut auf Phoebe Acht zu geben, nicht wahr?“ fragte Caroline überrascht.
„So kann man es ausdrücken, Madam“, stimmte die Schulleiterin zu und hielt Mrs. Aldritch die Tür zu einem kleinen Ankleidekabinett auf. „Hier finden Sie alles, was Sie benötigen werden, Madam“, erklärte sie. „Wenn Sie sich erfrischt haben, gehen sie bitte durch die Tür dort in den Empfangssalon. “ Caroline bedankte sich, ging zum Toilettentisch und nahm ihren Hut ab. Sie hörte die Tür sich schließen und blickte nachdenklich in den kleinen Kippspiegel. Es beunruhigte sie, dass Mrs. Medlock, die sie als förmliche, stets auf Distanz bedachte Person kennen gelernt hatte, sie so eindringlich darauf hinwies, ein wachsames Auge auf Phoebe zu haben. Ihre Schwester hatte wie alle Jugendlichen Dummheiten angestellt, die allerdings nie gravierender Natur gewesen waren. Mittlerweile war das Mädchen jedoch siebzehn Jahre alt und sehr viel einsichtiger. Caroline hatte erwartet, es werde keine Mühe machen, Phoebe zu beaufsichtigen. Sie war überzeugt gewesen, ihre Schwester werde ihre guten Ratschläge beherzigen, wenn sie mit ihr nach Wycombe reiste, und vielleicht einen gesetzten jungen Vikar oder einen anständigen Landedelmann kennen lernen, der für eine Heirat infrage käme. Nun stellte diese Annahme sich möglicherweise als irrig heraus. Vielleicht hatte Caroline nicht in Betracht gezogen, dass die Schwester ebenso lebenslustig sein würde, wie sie das in dem Alter gewesen war, und folglich schnell einen nicht wieder gutzumachenden Fehler begehen konnte. Tief durchatmend nahm sie sich vor, besonders vorsichtig zu sein und dafür zu sorgen, dass Phoebe nicht jemandem in die Hände fiel, der so war wie Lawrence.
„Warum müssen wir ausgerechnet nach Wycombe fahren? “ beschwerte sich Harold. „In diesem Nest gibt es doch nur alte Damen und Kriegsinvaliden! Wenn wir schon an die See wollen, hätten wir nach Brighton reisen sollen! “ Justin ärgerte sich über die unablässige Nörgelei seines jüngeren Bruders. Er warf der leise vor sich hin summenden Mutter einen Blick zu, sah sie gleichmütig zum Fenster hinausschauen und wandte sich verstimmt an Harold: „Du weißt genau, Harry, weshalb Brighton nicht infrage kommt! Der Prinzregent und seine Entourage halten sich dort auf, und du hättest viel zu viele Gelegenheiten, dich in Schwierigkeiten zu bringen! “ Trotzig verschränkte Harold die Arme vor der Brust und erwiderte gekränkt: „Ich hatte dir hoch und heilig versprochen, dass ich mit niemandem aus Prinnys Umgebung verkehren würde!“ „Und ich glaube deinen Versprechungen nicht “, erklärte Justin kühl. „Das bleibt dir überlassen!“ erwiderte Harold gereizt. „Du hattest wirklich keinen Grund, mir das anzutun. Ich wette, in Wycombe gibt es keinen einzigen Spielsalon und erst recht keine jungen, hübschen Damen! „ „Und ich bin sicher, Harry“, wandte Amelia sich lächelnd an ihren Jüngsten, „dass du diese Wette verlierst. Als ich mit eurem Vater dort war, bekam er Zustände, weil ich beim Piquet und Jeu de le la Reine so viel verloren habe.“ „Ach ja?“ meinte Harold desinteressiert. „Das war vor dreißig Jahren, Mutter!“ „So sehr kann Wycombe sich in der Zwischenzeit nicht verändert haben“, sagte sie. „Und was hübsche Damen angeht, so bin ich überzeugt, dass die Stadt voll von ihnen sein wird. Dorothy allein hat drei Töchter, und wenn auch die beiden jüngsten noch nicht im heiratsfähigen Alter sind, so pflegt Sarah bestimmt mit vielen jungen Leuten Umgang. Folglich musst du dich nicht schon jetzt über mangelnde Abwechslung beklagen, Harry. “ Erstaunt registrierte Justin, dass der Bruder keine weiteren Beschwerden vorbrachte. Erleichtert wandte er sich wieder seiner Lektüre zu, vermochte jedoch nicht, sich zu konzentrieren. Immer wieder sah er in Gedanken Mrs. Archer vor sich und meinte ihre dunkle, sinnlich timbrierte Stimme zu hören. Zum wiederholten Male dachte er darüber nach, was sie wohl verlasst haben mochte, eine Maske zu tragen, denn bei einer Frau, die einen
Spielsalon leitete, war dies höchst ungewöhnlich. Er hätte gern gewusst, wie ihr Gesicht ohne Cachenez aussah, doch dazu würde er bedauerlicherweise nie Gelegenheit bekommen. Aber vielleicht war Lady Bellweathers Tochter Sarah oder eine andere junge Dame, die er in Wycombe kennen lernen würde, ebenso reizvoll wie die bezaubernde Mrs. Archer.
„Das ist das hübscheste Haus, das ich je gesehen habe!“ rief Phoebe entzückt aus, nachdem sie alle Räume besichtigt und in jedem Zimmer die Fenster geöffnet hatte, um frische Luft hereinzulassen. „Und welch eine herrliche Sicht aufs Meer!“ fügte sie beeindruckt hinzu. Caroline nahm die Schute ab und legte sie neben den Handschuhen und dem Retikül auf den Konsoltisch. Die Reise hatte sie ermüdet, doch sie rang sich ein freundliches Lächeln ab. „Es freut mich, dass du so begeistert bist“, erwiderte sie ehrlich. „Und wer mag in dem stattlichen Anwesen nebenan wohnen? “ fragte Phoebe neugierig. „Vielleicht lebt dort ein ungemein attraktiver Prinz aus fernen Landen. “ „Ein ungemein attraktiver Prinz?“ wiederholte Caroline belustigt und dachte unvermittelt, wie so oft in den vergangenen Tagen, an den Earl of Lyndon. „Das bezweifele ich, Phoebe. Allerdings werden wir hier sicher viele nette junge Gentlemen kennen lernen. “ „Nett!“ äußerte Phoebe abfällig. „Sie müssten schon ...“ „Ungemein attraktiv sein? “ fiel Caroline ihr amüsiert ins Wort. „Ich glaube, auch nette Leute haben sehr viel für sich, wahrscheinlich mehr als solche, die ungemein attraktiv sind!“ „Das kann nur jemand sagen, der bereits im gesetzten Alter ist!“ erwiderte Phoebe dreist. „Sieh mal!“ fügte sie aufgeregt hinzu. „Auf der Seepromenade sind Spaziergänger. Wollen wir auch dorthin gehen? “ „Nein, heute nicht “, lehnte Caroline ab. „Es ist zu spät. Vielleicht machen wir morgen einen Rundgang, oder wir nehmen ein Bad im Meer. Was wäre dir lieber?“ „Ich möchte baden“, antwortete Phoebe eifrig und drehte sich zur Schwester um. „Nanu, du bist so blass, Caroline“, stellte sie erstaunt fest. „Fühlst du dich nicht wohl? “ „Ich bin nur etwas abgespannt.“ „Das kommt vom langen Sitzen in der Kutsche. Wenn man älter ist, sollte man sich öfter bewegen. “ „Älter?“ Schmunzelnd schüttelte Caroline den Kopf. „Du tust gerade so, als sei ich eine Greisin! “ „Das wollte ich damit nicht sagen“, entschuldigte Phoebe sich verlegen. „Setz dich hin. Ich werde sehen, wie weit Mary und die Köchin mit dem Abendessen sind. Möchtest du Tee?“ „Ja, bitte. Ein Tasse starken Tees wird meinen müden alten Knochen gut tun! “ Lachend eilte Phoebe aus dem Zimmer. Caroline ließ sich in einen vor dem Fenster stehenden Fauteuil nieder, schaute zum nicht weit entfernten Strand und beobachtete die in der Sonne promenierenden Spaziergänger. Sie nahm sich vor, am nächsten Tag herauszufinden, wer in der Stadt weilte, und sich um Einladungen für Phoebe und sie zu gesellschaftlichen Anlässen zu bemühen. Gewiss würde es Leute geben, die sich noch an ihre Eltern erinnerten. Caroline hoffte, dass man hier nichts von dem Skandal wusste, den es nach ihrer heimlichen Hochzeit mit Lawrence gegeben hatte. Zwar brauchte sie im Prinzip nur Eintrittskarten für die Assembly Rooms, doch es wäre ihren Absichten nicht dienlich, wenn sie niemanden hätten, der sie in die hiesige Gesellschaft einführte. Plötzlich erregte eine Karosse, die vor dem Nachbargebäude hielt, ihre Aufmerksamkeit, und neugierig beugte sie sich aus dem Fenster. Ein Lakai machte den Wagenschlag auf, und ein schimpfender junger Mann verließ die Kutsche.
„Ich habe Recht gehabt!“ sagte er aufgebracht. „Was für ein unstandesgemäßes, schäbiges kleines Haus! Wir hätten wirklich nach Brighton fahren sollen!“ Caroline hörte eine Dame ihm antworten, sie und ihr Gatte hätten bereits in diesem Anwesen gewohnt, das viel größer sei, als es den Anschein habe. In diesem Moment kehrte Phoebe mit dem Servierwagen zurück. Rasch schloss Caroline das Fenster, weil sie nicht wollte, dass ihre Schwester enttäuscht war, wenn sie mitbekam, dass kein ungemein attraktiver fremdländischer Prinz in dem stattlichen Anwesen residierte, sondern ein eingebildeter Snob mit seiner Begleitung.
Das Wetter war herrlich und eignete sich bestens für einen Spaziergang auf der Uferpromenade, bei dem man sah und gesehen wurde. Das Einzige, was Caroline störte, war, dass so manche Dame das auffallend gestreifte Kleid ihrer Schwester missbilligend musterte und abfällig die Lippen verzog. Manchmal handelte sie sich sogar einen vorwurfsvollen Blick ein, ganz so, als sei sie für Phoebes modischen Geschmack verantwortlich. Ihre vorsichtigen Andeutungen, die Schwester möge sic h etwas weniger spektakulär kleiden, waren auf taube Ohren gestoßen, und im Stillen gab sie ihrer Mutter Recht, die einmal geäußert hatte, auch sie werde resignieren, wenn ihre Tochter auf eigenen modischen Vorstellungen beharrte. Phoebe schien nicht zu bemerken, welch unliebsame Aufmerksamkeit sie erregte. Sie schwenkte die Schachtel mit der neuen Schute, die Caroline ihr vor dem Spaziergang erstanden hatte, fröhlich hin und her und plapperte munter über alles, was ihr Interesse erregte. Plötzlich lief sie ein Stück voraus und scheuchte einige Möwen auf, die sich auf der halbhohen Uferbrüstung niedergelassen hatten. „Du meine Güte, Madam!“ sagte Mary, die sie begleitete, kopfschüttelnd. „Ihre Schwester platzt förmlich vor Übermut.“ „Ach, dieser Zustand wird nicht lange anhalten“, meinte Caroline schmunzelnd. „Im Moment ist alles noch sehr neu für sie.“ Plötzlich bemerkte sie eine schlanke, zierliche Frau in einem vornehmen taubengrauen Tageskleid, die auf sie zukam. Offensichtlich handelte es sich um eine Dame von Stand, denn sie trug sehr wertvoll aussehenden Perlenschmuck und hielt einen eleganten Sonnenschirm in der Hand. „Verzeihen Sie, Madam, dass ich Sie anspreche “, sagte die Frau entschuldigend. „Ich sah Sie soeben an dem Kaffeehaus vorbeigehen, auf dessen Terrasse ich mit meinen Begleitern saß, und habe mich gefragt, ob Sie vielleicht mit Miss Margery Elliston verwandt sind, Miss …?“ Verblüfft blieb Caroline stehen und erwiderte erstaunt: „Mrs. Caroline Aldritch. Und ja, ich bin ihre Tochter. Sie lebt jedoch nicht mehr.“ „Oh, das tut mir Leid zu hören“, murmelte Amelia bestürzt. „Ich habe sie gut gekannt, da wir zusammen im Internat waren. Wir hatten viel Spaß miteinander. Erlauben Sie mir, mich vorzustellen. Ich bin Lady Lyndon. “ Caroline meinte sich verhört zu haben. Es erschie n ihr unfassbar, dass ausgerechnet die Mutter des Earl of Lyndon, denn nur um sie konnte es sich handeln, ihr in Wycombe-on-Sea über den Weg lief. Welch ein unglaublicher Zufall! Hoffentlich hält seine Lordschaft sich nicht in der Stadt auf, dachte Caroline, während eine unvernünftige innere Stimme ihr zuraunte, dass es wundervoll wäre, ihn wiederzusehen. „Sind Sie mit Ihrem Gatten hier?“ fragte Lady Lyndon wissbegierig. „Nein“, antwortete Caroline so ruhig wie möglich. „Er ist schon vor Jahren gestorben. “ „Wie bedauerlich für Sie“, erwiderte Amelia mitfühlend. „Auch ich bin verwitwet, werde jedoch von meinen beiden Söhnen begleitet.“ „Ich habe meine Schwester bei mir“, äußerte, Caroline, wies auf Phoebe und winkte sie zu sich.
„In der Confiserie dort drüben sitzen noch meine Söhne sowie eine guten Freundin und deren Töchter“, fuhr Amelia fort. „Darf ich Sie einladen, sich mit Ihrer Begleitung zu uns zu gesellen? “ Phoebe war herbei geeilt und schaute die fremde Dame fragend an. „Meine Schwester, Miss Phoebe Lane“, stellte Caroline sie Ihrer Ladyschaft vor. „Ich möchte nicht lästig sein, Mylady“, wandte sie sich dann an die Dowager Countess. Ihr grauste davor, dem Earl und seinem Bruder zu begegnen, die sie als Mrs. Archer kannten. „Oh, aber ich würde mich freuen, wenn Sie ... ah, da sind meine Söhne “, sagte Amelia lächelnd. Höchst beunruhigt sah Caroline Viscount Keir und seinen Bruder über die Uferpromenade auf sich zukommen. Im Sonnenschein schimmerte das Haar des Earl wie altes Gold. Langsam, um keinen Argwo hn zu erregen, griff sie nach dem Schleier ihres Hutes und schlug ihn herunter. „Das ist der hinreißendste Mann, den ich je gesehen habe, Caroline!“ raunte Phoebe ihr zu. Entsetzt hielt Caroline den Atem an. Es käme einem Albtraum gleich, wenn die Schwester sich zu Lord Lyndon hingezogen fühlte, da er doch ihr gehörte. Sogleich ermahnte sie sich streng, nicht töricht zu sein, denn der Earl gehörte ihr nicht. Er würde ihr nie gehören. Aber auch Phoebe durft e sich nicht für ihn interessieren. „Ich bitte dich, Phoebe“, erwiderte sie gedämpft. „Er ist mindestens zehn Jahre älter als du'„ „So ein Unsinn“, entgegnete das Mädchen leise. „Ich schätze ihn auf höchstens Anfang zwanzig.“ Erleichtert begriff Caroline, dass ihre Schwester Viscount Keir gemeint hatte. „Was für ein Traum von einem Mann“, murmelte Phoebe entzückt. Caroline stöhnte innerlich auf und wünschte, die Erde täte sich auf, um sie gnädig zu verschlingen, bevor die beiden Gentlemen bei ihnen waren.
„Hast du je eine so überwältigende Schönheit gesehe n, Justin? “ fragte Harold, nachdem Justin und er die vor ein paar Minuten mit einer kurzen Entschuldigung aus dem Kaffeehaus geeilte Dowager Countess entdeckt ha tten. Er blieb stehen und starrte hingerissen zu der jungen Dame hinüber, mit der seine Mutter sich unterhielt. Auch Justin fand die Person ausgesprochen reizvoll und war ausnahmsweise einer Meinung mit Harry. Sie war tatsächlichwunderschön und, von Mrs. Archer abgesehen, die bezauberndste Frau, die er je erblickt hatte. Der Schleier verdeckte zwar ihre Augenpartie, doch wenn sie den Kopf bewegte, konnte er ihre hübsche kleine Nase, die hohen Wangenknochen und vollen Lippen sehen. Sie trug ein schlichtes, elegantes Kleid und wirkte sehr damenhaft. Verwundert schaute er den Bruder an und erwiderte: „Ich hätte nicht gedacht, dass du dich für eine so kultivierte Frau interessierst. Dein Geschmack geht doch sonst in eine ganz andere Richtung. “ „Was redest du? “ fragte Harold verdutzt. „Ich meinte die Dame in dem gestreiften Kleid.“ Erst jetzt richtete Justin den Blick auf das auffällig gekleidete junge Mädchen und fand, dass es tatsächlich genau die Art Frau war, für die Harold sich erwärmte. Niedliche blonde Löckchen wippten unter der üppig mit künstlichen Blumen verzierten Bergère, und unter der hellblaue n Pelisse war ein farbenfroh ge streiftes Kleid zu sehen. „Offensichtlich kennt sie Mutter“, fuhr Harold fort und setzte sich in Bewegung. „Komm! Ich möchte ihr vorgestellt werden. “ Justin strebte hinter ihm her, seinerseits neugierig geworden, wer die beiden fremden Frauen sein mochten. Vor allem die dezent verschleierte Dame interessierte ihn. Bei der Gruppe angekommen, verneigte er sich und schaute seine Mutter fragend an.
„Darf ich bekannt machen“, sagte die Dowager Countess lächelnd. „Mrs. Aldritch und Miss Lane, ihre Schwester. Meine Söhne, Mrs. Aldritch. Justin, der Earl of Lyndon, und sein Bruder Harry, Viscount Keir.“ Reglosen Gesichts sah Caroline die Gentlemen an. „Sehr erfreut, Mylords“, äußerte sie höflich. Justin fragte sich, warum sie sich so distanziert gab. Ihre Schwester hingegen war nicht so zurückhaltend. Sie wirkte aufgeregt, und ihre Augen glänzten. „Es ist mir ein Vergnügen, meine Herren!“ erklärte sie ehrlich und sah seinen Bruder hingerissen an. „Ganz meinerseits“, erwiderte Harold. „Und eine Ehre“, fügte er hinzu und verneigte sich galant. Miss Lane kicherte leise, woraufhin ihre Schwester ihr einen tadelnden Blick zuwarf. Plötzlich wurde Justin sich bewusst, dass er Mrs. Aldritch neugierig anstarrte. Verlegen räusperte er sich und fragte beiläufig: „Sind Sie schon lange in der Stadt, Madam? “ „Nein“, antwortete sie ruhig. „Meine Schwester und ich trafen erst gestern hier ein.“ „Mrs. Aldritch und Miss Lane sind die Töchter einer meiner Freundinnen aus Schulzeiten, die leider nicht mehr le bt“, erklärte Amelia. „Welch eigenartiger Zufall, sich hier getroffen zuhaben, nicht wahr?“ „Ja“, stimmte Justin zu, ohne Mrs. Aldritch aus den Augen zu lassen. „Bitte, mein Lieber, wirke auf die Damen ein, sich uns anzuschließen, damit sie im Kaffeehaus Dorothy und deren Töchter kennen lernen können“, bat seine Mutter. Lady Bellweather und ihren Anhang hatte Justin bei der Begegnung mit Mrs. Aldritch völlig vergessen. Dabei wurde doch von ihm erwartet, Miss Sarah zu hofieren. „Oh, bitte, gesellen Sie sich zu uns“, äußerte nun Harold eindringlich. „Man serviert dort vorzügliches Gebäck.“ „Wundervoll!“ erwiderte Phoebe“ entzückt.“ Gegen ein Èclair hätte ich nichts einzuwenden. “ Bittend sah sie zu ihrer Schwester. Caroline nickte, und sogleich legte das Mädchen die Hand vertrauensvoll in die Armbeuge des Viscount. Angeregt plaudernd schritten die beiden nebeneinander her zum Kaffeehaus. Justin war sicher, dass sein Bruder und sie über die neueste Mode redeten. „Also gut “, sagte er lächelnd. „Wir sollten uns beeilen, damit von den Köstlichkeiten noch etwas übrig ist, wenn wir ankommen. “
„Dann waren also Sir William Lane und Amelias Freundin Margery Ihre Eltern, Mrs. Aldritch“, stellte Lady Bellweather ungnädig fest. „Und aus welcher Gegend kommen Sie?“ fügte sie hinzu und schaute Caroline mit leicht verengten Augen an. Der Ton, in dem die Frage gestellt worden war, ließ Caroline vermuten, dass die Baronin annahm, ihre Familie habe in einer Höhle gelebt. Es fiel ihr nicht leicht, sich auf die Antwort zu konzentrieren, da sie durch Lord Lyndons Nähe abgelenkt war. Er saß neben ihr, und sie musste sehr darauf achten, ihn nicht zu berühren. Sie rückte leicht von ihm ab, trank einen Schluck Mokka und sagte, während sie die Tasse behutsam auf den Unterteller zurückstellte: „Wir stammen aus Devonshire, Madam.“ „Sie waren verheiratet?“ Die Baronin hatte eine Augenbraue hochgezogen, ganz so, als zweifele sie daran, dass man ihr in diesem Punkt die Wahrheit gesagt hatte. Caroline musste sich bei dem Gedanken, wie Ihre Ladyschaft reagieren würde, wüsste sie, was sie in den vergangenen vier Jahren getan hatte, ein Lächeln verkneifen. Mit ziemlicher Sicherheit würde die Dame in Ohnmacht fallen. Die Vorstellung, die lästige Befragung könne durch eine gnädige Bewusstlosigkeit der aufdringlichen Matrone ihr Ende finden, war sehr verlockend, doch Caroline hütete sich, der Versuchung
nachzugeben. „Lawrence Aldritch war mein Gatte, Madam“, antwortete sie. „Allerdings bin ich schon seit einigen Jahren Witwe.“ „Lawrence Aldritch? “ wiederholte Justin verblüfft. „Mit ihm waren Sie verheiratet? Mit Larry?“ Verwundert schaute Amelia ihn an. Auch Lady Bellweather war erstaunt, wie Caroline bemerkte. Sie selbst war erschüttert, da Lawrence nur von den Kumpanen, die seine Lebensauffassung geteilt hatten, Larry genannt worden war. Es war ihr unerklärlich, wie Seine Lordschaft auf so vertrautem Fuß mit Lawrence gestanden haben konnte. Bisher hatte sie von ihm geglaubt, er sei jeder Ausschweifung abhold, denn nichts deutete darauf hin, dass er einen unsteten Lebenswandel führte. Nun jedoch kamen ihr Zweifel. Unvermittelt war es am Tisch still geworden, und Lord Lyndon schaute sie prüfend an. Jäh wurde ihr klar, wie gut er aus dieser Nähe ihr Gesicht erkennen konnte, und es kostete sie Mühe, die Contenance zu wahren. Lady Bellweather lächelte süffisant. Ihr Spürsinn hatte sie offenbar nicht getrogen. Mr. Aldritch schien in irgendeinen Skandal verwickelt gewesen zu sein. „Ja“, ant wortete Caroline nun gefasst. „Warum wundert Sie das? Kannten Sie meine n Gatten? “ Justin nickte. „Vor meiner Abreise nach Indien war ich häufig mit ihm zusammen“, erklärte er und fügt hinzu: „Bitte, erlauben Sie mir, Ihne n zu seinem Ableben mein Mitgefühl auszudrücken. “ „Danke“, erwiderte Caroline höflich und faltete ihre zitternden Hände im Schoß. Am liebsten hatte sie den Earl über seinen Kontakt zu Lawrence ausgefragt. Möglicherweise hatte er zu den jungen Müßiggängern aus gutem Hause gehört, die ihren Mann dazu verleitet hatten, um viel zu hohe Einsätze zu spielen. Doch das mochte sie nicht von Seiner Lordschaft glauben, denn dem widersprach die Art wie er sich in der ‚Goldenen Feder’ benommen hatte. „Vielleicht können Sie mir eines Tages mehr über Ihre Bekanntschaft mit meinem Gatten berichten, Sir “, fuhr sie fort und lächelte ihn an. „Gern, Madam“, versicherte er freundlich. „Ich jedenfalls habe den Namen Aldritch noch nie gehört“, warf Lady Bellweather geringschätzig ein. „Ich bitte dich, Mutter“, schaltete ihre Tochter Sarah sich ein. „Wir wohnen neben der alten Miss Deborah Aldritch! Wenn ich mich nicht irre, hieß ihr Neffe Lawrence.“ Phoebe verkniff sich ein Grinsen. Sarahs jüngste Schwester Beatrice kicherte, während Gladys, die Mittlere, die Mutter entgeistert ansah. Lady Bellweather besaß den Anstand zu erröten. Caroline hatte indessen das Gefühl, der Boden schwanke ihr unter den Füßen. An diesem Nachmittag hatte sie bereits etliche unerfreuliche Neuigkeiten zu hören bekommen, und nun stellte sich auch noch heraus, dass die ihr sichtlich nicht gewogene Baronin ausgerechnet Tante Deborahs Nachbarin war. „Es ist spät geworden“, sprach die Dowager Countess in die betretene Stille hinein. „Ich würde mich freuen, Mrs. Aldritch, wenn Sie und Ihre Schwester morgen Abend zu uns zum Dinner kommen könnten. “ Caroline zauderte unschlüssig. Lady Bellweather starrte Lady Lyndon sichtlich missbilligend an. Viscount Keir schien nur Augen für Phoebe zu haben, die sich leise mit Miss Sarah und deren Schwestern unterhielt. Lord Lyndons Blick wiederum war erwartungsvoll auf sie selber gerichtet, während die Dowager Countess sie ermutigend anlächelte.
„Ich danke Ihnen, Mylady“, äußerte Caroline widerstrebend. „Ich nehme Ihre freundliche Einladung mit dem größten Vergnügen an. “
4. KAPITEL
Im Haus war alles still. Caroline stand am Fenster und schaute zum Nachbarhaus hinüber, in dem, wie sie nun wusste, der Earl of Lyndon und seine Angehörigen wohnten. Verhalten seufzend sagte sie sich, dass sie seines Bruders wegen weniger beunruhigt war, auch wenn er Phoebe unverhohlen angehimmelt hatte. Aber sie war sich ziemlich sicher, dass er sie sowieso nicht erkannt hätte, weil er bei seinen Besuchen in der ‚Goldenen Feder’ stets ziemlich angetrunken gewesen war. Bei Lord Lyndon lagen die Dinge gänzlich anders. Sie haderte mit dem Schicksal, das ihn ihr in Wycombe über den Weg geführt hatte, obwohl er ebenso gut nach Bath, Brighton oder in ein anderes Seebad hatte fahren können. Doch sie musste sich damit abfinden, dass er hier war und obendrein das benachbarte Haus bezogen hatte, das den Worten seines Bruders zufolge viel zu klein für seine Ansprüche war. Und dann hatte er auch noch Lawrence gekannt. Was höchst verwunderlich war, denn ihres Wissens hatte ihr Mann nur Freunde gehabt, die ebenso zügellos gewesen waren wie er. Sie befürchtete eine Katastrophe mit schrecklichen Konsequenzen, nicht nur für sich, sondern auch für Phoebe, wenn der Earl of Lyndon herausfand, dass sie und Mrs. Archer ein und dieselbe Person waren. Es stand nicht zu erwarten, dass er nachsichtig sein würde, auch wenn er sich bisher sehr umgänglich und freundlich gegeben hatte. In seiner gesellschaftlichen Stellung konnte er es sich nicht erlauben, dass seine Angehörigen Umgang mit der ehemaligen Besitzerin eines Spielsalon und deren Schwester hatten. Andererseits hatte sie am Nachmittag nicht den Eindruck gewonnen, dass sie von ihm erkannt worden war. Zumindest hatte er beim Aufenthalt in der Confiserie durch nichts zu erkennen gegeben, dass er wusste, wer neben ihm saß. Die Kopfschmerzen, die Caroline seit dem Besuch des Kaffeehauses plagten, waren inzwischen so stark, dass sie die Stirn gegen die Fensterscheibe legte, um sie zu kühlen. Sie rieb sich die pochenden Schlafen, blickte in die Dunkelheit und sagte sich, das Vernünftigste sei, sich Lord Lyndon und seinen Verwandten fe rn zu halten, um jeder Gefahr aus dem Weg zu gehen. Dummerweise hatte sie jedoch die Einladung Ihrer Ladyschaft zum Dinner bereits angenommen und wusste nicht, mit welcher Begründung sie hätte absagen können. Außerdem wollte sie Phoebe nicht die Freude verderben, da die Schwester beim Abendessen mit glänzenden Augen davon geredet hatte, wie begierig sie darauf sei, mit so vornehmen Leuten dinieren und die reizende Miss Sarah wiedersehen zu können. Caroline brachte es nichts übers Herz, das Mädchen derart zu enttäuschen, und das bedeutete, dass sie, ungeachtet aller Gegenargumente, das Risiko auf sich nehmen musste, von Lord Lyndon erkannt zu werden. Und schließlich gestand sie sich ein, dass sie die Einladung auch seinetwegen gern befolgen würde. Sie hatte sich schon in der ‚Goldenen Feder' zu ihm hingezogen gefühlt, in einer Weise, wie das bisher bei keinem Mann, nicht einmal bei Lawrence, der Fall gewesen war. Und hier in Wycombe, wo er sich viel gelöster, umgänglicher gab, gefiel er ihr noch besser. Sie mochte seinen trockenen Humor, die seinem Bruder gegenüber bekundete ruhige, gebieterische Art, die ihr bei Phoebe leider nicht gegeben war, und die seiner Mutter bewiesene Herzlichkeit. Zudem verstand er es hervorragend, sich zu beherrschen und höflich zu bleiben, selbst wenn er jemanden wie die taktlose Lady Bellweather vor sich hatte. Caroline konnte nicht abstreiten, dass sie sehr an ihm interessiert war. Wäre ihre persönliche Situation nicht so prekär gewesen, hätte sie sich auf den kommenden Abend gefreut. So jedoch sah sie ihm mit äußerst gemischten Gefühlen entgegen.
Noch immer verärgert über Harold, der Miss Lane am Abend unbedingt noch die Aufwartung hatte machen wollen und nur mit strengem Nachdruck davon zu überzeugen gewesen war, sich in sein Zimmer zurückzuziehen, wies Justin den Butler an, ihm einen Brandy in der Bibliothek zu servieren. Nachdem er es sich in einem Sessel vor dem Kamin bequem gemacht und den großzügig gefüllten Cognacschwenker in Empfang genommen hatte, kam ihm Miss Sarah in den Sinn, mit der er beim Nachmittagsspaziergang höflich geplaudert hatte. Sie war zweifellos hübsch anzusehen, aber ihre bisweilen altkluge Art missfiel ihm. Er empfand nichts für sie und war froh gewesen, als sie ihm unumwunden erklärte hatte, ihn nicht heiraten zu wollen. Damit hatte sie ihm aus der Seele gesprochen. Ganz anders lagen die Dinge jedoch, was Mrs. Aldritch betraf. Irgendwie hatte er den Eindruck gehabt, sie zu kennen, sich indes nicht an eine Gelegenheit erinnert, bei der man sich begegnet war. Er hatte sie aufmerksam beobachtet und war das Gefühl nicht losgeworden, auch sie glaube, schon einmal mit ihm zusammengetroffen zu sein. Ihr Benehmen war irgendwie gehemmt gewesen, und den Schleier hatte sie erst im Kaffeehaus und dann sichtlich widerwillig zurückgeschlagen. Zudem war sie nach der Mitteilung, dass Justin und ihr verstorbener Gatte sich gekannt hatten, eigenartig befangen gewesen. Auf Justins an sie gerichtete Bemerkungen hatte sie nur einsilbige Antworten gegeben und ständig den Kopf gesenkt gehalten. Vielleicht war sie schüchtern. In dieser Hinsicht unterschied sie sich sehr von Mrs. Archer, die er nicht vergessen konnte. Es belustigte ihn, dass er so schnell nach der Heimkehr aus Indien zwei Frauen kennen gelernt hatte, die ihn, jede auf ihre Weise, faszinierten und für sich einnahmen. In all den in Mangalur verbrachten Jahren hatte er lediglich die Bekanntschaft einer ihn nicht sonderlich ansprechenden Witwe gemacht, die ihn jedoch bald eines betagten Colonels wegen verlassen hatte. Vielleicht war es nach den letzten vier Jahren, in denen er viel über sich selbst und darüber nachgedacht hatte, was er sich vom Leben erhoffte, an der Zeit, seine Vorstellungen in die Tat umzusetzen. Und das beabsichtigte er am nächsten Abend zu tun, wenn Mrs. Aldritch und ihre temperamentvolle Schwester zu Gast waren.
Phoebe war viel zu aufregt, um schlafen zu können, und wälzte sich unruhig im Bett hin und her. Der Tag war sehr ereignisreich gewesen, genau so, wie sie sich in Mrs. Medlocks Mädchenpensio nat den Aufenthalt in Wycombe vorgestellt hatte. Ihr war ein Gentleman mit wunderschönem Haar und herrlichen braunen Augen begegnet, den sie für das attraktivste männliche Wesen der ganzen Welt hielt. Außerdem hatte er einen exzellenten modischen Geschmack. Nie zuvor hatte sie einen Herrn gesehen, der derart elegant gekleidet gewesen war. Es störte sie nicht, dass er nicht sehr gesprächig war. Sie hatte ihm viel zu erzählen und schätzte es durchaus, nicht ständig unterbrochen zu werden. Und diese Zierde der Männer würde sie am nächsten Tag wiedersehen und einen Abend mit ihm verbringen! Der Besuch in Wycombe hatte äußerst verheißungsvoll begonnen und versprach, prickelnd und aufregend zu werden. Sie bedauerte, dass Caroline keinen Mann an ihrer Seite hatte, und hoffte, dass sie jemanden finden würde, mit dem sie die Schwester zusammenbringen konnte. Caroline sollte so glücklich wie sie selbst sein. Nachdenklich furchte Phoebe die Stirn und hatte plötzlich einen wundervollen Einfall. Lord Lyndon! Er bot sich förmlich dafür an, mit Caroline verkuppelt zu werden. Er sah gut aus, war adlig und offensichtlich vermögend. Vom Wesen her schien er sehr zurückhaltend zu
sein, doch das hatte Caroline anscheinend nicht gestört. Wie himmlisch es wäre, wenn die Schwester ihn heiratete und die Countess of Lyndon wurde! Entschlossen, dafür zu tun, was in ihrer Macht stand, seufzte Phoebe noch einmal zufrieden und schloss die Augen.
„Der Tag kam mir endlos lang vor, Caroline! Ich dachte, es würde nie Abend werden! Aber jetzt ist es endlich so weit!“ Phoebe versuchte über die Schulter zu blicken, während sie mit ihrer Schwester sprach. „Sitzen sie bitte still, Miss Phoebe“, tadelte Mary, die das Haar des jungen Mädchens gerade mit der Brennschere bearbeitete, sie unwirsch. „Sonst kann ich Sie nicht frisieren. “ Caroline schmunzelte und dachte daran, dass sie sich seit einer kleinen Ewigkeit nicht mehr so wie die Schwester auf eine Einladung gefreut hatte. Phoebes Begeisterung war ansteckend, wurde indes getrübt durch die Sorge, der Earl of Lyndon könne doch eine Verbindung zwischen Mrs. Aldritch und Mrs. Archer herstellen. „Du tust ja gerade so, als gingen wir zu einem Ball, Phoebe“, sagte sie. „Dabei sind wir lediglich zum Dinner gebeten worden. “ „Ich werde zum ersten Mal bei vornehmen Leuten zu Gast sein, Caroline!“ erwiderte Phoebe entzückt. „Und dann gleich bei einem Earl!“ „Sie sollen nicht zappeln, Miss Phoebe!“ beschwerte sich die Zofe. „Wenn es ziept, ist das Ihre Schuld!“ „Entschuldigen Sie, Mary“, erwiderte Phoebe zerknirscht und zwang sich, still zu sitzen. Amüsiert zwinkerte Caroline der Schwester im Spiegel zu und überlegte, welchen Schmuck sie tragen solle. Sie nahm ihre Schatulle aus dem Schrank, setzte sich aufs Bett und öffnete sie. Nachdenklich betrachtete sie die zuoberst liegenden Broschen und Anstecknadeln und konnte sich für keine von ihnen entscheiden. Sie hob die Ablage heraus und nahm unschlüssig die Perlenkette und die erlesenen Edelsteinkolliers in die Hand. Plötzlich fiel ihr Blick auf den Smaragdschmuck, den sie an dem Abend getragen hatte, als der Earl of Lyndon für zum ersten Mal bege gnet war. Sie hätte das Ensemble verkaufen sollen, weil es so auffallend war. Jeder, der es einmal an ihr gesehen hatte, würde es sofort wiedererkennen. Folglich konnte sie es für den bevorstehenden Anlass nicht anlegen. Neugierig hatte Phoebe sie im Spiegel beobachtet. Trotz Marys Protest stand sie nun auf und ließ sich neben ihrer Schwester nieder. „Diese Geschmeide sind überwältigend schön! “ rief sie hingerissen aus, als sie die Schmuckstücke sah. „Darf ich etwas davon tragen? “ Hastig legte Caroline die Juwelen in das Kästchen zurück und erwiderte streng: „ Nein! Für solchen Schmuck bist du noch viel zu jung. Du wirst dich mit Mutters Halskette begnügen müssen!“ „Schade!“ murrte das Mädchen und setzte sich wieder an den Frisiertisch. „Wenigstens die Briolets hättest du mir geben können. Sie hätten glänzend zu meinem Kleid gepasst.“ „Ich bin sicher, meine Liebe, du wirst auch so genügend Glanz verbreiten“, erwiderte Caroline trocken und betrachtete die hübsche weiße, mit einem eingesetzten Spitzenfichu versehene Abendrobe der Schwester. „Meinst du das wirklich? “ fragte Phoebe skeptisch. „Findest du nicht, dass der Schnitt des Kleides, vor allem der Stehkragen, mich älter macht?“ „Nein, dieser Ansicht bin ich keineswegs “, antwortete Caroline lächelnd. „So, und nun gib Ruhe, damit Mary dir die Locken feststecken kann!“
In der offenen Salontür blieb Justin stehen und ließ seinen Blick über die bereits versammelten Gäste schweifen. Lady Bellweather unterhielt sich mit seiner Mutter, während
Miss Sarah mit leicht gelangweilter Miene zuhörte. Harold lehnte am Kamin und trommelte sichtlich aufgeregt mit den Fingerspitzen auf den Sims. Lady Ryce plauderte mit anderen Bekannten der Mutter, und die jüngeren Herrschaften standen, in angeregte Gespräche vertieft, in Grüppchen zusammen. Zu Justins größter Enttäuschung hatten Mrs. Aldritch und ihre Schwester sich noch nicht eingefunden. Verwundert betrat er den Salon, schaute auf die Konsole nuhr und stellte fest, dass es kurz vor neun war. Wenn die Damen nicht zu spät zum Diner kommen wollten, mussten sie jetzt eintreffen. „Oh, da bist du ja, Justin!“ sagte Amelia lächelnd. „Dorothy erzählte mir gerade, dass am Samstag ein Konzert gegeben wird. Das Programm sieht populäre Lieder und Arien vor. Ich bin überzeugt, es würde uns gefallen. “ Justin verneigte sich vor Lady Bellweather und deren Tochter und erwiderte: „Dann lass uns hingehen, Mutter.“ „Was hältst du davon, wenn wir Mrs. Aldritch und ihre Schwester bitten, sich uns anzuschließen? “ wollte Amelia wissen. „Mrs. Aldritch hat gestern Nachmittag erwähnt, sie liebe Musik.“ Dorothy schnaubte abfällig. Ehe Justin sich jedoch zu diesem Vorschlag äußern konnte, hörte er den Türklopfer, und gleich darauf kündigte Richards Mrs. Aldritch und Miss Lane an. Er drehte sich um und sah die Damen das Gesellschaftszimmer betreten. Mrs. Aldritch war wirklich eine bezaubernde Erscheinung. Ihr am Hinterkopf kunstvoll verschlungenes Haar war mit Perlenkämmchen festgesteckt und mit Bändern durchwunden, die im Kerzenlicht matt schimmerten. Sie trug eine in der hoch angesetzten Taille gegürtete, langärmelige Abendrobe aus glänzender zimtfarbener Seide, deren Dekollete mit Spitzen gesäumt war, und hatte sich eine dunkelbraune Bayadère in die Armbeugen gelegt. Beruhigend ergriff sie ihre Schwester am Arm und schaute verhalten lächelnd in die Runde. Amelia erhob sich und ging auf die Gäste zu. Rasch folgte Justin ihr. Harold überholte jedoch Mutter und Bruder, verneigte sich vor den Damen und äußerte beeindruckt: „Wie reizend, Sie beide wiederzusehen. “ Galant gab er erst Mrs. Aldritch, dann deren Schwester einen Handkuss und fuhr strahlend fort: „Erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, dass Sie beide ga nz hinreißend aussehen. “ Sacht stieß Justin ihn in die Seite und begrüßte seinerseits die Damen. Caroline bedankte sich bei ihm und seiner Mutter, die Phoebe und sie ebenfalls herzlich willkommen geheißen hatte, und fuhr fort: „Ich muss mich entschuldigen, meine Herrschaften. Leider haben meine Schwester und ich uns etwas verspätet. Das tut mir aufrichtig Leid.“ „Oh, das ist doch nicht der Rede wert“, erwiderte Amelia großzügig. „Es hat noch nicht zum Essen geläutet. Sei so nett, Justin, und begleite Mrs. Aldritch zu Tisch. Und du, Harry, wirst Sarah ins Speisezimmer bringen. “ „Ich? “ fragte er entsetzt. „Ich hatte vor ...“ „Sie wartet bereits auf dich“, fiel Amelia ihm unbeirrt ins Wort. „Erlauben Sie mir, Miss Lane, Sie mit Mr. Allen bekannt zu machen, der Ihr Tischnachbar sein wird.“ Nach einem enttäuschten Blick auf den Viscount schloss Phoebe sich Ihrer Ladyschaft an. Mürrischen Gesichts folgte Harold den beiden und ging zu Miss Sarah, die ebenso wenig Begeisterung wie er darüber zu empfinden schien, dass sie seine Tischdame sein sollte. Amüsiert schaute Caroline der Schwester hinterher. „Ich entschuldige mich für das peinliche Betragen meines Bruders“, sagte Justin ruhig. „Ich werde ihm ins Gewissen reden und ihn auffordern, in Zukunft Distanz zu Ihrer Schwester zu wahren. “
„Ich befürchte, Mylord, dass Phoebe darüber nicht glücklich sein würde“, entgegnete Caroline belustigt. „Ich habe ihr bereits nahe gelegt, sich Ihrem Bruder fern zu halten, doch sie ist sehr eigensinnig und will sich nicht belehren lassen.“ Auch Harold war dickköpfig und uneinsichtig, und irgendwie fühlte Justin sich plötzlich an sich selbst erinnert. Noch vor einigen Jahren hätte diese Beschreibung auch auf ihn zugetroffen. Er blickte zu seinem Bruder, der sichtlich widerstrebend mit Miss Sarah Konversation machte, während er seine Augen unverwandt auf die mit Mr. Allen plaudernde Miss Lane gerichtet hielt. Harrys Miene drückte unverkennbar Verärgerung aus. Unwillkürlich überlegte Justin, ob auch er sich früher wie ein verliebter Jüngling aufgeführt hatte, und musste sich eingestehen, dass sein Benehmen ebenso unbeherrscht gewesen war. „Gestern erwähnten Sie, dass Sie meinen Gatten kannten“, sagte Caroline leichthin. „Oh, verzeihen Sie, ich war abgelenkt“, entschuldigte sich Justin. „Ja, ich war, bevor ich nach Indien reiste, oft mit ihm zusammen. Unser engster Freundeskreis bestand aus Larry, Mt. Reed, Mr. Burne-Jones und meiner Wenigkeit. Aber das ist lange her, und in der Zwischenzeit ist so viel geschehen. “ „Wie wahr!“ äußerte Caroline nachdenklich. Erstaunt schaute Justin sie an. Ihre Miene war ernst, fast ein wenig verschlossen. Sie strahle eine stille Würde aus, die Justin sich fragen ließ, wie es dazu gekommen sein mochte, dass sie ausgerechnet jemanden wie den zügellosen Lawrence Aldritch geheiratet hatte. Es musste ihr äußerst schwer gefallen sein, dessen unstetes Leben zu tolerieren. Vermutlich verhielt sie sich, weil sie sich zu gut daran erinnerte, ihm gegenüber so zurückhaltend. Es war ihr wahrscheinlich nicht genehm, jemanden vor sich zu haben, der zum Freundeskreis ihres Mannes gezählt hatte. Möglicherweise war er ihr zu Lebzeiten ihres Gatten sogar einmal begegnet und hatte daher den Eindruck, sie zu kennen. Wahrscheinlich war er damals wieder einmal betrunken gewesen, so dass er sich heute nicht mehr genau erinnern konnte. Hoffentlich hatte er sie, falls seine Mutmaßungen zutrafen, nicht in irgendeiner Weise gekränkt. „Ich wüsste gern, ob wir uns schon einmal begegnet sind, Madam“, sagte er bedächtig und befürchtete, seine unguten Vorahnungen könnten sich bewahrheiten. „Nein, Sir “, log Caroline dreist. „Jedenfalls entsinne ich mich nicht, Sie jemals vorher gesehen zu haben. Ich habe mich zwar nicht viel in der Öffentlichkeit aufgehalten, bin jedoch einigen Freunden Lawrence' begegnet, beispielsweise den beiden von Ihnen erwähnten Herren. Sie müssen mir irgendwann mehr über Ihren Umgang mit meinem Gatten berichten. “ „Hat er mich denn nie erwähnt?“ wunderte sich Justin und konnte sich erneut des Eindrucks nicht erwehren, dass er etwas Ungehöriges getan haben musste, das Mrs. Aldritch noch jetzt zu ihrer reservierten Einstellung bewog. Falls er ihr tatsächlich in irgendeiner Form zu nahe getreten war, wollte er den angerichteten Schaden umgehend gutmachen. „Nein, Larry hat die Sprache nie auf Sie gebracht“, antwortete Caroline ehrlich. „Aber wie gesagt, ich entsinne mich nicht an alle Leute, mit denen er bekannt war“, fügte sie etwas steif hinzu. Es erleichterte Justin, dass sie ihn nicht in vollkommen betrunkenem Zustand erlebt hatte. „Ich vermute, Madam, dass es Sie sehr langweilen würde, erzählte ich Ihnen, was Ihr Gatte und ich früher unternommen haben. Diese Dinge lohnen sich nicht, aus der Versenkung hervorgeholt zu werden. “ „Nun, tun wir sie als Jugendtorheiten ab“, erwiderte Caroline lächelnd. „Es würde mich indes freuen, wenn Sie mir mehr über Ihren Aufenthalt in Indien berichteten. Was Sie dort erlebt haben, war sicher sehr aufregend.“ „Oh, ich versichere Ihnen, Madam, dass ich in Mangalur unzählige, höchst langweile Tage verbracht habe“, entgegnete Justin trocken. „Ihre Mutter erzählte gestern, Sie seien auf die Tigerjagd gegangen und in Schlachten mit Einheimischen verwickelt gewesen. Sie sollen sogar einem Colonel das Leben gerettet haben
und dafür ausgezeichnet worden sein. Außerdem erwähnte sie, dass Sie mehrfach schwer krank gewesen seien. Und das nennen Sie langweilig?“ „Von Schlachten zu reden ist stark übertrieben“, erwiderte Justin auflachend. „Nein, das waren Scharmützel, wenngleich keine ungefährlichen. Und von den vier Jahren meines Aufenthaltes waren, alles in allem genommen, höchstens sechs Monate so, dass ich sie aufregend nennen würde.“ „Gleichviel, wenn es Ihnen nichts ausmacht, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mir mehr von Ihren in Indien gemachten Erfahrungen erzählen würden. “ „Interessieren Sie sich wirklich dafür?“ fragte Justin überrascht. „Ja“, bestätigte Caroline. „Ich war nie im Ausland und bezweifle, dass ich je weite Reisen unternehmen werde. Daher begrüße ich es, wenn ich durch Erzählungen etwas über fremde Länder erfahren kann. “ In diesem Moment erschien Richards und verkündete förmlich, es könne serviert werden. Justin bot Mrs. Aldritch den Arm und erwiderte auf dem Weg ins Speisezimmer: „Selbstverständlich komme ich Ihrer Bitte gern nach, Madam. Lassen Sie mich wissen, wann es Ihnen recht wäre. Ich hoffe, bald“, fügte er lächelnd hinzu. Sie zögerte einen Moment mit der Antwort und sagte dann: „Ja, bald, Sir.“
Nach dem Essen hatte man sich zum Kartenspielen wieder ins Gesellschaftszimmer begeben. Der Hausherr, seine Mutter, Caroline und Viscount Keir saßen an einem Tisch und spielten Whist. Phoebe hatte sich Miss Bellweather angeschlossen und zu ihr gesetzt. „Kennt Ihre Mutter Lady Lyndon schon lange?“ erkundigte sie sich neugierig. „Oh, seit einer Ewigkeit“, antwortete Sarah trocken. „Sie war schon mit ihr befreundet“ als ich aus dem Alumnat zurückkehrte. Beide haben beschlossen, dass ich Lord Lyndon heiraten soll.“ „Ach, wirklich? “ fragte Phoebe und war im Stillen höchst entsetzt. Schließlich hatte sie sich vorgenommen, ihn mit Caroline zusammenzubringen. „Und werden Sie ihn erhören? “ „Nein“, antwortete Sarah auflachend. „Ich habe ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht und auch Justin gesagt, dass ich ihn nicht heiraten will. Hoffentlich hat er das seiner Mutter berichtet, damit sie ihre Absicht fallen lässt. Er hat sehr verständnisvoll reagiert und gemeint wir hätten nicht gut zueinander gepasst.“ Phoebe war ungeheuer erleichtert. „Er wäre für Sie auch viel zu alt gewesen! “ erwiderte sie leichthin. „Ja“, stimmte Sarah zu. „Ich habe nicht vor zu heiraten, weil mein Interesse der Archäologie gilt und ich gern Ausgrabungen vornehmen möchte. Ich habe viel über alte Kulturen gelesen und korrespondiere mit mehreren Mitgliedern der Königlich Archäologischen Gesellschaft. „ Diese Neuigkeit fand Phoebe noch schockierender als die Mitteilung, dass Miss Sarah sich mit Seiner Lordschaft hätte vermählen sollen. In Mrs. Medlocks Mädchenpensionat hatte man ihr nachgesagt, sie sei die unternehmungslustigste und unkonventionellste aller Schülerinnen, aber ihr war nie der Gedanke gekommen, im Leben etwas anderes zu tun, als eine Familie zu gründen und ihre Kinder aufzuziehen. Ihre Hochachtung vor Miss Sarah wuchs auf der Stelle. Da sie keine Ahnung hatte, worin die Tätigkeit eines Altertumsforschers bestand, fragte sie: „Wollen Sie damit sagen, dass es Ihnen Freude machen würde, in der Erde zu graben und verblichene Skelette ans Tageslicht zu befördern? “ „Ja“, antwortete Sarah belustigt. „Und natürlich möchte ich auch verborgene Schätze finden. Das ist mein größter Traum. Ich befürchte indes, dass er nicht in Erfüllung gehen wird. Mama meint, eine Dame von Stand würde nicht an solche Dinge denken, sondern daran, zu heiraten und Kinder zu bekommen, die ihr Leben voll und ganz ausfüllen.“
Nachdenklich blickte Phoebe zu ihrer Schwester hinüber und sah den Earl etwas zu Caroline sagen. Gleich darauf lachte diese hell auf. Phoebe war verblüfft, dass ihre sonst so auf die Form bedachte Schwester sich derart unbefangen amüsierte. Das war jedoch, was ihre Pläne betraf, ein sehr verheißungsvoller Anfang. „Meine Mutter hat akzeptiert, dass ich Lord Lyndon nicht will“, fuhr Sarah fort. „Jetzt hat sie es sich jedoch in den Kopf gesetzt, mich mit seinem Bruder zu verheiraten. Ständig hält sie mir vor, ein Viscount sei immer noch besser als ein Baron, und außerdem wäre es dieselbe Familie.“ Phoebe meinte ihren Ohren nicht trauen zu können. Miss Sarah sollte Viscount Keir heiraten? Das war ausgeschlossen, da Phoebe entschieden hatte, er gehöre ihr. Und es war unübersehbar, dass er ihre Gefühle erwiderte, denn aus jedem seiner Blicke sprach unverhohlene Bewunderung. Verstört schaute sie zu ihm hinüber und hielt sich vor, dass sie sich möglicherweise täuschte, da sie keine Erfahrung im Umgang mit Männern hatte. Aber Bewunderung konnte man nicht heucheln! Zutiefst erschüttert sah sie wieder Miss Sarah an und äußerte bang: „Sie haben doch vorhin gesagt, dass Sie sich nicht vermählen wollen! “ „Ganz recht “, bestätigte das junge Mädchen. „Der Gedanke, Lord Keir heiraten zu sollen, ist noch lächerlicher als die Vorstellung, die Gattin seines Bruders zu sein. Harold ist schrecklich ungebildet und kann eine griechische Amphore aus dem ersten Jahrhundert vor Christus nicht von einer aus dem dritten unserer Zeitrechnung unterscheiden. Und von einem Alabastron hat er noch nie etwas gehört!“ Phoebe gestand sich ein, dass auch sie keine Ahnung hatte, was ein Alabastron war. „Nein, meine Mutter wird hoffentlich bald einsehen“, fuhr Sarah lächelnd fort, „dass es keinen Zweck hat, mich unter die Haube bringen zu wollen. “ Am liebsten hätte Phoebe laut gejubelt. Ihr konnte es gleich sein, ob der Viscount wusste, was dieses Ding aus Alabaster war. Viel wichtiger fand sie, dass er sich darüber im Klaren war, welch einzigartige Frau er bekommen würde, wenn er sie zum Traualtar führte. „Fein, Mr. Allen und ich haben gewonnen! “ rief Amelia entzückt aus und lächelte ihrem Sohn und Mrs. Aldritch zufrieden zu. „Wir haben Pech gehabt“, erwiderte Justin trocken. „Oder ich war nicht aufmerksam genug. Mrs. Aldritch wird wohl nie wieder ein Doppel mit mir spielen wollen. “ Caroline legte die restlichen Karten auf den Tisch und erwiderte höflich: „Nein, geben Sie nicht sich die Schuld. Ich befürchte, ich beherrsche Whist nicht mehr sehr gut, da ich es so lange nicht gespielt habe.“ „Und meine Mutter hat leider die Angewohnheit, ihrem Glück ein wenig auf die Sprünge zu helfen“, äußerte Justin schmunzelnd. Lady Bellweather hatte die Bemerkung gehört, drehte sich halb zu Seiner Lordschaft um und bemerkte tadelnd: „Wie können Sie Amelia unterstellen falsch zu spielen, Sir! So etwas gehört sich nicht!“ „Ach, reg dich nicht auf, Dorothy“, entgegnete Amelia gelassen. „Ich weiß, wie Justin das gemeint hat. Er wollte damit lediglich zum Ausdruck bringen, dass ich ihm beim Whist immer überlegen bin. “ Caroline sah sich nach Phoebe um, konnte sie jedoch zu ihrer Verwunderung nirgends entdecken. Auch Miss Sarah war verschwunden. Als Justin auffiel, dass Mrs. Aldritch offenbar nach ihrer Schwester suchte, die sich seltsamerweise nicht im Raum befand, wurde er von einer bösen Vorahnung überkommen und hielt Ausschau nach Harold. Er musste feststellen, dass auch der Bruder das Gesellschaftszimmer verlassen hatte. Caroline fing einen auffordernden Blick von ihm auf, erhob sich in stummem Einverständnis und wandte sich an die anderen Gäste: „Wenn Sie mich bitte einen Augenblick
entschuldigen würden, meine Herrschaften. Nach dem langen Sitzen möchte ich mich etwas bewegen. “ Sogleich stand Justin auf und äußerte zuvorkommend: „Erlauben Sie mir, Ihnen Gesellschaft zu leisten. Auch ich könnte mir ein wenig die Beine vertreten. “ Galant reichte er Mrs. Aldritch den Arm und raunte ihr, nachdem sie sich bei ihm eingehängt hatte und sie einige Schritte vom Tisch entfernt waren, zu: „Ich nehme an, Sie haben gemerkt, dass mein Bruder ebenfalls nicht mehr hier ist.“ „Ja“, bestätigte sie leise. „Ich hoffe, dass wir keinen Grund zur Besorgnis haben müssen. “ „Bei Harry ist alles denkbar“, murmelte Justin unbehaglich. „Ich hätte besser auf Phoebe Achtgeben sollen“, erwiderte Caroline betroffen. „Sie ist so unbesonnen. Jetzt mache ich mir Vorwürfe, dass ich meine Schwester nicht im Auge behalten habe.“ „Beunruhigen Sie sich nicht unnötig“, entgegnete Justin beschwichtigend. „Wahrscheinlich werden wir Harry und die jungen Damen in der Bibliothek antreffen. “ „In der Bibliothek?“ wiederholte Caroline ungläubig. „Ich wage zu bezweifeln, dass meine Schwester plötzlich ihre Liebe zur Literatur entdeckt hat!“ „Nun, die Vorlieben meines Bruders gelten ebenfalls nicht schöngeistigen Dingen“, räumte Justin ein. „Ich schlage vor, wir machen uns in den anderen Salons auf die Suche.“ „Ja“, stimmte Caroline entschlossen zu. „Die Sache gefallt mir ganz und gar nicht.“
5. KAPITEL
Nach dem Ende der Kartenpartie hatte Viscount Keir sich zu Miss Sarah und Phoebe gesetzt eine Weile mit ihnen geplaudert und im Gespräch erwähnt dass es ga nz in der Nähe eine Schmugglerhöhle gebe. Dieser Hinweis war wie geschaffen dafür gewesen, die Neugier der beiden jungen Damen zu wecken. Augenblicklich hatten sie sich darauf geeinigt, den sicher von vielen Geheimnissen umwehten Ort in Augenschein zu nehmen. Nachdem Lord Keir sich einen Moment lang geziert hatte, war er schließlich einverstanden gewesen. Möglichst unauffällig hatten die dreijungen Leute den Empfangssalon verlassen und sich zum Strand begeben. Sie hatten eine Weile laufen müssen, was für Phoebe und Miss Sarah in den dünnen Escarpins sehr beschwerlich gewesen war. Außerdem hatten sie ständig darauf achten müssen, sich die Röcke nicht schmutzig zu machen oder gar vom Gischt durchnässt zu werden. Am Fuß einer Klippe hielt Harold schließlich an, wartete, bis die keuchenden Damen bei ihm waren, und verkündete: „Die Höhle ist da oben. Der Zugang ist etwas mühsam zu erreichen, aber ich werde hinaufklettern. Vielleicht entdecken wir sogar einen Schatz! “ fügte er hinzu und begann den Aufstieg. „Seien Sie vorsichtig, Mylord!“ rief Phoebe ihm aufgeregt zu. „Das Gestein ist glitschig. Sie könnten ausrutschen! “ „Was für ein unsinniges Unterfange n“, sagte Sarah kopfschüttelnd. „Wer glaubt, dass dort ein Schatz verborgen ist, wird selig!“ „Es gibt ihn“, behauptete Harold ächzend. „Gestern Abend habe ich ihn gesehen. Er befindet sich in einer großen, eisenbeschlagenen Truhe, die gewiss voller Juwelen ist.“ „Selbst wenn Sie Recht haben sollten“. erwiderte Sarah und schaute zu ihm hoch, „kann ich mir nicht vorstellen, dass die Schmuggler damit einverstanden sein werden, wenn Sie ihnen ihr Hab und Gut stehlen wollen. Wahrscheinlich wird die Truhe bewacht, und sobald Sie am Höhleneingang erscheinen, erschießt man Sie.“ „Um Gottes willen, Sir, kommen Sie zurück!“ schrie Phoebe entsetzt. „Ich habe keine Angst vor Schmugglern“, behauptete Harold kühn, erreichte den Höhleneingang und lugte in das dunkle Loch. Phoebe sah ihn sich vorbeugen und die Hand ausstrecken. „Ich habe etwas gefunden“, verkündete er. „Ja, hier ist etwas, das sich wie eine Kiste ...“ Man hörte ihn vor Schmerz aufschreien, und im nächsten Moment stürzte er vornüber. „Was ist passiert?“ fragte Sarah erschrocken. „Meine Hand ist eingeklemmt!“ jammerte er. „Etwas hat mich gebissen. Ich kann sie nicht zurückziehen!“ „Großer Gott!“ flüsterte Phoebe verstört, starrte in die Höhe und befürchtete, der Mann, in den sie sich verliebt hatte, werde gleich vor ihren Augen sterben. „Ich hole Hilfe!“ rief sie ihm eindringlich zu, raffte die Röcke und rannte schluchzend zur Residenz des Earl of Lyndon zurück, von dem Gedanken getrieben, Seine Lordschaft und Caroline zu finden und unverzüglich mit ihnen an den Ort des Schreckens zurückzukehren, „Wo können sie nur sein? “ fragte Caroline höchst beunruhigt und ließ sich erschöpft auf der schmiedeeisernen Bank nieder. „Ich hatte so sehr gehofft, sie hier im Wintergarten vorzufinden. “ Justin nahm neben ihr Platz und erwiderte: „Der einzige Ort in diesem Haus, wo wir noch nicht nachgesehen haben, ist der Dachboden. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass mein Bruder, Ihre Schwester und Miss Sarah dort sind, weil sie sich schmutzig machen würden und das sofort auffiele, wenn sie zurückkämen. “
„Aber selbst draußen sind sie nicht zu sehen“, murmelte Caroline und blickte durch die Fenster in den Park. Hinter dem sacht zur Straße abfallenden, gepflegten Grundstück war das im Mondlicht schimmernde Meer zu sehen. Der Anblick war reizvoll, und am liebsten wäre sie sitzen geblieben und hätte ihn schweigend mit Lord Lyndon genossen. Sie wähnte sich inzwischen in seiner Gegenwart sicher, da er im verlauf des Abends nicht hatte erkennen lassen, dass er sich an die Begegnung mit ihr im Spielsalon erinnerte. Es war jedoch sehr gefährlich, in der Wachsamkeit nachzulassen. Caroline war sich darüber im Klaren, dass sie weiterhin auf der Hut sein musste, damit sie nicht versehentlich ihr Geheimnis preisgab. Sie durfte nicht zulassen, dass sie in Lord Lyndons Bann geriet, auch wenn sie seine Nähe als sehr wohltuend empfand. Beeinflusst von der Stimmung des Augenblicks, entspannt durch den bisher so reibungslos verlaufenen Abend, fühlte sie den Wunsch in sich aufsteigen, Seiner Lordschaft die Arme um den Nacken zu schlingen, ihn zu küssen und sich an ihn zu schmiegen. Sie rief sich indes sogleich schockiert zur Ordnung. Derart abwegige und ungehörige Gedanken durfte sie sich nicht gestatten. Außerdem war ihre Schwester spurlos verschwunden. Caroline ermahnte sich, nicht untätig zu sein und von Zärtlichkeiten mit einem Mann zu träumen, der vielleicht doch noch die ehemalige Besitzerin der ‚Goldenen Feder’ in ihr erkannte, sie bloßstellte und sie und Phoebe gesellschaftlich unmöglich machte. Rasch erhob sie sich und äußerte eindringlich: „Ich halte es für besser, Sir, wenn wir auch im Garten nach den Verschwundenen suchen!“ Sofort stand Justin auf und erwiderte: „Wie Sie wünschen, Mrs. Aldritch. Hoffentlich finden wir die Ausreißer!“ „Wenn Sie nicht im Freien sind, weiß ich nicht, was wir sonst noch tun könnten, um sie aufzuspüren“, erklärte Caroline bedrückt, um im nächsten Moment erschreckt hinzuzufügen: „Was war das? Das hörte sich an, als würde meine Schwester draußen nach Hilfe rufen. “ „Kommen Sie!“ erwiderte Justin, lief zur Terrassent ür und hielt sie ihr auf. Gemeinsam hastete man ins Freie und sah einen Moment später Miss Lane auf das Haus zurennen. „Das ist Phoebe!“ äußerte Caroline erschrocken, raffte die Röcke und lief ihrer Schwester entgegen. Noch ehe sie bei ihr war, hörte sie sie schluchzen und bemerkte, dass ihre Frisur in Unordnung geraten war. Im ersten Moment befürchtete sie, der Viscount könne Phoebe zu nahe getreten sein und sie belästigt haben. Falls diese Vermutung zutraf, würde er seine Dreistigkeit bitter bereuen. Phoebe warf sich keuchend in Carolines ausgebreitete Arme und sagte atemlos: „Rettet ihn!“ „Wen meinst du? “ fragte Caroline verständnislos. „Wovon redest du? Wo sind Miss Sarah und Lord Keir?“ „Was ist geschehen? “ schaltete sich nun Justin beunruhigt ein. „Haben Sie meinen Bruder und Miss Sarah gesehen? “ „Ja“, antwortete Phoebe halb erstickt. „Miss Sarah ist bei ihm geblieben. Er ... er ist ... tot“, fügte sie stockend hinzu. „Wer ist tot?“ fragte Justin erschrocken. „Ihr Bruder, Sir“, sagte Phoebe kläglich. „Bitte, beeilen Sie sich. “ Entsetzt folgten Caroline und der Earl der hysterisch schluchzenden Phoebe zum Steilstrand, wo man die vollkommen ratlose Miss Bellweather antraf. Und dann wurde Caroline auf den laut lamentierenden und wild mit der Linken fuchtelnden Viscount aufmerksam, dessen rechte Hand irgendwo in dem Höhleneingang hinter ihm eingeklemmt zu sein schien. Er wirkte derart töricht, dass es ihr schwer fiel, sich das Lachen zu verkneifen. Auch Lord Lyndon grinste verstohlen, bevor er zu seinem Bruder hochstieg, einen großen Felsbrocken zur Seite wuchtete und Harold aus seiner Notlage befreite. Zum Glück wurde man nicht von Passanten überrascht, denn das hätte zweifellos zu höchst peinlichem Klatsch geführt. Und dank der Umsicht des Earl gelang es, unbemerkt ins
Haus zurückzukehren. Lord Lyndon legte seinem Bruder nahe zu behaupten, er habe sich die Aufschürfungen an der rechten Hand versehentlich an der Kante einer Kommode zuge zogen, gegen die er gestoßen sei, und fügte hinzu, er werde ihn über die Hintertreppe in dessen Schlafzimmer bringen, wo er warten wollte, bis Lord Keir wieder präsentabel war, um dann mit ihm in den Empfangssalon zurückzukehren. Auf sein Anraten hin nahme n die Damen den Weg durch den Garten. Sarah erklärte sich einverstanden, den Gästen zu erzählen, Miss Lane habe plötzlich sehr starke Kopfschmerzen bekommen und sich in den Damensalon zurückgezogen, wo sie von ihrer Schwester angetroffen worden sei. Da Miss Lanes Zustand sich nicht gebessert habe, sei Mrs. Aldritch mit ihr heimgegangen und ließe sich bei den Herrschaften mit der Bitte um Verständnis entschuldigen. Rasch verabschiedeten Caroline und ihre Schwester sich von der zuvorkommenden Miss Sarah, ersuchten Richards, ihnen in die Mäntel zu helfen, und verließen geschwind das Haus.
Für den Tag darauf hatte der Earl seinen Bruder in die Bibliothek befohlen. Erblickte dem jungen Mann wütend entgegen, als dieser eintrat, und fragte als Erstes scharf: „Hast du den Verstand verloren, Harry? Wie konntest du das tun!“ „Ich verstehe nicht, warum du mich so anschreist!“ erwiderte der Viscount aufsässig. Aufgebracht schlug Justin auf die Schreibtischplatte. „Am liebsten würde ich dich verprügeln!“ herrschte er ihn an. „Ich hätte allen Grund dazu! Jeder nur halbwegs vernünftige Mensch wäre nie auf den Einfall gekommen, mitten in der Nacht mit zwei Damen an den Strand zu gehen! Was hast du dir dabei gedacht? Es hätte ein Unglück geben können! Und was dann? “ „Es hat eins gegeben“, antwortete Harold verdrossen. „Ich wurde dabei schwer verletzt! Und da ich starke Schmerzen habe, bin ich nicht in der Stimmung, mir deine Vorwürfe anzuhören! “ „Mach dich nicht lächerlich!“ entgegnete Justin verächtlich. „Du hast dir die Hand in einer Felsspalte eingeklemmt und ein wenig Haut abgeschürft. Was hattest du überhaupt auf der Klippe zu suchen? “ „Ich wollte den Damen den … hm ... Schatz der Schmuggler in der Höhle zeigen“, antwortete der junge Mann und kam sich nun selbst reichlich albern vor. „Selbstverständlich war es nicht meine Absicht, die entzückende Miss Phoebe und Miss Sarah zu verstören!“ „Schatz? “ wiederholte Justin ungläubig. „Sollte dort wirklich etwas versteckt sein, dann kannst du deinem Schöpfer danken, dass du bei dieser unsinnigen Kletterpartie nicht überrascht und auf der Stelle erschossen wurdest. Hast du nicht darüber nachgedacht, was den Damen hatte passieren können, wenn Schmuggler euch ertappt hätten? “ Harold druckste verlegen herum und schien nicht zu wissen, wohin er blicken sollte. Schließlich sagte er zerknirscht: „Natürlich gibt es in dieser vom Wasser ausgewaschenen Höhle keine Juwelen oder dergleichen. Ich ...“ „Ich wusste es!“ brauste Justin auf. „Du wolltest bloß angeben! “ „Ich verbitte mir deine Beschimpfungen! “ fuhr Harold gekränkt auf. „Du hast nicht den mindesten Anlass, dich vor mir aufzuspielen! “ entgegnete Justin zornig. “Du weißt sehr genau, wie unmöglich du dich aufgeführt hast und wie gefährlich deine Unbesonnenheit war!“ „Ist ja schon gut “, äußerte Harold gedehnt. „Ich verspreche dir, so etwas nicht noch einmal zu tun, falls dich das beruhigt.“ „Nein, das tut es nicht!“ widersprach Justin erbost. „Auf deine Versprechen ist kein Verlass! In Zukunft werde ich besser auf dich Acht geben. Solltest du wagen, dich Miss Lane
zu nähern, ohne dazu von ihrer Schwester ermächtigt worden zu sein, schickte ich dich nach Indien! “ „Diese Drohung beeindruckt mich nicht im Mindesten“, entgegnete Harold gleichmütig. „Du scheinst du übersehen, Justin, dass ich volljährig bin. “ „Dann benimm dich gefälligst wie ein Erwachsener, besonders, wenn du willst, dass ich dich so behandele! Mehr habe ich nicht dazu zu sagen, Harry. Du kannst gehen, ich muss los.“ „Wohin willst du? “ „Das geht dich zwar nichts an, aber ich sage dir trotzdem, dass ich Mrs. Aldritch die Aufwartung machen will.“ „Das trifft sich gut“, meinte Harold zufrieden. „Ich werde dich begleiten und mich persönlich bei den Damen für mein Verhalten entschuldigen. “ „Du bleibst hier!“ lehnte Justin das Ansinnen des Bruders ab. „Mrs. Aldritch war sehr aufgeregt, nachdem sie das Verschwinden ihrer Schwester bemerkt hatte. Ich bezweifle, dass es gut für dich wäre, ihr heute unter die Augen zu treten. “ „Hm, du könntest Recht haben“, murmelte Harold betroffen. „Vielleicht kannst du deine Reumütigkeit morgen unter Beweis stellen“, sagte Justin in nachsichtigerem Ton. „Vielleicht wird Mrs. Aldritch einwilligen, morgen mit ihrer Schwester an der Landpartie teilzunehmen, die wir mit Lady Bellweather und ihren Töchtern unternehmen wollen.“ „Hoffentlich sagt sie zu!“ „Ich werde mein Möglichstes versuchen, damit sie die Einladung annimmt“, versicherte Justin lächelnd.
Phoebe presste die Hände auf die tränenfeuchten Wangen und flüsterte: „Natürlich wollte ich dir keinen Kummer machen, Caroline! Nichts liegt mir ferner!“ „Das weiß ich“, erwiderte ihre ältere Schwester seufzend. „Aber hat man euch in Mrs. Medlocks Alumnat nicht beigebracht, was sich gehört? Dir hätte klar sein müssen, meine Liebe, dass du nicht mitten in der Nacht mit dem Viscount an den Strand gehen kannst! Hast du keinen Gedanken daran verschwendet, dass dein guter Ruf leiden könnte?“ „Als Lord Keir von dieser Schatzhöhle erzählte, war ich so neugierig, dass ich nicht daran gedacht habe“, gestand Phoebe ehrlich. „Im Übrigen war ich ja nicht mit dem Viscount allein, Caroline. Sarah war bei uns. Aber ich gebe zu, dass mir mittlerweile bewusst ist, wie unbesonnen mein Verhalten war.“ „Einsicht hat noch nie geschadet“, sagte Caroline trocken. „Und merke dir, dass du mir in Zukunft stets mitteilen wirst, wenn du ohne mich irgendwohin gehen möchtest. Du ahnst nicht, welche Sorgen ich mir um dich gemacht habe. Wycombe ist eine Kleinstadt, in der man schnell ins Gerede kommen kann. Du willst doch sicher nicht, dass die Leute von dir behaupten, du hättest einen losen Lebenswandel. “ „Aber natürlich nicht “, warf Phoebe kläglich ein. „Für eine Frau ist ein tadelloser Ruf ein unersetzliches Gut. Du darfst weder dir noch mir je Schande machen. Also sei in Zukunft umsichtiger, insbesondere in Bezug auf Lord Keir.“ Caroline beugte sich vor, tätschelte der Schwester die Hand und sagte zärtlich: „Geh und wasch dir das Gesicht mit kaltem Wasser, Phoebe, damit man nicht sieht, dass du geweint hast. Und heute Nachmittag werden wir in ein Kaffeehaus gehen, wenn du möchtest.“ „Ja, gern!“ stimmte das Mädchen eifrig zu, erhob sich und verhieß voller Erleichterung darüber, dass die Gardinenpredigt zu Ende war den Salon. Nachdenklich lehnte Caroline sich auf dem Sofa zurück und dachte daran, dass es leichter sein musste, einen Sack Flöhe zu hüten, als auf junges, unbesonnenes Mädchen aufzupassen.
Jedenfalls war diese Aufgabe sehr viel schwieriger als zunächst angenommen. Mit einem derart ärgerlichen Zwischenfall wie dem am gestrigen Abend hatte sie nicht gerechnet. Es klopfte, und auf ihr Geheiß betrat Miss Lyall den Raum. „Sie haben Besuch, Madam“, verkündete die Zofe. Caroline war nicht in der Stimmung, Gäste zu empfangen, machte sich jedoch klar, sie müsse sich an die Konventionen halten, wenn sie in Wycombes guter Gesellschaft verkehren wollte. „Wer ist es?“ erkundigte sie sich unwirsch. „Der Earl of Lyndon“, antwortete Mary und überreichte ihr seine Visitenkarte. „Derselbe Gentlemen, der Ihnen schon in London die Aufwartung gemacht hat.“ „Mary! “ erwiderte Caroline bestürzt. „Ich hatte Ihnen doch verboten, London im Zusammenhang mit mir zu erwähnen! Hoffentlich hat Seine Lordschaft Sie nicht gehört!“ „Das glaube ich nicht “, meinte die Bedienstete ungerührt. „Er ist im Empfangssalon. “ „Wie gut!“ sagte Caroline und seufzte erleichtert. „Bitten Sie ihn zu mir. Und servieren Sie eine Erfrischung. “ „Sehr wohl, Madam. “ Mary knickste und verließ den Raum. Einige Augenblicke später führte sie den Earl herein und zog sich zurück. „Guten Tag, Mylord“, begrüßte Caroline ihn, erhob sich und sah erstaunt, dass er sehr blass war und abgespannt wirkte, als habe er nicht viel geschlafen. „Bitte, nehmen sie Platz.“ „Guten Tag, Madam“, erwiderte er und ließ sich in einem Fauteuil nieder. „Ich möchte mich für das Benehmen meines Bruders entschuldigen“, fuhr er ernst fort. „Das ist nett von lhnen, aber nicht notwendig“, äußerte sie freundlich. „Schließlich ist es nicht Ihnen anzulasten, dass er eineDummheit begangen hat.“ „Ich teile Ihren Standpunkt nicht “, widersprach Justin. „Harolds Unbesonnenheit hätte sehr viel schlimmere Folgen haben können. Ich mache mir Vorwürfe, weil ich nicht besser auf meinen Bruder Acht gegeben habe. Schließlich gab er mir in der letzten Zeit wiederholt Anlass zur Sorge. Und gestern hat er Ihnen und Ihrer Schwester den Abend ruiniert.“ „Ach, das ist übertrieben“, entgegnete Caroline lächelnd. „Bis auf den unangenehmen Zwischenfall ist er doch sehr harmonisch verlaufen. Im Übrigen müsste auch ich mit mir hadern, weil ich nicht besser auf meine Schwester aufgepasst habe. Aber wir sind nicht die Hüter unserer Geschwister, nicht wahr?“ „Nein“, räumte Justin ein. „Dennoch tut es mir Leid, dass es zu diesem höchst unerfreulichen Intermezzo gekommen ist. Ich sichere Ihnen zu, dass dergleichen nicht wieder vorkommen wird. Jedenfalls hat mein Bruder mir das vorhin versprochen, nachdem ich ihm gehörig meine Meinung gesagt habe. Ich hoffe, er hat sich meine Ermahnungen ein für alle Mal hinter die Ohren geschrieben. “ „Gut, ich nehme Ihre Entschuldigung an, wenn Sie das beruhigt“, erwiderte Caroline höflich. „Natürlich habe auch ich meiner Schwester vorgehalten, wie gedankenlos ihr Verhalten war. Welch ein Glück, dass die Konsequenzen sich im Rahmen des Erträglichen gehalten haben. Ich wage nicht daran zu denken, was hätte geschehen können, wenn die drei Abenteurer tatsächlich von Schmugglern überrascht worden wären! “ „In dieser Hinsicht sind Ihre Befürchtungen unbegründet“, äußerte Justin schmunzelnd. „Die Schmuggler sind eine Erfindung meines Bruders, wie er mir etwas betreten gestanden hat. Er wollte Eindruck auf Miss Phoebe und Miss Sarah machen. “ „Nun, Einfallsreichtum kann man ihm zumindest nicht absprechen“, meinte Caroline erheitert. „Wie gut, dass Phoebe das noch nicht weiß. Ich bin sicher, sie würde sehr böse auf ihn sein, weil sie sich seinetwegen zu Tode geängstigt hat.“ „Er war nie in Lebensgefahr, auch wenn er Zeter und Mordio schrie“, erwiderte Justin grinsend, um nach einer kleinen Pause hinzuzufügen: „Aber mich hat noch ein anderes, sehr viel erfreulicheres Anliegen zu Ihnen geführt. Meine Mutter hat für morgen einen Ausflug zu
den römischen Ruinen vorgeschlagen und möchte Sie und Ihre Schwester gern dazu einladen. Selbstverständlich schließe ich mich ihrer Bitte an. Lady Bellweather und ihre Töchter werden mit von der Partie sein.“ Caroline war überrascht, dass Ihre Ladyschaft sie so schnell ein weiteres Mal einlud, und fragte sich, was dieses Entgegenkommen bedeuten mochte. Vielleicht wollte die Dowager Countess of Lyndon den Töchtern ihrer Freundin gegenüber nur Wohlwollen bekunden. Oder der Vorschlag für die Exkursion war nicht von ihr gekommen, sondern von ihrem älteren Sohn. Prüfend schaute Caroline Lord Lyndon an und überlegte, ob er ein Faible für sie haben mochte, stellte jedoch fest, dass er sie höflich interessiert, aber keinesfalls bewundernd ansah. „Wie man mir erzählte, sollen diese Überreste aus römischer Zeit recht sehenswert sein“, erwiderte sie ruhig. „Angeblich handelte es sich um eine Villa größeren Ausmaßes mit Innenhof, Therme und Versorgungsbauten. Von allem sind natürlich nur die Grundmauern erhalten. “ „Ich nehme an, dass auch Ihr Bruder mitkommen wird, nicht wahr?“ „Ja“, bestätigte Justin nickend. „Sie müssen jedoch nicht befürchten, dass er es wagt, ein zweites Mal mit Ihrer Schwester zu verschwinden. Eher binde ich ihn an einem Baum fest!“ „Der Ärmste!“ erwiderte Caroline amüsiert. „So weit muss es nicht kommen. Außerdem würden Sie ihn dann daran hindern, von den alten Römern vergrabene Tontöpfe mit Münzen und goldenem Zierrat aufzuspüren. “ „Sein Forscherdrang in dieser Richtung hält sich in Grenzen“, sagte Justin belustigt. „Zum Archäologen eignet er sich wirklich nicht. Er wird es Miss Sarah und ihrer Entdeckerlust überlassen müssen, Artefakte vergangener Jahrhunderte ans Tageslicht zu befördern. Also, nehmen Sie die Einladung für sich und Ihre Schwester an? “ „Ja, gern“, antwortete Caroline erfreut. „Gut, dann werden wir Sie beide morgen gegen zehn Uhr abholen kommen, falls Ihnen das recht ist.“ „Das ist es“, bestätigte Caroline. „Ich freue mich schon jetzt auf den Ausflug“, setzte sie ehrlich hinzu.
6. KAPITEL
Mrs. Aldritch hatte es sich auf einem großen, flachen Stein, der etwas erhöht über den römischen Ruinen lag, bequem gemacht und beobachtete ihre Schwester und Miss Sarah, die das freigelegte Fußbodenmosaik studierten. Im hellen Licht der Sonne sitzend, ihren Parasol drehend, mit dem in der leichten Brise flatternden hellblonden Haar, sah sie ganz bezaubernd aus. Wie eine schöne Fee, die wohlwollend dem Treiben der Menschen zuschaute. Als Justin auffiel, wie absonderlich der Vergleich war, musste er sich ein Lächeln verkneifen. Er hatte nie etwas für schwärmerische Männer übrig gehabt. Amüsiert gestand er sich jedoch ein, dass Mrs. Aldritch, wenn er sich je dazu durchringen sollte, Verse zu schmieden, seine Muse sein würde. Nun furchte sie die Stirn und sah reglosen Gesichts auf die beiden jungen Damen. Ihr Blick hatte etwas Verlorenes, ganz so, als nähme sie ihre Schwester und Miss Sarah nicht wahr, weil etwas sie beunruhigte. Sie machte meistens eine ernste Miene, und Justin vermutete, dass sie seit dem Tod ihres Gatten nicht viel zu lachen gehabt hatte. Er überlegte, ob er zu ihr gehen, ihre Hände ergreifen und sie bitten solle, ihm anzuvertrauen, was sie belaste. Er hatte es sehr viel erfreulicher gefunden, sie wieder lächeln zu sehen, so wie in dem Moment, als er ihr von den erfundenen Schmugglern und der Drohung erzählt hatte, er werde Harold an einem Baum festbinden, falls der Bruder sich Miss Phoebe gegenüber noch einmal unmanierlich verhielt. Und ihr kehlig klingendes Lachen fand er besonders erregend. Er widerstand jedoch dem Drang, auf sie einzuwirken, auch wenn es ihm schwer fiel. Sie wandte ihm das Gesicht zu und merkte, dass er sie beobachtete. „Welch herrlicher Tag, nicht wahr, Mylord?“ rief sie ihm lächelnd zu. „Ja“, bestätigte er, ging nun doch zu ihr und ließ sich auf einem anderen Gesteinsbrocken nieder. Er streckte die Beine aus, stützte sich auf die Hände und genoss den Sonnenschein. „Ich bin Ihnen und Ihrer Mutter sehr dankbar, dass Sie uns heute eingeladen haben“, fuhr Caroline freundlich fort. „Besonders für meine Schwester ist das nach den Schrecken des gestrigen Tages eine gute Ablenkung. Dadurch hat sie sich wieder gefangen. “ Justin blickte zu seinem Bruder, der mit der Mutter, Lady Bellweather und deren beiden jüngeren Töchtern plaudernd zusammensaß. Offenbar erzählte er den Mädchen Schauergeschichten, denn sie kicherten und quietschten vergnügt. „Ich hätte nicht gedacht, dass Harold je die Rolle des Kindermädchens spielen würde“, äußerte er grinsend. „Ich finde es höchst bemerkenswert, wie sehr er Miss Beatrice und Miss Gladys zu fesseln versteht. Mir scheint, er hat sich meine Ermahnungen zu Herzen genommen und bemüht sich, einen guten Eindruck zu machen. “ „Nun, auf diese Weise kann er wenigstens kein Unheil anstellen“, warf Caroline amüsiert ein. „Ihr Wort in Harolds Ohr“, gab Justin trocken zurück. „Nicht nur in seins“, erwiderte sie. „Auch meine Schwester ist sehr unbesonnen. Es widerstrebt mir, ihr Temperament zu zügeln, doch das wird sich nicht vermeiden lassen, damit sie sich nicht wieder in Schwierigkeiten bringt.“ Justin sah den schmachtenden Blick seines Bruders auf Miss Phoebe verweilen und war sicher, dass er sich bis über die Ohren in das Mädchen verliebt wähnte. Vielleicht war es an der Zeit, dass sein Bruder heiratete, eine Frau, die ihn zur Raison brachte, damit er endlich den Ernst des Lebens begriff. Miss Lane war, wie Justin fand, nicht die richtige Gattin für Harry, da sie ebenso unberechenbar, ungestüm und gedankenlos sein konnte wie dieser.
Seufzend dachte Justin daran, dass er die Verantwortung für den Bruder am liebsten in andere Hände gelegt hätte. „Wie anstrengend, junge Leute auf dem rechten Weg halten zu müssen! “ äußerte er resignierend. „Ich kann Ihnen nur zustimmen, Sir “, sagte Caroline. „Als ich jünger war, hätte ich nie erwartet, dass ich je in die Lage geraten könnte, in der ich jetzt bin“, gestand Justin. „Früher haben mein Vater und mein älterer Bruder Edward sich um alles gekümmert. Beide waren sich vom Wesen her sehr ähnlich, und man konnte sich auf sie verlassen. Sowohl mein Vater als auch Edward haben mir stets aus Schwierigkeiten geholfen, in die ich mich mit meinem jugendlichen Leichtsinn gebracht hatte. Ich vermisse sie sehr und bin keinesfalls glücklich darüber, dass nun ich die Verantwortung für meine Angehörigen trage. Meine Mutter überlässt alle wichtigen und weniger bedeutsamen Entscheidungen mir, weil sie meint, das Oberhaupt der Familie sei jetzt ich. Es fä llt mir jedoch ziemlich schwer, mich in dieser Rolle zu sehen, da ich mich in den vier Jahren meines Aufenthalts in Mangalur nur um mich kümmern musste.“ Mit einem Mal wurde Justin sich gewahr, dass er Mrs. Aldritch, die letztlich eine Fremde für ihn war, sein Herz ausschüttete. Sicher war sie nun befremdet. Zu seiner Erleichterung wirkte sie jedoch nicht irritiert. Im Gegenteil, ihr Blick drückte Verständnis und Mitgefühl aus. Das nahm ihn noch mehr für sie ein und verstärkte das Gefühl, ihr alle seine Sorgen mitteilen zu können. Manchmal kam es ihm so vor, als würde er sie schon lange kennen. „Meine Schwester und ich waren Jahre voneinander getrennt “, sagte sie. „Nach dem Tod unserer Eltern besuchte sie ein Alumnat. Ich war verheiratet und habe später, nach dem Ableben meines Mannes, bei Verwandten gelebt. In der Zeit, in der ich nicht mit Phoebe zusammen war, habe ich mir ein Bild von ihr gemacht, das nicht der Realität entspricht. Ich dachte, sie sei gehorsam, willfährig und gesittet. Ich musste mich eines anderen belehren lassen“, fügte sie seufzend hinzu. „Phoebe hat sehr eigene Vorstellungen von ihrem Leben. “ „Dieser Satz trifft auch auf meinen Bruder zu“, meinte Justin und sah Harold zu Miss Lane und Miss Sarah gehen, gefolgt von deren beiden Schwestern. Er gesellte sich zu den Damen und äußerte etwas, woraufhin Miss Phoebe lachend den Kopf schüttelte. „Es ist nicht zu übersehen, dass mein Bruder Ihre Schwester verehrt“, fuhr Justin belustigt fort. „Nein“, stimmte Caroline zu. „Sie ist indes noch viel zu jung zum Heiraten. “ „Auch er sollte nach meiner Ansicht noch keine Ehe eingehen“, erwiderte Justin. „Gelegentlich überlege ich, ob ich ihn nicht nach Indien schicken soll. Ein Aufenthalt dort würde ihm nicht schaden. Mich hat die in Mangalur verbrachte Zeit jedenfalls zur Besinnung gebracht.“ „Nach Indien? “ Verblüfft blickte Caroline zwischen dem Earl of Lyndon und Phoebe hin und her. „Äußern Sie das bitte nie in Gegenwart meiner Schwester“, fuhr sie erheitert fort. „Sie würde sofort an prächtige Paläste denken, ungeheuer wertvolle Geschmeide und zahllose Dienstboten, und Ihren Bruder sofort zu bewegen versuchen, sie zu heiraten, nur um ihn begleiten zu können. “ „Hm!* äußerte Justin und furchte leicht die Stirn. „Das wäre ein etwas abwegiger Grund, um mit jemandem vor den Traualtar zu treten, nicht wahr? Gleichviel, einen Vorteil hätte es, wenn beide gemeinsam nach Indien reisten. Wir müssten uns nicht mehr mit ihnen befassen. Wie sagt man doch so schön? Aus den Augen, aus dem Sinn!“ Caroline lachte auf und sah Phoebe zu ihr herüberschauen. Das Mädchen winkte ihr zu und rief: „Du solltest dir das Mosaik ansehen, Caroline. Es ist zwar nicht im besten Zustand, aber man kann die Seeungeheuer und Götter noch recht gut erkennen. “
Caroline lächelte Seine Lordschaft an und fragte: „Sollen wir uns zu den jungen Leuten gesellen, Sir?“ „Ja, gern“, antwortete Justin, stand auf und half ihr, sich zu erheben. „Vielleicht können wir eines der Seeungeheuer dazu überreden, unsere unbotmäßigen Geschwister zu verschlingen! “ Caroline hakte sich bei Lord Lyndon ein und schlenderte mit ihm zu den Ausgrabungen. Das Fußbodenmosaik war in der Tat stark von der Witterung angegriffen, aber die Darstellungen der Fische, Polypen und Seeschlangen sowie des Dreizack schwingenden Neptun vermochten noch immer zu faszinieren. Nachdem Caroline und der Earl die naturgetreuen Darstellungen bewundert hatten, spazierte man durch die freigelegten Mauerreste der Villa und gelangte in den von Gestrüpp umwucherten ehemaligen Patio. Hie und da ragten Säulenstümpfe auf, die ein weiteres Mosaik umgaben. Caroline kam sich vor, als beträte sie eine andere Welt, und unwillkürlich versuchte sie sich auszumalen, wie das Leben der Menschen gewesen sein mochte, die vor vielen Jahrhunderten dieses Haus bewohnt hatten. „Letztlich ist es gut, dass wir nicht wissen, welche Schicksale sich damals hier abgespielt haben“, sagte Justin bedächtig. „Vielleicht gab es Mord und Totschlag. Oder in diesem Anwesen hat ein Paar gelebt, das sich in großer Liebe zugetan war.“ Nachdenklich nickte Caroline. Sie hatte das Gefühl, Lord Lyndon heute nahe gekommen zu sein. Sie glaubte, dass auch er jetzt eine andere innere Beziehung zu ihr hatte, und war überzeugt, das gegenseitige Verständnis werde sich noch vertiefen. Doch das war eine Haltung, die gefährlich für sie sein konnte, da sie nicht zulassen durfte, dass irgendjemand die Wahrheit über sie und die letzten vier Jahre ihres Lebens erfuhr. Es bedeutete, dass sie niemanden hatte, mit dem sie sich austauschen konnte, aber da sie so lange auf sich allein angewiesen gewesen war, änderte sich für sie nichts. „Die Darstellungen des Mosaiks sind wirklich sehr lebensnah wiedergegeben“, äußerte Justin schmunzelnd. ,Ja“, stimmte Caroline zu. „Schauen Sie sich nur diese Früchte an! Die Künstler dieser Zeit hatten eine bemerkenswert gute Beobachtungsgabe.“ Im gleichen Moment wurde sie sich bewusst, dass der dicht bei ihr stehende Earl sie eigenartig anschaute. „Sie kommen mir wie ein Wesen aus einer anderen Sphäre vor“, murmelte er. Sogleich war Caroline auf der Hut und fragte sich betroffen, was er mit dieser Äußerung meinte. Vielleicht hatte er schließlich doch eine Verbindung zwischen ihr und Mrs. Archer hergestellt und mit dieser Bemerkung darauf angespielt, dass sie jahrelang in einer anderen Welt gelebt hatte. Unwillkürlich rückte sie einen Schritt von ihm ab und erwiderte misstrauisch: „Wie soll ich das verstehen, Sir?“ „Gewiss wundern Sie sich jetzt über mich“, antwortete er. „Ich wollte damit zum Ausdruck bringen, dass ich vorhin, als wir zu sammensaßen, plötzlich den Gedanken hatte, Sie seien wie eine schöne Fee, die wohlwollend dem Treiben der Menschen zuschaut. Lachen Sie bitte nicht! Normalerweise neige ich nicht zu schwülstigen Vergleichen, aber wenn ich Sie ansehe, fühle ich mich an eines dieser ätherischen Wesen aus den fantastischen Geschichten erinnert, die meine Mutter mir als Kind erzählt hat.“ Caroline entspannte sich, Ihre Befürchtung war grundlos gewesen. Lord Lyndon hatte in ihr nicht die Besitzerin der ‚Goldenen Feder’ erkannt. „Warum sollte ich mich über Sie lustig machen? “ fragte sie lächelnd. „Vermutlich haben mein sehr blondes Haar und meine dunklen Augen Sie auf diese für mich sehr schmeichelhafte Gedankenverbindung gebracht. Es ist mir entschieden lieber, man vergleicht mich mit einer Fee, statt mich für eine verwelkende Witwe zu halten. “
„Das käme mir nie in den Sinn, denn nichts wäre weiter von der Wahrheit entfernt!“ erwiderte Justin galant. „Danke“, äußerte Caroline schmunzelnd und sah, dass der Viscount mit den beiden jungen Damen zu seiner Mutter und Lady Bellweather zurückgegangen war. „Ich glaube, wir sollten umkehren“, schlug sie vor. „Es ist unhöflich, wenn wir uns so lange absentieren. “ „Wie Sie wünschen, Madam“, sagte Justin, reichte ihr den Arm und schlenderte an ihrer Seite durch die Ausgrabungsstätte zu seiner Mutter, die sich angeregt mit der Baronin unterhielt. Miss Beatrice und Miss Gladys bestanden darauf, dass ihre ältere Schwester Fangen mit ihnen spielte, und quengelten so lange, bis auch Phoebe und Lord Keir sich an dem Spiel beteiligten. Die Baronin entschuldigte sich bei ihrer Freundin, stand auf und gesellte sich zu ihren Kindern. Justin half Mrs. Aldritch, sich zu setzen, und ließ sich dann neben ihr auf der Decke nieder. Caroline sah ihn sie anlächeln und fand, er wirke sehr gelöst und jungenhaft. „Würde es Sie stören, Madam“, wandte Amelia sich an sie, „mir mehr über Ihre Mutter zu erzählen? Nach ihrer Hochzeit ist unsere Korrespondenz leider eingeschlafen. Ich erinnere mich, dass sie mir Ihre Geburt mitgeteilt hat, und ich habe ihr noch geschrieben, nachdem meine Söhne zur Welt gekommen waren, danach jedoch den Kontakt zu ihr verloren. “ „Es lag ihr nicht, Briefe zu schreiben“, erklärte Caroline. „Sie meinte, dass keine ihrer Freundinnen sich für unser beschauliches Leben auf dem Land interessieren würde.“ „Welch irrige Annahme“, widersprach Amelia und schüttelte den Kopf. „Ganz abgesehen davon war Ihre Mutter so temperamentvoll, dass sie bestimmt kein langweiliges Dasein geführt hat. Ihre Schwester erinnert mich sehr an sie.“ Caroline war gänzlich anderer Ansicht. Ihre Mutter war stets sehr zurückhaltend und gesittet gewesen, keinesfalls derart quirlig und ungestüm wie Phoebe. „Meine Schwester ist ihr äußerlich sehr ähnlich“. erwiderte sie höflich. „Auch Sie haben viel von Ihrer Mutter“, meinte Amelia. „Ich gestehe, dass ich vor Jahren oft daran gedacht habe, Ihre Mutter würde Sie, wenn Sie im heiratsfähigen Alter sind, zu mir nach London schicken. Ich hätte mich sehr darüber gefreut, weil ich keine Tochter habe. Und ich gebe auch gern zu, dass ich mit dem Gedanken geliebäugelt habe, Sie und Edward ...“ Verlegen hielt sie inne. „Bitte, entschuldigen Sie. Gleichviel, ich bin froh, dass wir uns doch noch kennen gelernt haben. “ „Danke, Mylady“, erwiderte Caroline gerührt. “Dasselbe kann ich von mir behaupten. “ „Fein!“ sagte Amelia strahlend. „Wäre es Ihnen recht, am Samstag mit uns ins Konzert zu gehen? Es werden beliebte Arien und Lieder vorgetragen. Natürlich ist das nicht jedermanns Geschmack.“ „Ich höre gern Gesang“, sagte Caroline ehrlich. „Ja, ich werde mitkommen. “ „Du hast ebenfalls ein Faible für Lieder, nicht wahr, Justin?“ wandte Amelia sich lächelnd an ihren Sohn. „Und in der nächsten Woche “, fuhr sie wieder an Caroline gewandt fort, ehe er antworten konnte, „findet in den Assembly Rooms eine Veranstaltung statt, zu der Sie uns auch begleiten müssen. Ich möchte Ihre Gesellschaft so lange wie möglich genießen. “ Caroline wagte nicht, den Earl of Lyndon anzusehen. Ihre Gefühle waren sehr widersprüchlicher Natur. Einerseits musste sie ständig befürchten, von ihm auf den Spielclub angesprochen zu werden, andererseits sah sie den weiteren Begegnungen mit ihm voller Erwartung entgegen. Er lächelte sie an, und sie wagte zu hoffen, dass sie ihm nicht gleichgütig war.
Zwei Tage später waren Mrs. Aldritch und Miss Lane von Lord Lyndon zu einer Segelpartie eingeladen worden und hatten sich rechtzeitig zum verabredeten Zeitpunkt an der Anlegestelle eingefunden. Staunend betrachtete Caroline die beeindruckende Yacht und ängstigte sich etwas bei dem Gedanken, dass sie an Bord dieses Schiffes gehen sollte. Beklommen fragte sie sich, warum sie die Einladung angenommen hatte, denn aller Wahrscheinlichkeit nach wurde der Ausflug alles anderes als vergnüglich. Natürlich war sie einverstanden gewesen, weil die Dowager Countess so nachdrücklich darauf beharrt hatte, sie mitzunehmen. Und außerdem hatte die Vorstellung sie verlockt, wieder mit Lord Lyndon zusammen sein zu können. Es ließ sich nicht leugnen, dass er ihr von Mal zu Mal sympathischer wurde. Ebenso wenig konnte sie abstreiten, dass sie sich danach sehnte, ihn wiederzusehen und erneut so angeregt mit ihm plaudern zu können wie bei der Landpartie zu den römischen Ruinen. Es war ein wunderbarer Nachmittag gewesen, den sie vor allem deshalb so genossen hatte, weil ein so gutes Einverständnis zwischen Seiner Lordschaft und ihr bestanden hatte. Seither hatte sie oft an ihn gedacht, sich die Gespräche mit ihm ins Gedächtnis zurückgerufen und Gewissensbisse gehabt, weil sie ihm nicht die Wahrheit über sich sagte. Sie blickte zu ihrer Schwester, die mit dem Eigner des Schiffes redete und sich von ihm erklären ließ, wie es vertäut war. Langsam ging sie zu beiden und hörte einen Moment zu. „Ich bin so aufgeregt“, sagte Phoebe zu ihr. „Captain Jones hat mir soeben versprochen, ich dürfte, wenn wir auf dem Wasser sind, einmal die Ruderpinne halten! “ „Das ist sehr freundlich von Ihnen, Sir “, wandte Caroline sich an den Mann. „Hoffentlich passt du dann gut auf, Phoebe, und vermeidest eine Havarie.“ „Selbstverständlich werde ich die Yacht so steuern, dass uns kein Missgeschick widerfährt!“ entgegnete das Mädchen pikiert. „Captain Jones meint, ich hätte das Zeug zum Seemann! “ setzte sie stolz hinzu. „So habe ich das nicht formuliert, Miss Lane “, widersprach der Captain gutmütig. „Ich sagte, Sie hätten das Zeug, jedem Seemann den Kopf zu verdrehen. “ Im Stillen gab Caroline dem Schiffsbesitzer Recht und hoffte inständig, Phoebe möge sich nicht einfallen lassen, mit irgendeinem schmucken Matrosen durchzubrennen. Schmunzelnd drehte sie sich um und sah Lord Lyndon, die Dowager Countess und Viscount Keir, der zwei zugedeckte Weidenkörbe trug, sowie Miss Sarah auf sie zukommen. Man tauschte Begrüßungen aus, und Justin schenkte Caroline ein herzliches Lächeln. Sie erwiderte es und fühlte das Herz schneller pochen. „Ich glaube, der Ausflug wird sehr gemütlich vonstatten gehen“, meinte Seine Lordschaft mit einem Blick auf die verhältnismäßig ruhige Wasseroberfläche. Skeptisch schaute Caroline auf die Wellen und äußerte bang: „Ich bin mir dessen nicht so sicher, Sir.“ „Befürchten Sie, seekrank zu werden? “ fragte er ernst. „Das wird sich herausstellen“, antwortete sie lakonisch. “Bisher hatte ich nicht oft Gelegenheit, auf einem Segelschiff mitzufahren. “ „Seien Sie unbesorgt“, versuchte er sie zu beruhigen. „Ich verspreche Ihnen, darauf zu achten, dass Sie nicht über Bord fallen. “ „Um Himmels willen, malen Sie nicht den Teufel an die Wand!“ erwiderte Caroline bestürzt und überlegte, ob der Earl mit ihr flirtete. Die Umstehenden lachten, und dann begab man sich an Bord. Justin reichte Caroline den Arm und geleitete sie über den Ausleger auf die Yacht. Wie ein Wirbelwind fand Phoebe sich auf dem Schiff ein, gefolgt von Lady Lyndon und Miss Sarah, die sehr viel gemesseneren Schrittes hinter ihr hergingen. Sie lief sofort zum Bug, legte den Kopf in den Nacken und besah sich die Takelage. Rasch brachte Harold die Picknickkörbe unter Deck und schlenderte dann zu Phoebe.
Er betrachtete sie voller Bewunderung. „Ich komme mir furchtbar alt vor, wenn ich sehe, wie schwungvoll Ihre Schwester ist, Mrs. Aldritch“, bemerkte Amelia seufzend. „Ich kann mich nicht erinnern, dass ich je so voller Ungestüm war.“ Im Stillen stimmte Caroline ihr zu. Früher war auch sie neugierig auf die Welt gewesen wie ihre Schwester jetzt, doch bittere Erfahrungen hatten ihr einen Teil der Lebensfreude genommen, so dass sie sich manchmal ausgelaugt fühlte und sich wie eine alte Frau vorkam. „Kommen Sie, setzen wir uns unter Deck“, schlug Amelia vor. „Dort haben wir es bequemer und sind auch nicht so dem Fahrtwind ausgeliefert.“ Justin reichte Caroline den Arm. Im Kajüthaus half er ihr beim Platz nehmen, stieß dabei versehentlich gegen sie und entschuldigte sich sofort. „Oh, nicht der Rede wert“, sagte sie lächelnd und spürte wohlige Wärme in sich aufsteigen. Einen Moment später legte das Schiff ab und begann merklich zu schaukeln. Caroline konnte nicht verhindern, dass sie gegen Seine Lordschaft sank. Stützend legte er den Arm um sie, und sofort fühlte sie sich wie neu belebt. Sie achtete nicht mehr auf die anderen Anwesenden, schaute nur Lord Lyndon an und wünschte sich inständig, er möge sie küssen. Er bedauerte, nicht mit ihr allein zu sein. Nichts wäre ihm jetzt lieber gewesen. Er war sich ihres weichen Körpers sehr bewusst und ließ sie nur des Anstands wegen los. Sogleich rückte sie der Schicklichkeit halber, ein Stück von ihm ab und hörte Ihrer Ladyschaft zu, die sich mit Miss Sarah unterhielt. Justin musste sich zwingen, Mrs. Aldritch nicht dauernd anzusehen. Als sie auflachte, lächelte auch er unwillkürlich obwohl er keine Ahnung hatte, was sie so amüsierte. „Und dann sah ich ihn splitternackt die Allee herunterrennen, und sein Kindermädchen hatte Mühe, ihn einzuholen“, hörte er in diesem Mome nt seine Mutter sagen und begriff plötzlich, dass sie die Geschichte erzählte, wie er mit drei Jahren im See geplantscht und dann im Adamskostüm im Park herumgetollt war. Unbehaglich schaute er Mrs. Aldritch an und sah, dass sie schmunzelnd die Hand auf die Lippen presste und ihn belustigt betrachtete. „Ich bitte dich, Mutter!“ fiel er Amelia ungehalten ins Wort. „Ich bin sicher, du langweilst deine Zuhörerinnen mit dieser albernen Begebenheit.“ Caroline ließ die Hand sinken und sagte erheitert: „Im Gegenteil, Sir. Ich finde die Anekdote äußerst unterhaltsam. “ „Ich kann verstehen, dass sie dir heute peinlich ist“, meinte die Dowager Countess schmunzelnd. „Aber wenn ich ehrlich bin, ist sie noch die harmloseste, die ich über dich bericht en könnte. Wie wäre es, wenn ich die zum Besten gebe, wie du mit Harry in den Weinkeller eingebrochen bist?“ „Nein, bitte nicht, Mutter!“ antwortete Justin hastig und hoffte, sie möge nicht auf den Einfall kommen, stundenlang von seinen Streichen zu erzählen. Er wollte nicht, dass Mrs. Aldritch erfuhr, was für ein ungebärdiges Kind er gewesen war und wie viel Unheiler angerichtet hatte. Sie sollte ein gutes Bild von ihm bekommen und von ihm beeindruckt sein. Einer Eingebung folgend, wandte er sich an sie und äußerte mit beschwörendem Blick: „Hatten Sie nicht vorhin gesagt, dass Sie gern sehen würden, wie das Schiff gesteuert wird?“ Caroline wusste, dass er seiner Mutter entgehen wollte. Verständnisvoll lächelnd antwortete sie: „Ja, ich entsinne mich. Würden Sie mich an Deck begleiten, Sir?“ „Mit dem größten Vergnügen, Madam“, erwiderte er, entschuldigte sich bei den anderen Damen und verließ dann mit Caroline das Ruderhaus. Er führte sie an seinem Bruder und Miss Phoebe vorbei, die interessiert einem Schiffsknoten machenden Matrosen zuschauten, und hielt am Steven an. Caroline stützte die Hände auf das Schanzkleid, beobachtete die vorbeirauschenden Wellen und sagte trocken: „Mich haben Sie nicht getäuscht, Sir.“
Justin lehnte sich neben ihr an die Reling und fragte: „Was meinen Sie damit?“ „Ich habe nie davon geredet, zusehen zu wollen, wie dieses Schiff gesteuert wird“, erklärte Caroline belustigt. „Sie wollten lediglich vermeiden, dass mir noch weitere Ihrer Schandtaten zu Ohren kommen. “ „Ganz recht“, bestätigte er. „Außer meiner Mutter dürfte niemand diese Geschichten amüsant finden. “ „Sie irren sich“, widersprach Caroline. „Mich haben sie sehr erheitert.“ „Dann haben Sie mir etwas voraus“, beschwerte sich Justin. „Mir erzählt niemand komische Begebenheiten aus Ihrer Kindheit.“ „Wer außer mir sollte das tun? “ fragte Caroline schmunzelnd. „Zum Glück ist meine Schwester noch zu jung, um sich an meine Torheiten erinnern zu können. Im Übrigen war meine Kindheit auf dem Land ziemlich ereignislos.“ „Mich interessiert alles an lhnen“, erwiderte Justin ehrlich. „Sie würden sich langweilen, Sir, würde ich Ihnen aus meinem faden Leben berichten“, sagte Caroline und bemühte sich, eine reglose Miene Eu wahren. Nach einem Moment wandte sie sich ab, blickte über das Deck und beobachtete Phoebe, die sich mit Lord Keir unterhielt. Justin merkte bedauernd, dass sie sich ihm verschlossen hatte. „Von meiner Mutter hörte ich, dass Sie uns am Samstag in die Assembly Rooms begleiten werden“, äußerte er, damit das Gespräch nicht zu Ende war. „Ja“, bestätigte Caroline. „Meine Schwester und ich freuen uns bereits sehr darauf, ins Konzert gehen zu können. Sie hat sich schon zum vierten Mal für eine andere Abendrobe entschieden. “ Hastig griff sie nach ihrem Strohhut, den eine plötzliche Brise ihr vom Kopf zu wehen drohte, und hielt ihn fest. Besorgt blickte Justin zum Himmel und stellte überrascht fest, dass Wolken aufgezogen waren. „Es sieht nach Regen aus “, meinte er und sah Captain Jones auf sich zukommen. „Ich befürchte, Sir, das Wetter schlägt um“, sagte der Schiffseigner. „Ich rate Ihnen, unter Deck zu gehen, damit Sie nicht nass werden.“ „Danke, Captain“, erwiderte Justin, reichte Mrs. Aldritch den Arm und begab sich mit ihr zum Kajüthaus. Er hielt ihr die Tür auf, ließ ihr den Vortritt und half ihr, sich zu setzen. Auch sein Bruder und Phoebe gesellten sich hinzu, und man beschloss, das Mittagessen einzunehmen. Im Verlauf des Mahls rollte das Schiff immer heftiger, und bald begann es zu regnen. Caroline bemühte sich, das Gefühl der Übelkeit zu ignorieren und zwang sich, etwas zu sich zu nehmen. Wider besseres Wissen behauptete sie, sich wohl zu fühlen. Nachdem man sich gestärkt hatte, schlug Phoebe vor, Karten zu spielen, um sich die Ze it zu vertreiben. Caroline war nicht erbaut, weil zu viele unliebsame Erinnerungen wach wurden. Sie ermahnte sich indes, sich das Unbehagen nicht anmerken zu lassen. Harold holte eine Lederschatulle aus dem Weidenkorb und entnahm ihr ein Deck Karten. Er mischte routiniert und erkundigte sich: „Was sollen wir spielen? Whist?“ „Nein“, lehnte Phoebe ab. „Das ist viel zu langweilig. Ich bin für Piquet.“ „In Ordnung“, willigte der Viscount ein und teilte aus. Caroline halte das Gefühl, alle Anwesenden würden sie beobachten, hielt sich jedoch sogleich vor, das sei Einbildung. Lord Keir und Phoebe hatten nur Augen füreinander, und der Earl of Lyndon ordnete sein Blatt. Ihre Ladyschaft und Miss Sarah waren in ein lebhaftes Gespräch vertieft. Caroline dachte daran, wie oft sie früher in der ‚Goldenen Feder’ die Karten gegeben hatte, und verlor die Befangenheit. Plötzlich hatte sie Lust zu spielen.
Das Glück war ihr hold. Sie gewann eine Partie nach der anderen und strich die Einsätze ein. Justin staunte, wie aufmerksam und geschickt sie bei der Sache war. Er hatte nicht erwartet, dass sie mit so viel Raffinesse vorgehen würde. „Du hast schon wieder gewonnen, Caroline“, äußerte Phoebe schmollend. „Ich bin sicher, du spielst falsch! “ fügte sie scherzhaft hinzu. „Wie bitte?“ Befremdet schaute Caroline sie an. „Ja, ich glaube, du betrügst!“ erwiderte Phoebe lächelnd. „Anders ist es nicht zu erklären, dass du ständig gewinnst! Das lasse ich mir eine Warnung sein! Ich werde nie wieder mit dir Karten spielen. “ Verblüfft registrierte Justin, dass Mrs. Aldritch die Farbe verlor und seltsam erschüttert wirkte. Phoebe wunderte sich, warum die Schwester derart fahl aussah, und fragte irritiert: „Was hast du? Fühlst du dich nicht wohl?“ „Es ist ziemlich warm im Raum“, warf Amelia ein. „Möchten Sie, dass wir die Tür öffnen, Mrs. Aldritch?“ „Nein, danke, das ist nicht nötig“, antwortete Caroline und erhob sich. „Ich gehe an Deck. Bitte, entschuldigen Sie mich.“ Sogleich stand auch Justin auf, stützte sie und äußerte besorgt: „Ich werde Sie begleiten. “ „Möchtest du, dass ich mitkomme?“ erkundigte sich Phoebe. „Nein, bleib hier“, sagte Caroline matt. Sie lächelte schwach, erlaubte Seiner Lordschaft, sie aus dem Ruderhaus zu bringen, und hielt unter dem Vordach an, da es noch regnete. Es war kühler geworden, und leicht fröstelnd rieb sie sich die Oberarme. „Ihnen ist kalt“, bemerkte Justin, zog den Gehrock aus und legte ihn ihr um die Schultern. Sie schien sich dessen nicht gewahr zu sein, da sie reglos auf der Stelle verharrte und, wie ihm schien, leeren Blicks über das Schiff starrte. Plötzlich zuckte sie zusammen, schaute ihn an und sagte verlegen lächelnd: „Mein Benehmen muss Sie verwundern, Sir.“ „Sie müssen sich nicht entschuldigen, Madam. Die Luft im Kajüthaus war reichlich stickig. Ich kann verstehen, dass Sie sich nicht wohl gefühlt haben. “ „Ich hätte mich zusammennehmen müssen“, entgegnete Caroline schwach. „Ich denke, Sie sind aus der Fassung geraten, weil wir Karten gespielt haben“, vermutete Justin. „Was meinen Sie?“ Bestürzt schaute Caroline ihn an. „Ich habe Ihren Gatten gekannt und weiß, dass er seine Spielsucht nicht bezähmen konnte.“ „Sie haben Recht “, sagte Caroline, schloss für einen Moment die Augen und atmete tief durch. Es erleichterte sie, dass Lord Lyndon den wahren Grund für ihre Betroffenheit nicht ahnte. Einen Moment lang hatte sie befürchtet, er habe nun doch die Verbindung zwischen ihr und Mrs. Archer hergestellt. Sie hätte mehr auf der Hut sein müssen und nicht so routiniert spielen dürfen. Es ärgerte sie, so unaufmerksam gewesen zu sein und nicht mehr daran gedacht zu haben, dass sie inzwischen ein gänzlich anderes Leben führte. „Ich habe es stets missbilligt, dass Lawrence sich nicht beherrschen konnte“, fuhr sie wahrheitsgemäß fort und nahm sich vor, in Zukunft wachsamer zu sein. Justin machte sich Vorwürfe, weil er nicht daran gedacht hatte, das Piquetspiel könne unangenehme Erinnerungen in ihr wecken. Andererseits hatte sie sich auch am Kartenspiel beteiligt als sie bei ihm zum Dinner eingeladen gewesen war. Ein Widerspruch, den er sich nicht erklären konnte ... Prüfend schaute er sie an und bemerkte, dass der unter das Vordach dringende Regen ihr das Gesicht benetzte. Er hätte ihr gern die Wassertropfen von den Wangen gewischt, aber das wäre ein schlimmer Fauxpas gewesen, den er sich nicht erlauben durfte. Sie hatte sein
Verhalten sicherlich skandalös gefunden und ihn für unverfroren gehalten. Es beruhigte ihn, dass sie nicht wusste, welch ausschweifendes Leben er früher geführt hatte.
7. KAPITEL
„Sich zu verzehren nach diesen strahlend dunklen Augen ist ein Vergnügen und ist eine Qual ...“ Justin lauschte der Arie und warf Mrs. Aldritch, die neben ihm saß, einen verstohlenen Blick zu. Die Verse spiegelten seine seelische Verfassung auf das Genaueste wider. Er war fasziniert von Mrs. Aldritch und bedauerte zutiefst. dass er sich ihr fern halten musste. „Du bist mein Stern, so schön, so leuchtend, doch so fern ...“, fuhr der Tenor fort, und auch diese Worte trafen Justins Ansicht nach auf sein Verhältnis zu Mrs. Aldritch zu. Er verehrte sie, doch wie ein Gestirn am Firmament war sie für ihn unerreichbar. Und jedes Mal, wenn er glaubte, ihr näher gekommen zu sein, entzog sie sich ihm wie auf der Yacht. Er bemerkte, dass das Programmheft in ihren Händen bebte. Ihr Blick war auf den Sänger gerichtet, und ihre Lippen formten lautlos Worte, als kenne sie den Text auswendig. Ihre Miene wirkte entrückt. „Dein bin ich ewig, meine Liebste, wenn auch meine Sehnsucht, mein schmachtend Fleh'n auf ewig unerfüllt bleibt“, beendete der Tenor sein Lied. Während er sich verbeugte und der erste Teil des Konzerts unter dem Applaus der Zuhörer zu Ende ging, nahm Mrs. Aldritch ein Taschentuch aus ihrem Retikül und tupfte sich dezent die Augen. „Das war wundervoll, nicht wahr?“ sagte sie bewegt und lächelte Justin an. „Zu Herzen gehend “, stimmte er ehrlich zu. „Der Komponist drückt genau das in Tönen aus, was in den anrührenden Worten an Gefühlen enthalten ist“, meinte Caroline. „Sie kannten die Arie?“ „Oh ja. Meine Mutter pflegte sie oft zu singen. Sie spielte Klavier und hatte eine ausgezeichnete Stimme. Wenn auch nicht ihr Talent, so habe ich doch die Liebe zur Musik von ihr geerbt. Leider kann ich das nicht von meiner Schwester behaupten. Sie interessiert sich mehr für Schauerromane.“ „Oh, all dieser Kitsch voller Racheschwüre, Flüche und sentimentaler Liebesbekenntnisse?“ „Möglichst viel davon“, bestätigte Caroline trocken. „In meine literarische Richtung geht das nicht“, erwiderte Justin schmunzelnd. „Ich ziehe gehaltvollere Werke vor. Meine besondere Vorliebe gilt Gedichten. In Cambridge gab es eine ganze Reihe von Mitstudenten, die wie ich Gefallen an Poesie fanden. In späteren Jahren habe ich diese Leidenschaft jedoch verleugnet, um meinem Ruf als Draufgänger nicht zu schaden“, fügte er augenzwinkernd hinzu. „Viel geholfen hat dir das nicht “, warf Amelia auflachend ein. „Im Herzen fühl ich nicht mehr der Jugend Glanz und Pracht “, zitierte er unbeirrt. „Den Grund für meine Qualen hat Amor mitgebracht. Er...“ „Er zwicket und er necket mich“, fiel Caroline ein. „Er quältet und zerfresset mich. Was ist das, ach? Es ist die Liebe, die mich so verzweifelt macht.“ „Nanu, Sie kennen das Gedicht?“ fragte Justin erstaunt und sah Mrs. Aldritch beeindruckt an. Schweigend erwiderte sie seinen bewundernden Blick und nahm für einen Moment nur noch ihn wahr. Sie fühlte sich wie gebannt und hatte Mühe, in die Realität zurückzufinden. „Mir scheint, Sir, Sie haben verborgene Qualitäten“, bemerkte sie und rang sich ein Lächeln ab. „Dasselbe ließe sich auch von Ihnen behaupten, Madam“, erwiderte er galant. „Sie mögen nicht Unrecht haben“, äußerte sie leichthin, wenngleich ihr bei ihrer beider fast flirtendem Tonfall etwas unbehaglich zu Mute war. Zum Glück erschien in diesem
Moment der Sänger wieder auf der Bühne, so dass Caroline so tun konnte, als würde sie sich auf die nächste Darbietung konzentrieren. Ihre Gedanken kreisten jedoch um den Earl of Lyndon und vor allem um seine letzte Bemerkung, die sie als sehr doppeldeutig emp fand. Hoffentlich hatte er damit nicht auf ihre Tätigkeit in der ‚Goldenen Feder’ angespielt! Bei der Vorstellung, er könne ihr auf die Schliche gekommen sein, wurde ihr heiß. Hastig klappte sie ihren Fächer auf, fächelte sich Kühlung zu und hielt sich vor, es sei dumm, sich des Earls wegen ständig Sorgen zu machen. Um sich abzulenken, drehte sie leicht den Kopf zur Seite und schaute die zwei Fauteuils weiter sitzende Schwester an. Das Mädchen tuschelte mit Viscount Keir und Miss Sarah, und keiner der drei schien sich besonders für die Musik zu interessieren. Insbesondere Phoebe erweckte den Eindruck, als sei ihre gesamte Aufmerksamkeit auf Lord Keir gelenkt, sie warf ihm kokette Blicke zu und schenkte ihm ihr betörendes Lächeln. Stirnrunzelnd beobachtete Caroline die beiden und dachte daran, dass Lord Lyndons Bruder keinesfalls die Art Mann war, die sie sich für ihre Schwester zum Gatten wünschte. Der Viscount war ihr zu unbesonnen und leichtfertig. Außerdem konnte er aufbrausend und unbeherrscht sein, wie er in der ‚Goldenen Feder’ bewiesen hatte. Caroline wäre es lieber gewesen, Phoebe hätte Gefallen an einem gesetzteren, vernünftigen Mann gefunden, der ihr in der Ehe Sicherheit bot. Andererseits war die Schwester so lebhaft und ungebärdig, dass sie wahrscheinlich nicht für einen gereiften und umsichtigen Mann infrage kam. „Warum furchen Sie die Stirn, Madam? “ raunte Justin ihr zu. „Gefällt Ihnen die Arie nicht?“ „Doch“, flüsterte sie und sah ihn an. „Ich finde sie wunderbar.“ „Dann sollten Sie sie genießen und nicht Ihre Schwester und meinen Bruder im Auge behalten“, erwiderte Justin gedämpft. „Wundert es Sie, dass ich das tue?“ „Nein“, räumte er ein. „Ich nehme indes nicht an, dass die beiden nach den Moralpredigten, die wir ihnen gehalten haben, noch einmal Dummheiten machen werden. “ „Hoffentlich! “ murmelte Caroline. „Ich finde es nämlich äußerst lästig, dauernd den Aufpasser spielen zu müssen. “ Im Stillen gestand sie sich jedoch ein, dass sie, wäre sie noch so romantisch wie vor der Ehe mit Lawrence, alles darangesetzt hätte, den Earl of Lyndon zu einer Dummheit zu bewegen. Das Schicksal hatte sie indes verändert und verantwortungsvoll werden lassen, und so konnte sie nicht gestatten, dass die Schwester ihre Fehler Wiederholte.
In den folgenden Tagen waren Caroline und Phoebe häufig mit Lord Lyndon und seinen Angehörigen sowie Lady Bellweather und deren Töchtern zusammen. Durch Lady Lyndon lernten sie weitere Mitglieder der guten Gesellschaft kennen, von denen sie eingeladen wurden. Sie nahmen an einem Ball und an einer Soiree musicale teil, wurden zum Tee gebeten, machten eine weitere Segelpartie, badeten im Meer und tätigten Einkäufe. Manchmal hatte Caroline den Eindruck, kaum noch zur Besinnung zu kommen. In ruhigeren Augenblicken kreisten ihre Gedanken immer wieder um Lord Lyndon, der sich als äußerst galanter Gesellschafter erwies, stets über die Maßen aufmerksam war und interessante Dinge zu erzählen wusste. Caroline hätte sich gewünscht, dass er sich vor allem ihr gegenüber so charmant benahm, doch zu ihrem Bedauern verhielt er sich zu allen Damen derart zuvorkommend. Natürlich war es ausgeschlossen, ihm irgendwie zu verstehen zu geben, dass sie in seinem Leben gern eine besondere Rolle gespielt hätte. Dennoch sehnte sie sich danach, von ihm hofiert zu werden, und hoffte inständig, er möge sie bei dem großen Ball, der am kommenden Abend in den Assembly Rooms stattfinden sollte, wenigstens einmal zum Tanz auffordern.
Es war schwüI, und man hatte alle Fenster im Ba llsaal geöffnet, damit wenigstens etwas frische Luft in den Raum drang. Caroline stand an einer der Terrassent üren, fächerte sich Kühlung zu und beobachtete die mit Lord Keir tanzende Schwester, der die Temperaturen nichts auszumachen schienen. Sie erkannte einige Leute, denen sie in der letzten Zeit von Lady Lyndon vorgestellt worden war, und überlegte, ob sie zu ihnen gehen und sie begrüßen solle. Das ungewöhnlich warme Wetter und der Umstand, dass sie eine schlaflose Nacht verbracht hatte, machten sie indes träge und lustlos. Plötzlich erblickte sie den Earl of Lyndon, der sich ihr mit zwei vollen Champagnergläsern näherte. „Ich nehme an, Sie können eine Erfrischung gebrauchen“, sagte er, als er bei ihr war. „Wie umsichtig von Ihnen“, erwiderte sie dankbar, nahm ein Glas entgegen und nippte daran. „Sehr belebend!“ setzte sie lächelnd hinzu. „Ich dachte immer, an der See müsse es kühl sein“, äußerte er und trank einen Schluck. „Aber bei dieser Hitze habe ich den Eindruck, wieder in Mangalur zu sein. “ „Wie gut, dass wir Frauen dank der Mode etwas mehr Luft bekommen als die Herren in ihren Abendfräcken“, bemerkte Caroline lächelnd. „Und dann noch tanzen! Was für eine unnötige Anstrengung! “ „Der Sie sich weise entziehen! “ sagte Justin schmunzelnd. „Das trifft auch auf Sie zu“, stellte Caroline belustigt fest. „Vielleicht haben wir alten Leute nicht mehr so viel Kraft wie unsere jüngeren Geschwister“, scherzte der Earl und sah zu seinem Bruder, der sich soeben nach dem Ende des Menuetts vor Miss Lane verneigte. Ein Gentleman, den Justin nicht kannte, löste Harold ab. Sichtlich widerstrebend zog der Bruder sich zurück und gesellte sich zur Mutter. „Da wir beide jeder Anstrengung abhold zu sein scheinen, wäre es gewiss zwecklos, Sie umstimmen zu wollen“, fuhr Justin fort. „Oder könnte ich Sie doch bewegen, diese Allemande mit mir zu tanzen? “ Caroline fühlte sich versucht, der Aufforderung Folge zu leisten, obwohl sie nur wenige Augenblicke zuvor ihre ablehnende Einstellung bekundet hatte. Es wäre prickelnd gewesen, mit Seiner Lordschaft zu tanzen, aber sie wollte sich nicht selbst widersprechen. „Ich danke für die Ehre“, antwortete sie höflich. „Ich zweifle nicht daran, dass es ein Vergnügen wäre, mit Ihnen über das Parkett zu schweben, doch heute Abend steht mir der Sinn wirklich nicht nach Leibesübungen. “ „Leibesübungen ? „ wiederholte Justin auflachend. “Das ist eine sehr nüchterne Einschätzung von Bewegungen, die von den meisten Leuten als Genuss empfunden werden. Würde ein Spaziergang auf dem Altan ebenfalls unter die Rubrik ,körperliche Ertüchtigung’ fallen ? „ setzte er verschmitzt hinzu. Die Vorstellung, mit ihm im Freien zu promenieren, war zu verlockend, um ihr widerstehen zu können. „Nein“, antwortete Caroline. „So eng stecke ich die Grenzen nicht.“ „Fein!“ äußerte Justin zufrieden. „Gestatten Sie?“ fragte er und griff nach ihrem Glas, um es zusammen mit seinem eigenen auf einem Konsoltisch abzustellen. Caroline hakte sich bei ihm ein. Nach einem Blick auf die tanzende Schwester schlenderte sie mit dem Earl of Lyndon nach draußen, stellte jedoch zu ihrem Bedauern fest, dass auch andere Herrschaften auf denselben Einfall gekommen waren. Mehrere Paare standen plaudernd in der Nähe der Türen, und Justin führte sie zum entfernten Ende der Balustrade, wo sie allein waren. Caroline stützte sich auf die Brüstung und hielt das Gesicht in den schwach vom Meer her wehenden Wind. „Ich werde bald nach Waring Castle fahren“, verkündete Justin.
„Meine Mutter ist nicht sehr begeistert von diesem Vorhaben, doch da ich seit meiner Rückkehr nicht auf unserem Stammsitz war, muss ich mich dort sehen lassen. Ihr wäre es viel lieber, hier zu bleiben. “ „Und wann gedenken Sie zu reisen?“ erkundigte Caroline sich enttäuscht. ,Oh, frühestens in zwei Wochen“, antwortete Justin. „Dann will Lady Bellweather mit ihren Töchtern nach Brighton aufbrechen, und so lange möchte meine Mutter noch in Wycombe ble iben. “ Bei dem Gedanken, dass die schöne Zelt mit Lord Lyndon und seinen Angehö rigen in vierzehn Tagen zu Ende sein würde, empfand Caroline einen Stich im Herzen. Dann würde es keine Landpartien mehr mit ihnen geben, keine Segelausflüge, keine gemeinsamen Konzertbesuche. Der Earl of Lyndon würde zu seinem gewohnten Leben zurückkehren, und sie würde wieder auf sich selbst angewiesen sein. Jäh wurde sie sich bewusst, dass sie ihn nicht verlieren wollte, die Freundschaft seiner Mutter nicht missen, die Gesellschaft seines Bruders nicht entbehren mochte. Im selben Augenblick begriff sie, dass sie sich in Lord Lyndon verliebt hatte. Sie schätzte seine menschliche Wärme, seinen Esprit, seine Ausgeglichenheit und seinen Charme. Die Erkenntnis, wie viel er ihr mittlerweile bedeutete, erschütterte sie, denn schließlich konnte er eines Tages durch irgendeine Kleinigkeit oder Unbedachtsamkeit herausfinden, dass sie die frühere Besitzerin der ‚Goldenen Feder’ war. „Sie und Ihre Angehörigen werden meiner Schwester und mir sehr fehlen“, gestand sie freimütig und hatte plötzlich das Bedürfnis, allein zu sein und den Tränen freien Lauf zu lassen. „Auch Harold hat bereits deutlich gemacht, wie wenig es ihm passt, sich von Miss Phoebe zu trennen. Ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, dass er sich mit dem Gedanken trägt, ihr noch vor unserer Abreise einen Heiratsant rag zu machen. Ich meine indes, dass er etwas älter und erfahrener sein sollte, ehe er sich vermählt. Daher habe ich beschlossen, ihn nach Seward Park zu schicken, einem meiner anderen Landsitze, und ihm die Verantwortung für die Leitung des Guts zu übertragen. “ „Ich habe befürchtet, dass er sich Phoebe erklären will“, murmelte Caroline. „Befürchtet?“ wiederholte Justin erstaunt. „Da Sie ehrlich zu mir waren, möchte auch ich keinen Hehl aus meinem Standpunkt machen“, fuhr sie fort. „Es gab eine Zeit, da ich mir wünschte, dass meine Schwester jemanden aus adliger Familie heiraten möge. Das wäre eine große Ehre für sie gewesen. Inzwischen habe ich jedoch erkannt, dass sie trotz ihres Alters noch sehr unreif ist. Ich täte ihr keinen Gefallen, ließe ich zu, dass sie denselben Fehler macht, den ich begangen habe.“ „Sie meinen, Sie hätten sich zu früh vermählt?“ „Ja, ich war noch sehr jung“, bestätigte Caroline. „Meiner Ans icht nach ist es vernünftig von Ihnen, Ihrem Bruder verantwortungsvolle Aufgaben zu übertragen. Ich werde mit meiner Schwester einige Zeit auf Reisen gehen, vielleicht für ein Jahr, und möglicherweise zur nächsten Saison in London sein. Sollten Ihr Bruder und Phoebe sich dann wieder sehen, mag auf Grund der Entwicklung der Dinge manches anders sein. Vorausgesetzt natürlich, Sie haben nichts dagegen, dass die beiden sich wieder begegnen. “ „Warum sollte ich? “ fragte Justin verdutzt. „Er könnte sich glücklich schätzen, Ihre entzückende Schwester zur Gattin zu bekommen und ich gebe freimütig zu, dass ich mich sehr freuen würde, wenn unsere Wege sich wieder kreuzten. “ Überrascht schaute Caroline ihn an. „Erlauben sie mir, Ihnen zu sagen, dass ich sie sehr charmant finde“, fuhr er fort und sah sie verlangend an. Ihre Verwirrung nahm zu, und sie überlegte, ob er ein Faible für sie haben mochte. Der Gedanke erschien ihr so unsinnig dass sie ihn sogleich fallen ließ. In diesem Augenblick stimmte das Orchester im Ballsaal die ersten Takte eines Walzers an. „Möchten Sie jetzt tanzen? “ fragte Justin ruhig.
Schweigend nickte Caroline. Ihre zuvor geäußerte Ablehnung war nicht mehr von Bedeutung. Jetzt war ihr nur noch wichtig, Lord Lyndon so nah wie möglich zu sein. Mit der Linken raffte sie die Röcke, reichte dem Earl ihre Rechte, und sie begannen zu tanzen, ohne auf die anderen Anwesenden zu achten. Justin fand, die grazile Frau in seinem Arm sei genauso elegant in ihren Bewegungen und so mühelos zu führen, wie er vermutet hatte. Es war wunderbar, sich mit ihr im Rhythmus des Walzers zu wiegen. Er hielt, als der Tanz zu Ende war, wieder auf den menschenleeren Winkel des Altan zu, nicht willens, sie loszulassen. Atemlos schaute sie ihn an, und als sie den Ausdruck in seinen Augen sah, klopfte das Herz ihr zum Zerspringen. „Mrs. Aldritch ... Caroline“, flüsterte Justin bewegt und ergriff ihre beiden Hände. „Ich liebe dich. “ Ihr Herz tat einen Satz, und vor Glück gingen ihr die Augen über. Sie ließ den Tränen freien Lauf, denn sie genoss das Gefühl seiner Berührung zu sehr, um sich losmachen zu wollen. Sie war so lange allein gewesen, dass sie jetzt den Wunsch hatte, Justin zu halten und nicht mehr freizugeben. Hingerissen betrachtete er sie und fand, er habe nie eine schönere Frau gesehen. „Ich liebe dich, Caroline“, wiederholte er leise. „Justin“, erwiderte sie sehnsüchtig. „Ich ... ich glaube, ich muss mich um Phoebe kümmern. “ „Nein, bleib“, erwiderte er eindringlich und vergewisserte sich mit einem Blick, dass sie nun auf dem Altan allein waren. „Meine Mutter hat gewiss ein Auge auf das Mädchen“, fügte er hinzu und schlang den Arm um Caroline. „Habe ich dich mit meiner Liebeserklärung schockiert?“ „Nein“, antwortete Caroline und schmiegte sich an ihn. „So schnell bin ich nicht zu erschüttern. Ich gebe jedoch zu, dass ich überrascht bin, denn schließlich kennen wir uns noch nicht sehr lange.“ „Soll das heißen, dass du meine Gefühle nicht erwiderst?“ fragte er betroffen. „In diesem Fall würde ich dich nicht mehr belästigen. “ „Du belästigst mich nicht “, entgegnete Caroline lächelnd. „Wie dumm, das zu denken. Spürst du nicht, dass auch ich dich liebe?“ Justin ging das Herz auf, und er sah bereits eine wundervolle Zukunft vor seinem inneren Auge, ein glückliches Leben mit Caroline und den Kindern, die er mit ihr haben würde. Überschwänglich zog er sie an sich und gab ihr einen stürmischen Kuss. Sie reckte sich leicht, schlang ihm die Arme um den Nacken und erwiderte voller Hingabe seine Zärtlichkeiten. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er seinem Verlangen nicht mehr würde Einhalt gebieten können, wenn er sich noch weiter gehen ließ. Innerlich seufzend, löste er sich von ihr und atmete mehrmals tief durch. Zitternd lehnte Caroline den Kopf an seine Brust. Er fühlte sie leicht erbeben, schob sie sacht etwas von sich ab und bemerkte, dass sie weinte. „Was hast du, Liebste?“ fragte er bestürzt. Sie schüttelte den Kopf und wischte sich die Tränen von den Wangen. „Ich weine vor Glück“, flüsterte sie. „Nie im Leben war ich so selig. Ich habe solche Angst, dass alles nur ein schöner Traum ist.“ „Nein, das ist es nicht, und nichts kann unser Glück trüben“, widersprach Justin lächelnd, zog sie wieder an sich und schmiegte die Wange in ihr Haar. Plötzlich ergriff sie ihn an den Oberarmen und äußerte inständig: „Bitte, versprich mir, Justin, dass du nie vergessen wirst, wie sehr ich dich liebe, und dich stets an diesen wundervollen Abend erinnerst, ga nz gleich, was geschehen mag. “
„Natürlich werde ich oft an ihn denken, damit ich eines Tages unseren Enkeln erzählen kann, unter welchen Umständen ich dich bewogen habe, mir dein Jawort zu geben. “ „Unseren Enkeln“, wiederholte sie tonlos und ließ ein unfrohes Lachen hören. „Ja“, setzte sie traurig hinzu, und es klang, als verschweige sie ihm etwas.
Nach der Heimkehr vom Ball begab sich Justin, sobald die Mutter und der Bruder sich zurückgezogen hatten, in sein Schlafzimmer. Er schlenderte zum Fenster, sah in die Dunkelheit hinaus und rief sich die mit Caroline getauschten Liebkosungen ins Gedächtnis. Es waren wundervolle, erregende Küsse gewesen, und zum ersten Mal hatten diese Zärtlichkeiten eine tie fe Bedeutung für ihn. Caroline hatte gesagt, sie liebe ihn, und davon war er überzeugt gewesen, bis sie plötzlich auf seine Bemerkung so eigenartig reagiert hatte. Betroffen überlegte er, warum ihre Stimme derart beklommen geklungen hatte und welches Geheimnis sie vor ihm haben mochte. Vor Jahren hätte er nichts unversucht gelassen und sie sogar zu dieser nächtlichen Stunde aufgesucht, um sie zu fragen, ob sie womöglich anderen Sinnes geworden sei und beschlossen habe, doch nicht seine Gattin zu werden. Er sehnte sich danach, gleich mit ihr sprechen zu können, war sich indes bewusst, dass er bis zum nächsten Tag warten musste. Caroline war viel zu aufgeregt, um schlafen zu können, und dachte immer wieder an den Verlauf des Abends. Die Momente der Zärtlichkeit mit Justin waren die wundervollsten in ihrem Leben gewesen, und sie prägte sich jede Einzelheit ein, damit sie sich später genau daran erinnern konnte. Ihr war klar, dass sie nicht die Gattin des Earl of Lyndon werden konnte, auch wenn sie ihn von Herzen liebte. Seine Gefühle für sie konnten sich sehr schnell ändern, wenn er erfuhr, dass sie und Mrs. Archer ein und dieselbe Person waren. Vielleicht hatte er Verständnis für ihre Entscheidung, den Spielclub zu übernehmen, aber aus Rücksicht auf seine Angehörigen und seinen Ruf konnte er eine Frau wie sie nicht heiraten. Niedergeschlagen beschloss Caroline, ihm alsbald die Wahrheit über sich zu gestehen.
8. KAPITEL
„Was unternehmen wir heute, Caroline?“ Phoebe streckte sich auf der Chaiselongue im Boudoir ihrer Schwester aus und blinzelte in das ins Zimmer fallende Sonnenlicht. Caroline hatte sich zu lesen bemüht, sich indes nicht konzentrieren können, da ihre Gedanken mit dem Earl of Lyndon beschäftigt waren. „Was immer du möchtest, meine Liebe“, antwortete sie und schaute von ihrem Buch auf. „Bis heute Abend haben wir keine Verpflichtungen. Hast du Lust, einen Einkaufsbummel zu machen? “ „Dafür ist es zu warm“, meinte Phoebe und runzelte die Stirn. „Gestern im Ballsaal habe ich einige Male befürchtet, ohnmächtig zu werden. “ „Ich hatte den Eindruck, dass du dich bestens amüsierst.“ „Oh ja! Ich habe mich königlich unterhalten“, bestätigte die Schwester lächelnd. „Dennoch ist mir aufgefallen, dass du eine Weile verschwunden warst.“ Caroline senkte die Lider und erwiderte leichthin: „Ich hatte das Bedürfnis nach frischer Luft.“ „Ach, tatsächlich? Dann erging es dir so wie Lord Lyndon“, sagte das Mädchen anzüglich und sah die Schwester prüfend an. „Hast du mir etwas mitzuteilen, Caroline?“ Caroline hatte nicht vor, Phoebe wissen zu lassen, dass sie mit dem Earl of Lyndon auf dem Altan getanzt, ihn geküsst und ihm gestanden hatte, ihn zu lieben. Und erst recht hatte sie vor, ihr zu verschweigen, dass sie ihn nicht heiraten würde. „Was soll ich dir erzählen? “ fragte sie ausweichend. „Du tust gerade so, als sei ich die Heldin aus einem deiner albernen Liebesromane! Ich habe mich lediglich eine Weile mit Seiner Lordschaft auf der Terrasse aufgehalten, und es waren noch etliche andere Leute da.“ „Mehr ist nicht passiert?“ „Nein“, behauptete Caroline. „Wie enttäuschend!“ murmelte Phoebe. „Und ich hatte so gehofft, dass wir hier einen aufregenden Sommer erleben würden. “ „Nun, langweilig ist er wahrlich nicht“, entgegnete Caroline. „Dafür sorgst du zur Genüge. Wie viele Verehrer hast du? Es müssen etliche sein, der Zahl der täglich hier eintreffenden Blumenbouquets nach zu urteilen! “ Phoebe lächelte stolz. „Ach, das meinte ic h nicht“, äußerte sie und zuckte achtlos mit den Schultern. „Ich hatte erwartet, dass wir eine Zeit der großen Gefühle, leidenschaftlicher Liebesschwüre im Mondschein und stürmischer Umarmungen in nächtlichen Gärten erleben würden. “ „Du liest entschieden zu viele schlechte Liebesromane.“ „Habt ihr euch umarmt, Lord Lyndon und du? “ fragte ihre Schwester unbeirrt. „Werde nicht unverschämt, Phoebe!“ „Habt ihr euch umarmt, oder nicht?“ Phoebe blieb beharrlich. „Nein“, log Caroline. „Und was dich und Lord Keir angeht, meine Liebe, so wäre es mir lieber, ihr würdet euch zurückhaltender benehmen! “ „Ich weiß nicht, was wir uns zu Schulden haben kommen lassen“, protestierte Phoebe. „Von schwärmerischer Attitude kann bei ihm wirklich nicht die Rede sein. Neuerdings spricht er nur noch davon, sich beweisen und Verantwortung tragen zu wollen. Ich wüsste gern, was plötzlich in ihn gefahren ist.“ Caroline fiel ein, dass Justin gesagt hatte, er wolle den Viscount nach Seward Park schicken, wo der junge Mann die Leitung des Gutes übernehmen sollte. Sie hätte Lord Keir nicht zugetraut, Gefallen an diesem Gedanken zu finden, und erst recht nicht, von der
Vorstellung begeistert zu sein, selbstständig schalten und walten zu müssen. „Bist du von ihm enttäuscht?“ fragte sie bedächt ig. „Nein“, antwortete Phoebe und schüttelte nachdrücklich den Kopf. „Warum sollte, ich? In meinen Augen ist er ein unreifer Jüngling, der noch viel zu lernen hat. Außerdem kann ich mich auch gut ohne ihn amüsieren. was hältst du übrigens davon, wenn wir baden gehen? “ Caroline klappte das Buch zu. „Das ist ein guter Einfall, Phoebe. Ich befürchte jedoch, dass Mary keinen Badekarren mehr für uns bekommen wird. Es sind unglaublich viele Menschen am Strand heute.“ „Wir brauchen keinen“, meinte Phoebe sorglos. „Sarah hat mir eine hübsche kleine Bucht gezeigt, die kaum jemand kennt. Lass uns dort hinfahren. Wir hätten unsere Ruhe und könnten, wenn wir allein wären, sogar die Strümpfe ausziehen. “ „Das wäre höchst unschicklich! “ widersprach Caroline streng. „Ich bin jedoch mit dem Vorschlag einverstanden“, fügte sie nachgiebiger hinzu. „Wunderbar!“ rief Phoebe entzückt aus. „Entschuldige mich Caroline. Ich werde gleich mein Badekostüm anziehen.“ Die Schwester eilte aus dem Boudoir, und Caroline hörte sie nach Mary rufen. Unvermittelt geriet Caroline in einen Zwiespalt der Gefühle. wenn sie heute mit Phoebe einen Ausflug unternahm, konnte sie nicht mit Justin sprechen. Andererseits konnte sie sich, während sie den Tag am Meer verbrachte, genau zurechtlegen, wie sie Justin ihr Geheimnis mitteilen wollte.
„Ich habe beschlossen, nicht mit euch nach Waring Castle zu reisen“, verkündete Amelia beim Frühstück. „Wie das, Mutter?“ fragte Justin überrascht. „Dorothy bat mich, sie nach Brighton zu begleiten und den Rest des Sommers dort zu verbringen. Die Idee gefällt mir, weil ich auch schon lange nicht mehr in Brighton war. Fahrt allein“, fügte Amelia lächelnd hinzu. „Du warst ewig nicht mehr auf dem Anwesen, Justin, und ich bin sicher, dass der Aufenthalt auf dem Land dir gut tun wird.“ „Wenn Mutter nach Brighton reist, fahre ich auch nicht nach Waring Castle“, warf Harold entschieden ein. „Und was gedenkst du zu tun? “ wandte Justin sich ärgerlich an ihn. „Hast du vor, hier zu bleiben und ständig hinter Miss Lane herzulaufen? „Nein!“ antwortete Harold nachdrücklich. „Aber du erwähnt, dass du mich nach Seward Park schicken willst. Also werde ich … „ „AIs ich dir den Vorschlag machte, warst du alles andere als erbaut“, unterbrach Justin ihn kopfschüttelnd. „Das stimmt“, räumte Harold ein. „Inzwischen habe ich jedoch darüber nachgedacht und finde die Idee sehr gut. Ich bete Miss Lane an, gebe indes zu, dass du Recht hattest, als du sagtest, ich hätte ihr nicht viel zu bieten. Wenn ich aber das Gut zu deiner Zufriedenheit leite, kann ich dir, Mrs. Aldritch und somit auch ihrer Schwester beweisen, dass ich kein Nichtsnutz bin.“ Verblüfft starrte Justin seinen Bruder an. Harold schien es ernst mit seiner Absicht zu sein, sich unter Beweis zu stellen. „Mir fehlen die Worte“, sagte er erstaunt. „Seit meiner Rückkehr aus Indien habe ich noch nichts so Vernünftiges aus deinem Mund gehört, Harold.“ „Das mag sein“, äußerte der Bruder etwas betreten. „Doch auch ich weide älter und ... hm ... weiser“, fügte er schmunzelnd hinzu. „Und da ich Miss Phoebe sehr gern habe, möchte ich mich ihrer würdig erweisen.“ „Das verschlägt mir die Sprache!“ Justin war fassungslos. „Ich hätte nicht gedacht, dass du so schnell zur Besinnung kommst! Fein, dann fahr nach Seward Park. Sollte du es in meinem Sinne verwalten, könnte ich mir vorstellen, es dir zur Hochze it zu schenken. “
Harold glaubte seinen Ohren nicht trauen zu können. „Das ist sehr großzügig von dir“, erwiderte er bewegt. „Danke, Justin!“ Es klopfte, und nachdem Justin „Herein!“ gerufen hatte, betrat Richards das Speisezimmer. „Entschuldigen Sie die Störung“, sagte der Butler, ging zum Hausherrn und hielt ihm mit einer Verbeugung das Silbertablett hin. Justin nahm das darauf liegende Couvert und das Federmesser an sich, schlitzte den Umschlag auf und zog das Billett heraus. „Danke, Richards, sie können gehen“, sagte er höflich und überflog die Zeilen. Der Bedienstete verbeugte sich und verließ den Raum. „Von wem ist es?“ wollte Amelia wissen. „Von Miss Lane.“ „Von Phoebe?“ wunderte sich Harold. „Wieso hat sie an dich geschrieben? “ „Kein Grund zur Aufregung, Harry“, antwortete Justin schmunzelnd. „Sie fragt an, ob wir beide uns ihr, ihrer Schwester und Miss Sarah bei einem Ausflug zu einer etwas außerhalb der Stadt gelegenen kleinen Bucht anschließen wo llen.“ „Ich finde die Idee wunderbar“, meinte Harold. „Also gut, dann werde ich zusagen“, erwiderte Justin, konnte sich indes eines leichten Unbehagens nicht erwehren. Es befremdete ihn, dass nicht Caroline ihm das Billett geschickt hatte, und noch eigenartiger fand er es, zum Baden nicht den öffentlichen Strand aufsuchen zu sollen. Andererseits bot dieser Ausflug eine ideale Gelegenheit, Caroline wiederzusehen. Er sehnte sich nach ihr und hatte dennoch unerklärlicherweise das Gefühl, dass es besser sei, auf diesen Ausflug zu verzichten.
Phoebe hatte die gerüschte Badehaube abgenommen, die Haarnadeln aus der Frisur gezogen und die langen Locken ausgeschüttelt. Fröhlich plantschte sie mit Miss Sarah in den Wellen herum und konnte nicht widerstehen, Caroline, die auf einem Stein saß und die bestrumpften Füße im Wasser baumeln ließ, nass zu spritzen. „Wundervoll!“ rief sie entzückt. „Ich komme mir wie eine Meerjungfrau vor!“ Entrüstet quietschte Caroline auf, wischte sich die Tropfen aus dem Gesicht und sagte tadelnd: „Phoebe! Lass das, und setz deine Haube wieder auf! Sonst wirst du dir noch einen Schnupfen holen! “ „Ach was“, entgegnete Phoebe vergnügt. „Das Wasser ist warm. Komm doch auch herein, Caroline!“ „Vielleicht später“, erwiderte die Schwester. „Im Moment fühle ich mich in der Sonne sehr wohl.“ Sie lehnte sich zurück und stützte sich auf die Hände. Miss Sarah und Phoebe standen bis zur Taille im Wasser. „Geht nicht so weit hinaus!“ rief sie den Mädchen warnend zu. Natürlich wurde ihre Mahnung nicht beachtet. Seufzend schloss Caroline die Augen und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen, obwohl ihr klar war, dass die Haut sich bald röten würde. Sie war jedoch viel zu träge, um aufzustehen und ihren Parasol zu holen, den sie beim Korb mit den Essensvorräten liegen gelassen hatte. Auf einmal hörte sie Männerstimmen und schlug erschrocken die Augen auf. Sie drehte sich in die Richtung, aus der sie kamen, und sah den Earl of Lyndon mit seinem Bruder auf sich zukommen. Hastig richtete sie sich auf und fragte sich, wie es möglich sein konnte, dass die Gentleman ebenfalls von dieser abgelegenen Stelle wussten. Sogleich kam ihr ein Verdacht, und misstrauisch blickte sie zu der in den Wellen herumtollenden Schwester hinüber.
„Da sind Sie ja endlich! “ rief Phoebe in diesem Augenblick und winkte den beiden Neuankömmlingen fröhlich zu. Caroline fand ihre Vermutung bestätigt. Erbost sah sie die Schwester an, die sich jedoch den Anschein der Gelassenheit gab und rasch ein Stück weiter zu der Stelle watete, wo sie ihre Strümpfe und die Badehaube zurückgelassen hatte. Sie stapfte aus dem Wasser, verschwand hinter den Felsbrocken und kam nach einer Weile ordentlich gekleidet zurück. Nachdem Miss Sarah ebenfalls an Land gekommen war, stand Caroline auf und stellte Phoebe zur Rede. „Hast du Lord Lyndon und Viscount Keir wissen lassen, dass wir heute hier sind?“ fragte sie scharf. „Ja“, antwortete das Mädchen ehrlich. „War das nicht richtig? Ich dachte, sie würden Spaß daran haben, uns hier Gesellschaft zu leisten. “ „Du hättest mich informieren müssen! “ sagte Caroline ärgerlich, schaute zu den winkenden Herren hinüber und fand, Justin, der wie sein Bruder leger gekleidet war, sähe in dieser zwanglosen Aufmachung besonders attraktiv aus. Sie wartete, bis er und Lord Keir bei ihr und ihren Begleiterinnen waren, erwiderte dann freundlich die Begrüßung und blickte fragend auf die beiden von den Herren mitgebrachten, mit karierten Tüchern zugedeckten Weidenkörbe. „Da meine Mutter anderweitig beschäftigt ist konnte sie sich uns nicht anschließen“, erklärte Justin und stellte seine Last ab. „Aber sie hat veranlasst dass wir unseren Teil zum Essen beitragen. “ „Wie aufmerksam“, erwiderte Caroline lächelnd. “Vielen Dank! Ich freue mich, dass Sie beide uns hier gefunden haben. “ Nachdem man sich ausgiebig gestärkt hatte, war Justin mit Mrs. Aldritch zu einem Strandspaziergang aufgebrochen. Hin und wieder blieb sie stehen und schaute zu den beiden jungen Damen und Harold zurück, die im Sand nach Muscheln suchten. „Hoffentlich stellen sie keine n Unsinn an!“ murmelte Caroline. „Das würde Harold nicht gut bekommen“, erwiderte Justin ernst. „Irre ich mich, oder trifft es zu, dass du nichts von unserem Erscheinen wusstest? Jedenfalls hatte ich vorhin den Eindruck, dass du überrascht warst, Harry und mich hier zu sehen. Deine Schwester hatte mir geschrieben. War dir das nicht bekannt?“ „Nein“, räumte Caroline widerstrebend ein. „Ich möchte jedoch nicht, dass du denkst, du und dein Bruder wäret mir nicht willkommen. Im Gegenteil! Wir haben uns doch prächtig amüsiert, nicht wahr?“ sagte sie ehrlich überzeugt und wünschte sich, der Tag möge nie ein Ende nehmen. „Ja“, stimmte Justin zu und lächelte sie an. „Ich ... ich muss dir ... etwas sagen“, setzte sie nach einer Weile stockend an und wich seinem Blick unbehaglich aus. Da sie nicht weiter sprach, erkundigte er sich lächelnd: „Was hast du auf dem Herzen?' Sein Ton war so zärtlich, dass ihre Entschlossenheit, ihm von ihrem Doppelleben zu erzählen, ins Wanken geriet. „Warum sprichst du dich nicht aus?“ wunderte er sich. Sie nahm all ihren Mut zusammen und atmete tief durch. Im gleichen Moment knickte sie um, da sie nicht aufgepasst hatte, wohin sie traf und nahm noch im Stolpern das Stück Treibholz wahr, das sie zu Fall gebracht hatte. Im nächsten Augenblick prallte sie so hart der Länge nach auf den Sand, dass es ihr den Atem verschlug. Verstört dachte sie daran, dass Justin sie nicht in dieser lächerlichen Lage in Erinnerung behalten durfte. Es wäre ihr entschieden lieber gewesen, er hätte sich ihrer als einer Frau entsonnen, die selbstlos ihrer Liebe entsagte, wie eine der Heldinnen in den Romanen, die Phoebe so gerne las. So jedoch würde er sich, falls er je an sie dachte, stets über sie amüsieren. Peinlich berührt stöhnte sie auf.
Justin war neben ihr in die Hocke gegangen. Während er ihr half, sich in eine sitzende Position aufzurichten, fragte er besorgt: „Hast du dir wehgetan, Caroline?“ Langsam wandte sie ihm das Gesicht zu. „Ich glaube nicht.“ „Dem Himmel sei Dank!“ erwiderte er erleichtert, ergriff ihre Hand und zog sie sacht auf die Füße. Sobald Caroline stand, schrie sie leise auf. „Offenbar hast du dich doch verletzt!“ „Ich habe Schmerzen“, gestand sie. „Vermutlich habe ich mir das Fußgelenk verstaucht.“ „Hoffentlich nicht gebrochen“, erwiderte er stirnrunzelnd. „Nein, das glaube ich nicht“, entgegnete sie und klopfte sich den Sand von ihrem Badekostüm. „Ich halte es für besser, mich zu vergewissern“, sagte Justin entschieden. „Notfalls bringe ich dich zu einem Arzt.“ Er drehte sich um und hielt Ausschau nach dem Bruder und den beiden jungen Damen. „Ich sehe sie nicht“, stellte er ärgerlich fest. „Nie ist jemand zur Stelle, wenn man ihn braucht! Stütz dich auf mich“, forderte er Caroline auf, hockte sich wieder hin und begann den linken Knöchel abzutasten. „Au!“ wimmerte sie und verzog gequält das Gesicht. „Es tut erbärmlich weh! Meine Narb...“ Entsetzt hielt sie inne und erstarrte. Plötzlich hatte sie das Bild vor Augen, wie Justin im Arbeitszimmer ihres Spielsalons vor ihr hockte und die Bänder an ihrem Escarpin verknüpfte. Sie war sicher, auch er erinnerte sich an die Szene, und wusste im gleichen Algenblick, dass sie ihn verloren hatte. „Narbe?“ wiederholte er irritiert, hielt inne und sah sie argwöhnisch an. Sie musste sich zwingen, ihren Fuß nicht zurückzuziehen. Am liebsten wäre sie geflohen, weit fort, wo sie ihn nicht mehr sah, hätte sich versteckt und ihrem Kummer freien Lauf gelassen. Unter Aufbietung aller Willenskraft setzte sie eine unbeteiligte Miene auf und hielt Justins Blick stand. „Warum antwortest du nicht?“ äußerte er und furchte die Stirn. „Du hast eine Narbe an deiner linken Fessel? “ „Ja“, flüsterte Caroline beklommen. „Seltsam!“ erwiderte er. „Ich kannte eine Frau, die an genau dieser Stelle auch ein Mal hatte. Ist sie ... seid ihr ...“ „Mrs. Archer und ich sind identisch“, fiel Caroline ihm ins Wort. Sie verlagerte versehentlich ihr Gewicht auf das linke Bein und presste die Lippen zusammen, als ein scharfer Schmerz das Fußgelenk durchzuckte. Er war indes nichts im Vergleich zu dem Weh, das ihr Herz erfüllte. Justin richtete sich auf, sah sie an und sagte tonlos: „Ich glaube, du bist mir eine Erklärung schuldig, Caroline.“ „Du hast Recht “, gab sie kleinlaut zu. „Aber ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Nach dem Tod meines Mannes wähnte ich mich zunächst mittellos, bis die Überschreibungsurkunde für die ,Goldene Feder’ in meine Hände gelangte. Lawrence hatte den Spielclub am Abend seines Todes gewonnen und keine Gelegenheit mehr gehabt, ihn zu verspielen. “ „Und dann hast du dich entschlossen, den Salon zu übernehmen“, stellte Justin lakonisch fest. Ja“, bestätigte Caroline seufzend. “Ich hatte keine Wahl und habe mir diesen Schritt dennoch reiflich überlegt. Es gab viele Gründe, die mich dazu bewogen, die ,Goldene Feder’ zu leiten, aber ich kann sie dir im Augenblick nicht alle nennen. “ Alles lag schon so weit zurück, dass Caroline das Gefühl hatte, die Angelegenheit beträfe nicht sie, sondern jemand anderen. Gleichzeitig wusste sie, Justin würde ihre Motive nicht gelten lassen.
Er stammte aus vornehmer Familie, und für einen Mann wie ihn war es eine Selbstverständlichkeit. dass eine mittellose Dame sich eher als Erzieherin oder Gesellschafterin verdingte, als dass sie die Führung eines zwielichtigen Etablissements übernahm. Caroline hatte sich letztlich Phoebes Zukunft wegen für den Spielclub entschieden, und nun in einem Augenblick der Gedankenlosigkeit die Chancen der Schwester und den eigenen guten Ruf ruiniert. „Warum hast du mir nicht von Anfang an gesagt, dass du Mrs. Archer bist?“ fragte Justin gepresst. „Du hast nie ein Wort darüber verloren, obwohl wir seit Wochen miteinander Umgang haben!“ „Kannst du dir nicht denken, dass ich einen guten Grund dafür hatte, dich nicht zu informieren? “ erwiderte Caroline kläglich. „Du hättest, wärst du über meine frühere Tätigkeit im Bild gewesen, niemals Kontakt mit meiner Schwester und mir haben wollen und auch deiner Mutter und deinem Bruder verboten, mit uns zu verkehren. Das wiederum hätte bedeutet, dass die gute Gesellschaft der Stadt eurem Beispiel gefolgt wäre, allen voran Lady Bellweather! Phoebe zuliebe wollte ich diese Situation vermeiden. “ Sie war den Tränen nahe und senkte die Lider, um den verletzten Ausdruck in Justins Augen nicht mehr sehen zu müssen. Justin schüttelte langsam den Kopf und fragte fassungslos: „Was soll ich dazu sagen, Mrs. Archer, pardon, Mrs. Aldritch, oder wer immer Sie wirklich sind.“ „Ich bin beide“, antwortete sie leise. „Ich bin ein und derselbe Mensch. “ Lautes Rufen veranlassten sie und Justin, sich umzudrehen. Phoebe kam mit wehendem Haar auf sie zugerannt, dicht gefolgt von Miss Sarah und Lord Keir. Phoebe hatte die Hände geballt, und ihre Miene drückte Empörung aus. Bei Lord Lyndon und Caroline angekommen, herrschte sie den Earl keuchend an: „Darf ich wissen, was hier geschehen ist, Sir? Warum ist meine Schwester gestürzt? Haben Sie sie gestoßen? “ Justin schien das Mädchen gar nicht wahrzunehmen. Er murmelte: „Entschuldigen Sie mich ... ich ... muss fort. Harry, begleite die Damen bitte nach Hause.“ Er verneigte sich knapp, setzte sich in Bewegung und war bald außer Sicht. In dem Augenblick, da Caroline ihn nicht mehr sah, konnte sie sich nicht länger beherrschen. Sie brach in Tränen aus, und es war ihr gleich, dass die drei jungen Leute sie befremdet anstarrten. Phoebe hatte Caroline nie derart weinen gesehen. Sie nahm ihre Schwester in den Arm und versuchte sie, unterstützt von Miss Sarah, zu beruhigen. Harold kam sich vollkommen fehl am Platz vor. Unbehaglich beobachtete er die drei Frauen und fragte schließlich enerviert: „Was in aller Welt ist passiert, Mrs. Aldritch, das sie derart fassungslos gemacht hat? Bitte, erlauben sie mir, Sie jetzt heimzubringen. “ „Es ist Ihr Bruder, der dies verursacht hat!“ Phoebe warf dem Viscount einen vorwurfsvollen Blick zu. „Nein, das stimmt nicht “, widersprach Caroline schluchzend. „Ich habe mir das selbst zuzuschreiben. “ „Natürlich ist Lord Lyndon schuld.“ entgegnete Phoebe dickköpfig. „Männer können so grob sein!“ „Wie bitte?“ warf Harold befremdet ein. „Ja, grob!“ wiederholte Phoebe mit Nachdruck und drückte ihre Schwester an sich. „Komm, Caroline“, fuhr sie ruhiger fort. „Miss Sarah und ich bringen dich nach Hause.“ „Ich werde sie begleiten!“ sagte Harold entschlossen.
„Das ist wirklich nicht nötig, Sir!“ lehnte Phoebe ab. „Wir sind nicht auf sie angewiesen. Unsere Kutsche wartet am Strandweg. Bleib du bitte bei Caroline“, fügte sie an Sarah gewandt hinzu. „Ich hole nur rasch unsere Sachen, und dann können wir aufbrechen. “ „Entschuldigen Sie mich bitte, meine Damen“, äußerte Harold und verneigte sich leicht. „Auch ich muss die von Justin und mir mitgebrachten Körbe holen. “ Caroline sah ihn hinter ihrer Schwester herstreben, die ihn jedoch keines Blickes würdigte und stattdessen geschwind Decken und liegen gebliebene Kleidungsstücke einsammelte und dann zu ihr und Miss Sarah zurückkehrte. „Ich bin so weit“, sagte Phoebe schwer atmend. „Kannst du laufen, Caroline?“ „Ich habe mir den Fuß verstaucht“, antwortete Caroline kläglich. „Ich fürchte, ich brauche Halt.“ Ihre Schwester und Miss Sarah stützten sie abwechselnd auf dem langsamen Rückweg zur Kutsche. Schließlich konnte Phoebe nicht widerstehen, einen Blick über die Schulter zu werfen. Lord Keir trottete sichtlich verstört hinter ihnen her.
9. KAPITEL
Wie betäubt marschierte Justin in die Stadt zurück, nur darauf bedacht, so schnell wie möglich dem Albtraum zu entrinnen, in dem er sich plötzlich befunden hatte. Er fühlte sich hintergangen und ballte in ohnmächtiger Wut die Fäuste. Ihm war klar, dass er sich unmöglich aufgeführt hatte, als er ohne eine Erklärung gegangen war. Er hätte sich beherrschen sollen, war jedoch viel zu schockiert über Carolines Eröffnung und daher nicht fähig gewesen, auch nur eine Minute länger in ihrer Gegenwart zu bleiben. Er hatte nur den Wunsch gehabt, allein zu sein. Er musste nachdenken. Leeren Blicks und nicht auf die Umgebung achtend, eilte er den Weg entlang und bemühte sich, Carolines Bild zu verscheuchen, doch es gelang ihm nicht. Ständig sah er in Gedanken ihre großen dunklen, weit geöffneten Augen vor sich und konnte sie nicht vergessen. Sie verstand es ausgezeichnet, sich zu verstellen. Das musste der Neid ihr lassen. Justin staunte, wie beeindruckend sie die Femme fatale zu geben vermocht hatte und wie überzeugend sie als wohlerzogene Dame der guten Gesellschaft gewesen war. Sie hätte zur Bühne gehen sollen, die für sie mit ihrer Begabung ein geeigneteres Betätigungsfeld gewesen wäre. Erschüttert fragte er sich, wie er so blind hatte sein können, nicht längst gesehen zu haben, was offenkundig war. Schließlich verdeckte ein Cacherrez lediglich die Partie um die Augen und nicht mehr. Und ein Schleier war so durchsichtig, dass er das Gesicht hätte wieder erkennen müssen. Erst recht, als sie unverschleiert gewesen war. Dazu kam, dass Caroline die Stimme nicht verstellt und sich auch nicht anders bewegt hatte als damals im Spielsalon oder in ihrem Arbeitszimmer. Es war Justin unerklärlich, wieso er nicht längst eine Verbindung zwischen Mrs. Archer und Mrs. Aldritch hergestellt hatte. Jeder Mensch, dessen Seh- und Hörvermögen intakt war, hätte Caroline erkannt! Verärgert und mit sich hadernd, setzte er sich auf einen aus dem Sand ragenden großen Stein und starrte wütend auf die schaumgekrönten, langsam an Land rollenden Wellen. Vermutlich hatte sie sich köstlich über ihn amüsiert, weil er mit Scheuklappen durch die Gegend gerannt war. Es musste sie belustigt haben, dass er sie mit seinem Umgang bekannt und ihr den Hof gemacht hatte. Indem er sie umwarb, hatte er sich komplett zum Narren ge macht und sich ebenso dumm und infantil benommen wie Harry, der um Miss Lane scharwenzelte. Und er war überzeugt gewesen, durch den Aufenthalt in Kanara abgeklärter und vernünftiger geworden zu sein! Ergrimmt hielt er sich vor, dass er viel wachsamer hätte sein müssen, zumindest von dem Augenblick an, als er den Eindruck gewonnen hatte, Caroline verberge ihm etwas. Er war jedoch so von ihr betört gewesen, dass er alle Bedenken in den Wind geschlagen hatte. Im Stillen verfluchte er den Tag, an dem er ihr begegnet war, und sagte sich, es wäre besser gewesen, von vornherein den Rat der Mutter zu befolgen, Miss Sarah als Gattin in Betracht zu ziehen, selbst wenn er eine Frau bekommen hätte, die mehr an Altertümern als an ihm interessiert war. Er war sicher, dass sie ihn nie hintergangen und ihm dieses schmerzliche Gefühl der Leere vermittelt hätte. Er konnte sich indes nicht vorstellen, mit ihr zusammen zu sein, und daher war' es sinnlos, sich jetzt Vorwürfe zu machen. Denn bei allem Zorn auf Caroline gestand er sich ein, dass er sie liebte. Nie zuvor hatte eine Frau ihn derart fasziniert und für sich eingenommen, in ihm den Wunsch geweckt, sie ständig um sich zu haben, mit ihr eine Familie zu gründen und an ihrer Seite zu altern. Sie konnte zuhören, war verständnisvoll und mitfühlend,
hatte Charme und eine wache Auffassungsgabe, Eigenschaften, die er an ihr bewunderte. Kaum hatte er von ihrem elenden Leben mit ihrem Mann erfahren, war es ihm ein großes Bedürfnis gewesen, sie glücklich zu machen, damit sie fröhlich und unbeschwert in die Zukunft blickte. Nun stand er vor den Scherben seiner Träume und wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Einerseits hatte sie ihn mit ihrer Doppelzüngigkeit tief verletzt, andererseits konnte er sich die Liebe zu ihr nicht aus dem Herzen reißen.
Hilflos stand Phoebe neben der hemmungslos weinenden Schwester, die sie mit Marys Hilfe ins Bett gebracht hatte, und sagte eindringlich: „Um Himmels willen, Caroline, erzähl mir endlich, was am Strand zwischen dir und Lord Lyndon gesche hen ist!“ „Nein“, flüsterte Caroline, nicht gewillt, Phoebe ins Vertrauen zu ziehen. Sie wollte nicht darüber reden, den peinlichen Zwischenfall vergessen und auch nicht mehr an Justin denken. Vor allem bemühte sie sich, die Erinnerung an den verletzten Ausdruck in seinen Augen zu verdrängen, befürchtete jedoch, dass sie seinen verwundeten Blick nie vergessen würde. Sie wandte der Schwester den Rücken zu und starrte bedrückt aus dem Fenster. „Caroline“, bat Phoebe, „zieh wenigstens das Kleid und die Badesachen aus und dein Nachthemd an. Mary und ich können dir dabei helfen. “ Seufzend setzte Caroline sich auf und starrte auf ihre unter dem verrutschten Rock des Kleides hervorlugenden Pantalettes. Widerwillig löste sie die Bändchen, mit denen die Hosen an den Fußgelenken verschnürt waren, rollte die Pantalettes hoch und begann die Strümpfe auszuziehen. Sie warf sie auf den Fußboden, starrte ihr linkes Bein an und stellte fest, dass sie am Gelenk eine gerötete Schramme hatte. „Du bist verletzt, Caroline“, sagte Phoebe betroffen. „Ist Lord Lyndon daran schuld?“ „Nein“, antwortete die Schwester bedrückt. „Den Kratzer habe ich mir zugezogen, als ich über das Treibholz gestolpert bin, und die Narbe ist alt.“ Sie strich darüber und wünschte sich inständig, sie möge auf der Stelle verschwinden, und mit ihr alles, was damit in Verbindung stand. „Vorsichtig, Madam! “ warf Mary mahnend ein. „Es könnte Schmutz in die Wunde kommen, so dass sie sich entzündet!“ „Schlimmeres als das, was geschehen ist, kann mir nicht passieren“, murmelte Caroline niedergeschlagen. „Was soll das heißen? “ fragte Phoebe erschrocken. „Es ist alles aus!“ antwortete die Schwester aufschluchzend. „Du machst mir Angst, Caroline“, erwiderte Phoebe erschüttert. „Du klingst ja gerade so düster wie Lady Macbeth! “ „Lady Macbeth? “ wiederholte Caroline verblüfft. „Ach, sieh mich nicht so erstaunt an“„ sagte Phoebe gekränkt. „Manchmal lese ich auch Shakespeare.“ Unwillkürlich musste Caroline lächeln. Erleichtert tauschten Mary und Phoebe einen Blick. “Wir brauchen warmes Wasser und Verbandszeug, Miss“, sagte die Bedienstete. „Und Sie, Madam“, wandte sie sich streng an Caroline, „werden jetzt Ihre Badesachen ausziehen und endlich den Schlaftrunk einnehmen, den ich Ihnen zubereitet habe!“ Fügsam verließ Caroline das Bett und begann sich zu entkleiden. „Ich kann jetzt nicht schlafen“, entgegnete sie. „Wir müssen packen. “ „Packen? “ wiederholte Phoebe verblüfft. „Jetzt? Wohin willst du? “ „Ich habe keine Ahnung“, antwortete Caroline verstört. „Irgendwohin, wo niemand uns kennt, vielleicht in den Norden oder ins Ausland.“
„Ins Ausland?“ warf Phoebe entrüstet ein. „Mir scheint, du bist nicht mehr ganz bei Trost, Caroline. Was in aller Welt bringt dich auf diesen absonderlichen Einfall?“ „Etwas Schreckliches ist geschehen“, flüsterte die Schwester traurig. „User guter Ruf ist zerstört, Phoebe.“ „Was reden Sie da?“ wunderte sich Mary, während sie Caroline aus dem Badekostüm half. Nach den vier in der ‚Goldenen Feder’ verbrachten Jahren hätte eigentlich nichts mehr sie erschüttern sollen, aber jetzt war sie doch sehr befremdet. „Lord Lyndon hat herausgefunden, dass Mrs. Archer und ich ein und dieselbe Person sind“, berichtete Caroline leise. Sprachlos starrten Phoebe und Mary sie an. „In dieser Sache ist das letzte Wort noch nicht gesprochen, Caroline“, sagte die Schwester dann. „Aber erst einmal kümmere ich mich um das heiße Wasser.“ Entschlossenen Schrittes verließ sie das Zimmer. Eine Weile herrschte Schweigen. Schließlich murmelte die Zofe mitleidig: „Hat Seine Lordschaft Ihnen damit gedroht, Sie bloßzustellen? “ „Ich weiß nicht, was er vorhat“, antwortete Caroline beklommen. „Ich vermute jedoch, dass er zumindest seine Angehörigen informieren wird. Und wenn Lady Bellweather dabei anwesend sein sollte, weiß bald die ga nze Stadt über mich Bescheid. Die Folge wird sein, dass Phoebe und ich gesellschaftlich geächtet werden, und da ich nicht möchte, dass das Mädchen durch mich zu leiden hat, müssen wir Wycombe unverzüglich verlassen. “ Sie hinkte zur Kommode, vor Schmerz das Gesicht verziehend, und zog die oberste Schublade auf. Entschlossen nahm sie ihre darin liegenden Wäschestücke heraus und sagte, an die Bedienstete gewandt: „Holen Sie bitte die Koffer vom Dachboden, Mary. “ Die Zofe nahm ihr die Weißwäsche ab, legte sie aufs Bett und erwiderte: „Lassen Sie mich das tun, Madam. Sie sind im Augenblick nicht in der Verfassung, sich damit zu beschäftigen. Wenn wir wirklich abreisen müssen, dann soll es so sein. Schade, hier hat es mir gefallen, aber selbstverständlich lasse ich Sie nicht im Stich. “ „Auch ich habe mich hier wohl gefühlt“, gestand Caroline bekümmert, setzte sich in einen Fauteuil und dachte daran, dass sie nirgendwo glücklicher gewesen war als in Wycombe. Als Phoebe bei der Rückkehr ins Schlafzimmer sah, dass Mary die Wäsche ihrer Schwester aus den Schubladen nahm, hielt sie bestürzt inne. „Es ist dir also ernst damit, Wycombe zu verlassen! “ bemerkte sie verstimmt und stellte die Garnitur in die Halterung des Waschstandes. „Kannst du mir bitte erklären, was dieser Unsinn soll?“ „Komm her, Phoebe“, bat Caroline und streckte die Hand nach der Schwester aus. „Ich muss mit dir reden. “ „Ich bin sicher, die Sache hat mit dem Earl of Lyndon zu tun“, erwiderte das Mädchen ärgerlich. „Er hat dir wehgetan, und nun willst du so weit wie möglich fort von ihm! Jetzt mache ich mir Vorwürfe, weil ich ihm ohne dein Wissen geschrieben habe, wo er uns heute am Strand finden würde. Hätte ich das unterlassen, wärst du jetzt nicht in dieser Verfassung. “ Caroline hatte überlegt, wie sie der Schwester die Absicht, so überstürzt die Stadt verlassen zu wollen, einigermaßen glaubhaft begründen könne. Angesichts von Phoebes verkniffener Miene entschied sie sich, die Wahrheit nicht mehr zu beschönigen, um nicht noch tiefer in ihr Lügennetz zu geraten. „Setz dich endlich!“ forderte sie sie erneut auf. „Und sei so gut und zieh bitte die Portièren zu.“ Erstaunt hob Phoebe eine Augenbraue, kam Carolines Bitte jedoch schweigend nach und ließ sich dann im zweiten Sessel nieder. Caroline beugte sich zu ihr, ergriff ihre Hände und sagte ernst: „Du hast nur zum Teil Recht, Phoebe. Ich will Lord Lyndons wegen abreisen, aber nicht, weil er sich mir gegenüber ungebührlich benommen hätte. Es ist meine Schuld, dass es zwischen ihm und mir zu einem Zerwürfnis gekommen ist.“ „Wieso?“ wunderte sich Phoebe.
Caroline atmete tief durch und äußerte tapfer: „Ich habe dir erzählt, dass ich nach Lawrence' Tod bei seiner betagten Tante als Gesellschafterin tätig war.“ „Ja, ich erinnere mich. Aus diesem Grund konnten wir uns nur wenige Male im Jahr sehen.“ „Ich muss dir gestehen, dass diese Behauptung eine Lüge war.“ „Heißt das, du hast nicht bei Großtante Deborah gearbeitet?“ „Nein“, bekannte Caroline. „Lawrence hat mir ein Dokument hinterlassen, das mich zur Eigentümerin eines Spielsalons gehobener Klasse machte, und nach reiflicher Überlegung habe ich mich dazu entschlossen, die Leitung des Etablissements, der ,Goldenen Feder’, zu übernehmen. “ Fasziniert starrte Phoebe sie an. Caroline war auf einen Schrei der Entrüstung vorbereitet gewesen, aber nicht darauf, dass ihre Schwester offensichtlich höchst beeindruckt war. „Dir hat ein Spielsalon gehört?“ fragte sie überwältigt. „Oh Caroline, das finde ich so aufregend! Du musst mir unbedingt berichten, wie es dort war und welche Leute du kennen gelernt hast.“ Unvermittelt begriff Caroline, dass sie Phoebe unterschätzt hatte. Sie hätte sich denken können, dass das junge Mädchen andere Moralvorstellungen als ein Erwachsener hatte. „Sei nicht so neugierig“, erwiderte sie erleichtert und lächelte matt. „Selbstverständlich werde ich dir nicht alles erzählen, was sich in der ,Goldenen Feder’ zugetragen hat. Die Leute, die dort verkehrten, waren im Allgemeinen nicht besonders bemerkenswert. Sie spielten, tranken und waren dann nicht immer imstande, sich noch vernünftig zu artikulieren. Ich kann nicht behaupten, dass mir die selbst gewählte Aufgabe zugesagt hat, und deshalb war ich froh, als ich den Salon gewinnbringend verkaufen konnte.“ „Ich vermute, dass Lord Lyndon zu deinen Gästen zählte und ihr euch dort kennen gelernt habt, nicht wahr? Und jetzt willst du seinetwegen das angenehme Leben hier aufgeben! Wieso hat er jetzt erst gemerkt, dass du die ehemalige Besitzerin dieses Etablissements bist? Er muss blind und taub gewesen sein ...“ „Nun, ich trug vorsichtshalber immer ein Cachenez“, fiel Caroline der Schwester ins Wort, „aber dennoch kann ich mir nicht erklären, wieso er und Lord Keir nicht eher darauf gekommen sind, wen sie vor sich haben, denn der Viscount war häufig bei mir, sein Bruder hingegen nur zwei Mal. Das erste Mal kam Lord Lyndon gleich nach seiner Rückkehr aus Indien, und dann einen Tag später.“ „Er ist ein Spieler, nicht wahr?“ Caroline entschied sich, auch in diesem Fall bei der Wahrheit zu bleiben, obwohl es Phoebe sicher schmerzen würde zu hören, wie der Viscount sich in der ‚Goldenen Feder’ aufgeführt hatte. „Nein“, antwortete sie ehrlich. „Er begleitete seinen Bruder, hat sich jedoch nur mit Bekannten unterhalten. Dann geriet Lord Keir mit einem anderen Gast in Streit. Es kam zu einer lautstarken Auseinandersetzung, in deren Verlauf etliche Einrichtungsgegenstände zu Bruch gingen. “ „Das kann ich mir gut vorstellen! “ warf Phoebe trocken ein. „Lord Keir ist manchmal sehr unbesonnen. “ Diese Einsicht überraschte Caroline. „Du bist nicht von ihm enttäuscht?“ fragte sie erstaunt. „Schließlich hast du doch ein Faible für ihn.“ „Ach, das war einmal“, entgegnete Phoebe achtlos. „Jetzt will ich nichts mehr von ihm und seinen Angehörigen wissen. Und welchen Ausgang nahm dieser Zwischenfall?“ „Lord Lyndon erbot sich, für den Schaden aufzukommen“, erklärte Caroline. „Aus diesem Grund suchte er mich am nächsten Tag auf. Als ich ihn zur Tür bringen wollte, knickte ich um, weil ich auf ein loses Schuhband trat.“ „Und weiter?“ fragte Phoebe stirnrunzelnd.
„Es war sehr warm an jenem Tag, und ich hatte mit bloßen Füßen am Schreibtisch gesessen. Nachdem Mary mir Lord Lyndons Besuch ankündigte, hatte ich mir nur rasch die Escarpins übergestreift und die linke Schleife wohl zu nachlässig gebunden. Sie muss aufgegangen sein, und als ich stolperte, bestand Lord Lyndon darauf, sie mir zuzubinden. Dabei bemerkte er die Narbe an meiner Fessel. “ „Und heute?“ „Er tastete meinen schmerzenden Fuß auf einen möglichen Knochenbruch ab und berührte das Mal“, erklärte Caroline. „Natürlich wurde er stutzig, und schließlich habe ich ihm gestanden, dass ich Mrs. Archer bin.“ „Das tut mir so Leid für dich, Caroline!“ erwiderte Phoebe mitfühlend. „Nun weißt du, warum ich nicht länger hier bleiben will. Unser Ansehen hat sehr gelitten oder wird bald großen Schaden nehmen. “ „Selbstverständlich lasse ich dich nicht im Stich!“ verkündete Phoebe entschieden und beugte sich zu ihrer Schwester hinüber. Sie bedeckte deren im Schoß gefaltete Hände mit ihrer Rechten und fuhr fort: „Ich bedaure, dass ich dir in der letzten Zeit oft Kummer gemacht habe. Ich verspreche, dir nie mehr zur Last zu fallen!“ Caroline sah die Schwester bewegt an und erwiderte weich: „Du bist mir keine Last. Wir beide haben nur noch uns und müssen zueinander stehen. Und du weißt, wie gern ich dich habe!“ Sie ergriff Phoebes Hände und sagte entschieden: „So, und nun muss ich packen. “ „Auch ich werde meine Sachen richten „ erwiderte Phoebe und erhob sich. „Später bin ich mit Miss Sarah zum Tee verabredet und werde mich bei dieser Gelegenheit von ihr verabschieden. Du solltest dich jetzt jedoch nic ht abrackern, sondern hinlegen und dich ausruhen“, setzte sie noch hinzu, bevor sie das Zimmer verließ. „Dazu ist keine Zeit“, sagte Caroline leise zu sich selbst und fügte, an ihre Zofe gewandt skeptisch hinzu: „Glauben sie, Mary, dass sie sich wirklich so anstandslos mit dieser neuen Situation abfindet?“ Die Bedienstete zuckte mit den Schultern. „In einem Punkt hat sie jedenfalls Recht, Madam“, erwiderte sie. „Sie sollten sich schonen. Trinken Sie nun bitte Ihre Milch, und legen sie sich hin. Ich werde Ihre Sachen packen. “
10. KAPITEL
„Ich möchte den Earl of Lyndon sprechen“, sagte Phoebe höflich, aber bestimmt und schaute dem hochmütig wirkenden Butler, der ihr soeben geöffnet hatte, entschlossen in die Augen. Richards musterte die Besucherin, die ohne Begleitung vor der Tür stand, und erwiderte steif: „Es tut mir Leid, Miss Lane, aber Seine Lordschaft ist beschäftigt und empfängt niemanden. “ Phoebe merkte, dass sie wütend wurde. Schließlich war Caroline des Earls wegen in diese verzweifelte Lage geraten, und nun ließ dieser Schuft sich offenbar verleugnen. „Es geht um eine sehr wichtige Angelegenheit, Richards“, entgegnete sie eindringlich. „Ich muss Seine Lordschaft sprechen. Wenn Sie mich also bitte anmelden würden!“ „Ich haben Ihnen doch soeben gesagt...“, hob der Bedienstete an und registrierte im nächsten Augenblick verdutzt, dass er beiseite geschubst wurde. Phoebe zwängte sich an ihm vorbei, machte im Foyer Halt und überlegte, wo sie den Earl finden mochte. Da sie sich einigermaßen im Haus auskannte, hielt sie zielstrebig auf die Bibliothek zu, bemerkte mit einem Blick über die Schulter, dass der erzürnte Butler ihr folgte, und beschleunigte ihre Schritte. Wohl wissend, wie unmanierlich sie sich benahm, klopfte sie einmal kurz an die Tür, riss sie auf und erblickte, zu ihrer großen Erleichterung, Seine Lordschaft in einem Sessel vor dem Kamin. Verblüfft schaute der Earl of Lyndon sie an. Er hatte sich hierher zurückgezogen, um über den Zwischenfall am Strand nachzudenken. Mehr und mehr war er sich bewusst geworden, dass er sich Caroline gegenüber nicht richtig verhalten hatte. Er hatte mit ihr reden und von ihr verlangen müssen, ihm die Gründe dafür, dass sie die Leitung des Spielclubs übernommen hatte, darzulegen. Andererseits fühlte er sich verletzt, weil sie ihn nicht von vornherein ins Vertrauen gezogen hatte. Es ärgerte ihn, dass er die Situation nicht besser beherrscht hatte, auch wenn er vollkommen unvorbereitet darauf gewesen war. Er hätte die Ruhe bewahren müssen, statt sich brüsk abzuwenden. An seinen Gefühlen für Caroline hatte sich nichts geändert, und ständig sah er sie in Gedanken vor sich, ihre blasse, fassungslose Miene, den erschütterten Ausdruck in ihren weit geöffneten Augen. Und nun hatte sie offensichtlich ihre Schwester geschickt, vermutlich in der Absicht, sie zwischen ihr und ihm vermitteln zu lassen. Langsam stand er auf, verneigte sich knapp und erkundigt sich kühl: „Was verschafft mir die unverhoffte Ehre, Miss Lane?“ Phoebe schloss die Tür, drehte sich zu Seiner Lordschaft, der sich erhoben hatte, um und äußerte aufgebracht, während sie auf ihn zuging: „Wie konnten sie sich unterstehen, meine Schwester derart aus der Fassung zu bringen, Sie ... Sie Scheusal!“ Noch nie hatte eine Dame ihn mit einem derartigen Schimpfwort belegt. Befremdet sah er sie an und überlegte, wie er reagieren solle. Sie war sichtlich außer sich und womöglich fähig, ihm eine peinliche Szene zu machen, die er in jedem Fall vermeiden wollte. Da es sich außerdem nicht gehörte, mit ihr allein im Raum zu sein, war es besser, die Dowager Countess herzubitten. Eine erfahrene Frau konnte sicher leichter mit einer so prekären Situation umgehen als er. „Möchten Sie sich nicht setzen, Miss Lane?“ fragte er höflich und wollte zur Klingel greifen, um Richards zu rufen. „Nein! Ich …“ In diesem Moment wurde die Tür geöffnet, und der Butler betrat hochroten Gesichts die Bibliothek.
Er verbeugte sich hastig und äußerte entschuldigend: „Bitte, verzeihen Sie, Sir, dass ich die Störung nicht verhindern konnte. Miss Lane war so ... hm ... sie entschloss sich, mich einfach zur Seite zu schieben. “ „Schon gut, Richards“, erwiderte Justin begütigend. “Machen Sie sich keine Vorwürfe. Holen Sie bitte meine Mutter her, und sorgen Sie dafür, dass etwas zu trinken angeboten wird.“ „Sehr wohl, Sir“, sagte der Butler, verbeugte sich erneut und verließ so würdevoll wie möglich den Raum. „Das war nicht nötig, Sir!“ herrschte Phoebe ihn zornig an. „Ich bin nicht hier, um mit Ihnen zu plaudern! “ „Bitte, beruhigen Sie sich, Miss,Lane “, sagte er beschwichtigend. „Ich habe den Eindruck, dass Sie sehr echauffiert sind. Nehmen Sie Platz, und erzählen Sie mir in aller Ruhe, was Sie zu mir geführt hat.“ „Ich habe nicht vor, mich lange hier aufzuhalten“, entgegnete Phoebe spitz. „Alles, was ich Ihnen zu sagen habe, ist, dass ich Sie verabscheue, Sie ...“ „Scheusal“, ergänzte Justin nickend. „Ich weiß. Was haben Sie plötzlich gegen mich?“ „Das können Sie sich doch denken, Sie ... Sie Unmensch“, antwortete Phoebe erregt. „Meine Schwester und ich waren hier glücklich, und nun haben Sie uns den Aufenthalt ruiniert.“ „Wie das?“ fragte Justin verständnislos. „Spielen Sie nicht den Ahnungslosen!“ brauste Phoebe auf. „Caroline hat soeben angekündigt, dass wir Ihretwegen die Stadt verlassen werden. Ich habe keine Ahnung, wohin sie will, aber sie hat angedeutet, dass wir möglicherweise sogar ins Ausland reisen werden. “ Entgeistert starrte Justin das Mädchen an, erschüttert von der Neuigkeit, dass Caroline Wycombe den Rücken kehren wollte. Langsam begriff er, warum sie sich ihm zu entziehen gedachte. Sie befürchtete offenbar, er wolle sie bloßstellen. Wahrscheinlich schämte sie sich, ihm nicht gleich nach der ersten oder zw eiten Begegnung in Wycombe gestanden zu haben, dass sie die ‚Goldene Feder’ geleitet hatte, und traute sich nun nicht, ihm unter die Augen zu treten. „Jetzt wird mir einiges klar“, murmelte er. „Wussten Sie, dass Ihre Schwester die Besitzerin der ,Goldenen Feder’ war?“ „Nein“, antwortete Phoebe ehrlich und schüttelte den Kopf. „Ich glaubte jahrelang, sie sei als Gesellschafterin bei meiner Großtante Deborah tätig. Erst heute Nachmittag hat sie mir gestanden, das sei eine Schutzbehauptung gewesen. Und ich nehme an, das hat sie mir auch nur deshalb mitgeteilt, weil sie begründen wollte, warum wir derart überstürzt abreisen sollen. “ „Hat die Neuigkeit Sie nicht erschüttert?“ fragte Justin erstaunt. „Schließlich wurden Sie von Ihrer Schwester belogen. “ „Warum sollte ich ihr böse sein? “ fragte Phoebe irritiert. „Natürlich war ich nicht schockiert! Sie ist meine Schwester, und für mich ist es eine Selbstverständlichkeit, zu ihr zu halten! Sie war stets gut zu mir, und das werde ich ihr immer hoch anrechnen“, fügte sie hinzu und spürte die Augen feucht werden. „Ich weiß, ich wiederhole mich, Miss Lane, aber ich halte es für ratsam, dass Sie sich setzen“, sagte Justin und wies einladend auf einen Fauteuil. Widerstrebend ließ Phoebe sich darin nieder, wischte sich ärgerlich mit dem Handrücken eine Träne von der Wange und fuhr fort: „Es ist allein meine Schuld, dass alles so gekommen ist.“ „Wie soll ich das verstehen? “ fragte Justin verblüfft und nahm ebenfalls wieder Platz. “War es Ihr Einfall, dass Ihre Schwester einen Spielclub übernimmt, in dem es um hohe Einsätze geht? Haben Sie ihr geraten, ein Cachenez zu tragen, damit ihr Inkognito gewahrt bleibt? Wollten Sie schnell reich werden, indem Sie an Gästen wie meinem Bruder verdienen? “
„Ach, seien Sie nicht so ironisch!“ entgegnete Phoebe verdrossen. „Für wie einfältig halten Sie mich? Ihr Bruder, Sir, ist wahrlich kein unschuldiges Lämmchen, das ahnungslos zur Schlachtbank geführt wird. Wenngleich ich noch sehr jung bin, habe selbst ich längst erkannt, dass er noch arg leichtgläubig und unreif ist. So lebensunerfahren, wie er ist, fällt es anderen Leuten natürlich leicht, ihm beim Spiel sein Geld abzunehmen. Aber über ihn will ich nicht reden. Also versuchen Sie bitte nicht, mich vom Thema abzubringen! “ „Von welchem, wenn ich fragen darf?“ warfJustin trocken ein. „Oh, Sie meinen den Anlass Ihres Besuchs, nicht wahr?“ „Wie scharfsinnig, Sir!“ spottete Phoebe erbost. „Ja, ich will mit Ihnen über Caroline sprechen, Sie ... Sie Nonvaleur!“ „Ihr Fundus an wenig schmeichelhaften Ausdrücken ist beachtlich, Miss Lane!“ „Dieses Wort entstammt nicht meinem Wortschatz, sondern dem Ihres Bruders“, erklärte sie kühl. „Und es trifft genau auf Sie zu. Sie waren gemein zu meiner Schwester.“ „Pardon, Miss Lane, aber ein Nonvaleur ist ein Nichtsnutz oder Faulpelz, und im Zusammenhang mit mir kann mein Bruder das nicht gesagt haben. Hasardeur würde ich gelten lassen oder Bohemien, vielleicht sogar Kujon, aber nicht Nonvaleur.“ Die Zurechtweisung hatte sie nur kurz aus dem Konzept gebracht. „Sie sind ein Taugenichts“, fuhr sie unbeirrt fort. „Meine Schwester hat es nicht verdient, so schäbig behandelt zu werden! “ Erneut gestand er sich beschämt ein, dass sein Benehmen rüde gewesen war. Er hätte viel darum gegeben, hätte er es rückgängig machen können. „Caroline hatte nie die Leitung dieses Etablissements übernommen, wäre sie nicht um meine Zukunft besorgt gewesen“, äußerte Phoebe ernst. „Sie hat wörtlich zu mir gesagt: ‚Ich kann nicht behaupten, dass mir die selbst gewählte Aufgabe zugesagt hat, und deshalb war ich froh, als ich den Salon gewinnbringend verkaufen konnte’. Das beweist doch eindeutig, dass sie ihre Tätigkeit dort verabscheut hat. Meiner Ansicht nach hätte sie den Posten als Gesellschafterin der Tante ihres verstorbenen Mannes übernommen, wenn die Ausgaben für meinen Aufenthalt in Mrs. Medlocks Institut, meine Garderobe und dergleichen nicht so hoch gewesen wären. Ich mache mir Vorwürfe, weil ich nie über diese Kosten nachgedacht habe. Hätte ich es getan, wäre ich nicht damit einverstanden gewesen, dass Caroline so viel Geld für mich ausgibt. Ich hätte das Internat verlassen und eine Anstellung bei einer älteren Dame gesucht. Meiner Schwester ist jedoch nie in den Sinn gekommen, mich aus dem Mädchenpensionat zu nehmen. Mein Wohl war für sie immer von Größter Wichtigkeit, schon zu der Ze it, als wir noch Kinder waren und deshalb hat sie mir bis heute verschwiegen, dass sie diesem Etablissement vorstand. Vier Jahre verbrachte sie dort, um mir eine bessere Zukunft gewährleisten zu können. “ Verzweifelt blickte Justin zur Tür und fragte sich, wo seine Mutter blieb. Unvermittelt ging ihm durch den Sinn, dass Caroline ihm gesagt hatte, sie habe sich den Schritt, den Spielclub zu übernehmen, reiflich überlegt. Sie hatte ihm erzählt, nach dem Tod ihres Mannes sei sie mittellos gewesen, und erläutert, wie es dazu gekommen war, dass sie sich für die Leitung der ‚Goldenen Feder’ entschieden hatte. Nun begriff er, warum sie hinzugefügt hatte, sie könne ihm nicht alle Gründe nennen, die sie dazu bewo gen hatten, den Spielsalon zu übernehmen. Phoebe blickte auf ihre im Schoß verkrampften Hände und murmelte: „Als ich sah, wie verzweifelt meine Schwester ist, weil sie sich durch Sie so verletzt fühlt, ist etwas in mir zerbrochen. Sie ist so gutherzig, Sir, und für mich der beste Mensch, den ich kenne. Ich kann nicht zulassen, dass Sie oder sonst jemand ihr ungebührlich entgegentritt!“ Justin war sprachlos. Bisher hatte er Miss Lane für ziemlich oberflächlich und eigensüchtig gehalten, doch jetzt änderte er seine Meinung über sie. Ihr warmherziges
Eintreten für Caroline beeindruckte ihn zutiefst. Auch begriff er, dass ihre Meinung über ihre Schwester richtig war und er Caroline Unrecht getan hatte. Vielleicht hätte er ihr wahres Wesen früher erkennen sollen, doch er rechtfertigte sich mit dem Gedanken, dass sie ihm nie Gelegenheit gegeben hatte, alle Facetten ihres Charakters zu beurteilen. Wochenlang war er mit ihr zusammen gewesen, hatte anrege nde Gespräche mit ihr geführt, ihre Gesellschaft genossen, sich in sie verliebt und sie geküsst, mit ihr getanzt und ihre einzigartige Ausstrahlung bewundert. Nie jedoch war ihm der Gedanke gekommen, Mrs. Archer und sie könnten ein und dieselbe Person sein. Es war ihm unerklärlich, warum er es nicht gemerkt hatte. In dieser Hinsicht kam er sich töricht vor, aber noch mehr ärgerte ihn sein schnödes Verhalten, nachdem sie ihm ihr Geständnis gemacht hatte. Er war kleinlich, engstirnig und egoistisch gewesen, als er sich von ihr abgewandt hatte. Jetzt bedauerte er, sie falsch eingeschätzt zu haben. Sie war imstande gewesen, sich für ein Leben zu entscheiden, das sie verabscheute, und es vier Jahre lang ihrer Schwester zuliebe zu ertragen. Diese Einstellung imponierte ihm, weil er sie nachvollziehen konnte. Auch er würde alles tun, um Harold eine sorgenfreie Zukunft zu sichern, selbst wenn der Bruder ihm hin und wieder auf die Nerven ging. Nun würde er Caroline verlieren. Irgendwie musste er das verhindern. Noch wüsste er jedoch nicht, wie er das anstellen solle. „Caroline befürchtet, Sie könnten allen Leuten erzählen, dass sie die Besitzerin eines Spielsalons war“, flüsterte Phoebe kläglich. „Es liegt auf der Hand, was dann passiert. Wir würden gesellschaftlich geächtet, und Miss Sarah dürfte nicht mehr mit mir verkehren. “ „Seien Sie unbesorgt, Miss Lane “, erwiderte Justin beruhigend. „Ich werde niemandem etwas Abträgliches über Ihre Schwester berichten. Und daher müssen Sie die Stadt auch nicht verlassen. “ „Versprechen Sie mir das?“ fragte Phoebe hoffnungsvoll. „Ja!“ In diesem Moment wurde das Gespräch durch das Erscheinen seiner Mutter und seines Bruders unterbrochen. „Ich habe zu meinem Befremden ...“, begann Amelia. „Oh, guten Tag, Miss Lane “, fügte sie ein wenig kühl hinzu. Wie der Earl war auch Phoebe aufgestanden. „Guten Tag, Mylady“, sagte das Mädchen höflich und bemühte sich, ein freundliches Gesicht zu machen. Überrascht bemerkte Harold, dass seine Angebetete geweint hatte. „Darf ich wissen, was hier vorgefallen ist?“ erkundigte er sich steif und näherte sich drohend dem Bruder. „Bist du Miss Lane zu nahe getreten? “ „Unsinn“, antwortete Justin ärgerlich. „Wofür hältst du mich?“ „Geratet euch nicht in die Haare!“ warf Amelia hastig ein. Rasch stellte sich Phoebe zwischen die beiden Herren und sagte beschwörend: „Sie haben keinen Anlass, Lord Keir, Ihrem Bruder unmanierliches Betragen zu unterstellen. Ich bin hergekommen, um mit ihm über meine Schwester zu reden. “ „Dann entschuldige bitte, Justin“, murmelte der Viscount verlegen. „Schon gut“, erwiderte Justin. „Dass ihr wie Streithähne aufeinander loszugehen bereit seid, gehört sich wirklich nicht, Harry“, schaltete Amelia sich, an ihren Ältesten gewandt, wieder ein. „An sich wollte ich heute ins Kaffeehaus und euch bitten, mich zu begleiten. Doch nun glaube ich, dass es besser ist, wenn unser Gast und ich auf eure Gesellschaft verzichten. Sie schließen sich mir doch an, nicht wahr, Miss Lane?“ „Ja, gern“, antwortete Phoebe erfreut. „Dann kommen Sie “, forderte die Dowager Countess sie auf und verließ mit ihr die Bibliothek.
Kein Badegast war zu sehen, und auf der Uferpromenade befanden sich nur wenige Passanten. Die meisten Leute waren wohl zum Tee nach Hause gegangen. Justin schlenderte am Wasser entlang und gr übelte darüber nach, wie er sich Caroline gegenüber verhalten solle. Er liebte sie. Er war sich gewahr, dass er sich schon in sie verliebt hatte, als sie für ihn noch Mrs. Archer gewesen war. Und seine Gefühle für sie hatten sich vertieft, nachdem er sie als Mrs. Aldritch kennen gelernt hatte. Es war ihm nicht mehr wichtig, wie sie sich nannte, denn bekanntlich waren Namen Schall und Rauch. Er überlegte, wie er sich an ihrer Stelle verhalten hätte. Wäre er mittellos und ihm die Möglichkeit gegeben gewesen, einen Spielsalon zu übernehmen, dann hätte er sich selbstverständlich für das Etablissement entschieden. Folglich konnte er ihr nicht anlasten, dass sie diesen für eine Dame aus gutem Haus höchst ungewöhnlichen Weg beschritten hatte. Zunächst hatte er angenommen, sie habe aus purem Eigennutz gehandelt, aus dem Bedürfnis, schnell reich zu werden. Nun jedoch sagte er sich, dass sie viel zu anständig war, um sich aus reiner Selbstsucht über alle gesellschaftlichen Spielregeln hinwegzusetzen. Im Gegenteil, sie hatte großen Mut bewiesen und war sogar sehr erfolgreich gewesen. So mancher Mann hatte sie darum beneidet, wie gut sie die Geschäfte in der ‚Goldenen Feder’ zu führen verstanden hatte. Unter ihrer Leitung hatte der Salon zu den besten seiner Art in ga nz London gezählt und viele vermögende Gäste angelockt. Auf diese Weise war es Caroline gelungen, ihre Zukunft und die ihrer Schwester abzusichern, was zweifellos ein löbliches Unterfangen war. Justin gelangte zu der Einsicht, dass es unabdingbar war, sich bei ihr zu entschuldigen. Er machte kehrt und ging den Weg zurück zu dem neben seiner Residenz gelegenen Haus. Unversehens verlangsamte er die Schritte, denn je näher er dem Anwesen kam, desto unbehaglicher wurde ihm zu Mute. Plötzlich waren ihm all die schönen Worte entfallen, die zu sagen er sich vorgenommen hatte, um die Frau, die er liebte, zu beruhigen und zurückzugewinnen Ihm war klar, dass diese anstehende Unterredung eine der wichtigsten in seinem Leben sein würde. Die Zeit drängte, da er keine Ahnung hatte, wann Caroline die Stadt verlassen wollte. Tief durchatme nd straffte er sich und ging schneller, damit er nicht Gefahr lief, nur noch die mit Gepäck hoch beladene Kutsche abfahren zu sehen.
Jemand hatte an die Haustür geklopft. Caroline unterbrach das Packen, schaute auf und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Verblüfft überlegte sie, wer sie aufsuchen mochte, und beschloss, niemanden zu empfangen, da ihre Arbeit noch längst nicht beendet war. Sie lauschte, ob Mary oder das Dienstmädchen zur Haustür gingen, hörte jedoch nichts. Einen Moment später wurde der Türklopfer erneut betätigt. Verstimmt legte Caroline die Roben aufs Bett, die sie gerade aus dem Schrank genommen hatte, gewillt, denjenigen, der sie sprechen wollte, schnell abzufertigen, damit sie weiterarbeiten und die Stadt rasch verlassen konnte. Missmutig machte sie sich auf den Weg nach unten. Sie befand sich noch auf der Treppe, als Mary die Haustür öffnete und den Besucher verblüfft anstarrte. „Sie, Sir?“ fragte sie befremdet. „Ich befürchte, für Sie ist Mrs. Aldritch nicht mehr zu sprechen. “ Sie wollte die Haustür schließen, wurde indes vom Earl of Lyndon daran gehindert, der flink den rechten Fuß in den Spalt stellte.
„Ich weiß, dass ich im Moment hier nicht gut gelitten bin“, räumte er ein. „Dennoch muss ich unbedingt mit Mrs. Aldritch reden.“ „Würden Sie die Güte haben, Sir, Ihren Fuß wegzunehmen, damit ich die Tür zumachen kann?“ fragte Mary eisig. Als sie Justins stimme hörte, blieb Caroline verwundert stehen und fragte sich, warum er sie aufgesucht hatte. Vielleicht war er hergekommen, um ihr Vorwürfe zu machen, weil sie ihm so lange verschwiegen hatte, dass sie die Eigentümerin des Spielclubs gewesen war. Gewiss wollte er ihr mitteilen, dass er ihr jeden weiteren Umgang mit seinen Angehörigen verbot. Einen Augenblick lang schwankte sie zwischen dem Wunsch zu fliehen, da sein Anblick ihr noch mehr Seelenschmerzbereiten würde, und dem Bedürfnis, ihn äußern zu hören, sein Verhalten täte ihm Leid. Einerseits war sie nicht willens, sich seine Anwürfe anzuhören, andererseits hoffte sie, dass er zur Einsicht gelangt sei und begriffen habe, wie kaltherzig sein Benehmen gewesen war. Dann schritt sie die letzten Stufen hinunter und sagte: „Schon gut, Mary. Ich werde Seine Lordschaft empfangen. “ Fassungslos schaute die Zofe sie an, ging indes gehorsam zur Seite und ließ Lord Lyndon eintreten. Nach einem letzten feindseligen Blick wandte sie sich ab und verließ das Foyer. Justin verneigte sich und äußerte ernst: „Ich bedauere, sie zu belästigen, Madam, aber es ist mir ein Herzensanliegen, eine Aussprache mit Ihnen zu haben. “ „Sie stören mich tatsächlich“, erwiderte Caroline frostig. „Ich bin jedoch bereit, Ihnen einige Minuten meiner sehr knapp bemessenen Zeit zu schenken. Wenn Sie mir bitte in den Empfangssalon folgen würden“, setzte sie hinzu und ging Seiner Lordschaft voran. Er folgte ihr, überholte sie und hielt ihr die Salontür auf. „Danke“, äußerte sie kühl, betrat den Raum und ließ sich auf der Kante des Kanapees nieder. „Bitte, schließen Sie die Tür“, forderte sie den Earl auf, weil sie nicht wollte, dass jemand das bevorstehende Gespräch mit anhörte. Sobald Lord Lyndon sich ihr näherte, wies sie auf den ihr gegenüberstehenden Sessel und sagte höflich: „Nehmen Sie Platz!“ Justin tat, wie ihm geheißen, und wusste nicht, wie er anfangen sollte. „Ich ... es fallt mir schwer ...“, begann er unbehaglich und hielt inne. Abwartend sah Caroline ihn an. „Sie machen es mir nicht leicht, Madam“, murmelte er betreten. Sie hatte nicht vor, ihm die Unterredung in irgendeiner Weise einfacher zu gestalten. „Ich wäre Ihnen dankbar, Sir, wenn Sie zur Sache kämen“, erwiderte sie reserviert. „Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass ich sehr in Eile bin.“ „Ja, ja, ich weiß “, äußerte er verlegen. „Heute Nachmittag hat Ihre Schwester mich aufgesucht.“ „Phoebe?“ fragte Caroline verdutzt und ärgerte sich. Das Mädchen hatte behauptet, mit Miss Sarah zum Tee verabredet zu sein. „Soweit ich weiß, ist sie bei Lady Bellweather. Wieso war sie bei lhnen? “ „Sie hat mir ... um es etwas salopp auszudrücken ... den Kopf gewaschen. “ „Sie belieben zu scherzen, Mylord!“ erwiderte Caroline bestürzt. Phoebe war zwar unbesonnen, aber wenn sie gewagt haben sollte, Seiner Lordschaft Vorhaltungen zu machen, dann würde sie das bitter bereuen. „Nein“, widersprach er. „Sie hat mir sehr deutlich zu verstehen gegeben, was sie von mir hält, und mich dabei einen Nonvaleur und Taugenichts genannt.“ Entgeistert starrte Caroline Lord Lyndon an. „Ich bin entsetzt“, flüsterte sie erschüttert. „Wie kann meine Schwester sich so vergessen? Ich begreife nicht, was in sie gefahren sein mag. Schließlich hat man ihr im Alumnat doch gute Manieren beigebracht!“ „Grämen Sie sich nicht, Madam“, erwiderte Justin beschwichtigend. „Sie hatte Recht, mir die Augen zu öffnen. Ich habe mich Ihnen gegenüber abscheulich benommen. Ihr habe ich es
zu verdanken, dass ich das eingesehen und erkannt habe, wie eigensüchtig ich war.“ Nicht fähig, sich länger zu beherrschen, stand Justin auf, ging zu Caroline und setzte sich zu ihr auf das Kanapee. Unwillkürlich rückte sie ein Stück von ihm ab. „Ich weiß, es gehört sich nicht, Mrs. Aldritch ... Caroline, dass ich so gegen die Form verstoße, aber ich möchte dir sagen, dass mein Verhalten am Strand mir unendlich Leid tut.“ Sie verschränkte die Finger im Schoß, um sich daran zu hindern, Justin über die Wange zu streichen. „Sie ... du überraschst mich sehr!“ flüsterte sie. „Ich habe nicht damit gerechnet, dass du Abbitte leisten würdest.“ „Ich gebe zu, dass ich anfänglich sehr empört war“, gestand er. „Nachdem du mir anvertraut hattest, in welch desolater Lage du nach dem Tod deines Mannes warst und weshalb du die Entscheidung trafst, die ,Goldene Feder’ zu übernehmen, hätte ich Verständnis für dich aufbringen müssen. Schließlich hast du mir gesagt, du hättest dir diesen Schritt reiflich überlegt. Und deine Argumentation, warum du mich nicht früher informiert hast, ist nicht von der Hand zu weisen, vor allem deine Befürchtung, dass nach Bekanntwerden deiner früheren Tätigkeit dein guter Ruf und der Phoebes sehr gelitten hätten. Ich hätte erkennen müssen, dass du nur zum Wohl deiner Schwester gehandelt hast, war indes viel zu aufgeregt, zu sehr aus der Fassung geraten, um in diesem Moment klar und nüchtern denken zu können. Ich fühlte mich hintergangen und zutiefst in meinem Stolz verletzt.“ „Du ahnst nicht, wie oft ich vorhatte, dir anzuvertrauen, dass Mrs. Archer und ich ein und dieselbe Person sind“. warf Caroline beklommen ein. „Ich habe es nicht über mich gebracht, weil ich nicht wollte, dass Phoebe unter dieser Tatsache zu leiden hat. Heute hingegen hatte ich mich jedoch, weil unsere Beziehung zueinander sich vertieft hat, endlich dazu durchgerungen, dir mein, Geständnis zu machen. Du wirst dich erinnern, dass ich dir sagte, du hättest niemals Umgang mit meiner Schwester und mir haben wollen, wärest du über meine frühere Tätigkeit im Bilde gewesen; und auch deiner Mutter und deinem Bruder verboten, mit uns zu verkehren. Das wiederum hätte bedeutet, dass die gute Gesellschaft der Stadt eurem Beispiel gefolgt wäre, allen voran Lady Bellweather! Phoebe zuliebe wollte ich diese Situation vermeiden. “ „Ja, mittlerweile sehe ich das ein“, murmelte Justin. „Mir wäre ein Skandal gleich gewesen“, fuhr Caroline dumpf fort. „Ich wäre aufs Land gezogen und hätte nicht mehr in Gesellschaft verkehrt. Das kann ich indes meiner Schwester nicht zumuten. Sie ist noch so jung und hat noch nichts vom Leben gehabt. Und deshalb gedenke ich, Wycombe zu verlassen, damit sie unbeschwert in die Zukunft sehen kann. Leichten Herzens reise ich nicht ab, denn in den vergangenen Wochen sind deine Mutter und dein Bruder mir sehr sympathisch geworden. “ „Du hast mich ausgelassen“, warf Justin trocken ein. „Magst du mich nicht mehr?“ „Was für eine dumme Frage!“ antwortete Caroline und konnte sich nicht länger beherrschen. Bewegt umrahmte sie sein Gesicht mit den Händen und fuhr fort: „Ich bin dir noch immer gut. Du bist der Mann, den ich mir immer in meinen Träumen gewünscht habe.“ „Heißt das, du liebst mich noch? “ „Natürlich liebe ich dich! “ flüsterte Caroline gerührt. Er beugte sich zu ihr, schlang die Arme um sie und küsste sie stürmisch. Begierig drängte sie sich an ihn, legte ihm die Arme um den Nacken und erwiderte hingebungsvoll seine Zärtlichkeiten. Erst nach einer Weile richtete er sich auf, lang nach Luft und schaute Caroline an. „Warum habe ich dich nicht schon vor vielen Jahren getroffen? “ fragte er und schüttelte leicht den Kopf. „Dann hättest zu nach Devonshire kommen müssen“, antwortete sie lächelnd. „Warst du je dort?“
„Nein. Aber wären wir uns dort begegnet, hättest du deinen Mann nicht geheiratet, und mir wäre es erspart geblieben, nach Indien reisen zu müssen. Wir wären seit Jahren ein Paar und hätten vielleicht schon sechs Kinder!“
11. KAPITEL
Justin konnte nicht widerstehen, Caroline noch einmal voller Leidenschaft zu küssen. Sie fest an sich drückend, streichelte er ihr sanft den Rücken, drückte ihr Küsse auf Stirn, Wangen und Hals und erkundete immer wieder die Süße ihres Mundes. Sanft schob sie ihn nach geraumer Ze it von sich, strich sich über das Haar und äußerte ernst: „Ich glaube nicht, dass aus uns schon vor Jahren ein Paar geworden wäre. Damals hatten wir beide eine ganz andere Einstellung zum Leben. Ich war noch sehr jung, als ich Lawrence heiratete, und ihm, wie ich heute weiß, keine sehr gute Gattin. “ „Bist du willens, mir von deiner Ehe zu erzählen? “ Caroline lehnte sich zurück, nickte und sagte: „Meine Eltern stammten beide aus guten, alten Familien, waren jedoch nicht sehr begütert. Daher lebten wir mehr schlecht als recht auf dem Land. Je älter ich wurde, desto deutlicher begriff ich, dass sie von mir erwarteten, eine gute Partie zu machen, damit es auch ihnen besser erging. Und damit mir das gelang, hatten sie gespart, um mir eine Saison in London zu ermöglichen. Dazu kam es indes nicht, denn ich wähnte mich in Lawrence verliebt. Die Aldritchs waren Nachbarn von uns und lebten in ähnlich ärmlichen Verhältnissen wie wir. Der Vater trank, und Lawrence hat einmal durchblicken lassen, dass auch die Mutter stark dem Alkohol zusprach. Um ihre Misere zu beenden, wollten seine Eltern, dass er eine Frau mit großer Mitgift heiratet. Er hörte jedoch nicht auf sie und hat sich oft heimlich mit mir getroffen. “ „Den Rest kann ich mir gut vorstellen“, warf Justin ein. „Es kam, wie es kommen musste“, fuhr Caroline fort. „Lawrence und ich flohen nach Gretna Green und ließen uns dort trauen. Nach unserer Rückkehr waren unsere Eltern natürlich furchtbar wütend auf uns, weil wir ihnen einen Strich durch ihre jeweiligen Pläne gemacht hatten. Nicht einmal meine Mutter, die im Allgemeinen zu mir gestanden hatte, war willens, mir meine Torheit, wie sie es nannte, zu verzeihen. Die Folge war, dass sowohl Lawrence als auch ich enterbt wurden. Daraufhin siedelten wir nach London um, wo er, wie er mir immer wieder versicherte, Arbeit finden würde. Es hat reichlich lange gedauert bis ich begriff, was er damit meinte.“ „War er schon zu Beginn eurer Ehe spielsüchtig? “ „Ja“ bestätigte Caroline bedrückt. „Oft ging er sehr spät aus und ließ mich in unserer bescheidenen Unterkunft zurück. Im Laufe der Zeit habe ich erfahren, dass er mit seinen Freunden zusammen war, vermutlich also auch mit dir.“ Unwillkürlich fühlte Justin sich getroffen. „Er hat stets behauptet, dass es seine Frau nicht stören würde, wenn er mitten in der Nacht verschwände“, erwiderte er zu einer Verteidigung. „Natürlich war ich nicht erbaut “, sagte Caroline entrüstet. „Ich habe jedoch geschwiegen, weil ich Lawrence liebte und dumm war. Ungefähr ein Jahr nach der Hochzeit“, fuhr sie fort „verlor er eine hohe Summe beim Glücksspiel. Ich war damals guter Hoffnung und hatte Geld vor ihm versteckt, um Lebensmittel kaufen zu können. Eines Abends fand er es und schrie fürchterlich herum. Im Allgemeinen war er nicht gewalttätig, an jenem Tag jedoch hatte er bereits sehr viel getrunken. Er tobte und warf eine Vase nach mir. Ich versuchte ihr auszuweichen, knickte um und zog mir an einer herumliegenden Scherbe einen tiefen Schnitt an der Fessel zu. Ein paar Stunden darauf erlitt ich dann eine Fehlgeburt.“ Caroline schloss die Augen. Die Erinnerung an dieses schreckliche Erlebnis quälte sie immer noch. Justin streckte die Hand aus, legte sie auf ihre und äußerte weich: „Es tut mir so Leid für dich. “ „Vielleicht war das, was ich damals als niederschmetternden Schicksalsschlag empfand, ein Segen, wenn man berücksichtigt, wie sehr mein Kind unter den Spannungen zwischen mir und Lawrence gelitten hätte.“ Caroline schwieg einen Moment und fuhr dann bedächtig fort:
„Außerdem wäre es nie dazu gekommen, dass ich den Spielsalon übernommen und dich kennen gelernt hätte, wäre das Kind geboren worden. “ „Deine Schwester hat mir erzählt, dass du deine Tätigkeit in der ,Goldenen Feder’ verabscheut hast“, warf Justin ein. „So würde ich es nicht ausdrücken“, widersprach Caroline. „Ich habe es gehasst, wenn Männer mich mit Blicken auszogen oder zu berühren versuchten. Es hat mich angeekelt, die Betrunkenen zu sehen, die oft randalierten, wenn sie verloren hatten. Die Leitung des Salons als solche war mir nicht zuwider. Das Unternehmen bot mir Unabhängigkeit und die Möglichkeit, Phoebe und mir eine abgesicherte Zukunft zu verschaffen. Diese Überschreibungsurkunde für die ,Goldene Feder’, Lawrences ungewolltes Vermächtnis an mich, war letztlich das Beste, was mir in meiner damaligen desolaten Lage passieren konnte. Und das Etablissement hat mir auch etwas unendlich Wertvolles gebracht - die Bekanntschaft mit dir, Justin. “ Erneut neigte er sich zu Caroline, gab ihr einen zärtlichen Kuss und äußerte bewundernd: „Du bist die couragierteste Frau, die mir je begegnet ist.“ „Couragiert?“ wiederholte sie und spürte sich erröten. „Nun, vielleicht war es mutig von mir, mich gegen die gesellschaftlichen Normen zu stellen, aber ich habe nur getan, was zum Überleben notwendig war. Wenn ich daran denke, dass du in Kanara auf die Tigerjagd gegangen bist und dich mehr als einmal gegen Räuber wehren musstest, meine ich, du warst viel tapferer als ich. Dazu wäre ich nie fähig gewesen, nicht einmal Phoebe zuliebe.“ „Ich fürchte, du siehst meinen Aufenthalt in Mangalur nicht im richtigen Licht “, entgegnete Justin trocken. „Mein Vater schickte mich nach dem dritten Duell dorthin in die Verbannung. Er wusste nicht, wie er mich anders zur Raison bringen sollte.“ „Du hast drei Duelle ausgetragen? “ fragte Caroline überrascht. „Das kann ich mir gar nicht vorstellen! “ „Es stimmt“, bestätigte Justin. „Ich war ein Hitzkopf. Harrys Eskapaden sind nichts im Vergleich zu den Dingen, die ich mir geleistet habe. Vielleicht verstehst du, dass ich meinen Vater zunächst gehasst habe und ganz gegen das, was ich in Mangalur vorfand, eingenommen war. Mittlerweile bin ich ihm jedoch dankbar dafür, dass er mich aus dem Haus gescheucht hat. Durch die danach gesammelten Erfahrungen bin ich reifer und innerlich unabhängiger geworden. Ich habe gelernt, worauf es im Leben wirklich ankommt. Wichtig sind doch nur eine gute Ehe, eine intakte Familie und ein unbeschadeter Ruf. Insofern hast du Recht, wenn du bezweifelst, dass schon vor Jahren ein Paar aus uns hätte werden können. Es stimmt, damals hatten wir beide eine ganz andere Einstellung zu den Dingen. “ ,Ja“, pflichtete Caroline ihm bei. „wir waren beide entschieden zu sorglos und unerfahren. “ „Inzwischen haben wir uns verändert, und das ist eine gute Voraussetzung für unsere Ehe.“ „Du willst mich heiraten?', fr agte Caroline verblüfft. „Ja, natürlich! “ antwortete Justin lächelnd. „Du hast doch hoffentlich nicht angenommen, dass ich dich zu meiner Mätresse machen will, nicht wahr?“ „Nein, das nicht“, gestand sie, „allerdings auch nicht, dass du den Wunsch haben könntest, dich mit mir zu vermählen. “ „Und wie hast du dir dann unsere gemeinsame Zukunftvorgestellt?“ Das war eine gute Frage, auf die Caroline nicht sogleich die Antwort parat hatte. Sie hatte nie mit dem Gedanken gespielt, Justins Frau zu werden, weil ihr so lange gehütetes Geheimnis für sie ein Hinderungsgrund gewesen war. Nun wusste Justin über sie Bescheid und war dennoch entschlossen, sie zu seiner Gemahlin zu machen. Er bot ihr sich selbst an, seine Liebe, seinen Namen und Titel, ein Heim, Geborgenheit und hohes Ansehen. Sie sehnte sich danach, eigensüchtig zu sein und ihn zu erhö ren. Aber es galt, die Konsequenzen zu berücksichtigen. Die Gefahr, dass jemand sie im Verlauf ihrer Ehe mit
Mrs. Archer in Verbindung brachte, war viel zu groß. Es würde einen furchtbaren Skandal geben, wenn die Gesellschaft erfuhr, dass die Countess of Lyndon einst die Besitzerin eines Spielsalons gewesen war. Und das mochte sie Justin und seiner Familie nicht antun. Es fiel ihr schwer, ihm zu entsagen, der wundervollen Zukunft, die sie gewiss mit ihm gehabt hätte. „Nein, Justin“, entgegnete sie tapfer. „Ich kann und werde dich nicht heiraten. “ „Warum nicht?“ Entgeistert schaute er sie an. „Wir lieben uns doch, Caroline! Warum willst du nicht meine Gattin werden? “ „Ja, ich liebe dich“, bestätigte sie, den Tränen nahe. „Und genau das ist der Grund, warum ich nicht deine Frau werden kann. “ „Ich begreife dich nicht! Kein vernünftiger Mensch würde das tun! Welchen Grund hast du für deine Weigerung?“ „Liegt er nicht auf der Hand?“ fragte Caroline bedrückt. „Hast du nicht in Betracht gezogen, dass einer der Gentlemen, die früher bei mir in der ,Goldenen Feder’ verkehrten, mich erkennen könnte, wenn ich deine Gattin bin? Muss ich dich darauf hinweisen, welches Aufsehen die Neuigkeit erregen würde, dass deine Gemahlin einen Spielsalon geleitet hat, selbst wenn er sehr hochkarätig war?“ „Nein, darauf musst du mich nicht aufmerksam machen!“ antwortete Justin erregt. „Ich will nicht, dass es einen Skandal um mich gibt, der dich und alle deine Angehörigen in Mitleidenschaft zieht. Dafür habe ich dich, deine Mutter und deinen Bruder viel zu gern! “ „Mach dich nicht lächerlich! “ erwiderte Justin verkniffen. „Außer mir, deiner Schwester und deiner Zofe weiß niemand, dass du je den Fuß in die ,Goldene Feder’ gesetzt hast! Du willst doch wohl nicht andeuten, dass wir auch nur ein Sterbenswörtchen über diesen Teil deiner Vergangenheit verlieren würden! “ „Du hast die Verbindung zwischen mir und Mrs. Archer …“ „Aber doch nur wegen der Narbe! Und es wird doch wohl ebenso wenig zu deinen Verhaltensweisen als Mrs. Archer gehört haben, sie den Gästen des Etablissements zu zeigen, wie es zu deinen Gewohnheiten als Mrs. Aldritch zählt, jeder Person, die dir über den Weg läuft, einen Blick darauf zu ermöglichen.“ „Natürlich nicht!“ erwiderte Caroline entrüstet. „Bisher hat nicht einmal Harry Mrs. Archer in dir erkannt!“ fuhr Justin aufgebracht fort. “Warum sollte dann jemand anderer den Verdacht schöpfen, die frühere Besitzerin der ,Goldenen Feder’ vor sich zu haben?“ „Gleichviel, ich will kein Risiko eingehen“, murmelte sie beklommen. Justin war sprachlos. Ein widersinnigeres Verhalten hatte er noch nie erlebt. „Wie du willst, Caroline“, äußerte er nach einer Weile schroff. „Opfere dich auf! Aber ich verspreche dir, dass ich nicht aufgeben, sondern dich immer wieder bestürmen werde, mich zu heiraten, bis du schließlich einwilligst! Auf wiedersehen! “ setzte er erbost hinzu, stand auf und verließ mit langen Schritten den Empfangssalon. Einen Augenblick später hörte Caroline die Haustür ins Schloss fallen. Sie fand es unsinnig von Justin, ihr vorzuwerfen, sie opfere sich auf. Ihrer Meinung nach hatte sie lediglich eine vernünftige Entscheidung getroffen.
Die Musik langweilte Phoebe. Außerdem gab es wichtigeres, als der Geigerin zuzuhören. Ohne Rücksicht auf die in der Nähe sitzenden Gäste raunte sie dem neben ihr sitzenden Viscount zu: „Es war schrecklich! Ich war auf dem Weg zur Eingangstür, als plötzlich Ihr Bruder, Sir, hochroten Gesichts aus dem Haus stürmte und wortlos an mir vorbei rannte. Ich bin überzeugt, er hat mich nicht einmal wahrgenommen. “ Harold zog es vor, nichts zu erwidern, sondern Interesse an der musikalischen Darbietung zu heucheln.
„Und dann, als ich ins Haus kam, hörte ich meine Schwester im Empfangssalon schluchzen“, fuhr Phoebe gnadenlos fort. „Sobald sie mich sah, bemühte sie sich um Fassung und ich hatte gehofft, ich könne das Zerwürfnis zwischen ihr und Lord Lyndon beheben! Jetzt habe ich das Gefühl, alles nur noch schlimmer gemacht zu haben. Es muss etwas Gravierendes geschehen sein, denn sonst wäre Seine Lordschaft wohl kaum blindlings fortgerannt.“ „Psst!“ hörte man jemanden aus der vorderen Reihe zischen. Phoebe sah zu ihrer Schwester hin, die offenbar hingerissen dem Vortrag des Stücks lauschte, und dann zum Earl of Lyndon, der mit der Dowager countess und Lady Bellweather auf der anderen Seite des Raums saß. Er starrte zum Podium, doch Phoebe bemerkte, dass er einige Male verstohlen zu Caroline blickte. Es schmerzte sie, dass die Schwester seit drei Tagen so niedergeschlagen war, denn sie hätte sie gern glücklich gesehen. Leider hatte Caroline ihr nicht anvertraut, warum es zwischen ihr und Lord Lyndon zu einer neuerlichen Auseinandersetzung gekommen war. Phoebe war jedoch fest entschlossen, auch dieses Mal hilfreich einzugreifen, denn schließlich liebten sich Caroline und Lord Lyndon. Ein Blinder hätte das gesehen! „Was kann zu diesem Bruch geführt haben? “ schaltete sich Sarah, die auf der anderen Seite des Viscount saß, flüsternd ein. „Ich habe keine Ahnung“, antwortete Phoebe. „Caroline möchte zwar die Stadt nicht mehr sofort verlassen, sondern erst am Wochenende, aber ich will nicht nach Devonshire! Ich käme viel lieber mit Ihnen nach Brighton, Sarah. “ „Ich würde mich freuen, wenn das möglich ist“, erwiderte die junge Dame gedämpft. „Würden die Herrschaften bitte still sein?“ raunte ein hinter ihr sitzender Gentleman ihnen zu. Phoebe warf dem Mann einen pikierten Blick zu und wandte sich an Lord Keir: „Hat Ihr Bruder Ihnen gegenüber angedeutet, warum er plötzlich mit Caroline zerstritten ist?“ „Nein“, antwortete Harold. „Er ist unerträglich und hat ständig etwas auszusetzen. Wenn das so weitergeht, fahre ich mit dem größten Vergnügen nach Seward Park.“ Nachdenklich krauste Phoebe die Stirn und erwiderte Verhalten: „Da weder er noch meine Schwester gewillt zu sein scheinen, die Sache zu bereinigen, müssen wir etwas unternehmen! Sobald dieses Gesäge auf der Geige aufgehört hat und die Pause gekommen ist, sollten wir uns überlegen, was wir für die unglücklich Liebenden tun können! “ Justin ahnte, dass sein Bruder und die beiden jungen Damen irgendetwas im Schilde führten. Es war ihm nicht entgangen, dass die drei während des ersten Teils des Konzerts fortlaufend getuschelt hatten, und auc h jetzt standen sie flüsternd im Hintergrund des Musiksalons. Er hätte gern gewusst, was sie ausheckten. Ihm war bisher kein Weg eingefallen, wie er Caroline davon überzeugen konnte, seine Gattin zu werden. Das Grübeln über einen geeigneten Weg hatte ihn tagsüber sehr abgelenkt und auch nachts nicht richtig zur Ruhe kommen lassen. Dennoch stand er weiterhin ratlos vor der Frage, was er tun könne, damit Caroline begriff, dass außer ihr für ihn nichts von Bedeutung war. Ihre Befürchtungen, es könne zu einem Skandal um sie kommen, waren zwar nicht unbegründet, aber selbst wenn einer ihrer früheren Gäste in ihr die Besitzerin der ‚Goldenen Feder’ erkennen sollte, würde er mit ihr und seinen Angehörigen nach Waring Castle reisen und dort abwarten, bis das Aufsehe n sich gelegt hatte. Entschlossen, zu erfahren, was sein Bruder und die jungen Leute planten, schlenderte er zu ihnen und fand den Argwohn, dass sie irgendwie einzugreifen gedachten, in dem Moment bestätigt, als die Unterhaltung zwischen ihnen jäh aufhörte. „Es tut mir Leid, wenn ich störe“, sagte er lächelnd. „Aber ich wäre dankbar, wenn man mich in die Pläne, die hier geschmiedet werden, einweihen könnte.“
Bedrückt fragte sich Caroline, ob diese Soiree nie ein Ende nehmen würde. Sie blickte zum Podium und beobachtete die Geigerin, die sich redlich mühte, das Stück so vorzutragen, dass man eine Ahnung davon bekam, warum das Werk den Titel Teufelstriller-Sonate trug. Wenngleich sie Interesse an der unschön dargebotenen Musik heuchelte, war sie sich bewusst, dass Justin versuchte, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Am liebsten wäre sie jedoch nach Hause gegangen und hätte sich in ihrem Zimmer eingeschlossen, um in Ruhe zu sich zu kommen. Seit drei Tagen versuchte sie ihr inneres Gleichgewicht wieder zu finden, doch das war ihr bisher nicht gelungen. Sie hatte es vermieden, mit Justin zu reden, und sich vorgehalten, das Richtige zu tun, denn wenn sie ihrem Herzen nachgab und ihn heiratete, würde sie zwar vielleicht eine Zeit lang mit ihm glücklich sein, aber irgendwann unweigerlich zum Mittelpunkt eines Skandals werden. In diesem Moment würde Justin sich von ihr abwenden, sich mit anderen Frauen einlassen und vielleicht zu trinken anfangen. In der ‚Goldenen Feder’ hatte sie viele Männer erlebt, die bis in die frühen Morgenstunden geblieben waren, nur um nicht früh nach Hause zu ihrer Gattin fahren zu müssen. Ein solches Leben konnte sie sich nicht vorstellen. Sie würde es schrecklich finden, erst die ersehnte Zweisamkeit mit Justin zu haben und dann darauf ve rzichten zu müssen. Das würde schmerzhafter sein, als ihm ganz zu entsagen. Es fiel ihr jedoch schwer, ihn aus den Gedanken zu verbannen, da er ihr ständig prächtige Blumenbouquets schickte. Offensichtlich war er nicht zu akzeptieren gewillt, dass sie die Entscheidung, sich nicht mit ihm zu vermählen, nur in seinem Interesse getroffen hatte. Der Vortrag der Sonate war mit einem grellen Quietscher beendet worden, und die Zuhörer applaudierten höflich. Auch Caroline spendete der misslungenen Darbietung einen Moment lang schwachen Beifall, blickte dann zu Justin hinüber und sah, dass er nicht mehr in seinem Fauteuil saß. Erleichtert stand sie auf und wollte hinüber in den Empfangssalon gehen, bemerkte jedoch, dass Phoebe und Miss Sarah auf sie zukamen. Kaum bei ihrer Schwester, äußerte Phoebe gequäIt: „Ich möchte nach Hause, Caroline, ich habe entsetzliche Kopfschmerzen. “ „Sie haben ganz plötzlich eingesetzt, Madam“, warf Sarah ein, „und müssen so schlimm sein, dass Ihre Schwester nicht aufstehen wollte.“ „Es ist kein Wunder, Phoebe, dass du dich unwohl fühlst, bei der schlechten Luft hier und der wirklich unsäglichen Interpretation der Musik, die jedes Trommelfell beleidigt haben muss“, meinte Caroline. „Also komm! Wir werden uns von unseren Gastgebern verabschieden und heimkehren. “ „Ich wäre dankbar, wenn Sarah mitkommen könnte“, erwiderte Phoebe matt. „Ihre Mutter hat nichts dagegen. “ Caroline furchte verwundert die Stirn. Ihre Schwester hatte den halben Raum durchquert und Lady Bellweathers Einverständnis eingeholt, obwohl sie kaum in der Lage gewesen war, sich aus dem Sessel zu erheben? Nun, wie dem auch sein mochte, sie hatte nichts dagegen einzuwenden, dass Miss Sarah sie begleitete. „Wenn du möchtest, Phoebe“, sagte sie. „Dann lass uns jetzt aufbrechen. “ Caroline begleitete die Schwester und Miss Sarah in Phoebes Schlafzimmer und wollte das zur Straße hin gelegene Fenster schließen. „Nein, lass es bitte offen“, verlangte Phoebe nachdrücklich. „Der Straßenlärm wird dich stören“, meinte Caroline erstaunt. „Bei Kopfschmerzen sollte man absolute Ruhe haben. “ „Ich brauche frische Luft “, flüsterte Phoebe dramatisch. „Wie du willst“, gab Caroline nach. „Gute Besserung, Phoebe, und eine angenehme Nacht. Schlafen sie gut, Miss Sarah. “
Erschrocken warf Phoebe einen Blick auf die Kaminuhr und stellte fest, dass Caroline sich noch nicht zur Ruhe begeben durfte. „Nein, bleib noch ein Weilchen bei mir“, bat sie. „Phoebe“, sagte Caroline kopfschüttelnd, „du solltest dich hinlegen und ausruhen. “ Plötzlich kam ihr der Gedanke, dass das Mädchen die Kopfschmerzen vielleicht nur vortäuschte und mit Miss Sarah, die eine verdächtig unbeteiligte Miene aufgesetzt hatte, irgendetwas plante. Hoffentlich hatte Phoebe nicht vor, heimlich das Haus zu verlassen und mit Lord Keir zu verschwinden. Caroline nahm sich vor, sehr auf der Hut zu sein und auf jedes Geräusch vor dem Haus zu achten. Phoebe hielt es für ratsam, auf die Vorhaltung ihrer Schwester nichts zu erwidern. „Könntest du mir ein Glas warme Milch bringen? “ bat sie stattdessen. Als Caroline nach dem Klingelzug greifen wollte, setzte sie hastig hinzu: „Nein, bitte, ich möchte, dass du sie mir machst. Du weißt viel besser, wie viel Honig hinein muss.“ „Nun war Caroline überzeugt, dass ihre Schwester etwas im Schilde führte. Sie beruhigte sich damit, dass sie es hören würde, wenn etwas Ungewöhnliches im Haus oder draußen geschah, nickte und erwiderte betont gelassen: „Du bist ein Plagegeist, Phoebe. Aber ich werde dir die Milch zubereiten. Ich möchte dich jedoch hier vorfinden, wenn ic h zurückkomme!“ „Was für eine seltsame Bemerkung, Caroline!“ entgegnete Phoebe und gab vor, höchst befremdet zu sein. „Wo sollte ich sonst sein?“ „Ich habe dich gewarnt!“ antwortete Caroline kühl und verließ den Raum. Sie eilte in die Küche, wo sie Mary antraf. „Bitte, gehen Sie nach oben, Mary“, bat sie die Zofe“, und passen Sie auf meine Schwester und Miss Sarah auf. Ich kann Ihnen jetzt keine Erklärung abgeben. Beeilen Sie sich! “ „Wie Sie wünschen, Madam“, erwiderte die Bedienstete verblüfft und befolgte Mrs. Aldritchs Anweisung. Mit Hilfe der Köchin bereitete Caroline die Milch zu und begab sich mit dem gefüllten Glas zu Phoebes Schlafzimmer. Kaum hatte sie die Tür geöffnet, blieb sie wie angewurzelt stehen. Die Schwester, Miss Sarah und Mary beugten sich weit aus dem Fenster und lauschten schaurigen, misstönenden Klängen, die von der Straße heraufdrangen. Caroline konnte nicht unterscheiden, ob es sich bei dem Instrument um eine Laute, eine Mandoline oder eine Gitarre handelte, aber der Mann, der sich darauf begleitete, sang grauenvoll falsch und so laut, dass er mit dem von ihm veranstalteten Lärm Tote hätte erwecken können. Und noch schlimmer war, dass Caroline die Stimme kannte. „Um meine Liebste verströmt euch, ihr freundlichen, zarten Lüfte“, hörte sie den Earl of Lyndon singen, lief zum Nachttisch und setzte das Glas darauf ab. „Und auf die rosigen Wangen küsst sie für mich, ihr süßen, gefälligen Düfte“, erklang es von unten, während sie zum Fenster ging. Kichernd machten Phoebe, Mary und Sarah ihr Platz. „Der Liebsten, die ruht auf den Schwingen des Schlafs“, tönte Lord Lyndons Stimme herauf“, schickt liebliche Träume, enthüllet ihr meine heimliche Liebesglut auf dass auch mein Traum sich erfüllet.“ Caroline lehnte sich aus dem Fenster und sah Justin erwartungsvoll zu ihr hochblicken. Neben ihm stand sein Bruder, der ein Zupfinstrument in den Händen hielt und nicht minder gespannt in die Höhe starrte. Bedauerlicherweise waren die Herren nicht die einzigen Menschen, die sich vor dem Haus eingefunden hatten. Eine beträchtliche Anzahl von Leuten, darunter sogar Gäste des heutigen Geigenkonzerts, hatte sich im Halbkreis um Lautner und Troubadour geschart, der, kaum dass er Carolines gewahr geworden war, mit dem nächsten Lied anhob: „Und lässt du, Grausame, mich auch schmachten, so will doch treu ich dir immer sein.
Meiner Liebe Beständigkeit musst du achten, einmal bin ich auf ewig dein.“ Wider willen musste Caroline lächeln. Die Lieder waren gut ausgewählt, und die Texte sehr beziehungsreich. „Mein liebster Schatz, so glaube mir, mein Herz weint ohne dich“, krächzte Justin, und sein Bruder schlug dazu höchst kakophonische Akkorde an. Caroline fand den Anblick der beiden derart komisch, dass sie schallend zu lachen begann. Jäh wurde ihr jedoch bewusst, dass die Leute sich nicht nur tagelang über den Earl of Lyndon amüsieren würden, der seiner Angebeteten ein Ständchen gebracht hatte, und das sogar in nüchternem Zustand, sondern auch über Caroline, das Objekt seiner Sehnsüchte. „Beende, Grausame, meine QuaI. Der treu dich liebt, singt sonst noch einmal!“ Diese Komödie musste tatsächlich ein Ende haben. „Im Allgemeinen wirft man einem Straßensänger eine Münze zu, Lord Lyndon“, rief Caroline ihm schmunzelnd zu. „Leider war ich nicht auf dieses Konzert vorbereitet, so dass ich kein Geld bei mir habe.“ „Dafür habe ich etwas für dich!“ rief Justin zurück, bückte sich, hob das zu seinen Füßen liegende Blumengebinde auf und schleuderte es mit weit ausholender Geste zum Fenster hoch. Geschickt fing Caroline es auf, roch daran und drückte es an sich. „Wie du siehst, Caroline, habe ich keine Hemmungen, dir zuliebe Mittelpunkt eines Skandals zu werden“, rief Justin ihr fröhlich zu. „Und wenn du mich heute Abend nicht erhörst, dann werde ich Nacht für Nacht vor deinem Haus stehen und dir ein Ständchen nach dem anderen bringen, bis du schließlich einwilligst, mich zu heiraten. “ Caroline hörte die Leute ihm applaudieren und sah sie gespannt zu sich heraufschauen. Jetzt war eingetreten, wovor sie sich geängstigt hatte. Plötzlich war es ihr indes gleich, dass Gott und die Welt ihrer Entscheidung harrten. Sie fand es rührend, dass Justin sich ihretwegen zum Gespött machte, und begriff, wie dumm sie gewesen war, aus falscher Rücksicht auf ihn und seine Angehörigen auf ihn verzichten zu wollen. Sie hatte ihn unterschätzt, nun jedoch begriffen, dass er sich über alle Konventionen hinwegsetzte, weil er sie von Herzen liebte. „Muss ich das nächste Stück anstimmen? “ fragte er grinsend. „Langsam geht mir das Repertoire aus!“ „Nein“, antwortete Caroline selig. „Hiermit gebe ich öffentlich bekannt, Justin, dass ich deine Gattin werden möchte.“ „Sag das noch einmal“, bat er inständig. „Ich werde dich heiraten!' „Tanze, tantze, süßes Mädchen, meinem Liede nach! “ intonierte Justin und hüpfte begeistert unter dem Gitarrengeklimper seines Bruders, den Hochrufen und dem Beifall der Zuschauer im Kreis herum. Phoebe und Sarah fassten sich an den Händen und wirbelten durch das Zimmer, während Mary es geschwind verließ. Justin rannte zur Haustür, die Miss Lyall ihm einen Moment später öffnete, eilte ins Entree und mit langen Schritten auf Caroline zu, die ihm auf der Treppe entgegenkam. Sie blieb stehen, wurde im nächsten Moment um die Taille gefasst und von Justin so stürmisch an sich gedrückt, dass sie befürchtete, mit ihm die Stufen hinunterzufallen. Beschwingt hob er sie hoch und trug sie ins Foyer hinunter. Dort setzte er sie ab und lehnte seine Stirn an ihre. „Ich möchte ganz sicher sein, dass ich richtig gehört habe“, sagte er schmunzelnd. „Hast du wirklich eingewilligt, mich zu heiraten?“ „Ja!“ „Wann? “ „Morgen? “ „Dann müssen wir nach Gretna Green fahren. “ „Wenn es sich nicht vermeiden lässt.“
„Es lässt sich umgehen“, erwiderte Justin fröhlich. „Auch wenn ich am liebsten auf der Stelle mit dir vermählt sein würde, möchte ich nicht, dass du ein weiteres Mal auf ein großes Fest zu deiner Hochzeit verzichten musst. Auch meine Mutter und deine Schwester wären enttäuscht, und Harold sicher ebenfalls, von all meinen Freunden einmal ganz abgesehen. Bist du einverstanden, mit mir im Oktober in Waring Castle vor den Traualtar zu treten? “ „Ja, aber keinen Monat später“, stimmte Caroline lächelnd zu, schmiegte sich an Justin und schloss selig die Augen.
EPILOG
Waring Castle, Oktober 1814 „Bist du glücklich, meine Liebste?“ fragte Justin, während er zu den Klängen des Walzers mit ihr über das Parkett schwebte. „So wunderbar habe ich mich noch nie gefühlt“, antwortete Caroline und drückte seine Hand. Zum ersten Mal seit vielen Jahren war sie vollkommen gelö st und sorgenfrei. „Und wir stehen erst am Anfang unserer Ehe“, erwiderte er schmunzelnd. „Glaub mir, ich freue mich schon jetzt auf all die Jahre, die wir zusammen verbringen werden“, gestand Caroline und gewahrte beim Vorbeitanzen ihre Schwester, die mit dem Schwager und Miss Sarah am Rand des prunkvollen Ballsaals stand. „Es ist ein rauschendes Fest, nicht wahr?“ hörte sie Phoebe noch hingerissen äußern, ehe Justin und sie sich wieder inmitten der anderen Tänzer befanden Phoebe schaute dem Paar hinterher und murmelte entzückt: „Ich komme mir wie in einem Märchen vor!“ Die Herren trugen Galafräcke und die Damen elegante Abendtoiletten und kostbaren Schmuck. Die Stimmung der zahlreich erschienenen Gäste war ausgelassen, und der Champagner floss in Strömen. „Ja, dieser Ball hat etwas Märchenhaftes“, fuhr sie beeindruckt fort. „Und Justin und Caroline sind der Prinz und die Prinzessin, die sich endlich gefunden haben. “ Gerührt beobachtete sie die Schwester, die sichtlich glücklich mit ihrem Gatten tanzte, und lächelte verhalten. Ohne Miss Sarahs und ihr Zutun hatten die Dinge sich wahrscheinlich nicht so schnell und so zufrieden stellend entwickelt. Phoebe war stolz auf sich und nahm sich vor, in ähnlich gelagerten Fällen wieder die gute Fee zu spielen. „Ich ne hme an, wir beide werden uns erst zu Weihnachten wieder sehen“, wandte Harold sich an sie. „Ja, wahrscheinlich“, antwortete sie leichthin. „Du musst nach Seward Park, und ich bin Gast bei Lady Bellweather, bis Caroline und Justin von der Hochzeitsreise zur ück sind.“ „Wirst du mir schreiben, Phoebe?“ erkundigte Harold sich hoffnungsvoll. „Natürlich! “ versicherte sie und hängte sich bei ihm ein. „Schließlich bist du doch jetzt mein Schwager!“ - ENDE