Herausgegeben von Hans Beck und Hans-Ulrich Wiemer
Feiern und Erinnern GESCHICHTSBILDER IM SPIEGEL ANTI KER FESTE
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Herausgegeben von Hans Beck und Hans-Ulrich Wiemer
Feiern und Erinnern GESCHICHTSBILDER IM SPIEGEL ANTI KER FESTE
Herausgegeben von Ernst Baltrusch, Kai Brodersen, Peter Funke, Stefan Rebenich und Uwe Walter
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
.............................................................................................................................
Hans Beck/Hans-Uirich Wiemer. Feiern und Erinnern Hans Beck: Ephebie - Ritual
( ure
eine Einleitung
.................
7
9
Geschichte.
Polisfest und historische Erinnerung im klassischen Griechenland
.............
Hans-Uirich Wiettur. Neue Feste - neue Geschichtsbilder? Zur Erinnerungsfunktion städtischer Feste im Hellenismus
.........................
Rene Pftilschiftet: Die Römer auf der Flucht. Republikanische Feste und Sinnstiftung durch aitiologischen Mythos
......
55
83
1 09
Ra(fBehnvald: Festkalender der frühen K:aiserzeit als Medien der Erinnerung. 141 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Matthäus Heif. Die Jubilarfeiern der römischen Kaiser
.........................................
167
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
lI1ischa Meier. Die Abschaffung der venationes durch Anastasios im Jahr 499 und die ,kosmische' Bedeutung des Hippodroms Register
© 2009
Verlag Antike e.K., Berlin
Einbandgestaltung disegno visuelle kommunikation, Wuppertal Druck und Bindung Henkel GmbH Druckerei, Stuttgart Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbest�mdigem Papier Printed in Germany
ISBN
978-3-938032-34-3
.
............................................................. .................................... .......................
Über die Herausgeber und Autoren
Satz Oliver Hihn, Gießen
........................ ..................
...................................... ..................................
203 233 239
Vorwort
Der vorliegende Band geht auf eine Sektion zurück, die von den Herausgebern auf dem
46.
Deutschen Historikertag in Konstanz im September
2006
aus
gerichtet wurde. In Gapg gesetzt wurde das Unternehmen durch eine lebhafte Diskussion des damaligen Rahrnenthemas GeschichtsBilder, die uns rasch dazu gebracht hat, diese allgemeine Vorgabe auf die Vorstellungs- und Lebenswelt der einfachen Leute herunterzubrechen. Die hier versammelten Geschichts
bilder haben deshalb nur wenig gemeinsam mit der intellektuell-reflexiven Art und Weise, wie sich ein Thukydides oder Tacitus mit der Vergangenheit und ihrer sozialen Konstruktion als Geschichte auseinandergesetzt haben. Statt dessen werfen sie Licht auf Deutungen und Lesarten von Vergangenheit, die in
breiteren Kreisen zirkulierten: oft nur als mündliche Traditionen oder als
mimetische Rituale und kommuniziert zwischen Menschen ohne jede elitäre Bildung, aber mit erheblicher Präsenzkraft und nachhaltigen Sinnangeboten. Der Ausnahmezustand des Festes schien uns besonders gut dazu geeignet, diese Form von antiken Vergangenheitsbildern einzufangen. Die Vorträge der Sektion wurden fur die Druckfassung überarbeitet; hinzu kamen die Beiträge von Matthäus Heil und rvfischa Meier, die das Thema bis in die hohe und späte Kaiserzeit hinein verfolgen. Dennoch kann und soll auch gar nicht der Anspruch erhoben werden, hier ein ganzes Millennium antiker Festkultur abzudecken. Die Studien sind als Diskussionsbeiträge gedacht, die den Zusammenhang zwischen Festen und Geschichtsbildern vom klassischen Griechenland bis in die Spätantike exemplarisch entfalten. Daß drei Jahre nach der Konstanzer Sektion nun ein Buch vorgelegt wernatürlich zuallererst den Kollegen und
den kann, verdanken die Freunden, die sich als Autoren
das Thema eingelassen haben. Oliver Hihn
hat die Manusktipte auf dem Weg zum Buch mit großer Sorgfalt bearbeitet und die Druckvorlage fast alleine erstellt. Er und Joanna Ayaita haben die Heraus geber auch beim Lesen der Korrekturen nachhaltig unterstützt. Beim Erstellen des Registers half Catherine MacPherson. AUen dreien gilt unser her7Jicher Dank. Danken möchten wir schließlich auch den Herausgebern der "Studien zur Alten Geschichte", insbesondere Uwe Walter, die unser Buch in ihre Reihe aufgenommen und hilfreiche Hinweise beigesteuert haben, sowie der Gerda Henkel Stiftung, die einen namhaften Zuschuß zu den Druckkosten gewährt hat.
Montreal/Gießen, Dezember
2009
Hans Beck und Hans-Ulrich Wiemer
Feiern und Erinnern - eine Einleitung
1
Hans Beck/Hans-Ulrich Wiemer
I. Wozu dieser Band? Erinnerung und Gedächtnis stehen seit geraumer Zeit im Zentrum kultur wissenschaftlicher Debatten und werden in ihren vielfaltigen Manifestationen gerade auch von Historikern eingehend untersucht. Die kollektive Vergegen warngung von
ihre mediale Präsentation, sIDnstiftende und
handlungsleitende Funktion und ihre Verankerung in sozialen Praktiken und Diskursen, für die sich die Bezeichnung Geschichtskultur eingebürgert hat, gehören mittlerweile zum Tbemenkanon aller historischen Disziplinen. Sie bilden nach wie vor Kernbereiche aktueller Forschungen. Inzv.dschen liegt eine Vielzahl von Studien zur Geschichtskultur in fast allen Epochen und Regionen der historischen Welt vor, und das Thema findet auch außerhalb der Universiden es erlangt hat, aber auch von
tät große Beachtung. Von dem dem Umfang, den die ihm
Forschungen angenommen haben, legt
die Tatsache, daß es mittlerweile auch durch enzyklopädische Zusammenfas2 sungen erschlossen wird, ein beredtes ab. Die in diesem Band versammelten Studien verknüpfen den erinnerungs geschichtlichen Ansatz mit einem Themenbereich, der in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts intensiv diskutiert wurde, inzwischen aber wieder weniger Aufmerksamkeit findet: dem Fest als einer Form sozialen Handelns. Dieser Verknüpfung liegt die
zugrunde, daß in der griechisch
römischen Welt \V'1e in allen Gesellschaften, in denen Schriftlichkeit verhältnis
/
mäßig gering entwickelt ist
ein enger Zusammenhang zwischen Feiern und
Erinnern besteht, weil Feste mit Vorstellungen über eine dem Anspruch nach für alle verpflichtende Vergangenheit verbunden waren, die im gemeinsamen Vollzug regelhafter Handlungsfolgen
und verinnerlicht wurde.
Das Fest überwand die Grenzen, die der individuellen Aneignung von Vor-
Wu: danken Ralf Behrwald, Christa Frateantonio, Rene Pfeilschifter, Winfried Speitkamp, Uwe Waltet und David Yates fur Hinweise und K.nttk. Pethes/Ruchatz 2001; Erll/Nünning 2008. Die durch Harns 1989 angestoßene Debatte über Ausmaß und Eigenart von Schriftlichkelt
1n
der griechisch-römischen Welt kann und muß hter mcht resürmert
werden. Im vorliegenden Zusammenhang genüge der Hinweis, daß der Austausch von Ideen in allen anttken Gesellschaften mcht primär durch Texte vennittelt \vurde.
Hans Beck / Hans-Ulrich Wiemer
10
Feiern und Erinnern
stellungen über clie Vergangenheit durch die Struktur des Bildungswesens
11
eine Einleitung
Ohne diese "sozialen Rahmen", meinte Halbwachs, gebe es keine Erinnerung,
gesetzt waren, indem es breite Schichten beteiligte. Zugleich schuf es eigen
weswegen Bilder der Vergangenheit im Traum stets undeutlich blieben und sich
tümliche Beclingungen für diese Aneignung, clie durch emotionale Intensität
im Zustand der Aphasie gar nicht einstellten.6 Das Bild der Vergangenheit aber,
und Konformitätsdruck gekennzeichnet waren.4 Die im Fest repräsentierte
das im kollektiven Gedächtnis erzeugt werde, entspreche dem Bedürfnis des
Vergangenheit ist der Kritik entzogen, solange man feiert, und prägt sich gerade
Kollektivs nach sozialer Kontinuität und werde daher fortlaufend umgeformt?
darum besonders tief ein.
Obwohl Halbwachs an die Möglichkeit objektiver Erkenntnis der Vergangen
Die folgenden Bemerkungen sollen in das Thema Feiern und Erinnern ein
heit glaubte und scharf zwischen kollektiver Erinnerung und geschichtswissen
führen, indem zunächst der wissenschaftsgeschichtliche Kontext skizziert wird:
schaftlicher Rekonstruktion der Vergangenheit ("histoire") trennte, stellte seine
clie Stuclien zum "sozialen" oder "kulturellen" Gedächtnis einerseits, diejenigen
Gedächtnistheorie den positivistischen Glauben, die Vergangenheit existiere
z\vischen Feiern und Erinnern für die griechisch-römische Welt näher betrach
sie den Blick auf die sozialen Bedingungen für individuelle Gedächtnislei
zur Festkultur andererseits. Daran anschließend soll der Zusammenhang
unabhängig von denen, die sich mit ihr beschäftigen, nachhaltig in Frage, indem
tet und genauer beschrieben werden.
stungen lenkte. Es bedarf kaum der Hervorhebung, daß Halbwachs die Reich
weite seiner Theorie überschätzte, wenn er glaubte, daß sie eine psychologische
- und, wie man heute hinzusetzen muß, neurobiologische - Analyse des perso 11. Erinnerung und Gedächtnis in der Forschung
nalen Gedächtnisses erübrige. Für unsere Überlegungen kommt es lediglich
1'.11t der Hinwendung zum Themenbereich Erinnerung und Gedächtnis greift
forschung markieren, hinter die nicht mehr zurückgegangen werden kann.
die Geschichtswissenschaft Konzepte
darauf an, daß seine Studien eine neue Stufe in der Geschichte der Gedächtnis
die der französische Soziologe
Die Geschichtswissenschaft hat Halbwachs' Gedächtnistheorie
Maurice Halbwachs, ein Schüler Emile Durkheims, bereits in den i920er Jahren
freilich
zunächst kaum Beachtung geschenkt, obwohl er zum Umkreis der um die Zeit
entwickelt hatte. Halbwachs hatte in seiner 1925 publizierten Untersuchung
schrift "Annales" gescharten Historiker gehörte.8 Marc Bloch warf Halbwachs
schende Lehre des Philosophen Hemi Bergson den Nachweis zu führen
Soziale und vernachlässige daher clie Beziehungen zwischen individuellem und
sei.5 Zu diesem Zweck untersuchte er die Bedingungen, die dazu führen, daß
piellen Gegensatz zwischen seiner Soziologie des Gedächtnisses und einer
"Les cadres sociaux de la memoire" gegen die in Frankreich damals vorherr
in einer ausführlichen Besprechung vor, er verabsolutiere und verdingliche das
versucht, daß das Gedächtnis kein individuelles, sondern ein soziales Vermögen
kollektivem Gedächtnis,9 und umgekehrt sah Halbwachs selbst einen prinzi
bestimmte Sinneswahrnehmungen erinnert, andere aber ausgeblendet oder
historischen Analyse der Vergangenheit.lO Einer Rezeption in der deutschen
vergessen werden, und gelangte zu dem Ergebnis, daß Erinnerungen stets auf
einen sozialen Rahmen bezogen und daher gruppenspezifisch und gegenwarts
Halbwachs (1925, 1-79) zog aus der Analyse dieser beiden Zustände das Resüme: "il
bezogen seien. Seine These lautete, daß Individuen stets nur das erinnerten, was
n'y a
für das Kollektiv, dem sie angehören, von Bedeutung ist, weil Erinnerungen
de memoire possible en dehors des cadres dont les hommes vivant en se servent pOut frxer et retrouver leuIs souvenirs" (79).
nicht durch selbstreflexive Bew ußtseinsakte wiedergefunden oder wachgerufen,
Halbwachs 1925, 113:
hommes qm ne demanderaient a Ja memoire que
d'eclairer leur action immedlate, et pour qui Ie plaisir pur et simple d'evoquer le
sondern durch aktives Beziehen auf die soziale Umgebung konstituiert \ViiIden.
passe n'existerait pas, parce qu'il se peindrait aleurs yeux des memes couleurs que le present, ou, simplement, parce qu'ils en seraient incapables, n'auraient aaucun degre le sens de la contlnmte sodale. Cest pourquoi la socH�te obltge les hommes, de
temps en temps, non seulement a reprodmre en pensee les evenements anterieurs de
Die Bedeutung von Emotionalität ftir die Analyse von Ritualen betont progtamma tisch Chaniotis 2006; prägnant formuliert ist dieser Aspekt bei Chaniotis 2008, 85:
leur vie, mais encore ales retoucher, a en retrancher, ales complerer, de
"Feste waren Ere1grusse mit emotionaler Intensität [...] Weder Intensität noch Emotionalität sind quantifizierbare Begriffe, AIthistotiker nehmen sie nur selten in
niquions un prestige que ne possedait pas Ja realite".
den Mund. Studiert man aber die antike Religiosität und ihre Dynamik, so kann man
Dazu aufschlußreich Revel 2005.
ohne sie nicht auskommen." S. dazu jetzt auch Hans Beck in diesem Band, S. 75-78. Halbwachs 1925. Zu Halbwachs' Gedächrnistheorie vgl.
a ce
que, convaincus cependant que nos souvenlfS sont exacts, nous leur commu
10
Assmann 2005;
Marcel/Mucluelli 2008. Auf ihre philosophischen Schwächen macht Heinz 1967
Bloch 1925. Halbwachs 1950/1997, 130-142. Nach Halbwachs stcht die Gesch1chtswissenschaft rucht m einem lebendigen Traditionszusammenhang und vermag es auch nicht,
aufmerksam.
I I
einen solchen zu schaffen, 1st kemer SOZlalen Gruppe verbunden und strebt nach
Feiern und Erinnern - eine Einleitung
Hans Beck / Hans-Ulrich Wiemer
12
Geschichtswissenschaft der Weimarer Zeit dürfte neben der ausgeprägten Abwehrhaltung der Historikerzunft gegenüber den aufstrebenden Sozialwissen schaften auch die Tatsache hinderlich gewesen sein, daß die historistische Richtung der Geschichtsschreibung, für welche die Standortgebundenheit jeder historischen Erkenntnis eine Selbstverständlichkeit war, nach dem Ende des Kaiserreiches auch innerhalb des eigenen Fachs in die Defensive geraten war. Die in Halbwachs' Gedächtnistheorie implizit enthaltene Relativierung jed weder historischen Erkenntnis war ja gerade das, was nach Ansicht vieler deutscher Intellektueller überwunden werden mußte, damit die Geisteswissen schaften zu einer "nationalen Wiedergeburt" Deutschlands beitragen könnten. Schließlich hat auch das Lebensschicksal des Soziologen, der 1 944 im Kon zentrationslager Buchenwald ums Leben kam/ I dazu beigetragen, daß sein Werk nahezu in Vergessenheit geriet und gleichsam neu entdeckt werden mußte. Das letzte von Halbwachs selbst publizierte Buch - eine historische Studie, die der Entstehung einer christlichen Erinnerungslandschaft im spät antiken Palästina gewidmet ist - erschien 1 941 und ging in den Wirren des Zweiten Weltkrieges unter.12 Sein erinnerungs theoretisches Spätwerk, dessen Titel "La memoire collective" heute in aller Munde ist, blieb unvollendet und wurde erst 1950, sechs Jahre nach dem Tode seines Verfassers, aus dem Nach laß veröffentlicht. Auf Übersetzungen ins Deutsche mußte man lange warten: "Les cadres sociaux de la memoire" erschien erst 1 966 unter dem Titel Das 13 Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen", und es dauerte noch einrr:�l 24 Jahre, bis 1 991 auch das postume Hauptwerk in deutscher Sprache zugänglich gemacht wurde. 1 4 Die Halbwachs-Rezeption in der Geschichtswissenschaft begann auf breiter Front erst ein halbes Jahrhundert, nachdem er seine Gedächtnistheorie erstmals publik gemacht hatte, in den 1 980er Jahren. Sie stand im Zusammenhang poli tischer und wissenschaftlicher Debatten über die Genese, Reproduktion und Funktion kollektiver Vorstellungen über die Vergangenheit, die diesem Thema in Europa, aber auch in den Vereinigten Staaten eine weit über die akademische einem Immer und überall gültigen, einheitlichen Bild der Vergangenheit, einer Art objektiver
Universalgeschichte.
Diese
Opposition
zwischen
"memOIre"
wieder. Einen VergleICh zwischen den Positionen von Halbwachs und Nora zieht
12
13 14
Welt hinausreichende Resonanz sicherten.15 Für dieses sprunghaft anwach sende Interesse an der sozialen Konstruktion von Vergangenheit stehen Titel wie der von Eric Hobsbawm und Terence Ranger herausgegebene Sammel band "The Invention of Tradition" (1983), David Lowenthals Geschichte des Umgangs mit der Vergangenheit "The Past is a Foreign Country" (1 986) oder Michael Kammens Studie "Mystic Chords of Memory. The Transformation of Tradition in American Culture" (1991), die allesamt Bestseller auf dem angel sächsischen Markt für historisch-soziologische Sachbücher wurden, 16 aber auch Yosef Hayim Yerushalmis Buch "Zakhor: Jewish History and Jewish Memory" (1982) . 17 Die Ursachen für diesen Trend sind vielfaltig und können hier nur angedeutet werden. Ein wesentlicher Impuls ging von der Frage aus, wie das Gedächtnis der Shoah für künftige Generationen bewahrt werden könne und solle, wenn die letzten Zeugen einmal nicht mehr am Leben sein werden. Die Holocaust-Problematik war jedoch nicht der einzige Grund, weshalb man der Frage nach der sozialen Konstruktion von Vergangenheit nunmehr allgemein große Bedeutung zumaß. Kaum weniger wichtig waren intellektuelle Strömungen der 1970er und 1980er Jahre, die das überkommene Selbstver ständnis der Geschichtswissenschaft nachhaltig in Frage stellten: Man entlarvte traditionelle Vorstellungen über Geschichte ideologiekritisch als Herrschafts instrumente, um der "Stimme der Unterdrückten" Gehör zu verschaffen; man relativierte eurozentrische oder "westliche" Geschichtsbilder im Zeichen des Multikulturalismus; oder man hegte prinzipielle Vorbehalte gegen alle großen Erzählungen und erklärte deren Dekonstruktion zur einzig legitimen Aufgabe des postmodernen Intellektuellen. Soweit die theoretischen Konzepte und die politischen Optionen, die mit ihnen einhergingen, auch divergieren mochten, in einem Punkt stimmten alle überein: Vorstellungen über die Vergangenheit spiegeln nicht emfach wider, was einmal war, sondern sind das Produkt sozia len Handeins und müssen als solche analysiert werden. In Europa hat der französische Historiker und Verleger Pierre N ora der Beschäftigung mit kollektiven Vorstellungen über die Vergangenheit nachhal tige Impulse verliehen. Nora konstatierte für das moderne Frankreich die Auflösung aller Erinnerungsgemeinschaften, die sich ihre Vergangenheit im
und
"histoire" kehrt bel Nora 1984/1997, 23-25 und bel Franf1 istY I Der Satz, daß "die Griechen ihre Riten (praktizierten), ohne sich 2 über ihr rituelles Tun reflektierend bzw. kommentierend auszulassen",9 keunt
Ausnahmen. Fest.e galten als unantastbarer Bestandteil des
nur
das die Vorväter hinterlassen hatten, und waren untrennbar mit den Göttern
verbunden, deren Existenz und Wirksamkeit nur von wenigen Außenseitern in wurde.93 Die Sinnstiftung durch Feste erfolgte daher stets in
Frage
einem
Bezugssystem.
daß j edes griechische Fest der klassischen und hellenisti-
Die schen
Zeit einen Vergangenheitsbezug aufweist,
unterschiedlich ausgeprägt. Es gab viele Feste, in denen die Vergangenheit der
den Ursprüngen hinauf und umfaßte damit Gestalten, die noch in
90
Nicht alle diese Geschichten, die man über den Ursprung von Festen und
Kulten erzählte, wurden verschriftlicht, und nur ein Bruchteil der verschrift
91
298-313;
4,46;
vgl. 'Ihuk.
2,38, 1 ;
2008.
Ps.-Xen.
3,8;
Herakleides Krinkos 1 , l f. Eine systematische Untersuchung der
wie die Griechen selbst das Fest als Form sozialen Handelns deuteten, fehlt. Heruichs
Stand von Spezialisten
1 998, 49-55
bespncht einige Stellen, die Sich auf attische Feste beziehen;
eine das gesamte grIechisch-römische Altertum sowie den jüdisch-christlichen
und verfügten auch nicht über ein Monopol zur Verbreitung religiöser Lehren,
Bereich umfassende Problemskizze gtbt Klauser
weswegen ihre Erzählungen niemals den Rang einer für alle Mitglieder der
1969.
Platon betont in den
"Gesetzen" die pädagogische und integrative Wtrkung von Festen (vgl. Boyance
Kultgememde verbindlichen Lehre innehatten. Die grundsätzliche Feststellung
1 937, 1 67-184;
�forrow
1 960, 352-398):
Im zweiten Buch (653B/C) heißt es, die
Götter hätten den von Mühe geplagten Menschen die wechselnde Folge der Feste
bleibt davon unberührt: Man wollte wissen, warum bestimmte Feste auf eine
und thnen dabei die Musen, ApolIon und Dionysos als
zur
bestimmte Art und Weise gefeiert wurden, und man erzählte Geschichten über
Festgenossen
den Ursprung eines Festes, um dieses Bediirfnis zu befriedigen. Dies war so
und schlecht
zu
selbstverständlich, daß Platon und Polybios es in bildungs theoretischem Kon
Deutung dieser
text ohne weiteres voraussetzen konnten.89 l'viit der Zeit stellte sich in den
denen Stelle
darmt Sie dte in der Jugend verinnerlichte B efiihigung, gut unterscheiden, durch Musik und Tanz sozusagen auffrischten (zur
Altäre und
sammeln und zu ordnen. Seit klassischer Zeit wurden Feste und Opfer datum
aus dem Zusammenhang gerissenen und darum mißverstan-
1 989, 45f.).
Anfreunden der
griechischen Biirgerstaaten freilich ein Bedürfnis ein, diese Geschichten zu
Das gegenseitige Kennenlernen und Sich-
Wird im fünften Buch
(738D/E)
anläßlich der Empfehlung,
einzurichten, wie dte Tradition es vorsehe, als weItere von Festen genannt. Boyance
wesentltche
1 937, 209-224
rekonstruiert aus
verstreuten Hinweisen, U.a. bei Philon und Strabon, eine peripatetische Theorie des Festes. Der von ihm beanspruchte Strabon-Text
Gehrke 2001; Hans Beck und Hans-Ulrich \Vtemer in dIesem Band. Dazu grundlegend Parker
2005, 369-379
(380-383). 88 Veyne 1 983, bes. 39-68. attische Feste
89
gesammelt. Es gab Monographien
saler Konstruktionen von Zelt und Vergangenheit vgl. jetzt auch Clarke Der locus classicus ist Arlstoph. Nub. Isokr. or.
literarische Werke von panhellenischer Verbreitung. Diejenigen, die solche
8?
1914
aber auch Spezialschriften über emzelne Feste. Zum VerhaItnis lokaler und univer
lichten Erzählungen ist uns überliefert. Noch weniger fanden Eingang in Geschichten erzählten, bildeten keinen
Die Reste dieser Schoftstellerei hat Tresp
über den Festkalender emzelner bedeutender Städte wie Athen, Sparta oder Rhodos,
persönlichem Umgang mit den Göttern gestanden hatten.88
86
bedarf nun freilich der
prltZHllerUfl.g und Modiftkation. Denn dieser Vergangenheitsbezug war sehr
sterblich, es sei denn, sie existierten als
waren ewig, die Menschen
Heroen oder Götter auch nach dem Tode noch fort. Die Vergangenheit reichte stets bis
29
FeIern und Erinnern - eine Einleitung
Hans Beck / H ans-Ulrtch Wiemer
28
Plat. leg. 10,887C-E; Pol.
Reinhardt
mit einer LIste aitiol';Ilt: Verzweiflung'') wurde danach ja auch sprichwörtlich. DIe fU r die Phoker gut aus, weshalb die Elaphebolien zum wurden. wurde aber die bedingungslose der Vorfahren erinnert. IJteratur: Nilsson 1 906/1995, 221-225; Graf 1 985, 412-417; Ellinger 1993. 80 FUr Graf 1 985, 416 stand das Feuerritual von Hyampolis mit der Initiation von Jungmannern und lhrer Aufuahme in Ktlegerbünde in Verbindung. Hauptakteur Erinnerung waren in dieseln Fall erneut die Jungund -adressat der manner gewesen, beIm Feueropfer die zentrale Rolle spielten.
Hans Beck
78
Ephebie - Ritual
such einer gesamtgriechischen Betrachtung, dort eine scharfe Privilegierung der
Geschichte
79
Literatur
Polisgeschichte; auf der einen Seite ein ausgearbeitetes Narrativ, auf der ande ren aitiologische Schlaglichter und Momentaufnahmen. Die Zersplitterung von Geschichte beim Fest liegt natürlich zuallererst Das
Fest
hat
eine
andere
Grammatik
als
am
Medium der Erinnerung.
narrative
Darstellungen
und
Albertz 2006: A1bertz, A., Exemplansches Heldentum. Die Rezeptionsgeschichte der Schlacht an den Tbermopylen von der Antike bis zur
(Ordnungssysteme
1 7), München 2006.
D eutungen. Ähnlich verhält es sich mit der Wirkung dieses Geschichtsbildes.
Amit 1 973: Ami!:, M., Great and small poleIS. A study in the relations between great
Bilder von der Vergangenheit waren in Griechenland (im klassischen wie auch
powers and the small Olles in anclent Greece (Collecllon Latomus 1 34), Brussel
im hellenistischen) nie konkurrenzlos. Geschichte wurde innerhalb der engen räumlichen und mentalen Grenzen der Polis konstruiert, und allen Gemein samkeiten der hellenischen
koine
zum Trotz sah das Ergebnis dieser Kon
struktion überall anders aus. Geschichte war dabei nicht nur der Wirkkraft eines "innate sociocentrism" ausgesetzt, d.h. einer unreflektierten Akzeptanz durch die PoJisbürger, für die die eigene Lesart der Vergangenheit schon allein des
halb die richtlge war, weil sie aus der Mitte der eigenen Bürgergemeinde kam SI und als solche nicht weiter hinterfragt wurde. Gleichzeitig war historische Erinnerung intentional angelegt. Grundergeschichten und mythische Traditio nen statteten die Polis nicht nur mit Orientierungswissen über ihre eigene Vergangenheit aus, sondern sie boten auch eine robuste Basis für die Artiku lierung und Durchsetzung von Machtanspruchen in der Gegenwart, ganz gleich ob diese Anspruche weit gesponnen waren und etwa auf die Hegemonie in Griechenland abzielten, oder ob sie einfach nur im Zuge von Gebietsstreitig 82 keiten zwischen rivalisierenden Nachbarstädten fo=uliert \vurden. Sozio
1973.
Baudy 1 998: Baudy, G., Ackerbau und Irutiation. Der Kult der Artemls Trik;laria und des Dlonysos Aisymnetes in Patrai, in: F. Graf (Hg.), Ansichten griechischer Rituale.
Geburtstags-Symposium für Walter Burkert, Stuttgart / 1998, 143-167. Beck 1 997: Beck, H., Polis und Koinon. Untersuchungen zw: Geschichte und Struktur der griechIschen Bundesstaaten im 4. Jahrhundert vor Christus (Historia EinzeI schriften 1 14), Stuttgart 1 997. Blecktuann 2006: Blecktuann, B., Flkllon als Geschichte. Neue Studien zum Autor der Hellenika Oxyrhynchia und zw: Historiographie des vierten vorchristlich en Jahr hunderts (Abhandlungen d. Akad. d. WISS. Zu Götringen, Klasse, 3. Folge Nr.
Göttingen 2006.
Boedeker/Slder 200 1 : Boedeker, D'/Sider, D. (Hgg.): Tbe New Simonides. Contexts of Praise and Desire, Oxford 2001 . Brelich 1 969: BreIich, A., Paides e Partheno1. Primo Volume (Incunabula Graeca 36), Rom 1 969.
zentrismus und Intentionalität hatten wiederum zur Folge, daß schon in einem
Buck 1 979:
Gebiet, das so kleinräumig war wie dasjenige zwischen Theben, Plataiai, Megara
Burckbardt 1 996: Burckhardt, L., Bürger und Soldaten. Aspekte der politischen und
und Athen, divergierende Deutungen 00- und derselben ,Geschichte' kur 83 Durch ihre Einbettung in den jeweiligen Festkalender erhielten diese
sierten.
Deutungen eine eigene Verbindlichkeit, und sie stifteten auch zusätzlichen sozialen Sinn, indem sie das Geschichtsbewußtsein der Bürger auf den Ho rizont der eigenen Stadt lenkten. So
diese Geschichtsbilder in der
einen Stadt waren, so wenig bedeuteten sie aber in der nächsten. Auch in dieser Hinsicht waren sich die Griechen uneinig.
RJ., A History of Boeolla, Edmonton 1 979.
militänschen Rolle athenischer Bürger im Iie vor auch in der Münzprägung. Seit Constantin findet 94
Eus.-Hleron. Chron. p. 231 Helm; Consularia Constantinopohtana (Chron. min. I p. 235. 239. 244 Mommsen); Amm. 2 1 , 1 ,4 (alle
95
Conppus' dichterische Beschreibung der
(mappa)
durch das Werfen der
96 91
1 93
68; 70 Mommsen: dare). Daneben findet sieh Liban. er. 22,4. auch Eus.
97 98 99 100
101
102
103
edere) ; Marcell. Com. (Chron. min. agere ("ie beim Triumph) .
v.c. 1 ,48 zu den Decennalien Constantins
oben Anm . 72 und 78.
(vgl. oben
II p.
i\nm. 78).
Siehe oben Anm. 72 und 78. Hierhet gehört vielleicht auch das HUlte:rglaLSbild CIL
xv 7007.
Siehe Jones 1 964, 430f. mit den Vgl.
ua;Gu�;t:llIl111Iie die Feier des
dies itllpeni und
die Gelübdefeier am
3.
Januar. Es liegt nahe, daß dies mit
fundamentalen Anderungen im gesamten Umfeld zusammenhing. Denn inzm sehen war das Christentum nicht nur zur Staatsreligion geworden, sondern hatte sich auch als die Religion des
Volkes durchgesetzt. Ent
sprechend begründeten die Kaiser ihre Legitimität immer mehr aus ihrer 112 Rechtgläubigkeit und I
l'hippodrome, ByzSlav 28, 1 967, 262-277. Haarer 2006: Haarer, F., Anastasius I. Politics and Empire in the Late Roman World
Oxford 2001. antiken Uteratur und Geschichte 49), Berlin / New York 1 997. Lyle 1 984: Lyle, KR, The Circus as Cosmos, Latomus 43, 1 984, 827-841. Mazzucchi 1 982: Mazzucchl, C.M. (Hg.), Menae
Byzantlnl, Tell 1: Von Anastasius I. bis Justiund vandalischen Prägungen
(Denkschriften der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. K1
Lm,