Raphael Beer Erkenntniskritische Sozialisationstheorie
Raphael Beer
Erkenntniskritische Sozialisationstheohe Kritik ...
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Raphael Beer Erkenntniskritische Sozialisationstheorie
Raphael Beer
Erkenntniskritische Sozialisationstheohe Kritik der sozialisierten Vernunft
III
VS VERLAG FUR SOZIALWISSENSCHAFTEN
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet iJber abrufbar.
1. Auflage Mai 2007 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag fiJr Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2007 Lektorat: Frank Engelhardt / Kathn Schmitt Der VS Verlag fiJr Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Sphnger Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschlieBlich aller seiner Telle ist urheberrechtlichgeschiJtzt. JedeVerwertung auBerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulassig und strafbar. Das gilt insbesondere fiJr Vervielfaltigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten waren und daher von jedermann benutzt werden durften. Umschlaggestaltung: KunkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v, Meppel Gedruckt auf saurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15399-5
FUR ANJA
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Inhaltsverzeichnis Vorwort
S. 9
1. Einleitung
S. 11
1. Teil: Die sozialisierte Vernunft 2.
Die sozialisierte Yemunft
S. 21
2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 2.5.
S. S. S. S.
22 27 32 37
S. S. S. S. S.
46 51 53 63 70
2.6. 2.7. 2.8. 2.9. 2.10.
3.
Sozialisation als gesellschaftsintegrierende Erziehung: Emile Durkheim Sozialisation als intersubjektiver Prozess: George Herbert Mead Ich-Identitat als gelungene Sozialisation; Jiirgen Habermas Ungleiche Sozialisation: Die schichtenspezifische Sozialisationsforschung Sozialisation auf mehreren Ebenen: Die sozialokologische Sozialisationsforschung Das Modell des ,produktiv realitatsverarbeitenden Subjekts': Klaus Hurrelmann Sozialisation als Verlauf: Die Entwicklungsperspektive Instanzen der Sozialisation: Familie, Schule, Peer-Group, Medien Inhalte der Sozialisation: Moral, Politik, Geschlecht Die systemtheoretische Perspektive: Selbstsozialisation und konstruktivistischer Interaktionismus
Kritik der sozialisierten Vernunft
S. 77
S. 87
Fragestellungen des Sozialisationsdiskurses (S. 87) Orientierung am Individuum (S. 91) Theoretisch-methodisches Selbstverstdndnis des Sozialisationsdiskurses (S. 95) Der Zirkel des Intersubjektivismus (S. 99)
II. Teil: Das Subjekt der Erkenntnistheorie 4.
Die klassischen Erkenntnistheorien
S. 105
4.1. 4.2. 4.3. 4.4. 4.5. 4.6. 4.7. 4.8.
S. S. S. S. S. S. S.
Der Weg iiber die Skepsis: Rene Descartes Der Weg iiber die Sinne: John Locke Die prastabilierte Harmonic der Subjekte: Gottfried Wilhelm Leibniz Das immaterielle Subjekt: George Berkeley Subjekt aus Gewohnheit: David Hume Das begriffslogische ,Ichdenke': Immanuel Kant Das absolute Ich: Johann Gottlieb Fichte Zwischenbetrachtung: Das Subjekt zwischen einem Konstitutions- und einem Vermittlungsproblem
106 112 119 125 130 135 142
S. 150
5. Das intentionale Bewusstsein: Edmund Husserl
S. 159
6. Die erfundene Wirklichkeit: Der Radikale Konstruktivismus
S. 167
III. Teil: Erkenntniskritik und Sozialisation 7.
Erkenntnistheoretische Subjektivitat
S. 177
Konstruktivistisches Subjektverstdndnis und der Zirkel der Selbstkonstitution (S. 177) Konstruktivistisches Subjektverstdndnis und empirische Sozialisationsforschung (S. 183 ) Zusammenfassung (S. 187)
8.
Sondierungen zu einer erkenntniskritischen Sozialisationstheorie
S. 189
8.1. 8.2. 8.3.
Erkenntniskritische Sozialisationstheorie und Gesellschaftstheorie Erkenntniskritische Sozialisationstheorie und Normativitat Das Subjekt der Sozialisation Selbstsozialisation (S. 198) Intersubjektivitdt (S. 201) Multiple Sinnebenen (S. 206) Verlaufsperspektive undsubjektive Autonomic (S. 210) Enkulturation (S. 214) Konsequenzen der erkenntniskritischen Grundlegung der Sozialisationstheorie Abgrenzungen (S. 217) Positionen (S. 222) Verortung der erkenntniskritischen Sozialisationstheorie (S. 228)
S. 189 S. 193 S. 198
Schluss: Die erkenntniskritische Sozialisationstheorie - ein offenes Projekt
S. 231
8.4.
9.
Literaturverzeichnis
S. 2 1 7
S. 235
Vorwort
Die Idee, sich mit dem Thema Sozialisation zu beschaftigen, entspringt unter anderem meiner Auseinandersetzung mit der Milieu- bzw. Klassentheorie Pierre Bourdieus. Auch jenseits der Wissenschaft hat diese die Eigenart, dass aus ihr zutreffende Prognosen iiber das Handeln und Denken alltagsweltHcher Akteure generiert werden konnen: Sie trifft irgendwie zu und produziert genau damit ein Unbehagen. Menschen sollen dem modemen Verstandnis zufolge schlieBlich mehr sein als die Summe ihrer soziookonomischen Dispositionen. Sie sollen in der Lage sein, iiber ihre kulturellen Praktiken selbststandig zu entscheiden. In der Perspektive Bourdieus ist dieses Verstandnis eine Illusion, die die strukturellen Gewaltverhaltnisse verschleiert. Nun sollte die Wissenschaft in der Tat ihre Aufgabe unter anderem darin sehen, uber mogliche Illusionen aufzuklaren und es ist Bourdieu sicherlich zuzustimmen, dass ein Festhalten an dem modemen Verstandnis des Menschen schlichte Ideologic oder Scholastik ware, wiirde es sich eindeutig falsifizieren lassen. So eindeutig gelingt dies Bourdieu allerdings nicht und es kann vermutet werden: Eindeutigkeit ist hier ohnehin nicht zu haben. Dagegen stehen nicht nur philosophische Uberlegungen, die mit ebenfalls ,guten Argumenten' an der Fahigkeit zur Selbstbestimmung des modernen Menschen festhalten. Dagegen steht auch Bourdieu selbst mit einem politischen Engagement, dass damit rechnet, dass die Akteure sich iiber ihre Verhaltnisse erheben konnen, um diese zu verandem. Wenn aber die Akteure in ihren soziookonomischen Dispositionen aufgehen, bleibt unklar, wie dieses ,sich dariiber erheben konnen' moglich ist? Wenn sie mit Hilfe Bourdieus erkannt haben, dass sie durch die sozialen Verhaltnisse determiniert sind, wie sollen sie dann diese Determination iiberwinden? Und vor allem: wozu, mit welchem Ziel? Veranderte gesellschaftliche Strukturen wurden doch dann ihrerseits nur neue Formen der Determination produzieren, von denen keineswegs ausgemacht ist, dass sie ,besser' oder ,wiinschenswerter' sind, wenn das Ziel einer Selbstbestimmung unerreichbar bleibt. Wenn also gesellschaftliche (Klassen-)Verhaltnisse verandert werden sollen, setzt dies meines Erachtens Akteure voraus, die sich tatsachlich von ihren vorgefundenen Verhaltnissen emanzipieren konnen (was immer das dann genau heiBt) und ein sozialwissenschaftlicher Diskurs, der dieser Frage prominent behandelt, ist der Sozialisationsdiskurs. Er stellt die Frage nach einer Personlichkeitsentwicklung, die nicht zwingend in einer Anpassung an gegebene gesellschaftliche Verhaltnisse miinden muss. Er stellt damit auch die Frage, ob iiberhaupt von einer Personlichkeitsentwicklung ausgegangen werden kann, die dazu befahigt, sich politisch, moralisch oder asthetisch iiber die gesellschaftlichen Verhaltnisse zu erheben. Der hier vorgeschlagene Versuch einer Verbindung der Sozialisationstheorie mit der Erkenntnistheorie bejaht diese Frage nicht mit einem eindeutigen Ja. Er kann aber dazu beitragen, diese Frage insofem neu zu stellen, als die Pramissen anders gesetzt werden: In einem logisch nicht hintergehbarem Subjekt. In diesem Sinne schlieBt die vorliegende Arbeit auch an die politische Philosophic der Neuzeit an, die - vor allem in ihrer liberalistischen und sozialistischen Ausrichtung - grundsatzlich mit einem Subjekt gerechnet hat, das
in der Lage ist, selbstbestimmt auf die soziale Wirkiichkeit zuzugreifen und diese gegebenenfalls zu verandern. Der Vorschlag zu einer erkenntniskritischen Sozialisationstheorie ist damit auch ein Vorschlag zur politischen Freiheit bzw. ein Vorschlag, die dazu komplementaren subjektiven Freiheitspotentiale auszuloten und emst zu nehmen. Die vorliegende Arbeit wurde am 01.03.2006 vom Fachbereich Erziehungswissenschaft und Sozialwissenschaften der Westfalischen Wilhelms-Universitat als HabiHtationsschrift angenommen. Danken mochte ich vor allem Prof. Dr. Matthias Grundmann, der die Arbeit unter Gewahrung groBtmoglicher Freiheiten und zumeist gegen eigene Uberzeugungen betreut und mich immer wieder an mogliche Gegenpositionen erinnert hat. Fur kritische Kommentare danke ich Uwe H. Bittlingmayer, Johannes Ahrens, Christian Glasmeyer und Oliver Geister. Und schlieBlich danke ich Susanne Zurstegge, die sich die Miihe gemacht hat, die Arbeit auf orthographische Fehler durchzusehen und Frank Engelhardt vom VSVerlag flir das nochmalige Korrekturlesen der Druckvorlage. Alle verbliebenen Fehler einschHeBlich wissenschaftlicher Ungereimtheiten - gehen selbstverstandlich zu Lasten des Autors.
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„Der Mensch ist nur Mensch durch Sprache; um aber Sprache zu erfinden, miisste er schon Mensch sein." Wilhelm von Humboldt
L Einleitung
In der Soziologie bestand seit ihren Anfangen trotz aller Gegensatze Einigkeit dariiber, dass moderne Gesellschaften mit einer Auflosung traditionaler Bindungen konfrontiert sind. Dies betrifft zum einen die ehemalige Kohasion gesellschafthcher Funktionsbereiche unter dem Zugriff der Religion, die sich in eine funktionale Differenzierung von eigensinnig operierenden Teilsystemen modifiziert hat (Schimank 2000). Dies betrifft aber auch das ftir die Soziologie zentrale Verhaltnis zwischen Individuum und Gesellschaft, das sich im Rahmen der Moderne als Individualisierungsprozess darstellt (Schroer 2001). So merkt etwa bereits Georg Simmel (1900/1989) als einer der Mitbegrtinder der Soziologie an, dass die Individuen durch eine gegeniiber religios-normativen Verpflichtungen autonomisierte Geldwirtschaft zwar einerseits den der Geldwirtschaft verdinglichenden Momenten unterworfen werden, andererseits jedoch durch die Geldwirtschaft gegeniiber konkreten Sozialund Wirtschaftsbeziehungen unabhangiger werden. Fiir Ulrich Beck (1986), der auf einen mehrere hundert Jahre andauernden Individualisierungsprozess zuriickschauen kann, wird das Individuum schlieBlich zunehmend aus einer verbindlichen Zugehorigkeit zu sozialen Gruppen (Familie, Milieu, Schicht) freigesetzt. Damit werden fur den Einzelnen vormals sozial prajudizierte Lebenslaufe kontingent und der planerischen Selbstaktivitat iiberantwortet (Hitzler/Honer 1994). Von Beginn dieser Debatte um den Freisetzungsprozess des Individuums an stellte sich jedoch auch die Frage nach der Moglichkeit einer sich reproduzierenden Gesellschaftsstabilisierung angesichts diversifizierter Individuen, die iiber keine gemeinsamen und damit integrierenden Werte zu verftigen scheinen, die vielmehr in die sich ausschlieBenden Typologisierungen des „Fachmenschen ohne Geisf und des „Genussmenschen ohne Herz" (Weber 1988: 204) auseinander fallen. Die Antworten auf diese Frage markieren eine Scheidelinie der modemen Sozial- und Geisteswissenschaften im Allgemeinen und der politischen Philosophic im Besonderen. Wahrend die einen Autoren dieses Diskurses die durch die Modemisierung gewonnenen Freiraume des Einzelnen als positiven und sinnvollerweise nicht hintergehbaren Forschritt begriiBen (etwa Rawls 1979; Frank 1986; Sandel 1995), sehen andere Autoren dieses Diskurses in der drohenden Atomisierung der Gesellschaft eine Gefahr ftir das Gemeinwesen und ftir das Individuum, das sich ohne gesellschaftlichen Halt letztlich einer unkontrollierten Trieb- und Bediirfnisdynamik ausgesetzt sieht. Letztere versuchen daher tradierte Formen gesellschafthcher Integration zu rehabilitieren oder neue Formen zu entwickeln (etwa Taylor 1995, 1997; Maclntyre 1997; Honneth 1998; Walzer 1999). 11
Die Sozialisationsforschung, die als Diskurs der Sozialwissenschaften das Verhaltnis von Individuum und Gesellschaft pointiert mitbearbeitet, blieb weder von der gesellschaftlichen Entwicklung, noch von den politisch-philosophischen Auseinandersetzungen um eine Bewertung dieser Entwicklung unbertihrt (Geulen 1999; Veith 2001). So lasst sich in der Geschichte der Sozialisationsforschung eine Tendenz festmachen, die durch eine immer starkere Fokussierung des Sozialisationsprozesses als Individuierung im Gegensatz zur Sozialisierung als Vergesellschaflung gekennzeichnet ist. Spatestens mit dem Aufbegehren der 68er Bewegung und der anschliefienden Liberalisierung von Kultur und Politik beginnt sich die Frage durchzusetzen, wie der Einzelne sich im Verlauf der Sozialisation gerade entgegen gesellschaftlicher Integrationsanforderungen zu einer autonomen Personlichkeit entwickeln kann. Insbesondere Jiirgen Habermas (siehe Kap. 2.3.), als prominenter Vordenker der 68er Bewegung, zentriert seine Uberlegungen zur Sozialisation um den Kontext einer demokratischen Emanzipation, die entscheidend einer Personlichkeitsentwicklung aufsitzt, die den Einzelnen zu einer reflexiven Distanzierung von gesellschaftlichen Rollenanforderungen befahigt. Gebrochen wird auf diese Weise mit einer strukturftanktionalistischen Inanspruchnahme sozialisationstheoretischen Denkens, das Sozialisation als Erftillungsgehilfe ftir die Reproduktion von Gesamtgesellschaften begreift, wie dies noch in dem Ansatz von Emile Durkheim (siehe Kap. 2.1.) dominierend war. Der Einzelne soil nicht zu einer bloB passiven Ubernahme von gesellschaftlich sedimentierten Werten und Normen angeregt werden, sondern seine potentielle Individualitat gerade dadurch ausspielen, dass er eigenstandig und selbstaktiv seine eigene Biographic gestaltet und dies auch dann, wenn die je eigenen Lebensentwtirfe in Opposition zu gesellschaftlichen Denk- und Handlungsmustem geraten. Kurzum: Die Geschichte der Sozialisationsforschung lasst sich lesen als eine Entwicklung, die im Gleichklang mit der Bedeutungssteigerung des politischen Ideals eines emanzipierten Burgers sukzessive das ihr zugrunde liegende Subjektverstandnis von einer passiven Reproduktionsinstanz gesellschaftlich vermittelter Werte zu einer aktiven Selbstleistung von je individuellen Entwicklungsverlaufen transformiert. Der theoretisch-methodische Hintergrund auch ftir die Frage nach den individuellen Entwicklungsverlaufen blieb dabei das von George Herbert Mead (siehe Kap. 2.2.) ausgehende handlungstheoretische bzw. intersubjektivistische Subjektverstandnis. Dies bedeutet auf einer abstrakten Ebene, mit der Einsicht emst zu machen, dass die Entwicklung des Individuums grundsatzlich von Umweltzufuhren abhangig ist. Auf einer konkreteren Ebene wird dieses Dependenzverhaltnis durch die Verortung des Individuums in sozialen Beziehungsgeflechten, das heiBt auf der Ebene intersubjektiven Austausches, begrundet (Geulen/Hurrelmann 1980; Hurrelmann/Ulich 1998). Der Einzelne, so die Hauptthese, defmiert sich aus der Anbindung an soziale Umwelten, die ihrerseits durch verschiedene Ressourcen (Schichten, ...) oder Sinndimensionen (Moral, ...) operationalisiert werden. Aus der Beobachterperspektive kann so untersucht werden, wie sich der Einzelne seine Umwelt, in die der Beobachter ihn hereinstellt, aneignet und wie er sie verarbeitet. Der Vorteil dieses Ansatzes liegt in einer moglichen kritischen Betrachtung gesellschaftlicher Verhaltnisse. Indem das Subjekt in ein Dependenzverhaltnis zu seiner Umwelt gebracht wird, konnen ,fehlgeschlagene' Entwicklungsverlaufe den gesellschaftlichen Umstanden angerechnet werden, die so als verantwortliche GroBe fur die Personlichkeitsentwicklung in den Blick geraten. 12
Die zentrale These der ,Kritik der sozialisierten Vemunft' lautet nun, dass der Ruckgriff auf das Paradigma der Intersubjektivitat zu einem Subjektverstandnis fiihrt bzw. auf einem Subjektverstandnis basiert, das immer schon auf gesellschaftliche Bestimmungsgriinde zurlickweist und damit aber die Bestimmung der subjektiven Eigenaktivitat als Voraussetzung fur die Entwicklung einer autonomen Personlichkeit nicht hinreichend zu leisten vermag. Wenn, so die Frage, der Einzelne grundsatzlich vor dem Horizont seiner sozialen und materiellen Umwelt bestimmt wird, wie ist dann eine hinreichend genaue Bestimmung des subjektiven Eigenanteils am Sozialisationsgeschehen moglich? Wie lasst sich sowohl analytisch als auch empirisch zwischen sozialen Faktoren und subjektiver Selbstbeteiligung differenzieren, wenn handlungs- oder intersubjektivitatstheoretisch die je subjektive und die je soziale Seite immer schon als interdependenter Zirkel ineinander fallen? Soil tatsachlich die subjektive Eigenaktivitat am Sozialisationsprozess fokussiert werden, wird dies durch das methodische Hereinstellen des Subjekts in seinen sozialen Kontext erschwert, weil das Subjekt schon Subjekt sein muss, um eine subjektive Eigenaktivitat generieren zu konnen. Wird das Subjekt, wie im Intersubjektivitatsparadigma, erst durch seine soziale Umwelt zum Subjekt, wiirde die Eigenaktivitat zu einer abgeleiteten GroBe, die damit nicht mehr das ,Eigene' des Subjektiven markiert. Anders formuliert: Das Subjekt muss Subjekt sein, bevor es auf die Prozesse der Sozialisation trifft, um ihm eine Eigenaktivitat zusprechen zu konnen. Entwickelt es diese Aktivitat erst durch ein intersubjektives Austauschverhaltnis, ist diese Aktivitat letztlich eine fremdvermittelte, die nicht auf einen Eigenanteil verweist. Dieser Eigenanteil der Sozialisanden ist dabei, wie geschildert, nicht nur eine GroBe, die sozialisationstheoretisch zunehmend anerkannt wird. Sie kann aus politischen Uberlegungen heraus als eine begriiBenswerte Selbsttatigkeit begriindet werden. Modeme Demokratien, in diesem Punkt ist Jiirgen Habermas sicherlich zuzustimmen, bediirfen schlieBlich couragierter Burger (Citoyen), die sich jenseits sozialkultureller Vorgaben und auf der Grundlage je eigener Lebensentwurfe aktiv in die gesellschaftlichen Diskurse einbringen, um so das demokratische Austauschen von Interessen und Uberzeugungen in Bewegung zu setzen. Nun kann und soil zwar die Abhangigkeit der individuellen Entwicklung von Umweltzufuhren nicht geleugnet werden. Um jedoch identifizieren zu konnen, wie und auf welche Weise das Individuum selbstaktiv an seiner Sozialisation beteiligt ist, bedarf es eines Subjektverstandnisses, das sich jenseits seiner sozialen Einbindung begreifen lasst, so dass die beiden Seiten der Sozialitat und der Subjektivitat (analytisch) getrennt voneinander gedacht werden konnen. Um diese Trennung theoretisch einholen zu konnen, wird hier der Vorschlag gemacht, das Subjektverstandnis aus der philosophischen Erkenntnistheorie abzuleiten. Dieser Diskurs fragt allgemein nach den Bedingungen und Moglichkeiten von Erkenntnissen und muss daher notwendig hinter die Umwelteinbindung des Subjekts zuriickgehen, um die Bezugnahme eines erkennenden Subjekts auf die Umweh uberhaupt erst begriinden zu konnen. Dies nicht deshalb, weil das Erkenntnissubjekt unabhangig von der AuBenweh Erkenntnisse gewinnen kann oder soil, sondem weil die Frage nach den Erkenntnismoglichkeiten eine Frage ist, die zentral auf die subjektiven Voraussetzungen und Prozesse von Erkenntnis gerichtet ist. Zwar geht es in diesem Diskurs um die Erkennbarkeit der AuBenwelt. Zu Erkenntnissen iiber die AuBenwelt soil jedoch das Subjekt gelangen, so dass die Frage geklart werden muss, wie und mit welchen Mitteln das Subjekt auf die Au13
Benwelt zugreifen und dabei die Sicherheit generieren kann, dass die Erkenntnisse uber die AuBenweit mit den Verhaltnissen der Aufienwelt ,ubereinstimmen'. Fur das hier anvisierte Programm einer erkenntniskritischen Sozialisationstheorie macht es dabei keinen Unterschied, ob diese ,Ubereinstimmung' zwischen den Polen des Gedachten und des Wirklichen oder (wie in jungerer Zeit) zwischen den Polen des Gesprochenen und des Wirklichen angesiedelt wird, da es um die Herleitung eines Subjektbegriffes geht, hinter den auch das Gesprochene nur dann gehen kann, wenn das Gesprochene als subjektloser Diskurs konzipiert wird. Das Subjekt der Erkenntnis hat also im erkenntnistheoretischen Diskurs, wie er hier angeeignet werden soil, die Stellung einer Zielfigur, um deren Erkenntnismoglichkeiten sich dieser Diskurs bemiiht und damit die Stellung einer ,conditio sine qua non'. Es bietet sich damit fiir die vorliegenden Zwecke an, das sozialisierte Subjekt als Erkenntnissubjekt zu begreifen, um so das Subjektive aus den Einlagerungen in die soziale und materielle AuBenwelt zu losen. Dadurch kann ein Subjektverstandnis instruiert werden, das logisch vor gesellschaftlichen und damit handlungstheoretischen Beziigen angesiedelt ist und das eine begrifflich-analytische Ausdifferenzierung des subjektiven Eigenanteils aus dem Prozess der Sozialisation erlaubt. In diesem Sinne ist das Projekt einer ,Kritik der sozialisierten Vemunft' mehr als eine nominal-artifizielle Anbindung an die Transzendentalphilosophie Immanuel Kants. Dessen forschungsleitende Frage, wie Erkenntnis moglich ist, und dessen Antwort auf diese Frage mit einem erkenntniskritischen Subjektbegriff, werden auf den Kontext der Sozialisationstheorie angewendet. Die Frage ist dann: Wie gestaltet sich eine Sozialisationstheorie auf der Grundlage eines erkenntniskritischen Subjektbegriffes? Mit diesem Programm bemiiht sich die ,Kritik der sozialisierten Vemunft' die ausdifferenzierten Disziplinen der Philosophic und der Soziologie im AUgemeinen und die Diskurse der Erkenntnistheorie und der Sozialisationstheorie im Besonderen aufeinander zu beziehen. Die hauptsachliche Ausrichtung liegt dabei auf der Seite der Sozialisationstheorie, indem aufgezeigt werden soil, welche Konsequenzen sich fiir das Verstandnis des Sozialisationsprozesses ergeben, wenn die Ergebnisse der Erkenntnistheorie, die gegenliber der Sozialisationstheorie mit einem differenten Subjektbegriff operiert, emst genommen werden. Damit lasst sich zugleich ein zusatzlicher Begriindungsstrang fiir die ,Kritik der sozialisierten Vernunft' formulieren. Wahrend der Verweis auf die zunehmende Beriicksichtigung des Eigenanteils an der Sozialisation eine immanente Problematisierung darstellt, lasst sich aus der Perspektive der Erkenntnistheorie eine externe Herleitung ftir die Aufwertung des Subjektiven gewinnen. So kann aus dem Kontext der philosophischen Erkenntnistheorie heraus die Kritik vorgebracht werden, dass der Sozialisationsdiskurs einer ,Subjektvergessenheit' aufsitzt, die insofern problematisch ist, als im Sozialisationsdiskurs zwar die Personlichkeitsentwicklung beziiglich ihrer sozialen Ein- oder Anbindung untersucht werden soil, es aber letztlich die Subjekte sind, die die Erkenntnishoheit auch iiber soziale Verhaltnisse behalten. Das direkte ,Hereinstellen' des Subjekts in einen sozialen Kontext iibersieht aus der Perspektive der Erkenntnistheorie, dass das Subjekt diesen sozialen Kontext erst als sozialen Kontext erkennen konnen muss, um anschlieCend auf diesen Kontext reagieren zu konnen. Dies bedeutet nicht, dass entsprechende Reaktionsweisen nicht dem sozialen Kontext entnommen werden konnen und miissen. Dies bedeutet aber, die Frage nach der Art und Weise der subjektiven Bezugnahme auf die Sozialitat auf die Frage zu 14
verschieben, welche Erkenntnismoglichkeiten dem Subjekt zur Verfiigung stehen, bzw. welche Erkenntnisvoraussetzungen das Subjekt mitbringt, um auf die soziale Umwelt Bezug nehmen zu konnen. Das Subjektive wird damit zu einer Voraussetzung auch fiir den Sozialisationsprozess und darf, aus Sicht der Erkenntnistheorie, nicht in der Wechselhaftigkeit von Subjekt und Sozialitat gleichsam aufgelost werden. Mit dieser extemen Kritik steht die ,Kritik der sozialisierten Vernunft' auf zwei Saulen, die sich gegenseitig verstarken. Die eine Saule reagiert auf die Tendenz innerhalb der Sozialisationsforschung, den subjektiven Eigenanteil am Sozialisationsprozess starker zu berucksichtigen und verweist zu dem Zweck einer begrifflich-theoretischen Fundierung dieser Tendenz auf die Erkenntnistheorie. Diese Saule nimmt diesen Verweis auf und begrlindet im Umkehrschluss mit einem erkenntnistheoretischen Subjektbegriff die starkere Beriicksichtigung des subjektiven Eigenanteils. Der aus der immanenten Kritik an der Sozialisationstheorie entnommene Verweis auf einen extemen Diskurs kehrt so in die Sozialisationstheorie zuriick. Das mit dieser Zusammenftihrung zweier Diskurse verbundene Erkenntnisinteresse wird grob durch die Fokussierung auf den subjektiven Eigenanteil indiziert. Weitergehender gestaltet sich dieses Erkenntnisinteresse dadurch, dass mit dem Ruckgriff auf die Erkenntnistheorie die subjektiven Voraussetzungen fiir die Sozialisation in den Blick geraten, die im intersubjektivistischen Paradigma unthematisiert bleiben und die sich auf die Beschreibung von Sozialisationsverlaufen unter anderem darin auswirken, dass aus der Perspektive des Subjekts Sozialisationsverlaufe nicht als kumulative Geschichte erzahlt werden, die dann in Form sedimentierter Strukturen je aktuelle Situationsdefmitionen prajudizieren (siehe Kap, 8.3. und Kap. 8.4.). Die Thematisierung subjektiver Voraussetzungen vor dem Hintergrund der Erkenntnistheorie wirkt sich aber auch darin aus, dass die zentrale BezugsgroBe fur die Beschreibung von Sozialisationsverlaufen nicht Handlungen sondern Erkenntnisprozesse sind. Gegenuber dem intersubjektivistischen Paradigma verweisen diese auf einen breiteren Horizont an moglichen Sozialisationsstimuli. Im Intersubjektivismus steht im Vordergrund eine (kommunikative) Handlungspraxis, so dass Sozialisationsprozesse vorrangig durch andere Subjekte angeschoben werden. Mit dem Ruckgriff auf Erkenntnis miissen hingegen auch artifizielle oder natiirliche Gegenstande als mogliche Sozialisationsstimuli beriicksichtigt werden. Und sie miissen nicht nur beriicksichtigt werden, sie siedeln auf der gleichen Ebene wie andere Subjekte, das heiCt, sie haben die gleiche Bedeutung fur individuelle Entwicklungen. Die Frage ist dann, in welche relationalen Zusammenhange und Ordnungsmuster bringen die Subjekte unterschiedliche Erkenntnisinhalte und wie wirken sich diese Zusammenhange und Ordnungsmuster auf die je eigene Genese aus. Kurzum: Der Ruckgriff auf die Erkenntnistheorie hat nicht nur eine rein theoretische Ausrichtung zur Uberwindung theorieimmanenter Probleme. Wird er vollzogen, fuhrt er zu einem modifiziertem Verstandnis und einer modifizierten Beschreibung des Sozialisationsgeschehens. Um nun das Programm der ,Kritik der sozialisierten Vernunft' durchfuhren zu konnen, wird in einem ersten Teil in Form eines groben Uberblicks in die Sozialisationstheorie eingeflihrt werden. Dabei wird es vornehmlich um zwei Problemfelder gehen. Im Sinne der oben angefiihrten starkeren Beriicksichtigung des Eigenanteils an der Sozialisation soil die zunehmende Fokussierung des Individuums in den Blick geraten. Gleichzeitig sollen die theoretisch-methodologischen Grundlagen der Sozialisationsforschung beleuchtet werden, 15
um die als immanent titulierte Kritik an der Sozialisationsforschung durchfiihren zu konnen, das heifit, die Orientierung am Individuum mit den theoretisch-methodologischen Grundlagen zu konfrontieren. Das Ergebnis dieses ersten Teils wird das Aufzeigen eines theoretischen Widerspruchs zwischen diesen beiden Momenten der Sozialisationsforschung sein. In einem zweiten Teil soil, wiederum in einem groben und selektiven Abriss, die Geschichte der Erkenntnistheorie vergegenwartigt werden, wobei zwei entscheidende Denkfiguren im Vordergrund stehen. Zum einen wird im Rahmen der Erkenntniskritik die Stellung des Subjektiven gegeniiber der Umwelt zu diskutieren sein, um zu eruieren, ob sich tatsachlich ein Subjektbegriff fmden lasst, der sich durch eine Erkenntnishoheit iiber die Umwelt charakterisieren lasst. Zum anderen muss geklart werden, wie sich die Erkenntnisorganisation bzw. der Umweltbezug eines solchen Subjektbegriffs unter der Agide eines ,nachmetaphysischen Denkens' (Habermas) konzipieren lasst. Im Zuge dieser Erorterungen wird deutlich zu machen sein, welche Probleme sich bei der Herleitung eines Subjektbegriffs aus der Erkenntnistheorie ergeben und warum gerade der Riickzug des Subjektiven in eine Stellung jenseits der Einbindung in die materielle und soziale AuBenweh sich anbietet, diese Probleme zu umgehen. In einem dritten Teil schlieClich wird es darum gehen, erste Schritte in Richtung einer erkenntniskritischen Sozialisationstheorie anzustoBen. Zunachst werden dazu die Argumente und Theorietraditionen des zweiten Teils zu einem Subjektbegriff zusammengefiihrt werden. Die These dabei wird lauten, dass mit dem konstruktivistischen Paradigma ein Subjektbegriff angefiihrt werden kann, der sich gegeniiber der Umwelt als ,conditio sine qua non' darstellt und der dem Druck des ,nachmetaphysischen Denkens' insofem nachgibt, als mit ihm ein widerspruchsfreier Begriff des Subjektiven generierbar wird. In einem zweiten Schritt muss dann geklart werden, wie sich ein konstruktivistischer Subjektbegriff in einen vornehmlich empirisch ausgerichteten Diskurs einfiigen lasst und welche Konsequenzen sich aus dieser Einfiigung fiir die Theorie der Sozialisation ergeben. An den zentralen Verbindungslinien der Sozialisationstheorie mit der Gesellschaftstheorie und mit normativen Uberlegungen werden diese Konsequenzen zunachst auf einer allgemeinen theoretischen Ebene problematisiert. Im Anschluss daran sollen erste, spekulative Ausblicke auf das Verstandnis des Sozialisationsprozesses unter Zugrundelegung des Erkenntnissubjekts erfolgen. In diesem Zug werden die innerhalb der Sozialisationstheorie entscheidenden Themen der Selbstsozialisation, der Intersubjektivitat und der Verlaufsperspektive thematisiert, um diese Ausblicke zu strukturieren, und um zu iiberpriifen, wie sich diese Themen in die erkenntniskritische Sozialisationstheorie einfiigen. AbschlieBend wird zu klaren sein, welche Konsequenzen aus der erkenntniskritischen Grundlegung der Sozialisationstheorie folgen, das heiBt wie sich die erkenntniskritische Grundlegung auf das Verstandnis und die Beschreibung von Sozialisationsprozessen auswirkt. Dies wird zum einen durch Abgrenzungen zu existierenden Sozialisationstheorien verdeutlicht werden. Zum anderen sollen eigene Positionen der erkenntniskritischen Sozialisationstheorie formuliert werden, die sich aus dem Argumentationsgang ableiten lassen und die das weitergehende Erkenntnisinteresse, das mit der erkenntniskritischen Sozialisationstheorie anvisiert wird, markieren. Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist also die Erarbeitung eines theoretischen Modells flir die Sozialisationsforschung, das auf die Beriicksichtigung des subjektiven Eigenanteils am 16
Sozialisationsprozess zugeschnitten ist. Einen sondierenden Status hat die Arbeit insofem, als mit ihr ein Grundstein fur die erkenntniskritische Sozialisationstheorie gelegt werden soil, der die beiden Diskurse der Sozialisations- und der Erkenntnistheorie, die sich bislang gegeneinander indifferent verhalten haben, so zusammengefugt, dass daraus ein Modell fur die Sozialisationsforschung gewonnen werden kann. Die Betonung liegt dabei auf ein Modell. Es wird nicht beabsichtigt, die bisherige Sozialisationstheorie zu suspendieren. Der Zuschnitt auf den subjektiven Eigenanteil am Sozialisationsgeschehen erlaubt spezifische Fragestellungen des Sozialisationsdiskurses zu bearbeiten und neue Fragen zu entwickeln. Er erlaubt aber nicht, alle Fragen dieses Diskurses zu beleuchten, fiir die andere theoretische und methodische Zugange erforderlich sind. Der Zuschnitt auf den subjektiven Eigenanteil am Sozialisationsgeschehen betont die subjektive Seite der Sozialisation und klammert zu diesem Zweck die objektiven (verstanden als: subjektunabhangige) Verhaltnisse aus. Deren Analyse bedarf anderer Zugange, die die erkenntniskritische Sozialisationstheorie erganzen und eben nicht ersetzen konnen soil. Das Ziel der Arbeit ist also zu zeigen, dass Erkenntnis- und Sozialisationstheorie kompatibel gemacht werden konnen, und dass diese Kompatibilitat sich in den Sozialisationsdiskurs einfiigen lasst und dabei einen Beitrag zur sozialisationstheoretischen Fokussierung der je subjektiven Aktivitat zu leisten vermag.
17
I. Teil Die sozialisierte Vernunft
2. Die sozialisierte Vernunft
Der Terminus „sozialisierte Vernunft" ftigt sich nicht umstandslos in den Kontext der Sozialisationstheorie ein. Wenngleich diese zwar stets die Bedingungen und Verlaufe der personlichen Entwicklung auch nach ihrer kognitiven und moralischen Seite thematisiert hat, sperrt sich der vomehmlich philosophisch konnontierte Begriff der Vernunft gegen die Einbeziehung in eine vornehmlich empirisch ausgerichtete Disziplin. Im Gegenzug provoziert ein Begriff, der ideengeschichtlich umstritten und daher nicht eindeutig definiert worden ist, bei empirisch orientierten Forschem aufgrund seiner idealistischen Uberhohung und pradikativen Offenheit ein Unbehagen. Wenn hier dennoch an der Kopulation scheinbar entgegengesetzter Denktraditionen festgehalten werden soil, muss zuvor der Begriff der Vernunft kurz eingegrenzt und sein Bezug zur Sozialisation erlautert werden. Wie schon deutlich wurde, stelh sich die ,Kritik der sozialisierten Vernunft' bewusst in die Tradition der Vemunftkritik Immanuel Kants. Wahrend dieser mit dem Begriff der ,reinen Vernunft' das Erkenntnisvermogen und mit dem Begriff der ,praktischen Vernunft' die Moralbefahigung titulierte, bringt die ,sozialisierte Vernunft' insbesondere den Umstand zur Geltung, dass, entgegen Kants Apriorismus, Vernunft immer eine je individuelle Entwicklung voraussetzt. Diese ist jedoch nicht voraussetzungslos, so dass die kantianische Frage, wie Erkenntnis moglich ist, in die Frage, wie Entwicklung erklarbar ist, transformiert wird. Es geht um eine Vemunftkritik, die eruieren soil, wie sich die Entwicklung der Vernunft bestimmen lasst, wobei der Anschluss an die Transzendentalphilosophie zugleich den theoretischen Rahmen daftir mit der Erkenntnistheorie absteckt. Der Terminus ,sozialisierte Vernunft' ist also ein artifizielles Konstrukt, das die geplante Zusammenftihrung der beiden Diskurse der Sozialisationstheorie und der Erkenntnistheorie anzeigen soil. Wie noch zu zeigen sein wird, reagiert die Verwendung dieses theoretischen Rahmens dabei auf immanente Schwierigkeiten des handlungstheoretischen Sozialisationsverstandnisses. Eine inhaltliche Ausgestaltung des Begriffes der ,sozialisierten Vernunft', das heiBt die Konkretisierung dessen, was mit der Entwicklung der Vernunft gemeint ist, soil im Folgenden durch einen kurzen Abriss der Geschichte der Sozialisationstheorie entwickelt werden. Dabei wird es im Wesentlichen um drei Aspekte gehen: Zum einen sollen spezifische Fragestellungen der Sozialisationsforschung extrahiert werden, die eine genauere, inhaltliche Bestimmung der sozialisierten Vernunft ermoglichen sollen. Zum anderen soil das theoretische Selbstverstandnis der Sozialisationsforschung verdeutlicht und anschliefiend einer Kritik unterzogen werden. SchlieBlich soil die Skizze der Sozialisationstheorie an der ftir die vorliegende Arbeit bedeutsamen Pramisse einer zunehmenden Orientierung am Individuum ausgerichtet sein. Im Sinne dieser Aufgabenstellung wird auf eine Vollstandigkeit der Geschichte der Sozialisationsforschung genauso verzichtet, wie auf den Anspruch einer exegetischen und korrekten Interpretation der angefiihrten Autoren und Diskurse. Diese sollen vielmehr so angeeignet 21
werden, dass ihr Denken und Forschen einen Beitrag fur die anvisierten Aspekte zu leisten vermag. Die nahe gelegte Chronologie wird dabei nur lose eingehalten. Zwar geht es um eine sich historisch entwickelnde Zunahme in Bezug auf die Orientierung am Individuum, diese soil aber zugleich systematisch herausgestellt werden, so dass verschiedene Strange der Sozialisationsforschung und -theorie nicht zwingend in eine chronologische Abfolge gebracht werden mlissen.
2. /. Sozialisation als gesellschaftsintegrierende Erziehung: Emile Durkheim Thomas Hobbes steht einerseits ideengeschichtlich am Ausgangspunkt der Aufklarung und damit des modernen Denkens. Seine Riickflihrung der politischen Philosophie auf eine geometrische Methode und sein positivistisches Wissenschaftsverstandnis, dass Philosophie auf die Lehre von den Korpem, „von dessen Erzeugung und Eigenschaften wir Kenntnis haben" (Hobbes 1655/1967: 12), eingrenzt, formulieren den modernen Anspruch auf Exaktheit und Transparenz der Begriffe. Andererseits hat Thomas Hobbes mit seiner Lesart des Naturzustandes jene Krisensituation, aus der die Soziologie entstehen wird, metaphorisch und dramatisch uberspitzt vorweggenommen. Als ein Kind der Religionskriege seiner Zeit beschrieb er den Naturzustand als bellum omnium contra omnes, der durch eine utilitaristische Anthropologic theoretisch fundiert und angereichert wurde (Hobbes 1651/1992). Um dem Zustand standiger Gewaltbedrohung, der eine Akkumulation von individuellen und gesellschaftlichen Reichtum erschweren musste, zu entkommen, griff er auf die Hoffnung in eine praktische Klugheit der Subjekte, die aus Einsicht in den nutzenmaximierenden Vorteil auf ihre natiirlichen Freiheiten verzichten und auf das ordnungspolitische Instrument einer unkontrollierten Staatsraison zuriick. Wenngleich er damit normativ selbst hinter den machtstrategischen Blick eines Machiavelli zuriickfallt, der das republikanische Modell einer entpersonalisierten Herrschaft favorisiert hatte (Machiavelli 1531/1977; Mlinkler 1995), skizziert er doch jenes atomistische Gesellschaftsbild, das durch die revolutionare Uberwindung der kulturellen und politischen Grundlagen des ancien regime und einer zunehmend auf die Marktlogik umgestellten Wirtschaft mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts den krisenhaften Erfahrungshorizont der entstehenden Soziologie markiert. Zugleich wird seine Skepsis gegentiber spekulativen Moralien zur Grundlage fur ein politisches Gesellschaftsverstandnis, das sich mit einer interessegeleiteten Integration kulturell und okonomisch diversifizierter Individuen begniigt (Wimmer 1997). Wenngleich die Soziologie als Reaktion auf eine durch den Zerfall eines gemeinsamen Wertesystems drohende Regression in einen ,Naturzustand' entstand, schloss sie sich diesem geniigsamen Gesellschaftsverstandnis nicht an. Auguste Comte (1844/1994), der die positivistischen Ansatze Thomas Hobbes' aufgenommen und in ein methodisches Programm ubersetzt hat, verband mit seiner „positiven Philosophie" die Hoffnung auf eine neue moralisch-ethische Integration der Gesellschaft. Er begriindete diese zum einen durch die forschungsstrategische Ausrichtung seines Ansatzes auf die Menschheit als Ganze, im Gegensatz zur Orientierung am Individuum, und durch sein theoretisch-systematisches Paradigma, das die fiir die Gesellschaftsintegration entscheidenden Begriffe der Ordnung und des Fortschritts zentrierte. Zum anderen begriindete er die Hoffnung mit dem Hinweis 22
auf die industriegesellschaftlichen Grundlagen seiner Zeit, die eine soziale Integration durch theologische oder metaphysische Systeme nicht mehr angemessen erschienen lieBen. Die Industriegesellschaft bediirfe einer moralischen Idee, die dem rationalen Wissenschafts- und Wirtschaftsverstandnis entspreche, Eine solche Idee wiirde der „Geist des Positivismus" verwirklichen, der durch eindeutige Verifizierbarkeit wissenschaftHcher Forschungsergebnisse rationale Transparenz und damit intersubjektive bzw. gesellschaftliche Ubereinstimmung ermogliche (vgl. auch Neurath 1979). Emile Durkheim nun fiihrt dieses Programm weiter (Konig 1978, 1998: 177ff.). Auch er geht von der Notwendigkeit einer normativen Integration der Gesellschaft aus und auch er bedient sich einer positivistisch-objektivistischen Methode. „Wissenschaft hieB ihm beobachten, vergleichen, klassifizieren; nur was derart verfiihr, beanspruchte er gelten zu lassen." (Adomo 1998a: 246) Entgegen Comte hat er dabei jedoch ein wesentlich umfangreicheres und elaborierteres Oeuvre vorgelegt. Bereits in seiner Dissertationsschrift reflektiert Durkheim (1893/1992) das Bild der modernen, krisenhaften Gesellschaft seiner Zeit und stellt dieses in einen modemisierungstheoretischen Rahmen. Mit seinem thematischen Fokus, der sozialen Arbeitsteilung, zielt er auf die strukturellen Ursachen der zunehmenden Diversifizierung und Atomisierung der Gesellschaft. Zugleich erhartet er die These von der notwendigen normativen Integration der Gesellschaft durch seine Kontrastierung der arbeitsteiligen Modeme mit archaischen Gesellschaftsformen, die durch die Autoritat des Sakralen zusammengehalten wurden. „Da die archaische Gesellschaft Vorbild und Modell einer moralisch integrierten Gemeinschaft ist, bekommt seine [Emile Durkheim, R.B.] Vorstellung von modemer Gesellschaft einen archaischen Grundzug: Auch moderne Gesellschaften miissen moralisch integriert werden und das setzt die Existenz eines gemeinsamen Wertesystems voraus." (Mtiller 1992: 52) Die Skizze des Formwandels gesellschaftlicher Integration wird unter dieser Perspektive zum gesellschaftstheoretischen Hintergrund Emile Durkheims. Die anarchische Form der Solidaritat bezeichnet Durkheim in Anlehnung an die Kohasion der Elemente fester Korper als mechanische Solidaritat oder als Solidaritat aus Ahnlichkeit. Das soziale Leben dieser Gesellschaften wird bestimmt durch religiose und magische Traditionen, die die Form eines Kollektivbewusstseins und damit einen zwingenden Charakter annehmen. Die Arbeitsteilung dagegen inauguriert nicht nur eine Steigerung der gesamtgesellschaftlichen Effektivitat, sondern auch einen Prozess der Sakularisierung vormals religioser Weltbilder, der auf der Seite des Individuums einen Freiheitsgewinn bedeutet, auf der Seite der Gesellschaft jedoch neue Formen der Solidaritat zur Verfiigung stellen muss. Die organische Solidaritat, die an die Stelle der mechanischen tritt, tragt sowohl den sozialen und kulturellen Differenzen der Individuen Rechnung und schafft zugleich eine soziale Ordnung durch eine objektive funktionale Interdependenz. Es braucht hier nicht zu interessieren, dass Durkheim in seinem spateren Werk dieses Modell der gesellschaftlichen Integration durch ein Pladoyer fiir eine Rehabilitierung der Berufsmoral, die die FlUchtigkeit okonomisch codierter Sozialkontakte uberwinden soil, flankiert (Durkheim 1991). Entscheidend ist, dass Durkheim mit seiner Arbeit uber soziale Arbeitsteilung den Problemhorizont und das gesellschaftstheoretische Verstandnis seiner weiteren wissenschaftlichen Tatigkeit entwirft. Er nimmt die politischen und sozialen Krisen des 19. Jahrhunderts zum Ausgangspunkt einer soziologischen Forschung, die durch eine Erklarung der Ursa23
chen einen Beitrag zur Uberwindung der Krisen leisten soil. Er flihrt die Ursachen auf strukturelle Veranderungen zuruck, die im Besonderen, aber nicht ausschlieBlich, im Bereich der Okonomie zu suchen sind. So wie zuvor Marx (1844/1990) an der Arbeitsteilung die Entfremdung des Einzelnen von sich selbst und von der Gattung Mensch abgelesen hatte, diagnostiziert auch Durkheim, dass die Arbeitsteilung einen moralischen Nachholbedarf instruiert. Anders als Marx propagiert er jedoch nicht die revolutionare Uberwindung der wirtschaftlichen Verhaltnisse, sondern sucht nach Moglichkeiten an dem Modell einer normativ integrierten Gesellschaft auf der Basis des Status Quo festzuhalten. Dazu greift er auf Formen der Solidaritat zuriick, die durch den objektiven Status eines Kollektivbewusstseins und der Prioritat des Sozialen gegeniiber dem Individuum charakterisiert sind. Dieses Verstandnis einer Gesellschaft, die als objektive und emergente Entitat tiber das Individuum hinausgeht, fmdet sich bei Durkheim dann sowohl in seiner Studie tiber den Selbstmord, in der er diesen, von abweichenden Fallen abgesehen, entweder aus einer Entfremdung zur Gesellschaft (egoistischer und anomischer Selbstmord) oder einer zu starken Dominanz der Gesellschaft (altruistischer Selbstmord) erklart (Durkheim 1897/1997), als auch in seiner Religionssoziologie, die den Ursprung der religiosen Verehrung auf die Allmacht der Gesellschaft gegeniiber dem Einzelnen zuriickftihrt (Durkheim 1912/1998), wieder. Sein Gesellschaftsbegriff ist dabei eng mit seiner Methodik verwoben. Er vergleicht das Verhaltnis von Individuum und Gesellschaft mit dem Verhaltnis von Geist bzw. Bewusstsein und Physis. Er postuliert, dass eine physikalische Reduktion von Bewusstsein dieses nicht erklaren kann, da bei einer Fundierung in reinen Nervenreflexen das Bewusstsein nicht auf Dauer gestellt werden konnte. Ahnlich wie die Psyche uber ihr organisches Substrat hinausgeht, geht nun ftir Durkheim auch die Gesellschaft tiber das Individuum hinaus. Dies bedeutet nicht, dass das Individuum keinen Anteil an der Gesellschaft hatte, oder eine Gesellschaft ohne Individuen denkbar ware. „Zweifellos hat jeder Einzelne an der Erarbeitung des gemeinsamen Ergebnisses teil; doch die privaten Gefuhle werden erst dann zu sozialen, wenn sie sich unter dem Einfluss der besonderen Krafte vereinigen, welche die Assoziation entwickelt; aufgrund dieser Vereinigung und der daraus resultierenden wechselseitigen Veranderung werden sie etwas anderes." (Durkheim 1898/1976: 73) Dies bedeutet jedoch, dass das Individuum als Subjekt oder Person nicht ohne die Gesellschaft denkbar ist. Durkheim wird nicht mude, darauf hinzuweisen, dass der Einzelne erst dann zu einem freien Kulturwesen werden kann, wenn er sich in ein Kollektiv einftigt. Diese objektive und emergente Stellung der Gesellschaft ermoglicht Durkheim seine positivistische Methode. In seinen „Les regies de la methode sociologique" (Durkheim 1895/1991) bemtiht er sich um eine Grundlegung der Soziologie mit naturwissenschaftlichen Mitteln. Zu diesem Zweck ftihrt er den Begriff des „fait social" ein, der den Dingcharakter der Untersuchungsgegenstande der Naturwissenschaften sozialwissenschaftlich iibersetzen konnen soil und der eben durch jenen objektivierten Status der Gesellschaft zur angemessenen und moglichen Methode wird. Er defmiert diesen Begriff als eine festgelegte Art des Handelns, die einen iiberindividuellen und zwanghaften Charakter hat. Inhaltlich bezieht der Begriff sich damit auf positives Recht, Sitten oder informelle Regeln. Diese Anbindung an die empirischen Naturwissenschaften, die Adomo (1998b) spater unter den Verdacht der Affirmation stellen wird, intendiert bei Durkheim eine ideologiekritische Auseinandersetzung mit der Wissenschaft. Die Riickfiihrung sozialer Phanomene auf einen 24
Dingcharakter, soil die spekulativen Erklarungen insbesondere der Philosophie iiberwinden und durch einen direkten Zugriff auf die soziale Wirklichkeit substituieren. Entsprechend fordert er, dass im Sinne der Objektivitat der Sozialwissenschaft, diese nicht die Ideen, sondem eben die „fait social" untersuchen und dazu vorwissenschaftliche und ideologische Begriffe ausschalten muss. Die „fait social" sind als statische zu wahlen und eindeutig zu definieren, wobei die Definition nicht als Erklarung, sondem als hypothesengenerierender Ausgangspunkt der Untersuchung gilt. Wie noch zu zeigen sein wird, lassen sich begriindet skeptische Einwande gegen den Versuch einer Objektivierung der Erkenntnisse der Sozialwissenschaften gerade aus der von Durkheim kritisierten spekulativen Philosophie anfuhren. Und auch der deutsche Begriinder der Soziologie, Max Weber (1904/1988), gestand bereits ein, dass eine absolute Objektivitat sozialwissenschaftlicher Forschung nicht umstandslos zu haben ist. Der Starke Objektivismus, der sich bei Durkheim soziologisch in dem Begriff des Kollektivbewusstseins, den er seiner Beschreibung anarchischer Gesellschaften entlehnt, konkretisiert, schlieBt den Umstand eines modemen Individualisierungsprozesses nicht aus. Herman Coenen (1985: 58ff.) hat allerdings darauf hingewiesen, dass Durkheim bei der Bestimmung des Individualismus widerspriichlich verfahrt. Zum einen fuhrt er, etwa in seiner Studie Uber soziale Arbeitsteilung, Individualitat auf eine Auflosung des Kollektivbewusstseins zuriick. Zum anderen erklart er den Individualisierungsprozess aus inhaltlichen Veranderungen des Kollektivbewusstseins selbst, die das Individuum zur ethisch-moralischen Norm werden lassen. Ungeachtet dieser Differenz kann jedoch konstatiert werden, dass Durkheim durchaus den modemen Individualismus reflektiert. Dies zwar nicht als politisches oder moralisches Motiv, sondem als „fait social". Ftir die Erziehungssoziologie Durkheims (1922/1972, 1995) ist dies von entscheidender Bedeutung. Denn: Der Fokus der Gesellschaftsintegration lasst zunachst vermuten, Durkheim begniige sich mit einer Erziehung, die einen klaren Kanon moralischer Werte beinhaltet. Seine Berlicksichtigung der Individualitat und sein Wissen um die Moglichkeit gesellschaftlicher Veranderungen jedoch machte ihn zu einem Verfechter einer formalen Bildung, die sensibel flir differente Wege der Entwicklung und sich verandemde moralische Normen ist. „Wie viele groBe Padagogen verlangt Durkheim das, was man mit einem barbarischen Ausdruck formelle Kultur nennt: den Geist bilden, nicht anfullen." (Fauconnet 1995: 25) Die Erziehungssoziologie ist nun der Teil des durkheimschen Oeuvres, der explizit als Sozialisationstheorie gelesen werden kann. Dabei ist zu beachten, dass Durkheim noch nicht uber einen breiten Begriff der Sozialisation verfiigte, sondern die Entwicklung bzw. Integration des Einzelnen in die Gesellschaft vomehmlich als eine Aufgabe der Erziehung ansah. Zwar spielt die Familie eine gewichtige Rolle bei dieser Aufgabe, den bedeutenderen Beitrag leistet fur Durkheim jedoch die Schule, so dass Sozialisation und (Schul-)Erziehung wesentlich zusammenfallen. Der Schule kommt deshalb eine bedeutende Stellung in der Erziehung zu, weil sie als staatliche Institution direkt die Belange der Gesellschaft vermitteln kann. Durkheim betont ausdriicklich, dass die Erziehung das Ziel habe, den Einzelnen gemafi den Erfordemissen der Gesellschaft zu ,formen'. Dies ist vor allem deswegen die allgemeine Intention der Erziehung, da der Einzelne fur Durkheim, anders als die antike Philosophie angenommen hatte, nicht a priori ein soziales Wesen ist. Dieses wird der Einzelne erst durch eine Erzie25
hung, die ein soziales und moralisches Leben ermoglicht. Dieses Erziehungsideal zu formulieren ist die Aufgabe der Soziologie, die die diesem Ziel inharenten Elemente der Moralitat bestimmt. Das erste Element der Moralitat ist fur Durkheim der ,Geist der Disziplin'. Dieser soil eine pathologische Zugellosigkeit der Neigungen und Leidenschaften begrenzen. Dies allerdings nicht nur im Sinne der Ermoglichung eines gewaltfreien sozialen Lebens, sondem auch als Nutzen fiir den Einzelnen. Wohl nicht zufallig nimmt er die anthropologische Bestimmung des ebenfalls gesellschaftsobjektivistisch argumentierenden Rousseaus auf, nach der gilt: „Der Trieb der bloBen Begierde ist Sklaverei, und der Gehorsam gegen das Gesetz, das man sich selber vorgeschrieben hat, ist Freiheit." (Rousseau 1762/1988: 53) Unter dieser Perspektive verliert die Disziplin ihren willkiirlichen Zwangscharakter und avanciert zu einem flir den Einzelnen hilfreichen und notigen Korsett, dass ihn vor sich selber bzw. seinen Leidenschaften und damit vor einer emotionalen Ohnmacht bewahrt und die Moglichkeit eroffnet, eine Personlichkeit auszubilden. Das zweite Element der Moralitat ist der ,Anschluss an die sozialen Gruppen'. Dieses Element weist auf den Umstand hin, dass Moralitat als Referenz nicht das Individuum hat, sondem Kollektive. Diese sind fur Durkheim vor allem die Familie, das Vaterland und die Menschheit als Ganze, wobei diese ihrerseits spezifischen Phasen der individuellen Entwicklung zugeordnet werden konnen. Aus dem Referenzstatus folgt fur Durkheim im Umkehrschluss, dass das Kollektiv bzw. die Gesellschaft sowohl eine moralische Autoritat darstellt als auch die Autorenrolle der Moral ubemimmt. Das dritte und letzte Element der Moralitat ist die ,Autonomic des Willens'. Mit diesem Element verbindet Durkheim nicht, wie die Begriffswahl nahe legt, eine philosophischtranszendentale Bestimmung kognitiver und moralischer Moglichkeiten. Explizit versteht er die Willensautonomie als eine historische und reale Entwicklung, also als „fait social". Entsprechend bezieht sich der Begriff der Autonomic nicht auf eine Unbeschranktheit des Willens, sondern wird bestimmt als Einsicht in die Notwendigkeit. „Wir sind weiter begrenzt, weil wir endliche Wesen sind; in einem Sinne sind wir der Regel gegenuber, die uns befiehlt, noch passiv. Nur wird diese Passivitat zu gleicher Zeit Aktivitat durch den aktiven Anteil, den wir daran haben, dass wir sie freiwillig wollen; und wir wollen sie, weil wir ihren Sinn kennen." (Durkheim 1995: 163) Gesamtgesellschaftlich verortet Durkheim die Fahigkeit zur Einsicht in die Regeln im Wissenschaftssystem, das die Vermittlung des notigen Wissens bereitstellt. Die scheinbare Ambivalenz des ersten Elements der Moralitat mit dem Begriff der Autonomic wird durch ein derartiges Autonomieverstandnis aufgelost. Durkheim schlieBt eine (gemafiigte) Opposition gegen bestehende Moralregeln nicht aus, begriindet diese allerdings nicht normativ mit einem Riickgriff etwa auf natur- oder vernunftrechtliche Annahmen, sondem durch den utilitaristisch anmutenden Verweis auf die Notwendigkeit gesellschaftlicher Veranderungen, die durch ein dogmatisches Festhalten an tradierten Normen unmoglich wiirden. Der Schulerziehung kommt nun die Aufgabe zu, diese Elemente bei den Kindem auszubilden und sie so einerseits zu einer Personlichkeit werden zu lassen, andererseits sie auf eine gesellschaftlich notwendige Moral bzw. das Kollektivbewusstsein zu verpflichten. Zwar gibt er Hinweise, wie eine solche Erziehung praktisch umgesetzt werden miisste, liberlasst eine genauere Konkretisierung jedoch der Padagogik und der Psychologic. 26
Mit seinen Arbeiten zur Erziehungssoziologie steht Durkheim nicht nur am Anfang der Soziologie iiberhaupt, sondem kann auch als Ausgangspunkt der Sozialisationstheorie gelesen werden. Im Zusammenspiel seiner Zeitdiagnose, seines Gesellschaftsverstandnisses und seiner Methodik entfaltet er das Paradigma einer strukturfunktionalistischen Sozialisation, die in der besonderen Form einer gesteuerten und zielorientierten Erziehung zu einer Integration der krisenhaften Gesellschaft seiner Zeit beitragen soil. Wenngleich er dabei einen modernen Individualismus nicht vollig ausschliefit, bleibt die Stellung des Individuums gegenuber der Gesellschaft in den Schriften Durkheims der Tendenz nach eine subordinare. Sein eigentlicher Fokus blieb grundsatzlich die Gesellschaft, als eine emergente und subjektunabhangige Struktur, die auf Individuen angewiesen ist, die sich einer kollektiv geteilten Moral anschlieBen. Entsprechend gilt ihm die individuelle Autonomic nicht als normatives Ideal, sondem als eine historische Entwicklung, mit der die Sozialwissenschaften und die Gesellschaft zu rechnen haben und die im Sinne der Gesellschaftsstabilisierung kontrolliert werden muss. Sein Autonomieverstandnis spiegelt die gesellschaftszentrierte Grundhaltung Durkheims theoretisch wider. Eine Autonomiebestimmung, die immer schon auf moralische Notwendigkeiten bezogen wird, fallt hinter eine Autonomiebestimmung, die, wie etwa bei Kant, subjektintem operiert, zuriick und bindet den Einzelnen gleichsam a priori an die auBere Kontrolle durch Strukturen und Normen. Polemisch lieBe sich einwenden: Durkheim ftirchtet das Subjekt als eine standige Quelle der Subversion, die aus real- und stabilitatspolitischen Motiven zum Versiegen gebracht werden muss. Trotz dieser Einwande gilt jedoch: Durkheim legt nicht nur den Grundstein fiir die Sozialisationstheorie, er kennt auch bereits das Individuum, das sich spatestens in der zweiten Halfte des 20. Jahrhunderts zunehmend als theoretischer und methodischer Fixpunkt der Sozialisationstheorie etablieren wird.
2.2. Sozialisation als intersubjektiver Prozess: George Herbert Mead George Herbert Mead ist einerseits ein Zeitgenosse von Emile Durkheim. Andererseits trennt nicht nur der geographische Ort ihres Wirkens diese beiden Klassiker der Soziologie. In einem theoretischen Vergleich stellt Meads symbolischer Interaktionismus gegenuber Durkheims Strukturftanktionalismus eine ideengeschichtliche Innovation dar, die insbesondere von der Sozialisationstheorie zu ihrem theoretischen Selbstverstandnis adaptiert wird. Mead setzt nicht nur starke Impulse ftir eine Revision des Verstandnisses eines der Gesellschaft subordinierten Individuums. Er begrlindet eine handlungstheoretische Sicht auf das Individuum, die dieses grundsatzlich in einem Geflecht sozialer Interaktionen zu lokalisieren vermag. Ihm gelingt damit nicht nur, eine altemative Moglichkeit aufzuzeigen, den immanenten Problemen der aufklarerischen Erkenntnistheorie zu entkommen (Beer 2004a; siehe Teil II). Aufgrund seiner pragmatistischen Anbindung und einer Subjekttheorie, die die kantische Differenz von transzendentalem und empirischem Ich weitertreibt, siedelt er das Subjekt auf gleicher Augenhohe mit seiner sozialen Umwelt an, Zwar hatte auch Durkheim nicht ausgeschlossen, dass das Individuum auf seine Umwelt zuriick wirkt. Bei Mead wird dieser doppelte Prozess eines handlungstheoretischen Austausches mit einer gegensei-
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tigen Gestaltungs- und Einflussmoglichkeit zum wissenschaftlichen und politischen Programm. Letzteres verdeutlicht am anschaulichsten den entscheidenden Unterschied zwischen Durkheim und Mead. Wahrend Durkheim vor dem Hintergrund zerrtitteter europaischer Verhaltnisse letztlich auf eine konservativ-ordnungspolitische Losung der sozialen und politischen Krise drangt, arbeitet Mead im Angesicht der amerikanischen Industrialisierung und ihrer sozialen Folgekosten. Entsprechend interessiert er sich nicht so sehr fur das Programm einer Gesellschaftsintegration, sondem fur jene soziale Frage, die mit der Industrialisierung aktuell wird. Mead reagiert darauf mit einem Moralverstandnis, das Moralitat weder als dem Subjekt auBerliche Entitat wie bei Durkheim, noch als voluntaristische Entwicklung aus dem Individuum, sondern als Ergebnis eines reziproken Prozesses zwischen Individuum und Gesellschaft konzipiert, so dass Widerstand gegen segmentierte Moralien nicht nur eine mogliche Option, sondem der Motor von moralischem Fortschritt wird (Mead 1908/1987). Daraus abgeleitet ist seine genuin politische Antwort auf die soziale Frage nicht eine ordnungspolitische, sondem das Modell einer radikalen Demokratie, die in intersubjektiven Kommunikationsprozessen ihre normative und organisatorische Fundierung flndet. Dieses Modell wird dabei in zweifacher Ausrichtung bedeutsam: „Es geht ihm um die Herausbildung jener gesellschaftlichen Bedingungen, in denen erst alien Menschen Identitatsbildung bis zu den hochsten Stufen moralischer Entscheidungsfahigkeit moglich wird und um die standige Veranderung aller Institutionen zur Beseitigung aller Ungerechtigkeiten und Benachteiligungen." (Joas 1989: 136) Dieses politische Programm ist zum einen ein Schltissel zum Verstandnis des intersubjektivistischen Paradigmas Meads und zum anderen die konsequente Ubertragung dieses Paradigmas auf den Kontext der politischen Philosophic und realer politischer Auseinandersetzungen. Begonnen hatte Mead seine intellektuelle Entwicklung mit einer sozialpsychologischen Interpretation der funktionalen Psychologic (Mead 1903/1987). Er weist einen psychophysischen Parallelismus zuriick und erklart die Psyche als funktional bezogen auf Handlungsund Entscheidungskrisen. Diese Hinwendung zu einer mit dem Handlungsbegriff verwobenen Psychologic bildet die Basis fiir die Intersubjektivitatstheorie, die ab 1909 in einer Aufsatzserie entfaltet werden wird und die unter dem Label „Symbolischer Interaktionismus" in die Ideengeschichte eingegangen ist. Die einzelnen Aufsatze, die zu dem Modell des symbolischen Interaktionismus zusammengezogen werden konnen, stellen dabei keineswegs eine systematische und zielgerichtete Ausarbeitung eines wissenschaftlichen Konzeptes dar. Vielmehr setzt sich Mead vornehmlich mit diversen Themen und zahlreichen Wissenschaftlern auseinander. Entsprechend soil im Folgenden eine nachholende Systematisiemng im Sinne der Aufgabenstellung dieses Teiles die Aufsatze unter dem Aspekt der Handlungs- und Intersubjektivitatstheorie skizzieren. Dazu sollen die Aufsatze erst kurz referiert werden, um anschlicBend eine zusammenflihrende Darstellung geben zu konnen. Der sozialpsychologische Zugriff auf das Individuum, der dieses grundsatzlich aus seiner sozialen Anbindung zu verstehen sucht, wird in seinem Aufsatz „Sozialpsychologie als Gegenstand der physiologischen Psychologic" (Mead 1909/1987) unter anderem aus der Kritik einer rein behavioristischen Nachahmungstheorie hergeleitet. Nachahmung, so Mead, ist nicht zu verstehen durch die Annahme, dass Handlungen eines Individuums ein anderes Individuum derart reizen konnten, diese Handlungen zu imitieren. Dies setze ein 28
bereits konstituiertes soziales Bewusstsein voraus, das der Reizhandlung einen Bedeutungsgehalt zuschreibt, so dass iiberhaupt eine Nachahmung im engeren Sinne stattfinden kann. Bedeutungen allerdings, so die zweite These des Aufsatzes, resultieren ihrerseits ebenfalls erst aus sozialen Interaktionen. Diese und damit den Prozess der Konstitution des sozialen Bewusstseins stellt sich Mead sozialbehavioristisch als eine Wechselseitigkeit von Reizhandlung und Reaktion, die wiederum eine Reizhandlung ist, vor. Reizhandlungen sind fur ihn dabei bereits Gebarden. Die Fahigkeit auf einen solchen sozialen Reiz zu reagieren, also eine soziale Wechselseitig zu erzeugen, wurzelt in sozialen Instinkten, die Mead gleichsam als Ursprung von Sozialitat begreift. Nachahmung und Bedeutungszuschreibungen sitzen somit intersubjektiven Austauschprozessen auf, die zu einer konstituierenden Bedingung werden. Die Fragestellung nach der Konstitution von Bedeutungen fuhrt Mead in seinem Folgeaufsatz „Soziales Bewusstsein und das Bewusstsein von Bedeutungen" (Mead 1910/1987a) fort. Dabei detailliert er den Begriff der Gebarde als ursprungliche Form sozialen Verhaltens, indem er Gebarden die Funktion abspricht, Emotionen auszudriicken und im Gegenzug ihre Funktion aus der reziproken Anpassung von sozialem Reiz und sozialer Reaktion, also der gegenseitigen Anpassung von agierenden Subjekten, erklart. Seine These, dass Bedeutungen genau aus diesem Wechselverhaltnis entstehen, bestatigt er und erweitert sie zusatzlich dadurch, dass er die Entstehung von Bedeutungen an Konfliktsituationen riickbindet (vgl. dazu Schiitz/Luckmann 1994). Er beschrankt die Moglichkeiten der Entwicklung eines Bewusstseins von Bedeutungen durch routinisierte Handlungen und durch individuelle, intrapsychische Konflikte, die allenfalls zu genaueren Bestimmungen eines Reizes fiihren konnen. Dagegen starkt er seine These von der Notwendigkeit sozialer Interaktionen fur die Entwicklung eines Bewusstseins von Bedeutungen, wenn er dieses in intersubjektiven Konfliktsituationen verortet. „In diesen sozialen Situationen treten nicht nur miteinander in Konflikt liegende Handlungen auf, die eine verscharfte Definition der Reizelemente erfordem, sondern auch ein Bewusstsein der eigenen Haltung als einer Interpretation der Bedeutung eines sozialen Reizes." (Ebd.: 219) Mead verweist damit auf den nahe liegenden Umstand, dass Bedeutungen Iiberhaupt erst Sinn im Kontext von Sozialitat machen, diese dann aber im Umkehrschluss als Bedingung ftir die Entstehung von Bedeutungszuschreibungen verantwortlich zu machen ist. Im gleichen Jahr erscheint der Vortrag „Welche Objekte muss die Psychologic voraussetzen?" (Mead 1910/1987b), in dem Mead das gleiche Programm auf das Thema der IchIdentitat anwendet. Er behandelt damit nicht nur eine der zentralen Fragestellungen der Bewusstseinsphilosophie und ruckt die Stellung der Individualitat in das Zentrum sozialwissenschaftlicher Forschung. Mit seiner intersubjektivistischen Reformulierung dieses Themas bietet er eine attraktive Moglichkeit, Ich-Identitat jenseits des von David Hume explizierten Problemhorizontes einer monadischen Erkenntnis- und Subjekttheorie (siehe Kap. 4.5.) zu erklaren. Wiederum setzt Mead mit seiner Gebardentheorie an, nach der reflexives Bewusstsein erst aus der Interpretation der je eigenen Handlungen, verstanden als Reaktion auf alter ego, entsteht. Dieses Bewusstsein von Bedeutungen, so Mead, schlieBt aber das Bewusstsein von der Identitat Anderer ein, so dass deren Identitat der je eigenen Identitat voraus geht. Andersherum formuliert: Ich-Identitat entwickelt sich aus sozialen Interaktionen bzw. aus wechselseitigen und aufeinander bezogenen Handlungen im Rah29
men von Sozialitat. Theorielogisch ergibt sich damit eine Entwicklung von der Intersubjektivitat zu einem Bewusstsein von Bedeutungen, das ein Bewusstsein von der Identitat anderer einschlieBt, und schlieBHch zur Ich-Identitat. Die erkenntnistheoretische Konsequenz dieses Untemehmens ist, dass auch eine reflexive Objekterfahrung von der vorherigen Anerkennung der Identitat von Anderen, das heiBt der Intersubjektivitat, abhangig ist. Bislang verblieb die Darstellung der sozialen Interaktion auf der Ebene einer bloBen Konstatierung der Wechselwirkung von sozialem Reiz und Reaktion. Elaborierter steUt sich die soziale Interaktion in dem Aufsatz „Der Mechanismus des sozialen BewuBtseins" (Mead 1912/1987) dar, in dem Mead diese mit einer Theorie der Selbstaffizierung erganzt. Danach ist die eigene Handlung als Reaktion auf einen sozialen Reiz zugleich auch als Selbstreiz fiir ego zu verstehen. Am Beispiel der Sprache bzw. von Lautgebarden illustriert Mead diesen Gedanken. Das Kind hort sich sprechen und affiziert sich damit selbst. Dies ist jedoch nicht als monadischer und prasozialer Akt zu begreifen. In Meads „Konzeption der Selbstaffektion verbindet sich die Reaktion von alter mit der AuBerung von ego. Die Reihenfolge ist wichtig: Der Selbstaffektion in der AuBerung der Lautgebarde wird durch die Reaktion von alter erst Bedeutung gegeben - und nicht etwa umgekehrt." (Wenzel 1990: 71) Eine Selbstaffizierung bzw. Selbstobjektivierung gelingt erst, wenn das Kind aus seinem Bezug zu Anderen eine Identitat entwickelt hat, auf die die Affizierung wirken kann. Dieser Doppelung von affizierendem und affiziertem Ich liegt die Unterscheidung von ,,1" and „Me" zugrunde, mit der Mead die kantische Differenz von transzendentalem und empirischem Subjekt weiterfuhrt. Aus dem Umstand, das ego sich selbst und Andere reizen und auf diese Reize reagieren kann, resultiert das „Me" als einem sozialen Objekt, auf das als empirisches Ich subjektive Erfahrungen und soziale Erwartungen bezogen werden konnen. Jenseits der Zugriffsmoglichkeit des empirischen Subjekts liegt das ,,1" als Prinzip der Spontaneitat und Kreativitat. Wahrend das „Me" die real wirkende Ich-Identitat bezeichnet, meint das ,,1" die unbewussten und triebhaften Neigungen des Subjektes, die nicht in den Blick eines reflexiven Bewusstseins geraten. Illustrieren lasst sich dies in den Worten der politischen Philosophic. Dann bezeichnet das „Me" die offentliche Rechtsperson, die sich auf das Verhalten Anderer einstelh und auf die das eigene und das Verhalten Anderer bezogen werden kann, und das ,1' das privatbiirgerliche Subjekt, das sich dem kontrollierendem Zugriff der Offentlichkeit (und bei Mead auch dem bewussten Ich selbst) entzieht. Und so wie das privatbiirgerliche Subjekt ohne die offentliche Rechtsperson nicht denkbar ist, ist eine Selbstaffizierung erst moglich, wenn ein „Me" konstituiert ist, das als soziales Objekt affiziert werden kann. Ich-Identitat, so fasst Mead (1912/1987) seine Uberlegungen zusammen, ist dann die Hereinnahme der sozialen Organisation der AuBenwelt. Diesen Gedanken mit einer starkeren Pointierung der Introspektionstheorie und einer Verbindung mit seiner konfliktabhangigen Entwicklungstheorie baut Mead in seinem letzten Aufsatz der flir den symbolischen Interaktionismus entscheidenden Aufsatzreihe „Die soziale Identitat" (Mead 1913/1987) aus. Er verdeutlicht nochmals das Verhaltnis von ,,1" und „Me" als ein Verhaltnis eines Affizierenden zu einem Affizierten und schreibt beiden jene unterschiedlichen Formen von Identitat als triebhafte Neigung und sozialem Objekt zu. Letztere wird zu einer reflexiven Identitat durch den Mechanismus der Introspektion, den Mead als Prozess des Denkens auf der Grundlage intersubjektiv geteilter Symbole als ein intrapsychisches Gesprach (mit anderen) bestimmt. Wenngleich der Begriff der Introspek30
tion als Versuch der empiristischen Philosophie Ich-Identitat zu erklaren, einen monadischen Akt impliziert, wird er also von Mead intersubjektivistisch angeeignet. Damit kann er den Begriff der Rolle einflihren, der darauf hinweist, dass in dem Prozess der Introspektion die verschiedenen Rollen der Mitglieder einer Sozialitat eingenommen werden konnen, um fiir ein intrapsychisches Gesprach hypothetisch Argumente und Handlungen anderer zu simulieren. Weiterentwicklungen einer solchen sozialen Ich-Identitat erfolgen aufgrund teilweiser Desintegration durch soziale Konflikte, die eine neue Identitat, die veranderten sozialen Verhaltnissen angemessen ist, provozieren. Weiterentwicklungen resultieren nach Mead aber auch aus einer Verbreiterung der Rollenperspektive. Die Differenzierung von ,play' und ,game', die dieser These zugrunde liegt, kann als ein genuiner Beitrag Meads zu einer Theorie der Personlichkeitsentwicklung gelesen werden. Im als ,play' bezeichneten einfachen Kinderspiel tibemimmt das Kind die Rollen von Anderen, etwa als Polizist oder Verkauferin. Wenn sich dies anfangs noch als spielerische Symbolisierung von Personen darstellt, gewinnt das Kind zunehmend die Kontrolle iiber diese Personen und gelangt so zu einer kontrollierten Entwicklung der eigenen Personlichkeit. Die monadische Eingeschlossenheit des Kinderspiels wird durch den Mannschaftswettkampf (game) iiberwunden. Hier erweitert sich die Ubemahme von zunachst je einer Rolle auf die Ubemahme der Rolle aller Beteiligten. Der Einzelne muss sich in Bezug zu sowohl seinen Mitspielem als auch zu den Spielern der gegnerischen Mannschaft (generalized other) setzen und seine Aktionen auf deren Verhalten abstimmen, um erfolgreich zu sein. Dieses Hereinholen und Ausrichten an gesellschaftlichen Handlungsbeziigen in den je eigenen Erfahrungsbereich ist fur Mead die Voraussetzung flir eine umfassende Entwicklung der Identitat. „Nur insoweit er die Haltungen der organisierten gesellschaftlichen Gruppe, zu der er gehort, gegeniiber der organisierten, auf Zusammenarbeit beruhenden gesellschaftlichen Tatigkeiten, mit denen sich diese Gruppe befasst, annimmt, kann er eine vollstandige Identitat entwickeln und die, die er entwickelt hat, besitzen." (Mead 1995: 197) Trotz dieses Hinweises auf eine Beschreibung der Personlichkeitsentwicklung durch die Ubemahme immer diversifizierterer Rollen hat Mead keinen eigenstandigen elaborierten Beitrag zu einer genuinen Sozialisations- oder Erziehungstheorie gegeben. Das Konzept des symbolischen Interaktionismus, das nach der Skizze der relevanten Aufsatze nunmehr systematisch in Bezug auf einen Abriss der Geschichte der Sozialisationsforschung umrissen werden kann, ist jedoch als Grundlegung einer intersubjektivistischen Handlungstheorie zugleich auch eine Grundlegung der vomehmlich auf der Handlungstheorie basierenden Sozialisationstheorie. Dabei interessiert nicht so sehr die detaillierte, sozialbehavioristische Ausgestaltung, die Mead der Handlungstheorie gibt. Relevant ist die Uberwindung der theoretischen Orientierung an einem monadischen Subjekt, wie sie vor Mead im Deutschen Idealismus ihren Hohepunkt gefunden hatte. Zwar hatte zuvor Marx eindringlich darauf hingewiesen, dass das Subjekt bzw. das Bewusstsein immer ein gesellschaftlich vermitteltes ist. Er konzentriert sich jedoch tendenziell eher auf die Auseinandersetzung mit der dinghaften Natur als Paradigma der Austauschtheorie (Marx/Engels 1845/1990). Er verfehlt damit die von Mead in den Blick genommene Ebene eines intersubjektiven Austausches und verharrt letztlich in einem monadischen Subjektbegriff. Mead dagegen radikalisiert den Gedanken der gesellschaftlichen Vermitteltheit von Subjektivitat und Ich-Identitat, indem 31
er das Subjekt immer schon in einem sozialen, intersubjektiven Beziehungsverhaltnis erblickt. Der Vorteil dieses Unternehmens liegt darin, berticksichtigen zu konnen, dass ein anderes Subjekt als Referenz flir die eigene Subjektivitat nicht passiv ist, sondem seinerseits aktiv in den Austauschprozess eingreift. Unabgangig davon, dass eine aus diesem Modell abgeleitete Moralphilosophie direkter auf soziale Beziehungsmuster zugeschnitten werden kann (etwa Habermas 1983, 1991), erlaubt diese Beriicksichtung einerseits die Entwicklung des Einzelnen als einen kontingenten und unabgeschlossenen Prozess zu begreifen. Andererseits verdoppelt sich die Perspektive auf den Austausch des Einzelnen mit der Gesellschaft. Gegeniiber der einseitigen Einflussnahme der Gesellschaft auf das Individuum, wie bei Durkheim, konzipiert Mead ein Subjekt, das aufgrund seiner reziproken und interdependenten Stellung im sozialen Beziehungsgeflecht immer auch zuriickwirkt auf die Gestaltung der Gesellschaft, Erving Goffmann (1986; 2000) hat gezeigt, wie diese Relationalitat Aufschluss iiber die Verhaltensmuster und Perspektiven der Subjekte geben kann. Dabei wird sichtbar, dass das Subjekt nicht gegen eine unabhangige und verauBerlichte Gesellschaft agiert, sondem gleichsam inmitten der Gesellschaft, die aufgrund der Hereinnahme der Perspektive Anderer in den eigenen Erfahrungsbereich grundsatzlich im Subjekt in Form von Verhaltensstrategien und Anpassungsleistungen reprasentiert wird. Gesellschaft ist zwar auch eine dem Subjekt gegeniiber unabhangige Entitat, aber zugleich eine dem Subjekt inharente. Gegeniiber Durkheim verliert sie so den Stellenwert eines objektiven Zwangsmechanismus. Mead macht also einen Schritt zu einer starkeren Fokussierung des Individuums, die sich auf seine politische Philosophic auswirkt und auf die diese zuriickstrahlt. Es braucht an dieser Stelle noch nicht zu interessieren, dass sich gerade an Mead die Kritik der sozialisierten Vemunft entziindet. Festzuhalten ist, dass Mead das Paradigma eines handlungstheoretischen Intersubjektivismus begriindet, das sowohl zum theoretischen Fundament der Sozialisationstheorie als auch zum Ausgangspunkt der programmatischen Orientierung am Individuum ftihren wird. Dabei ist selbstverstandlich zu beachten, dass die Orientierung am Individuum nicht allein der Theorie Meads geschuldet ist, sondem wesentlich auch historischen Verandemngen der Gesellschaft. Dies zeigt sich deutlich an Jiirgen Habermas, der sich zwar auf Meads Interaktionismus stiitzt, dessen Orientierung am Individuum aber eher auf seine geistige Herkunft aus der Kritischen Theorie zuriickzufiihren ist.
2.3. Ich-Identitdt als gelungene Sozialisation: Jiirgen Habermas Mit Jiirgen Habermas wird die Orientierung am Individuum zu einem entscheidenden Fokus der Sozialisationstheorie. Dies ist, wie gesagt, keine Selbstverstandlichkeit. Vor ihm bzw. zeitgleich hatte etwa Talcott Parsons die Handlungstheorie auf den Strukturfunktionalismus Durkheims zuriickbezogen und Sozialisation als Prozess der Vergesellschaftung beschrieben. Er verwendet dazu neben einer Handlungstheorie, die im Wesentlichen auf die Austauschprozesse von Individuum und Gesellschaft abzielt (Miinch 1988), die Psychologic Sigmund Freuds (Parsons 1999a). Diese dient ihm dazu, den Prozess der Vergesellschaftung als eine iiber die Objektkathexis angeleitete Introjektion gesellschaftlicher Normen zu plausibilisieren. Sozialisation bezeichnet dann eine sukzessive Rollendifferenzie32
rung von der dyadischen Mutter-Kind-Beziehung iiber die RoUen innerhalb einer Familienstruktur zu den Rollen innerhalb der Gesellschaft. Wahrend das Kind zunachst eine lustvermittelte Beziehung zur Mutter aufbaut, ubemimmt es innerhalb einer Familienstruktur die verschiedenen Rollen des Sohnes, der Tochter, des Bruders, etc. Wesentliche Konstitutionsmerkmale dieser Rollen sind flir Parsons Alter und Geschlecht, die sowohl die Hierarchie innerhalb der Familie begriinden, als auch differenzierte Selbstfindungsprozesse zwischen Jungen und Madchen (Parsons 1999b). SchlieBlich lemen Kinder iiber das Schulsystem, Rollen in einer geographisch und kulturell verfassten Gesellschaft zu tibernehmen, wobei die Schule sowohl die Aufgabe einer leistungscodierten Selektion in Bezug auf spatere Statuszuweisungen als auch die Aufgabe einer Vermittlung gesamtgesellschaftlicher Normen ubemimmt (Parsons 1999c). Flir Parsons, der synonym zu Durkheim die Perspektive des Gesellschaftssystems einnimmt, gih eine Sozialisation nun dann als gelungen, wenn sie den Einzelnen iiber eine seiner Leistung entsprechende Rolle in die stratifizierte und ftmktional differenzierte Gesellschaftsstmktur integriert und ihn befahigt, gesellschaftliche Normen aus Einsicht zu befolgen und zu reproduzieren. Ich-Identitat interessiert ihn dabei nur unter dem formalen Organisationsaspekt der Synthetisiemng von Bedeutungen (Parsons 1980). Sein entscheidender Fokus liegt auf der gesellschaftsstabilisierenden Subordination unter tradierte Normen und kulturelle Muster. Dazu greift er einerseits auf das hobbessche Motiv einer autoritaren Ordnungspolitik zuriick und andererseits leitet er aus diesem Fokus die Notwendigkeit sozialer Schichtung ab, die eine evaluative Strukturierung der Individuen, und damit Ubersichtlichkeit, ermoglichen soil. „Das primare funktionale Bedlirfnis eines sozialen Systems in diesem Kontext ist klar; negativ ausgedriickt liegt es darin, dass die Integration der individuellen Personlichkeit nicht auf breiter Front zu Aktivitaten ftihren sollte, die desintegrierend auf die Stabilitat des sozialen Systems wirken; positiv kann man es so ausdrucken, dass diese Integration teleologische Tendenzen zeigen sollte, die der Fordemng funktional wichtiger Handlungsmuster unmittelbar dienlich sind." (Parsons 1994: 178) Gegenuber der strukturftinktionalistischen Perspektive der Systemintegration postuliert Habermas nun Werte wie Gerechtigkeit oder Herrschaftslosigkeit als zentrale Topoi der Sozialisation. Zum einen reagiert er damit zweifelsohne auf die emanzipatorischen Absichten der Studentenrevolte und zum anderen ftihrt er den Diskurs einer Kritischen Theorie von Marx bis Adorno, flir die diese Werte die normative Grundlegung einer altemativen Gesellschaftsordnung bezeichneten, weiter.' Sein Erkenntnisinteresse gilt vomehmlich der Demokratisierung der Gesellschaft und der Entwicklung von miindigen, autonomen Individuen. Theoriegeschichtlich bezieht er sich explizit auf den Symbolischen Interaktionismus Meads und liest an der Situation kommunikativer Verstandigung die idealisierte Form eines herrschaftsfreien Dialoges ab, um sein Erkenntnisinteresse einzuholen. Seine sozialisationstheoretischen Uberlegungen schlieBt Habermas zunachst an den Rollenbegriff an und stimmt mit Parsons uberein, dass Sozialisation in einem ersten Schritt eine normative Integration in die Gesellschaft darstellt. Entgegen Parsons betont er jedoch. 1 Die Einschatzung, Habermas fiihre die Kritische Theorie we iter, ist selbstverstandlich nicht in einem absoluten Sinne zu verstehen. Axel Honneth (1982) hat darauf hingewiesen, dass es berechtige Griinde fur die Annahme gibt, dass Habermas zwar nicht grundsatzlich andere Fragestellungen verfolgt hat wie Adorno, dennoch entscheidend von diesen abweicht.
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dass der Prozess der Vergesellschaftung immer auch ein Vorgang der Individuierung ist (Habermas 1988). Entsprechend erhalt die Konzeption der Rollenubemahme durch den Einzelnen den normativen Impetus, nicht die Ubereinstimmung von und die intemalisierende Identifikation mit Bedlirfnissen und normativen Mustem zu intendieren, sondem eine Komplementaritat der gegenseitigen Erwartungen innerhalb einer kommunikativ strukturierten Sozialitat, mithin eine kommunikative Handlungsbefahigung (Habermas 1973 a; Joas 1998). In diesem Sinne ist die Rolleniibernahme eine Stufe im Prozess der Sozialisation, die durch eine Identifikation mit Vorbildern erworben wird, um uberhaupt an sozialen Interaktionen teilnehmen zu konnen. Daruber liegt fiir Habermas jedoch die Stufe der Emanzipation von gesellschaftlich zugeschriebenen Rollen. „Autonomes Rollenspiel setzt beides voraus: die Internalisierung der Rolle ebenso wie eine nachtragliche Distanzierung von ihr." (Habermas 1973b: 127) Damit steht Habermas im Spannungsverhaltnis zwischen der trivialen Einsicht, dass Individualitat nur im Gegensatz zu Anderen und damit uber Sozialitat zu haben ist, und der letztlich politischen Orientierung einer Abwehr patemalistischer Anspriiche seitens dieser Sozialitat. Ich-Identitat wird so zu einer Aufgabe, zwischen einem personlichen und einem sozialen Ich zu balancieren. Wahrend der Ruckzug in ein absolut gesetztes personliches Ich die Beendigung sozialer Interaktion nach sich ziehen wiirde, wtirde das Aufgehen in der sozial zugeschriebenen Rolle eine Identifizierung als (autonomes) Selbst verunmoglichen. Gerade jedoch diese Entwicklung eines autonomen Selbst gilt Habermas als Telos einer gelungenen Sozialisation. Einerseits aktualisiert er damit jenes Bild des miindigen Btirgers der liberalistischen Philosophic. Andererseits gih ihm ein autonomes Selbst nicht allein als Selbstzweck. Es steht in einem engen Verweisungszusammenhang mit dem Begriff des kommunikativen Handelns, das letztlich nur durch autonome Subjekte realisierbar ist, und der auf der anderen Seite die beiden Aspekte der Sozialisation, Vergesellschaftung und Individuierung, widerspiegeh. Grob skizziert, bezeichnet kommunikatives Handeln einen sprachlichen Austausch iiber auBerhalb der Kommunikation liegende Handlungsziele (Habermas 1981, 1984a; Beer 1999). Dabei bemiihen die Interaktionspartner Geltungsanspriiche, die eine Ubereinstimmung aus rationaler Einsicht ermoglichen sollen. Die Geltungsanspriiche beziehen sich auf die Welt objektiver Tatsachen, intersubjektiver Normen und subjektiver Wahrhaftigkeit. Die Interaktionspartner konnen unter mindestens einem dieser Weltbeziige die Absichten von alter zuruckweisen. Sie konnen bestreiten, dass die von alter vorgetragene Handlungsabsicht aufgrund objektiver Weltstrukturen realisierbar ist, sie konnen die normative Richtigkeit der Handlungsabsicht bemangeln und sie konnen die Vermutung auBern, alter verfolge andere (strategische) Ziele, als in seinem Kommunikationsangebot geauBerte. Diese Struktur kommunikativen Handelns begreift Habermas als idealisierende Rekonstruktion sprachlicher Verstandigung, wobei er fur diese Rekonstruktion die Sprachpragmatik von Austin (1994) und Searle (1994) verwendet. Sie benennt den normativen Fixpunkt einer herrschafts- und gewaltfreien Verstandigung, von dem aus autoritare Formen intersubjektiver Interaktion kritisiert werden konnen. Habermas gesteht dabei durchaus ein, dass in realen Gesellschaften kommunikatives Handeln die Ausnahme ist. „Faktisch konnen wir keineswegs immer (oder auch nur oft) jene unwahrscheinlichen pragmatischen Voraussetzungen erfullen, von denen wir in der kommunikativen Alltagspraxis gleichwohl ausgehen - und zwar im Sinne einer transzendentalen Notigung - ausge34
hen miissen. Deshalb stehen soziokulturelle Lebensformen unter strukturellen Beschrankungen einer zugleich dementierten und in Anspruch genommenen kommunikativen Vernunft." (Habermas 1985: 378) Eingebettet in und gegen das standige Dissensrisiko pluralisierter Gesellschaft riickversichert sind die Geltungsansprtiche - und damit das Wissen um die Welt objektiver Tatsachen und normativer Richtigkeiten - durch einen lebensweltlichen Hintergrund, der durch Sozialisation erworbenes Wissen um die objektive und normative Welt und personliche Einstellungen zur Verfiigung stellt und somit eine intersubjektive Situationsdefmition anleiten kann. Dieser lebensweltliche Hintergrund thematisiert den Vergesellschaftungsaspekt von Sozialisation. Der Aspekt der Individuierung im Kontext der Theorie des kommunikativen Handelns bezieht sich auf die Kompetenzen, die die Subjekte mitbringen miissen. Dies sind einerseits solche Kompetenzen, die sich auf das alltagliche Rollenhandeln beziehen. Andererseits sind dies Kompetenzen, die insbesondere auf der Reflexionsebene des kommunikativen Handelns, dem Diskurs, relevant werden. Diskursives Handeln, im Unterschied zu kommunikativem Handeln, wird notwendig, wenn lebensweltliches Hintergrundwissen problematisch wird, das heifit wenn die Beteiligten entweder bislang giihiges Wissen oder bislang giiltige Normen nicht mehr akzeptieren (Habermas 1983, 1991). Im ersten Fall miissen die Akteure in einen theoretischen Diskurs treten, der mit empirischanalytischen Argumenten gefuhrt wird. Im zweiten Fall treten die Akteure in einen praktischen Diskurs, der sich an der Norm, dass alle Betroffenen dem Ergebnis zwanglos zustimmen konnen mussen, orientiert. Er folgt den formalen Prinzipien (Diskursregeln), dass alle sprach- und handlungsfahigen Akteure an einem Diskurs teilnehmen konnen, jeder Teilnehmer jede AuBerung in den Diskurs einfiihren kann und niemand an der Ausiibung dieser Rechte durch auBeren oder inneren Zwang gehindert werden darf. Aus dieser anspruchsvollen Form der Verstandigung leiten sich diskursive Kompetenzen ab, die sich durch den Begriff einer prinzipiengeleiteten Moral charakterisieren lassen. Diesen Begriff entlehnt Habermas der Theorie der Moralentwicklung von Lawrence Kohlberg (Habermas 1976; Kohlberg 1997; siehe auch Kap. 2.9.). Dieser hatte im Anschluss an die genetische Epistemologie Jean Piagets den Versuch untemommen, dessen Entwicklungspsychologie auf den Bereich der Moralentwicklung anzuwenden. Dazu hatte er im Gegensatz zu Piaget und in direkter Anlehnung an die Moralphilosophie Kants ein philosophisch-theoretisch vorkonstruiertes Modell der Moralentwicklung erarbeitet und dieses anschliefiend empirisch iiberpriift, indem er Heranwachsende mit Konfliktgeschichten konfrontierte. Die beriihmteste ist das so genannte Heinz-Dilemma, das danach fragt, ob ein Ehemann (Heinz) in eine Apotheke einbrechen darf, um flir seine todkranke Frau ein Medikament zu stehlen, fur das er keine fmanziellen Mittel aufbringen kann. Je nach dem Niveau der Argumentation, unterteilt Kohlberg die Antworten in drei groBe Stufen, die in sich jeweils durch zwei Unterstufen differenziert werden. Die beiden untersten Moralstufen mit einer heteronomen Moralitat ohne Regelbewusstsein fasst Kohlberg als prakonventionelle Moral zusammen. Die Stufen drei und vier der konventionellen Moral bezeichnen die individuelle Ausrichtung auf die partikulare Gesellschaft und die letzten Stufen der prinzipiengeleiteten Moral meinen die Uberordnung von abstrakten Wertsystemen iiber konkrete Sittlichkeiten. Ontogenetisch lieB sich zeigen, dass die gleichen Probanden in unterschiedlichen Altersstufen jeweils hoheren Niveaus der Moralitat zugeordnet werden konnten. Zehn35
jahrige Kinder antworten etwa mit dem Verweis, von der Polizei erwischt zu werden und lehnen daher einen Einbruch ab. Altere Jugendliche hingegen nehmen das geltende Recht in Anspruch, um einen Einbruch zu verwerfen und mit dem Alter von zwanzig Jahren beginnen die Befragten die Legitimitat des geltenden Rechts mit dem Verweis auf die Grundund Menschenrechte in Frage zu stellen. Wahrend somit das zehnjahrige Kind noch nicht in der Lage ist, gesellschaftliche Regeln zu verstehen, sondem sich an der individuellen Konsequenz von Handlungen orientiert (prakonventionelle Moral), postuliert der Jugendliche die Giiltigkeit gesellschaftlicher Regeln in Form codierten Rechts (konventionelle Moral). Der Erwachsene schlieBlich prtift geltende Regeln im Lichte tibergeordneter Normen, an denen sich Recht messen lassen muss (postkonventionelle Moral). Mit dem Stadium der postkonventionellen Moral wird jene diskursive Kompetenz erworben, die zu einer gleichberechtigten und mtindigen Teilnahme an Diskursen befahigt. Diese machen schlieBlich erst dann Sinn, wenn die Akteure liberhaupt in der Lage sind, tradierte Normen anzuzweifeln, so dass ein Diskurs notwendig wird. Sie machen aber auch erst dann Sinn, wenn die Akteure die anderen Beteiligten als gleichberechtigte Diskurspartner und deren Diskursbeitrage als legitime AuBerung akzeptieren und verstehen, das heiBt, wenn sie ihnen die gleichen (Menschen-)Rechte zuschreiben, die sie flir sich selber in Anspruch nehmen. Akteure mit einer konventionellen Moralitat miissen diesen Anspruch verfehlen, wenn sie sich einzig auf die Legalitat bestehenden Rechts zuriickziehen. Dann namlich konnen sie Diskursangebote als nicht konform mit geltenden Regeln gleichsam a priori als unberechtigten Beitrag zurlickweisen. Eine diskursive Neuverhandlung von strittigen Normen ware verunmoglicht. Wie ersichtlich bezieht der Begriff einer diskursiven Kompetenz bzw. einer postkonventionellen Moral die Vorstellung autonomer Personlichkeiten mit ein. Individuen sollen sich im Optimalfall als couragierte Burger in einen Diskurs einbringen und ihre eigenen Absichten. Motive und Interessen zur Diskussion stellen. Gleichzeitig sollen sie sich dabei innerhalb der intersubjektiv giiltigen Metanormen des Diskurses bewegen, die den Verstandigungsprozess zu einem Prozess der Vergesellschaftung auf der Ebene einer abstrakten Verfahrensgerechtigkeit werden lassen. Dies entspricht der Komplementaritat der Erwartungen im Gegensatz zur Ubereinstimmung von Bediirfnissen. Gesellschaftstheoretisch ist dieses Konzept ausgerichtet auf eine aktive Biirgerschaft, die in Form anarchischer Diskurse lebensweltliche Impulse zu einer kommunikativen Macht verdichtet, mit der die Inhaber politischer und okonomischer Macht rechnen miissen, so dass die strukturellen Imperative der Administration und der kapitalistischen Wirtschaft durch eine Riickbindung an die Offentlichkeit einer demokratischen Kontrolle unterliegen bzw. demokratisiert werden konnen (Habermas 1994; Heming 1997). Habermas detailliert mit diesem Programm den Symbolischen Interaktionismus Meads. Wie diesem geht es Habermas um die Werte von Demokratie und personlicher Autonomic. Mead operiert jedoch mit bereits sozialisierten Individuen, die jene flir einen intersubjektiven Austausch relevanten Kompetenzen immer schon mitbringen. Indem Habermas die dialogische Situation, die Mead in die Sozialwissenschaften als Paradigma eingeflihrt hatte, auf einen rationalen, kommunikativ strukturierten Prozess zuschneidet, geraten die kognitiven und sozialkognitiven Dimensionen des Akteurs in den Blick, der spezifische Kompetenzen in einem Sozialisationsprozess erst erwerben muss, um kommunikativ bzw. diskur36
siv handeln zu konnen. Damit wird die von Mead anvisierte Kommunikation uber Gebarden nicht suspendiert, sondem phylo- und ontogenetisch weitergetrieben. Modeme Gesellschaften kommunizieren nicht ausschlieBlich Uber das Korperverhalten, sondem benutzen aufwendige Sprachcodes, die die Spannung von Konkretem und Abstraktem in die Verstandigung einholen und die von den Akteuren verarbeitet werden konnen muss. Habermas gelingt die Einbeziehung einer expliziten Sozialisations- bzw. Entwicklungsperspektive durch eine Anbindung an die Theorie der Moralentwicklung Lawrence Kohlbergs. Dieser hat nun allerdings darauf hingewiesen, dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass alle Mitglieder moderner Gesellschaften eine postkonventionelle Moral erlangen. „Die Mehrzahl der Jugendlichen und Erwachsenen in den meisten Gesellschaften bewegt sich auf dem konventionellen Niveau, Nur eine Minderheit von Erwachsenen erreicht das postkonventionelle Niveau, und dies gewohnlich erst nach einem Alter von zwanzig Jahren." (Kohlberg/Colby 1978: 356) Wenn Habermas somit gegeniiber Mead eine explizite Entwicklungsdimension mitberucksichtigt und diese auf das Telos einer autonomen Personlichkeit oder postkonventionellen Moral verpflichtet, bedeutet dies eo ipso, das die Entwicklung scheitern, also nicht gelingen kann. Dieser Aspekt des Sozialisationsprozesses wird insbesondere durch die schichtenspezifische Sozialisationsforschung thematisiert, die die Frage nach den sozialstrukturellen Umweltbedingungen der Sozialisation stellt.
2.4. Ungleiche Sozialisation: Die schichtenspezifische Sozialisationsforschung Die schichtenspezifische Sozialisationsforschung hatte ihren Hohepunkt in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhundert. Nachdem sich in alien westlichen Industrienationen ein formal gleicher Zugang zum politischen System und schlieBlich auch zum Bildungssystem realisiert hatte, nahm das Thema der Chancengleichheit einen bedeutsamen Platz in den offentlichen und wissenschaftlichen Diskursen ein. Denn obwohl die politischen und rechtlichen Barrieren, die einen allgemeinen Zugang zum Bildungssystem verhindert hatten, schrittweise beseitigt wurden, blieben die vormals offiziell Exkludierten weiterhin dem hoheren Bildungssystem fern. Dies driickte sich nicht nur in den Statistiken uber Gymnasiums- und Universitatsbesucher aus. Die Schulleistungen und die Bildung von Kindern depravierter Schichten blieben mehr oder weniger konstant auf einem niedrigen Niveau. Die erhoffte soziale Mobilitat durch Bildung stellte sich nicht ein, so dass fiir die Reproduktion der sozialen Schichtung eine Erklarung unterhalb der Ebene politisch-struktureller Veranderungen gefunden werden musste. Sozialisationstheoretiker suchten die Grunde fiir die Kontinuitat einer ungleichen Verteilung von Bildung, und damit von Berufs- und Lebenschancen, in ungleichen Sozialisationsbedingungen, die bereits vor dem Eintritt in das offizielle, staatliche Bildungssystem zu ungleichen Befahigungen im Umgang mit Bildung im Allgemeinen und der Schule im Besonderen ftihren. Entsprechend argumentierte die schichtenspezifische Sozialisationsforschung mit einem Zirkelmodell: Die durch die berufliche Position des Familienvaters indizierten Sozialisationsbedingungen begtinstigen bzw. erschweren den schulischen Erfolg des Kindes, so dass dieses eine dem Vater ahnliche berufliche Position erreicht und damit ahnliche Sozialisationsbedingungen an die folgende Generation weitergibt. 37
Deutlich herausgearbeitet hat diesen Zusammenhang Hans-G. Rolff (1972), der die gesellschaftliche Funktion und die inhaltliche Ausrichtung der Schule in Verbindung zur schichtenspezifischen Sozialisation durch die Familie setzt. Er konstatiert, dass die durch das staatliche Bildungswesen vergebenen Bildungszertifikate zunehmend liber die zu erreichenden Berufspositionen entscheiden. Damit und mit dem Interesse der Wirtschaft an ausgebildeten (Fach-)Arbeitern treten jedoch gegenuber dem aufklarerischen Anspruch auf Bildung die Qualifikations- und Selektions- bzw. Allokationsfunktionen der Schule in den Vordergrund (vgl. auch Fend 1980; Gronemeyer 1997). Um sich an der Schule, die sich aufgrund dieser Funktionen am Leistungsgedanken orientiert, behaupten zu konnen, bedarf es spezifischer Befahigungen, die, so Rolff, nicht einer hereditaren Begabung entspringen, sondern eben spezifischen Sozialisationsbedingungen, die mit der sozio-okonomischen Position der Familie verwoben sind. Dabei spielt fur Rolff weniger die fmanzielle Situation der Familien eine Rolle, da Kinder aus Familien mit vergleichbarem fmanziellen Hintergrund durchaus unterschiedlich erfolgreich in der Schule abschneiden, als vielmehr Einstellungsmuster, Erwartungen, Zielvorstellungen und Denk- und Verhaltensweisen. Er fasst diese unter dem Begriff des „Sozialcharakters" zusammen, der empirisch nachweisbare regelmaBige Verhaltensweisen und Einstellungsmuster bei bestimmten Gruppen beschreiben soil. Sozialisationstheoretisch konnen diese Sozialcharaktere auf die jeweiligen Erziehungsstile der verschiedenen Schichten zuruckgefiihrt werden (vgl. auch Grundmann/Keller 1999). Die entscheidende These, die Rolff aus diesen Uberlegungen ableitet, soil die Erklarung fiir die unterschiedlichen Schulerfolge liefem: „Die Wertvorstellungen und Verhaltenserwartungen, die die Schule beherrschen, begiinstigen den Sozialcharakter der Schliler aus der Mittelschicht gegenliber dem Sozialcharakter aus der Unterschicht." (Rolff 1972: 115) Dieses Missverhaltnis zwischen sozialisiertem Sozialcharakter der Unterschichtkinder und der Schule bezieht sich sowohl auf die Institution Schule, auf die Lehrer bzw. deren Verhaltensweisen und Erwartungen, als auch auf die Mitschliler aus der Mittelschicht, zu denen Freundschaftsverhaltnisse einen korrigierenden Einfluss haben konnten, die aber aufgrund einer schichtenhomogenen Zusammensetzung der schulischen und auBerschulischen Peer-Groups selten zustande kommen. Das Ergebnis dieser ungllicklichen Konstellation ist jene repetierende Selektion und Allokation der Schule, die zu dem Zirkel von beruflicher Position des Vaters, spezifischen Sozialisationsbedingungen, schulischem Erfolg und dem Erwerb einer dem Vater ahnlichen beruflichen Position fiihrt. Wenngleich Rolff mit diesem Erklarungsansatz die Ebene unterhalb der politischstrukturellen Organisation der Gesellschaft einholt, bleibt unklar, wie sich der Prozess eines sozialisierten Sozialcharakters seinerseits aufklaren lasst. Rolff argumentiert letztlich mit einem objektivierenden Kausalmodell, nachdem spezifische Familienbedingungen zu spezifischen Sozialcharakteren fuhren, ohne diesen Prozess naher erlautem zu konnen. Dies hatte sich Basil Bernstein zur Aufgabe gemacht und sich zu diesem Zweck mit seinem soziolinguistischen Ansatz auf die Sprachmodi der unterschiedlichen Schichten konzentriert. Bernstein ist im vorliegenden Kontext aus diesem Grund nicht nur als Reprasentant der schichtenspezifischen Sozialisationsforschung von Bedeutung. Denn zum einen geht es auch einer erkenntniskritischen Sozialisationstheorie in ihrer Zielsetzung darum, die Prozesse der Personlichkeitsentwicklung genauer in den Blick zu nehmen. Zum anderen ver38
steht Bernstein Sprache immer auch als Form eines Weltzugriffes, die eine objektivierte Wirklichkeit selektiv wahmehmen und je individuell mit Bedeutung versehen lasst (Bernstein 1958/1980, 1959/1971, 1961/1971). Anders formuliert: Bernstein nimmt die Einsicht subjektiv differierender Wirklichkeiten emst, treibt diese allerdings nicht bis zu einem erkenntniskritischen Subjekt, sondern bleibt auf der Ebene einer sprachlich codierten Wirklichkeit stehen. Dies hat seinen Grund in einem deutlich formulierten Forschungsinteresse: Bernstein interessiert sich fur Sprache nicht so sehr auf der abstrakt-theoretischen Ebene einer symbolischen Konstitution von Wirklichkeit, sondern far den empirischen Zusammenhang von Schicht und Sprachcodes im Kontext von schulischer Leistung. Um diesen Zusammenhang thematisieren zu konnen, differenziert Bernstein bereits in seinen friihen Publikationen zwischen einer ,offentlichen' und einer ,formalen' Sprache. Bekannt geworden ist diese Differenz durch die spatere Bezeichnung ,restringierter vs. elaborierter Code' (Bernstein 1964/1971). Die Bezeichnung ,restringierter Code' bezieht sich dabei auf eine Vorhersagbarkeit der syntaktischen Alternativen aufgrund einer mangelnden Breite der Moglichkeiten, die von einem Sprecher benutzt werden konnen. Diese Probabilitat des sprachlichen Ausdrucks korreliert mit einem geringen Wortschatz, einer Uberproportion nicht-verbaler Kommunikationsmittel (Gesten, Bew^egungen, Lautstarke) innerhalb der Kommunikation und einer generell defizitaren Sprachstruktur in Bezug auf die Verbalisierung von je eigenen Motiven, Absichten und Interessen. „Wenn ein Kind einen restringierten Code lernt, dann es lernt es Sprache in einer besonderen Art und Weise wahrzunehmen. Sprache wird nicht als eine Anzahl theoretischer Moglichkeiten aufgefasst, welche die Mitteilung individuell bedeutsamer Erfahrung erleichtem konnte. Sprache ist in diesem Fall kein Mittel, die Erfahrung der Vereinzelung und der individuellen Besonderheit relativ genau in Worte zu fassen." (Bernstein 1963/1971: 90) Dazu im Gegensatz steht der ,elaborierte Code', der sich durch eine geringe Vorhersagbarkeit der syntaktischen Alternativen, einen groBeren Wortschatz und eine deutliche Dominanz verbaler Kommunikation gegeniiber den nicht-verbalen Formen der AuBerung auszeichnet. Der ,elaborierte Code' ermoglicht dem Sprecher eine (relativ) eindeutige Verbalisierung eigener Wiinsche und damit eine sprachliche Reflexion liber die eigene Identitat. Entsprechend dieser Moglichkeiten des ,elaborierten Codes' ist dessen Sprachfluss kontrollierter und eher durch haufige Pausen und langeres Zogern charakterisiert, wahrend der Sprachfluss des ,restringierten Codes' eher schnell, flieBend und ohne langere Unterbrechungen ist. Intern unterscheidet sich der ,elaborierte Code' in eine Form, die sich auf interpersonale Beziehungen ausrichtet, und eine Form, die auf die Ausarbeitung der Beziehungsstrukturen von Objekten zielt. Beziiglich einer Verortung innerhalb des Wissenschaftssystems residiert die erste Form vornehmlich in den Geistes- und Sozialwissenschaften und die zw^eite Form in den Naturwissenschaften (Bernstein 1965/1980). Die beiden Sprachcodes sind zunachst keiner spezifischen Schicht zuzuordnen. Sie resultieren aus bestimmten, schichtiibergreifenden Sozialbeziehungen. Der ,restringierte Code' wird zum einen in Sozialbeziehungen aktuell, die durch einen hohen Grad an kultureller Homogenitat bestimmt sind. In solchen Beziehungen konnen die Akteure eine gemeinsame Geschichte und einen dadurch sedimentierten Hintergrund von gemeinsamen Uberzeugungen, Absichten und Wissensbestanden in Anspruch nehmen. Eine Verbalisierung von Objektstrukturen oder personlichen Einstellungen ist nicht notig, um die Kommunikation 39
anschlussfahig zu halten. Beispiele fiir solche Sozialbeziehungen sind Peer-Groups oder Partnerschaften. Zum anderen findet dieser Code Verwendung in Sozialbeziehungen, die iiber den Status oder die Rolle der Akteure eindeutig strukturiert sind wie etwa beim Militar. Dagegen stellt sich die Sozialbeziehung, die den ,elaborierten Code' produziert, als eine breite Verfiigungsgewalt iiber die Rollen der Akteure dar. Die Rollen werden nicht durch ein Fundament geteilter Uberzeugungen stabilisiert, sondem miissen von den Akteuren selbst gestaltet werden, wobei sich die Akteure an einer sozialen und psychischen Verschiedenheit orientieren. Mit anderen Worten: Der ,elaborierte Code' folgt aus einer Sozialbeziehung, die wesentlich durch die Differenz der Akteure charakterisiert ist und in der die Akteure sich von der Sozialitat durch Individualitat absetzen. Wahrend der ,restringierte Code' statusbezogen ist, ist der ,elaborierte Code' personenbezogen. Im Kontext der schichtenspezifischen Sozialisationsforschung bedeutsam ist nun, dass Bernstein durch empirische Uberpriifung heraussteUt, dass der ,restringierte Code' zwar einerseits universell, das heiBt in jeder Schicht in den entsprechenden Typen von Sozialbeziehungen zu fmden ist, die Unterschicht, die sozialstrukturell durch un- oder angelemte Arbeiter indiziert wird, allerdings andererseits auf diesen Code beschrankt bleibt auch dann, wenn es keine signifikanten Unterschiede beziiglich nicht-sprachlicher Intelligenztests gibt (Bernstein 1960/1980, 1962/1980, 1971/1980; Oevermann 1972; Niepold 1974). Dadurch fehlen der Unterschicht nicht nur sprachliche Moglichkeiten einer breiten und zugleich immer auf Hypothesen basierenden Weltkonstitution, sondem eben auch die symbolischen Mittel der Generierung einer verbal bestimmten Ich-Identitat. Diese Mittel stehen im Kontrast dazu der Mittelklasse zur Verfligung, die sowohl zu einem ,restringierten' als auch zu einem ,elaborierten Code' befahigt ist. Entsprechend gestalten sich die Weltbeziige und Sozialisationsbedingungen in den beiden Schichten anders. Da es Bernstein unter anderem darum geht, die Zirkelthese der schichtenspezifischen Sozialisationsforschung detaillierter zu bestimmen, bringt er seinen soziolinguistischen Ansatz in Form der These der sprachlich vermittelten Weltbeziige als Konstitutionsrahmen verschiedener Sozialisationsbedingungen bzw. der Erziehungsstile zur Anwendung. Er beschreibt die Erziehungsstile der Unter- und Mittelschicht, synonym zu Rolff, als qualitativ differierende in Bezug auf die Entwicklung von Schul- und Leistungskompetenzen (Bernstein 1961/1980, 1972/1980). Begrifflich differenziert werden diese Erziehungsstile durch die Familientypen der ,Personen orientierten Familie' und der ,positionalen Familie'. Erstere stellen den Typus von Familien dar, der in der Mittelschicht dominiert. Er ist inhaltlich ausgerichtet auf eindeutige und verbalisierte Ziele, die sich vomehmlich um den Wert der Individualitat drehen. Entsprechend wird das Kind bereits beziiglich seiner Rechte wahrgenommen, Entwicklungsfortschritte werden durch Aufmerksamkeit und Belohnungen verstarkt und Bestrafungen laufen uber die Schienen des Liebesentzuges und werden iiberdies verbal begrundet und in Beziehung zur Tat gesetzt. Generell erlebt das Kind eine strukturierte Welt, die durch die konsequente Verfolgung elterlicher Ziele erreicht wird. Das durch die zur Verfligung gestellten individuellen Freiraume innerhalb solcher Familien standig prasente Dissensrisiko wird durch eine kommunikative Sozialkontrolle abgefedert und erst wenn die Mittel der Erklarung und Versohnung scheitem, wird auf die Basis der Autoritat umgestellt.
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Dagegen sind die Entwicklungsbedingungen des Kindes aus der Unterschicht weniger formal organisiert, das heifit es fehlt ein geordnetes und strukturierendes Universum. ,Positionale Familien' regeln Dissense eher iiber die Mechanismen der Statuspositionen (z. B. Vaterrolle) und der mit diesen verbundenen Autoritat, wobei diese nicht ihrerseits in ein System fester Regeln oder Werte eingebunden ist. Vielmehr erscheint die Autoritat als willktirliche Sanktionierung bestimmter Verhaltensweisen, die an anderen Tagen durchaus geduldet werden konnen. Die Zukunft wird daher als allgemeine Vorstellung behandelt, die sich mehr durch Zufalle oder spezifische Personen ereignet, als durch den Aufbau einer Kette logischer Beziehungen, die auf ein konkretes Telos ausgerichtet sind. Anders formuliert: Gegenwartige Handlungen genieBen einen groBeren Stellenwert als solche Handlungen, die auf ein spateres Ziel verweisen, und konnen aufgrund ihrer zeitlichen Absolutheit nicht in ein Kontinuum eingeordnet werden. Dies zeigt sich besonders deutlich im Umgang mit formaler Bildung. Diese ist wesentlich auf entfemtere Ziele orientiert, wie etwa das Erreichen bestimmter Berufspositionen, geht aber moglicherweise mit einem temporaren Mangel an okonomischen Ressourcen (Studienzeit) einher. Ein schneller aber unqualifizierter Berufseinstieg verspricht dagegen eine aktuelle Befriedigung okonomischer Interessen, verhindert aber einen langerfristig angelegten beruflichen Aufstieg. Insgesamt verhindem ,positionale Familien' die Entwicklung eines ,elaborierten Codes', der auf die begriffliche und zeitliche Strukturierung von Erfahrungen angewiesen ist, und damit die Herausbildung einer Ich-Identitat. Entgegen Habermas, der schlieBlich die Sprache als Residenz der Entwicklung von Ich-Identitat inthronisiert hatte, zeigt Bernstein damit, dass gerade die Sprache eine solche blockieren kann. Denn Bernstein behauptet einen konstitutiven und reproduzierenden Zusammenhang von Sprachcode und Erziehungsstil. Die Unterschicht pflegt ihren Stil nicht aufgrund hereditarer Momente oder aus bewusster Intention, sondern weil die Formen der Sozialbeziehung in den Unterschichtfamilien zirkular mit dem ,restringierten Code' verwoben sind. Dieser erzeugt einen generellen Weltbezug in dem jene statusorientierten Familienstrukturen als Selbstverstandlichkeit defmiert sind, die wiederum nicht liber ausreichend verbale Mittel der Expression individueller Unterschiede oder formaler Objektstrukturen verfugen, so dass die Familienstrukturen ihrerseits den ,restringierten Code' verstetigen. Kurz: Unterschichtfamilien haben gleichsam die Sozialbeziehungen institutionalisiert, die diesen Code hervorbringen, und dieser Code erlaubt nur solche Weltbeziige, die in Unterschichtfamilien realisiert werden. Damit konkretisiert Bernstein das Zirkelmodell der schichtenspezifischen Sozialisation. Konnte etwa Rolff nur sehr formal einen sozialisierten Sozialcharakter angeben, der mit den Schulanforderungen konfligiert, ist dieses Missverhaltnis bei Bernstein durch unterschiedliche Sprachcodes und sprachlich vermittelte Weltbezuge prajudiziert. Die in der Schule geforderte Kontinuitat des Lemens kommt in der Welt des Kindes aus der Unterschicht nicht vor und es ist nicht befahigt, auf den ,elaborierten Code' der Schule zu reagieren. Damit treffen in dem Interaktionsverhaltnis von Unterschichtkind und Lehrer nicht nur unterschiedliche Wertesysteme aufeinander, sondern bereits unterschiedliche Sprachen, die unterschiedliche Welten konstituieren. Das Kind der Unterschicht, so lieBe sich dramatisch formulieren, befmdet sich in einer fremden Welt, wenn es in der Schule ist. Daraus resultieren dann schlechtere Schulleistungen, die zu einer weniger qualifizierten Berufsposition
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fiihren, die schlieBlich in ahnliche soziale Bedingungen wie in der Herkunftsfamilie mUnden. Eine eher immanente Kritik an der schichtenspezifischen Sozialisationsforschung bezog sich nun auf deren theoretische und methodische Engftihrung, die das zugrunde liegende Kausalmodell nicht belegen konne, weil als abhangige Variable fiir die Bestimmung der sozialstrukturellen Ungleichheit einzig die Berufsposition des Familienvorstandes in Rechnung gestellt wurde. Entsprechend wurde dafur pladiert, einen breiteren Zugang zu dem Forschungsgebiet zu entwickeln, der mehrere Ebenen und Dimensionen der Ungleichheit und der Umweltbedingungen beriicksichtigt (Abrahams/Sommerkom 1976; Bertram 1981; Steinkamp 1998). Ein moglicher Ansatz, der diese Forderung einlosen kann, ist die Theorie sozialer Ungleichheit Pierre Bourdieus. Dieser steht zwar nicht genuin im Kontext der schichtenspezifischen Sozialisationsforschung, kann aber aufgrund seiner Forschungsinteressen umstandslos in diesen einbezogen werden und diesen Diskurs weitertreiben (Bauer 2002, 2004). Pierre Bourdieu (zur Ubersicht vgl. Schwingel 1993; Frohlich 1994) bietet nicht nur einen breiteren Zugang zu dem Phanomen sozialer Ungleichheit. Er ist auch deswegen in den Kontext der Sozialisationsforschung einbeziehbar, weil seiner Habitustheorie sozialisatorische Bestimmungen implizit sind. Der Habitus nach Bourdieu meint generalisiert die Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster eines Individuums, die in den ersten Jahren erworben werden (Krais 1989; Bourdieu 1993). Sie resultieren aus sedimentierten Erfahrungen, die eine je aktuelle Situationsdefmition anleiten und auf dieser Grundlage die (Handlungs-)Moglichkeiten des Individuums abstecken. Der Begriff des Habitus soil in der Interpretation Bourdieus zweierlei leisten. Zum einen iiberwindet er spontanistische Ideologien, die alles Handeln aus einem voluntaristischen Akt des Subjektes ableiten. Zum anderen wendet sich Bourdieu mit seinem Habitusbegriff gegen einen objektivierenden Strukturalismus, der individuelle Handlungen auf Umweltreize zuriickfiihrt. Der Habitusbegriff Bourdieus nimmt fur sich in Anspruch beide Theorietraditionen zu integrieren, indem Handlungen durch eine geronnene Geschichte und durch einen intentionalen Akt des Subjektes zugleich erklart werden. Praxis ist damit immer eine strukturierte und aber auch eine strukturierende Praxis, da die Handlungen des Subjektes einerseits notwendig eine Auslegung objektiver Regeln voraussetzen (Bouveresse 1993) und diese Handlungen andererseits auf die Strukturen zurtickwirken, indem sie diese reproduzieren oder erweitern. Beziiglich des strukturierenden Moments des Habitus konstatiert Bourdieu, dass der Habitus sich zwar in Anlehnung an die sozio-okonomischen Verhaltnisse generiert, als zweite Natur jedoch so intemalisiert wurde, dass Handlungen oder Situationsdefinitionen als je individuelle Praferenzen erfahren werden. Die jedoch aus der Beobachterperspektive sichtbare Konformitat des Habitus mit der sozio-okonomischen Position ihres Inhabers, garantiert die Reproduktion des Habitus. Die Akteure selektieren Orte oder Ereignisse, die problematische Erfahrungen bereithalten oder aufgrund der eigenen Dispositionen als fremd empfunden werden. Auf diese Weise machen die Akteure die ,Not zu Tugend', wenn sie diese Selektion als voluntaristische Selbstentscheidung verklaren. Gleichzeitig verhindem sie damit die Einsicht in die Strukturzwange der Genese des Habitus und somit die Moglichkeit einer aufklarerischen Absicht, die Bourdieu gerade mit seinem Ansatz, die Illusion von Freiheit zu hinterfragen, verfolgt (Bourdieu 1998a). Sie erreichen damit jedoch die Stabilitat ihrer 42
Habitusstrukturen, die in einem positiven Sinne so zu einer Lebensstilisierung bzw. einem vertrauten Residuum werden konnen (Michailow 1994, 1996). Der Habitusbegriff hat damit zwar insofem sozialisatorische Momente, als er immer auch seine Genese miteinbezieht, jedoch schlieBlich in einen Strukturkonservatismus miindet, der kaum mehr Erschiitterungen und damit durch Sozialisation angeschobene Weiterentwicklungen zulasst (Portele 1985; Miller 1989). Bourdieu argumentiert einzig mit dem Verweis auf die Modifikationen der sozialen Umwelt, die gleichsam zwanghaft zu einer Veranderung habitueller Dispositionen fiihren konnen (Bourdieu 1976). Diese Ausblendung jeglicher Form einer subjektivistischen Entwicklungsperspektive wird akzeptierbar nur dann, wenn Bourdieu wesentlich als empirischer Sozialforscher mit dem Fokus der sozialen Ungleichheit gelesen wird, der letztlich an dem Zirkel- und Kausalmodell der schichtenspezifischen Sozialisationsforschung interessiert ist, das heifit, wenn sein Habitusbegriff in Korrelation zu seiner Klassentheorie gesetzt wird und nicht als starke anthropologische Pramisse flir sich genommen wird. Dann namlich zeigt sich, dass Bourdieu tatsachlich einen fruchtbaren Beitrag zur Erklarung der Kontinuitat sozialer Benachteiligungen auf der Basis eines breiteren Zuganges zu den Dimensionen von Ungleichheit zu leisten vermag. Die Klassentheorie Bourdieus setzt den Geschmack zum wesentlichen Indikator, uber den ungleichheitsrelevante Differenzen vermittelt und reproduziert werden (Bourdieu 1994; Eder 1989). Dadurch siedelt seine Klassentheorie sich jenseits einer rein okonomistischen Definition von Klassenlagen an und holt die Ebene der Kultur als entscheidende Arena der Klassenauseinandersetzungen und als Forum der expressiven Darstellung der unterschiedlichen Verteilung okonomischer Ressourcen ein. Trotz dieser kultursoziologischen Ausrichtung seiner Klassentheorie operiert Bourdieu dabei durchaus im Rahmen einer soziookonomischen Klasseneinteilung, die sich zunachst an der Vertikalisierung der Klassen im Sinne Marx' orientiert (Bourdieu 1995). Anders als Marx interessiert er sich dann allerdings nicht so sehr flir den Produktionsmittelbesitz, sondern flir das Volumen des Gesamtkapitals einer Person. Dieses setzt sich entsprechend seinem kultursoziologisch erweitertem Ansatz aus okonomischem, kulturellem und sozialem Kapital zusammen (Bourdieu 1997). Wahrend das okonomische Kapital den quantifizierbaren Besitz finanzieller Ressourcen bezeichnet, bezieht sich das kulturelle Kapital auf Bildungsabschllisse (institutionalisiertes Kulturkapital), den Besitz kultureller Gegenstande, die umstandslos in okonomisches Kapital transformiert werden konnen (objektiviertes Kulturkapital) und auf den habituellen Umgang mit Kulturgegenstanden (inkorporiertes Kulturkapital). Der Unterschied zwischen den letzten beiden Formen des Kulturkapitals kann als Unterschied zwischen Haben und Sein umschrieben werden. SchlieBlich wird durch das soziale Kapital die Verfligungsgewalt liber profitable soziale Beziehungen angezeigt. Gut marxistisch ist flir Bourdieu das okonomische Kapital die wesentliche Ressource in kapitalistischen Gesellschaften, da ihr Besitz in den meisten Fallen liber die Aneignungsmoglichkeiten der anderen Kapitalsorten entscheidet. Dennoch erlangt insbesondere das Kulturkapital eine besondere Stellung bei der Bestimmung moderner Klassengesellschaflen. Diese differenzieren sich nach Bourdieu nicht nur auf einer vertikalen Achse aus, sondern innerhalb der Mittel- und Oberklasse auch horizontal, wobei die organische Zusammensetzung des Kapitalbesitzes berlicksichtigt wird. Mittel- und Oberklasse werden von Bourdieu in sich unterteilt durch den chiastischen 43
Unterschied von hohem Besitz an kulturellem Kapital und niedrigem Besitz an okonomischem Kapital und andersherum. Beispiele flir die erste Form der Kapitalzusammensetzung sind bei Bourdieu etwa Lehrer in der Mittelschicht oder Ktinstler und Akademiker in der Oberschicht. Beispiele flir die zweite Form sind kleine Handwerker in der Mittelschicht und Industrielle in der Oberschicht. Auf einer dritten Achse, die den sozialen Raum dreidimensional werden lasst, markiert Bourdieu die soziale Laufbahn eines Akteurs. Damit gelingt ihm nicht nur die Uberwindung eines statischen Blicks auf moderne Klassenverhaltnisse, sondern auch die realistische Einschatzung, dass Akteure, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in ahnlichen sozialen Positionen lokalisiert sind, keineswegs liber gleiche Einstellungsmuster verfugen mtissen. Aufoder Absteiger richten sich in Durchgangspositionen genauso so wenig ein, wie Bewohner einer Wohnung, die wissen, dass sie nur fur kurze Zeit dort ein Zuhause fmden. In Bezug auf die Thesen der schichtenspezifischen Sozialisationstheorie ist nun die von Bourdieu (1994) behauptete Homologie von sozialer Position und Habitus jener Akteure, von denen erwartet werden kann, dass sie dauerhaft in einer sozialen Position verbleiben, von Bedeutung. Die Habitus bilden sich, wie geschildert, vor dem Hintergrund sozialer Positionen aus. Dabei werden diese Positionen nicht nur durch die Kapitalressourcen bestimmt, sondern auch durch die Relation zu anderen sozialen Positionen^ Diese Relation bzw. die Form der Klassenauseinandersetzungen in modernen Gesellschaften denkt sich Bourdieu als kulturellen Kampf um aufstiegsbegiinstigende oder die eigene Position stilisierende Lebensstile. Entsprechend wandeln sich kulturelle Muster, die zu einem gegebenen Zeitpunkt mit einer sozialen Position korrelieren. „Zu jedem Zeitpunkt jeder Gesellschaft hat man es also mit einem Ensemble von sozialen Positionen zu tun, das iiber eine Relation, eine Homologie, mit einem selber wieder relationalen Ensemble von Tatigkeiten (Golf oder Klavierspielen) oder Giitem (Zweitwohnsitz oder Werk eines beruhmten Malers) verbunden ist." (Bourdieu 1998b: 17) Problematisch an dieser relationalen Klassenauseinandersetzung ist, dass die unteren Klassen wenig Ressourcen in das Spiel um Aufstiegsmoglichkeiten oder um die kulturelle Defmitionsmacht, also die Entscheidung welche Ressourcen gewinnversprechend sind, einbringen konnen. Sie sind in einem klassischen Sinne exkludiert, reproduzieren diese Stellung jedoch zu einem Teil selbst, wenn sie sich die Aneignung bestimmter Guter selbst verwehren. Umgangssprachlich driickt sich dies in einem ,Das ist nichts fur uns' aus. Wie Untersuchungen im Anschluss an Bourdieu zeigen konnten, meiden Unterschichtsangehorige bewusst Orte, die Schamgefuhle aufgrund kultureller Fremdheit erzeugen konnten (Neckel 1991). Sie weisen Formen altemativer Lebensstile, die kulturelles Kapital voraussetzen, aber auch vermehren konnten, zuriick (Bittlingmayer 2000) und entwickeln, wie Bernstein bereits vermutet hatte, eigene Formen der sprachlichen Sozialisation (Cicourel 1993) und der Geschlechterkonstitution (Steinriicke 1996), Dramatisch wird diese Selbstexklusion in Bezug auf Schulbildung, also jener Ressource, die in der schichtenspezifischen Sozialisationsforschung einen besonderen Stellenwert erlangte. Wie ebenfalls in empirischen Untersuchungen gezeigt werden konnte, verfugen Unterschichtsangehorige nicht nur iiber ein geringeres (kulturelles) Startkapital, das durch FordermaBnahmen ausge2 Zum relationalen Paradigma in der Milieu- und sozialen Ungleichheitsforschung vgl. auch Vester et al. 2001.
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glichen werden konnte, sondem mussen uberdies Ressentiments ihres sozialen Umfeldes gegenuber (formaler) Bildung abwehren, wenn sie sich diese aneignen mochten. Die Folge ist, dass die Akteure entweder auf Bildung verzichten oder dass sie sich von ihrem Freundskreis entfremden, ohne unmittelbar ein neues soziales Beziehungsnetz weben zu konnen(Rohleder 1997). Bourdieu bietet somit die Moglichkeit, die zentrale These der schichtenspezifischen Sozialisationsforschung auf eine breitere Basis zu stellen. Die soziale Position und damit spezifische Einstellungsmuster und Sozialisationsbedingungen werden sowohl durch okonomische, als auch durch kulturelle und soziale Ressourcen indiziert und dariiber hinaus in Relation zu anderen sozialen Positionen, mithin der Gesamtgesellschaft, gestellt. Das Zirkelmodell der schichtenspezifischen Sozialisationsforschung wird also nicht nur erklart iiber die Berufsposition des Vaters und daraus abgeleiteter Sozialcharaktere, sondem im Kontext von gesellschaftlichen Verteilungskampfen mehrstrahlig lokalisiert. Das schlechte Abschneiden von Kindem aus unteren Schichten im Bildungssystem kann von Bourdieu dann, zusatzlich zu einem kulturellen oder sprachlichen Missverhaltnis zwischen Schiller und Schule, auf eine Selbstexklusion zuriickgefuhrt werden, die vomehmlich aus den Kampfen der einzelnen Klassen urn eine Definitionshoheit liber die je eigenen Lebensstile, die ihrerseits Vertrautheit und Sicherheit garantieren konnen, resultiert. Anders formuliert: Nicht nur das Schulsystem operiert mit objektiven Selektionsmechanismen, sondem die Schtiler und Schulerinnen der unteren Schichten ziehen sich im gesamtgesellschaftlichen Klassenkampf, flir den sie mit wenig Ressourcen ausgeriistet sind, hinter die kulturelle Demarkationslinie ihres Milieus zuruck und erzeugen und reproduzieren so ihrerseits das Missverhaltnis von Schule und Schtiler. Wahrend die von Bertram und Steinkamp vorgetragene Kritik eher immanent vorging, lasst sich die schichtenspezifische Sozialisationsforschung auch von auBen kritisieren. Besonders an Bourdieu entziindete sich der Streit um eine mogliche deterministische Lesart seiner Theorie sozialer Ungleichheit (Pfeffer 1985; Honneth 1990; Miiller 1997). Zwar wird Bourdieu in seinem Gesamtwerk nicht miide zu betonen, dass er durchaus mit einem autonomen Subjekt rechne, dieses aber eben gemafi seines strukturalistischen Ansatzes durch soziale Determinismen gerahmt sieht. Es braucht an dieser Stelle der Streit um das Werk Bourdieus nicht weiter zu interessieren. Dennoch gilt: Die schichtenspezifische Sozialisationsforschung hat mit ihrem Kausalmodell eine deterministische Interpretation mindestens nahe gelegt. Sie verweist zwar iiberzeugend auf den evidenten Umstand, dass in modernen Gesellschaften, die sich durch eine ungleiche Verteilung von Ressourcen auszeichnen, Kinder aus depravierten Verhaltnissen auf Sozialisationsbedingungen treffen konnen, die ihnen eine optimale Bildung ihrer subjektiven Ressourcen und damit eine gleichberechtigte Partizipation an gesellschaftlichen Feldem verhindem konnen. Ein schlichtes ,Sich-Fiigen' in die Sozialisationsbedingungen, das mit dem Kausal- und Zirkelmodell unterstellt wird, widerspricht jedoch seinerseits den Evidenzen. Matthias Grundmann (1994) ist daher zuzustimmen, wenn er aus einer sozialkonstmktivistischen Perspektive eine Abgleichung sozialstruktureller Umstande mit subjektiven Konstmktionen einklagt.
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2.5. Sozialisation aufmehreren Ehenen: Die sozialokologlsche Sozialisationsforschung Ein anderes Modell, das ahnlich wie Bourdieu einen Mehrebenenansatz verfolgt, das allerdings genuin zur Sozialisationsforschung zahlt, ist die sozialokologische Sozialisationsforschung. Deren prominentester Vertreter ist Urie Bronfenbrenner. Dieser hatte aus der Kritik der psychologischen Laborforschung die Notwendigkeit der Beriicksichtigung der sozialen Lebenswelt als entscheidendes Moment der individuellen Entwicklung eingeklagt. Dabei ging es Bronfenbrenner nicht nur um die wissenschaftliche Erfassung der Entwicklungsbedingungen. Ahnlich wie Mead, Habermas oder die schichtenspezifische Sozialisationsforschung stellte er sein Konzept einer sozialokologischen Sozialisationsforschung in den Kontext einer politischen Aufklarung, aus der konkrete Programme fiir die Gestaltung und Verbesserung der Lebenswelten abgeleitet werden soUten, die ihrerseits den Forschungsprozess anregen (vgl. Bronfenbrenner 1973/1976; Luscher 1976). Neben dem Pladoyer fiir eine angemessene Bezugnahme auf die sozialen Kontexte der Entwicklung, treibt Bronfenbrenner auch die sukzessive Zunahme einer Orientierung am Individuum weiter. Er fordert ein, die Wahmehmungsleistungen der Sozialisanden emst zu nehmen, so dass „die Umwelt fiir Verhalten und Entwicklung bedeutsam ist, wie sie wahrgenommen wird, und nicht, wie sie in der ,objektiven' Realitat sein konnte." (Bronfenbrenner 1993: 20) Dies bedeutet freilich nicht, dass Bronfenbrenner sich, wie in der vorliegenden Arbeit beabsichtigt, um die detaillierte Ausarbeitung eines Erkenntnissubjektes bemiihen wtirde. SchlieBlich ist es auch fur Bronfenbrenner eine theoretische Selbstverstandlichkeit, Entwicklung als einen interaktiven bzw. intersubjektiven Prozess mit der Umwelt zu begreifen. Im Rahmen der Sozialisationstheone steht er, neben der Ausdifferenzierung der sozialen Umwelt auf mehrere Ebenen, dennoch fiir die Weiterfiihrung eines sozialisatorischen Subjektverstandnisses, das nicht nur passiv auf Umweltreize reagiert, sondem diese im Gegenzug auch gestaltet. Im Gegensatz zu Mead oder Habermas konkretisiert er dieses dynamische Prozessmodell durch eine Verzeitlichung der Forschungsperspektive, wenn er in Rechnung steOt, dass Umwehen im Laufe der Entwicklung eine andere Bedeutung flir das Subjekt haben konnen. So rangiert beispielsweise in den mitteleuropaischen Landem die Herkunftsfamilie typischerweise auf einem niedrigeren Platz in der Bedeutungshierarchie, sobald das Individuum eine eigene Familie grundet. Die aus Schulfreunden zusammengesetzte Peer-Group verliert moglicherweise ihre Bedeutung bei dem Eintritt in das Berufsleben. Auf der anderen Seite beeinflusst der soziale Wandel die Personlichkeitsentwicklung dadurch, dass soziale Umwelten etwa in Krisensituationen (wirtschaftliche Rezession, Krieg, ...) eine veranderte Gestalt annehmen, auf die das Subjekt reagieren muss (vgl. Elder 2000). Insgesamt also flihrt Bronfenbrenner jene Denktradition weiter, die das Subjekt nicht als subordinierte Instanz gegeniiber dem gesellschaftlichen System sieht, sondem als agierende GroBe, so dass der Sozialisationsprozess als dynamisches Interaktionsmodell konzipiert werden muss. Der hier vornehmlich anzueignende Beitrag Bronfenbrenners ist jedoch die Ausdifferenzierung der sozialen Umwelt (Bronfenbrenner 1976, 1993). Bronfenbrenner hatte ein Mehrebenenmodell eingefiihrt, das die Einbettung des Individuums in immer groBere Sozialzusammenhange beleuchten konnen sollte. Dadurch kann dem Umstand Rechnung getragen werden, dass das Individuum sich sozialen Umwelten gegeniiber sieht, auf die es in 46
unterschiedlichem MaBe Einfluss nehmen kann und die ihrerseits auf unterschiedliche Weise den Sozialisationsprozess anleiten. Untereinander stehen die einzelnen Systemebenen der sozialen Umwelt in einem interdependentem Verhaltnis, so dass sich nicht nur ein dynamisches Interaktionsmodell zwischen dem Individuum und seiner Umwelt ergibt, sondern auch zwischen den Umweltebenen, wobei diese Wechselseitigkeit zu einer veranderten Umwelt fur den Sozialisanden im Ganzen fxihren kann, Auf der untersten Ebene beschreibt Bronfenbrenner mit dem Mikrosystem die Lebensbereiche, die dem Individuum am unmittelbarsten sind. Es wird konstituiert durch Aktivitaten des Sozialisanden, Rollenstrukturen und intersubjektive Beziehungsmuster. Grundlegend flir die individuelle Entwicklung sind damit fur Bronfenbrenner Handlungen des Kindes, mit denen dieses seine Umwelt zu verarbeiten lernt. Mit dieser Annahme kann er sich auf die Entwicklungspsychologie Piagets stiitzen, die bereits darauf hingewiesen hat, „ein Objekt zu erkennen [bedeutet, R. B.] nicht, es abzubilden, sondem auf es einzuwirken. Es bedeutet Transformationssysteme zu konstruieren, die sich an oder mit diesem Objekt ausfiihren lassen." (Piaget 1996: 23; siehe auch Kap. 2.7.) Auf der anderen Seite werden Tatigkeitsmuster des Kindes so zu einem Gradmesser flir dessen Fahigkeit, aktiv auf immer komplexere Umwelten zu reagieren. Bronfenbrenner steht also im Gegensatz zur Theorietradition des Rationalismus, der, wie am eindringlichsten bei Hegel, vomehmlich im Intellekt die Entwicklung des Kindes erblickt hatte, und bringt diese Frontstellung mit dem Begriff der molaren Tatigkeiten auf den Punkt. Diese bezeichnen solche Tatigkeiten, die durch eine zeitliche Kontinuitat charakterisiert sind, also mit einer gewissen RegelmaBigkeit ausgefiihrt werden. Erst wenn diese Bedingung erfullt ist, konnen Tatigkeiten einen bedeutsamen Einfluss auf die Personlichkeitsentwicklung gewinnen, da zufallig ausgefiihrte Handlungen oder Tatigkeiten, die sich nicht zu einem Verhaltensmuster verstetigen, evidenterweise nicht zu einer sozialisationsrelevanten GroBe avancieren konnen. Entsprechend ist flir den Bereich intersubjektiver Beziehungen die Ubemahme konstanter Rollen eine entscheidende Bedingung flir die Entwicklung. Wie bereits bei Mead gesehen, haben diese die Funktion eine Perspektiviibemahme zu ermoglichen und so Beziehungsstrukturen zu entwickeln, die durch ein Verstandnis des Anderen, das heiBt durch eine relativ konstante Fremdzuschreibung, auf Dauer gestellt werden konnen. In der Perspektive Bronfenbrenners bekommen sie zusatzlich die Aufgabe, iiberhaupt fortgesetzte und verlassliche Sozialbeziehungen aufzubauen, die, wie etwa das Mutter-Kind-Verhaltnis, flir den Sozialisanden mit einem zeitlich entgrenzten Bedeutungsgehalt versehen werden konnen. Dann namlich konnen sie zur Generierung von Handlungsstrukturen und Wertiiberzeugungen beitragen. Wie geschildert sind solche Sozialbeziehungen flir Bronfenbrenner immer durch eine Transaktionalitat gekennzeichnet, so dass nicht nur das Verhalten der Sozialisationsagenturen (Eltem, Lehrer, ...) auf den Sozialisanden wirkt, sondem dessen Verhalten im Gegenzug die Handlungsmuster der Beziehungspartner verandert. Flir die Entwicklung des Kindes ist das Mirkosystem von entscheidendem Einfluss. Institutionell umfasst es neben der Familie insbesondere die Schule, den Freundeskreis und Freizeitaktivitaten z. B. in Form einer Vereinszugehorigkeit und damit eben jene Lebensbereiche, die dem Individuum insofem unmittelbar sind, als ein direkter Bezug zu den Interaktionspartnern hergestellt werden kann, verlassliche Rollenstrukturen und konstante Sozialbeziehung nahe gelegt und dem Individuum weitest gehende Moglichkeiten der Gestal47
tung seiner Umwelt zur Verfiigung gestellt werden. Dariiber hinaus vermittelt der direkte und regelmafiige Kontakt mit den Beziehungspartnem die Notwendigkeit, Sozialbeziehungen auf das Fundament einer diskursiven, demokratischen Ubereinkunft zu stellen (vgl. Youniss 1994a). Freilich ware die ausschlieBliche Partizipation an dem Mikrosystem kaum in der Lage, dem Sozialisanden komplexe gesellschaftliche Strukturmuster zu vermitteln. Innerhalb des Mikrosystems lebt das Individuum gleichsam in einer Welt mit engen Grenzen, die nicht dazu anregen, immer komplexere Umwelten zu verarbeiten. Erst die Verbindung und Grenziiberschreitung von Mikrosystemen erlaubt dem Sozialisanden diverse Tatigkeiten und Rollen aufeinander zu beziehen und so eine einheitliche und zugleich komplexe Lebenswelt zu konstituieren. Diese Systemebene der Wechselbeziehung zwischen den Mikrosystemen bezeichnet Bronfenbrenner als Mesosystem. Wenngleich dieses aus den gleichen Elementen wie das Mikrosystem aufgebaut ist, steht nicht mehr ein einzelner Lebensbereich im Blickpunkt des Interesses, sondem die Verbindung dieser Bereiche. Beispielhaft illustrieren lasst sich dies an dem Umstand, dass oftmals die selben Personen an dem Mikrosystem Schule und an dem Mikrosystem Freundeskreis teilhaben. Dies kann dazu flihren, dass etwa der Freundeskreis eine untersttitzende Funktion bei der Anfertigung von Hausaufgaben bekommen kann. Ein anders Beispiel, das potentiell zu Konflikten flihren kann, ist die Differenz zwischen dem Mikrosystem Familie und dem Mikrosystem Freundeskreis. Aus beiden konnen sich unterschiedliche Werthaltungen speisen, die unter Umstanden zu den beruhmten Generationenkonflikten fuhren konnen. „Fasst man die Beftinde zusammen, dann kann man das Mesosystem als einen allgemeinen Onentierungsrahmen fiir das Individuum definieren, durch den die unterschiedlichen Handlungsanforderungen der Umwelt aufeinander bezogen und gegeneinander abgewogen werden, sich soziale Beziehungen verfestigen und Handlungskompetenzen erworben werden, die die Ubernahme von Rollen und die Gestaltung von Beziehungsstrukturen ermoglichen." (Grundmann/Fuss/Suckow 2000: 35) Dem Bereich unmittelbarer Zugriffchancen entzogen ist das Exosystem. Dieses ist dem Sozialisanden nicht durch direkte Interaktionen zuganglich, ubt aber dennoch einen mittelbaren Einfluss auf den Sozialisationsprozess aus. Am deutlichsten demonstrieren lasst sich das Exosystem an der Berufsposition der Eltem. Wie gezeigt werden konnte, spielen die Arbeitsbedingungen von Erwerbstatigen eine gewichtige Rolle in Bezug auf deren Erziehungsverhalten und deren Erziehungsziele. Eltern, deren Arbeitsbedingungen eher selbstbestimmt sind, neigen dazu, die Selbststandigkeit des Kindes zu fordem, wahrend bei Eltern mit einer eher fremdbestimmten Tatigkeit autoritare Erziehungsstile dominieren (Kohn 1963). Wie leicht nachvollziehbar, hat das Kind keinen Einfluss auf die Tatigkeitsstrukturen seiner Eltem, diese sind ihm moglicherweise nicht einmal vertraut, dennoch sind sie in der Lage, den Sozialisationsprozess inhaltlich auszurichten. Hinzu kommt, dass die mit unterschiedlichen Berufspositionen verbundenen Einkommensklassen die materielle Ausstattung der Herkunftsfamilie bestimmen und diese ihrerseits die Handlungsmoglichkeiten und Entwicklungschancen z. B. innerhalb des Mikrosystems Freundeskreis begrenzen konnen (Krappmann 1999). Wenngleich dem direkten Zugriff des Sozialisanden entzogen, bleibt auch im Fall des Exosystems die Interdependenz zwischen Individuum und Umwelt erhalten. Das Kind kann 48
beispielsweise, freilich unintendiert, auf die berufliche Position eines Eltemteiles verandernd wirken, wenn etwa, wie in klassischen Familien ublich, die Mutter ihre Berufstatigkeit aufgibt und sich allein der Erziehung widmet. Letztlich sind die bisherigen Systemebenen eingebunden in das Makrosystem. Dieses bezieht sich auf regionale oder gesamtgesellschaftliche Wertvorstellungen, Normen, Traditionen und institutionelle Einrichtungen. Wie in der schichtenspezifischen Sozialisationsforschung oder der Milieuforschung gesehen, konnen dies subkulturelle Muster innerhalb bestimmter Schichten sein, die typische Verhaltensweisen nahe legen. Dies sind aber auch gesamtgesellschaftliche Normen, wie etwa politische Verfassungen oder auch Internationale Reglements wie das Volkerrecht, das eine friedensorientierte AuBenpolitik und damit entsprechende Uberzeugungen der Individuen verbindlich machen soil. Solche Wertvorstellungen oder gesellschaftliche Institutionen wirken auf die Ausformung sowohl des Exo- als auch der Mikrosysteme ein. Sie sind bis zu einem gewissen Grad mitbestimmend bei der Strukturierung von Berufspositionen und Tatigkeitsmustem, aber auch, wie im Falle der Schule, fur die institutionelle Organisation von unmittelbaren Lebensbereichen. Gerade auch hier gilt jedoch: Dem Individuum ist das Makrosystem zwar das entfernteste, dennoch hat es, wie etwa die politische Philosophic sowohl des Liberalismus als auch des Republikanismus behauptet, Einflussmoglichkeiten auf dessen Gestalt. Diese werden zumeist in Begriffen des burgerschaftlichen Engagements oder der politischen Partizipation umschrieben (Krettenauer 1998; Beer 2002a). Neben der raumlichen Strukturierung des sozialen Raumes berucksichtigt die sozialokologische Sozialisationsforschung auch die Dimension der Zeit. Dies bezieht sich zunachst auf den evidenten Umstand, dass Individuen im Laufe ihrer Entwicklung in spezifische Mikrosysteme eintreten, um diese nach einer bestimmten Zeit wieder zu verlassen, wie etwa im Fall des Mikrosystems der Schule oder der Herkunftsfamilie. Mit der Dimension Zeit konnen aber auch soziale Veranderungen thematisiert werden, die auf die inhaltliche und formale Strukturiertheit der verschiedenen Raumebenen einwirken, Beispiele hierftir sind etwa der Wechsel von politischen Regierungen oder Systemen, die zu anderen Wertvorstellungen im Makrosystem oder zu einer veranderten Berufsstruktur fuhren konnen. Ftir die Individualgenese bedeutet die Beriicksichtigung der Zeit insbesondere den Blick dafiir zu scharfen, dass das Individuum im Laufe seiner Entwicklung an immer mehr Mikrosystemen partizipiert und daher ,gen6tigt' ist, immer komplexere Umwelten zu verarbeiten und aufeinander zu beziehen. Bronfenbrenner wertet diesen Umstand als eine entscheidende Ressource ftir eine optimale Entwicklung, die er in der Hypothese zusammenfasst: „In welchem AusmaB die Entwicklung gefordert wird, hangt direkt von der Anzahl strukturell verschiedener Lebensbereiche ab, an denen die sich entwickelnde Person in vielfaltigen Dyaden gemeinsamer Tatigkeit und in Primardyaden beteiligt ist, insbesondere, wenn ihre Dyadenpartner reifer oder erfahrener sind als sie selbst." (Bronfenbrenner 1993: 202) Mit dem Fokus der Zeit gilt diese Komplexitat der Systempartizipation nicht nur als gleichzeitige Partizipation, sondem auch als sukzessive Akkumulation verschiedener Rollen, Tatigkeitsbeztige etc. Bronfenbrenner bezeichnet diese Akkumulation als okologische Ubergange, die etwa im Fall des Berufseintrittes neue Rollenanforderungen mit sich bringen. Dem Individuum wird dann abverlangt, sich neuen Umweltbedingungen anzupassen und multiplen Rollenanforderungen zu genligen. Insbesondere das Makrosystem setzt dabei einen 49
entscheidenden Rahmen, wenn es typische Altersklassen fiir okologische Ubergange formuliert. So gibt es sowohl formelle als auch informelle Regelungen, die den Eintritt in die Schullaufbahn, die Aufnahme des Berufslebens, die Dauer eines Studiums etc. prajudizieren. An diesen Beispielen wird deutlich, dass ein okologischer Ubergang nicht eo ipso mit Entwicklung gleichzusetzen ist. Der Eintritt in die Schule etwa muss nicht zwangslaufig schon einen Entwicklungsschritt des Kindes bedeuten. Dies hangt sicherlich von der Herkunftsfamilie und deren Vorbereitung auf die Einschulung ab, wie die schichtenspezifische Sozialisationsforschung gezeigt hat. Bronfenbrenners Beitrag fiir die Sozialisationsforschung, so lasst sich zusammenfassen, liegt darin, die soziale Umwelt angemessen beachtet zu haben, indem er diese durch ein raumliches und zeitliches Mehrebenenmodell beschreibt. Er kann damit die Sensibilitat fiir sozialstrukturelle Sozialisationsagenturen, die von der schichtenspezifischen Sozialisationsforschung eingefordert, aber nicht hinreichend spezifiziert wurde, scharfen und zweierlei deutlich machen. Erstens konkretisiert Bronfenbrenner das mogliche Scheitem der Individualgenese, gemessen an kognitiven und moralischen Fortschritten, durch den Hinweis darauf, dass auf der Zeitachse in modemen Gesellschaften spezifische Perioden liegen, die dem Sozialisanden mit immer neuen und komplexen Rollen- und Tatigkeitsanforderungen begegnen und auf die der Sozialisand reagieren konnen muss. In der Perspektive Bronfenbrenners darf dies allerdings nicht als objektiver Zwangszusammenhang missverstanden werden. Die sukzessive Erweiterung der unmittelbaren und mittelbaren Lebensbeztige eines Individuums ermoglicht diesem eine Vielzahl an Handlungsoptionen zu generieren, die zweifelsohne die Freiraume des Individuums erweitem. Positiv formuliert bedeutet die Lebensbereichserweiterung eine Entwicklungschance. Individuen, denen es nicht gelingt, zunehmend komplexe Strukturen zu verarbeiten, diirften demgegentiber hochstwahrscheinlich nur iiber eine enge Lebenswelt und damit uber geringe Partizipationschancen an modernen Gesellschaften verfligen. Die Folge davon kann eine Exklusion aus verschiedenen gesellschaftlichen Feldern bedeuten, wie dies schlieBlich durch die schichtenspezifische Sozialisationsforschung vomehmlich am Beispiel der Bildung demonstriert wurde. Zweitens gelingt es Bronfenbrenner einen gewichtigen Aspekt der Individualgenese innerhalb sozialer Umwelten genauer zu problematisieren: Soziale Umwelten sind keineswegs statische Gebilde, die als feste ReizgroBe von den Individuen im Laufe ihrer Entwicklung bloB angeeignet werden mtissen, wie dies der Strukturfunktionalismus vermutet hatte. Sie verandern sich durch vielfaltige und kontingente Mechanismen. Sowohl das Zusammenspiel verschiedener Umweltebenen, als auch die dynamische Beziehung zwischen dem Individuum und seiner Umwelt, flihren immer wieder zu veranderten Bedingungen, die im extremen Fall (Krieg, Naturkatastrophen, ...) vollig veranderte Ausgangspositionen fiir die weitere Entwicklung mit sich bringen. Daraus folgt, dass dem Individuum weit mehr Flexibilitat und Kreativitat abverlangt wird, als das bloBe Nachvollziehen eines gegebenen gesellschaftlichen Status Quo. Das bloB passive Reagieren auf vorgefundene Umweltbedingungen wird aus diesem Blickwinkel gar zu einem riskanten Untemehmen, das erhebliche Entwicklungsnachteile nach sich ziehen kann. Trotz dieser spezifizierenden Elaboration der sozialen Umwelt und der starken Orientierung am Individuum als eine GroBe, die den Sozialisationsprozess grundsatzlich mitgestaltet, fehlt aber auch Bronfenbrenner eine Perspektive auf das Subjekt, wie sie mit der ,Kritik 50
der sozialisierten Vemunft' angestrebt wird. Er stellt zwar insofem einen weiteren Schritt auf das Subjekt dar, als er zumindest postuliert, dessen Wahmehmungen emst zu nehmen. Genau dies kollidiert jedoch eigenttimlich mit seinem Vorgehen, dieses in eine Umwelt zu setzen, die mit objektiven Begriffen beschrieben wird. Es muss dann unklar bleiben, welchen Status das Subjekt gegeniiber einem solchen Umweltmodell haben kann. Eine nachholende theoretisch-begriffliche Konzeptionalisierung des Subjekts, die das dynamische Individuum-Umwelt-Modell Bronfenbrenners aufnimmt, leistet die von Hurrelmann vorgeschlagene Formel des ,produktiv realitatsverarbeitenden Subjekts'.
2.6. Das Modell des ,produktiv realitatsverarbeitenden Subjekts': Klaus Hurrelmann Wie gesehen, nimmt das Bild des Subjekts innerhalb der sozialwissenschaftlichen Erorterung spatestens mit Mead jene Stellung ein, die ihm von der politischen Philosophie der Aufklarung bereits zugedacht worden war, Es lost sich aus der noch von Durkheim favorisierten Subordination unter gesamtgesellschaftliche Anforderungen und wird zu einem gleichberechtigten Austauschpartner mit der sozialen Wirklichkeit. Wird von der strukturfunktionalistischen Reanimierung des normativen Modells von Emile Durkheim durch Parsons abgesehen, schreibt Habermas das Bild Meads nicht nur fort, sondem bringt das Subjekt explizit mit dem Anspruch auf eine starke Ich-Identitat in Verbindung, die das hypertrophe Wachstum der medial vermittelten Funktionssysteme moderner Gesellschaften steuern konnen soil. Er verpflichtet das Subjekt auf das sozialistische und/oder sozialdemokratische Ideal einer gesellschaftlichen Dominanz gegeniiber der durch die Anarchic des Marktes unkontrollierten Wirtschaft. Selbst in der schichtenspezifischen Sozialisationsforschung durfte wohl, trotz der strukturalistischen und objektivistischen Anlage der Untersuchung, das emanzipierte Subjekt gemeint gewesen sein, das durch Bildung eben jenen Status eines aufgeklarten Burgers und damit gleichberechtigte Partizipationschancen erreicht. Bronfenbrenner schlieBlich weist darauf hin, dass das bloBe Repetieren sedimentierter Kulturmuster zu Entwicklungsdefiziten flihren kann, die letztlich auch fiir den Strukturfiinktionalismus nicht akzeptabel sein konnen, da Entwicklungsdefizite potentiell delinquentes Verhalten nach sich ziehen konnen, die dann eine storungsfreie Reproduktion der Gesellschaft blockieren. Im Laufe des 20. Jahrhunderts erfahrt das Subjekt also eine sowohl politische und damit verbunden auch sozialwissenschaftliche Aufwertung, die zum einen seine Stellung gegeniiber der Sozialitat beruhrt: Der aus der Perspektive der Gesellschaft thematisierte Aspekt der Integration wird aufgeweicht. Zum anderen jedoch werden vom Subjekt selbst Kompetenzen (Ich-Identitat, Personlichkeitsentwicklung, Miindigkeit, ...) abverlangt, die durch den Sozialisationsprozess erworben werden miissen, und damit kontingent sind: Sozialisationsprozesse konnen aus dieser normativen Perspektive scheitem, und die Aufwertung der Rolle des Subjekts macht deutlich, dass dies nur zu einem Teil objektiven, gesellschaftlichen Strukturen angelastet werden kann. Das Subjekt ist nicht nur Opfer, sondem immer auch Tater seiner Sozialisation. Dieses Subjektverstandnis auf eine heuristische Formel gebracht zu haben ist der Verdienst von Klaus Hurrelmann, der dieses Verstandnis mit dem Ausdruck des ,produktiv realitatsverarbeitenden Subjekts' zusammenzieht. Was damit 51
veranschaulicht wird, ist „ein Modell der dialektischen Beziehungen zwischen Subjekt und gesellschaftlich vermittelter Realitat, eines interdependenten Zusammenhangs von individueller und gesellschaftlicher Veranderung und Entwicklung. Dieses Modell stellt das menschliche Subjekt in einen sozialen und okologischen Kontext, der subjektiv aufgenommen und verarbeitet wird, der in diesem Sinne also auf das Subjekt einwirkt, aber zugleich immer auch durch das Individuum beeinflusst, verandert und gestaltet wird." (Hurrelmann 1983:93) Das von Hurrelmann vorgeschlagene Modell nimmt also die ideengeschichtliche Veranderung des Subjektverstandnisses auf und macht durch den Begriff der ,Realitatsverarbeitung' deutlich, dass das Subjekt beziiglich seiner Eigenleistung und seines Eigenanteils am Sozialisationsprozess ernst genommen werden muss. Zugleich halt Hurrelmann an der Vorstellung fest, nach der sich das Subjekt grundsatzlich gesellschaftlichen Strukturen ausgesetzt sieht, die hinter seinem Riicken Handlungsraume offnen oder schlieBen konnen. Damit fordert das Modell des ,produktiv realitatsverarbeitenden Subjekts' nicht nur eine Verzahnung von Sozialisations- und Gesellschaftstheorie (vgl. auch Hurrelmann 1976; Ottomeyer 1998), sondem behalt auch eine kritische Sicht auf den Sozialisationsprozess. Strukturen, die nicht durch einen intersubjektiven Diskurs legitimiert sind und dem Subjekt Restriktionen auferlegen, die die Moglichkeiten auf eine freie Entfaltung behindem, konnen mit diesem Modell kritisiert werden. Hurrelmann bietet einen begrifflichen Schltissel fur eine solche Kritik, wenn er zwischen die Analyseeinheiten der Gesellschaft und des menschlichen Organismus die Personlichkeit setzt. Dieser politisch gefarbte Begriff impliziert schlieBlich jene von Habermas so eindringlich problematisierten Werte wie Mlindigkeit oder Ich-Identitat. Entwicklungstheoretisch generiert sich die Personlichkeit, wie bereits bei Bronfenbrenner, aus dem interdependentem und kontigentem Zusammenspiel von Strukturen und subjektiver Eigenaktivitat. Erganzt wird dieser begriffliche Schltissel durch die Einbeziehung kompetenztheoretischer Uberlegungen (Hurrelmann 1998: 75ff.). Die aktive Verarbeitung der Umwelt setzt auf der Seite des Subjekts die Entwicklung spezifischer kognitiver, sprachlicher und moralischer Fahigkeiten voraus, deren Erwerb keinesfalls a priori gesichert ware. Mit dem Kompetenzbegriff kann Hurrelmann daher an die schichtenspezifische Sozialisationsforschung anschliefien, ohne freilich deren deterministische Konnotationen zu iibernehmen. Misslingt der Erwerb dieser Kompetenzen, liegt dies nicht nur an restriktiven Strukturen, seien sie nun gesamtgesellschaftlicher oder familiarer Art, sondern auch an dem Subjekt, das als ,realitatsverarbeitend' zu einem gewissen Teil selbstverantwortlich wird. Der Kompetenzerwerb wird daher selbstverstandlich nicht auf die Verarbeitung der sozialen und materiellen Umwelt beschrankt. Er bezeichnet auch die Entwicklung eines stabilen Selbstbildes, von dem aus in intersubjektiven Zusammenhangen eigene Motive und Interessen geltend gemacht werden konnen. Storungen der Entwicklung von Handlungskompetenzen und Selbstreflexivitat gelten Hurrelmann als nicht gelungene Ubereinstimmung von objektiven Umweltanforderungen und subjektiven Fahigkeiten. Um dies zu verdeutlichen, sei vorwegnehmend an die Entwicklungspsychologie Piagets erinnert, die diesen Gedanken ausflihrlich thematisiert hatte. Die begriffliche Konzeptualisierung der Personlichkeitsentwicklung durch die Dialektik von Assimilation und Akkommodation (vgl. Piaget 1991; Kapitel 2.7.) eroffnet mehrere 52
Ergebnismoglichkeiten dieser Entwicklung. Uberwiegen die Modi der Assimilation dtirfte das Subjekt zu eigenwilligen und egozentrischen Handlungsdispositionen neigen, die eine Ubereinkunft mit alter ego und damit das Herstellen intersubjektiver Handlungsplanungen und -ziele erschweren. Uberwiegen die Modi der Akkommodation dtirfte das Subjekt eine subordinare Stellung einnehmen, die eine gelungene Selbstreflexivitat verhindert. Erst die Ausbalancierung bzw. die Aquilibrierung beider Modi erlaubt dem Subjekt eine tendenzielle Ubereinstimmung von Begriff und Gegenstand und damit eine erfolgsichernde Verarbeitung der Umwelt. Sowohl bei Piaget (vgl. Seiler 1994) als auch bei Hurrelmann stellen die Umweltanforderungen eine feste (wenngleich historisch wandelbare) GroBe dar. Entscheidend in Bezug auf Storungen bei der Entwicklung von Handlungskompetenzen sind daher die subjektiven Fahigkeiten, die dariiber entscheiden, ob das Subjekt zu einer Ubereinstimmung von Begriff und Gegenstand gelangt und daher in der Lage ist, stabile Handlungsoptionen zu generieren, die einen storungsfreien Ablauf der Entwicklung aber auch der alltaglichen Lebensftihrung gestatten. Die Kritik gesellschaftlicher Verhaltnisse speist sich damit durch die Differenz zwischen einem normativ gesetzten Kompetenzbegriff und dem tatsachlichen Entwicklungsstand eines Subjekts und dem Versuch die gesellschaftlichen Verhaltnisse als widerstandlich gegeniiber einer gelungenen Ontogenese zu diagnostizieren. Klaus Hurrelmann hat also mit seiner Formel des ,produktiv realitatsverarbeitenden Subjekts' die bisher verhandelten theoretischen Konzeptionen zusammengefasst. Dies sowohl beztiglich der Subjektvorstellung als auch beziiglich der kritischen Potentiale, die die Sozialisationsforschung durch Habermas, die schichtenspezifische Sozialisationsforschung und Bronfenbrenner erhalten hatte. Wenn aber dieses kritische Potential zu einem wesentlichen Anteil der Seite des subjektiven Entwicklungsverlaufes geschuldet ist, liegt es nahe, die Sozialisationsforschung starker auf diese zu konzentrieren.
2.7. Sozialisation und Verlauf: Die Entwicklungsperspektive Innerhalb der neueren Soziologie sind es vornehmlich zwei Diskurse, die sich um die Perspektive des Verlaufes bemlihen: Die Biographieforschung einerseits und die Lebensverlaufsforschung andererseits. Letzterer geht es grob skizziert darum, die individuellen Lebenslaufe vor dem Hintergrund sozialer und politischer Veranderungen erklarbar zu machen (Mayer 1987; Elder/Caspi 1990). Dabei werden insbesondere zwei Aspekte von individuellen Entwicklungsverlaufen sichtbar. Zum einen kann gezeigt werden, dass Lebenslaufe von Individuen in modemen Gesellschaften durch staatlich, sozial und biologisch gesetzte Umstande institutionalisiert werden konnen (Kohli 1985, 1998; Voges 1987). Dies bezieht sich etwa auf die Schule als staatlich institutionalisierter Vorgabe, die einen spezifischen Zeitabschnitt der Individualentwicklung koordiniert, auf sozial anerkannte Lebensverlaufmuster, die z. B. typische Altersangaben ftir die Berufsaufnahme oder die Griindung einer eigenen Familie beinhalten, und selbstverstandlich auf die biologische Reifung und Lebenszeit, die spezifische Handlungsoptionen und -erwartungen ermoglichen oder verhindern kann. Damit kann zum anderen auf den normativen bzw. normierenden Aspekt von Lebenslaufen aufmerksam gemacht werden. Individuen richten sich in ihrer Lebensplanung 53
immer auch an sozial vorgegebene Altersstufen, auf denen bestimmte Ereignisse erwartet Oder bestimmte Ziele erreicht werden sollen (Heckhausen 1990). Dies konnen Erwartungen sein, die die Griindung einer Familie innerhalb eines Altersabschnittes terminieren. Dies konnen aber auch gesellschaftlich umkampfte Altersvorgaben flir den Renteneintritt sein. Normierende Alterstypisierungen, so ein Ergebnis der Lebenslaufforschung, konnen Lebensverlaufe so prajudizieren, dass sie bei einem Scheitem des Individuums in Bezug auf das Erreichen bestimmter Ziele zu einem gegebenen Alter moglicherweise personliche Konsequenzen nach sich ziehen. Dies wird unter anderem dann deutlich, wenn ein sozial anerkannter Lebenslauf flir bestimmte Berufspositionen zur Voraussetzung wird (Kohli 1985). Eine der detailliertesten durchgefiihrten Untersuchungen zu diesem Zusammenhang von Sozial- und Psychogenese ist nach wie vor die Studie von Norbert Elias (1994) zum Prozess der Zivilisation. Diese stand zwar noch nicht explizit unter dem Label ,Lebenslaufforschung', sie zeichnet jedoch individuelle Verhaltensveranderungen im Kontext sich verandernder sozialer und politischer Verhaltnisse minutios nach. Indem sie anhand historischer Quellen die Modifikation alltaglicher Handlungsmuster im ausgehenden Mittelalter und der friihen Neuzeit, indiziert iiber das Verhalten bei Tisch, den Umgang mit Sexualitat etc., demonstriert und diese auf sozialstrukturelle Verschiebungen innerhalb der Herrschaftsstruktur zurlickfuhrt, thematisiert sie exakt den Zusammenhang von individuellen Lebensentwiirfen und Einstellungsmustern auf der einen Seite und soziohistorischen Prozessen auf der anderen Seite. Mit dieser Perspektive dekodiert Elias den Zivilisationsprozess als sukzessive Umwandlung vormaliger Fremd- in Selbstzwange (Genese individueller Verhaltensweisen und Einstellungsmuster) und als einen kontingenten Prozess, der keinem planerischen Handeln folgt, sondem im Sinne Hegels ,List der Vemunft' dem Zusammentreffen je individueller Interessen (Genese der sozialen und politischen Strukturen). Eine mogliche Kritik an der Lebensverlaufsforschung ist der Hinweis darauf, dass individuelle Lebensverlaufe nicht umstandslos generalisiert werden konnen (Clausen 1976; Brandtstadter 1990). Dieses Bild eines generalisierten Lebenslaufes suggeriert zu haben, dlirfte der tendenziellen Ausrichtung der Lebensverlaufsforschung auf den Fokus des Zusammenspiels struktureller und individueller Entwicklungen geschuldet sein. Eine starkere Perspektive auf das Subjekt bietet dagegen die Biographieforschung (Fuchs-Heinritz 1990; Juttemann/Thomae 1999), die allerdings ihrerseits nicht immer trennscharf von der Lebensverlaufsforschung zu differenzieren ist. SchlieBlich versteht sich auch die Biographieforschung - synonym zur Lebensverlaufsforschung - als Mittlerin zwischen sozialer Struktur und Individuum (Fischer/Kohli 1987; Bahrdt 1987). Durch das Verstandnis der Wirklichkeit als narrativ konstituierter Biographic (Straub 2000) gelingt es der Biographieforschung jedoch die Tendenz auf die Strukturalisierung von Lebensverlaufen in der Lebensverlaufforschung zugunsten des Individuums umzudrehen. Dieses erzeugt durch die biographische Narration eine Identitat iiber die Zeit, die sich wesentlich den kumulativen Effekten eigenen Handelns bzw. der Strukturalisierungsleistung des Subjektes verdankt (kritisch dazu Bourdieu 2000). Den kumulativen Effekt der Biographic betonen insbesondere solche Ansatze der Biographieforschung, die an die Lebensweltphanomenologie von Alfred Schiitz ankniipfen (Hoerning 1987; Grundmann 2000). Diese hat die Individualgenese verstanden als sukzes54
siven Aufbau eines Erfahrungswissens, das fiir den Erwerb je neuen Wissens konstitutiv wird. Wissen, so die These, wird immer im Kontext bereits erworbenen Wissens weiterentwickelt, wobei insbesondere problematische Situationen zur Erweiterung des sedimentierten Wissensvorrates anregen. Das Subjekt dieser Wissensakkumulation ist dabei in der Form aktiv gedacht, als der Wissenserwerb grundsatzlich vor dem Hintergrund subjektiver Sinnsetzungen und Relevanzen ablauft. Ob daher eine neue Situation, die mit den sedimentierten Typisierungen, die im Laufe der Biographie erworben wurden, nicht hinreichend erfasst werden kann, zur Entwicklung neuer Wissenstypen beitragt, oder ob die Situation als fraglos gegeben akzeptiert wird, ist eine Frage nach den subjektiven Motiven. Anders formuliert: „0b eine Erfahrung fraglos ablauft oder ob eine Auslegung notwendig wird, geht auf die jeweilige situationsbezogene Konkretisierung des pragmatischen Motivs, der biographisch gepragten Interessenshierarchie zuriick." (Schtitz/Luckmann 1994: 160) Eine derart an Schiitz orientierte Biographieforschung interessiert sich also vomehmlich ftir den intrasubjektiven Prozess einer zunehmenden Verarbeitungskompetenz von Erfahrungen und fur den Aufbau einer stabilen Ich-Identitat auf dem Fundament einer narrativ erzeugten je eigenen Wirklichkeitsbiographie. Wie bereits bei den referierten Sozialisationsansatzen gesehen, wird dabei auch in der Biographieforschung das Subjekt zwar einerseits aktiv gedacht, andererseits aber in soziale und strukturelle Kontexte gestellt. Eine Ausnahme machen etwa Walter R. Heinz (2000) und Gerhard Jost (2003), die die Biographisierung der eigenen Identitat iiber das Konzept einer Selbstsozialisation (siehe dazu Kapitel 2.10.) oder Selbstorganisation explizit auf die subjektive Autonomic verpflichten und Peter Allheit und Bettina Dausien (2000), die aus konstruktivistischer Sicht einfordem, „Sozialitat konsequent aus der biographischen Perspektive wahrzunehmen - nicht um den objektiven Charakter struktureller AuBeneinflusse zu dementieren, sondem um die Semantik zu verstehen, mit der psychische Systeme Soziales zu codieren pflegen." (Ebd.: 274) Ein Paradigma, das die grundsatzliche Ausrichtung der Biographie- und Lebensverlaufforschung in einem gewissen Sinne zu integrieren vermag, und das diesen Diskursen chronologisch und thematisch voraus ging, ist die genetische Epistemologie Jean Piagets. Diese bietet nicht nur Uberschneidungen zur Lebensweltphanomenologie (Grundmann 1997), sondern stellt tiberdies die Individualgenese in den Mittelpunkt ihrer Uberlegungen und gih daher zugleich als Vorlaufer konstruktivistischer Ansatze (Rusch/Schmidt 1994). Jean Piaget hat seine intellektuelle Laufbahn zunachst als Biologe begonnen und war schlieBlich durch seinen Onkel angeregt worden, Interesse fiir die Philosophic zu entwickeln. Seine zentrale Fragestellung ruhrt aus diesem Zusammentreffen. Zeit seines Lebens laborierte er an einer Erkenntnistheorie, die mit Hilfe der Naturwissenschaften den spekulativen Charakter genuin philosophischer Erkenntnistheorien iiberwinden sollte (Fetz 1988; Piaget 1992). Diese Anbindung an die biologischen Wissenschaften fiihrte zu einem Vernunftbegriff, der sich strukturgenetisch an die Reproduktionsprozesse biologischer Organismen anlehnt. Grundsatzlich bedeutet dies auch fiir den Vemunftbegriff Piagets, die Vemunftgenese auf die Schienen eines interaktiven Austausches mit der Umwelt zu setzen (Piaget 1981). Der von Piaget anvisierte interaktive Austausch darf dabei allerdings nicht mit dem symbolischen Interaktionismus gleichgesetzt werden. Er impliziert nicht eine dialogische Situation sprachlich und kulturell harmonisierender Subjekte, sondem ist eher an die Vorstellung 55
einer monologischen Austauschsituation im Sinne von Marx zuriick zu binden. Die Individualgenese ist zwar abhangig von Umweltzufuhren, die Verarbeitung dieser Ressourcen ist jedoch eindeutig ein intrapsychischer Prozess, der nicht intersubjektiv oder sozial entschllisselt werden kann (Seiler 1998). Deutlich wird dieses Modell an der von Piaget gefiihrten Kritik am Behaviorismus. Dieser legt ein Stimulus-Response-Modell vor, nach dem das Subjekt sich passiv den Umweltvorgaben anpasst. Dem halt Piaget entgegen, dass so einerseits individuelle Lemprozesse unverstandlich wiirden und andererseits das Subjekt eben aufgrund intrapsychischer Prozesse aktiv auf Umweltzufuhren reagiert. „Damit der Stimulus eine Reaktion auslost, muss das Subjekt bzw. der Organismus uberhaupt dazu fahig sein. [...] Der Ausgangspunkt ist somit nicht der Reiz, sondern die Sensibilitat einem Reiz gegeniiber und diese ist die Fahigkeit zur Antwort! Das Schema muss somit nicht S>R geschrieben werden, sondern als S>Leben< voraus. Interpenetration liegt entsprechend dann vor, wenn dieser Sachverhalt wechselseitig gegeben ist, wenn also beide Systeme sich wechselseitig dadurch 80
ermoglichen, dass sie in das jeweils andere ihre vorkonstituierte Eigenkomplexitat einbringen." (Luhmann 1984: 290) Interpenetration avanciert damit in den Rang eines konstitutiven System-Umwelt-Verhaltnisses fur die Genese von Systemen uberhaupt, wenngleich auch hier zu beachten bleibt, dass Interpenetration nicht so in die selbstreferentiellen Operationen des je anderen Systems eingreift, dass es zu einer Fremdstrukturierung kommt. Fiir das in der Sozialisationstheorie relevante Verhaltnis von Subjekt und Sozialitat bedeutet dies, dass Subjekte (physische Systeme oder Bewusstseinssysteme) gleichsam ,interaktiv' von einer Bezugnahme auf Sozialitat (soziale Systeme) abhangen. Die strukturelle Kopplung zwischen psychischem und sozialem System leistet dabei die Sprache (Luhmann 1995c; vgl. auch Schmidt 1994). Luhmann widerspricht damit nicht dem generellen Sozialisationsverstandnis wie es auf der Linie von Mead Uber Habermas bis Hurrelmann konzipiert wird. Der gravierende Unterschied (der ganz im Sinne Luhmanns einen Unterschied macht) liegt in dem Zugang zur Sozialwissenschaft, und damit zur Sozialisation, uber den Leitgedanken der Differenz. Psychische Systeme operieren uber Bewusstsein, soziale Systeme iiber Kommunikation; eine Uberschneidung beider ist fiir Luhmann nicht moglich. Daraus folgt jene prominent gewordene These, dass die Kommunikation kommuniziert, nicht irgendwelche Subjekte. Luhmann begreift Kommunikation als eine emergente Realitat, die durch eine Synthese der Selektionen Information, Mitteilung und Verstehen zustande kommt (vgl. Hohm 2000: 6Iff.). Information macht dabei den semantischen Gehah aus, die Mitteilung bezieht sich auf die Grlinde der Kommunikation und Verstehen kann als Anschlussoperation interpretiert werden. Alle drei Komponenten implizieren insofern den Status einer Selektion, als grundsatzlich eine andere Information und ein anderer Grund batten gewahlt werden konnen und Verstehen immer Nicht-Verstehen einbeziehen muss. Kommt nun eine Kommunikation zustande, fiihrt sie zu einer Ausdifferenzierung eines sozialen Systems, fur das die physischen Systeme die Umwelt darstellen. Gerichtet ist dieses Kommunikationsverstandnis, wie leicht zu ersehen, gegen die Vorstellung einer Ubertragung von einem Sender auf einen Empfanger. Dies, so Luhmann, wurde die Kommunikation mit einer zu hohen Komplexitat ausstatten, wenn tatsachlich alles Gedachte in das Gesprochene projiziert wiirde und ungekehrt. Um die Umweltkomplexitat reduzieren zu konnen, operieren daher sowohl die psychischen Systeme als auch die sozialen Systeme in sich geschlossen. „Was immer die Beteiligten in ihrem je eigenen selbstreferentiellgeschlossenen Bewusstsein davon halten mogen: das Kommunikationssystem erarbeitet sich ein eigenes Verstehen oder Missverstehen und schafft zu diesem Zwecke Prozesse der Selbstbeobachtung und der Selbstkontrolle." (Luhmann 1995d: 116) Beispiele fur eine solche Selbstkontrolle sind etwa Nachfragen, wie das Gesagte gemeint war, oder die Aufklarung von Missverstandnissen. Die bisherige Darstellung Luhmanns unter der hier interessierenden Perspektive zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Luhmann sich zwar einerseits einer konstruktivistischen Epistemologie verpflichtet, dabei aber die generelle Perspektive einer ,interaktiven' Gegenseitigkeit der Systeme keineswegs in toto verwirft. So ist es wohl kaum dem Zufall verschuldet, wenn seine Ausflihrungen zum Fremdverstehen sich lesen wie die systemtheoretische Aneignung eines intersubjektiv verstandenen Alfred Schiitz. Psychische Systeme, so Luhmann, begegnen sich zunachst als ,black boxes', das heifit in der Situation einer doppelten Kontingenz, und bilden fiireinander Umwelten in die nicht eingegriffen 81
werden kann. Auf den Begriff gebracht wird damit die alltagliche Erfahrung, dass die Gedankenwelt eines alter ego unzuganglich bleibt. Die Berechnung des Kommunikationspartners wird so zwangslaufig durch gegenseitige Freiheitskonzessionen ersetzt, und die Ausdifferenzierung eines sozialen Systems hangt von der Annahme eines Kommunikationsangebotes ab. Dabei operieren die psychischen Systeme mit Zuschreibungen, die in den Formen ,Person' und ,Handlung' Kommunikation adressieren und damit erwartbar machen konnen. Ahnlich hatte Schutz die Interaktion beschrieben und dabei den Begriff der Typologisierung bemliht, der ebenfalls Erwartungen selektiert und damit Anschlussoperationen ermoglicht. Die damit behauptete implizite Anbindung Luhmanns an intersubjektivistische Theorien ist selbstverstandlich nicht in dem Sinne zu verstehen, Luhmann flihre ein Paradigma nur unter anderem Vorzeichen weiter. Die Unterschiede zu klassischen Intersubjektivitatstheorien, wie sie sich in der Soziaiisationsforschung durchgesetzt haben, liegen in der Orientierung an Differenzen im Gegensatz zu Identitaten. Nicht das, wie von Hurrelmann konzipierte, Hereinstellen eines Subjektes in eine soziale und kulturelle Umwelt wird damit zum Ausgangspunkt gesetzt, sondern die Differenz unterschiedlicher Operationsweisen. Bewusstsein und Kommunikation stellen fiireinander Umwelten dar, die sich gegenseitig beobachten konnen: mehr nicht! Das Subjekt ist nicht als Teil der Gesellschaft gedacht. Diese verliert ohnehin durch die Ausdifferenzierung der Funktionssysteme jeglichen Ort, an dem sie als Ganze reprasentiert wird. Die (wissenschaftliche) Beschreibung von (psychischen und sozialen) Systemen muss einer Forderung Luhmanns zufolge immer die Systemreferenz angeben, von der aus beschrieben wird. Dies bedeutet, wird ein psychisches System beobachtet, hangt die Beobachtung davon ab, welches System mit welchen systemintemen Unterscheidungen beobachtet. So werden Subjekte durch das Rechtssystems anders beobachtet als durch das Wirtschaftssystem oder andere psychische Systeme und das heifit, es erfolgen andere Zuschreibungen. In keinem der Falle hingegen wird das zu beobachtende System in Form einer Abbildung beobachtet, wie es der klassische Empirismus behauptet hatte (vgl. Teil II). Beobachtungen und Zuschreibungen sind jeweils systeminteme Operationen, die nach der MaBgabe von Selbstreferenz arbeiten. Auf diese Weise radikalisiert Luhmann (1993) die Fokussierung auf das Individuum gegeniiber den bisher vorgestellten Ansatzen. Individualitat ergibt sich namlich aus systemtheoretischer Perspektive bereits durch die Geschlossenheit der autopoietischen Reproduktion des Systems. Mit anderen Worten: Sie ist ein zunachst basaler Tatbestand, der ohnehin in die Operationsweise von psychischen Systemen eingelagert ist. Diese epistemologische Ebene der Beschreibung von Individualitat macht allerdings keine Aussagen iiber die soziologische Beschreibung von Individualitatssemantiken. Denn aus der autopoietischen Reproduktion folgt nicht notwendigerweise, dass das psychische System sich als individualisiert begreift, das heiBt sich Individualitat als Seinsform zuschreibt. Fiir ein singulares System ware dies mit hoher Probabilitat sinnlos. Die Semantik ,Individualitat' wird erst in der Differenz zu Anderem (Gesellschaft, ...) zu einer sinnvollen Zuschreibung, die dann, weil sie unterscheidet, etwas bezeichnet. „Der bloBe Appell Individuum zu sein und dementsprechend eigene Identitat zu behaupten, stoBt dagegen ins Leere, weil die Person Differenz braucht, um zu wissen, welche Information sie mit Hilfe ihrer Identitat gewinnen kann. Sie kann nicht Identitat sein, bevor sie Differenz ist." (Ebd.: 242) Kurz: Ahnlich wie Habermas 82
verwendet Luhmann den Begriff Individualitat im eigentlichen Sinne erst in Bezug auf Sozialitat und das meint: als (soziale) Zuschreibung von Einstellungs- und Verhaltensmustem, die erst innerhalb der Sozialitat wirksam werden, weil sie nur dort einen Unterschied machen, das heiCt eine Differenz bezeichnen. In diesem Sinne kann Luhmann auf die soziologische These rekurrieren, dass in der Modeme Individualitat nicht mehr tiber die Inklusion in ein spezifisches Teilsystem defmiert wird, sondem durch Exklusion.** Der Einzelne gilt nicht als Teil, sondern als Umwelt der Gesellschaft und ist grundsatzlich an mehreren Funktionssystemen beteiligt. Die Rollentheorie hatte dies als Ausdifferenzierung verschiedener Rollen (Familienmitglied, Arbeitnehmer, Vereinsangehoriger, ...) beschrieben. Luhmann konstatiert also als Sozialwissenschaftler einen Wandel in der Semantik bzw. dem gesellschaftlichen Verstandnis von Individualitat. Sein Verstandnis von Individualitat ist damit ein Zweifaches. Er beobachtet einerseits soziologisch einen historischen Wandel in der Individualitatssemantik. Aus seiner epistemologischen Perspektive siedelt er andererseits das Subjekt auBerhalb der Gesellschaft an und begreift Individualitat auf dieser Ebene als gleichsam leeres Konzept, das in der Unhintergehbarkeit der autopoietischen Operationen des Systems begrundet ist. Die in der reinen Selbstreferenz liegende Tautologie wird dabei auch in diesem Fall durch Fremdreferenz durchbrochen, so dass Individualitat aus der Unbestimmtheit der Autopoiesis in die Bestimmtheit einer soziologischen Semantik iiberftihrt werden kann. Luhmann verwendet den Begriff der Karriere, der die Durchbrechung der Selbstreferenz in und durch die Zeit anzeigen soil. Fur sein Verstandnis von Sozialisation ist diese konsequente Ubernahme des Autopoiesiskonzeptes folgenreich. Wie gesagt, Luhmann ist kein genuiner Sozialisationstheoretiker, er behandelt diesen Diskurs nur am Rande. Dennoch steht er diametral zu den bisherigen Konzepten, wenn er behauptet, Sozialisation sei als Selbstsozialisation zu konzipieren (Luhmann 1987b, 1995f; Zinnecker 2000; Scherr 2004). Er positioniert sich damit gegen das Verstandnis von Fremdsozialisation, verstanden als (mehr oder weniger) passive Ubernahme von Sozialisationsinhalten durch die Sozialisanden und hat damit (posthum) eine Debatte ausgelost, die beklagt, dass durch ein solches Sozialisationsverstandnis die Wirkmachtigkeit gesellschaftlicher Strukturen, etwa in Form materieller und symbolischer Ressourcen, kategorisch aus dem Analyserahmen ausgeblendet (Bauer 2002) oder das grundlegende Programm einer Interdependenz von Subjekt und Sozialitat aufgegeben wird (Krappmann 2002). Klaus Hurrelmann spricht daher in Bezug auf die Eigenaktivitat des Sozialisanden von Selbstorganisation, siedelt diesen Begriff allerdings auf der Ebene eines gesellschaftstheoretisch diagnostizierten historischen Wandels an, der den Individuen ein hoheres MaB an Flexibilitat und eigener Gestaltung der Lebensfiihrung abverlangt und behalt so den Kontakt zur Interdependenz zwischen Subjekt und Sozialitat (Hurrelmann 2002; vgl. auch Junge 2004). Der von Luhmann vorgeschlagene Begriff der Selbstsozialisation liegt freilich tiefer. Er bezeichnet die Trennung von psychischem und sozialem System und die Selbstreferenz, die beiden Systemen eigen ist. Er ist an die Epistemologie Luhmanns zuriick geschlossen und 8 Zu dem Begriffspaar Inklusion/Exklusion vgl. Luhmann (1995e) und Gobel/Schmidt (1998).
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ruckt so in die Nahe einer anthropologischen (Wesens-)Bestimmung, die unabhangig von gesellschaftlichen Wandlungsprozessen zu berucksichtigen ist. Sartre paraphrasierend liefie sich sagen: Psychische Systeme sind aufgrund ihrer operativen Geschlossenheit zu einer Selbstsozialisation verdammt. Dies schlieBt in der Perspektive Luhmanns eine Bezugnahme auf die Gesellschaft nicht aus. „Fur die Klarung des Begriffes der Sozialisation geniigen aber die bereits eingefiihrten Begriffe der operativen SchlieBung und der strukturellen Kopplung. Damit verschiebt sich auch das Bezugsproblem der SoziaHsationstheorie. Es geht nicht mehr um die Frage, wie Gesellschaft trotz eines standigen Austausches ihres Personals kontinuieren kann. Das Problem ist vielmehr, wie operativ geschlossene psychische Systeme auf die strukturelle Kopplung mit dem Gesellschaftssystem reagieren." (Luhmann 2002b: 52) Dieser systemtheoretische Zugang zur Sozialisation erinnert unabhangig von den gewahlten Termini an das ,Modell des produktiv realitatsverarbeitenden Subjekts'. Es radikalisiert zwar gegentiber Hurrelmann die Orientierung am Individuum (bzw. am Subjekt oder psychischen System), integriert aber dennoch jene Beobachterebene, die von einem Austauschverhaltnis mit der Umwelt ausgeht. Dieses kann institutionalisiert sein, wie im Fall des Erziehungssystems, dessen Kommunikation durch die Absicht markiert ist, zu erziehen (Ebd.), oder durch vielfahige Kontakte mit anderen psychischen und sozialen Systemen. In keinem Fall jedoch, kommt es zu einer direkten Ubemahme von kommunizierten Semantiken in die autopoietischen Operationen des psychischen Systems. Dieses selektiert Anschlussoperationen auf der Grundlage seiner Selbstreferenz und gestaltet so eine eigene Sozialisationskarriere. Sozialisation ist somit kein intendierter Prozess des psychischen Systems, sondern resultiert (zwangslaufig) aus den Umweltkontakten, die das System sich selbst ermoglicht. Sozialisation ist, mit anderen Worten, ein Prozess der naturwiichsig in die Umweltkontakte implementiert ist und nicht verhindert werden kann. Diese Offenheit des Sozialisationsverstandnisses korreliert mit der Rlickbindung von Sozialisation an das sozialisierte System, also mit der Prajudikation von Sozialisation durch das jeweilige psychische (oder in einem modifiziertem Sinn auch soziale (Wilke 1998)) System. Wahrend Luhmann also nur ein sehr allgemeines Sozialisationskonzept offeriert, letztlich sich selbst darauf beschrankt, den Begriff der Autopoiesis in den Diskurs um Sozialisation zu transferieren, hat Tilmann Sutter (1999a) unter Verwendung der genetischen Epistemologie eine systemtheoretische SoziaHsationstheorie unter dem Label ,interaktionistischer Konstruktivismus' entwickelt. Wie die Titulierung bereits anzeigt, stiitzt er sich wesentlich auf die Umweltkontakte, die jedes System sich ermoglicht. Dennoch setzt er - gut konstruktivistisch - mit Piaget bei einem Subjekt an, das zunachst nicht von einer objekthaften AuBenwelt getrennt ist, sondern erst im Laufe der Ontogenese dazu kommt, sich als ein von dieser differentes Subjekt zu erleben. Dabei gilt jedoch: „Piagets Erklarungen dieser Entwicklung bewegen sich konsequent im Rahmen der These, dass die Genese der Subjektstrukturen durch die ftanktionelle Kontinuitat der Aquilibration von Assimilation und Akkommodation vorangetrieben und organisiert wird. Dabei fmdet sich immer wieder an entscheidenden Stellen der Hinweis auf den Zwang, den die gegenstandliche Welt auf den Erkenntnisprozess austibt, aber dieser Zwang muss sich nach Lage der Dinge erst Schritt fur Schritt gegen die Dominanz intern regulierter Assimilationen ausbilden." (Sutter 1999b: 59) 84
Sutter macht sich eine Lesart Piagets zu Eigen, die sowohl einen subjektintemen Verlauf der Entwicklung als auch eine Anbindung an diverse Formen von Fremdreferenz integriert. Entsprechend dem Ersteren kann er auf die systemtheoretische Annahme einer iiberschneidungsfreien Operation unterschiedlicher Systeme verweisen, die einzig uber den Modus eines der Kommunikation inharenten Verstehens eine intersubjektive Situation erzeugen kann. Intersubjektivitat ist auch hier nicht im Sinne Meads oder Habermas als kommunikativ erzielte Ubereinstimmung der Perspektiven zu verstehen, sondem als Strukturbildung im Prozess der Beobachtung. Dies bedeutet: Verstehen uberwindet nicht die Situation der doppelten Kontingenz, sondem bezieht sich ausschlieBlich auf einen storungsfreien Ablauf der Kommunikation. Die sozialwissenschaftlich relevanten Anschlussfragen sind daher nicht, wie Perspektivverschrankungen moglich sind (das sind sie in keinem Fall), sondem wie die Kommunikation trotz ihrer Differenz zu den beteiligten, selbstreferentiellen Subjekten moglich ist, wie also die Kommunikation kontinuieren kann, obwohl sie mit Subjekten rechnen muss, die eigene, von der Kommunikation unabhangige Bedeutungszuschreibungen vomehmen, die Kommunikation sich also nicht auf die Identitat der Beteiligten verlassen kann, sondem von deren Differenz ausgehen muss. Ftir Sutter stellt sich der Sozialisationsprozess somit dar als ein Prozess, der grundsatzlich iiber die Schienen der Selbstreferentialitat der psychischen und sozialen Systeme lauft, nicht jedoch in die Begrifflichkeit der Selbstsozialisation einmiindet. Er betont vielmehr den interaktionistischen Aspekt von Sozialisation, der freilich immer vor dem Hintergrund der Systemdifferenzen gedacht wird. In diesem Sinne siedelt er naher an den bisher vorgestellten Konzepten von Sozialisation. In dem Sinne einer uberschneidungsfreien Operation der Systeme bricht er allerdings mit der Tradition eines intersubjektivistischen Verstandnisses. Ahnlich wie Luhmann oszilliert er damit zwischen einem epistemologischen Konstruktivismus und einer interaktionistischen Ausrichtung der Theoriearchitektur, misst dabei aber Letzterem, vermutlich aufgrund der Orientiemng an der Sozialisationstheorie, eine groBere Bedeutung zu. Insgesamt also positioniert sich die Systemtheorie mit ihrer Terminologie von System und Umwelt jenseits der europaischen Geistestradition, die groBtenteils von der Leitdifferenz Subjekt-Objekt ausging. Es braucht hier nicht diskutiert zu werden, ob Luhmann damit tatsachlich jene Tradition hinter sich lasst oder diese nur in einem neuen Gewand aktualisiert. Die epistemologischen Probleme jedenfalls, die die klassische Subjekt-ObjektDichotomie hinterlassen hatte, und auch die diversen Problemlosungen finden sich in der Systemtheorie durchaus wieder, wenn sie aus einer hinreichenden Distanz beobachtet wird. So gelingt Luhmann zwar eine verstarkte Orientierung an dem Individuum und er verlangert so die bislang verfolgte Linie einer sukzessiven Orientierung am Individuum bis zu dem Begriff der Selbstreferenz. Auf der anderen Seite bindet er das Individuum (bzw. das psychische System), ahnlich den interaktionistischen Theorien, gleichurspriinglich in die Gesellschaft ein, um dessen Konstitution als Durchbrechung der Tautologie von Selbstreferenz plausibel zu machen (siehe dazu Kap. 8.3.). Bei diesen theoriestrategischen Entscheidungen wird indessen nicht immer deutlich, wie Luhmann sich eine Vermittlung dieser beiden Annahmen denkt. Auf eigentiimliche Weise behandelt er in seinen Publikationen zumeist die Autopoiesis der Systeme oder die strukturellen Kopplungen und gegenseitigen Beobachtungen. Er betont dabei zwar immer wieder, 85
dass letztere mit der Autopoiesis kompatibel sein mussen, verzichtet aber darauf, das Verhaltnis zwischen struktureller Kopplung und Autopoiesis genauer zu erklaren. Wird Luhmann in den Kontext der Sozialisationstheorie gesetzt, konnte er (gegen seine erklarte Selbstbeobachtung) daher durchaus als Equivalent mit Autoren wie Piaget, Bronfenbrenner oder Hurrelmann angeeignet werden. Allen diesen Autoren gemeinsam war bereits, dass sie eine Eigenaktivitat des Subjektes bei gleichzeitiger Gesellschaftsbezogenheit proklamieren. Luhmann intensiviert dann nur die Beschreibung dieser Eigenaktivitat durch Begriffe wie Autopoiesis und Selbstreferenz. Seine Dementierung des klassischen Subjektes der Bewusstseinsphilosophie und dessen Reformulierung als psychisches System, die die genannten Autoren nicht vollzogen haben, vermag iiber diese Aquivalenz nicht hinweg zu tauschen. Diese Einordnung der Systemtheorie Luhmannscher Provenienz wird selbstredend nur plausibel vor dem Hintergrund der Konfrontation mit der Sozialisationstheorie, wie sie hier aufgearbeitet worden ist, und verkennt nicht die Differenzen zu dieser, wenn die Beobachtungsentfemung verkiirzt wird. So ist die von Luhmann konzipierte Begrifflichkeit der Selbstsozialisation sicherlich eine innovative Fassung des Sozialisationsgeschehens (wie auch seine systemtheoretisch inspirierte Gesellschaftstheorie sich deutlich von konkurrierenden Ansatzen abhebt). Aufgrund des nicht geklarten Verhaltnisses von Selbst- und Fremdreferenz ist diese Begrifflichkeit jedoch keine notwendige Ableitung aus der Systemtheorie. Dies nolens volens gezeigt zu haben, ist der Verdienst von Tilmann Sutter, der gegeniiber Luhmann eher die Seite der Fremdreferenz stark macht und so keineswegs zu dem Terminus Selbstsozialisation gelangt. In jedem Fall bleibt Sozialisation aber genau das, was Hurrelmann etc. bereits vermutet batten: Ein Prozess, der nicht in einer Ubertragung von Werten und Wissen miindet, sondem der Selektionsleistung eines eigensinnig operierenden Subjektes aufsitzt.
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3. Kritik der sozialisierten Vernunft
Die Vergegenwartigung einschlagiger Sozialisationskonzepte sollte den Terminus der „sozialisierten Vernunft" inhaltlich spezifizieren. Wenngleich keine VoUstandigkeit erreicht wurde, konnen nunmehr die drei Eingangs erwahnten Aspekte, die die Spezifizierung anleiten sollten, zusammenfassend beantwortet werden. Zum einen sollte eruiert werden, welche Fragestellungen der Sozialisationsdiskurs verfolgt. Diese sollten zum anderen anhand einer zunehmenden Orientierung am Individuum aufgearbeitet werden. SchlieBlich sollte das theoretisch-methodische Selbstverstandnis des Sozialisationsdiskurses thematisiert werden. An diesem letzten Punkt wird sich die ,Kritik der sozialisierten Vemunft' und damit der weitere Argumentationsgang entziinden. Fragestellungen des Sozialisationsdiskurses Der Sozialisationsdiskurs thematisiert, generalisiert ausgedriickt, die Personlichkeitsentwicklung von Individuen innerhalb solcher Gesellschaften, die die Moglichkeit fiir diversifizierte Lebensplanungen bereitstellen. Dies wird bereits bei Durkheim in einer politischen Art und Weise besonders deutlich. Seine Beschaftigung mit der Erziehungssoziologie (gelesen als rudimentare Sozialisationstheorie) versucht Antworten zu fmden auf den gesamtgesellschaftlichen Zustand einer durch Arbeitsteilung pluralisierten Gesellschaft, die nicht langer durch eine kulturelle Homogenitat integriert wird. Mit der Modeme, so der Gesellschaftstheoretiker Durkheim, brechen die ordnungsstiftenden Weltbilder traditioneller Gesellschaften als Bezugsrahmen fur eine normative Stabilitat der Gesellschaft weg und verfluchtigen sich in diverse Ethiken und Moralien, die nicht langer in der Form kompatibel sind, dass der Einzelne bereit ist, sich sedimentierten Strukturen einzuordnen. Die politische Philosophic seit Locke hatte dies positiv in der Form einer unkontrollierten Offentlichkeit und der Metapher des couragierten Biirgertums begruBt. Hegel hatte darauf mit der Vision eines Weltgeistes geantwortet, der in Form einer durch den (preufiischen) Staat begriindeten konkreten Sittlichkeit eine neue Ordnung verburgen sollte, die den durch die Ausdifferenzierung eines autarken Marktes veranderten Umstanden angemessenen war. Die beginnende Soziologie reagiert auf die Freisetzung gesellschaftlicher Strukturen, indem sie fragt, wie eine Entwicklung des Einzelnen jenseits prajudizierter Lebensentwiirfe dennoch so verstanden werden kann, dass die Ergebnisse der jeweiligen Entwicklungsverlaufe nicht in einem chaotischen Durcheinander separierter Gesellschaftsvorstellungen und Selbstverstandnisse miinden. Der Sozialisationsdiskurs erhalt so die Aufgabe, jene Integrationsliicke zu fiillen, die der modemisierungstheoretische Diskurs diagnostiziert hatte. Fiir Durkheim (und spater auch fur Parsons) ist es dabei eine ausgemachte Sache, dass der Prozess der Individualgenese mit Hinblick auf die Belange der Gesellschaft kontrolliert und gesteuert werden muss. Das Ergebnis der Individualgenese sollte trotz der konstatierten Individuali-
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sierung in einer Subordination des Einzelnen und einer Intemalisierung des gesellschaftlich Notwendigen bestehen bleiben. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts verschieben sich dann freilich die gesellschaftstheoretischen und gesellschaftspolitischen Koordinaten. Nicht nur blieb eine vollige Zerrlittung gesellschaftlicher Strukturen aus. Die Gesellschaften reorganisierten diese vor dem Hintergrund der neu entstandenen okonomischen und sozialen Verhaltnisse und begannen, sich mit dem in den Kommunikationsprozessen eingelagertem Dissensrisiko abzufinden. Sie reagierten darauf mit der Einrichtung einer liberal-demokratischen Verfahrensgerechtigkeit, die als formale Struktur einen neuen Ordnungsrahmen ermoglichte. Im Diskurs der SoziaHsationstheorie wandelten entsprechend die zentralen Fragestellungen, die nunmehr auf die Durchsetzung demokratischer Verhaltnisse abzielten: Wie miissen Soziahsationsprozesse gestaltet sein, damit die Metapher des aufrechten Burgers in die Realitat ubersetzt werden kann? Welche Bedingungen mussen erfullt sein, um das Postulat einer starken Ich-Identitat einholen zu konnen? Kurz: Wie mussen Soziahsationsprozesse konstituiert sein, damit jene (politischen) Personlichkeiten rekrutiert werden konnen, denen unter liberal-demokratischen Bedingungen die Last der offentlichen Auseinandersetzung und damit der Gewahrleistung einer friedlichen Ordnung unter pluralisierten Voraussetzungen zugefallen war. Es war insbesondere Jurgen Habermas, der diese Fragestellungen unter der Pramisse einer kritischen Gesellschaftstheorie auf die Agenda des Sozialisationsdiskurses setzte. Auch er halt an der Verstrickung sozialisationstheoretischer mit gesellschaftstheoretischen und politisch-philosophischen tJberlegungen fest. Gegentiber Durkheim dreht er aber die Ausrichtung der Sozialisationstheorie um. Nicht mehr die Integrationsproblematik moderner Gesellschaften interessiert ihn, sondem im Gegenteil die Frage, wie sich die Individuen von einem zuviel an gesellschaftlicher Dominanz und Heteronomie reflexiv emanzipieren konnen, um tatsachlich als couragierte Personlichkeiten einerseits innerhalb einer kritischen Offentlichkeit zu agieren, und andererseits dabei den Ordnungsrahmen einer liberalen Verfahrensgerechtigkeit nicht preiszugeben. In den Vordergrund des Sozialisationsdiskurses tritt damit die Personlichkeitsentwicklung als Kompetenzentwicklung. Wenngleich diese bei Habermas expressis verbis auf eine kommunikative Kompetenz ausgerichtet ist, kann dies umstandslos als Entwicklung jener Kompetenzen gelesen werden, die fur eine demokratische Praxis notwendig (nicht aber hinreichend) sind (Beer 2002a). Mit der schichtenspezifischen Sozialisationsforschung gerat die Dimension sozialer und kultureller Ungleichheiten in den Blick, die trotz der juristischen Gleichstellungsbemuhungen als entscheidende GroBe fur unterschiedliche Kompetenzentwicklungen verantwortlich gemacht werden. Die Thematisierung der Sozialisation erhalt dadurch keinen generellen Perspektivenwandel, bleibt allerdings explizit auf politische und soziale Themen eingesteUt. Der Sozialisationsforschung wird die Aufgabe zugeschrieben, eine spezifische gesellschaftstheoretische Lucke zu ftillen: Die iterative Reproduktion sozialer Benachteiligung, die aus gesellschaftstheoretischer Sicht eigentlich nicht langer hatte vorkommen dlirfen. Zweifelsfrei erreicht die schichtenspezifische Sozialisationsforschung dabei in einem gewissen Sinne eine Tiefenfundierung des Sozialisationsdiskurses. Sie macht auf die Wirksamkeit sozialer Verhaltnisse jenseits staatlicher Institutionen aufmerksam, indem sie zu zeigen versucht, dass bereits in den ersten Lebensjahren, also innerhalb der Herkunftsfamilie, bedeutsame Weichen gestellt werden, die iiber die weitere (Berufs-)Karriere des Sozia-
lisanden mitentscheiden konnen. Indem sie diesen Zusammenhang in die begriffliche Form eines Sozialcharakters bringt, entdeckt sie, dass eine alleinige Betrachtung von Kompetenzen oder Einstellungsmustem keineswegs hinreicht, um die komplexen Verhaltnisse zwischen Sozialisationsagenturen und Sozialisanden aufzuklaren. Vielmehr, so die schichtenspezifische Sozialisationsforschung, mussen solche Verhaltensstrukturen berucksichtigt werden, die als Motivation, (interne vs. externe) Kontrolliiberzeugung, Ich-Gefiihl etc. Einfluss nehmen auf die fiir die Kompetenzentwicklung relevante Lembereitschaft. Kurz: Nicht das alleinige Vermitteln von Lerninhalten ist aussagekraftig in Bezug auf die Genese auch jener von der Demokratie abverlangten Kompetenzen. Dieses ist eingebettet in ein und abhangig von einem Sammelsurium von psychischen Dispositionen, deren Genese wiederum in Korrelation zu den sozio-okonomischen Variabeln der Herkunftsfamilie steht. (Bildungs-)Politisch bedeutet dies, dass eine Verbesserung der Bildungschancen durch das Nachrtisten der Institutionen nicht problemlos zu haben ist. Die Verhaltnisse um die Institutionen herum bediirfen einer Veranderung, so dass die (strukturellen) Missverhaltnisse zwischen (depravierten) Schiilem und der Schule aufgehoben werden konnen. Dieses Erreichen einer Tiefenfundierung des Sozialisationsdiskurses bezahlt die schichtenspezifische Sozialisationsforschung allerdings mit dem Preis einer gleichzeitigen Engfiihrung des Sozialisationsverstandnisses. Sie reduziert den Prozess der Individualgenese in objektivistischer Manier auf einen Kausalzusammenhang, der weder theoretisch noch empirisch plausibilisierbar gemacht werden kann. Was als Hinweis der schichtenspezifischen Sozialisationsforschung allenfalls Bestand haben kann, ist das Insistieren auf die Berticksichtigung sozialer Verhaltnisse einerseits und die Bezugnahme auf psychologisch tiefer liegende Dispositionen andererseits, wenngleich die schichtenspezifische Sozialisationsforschung Letzteres nicht in iiberzeugender Weise geleistet hatte. Zeitgleich mit der schichtenspezifischen Sozialisationsforschung tritt in den meisten europaischen Landem die Frauenbewegung auf, und sie fordert ein Nachholen der Gleichberechtigung auch beziiglich der Geschlechter. Sozialisationstheoretisch begleitet wird dieses Entstehen einer neuen sozialen Bewegung durch das Aufkommen von Fragestellungen, die zum einen deskriptiv die unterschiedlichen Sozialisationsverlaufe von Jungen und Madchen festhalten und zum anderen diese Deskription unter die normative Perspektive einer strukturellen und informellen Benachteiligung von Frauen in diversen gesellschaftlichen Feldem bringen. Interessant wird dabei der Nachweis, dass, ahnlich wie die sozialen Schichten, auch den Geschlechtern nicht erst in den sichtbaren gesellschaftlichen Strukturen spezifische Rollen und Chancen zugeschrieben werden. Auch eine geschlechtsspezifische Sozialisation setzt bereits in den ersten Lebensjahren an, und dies selbst dann, wenn die Erziehungsberechtigten eine geschlechtsneutrale Erziehung intendieren. Freilich steuem sowohl gesellschaftliche Institutionen wie die Schule oder die Medien ihren Teil zur Sedimentierung geschlechtsspezifischer Rollen bei. Dennoch gilt: Auch die geschlechtsspezifische Sozialisationsforschung macht darauf aufmerksam, dass Sozialisation mehr ist, als das bloBe Vermitteln und Ubernehmen von Kulturgiitern. Und es gilt auch: Die geschlechtsspezifische Sozialisationsforschung ist wie die Sozialisationstheorien eines Durkheim oder Habermas eine Antwort auf gesellschaftstheoretische und gesellschaftspolitische Problemlagen. Innerhalb liberal-demokratischer Gesellschaft ist eine Ungleichbehandlung der Geschlechter ein nicht zu akzeptierendes Faktum (Rossler 2001), so dass die Frage beantwor89
tet werden muss, wieso trotz gesetzlicher Versuche, die strukturelle Ungleichbehandlung zu uberwinden, dennoch die informellen Rollenzuschreibungen derart perseverieren. Es zeigt sich somit, dass der Sozialisationsdiskurs nicht unabhangig von normativen und gesellschaftstheoretischen Fragestellungen operiert. Dies bedeutet im Unkehrschluss freilich nicht, dass der Sozialisationsdiskurs als funktionales Aquivalent zu betrachten ware. Er hat genuin eigene Problemstellungen und cine eigene Ideengeschichte, Dennoch siedeln zentrale Aspekte des Soziahsationsdiskurses im Umfeld von Uberlegungen, die aus der Gesellschaftstheorie und der praktischen Philosophic resultieren. So diirfte der Fokus auf die wichtigsten Sozialisationsagenturen (Familie, Schule, Peer-Group und Medien) dem Umstand geschuldet sein, dass in modernen (europaischen) Landem, diese Instanzen tatsachlich die Individualgenese in Form von Kommunikationsangeboten flankieren. So diirfte die Ausrichtung auf wichtige Sozialisationsinhalte (Moral, Politik, Geschlecht) dem Umstand geschuldet sein, dass in modernen (europaischen) Landem diese zu den zentralen Kulturformen, die zudem nicht langer durch tradierte Inhalte vorstrukturiert sind, avancierten. Sie werden zu einem Thema ftir die Sozialisationsforschung gerade deswegen, weil sich zum einen politische Bewegungen um diese Kulturguter bemiihen und dabei politische Veranderungen anstoBen und zum anderen, weil die Ergebnisse der Moralentwicklung und der politischen und geschlechtlichen Sozialisation sich nicht mehr prajudizieren lassen. Wird der Sozialisationsdiskurs ordnungspolitisch gelesen, leistet er einen Beitrag dazu, Bedingungen zu formulieren, diesen Umstand nicht in einer derartigen Pluralisierung enden zu lassen, dass eine Gesellschaftsintegration nicht mehr moglich scheint. Wird der Sozialisationsdiskurs aus der Perspektive einer kritischen Gesellschaftstheorie gelesen, leistet er einen Beitrag dazu, die konstitutiven Bedingungen gerade fur pluralisierte Lebensverlaufe und -entwiirfe zu sichem. Fiir den Terminus einer „sozialisierten Vernunft" folgt daraus, dass dieser zunachst notwendig leer bleiben muss. Er bezeichnet einzig die Tautologie, dass Individuen sich im Laufe ihrer Entwicklung entwickeln. Inhaltlich geftillt wird dieser Terminus erst durch spezifische Forschungsinteressen, die dann etwa die moralische Entwicklung problematisieren, die Individualgenese in den Kontext sozialer, geschlechtlicher oder auch ethnischer Benachteiligung stellen oder die Entwicklung von Kompetenzen (jeglicher Art) untersuchen. Jedoch nicht nur die Forscherinteressen spielen bei der inhaltlichen Ausgestaltung des Terminus der „sozialisierten Vernunft" eine Rolle, sondem auch die Werthaltungen des Forschers, die sich etwa in der demokratischen Personlichkeit als Sozialisationstelos (Habermas) sedimentieren, so dass der Sozialisationstheorie und -forschung eine normative Ausrichtung inharent ist (vgl. dazu Beer 2004c). Wie im dritten Teil noch ausfiihrlicher und theoretisch begriindet auszuftihren sein wird, spent sich die erkenntniskritische Sozialisationstheorie keineswegs gegen eine solche normative Ausrichtung. Sie ist allerdings selbst nicht in einem starken Sinne normativ ausgerichtet, sondern konstatiert aus theoretischen Griinden eine (notwendige) Verkniipfung mit normativen Fragestellungen und verweist die Sozialisationstheorie daher darauf, diese auszuweisen und das heiBt, die Sozialisationstheorie explizit auf normative Diskurse zu beziehen - vor allem dann, wenn normative Fragestellungen verfolgt werden. Eine Fronstellung nimmt der Terminus der „sozialisierten Vernunft" gegen einen kantianischen Apriorismus ein, indem er die generelle These der Sozialisationstheorie, dass Ver90
nunftinhalte sich erst entwickeln miissen, in Stellung bringt. Als a priori gilt bestenfalls, dass uberhaupt eine Entwicklung stattfindet, wobei diese zu einem zu erklarenden Moment wird. Der Sozialisationsdiskurs hat dafiir spezifische theoretisch-methodische Zugange entwickelt, die weiter unten zusammengefasst und kritisiert werden. Zunachst jedoch muss nicht zuletzt zur Vorbereitung dieser Kritik die Geschichte des Sozialisationsdiskurses unter dem Blickwinkel einer zunehmenden Orientierung am Individuum nochmals kurz gestreift werden. Orientierung am Individuum Auch eine Rekonstruktion der Geschichte des Sozialisationsdiskurses unter der Perspektive einer zunehmenden Orientierung am Individuum kommt um eine Verzahnung mit gesellschaftstheoretischen und gesellschaftspolitischen Uberlegungen nicht herum und auch sie beginnt notwendig mit Emile Durkheim, der zweifelsfrei eine Antipode zum modernen Individualismus darstellt. Zwar weiB der aufgeklarte Gesellschaftstheoretiker Durkheim um die steigende Bedeutung des Individuums in modernen Gesellschaften. Er weiB, dass unter den Bedingungen einer marktformigen Organisation der Gesellschaft der Prozess der Individualisierung notwendig in Kauf genommen werden muss. Als Mitbegriinder des Positivismus wertet er diesen Prozess jedoch nicht als Fortschritt der Vemunft oder als sukzessive Emanzipation, sondern als eine soziale Tatsache, die empirisch konstatiert werden muss, ohne damit normative Spekulationen zu verbinden. Als Erziehungssoziologe begegnet er dieser sozialen Tatsache entsprechend mit einer politischen Skepsis, die vor dem Hintergrund der Integrationsformen traditioneller Gesellschaften als Quelle fur ein standiges Irritieren gesellschaftlicher Integration gesehen wird. Das ungeziigelte Individuum, so ein zugespitzt gelesener Durkheim, tragt in sich den Keim einer Auflosung gemeinschaftlicher Beziige und droht so den moralischen und ethischen Kredit, den die traditionellen Gesellschaften hinterlassen hatten, aufzuzehren. Der Prozess der Personlichkeitsentwicklung fallt daher wohl nicht zufallig ftir Durkheim mit der Schulerziehung zusammen. Ein umfassender Sozialisationsbegriff, der die Einfliisse unkontrollierter Institutionen wie der Familie oder den Peer-Groups angemessen berucksichtigt, hatte die Individualgenese unter die Obhut genau jener pluralisierten Krafte gestellt, die der Gesellschaftstheoretiker Durkheim so argwohnisch betrachtet hatte. Sein normatives Telos, an die Formen traditioneller Integrationsformen unter veranderten Bedingungen anzukniipfen, schien ihm nur realisierbar, wenn die Entwicklung des Individuums so gesteuert wird, dass das Ergebnis zwar einerseits jene Personlichkeiten hervorbringt, die die notwendigen Weiterentwicklungen der Gesellschaft anschieben konnen, andererseits aber der Einzelne die geltenden (informellen und formellen) Regeln intemalisiert und auf rebellische Dispositionen aus freier Einsicht verzichtet. Demokratietheoretisch ist dies die Position, die zwar freie Wahlen und MeinungsauBerung zulasst, Abweichungen von einem vorgegebenen Rahmen jedoch sanktioniert. Korreliert wird diese subalteme Stellung des Individuums bei Durkheim mit dem wiederholten theoretischen Hinweis darauf, dass der Einzelne ein Mensch oder Kulturwesen erst innerhalb sozialer Gruppen wird. Nun kann unschwer geleugnet werden, dass Individualitat ein Begriff ist, der, wie Luhmann richtig anmerkt, tatsachlich erst auf der Ebene des 91
Sozialen Bedeutung gewinnen kann. Er bezeichnet die Andersartigkeit je subjektiver Lebensstile und -entwiirfe und resultiert aus der relationalen Differenz zu Anderen. Kurz: Individualitat ist ein sozialer, mithin politischer Begriff. Dennoch suggeriert Durkheim mehr, als den bloBen Verweis auf diesen basalen Umstand. Sein vehementes Argumentieren gegen die Tradition der Vemunftphilosophie legt es nahe, in seiner anthropologischen Grundlegung eine Logik zu entdecken, jegliche Form menschlichen Lebens jenseits sozialer Verhaltnisse unter den Verdacht eines bewusstlosen Seins zu stellen.^ Dies bedeutet politisch nicht, dass Durkheim den Wert des Privaten nicht anerkannt hatte. Dies bedeutet jedoch theoriestrategisch, das Subjekt a priori auf die sozialen Verhaltnisse zu verpflichten, um ihm tiberhaupt den Begriff des Subjektiven zuschreiben zu konnen. Wie sich bei der Besprechung des theoretisch-methodischen Selbstverstandnisses des Sozialisationsdiskurses noch zeigen wird, ist es dann vor allem George Herbert Mead, der diese Theoriestrategie auch methodisch umsetzen wird. Durkheim selbst argumentierte noch aus der Position der Bewusstseinsphilosophie heraus, legte diese aber bereits so aus, dass sie fiir die beginnende iSoz/a/wissenschaft fruchtbar gemacht werden konnte und das hieB, dem Sozialen eine bedeutende Stellung einzuraumen. Insofern ist seine subjekttheoretische Akzentsetzung auch aus der wissenschaftspolitischen Attitude abzuleiten, eine eigenstandige Wissenschaft des Sozialen anzustreben und sich dabei von der dominierenden Psychologic, als Vertreterin einer Wissenschaft gerade des Individuellen bzw. Subjektiven, abzusetzen. Trotz dieser erklarenden Relativierung der Position Durkheims reiht er sich ideengeschichtlich in die Denkfigur einer eher anti-individualistischen Haltung ein. So wie jedoch sein generelles erziehungssoziologisches Programm durch die gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Veranderungen aufgeweicht worden war, blieb auch seine Position zum Individuum keineswegs unberiihrt. Bereits George Herbert Mead, der das grundsatzliche Verstandnis eines Individuums als sozial vermitteltes teilt, denkt unter der politischen Hinwendung zu dem Konzept einer radialen Demokratie und stellt das Individuum auf die gleiche Augenhohe mit der Gesellschaft. Sein methodisches Vorgehen, die Handlungsebene als Prozess einer reziproken Verstandigung zu begreifen, stellt von vornherein die Weichen gegen eine Subordinationsstrategie. Indem Mead Verstandigungsprozesse zum zentralen Moment seines symbolischen Interaktionismus wahlt, rechnet er mit potentiell gleichen Handlungspartnern, deren Hierarchisierung allenfalls das Ergebnis von (gewaltsamen) Verhandlungen sein kann. Er bringt so ein Verstandnis des Individuellen ins Rollen, das flir die Demokratien der Nachkriegszeit zum konstitutiven Merkmal wird. Genau dies erkannt hatte Jiirgen Habermas, der die Demokratie als eine kommunikative Praxis liest und aus dieser die Notwendigkeit einer starken Ich-Identitat ableitet. Bei Habermas wird Sozialisation in einem starken normativen Sinne zur PersonlichkeitSQntwicklung. Das Ich des Politischen gilt ihm als hervorstechendes Merkmal einer Gesellschaft, die unkontrollierte Diskussionsprozesse nicht nur formal zulasst, sondem dieser bedarf, um ein hypertrophes Wachstum der Funktionssysteme zu verhindem. Eine gelungene Sozialisation in Form einer Ich-Identitat ist ihm damit zwar mehr als nur die Erflillung des Postulats auf individuelle Freiheiten. Es ist ein gesellschaftspolitisches Aquivalent flir die kritische Intention einer Steuerung der Gesellschaft durch die Gesellschaft, und eben nicht durch unge9 Menschliches Leben jenseits sozialer Verhaltnisse ist hierbei selbstverstandlich nur ein Gedankenexperiment.
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hinderte Marktmechanismen. Dennoch gilt: Habermas, und dies mag auch seiner Rolle als politischer Intellektueller verschuldet sein, schreibt den modemen Gesellschaften und der Sozialisationstheorie einen Individuumsbegriff ins Stammbuch, wie er durch Autoren wie Mill (1859/1987) philosophisch bereits ausgearbeitet worden war. Demokratietheoretisch bezieht er damit die Position, die grundsatzlich eine Ergebnisoffenheit der politischen Meinungs- und Willensbildung einklagt. Die schichtenspezifische Sozialisationsforschung nimmt demgegeniiber eine ambivalente Rolle ein. Sie macht es sich zur Aufgabe, die philosophischen Konnotationen des Individuumsbegriffes sozialwissenschaftlich zu desillusionieren. Indem etwa Bernstein nachzeichnet, dass in depravierten Schichten eine Sprache gesprochen wird, die die Problematisierung des je Individuellen gar nicht zulasst, entlarvt er das normative Konzept der Individualisierung als ein auf spezifische soziale Schichten beschranktes. Damit kann die schichtenspezifische Sozialisationsforschung zwar eine politische Nachholarbeit einklagen, so dass Individualisierung alien Schichten moglich wird. Indem sie allerdings ihre Forschungsdesigns so anlegt, dass das Individuum als passiver Rezipient gesellschaftlicher Strukturen erscheint, bleibt unklar, in welcher Form sie sich Individualitat denken mochte. Die von Habermas antizipierte Reflexivitat auch auf die eigene Biographic oder sogar das philosophische Ideal des Individualismus scheint ihr durch ihren objektivistischen und deterministischen Zugriff als Bestimmungsmoglichkeit versperrt. Dieses Bild korrigiert hat Klaus Hurrelmann mit seiner Formel des ,produktiv realitatsverarbeitenden Subjekts'. Er fundiert damit nicht nur die Sozialisationstheorie, er gibt ihr eine starke Wendung, wenn er mit seiner Formel einfordert, individuelle Formen der Aneignung von gesellschaftlichen Strukturen in Rechnung zu stellen. Es formuliert auf diese Weise zwar kein politisches Konzept von Individualitat, wie dies Habermas gemacht hatte. Er formuliert jedoch auf einer theoretischen Ebene ein Subjektverstandnis, dass sich diametral zu dem Subjektverstandnis Durkheims positioniert. Wenn aber bereits auf der theoretischen Ebene ein Subjektbegriff platziert wird, der nicht durch die Subordination unter die Gemeinschaft gekennzeichnet ist, sondem durch eine eigenstandige Selbstorganisation, liegt es nahe, die politische Strategic einer Ziigelung individueller MeinungsauBerungen zugunsten eines demokratischen Individualismus zu iiberwinden. In diesem Sinne reiht sich Hurrelmann ein in die Reihe von Sozialisationstheoretikem, die sich zunehmend am Individuum orientieren. Ahnliches gilt fiir Piaget, dessen Subjektverstandnis dem Modell des ,produktiv realitatsverarbeitenden Subjekts' entspricht und der seinerseits damit vomehmlich die Ebene des Theoretischen trifft, die im Anschluss daran jedoch in einen politischen Individualismus transkribiert werden kann. Radikalisiert wird die Orientierung am Individuum schlieBlich in der Systemtheorie. Diese ubersteigert das Modell der Real itats verarbeitung, indem sie nicht langer von einer stabilen AuBenwelt, die verarbeitet werden konnte, ausgeht, diese vielmehr in den systeminternen Operationen als Konstrukt lokalisiert. Indem Luhmann die konstruktivistischen Impulse der Neurowissenschaften aufnimmt, formuliert auch er auf einer zunachst rein theoretischen Ebene einen Individualismusbegriff, der sich bereits durch den Umstand je individueller Weltkonstruktionen auszeichnet. Gegeniiber Hurrelmann legt er seinen Individualismusbegriff eine Stufe tiefer an, wenn nicht mehr die Subjekt-Objekt- (bei Hurrelmann: Subjekt-Sozialitat-) Dichotomic als Ausgangspunkt operationalisiert wird, sondern letztlich 93
die Selbstreferenz bzw. Autopoiesis der Systeme, Allerdings sagt diese Theorieentscheidung auch bei Luhmann zunachst nichts uber die Ebene des Politischen oder Sozialen aus. Auch Luhmann weiB selbstverstandlich, dass Individualitat im engeren Sinne sich erst durch die Differenz zu einem Anderen entfalten kann. Da Luhmann aber den Differenzgedanken zentral in seine Systemtheorie einbaut, legt auch er ein Modell nahe, das sich gegen ein politisch verstandenes Individualismuskonzept nicht nur nicht spent, sondem ein solches notwendig nach sich zieht. Es zeigt sich, dass innerhalb des Sozialisationsdiskurses die Orientierung am Individuum sukzessive zunimmt (vgl. dazu Veith 2001, 2004). Sie lost sich aus der positivistischen Umklammerung bei Durkheim und miindet in einem Individualitatskonzept, das sich wesentlich iiber die Demokratie speist, Theoretisch begleitet wird diese politische Orientierung durch eine Veranderung der Subjekttheorie von einem subaltemen Individuum, das erst durch eine soziale Anbindung zu einem solchen wird, bis zu einem selbstreferentiellen Individuum, das immer schon Individuum ist, weil sein Zugriff auf die Welt von vomherein gegeniiber anderen differiert. Werden Durkheim und Luhmann in dieser Weise gegeneinander gesteUt, so unterscheiden sie sich zwar nicht durch die Einsicht, dass Individualitat erst innerhalb des Sozialen etwas Unterscheidbares bezeichnet. Wahrend Durkheim daraus eine starke Subjekttheorie ableitet, konstatiert Luhmann diesen Umstand, orientiert sich dann allerdings an den (nicht hintergehbaren) autopoietischen Operationen des Individuums als Referenz flir die Theoriebildung. Um im Weiteren Missverstandnisse zu vermeiden, muss eine begriffliche Klarung vorgenommen werden. Bisher wurden die Begriffe Subjekt und Individuum nebeneinander benutzt. Im Folgenden soil mit dem Begriff Individuum in Ubereinstimmung mit Autoren wie Habermas oder Luhmann einzig der politische Ausdruck eines Subjekts gemeint sein. Er bezieht sich auf die Ebene der Sozialitat und beschreibt spezifische Einstellungsmuster, die um die Tradition des aus der praktischen Philosophic entnommen Individualismus kreisen. Der Begriff Individuum soil als eine sozialwissenschaftlich beobachtbare Form der Lebensund Gemeinschaftsgestaltung verstanden werden und ist daher notwendig auf intersubjektive bzw. soziale Beziige angewiesen. In den Worten von Norbert Elias (1991: 246): „Man konnte sich nicht als Individuum von anderen Menschen unterscheiden, wenn es keine anderen Menschen gabe." Der Begriff Subjekt nimmt demgegentiber die Stellung eines Begriffes der theoretischen Philosophic ein (vgl. dazu Schnadelbach 2004). Er problematisiert die erkenntnistheoretischen und nicht-hintergehbaren Voraussetzungen fur die Konstitution eines Individuums und liegt damit logisch vor diesem. Das Subjekt ist damit entgegen dem Individuum als Begriff nicht auf soziale Beziige angewiesen. Wie dieser Begriff genauer bestimmt werden kann, wird die Aufgabe des 2. Teils sein. In Bezug auf die aufgearbeitete zunehmende Orientierung am Individuum bedeutet diese Begriffsdifferenzierung, dass die politisch motivierte Orientierung am Individuum zunimmt und sich diese vor allem darin auBert, dass auf eine Subordination des Individuums unter gesellschaftliche Normen verzichtet wird. Es nimmt aber auch die Orientierung am Subjekt zu, die durch Begriffe wie Selbstorganisation, Eigenaktivitat, produktive Realitatsverarbeitung und schlieBlich Autopoiesis bzw. Selbstsozialisation markiert wird.
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Theoretisch-methodisches Selbstverstandnis des Sozialisationsdiskurses Emile Durkheim arbeitete zu einer Zeit, in der die Soziologie als eigenstandige Wissenschaft erst etabliert werden musste. Er griff daher wiederholt die innerhalb der Geisteswissenschaften dominierende Psychologie frontal an und diskreditierte deren methodologische Ausrichtung auf das Individuum. Uber sein gesamtes Werk verstreut finden sich Versuche, zu demonstrieren, dass dem Sozialen eine Vorrangstellung einzuraumen sei und auch die Phanomene des Individuellen durch diese zu erklaren sind. Er lehnt sich dabei an die Erfolgsgeschichte der Naturwissenschaften an und entwickelt ein objektivistisches Programm, das im Begriff des „fait social" seinen Niederschlag fmdet. Soziale Phanomene konnten so als Forschungsgegenstande einer empirischen Forschung etabliert werden. Die Objektivitat sozialwissenschaftlicher Erkenntnis, die Max Weber auf verschlungenen Pfaden zu begriinden sich angestrengt hatte, war bei Durkheim damit a priori ausgewiesen. Wenn soziale Phanomene einen objektiven Status haben, reproduziert ihre wissenschaftliche Beobachtung notwendig auch deren objektiven Gehalt; sie ist objektive Beobachtung objektiver Sachverhalte. Wie gesehen folgen aus dieser Herleitung wissenschaftlicher Objektivitat spezifische Konsequenzen. Durkheim muss die Gesellschaft als eine eigenstandige und objektive Emergenz begreifen und kann dem Individuum dann nur noch eine subalteme Rolle zuschreiben, die zudem ihre Existenz der Gesellschaft uberhaupt erst verdankt. Er kann dann den Sozialisationsprozess entsprechend nur noch als erzieherische Form der Vermittlung gesellschaftlichen Wissens und gesellschaftlicher Werte konzipieren. Kurz: Durkheim denkt in einem radikalen Sinne aus der Perspektive einer objektiven Beobachterposition, wobei diese Perspektive sowohl methodologisches als auch gesellschaftstheoretisches Programm ist. Nun mag Durkheim zugute gehalten werden, dass die Etablierung einer neuen Wissenschaft des Sozialen derart radikal verfahren musste, um Gehor und Anerkennung zu finden. Von dieser Warte aus betrachtet, leistet Durkheim sicherlich einen entscheidenden Beitrag, das Soziale uberhaupt als Forschungsgegenstand einzufuhren. Dennoch zeigt sich bereits mit George Herbert Mead, dass eine Thematisierung des Sozialen keineswegs mit einem einseitigen Objektivismus erkauft werden muss. Mead macht es sich zwar nicht zur Aufgabe, eine neue Wissenschaft durchzusetzen - er verbleibt innerhalb der (Sozial-)Psychologie. Dennoch gelingt es ihm, eine Perspektive auf das Soziale zu entwickeln, die um einen starken Objektivismus herum kommt. Von der Psychologie und deren Zentrierung des Individuums grenzt er sich dabei insofem nicht ab, als er dieses nicht als Residualkategorie begreift, sondem als mitverantwortlich fur die Ausdifferenzierung des Sozialen. Freilich ist Habermas (1981) zuzustimmen, dass Mead uber diesen Weg zu einer eigentlichen Bestimmung des Sozialen als komplexe Struktur nicht gelangt. Mead bleibt bei einem Begriff des Sozialen stehen, der in der Reziprozitat sozialer Akteure aufgeht. Diese affizieren sich wechselseitig und differenzieren so uber die (Sprach-)Handlung ein Medium aus, das auf die Konstitution des Einzelnen zuriickwirkt. Auf diese Weise behauptet auch Mead eine Vorrangposition des Sozialen, wenn er die Genese eines individuellen Bewusstseins auf diese gegenseitige Affizierung verpflichtet. Indem er jedoch das Ich doppelt und uber das „I" eine Instanz einholt, die als 95
vorsoziale Quelle je individueller Kreativitat und Differenz (zu Anderen) gedacht wird, behalt er einen methodologischen Subjektivismus bei, der ihn vor einer objektivistischen Uberhohung, wie Durkheim sie vorgenommen hatte, bewahrt. Dieser Subjektivismus darf allerdings nicht in einem starken (kantianischen) Sinne missverstanden werden. Denn: Das ,,1" nimmt als transzendentales Ich bei Mead zwar die Stellung ein, die Aktionen des Subjekts anzuregen und zu rahmen, es erhalt jedoch nicht den starken Status, den es bei Kant eingenommen hatte. Dieser hatte alle Wirklichkeit durch und iiber das Subjekt erfasst (siehe Kap. 4,6.). Mead hingegen orientiert sich mehr am empirischen Ich, dem „Me", und stellt dieses in einen sozialen Kontext, mit dem es gleichursprlinglich verwoben ist. Er treibt die Austauschtheorie eines Marx, der die uber Arbeit vermittelte Gegenstandserfahrung zwar als Pragung des Bewusstseins begreift, die Ebene des Sozialen aber (aus der Perspektive Meads) vemachlassigt, bis zu einem Intersubjektivismus weiter, der das „Zwischen" der Akteure zur entscheidenden Instanz fur die Konstituierung der Akteure macht. Die Theorie des Subjektiven wird zur Handlungstheorie. Es ist diese handlungstheoretische Fundierung, die von den Sozialwissenschaften zunehmend adaptiert und ausgebaut wird. So leitet etwa Parsons aus dem Handlungsbegriff eine komplexe Gesellschaftstheorie ab, die in der Lage ist, die ausdifferenzierten Dimensionen der Okonomie oder Politik zu beriicksichtigen. Es spielt an dieser Stelle keine Rolle, dass Mead seinen „symbolischen Interaktionismus" auf der Ebene des interindividuellen Kontaktes beruhen lasst. Er hat damit eine Methodologie geschaffen, die sich absetzt von der bewusstseinsphilosophischen Denkfigur der Monade. Das Soziale, oder eben Intersubjektive, wird auf einen eigenstandigen Begriff gebracht, der zwischen einem sozialwissenschaftlichen Objektivismus und einem eigenstandigen Individuellen („!") angesiedelt wird. Mead verdeutlicht auf diese Weise, dass das Soziale keineswegs eine schwerbewegliche Entitat ist, wie dies Durkheim suggeriert hatte, sondem dass das Soziale sich in einer Handlungsdynamik manifestiert, so dass die Akteure grundsatzlich in einem Kontingenzraum agieren. Anders als eine monolithisch gedachte Gesellschaft reagieren Handlungspartner in aktiver Weise und das heiBt, weder ihre Reaktionen sind flir die eigenen Absichten umstandslos einkalkulierbar noch ist der Handlungsverlauf durch einen der Handlungspartner steuerbar. Der Sozialisationsprozess wird so zu einem ergebnisoffenen und unabgeschlossenen Projekt, das nicht in der Intemalisierung gesellschaftlicher Werte seinen Abschluss fmdet. Dies nicht zuletzt deswegen, weil diese Werte in den Sog einer standigen Aushandlung geraten und sich so nicht, wie Durkheim vermutet hatte, durch eine Beharrlichkeit gegeniiber Veranderungen auszeichnen. Eine Methodologie aber, die den gesellschaftlichen Wertewandel in ihre Architektur implementiert, muss den Prozess der Personlichkeitsentwicklung als ein permanentes Irritieren bereits sedimentierter Werte begreifen und kann auf diese Weise nicht langer die Subordination unter die Gesellschaft als Zielfigur der Sozialisation begreifen. Im weiteren Verlauf der Geschichte des Sozialisationsdiskurses kntipft Habermas an dieses theoretisch-methodologische Paradigma an und erweitert es um die Einbeziehung gesamtgesellschaftlicher Strukturen. Er ftihrt die Konstitution der Sozialitat aus den (Sprach-) Handlungen der Akteure bis zur Bildung ausdifferenzierter Funktionssysteme weiter und kann so den Sozialisationsprozess in das Gesamte seiner sozialen Umwelt stellen. Die schichtenspezifische Sozialisationsforschung dreht demgegeniiber das Rad der Sozialisati96
onsgeschichte wieder zuriick, wenn sie aus einer objektivistischen Methodologie heraus versucht, die kausale Linearitat eines schichtencodierten Sozialisationsverlaufes abzuleiten. Sie bringt ahnlich wie Durkheim die soziale Umwelt in Form der Familie auf den Begriff des „fait social" und verliert so den Blick fiir die Komplexitat eines dynamischen Entwicklungsprozesses. Dies korrigiert die sozialokologische Sozialisationsforschung von Bronfenbrenner. Sie differenziert theoretisch-methodologisch zwischen verschiedenen Gesellschaftsebenen, die auf unterschiedliche Weise den Sozialisationsprozess beeinflussen. Veranschaulicht werden kann so, dass sich soziale Umwelt durch ein komplexes Ineinander von direkten Face-ToFace Interaktionen und gesellschaftlichen Strukturen auszeichnet. Damit entwickelt Bronfenbrenner nicht nur wie Habermas den „symbolischen Interaktionismus" um die Dimension des Gesellschaftlichen weiter. Er richtet seine Methodologie darauf hin aus, dass sichtbar wird, dass Interaktionen, die jenseits der Sozialisanden stattfinden, einen indirekten aber bedeutenden Einfluss haben konnen. So entfaltet sich ein Bild des Sozialisationsprozesses, das eine angemessene Beriicksichtigung der sozialen Kontexte zum Impetus des methodischen Vorgehens macht, ohne dabei den Blick flir die Eigenstandigkeit des Subjekts zu verlieren. SchlieBlich geht auch Bronfenbrenner davon aus, dass die Sozialisanden aktiv in die sozialisatorisch relevanten Beziehungen eingreifen und diese so ihrerseits mitgestalten. Zum methodologischen Programm erhoben wird dieser Umstand durch die Formel des ,produktiv realitatsverarbeitenden Subjekts'. Dieses setzt theoretisch bei einem Subjekt an und postuliert dessen Eigenstandigkeit und Aktivitat im Sozialisationsprozess. Dabei wird in der Lesart von Hurrelmann dieses Subjekt nicht als vorsoziales gedacht, sondern als eingebettet in eine soziale Umwelt, auf die das Subjekt reagiert und die durch diese Reaktion verandert wird. Es ist dies also ein Modell, das die Subjekt-Objekt-Dichotomie in einer Subjekt-Sozialitat-Dichotomie weiterfuhrt und dabei an die Tradition des Rationalismus Oder Idealismus anknlipft, wenn das Subjekt aktivisch gesetzt wird. Bereits vor Hurrelmann hatte dies Piaget geleistet, der sich allerdings noch an der Subjekt-Objekt-Dichotomie abgearbeitet hatte, war sein Ziel doch schlieBlich die Entwicklung einer Erkenntnistheorie. Wie schon erwahnt, wird Piaget diesbeziiglich sowohl als ein intersubjektivistischer bzw. austauschtheoretischer Denker interpretiert, als auch als ein Verfechter der Position einer vornehmlich intrapsychisch verlaufenden Ontogenese. Unabhangig von dieser Kontroverse bleibt unumstritten, dass Piaget mit einem Subjekt rechnet, das keineswegs durch Umweltkonditionierungen gepragt wird oder gepragt werden konnte. Unabhangig von dieser Kontroverse bleibt auch, dass er die Personlichkeitsentwicklung als einen Stufenprozess verstanden hat, so dass die Zeit als relevante GroBe in die Methodologie der Sozialisation integriert werden muss. Piaget weist darauf hin, dass Sozialisationsumwelten im Laufe der Sozialisation eine veranderte Bedeutung erhalten konnen, weil die Sozialisanden ihnen aufgrund einer entwickelteren Verarbeitungsfahigkeit eine andere Bedeutung zuschreiben. Dartiber hinaus flihrt die Entwicklung der subjektiven Verarbeitungsfahigkeit ihrer Umwelt dazu, dass neue Umwelten erschlossen werden konnen, weil sie in die (entwickelten) kognitiven Schemata assimilierbar werden und andere Umwelten ihre Stellung als Sozialisationsinstanz verlieren, weil ihre Verarbeitung routinisiert wurde, sie also eine Weiterentwicklung nicht langer anregen. 97
Dieses Programm in seiner subjektivistischen Ausrichtung ubemimmt Niklas Luhmann, der den Sozialisationsdiskurs nur gestreift hatte. Mit seiner Umstellung auf das SystemUmwelt-Paradigma und der Einbeziehung konstruktivistischer Erkenntnismodelle aus der Biologie produziert er eine methodologische Grundlegung der Sozialisationstheorie, die im Konzept der Selbstsozialisation mtindet. Er behauptet eine grundsatzliche Eigenaktivitat des ,Subjektiven' (bei Luhmann: des psychischen Systems), die durch Begriffe wie Autopoiesis und Selbstreferenz umschrieben und radikalisiert wird. Nicht mehr die produktive Realitatsverarbeitung einer der Beobachterposition objektiv zuganglichen Wirklichkeit regt den Sozialisationsprozess an, sondern die Konstruktion der Wirklichkeit durch die autopoietische Operationsweise der Systeme. Aussagen uber die Sozialisationsverlaufe sind daher immer Aussagen des beobachtenden Systems, und diese Referenzangabe konstituiert iiberhaupt erst einen beobachtbaren Sozialisationsprozess, dessen Beschreibung mit einem Wechsel der Systemreferenz ebenfalls variiert. Dies zumindest ist die erkenntniskritische Lesart der Systemtheorie. Wird sie aus einer hinreichenden Distanz betrachtet, zeigt sich, dass ihre generellen Termini so weit von einer handlungstheoretischen Fundierung nicht entfernt sind. Luhmann - und in diesen Punkt ist ihm sicherlich zuzustimmen - weicht sein Selbstreferenzkonzept mit dem Hinweis auf, dieses ende in einer Tautologie, die Entwicklung nicht erklarbar machen kann. Die Sozialisanden waren dann Sozialisanden waren Sozialisanden etc., ohne dass es zu einer inhaltlichen Ausgestaltung kommen wurde. Um diese Aufweichung theoretisch zu konzeptionalisieren fuhrt er Begriffe wie strukturelle Kopplung oder Interpenetration ein, die deutlich machen sollen, dass die Systeme von Zufuhren aus der Systemumwelt abhangen. Dass diese dann systemintern verarbeitet werden, systemintem uberhaupt erst Relevanz gewinnen, ist ein Umstand, den bereits Hurrelmann oder Piaget auf den Punkt gebracht haben. Die methodologische Differenz zu deren Sozialisationskonzepten liegt dann vor allem in der Abhangigkeit der Beobachtung durch das beobachtende System, das heiBt in dem radikalen Zuriickweisen jeglichen Objektivismus. Das Erziehungssystem beobachtet Sozialisationsprozesse anders, als das Wissenschaftssystem und dieses wieder anders als das Rechtssystem. Ein Sozialisationsprozess ,an sich' kann daher nicht beobachtet werden. Die methodologische Differenz liegt aber auch in dem grundsatzlichen Differenzdenken. Nicht das Hereinstellen in eine soziale Umwelt, wie dies Hurrelmann ausdriicklich fordert, schiebt die Beobachtung von Sozialisationsverlaufen an, sondern gerade die Differentialitat der Systeme zu ihrer Umwelt, also letztlich die Singularitat der Systemoperationen. Dies ist insofem eine Abweichung von gangigen Sozialisationskonzepten, als durch sie eine starke Perspektive auf das Subjekt und eben subjektive Sozialisationsverlaufe (Selbstsozialisation) nahe gelegt wird. Die Radikalisierung des ,produktiv realitatsverarbeitenden Subjekts' liegt insbesondere in dieser theoriearchitektonischen Weichenstellung. Insgesamt zeichnet sich das theoretisch-methodologische Vorgehen der Sozialisationsforschung durch eine handlungstheoretische, intersubjektive Grundlegung aus (vgl. dazu Grundmann 2004), Das Subjekt wird immer schon als in einem sozialen Kontext verwurzelt gesehen, unabhangig davon, welche weiteren Implikationen (Objektivismus, produktive Realitatsverarbeitung, ...) daraus abgeleitet werden. Die Sozialisationstheorie macht sich den Gedanken zu Eigen, eine Ausdifferenzierung der Sozialwissenschaft iiber die Schienen einer eigenstandigen und gegeniiber dem Subjekt eine Vorrangstellung einnehmenden So98
zialitat laufen zu lassen. Der Einzelne erreicht daher den Status des Individuellen erst innerhalb und durch eine soziale Wirklichkeit, die die zu verarbeitenden Wissensbestande und Wertvorstellungen zur Verfligung stellt. Es ist dies der hegelsche Gedanke einer Findung des Selbst im Anderen, die dann von Mead in einen Intersubjektivismus umgedeutet wird, so dass der Andere nicht als passives Objekt der Erkenntnis fungiert, sondem als aktiver Handlungspartner, der durch die Aktionen von Ego zur Weiterentwicklung angetrieben wird, so wie dessen Aktionen die Entwicklung von Ego antreiben. Der Zirkel des Intersubjektivismus Die Kritik der sozialisierten Vernunft nun griindet in dem Zusammenspiel der Orientierung am Individuum und dem theoretisch-methodischen Selbstverstandnis des Sozialisationsdiskurses. Als Frage liefie sie sich so formulieren: Kann die zunehmende Orientierung am Subjektiven iiberhaupt mit einer handlungstheoretischen bzw. intersubjektiven Methodologie umgesetzt werden? SchlieBlich stellt diese Methodologie das Subjekt immer schon in einen gesellschaftlichen Kontext, dem ein pragender und konstituierender Einfluss zugeschrieben wird. Fur eine Bestimmung des Individuellen mag dies kein Problem sein, wenn der Begriff des Individuums so gefasst wird, wie oben angegeben: Als Beschreibung spezifischer Einstellungsmuster, die erst innerhalb der Gesellschaft relevant werden. Fur eine Thematisierung der je subjektiven Anteile am Sozialisationsprozess, so die Kritik der sozialisierten Vernunft, lasst sich dies nicht in der gleichen Weise gestalten. Wird namlich das Subjektive erst innerhalb der intersubjektiven, gesellschaftlichen Kontextualisierung erblickt, bleibt unklar, was dieses Subjekt eigentlich sein soil. Es zerfasert sich dann in einen Zirkel: Das Subjektive konstituiert sich erst vor einem sozialen Hintergrund, muss aber eigentlich schon Subjekt sein, um an diesem sozialen Hintergrund partizipieren zu konnen. Sowohl das Modell des ,produktiv realitatsverarbeitenden Subjekts' als auch die sozialokologische Sozialisationsforschung als auch die Entwicklungspsychologie in ihrer intersubjektivistischen Lesart operieren aber gerade mit einem Subjektverstandnis, dass mit einer Eigenstandigkeit rechnet, die vor dem Eintritt in intersubjektive Zusammenhange bereits wirksam sein muss. Wiirde sie sich erst im Rahmen sozialer Zusammenhange entwickeln, ware sie keine subjektive Eigenstandigkeit, sondem als Ergebnis sozialisatorischer Einfliisse das Produkt einer vorrangig gedachten sozialen Umwelt, also die sozialisatorische IJbernahme von Verarbeitungsmustern. Der Stellenwert der subjektiven Eigenstandigkeit entsprache dann nicht mehr jener Konzeption, die eine Variabilitat subjektiver Entwicklungsverlaufe aufgrund einer unhintergehbaren Subjektivitat postuliert. Die Einftihrung einer Eigenstandigkeit oder Selbstorganisation des Subjekts erhalt ihre Sinnhaftigkeit erst, wenn dem Subjekt vor seiner Einbettung in soziale Kontexte diese Eigenstandigkeit oder Selbstorganisation bereits zugestanden wird. Verdeutlichen und dramatisieren lasst sich dieses Argument an der sozialisationstheoretischen Fokussierung der Kompetenzentwicklung. Die Subjekte, so die generelle Idee, entwickeln im Verlauf ihrer Ontogenese spezifische Kompetenzen. Sie entwickeln darunter auch jene Kompetenzen, die ftir eine Teilnahme an intersubjektiven Verhandlungsprozessen notwendige Voraussetzung sind. Nun mag dies ftir den Spracherwerb, der komplexere Modi intersubjektiver Verstandigung ermoglicht, unmittelbar einsichtig sein. Die notwen99
digen Kompetenzen fur eine Teilnahme an intersubjektiven Verhandlungen gehen jedoch im Spracherwerb keineswegs auf. Hinzu kommen Kompetenzen, die sich allgemein auf die Fahigkeit beziehen, soziale Interaktionen als solche wahrzunehmen, und vor allem, sich selbst und alter Ego als Subjekt in diesen Verhandlungen erleben zu konnen. Dann aber wird unverstandlich, wie intersubjektive Verhandlungen tiberhaupt moglich sind, wenn diese Kompetenzen erst durch diese intersubjektiven Verhandlungen entwickelt werden sollen. Anders formuliert: Wenn das Subjekt mit spezifischen Kompetenzen erst im Intersubjektiven entsteht, flir dieses aber bereits Subjekt mit spezifischen Kompetenzen sein muss, wird ein Zirkel produziert, der eine trennscharfe Bestimmung des Subjektiven, die flir eine Bestimmung der subjektiven Eigenaktivitat notig ist, verunmoglicht. „Vielmehr", so Manfred Frank (2001: 234) diesen Gedanken in seinem Umkehrschluss formulierend, „scheint umgekehrt ohne eine - von der Erklarungsleitung der Intersubjektivitat logisch unabhangige - Auskunft liber den ontischen und epistemologischen Status selbstbewusster Selbstbeziehung gar keine Theorie der Intersubjektivitat moglich zu sein." Manfred Frank leitet seine Position aus einer Kritik der kommunikativen Handlungstheorie von Jiirgen Habermas ab. Dieser hatte vehement daflir pladiert, die Bewusstseinsphilosophie als vergangene Epoche der Ideengeschichte zu betrachten und die Intersubjektivitat als neues, die Bewusstseinsphilosophie ablosendes Paradigma eingefiihrt. Tatsachlich ist jedoch auch Habermas (1981) gezwungen, Reste der Bewusstseinsphilosophie insofem wieder einzuholen, als er das Wissen um die jeweilige kommunikative Absicht (kommunikatives vs. strategisches Handeln) als dezisionistische Bewusstseinsleistung der Akteure bestimmt. SchlieBlich muss der strategisch Handelnde seine Absichten mit dem Mantel der verstandigungsorientierten Kommunikation verhiillen, um seine Absichten gegenliber alter ego nicht als strategische erkennbar werden zu lassen. Es ist daher immer erst ein selbstbezugliches Wissen, ob die Akteure strategisch oder kommunikativ handeln. Das intersubjektive Feststellen der jeweiligen Absichten der Handlungspartner ist demgegenuber nachfolgend. Und schlieBlich gilt: Auch Habermas kommt um eine Subjektphilosophie nicht herum, wenn er spezifische Kompetenzen angibt, die die Akteure immer schon mitbringen miissen, sollen sie an einem Diskurs teilnehmen. Die ,Einsicht in den zwanglosen Zwang des besseren Arguments' jedenfalls lasst sich nicht aus der Sprachverwendung oder der intersubjektiven Dialogsituation alleine deduzieren. Sie setzt mindestens voraus, dass die Akteure den Stellenwert von Argumenten verstehen konnen. Sie geraten damit in den Strudel einer Kompetenzentwicklung, fur die schlieBlich das oben eingeflihrte Argument gilt: Sie sollen die Kompetenzen erst im intersubjektiven Austausch erwerben, fiir die sie die Kompetenzen eigentlich schon benotigen. Ideengeschichtlich eingefiihrt hatte den Intersubjektivismus George Herbert Mead. Wie bei der Darstellung seines ,symbolischen Interaktionismus' schon angedeutet, entzundet sich die Kritik der sozialisierten Vemunft gerade an seinem Theorieentwurf So heiBt es bei Mead (1995: 191): „Entscheidend flir die Kommunikation ist, dass das Symbol in der eigenen Identitat das gleiche wie im anderen Individuum auslost. Es muss die gleiche Universalitat flir jede Person aufweisen, die sich in der gleichen Situation befindet. Sprache ist immer dann moglich, wenn ein Reiz ein Individuum so wie ein anderes beeinflussen kann." Und an anderer Stelle: „Ich kann mir nicht vorstellen, wie Intelligenz oder Geist anders als durch die Hereinnahme gesellschaftlicher Erfahrungs- und Verhaltensprozesse in den Ein100
zelnen hatte erfolgen sollen, das heifit durch diese Hereinnahme der Ubermittlung signifikanter Gesten, die dadurch moglich werden, dass der Einzelne die Haltung anderer gegentiber sich selbst und gegeniiber jenen Dingen einnimmt, iiber die man nachdenkt. Wenn sich aber Geist oder Denken so entwickelt hat, dann kann und konnte es ohne Sprache weder Geist noch Denken geben. Die friihen Stadien der Entwicklung der Sprache mussen daher der Entwicklung des Geistes oder des Denkens vorausgegangen sein/' (Ebd.: 235) An diesen Zitaten wird der logische Zirkel oder das logische Paradox der Intersubjektivitat als heuristisches Paradigma deutlich. Wenn Kommunikation eine intersubjektiv gleiche Reizung durch das Symbol voraussetzt, mtisste Mead damit einen Objektivismus annehmen, der vor jeglicher Kommunikation bereits im Subjekt als kantischer Kategorienapparat existiert. Dieser soil aber der meadschen Theorieanlage folgend erst aus der Kommunikation entstehen. Um die Kommunikation erklarlich zu machen, droht Mead hier also mit einer starken, das heiBt inhahlichen, Subjekttheorie operieren zu mussen, die vor jeglichem Intersubjektivismus angesiedelt ist. Er muss das kantische Subjekt um die Kategorie Sprache oder Sozialitat erweitem und hatte dann letztlich eine Fundierung in der Bewusstseinsphilosophie gefunden. Sein eigentlicher Ansatz behauptet jedoch einen Kontingenzraum in der Ontogenese, der durch eine solche Fundierung ab absurdum gefuhrt wlirde. Radikalisiert wird der Zirkel oder das Paradox aus der Sicht der ,Kritik der sozialisierten Vemunft' durch die These, Sprache sei grundsatzlich vor dem Denken oder dem Geist existent, diese setzten jene voraus. Nicht nur zeigt Piaget (1975) empirisch, dass bereits vor dem Spracherwerb Kinder durchaus auf der Grundlage einer (praktischen) Intelligenz handeln, also denken. Es bleibt unverstandlich, wie sich Sprache ohne Denken entwickeln konnen soil, da allein aus einer pragmatischen Perspektive darauf hingewiesen werden kann, dass ohne Denken Sprache moglicherweise iiberhaupt keinen Sinn machen wiirde, sollen doch schlieftlich Gedankeninhalte in Form von Sprache ausgedriickt werden. Mead, so die zusammenfassende Kritik, sieht sich gezwungen entweder seine Theorie fur eine bewusstseinsphilosophische Fundierung zu offnen oder gewagte Spekulationen einzufiihren, die mit ontologischen und objektivistischen Setzungen geflillt sind und die eine trennscharfe und nachmetaphysische Subjekttheorie unmoglich machen. Kurz: Das Intersubjektivitatstheorem kann nicht begriindet angeben, wie sich ein Subjekt denken lasst, das in die intersubjektive Situation eintritt. Dies bedeutet nicht, das Intersubjektivitatstheorem in toto zu diskreditieren. An der Systemtheorie Luhmanns wurde deutlich, dass eine reine Selbstreferenz sich in Tautologien verstrickt, die eine Entwicklung des Subjekts nicht erklaren konnen. Die Annahme eines intersubjektiven Austausches flillt die Lucke, die eine reine Selbstreferenz produziert, indem jene als Umweltkontakt des Subjekts dieses mit Ressourcen (Wissen, Normen, ...) versorgt, die fur eine Ontogenese notwendig sind. Dann aber liegt das Intersubjektivitatstheorem theoriearchitektonisch hinter einem bewusstseinsphilosophischen Subjekt, indem es die Tautologie der Selbstreferenz durchbricht. Wird eine noch naher zu bestimmende Bewusstseinsphilosophie allerdings vor die Intersubjektivitatstheorie gesetzt, verliert sich auch das Paradox der Intersubjektivitatstheorie, da dann deutlich wird, dass bereits ein Subjekt vorausgesetzt wird, das innerhalb sozialer Kontexte agiert. Die Intersubjektivitatstheorie wird hier also nicht generell verworfen, schlieBlich macht sie zu Recht darauf aufmerksam, dass Subjekte sich innerhalb einer Sozialitat bewegen und sich der Prozess der 101
Sozialisation iiber die Schienen eines intersubjektiven Austausches lauft. Sie wird kritisiert beziiglich ihres Anspruches, einen trennscharfen und widerspruchsfreien Subjektbegriff formulieren zu konnen. Wenn aber die Sozialisationstheorie sich zunehmend am Subjekt - verstanden als Eigenaktivitat Oder Selbstorganisation - orientiert und dieses logisch vor seine intersubjektive Einbindung gesetzt werden muss, benotigt die Sozialisationstheorie einen solchen trennscharfen und widerspruchsfreien Subjektbegriff, oder wie Dieter Geulen (1989: 16) einst gefordert hatte: „Der von der Sozialisationstheorie angesetzte Begriff vom Menschen muB nicht nur im angegebenen Sinne unabhangig von den Begriffen, die die Bedingungen der Sozialisation bezeichnen, sondern auch systematisch vor ihnen definiert werden; er ist eine logische Voraussetzung einer genetischen Sozialisationstheorie." Ist aber ein solcher Subjektbegriff iiber die Handlungstheorie oder die Intersubjektivitatstheorie nicht zu haben, muss dies iiber einen anderen Diskurs geleistet werden. Im Folgenden Teil soil dies mit der Erkenntnistheorie eingeholt werden, die aufgrund ihrer Ausrichtung ein Subjektverstandnis offeriert, das die von Geulen gesuchte Bedingung immer schon erfiillt. Die hier vorgetragene Kritik am Intersubjektivismus bekommt durch diese Hinwendung zur Erkenntnistheorie eine zusatzliche Stiitze. Sie ist dann nicht nur eine Kritik, die sich aus dem Zusammenspiel der postulierten Eigenaktivitat des Subjekts und dem Intersubjektivitatsparadigma ergibt, sondern auch eine Kritik, die sich von auBen an den Sozialisationsdiskurs richtet und die aus der Perspektive einer philosophischen Erkenntnistheorie die postulierte Eigenaktivitat des Subjekts ohnehin einklagt. Anders formuliert: Jene Autoren des Sozialisationsdiskurses, die mit einem aktiven Subjekt rechnen, erfiillen aus der Perspektive der Erkenntnistheorie ein Postulat, das sich als erkenntniskritische Selbstverstandlichkeit darstellt. Die Anordnung der ersten beiden Telle der vorliegenden Arbeit konnte also auch andersherum vorgenommen werden. Die Erkenntnistheorie ist nicht nur ein Ausweichdiskurs fur einen immanenten Widerspruch der Sozialisationstheorie. Sie ist auch, wie in der Einleitung bereits geschildert, ein externer Diskurs, aus dem heraus sich die ,Kritik der sozialisierten Vemunft', und das heiBt die Berticksichtigung der subjektiven Eigenaktivitat, begriinden und einfordern lasst. Im Rahmen dieser Form der ,Kritik der sozialisierten Vernunft' stehen die Diskurse der Sozialisations- und der Erkenntnistheorie dann in einem Wechselverhaltnis.
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II. Teil Das Subjekt der Erkenntnistheorie
4. Die klassischen Erkenntnistheorien
Wenn, so die Kritik der sozialisierten Vernunft, aus der Handlungstheorie bzw. dem Paradigma der Intersubjektivitat kein gehaltvoller Subjektbegriff abgeleitet werden kann, ein solcher aber in der Sozialisationstheorie zunehmend als relevante Grofie im Sozialisationsprozess anerkannt wird, bietet es sich an, auf die Erkenntnistheorie zuriickzugreifen, die nicht nur wesentlich die Grundlagen fur die Erfolgsgeschichte des modernen Subjektbegriffes gelegt hat, sondern immer schon mit einem Subjekt handelt, das sich nicht erst innerhalb sozialer Umwelten konstituiert. Der Zirkel der Handlungstheorie wird so von vomherein umgangen. Nun gelten freilich die Hauptfragen der Erkenntnistheorie nicht unmittelbar der Eruierung eines Subjektbegriffes. Gottfried Gabriel (1998: 26) benennt als die zentralen Fragen: die Frage nach dem Ursprung der Erkenntnis, die Frage nach der Realitat und die Frage nach der Beschaffenheit von erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt. Das Subjekt spielt damit zwar eine gewichtige Rolle, ist es doch schlieBlich der Protagonist der Erkenntnis. Es fungiert jedoch nicht als eigentliche Zielfigur der klassischen Erkenntnistheorie und kann wohl eher als ein Nebenprodukt dieses Diskurses angesehen werden. Dieser setzt sich namlich vielmehr die Aufgabe, die Moglichkeiten fiir gesicherte Erkenntnisse und vor allem fur die Herleitung sicheren Wissens zu untersuchen. Dies war notwendig geworden, da der Aufschwung der naturwissenschaftlichen Forschung zu immer neueren Ergebnissen fiihrte, die geeignet waren, uberkommene Gesellschaftsstrukturen in Frage zu stellen, und die durch eine philosophische Untersuchung ihrer Bedingungen so gerahmt werden sollten, dass wahre von falschen Erkenntnissen differenziert werden konnten. Entsprechend firmieren unter dem Label der Erkenntnistheorie Begriffe wie Wahrheit, Rechtfertigung Oder Wissen und nicht zuletzt aus diesem Grund wird aus der Erkenntnistheorie im 20. Jahrhundert die Wissenschaftstheorie (vgl. Schnadelbach 2002). Wenngleich es vor allem Francis Bacon (1620/1990) war, der mit seinem ,Novum Organum' bereits auf eine Neujustierung der Wissenschaften abzielte, und diese in der experimentellen Methode gefunden zu haben glaubte, setzt die Erkenntnistheorie im eigentlichen Sinne erst mit Descartes an. Dies nicht zuletzt deswegen, weil mit Descartes zugleich der Grundstein fur die sukzessive Aufwertung des modemen Subjektverstandnisses gelegt wird, das sich schlieBlich derart positionieren konnte, dass alle politischen und sozialen Verhaltnisse in ihm ihre Referenz finden miissen. Mit Descartes wird uberdies ein weiterer grundlegender Aspekt der neuzeitlichen Erkenntnistheorie deutlich: Der Versuch einer Absetzbewegung zum antiken Skeptizismus (Musgrave 1993). Dieser hatte generell die Moglichkeit sicheren Wissens geleugnet, indem er sowohl die Erkenntnis tiber die Sinneserfahrung als auch die Erkenntnis iiber die Verstandestatigkeit als eine unzureichende Quelle fur Wahrheit destruierte (Ricken 1994). Die aufklarerische Philosophic zeichnete sich dadurch aus, diesen nur schwer zu widerlegenden Ansatz uberwinden zu wollen, und ein Fundament sowohl ftir die Wissenschaften als auch 105
fur das Politische und Soziale zu finden, das einen Ausweg aus der aus dem Skeptizismus drohenden Handlungsunfahigkeit aufgrund der Urteilsenthaltung eroffnen sollte. SchlieBlich drohte der Skeptizismus die fruchtbaren Ergebnisse naturwissenschaftlicher Forschung derart in Frage zu stellen, dass sie als Quelle ftir eine Verbesserung der Lebensqualitat nicht in Anspruch genommen werden konnten. Wenn also im Folgenden ein Abriss der neuzeitlichen Erkenntnistheorie vorgenommen wird, wird es nicht primar urn die genuin erkenntnistheoretischen Fragestellungen gehen. Diese werden nur soweit rezipiert, als sie fur die Herleitung eines erkenntnistheoretischen Subjektbegriffes notwendig sind. Entsprechend gilt dasselbe, was bereits flir den Abriss der Sozialisationstheorie gegolten hat: Ziel der Ausflihrungen ist nicht eine exegetische und detaillierte Aufarbeitung des angefahrten Autoren, sondern eher ein freies Prozessieren dieser, das heiBt ein selektiver Zugriff, der eine Extraktion des Subjektbegriffes aus der Erkenntnistheorie im Hinblick auf seine Verwendung fur die Sozialisationstheorie intendiert. Der weit ausholende und breite Zugriff auf den Diskurs der Erkenntnistheorie ist dabei aus zwei Griinden erforderlich. Zum einen sollen so diverse Aspekte und Argumente flir einen gehaltvollen Subjektbegriff gesammelt werden. Zum anderen wird auf diese Weise deutlich, welche Probleme bei der Herleitung eines erkenntnistheoretischen Subjektbegriffes auftauchen und das meint, in welche Antinomien sich eine solcher Subjektbegriff verstricken kann. Diese werden namlich erst dann sichtbar, wenn die Pendelbewegung der Erkenntnistheorie zwischen Rationalismus, Empirismus und Idealismus verfolgt wird. Das Vergegenwartigen des Gegensatzes dieser Theorieparadigmen wird schlieBlich behilflich sein, bei der Bestimmung des Subjektiven eine angemessene Vorsicht walten zu lassen, die davor behliten soil, leichtfertig in ontologische Anthropologien oder logische Widerspriiche zu verfallen, die letztlich genauso wenig Auskunft iiber den subjektiven Eigenanteil am Sozialisationsprozess zu geben vermogen wie das intersubjektivistische Paradigma.
4.1. Der Weg iiber die Skepsis: Rene Descartes Rene Descartes gilt zumeist als revolutionarer Denker und Begrlinder der neuzeitlichen Philosophic (kritisch dazu: Horkheimer 1927/1987: 133 ff). Mit seiner suchenden Art des Schreibens begibt er sich auf den Weg, die Moglichkeiten wissenschaftlich wahrer Erkenntnisse neu zu bestimmen. Diese Absicht wurzelt in dem Versuch, sichere Urteile ftir eine alltagliche und moralische Praxis zu fmden und so die Unsicherheiten des gesellschaftlichen Lebens in Bestimmtheiten zu iiberflihren, die schlieBlich dazu dienen sollten, die Lebensbedingungen der Menschheit insgesamt zu verbessem. Er steht mit diesem Ansinnen nicht nur in der Folge des bereits erwahnten Francis Bacon, sondern er formuliert mit diesem Ansinnen das Programm der Aufklarung, durch Uberwindung von Vorurteilen und Aberglauben eine transparente und rationale Grundlage fiir das soziale Miteinander zu fmden. Wenngleich mit dieser Rlickbindung der Erkenntnistheorie an politische und soziale Zwecke eine normative Fundierung der Erkenntnistheorie indiziert wird'^ gilt diese den-
10 Aus soziologischer Sicht, die eine Abhangigkeit jeglicher Form des Wissens und damit auch der Erkenntnisund Wissenschaftstheorie von politischen Auseinandersetzungen behauptet, vgl. Mannheim (1929/1982).
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noch als eigenstandiger Diskurs bzw. kann und muss als eigenstandiger Diskurs behandelt werden. Im Falle Descartes wird dies unter anderem dadurch deutlich, dass er die naive Alltagseinstellung, und damit auch politische Auseinandersetzungen, desavouiert und ihre Gliltigkeit flir die Gewinnung sicherer Erkenntnisse radikal in Zweifel zieht, Diese sind fur Descartes nur dann zu erreichen, wenn alle Urteile, deren Wahrheit angezweifelt werden kann, als (zunachst) unwahre Urteile gelten. Bereits in seiner Schrift „Regulae ad directionem ingenii" (Descartes 1628/1993) hatte er mit der Intuition und der Deduktion zwar zwei Methoden angegeben, die als Quelle flir sichere Erkenntnis fungieren konnen. In seinem „Discours de la methode" (Descartes 1637/1990) und seinen beruhmten „Meditationen uber die Grundlagen der Philosophic" (Descartes 1641/1993) weitet er den Versuch einer Begrlindung sicheren Wissens allerdings aus und erhebt den Zweifel, der zunachst nur gegen falsches Wissen - resultierend aus Vorurteilen - sichern sollte, zum methodischen Prinzip. Die Funktion des Zweifelns wird zu einer dreifachen: Sie soil als Korrektiv vor falschen Aussagen bewahren. Sie soil als Selektionsinstrument die Unterscheidung von falschen und wahren Urteilen ermoglichen. Sie soil als methodisches Prinzip wahre Urteile generieren konnen. Die Methode des Zweifelns wird von Descartes freilich nicht unbegrtindet eingeflihrt. Er bemiiht sich vielmehr zu zeigen, welche Griinde angefuhrt werden konnen, die verschiedenen Wissensinhalte anzuzweifeln (zu den ideengeschichtlichen und systematischen Voraussetzungen des Skeptizismus vgl. auch Perler 2003). Er nimmt dabei die Argumente der antiken Skeptiker auf, teilt mit diesen allerdings weder das daraus abgeleitete Postulat der Urteilsfreiheit, noch begreift er den Skeptizismus, wie dies vomehmlich in der pyrrhonischen Skepsis der Fall war, als Einstellungsmuster fur den Alltag. Descartes weist ausdriicklich darauf hin, dass sein Skeptizismus im Alltag nur negative Folgen haben wiirde in der Tat konnte etwa Pyrrhon ein hohes Alter nur erreichen Dank der Umsicht seiner Schtiler - und ausschlieBlich als Methode flir die Wissenschaften geeignet ist. Der Skeptizismus wird theoretisiert. Dieser Hinweis von Descartes ist insofern von entscheidender Bedeutung, als damit eine Moglichkeit angedeutet wird, die nur schwer zu widerlegenden Argumente der Skeptiker aufzunehmen, ohne zugleich die Moglichkeit von Wissenschaft generell in Frage stellen zu mtissen, weil die Skepsis einzig als Methode konzipiert wird, deren Ziel nicht die Leugnung der Erkennbarkeit der Realitat ist, sondem gerade das Bemiihen, deren Erkennbarkeit philosophisch zu begrunden. Im Durchgang durch die verschiedenen Wissensformen disqualifiziert zunachst Descartes die Moglichkeit der Generierung sicherer Urteile iiber die Sinneswahrnehmung. Er konstatiert zwar, dass alles, was gewusst wird, vomehmlich iiber die Quelle der Sinne in den Geist gelangt ist. Dennoch weiB Descartes: Die Sinne konnen bezUglich der Erkenntnis von Objekten tauschen. Als Beispiel flihrt er etwa an, dass manche Objekte zunachst sehr klein erscheinen, die bei naherer Betrachtung wesentlich groBer sind. Zu denken ist aber auch an jenes Beispiel, das bereits in der Antike den Skeptikem als Veranschaulichung ihrer Philosophic diente: der gerade Stock, der sich, wird er in Wasser getaucht, aus der Beobachterperspektive kriimmt. Nun konnte auf diese Kritik der Sinneswahrnehmungen eingewendet werden, sie stellen zwar Tauschungen dar, nicht jedoch solche, die nicht durch geeignete Priifung (z. B. Abstandsverringerung) aufgelost werden konnten. Descartes selbst erwidert 107
auf seine Skepsis, dass er uber die Quelle der Sinneserfahrung sicher sein konnte, in seinem Winterrock am Kamin zu sitzen und zu schreiben; dass also die Sinne zwar zuweilen tauschen, aber dennoch sichere Urteile ermoglichen. Er fiihrt jedoch sein beriihrntes Traumargument an, um die Verlasslichkeit der Sinne als Quelle sicherer Erkenntnisse zu disqualifizieren und zugleich den Zweifel an der Existenz denkunabhangiger, materieller Objekte zu begriinden. Im Traum, so Descartes, glauben wir schliefilich hochst unwahrscheinliche Dinge, wie etwa, wir waren Konige, obwohl wir einfache Burger oder gar Bettler sind. Da uns diese Traume zuweilen sehr real vorkommen, konne nicht entschieden werden, ob wir uns tatsachlich in einem Schlaf- oder einem Wachzustand befinden. Damit meint Descartes freilich nicht, wir wurden in einem hypnotischen Dauerzustand leben, der alle Eindrticke zu bloBen Phantasiegebilden der subjektiven Vernunft macht. Indem er aber die widerspruchsfreie Behauptung einfuhrt, Traumobjekten konne der gleiche Realitatsstatus zugeschrieben werden wie Objekten der Sinneserfahrung, kann er zeigen, dass potentiell die Moglichkeit besteht, dass wir uns irren (das heiBt traumen), wenn wir glauben, mit den Sinnen ein Objekt wahrzunehmen. Auf diese Weise wird nicht nur plausibilisiert, dass eine allgemeine Skepsis bezuglich der Sinneserfahrung formuliert werden kann. Die Objekte dieser Sinneserfahrung konnen keineswegs jene denkunabhangige Realitat ausfiillen, die im Prozess der Sinneserfahrung die Sinne affiziert und jene Verstandesinhalte hervorruft, die uns als empirisches Wissen prasent sind, wenn die denkbare Moglichkeit besteht, diese denkunabhangige Realitat ist ein bloBes Produkt unserer Phantasie. Formuliert wird mit dem Traumargument also auch eine Skepsis bezuglich der Existenz auBerer Gegenstande, wobei nicht deutlich genug betont werden kann, dass das Traumargument einen explikativen und nicht einen demonstrativen Charakter hat. Es bleiben hingegen noch jene Wissensinhalte, die empirieunabhangig erworben werden konnen. Jenes Wissen, das innerhalb der Philosophiegeschichte seit der Antike als generell sicheres Wissen gilt, gerade weil es empiric- und damit auch zeitunabhangig gedacht werden kann: Das abstrakte und formalisierte Wissen, das solchen Wissenschaften wie der Geometric oder der Arithmetik entspringt. Da Descartes bereits in seinen „Regulae" die wissenschaftstheoretische These vertreten hatte, dass sichere Erkenntnisse auf dem Fundament der Erkenntnis einfacher, abstrakter Gegenstande aufbaut, bildeten diese Wissenschaften fiir ihn eine sichere Grundlage fiir die Herleitung (bei Descartes: Deduktion) sicheren Wissens. Er reiht sich damit in eine lange und nach wie vor anhaltende Philosophietradition ein, die in der Mathematik bzw. Logik (als allgemeiner Ausdruck der angefuhrten Disziplinen) die sicherste und damit hochste Form menschlichen Wissens erblickt, so dass Philosophen wie Hobbes oder Spinoza selbst ihre ethischen Schriften nach einer geometrischen Methode verfassten. SchlieBlich gilt die Wahrheit von Aussagen wie 2 + 3 = 5 sowohl im Wach- als auch im Traumzustand und das Wissen, dass in einem Dreieck die Summe aller Winkel 180 Grad betragt, kann ohne die unzuverlassige Quelle der Sinne generiert werden. Uberdies zeichnet sich dieses Wissen dadurch aus, dass es zeitunabhangig operiert. Wahrend, wie im ersten Teil gesehen, beispielsweise solche (empirischen) Wissensinhalte, dass die Medien einen spezifischen Beitrag zu politischen Sozialisation zu leisten vermogen, dem Wechsel der Zeit in einer zweifachen Weise unterliegen - Medien mussen in einer Gesellschaft erst entwickelt und verbreitet werden und werden abhangig von politischen
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Bedeutungszuschreibungen unterschiedlich qualifiziert - bleibt der Wahrheitsgehalt mathematischer oder logischer Aussagen von solchen Veranderungsprozessen unberiihrt. Wie aber lasst sich der Wahrheitsgehalt solcher Aussagen, die Descartes immerhin selbst als besondere Wissensformen auszeichnete, anzweifeln? Der Verweis auf die unzuverlassige Erfahrung tiber die Sinne hilft hier nicht weiter, da solche Wissensformen schlieBlich nicht beziiglich ihrer Kenntnisnahme (also etwa dem empirischen Umstand der Schulvermittlung) oder beziiglich ihrer moglichen Erinnerung an eine solche Kenntnisnahme angezweifelt werden sollen, sondem bezuglich ihres Vollzuges bzw. ihrer Geltung. Descartes kann sich aber keineswegs damit begniigen, das mathematische Wissen als Sphare sicheren, und das heiBt nicht anzweifelbaren Wissens, gelten zu lassen und umstandslos mit diesem Wissen die Quelle flir Wahrheit benennen. SchlieBlich batten die antiken Skeptiker auch dieses Wissen in Zweifel gezogen und Descartes war es unter anderem darum zu tun, den Skeptizismus zu iiberwinden. Und schlieBlich lasst sich aus der Geltung mathematischer Satze nicht ohne Weiteres die Existenz einer denkunabhangigen Realitat wiedergewinnen, die durch den Zweifel bereits desavouiert worden war. Descartes kann und muss daher seine methodische Skepsis bis in die genannten Disziplinen treiben, und er uberschreitet dabei die Grenze zum Hypothetischen. Er erwagt die Moglichkeit, dass wir von einem Gott geschaffen worden sind, der Boses im Sinn hat, und uns daher auch bezuglich der Geltung mathematischer Aussagen tauscht. Da die Moglichkeit der Annahme eines solchen ,malin genie' widerspruchsfrei denkbar ist, erreicht Descartes mit dieser Annahme eine Skepsis auch an der als sicher geltenden Bastion empirieunabhangigen Wissens. Er hat, metaphorisch ausgedriickt, samtliche Pfeiler menschlichen Wissens eingerissen und eine Ruinenlandschaft absoluter Unsicherheit hinterlassen. Dabei gilt auch in diesem Fall: Der bosartige Schopfergott hat einen explikativen, keinen demonstrativen Charakter. Seine Einfiihrung ermoglicht Descartes, die Skepsis bis zum AuBersten zu treiben, um so auch noch die Einwande seitens der Verfechter mathematischer Wahrheit zu diskreditieren. Wird dann aber nicht zugleich der Sinn der Skepsis selbst zweifelhaft, da schlieBlich mit der argumentativen Einfiihrung des ,malin genie' zugleich jede Evidenz verloren geht? Wie kann noch mit Gewissheit gezweifelt werden, wenn mit der denkbar radikalsten Form der Skepsis operiert wird, die doch selbst die Moglichkeit des Zweifelns anzweifeln muss? Die Erwiderung auf diese Frage macht nochmals den rein methodischen Charakter der Skepsis deutlich. Die Gewissheit wird namlich keineswegs vollstandig auBer Kraft gesetzt. Sie wird einzig auf eine psychologische oder subjektinteme Form der Gewissheit zuriickgenommen und kann so als Richtschnur ftir die Skepsis weiterhin Verwendung fmden. Ausgeschlossen durch die Skepsis wird ausschlieBlich der objektive, realitatskorrespondierende Wahrheitsgehalt sowohl empirischer als auch logischer Aussagen. Als subjektinteme Gewissheiten bleiben sie ein psychologisches Faktum, das nicht sinnvoll bezweifelt werden kann. Da Descartes mit der Methode der Skepsis ein sicheres Fundament fiir die Herleitung von Wissen generieren wollte, konnte er selbstverstandlich bei dem Resultat seiner Skepsis nicht stehen bleiben. SchlieBlich sollte ein oberster Grundsatz geftinden werden, von dem aus sowohl das Wissen, das im Alltagsvollzug verwendet wird, als auch das Wissen, dass innerhalb der Wissenschaften prozessiert wird, als sicheres Wissen qualifiziert werden kann. Mit seinen skeptischen Argumenten gegen jegliches denkbares Wissen konnte er 109
allenfalls die Gewissheit erlangen, dass nichts gewiss ist. Damit ware er allerdings dem Skeptizismus nicht entronnen, sondem hatte diesen nochmals bestatigt. Descartes ware wohl kaum als Klassiker der Bewusstseinsphilosophie in die Geschichte eingegangen, hatte er sich mit diesem Ergebnis begnugt. Descartes Leistung bestand schlieBlich darin, mit der eigenen Existenz ein sicheres Wissen geflmden zu haben, an dem nicht gezweifelt werden kann. SchlieBlich gilt: Wenngleich auch der bose Schopfergott uns standig tauschen mag, so sind es doch wir, die getauscht werden, und daraus folgt, dass wir existieren. Diese Existenz ist fiir Descartes freilich eine spezifische Existenz. So muss beispielsweise der Korper als moglicher Bezugspunkt ausfallen. Dessen Existenz war ja bereits durch den generellen Zweifel an der Existenz denkunabhangiger Objekte in Frage gestellt worden. Descartes fiihrt daher das genuin rationalistische Verstandnis der eigenen Existenz ein, wenn er versucht, diese als sicheres Wissen aus der Skepsis heraus zu begriinden: „Indem wir so alles irgend Zweifelhafte zuriickweisen und es selbst als falsch gelten lassen, konnen wir leicht annehmen, dass es keinen Gott, keinen Himmel, keinen Korper gibt; dass wir selbst weder Hande noch FtiBe, tiberhaupt keinen Korper haben; aber wir konnen nicht annehmen, dass wir, die wir solches denken, nichts sind; denn es ist ein Widerspruch, dass das, was denkt, zu dem Zeitpunkt, wo es denkt, nicht existiert. Demnach ist der Satz: Ich denke, also bin ich (ego cogito, ergo sum) die allererste und gewisseste aller Erkenntnisse, die sich jedem ordnungsgemafi Philosophierenden darbietet." (Descartes 1644/1992:2) Wird Descartes, wie dies hier schlieBlich geschehen soil, insbesondere subjekttheoretisch angeeignet, fiihrt ihn seine Methode der Skepsis zu einem Subjektbegriff, der im rationalintellektuellen VoUzug seine inhaltliche Konkretisierung erhalt. Das Subjekt konstituiert sich nicht uber eine korperliche Existenz, sondem liber die spezifische Eigenschaft des Denkens, wobei Descartes unter Denken samtliche Aktivitaten des Verstandes zahlt: Einsehen, Wollen, Einbilden und Wahrnehmen. Letzteres muss auf den ersten Blick verwundem, gait ihm doch der Wahmehmungsakt als hochst unzuverlassig. Er merkt jedoch an, dass er unter Wahmehmen im Kontext des Denkens keineswegs einen iiber die Sinne vermittelten Referenzakt auf die denkunabhangige Realitat versteht, sondem ein subjektintemes Operieren. Wird das Sehen eines Objektes gedacht, so ist der Inhalt dieses Denkens nicht anzweifelbar. Vorstellungen, so Descartes, konnen nicht falsch sein. Anzweifelbar ware allenfalls die Aussage, das Sehen rekurriere auf ein Objekt auBerhalb des Denkens. Erkenntnisprozesse sitzen diesem Subjektverstandnis entsprechend dem urteilenden Verstand auf und nicht dem tatsachlichen Affizieren durch ein Objekt. „Aber - wohlgemerkt - seine Erkenntnis ist nicht Sehen, nicht Beriihren, nicht Einbilden und ist es auch nie gewesen, wenngleich es friiher so erschien, sondem sie ist eine Einsicht einzig und allein des Verstandes [,..]." (Descartes 1641/1993: 27) Wenngleich Descartes mit seinem ,Cogito' zwar ein nicht mehr hintergehbares Prinzip gefunden hatte'', hatte er denoch die durch die Skepsis desavouierte Realitat noch nicht wiedergewonnen. Und auch wenn Descartes die Erkenntnis der Realitat liber die Schienen der Verstandestatigkeit laufen lasst, so blieb immer noch die mogliche Annahme des ,malin genie', der tauschend in die Verstandesaktivitaten eingreifen konnte. Wenn Descartes es 11 Zu den Problemen und Diskussionen um das Cogito vgl. Rod (1995).
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aber zu seinem Ziel erklart hat, einen sicheren Bezug auf die Welt zu begrunden, musste die Realitat wieder in ihre Stellung als Referenz flir die Denkakte des ,Cogito' einsetzbar werden. Urn den Realitatsbezug des ,Cogito' auf ein sicheres Fundament zu stellen, flihrt Descartes die hypothetische Argumentationsfigur seines ,malin genie' weiter. Gut phanomenologisch sucht er in seinem Bewusstsein nach weiteren Wissensinhalten, die neben der eigenen Existenz als sichere Wissensinhalte gelten konnen und findet die Vorstellung der Existenz Gottes. Diese zeichnet sich fur Descartes dadurch aus, dass ihr eine Bedeutung zukommt, die alien ubrigen Vorstellungen fehlt. Er schlieBt aus diesem Umstand, dass die Vorstellung Gottes keineswegs durch ihn erzeugt worden ist, wie sich dies etwa flir die korperliche Umv/elt annehmen lasst, sondem eben von einem Wesen, das mit seinen Fahigkeiten die Fahigkeiten endlicher Wesen iibersteigt. Dieser Schluss wiederum bezeugt flir Descartes die Existenz Gottes, die nicht nur als klarste und deutlichste Vorstellung, sondern als eine angeborene Idee von Descartes eingeflihrt wird (ausflihrlicher zum Gottesbeweis und zur Gottesidee vgl. Oeing-Hanhoff 1997). Aufgrund der Vollkommenheit Gottes kann er dann in einem nachsten Schritt seine Hypothese eines bosartigen Schopfergottes wieder verwerfen. Er postuliert, dass Gott keineswegs ein Betriiger ist, der ein falsches Spiel mit uns spiele, da die Absicht des Betriigens in einer (Willens-)Schwache besteht, die Gott nicht zugeschrieben werden kann. Wenn aber Gott nicht tauscht, besteht der Grund flir die Skepsis insbesondere des mathematischen Wissens nicht langer. Aber auch jenes durch die Wahrnehmung generierte Wissen kann Descartes durch die Existenz Gottes wieder rehabilitieren. Denn einerseits geht er davon aus, dass alles was als klar und deutlich erkannt wird, wahr ist und damit auch ist im Sinne eines Seinspradikates und andererseits folgert er aus der Existenz eines nicht betriigenden Gottes, dass auch die Realitat, die uns iiber die Sinne vermittelt wird, aufgrund seiner Schopferfunktion existiert, wir diese also tatsachlich klar und deutlich wahr nehmen konnen. Erkenntnistheoretisch baut Descartes auf dieser wiedererlangten Gewissheit seinen beriihmten Dualismus. Er differenziert zwischen einer res extensa und einer res cogitans, wobei erstere den Bereich der ausgedehnten Dinge bezeichnet und letztere den Bereich des Kognitiven. Verbunden, oder in der Terminologie Luhmanns: strukturell gekoppelt, sind die beiden Bereiche iiber den menschlichen Korper. Mit der Konkretisierung der res extensa durch ausgedehnte Substanzen kann Descartes zwischen primaren (Hohe, Breite, ...) und sekundaren (Farbe, Geruch, ...) Qualitaten der Dinge unterscheiden (vgl. dazu Perler 1998). Erstere sind flir ihn die einzigen Qualitaten, die eindeutig und klar erkannt werden konnen. Er gelangt so wieder in der Nahe der mathematischen Wissenschaften, wenn er die mathematischen Bestimmungen der Dinge zu den einzig verlasslichen Bestimmungen erklart. Nun bedeutet flir Descartes die Abhangigkeit der endlichen Wesen von dem vollkommenen Wesen, also Gott, keineswegs die Aufgabe eines freien Willens. Der Verstand kann sich nicht nur durch falschen Gebrauch irren (was aufgrund einer radikalen Determination durch einen gutmiitigen Gott unmoglich wiirde), er kann sich auch durch Kreativitat iiber die Vorstellungen, die ihm inharent sind, erheben und Phantasiegebilde produzieren. Und schlieBlich postuliert Descartes in der Form einen freien Willen, als wir die Urheber unserer Handlungen sind, und so flir diese verantwortlich gemacht werden konnen. Dieses Postulat 111
der Willensfreiheit bedeutet allerdings nicht, wie Volker Halbach (2002) zu Recht betont, dass Descartes ein erkenntnistheoretischer Voluntarist ware. Sofem Vorstellungen klar und distinkt sind, konnen wir nicht umhin, ihnen zuzustimmen. Ein freies, phantasierendes Prozessieren mit der Wahrheit ist mit Descartes nicht zu haben. Und auch in Bezug auf die Willensfreiheit geht Descartes sogar so weit, diese in den Rang einer angeborenen Idee zu heben. Diesen Rang hat, wie gesehen, neben der Willensfreiheit unter anderem die Idee Gottes. Mit der allgemeinen Annahme, es gabe angeborene Ideen, steht Descartes zweifellos kontrar zu den Grundannahmen der Sozialisationstheorie und wie noch zu zeigen sein wird, haben vor allem die angelsachsischen Empiristen diese Annahme scharf kritisiert. Im Rahmen der cartesianischen Philosophic tragen sie indessen zu einer weiteren Bestimmung des Subjektiven bei. Das Subjekt ist nicht nur wesentlich konstituiert iiber den Vollzug von Denkurteilen. Es kann bei diesem Vollzug mit angeborenen, und das heiBt von Gott gegebenen, Ideen rechnen, die klar und deutlich erkannt werden, und die als Quelle fur weitere Deduktionen Verwendung fmden konnen, Insgesamt nun entspringt das cartesianische Subjekt dem Zweifel an alien verfugbaren Wissensformen, die als Quelle flir sicheres Wissen diskreditiert werden. Indem aber Descartes die Realitat leugnet und so zu einem ,Cogito' kommt, das dann, vermittelt durch die Vorstellung der Existenz Gottes, die Realitat gleichsam aus sich heraus wieder stabilisiert, siedeh er das Subjekt logisch vor seiner Einbindung in die materielle und soziale Umwelt an. Er erfUllt damit das gesuchte Postulat, das sich aus der Kritik der sozialisierten Vernunft ergeben hatte. Sein Subjekt ist nicht auf die interaktive Auseinandersetzung angewiesen, sondern auf einen skeptischen Denkakt, der die interaktiven Bezugnahmen sogar als mogliche Tauschung anzweifeln muss. Das cartesianische Subjekt fmdet bzw. konstituiert sich durch einen rational-skeptischen Selbstbezug. Nun kann selbstverstandlich die Zusatzannahme eines Gottes, der letztlich den Realitatsbezug garantiert, nicht nur nicht langer tiberzeugen. Sie ist, und dies brauchte eigentlich kaum erwahnt werden, dariiber hinaus einer Operationalisierung innerhalb der Sozialisationstheorie nicht zuganglich. Wesentlicher fur eine Kritik des cartesianischen Subjektverstandnisses ist aber, dass Descartes gerade dadurch, dass er das Subjekt schlussendlich doch wieder auf den dualistischen Austausch verweist, das Subjekt also nachtraglich wieder in die materielle und soziale Umwelt einbindet, die empiristische Kritik an seinem Subjektbegriff herausgefordert hat. SchlieBlich hatte Descartes damit auch den Realitatsbezug durch die Sinne wieder rehabilitiert, - wenngleich dieser im Erkenntnisprozess durch die rationalen Denkurteile gerahmt blieb -, den die Empiristen zu einer Subjektvorstellung ausbauten, die gerade durch die Sinneswahmehmung (im Gegensatz zum intellektuellen Prozessieren) konstituiert wird und die auf die problematische Annahme angeborener Ideen verzichten konnte.
4.2. Der Weg iiber die Sinne: John Locke Descartes, so zeigte sich, war auf die Vorstellung der Existenz Gottes angewiesen, um den Referenzakt auf eine subjektunabhangige Wirklichkeit wieder rehabilitieren zu konnen, nachdem er durch die Methode des radikalen Zweifels alle Formen moglichen Wissens als 112
Quelle fiir wahre Aussagen diskreditiert hatte. Zwar hatte er als Ergebnis seines methodischen Zweifelns zu einer Subjektvorstellung geflinden, die im rationalen Prozessieren ihre Ausgestaltung findet. Dennoch hatte er zusatzlich zu diesem Prozessieren die Erfahrung tiber die Sinne wieder als Wissensquelle (bzw. Materiallieferant des rationalen Prozessierens) zugelassen. Dies war nicht zuletzt aufgrund seiner dualistischen Konzeption notwendig geworden. Wenn Descartes schlieBlich mit der res extensa eine subjektunabhangige, oder besser: eine vom Subjekt unterschiedene, Wirklichkeit annimmt, muss diese sinnvollerweise den Status erhalten, als Referenz fur das rationale Prozessieren zu fungieren. Wiirde dieses sich selbst genligen, wie dies bei Berkeley dann tendenziell der Fall sein wird, wlirde die Konzeptionalisierung einer res extensa zwar nicht logisch falsch werden, aber dennoch sinnlos. In dem Moment aber, wo eine subjektunabhangige AuBenwelt angenommen wird, liegt es nahe, den Bereich des moglichen Wissens auf diese auszudehnen - also nicht bei den mathematischen Aussagen stehen zu bleiben. Ein Wissen iiber die subjektunabhangige Wirklichkeit aber ist notwendig ein empirisches Wissen, das iiber die Sinne gewonnen wird. Und neben der Generierung eines axiomatischen Prinzips fiir die Herleitung sicheren Wissens (Cogito), war es nicht zuletzt auch Descartes Intention, diese Form der Wissensgewinnung als zwar unsichere, aber dennoch giiltige zu begriinden. Gravierend fiir den weiteren Verlauf des erkenntnistheoretischen Diskurses ist nun, dass er damit die Tiiren fur den angelsaschichen Empirismus geoffnet hat, der seine Kritik frontal gegen die Annahme angeborener Ideen richtete und diese unter Inanspruchnahme exakt jener Sinneserfahrung fuhrte, die Descartes durch seinen Dualismus konzeptionell als Wissensquelle akzeptiert hatte. John Locke, der seinen „Versuch iiber den menschlichen Verstand" (Locke 1690/1988) in vier Biicher unterteilt, beginnt in seinem ersten Teilband auch zunachst mit einer dezidierten Auseinandersetzung der These, es gabe angeborene Ideen. Da die Argumente, die er dabei ins Feld flihrt, eine gewisse Nahe zu zentralen Argumentationsfiguren der Sozialisationstheorie aufweisen, und iiberdies Lockes generelle Art des Denkens veranschaulichen, sollen sie hier etwas breiter angefuhrt werden. Zunachst geht Locke auf das Argument ein, dass es sowohl spekulative (das heiBt theoretische) als auch praktische Prinzipien gabe, die von alien Menschen geteilt wiirden, und die daher auf ein Angeborensein verweisen. Logisch konsequent erwidert Locke darauf, dass eine mogliche allgemeine Ubereinstimmung allerdings keineswegs notwendig die These stutzt, es gabe angeborene Ideen, da die allgemein geteilten Prinzipien auch auf anderem Wege ihre allgemeine Zustimmung erfahren haben konnten. Empirisch demonstrativ erwidert Locke darauf, dass sich solchen Prinzipien, die sich allgemeiner Zustimmung erfreuen, zudem iiberhaupt nicht finden lassen, sondern vielmehr von einer Pluralitat verschiedenster Kulturen mit verschiedenen Prinzipien ausgegangen werden muss. Beide von Locke angeflihrten Gegenargumente wiirden beziiglich ihrer Struktur in ahnlicher Form von heutigen Sozialisationsforschem angeflihrt werden, wiirden sie mit der These konfrontiert, es gabe angeborene Ideen. Sie wurden darauf verweisen, dass sich zeigen liefie, dass allgemein geteilte Prinzipien iiber die verschlungenen Pfade von Sozialisation, Erziehung und Bildungsvermittlung ihre allgemeine Zustimmung erhalten haben. Und sie wiirden den empirischen Umstand anfiihren, dass sich gerade aufgrund der Heterogenitat der Sozialisationsverlaufe Prinzipien, die allgemein anerkannt werden, nicht auffinden lassen. 113
Und auch Lockes nachstes Gegenargument erinnert wiederum an das klassische Vorgehen der Sozialisationsforschung: Er fiihrt Kinder und Jdioten' an, die empirisch nachweisbar iiber jene Ideen, die als angeboren gelten, iiberhaupt nicht verfligen, obwohl sich bei ihnen die angeborenen Ideen am ehesten zeigen mtissten, ist doch ihre Verstandestatigkeit noch nicht (oder nur in einem geringen MaB) durch den Einfluss von Erziehung und Bildung dcnaturalisiert. Und gesctzt den Fall, sic verfugten doch iiber diese, wiirden sie aber aufgrund ihrer mangelnden intellektuellen Fahigkeiten nicht erkennen, so wiirde die Annahme angeborener Ideen widerspruchsvoll werden. „Wer behauptet, dass ein Begriff dem Geist eingepragt sei, und doch gleichzeitig versichert, der Geist kenne denselben nicht und habe ihn noch nicht bemerkt, der hebt diese Einpragung wieder auf." (Ebd.: 31) Und weiter: Wer behauptet, die angeborenen Ideen wurden erst durch eine sukzessiv wachsende Tatigkeit des Verstandes erkannt, der produziert den gleichen Widerspruch. Zwar erkennt Locke ganz im Sinne des spateren Piaget an, dass insbesondere abstrakte Prinzipien, - und die meisten als angeboren angenommenen Ideen waren abstrakte Prinzipien, - erst im Laufe der Ontogenese erworben werden. Dies sei aber kein zwingender Beweis der Annahme, diese Prinzipien seien angeboren, zumal sich Personen finden lassen, die auch im hoheren Alter die angeborenen Ideen nicht kennen wurden. Locke fiihrt also empirische Beweise an, um die These des Angeborenseins bestimmter Ideen zu widerlegen und wendet damit die von Descartes rehabilitierte Sinneserfahrung gegen dessen These von den angeborenen Ideen. Strukturell ahnlich wiirden Sozialisationstheoretiker (und selbstverstandlich die meisten ubrigen empirischen Forscher) heute argumentieren. Sie wiirden zu zeigen versuchen, dass es empirische Abweichungen von einer behaupteten These gibt, die logisch ausgeschlossen waren, wurde die These verifizierbar sein. Und dabei haben sie es ahnlich wie Locke durchaus auch immer noch mit solchen Theorien zu tun, die von angeborenen Fahigkeiten oder Begabungen ausgehen und damit eine biologisch fiindierte Anthropologic produzieren. Insbesondere gegen den Fall der Theorie angeborener Begabungen wurde dann etwa ganz im Sinne der Argumentationsfigur Lockes auf eineiige Zwillinge hingewiesen, die getrennt voneinander und in unterschiedlichen sozialen Umgebungen aufwuchsen, und die unterschiedliche Begabungen und Begabungsniveaus erreichten, was logisch aufgrund der angenommen Theorie angeborener Begabungen eigentlich ausgeschlossen werden musste. Sinngemafi ahnlich argumentiert Locke gegen die These angeborener praktischer (moralischer) Prinzipien. Und wiederum ganz im Sinne der Sozialisationstheorie versucht er dabei zu erklaren, wie es zu dieser These iiberhaupt kommen konnte. Er konstatiert, dass moralische Prinzipien (Einstellungsmuster) durch Erziehung (und Sozialisation) erworben werden. Im Laufe der Ontogenese verfestigen sich diese durch Gewohnheit zu Glaubensgrundsatzen, der urspriingliche Erwerb wird vergessen und schlieBlich erscheint es plausibel anzunehmen, sie seien angeboren. Wenngleich sich unter den Bedingungen einer individualisierten und pluralisierten Gesellschaft Einstellungsmuster wohl nicht mehr derart verfestigen, erkannte bereits Locke, dass sich Uberzeugungen, und dies gilt dann sowohl fiir theoretische wie auch fiir praktische, durch soziale Vermittlung im Akteur konstituieren, und beschreibt damit exakt die Basisannahmen jeglicher Sozialisationstheorie. Argumentationsstrategisch macht er damit gleichsam eine Metaebene der Erklarung auf, auf der nicht nur die Theorie des Angeborenseins verworfen, sondem die Entstehung dieser Theorie 114
zugleich durch seine (rudimentaren) sozialisationstheoretischen Uberlegungen miterklart wird. Er verweist, anders formuliert, die Theorie des Angeborenseins in den Kontext seiner eigenen Philosophic und nimmt ihr so den Rang der Eigenstandigkeit, die cine originare Erklarungskraft besitzen konnte. Dieses Vorgehen gegen die rationalistische Philosophic seiner Zeit bedurfte freilich einer theoretischen Begriindung. Im zweiten Buch seines „Versuches uber den menschlichen Verstand" stellt Locke daher seine eigene Erkenntnistheorie vor, die seine Argumentationsfigur des ersten Buches absichert. Er konstatiert, dass alle Menschen spezifische Ideen in ihrem Geist haben, das heifit alle Menschen denken, und er macht es sich zur Aufgabe, zu erklaren, wie die Menschen zu diesen Ideen gelangen. Nachdem er die These ihres Angeborenseins verworfen hat, und dies mit empirischen Hinweisen, lag es nahe, die Erfahrung zur Quelle der Ideen zu erheben: „Unsere Beobachtung, die entweder auf auBere sinnlich wahrnehmbare Objekte gerichtet ist oder auf innere Operationen des Geistes, die wir wahmehmen und iiber die wir nachdenken, liefert unserem Verstand das gesamte Material des Denkens." (Ebd.: 108) Unmittelbar relevant fiir das Subjektverstandnis des Empirismus nach Locke ist, dass das Subjekt im Gegensatz zum Rationalismus nicht qua Geburt uber spezifische Ideen verftigt, sondem ausschlieBlich liber die beriihmt gewordene ,Tabula Rasa', also iiber eine leere Tafel, die erst liber die sinnliche Erfahrung sukzessive mit Inhalten gefiillt wird. Wie aus dem Zitat ersichtlich, differenziert Locke in Bezug auf die sinnliche Erfahrung dabei zwischen zwei Wahmehmungsbreichen, die den Bereichen des cartesianischen Dualismus entsprechen. Die Sensation richtet sich auf die subjektunabhangige AuBenwelt und die Reflection auf die subjektinternen Erlebnisse, die als Denken, Wollen etc. qualifiziert sind. Das Subjekt der Erfahrung ist somit auf eine passive Rolle zuruckgeworfen. Wahrend es bei Descartes aufgrund der Vorrangstellung des rationalen Prozessierens gegenliber der Sinneserfahrung als aktives Erkenntnissubjekt gedacht worden war, gerat es im Empirismus in die Rolle des leidenden Subjekts: Es wird durch auBere Objekte und innere Zustande affiziert, die flir die Konstitution der Ideen im Verstand verantwortlich sind, ob dieses dies nun mochte oder nicht. Entsprechend, und auch dies rlickt Locke in die Nahe der modernen Sozialisationstheorie, ergeben sich unterschiedliche Erkenntnisbiographien (oder eben: Sozialisationsverlaufe), die durch die unterschiedliche Mannigfaltigkeit der affizierenden Objekte und den daraus resultierenden mannigfaltigen Verlaufen des Aufbaus des Ideenvorrats generiert werden, wobei gilt: Die Ideen, die der Reflection entspringen, werden spater erworben als die Ideen der Sensation, da erstere eine erhohte Aufmerksamkeit verlangen. Ahnlich hatte Jahrhunderte spater Piaget den Verlauf der Ontogenese beschrieben, da auch bei ihm eine Systematisierung des Denkens, also eine Reflexion auf die eigenen Verstandesoperationen, erst mit einem hoheren Alter erreicht wird. Die Passivitat des erkennenden Subjekts ist selbstverstandlich auch fur Locke keine absolute. Sie bezieht sich auf einfache Ideen, die dadurch charakterisiert sind, dass sie nicht weiter zerlegt werden konnen, vielmehr als einheitliche Erscheinung erfahren werden. Beispiele, die Locke flir solche einfachen Ideen anflihrt, sind etwa Harte oder Kalte. Sie werden durch die Sensation erworben, und zwar passiv, das heiBt unabhangig vom Willen, und immer dann, wenn entsprechende Objekte die Sinne affizieren. Aktivitat entwickelt der Verstand erst, wenn er aus diesen einfachen Ideen komplexe Ideen erzeugt, das heiBt wenn 115
er die einfachen Ideen assoziiert. Dabei kann der Verstand zwar eine kreative Phantasie entwickeln, er kann jedoch nicht eine einzige einfache Idee als Material fur komplexe Ideen aus sich selbst heraus verursachen. Mit anderen Worten: Er kann surrealistisch die Welt neu zusammensetzen, die Elemente oder Rohstoffe, die er dabei verwendet, sind jedoch nur die, die liber die Sensation oder Reflection erfahren werden. Der Verstand kann die Welt zu seinem Zwecke ordnen, er kann ihr aber keine Erfahrungsinhalte hinzufiigen, die nicht bereits in dieser vorhanden sind und den Verstand affiziert haben. Es brauchen hier nicht die verschiedenen Aufzahlungen und Zusammenstellungen der einzelnen Ideen und ihrer Modi zu interessieren, die Locke in seinem „Versuch" anfiihrt, zumal diese ohnehin meist eher naturphilosophische Uberlegungen darstellen (siehe dazu Euchner 1996). Von nicht geringer Relevanz hingegen ist Lockes Differenzierung primarer und sekundarer Qualitaten, die bereits bei Descartes zu fmden war. Und ahnlich wie Descartes defmiert Locke die primaren Qualitaten als Ausdehnung, Festigkeit, Bewegung etc., also als die mathematischen Bestimmtheiten der Objekte und die sekundaren Qualitaten als Farbe, Geruch etc. also als die asthetisch-sinnlichen Erscheinungsformen der Objekte. Aus heutiger Sicht moglicherweise naiv anmutend stellt er die Frage, wie die Objekte nun die Ideen, die wir von ihnen haben, in unserem Verstand erzeugen konnen. Aus empiristischer Sicht, die von einem passiven Subjekt ausgeht, das durch Objekte affiziert wird, eine Frage, die Locke zweifelsohne beantworten konnen muss. Er nimmt dazu die Korpuskulartheorie in Anspruch und denkt sich die Ubertragung vom Objekt auf die Sinne bzw, den Verstand als einen vom Objekt ausgehenden Impuls, der die Nerven stimuliert und so die Ideen im Verstand hervorbringt. Bezliglich der primaren Qualitaten stellen die Ideen fiir Locke Abbilder der Objekte dar. (Descartes hatte immerhin behauptet, diese werden als einzige Qualitaten klar und deutlich erkannt.) Bezliglich der sekundaren Qualitaten hingegen geht Locke davon aus, diese seien keineswegs in den Objekten enthalten. Diesen bzw. den primaren Qualitaten inhariert lediglich eine Kraft, die die entsprechenden Sensations in uns bewirkt. „Abgesehen von den oben erwahnten primaren Qualitaten der Koper-GroBe, Gestah, Ausdehnung, Zahl und Bewegung ihrer festen Teile - sind alle ubrigen, durch die wir von den Korpern Notiz nehmen und sie voneinander unterscheiden, nichts anderes als eine Reihe von in diesen vorhandenen Kraften, die von den primaren Qualitaten abhangen, wodurch die Korper imstande sind, entweder unmittelbar auf unsere Korper einzuwirken und so eine Reihe verschiedener Ideen in uns zu erzeugen oder durch Einwirkung auf andere Korper deren primare Qualitaten so zu verandern, dass sie fahig werden, in uns andere Ideen als zuvor zu erzeugen." (Locke 1690/1988: 158) Es dlirfte vomehmlich dieses Postulat der Abbildhaftigkeit primarer Qualitaten sein, die Lockes Ruf als Abbildtheoretiker begrtindet hat. Denn wenngleich er in Bezug auf die sekundaren Qualitaten durchaus den rationalistischen Motiven entgegenkommt und ihre unmittelbare Erkennbarkeit leugnet, so fiihrt er letztlich doch auch diese auf einen subjektexternen Reiz zurlick, auf das Vermogen der primaren Qualitaten. Die Kraft (gemeint ist: Kausalitat) allerdings, die dabei (und in anderen kausalen Zusammenhangen) wirksam wird, so gesteht Locke seinem Nachfolger Hume den Weg bereitend freimlitig ein, konne nicht distinkt erkannt werden. Erkannt wird jeweils nur die Abfolge von Ursache und Wirkung.
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Obwohl Locke ein Bild des Erkenntnisprozesses zeichnet, das sich wesentlich durch die passive Abbildung von auBeren Objekten bestimmt, thematisiert er dennoch die flir den vorliegenden Kontext bedeutsame Frage der Willensfreiheit. Diese muss auf den ersten Blick innerhalb des empiristischen Paradigmas als triigerische Illusion und damit als nicht weiter behandelnswert erscheinen. Und tatsachlich kommt Locke auch schnell zu dem Ergebnis, dass allein die Frage nach einem freien Willen falsch gestellt ist. Er definiert Freiheit als die Macht, Ideen zu haben, die eine Handlung anregen (konnen). Da der Mensch jedoch im wachen Zustand immer irgendwelche Ideen prozessiert, besitzt er nicht die Freiheit zu denken oder nicht zu denken, also auch nicht die Macht, „worauf er erst einmal sein Denken richtet, zu wollen oder nicht zu wollen." (Ebd.: 294) Der Begriff der Freiheit, so Locke, lasst sich daher sinnvoll nur auf die Handlungsfreiheit, mithin auf politische Freiheiten, wie sie etwa von Locke selbst in seinen „Zwei Abhandlungen iiber die Regierung" (Locke 1690/1992) ausgearbeitet worden waren, beziehen. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich allerdings, dass Locke durchaus eine Form der Willensfreiheit einraumt. So gibt er einerseits zu bedenken, dass wir die Wahl haben, von einer Idee zu einer anderen Idee uberzugehen. Andererseits weist er darauf hin, dass einmal gefasste Wunsche unterbrochen werden konnen, so dass sie in den Prozess des Erwagens geraten. Durch diesen Aufschub erhah die Verstandestatigkeit die Moglichkeit einer Guterabwagung, also exakt jenen Freiheitsraum, der allgemein mit dem Terminus Willensfi-eiheit umschrieben wird. Selbstverstandlich treibt Locke seine Uberlegungen damit nicht bis zu einem Autonomieverstandnis vor, wie es spater in der kantischen Philosophic zu finden sein wird. Dennoch weicht er von einer strengen empiristisch-materialistischen Herangehensweise an das Problem der Willensfreiheit ab. Das Subjekt der Erkenntnis wird nicht auf einen bloBen Nachvollzug seiner passiv erworbenen Perzeptionen reduziert, sondem hat die Moglichkeit, diese a) assoziativ zu sortieren und b) diese kontrolliert in Handlungen zu tibersetzen. Das Ideenmaterial entnimmt es dabei wie bereits geschildert der Erfahrung. Wenngleich mit dem bisher geschilderten einige Konkretisierungen des Subjektiven, die sich mit Begriffen wie ,Tabula Rasa', Passivitat oder (eingeschrankte) Willensfreiheit umschreiben lassen, erkennbar wurden, blieb die Frage nach der Konstitution des Subjektiven aus der Sicht des Empirismus unbeantwortet. In dem rationalistischen Paradigma Descartes wurde das Subjekt als logische Deduktion aus der Methode des Zweifelns gewonnen. Da Locke mit seinem empiristischen Grundsatzprogramm das Vorgehen des Deduzierens aus hochsten Axiomen nicht teilen kann, muss er einen anderen Weg flir eine Bestimmung des Subjektiven finden. Konsequent empiristisch konstituiert sich das Selbstbewusstsein bzw. das Subjekt in der Lesart Lockes daher aus der Erfahrung oder genauer: aus der Reflection. Durch die Wahmehmung des eigenen Wahrnehmens, Denkens, Wollens usw. verobjektiviert sich das Subjekt und kann so selbst als Materialquelle fiir die Idee des Subjektiven fungieren. Im Ergebnis bestimmt Locke dann ahnlich wie Descartes die Subjektivitat bzw. das Selbstbewusstsein als Denken, das jeglichen Wahmehmungsakt begleitet, ist es doch flir Locke dieses Begleiten, das die Identitat (des Subjekts) ausmacht. Dies auch deshalb, weil er beziiglich der Erkennbarkeit von Substanzen skeptisch bleibt. Er postuliert zwar, dass wir ganz im Sinne des cartesianischen Dualismus davon ausgehen konnen, dass es, wie die Sensation zeigt, ausgedehnte und, wie die Reflection zeigt, denkende Substanzen gibt. Wir haben aber indessen keine klare und deutliche Idee von diesen. Substanzen sind flir 117
Locke komplexe Ideen, die auf ein ,Etwas' rekurrieren, das seinerseits weder durch die Sensation noch die Reflection erkannt werden kann, da diese nur einfache Ideen erfassen. Bezijglich des Subjekts bedeutet dies: Es gibt keine personale Substanz, die als metaphysisches Axiom dem Subjektiven zugrunde gelegt werden konnte. Es gibt einzig die Erfahrung, die sich auf ein verobjektiviertes Erfahren richtet und die im intellektuellen Nachvollzug der Ideen dieser Erfahrung die Idee der Subjektivitat ableitet. Daraus folgert innerhalb der Philosophic Lockes nicht, dass der menschliche Korper (als ausgedehnte Substanz) nicht einen entscheidenden Anteil an der Identitat des Subjekts hatte. Er wird zur Identifikation subjektiver Identitat operationalisiert. Er hat jedoch nicht den Anteil, den die Korper der unbelebten Natur an der Identitat der Objekte haben. Bei diesen, so Locke, fuhrt die Veranderung hinreichend groBer Teile der Materie zu einem Identitatswechsel. Bei Menschen hingegen bleibt die Identitat stabil, selbst wenn groBe Teile der Materie (des Korpers) einer Veranderung (z, B. Amputation) unterliegen. Mit dem Verzicht auf eine starke Riickftihrung des Identitatsproblems auf eine denkende (Rationalismus) oder ausgedehnte (Materialismus) Substanz reagiert Locke auf das heute kaum mehr aktuelle Problem der ,Seelenwanderung'. Die dabei diskutierte Frage war, ob ein Subjekt in verschiedenen Korpem das gleiche Subjekt bleibt oder nicht. Relevant fiir den vorliegenden Kontext ist dabei, dass Locke seinen Empirismus nicht zu einem radikalen Materialismus ausbaut und das Subjektive umstandslos substantialisiert. Die Identitat des Subjekts ist ftir ihn lokalisiert im Bewusstsein, das sich auf Vergangenes beziehen kann und so die je aktuelle Erfahrung des Erfahrens in eine Zeitunabhangigkeit bringt. Sie ist wesentlich eine personale Identitat, wobei der Begriff der Person explizit auf politische und juristische Kontexte Anwendung fmden soil, das heiBt als personale Zuschreibung von Meinungen und als Zuschreibung der Schuldfahigkeit. Aufgrund dieser Strategic kann er dann einen Vernunftbegriff in seinem Subjektverstandnis implementieren, obwohl dies aus empiristischer Sicht streng genommen nicht erwartet werden kann. Immanuel Kants These von der Vernunft als notwendigem Begriff zu Erklarung der Synthetisierung des Mannigfaltigen vorwegnehmend, behauptet Locke eine Funktionalitat der Vernunft, da das meiste Wissen aus Ableitungen resultiere, die eine entsprechende Instanz, das heiBt die Vernunft, notwendig voraussetze. Mit Lockes empiristischer Philosophic liegt nun insgesamt ein Gegenentwurf zum Rationalismus eines Descartes vor. Wahrend dieser bemuht war, ein allgemeines Prinzip fur eine auf die Deduktion verpflichtete Wissenschaft zu fmden, operationalisiert Locke mit der Erfahrung eine Wissensquelle, die die cartesianische Skepsis als sinnlos entlarvt. Entsprechend braucht Locke dann nicht mehr ein hochstes Axiom suchen, das die Skepsis auszuhebeln vermag. Er kann die subjektunabhangige AuBenwelt und die subjektive Innenwelt als Referenz ftir die Ideen und als Material ftir den intellektuellen Vollzug instruieren und so auf ein der Erkenntnis logisch vorgeschaltetes Subjekt verzichten. Zwar beschreibt Locke damit eher als Descartes den ,naiven' Alltagsverstand. Zwar kann er so die theoretisch notwendige Stellung Gottes, die dieser innerhalb der cartesianischen Philosophic eingenommen hatte, umgehen und auf diese Weise auf einen nicht-operationalisierbaren Begriff verzichten. Er produziert hingegen ahnlich wie die Intersubjektivitatstheorien einen logischen Zirkel, der seine Subjektvorstellung diskreditiert. Wenn das Subjekt sich durch die Wahmehmung des Wahrnehmens konstituieren soil, muss es schon Subjekt sein, um die 118
Wahrnehmung wahmehmen zu konnen. Anders formuliert: Das Erkennende und das Erkannte fallen bei Locke zusammen. Logisch aber muss es bereits ein Erkennendes geben, wenn etwas Erkannt werden soil. So wie Locke also mehrere Basisannahmen der Sozialisationstheorie teilt, teilt er auch deren methodisch-theoretisches Problem, Zu einer gehaltvollen Bestimmung des Subjektiven vermag Locke wenig beizutragen. Es bleibt unklar, wie sich die Konstitution des Subjektiven denken lasst, wenn diese erst mit dem Prozess des Wahmehmens einsetzen soil. So wie in der Intersubjektivtatstheorie das Subjekt gleichursprunglich auf die Sozialitat verwiesen war, ist das Subjekt Lockes gleichursprunglich auf die subjektunabhangige AuBenwelt (inklusive der Sozialitat) verwiesen. Es verfehlt die gesuchte Bedingung, logisch vor dieser zu liegen. Wie bei der Kritik des Intersubjektivtatsparadigmas nicht in Abrede gestellt worden war, dass die soziale Verflechtung des Einzelnen einen Einfluss auf den Sozialisationsprozess hat, wird mit dieser Kritik an Locke selbstverstandlich nicht dementiert, dass eine reflektierte Ich-Identitat im Verlauf der Entwicklung tatsachlich erst nach der Erkenntnis der AuBenwelt auftritt. Mit diesem Hinweis wird allerdings eine Form der Ich-Identitat bezeichnet, die synonym zu einem soziologisch-politischen Begriff der Individualitat eine spezifische Art des Selbstverhaltens und des Selbstverstandnisses bezeichnet. Das Menschen ihren Bezug auf die AuBenwelt reflektieren, das heiBt ihr Wahmehmen wahrnehmen, und daraus eine Ich-Identitat generieren, gibt keinen Aufschluss dariiber, wie sich die dem Wahmehmen zugrunde liegende Subjektivitat begreifen lasst. Es gibt einzig Aufschluss liber den empirischen Umstand, dass Menschen (im Laufe ihrer Entwicklung) die Fahigkeit entwickeln konnen (aber nicht zwangslaufig mussen), ihre Erfahrungen sich selber zuzuschreiben und mit Hilfe des Gedachtnisses daraus eine personliche Biographic abzuleiten, Wenn also mit Locke zwar auf eine Fundierung im Gottesbegriff verzichtet werden kann, verfehh er auf der anderen Seite eine eigentliche Bestimmung des Subjektiven, wie sie hier gesucht wird. Der Empirismus Lockes erweist sich so als theoriestrategischer Fortschritt und Riickschritt zugleich. Es ist daher nicht nur ein chronologisches Fortschreiten, wenn im Folgenden Gottfried Wilhelm Leibniz thematisiert wird, sondem auch ein Zuriickpendeln in den Rationalismus, der, wie bei Descartes gesehen, zu einer eigentlichen Bestimmung des Subjektiven mehr beizutragen scheint.
4.3. Die prdstabilierte Harmonie der Subjekte: Gottfried Wilhelm Leibniz Mit Gottfried Wilhelm Leibniz schlagt der Pendel allerdings nicht einfach nur zurlick in die Philosophic des Rationalismus. Er schlagt zuriick in die Philosophic eines Universalgelehrten, der in unterschiedlichen Disziplinen wie der Mathematik, der Physik, der Theologie und der Philosophic wirkte und dessen Werk sich durch ein Nebeneinander von Systematisierung und Zerstreuung auszeichnet. Die eingangs erwahnte Vorgehensweise, die einzelnen Autoren selektiv aufzuarbeiten, gilt daher nicht zuletzt aufgmnd der Themenvielfalt insbesondere flir Leibniz. Allein, insbesondere flir Leibniz gilt auch: Gerade bei ihm bietet sich ein selektiver und immer schon durch die hier zu verhandelnde Fragestellung verzerrter Zugriff deshalb an, weil so wesentliche Bestimmungen des Subjektiven konzentriert heraus destilliert werden konnen, die fur die Bezugnahme auf die Sozialisationstheorie 119
entscheidende Hinweise zu geben vermogen. Wie sich zeigen wird, lassen sich namlich, ahnlich wie bereits bei Locke, auch bei Leibniz argumentationslogische Parallelen zur Sozialisationstheorie, insbesondere zum Strukturfunktionalismus, zur schichtenspezifischen Sozialisationsforschung und zum Konzept der Selbstsozialisation, finden. Erkenntnistheoretisch setzt Leibniz die Tradition des Rationalismus fort. Dies bedeutet, er diskreditiert die Sinneserfahrung als unsichere Quelle von Wissen und inthronisiert die Verstandestatigkeit als Basis fur wahre Aussagen. Dies kommt auch bei Leibniz selbstverstandlich nicht einer absoluten Dementierung der Sinneserfahrung gleich, sondern schlagt sich etwa in dem Verweis nieder, dass die Wahrnehmungen ihre Deutlichkeit erst durch die Einbildungskraft erhalten, der die Aufgabe zukommt, die Sinnesinformationen zu vervollstandigen und diese auf der Basis von Gemeinsamkeiten zu integrieren (vgl. Mugani 1999). Dies schlagt sich aber vor allem in seinem beruhmten Diktum nieder: Nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu, excipe: nisi intellectus ipse (Leibniz 1703/1985: 103). Wahrend Leibniz mit dem ersten Teilsatz das Grundprinzip des Empirismus aufnimmt, verdeutlicht er mit dem Zusatz, dass es letztlich die Verstandestatigkeit ist, die aus sich selbst heraus zu wahren Aussagen flihrt. Ahnlich wie bei Descartes favorisiert daher auch Leibniz konsequenterweise nur jene mathematisch-geometrischen Wahrheiten als notwendige und ewige Wahrheiten, wahrend die Erkenntnisse der Sinneserfahrung grundsatzlich kontingent und undeutlich bleiben. „Demnach miissen wir Menschen in unserem Erkennen zweierlei als Prinzip oder als urspriinglich betrachten, zum einen das Prinzip der Identitat oder des Widerspruchs fur die notwendigen Vernunftwahrheiten, zum anderen die Erfahrungen als Basis unserer Tatsachenaussagen." (Liske 2000: 149; vgl. auch Leibniz 1684/1985) Bei der Bestimmung der Willensfreiheit wird dieser Differenz eine besondere RoUe zufallen. Entsprechend dem Programm einer intern operierenden Verstandestatigkeit nimmt Leibniz (1703/1985) gegeniiber Locke erneut die These auf, es gabe angeborene Ideen, die als Quelle die interne Verstandestatigkeit instruieren. Explizit bezieht er sich dabei auf Lockes „Versuch iiber den menschlichen Verstand" und der dort erfolgten Strategic, mit empiristischen Mitteln die These der angeborenen Ideen zu widerlegen. Allgemein fiihrt er dabei zwei wesentliche Argumentationslinien ein, die die empiristischen Einwande emst nehmen - Leibniz gesteht etwa durchaus ein, dass eine allgemeine Ubereinstimmung beziiglich einer Idee nicht eo ipso deren Angeborensein beweist - und dennoch zu iiberwinden trachten. Zum einen verweist er darauf, dass die angeborenen Ideen (z. B. geometrische Wahrheiten) den Subjekten keineswegs bewusst sein miissen bzw. dass diese erst im Laufe der Ontogenese erlemt werden, Locke hatte auf den Umstand verwiesen, dass bei Kindem (und spezifischen Erwachsenen) sich die als angeboren titulierten Ideen uberhaupt nicht finden lassen. Leibniz reagiert nun darauf, indem er diesen empiristischen Hinweis aufnimmt und sich gleichsam in eine Theorie des Unbewussten zuriickzieht. Er kann so den schwerlich zu widerlegenden Umstand, dass die als angeboren geltenden Ideen nicht umstandslos von alien Subjekten gewusst oder zu Anwendung gebracht werden, aufnehmen und zugleich an der These angeborener Ideen festhalten, indem er argumentationslogisch ahnlich wie Locke auf sozialisationstheoretische Annahmen rekurriert. Beide verwenden die generelle sozialisationstheoretische Argumentationsfigur, nach der die Subjekte erst im Laufe der Ontogenese, vermittelt durch Umwelteinfliisse, ein Bewusstsein generieren, das in der Lage ist, 120
spezifische Inhalte (Ideen) zu prozessieren, wobei die Ontogenese (auch bei Leibniz) in dem Sinne scheitem kann, dass einige Ideen uberhaupt nicht ins Bewusstsein gelangen. Leibniz verschiebt die Frage nach den angeborenen Ideen freilich auf eine Ebene, auf der sie aus der Perspektive des modernen (empiristischen) Wissenschaftsverstandnisses nicht mehr endgiihig zu beantworten ist. Wenn sich die angeborenen Ideen erst im Laufe der Entwicklung realisieren, konnen diese sowohl durch den Austausch mit der Umwelt (Objekte oder andere Subjekte) erworben worden oder tatsachlich angeboren sein. Anders formuliert: Wenn ohnehin nur von dem Ergebnis (Realisierung der Ideen) ausgegangen werden kann, kann die Frage nach ihrer Konstitution mit empirischen Mitteln nicht mehr einwandfrei entschieden werden. Denn selbst wenn sich zeigen lasst, dass bestimmte Ideen sich erst ab einem bestimmten Aher reaUsieren, kann sowohl behauptet werden, diese seien durch den Austausch mit der Umwelt erworben, als auch, sie seien immer schon im Verstand gewesen und wiirden erst spater bewusst werden. Aus der Sicht der heutigen Sozialisationstheorie wird damit hier bereits deutlich: Leibniz steht auf dem Boden der Metaphysik, wenn er annimmt, spezifische Bewusstseinsinhalte batten einen anthropologischen oder sogar ontologischen Status, der jenseits der Auseinandersetzung mit der Umwelt firmiert, Indessen fuhrt Leibniz zum anderen zusatzlich ein erkenntnis- bzw. wissenschaftstheoretisches Argument ein, das nicht auf den Pfaden der empiristischen Philosophie wandelt. Er postuliert, dass angeborene Ideen deswegen als angeboren gelten mussen, weil diese Ideen erst durch die Annahme ihres Angeborenseins als wahr bewiesen werden konnen. Uber die Sinneserfahrung konnten die notwendig wahren Urteile weder entwickelt, noch konnte ihre Wahrheit erwiesen werden, so dass diese Urteile erst dann bewiesen sind, wenn sie als angeboren angenommen werden. Mit diesem Argument verlasst Leibniz die Argumentationslogik Lockes und fuhrt genuin rationalistische Motive ein. Unabhangig von empirischen Umstanden ftihrt er die These der angeborenen Ideen ein, um wissenschaftstheoretisch flir geometrisch-mathematische Aussagen ein Begrundungsmuster finden zu konnen. SchlieBlich batten die Empiristen zugestehen mussen, dass diese Aussagen tatsachlich unabhangig und jenseits von empirischen Verhaltnissen angesiedelt sind. Dieses Zugestandnis nimmt Leibniz auf und griindet darauf seine These, der Verstand bringe diese Aussagen immer schon mit, so dass diese gleichsam als notwendiges Postulat oder als regulative Idee im kantischen Sinne zur Erklarung der mathematischen Wahrheiten fungieren. Fur eine Bestimmung des Subjekts tragt Leibniz mit diesen Ausftihrungen nun wenig bei. Die These angeborener Ideen war bereits bei Descartes aufgetaucht und dem Einwand Lockes, diese seien nicht zu belegen, kann aus moderner Perspektive zweifellos gefolgt werden, da ein derart inhaltliches Subjektverstandnis den Anspriichen an eine nachmetaphysische Theoriebildung nicht geniigen kann. Denn vor diesem Hintergrund operiert auch das von Leibniz vorgetragene zusatzliche Argument, mit der These der angeborenen Ideen lasse sich die wissenschaftstheoretische Lucke zur Deduktion der notwendigen Wahrheiten flillen, letztlich auf dem Boden der Metaphysik, so dass die These der angeborenen Ideen kaum flir eine erkenntniskritische Sozialisationstheorie fruchtbar gemacht werden kann. Leibniz bietet hingegen einen weiteren Theoriestrang, der flir die Problematisierung eines Subjektverstandnisses wesentliche Momente beisteuem kann: Die Monadologie (vgl. Leibniz 1714/1997). 121
Dieser liegen begrifflogisch zwei Prinzipien zugrunde, die zur der Auffassung eines vollstandigen Individualbegriffes fuhren: Die These, dass auBere Denominationen unzulassig sind und das principium identitatis indiscemibilium (vgl. Liske 2000: 64ff.; Zur naturphilosophischen Herleitung des Monadenbegriffes vgl. ebd.: 73 ff). Die These der Unzulassigkeit auBerer Denominationen entspringt der rationalistischen Wahrheitsauffassung, nach der wahre Pradikate im Begriff des Subjekts eingeschlossen sind und a priori erkannt werden miissen, um eben wahr zu sein. Mit dem principium identitatis indiscemibilium postuliert Leibniz, dass es keine zwei Entitaten geben kann, die sich durch keine Eigenschaft unterscheiden. Die Wirklichkeit ist vielmehr derart in sich differenziert, dass jede Entitat immer schon gegeniiber der Umwelt individualisiert ist. Mit diesem Postulat wird bereits die Uberschneidung mit der Systemtheorie Luhmanns erkennbar, die ebenfalls davon ausgeht, dass psychische Systeme sich bereits aufgmnd ihrer autopoietischen Operationsweise durch eine individuelle Stellung auszeichnen. In Verbindung mit der aristotelischen Substanzmetaphysik geht Leibniz nun davon aus, dass die Wirklichkeit letztlich aus unteilbaren und immateriellen Monaden besteht, die ihre ganze Biographic und die gesamte Wirklichkeit in sich enthalten. Als immaterielle Substanzen sind sie freilich hinter den Erscheinungen angesiedeh und erfullen auf diese Weise zunachst die von Geulen geforderte Bedingung. Leibniz fugt jedoch seinem Monadenbegriff weitere, problematische Bestimmungen hinzu. Zunachst ist festzuhalten, dass aufgmnd der oben genannten begriffslogischen Konstitution der Monadentheorie sich diese dadurch auszeichnen, dass alle Pradikate, die ihnen zukommen, in ihnen begrlindet sind und aus diesem abgeleitet werden konnen und dass keine zwei Monaden zu finden sind, die miteinander identisch sind. Als immaterielle Substanzen bezeichnen sie eine schopferische und aktivische Potenz, die als konstitutives Prinzip dem Subjekt zugmnde liegt. Ganz im Sinne Luhmanns sind sie operational geschlossen und somit selbstsozialisierend. Dies bedeutet, Veranderungen resultieren aus intemen Operationen, da keine anderen Substanzen Oder Akzidenzien den Monaden von auBen hinzugefiigt werden konnen. In der bertihmten Formuliemng von Leibniz lieBt sich dies so: „Die Monaden haben keine Fenster, durch die etwas ein- oder austreten konnte." (Leibniz 1714/1997: §7) Die Inhalte der Operationen der Monade bestimmt Leibniz mit dem Begriff Perzeption, wobei er diesen gegen die Apperzeption oder das Bewusstsein abgrenzt und damit einzig eine Abfolge von Bewusstseinsinhalten bezeichnet, die aber dem Subjekt nicht notwendig bewusst werden mtissen. Den Motor der Veranderung, also des Uberganges von einer Perzeption zu einer anderen, erblickt Leibniz im Trieb. Wahrend dieser Prozess also zunachst ein animalisches Niveau beschreibt, setzt die Entwicklung einer selbstbewussten IchIdentitat das Prozessieren der notwendigen Wahrheiten voraus. In einem gewissen Sinn formuliert Leibniz mit dieser entwicklungstheoretischen Annahme bereits die Grundlage fiir eine defizitorientierte Kompetenztheorie, die dann etwa in der schichtenspezifischen Sozialisationsforschung dahingehend ausgebaut wurde, dass spezifische Milieus etwa durch ihren Sprachgebrauch Probleme haben, eine selbstbewusste Individualitat zu erreichen. SchlieBlich lasst sich das Prozessieren der notwendigen Wahrheiten iibersetzen als elaborierter Code (Bernstein), als eine selbstbestimmte Berufstatigkeit (Kohn) oder als eine soziale Umwelt, die durch anspmchsvolle Bildungsinhalte eine optimale Ontogenese anzuregen vermag (Bourdieu). 122
Erkenntnistheoretisch manovriert sich Leibniz mit seiner Bestimmung der Monaden in die gleiche Situation, in die Descartes mit seinem ,Cogito' geraten war. Wenn die Monaden in sich geschlossen bzw. fensterlos sind, wird unklar, wie sich ein Bezug auf die Welt realisieren lasst. Immerhin gesteht auch Leibniz ein, dass diese existiert, da sie im Erkenntnisakt als existierend erlebt wird. Nun windet sich Leibniz aus diesem Problem zunachst dadurch heraus, dass er die Representation der gesamten Wirklichkeit in der Monade stattfmden lasst. GemaB dem principium identitatis indiscernibilium folgt daraus allerdings nicht, dass samtliche Monaden die Wirklichkeit gleichermafien reprasentieren. Sie tun dies zwar der Potenz nach, realisiert wird jedoch immer nur eine spezifische Ansicht der Wirklichkeit, die Leibniz mit verschiedenen Perspektiven auf eine Stadt vergleicht. So wie eine Stadt aus alien Himmelrichtungen beobachtet werden kann, so dass sich diese fur die unterschiedlichen Beobachter unterschiedlich darstellt, so fokussieren auch die individuierten Monaden unterschiedliche Aspekte der Wirklichkeit, die jedoch in ihrer Gesamtheit fur alle Monaden gleich ist. Wiirde Leibniz bei dieser Strategic stehen bleiben, hatte er im kantischen Sinne den Weltbezug und die Intersubjektivitat durch die Begrifflichkeit einer transzendentalen Subjektphilosophie begriindet. Allen Subjekten kommen a priori die gleichen Erkenntnisfahigkeiten und die gleichen Begriffe zur Strukturierung der Erkenntnisse zu, so dass trotz der Abgeschlossenheit der Monaden eine intersubjektive Ubereinstimmung und eine Ubereinstimmung der kognitiven Strukturen mit der Wirklichkeit garantiert ist. Leibniz vollzieht hingegen noch nicht die transzendentale Wende, sondern stellt seine Monadentheorie in den Rahmen einer theologisch ausgerichteten Metaphysik, die wiederum Gott als Referenz flir den Weltbezug instrumentalisiert (vgl. auch Kaehler 1999). Das eigentliche Hauptthema seiner Theodizee (Leibniz 1710/1985) ist der Versuch, zu begriinden, wieso trotz des Umstandes, dass Gott, der grundsatzlich vernunftgesteuert agiert, die beste aller moglichen Welten geschaffen hat, und diese dennoch eine Unzahl an Leid und Siinden zulasst. Die einzelnen Argumente, die Leibniz dabei vortragt, brauchen an dieser Stelle nicht zu interessieren (vgl. dazu Schneiders 1997). Relevant flir den vorliegenden Kontext sind allein seine Ausfuhrungen zum Problem der Freiheit und der prastabilierten Harmonic. Da die Monaden unteilbar und immateriell sind, konnen sie nur in einem Zug geschaffen und vernichtet werden. Diese Schopferaufgabe kommt dem leibnizschen Zeitgeist entsprechend Gott zu, der auf diese Weise zur einzigen Entitat auBerhalb der Monaden wird, die zugleich einen Einfluss auf die Gestaltung der Monaden hat. Aufgrund der Wahl der besten aller moglichen Welten, ist diese nun bis ins kleinste Detail durch die Schopfertatigkeit Gottes determiniert und damit auch die Monaden. Sie fiigen sich in die Komposition Gottes an genau dem Platz ein, an dem sie von Beginn an vorgesehen waren. Die These, dass die Monaden ihre gesamte (also auch zukiinftige) Biographie in sich selber enthalten, bekommt so den Beigeschmack eines radikalen Determinismus. Abweichende Handlungen von dem Plan Gottes wiirden sein Werk nicht nur zerstoren, sie wiirden die Wahl der besten aller moglichen Welten aufheben, die schlieBlich nur dadurch zur besten aller Welten wird, dass alles seinen von vomherein geregelten Weg geht. Es braucht kaum erwahnt zu werden, dass Leibniz mit diesen Ansichten eine Nahe zur calvinistischen Pradestinationslehre erreicht. Ein wesentlicher Aspekt der Determination ist nun, dass Gott die Wirklichkeit in Form einer prastabilierten Harmonic eingerichtet hat. Dies bedeutet erstens, dass die kognitiven 123
Strukturen der Monaden sich kongruent zur Wirklichkeit verhalten, Gott also den Weltbezug der Monaden, ahnlich wie bei Descartes, garantiert. Zweitens bedeutet dies, dass der intersubjektive Austausch - in der Terminologie Luhmanns formuliert: die Interpenetration der Monaden - seinerseits unter der Pramisse der prastabilierten Harmonie ermoglicht wird, so dass die Monaden zwar fensterlos bleiben, aufgrund ihrer auBeren Determination sich jedoch reziprok verhalten. Beispielhaft illustriert Leibniz dies an zwei Uhren, die durch den gleichen Uhrmacher (Gott) konstruiert und aufgezogen werden, so dass sie unabhangig voneinander funktionieren und dennoch immer die gleiche Zeit anzeigen. SchlieBlich bedeutet die prastabilierte Harmonie drittens, dass Leibniz das Problem des Leib-SeeleDualismus gegenuber Descartes modifizieren kann. Der Korper und der Geist bzw. das Bewusstsein sind streng voneinander getrennt, eine gegenseitige Beeinflussung ist kategorisch ausgeschlossen. Anders als bei Descartes unterscheiden sie sich allerdings nicht durch die Differenz von geistiger und ausgedehnter (materieller) Substanz. In gewisser Weise kommt alien Entitaten, dem Mensch genauso wie dem Stein, die Eigenschaft zu, ,beseelt' zu sein, so dass der Unterschied zwischen ihnen nur gradueller Natur ist. Aufgrund der prastabilierten Harmonie nun stimmen die Prozesse des Geistes grundsatzlich mit denen des Korpers iiberein, so dass der Geist zwar auf den Korper nicht in der direkten Form einer neuronalen Steuerung einwirkt, seine Intentionen (z. B. sich erheben) aber durch die prastabilierte Harmonie im Korper gleichzeitig prozessiert werden. Die Synchronisierung von Bewusstseinszustanden und korperlichen Handlungen wird also von auBen durch Gott geregelt und ermoglicht. Sozialisationstheoretisch riickt Leibniz damit in die Nahe des strukturfunktionalistischen Ansatzes von Emile Durkheim. Zwar hatte sich dieser nicht die Frage gestellt, wie Bewusstsein und Korper integriert werden konnen, oder wie eine intersubjektive Bezugnahme moglich wird. Sein ordnungspolitisches Denken setzt jedoch an jener Individuierung an, die Leibniz durch seine Monadenlehre bereits als anthropologisches Axiom gesetzt hatte und die im Zuge der ftanktionalen Differenzierung schlieBlich soziologisch beobachtet werden kann und neue Formen der Integration notwendig macht. Fiir Durkheim, der bereits unter der Agide einer sakularisierten Gesellschaft denkt, iibemimmt freilich nicht mehr Gott die Aufgabe, jene partikularisierten Individuen (und Berufsgruppen) aufeinander zu beziehen, sondern die Gesellschaft - der allerdings auch bei Durkheim gleichsam noch gottahnliche Akzidenzien zugeschrieben werden, wenn er diese etwa als Ursprung des religiosen Denkens begreift. Die Thematisierung von gesellschaftlich angeleiteter Sozialisation und Erziehung hat bei ihm schlieBlich gerade den Zweck, jene durch die kulturelle Homogenitat der Feudalgesellschaften induzierte „prastabilierte Harmonie" unter dem Vorzeichen eines Individualisierungsprozesses zu reaktualisieren. Und ahnlich wie Durkheim sich das Problem einhandelt, individuelle Freiheit nicht mehr hinreichend in den Blick zu bekommen, hat auch Leibniz in verscharfter Form das Problem, die Freiheitspotentiale des Subjekts zu begriinden. Wenn die gesamte Geschichte, und damit die Biographic jeder einzelnen Monade, durch Gottes Schopfungsakt determiniert ist, konnen die Subjekte nicht anders, als sich gemaB der gottlichen Ordnung und Vorhersehung zu verhalten. Leibniz selbst scheint mit dieser Konsequenz aus seinem Denken nicht einverstanden gewesen zu sein, und hatte sich daher bemiiht, die Determination mit subjektiver Freiheit zu vermitteln. Er greift dazu auf die Unterscheidung zwischen notwendigen und kontingenten Wahrheiten zurlick und behauptet: Gottes Wahl der besten aller mogli124
chen Welten ist keine Wahrheit, der der Status der Notwendigkeit zukommt. Er hatte auch eine weniger optimale Welt wahlen konnen. „Obgleich Gott [...] mit Sicherheit immer das Beste wahlt, so hindert das nicht, dass das, was weniger vollkommen ist, an sich moglich ist und bleibt, obwohl es nicht eintreffen kann, denn nicht seine Unmoglichkeit, sondem seine Unvollkommenheit macht, dass es zuruckgewiesen wird." (Leibniz 1686/1985: 91) Aus der Sicht einer liberalisierten Gesellschaft und eines entsprechenden Selbstverstandnisses des Subjekts, vermag diese Argumentationsfigur freilich nicht zu iiberzeugen. Vielmehr soil sich die subjektive Freiheit auch darauf erstrecken, das Unvollkommene zu wahlen. Leibniz selbst weii3 um den Umstand, dass Menschen dies aufgrund ihrer Leidenschaften auch tatsachlich tun. Aufgrund seiner generellen Pramisse, Gott habe die gesamte Geschichte bereits geplant, sind solche Abweichungen vom Vollkommenen jedoch ihrerseits determiniert. Es bleibt daher unverstandlich, aus welchem Grund die Moglichkeit das Unvollkommene wahlen, dies aber nicht tun zu konnen, als Begriff der Freiheit fungieren konnen soil. Mit Leibniz wird also eine Position markiert, die das Subjekt zwar einerseits logisch vor seiner Einbindung in die soziale und materielle Wirklichkeit ansiedelt, es aber zugleich im Rahmen einer theologischen Verortung in der Schopfung Gottes mit dem Pradikat der Determiniertheit beschreibt und damit die logische Vorrangstellung vor der Wirklichkeit wieder aufhebt. Wiederum wird Gott zu einem Garanten fur den Weltbezug des Subjekts, das als fensterlose Monade diesen Bezug aus sich selbst heraus nicht herstellen kann. Leibniz fallt damit einerseits hinter den von Locke erreichten Diskussionsstand zuriick. Andererseits verstrickt er sich bei der begrifflichen Bestimmung des Subjektiven nicht in derartige Widerspruche, die Locke aufgrund seiner empiristischen Konzeption provozierte. Aus der Frontstellung zwischen Leibniz und Locke ergibt sich damit das Paradox, dass die rationalistische Strategic zwar einen widerspruchsfreien Subjektbegriff entwickeln kann, der jedoch Zusatzannahmen erfordert, die dem Anspruch an eine postmetaphysische Theoriebildung nicht stand halten konnen, und die empiristische Strategic zwar auf metaphysische Zusatzannahmen verzichten kann, dafiir aber den Preis bezahlt, ein widerspruchsfreies Subjektverstandnis gar nicht erst entwickeln zu konnen. In einem gewissen Sinne hat sich allerdings die empiristische Tradition diesem Dilemma gestellt und mit George Berkeley und David Hume versucht, einen Ausweg zu finden.
4.4. Das immaterielle Subjekt: George Berkeley Aus der Problemstellung der theoretischen Bestimmung des Subjektiven heraus, liest sich George Berkeley auf den ersten Blick als ein radikaler Denker, der mit seinem Ansatz des Immaterialismus scheinbar die Tradition des Skeptizismus auf die Spitze treibt. Seine Aufgabe des Materiebegriffes rlickt ihn in die Nahe einer philosophischen Denkrichtung, die davon ausgeht, dass es nichts gibt und somit nichts entschieden werden kann. Und zweifelsohne beraubt Berkeley dem Alltagsdenken mit der Materie eine Referenz, die nicht nur Impulse fur eine intellektuelle Entwicklung beisteuem kann, sondern die vor allem als Richtschnur fur die objektive Beantwortung strittiger Fragen zur Verfiigung stehen soil.
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Dennoch besteht er darauf, gerade nicht die Tradition des Skeptizismus oder Nihilismus zu tradieren, sondem, ahnlich wie bereits Descartes, diese uberwunden zu haben. In seiner zentralen Schrift, „Eine Abhandlung iiber die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis" (Berkeley 1710/1979), beginnt Berkeley zunachst gut empiristisch, wenn er davon ausgeht, dass alle Inhalte der menschlichen Erkenntnis entweder durch die Sinne eingepragte Ideen sind oder Ideen, die durch das Gedachtnis und die Einbildungskraft gebildet werden. Neben den Erkenntnisobjekten bzw. Ideen existiert flir Berkeley ein „Ich", das von jenen grundverschieden ist, und von dem die Ideen und Erkenntnisobjekte perzipiert werden. Mit dieser Differenz setzt Berkeley die klassische Subjekt-Objekt-Situation an den Anfang seiner Uberlegungen. In einem gewissen Sinne nimmt er sie allerdings in einem zweiten Schritt wieder zurtick, wenn er argumentiert, dass die Ideen oder Erkenntnisobjekte nur in einem sie perzipierenden Verstand existieren konnen oder mit den beriihmten Worten Berkeleys: Esse est percipi aut percipere. Es ist flir Berkeley eine notwendig wahre Aussage, dass die Objekte der Erkenntnis nicht unabhangig von einem sie perzipierendem Subjekt existieren konnen. Er setzt sich damit von dem materialistischen Empirismus eines Locke ab und gibt diesem eine idealistische Wende. Nicht mehr die subjektunabhangige AuBenwelt dominiert den Erkenntnisprozess, sondem das erkennende Subjekt selbst wird in einem starken Sinne zur Bedingung der Moglichkeit von Erkenntnis einerseits und der Existenz der Realitat andererseits. Aber nicht nur die empiristische Position Lockes wird mit dieser Begriffsstrategie aufgegeben. Auch der Rationalismus eines Descartes etwa wird durch diese radikalisiert. Wahrend dieser zwar dem Subjekt eine prominente Rolle gegeniiber der Umwelt zugeschrieben hatte, dehnt Berkeley diese Rolle dahingehend aus, dass er die Annahme einer AuBenwelt vollstandig destruiert. Das Erkenntnissubjekt greift, vermittelt durch seine kognitiven Begriffe, nicht nur selektiv auf die AuBenwelt zu. Es avanciert in den Rang, die einzig annehmbare Existenz und damit seine eigene AuBenwelt zu sein. Fiir die Objekte der Erkenntnis bedeutet dies, dass ihre Realitat sowohl beziiglich ihrer primaren als auch ihrer sekundaren Merkmale nur in dem Sinne angenommen wird, dass sie in einem subjektiven Verstand prozessiert werden. Entsprechendes gih dann selbstverstandlich flir jene mathematischphysikalischen GroBen wie Bewegung oder Ausdehnung. Philosophisch begriindet'^ wird diese Position des Immaterialismus mit dem Hinweis darauf, dass es nur zwei Moglichkeiten der Kenntnisnahme einer subjektunabhangigen Wirklichkeit gibt, die beide als unplausibel zuriickgewiesen werden. Zum einen konnten die Sinneserfahrungen Auskunft iiber eine solche Wirklichkeit geben. Berkeley verweist allerdings darauf, dass selbst die Materialisten eingestehen, dass uber die Sinne nur die Sinnesempfindungen oder Ideen unmittelbar wahrgenommen werden, nicht aber eine unabhangige AuBenwelt. Zum anderen konnte eine rationale Deduktion die Erkenntnis einer AuBenwelt vermitteln. Fur Berkeley gibt es jedoch keine Deduktion, die eine solche Schlussfolgerung ermoglichen wiirde, zumal aufgrund des zuerst genannten Einwandes eine Verbindung zwischen dem Subjekt und der AuBenwelt nicht angenommen werden kann. Der Begriff einer subjektunabhangigen Materie steht damit in dem Verdacht eines metaphysischen Begriffes, da er weder durch die Empiric noch durch eine rationale Vemunfttatigkeit aus12 Zur theologischen Riickbindung des Immaterialismus vgl. Breidert (1997).
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zuweisen ist. Fur Berkeley bedeutet dies, der Begriff der Materie ist sinnlos bzw. uberfliissig, da er zur Klarung des Erkenntnisprozesses nichts Substantielles beitragen kann. Noch deutlicher wird diese Schlussfolgerung in seinen „Drei Dialogen zwischen Hylas und Philonous" (Berkeley 1713/1955), in denen Berkeley bemuht war, seine Philosophie durch die literarischen Form des Dialoges der Leserschaft verstandlicher zu machen, Dort prasentiert er einen philosophischen Opponenten, der als Verfechter des Materiebegriffes eingefuhrt wird, und der Berkeley in Person des Philonous vorwirft, dem Skeptizismus in die Hande zu spielen. Berkeley argumentiert gegen diesen Vorwurf bzw. den Materialismus zwar unter anderem mit der klassisch-skeptitizistischen Strategie, die Sinneswahrnehmung als irrtumsanfallig zu diskreditieren, treibt aber den Diskussionsstrang immer wieder dahin, zu demonstrieren, dass die einzelnen Eigenschaften, die iiblicherweise den Objekten zugeschrieben werden, einzig im Verstand existieren konnen und dass gerade die materialistische Position sich in Widerspriiche verstrickt, die dem Skeptizismus breite Einfallstore bieten, wenn sie am Materiebegriff festhalt. Denn Berkeley begniigt sich nicht damit, die Materie als unerkennbar zu destruieren. Auch ein mogliches begrifflogisches Festhalten am Begriff der Materie kritisiert er, da ein solcher Begriff entweder auf nichts referiert und somit nutzlos sei, oder aber eben in sich widersprtichlich wird, wenn er behauptet auf etwas zu referieren, was (selbst nach materialistischen Zugestandnis) aufgrund des Erkenntnisprozesses nicht erkannt werden kann, aber vor dem Hintergrund des Materialismus eigentlich erkannt werden konnen mtisste. Natlirlich war sich Berkeley des Umstandes bewusst, dass er sich mit dieser Philosophie jenseits des Alltagsdenkens und jenseits bedeutender Teile der Geistesgeschichte positionierte. Eine besondere Bedeutung kommt daher in seiner Schrift liber die menschliche Erkenntnis dem Versuch zu, mogliche Einwande gegen seinen Immaterialismus zu entkraften. Der wohl gewichtigste Einwand gegen den Immaterialismus diirfte die Frage sein, ob durch diesen nicht die Mannigfaltigkeit der empirischen Wirklichkeit verschwinden miisse. Berkeley jedoch macht geltend, dass er mit uneingeschrankter Gewissheit davon ausgeht, dass die Erkenntnisgegenstande tatsachlich existieren. Gerade gegen den Materialismus, der seine subjektunabhangige Materie nicht erkennen und erklaren kann, postuliert Berkeley, sich seiner Ideen vollkommen sicher zu sein, und keineswegs zu zweifeln, dass jene Gegenstande, die er perzipiert, tatsachlich vorhanden sind, wenn auch nur in seinem Geist und nicht in einem absoluten Sinne. Dennoch - oder gerade deswegen - kann er diese entsprechend dem pragmatischen Alltagsvollzug oder entsprechend einer wissenschaftlichen Methodik untersuchen und sich ihre Eigenschaften nutzbar machen. In seinen „Dialogen" lasst er sein alter ego Philonous resumieren: „Ebenso wie ich kein Zweifler bin in Hinsicht auf die Natur der Dinge, bin ich es auch nicht, was ihr Dasein anlangt. Dass ein Ding wirklich durch meine Sinne wahrgenommen werden und zu gleicher Zeit nicht wirklich da sein sollte, ist fur mich ein offener Widerspruch; denn ich kann, selbst in Gedanken, das Dasein eines sinnlichen Dinges von seinem Wahrgenommenwerden nicht abtrennen noch absondem."(Ebd.: 141) Mit diesem Zitat wird nochmals deutlich, wie Berkeley seine Uberwindung des Skeptizismus verstanden wissen mochte. Seine immaterialistische Position, die sich nicht auf eine unerkennbare Materie erstreckt, braucht an den Sinneseindriicken nicht zu zweifeln, da die Frage nach ihrer Referenz und damit nach ihrem Wahrheitsgehalt (bzw. ihrer Ubereinstim127
mung mit den auBeren Gegenstanden) gar nicht erst gestellt wird. Er umgeht damit den Skeptizismus, indem er ihn, ahnlich wie Descartes, an seinen eigenen Homem packt, das heiBt seine starken Argumente nachvollzieht und gerade daraus den Schluss folgert, es gabe keinen Grund an der Existenz der Dinge und damit an der Entscheidbarkeit strittiger Fragen zu zweifeln, da dies bedeuten wiirde, an der Gewissheit der je eigenen Perzeptionen zu zweifein, was die Moglichkeit des Zweifels selbst erodieren lassen miisste. Zum anderen wird an diesem Zitat aber auch deutlich, inwiefern Berkeley die empiristische Ausgangssituation des Subjekt-Objekt-Verhaltnisses nur in einem gewissen Sinne zuriicknimmt. Zwar lokalisiert er dieses Verhaltnis in einem rein geistigen Prozessieren, dennoch bleibt sie der entscheidende Motor, der den Erkenntnisprozess antreibt. Das Subjekt ist keineswegs als solipsistisches gedacht, das in der Lage ware, seine Wirklichkeit frei zu phantasieren. Naturlich kommt dem menschlichen Verstand die Fahigkeit zu mit Hilfe der Einbildungskraft Chimaren zu produzieren. Diese konnen jedoch nicht jenen Status von Erkenntnisobjekten erreichen, der mit einer Existenz verbunden ware. Der MaBstab fiir die Entscheidung, ob etwas ein Produkt der Phantasie ist, oder ob im Sinne Berkeleys an der Existenz von Ideen nicht gezweifelt werden kann, liegt dabei freilich nicht in einer subjektunabhangigen Materie, sondern im Subjekt selbst. „Aber fiktiv - getraumt, eingebildet, bloB vorgestellt - ist etwas nicht darum, weil es mit einer vermeintlichen an sich existierenden Wirklichkeit nicht tibereinstimmt, sondern darum, weil es nach unseren internen Richtigkeits- und Stimmigkeitskriterien, den einzigen die wir haben konnen, nicht in unser Bild der Welt passt." (Kulenkampff 1987: 111) Wenn nun aber das Subjekt keineswegs die Wirklichkeit phantasiert, und wenn, wie Berkeley freimutig eingesteht, die Perzeptionen keineswegs frei gewahlt werden konnen, ergibt sich die Frage, wieso das Subjekt zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort bestimmte Ideen prozessiert und nicht andere. Das Subjekt kann nicht wahlen, andere Gerausche als Musik zu vernehmen, wenn es ein Konzert besucht. Es kann nicht wahlen, eine anschauliche Gebirgskette zu sehen, wenn es vor dem Schreibtisch sitzt. In der materialistischen Tradition gait, wie schon thematisiert, der Begriff der Materie als die Quelle und Veranlassung unserer Perzeptionen. Will Berkeley an der empiristischen Grundsituation festhalten, muss er einen Ersatz fLir diesen Begriff fmden, den er so riickhaltlos aufgegeben hat. Wie bereits seine rationalistischen Vorganger erblickt er diesen Ersatz in Gott. Dieser ist die einzige Entitat, die unabhangig vom Subjekt existiert und in der die Subjekte existieren. Und da auch die Gegenstande der Erkenntnis in Gott existieren, existieren sie auch dann, wenn der menschliche Verstand diese nicht perzipiert, da sie dann von Gott perzipiert werden. Gegenuber der Vorstellung einer subjektunabhangigen Materie hat nun, Berkeley zufolge, Gott vor allem den Vorteil, aus der Selbstwahmehmung abgeleitet werden zu konnen, so dass an seiner absoluten Existenz, und damit dann auch an der Gewissheit der je eigenen Perzeptionen, nicht gezweifelt werden kann. Die Selbstwahmehmung verbiirgt indessen nicht nur die Existenz Gottes, sondern auch die je eigene Existenz. Nach Berkeley ist das Subjekt als eine geistige Substanz zu denken von der zwar keine Vorstellung zu haben ist, von der aber ein Begriff gewonnen werden kann. Sie ist dabei nicht identisch mit den Vorstellungen, die ein Subjekt perzipiert. Vielmehr gilt sie als ein geistiges, tatiges Prinzip, das sowohl die Erkenntnisakte als auch die Willenakte anzuleiten vermag. Allein, durch die Lokalisierung des Subjektes in Gott droht 128
Berkeley, sich das Problem einzuhandeln, zwischen einem aktiven Verstandnis und einem passiven Verstandnis dieses Prinzips zu oszillieren, ohne eine eindeutige Position beziehen zu konnen. Berkeley betont an mehreren Stellen, dass der Unterschied zwischen den Gegenstanden der Perzeption und der perzipierenden geistigen Substanz genau jener zwischen Passivitat und Aktivitat ist. Wenn aber Gott die Quelle unserer Perzeptionen ist, wie ist dann das Verhaltnis zwischen beiden Polen zu konzipieren, oder anders gefragt: Wie weit greift Gott in unsere Perzeptionen ein? Da aus nachmetaphysischer Sicht der Gottesbezug ohnehin nicht uberzeugen kann, braucht diese Frage hier nicht detailliert verfolgt zu werden. Robert McKim weist allerdings wohl zurecht darauf hin, dass schlussendlich „the Berkeleian mind is active in sense-perception" (1989: 343) Gott veranlasst oder besser: ermoglicht zwar unsere Perzeptionen, dennoch ist der Verstand aktiv beteiligt, da z. B. gilt: „We can voluntarily arrange the circumstances in which our sensations are received." (ebd.: 336) Insgesamt nun reagiert der ,Empirist' Berkeley in radikaler Weise auf das Problem, dass aus der Erfahrung kein Subjektverstandnis gewonnen werden kann, dieses vielmehr logisch vor jeglicher Erfahrung anzusiedeln ist, indem der ,Idealist' Berkeley den Materiebegriff aus dem Kontext der Erkenntnistheorie herauslost und letztlich nur das isolierte Subjekt librig bleibt. Er erfullt damit das gesuchte Postulat einer Subjektbestimmung, die vor ihrer Einbindung in die Umwelt lokalisiert ist. Das Subjekt, wie es im Anschluss an Berkeley zu denken ist, ist auf die formale Instanz eines aktiven Prinzips oder eines immateriellen Subjekts zurtickgenommen. Da der ,Empirist' Berkeley aber generell an der Subjekt-Objekt-Situation festhalt, benotigt er ein Substitut fur die Objektseite bzw. flir den Materiebegriff, das unter nachmetaphysischen Bedingungen nicht akzeptiert werden kann. Dem Subjekt Berkeleys verbleiben durch seine Einbeziehung in Gott zwar einerseits seine aktiven Potentiale, indem es den Erkenntnisprozess willentlich steuem und beeinflussen kann. Es verliert jedoch seinen Status, logisch vor seiner Umwelt konzipiert zu sein und gerat gleichzeitig in eine eigentlimliche Passivitat. Um zu rehabilitieren, was durch den Verzicht auf die Materie suspendiert worden war, verstrickt Berkeley das Subjekt in die Abhangigkeit zu einer machtigeren geistigen Instanz. Aus einer groben Betrachtung heraus lieBe sich formulieren: Berkeley repetiert das ordnungspolitische Denken der Tradition Hobbes, indem er das Subjekt zunachst von den Einfliissen einer materiellen und symbolischen Umwelt befreit, die Befreiung allerdings selbst furchtet und sie daher in einem zweiten Schritt wieder einschrankt. Dennoch kann festgehalten werden: Berkeley zieht aus dem Dilemma, zwischen den Altemativen einer widerspriichlichen Subjektbestimmung und einer metaphysischen Uberhohung des Subjekts zu stehen, die Konsequenz, das Subjekt zwar weiterhin aus dem Erkenntnisprozess abzuleiten (Empirismus), dabei aber die Moglichkeit anzudeuten, den Erkenntnisprozess selbst nicht in Form einer Abbildtheorie zu beschreiben, der der Subjekt-Objekt-Dichotomie aufsitzt, sondem, wird von Gott abgesehen, als Prozess der Realitatserzeugung (Rationalismus). Das Subjektverstandnis, das Berkeley damit nahe legt und das Kant schliefilich konsequent ausformulieren wird, ist eine begriffslogische Deduktion, die das aktive Subjekt als notwendige Instanz im Erkenntnisprozess begreift. Bevor jedoch die kantische Philosophic
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diskutiert wird, soil jener Philosoph Beriicksichtigung finden, der, wie Kant selbst einraumt, dessen Philosophie wesentlich mitvorbereitet hat: David Hume.
4.5. Subjekt aus Gewohnheit: David Hume Mit David Hume wird nicht nur einfach die Reihe der angelsachsischen Empiristen fortgesetzt. Mit David Hume wird die Frage nach dem Subjekt auf einen skeptischen Hohepunkt getrieben, um sie dann in pragmatischer Weise wieder fallen lassen zu konnen. Anders als Berkeley zielt die Skepsis eines Hume nicht nur auf die Erkennbarkeit der AuBenwelt, sondern auch auf die Existenz des je Subjektiven. Anders als Berkeley verzichtet Hume allerdings darauf, die Stabilisierung der AuBenwelt und des Subjektiven Gott zu iiberantworten, indem er mit der Gewohnheit auf den pragmatischen Alltagsverstand setzt. Zunachst jedoch beginnt auch Hume (1739/1989) im Sinne der empiristischen Tradition. Er unterscheidet zwischen Eindrticken (Impressions) und Vorstellungen (Ideas), die die Perzeptionen (oder Bewusstseinsinhalte) des menschlichen Verstandes ausmachen. Impressions sind dabei jene unmittelbaren Wahrnehmungsinhalte, die iiber die Sinne vermitteh werden, wobei Hume ahnlich wie Locke zwischen einer auBeren (Sensation) und einer inneren Sinneswahmehmung (Reflexion) differenziert. Ideas dagegen sind die Abbilder der Impressions, die durch die Geistestatigkeit z. B. in Form der Einbildungskraft erzeugt werden. Der kategoriale Unterschied zwischen beiden Arten von Bewusstseinsinhalten liegt fiir Hume in der Heftigkeit, mit der diese dem Bewusstsein gegenwartig werden. Beide Arten hingegen unterteilt Hume nochmals in einfache und zusammengesetzte Perzeptionen. Erkenntnistheoretisch bedeutsam ist dabei, dass Hume eine Korrelation zwischen einfachen Impressions und einfachen Ideas behauptet - diese hingegen in Bezug auf zusammengesetzte Perzeptionen relativiert - aus der sich die zentrale These des Empirismus ergibt, die Hume in dem allgemeinen Satz zusammenfasst, „dass alle unsere einfachen Vorstellungen bei ihrem ersten Auftreten aus einfachen Eindrticken stammen, welche ihnen entsprechen und die sie genau wiedergeben." (Ebd.: 13) Damit bringt Hume in modifizierter Form das Credo des Empirismus: Nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu, auf den Punkt. Bewusstseinsinhalte resultieren letztlich immer aus Sinneseindriicken, wenngleich durch die Einbildungskraft aus den einfachen Impressions zusammengesetzte Ideas assoziiert werden konnen. Wie Gilles Deleuze (1997) anmerkt, wird mit Letzterem zwar eine Aktivitat bezeichnet, die er als Phantasieren beschreibt, die jedoch grundsatzlich eingebunden bleibt in die Passivitat der Sinneswahmehmung. Dies ist insofem bedeutsam, als dadurch deutlich wird, Hume steht fest auf dem Boden der empiristischen Philosophie und grenzt daher die Aktivitatspotentiale, die der Rationalismus dem Subjekt zugeschrieben hatte, entsprechend ein. Anders formuliert: Das Subjekt dominiert nicht den Erkenntnisprozess etwa durch angeborene Ideen, die die Umwelt immer schon kognitiv umstellen, sondern erleidet Sinneseindrucke, die erst in einem zweiten Schritt voluntaristisch rekombiniert werden konnen. Es ist jedoch gerade der konsequent durchgehaltene Empirismus, der Hume in die Nahe der skeptischen Tradition ftihrt. Denn auch Hume vertritt die These, dass durch die Sinneseindriicke zwar Perzeptionen vermittelt werden, von diesen jedoch nicht unmittelbar auf 130
eine auBere Wirklichkeit geschlossen werden kann. Das Wissen um eine subjektunabhangige Existenz und Permanenz der Erkenntnisobjekte ist ironischerweise mit empiristischen Mitteln nicht zu haben, so dass gerade die Erkenntnistheorie, die scheinbar in ihren Grundannahmen diametral zum Skeptizismus steht, diesen besonders stark macht. Pragnant wird die Affinitat der Philosophie Humes mit dem Skeptizismus in der kritischen Auseinandersetzung mit dem Begriff der Kausalitat. Hume postuliert, dass alle Tatsachenaussagen immer kausale Aussagen sind. Das Konzept der Kausalitat wird damit in den Rang gehoben, die Grundlage alien Wissens uber die Umwelt zu sein. Allein, Kausalitat ihrerseits kann nirgends beobachtet werden. Was beobachtet werden kann, sind regelmaBige Abfolgen von bestimmten Ereignissen, die jedoch keinen Aufschluss iiber einen kausalen Zusammenhang ergeben. SchlieBlich impliziert ein solcher Zusammenhang immer auch den Aspekt der Notwendigkeit, der an den Abfolgen von bestimmten Ereignissen nicht wahmehmbar ist. Um dies zu verdeutlichen, argumentiert Hume mit der Annahme, die Naturgesetze konnten sich jederzeit andem: „Was moglich ist, das kann man nicht a priori oder demonstrativ ausschliefien. Und es ist moglich, dass der Lauf der Natur sich andert, da wir uns eine solche Anderung denken konnen." (Hume 1740/1980: 27) Wenngleich dieser Hinweis einem hypothetischen Muster folgt, so macht er doch deutlich, um was es Hume geht. Der Begriff der Kausalitat muss ein notwendiger Begriff sein, der ahnlich wie die euklidische Geometric unabhangig von konkreten Naturerscheinungen operieren kann, und dies nicht zuletzt um tatsachlich den Rang einer Grundlage alien Tatsachenwissens einnehmen zu konnen. Ein notwendiger Begriff aber muss beziiglich aller denkbaren Eventualitaten, und damit auch beziiglich einer denkmoglichen Veranderung der Naturgesetze, anwendbar bleiben. Da aus vergangenen Abfolgen bestimmter Ereignisse nicht (mit Notwendigkeit) auf deren Zukunftigkeit geschlossen werden kann, bleibt der Begriff der Kausalitat fragil. Es ist jedoch nicht nur das hypothetische Argument einer Veranderung der Naturgesetze, das Hume anfiihrt. Er dringt gleichsam empiristisch in das Phanomen Kausalitat ein und muss resigniert feststellen, dass sich eine Ubertragung von ,Kraft', die als Ursache zu verstehen ware, nicht sinnlich wahmehmen lasst. Bei dem beriihmten Beispiel zweier Billardkugeln, die aufeinander treffen, so dass die erste Kugel die zweite anstoBt und in Bewegung setzt, wird immer nur wahrgenommen, dass eine Kugel auf die andere trifft, nicht aber, das irgendeine ,Kraft' iibertragen wird, die die Ursache fiir die Bewegung der zweiten Kugel sein konnte. „Die Berufung auf friihere Erfahrung entscheidet hier gar nichts; sie kann hochstens beweisen, dass jener selbige Gegenstand, welcher ehemals einen anderen hervorrief, in jenem selbigen Augenblick mit der fraglichen Kraft ausgerlistet war, sie kann dagegen niemals beweisen, dass dieselbe Kraft in demselben Gegenstand oder derselben Vereinigung wahmehmbarer Eigenschaften konstant vorhanden, und noch viel weniger, dass mit gleichen wahmehmbaren Eigenschaften stets eine gleiche Kraft verbunden sein musse. Sollte man sagen, wir hatten erfahren, dass dieselbe Kraft mit demselben Gegenstand verbunden bleibe und dass die gleichen Gegenstande mit gleichen Kraften ausgerlistet sein, so wiirde ich von neuem fragen, mit welchem Rechte wir aus dieser Erfahrung einen Schluss Ziehen uber die in der Erfahrung gegebenen Falle hinaus." (Hume 1739/1989: 122) Und da die Vemunft allenfalls in den Grenzen sinnlicher Erfahrung operieren kann, kann auch sie keine Auskunft iiber die zu suchende ,Kraft' sein. Mehr noch: Die Vemunft selbst entfaltet 131
das erste Argument, das mit der Moglichkeit einer Veranderung der Naturgesetze rechnet. Es ist also gerade ein konsequent durchgefiihrter Empirismus, der dazu fiihrt, an der Kausalitat der Naturablaufe zu zweifeln, da der Begriff der Kausalitat aus der Erfahrung nicht umstandslos abgeleitet werden kann. Zu dem gleichen Ergebnis kommt Hume dann auch in Bezug auf die Existenz und Permanenz von Objekten. Wenn immer nur die je eigenen Perzeptionen wahrgenommen werden, verbietet sich ein Riickschluss auf subjektunabhangige Entitaten, die nicht in den Erfahrungsbereich fallen. Und da immer nur Einzelperzeptionen wahrgenommen werden konnen, geben die Sinne auch keine Auskunft iiber die Permanenz von Objekten. Beide Begriffe haben daher denselben fragilen Status wie der Begriff der Kausalitat. Sie konnen durch die Sinneswahrnehmung nicht als Begriffe konzipiert werden, die etwas auBerhalb des Subjekts beschreiben. Als Begriffe a priori konnen sie indessen auch nicht verstanden werden, da Hume nicht miide wird zu betonen, dass alle Begriffe durch die Pforten der Erfahrung miissen und die Vernunft nur auf der Basis operieren kann, die durch die Erfahrungsinhalte ermoglicht wird. Indem Hume nun aber einerseits konsequent am Empirismus festhalt, andererseits nicht davor zuriickscheut, die daraus resultierenden Probleme zu benennen und emst zu nehmen, das heifit zu berucksichtigen, dass zentrale Begriffe zum Verstandnis der Umwelt nicht der Erfahrung entstammen konnen, begibt er sich in das Fahrwasser des Skeptizismus. Er bestatigt damit implizit die Thesen Berkeleys, dass der Versuch, Aussagen iiber eine subjektunabhangige Materie zu formulieren, sich in Widerspriiche verstrickt, weil eine subjektunabhangige Materie nicht erfahrbar ist. Dramatisch fiir die vorliegende Fragestellung ist, dass Hume seine Skepsis auf das Subjekt ausdehnt. Hatte sein Vorganger nicht an der eigenen Existenz gezweifelt, muss Hume, der auch in diesem Fall konsequent empiristisch vorgeht, zu dem Ergebnis kommen: Es gibt kein Ich. Denn ein solches, in diesem Punkt folgt Hume Berkeley noch, kann nicht identisch sein mit den Perzeptionen. Vielmehr sollen einer solchen Entitat die Perzeptionen inharieren, das heiBt sie soil als Instanz zur kognitiven Verarbeitung der Erfahrungen und damit vor dieser liegend verstanden werden. Allein, eine solche Instanz ist ihrerseits nicht erfahrbar. Erfahrbar ist allenfalls eine Folge von Einzelperzeptionen, nicht jedoch ein mit sich selbst identisches Subjekt, bzw. eine Substanz, die als Ich bezeichnet werden konnte. „Hume fmdet nichts Identisches im Erlebnisstrom. Das Ich lost sich ihm in flieBende Sinneselemente auf, es ist bloB noch ein Ensemble von Empfmdungen, eine Ansammlung von Perlen ohne Kette. Die empirische Analyse bricht das Ich in Stticke, nirgendwo lasst sich ein solches als ein >dieses hier