ErfahI~uRg Im Au/trag des Dozen ten kollegiums der AugustanaHochschule herausgegeben von Horst Dietrich Preuß
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ErfahI~uRg Im Au/trag des Dozen ten kollegiums der AugustanaHochschule herausgegeben von Horst Dietrich Preuß
GlaubeTheologie Beiträge zu Bedeutung und Ort religiöser Erfahrung
Calwer Verlag Stuttgart
Erfahrung - Glaube - Theologie
Herrn Oberkirchenrat Dr. Siegfried Wolf zum I!. Mai 1983
Erfahrung - Glaube -Theologie Beiträge zu Bedeutung und Ort religiöser Erfahrung im Auftrag des Dozentenkollegiums der Augustana-Hochschule herausgegeben von Horst Dietrich Preuß
Calwer Verlag Stuttgart
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Erfahrung-Glaube-Theologie : Beitr. zu Bedeutung und Ort religiöser Erfahrung im Auftr. d. Dozentenkollegiums d. Augustana-Hochsch. hrsg. von Horst Dietrich Preuß. Stuttgart: Calwer Verlag, 1983. ISB~ 3-7668-0721-8 ~E:
Preuß, Horst Dietrich [Hrsg.]
Die Bildtafeln zeigen Werke des Wiener Malers Arnulf Rainer (Seite 112/113)
ISB~
3-7668-0721-8
© 1983 by Calwer Verlag Stuttgart Printed in Germany. Alle Rechte vorbehalten Abdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlags Fotokopieren nicht gestattet Satz und Druck: Ernst Leyh Stuttgart
Inhalt
Vorwort
7
1. Erfahrung - Element der Überlieferung
JUTTA
HAUSMANN
Reflexion und Erfahrung als Kategorien zum Verständnis biblischer Texte ........................
11
FRIEDRICH WILHELM KANTZENBACH
Politische Schulderfahrung der Kirche Bemerkungen zu einer unabgeschlossenen Diskussion
24
HORST DIETRICH PREUSS
Erfahrungen im betenden Umgang mit Psalmen
43
AUGUST STROBEL
Geist-Erfahrung und Wortverkündigung im Kontext von Apg 2 Gedanken zu einem Thema lukanischer Theologie ..........
65
H. Erfahrung - Herausforderung im Heute
KARL FOITZIK
Soziales Lernen und religiöse Erfahrung Zusammenhänge und Konsequenzen ......................
87
KLAUS RASCHZOK
Erfahrungen mit dem Christusbild Die Kruzifikationen und Christusköpfe des Wiener Malers Arnulf Rainer ........................
106 5
RICHARD RIESS
Die verborgene Dimension Zur religiösen Erfahrung in unserer Zeit
124
ELISABETH SCHREIBER
Emotionale Lernziele und die Kategorie der Erfahrung im Religionsunterricht .................................
143
HERWIG WAGNER
Okumenische Sprachschwierigkeiten im Gefolge einer neuen Erfahrungstheologie Am Beispiel Südafrikas und Lateinamerikas ...............
155
Anschriften der Autoren ................................
173
6
Vorwort Als im Jahr 1958 innerhalb des Lexikons »Die Religion in Geschichte und Gegenwart« (3. Auflage) der Artikel »Erfahrung« erschien, umfaßte er dort eine Druckseite. Kürzlich erschien innerhalb des Bandes X der neuen »Theologischen Realenzyklopädie« nun ebenfalls der Artikel »Erfahrung« mit jetzt 59 Druckseiten. An diesem äußeren Phänomen läßt sich gut verdeutlichen, welche Verschiebungen in Gebrauch und Wertung von Erfahrung im Bereich der Theologie erfolgt sind. Man darf wieder von Erfahrung reden im Zusammenhang mit Glaube und Theologie, und man tut es relativ häufig. Was aber ist unter Erfahrung zu verstehen? Wie verhält sie sich zum Glauben, wie beide zur Theologie? Welche Rolle spielen aktive und passive religiöse Erfahrung bei der Entstehung, Bewahrung und Bewährung des Glaubens? Wie steht es um die Verfügbarkeit und die Unverfügbarkeit religiöser Erfahrung, und woran entsteht sie? Wie läßt sie sich vermitteln? Wie verhalten sich Schrift und Erfahrung zueinander, besonders dann, wenn man daran festhalten möchte, daß es sich im Bereich des christlichen Glaubens primär um Erfahrung von Sinn und Befreiung handeln soll? Diese Auflistung von Fragen und Problemen ließe sich unschwer erweitern. Die in dem vorliegenden Sammelband vereinten Beiträge von Professoren und Assistenten der Augustana-Hochschule (aus deren Theologischer Hochschule wie aus ihrem Fachhochschulstudiengang) versuchen auf unterschiedlichen Gebieten konkretisierende Weiterführungen des heutigen Fragens nach Bedeutung und Gehalt von Erfahrung zu geben und möchten dazu verhelfen, den Ort und die Art religiöser Erfahrung innerhalb von Glaube, Theolog-ie und Kirche genauer zu bestimmen. Allen Kolleginnen und Kollegen, die an diesem Sammelband bereitwillig mitgewirkt haben, sei herzlich gedankt. Der Dank gilt auch dem Landeskirchenrat der Ev.-Luth. Kirche in Bayern für namhafte Druckkostenzuschüsse. Ein besonderer Dank ergeht schließlich an den Verleger, der auch diesen Band der in loser Folge erscheinenden »Studien der AugustanaHochschule« wieder freundlich übernommen und betreut hat. Die Augustana-Hochschule widmet diesen Band ihrem langjährigen Referenten im Landeskirchenamt München, Herrn Oberkirchenrat Dr. Siegfried Wolf, zu seinem 60. Geburtstag mit herzlichem Dank und guten Wünschen. N euendettelsau, im November 1982
Horst Dietrich Preuß
7
1. Erfahrung - Element der überlieferung
]UTTA HAUSMANN
Reflexion und Erfahrung als Kategorien zum Verständnis biblischer Texte
Ein direkter, unmittelbarer Zugang zu biblischen Texten ist dem heutigen Leser des Alten und Neuen Testaments oft nicht mehr möglich. Die biblische Sprache mit ihrem Bilderreichtum wird uns immer fremder, unsere heutige Wirklichkeit läßt sich immer weniger den biblischen Texten zuordnen. Von daher wird die Aufgabe des Theologen zunehmend dringlicher, die Verbindung zwischen den Bibeltexten und den Lebensvollzügen der Menschen damals wie heute aufzuzeigen. Hilfreich dabei scheint m. E. zu sein, die Kategorien Erfahrung und Reflexion für ein angemessenes Lesen biblischer Texte heranzuziehen. Mit I. U. Dalferth wird Erfahrung verstanden »als Relation zwischen Erfahrungssubjekt (Ich) und Erfahrungsobjekt (Sachverhalt) «1. Die Relation ergibt sich aus der Interpretation von Wahrnehmungen bzw. Widerfahrnissen, durch die diese erst zu Erfahrungen werden, indem man sie in einen größeren Bezugsrahmen einordnet2 • Hingegen wird Reflexion im Zusammenhang mit biblischen Texten verstanden als »das Bemühen, sich selbst und den anderen über seine Erfahrung, sein Reden und sein Handeln als einer, der sich von Gott angeredet weiß, Klarheit zu verschaffen und Rechenschaft zu geben «3. Daß die bei den Größen keine Gegensätze sind, wird deutlich in der Definition des Begriffs Erfahrung, da in dem die Erfahrung konstituierenden Element der Interpretation bereits Reflexion mitgesetzt ist. In der Bibel haben wir nun Zeugnisse menschlicher Erfahrungen von und mit Gott vor uns. Wenn wir heute diesen Schrift gewordenen Erfahrungen begegnen, so geschieht das mit dem Interesse, den bezeugten Erfahrungen selbst so nahe wie möglich zu kommen und analoge Erfah1 LU. Dalferth, Religiöse Rede von Gott. München 1981, S. 454. 2 Vgl LU. Dalferth, aaO, S. 455ff. Das Moment der Interpretation ist auch von H.-G. Leder aufgenommen, wenn er religiöse Erfahrung im Gegenüber zum empirischen Erfahrungsbegriff als »Ermöglichung und Reflexion bestimmten subjektiven Erlebens im religiösen Sektor menschlichen Lebensvollzuges« definiert. H.-G. Leder, Aspekte des Problems der Glaubenserfahrung bei Thomas Müntzer (und Martin Luther), in: W. Imig (Hrsg.), Theologie und Erfahrung. Greifswald 1979, S. 29-79, dort S. 31. 3 I.U. Dalferth, aaO, S. 382.
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rungen zu machen. Um dies zu erreichen, ist es notwendig, zunächst den Weg von der Erfahrung zum Text allgemein nachzuvollziehen, um diesen Weg dann am konkreten Text in umgekehrter Richtung gehen zu können.
Von der Erfahrung zum Text
Voraussetzung für die Entstehung eines biblischen Textes ist die Erfahrung Gottes durch einen Einzelnen oder durch eine Gruppe von Menschen4• Diese Erfahrung erscheint dem Betreffenden so wichtig, daß sie mitgeteilt werden muß, und ihre Vermittlung gcc;chieht daraufhin via Sprache. Daraus ergibt sich eine Reihe von Aspekten. a) Durch das Verbalisieren wird die Erfahrung kommunikabel und damit zu einer interpersonalen Größe. Sie betrifft nicht mehr nur das Erfahrungssubjekt, sondern der Gesprächspartner wird in den Interpretationsvorgang hineingenommen. Er erhält die Möglichkeit zu Rückfragen, Bestätigung, Korrektur, denn Mitteilung zielt auf Stellungnahme. b) Das heißt aber auch, daß durch die Sprachwerdung die zunächst subjektive Größe Erfahrung ein Stück weit ihrer Subjektivität entkleidet wird und sich der Verobjektivierung preisgibt, indem sie sich der Stellungnahme ausliefert5 • c) Die Vermittlung einer Erfahrung enthält eine Einladung an den Gesprächspartner, eigene Erfahrungen darin wiederzufinden, d. h. ein Interpretationsangebot für eigene Erfahrungen. Ebenso findet sich auch das Angebot, die bezeugte Erfahrung nachzuvollziehen, sie zur eigenen werden zu lassen, ähnliche Erfahrungen in ähnlicher Situation zu machen. d) Die Verbalisierung von Erfahrung impliziert deren Wertung wie Deutung. Durch die Mitteilung wird die Erfahrung in einen größeren Zusammenhang eingeordnet, eine isolierte Mitteilung ist selten möglich. In der Bibel geschieht dies u.a. durch die Erstellung von Geschichtsentwürfen (DtrG, ChrG/Lk - Apg). Die Form der Mitteilung wiederum setzt Akzente im Blick auf die Einzelheiten der Erfahrung durch ihre jeweilige sprachliche Gestaltung. Sprachliche Gestaltwerdung einer Erfahrung muß für viele der biblischen Texte zunächst auf mündlicher Ebene gedacht werden. D.h. a~er, daß 4 Im Blick. auf die Gruppe muß aber doch gefragt werden, inwieweit gemein-
same.Erfahrung mögli,ch ist ohne jeweils subjektiv gefärbte Interpretation der einzelnen Gruppenglieder. 5 Gegen LU. Dalfenh, aaO, S. 444. Auch im Zeugnis von der Erfahrung ist diese selbst greifbar, zumindest da, wo Analogie zu eigener Erfahrung vorliegt.
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der subjektive Charakter der Erfahrung hier weitgehend erhalten bleibt. Mittels Gestik, Mimik und Tonfall macht der Sprechende während des Sprechaktes deutlich, daß es sich zunächst um eine Erfahrung seiner Person handelt, von der er betroffen ist6 • Gleichzeitig verstärken Gestik, Mimik und Tonfall Wertung und Deutung innerhalb der Aussage. Dadurch wie durch Möglichkeit zur Rückfrage wird dem Hörer ein weitgehend eindeutiges Verstehen des Zeugnisses der Erfahrung ermöglicht. Gerade die stark personorientierte Art der Vermittlung erleichtert dem Hörer das Sich-Einlassen auf die Erfahrung. Direkte, durch das Gesamtverhalten des Sprechers unterstrichene Kußerungen von Emotionen provozieren entsprechende Gefühle beim Gesprächspartner und damit die Voraussetzung für das Entdecken von Analogerfahrungen. Dem kontrastiert die Verschriftung des vorerst mündlich überlieferten Zeugnisses einer Erfahrung. Durch die Schriftwerdung ist eine stärkere Distanz zur Erfahrung selbst gegeben7 • Während in mündlicher Rede eine größere Spontaneität die Verbalisierung bestimmt, geschieht die Verschriftung durch ein hohes Maß an Reflexion über Inhalt, Form, Stil und Sprache des Textes sowie seine Intention, da eine spätere Korrektur meist ausgeschlossen ist8 • Das Erfahren der persönlichen Betroffenheit des Autors ist dadurch nur indirekt möglich und von der Gestalt und dem Gehalt des jeweiligen Textes abhängig9 • Daraus ergibt sich dann auch die unterschiedliche Schwierigkeit im Umgang mit den einzelnen biblischen Texten. Verschriftung von Erfahrung geschieht aus der Erkenntnis, daß die geschehene Erfahrung aus der Subjektivität herausgenommen werden kann. Sie wird verstanden als eine Erfahrung, die nicht einmalig, sondern typisch ist, die allgemein gültigen Charakter hat, eine Erfahrung, die nicht typisch ist für das berichtende Erfahrungssubjekt, sondern typisch für das Erfahrungsobjekt. Das heißt: Biblische Autoren schreiben ihre Gotteserfahrung nieder, um damit zu zeigen, wie Menschen Gott erfahren 6 In schriftlichen Texten kann eine Wiedergabe durch die phonemische Gestaltung nur andeutungsweise erfolgen. 7 Zur Notwendigkeit einer Distanzierung für die Verschriftung von Erfahrung vgl auch P. Ricoeur: »Temoignage et interpretation du temoignage contiennent deja l'element de distanciation qui rend possible l'tkriture.« P. Ricoeur, Hermeneutique philosophique et hermeneutique biblique, in: F. Bovon/G. Rouiller (Hrsg.), Exegesis. Neuchhel-Paris 1975, S. 216-228, dort S. 221. 8 Korrekturen an biblischen Texten durch den jeweiligen Autor selbst sind bis jetzt nur wenig nachgewiesen. Da, wo sie erfolgen, geschieht es aufgrund später veränderter Situationen, die eine Aktualisierung des Textes erfordern, nicht aber aufgrund eventuell aufgetretener Mißverständnisse. Vgl dazu W. Zimmerli, Das Phänomen der »Fortschreibung« im Buche Ezechiel, in: J.A. Emerton (Hrsg.), Prophecy, FS G. Fohrer. Berlin 1980, S. 174-191. 9 Daß der Autor seine persönliche Betroffenheit nicht völlig ausschalten kann, zeigt deutlich B. Casper, Sprache und Theologie. Freiburg 1975, S.182.
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können. Biblische Texte bieten also Interpretationsmuster für die Erfahrungen des Lesers mit Gott wie auch das Angebot, sich auf die aufgezeigten Gotteserfahrungen einzulassen, sich für ähnliche Erfahrungen offen zu halten und durch die Lektüre an der Erfahrung teilzuhaben10 • Diese Absicht biblischer Texte wird durch die Kanonisierung bestätigt, da mit der Kanonwerdung eine Entschränkung von zeitlicher, örtlicher und persönlicher Bindung der dokumentierten Erfahrungen gegeben ist. Unter der Voraussetzung, daß Sprachwerdung notgedrungen Reflexion impliziert, ergeben die vorausgehenden Ausführungen, daß den biblischen Texten ein hohes Maß an Reflexion eigen ist. Der Reflexionsgrad der einzelnen biblischen Texte ist jedoch nicht gleich. Ein Teil der Texte ist der eigentlichen Erfahrung weitaus näher als andere und ermöglicht so dem Leser leichter eine analoge Erschließungssituation. Dazu gehören vor allem die erzählenden Texte, die den Leser in das Geschehen mit hineinnehmen. Bereits der wohl älteste Text des Alten Testaments ist ein Beispiel für Verschriftung von Erfahrung, die noch sehr direkt -ohne großen Reflexionsaufwand geschehen ist. Das Mirjamlied Ex 15,21 stimmt das Lob einer Tat Jahwes an. Dies geschieht in direkter Sprache. Es fehlen Adjektive wie Abstrakta. Die Aussage geschieht in Form eines einzigen Satzes, dessen Teile asyndetisch stehen, also keine irgendwie geartete bewußt gestaltete Zuordnung erkennen lassen. Es wird nicht direkt ein parallelismus membrorum erkennbar, wenn man nicht noch unbedingt einen synthetischen par. membr. konstruieren will. Auch die Alliterationen wie die a-Laute am Silbenende als Ausdruck. des Staunens und der Freude weisen auf eine unmittelbare Antwort auf eine erfahrene Tat J ahwes hin. Es wird auch der Aufruf zum Singen nicht lange begründet, sondern wie bei den Psalmen wird unmittelbar nach dem ki der Inhalt des Lobes genannt. Die Aussage des Textes ist sehr kurz gehalten, vermutlich, weil den .Angesprochenen das Geschehen, das dem Lob zugrunde liegt, allen vertraut ist. Anders ist es offenbar bei der Prosafassung Ex 14 und bei dem nicht ganz so alten Moselied Ex 15, die eine ausführliche Erzählung des Geschehens enthalten, es also als nicht direkt erlebt bzw. bekannt voraussetzen können. Das Mirjamlied ist also ein Lob J ahwes aus der Freude heraus über ein eben erfahrenes Handeln J ahwes. Dieses wurde erfahren als ein rettendes, helfendes, befreiendes Eingreifen. Bei aller Unmittelbarkeit des Textes wird es dem heutigen Leser dennoch schwer, an der Erfahrung ebenso unmittelbar teilzuhaben, da ihm der nähere Kontext fehlt, um in das Lob mit einstimmen zu können. Er wird zwar zum Staunen eingeladen, 10 Teilhabe an biblischer Erfahrung wird auch durch performatorische Rede ermöglicht, vgl u.a. Jes 43,1.
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muß aber den Grund für das Staunen erst noch erfragen. Die Stellung des Mirjamliedes innerhalb des Buches Exodus zeigt aber auch, daß der unmittelbare Zugang bereits zur Zeit der Entstehung des Pentateuchs nicht mehr gegeben war und demzufolge der ältere Text seinen Platz erst nach dem jüngeren erhielt, um eben den Zugang zu ermöglichen. So ist dem jetzigen Leser eine Vermittlung der Erfahrung, die hinter Ex 15,21 steht, auch nur über einen größeren Reflexionsprozeß möglich, indem er den Text in den größeren Zusammenhang des Exodusgeschehens einordnet und von daher versteht. Auch Jer 20,14-18 zeigen eine große Nähe zur eigentlichen Erfahrung. Der Prophet äußert Lebensunmut, er geht sogar bis zur Verfluchung des Tages seiner Geburt. »J eremia konfrontiert in dieser Aussage gegenwärtige Erlebnisse mit der Existenz seiner Person.«l1 Es wird allerdings nicht deutlich, durch welche konkreten Ereignisse diese Unlust am Leben hervorgerufen wird12 . Doch gerade durch diese Offenheit wird es dem Leser erleichtert, eine Entsprechung der Erfahrung zu erkennen und die Worte nachzuvollziehen. Die Sprache des Textes zeigt deutlich die Erregung des Propheten. Starke Worte werden gebraucht, die auf eine direkte, nicht durch Reflexion gebrochene Umsetzung der Empfindung und Erfahrung schließen lassen13 . Unterstrichen wird dieser Eindruck durch die vorherrschende Verwendung kurzer Sätze (V 14.15.18), durch den Gebrauch gefühlsbetonender Nomina, durch das Fehlen von Abstrakta. Für den Leser des Textes bedeutet dies eine nur kurze, unbedeutende, im Unterbewußtsein ablaufende Phase der Reflexion. Als Kontrast bietet sich der Text 1 Kön 17,17 - 24 an, obwohl er eine Reihe erzählerischer Elemente enthält14. Eine von A. Schmitt15 durchgeführte ausführliche Formkritik zeigt deutlich die ganz bewußte, gezielte Gestaltung des Textes. Schon di~ syntaktisch-stilistische Analyse erweist eine »wertende, beschreibende und präzisierende Tendenz«16, hervorgerufen durch eine Reihe von Abstrakta, wertenden Adjektiva und Zustandsverben sowie die Präzisierung durch Apposition (V17a), Relativsätze (V 19b. 20b) und Temporalsatz (V 17b). Auf eine durchdachte Gestaltung weisen auch »mehrfach Verklammerung und Bezüge durch 11 N. Ittmann, Die Konfessionen Jeremias. Neukirchen-Vluyn 1981, S. 147. 12 Deswegen zählt N. Ittmann diesen Text auch nicht mehr zu den Konfessionen J eremias; aaO, S. 26. 13 W. Rudolph, Jeremia, HAT 12. Tübingen 1947, S. 115, konstatiert einen Temperamentsausbruch. 14 Diese treten dann aber doch zugunsten des Dialogs und damit der Reflexion in den Hintergrund. 15 A. Schmitt, Die Totenerweckung in 1 Kön XVII 17-24, VT 27, 1977, S.454-474. 16 A. Schmitt, aaO, S. 459.
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Wiederholungen und Wiederaufnahme gleicher Wortstämme«17. Die Untersuchung der Struktur des Textes ergibt nach Eröffnung und Einführung (V 17) einen symmetrischen Aufbau des Textes. Es sind Korrespondenzen der Verse 18 + 24, 19 + 23 und 20/21 + 22 festzustel1en 18 . Aufgrund der stilistischen Analyse19 wird jedoch deutlich, daß dieser symmetrische Aufbau nicht auf das Mittelstück 20/21 + 22 hinzielt, sondern daß der ganze Text eine Klimax enthält mit dem Ziel in V 24, zumal mit V 22 der positiv orientierte Teil des Textes beginnt20 . Die Struktur des vorliegenden Textes ist keine singuläre im Alten Testament. Zu vergleichen sind Ex 14,1-31; Ex 15,22-25; Ex 17,3-6; Num 11,4-13.15. 18-24a.31-35; Num 21,4-9, die jeweils im Zusammenhang mit der Person des Mose stehen21 . Dadurch wird Elia vom Autor des Textes 1 Kön 17,17-24 mit Mose parallelisiert, als zweiter Mose dargestel1t. Die Gattung des Textes ist mit A. Schmitt folgendermaßen zu bestimmen: »Aufgrund der in der Einheit 1 Kön xvii, 17-24 festzustellenden Komprimierung, Konstruktionstendenz, Dominanz der Reden und Theülogisierung liegt hier die Gattung einer konstruierten Erzählung vor.«22 Der hohe Anteil an Reflexion bei der Gestaltung dieses Textes ist mehr als offensichtlich und wird bei der Bestimmung der Intention von A. Schmitt auch deutlich formuliert: »Die theologische Reflexion kreist um den >Gottesmann< Elia, der in Parallele zu Mose gesetzt wird.«23 1 Kön 17,17-24 ist zunächst ein sehr spröder Text, dem die zugrunde liegende Erfahrung nur mühsam abzuringen ist. Gerade wenn man dem zustimmt, daß eine theologische Reflexion vorliegt, die den Text von 2 Kön 4,8-37 aufnimmt und das dort Erzählte auf Elia überträgt, ist offensichtlich, daß nicht die Erfahrung einer Totenerweckung das auslösende Moment für die Erzählung ist, wie man doch zunächst vermuten würde. Die Zuspitzung auf V 24 läßt annehmen, daß die Begegnung mit dem Propheten Elia, die Erfahrung seines Auftretens und Wirkens (und sein Umstrittensein?) den Hintergrund des Textes bilden.
17 A. Schmitt, aaO, S. 460. 18 A. Schmitt, aaO, S. 460f. 19 Wie in V 19 finden sich in V 22 und 23 je drei Narrative. Dieses enge Aufeinander deutet ein weiteres Fortschreiten des Geschehens an, ein Vorantreiben bzw. Beschleunigen; so A. Schmitt, aaO, S. 457f. 20 Die Zuspitzung auf den letzten Vers mit seinem Ausspruch findet Parallelen in 2 Kön 2,1b-15 bzw. in der Karmelgeschichte mit 1 Kön 18,39, selbst wenn man V 40 dazunehmen muß. Vgl auch A. Schmitt, aaO, S.463 und die dort genannten Texte 2 Kön 5,15 und 9,13. 21 Vgl A. Schmitt, aaO, S.466-468. 22 A. Schmitt, aaO, S.473. 23 A. Schmitt, aaO, S.474.
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Der Autor sieht sich offenbar genongt, die Würde und Legitimation des Propheten nicht nur zu diskutieren (V 18), sondern zu proklamieren (V 24). Er macht deutlich, daß von diesem Elia rechte Weisung im N amen Gottes, Rede und Handeln in Vollmacht zu erwarten ist, daß Gott in und durch ihn wie in und durch Mose handelt. Der Leser soll an der Erkenntnis teilhaben, daß hier ein Mann ist, von dem in legitimer Weise Anspruch und Zuspruch Gottes zu erwarten ist. Gerade dieser Text 1 Kön 17,17-24 zeigt, daß Bibellese nur mittels Reflexion zu einer angemessenen Lektüre werden kann. Um die Erfahrung des Autors nachvollziehen zu können, muß der Weg vom Text über die Reflexion zurückgegangen werden, um der Erfahrung des Autors möglichst nahezukommen und sie zu einer eigenen werden lassen zu können. Erschwert wird der Weg bei diesem Text dadurch, daß seine Intention nur im Kontext der übrigen Elia-Geschichten zu erkennen ist. Das heißt also für den Leser, daß er weitere Te~te über', Elia, heranziehen muß, wenn nicht der Titel Gottesmann eine leere Größe bleiben soll und so die Begegnung mit dem Text auf der Ebene der Erkenntnis stehen bleibt und die persönliche Betroffenheit sich nicht realisiert, auf die hin biblische Texte ja gelesen werden.
Vom Text zu neuer Erfahrung und neuer Textwerdung
Die Intention biblischer Schriftsteller, mit ihren Texten Erfahrungen zu vermitteln sowie Erfahrungen zu ermöglichen, wird nicht nur an der Verschriftung ihrer Texte deutlich, sondern auch aus ihrer Kanonisierung. Aber auch schon innerhalb der biblischen Texte wird die Intention hin zu neuer Erfahrung sichtbar. Dabei darf allerdings nicht vergessen werden, daß die an biblischen Texten gewonnene Erfahrung innerhalb der Bibel wiederum nur verschriftet greifbar wird. Daß Textbegegnung jedoch nicht nur zur Interpretation oder Gewinnung eigener Erfahrung v:erhilft, sondern daß die eigene Erfahrung dann auch zur Korrektur bzw. Weiterführung von Texten führt, wird an biblischen Zeugnissen sichtbar. Einige Beispiele sollen dies im folgenden verdeutlichen. Korrektur wie auch Weiterführung zeigen Mi 2,12f gegenüber den vorhergehenden Versen. In einer Reihe vorausgehender wie folgender Gerichtsworte findet sich in der genannten Texteinheit ohne jede überleitung ein Heilswort. Damit fallen die bei den Verse inhaltlich völlig aus dem gesamten Kontext heraus, und der Gedanke an einen späteren Zusatz liegt nahe. Eindeutig ist eine wohl exilische Entstehung des Textes aber erst aufgrund des verwendeten Vokabulars festzustellen, das eine 17
große Nähe zur Terminologie Deuterojesajas aufweist 24 • Einen weiteren Hinweis finden wir in den aufgenommenen Motiven des Hirten wie des (neuen) Exodus, die ebenfalls typisch für Deuterojesaja bzw. die Exilszeit überhaupt sind (vgl. auch Ez 34; Jer 23). Die Mi 2,12f vorausgehende Gerichtsrede wurde durch die Erfahrung des Exils bestätigt. Das heißt aber auch, daß die Worte des Propheten Micha der Exilsgemeinde Hilfe zur Deutung ihrer Situation ermöglicht haben. Der exilische Autor bezeugt durch die unmittelbare Anfügung seines Textes die Annahme des Interpretationsangebotes, zeigt aber zugleich, daß er darin nicht die einzigen verbindlichen Worte für die Exilsgemeinde sieht, daß also die die Aussage des Gerichtswortes aufnehmende Erfahrung des Exils als Gericht J ahwes nicht die letztgültige Erfahrung Israels ist. Vielmehr ergibt sich aus der Erfüllung des Gerichtswortes nun Hoffnung auf eine ebensolche Erfüllung der Heilszusage. Die Heilsverheißung wird dem Autor möglich, weil er damit auch auf frühere Texte zurückgreifen kann. Die ihm bekannten Erzählungen vom Auszug aus Ägypten lassen Analogerfahrungen erhoffen und ermöglichen so die Rede vom neuen Exodus, diesmal aus dem Exi1 25 • Reflexion verschrifteter Erfahrung führt also nicht nur zu neuer, ähnlicher Erfahrung, sondern setzt auch 'Hoffnung auf eine solche frei, wo sie selbst z.Zt. der Reflexion des Lesens noch nicht realisierbar ist. Bei dem vorliegenden Text Mi 2,12f ist die Reflexion vorgegebener Texte deutlich zu erkennen. Zwar wird die Terminologie Deuterojesajas sowie sein Bildmaterial übernommen, dies geschieht jedoch in eigenständiger Verarbeitung. So gebraucht J es 40,11 ebenfalls das Bild des Hirten für J ahwe, tendiert damit aber nicht auf die Sammlung der Zerstreuten wie Mi 2,12f, sondern auf die Fürsorge J ahwes für sein Volk. Auch die Häufung des parallelismus membrorum bzw. ihm nachempfundener Bildungen in den beiden Versen unterstreichen den Eindruck einer durchreflektierten Gestaltung unter Aufnahme vorgegebenen Materials. Ein weiteres Beispiel für die Reflexion und Aktualisierung vorgegebener Texte und Inhalte findet sich in dem Gebet Neh 9. Der mit 9,5b einsetzende26 und mit 9,37 endende Text greift auf eine Reihe von Geschichts-
24 Näheres dazu bei N. Mendecki, Die Sammlung und der neue Exodus in Mich 2,12-13, Kairos NF 23,1981, S.96-99. 25 Die Weiterführung biblischer Texte, die Möglichkeit der Erschließung neuer Erfahrung aus der Mitteilung gemachter Erfahrung »muß deshalb so sein, weil kein geschichtliches Geschehen den unbedingten und umfassenden Sinn so ausschöpft, daß er sich selbst nicht noch weiter erschließen könnte.« B. Casper, aaO, S. 170f. 26 Manche Exegeten lassen das Gebet erst mit 9,6 beginnen, vgl die Kommentare z.St. 9,5b entspricht als Beginn jedoch eher den ähnlichen Texten Ps 105; 106.
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ereignissen zurück und bietet eine Rückschau auf das Handeln J ahwes in der Geschichte seines Volkes. Eingesetzt wird mit einem Blick auf die Schöpfung. In der schematischen Darstellung erinnert Neh 9,6 an den Schöpfungsbericht von P, weicht dann aber sprachlich 27 wie inhaltlich 28 doch wieder davon ab. Die Verwendung des Jahwenamens gegenüber Gen 1,1-2,4a zeigt das Interesse des Beters an der Einheit von Schöpfergott und Geschichtsgott29 , d.h. an der engen Verbindung zwischen Schöpfung und Geschichte, und zwar in dem Sinn, daß die Schöpfung als Voraussetzung und Raum verstanden wird, in dem sich geschichtliches Handeln ereignet. Neh 9,20a wird von der Gabe des guten Geistes Jahwes während der Zeit der Wüstenwanderung gesprochen. Diese Aussage ist in dem Zusammenhang einzigartig und dient der Absicht des Verfassers, J ahwe von einem möglichen Schuldvorwurf im Blick auf die Negativsituation des Volkes zu befreien. Dem Volk wird dadurch die alleinige Schuld für sein schlechtes Ergehen zugesprochen. Neh 9,11 greift auf das Motiv des Sch.ilfmeerwunders zurück. Es fällt auf, daß die in Ex 14 so dominante Figur des Mose völlig ausgeblendet ist30 • Das Interesse wird deutlich, Jahwe als alleinigen Urheber rettenden Geschehens darzustellen. Ebenso spielt Mose auch für die Zeit der Wüstenwanderung nach Neh 9 keinerlei Rolle. Nur 9,14 wird er in der Funktion des Gesetzesmittlers genannt. Dies wie die. positive Terminologie im Blick auf das Gesetz zeigen die Bedeutsamkeit des Gesetzes für den Verfasser des Textes. Er zeichnet das Gesetz als ein hilfreiches Angebot J ahwes an sein Volk, das jedoch als solches nicht wahrgenommen wurde. Wie Mose in der Exodus- und Wüstenwanderungstradition ausgeblendet wird, so bleibt auch die für die Landnahme zentrale Figur des J osua ungenannt. Die Landnahme wird vielmehr als Landgabe J ahwes interpretiert und fällt somit in den Bereich des Heilshandelns J ahwes an Israel. Auch die Darstellung der Richter- und Königszeit ist interessant für die Aufnahme vorgegebener Texte durch den Verfasser des Gebetes 31 • Es fällt auf, daß kein einziger Eigenname genannt wird, nur die Propheten
27 Während P den term. techno br' gebraucht, spricht Neh von 'sh, vgl Gen 2,4b. 28 sb'm ist Neh 9,6 nur auf hsmjm bezogen, während der Begriff Gen 2,1 auch die Erde umfaßt. 29 Dazu G. Quell, Der atliche Gottesname, ThWNT IU, 5.1056-1080, bes. 5.1060. 30 Vgl auch Ex 15,1-19; Ex 15,21. 31 Hier wie im Bereich des Gesetzesterminologie wird die dtr orientierte Herkunft des Verfassers besonders deutlich.
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und Retter (= große (?) Richter) werden aus der Masse des Volkes herausgehoben, aber wiederum nur als Gesamtheit. Das Gebet ist offenbar interessiert am Verhalten des Gesamtvolkes gegenüber J ahwe. Das wird unterstrichen durch die fehlende Notiz von der Reichsteilung. »Nordund Südreich werden in Neh 9,5ff nicht unterschieden. Der leitende Gesichtspunkt ist der des vorexilischen Israels als Einheit.«32 Der Autor will mit diesem Text offensichtlich zweierlei erreichen. Einmal verdeutlicht er seinem Volk, daß der gegenwärtige schlechte Zustand (V 32ff) Folge der Mißachtung des positiv gemeinten Gesetzes Jahwes ist (V 33ff). Dies muß aber nicht endgültig sein33 , da Jahwes Handeln die ganze Geschichte hindurch ein auf Heil zielendes war und daher Hoffnung auf erneutes Heil möglich ist. Zum andern zeigt die Gestaltung des Textes als Gebet, daß der Verfasser Jahwe an seine Heilstaten erinnern will, um ihn zu weiterem heilvollen Tun zu bewegen. Bei der Durchsicht des Textes wird deutlich, daß der Verfasser die vorgegebenen Texte und Inhalte bewußt selektiv aufgenommen und sie seiner Intention entsprechend gestaltet hat. Auswahl wie Ausführung der unterschiedlichen Traditionen und Motive lassen ein großes Maß an Reflexion erkennen. Auf der einen Seite wird eine Reflexion der vorgegebenen Texte, ihrer Gestaltung und Zielsetzung vollzogen und an der abweichenden eigenen Gestaltung sichtbar. Diese zeigt auf der anderen Seite zugleich aber auch die Reflexion im Blick auf Inhalt, Form und Ziel des eigenen Textes. Für den Autor von Neh 9 waren die vorgegebenen Texte offensichtlich Interpretationshilfe für die Situation seiner Zeit. V 32ff zeigen klar, daß seine Gegenwart analog zur Richter- und Königszeit gesehen wird und daß das Gebet selbst die Funktion des Schreiens zu Jahwe in jener Zeit (vgl V 27.28) übernimmt. Ähnlich analog wird dann aus den geschilderten heilvollen Taten Jahwes aus der Reflexion heraus Hoffnung auf erneutes rettendes Handeln J ahwes möglich. Der Redaktor, der das Gebet in das Nehemiabuch eingefügt hat, kann sich anscheinend ebenso mit den verbalisierten Erfahrungen und Hoffnungen identifizieren. Ersichtlich wird dies besonders durch den nahtlosen übergang zum Text des Gebetes selbst, der so gelungen ist, daß die eindeutige Abgrenzung des Gebets nur schwer möglich ist. Daß das bisher Erörterte nicht nur für alttestamentliche Texte, sondern auch für neutestamentliche gilt, soll an einem weiteren Beispiel gezeigt
32 O.H. Steck, Israel und das gewaltsame Geschick der Propheten. NeukirchenVluyn 1967, 5.62, Anm. 5. 33 Hier zeigt sich eine Mi 2,12f analoge Glaubensstruktur, die für die alttestamentliche Theologie insgesamt wichtig ist.
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werden. Mk 1,3 par./Joh 1,23 lassen ganz klar erkennen, welcher Text ihnen zugrunde liegt. Das Wort aus dem die Berufung des Propheten Deuterojesaja schildernden Text Jes 40,3 wird in Zusammenhang gebracht mit Johannes dem Täufer34 • Es wird also eine Analogie zwischen den beiden Prophetengestalten gesehen. So wie Deuterojesaja in der Zeit des Exils der Verkünder des anbrechenden Heils ist, so wird J ohannes ähnlich erfahren und gedeutet als der Verkünder des in J esus anbrechenden Heils. Deutlich wird aber auch, wie sehr die neutestamentliche Situation und Erfahrung die Aufnahme des alttestamentlichen Textes bestimmt und ihn nicht einfach unreflektiert übernehmen läßt. Die Zäsur innerhalb des Textes wird deutlich eine andere, die Lokalangabe »Wüste« wird im Neuen Testament syntaktisch anders zugeordnet. Während J es 40,3 die Wüste der Ort ist, an dem der Weg für den neuen Exodus in Babyion nach Jerusalem geschaffen werden soll, wird sie im Neuen Testament zum Ort der Verkündigung des Johannes. Das Neue Testament hat kein Interesse mehr am konkret zu bahnenden Weg, sondern der Aufruf zur Wegbereitung wird spiritualisiert, als Metapher für die Einstellung wie das Verhalten der Mens.chen gegenüber dem kommenden J esus gebraucht. Es ist zu sehen, daß die Reflexion des vorgegebenen Textes zu einer Neuformulierung führt, die nicht unbedingt auf den ersten Blick als eine solche erkennbar ist. Die besondere Absicht des neutestamentlichen Textes gegenüber Jes 40,3 wird demzufolge letztlich erst deutlich auf dem Hintergrund des alttestamentlichen mit der bewußt anders gesetzten Akzentuierung.
Fazit Aufgezeigt wurde bisher, in welcher Weise Reflexion und Erfahrung für die Entstehung biblischer Texte maßgebend sind. Es wurde deutlich, daß die den Texten zugrunde liegende Erfahrung nur selten spontan, den Schritt der Reflexion so weit als möglich auslassend verschriftet wurde. Vielmehr kommt der Reflexion für die Verschriftung wie für die Aufnahme bereits verschrifteter Erfahrung eine große Rolle zu. Letzteres vor allem kann für die Lektüre biblischer Texte weiterhelfen. Denn für den Bibelleser bedeutet dies, daß er sich auf das jeweilige Reflexionsniveau des biblischen Autors einlassen und dessen Argumentationsgang,
34 Daß das hier gezeigte Phänomen auch ein innerneutestamentliches und somit ein biblisches ist, ließe sich mehrf3.lch aufzeigen. Vgl nur die Rezeption des Mk-Evangeliums durch Mt und Lk.
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dessen Schritte und Weise der Reflexion nachvollziehen muß. Tut er dies nicht, wird er nur Teilbereichen der bezeugten Erfahrung nahekommen oder einer Erfahrung, die dem speziellen Text nicht zugrunde liegt, sondern aus der Kenntnis anderer Texte heraus diesem unterschoben wird. Das heißt nun aber nicht, daß die mehr oder weniger unreflektiert erschlossene Erfahrung theologisch illegitim sein muß, nur weil sie gerade nicht dem vorliegenden Text zugrunde liegt. Sie kann trotzdem eine vollgültige Erfahrung sein, die nur an anderer Stelle ihren schriftlichen Niederschlag gefunden hat. Dennoch ist es um der Intention der biblischen Autoren willen wichtig und der Vielfalt des biblischen Zeugnisses angemessen, mit Hilfe der Reflexion dem Aussagewillen des speziellen Textes nahezukommen. Dies geschieht nicht nur aus Gründen der wissenschaftlichen Redlichkeit, sondern hat durchaus auch seelsorgerliche Implikationen. So läßt sich gerade am Text 1 Kön 17,17-24 zeigen, wie notwendig der Schritt der Reflexion gerade auch für den Nichttheologen ist. Stimmt man dem oben geäußerten Gedanken zu, daß unreflektiert diesem Text möglicherweise die Erfahrung einer Totenerwekkung zugrunde gelegt würde, so ergäben sich daraus im Blick auf Interpretationsmuster für eigene Erfahrung wie im Blick auf Analogerfahrungen für den Leser große Schwierigkeiten. Eigene Erfahrungen dieser Art hat er nicht aufzuweisen, der Text kann ihm also nicht als Interpretationsmuster dienen. Er würde ihn eher verführen, beim Tod eines geliebten Menschen auf Analogerfahrung zu hoffen, und ihn damit unfähig machen, der realen Situation sich zu stellen und sich neu zu orientieren. Wird hingegen der Text reflektiert gelesen und damit der oben schon genannte Erfahrungshorizont erhoben, wird also dem zugestimmt, daß Elia ein Gottesmann ist, der in göttlicher Vollmacht handelt und redet, so kann aus seinem Anspruch und Zuspruch Wegweisung für das eigene Dasein in positiver Form erfahren werden. Angemessene Lektüre biblischer Texte vollzieht demzufolge einen Weg, der dem Weg von der Erfahrung zum Text gegenläufig ist: vom Text über die Reflexion zur Erfahrung. Der Bibelleser muß fragen nach der Gestalt des Textes, nach den Absichten, die gerade hinter der jeweiligen Form sichtbar werden. 'Während der Autor sich um das Wie des Textes bemüht, um seine Inhalte bestmöglich weiterzugeben, hat sich der Leser um das Wie des Textes zu mühen, um den darin vermittelten Inhalten so nahe wie möglich zu kommen, denn gemeinsam ist dem Autor wie dem Leser zunächst einmal nur der vorliegende Text. Erst der Nachvollzug der Reflexion des Autors ermöglicht eine Erschließung der Erfuhrung, so daß es dann auch zu einer gemeinsamen, durch Analogie bestimmten Erfahrung kommen kann. Festzuhalten ist allerdings, daß sachgemäße Reflexion biblischer Texte Analogerfahrungen zwar erschließen und ermöglichen kann und will, die persönliche Betroffenheit durch einen Text, 22
d.h. die Realisierung der im Text geäußerten Erfahrung für den Leser, jedoch nicht garantiert. Hier hat dann die Rede vom 'Heiligen Geist ihren Ort35 . Aufgezeigt wurde oben auch die Bedeutung der eigenen Situation und der eigenen bisherigen Erfahrung des Lesers für das Verstehen und N achvollziehen biblischer Texte. Deutlich zu sehen war dies u.a. an Mi 2,12f in Verbindung mit den vorangehenden Versen. Die beiden Texten gemeinsam zugrunde liegende Erfahrung ist das Erleben Gottes als des Strafenden. Während dies bei dem Autor von Mi 2,lff zu einem Gericht androhenden Wort wird, führt die Erfahrung des vollzogenen Gerichts den Autor von Mi 2,12f zur Bestätigung der Erfüllung der vorausgehenden Androhung und zur positiven Weiterführung des Textes. Das Erfahrungsobjekt »strafender Gott bei Fehlverhalten seines Volkes« ist zwar dasselbe, doch durch ein anderes Erfahrungssubjekt mit den ihm eigenen sonstigen Erfahrungsbezügen wird die Relation zwis.chen Erfahrungsobjekt und Erfahrungssubjekt eine andere und damit die Erfahrung selber eine nicht-identische, da sie einer anderen Situation zugeordnet ist. Das bedingt dann auch wieder eine subjektiv gefärbte Aufnahme und Reflexion (vgl auch Neh 9,6; Jes 40,3 und seine Aufnahme im Neuen Testament)36. Es wird deutlich, daß sowohl Erfahrung als auch Reflexion nicht als losgelöste Kategorien für das Verstehen biblischer Texte herangezogen werden können. Vielmehr zeigt es sich, daß beide Größen in Relation zueinander stehen und deshalb ein Gegeneinander-Ausspielen nicht möglich ist. Erschließung von schriftlich bezeugter Erfahrung ist nur durch das Reflektieren des jeweiligen Textes möglich. Gleichzeitig wirkt aber auch die bisherige Erfahrung auf die Reflexion des Textes mit seiner bezeugten Erfahrung zurück. Reflexion und Erfahrung bedingen einander also wechselseitig. Für den Umgang mit biblischen Texten bedeutet das aber, daß derjenige, der bei der Lektüre neue und dem Text analoge Erfahrungen machen möchte, sich offen hält für eine dem Text entsprechende Reflexion unter Berücksichtigung der Wechselwirkung seiner eigenen Erfahrung auf eben diese seine Reflexion37 . 35 Vgl dazu H. Schlier, Gotteswort und Menschenwort, in: Th. Michels/A. Paus (Hrsg.), Sprache und Sprachverständnis in religiöser Rede. Salzburg/München 1973, S. 61-84 und P. Trummer, »Verstehst du auch, was du liest?« (Apg 8,30), Kairos NF 22,1980, S.101-113. 36 Innerhalb der exegetischen Literatur läßt sich das besonders gut bei o. Kaiser, Das Buch des Propheten Jesaja. Kapitel 1-12, ATD 17. Göttingen 5. Aufl. 1981, gegenüber den früheren Auflagen zeigen. 37 Zur Thematik insgesamt vgl auch G. Ebeling, Dogmatik und Exegese, ZThK 77,1980, S.269-286, sowie - Ebelings Aufsatz weiterführend P. Stuhlmacher, Exegese und Erfahrung, in: E. Jüngel, J. Wallmann, W. Werbeck. (Hrsg.), Verifikationen, FS G. Ebeling. Tübingen 1982, S. 67-89; außerdem jetzt TRE Bd. 10 s.v. »Erfahrung« die Beiträge von J. Track. und E. Herms (dort S. 89ff).
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FRIEDRICH WILHELM KANTZENBACH
Politische Schulderfahrung der Kirche Bemerkungen zu einer unabgeschlossenen Diskussion'
I
Aufstieg und Niedergang des Nationalsozialismus haben eine heftige, langanhaltende Diskussion über die Schuldfrage ausgelöst. Dabei reichen die Blickpunkte, Fragestellungen und Betroffenheiten vom emotionalen Bereich bis zu differenzierten historischen und politischen Fragestellungen. Ende März 1945 schrieb ein am 2. April 1945 gefallener Student namens Walter Menzel stellvertretend für das Empfinden vieler angesichts der Katastrophe: »Wir dürfen nie vergessen, daß das, was über uns hereingebrochen ist und noch hereinbrechen wird, im ganzen verdient ist. Und erst, wenn wir unsere Schuld abgebüßt haben und wenn Frieden für uns wieder mehr ist als Ruhe und Faulheit, dann wird dieser Opfergang sein Ende nehmen.«1 Die Geschichtswissenschaft, besonders die methodisch neu begründete Disziplin »Zeitgeschichte«, hat mit der Aufarbeitung der Kriegsschuldfrage, schon hinsichtlich des ersten Weltkrieges und erst recht im Blick auf die ))deutsche Katastrophe«, in der Nachfolge Friedrich Meineckes 2 noch erheblich zu tun. Auf die bei der Diskussion zwischen den Historikern entstandenen kontroversen Standpunkte ist hier nicht einzugehen. Die Diskussion hat auch bereits ihre Auswirkungen auf die Bestandsaufnahme der Entwicklung nach 1945 gezeitigt3 • Auch kaum noch zu überschauende Beiträge von Publizisten (Reinhold Schneider!), Theologen und Kirchenhistorikern liegen vor, um mit dem ))Schuldproblem« der Kirche bzw. der Christen nicht nur geschichtsphilosophisch oder geschichtstheologisch ))fertigzuwerden«, sondern dessen geschichtliche Voraussetzungen in Fehlentwicklungen während der Jahrzehnte vor dem
1 Erich Kuby, Das Ende des Schreckens. Dokumente des Untergangs Januar bis Mai 1945, München 1961, S.87. 2 Die deutsche Katastrophe, 1 + 21946. 3 Heinrich August Winkler (Hrsg.), Politische Weichenstellungen im Nachkriegsdeutschland 1945 - 1953. Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 5, 1979.
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Aufkommen des Nationalsozialismus aufzuarbeiten4 • Auf kirchlicher Seite fehlen nicht die etwas apologetisch anmutenden Versuche, »den großen Abfall«, »das apokalyptische Wetterleuchten« geschichtstheologisch zu deuten, doch finden sich auch, in ökumenischer Sicht und in breiterer europäischer Orientierung, weniger kurzatmige Versuche, die »Zeitwende« zu analysieren, so von dem Schweizer Theologen und Okumeniker Adolf Keller5 • So ist es auch kein Zufall, daß die eindrucksvollsten Forschungsergebnisse zum Problem der »Schuld« der Christen und der Kirche während der Zeit des Nationalsozialismus im Kontext von Kirchenkampf und Okumene vorgelegt wurden6 • 4 Zu den geschichtsphilosophischen und theologischen Versuchen vgl besonders das Buch des Theologen Hans Jürgen Baden, Der Sinn der Geschichte. Hamburg 1958; für die Verknüpfung von historischer, politischer und juristischer Fragestellung vgl »Mißlichkeiten und Grenzen für die Bewältigung historischer und politischer Schuld in Strafprozessen«, mit Beiträgen von Erwin Schüle, Otto Kranzbühler, Johannes Hirschmann, Hans Buchheim, Karl S. Bader, Albert Mödl, Studien und Berichte der Katholischen Akademie in Bayern, Heft 19. Würzburg 1962, herausgegeben von Karl Forster. - Das in den kirchlichen Archiven liegende Material an Schuldbekenntnissen von Pfarrern der verschiedensten politischen und kirchlichen Prägung wurde bisher noch kaum beachtet. Ferner fehlt eine theologische Beurteilung der sog. Entnazifizierung. Dazu die im Gegensatz zu Wilhelm Hoegner stehende kritische Sicht von Josef Müller, Bis zur letzten Konsequenz, 1975. Historisch weiterführend Fritz Ernst, Die Deutschen und ihre jüngste Geschichte. Stuttgart 1963. Der der Bekennenden Kirche beigetretene Frankfurter Pfarrer und Kirchenrat D. Johannes Kübel (Erinnerungen, hrsg. von Martha Frommer, 1973, S. 139f), der als gebürtiger Bayer 1938 seine Ruhestandsjahre in Nürnberg verlebte, schrieb am 4. Juni 1945 in sein Tagebuch: »Gegen die' ehemaligen Nazis sind die Amerikaner stur und unerbittlich. Jeder Beamter, der vor dem 1. April 1933 der Partei angehört hat, wird ohne Entschädigung von seinem Amt entfernt ... Der Landeskirchenrat kommt nun in die seltsame Lage, daß er genau so, wie er bisher Bekenntnispfarrer gegen die an der Partei orientierte Regierung hat schützen müssen, jetzt Pfarrer, die vor dem Stichtag der Partei beigetreten waren, gegen die Amerikaner verteidigen muß.« Knappe, brauchbare überblicke zu der Frage der öffentlichen Verantwortung der Christen von 1933-1945 und seit 1945 legten Wolfgang Schweitzer (»Fragen christlicher Verantwortung«, hrsg. von Hermann Kunst und Gerhard Heilfurth, Berlin 1954, S. 149-168) und Rudolf Freudenberger (»Staat und Kirche in der Bundes republik Deutschland seit 1945«, in: Dieter Gutekunst und Dieter Jacob, »In Verantwortung 1881-1981«, Verband der Vereine Deutscher Studenten, 1981, S. 163-170, Lit.!) vor. Für die katholische Kirche die Streitschrift Carl Amerys: Die Kapitulation oder Deutscher Katholizismus heute, Nachwort von Heinrich Böll. Reinbek 1963, und die sich daran heftende lebhafte Diskussion. Noch nicht aufgenommen ist die Frage, warum um 1947 die Konversionswelle zum Katholizismus auf dem Höhepunkt war und welche politischen Motive sie in sich schloß. Vgl die Beobachtungen der Schriftstellerin Irmgard Keun bei Hermann Kesten, Deutsche Literatur im Exil, Briefe europäischer Autoren 1933-1949. Fischer TB 1973, S.257f.
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II
Der Kirchenhistoriker kann sicherlich nicht von den Zeugnissen persönlicher Betroffenheit und dezidierten theologischen und kirchenpolitischen Engagements absehen. 1945 beobachtete der selber von den Nazis ins Gefängnis geschickte Hanns Lilje, daß niemand Schuld anerkennen wollte. Das demütigende Schauspiel, »das unsere Nation mit Schmach bedeckt hat«, habe eingesetzt. Niemand habe sich zu seinen politischen überzeugungen bekennen wollen, alle seien »kirchentreu« gewesen, man habe von »Gestapo« oder Konzentrationslagern nicht gewußt7 • Gewiß waren in der Zeit des Nationalsozialismus manche »Weckrufe an das deutsche Gewissen«8 erschienen; der Kampf der bekennenden Kirche hatte einige Höhepunkte gehabt, auch politisch einigemal deutlich Flagge gesetzt. Trotzdem waren auch in elementaren Fragen, zu denen ein deutliches Bekenntnis hätte abgelegt werden müssen, Zwiespältigkeiten und Versagen genug zu beklagen gewesen9 •
5 Zeitwende, Zürich 1946. 6 V gl das gleichbetitelte Buch von Armin Boyens, das sich auf die Zeit von 1939-1945 bezieht: Darstellung und Dokumentation unter besonderer Berücksichtigung der Quellen des ökumenischen Rates der Kirchen. München 1973. Für die Nachkriegszeit notiere ich aus der Fülle der Literatur: Kar! Gerhard Steck, Schuld und Schuldbekenntnis. Evangelische Theologie, 6. J g. 1946/47, S.368-388; Wolfgang Lück, Das Ende der Nachkriegszeit. Eine Untersuchung zur Funktion des Begriffs der Säkularisierung in der »Kirchentheorie« Westdeutschlands 1945-1965. Europäische Hochschulschriften, Reihe XXIII, Bd. 63, H. Lang Bern, P. Lang Frankfurt/M., 1976; Ernst Feil (Hrsg.), Verspieltes Erbe? Dietrich Bonhoeffer und der deutsche Nachkriegsprotestantismus. Internationales Bonhoeffer Forum IBF Nr. 2 München 1979; Armin Boyens, Martin Greschat, Rudolf v. Thadden, P. Pombeni, Kirchen in der Nachkriegszeit. Vier geschichtliche Beiträge. Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte, Reihe B, Bd. 8, Göttingen 1979. 7 Hanns Lilje, Im finstern Tal. Rechenschaft einer Haft. Hamburg 1963, S. 154ff. 8 So der Untertitel des Buches von Kar! Kindt, Geisteskampf um Christus. Berlin 1938; der erste Beitrag ist »Unsere Not. Von der Bußnot der Kirche« überschrieben und hat nur zwischen den Zeilen unmittelbare politische Aktualität. 9 Wolfgang Gerlach, Zwiespältig in der »Judenfrage«. Bonhoeffers Mut und die Furcht der Kirchenkämpfer. Lutherische Monatshefte 8, 1979, S. 463ff. Gerlach zeigt, daß Martin Niemöllers Haltung gegenüber dem Judentum von Vorbehalten bestimmt war, daß Karl Barth sogar Bonhoeffers Sicht der Lage im Blick auf den Arierparagraphen als zu dramatisch beurteilt habe. Auf die reiche Literatur zur» Judenfrage« in der Zeit des Nationalsozialismus und während des Kirchenkampfes können wir ebensowenig eingehen wie auf die Frage, ob der Kirchenkampf als teilweise politische Widerstandsbewegung verstanden werden kann. Dazu besonders Ernst Wolf,
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Die politische Schuld der Christen und Kirchen ist vor allem von Theologen und Kirchenhistorikern in der DDR betont worden; so in den auf die Entwicklung im deutschen Protestantismus während der Novemberrevolution und in der Weimarer Republik zurückgreifenden lehrreichen und materialgesättigten Arbeiten Walter Bredendieks 10 • Natürlich sind Theologie und selbst Kirchengeschichte als Wissenschaft in der BRD nicht gegen Verzeichnungen der Schuldfrage in ihrer historischen Dimension gefeit, hat diese Dimension doch eine besondere Beziehung zur Frage der gewollten oder bekämpften Kontinuität. Martin Niemöller und Kar! Barth einerseits, Otto Dibelius und Hans Asmussen andererseits waren die geistigen Väter des Stuttgarter Schuldbekenntnisses von 1945. Dibelius berichtet 1965, er sei gebeten worden, »ein kurzes Wort zu entwerfen, das das Schuldbekenntnis der Deutschen zum Ausdruck bringe. Was ich vorlas, fand Zustimmung«. Nur Niemöller wünschte, das deutsche Verschulden noch klarer und konkreter zum Ausdruck zu bringen. Von ihm stammen die Worte, die noch eingefügt wurden: »daß durch uns Deutsche unendliches Leid über die Völker und Länder gebracht worden sei«l1. Die Rezeption des Stuttgarter Schuldbekenntnisses wurde nur teil weise in dem Sinn vorgenommen, daß von dem Bekenntnis politischer Schuld die Rede gewesen war und daraus
Kirche im Widerstand? Protestantische Opposition in der Klammer der Zweireichelehre. München 1965; dort weitere Literatur. Die Ergebnisse seines Buches »Barmen. Kirche zwischen Versuchung und Gnade«, 1957, kurz zusammenfassend s. Ernst Wolf, »Barmen«. Zwis,chen Vergangenheit und Gegenwart, Wandlungen der Beurteilung. Dt. Pfarrerblatt 64. Jg., Nr. 10, 1964, S.253ff. 10 Walter Bredendiek, Zwischen Revolution und Restauration, Hefte aus Burgscheidungen 171, 1969; ferner Walter Feurich., Evangelische Selbstprüfung heute. 30 Jahre nach Barmen, in Horst Symanowski/Walter Feurich, Buße oder Selbstrechtfertigung der Kirche? Hamburg (Evang. Zeitstimmen 21), 1965, S.18-42; die Verbindungslinien zwischen Nationalsozialismus und Nationalprotestantismus werden hier zu grob ausgezogen; vgl Friedrich Wilhelm Kantzenbach, Nationalprotestantismus und Nationalsozialismus. Tatsachen, Beobachtungen, Fragen. Schriften des Vereins für Schlesw.-Holstein. KG. 11. Reihe 26.127. Bd. 1970/71, S.84-144; differenzierter argumentierte der in Jena lehrende Kirchenhistoriker Eberhard Pältz, Aspekte einer Geschichte des deutschen Protestantismus (1847 bis 1947) im Lichte des Darmstädter Wortes, Standpunkt, Evangelische Monatsschrift, Beilage zu H. 8, 1977, So4-14, mit weiterer Literatur. Speziell zur Thematik »Evangel. Kirche und Kriegsschuldfrage nach 1918« vgl Gerhard Besier, Krieg - Frieden - Abrüstung. Göttingen 1982, bes. S.325ff. 11 Ein in seiner summarischen Form sehr problematisches Urteil; denn zweifellos kommt Niemöller die entscheidende Bedeutung für den Text als ganzem zu, und der angeblich von Niemöller eingefügte Satz dürfte eher von Hans Asmussen angeregt worden sein. Zu Dibelius vgl Otto Dibelius, So habe
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auch für den politischen Weg der Christenheit nach 1945 Konsequenzen politischer Art gezogen werden müßten. Helmut Gollwitzer sah Schuld und Vergebung ohnehin in ihrer politischen Relevanz; dafür könnte man sich vor allem auf das Alte Testament berufen12 •
III Welche politische Komponente hat ein Bekenntnis der Schuld? Diese Frage stellt sich aktuell angesichts des Stuttgarter Schuldbekenntnisses von 1945 und der sich daran anknüpfenden, oft erbitterten und verbitterten Diskussion. War das Bekenntnis nur eine binnenbezogene christliche, wenn auch christlich-ökumenische erste Bereinigung zwischen den deutschen Christen und den Kirchen der Dkumene, die nach Stuttgart Vertreter gesandt hatten? Für die Beantwortung dieser simpel gestellten Frage möchten wir drei Wege beschreiten. Zunächst soll der politische Akzent, wie Karl Barth ihn dem Kirchenkampf zwischen 1933-1945 verlieh bzw. verleihen wollte, in Erinnerung gerufen werden. Sodann sollen einige mit Karl Barths Voten nach 1945 sachlich sich treffende Stimmen berücksichtigt werden, vor allem die von Martin Niemöller. Schließlich soll nach dem Weg der in sich keineswegs einheitlichen lutherischen Theologie bei der Beurteilung der Schuldfrage geforscht werden, wobei zu diesem dritten Fragenkreis bisher unbekannte oder kaum beachtete Quellen berücksichtigt werden. Karl Gerhard Steck sagt in seinem »Rückblick und Ausblick« zum Reprint der 'Hefte 1-77 der »Theologische Existenz heute«, die von Karl Barth und Eduard Thurneysen in den Jahren 1933-1941 herausgegeben wurde 13 , daß Barth nicht der politischen oder kirchenpolitischen Enthaltsamkeit das Wort reden wollte, und erinnert an den besonderen Reiz der ersten Hefte der Reihe, der in Barths Vorworten zur jeweiligen Lage ich's erlebt. Selbstzeugnisse. Berlin 1980, S.241-249; zum wahrscheinlicheren historismen Sachverhalt - Textgeschichte des Stuttgarter Schuldbekenntnisses - vgl Hartmut Ludwig, Karl Barths Dienst der Versöhnung. Zur Geschichte des Stuttgarter Schuldbekenntnisses, in: Heinz Brunotte (Hrsg.), Zur Geschichte des Kirchenkampfes. Gesammelte Aufsätze 11. Göttingen 1971, S. 265-326, bes. 291ff, 30off. Armin Boyens, Das Stuttgarter Schuldbekenntnis vom 19. Oktober 1945. Entstehung und Bedeutung, Vierteljahreshefl: für Zeitgeschichte 19, 1971, S.374-397. 12 Helmut Gollwitzer, Schuld und Vergebung, in: Forderungen der Freiheit. Aufsätze und Reden zur politischen Ethik. München 1964, S.351ff. 13 Bisher liegen die Hefte 1-31 vor, ehr. Kaiser Verlag, München 1980.
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- mit Recht - zu sehen sei. Hans Asmussen, der als Lutheraner neben Barth am meisten Beiträge zu der Reihe geliefert hat, die auf viele mehr wirkten als die Schriften Iwands oder Bonhoeffers, hat von der Distanzierung gegenüber Barths Unterscheidung von Gesetz und Evangelium im Sinne einer Vorordnung des Evangeliums gegenüber dem Gesetz nach 1945 in der Interpretation des Stuttgarter Schuldbekenntnisses die politischen Folgerungen Barths bekämpft; Steck vermutet14, »daß eher politische Auffassungen als theologische Voraussetzungen für die Trennung maßgebend waren«. Von Asmussen nimmt Steck an, er hätte sich zunächst auch beim Nationalsozialismus unterstellen können, denn Ansatz und Folgen der europäischen Aufklärung seien stets für Asmussen »negativ besetzt« gewesen. »Das Faktum Kirche und die Hauptinhalte ihrer Botschaft und überlieferung haben ihn daran gehindert und zur Arbeitsgemeinschaft mit Barth geführt.« Dieser vermutungsweise geäußerten Diagnose ist kaum etwas hinzuzufügen, wenn man Asmussens Außerungen nach Stuttgart 1945 liest. Daß Barth als Schweizer Demokrat, aus differenziert zu beurteilenden Gründen sogar als ein Theologe, der Mitglied der Sozialdemokraten war, in Deutschland unter lutherischen Theologen, auch unter führenden Theologen der »Bekennenden Kirche«, Gegner hatte, ist kein Geheimnis. Insofern gab es schon 1935 einen »Fall Barth«15. Trotz seiner Vertreibung und gerade wegen seines Aufenthaltes in der heimischen Schweiz hat Barth von Basel aus die Bekennende Kirche ständig begleitet, gefördert, auch kritisiert, so daß zwischen der Bekennenden Kirche, der Okumene und ihm als Mittelsmann (neben ihm wäre besonders Dietrich Bonhoeffer zu nennen) selbst während der Kriegszeit die Verbindung nie abriß. In seinen Briefen trat Barth nicht nur für die Notwendigkeit ein, Widerstand gegen das Hitler-Deutschland zu leisten, sondern er machte sich 1942 und sicherlich schon früher Gedanken über die wirkliche Aufgabe der Kirche und ihrer Diener im Krieg und nach dem Krieg 16 . Dabei mußte zunehmend die Schuldfrage in das Zentrum der theologisch-ökumenischen Studienarbeit rücken. 1945 setzte Barth die Versöhnungsdienste in Briefen und Vorträgen konsequent fort. Dabei hielt er sich nicht mit Analysen der deutschen Vergangenheit auf, sondern legte den Nachdruck auf den Neuanfang, die Chance der Tat, die Erkenntnis der eigenen Verantwortlichkeit und der gemeinsamen Ver14 aaO, S.XXV. 15 Vgl Hans Prolingheuer, Der Fall Karl Barth 1934-1935. Chronographie einer Vertreibung. Neukirchen 1977; die Klagen gegen Barths angebliche Attacken gegen die Deutschen hefteten sich an Barths Vortrag »Zur Genesung des deutschen Wesens«, November 1945, und führten 1958 zu scharfen Vorwürfen Friedrich Baumgärteis, vgl Prolingheuer, S.209. 16 Genaue Schilderung bei Hartmut Ludwig, aaO, S.267-281.
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antwortung für die Gegenwart. Natürlich betonte er, daß die Kirche an der Entwicklung »der letzten 15 Jahre ihr gemessen Teil Schuld trägt«17. Barth wollte, wie er in einem Interview im September 1945 sagte, die Deutschen dazu bringen, »die Schuld in der Deutschen Konzeption zu erkennen«, die den Nationalsozialismus und seine Unmenschlichkeit möglich gemacht habe. »Er wollte die deutsche Schuld, auch die Schuld der Kirche, zweifellos als >politische Schuld< verstanden wissen« (Hartmut Ludwig)18. Die Ursache der Schuld sah er in einer dualistischen Auffassung der sogenannten zwei Reiche, die man im lutherischen Sprachgebrauch der dreißiger Jahre zu undifferenziert mit den zwei Regimenten in eines' setzte19 . Was man als Zweireichelehre lutherischerseits vertrat, konnte man auch in ungeklärter Weise als Lehre der rechten Unterscheidung von Gesetz und Evangelium bezeichnen. Insofern war das verzeihlich, als die Beziehung der Lehre von Gesetz und Evangelium zur richtig verstandenen Zweireichelehre, die mit der Zweiregimentenlehre nicht identisch ist, damals theologisch noch nicht diskutiert wurde, wenn man sie überhaupt in ihrer Problematik schon erfaßte20 •
IV
Es muß dahingestellt bleiben, ob Hans Asmussen wegen einer hochkirchlich anmutenden oder wenigstens spezifisch amtstheologischen Auffas17 So die Formulierung Martin Niemöllers in einer Bruderratssitzung in Frankfurt/Mo am 21. August 1945; am 22. August sprach Kar! Barth nach verspäteter Ankunft über die »Politische Verantwortung der Kirche«. Dazu und zur Treysaer Kirchenkonferenz in der Sicht Barths und Niemöllers Ludwig, aaO, S.288ff. 18 aaO, S.299. 19 Vgl zu diesem umstrittenen Thema außer den 1979/80 ersclUenenen Beiträgen von Ulrich Duchrow, Trutz Rendtorff, Heinz-Eduard Tödt zur thoologiegeschichtlichen Erläuterung der Unterschiede in der Terminologie »Reich« bzw. »Regiment« meine Abhandlung »Ethik des Politischen - Erbe und Auftrag. Der Ansatz der politischen Ethik und Sozialethik im Konflikt zwischen >Ordnungs theologie< und Parole >Königsherrschaft Jesu ChristiIrret euch nicht, Gott läßt sich nicht spotten. Was der Mensch säet, das wird er ernten.< Und im Hebräerbrief lesen wir: >Auch unser Gott ist ein verzehrendes Feuer.< Das alles bedeutet keine Rechtfertigung des mancherlei Unrechts, das nun auch wieder an uns geschehen wird. Gott vollzieht seine Gerichte immer durch sündige Menschen. Deshalb sind es doch seine Gerichte. Aber neben dieses Wort müssen wir nun doch sogleich das andere stellen, das wir bei Hesekiel 33,11 gelesen haben. Immer verbindet die prophetische Predigt mit dem Gerichtswort die Gnadenbotschafl:. Das gilt auch heute. Wir heben in aller Kürze dreierlei hervor: Dieser Segen liegt schon in der Offenbarung seiner heiligen Majestät in ihrer Wirklichkeit. Indem Gott seine Gottheit offenbart, zerschlägt er den menschlichen Dünkel, der uns ins Verderben gestürzt hat, den menschlichen Größenwahn, die Götzen, die wir uns errichtet haben. Damit führt er unsere Existenz auf den Boden der Wahrheit und Wirklichheit zurück, auf dem allein sie bestehen kann. Und das ist Gnade. Der 44 Friedrich Wilhelm Kantzenbach, »Theologische Blätter«. Kampf, Krisis und Ende einer theologischen Zeitschrift im Dritten Reich, bei Heinz Brunotte (Hrsg), Zur Geschichte des Kirchenkampfes. Gesammelte Aufsätze, Ir. Göttingen 1971, S.79-1 04; die Texte verdanke ich dem verstorbenen Kirchenrat Dr: Adolf Burkert, der sie mir mit allen seinen Handakten zum Kirchenkampf schenkte. Der größte Teil dieser Akten ist inzwischen an das Landeskirchliche Archiv Nürnberg übergegangen. Pfarrer Karl Steinbauer hat drei seiner seit 1933 zur Schuldfrage gehaltenen Predigten veröffentlicht: Vom Gehorsam des Glaubens. Mosepredigten, Theologische Existenz heute, Neue Folge 2. München 1946. 1939 kam Steinbauer ins KZ Sachsenhausen.
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menschliche Titanismus muß vernichtet werden, damit Gottes Gnade sich entfalten kann. Das ist ein Grundgesetz des Reiches Gottes. So dann aber, zweitens, wird uns hierdurch die Möglichkeit der Buße gegeben. Jedes Gericht ist Bußpredigt. Jede Bußpredigt ist aber zugleich Gnadenpredigt. Denn >so wir unsere Sünden bekennen, ist er treu und gerecht, daß er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Untugend< (1. Joh. 1,9). Gewiß nicht in dem Sinne, die unsere Schuld herauf~ beschworen hat. Wohl aber in dem Sinne, daß die Buße den Weg der inneren Lösung von der Sünde, also die Möglichkeit der inneren Genesung zeigt. Die Hand des Arztes, der mit schmerzendem Schnitt die Eiterbeule öffnet, deren Gift den ganzen Körper zu verseuchen droht, ist zugleich die heilende Hand, die den Seelenschaden heilen will. Und das ist das Wichtigste.« Eine Analyse in Form eines Vortrags gibt Strathmann noch in einem am 7. Oktober 1945 in Nürnberg gehaltenen, ebenfalls unveröffentlichten Vortrag, der im 5. Teil den Versuch unternimmt, die evangelische Botschaft von der Buße auszurichten. Daraus dürfen einige Sätze wiedergegeben werden, die belegen, daß Strathmann sich über die politische Dimension der Schuld und des Evangeliums Gedanken gemacht hat: »Nun endlich können wir zu unserer Themafrage zurückkehren: Das Evangelium für unsere Zeit: Was hat uns, uns Deutschen, das Evangelium in dieser unserer Lage zu sagen? Evangelium heißt frohe Botschaft, und es bewährt sich als solche auch in dieser unserer schweren Zeit. Denn es sagt uns, daß, ob auch die Grundlagen und Formen unseres bisherigen Lebens in der Zeit zerbrochen sind und nicht wiederkehren werden, unser Leben deshalb doch noch nicht sinnlos geworden ist. Denn wir dürfen glauben an den Vater der Barmherzigkeit; wir dürfen hoffen auf sein ewiges Reich, wir dürfen leben im Stromkreis der Liebe Christi. Freilich gibt es kein Evangelium ohne Bußpredigt! Tut Buße, so begann der Täufer. Tut Buße, so fuhr J esus fort, und er zeigte in seiner Bergpredigt an den einzelnen Lebensgebieten, was das heißt. Tut Buße, rief Petrus am Pfingstfest den Scharen seiner Hörer zu. Mit unverminderter Stärke zieht sich dieser Ton durch das ganze Neue Testament hin.· Er bleibt mit aller Verkündigung des Evangeliums unlöslich verbunden. Aber nicht nur so im allgemeinen. Vielmehr muß je nach den Verhältnissen am konkreten Leben gezeigt werden, inwiefern solche Buße nötig ist. Das Evangelium verlangt die immer neue Durchleuchtung unseres ganzen Lebens mit dem Feuerschein des göttlichen Wortes. Kein Lebensgebiet ist ausgenommen, auch nicht das politische. Der Täufer hat Herodes nicht geschont, mußte seine Treue freilich mit dem Tode büßen. Jesus bezeichnete Herodes als einen Fuchs, schlau und blutdürstig. Den Pilatus machte er aufhorchen, indem er ihm schwieg. So dürfen wir heute nicht davor zurückschrecken, das Naziturn unter die kritische Beleuchtung des 39
göttlichen Wortes zu stellen, ob auch einige Toren dann von Vermischung von Religion und Politik reden mögen. Wir können und dürfen nicht darauf verzichten, die Erscheinungen und Auswirkungen der Gottlosigkeit gerade auf einern so wichtigen Lebensgebiet wie dem politischen aufzuzeigen und den Bußruf darauf anzuwenden. Aber so sehr es kein Evangelium ohne Bußruf gibt, sein eigentlicher Inhalt ist Trost, Rettung, Hoffnung, Stärkung, nämlich für alle die, welche dem Bußruf zugänglich sind. Nicht freilich in dem Sinne, als werde das Vernichtungsgericht, das über uns als Staat ergangen ist, rückgängig gemacht werden. Wohl aber in dem Sinne, wie wir vorher sagten, daß unser Leben deshalb doch nicht sinnlos geworden ist. Einmal darum, weil das Evangelium uns Gott zeigt als den Vater der Barmherzigkeit. Es zeigt uns die Möglichkeit eines Lebens in Gottes Nähe auf der Basis der Vergebung.« Nach Herrnann Strathmann konnte es auch Hans Preuß, der 1933 die Parallele »Luther und Hitler« gezogen hatte45 , nicht unterlassen, nunmehr »Luther an die Deutschen von 1946« sich wenden zu lassen, mit der Verheißung, »eine Erneuerung seiner Botschaft vierhundert Jahre nach seinem Tode zumeist mit seinen eigenen Worten gestaltet und auf die Gegenwart angewendet«46. Der Gefahr der Historisierung der Katastrophe erlagen viele, in Ansätzen auch H. Thielicke mit seinem Rückgriff auf das Versailler Diktat, Th. Haug, W. Künneth, z. T. auch H. Lilje. Im Detail kann dies hier nicht ausgeführt und begründet werden. Als Max Lackmann, ein in Barths Reihe »Theologische Existenz heute« zugelassener lutherischer Theologe, aus dem KZ Dachau entlassen war und in München am 17. Juni 1945 in der Erlöserkirche in Schwabing predigte - er ging dann für kurze Zeit als theologischer Lehrer nach Neuendettelsau-, sagte er zur Frage der Schuld nach einer nachschriftlich mir vorliegenden Predigt: »Aber wenn wir dann wirklich hinter allen Dingen die Herrschaft und die Hand des Herrn Christus sehen, dann werden wir nicht mit vielen Leuten sagen können: >wenn erst mal der Schutt weggeräumt ist, wenn erst mal die Schuldigen alle ausgemerzt sind; wenn erst mal die oder die Partei oder Doktrin hochgekommen sein wird - dann ... < Nein, wir werden nur eins tun: uns fröhlich an dem Herrn Christus und dem Heiligen Geist sättigen, der in seiner Gemeinde gegenwärtig ist in Wort und Sakrament. Das heißt: Seine Tischgäste sein, Ihn, den lebendigen
45 Allgemeine Evangelisch-Lutherische Kirchenzeitung Nr. 42, 66. Jg. 1933, Sp. 970ff. 46 Neubau-Verlag 1946; daneben schrieb Preuß auch über »Luther und die Demokratie« !
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Gottmenschen, in uns aufnehmen als Speise für Leib und Seele, aber auch den Brotkorb und den Suppentopf und den Kleiderschrank uns von ihm füllen lassen. Und das wird er dann auch tun. Meine Lieben, Schuld kann nicht weggeredet, unsere Sünde nicht weggedacht, unsere Schwachheit nicht weggelehrt, unser Brotmangel nicht weggezaubert werden. Neues Leben aus Gott muß in uns wohnen, neue Gemeinschaft mit Gott muß in uns beginnen, die unsere Seele formt, unseren Verstand erleuchtet, unseren Willen Gott übergibt, unsere Kräfte ganz auf Ihn hinordnet, uns Gott wieder wert und Ihn zu unserem besten und wahren Vater und Freunde macht. Und das ist nun eben auch unsere ganz persönliche Sache >ihr werdet mit Freuden Wasser schöpfenauch zur Kirche gehenGott ist mein Heil, ich bin sicher und fürchte mich nicht!< Das ist Lob Gottes heute: Christum begehren wie das tägliche Brot, den Heiligen Geist verlangen wie den täglichen Trank und dann seiner geistlichen und leiblichen Hilfe gewisser sein als mir mein Leben, meine Hand vor Augen, der heutige Tag ist! Das ist Lob Gottes! Und ich muß euch schon sagen: wenn wir Geistliche der Evangelischen Kirche des heutigen Deutschland aus Dachau etwas mitbringen, aus dem Dachau des planmäßigen, langsamen oder schnellen Martertodes an Seele und Leib, aus dem Dachau der Hoffnungslosigkeit und Verachtung aller Menschenwürde - dann bringen wir ihr dieses Lob Gottes mit: Christum essen und trinken, Sein Wort verkosten macht satt und gesund - auch wenn Leib \,lnd Seele zu verschmachten scheinen! Wen Er hat und wer Ihn hat, der ist unangreifbar für Menschenhand, den speisen immer noch die Raben des Elia auf wunderbare Weise mitten in der Wüste, den umlagern Gottes heilige Engel mit ihren Fittichen, daß man ihr Rauschen hört - >nehmen sie ihm auch den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib - sie haben kein Gewinn, das Reich muß ihm doch bleibentotus Christus< ... , sondern nur jeweils ein Aspekt gemäß der Subjektivität«7 erfahren wird. Die Christusbilder unserer Zeit können so in der ihnen eigenen Sprache zeigen, wie Christus außerhalb des kirchlichen und theologisch-dogmatischen Kontextes erlebt und erfahren wird. Der vorliegende Beitrag versucht dies am Beispiel des Wiener Malers Arnulf Rainer - einer der bedeutendsten bildenden Künstler der Gegenwart in Osterreich - zu zeigen. Horst Schwebel selbst ist in seiner Untersuchung nicht näher auf Arnulf Rainer eingegangen. Für Arnulf Rainers künstlerische Beschäftigung mit Kreuz und Gesicht Christi ist in Weiterführung von Horst Schwebel eine zusätzliche Einschränkung vorzunehmen. Bei Rainer muß zunächst einmal von Erfahrungen mit dem »Christusbild«, nicht von Erfahrungen mit der Person Christi gesprochen werden. Mit dieser Formulierung wird Schwebels Differenzierung, daß in den Christusbildern unserer Zeit zwar eine Erfahrung des Christus, nicht aber des »Deus in Christo pro me«8 vorliegt, umschrieben. Eine solche Einschränkung auf das »Christusbild« ist hilfreich, da sie voreilige theologische Kritik an Rainers Christus(bild)erfahrungen verhindert und den Künstler so als Gesprächspartner ernst nimmt. Zum andern wird diese Einschränkung auch der Betonung des formalen Aspektes in den Kreuz- und Christusbildern Rainers gerecht.
5 ebd, S. 141. 6 Walter J. Hollenweger, Erfahrungen der Leibhaftigkeit. Interkulturelle Theologie 1. Münchßn 1979. 7 H. Schwebei, aaO, S. 139. 8 ebd, S. 132.
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Zum Gesamtwerk Arnulf Rainers
Arnulf Rainer bietet sich für unsere Fragestellung an, weil er eine neue Form der Malerei finden will, »die heutigen Grunderfahrungen entspricht, eine· Malerei, in die gegenwärtige Lebenspraxis Eingang findet«. 9 Das künstlerische Werk dieses Wiener Malers ist von einer eigenwilligen Sprache geprägt. Das Bild ist für Arnulf Rainer nie eine Frage der Anordnung von Motiven, Formen oder Farben, sondern stellt einen »permanenten Arbeitsprozeß«lo dar. So hat Rainer keinen Formenbesitz und kein Repertoire, das er jederzeit aktivieren könnte, sondern nur Themen: das Gesicht, die überdeckung, die Körperbewegung und die Selbstreproduktion. Auch das Kreuz - zunächst als Form, dann aber auch als das Gesicht Christi - gehört zu diesem Vorrat an Themen, die sich zu einer einzigen und umfassenden Bildidee zusammenfügen, »die sich nur einkreisen und in Annäherungswerten bestimmen läßt«l1. Nach einer Phase phantastisch-surrealistischer Arbeiten zwischen 1947 und 1950 beginnt Arnulf Rainer mit »Atomisationen«12, setzt sich in den »Proportionscollagen« mit dem Stichwort Farbe auseinander, findet in seinen großformatigen »übermalungen« zu einer eigenwilligen, alles Weitere charakterisierenden Handschrift und beschäftigt sich ab der Mitte der sechziger Jahre intensiv mit dem eigenen Gesicht und seinem Körper. Ende der siebziger Jahre tritt die Auseinandersetzung mit dem Antlitz des Todes in den» Totenmasken« und» Totengesichtern « hinzu. Sein künstlerisches Werk, das sich von wenigen Ausnahmen abgesehen immer auf die Fläche beschränkt, reicht von der Zeichnung über die Tafelmalerei bis zur Druckgrafik. Mit der Fotografie entdeckt Rainer ein weiteres wichtiges Medium, mit dessen Hilfe er mimische und grafische Aussagen in einer Bildebene verbinden kann. Bei allen diesen verschiedenen Versuchen wird die letztgültige Form immer erst im Arbeits- oder Malprozeß gefunden, so daß das Kunstwerk »weder eingelöste Form, noch einfach Lebensspur, sondern Ausdruck des Strebens und des Scheiterns zugleich«13 ist. Für Arnulf Rainer sind Serien, Reihen und Zyklen charakteristisch. Große Hauptwerke gibt es nicht - eine Entsprechung zu den gegenwärti9 Dieter Honisch, »Malerei, um die Malerei zu verlassen«: Arnulf Rainer, Ausstellungskatalog Nationalgalerie Berlin. Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz. 20. 11. 1980 - 1. 2. 1981. Berlin 1980, S. 8. 10 ebd, S. 9. 11 ebd, S. 12. 12 Zu den einzelnen Werkgruppen vgl die Abbildungen und Einführungstexte im Ausstellungskatalog Arnulf Rainer, Berlin 1980/81, aaO. 13 D. Honisch, Malerei, aaO, S. 10.
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gen so großen Erwartungen an ein Bild, die eine einzelne Arbeit nicht mehr erfüllen kann. Die künstlerische Arbeit Rainers wird durch intensive literarische Beschäftigung begleitet. Vor allem in den fünfziger Jahren hat er sich ausführlich mit fernöstlicher und vor allem christlicher Mystik auseinandergesetzt. Die Beschäftigung mit Johannes Tauler, Johannes vom Kreuz oder Katharina von Siena wurde angeregt durch die Freundschaft mit Monsignore Otto Mauer, dem Wiener Do"mprediger, der in der Nähe von St.Stephan eine kleine Kunstgalerie betrieb und zum wichtigen Förderer des jungen Arnulf Rainer wurde. Durch zahlreiche Ausstellungen hat Rainer in der internationalen Kunstszene Anerkennung gefunden. Mehrere Retrospektiven 1971 in Hamburg, 1977 in Bern und München sowie 1980/81 in Berlin, Baden-Baden, Bonn und Wien versuchten, erste Zusammenschauen seines Werkes zu skizzieren. 1978 stellte Rainer auf der Biennale in Venedig aus; auf der Kasseler Documenta war er 1974, 1978 und 1982 vertreten. Der Erfolg Arnulf Rainers, der neben den Ausstellungen eine Reihe von Büchern, Mappenwerken, Filmen und Video-Tapes veröffentlicht hat, liegt wohl sicherlich auch mit daran, daß sich in seinem Gesamtwerk mit aller Schärfe »das Problem des Individuums in der gegenwärtigen Gesellschaft, seine Bindungslosigkeit, seine Ohnmacht und Verzweiflung«14 artikuliert. Für die Arbeiten zum Thema Kreuz und Christusbild, die Rainer seit 1951 beschäftigen, hat er den Sammelbegriff »Kruzifikationen« geprägt. Dieser Begriff rückt sicherlich bewußt den mehr formalen Aspekt in den Vordergrund. Arnulf Rainer setzt sich zunächst einmal mit der Form des Kreuzes auseinander und findet erst später zum Gesicht Christi. Als »Kruzifikation« wird so zunächst einmal formal das Aufeinandertreffen einer Vertikalen auf eine Horizontale verstanden. Dieses Geschehen bleibt offen für eine nähere Interpretation. Dazu hat Günter Rombold einen wichtigen Hinweis geliefert, indem er darauf drängte, bei der Interpretation der Kruzifikationen Rainers die verschiedenen semiotischen Ebenen voneinander zu unterscheiden 15 • Die Beschäftigung Rainers mit dem Thema Kreuz und Christusbild ist nicht auf eine bestimmte Phase seines Werkes beschränkt, wie das zum Beispiel bei Karl Schmidt-Rottluff in ganz ausgeprägter Weise der Fall gewesen ist. Rainers Beschäftigung mit dem Kreuz partizipiert an den
14 Armin Zweite, Notizen zu Arnulf Rainers frühen Arbeiten: Arnulf Rainer, Retrospektive 1950--1977. 7. 10. -13. 11. 1977. Katalog 5/1977, Kestner-GeseIlschaft Hannover, 0.0. u.J., S. 19. 15 G. Rombold, Arnulf Rainers Kruzifikationen: Peter Baum/Günter Rombold, Christusbild, aaO, S. 46f unterscheidet die formale (syntaktische), expressive und semantische Ebene.
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unterschiedlichsten Werkgruppen, so daß sich in den Kruzifikationen die einzelnen Tendenzen des Gesamtwerkes spiegeln 16 .
Erfahrung der Identität: Atomisationen Erstmals begegnen die Kruzifikationen innerhalb der »Zentralformationen«, einer Werkgruppe, die 1951/52 entsteht. Es handelt sich um etwa 50 Arbeiten auf Papier und Karton, die alle von den Momenten der Linie und der Schnelligkeit im Sinne der Aktionsmalerei bestimmt sind. Die Linien sind aggressiv auf die Zeichenunterlage aufgetragen und scheinen die Fläche zu zerstören, zu zerschneiden oder sich zentral festzuschreiben 17 . Unter diesen »Zentralformationen« befinden sich Blätter wie die 1951 in Mischtechnik auf Offsetkarton entstandene »Zentrale Kruzifikation«18, ein Liniengebündel in schwarz, blau, rot und gelbgrün, das eine Kreuzform erahnen läßt. Rainer entfaltet hier das Thema Kreuz in seiner elementarsten Form als ein menschliches Ursymbol. ·GÜnter Rombold spricht davon, daß die zentralen Kruzifikationen »an die frühesten Zeichnungen von Kindern, den Urknäuel und das Urkreuz« erinnern. »Das Kind drückt sich in diesen Gestaltungen aus, es meint damit sich selbst.«19 In ähnlicher Weise - so versucht Rombold, die zentralen Kruzifikationen zu deuten - beschäftigt sich Rainer hier über das Symbol Kreuz mit seiner eigenen Identität.
Erfahrung der Unverfügbarkeit: übermalungen und Zumalungen Eine weitere Stufe in der Beschäftigung mit dem Kreuz zeichnet sich in den» übermalungen« ab. Ab 1954 entstehen Bilder, deren Bildfläche mit Farbe so zugedeckt wird, daß nur ein schmaler Randbereich oder eine 16 A. Rainer, Elf Antworten auf elf Fragen (1971): ders., Hirndrang. Selbstkommentare und andere Texte zu Werk und Person mit 118 Bildbeigaben, hrsg. von Otto Breicha. Salzburg 1980, S. 155: »Ich selbst habe immer wieder Phasen, in denen ich religiöse Bilder, etwa große schwarze Kreuze, male.« 17 D. Honisch, Einführungstext Ausstellungskatalog Berlin 1980/81, S. 16. 18 A. Rainer, Zentrale Kruzifikationen, 1951, Mischtechnik/Offsetkarton 65 X 100 cm; ders., Kruzifikationen 1951-1980, S. 25 (Abb.). 19 G. Rombold, Kruzifikationen, aaO, S. 47.
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Ecke freibleiben. Der Kontrast zwischen dem dominierenden Schwarz und der immer weiter zurückgedrängten, eingeschnürten Helligkeitszone bestimmt den dramatischen Eindruck dieser Arbeiten. »Es sind meist monochrome Bilder, die sich aus einer Binnen- oder Mittelform entwickeln. Diese wird in einer oft mehrere Jahre umfassenden Malaktion vergrößert und dem Bildformat angepaßt, so lange, bis der übermalte Grund ... als eine das Bild charakterisierende und die Form definierende Restform übrigbleibt. «20 Die übermalungen stellen die wichtigste, umfassendste und zeitlich längste Serie Rainers dar. Sie sind im Wesentlichen 1964 abgeschlossen, werden aber zum Teil noch bis heute fortgeführt. Rainer übermalt in dieser Phase Blumen, Landschaften, Wolken, Köpfe oder den Ozean - und dann auch Kreuze. 1956/57 setzt er etwa 15 Kreuze verschiedener Größe aus Hartfaserplatten zusamme~; eigentlich handelt es sich um große Holztafeln in Kreuzform. Diese großen Kreuzflächen werden meist mit schwarzer, aber auch mit blutroter Farbe übermalt. Das 1956/57 entstandene »Kreuz rot/gelb«21 besteht aus einer rot übermalten Holzplatte in Kreuzform. Die Strukturierung der übermalung durch den Pinselstrich läßt noch etwas von einem unter der übermalung befindlichen Kruzifixus ahnen. Nur auf der rechten Seite sind noch gelbe Spuren des übermalten Untergrundes zu sehen. Kennzeichnend für die übermalungen ist der keinesfalls glatte und unberührte Zustand der übermalung. Die Flächen erscheinen malträtiert. »Ihnen wird Malerei eher zugefügt, als daß sie in ihr erscheint. «22 Die Kreuze, die Rainer in dieser Phase beschäftigen, entstehen aus den verschiedensten Materialien, aus Holz, auf Leinwand; er bemalt plastische Grabkreuze, zeichnet und überzeichnet Kreuzformen auf Papier, schafft Druckplatten aus Metall mit Kreuzdarstellungen und zerkratzt diese dann bis zur Unkenntlichkeit, und er überarbeitet auch Reprofotos eigener großformatiger Holzkreuze zum zweitenmal. Das »Kreuz 1957«23, ebenfalls aus montierten Hartfaserplatten, zeigt einen in tiefem Schwarz übermalten ockergelben Untergrund - so, als sollte nur der Körper des Gekreuzigten mit schwarzer Farbe zugedeckt werden. Die herabtropfende tiefschwarze Farbe ist angetrocknet und ebenso wie die Aktion des Pinselstriches dokumentiert. Einige dieser 20 D. Honisch, Einführungstext, aaO, S. 46. 21 A. Rainer, Kreuz rot/gelb 1956/57, öl auf Holz, 194 X 160 cm: ders., Ausstellungskatalog Berlin 1980/81, Nr. 97, S. 59 (Abb.). 22 D. Honisch, Malerei, aaO, S. 10. 23 A. Rainer, Kreuz 1957, öl auf Hartfaserplatte, montiert, 167X50 cm: P. Baum/G. Rombold, Christusbild, aaO, Nr. 93, S. 135 (Abb.). 24 A. Rainer, Stufenkreuz, 1968, öl/Holz, 198,5 X 144 cm: ders., Kruzifikationen 1951-1980, S. 9 (Abb.).
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Holzkreuze aus den fünfziger Jahren - soweit sie sich noch in seinem Besitz befanden - hat Rainer später weiterbearbeitet, so das »Stufenkreuz, 1968«24, eine 'Holztafel in Form eines abgestuften, sich nach unten verjüngenden Kreuzes. Dieses Kreuz zeigte ursprünglich noch mehr helle Fläche, wurde jedoch 1968 stärker überarbeitet und zugemalt. Daran wird deutlich, daß sich Arnulf Rainer nie mit dem künstlerisch Erreichten zufriedengibt, sondern sein Werk immer neu vorantreibt. Wie besessen versucht er ständig, an einem Werk zu arbeiten. Dabei handelt es sich nicht um eine ästhetische, sondern um eine emotionale Unsicherheit, die ihn zu diesem permanenten Arbeitsprozeß führt 25 . Schematische Reste eines Christuskopfes vermeint man in der Struktur der Zumalung des Kreuzes »Zugedeckter Christus, 1968«26 zu erkennen, und im » übermalten Grabkreuz, 1969«27 ist der plastische Korpus des Kruzifixus unter der übermalung erhalten. Es handelt sich um ein unten angespitztes hölzernes Grabkreuz mit gußeisernem Korpus, zum Einstecken in die frische Graberde bestimmt. Rainer hat den unteren Teil des Längsbalkens natur belassen; auf ihm rinnt rote und schwarze Farbe herab. Die obere Hälfte des Kreuzes einschließlich des blutroten Korpus ist schwarz bemalt. Nur Kopf und Bauchgegend treten rot unter der schwarzen übermalung hervor. Beim »Weinkruzifixus 1957/58«28 handelt es sich um eine Arbeit auf Leinwand in Stoffarbe. Gebogen und gekrümmt zeichnet sich auf dem Leinwanduntergrund ein Kreuz in Schwarz vor blutrotem Hintergrund ab. Schwarze Farbe tropft herab. Wie ein Mantel breitet sich der blutrote, ebenfalls herabrinnende Grund über das schwarze Kreuz. Ein Beispiel für Kruzifikationen auf kleinerem Format stellt die »Kreuzigung, 1955/57, Mischtechnik/Offsetpapier«29 dar. Mit dicken Strichen ist ein nur zu ahnendes, aus den hervorblickenden Querbalken zu erschließendes Kreuz zu sehen, das mit dicken hastigen Strichen in phallus ähnlicher Form überzeichnet ist. Die Form der überzeichnung weist auf die erotische Komponente hin, die religionsgeschichtlich ebenfalls zur Form des Kreuzes in Beziehung steht. Auch in der Druckgrafik begegnet das Kreuz
25 D. Honisch, Malerei, aaO, S. 9. 26 A. Rainer, Zugedeckter Christus, 1968, öl/Holz, 200 X 125 cm: ders., Kruzifikationen 1951 - 1980, S. 15 (Abb.). 27 A. Rainer, übermaltes Grabkreuz/Korpus, 1969, ölfGußeisen/Holz, 126,5 X 39 cm: Wieland Schmied, Zeichen des Glaubens - Geist der Avantgarde. Religiöse Tendenzen in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Stuttgart 1980, S. 181 (Abb.). 28 A. Rainer, Weinkruzifix 1957/78, Stoffarbe, ölfarbe, Baumwolle, Leinwand, 168,5 X 103 cm: P. Baum/G. Rombold, Christusbild, aaO, S. 25 (Abb.). 29 A. Rainer, Kreuzigung, 1955/57, Mischtechnik Offsetpapier, 47 X 42 cm: ebd, S. 37 (Abb.).
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im Zusammenhang einer überzeichnung. Am »Melker Kreuz 1967/68«30 wird zugleich die Veränderung in der Art der übermalung/überzeichnung deutlich, die sich ab etwa 1961 abzeichnet. Das Verhüllen einer Bildsituation durch die Malerei oder die Zeichnung gibt einem mehr lockeren überdecken Raum, das sein Darunterliegendes voraussetzt31 . Das »Melker Kreuz« ist eine Kaltnadelarbeit auf Kupfer im Format 298 X 199mm, ein lateinisches Kreuz, auf dem sich der Schatten eines weiteren schwarzen Kreuzes abzeichnet. An den Rändern dieses schwarzen Kreuzes sind deutlich Kratzspuren sichtbar - in der Druckgrafik tritt ein Zerkratzen der Druckplatte an die Stelle der überzeichnung. Das »Melker Kreuz« ist die einzige Kruzifikation Rainers, die sich in liturgischem Gebrauch befindet. Die versilberte Originalplatte der Radierung wird im Stift Melk in Oberösterreich als Altarkreuz verwendet. Die Kreuzübermalungen Rainers haben unterschiedliche Interpretationsversuche ausgelöst. So haben die bei den katholischen Theologen Otto Mauer und Louis Chardon O.P. Anfang der sechziger Jahre versucht, sie im Sinne der christlichen Mystik zu interpretieren, indem sie die übermalungen als Beschäftigung mit dem Absoluten deuten. Otto Mauer sieht in den übermalungen einen »Versuch, aus der Erregtheit der ziellos ins Dasein verlorenen Seele in den Bereich des Einen und Notwendigen vorzustoßen, das am Grunde aller Ereignisse. .. liegt«32. Für ihn nehmen die Bilder den Charakter meditativer Ikonen an und er deutet Rainers Arbeiten als Versuche, »dem Absoluten auf dem Weg der Askese, der Abscheidung und Abtötung, aber auch auf dem Wege der Konzentration, der Beschauung, näher zu kommen«33. In den übermalungen hängt sich nach O'tto Mauer über das Begreifliche der Vorhang des Unbegreiflichen. Das Kreuzesgeschehen, das historisch begreiflich und darstellbar ist, wird unbegreiflich in seiner eigentlichen Konsequenz für die Gegenwart. So schafft Rainer »Vorhänge, die sich allmählich aus hunderten von Strichund Pinsellagen bilden, schwarze und farbige Vorhänge, die das überdekken, was unaussagbar ist ... Er strebt der Gewißheit zu, daß die Vorhänge, hinter denen wir unsere Hoffnung verbergen, nicht Nichts bedecken, sondern das Eigentliche, das zu jeder Zeit noch aussteht.«34 Auch
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A. Rainer, Melker Kreuz 1967/68, Kaltnadelarbeit auf Kupfer, 298 X 199 mm: Otto Breicha, Arnulf Rainer. überdeckungen. Mit einem Werkkatalog sämtlicher Radierungen, Lithographien und Siebdrucke 1950-1971. Wien 1972, Nr. R 76, S. 82 (Abb.). Otto Breicha, Durchstrich, Anstrich, Zustrich. übermalungen und Verdekkungen (1971): A. Rainer, Hirndrang, aaO, S. 61f. Otto Mauer, Pilger zum Absoluten. Rainers übermalungen und Monochromien (1960): ebd, S. 58. ebd, S. 58. ders., Rainer schafft Vorgänge (1961): ebd, S. 58.
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Louis Chardon versucht, herauszustellen, daß durch die Zumalung der Kreuze der Gekreuzigte in seiner wirklichen und eigentlichen Bedeutung viel klarer geschaut werden könne. Die Finsternis, die die Seele umgibt, »läßt sie das ewige Licht viel klarer schauen als die Erleuchtungen, die ihr genommen wurden «35. Diese Deutung forderte den Spott der Kunstkritiker heraus. So setzt sich Jürgen Morschel 1960 mit Otto Mauer und Louis Chardon auseinander und geht von der These aus, daß religiöse Terminologie für den Bereich des Ästhetischen ungeeignet sei - auch wenn die übermalungen zu religiösenInterpretationen verlockten -, »und diese möglichkeiten nutzen denn die avantgardistischen patres und interpretieren mit aller unpräzisheit und unklarheit ... «36 Morschel stellt fest, daß auf den übermalungen Rainers nichts als eine schwarze Fläche zu sehen sei, diese aber suggerieren wollten, darunter sei ein Mensch, der Ozean, das Kreuz Christi oder ein Kopf. »das alles steht nicht als diskutierbare form, sondern mystifiziert von der schwarzen fläche als unantastbares ding - gegen das sich nichts sagen läßt, das sich nur anrufen läßt - hinter der fläche«37. Man müsse Rainer glauben, »daß hinter seinen schwarzen flächen: menschen, was~er, christus ist«38. Wenige Jahre nach Mauer und Chardon hat der Kunsthistoriker Werner Hofmann eine Interpretation der übermalungen in post-christlichen Kategorien versucht. Wenn im Zusammenhang der übermalungen von »Askese« gesprochen werden könne, dann nur in dem Sinne, »als Rainer auf die divertierenden, kulinarischen Möglichkeiten der Malerei verzichtet«39. An die Stelle des Ausgelöschten - Hofmann spricht nicht wie Otto Mauer von einem Verbergen - setzte Rainer den »manischen, immer wieder neu anhebenden Malakt, der ununterbrochen Bild für Bild malt und übermalt. Hinter diesen Ikonen der leeren Fülle steht das Wunschbild des überbildes, das alle Malerei in sich zusammenfaßt, das sie endlich zu sich selbst gelangen, zum All-Einen vordringen läßt. Daraus folgt ... , daß in diesem Anspruch die Theologisierung der Malerei vorgetragen wird.«40 In einem über zehn Jahre später veröffentlichten Beitrag versucht Hofmann dann, die übermalungen Rainers in Analogie zum Kreuzestod' Christi zu sehen. Rainer hat selbst einmal seine übermalungen als »Abtötungsübungen« bezeichnet; durch die übermalung geschieht Abtötung 35 Louis Chardon O.P., Kreuz und Nacht, zitiert nach: Zweite, aaO, S. 15. 36 ]ürgen Morschei, Kreuz und Nacht. Zu den übermalungen von Amulf Rainer: Diskus. Frankfurter Studentenzeitung 10/1960, Heft 6, S. 9. 37 ebd, S. 9. 38 ebd, S. 9. 39 Werner Hofmann, Durch Absage ermächtigt (1968): Arnulf Rainer, Hirndrang, aaO, S. 76. 40 ebd, S. 76.
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eines Bildinhaltes. Indem nun Rainer sein Werk fortwährend tötet, so Hofmann, »hält er sein Werk am Leben,' ritualisiert Rainer die Kunstübung zum Opfertod, der Leben verheißt, setzt er für das christliche Thema des Erlösertodes ein anschaubares Gleichnis«41. Der Linzer katholische Theologe Günter Rombold, der bewußt eine Auseinandersetzung mit Hofmann umgeht, sieht in den übermalungen ähnlich wie Mauer und Chardon einen Ausdruck mystischer Erfahrungen: Das letzte Geheimnis entzieht sich dem Zugriff. Dies gelte sowohl für das Geheimnis des Ich, wie auch für das Geheimnis des Absoluten, da beide in Bezug zueinander stünden 42 . So kann Rombold von einer »Verweiskraft« der Kreuzesübermalungen Rainers »auf die letzte Wirklichkeit und ihr undurchdringliches Geheimnis«43 sprechen, die ungleich stärker sei als die der vielen deutlichen und doch nichtssagenden Kruzifixe, die uns umgeben. Rombold sieht zwischen der streng geometrischen Figur der Kreuzesübermalungen und der rinnenden Farbe eine starke Spannung, bei der »Assoziationen an das am Kreuz vergossene Blut«44 geweckt werden. »Es ist auch so, daß hinter vielen übermalungen dann das Kreuz nicht mehr sichtbar ist«, sagt Arnulf Rainer 1981. »Ich habe gesehen, daß ich nicht zu Rande komme mit einer sehr figürlichen, realistischen Kreuzesdarstellung und habe das Kreuz als Bild sozusagen von vorn hineingenommen und da hineingearbeitet.«45 Zwei Jahrzehnte zuvor hat sich Rainer noch wesentlich emphatischer zu dieser Werk gruppe geäußert. In seinem Text »Kontemplative Malerei« versuchte er, die Entstehung eines Bildes mit dem Vorgang der Kontemplation zu vergleichen. »Ist christliche Kunst Anbetung, dann wäre die traditionelle figurative Malerei >betrachtendes Gebet< (Johannes vom Kreuz), welche zwar eine unumgängliche, aber untere Gebetsstufe ... ist ... Kontemplation meint still werden, und der Malerei fällt es zu, die Imagination permanent auszulöschen, damit Sein unschaubares, unvorstellbares Bild IN UNS aufleuchtet.«46 Damals wollte Rainer in der Malerei eine der Annahme der Agonie im Sinne der Passion Christi vergleichbare Situation schaffen, die auf der Ebene der Imagination eine Reinigung der Vorstellungswelt bedeutet. 41 W. Hofmann, Jenseits des Schönheitlichen. Einführung im Katalog zur Rainer-Präsentation anläßlich der Biennale in Venedig 1978: A. Rainer, Hirndrang, aaO, S. 126. 42 G. Rombold, Kruzifikationen, aaO, S. 47; ders., » ••• meine eigene Verwandlung und Auflösung«. Arnulf Rainer Arbeiten zu den Themen Kreuz und Tod: Kunst und Kirche 41/1978, S. 167-170. 43 ders., Kruzifikationen, S. 47. 44 ders., Verwandlung, S. 167. 45 A. Rainer über seine Kru~ifikationen: Kunst und Kirche 44/1981, S. 29. 46 A. Rainer, Kontemplative Malerei: Panderma. Revue de la fin de l'homme 3/1960, o.S.
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Arnulf Rainers übermalungen und Zumalungen spiegeln so die Erfahrung der Unverfügbarkeit des Bildes des Gekreuzigten und stellen einen Protest gegenüber Konsumverhalten dar. Die übermalungen, die als negative Reaktionen auf das überangebot an optischen Reizen in unserer Industriegesellschaft verstanden werden können47 , werden dort, wo sie sich mit der Form des Kreuzes beschäftigen, zu einem Protest gegen das überangebot an Bildern des gekreuzigten Christus, gegen schöne Kruzifixe und gegen die Verharmlosung des Kreuzes Christi.
Erfahrung der Identifikation: Körpersprache In enger Nähe zu den Kreuzübermalungen steht eine Reihe von Zeichnungen auf Millimeterpapier aus dem Jahre 1967, die sich mit dem Gesicht Christi beschäftigen. Diese Zeichnungen können als eine Brücke von den übermalungen zu den »Face Farces« und der »Körpersprache«, wie auch zu den »Kruzifikationen und Christusköpfen « verstanden werden, weil sie die rein formale Ebene des Kreuzes nun auch im Bild eindeutig verlassen und hinüberführen zum Gesicht Christi48 . Das Blatt» Jesus Christus, 1967«49 - wie die anderen auf Millimeterpapier, um den Gegensatz zur Struktur der Zeichnung hervorzuheben - zeigt unter einer hastigen überstreichung mit Olkreide Gesicht, Dornenkrone, schulterlanges Haar, Bart und Kreuzzeichen auf der Stirn eines traditionellen Christusantlitzes. Ein Jahr später dann, 1968, beginnt Arnulf Rainer sich fast ausschließlich mit Fotodokumentationen seines eigenen Gesichtes (die sog. »Face Farces«), später dann auch seines Körpers (»Körpersprache«) zu beschäftigen. Er dokumentiert im Foto Nerven- und Muskelspannung und korrigiert und koloriert diese dann auf der meist im Format 50 X 60 cm gehaltenen fotografischen Vergrößerung mit Farbstift und Olkreide. Bis 1975 entstehen insgesamt etwa 250 solcher Arbeiten. »In den Jahren 1968 und 1969 begann ich, nachts fast jede Woche auf den Wiener Westbahnhof zu gehen. Dort steht eine Fotoautomatenkabine, die nicht nur Paßbilder, sondern auch Postkartenporträts auswirft. Untertags störten mich immer wieder die Leute, die vor der Kabine ungeduldig warteten«50, beschreibt Rainer seine ersten Schritte mit dem 47 A. Zweite, aaO, S. 17. 48 A. Rainer, Kruzifikationen 1951-1980, S. 51 (Abb.). 49 A. Rainer, Jesus Christus, 1967, Olkreide/Klebestreifen/Mmpapier, 42 X 30 cm: ebd, S. 50 (Abb.). 50 Wolfgang Hartmann, »Face Farces« von Arnulf Rainer. Zu einem Aspekt künstlerischer Selbstdarstellung in der Gegenwart: Rainer-Retrospektive 1950-1977, aaO, S. 22.
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Medium Fotografie. Später arbeitete er mit einem eigenen Fotografen. Drei Phasen führen ihn zu solchen Selbstreproduktionen seines Gesichts oder seines Körpers: Zunächst entsteht die eigentliche Fotoaufnahme. Darauf folgt die Auswahl aus »Hunderten von Momenten«, wie Rainer sagt, und schließlich, oft Wochen danach, eine abermalige Selektion und Korrektur durch das überzeichnen mit dem Pinsel oder mit ölkreide. Diese überzeichnungen des eigenen Gesichtes und Körpers - die Posen oft durch die Beschäftigung mit psychopathologischem Material angeregt51 - sind »Akzentuierung und Ordnung« der »durch die Grimasse aufgedeckten Grundstrukturen des Unterbewußten, also Manifestationen von seelischen Zuständen, die der rationalen Kontrolle nicht unterworfen sind. In der Körpersprache nimmt für Rainer die psychische Struktur des Menschen Gestalt an. «52 Arnulf Rainer spricht von präverbalen Verhaltenselementen und frühkindlichen Kommunikationsformen, die er auf dem Weg über die Bilder entdecke. »So betreibe ich Kunst als anthropologische Erforschung, denn der Mensch ist nur ein ... Klumpen Keime, Möglichkeiten, von denen er nur wenig ahnt, die meisten apriori ablehnt.«53 Zu diesen von Rainer entdeckten Möglichkeiten gehört auch die körpersprachlich vollzogene Identifikation mit dem Gekreuzigten. Auch in diesen von der Aktion geprägten Bereich hat Rainer das Thema Kreuz integriert. Zwei Bildtypen stehen dabei im Vordergrund: zum einen Rainer selbst in der Pose des Gekreuzigten, zum anderen das Einbeschreiben der Kreuzform in seinen Körper bzw. das Einbeschreiben seines Körpers in die Kreuzform. Die nachträgliche überarbeitung des Fotos versucht, die erstarrte Situation zu aktualisieren. »Obwohl das Foto in seiner Ausdruckshaltung vorproduziert ist, scheint Rainer in seiner Gebärdensprache auf die malerische Aktion zu reagieren, so als träfen ihn seine Pinselhiebe oder die Attacken seines Bleistiftes unmittelbar selbst.«54 Auf der »Selbstkruzifikation, 1973«55 (Tafel I) ist Arnulf Rainer nackt mit nach oben ausgebreiteten Armen, geöffneten Handflächen und geneigtem Kopf in der Pose des Gekreuzigten zu sehen. Die durch seinen Körper gebildete Vertikale und die Horizontale der Arme sind T-förmig
51 Vgl dazu Ernst Schagerl, Aneignung und Verarbeitung psychopathologischen Materials bei Arnulf Rainer. Hausarbeit Hochschule für Angewandte Kunst in Wien, Wien 1979 (masch.). 52 W. Hartmann, aaO, S. 35. 53 A. Rainer, Ein Klumpen Keime (1972): ders., Hirndrang, aaO, S. 101. 54 D. Honisch, Einführungstext, aaO, S. 130. 55 A. Rainer, Selbstkruzifikation, 1973, Olkreide/Foto, 60X50 cm: ders., Kruzifikationen 1951-1980, S. 53 (Abb.).
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mit ölkreide nachgezeichnet; eine Zick-Zack-Linie durchkreuzt den Körper. Der graue Fotogrund auf dem Blatt »Im Kreuz, 1973«56 ist wie ein blockförmiges Kreuz geschnitten. In dieses Kreuz ist Rainers Körper aus der Vogelperspektive fotografiert - einbeschrieben. über das Gesicht zieht sich das Hemd hinunter ein dicker ölkreidestrich, unter dem nur das linke Auge hervorblickt, und in Höhe der Schultern verläuft ein dünner, elegant geschwungener Querstrich. Auf dem Blatt »Verkehrtes Kreuz (Schwert), 1975«57 sind Kopf und Schultern Rainers zu sehen. Die Augen sind geschlossen, als würden sie Schmerz und Verwundung hinnehmen. Ein auf dem Kopf stehendes, in das Bild eingezeichnetes Kreuz spaltet das Gesicht der Länge nach; der Querbalken verläuft durch den Mund. In ähnlicher Weise wird eine Kreuzform auf den Körper Rainers auf dem Blatt »Brustkreuz, 1974«58 gezeichnet. Das Kreuz, selbst wiederum mit Strichen überzeichnet, ist auf die nackte Brust Rainers aufgetragen. Auch für diesen WerkbereiCh hat Werner Hofmann eine Interpretation versucht, die sich post-christlicher Kategorien bedient. Wiederum in Analogie zu einer christlichen Theologie der Kreuzesnachfolge spricht er davon, daß die formalen Eingriffe der überzeichnung die Bilddokumente »in dem Maße intensivieren, mit Leben und Energie aufladen, in dem sie es verletzen«59. Hofmann geht hier sogar so weit, von einem stellvertretenden Leiden des Künstlers für den ahnungslosen Kunstfreund zu sprechen. »Wenn Rainer uns ... als tragischer Clown entgegentritt, stellt er sich ... nicht gleich einem ästhetischen Exponat zur Schau. Er exponiert sich vielmehr im Sinne von >sich aussetzenglücklichen KunstfreundKreuz und Nacht< gibt mir die Kraft zur Werksetzung, ich möchte alle Aspekte dieser Bilder erst langsam mit mir selbst ausmachen.«75 Arnulf Rainers Christusköpfe und Kruzifikationen sind aus einem »Willen zum Dialog« 76 heraus entstanden. Wenn für Rainer schon bei seinen »Face Farces« und der »Körpersprache«, wie er 1973 formuliert, die überzeichnung der Fotografie »eine Akzentuierung, eine Wiederdynamisierung des erstarrten Moments«77 bedeutete, so stellen seine Beschäftigungen mit den historischen Kruzifixen und Christusgesichtern Erfahrungen einer neuen Aneignung solcher historischen Christusbilder dar. Die übermalung versucht, den Blick auf das Wesentliche zu lenken, neue Aspekte über vertraute Sehgewohnheiten hinweg herauszuarbeiten, Verlorengegangenes wieder sichtbar zu machen. Rainer Volp hat herausgearbeitet, daß sich der Betrachter des Gekreuzigten vielzusehr an idealisierte Bilder gewöhnt habe, die die Aufgabe des Andachtsbildes nicht mehr erfüllen könnten, nämlich die Idolisierung eigener Vorstellungen durch den Bezug auf den Gekreuzigten zu überwinden. Gewohnheiten würden den unbefangenen Bezug zum Gemeinten
75 ebd, o.S. 76 A. Rainer, Ausstellungskatalog Berlin, S. 118: Das, was Rainer hier über seine Messerschmidt-Uberzeichnungen sagt, kann auch für die Christusköpfe gelten. 77 A. Rainer, Spuren (1973): ders., Hirndrang, aaO, S. 117.
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überdecken. ] edes Bild, das jemand von Christus gestalte, wolle höchst individuelle Bezüge herstellen - dies aber werde von den meisten gewohnten Bildern verhindert. »Die Massierung von Reproduktionen des Gekreuzigten als Kunstgegenstand läßt viele Menschen diesen Bezug nur noch höchst verfremdet, d.h. stereotypisiert ahnen.«78 Die überarbeitungen historischer Kruzifixe durch Arnulf Rainer würden dieser Tendenz entgegenwirken. 50 konzentriert sich Arnulf Rainer nach Volp auch deshalb auf die zentrale christliche Aussage des Gekreuzigten, weil sie »eine Herausforderung darstellt, sich nicht des Gegenstandes, den er malt, zu bemächtigen« 79. Dieser überblick über die einzelnen Werk gruppen Arnulf Rainers und das Thema Kreuz und Christusbild hat gezeigt, daß diese Bilder nicht am Rande stehen, sondern eine zentrale Aussage Arnulf Rainers bilden. Dabei hat die Frage, ob sich Arnulf Rainer selbst als Christ versteht, keine Rolle gespielt80 , da es bei dieser Untersuchung vor allem um die im Bild, also auf der ästhetischen Ebene zu beobachtenden Erfahrungsphänomene gegangen ist. Dabei ist auch deutlich geworden, daß die Bedeutung des Kreuzes für Arnulf Rainer eine vielschichtige ist und sich nicht ausschließlich auf das Kreuz Christi beschränkt, wohl aber wichtige Bezüge vorhanden sind. In diesem Punkt ist Arnulf Rainer mit ]oseph Beuys zu vergleichen, in dessen Gesamtwerk auch das Kreuz und die Gestalt Christi immer wieder erscheinen 81 . Aufgabe dieses Beitrags war, das kunsthistorische Material für einen theologischen Dialog mit den Christusbilderfahrungen des Künstlers Arnulf Rainer aufzuarbeiten und Entwicklungen deutlich zu machen. 50 stellen die Erfahrungen Rainers mit dem Christusbild für die theologische Arbeit einen Blick über den eigenen Horizont hinaus dar, der kritische Anstöße und Anregungen vermitteln kann. In einem Beitrag über die Erfahrungen von Künstlern mit der Kirche hat Rainer 5chmidt seine Erwartungen an die zeitgenössische Kunst formuliert, die mir auch für
78 Rainer Volp, Christusbilder von Arnulf Rainer: Kunst und Kirche 44/1981, S.27. 79 ebd, S. 27. 80 V gl Kurt Lüthi, Das Ende des Christusbildes in der modernen Malerei. Ein Beitrag zum Gespräch mit der bildnerischen Kunst: Zeitschrift für Evangelische Ethik 10/1966, S. 271, Anm. 50: »Die persönliche Confessio eines Künstlers garantiert in keiner Weise die Echtheit, Güte und Qualität des Kunstwerkes. Ausschlaggebend soll nur das künstlerische Können sein. Es ist durchaus damit zu rechnen, daß Künstler, die sich verbal gegen den Glauben aussprechen, in ihrer Kunst Werke schaffen, die dem Glauben dienen können.« 81 Vgl zu Beuys: Klaus Raschzok, Bilder der Erniedrigung. Tendenzen 1m Christusbild der Gegenwart: Kirche und Kunst 59/1981, S. 29-39.
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die Beschäftigung der Theologie mit den neuen Christusbildern wichtig erscheinen: »Ich erwarte von der bildenden Kunst nicht in meinen (Vor)Urteilen bestätigt, auch nicht unbedingt erfreut, aber zum Nachsinnen bewegt zu werden. Wo solche Bewegtheit zustande kommt, wird man auf dem Weg der Kunst und der Begegnung mit ihr - ganz unabhängig davon, was da an >Christlichem< ist oder nicht - dem Geheimnis des Lebens auf der Spur sein.«82
82 Rainer Schmidt, Dem Geheimnis des Lebens auf der Spur. Einer Umfrage unter Künstlern nachdenkend: Kontext Kirche. Ausstellungskatalog Darmstadt 1981, S. 57. Die Vorlagen für die beiden Bildtafeln (S. 112/113) wurden freundlicherweise vom Atelier Arnulf Rainer, Wien, zur Verfügung gestellt.
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RICHARD RIESS
Die verborgene Dimension Zur religiösen Erfahrung in unserer Zeit
.. Als Levi Jizchak von seiner Fahrt zu Rabbi Schmelke von Nikolsburg, die er gegen den Willen seines Schwiegervaters unternommen hatte, zu diesem heimkehrte, herrschte er ihn an: >Nun, was hast du schon bei ihm gelernt?< >Ich habe erlerntdaß es einen Schöpfer der Welt gibt.< Der Alte rief einen Diener herbei und fragte den: >Ist dir bekannt, daß es einen Schöpfer der Welt gibt? JaFreilichalle sagen es, aber erlernten sie es auch