Ossip Schubin
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Eine Mainacht
Ossip Schubin Eine Mainacht Als Vorlage diente Ossip Schubin, Eine Mainacht, aus: Slawische Liebe, Drei Erzählungen, Verlag von Georg Westermann, Braunschweig und Hamburg, 92, S. 25 – 6, aus Milalis’ Bibliothek.
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Die Luft ist lau und feucht – der Mond steht voll
am Himmel über dem Dorf, das der Duft von grünem Getreide und blühenden Obstbäumen umschwebt. Obgleich die Zeit auf Mitternacht geht, schläft das Dorf noch nicht – viele der kleinen Fenster in den weißen, sich unter ihren schwarzen Strohdächern lang hinstreckenden Hütten sind erleuchtet. Große Dinge bereiten sich vor. Morgen wird Hochzeit gefeiert – der häßlichste, reichste Bursche im Dorf heiratet das schönste, ärmste Mädchen. Die Kranzeljungfern, die noch an ihrem Hochzeitsstaat nähen, stecken die Köpfe zusammen und zischeln – die Gevatterinnen, welche der Braut helfen, die Hochzeit auszurichten und Kuchen für sie backen, stemmen die Fäuste in die Hüften und weissagen schreckliche Dinge – die Männer, welche durch die Aufregung der Weiber in ihrer sauer erworbenen Ruhe
gestört werden, zucken ein letztes Mal mit den Achseln und brummen: »Es wird kommen, wie’s kommen muß!« Und darüber schlafen sie ein.
Hinter dem Dorf, von einer Strecke grünen Getreides
getrennt, durch das die Nachtluft im Mondschein Wellen zieht, dunkelt der Wald – und aus seinem Schatten tritt in den hellen Mondschein hinauf, finster zu Boden schauend, eine kurze, gedrungene Gestalt mit runden Schultern – der Bräutigam. Über einen schmalen, vergrasten Feldrain wandert er – plötzlich bleibt er stehen, wendet den Kopf … Durch das Seufzen, Kichern und Lispeln des Frühlingshauchs, der zwischen dem halbentwickelten Laub der Haselsträucher herumirrt, tönt das Schluchzen der Nachtigall – wie aus einer Seligkeit heraus, die bis an die Grenze des Schmerzes reicht. Den häßlichen Bräutigam durchfährt’s mit Sehnsucht, die sich auflösen möchte in Glück! Morgen … morgen! … Wie schön die Nachtigall singt! Von Kindheit an hat ihn ihr Sang wie kein anderer der Welt entzückt! Einmal hat er sich eine gefangen und hat sie in einen Käfig gesteckt, damit sie für ihn allein singen möge. – Aber die Nachtigall hat nicht singen wollen für ihn! – – – Die Erinnerung an die im Käfig verstummte Nachtigall mischt sich bei ihm in den Gedanken an die Erwartung der morgen bevorstehenden Hochzeit. Er schüttelt sich
vor Sehnsucht, vor Lust und Angst! – Morgen! … Zum zweitenmal hat er sich eine Nachtigall gefangen, damit sie für ihn allein singen möge. Aber sie wird nicht mehr singen im Käfig! Sie wird an ihre Freiheit denken und sterben, oder … Er ballt die Faust, ballt beide Fäuste und macht sie dann wieder aus – schaut ratlos um sich. Dann wirft er sich der Länge nach auf den grünen Feldrain nieder, küßt wie irrsinnig das junge, zarte, noch unverstaubte Frühlingsgras und murmelt: »Marynka! … Marynka!« – den Namen seiner Braut – »o du mein Stern, meine Blume, meine Nachtigall!« Dann erhebt er sich, lacht ein unbeholfenes heiseres Lachen und glotzt starr vor sich hin. – »Nein,« sagt er, langsam den Kopf schüttelnd, »sie wird nicht sterben – meine Nachtigall wird nicht sterben; sie wird den Käfig sprengen, und dann wird sie singen, schöner als je wird sie singen für einen anderen – und ich …?« Ach, was kommen muß, wird kommen … aber wenigstens wird er sie vorher in dem Arm gehalten und geküßt haben – auf ihren Mund, der rot wie eine Mohnblume ist, auf ihre Augen, die wie die Sterne glänzen, auf ihren weißen Nacken, um den die kleinen zarten Löckchen spielen, die sich immer wieder herausringeln aus ihrem dicken Zopf. – Gerade hinter das Ohr wird er sie küssen – ja! – Die Bräute aus dem Dorf sind sonst nicht spröde, aber die Marynka hat sich noch niemals küssen lassen von ihm – aber morgen muß sie! – Was macht er sich daraus, wenn sie sich sträubt, einmal wird er sie doch küssen, wird sich
recht satt küssen an ihr – und dann – nun dann … soll da kommen, was will … soll da kommen, was muß! Er wird sie doch geküßt haben! Er liebt sie mit der Begierde eines wilden Tieres, das nichts mehr aufzuhalten vermag, wenn es sich auf seine Beute stürzen will, er liebt sie mit der Zärtlichkeit einer jungen Mutter für ihr Kind, das sie bis zum letzten Pulsschlag gegen jeden verteidigen möchte, der seine zarte Hilflosigkeit anzugreifen wagen würde – und dem sie eine Freude erkaufen möchte mit dem eigenen Leben! Durch das junge Getreide um ihn herum ziehen sich noch immer leise aufschimmernd, nachdunkelnd, wieder aufschimmernd die Licht- und Schattenwellen – der Duft blühender Frühlingsbäume schwebt zu ihm herüber – und aus dem schaudernden Rauschen des Waldes tönt das Lied der Nachtigall! Und noch immer preßt er seine durstigen Lippen auf das junge Gras des Feldrains, das in der laufeuchten, fruchtbaren Frühlingsluft bebt, und stöhnt traurig, verzückt und verzweifelt den Namen seiner Braut: »Marynka! Marynka!«
Als er das Dorf erreicht hatte, war Mitternacht vorüber. Der Mond stand noch immer am Himmel – sein Licht teilte die Dorfstraße in zwei Hälften – eine dunkle und eine helle. Auf der einen Seite war alles weiß wie die Blüten in einer Brautkrone – auf der anderen Seite alles Schwarz
wie ein Bahrtuch! – Die schwarze Schattenlinie zeichnete sich mit geringen Unterbrechungen fast gleichmäßig die Straße entlang, nur an einer Stelle dehnte sich der Schatten weiter vor – Dort, wo sein Haus stand. Das war nämlich höher als die anderen Häuser – ein wunderlich altmodisches Gebäude mit vorspringendem Oberstockwerk und hohem Giebel – vor den kleinen, tief in den Wänden sitzenden Fenstern altväterisch verschnörkelte Eisengitter. Fast ein Jahrhundert mochte es dagestanden haben mitten im Dorf neben einem geräumigen Wirtschaftshof, an den sich ein Obstgarten schloß. Der Bräutigam – er hieß Wenzel Swoboda – trat in den Hof. In sich hinein erschauernd, heftete er den Blick auf einen Birnbaum, der in reicher, vom Mondschein überschimmerter Blüte gespenstisch weiß aus einer Ecke des Gehöftes herausleuchtete. Ein widerlicher Geruch entströmte den weißen Blüten, zwischen denen der Blick des Bauers etwas zu suchen schien. Als er es gefunden, zuckte er zusammen und schloß die Augen. Es war ein Kreuz, das unmittelbar unter dem dicksten Ast in den Stamm geschnitten war. Wie eine schlecht geheilte klaffende Wunde zeichnete es sich in die Rinde hinein. Nach einer Weile öffnete er die Augen wieder, trat unter den Baum, klopfte ein paarmal mit der flachen Hand auf den Stamm und setzte sich schließlich auf eine roh gezimmerte Holzbank, die sich an denselben lehnte. Die Ellenbogen auf die Knie, den Kopf zwischen die Hände gestützt, fing er an, zurückzudenken an die Vergangenheit.
Vor fünfundzwanzig Jahren um dieselbe Jahreszeit – die Zeit der Blüte war’s gewesen, daß es angefangen hatte – das große Unglück – an einem Donnerstag, das wußte er deshalb, weil er an jenem Nachmittag zu Hause und seiner Schulpflichten entbunden gewesen war. Es war übrigens sein erstes Schuljahr und er noch ein sehr kleiner Junge, dem seine Hosen nicht weit über die Knie reichten. Seine Mutter stand in der Haustür und sah dem komischen Gebaren, dem Kratzen und Scharren und unbeholfenen Flattern des Geflügels zu, dem sie soeben Futter gestreut. Es war sehr heiß, sie hatte ihr Jäckchen abgelegt, ihre Arme und ihr Nacken glänzten unverhüllt im Sonnenschein. Um den Kopf trug sie ein rotes Tuch geschlungen, dessen Zipfel über ihrer Stirn in einen dicken Knoten zusammengebunden waren. Sie schien müde, sie lehnte gegen die Tür, fast, als ob sie einschlafen wollte. Mit einemmal richtete sie sich auf – es schoß ihr brennendheiß in die Wangen. Als sich der Kleine danach umsah, vor was sie erschrocken war, bemerkte er im Bogen des Hoftors einen jungen Mann mit großen blauen Augen, die unter der Krempe seines Strohhutes träge und gutmütig zugleich aus seinem sonnverbrannten Gesicht herauslachten. Der Wenda* merkte sofort, daß er einen Herrn vor sich habe. Er ging auf ihn zu und küßte ihm den Ellenbogen. Der junge Mann trat in den Hof, die Bäuerin verschwand im Inneren des Hauses. *
Beliebte tschechische Umwandlung des Namens Wenzel.
Anstatt sich ebenfalls zu entfernen, unterhielt sich der Fremde mit dem Kleinen, an den er scherzhafte Fragen richtete. Dabei spähte er ununterbrochen nach der Tür. Nach einer Weile trat die Bäuerin von neuem auf die Schwelle. Sie hatte ihre bloßen Arme und Schultern unter einem Jäckchen versteckt. »Wünscht der Herr Graf etwas?« fragte sie. Er verlangte ein Glas Wasser. Die Bäuerin brachte es ihm frisch von der Pumpe in einem grünen Becher, den sie auf einen mit großen Blumen bemalten Teller gestellt hatte. Während er trank, sah er sie über den Rand des Bechers an. Dabei sagte er kein Wort, und bald darauf ging er. Den Teller mit dem Becher, aus dem er getrunken, in der Hand, blieb sie stehen, wie in den Boden festgewachsen, und blickte nach dem offenen Hoftor, durch das er gekommen und gegangen war. So hatte es angefangen. … Wenda wußte genau, daß es so angefangen hatte, damals an jenem Maitag, an dem der Birnbaum im Hof in voller Blüte stand. Als der Vater vom Felde heimkam, zufrieden, abgearbeitet und hungrig wie gewöhnlich, war das Mittagessen verdorben. Er zankte nicht, lachte nur und schnitt sich ein größeres Stück Brot ab als gewöhnlich, dann schlang er den Arm um seine junge Frau und wollte sie auf den Hals küssen. Sie schrak zusammen und schrie, als habe man ihr einen Schmerz zugefügt. Da lachte er wieder, über ihren
dummen Schrecken diesmal – mehrmals setzte er an zu lachen, laut, polternd, plötzlich brach er ab, legte sein Brot weg, senkte den Kopf und verließ die Stube.
Sie war nicht dieselbe mehr von jenem Tage an, und ihr
ganzes Benehmen wurde anders. Sie arbeitete und scheuerte und grub und wusch mit einer Eile, als ob man sie mit der Peitsche vorwärtstriebe. Dann plötzlich richtete sie sich auf, fuhr sich mit der Hand über die Augen und stöhnte. Nach einer Weile versuchte sie von neuem zu arbeiten, ließ es noch einmal sein, setzte sich unter den Birnbaum, von dem die Blüten heruntergewelkt waren, schlang die Arme um ihre hinaufgezogenen Knie und starrte durch das Tor hinaus, durch das er gekommen und gegangen war. Sie war wie verzaubert und wußte nicht mehr, was um sie herum vorging. Als sich einmal ihr kleiner Sohn an sie herangeschlichen hatte, um seine Wange an ihrer Hand zu reiben, hatte sie seine Liebkosung erst mit demselben ungeduldigen, erschreckten Aufschrei von sich abgewehrt, wie damals die des Vaters, dann aber, als er, über ihre Lieblosigkeit gekränkt, zu weinen angefangen, ihn an sich gezogen und geküßt, so heiß und ungestüm, wie sie ihn noch nie geküßt hatte – und dann … während sie ihn noch im Arme hielt, hatte sie ihn bereits wieder vergessen. Und über seinen Kopf, den sie noch an ihre Brust drückte, blickte sie von neuem nach dem Tor, durch das er damals gekommen und gegangen war! – – –
Eines Tages kam er wieder. Sie tat, als sähe sie’s nicht. Sie befand sich in dem Obstgarten und war damit beschäftigt, Wäsche an einer Leine zwischen zwei Zwetschenbäumen aufzuhängen. Die nasse weiße Wäsche an der Leine knatterte und bauschte im Wind – einem weichen Juniwind, der nach Rosen und frisch gemähtem Gras duftete. Wenda hockte unter den rundgebogenen Ästen einer Stachelbeerhecke und naschte harte grüne Früchte. Die Mutter sah ihn nicht – er aber sah die Mutter. Sie streckte die Arme hoch in die Luft, um ein Stück Wäsche zu befestigen, und dabei glitt ihr das rote Tuch von dem zurückgebogenen Köpfchen in den Nacken. Ihr hellbraunes Haar glänzte auf wie Gold. Da schritt der Graf über die niedrige Mauer von losem Geröll, welche die Grenze zwischen Hof und Garten zog, und das junge Weib von rückwärts mit beiden Händen an der Taille fassend, küßte er es auf den Hals, gerade hinter das Ohr – auf dieselbe Stelle, auf welche um einige Tage früher der arme Bauer seine junge Frau hatte küssen wollen. Auch diesmal schrak sie zusammen. Sie wehrte den jungen Herrn von sich ab, herrisch, böse. Dieser aber zuckte nur mit den Achseln, machte ein gekränktes Gesicht und wandte sich zum Gehen nach der äußeren Umfriedung des Gartens gegen die Felder zu. Er hatte den längsten Weg eingeschlagen, aber er ging, ohne zu zögern und ohne sich nach ihr umzusehen. Die Bäuerin stand da und starrte ihm nach. Die Arme hingen schlaff an ihren Seiten nieder, sie öffnete und
schloß die Hände krampfhaft. Ihre Brust stieg und fiel, man hörte ihr schweres, mühsames Atmen. Mit einemmal kam’s von ihren Lippen, so leise, als ob sie sich selber schäme: »Herr Graf – gräfliche Gnaden!« Der junge Mann rührte sich nicht, schon hatte er die Umfriedung des Gartens erreicht, da schrie sie laut und heiser: »Herr Graf!« Er sah sich um, lächelnd, blinzelnd. Und dann … er blieb stehen … er wartete, ob sie an ihn herankommen würde … Und sie kam; die Brauen finster zusammengezogen, die Unterlippe vorgeschoben, mit ganz kleinen Schritten wie ein trotziges Kind, das sich ohnmächtig einem stärkeren Willen beugt, trat sie auf ihn zu. Er ließ sie knapp an sich herankommen, fing sie dann plötzlich in seinen Armen auf und küßte sie. Wieder und immer wieder küßte er sie. Und diesmal ließ sie’s geschehen – ach, wie gern sie’s geschehen ließ! Es war ein schöner, großer Mensch mit blauen Augen, die abwechselnd sehr keck und sehr zärtlich zu blicken wußten, in einem braunen, stolz geschnittenen Gesicht. Kein Wunder, daß er ihr gefiel. Als er sich endlich satt geküßt, ließ er die Arme von ihr heruntergleiten und redete, sie an den Händen festhaltend, halblaut in sie hinein. Sie zog die Brauen zusammen, schüttelte das Köpfchen, nahm plötzlich seine Hand und zog sie an ihre Lippen. Ehe sich’s der Kleine versah, war der junge Mann über der niederen Einfriedung in den Feldern.
Dem armen Kleinen wurde unheimlich – grauenvoll wurde ihm zumute, so, wie wenn er sich im Halbdunkel vor Gespenstern fürchtete. Sonst pflegte er in solcher Stimmung sich an seine Mutter heran-zuschmeicheln und das Köpfchen zwischen ihre Knie zu schmiegen. Heute – um nichts in der Welt hätte er es über sich gebracht, sich der Mutter zu nähern. Er verkroch sich noch tiefer in den Schatten der Stachelbeerbüsche hinein und weinte, bis er einschlief. Als er aufwachte und in den Hof zurückkam, merkte die Mutter gar nicht, daß er geweint hatte, obgleich sein Gesicht davon bis zur Unkenntlichkeit rot und verschwollen war. Die Kuhmagd sagte es ihm; – die Mutter – die Mutter merkte überhaupt nichts von dem, was um sie herum vorging. Sie fing hastig eine Arbeit nach der anderen an und brach sie in der Mitte ab. Dann blieb sie stehen, die eine Hand auf der Hüfte, und starrte vor sich hin auf den Boden, dann wieder reckte und dehnte sie sich, als ob sie schlecht ausgeschlafen hätte, dann rieb sie sich, den Oberkörper etwas zurückbeugend, mit ihren sonnverbrannten kleinen Fäusten beide Augen, und dabei lächelte sie – wie sie lächelte! Heute, um fünfundzwanzig Jahre später, in der Nacht vor seiner Hochzeit, erfaßte er’s zum erstenmal ganz, was dieses Lächeln bedeutete, dieses sehnsüchtige, grausam alles, was sich dieser Sehnsucht widersetzte, verhöhnende Lächeln. Er hätte viel darum gegeben, wenn er dieses Lächeln hätte vergessen können!
Als die Schatten länger wurden, wurde die Bäuerin ruhiger. Ihre unstete Hast löste sich in verträumte Mattigkeit aus. Sie setzte sich in dem Obstgarten genau auf die Stelle, wo sie mit ihm gesessen, den Kopf gegen den dünnen Stamm des Zwetschenbaumes gelehnt; so saß sie bewegungslos und sah blinzelnd vor sich hin. Nach einem Weilchen schloß sie die Augen und öffnete die Lippen, und wieder lächelte sie, immer sehnsüchtiger, grausamer. Mit einemmal sprang sie auf, schüttelte sich ein wenig und ging auf die Umfriedung des Gartens zu, nach der Richtung hin, wo am Straßensaum hinter dem Dorfe ein alter Schuppen aufragte, der zum Aufbewahren verschiedentlichen Gerümpels diente. Sie ging ein paar Schritte, dann blieb sie stehen, kehrte wieder um, ging noch ein paar Schritte – diesmal ging sie weiter. In einer Seelenangst, die nicht wußte, was sie fürchtete, eilte Wenda auf sie zu und klammerte sich an ihren Röcken fest. Da aber machte sie seine Finger von sich los, riß sie fast aus den Falten ihres Kleides heraus. Ehe er sich’s versah, war sie über die Einfriedung des Gärtchens hinüber. Zwischen den wehenden Ähren sah er sie davoneilen, fast laufen in die Glut des Sonnenuntergangs hinein.
Als der Vater heimkam, fragte er, wo die Bäuerin sei.
Die Kuhmagd, eine kleine, listige Person, breitschulterig, mit schönen weißen Zähnen und kleinen, schmalen, gelblichen Augen, die aus einem hübschen, aber fre-
chen Gesicht nichtsnutzig herausschielten, gab ihm zur Antwort, die Bäuerin sei ins Dorf gegangen, sie werde bald wiederkehren. Eine Stunde verging – sie kehrte nicht wieder. Die Kuhmagd fragte, ob sie dem »Pantato« das Abendbrot reichen solle, das stünde bereit. Der Bauer schüttelte den Kopf – er hatte keinen Hunger. Er zündete sich seine Pfeife an, stellte sich in das Hoftor und spähte der Rückkehr seines Weibes entgegen. Die Sonne war untergegangen, die Schatten verwischt. Sie kam nicht. Er fragte die Magd, nach welcher Richtung sie gegangen sei. Die Magd sagte: »Dorthin,« indem sie, was dem Kleinen ausfiel,, den Arm nach einer ganz falschen Richtung ausstreckte. Der Bauer ging hinaus, ein paar Schritte, dann kehrte er wieder um. Er stampfte mit dem Fuß. Seine Pfeife war ausgegangen. Endlich kam sie – durch den sinkenden Schleier der Dämmerung strahlte die trunkene Seligkeit ihrer Augen. Als sie den Bauer erblickte, schrak sie zusammen wie mit Blut übergossen. Doch kaum einen Augenblick dauerte ihre Verwirrung, dann warf sie den Kopf zurück, stemmte die Hand in die Seite und lächelte dem Bauer verwegen ins Gesicht. »Wo warst du?« fragte er sie. »Bei der Naninka,« erwiderte sie. »Sie hat ein kleines Kind bekommen, du weißt.«
»Die Nana wohnt nicht dort, von wo du herkommst,« schrie der Bauer heftig. Sie zuckte mit den Achseln und blieb stumm. »Unverschämte!« schleuderte ihr der Bauer ins Gesicht; hierauf zog er sie an beiden Handgelenken in den Hof hinein und schleuderte sie zu Boden. Mit der einen Hand hielt er sie fest, die andere hob er, um sie zu schlagen. Die Hand aber sank an seiner Seite nieder, wie gelähmt, er ließ das Weib los, wandte sich ab und schlich mit gekrümmtem Rücken aus dem Hof heraus, geradeswegs in die Schenke. Gegen Morgen brachten ihn zwei Männer nach Hause – sinnlos betrunken.
Wenda, welcher ob des Lärmes erwachte und aus seinem Bettchen aufstand, erblickte den Vater in seinem unzurechnungsfähigen Zustand. Er war gerade alt genug, um sich zu schämen. Armer Junge! Sein Sonnenschein war ausgelöscht! An jenem Tage, an dem der junge Graf seine Mutter zum erstenmal geküßt, hatte er den Vater und die Mutter verloren! Weder Vater noch Mutter bekümmerten sich mehr um ihn! Der Vater war finster und in sich gekehrt, er hielt sich kaum mehr im Hause auf und trank. Die Mutter – nun, die Mutter war einen Tag so, den anderen so, aber die zärtliche Mutter von ehedem, die war sie nie mehr! Immer öfter verließ sie den Hof und verschwand, oft stundenlang.
Wenn der Vater heimkam und sie nicht fand, so stampfte und polterte er im Hof herum wie besessen und schlug nach Menschen und Tieren. Einmal hieb er mit einer Axt so lange in einen jungen kräftigen Zwetschenbaum, dessen Äste schwer von unreifen grünen Zwetschen hingen, bis der Baum umsank. Mit ächzendem Krachen und in allen seinen Zweigen erschauernd, sank er um. Dann warf der Bauer das Beil fort, streckte sich der Länge nach in das Gras und wühlte mit den stumpfen braunen Fingern in der Erde. Manchmal erhob er die Faust gegen die Bäuerin, aber immer wieder sank die Faust ohnmächtig, ehe sie das junge Weib berührt hatte. Zu anderen Malen streckte er die Arme nach ihr aus, aber – die Arme erschlafften mutlos, ehe sie sich fester um das junge Weib geschlungen hatten. Und die Tage kamen und gingen, und die Schönheit der jungen Bäuerin entfaltete sich immer herrlicher in der schwülen Sommerluft, die alle Früchte zur Reife brachte. Die Pflaumen und Äpfel fingen an, sich zu färben, und das Getreide schimmerte goldiger in der Sonne und senkte in müder Üppigkeit die übervollen Ähren zur Erde nieder.
Einen solchen Erntesegen wie in jenem Jahr hatten die
Menschen in St. Margaret noch nicht erlebt, besonders auf den herrschaftlichen Feldern.
Als die Scheunen überfüllt waren, stopfte man den Weizen in den alten Schuppen am Rand des Dorfes. Der Schuppen war bald voll zum Brechen, und mancher Bauer oder Häusler, der vorüberging, warf einen neidischen Blick in die vergitterten Fenster hinein. Zuweilen auch spie einer oder der andere aus und sagte: »Wenn es sich um zeitliche Güter handelt, taugt der Segen des Teufels mehr als der Segen Gottes!« Einer aber umschlich den Schuppen bei Tag und Nacht, als ob ihn ein Gespenst hinriefe, als ob sich in dem Gebäude etwas Grauenhaftes ereignet hätte, wovon die Erinnerung ihn schaudernd anzog. An einem windstillen Nachmittage stand der Schuppen in Flammen. Lichterloh brannte das Feuer – kaum fünf Minuten, so krachten die Ziegel des Daches zusammen, und das Getreide unter ihm war nicht mehr. Glühend rot zeichnete sich das Gebälk gegen den blauen Sommerhimmel ab, aus allen Fenstern drangen Rauch und Flammen, wie roter Feuerhagel sprühten die brennenden oder glühenden Getreidekörner durch die Luft. Eine Schar weißer Tauben flatterte angstblind gerade in die Flammen hinein, einige der Vögel fielen sofort betäubt mitten zwischen das lohende Getreide, andere kreisten rauchgeschwärzt eine Zeit hoch oben in der Luft und flogen klagend von dannen. Man sah sie noch lange unruhig dahin und dorthin flattern durch die klare Sommerluft, rote Funken an ihren weißen Schwingen forttragend.
Wenda stand an jenem Nachmittage auf einem Stoppelfeld, in dem er Ähren gelesen hatte, und starrte wie gebannt das grausige Schauspiel an. Da trat sein Vater aus ihn zu, totenbleich und perlenden Schweiß auf der Stirn. Er nahm den Jungen bei der Hand und blickte starr in das Feuer. »Es brennt schön, nicht wahr?« murmelte er und drückte die Hand des Knaben. Bis dahin hatten die Dorfleute phlegmatisch brennen lassen, was brennen wollte. Einige von ihnen hatten zwar nach der Feuerspritze geschrien, und andere hatten die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und »Jesus, Maria, Joseph« gerufen, aber eigentlich zu Herzen gegangen war’s keinem. Die meisten hatten ruhig, die Pfeife im Munde, auf respektvolle Entfernung den brennenden Bau umstanden. »Der Herr Graf kann’s aushalten,« sagte einer wie der andere, und mancher lächelte dazu. Der brennende Schuppen war etwa fünfzig Schritte von den Hütten des Dorfes entfernt, und es war bisher windstill. Da plötzlich, ganz unerwartet, regte sich etwas in der Luft, stärker und stärker. Ein Klagen und Säuseln in den Bäumen, ein zischendes Rauschen im goldenen Getreide, ein grollendes Flüstern die Stoppeln entlang. Die Richtung der Flammen änderte sich. Früher kerzengerade in den Himmel strebend, wandten sie sich jetzt dem Dorfe zu, weit ausgreifend, fast wagerecht – der rote glühende Regen fiel auf die ersten Strohdächer des Dorfes. Eine Hütte fing Feuer.
Jetzt wurde alles anders, alles Lärm, Bewegung, Angst, das ganze Dorf wie von Fieberschauern geschüttelt. In das Rauschen der Flammen, das Knistern des brennenden Getreides, das Krachen des zusammenstürzenden Gebälkes mischte sich das Sausen des Windes, das wehklagende Geschrei der Menschen, dann das feierliche Dröhnen der Feuerglocke im Schloßturm drüben und endlich das schwerfällige Gerassel der Feuerspritze, die aus dem Schloßhofe heraus, vom Verwalter angeführt, herbeieilte. Lange genug hatte es gedauert, bis sie kampffähig ausgerüstet worden war. Natürlich bestand der Verwalter mit offiziellem Pflichteifer darauf, den Strahl des Wassers, die brennende Hütte übersehend, auf den Schuppen zu lenken. Zwei Männer fielen den Pferden in die Zügel, ein paar andere rissen zornig an dem Schlauch der Feuerspritze. Was lag an dem herrschaftlichen Schuppen! Ihre Heimstätten wollten sie retten, ihr armseliges Hab und Gut! Eine zweite Hütte fing Feuer – ein paar Dächer glimmten. Die Menschen standen auf den Kämmen der Dächer, verteidigten dieselben gegen die Flammen, so gut es ging, indem sie Wasserkübel darüber ausgossen, die man ihnen von unten reichte. Der Lärm wurde immer unerträglicher; Kühe brüllten, Hunde heulten – ein paar Schafe, die man mühsam aus dem in Flammen aufgehenden Stall heraus-
getrieben, drängten sich angstvoll blökend mit rotglimmendem Vlies wieder in den Stall zurück, einen Kopf am anderen, mit lang vorgestreckten Hälsen und seitwärts gespitzten Ohren. Ein Mensch rannte den anderen um, Ordnung war nicht herzustellen, die Weiber weinten, die Männer fluchten. Der Bauer Swoboda stand noch immer aus dem Stoppelfelde, seinen Sohn an der Hand, und sah zu. Er wurde unruhig, trat von einem Fuß auf den anderen, lachte vor sich hin, hart, schrecklich. Schließlich, einen tiefen Atemzug schöpfend, ging er auf das Dorf zu, Trotz bietend, wo kein Entrinnen war. Doch kaum hatte ihn die Menge erspäht, so fiel sie über ihn her, vier, fünf faßten ihn an, rissen ihm beinahe die Kleider vom Leibe. »Du warst’s, du hast’s getan! Hund! Bösewicht! Mordbrenner! Mach’s mit dem Herrn Grafen ab, wenn dir was nicht recht ist, und wenn du nicht den Mut dazu hast, so drück’ deine Nase in den Sumpf und halt still!« – und dabei hieben sie auf ihn ein und würgten ihn. Mit einemmal wurde alles stumm. Nach rechts und links traten die Leute zur Seite. »Der Herr Graf!« Mit Hund und Jäger kam er von der Jagd, in seinem abgenutzten Jagdanzug und sonnverbrannten Strohhut mit herabgebogener Krempe. Wie hoch er den Kopf hielt! Und wie es aus seinen blauen Augen herausleuchtete! »Was ist geschehen?« fragte er.
»Das Dorf steht in Flammen, der Swoboda hat den Brand gelegt, er hat den Schuppen angezündet – den Schuppen seiner gräflichen Gnaden.« »Unsinn!« herrschte der junge Edelmann sie an; »gebt den Mann frei, augenblicklich werdet ihr ihn freigeben!« Langsam, widerwillig ließen sie von dem Bauer ab, wobei sie jedoch fortfuhren, ihn drohend zu umringen. Er stand zwischen ihnen mit gesenktem Kopf, zerrissenen Kleidern, keuchend, zitternd, jämmerlich. »Er ist unschuldig,« fuhr der Graf fort; »den Brand mag wohl ich verschuldet haben – auf dem Wege zur Jagd habe ich mir dort neben dem Schuppen meine Zigarre angezündet und das Zündholz weggeworfen. Es mag noch gebrannt haben … verdammte Unvorsichtigkeit! übrigens beruhigt euch, den Schaden trag’ ich – den Swoboda laßt unbehelligt, hört ihr’s!« Da traten sie von dem Brandstifter zurück, und der Brandstifter schrumpfte in seinem zerrissenen Kittel zusammen, stolperte mit versagenden Knien aus den Herrn zu und murmelte: »Ich danke gräfliche Gnaden – ich küss’ die Hand!« Die Flammen leckten und sprühten noch immer in ungebändigt grausamem Zerstörungsübermut – die Aufregung der Menge aber hatte sich gelegt. Wozu sich noch grämen, da sich der Herr Graf bereit erklärt hatte, den Schaden zu tragen. Daß er sein Wort hielt, dafür kannte man ihn.
Übrigens eroberte er sich in jener Stunde alle Herzen. Er verwies es dem Verwalter sehr scharf, daß er den Wasserstrahl der Spritze auf den Schuppen gelenkt hatte, anstatt vor allem anderen daran zu denken, das Dorf zu schützen; er leitete selbst die Rettungsarbeiten, sprang aus ein brennendes Dach, auf das sich keiner mehr hinauswagte, um mit wuchtigen Axthieben einen Balken herunterzuschlagen, der die in Flammen stehende Hütte gefährlich mit der daranstoßenden verband – alles ohne Hast, ohne Unruhe, mit einem übermütigen Lächeln auf den Lippen, als handle es sich um einen mutwilligen tollen Streich – ein Spiel. Selbst die Flammen schienen ihm zu gehorchen – kein Härchen versengten sie ihm! Auch der kleine Wenda fühlte sich von Bewunderung hingerissen. Da plötzlich gewahrte er seine Mutter, die mit gefalteten Händen, jeder Zoll Andacht und Hingebung, zu ihrem Abgott aufsehend, zwischen den Menschen stand. Sein Herz wurde schwer. Er versteckte sein Gesicht in die schwielige Hand seines Vaters und murmelte kläglich: »Nach Haus, Vater … kommt nach Haus!« Sie gingen heim. –
Das Wetter wurde immer schwüler und die Traurigkeit des armen Bauern immer erdrückender – von einem Tage zum anderen lastete sie schwerer auf ihm. Seit dem Tage des Brandes legte sich die Bäuerin ihm gegenüber nicht den geringsten Zwang mehr auf; im Gegenteil schien sie alles daranzusetzen, ihn zu demütigen, zu reizen, ihm
ihre Verachtung, ihren Abscheu ins Gesicht zu schleudern. Er schlich durchs Leben mit gekrümmtem Rücken und stumpfem Blick. Er machte den Eindruck eines müde geprügelten Hundes, der einsehen gelernt hat, daß er sich nicht mehr wehren kann. Der Sonnenbrand rötete das Laub – die Sommeräpfel fielen in das Gras, und die Haselnüsse reiften. Eines Nachmittags war Wenda hinausgelaufen in ein nahes Laubwäldchen, um Nüsse zu pflücken. Seine Taschen waren alle voll und seine braunen Hände kleberig, als er plötzlich neben sich Stimmen vernahm. Er erschrak und versteckte sich tiefer im Gebüsch, aus Angst, ertappt zu werden. Aber es war kein Förster oder Forstgehilfe, den er dort unter der Wölbung der sich über dem dunklen Waldpfad schließenden Haselstauden sah. Der Herr Graf war’s. Von dem hatte er nichts zu fürchten, der drückte solchen Kleinigkeiten gegenüber die Augen zu, höchstens schreckte er einen ein wenig und lachte. Aber dort – einen Schritt hinter ihm, wer war das … Der Vater! Der Graf hielt den Kopf sehr hoch in der Luft und runzelte ungeduldig die Stirn. Der Bauer murmelte in einem fort mit verweinter Stimme irgend etwas, das der Knabe nicht verstand. Dann geschah etwas Sonderbares: der Bauer warf sich schluchzend quer über den Weg und umklammerte die Füße des Herrn. »Um Gottes willen – habt Erbarmen, gräfliche Gnaden … Erbarmen! – Der Herr Graf hat alles, die ganze Welt
steht ihm offen, er ist reich und schön, und alle Frauen lieben ihn, wenn sie ihm einmal in die Augen geschaut haben. Ich hatte nichts als mein Weib, und das hat mir der Herr Graf genommen – genommen – und nun bin ich bettelarm!« Er schlug mit dem Kopf gegen die scharfen Steine, die aus dem Boden ragten, und schluchzte. »Nur mein Weib soll er mir zurückgeben! Gnade – Erbarmen!« Der Graf wurde sehr blaß. Ein schlechtes Herz hatte er nicht. Mitleidig blickte er auf den Verzweifelten, der sich vor ihm krümmte im Staube und ihn, den Schuldigen, um Gnade anflehte. Er kraute sich hinter den Ohren, so daß ihm sein Hut über die Stirn niederrutschte und einen Schatten über die Augen warf, die feucht geworden waren. »Steht doch auf!« rief er dem Bauern zu; »das kann ich nicht ansehen, weiß ohnehin nicht, von was Ihr redet!« Er steckte die eine Hand in die Tasche und zuckte ungeduldig mit den Achseln. »Ihr setzt Euch da eifersüchtige Hirngespinste in den Kopf, die keinen Sinn haben.« Der Bauer blieb im Staube liegen vor dem Herrn quer über dem Weg. »Wozu verleugnet’s der Herr Graf,« murmelte er traurig; »um die Frau zu schützen? Meint er wohl, ich würde der etwas tun? Nie! Meinem Röschen, meiner Taube! Heute, wenn sie zu mir zurückkommt, ist alles verziehen und vergessen. – Mein Gott! Sehr lieb hatte sie mich ja nie, aber doch alle Tage ein wenig lieber; bis der Herr Graf gekommen ist und hat das kümmerliche
Flämmchen, das ich so mühsam in ihrem Herzen angefacht, erstickt und anstatt dessen ein großes Feuer entzündet, das lichterloh brennt, so daß es die Arme verzehrt bei Tag und Nacht, bis sie keine Ruhe mehr findet – nicht einen Augenblick! Und der Herr soll Gnade üben mit ihr und mit mir.« Die Hände verzweifelt faltend, blickte der Bauer empor. Einen Augenblick war alles stumm, nur in den Blättern rauschte es. »Was soll ich denn eigentlich tun, um Euch zu beruhigen, was wollt Ihr von mir?« fragte der Herr, und seine Stimme klang heiser. Der Bauer dachte einen Augenblick nach, dann murmelte er: »Der Herr Graf soll der Armen einen recht herben Schmerz zufügen, damit sie sich um Trost zurückflüchte zu mir.« Einen Augenblick stand der junge Graf nachdenklich still, dann den Kopf zurückwerfend, rief er: »Na, seid guten Mutes, ’s wird sich noch alles zum besten wenden, Ihr sollt keinen Grund mehr haben, Euch zu kränken.« Und dem am Boden liegenden Bauern aufmunternd zunickend, machte er einen langen Schritt quer über ihn hinweg und ging rasch und doch haltlos der Richtung zu, wo der Sommerhimmel in den Waldweg hineinblaute.
Wollte der junge Graf wirklich Wort halten und dem
Bauern keinen Grund mehr geben, sich zu kränken? Es hatte den Anschein! Den nächsten Tag hatte die schöne Bäuerin rote, dick geschwollene Augen, und es war, als ob man ihr das Rückgrat gebrochen habe. Sie schlich aus dem Haus in den Stall, aus dem Stall wieder in das Haus und tat nichts als weinen. Sie ließ sich in dem Obstgarten auf die Erde sinken und stöhnte in das verstaubte, verdorrte Gras hinein. Und als ihre Tränen versiegten und sie nicht mehr weinen konnte, da setzte sie sich in den Hof unter den alten Birnbaum und blickte durch das offene Tor auf die Straße hinaus. Stunde um Stunde saß sie da! Mehrmals sah sie ihn vorübergehen, einmal war er allein mit seinem Jäger und seinem Hund, ein anderes Mal gingen zwei fremde Herren mit ihm, und noch einmal ein junges Mädchen – ein schönes junges Mädchen, hoch und schlank. Aber kein einziges Mal blickte er durch das Hoftor hinein. Die Bäuerin wurde täglich blasser und magerer – aber ihre Augen glühten wie die Fackeln, und ihr Mund war rot. Sie war noch immer schön – schöner als je!
Ja, es war Damenbesuch auf dem Schlosse – eine alte
Frau mit zwei Töchtern – im ganzen Dorf hieß es, der junge Graf solle heiraten. Die Bäuerin hörte es auch. Sie grub die Nägel in die Schläfen, und abends, wenn der Tau fiel, versteckte sie sich in dem alten Obstgarten und
stützte ihre brennenden Handflächen auf das feuchte Gras. Und manchmal biß sie die Zähne aufeinander und ächzte, dann murmelte sie halblaut süße Liebesworte vor sich hin. Der Bauer tat ihr, was er ihr an den Augen absehen konnte – kein Vorwurf fiel von seinen Lippen, kein unzartes Wort. Er behandelte sie wie eine Kranke mit unsäglicher Geduld auf ihre Genesung hoffend. Einmal brachte er ihr aus der Stadt ein rotseidenes Tuch mit und ein anderes Mal ein Granathalsband. Sie seufzte, sagte irgend etwas Dankbares – im nächsten Augenblick hatte sie des Tandes vergessen. Der Bauer fuhr fort, Geduld zu haben mit der Ehebrecherin. Ringsherum steckten die Nachbarn die Köpfe zusammen und lachten. Er wußte, daß sie lachten – mochten sie lachen! Seine Eifersucht war eingeschlummert. Da eines Tages, gegen Abend war’s – er ging mit dem Wenda über eine Lichtung neben dem Wald. Der Boden war glatt von Heidekraut und trockenem, dünnhalmigem, glänzend grünem Augustgras, und die Luft roch nach Thymian und nach reifem Getreide. Da hörten die beiden reden, erst eine Männerstimme, herzlich und mitleidig, dann eine weibliche Stimme, verschleiert, süß, hingebend. Etwas von der monoton auf und ab klagenden Kadenz des slawischen Volksliedes klang aus dieser Stimme.
Der Vater packte den Jungen am Arm so fest und grausam, daß der Junge schrie. Die Stimmen verstummten. Bald darauf trat der junge Graf allein aus dem Walde. Sein Blick heftete sich auf den Bauern, der finster dreinschauend ihn nicht grüßte. Sein Fuß zögerte, seine hübschen Lippen bewegten sich. Fast war’s, als ob er sich neben dem Eifersüchtigen aufhalten, ihn durch eine Aufklärung hätte beschwichtigen wollen. Plötzlich hatte er sich’s wieder anders überlegt. Er zog die Brauen zusammen und Schritt von dannen, wobei er ein Liedchen pfiff. Der Bauer stürzte sich in das Gehölz. Dort lehnte die Bäuerin an einem Baume, Ein mit Gras und gelbem Ginster gefüllter Tragkorb stand neben ihr. Der Geruch des Ginsters umschwebte sie betäubend süß. Ihre biegsame Gestalt drückte eine hingebende Schwermut aus. Ach, wie war sie schön! Rings um sie herum das grüne Blättergewirr und zu ihren Füßen Ginster und Waldglocken, und über dem allen das Regenbogengeschiller eines in das schattige Walddickicht verirrten Sonnenstrahles. »Was tust du hier?« herrschte der Bauer sie an. Sie hörte nicht. »Was suchst du im Walde?« fuhr er sie zum zweitenmal an, kurz und scharf, wie er noch nie zu ihr gesprochen. »Futter für die Ziegen,« sagte sie. »Futter für die Ziegen … so … eine saubere Beschäftigung für eine Bäuerin! Hast’s nötig, Futter für die
Ziegen zu suchen! – Dem Herrn Grafen bist du entgegengelaufen in den Wald!« Sie warf einen mahnenden Blick auf den Knaben. Dem Bauer aber war alles gleichgültig. – »Der Herr Graf hat dich bestellt,« zischte er ihr zu. »Nein!« hauchte sie. »Also hast du ihm aufgelauert,« grollte er. »Vielleicht,« murmelte sie und schlug die schweren Augenlider auf. Den Ausdruck in ihren Augen vergaß Wenda nie, so schmerzlich – so selig war er. – »Jedenfalls hab’ ich ihn gesehen,« setzte sie hinzu, »ja, ich hab’ ihn gesehen!« Der Bauer hob drohend die Faust. Den Nacken gebeugt, die beiden Arme an ihren Seiten niederhängend, blieb sie vor ihm stehen. »Schlag zu!« murmelte sie. Weshalb hätte er sie schlagen sollen! Seine Mißhandlungen taten ihr nicht weh – nur seine Liebkosungen fürchtete sie.
Von da an wurde es trauriger, immer trauriger in
Wendas Heim. Der Bauer hatte jegliche Zuversicht verloren, war fest davon überzeugt, der Graf habe nur scheinbar sich von dem jungen Weibe zurückgezogen, damit er um so ungestörter seiner Liebelei weiter frönen könne. Stundenlang bewachte er die Bäuerin mit peinlichem Mißtrauen, ließ sie nicht aus den Augen – dann packte ihn die Verzweiflung, er lief ins Wirtshaus. Wenn er zurückkam, war er sinnlos
betrunken, stapfte mit schweren Füßen und blutrünstigen Augen in seiner Wirtschaft herum, schlug nach allem – nur nicht nach seinem Weibe, und gewöhnlich so ungeschickt, daß er sich selber die Hände dabei wundhieb, um schließlich liegenzubleiben, wo er gerade hingestolpert war, stundenlang schnarchend, bis er endlich wieder aufwachte mit trockenem Munde und wundem Herzen und mit einem tobenden, blind vorwärtsdrängenden Zorn in den Adern, der ein Opfer forderte.
Lange weiße Spinnweben umflatterten die blaßblauen
Wegwarten und roten Mohnblumen in den Straßengräben. Der September war gekommen. Der Wind fegte über die Stoppeln, und die letzte Garbe wurde eingeführt. Auf einem leichten, mit Zweigen und bunten Tüchern besteckten Karren brachten die Weiber diese Garbe, um sie unter lautem Jubeln und Jauchzen knapp vor dem Dorf auf eine Hutweide zu pflanzen, über die eine verwitterte Martersäule ihre Schatten warf und welche in der guten Jahreszeit der Dorfjugend häufig als Tanzplatz diente. Die Musikanten begleiteten mit klingendem, scharf rhythmisiertem Spiel das lustige und altmodische Treiben. Der Verwalter und seine Schreiber gesellten sich dem Feste bei. Ein Faß Bier wurde aufgestellt – Bier und Branntwein wurden verteilt. Das ganze Dorf stürmte herbei.
Die Musik tönte jubelnd, ausgelassen, immer gleich scharf im Rhythmus. Lila, blaue und rote Röcke flatterten durcheinander über wettergebräunten nackten Füßen. Die Kopftücher sanken in den Nacken, die Haare lösten sich aufs, die Augen glänzten aus den braunen Gesichtern, weiße Zähne blitzten zwischen roten Lippen, und über diese lustig belebte Buntheit zog der von den flinken Füßen höher, immer höher aufgewirbelte Staub seine malerisch verwischenden Schleier. Die Burschen waren in der Minderzahl. Der Glanz auf den Trompeten der Musikanten flimmerte grell, am Horizont sank die Sonne langsam hinter den dunklen Streifen der Wälder, das sie umschwebende Gewölk fing an zu glühen und zu flammen. Die schöne Swobodowa tanzte zwischen den anderen. Erst hatte sie sich bitten lassen – jetzt tanzte sie unermüdlich. Sie sah blaß und traurig, aber sehr verführerisch aus, und die Burschen rissen sich um sie. Auch schien es ihr gar nicht darum zu tun, zu Atem zu kommen. Eine alte Bäuerin, die ihr zusah, meinte: »Die Swobodowa will sich wohl tottanzen aus Verzweiflung!« und dazu lachte sie höhnend. Man hatte im Dorf wenig Mitleid mit dem Liebesschmerz des jungen Weibes, das immer hochmütig und abweisend gegen ihresgleichen gewesen war.
Ein paar Herren kamen die Straße entlang an dem Tanzplatz vorbei – der Graf kehrte mit einigen Freunden heim von der Hühnerjagd. Alle Hälse streckten sich vor – alle Augen spähten nach ihm. Freundlich nickend wollte der Graf an den Leuten vorübergehen. Eins der Weiber kam auf ihn zu und bat um einen Ehrentanz. Ohne das Weib gröblich zu beleidigen, durfte er ihr die Bitte nicht abschlagen. Warum hatte er sich auch immer so populär gemacht? Er fertigte sie jedoch kurz ab und tanzte mit ihr nur zweimal um den Platz herum, während die anderen ihm ehrfurchtsvoll auswichen. Als er mit einem gutmütigen Wort das Weib stehenließ und seiner Wege ziehen wollte, merkte er, daß alle seine Gefährten sich ebenfalls tanzend in den lustigen Reigen gemischt hatten. Jedenfalls mußte er nun warten, bis die fertig waren. Da fiel sein Blick zufällig auf seine verlassene Geliebte. Seit seinem Erscheinen auf dem Platz war sie nicht mehr zu bewegen, den Fuß zu rühren, und ohne sich um das ärgerliche und spöttische Aufsehen, welches sie erregte, zu kümmern, kauerte sie am Fuß der Martersäule – blaß, schön, mit großen, eifersuchtsdunklen Augen, die bittend auf ihn gerichtet waren. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Das konnte er nicht aushalten. Er kam auf sie zu und sagte ihr ein paar freundliche Worte. Sie blickte zu ihm aus, die Tränen rollten ihr über die Wangen – aber ihre Augen strahlten, und da … er wußte vielleicht selbst
kaum, wie’s geschah; aber eh er sich’s versah, hielt er sie im Arm und tanzte mit ihr. Aus der Schenke trat Swoboda schwerfällig und mit blutunterlaufenen Augen. Er schritt auf die Richtung zu, von wo die Musik herschallte. Das erste, was er sah, war sein Weib im Arm des jungen Grafen. Was da in ihm vorging! – Er blieb ganz still, preßte nur die geballte Hand an die Brust und wartete; dann – es dauerte ihm zu lange, sie hörten nicht auf zu tanzen. Der Schatten der Martersäule war ausgelöscht – hinter den Wäldern flammte der Himmel blutigrot. Er näherte sich den beiden. Sie tanzten noch immer – stießen ihn an, ohne ihn zu sehen. Da packte er sein Weib beim Arm – »Schamlose!« schrie er ihr zu, dann … wie’s geschah … keiner wußte es genau. Aber der schöne junge Mann lag am Boden, mit Blut überströmt, mitten auf dem Platz, wo die Leute plötzlich aufgehört hatten zu tanzen und der aufgewirbelte Staub langsam zur Erde niedersank. Mit einem schrillen Mißlaut jedes einzelnen Instruments brach die Musik ab und verstummte.
Der
kleine Wenda hatte alles mit angesehen, die blutunterlaufenen Augen des Vaters und das blitzende Messer in seiner Hand. Er sah jetzt den Kopf des jungen Grafen im Schoße der Mutter und hörte, wie sie ihm leise Zärtlichkeitsworte zuflüsterte – Worte so lieb und
süß, wie sie sie einst ihrem Söhnchen zugeflüstert hatte, als es krank daniederlag. Es war lange her. – Welch tiefe Sehnsucht weckte der süße Laut und welch qualvolle, hoffnungslose Eifersucht! Das Herz des Kindes wurde schwer, sein Kopf wirr. Er schlich sich fort. Nach Hause mochte er nicht – suchte sich irgendwo im Dorf ein einsames Plätzchen. Aber überall begegnete er Menschen. Das ganze Dorf war aus den Beinen. In Gruppen von zweien und dreien – Gruppen, die sich beständig vergrößerten, um sich dann plötzlich zu zerstreuen, standen sie beisammen in der jetzt rasch sinkenden Dämmerung. Die Gendarmerie war zu Hilfe gerufen worden und suchte den Mörder, dem die allgemeine Verwirrung, die auf seine Tat gefolgt war, Zeit zur Flucht gegönnt hatte. Im Walde suchten sie ihn. Der Graf lag zu Tode verwundet im Schloß. Der Arzt aus der nächsten Kreisstadt war bereits erschienen und hatte einen Verband angelegt, aber die Hoffnung, sein Leben zu erhalten, war gering. Die Swobodowa hatte sich gebärdet wie eine Wahnsinnige; mit Gewalt hatte man sie losreißen müssen von dem Verwundeten, hatte sie dann aus dem Schloßhof geradezu hinausjagen und das Tor hinter ihr zuriegeln müssen, so zudringlich, geradezu nicht zu bändigen war sie gewesen. Das und noch anderes Schlimmes erzählten sich die Leute. Der arme Wenda freute sich, daß ihn niemand erkannte, er fühlte sich wie durchglüht vor Scham, und als ob er
sich in die kühle Erde hätte hineinwühlen mögen, um sich zu verstecken. Zuweilen mitten in das allgemeine, beklommene, entsetzte Flüstern hinein hörte er lachen. Da grub er sich die Fäuste in die Augen und drückte sich tiefer in den Schatten. Nur fort von den Menschen – nur fort! – Anderes wollte er nicht. Die Dämmerung verschwebte langsam. Blaß und traurig, aber fast tageshell fiel das Licht des Mondes über die Landschaft. Unwillkürlich hatte sich der arme kleine Junge hinausverirrt auf die Hutweide vor dem Dorf. Das leere Bierfaß lag noch dort gegen einen Stein gestützt und ein paar Branntweinflaschen daneben. Die Martersäule zeichnete einen Schattenstreifen quer über den Platz, dem ein stechender, herber Geruch von frisch gekühltem Staub und zertretenen Hundskamillen entschwebte. Mitten zwischen den von den Tanzenden zertretenen weißen Blüten, an der einen Seite des Platzes, war ein großer dunkler Fleck. Wie vom bösen Geist getrieben, floh der Knabe in das Dorf zurück. An dem Herrschaftshof kam er vorbei. Dort, an das Tor gelehnt, das sich unbarmherzig vor ihr geschlossen, fand er seine Mutter, die Klinke in der Hand. Sie stand und rührte sich nicht. Dunkle Flecke waren auch auf ihrem Kleide. Der Wenda sah sie deutlich im Mondenscheine. Er schlich sich an sie heran, schüchtern, zärtlich.
»Mutter!« murmelte er. Sie merkte es nicht. Da faßte er sie beim Kleide. – »Mutter!« bat er, »komm nach Hause!« – Sie schüttelte ihn heftig von sich ab und lehnte ihre Wange nur noch fester an das harte Holz des Tores. Beschämt, elend schleppte er sich nach Hause zurück. Der Hof war offen geblieben; wer hätte auch daran denken sollen, ihn zu schließen! Die Kuhmagd und der Knecht klatschten und schmähten draußen mit den anderen. Das Gebrüll des Viehes, welches sie vergessen hatten zu füttern und zu tränken, hallte schauerlich durch die Nacht. Der öde, vereinsamte Hof war ihm unheimlicher als alles andere. Er wollte sich in sein Kämmerchen verkriechen. Als er sich der Haustür näherte, bemerkte er einen seltsamen Schatten auf der Erde. Erschreckt blickte er empor … »Herr Jesus und du heilige Maria, Mutter Gottes!« … dort unter den Zweigen des Birnbaums hing, schwerfällig, unbeweglich, ein erstarrter menschlicher Körper! Es war sein Vater! Bewußtlos fiel der Knabe nieder in den Staub. So fand man ihn …
Es war derselbe Birnbaum, unter dem er heute saß in
der blühenden Mainacht vor seinem Hochzeitstag – derselbe Birnbaum, unter dem er seine Mutter gesehen, wie sie zum erstenmal ihrem Verführer in die blauen Augen geblickt hatte. – – –