Carlo Manzoni Ein Schlag auf den Schädel und du bist eine Schönheit Ein Super-Thriller
Wieder einmal macht sich der Pri...
22 downloads
584 Views
479KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Carlo Manzoni Ein Schlag auf den Schädel und du bist eine Schönheit Ein Super-Thriller
Wieder einmal macht sich der Privatdetektiv Chico Pipa bei der Polizei unbeliebt. Unterstützt von seinem schlauen, vierbeinigen Kompagnon spürt er Dinge auf, die den eifersüchtigen Beamten der Mordkommission entgangen sind. Und obwohl die Ganoven Punkt und Komma sowie eine verführerische, rothaarige Dame die Ermittlungen erheblich erschweren, gelingt es dem genialen Gespann, den rätselhaften Tod eines Regenschirmfabrikanten im Lift in mustergültiger Zusammenarbeit aufzuklären.
Carlo Manzoni Ein Schlag auf den Schädel und du bist eine Schönheit Ein Super-Thriller Titel der Originalausgabe: ›Un colpo in testa, e sei più bella, angelo‹ Aus dem Italienischen von Maria Kern Umschlaggestaltung: Celestino Piatti Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München 1965
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt
Das Buch Wieder einmal macht sich der Privatdetektiv Chico Pipa bei der Polizei unbeliebt. Unterstützt von seinem schlauen, vierbeinigen Kompagnon spürt er Dinge auf, die den eifersüchtigen Beamten der Mordkommission entgangen sind. Und obwohl die Ganoven Punkt und Komma sowie eine verführerische, rothaarige Dame die Ermittlungen erheblich erschweren, gelingt es dem genialen Gespann, den rätselhaften Tod eines Regenschirmfabrikanten im Lift in mustergültiger Zusammenarbeit aufzuklären. Diese Detektivgeschichte ist ein großartiger Spaß, eine geistreiche Parodie, die aber auch auf die Spannung eines »harten« Kriminalromans nicht verzichtet. Nach Manzoni: »Ein Super-Thriller mit Lakritzenzusatz und wildgewordenen Regenschirmen, ganz zu schweigen von der Kirschenmarmelade und allem übrigen, scheinbar made in USA, aber statt dessen lachmuskelspannend.«
Der Autor
Carlo Manzoni, 1909 in Mailand geboren, studierte zunächst Medizin, dann in Abendkursen Architektur und Zeichnen an verschiedenen Hochschulen. Als Maler nahm er aktiven Anteil an der Bewegung des Futurismus. 1936 begann er zu schreiben, zunächst satirische und humoristische Aufsätze für Zeitungen und Zeitschriften, später auch Stücke für Theater und Fernsehen. Er ist Mitbegründer der satirischen Zeitschrift ›Bertoldo‹. Berühmt geworden ist er vor allem durch eine Reihe humoristischer Kriminalromane, in denen er auf amüsante Weise diese literarische Gattung parodiert.
Erstes Kapitel Der Silberstreifen eines guten Geschäftes zeigt sich am Horizont, aber kaum aufgetaucht, verblaßt er wieder.
Seit ungefähr zwei Monaten sind meine grauen Zellen arbeitslos. Sie drehen den ganzen Tag Daumen und können nicht einmal etwas dafür, denn es gibt zur Zeit einfach nichts zu tun. Damit soll nicht gesagt sein, daß meine lieben Mitbürger plötzlich vernünftig geworden wären oder sich in ein Kloster zurückgezogen hätten. So ist es nicht: es braucht mich einfach keiner, auch wenn die Polizei Überstunden macht. Alles geht glatt. Ein Mord geschieht, und der Täter läßt auf der Leiche seine Visitenkarte mit Namen, Adresse, Telefonnummer und Besuchszeit liegen. Dadurch vereinfacht sich alles. Es sieht so aus, als ob die Ganoven plötzlich, bar jeder Phantasie, schwachsinnig geworden wären. So sitze ich da, die Füße auf den Tisch gelegt, und warte ichweiß-nicht-auf-was, und die Bourbonwhiskyflaschen ziehen an mir vorüber, eine nach der anderen, gleichförmig wie die Tage der Woche. Eine steht vor mir auf dem Tisch in Erwartung ihres Unterganges, und eine andere, im Aktenschrank hinter mir, bereitet sich auf ihren Aufstieg vor. -4-
Gregorio Scarta, mein Partner, liegt unter dem Schreibtisch, da, wo eigentlich meine Füße hingehören, und ab und zu höre ich ihn seufzen. Er hat auch die Schnauze voll, den ganzen Tag nur so vor sich hinzuduseln, aber in unserem Beruf braucht man Geduld. Ich schütte die letzten Bourbontropfen in sein Plastikschüsselchen und werfe dann die Flasche in den Papierkorb. Gregorio ist einer der besten Detektive unserer Stadt, auch wenn er ein Hund ist. In die Arbeit teilen wir uns nach unseren speziellen Fähigkeiten. Er hat eine fabelhafte Nase und könnte, wenn es sein müßte, einen Knopf in der Sahara erschnüffeln. Aber glauben Sie nicht, daß es sich bei ihm um eine normale Hundenase handelt: er hat ein Radargerät eingebaut, ein wesentlich besseres System als das der amerikanischen Marine. Aber eine Untugend hat er, wenn man es so nennen will: er ist verrückt nach langschwänzigen Hundedamen. Wenn Sie in mein Büro kommen, schauen Sie einmal unter den Schreibtisch, natürlich wenn Gregorio nicht dort liegt. Ich habe so ein Möbel mit Schubfächern rechts und Schubfächern links, und hinten ist es mit einem furnierten Brett abgeschlossen. Wo ich meine Beine haben sollte, befindet sich also eine Öffnung, die wie der Miniaturführerstand eines Lastwagens aussieht, mit dem einzigen Unterschied, daß ein solcher mit den Fotos flotter Bienen austapeziert ist, während das Unterteil meines Schreibtisches eine Galerie reizender Hundedamen aller Rassen enthält. Und Gregs Freizeitgestaltung besteht darin, daß er die Fotos anhimmelt und sich die Schnauze leckt. Ich kann mich da nicht einmischen, das wäre ungerecht, denn auch ich habe eine heftige Schwäche für das andere Geschlecht. -5-
Mein Geschmack ist allerdings wesentlich raffinierter als der meines Partners. Entschuldigen Sie diese Plauderei über unsere intimsten Angelegenheiten, die Sie wahrscheinlich gar nicht interessieren, aber ich habe eben viel zuviel freie Zeit. Ich stecke mir ein Stäbchen ins Gesicht, drehe mich um, mache den Aktenschrank auf und entnehme ihm die neue Bourbonflasche. Während ich sie vor mich hinstelle, sehe ich einen Schatten hinter meiner Glastür. Es klopft. »Herein«, sage ich, nehme die Füße vom Tisch und lasse die Flasche verschwinden. Mit einem Seitenblick sehe ich, daß mein Partner die Ohren spitzt und mit der Schnauze zur Tür wittert. Dem ersten Eindruck nach scheint die Type an der Tür wie frisch aus dem Seminar entlassen. Blaue Uniform mit Goldknöpfen und Schirmmütze, die der Mann nun nach den letzten Regeln des Anstandes abnimmt. Ein üppiger Bürstenschnitt kommt zum Vorschein, unterbrochen von einer Furche, die sich rund um den Kopf, auch über die Stirn zieht und sicher dazu dient, der Mütze den richtigen Sitz zu garantieren. »Guten Tag«, sagt er mit einem Lächeln und einer so vollendeten Verbeugung, daß mir bei so viel Vollkommenheit die Tränen kommen. Er ist doch ein wenig zu alt, um frisch vom Seminar zu kommen, aber man weiß ja nie: es gibt flotte Anfangsvierziger, die glatt für Volksschüler durchgehen könnten. Also warte ich, was kommt. »Chico Pipa?« fragt er. »In Person«, sage ich, »und Sie?« Er nimmt eine Visitenkarte aus der Tasche und überreicht sie mir. Ich schaue sie an: In der Mitte ein kleines Wappen mit zwei gekreuzten Degen und darunter ein Name: Mauro Partitavintus. -6-
»Ich bin der Chauffeur«, sagt der Herr Knigge. »Signor Partitavintus wünscht Sie zu sprechen und bittet Sie, in sein Büro zu kommen. Ich habe den Auftrag, Sie hinzubringen, natürlich nur, wenn Sie keine andere Verpflichtung haben.« Ich bin an alle diese Höflichkeiten nicht gewöhnt, und sie machen mich, ehrlich gesagt, ein wenig verlegen. Mir ist’s viel lieber, es kommt einer an, knallt mit einem Fußtritt die Tür zu und packt mich beim Kragen: »He Pipa, der Boß will dich sofort sehen, ich soll dich fesseln und knebeln und zu ihm schleifen. Marsch!« Dann, zum Teufel, wüßte ich eine Antwort, aber zu dieser Sphärenmusik finde ich einfach keine Begleitung. »Wie heißen Sie?« frage ich, um mich zu fangen. »Ettore, mein Herr«, sagt der Herr Knigge. »Hören Sie zu, Ettore«, sage ich, »wenn einer was von mir will, soll er sich gefälligst aus seinem Schaukelstuhl wuchten und seinen Allerwertesten in diesen Sessel, den Sie vor sich sehen, pflanzen. Sagen Sie Ihrem Chef, daß ich nicht gewohnt bin, beim ersten Pfiff zu spuren.« Er betrachtet mich leicht verwirrt. »Ja, mein Herr«, sagt er dann, »ich werde es bestellen.« Er dreht sich um und geht zur Tür. Ich schaue mir die Visitenkarte, die der Herr Knigge auf dem Schreibtisch hinterlassen hat, noch einmal an und schlucke. Ich mag Leute nicht, die alles, was ich so von mir gebe, gleich wörtlich nehmen, aber der Herr Knigge scheint dies zu tun und nicht die mindeste Absicht zu haben, auf seinem Anliegen zu beharren. »Moment mal«, sage ich. Der andere bleibt, die Klinke in der Hand, stehen, dreht sich dann um und sieht mich an. -7-
Bei genauem Hinsehen merkt man, daß die Degen auf der Karte gar keine Degen sind, sondern zwei gekreuzte Regenschirme. Das Ganze ist wohl mehr ein Firmenzeichen, das nur gern wie ein Adelswappen wirken möchte. Und der Name Partitavintus zusammen mit der Fabrikmarke bedeutet Milliarden. Signor Mauro Partitavintus ist der Gründer und Alleininhaber der größten Regenschirmfabrik des Landes. Ich weiß nicht, ob Sie sich so etwas vorstellen können: ein Riesenbetrieb, einer Automobilfabrik nachgebaut, mit Fließbandproduktion, Prüfstand, Proberegenhalle und allem sonstigen Drum und Dran. Die Partitavintusfabrik hat enorme Tagesproduktionsziffern: sie fabriziert Regenschirme von der billigsten Standardausführung bis zum Luxusmodell mit Chinaseidenbezug und Goldgriff. Das permanent schlechte Wetter unseres Landes füllt die Brieftasche des Signor Partitavintus, und was da hineinfällt, ist sicher kein Regenwasser. Jährlich ein Kunde wie dieser, und ein armer Detektiv könnte sich alle seine Träume erfüllen: eine kleine Villa mit einem Swimmingpool, möglichst in Olympiaformat, und immer gefüllt mit bestem Bourbonwhisky. »Wissen Sie, Ettore«, sage ich, »ich hab’s mir anders überlegt. Sie sollen nicht umsonst hergekommen sein. Warten Sie unten, in zwei Minuten bin ich mit meiner Arbeit fertig und komme dann nach.« »Sehr wohl, mein Herr«, sagt er, kehrt mir den Rücken zu und geht. Meine Arbeit besteht darin, die Bourbonflasche zu entkorken und ihren Inhalt auf den Geschmack zu prüfen. So ziehe ich den Korken mit der gebotenen Behutsamkeit heraus und schenke mir -8-
ein hübsches Maß Kraftstoff ein. An dem Geschmack ist nichts auszusetzen. Gut also, ich verschließe die Flasche wieder, stehe auf und gehe zur Tür. Greg schleicht mir nach, und ich erkläre ihm, daß ich ihn vorläufig nicht brauche. Ich gehe allein, um auszukundschaften, worum es sich handelt; dann sehen wir weiter. Greg blinzelt zum Zeichen, daß er verstanden hat, und trollt sich. Ich weiß genau, wohin es ihn zieht. In die »Fledermaus«, die Bar in meiner Straße, wo ein langschwänziges Hundemädchen wohnt. Fernanda heißt sie. »In einer halben Stunde zum Rapport«, sage ich, »vielleicht brauche ich dich.« Ich weiß nicht, ob Greg diesen ihm im Hinuntergehen nachgerufenen Satz noch mitbekommen hat. Als ich aus der Haustür trete, sehe ich, daß meine Straße in ihrer ganzen Länge von einem nachtblauen Straßenkreuzer ausgefüllt ist. Als der Herr Knigge mich sieht, nimmt er die Mütze ab, verbeugt sich und öffnet die rückwärtige Türe. Ich steige ein, durchquere den Raum und versinke in einem Fauteuil beim Fenster. Jenseits des Mittelfensters sitzt der Herr Knigge, drückt auf ein paar Knöpfe, und schon fliegen die Häuser in vollkommener Stille an uns vorüber. Ich versuche eine Berechnung, wie viele Regenschirme wohl dieser Transatlantikkreuzer gekostet haben mag und wieviel der Besitzer für den absolut geräuschlosen Motor noch drauflegen mußte. Mathematik ist nicht meine Stärke, und so gebe ich es bald auf, öffne den Barschrank, der vor mir steht, und genehmige mir ein Glas Bourbon. Als ich den letzten Tropfen inhaliert habe, sind wir da. -9-
Ich steige aus, und der Herr Knigge geleitet mich zu einem kleinen Palast, in dem wohl die Büros der Firma untergebracht sind. Wir durchqueren die Halle, vorbei an einem Goldgeknöpften, der bei meinem Anblick ein bis zu den Ohren reichendes Grinsen aufsetzt. Wir gehen weiter, eine Treppe hinauf, einen Korridor entlang; der Herr Knigge bugsiert mich in einen Salon und geht. Ich habe nicht einmal Zeit, mich umzusehen, da öffnet sich die Türe schon wieder. Als erstes erblicke ich eine Reihe schneeweißer Zähne mit einer Menge atemberaubender Sachen rundherum. Bei dieser Aussicht könnte selbst eine eiserne Lunge Asthma bekommen. Sie haben sicher schon verstanden, worum es sich handelt, und ich kann mir Details ersparen. Ich möchte nur noch sagen, daß sie als Frisur einen goldenen Helm und ansonsten die übliche Büroverpackung trägt: schwarzer Kittel mit weißem Kragen. Um dem Milieu gerecht zu werden: als Regenschirm mit goldenem Knauf verkleidet. Aber ich garantiere Ihnen, daß trotz dieser Verpackung keine Gefahr besteht, sie mit einem Regenschirm zu verwechseln. Sie prüft mich schnell und gründlich und scheint mit dem Ergebnis nicht unzufrieden. »Guten Tag, mein Herr«, sagt sie. »Salve, Goldstück«, grüße ich sie, aber zu mehr läßt sie mir keine Zeit. »Signor Partitavintus«, sagt sie, immer noch lächelnd, »erwartet Sie in seinem Büro.« »Könnte man das Ende dieser Reise nicht auf einen späteren Zeitpunkt verschieben?« frage ich. »Ein längerer Aufenthalt, hier, auf halber Strecke, wäre sehr nach meinem Geschmack; das Panorama genießen, die Denkmäler bewundern und so…« -10-
Ich merke, daß sie mich genau versteht. Sie lächelt nicht mehr, wird rot, reißt dann die Tür auf und dreht mir den Rücken zu. »Wollen Sie mir bitte folgen«, sagt sie und setzt sich den Korridor entlang in Bewegung. Ich hake meinen Blick am Ende ihres Rückens ein und lasse mich abschleppen. Von einem Abschlepper dieser Kategorie ließe ich mich auch ans Ende der Welt ziehen. Leider ist der Korridor bald zu Ende, sie öffnet eine Tür und bedeutet mir, einzutreten. Ich hake mich also los und betrete einen großen Raum, in dem Bücherschränke und Klubsessel stehen; an der Wand ein Kolossalgemälde: eine Straße unserer Stadt während eines Platzregens, und Männer und Frauen mit geöffneten Regenschirmen. An einem großen Schreibtisch sitzt ein Mann in den Fünfzigern, kahl und mit einer Nase im rosigen Vollmondgesicht, die wie der Griff eines Regenschirms aussieht. Er trägt einen vollendet geschnittenen grauen Anzug, und auf der blauen Krawatte glänzt eine Nadel in Form eines Regenschirmes. »Alle diese Regenschirme fallen mir langsam auf die Nerven«, sage ich. »Überall sehe ich schon Regenschirme, auch bei hellem Sonnenschein.« Signor Partitavintus deutet ein Lächeln an, steht auf, streckt den Arm aus und reicht mir eine Art rohes Beefsteak, das ich drücke, aber nicht zu sehr, damit der Fleischsaft nicht auf die glänzend polierte Schreibtischplatte tropft. »Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind«, sagt er. Er nimmt das Beefsteak wieder an sich und setzt sich. Ich schaue mich um und merke, daß der Goldkopf verschwunden ist; so verfrachte ich meinen Körperbau in einen Klubsessel. »Sie sind der beste Detektiv der Stadt«, sagt der Regengott, »deshalb habe ich Sie rufen lassen.« »Um was geht’s, bitte schön?« frage ich. »Stiehlt Ihnen jemand die Regenschirmstäbchen?« -11-
Ein Zornesblitz taucht in seinen Augen auf, aber er beherrscht sich. Ich verstehe, daß er nicht der Typ für neckische Scherze ist. »Es handelt sich um eine rein persönliche Angelegenheit«, sagt er. »Meine Fabrik hat nichts damit zu tun. Ich muß um strengste Diskretion bitten über das, was ich Ihnen jetzt sagen werde.« »Keine langen Vorreden«, sage ich. »Sie wissen recht gut, wer ich bin und was ich kann. Sagen Sie endlich, um was es geht, oder muß ich Ihre Absichten auch erst ausschnüffeln?« Er seufzt und betrachtet seine Krawattennadel. »Also gut«, sagt er, »es handelt sich um meine Frau. Ich habe Grund anzunehmen, daß sie mir etwas verbirgt.« Ich mache ganz kleine Augen und sehe ihn scharf an, während es in meinem Magen zu brodeln beginnt. »Seit einiger Zeit hat sie sich verändert«, fährt er fort. »In den letzten Monaten hat sie mehrere Nächte außer Haus zugebracht.« Ich balle die Fäuste zusammen, um nicht herauszuplatzen. »So daß ich Ihnen also Ihre Hörner abmontieren soll?« frage ich zwischen den Zähnen. Sein lebhaft gefärbter Teint wird noch dunkler, und die Röte steigt bis zur Glatze an. Aber der Regengott fängt sich gleich wieder und neigt sich mir zu. »Ich erlaube Ihnen nicht, in diesem Ton mit mir zu sprechen«, sagt er und starrt mich böse an. Um die Ruhe zu bewahren, hole ich tief Luft und halte den Atem an. Auch er entspannt sich und läßt sich in seinen Sessel zurücksinken. Sein Teint kehrt zu dem normalen Schweinchenrosa zurück. -12-
»Man hat mich vor Ihnen gewarnt, aber auf so viel Unverschämtheit war ich nicht gefaßt«, sagt er. »Nun ja, ich brauche Sie und muß Sie darum verdauen, wie Sie sind.« »Eben«, sage ich. »Ich will wissen, was mir meine Frau da zusammenbraut«, sagt er, nimmt ein Scheckbuch aus der Schublade, öffnet es und schraubt die Kappe seines Füllers ab. »Sagen wir 100000 à conto«, sagt er. Ich stehe langsam auf, stütze meine Fäuste auf den Schreibtischrand und produziere ein halbes Grinsen mit der rechten Mundhälfte. »Sagen wir 200000«, sage ich. Er schaut mich an und möchte etwas sagen, zuckt aber nur die Achseln und schreibt. Als er fertig ist, reißt er den Scheck heraus und legt ihn mir hin. Ich kontrolliere ihn, ob er in Ordnung ist: Zahl, Datum, Unterschrift. »Alles o. k.«, sage ich, »danke. Sie haben tatsächlich 200000 geschrieben.« Dann zerreiße ich den Scheck in kleine Fetzchen, die ich von oben herunterflattern lasse, so daß sie wie kleine Schneeflocken in der Luft tanzen. Und ich kann nicht beschreiben, wie sehr ich in diesem Augenblick leide. »Bedaure«, sage ich, »Sie sind an die falsche Adresse geraten. Für diese Arbeit bin ich nicht zu haben. Es gibt Hunderte von Detektiven, die sich hauptsächlich mit Angelegenheiten gehörnter Ehemänner abgeben. Sie haben die Wahl, sich Ihren Kopfschmuck ohne Narkose abmachen zu lassen oder auf die ganz schmerzlose Tour. Sie können Ihre Hörner tarnen oder auf Glanz polieren lassen, um sie dann mottensicher aufzubewahren. Ich befasse mich nicht mit Hörnern.« Nun wird er von seinem Stuhl aufspringen und dann, vom Schlag getroffen, zusammenbrechen. Statt dessen sehe ich ihn -13-
zusammensinken wie einen angestochenen Luftschlauch. Er schließt die Augen und zieht die Brauen zusammen wie einer, der nicht in Tränen ausbrechen möchte. Beinahe bin ich gerührt, aber zum Glück sehe ich ein Fetzchen von dem Scheck geradewegs auf seiner Glatze landen, und unterdrücke nur mühsam ein großes Gelächter. Ich drehe mich also um und gehe zur Tür. Ich höre, wie er mich ruft. »Chico Pipa!« Ein seltsamer Unterton ist in seiner Stimme; ich kann aber nicht genau ausmachen, was er besagen will. Vielleicht Angst? Teufel, Teufel, Angst… aber wovor? Mit einem Achselzucken öffne ich die Tür. »Wenn Sie Angst haben, daß Ihre Hörner naß werden«, sage ich im Hinausgehen, »lassen Sie sich doch einen Regenschirm mit extralangem Griff anfertigen. Sie können es sich ja leisten.« Ich schließe die Tür und verdufte.
-14-
Zweites Kapitel In dieser Geschichte gibt es einen Punkt und ein Komma zuviel; deshalb gehe ich los, und wenn ich losgebe, wissen Sie, was passiert.
Ich gehe hinunter, durch die Halle, am »Großen Grinser« vorbei, der wieder eine gekonnte Verbeugung baut, trete in die Allee und sehe immer noch den nachtblauen Straßenkreuzer vor dem Tor halten. Der Herr Knigge steht neben dem Wagen. Kaum sieht er mich, schraubt er die Kappe vom Kopf und öffnet den Schlag. »Dankeschön«, sage ich, »ich gehe lieber zu Fuß. Ich muß meine Nerven abreagieren.« Ich wende ihm meine Kehrseite zu und schiebe ab. Das Zuwerfen der Wagentür und die wieder in die Furche geknallte Kappe bilden ein synchrones Geräusch. Meinetwegen, nennen Sie mich ruhig einen Idioten, aber so bin ich nun mal. Wenn ich nicht so wäre, hätte ich mir einen anderen Beruf ausgesucht, verflucht und zugenäht! Ich weiß recht gut, daß jeder andere sich in diesen Geldtrog geschmissen hätte, aber ich bin halt nicht jeder andere. Ich mag kein Geld scheffeln mit einer Arbeit, die nicht auf meinen Körperbau zugeschnitten ist; es paßt mir nicht, meine Nase in die dolce-vita-Affairen einer sogenannten Dame zu stecken, um dann ihrem Mann zuzuflüstern, daß seine bessere Hälfte seinen besten Freund ins Ohr gebissen hat. -15-
Wenn der Signor Partitavintus einen blamablen Kopfschmuck aufhat, und seinem Typ nach wäre es wundersam, wenn er keinen hätte, soll er ihn behalten, und wenn er ihn drückt, kann er sich ihn von einem anderen mit Samt unterlegen lassen, aber nicht von mir. Stimmt’s, oder habe ich recht? Natürlich besteht meine Hauptarbeit in Schnüffeleien, aber mit dem Job würde ich bis zur letzten Stufe meines Metiers absinken, verdammt nochmal! Braucht man einen Wolkenkratzerarchitekten, um eine Hundehütte für irgendeine Promenadenmischung zu bauen? Genug jetzt, ich will nicht mehr daran denken. Ich muß quer durch die ganze Stadt, um in mein Viertel zu kommen; aber meine Beine brauchen Bewegung, und ich habe keine Eile. Ich spiele mit ein paar Konservenbüchsen Fußball und tobe mich ein wenig aus, aber es dauert eine Weile, bis mein Blutdruck wieder normal ist. In einer Bar zwitschere ich ein paar doppelte Bourbons und gehe dann weiter. Ich komme an einem Kino vorbei und schaue mir die Plakate an. Man zeigt einen Film über das Erdbeben in San Francisco, den Brand von Chicago, den Ausbruch des Vesuvs mit der Zerstörung von Pompeji und das Erdbeben von Messina; das Ganze mit einer Atomexplosion als Rahmenhandlung. Das ist’s, was mir der Arzt verschrieben hat. Ich gehe hinein, schaue mir den Film zweimal an, und als ich herauskomme, bin ich wieder fit. Es ist inzwischen dunkel geworden, aber immer noch hell genug, um eine Bar zu finden. Ich betrete sie, inhaliere noch einen Doppelten und mache mich dann endgültig auf den Heimweg. Als ich in die Straße komme, in der mein Büro liegt, beschließe ich, schnell hinaufzuspringen und nachzusehen, ob es etwas Neues gibt. Ich erwarte zwar nichts, aber man kann nie wissen. -16-
Mein Partner ist wahrscheinlich noch in der »Fledermaus«, um seiner Fernanda Komplimente ins Ohr zu winseln; kann sein, daß er mich auch schon zu Hause erwartet. Ich fahre mit dem Lift hinauf. Tiefstes Dunkel herrscht, als ich die Türe zu meinem Büro aufmache, ich taste nach dem Lichtschalter hinter meinem Rükken, aber das, was ich zwischen die Finger bekomme, ist mitnichten ein Schalter. Kaum begreife ich, daß ich eine Nase in den Fingern halte, da kitzelt mich auch schon etwas hinter dem Ohr, und ich bin weg. Es braucht einige Zeit, bis ich die Situation erfasse, als ich wieder aus dem Nichts auftauche. Das Licht brennt nun, aber alles verschwimmt mir vor den Augen, und ich glaube, ich stecke in einer Zementröhre. Nicht die kleinste Bewegung mit Armen oder Beinen ist mir möglich, nur Hals und Kopf kann ich ein bißchen rühren. Immerhin etwas, und ich fasse Mut. Nach und nach gelingt es mir, die Gegenstände um mich herum wieder zu unterscheiden, und ich beginne, mir über meine Lage klar zu werden. Teufel! Man hat mich in den Teppich meines Büros gewikkelt, so daß nur Kopf und Hals herausschauen, und dann die Rolle in eine Ecke des Zimmers gelehnt, wo sie aufrecht stehen geblieben ist. Mein Teppich ist kein teures Stück, aber immerhin fest genug, daß er in dieser Röhrenform ein sehr solides Gefängnis bildet, unnachgiebig wie ein gußeisernes Kanalrohr. Zwei Prachttypen flegeln sich in meinem Büro herum. Einer sitzt bei der Türe, und sein Kopf ist in Höhe des Lichtschalters. Den Haaransatz hat er bei den Augenbrauen, und der Mund steht aus technischen Gründen halb offen. Ich denke, Sie wissen, wie ein Pferd aussieht: einige davon -17-
sind ja noch im Umlauf. Gut also; von der Nase bis zum Kinn: genau so. Ich will damit sagen, daß unter seinen Vorfahren ein Pferd gewesen sein muß; das beweisen schon seine Zähne. Ruhig sitzt es – Entschuldigung – er da und scheint zu schlafen. Der andere ist eine Art Freistilringer, der eine Mastkur gemacht hat. Seine Stirn reicht bis zum Nacken, und rundherum hat er einen Kranz von graublonden Haaren. Sein Gesicht ist flach und hat auf jeder Seite einen Henkel, die nach dem Gesetz der Logik die Ohren sein müssen. Er sitzt auf der Schreibtischplatte mir gegenüber und nuckelt an einer langen Zigarre, die einen breiten, schwarzen Streifen in seinen Mundwinkeln hinterläßt. Jetzt sehe ich, daß es gar keine Zigarre ist, sondern ein Lakritzenstäbchen, in unserer Kinderzeit auch als »Bärendreck« bekannt. »Salve«, begrüßt er mich, sobald er begreift, daß ich wieder vorhanden bin. »Kannst du uns fünf Minuten deiner kostbaren Zeit widmen?« »Du siehst doch, daß ich momentan mitten in einem Teppichgeschäft stecke, komm lieber ein anderes Mal vorbei. Jetzt kann ich nicht dienen.« »Sing keine Arien; und du, Komma«, sagt das Pferd, »komm zur Sache.« »Also, die Sache ist die«, sagt der Schmerbauch, rutscht vom Schreibtisch, wackelt auf mich zu und haut mir eine herunter, daß sich mir der Kiefer aus den Angeln hebt. »Keine Angst, Kleiner«, sagt er, immer mit der Lakritze zwischen den Zähnen, »die Geschichte hat ein happy-end, wenn du mitmachst. Und du wirst mitmachen.« Er verpaßt mir noch eine, diesmal von der anderen Seite, und so schnappt mein Kiefer wieder in die richtige Position zurück. -18-
»Nur damit du siehst, daß wir keinen Mangel an überzeugenden Argumenten haben«, sagt er. »Du kannst dich bei meinem Freund Punkt bedanken, der die Idee mit dem Teppich hatte, dadurch bleiben mir nicht viele Möglichkeiten.« »Los«, sage ich, »roll den Teppich auf.« »Keine Witze«, sagt das Pferd, »und spuck schon endlich aus, was er wissen muß.« »Erst muß man die nötigen Voraussetzungen schaffen«, sagt der Schmerbauch. »Und überhaupt ist’s zwischen Gentlemen üblich, sich vorzustellen.« »Richtig«, sage ich. »Unsere Namen umschließen nämlich unser Programm«, sagt der Dicke. »Ich heiße Komma, und du weißt, daß ein Komma nie einen Satz abschließt. Ich meine damit, nach einem Komma geht’s weiter, ist das klar?« »Du machst eigentlich keinen besonders literaturbeflissenen Eindruck«, sage ich. »Ich habe einmal versucht, Der Graf von Monte Christo zu lesen«, sagt er, »aber bei der dritten Zeile mußten sie mich zur Erholung in die Klapsmühle schaffen. Aber lassen wir das. Ich will sagen, wenn ich auftrete, braucht keiner Angst zu haben, oder wenigstens nicht viel. Ich gehe nie bis zum letzten, und jeder hat sich noch wieder aufgerafft. Kann sein, daß er auf sechs Monate ins Krankenhaus mußte, aber Krankenhäuser haben auch ihre Vorteile; gar nicht zu vergleichen mit der Leichenhalle. Stimmt’s?« »Wirklich kein Vergleich«, muß ich bestätigen. »Ich sehe, wir verstehen uns«, fährt der Schmerbauch fort. »Mein Freund dagegen heißt Punkt. Wenn er zum Zug kommt, ist’s aus. Versteh mich richtig: Schlußpunkt, nicht Punkt und dann neue Zeile. Schlußpunkt, und damit hört alles auf. Um eine neue Zeile anzufangen, müßte man ein zweitesmal zur Welt kommen.« -19-
»Angenehm«, sage ich; »ich heiße Chico Pipa.« »Das Vergnügen ist ganz meinerseits, kann ich dir flüstern«, sagt Komma und knallt mir eine aufs Nasenbein, daß ich glaube, es haut mich nochmal um. »Die Tatsache, daß ich amtshandle und nicht er«, sagt er, »müßte dein Herz erfreuen.« »Ich fahre schon aus der Haut vor Vergnügen«, sage ich. »Wir hätten dir auch Vorwarnung geben können«, sagt er, »aber wir wissen, was du für eine Type bist.« »Was bin ich denn für eine?« frage ich. »Du weißt schon«, sagt Komma, packt mein Ohr und verdreht es. »Wir wollen dir nur beweisen, daß wir keine sehr witzigen Knaben sind, oder findest du uns vielleicht komisch?« Er stützt die Hände in die Hüften und schiebt die Lakritzenstange in den anderen Mundwinkel. »Nein, nein«, sage ich, »von komisch kann gar keine Rede sein. Du kannst ruhig aufhören mit deinen Spielereien.« »Leider hindert mich dieser verdammte Teppich an der richtigen Entfaltung meiner Talente«, sagt er. »Vielleicht ergibt sich später eine Gelegenheit«, tröste ich ihn. »Hast du gehört, Punkt? Vielleicht später, meint er!« »Es gibt kein Später«, sagt das Pferd. »Hast du gehört, Pipa? Punkt sagt, daß es kein Später gibt!« Bei seinem nächsten Schlag platzt mir die Haut auf der Oberlippe, und das Blut rinnt mir am Kinn herunter. »Und weißt du auch, warum?« sagt er. »Weil das nächste Mal er drankommt, und dann ist’s Sense. Und ich kann dir sagen, daß er ein Mann schneller Entschlüsse ist. Es war eine Mordsanstrengung vorhin, als du ihm die Nase umgedreht hast, ihn von endgültigen Gegenmaßnahmen abzuhalten.« »Er hätte ja seinen Zinken nicht gerade vor den Schalter zu -20-
halten brauchen«, sage ich. »Ich weiß immer noch nicht, was ihr von mir wollt.« »Richtig«, sagt Komma. »Aber du wirst es sofort erfahren. Wir möchten dir eine Arbeit anvertrauen, die dir nicht schwerfallen dürfte. Du hast doch zwei Daumen. Gut. Drehe sie. Nicht jetzt natürlich, sondern wenn du wieder kannst. Du setzt dich hin und drehst einfach Daumen.« Er flicht die Finger ineinander und beginnt Daumen zu drehen. »Eine recht simple Tätigkeit, die keine Mühe kostet. Du siehst, wir sind brave Burschen und verlangen gar nicht viel.« »Sag es ihm deutlicher«, unterbricht ihn das Pferd. »Wir wollen, daß er weit vom Schuß bleibt. Er soll sich um seinen eigenen Dreck kümmern.« »Genau das«, stimmt Komma zu. »Dazu gehört auch, daß du vergißt, wo du heute gewesen bist. Totalamnestie, oder wie das heißt. Du vergißt alles, setzt dich gemütlich hin und drehst Daumen. Allerhöchstens warst du in der Schirmfabrik, um eventuell einen größeren Posten Regenschirme zu bestellen. Verstanden?« »Vollkommen«, sage ich. »Ich glaube, es kommt bald ein Wolkenbruch.« »Du bist ein kluges Kind«, sagt Komma. Er verlagert die Lakritze in den anderen Mundwinkel, dann sehe ich mit Atomgeschwindigkeit einen Schwinger auf meine rechte Schläfe zukommen, und ich bin zum zweiten Mal an diesem denkwürdigen Abend außer Gefecht. Ich weiß nicht, wieviel Zeit vergangen ist, bis es um mich her wieder hell wird, aber, ob gut oder schlecht, ich komme wieder zu mir. Vom Kinn aufwärts habe ich sicher keinen Zentimeter heile Haut mehr. Hier eine kleine Auswahl meiner Empfindungen: -21-
Schmerzen, Stiche, Brennen, zwickende Zangen, Preßluftbohrer in voller Tätigkeit usw. usw. Vom Kinn abwärts nichts als Ameisen. Ich befinde mich immer noch in derselben Lage: in den Teppich gewickelt und an die Wand gelehnt. Das Büro ist leer und die Tür zu. Es vergehen zehn Minuten, und ich denke an meinen Partner, der herumpoussiert, statt mir zu helfen. Aber es muß schon spät sein, und Greg wird mich zu Hause erwarten. Wenn er sieht, daß ich nicht heimkomme, müßte er sich eigentlich aufmachen und hier im Büro nach mir forschen. Das gute Tier kann nicht mehr lange auf sich warten lassen. Aber Sie werden es erleben: Greg taucht erst auf, wenn ich ihn nicht mehr brauche. Ich halte den Atem an, um den Schmerz auszuhalten, während ich mich mit dem Kopf gegen die Wand stemme. Ich drücke fest ab und falle mit Gepolter zu Boden. Eine Staubwolke wirbelt auf. Seit sechs Monaten ist der Teppich nicht mehr geklopft worden. Der Fall hat mich beinahe wieder betäubt, und alles dreht sich um mich. Aber als sich der Staub verzogen hat, sehe ich wieder klar. Ich bemühe mich, meinen Körper in rotierende Bewegung zu bringen. Nach einigen Versuchen gelingt es. Der Teppich entrollt sich; erst langsam, dann schneller, bis die gegenüberliegende Wand dem grausamen Spiel ein Ende macht. Ich bleibe vorerst auf dem Steinboden liegen und entspanne mich. Als das Ameisenheer endlich aus meinem Körper abgezogen ist, stehe ich auf und mache ein paar Freiübungen. Von der Kehle abwärts ist zum Glück alles o. k. Ich erfrische mein Gesicht, oder das, was davon übriggeblieben ist, unter dem Wasserhahn und bemühe mich, nicht in den Spiegel zu schauen. -22-
Als ich zum Schreibtisch zurückgehe, fühle ich mich schon bedeutend besser. Ich hole die Bourbonflasche aus dem Fach: wenigstens sie haben diese Schweine nicht zusammengeschlagen. Ich genehmige mir also ein randvolles Glas. Nun ist der Augenblick gekommen, die grauen Zellen zu intensivster Tätigkeit zu animieren, und sie lassen sich auch nicht lange bitten, kann ich Ihnen versichern. In weniger als einer Minute habe ich einen Lagebericht. Irgendwer glaubt, daß ich den Auftrag des Regengottes angenommen habe, und hat kalte Füße bekommen. Zu kalte Füße für ein simples Geweih. Ich habe den sicheren Eindruck, daß sich hinter diesem Geweih ganz etwas anderes verbirgt. Und so sind die beiden Knülche gekommen und haben mir in zarter Weise zu verstehen gegeben, daß ich nicht hinter dieses Geweih gucken darf. Klar ist aber auch, daß mich dieser Herr Irgendwer nicht gut genug kennt, denn, wenn er mich kennen würde, hätte er alles getan, nur nicht meine Neugier gekitzelt. Gut also, Signor Partitavintus, es geht los; auch wenn es Ihrer Gnädigen nicht paßt! Ich verspreche feierlich: diesmal zerreiße ich Ihren Scheck nicht. Ich will wissen, was hinter dieser Geschichte steckt, und die Interpunktion korrigieren und das nötige Tüpfelchen aufs I setzen. Ich nehme mir das Telefonbuch vor und suche die Nummer der Privatwohnung des Partitavintus-Clans. Es ist schon zehn Uhr, und der Herr wird sich wohl in seine Gemächer zurückgezogen haben. Ich finde die Nummer sofort und merke mir auch die Adresse: Anastasia-Allee 120. Dann wähle ich. Nach einigen Sekunden habe ich den Eindruck, daß sich der Telefonhörer in eine Flöte verwandelt hat. -23-
Ich schaue ihn mir genau an, aber er ist unverändert. »Hallo«, sage ich. Ich höre wieder eine Art Mollakkord, diesmal einen Ton höher. Ich kann kaum glauben, daß dies eine menschliche Stimme sein soll. Eine Frauenstimme sagt: »Hallo?« Aber ich garantiere Ihnen, sie könnte ohne weiteres als Soloflöte im Opernorchester mitspielen. »Donnerwetter«, sage ich, »mit dieser Stimme sollten Sie ein paar Schallplatten beplaudern; die könnten Sie leicht als Kammermusik verkaufen! Ganz egal, was Sie sagen, Sie könnten aus dem Telefonbuch rezitieren oder den Fahrplan vorlesen. Das Was wäre völlig unwichtig.« »Wer spricht?« tönt es wieder aus der Muschel. »Das werde ich dem Signor Partitavintus sagen«, antworte ich, »wenn Sie ihn mir an den Apparat rufen. Aber ich schwöre Ihnen, ich könnte Ihnen bis morgen früh zuhören, wenn ich nicht so dringend den Regengott sprechen müßte. Ich bete die Musik an.« Ich höre ein kleines Lachen und einen Seufzer. »Ich wäre glücklich, Ihnen einmal eine Stunde zuhören zu dürfen, vielleicht morgen? Wenn ich Sie dabei auch noch sehen könnte, wäre der Genuß sicher vollkommen. Es kommt ja auch auf die Form der Musikinstrumente an, und ich stelle mir vor, daß Sie eines der interessantesten Flötenexemplare sind, auch vom Optischen her. Also, geben Sie mir nun den Kontrabaß?« »Einen Moment«, sagt sie. Ich warte mit dem Hörer in der Hand und täusche mich nicht: irgendwer auf der anderen Seite hält den Atem an. Ich lasse einige Minuten vergehen und hole dann tief Luft. »Buuuh!« schreie ich mit voller Lautstärke. Ich höre, wie der Hörer hingelegt wird; Schritte entfernen sich schnell. -24-
Es vergeht noch eine Minute, und dann ertönt die Stimme des Regengottes. »Wer spricht?« fragt er. »Ich«, sage ich. »Ich habe es mir anders überlegt. Hoffentlich haben Sie noch ein Blatt in Ihrem Scheckbuch, auf das Sie noch einmal die Zahl schreiben können, die wir ausgemacht hatten. Ich wäre nämlich untröstlich, wenn Sie das von mir in einem Anfall unverzeihlicher Zerstreutheit zerrissene Papierchen wieder zusammenkleben müßten…« Ich höre, wie er seufzt und hüstelt. »War das Ihre Gattin vorhin am Telefon?« frage ich. »Ja«, sagt er. »Ich erwarte Sie morgen um zehn in meinem Büro.« »Ich komme«, sage ich und hänge ein. Nun wollen wir sehen, wie’s weitergeht. Die Kommas und Punkte in dieser Geschichte werden von nun an nämlich von mir gesetzt, und genau dahin, wo ich es für richtig halte. Und noch etwas: wenn ich auch die Musik anbete, bin ich doch nicht der Typ, mich von einer Beethovensymphonie verrückt machen zu lassen, auch wenn die Flötensoli so vollendet geblasen werden wie vorhin am Telefon, daß sogar ein Taubstummer glauben könnte, einen Engelschor singen zu hören. Ich nicht, meine Dame! Ich tanke noch ein Glas Bourbon, dann stehe ich auf. Dieses Vieh von meinem Partner hat sich nicht blicken lassen, er kann sich auf einen Anpfiff gefaßt machen, wenn ich ihn erwische. Ich räume die Bourbonflasche ins Fach, lösche das Licht und gehe, hole meinen Blimbust aus der Seitengasse hinter dem Haus und brause heim. Mein Partner ist nicht da. Er ist sicher noch in der »Fledermaus«. Muß Liebe schön sein! Den ganzen Nachmittag hockt er schon bei seiner Herzdame und hat noch nicht genug. -25-
Ich ziehe mich aus, stelle mich unter die Dusche und massiere mich ein bißchen. Dann fühle ich mich wieder frisch wie eine Butterblume, ausgenommen das Brennen auf der Lippe, den Schmerz im Jochbein und die Stiche im Ohr. Ich stelle mich vor den Spiegel und mache heftige Verschönerungsversuche mit Heftpflaster und Wasserstoffsuperoxyd. Dann schlüpfe ich in ein frisches Hemd und in den grauen Anzug mit den blauen Streifen. In drei Minuten bin ich in der »Fledermaus.« Kaum sieht mich Èrcole, füllt er schon ein Glas mit Bourbon. Ich lasse mich nicht bitten, trinke und zahle. »Ist mein Partner noch hier?« frage ich. »Er ist schon vor ungefähr zwei Stunden weggegangen«, sagt Èrcole; »er müßte schon längst zu Hause sein.« »Zu Hause ist er nicht«, sage ich. Fernanda beschnuppert meinen Hosenaufschlag. »Der ist wieder einmal hinter einer langschwänzigen Sexbombe her«, sage ich. »Die Langschwänzigen sind halt seine schwache Seite.« Fernanda schnappt nach meiner Wade und knurrt. »Verflucht nochmal«, schreie ich, »versteht denn dieses Unglücksvieh nicht den harmlosesten Scherz? Gibst du endlich Ruhe, wenn ich dir sage, daß es keinen treueren Hund gibt als Greg?« Die Dame Fernanda läßt meine Wade los und verzieht sich knurrend in ihr Körbchen. »Du weißt doch«, lacht Èrcole, »wie eifersüchtig sie ist, aber dir könnte es nicht schaden, wenn du etwas mehr Vertrauen zu deinem Partner hättest.« »Ich kenne ihn besser als du«, sage ich. Dann setze ich mich und lasse mir zwei Bratwürste mit Spiegeleiern servieren. -26-
Als ich sie gut heruntergebracht habe, setze ich noch ein paar Bourbons drauf, grüße und gehe. Besser, ich beginne gleich mit der Arbeit, wenn ich mir den Haufen Geld verdienen will, der auf mich wartet. Bei mir braucht es nicht erst zu regnen, damit ich mir einen Schirm kaufe.
-27-
Drittes Kapitel Gerade, wenn ich meinen Partner am dringendsten brauche, geht er seinen eigenen Angelegenheiten nach. Später mache ich mir Sorgen um ihn.
Viel kann ich nicht tun, bevor ich nicht weiß, wo ich einhaken soll. Und ehe mir der Regengott nicht morgen früh die nötigen Informationen gibt, sehe ich keinen Aufhänger… Außer Punkt und Komma. Aber wo soll ich sie zu dieser Stunde aufgabeln? Sicher in einer der schmierigsten Spelunken der Stadt, aber ich würde eine Woche brauchen, um sie alle durchzukämmen. Besser ist, ich warte, bis sie sich rühren, und das tun sie todsicher, wenn sie spitzkriegen, daß ich mich doch eingeschaltet habe. Während ich darauf warte, kann ich mich mit dem Partitavintus-Clan befassen, und ich weiß auch schon, wen ich mit meiner Neugier beehre. Ich klettere in meinen Blimbust, und fünf Minuten später halte ich beim Hintereingang der Mitternachtssonne. Die Mitternachtssonne ist die wichtigste Tageszeitung unserer Gegend. Sie hat das vollständigste Archiv, das eine große Zeitung überhaupt haben kann, und doch macht es nur ein Viertel des Archivs aus, das Bobò Finallazeta, der Archivar des Hauses, im Kopf hat. Ich schleiche mich in den Hof, ohne vom Pförtner gesehen zu werden, denn, wenn mich auch nur der letzte Laufbursche ent-28-
deckt, haben mich innerhalb von fünf Minuten die Reporter beim Schlafittchen: ich ziehe sie an, wie der Honig die Wespen. Deshalb brauche ich eine gute Viertelstunde, um im Archiv zu landen. Als ich mich vergewissert habe, daß die Luft rein ist, gebe ich Bobò einen freundschaftlichen Klaps auf seine Glatze. »Servus, Alter!« begrüße ich ihn. Er nimmt seine Brille ab und schaut mich an. »Oh Gott«, sagt er, »wo brennt’s denn, Junge? Sag mir schnell, was du willst, und dann hau ab, denn wo du auftauchst, gibt’s immer Zores.« »Kein Zores ausnahmsweise«, sage ich, »ich brauche einen Regenschirm, und du weißt, ich will’s erst ganz genau wissen, bevor ich mein gutes Geld ausgebe.« »Regenschirm«, murmelt er vor sich hin. »Wenn’s um Regenschirme geht, kann es sich nur um Partitavintus handeln.« »Genau«, sage ich, »huste aus, was du weißt.« Er schließt die Augen, und ich merke, wie er im Archiv seines Hirnkastens wühlt. Äußerlich ist dieser Körperteil gar nicht so sehr entwickelt bei ihm, aber Sie können sich nicht vorstellen, was alles darin Platz findet. »Hab’s schon!« sagt er. »Du kannst ganz beruhigt sein, eine seriöse Fabrik mit erstklassiger Produktion. Auf die Partitavintusschirme wird sogar Garantie gegen Hagel gegeben. Export in die ganze Welt. Außer dem Standardmodell stellt sie auch andere Serien her; und Einzelanfertigungen wie z. B. die Regenschirme für den Negus; er bezieht jährlich größere Mengen. Die Fabrik ist konkurrenzlos und in amerikanischem Stil organisiert, mit Fließbandproduktion, genau wie eine Automobilfabrik, wenn du weißt, was ich meine. Stell dir vor, es gibt dort sogar einen Windtunnel, um die Widerstandsfähigkeit der Stäbchen auszuprobieren. Die Schirme schlagen nicht um, nicht einmal bei einem Wirbelsturm. Dann gibt es noch eine Proberegenhalle. -29-
Mit einem Wort, ein blühendes Unternehmen mit enormen Kapitalreserven.« »Geschenkt«, sage ich; »mich interessieren die Leute.« »Ich denke, du willst dir einen Regenschirm kaufen«, sagt er leicht eingeschnappt. »Also, Mauro Partitavintus ist der Gründer und Alleininhaber, sein eigener Generaldirektor und Administrator. Sein engster Mitarbeiter heißt Eden Cimurro. Er entwirft die Modelle und ist kaufmännischer Direktor. Die derzeitige Chefsekretärin heißt Cecilia Noster und ist seit drei Jahren auf diesem Posten, seit ihr Chef nämlich ihre Vorgängerin geheiratet hat.« »Na endlich«, sage ich. »Mach schnell, bevor jemand kommt.« »Unterbrich mich nicht«, sagt Bobò, »sonst verliere ich den Faden. Er hat also seine Sekretärin geheiratet, ihr Mädchenname war Dilla Alberello, deren Interesse an der Fabrik sich jetzt nur mehr auf die Pinke-Pinke konzentriert, die sie abwirft. Nichts zu sagen über die Ehe. Keine Skandale, alles in Butter, auch wenn keine Kinder da sind. Eine Musterehe, soviel ich weiß. Sie bewohnen den dritten und vierten Stock im Haus Anastasia-Allee 120.« »Gibt es ein Foto von der Frau?« frage ich. »Einen Moment«, sagt er und versinkt in Trance. Ich merke, daß er in Gedanken einen Band durchblättert. »Ich hab’s!« freut er sich dann, »1958, Nummer 20, Seite 3.« Er läßt einen Pfiff los, verjüngt sich um zwanzig Jahre, steht auf, holt einen Band aus dem Regal hinter seinem Rücken, schlägt ihn auf und hält mir die Seite unter die Nase. »Bei ihrer Hochzeit goß es in Strömen.« Ich sehe das Foto von zwei Brautleuten unter einem Regenschirm. Ich lasse ebenfalls einen Pfiff los, als ich den weiblichen Teil betrachte, und kann mir gut vorstellen, daß das Foto weit hinter der Wirklichkeit zurückbleibt. -30-
»Sie hat braune Haare«, stelle ich fest. »Rote«, sagt er. »Kirschenmarmeladefarben.« Ich höre Schritte und Stimmen von oben kommen. »Hau ab, es kommt wer«, sagt Bobò, schließt den Band und stellt ihn an seinen Platz zurück. Still wie das berühmte Mäuschen schleiche ich mich hinaus. Ich brauche immerhin zehn Minuten bis zu meinem Wagen, damit mich niemand entdeckt. Ich weiß jetzt eine Menge über den Partitavintus-Clan, aber das, was ich weiß, nützt mir gar nichts. Während ich nach Hause zuckle, denke ich scharf nach. Was zum Teufel kann nur dieser Partitavintus von mir wollen? Es ist mehr als wahrscheinlich, daß seine Dilla einen Zeitvertreib außer Haus gefunden hat; kein Wunder, bei ihrem Aussehen. Es ist auch logisch, daß der Herr Gemahl mißtrauisch ist und mich beauftragt, der Sache nachzugehen und ihm Beweise zu liefern. Aber ich muß immer noch an die nackte Angst in seinem Gesicht denken, als ich sein Büro verließ. Ich bin absolut sicher, er fürchtet weit mehr als nur ein Paar Hörner. Und es muß etwas sehr Unfeines sein, wenn mir jemand seine durch Punkt und Komma bekräftigte Visitenkarte überreichen läßt. Mir kommt der Goldkopf in den Sinn und der Rhythmus ihrer Hüften. Damit kann sie noch ganz andere abschleppen als mich. Und unter diesen anderen könnte auch der Herr Chef persönlich sein, denn, wenn mich nicht alles trügt, ist sie die Privatsekretärin des Regengottes, Cecilia Noster, um das erste Tüpfelchen auf’s I zu setzen. Und es ist nicht weit hergeholt, anzunehmen, daß der Regengott eine gewisse Schwäche für Sekretärinnen hat. So weit, so gut, sage ich mir. Aber ist Goldkopf so eine? Und wenn auch, genügt ihm Kirschenmarmelade nicht, den Motor zu starten? -31-
Meiner unmaßgeblichen Meinung nach müßte es diesem Rotkopf mit seiner Soloflötenstimme und alldem, was ich bis jetzt nur auf dem Foto zu sehen bekam, ein Kinderspiel sein, einen Turbinenkreuzer samt kriegsstarker Mannschaft auf Hochtouren zu bringen. Ich wette, Bobò Finallazeta hätte mir auch die ganze Familiengeschichte derer von Punkt und Komma berichten können, die verwandtschaftlichen Bande, welche Schulen sie besuchten, und wie oft sie von ihrem dritten Lebensjahr an Rhizinusöl schlukken mußten, wenn man uns nicht, der Teufel soll sie holen, im schönsten Palaver gestört hätte. Macht auch nichts. Irgendwann werde ich irgendwem auch darüber die Würmer aus der Nase ziehen. Jetzt habe ich Wichtigeres zu tun: schlafen. Auch wenn mich keiner dafür bezahlt. Es ist ein Uhr, als ich meinen Blimbust in der Garage unten im Haus einschließe, und ein Uhr fünf, als ich vor meiner Wohnungstüre stehe. Ich höre das Telefon läuten, aber das läßt mich kalt. Ich sperre auf und mache Licht. Während ich den Arm nach dem Hörer ausstrecke, hört das Läuten auf. Auch gut. Achselzuckend gehe ich in die Küche. Greg ist nicht da. Sein Korb ist leer. Ich beginne mir Sorgen zu machen, auch weil ich mir nicht Fernandas Haß zuziehen möchte. Ich wähle die Nummer der »Fledermaus«. Èrcole sagt mir, daß er Greg, seit er am Nachmittag davonschnürte, nicht mehr gesehen hat. Zum Teufel Greg und sein Lebenswandel. Ich ziehe mich aus und schlüpfe unter die Decke; für den Augenblick ist es unnötig, die grauen Zellen zu strapazieren, sie sollen sich auch ausruhen, damit sie morgen taufrisch sind. -32-
Ich bin schon im Halbschlaf, da klingelt es an der Wohnungstür. Ich krieche aus dem Bett und habe kaum den Schlüssel umgedreht, als die Tür von einem wütenden Stier aufgestoßen wird. Der Sergeant Kautschuk, nicht wiederzuerkennen, stürzt ins Zimmer, die Uniform in Fetzen, eine Riesenbeule auf der rechten Schläfe, das linke Ohr beinahe abgerissen und blutend wie ein Schwein. Ich muß lachen, aber ich verschiebe es lieber auf später, denn hinter dem Sergeanten kommt der Leutnant Tram herein. Er schlägt die Tür zu und baut sich eineinhalb Meter vor meinem Pyjama und mir auf. Wie Sie wissen, sind Leutnant Tram und Sergeant Kautschuk die beiden wichtigsten Säulen der Mordkommission und beehren mich seit eh und je mit ihrer Antipathie, weswegen ich ziemlich erstaunt bin, sie in meinem trauten Heim begrüßen zu können. Ich will gerade die üblichen Phrasen abspulen, wie das zwischen wohlerzogenen Leuten der Brauch ist, aber man läßt mich nicht. Der Sergeant stürzt wie ein Wilder auf mich zu, packt meinen Pyjama mit der Linken, und mit der Rechten holt er zu einem Volltreffer auf mein Kinn aus. Meinen oft erprobten Tritt gegen das Schienbein kann ich nicht anbringen, weil ich barfuß bin und mir nicht den Nagel der großen Zehe verstauchen möchte. Deshalb senke ich den Kopf und lande ihn mit solcher Wucht auf seinem Nasenbein, daß er beinahe in die Knie geht und mich auslassen muß. Dann packe ich ihn beim Gürtel und schleudere ihn gegen die Tür, wo er zur wohlverdienten Ruhe zu Boden geht. »Aufhören!« schreit der Leutnant. »Jetzt reicht’s mir!« »Leg doch dieses Vieh an die Leine«, sage ich, »wie komme ich dazu, mich mitten in der Nacht von einem übergeschnappten Dummkopf zusammenschlagen zu lassen?« -33-
Kautschuk kommt wieder auf die Beine, betastet erst seine Nase, dann das Ohr. »Überlassen Sie ihn nur mir, Leutnant«, schnauft er, »jetzt mach’ ich ihn fertig.« »Geh ins Bad und verarzte deine Wunden«, sagt der Leutnant, »und uns laß in Ruhe.« Kautschuk stolpert hinkend zum Bad, und ich werfe ihm noch ein Röllchen Klebestreifen nach. »Da«, sage ich, »papp dir dein Ohr wieder an, sonst verlierst du es noch.« Er fängt das Röllchen im Flug und verschwindet im Bad. Der Leutnant lehnt sich an die Wand, kreuzt die Beine und steckt die Daumen in den Gürtel. »So, und jetzt«, sagt er, »will ich wissen, was du wieder zusammenkochst.« Ich zucke die Achseln und setze mich in einen Sessel. »Nichts«, sage ich, »gar nichts. Scheinbar haben mich alle vergessen in diesem undankbaren Land, und so verbringe ich den größten Teil meiner kostbaren Zeit im Tiefschlaf.« »Es ist mir bekannt«, sagt er, »daß du erst vor wenigen Minuten heimgekommen bist. Seit einer Stunde versuche ich dich anzurufen, und niemand hat sich gemeldet. Wer hat dir deinen Kürbis so zugerichtet?« »Ich«, sage ich, »beim Rasieren.« »Ich wußte nicht, daß du dich mit einer Pflugschar rasierst.« »Jeder, wie er kann«, sage ich. Er holt einen Umschlag aus der Tasche, öffnet ihn, nimmt einen Gegenstand heraus und hält ihn mir unter die Nase. »Was ist das?« fragt er. Ich fasse zu, es ist ein schwarzes, auf einer Seite klebriges Stäbchen. Ein Lakritzenstäbchen. -34-
Mein Erstaunen ist mehr als echt. »Lakritze«, sage ich, »es scheint tatsächlich Lakritze zu sein.« »Und du hast nichts dazu zu sagen? Rührt sich in deinem Hirn nichts, gar nichts?« Ich schüttle den Kopf. »Nichts Besonderes«, sage ich. »Seit der Volksschule lutsche ich keinen Bärendreck mehr.« »Aber einen gibt es, der nie damit aufgehört hat«, sagt der Leutnant. »Kann schon sein«, sage ich, »aber was geht das mich an? Ich denke, es ist das gute Recht der Leute, Lakritze zu lutschen, wenn und wann sie Lust darauf haben.« »Ich rede auch nicht von Leuten«, sagt der Leutnant Tram. »Aber für einen Hund ist es nicht gerade normal, zumal, wenn dieser Hund dein Partner ist und zum Lakritzenlutschen ausgerechnet aufs Präsidium kommt.« Himmel und Zwirn! Das ist eine Überraschung! »Greg ist mit einer Lakritze aufs Präsidium gekommen?« frage ich zurück. »Genau«, sagt der Leutnant Tram, »und du willst nichts davon gewußt haben?« »Ich schwöre es: ich wußte nichts davon«, sage ich. Kautschuk kommt aus dem Bad, seine Visage sieht etwas weniger verboten aus, aber nicht viel. »Ich könnte sein Gedächtnis auffrischen«, schlägt er hoffnungsvoll vor. »Du hast ihn also nicht geschickt?« fragt der Leutnant. »Ich habe Greg seit heute nachmittag um zwei Uhr, nicht mehr gesehen«, sage ich. »Ich bin ins Kino gegangen, und er zu seiner Braut.« -35-
Tram nimmt die Lakritze wieder an sich und steckt sie in den Umschlag zurück. »Hör zu, Pipa«, sagt er. »Ich habe unzählige Male meine Schafsgeduld mit dir bewiesen, aber einmal reicht’s mir, immer das Schaf zu spielen. Wenn du es nicht ganz mit mir verderben willst, ist es besser, du rückst endlich mit der Wahrheit heraus. Du hast Greg geschickt, und wenn du ihn tatsächlich nicht geschickt haben solltest, war er für dich auf Schnüffeltour, die ihn zur Lakritze geführt hat. Dann war er schlau genug, das Verbrecheralbum zu konsultieren, um festzustellen, wer von den darin verewigten Typen Lakritze lutscht. Ich muß zugeben, dein Partner hat allerhand auf dem Kasten, denn er hat ihn sofort identifiziert: der Lakritzenlutscher steht drin mit Fingerabdrücken, Foto und einem langen, aufschlußreichen Register seiner bewegten Vergangenheit.« »Ich kann einfach nicht glauben, daß Greg aus eigener Initiative um Auskunft zur Mordkommission gerannt sein soll«, sage ich, »da ihr doch herzlich wenig Sympathie füreinander habt.« »Er ist auch nicht zu mir gekommen«, sagt der Leutnant Tram, »er hat sich heimlich, still und leise ins Archiv geschlichen und das Stäbchen dem Sergeanten O’Ginna hingelegt, von dem er weiß, daß er dir hie und da Informationen zukommen läßt. Bei O’Ginna hat’s sofort gebumst. Die Lakritze als besonderes Kennzeichen ist ziemlich einmalig. Es gibt nur ein paar, die das Zeug Tag und Nacht im Maul behalten. So hat er die Akte herausgefischt und wollte dich gerade anrufen, als der Zufall den Sergeanten Kautschuk ins Archiv geführt hat.« »Als ich das dreckige Vieh sah«, sagt der Kautschuk und greift sich an sein, nunmehr mit Klebestreifen notdürftig befestigtes Ohr, »wußte ich sofort, daß da etwas faul war, und so habe ich den räudigen Köter zum Leutnant ins Büro geschleppt.« Ich streife ihn mit einem Seitenblick und nehme mir eine Zigarette. -36-
»Es muß nicht leicht gewesen sein«, sage ich, »meine Anerkennung, daß du nach dieser Tat noch auf den Beinen stehst und sogar in ziemlich guter Verfassung.« »Vier Polizisten haben mit anfassen müssen«, sagt der Leutnant, »drei von ihnen sind noch auf der Unfallstation.« »Mein Partner ist eben gut in Form«, sage ich. Kautschuk beugt sich über meine Schulter und bläst mir eine Schirokkowolke ins Gesicht. »Du landest bestimmt auf dem elektrischen Stuhl«, sagt er. »Aber es wird auch noch genug Strom geben für das elektrische Körbchen dieses Bastards, deines Partners.« Mit einem kleinen Stoß werfe ich ihn dem Leutnant in die Arme, dann springe ich auf. »Was habt ihr mit ihm gemacht?« schreie ich. Tram schiebt seinen Sergeanten vorsichtig beiseite und steckt die Hände in die Taschen. »Nichts«, sagt er. »Wir wollten ihn vernehmen; aber versuch das einmal bei einem Hund. Nicht ein Wort haben wir aus ihm herausgebracht!« »Ihr habt den dritten Grad angewendet!« brülle ich. »Ihr Unglückspolypen von des Teufels Großmutter! Wo ist Greg?« »In der Sicherheitszelle«, sagt Tram. »Er schleckt immer noch an der Lakritze, die in seinem Fell kleben geblieben ist.« Ein Kribbeln steigt mir von den Füßen bis in die Eingeweide. »Ihr habt ihn verhaftet? Unter welcher Anklage?« frage ich. »Widerstand gegen die Staatsgewalt«, sagt Kautschuk. »Und Mordverdacht«, fügt Leutnant Tram hinzu. »Mord an wem?« frage ich. »Es dürfte sogar dir nichts Neues sein«, sagt der Leutnant Tram, »daß wir immer den ersten Bus nehmen, der kommt, und nicht erst auf den nächsten warten. Deshalb haben wir sofort mit -37-
den Recherchen begonnen. Kaum wußten wir, wer der Lakritzenlutscher ist, haben wir ihn gesucht, aber nicht gefunden.« »Wenn er das ist, was er zu sein scheint«, sage ich, »wird er sich auch schwerlich von euch finden lassen.« »Es ist uns bekannt«, fährt Tram fort, »daß er seit sechs Jahren keine Geschichten mehr gemacht hat. Er heißt Dick Semolina und arbeitete mit einem gewissen Ted Spartiacque zusammen. Man nannte sie die »Brüder von der sanften Überredungskunst«: Punkt und Komma. Ted Spartiacque war der Punkt, Dick Semolina das Komma. Wenn sich z. B. jemand weigerte, die Stiefelsteuer an das »Wegegeldsyndikat« abzuführen, bekam Komma den Auftrag, den säumigen Zahler so lange zu bearbeiten, bis der seinen Widerstand aufgab. Wenn diese Vorwarnung nichts nützte, trat Punkt in Aktion und schloß die Partie auf definitive Weise. Soweit, jedenfalls, ihr Programm.« »Saubere Arbeit«, sage ich. »Ich kann dir noch verraten, daß Komma so überzeugend arbeitete, daß Punkt nie zum Schuß kam; dadurch blieb sein Strafregister beinahe weiß«, erzählt Tram weiter. »Wenn ich deine Visage betrachte, habe ich den Eindruck, als hättest du die Bekanntschaft dieses vorbildlichen work-teams gemacht.« »Ich weiß von nichts«, sage ich. »Aber jetzt sag du mir, wie du auf die Geschichte mit dem Mordverdacht kommst.« »Bin schon dabei«, sagt Tram. »Vor acht Jahren ist es uns geglückt, Komma auf frischer Tat zu ertappen, und wir haben ihn dann auf zwei Jahre unter Verschluß gesetzt. Der alleingebliebene Punkt hatte inzwischen Arbeit gefunden, und als Komma aus dem Kittchen kam, gelang es ihm, auch ihn bei seiner Firma als Laufburschen unterzubringen. Nebenbei: Komma hat nie aufgehört, Lakritze zu nuckeln. Er wurde von Punkt treu und brav jede Woche im Kittchen mit Nachschub versorgt. Naja, und so haben sich die beiden zu den reinsten Engeln entwickelt, so daß wir sie schon längst nicht einmal mehr überwachen. Seit -38-
heute früh aber haben sie sich in der Schirmfabrik, wo sie angestellt sind, nicht mehr blicken lassen. Wir haben sie auch in ihrer Bleibe gesucht, auch dort waren sie nicht.« »Also los jetzt«, mischt sich Kautschuk ein, »wo sind sie?« »Ich habe nicht die blasseste Ahnung«, sage ich. »Wenn du es nicht weißt, dein Partner weiß es sicher«, sagt der Leutnant Tram. »Er hat Komma die Lakritze aus dem Mund geschnappt, und folglich hat er ihn vorher umgelegt. Ich will wissen, wo.« »Du kannst meinem Partner keine Mordanklage anhängen, bevor du nicht die Leiche hast«, sage ich. »Dann finde mir den lebenden Komma, und ich lasse deinen Hund laufen.« »Nein! Meinen Hund läßt du augenblicklich laufen«, sage ich und stürze ins Schlafzimmer. »Ich hole ihn mir, und wenn ich deswegen den Präsidenten höchstpersönlich bemühen muß.« Der Leutnant Tram folgt mir ins Schlafzimmer. Kautschuk bleibt unter der Tür stehen und schaut mir beim Ankleiden zu. »Wenigstens hast du so viel Verstand, freiwillig mitzukommen«, sagt der Leutnant. »Wenn es wahr ist, daß du von der ganzen Sache nichts weißt, frage deinen Hund, wo er die Lakritze her hat. Dir wird er schon Antwort geben.« Ich ziehe Strümpfe, Hemd und Schuhe an und binde mir die Krawatte. Leutnant Tram seufzt dazwischen. »Ich glaube nicht«, sagt er, »daß es einen Advokaten gibt, der närrisch genug ist, die Verteidigung eines Hundes zu übernehmen; sonst könnte er den Habeas-corpus-Paragraphen anwenden und Freilassung gegen Kaution beantragen.« Kautschuk beginnt zu grinsen, was er nicht hätte tun sollen. Ich unterbreche meine Tätigkeit, packe ihn mit der Hand beim Kinn und schlage seinen Schädel mit Fingerspitzengefühl so lange gegen die Wand, bis er darin stecken bleibt. -39-
Die Mauern in den Neubauten sind ziemlich dünn, und eigentlich könnte ich vom Hausherrn jetzt eine Mietermäßigung verlangen. »Eines Tages wird dich deine Gewalttätigkeit teuer zu stehen kommen«, sagt der Leutnant Tram. »Klar«, sage ich. »Morgen muß ich den Maurer kommen lassen, daß er das Loch in der Wand repariert, und das kostet mich einen Arm voll Geld. Deine Schuld, warum hast du auch so eine Vorliebe für dickschädelige Sergeanten.« Ich ziehe mich in Ruhe fertig an, schon damit der Leutnant Zeit hat, seinen Sergeanten aus der Wand zu pulen. Als ich meine Jacke zuknöpfe, hat er seinen Helden wieder, so gehe ich ins Wohnzimmer und gieße mir ein Glas Bourbon ein. Tram kommt nach und bremst zwei Schritt vor der Flasche. »Wenn ich in Form sein soll, brauche ich Treibstoff«, sage ich. »Du nicht, im Dienst läuft dein Motor mit Sprudelwasser. Man sieht’s dir auch an.« »Hör schon auf, den Witzbold zu spielen«, sagt er. »Mach weiter, deine ewigen Kalauer kotzen mich an.« Ich schütte den Treibstoff in meinen Tank und sehe dabei, wie sich der Sergeant die Mauerreste aus der Uniform klaubt. So gehört es sich auch. Es ist meine Mauer, wenigstens solange ich die Miete bezahle, und keiner hat das Recht, auch nur ein Bröckchen davon wegzutragen. »Und nun«, sage ich, »wäre ich soweit.« Ich lasse dem Leutnant und seinem Sergeanten den Vortritt, lösche das Licht und schließe die Türe ab.
-40-
Viertes Kapitel Wiedersehen mit Gregorio, aber ich muß ihn lassen, wo er ist. Meine Verabredung mit dem Chef findet nicht mehr statt, aber in der Lakritzensache stimmt etwas nicht.
Während wir dem Präsidium zubrausen, bitte ich Greg im stillen alle schlechten Dinge ab, die ich über ihn gedacht habe. Greg ist schon ein großartiger Detektiv. Wenn ihm auch die langschwänzigen Hundegirls gefallen, seine Arbeit macht er trotzdem tadellos. Verflucht nochmal! Die Sache muß sich so abgespielt haben: Greg ist ins Büro gekommen, als Punkt und Komma gerade weggingen. Er ist ihnen gefolgt, und als sie an einen ihm geeignet erscheinenden Ort kamen, hat er sie angesprungen und Komma eine ernsthafte Verwarnung erteilt, die Lakritze gepackt und ist damit zu Sergeant O’Ginna gelaufen, um Informationen einzuholen. Aber ich wette eines meiner Beine bis zum Knie, daß Greg niemanden umgebracht hat. Er weiß genau, wie weit er gehen kann und wann Rotlicht für ihn ist. Wahrscheinlich war Komma nicht mehr in der rechten Verfassung, um sich zur Arbeit zu begeben, so daß Punkt ihn irgendwo versteckt hat, um ihn wieder zusammenzuflicken. Es ist drei Uhr, als wir ins Präsidium kommen. Wir gehen ins Souterrain hinunter, ein Polizist begleitet uns bis zur Zelle, in die man Greg gesperrt hat. -41-
Sie liegt am Ende des Ganges und ist mit einem besonders festen Gitter versehen. Kaum sieht Greg mich, kommt er aus seiner Ecke und schiebt die Schnauze durchs Gitter; aber als er Kautschuk erblickt, fängt er an zu knurren. »Aufmachen!« sage ich. »Du spinnst wohl«, sagt Leutnant Tram, »du kannst genausogut mit ihm durchs Gitter reden.« Ich schaue meinen Partner an und sehe, daß er blinzelt. Ich weiß genau, was das heißt. »Wo hast du die Lakritze her?« frage ich ihn. Greg winselt zärtlich, läuft in der Zelle hin und her, soweit Platz ist, und leckt sich dann den Schwanz. Ich seufze abgrundtief und schüttle den Kopf. »Rückfall in die erste Liebe«, sage ich. »Kommt ab und zu vor. Dir ist das wohl noch nie passiert?« Tram preßt die Lippen zusammen und fixiert mich. »Quetsch dich deutlicher aus«, brummt er. »Greg«, sage ich, »hat plötzlich nach der Hundedame vom Sergeanten O’Ginna Sehnsucht bekommen. Vor ein paar Jahren war sie seine erste Liebe. Wahrscheinlich ist das langschwänzige Kind verrückt nach Lakritze, und Greg hat sich daran erinnert. Er wollte ihr eine Freude machen und hat sie ihrem Herrchen auf den Schreibtisch gelegt, daß er sie ihr mitnehmen sollte. Lakritze ist frei verkäuflich, und alle Drogerien sind voll davon. Du kannst einem Hund nicht verbieten, seiner Flamme Lakritze zu schenken.« »Chef«, sagt Kautschuk, »lassen Sie mich dem verdammten Lügner den Kopf absägen.« Ich stoße meinen Ellbogen in seinen Bauch, daß er zusammenklappt. »Hör zu, Pipa«, sagt der Leutnant Tram, »diese Geschichte muß ein Ende haben, und sie hat für mich dann ein Ende, wenn -42-
ich Komma bei bester Gesundheit hier vor mir sehe. Ist das klar?« »Ich bin für den Gesundheitszustand der Bevölkerung nicht verantwortlich«, sage ich, »und diese Type interessiert mich überhaupt nicht. Von mir aus kann er Magenkrämpfe im Kopf und Hirnhautentzündung im Bauch haben, das ist mir wurscht.« »Ich werde dir nie logisches Denken angewöhnen können«, sagt Tram. »Aber eines nicht fernen Tages wirst du für alles teuer bezahlen müssen. Ich glaube dir kein Wort von dieser saudummen Story.« »Tut mir leid«, sage ich, »eine gescheitere habe ich derzeit nicht auf Lager. Ich möchte jetzt gehen. Laß den Käfig aufsperren.« »Nichts zu machen«, sagt Tram. »Gregorio bleibt hier. Über seiner Schnauze schwebt eine Mordanklage, solange du mir den Ermordeten nicht vorführst. Ich möchte dich auch festhalten, und es kann dir noch blühen, wenn du hier nicht baldigst mit Dick Semolina aufkreuzt.« »Du kannst niemanden des Mordes anklagen, solange die Leiche fehlt«, sage ich und packe ihn beim Arm. Tram reißt sich los und geht zum Ausgang. »Wenn ich du wäre, würde ich den Präsidenten bemühen«, sagt Kautschuk. Mit einem Tritt breche ich ihm den Fußknöchel, dann beuge ich mich zu Greg hinunter und streichle ihn. »Sei nur ruhig«, sage ich, »ich hole dich bald heraus. Inzwischen schicke ich dir ein Fläschchen Bourbon, daß dir die Zeit nicht gar zu lang wird.« Greg zeigt nur, daß er mich verstanden hat, und zieht sich in seine Ecke zurück. Ich gehe zum Ausgang, Kautschuk hinkt hinterdrein. -43-
Beim Ausgang angelangt, bleibt Tram stehen. »Begleitet ihr mich nicht nach Hause?« frage ich. »Nein«, sagt Tram, »du brauchst dir nicht einzubilden, daß wir dich beschatten. Du kannst gehen, wohin du willst.« Er dreht sich um und geht, gefolgt von seinem Sergeanten, in sein Büro. Ich zünde mir eine Zigarette an und rufe ein Taxi. Es bringt mich zur »Fledermaus«. Schöne Pleite. Ebensogut hätte ich zu Hause bleiben können. Aber ich bin trotzdem zufrieden, weil ich Greg gesehen habe und weiß, daß er gute Arbeit geleistet hat. In der »Fledermaus« genehmige ich mir einen doppelten Bourbon und bitte Ettore, im Lauf des Vormittags ein Fläschchen Bourbon ins Präsidium zu bringen, um den armen Gefangenen ein wenig aufzuheitern. Er soll auch Fernanda mitnehmen. Dann gehe ich schlafen. Und dieses Mal, zum Teufel, möchte ich den sehen, der mich aus dem Bett jagt. Auch meine grauen Zellen sollen sich ausruhen, es ist ihr gutes Recht. Dann riskiere ich noch ein Auge auf meinen Nachttisch nach der Bourbonflasche vom Dienst: daß sie nur ja nicht leer ist. Wenn ich wach werde, brauche ich Treibstoff, um wieder einschlafen zu können. Zu meiner Freude sehe ich, daß sie nicht leer ist. Ich muß Ihnen noch schnell gestehen, daß ich die Einsamkeit nicht mag, und es gibt keine schrecklichere Einsamkeit als die in Gesellschaft einer leeren Flasche. Sind Sie nicht auch meiner Meinung? So, na, macht nichts, gute Nacht. Punkt zehn Uhr lande ich mit meinem Blimbust vor dem Bürohaus der Regenschirmfabrik. -44-
Im Vorraum sitzt der mit den goldenen Knöpfen an einem großen Tisch. Kaum sieht er mich, setzt er auch schon das Grinsen von gestern auf. »Ich habe eine Verabredung mit dem Chef«, sage ich. Er steht auf und verbeugt sich. »Den Namen, bitte«, sagt er. »Pipa«, sage ich. Er nimmt den Telefonhörer. »Signor Partitavintus ist noch nicht gekommen«, sagt er, während er eine Nummer wählt, »aber Miß Noster erwartet sie.« »Wunderbar«, sage ich. »Miß Noster ist viel herzerfrischender als der Alte.« Das Grinsen verblaßt leicht, verstärkt sich aber sofort wieder, als er ins Telefon spricht. »Signor Pipa ist hier«, sagt er. »Gut.« Er legt den Hörer hin und schaut mich an. »Ich begleite Sie hinauf«, sagt er. »Nicht nötig«, sage ich, »ich kenne den Weg.« Ich gehe zur Treppe und hüpfe sie, immer zwei Stufen auf einmal, hinauf. Im ersten Stock blockiert sich mir der Motor, und ich muß mit erhobenem Fuß und stierem Blick eine Pause einschalten. Aus dem Hintergrund des Korridors trippelt mir im Eilschritt Goldkopf entgegen, wohlverpackt in den schwarzen Kittel und auf dem Kopf den Goldhelm, der in rhythmischen Abständen aufleuchtet und verlischt. Heiliger Polykarp, ich muß mir die Adresse ihres Friseurs geben lassen, der das System erfunden hat, eine hundertkerzige Birne in der Frisur zu verbergen, natürlich zum Zweck, uns arme Idiotenmänner noch idiotischer zu machen… Aber dann merke ich, daß das ganze Spiel von der Sonne kommt, die jedesmal, wenn die Schöne an einem Fenster vorbeigeht, ihren Goldhelm entzündet. -45-
Mein Motor läuft wieder an, so daß ich nicht mehr mit dem Fuß in der Luft dazustehen brauche und ihr entgegengehen kann. »Salve, Goldstück!« grüße ich sie. Sie bleibt zwei Schritte vor mir stehen und lächelt mich an. »Guten Tag«, sagt sie. »Wollen Sie bitte in mein Büro kommen.« Und ob ich will, zum Donnerwetter! Ich bin schon neben ihr, und wir spazieren selbander den Korridor entlang bis zu seinem Ende. »Signor Partitavintus verspätet sich etwas«, sagt sie, »aber er hat mir für Sie genaue Instruktionen gegeben.« Sie öffnet eine Tür, und ich betrete ein sehr einladendes Büro mit einigen Regalen, einem großen Tisch, ein paar Lehnstühlen und einer Schreibmaschine. »Meinem Gefühl nach brauchen Sie überhaupt keine Instruktionen«, sage ich, und sie beginnt zu lachen. »Ich merke schon, daß Sie Ihren etwas seltsamen Ruf nicht zu Unrecht haben«, sagt sie; »aber ich mache Sie darauf aufmerksam, daß ich alle Vorsichtsmaßregeln getroffen habe.« »Sagen Sie mir jetzt nur nicht, daß Sie sich in ein Regenschirmfutteral haben einnähen lassen, um vor meinen Angriffen sicher zu sein«, sage ich. »Auch in eine Konservenbüchse gepreßt und eingepökelt würden Sie doch nie wie ein Salzhering ausschauen.« »Wollen wir diese Komplimente nicht auf einen geeigneteren Zeitpunkt verschieben, wenn sich überhaupt je einer bieten sollte?« sagt sie und setzt sich hinter ihren Schreibtisch. »Signor Partitavintus wird in wenigen Minuten hier sein, und ich habe Ihnen etwas zu übergeben.« »Hoffentlich bricht sich Ihr Chef ein Bein«, sage ich, »dann könnten wir hier warten, bis sie ihm den Gipsverband abneh-46-
men. Ich hätte einige fruchtbare Ideen, wie wir uns die Zeit vertreiben könnten.« Sie gibt sich alle Mühe, nicht mehr zu lachen, dann nimmt sie ihre Handtasche aus einem Fach und stellt sie vor sich auf den Schreibtisch. »Gestern abend, als Sie anriefen«, sagt sie, »war ich gerade beim Chef in der Wohnung, und ich darf Ihnen sagen, daß Sie ihm mit Ihrem Anruf eine große Freude gemacht haben.« »Ich bin gerührt«, sage ich, »gehen Sie oft des Abends zu Ihrem Chef in die Wohnung?« Sie sieht mich beleidigt an. »Wenn er weiß, daß er am nächsten Morgen später als gewöhnlich kommt«, sagt sie, »gehe ich manchmal abends hin, bringe ihm die Unterschriftenmappe und lasse mir die Arbeit für den nächsten Tag einteilen. Gestern abend mußte Signor Partitavintus mit seiner Frau ausgehen. Hie und da begleitet er sie in ein Nachtlokal, wo er sich dann bis zum Morgen langweilt.« »Sie aber nicht«, sage ich. »Das geht mich nichts an«, sagt Goldkopf. »Gestern hat er jedenfalls vorausgesehen, daß es spät wird, deshalb hat er einen Scheck ausgeschrieben und mich beauftragt, ihn Ihnen zu geben.« Sie öffnet ihre Handtasche, sucht herum, zückt eine Brieftasche, fischt den Scheck heraus und gibt ihn mir. Ich nehme ihn und schaue ihn an. Zweihunderttausend. Ich stecke ihn sofort ein, damit er nicht kalt wird. Goldkopf steht auf, nimmt ein Blatt Papier und geht zur Schreibmaschine. »Wollen Sie bitte eine Quittung unterschreiben«,sagt sie. »Auch zehn«, sage ich. »Für diese Art Unterschriften habe ich eine leichte Hand.« -47-
Ich möchte noch allerhand Geistreiches sagen; aber als mein Blick auf Goldkopfs offene Handtasche direkt vor meiner Nase fällt, bleibt mir die Spucke weg. Schließlich habe ich Augen im Kopf, und so schaue ich hinein, und was ich da neben der silbernen Puderdose sehe, verschlägt mir geradezu die Sprache. Drei oder vier schwarze Stäbchen, mit einem Gummiring zusammengehalten. Das ist’s, was ich in Goldkopfs Handtasche erblicke. Lakritze, um mich präzis auszudrücken. Seit gestern kommen mir diese Dinger etwas zu häufig in die Quere, und ich müßte dümmer sein, als ich bin, um da keinen Zusammenhang zu sehen. Goldkopf dreht mir den Rücken zu, und ich sehe ihre rosigen Nägel über die Tasten der Maschine hüpfen. Ich kann sie mir einfach nicht mit einem Lakritzenstäbchen im Mund vorstellen und bin deshalb sicher, daß sie dieses Zeug für jemanden besorgt hat, dem es besser ansteht, für eine Weile zurückgezogen zu leben. Gut, jetzt weiß ich wenigstens, von welcher Seite aus ich beginnen muß, um mir meinen Armvoll Geld ehrlich zu verdienen, und ich habe den Eindruck, daß ich diesen Fall in Nullkommanichts lösen werde. Goldkopf braucht mir nur zu sagen, weshalb sie etwas dagegen hat, daß ich meine Schnüffelnase in die Angelegenheiten ihres Chefs stecke. Sie steht auf und legt mir die Quittung vor. Ich unterschreibe und stehe ebenfalls auf. »Jetzt kann ich ja anfangen, da alles seine Richtigkeit hat«, sage ich. »Natürlich«, sagt Goldkopf, »aber es wäre doch besser, wenn Sie erst noch mit Signor Partitavintus sprechen wollten. Seltsam, daß er sich so verspätet.« -48-
Ich gehe um den Schreibtisch herum und placiere meine Brusttasche auf zwei Zentimeter Entfernung von ihrer reizenden Nase. »Hol der Teufel den alten Partitavintus«, sage ich, »Dinge von lebenswichtiger Bedeutung schiebe ich nicht gern auf.« Sie hebt ihr Frätzchen und schaut mir in die Augen. Dann wird mir warm in der Brust, denn sie hat eine Hand auf mein Revers gelegt. »Nein«, sagt sie, »bitte nicht.« Verdammt nochmal, Kollegen, ich versuche mein verwirrtes Hirn durch den Gedanken an die Lakritze zu ordnen, aber es ist verlorene Liebesmüh’, ich falle einfach auf ihren Mund. Sie hat die Augen zugemacht und sich auf den Angriff vorbereitet, aber die Tür wird aufgerissen, und Goldkopf legt im Weltrekordtempo einen Meter Distanz zwischen unsere Münder. Ich klammere mich an den Schreibtisch, um nicht den Fußboden zu küssen, und so finde ich wenigstens mein äußeres Gleichgewicht wieder. Der Herr Knigge steht unter der Tür und sieht aus, als ob er die Treppe vier Stufen auf einmal heraufgeschnellt wäre. Er dreht die Kappe in der Hand, und seiner Gesichtsfarbe nach könnte man meinen, er sei erwischt worden, als er die Sekretärin des Chefs küssen wollte. Die Röte steigt bis zur Furche, wo er gewöhnlich seine Kappe einschraubt. Von da an aufwärts ist die Stirn weiß wie ein frisch gewaschenes Handtuch. »Signor Partitavintus«, japst er; dann schnappt er drei- oder viermal nach Luft, und kaum hat er so viel, wie er braucht, stößt er auch den Rest hervor: »… ist tot!« Ich schaue ihn an, dann den Goldkopf. Ich sehe, wie sie blaß wird um die Nase und sich setzt. -49-
Dann nehme ich den Knigge beim Arm und werfe ihn in einen Sessel. »Komm zu dir und erzähle«, sage ich. Als seine Pumpe wieder einigermaßen funktioniert, schluckt er erst ein paar Mal und trocknet sich den Schweiß von der Stirn. »Ich bin mit dem Wagen zur Wohnung gefahren«, berichtet er. »Das Tor war zu. Man hat mich nicht hineingelassen. Sie haben mir gesagt, daß Signor Partitavintus tot ist. Ein Revolverschuß in die Schläfe. Dann bin ich hierher zurückgerast.« Ich presse die Lippen aufeinander, stecke die Hände in die Taschen und drehe mich um. Goldkopf starrt ins Leere, dann beugt sich ihr Oberkörper nach vorn, und ihre Nase drückt sich in einer vollendeten Ohnmachtsanfall-Imitation auf dem Schreibtisch platt. Ich wenigstens halte das Ganze für eine Imitation. Nun heißt es, keine Zeit verlieren, ich spurte zwischen den Angestellten beiderlei Geschlechtes, die von allen Seiten herbeiströmen, durch und springe in weniger als dreißig Sekunden in meinen Blimbust, bringe ihn auf Hochtouren und jage in die Anastasia-Allee 120. Verflucht, und zu spät gekommen! Ein Revolverschuß in die Schläfe, hat der Knigge gesagt. Sie haben ihn umgebracht! Es waren also doch nicht die Hörner, vor denen er Angst hatte! Er wußte, daß sie ihn umbringen würden. Deshalb hat er mich kommen lassen. Verdammt nochmal; als ich gestern abend bei ihm angerufen habe, muß es jemandem klar geworden sein, daß ich mich von Punkt und Komma nicht habe einschüchtern lassen. Und so haben sie kurzen Prozeß gemacht. Ja, ich bin zu spät gekommen, der Oberrevolverteufel soll sie alle miteinander holen. Aber ich habe das Geld kassiert und eine Quittung unterschrieben: und jetzt will ich’s ganz genau wissen. -50-
Fünftes Kapitel Wie denken Sie über einen Industrienabob, der sich im Lift entleibt? Jemand will wissen, was ich zum Frühstück gegessen habe.
Ziemlich viel Publikum vor der Anastasia-Allee 120. Ein Schutzmann steht vor dem geschlossenen Tor und eine Reihe Überfallwagen am Straßenrand. Ich mache mir Platz, und der Schutzmann hält mich an. »Hier können Sie nicht durch«, sagt er. »Wenn der Leutnant Tram wüßte, daß du mich nicht reinlassen willst, würde er dich deines Dienstes entheben«, sage ich. »Wer sind Sie?« fragt er. »Für dich könnte ich auch der Mörder sein«, sage ich, stoße das Tor auf und gehe ins Haus. In der Halle wimmelt es von so vielen Polizisten, daß keiner meinen Eintritt bemerkt. Ich sehe, daß sie um den Lift herumturnen, der offen steht und mit starken Scheinwerfern ausgeleuchtet ist. Der Regenkönig liegt zusammengesunken am Boden, den Kopf an die linke Wand gelehnt, mit einem häßlichen Loch in der Schläfe. Viel mehr kann ich nicht sehen bei dem Gewühl von Leuten, die kommen und gehen, abmessen und fotografieren. Ich bemerke nur, daß er den Abendanzug und einen dazu pas-51-
senden Überrock anhat und in der rechten Hand eine Pistole hält. Ich kratze mir die Nasenspitze und schaue mich um. Ich sehe weder den Leutnant Tram noch den Sergeanten Kautschuk. Gegenüber dem Lift, auf der anderen Seite der Halle, führt die Treppe zu den oberen Etagen. Zwischen der Treppe und dem Lift liegt die mit einem großen Schiebefenster abgeschlossene Portierloge. In ihr sehe ich ein Männchen in Uniform, mit einer Schirmmütze auf dem Kopf. Er nimmt sie gerade ab und trocknet sich den Schweiß von der Stirn. Dann setzt er sie wieder auf, nimmt eine Flasche und füllt sich ein Glas. Nach dem Etikett zu schließen, scheint Bourbon darin zu sein, deshalb trete ich näher, um mich der Sache zu vergewissern. »Es ist tatsächlich Bourbon«, sage ich. »Darf ich dir Gesellschaft leisten?« Das Männchen dreht sich um, nimmt von der Kredenz hinter sich ein Glas, das recht sauber aussieht, und stellt es auf den Tisch. »Erkläre mir, was eigentlich passiert ist«, sage ich, während ich mir ein gutes Quantum Treibstoff eingieße. »Ich habe den Polizisten schon alles gesagt«, sagt das Männchen. »Macht nichts«, sage ich, »ich möchte es auch gern wissen, und ein bißchen dalli, weil ich Geschichten am liebsten mag, wenn sie noch ganz frisch sind.« Das Männchen nimmt wieder die Mütze herunter, um sich den Schweiß von der Stime zu wischen. »Also gut«, sagt er. »Heute früh, wie ich mit dem Saubermachen anfange, merke ich, daß der Lift nicht im Parterre ist wie gewöhnlich, aber ich kümmere mich nicht weiter drum. Ich denke, daß die Herrschaften Partitavintus ihn raufgeholt haben. Als aber später der Lift immer noch nicht unten ist, drücke ich auf -52-
den Knopf, um ihn runterzuholen. Er kommt nicht. So denke ich, daß einer vielleicht die Tür offen gelassen hat, und rufe den Diener an, der dann nachschaut und mir sagt, daß der Lift weder im dritten noch im vierten Stock steht.« »In welchem Stockwerk wohnen die Partitavintus?« frage ich. »Im dritten und vierten«, sagt das Männchen. »Im dritten Stock ist die Lifttüre im Treppenhaus, während sie im vierten direkt in die Wohnung führt. Ich bin dann nachschauen gegangen. Im ersten Stock war er nicht, ebensowenig im zweiten, und so habe ich mich gefragt, wo, zum Kuckuck, soll der Lift denn hingekommen sein. Ein Lift kann doch nicht einfach verschwinden, was meinen Sie?« »Kann er nicht«, bestätige ich. »Weiter.« »Ich nehme eine Lampe und leuchte durch die Glastüren in den Schacht. Da sehe ich, daß der Lift zwischen dem zweiten und dritten Stock steckt. Meiner Seel’, wenn er dort steckengeblieben ist, muß der Kontakt irgendwo unterbrochen sein. Ich drücke auf den Knopf, aber der Lift rührt sich nicht. Wie ich mit der Lampe herumleuchte, sehe ich auf dem Glas der einen Türe einen schmalen, dunklen Streifen, an dem ein Tropfen hängt. Er ist an der Innenseite der Tür, und so gehe ich hinunter, schalte den Strom aus, gehe wieder hinauf, nehme den Schlüssel und schließe die Tür auf. Ich fahre vorsichtig mit dem Daumen über den Tropfen und merke, daß er feucht und rot ist. Oh du schlechte Welt, denke ich, das ist ja Blut! Fast wird mir schlecht, und ich falle um ein Haar in den Schacht; deshalb schließe ich schnell ab und laufe auf die Straße. Ich halte den ersten Polizisten an, der daherkommt, und nehme ihn mit hierher. Er betupft auch den Tropfen und sagt, daß es Blut ist. Jetzt rennen wir beide hinunter, er wie der Blitz ans Telefon, die Polizei anrufen. Dann stellt er sich als Wache hin und sagt mir, ich soll mich nicht von der Stelle rühren und warten. Fünf Minuten später war schon das Überfallkommando da mit dem Sergeanten Taitung oder Bambus oder wie er heißt.« -53-
»Kautschuk«, sage ich. »Stimmt«, sagt das Männchen, »Kautschuk, jetzt erinnere ich mich. Er geht auch in den zweiten Stock, rührt den Tropfen an und sagt, daß es Blut ist. Und wir laufen wieder hinunter, er läßt das Tor schließen und sagt, daß niemand herein darf, bevor der Leutnant kommt. Dann will er wissen, wie man den Lift ins Parterre bringen kann. Ich weiß wie: Ich gehe in den Keller und setze den Handhebel in Betrieb. Als der Lift im Parterre ist, laufe ich herauf und schließe die Glastür mit dem Schlüssel auf. Nun, die innere Tür ist offen, das heißt, der linke Flügel, und Signor Partitavintus liegt am Boden mit einem Loch im Kopf und dem Revolver in der Hand. Der Sergeant schickt mich weg und sagt, daß ich mit niemandem sprechen darf, deshalb sperrt er mich hier ein. Er selbst geht dann wieder zum Lift, und das ist alles, was ich weiß. Später sind alle diese Leute gekommen.« »Und wo«, frage ich, »sind der Leutnant und sein Sergeant jetzt?« »Oben, im dritten Stock«, sagt das Männchen. »Ich glaube, sie sprechen mit der Signora.« »War der Lift gestern abend hier unten?« frage ich. »Als ich gestern um zehn Uhr, bevor ich schlafen gegangen bin, abgesperrt habe, war der Lift hier unten.« »Und hast du gestern abend jemanden gesehen, der mit dem Lift rauf- oder runtergefahren ist?« frage ich weiter. »Das haben mich die anderen auch gefragt«, sagt er. »Ich sage Ihnen lieber alles, was ich denen da draußen schon gesagt habe, dann sparen Sie sich die Fragerei. Also, im ersten Stock ist ein Schachklub, der aber, weil der Präsident einen Sterbefall in der Familie hat, bis morgen geschlossen bleibt. Die Räume sind seit zwei Tagen leer. Den zweiten Stock bewohnt eine Familie, die seit vierzehn Tagen auf einer Auslandsreise ist. Es kommt nur in der Frühe eine Frau zum Saubermachen. Gusti und Francesca, die Hausangestellten von Partitavintus, hatten gestern ihren frei-54-
en Abend und sind weggegangen, haben aber diesen Lift nicht benützt. Sie sind wie gewöhnlich mit dem Lieferantenaufzug bei der Hintertreppe heruntergefahren. Das war um neun Uhr, und sie werden wohl, wie immer, um zwölf Uhr heimgekommen und wieder mit dem anderen Aufzug hinaufgefahren sein. Gegen halb zehn ist die Sekretärin des Signor Partitavintus gekommen, ich habe sie aber nicht mehr weggehen sehen. Sie ist mit dem Lift hinaufgefahren und hat ihn sofort wieder heruntergeschickt. Sie wird ihn auch später zum Herunterfahren benützt haben, das habe ich aber, wie gesagt, nicht mehr gesehen, weil ich um zehn Uhr ins Bett gegangen bin.« »Und Signora Partitavintus?« frage ich. »Sie ist gestern nachmittag mit dem Lift hinaufgefahren und ist nicht mehr ausgegangen; wenigstens bis um zehn Uhr nicht. Das ist alles. Ich habe keinen Schuß gehört. Im Souterrain, wo ich schlafe, würde ich auch einen Kanonenschuß nicht hören.« Ich genehmige mir noch einen Bourbon und schlucke ihn mit Bedacht. »Hör zu, mein Guter«, sage ich, »der Lift steckte zwischen dem zweiten und dritten Stock, sagst du.« »Mit der Innentür offen«, setzt er hinzu. »Könnte man in diesem Fall, wenn der Lift zwischen zwei Stockwerken hängen bleibt, aus ihm heraus?« Der kleine Mann lacht. »Nicht einmal ein Gespenst brächte das fertig«, kichert er. »Der Lift läuft zwischen vier Mauern, und die einzigen Türen sind die in den Stockwerken. Die Decke des Fahrstuhls ist unterhalb des Bodens der dritten Etage gewesen, und sein Boden war ungefähr fünfzig Zentimeter über dem Türstock der zweiten Etage. Signor Partitavintus muß eingestiegen sein, und als er zwischen dem zweiten und dritten Stock war, hat er die Innentür aufgemacht, um den Kontakt zu unterbrechen und damit den Lift zum Stehen zu bringen, und dann hat er sich erschossen.« -55-
Teufel, Teufel, das leuchtet mir nicht ein. Der Regengott ruft mich zu sich, will mir einen Auftrag geben, weil er vor etwas Angst hat. Ich sage nein, ändere dann wegen gewisser Vorkommnisse meinen Entschluß, und kaum weiß er das, steigt er in den Lift und erschießt sich. Erscheint Ihnen das logisch? Und selbst angenommen, er hatte die Absicht, sich umzubringen, warum ausgerechnet im Lift? Und wer hat mir Punkt und Komma geschickt, um mich zu neutralisieren? Seine Frau? Oder etwa Goldkopf mit der Ersatzlakritze in ihrer Handtasche? Ich verlasse die Portierloge. Die ganze Gesellschaft schwirrt immer noch um den Lift herum, deshalb nehme ich die Treppe. Ich schaue mich im zweiten Stock um. Da ist wenig zu sehen. Die Glastür ist geschlossen, und auf der Scheibe sieht man noch den roten Tropfen. Im Innern ist alles finster, man sieht kaum die Drahtseile und Führungsschienen, die sich im Dunkeln verlieren. Ich steige zum dritten Stock hinauf, aber auch dort gibt’s nichts zu sehen. Auch hier die gleiche Lifttür wie in den anderen Stockwerken, ebenfalls geschlossen. Auf dem Treppenabsatz, dem Aufzug gegenüber, der Wohnungseingang. Als ich durch die Scheiben in den Liftschacht schaue, habe ich die Tür zur Wohnung im Rücken und höre nicht, daß sie aufgemacht wird. Ich fühle nur etwas hinter meinem Ohr landen und stürze sofort in ein endloses, schwarzes Loch. Ich komme einfach nicht aus dem Stacheldraht heraus, der mich überall sticht. Zugleich scheint mir, ich rolle einen Abhang hinunter und stoße dann mit aller Wucht gegen Felsgestein, was die Sache mit -56-
dem Stacheldraht noch komplizierter gestaltet. Der Alptraum löst sich nach und nach, aber ich kann nicht draufkommen, was eigentlich passiert ist. Es muß ziemlich viel Zeit vergangen sein, und während ich jetzt zu mir komme, bin ich nicht einmal sicher, ob ich tatsächlich schon wach bin. Vielleicht befinde ich mich in einem Flugzeug oder einem Schlafwagenabteil. Mein Kopf tut so weh, daß mir der Schmerz bis zum Brustkorb hinunter reicht. Ich schlage die Augen auf und sehe kaum einen Meter über meinem Kopf die Zimmerdecke. Mein Kopf ist so schwer, daß ich ihn nicht aufheben kann; deshalb vermute ich, daß mir irgendein Idiot die Ohren am Boden festgenagelt hat, aber gleich drauf merke ich, daß das nicht stimmt; mit großer Mühe drehe ich den Kopf nach links und sehe zwanzig Zentimeter vor meiner Nase entfernt noch ein schlafendes Individuum. Diesen Menschen erkenne ich sofort. Der Regengott liegt neben mir, und aus der Art, wie er zur Decke starrt, sieht man klar, daß er an das Loch in seiner rechten Schläfe keinen Gedanken mehr verschwendet. Ich muß zugeben, daß es für meine grauen Zellen nicht leicht ist, in dieser Situation einigermaßen exakt zu funktionieren, aber sie halten sich tapfer. Es kann keinen Irrtum geben: während ich durch die Lifttüre in den Schacht schaute, hat sich so ein Saukerl hinter mich geschlichen und mir den Schädel gespalten. Dann haben sie mich gefunden, mich für mehr oder weniger sanft entschlafen gehalten und in den Wagen geladen, den sie für den Regengott bestellt hatten. Also eine gemeinsame Vergnügungsfahrt in die Leichenhalle, mein Alter! Der Regengott antwortet nicht. -57-
Schade! Ich hätte mich auf seiner Reise in die ewigen Jagdgründe gern mit ihm unterhalten. Viele Dinge wären da noch zu klären; aber versuchen Sie einmal, einem Toten die Würmer aus der Nase zu ziehen! Noch ein letzter Blick auf sein Profil, dann konzentriere ich mich und mobilisiere meine ganzen Kraftreserven. Das einzige, was ich fertigbringe, ist, meinen Kopf in die vorige Lage zurückzudrehen. Dieses Stinktier muß mir einen sauberen Schlag verpaßt haben, verflucht nochmal! Und ausgeschlafen bin ich auch nicht, denn ich fühle, wie meine Lider sich von selbst schließen. Ich falle noch einmal in einen tiefen, festen Schlaf. Diesmal ohne Träume. Als ich wieder aufwache, bin ich sofort klar, und mein Kopfweh ist weg. Aber kalt ist mir, wie wenn ich am Nordpol läge, oder am Südpol, was Ihnen lieber ist. Außerdem habe ich das Gefühl, nackt zu sein und auf einem Eisblock zu liegen. Auf Packeis, um im Bilde zu bleiben. Aber, zum Teufel, ich bin nicht am Nordpol, und sehr viel Grips braucht es nicht, um zu begreifen, daß man mich weder auf den Nord- noch auf den Südpol verlagert hat. Also muß ich irgendwo liegen, wo eine ähnliche Temperatur herrscht, und das kann nur im Kühlschrank sein. Und meine grauen Zellen brauchen sich wiederum nicht sehr anzustrengen, um draufzukommen, daß es sich kaum um den Kühlschrank eines Restaurants handeln dürfte. Es ist die Kühlanlage der Leichenhalle! O Luzifer! Nun erinnere ich mich wieder an den Schlag auf den Kopf und an meine Reise zusammen mit dem Regengott im Krankenwagen. Ich gestehe, daß ich sehr wütend bin, auch wenn meine eingefrorenen Gesichtsmuskeln diesen meinen Gemütszustand nur unvollkommen widerzuspiegeln vermögen. -58-
Wenn der Regengott sich in diesem makabren Milieu wohlfühlt, soll er bleiben, aber ich habe nicht die geringste Absicht, ihm noch länger Gesellschaft zu leisten. Ich muß meinen Auftrag zu Ende führen, den gerade er mir gegeben hat; denn ich weiß, daß niemand gern sein gutes Geld hergibt, um dann mitansehen zu müssen, wie es für ein Luxusappartement in der Leichenhalle verpraßt wird. Durch die Kälte sind meine Schmerzen verschwunden. Das muß ich mir für kommende Gelegenheiten merken. Abgesehen von der Kälte quält mich auch ein unangenehmes Gefühl im Magen. Aber anscheinend bin ich schon nicht mehr im Kühlschrank. Nach und nach stellen sich wieder Gefühlsreaktionen ein, eine leichte Wärme, wie von einer Lampe, taut das Eis auf meinem Gesicht auf, und die Muskeln verlieren ihre Steifheit. Kaum kann ich mich ein wenig bewegen, versuche ich, mir über meine Lage klar zu werden. Blendendes Licht hindert mich, meine Augen aufzumachen, aber nach einigen Versuchen kann ich wenigstens blinzeln. Ich sehe einen weißgekleideten Menschen über mich gebeugt, in dem ich, auch wenn nur Augen und Stirn unbedeckt sind, sofort Dr. Thell erkenne. Ich merke, daß er mit einem chirurgischen Instrument in meinem Magen herumfuhrwerkt, und packe ihn beim Handgelenk. »Sie neugieriger Affe«, sage ich, »wenn Sie schon wissen wollen, was ich heute morgen gegessen habe, könnten Sie mich erst fragen, oder?« Dr. Thell macht einen Satz nach hinten, und die wenige Haut, die von ihm zu sehen ist, wird weiß wie sein Mantel. »Was sind das für Witze?« stottert er. »Das frage ich Sie«, sage ich. »Nicht einmal schlafen legen kann man sich, ohne daß Sie die Gelegenheit benützen, in meinen Innereien herumzuschnüffeln.« -59-
Nach kurzer Zeit fängt er sich wieder. »Sie haben so tot ausgesehen«, murmelt er. »Ich habe nur einen festen Schlaf«, sage ich. »Los, flicken Sie mich wieder zu, nichts ist mir verhaßter als Zugluft.« Ich lasse seinen Arm los, er wischt sich den Schweiß von der Stirn, dann geht er zu einem Tischchen, nimmt eine Flasche und füllt ein Glas. Dem musikalischen Gluck-Gluck der in das Glas rinnenden Flüssigkeit entnehme ich, daß es sich nur um Bourbon handeln kann. »Gibt’s auch für mich ein Tröpfchen?« frage ich. Dr. Thell füllt ein zweites Glas und stellt es auf den Marmortisch hinter meinem Rücken. »Besser, Sie warten, bis ich Sie vernäht habe«, sagt er, »sonst läuft der Bourbon ins Leere.« »Gute Idee«, sage ich, »aber machen Sie schnell, meine Kehle ist verdorrt.« Er werkelt mit seinen Instrumenten herum, und ich höre ihn vor sich hinbrummen. »Die könnten sich erst überzeugen, ob ein Kadaver auch ein Kadaver ist«, sagt er; »ich kann das nicht jedesmal selbst kontrollieren, bevor ich eine Autopsie vornehme. Die vom Morddezernat können sich auf etwas gefaßt machen.« »Recht so«, sage ich. »Besorgen Sie’s ihnen nur. Der Leutnant Tram verdient eine richtige Abreibung. Aber Sie waren doch auch dort, um dem Mann im Lift den Totenschein auszustellen?« »Ja, war ich«, sagt er. »Aber als man Sie im Treppenhaus gefunden hat, war ich schon weg, drum haben sie Sie mit auf den Wagen geladen und hierher gebracht. Ich dachte, mein Kollege hätte Ihren Tod bescheinigt.« »Diese Bescheinigung braucht ihr mir vorläufig noch nicht zu schreiben«, sage ich. -60-
»Jetzt können Sie trinken«, sagt der Doktor. Ich setze mich auf, umarme das Glas und inhaliere es auf einen Zug. »Ich gehe in mein Büro und schreibe den Rapport«, sagt Dr. Thell. »Ihre Kleider sind im Zimmer nebenan. Wenn Sie aber noch hierbleiben wollen, bitteschön. Sonst, Sie wissen ja, wo’s hinausgeht.« »Danke«, sage ich, »ich verdrücke mich. Danke auch für die Gastfreundschaft, hingerissen war ich allerdings nicht von dem Milieu.« »Ich müßte erst eine Genehmigung haben, um Sie gehen zu lassen, aber so wie ich Sie kenne, werden Sie kaum darauf warten!« »Wenn Sie Wert darauf legen«, sage ich, »kann ich Ihnen eine Quittung über meinen Kadaver ausstellen.« Dr. Thell zuckt die Schultern und geht. Ich mache ein paar Freiübungen, um die Kälte zu vertreiben, dann gehe ich ins Zimmer nebenan. Meine Kleider finde ich in einem Metallschrank, und daneben steht auch eine Kassette mit meinem Namen auf dem Etikett. Ich mache sie auf und finde den ganzen Inhalt meiner Taschen, den Scheck inbegriffen, ziehe mich an und stecke alles an seinen Platz. Gern würde ich den Regengott noch einmal sehen, ihm auf die Schulter klopfen und zuflüstern: »Komm, Alter, hauen wir ab.« Aber ich habe keine Zeit zu verlieren. So suche und finde ich den Ausgang und verdufte.
-61-
Sechstes Kapitel Da ich den Lift nicht nach Hause mitnehmen kann, muß ich ihn an Ort und Stelle beschnüffeln. Und so lerne ich Kirschenmarmelade kennen.
Ich nehme ein Taxi und lasse mich zum Polizeipräsidium fahren. Erst will ich wissen, was eigentlich passiert ist, bevor ich mich in der Anastasia-Allee intensiv mit dem Lift beschäftige, der mir so gar nicht gefällt, und auch mit der Rothaarigen, die mir wahrscheinlich nur zu gut gefallen wird. Wenigstens nach der Stimme von gestern abend und dem Foto zu schließen. Dann werde ich mir Goldkopf vornehmen und sie fragen, was sie mit der Lakritze in ihrer Handtasche vorhat. Und das alles auch, um herauszubringen, wer mich für die Leichenhalle zurechtgeschnitzt hat. Das Taxi hält, ich steige aus, bezahle und betrete das Präsidium. Schnell passiere ich den Vorraum und steige die Treppe hinauf. Als ich in den Korridor, der zum Büro vom Leutnant Tram führt, einbiege, reißt ein Polyp bei meinem Anblick die Augen auf. Dann dreht er sich um und schreit: »Der Tote kommt, Leutnant!« Ich sehe den Sergeanten Kautschuk am Ende des Korridors auftauchen. Er kneift die Augen zusammen, steckt die Hände in den Gürtel und baut sich vor mir auf. -62-
»Seit wann läßt man Kadaver frei herumlaufen?« fragt er. Ich lockere seine Gürtelschnalle und ziehe sie dann bis zum letzten Loch zu, so daß er wie ein Ochs mit Wespentaille dasteht und die Hände nicht mehr aus dem Gürtel herausziehen kann. »Ich habe meinen Hut dort auf dem Marmortisch liegen lassen und so einen Platz für dich reserviert«, sage ich. »Meine Zeit ist zu kostbar, als daß ich dort herumfaulenze und die Decke anstarre.« Ich öffne die Tür zum Büro des Leutnants. Tram sitzt an seinem Schreibtisch und scheint nicht übermäßig überrascht, mich wiederzusehen. »Ich bin hergekommen, um das Ergebnis meiner Autopsie persönlich abzugeben«, sage ich. »Außer ein paar schäbigen Bourbonresten hat der Doktor in meinem Magen nichts gefunden; was kein Wunder ist, denn seit gestern abend habe ich nichts mehr zu essen bekommen.« »Ich lasse dir ein Brötchen bringen«, schlägt Tram vor. »Nicht nötig«, sage ich, »ich habe nicht die Absicht, mir hier einen Vollbart wachsen zu lassen. Ich möchte nur ein paar kleine Dinge wissen, und dann haue ich ab.« »Diese kleinen Dinge möchte ich von dir wissen«, sagt der Leutnant, »und ich kann dir versichern, daß mir dein erholsamer Aufenthalt in der Leichenhalle gar nicht in den Kram gepaßt hat; denn ich mußte mir hier den Kopf zermartern, was zum Teufel du in jenem Treppenhaus zu suchen hattest.« »Da ich nun einmal hier bin«, sage ich: »wie wär’s, wenn wir uns in Ruhe ausquatschen würden?« »Probieren können wir’s«, sagt der Leutnant, »auch wenn ich bezweifle, auch nur ein wahres Wort von dir zu hören. Los also: Sag mir, weshalb du in die Anastasia-Allee gekommen bist.« Ich setze mich rücklings auf einen Stuhl und stecke mir eine Zigarette ins Gesicht. -63-
»Das kann ich dir gern sagen. Aber vorher will ich wissen, wer mir den Schädel gespalten hat«, sage ich. »Das mußt du doch wissen«, sagt der Leutnant, »er muß ja die Treppe heraufgekommen sein.« »Dieser Kerl ist eben nicht die Treppe heraufgekommen. Er hat sich aus der Wohnung geschlichen, als ich mit dem Rücken zur Tür stand.« »Ausgeschlossen«, sagt Tram. »In der Wohnung waren nur ich, Signora Partitavintus, der Sergeant Kautschuk und die zwei Dienstboten. Keiner ist hinausgegangen. Deine Leiche hat Kautschuk gefunden, als ich ihn hinausschickte, den Lift heraufzuholen.« Ich starre ihn an, dann springe ich auf. »Kautschuk also«, sage ich. »Dann kann’s nur er gewesen sein. Er hat meinen Rücken vor sich gesehen; das hat er ausgenützt und mich fertiggemacht.« Ich reiße die Tür auf und sause in den Korridor. Kautschuk ist verschwunden. Wohin er sich verflüchtigt hat, werde ich wohl kaum ergründen. Ich gehe wieder ins Büro zurück und setze mich. Tram schüttelt den Kopf und grinst. »Ich glaube nicht, daß er es war«, sagt er. »Aber selbst wenn, hat er wohl einen seiner sinnigen Scherze inszeniert. Ihr zwei vertragt euch eben nicht, und das war für ihn eine einmalige Gelegenheit, dich aus dem Weg zu schaffen.« »Seine scherzhaften Anwandlungen werden ihm bald vergehen«, sage ich. »Der Fall ist noch nicht abgeschlossen.« »Was für ein Fall?« fragt der Leutnant. »Der Fall Partitavintus«, sage ich. »Signor Partitavintus hat mich gestern engagiert, und anschließend haben sie ihn ins Jenseits befördert.« -64-
»Wozu hat er dich engagiert?« fragt der Leutnant weiter. »Offenbar hat der Heiligenschein seiner besseren Hälfte das Aufpolieren nötig«, sage ich. »Ich sollte in ihren Intimitäten herumschnüffeln.« Tram stiert mich an, und ich sehe, wie er rot und immer röter wird. Sogar seine Halsadern schwellen an. »Hör zu, Pipa«, sagt er. »Das kaufe ich dir nicht ab, und ich habe es satt, mich andauernd von dir behumpsen zu lassen. Ich kenne dich zu gut, um zu glauben, daß du für einen Auftrag dieser Art zu haben bist.« »Reg dich wieder ab«, sage ich, »und laß mich weiterreden. Gestern hat er nach mir geschickt. Ich bin in sein Büro gegangen, und er hat mir gesagt, was er von mir will. Er hat einen Vorschuß-Scheck ausgeschrieben, den ich zerrissen habe, und die Fetzchen sind auf seiner Glatze gelandet. Dann habe ich ihn sitzen lassen. Wie ich in mein Büro komme, finde ich die zwei Prachtstücke, die du kennst. Sie haben mich zu überzeugen versucht, den Auftrag nicht anzunehmen. Sie konnten natürlich nicht wissen, daß ich ihn schon abgelehnt hatte. Jedenfalls hat sie mir jemand geschickt, der Angst hatte, daß ich meine Nase in diese oberfaule Sache stecke. Du kennst mich und kannst dir vorstellen, wie ich in so einem Fall reagiere. Als die zwei weg waren, habe ich Signor Partitavintus angerufen und ihm gesagt, daß ich den Auftrag doch annehme. Er war anscheinend zufrieden und hatte sich für heute vormittag zehn Uhr mit mir verabredet. Während ich auf ihn wartete, kam der Chauffeur hereingetaumelt, und er hat den Tod seines Chefs gemeldet. Da bin ich sofort in die Wohnung gerast, um herauszubekommen, wer ihn umgelegt hat und warum.« Der Leutnant reckt sich und seufzt. »Die Geschichte mag hingehen«, sagt er. »Aber leider muß ich dich enttäuschen. Signor Partitavintus hat sich selbst umgebracht.« -65-
Ich muß lachen. »Wie reimt sich das zusammen?« frage ich. »Da gibt mir einer einen Auftrag, und dann erschießt er sich, ausgerechnet auch noch im Lift. Warum?« »Seit einiger Zeit hatte er Sorgen«, sagt Leutnant Tram. »Ich habe seine Frau, die Sekretärin und die Angestellten verhört. Alle sind sich in diesem Punkt einig. Nur das Warum wußte keiner von ihnen. Nicht einmal einen Brief hat er hinterlassen, wie das ein korrekter Selbstmörder tut.« »Und das alles scheint dir nicht seltsam?« »Die Welt besteht größtenteils aus seltsamen Individuen«, sagt der Leutnant. »Voriges Jahr hat sich einer umgebracht, weil ihn seine Schuhe drückten, und vor drei Jahren hat sich ein anderer vor den Autobus geworfen, weil ihm seine Frau Salz statt Zucker in den Kaffee tat. Und nicht genug damit: Im April des Jahres 1952 hat sich ein gewisser Tom Termite sein gestreiftes Radfahrer-Trikot angezogen, sein Rad in die Küche getragen, hat zugesperrt und alle Türen- und Fensterritzen mit Papier verklebt; dann ist er aufgestiegen und hat den Kopf in die Bratröhre gesteckt, nachdem er vorher noch alle Gashähne aufgedreht hatte. Deshalb frag mich nicht, warum ein gewisser Herr Soundso sich ausgerechnet im Lift erschießt. Daß er es selbst getan hat, steht außer Zweifel. Ich habe alle Möglichkeiten durchexerziert, bin mindestens fünfzig Mal mit dem Lift auf- und abgefahren und habe die Wände der Kabine Millimeter um Millimeter abgesucht. Kein Mensch kann den Lift verlassen haben, wenn die Tür auch zwischen dem zweiten und dritten Stock offen war.« »Der Lift konnte auch mit der Handkurbel heruntergelassen worden sein«, sage ich. »Der Portier hat das gemacht, nachdem der Strom ausgeschaltet war.« »Auch diese Möglichkeit ist untersucht worden«, sagt der Leutnant. »Der Zugang zu den Sicherungen ist unter Verschluß. Den einzigen Schlüssel hat der Portier in Verwahrung, und au-66-
ßerdem muß man, um hinzukommen, durch die Portierloge und die Wohnung des Portiers, der absolut vertrauenswürdig ist. Also ist auch diese Möglichkeit auszuschließen. Signora Partitavintus ist gestern abend gegen elf Uhr mit dem Lift heruntergefahren und ausgegangen. Sie hat die Nacht mit Freunden im »Blauen Kanister« verbracht und ist morgens gegen fünf Uhr heimgekommen. Da der Lift nicht funktionierte, hat sie den Hof durchquert und ist mit dem Personalaufzug hochgefahren. Als ich heute früh das Haus betrat, schlief sie noch.« »Diese Geschichte gefällt mir ganz und gar nicht«, sage ich. »Mir auch nicht«, gibt der Leutnant zu. »Andererseits muß ich vor den Tatsachen kapitulieren, und du weißt, wie ungern ich kapituliere. Jedenfalls rate ich dir, keinen Wirbel zu machen. Das einzige, was ich von dir will, sind Punkt und Komma: bring sie mir hierher in mein Büro, und zwar in einwandfreiem Zustand.« »Ich brauche Greg«, sage ich. »Ich bin nicht sicher, aber ich glaube, er ist der einzige, der weiß, wohin sie sich verkrümelt haben.« »Aber keine faulen Witze«, sagt er; »hol dir dein Vieh und merke dir: ich will die beiden hier haben und sie ausquetschen, und zwar schnellstens.« Er drückt auf einen Knopf. Gleich darauf klopft es, und ein Polyp kommt herein. »Der Pipa möchte seinen Hund mitnehmen«, sagt der Leutnant. »Sperr ihm die Zelle auf, und dann können die beiden gehen.« »O. k. Leutnant«, sagt der Polyp. »Ich wollte gerade zu Ihnen und melden, daß im Sprechzimmer ein Hund ist und schauderhaften Krawall macht.« »Das ist seine Braut«, sage ich, »sie heißt Fernanda.« »Ihren Namen hat sie nicht gesagt, und ich habe auch nicht herausgebracht, was sie eigentlich will.« -67-
»Es wäre ja seltsam, wenn ihr auch mal etwas herausbringen würdet«, sage ich, stehe auf und will gehen. »Es wird gut sein«, sagt der Leutnant, noch bevor ich an der Türe bin, »daß du dir nicht einfallen läßt, die beiden abzustauben. Ich will sie mit tadelloser Karosserie hier vor mir sehen. Ist das klar?« »Reg dich nicht schon wieder auf«, sage ich, »ich habe gar kein Staubtuch bei mir, und wenn ich sie mit verbogenen Kotflügeln antreffen sollte, lasse ich sie erst ausdengeln.« Ich gehe mit dem Polypen hinunter. Gregs Begeisterung, als er mich sieht, kennt keine Grenzen. Wir lassen uns ins Sprechzimmer führen. Fernanda trägt eine Feldflasche voll Bourbon am Halsband. Ich nehme sie ihr ab, trinke einen ganz kleinen Schluck und lasse den größten Teil meinem Partner, wie es ihm auch gebührt. Als wir draußen sind, sage ich Greg, daß er Fernanda in die »Fledermaus« begleiten und dort auf mich warten soll. Ich nehme ein Taxi und lasse mich in die Anastasia-Allee fahren, wo ich meinen Blimbust geparkt habe. Er steht noch vor dem Tor des Regengottes. Bevor ich zu Goldkopf gehe, muß ich einige Dinge klären. Den Lift nämlich muß ich mir noch sehr genau betrachten, und auch die Rote, die man zur Witwe machte, während sie sich in einem Nachtlokal austobte. Ich nehme eine Taschenlampe und eine kleine Lupe aus dem Wagen, dann gehe ich durch die Halle direkt zum Lift. Das Männchen und seine Kappe sitzen am Tisch hinter der Glaswand der Portierloge. Ich winke freundlich und gehe, ohne mich aufzuhalten, weiter. Der Lift ist einer der ältesten, die ich je gesehen habe. Die Außentür sperrt man mit einem gewöhnlichen Passepartoutschlüssel auf, was ich auch sofort tue. Die inneren Schwingtüren -68-
öffnen sich auf den leisesten Druck. Ich sehe, daß sie in geschlossenem Zustand nicht ganz genau aneinandertreffen. Es bleibt ein Spalt von ungefähr drei Millimetern. Beim Eintreten entzündet sich eine Lampe an der Decke. Ich drücke auf den Knopf zum dritten Stock, und das alte Ding setzt sich mit Höllengetöse in Bewegung. Ich sehe den ersten und zweiten Stock vorüberschleichen. Als die Tür zum zweiten Stock unter meinen Füßen verschwunden ist, öffne ich die rechte Innentür, und der Lift bleibt stehen. Ich habe eine alte, gekalkte Mauer ohne Besonderheit vor mir, und jedenfalls ohne die Möglichkeit, hinauszukommen. Nun wende ich meine ganze Aufmerksamkeit den Wänden des Lifts zu. Ihre Oberflächen bestehen aus glänzend poliertem Mahagoniholz. An der linken Wand, ungefähr zwanzig Zentimeter von der Kante, an der die Scharniere der linken Türhälfte festgemacht sind, sehe ich ein Loch. Diese Art Löcher kenne ich. Da ist die Kugel steckengeblieben, nachdem sie das Gehirn des alten Partitavintus durchbohrt hat. Gar kein Zweifel, der Leutnant braucht mir meine Theorie nicht erst zu bestätigen. Seltsam ist, daß sich dieses Loch ungefähr siebzig Zentimeter vom Boden befindet. Ich habe ein Metermaß bei mir und messe nach: genau einundsiebzig Zentimeter. Ich riskiere eine Anfrage bei meinen erprobten grauen Zellen, erhalte aber keine Antwort. Wieso hatte er den Kopf da unten, als er schoß? Er konnte nicht auf dem Boden gesessen haben, dann wäre der Kopf tiefer unten gewesen, und er konnte auch nicht der Tür den Rücken zukehren, da er sich in die rechte Schläfe geschossen hat. Ich versuche es mit Niederknien, aber dann muß ich mich bücken, um mit der Schläfe in die Höhe des Loches zu kommen. -69-
Schon eine bizzare Art, sich umzubringen, das muß auch dem Leutnant Tram aufgestiegen sein; aber er erklärt alles mit der Unzurechnungsfähigkeit der Selbstmörder. Für ihn ist es schon sonderbar genug, daß sich einer umbringt, ist aber erst einmal einer so weit, und der Leutnant hat diesen Entschluß zur Kenntnis genommen, dann traut er ihm jede Verrücktheit zu. So könnte sich jemand mit seinem eigenen, um den Hals geschlungenen Bein erdrosseln: er würde sich nicht mehr wundern. Aber ich bin nicht seiner Meinung. Mit Lampe und Lupe betrachte ich mir Zentimeter um Zentimeter die Wände. Sie sind vollkommen glatt und glänzend, während die Flügeltüren durch den vielen Gebrauch ziemlich abgenützt scheinen. Die rechte Türhälfte interessiert mich besonders. Beide Türflügel weisen Kratzer, Fingerabdrücke und hie und da ein Holzwurmloch auf. An der Innenkante des rechten Flügels, etwa zehn Zentimeter vom Boden, finde ich zwei winzige Löcher, eines über dem anderen, ungefähr einen Zentimeter auseinander. Die Lupe vergrößert sie so weit, daß ich feststellen kann: sie sind frisch und nicht rund, sondern etwas in die Länge gezogen. Auf den Fersen im Lift hockend betrachte ich sie lange Zeit, finde keinen Reim drauf, habe aber das sichere Gefühl, daß sie für den ganzen Fall von größter Bedeutung sind. Ich stehe auf, schließe die Türen und drücke auf den Knopf zum vierten Stock. Der Lift setzt sich in Bewegung, und als wir im dritten Stock vorbeiwackeln, sehe ich einen Mann, der durch die Scheiben guckt. Als er mich sieht, zieht er seine Nase blitzschnell zurück. Ich kann nur erkennen, daß es ein jugendlicher, sportlicher Typ in grauem Anzug ist. Ich bin mit den Füßen schon am oberen Rand der Außentür, als ich den Lift zum Stehen bringe. Ich drücke auf den Knopf -70-
zum dritten Stock und fahre wieder hinunter. Im dritten Stock steige ich aus, aber der Mensch ist weg. Ich steige wieder ein und fahre in den vierten Stock zurück. Die Außentür ist hier mit diversen Schlössern verrammelt, und ich muß läuten, damit mich jemand einläßt. Ein komischer Bursche in grüngelb gestreifter Weste macht auf. »Servus Zirkusdirektor«, sage ich, »ich muß Signora Partitavintus sprechen.« »Wird der Herr erwartet?« fragt der Zirkus direkter. »Ich hoffe nicht«, sage ich. »Sag ihr nur, daß ihr Gatte mich schickt, oder besser gesagt, ihr seliger Gatte. Wir sind zusammen in die Leichenhalle gefahren. Unterwegs haben wir ein wenig geplaudert, und bei der Gelegenheit hat er mich gebeten, seiner Frau eine Botschaft zu überbringen.« Der Zirkusdirektor mustert mich, als wenn ich voller Flöhe wäre, dann läßt er mich doch in den Salon und bedeutet mir, mich zu setzen und ein paar Minuten zu warten. Ich schaue mich um. Der Lift öffnet sich auf eine große Diele, von der eine elegante Holztreppe in den dritten Stock, den unteren Teil der Wohnung, führt. Der Salon ist sehr groß. Ein Bogen teilt ihn von einem enormen Wohnzimmer ab. Das erste, was mir ins Auge fällt, ist die Hausbar. Logischerweise möchte ich wissen, ob sie wohl auch mit einer Flasche Bourbon bestückt ist. Solche Probleme löse ich am liebsten sofort, und so gehe ich auf das bildhübsche Möbel zu. Aber ich bin noch nicht einmal auf halbem Weg, da öffnet sich die Türe am Ende des Wohnzimmers, und es erfolgt der sensationelle Auftritt der Signora Partitavintus.
-71-
Siebentes Kapitel Ein neugieriger Mensch mit einer Mappe unter dem Arm, die er vorher nicht hatte. Ich muß der Sache auf den Grund gehen.
Ich stehe da, und mein erster Eindruck ist, daß ich viel zu wenig Augen habe für das, was da vor mir aufgebaut ist. Ich behelfe mich also mit meinen zwei Augen und brauche halt etwas länger, um dieses Meisterwerk in seiner ganzen Schönheit würdigen zu können. Diese Konstruktion muß von einem der besten Architekten der Welt erdacht worden sein, denn die Maße sind einfach vollendet. Sie ist fast so groß wie ich, vielleicht einen Zentimeter kleiner, aber ich könnte nicht darauf schwören, und trägt ein Kleid in einem extra für sie erfundenen Grün. Tragen ist nicht der richtige Ausdruck. Das Kleid scheint auflackiert, und sie braucht wohl zum Ausziehen jedes Mal ein Lösemittel. Das üppige Haar fällt ihr in großen Wellen bis auf die Schultern und ist von einem so unglaublichen Rot, daß man meint, jemand habe ihr ein Glas Kirschenmarmelade über den Kopf entleert. Die Augen haben die Farbe des Kleides, und der Mund ist genauso rot wie die Haare. »Wer sind Sie, und was wollen Sie?« fragt sie und hat statt der Stimmbänder eine Flöte eingebaut, dieselbe Flöte, die ich gestern abend am Telefon gehört habe. -72-
»Verzeihung«, sage ich, »ich brauche erst ein Glas Bourbon, um mich von dem Schock zu erholen, den mir Ihr Anblick verursacht hat. Sie sind die strahlendste Witwe meines Lebens!« »Ich sehe, daß Sie die Bar bereits gefunden haben«, sagt sie. »Bedienen Sie sich und bringen Sie mir auch ein Glas. Vielleicht entschließen Sie sich inzwischen, mir Ihren Namen und den Grund Ihres Kommens zu verraten.« Ich nehme zwei Gläser, stelle sie auf den Tisch und packe dann die Flasche Bourbon, um sie zu entkorken. »Es freut mich, daß sich mir so bald die Gelegenheit zum Zuhören bietet, um die ich Sie gestern gebeten habe«, sage ich; »alle Tage hat man nicht das Glück, gute Musik zu hören. Ich nehme an, daß das, was Sie mir zu erzählen haben, weder mit dem Telefonbuch noch mit dem Fahrplan etwas zu tun hat. Sie haben sicher bessere Nummern in Ihrem Repertoire.« »Ich verstehe kein Wort von Ihrem Geschwätz«, sagt die Rote. »Erinnern Sie sich an unser Telefonat von gestern abend?« frage ich sie. Ich sehe ihr an, daß sie sich sehr gut erinnert. »Sie haben mir immer noch nicht gesagt, wer Sie sind und was Sie wollen«, bohrt sie weiter. »Ich nehme nicht an, daß Sie nur gekommen sind, um meine Stimme zu hören.« »Meine Liebe zur Musik ist zwar überwältigend«, sage ich, »aber das, was Sie mir zu sagen haben, interessiert mich im Augenblick wesentlich mehr. Erst die Arbeit… ist mein Motto; deshalb müssen wir leider das Konzert auf einen anderen Zeitpunkt verschieben. Jetzt will ich von Ihnen interessante Dinge hören, von mir aus auch durch einen Lautsprecher.« Kirschenmarmelade beklopft mit dem Pfennigabsatz den Teppich und stützt die Hände in die Hüften. »Vielleicht drücken Sie sich etwas deutlicher aus?« sagt sie. »Ich heiße Chico Pipa«, sage ich, »bin Privatdetektiv und im Auftrag Ihres Mannes hier.« -73-
Ein kleines Zucken der Überraschung, dann senkt sie den Kopf, als ob sie weinen wollte. »Mein Mann hat sich heute nacht erschossen. Im Lift«, setzt sie noch hinzu. »Diese Absicht hatte er gestern abend, als ich mit ihm telefonierte, noch nicht«, sage ich. »Ich war für heute vormittag mit ihm in seinem Büro verabredet. Das wissen Sie ja, denn Sie waren am Apparat und haben mit angehört, was mir Ihr Mann gesagt hat, der übrigens noch recht lebendig war.« »Und wenn schon?« fragt sie. »Mein Mann war immer ein Mensch schneller Entschlüsse.« »Hier hat er sich für meinen Geschmack etwas zu schnell entschlossen«, sage ich, während ich ihr das Glas reiche. »So schnell, daß ihm die Idee, sich aus der Welt zu schaffen, erst im Lift kam. Scheint Ihnen dieses Tempo nicht auch etwas übertrieben?« Kirschenmarmelade zuckt die Achseln, nimmt das Glas und geht zu einem kleinen Diwan. Ich halte den Atem an in der Erwartung, daß ihre viel zu straff gespannte Umhüllung beim Hinsetzen platzt, aber es passiert leider gar nichts. Sie muß großes Vertrauen zu ihrem Schneider und zu dem Stoff haben, oder es ist ihr egal, wenn es kracht. Ich setze mich neben sie. »Sie wissen nicht, was er von mir wollte?« frage ich. »Keine Ahnung«, sagt sie. »Jedenfalls glaube ich nicht, daß er Ihre Dienste jetzt noch benötigt.« »Zufällig habe ich aber schon einen größeren Vorschuß von ihm erhalten«, sage ich, »und da ich nicht die Absicht habe, ihm den Scheck in die Leichenhalle zurückzubringen, zwingt mich mein Berufsethos, die Arbeit, für die ich bezahlt wurde, auch auszuführen.« Sie entspannt sich und rückt etwas näher an meine rechte Schulter. -74-
»Ihr Berufsethos scheint mir übertrieben streng«, sagt sie. »Aus dem wenigen, was mir Ihr Gatte anvertraut hat«, sage ich, »konnte ich mir zusammenreimen, daß er den Verdacht hatte, von Ihnen mit ein Paar ausgewachsenen Hörnern dekoriert worden zu sein. Und seit ich Sie gesehen habe, bin ich überzeugt, daß sein Verdacht gerechtfertigt war.« »Sie machen mir ein großes Kompliment«, sagt sie und rückt noch weitere drei Zentimeter näher. »Allerdings«, sage ich, »und ich kann Sie nicht einmal tadeln, nachdem ich den armen Signor Mauro gesehen habe.« »Er hatte so gar keine Ähnlichkeit mit Ihnen«, flötet sie und holt das Letzte an Musikalität aus ihrer Stimme. Kirschenmarmelade seufzt, nimmt dann eine Haarsträhne von mir in die Finger und betrachtet sie. »Sie haben auch rotes Haar«, flüstert sie. »Aber eine ganz andere Nuance«, sage ich, »meine Farbe ist Natur.« Ihr Decolleté habe ich auf Nasenlänge vor mir, und ich werde schwindlig. Ich umklammere die Diwanlehne und versuche, nicht hinzusehen. »Ihr Mann«, sage ich, »hat, meinem Empfinden nach, ganz etwas anderes gefürchtet als nur ein Paar simple Hörner, und es muß allerhand dahinterstecken, sonst hätten Sie mir nicht Punkt und Komma geschickt, um mich mit sanfter Gewalt zum Aus steigen zu zwingen.« Ihr Erstaunen scheint echt. »Punkt und Komma?« fragt sie. »Genau«, sage ich, nehme ihr leeres Glas und stehe auf. »Noch einen?« frage ich. »Bitte«, sagt sie. »Erklären Sie mir die Geschichte von Punkt und Komma.« -75-
Sie drapiert ihre ganze Figur auf den Diwan und verschränkt die Arme hinter dem Haarwald. »Nicht so wichtig«, sage ich. »Erzählen Sie mir lieber von gestern abend. Sollten Sie nicht mit Ihrem Mann ausgehen?« »Doch«, sagt sie. »Aber dann ist Miß Noster gekommen, und ich bin allein gegangen.« Ich bleibe mit der Flasche in der Hand stehen. »Sie sind weggegangen, als Miß Noster noch hier war?« frage ich. »Ja«, sagt sie. »Wenn Sie es noch nicht wissen sollten, Miß Noster hatte eine heftige Sympathie für ihren Chef, und auch ihm gefiel sie so gut, daß er sie ziemlich häufig zu sich nach Hause kommen ließ.« Ich höre ein Kichern und sehe wellenförmige Bewegungen auf dem Diwan. »Zum Arbeiten natürlich«, sagt sie. »Um was für eine Arbeit es sich handelte, können Sie sich wohl vorstellen. Ich war selbst seine Sekretärin bis vor drei Jahren, nur war er damals noch Junggeselle.« Ich denke an Goldkopf und die Lakritzenstäbchen in ihrer Handtasche. »So daß er sich«, sage ich, »für die Hörner revanchierte; das denken Sie wenigstens.« »Genau«, sagt sie. »Jeder versucht halt, das Beste für sich herauszuholen. Er war nie eifersüchtig, auch wenn er schon seit einem Jahr etwas gemerkt haben muß. Seit ungefähr einem Monat aber hatte er Sorgen, ich weiß nicht, welcher Art. Eifersucht war es bestimmt nicht.« »Und kann man erfahren, wer der Glückliche ist, der Ihr Herzchen höher schlagen läßt?« frage ich. Ich nehme die zwei gefüllten Gläser und gehe damit zum Diwan. »Sind Sie aber neugierig«, kichert sie; »ist das so wichtig? Oder fragen Sie, weil…« -76-
Als ich den letzten Schritt zum Diwan tue, stellt sie mir ein Bein. Ich stolpere und falle, um das kostbare Naß nicht zu vergeuden, mit ausgebreiteten Armen auf ihr Kleid. Ich ertrinke in einer Flut roter Haare, und es kostet mich ungeheure Anstrengung, wieder an die Oberfläche zu schwimmen. Sie hat die Arme um meinen Hals geschlungen und läßt mir nicht einmal Zeit, tief Luft zu holen, weil sie mir jetzt den Mund mit ihren Lippen verschließt. Ich bin also gezwungen, mir die nötige Luftreserve durch die Nase zu verschaffen. Als auch ihr die Puste ausgegangen ist, löst sie den hydraulischen Lippenverschluß und schaut mich durch halbgeschlossene Lider an. »… oder fragst du«, fährt sie fort, »weil du eifersüchtig bist?« Immer noch halte ich mit ausgebreiteten Armen die vollen Gläser fest in den Händen. Ich kann mich nicht auf die Ellbogen stützen, um mich in die Höhe zu rappeln, und so bleibt mir nichts anderes übrig, als den ganzen, guten Bourbon der Kirschenmarmelade ins Antlitz zu gießen. Dadurch muß sie meinen Hals freigeben und beginnt Bourbon zu spucken wie ein Walfisch. Ich werfe die Gläser weg und stehe auf. Sie tut desgleichen und versucht, ihr Gesicht mit den Händen zu trocknen. »Mistkerl«, zischt sie und schaut über meine Schulter hinweg; sie merkt gar nicht, daß ihr ein Eisstückchen in den Ausschnitt rutscht. »Schämen Sie sich denn gar nicht, sich einer Dame gegenüber, die erst seit ein paar Stunden Witwe ist, so aufzuführen?« Ich begreife, daß diese tragische Feststellung für einen Zuhörer gemacht ist, drehe mich um und sehe den Zirkusdirektor, der eine kleine Verbeugung andeutet, mitten im Zimmer stehen. »Gnädige Frau haben geläutet?« fragt er. -77-
»Ja«, sagt Kirschenmarmelade, »holen Sie den Lift und begleiten Sie diesen Herrn hinaus. Er will gehen. Dann machen Sie hier sauber.« Am liebsten würde ich ihr den roten Haarwald in den Hals stopfen, aber ich stecke meine Hände in die Taschen und hole tief Luft. »Ich glaube, wir sehen uns bald wieder«, sage ich. Sie kehrt mir den Rücken zu und macht ein paar Schritte zur Tür, aus der sie gekommen ist. Ihr Gang ist wie Schlingern auf hoher See. Ich warte, bis sie verschwindet, und gehe dann in die Diele. Der Zirkusdirektor hält mir die Lifttür. Ich steige ein und drücke auf den Knopf ins Parterre. Sapristi, Leute, ich erwartete eine in Tränen aufgelöste Witwe vorzufinden, von mir aus auch in falschen Tränen, wie es halt in unserer Welt Brauch und Unsitte ist; stattdessen glänzt sie in den verwegensten Farben und sprüht Zufriedenheit aus allen Poren! Sie gibt einfach und schlicht zu, daß sie keine Modellehefrau war; nicht nur das, sie läßt die Gelegenheit nicht aus, mir dies zu beweisen, damit ich ja nicht glaube, daß sie mir nur etwas vorgemacht hat. Ehrlich ist sie wenigstens. Alles echt und ohne doppelten Boden. Auch ihr Erstaunen wegen Punkt und Komma. Keinerlei Besorgnisse wegen der Sache mit dem Lift. Und sie hat mir zudem noch augenfällig bewiesen, daß sie einen tadellosen Körperbau ihr eigen nennt, also kein Phantom ist, das durch Mauern schlüpfen kann. Ich wette, wenn ich sie noch mehr bedrängt hätte, würde sie mir auch den Namen dessen verraten haben, mit dem sie… na ja, Sie verstehen schon… Im Hinunterfahren erinnere ich mich an den Burschen, der mich beim Hinauffahren beobachtet hat. -78-
Ich schiebe das Fenster der Portierloge hoch und stecke den Kopf hinein. Das Männchen sitzt wie immer an seinem Tisch. »Sag mal, mein Guter«, frage ich ihn, »hast du mich vor einiger Zeit hereinkommen sehen?« »Klar, daß ich Sie gesehen habe«, sagt er; »dazu sitze ich ja hier: um zu kontrollieren, wer ein- und ausgeht.« »Gut«, sage ich, »wer ist also hinausgegangen, seit du mich gesehen hast?« »Niemand«, sagt er. »Bist du auch ganz sicher?« frage ich weiter. »Ganz sicher«, behauptet er. »Und auch niemand hereingekommen?« »Auch niemand.« »Und trotzdem stand ein Bursche in grauem Anzug auf dem Treppenabsatz der dritten Etage«, sage ich. Das Männchen schüttelt den Kopf. »Es ist niemand hinaus«, sagt er. »Signor Cimurro ist vor ungefähr zwei Stunden zu Signora Partitavintus hinauf, aber noch nicht wieder heruntergekommen.« Ich sage dem kleinen Mann Aufwiedersehen und gehe. Signor Cimurro ist vor zwei Stunden hinauf und noch nicht wieder weggegangen. Bei der Signora Partitavintus aber habe ich in der Zeit, als ich oben war, keinen Signor Cimurro gesehen. Er muß im Weggehen begriffen gewesen sein, als ich mit dem Lift hinauffuhr, und mich gesehen haben, hat deshalb auf der Treppe gewartet, bis ich wieder an ihm vorbei war, und ist dann noch einmal hinauf. So muß es gewesen sein. Ich sause hinaus und hinein in die Bar an der Ecke, lasse mir einen Bourbon geben und einen Jeton für das Telefon. -79-
Ich läute die »Fledermaus« an, und als Èrcole an den Apparat kommt, frage ich, ob Greg noch dort ist. Er ist noch da, und so bitte ich Èrcole, sofort ein Taxi zu rufen, Greg hineinzusetzen und dem Chauffeur die Adresse der Anastasia-Allee zu geben. »Aber dalli«, sage ich, »ich warte auf ihn.« Ich hänge ein, besteige meinen Blimbust, lege Lampe und Lupe an ihren Platz und parke den Wagen hinter einer Straßenecke, von wo aus ich den Eingang zu Haus Nr. 120 im Auge behalten kann. Noch keine zehn Minuten vergehen, als ein Taxi hinter meinem Blimbust hält. Ich öffne die Tür, und Greg springt heraus. Dann zahle ich den Chauffeur. »Wenn alle Passagiere wären wie er«, sagt er; »nicht ein Wort habe ich mit ihm wechseln können!« »Gegen Chauffeure ist er immer ein bißchen mißtrauisch«, sage ich. Der Chauffeur lacht, steckt sein Geld ein und fährt ab. Ich gehe zu meinem Wagen zurück, und Greg setzt sich neben mich. »Wir warten«, sage ich. »Wenn der, den ich meine, aus dem Haus kommt, hängst du dich an seine Waden und läßt ihn nicht mehr aus den Augen. Ich will wissen, wohin er geht und was er treibt.« Greg hat verstanden und dreht seine Schnauze in Richtung Haustor. Ich könnte jetzt ein Schläfchen machen, mein Partner ist auf Draht; wenn einer aus dem Haustor kommt, verständigt er mich. Ich zünde mir eine Zigarette an, lege den Kopf zurück und denke nach. Wenn sich dieser Cimurro versteckt, sobald er mich sieht, dann wartet, bis ich gehe, und wieder zur Kirschenmarmelade -80-
zurückkehrt, heißt das, daß irgendetwas faul ist. Ich bin dafür bezahlt worden, daß ich hinter dieses ›Irgendetwas‹ komme. Ich muß Cimurro unter die Lupe nehmen: sein Benehmen beweist, daß er mit der Sache nur zuviel zu tun hat. Und wenn, dann auf sehen der Kirschenmarmelade. Er könnte aber auch mit Goldkopf unter einer Decke stecken, da dieser Engel die Lakritzenstäbchen in seiner Tasche hatte. Oder wenn er mit der einen und der anderen verbandelt ist, ziehen sie alle drei am gleichen Strang, oder spielt er ein doppeltes Spiel? Ich habe den Eindruck, daß meine grauen Zellen an diesem Punkt ein ziemliches Durcheinander anrichten. Es gelingt ihnen nicht, ihre Ideen zu koordinieren. Hat vielleicht Kommas Gehirnmassage schuld? Für die Zweihunderttausend habe ich eigentlich schon genug auf den Schädel bekommen! Dazu kommt der Leichenhallenschlag vom Kautschuk, aber den bezahlt er mir extra und bald, das schwöre ich Ihnen! War es am Ende Goldkopf, die mir Punkt und Komma geschickt hat, damit ich die Hörner ihres angebeteten Chefs nicht zu unzart anpacke? Aber wäre es nicht logischer, daß Kirschenmarmelade dahintersteckt, diese unmittelbar interessierte Geweihexpertin? Aber warum ist dann die Lakritze in Goldkopfs Handtasche und nicht in der von Kirschenmarmelade? Vielleicht arbeiten sie doch zusammen, aber in dem Fall, wiederum, hätte Kirschenmarmelade schwerlich Goldkopf so grob verdächtigt. So ein Durcheinander, verdammt nochmal; dazu die seltsame Methode des Regengottes, sich im Lift zwischen dem zweiten und dritten Stock zu entleiben: da finde ich keinen Anfang und erst recht kein Ende. Aber der Regengott hat sich nicht selbst erschossen, dagegen wette ich den von mir am meisten benötigten Körperteil, meinen rechten Arm bis zum Ellbogen. -81-
Und da er sich nicht erschossen hat, war es ein anderer. Tja, und wie ist dieser andere aus dem Lift herausgekommen? Ich muß meine Überlegungen unterbrechen, denn der Kerl im grauen Anzug erscheint in der Haustür. Er trägt eine Mappe unter dem Arm, die er vorher, als ich ihn im Treppenhaus sah, nicht hatte. Ich zeige ihn Greg und öffne den Schlag. Mein Partner springt heraus, schnüffelt an der Ecke und läuft dann auf das Trottoir gegenüber. Signor Cimurro hält rechts und links nach einem Taxi Ausschau, dann tigert er los. Ich grinse. Er ist ein Schrank von einem Mann, auf dem Schädel hat er die Haare mit Brillantine angeklebt. Seine Jacke ist in den Schultern nicht wattiert, weil diese ohnehin eine Hand breiter sind als normal. Er ist genau der Typ, sich nicht nur um die Regenschirmfabrik, sondern auch um die Hörner des Chefs zu kümmern. Ich drehe den Zündschlüssel und lasse den Wagen anlaufen. Nun ist es Zeit, ein wenig mit Goldkopf zu plaudern: ich brauche eine Adresse von ihr und, wenn möglich, eine kleine Information über ihre Herzensgeheimnisse. Ich hoffe, sie noch im Büro anzutreffen, wenn auch die Arbeiter und Angestellten längst Feierabend gemacht haben. Jedenfalls versuche ich es. Zu dieser Stoßzeit ist der Verkehr chaotisch, aber das hindert mich nicht, das ganze Problem immer wieder durchzukauen. In mir bohrt eine fixe Idee, sie spukt in meinem Kopf herum und läßt mir keine Ruhe. Diese zwei kleinen, sonderbar geformten Löcher in der Lifttüre. Sie sehen ganz gleich aus und müssen mit demselben Gegenstand gemacht worden sein. Teufel, Teufel! -82-
Ich bremse scharf, und mein Hintermann muß, um nicht in mich hineinzufahren, aufs Trottoir ausweichen. Hinter dem Steuer her schreit er bösartige Dinge, aber ich beachte ihn gar nicht. Ich stecke meine Lupe ein, steige aus und betrete ein Schreibwarengeschäft. Hinter dem Tisch steht ein alter Herr, der ein Heft zusammenrollt. »Haben Sie Reißnägel?« frage ich. »Wie groß?« will er wissen. »Mittel«, sage ich. Er macht eine Lade auf, nimmt eine Schachtel heraus und stellt sie vor mich hin. Ich mache die Schachtel auf, nehme einen Reißnagel heraus und stecke ihn nicht sehr tief in das Holz der Theke. Dann lüpfe ich ihn mit dem Daumennagel wieder heraus. Ich schaue mit der Lupe das kleine Loch an, das der Nagel hinterlassen hat: es sieht ganz genau so aus wie die beiden Löcher, die ich in der Lifttüre gefunden habe. Heureka! Ich gebe den Reißnagel wieder in die Schachtel, überreiche sie dem alten Herrn, bedanke mich und gehe. Nicht vollständig, aber ein wenig hat sich das Dunkel schon gelichtet. In der Nähe ist eine Bar, und wo eine Bar ist, gibt es auch Bourbon. Deshalb gehe ich hinein, lasse mir ein Glas mit meinem gewohnten Treibstoff füllen und schütte ihn mit einem Schwung in meinen Tank. Ich bin sehr in Form seit meiner kleinen Entdeckung und muß schnell noch eine machen; deshalb schließe ich die Augen und sehe das Liftinnere vor mir. Dann mache ich die Augen wieder auf und suche in meinem Notizbuch nach einer Telefonnummer. -83-
Ich lasse mir einen Jeton geben und gehe zum Telefon, das in diesem Lokal hinter einem Vorhang verborgen ist. Nach zwei Minuten höre ich die Stimme von Bobò Finallazeta, dem Archivar der Mitternachtssonne. »Hier Pipa«, sage ich, »ich brauche eine Information aus deinem Archiv.« »Mach schnell«, sagt er. »Eden Cimurro, Direktor und Modellzeichner der Schirmfabrik Partitavintus.« »Gut, was willst du wissen?« »Ich will wissen, ob er Angler ist.« »Angler?« Ich höre ihn in seinem Gehirn kramen und warte. »Nein«, sagt er dann, »er angelt nicht. Er ist Jäger.« »Bist du sicher?« frage ich. »Ganz sicher«, sagt er. Ich gebe nicht nach. »Vielleicht geht er hie und da angeln«, frage ich. »Nein«, sagt Bobò, »er ekelt sich vor Fischen.« Ich bedanke mich und hänge ein. Schade, das mit der zweiten Entdeckung hat nicht geklappt, aber das macht fast gar nichts. Ich klettere in meinen Wagen und reihe mich in den Verkehr ein.
-84-
Achtes Kapitel Meinungsverschiedenheiten zwischen zwei Genossen, die alte Bekannte auf Lakritzenbasis sind.
Es ist spät geworden, und wahrscheinlich finde ich keinen Menschen mehr in der Fabrik. Auch Goldkopf wird um diese Zeit schon zu Hause sein. Ich halte wieder an einem Randstein, betrete aus alter Gewohnheit eine Bar, lasse mir ein Glas Bourbon geben und nehme es zum Telefon mit, das am Ende der Theke steht, wo ich auch ein Telefonbuch vorfinde. Ich suche Noster und lese: Noster & Pitt, Hosenaufschlagreparaturwerkstätte; Noster Pamela, Friseuse; Noster Cherubino und Noster Alessandra Carmen. Ich wähle den Cherubim, und es meldet sich eine Männerstimme. »Kann ich bitte Cecilia sprechen?« frage ich. »Sizilien ist eine Insel im Mittelmeer«, antwortet er und hängt ein. Ich hätte Lust, noch einen Jeton zu opfern, um ihm ins Ohr zu spucken, aber ich beherrsche mich und wähle die nächste Nummer. Diesmal antwortet eine Frauenstimme, und die Nummer ist tatsächlich die richtige. »Cecilia ist nicht zu Hause«, sagt sie, »sie mußte noch einmal ins Büro. Wer spricht bitte?« »Chico Pipa«, sage ich. -85-
»Gut, daß Sie anrufen«, sagt sie, »meine Tochter hat Ihnen etwas zu übergeben. Heute morgen ist sie, nach der schrecklichen Nachricht, ganz aufgelöst nach Hause gekommen und hat sich mit heftigen Kopfschmerzen zu Bett gelegt. Später hat sie sich wieder besser gefühlt, und vor einer Stunde ist sie ins Büro zurück, um noch einiges aufzuarbeiten. Sicher treffen Sie sie dort.« »Danke«, sage ich und lege auf, zahle, gehe hinaus und steige wieder in meinen Wagen. Ich brauche eine Viertelstunde zum Bürohaus der Schirmfabrik. Die Scheinwerfer meines Wagens beleuchten einen kleinen, fahrbaren Untersatz auf dem Parkplatz vor der Fabrik, und so stelle ich meinen Blimbust daneben, daß sich der Kleine nicht fürchtet, so ganz allein. Das Gitter ist geschlossen, aber ich sehe, daß die Halle schwach beleuchtet ist. Ich läute; nach weniger als einer Minute taucht der Grinser auf, aber da er den Mund voll hat, schluckt er erst ein paarmal, bevor es ihm gelingt, seine Fratze in die richtigen Falten zu legen. »Ich muß Miß Noster sprechen«, sage ich. Er macht das Gitter auf und läßt mich ein. »Ich melde Sie sofort an«, sagt er. »Nicht nötig«, sage ich, »sie erwartet mich.« Ich durchquere die Halle, steige die Treppe hinauf, gehe den halben Korridor entlang und reiße die Tür zum Büro des Engels auf. Das Büro ist leer, aber das Licht brennt, und alles ist in Ordnung. Ich schaue mich vergebens um, kein Goldkopf weit und breit. Ich kehre in den nur von einem blauen Lämpchen schwach beleuchteten Korridor zurück. Alle Türen zu den vielen Büros stehen offen, nirgends brennt Licht. Ich gucke in alle Räume und mache zu diesem Zweck die Lampen an und aus. Schreib-86-
maschinen, Schreibtische, Aktenschränke, alles ist da, und alles ist in tadelloser Ordnung; aber keine Menschenseele zu finden. Auch das Riesenbüro des Boß ist, wie es sein soll. Ich frage mich, wo Goldkopf hin verschwunden sein kann. Als ich jeden Winkel abgesucht habe, gehe ich wieder in ihr Büro. Irgendwo muß sie ja sein. Ihr Wagen steht auf dem Parkplatz, und neben ihrer Schreibmaschine liegt die Handtasche. Ich mache sie auf und schaue hinein. Die Lakritzenstäbchen sind verschwunden. Das übrige interessiert mich nicht. Ich gehe noch einmal bis zum Ende des Korridors, wo eine auch mit einem blauen Lämpchen beleuchtete Treppe ins Parterre führt. Unten komme ich in einen riesengroßen Raum, dessen Wände sich im Dunkeln verlieren. Meine Taschenlampe fehlt mir sehr, aber ich will nicht noch einmal zu meinem Wagen zurück, sie zu holen; mit nach vorne gestreckten Händen gehe ich weiter, bis mir eine Wand den Weg versperrt. Zu meiner Linken ist eine große Glastür, hinter deren Scheiben ich wieder einen enormen Saal erahnen kann, da durch große, in etwa zwei Meter Höhe angebrachte Fenster ein schwacher Schein dringt. Die Glastüre ist offen, und ich gehe im Halbdunkel weiter. Es ist mir klar, daß ich in den Fabrikräumen bin, und ich folge einer langen Rampe, die mir nach einem Fließband aussieht. Ich unterscheide aufrecht stehende Schirmstöcke, die mit ihren noch nicht bezogenen, aufgespannten Stäbchen wie skelettartige Bäume anmuten. An anderen hängen lose, schwarze Stoffteile wie Riesenblätter unbeweglich herunter. Hie und da das metallische Blinken einer Nähmaschine und anderer Arbeitsgeräte. -87-
Auf Zehenspitzen taste ich mich weiter und versuche, meine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen, aber viel sehe ich trotzdem nicht. Auf einmal gerate ich in ein Meer von Schirmen, die aufgespannt am Boden stehen, mit den Kuppeln nach oben. Im Weitergehen schwillt dieses Meer immer höher an, es reicht mir schon bis zum Bauch, dann bis zur Brust. Ich versuche, mir mit den Armen einen Weg zu bahnen und erzeuge durch die Berührung mit der straff gespannten Schirmseide kleine, seltsame Geräusche, die sich vor mir, hinter mir und um mich herum mit unheimlichem Widerhall vervielfachen. Ich bleibe stehen und halte den Atem an. Die durch mich in Bewegung geratenen Schirme beruhigen sich allmählich und kehren in ihre Ausgangsposition zurück. Ab und zu noch ein leiser Schnalzer, dann Stille. Verdammt nochmal, ich muß mich verirrt haben! Aber wie soll ich mich in dieser Finsternis zurechtfinden können? Gerade, als ich meine Streichhölzer hervorholen will, sehe ich links von mir, weit hinten in dem großen Saal, ein Viereck aufleuchten. Eine Tür wird geöffnet, und ich sehe Goldkopf aus einem hellen Raum kommen. Sie bleibt auf der Schwelle stehen, löscht das Licht, und dann höre ich sie die Türe schließen. Nun unterscheide ich das Stakkato ihrer Bleistiftabsätze. Sie geht schnell und sicher im Dunkeln und kommt auf mich zu. Die Puppe scheint sich hier gut auszukennen. Ich müßte jetzt tief Luft holen, aber ich verschiebe es lieber auf später, damit die schwarzseidenen Riesenpilze nicht wieder ihren Tanz beginnen. Ich höre Goldkopf in ungefähr vier Meter Entfernung vorübertrippeln und sich rasch entfernen. Sie muß jetzt am anderen Ende des Saales sein. Ich höre sie die Glastüre schließen, die ich -88-
offen gefunden hatte. Als es ganz still ist, setze ich mich wieder in Bewegung. Teufel, Teufel, bin ich neugierig! Ich möchte wissen, wo dieses Prachtstück den Abend verbracht und was sie jetzt noch so Wichtiges aufzuarbeiten hat. Jetzt kann ich mich orientieren, und so taste ich mich bis zu dem Punkt, wo die Türe aufgegangen ist. Um das wieder zum Tanz aufgelegte Schirmballett kümmere ich mich nicht mehr. Ich finde die Türe und auch die Klinke, mache auf und schalte das Licht an: ich stehe in einem kleinen Raum mit einem großen, heruntergelassenen Gitter, das auf eine Seitenstraße geht. Gegenüber entdecke ich noch eine kleine Tür. Diese interessiert mich. Ich mache sie auf und steige eine schmale Treppe hinunter ins Souterrain. Ich weiß nicht, wo der Lichtschalter ist, und muß mich also wieder vorwärtstasten. Offenbar bin ich in einem langen Gang; ich sehe einen Lichtstreifen aus der ersten Türe rechts scheinen. Geräusche wie Fehlzündungen eines Motors dringen zu mir, aber ich merke bald, daß es sich um einen kräftigen Schnarcher handelt, der jedoch nicht in dem beleuchteten Zimmer sein kann. Mit einem Tritt stoße ich die Türe auf und trete ein. Es ist ein großes Zimmer mit zwei, für die Nacht vorbereiteten Diwanen, deren Bewohner sich an einem Tisch gegenübersitzen und Karten spielen. Es riecht leicht nach Krankenhaus, aber die beiden, scheint mir, haben sich daran gewöhnt. Punkt erkenne ich sofort wieder: er schaut immer noch genau wie ein Pferd aus und hat sich seit seinem Besuch bei mir nicht verändert. Anders hingegen Komma: ihn erkenne ich nur an der Lakritze zwischen den Zähnen. Seine Veränderung seit unserer letzten Begegnung ist bemerkenswert: er trägt ein Nasenfutteral aus weißem Verbandstoff und ein großes Heftpflaster von der rechten Schläfe bis zur Kehle. -89-
Außerdem, aus der Art, wie er dasitzt, glaube ich mit Sicherheit schließen zu können, daß ihm ein Stück seiner Sitzfläche abhanden gekommen ist. Er hängt nach links, wie der schiefe Turm von Pisa. Greg hat beste Wertarbeit geleistet, kommt mir vor. »Salve«, sage ich, »du solltest dir den Grafen von Monte Christo unterlegen, sonst fällst du noch vom Stuhl!« Das Pferd schaut auf, legt die Karten auf den Tisch und fixiert das Lakritzenstäbchen. »He, Komma, hast du gesehen, wer da ist?« fragt er. Auch Komma wirft die Karten hin und verlegt kauenderweise das Stäbchen in den anderen Mundwinkel. »Natürlich habe ich«, brummt er. Ich trete zwei Schritte vor und stecke die Hände in die Hosentaschen. Das Pferd kommt langsam auf mich zu und zeigt mir sein Gebiß in Großaufnahme. »Mir scheint, wir haben uns gestern klar ausgedrückt«, sagt er. »Wieso kommst du in diese Gegend, statt in deinem Büro Daumen zu drehen?« »Ich wollte sie nur ein bißchen ausruhen lassen«, sage ich, »meine Daumen ermüden leicht.« Das Pferd schließt die Tür, während Komma aufsteht und mich jetzt sein Lakritzenstäbchen aus der Nähe beriechen läßt. »Du elender Schnüffler!« ruft er aus, »du weißt doch wohl noch, wie wir verblieben waren!« »Ich habe leider auch ein schlechtes Gedächtnis«, sage ich. Gleichzeitig gehe ich in Abwehrstellung, weil ich glaube, daß er mir wieder eine verpassen will; aber nichts dergleichen geschieht. Komma zuckt nur die Achseln. -90-
»Um so schlimmer für dich«, sagt er. »Du kannst uns jedenfalls nicht vorwerfen, daß wir dich nicht gewarnt haben. Los Punkt, jetzt bist du dran!« Wegen seiner lädierten linken Hinterbacke setzt er sich mit äußerster Vorsicht auf den Diwan und verschränkt dann die Arme hinter dem Kopf. »Ich?« stottert Punkt. »Klar Mensch«, sagt Komma. »Ich habe gestern meine Arbeit gemacht. So haben wir’s doch immer gehalten, oder nicht? Punkt und Komma. Ich lasse meine Überredungskünste spielen, und du erledigst dann den unwiderruflich letzten Teil. Punktum. Punkt und Streusand drauf.« Das Pferd lehnt sich gegen die Tür. Komma wechselt das Lakritzenstäbchen wieder in den anderen Mundwinkel, schaut mich an und schüttelt traurig den Kopf. »Beklag dich nicht«, sagt er, »du hast genau gewußt, was du dir da einbrockst.« »Ich beklage mich ja gar nicht«, sage ich. »Freut mich«, sagt Komma, »daß du nicht jammerst. Ich weiß nicht, auf welche Tour Punkt dich auslöschen wird, weil du der erste bist, bei dem wir so weit gehen müssen; aber das geht mich nichts an. Ich habe meine Pflicht getan, und weil wir die Härte deines Schädels unterschätzt haben, kommt nun er zum Zug. Blöd ist nur, daß wir nicht wissen, was wir mit deinem Kadaver anfangen sollen; aber irgendwer wird ihn schon wegschaufeln. Dafür werden wir nicht bezahlt.« Er lutscht an seiner Lakritze. »Du kannst anfangen«, sagt er, zu seinem Kumpan gewandt. »Ich drehe mich zur Wand, weil ich solche Dinge nicht mitansehen kann. Ich habe einen sehr empfindlichen Magen. Seid mir nicht böse.« Das Pferd stützt die Hände in die Hüften und betrachtet ihn. »Wenn ich du wäre«, sagt er, »würde ich ihn vorher noch ein bißchen abstauben.« -91-
»Was sagst du da?« fragt Komma und lüpft seine gesunde Hälfte vom Diwan. »Ich habe gesagt«, wiederholt das Pferd, »wenn ich du wäre, würde ich ihn noch ein bißchen abstauben. Vielleicht hat er uns gestern doch nicht richtig verstanden.« »Moment mal, Genossen«, sage ich, »ich habe verstanden, und sogar ausgezeichnet. Ich soll mich nicht um eine Sache kümmern, die eurem Boß besonders am Herzen liegt. Ich kümmere mich aber doch drum. Auch wenn du aus mir Hackfleisch gemacht hast.« Das Pferd wiehert beinah. »Noch eine kleine Abreibung täte ihm bestimmt ganz gut«, sagt er. Komma setzt sich wieder. »Ich mache nie etwas zweimal. Wiederholungen kann ich nicht leiden.« »Aber scheinbar bist du das erste Mal nicht überzeugend genug gewesen«, sagt das Pferd. »Nicht überzeugend genug?« fragt Komma und stellt sich mühsam auf die Beine. »He du«, schreit er, »habe ich dir gestern deinen Globus zerdroschen wie sich’s gehört, oder nicht?« »Du hast«, sage ich, »und wie. Mein Gesicht war kein Gesicht mehr, sondern ein Beefsteak, frisch vom Fleischer.« »Du hast ihn nur gekitzelt«, beharrt das Pferd. »Du hundsgemeiner Idiot«, faucht Komma, und ich sehe, wie er sich in Positur stellt und ihm einen wohltemperierten Tiefschlag versetzt. Das Pferd klappt zusammen wie ein Taschenmesser und landet auf dem Diwan. »Das erste Mal, daß er sich sein Geld selber verdienen soll, da -92-
will er sich drücken«, sagt Komma. »Feigling! ›Die Brüder von der sanften Überredungskunst‹ haben sie uns genannt, aber die ganze Drecksarbeit habe immer ich machen müssen, ich, das Komma, und nie sind wir bis zum Schlußpunkt gekommen, weil alle Angst hatten. Angst vor dir, und du kannst nicht einmal einen Floh umbringen, das habe ich jetzt endlich begriffen!« Ich muß einen Sprung nach rückwärts machen, um einem Schlag aus der linken Diwanecke auszuweichen; ich sehe ihn genau im Ziel landen, an Kommas Kinn. Durch den Aufprall knallen seine Zähne so hart zusammen, daß die Lakritze mitten durchgeschnitten wird und die eine Hälfte zur Decke fliegt. »Früher warst du besser«, sagt das Pferd und steht auf. »Du hast zu lange gefaulenzt und bist außer Training.« »Ich werde dir zeigen, wer außer Training ist«, brüllt Komma und stellt sich wieder in Positur. »Du verfluchter Schwindler!« Ich hebe die Lakritzenhälfte, die mir vor die Füße geflogen ist, auf und überreiche sie Komma. Er steckt sie wieder in den Mund und startet mit gesenktem Schädel gegen den Bauch des Pferdes, dem nach diesem massierten Angriff nichts mehr übrig bleibt, als sich auf den Boden zu setzen. Ich halte ihm die Hand hin und helfe ihm auf. »Wie wär’s, Freunde, wenn ihr ein wenig leiser machen würdet, da nebenan schläft nämlich einer«, sage ich. »Wenn Ettore schläft, weckt ihn kein Kanonenschuß auf«, sagt das Pferd und will Komma anspringen, aber der wartet nicht und weicht ihm aus. »Du bist nichts als ein schäbiger kleiner Zuhälter, der immer von meinem Geld gelebt hat«, sagt Komma und haut ihm eine hinters linke Ohr. Ich packe Komma beim Kragen und ziehe ihn aus der Schußlinie. -93-
»Entschuldige, wenn ich eure traute Unterhaltung unterbreche«, sage ich, »aber verbiege ihn nicht zu sehr, auch wenn ihr eine patentierte Krankenschwester habt, die euch liebevoll betreut. Jedenfalls stecke ich meine Nase nicht in eure Privatangelegenheiten und verdufte. Wenn du ihn überzeugt hast, findet ihr mich oben im Büro von Miß Noster.« »Gut«, sagt er. Ich kann kaum schnell genug beiseite springen, um dem Punkt in seiner großen Nummer nicht in die Quere zu kommen: er geht auf Komma los wie ein Lastwagen mit gebrochener Achse. Deshalb mache ich die Türe auf, gehe hinaus und schließe sie fürsorglich wieder hinter mir. Während ich den Gang entlanggehe, wird der Lärm im Zimmer immer gewaltiger, aber der Herr Knigge zersägt in seinem Bett weiter emsig einen Balken nach dem anderen. Ich steige die kleine Treppe hinauf und bin wieder in dem erleuchteten Saal. Ich lösche das Licht und schließe die Tür. Wieder ist das undurchdringliche Dunkel der leeren Fabrik um mich. Ich muß jetzt versuchen, den Weg zu den Büros zu finden. Ich hoffe, daß Goldköpfchen noch dort ist, um mir ihre Abenteuer zu erzählen, auf deren spannenden Inhalt ich doch so neugierig bin. Ich mache vier Schritte in die Finsternis und will gerade den fünften tun, als ich das Gefühl habe, nicht mehr allein zu sein. Ich bleibe stehen und halte den Atem an. Ich höre das tack-tack eines dahinrollenden Regenschirmes und das Geknalle gespannter Seide. Wenn einer da drinnen ist, dann sicher nicht, um sich seinen vergessenen Regenschirm zu holen. Ich höre, wie sich die Schirme wieder beruhigen. Auch der andere scheint zu horchen, dann höre ich plötzlich das Aufeinanderprallen von zwei Regenschirmen. -94-
Dieses in der nächtlichen Stille ziemlich heftige Geräusch benütze ich, um wieder ein paar Schritte vorwärtszukommen, obwohl ich nur undefinierbare Silhouetten unterscheide, ab und zu schwach erhellt durch Lichtreflexe, die von außen hereinblinken. Ich lange mit einem Arm nach oben und fühle eine Reihe geschlossener Schirme, die mit den Griffen an einem Gestell über meinem Kopf aufgehängt sein müssen. Ich hole mir einen herunter, um notfalls eine Waffe zu haben, wenn auch leider keine zum Schießen. Aber auch ein Regenschirm kann zur Verteidigung gut sein, und die Partitavintusschirme sind ja berühmt wegen ihrer soliden Verarbeitung. Ich taste mit ihm die Leere vor mir ab, in der festen Absicht, ihn als Degen zu benützen, wenn ich auf einen Bauch stoßen sollte; aber für eine ganze Weile finde ich keinen Widerstand, drum gehe ich mit angehaltenem Atem weiter. Wir sind zwei hier drinnen, die den Atem anhalten. Ich komme an eine um die Ecke laufende Glaswand und gleich nach der Ecke zu einer offenen Türe. Ich gehe hindurch und berühre wieder eine Wand. Ich muß einen Lichtschalter finden. Diese Jagd im Dunkel ist mir äußerst widerlich, weil ich ja keine Ahnung habe, wo ich bin. Ich finde endlich einen Schalter, atme tief ein und drücke auf den Knopf. Aber statt Licht zu machen, habe ich eine Hölle entfesselt.
-95-
Neuntes Kapitel Ein vom Winde verwehter Raum, in dem es schüttet, und eine Schlacht gegen unangreifbare Feinde. Ich beginne, Schirme zu hassen, und sehne mich nach einem Regenmantel.
Es fängt mit einem Summen an, das sich schnell zu unglaublicher Intensität steigert, und es überfällt mich ein Wirbelsturm. Auf diese Überraschung bin ich nicht vorbereitet, verdammt nochmal, und ehe ich mich besinne, wälze ich mich auch schon am Boden. Ich versuche aufzustehen, aber der Wind erstickt mich beinahe, und ich muß die Augen schließen. Meine Jacke schlägt mir über dem Kopf zusammen, und die Krawatte fährt mir im Gesicht herum. Mit dem Schirm in der Hand kämpfe ich mich auf den Knien vorwärts. Kaum bin ich wieder einigermaßen im Gleichgewicht, fällt ein gigantischer Schatten über mich her. Ich riskiere einen Gegenangriff, finde aber keinen Widerstand. Ich habe den Eindruck, auf einen gefüllten Ballon einzuhauen, und komme bald darauf, daß mir ein offener Regenschirm aufs Hirn gefallen ist, dann auf den Boden hüpft und vom Sturm fortgeblasen wird. Ihm folgen noch viele, einer nach dem anderen. Ich falle hin, kämpfe mich hoch, versuche, mich mit den Armen an irgend etwas zu klammern; aber Dutzende von Regenschirmen galoppieren mit höllischem Krawall auf mich zu. Ich -96-
gebe mir alle Mühe, wenigstens dem Sturm Widerstand zu leisten, aber die seidenen Dächer verkeilen sich mit ihren Metallstäben derart in meine Arme und Beine, daß ich mich nicht mehr rühren kann. Ich bin Gefangener dieser wildgewordenen Regenschirmhorde. Der Sturm macht mich blind und erstickt mich fast. Dann fällt etwas Schweres auf mich, und ich habe den Eindruck, daß Hände meine Stirn und Wangen betasten. Ich umarme einen schwarzen Schatten und drücke ihn an mich, bis ich fühle, wie ungefähr ein Dutzend Stäbchen mit Geknatter zerbrechen. Ich versuche weiterzukämpfen, aber ich bin am Ende. Meine Finger gleiten über die Seide, die ich nicht fassen kann, und meine Arme sind in dem Gewirr von Stäben gefangen. Dann ein harter Schlag auf die rechte Schläfe, der Sturm legt sich plötzlich, und ich beginne in die entgegengesetzte Richtung zu fliegen. Ich träume, daß ich auf steinigem Boden dahinrenne, verfolgt von einem Regiment wildgewordener, schwarzer Regendächer. Wie Riesenfledermäuse flattern einige über mir, sie öffnen und schließen sich und möchten mich mit ihren langen, gebogenen Griffen erwischen. Andere, geschlossen, werfen sich mir wie Pfeile entgegen, sie bohren sich mir in den Rücken, in den Hals, in die Arme… Plötzlich fehlt mir der Boden unter den Füßen, und ich falle in einen Liftschacht. Als ich unten anlange, gehe ich zu einer Tür hinaus, nehme meinen Schirm und spanne ihn auf. Dann merke ich, daß ich einen riesigen Reißnagel über mich halte. Ich trete auf ein paar Lakritzenstäbchen, rutsche aus und falle hin. Eine gigantische, schwarze Kuppel senkt sich auf mich, -97-
hüllt mich ein und preßt mich so lange, bis sie mich erdrückt hat. Donnerwetter, ich bin ja wach! Ich weiß nicht, wie lange ich ohnmächtig war, aber ich habe das tröstliche Gefühl, daß der Alptraum vorbei ist. Um mich ist es dunkel und still. Mir ist, als schwebte ich auf etwas Luftigem, auf einer Masse dünner Metallstäbchen. Mein rechtes Bein ragt in die Höhe. Ich bewege den Arm und kann den Fußboden berühren. Nun nehme ich alle Kraft zusammen, um aufzustehen, aber es geht nicht. Ich kann mein Bein nicht herunterholen. Es schaukelt in der Luft, wie wenn der Fuß mit einer Schnur hochgebunden wäre. Ich kann nicht einmal das Knie abbiegen und frage mich, was zum Teufel eigentlich passiert ist. Als ich den Kopf bewege, durchfahren mein rechtes Ohr schauderhafte Stiche. Ich hole tief Luft und lasse sie ganz langsam wieder ausströmen; dadurch fangen meine grauen Zellen erneut an zu arbeiten. Die Stiche im Ohr kommen von einem Stäbchen, das mir in die Ohrmuschel gedrungen ist. Ich nehme es heraus, und die Stiche sind weg. Selbst das Gehirn entnebelt sich nach und nach, so daß es meine grauen Zellen mit ihrer Arbeit leichter haben, wenn auch irgendein Teufel meine rechte Schläfe mit einem Preßlufthammer bearbeitet. Dann komme ich darauf, daß in meinem rechten Hosenbein ein ganzer Regenschirm steckt, bis zum Griff; deshalb kann ich das Bein nicht abbiegen, und dieses Regendach hindert mich natürlich am Aufstehen. Ich werkle eine ganze Weile, um das Bein freizubekommen, und endlich ist es soweit. Es war aber eine saumäßige Anstrengung, kann ich Ihnen sagen. -98-
Ich stehe auf. Der Sturm hat sich gelegt, und nicht das kleinste Geräusch ist in dem großen Saal zu hören. Ich suche nach meiner Zündholzschachtel, bemerke aber dann, daß ich meine Jacke umgekehrt über den Schultern hängen habe. Alle Taschen sind leer. Zugegeben, ich Hornochse habe den Ventilator des Windtunnels angestellt; aber wer war noch im Saal? Wer hat mich überfallen und mir mit einem sehr harten Gegenstand den Schlag auf die Rübe versetzt? Und dann die Windmaschine abgestellt? Ich kann nicht einmal sagen, ob es ein Mann oder eine Frau war. Es könnte auch Goldkopf gewesen sein, warum nicht? Vielleicht hat sie gehört, wie ich durch den Saal gegangen bin. Oder sie kann vom Fenster aus meinen Wagen neben dem ihrigen gesehen haben. Mag sein, daß sie mich in der Fabrik gesucht hat. Ich habe selbst erlebt, wie leicht man sich im Dunkeln verliert. Aber warum sollte sie dies alles getan haben? Weil ich entdeckt habe, daß sie es war, die mir Punkt und Komma auf die Pelle schickte, um mich von der Zweckmäßigkeit des Daumendrehens zu überzeugen? Heute morgen hat sie mir den Scheck gegeben, scheinbar überglücklich, daß ich den Auftrag ihres Chefs angenommen hatte; aber die Lakritzenstäbchen waren eben doch in ihrer Handtasche. Und Kirschenmarmelade wiederum hat mir versichert, daß sie vor Goldkopf das Haus verlassen hat, und das kann sogar wahr sein. Aber da ist noch der Signor Cimurro, der mir nachspioniert hat und der sich vor Fischen ekelt. Und die Reißnägel? O du Welt voller Teufel, hier ist nun wirklich nicht der Platz, um Ordnung in mein konfuses Hirn zu bringen. -99-
Ich befreie mich von den Schirmen und gehe meiner Nase nach. So renne ich mit dem Bauch gegen eine Nähmaschine und dann gegen einen Tisch, auf dem wieder eine Partie dieser verflixten Regenschirme liegt, diesmal in geschlossenem Zustand. Ich nehme mir einen und taste mich weiter. Jetzt muß ich schon ein ganzes Stück weg sein vom Windtunnel, aber ein Lichtschalter muß her, wenn ich endlich aus diesem verrückten Regenschirmserail herauskommen will. Ich taste die Wand entlang und finde einen Schalter. Diesmal wird es der richtige sein, denn es ist ein normaler Knipser und kein Knopf. Ich knipse also, und es passiert nichts: ich gehe ein paar Schritte und höre dann ein Gurgeln wie von laufendem Wasser. Und was passiert jetzt? frage ich mich. Große Tropfen fallen von oben, und ehe ich noch eine Erklärung finden kann, beginnt es heftigst zu regnen. Ich stelle mich an die Wand, die aber keinerlei Schutz bietet. Ich mache ein paar Schritte nach der anderen Seite und ende an einer Glastüre. Es bleibt mir nichts übrig, als den Schirm, den ich in der Hand habe, aufzuspannen. Das tue ich, aber ich bin schon naß bis auf die Haut. Eine Spieluhr zirpt lieblich: Unter einem Regenschirm am Abend. Der Regenschirm mit eingebauter Spieluhr muß der letzte Schrei des Hauses Partitavintus sein. Ich bin noch kaum fertig mit Denken, als Licht wird im großen Saal. Ich höre jemanden herbeirennen, und dann sehe ich den Grinser, der jenseits der Glastüre die Augen aufreißt. »Da ist er!« brüllt er. Er deutet mit dem Finger auf mich, aber es ist gar kein Finger, weil er am Ende ein Loch hat: es ist ein Revolver. Und nicht nur das Loch im Revolver starrt mich an: Zwei Greifer vervollständigen die Gruppe und schauen mich zum Klang von Unter einem Regenschirm am Abend bewundernd an. -100-
Ich muß einen umwerfenden Anblick bieten, so pudelnaß unter einem Regenschirm, der Unter einem Regenschirm am Abend spielt. »Genug geglotzt«, sage ich, »laßt endlich den Regen aufhören!« Der Grinser verlagert sich ein paar Schritte, ohne mich aus den Augen zu lassen, und knipst an einem Schalter. Es muß der gleiche sein, den ich vorhin betätigt habe, denn der Wolkenbruch hört sofort auf. Nur ein paar Tropfen fallen noch hie und da. Ich schließe den Schirm, und die Spieluhr schweigt. »Schade«, sage ich, »den Schluß hätte ich noch zu gern gehört; das ist nämlich mein Lieblings-Evergreen!« Ich befinde mich in einem breiten Gang mit einer Fensterwand; an seinem Ende steht Regenproberaum. »Komm heraus da«, sagt der eine Greifer. Im Hinausgehen schüttle ich noch ein paar Wassertropfen ab. »He, Jim«, sagt der andere, »das ist ja der Pipa!« »Derselbe, den der Kautschuk so gern hat«, sagt der erste. »Wer weiß, wie er sich freut, wenn wir ihn ihm auf den Schoß setzen! Her die Flossen!« Ich strecke meine Hände aus, und ein paar Handschellen umspannen meine Gelenke. »Vorsicht«, sage ich, »sie werden rostig, ich bin ganz naß.« »Keine Angst, davon haben wir noch mehr als genug«, sagt der Greifer namens Jim. »Vorwärts, und auf die Schnelle!« Sie flankieren mich rechts und links, und der Grinser geht voraus. Wir kommen zur Treppe und steigen in den ersten Stock des Bürohauses hinauf. Im Korridor steht noch ein dritter Greifer, und sicher werde ich noch ein paar anderen begegnen. -101-
Alle Lichter brennen jetzt, und man hört sprechen. Ein dicklicher Mann mit weißem Haar, dunklem Anzug und einem kleinen Koffer kommt aus dem Büro von Miß Noster. »Alles in Ordnung, meine Herren«, sagt er, »wenn Sie mich nicht mehr brauchen, gehe ich.« »Danke, Doc«, sagt der eine Greifer, »gehen Sie nur, jetzt sind wir an der Reihe.« Wir gehen in das Büro, und als erstes sehe ich Goldkopf, die sich die Lippen malt. Freunde, sie ist aus der Haut gefahren, womit ich sagen will, daß sie ihre schwarze Schürze abgelegt hat, und wenn nicht ihr goldener Haarschopf wäre, Ehrenwort, ich würde sie nicht wiedererkennen. Sie hat einen blauen Rock an und ein helles Blüschen, dessen Streifen ihr möglichstes tun, die Konturen zu verwischen; was ihnen aber, Zeus sei Dank, bei dem darunterbefindlichen Überangebot vollständig danebengelingt. Wie sie da so im Klubsessel hingegossen liegt, fallen einem vor allem die Beine in die Augen. Was soll ich Ihnen lang erzählen, liebe Mitmenschen, es sind leider nur zwei, aber die Quantität zählt in diesem Fall nicht. Ich bin gerade oberhalb der Knie angekommen, als ich höre, wie ein Greifer sagt: »Wir haben ihn, da ist er.« Goldkopf unterbricht ihre Malerei und schaut auf, die Hand mit dem Lippenstift in der Luft. »Chico Pipa!« schreit sie. »Ist es denn die Möglichkeit!« »Jawohl, Mädchen«, sagt der Greifer namens Jim, »es ist durchaus die Möglichkeit. Diesen Burschen kennen wir gut in der Zentrale.« Goldkopf steht auf und bleibt auf einen Meter Entfernung vor mir stehen. »Haben Sie mich auf den Kopf gehauen?« fragt sie. -102-
»Hör zu, Süße«, antworte ich, »wir wollen die Dinge nicht verdrehen. Wenn hier einer einen zerbeulten Schädel hat, bin ich’s.« »In fünf Minuten wird er noch zerbeulter sein«, sagt einer der Greifer, »wenn du nicht aufhörst, den Blöden zu markieren. Was hast du mitten in der Nacht in der Fabrik zu suchen gehabt?« »Ich wollte nur den Wolkenbruch abwarten«, sage ich. »Ihr habt es ja selbst gesehen. Vorher hat mich eine Hundertschaft Regenschirme überfallen, und dann hat mich einer mit einem Schlag auf den Schädel eingeschläfert. Und das war sicher kein Regenschirm.« Ein Schritt vorwärts bringt mein Kinn in zwei Zentimeter Entfernung von Goldkopfs zierlichem Riechorgan. »Sag mal, Prachtstück«, frage ich, »was soll eigentlich diese Plattfüßlerinvasion hier bedeuten?« Der Greifer namens Jim packt mich am Arm und will mich wegziehen. »Bring dein stinkendes Maul nicht so nahe an das Mädchen«, sagt er. Ich gebe ihm einen leichten Stoß mit dem Ellbogen, und er landet mit dem Kopf in der Seitenwand des Schreibtisches. Der andere Greifer will sich auf mich stürzen, aber ich banne seinen Elan mit einem Blick, der nichts Gutes verspricht. Goldkopf schaut auf meine blaugelb gestreifte Krawatte. »Ich bin einen Moment aus dem Büro gegangen«, sagt sie, »und als ich zurückkam, hat mir einer hinter der Tür aufgelauert und mich mit etwas Hartem auf den Kopf gehauen. Da bin ich ohnmächtig geworden.« Ich hebe die Hände und betaste ihre Frisur. In dem Goldhelm, den sie auf dem Kopf trägt, muß eine Lampe von mindestens fünfzig Watt eingebaut sein. »Als es immer später wurde«, erzählt sie weiter, »ist Mitch heraufgekommen, um nachzuschauen, ob ich etwas brauchte. Er -103-
hat mich ohnmächtig gefunden und den Arzt und die Polizei angerufen.« Mitch muß der Grinser sein. Ich schaue ihn an. Er steht neben der Tür und beobachtet interessiert den Revolver in seiner Hand, als hoffte und erwartete er, daß er sich von einem Augenblick zum anderen in Schokolade verwandelt. »Und was wollten Sie hier in der Fabrik?« fragt mich Goldkopf. »Ich habe deine Brüderchen besucht, mein Engel«, sage ich, »denn ich wollte sicher sein, daß sie noch genug Lakritze haben.« Sie schlägt die Augen nieder und wird rot wie Tomatensauce. Wenn ich jetzt ihre Wangen berühre, bin ich sicher, daß sie abfärben. Sie dreht sich brüsk um und nimmt ihre Handtasche vom Stuhl. »Wenn du mit deiner Beichte fertig bist«, sagt der Greifer, dessen Namen ich nicht weiß, »erzählst du uns vielleicht, was du aus dem Schreibtisch und aus der Handtasche von Fräulein Noster hast mitgehen heißen.« Mit einem Satz bin ich hinter Goldkopf und packe ihren Arm, so daß sie sich zu mir umdrehen muß. Ich sehe, daß das schöne Wangenrot inzwischen verblaßt ist… »Was soll dieser Blödsinn vom Schreibtisch und von deiner Handtasche?« frage ich sie. »Irgendwer hat meinen Schreibtisch und meine Handtasche durchsucht«, sagt sie. »Und kann man auch erfahren, was derjenige gesucht hat?« frage ich. »Einen Umschlag mit Aufzeichnungen von Signor Partitavintus für Sie«, sagt sie. »Sie sind verschwunden. Ich sollte sie Ihnen geben.« Der Greifer namens Jim löst seinen Schädel aus der zersplitterten Schreibtischseite und marschiert zum Telefon. -104-
»Ich rufe das Präsidium an«, grunzt er, »sie sollen jemanden schicken, der diesen Schnüffler abholt. Wir haben hier noch zu tun.« »Es wäre eine Wucht, wenn der Kautschuk selbst käme«, sagt der andere Greifer. »Wenn du ihm sagst, daß wir den Pipa hierhaben, ist er in einer Minute da, auch wenn er gerade in Timbuktu wäre.« Der Greifer namens Jim wählt die Nummer des Präsidiums und sagt: »Wenn der Sergeant Kautschuk da ist, sag ihm, daß wir den Pipa fein verpackt hier haben. Wenn er ihn gleich holen kommt, geben wir ihn ihm umsonst.« Ich höre, daß das Mikrophon beinahe zerspringt. »Also gut, verflucht und zugenäht!« sagt der Greifer und legt den Hörer auf. Dann kratzt er sich das Kinn. »Der Leutnant Tram«, sagt er, »ruft alle fünf Minuten im Präsidium an, und die ganze Abteilung sucht in der Stadt nach diesem Schnüffler. Anscheinend kommt der Leutnant ohne ihn nicht weiter.« »Und wir haben ihn gefunden«, brüstet sich der andere Greifer. »Also sollen sie ihn sich hier holen.« »Wir müssen den Leutnant sofort verständigen«, unterbricht ihn Jim. »Er ist in der Wohnung der Partitavintus. Wie ist die Nummer?« »Bei den Partitavintus?« frage ich. »Was will er dort?« Der Greifer zuckt die Achseln und schweigt. Goldkopf geht zum Apparat, wählt und übergibt den Hörer dem Greifer. »Kann ich den Leutnant Tram sprechen?« sagt dieser in den Apparat. Während er wartet, blinzelt er seinem Kollegen zu und grinst. »Hallo, Leutnant«, sagt er forsch, »hier spricht der Polizeiagent Jim. Wir haben den Schnüffler Pipa verhaftet. Er ist hier mit Handschellen und allem Drum und Dran.« -105-
Das Mikrophon knattert so hektisch, daß Jim es einen halben Meter vom Ohr weghält. Als das Knattern aufhört, holt der Greifer erst einmal tief Luft. »Er war hier in der Fabrik, im Dunkeln, bei einem Wolkenbruch, und hörte sich Unter einem Regenschirm am Abend… an«, sagt er; »dann hat er Miß Noster auf den Kopf geschlagen, daß der Portier den Arzt und die Polizei kommen lassen mußte… Ja Herr Leutnant,… nein Herr Leutnant… o.k. Herr Leutnant…« Er hört sich das Feuerwerk aus dem Mikrophon wieder auf Distanz an, dann fährt er fort: »Jawoll Herr Leutnant, wird gemacht Herr Leutnant. Er ist aber ganz naß, Herr Leutnant.« Endlich legt er den Hörer auf. »Er hat gesagt, wir sollten ihn sofort trockenlegen und in die Anastasia-Allee bringen. Ich habe allerdings nicht verstanden, was ein Hundefänger mit der Geschichte zu tun haben soll.« Ich mache einen Satz und packe ihn beim Kragen. »Hast du Hundefänger gesagt?« brülle ich. »Sicher habe ich Hundefänger gesagt«, gibt Jim zurück. »Was für ein Hundefänger?« »Das weiß ich nicht«, sagt er. »Ich habe ja schon gesagt, daß ich mir nicht vorstellen kann, was ein Hundefänger damit zu tun hat. Anscheinend hat der Leutnant einen Hundefänger gerufen, um, wie er selbst sagte, irgendein räudiges Biest zu fangen, aber der hat’s wohl nicht geschafft. Aber quatsch nicht so viel, sondern setz dich in Bewegung; der Leutnant kann nicht mehr warten.« »Laß nur«, sage ich, »ich brauche keine Eskorte. Ich kenne den Weg zur Anastasia-Allee recht gut, und ihr habt ja hier zu tun.« -106-
»Das fehlte noch«, sagt der Greifer, »du bist unter meiner Aufsicht und bleibst es. Nicht um alles Geld der Welt möchte ich versäumen, wenn dich der Kautschuk aus dem Anzug beutelt.« Ich packe ihn mit beiden Fäusten und zwänge seinen Schädel in ein Fach des Aktenschrankes, den ich dann abschließe. Als der andere Greifer, dessen Namen ich nicht weiß, im Bereich meiner Fäuste landet, packe ich ihn bei einem Handgelenk und erwarte seinen Geraden, damit ich auch das andere zu fassen bekomme. Als sie mir beide gut in der Hand liegen, schaue ich mich um und entdecke in der Ecke eine Kopierpresse, eine von diesen altmodischen mit Handbetrieb, wenn Sie sich erinnern. Ich lege seine Pranken unter die Platte und drehe die Kurbel so lange, bis die Presse sich gesenkt hat. Während der letzten Umdrehungen höre ich das typische Klicken, wenn ein Revolver entsichert wird. Schießt doch dieser Idiot von einem Grinser tatsächlich aus dem Hinterhalt auf mich; aber ich gehe in die Knie und hebe blitzschnell ein Bein nach hinten in die Höhe. So treffe ich die Kugel mit dem Absatz, und sie fliegt an die Decke, wo sie stecken bleibt. »Mitch!« schreit Goldkopf. Ich nehme sie beim Handgelenk und laufe zur Tür. »Laß ihn doch«, sage ich, »er soll auch seinen Spaß haben!« Wir kommen in den Korridor. Zwei Greifer rennen uns entgegen. »Wir haben einen Schuß gehört!« ruft einer. »Macht nur nicht in die Hosen«, sage ich, »es war nur ein Revolver, der einen Lachkrampf bekommen hat! Wir haben ein Rendez-vous mit dem Leutnant Tram, und wenn wir zu spät kommen, schimpft er mit uns. Lauf Puppe!« -107-
Ich spurte den Korridor entlang, und Goldkopf hält tapfer Schritt. Sie erholt sich offenbar äußerst schnell, wenn sie einen Schlag auf den Schädel bekommen hat. Allerdings möchte ich wetten, daß die fünfzig Watt in ihrer Frisur auf fünfundzwanzig abgesunken sind. Als ich am Ende des Korridors angelangt bin, bremse ich und bleibe stehen, drehe mich um und brülle: »Hallo, ihr da!« Die zwei Greifer stellen sich an die Tür, um zu hören, was ich ihnen zu sagen habe. »Unten in der Wohnung des Chauffeurs«, sage ich, »sind zwei Knaben, die sich seit ein paar Stunden pausenlos in die Fresse hauen. Wenn ihr euch nicht beeilt, müßt ihr sie mit dem Staubsauger wegräumen.« Ich warte ihre Antwort nicht ab und sause wie eine Lawine die Treppen hinunter. Hinter mir höre ich das Klappern der Bleistiftabsätze einer zweiten, kleineren, goldhaarigen Lawine.
-108-
Zehntes Kapitel Mal sehen, was mein Partner angestellt hat; er scheint sich aber tatsächlich streng an seinen Auf trag gehalten zu haben.
Goldkopf öffnet das Türchen ihres Vogelkäfigs, aber ich packe sie beim Kreuz und werfe sie durchs Fenster in meinen Blimbust, gehe dann außen herum und setze mich ans Steuer. Goldkopf rückt sich auf dem Polster zurecht. »Sie machen offenbar keine Umstände«, sagt sie. »Ich habe gern Gesellschaft«, sage ich, »und vor allem können wir zwei uns unterwegs ein bißchen was erzählen.« Ich bin immer noch klatschnaß und fürchte, daß mir von dem vielen Wasser auch etwas in den Magen gekommen ist. Erst drücke ich auf den Anlasser, dann lange ich in die Seitentasche und hole eine Bourbonflasche heraus. »Magst du auch?« frage ich und halte ihr die Flasche unter die Nase. Sie schüttelt den Kopf, und so gieße ich mir eine gute Dosis Treibstoff in die Kehle und stecke dann die Flasche an ihren Platz zurück. Ich haue den ersten Gang hinein und brause mit allen Sachen los. Sie hat sich in das äußerste Eckchen ihres Platzes gedrückt; wahrscheinlich ist ihr die Feuchtigkeit, die aus meinem Anzug zu dampfen beginnt, lästig. -109-
»Was hat in den Aufzeichnungen gestanden, die du mir geben solltest?« frage ich. »Signor Partitavintus wollte sie Ihnen heute früh übergeben«, sagt sie. »Ich erhielt sie von ihm gestern abend zusammen mit dem Scheck. Es waren vier Zettel, auf denen einige Vorkommnisse mit Daten und allem notiert waren.« »Sag einmal, Prachtstück«, sage ich, »muß ich dir die Worte erst mit dem Schirmgriff aus dem Mund ziehen? Was waren das für Vorkommnisse?« »Irgendjemand hat einige Male versucht, ihn aus dem Weg zu räumen«, sagt sie. »Er wollte von Ihnen Beweise, daß seine Frau versucht, ihn mit Hilfe eines Komplizen zu ermorden. Deshalb kann ich auch nicht glauben, daß er sich selbst umgebracht hat.« »Und was waren das für Vorkommnisse?« »Weiß ich nicht«, sagt Goldkopf. »Signor Partitavintus hat die Zettel in einen Umschlag gesteckt. Ich habe sie nicht gelesen.« Ich grinse. »Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht usw.«, sage ich. »Tut mir leid, du hast mir auch erzählt, daß Signor Partitavintus gestern mit seiner Frau ausgehen wollte und daß du vor ihnen weggegangen bist. Stattdessen sieht es ganz danach aus, als ob Signora Partitavintus zuerst das Haus verlassen hat und du bei deinem Chef geblieben bist. Somit bist du also die letzte, die ihn lebend gesehen hat.« Mit einem Ruck dreht sie sich mir und meinem Profil zu. »Das ist nicht wahr«, sagt sie. »Ich bin ganz sicher, daß Signora Partitavintus noch zu Hause war, als ich weggegangen bin. Sie waren beide in Abendkleidung, und Signor Partitavintus schickte mich bald weg, weil seine Frau schon ungeduldig war.« »Jetzt werden wir ja sehen, wie sich die Dinge abgespielt haben, mein Engel«, sage ich. »Gehst du manchmal zum Forellenfischen?« -110-
Sie schaut mich an, als ob ich ihr den persischen Pfauenthron angeboten hätte. »Soll das eine Einladung sein«, fragt sie, »am nächsten Wochenende mit Ihnen zum Fischen an einen romantischen See zu fahren?« »Mitnichten«, sage ich. »So weit sind wir noch nicht. Aber ich wüßte gern, ob einer von euch Partitavintusleuten ein passionierter Angler ist.« »Signor Partitavintus ging oft angeln«, sagt Goldkopf. »Das hätte ich mir denken können«, sage ich. »Nicht, daß es heutzutage schwer ist, sich eine Nylonschnur zu beschaffen, auch ein Kind könnte das. Aber aus den alltäglichsten Dingen entspringen oft Zusammenhänge und suggerieren uns die Lösung eines Problems, das uns in seiner scheinbaren Ausweglosigkeit zur Verzweiflung gebracht hat.« »Ich verstehe Sie nicht«, sagt sie. »Macht nichts«, sage ich, »es reicht, wenn ich es verstehe.« Wir kommen zur Anastasia-Allee. Vor der Nummer 120 stehen zwei Polizeiwagen und das Gefährt des städtischen Hundefängers. Ich fahre zum Randstein und steige aus. Während ich auf der anderen Seite die Tür für Goldkopf aufmache, wird der Scheinwerfer eines Polizeiwagens eingeschaltet und beleuchtet mich wie eine Ballerina zu Beginn ihrer Solonummer. »Da kommt der Kerl, auf den der Leutnant schon eine halbe Stunde wartet«, schreit ein Greifer aus dem Polizeiwagen. Ein zweiter öffnet das Haustor und tritt beiseite. »Steig in den Lift und drück auf den Knopf zum vierten Stock«, sagt er. »Du hast dich sauber verspätet.« »Hie und da habe ich halt auch noch was anderes zu tun«, sage ich und gehe zum Lift. -111-
Goldkopf wird blaß um die Nase und bleibt vor dem Lift stehen. Ich nehme sie beim Arm und schiebe sie hinein, dann mache ich die Türen zu und drücke auf den Knopf zum vierten Stock. »Ich kann schon verstehen, daß dir mies ist«, sage ich. »Aber wegen einer solchen Lappalie kannst du nicht erwarten, daß sie einen neuen Lift einbauen.« Ich muß einen Arm um ihre Taille schlingen, daß sie mir nicht zusammenklappt, und ich garantiere Ihnen, es kostet mich keine Überwindung. Sie legt ihren Goldhelm an mein Jackenrevers und weint in meine Brusttasche. Als wir am zweiten Stock vorbeizuckeln, hebt sie den Kopf und wischt sich mit dem Zeigefinger wenigstens eines der vielen Tränchen fort. »Entschuldige bitte«, flüstert sie. »Mach dir nichts draus«, sage ich, »ich bin sowieso schon pudelnaß.« Unter der Haut wird mir immer wärmer, so daß die ganze Nässe in meinem Anzug zu dampfen beginnt. Im dritten Stock gleicht der Lift einer Sauna. In diesem Dunst unterscheide ich nur noch die roten Lippen von Goldkopf und ihre Augen, die mich lieb anschauen. Ich mache das rechte Türchen auf, und der Lift hält zwischen dem dritten und vierten Stock. »Hör mich an, Goldstück«, sage ich, »erzähle mir jetzt die Lakritzenstory und in wessen Auftrag Punkt und Komma verhindern sollten, daß ich mich um den Fall kümmere.« Jemand brüllt oben im vierten Stock, und ein anderer bearbeitet die äußere Lifttüre mit den Fäusten. »Jetzt kann ich es dir ja sagen: es war Signor Partitavintus selbst; er war außer sich, daß du seinen Auftrag abgelehnt hast. Aber er hat dein Temperament richtig eingeschätzt und deinen Widerspruchsgeist gekitzelt. Das war die einzige Möglichkeit, dich zur Annahme seines Auftrages zu bringen. Die beiden Ar-112-
beiter aus dem Betrieb fielen ihm ein. Er kannte ihre Vergangenheit und versprach ihnen eine hohe Prämie, wenn sie dich mit ihrem in früheren Zeiten so gut bewährten System überzeugen könnten.« Ich höre einen Haufen Menschen die Treppen auf- und abrennen, und an den Lifttüren aller Stockwerke wird heftig mit den Fäusten geklopft. Goldkopf lehnt die Frisur wieder an meine Brust, und der Dampf im Lift wird immer dichter. »Alles wäre gut gegangen, wenn die beiden nicht auf dem Rückweg von einem Hund angefallen worden wären«, erzählt sie weiter. »Der eine hat mich angerufen und gesagt, daß der andere so zugerichtet war, daß er sich nirgends sehen lassen konnte. So hat mich Signor Partitavintus gebeten, die beiden einstweilen in der Behausung des Chauffeurs unterzubringen, bis sie wieder einigermaßen präsentabel wären. Er wollte nicht, daß du etwas davon erführst, solange du nicht mit deinen Nachforschungen begonnen hattest.« Ich schaue sie an und hole tief Luft. »Ich Idiot!« ist mein einziger Kommentar. Durch den Krawall im Stiegenhaus habe ich gar nicht bemerkt, daß der Lift sich wieder in Bewegung gesetzt hat. Goldkopf hat das Türchen wieder geschlossen, das ich vorher aufgemacht hatte. Ich lege ihr meinen Zeigefinger unter das Kinn und hebe ihren Kopf zu mir auf, und ich kann Ihnen versichern, daß die Kraftanstrengung für mich minimal ist. Ich merke, daß sie sich auf die Zehenspitzen stellt, aber es reicht immer noch nicht, und so muß ich ihr auf halbem Weg entgegenkommen, indem ich meinen Kopf zu ihr hinunterbeuge. Als wir gerade am richtigen Punkt angekommen sind, wird die Tür aufgerissen. Irgendwer packt mich beim Kragen und lüpft mich genau die zwei Zentimeter, die mich zur Bestie werden lassen. -113-
Ich drehe mich um, packe Kautschuk samt seiner Uniform, steige aus, hebe ihn hoch und hänge ihn an einen Kleiderhaken, der wie nach Maß neben der Lifttüre angebracht ist. »Wir beide müssen noch miteinander abrechnen«, sage ich, »du hast noch einen Hieb über den Schädel gut und einen Gratisaufenthalt in der Leichenhalle; und bilde dir ja nicht ein, wenn du einmal dort bist, daß du auf deinen eigenen Plattfüßen wieder herauskommst. Leider habe ich im Augenblick etwas Wichtigeres zu tun. Aber keine Angst: mein Gedächtnis ist ebenso gut wie lang.« Er pendelt ein wenig hin und her, um mich wenigstens mit der Stiefelspitze zu treffen, aber er muß sich schon einen anderen Punchingball suchen. Ich nehme Goldkopf bei der Hand und führe sie in die Diele. Der Leutnant Tram steht auf der Schwelle des Wohnzimmers, schaut mich an und schnauft, wie wenn er einen LKW samt Anhänger zehn Kilometer weit geschoben hätte. »Wartest du auf mich?« frage ich. »Endlich habe ich genügend Material beisammen, um dich einzulochen«, schnauft er. »Nicht nur, daß du alle Behörden auf den Arm nimmst; du stiftest auch noch deinen Hund zu einem Verbrechen an. Leg dieser Bestie dort sofort Halsband und Leine an, und dann kommt ihr mit mir.« Er holt Kautschuk vom Kleiderhaken, und ich gehe mit Goldkopf in das große Wohnzimmer. Wir bleiben unter dem Bogen stehen, um die Aussicht zu bewundern, und ich brauche ein bißchen Zeit, wenn ich beschreiben will, was sich unseren erstaunten Augen darbietet. Lehnsessel und Diwane sind, scheinbar in großer Eile, beiseite gerückt worden, denn die Teppiche liegen in ziemlicher Unordnung herum. Ähnlich wie die Oberfläche der See bei hohem Wellengang, um Ihnen ein Beispiel zu nennen. -114-
Kirschenmarmelade steht neben der Hausbar hinter einem hohen Sessel, der den besten Teil ihrer Anatomie verbirgt. Aber auch so ist sie mit keiner anderen zu verwechseln. Auf einem Diwan liegt hingegossen der Signor Cimurro. Er trägt eine Art Turban aus nassen Handtüchern, und von seiner Hose fehlt ein Bein. Auf dem anderen Diwan liegt einer, den ich nicht kenne; aber nach dem, was von seiner Uniform übriggeblieben ist, kann es nur der Hundefänger sein. Statt der zur Uniform gehörenden Schirmkappe hat er einen Eisbeutel auf dem Kopf und schaut verlorenen Blickes um sich. Aus einer Tür im Hintergrund gucken der Zirkusdirektor und ein ältliches weibliches Wesen, als Zimmermädchen aufgezäumt. In der anderen Ecke hält ein Polizist einen Sessel wie einen Schild vor sich. Den großen, freien Raum in der Mitte beherrscht Greg. Er sitzt in Habachtstellung mit gespitzten Ohren. Die Zunge hängt zur Hälfte aus der Schnauze, und die Vorderpfoten stehen fest und sicher auf einer schwarzen Ledermappe. Ich erkenne sie sofort als die, welche der Signor Cimurro bei sich hatte, als er das Haus verließ. Kaum sieht Greg mich, blinzelt er mir zu, rührt sich aber nicht vom Fleck. »Eine äußerst gelungene Party«, sage ich. »Alle schön warm beisammen.« Ich setze mich auf den Diwan Greg gegenüber und mache Goldkopf ein Zeichen, sich neben mich zu setzen. Goldkopf tut es und betrachtet die Mappe. »Diese Mappe gehört meinem Chef«, sagt sie. Ich sehe, wie Greg sich die Brust leckt. »Du hast ganz recht, Partner«, sage ich, dann wende ich mich an die Frau des Hauses: »Hör mal, Rote«, sage ich, »seit wann -115-
bietet man in diesem piekfeinen Haus seinen Gästen nichts zu trinken an?« »Wenn einer den Hund festhielte, könnte ich ihn endlich fertigmachen«, schlägt Kautschuk hoffnungsvoll vor. Tram macht zwei Schritte zum Diwan, aber Greg bremst ihn sofort mit Knurren und Zähnefletschen. »Schluß mit dem Theater«, sagt der Leutnant, »laß dir die Mappe geben, daß wir endlich gehen können.« »Alles zu seiner Zeit«, sage ich. Als ich sehe, daß keiner sich zu rühren traut, stehe ich auf und gehe zur Hausbar. Ich suche eine Tasse und finde sie auch, fülle sie mit Bourbon und gebe einen Eiswürfel hinein. Dann gehe ich zum Hundefänger hin, packe ihn bei den Resten seines Kragens und schleife ihn zur Bar, während er versucht, mit der Hand den Eisbeutel auf dem Kopf zu halten. »Nimm diese Tasse und bring sie meinem Partner«, sage ich. »Das ist die einzige Art, wie du dich bei ihm entschuldigen kannst.« Er nimmt die Tasse, bleibt aber nach zwei Schritten stehen und fängt zu zittern an. »Gib Obacht«, sage ich, »du verschüttest das gute Naß, geh schon, mein Partner tut dir nichts, solange ich da bin.« Der Hundefänger macht ein paar Schritte, dann stellt er mit ausgestrecktem Arm die Tasse auf den Boden. Gregorio trinkt, und man merkt, wie durstig er war. Ich gieße mir auch ein volles Glas Bourbon ein. Von meinem Standpunkt aus sehe ich Kirschenmarmelade in voller Figur. Sie steht nur zwei Schritte neben mir. »Welch ein Verlust für die Menschheit, daß du all die hübschen Sachen hinter dem Sessel verbirgst!« sage ich. »Komm schon raus, Rote!« Mit einem einzigen Blick trocknet sie mir die letzten Reste -116-
Feuchtigkeit aus meinem Anzug, so daß ich ihr beruhigt den Rücken zukehre und mich wieder auf meinen Diwan setze. »Hoffentlich war das die letzte Nummer von diesem Affentheater«, sagt Leutnant Tram. »Wie lange soll’s denn noch dauern?« »Nicht mehr lange«, sage ich. »Aber wenn ich fertig bin, kannst du dir einen, vielleicht sogar zwei Mörder mit nach Hause nehmen.« »Ich möchte nur dich und das Hundevieh mitnehmen«, sagt er, »aber vielleicht verrätst du mir inzwischen, wer der Ermordete ist und wo wir ihn finden können.« »In der Leichenhalle«, sage ich. »Er heißt Mauro Partitavintus.« »Hör zu, Pipa«, seufzt der Leutnant, »auch meine Geduld hat ihre Grenzen, und die hat sie jetzt überschritten. Wir haben bereits festgestellt, daß niemand aus dem Dreckslift herauskonnte.« »Wenn dein vielgeliebter Sergeant Kautschuk nicht ein wichtiges Beweisstück unterschlagen hätte«, sage ich, »wärst sogar du draufgekommen, daß da etwas faul ist. Du wirst ihn verhaften müssen wegen Beiseiteschaffung wichtigen Beweismaterials.« »Boß, der hat doch nicht alle Tassen im Schrank!« schreit Sergeant Kautschuk, »sonst könnte er nicht so saudumme Geschichten erfinden. Lassen Sie mich ihn endlich…« »Raus mit der Sprache, verdammt nochmal!« brüllt der Leutnant mich an. »Noch ist der Augenblick nicht da«, sage ich. »Erst will ich wissen, wieso mein Partner mit dieser Mappe hier ist und wer dieses Massenaufgebot arrangiert hat.« »Dein Mistköter hat sich hinter dem Signor Cimurro in den Lift geschlichen, als er herauffuhr«, sagt der Leutnant. »Signor -117-
Cimurro hat ihn erst bemerkt, als er im vierten Stock ausstieg. Greg hatte die Mappe im Maul, und Signor Cimurro hat versucht, sie ihm wegzunehmen.« »Das reicht schon«, sage ich, »mehr brauche ich nicht zu wissen. Greg hat die Mappe natürlich nicht hergegeben und sie auf seine Weise verteidigt. Irgendwer hat den Portier gerufen, der Portier hat die Polizei geholt. Die Polizei, der ja nie etwas Gescheites einfällt, hat den Hundefänger kommen lassen, und dieser arme Teufel hat sein möglichstes getan; nur hatte ihn niemand gewarnt, daß er sich nicht einem Hund, sondern einem Rudel Wölfe stellen mußte. So hat die Polizei auch noch den Leutnant Tram zu Hilfe gerufen, und der wiederum hat dann mich suchen lassen, womit sich die Schlange in den Schwanz beißt. Mein Partner hat jedenfalls sein Ziel erreicht: er wollte alle, die am Fall Partitavintus beteiligt sind, zusammenbringen.« »Und warum?« fragt der Leutnant. »Weil ich glaube, daß diese Mappe die Beweise für die Ermordung des Signor Partitavintus enthält«, sage ich.
-118-
Elftes Kapitel Meinen Scheck habe ich mir ehrlich verdient, und mit meinem Berufsethos bin ich wieder auf gleich: und auch mit jemand anderem, wenn Sie nichts dagegen haben.
Ich schaue mich um. Alle bleiben wie angenagelt an ihren Plätzen. Nur der Hundefänger scheint sich zu ermuntern und schleicht um die Hausbar in der Hoffnung, sich einen kleinen Seelentrost einverleiben zu können. Goldkopf hat eine Hand auf meinen Arm gelegt. Kirschenmarmelade lehnt hingegossen in einem Fauteuil und geizt nicht mit ihren überschäumenden Reizen, fährt sich jedoch des öfteren nervös durch ihren Haarwald. Signor Cimurro wirft lange Blicke auf die schwarze Mappe, die immer noch unter Gregs Pfoten liegt. »Wo waren Sie gestern abend um elf Uhr?« frage ich den Signor Cimurro. Mit einer Hand verschiebt er das Handtuch, das ihm auf den Hals gerutscht ist. »Im Blauen Kanister«, sagt er; »ich war mit Signora Partitavintus verabredet.« »Unmöglich«, wirft Goldkopf ein. »Sie konnten gar nicht mit der Signora verabredet sein, denn Signor Partitavintus wollte mit seiner Frau ausgehen und hat nur gewartet, bis ich das Haus verließ.« -119-
»Dummes Stück!« zischt es aus Kirschenmarmelades Mündchen. Ich stehe auf, und als ich bei ihr bin, haue ich ihr eine mit der Handfläche aufs Maul, daß ihr der Kopf in der Sesselpolsterung steckenbleibt. »Keiner hat dich um deine Meinung gefragt«, sage ich. Ich gehe quer durchs Zimmer auf den Leutnant Tram zu. »Heute bin ich zu ihr gekommen, ihr mein Beileid auszusprechen«, sage ich, »und im Hinauffahren habe ich diesen Cimurro gesehen, der mich vom Treppenabsatz des dritten Stockes aus beobachtete. Dann hat er gewartet, bis ich wegging, und ist wieder hinauf. Die Tatsache, daß ich meine Nase immer noch in dieser müden Selbstmordstory stecken habe, scheint ihm und ihr arg im Magen zu liegen; so mußten sie sich beeilen, die Beweise des Verbrechens beiseite zu schaffen. Und wirklich trug Cimurro bei seinem Weggehen eine schwarze Mappe bei sich, die er vorher nicht hatte. Ich habe meinen Partner mit der Verfolgung dieses Gentlemans beauftragt und ihm eingeschärft, die Mappe nicht aus den Augen zu lassen. Aber noch etwas mußte verschwinden: vier Zettel mit Notizen des Signor Partitavintus, die sich entweder im Schreibtisch oder in der Handtasche von Miß Noster befanden. Wahrscheinlich hat die Rote gesehen, wie ihr Mann sie seiner Sekretärin gab. So hat Cimurro die Vernichtung, des Beweismaterials seiner Mappe auf später verschoben, hat dieselbe zu Hause gelassen und ist in die Fabrik gegangen. Er hat den Hofeingang benützt; und wie er den Saal im Dunkeln durcheilt, merkt er, daß er nicht allein ist. Gerade in diesem Moment habe ich, ohne es zu wollen, den Wirbelsturm im Windtunnel ausgelöst. Diese für ihn günstige Gelegenheit hat er benützt und mich mit irgendeinem der herumliegenden Werkzeuge auf den Kopf getroffen. Anschließend hat er den Taifun abgestellt, ist hinauf ins Büro von Miß Noster und hat auch sie mit demselben Instrument zusammengeschlagen. -120-
Dann hat er die Notizen gesucht und auch gefunden und ist nach Hause zurück. Dort war aber die Mappe nicht mehr, und so ist er in Panikstimmung hierher gerannt zu seiner Herzallerliebsten und Komplizin.« »Du mit deiner schmutzigen Phantasie«, sagt Kirschenmarmelade zu mir; aber der Cimurro fängt zu zittern an, als hätte die Erde gebebt. »Hier drinnen ist jemand mit einer noch viel schmutzigeren Phantasie«, sage ich, »das müßtest du am besten wissen, Rotkopf!« »Ich glaube nicht, daß jemand ähnlich lächerliche Geschichten erfinden kann«, schnappt sie zurück. Ihre Flöte hat jeden Wohlklang verloren, sie scheint jetzt eine rostige Gießkanne im Halse zu haben. Eigentlich schade, bei diesem erlesenen Publikum! Ich stelle mich vor Cimurro hin und sehe ihn scharf an. »Ist es so oder nicht?« frage ich. »Stimmt meine Rekonstruktion, oder findest du, daß mir irgendein kleiner Fehler unterlaufen ist?« Er schaut nicht mich an, sondern sein Bein, das ohne Hose. Ich stelle fest, daß Greg ihm auch die Sockenhalter aufgemacht hat; denn die herzigen, rotblau gestreiften Söckchen hängen traurig herunter. Sehr elegant sieht das natürlich nicht aus. Ich nehme den Sockenhalter und schließe ihn wieder um seine Wade. Damit hoffe ich, sein Ansehen bei der anwesenden Damenwelt einigermaßen wiederhergestellt zu haben; aber er zittert trotzdem weiter. Ich suche mit dem Blick einen schweren Gegenstand, einen Briefbeschwerer, den ich ihm aufsetzen könnte, um das Zittern zu unterdrücken; aber ich finde nichts Geeignetes, und so wende ich mich achselzuckend an Leutnant Tram. »Donner und Doria«, sagt der, »kommst du jetzt endlich oder nicht?«, macht einen Schritt auf mich zu, aber sofort wieder zwei zurück, als er Greg sieht. -121-
»Ich gestehe«, sage ich, »daß ich nicht die leiseste Ahnung habe, was in der Mappe ist. Sicher nicht nur ein Stück Nylonschnur, denn die kann man schnell verschwinden lassen.« Ich verlagere mich in die Mitte des Wohnzimmers. Gregorio versteht sofort, was ich will, und nimmt die Pfoten von der Mappe. Er setzt sich dann einen halben Meter weiter weg wieder hin. Ich bücke mich, um die Mappe aufzuheben, und berühre sie schon fast mit den Fingerspitzen, als meine grauen Zellen plötzlich höchste Alarmstufe signalisieren. Mein Hinunterbücken hat eine Ideenassoziation bewirkt, die mich beinahe lahmt. Ich lasse die Mappe liegen und richte mich im Zeitlupentempo wieder auf. Als ich in der Höhe bin, stecke ich die Hände in die Taschen. »Jetzt«, sage ich, »glaube ich zu wissen, was in der Mappe ist. Die Bewegung, die ich eben gemacht habe, um die Mappe aufzuheben, erklärt nicht nur die Position der Kugel in der Liftwand, sondern auch den ganzen Hergang des Verbrechens.« Ich wende mich an Cimurro. »Du hast recht, Sonnyboy«, sage ich, »du hattest tatsächlich eine Verabredung mit Kirschenmarmelade im Blauen Kanister; aber das eine schließt das andere nicht aus: auch Signor Partitavintus wollte mit seiner Frau ausgehen. Und er hat die Wohnung auch mit ihr verlassen, aber weiter als bis zum Lift ist er nicht gekommen. Die schmutzige Arbeit hat sie ganz allein gemacht, auch wenn der Plan von euch beiden ausgeknobelt war.« Kautschuk hat immer noch ein sardonisches Grinsen auf den Lippen und zeigt sich ungeduldig. Tram dagegen hat seinen Blick auf meinem Charakterkopf festgenagelt, und Goldkopf himmelt mich an wie einen direkt aus der Stratosphäre heruntergeschwebten Cherub. »Mach schon weiter«, sagt Tram. -122-
»Wenn ich mich nicht irre«, sage ich, »enthält diese Ledermappe eine kleine, harmlose Abendtasche mit einem Loch, dessen Ränder verbrannt sind. Eine kleine Abendtasche, die aber nicht so klein ist, daß nicht ein Revolver darin Platz fände.« Cimurro schluckt und schaut auf Kirschenmarmelade. »Anscheinend stimmt Signor Cimurro, was den Inhalt der Tasche betrifft, mit mir überein«, sage ich. »Und wie steht’s mit dir, Kirschenmarmelade, hast du nichts einzuwenden?« Niemand sagt einen Ton, und niemand hilft mir, also muß ich alles allein machen. »Wenn mir die Herrschaften liebenswürdigerweise noch zuhören wollen«, sage ich, »glaube ich den Fall in all seinen Einzelheiten rekonstruieren zu können.« Ich brauche nicht um Ruhe zu bitten. Im Zimmer hört man nur das Hecheln meines Partners und ein leises Klingen der Gläser und Flaschen, die sich der Hundefänger in unerhörtem Tempo einzuverleiben beschlossen hat. Ich wende mich nun an den Leutnant Tram und spreche zu ihm, aber alle hören wie hypnotisiert zu. »Das Ehepaar Partitavintus ist fertig zum Ausgehen. Er im Abendanzug und Überrock, sie im Abendkleid und Pelz.« »Nerz, bitte«, wirft Kirschenmarmelade ein, »immer korrekt bleiben!« »Entschuldige«, sage ich, »korrigiere mich nur, wenn ich etwas Falsches sage, auch ich bin für absolute Korrektheit.« Ich wende mich wieder an Tram. »Siehst du die Szene vor dir, Leutnant?« frage ich. »Sie gehen zum Lift. Als er oben ist, öffnet Partitavintus die Tür und läßt seiner Frau den Vortritt. Sie geht hinein, und er folgt ihr. Sie kramt in ihrer Tasche und läßt etwas hinunterfallen. Vielleicht ein Taschentuch oder sonst etwas. Ihr Mann bückt sich, um es aufzuheben. Im Bücken hat er den Kopf genau in Höhe der Ta-123-
sche, streift sie vielleicht sogar mit der Schläfe. Die gnädige Frau hat nur abzudrücken und gerade so weit beiseitezutreten, daß ihr Mann in der richtigen Lage zu Boden fallen kann. Nun nimmt sie ihr Taschentuch, putzt den Griff der Waffe ab und steckt sie dem Toten in die Hand. Dann macht sie in aller Gemütlichkeit die letzte Arbeit: sie nimmt eine Nylonschnur, die sie schon im voraus an genau den richtigen Stellen mit einem kleinen Knoten versehen hat, befestigt sie mit einem Reißnagel am rechten Türflügel, läßt sie unter dem Arm ihres Opfers durchlaufen und verläßt den Lift mit dem anderen Ende der Schnur in der Hand. Sie schließt die beiden Innentüren, macht auch die Außentüre zu und drückt auf den Knopf, das heißt, sie schickt den Lift hinunter und läßt die Nylonschnur bis zu dem vorbereiteten Knoten durch ihre Hand laufen. Dann hält sie sie fest; die Schnur spannt sich, bis sich durch den Druck die Innentüre des Lifts öffnet. Genau zwischen dem zweiten und dritten Stock, an dem vorher bestimmten Punkt. Ein kleiner Riß, und der Reißnagel löst sich vom Türflügel. Sie zieht den Faden zu sich hoch, aber nicht den Reißnagel, der zu dick ist, um durch den Spalt der Außentüre zu schlüpfen. Alles hat prächtig geklappt. Die geniale Neowitwe versteckt die Abendtasche, nimmt eine andere, geht die Treppen hinunter und in den Blauen Kanister, wo sie mit ihrem Herzensschatz den Erfolg ihrer Unternehmung feiert. Der Selbstmord scheint so evident, daß es niemandem einfällt, nach einer Abendtasche mit einem versengten Loch zu suchen; deshalb eilt es nicht sehr, die Tasche zu vernichten.« »Ich habe aber keinen Reißnagel gefunden«, sagt Tram, »und ich habe Zentimeter um Zentimeter im Lift abgesucht.« »Ich weiß«, sage ich, »und wenn einer dagewesen wäre, hättest du ihn sicher gefunden. Ich weiß aber auch, daß Kautschuk als erster den Lift betreten hat.« »Was willst du damit sagen?« sprudelt Kautschuk wie eine frisch geöffnete Selterswasserflasche. -124-
Ich lege eine Hand auf seine Heldenbrust, stoße leicht zu und stelle ihm ein Bein, so daß er in seiner ganzen Länge und Breite auf den Teppich plumpst. Bevor er überhaupt erfaßt, was los ist, packe ich seine Beine, hebe sie hoch und halte seine Schuhsohlen dem Leutnant unter die Nase. »Da hast du ihn, den Reißnagel«, sage ich. Ich muß ein Taschenmesser zu Hilfe nehmen, um ihn aus der Sohle seines linken Kahnes herauszupulen, aber endlich habe ich ihn. Tram nimmt ihn und wirft einen Blick auf seinen Sergeanten, wie wenn dieser soeben seinen Vater umgebracht hätte. »Heut’ abend rechnen wir ab«, sagt er. »Du müßtest ihn wenigstens ein Vierteljahr in Eisen schließen, mit sieben Fasttagen in der Woche«, sage ich, »vielleicht lernt er dann, was ein Polizist wissen muß.« Ich hebe die Mappe vom Boden auf und öffne sie. Sie enthält eine silberne Abendtasche mit Blumenmuster. In der Ecke hat sie ein versengtes Loch. Und drin steckt eine aufgewickelte Nylonschnur. Ich werfe sie Tram zu. »Jetzt hast du alles«, sage ich. »Du könntest dir höchstens noch von Cimurro die Notizblätter geben lassen; aber die brauchst du eigentlich nicht einmal mehr.« Goldkopf schaut abwechselnd Kirschenmarmelade und Cimurro an und versteht die Welt nicht mehr. »Die beiden…« sagt sie. »Wer hätte das gedacht, unser Direktor ein Mörder…« Signor Cimurro zittert immer heftiger. Kirschenmarmelade fährt sich wieder und wieder mit allen zehn Fingern durch ihre Mähne und scheint zu überlegen, mit welcher Pose sie sich ein Höchstmaß an mildernden Umständen verschaffen kann. -125-
Der Leutnant tupft mich auf die Schulter. »Komm mit«, sagt er, »und daß sich keiner von hier wegrührt!« »Keine Angst!« sage ich. »Greg ist ja da.« Ich folge ihm in die Diele. Der Lift steht da, und seine Türen sind offen. Ich zeige ihm die Löcher, die die Reißnägel hinterlassen haben. »Es sind zwei«, sage ich, »weil sie erst eine Probe gemacht haben, um festzustellen, wie lang die Nylonschnur sein mußte.« Tram nimmt den Faden, befestigt ihn mit dem Reißnagel unmittelbar über den anderen beiden Löchern und sagt: »Mal sehen, ob es stimmt.« Er geht in die Kabine, legt sich genau so hin, wie man Partitavintus gefunden hat, und ich führe ihm die Schnur unter dem Arm durch und schließe die Innentüren. Dann mache ich auch die Außentür zu und schicke den Lift hinunter. Ich fühle, wie die Schnur in meinen Fingern abläuft, und als ich einen kleinen Knoten spüre, halte ich die Schnur fest: ich höre, wie sich die Innentüre öffnet; und der Lift bleibt stehen. Mit einem kleinen Ruck ziehe ich die Schnur zu mir herauf. Als Tram wieder oben ist, springt er wie ein Tiger aus dem Lift. »Kautschuk, dieser Obertrottel, ist an allem schuld!« brüllt er. Er saust in die Diele hinein und weiter ins Nebenzimmer, und ich hinterher. Gregorio sitzt dem Signor Cimurro auf der Brust; nicht sehr fest allerdings, denn dieser Feigling zittert immer weiter, und Greg hat daher Mühe, seinen Platz zu behaupten. Kautschuk hat seinen linken Stiefel ausgezogen und mustert ihn verblüfft.
-126-
Der von allen vergessene Hundefänger ist blau wie ein Märzveilchen, er muß die ganze Hausbar ausgesoffen haben. Er hält Kirschenmarmelade umschlungen, flüstert glühende Liebesworte und schwimmt in einem Meer roter Haare. »Sie sind verhaftet!« schreit der Leutnant. Ich habe gerade noch Zeit, den schuhlosen Plattfuß meines Freundes Kautschuk noch platter zu treten, als ein süßer kleiner Panther auf mich zuspringt und mich mit den Armen umschlingt. Ich sehe einen goldenen Helm und merke, daß es wieder in meine Brusttasche regnet. Jetzt bin ich schon so abgehärtet gegen Feuchtigkeit, daß es mir nichts mehr ausmacht; aber mein Tank ist leer und muß schleunigst aufgefüllt werden. Vielleicht hat der Hundefänger doch noch ein paar Tropfen Bourbon übriggelassen. Ich nehme Goldkopf vorsichtig auf den Arm, um ihren Kopf dort zu lassen, wo sie ihn hingebettet hat, und trage sie mit mir zur Hausbar. Tatsächlich finde ich ganz hinten eine sogar noch volle Flasche. Ich hole sie hervor, ziehe den Korken mit den Zähnen heraus und schenke mir ein. Was um mich herum geschieht, ist mir einerlei. Ich höre allerlei Geräusche, ein Getümmel und ein hysterisches Heulen, ob es Kirschenmarmelade ist oder ihr schneidiger Liebhaber, interessiert mich nicht mehr. Ich habe mir den Scheck verdient, der in meiner Tasche steckt, und das reicht mir. Jetzt versorge ich auch Greg mit Bourbon, der mich schon ungeduldig mit der Schnauze anstößt. Er ist doch ein toller Knabe, mein Partner, und verdient eine ganze Flasche für sich allein. Der Leutnant Tram nimmt mich beim Arm. »Komm ins Präsidium«, sagt er. »Gehen wir.« Ich drehe mich um. -127-
Alle sind weg, außer dem Leutnant und Kautschuk, der damit beschäftigt ist, seinen Schuh wieder anzuziehen. Ich hake Goldkopf unter, und so verlassen auch wir hinter Tram die Wohnung. »Du bist mir noch eine Erklärung der Sache mit Punkt und Komma schuldig«, sagt er. »Sie werden in der Zentrale schon auf dich warten«, sage ich, »wenn sie einander noch ein paar Fetzen Haut auf den Knochen gelassen haben.« Wir halten vor der offenen Lifttüre. »Fahrt nur ihr zwei hinunter«, sage ich. »Wir kommen nach, denn zu viert haben wir keinen Platz.« »Mach aber schnell«, sagt er. »Hole den Lift gleich wieder herauf.« Er steigt ein, gefolgt von Kautschuk. Es gelingt mir noch, einen gut gezielten Tritt auf seinem dikken Hintern zu landen; und das ist gut so, denn er wäre sicher beleidigt, wenn ich mir diese Gelegenheit hätte entgehen lassen. Und dann muß ich mich ja auch noch bedanken für den Volltreffer mit beinahe tödlichem Ausgang, gerade hier vor der Lifttüre. Der Lift fährt abwärts, und wir warten. »Du gehst zu Fuß hinunter«, sage ich zu Greg; »in einer Stunde treffen wir uns in der Fledermaus.« Er wird schon finden, wo es zur Treppe hinausgeht. Ich hole den Lift herauf, und kaum steht er still, sind wir auch schon drin. Goldkopf trocknet sich die letzten zwei Tränen mit den Fingerspitzen, schaut mich an und lächelt. »Ich habe den Chef wirklich gern gehabt«, sagt sie. »Er war wie ein Vater zu mir und hat viel für mich und meine Familie getan.« -128-
Wir rumpeln langsam abwärts, und die Stockwerke ziehen an uns vorüber, langsam und zögernd, eines nach dem anderen. Dieses Mal komme ich ihr entgegen und, auf ihrem Mund angelangt, rühre ich mich nicht mehr. Auch der Lift ist angelangt, aber ich finde sofort den Knopf zum vierten Stock, und bevor einer die Türen aufmachen kann, schweben wir schon wieder empor, weiter, immer weiter… Wer hätte das gedacht, heute! Die Kabine steigt hoch und höher, und wir mit ihr. Und wir haben vergessen, wo wir sind. Vielleicht im siebenten Himmel.
-129-