Lyon Sprague de Camp
Ein Dämon mit kleinen Fehlern
Revised by AnyBody
Die Welt ist ja bekanntlich in 12 Ebenen aufget...
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Lyon Sprague de Camp
Ein Dämon mit kleinen Fehlern
Revised by AnyBody
Die Welt ist ja bekanntlich in 12 Ebenen aufgeteilt. Nun ist es allerdings Ansichtssache, wo die erste und wo die zwölfte liegt. Menschen und Dämonen meinen natürlich beide, daß SIE jeweils auf der ersten leben und nicht auf der zwölften. Wie auch immer: Den Dämonen geht das Eisen aus, und so zwingt sie ihre Regierung, sich bei den Menschen zu verdingen und dafür Eisen anzuschaffen. Auch wenn man wie der Held der Geschichte eigentlich Philosoph ist und frisch verheiratet, wird man doch gezwungen, sich wie jeder stinknormale Söldnerdämon in das Pentagramm zu stellen und sich beschwören zu lassen – wie erniedrigend! Doch das dicke Ende kommt noch: das Leben auf der Ebene der Menschen – nicht auszuhalten! ISBN 3453306503 THE FALLIBLE FIEND (1980) Wilhelm Heyne Verlag 1980
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch Ob Sie’s glauben oder nicht, auch wir Dämonen werden eingezogen... Unsere Ebene - die Zwölfte sei es, sagen die eingebildeten Menschen, für uns ist es natürlich die Erste - leidet an einem empfindlichen Eisenmangel. So bleibt uns gar nichts anderes übrig als uns zu verdingen. Die Bevölkerung wächst, der Lebensstandard auch, das bedeutet Eisen und immer mehr Eisen! “Junge Mitbürger”, heißt es, “ihr müßt eure Privatinteressen zurückstellen. Das Gemeinwohl geht vor.” Kurzum, ich hatte mich innerhalb von drei Tagen zur Beschwörung einzufinden. Yeth, meine junge Frau, hat eben ein Nest voll niedlicher Eier gelegt, gab ich zu bedenken, die Ernte steht ins Haus, und überhaupt sei ich doch mehr der Typ des Philosophen als der des Söldners. Doch der Provost ließ meine Einwände nicht gelten. “Stell dich endlich auf das Pentagramm!” schnauzte er ungeduldig. Ich tat wie geheißen, und der Techniker schloß die Zeichnung mit einem Stück Holzkohle. Dann mußte ich eine halbe Zeitkerze abwarten. Schließlich glühten die Linien der Figur rot auf, und dann - ffftoom! - war ich in der Welt, die ihre eitlen Bewohner selbstgefällig die Erste Ebene nennen. Und das ist eine verrückte Welt, diese Menschenwelt, ich kann Ihnen sagen! Und erst diese Erstebener! Lassen Sie sich erzählen... ... Ein weiterer kauziger, satirischer Fantasy-Roman des Altmeisters L. Sprague de Camp, dessen Werk in Einzelbänden in der SF- und Fantasy-Reihe bei Heyne erscheint.
Inhalt Buch.........................................................................................................2 Inhalt........................................................................................................3 I. Doktor Maldivius .................................................................................5 II. Jimmon der Syndikus........................................................................18 III. Bagardo der Große...........................................................................33 IV. Madame Roska ................................................................................56 V. Laroldo der Bankier ..........................................................................74 VI. Aithor aus den Wäldern...................................................................97 VII. Gavindos der Archont ..................................................................116 VIII. Yurog der Schamane...................................................................123 IX. Kahn Theorik.................................................................................136 X. General Ulola..................................................................................154 XI. Prinz Hvaednir...............................................................................178 XII. Admiral Diodis.............................................................................195
Für Isaac Asimov, der nach mir angefangen, aber trotzdem mehr Bücher geschrieben hat. Ego te olim assequar!
I. Doktor Maldivius Am ersten Tag im Monat der Krähe, im fünften Jahr von König Tonio von Xylar (laut dem novarianischen Kalender) erfuhr ich, daß ich zum einjährigen Dienst auf der Ersten Ebene, wie die dort Lebenden sie prahlerisch nennen, einberufen worden war. Sie bezeichnen unsere Ebene als die Zwölfte, wogegen aus unserer Sicht unsere die Erste Ebene ist und ihre die zwölfte. Aber da dies die Geschichte meines Diensts auf der Ebene ist, von der Novaria einen Teil bildete, werde ich ihre Begriffe verwenden. Ich wandte mich sofort an den Hof des Provost von Ning. Ich hatte den Provost vor seiner Erhebung gekannt. Als JungDämonen hatten wir im Sumpfland von Kshak gemeinsam Flitzeblumen gejagt, und ich hoffte, auf der Grundlage dieser alten Freundschaft die Freistellung beantragen zu können. Ich sagte: “Mein lieber alter Hwor, wie schön, dich wiederzusehen! Dir geht es wohl, nehme ich an?” “Zdim Akhs Sohn”, sagte Hwor ernst, “du müßtest doch wissen, daß du deinen Provost in Ausübung seines Amtes nicht so vertraulich anreden darfst. Lassen wir den geziemenden Anstand walten.” “Also...ähh...”, stammelte ich. “Ich bitte um Vergebung, Lord Provost. Und nun, was den Einberufungsbescheid angeht, sollte ich, glaube ich, Zurückstellung beantragen.” “Mit welcher Begründung?” fragte der Provost mit kratziger Amtsstimme. “Imprimis mit der Begründung, daß meine Gefährtin, Yeth, Ptygs Tochter, gerade ein Nest voll niedlicher Eier gelegt hat und mich zu Hause braucht, um bei ihrer Bewachung zu helfen. Secundus bin ich, da in Philosophie und Logik ausgebildet, für -5-
die Art wilden, abenteuerlichen Lebens ungeeignet, welches einen, wie ich gehört habe, auf der Ersten Ebene erwartet. Tertius ist der Philosoph Khrum, dessen Schüler ich bin, zu einem zweiwöchigen Angelausflug aufgebrochen und hat seine Habe, seinen Briefwechsel und seine Schüler meiner Obhut hinterlassen. Und quartus ist unser Krischelgetreide fast reif und wird meine Anwesenheit bei der Ernte erfordern.” “Zurückstellung abgelehnt. Imprimis werde ich einen Amtsdiener abstellen, um deiner Gefährtin bei der Bewachung der Eier und der Ernte des Getreides zu helfen. Secundus bist du neben deiner Philosophie auch in Erstebenengeschichte wohlbelesen und besser als die meisten Dämonen, die dorthin gesandt worden sind, dazu befähigt, es mit den Erfordernissen jener Welt aufzunehmen. Tertius werden einige Tage Abwesenheit den Schülern und Korrespondenzpartnern des verehrten Khrum nicht schaden. Und quartus müssen wir jemanden haben, und dein Name ist bei der Ziehung aufgetaucht. Unsere wachsende Bevölkerung und unser zunehmender Lebensstandard erfordern immer mehr Eisen, und private Interessen müssen sich dem Gemeinwohl unterwerfen. Du wirst dich also in drei Tagen hier zur Beschwörung melden.” Drei Tage später gab ich Yeth einen Abschiedsbiß und kehrte zum Hof des Provost zurück. Hwor gab mir einen Rat mit auf den Weg: “Du wirst den Durchschnitts-Erstebener als sanftes, schwaches Geschöpf vorfinden. Unbewaffnet stellt er keine Bedrohung dar. Das Volk dieser Ebene hat jedoch ein Arsenal tödlicher Waffen erfunden, mit der es barbarischen Kriegskünsten nachgeht. Setze dich nicht ohne Not der schädlichen Wirkung dieser Waffen aus. Wenn wir Dämonen auch stärker, zäher und langlebiger sind als die Menschen auf der Ersten Ebene, so ist es dennoch nicht mit Gewißheit festgestellt, ob wir Seelen haben, die sich, wie die Seelen der Erstebener, nach dem Tod einfach in eine andere Dimension begeben.” -6-
“Ich werde vorsichtig sein”, sagte ich. “Khrum lehrte mich, daß die Nachwelt der Ersten Ebene ein ungewöhnlicher Ort ist, wo Götter schwächliche Geister sind, wo die Magie keinerlei Kraft besitzt und die meiste Arbeit von Maschinen getan wird. Er versicherte mir, daß es logischerweise, um die Symmetrie des Kosmos zu wahren, eine Nachwelt geben sollte, die unserer Ebene auf die gleiche Weise verbunden ist...” “Wie auch immer”, sagte Hwor. “Du mußt entschuldigen, aber ich habe einen wohlgefüllten Arbeitsplan. Achte auf deine Sicherheit, leiste treue Dienste und gehorche den Gesetzen der Ersten Ebene.” “Aber was ist, wenn diese Gesetze sich gegenseitig widersprechen? Oder wenn mein Meister mir aufträgt, eine Ungesetzlichkeit zu begehen?” “Du wirst so gut du kannst damit zurechtkommen müssen.” Er streckte eine Klaue aus. “Stell dich endlich auf das Pentagramm!” schnauzte er ungeduldig. Ich tat wie geheißen, und der Techniker schloß die Zeichnung mit einem Stück Holzkohle. Dann mußte ich eine halbe Zeitkerze abwarten. Schließlich glühten die Linien des Pentagramms rot auf. Dadurch wußte ich, daß derjenige, der mich unter Vertrag genommen hatte, mit seinem Zauberspruch fertig war. Und dann - ffftomm! - verschwand das Zimmer des Provost und statt dessen stand ich in einer grob behauenen unterirdischen Kammer auf einem Pentagramm, genau wie das in meiner eigenen Welt. Ich wußte, daß ein Hundert-Pfund-Barren aus Eisen auf dem Pentagramm gelegen hatte, wo ich jetzt stand, und daß dieser Barren meinen Platz in der Zwölften Ebene eingenommen hatte. Unser unglückseliger Eisenmangel zwingt uns, unsere Bürger als Leibdiener an die Erstebener zu verpflichten. Die Kammer war kreisförmig, etwa sechs Meter im -7-
Durchmesser und halb so hoch. Die Wand besaß eine einzige Öffnung in einen dunklen Tunnel hinein. Die Luft war von feuchtkalter, toter Beschaffenheit. Ein Paar prunkvoller Messinglampen beleuchteten die Kammer. Bücher füllten die Regale rings um die Wände. Zur Möblierung gehörten Sessel, Tische und ein Diwan, alles abgenutzt und schäbig. Die Tische waren mit Schüsseln, Kohlebecken, Waagen, Mörsern und anderen Werkzeugen des Zauberhandwerks überhäuft. Auf einem kleinen Ständer ruhte eine Halterung, in welcher eine blaue Kugel von der Größe der Faust eines Menschen lag. Es handelte sich offensichtlich um einen magischen Edelstein, denn er strahlte in flackerndem Schein. Zwei menschliche Geschöpfe waren in der Kammer. Das ältere war ein dünner Mann mit hängenden Schultern; er war fast so groß wie ich, für einen Erstebener eine beachtliche Größe. Er hatte einen buschigen grauen Backenbart, ebensolche Haare und Augenbrauen, und war mit einem flickenbesetzten schwarzen Umhang bekleidet. Das andere war ein kurzer, stämmiger, dunkelhäutiger, schwarzhaariger Junge von etwa fünfzehn Jahren; er trug Wams und Kniehosen und hielt einige der Utensilien des Zauberers. Meine Fühler nahmen feindliche Schwingungen von dem Jungen auf, obschon ich damals noch nicht genug Erstebener kennengelernt hatte, um seine Gefühle zu interpretieren. Aus der Art, wie der Bursche vor mir zurückschrak, schloß ich jedoch, daß Angst einen wesentlichen Bestandteil von ihnen ausmachte. “Wer bist du?” fragte der Ältere auf Novarianisch. “Ich - Zdim Akhs Sohn”, erwiderte ich langsam. Obwohl ich die Sprache in der Schule studiert hatte, hatte ich mich nie mit eingeborenen Novarianern unterhalten. Erst allmählich gewann ich daher an Flüssigkeit. “Wer - ihr?” “Man nennt mich Doktor Maldivius, den Wahrsager”, -8-
erwiderte der Mann. “Das ist Grax von Chemnis, mein Lehrling.” Er wies auf den Jungen. “Katzenwels!” sagte Grax. “Benimm dich!” sagte Maldivius. “Die Tatsache, daß Zdim dienstverpflichtet ist, gibt dir nicht das Recht, ihn zu beleidigen.” “Was - ist - Katzenwels?” fragte ich. “Ein Fisch, der in...äh... Flüssen und Seen auf dieser Ebene vorkommt”, erklärte Maldivius. “Das Fühlerpaar auf deiner Oberlippe erinnert ihn an die Bartfäden dieses Fischs. Nun gut, du hast dich verpflichtet, mir ein Jahr zu dienen. Ist das klar?” “Jawohl.” “Jawohl, Sir!” Ärgerlich kringelte ich meine Fühler, aber dieser Kerl hatte mich in der Hand. Obgleich ich ihn hätte leicht in Stücke reißen können, hätte mein Fehlverhalten mir Ärger eingebracht, sobald ich zu meiner eigenen Ebene zurückkehrte. Übrigens weist man uns vor der Beschwörung darauf hin, uns von nichts, was die Erstebener tun, überraschen zu lassen. “Jawohl, Sir”, sagte ich. Für jemanden, der noch nie einen Erstebener gesehen hat, sind sie abstoßend. Statt einer Hülle prächtiger blaugrauer, metallisch schimmernder Schuppen haben sie weiche, fast nackte Häute in verschiedenen Schattierungen von Rosa, Gelb und Braun bis Schwarz. Ursprünglich Bewohner der Tropen, passen sie sich an kühleres Klima an, indem sie diese Häute mit gewirkten Geweben bedecken. Ihre innere Wärme, kombiniert mit der von diesen “Bekleidung” genannten Geweben erzeugten Isolierung, versetzt sie in die Lage, eine Kälte zu überleben, die einen Dämon erstarren ließe. Ihre Augen haben runde Pupillen mit nur geringer Anpassungsfähigkeit ans Licht; daher sind sie bei Nacht fast -9-
blind. Sie haben komische kleine runde Ohren. Ihre Gesichter sind eingesunken, ihre Rüssel und ihre Fangzähne sind kaum mehr als verkümmerte Überreste. Sie haben keine Schwänze, und ihre Finger und Zehen enden in flachen, rudimentären Klauen, die sie komischerweise “Nägel” nennen. Wenn sie auch in Erscheinung und Benehmen oft bizarr erscheinen mögen, sind sie andererseits ausgesprochen gewitzt und erfindungsreich. Geradezu unendlich fruchtbar sind sie dabei, plausible Gründe dafür auszudenken, das zu tun, was sie tun wollen. Ich war erstaunt zu erfahren, daß sie Ausdrücke wie “teuflisch schlau” und “ungeheuer gerissen” haben. Nun sind “Teufel” und “Ungeheuer” Schimpfworte, mit denen sie uns Dämonen belegen - als besäßen wir mehr von dieser perversen Erfindungsgabe als sie! “Wo - bin - ich?” fragte ich Maldivius. “In einem unterirdischen Labyrinth unter den zerfallenen Tempeln von Psaan, nahe der Stadt Chemnis.” “Wo ist das?” “Chemnis ist in der Republik von Ir, einer der Zwölf Nationen von Novaria. Chemnis liegt an der Mündung unseres größten Flusses, des Kyamos. Die Hauptstadt von Ir befindet sich neun Wegstunden entfernt am Oberlauf des Kyamos. Ich habe dieses Labyrinth wieder in Stand gesetzt und die zentrale Kammer zu meinen Sanktum gemacht.” “Was wollen Sie von mir?” “Deine wichtigste Aufgabe wird sein, diese Kammer zu bewachen, wenn ich abwesend bin. Meine Bücher und magischen Hilfsgeräte - vor allem dies da - sind sehr wertvoll.” “Was ist das, Sir?” - “Ähem. Das ist der Sibyllinische Saphir, ein wahrsagender Kristall höchster Qualität. Du wirst ihn sorgfältig bewachen, und wehe dir, wenn du den Ständer achtlos umstößt und den Edelstein zerbrichst!” “Sollte ich ihn dann nicht besser mehr zur Seite stellen, wo er nicht so im Wege ist?” fragte ich. Der Junge Grax runzelte die Stirn - diese Menschengeschöpfe -10-
haben sehr bewegliche, ausdrucksvolle Gesichter, wenn man erst einmal lernt, sie zu interpretieren - und blickte mich feindselig an. “Ich mache das”, sagte er. “Ich traue dem alten Katzenwels nicht.” Er rückte den Ständer und wandte sich mir zu. “Als nächstes, Meister Katzenwels, wirst du für uns kochen und putzen, haha!” “Ich? Kochen und putzen?” fragte ich. “Frauenarbeit! Ihr hättet eine Dämonesse beschwören sollen!” “Ha!” schnaubte der Junge. “Ich habe drei Jahre lang gekocht und geputzt, und ich garantiere, dir wird es auch nicht weh tun.” Ich wandte mich an Maldivius, der doch schließlich mein Meister war. Aber der Zauberer sagte nur: “Grax hat recht. Da seine Kenntnisse der arkanen Künste zunehmen, werde ich immer mehr von seiner Zeit beanspruchen, damit er mir assistiert. Deshalb kann er seinen häuslichen Pflichten nicht länger nachgehen.” “Nun gut”, sagte ich, “ich werde bestrebt sein, Sie zufriedenzustellen. Aber Sie haben mir gesagt, Sir, daß eine Stadt in der Nähe ist. Warum nehmen Sie für diese Aufgaben keine Frau aus dieser Stadt in Dienst? Wenn sie wie Städte auf meiner Ebene ist, gibt es gewiß Weibchen ohne Anhang...” “Keine Diskussion, Dämon! Du mußt meinen Befehlen folgen, wörtlich und exakt, ohne zu fragen. Ich werde deine Frage dennoch beantworten. Erstens würden die Leute aus der Stadt vor dir erschrecken.” “Vor mir? Aber Sir, zu Hause gelte ich als der zarteste und sanftmütigste der Dämonen, ein stiller und braver Student der Philosophie...” “Und zweitens müßte ich der Maid beibringen, wie man dieses Labyrinth betritt und verläßt. Aus einsichtigen Gründen hege ich nicht den Wunsch, diese Information der Welt in allen Einzelheiten bekanntzumachen. Ähem. Und jetzt, um uns deinen Pflichten zuzuwenden, wird deine erste Aufgabe sein, das -11-
Abendessen für heute zuzubereiten.” “Bei den Göttern von Ning! Wie soll ich das machen, Sir? Soll ich mich aufmachen, irgendeine wilde Kreatur einzufangen und zu erlegen?” “Beileibe nicht, mein guter Zdim. Grax wird dir den Weg zur Küche zeigen und dir Anweisungen geben. Wenn du jetzt anfängst, solltest du bis zum Sonnenuntergang eine wohlschmeckende Mahlzeit zubereitet haben.” “Aber Sir! Ich kann bei einem Jagdausflug eine wilde Flatterschlange über dem Lagerfeuer rösten, aber nie in meinem Leben habe ich ein richtiges Abendessen gekocht.” “Dann lerne es, Diener!” sagte Maldivius. “Komm schon!” sagte Grax, der eine kleine Laterne an einer der Messinglampen entzündet hatte. Er führte mich aus der Kammer in den Tunnel. Der Pfad wand sich hierhin und dorthin und passierte eine Anzahl von Abzweigungen und Gabelungen. “Wie auf Erden findest du jemals deinen Weg?” fragte ich. “Ffie auff Errden ffinde ich ehemals meinen Pfeg?” sagte er, meinen Akzent nachäffend. “Man merkt sich eine Formel. Beim Rausgehen ist sie rechtslinksrechtslinkslinksrechtsrechts. Beim Reingehen genau entgegengesetzt: linkslinksrechtsrechtslinksrechtslinks. Kannst du das?” Ich murmelte die Formel. Dann fragte ich. “Warum hat Doktor Maldivius seine Küche so weit von seinem Sanktum entfernt angelegt? Das Essen wird kalt sein, wenn der Koch es auf die Tafel bringt.” “Dummchen! Würden wir im Labyrinth kochen, wäre alles voller Qualm und Rauch. Du mußt mit deinem Tablett eben laufen. Da sind wir schon.” Wir hatten den Eingang zum Labyrinth erreicht, von dem aus sich der gewundene Gang erstreckte. Auf beiden Seiten öffneten sich Türen in Kammern, und am entgegengesetzten Ende konnte -12-
ich Tageslicht sehen. Insgesamt gab es dort vier Kammern. Zwei waren als Schlafräume ausgestattet; die dritte diente als Lagerraum für die Besitztümer der Bewohner. Die vierte, nahe beim Ausgang, war die Küche. Diese wies ein in die Wand geschnittenes Fenster auf. In der Öffnung war ein Eisenrahmen mit vielen, kleinen, bleigefaßten Scheiben eingebaut. Das Fenster stand jetzt offen und gab den Blick nach draußen frei. Der Raum war in eine Felswand gehauen, einige Dutzend Fadenlängen tiefer schlugen die Wellen des Westmeeres gegen den Fuß der Klippe. Sie war etwas schräg, so daß man von dem Fenster einen guten Blick auf ihren steilen Hang hatte. Draußen regnete es. Ein Wasserstrom wurde durch ein irdenes Rohr in die Küche gelenkt, so daß es von oben in ein Paar hölzerne Becken tropfte. Grax machte ein Feuer auf dem Herd und legte die Bratspieße, Kessel, Pfannen, Gabeln und weitere Kochutensilien bereit. Dann öffnete er Kästen mit Nahrungsmitteln und erklärte die Beschaffenheit jedes einzelnen, wobei er mich ab und an wegen meiner Ungeschicklichkeit und Blödheit schalt. Ich lernte, seine Schwingungen als Ausdruck von Haß zu interpretieren. Ich fand das schwer verständlich, da ich doch nichts getan hatte, um mir Grax’ Feindschaft zuzuziehen. Ich vermute, er war eifersüchtig auf jeden, der in sein Monopol auf Zeit und Aufmerksamkeit des alten Maldivius eingriff - trotz der Tatsache, daß ich gegen meinen Willen hier war und nur ein dürftiges Hundertpfund Eisen für mein Volk verdiente. Ich beneidete diejenigen, die es sich leisten konnten, Eisen für simple Fensterrahmen zu verwenden. Nun, während meiner Dienstzeit auf der Ersten Ebene bestand ich viele Schicksalsprüfungen, aber nie erfuhr ich mehr Verbitterung als bei der Vorbereitung jener Mahlzeit. Grax rasselte seine Instruktionen herunter, stellte die Sanduhr auf, die -13-
die Kochzeit messen sollte, und ging davon. Ich versuchte, seinen Anweisungen zu folgen, brachte aber dauernd seine Vorschriften über Zeit, Entfernung von der Flamme und so weiter durcheinander. Als ich glaubte, alles unter Kontrolle zu haben, machte ich mich zum Sanktum auf, um mir weitere Instruktionen zu holen. Prompt nahm ich eine falsche Abbiegung und verlief mich im Labyrinth. Schließlich fand ich mich am Eingang wieder. Mit einiger Mühe erinnerte ich mich an die Formel zum Betreten des Labyrinths und erreichte das Sanktum diesmal ohne Fehler. “Wo ist unser Abendessen?” sagte Maldivius, der mit Grax in zwei verschlissenen Sesseln saß. Das Zweigespann trank aus tönernen Bechern den Schnaps Olikau, der aus Paalua, jenseits des Westmeeres, importiert wurde. “Ich muß Sie fragen, Sir...”, und ich erbat weitere Einzelheiten. Als der Magier mir diese gegeben hatte, fand ich meinen Weg zum Eingang zurück. Die Küche war voller Qualm und Gestank; denn während meiner Abwesenheit waren die Schinkenscheiben, die Hauptzutat, zu schwarzer Schlacke verbrannt. Ich schleppte mich zum Sanktum zurück. “Na was”, knurrte Maldivius, “wo ist unser Abendessen jetzt?” Ich berichtete, was vorgefallen war. “Du Idiot!” kreischte der Zauberer. “Bei Zetavas Bart, von all den blöden, stümpernden, unfähigen, dämlichen Dämonen, die ich je kennengelernt habe, bist du der Allerschlimmste!” Er schnappte sich seinen Zauberstab und jagte mich durch die Kammer, wobei er mich auf Kopf und Schultern schlug. Einen gewöhnlichen Stock dieser Größe hätte ich kaum gespürt, aber der Zauberstab erzeugt, wenn er trifft, ein scheußliches stechendes, brennendes Gefühl. Bei der dritten Runde durch den Raum begann ich Verdruß zu spüren. Ich hätte Doktor Maldivius mit Leichtigkeit zerreißen können, aber die Vereinbarungen meiner Dienstverpflichtung und Angst vor -14-
meiner Regierung hielten mich davon ab. “Warum tauschen wir den alten Katzenfisch nicht einfach um, Boß?” fragte Meister Grax. “Schicken Sie ihn zur Zwölften Ebene zurück und verlangen Sie einen anderen, der wenigstens das Hirn einer Springkröte besitzt.” Keuchend lehnte Doktor Maldivius sich auf seinen Zauberstab. “Bring diese verkorkste Nachahmung eines Dämonen zur Küche zurück und fang noch mal von vorn an!” Grax führte mich wieder durch das Labyrinth; feixend machte er spitze Bemerkungen über meinen Mangel an Intelligenz. (Unter Menschengeschöpfen ist allgemein Sitte, solche sinnlosen Bemerkungen, welche sie “Witze” nennen, zu äußern und anschließend ihre Zähne zu fletschen und “Ha ha ha” zu machen. Das scheint ihnen Vergnügen zu bereiten. ) Als wir ankamen, stellte ich fest, daß das ganze Wasser in dem Topf mit den Steckrüben verkocht war, so daß die Rüben halb verbrannt waren und an dem Topf festklebten. Drei Stunden nach meiner ersten Ankunft in der Küche gelang es mir endlich, ein passables Abendessen für dieses Paar zänkischer Zauberkünstler zusammenzustellen. Dann verlief ich mich erneut auf dem Weg zum Sanktum im Labyrinth. Als ich schließlich meine Auftraggeber erreichte, waren die Speisen kalt. Zum Glück für mich hatte das Zwiegespann bis dahin so viel Olikau getrunken, daß die beiden es nicht bemerkten. Grax hatte gerade einen Lachanfall. Als ich Maldivius fragte, wann und was ich selbst essen sollte, glotzte er mich nur an und murmelte: “Häh? Was? Wer?” Also ging ich in die Küche zurück und kochte mir meine eigene Mahlzeit. Es war kein Feinschmeckermahl, aber heißhungrig, wie ich war, fand ich es besser als alles, was ich bis dahin und seither gegessen habe. Während der folgenden Tage machte meine Kochkunst Fortschritte, obgleich ich mich wohl nie um den Posten eines -15-
Chefkochs im Palast des Großfürsten der Ersten Ebene bewerben könnte. Da rief mich Maldivius, als Grax auf einem Botengang unterwegs war, in das Sanktum. “Morgen nehme ich das Maultier und reite nach Ir”, sagte er. “Ich hoffe, in zwei oder drei Tagen zurück zu sein. Die meiste Zeit wirst du allein sein. Ich möchte, daß du, außer bei den allernotwendigsten Beschäftigungen, hier im Sanktum Wache hältst. Hol dir deine Mahlzeiten zum Essen hier hinein. Du kannst auf dem Diwan schlafen.” “Wird Meister Grax nicht hier sein, um mir Gesellschaft zu leisten, Sir?” “Ich weiß nicht, was du mit Gesellschaft leisten‹meinst, denn es ist mir nicht entgangen, daß die Gefühle zwischen euch schwerlich als Liebe beschrieben werden können. Wie auch immer, ich weiß aus Erfahrung, daß Grax, selbst wenn ich ihm zu bleiben befehle, sich nach Chemnis davonschleicht, sobald ich außer Sicht bin. Das ist einer der Gründe, warum ich dich in meine Dienste genommen habe.” “Wozu tut er das, Sir?” Maldivius: “Er hat ein Mädchen in der Stadt, das er zu Zwecken der...äh... Unzucht besucht. Immer wieder habe ich ihm gesagt, daß man auf solche fleischlichen Vergnügungen verzichten muß, wenn man in die höheren Ränge unserer Kunst aufsteigen will. Aber er schenkt mir keine Beachtung. Wie die meisten jungen Leute glaubt er, daß jeder, der älter als er selbst ist, an fortgeschrittenem altersbedingtem Schwachsinn leidet.” “Waren Sie, Sir, als Sie in seinem Alter waren, so enthaltsam, wie Sie es von ihm wünschen?” “Sei still und kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten, du unverschämter Schelm! Ähem. Gib gut acht. Du wirst hier bleiben und mein Eigentum bewachen, vor allem den Sibyllinischen Saphir. Wenn irgend jemand, ehe ich zurückkehre, das Sanktum betritt, wirst du ihn auf der Stelle verschlingen.” “Wirklich, Sir? Ich dachte...” -16-
“Du bist nicht unter Vertrag, um zu denken, sondern um Befehle zu befolgen! Hör zu, begreife und gehorche! Der erste Mensch, der vor meiner Rückkehr das Sanktum betritt, wird bei lebendigem Leibe verspeist! Keine Ausnahme! Nicht etwa, daß sie nicht gewarnt sind. Grax hat ein Schild gemalt, VORSICHT, BISSIGER DÄMON, und es am Eingang aufgestellt. Verstanden?” Ich seufzte. “Jawohl, Sir. Darf ich mir die Freiheit nehmen und Sie nach dem Zweck Ihres Ausflugs fragen?” Maldivius kicherte. “Das ist meine Chance, das zu machen, was der Volksmund ein›Schnäppchen‹nennt. Denn in meinem Saphir habe ich nahenden Untergang für Ir gesehen. Da ich der einzige bin, der davon Kenntnis hat, sollte es mir möglich sein, im Austausch für diese Information aus den knausrigen Syndiki eine ansehnliche Belohnung zu pressen.” “Sir, als Bürger von Ir sollten Sie es meines Erachtens für Ihre Pflicht halten, den Staat unabhängig von einer Belohnung “zu warnen...” “Du wagst es, mir meine Pflichten vorzuschreiben, Bursche?” Maldivius schnappte seinen Zauberstab, als wollte er mich schlagen, bekam sich dann aber unter Kontrolle. “Eines Tages werde ich es dir erklären. Es reicht zu sagen, daß ich keine sonderliche Loyalität für eine Stadt hege, deren Richter mich übers Ohr gehauen und deren reiche Männer mich geschmäht haben, wo meine Kollegen sich gegen mich verschworen und mich sogar die Knaben steinewerfend und höhnend verfolgt, haben. Folgte ich meinen Gefühlen, würde ich das Verderben über sie kommen lassen. Aber eine Gelegenheit für einen Profit zugunsten einer banalen Rache aufzugeben, wäre jugendliche Narretei. Vergiß deine Befehle nicht!”
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II. Jimmon der Syndikus Ich folgte dem Zauberer die Felstreppe bis nach oben. Um uns herum lagen die zerfallenen Tempel des Psaan, des novanischen Meeresgottes. Die Stümpfe von Marmorsäulen ragten in Reihen wie eine Kompanie zu Stein verzauberter Soldaten auf, während einzelne Säulenfragmente den zersplitterten und uneben gewordenen Marmorweg übersäten. Gras wuchs in den Rissen. Ebenso Sträucher und sogar ein paar Bäume, die, während sie wuchsen, die Steinplatten hochgehoben hatten. Einst hatte es hier, so sagte mir Maldivius, weit ansehnlichere Ruinen gegeben, aber die Chemniser hatten den Ort jahrhundertelang als Steinbruch benutzt. Während ich das Maultier sattelte und des Doktors Reisesack an der Hinterpausche festzurrte, wiederholte Maldivius seine Anweisungen. Dann ritt er davon. In bezug auf seinen Lehrling behielt Doktor Maldivius recht. Der Wahrsager war kaum außer Sicht und ich dabei, die Treppe hinabzusteigen, als ich stehenbleiben mußte, um Meister Grax, der seinen guten Wams und Stiefel trug, passieren zu lassen. Der Junge grinste. “Hallo, alter Katzenwels”, sagte er, “ich mach’ mich auf in die Stadt. Ich wette, du würdest auch gern haben, was ich mir jetzt hole!” Mit zuckenden Hüftbewegungen illustrierte er diese Bemerkung. “Ich gebe zu, ich werde meine Gattin vermissen”, sagte ich, “aber...” “Du meinst, ihr Dämonen habt Frauen, genau wie Menschen?” “Natürlich. Was hast du denn gedacht?” “Ich glaubte, ihr würdet euch, wenn ihr euch fortpflanzen -18-
wollt, in der Mitte zerteilen und jede Hälfte würde ein vollständiger neuer Dämon werden, so wie es laut Doktor Maldivius einige kleine Wasserlebewesen machen. Behopst ihr eure Frauen ‘ genauso wie wir?” “Jawohl, wenn auch nicht das ganze Jahr über, wie ihr hitzigen Erstebener es zu tun scheint.” Grax: “Na also, warum kommst du dann nicht mit mir nach Chemnis? Ich kenne da eine Dame...” “Meine Befehle verbieten das.Übrigens bezweifle ich, daß eine menschliche Frau die fleischliche Vereinigung mit mir genießen würde.” “Wieso nicht? Falsche Größe?” “Nein, es sind die dornigen Stacheln auf meinem Glied.” “Oho! Ihr habt tatsächlich eins?” “Gewiß. Innen.” “Wie nehmen eure Frauen - Dämonessen, sollte ich wohl sagen - die dornigen Stacheln auf?” “Sie finden sie angenehm erregend. Aber jetzt muß ich meinen Posten in der Zentralkammer beziehen.” “Nun denn, Dummerchen, schlaf nicht ein und laß keinen Dieb das Zimmer ausräumen. Ein paar Jungs unten in Chemnis hätten nichts dagegen, ihr Einkommen durch ein bißchen Einbruchdiebstahl aufzubessern. Erwarte mich morgen zurück.” Er schritt auf dem staubigen Weg davon, den Maldivius genommen hatte. Ich kehrte ins Sanktum zurück. Einige Tage lang war ich zu beschäftigt gewesen, um die Nahrung, die ich zu mir genommen hatte, zu verdauen, und daher war ich ein wenig aufgebläht. Ich begrüßte die Gelegenheit, in Verdauungsstarre zu sinken. Sie dauerte bis zum folgenden Tag, wie ich an der kleinen Wasseruhr auf einem der Tische ablesen konnte. Ich hatte mich erhoben und war dabei, den Behälter der -19-
Wasseruhr wieder aufzufüllen, als ich den Klang von Stiefelabsätzen im Labyrinth hörte. Es könnte, so dachte ich, Grax sein; oder es konnte ein Eindringling sein. Da fiel mir ein, wie eindringlich Doktor Maldivius darauf bestanden hatte, daß ich die erste Person, die vor seiner Rückkehr das Sanktum betrat, verschlang. Keine Ausnahme, hatte er gesagt; ich müßte seinen Befehlen wörtlich und blind folgen. Als ich versucht hatte zu fragen, ob er Meister Grax davon ausnehmen wollte, hatte er mir den Mund verboten. Mir schien, er wollte aus irgendeinem verborgenen Grund, daß ich Meister Grax wie jeden anderen Eindringling behandelte. Da stand Grax schon im Eingang, einen Sack mit Lebensmitteln, die er im Dorf gekauft hatte, über der einen Schulter. “Holla, Dummkopf!” rief er. “Armer alter Katzenwels, kann nichts, außer im Sanktum zu sitzen und häßlich auszusehen, wie das Götzenbild eines Heidengottes - hoo, was machst du da?” Grax war weiter ins Sanktum getreten, während er sprach. Er hatte nur noch Zeit für einen einzigen kurzen Schrei, als ich auf ihn zu sprang, den Jungen in Stücke zerriß und aufaß. Ich muß gestehen, als Futter war er angenehmer denn als lebender Gefährte. Einige Dinge, jedoch, beunruhigten mich. Zum einen hatte der kurze Kampf das Zimmer in Unordnung gebracht. Ein Tisch war umgestützt und überall war Blut verspritzt. Aus Furcht, Maldivius würde mich meiner liederlichen Haushaltsführung wegen züchtigen, machte ich mich mit Eimer, Mop und Besen an die Arbeit und hatte innerhalb einer Stunde fast sämtliche Spuren des Tumults beseitigt. Die größeren Knochen des verstorbenen Grax stapelte ich ordentlich auf einem leeren Buchregal. Ein Blutspritzer hatte eine Ausgabe von Voltiper von Kortolis Materielle und spirituelle Vervollkommung in zehn einfachen Lektionen getroffen. Das Blut war zwischen die Seiten gelaufen und hatte einige mit roten Flecken verunziert. -20-
Während meiner Arbeit bedrückte mich ein weiterer Gedanke. Auf der Zwölften Ebene war seit Wonk, dem Reformer, das Verschlingen eines Mitlebewesens bei lebendigem Leibe strengstens verboten. Ich vermutete, daß die Erste Ebene ähnliche Regelungen hatte, obwohl ich noch keine Gelegenheit gehabt hatte, die vielen Gesetzessysteme dieser Welt in den Griff zu bekommen. Mich beruhigte jedoch der Gedanke, daß Maldivius die Verantwortung hätte, da ich seinen Befehlen entsprechend gehandelt hatte. Doktor Maldivius kam spät am nächsten Tag zurück. Er fragte: “Wo ist Grax?” “Eure Befehle befolgend, Meister, war ich gezwungen, ihn zu verschlingen.” “Was?” “Jawohl, Sir”. Ich erklärte die Umstände. “Schwachkopf!” kreischte der Zauberer und setzte mir erneut mit dem Zauberstab zu. “Narr! Tolpatsch! Esel! Trottel! Blödian! Was habe ich den Göttern nur getan, daß sie mir einen Dummbart wie dich ins Haus schicken?” Die ganze Zeit jagte und prügelte er mich. Ich schoß aus der Kammer hinaus, verlief mich aber in dem Irrgarten. Das hatte zur Folge, daß Maldivius mich am Ende einer Sackgasse in die Enge trieb und zu schlagen fortfuhr, bis die Erschöpfung ihn zum Aufhören zwang. “Wollen Sie etwa sagen”, fragte ich schließlich, “es sei nicht in Ihrem Sinne gewesen, daß ich diesen Jungen verspeiste?” “Natürlich will ich das sagen!” Klatsch. “Ein Schwachsinniger hätte das gemerkt!” Klatsch. “Aber Sir, Sie haben mir ausdrücklich aufgetragen...” Und erneut versuchte ich ihm die Logik der Situation auseinanderzulegen. Maldivius strich sein graues Haar aus dem Gesicht und fuhr -21-
sich mit dem Ärmel über die Stirn. “Der Teufel soll mich holen, aber das hätte ich wohl ahnen müssen. Komm zurück in die Kammer!” Als wir das Sanktum erreichten, sagte er: “Sammel die Knochen ein, binde sie zusammen und werf sie ins Meer.” “Es tut mir leid, Sir; ich habe nur versucht, alles zu Ihrer Zufriedenheit zu erledigen. Wie wir in Ning sagen: Kein Geschöpf kann sich in allem hervortun. Wird Grax’ Verschwinden irgendwelche gesetzlichen Folgen für Sie nach sich ziehen?” “Wahrscheinlich nicht. Er war ein Waisenjunge ohne Familie; das war der Grund, aus dem er mein Lehrling werden wollte. Sollte man dich allerdings fragen, dann sag, er sei vom Felsen gestürzt und von einem Geschöpf in die Tiefe gerissen worden. So, und jetzt bereiten wir ein anständiges Abendessen vor, denn morgen erwarte ich einen wichtigen Besucher.” “Um wen handelt es sich, Meister?” “Um seine Exzellenz Jimmon, den Chefsyndikus von Ir. Ich habe den Stadtvätern ein Angebot gemacht, aber sie haben es verlacht und ein Zehntel meines Preises als angemessene Belohnung vorgeschlagen. Jimmon meinte, er würde vorbeischauen, um die Angelegenheit weiter zu diskutieren. Das verspricht ein langwieriges Feilschen zu werden.” “Sind Sie sicher, Sir, daß das Verderben, das Sie voraussehen, nicht über das Land kommt, während Sie und die Syndiki verhandeln? Wie wir auf meiner Ebene sagen: Ein Fisch im Korb ist mehr wert wie zwei im Fluß.” “Nein, nein; ich behalte diese Bedrohung auf meinem Saphir ständig im Auge. Wir haben viel Zeit.” “Sir, darf ich fragen, um was für eine Bedrohung es sich handelt?” -22-
“Du darfst fragen, haha, aber ich werde nicht antworten. Ich bin klug genug, diesen...äh... Vogel nicht aus seinem Käfig zu lassen, indem ich ausplappere, was nur mir allein bekannt ist. Und jetzt an die Arbeit!” Seine Exzellenz, der Syndikus Jimmon, war ein fetter, glatzköpfiger Mann, der in einer Sänfte zu uns getragen wurde; er blieb über Nacht, während seine Bediensteten in Chemnis Unterkunft suchten. Ich tat mein Bestes, die Rolle des perfekten Dieners zu spielen. Ich hatte den Auftrag, beim Essen hinter dem Stuhl des Gastes zu stehen, um jeden seiner Wünsche vorauszusehen. Eine Zeitlang feilschten Jimmon und Maldivius über den Preis für die Enthüllung des Verderbens, das Ir drohte, dann wieder plauderten sie über Ereignisse in Ir. Jimmon sagte: “Wenn keiner diese verfluchte Frau aufhält, dann wird sie, bei Thios Hörnern, doch noch in den Rat der Syndiki gelangen.” “Na und?” sagte Maldivius. “Da eure Regierung auf Reichtum gegründet ist und Madame Roska reich ist, warum solltet ihr etwas dagegen haben, daß sie ihren Platz unter euch einnimmt?” “Wir haben noch nie einen weiblichen Syndikus gehabt; es wäre ein Präzedenzfall. Außerdem weiß jeder, was für eine dumme Frau sie ist.” “Ähem. Nicht zu dumm, ihr Vermögen zu vermehren, dünkt mich.” “Durch Hexerei, nehme ich an. Man sagt, sie gibt sich mit Zauberei ab. Upps. Die Welt ist aus den Angeln, wenn ein Spatzenhirn solchen Mammon anhäufen kann. Aber sprechen wir von erfreulicheren Dingen. Haben Sie schon Bagardos Reisezirkus gesehen? Letzte Fünftnacht war er in Ir, und mir will scheinen, daß Bogardo der Große jetzt die kleineren Städte und Dörfer abklappert. Seine Vorstellung ist nicht schlecht. Aber sollte er nach Chemnis kommen, passen Sie auf, daß er Sie nicht schröpft. Wie alle Marktschreier ist er voll List und -23-
Tücke.” Maldivius kicherte. “Da muß er früh aufstehen, um mich zu schröpfen und nicht...äh... umgekehrt. Hören Sie auf herumzuzappeln, Euer Exzellenz; mein Diener wird Ihnen nichts tun. Er ist geradezu ein Musterbeispiel wortgetreuen Gehorsams.” “In diesem Fall hätten Sie wohl nichts dagegen, daß er hinter Ihrem Stuhl statt hinter meinem steht. Er wirkt beunruhigend auf mich, und ich hole mir einen Krampf im Nacken, wenn ich dauernd den Kopf verdrehe, um ihn im Auge zu behalten.” Maldivius befahl mir, meinen Platz zu wechseln. Ich gehorchte, obgleich es mir schwer fiel, Jimmons Ängste zu verstehen. Zu Hause galt ich als völlig durchschnittlicher Dämon und keineswegs als sonderlich herausragend. Am nächsten Tag reiste Syndikus Jimmon, auf den Schultern von acht kräftigen Trägern wippend, in seiner Sänfte ab. Maldivius sagte zu mir: “Nun begreife ein für allemal, o Zdim, daß deine Aufgabe bei der Bewachung meines Sanktums nicht darin besteht, jeden, der hereinschneit, zu töten, sondern Diebereien zuvorzukommen. Du sollst also Diebe verschlingen, und sonst niemand.” “Aber Meister, wie soll ich einen Dieb erkennen?” “An seinen Handlungen, du Narr! Wenn er versucht, irgend etwas von meinen Habseligkeiten zu schnappen und damit abzuhauen, vernichte ihn! Aber wenn er nur ein Kunde ist, der sein Horoskop geworfen haben will, oder ein Hausierer, der seinen Krimskrams verkaufen möchte, oder ein Dörfler aus Chemnis, der darauf aus ist, einen Sack Feldfrüchte gegen meine Hilfe bei der Suche nach dem verlorengegangenen Fußreif seiner Frau einzutauschen, dann biete ihm höflich einen Platz an und paß sorgfältig auf ihn auf, bis ich zurückkehre. Aber tu ihm nichts, wenn er nicht wirklich zu mausen versucht! Hast du das in deinen harten Schädel gekriegt?” “Jawohl, Sir.” -24-
Während der nächsten vierzehn Tage geschah wenig. Ich fuhr fort, zu kochen und zu putzen. Maldivius ging einmal nach Chemnis und einmal nach Ir; Jimmon stattete uns einen weiteren Besuch ab. Maldivius und Jimmon fuhren zu feilschen fort und kamen sich mit schneckengleicher Trägheit näher. Bei dieser Geschwindigkeit, so wollte es mir scheinen, würde das vorhergesagte Verderben dreimal gekommen und gegangen sein, ehe sie sich einig würden. Wenn er nicht anderweitig beschäftigt war, konsultierte Maldivius den Sibyllinischen Saphir. Da er darauf bestand, daß ich ihn während seiner prophetischen Trance bewachte, lernte ich schon bald die dazugehörige Prozedur. Er betete; er verbrannte eine Mischung dorniger Krauter in einem kleinen Kohlebecken und atmete den Rauch ein; er deklamierte einen Zauberspruch in mulvanischer Sprache, der folgendermaßen begann: lyü zorme barh tigai tyüvu; lyü zorme barh tigau tyüvu... An einem Gefühl in meinen Fühlern konnte ich erkennen, wenn der Zauber Wirkung zu zeigen begann. Wenn ich meine häuslichen Pflichten erledigt hatte, fand ich genügend Zeit zur Muße. Wir Dämonen sind weitaus geduldiger als diese zappeligen Erstebener; nichtsdestotrotz fand ich es mehr als nur ein bißchen langweilig, Stunde auf Stunde im Sanktum zu sitzen und absolut nichts zu tun. Schließlich fragte ich: “Meister, dürfte ich mir die Freiheit nehmen, eines Ihrer Bücher zu lesen, während ich warte?” “Ach was”, sagte Maldivius, “kannst du Novarisch lesen?” “Ich habe es in der Schule gelernt, und...” “Willst du damit sagen, daß Ihr auf der Zwölften Ebene auch Schulen habt?” “Gewiß, Sir. Wie sonst sollten wir unsere Jungen aufs Leben vorbereiten?” Maldivius: “Und Ihr habt auch Junge.’Ich habe noch nie von -25-
einem jungen Dämonen gehört.” “Natürlich nicht, denn wir erlauben es den Unreifen unserer Rasse nicht, auf der Ersten Ebene zu dienen. Es wäre zu riskant für sie. Ich versichere Ihnen, daß wir, wie andere vernunftbegabte Geschöpfe auch, ausgebrütet werden, heranwachsen und sterben. Aber um auf die Bücher zurückzukommen: Ich sehe, Sie haben da ein Lexikon, das mir bei den Wörtern, die ich nicht kenne, weiterhelfen kann. Ich bitte Sie, mir zu gestatten, es zu verwenden.” “Hm, hm. Keine schlechte Idee. Wenn du ausreichend geübt bist, kannst du mir womöglich laut vorlesen, wie es der arme Grax zu tun pflegte. In meinem Alter benötige icH ein Leseglas, was das Lesen zu einer mühsamen Beschäftigung macht. Was für ein Buch hast du im Auge?” “Ich würde gern mit diesem hier anfangen, Sir”, sagte ich und zog die Ausgabe von Voltipers Materielle und spirituelle Vervollkommnung in zehn einfachen Lektionen heraus. “Mich dünkt, ich brauche alle erreichbare Perfektion, um auf dieser fremden Ebene zur Zufriedenheit zu dienen.” “Laß es mich sehen!” sagte er und schnappte mir das Buch aus den Klauen. Seine alten Augen - trotz seiner Worte ausreichend scharf - hatte die Blutflecken erspäht, die einige Seiten verunzierten. “Ein Überbleibsel des armen Grax, he? Ein Glück für dich, o Dämon, daß das Buch keine magische Bedeutung besitzt.” Also fing ich an, mich mit Hilfe von Maldivius’ Lexikon durch Voltiper von Kortoli zu ackern. Das zweite Kapitel war Vortolis Theorien der Diät gewidmet. Er war, so hieß es, Vegetarier. Er behauptete, nur dadurch, daß er das Fleisch von Tieren mied, könnte der Leser die angestrebte vollkommene Gesundheit und spirituellen Einklang mit dem Kosmos erringen. Voltiper hatte auch moralische Einwände gegen das Abschlachten von Tieren zwecks Beschaffung von Nahrung. Er -26-
behauptete, daß sie Seelen hätten, auch wenn sie nur rudimentär seien, und daß sie als Folge evolutionärer Abstammung von gemeinsamen Vorfahren den Menschen verwandt waren. Diese moralischen Argumente betrafen mich nicht sonderlich, da ich nur ein zeitweiliger Bewohner dieser Ebene war. Aber ich hatte den Wunsch, mich den Gewohnheiten der Ersten Ebene anzupassen, um meinen Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen. Ich besprach die vegetarische Diät mit Maldivius. “Eine vorzügliche Idee, Zdim”, sagte er. “Ich habe eine solche Diät selbst einmal praktiziert, aber Grax war so sehr versessen auf Fleisch, daß ich ihm willensschwach nachgegeben habe. Wir beide wollen Voltipers Vorschriften befolgen. Zudem wird es unsere Ausgaben niedrig halten.” Und so hörten Maldivius und ich auf, in Chemnis Fleisch zu kaufen, und wir begnügten uns mit Brot und Gemüse. Dann sagte der Zauberer: “O Zdim, der Sibyllisische Saphir verrät mir, daß Borgados Zirkus nach Chemnis kommt. Ich werde dorthin gehen, um die Vorstellung zu sehen und bei dieser Gelegenheit diskrete Erkundigungen nach einem möglichen Nachfolger meines einstigen Lehrlings einziehen. Warte du hier!” “Ich würde gerne eine solche Vorstellung sehen, Sir. Ich bin einen ganzen Monat hiergewesen, ohne mich nur einmal aus dieser Ruine herauszubewegen.” “Was, du und nach Chemnis gehen? Da seien die Götter vor! Ich habe es schwer genug, mit den Leuten in der Stadt zu Rande zu kommen, ohne daß du sie auch noch in Angst und Schrecken versetzt.” Da es daran nichts zu rütteln gab, sattelte ich das Maultier, sah meinem Meister nach, bis er außer Sicht war, und kehrte ins Sanktum zurück. Stunden später ließ mich ein Geräusch von meinem Buch hochfahren. Es schien von oben zu kommen. Wenn auch die -27-
Messinglampen die Decke nicht sehr hell erleuchteten, konnte ich doch leicht erkennen, daß ein viereckiges Loch in der Deckenverkleidung aufgetaucht war. Wie der Eindringling dies Rechteck aus der Verkleidung gehoben hatte, ohne sie zu zerstören oder mich eher aufmerksam zu machen, weiß ich nicht. Die diebischen Kniffe der Erstebener sind für den schlichten, gradlinigen Geist eines ehrbaren Dämonen zu subtil. Ich saß dort und beobachtete, was geschah. Dämonen haben gegenüber menschlichen Wesen den Vorzug, völlig bewegungslos bleiben zu können. Ein Erstebener, selbst wenn er still zu halten versuchte, bewegt sich ständig. Wenn ihn nichts anders dazu bringt, dann auf jeden Fall die Tatsache, daß er mehrere Male in der Minute atmen muß. Die Tatsache, daß wir zudem unsere Farbe wechseln können, erzeugt bei den Erstebenern übertriebene Ansichten über unsere Kräfte - wie beispielsweise den Glauben, daß wir willkürlich verschwinden können. Baumelnd wurde ein Seil durch das Loch hinuntergelassen, und an diesem Seil kam ein kleiner Mann in dunkler, enganliegender Kleidung herab. Wie der Zufall es wollte, wandte er mir den Rücken zu, als er sich herabließ. Sein erster schneller Blick nahm mich nicht wahr, denn ich saß still in meinem Sessel, hatte mich dem Hintergrund angepaßt und atmete nicht einmal. Wie eine verängstigte Maus huschte er auf leisen Sohlen zu dem Ständer, der den Sibyllinischen Saphir trug. Im selben Moment war ich aus meinem Sessel und stürzte auf ihn zu. Er schnappte den Edelstein und wirbelte herum. Einen Herzschlag lang standen wir uns gegenüber, er mit dem Edelstein in der Hand und ich mit entblößten Fangzähnen, bereit, ihn zu zerreißen und zu verschlingen. Aber da fiel mir Voltipers Beharren auf vegetarische Lebensweise ein und Maldivius’ Befehl, Voltipers Diätanweisungen zu befolgen. Da dem so war, konnte ich den -28-
Dieb einfach nicht verschlingen. Auf der anderen Seite hatte mein Meister mir ausdrücklich befohlen, jedweden schamlosen Räuber zu essen. Mit diesen widersprüchlichen Befehlen belastet, war ich gelähmt, als hätte man mich in Eis gepackt und steif gefroren. Trotz meiner guten Absichten konnte ich nur wie ein ausgestopftes Museumstier herumstehen, während der Dieb um mich herum raste und aus seinem Mantelsack ein Rohr voller Glühwürmer zog, um seinen Weg zu beleuchten. Nachdem ich einige Minuten diese Dinge ernsthaft erwogen hatte, erkannte ich, was Maldivius wahrscheinlich von mir erwarten würde, hätte er alle Umstände gekannt. Und das wäre, den Dieb zu ergreifen, ihm den Saphir wegzunehmen und ihn bis zur Rückkehr des Zauberers festzuhalten. Ich glaube, das war sehr gewitzt von mir. Natürlich sind Erstebener viel fixer als wir Dämonen, und es ist nicht gerecht, von uns zu erwarten, daß wir so behende sind wie sie. Leider kam meine Lösung zu spät. Ich rannte aus dem Irrgarten und hetzte die Felstreppe hoch. Bis dahin, allerdings, war von dem Dieb nichts mehr zu sehen. Ich konnte nicht einmal mehr seine Schritte hören. Ich schnüffelte herum, um seinen Geruch aufzunehmen, konnte aber keine eindeutige Spur finden. Der Edelstein war dahin. Als Doktor Maldivius zurückkehrte und die Neuigkeiten erfuhr, schlug er mich nicht einmal. Er setzte sich nieder, bedeckte das Gesicht mit den Händen und weinte. Schließlich wischte er sich die Augen ab, blickte auf und sagte: “O Zdim, ich erkenne, dir den Befehl zu geben, mit unvorhergesehenen Ereignissen fertig zu werden, ist genauso, als...äh... bitte man ein Pferd, die Fiedel zu spielen. Nun denn, auch wenn ich ruiniert bin, brauche ich meiner Narrheit nicht noch die Krone aufzusetzen, indem ich deine Stümperdienste weiter in Anspruch nehme.” “Meinen Sie, Sir, daß ich zu meiner Ebene entlassen werde?” fragte ich eifrig. -29-
“Gewiß nicht! Das wenigste, das ich tun kann, um meinen Verlust abzudecken, ist, deinen Vertrag zu verkaufen. Ich kenne auch schon den Käufer.” “Was meinen Sie damit: meinen Vertrag verkaufen?” “Wenn du die Vereinbarung zwischen der Regierung von Ning und den Kräften des Fortschritts - wie wir novarische Zauberer unsere Berufsgenossenschaft nennen - liest, wirst du sehen, daß die Dienstverträge ausdrücklich als übertragbar bezeichnet werden. Irgendwo habe ich hier eine Kopie.” Er fummelte in einem Kasten herum. “Ich protestiere, Sir!” rief ich. “Das ist keinen Deut besser als Sklaverei!” Maldivius richtete sich mit einer Schriftrolle auf, welche er aufrollte und ans Licht hielt. “Siehst du, was hier steht? Und da? Wenn dir diese Klauseln mißfallen, dann mach das am Ende deiner Dienstzeit mit deinem Provost aus. Wie sah der Dieb aus?” Ich beschrieb den Burschen und erwähnte dabei solche Dinge wie die kleine Narbe auf seiner rechten Wange, die kein Erstebener während eines kurzen Blicks bei Gaslicht je bemerkt hätte. “Das müßte Farmes von Hendau sein”, sagte Maldivius. “Ich kenne ihn von früher, als ich in Ir wohnte. Also, sattle Rosenknospe noch einmal. Ich werde heute abend in Chemnis sein.” Der Zauberer ließ mich nicht gerade bei bester Laune zurück. Ich bin ein geduldiger Dämon - unendlich geduldiger als diese zappeligen, dickköpfigen Menschen -, aber ich konnte das Gefühl nicht loswerden, daß Doktor Maldivius mich ungerecht behandelte. Zweimal hintereinander hatte er mir die ganze Schuld für unser Unglück gegeben, dabei war es doch sein Fehler, mir unklare und widersprüchliche Befehle gegeben zu haben. -30-
Ich kam in Versuchung, meinen Reißaus-Zauber anzuwenden, zur Zwölften Ebene zurückzuflitzen und meine Klagen dem Provost vorzutragen. Diesen Zauber bringt man uns bei, ehe wir unsere Ebene verlassen, damit wir auf der Stelle zurückkehren können, wenn uns die bevorstehende Vernichtung droht. Er wird nicht leichtfertig angewandt, denn die Strafen dafür sind sehr schwerwiegend. Die Tatsache, daß ein Dämon verschwinden kann, wenn menschliche Wesen vorhaben, ihn zu töten, hat den Erstebenern übertriebene Vorstellungen von unseren Kräften eingegeben. Der Reißaus-Zauber ist jedoch lang und kompliziert. Als ich versuchte, ihn im Geiste abzuspulen, merkte ich, daß ich einige Zeilen vergessen hatte und daher auf der Ersten Ebene gefangen war. Vielleicht war das auch besser so, denn möglicherweise wäre ich wegen leichtfertiger Anwendung des Zaubers verurteilt und mit der Maßgabe mehrjähriger Dienstzeit zur Ersten Ebene zurückgeschickt worden. Maldivius kehrte am nächsten Morgen mit einem anderen Mann zurück. Dieser Mann, auf einem schönen buntscheckigen Pferd sitzend, war, verglichen mit der strengen, geflickten und fadenscheinigen Kleidung meines Meisters, auffällig und protzig gekleidet. Er war ein Mann in den besten Jahren, mit dünnen Beinen, aber kräftigen Armen und ebenso kräftigem Rumpf. Er rasierte sein Gesicht, schien aber eine vergebliche Schlacht gegen einen dichten blauschwarzen Bart zu kämpfen. Goldene Reifen baumelten an Seinen Ohren. “Dies”, sagte Doktor Maldivius, “ist dein neuer Meister, Bargardo der Große. Meister Bagardo, darf ich Ihnen Dämon Zdim vorstellen?” Bagardo musterte mich von oben bis unten. “Er sieht kerngesund aus, obgleich es schwer ist, die Gesundheit einer unbekannten Rasse zu beurteilen. Nun gut, Doktor, wenn Sie mir den Vertrag zeigen, werde ich unterschreiben.” -31-
Und so wurde ich Vertragsdiener von Bagardo dem Großen, Besitzer eines Schaustellerunternehmens.
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III. Bagardo der Große “Komm mit!” sagte Bagardo. Als ich ihm folgte, fuhr er fort: “Zuerst einmal will ich deinen Namen richtig beherrschen. Zadim, ist das richtig?” “Nein, Zdim”, sagte ich. “Eine Silbe, Zdim, Sohn von Akh, wenn man ganz formell sein will.” Bagardo übte den Namen. Ich fragte: “Was werden meine Pflichten sein, Sir?” “Hauptsächlich, die Gimpel zu erschrecken.” “Sir? Das verstehe ich nicht.” “Gimpel, Tölpel, Dummbarts - so nennen wir Zirkusleute die Kunden, die zum Glotzen kommen.” (Bagardo nannte sein Unternehmen stets “Zirkus”, wogegen andere es als “Karneval” bezeichneten. Der Unterschied, so erfuhr ich, ist der, daß ein echter Zirkus wenigstens einen Elefanten haben muß, wogegen Bagardo keinen besitzt. ) “Wir werden dich in einen fahrbaren Käfig stecken und als den grausamen menschenfressenden Dämonen von der Zwölften Ebene vorstellen. Und das ist noch nicht mal eine Lüge, wie Maldivius mir erzählt hat.” “Sir, nun fangen Sie auch noch damit an. Ich habe doch lediglich meine Befehle ausgeführt...” “Macht nichts. Ich werde versuchen, exaktere Anweisungen zu geben.” Wir kamen zu der Stelle, wo der Pfad vom Tempel auf die Straße Chemnis-Ir stößt. Hier stand ein großer, mit Eisengittern versperrter Käfig auf Rädern, wie ein Wagen. An den Wagen gebunden, grasten zwei Tiere ähnlich wie Maldivius’ Maultier, außer daß sie von auffälligen schwarzweißen Streifen bedeckt waren. Auf dem Fahrersitz räkelte sich eine stämmige Kreatur; sie hatte eine fliehende Stirn und kein Kinn und war, abgesehen -33-
von ihrem dichten, haarigen Fell, nackt; wie ein Mensch und doch nicht wie ein Mensch. “Alles in Ordnung?” fragte Bagardo. “Alles in Ordnung, Boß”, sagte das Wesen mit tiefer, krächzender Stimme. “Wer das?” “Ein neues Mitglied unserer Truppe, nennt sich Zdim der Dämon”, sagte Bagardo. “Zdim, darf ich dir Ungah von Komilakh vorstellen. Er ist ein sogenannter Affenmensch.” “Schlag ein, Mitsklave”, sagte Ungah und streckte eine behaarte Pfote aus. “Einschlagen?” sagte ich mit fragendem Blick zu Bagardo. Bagardo antwortete: “Leg seine rechte Hand in deine und drück sie ein wenig, während die Hände sich auf und ab bewegen. Aber kratz’ ihn nicht!” Ich tat wie geheißen und sagte: “Ich bin geehrt, Ihre Bekanntschaft zu machen, Meister Ungah. Ich bin kein Sklave, sondern ein Vertragsdiener.” “Glückspilz! Ich muß für Meister Bagardo schuften, bis daß der Tod uns scheidet.” “Du bist besser genährt, als du es im Urwald von Komilakh je sein würdest”, sagte Bagardo. “Ja sicher, Meister, aber Essen ist nicht alles.” “Was denn sonst? Aber wir können nicht den ganzen Tag diskutieren.” Bagardo riß die Tür des Käfigs auf. “Hinein mit dir!” sagte er. Die Tür schloß sich klirrend. Ich setzte mich auf einen großen Holzkasten in einer Ecke des Käfigs. Bagardo schwang sich neben Ungah auf den Bock; Ungah schnalzte mit der Zunge und schüttelte die Zügel. Der Wagen rumpelte westwärts. Die Straße nahm einen Zickzackkurs einen langen Abhang hinunter ins Tal des Kyamos, der von Metouro über Ir ins Meer fließt. Eine weitere Stunde brachte uns in Sichtweite von -34-
Chemnis an der Flußmündung. Nach Erstebenen-Maßstäben ist es eine kleine Stadt, aber sehr geschäftig, denn sie ist der Haupthafen von Ir.Über den Dächern sah ich die Masten und Rahen der Schiffe. Am Stadtrand stießen wir auf Bagardos Karneval, eine Ansammlung fähnchengeschmückter Zelte. Als der Wagen von der Straße abbog, sah ich eine Gruppe von Männern damit beschäftigt, diese Zelte abzubauen und in Wagen zu verpacken. Andere schirrten Pferde vor diese Wagen. Der Lärm und die Schreie waren meilenweit zu hören. Als mein Käfigwagen anhielt, sprang Bagardo von seinem Sitz hinunter. “Ihr Idioten! Schlamper! Faules Pack!” schrie er. “Wir sollten jetzt schon abmarschbereit sein! Könnt ihr denn gar nichts, wenn man nicht hinter euch steht? Wie sollen wir den Evrodium bis morgen abend erreichen? Ungah, stell dein unverschämtes Grinsen ein, du nacktärschiger Affe! Komm runter und mach dich an die Arbeit! Laß Zdim raus; wir brauchen jede Hand!” Folgsam stieg der Affenmensch herab und öffnete meine Tür. Als ich aus dem Käfig trat, schauten mich einige der Leute fragend an. Sie waren allerdings an exotische Kreaturen gewöhnt und nahmen bald wieder ihre Arbeit auf. Ungah machte sich daran, eine Leinwand um ein Bündel Stäbe zu binden. Er reichte mir das eine Ende des Seils und sagte: “Halt das fest! Wenn ich›ziehen‹sage, zieh!” Auf sein Signal hin zog ich. Das Seil riß, so daß ich nach hinten fiel und meinen Schwanz mit Schlamm verschmierte. Ungah besah sich das abgerissene Seilstück mit verblüfftem Stirnrunzeln. “Das Seil scheint in Ordnung zu sein”, sagte er. “Du bist wohl stärker, als ich gedacht habe.” Er band die beiden Enden zusammen und fuhr mit seiner Arbeit fort, nicht ohne mich davor zu warnen, meine volle Kraft -35-
einzusetzen. Als wir das Bündel verschnürt und verstaut hatten, war das Hauptzelt abgebaut, und die Arbeiter säuberten die letzten Ausrüstungsgegenstände. Ich konnte nur bewundern, wie trotz des schrecklichen Durcheinanders, das vorher geherrscht hatte, schließlich doch alles verpackt war. Bagardo, der jetzt auf seinem Pferd saß und eine Trompete mit einer Kordel um den Hals hängen hatte, winkte mit einem breitkrempigen Hut, um seine Befehle zu unterstreichen: “Flott mit dem Geschirr da! Siglar, fahr deinen Katzenwagen bis zum Tor; du übernimmst die Spitze. Ungah, steck Zdim wieder in den Wagen und reih’ dich ein...” “Zurück, marsch, marsch!” sagte Ungah zu mir. Als ich wieder in dem Käfig war, öffnete er die Laschen der Segeltuchrollen an den Dächern, so daß der Stoff auf beiden Seiten des Wagens herabhing. Da die Querseiten des Käfigs geschlossen waren, war ich völlig von außen abgeschnitten. “He!” rief ich. “Warum schließt du mich ein?” “Befehle”, sagte Ungah, während er die Unterseite der Vorhänge festband. “Der Boß will den Chemniten keine Gratisschau geben.” “Aber ich möchte unbedingt die Landschaft sehen.” “Beruhige dich, Meister Zdim. Wenn wir ins offene Gelände kommen, ziehe ich eine Ecke des Stoffs hoch.” Bagardo blies einen schrillen Tusch. Unter dem lauten Lärmen knallender Peitschen, wiehernder Pferde, klappernder Hufe, klingelnder Pferdegeschirre, quietschender Radachsen, zu Schreien, Flüchen, Warnrufen, Witzen und Liedfetzen setzten sich die Wagen in Bewegung. Ich konnte nichts sehen, also ließ ich mich, auf der Holzkiste schwankend, in der ersten Stunde zur Verdauungsstarre nieder. Schließlich rief ich Ungah sein Versprechen in Erinnerung. Als wir eine Pause machten, um die Pferde verschnaufen zu lassen, löste er die vordere untere Ecke eines Vorhangs und band sie hoch; dadurch schuf er mir ein Dreieckfenster. Ich sah -36-
wenig bis auf ein paar bestellte Felder und ab und an ein Stückchen Wald oder einen kurzen Ausschnitt des Kyamos. Die Straße wurde von einem dichten Gürtel wilder Frühlingsblumen in Rot, Azurblau, Purpur, Weiß und Gold gesäumt. Als eine Straßenbiegung es ermöglichte, sah ich den Rest des Trecks vor und hinter mir. Ich zählte siebzehn Wagen einschließlieh des meinen. Bagardo galoppierte von einem Ende zum anderen und kümmerte sich darum, daß alles seine Ordnung hatte. Wir folgten dem Lauf der Straße, auf der ich nach Chemnis gekommen war. Wir überstiegen das Plateau, auf dem der Tempel steht, weil das Tal des Kyamos sich hier zu einer Schlucht verengt. Langsam trotteten die Pferde die Steigung hinauf, während die Arbeiter ausstiegen und schoben. Als wir das Plateau erreichten und an der Abzweigung des Pfads zum Tempel des Psaan vorbeikamen, wurde die Straße ebener, und es ging schneller voran. Wir nahmen nicht länger die Richtung nach Ir, sondern schwenkten auf eine andere Straße, welche die Hauptstadt im Süden umgeht. Wie Ungah erklärte, hatten wir die Stadt Ir erst vor kurzem gemolken, und ihr Euter hatte keine Zeit gehabt, sich wieder zu füllen. Wir hatten noch nicht einmal die Hälfte der Wegstrecke nach Evrodium hinter uns, als die Nacht hereinbrach. Der Wagentreck hielt abseits der Straße auf einem ebenen Stück Brachland, und die siebzehn Wagen bildeten einen annähernden Kreis - zur Verteidigung, sagte Ungah mir, im Falle eines Angriffs durch Marodeure. Das Küchenzelt und das Speisezelt wurden im Innern dieses Kreises aufgebaut, die übrigen Zelte blieben jedoch in dem Wagen. Wir aßen bei gelbem Lampenlicht an einem von mehreren Tischen in dem langen Speisezeit zusammen mit gut fünfzig anderen Mitgliedern der Truppe. Ungah wies mich auf einige von ihnen hin. Die Hälfte waren Handlanger - Arbeiter, die die -37-
Aufgabe hatten, die Zelte auf- und abzubauen, die Pferde anzuschirren, die Wagen zu lenken, Futter und Wasser für die Tiere zu holen und ihren Mist wegzutragen. Vom Rest der Gesellschaft waren die Hälfte - ein Viertel von allen - Spieler; das sind Leute, die gegen Zahlung einer Miete den Karneval begleiteten und ihre Spielchen’ mit dem Publikum betrieben. Zu diesen Spielen gehörten Wetten auf beispielsweise die Augenzahl von Würfeln, auf ein Glücksrad oder die Lage einer Erbse unter einer von drei Nußschalen, alles sorgfältig dafür ausgetüftelt, simple Gimpel auszunehmen. Verblieben noch gerade sechzehn Schausteller, die in der Manege auftraten. Da war zuerst Bagardo selbst, als Zirkusdirektor; eine Schlangenbeschwörerin; ein Löwenbändiger; eine Artistin, die ohne Sattel ritt; ein HundeTrainer; ein Gaukler; zwei Clowns; drei Akrobaten; vier Musikanten (ein Trommler, ein Trompeter, ein Fiedler und ein Dudelsackpfeifer); und ein Dresseur, der, als mulvanischer Prinz gekleidet, mit Turban und Glasjuwelen, auf einem Kamel durch die Manege ritt. Dann waren da noch eine Köchin und eine Schneiderin. Die Truppe war vielseitiger, als es diese Aufzählung erkennen läßt. Die meisten Leute hatten noch eine zweite Aufgabe: so half die Schlangenbeschwörerin der Köchin, die Mahlzeiten zu servieren, während die Reiterin - eine dralle Maid namens Dulnessa - der Schneiderin beim Nähen und Sticken half. Einige Handlanger, die darauf aus waren, sich in besser bezahlte Positionen hineinzuarbeiten, traten ab und zu an Stelle der Schausteller, wenn diese krank, betrunken oder anderweitig lahmgelegt waren. Nach dem Abendessen führte Ungah mich durch den Karneval; er stellte mir die einzelnen Mitglieder vor und zeigte mir die Ausstellungsstücke. Dazu gehörten das Kamel, der Löwe, der Leopard und mehrere kleinere Tiere, wie Madame Paladnes Schlangen. -38-
Einem langen Käfig auf Rädern näherte Ungah sich sehr vorsichtig. Ich spürte einen charakteristischen Geruch, wie den von Madame Paladnes Schlangen, aber stärker. Ungah zog die Abdeckung beiseite. “Das ist der paaluanische Drachen”, sagte er. “Geh nicht zu nah heran, Zdim. Zwei Wochen lang liegt er wie tot da; und dann, wenn ein unvorsichtiger Wicht zu nahe kommt: schnapp! Und das ist dann sein Ende. Deshalb hat Bagardo Schwierigkeiten, die Handlanger dazu zu bringen, das Ungeheuer zu füttern; letztes Jahr haben wir zwei Mann an seinen Magen verloren.” Der Drache war eine große schieferfarbene Echse von über sechs Metern Länge. Als wir uns dem Käfig näherten, hob er seinen Kopf und ließ mir eine drei Fuß lange gegabelte Zunge entgegenschnellen. Im Vertrauen auf meine Schnelligkeit, durch die ich möglichem Schaden entkommen konnte, falls er zubiß, trat ich näher. Doch statt zuzuschnappen, streckte der Drachen erneut die Zunge heraus und berührte mein Gesicht mit einer streichelnden Bewegung. Ein pfeifendes Grunzen entfuhr seiner Kehle. “Bei Vaisus’ ehernem Arsch!” rief Ungah. “Er mag dich! Er erkennt an deinem Geruch, daß du ebenfalls ein Reptil bist. Muß ich Bagardo erzählen. Womöglich kannst du das Geschöpf dressieren und auf ihm mit der übrigen Parade durch die Manege reiten. Es scheint idiotisch, und keiner hat es gewagt, sich mit ihm abzugeben, seit Xion gefressen wurde; aber schwarze Zauberer von Paalua dressieren diese Biester.” “Eine ganze Menge Monster für mich allein”, sagte ich zweifelnd. “Oh, der hier ist noch nicht ausgewachsen”, sagte Ungah. “In Paalua werden sie doppelt so groß.” Er gähnte. “Zurück zum Wagen; für heute ist die Arbeit getan.” Am Wagen angekommen, nahm Ungah zwei Decken aus seiner Kiste und reichte mir eine mit den Worten: “Wenn du den -39-
Boden zu hart findest, streu etwas Stroh aus der Kiste aus.” Die Sonne des nächsten Tages ging gerade unter, als wir Evrodium erreichten. Der Rastplatz der Karawane wurde von Fackeln beleuchtet, die auf den Augäpfeln eines Rudels von Dorfbewohnern leuchteten, welche am Rand des Platzes herumstanden. “Zdim!” schrie Ungah. “Pack an!” Er rollte die Zeltbahn ab, die wir gemeinsam zusammengebunden harten. In der Rolle war ein Bündel Stangen, die länger als ich waren. Unsere Aufgabe bestand darin, diese Stangen in regelmäßigen Abständen in den Boden zu treiben und die Zeltbahn daran anzubringen, um den Karneval einzugrenzen und den neugierigen Ortsansässigen, die zuschauen, aber nicht bezahlen wollten, einen Strich durch die Rechnung zu machen. Ungah wählte eine Stelle am Rand des Platzes aus und stieß den ersten Pfahl in den weichen Boden. Er stellte eine kleine Trittleiter auf und drückte mir den Griff eines Holzhammers in die Hand. “Steig hoch und treib den Pfahl in die Erde!” wies er mich an. Ich bestieg die Leiter und gab dem Pfahl einen leichten Schlag. “Schlag feste!” rief Ungah. “Ist das alles?” “Meinst du so?” sagte ich, wobei ich den Holzhammer mit voller Kraft schwang. Krachend kam der Schlag nieder, zersplitterte die Spitze des Pfahls und zerbrach den Griff des Hammers. “Zevatas, Franda und Heryx!” schrie Ungah. “Hab’ nicht gemeint, daß du ihn zu Kleinholz machen sollst. Jetzt muß ich einen anderen Hammer holen. Warte hier!” Irgendwie kriegten wir den Zaun aus Zeltbahnen hoch. In der Zwischenzeit waren die Zelte aufgebaut, und die anfängliche Konfusion war zu einem geordneten Gewimmel abgeebbt. -40-
Pferde wieherten, das Kamel gurgelte, der Löwe brüllte und die andren Tiere machten die entsprechenden Geräusche. Ich fragte: “Geben wir heute abend eine Vorstellung?” “Gott, nein! Die Vorbereitungen dauern Stunden, und alles ist viel zu müde. Am Morgen treffen wir die Vorbereitungen und geben dann, wenn es keinen Regen gibt, eine Vorstellung. Und dann geht’s wieder auf den Weg.” “Wieso halten wir nur so kurz?” “Evrodium ist zu klein. Morgen abend haben alle Gimpel mit Geld in der Tasche die Vorstellung gesehen, und wer spielt, der ist bis dahin gefegt. Länger zu bleiben heißt, sich mit den Gimpeln schlagen. Das bringt nichts.” Ein Gong ertönte. “Abendessen! Na los!” Wir standen mit dem Morgendämmern auf und bereiteten die Aufführung vor. Bagardo kam zu mir. “O Zdim”, sagte er, “du wirst dich ins Zelt der Monster begeben...” “Vergebung, Meister, aber ich bin kein Monster! Ich bin nur ein normaler, gesunder...” “Geschenkt! Bei uns wirst du ein Monster sein, und keine Widerrede! Dein Wagen wird Teil der Zeltbegrenzung sein, und die Gimpel passieren ihn auf dem Weg hinein. Ungah wird neben dir sein. Da du seinen Käfig belegst, werde ich ihn an einen Pfosten ketten. Du hast die Aufgabe, die Gimpel mit gräßlichem Brüllen und Heulen zu erschrecken. Sprich kein Wort Novarisch. Es wird nicht erwartet, daß du das kannst.” “Aber Sir, ich kann nicht nur Novarisch sprechen, ich lese und schreibe und...” “Paß mal auf, Dämon! Wem gehört der Zirkus? Ob du willst oder nicht, du wirst tun, was man dir sagt.” Und so geschah es. Die Dorfbewohner kamen zuhauf hinaus. In meinem Käfig konnte ich die Schreie der Spieler, das Rasseln -41-
ihrer Geräte, die Laute der Musikanten und die allgemeine Erregung hören. Bagardo, prachtvoll gekleidet, führte eine Gruppe von Gimpeln mit einer blumenreichen Ansprache herein: “... und dort, zu Ihrer Rechten, meine Damen und Herren, sehen Sie Madame Paladnfe und ihre todbringenden Schlangen, unter unbeschreiblichen Gefahren in den dampfenden tropischen Dschungeln von Mulvan eingefangen. Die große wird Constrictor genannt. Würde sie einen von Ihnen packen, würde sie sich um ihn wickeln, ihn zu Brei zerquetschen und mit Haut und Haar verschlingen... Als nächstes, meine Damen und Herren, ein Dämon von der Zwölften Ebene, beschworen von dem großen Hexenmeister Arkanius von Phthai. Ich kannte Arkanius; er war wirklich ein teurer Freund.” Bagardo wischte sich mit einem Tuch über die Augen. “Aber als er dieses blutdürstige Monster, voll übernatürlicher Kraft und Wildheit, beschwor, ließ er eine Ecke seines Pentagramms offen, und der Dämon biß ihm den Kopf ab.” Einige der Zuschauer schnappten nach Luft, ein paar Frauen stießen kleine spitze Schreie aus. Ein Gimpel fragte mit ländlichem Akzent, so daß ich ihn kaum verstehen konnte: “Unn wie hammse ihn dann ewischt?” “Arkanius’ Lehrling wendete tapfer einen Zauber an, der unbeweglich macht...” Ich war von Bagardos Bericht über meine Vergangenheit so fasziniert, daß ich zu brüllen vergaß, bis er mich finster anblickte. Da ließ ich meine Kiefer mahlen, hüpfte auf und ab und riß ein paar weitere Possen, die er von mir zu erwarten schien. Bagardo erzählte über die Gefangennahme Ungahs, eine ebenso fiktive Geschichte; Ungah saß, an einen Pfosten angekettet, auf dem Boden, ein Geländer sollte die Gimpel auf sichere Distanz zu seinen Krallen halten. Als die Gimpel sich vor dem Geländer aufstellten, zog Ungah Grimassen, brüllte und schlug mit seiner Kette auf ein Eisenblech ein. Er machte viel -42-
eindrucksvolleren Lärm, als ich es getan hatte. Nach der Vorstellung kettete Bagardo Ungah los und öffnete meinen Käfig. Ungah betrat den Käfig und wühlte aus der Kiste einen weiten, mottenzerfressenen alten Umhang, einen zerbeulten Hut mit einer schlaffen Krempe, ein Paar löchriger Stiefel und eine Geldbörse heraus. Er legte all diese Dinge an. “Wozu das feine Gewand, Meister Ungah?” fragte ich. “Der Boß besteht darauf. Geh nach Evrodium einkaufen! Wenn das Licht schwach ist, halten mich die Leute für einen Handlanger. Wenn sie sehen, daß Ungah der Schreckliche höfliche Reden führt, würden sie nicht bezahlen, um mich im Zelt zu sehen. Möchtest du irgendwas?” “Im Augenblick fällt mir nichts ein. Aber sag mir: Womit kaufst du ein?” “Mit Geld. Bagardo zahlt mir eine Vergütung.” Eine Stunde später kehrte Ungah mit seinen Einkäufen zurück: einige Süßigkeiten, die er mit mir teilte; eine Nadel, Faden und eine Schere; und andere Dinge. Nach dem Abendessen war Ungah dabei, im Lampenlicht seinen Umhang zu flicken, als Siglar, der Löwenbändiger, zu unserem Käfig kam. Siglar, ein hochgewachsener, knochiger Mann mit blaßblauen Augen und straffen, strohblonden Haaren war ein Barbar aus den Steppen Shvens im Norden. “Meister Zdim!” sagte er. “Der Boß möchte gerne mit dir reden.” Ich vermutete, Bagardo wollte sich über meine glanzlose Darbietung beklagen. Ich sagte zu Ungah: “Könntest du mich begleiten, alter Knabe? Ich brauche moralische Unterstützung.” Ungah legte sein Nähzeug weg und kam mit. Wir lenkten unsere Schritte zu Bagardos kleinem Privatwagen. Im Innern war das Gefährt verschwenderisch mit Seidenvorhängen, einem dichten Teppich und einer versilberten Lampe, um diese Pracht -43-
zu beleuchten, ausgestattet. Bagardo saß an seinem Schreibtisch und zählte seine Einnahmen mit einem Kreidestück auf einer Schiefertafel zusammen. “O Zdim!” sagte er. “Seit zwanzig Jahren in diesem Geschäft habe ich noch nie einen schlechteren Auftritt als deinen gesehen. Kurz gesagt: Du taugst nichts!” “Tut mir leid, Meister; ich bin bestrebt, zur Zufriedenheit zu arbeiten, aber oft ist es unmöglich, allen zu gefallen. Wenn Sie mir eine Vergütung zahlen, könnte ich womöglich zu einem lebhafteren Auftritt inspiriert werden.” “Aha, so ist das also. Der Zirkus schwebt am Rande des Verderbens, die Bezahlung der ganzen Truppe ist überfällig, und du bestreikst mich um Entlohnung! Die Seuche auf dich, Dämon!” Er schlug auf seinen Schreibtisch, daß das Tintenfaß tanzte. “Sehr gut, Sir”, erwiderte ich. “Ich werde mein Bestes tun; aber in meinem Zustand der Armut mag das Beste nicht sehr gut sein.” “Unverschämter Kobold!” brüllte Bagardo. “Ich geb dir gleich Armut!” Er kam mit der kleinen Peitsche, die er als Manegendirektor knallen ließ, um den Schreibtisch herum. Er versetzte mir einen Schlag, und dann noch einen. Da das kein Zauberstab war, spürte ich die Schläge kaum. “Härter können Sie nicht schlagen, Sir?” fragte ich. Er versetzte mir noch ein paar Hiebe und schleuderte die Peitsche dann in eine Ecke. “Verflucht, bist du aus Eisen?” “Nicht ganz, Sir. Es ist aber wahr, daß mein Gewebe stärker als die Ihren sind. Und jetzt, wie steht es mit der Vergütung? Wie wir auf der Zwölften Ebene sagen: Jede Pumpe muß dann und wann geschmiert werden.” Bagardo starrte mich mit hochrotem Kopf an. Dann lachte er: “In Ordnung; du hast mich in der Hand. Wie war’s mit drei Pence am Tag?” -44-
“Das wäre angenehm, Meister. Könnte ich jetzt als Taschengeld ein paar Tage Vorschuß haben...” Bagardo holte neun Pence aus seiner Geldkassette. “Das muß für die nächsten zwei Wochen langen. Und jetzt genug mit der elenden Geschäftemachern; wer hat Lust zu einem Spielchen Casserole?” “Was ist das, Sir?” fragte ich. “Wirst du schon sehen.” Bagardo stellte einen kleinen Tisch und vier Klappstühle auf. Als Siglar, Ungah und ich unsere Plätze einnahmen, brachte Bagardo ein Päckchen Rechtecke aus steifem Papier hervor, die mit Zeichnungen bedruckt waren. Erstebener spielten mit diesen “Karten”, wie sie sie nennen, eine Vielzahl von Spielen. Die Regeln von Casserole schienen einfach. Verschiedene Kombinationen von Karten übertrafen andere, und der Trick bestand darin, zu erraten, was die anderen Spieler auf der Hand hatten, und darauf zu wetten, daß man sie ausstechen konnte. Es machte mir schreckliche Mühe, die Karten mit meinen Klauen zu halten, welche für so glatte Gegenstände nicht geeignet sind. Dauernd fielen mir die verflixten Dinger auf den Boden. Bagardo redete wie ein Wasserfall. Großspurig protzte er mit seinen Heldentaten bei der Befruchtung der Weibchen seiner Gattung. Besonders stolz darauf war er, sechs Insassen einer Institution namens Puff bestiegen zu haben, alles in einer Nacht. Mich verblüffte der Stolz, den männliche Erstebener in diese Fähigkeit legen, denn eine Unmenge niederer Tiere, so beispielsweise die gemeine Ziege, kann das menschliche Männchen in dieser Beziehung ausstechen. Nachdem alle Bagardos Peniskräfte gelobt hatten, sagte er: “Zdim, hast du seit deiner Ankunft auf dieser Ebene andere Zauberer außer Doktor Maldivius kennengelernt?” “Nein, Sir, außer seinem Lehrling Grax, dem...äh... ein -45-
Unglück widerfuhr. Warum?” “Wir brauchen einen. Wir hatten einen, den alten Arkanius.” “Ich habe gehört, wie Sie ihn erwähnten, Sir. Was ist wirklich mit ihm geschehen?” “Etwas, das sich nicht sonderlich von den Lügen unterscheidet, die ich über ihn erzählt habe. Arkanius wollte mit Zaubern experimentieren, die für seine begrenzten Kräfte zu groß waren. Eines Nachts sahen wir blaue Blitze aus seinem Zelt schlagen und hörten laute Schreie. Am Morgen gab es keinen Arkanius mehr - nur ein paar Spritzer Blut. Ich habe Maldivius die Stelle angeboten, aber er hat abgelehnt; er hat irgendwas darüber gemurmelt, daß die Paaluaner für ihn ein Vermögen machen. Aber zu dieser Zeit war er ein wenig betrunken. Weißt du vielleicht, was er gemeint hat?” “Nein, Sir. Ich habe gehört, daß Paalua ein Land mit mächtigen Zauberern jenseits des Ozeans ist, aber das ist alles.” “Behalte es jedenfalls im Gedächtnis. Dulnessa hat neben ihrer normalen Arbeit noch einen Wahrsagerstand betrieben, aber das ist nicht dasselbe wie ein richtiger Magier. Wer gibt?” Bagardo gewann mir meine neun Pence Münze für Münze ab. Ich bemerkte, daß meine Fühler von Zeit zu Zeit eine merkwürdige Schwingung auffingen. Das geschah oft, wenn er gerade dabei war, etwas von meinem Geld zu gewinnen. Ich konnte diese Empfindung jedoch nicht richtig einordnen. Als ich bis auf meinen letzten Viertelpenny alles verloren hatte, öffnete sich die Tür, und herein kam die dralle Madame Dulnessa, die Reiterin. Mit rauher Stimme schrie sie: “Wann kommt einer von euch Schlappschwänzen rüber, um mir zu Diensten zu sein?” Bagardo sagte: “Nimm Zdim, er ist sowieso pleite.” “Meinst du, er kann!” fragte sie. “Gewiß. Dämonen zeugen genau wie wir. Nun mach dich davon und laß uns spielen.” Verdutzt folgte ich Dulnessa zu ihrem Wagen. Als wir -46-
drinnen waren, wandte sie sich mir lächelnd und mit halb geschlossenen Augen zu. “Nun denn, Zdimmy”, sagte sie, “das verspricht zumindest, ein völlig neues Gefühl zu werden.” Und damit begann sie, ihre Kleider langsam und provozierend auszuziehen. Als sie alle Kleidungsstücke abgelegt hatte, legte sie sich lang ausgestreckt aufs Bett. Natürlich war ich sehr interessiert, war es doch das erste Mal, daß ich ein menschliches Weibchen ohne Kleidung sah. Ich war erfreut zu erkennen, daß die Illustration in den Schulbüchern meiner Ebene in der DarStellung der Formen und Organe dieser Spezies korrekt waren. Meine Fühler nahmen Schwingung außergewöhnlicher Intensität auf, die ich nicht kannte. “Und nun mach’s, wenn du die Mittel hast, es zu machen”, sagte sie. “Ich bitte um Verzeihung, Madame”, entgegnete ich, “aber ich verstehe nicht. Was wünschen Sie, soll ich tun?” “Aach, bei Astis’ Titten! Weißt du nicht, wie man bumst, rammelt, vögelt, stößt, ballert, hackt, bumpert, bürstet, stochert, bügelt, oder wie man das sonst im Dämonenland nennt?” Ich begann zu verstehen. “Sie meinen, die fleischliche Vereinigung mit Ihnen zu vollziehen, Madame?” “Hoppla, was für eine vornehme Sprache! Ja, genau das meine ich! Komm schon!” “Es tut mir leid, aber mir wurde in der Schule die verfeinerte, literarische Form des Novarischen beigebracht! Die vulgären Ausdrücke mußte ich selbst aufschnappen.” “Hast du denn unter all diesen Schuppen einen richtigen Schwanz - und, hee, du wechselst die Farbe!” “So machen sich Gefühlsregungen bemerkbar, Madame. Ich versichere Ihnen, daß ich mit einem regelrechten männlichen Glied ausgestattet bin. Allerdings, bei uns wird es in den Körper -47-
eingezogen, wenn es nicht benutzt wird, anstatt vulgär und verletzlich wie bei menschlichen Männchen herumzubaumeln. Zweifellos ist das die Ursache dieses merkwürdigen Brauchs welcher unsere Philosophen lange Zeit beschäftigt hat -, Kleider zu tragen, selbst bei heißer Witterung. Nun, bei uns Dämonen...” Dulnessa: “Erspar mir den Unterricht. Kannst du es?” “Ich weiß nicht. Obschon ich mich bemühe, Sie zufriedenzustellen, ist jetzt keine Brutzeit, und der Anblick eines Erstebenen-Weibchens erweckt in mir keine Gelüste.” “Was stimmt mit mir nicht, Drachenmann? Wohl wahr, ich bin nicht so jung, wie ich einmal war, aber...” “Das trifft es nicht, wenn Sie mir diese Ausdrucksweise erlauben, Madame. Mit dieser weichen, bleichen, nackten Haut überall sehen Sie so - wie soll ich sagen? - so wabbelig aus. Das wäre, als kopulierte ich mit einer riesigen Qualle, örrg! Wenn es sich um meine Frau Yeth handelte, mit ihren hübschen Fangzähnen, mit ihren Fühlern und ihren süßen, glitzernden Schuppen...” “Dann schließ die Augen, stell dir vor, deine Frau liegt hier, und versuch, einen hochzukriegen...” Nun ja, wie wir zu Hause sagen: Probieren geht über studieren. Mit einer machtvollen Willensanstrengung stellte ich mir meine teure Gefährtin vor und fühlte das Blut in meine Lenden strömen. Als ich mir sicher war, ein aufrechter Dämon zu sein, öffnete ich die Augen. Dulnessa starrte meinen Stab entsetzt an. “O Götter!” schrie sie. “Steck dieses scheußliche Ding weg! Das sieht ja aus wie einer von diesen dornigen Streitkolben, die Ritter sich gegenseitig auf die Rüstung schmettern. Das würde mich zu Tode fetzen!” “Ich bedaure, Ihnen nicht zu Diensten zu sein können, Madame”, sagte ich. “Ich habe befürchtet, daß Sie die Aussicht nicht erfreulich finden. Aber warum sollte Meister Bagardo -48-
mich zu Ihnen geschickt haben? Es scheint einer dieser irrationalen›Witze‹, die Ihr Menschenwesen ständig macht. Wenn Bagardo genug Begierde für ein halbes Dutzend Frauen hat, sollte er meines Erachtens die Gelegenheit begrüßen und...” “Dieser Protzer ist nur mit dem Mund ein toller Bumser, aber seine Vorstellung kann mit seiner Prahlerei nicht mithalten. Beim letzten Mal mußte er Siglar rufen, um nach dem ersten Galopp seine Stelle einzunehmen. Auf der Matratze ist der Affenmensch dreimal soviel wert.” “Benötigen alle Menschenweibchen solch ständigen Nachschub?” “Nicht doch; ich bin ein spezieller Fall. Weil ich ihn nicht mit meiner Muschi rummachen lassen wollte, hat der verfluchte Arkanius mich mit einem Bann belegt - dem Bann ungestillter Lust. Er war ein dreckiger Schmerlapp, und ich habe mich gefreut, als der Dämon ihn zerrissen hat. Aber das hält mich unter dem Bann fest, den kein Zauberer lösen kann.” “Vielleicht wird er sich mit der Zeit abschleifen”, sagte ich. “Soweit ich weiß, ist das bei Bannsprüchen üblich.” “Mag sein; aber bis dahin treibt meine heiße Spalte mich zum Wahnsinn, wenn ich nicht mehrmals am Tag gebürstet werde.” “Ich würde meinen, mit all den kräftigen Handlangern hier...” “Die meisten baden nie, und ich bevorzuge reine Liebhaber. Na ja, wenn alles fehlschlägt... Aber jetzt geh zu deinem Spiel zurück. Hast du Glück dabei gehabt?” Ich erzählte ihr von meinem Verlust. “Ha!” sagte sie. “Das sieht Bagardo ähnlich, dir Vorschuß zu geben und ihn sich dann mit Falschspiel zurückzuholen.” “Meinen Sie, er hat mich betrogen?” “Gewiß! Was hast du denn gedacht?” Ich dachte nach. “Das also war die Bedeutung des Prickeins, das ich gespürt habe.” -49-
“Kannst du Gedanken lesen?” “Nein, aber ich entdecke Schwingungen, die die Gefühle anderer Lebewesen verraten.” “Wieviel zahlt er dir?” “Drei Pence pro Tag.” Sie lachte heiser. “Mein teurer Zdim, du gehst jetzt schnurstracks zu Bagardo zurück und verlangst das Doppelte; den Handlangern zahlt er sechs Pence. Dann leih’ dir noch einen Vorschuß und gewinn’ deinen Einsatz wieder zurück. Das ist die richtige Art, mit diesem großen Zampano zu juxen!” Ich tat, wie mir geheißen. Bagardo lachte herzlich über die Geschichte von Dulnessas fruchtloser Verführung. Das versetzte ihn in so gute Stimmung, daß er sogar der Erhöhung meiner Bezahlung zustimmte; zweifellos zählte er darauf, das Geld schnell zurückzugewinnen. Wir nahmen das Spiel wieder auf. Indem ich jedesmal, wenn ich das warnende Prickeln spürte, ausstieg, hatte ich bald ein Mehrfaches meines ursprünglichen Vorschusses zurückgewonnen. Mit starrem Blick sagte Bagardo: “Ich verliere wohl mein Gefühl für die Karten. Na ja, es ist sowieso Zeit fürs Bett. Wir müssen früh aufstehen, um nach Orynx zu kommen. Ich muß schon sagen, Meister Zdim, du hast das Spiel so schnell wie noch keiner erlernt. Bist du so etwas wie ein Gedankenleser?” “Nein, Meister.” Meine Erwiderung war wahr, wenn man “Gedanken” im engeren Sinne nahm; aber einige könnten philosophisch da eine Ausnahme machen, indem sie den Begriff auch auf die Emotionen ausweiten, die ich in der Tat lesen konnte. Ich fuhr fort: “Die Prinzipien sind nicht schwierig. Wie wir in meiner Welt sagen: Übung macht den Meister.” “Zu schade, daß du keine Gedanken liest; ich könnte dich in einer Vorführung brauchen. Und denk bei der nächsten Vorstellung daran: Wenn die Besucher hereinströmen, mußt du -50-
wirklich wild werden. Sie erwarten es. Brüll’, heul’, zerr’ an den Käfigstäben, als würdest du zwischen die Gimpel springen wollen. Tu dein Bestes, um aus dem Käfig zu entkommen!” Ungah sagte: “Boß, ich denke...” “Behalt deine Gedanken für dich, Meister Affe. Ich will sichergehen, daß dieser Dämon sein Drehbuch kennt.” Orynx, von Ir aus am Kyamos flußaufwärts gelegen, ist größer als Evrodium, jedoch kleiner als Chemnis. Wir hatten vor, zwei volle Tage dort zu verbringen und drei Vorstellungen zu geben. Zwei an den Abenden und eine am zweiten Nachmittag. Wir öffneten die erste Schau am Abend des ersten Tages. Der erste Gimpel, der das Monsterzelt betrat, war ein alter Mann mit schwankendem Gang. Vom Weingeruch, den er verbreitete, schloß ich, daß seine Tattrigkeit nicht nur Folge des Alters war. Er torkelte auf meinen Wagen zu und spähte hinein. Ich erwiderte seinen Blick, da ich nicht den Wunsch hatte, meine wilde Nummer aufzuführen, ehe ich nicht ein größeres Publikum um mich versammelt hatte. Der Greis nahm eine Flasche aus seinem Mantel und trank. Er murmelte: “Ihr könnt mich in den Dreck tauchen, aber jetzt sehe ich sie schon überall. Verschwinde, Spukgestalt! Entfleuche! Mach dich weg! O Götter, verlangt von mir nicht, das Trinken aufzugeben, die Milch meines Alters, mein einziger Trost, der mir verblieben ist!” Weinend wankte er davon, und andere Provinzler strömten herein. Als Bagardo seine schwülstigen Erläuterungen gegeben hatte, brüllte und schrie ich und schlug gegen die Käfigstangen. Mich an meine Befehle erinnernd, packte ich zwei Stangen und zog an ihnen, bis sie sich bogen. Die vorne stehenden Gimpel wichen zurück, während die weiter hinten nach vorne drängten. Bagardo grinste mir anerkennend zu. Ermutigt ließ ich ein Röhren wie das eines -51-
Turteldrachen aus den Sümpfen von Kshak hören und setzte meine ganze Kraft ein. Die Stangen bogen sich nach außen. Mit einem lauten schnappenden Geräusch riß sich eine aus der unteren Halterung. Ich zerrte auch die obere Halterung raus und warf die Stange klappernd zu Boden. Dann quetschte ich mich, wie mir aufgetragen worden war, durch die Lücke, sprang auf den Boden, brüllte und packte nach den nächsten Gimpeln. Ich hatte nicht die Absicht, den Besuchern Schaden zuzufügen; ich versuchte nur, eine gute Nummer abzuziehen. Aber die Gimpel in der ersten Reihe fuhren mit durchdringenden Schreien zurück. Im Nu war der Boden des Zelts ein Wirrwarr aus strampelnden Körpern. Erstebener kämpften sich durch das Durcheinander, fielen bei ihrer hastigen Flucht übereinander und kreischten: “Der Dämon ist los!” Als sie sich in die Nacht hinaus ergossen, wurden andere, die durch das Tor ins Hauptzelt strömten, von ihrer Panik angesteckt. Auf der Zwölften Ebene habe ich noch nie solch irrationales Verhalten beobachtet. Wir mögen ein wenig schwerfällig im Denken sein, aber eine unwillkommene Überraschung treibt uns nicht zum Wahnsinn. Einige Leute versuchten über den Stoffzaun rund um den Platz zu klettern oder sich unter ihm durchzuwühlen. Diejenigen, die zu Boden geschlagen oder getreten waren, hinkten oder krochen zum Ausgang. Es kam zu regelrechten Kämpfen. Einige der Spielerbuden waren zerstört, und die Leute aus der Stadt fingen sie zu plündern an. Ein Zelt ging in Flammen auf. Jemand schrie: “Hee, du Armleuchter!” Daraufhin fielen die Handlanger mit Zeltstangen und anderen provisorischen Waffen über die Gimpel her. Der ohrenbetäubende Lärm erstarb, als alle Gimpel, die noch dazu in der Lage waren, flohen. Viele lagen verletzt oder bewußtlos herum. Ich erspähte Bagardo, der verdreckt und -52-
angeschlagen herumtorkelte und versuchte, Ordnung in seine Truppe zu bringen. Als er mich sah, schrie er: “Du hast mich ruiniert, du lausige Spukgestalt! Dafür bringe ich dich um!” Andere liefen zwischen uns, und ich verlor ihn aus dem Blick. Ich folgte Ungah, um das Feuer in dem brennenden Zelt zu bekämpfen. Als wir es gelöscht hatten, erschien ein Berittener, der einen Helm, Kettenhemd und ein Schwert trug, am Eingang. Eine größere Gruppe Einheimischer mit Armbrüsten, Speeren und Knüppeln folgte ihm zu Fuß. Der Reiter blies eine Trompete. “Wer in den neunundvierzig Höllen sind Sie?” fragte Bagardo, der sich dem Pferd mit in die Hüften gestemmten Fäusten entgegenstellte. “Valtho, Polizeichef von Orynx. Das sind meine Hilfspolizisten. Und nun hört! Ihr werdet alle unter Arrest gestellt wegen Körperverletzung, begangen an den Bürgern von Orynx. Ihr werdet euch strafrechtlich und in Zivilverfahren verantworten müssen. Da unser Gefängnis nicht so viele aufnehmen kann, werdet ihr heute nacht hier unter Bewachung bleiben - hee, wohin, Bursche? Haltet diesen Mann fest!” Bagardo rannte zu den Zelten zurück. Ehe irgend jemand ihn greifen konnte, hatte er sich auf das buntscheckige Pferd geworfen und es mit Fußtritten in Galopp gebracht. Er jagte durch die zersplitterten Leute des Karnevals. “Leckt mich!” schrie er. Das Pferd flog über den Zaun, und Bagardo war in der Nacht verschwunden. Polizeichef Valtho rief seinen Männern einen Befehl zu, und diese schwärmten aus und umzingelten den Platz, während er mit rasselnden Lauten hinter Bagardo herjagte. Einige Karnevalsleute rannten in die Dunkelheit, um sich ihren Weg durch den Zaun zu schneiden, bevor der Kreis geschlossen war. Ich sagte zu Ungah: “Sollten wir nicht ebenfalls fliehen?” “Warum? Alleine kommen wir nicht durch, denn jeder -53-
Mensch ist gegen uns. Das beste, was wir erhoffen können, ist ein besserer Meister. Also nimm’s leicht.” Schon bald kam der Polizeichef von seiner fruchtlosen Verfolgung des Schaustellers zurück, um die Postierung seiner Männer zu überwachen; sein Pferd schnaubte und dampfte. In der Panik war ein Mensch umgekommen. Es handelte sich um den alten Trunkenbold, der am Eingang zum Monsterzelt totgetrampelt worden war. Es gab viele Verletzungen wie gebrochene Glieder und Rippen. Daneben hatte jeder Orynxianer, der auch nur angerempelt worden war oder einen Flecken auf seinen Mantel bekommen hatte, Anzeige gegen Bagardo den Großen gestellt. Wäre Bagardo der Chef von zehn Karnevals, jeder davon ertragreicher als seiner, er hätte trotzdem nicht allen Urteilen gegen ihn Genüge tun können. Wäre er nicht geflohen, wäre er wahrscheinlich als Schuldsklave geendet. Vor dem Friedensrichter in Orynx erläuterte ich, daß ich nicht wirklich ein blutrünstiges Monster war, sondern nur ein armer dienstverpflichteter Dämon, der versucht hatte, den Befehlen seines Herrn zu folgen. “Du hörst dich nicht wie ein Dämon an”, sagte der Friedensrichter. “Auf der anderen Seite bist du kein Mensch, also wäre es kein Mord, wenn wir dich vernichteten. Viele Bürger favorisieren diese Maßnahme zu ihrem eigenen Schutz.” “Erlaubt mir zu sagen, daß sie es schwierig finden könnten, mich zu vernichten, Euer Ehren”, sagte ich, “wie jeden, der sich mit der Zwölften Ebene beschäftigt hat, Ihnen bestätigen wird. Darüber hinaus kann ich solchem Los zuvorkommen, indem ich zu meiner Ebene zurückkehre.” (Ich bluffte, ich hatte ja einen Teil des Reißaus-Zaubers vergessen. ) “Solange jedoch solch extreme Maßnahmen nicht angewendet werden, bin ich gerne bereit, mit den braven Leuten von Orynx zusammenzuarbeiten, ihren Gesetzen zu gehorchen und meine Verpflichtungen zu erfüllen.” -54-
Der Friedensrichter - einer der wenigen vernünftigen Erstebener, die ich traf - stimmte zu, daß mir eine Chance gegeben werden sollte. Etwa die Hälfte der Truppe war entkommen, ehe der Platz umzingelt worden war. Diejenigen, die gefangengesetzt worden waren, hatten so wenige Besitztümer, daß der Friedensrichter sie mit Verwarnungen ziehen ließ, anstatt ihren Müßiggang im Gefängnis zu unterstützen. Die Tiere, Ungah und mich eingeschlossen, die Wagen, Zelte und übrigen Habseligkeiten wurden eingesammelt, inventarisiert und zum Verkauf nach Ir gebracht. Die Auktion war eine trübselige Angelegenheit, und ich bezweifle, daß die Kläger in Orynx auch nur einen Viertelpenny von ihren Ansprüchen erhielten. Aber auf diese Weise wurde mein Dienstvertrag auf dem Auktionsgelände vor der Stadt von einem Agenten für Madame Roska von Ir gekauft.
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IV. Madame Roska Ir, am Rande einer Hügelkette neben einem kleinen Nebenfluß des Kyamos, dem Vomantikon, gelegen, ist eine eigentümliche Stadt. Außer dem mächtigen, zylindrischen Turm, der den Eingang umgibt, ist sie völlig unterirdisch gebaut. Sie wurde als Feste von Ardyman dem Schrecklichen geplant, als dieser darauf aus war, alle zwölf novarischen Nationen unter seiner Herrschaft zu vereinigen. Als er in den Hügeln von Ir soliden Granit fand, ließ er die Stadt in die Berge hineinbauen, Tunnel und Höhlen erfüllten die Dienste von Straßen und Häusern. Als Madame Roskas Agent Noithen meinen Dienstvertrag in den Wams gesteckt hatte, sagte er: “Komm mit, Zdim. Wir erwarten meine Herrin.” Ein kurzer, dickbäuchiger Mann, das war Meister Noithen, der mich jetzt zum Turm führte. Dieser war ein Gebäude aus sorgfältig bearbeiteten Granit-Quadersteinen, über dreißig Meter breit und von dreifachem Durchmesser. Eine Rampe, breit genug für beladene Wagen, wand sich spiralförmig um den Zylinder, und zwar so, daß derjenige, der hinaufstieg, seine rechte oder nicht durch einen Schild geschützte Seite auf der Mauerseite hatte. Auf einem Drittel der Höhe endete die Rampe vor einem riesigen Portal mit Fallgittern, die aus ganzen Baumstämmen, quadratisch gesägt und mit bronzenen Klammern zusammengehalten, gemacht waren. Jetzt stand dieses Tor offen. Von der Plattform, zu der die Türöffnung führte, drehte sich eine Wendeltreppe einmal im Turm hoch und endete vor einer höhergelegenen, kleineren Tür. Der mit Zinnen bewehrte obere Rand des Turms war noch -56-
höher. Die Ausleger von Katapulten ragten über die Mauer. Auf dem Dach stand außerdem eine komplizierte Konstruktion, die ich von weitem sah, aber nicht verstand, bis ich Noithen, an zwei hochgewachsenen blonden Wachen vorbei, durch das Haupttor gefolgt war. “Wer sind diese Männer?” fragte ich Noithen. “Sie sehen nicht wie Novarianer aus.” “Söldner von Shven. Wir sind keine Kriegstreiber, sondern eine Nation friedlicher Bauern und Händler. Daher mieten wir die Shveniten, damit sie ihr Blut für uns vergießen. In Friedenszeiten wie jetzt dienen sie uns als Bürgerwehr und Polizei.” Auf der Innenseite des Portals füllte ein geräumiger, kreisförmiger Hof, zum Himmel hin offen, das Zentrum des Turms. An den Wänden schuf eine Reihe gewaltiger, von Arkaden gebildeter Kasematten Platz für die Verteidiger der Stadt und ihre Ausrüstung.Über der obersten Reihe dieser Kammern erhob sich das ringförmige Dach, auf dem die Katapulte standen. Dort ragte auch die Konstruktion empor, die ich von draußen gesehen hatte. Es war ein gewaltiger Spiegel in einer Uhrwerkaufhängung, so daß er über Tage dem Lauf der Sonne folgte. Bei der Planung seiner Stadt hatte Ardyman das Problem der Belüftung vernachlässigt. Um in ihren Höhlen sehen zu können, mußten die Irianer Lampen und Kerzen anzünden, und zum Kochen mußten sie öl verbrennen. Der Qualm und Rauch dieser Feuer belästigte sie, von der Luftverunreinigung gar nicht zu reden. Und diese Zustände verschlimmerten sich noch, als die Stadt wuchs und ihre Stollen sich immer tiefer in den Berg Ir erstreckten. Schließlich hatte ein erfinderischer Syndikus die Leute dazu gebracht, ein Beleuchtungssystem aus reflektiertem Sonnenlicht zu installieren. Das machte an sonnigen Tagen zumindest die -57-
Lampen überflüssig. Der Hauptspiegel, auf der Spitze von Ardymans Turm angebracht, warf das Sonnenlicht in den Hof hinunter, von wo ein weiterer Spiegel es in die Hauptstraße von Ir - Ardyman Avenue - reflektierte. Kleinere Spiegel verteilten die Strahlen in die Nebenstraßen und von dort in die einzelnen Behausungen. Wenn ich von Höhlenbehausungen spreche, dann habe ich keine natürlichen Höhlen, geschmückt mit Stalaktiten und vor einer Handvoll fellbekleideter Primitiver bewohnt, vor Augen. Die Stadt Ir war von den fähigsten novarischen Bauleuten aus dem Felsen gehauen worden. Ihr Aussehen unterschied sich, abgesehen von dem Dach aus Fels anstelle des Himmels, kaum von dem irgendeiner anderen reichen Stadt der Ersten Ebene. Die Hausfronten, die bis zu diesem Steindach hochragten, waren wie andere Hausfronten. Die Steinmetze hatten sogar feine Rillen in sie hineingearbeitet, um die Fugen zwischen Ziegeln oder Steinen gewöhnlicher Häuser zu simulieren. Da die Konstruktion aus einem einzigen festen Felsen bestand, schienen diese Gravuren keinen nützlichen Zweck zu haben außer dem, die Szenerie heimeliger wirken zu lassen. Die meisten Behausungen Irs waren auf der gleichen Ebene wie der Innenhof von Ardymans Turm.Über und unter der Hauptebene gab es weitere Ebenen, aber diese waren dem Original nachgebaut. Als wir durch die vorbeiströmenden Massen unseren Weg auf der Ardyman Avenue verfolgten, fragte Noithen: “Warst du nicht einmal in Diensten von Maldivius, dem Wahrsager?” “Jawohl, Sir. Er hat mich von meiner Ebene beschworen und meinen Vertrag später an Bagardo den Schausteller verkauft.” “Hat Maldivius irgendeinen schweren Verlust erlitten, während du bei ihm warst?” “Das hat er, Sir. Ein Dieb hat sich mit seinem kristallsehenden Stein, den er den Sibyllinischen Saphir nannte, davongemacht. -58-
Er hat mir den Verlust angelastet; daher der Wechsel meines Dienstverhältnisses.” “Wer hat den Stein gestohlen?” “Das war - lassen Sie mich nachdenken - Maldivius sagte, der Dieb wäre ein gewisser Farimes, den er von früher kannte. Warum, Sir?” “Das wirst du herausfinden, wenn du deine neue Herrin, Madame Roska sar-Blixens, kennenlernst.” “Meister Noithen, haben Sie die Güte, mir ihr System von Namen und Titeln zu erklären. Ich bin nur ein armer, unwissender Dämon...” “Sie ist die Witwe des Syndikus Blixens,. und jetzt ist sie darauf aus, selbst Syndikus zu werden.” Wir bogen in eine Seitenstraße ab und blieben vor einem der größeren Gebäude stehen. Wir wurden von einem Diener eingelassen: einem kleinen, dunkelhäutigen, hakennasigen Mann im Gewand und mit dem Kopfputz von Fedirun. Alsbald betraten wir das Arbeitszimmer meiner neuen Herrin, wo die Möbel im Vergleich zu denen in der Kammer in Maldivius’ Labyrinth oder in Bagardos Wagen wie feinster Wein verglichen mit abgestandenem Wasser waren. Obwohl es ein sonniger Tag war und Privatleute kein künstliches Licht benutzen, sondern ihre Beleuchtung von dem großen Spiegel beziehen sollen, leuchteten drei Kerzen in einem Wandleuchter. Madame Roska saß an ihrem Schreibtisch; sie war in ein Gewand aus einem durchsichtigen zarten Stoff gekleidet, durch den die Roska, wie die Natur sie geschaffen hatte, deutlich zu sehen war. Der Anblick eines Menschenweibchens in diesem Zustand fasziniert und erregt das Männchen, aber das ist eine der Merkwürdigkeiten im Fortpflanzungsverhalten dieser seltsamen Spezies. Roska war eine hochgewachsene, schlanke Frau mit grauem Haar, das sorgfältig zu einer anmutigen Frisur gestaltet war. Sie -59-
besaß die sanften, feinen Gesichtszüge, die, wie mir gesagt wurde, in Novaria als äußerst schön gelten. (Ich kann solche Dinge nicht selbst beurteilen, da für mich alle Erstebener sehr ähnlich aussehen. ) Obgleich sie über ihre Jugend hinaus war, hatte sie viel ihrer jugendlichen Geschmeidigkeit und der Regelmäßigkeit ihrer Gesichtszüge bewahrt. Sie lächelte uns entgegen, als der Fediruni uns einließ. “Ich sehe, du hast ihn bekommen, mein guter Noithen.” “Eure Ladyschaft”, sagte Noithen, sank auf ein Knie herab und erhob sich wieder. “Teurer Noithen, du Treuer! Führe Meister Zdim durch meine Räume, stelle ihn meinen übrigen Bediensteten vor und erkläre ihm seine Position - nein, ich habe meine Meinung geändert. Komm hierher, Zdim.” Mir schmeichelte es, als “Meister” bezeichnet zu werden, ein Titel, welcher Dienern in Novaria gewöhnlich nicht verliehen wird. Ich trat näher. “Bist du tatsächlich derjenige, der Doktor Maldivius in seiner Behausung in der Nähe von Chemnis diente?” fragte sie. “Jawohl, Madame.” “Hast du ihn von einer Gefahr sprechen hören, die über Ir schwebt?” “Jawohl, Herrin. Er feilschte mit dem Syndikus Jimmon über den Preis für die Enthüllung dieser Bedrohung.” “Und hat er deinen Dienstvertrag nicht deshalb verkauft, weil er verärgert darüber war, weil du es zugelassen hast, daß Frimes von Hendau seinen Zauberstein stahl?” “Jawohl.” “Hast du ihn je dabei beobachtet, wenn er kristall sah?” “Was das angeht, Madame, so bestand er darauf, daß ich ihn während seiner Wahrsagertrancen bewachte. Daher bin ich mit seinen Methoden wohlvertraut.” -60-
“Aha! Wir werden sehen. Gehen wir sofort in meine Kapelle und prüfen dein Wissen! Du bist entlassen. Noithen.” “Wenn Eure Ladyschaft sich in Gegenwart dieses... dieses...”, sagte Noithen. “Oh, hab keine Angst um mich. Mein kleiner Drachenmann ist ein Musterbeispiel des Anstands. Komm, Zdim!” Die Kapelle war ein kleiner achteckiger Raum in einer Ecke des Hauses, vollgestopft mit magischen Utensilien wie Maldivius’ Sanktum. Auf einem Tisch in der Mitte stand eine Schüssel mit einem Edelstein, der genau wie der Sibyllinische Saphir aussah. “Ist das Maldivius’ Edelstein, Madame?” fragte ich. Sie kicherte. “Du hast es erraten! Es war böse von mir, Noithen zu veranlassen, ihn von einem notorischen Hehler zu kaufen, aber das Wohl unseres Landes verlangt, daß er sich im verantwortungsbewußten Händen befindet. Außerdem hat Maldivius zu viele alte Feinde in Ir, als daß er hierher zurückkehrte, um mich anzuklagen. Und jetzt berichte mir, was Maldivius gemacht hat, wenn er kristallsah!” “Nun, Madame, zuerst betete er. Dann...” “Welches Gebet sprach er?” “Das normale zu Zevatas - das, welches beginnt:›Vater Zevatas, König der Götter, Bauherr des Alls, Herr aller, möge dein Name auf ewig geehrt sein...” “Ja, ja, ich weiß. Und dann?” “Dann bereitete er Kräuter vor...” “Welche Kräuter?” “Ich kenne sie nicht alle; aber ich glaube, eines war Basilikum, vom Geruch...” Madame Roska nahm eines ihrer Zauberbücher und ging die Rezepturen durch. Mit Hilfe dieses Buchs und mit dem, an was ich mich über Maldivius’ Vorgehen erinnern konnte, -61-
rekonstruierten wir beinahe vollständig den Zauber, der Maldivius in Trance versetzte. Schließlich kamen wir nicht mehr weiter. “Sehr böse von dir, Zdim Schätzchen, wirklich sehr böse, daß du nicht besser aufgepaßt und dir mehr gemerkt hast!” sagte sie und unterdrückte ein Gähnen. Es machte mich verlegen, als “Schätzchen” angeredet zu werden, und ich fragte mich, ob es zu einer Wiederholung der peinlichen Begegnung mit Dulnessa, der Reiterin, kommen würde. Meine Fühler konnten jedoch keinerlei Lustgefühle entdecken, und schon bald erkannte ich, daß das nur Roskas gewöhnliche Art der Anrede war. Um auf der Ersten Ebene zurechtzukommen, muß man sich klarmachen, daß Menschen die halbe Zeit nicht meinen, was sie sagen. Sie fuhr fort: “Aber diese Beschäftigung ermüdet mich, und meine Kunst verlangt nach mir. Awad!” Der Fediruni erschien und verbeugte sich. “Nimm Meister Zdim mit”, sagte Roska, “und beschäftige ihn bis morgen mit irgendeiner einfachen Aufgabe im Haushalt. Und - ehe ich es vergesse - sag Philigor, er soll ihn mit neun Pence pro Tag auf die Lohnliste setzen. Danke.” Als Awad mich fortführte, fragte ich: “Welches ist die Kunst ihrer Ladyschaft?” “Dies Jahr ist es die Malerei.” “Was war es vorher?” “Letztes Jahr war es Vignettenzeichen; das Jahr davor Zitherspielen. Nächstes Jahr wird es etwas anderes sein, wette ich.” Während der nächsten Tage erfuhr ich, daß Madame Roska eine sehr talentierte und energische Frau war. Sie konnte allerdings nie lange genug bei einer Sache bleiben, um sie zu Ende zu führen. Sie konnte ihre Meinung und ihre Pläne öfter ändern als jeder, den ich kannte, selbst unter diesen zappligen Erstebenern. Mich an Jimmons Worte erinnernd, fragte ich -62-
mich, wie eine so flatterhafte Person das Vermögen, das sie ererbt hatte, nicht nur zusammengehalten, sondern sogar noch vermehrt hatte. Ich vermute, daß sich unter ihrer oberflächlichen Unbeständigkeit ein Kern nüchterner Vernunft verbarg, oder daß sie eine erstaunliche Glückssträhne gehabt hatte. Auf der anderen Seite war sie stets gelassen, höflich und freundlich, selbst zu dem niedersten ihrer Untergebenen. Wenn sie sie mit ihren plötzlichen Meinungsänderungen verrückt gemacht hatte und sie in ihren Quartieren über sie tuschelten und stänkerten, gab es mit Sicherheit einen, der sie mit den Worten verteidigte: “Trotz allem, sie ist eine wirkliche Dame.” Diese Versammlungen der gut zwanzig Bediensteten waren häufig, denn Roska pisackte ihre Dienerschaft mit lockerem Zügel. Sie waren zudem Brutstätten des Klatschs. Unter anderem erfuhr ich, daß die Hälfte der unverheirateten Männer der Oberklasse von Ir Bewerber um Roskas Hand war - oder zumindest um Blixens Vermögen. Und viele der verheirateten wären froh gewesen, ihre Ehefrau davonzujagen und sie durch Roska zu ersetzen. Die Diener hatten Wetten darüber abgeschlossen, wer erfolgreich sein würde, aber es hatte nicht den Anschein, daß einer der Wetter die Einsätze zu bald kassieren könnte. Zu zweit rekonstruierten Roska und ich Maldivius vollständigen Zauber. Wir waren bereit, uns auf diese magische Arbeit einzulassen, als sie sagte: “Ach nein, Zdim Schätzchen; plötzlich habe ich Angst vor dem, was ich sehen könnte. Hier, nimm meinen Platz ein. Kannst du kristallsehen?” “Ich weiß nicht, Madame, da ich es nie versucht habe.” “Dann versuch es jetzt. Beginne mit dem Gebet zu Zevatas!” “Ich werde mich bemühen, zu Ihrer Zufriedenheit zu arbeiten”, sagte ich und setzte mich in ihren Sessel. Ich rezitierte das Gebet, aber ohne gefühlsmäßige Beteiligung, denn die Götter von Ning sind nicht die von Novaria. Ich sog die Dämpfe ein und sprach den mulvanischen Zauberspruch: lyu zorme barh tigai tyuvu... -63-
Und wahrhaftig, die flackernden Lichter in dem Saphir begannen Gestalt anzunehmen. Zuerst kam ein verworrenes Gemisch von Szenen: Fetzen von Himmel und Wolken, von Land und Meer, alle miteinander vermischt und in ständiger Bewegung. In einem Augenblick schien ich wie ein Vogel aus der Höhe auf die Erde hinabzuschauen; im nächsten war es, als läge ich auf einer Wiese und blickte durch die Grashalme nach oben. Dann schien ich im Meer versunken, wo verschwommene Flossengestalten sich durch blaue Fernen bewegten. Nach einiger Zeit lernte ich, diese Effekte zu kontrollieren, so daß mein Standpunkt fest wurde. “Wonach soll ich ausschauen?” fragte ich. In solch einer Trance zu sprechen ist so, als versuche man mit einer um den Kopf gewickelten Decke zu reden. “Die Gefahr, die nach Maldivius’ Worten Ir bedroht”, sagte sie. “Ich habe von dieser Bedrohung gehört, aber Maldivius hat nichts über ihre Natur verraten.” “Denk nach! Plante vielleicht eine der Nachbarnationen Böses?” “Ich habe nichts darüber gehört. Sind irgendwelche dieser Nachbarn in Feindschaft mit Ir?” “Wir sind mit allen in Frieden, das heißt, der Frieden ist nicht unsicherer als gewöhnlich. Tonio von Xylar ist uns unfreundlich gesonnen, weil er mit Govannian gegen unseren Verbündeten Metouro verbunden ist; aber dieses Feuer schwelt zur Zeit nur. Außerdem verliert Tonio innerhalb eines Jahres seinen Kopf...” “Madame! Was hat dieser Mann getan, daß Sie so beiläufig darüber sprechen, daß er seines Kopfes beraubt wird?” “Es ist Sitte in Xylar, alle fünf Jahre des Königs Kopf abzuschneiden und ihn vor den ausgestreckten Händen der -64-
Bürger hochzuwerfen, um auf diese Weise den nächsten König zu erwählen. Aber genug davon; zurück zu unserer Bedrohung. Könnte es sein, daß diese Gefahr von einem weiter entfernten Land droht - von Shven hinter den Ellornas, womöglich, oder Paalua jenseits des Meeres?” “Ich erinnere mich!” sagte ich. “Bagardo zitierte Maldivius, der gesagt haben soll, daß die Paaluaner ihm ein Vermögen einbringen.” “Dann fliegen wir - ich meine, laß meinen mystischen Blick fliegen - nach Paalua, um zu sehen, was diese Leute vorhaben.” “Wohin, Madame?” “Westwärts!” Während dieser Unterhaltung war meine Vision in dem Saphir trübe geworden, und ich mußte erneut die Dämpfe einatmen und den Zauberspruch aufsagen, um wieder klare Sicht zu bekommen. Ich zwang meinen Standpunkt in die Höhe und bewegte ihn, mit Hilfe der Sonne steuernd, westwärts. Meine Kontrolle war noch alles andere als perfekt; einmal geriet ich in einen Hügel, woraufhin alles schwarz wurde, bis ich auf der entgegengesetzten Seite wieder herauskam. Die Hügel von Ir flogen unter mir dahin, und dann die Küstenebene und das Tal des Kyamos. Ich jagte über Chemnis mit seinen Schiffen und dann über das breite blaue Meer. Meile auf Meile eilte ich dahin und sah nichts außer gelegentlich einen Meeresvogel und einmal einen spritzenden Wal. Da zog eine Ansammlung schwarzer Punkte meinen Blick auf sich. Schnell wurden sie zu einer Flotte. Es waren langgestreckte, spitze Schiffe, jedes mit einem einzelnen Rahsegel, das sich vor einem kräftigen Wind blähte. Ich sank hinab, um einen besseren Blick zu haben. Die Decks waren mit Gestalten übersät, die sich von den Novarianern deutlich unterschieden. Die meisten waren völlig nackt, während einige flatternde Umhänge trugen. Sie waren von beinahe -65-
schwarzer Haut und hatten lockige Wuschelköpfe und mächtige Krausbärte. Haupt- und Barthaar variierten von Schwarz bis Rostbraun. Schwarze Augen blickten aus tiefen Augenhöhlen unter buschigen Brauen hervor, und ihre Nasen waren breit und flach. Madame Roska wurde immer aufgeregter, als ich beschrieb, was ich sah. Dann kam eine Unterbrechung. Vom Heck des Schiffes, das ich kristallsah, kam ein hagerer alter Paaluaner mit weißem Haar und Bart. Er hielt etwas, das wie ein menschlicher Beinknochen aussah, und seine Augen fuhren suchend umher. Schließlich schien er mich aus der Tiefe des Edelsteins anzublicken. Er schrie unhörbar und wies mit dem Knochen auf mich. Das Bild wurde trübe und verwandelte sich zu tanzenden Lichtpünktchen. Als ich Roska dies berichtete, ging sie nägelkauend in der Kapelle auf und ab. “Die Paaluaner”, sagte sie, “sind auf Übles aus. Die Syndiki müssen gewarnt werden.” “Was haben die Paaluaner im Sinn, Madame?” “Ihre Speisekammern zu füllen, das ist es!” “Meinen Sie damit, daß sie Kannibalen sind?” “Genau!” “Sagt mir, Madame, was für Menschen sind das? Ich habe gelernt, daß auf dieser Ebene Menschen, die nackt herumlaufen und andere Menschen essen, als primitive Wilde gelten. Doch die paaluanischen Schiffe scheinen solide gebaut und gut ausgerüstet - wenn ich auch kein Experte für solche Dinge bin.” “Sie sind keine Wilden; tatsächlich haben sie eine hoch entwickelte Zivilisation, die sich aber von der unseren zutiefst unterscheidet. Viele ihrer Gebräuche, wie öffentliche Nacktheit und Anthropophagie, halten wir für barbarisch. Also, was tun? Wenn ich zu den Syndiki gehe, werden sie sagen, ich würde sie nur deshalb alarmieren, um meinen Sitz in ihrem Rat zu bekommen. Könntest du die Informationen überbringen?” -66-
“Nun ja, Madame, wenn ich vorgelassen werde, könnte ich ihnen berichten, was ich gesehen habe. Aber ich besitze nicht die Autorität, um mir bei ihnen Gehör zu verschaffen.” “Ich verstehe, ich verstehe. Wir müssen es zusammen tun. Ruf meine Zofe!” Bald darauf verlangte Madame Roska, fürs Ausgehen gekleidet, nach ihrer Sänfte. Aber da ließ eine ihrer Freundinnen den Türklopfer erklingen. Als diese Frau eintrat, ertönten Schreie wie “Schätzchen!” und “Liebste!”. Und dann war die dringende Botschaft an das Syndikat vergessen, während die beiden Frauen zusammensaßen und tratschten. Als die Besucherin wieder ging, verfinsterte sich das reflektierte Sonnenlicht, und die Zeit zum Abendessen rückte heran. “Für heute ist es zu spät”, sagte Roska müde. “Morgen reicht es auch noch.” “Aber, Madame!” sagte ich. “Wenn diese räuberischen Wichte von jenseits des Meeres nur noch wenige Tagesreisen von unserer Küste entfernt sind, sollte das jetzt nicht Vorrang vor allem anderen haben? Wie man auf meiner Ebene sagt: Ein kleiner Flicken zur Zeit spart die Reparatur von morgen.” “Sprich nicht mehr davon, Zdim. Es ist wirklich Pech, daß Madame Mailakis gerade jetzt hereingeschneit kam, aber ich konnte sie doch nicht unhöflich abfertigen.” “Aber...” “Na, na, Zdim Schätzchen! Das Thema ist ausgesprochen unangenehm, und ich möchte die ganze bedauernswerte Angelegenheit in den Seiten eines Buchs vergessen. Hol mir aus der Bibliothek die Ausgabe von Falmas’ Ewige Liebe.”. “Madame Roska!” sagte ich. “Ich bemühe mich, zu Ihrer Zufriedenheit tätig zu sein; aber - wenn ich offen sprechen darf ich glaube wirklich, Sie sollten den Rat der Syndiki alsbald zusammenrufen. Ich vernachlässigte meine Pflichten, würde ich Sie nicht ausdrücklich darauf hinweisen.” -67-
“Teurer Zdim! Mein Wohlergehen liegt dir sehr am Herzen. Awad! Mach eine Liste der Ratsmitglieder und suche sie nach dem Essen auf. Sag Ihnen, daß ich sie mit wichtigen Informationen morgen in der dritten Stunde im Gildensaal erwarte.” Auf der Versammlung sagte Jimmon, der Erste Syndikus: “Bist du jener Dämon der Zwölften Ebene, der bei Doktor Maldivius dienstverpflichtet war?” “Jawohl, Sir.” “Wie ist dein Name? Stam oder so?” “Zdim Akhs Sohn, Sir.” ‘::’ “Ach ja. Ausgesprochen häßliche Namen, die ihr Zwölftebener habt. Also, Roska, was soll das alles?” “Meine Herren”, sagte sie, “Sie werden sich erinnern, daß Doktor Maldivius letzten Monat versuchte, vom Syndikat Geld für eine Information über eine Gefahr zu erpressen, welche Ir droht.” “Daran erinnere ich mich sehr wohl”, sagte ein Syndikus. “Ich glaube immer noch, daß es ein Bluff war und er gar nicht eine solche Information hatte.” “Ihr wißt, was für ein schleimiger Charakter Maldivius war”, sagte ein anderer. “Kein Wunder, daß ihm der Boden in der Stadt zu heiß unter den Füßen wurde.” “Davon mal abgesehen”, sagte Roska. “Ich habe erfahren, was die Bedrohung ist, und Maldivius hat nicht übertrieben.” “Oho?” sagten einige. Sie waren ein verschlafener, gelangweilt dreinblickender Haufen, die meisten im fortgeschrittenen Alter und viele ziemlich fett. Jetzt setzten sie sich aufrecht und zeigten Anzeichen von Interesse. “Jawohl”, fuhr Roska fort. “Ein mächtiger Wahrsagestein ist mir kürzlich in die Hände gekommen, und mein Diener hat die nahende Gefahr gesehen. Berichte ihnen, Zdim!” Ich beschrieb meine Vision. Einige wirkten beeindruckt; andere höhnten: “Aber nicht doch, du erwartest doch nicht, daß -68-
wir das Wort eines nichtmenschlichen Monsters für bare Münze nehmen?” Die Debatte wütete eine Stunde. Schließlich sagte Roska: “Hat einer von den Exzellenzen die Begabung zum Kristallsehen?” “Ich nicht!” sagte Jimmon. “Ich würde das Zeug nicht anrühren. Das riecht zu sehr nach Hexerei.” Andere stimmten in diese Ablehnung ein, bis ein alter Syndikus namens Kormous sagte, er hätte sich in seiner Jugend mit den okkulten Künsten befaßt. “Dann werdet Ihr auf der Stelle in mein Haus kommen”, sagte Roska, “während Meister Kormous sich in Trance versetzt und euch berichtet, was er sieht. Vielleicht werdet ihr ihm vertrauen.” Eine Stunde später saß Kormous in dem Sessel vor dem Saphir umringt von den anderen Syndiki. Er sprach mit gedämpfter Stimme, aber während er redete, erbleichte die Haut der anderen. “Ich - sehe - die - paaluanischen - Schiffe”, nuschelte er. “Sie sind - nur noch wenige - Stunden vor Chemnis. Sie werden morgen - landen.” Einer nach dem anderen gaben die Syndiki ihre Ungläubigkeit auf. Einer sagte: “Wir müssen eilends zurück zum Gildensaal, um unsere nächsten Schritte zu beraten.” “Keine Zeit; wir versammeln uns hier”, sagte Jimmon. “Können wir deinen Ruheraum benutzen, Roska?” Als sie in das Zimmer strömten, sagte Roska: “Jetzt könnt Ihr mir wenigstens meinen Sitz im Rat nicht aus dem nebensächlichen Grund meines Geschlechts verweigern.” “Eine solche Übereinkunft wurde nicht getroffen, bevor du uns gewarnt hast”, sagte Jimmon. “Heirate mich, Roska Liebling”, sagte ein Syndikus, “und -69-
dann bist du die Gattin eines Syndikus; das verschafft dir all den Ruhm ohne die Arbeit.” “Heirate mich”, sagte ein anderer, “und ich werde meinen Einfluß nutzen, um dir den Sitz zu verschaffen. Es wäre nicht von Schaden, zwei Syndiki in der Familie zu haben.” Wieder ein anderer sagte: “Ich habe eine Frau, aber wenn die teure Roska bereit wäre, ein...ääh... Arrangement...” “Halt dein Maul, du ordinärer Barbar!” sagte Jimmon. “Du weißt, Madame Roska ist die tugendhafteste Frau in Ir. Außerdem, wenn sie sich auf ein solches Arrangement einließe, dann mit mir, denn ich bin viel reicher als du. So, und was ist jetzt mit den schwarzen Kannibalen?” “Hätten wir Zolon nicht bezahlt, seine Flotte gegen die Piraten von Algarth auszusenden”, sagte einer, “würde ihre Kriegsmarine mit den Paaluanern kurzen Prozeß machen.” “Aber wir haben dafür bezahlt”, sagte Jimmon, “und die zolonische Marine ist losgesegelt, und es wäre hoffnungslos, sie zurückzurufen.” “Das wäre alles nicht passiert, hättest du dir nicht soviel Zeit dafür genommen, mit Maldivius zu feilschen”, sagte ein anderer. “Die Seuche über dich! Ich mußte mit dem Geld des Steuerzahlers sparsam umgehen”, erwiderte Jimmon. “Hätte ich Maldivius’ erstes Angebot angenommen, hättet Ihr wegen Verschwendung des Vermögens der Republik meinen Skalp verlangt. Und ob es nun falsch oder richtig war, es ist vorbei. Die Frage ist: Was ist jetzt zu tun?” “Zu den Waffen!” schlug einer vor. “Du vergißt”, sagte Jimmon, “daß wirunsere Reserven an Waffen verkauft haben, um das Geld zur Bezahlung des Großadmirals von Zolon für die Expedition nach Algarth zu beschaffen.” “O Götter!” sagte einer. “Was für gewinnsüchtige Idioten...” Und so ging es mit Vorwürfen und Gegenvorwürfen über Stunden. Jeder Syndikus versuchte, die Verantwortlichkeit -70-
für die schlechte Vorbereitung der Republik auf einen der anderen abzuwälzen. Als der Tag dem Ende zuging, ordneten die Syndiki die sofortige Mobilisierung der Miliz an und befahlen, daß alle Männer, die nicht unter Waffen standen, sich zu den Waffenherstellern begeben sollten. Sie bestellten den jüngsten der Syndiki, einen Finanzier namens Laroldo, zum Kommandanten. Laroldo sagte: “Ich weiß die Ehre, die Sie, meine Herren, mir erweisen, zu schätzen und werde versuchen, mir euren Beifall zu erringen. Zuerst jedoch möchte ich vorschlagen, unser Vorgehen bis morgen geheimzuhalten; dann werden wir unsere Anordnungen veröffentlichen und einen Boten nach Chemnis schicken, um die Chemniten zu warnen. Die hohen Herren verstehen, warum.” Er zwinkerte seinen MitSyndiki zu. Madame Roska sagte mit scharfer Stimme: “Warum die Verzögerung? Jede Stunde ist kostbar.” “Nun...ähem”, sagte Jimmon, “es ist zu spät am Tag, um noch etwas Nützliches zu tun. Außerdem möchten wir die Bürger nicht aufregen; eine Panik in dieser unterirdischen Stadt wäre eine schreckliche Sache.” “Ach, Quatsch!” sagte Roska. “Ich weiß, worauf ihr aus seid. Ihr habt vor, die Märkte abzuklappern und alle Nahrungsmittel und andere Bedarfsgüter aufzukaufen, weil ihr wißt, daß ihre Preise hochschnellen - vor allem, wenn Ir belagert wird. Schämt euch, das Volk auf so hartherzige Weise zu übervorteilen!” “Meine teure Roska”, sagte Jimmon, “du bist eben doch nur eine Frau, wenn auch eine sehr attraktive und kultivierte. Deshalb verstehst du diese Dinge nicht...” “Ich verstehe sie sehr wohl! Ich werde den Leuten von eurem Komplott erzählen, mit dem ihr...” “Ich glaube, das wirst du nicht tun”, sagte Jimmon. “Das hier ist eine Exekutivsitzung mit der vollen Macht, die Veröffentlichung der Beschlüsse zu kontrollieren. Jeder, der vor -71-
der offiziellen Veröffentlichung mutwillig verrät, was hier geschieht, kann als Strafe seines gesamten Vermögens verlustig gehen. Und du, meine Teure, bist viel zu lieblich, um als Putzfrau zu arbeiten. Habe ich mich verständlich ausgedrückt?” Roska brach in Tränen aus und verließ den Raum. Das Syndikat schloß die Sitzung, und seine Mitglieder rafften ihre Mäntel und Schwerter mit unziemlicher Hast zusammen. Meine Fühler verrieten mir, daß Roska recht hatte; daß sie hektisch darauf bedacht waren, zu den Märkten und Geschäften zu kommen, ehe sie schlössen und ehe Gerüchte über die Invasion die Preise hochtrieb. Am nächsten Tag wurden die Anordnungen des Syndikats angeschlagen, und zwei Boten galoppierten in Richtung Chemnis. Während des ganzen Tages befand sich Ir in einem Zustand hektischer Geschäftigkeit. Etwas über viertausend Milizangehörige - alle, für die Waffen zur Verfügung standen und die gut zweihundert Shvenier wurden auf der Ebene jenseits des Turms des Ardyman gemustert. Sie wurden durch ein paar simple Exerzierübungen geschleust und marschierten die Straße nach Chemnis hinab. Mit ihren flatternden Bannern und Laroldo, dem Bankier, in voller Rüstung zu Pferd an ihrer Spitze boten sie einen prächtigen Anblick. Weitere tausend Männer blieben auf der Ebene zurück und wurden von dem alten Segovian, dem Exerziermeister, gedrillt. Die Jungen exerzierten mit Stöcken und Besenstielen, bis richtige Waffen für sie aufgetrieben werden konnten. Segovian war ein Bär von einem Mann mit einem grauen Bart und einer Stimme wie Donner. Er war der einzige Mann in Ir, der sich über militärische Fragen Gedanken machte. Die übrigen Irianer betrachteten ihn als einen ungeschlachten, blutrünstigen Barbaren. Sie entlohnten ihn als notwendiges Übel, wie Feuerwehrleute und Müllkutscher. Über ein Jahrhundert lang hatte die Republik eine friedvolle -72-
Politik gegenüber den anderen novaranischen Nationen verfolgt. Das Syndikat, die Regierungskörperschaft der KaufmannsAristokratie, widmete sich mit einseitigem Scharfsinn der Anhäufung von Reichtum. Einige dieser Reichtümer wurden klugerweise darauf verwendet, die Kriegsmarine von Zolon zur Bewachung der Küste anzuheuern. Einige gingen als Schmiergelder an andere novarianische Führer, die gegeneinander ausgespielt und so davon abgehalten wurden, sich gegen Ir zu verbünden. Diese Politik hatte bei den anderen Novarianern gut funktioniert, aber die Paaluaner waren allem Anschein nach ein anderer Menschenschlag.
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V. Laroldo der Bankier Während dieses Tags der Mobilisierung und Aufregung blieb ich in Roskas Haus, um ihr beim Kristallsehen zu helfen. Den größten Teil des Tages hatten wir jedoch wenig Erfolg. Die paaluanischen Zauberer hatten gemerkt, daß sie ausspioniert wurden. Kaum bekamen wir im Saphir eine feste Einstellung, da streckten ihre Zauberer schon ihre magischen Knochen aus und verdarben das Bild. Daher bekamen wir den Feind jeweils nur kurz ins Blickfeld. Von Zeit zu Zeit wechselten wir das Bild zum Hafen von Chemnis. Immer wieder blickten wir dorthin und hofften, daß die Boten aus Ir eintrafen; aber soweit wir sehen konnten, ging die Stadt ihren normalen Geschäften ohne Störung nach. Später an diesem Tag erblickte ich, als ich gerade Chemnis beobachtete, eine Ansammlung schwarzer Flecken am westlichen Horizont. Als ich Roska davon Mitteilung machte, stöhnte sie laut auf. “O Götter!” rief sie. “Das sind die Menschenfresser; jetzt fallen sie über die ahnungslosen Chemniten her und bringen sie um. Wodurch werden unsere Boten nur aufgehalten?” “Hauptsächlich durch die weite Entfernung”, sagte ich. “Und dann, wie ich euch zapplige Erstebener kenne, ist es nicht unwahrscheinlich, daß sie an einer Taverne gehalten und sich betrunken haben. Halt! Ich sehe etwas anderes.” “Was denn? Was denn?” “Ein Mann, der auf einem Maultier nach Chemnis hineinreitet. Ich will ihn mir etwas näher ansehen. Er scheint alt und gebeugt, mit langem grauem Haar unter seinem Hut; aber er treibt sein Reittier in den Galopp. Bei den Göttern von Ning, es ist mein alter Meister, der Zauberer Maldivius! Jetzt sehe ich ihn -74-
die Zügel anziehen, als er an ein paar Chemniten vorbeikommt. Er schreit und fuchtelt mit den Armen. Jetzt galoppiert er weiter, hält wieder an, um den nächsten Passanten zu warnen.” “Wenigstens haben die Chemniten eine Warnung erhalten”, sagte Roska. “Wenn sie ihm glauben und sofort fliehen, könnten sie dem Kochtopf entrinnen.” “Ihr Erstebener hört nicht auf, mich zu verblüffen, Madame”, sagte ich. “Ich hatte gemeint, Doktor Maldivius wäre viel zu eigensüchtig, um sich damit abzugeben, irgend jemanden vor dem Untergang zu warnen, es sei denn, der gute Doktor könnte eine Belohnung für seine Information herausholen.” “Wie du siehst, ist er kein völlig gewissenloser Lump. Das sind wir selten, und auch sonst machen wir nicht alles hundertprozentig.” Ich fuhr fort, die Hafenstadt zu beobachten. Offenbar glaubten die ersten Chemniten, mit denen Maldivius gesprochen hatte, ihm nicht, denn sie verhielten sich so, als wäre nichts geschehen. Nach und nach zeigten seine Warnrufe jedoch Wirkung. Ich konnte Gruppen von Leuten herumstehen und diskutierend gestikulieren sehen. Eine Stunde nach der ersten Warnung fingen die Leute an, ihr Hab und Gut auf Wagen oder auf Lasttiere zu laden und die Straße den Kyamos hinauf einzuschlagen. Allerdings befand sich weniger als die Hälfte der Stadtbewohner auf dem Weg, als die paaluanische Flotte vor der Küste auftauchte. Panik machte sich breit. Die Straße war mit hastenden Menschen verstopft, die sich rennend und stolpernd von ihrer Stadt entfernten. Einige waren mit leeren Händen unterwegs, andere mit ein oder zwei wertvollen Besitztümern, die sie sich im letzten Moment geschnappt hatten. Doktor Maldivius hatte ich verloren. Die paaluanischen Galeeren rauschten in den Hafen. Mehrere legten an leeren Kais und Piers an. Paaluanische Soldaten stürzten an Land und schwärmten -75-
aus; sie spähten um die Ecken, als erwarteten sie einen Hinterhalt. Und dann gingen ganze Kompanien unter dem Kommando von Offizieren in Federmänteln in leuchtendem Scharlachrot und Gelb von Bord. Von einem Schiff führten Männer eine Menge von Tieren, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Es waren große Geschöpfe, groß genug, einen Mann im Sattel zu tragen. Sie hatten schmale, langgestreckte Schnauzen und lange Ohren wie ein Esel, aber damit hörte die Ähnlichkeit auf. Sie besaßen kurze, klauenbewehrte Vorderbeine, kräftig entwickelte Hinterbeine und einen langen steifen Schwanz. Sie bewegten sich vorwärts, indem sie auf ihren Hinterbeinen hüpften, wobei sie mit dem Schwanz die Balance hielten. Alles in allem ähnelten sie dem kleinen Erstebener-Tier, welches Kaninchen genannt wird, nur in einem größeren Maßstab. Sobald die hüpfenden Tiere an Land waren, schwangen sich die Paaluaner, die sie hinabgeführt hatten, in die Sättel auf ihren Rücken und machten sich hüpfend, so schnell wie ein Pferd galoppieren kann, davon. Die letzte Handvoll Chemniten verließ gerade die Stadt, und die paaluanische Kavallerie erwischte einige. Mehrere Reiter holten ihre Opfer ein und durchbohrten sie mit Lanzen oder schleuderten Wurfspieße in ihre Körper. Andere wirbelten ein Gerät aus Schnüren und Steinen und warfen es, so daß es sich um die Beine der Flüchtlinge wickelte und sie zu Fall brachte; im Nu waren sie gefangen und wurden nach Chemnis zurückgeschleift. Jetzt war Madame Roska mit Kristallsehen an der Reihe; aber kaum hatte sie eine feste Einstellung, da schrie sie auf und bedeckte die Augen. Sie redete zusammenhanglos. Um zu erfahren, was sie so erschreckt hatte, mußte ich selbst wieder in Trance. Von der Kajütentreppe eines anderen Schiffs kam eine Prozession noch grauenvollerer Tiere. Die Paaluaner hatten einige Dutzend ihrer Drachen-Echsen als Reittiere abgerichtet. -76-
Da ein ausgewachsener Drachen oft bis zu fünfzehn Meter lang wird, kann er mehrere Reiter zugleich tragen. Der Lenker setzte sich rittlings auf den Hals des Reptils. Hinter ihm kamen sechs oder acht weitere, die paarweise in einer Art Elefantensänfte saßen. Die übliche Besatzung bestand aus vier Bogenschützen und zwei Speerwerfern. Alle bedeckten ihre Nacktheit mit einer merkwürdigen Panzerung, die (wie ich später erfuhr) aus imprägniertem Leder hergestellt wird. Wenn sie auch nicht so stark wie ein solider Stahlanzug war - wie er von osmanischen Rittern getragen wird -, war sie doch leicht und praktisch. Da eine Galeere nur eine kleine Zahl dieser Echsen aufnehmen konnte, war die Streitmacht auf viele Schiffe verteilt. Wegen der begrenzten Anlegeplätze dauerte es zwei volle Tage, die gesamte Streitmacht, welche der unseren vielleicht im Verhältnis zwei zu eins überlegen war, auszuschiffen. In der Zwischenzeit waren die schon gelandeten Paaluaner ausgeschwärmt und hatten die verlassenen Gebäude von Chemnis besetzt. Die Chemniten, die von der hüpfenden Kavallerie gefangen worden waren, wurden getötet, aufgeschnitten und durch Pökeln oder Räuchern als Nahrung zubereitet. Am dritten Tag nach der Landung marschierte die paaluanische Armee das Tal des Kyamos hinauf; berittene Späher - weit auseinandergezogene Flankendeckungen schützten sie vor Überraschungen. Roskas Haus war inzwischen praktisch ein Nebengebäude des Gildensaals geworden, ständig kamen die Syndiki, um sich nach den Neuigkeiten zu erkundigen, die wir gesehen hatten. Der alte Kormous verbrachte viele Stunden in der Kapelle und half Roska und mir beim Kristallsehen. Zur gleichen Zeit durcheilte die Nachricht von der Invasion die Republik wie ein Lauffeuer. Als Folge davon eilten -77-
Landleute und Stadtbewohner aus der ganzen Nation nach Ir, das als uneinnehmbar galt. Dadurch wurde die Stadt völlig übervölkert, die Menschen schliefen dicht an dicht auf den unterirdischen Straßen. Schließlich kam der Tag der Schlacht. Kormous und ich waren in Trance und schauten von entgegengesetzten Seiten des Tischs in den Saphir. Wir konnten nicht viel sehen; einmal wegen der Störungen durch paaluanische Zauberer, zum zweiten wegen der Staubwolken. So weit ich erkennen konnte, versuchte der Syndikus Laroldo keine dieser militärischen Kniffe - Täuschungsmanöver und ähnliches -, die einige Erstebenen-Nationen zu einer wahren Kunst entwickelt haben. Er stellte seine Armee einfach in einer Reihe auf, blieb, von den Shveniten umringt, in der Mitte, zückte sein Schwert und gab den Befehl zum Vorrücken. Dann ging alles im Staub unter. Nur den Bruchteil einer Stunde danach machten wir allerdings Fliegende aus - Irianer, kleine Paaluaner -, die sich in panischer Hetze vom Ort der Schlacht entfernten. Wie sahen einige Irianer, die von den Trupps auf den Rücken der Drachen-Echsen durchbohrt und aufgespießt worden waren; an einigen taten sich die Echsen gütlich. Dann, als sich die Szenerie änderte, sah ich Seine Exzellenz Laroldo nach Osten galoppieren. Die Syndiki, die bei dieser Kristall-Sitzung dabei waren, schrien laut auf, schlugen sich auf die Brust, rauften sich die Haare und sprachen Verwünschungen und Drohungen gegen Laroldo aus, dem sie die Schuld an der Niederlage gaben. Der zum Feldherrn gemachte Bankier erreichte Ir einige Stunden darauf und torkelte, mit Staub und Blut bedeckt, in Madame Roskas Haus; einige Teile seiner Rüstung hingen lose herunter. Er warf den Stumpf seines Schwerts auf den Boden und sagte zu den versammelten Syndiki: “Wir sind geschlagen.” “Das wissen wir, du Narr”, sagte Jimmon. “Wie schlimm ist -78-
es?” “Total, soweit es mich betrifft”, sagte Laroldo. “Beim ersten Ansturm löste die Miliz sich auf, die Männer rannten wie die Kaninchen.” “Was ist mit den Shveniten?” “Als sie erkannten, daß die Sache verloren war, bildeten sie ein Viereck und marschierten davon, durch ihre Spieße wie ein Igel geschützt. Der Feind ließ sie davonziehen, er jagte lieber leichtere Beute, die sich nicht wehren würde.” Ein Syndiki sagte: “Ich stelle fest, daß du deinen kostbaren Hals gerettet hast. Ein Held wäre beim Versuch, seine Männer zu sammeln, gefallen.” “Bei Frandas Goldlocken! Ich bin kein Held, ich bin nur ein Bankier. Und es hätte euch keinen Nutzen gebracht, wäre ich auf dem Schlachtfeld gefallen. Da wir völlig unterlegen waren, hätte die Schlacht genauso geendet, und ihr hättet nicht einmal die geringe Hilfe, die ich euch geben kann. Hätte ich nur an meine eigene Sicherheit gedacht, wäre ich nach Metouro geritten. Wenn das alles vorbei ist, könnt ihr mich nach Belieben aufhängen, erschießen oder enthaupten. Bis dahin laßt uns unsere Arbeit fortsetzen.” Meine Fühler verrieten mir, daß der Mann aufrichtig war. “Gut gesprochen”, sagte ein anderer Syndikus, denn ein Großteil des Grolls gegen Laroldo war angesichts der Katastrophe diesen Ausmaßes geschwunden. “Aber sagt mir, Meister Laroldo, wir haben euer Vorrücken in dem Saphir verfolgt, warum habt ihr kein Überraschungsmanöver versucht - eine Finte oder eine Flankenbewegung, zum Beispiel? Ich habe gelesen, daß andere Feldherrn mit solchen Tricks überlegene Streitkräfte geschlagen haben.” “Sie hatten gut ausgebildete Männer, Veteranen, ich dagegen hatte einen Haufen von Anfängern. Selbst wenn ich Manöver gekannt hätte, alles was ich tun konnte war, meine -79-
Schnattergänseschar in einer Reihe aufzustellen und sie gleichzeitig in die selbe Richtung in Bewegung zu setzen. Aber jetzt müßt ihr, wenn ihr nicht als Futter für die Kannibalen enden wollt, unbedingt eine neue Armee aufstellen. Macht sie aus Knaben, alten Männern, Sklaven und Frauen, wenn es nötig ist, und bewaffnet sie mit Besenstielen und Ziegelsteinen, wenn es an Schwertern und Bogen mangelt. Denn die, die gegen uns vorrücken, haben vor, uns einzupökeln und nach Paalua zu verschiffen, um noch viele Monde von uns zu essen.” “Du nimmst nicht an, daß wir sie kaufen können, was?” sagte Jimmon. “Unsere Schatzkammern fließen über.” “Keine Chance. Ihr Land ist überwiegend Wüste, und daher haben sie wenig Weiden, auf denen sie eßbare Tiere züchten könnten. Sie wollen Fleisch, und immer wieder ziehen sie gegen andere Kontinente, um es zu bekommen. Und es ist ihnen gleichgültig, ob es Fleisch von Menschen oder Tieren ist. Und deshalb ist eine eiserne Pfeilspitze jetzt wertvoller als ihr Gewicht in feinstem Gold.” Dem folgte ein allgemeines Aufseufzen im Kreis der Syndiki. Jimmon sagte: “Tja, nun gut, jetzt, wo es zu spät ist, ist es einfach, die Dummheiten unserer früheren Politik zu sehen. Es soll so geschehen, wie Meister Laroldo es vorschlägt.” “Könnten wir uns nicht um Hilfe von der einen oder anderen der Zwölf Städte bemühen?” fragte ein Syndikus. Jimmon runzelte nachdenklich die Stirn. “Tonio von Xylar ist wegen seiner Allianz mit Govannian feindselig. Wir können uns glücklich schätzen, wenn er nicht versucht, sich mit den Invasoren zusammenzutun.” “Das wäre, als verbündete sich ein Kaninchen mit einem Wolf gegen ein anderes Kaninchen”, sagte ein Syndikus. “Beide würden im Magen des Wolfs enden.” “So ist es, aber versuch einmal, das König Tonio zu erzählen”, sagte Jimmon. “Giovannian ist aus dem gleichen -80-
Grund aussichtslos. Metouro ist uns freundlich gesonnen, aber ihre Armee ist an der Grenze zu Govannian zusammengezogen, um der Bedrohung von dort zu begegnen. Außerdem sind die Gesichtlosen Fünf seit kurzem gegen ihre eigene Armee argwöhnisch geworden, weil eine revolutionäre Verschwörung unter den Offizieren ans Licht gekommen ist. Nein, ich fürchte, von dort ist keine Hilfe zu erwarten.” “Was ist mit Solymbria?” “Solymbrias Neutralitätspolitik könnte eventuell beeinflußt werden - wäre Solymbria nicht unter der Herrschaft dieses Hohlkopfes Gavondos.” “Die Götter müssen Solymbria haben züchtigen wollen, als sie das Los auf diesen Tölpel fallen ließen”, warf Roska ein. “Mein Leibdiener Zdim wäre ein besserer Archont als er.” Jimmon starrte mich an, seine Augen wurden in seinem fetten runden Gesicht zu schmalen Schlitzen. “Das bringt mich auf eine Idee. Zdim!” “Jawohl, Sir?” “Als Ausländer, vertraglich verpflichteter Diener und als nichtmenschliches Geschöpf bist du nicht befähigt, die Menschen dieser Ebene zu befehlen. Dennoch schien mir, als ich dich sprechen hörte, daß du vernünftiger bist als viele unserer weisen Männer. Welches Vorgehen würdest du vorschlagen?” “Sie fragen mich, Sir?” “Ja, ja. Was würdest du also sagen?” “Nun, Sir, ich bemühe mich, Sie zufriedenzustellen...” Ich dachte eine Weile nach, während die Syndiki mich beobachteten wie Spieler das Drehen des Rads. “Als erstes, habe ich richtig verstanden, daß Meister Laroldo ein Bankier ist?” “Sehr wohl”, brummte Laroldo, der einen Krug von Roskas gutem Wein schluckte, als wäre es ein kleines Bier. “Keiner -81-
übertrifft mich, wenn es um niedrigen Zins bei Darlehen und um hohen bei Einlagen geht. Willst du borgen oder verleihen?” “Weder, noch, Eure Exzellenz. Aber, bitte, erleuchtet meine Unwissenheit: Habt Ihr wirklich bislang keinerlei Kriegserfahrung?” “Nein: warum sollte ich? Wir haben mit niemandem Krieg geführt. Es ist üblich, daß ein Syndikus die Truppen kommandiert. Da ich der jüngste und agilste war, haben sie mich gewählt.” “Nun, meine Herren, auf unserer Ebene ziehen wir es vor, für ein Unternehmen, bei dem die Folgen eines Irrtums so gefährlich sind, als Kommandanten einen Dämon mit einiger Erfahrung in dieser Richtung zu wählen. Wir haben ein geflügeltes Wort, daß Erfahrung der beste Lehrer ist. Gibt es niemanden in Ir, der mit Waffen gestritten hat?” Ein Syndikus sagte: “Da ist der alte Segovian, der Exerziermeister. Er wollte mit der Armee losmarschieren, aber wir haben ihn dazu abkommandiert, in Ir zu bleiben und die Rekruten auszubilden. Er ist nicht gerade eine Leuchte, aber immerhin weiß er, mit welchem Ende des Speers man zustößt.” “Hemm”, sagte Jimmon. “Angenommen, wir machen Segovian zum Kommandeur und stellen noch eine Miliz auf? Unter den Flüchtigen, die sich über uns ergossen haben, sollte es genügend Bauernburschen geben. Dann treffen die Paaluaner ein. Selbst gegen schwachen Widerstand können sie nicht eindringen, so stark ist unsere Position; aber ebensowenig können wir ausbrechen. Ganz gleich, wie üppig unsere Nahrungs- und Wasservorräte sind, mit der Zeit werden sie knapp werden. Was dann?” “Nun, Sir...” Ich dachte weiter nach. “Ihr sagt, in den Schatzkammern ist Geld reichlich vorhanden, richtig?” “Jawohl!” “Ihr habt eine Truppe der Barbaren von Shven - diese -82-
hochgewachsenen, hellhaarigen Männer - angeheuert, nicht wahr?” “Die Bastarde haben uns im Stich gelassen”, grollte Laroldo. “Man kann ihnen dafür nicht allzu viele Vorwürfe machen”, sagte Jimmon. “Als sie sahen, daß die Schlacht verloren war, warum sollten sie hierher zurückmarschieren und ihren Kopf in die Schlinge stecken, indem sie wieder in die Stadt kamen? Fahre fort, Zdim!” “Nun ja, woher kamen die Männer? Ich weiß ungefähr, daß Shven hinter den Bergen im Norden liegt, aber wo genau habt Ihr diese Männer her?” “Sie sind von den Hruntings rekrutiert worden”, sagte ein Syndikus. “Wo genau, sind sie?” “Die Hruntings wohnen jenseits der Ellornas von Solymbria. Ihr Khan ist Theorik, Sohn des Gondomerik.” “Wenn ihr”, fuhr ich fort, “einen Boten zu diesem Theorik durchbrächtet, der ihm viel Geld verspräche, könnte er mit einer Armee zurückkehren, die groß genug wäre, die Paaluaner zu besiegen?” “Das könnte einen Versuch wert sein”, sagte ein Syndikus. “Hoffnungslos”, sagte ein anderer. “Wir sollten uns besser aus dem Staub machen und nach Matouro fliehen; den Paaluanern könnten wir eine leere Stadt zum Plündern hinterlassen.” Erneut kam es zu einer langwierigen Auseinandersetzung. Einige waren dafür, dem Barbarenherrscher ein Angebot zu schicken. Einige protestierten mit dem Argument, es würde zuviel kosten, worauf die ersteren erwiderten, daß ihnen alles Geld der Welt nichts mehr nützen könnte, würden sie still und leise in paaluanischen Mägen verdaut. Einige plädierten für eine allgemeine Flucht; sie hofften, wenn sie die Paaluaner schon nicht schlagen konnten, daß sie ihnen wenigstens entkommen -83-
konnten. Mitten in dieser Auseinandersetzung kam ein Milizionär herein und schrie: “Eure Exzellenzen! Der Feind ist in Sicht!” “In welcher Weise?” fragte Laroldo. “Ihre Späher, auf Tieren, die aussehen wie riesige, langschwänzige Kaninchen, nähern sich der Mauer von Ardymans Turm.” “Nun denn, soweit euer Plan, aus der Stadt zu fliehen”, sagte Jimmon. “Jetzt müssen wir ausharren, auf Tod oder Leben. Kommt alle! Schauen wir uns diese kultivierten Barbaren an!” Am Eingang zu der Höhlenstadt sahen wir, daß Segovian, ohne seine offizielle Verpflichtung abzuwarten, die Verteidigung bereits in die Hand genommen hatte. Das Haupttor und das kleine Portal darüber waren verschlossen und verriegelt, und Holzbohlen waren dagegen gestemmt, um sie abzusichern. Wir stiegen die Treppe zum Dach hinauf. Die beleibteren Syndiki gingen langsam und blieben öfter stehen, um zu verschnaufen. Oben trafen wir auf eine Anzahl von Milizionären, die von Segovian kommandiert wurden. Er postierte einen mit einem Bogen, einer Armbrust oder einer Schleuder hinter jeder Mauerzinne der Brustwehr. “Hört gut zu!” brüllte er. “Macht eure Waffen schußfertig, dann tretet vor und schießt sie durch die Schießscharten neben euch ab. Und verweilt nicht in der Scharte, damit ihr keinen Pfeil durch die Gurgel kriegt, sondern duckt euch hinter den Zinnen nieder. Keine Heldenstückchen, das hier ist eine ernsthafte Angelegenheit. Nehmt euer Ziel sorgfältig aufs Korn; verschwendet eure Geschosse nicht an die Landschaft...” Ein Pfeil senkte sich im Bogen über die Mauer und fiel klirrend auf die Pflasterung. Segovian erblickte die Syndiki und eilte herüber. “Was macht ihr hier ohne jeden Schutz?” schrie er ohne jede -84-
Ehrfurcht vor Reichtum und Stellung seiner Besucher. “Jedermann hier oben muß einen Kopfschutz und einen Harnisch tragen, und wenn er nur aus gehärtetem Leder besteht.” Jimmon räusperte sich. “Wir sind gekommen, Meister Segovian, um Sie zu informieren, daß wir Sie zum Kommandanten gewählt haben.” “Gute Entscheidung, gute Entscheidung”, knurrte Segovian. “Und jetzt fort mit euch...” “Aber ich muß doch bitten, General”, sagte einer der Syndiki. “Gönnen Sie uns wenigstens einen Blick auf die, gegen die wir kämpfen.” “Ach ja, sehr gut; ich nehme an, soviel kann ich zulassen”, grummelte der frischgebackene General. Er scheuchte sie wie ein wütender Schäferhund und bellte sie an, wenn sie ihre Köpfe zu lange in die Scharten hielten. Dort unten kreiste ein Trupp von paaluanischen Spähern auf den Hüpfern, wie wir ihre Reittiere nannten (der Name der Eingeborenen für sie klingt etwa wie “Känguruh”). Sie schössen Pfeile von kurzschäftigen Bogen ab, aber Ardymans Turm war so hoch, daß sie ohne jeden Schwung ankamen. Unsere Geschosse, von oben hinabgeschossen, hätten weit wirkungsvoller sein können, aber die Unerfahrenheit der Krieger ließ sie ihr Ziel verfehlen. Endlich traf der Bolzen aus einer Armbrust einen Paaluaner, der aus dem Sattel stürzte. Daraufhin hüpften die übrigen in sichere Entfernung. Eine gewaltige Staubwolke in der Ferne kündigte die Annäherung der paaluanischen Armee an. Die Ausguckposten auf der Spitze von Ardymans Turm brachen in Entsetzensschreie aus, als die Drachenechsen, ihre Glieder bei jedem Schritt in ihrer echsenhaftigen, spreizbeinigen Gangart bewegend, in Sicht kamen. Hinter ihnen folgten, Reihe auf -85-
Reihe, Fußsoldaten, meist Speerwerfer und Bogenschützen. Sie schienen keine Armbrüste zu haben, was uns einen gewissen Vorteil gab. So begann die Belagerung von Ir. Da eine Massenflucht jetzt nicht mehr in Frage kam, mußten wir entweder die Paaluaner schlagen oder untergehen. Zu diesem Zeitpunkt dachte ich an die Irianer und mich schon als “wir”, weil mein Schicksal nolens volens mit dem ihren verbunden war. Segovian erwies sich als erstaunlich wirkungsvoller General, wenn man das Material in Betracht zieht, mit dem er arbeiten mußte. Innerhalb von wenigen Tagen wurde Ardymans Turm von weiteren fünftausend Milizionären verteidigt, auch wenn die meisten nur mit improvisierten Waffen wie Äxten und Hämmern bewaffnet waren. Aber die Schmiedefeuer glühten und die Ambosse klangen Tag und Nacht, allmählich wurde unser Waffenvorrat aufgestockt. Gegenstände wie eiserne Fensterrahmen wurden eingeschmolzen. Entsprechend der Politik des Syndikats, alle Sklaven und Leibdiener mit dem Versprechen auf Freiheit nach dem Sieg einzuziehen, wurde ich der Artillerie zugeteilt. Da ich viel stärker als der gewöhnliche Erstebener war, konnte ich die Winde eines Katapults doppelt so schnell bewegen wie zwei von ihnen und so die Abschußquote der Maschine verdoppeln. Die Paaluaner richteten ihr Lager einen Bogenschuß vor dem Turm auf. Als sie alles aufgebaut hatten, befahl Segovian uns, das Feuer auf sie mit unseren weittragendsten Katapulten zu eröffnen. Die Pfeile und Steinkugeln, die pfeifend in ihr Lager einschlugen und ihre Krieger durchbohrten und zerschmetterten, quälten sie so, daß sie das ganze Lager nach einigen Tagen abbrachen und es außer Reichweite verlegten. Derweil schütteten sie einen Erdwall rund um Ardymans Turm auf, der hinter dem Turm über den Berg Ir verlief und -86-
dann wieder hinunter. Die Anhöhe gab ihren Bogenschützen einen Vorteil, welchen sie bald erkannten. Ein Schauer von Geschossen, aus einer Höhe abgeschossen, die etwa der unseren entsprach, ergoß sich über uns, bis Segovian an der Brustwehr auf dieser Seite eine Vorrichtung aus stabilen ledernen Planen wie Segel anbrachte; diese Planen fingen die Pfeile auf, die sich auf uns herabsenkten. Die paaluanischen Zauberer schickten Illusionen in Gestalt von riesenhaften Fledermäusen und Vögeln, die sich auf unsere Verteidigungsanlagen stürzten, aber unsere Männer lernten es, sie zu ignorieren. Das Syndikat schickte einen Boten nach Metouro, der dort um Hilfe bitten sollte. Der Mann wurde in einer mondlosen Nacht an einem Seil vom Turm hinabgelassen und versuchte, sich durch die feindlichen Linien zu stehlen. Am nächsten Tag zeigte die aufgehende Sonne uns unseren Boten, an einen Pfahl vor dem Lager festgebunden. Die Paaluaner verbrachten den Tag damit, den armen Mann mit erlesenem Raffinement zu Tode zu bringen. Ein zweiter Bote mit dem Auftrag, den Durchbruch nach Solymbria zu versuchen, erlitt das gleiche Schicksal. Danach wurde es schwierig, Freiwillige für Missionen dieser Art zu finden. Die Paaluaner begannen nun selbst ein Katapult zu bauen; um das Holz zu beschaffen, fällten sie die Bäume in der Nachbarschaft. Ihr Gerät war gewaltig, mit einem langen Ausleger, der durch ein Ausgleichsgewicht in Balance gehalten wurde. Segovian beobachtete ihre Fortschritte durch ein Fernrohr. Es war das einzige Instrument dieser Art in Ir, denn es handelte sich um eine neue Erfindung, die erst kürzlich in der weit südlicher liegenden Stadt Iraz gemacht worden war. Segovian murmelte: “Ich glaube, ich sehe einen Hellhäutigen die Geschützbesatzung kommandieren. Das erklärt, wieso diese Leute, die vorher nicht wußten, wie man ein Katapult bedient, jetzt dazu in der Lage sind. Einer unserer novarianischen -87-
Ingenieure ist zu ihnen übergelaufen. Wenn ich diesen Verräter jemals erwische...” Ich konnte nicht richtig verstehen, was Segovian mit dem übergelaufenen Ingenieur anstellen wollte, aber vielleicht war das auch besser so. Er fuhr fort: “Sie richten das Ding auf unseren Hauptspiegel ein. Zweifellos werden sie versuchen, ihn zu zerstören, wodurch unsere Stadt in Dunkelheit getaucht würde. Lampen und Kerzen könnten ein wenig helfen, aber der Vorrat daran wird nicht für immer halten.” Zum Glück für uns waren die Paaluaner - oder ihr novarianischer Ingenieur - nicht gerade die erfahrensten Katapultbauer. Als sie das Gerät zum erstenmal spannten und abschössen, zerbrach eins der Hölzer, die den Schaft hielten, auf dem der Ausleger sich drehte, mit lautem Krachen” Holzstücke aus der zerstörten Maschine flogen kreuz und quer durch die Gegend und töteten mehrere Paaluaner. Sie begannen mit dem Bau einer zweiten, stärkeren Maschine. Segovian rief einige hundert seiner Männer zusammen und fragte nach Freiwilligen für einen Ausfall, um die Maschine zu zerstören. Als ich noch ein wenig zögerte, meine Hand zu heben, sagte Segovian: “O Zdim, wir brauchen deine Kraft und deine zähe Haut. Du bist begierig darauf, dich freiwillig zu melden, nicht wahr?” “Tja...”, sagte ich, aber Segovian fuhr schon fort: “Sehr gut. Hast du mit den Handwaffen dieser Ebene trainiert?” “Nein, Sir; mich hat keiner danach gefragt...” “Dann lerne es. Wachtmeister Chavral, nehmen Sie Artillerist Zdim und probieren Sie die verschiedensten Waffen mit ihm aus, um festzustellen, welche seinen Gaben am besten entgegenkommt.” Ich ging mit Chavral zum Innenhof von Ardymans Turm. Die Fläche des Hofs war zum Übungsgelände verwandelt worden, da es in Ir sonst keinen Platz für solche Aktivitäten gab. Der -88-
Platz war voller Menschen. Eine Sektion war für die Bogenschützen abgetrennt; eine weitere wurde als Exerzierplatz genutzt. Chavral nahm mich mit zu dem Teil des Hofs, wo mehrere dicke Pfosten aufgebaut worden waren. Die Schwert- und Axtkämpfer übten ihre Hiebe und Schläge an ihnen. In der angrenzenden Zone fochten schwergepolsterte Kämpferpaare mit stumpfen Waffen gegeneinander, während ein Wachtmeister ihnen Kritik und Befehle zubrüllte. Chavral reichte mir ein Breitschwert. “Und nun führe einen tüchtigen Hieb gegen jenen Pfahl”, sagte er und wies auf einen der Pfosten. “So, Sir?” fragte ich und schlug zu. Die Schneide fuhr tief in das narbige Holz und brach am Heft ab; ich stand da und starrte auf den Schwertgriff in meiner Hand. Chavral runzelte die Stirn. “Das muß eine fehlerhafte Klinge gewesen sein. Eine Menge von diesem Zeug wird unter Zeitdruck von Amateurschmieden hergestellt. Hier, versuch dieses mal.” Ich nahm die zweite Waffe und hieb erneut zu. Erneut brach die Klinge. “Bei Astis’ Muschi, du kennst deine eigene Kraft nicht!” rief Chavral aus. “Für dich müssen wir eine stabilere Ausrüstung suchen.” Nachdem er einige Waffen untersucht hatte, reichte er mir einen Streitkolben. Das war ein kräftiger Stock mit einem Eisenschaft und einem Kopfstück, das vor Nageldornen nur so strotzte. “Jetzt hau mit diesem Bällchen auf den Pfahl!” befahl er. Ich tat es. Diesmal zerbrach der Pfosten, und der abgebrochene Teil flog über den Exerzierplatz. “Und jetzt brauchst du einige Übung im Austeilen und Patieren von Hieben”, sagte er. “Zieh dir diesen gepolsterten -89-
Schutzanzug an, ich werde das gleiche tun.” Chavral brachte mir bei, wie man seinen Schild hält, wie man fintiert, pariert, kreist, angreift, zurückweicht, abduckt, über einen niedrig geführten Schlag springt und so weiter. “Und jetzt kämpfen wir!” sagte er. “Zwei von drei Schlägen auf Kopf oder Körper entscheiden über den Sieger des Waffengangs.” Wir stellten uns mit Schilden und gepolsterten Stöcken, die sich im Gewicht von meinem eisernen Streitkolben nicht viel unterschieden, in Kampfposition. Chavral fintierte und setzte einen kräftigen Schlag gegen meinen Helm. Er grinste durch die Gitter seines Helms. “Na los, schlag mich!” schrie er. “Pennst du? Hast du Angst?” Ich fintierte, wie ich es bei ihm gesehen hatte, und zielte einen Vorhandschlag gegen seinen Kopf. Er brachte seinen Schild rechtzeitig genug hoch, um ihn abzufangen, aber unter dem Schlag zersplitterte der Holzrahmen des Schilds, und übrig blieb ein verbeulter Schild. Chavral, der plötzlich blaß geworden war, stolperte zurück und ließ den Schild sinken. “Bei Heryxs Eisenkeule, ich glaube, du hast mir den Arm gebrochen!” stöhnte er. “He, du da, hol einen Arzt! Wein her, jemand!” Er stieß einen schrillen Schrei aus, als der Arzt den gebrochenen Knochen einrichtete. Dann sagte er zu mir: “Du Idiot, jetzt muß ich einen Monat lang mit dem Arm in der Schlinge kämpfen.” Ich erwiderte: “Es tut mir leid, Sir; aber ich habe versucht, Ihren Befehlen zu folgen. Wie wir Dämonen sagen: Zu irren ist das gemeinsame Los aller Vernunftwesen.” Chavral seufzte. “Ich nehme an, ich sollte dir dafür nicht zürnen. Aber danach, mein lieber Zdim, meine ich, du solltest besser allein trainieren, sonst könntest du noch alle unsere -90-
Krieger mit deinen liebevollen Tätscheleien zerschmettern. Mit den Feinheiten der Deckung brauchst du dich nicht allzusehr zu beschäftigen, denn ein kräftiger Schlag pro Kopf müßte für jeden Gegner, dem du begegnest, ausreichen.” In der nächsten bewölkten Nacht schlich der Sturmtrupp die Wendeltreppe auf der Außenseite des Turms hinunter. Wir trugen weiches Schuhwerk, um leise aufzutreten, und nur lederne Schutzkleidung, wegen des Lärms, den Metallpanzer verursachen. Wir trugen unsere Waffen ohne Scheide in der Hand, damit uns das Klappern nicht verriet. Als wir den paaluanischen Graben erreichten, warfen wir Matratzen, die bei den Bürgern von Ir requiriert worden waren, hinein und hatten ihn beinahe bis zum Rand gefüllt, ehe der Feind uns entdeckte. Dann lehnten wir mehrere kurze Leitern gegen ihre Palisaden und überwanden sie, während die Paaluaner noch verwirrt hin und her rannten und Alarm schrien. Einmal über der Palisadenwehr, stürmten wir zu dem neuen Katapult und stapelten ölgetränkte Reisigbündel darauf und darum herum. Einige hatten zugedeckte Eimer, gefüllt mit glühenden Kohlen, mitgebracht; jetzt deckten sie diese auf und leerten sie über den Reisigbündeln aus. Im Nu loderte das Ding fröhlich auf. In der Zwischenzeit sammelten sich die Paaluaner. Einige Gruppen, jede von einem Offizier angeführt, griffen uns aus dem Dunkeln an. Ich folgte Chavrals Rat und nahm mir die Kannibalen einen nach dem anderen vor. Jedesmal, wenn einer auf mich einstürmte, fing ich seinen ersten Hieb oder Stich mit meinem Schild ab und versetzte ihm mit meinem Streitkolben einen kräftigen Schlag. Manchmal war ein zweiter Schlag notwendig, aber nicht sehr oft. Bei der Schwäche der Erstebener und der Tatsache, daß sie nachts halb blind sind, stellten sie kein schwieriges Problem dar, solange ich darauf achtete, daß mich keiner von der Seite oder -91-
von hinten angriff, während ich mit einem vor mir beschäftigt war. Ich war heiter dabei, Schädel einzuschlagen und Rippen zu brechen, als ich eine Trompete zum Rückzug blasen hörte. Einer meiner manischen Kampfgenossen zog mich am Arm. “Komm schon, Zdim!” schrie er über den Tumult hinweg. “Du kannst die ganze Armee nicht allein bekämpfen.” Ich rannte hinter den anderen her. An dem Palisadenzaun versuchten einige Paaluaner uns daran zu hindern, ihn wieder zu überqueren. Ich rannte den Zaun entlang und schlug einen nach dem anderen nieder. Und dann eilten wir auch schon zurück zum Turm und der Wendeltreppe. Als Segovian uns Aufstellung nehmen ließ und die Namen vorlas, fehlten sechs oder sieben. Sie sagten mir, angesichts der Größe der Truppen, die sich uns entgegenstellten, wäre dies kein ernstlicher Verlust; aber wir konnten kaum einen Mann entbehren. Die Paaluaner versuchten, das Feuer zu löschen, aber ihre Bemühungen waren aussichtslos. Als die Asche abgekühlt war, begannen sie mit dem Bau eines dritten Katapults. Diesmal legten sie jedoch einen Graben um den Standort, zusätzlich einen Palisadenzaun und einen Kreis von “Geweihsprossen”, die aus geschnitzten, in viele Richtungen weisenden Ästen bestanden und mit dem stumpfen Ende in der Erde versenkt wurden. Darüber hinaus postierten sie einen schlagkräftigen Wachtrupp vor dem Gerät. Wenn niemand aus Ir hinauskam, so kam trotzdem einer herein. Die Wache wurde eines frühen Morgens durch Klopfen an dem kleineren oberen Tor aufgeschreckt. Als die Männer über die Brustwehr blickten, sahen sie eine stämmige behaarte nackte Gestalt, offensichtlich kein Paaluaner. Sie ließen sie herein und brachten sie vors Syndikat. Ich war bei Roska und bereitete mich darauf vor, meine tägliche Arbeit an den Katapulten fortzusetzen, als ein Bote zu mir kam. -92-
Als ich den Gildensaal betrat, rief eine heisere Stimme: “Zdim!” und ich wurde von meinem alten Freund, dem Affenmenschen Ungah aus Bagardos Karneval, umarmt und gedrückt. “Bei allen Göttern von Ning, was machst du hier?” fragte ich. “Habe ich gerade diesen Männern erzählt. Als du versteigert worden bist, hat mich jemand namens Olvis gekauft. Hab’ für ihn geschuftet, als die Nachricht von der Invasion bekannt wurde. Meister Olvis lud die Familie und sich selbst auf seinen Wagen und machte sich nach Metouro davon. Er sagte mir, ich solle selbst meine Haut retten; kein Platz auf dem Gefährt. Ich habe denselben Weg genommen, aber da kam ein Trupp paaluanischer Späher auf Hüpfern daher. Bin ich gerannt, aber nicht schnell genug, und da haben sie mich mit diesen Wirbelkugeln eingefangen. Haben ein Netz über mich geworfen. Haben mich über Steine und durch Morast zu ihrem Lager geschleift. Wollten mich einpökeln, aber ihre Weisen hatten noch nie eine Person wie mich gesehen. Da haben sie beschlossen, mich am Leben zu erhalten, um soviel wie möglich zu lernen.” “Wie bist du frei gekommen?” Ungah entblößte seine mächtigen gelben Zähne. “Habe meine Fesseln durchgebissen. Ihr Haarlosen - du nicht, Zdim, aber die anderen da - habt schwache Kiefer und Zähne. Hab’ die Wache vor dem Zelt erwürgt und war weg. War nicht schwer. Bin mit der Jagd aufgewachsen. Habe einen Fehler gemacht. Hab’ die falsche Richtung genommen und fand mich innerhalb des Belagerungsrings wieder. Das Lager erwachte, und da habe ich es nicht gewagt, den Weg zurück zu nehmen. Habe den Boß-Männern hier gerade berichtet, warum ihre Spione immer gefaßt werden.” “Warum?” “Geruch. Die Paaluaner haben Drachen-Echsen beigebracht, -93-
Gerüche aufzunehmen. Eine kleinere Sorte, und Wachen streiften durchs Lager und haben sie an der Leine; sie riechen mit ihren langen Zungen.” Ein merkwürdiger Ausdruck trat in Ungahs Gesicht, und seine kleinen, tiefliegenden Augen öffneten sich weit. “Bei Zevatas goldenen Schnurrhaaren, mir fällt gerade etwas ein. Erinnerst du dich, wie die Drachen-Echse im Karneval dich mochte? Ich glaube, weil du selbst wie Reptil riechst.” “Ach, komm”, protestierte ich. “Ich wüßte nicht, wieso. Ich halte mich peinlich sauber...” “Trotzdem rieche ich dich auf ein Dutzend Schritte. Novarianer können nicht riechen oder sind zu höflich, um dir zu sagen, daß du stinkst. Aber es ist so.” “Das tun auch alle Erstebener”, sagte ich, “aber ich habe mich nie beklagt.” “Wollte dich nicht verletzen”, sagte Ungah. “Habe nur gemeint, was für den einen Gestank ist, riecht für den anderen wie Parfüm. Du riechst eben wie Echsen riechen.” “Na und? Ich kann wohl kaum alle Drachen der paaluanischen Armee becircen.” “Nein, aber du kannst dich durchs Lager davonschleichen. Wenn eine Echse dich riecht, glaubt sie, du seist auch eine Echse.” Das Syndikat diskutierte den Vorschlag stundenlang. Diese Erstebener sind in hundert Universen die größten Quasselstrippen. Einige erwärmten sich für Ungahs Vorschlag, aber andere protestierten: “Nein; der Dämon schuldet uns keinerlei Treue. Er wird sich davonmachen, sobald er an den Belagerern vorbei ist. Das würde ich jedenfalls tun.” “Oder er würde sogar”, meinte ein anderer, “zum Feind überlaufen.” “Sprecht für euch selbst”, sagte Jimmon. “Was seine Treue -94-
angeht, habt ihr so schnell die Nacht des Überfalls auf das Katapult vergessen, als Zdim mehr Kannibalen niedergemacht hat als der Rest unseres Trupps zusammen?” “Ohne Meister Zdims Charakter in Frage stellen zu wollen”, sagte der nächste, “scheint mir, daß Meister Ungah ein wertvollerer Bote wäre, weil er seine Jugend mit der Jagd verbracht hat. Außerdem hat er das Lager schon einmal durchquert und kennt es besser als jeder andere in Ir.” “Wir müßten es ihm schmackhaft machen, eine Botschaft zu überbringen”, sagte ein anderer. “Jedenfalls”, schaltete sich der nächste ein, “können wir nicht für immer hier rumtrödeln. Die Vorräte an Lebensmitteln und Wasser werden nicht so lange reichen, wie wir gehofft haben, denn der Zustrom von Flüchtlingen bedeutet eine ungewohnte Bürde...” Am Ende stimmten sie dafür, Madame Roska zu bitten, mir aufzutragen, die Mission nach Solymbria zu unternehmen, und gleichzeitig Ungah zu bitten, sich nach Metouro aufzumachen. Sie versprachen ihm nicht nur die Freiheit sondern auch noch eine großzügige Belohnung, falls er und sie überlebten. “Ich bemühe mich stets, zu Ihrer Zufriedenheit zu wirken, meine Herren”, sagte ich. “Wann brechen wir auf? Heute nacht? Frisch begonnen ist halb gewonnen, wie wir Dämonen es ausdrücken.” “Nicht so schnell”, sagte Jimmon. “Wir müssen erst beschließen, wieviel wir den anderen Novarianern und den Barbaren für ihre Hilfe anbieten. Rechnen wir mal: Mit wieviel Mann steht uns der Feind gegenüber?” “Etwa siebentausend, soweit ich es schätzen kann”, sagte Laroldo. “Dann sollten wir eine Ersatztruppe von mindestens gleicher Stärke anfordern”, sagte ein anderer Syndikus. Und so begann eine Debatte, die stundenlang wütete; es ging um Fragen wie die -95-
Zahl der anzuheuernden Truppen, den angemessenen Tageslohn für einen Söldner und die mutmaßliche Dauer des Feldzugs. Einige Syndiki versuchten ohne Unterlaß, den angebotenen Betrag mit der Begründung zu drücken, sie müßten an das Wohlergehen Irs nach der Niederlage der Eindringlinge denken; andere wollten ihn erhöhen, weil ihnen das Geld nichts nützen würde, wenn es keine Hilfe gäbe. Schließlich wurde ein Kompromiß erzielt. Ich sollte eine irianische Mark pro Mann und Tag anbieten, plus sechs Pence täglich für jedes Mammut und ein Maximum von einer Viertelmillion Mark.
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VI. Aithor aus den Wäldern Die Nacht war finster wie die Unterseite eines Felsens - wie wir in Ning sagen -, als Ungah und ich in einem niesligen Regen an Seilen von der Brustwehr des Turms hinabgelassen wurden. Segovian wollte nicht einmal das kleine obere Tor öffnen, da er fürchtete, Geräusche und Bewegung könnten die Aufmerksamkeit des Feinds erregen. Um weniger sichtbar zu sein, verwandelte ich mich von meinem gewöhnlichen Schiefergrau zu Schwarz. Am Fuß des Turms drückte Ungah hastig meinen Arm und verschmolz in südlicher Richtung mit der Nacht. Ich schlich um den Turm und erreichte den Graben auf der Nordseite. Ich sprang hinein und auf der anderen Seite wieder hinaus, eine Kleinigkeit für einen Zwölftebener. Mit dem Ohr an der Palisade wartete ich, bis ich die Schritte eines paaluanischen Postens hörte. Als das Geräusch erstorben war, grub ich meine Klauen in das Holz und kroch langsam wie ein träges Insekt den Zaun hinauf und über ihn hinweg. Drinnen war alles still. Der Posten war verschwunden. Ich schlängelte mich durch den Raum zwischen äußeren und inneren Verteidigungsanlagen und wich den aufgestapelten Ausrüstungsgegenständen aus. Die äußeren Abwehranlagen bestanden nur aus einer schulterhohen Aufschüttung mit einem Graben davor, der die Erde für den Wall geliefert hatte. Beinahe stolperte ich über einen weiteren paaluanischen Posten, der schlafend an einen der Stapel gelehnt saß. Mit meiner überlegenen Nachsichtigkeit hätte ich ihn leicht gesehen, wäre ich nicht direkt hinter einer Ecke auf ihn gestoßen. Ich hätte ihn mit einem Schlag meines Streitkolbens töten können, aber eine der kleineren Drachen-Echsen, die zum Aufspüren des Feinds eingesetzt wurden, war mit einem Lederriemen an sein Handgelenk gebunden. Als ich stehenblieb, -97-
erhob sich das Reptil auf alle viere und schnellte eine lange, gespaltene Zunge heraus. Ich stand still wie eine Statue, meine Haut so schwarz wie nur möglich. Die Echse ging einen Schritt auf mich zu und ließ ihre Zungenspitze über mein Schienbein fahren. Das tat sie mehrere Male, so als mochte sie mich - oder zumindest meinen Geruch. Ich konnte nicht bis zum Morgengrauen dastehen und mich von diesem zärtlichen Drachen ablecken lassen. Als das Tier nicht aufhören wollte, begann ich mich davonzustehlen. Der Drachen versuchte jedoch, mir zu folgen. Der Lederriemen zog am Handgelenk des schlafenden Postens und weckte ihn auf. Er starrte mich an und kam mit einem wilden Schrei auf die Füße. Ich zögerte und überlegte, ob ich mich auf ihn stürzen und ihn töten oder davonrennen sollte. Auf meiner Ebene war ich in Vernunft und Logik unterrichtet worden, aber Vernunft und Logik sind von geringem Nutzen, wenn man sich auf der Stelle entscheiden muß. Ein Antwortruf entschied für mich. Wenn schon Alarm geschlagen war, würde es keinen Vorteil bedeuten, sich damit aufzuhalten, diesen einen Posten zu vernichten. Diese Verzögerung könnte sich sogar als fatal für mich herausstellen. Also sprang ich über den Erdwall und durch den Graben und rannte nach Norden. Das Lager erwachte mit wütendem Summen wie ein Nest bestimmter stechender Ersteben-Insekten, die aufgeschreckt worden sind. Wenig später ritten mehrere paaluanische Späher mit hocherhobenen Fackeln auf ihren Hüpfern los. Die Gangart dieser Reittiere hatte zur Folge, daß die Fackeln Feuerspuren ins Dunkel zeichneten, die den Bögen einer Brücke über einen Fluß ähnelten. Allerdings sind Erstebener und die Hüpfer nachts halb blind. Mit meiner Nachsichtigkeit hatte ich kaum Schwierigkeiten, ihren ungezielten Verfolgungsversuchen zu entkommen. Wie wir Dämonen sagen: Frisch begonnen ist halb gewonnen. -98-
Die Landschaft nördlich von Ir war fast völlig verlassen. Die meisten Landbewohner, die keine Zuflucht in der Stadt Ir gefunden hatten, waren nach Metouro oder Solymbria geflohen. Die wenigen, die nicht rechtzeitig fortkamen, waren eingefangen und zwecks späteren Verzehrs eingepökelt worden. Ich rannte die ganze Nacht und den größten Teil des nächsten Tages. In meiner Tasche hatte ich eine kleine Karte, die die Hauptverbindungsstraßen zwischen Ir und den Ellorna-Bergen zeigte. Im allgemeinen mied ich allerdings die Straßen und hielt einen möglichst geraden Kurs nach Norden. Ich hatte mir überlegt, daß paaluanische Späher wahrscheinlich eher auf den Straßen als im Hinterland anzutreffen waren. Daher mußte ich über felsige Hügel kraxeln, durch Sümpfe waten und meinen Weg durch Unterholz bahnen. Dies kostete mich wahrscheinlich die ganze Zeit, die ich normalerweise durch eine geradlinige Wegstrecke eingespart hätte. Andererseits begegnete ich nicht einem einzigen Paaluaner. Die Hindernisse verlangsamten mein Fortkommen weit weniger, als sie einen von diesen schwächlichen Erstebenern behindert hätten, die einen steilen Berg kaum mehr als einige Bogenschüsse hinauflaufen können, ohne stehenbleiben und um Atem ringen zu müssen. Doch auch wenn wir Dämonen stärker sind als Erstebener, können wir solche Geschwindigkeit nicht ständig aufrechterhalten. Manchmal müssen wir anhalten, ein kräftigendes Mahl verzehren und in Verdauungsstarre fallen. Am Ende des zweiten Tages sah ich ein herrenloses Schaf, das den paaluanischen Futtersuchern bisher entgangen war. Ich fing das Tier ein und verbrachte den größten Teil der Nacht damit, es zu verschlingen. Als ich damit fertig war, war außer Haut und Knochen kaum etwas übriggeblieben. Ich fürchte, mein Handeln hat Hwors Anweisung, den Regeln der Ersten Ebene zu gehorchen, verletzt; aber wie sagt man doch so schön: Hunger kennt keine Etikette. -99-
Dann verfiel ich in Starre. Ich schlief den ganzen Tag und auch noch die folgende Nacht. Als ich aufwachte, war ich überrascht, die Sonne weiter östlich zu sehen als zu dem Zeitpunkt, an dem ich eingeschlafen war; doch dann wurde mir klar, daß ein Tag und eine Nacht verstrichen waren. Da ich keine weitere Verzögerung wollte und mein Bauch von der Schafs-Mahlzeit noch wohl gefüllt war, dachte ich über andere Transportmöglichkeiten nach. Hätte ich, beispielsweise, ein Pferd benutzen können, würde ich Solymbria-City mit einem langen Ritt erreicht haben; Pausen wären nur nötig, um dem Tier Gelegenheit zum Ausruhen und Grasen zu geben. Laut meiner Karte müßte ich die Grenze zu Solymbria schon bald überqueren. Auf der Suche nach einem Pferd ließ ich mein Auge über Berg und Tal schweifen. Schließlich fand ich eins, herrenlos wie das Schaf, weidend in einer Senke. Es trug Zaumzeug, aber keinen Sattel. Ich hatte Erstebener reiten sehen und daher eine gewisse Vorstellung davon, wie man es machte, besaß aber keinerlei praktische Erfahrung mit der Reiterei. Auf der Zwölften Ebene ähneln die Tiere, die zum Lastentransport benutzt werden, eher den Schildkröten der Erstebener. Gemessen stapfen sie einher und erfordern nur ein Minimum an Geschicklichkeit, um sie in Gang zu setzen, zu lenken und anzuhalten. Das ErstebenenPferd ist da ganz anders. Aber wie lautet doch der schöne Spruch: Wozu wir fähig sind, wissen wir erst, wenn wir es versuchen. Langsam und ruhig, um das Tier nicht aufzuschrecken, näherte ich mich diesem Pferd. Ich änderte meine Farbe und paßte sie dem Gras an. Das Pferd sah mich jedoch kommen. Verängstigt rollte es die Augen und trottete davon. Ich beschleunigte meinen Schritt, doch das Pferd trottete noch schneller. Ich rannte; das Pferd verfiel in Galopp. Ich rannte -100-
schneller; das Pferd galoppierte schneller. Ich wurde langsamer; das Pferd wurde langsamer und wandte sich bald wieder dem Gras zu. Was tun? Stundenlang folgte ich diesem elenden Biest, ohne ihm näher zu kommen. Schließlich überlegte ich mir, daß ich es zumindest in nördliche Richtung treiben sollte, in Richtung meines Ziels, so daß die Zeit nicht völlig verschwendet wäre. Als die Sonne tief im Westen stand, zeigte das Pferd schließlich Anzeichen von Ermüdung. Wenn ich mich näherte, kam es jetzt langsamer in Trab. Indem ich mich gegen den Wind annäherte, so daß es meinen unvertrauten Geruch nicht aufnehmen konnte, kam ich nahe genug für einen plötzlichen Sprung, als sein Kopf zum Fressen gesenkt war, und ich landete auf seinem Rücken. Ich schloß meine Beine um seinen Rumpf, wie ich es bei den Erstebenern gesehen hatte, packte zwei Handvoll der Mähnenhaare und klammerte mich fest. Im selben Augenblick, als ich auf das Pferd sprang, drehte das Tier durch. Es streckte den Kopf nach unten und begann kurze, steifbeinige Sprünge, wobei es sich abwechselnd nach links und nach rechts drehte. Beim dritten Sprung löste sich mein Griff. Ich flog durch die Luft und fiel in einen Strauch; der Aufprall war so hart, daß er einen Erstebener auf der Stelle getötet hätte. Von seinem Reiter befreit, galoppierte das Pferd davon. Ich zog mich aus dem Busch hoch und rannte hinterher. Als die Sonne am Horizont stand, hatte ich das Tier, das mit hängendem Kopf und bebenden Flanken stehenblieb, wieder erreicht. Ich mußte mich mehrmals anpirschen, um nahe genug für einen weiteren Sprung zu kommen, aber dann schaffte ich es. Diesmal legte ich nicht nur meine Beine um den Körper des Tiers, sondern umklammerte auch seinen Hals mit beiden Armen. Erneut begann das Pferd zu bocken, aber ich klammerte mich mit mehr Erfolg fest. Das heißt, der Griff meiner Beine löste sich erst beim fünften Sprung. Obwohl ich jetzt wieder -101-
abgeworfen wurde, klammerte ich mich immer noch an seinen Hals. Das Ergebnis war, daß ich, als ich durch die Luft gewirbelt wurde, den Hals des Pferdes fürchterlich verdrehte. Dadurch verlor es die Balance und stürzte nieder, wobei ein Teil seines Körpers auf mich fiel. Ich klammerte mich an den Hals des Tieres. Als es keuchend nach Atem rang, merkte ich, daß mein Griff seine Luftröhre zudrückte. Nach kurzer Zeit wurde es ruhiger, und ich konnte sein Zaumzeug packen. Da die Rippen sich noch hoben, wußte ich, daß ich das Pferd nicht zu Tode gewürgt hatte. Tatsächlich rollte es sich nach kurzer Zeit auf die Füße und versuchte zu entkommen; dabei zerrte es mich durch Dreck und Gras hinter sich her. Ich steckte einige scheußliche Tritte von seinen Vorderhufen ein, und es biß mich außerdem in den Arm. Als das geschah, versetzte ich ihm einen kräftigen Schlag, der es sichtlich erschütterte. Der Kampf währte fort, bis es dunkel wurde, obgleich beide Beteiligten sich den Grenzen ihrer Belastbarkeit näherten. Am Ende war das Pferd bereit, stillzustehen und zu folgen, wenn ich es am Zaumzeug führte. Ich band den Zügel an einem kräftigen herabhängenden Ast eines Baums fest und legte mich nieder, um auszuruhen. Bei Nacht wollte ich nicht reiten, da ich fürchtete, im Dunkeln über eine Klippe oder in einen Sumpf zu straucheln. Am nächsten Tag sah ich die ersten Zeichen menschlichen Lebens: unzerstörte Bauernhöfe, aus deren Kaminen Rauch aufstieg, und ein oder zwei Dörfer. Als ich das Pferd in ein Dorf ritt, stieß jedoch der erste Erstebener, der mich erblickte, ein entsetzliches Geschrei aus. “Die Kannibalen! Die Kannibalen kommen!” schrie er, während er die Hauptstraße hinabrannte und wie ein Vogel, der abheben will, mit den Armen schlug. Im Nu rannten alle anderen Leute wie verrückt in alle Richtungen davon. Ich rief hinter ihnen her: “Bleibt stehen! Kommt zurück! Habt keine Angst! Ich bin ein Bote vom Syndikat!” -102-
Aber sie rannten nur noch schneller. Als alle verschwunden waren, versorgte ich mich mit einigen Lebensmitteln aus einem Laden und ritt weiter. Wo die Straße die Grenze nach Solymbria überquert, fand ich eine Zollstation und auf einem nahe gelegenen Hügel einen Wachtturm, aber beide waren verlassen. Ich hatte Beglaubigungsschreiben mit, die mich an solymbrianischen Soldaten und Beamten vorbeibringen sollten. Man hatte mich angewiesen, diese Dokumente der Grenzwache zu zeigen, bevor ich das Archonat betrat, aber da war niemand, dem ich sie zeigen konnte. Es kostete mich einige Zeit, diesen Umstand zu bedenken. Sollte ich mich hier niederlassen, um die Rückkehr der abwesenden Wächter abzuwarten? Nein, dachte ich; Ir könnte fallen, während ich hier meine Zeit vertrödelte. Schließlich dachte ich: Die Wächter mochten nach Solymbria-City geflohen sein, als sie Gerüchte über die Invasion gehört hatten. Die beste Methode, meine Befehle auszuführen, war deshalb, ihnen dorthin zu folgen. Also ritt ich weiter, wenn ich auch ein wenig beunruhigt war, weil ich meinen Befehlen nicht exakt und wörtlich gehorchte. Auf meiner Heimatebene gibt man solche mehrdeutigen Aufträge nicht. Jenseits der Grenze windet sich die Straße nach SolymbriaCity durch einen dichten Wald, der hauptsächlich aus alten Eichen bestand. Diese Landschaft mit Namen Grünwald ist eine der wenigen wirkliche wilden Gegenden in Novaria, wo der größte Teil des Lands zu Äckern, Weiden und Städten gemacht worden ist. Den Grünwald durchstreifen Hirsch und Keiler, Leopard, Wolf und Bär. Ich sah jedoch keines von diesen Tieren. Was mir passierte, war das folgende: Ich trabte daher und dachte darüber nach, wieviel vernünftiger wir Dämonen die Dinge auf der Zwölften Ebene regeln, als zwei Männer plötzlich von beiden Seiten aus dem dichten Wald traten und Seile mit einer großen Schlaufe an -103-
ihrem Ende wirbelten. Der auf der linken Seite warf seine Schlaufe nach dem Kopf meines Pferds. Als es die Schlinge auf sich zufliegen sah, machte das Pferd einen nervösen Sprung nach rechts. Auf eine solche Bewegung nicht vorbereitet, verlor ich meinen Halt und flog durch die Luft. Ich prallte mit dem Kopf auf einen Stein. Ich weiß nicht, wie lange ich bewußtlos dort lag. Es schien nur ein Augenblick gewesen zu sein; aber als ich, benommen, wie ich war, aufstehen wollte, waren noch mehr Männer aus dem Wald geschwärmt und hatten mein Pferd gepackt. Und als ich mich aufzurichten versuchte, bemerkte ich, daß sie meine Handgelenke hinter meinem Rücken zusammengebunden und Schlingen um meine Arme und meinen Hals gelegt hatten. Ich strengte mich an, um die Fesseln, die meine Handgelenke hielten, zu zerreißen, aber meine Ergreifer hatten ihre Arbeit zu gut getan. Da meine Sinne von dem Schlag, den ich erhalten hatte, immer noch benommen waren, hielt ich es für besser, Flüchtversuche aufzuschieben, bis ich etwas über meine Häscher und ihre Ziele erfahren hatte. Außerdem hielten zwei von ihnen ihre gespannte Armbrust auf mich gerichtet. Alle waren bewaffnet und derb gekleidet. “Ho, bei Heryx’ eisernem Knüttel! Was haben wir denn da erwischt?” sagte eine Stimme. Der Sprecher, ein großer Mann mit lockigem braunem Hauptund Barthaar, das ins Graue ging, sprach Novarisch, aber in einem fremden Dialekt. “Ein paaluanischer Kannibale!” sagte einer. “Tötet ihn!” “Sie sind fehlinformiert, meine Herren”, sagte ich. “Ich bin kein Paaluaner; sondern ein Dämon in Diensten des manischen Syndikats.” “Eine hübsche Geschichte”, sagte der Mann, der gerade gesprochen hatte. “Genau das, was sich einer dieser Teufel ausdenken würde. Wir sollten ihn in jedem Fall töten. Wenn er -104-
ein Paaluaner ist, geschieht ihm nur recht; wenn er ein Dämon ist, so ist das auch kein Verlust.” “Ich glaube, der Hundsfott spricht die Wahrheit”, sagte ein anderer. “Von den Paaluanern sagt man, sie seien menschlich, auch wenn sie unmenschliche Sitten haben.” “Ach, halt dein Maul, Nikko!” sagte der erster Sprecher. “Du mußt auch immer widersprechen...” “Das werde ich, verdammt noch mal, auch tun!” schrie Nikko. “Wenn ich Blödsinn höre, nenne ich es auch so...” “Seid still, alle beide!” brüllte der große, gelockte Mann. “Du, Nikko, und auch du, Karmelion! Wenn ihr weiter so geifert, werde ich, bei Astis’ Titten, euch beide durchprügeln! Also, ich glaube, Nikko hat recht; zumindest habe ich noch nie davon gehört, daß Paaluaner Schwänze und Schuppen haben. Nun komm, Dämon!” Er machte sich daran, die Gruppe in den Wald zu führen. “Legt noch ein Lasso um ihn; vielleicht ist er stärker, als er aussieht.” “Es ist viel wahrscheinlicher, daß er zurück zu seiner Ebene verschwindet und dann unsichtbar zurückkommt, um uns alle umzubringen”, brummte Karmelion. Sie führten mich und mein Pferd einen kaum sichtbaren Pfad entlang durch den Wald. Der Führer wandte sich um und fragte: “Übrigens, Dämon...” “Mein Name ist Zdim, bitte sehr, Sir.” “Also gut, Zdim, wo hast du eigentlich reiten gelernt?” “Ich habe es mir an den beiden vergangenen Tagen selbst beigebracht.” “Das hätte ich mir denken können, denn selten habe ich einen unbeholfeneren Reiter gesehen. Ich habe dich einen Bogenschuß lang beobachtet, ehe meine Burschen dich erwischt haben. Weißt du nicht, daß es das Maul eines Pferds ruiniert, wenn man so mit den Zügeln sägt, wie du es getan hast?” -105-
“Nein, guter Herr; ich hatte den Vorzug ihres Ratschlags noch nicht.” “Nun ja, es ist schon ein Wunder, daß du es so geschafft hast und dann auch noch ohne Sattel. Du sagst, du bist im Auftrag von Ir unterwegs?” “Jawohl!” sagte ich und berichtete ihm von der Belagerung. Ich fügte hinzu: “Und darf ich mir jetzt die Freiheit nehmen, zu fragen, wer Ihr Herren seid und warum Sie mich festhalten?” Der große Mann grinste. “Du kannst uns als Sozialreformer bezeichnen. Wir nehmen von den Reichen und geben den Armen. Und was mich angeht, ich heiße Aithor.” “Ich verstehe, Meister Aithor”, sagte ich; mir war klar, daß ich unter die Räuber gefallen war. “Von den Reichen nehmen, das kann ich begreifen, aber mit welcher Logik gebt ihr den Armen?” Aithor ließ ein schallendes Lachen hören. “Das ist sehr einfach. Wir sind die ärmsten aller uns bekannten Leute, also geben wir uns als ersten. Wenn unsere Grundbedürfnisse gedeckt sind, dann gibt es nie einen Überschuß für weitere Mildtätigkeit.” “Eingedenk dessen, was ich auf der Ersten Ebene gesehen habe, überraschen Sie mich nicht. Und nun, was haben Sie mit mir vor?” “Das werden wir abwarten, mein braver Dämon. Wenn Ir nicht unter Belagerung stünde, würden wir eine Lösegeldforderung dorthin schicken.” “Und wenn die Syndiki sich zu zahlen weigern?” Erneut grinste er. “Wir haben unsere Methoden, wir haben unsere Methoden. Fürwahr, eine davon wirst du bald erleben.” Eine weitere Stunde auf dem gewundenen Pfad zwischen den alten Eichen brachte uns in die Nähe des Räuberlagers. Aithor pfiff ein kompliziertes Signal, das von Wachen in den Bäumen -106-
beantwortet wurde. Dann marschierten wir in das Lager ein, das aus einem unregelmäßigen Kreis aus Zelten und Hütten auf einer Lichtung bestand. Hier befanden sich weitere vierzig Räuber zusammen mit einer Anzahl zerlumpter Frauen und Kinder. Zwischen jenen, die mich gefangen hatten, und denen, die im Lager geblieben waren, setzte ein großes Geschnatter ein. Aufgrund ihres Dialekts konnte ich nur wenig verstehen. Ich wurde an einem Baum festgebunden, an den schon ein anderer Mann gefesselt war. Er war ein dicker Mann in prunkvoller Kleidung, die jetzt ein wenig verschlissen war. Er schrak ob meines ungewöhnlichen Aussehens zurück. Ich sagte: “Fürchten Sie sich nicht, mein guter Herr. Ich bin ein Gefangener wie Sie.” “Du... du sprichst?” fragte der Mann. “Sie hören mich doch, oder?” Mit wenigen Worten unterrichtete ich ihn über das Ziel meiner Mission. “Mit wem habe ich das Vergnügen, Sir?” “Wenigstens hast du für ein nichtmenschliches Monster gute Manieren”, sagte der dicke Mann. “Ich bin Euryllus, ein Kaufmann aus Solymbria; sie haben mich in einer Schänke nicht weit von hier gekidnappt. Haben die Männer nichts über mein Lösegeld gesagt?” “Nicht, daß ich wüßte. Sollten sie?” “Sie sind ausgerückt, um den Kurier zu treffen, der es von Solymbria holen sollte, aber statt dessen scheinen sie dich gefangen zu haben. Ach! Wenn das Geld nicht angekommen ist, fürchte ich um Gesundheit und Leben.” “Was werden sie tun? Wenn sie Sie töten, berauben sie sich jeder Möglichkeit auf ein Lösegeld.” “Sie haben die scheußliche Angewohnheit, den Gefangenen Stück für Stück nach Hause zu schicken, um seine Familie und -107-
seine Bekannten an seine prekäre Lage zu erinnern.” “Götter von Ning!” “Ach, Elend!” rief Euryllus aus. “Da kommt Aithor schon.” Der Lockenkopf stand, mächtige Fäuste in die Hüften gestemmt, vor uns. “Nun, Bursche”, wandte er sich an Euryllus, “dein Mann ist nicht gekommen, obwohl wir ihm zwei Stunden Spielraum gegeben hatten. Du weißt, was als nächstes geschieht.” Euryllus fiel auf die Knie und rief: “Oh, ich flehe euch an, guter, lieber Captain! Gebt meinen Verwandten noch einen Tag! Verstümmelt mich nicht! Tut es nicht...” Und weinend und brabbelnd machte er immer weiter. Aithor gab seinen Männern ein Zeichen, und die zerrten ihn hoch, banden ihn los und schleiften ihn über die Lichtung zu einem Baumstumpf. Sie zogen seinen rechten Schuh und den Socken darunter aus und zwangen seinen nackten Fuß auf den Stumpf. Dann hackte ein Räuber zielsicher Euryllus’ großen Zeh mit einem Beil ab. Euryllus kreischte. Bald darauf stand er wieder am Baum, sein Fuß in blutige Bandagen gewickelt. Ohne sein Schluchzen zu beachten sagte Aithor: “Dein Zeh wird eilends in dein Haus geschickt. Falls wir innerhalb einer Woche keine Antwort erhalten, wird ein anderer Körperteil zur Erinnerung überliefert. Wenn dir die abnehmbaren Teile ausgehen, werden wir deinen Kopf schicken, um zu zeigen, daß wir es ernst meinen. Und du, Meister Zdim, scheinst in eine spezielle Kategorie zu gehören. Du wirst heute abend mit mir essen und mir über dich und deine Mission berichten.” Als die Zeit kam, wurde ich losgebunden und an einen anderen Baum gefesselt, der nahe der Hütte aus Weidenruten und Fellen stand, die Aithor als Behausung diente. Ein Posten mit einer Armbrust stand hinter mir. Zwei Frauen bedienten uns. Ich erfuhr, daß Aithor mit beiden Frauen verheiratet war, -108-
obwohl die meisten Novarianer nur paarweise, ein Mann und eine Frau, heiraten. Aithor spielte den großzügigen Gastgeber und verwöhnte mich mit gutem solymbrianischem Bier. Meine Fühler nahmen jedoch Ausstrahlungen auf, die mir sagten, daß seine Freundlichkeit nur Tünche war, die eine brodelnde Fülle feindseliger und gewalttätiger Emotionen verbarg. Ich war zu diesem Zeitpunkt schon ziemlich gewandt darin, die Gefühlsausstrahlungen der Erstebener zu interpretieren. Wie ein Sprichwort so schön sagt: Oft trügt der Schein. Da ich keinen vernünftigen Grund sah, ihn zu täuschen, beantwortete ich Aithors Fragen offen. Schließlich sagte er kopfschüttelnd: “Ich erkenne nicht, wie ich aus deiner Anwesenheit hier profitieren kann. Durch den Belagerungsring kann ich deinen Herren keine Botschaft zukommen lassen. Wenn du mit deiner Mission scheiterst, gibt es kein Ir mehr, um ein Lösegeld zu zahlen; wenn du Erfolg haben sollst, bedeutet das, daß du frei sein mußt.” “Ich kann Ihnen versprechen, daß ich das Syndikat bitten werde, Sie zu bezahlen, wenn der Krieg gewonnen ist...” “Mein lieber Dämon, sehe ich wirklich so dumm aus?” “Nun, Sir, was halten Sie denn von meinen Erfolgschancen, wenn Sie mich freilassen? Die Solymbrianer scheinen mich für einen Paaluaner zu halten.” “In jedem Land gibt es einen Haufen unwissender Wichte.Über diese gelbhaarigen Barbaren hinter den Bergen weiß ich rein gar nichts; aber soweit es Solymbria angeht, ist dein Mißerfolg so sicher wie die Tatsache, daß Wasser bergab läuft.” “Warum das?” “Weil die Götter bei der letzten Wahl das Los gegen Solymbria wendeten und uns eine Regierung von Deppen gaben.” -109-
“Wie funktioniert diese Wahl?” Aithor rülpste und schlug sich auf den Bauch. “Du mußt wissen, Dämon, daß wir Solymbrianer ein sehr frommes Volk sind. Vor Jahrhunderten bestimmten die Heiligen Väter, daß die einzig logische Methode zur Wahl unserer Herrscher der Losentscheid ist, da die Götter alles in der Hand haben. Die Götter, so ist das zu verstehen, würden das Ergebnis bestimmen und, da sie die alte, heilige Polis von Solymbria lieben, das Los auf den Wertvollsten fallen lassen. Also gibt es jedes Jahr ein großes Fest zu Ehren von Zevatas und für unsere eigene spezielle Gottheit, den immer Mitfühlenden. Der Höhepunkt ist die Losziehung. Die Namen von hundert Solymbrianern, nach einem bestimmten System aus der Steuerliste der Bürger entnommen, werden auf Streifen von Riedpapier geschrieben und in Nußschalen gesteckt. Die Schalen werden in einen geweihten Beutel geworfen und durcheinandergeschüttelt. Und dann zieht vor allen Leuten der Hohepriester Immurs eine Nuß aus dem Beutel, und der, dessen Name darin eingeschlossen ist, wird der Archont des nächsten Jahres. Der zweite gezogene Name wird Erster Sekretär; der dritte wird Kämmerer und so weiter, bis alle hohen Staatsämter besetzt sind. Ich möchte nicht, daß man mich der Unfrömmigkeit beschuldigt”, sagte Aithor grinsend, “aber ich muß gestehen, daß die Götter manchmal eine sehr merkwürdige Wahl getroffen haben.” “Aber jeder weiß doch”, sagte ich, “daß unter den Erstebenern einige weise und andere Narren sind...” “Psst, Meister Zdim, wenn du dich keines Sakrilegs schuldig machen willst! Denn ein anderes unserer geheiligten Prinzipien ist, daß alle Menschen gleich erschaffen und daher als Staatsmänner gleich geeignet sind. Der große Reformer Psoanes der Gerechte machte dies deutlich, als er das Feudalregime -110-
stürzte. Denn wie er mit unwiderlegbarer Logik argumentierte, wäre es den Dummen und Tölpeln gegenüber ungerecht, wenn einige von Natur aus fähiger und klüger als andere wären. Die Götter wären schuldig, einen ungerechten und ungleichen Zustand unter den Menschen zuzulassen. Aber das wiederum wäre undenkbar, da alle Menschen wissen, daß die Götter allweise und allgütig sind und das Wohlergehen der Menschheit anstreben.” “Auf meiner Zwölften Ebene haben wir einige ziemlich dumme Götter”, sagte ich, “aber vielleicht liegen die Dinge in dieser Welt anders.” “Kein Zweifel, kein Zweifel. Jedenfalls fiel das Amt des Archonten diesmal an Gavindos von Odrum, von Beruf Ringer. Jetzt, da er fast ein Jahr im Amt ist, sind die Folgen offensichtlich. Bist du an der Grenze auf Wachtposten gestoßen?” “Nein, und das hat mich verblüfft. Man hat mir gesagt, ich müßte damit rechnen, und hat mir Dokumente mitgegeben - die, die ihre Männer mir abgenommen haben -, um mich zu identifizieren.” Aithor: “Da seit Monaten keiner mehr bezahlt worden ist, haben sie ihre Posten einfach verlassen, um nicht Hungers zu sterben. Das übrige Archonat befindet sich in einem ähnlichen Zustand. Natürlich sind solche Umstände nicht ohne Vorteil für meine fröhlichen Männer und mich, denn wir brauchen nicht zu fürchten, daß Soldaten und Polizisten einen Ring um den Grünwald legen, um uns zu fangen. Wir denken sogar daran, irgendeine Nachbarstadt zu erobern und uns dort zu Herrschern auszurufen. Im Sommer ist der Grünwald prächtig, aber im Winter sehnen wir uns nach warmen Öfen und festen Dächern als Schutz gegen Regen und Hagel.” “Protestieren die Solymbrianer nicht gegen diese Zustände?” fragte ich. -111-
“Oh, gewiß, es rumort ein wenig. Einige sagen, die Götter hätten Gavindos gewählt, um Solymbria für die Sünden seiner Bewohner zu strafen.” “Welche Sünden?” Aithor zuckte die Achseln. “Für mich sind sie in letzter Zeit nicht sündiger gewesen als Menschen überall und immer sind; aber das wird als Erklärung angenommen. Andere sagen, selbst wenn Gavindos und seine Helfer Dummköpfe sind, sei es nur gerecht, den Dummen eine Möglichkeit zum Regieren zu geben, damit die Schlauen sie nicht gnadenlos und ohne Ende ausbeuten.” “Ich meine, Sie hätten gesagt, kein Solymbrianer glaubte, daß einige Menschen dümmer als andere seien.” “Nicht doch, mein Herr Dämon, das habe ich nicht gesagt. Psoanes hat gelehrt, daß alle Menschen gleich geschaffen sind, aber daß die Unterschiede in ihrem darauffolgenden Leben sie veränderten, so daß einige weiser als andere werden. Das Heilmittel wäre also, jedermann mit demselben Grad von Güte aufzuziehen. Aber das hat bisher keiner unserer Herrscher bewirken können. Eltern unterscheiden sich voneinander und vermitteln ihrer Nachkommenschaft daher Unterschiede.” “Mir scheint, die einzige Alternative wäre, alle Kinder in öffentlichen Einrichtungen aufzuziehen, oder?” “Ein Archont hat das vor Jahren einmal versucht; aber der Plan traf auf soviel Widerstand, daß der nächste Archont ihn wieder fallen ließ. So oder so, die Macht des Zufalls stört ständig die Struktur, sie erhebt den einen und stürzt den anderen ohne Würdigung seiner Verdienste.” Aithor kratzte sich, zweifellos wurde er von parasitären Insekten dieser Welt gequält. “Ich muß dieser offiziellen Theorie eine gewisse Skepsis entgegenbringen, denn mein Bruder und ich, auf gleiche Weise von denselben Eltern aufgezogen, sind so verschieden geworden wie Fisch und Vogel. -112-
Er ist ein Unterpriester des Immur und so korrekt wie ein mathematisches Diagramm; dagegen ich - ich bin Aithor aus den Wäldern...” Der schwatzhafte Räuberhauptmann verlor sich in Anekdoten aus seiner Laufbahn, um seine Meinung zu illustrieren. Als ich eine Chance zu sprechen bekam, sagte ich: “Meister Aithor, wenn eure Regierung uns von Ir schon keinen Nutzen bringt, so habt ihr doch einige kräftige Burschen hier, die man zu einer prächtigen Söldnertruppe machen könnte.” Aithor lachte wiehernd. “Schlägst du etwa vor, uns für euren Feldzug anzuheuern?” “Jawohl, Sir.” “Nein, nein; keine staatliche Anstellung für uns, danke schön! Und außerdem, wenn wir uns in die Hände von Staatsbeamten begeben, würden sie uns benutzen, eure Belagerung zu durchbrechen, und uns dann, wenn wir nicht mehr von Nutzen sind, büschelweise aufhängen. Das wäre nicht das erste Mal, daß so etwas geschieht.” “Sie haben davon gesprochen, eine Stadt zu erobern und sich selbst zur Regierung zu machen.” “Das ist etwas anderes. Wäre ich der Herrscher einer Stadt und ihrer Umgebung und als solcher von meinen Peers in der Regierung anerkannt, könnte ich womöglich anders empfinden. Aber das ist nicht der Fall.” “Wenn die Paaluaner Ir erobern, werden sie als nächstes nach Solymbria eindringen. Seine derzeitige Schwäche lädt geradezu zum Angriff ein, oder?” “Na und?” “Sie würden euren Gründwald überrennen und euch verscheuchen.” “Ich glaube nicht. Wir kennen diesen Wald wie unsere Westentasche. Soweit ich gehört habe, sind sie ein Wüstenvolk, -113-
und es wäre ein Kinderspiel, sie in die Irre zu führen und sie in unseren Wäldern in die Falle zu locken.” “Haben Sie nicht den Wunsch, den Rest Ihres Vaterlandes vor der Verwüstung zu bewahren? Mir scheint, die Liebe zum eigenen Land ist eins der wenigen Gefühle, die Erstebener manchmal dazu bringen, das Gemeinwohl über den Eigennutz zu stellen.” “Warum sollten wir? Die Hälfte von uns würde im Kampf umkommen, und - darauf habe ich dich schon hingewiesen - der 98 Rest würde anschließend aufgrund erdichteter Anklagen gehenkt. Nein, danke. Andere mögen ihre Haut für ihr Vaterland riskieren, auch wenn es sie niedergemacht und ausgestoßen hat; aber nicht Aithor aus den Wäldern.” “Aber überlegen Sie doch! Wenn Solymbria zerstört ist, was wird für Ihre Bande dann noch als Beute bleiben?” Er kicherte. “Oh, du gewitzter Argumentierer! Bei Astis’ hübschen rosa Titten, Meister Zdim, du hättest Professor für Logik an der Akademie von Ottoman werden sollen. Nun, ich werde dir was sagen. Bei unserer Beute haben wir einen Haufen prächtiger Gewänder, die zu der Person eines Botschafters besser passen als eine nackte Schuppenhaut. Da sie uns hier wenig von Nutzen sind, werde ich dich für deine Mission angemessen ausstatten und dich am Morgen freilassen. Was hältst du davon?” “Sehr schön, Sir...” Ein plötzliches Geschrei unterbrach mich. Zwei Räuber - Nikko und Karmelion, die sich vorher schon gestritten hatten - stürzten mit gezückten Messern aufeinander los. Aithor sprang mit einem wüsten Fluch hoch und lief über die Lichtung. Das Verhalten des Häuptlings hatte sich alarmierend verändert. Er brüllte wie ein Löwe, und im Licht des Feuers traten die Adern auf seinen Schläfen hervor. Er packte die beiden Streithähne, jeden mit einer Hand. Nikko schleuderte er in eine Feuerstelle; Karmelion wuchtete er mit -114-
solcher Kraft gegen einen Baumstamm, daß der Mann ohnmächtig wurde. Als Nikko wimmernd aus dem Feuer gehüpft kam, glühende Kohlen verstreute und auf die brennenden Stellen seiner Bekleidung klopfte, fällte Aithor ihn mit einem Faustschlag. “Bei Heryx’ Eisenknüttel!” donnerte er. “Ich habe euch Schufte gewarnt. Bindet sie an Bäume!” Als das geschehen war, nahm Aithor eine schwere Peitsche und schlug brüllend und fluchend auf die nackten Rücken der beiden Männer ein, bis ihnen die Haut in Fetzen herabhing. Jedesmal, wenn er einen besonders lauten Schrei von einem der beiden hörte, beantwortete er ihn mit einem bellenden Lachen. Er hörte erst auf, als beide Männer bewußtlos waren und sein kräftiger Arm vor Ermüdung erlahmte. Als er zurückkam, rief er nach mehr Bier. Ich setzte zu einer Frage an: “Sir, wenn es erlaubt ist...” Aber Aithor bellte: “Weg mit dir, Echsenmann! Schätze dich glücklich, daß ich dir nicht die gleiche Behandlung zukommen lasse. Zurück mit dir an deinen Baum, und belästige mich nicht!”
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VII. Gavindos der Archont Am nächsten Morgen zeigte Aithor sich wieder von seiner großzügigen Seite. Er erstattete mir meine Habseligkeiten zurück - bis auf das Geld - und gab mir ein mit Fellkragen besetztes Gewand und eine passende Samtkappe. Letztere mußten sie mit einem Band befestigen, da mein Kopf für einen Erstebener-Kopfputz schlecht geeignet ist. Dann führte Aithor mich zu einem gesattelten Pferd und gab mir ein paar Hinweise über den Umgang mit dem Tier. “Das ist nicht mein Pferd”, sagte ich. “Nein; es ist ein älteres Pferd von uns, dessen sachtere Gangart deinen Reitkünsten besser entspricht. Dein früheres Roß ist zu gut, um es durch unerfahrene Behandlung ruinieren zu lassen.Übrigens wirst du jetzt die Bequemlichkeit und Sicherheit eines Sattels haben.” Aus Furcht, Aithor könnte in einem seiner verspielten Augenblicke meinen Schwanz oder ein anderes Glied abschneiden lassen, vermied ich eine Diskussion über dieses Thema. Jedoch drängte es mich zu sagen: “Aber mein guter Herr, wenn ich auch mit diesem Pferd zurechtkommen kann, so kann ich doch kaum die Entfernung von hier bis Shven ohne jeden Heller schaffen; ich brauche Geld, um Essen und Unterkunft für mich und Futter für mein Tier zu bezahlen.” “Heißt das, ihr Dämonen kauft Dinge mit Geld, genau wie ein Mensch?” “Auf der Ersten Ebene muß ich mich wie die Erstebener verhalten. Wenn ich mich mittellos losschickt, wird meine Reise zuende sein, ehe sie beginnt.” “Du kannst von Wirten auf Rechnung des Syndikats Geld borgen.” -116-
“O Aithor, aus der Art, wie die Solymbrianer schreien und davonrennen, wenn sie mich sehen, erwarte ich schon genug Probleme, überhaupt Zutritt zu Gasthäusern zu erhalten. Würden Sie mir Kredit geben, wenn Sie ein Gastwirt wären?” Aithor kaute auf seinen Barthaaren. “Ich verstehe, was du meinst. Nun, dann klau dir doch ein Lamm oder ein Hühnchen.” “Damit mich die ganze Gegend jagt? Ach was, Captain Aithor, Sie wissen doch, daß es so nicht geht.” “Ach, zum Teufel mit dir. Ich werde dir soviel Geld geben, daß es bis Shven ausreicht, wenn du sorgfältig damit umgehst. In einer Woche müßtest du es schaffen, und drei Mark pro Tag sollten ausreichen.” Er zählte einundzwanzig Mark ab und steckte sie in meine Tasche. “Wie es dir ergeht, nachdem du die Steppe erreicht hast, ist dein Problem, und bematsche mich jetzt nicht mehr.” Meine Fühler verrieten mir, daß einer von Aithors Wutanfällen dicht unter der Oberfläche brodelte, so daß ich ihn nicht länger “bematschte”. Zwei Räuber führten mich zu der Straße zurück und ließen mich frei. Die Gangart meines zockelnden alten Kleppers erwies sich tatsächlich als sehr gemächlich. Es erforderte eine Menge Schläge mit einem Zweig, den ich von einem Baum schnitt, das Tier in langsamen Trab zu versetzen, und nicht einmal konnte ich es dazu bringen, mehr als drei Sprünge hintereinander zu galoppieren. Immerhin erreichte ich Solymbria City am Abend desselben Tages. Durch ein unbewachtes Tor ritt ich in die Stadt ein. Die Straßen waren verlassen. Als ich das Pferd anhielt und mich vorbeugte, um einen Passanten nach dem Weg zu einem Gasthaus zu fragen, starrte der Mann mich kurz an, steckte dann seine Finger in den Mund und pfiff. Zwei Männer kamen aus einem baufälligen Haus gerannt, und zu dritt griffen sie mich an. Einer versuchte, mich am Bein aus -117-
dem Sattel zu ziehen, während die beiden anderen mich mit Messern attackierten. Ich packte meinen Streitkolben, der in einem Gurt am Sattel hing, und zerschmetterte die Schädel der beiden Angreifer mit je einem Hieb. Der dritte Mann floh in die Nacht. Ich sah mich nach einem Polizisten um, dem ich die Anwesenheit der beiden Leichen erklären könnte, aber ich sah keinen. Also ließ ich sie liegen und ritt weiter, bis ich zu einem Gasthaus kam, das ich an dem Ochsenschädel über der Tür erkannte. Diese Tür war verriegelt, und ich mußte lange Zeit klopfen und rufen, bis der Gastwirt sie einen Spalt öffnete. Als er mein Gesicht sah, schrie er entsetzt auf und versuchte, sie wieder zu schließen, aber ich setzte einen Fuß in den Spalt. “Ich bin ein Kunde mit Bargeld!” rief ich. “Ein Gast! Ein Gesandter von Ir!” Durch viele Wiederholungen und gute Worte bewegte ich den Mann dazu, mich einzulassen, auch wenn er nervös mit einer eisenbeschlagenen Keule dastand, während ich ihm meine Dokumente zeigte. Als ich die Frage der Unterkunft geregelt hatte, berichtete ich dem Gastwirt von meiner Begegnung an diesem Abend. “Kein Wunder, wenn Sie nach Einbruch der Dunkelheit durch die Straßen Solymbrias reiten”, sagte der Wirt, dessen Name Rhuys lautete. “Der Ort wimmelt von Banditen.” “Tut man denn nichts gegen die Plage?” “Offen gesagt, nein. Die Wachtmeister, undiszipliniert und ohne Bezahlung, sind oft selbst zu Räubern geworden. Andere haben sich an Bürger als private Leibwachen verdingt.” “Ein merkwürdiges Land und eine merkwürdige Stadt”, sagte ich. “Ist das immer so gewesen?” “Nein; letztes Jahr war es hier in bester Ordnung. Aber unter -118-
diesem Schwachkopf Gavindos, die Pocken auf ihn, ist alles verlottert. Ach ja, wenn wir noch einen Monat überleben können, gibt es eine neue Wahl. Vielleicht geben die Götter uns einen besseren Archonten.” Trotz meiner Proteste brauchte ich zwei volle Tage, um eine Audienz beim Archonten zu bekommen. In der Zwischenzeit war der Gastwirt Rhuys, nachdem er herausgefunden hatte, daß ich bei weitem nicht so ein Ungeheuer war, wie es mein Aussehen andeutete, zunehmend freundlicher geworden. Ich war sein einziger ständiger Gast, das Geschäft war ruinös schlecht geworden. Als er am Tag nach meiner Ankunft ausging, um Vorräte einzukaufen, drängte er mich, mit ihm zu kommen. “Keiner wäre ein solcher Tropf, mich in Ihrer Begleitung anzugreifen”, sagte er. “Wer sind die da?” Ich zeigte auf eine Herde Frauen, die von einem Paar kräftiger bewaffneter Männer die Straße entlang geführt wurde. “Hausfrauen auf dem Weg zum Markt”, erklärte er. “Die bewaffneten Männer sind ehemalige Wachtmeister, die von den Haushalten eines Wohnblocks als Wachen angeheuert worden sind. Sie haben sich darauf geeinigt, alle Frauen aus diesem Block gleichzeitig zum Markt zu schicken, damit die Wächter sie begleiten und vor Schändung und Raub beschützen können.” “Ihr Erstebener seid merkwürdige Geschöpfe”, sagte ich. “Wieso? Macht ihr es im Dämonenland besser?” “Auf der Zwölften Ebene übt sich ein Dämon, der von seinen Eltern anständig erzogen worden ist, ohne ständigen Zwang in gesittetem Benehmen. Daher haben wir nicht eine so komplizierte Unterdrückungsmaschinerie aus Gesetzen und Zwangsmaßnahmen, wie sie hier besteht. Aber ihr Menschen sobald ihr von Beschränkungen befreit werdet, lauft ihr Amok, schändet und beraubt einander wie... wie...” -119-
“Wie Krabben im Eimer”, sagte Rhuys. “Vielen Dank, Sir; mir fiel der Name dieser schnellfüßigen Wassertiere nicht ein.” “Im Grunde unseres Herzens sind wir nicht alle Diebe und Mörder”, sagte er. “Eigentlich sind die meisten von uns friedfertig und ordentlich; sie wollen in Ruhe ihren Lebensunterhalt verdienen.” “Aber genug von euch gehören zur anderen Sorte, wenn ich so sagen darf”, sagte ich. Rhuys seufzte. “Ich fürchte, Sie haben recht. Benehmen Dämonen sich niemals schlecht?” “Oh, gewiß; aber ihre Anzahl ist so klein, daß man ihrer leicht Herr wird. Außerdem haben unsere Magier machtvolle Zauber, die einen eines Verbrechens Angeklagten zwingen, die Wahrheit zu sprechen. Das vereinfacht die Aufgabe, die Schuld des Übeltäters eindeutig festzustellen.” Rhuys blickte mich scharf an. “Läßt die Zwölfte Ebene Einwanderer zu?” “Ich bezweifle, daß die Frage bislang aufgekommen ist. Wenn ich dorthin zurückkehre, werde ich mich erkundigen und Sie die Antwort wissen lassen.” Als ich schließlich Einlaß in den Palast fand, stellte sich Gavindos von Odrum als kleingewachsener Mann mit tonnenförmigem Oberkörper und äußerst langen, muskulösen Armen heraus. Er erinnerte mich an meinen Freund Ungah, den Affenmenschen. “Nehm’se Platz”, sagte er. “Wie war doch gleich der Name?” “Zdim, Euer Exzellenz.” “Stirn, Zadim - ach, zum Teufel damit. Ich werde Sie›He Sie‹nennen. Nehm’se sich’n Bier. Was wolln’se hier?” “Ich bin ein Gesandter von Ir...”, und ich erklärte die Gründe meines Besuchs. -120-
“Ir. Ach ja. Das ist so’n scheißfremdes Land, oder?” Als der Mann sprach, nahmen meine Fühler Gefühle der Verwirrung auf, wie ein kleines Kind sie empfinden mochte, wenn ihm solche ernsthafte Angelegenheiten erklärt wurden. “Das ist die Republik, die sich der Ihren im Süden anschießt, Sir.” Gavindos: “Ich bringe diese scheißfremden Länder immer durcheinander. Na ja, und was hat das Ganze, mit mir zu tun?” “Das Syndikat von Ir bittet Sie dringend, Sir, eine Armee zu entsenden, um den Belagerungsring um Ir City zu durchbrechen.” “Häh? Sie meinen, meine Scheißarmee soll da runterzieh’n und diese Clowns aus - wie heißen diese Scheißeindringliche noch mal?” “Paaluaner, Sir. Sie kommen von jenseits des westlichen Ozeans...” “Ja, ja, schon gut. Das hab’ ich schon verstanden. Nehm’se noch’n Bier. So, und warum soll ich meine Scheißarmee losschicken - nach Ir, richtig?” “Jawohl, Sir.” “Und dann soll ich meine Scheißarmee über den Ozean schicken, um diese Clowns in einem Land zu bekämpfen, von dem ich noch nie gehört habe - was habe ich gerade gesagt?” Ich erklärte es erneut. Gavindos runzelte die Stirn. Schließlich sagte er: “Passen’se mal auf, wenn die Leute von Ir Schwänze und Schuppen haben so wie Sie, dann sind sie mir scheißegal. Wenn die anderen Clowns sie umbringen und fressen, dann sach’ ich gute Verrichtung dazu!” “Aber, Sir, wie ich zu erklären versucht habe, sind die Irianer genau so menschlich wie Sie. Ich bin nur ein Dämon in ihren Diensten.” “Wenn sie Menschen sind, warum schicken se mir dann -121-
keinen Scheißmenschen?” “Weil ich der einzige war, der durch die paaluanischen Reihen gelangen konnte.” Der Archont nahm einen kräftigen Schluck Bier. “Noch mal von vorn. Greifen diese Clowns von jenseits des Meers Ir an, oder greift Ir sie an?” Ich erklärte es zum wiederholten Male. “Nun ja”, sagte Gavindos, “ich weiß nicht, was es mir nützen würde, mich da einzumischen. Wir scheinen schon kein Geld zu haben, um unsere Scheißarmee hier zu bezahlen, ganz zu schweigen davon, sie in fremde Länder zu schicken, von denen ich noch nie gehört habe.” “Euer Exzellenz! Wenn die Paaluaner Ir erobert haben, werden sie als nächstes in Solymbria eindringen!” “Häh? Meinen Sie wirklich?” “Gewiß!” “Und wer von ihnen würde wohl eindringen? Ir oder - ich hab’ den Scheißnamen von den anderen vergessen.” Erneut erklärte ich es. Der Archont dachte nach. Schließlich sagte er: “Na gut, sollen sie kommen. Ich werde ihren Häuptling zum Ringkampf rausfordern. Ich drücke ihm seine Scheißnase in den Arsch und breche ihm den Scheißrücken, und dann müssen sie nach Hause, weil sie keinen General mehr haben, der die Befehle gibt. Nehm’se noch’n Bier, bevor Sie gehen.”
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VIII. Yurog der Schamane Wie der Südteil Solymbrias ist auch der Norden von Räubern geplagt. Ich vermute, daß einige der ungeschlachten Männer, die ich auf der Straße oder in Gasthäusern sah, dazu gehörten. Einige schenkten mir finstere Blicke, aber keiner belästigte mich. Ich nehme an, mein Aussehen brachte sie von allen ruchlosen Plänen ab, die sie möglicherweise hegten. Am zweiten Tag nach der Abreise aus Solymbria City erreichte ich die Ausläufer der Ellorna-Berge. Während ich mein Essen verzehrte, zeigte ich dem Wirt, einem gewissen Hadrubar, meine Karte und fragte ihn nach der Straße über die Berge. “Schwer zu sagen”, sagte er. “Das Nadelöhr...” - er zeigte auf die Stelle meiner Karte, die den Paß über den Kamm des Gebirgszugs zeigte - “ist im Winter durch Schnee verschlossen. Jetzt ist es Hochsommer, und der Paß müßte schon zwei oder mehr Monate auf sein. Aber nicht ein einziger Reisender ist aus dem Land der Hruntings herübergekommen.” “Was ist mit den Reisenden, die nach Norden wollen?” “Einige sind aufgebrochen, aber keiner ist zurückgekehrt. Einige sagen, die Zapperatz hätten den Paß geschlossen.” “Die was haben den Paß geschlossen?” “Die Zapperatz - wissen Sie, das ist der Stamm von Höhlenmenschen, die dort oben wohnen. Früher brauchte man jedes Jahr einen regelrechten militärischen Feldzug, um den Paß gegen ihren Widerstand zu öffnen. Dann hat die Regierung einen Vertrag mit ihnen geschlossen, aber bei blutrünstigen Wilden wie denen weiß man ja nie.” “Was sind diese Höhlenmenschen für Leute?” “Wollen Sie einen sehen? Kommen Sie nur mit.” -123-
Er führte mich zu seiner Küche. Dort spülte ein mürrisch blickender, gelbhaariger junger Mann mit dem dünnen Eisenkragen des Sklaven um den Hals das Geschirr. “Das ist Glob, mein Zapperatz-Sklave”, sagte Hadrubar. “Ein bösartiger Bursche, fast mehr Ärger, ihn auszubilden und in Zucht zu halten, als er überhaupt wert ist.” “Werden Höhlenmenschen regelmäßig versklavt?” “Seit dem Vertrag nicht mehr.” “Dieser Vertrag hat ganz offensichtlich Meister Glob die Freiheit nicht wiedergegeben.” “Natürlich nicht! So ein törichter Vorschlag wurde erörtert, als der Vertrag ausgehandelt wurde; aber er verursachte solchen Aufstand unter den Solymbrianern, die gutes Geld für Sklaven gezahlt hatten, daß der Archont ihn zurückwies. Schließlich wäre es eine Tyrannei, der sich kein Mann von Geist fügen würde, uns ungerechterweise unseres Eigentums zu berauben.” Als er mich in den Gastraum zurückführte, fuhr Hadrubar mit leiserer Stimme fort, damit Glob nicht zuhören konnte: “Unter früheren Archonten war die Grenze so gut bewacht, daß Aureißer kaum eine Chance hatten durchzuschlüpfen; aber jetzt...” “Wie wir im Dämonenland sagen”, warf ich ein, “eine schlechte Welle, die keinem die Füße wäscht.” Hadrubar warf mir einen ärgerlichen Blick zu. “Verschwenden Sie Ihre Sympathie nicht an diese Rohlinge, die die Annehmlichkeiten der Zivilisation nicht einmal dann zu schätzen wissen, wenn man sie ihnen aufzwingt.” “Das hier ist nicht meine Welt, Meister Hadrubar, und es geht mich nichts an, wie ihr Erstebener einander behandelt. Allerdings bin ich häufig verblüfft angesichts der Kluft zwischen Ihren erklärten Grundsätzen und Ihren Handlungen. Sie verachten, beispielsweise, Globs primitives Volk; doch ich -124-
habe gedacht, Solymbrianer halten alle Menschen fürgleich geschaffen.” “Da liegen Sie falsch, verehrter Herr Dämon. Daß immer alle Solymbrianer gleich geschaffen wurden, ist eine eindeutige Tatsache und durch göttliche Offenbarung belegt. Wer die anderen Völker der Welt erschaffen hat - und wie -, das weiß ich nicht. Zapperatz haben ihren eigenen Gott, er heißt Rostroi. Vielleicht hat dieser Rostroi die Zapperatz gemacht; wenn ja, dann hat er ganz schön herumgepfuscht.” Ich vermied es, diese Diskussion fortzuführen, da ich es für unlogisch hielt, über diese Zapperatz zu dogmatisieren, ohne je einen persönlich näher kennengelernt zu haben. Novaria besitzt ausgezeichnete Straßen, die die Hauptstädte der elf Stadtstaaten des Hauptlands miteinander verbinden (die zwölfte, Zolon, liegt auf einer Insel im westlichen Ozean, vor der Küste Solymbrias). Die Straße nördlich von Solymbria City war jedoch in weniger gutem Zustand. Nachdem sie die Grenze vor Polis überquerte - dort kam ich wieder an einem verlassenen Zollhaus vorbei -, verengte sie sich zu einem mickrigen Trampelpfad, geeignet für Packtiere, aber für Räderfahrzeuge kaum passierbar. An den steileren Stellen hatten kleine Wasserläufe des Erdreich vom bloßen Felsen weggespült. Mein armes altes Pferd rutschte und strauchelte auf dem Felsen so sehr, daß ich absteigen und es führen mußte, wobei ich von Vorsprung zu Vorsprung kletterte. Am Ende des ersten Tages, nachdem ich Hadrubars Gasthaus verlassen hatte, ließ ich den Grenzbezirk hinter mir und begann mit dem Aufstieg. Die nächsten drei Tage dauerte der Aufstieg, die schneebedeckten Bergkämme kamen näher und näher. Im Vorgebirge wuchsen dichte Gruppen von Bäumen mit dunkelgrünen Nadeln, die fast schwarz aussahen. Als ich höher kam, wurde der Bewuchs immer spärlicher. Wie Hadrubar angedeutet hatte, gab es keinen Verkehr. Die -125-
Stille wurde nur durch das Seufzen des Windes, das Murmeln eines Gebirgsbachs und das Echo der Hufe meines Pferds, zurückgeworfen von einer Felswand, durchbrochen. Ich erblickte ferne Herden wilder Ziegen und Schafe, und einmal erschreckte ein Bär auf einem entfernten Bergplateau das Pferd. Die zunehmende Kälte machte mich träge und steif. Der Umhang, den Aithor mir gegeben hatte, war wenig hilfreich, da wir Dämonen anders als die höheren Tiere der ersten Ebene keine Quelle innerer Wärme haben. Daher kühlen sich unsere Körper auf die Temperatur der umgebenden Luft ab, und proportional dazu verlangsamen sich unsere Bewegungen. In den ersten beiden Nächten konnte ich mich durch ein Lagerfeuer ausreichend auftauen, um den folgenden Tag zu überstehen; aber dann merkte ich, daß ich schon mittags anhalten und ein Feuer anzünden mußte, um mich zu wärmen. Am fünften Tag nach dem Verlassen des Gasthauses erreichte ich den Paß, den sie das Nadelöhr nennen. Der Pfad wand sich an furchterregenden Steilhängen auf und ab. Schnee lag in einzelnen Senken und Flecken. Gewaltige, schneebedeckte Gipfel ragten rechts und links empor. Zur Mittagsstunde, von meinem Taschen-Sonnenring angezeigt, hielt ich an, um ein Feuer zu machen. Das Pferd fraß einen kleinen Beutel Korn, den ich für solche Notfälle dabei hatte, denn in dieser Höhe wuchs zu wenig Gras, um es satt zu bekommen. Material für ein Feuer sammeln, stellte sich als beschwerlich heraus, denn außer einigen knorrigen, spärlichen Büschen gab es nichts Brennbares. Vor allem war ich durch die Kälte und die dünne Luft so träge geworden, daß ich mich kaum bewegen konnte. Nach einer Stunde mühseliger Anstrengungen sammelte ich genügend Brennmaterial. Ich bewegte mich, als ich mein Feuer anzündete, wie eine dieser Erstebenen-Gartenplagegeister, welche Schnecken heißen. -126-
Ich hatte kaum die Flamme entfacht, als etwas Seltsames passierte. Meine Fühler spürten Magie auf. Dann fuhr brüllend ein Windstoß eiskalter Luft über mich hinweg. Er schien von oben zu kommen. Er löschte mein kleines Feuer, das wild aufloderte und dann fast ebenso schnell erstarb, als die Zweige verbrannt waren. Ich taumelte auf die Füße, um mehr Brennstoff aufs Feuer zu legen. In dem Moment, als ich aufstand, hatte die Kälte meine Bewegungen jedoch so verlangsamt, daß ich starr wie eine Statue wurde. Da ich nicht sehr gut abgestützt war, kippte ich langsam um - glücklicherweise nicht in das ersterbende Feuer und lag steif in der Haltung, die ich erreicht hatte, als ich meine Bewegungsfähigkeit verlor. Das Pferd spitzte die Ohren, schnaubte und begann klappklapp - davonzutrotten. Dann hörte ich das Surren von Sehnen und das Zischen fliegender Pfeile. Das Pferd wieherte, bäumte sich auf und stürzte, mit den Beinen ausschlagend, nieder, als einige Pfeile es in die Flanke trafen. Andere, die ihr Ziel verfehlten, landeten rasselnd auf den Felsen. Einer kam neben mir herunter, und ich sah, daß die Pfeilspitze wie Glas aussah. Später erfuhr ich, daß das tatsächlich so war. Die Höhlenmenschen der Ellornas leben in einer Steinzeitkultur. Als sie entdeckten, daß Glas ebenso leicht wie Feuerstein zu bearbeiten ist und sogar noch schärfere Spitzen möglich macht, hatten sie es sich zur Übung gemacht, bei den Solymbrianern Felle gegen Bruchglas aus Flaschen und Fensterscheiben einzutauschen. Die Scherben verarbeiteten sie zu Pfeilspitzen und anderen Werkzeugen und Waffen. Jetzt tauchten die Bogenschützen hinter Felsklötzen auf und ergossen sich auf den Pfad. Einige fingen an, mein totes Perd mit Messern aus Feuerstein und Glas zu zerlegen. Die übrigen versammelten sich um mich. -127-
Auf den ersten Bick sahen die Zapperatz wie eine Art Bärenmenschen aus, aber bei näherem Hinsehen erkannte man, daß dies an den Fellen lag, in die sie sich von Kopf bis Fuß kleideten. Sie gehörten offensichtlich zur selben Spezies wie die Novarianer und andere menschliche Erstebener und nicht zu einer anderen Rasse, wie es bei Ungah der Fall war. Im Durchschnitt waren sie größer und kräftiger als die Novarianer. Soweit ich ihre Gesichter durch Fellmützen und Dreck erkennen konnte, waren sie nach den Maßstäben der Erstebener keineswegs schlecht aussehende Menschen; sie hatten unterschiedliche Haarfarben und braune und graue Augen. Ihr Geruch jedoch war überwältigend. Steifgefroren, wie ich war, konnte ich nichts tun, ihm zu entgehen. Sie schnatterten in ihrer eigenen Sprache und stellten sich als noch größere Quasselstrippen als die Novarianer heraus. Natürlich verstand ich kein Wort ihrer Unterhaltung. Sie schienen zwei Führer zu haben: einen sehr großen Mann mittleren Alters und einen gebeugten weißbärtigen Greis. Der erstere kommandierte die Stammesangehörigen herum, beriet sich aber dann und wann leise mit dem letzteren. Sie drehten sich herum und lösten meinen Umhang, um mich im einzelnen zu untersuchen; das ging mit vielen Fingerzeigen und einem wahren Sturzbach von Worten vor sich. Schließlich packten mich vier von ihnen, jeder bei einem Bein oder Arm, und trugen mich fort. Die übrigen folgten, beladen mit dem Fleisch des Pferdes, von dem nur das blutige Skelett übriggeblieben war. Von dem Weg, dem wir folgten, konnte ich wenig sehen, da ich mich in Rückenlage befand und weder meinen Kopf wenden, noch die Augen verdrehen konnte. Ich konnte nur mit zusammengekniffenen Augen - als Schutz gegen die helle Sonne - in den Himmel schauen. Die Zapperatz lebten in einem Dorf aus Lederzelten, die am Fuß einer Felswand rund um den Eingang einer geräumigen Höhle aufgebaut waren. Sie trugen mich durchs Dorf, das von -128-
Frauen und Kindern wimmelte, und in die Höhle hinein. Die Dunkelheit der Höhle wurde bald durch Fackeln und eine Vielzahl kleiner Steinlampen, die sie rundherum auf dem Boden plazierten. Jede Lampe war eine flache Schale mit einem Griff auf einer Seite und einem Docht in Gestalt eines Moosfetzens, der in flüssigem Fett schwamm. Im Hintergrund der Höhle stand eine schwach beleuchtete Statue von doppelter Mannshöhe. Sie schien aus einem großen Stalagmiten gearbeitet zu sein. Anstelle von Mund und Augen hatte sie Löcher, einen schroffen Vorsprung als Nase und ein männliches Organ so groß wie jedes der grob behauenen Beine. Eine Zeitlang ignorierten die Zapperatz mich. In der Höhle war ein unendliches Kommen und Gehen und endloses Gerede. Von den Feuerstellen am Eingang, den Lampen und Fackeln und der Menge der Zapperatz war die Höhle wärmer als die Außenluft. Ich begann aufzutauen. Ich bemerkte, daß ich meine Augen, dann meinen Kopf und schließlich auch Finger und Zehen bewegen konnte. Während ich noch überlegte, wie ich meine wiedergefundene Beweglichkeit einsetzen konnte, kam der weißhaarige Greis, den ich vorher schon bemerkt hatte, durch das Menschengewirr zu mir herüber und beugte sich mit einer Lampe in der Hand spähend über mich. Dann bückte er sich, packte meine Hand und zerrte ruckartig an ihr. Ich hätte so tun sollen, als sei ich immer noch starr, aber die Bewegung überraschte mich. Ich riß meine Hand von dem Zapperatz los und verriet dadurch, daß ich meine normale Gelenkigkeit wiedergewann. Der alte Mann schrie einigen seiner Stammesgenossen etwas zu, die daraufhin herbeigeeilt kamen. Einige zogen mir den Umhang und die Kappe, die Aithor mir gegeben hatte, vom Körper; andere banden meine Hand- und Fußgelenke mit rohen Lederriemen zusammen. Diejenigen, die die Kleidungsstücke genommen hatten, -129-
amüsierten sich, indem sie sie der Reihe nach anzogen und sich über das Aussehen der jeweils Bekleideten vor Lachen ausschütteten. Der Greis stellte seine Lampe hin und setzte sich mit gekreuzten Beinen vor mich. Er stellte mir eine Frage in einer Sprache, die ich nicht verstand. Ich konnte ihn bloß anstarren. Dann sagte er in gebrochenem Novarianisch: “Du sprechen Novarianisch?” “Jawohl, Sir.” “Wer du?” “Mein Name ist Zdim. Mit wem habe ich die Ehre zu sprechen?” “Ich Yurog, Schamane - was du Zauberer nennst - der Zapperatz. Aber was du? Du kein Mensch?” “Nein, Sir, ich bin kein Mensch. Ich bin ein Dämon von der Zwölften Ebene, unterwegs im Auftrag des Syndikats von Ir. Darf ich mir die Freiheit nehmen und mich nach Ihren Absichten erkundigen?” Yurog kicherte. “Dämonen böse, schlimme Dinger. Aber du hast gut Benehmen. Wir dich opfern Rostroi.” Mit einem Kopfnicken wies er auf das Götzenbild auf der Rückseite der Höhle. “Dann Rostroi schickt uns viele Schafe, viele Ziegen zu essen.” Ich versuchte den Grund meiner Reise und die Dringlichkeit meiner Mission zu erklären, aber er tat meine Erläuterungen mit einem Lachen ab. “Alle Dämonen Lügner”, sagte er. “Jeder das weiß. Wir nicht fürchten deine schwarzen Männer, selbst wenn stimmt.” Ich fragte: “Doktor Yurog, bitte sagen Sie mir eins. Mir wurde gesagt, daß ein Vertrag zwischen Ihrem Volk und den Solymbrianern Reisenden durchs Nadelöhr freies Geleit zusichert. Warum nehmen Sie mich dann gefangen?” -130-
“Vertrag nix gut! Solymbrianer versprechen uns, uns jeden Monat Ochsen geben, zu essen, damit wir Leute durchlassen. Wenn Gavindos Häuptling von Solymbria, er schicken keine Ochsen mehr. Er nicht halten Vertrag, wir ihn halten auch nicht. Alle Flachländer Lügner.” “Haben Sie mich durch einen Zauber gefangen, der mich steif frieren ließ?” “Aber klar. Ich großer Zauberer. Nicht wissen, Frostzauber macht dich hart wie Stein, wie Schlange oder Eidechse von Flachland. Das uns machen einfach, haha.” “Einen Moment mal! Sie haben mein Pferd zerlegt, um Nahrung und Leder zu bekommen, und es muß fast soviel Fleisch haben wie einer von jenen Ochsen, die die Solymbrianer euch zu schicken pflegten. Würden Sie das nicht als gerechte Bezahlung betrachten, um mir zu gestatten, Ihr Land zu durchqueren?” “Nix großer Vertrag mit dir. Du Feind. Alle Flachländer Feinde; alle Dämonen Feinde. Ist richtig, sie opfern, wenn wir sie fangen. Aber sagen dir was. Zapperatz wollen, ich dich langsam häuten; aber weil du lieber Dämon mit gut Benehmen und wegen Pferd, ich schneiden deine Kehle schnellschnell durch, dann du kaum Schmerzen haben. Ist gut von mir, ja?” “Ja, gewiß, obwohl es noch besser wäre, wenn Sie mich als Freund behandeln...” Doch bevor ich diese interessante Diskussion fortführen konnte, stand der große Anführer über mir und sprach in seiner Sprache mit Yurog. Yurog antwortete und fügte in seinem schrecklichen Novarianisch hinzu: “Häuptling, muß kennenlernen Gast. Ist Dämon Zdim, stellen vor Vilsk, Häuptling von Zapperatz. Ich auch gut Benehmen, ja?” Dann gingen der Häuptling und der Schamane zusammen fort. Einige Stunden hatte ich nichts zu tun, außer in meinen Fesseln dazuliegen und zuzusehen, wie die Höhlenmenschen ein großes -131-
Fest vorbereiteten. Der erste Akt war eine Zeremonie zu Ehren von Rostroi, er wurde gefolgt von einem Festmahl, das aus den sterblichen Überresten meines Pferdes bestand, die mit einer Art Bier hinuntergespült wurden, welches sie selbst brauten und in Lederbeuteln aufbewahrten. Die Sonne ging unter, als die Zapperatz sich in halbkreisförmigen Reihen am Eingang der Höhle versammelten. Die Männer besetzten die vorderen Reihen, dahinter kamen die Frauen und Kinder. Viele der Frauen nährten ihre Kleinkinder mit Hilfe jener mehr oder weniger vorstehenden Milchdrüsen, die die Weibchen höherer Tiere der Ersten Ebene kennzeichnen. Der Gestank der Menge war überwältigend. Meine Fühler nahmen Gefühle höchster Erwartung auf. Einer der Stammesangehörigen setzte sich mit einer Trommel neben die Statue von Rostroi, während sich ein anderer mit einer Holzflöte auf der anderen Seite des Götzenbildes niederließ. Vilsk hielt eine Rede. Sie dauerte und dauerte. Er gestikulierte, schüttelte die Fäuste, stampfte, schrie, brüllte, tobte, flüsterte, lachte, weinte, schluchzte und ging die ganze Skala menschlicher Emotionen durch. Wegen der großen Menge konnte ich mit meinen Fühlern nicht erkennen, wie ernsthaft Vilsk bei seiner Darstellung war. Aber der Stamm nahm den Vortrag mit äußerstem Genuß auf. Ein Grund dafür mag der Mangel der Höhlenmenschen an Vergnügungen sein. Schließlich hörte Vilsk auf, und sofort setzte die Musik ein. Eine Gruppe von Tänzern, bis auf ihren Lendenschurz nackt und mit fantastischen Farben und Federn geschmückt, setzte sich hüpfend und springend in Bewegung. Die Tänzer schrien einander ständig an, ich vermute, sie ermähnten sich gegenseitig, im Takt zu bleiben und sich auf die nächste Figur des Tanzes vorzubereiten. Ich schien für den Moment vergessen. Inzwischen war ich -132-
voll aufgetaut und testete meine Fesseln. Sie waren nicht im mindestens so sicher wie die, die Aithors Männer mir angelegt hatten, denn die Zapperatz hatten angenommen, daß ich nicht stärker als ein Mensch wäre. Während die Augen der Versammelten auf die hüpfenden, wirbelnden, stampfenden Tänzer geheftet waren, setzte ich meine volle Kraft ein und zerriß den Riemen um meine Handgelenke. Ich wartete einen Augenblick, bis die Zirkulation in die Hände zurückkehrte, dann packte ich den Riemen um meine Fußknöchel und zerriß ihn ebenfalls. Dann begann ich, mich nahe am Boden Stückchen für Stückchen auf den Eingang zuzuschleichen. In dem trüben Licht bemerkte niemand, wie ich um die eine Spitze der sichelförmigen Formation der Zapperatz herumglitt. Als ich es für risikolos hielt, rollte ich mich nach vorn und kam auf Hände und Knie. Fast hatte ich den Ausgang erreicht, als ein Kind mich sah und aufschrie. Eine Frau drehte sich auf diesen Laut hin um und kreischte. Bevor irgend jemand Hand an mich legen konnte, sprang ich auf die Füße und rannte zur Höhlenöffnung hinaus. Hinter mir schien die Höhle zu brodeln, als der ganze Stamm sich erhob, um mich zu verfolgen. Ich raste aus der Höhle und durch das Zeltdorf. Als ich an einem Feuer vorbeikam, neben dem Fleischstücke von meinem Pferd aufgestapelt lagen, besaß ich die Gewitztheit, ein Steak von dem Stapel zu reißen, ehe ich in die Nacht rannte. Wäre die umgebende Luft warm gewesen, wäre ich den Zapperatz mit Leichtigkeit entkommen. Meine Kraft und meine Nachsichtigkeit verliehen mir gegenüber Erstebenern einen Vorteil, der gewöhnlich unschlagbar war. Die Kälte in dieser Höhe verlangsamte meine Geschwindigkeit allerdings bald auf das Maß der Erstebener. Hinter mir jagte ein Schwärm von Höhlenmenschen, die -133-
erwartungsvolle Rufe ausstießen, als meine Schuppen das Licht ihrer Fackeln reflektierten. Ich sprang einen felsigen Hang hinab und schlug Haken nach links und rechts, um sie abzuschütteln. Aber sie waren schnell und zäh, wie es Menschen nun einmal eigen ist. Welche Richtung ich auch einschlug, die Fackeln tanzten stets wie ein Schwärm leuchtender Insekten hinter mir her. Ja, sie verringerten sogar die Distanz zu mir. Mit jedem Schritt wurde ich langsamer, je mehr Kälte mich packte. Hätte ich das Gelände besser gekannt, wäre ich ihnen ohne Zweifel mit irgendeinem Trick entwischt; aber das war nicht der Fall. Sie kamen immer näher. Wenn ich mich ihnen entgegenwandte, könnte ich zwei oder drei töten, aber dann würde ich erfahren, wie es ist, von primitiven Waffen aus Stein und Glas zu Tode gehackt zu werden. Und das, da war ich sicher, würde Madame Roska und dem Syndikat, dem ich verpflichtet war, keinerlei Befriedigung geben. Ein Pfeil zischte an mir vorbei. Die Verzweiflung brachte meinen Verstand schließlich auf Touren. Als ich sicher war, daß sie mich sahen, änderte ich meine Farbe in die hellste, mir mögliche Tönung - ein Perlgrau. Dann bog ich nach rechts ab. Als sie hinter mir herstürmten und in Erwartung eines leichten Triumphs brüllten, sprang ich eine Böschung hinunter, die unseren Pfad querte. Als ich sekundenlang dem Blick meiner Verfolger entzogen war, wechselte ich meine Farbe zu Schwarz und rannte am Fuß der Böschung entlang nach links, lotrecht zu meiner bisherigen Richtung. Im Nu ergoß sich der Haufen der Zapperatz die Böschung hinunter und behielt die Richtung bei. Behutsam schlich ich meine neue Richtung davon, ängstlich bemüht, keinen Stein anzustoßen und durch Geräusche auf mich aufmerksam zu machen. Bis die Stammesmitglieder entdeckt hatten, daß ihr hellgraues Wild nicht mehr zu sehen war, und sie schreiend und ihre Fackeln schwenkend stehenblieben, war ich außerhalb ihrer -134-
Reichweite. Bis zum Morgengrauen hatte ich den Fußpfad durch das Nadelöhr gefunden und befand mich auf dem Weg über die Nordhänge der Ellornas zu den Steppen von Shven. Während meiner Gefangenschaft und meiner Flucht war ich geneigt gewesen, mit der unvorteilhaften Ansicht des Gastwirts Hadrubar über die Zapperatz übereinzustimmen. Als ich den Pfad im rosigen Morgenlicht entlangging und dann und wann einen Biß aus der Scheibe Pferdefleisch nahm, kam ich zu einer rationaleren Einschätzung. Die Zapperatz hatten nur in der normalen Art von Erstebenern gehandelt, die sich instinktiv in gegeneinander feindseligen Gruppen aufteilten. Jedes Mitglied einer solchen Gruppe betrachtet alle anderen Gruppen als nicht vollständig menschlich und folglich als natürliche Beutetiere. Diese Aufteilung kann unter jedwedem Vorwand vorgenommen werden - Rasse, Nation, Stamm, Klasse, Glaube oder jeder andere Unterschied, der diese Funktion erfüllt. Da sie glaubten, zu Recht einen Groll gegen die Solymbrianer zu haben, hatten die Zapperatz in der üblichen menschlichen Denkweise gegen alle Novarianer eine feindselige Haltung eingenommen. Da ich für eine novarianische Regierung arbeitete, brachten sie mich in der gleichen Kategorie unter. Tatsache war, daß die Zapperatz keine “blutrünstigen Wilden” im Unterschied zu den zivilisierten Novarianern waren, sondern daß alle Menschen einen Hauch von “blutrünstigen Wilden” an sich haben, ihn jedoch unter der Tünche kultivierten Benehmens versteckten.
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IX. Kahn Theorik Drei Tage trottete ich nun über die flachen, grasigen, windgepeitschten Steppen des westlichen Shven, ohne Anzeichen menschlichen Lebens zu sehen. Außer Vögeln und einigen wenigen Antilopen und weit entfernten Wildeseln sah ich sogar nicht einmal tierisches Leben. Das Pferdefleisch war schon längst verbraucht, und ich hatte kein Mittel, mehr Nahrung zu bekommen, denn die wilden Tiere waren selbst für mich zu schnell, und eine Schußwaffe besaß ich nicht. Durch den Mangel an Nahrung und Wasser wurde ich zusehends schwächer, als meine Fühler einen Hauch von Feuchtigkeit wahrnahmen. Starr blieb ich stehen, untersuchte die Luft und machte mich in die angezeigte Richtung auf. Nach einer halben Stunde fand ich ein Wasserloch, von einigen kleinen Bäumen umgeben. Das Wasser war fast nur Schlamm, aber davon ließ ich mich nicht abhalten. Zum Glück erweisen wir Dämonen uns als gefeit gegen fast alle Krankheiten der Ersten Ebene. Ich war dabei, schlammiges Wasser zu schlürfen, als Hufgeräusche mich auffahren ließen. Als ich mich aufrichtete, trieb der Reiter sein Tier zum Galopp. Es war ein hochgewachsener Mann und ähnelte den shvenitischen Söldnern, die ich in Ir gesehen hatte. Er trug einen zwiebeiförmigen Fellhut, eine Schaffelljacke und ausgebeulte Wollhosen, die in Fellstiefeln steckten. Sein blonder Bart flatterte im Wind. Ich hielt eine Hand hoch und rief auf Shvenisch: “Bring mich zu deinem Führer!” Dies war einer der Sätze, die ich mir vor meinem Aufbruch gemerkt hatte. Für einen vollständigen Lehrgang dieser Sprache hatten die Zeit und eine gute Anleitung gefehlt. -136-
Der Reiter schrie etwas, das wie “Jippi!” klang und behielt sein Tempo bei. Als er näher kam, löste er ein aufgerolltes Seil von seinem Sattel und wirbelte eine Schlinge am Ende des Seils über seinem Kopf. Offenbar hatte der Mann vor, mich, wie Aithors Räuber es im Grünwald getan hatten, mit seinem Lasso einzufangen und über den Boden zu schleifen. Da ich an solcher Behandlung keinen Geschmack gefunden hatte, stützte ich mich ab. Als die Schlinge wirbelnd auf mich zukam, sprang ich in die Luft und packte das Seil mit meinen Klauen. Als ich wieder auf dem Boden landete, ; grub ich meine Hacken tief in den Boden und warf mich nach hinten. Die Folgen waren erstaunlich. Der Reiter war darauf vorbereitet, mich von den Füßen zu holen und hinter sich herzuziehen, aber der unerwartete Ruck von meinem Ende des Seils riß ihn aus dem Sattel und ließ ihn kopfüber ins Gras stürzen. Das Pferd blieb stehen und begann zu grasen. Ich eilte zu dem gestürzten Mann. Als ich ihn umdrehte, war ich noch erstaunter, ihn tot zu sehen. Der Sturz hatte sein Genick gebrochen! Das fügte allem ganz neue Aspekte hinzu. Die Bekleidung des Mannes würde mich gegen extreme Temperaturen einigermaßen isolieren, denn die Mittagshitze der Steppe lahmte mich fast völlig, und die Nachtkühle ließ mich bis zur Bewegungslosigkeit erstarren. Deshalb nahm ich mir Fellhut, Schaffelljacke und Fellstiefel des Mannes. Die Hosen verschmähte ich, da es zu unbequem gewesen wäre, meinen Schwanz hineinzuquetschen. Auch die Waffen des Mannes, seinen Feuerstein und sein Messer. nahm ich an mich. Das Pferd versuchte ich einzufangen. Von meinem Aussehen und meinem Geruch abgestoßen, entfernte es sich, wenn ich mich ihm näherte. Aber zugleich schien es nur ungern die Umgebung des Wasserlochs zu verlassen. Ich verfolgte es -137-
Runde um Runde, immer im Kreis um die Bäume herum; aber vom Hunger geschwächt, konnte ich es nicht fangen. Da fiel mir das Lasso ein. Ich hatte die Kunst, Schlingen zu werfen, noch nie geübt, und als ich es zum ersten Mal versuchte, wickelte ich nur das Seil um meine Beine und brachte mich selbst ins Straucheln. Einige Stunden Übung befähigten mich jedoch, einen einigermaßen guten Wurf bis zu sechs Metern zustande zu bringen. Und so gelang es mir schließlich, nahe genug heranzukommen, um die Schlinge über den Kopf des Pferds zu werfen. Dann führte ich es zurück zum Wasserloch und band es an einen Baum. Den Toten aß ich, erfreut darüber, daß ich mein Mahl zur Abwechslung einmal kochen konnte. Einige Erstebener wären entsetzt davon und würden mich als Todfeind der Menschheit einschätzen, aber ich kann ihre unlogischen und widersprüchlichen Tabus nicht ernst nehmen. Der Mann hat seinen Tod durch den Angriff auf mich selbst verursacht. Seine Seele würde wahrscheinlich zu jener Erstebenen-Nachwelt gehen, wo alles mit Maschinen erledigt wird. Wenn er für seinen Körper schon keine Verwendung mehr hatte, ich hatte es gewiß. Da ich die Empfindsamkeit der Menschen über das Verzehren ihrer eigenen Art aber kannte, begrub ich die Überreste des Toten. Es würde schon schwer genug sein, diese Barbaren in ein rationales Gespräch zu ziehen, ohne ihnen noch zusätzlichen Grund zur Feinseligkeit zu liefern. Dann bestieg ich das Pferd und lenkte es nach Nordwesten. Laut der Karte, die ich einmal besessen hatte, war das der Weg zur Khan Theoriks Horde. Völlig sicher konnte man nie sein, denn alle paar Wochen packte der Stamm seine Habseligkeiten zusammen und zog auf der Suche nach frischem Gras für die Herden weiter. Am zweiten Tag nach der Begegnung am Wasserloch erblickte ich links von mir einen anderen Reiter. Seine Richtung -138-
wies mehr nach Norden, so daß unsere Bahnen sich kreuzten. Wie der erste Nomade trug er einen Fellhut und eine Schaffelljacke. Als der Mann und ich einander näher kamen, winkte ich. Hier, dachte ich, ist der Mann, der mir den Weg zur augenblicklichen Lagerstätte des Stamms zeigen wird. Der Mann winkte zurück, und ich glaubte, einen freundlichen Kontakt zustande gebracht zu haben. Als wir uns näher kamen, rief ich in meinem gebrochenen Shvenisch: “Sir, würden Sie mir bitte die Richtung zum Lager des Khan Theorik weisen?” Jetzt waren wir etwa zwanzig, dreißig Schritte voneinander entfernt. Offenbar war der Mann kurzsichtig, denn er schien erst jetzt zu bemerken, daß das Gesicht unter dem Fellhut alles andere als das eines Stammesgenossen war. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen, und er schrie etwas wie: “Hinfort, scheußlicher Dämon!” Er zog den Bogen aus dem Bogenhalter und griff zitternd nach den Pfeilen im Köcher. Auch ich hatte Bogen und Köcher, aber da ich im Bogenschießen völlig unerfahren war, hatte ich keine Hoffnung, ihn zu treffen, bevor er mich durchlöcherte. Vor allem aber wollte ich einen Führer und nicht noch eine Leiche. Meine nächsten Handlungen waren ziemlich unnormal. Hätte ich innegehalten, um sie rational zu planen, ich bin sicher, ich hätte das Vorhaben als tollkühn von vorneherein aufgegeben. Ich hatte das Manöver, das ausgesprochen schwierig war, noch nie probiert. Aber wie wir Dämonen sagen: dem Furchtlosen winkt oft das Glück. Ich stieß die scharfen Kanten der schweren Eisensteigbügel, welche die Shveniten anstelle von Sporen benutzten, meinem Pferd in die Flanken. Als das Tier lossprang, jagte ich auf den berittenen Shveniten zu. Als dieser noch immer dabei war, seinen Pfeil aufzulegen, hatte ich ihn schon fast erreicht. Und dann stützte ich mich mit den Händen ab - ich hatte das bei -139-
Madame Dulnessa in Bagardos Zirkus gesehen -, packte den Sattelknauf und brachte die Füße hoch. Im Nu stand ich aufrecht auf dem Rücken des galoppierenden Pferds. Hätte ich auch nur wenige Meter zurücklegen müssen, wäre ich mit Gewißheit gestürzt. Doch inzwischen berührten sich die beiden Pferde beinahe schon. Ich sprang von dem Sattel, auf dem ich stand, auf den Rücken des anderen Pferdes und glitt in Reitposition hinter den anderen Reiter. Ich packte seinen Hals mit beiden Händen, drückte die Spitzen meiner Klauen unterhalb seines Barts in seine Kehle und schrie in sein Ohr: “Bring mich zu deinem Führer!” “Ich bringe dich schon hin!” rief er mit erstickter Stimme. “Nur hör bitte auf, deine Klauen in meinen Hals zu bohren, sonst öffnest du meine Adern und bringst mich um!” Ich ließ ihn in seine Richtung weiterreiten. Der arme Kerl merkte gar nicht, daß ich aufgrund meines gerade eingegangenen Wagnisses vor Entsetzen ebenso schwach war wie er ob meines ungewöhnlichen Anblicks. Die Mobilstadt der Hruntings erinnerte mich an das Lager der Paaluaner und irgendwie auch an das Dorf der Zapperatz. Die Häuser unterschieden sich jedoch, hier bestanden sie aus Fellen, die über ein halbkugelförmiges Gitterwerk aus Stäben gebreitet wurden. Rund um diese Ansammlung grauer Kuppeln waren Geländeabschnitte für besondere Zwecke markiert; unter anderem bemerkte ich eine Pferdebahn, einen Bereich zum Bogenschießen und eine Anlage für Kriegsmammuts. Die Nomaden, ihre Frauen und Kidner schwärmten durch die Ansammlung von Fellzelten, zwischen denen auch Hunderte großer, vierrädriger Wagen abgestellt waren. Während mein Gefangener sein Reittier durch die Lücken zwischen diesen Hindernissen dirigierte, flogen ständig Schreie zwischen ihm und den übrigen Nomaden hin und her. Mein Mann rief: “Bleibt weg! Nicht so nah! Mischt euch nicht ein, sonst bringt er mich -140-
um!” In der Mitte der Zeltstadt stand ein Zelt von doppelter Größe mit einem freien Platz rundherum. Davor standen zwei Pfähle mit Pferdeschwänzen, menschlichen Schädeln und anderen Emblemen nomadischer Souveränität. Zwei Hruntings in Harnischen aus gefärbtem Leder standen vor dem Zelt des Khans Wache; oder besser, sollten Wache stehen. Einer saß mit dem Rücken an einen der Pfähle gelehnt, er schlief, den Kopf auf den Knien. Der andere saß mit dem Rücken gegen den anderen Pfahl; er schlief nicht, sondern drehte gemächlich einen kleinen Holzkreisel mit Daumen und Zeigefinger auf dem harten Boden. Auf das Schreien meines Gefangenen hin erhoben sich beide Wachen hastig. Nach einem Wortwechsel mit meinem Gefangenen kroch der Posten mit dem Kreisel in das Zelt und kehrte bald mit der Mitteilung zurück, daß der Khan mich auf der Stelle zu sehen wünschte. Ich sprang vom Pferd und ging auf den Eingang zu. Auch mein Gefangener stieg ab und drang mit gezücktem Schwert und Drohungen ausstoßend auf mich ein. Ich zog meine Klinge zur Hälfte heraus, aber in diesem Augenblick griffen die Posten ein. Sie stießen ihn mit ihren Speerhälften zurück; während sie sich noch schreiend unterhielten, trat ich ein. Ein Teil des übergroßen Zelts war als Audienzzimmer abgeteilt. Als ich hineinkam, bemühten sich der Khan und zwei weitere Wachen gerade um amtliche Haltung und um einen Gesichtsausdruck ernster Würde. Der Kahn saß auf einem Sattel, der durch einen Holzblock ein Stück vom Boden entfernt war; das vermittelte dem Besucher den Eindruck eines furchtlosen Führers unerschrockener Reitertruppen. Auf jeder Seite des Khans stand, mit Speer und Schild, ein Wachtposten in fantastischer Aufmachung; Plättchen aus vergoldetem Kupfer waren auf die Lederharnische genäht. -141-
Khan Theorik war ein älterer Hrunting, so groß wie ich und ausgesprochen fett; ein mächtiger weißer Bart kräuselte sich über seine Brust. Er trug ein Purpurgewand, bestickt mit Seidenmustern aus dem fernem Iraz. Goldene Ringe, Ketten und anderer Flitter zierten seinen Hals und seine Arme. Wie mir vorher eingeschärft worden war, sank ich auf alle viere nieder und berührte den Teppich mit der Stirn. In dieser ungelenken Haltung blieb ich, bis der Khan sagte: “Steh auf! Wer bist du, und was willst du?” “Wenn Eure Schrecklichkeit”, sagte ich, “einen Dolmetscher für Novarianisch beteiligen könnte, da ich nur wenig Shvenisch verstehe...” “Wir sprechen auch Novarianisch, unser guter... tja, wir können schlecht sagen,›unser guter Mann‹, was? Ho ho ho!” Theorik schlug sich auf den Bauch und lachte schallend. “Man sagt sogar, wir sprechen es perfekt. Also werden wir in dieser Sprache fortfahren.” Tatsächlich sprach der Khan Novarianisch mit einem so breiten Akzent, daß ich es kaum besser als sein Shvenisch verstehen konnte. Ich hielt es allerdings nicht für klug, meine Meinung darüber zu äußern. Ich berichtete über die Hintergründe meines Besuchs in Shven. “So”, sagte Theorik, als ich fertig war, “das geldgierige Syndikat will also, daß wir sie vor der Furcht ihrer eigenen Habgier und Feigheit retten? Jedenfalls behauptest du das. Wo sind deine Beglaubigungsschreiben, und wo ist das schriftliche Angebot des Syndikats?” “Wie ich Euer Schrecklichkeit bereits gesagt habe, haben die Höhlenmenschen der Ellornas alle meine Papiere genommen, als sie mich gefangenhielten.” “Welchen Beweis hast du dann?” Er wackelte mit seinem dicken Zeigefinger. “Wir machen kurzen Prozeß mit Leuten, die uns betrügen. Sie finden sich leicht mit spitzen Pfählen im Arsch -142-
wieder, ho ho ho!” Mit einer gewaltigen Gedankenanstrengung fand ich eine Lösung für dieses Problem. “Großer Khan, vor der Invasion dienten einige hundert Hruntings in Ir als Söldner. Nach der Schlacht marschierten diese Männer in ihr Heimatland zurück. Einige werden sich daran erinnern, mich in Ir gesehen zu haben.” “Das werden wir prüfen. Rodovekl” “Ja, Sir?” sagte ein amtlich wirkender Hrunting, der aus einem durch Vorhänge abgetrennten Gang trat. “Sorge dafür, daß Meister Zdim so untergebracht wird, wie es einem Botschafter angemessen ist. Sorge auch dafür, daß er vor Angriffen von außen bewacht wird - und vor Fluchtversuchen von drinnen. Wenn er sich tatsächlich als Botschafter herausstellt, schön und gut; wenn nicht, ho ho ho! Nun denn, Meister Zdim, bei Sonnenuntergang wirst du hierher zurückkehren, wenn unsere Anführer und wir eine betrunkene Stammes-Ratsversammlung abhalten. Dann werden wir deinen Vorschlag diskutieren.” “Entschuldigen Sie, Sir, aber sagten Sie›betrunkene StammesRatsversammlung‹?” “Gewiß. Du mußt es wissen, bei uns ist es Sitte, alles in zwei Versammlungen zu diskutieren; die erste betrunken, damit die Gedanken ungehemmt und furchtlos geäußert werden, die zweite nüchtern, damit Vernunft und Klugheit zum Tragen kommen. Die nüchterne Ratsversammlung wird am Morgen stattfinden. Laß es dir gutgehen, Echsenmann; du hast die Erlaubnis zu gehen.” Mein letzter Blick auf Khan Theorik bei dieser Gelegenheit zeigte mir seinen beiden Wachen, die den ächzenden und stöhnenden Kahn aus dem Sattel hoben, den er als Thron benutzte. Die betrunkene Versammlung fand in einem Pavillon auf der -143-
freien Fläche hinter des Khans Behausung statt. Anders als bei dieser handelte es sich um ein Leinwandzelt, wie das Hauptzelt von Bagardos Zirkus von Pfählen und Haltetauen gestützt. Es kam mir tatsächlich bekannt vor. Es beherbergte gut fünfzig Häuptlinge und andere führende Stammesmitglieder, die noch schlimmer als die Zapperatz stanken. Als man mich zu meinem Platz gebracht hatte, war mein Tischgenosse auf der einen Seite ein äußerst hochgewachsener, kräftiger junger Hrunting, dessen glänzendes goldfarbenes Haar ihm bis auf die Schultern fiel. Er war Prinz Hvaednir, ein Neffe des Khans. Da er zum selben Königsclan wie Theorik gehörte und der stärkste und bestaussehende Mann des Clans war, wurde er als der nächste Herrscher der Hruntings angesehen. Da er nur wenige Worte Novarianisch sprach, wechselten er und ich nicht mehr als ein paar belanglose Höflichkeiten. Mein Nachbar auf der anderen Seite, Prinz Schnorri, war klein und fett. Auch er gehörte zum Königsclan. Vor allem aber sprach er fließend Novarianisch, da er die Sprache an der Akademie von Ottoman studiert hatte. Zu ihm machte ich eine Bemerkung über das vertraute Aussehen des Zeltes. “Das ist kein Wunder”, sagte Schnorri. “Und ich gehe nicht fehl, daß es sich um dasselbe Zelt handelt, welches ihr Zirkuschef benutzte. Als seine Habseligkeiten versteigert wurden, brachte ein reisender Händler es über die Ellornas und verkaufte es an den Khan. Er argumentierte, es würde bei geringerem Gewicht und weniger Packlast mehr Essensgäste aufnehmen als jedes unserer traditionellen Rundzelte aus Stäben und Fell. Das Geschäft verursachte viel Geschrei unter den Hruntings. Einige sagten: Kauf das Zelt, es repräsentiert den Fortschritt. Der Fortschritt läßt sich nicht aufhalten, und unsere einzige Verteidigung ist es mitzumachen. Andere sagten: Nein, die alten erprobten Methoden sind die besten. Außerdem würde man sich durch den Kauf von wichtigen Dingen von den Novarianern -144-
abhängig machen, welche uns mit ihrer Gier und durch allerlei Kniffe bald zu Bettlern machen würden. Wie Sie sehen, hat die Partei des Fortschritts obsiegt.” Die Versammlung begann mit einem Abendessen. Anders als die Novarianer kauten die Shveniten laut und mit offenem Mund. Die Frauen stellten gewaltige Trinkkrüge auf die Tische und füllten sie mit Bier. Der Khan und seine Häuptlinge fingen zu saufen an. Dann waren Trinksprüche fällig. Der shvenische Brauch unterscheidet sich von dem novarianischen. Novarianer trinken dem zu, den sie ehren wollen; der so Geehrte bleibt sitzen und hält sich zurück, während seine Tischgenossen aufstehen und zusammen auf ihn trinken. Ein Shvenite jedoch steht auf, protzt mit seiner Tapferkeit und trinkt auf sich selbst. Zum Beispiel stand ein kräftiger Bursche mit gebrochener Nase auf, rülpste und deklamierte folgendes: “Wer hat die vordersten Reihen in jeder Schlacht geführt? Ich, der furchtlose und unbesiegbare Shragen! Wer hat fünf Gendings in der Schlacht am Ummel mit einer Hand getötet? Ich, der mächtige und tapfere Shragen! Wer hat das Ringturnier unter den Clans im fünften Jahr der Herrschaft von Khan Theorik, auf den die Götter stets lächeln wollen, gewonnen? Ich, der wilde und furchtbare Shragen! Wessen Ehrgefühl verläßt ihn niemals? Meines, das des edlen und tugendsamen Shragen! Kann sich irgendein Krieger mit dem unvergleichlichen und wohlgeliebten Shragen vergleichen? Nein, und deshalb trinke ich auf meine Herrlichkeit!” Und dabei stürzte er einen Krug Bier hinunter. Als der herrliche Shragen sich gesetzt hatte, stand ein anderer auf und trug eine ähnliche Ansprache vor, die Schnorri für mich übersetzte. Wie wir zu Hause so schön sagen: Hochmut kommt häufig vor dem Fall. Nachdem dies eine Stunde lang so gegangen war, waren die -145-
Häuptlinge der Hruntings allesamt betrunken. Schließlich hämmerte Khan Theorik mit dem Griff seines Dolchs auf den Tisch. “Zeit fürs Geschäft!” brüllte er. “Heute haben wir nur zwei Tagesordnungspunkte. Der eine ist die Klage von den Gendings, daß einer unserer tapferen Helden eine ihrer Schafherden gestohlen habe. Der andere ist der Vorschlag, den der Dämon Zdim von Ir gebracht hat - dieser drachenähnliche Knabe dort drüben zwischen Schnorri und Hvaednir. Zuerst die Schafe. Tritt vor, Meister Minthar!” Der Gending-Gesandte war ein Shvenite in mittleren Jahren, der vorbrachte, daß ein Gending von einer Bande Hruntingdiebe um fünfzig Schafe beraubt worden war. Khan Theorik befragte Minthar. Nein, der Bestohlene hatte die Diebe nicht gesehen. Woher wußte er dann, daß es Hruntings waren? Von der Beschreibung ihrer Kleidung und ihrer Pferdedecken durch den Schafhirten, und von der Richtung, in die sie geflohen waren... Nach etwa einstündigem Verhör, während dessen einige Häuptlinge einschliefen, beendete Theorik die Prozedur. “Genug!” brüllte er. “Du hast keinen schlüssigen Beweis vorgebracht. Wenn die Gendings mehr Schafe brauchen, können sie sie von uns kaufen.” “Aber Eure Schrecklichkeit, für uns ist das eine gewichtige Angelegenheit”, protestierte der Gesandte. Theorik rülpste. “Hinweg, elender Wicht! Wir glauben kein Wort von deiner Geschichte. Jeder weiß, was für Lügner die Gendings sind...” “Jeder weiß, was für Diebe die Hruntings sind, meint Ihr!” schrie der Gesandte. “Das bedeutet wieder Krieg!” “Du beleidigst und bedrohst uns in unserem eigenen Zelt?” donnerte Theorik. “Wachen, packt diesen bresthaften Knaben! Ab mit seinem Kopf!” -146-
Wachen zerrten den schreienden strampelnden Minthar aus dem Zelt. Unter den Häuptlingen entstand eine erregte Diskussion. Mehrere versuchten gleichzeitig auf den Khan einzureden. Einige sagten, dies wäre der richtige Weg, mit diesem verräterischen Abschaum umzugehen; andere meinten, die Person eines Botschafters müßte ohne Ansehen der Botschaft respektiert werden. Indem sie lauter als die anderen schrien, gewann letztere Gruppe das Ohr des Khan für sich. “Ja, ja, wir verstehen, was ihr meint”, sagte Theorik. “Nun, denn, wir werden die Angelegenheit morgen, wenn wir wieder nüchtern sind, erneut beraten. Wenn Minthar eine weniger drastische Behandlung verdient...” “Khan!” schrie mein Tischnachbar Schnorri. “Minthar wird morgen nicht mehr in der Verfassung sein, besser behandelt zu werden.” Verblüfft schüttelte Theorik den Kopf. “Ach, jetzt begreife ich, was du meinst. Wachen! Unser letzter Befehl wird ausgesetzt, was das Enthaupten... oh, oh, zu spät!” Ein Wachposten war gerade ins Zelt getreten. Er hielt am ausgestreckten Arm den tröpfelnden Kopf des Botschafter Minthar. Theorik sagte: “Ein prächtiger Jux, hohoho! Bei Greipneks Eiern, wir werden uns eine Entschuldigung oder Ausrede für Khan Vandomar ausdenken müssen. Der zweite Tagesordnungspunkt betrifft den Vorschlag, den der Dämon Zdim aus Ir mitgebracht hat...” Theorik faßte meinen Vorschlag zusammen. “Zuerst vermuteten wir einen Sitzlingstrick”, sagte der Khan, “denn Zdim hatte keinerlei Beglaubigungsschreiben oder sonstigen Belege bei sich; er behauptete, sie wären von den Zapperatz gestohlen worden. Einige unserer Männer, die in Ir gedient haben, bestätigen aber, daß Zdim sich dort im Dienst einer Dame der Stadt aufgehalten hat. Daher sind wir geneigt, ihm zu glauben. Schließlich ist schwer einzusehen, welches Motiv sonst -147-
ihn hätte dazu veranlassen können, eine so lange und mühsame Reise zu unternehmen. Aber jetzt soll er selbst zu euch sprechen. Seine Exzellenz Zdim!” Mit “Sitzung” meinte Theorik einen Nicht-Nomaden, wie einen Bauern oder Stadtbewohner. Die Nomaden benutzen den Begriff als Schimpfwort für alle Menschen mit sitzender Beschäftigung. Ich hatte einige Schwierigkeiten beim Aufstehen, denn Prinz Hvaednir war mit seinem Goldkopf auf meiner Schulter eingeschlafen. Als ich mich von ihm freigemacht hatte, unterrichtete ich die Häuptlinge über die Tatsachen, während Schnorri übersetzte. Ich war bei meinem Vortrag sehr behutsam, schließlich hatte ich ja gesehen, was einem Botschafter geschehen konnte, der diesen Haufen betrunkener Barbaren reizte. Die sich anschließende Diskussion nahm kein Ende. Weil die Beteiligten jetzt volltrunken waren, waren ihre Argumente weitgehend unwichtig oder unverständlich. Schließlich rief der Khan zur Ordnung. “Das ist alles für heute nacht, Kameraden”, sagte er. “Wir werden unsere Enscheiu... unschere Eschein... wir werden uns morgen bei der nüchternen Ratssitzung festlegen. Und jetzt...” “Ich bitte um Vergebung, Großer Khan, aber das ist noch nicht alles!” rief ein Hrunting, den ich als den Mann erkannte, den ich gezwungen hatte, mich zu der Zeltstadt zu führen. “Ich war bemüht, Eure Verhandlung nicht zu unterbrechen; aber jetzt, da sie vorbei ist, habe ich mit diesem Dämon noch etwas zu erledigen.” “Oho?” meinte der Khan. “Was wünscht Ihr, Meister Hlindung?” “Er hat meine Ehre gekränkt!” Hlindung berichtete von dem Zusammentreffen in der Steppe und davon, wie ich ihn gezwungen hatte, mich zur Unterkunft des Khans zu bringen. -148-
“Darum bezeichne ich ihn als widerliches, nichtmenschliches Ungeheuer und werde meine Worte auf der Stelle an seinem verkommenen, ekelhaften Körper beweisen! Stell dich, Dämon!” “Was bedeutet das?” fragte ich Schnorri. “Es bedeutet, Sie müssen auf Leben und Tod mit ihm kämpfen.” “Khan!” rief ich. “Wenn dieser Mann mich tötet, wie soll ich dann morgen die Vorschläge Irs unterbreiten?” “Darüber mach’ dir keine Gedanken”, sagte Theorik. “Ich habe die Vorschläge gehört, und ich bin sicher, daß auch Schnorri sie auswendig kennt. Derweil wird dieser Streit dem langen Abend ein amüsantes Ende bereiten. Wie nett, hohoho! Tritt hervor und gebe dein Bestes, Meister Zdim!” Mlindung schwankte vor dem Tisch des Khans nach hinten und vorn. Er trug ein Schwert, das er durch die Luft zischen ließ, und einen eisenbesetzten Lederschild. “Ich bin bemüht, Sie zufriedenzustellen”, sagte ich, “aber womit soll ich gegen ihn kämpfen?” “Mit dem, was du bei dir hast”, sagte der Khan. “Aber ich habe nichts bei mir!” protestierte ich. “Eure Wachen haben mich entwaffnet, als sie mich in Haft nahmen, und meine Waffen sind mir nicht zurückgegeben worden.” “Hohoho, wie komisch!” brüllte Theorik. “Was für ein Pech du hast! Ich kann nicht befehlen, daß man dir Waffen gibt, denn du könntest Hlindung damit verletzen, und dann hätte ich mich illoyal gegen einen Stammesgenossen verhalten. Na los, schiebt ihn nach vorn!” Meine Fühler nahmen zitternd die Gier der versammelten Häuptlinge, Blut fließen zu sehen, auf. Hvaednir wurde wach, er und ein anderer packten mich von hinten bei den Schultern und fingen an, mich hinter dem Tisch hervorzuschieben. -149-
“Was ist, wenn ich ihn töte?” schrie ich zum Khan. “Das wäre ein toller Jux, hohoho! Na ja, mich würde es nicht betreffen, denn du hättest ihn im fairen Kampf getötet. Seine Verwandten wären natürlich in Blutfehde mit dir und müßten dich umbringen, sobald sie deiner ansichtig werden.” Ehe ich wußte, wie mir geschah, stand ich vor Hlindung. Dieser ging in gebückte Stellung, hielt den Schild vor sich und begann auf mich zuzuschleichen; dabei machte er mit dem Schwert, auf dessen Klinge das gelbe Laternenlicht tanzte, kleine lockende Bewegungen. “Aber Eure Schrecklichkeit...”, setzte ich an, als Hlindung losstürmte. Obwohl ich den gewöhnlichen Erstebener an Kraft weit übertraf und weitaus stabiler gebaut war, machte ich mir nicht vor, daß Hlindungs Schwert einfach an meinen Schuppen abprallen würde. Da ich wenig Spielraum hatte, tat ich das einzige, um der tückisch aussehenden Klinge zu entgehen. Ich sprang über Hlindungs Kopf und landete hinter ihm auf dem Boden. Die Hruntings hatten tüchtig getrunken, während ich nur eine mäßige Menge Bier zu mir genommen hatte. Außerdem scheint Alkohol uns von der Zwölften Ebene weniger zu beeinflussen als Erstebener. Vielleicht könnten die Alchimisten den Grund dafür herausbekommen. Als Hlindung merkte, daß ich verschwunden war, hieb er, anstatt sich umzudrehen, an der Stelle, wo ich gestanden hatte, in die Luft. “Hexerei!” schrie er. “Teufelswerk!” Ich sprang von hinten auf ihn zu und packte den Kragen seiner Jacke und seinen Hosenboden mit meinen Klauen. Dann hob ich ihn von den Füßen und wirbelte ihn, mich auf meinen Hacken drehend, im Kreis herum. Bei der dritten Drehung ließ ich ihn mitten im Aufschwung los. Mit einem Aufschrei flog er gegen das schräge Zeltdach und geradewegs hindurch. Von -150-
draußen kam ein dumpfer Schlag. Einige Hruntings eilten hinaus. Kurz darauf kamen einige zurück und sagten: “Großer Khan, Hlindung ist nicht schwer verletzt. Er hat sich bei der Landung nur ein Bein gebrochen!” “Hohoho!” freute sich der Khan. “Mein braver Eisenfresser glaubt also, er könne sich mit Wesen von anderen Ebenen anlegen, was? Das wird ihn eines Besseren belehren. Jetzt wird er einige Monate außer Gefecht sein. Wenn er sich erholt und einen Revanchekampf fordern kann, Meister Zdim, wirst du gewiß woanders zu tun haben. Verdammt gerissen von dir, bei Greipneks Eingeweiden! Auch, wenn du dabei mein Zelt beschädigt hast. Und jetzt alles zu Bett; ich erkläre die betrunkene Ratsversammlung für beendet.” Die nüchterne Versammlung am nächsten Tag war weniger pittoresk, aber trotz der Katerstimmung einiger Häuptlinge vernünftiger. Die Shveniten offenbarten dabei sogar Verstandeskräfte, deren sich auch ein Dämon der Zwölften Ebene nicht zu schämen brauchte. Die Häuptlinge liebäugelten mit einer Expedition nach Ir, schwankten aber wegen der Drachen-Echsen. “Das Mammut ist eine großartige Waffe”, sagte einer, “aber die Tiere haben eine feige Abneigung gegen Wunden und Tod. Setzt ihnen einen ausländischen Anblick und Geruch vor, so wie Drachen, und schon geraten sie in Panik und fliehen durch die eigenen Reihen. Das versetzt die Reihen in Unordnung.” “Wir Dämonen”, sagte ich, “kennen einen Spruch: Die eigene Haut zu retten, ist ein Naturgesetz. Aber habt ihr keine Zauberer unter euch, die diese Ungeheuer zu harmlosen Tierchen machen können?” “Wir haben ein paar alte Hexen, aber sie können gerade Bauchschmerzen kurieren und das Wetter vorhersagen. Wir tapferen Nomaden trauen lieber unserem Schwert als den Kniffen der Magie.” -151-
“Würden die Paaluaner in Shven eindringen”, sinnierte ein anderer, “wäre es einfach. Wartet auf einen Kälteeinbruch, und ihre Drachen, die ja kaltblütige Reptilien sind, würden zum Stillstand gebracht, wenn die Kälte sie steif frieren ließe.” “Das bringt mich auf eine Idee, wenn ich mir die Freiheit zu sprechen nehmen darf”, sagte ich. “Ich kenne einen Schamanen der Zapperatz - wenn›kennen‹das richtige Wort für einen Mann ist, der versucht hat, mich ihrem Gott zu opfern. Er hat einen Kältezauber in seinem magischen Arsenal; sie haben mich eigentlich erst gefangen, als dieser Yurog mich festfror, so daß ich mich nicht bewegen konnte. Also, könnten wie Meister Yurog überreden, seinen Zaubergegen die Paaluaner einzusetzen...” Dieser Vorschlag wurde von den Häuptlingen mit zustimmenden Rufen begrüßt. “Gut!” sagte der Khan. “Jedenfalls, wenn Meister Zdim diesen Wilden zu unserem Unternehmen verpflichten kann. Wir werden bis zum Nadelöhr marschieren und dann sehen, was seine Überzeugungskräfte bewirken. Und jetzt”, fuhr er fort, “etwas anderes. Wir haben immer noch keinen schriftlichen Vertrag mit dem Syndikat, und wir wären Narren, würden wir uns ohne eine feste Vereinbarung für die Irianer ausbluten. Wir kennen diese Gauner nur zu gut. Wir könnten die halbe Nation für sie opfern, aber wenn wir kein Stück Pergament vorzuzeigen hätten, würden sie sagen:›Wir schulden euch nichts; wir haben nie in eure Hilfe eingewilligt. ‹“ Der Khan fand allgemeine Zustimmung. Da fast alle Shveniten Analphabeten sind, besitzen sie abergläubische Achtung für das geschriebene Wort. Außerdem bezweifelte ich nach dem, was ich vom Syndikat gesehen hatte, keineswegs, daß die Befürchtungen der Shveniten, geprellt zu werden, ihre Herkunft aus Tatsachen hatten. Am Ende wurde beschlossen, als erstes ein Expeditionskorps -152-
mit fünftausend Kriegern und hundert Mammuts bis zum Nadelöhr zu senden. Könnte ich Yurog verpflichten, würde das Korps dann weiter durch Solymbria marschieren, das wohl nicht in der Lage sein würde, den Durchmarsch nach Ir zu verhindern. Nach einigem Feilschen einigten wir uns im wesentlichen auf die Bedingungen, die das Syndikat angeboten hatte: eine Mark pro Mann und Tag, sechs Pence für jedes Mammut und ein Maximum von einer Viertelmillion Mark. Sie bestanden darauf, zusätzlich ein Minimum von hunderttausend Mark zu vereinbaren; dem stimmte ich zu. Bevor wir jedoch die Paaluaner angriffen, sollten wir jeden Versuch unternehmen, eine schriftliche Zusage der Irianer zu bekommen. Was das bei dem paaluanischen Belagerungsring um Ir zu verwirklichen war, blieb bis zu unserer Ankunft dort abzuwarten. Schließlich sagte Theorik: “O Hvaednir, da du möglicherweise eines Tages nachfolgst, ist es an der Zeit, daß du die Kunst selbständigen Kommandierens erlernst. Deshalb wirst du diesen Feldzug führen. Ich werde dir einen fähigen Kriegsrat mitgeben, der aus kampferprobten Kommandanten besteht, und empfehle dir, ihren Rat zu beachten.” “Ich danke dir, Onkel”, sagte Prinz Hvaednir.
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X. General Ulola Wir marschierten zum Nadelöhr. Unsere Vorhut fing einen Zapperatz, sagte ihm, wir wollten mit Yurog dem Schamanen verhandeln, und ließen ihn wieder frei. Bald darauf erschien Yurog. Eine Bezahlung von zehn Ochsen an den Stamm - fünf sofort und fünf nach dem Feldzug - überredeten ihn mit Leichtigkeit, sich uns anzuschließen. Als wir auf dem Rücken eines Mammuts die Südseite des Passes hinabschwankten, vertraute der alte Bursche mir an: “Ist schön, Schamane sein; aber ich wollen sehen Zivilisation, kennen große Zauberer, lernen höhere Magie. Nach soviel Jahr, Felsenberge und unwissende Höhlenmenschen ist große Langeweile.” An der solymbrianischen Grenze hatten wir uns mit dem Problem zu befassen, wie die Solymbrianer zu behandeln waren. Ich sagte zu Schnorri: “Ich glaube, sie können eure Armee auf ihrem Marsch nach Ir nicht aufhalten, denn sie sind völlig desorganisiert, weil sie ein Spatzenhirn als Archonten haben. Aber sie werden schon in Kürze eine neue Wahl haben, und diesmal kann das Los auf einen fähigen Mann fallen. Wenn Hvaednir seine Männer rauben, schänden und töten läßt, müßt ihr euch den Rückweg nach dem Feldzug vielleicht erkämpfen.” Bei der nächsten Sitzung des Kriegsrats brachte Schnorri das Thema zur Sprache (ich nahm an dieser Sitzung als der Repräsentant von Ir teil). Ein Anführer sagte: “Wer ist das Hasenherz, der uns dazu bringen will, widerliche Sitzlinge mit Samthandschuhen anzufassen? Hinfort mit ihm! Wenn unsere tapferen Kerls die solymbrianischen Dirnen besteigen, dann ist das ein Vorzug für die Solymbrianer, weil wir unser Heldenblut in ihre degenerierten Adern flößen.” “Selbst eine Ratte beißt, wenn sie in die Enge getrieben ist”, sagte ein anderer. “Deshalb stimme ich Prinz Schnorri zu. Wenn -154-
wir diese solymbrianischen Ratten zu weit treiben, werden sie sich sicher rächen. Was nützt es uns, wenn wir zehn von ihnen für einen von uns töten? Dieser eine Mann, der sterben würde, ist weit mehr wert, wenn wir wieder in der Steppe sind, falls der Krieg mit den Gendings wieder auflodert.” “Ach, fickt doch die Solymbrianer!” sagte der erste. “Wir gehen durch sie durch wie ein heißes Messer durch Butter. Hast du vergessen, wie wir Boaktis City in den Tagen des Khan Yngnal geplündert haben, während die Sitzlinge wie die Karnickel vor uns geflohen sind?” Schnorri sagte: “Ich erinnere mich auch, wie unsere Armee auf dem Rückzug über die Ellornas war und uns die verbündeten Truppen der Boaktianer, Tarxianer und Solymbrianer angriffen und uns den größten Teil unserer Beute abnahmen.” Und so ging es hin und her, und Prinz Hvaednir hörte zu. Dieser junge Mann erschien mir nicht sonderlich intelligent, auch wenn ich inzwischen genug Shvenisch gelernt hatte, um mich mit ihm zu unterhalten. Bislang hatte er jedoch den Empfehlungen seiner Häuptlinge zugehört und war ihnen mehr oder weniger gefolgt. Schließlich sagte er: “Ich werde dem Rat meines Cousins Schnorri folgen. Befehlt den Kriegern, auf der Hauptstraße zu bleiben; Streitereien werden ernstlich bestraft. Darüber hinaus werden sie für alles, was sie den Solymbrianern abnehmen, den geforderten Preis bezahlen. Diebstahl und Tätlichkeiten werden mit dem Verlust der Hand bestraft; Schändung mit Kastration; Mord mit dem Verlust des Kopfes.” Das rief einigen Widerspruch hervor, und einige Krieger schienen den Befehl nicht ernst zu nehmen. Nachdem einer seinen Kopf wegen eines Mords verloren hatte, wurden die übrigen ruhiger und gehorchten den Anordnungen. Zuerst flohen die Solymbrianer in Panik vor der HruntingArmee. Als sie merkten, wie gut die Nomaden sich benahmen, kehrten die meisten zu ihrem Domizil zurück. Ein Heer von -155-
Marketendern, Artisten und Huren versammelte sich, um den Wünschen der Krieger zu Diensten zu sein. Von einigen von ihnen erfuhr ich, daß Ir immer noch standhielt. Diese Nachricht war nicht taufrisch, weil das ganze Land rund um Ir City von menschlichem Leben entblößt war. Einige der Leute waren von Trupps paaluanischer KänguruhKavallerie, die sich auf Futtersuche befanden, ergriffen und mitgenommen worden, um gegessen zu werden. Die anderen Bewohner hatten, als sie vom Schicksal ihrer Landsleute erfahren hatten, eine möglichst große Entfernung zwischen sich und Ir gebracht. Als wir an Solymbria City vorbeimarschierten - klugerweise hatte die Stadt ihre Tore vor uns verschlossen -, trafen wir auf ein Lager manischer Flüchtlinge. In Sichtweite des Lagers machten wir Rast für die Nacht, und eine Delegation der Irianer machte unserem Kommandanten ihre Aufwartung. “Wir wollen uns Eurer Armee anschließen, um unsere Hauptstadt zu befreien”, sagten sie. Erneut übersetzte Schnorri. Als Hvaednir nicht zu wissen schien, wie er dieses Angebot bewerten sollte, schlug Schnorri vor, den Kriegsrat einzuberufen. So geschah es. Einer der Anführer sagte: “Wieviel seid ihr?” “Vielleicht fünfhundert, Sir.” “Wie seid ihr bewaffnet?” fragte ein anderer. “Oh, wir haben keine Waffen, Sir. Dafür sind wir zu überstürzt geflohen. Wir haben gedacht, Eure wohlgerüstete Armee könnte uns mit Waffen versorgen.” “Wie viele sind kampferprobte Krieger?” fragte ein dritter. Jetzt sah der Sprecher der Irianer ziemlich niedergeschlagen aus. “Keiner, Sir. Wir sind friedliebende Leute, die ihre Felder bestellen und ihren Geschäften nachgehen wollen.” Ein -156-
Hrunting machte eine spöttische Bemerkung in seiner Sprache, aber der Irianer fuhr fort: “Aber wir entbrennen in patriotischer Glut, welche unseren Mangel an Erfahrung wettmacht.” Ein Häuptling sagte: “Ich fürchte, mit solch einer Truppe von Transusen könnte man vielleicht einen Sturmangriff, aber keinen Feldzug durchführen. Wie seid ihr beritten?” “Überhaupt nicht, Sir. Sicher, einige haben Pferde mitgebracht; aber das sind nur Kutschpferde und Bauerngäule und nicht für kriegerische Auseinandersetzungen geeignet. Wir wollten als Fußsoldaten dienen.” Hvaednir ergriff das Wort: “Wir sind eine vollständig berittene Armee. Jeder außer den Mammutreitern hat wenigstens zwei Pferde. Was würde uns ein Bataillon unausgebildeter Infanterie nützen? Ihr könntet nicht einmal mit uns Schritt halten.” Einige Häuptlinge warfen ein: “Die Pest über sie! Wir brauchen keinen Haufen feiger Sitzlinge!” “Genau, sie würden nur im Weg rumstehen!” “Unsere Ehre verlangt, daß wir den Ruhm dieses Feldzugs allein einheimsen.” “Packt die Taugenichtse doch einfach ein, Prinz!” Die Irianer verstanden die Worte nicht, begriffen aber den Tonfall und wirkten unermeßlich traurig. Als sie sich zum Aufbruch vorbereiteten, sagte ich: “Meine Herren, Sie wissen nicht, was Sie in Ir vorfinden. Die Paaluaner haben wahrscheinlich starke Verteidigungsanlagen um ihre Stellungen. Um diese anzugreifen, sind eure Tiere, wenn ich die ErstebenenGeschichte richtig lese, nicht von Nutzen. Ihr müßtet selbst eine Belagerung anzetteln, und das ist eine langwierige und mühselige Angelegenheit. Während ihr eure Vorbereitungen trefft, könnten die manischen Flüchtlinge aufschließen. Wenn ihr ihnen einen -157-
Exerziermeister zur Verfügung stellt, der Novarianisch spricht, könnte er sie auf dem Vormarsch ausbilden. Wenn die Zeit kommt, ein befestigtes Lager anzugreifen, werdet ihr merken, daß ein Fußsoldat so gut wie der andere ist.” Erneut entbrannte die Diskussion der Anführer. Die meisten von ihnen waren immer noch dagegen, die Irianer zu bewaffnen, auch wenn Schnorri und zwei weitere auf meine Seite kamen. Schließlich sagte Hvaednir: “Nun gut, da die Argumente ausgeglichen sind, wollen wir die Götter entscheiden lassen.” Er nahm eine Münze aus seiner Börse, schnippte sie hoch, fing sie auf und klatschte sie auf den Handrücken. “Kopf”, sagte er. “Die Irianer sollen nach dem Vorschlag des Dämon bewaffnet und gemustert werden. Ich habe gesprochen.” Es wurde heiß, als wir uns auf dem Marsch durch verlassenes Land Ir näherten. Die schwere Kleidung der Hruntings war für diese drückende Witterung ungeeignet. Die Männer ritten mit entblößtem Haupt und Oberkörper und beklagten sich dann über Sonnenbrand. (Die meisten Shveniten rasierten ihr Haupthaar bis auf einen Zopf ab; Hvaednir, der stolz auf seine goldenen Locken war, war einer der wenigen, der die volle Haarpracht trug. ) Der dicke Schnorri, an dessen rundlichem Körper der Schweiß in Strömen herabfloß, litt besonders viel. Fast alle klagten über Unwohlsein. Ich muß sagen, daß die Hruntings außerordentlich leistungsfähig waren, wenn es darum ging, eine Armee in Marsch zu setzen, Späher auszusenden oder ein Lager auf- und abzubauen. Die Häuptlinge mochten voll von fantastischen Ansichten über Ehre, Kühnheit und Überlegenheit sein, aber in praktischen Dingen waren sie sehr gewandt. Daher machte es nicht viel aus, daß Prinz Hvaednir ein ziemlich einfältiger junger Mann war. Solange er ihrem Ratschlag folgte, konnte er nicht viel falsch machen. Als wir uns dem Kyamos näherten, berichteten unsere Späher, -158-
daß die Paaluaner Ir City immer noch belagerten. Der Kyamos war wegen eines niedrigen Bergkamms zwischen dem Fluß und dem kleinen Vomantikon von Ir aus nicht zu sehen. Deshalb wurde beschlossen, heimlich und bei Nacht zum Kyamos vorzurücken und dort zu lagern; wir hofften, die Paaluaner würden unsere Anwesenheit nicht bemerken, bis wir zum Angriff bereit waren. Die Kannibalen schickten keine Späher auf Hüpfern mehr aus, um das Hinterland zu durchstreifen. Ich nehme an, sie hatten es aufgegeben, nach irgend etwas - oder besser: irgend jemand - Eßbarem zu suchen, und der Gedanke, nach einer Ersatzarmee Ausschau zu halten, war ihnen wohl nicht gekommen. Eines Abends rückte die Hrunting-Armee leise ins Tal des Kyamos, überquerte die Ziehbrücke und lagerte. Die Männer aßen eine kalte Mahlzeit, und alles wäre gut gegangen, hätte nicht eines der Mammuts einen schrillen, trompetenähnlichen Schrei ausgestoßen. Einige andere antworteten darauf, und wenige Minuten später berichteten unsere Späher, daß ein Trupp Paaluaner auf Hüpfern mit Fackeln aus dem Lager aufbrach. Die Häuptlinge stellten eine größere Gruppe von Reitern ab, die sich mit ihnen befassen sollten. Die Hruntings zerstreuten die Paaluaner und töteten die meisten, aber einige gelangten ins Lager zurück. Jetzt wußten die Kannibalen, daß eine feindliche Streitmacht in der Nähe war, aber sie wußten nicht, um was für eine Truppe es sich handelte. Die Häuptlinge versuchten sie daran zu hindern, das herauszufinden. Sie postierten Wachen auf dem Kamm zwischen Ir und dem Kyamos und ließen berittene Patrouillen die höher gelegenen Punkte des Landstrichs Tag und Nacht bewachen. Einige paaluanische Späher mochten unser Lager gesehen haben, aber aus so großer Entfernung, daß es ihnen nicht viel nützte. Am zweiten Abend nach unserer Ankunft trat der Kriegsrat zusammen. Ein Häuptling berichtete: “Unsere Späher berichten -159-
mir, daß die paaluanischen Soldaten den ganzen Tag mit Hacken und Schaufeln rund um das Lager an der Arbeit sind, um die Befestigungsanlagen zu verstärken. Einige heben Löcher aus und befestigen Pfähle auf ihrem Grund; andere bauen Barrikaden aus angespitzten Ästen; einige heben Gräben aus und errichten Erdwälle. Wir sollten sofort angreifen, ehe die Wilden ihr Lager uneinnehmbar machen.” “Nein!” sagte ein anderer. “Wir sind die verwegensten Reiter der ganzen Welt; aber unbeholfen, wie wir zu Fuß sind, würden wir uns einem endlosen Abschlachten aussetzen. Besser, wir schneiden ihre Versorgung ab und hungern sie aus.” “Und hungern dabei die Irianer zu Tode”, ergänzte ein anderer. “Na und? Wenn die feigen Sitzlinge alle tot sind, können wir uns von ihren Reichtümern bedienen.” “Das wäre ein ehrloser Ratschlag!” “Kameraden!” sagte ein weiterer. “Konzentrieren wir uns auf das aktuelle Problem! Die manischen Fußtruppen sind gerade noch einen Tagesmarsch hinter uns. Wenn wir ihre Ankunft abwarten, sind wir eher in der Lage, das Kannibalenlager zu stürmen. Natürlich stecken wir die Irianer in die erste Welle. Schließlich ist es ihre Stadt, sie sollten also nichts dagegen haben, für sie zu sterben.” Und so ging es weiter, hin und her. Schließlich bemerkte Prinz Hvaednir: “Kameraden, mein Onkel, der Khan, hat mich, bevor wir ausrückten, davor gewarnt, uns ohne eine feste Vereinbarung mit dem Syndikat über die Bedingungen ins Gefecht zu stürzen.” “Aber wie sollen wir zu dieser Vereinbarung kommen”, sagte ein Häuptling, “mit dem Ring der Paalüaner zwischen uns und dem Syndikat?” “Wir könnten unter ihnen weg oder über sie hinweg oder durch sie hindurch”, warf ein anderer Häuptling ein. “Von der -160-
Menge Felsen her, die es hier gibt, bezweifle ich, daß ein Tunnel möglich wäre.” “Und was den Weg obendrüber angeht”, sagte der nächste, “haben wir keinen Zauberer, der einen Boten in die Stadt hinein fliegen lassen kann und wieder hinaus? Ich habe von verzauberten Teppichen und Besenstielen gehört, die einen Mann tragen können.” Schnorri sagte: “Als ich als Student in Ottoman war, hat mir ein Lehrer erzählt, daß es solche Zauber gegeben hat. Aber nur die mächtigsten Magier beherrschen sie, und auch das nur mit kostspieligen Vorbereitungen, langwierigen Arbeiten und bei Erschöpfung ihrer ganzen Kraft und Energie. Wir könnten aber unseren Zauberer, Yurog den Zapperatz, fragen.” Yurog wurde geholt. Als man ihm den Vorschlag erklärt hatte, seufzte er. “Ich nicht so großes Zauberer. Ich nur kleines Stammesschamane. Ich hoffen, stärkeren Zauber in zivilisierten Ländern lernen, aber bisher noch nicht möglich.” Schnorri sagte: “Mein Freund Zdim hier, erinnere ich mich, ist von Ir heimlich und durch die Fähigkeit, seine Farbe zu wechseln, durch die paaluanischen Reihen gelangt. Wenn er es einmal geschafft hat, warum nicht noch einmal?” “Meine Herren, ich bin bestrebt, zu Ihrer vollsten Zufriedenheit tätig zu sein. Ich muß jedoch darauf hinweisen, daß diese Aufgabe schwerer und gefährlicher als vorher wäre. Wie wir auf der Zwöften Ebene sagen: Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht. Die Paalüaner errichten stärkere Verteidigungsanlagen...” Die Häuptlinge übertönten mich. “Hurra für Zdim!” “Zdim ist der Bote, dem wir vertrauen!” “Mit seinen Klauen klettert er wie ein Eichhörnchen über die -161-
Palisaden.” “Du bist zu bescheiden, edler Zdim; ein Nein nehmen wir nicht an.” Der Ratsbeschluß war einstimmig. Ich warf einen Blick auf Prinz Hvadnir in der Hoffnung, er würde ihnen widersprechen; in letzter Zeit hatte er mehr Unabhängigkeit an den Tag gelegt. Aber er sagte: “Ihr habt recht, Kameraden. Zdim soll den Vertrag in die Stadt bringen, die Unterschriften der Syndiki holen und ihn wieder herausbringen. Während er unterwegs ist, werden wir hier bleiben und die Kannibalen nicht zur Ruhe kommen lassen. Ich habe gesprochen.” Da ich keinen anderen Weg als den befohlenen sah, Ir zu dienen, nahm ich den Auftrag, wenn auch widerstrebend, an. Schreibmaterial wurde herbeigeschafft. Der gebildete Schnorri setzte in Shvenisch und Novarianisch einen Vertrag in zweifacher Ausfertigung zwischen der Armee der Hruntings und dem Syndikat von Ir auf. Die Bedingungen waren jene, auf die wir uns im Hrunting-Lager in Shven geeinigt hatten: eine Mark pro Mann und Tag und so weiter. Schnorri und ich unterzeichneten. Hvaednir setzte sein Zeichen darunter, das Schnorri und ich als Zeugen bestätigten. Bevor der Mond aufging, näherte ich mich dem paaluanischen Lager. Die Aufschüttungen, an denen die Belagerer gearbeitet hatten, bedeuteten kein großes Hindernis, da erst ein Bruchteil fertig war. Ich kroch auf allen vieren zwischen aufgeschütteten Erdhügeln und halb beendeten Arbeiten zum Hauptgraben und dem Wall. Erneut schlich ich mich, meine Haut mitternachtsschwarz, in das ringförmig angelegte Lager. Ich äugte, lauschte und schnüffelte nach Wachtposten und ihren verwünschten Echsen. Ich bewegte mich, wenn ich so sagen darf, leise wie ein Schatten. Ich hatte den Raum zwischen äußerem und innerem Wall zur -162-
Hälfte überwunden und umging gerade einen Holzstapel, als ich einen Posten herannahen spürte. Ich erstarrte vor den Holzklötzen. Er kam um die Ecke, eine Echse an der Leine neben sich. Ohne mich zu sehen, ging er vorbei. Aber seine Echse spürte meine Anwesenheit. Das Reptil blieb stehen und ließ seine Zunge hervorschnellen. Der Paaluaner, das Zerren an der Leine spürend, blieb ebenfalls stehen und wandte sich um. Als er einen Schritt zurück trat, streifte seine Hand über meine Schuppen. Die Hand zuckte zurück. Der Mann. starrte ins Dunkle und sprang mit einem Aufschrei fort. Als ihm weitere Rufe antworteten, begann ich zu rennen und kurvte um einige Hindernisse herum auf den inneren Wall zu. In einer Biegung nahm ich die Kurve allerdings zu eng. Ich stürzte über eine Zeltschnur und fiel strauchelnd zu Boden, wobei ich das halbe Zelt mitriß. Einen Augenblick später war ich wieder hoch, aber in genau diesem Augenblick tauchte ein Mann mit einer Fackel auf. Als ich wieder losrannte, schwirrte etwas durch die Luft und wickelte sich um meine Beine, um mich erneut zu Fall zu bringen. Es war eins dieser Geräte aus Steinkugeln, die man an Schnüren herumwirbelt. Ehe ich mich befreien konnte, schien die halbe paaluanische Armee sich auf mich zu stürzen. Mit zwei oder drei von ihnen wäre ich leicht fertig geworden, aber diese Burschen klammerten sich fest und hingen an meinen Gliedmaßen wie ein Schwärm dieser Erstebenen-Tiere, welche Ameisen genannt werden. Einen biß ich ins Bein, aber das hielt sie nicht davon ab, meine Arme und Beine mit soviel Stricken zu binden, daß man einen Mammut damit hätte fesseln können. Sogar meine Kiefer verschnürten sie so fest, daß ich sie nicht öffnen konnte. Dann trugen sie mich zu einem Pferch und warfen mich hinein. Mehrere Kannibalen standen mit gezücktem Speer um mich herum; sie fürchteten wohl, ich könnte mich aus meinen Fesseln loszaubern. -163-
In diesem Zustand verbrachte ich mehrere lange Stunden. Im Morgengrauen wurde ich wieder gepackt, zum größten Zelt getragen und vor dem Oberkommandierenden zu Boden geworfen. Dies war meine erste Gelegenheit, Paaluaner bei gutem Licht aus der Nähe zu sehen. Sie waren hochgewachsene Männer, die meisten sehr schlank, wenn es auch einige wenige Dicke unter ihnen gab. Sie hatten schwarze - oder zumindest sehr dunkelbraune Haut. Ihre Köpfe waren mit krausem schwarzen oder braunen Haar bedeckt, und sie trugen ebensolche Barte. Anders als die Novarianer und die Shveniten hatten sie kein Tabu gegen öffentliche Nacktheit. Außer einigen, die Teile von Lederrüstungen oder die Feder-Umhänge der hohen Offiziere trugen, liefen sie alle völlig nackt herum. Ihre dunkle Haut war mit fantastischen mehrfarbigen Mustern bemalt, ihre Lieblingsfarben schienen Rot und Weiß zu sein. Anders als die meisten Erstebener dachten sie nicht daran, ihre Geschlechtsorgane zu verbergen, im Gegenteil, sie bemalten sie mit kontrastreichen Farben, um sie noch auffälliger zu machen. Sie hatten eine niedrige Stirn und breite knochige Wülste über den Augen, auf denen die Brauen wuchsen, so daß ihre dunklen Augen stets aus kleinen Höhlen zu blicken schienen. Ihre Nase war extrem breit und flach und ohne Nasenrücken. Der Mund, der sich inmitten des krausen Barts öffnete, war sehr breit. Auf einer Trommel in der Mitte des Zeltes, umgeben von rangniederen Offizieren und Wachen, saß die zentrale Gestalt in diesem Gruppenbild. Er hatte einen üppigen krausen Bart, der von Schwarz ins Graue spielte. Um seinen Hals hing eine goldene Kette, an der unter seinem Bart eine große goldene Brosche oder ein Medaillon hing - vielleicht sein Rangabzeichen. Unter den Gefolgsleuten war einer, der wie ein Novarianer aussah. Er trug novarianische Kleidung, aber darüber einen -164-
Lederhamisch im Paaluanerstil. Diese Männer unterhielten sich in einer mir unbekannten Sprache. Während sie redeten, starrten sie auf mich. Schließlich sagte der Novarianer: “Was bist du, Kreatur? Kannst du eine menschliche Sprache sprechen?” Da ich immer noch das Seil um die Kiefer hatte, konnte ich nur grunzen. Der Mann erkannte sofort mein Problem. Lachend schnitt er den Strick durch. “Vielen Dank, Sir”, sagte ich. “Oh”, sagte der Navarianer, “du sprichst Novarianisch?” “Jawohl, Sir. Mit wem habe ich das Vernügen?” “Charondas von Xylar, Erster Ingenieuroffizier Seiner Exzellenz General Ulolas, Kommandant dieser Nahrungsexpedition.” “Sir”, fragte ich, “ist es für einen Novarianer nicht ungewöhnlich, in einer ausländischen Armee diese Position innezuhaben?” “Äußerst ungewöhnlich”, gab Charondas zu. “Ich bin allerdings jetzt ein ehrenwerter Paaluaner, nachdem ich meine Bürgerschaft gewechselt habe. Man muß bei den Paaluanern leben, um ihre Tugenden schätzenzulernen; sie sind wahre Gentlemen.” “Und der Gentleman auf der Trommel, nehme ich an, ist General Ulola?” “Jawohl.” “Dann übermitteln Sie ihm meine freundliche Hochachtung, da ich seine Sprache nicht spreche.” Charondas übersetzte, und die Paaluaner brachen in Gelächter aus. “Sie sind amüsiert, daß ein Gefangener - ein nichtmenschlicher dazu - solch höfisches Benehmen an den Tag legt, während er in Fesseln auf dem Boden liegt.” “Das ist das Benehmen, das mir auf meiner Ebene beigebracht -165-
worden ist”, sagte ich. “Könnten Sie mir jetzt bitte sagen...” “Paß auf, Kreaturl” sagte Charondas. “Wir stellen hier die Fragen, nicht du. Zuerst: Wer und was bist du?” Ich erklärte es. Der General sprach und Charondas fragte: “Er möchte wissen, ob du derselbe Kobold bist, der vor sechs oder sieben Wochen unser Lager in der anderen Richtung durchquert hat.” “Ich denke schon. Ich kenne keinen anderen Zwölfebener in dieser Gegend.” “Das erleichtert den General; er hatte schon gefürchtet, der Wachtposten, der die Geschichte berichtete, litte an Halluzinationen. Und nun, was bezweckst du damit, dich heimlich nach Ir, das dem Untergang preisgegeben ist, zurückzuschleichen?” “Es tut mir leid, Sir, aber ich halte es nicht für angebracht, diese Frage zu beantworten.” “Wir haben unsere Methoden, Gefangene zum Reden zu bringen”, sagte Charondas. In diesem Moment kam ein Offizier herein und händigte dem General die beiden Kopien des Vertrags zwischen Irianern und Hruntings aus. Nach einem raschen Wortwechsel gab Ulola die Dokumente, die ich bei mir getragen hatte, an Charondas weiter. Der Renegat entrollte eins und begann, laut vorzulesen und dann ins Paaluanische zu übersetzen. Als er damit fertig war, wurde wieder gequasselt. Dann sagte Charondas: “Da diese Dokumente uns verraten, was wir über deine Mission wissen müssen, werden wir dich nicht verhören. Jetzt bleibt noch zu entscheiden, was mit dir geschieht.” Er sprach mit dem General und dann wieder zu mir: “Man hat beschlossen, dich zu exekutieren, wie es mit allen gefangenen Novarianern gemacht wird. Der General sagt jedoch, daß wir dich nicht essen werden, da du uns womöglich nicht -166-
bekömmlich bist. Statt dessen wirst du unseren Drachen serviert.” “Nun, meine Herren”, sagte ich, “ich bin in einer Lage, in der Sie nach Belieben mit mir verfahren können. Aber wenn Sie mir die Bemerkung nachsehen, ein solches Vorgehen erscheint mir ein wenig drastisch, da ich doch nur bestrebt war, die Aufträge meiner Meister zu deren Zufriedenheit zu erfüllen.” Charondas übersetzte diese Bemerkung und die Erwiderung des Generals. Die anschließende indirekte Diskussion zwischen mir und dem General verlief folgendermaßen: “Dämon, wir haben nichts gegen deine Art an sich. Aber dadurch, daß du für die Novarianer arbeitest, hast du ihre Schuld auf dich geladen. Du hast eine moralische Verfehlung begangen, die sofortigen Tod verdient.” “Wieso, General?” “Die Novarianer sind wie die anderen Völker dieses Kontinents unverbesserlich verdorben und sollten daher vernichtet werden.” “Worin besteht ihre Verderbtheit, Sir?” “Darin, daß sie Krieg gegeneinander führen. Wir haben uns damit vertraut gemacht und wissen, daß sie alle dieser schändlichen Praxis anhängen.” “Aber, General, zur Zeit führen Sie doch Krieg gegen sie, oder? Woher nehmen Sie dann das Recht, sie zu verurteilen?” “O nein, wir führen nicht Krieg. Wir führen eine Nahrungs oder Ernte-Expedition durch. Wir ernten eine Frucht - eine menschliche Frucht -, und wir tun das zu dem simplen, normalen und gesunden Zweck, unser Volk zu ernähren. Da alle Geschöpfe essen müssen, ist das eine natürliche und daher zutiefst moralische Prozedur. Aber einen Menschen ohne guten Grund zu töten, ist verderbt und unmoralisch. Diejenigen, die das tun, verdienen keine Gnade.” -167-
“Aber, General, mir wurde gesagt, wenn die Menschen dieses Kontinents Krieg führen, nehmen sie gleichermaßen gerechte Gründe in Anspruch.” “Was für Gründe? Daß ein politischer Abenteurer seine Herrschaft über noch mehr Menschen ausdehnt oder sich ihre Reichtümer aneignet, oder sie zu seinem speziellen Aberglauben bekehrt, oder sie abschlachtet, damit seine eigenen Leute ihr Land besetzen können?” “Und was ist mit denen, die sich gegen solche Angriffe verteidigen? Wir Dämonen von meiner Ebene führen keine Kriege, aber wir erkennen das Recht auf Selbstverteidigung an.” “Das ist bloß ein Vorwand. Zwei von diesen Nationen ziehen in den Krieg, jede behauptet, die andere habe angegriffen, was offensichtlich absurd ist - obschon auch die gewissenhafteste Nachforschung nicht in der Lage ist, den wahren Schuldigen zu benennen. Und außerdem: Wenn eine von diesen BleichgesichtNationen sich jetzt verteidigt, kann man sicher sein, daß sie in der Vergangenheit einen Nachbarn angegriffen hat. Nein, nein, der einzige legitime Grund, einen anderen Menschen zu töten, ist der, ihn zu essen. Also ist es das Vernünftigste, die ganze aufsässige Brut zusammenzutreiben, einzupökeln und zu verzehren. Da wir Paaluaner uns nicht an Kriegen beteiligen, sind wir eindeutig moralischer als die Bleichgesichter, und daher ist es Rechtens und angebracht, daß wir sie auf diese Weise nutzen. Aber genug davon, Dämon. Wir haben dich zum Tode verurteilt, was normalerweise durch Enthaupten vollzogen wird. Charondas sagt mir jedoch, ihr Dämonen hättet sehr zähe Sehnen, und eine gewöhnliche Axt oder ein Schwert würde euch nicht mehr als eine Fleischwunde beibringen. Hast du irgendwelche Vorschläge?” “Ja, General.Ändert mein Urteil ab in Verbannung auf meine Ebene!” -168-
“Haha, sehr lustig.” Ulola sprach mit Charondas, der auf Paaluanisch antwortete. Dann sagte Charondas zu mir: “Der General hat mich beauftragt, eine Enthauptungsmaschine zu bauen, die sich deiner annehmen wird, Dämon. Einige Stunden müßten genügen. Wir sehen uns in Kürze.” Mehrere Soldaten trugen mich zu dem Pferch zurück, warfen mich hinein und standen bei mir Wache. Dieser Tag war einer der unerfreulichsten während meines Aufenthalts auf der Ersten Ebene, verband er doch Furcht und Langeweile miteinander. Niemand holte mir Wasser oder tat sonst etwas, um meine unbequeme Lage zu lindern. Auf Rettung durch die Hruntings hatte ich keine Hoffnung, da Hvaednir beschlossen hatte, nicht eher loszurücken, bis ich den unterschriebenen Vertrag aus Ir mitgebracht hatte. Unter diesen Umständen gab es für mich nichts zu tun, als in eine Verdauungsstarre zu fallen. Auf so tyrannische Weise eingesperrt zu werden, machte mich ungeheuer müde. In aller Frühe am nächsten Tag wurde ich aus dem Pferch gezerrt und zu einem Platz vor dem Zelt des Generals gebracht. Eine Gruppe Paaluaner legte letzte Hand an Charondas’ Maschine. Sie bestand zum einen aus einem Kopfblock konventioneller Art, mit einer Rinne, um Kopf und Hals des Opfers aufzunehmen. Gut vier Meter entfernt stand ein stabiler Holzrahmen, in den ein drehbarer Holzschaft montiert war. Das untere Ende des Schafts war mit einer kurzen Achse versehen, die sich in einen Paar kräftiger aufrechtstehender Hölzer drehte. Das obere Ende trug eine gewaltige Schneide, wie eine Axtschneide, aber um ein Vielfaches größer. Die paaluanischen Schmiede müssen den ganzen Tag und die ganze Nacht gearbeitet haben, um dieses Stahlstück zu schmieden und zu schleifen. Hinter dem Holzschaft und seinem Ständer diente ein hohes dreibeiniges Holzgerüst als Stütze einer Rolle, über die das Seil -169-
lief, das den Schaft fast in der Senkrechte hielt. Wurde das Seil gelöst, würde der Schaft nach vorn fallen und die Schneide auf den Block - wahrscheinlich mit genug Schwung, um ihn in zwei Stücke zu spalten. Das Gerät hätte ausgereicht, ein Mammut zu köpfen. Als die Paaluaner mich zu dem Block schleiften und meinen Hals darauflegten, rief ich General Ulola, der mit seinen Offizieren daneben stand, zu: “Sir, erlauben Sie mir eine Bemerkung, daß ich das aufrichtig für ein ungerechtfertigtes und unkluges Vorgehen halte. Gestern fehlte mir die Zeit, meine Argumente in eine logische Ordnung zu bringen, aber wenn Sie diesen Vorgang aufschieben, bis ich alles erklären kann, bin ich sicher, Sie überzeugen zu können...” General Ulola sagte etwas zu Charondas, der daraufhin lachte und zu mir sagte: “O Zdim, der General wundert sich über ein Geschöpf, das selbst dann, wenn es im Begriff ist, seinen Kopf zu verlieren, noch mit logischen Spitzfindigkeiten argumentieren kann.” Charondas sprach zu einem anderen Paaluaner, der mit einer Axt zu dem hohen Holz-Dreifuß trat. Ich sah, daß er vorhatte, das Seil zu zertrennen, das den Holzschaft am Herabfallen hinderte. Ulola hob den Arm, um dem Mann mit der Axt das Zeichen zu geben. Bevor der General den Arm senken konnte, erscholl ein Trompetensignal. Diesem folgten weitere Trompeten, Pfeifen, Trommeln und allgemeines Getümmel. Paaluaner rannten schreiend hin und her. Einige kamen, ihre Rüstung hinter sich herschleifend, vorbei. Auch der General rannte davon. DrachenEchsen mit bewaffneten Männern auf ihrem Rücken watschelten vorbei. Gefesselt, wie ich war, konnte ich nicht erkennen, was geschah. Aus dem Lärm schloß ich, daß Hvaednir seine Meinung geändert und das Lager angegriffen hatte. -170-
Der Lärm wurde sogar noch lauter. Ich konnte Waffengeklirr und das Schreien verwundeter Männer unterscheiden. Nach einiger Zeit ließ der Aufruhr nach, als entfernte sich die Schlacht vom Lager. War Hvaednir zurückgeschlagen worden? Dann schwoll der Lärm wieder an, aber aus einer anderen Richtung. Einige Paaluaner rannten vorbei. Hinter ihnen kam eine Schar in der Tracht novarianischer Seeleute. Sie wirbelten vorbei und kamen außer Sicht. Einige blieben stehen. Einer in der Uniform eines Offiziers sagte: “Und was zur Hölle ist das?” “Sir”, sagte ich, “erlauben Sie. Ich bin ein Dämon namens Zdim im Dienst des Syndikats von Ir. Mit wem habe ich das Vernügen?” “Und was machst du hier? Ach ja, ich sehe es: Die Kannibalen hatten vor, dich einen Kopf kürzer zu machen. Hee, Zarko! Schneid das Seil nicht durch. Komm her und löse die Fesseln dieses Dings hier! Wenn er ein Feind der Kannibalen ist, muß er unser Freund sein.” Der Matrose durchschnitt die Stricke, die mich fesselten. Während ich meine Glieder rieb, um die Zirkulation wieder in Gang zu setzen, fragte ich erneut nach dem Namen meines Retters. “Ich bin Diodis, Hochadmiral von Zolon”, sagte der Offizier. Ich wußte, daß der Hochadmiral der erste Beamte des Inselreichs war. “Erklärungen würden jetzt zu lange dauern, ich muß mit meinen Leuten vorrücken.” “Sir”, sagte ich, “wenn Sie mir freundlicherweise eine Waffe überlassen, würde ich gerne meinen Teil zu dieser Auseinandersetzung beitragen, denn die Paaluaner haben mir keinen Grund gegeben, ihnen freundschaftlich gesonnen zu sein.” “Misch dich besser nicht in die ersten Reihen, du könntest versehentlich von einem unserer eigenen Leute getötet werden. Ich hab’s! Du wirst als Leibwächter bei mir bleiben! Komm -171-
mit!” bellte er und eilte zum Haupttor. Ich folgte dem Admiral, der eine barsch autoritäre Art hatte, der man nicht leicht widersprechen konnte. Wir bestiegen einen Wachturm neben dem Haupttor, von dem aus man einen prächtigen Ausblick hatte. Ein Strom von Meldegängern ergoß sich über die Leiter zu unserem Horst. Vor uns tat sich ein außergewöhnlicher Anblick auf. Um Verwirrung zu vermeiden, erlauben Sie mir zusammenzufassen, was ich im nachhinein Stück für Stück über die Situation erfuhr. Nachdem sie die Piraten von Algarth vernichtend geschlagen hatte, war die zolonianische Flotte nach Chemnis zurückgekehrt, um ihre Bezahlung vm Syndikat einzustreichen, ehe sie wieder nach Zolon segelte. Als sie in Chemnis ankamen, fanden sie aber den Hafen voll von seltsam aussehenden Fahrzeugen, bemannt mit kleinen Gruppen nackter schwarzer Männer, die Pfeile auf sie schössen, als sie sich näherten. Der Admiral befahl einen Angriff und hatte bald alle fremden Schiffe in Besitz genommen. Der Admiral erfuhr, daß die Hauptstreitmacht der Paaluaner den Kyamos hinaufmarschiert war, um Ir anzugreifen. Deshalb stellte er eine Flotte von Booten mit flachem Rumpf zusammen. Er belud die Fahrzeuge, sowohl zolonianische als auch paaluanische, mit bewaffneten Männern und brachte sie den Kyamos hinauf. Sie ankerten an der Mündung des unbeschiffbaren Vomantikon und marschierten den Nebenfluß hinauf. Die Späher der Hruntings sahen diese Streitmacht, und die Häuptlinge erkundigten sich nach ihren Absichten. Als die Nomaden erfuhren, daß die Zolonianer vorhatten, die Belagerung Irs zu brechen, entschieden sie, daß sie selber die Paaluaner angreifen mußten, ehe die Zolonianer ihnen zuvorkamen, wenn sie überhaupt eine Bezahlung für ihren langen Marsch erwarten wollten. Obwohl die Streitmacht der -172-
Zolonianer verglichen mit ihrer eigenen recht klein war, gab es immerhin die Möglichkeit, daß ein Überraschungsangriff die Kannibalen in die Flucht schlug. Dann würden die Irianer sich weigern, der Hrunting-Armee auch nur einen roten Heller zu zahlen, mit der Begründung, sie hätten nichts getan, ihn zu verdienen. Die Hrunting-Häuptlinge überstürzten nichts. Die fünfhundert Irianer, die inzwischen im Lager eingetroffen waren, wurden mit einigen hundert Hrunting-Reitern, um sie von einer Umzingelung zu schützen, zu einem Scheinangriff ausgesandt. Die Irianer griffen das Lager an, ließen sich aber zurücktreiben. Kampfeslustig strömte die paaluanische Armee zur Verfolgung aus dem Lager - Drachen, Hüpfer und Fußtruppen. Sobald die Paaluaner ein Stück aus dem Lager ausgerückt waren, ließ Yurog seinen Kältezauber los. Eisige Winde bliesen vom Himmel. Das verwirrte nicht nur die nackten Kannibalen, sondern brachte auch ihre Drachen allmählich zum Stillstand. Sie erstarrten über die ganze Ebene verteilt, einige noch mit zum nächsten Schritt erhobenem Bein. Dann kam über den Kamm, der die beiden Lager voneinander trennte, der Rest der Hrunting-Armee mit seinem großen Keil aus Mammuts in der Mitte. Die Kälte konnte den Shveniten in ihren Fellen und Schafhäuten ebensowenig anhaben wie den Mammuts in ihrem dichten Pelz. In der Zwischenzeit drangen die Zolonianer in das fast leere paaluanische Lager ein und trieben die wenigen noch verbliebenen Kannibalen vor sich her. Die Seeleute rückten durch das Haupttor aus, um die Paaluaner im Rücken anzugreifen. Aber die Kannibalen waren bei all ihren seltsamen Sitten großartige Kämpfer. Mochten ihre Drachen unbeweglich sein, mochten ihre Körper die Ebene übersäen und sie umzingelt und unterlegen sein. Die Überlebenden bildeten ein großes Viereck, -173-
aus dessen Seiten die Spieße ragten, und standen unverrückbar fest. Aus dem Inneren des Vierecks schickten ihre Bogenschützen eine Pfeilsalve nach der anderen, und ihre Speerwerfer schleuderten Wirbelspeere. Sie schlugen einen Angriff nach dem anderen, ob zu Fuß, zu Pferd oder Mammut vorgetragen, zurück. Jeder Angriff ließ die Haufen der Toten vor den unerschütterlichen Reihen der Speerträger anwachsen. Die berittenen Bogenschützen der Hruntings wirbelten an dem Viereck vorbei und jagten ihre Pfeile in die dicht stehenden Reihen. Wenn ein Paaluaner fiel, schlossen seine Kameraden die Lücke. Ich war überrascht, daß die erste Mammutwelle die Kannibalen nicht überrollte und auseinandertrieb, aber dann sah ich, was sie taten. Als die behaarten Ungeheuer, Lederhülsen an den Füßen, um sie vor Schwerthieben zu schützen, loswalzten, schickten die paaluanischen Zauberer Trugbilder fliegender Monster gegen sie. Vor Angst schreiend und mit hin und her zuckenden Köpfen drehten die Mammuts ab. Neben mir auf dem Turm fluchte und betete Admiral Diodis, während Meldegänger kamen und gingen. Er sprach stoßweise und abgehackt: “Sagt Hauptmann Furio, er solle seine Männer vom linken zum rechten Flügel in Marsch setzen! - Zevatas, König der Götter, hilf deinen treuen Anhängern! - Bei Vaisus’ Messingarsch, da hinein! Näher ran, damit sie ihre Spieße nicht einsetzen können! - Franda, Mutter der Götter - Sagt Leutnant Omphes, daß er zurückhängt; wenn er sich nicht bald rührt, wird er hoch hängen...” Dann traf eine weitere Streitmacht ein. Das war eine Armee hohlwangiger, bleicher Männer aus der Stadt Ir. Sie stürmten durch das Lager, an unserem Turm vorbei und aufs Schlachtfeld hinaus. Ihre Trompeten warnten die Zolonianer, die ihnen den Weg versperrten, und sie stürmten durch die sich auftuende Lücke. Die Irianer prallten mit einer Wucht, der nichts widerstehen -174-
konnte, auf das Viereck. Männer kletterten über die Leichen ihrer Kampfgenossen, um an den Feind heranzukommen. Wenn ihre Lanzen zerbrachen, fochten sie mit ihren Schwertern, nahmen sie die Dolche; wenn diese weg waren, kämpften sie mit Nägeln und Zähnen. Im Nu hatten sie das Viereck aufgebrochen, stürmten in den Innenraum und fielen den Paaluanern mit Schwertern und Lanzen in den Rücken. Zur gleichen Zeit kam eine weitere Welle der Mammuts ans Ziel. Die Zauberer im Innern des Vierecks waren zu beschäftigt damit, getötet zu werden, um weitere Zaubererscheinungen zu bewirken. Mit schaukelnden Köpfen pflügten sich die Tiere in den Feind hinein. Mit jeder Bewegung wurden ein oder zwei Kannibalen von den mächtigen Stoßzähnen gepackt und durch die Luft geschleudert. Der Staub wurde so dicht, daß es schwierig war, etwas zu sehen. Nach und nach erschienen flüchtende Paaluaner aus der Wolke, warfen Waffen und Rüstung fort und rannten über die Ebene davon. Ihnen folgten Hvaednirs Reiter, die ihnen Pfeile und Speere nachschickten. Von den ursprünglich siebentausend Paaluanern, die den Kyamos hochmarschiert waren, waren bei Beginn der Schlacht etwas mehr als sechstausend übriggeblieben, der Rest war bei der Belagerung umgekommen oder Krankheiten erlegen. Von diesen sechstausend fiel die große Mehrheit auf dem Feld, denn es wurden keine Gefangenen gemacht. Einige entkamen; aber da sie keine Möglichkeiten hatten, den westlichen Ozean zu überqueren, wurden alle während der folgenden Monate eingefangen und getötet. Der größere Teil der paaluanischen Verluste kam zustande, nachdem die Irianer das Viereck durchbrochen hatten und die Formation sich aufzulösen begann. Von den fast zehntausend Mann, die an diesem Tag gegen die Kannibalen kämpften, wurden nur wenige hundert getötet oder starben später an ihren Verletzungen. Das war zwar ein beträchtlicher Verlust, aber -175-
immer noch nur ein kleiner Bruchteil der feindlichen Verluste. Solches Ungleichgewicht der Verluste ist, wie man mir sagte, in Schlachten auf der Ersten Ebene nicht ungewöhnlich, denn ein Haufen fliehender Männer kann von seinen Verfolgern vergleichsweise einfach und gefahrlos niedergemacht werden. Genaugenommen wurde doch ein Gefangener gemacht: General Ulola, der verwundet auf dem Schlachtfeld gefunden wurde. Ein schnell reagierender irianischer Offizier hielt die Soldaten davon ab, ihn zu töten, wie sie es mit den anderen verwundeten Kannibalen machten. Statt ihn sofort umzubringen, nutzten die Irianer den Rest des Tages, über ihn Gericht zu sitzen und ihn förmlich zu verurteilen. General Segovian fungierte als Oberster Richter. Da der Überläufer Charondas klugerweise verschwunden war, war niemand da, der für den General übersetzen konnte. Er machte einige vehemente, aber unverständliche Ausführungen. Meine Fühler verrieten mir, daß er aufrichtig empört darüber war, daß er für Handlungen bestraft werden sollte, die er für richtig und angebracht hielt. Jedenfalls wurde er für schuldig befunden und trotz heftiger Gegenwehr und wortreicher Proteste auf den Henkersblock gelegt, der für mich vorbereitet worden war. Ein Irianer zerschnitt das Seil. Der Holzschaft fiel nieder - krach -, und General Ulolas Kopf flog davon. Auf gewisse Art tat es mir leid. Hätte man ihn verschont, und hätte ich lernen können, mich mit ihm zu verständigen, dann hätte ich gern einige interessante philosophische Einzelfragen über die Moralität des Kannibalismus, die er angeschnitten hatte, weiter verfolgt. Schließlich hatte ich selbst Erstebener gegessen, auch wenn ich sie nicht mutwillig als Nahrungsmittel gejagt hatte. Aber menschliche Wesen haben ohnehin kein übermäßiges Verständnis für abstrakte Fragen. Die Schlacht hatte eine weitere merkwürdige Folge. Die Drachen waren durch Yurogs Zauber steifgefroren, aber die Wirkung des Zaubers dauerte nicht für immer. Unsere -176-
siegreichen Kämpfer hatten die denkmalgleichen Reptilien so gut wie vergessen, als sie aufzutauen und sich zu bewegen begannen. Die Truppenführer befahlen ihren Männern sofort, die Ungeheuer zu töten. Das taten sie auch in gewissem Umfang; aber nicht wenige, jetzt nicht mehr unter der Kontrolle ihrer paaluanischen Herren, flohen vom Schlachtfeld und entkamen. Einige wurden erlegt. Aber später hörte ich Gerüchte über Drachen-Echsen, die im großen Sumpf von Moru im Süden Xylars lebten, wo das Klima mild genug sein mag, um die armen Geschöpfe das ganze Jahr lang überdauern zu lassen.
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XI. Prinz Hvaednir Ich habe viele dieser fantasievollen Geschichten gelesen, welche die Erstebener zu gegenseitigem Vergnügen aufsetzen und die als “Dichtung” bezeichnet werden. Wir haben nichts Vergleichbares auf der Zwölften Ebene, da wir eine zu logische und sachlich orientierte Spezies sind, um daran Gefallen zu finden. Ich muß jedoch gestehen, daß ich Geschmack an diesen Dingen gefunden habe, auch wenn meine Mitdämonen mich schief ansehen, als wäre ich einem gefährlichen Narkotikum verfallen. In diesen fantasievollen Geschichten, “Erzählungen” genannt, setzen die menschlichen Autoren voraus, daß der Höhepunkt der Erzählung alle aufgeworfenen Probleme löst und die Handlung zu einem anständigen, sauberen Ende bringt. In einer Erzählung wäre die Schlacht von Ir der Höhepunkt gewesen. Danach hätte der Held die Heldin geheiratet, die Schurken wären vernichtet worden und die führenden Überlebenden, so heißt es dann, hätten glücklich bis ans Ende ihrer Tage gelebt. Im wirklichen Leben ist das aber anders. Nach dieser Schlacht setzten die Überlebenden ihr Leben wie gewohnt, mit den normalen Höhen und Tiefen, fort. Manchmal profitierten sie von ihren Tugenden oder litten für ihre Fehler; manchmal hob das unergründliche Wirken des Schicksals sie hoch empor oder warf sie ganz nach unten, und das unabhängig von ihren Verdiensten. Prinz Hvaednir beaufsichtigte die Versorgung der Verwundeten nach der Schlacht und überwachte, wie denjenigen, die wahrscheinlich sterben würden, barmherzig die Kehle durchgeschnitten wurde. General Segovian trat zu ihm und sprach, aber keiner konnte den anderen verstehen. Hvaednir schaute sich suchend nach Schnorri um. Als er ihn nicht fand, erblickte er mich neben Admiral Diodis. Der Admiral war mit -178-
ähnlichen Aufgaben beschäftigt. Hvaednir rief: “Hee, Zdim! Komm her und übersetze!” “Mit Ihrer freundlichen Erlaubnis, Admiral”, sagte ich. “Prinz Hvaednir verlangt nach mir.” “Ist das der Kommandant der Hruntings?” fragte der Admiral. “Mit ihm wollte ich ohnehin sprechen.” Kurz darauf stellte ich die drei Kommandanten untereinander vor und übersetzte für sie. Nach dem Austausch einiger Höflichkeiten fragte Hvaednir: “Kann ich etwas für Sie tun, General?” “Nahrungsmittel”, sagte Segovian. “Die Irianer hungern.” “Sie werden sie bekommen. Admiral, wie können wir da helfen?” “Wir haben noch Nahrungsmittel auf den Schiffen. Und Sie?” “Wir können mit den Vorräten aus unserem Lager aushelfen. Aber nach dem heutigen Tag weiß ich nicht...” “Gestatten Sie, Prinz”, warf der Admiral ein. “Ihre Streitmacht besteht aus einer Vielzahl wagemutiger Reiter. Warum schicken wir keinen Boten mit der Nachricht von diesem Sieg nach Norden, Osten, Süden und Westen? Und wenn sie schon einmal unterwegs sind, könnten sie ja auch erwähnen, daß jeder Bauer oder Händler, der einen schnellen Verdienst will, nur eine Karrenladung voller Nahrungsmittel vor allen anderen nach Ir bringen muß.” Hvaednir zog eine Grimasse. “Appelle an die niederen kommerziellen Instinkte sind nicht die Art, in der wir-Probleme lösen, aber ich nehme an, Sie kennen Ihre Novarianer.” Der Admiral kicherte. “›Niedere kommerzielle Instinkte‹für wahr! Versenken Sie mich, wenn Sie nicht zugeben müssen, daß es Erfolg hat!” Und es hatte Erfolg. Am zweiten Tag nach der Schlacht trabten die ersten beladenen Esel zum Tor herein, und quietschende Bauernkarren aus Solymbria, Metouro und Xylar kamen an. Wie sie in solch kurzer Zeit solche Entfernungen zu überwinden vermochten, weiß ich nicht. Einige müssen ihre -179-
Tiere auch die ganze Nacht vorwärtsgetrieben haben. In der Zwischenzeit waren Hvaednir und der Admiral übereingekommen, genug Nahrungsmittel aus ihren Lagern zu verteilen, um jedem Irianer in der Stadt eine gute Mahlzeit zukommen zu lassen. General Segovian sagte: “Prinz, warum kommen Sie nicht vor Einbruch der Nacht in die Stadt, um den Beifall einer dankbaren Bevölkerung entgegenzunehmen?” Hvaednir blickte seine mit Blut und Staub bedeckte Rüstung hinunter. “Was, in diesem Aufzug? Ich meine, mein werter Herr, heute abend bin ich zu müde. Morgen werde ich gerne kommen. Die Nahrungsmittel sollen allerdings sofort ausgeliefert werden.” Ich verabschiedete mich von dem Admiral und begleitete Prinz Hvaednir zurück zum Lager. Schnorri, der eine leichte Armverletzung erlitten hatte, war vor uns da. Hvaednir schlug seinen Cousin auf den Rücken und entlockte dem Verwundeten einen Schmerzensschrei. “Seuche über dich”, sagte Schnorri. “Jetzt hast du die Blutung wieder in Gang gebracht.” “Tut mir leid”, sagte Hvaednir. “Ich hätte nicht gedacht... aber es war eine schöne Schlacht, nicht?” “Wenn wir innerhalb des nächsten Jahres nicht gegen die Gendings kämpfen müssen, sind unsere Verluste nicht allzu tragisch”, entgegnete Schnorri. “Ach, du bist stets ein Pessimist. Wein! Wo, in der Nachwelt, sind unsere nichtsnutzigen Diener? Ah, da seid ihr ja! Wein, und zwar flott!” Als Pokal und Flasche gebracht wurden, nahm er einen tiefen Schluck. “Weißt du, Cousin, ich mag diese südliche Gegend. Denk nur daran, daß man das ganze Jahr über richtigen Wein trinken kann - und nicht nur unser dünnes, saures Steppenbier!” “Novaria im Sommer ist für mich verflixt zu heiß”, sagte Schnorri schwitzend. -180-
Hvaednir hatte Essen für uns drei ins Zelt bringen lassen, aber er trank mit einer Schnelligkeit, die Ärger erwarten ließ. Und richtig, die Sonne war kaum eine Stunde untergegangen, da begann der goldene Prinz Gedanken zu äußern, die ein kluger Mensch bei sich behalten hätte. “Warum zur Hölle”, murrte er, “soll ich ewig auf den Tod alter Winterknackis warten, wenn ich mir hier mein eigenes Reich aufbauen kann? Für den Anfang würden einige hundert kräftige Krieger ausreichen, um diesen feigen Geld-Grapschern Ir zu entreißen...” “Ich muß sagen, daß Segovians Leute in der heutigen Schlacht keine Feiglinge waren”, bemerkte Schnorri. “Ach was! Ich behaupte, ich könnte eine vernünftige Nomadendisziplin in sie hineinprügeln. Vielleicht sogar Krieger aus ihnen machen. Und warum nicht? Bin ich nicht der Sieger der größten Schlacht unserer Zeit? Die Barden werden davon singen. Bei Greipneks Rute, einmal einen guten Anfang gemacht, werde ich ein größerer Eroberer als Heilsung der Unbesiegbare sein...” Schnorri sagte: “Zdim, du gehst besser in dein Zelt. Ich sehe dich bei Tagesanbruch.” Offensichtlich wollte Schnorri nicht, daß ich noch mehr der unbesonnenen Äußerungen seines Cousins hörte. Ich wünschte ihnen eine gute Nacht und kehrte in mein Quartier zurück. Ich dachte nach. Mir kam der Gedanke, daß ich mich im Schutze der Dunkelheit aus dem Lager schleichen, nach Ir gehen und das Syndikat vor Hvaednirs keimenden Ambitionen warnen sollte. Als ich zu diesem Schluß gekommen war, entdeckte ich, daß eine Wache vor meinem Zelt Posten bezogen hatte. Das bestürzte mich nicht sonderlich, denn ich sah voraus, daß sich die Disziplin im Nachhall der Schlacht lockern würde. Im normalen Gang der Ereignisse würde der Posten sich wahrscheinlich betrinken und davonspazieren oder einschlafen. -181-
Ich mußte ihn nur beobachten und ein oder zwei Stunden warten... Das nächste, an das ich mich erinnere, ist die durch die Zeltklappe hereinströmende Sonne und Schnorri, der mich wachrüttelte. “Auf, du Faulpelz!” rief er. “Wir sind dabei, in prächtiger Prozession nach Ir zu ziehen, um den Beifall einer dankbaren Bevölkerung entgegenzunehmen. Du mußt uns als Dolmetscher für Hvaednir begleiten; ich werde genug andere Aufgaben haben.” Ich schüttelte mich selbst wach. Ich hatte die ganze Zeit, in der ich eigentlich nach Ir gehen und die Irianer hatte warnen wollen, verschlafen. Obwohl dies eine schwere Verfehlung meinerseits war, hatte ich eine Entschuldigung, denn ich hatte seit zwei Tagen und Nächten keinen richtigen Schlaf mehr gefunden. Ich fragte Schnorri, der den Arm noch in der Schlinge trug: “Prinz, was ist mit dem Plan, den Hvaednir letzte Nacht zur Sprache brachte: Ir zu erobern und als Basis für ein größeres Kaiserreich zu nutzen?” “Puh! Das war nur weinseliges Gesabber. Ich habe ihm solche Torheiten ausgeredet. Er hat mir freilich versprochen, Ir anständig zu behandeln - wenn Ir ihn anständig behandelt.” “Er schien wieder ein kleiner Junge in Shven zu sein. Was ist in ihn gefahren?” “Ich nehme an, der gestrige Sieg ist ihm zu Kopf gestiegen das und die Tatsache, daß er sein erstes unabhängiges Kommando geführt hat. Auf der Steppe hielt der Khan ihn am straffen Zügel. Aber ich bin sicher, er kommt wieder zu sich.” “Zu schade, daß Sie nicht der nächste in der Herrschaftsfolge sind. Sie sind viel weiser als er.” “Psst, Dämon! Solche Gedanken wären Staatsverrat, obschon ich Ihnen für das Kompliment danke. Hvaednir ist nicht wirklich dumm - nur verdorben und mit einem Durchschnittsverstand -182-
ausgestattet -, und er ist weitaus ansehnlicher als ich. Das zählt bei den Shveniten. Und vor allem ist er ein besserer Mann der Tat, als ich es je sein werde; ich bin zu fett, um Überfälle anzuführen. Aber genug des Geplauders. Ziehen Sie sich etwas an und kommen Sie mit uns!” Wir marschierten über das Schlachtfeld, durch das paaluanische Lager - das schon teilweise niedergerissen war und zu Ardymans Turm. Wir stiegen die breite Wendeltreppe hinauf und traten durch das Haupttor ein, das jetzt zum erstenmal seit über zwei Monaten offenstand. Drinnen hallte der Hof vom Klirren der Reparaturarbeiten am großen Spiegel wider; er war durch die Geschosse vom Katapult der Belagerer beschädigt, aber nie völlig außer Funktion gesetzt worden. Das ganze Syndikat, zu dem jetzt auch ihre Exzellenz Roska Sar-Blixens gehörte, erwartete uns. Erster Syndikus Jimmon ein wenig dünner, aber immer noch ganz gut gepolstert - hielt eine Rede. Von einer Pergamentrolle las er eine Laudatio und händigte Hvaednir einen symbolischen Stadtschlüssel aus. Nachdem diese Formalitäten beendet waren, sagte Jimmon zu mir: “Heil, o Zdim! Du wirst faszinierende Geschichten zu erzählen haben, wenn die Feierlichkeiten vorüber sind, was? Und nun, Prinz, wir haben eine passende Route für die Parade geplant. Wir werden die Ardyman Avenue entlang marschieren, dann nach rechts abbiegen...” Wir marschierten in die unterirdische Stadt, in der die einzige Beleuchtung aus Sonnenstrahlen bestand, die von Spiegel zu Spiegel reflektiert wurden. Vorne weg marschierte zum Klang der Trommeln eine Kompanie Hruntings, bis an die Zähne bewaffnet; dann Schnorri mit einigen Häuptlingen und ein paar Syndiki; dann noch mehr Krieger. Dann kamen Hvaednir, Jimmon und die übrigen Häuptlinge; dann Admiral Diodis und einige seiner Seeleute, und so weiter. Hvaednir war in das imponierendste Gewand gekleidet, das die Hruntings vorzuweisen hatten. Er trug einen mit Schwingen versehenen -183-
goldenen Helm, eine pelzbesetzte weiße Wolltunika, bestickt mit Goldfäden, und ein juwelengeschmücktes Schwert. Er hätte einer der Götter der Ersten Ebene sein können. Nach dem Genuß ihrer ersten richtigen Mahlzeit seit dem Beginn der Belagerung jubelten die Irianer uns lauthals zu. In der Enge der Stadt schmerzte der Widerhall in den Ohren. Ich spähte nach einer Gelegenheit, fortzuschleichen und die Syndiki vor Hvaednir zu warnen, aber es ergab sich keine. Die Parade endete am Gildensaal, der mit offiziellen Vertretern der Gilden und den meisten Mitgliedern der Kaufmannsklasse gefüllt war. Drei Stunden lang hörte ich den Reden zu und übersetzte Novarianisch in Shvenisch und umgekehrt; Jimmon hielt die längste, Hvaednir die kürzeste Rede. Alle Ansprachen bestanden aus einer Reihe abgedroschener stereotyper Phrasen: “Tödliche Gefahren... tapfere Verbündete... die blutdürstigen Wilden... Stunden der Not... edle Vorfahren... furchtlose Helden... unerbittliche Gegner... ewige Freundschaft... unvergängliche Dankbarkeit...” und so weiter. Die Versammelten standen auf und applaudierten, als alles vorbei war. Dann gingen die Syndiki, Admiral Diodis, General Segovian, Hvaednir, Schnorri und ich zum Bankett in einen der kleineren Räume. Hvaednir wurde mit so vielen Komplimenten überhäuft, daß ich mit dem Übersetzen beinahe zu beschäftigt war, um auch noch zu essen. Hvaednir aß und trank reichlich; vor allem trank er reichlich. Zuerst praktizierte er die ungehobelten Tischsitten der Steppe, aber als Schnorri ihn ständig in die Rippen stieß, begann er, novarianisches Benehmen zu imitieren. Als es vorbei war, stand Hvaednir auf, räusperte sich und sagte: “Eure Exzellenzen! Im Namen meines Cousin Prinz Schnorri und in meinem eigenen Namen spreche ich...äh... meinen herzlichen Dank für die Bewirtung und die vielen -184-
Ehrungen aus, mit denen man uns heute morgen überladen hat. Doch jetzt müssen wir zu den praktischen Fragen kommen. Ihr Gesandter, der ehrenwerte Zdim, hat tödliche Gefahren überstanden, um das Hauptquartier der Hruntings zu erreichen und uns zu bitten, dieses Expeditionskorps in Marsch zu setzen. Zdim war mit einem schriftlichen Angebot über eine Vergütung aufgebrochen, verlor aber seine Papiere bei den Höhlenmenschen in den Ellornas. Doch er erinnerte sich an die Bedingungen, und nach dem üblichen Feilschen wurde eine mündliche Einigung erreicht. Als wir den Kyamos erreichten, beauftragten wir Zdim, sich Zugang zur Stadt zu verschaffen, unsere Einigung schriftlich zu bestätigen und mit Ihren Unterschriften zurückzukehren. Erneut beraubte ihn das Unglück dieser Dokumente und er war nahe daran, auch sein Leben zu verlieren. Jedoch ist nicht alles verloren.” Hvaednir holte aus seinem bestickten Jackett die inzwischen etwas zerknitterten Abschriften der Übereinkunft, die wir in der Nacht vor der Schlacht im Lager aufgesetzt hatten. “Diese Papiere wurden im Lager der Kannibalen gefunden. Ich bin sicher, daß es in Anerkennung der Dienste, die die furchtlosen Krieger der Hruntings bei der Rettung Ihrer Stadt geleistet haben, keine Schwierigkeiten bereiten wird, Ihre Unterschriften jetzt anzufügen und sofort mit der Auszahlung zu beginnen.” Das Lächeln, das Jimmons rundes Gesicht normalerweise zierte, war wie weggewischt. “Hemm... Natürlich würde niemand, edler Herr, auch nur im Traum daran denken, unseren heldenhaften Vasallen eine gerechte Belohnung vorzuenthalten. Aber darf ich, bitte, einen Blick auf die vereinbarten Bedingungen werfen?” Hvaednir reichte Jimmon eine der beiden Kopien. Die andere gab er Schnorri mit den Worten: “Lies sie laut vor, Cousin, denn du sprichst die Sprache und liest sie flüssiger als ich.” -185-
Als Schnorri damit fertig war, stand Jimmon, dessen Leseglas an seinem Band herunterbaumelte, auf. Er setzte zu einer weiteren weitschweifigen Lobrede auf die Tapferkeit der Hruntings “Aber”, fuhr er fort, “natürlich müssen wir gewisse Tatsachen in Betracht ziehen. Die Stadt hat während der grausamen Belagerung schrecklich gelitten, und unsere Mittel werden während des Wiederaufbaus empfindlich in Anspruch genommen werden. Außerdem ist es eine Tatsache, daß bei all ihrem Schneid und Heldentum die Hruntings nicht die einzigen waren, die ihren Anteil an der Schlacht hatten. Admiral Diodis’ tapfere Teerjacken spielten eine wichtige Rolle, von unseren Irianern ganz zu schweigen. Und weiterhin, edler Prinz, ist es auch eine Tatsache, daß unsererseits keine echte gesetzliche Verpflichtung besteht, da das in Frage stehende Honorar vorher nicht unterschrieben worden ist. Natürlich bin ich sicher, daß wir mit Großmut und gutem Willen auf allen Seiten zu einer freundschaftlichen Regelung kommen...” Götter von Ning! dachte ich, will dieser Narr sich etwa davor drücken, den Nomaden zu bezahlen, wenn dieser ihn in seiner Gewalt hat? “... und daher, werter Freund und edler Genösse, bin ich sicher, daß Sie der Notwendigkeit zustimmen, diese Forderungen in Übereinstimmung mit den Tatsachen...ääh... anzupassen.” “Was haben Sie im Sinn?” fragte Hvaednir mit gepreßter Stimme. “Oh, etwas in der Größenordnung von zwei Pence pro Mann und Tag, ohne ein Extra für die Mammuts. Schließlich haben die Tiere unser gutes manisches Heu aufgefressen...” Prinz Hvaednirs Gesicht nahm eine dunkelrote Farbe an. “Pferdedreck!” brüllte er. “Letzte Nacht habe ich versprochen, mich Ir gegenüber fair zu verhalten, wenn die Stadt es umgekehrt ebenfalls tut; aber wenn nicht, dann nicht. Kein -186-
tapferer Steppenkrieger läßt zu, daß irgendein Papiergesetz ihn an seinem Recht hindert! Ihr Betrüger seid durch eure eigenen Worte verurteilt, und was nun folgt, habt ihr selbst zu verantworten!” Er blies in eine silberne Pfeife. Gut zwanzig Hruntings stürmten mit gezückten Schwertern in den Raum und nahmen hinter den Banketteilnehmern Aufstellung. Roska schrie auf. “Eine falsche Bewegung, und eure Köpfe sind ab!” sagte Hvaednir. “Hiermit erkläre ich mich zum König von Ir und aller anderen Länder, die künftig unter meine Gewalt geraten. Häuptling Fakken!” “Jawohl, mein Fürst?” “Richte meinen Häuptlingen aus, daß wir den Plan durchführen, den ich letzte Nacht vor ihnen entwickelt habe. Zuerst wünsche ich, daß jedes Stück Gold und Silber und jeder Edelstein in Ir zur Gildenhalle gebracht wird - ganz gleich, wo sie zu finden sind. Ich erkläre all diese Kostbarkeiten zum Bestandteil meines königlichen Schatzes. Wir werden damit anfangen, die Anwesenden zu durchsuchen - he, wo ist der Admiral?” Alle Anwesenden wandten den Kopf, bis ein Syndikus schließlich sagte: “Er hat sich entschuldigt, weil er seine Männer aufsuchen müßte.” “Sucht ihn!” sagte Hvaednir. Einige Hruntings wurden mit diesem Auftrag losgeschickt, aber ohne Erfolg. In Vorahnung der Geschehnisse hatte der Admiral Ir verlassen. Die Syndiki, vor Empörung bebend, wagten keinen Widerspruch und ließen es zu, daß ihre Geldbörsen auf dem Tisch ausgeschüttet wurden. Hvaednir gab jedem die in seinem Besitz befindlichen Kupfermünzen zurück, türmte aber das Gold und Silber auf einem Haufen auf. “Es... es tut mir leid”, sagte Roska, “aber ich habe meine Geldbörse zu Hause gelassen.” “Darum werden wir uns später kümmern”, sagte Hvaednir -187-
herzlich. “Das ist nur der Anfang, meine teuren Untertanen.” Schnorri, der sichtlich schwitzte, sagte kein Wort. Hvaednir forderte uns alle auf, uns zu erheben und uns wieder im Hauptsaal zu versammeln, wo wir am Morgen den Reden gelauscht hatten. Von draußen waren die Geräusche vieler laufender Füße und die Schreie der Irianer zu hören, als ihre Höhlenhäuser besetzt und durchsucht wurden. Schon bald betraten Krieger, gebeugt unter prall gefüllten Säcken mit Münzen und Wertgegenständen, die Gildenhalle. Sie warfen die Säcke auf den Boden, und Hvaednir veranlaßte die Angestellten des Syndikats, die Beute zu sortieren und ihren Wert aufzurechnen. Ab und zu kam Unruhe auf, als einige Irianer sich der Plünderung widersetzten. Schreie und Waffengeklirr waren zu hören. Ein paar verwundete Hruntings wurden hereingebracht, während andere meldeten, daß die Rebellen auf der Stelle getötet worden seien. Die Syndiki saßen, von Hruntings bewacht, niedergedrückt in einer Reihe. Flüsternd überhäuften sie sich gegenseitig mit Beschuldigungen: “Ich wußte, daß Jimmons Plan uns Verderben bringen würde...” “Unsinn! Du warst wie jeder andere letzte Nacht begeistert davon...” Schnorri, der mit einigen der Häuptlinge gesprochen hatte, trat zu Hvaednir und sagte: “Cousin, was hast du mit deiner Armee vor? Du kannst nicht alle deiner Männer hier ansiedeln, selbst wenn sie dazu bereit sind, und die meisten wollen bald möglichst nach Shven zurückkehren. Der Sommer geht dahin, und der Schnee wird das Nadelöhr bald, im Monat des Bären, schließen.” “Ich werde Freiwillige suchen, die hier bleiben”, erwiderte Hvaednir. “Die übrigen mögen nach Hause ziehen, wenn sie es möchten. Du, Schnorri, wirst sie führen. Und meinetwegen -188-
kannst du meinen Platz als nächster Erbe Theoriks einnehmen. Ich werde hier alle Hände voll zu tun haben.” Schnorri seufzte. “Ich muß wohl. Jetzt wünschte ich, eine Stelle an der Fakultät der Akademie von Ottoman angenommen zu haben, als sie mir angeboten wurde.” Hvaednir verbrachte mehrere Stunden damit, seine Herrschaft zu organisieren und seine besten Freunde mit Posten zu bedenken. Dann gähnte er herzhaft. “Madame Roska”, sagte er, “Sie haben Ihre Geldbörse zu Hause gelassen, glaube ich. Darf ich auf Ihre Gastfreundschaft rechnen?” “Aber gewiß, Eure Majestät.” “Dann führen Sie uns dorthin. Du auch, Zdim, sonst kann ich mich mit dieser gutaussehenden Dame nicht unterhalten.” Von Leibwächtern umringt, brachen wir zu Roskas Haus auf. Kurz vor dem Eingang wurden wir auf ein Stöhnen aufmerksam. Ein verwundeter Hrunting lag im Schatten am Straßenrand. Hvaednir befahl den Leibwächtern, den Mann in Roskas Haus zu tragen. Drinnen wurde er auf ein Sofa gelegt. Als Hvaednir ihn untersuchte, tat er seinen letzten Atemzug. “Er muß von einem Irianer niedergestochen worden sein, der sein Gold nicht herausrücken wollte”, sagte Hvaednir. “Wir können das nicht durchgehen lassen, aber ich weiß nicht, wie wir den Schuldigen finden können.” Er wirkte verwirrt und sagte dann zu einem Wachtposten: “Hole meinen Cousin Prinz Schnorri. Ich muß ihn um Rat fragen.” Die übrigen Wachen postierte er vor dem Haus. Roskas Diener lugten ängstlich durch die Türspalten. Hvaednir ließ seine massige Gestalt in einen Sessel nieder, nahm seinen goldenen Helm und das juwelenbesetzte Wehrgehänge ab und rieb sich die Stirn. “Bei Greipneks Nase, ich bin erschöpft!” sagte er. “Ich -189-
glaube, ich werde die Hauptstadt des Königreichs in eine normale Stadt verlagern. In dieser Höhle eingesperrt zu sein, macht mich schaudern.” “Ja, und meine Geldbörse...”, begann Roska, aber Hvaednir hob die Hand. “Ich würde nicht daran denken, eine so liebliche Dame ihres Golds zu berauben. Sie dürfen Ihr Geld behalten. Aber darf ich um einen Krug Wein bitten?” “Awad!” rief sie. Ängstlich schlurfte der dunkelhäutige Diener ins Zimmer. Als er mich sah, grinste er durch seinen schwarzen Bart. Roska schickte ihn um Wein, den Hvaednir schon bald in großen Schlucken trank. “Ich brauche einen Freund unter den Irianern”, sagte er plötzlich. “Ich weiß, wie viele die Ereignisse des heutigen Tages verabscheuen, auch wenn sie sie selbst herbeigeführt haben. Mit der Zeit hoffe ich zu beweisen, daß ein König der edlen Hruntings sie weitaus gerechter als jene geldgierigen Syndiki regieren wird.” Er leerte noch einen Pokal und stand dann schwankend auf. “Roska, meine Teure, würden Sie mir bitte Ihr Haus zeigen?” “Aber gewiß, Eure Majestät.” “Dann wollen wir. Bleib hier, Zdim. Ich muß die wenigen Sätze Novarianisch, die ich kann, mit unserer lieblichen Gastgeberin üben. Wenn ich sie beherrschen soll, dann werde ich wohl auch ihr Kauderwelsch lernen müssen.” Roska führte Hvaednir durch den Wohnraum und wies ihn auf die Bilder, Vasen und andere Schmuckstücke hin. Dann verschwanden sie nach oben. Awad schlich herein und drückte meine Hände. “Meister Zdim! Ich freue mich, dich zu sehen. Die Herrin hat deine Abenteuer in dem Kristall verfolgt und uns alles darüber erzählt, -190-
aber wir möchten die Geschichte aus deinem eigenen Mund hören. Du wirst hoffentlich wieder deinen Dienst hier aufnehmen?” “Ich weiß noch nicht”, entgegnete ich. “Ich könnte selbst ein wenig Wein gebrauchen. Er ist von Vindium, oder?” “Jawohl. Und jetzt zu deiner Geschichte. Du bist am ersten Tag im Monat des Adlers aufgebrochen...” Ein Schrei aus den oberen Räumen unterbrach ihn. Da ich vor allem noch Madame Roska diente, sprang ich aus dem Sessel hoch und rannte, von Awad gefolgt, die Stufen hinauf. Einem weiteren Schrei folgte Roskas Hilferuf: “Zdim! Rette mich!” Der Ruf kam aus ihrer Schlafkammer. Dort hinein eilte ich. In der Kammer waren Roska und Hvaednir. Roska, das Gewand vom Körper gerissen, lag rücklings auf dem Bett. Hvaednir beugte sich, ein Knie auf dem Bett, über sie. Der Prinz versuchte, Roska mit einer Hand niederzuhalten, während er mit der anderen am Verschluß seiner Hose fingerte. Ich hatte von dieser Erstebenen-Tätigkeit, sie heißt “Vergewaltigung”, gehört; dabei kopuliert ein Männchen mit einem Weibchen gegen dessen Willen. So etwas gibt es bei uns auf der Zwölften Ebene nicht, und ich hatte mich schon wiederholt gefragt, wie gewisse mechanische Probleme bei der Ausführung dieser Handlung - die in den meisten menschlichen Gesellschaften als Verbrechen gilt - überwunden wurden. Da Roska mir jedoch befohlen hatte, sie zu retten, konnte ich meine Neugierde nicht befriedigen, indem ich stehenblieb und mit philosophischer Objektivität zusah. Ich machte mich an diese Aufgabe, ohne alle ihre logischen Implikationen zu überdenken. Ich sprang Hvaednir von hinten an, schloß meine Klauen um seinen Körper und riß ihn vom Bett zurück. Der Mann kämpfte sich aus meinem Griff frei, obwohl seine Tunika und die Haut darunter dabei arg zerrissen wurden. Er -191-
versetzte mir einen Schlag unter den Kiefer, der mich taumeln ließ und, so wage ich zu behaupten, einen Erstebener quer durch das Zimmer hätte fliegen lassen. Dann verkeilten wir uns wieder. Ich versuchte, seine Kehle aufzureißen, aber er bekam einen Ellbogen unter meinen Kiefer und drückte mich weg. Die Kraft des Mannes erstaunte mich. Ich war schon vorher in Handgefechte mit Erstebenern verwickelt worden und hatte sie alle als ziemlich schlappe Schwächlinge kennengelernt. Doch Hvaednir war nicht nur ein Riese unter den Novarianern - größer als ich und viel schwerer -, seine Muskeln schienen auch von ungewöhnlich guter Beschaffenheit. Seine Körperkraft war der meinigen, wenn überhaupt, nur wenig unterlegen. Stoßend, zerrend und tretend taumelten wir umher. Keiner von uns schien in der Lage, einen entscheidenden Vorteil zu erringen. Da spürte er, wie der Heft eines Dolchs in meine Hand gedrückt wurde. Ich trieb die Klinge in Hvaednirs Körper, einmal, zweimal und dreimal. Der massige Hrunting stöhnte und zuckte in meinem Griff, sein Körper wurde kraftlos. Als ich ihn losließ, sank er zu Boden. Hinter ihm wies der kleine Awad auf den langen Krummdolch in meiner Hand. “Meiner”, sagte er. “Ich danke dir”, sagte ich und beugte mich über meinen Gegner. Eine schnelle Untersuchung zeigte mir, daß Hvaednir, der Beinahe-König von Ir, tot war. Madame Roska saß auf ihrem Bett und bedeckte ihre Blöße mit einem Laken. Sie sagte: “Gute Götter, Zdim! Warum hast du ihn getötet?” “Was? Aber Madame, ich habe Sie um Hilfe rufen hören und wollte Ihren Befehlen Genüge tun. Haben Sie das nicht gewollt?” “Nein! Ich konnte nicht zulassen, daß er mir seinen Willen aufzwingt, ohne daß ich mich als Dame dagegen wehrte, aber -192-
das! Das kann uns alle das Leben kosten.” “Es tut mir leid, Madame, aber niemand hat mir diese Spitzfindigkeiten erklärt. Ich versuche, zu Ihrer Zufriedenheit tätig zu sein.” “Das nehme ich wohl an, armer Zdim. Aber meine sogenannte Tugend ist keine Angelegenheit von so großer Bedeutung, denn ich bin Witwe und alt genug, um die Mutter dieses Barbaren sein zu können. Vielleicht hätte ich es sogar genossen, wäre er erst einmal zum Ziel gekommen. Später, als seine Mätresse, hätte ich ihn zum Wohle Irs gelenkt. Nun ja, das ist jetzt alles nebensächlich. Die entscheidende Frage ist: was nun?” Ich hörte Schnorri rufen: “Cousin Hvaednir! Eure Majestät! Wo seid ihr?” “Schnorri ist unsere einzige Hoffnung”, sagte ich. “Lassen Sie ihn mich bitte holen.” Ohne weitere Argumente abzuwarten, steckte ich den Kopf zur Tür hinaus und rief: “Prinz Schnorri! Hier oben! Kommen Sie allein!” “Stimmt etwas nicht?” fragte er, als sein Kopf oben auf der Treppe erschien. “Urteilen Sie selbst, Sir. Ob gut oder schlecht, es ist von höchster Wichtigkeit.” Als er Hvaednirs Leiche sah, eilte er zu ihm und vergewisserte sich, daß er tot war. “Wer hat das getan? Wie ist das passiert?” “Ich werde es erklären”, sagte ich. Ich stand mit dem Rücken zur Tür für den Fall, Schnorri versuchte hinauszustürzen und seine Männer zu rufen. Falls nötig, hätte ich ihn getötet, seinen Leibwächtern erzählt, ihr Kommandant sei gerade bei einer Tätigkeit, bei der er nicht gestört werden möchte, und wäre dann aus der Stadt geflohen. Als ich fertig war, sagte Schnorri: “Ich hätte wissen müssen, daß der betrunkene Narr sich auf etwas -193-
einläßt. Hätte er einen edlen Geist gehabt, der diesem prächtigen Körper entsprach... Aber was nun? Die Krieger werden dich langsam rösten, wenn sie es herausfinden. Ich verstehe deine Sicht der Dinge; aber das liegt daran, daß ich unter Novarianern gelebt habe und daher eigentlich nur noch ein halber Nomade bin.” “Sir”, sagte ich, “haben Sie die Leiche im Wohnraum bemerkt?” “Ja, und ich wollte Sie danach fragen.” Ich erklärte die Anwesenheit des toten Kriegers. “Und jetzt”, fuhr ich fort, “sollten wir folgendes tun: Wir erzählen den Soldaten, daß Lady Roska sich in ihr Zimmer zurückzog, daß der Tote, der nur betäubt war und nicht ernsthaft verletzt, das Bewußtsein wiedergewann, nach oben schlich und versuchte, Madame Roska zu vergewaltigen; daß Hvaednir auf ihren Schrei hin zu ihrer Rettung herbeieilte; und daß in dem Kampf er und der Krieger jeder dem anderen eine tödliche Verletzung beibrachte. Dann bleibt kein Schuldiger mehr übrig.” Es gab einige Diskussionen über diesen Plan, aber niemand konnte einen besseren ersinnen. Roska schlüpfte in das angrenzende Ankleidezimmer, um sich herzurichten. Ich sagte zu Schnorri: “Immerhin, wenn Ir schon von Nomaden regiert wird, wären Sie ein besserer Monarch als Ihr verblichener Cousin.” “Nicht ich!” sagte er. “Ich werde froh sein, dieser tierischen Hitze zu entkommen und die Krieger mitzunehmen, ehe wir vom novarianischen Luxus verweichlicht werden. Hvaednirs Plan war bestenfalls Vabanque. Ein Klügerer hätte ihn vielleicht ausgeführt; aber dann hätte es den Stamm in der Steppe geschwächt. Wir werden jeden Mann für die Auseinandersetzung mit den Gendings brauchen. Hilf mir, den toten Krieger hinaufzutragen, damit unsere Geschichte glaubwürdig erscheint.” -194-
XII. Admiral Diodis Ich sagte: “Da fällt mir ein, Prinz Schnorri, daß Madame Roska und ich Ir besser verlassen, ehe Sie das Ableben Ihres Cousins verkünden. Ihr Menschwesen werdet durch Gerüchte leicht erregt. Wenn einige eurer Männer sich eine andere Geschichte ausdenken, möchte ich mich nicht gerne in ihrer Gewalt befinden.” Nach einer kurzen Diskussion akzeptierte Schnorri, daß wir recht hatten. Wir gingen in den Wohnraum hinunter, wo Schnorri einen Häuptling zu sich rief. “Bring diese beiden aus Ardymans Turm hinaus”, sagte er, “und stelle ihnen zwei Pferde zur Verfügung!” Eine Viertelstunde später waren wir auf dem Weg. “Wohin, mein lieber Zdim?” fragte Roska. “Mir scheint, Admiral Diodis wird uns die sicherste Zuflucht bieten, bis dies alles vorüber ist. Wird er angegriffen, kann er den Kyamos hinab und auf und davon segeln.” Und so war es auch. Der kräftige, grauhaarige Admiral begrüßte uns herzlich an Bord seines Flaggschiffs. Er hatte seine Leute schon auf die Schiffe zurückbeordert, und die Flotte der Flachboote lag ein gutes Stück vor der Küste vor Anker, so daß Überraschungen unwahrscheinlich waren. Auf dem Achterdeck wurde uns ein heißes, rötlichbraunes Getränk serviert. Der Admiral erklärte: “In seinem Ursprungsland, Kuromon im Fernen Osten, wird es›Tee‹genannt. Es kommt in Form getrockneter Blätter nach Salimor, von dort nach Janareth ins Innere Meer und dann auf dem Landweg über die Lograms nach Fedirum und schließlich wieder über See nach Iraz. Hoffen wir, daß es eines Tages auch in Novaria verkauft wird. Wir brauchen ein gutes Getränk, das -195-
uns nicht betrunken macht. Und jetzt, Zdim, erzähl uns die Geschichte deiner Abenteuer!” Ich fing mit meiner Geschichte an. Aber nachdem ich einige Minuten geredet hatte, bemerkte ich, daß Admiral Diodis und Madame Roska mir wenig Aufmerksamkeit schenkten. Statt dessen betrachteten sie einander und tauschten ab und zu flüsternde Nichtigkeiten aus. Sie lächelten und lachten viel. Schließlich wurde es so deutlich, daß ich meinen Erzählfluß versiegen ließ - sie bemerkten es gar nicht - und meinen Tee genoß. Am folgenden Tag kamen Prinz Schnorri und einige seiner Häuptlinge ans Ufer geritten und winkten herüber. Der Admiral und ich wurden in einem Ruderboot so weit herangerudert, daß eine Verständigung möglich war. “Kommt nach Ir zurück und wünscht uns Lebewohl!” sagte Schnorri. “Seid ihr zum Abmarsch bereit?” fragte der Admiral. “Gewiß. Fürchtet euch nicht; die Geschichte über den Tod meines Cousins traf auf keinerlei Schwierigkeiten, und meine Gefühle sind voller Freundschaft.” Da er Novarianisch sprach, konnten seine Häuptlinge ihn nicht verstehen. “Wir begrüßen das”, sagte Diodis, “aber dieser Ort ist für ein Lebewohl so gut wie jeder andere.” “Ich weiß, was Sie vermuten, aber so ist es nicht. Zur Mittagsstunde werde ich den Scheiterhaufen zur Bestattung meines Cousins anzünden und den Befehl zum Abmarsch geben. Es würde sich lohnen, Admiral, wenn Sie dabei wären, denn ich nehme an, daß Ir auch Ihnen Geld schuldet. Und jetzt wäre es an der Zeit, Ihre Rechnung zu präsentieren.” “Aber wenn die Shveniten die Stadt leergefegt haben...” -196-
“Das haben wir nicht. Ich habe nur so viel genommen, wie für die Erfüllung von Zdims Vertrag erforderlich war. Der Rest sollte für Zolons Ansprüche ausreichen. Bringen Sie eine Schutztruppe von Seeleuten mit, wenn Sie uns nicht trauen. Oder bleiben Sie auf Ihren Schiffen, wenn Sie es vorziehen, und versuchen Sie, Ihre Bezahlung vom Syndikat später einzutreiben, wenn seine Dankbarkeit durch Haarspaltereien und Eigennutz schwächer geworden ist.” “Wir werden kommen”, sagte der Admiral. Prinz Schnorri warf eine Fackel in den Scheiterhaufen, auf dem Hvaednirs Leichnam lag. Als das auflodernde Feuer den Toten in Flammen und Rauch verbarg, brachen die versammelten Hruntings in Schluchzen aus. Kaum eine Wange, die nicht von Tränen feucht war. Schnorri sagte leise zu mir: “Kommen Sie in hundert Jahren zurück, Zdim, und Sie werden feststellen, daß Hvaednir der Held eines Legendenzyklus’ geworden ist - das reine, edle und hehre Ideal der Hruntings. Seine Schwächen werden vergessen sein, während seine Tugenden über alle Kenntlichkeit hinaus übertrieben sind.” Wir sprachen über dies und das, und ich sagte: “Bitte sagen Sie mir eins, Prinz, Sie kennen die Erstebener besser als ich. Sehen Sie dieses Paar dort, Admiral Diodis und Madame Roska?” “Jawohl.”. “Nun, seit wir das Flaggschiff gestern betreten haben, verhalten sie sich völlig ungewöhnlich - zumindest, soweit ich ihren gewöhnlichen Charakter beurteilen kann -, und das in solch bemerkenswertem Maße, daß ich, der ich mich mit den Merkwürdigkeiten der Ersten Ebene vertraut wähnte, völlig verblüfft bin.” “Was verblüfft Sie so?” “Im Grunde ist Roska sar-Blixens eine ernsthafte, zurückhaltende Dame, voller Würde und Persönlichkeit, auch -197-
wenn sie ständig ihre Meinung äußert. Admiral Diodis ist bärbeißig, sachlich und energisch. Beide sind, sollte man meinen, so reif, wie man es von einem Menschenwesen nur erwarten kann. Aber wenn sie beisammen sind, scheinen sie wie Kinder voll unbefangener Fröhlichkeit und alberner Bemerkungen zu stecken, nur noch aneinander interessiert zu sein und alles um sich herum zu vergessen.” “Sehr einfach”, sagte Schnorrt. “Sie sind verliebt.” “Aha! Ich habe bei meinen Studien über dieses Gefühl gelesen, aber da ich nie Zeuge dieser Erscheinung geworden bin, habe ich sie nicht erkannt. Werden sie nun heiraten?” Er zuckte die Achseln. “Wie soll ich das wissen? Ich weiß nicht, ob Diodis schon eine Frau hat; oder, wenn er eine hat, ob die Gesetze Zolons es erlauben, daß er eine zweite nimmt. Ich wage jedoch die Behauptung, daß der alte Seebär und Ihre liebliche Herrin sehr bald einen Weg finden, gemeinsam dasselbe Bett zu wärmen. Und jetzt müssen wir aufbrechen. Wenn Sie jemals nach Ottoman kommen, sagen Sie dem alten Doktor Kylus, daß ich wünschte, sein Angebot eines Lehrstuhls in der Akademie angenommen zu haben. Ich weiß, ich bin zu fett, faul und friedfertig, um ein nomadischer Kriegsführer zu sein, aber die Götter scheinen beschlossen zu haben, mich dazu zu machen.” “Könnten Sie denn die novarianische Sommerhitze ertragen? Sie scheint Ihnen zu schaffen zu machen.” “O doch, mit einer Sommerresidenz in den Lograms ginge sogar das.” “Was hält Sie denn davon ab, nach Ottoman zu reiten und die akademische Laufbahn einzuschlagen?” “Stammespflicht und Stammestreue, verflucht seien sie. Lassen Sie es sich Wohlergehen!” Mit der Hilfe zweier Krieger hievte er sich in den Sattel. Dann -198-
winkte er der Menge zu und trabte davon. Die Schwadrone der Hrunting-Kavallerie formierten sich hinter ihm, dann folgten die Mammuts und die Nachhut. Schnorri mochte ein netter Bursche sein, aber wir alle waren glücklich, diese furchtbare Heerschar nur noch von hinten zu sehen. Der Staub ihres Abmarschs hatte sich kaum gelegt, als auch der Admiral seine Rechnung für die Expedition nach Algarth und für seine Hilfe gegen die Paaluaner präsentierte. Jimmon und die übrigen Syndiki schauten entgeistert drein; aber eingeschüchtert, wie sie waren, riskierten sie keinen zweiten Zusammenstoß. Sie zahlten. Als sie im Gildensaal das Geld unter den aufmerksamen Blicken Diodis’ zählten, sagte Roska: “Jeder ist für seinen Anteil bei der Rettung belohnt worden, bis auf den einen Mann - ich meine, das eine Geschöpf -, dem wir am meisten schulden. Und das ist mein Leibdiener Zdim.” “Bei Thios Hörnern!” schrie Jimmon. “So wie es aussieht, werden wir bettelarm, Roska. Wenn du deinen Dämon belohnen willst, Roska - nichts hindert dich daran.” Ihr Mund nahm jene Stellung ein, die unter den Menschen Trotz andeutet. “Es wäre nur gerecht, daß sich alle in die Belohnung teilen, denn alle hatten ihren Vorteil. Habe ich nicht recht, Diodis?” “Versenkt mich!” sagte der Admiral. “Das ist nicht meine Angelegenheit; aber wenn du darauf bestehst, meine teure Roska, dann muß ich sagen, daß du wie immer recht hast. Doch vielleicht wäre es gut, Meister Zdim zu fragen, was er gern möchte. Setzt nicht einfach voraus, daß er wie ein Mensch Silber und Gold begehrt.” “Nun, Zdim?” sagte Jimmon. “Meine Herren”, sagte ich, “ich bin bemüht, meine Verpflichtungen zu erfüllen. Aber da Sie mich schon fragen: Am liebsten wäre ich von meiner Dienstverpflichtung befreit, wie die anderen Sklaven und Leibdiener von Ir. Und dann -199-
möchte ich zu meiner Ebene zurück, zu meiner Frau und meinen Eiern. Ach ja, und außerdem würde ich es schätzen, einige Barren Eisen mitzunehmen.” Die Erleichterung auf den Gesichtern der Snydiki hätte mich lachen lassen, wäre ich dieses menschlichen Lauts fähig und in Besitz jener menschlichen Eigenschaft gewesen, die man Sinn für Humor nennt. Die Zauberhandlung wurde im Sanktum von Doktor Maldivius, unter dem zerstörten Tempel des Psaan in der Nähe von Chemnis, durchgeführt. Maldivius, der durch seine Zauberkünste der Kannibalen-Hüpferkavallerie entgangen war, als diese das Land nach Menschenfleisch durchkämmte, war zu seiner alten Heimstatt zurückgekehrt. Als ich dort ankam, war ich überrascht, eine weitere gebeugte, weißhaarige Gestalt dort zu sehen. “Yurog!” rief ich. “Was machen Sie hier? Ich dachte, Sie wären mit den Hruntings in die Ellornas zurückgekehrt.” “Ich Lehrling von Doktor Maldivius. Ich lernen großer Zauberer sein.” Zu Maldivius sagte ich: “Ist es für einen Magier fortgeschrittenen Alters nicht ungewöhnlich, einen Lehrling zu nehmen, der genau so alt ist?” “Das ist meine Sache”, knurrte Maldivius. “Yurog tut, was ich ihm sage, und das ist mehr, als ich von jungen Burschen behaupten kann, mit denen ich es versucht habe. Ahemm. Und jetzt nimm diesen Barren und setz dich in das Diagramm.” Madame Roska unterbrach ihr Händchenhalten mit dem Admiral lang genug, um vorzutreten und einen Kuß auf meine Schnauze zu drücken. “Lebwohl, Zdim Schätzchen!” flötete sie. “Ich habe Maldivius den Saphir zurückgegeben, um uns seiner Hilfe zu versichern. Grüß deine Frau und deine Eier von mir.” “Vielen Dank, Madame. Ich war stets bemüht, zu Ihrer Zufriedenheit tätig zu sein.” -200-
Diodis fügte hinzu: “Braucht ihr Dämonen einen Admiral, um eure Marine zu organisieren? Ich habe gedacht, ich würde gern mal ein Jahr freinehmen und eine andere Ebene besuchen.” “Da wir uns nicht in der Kriegskunst üben, haben wir keine Kriegsmarine”, sagte ich. “Aber wir besitzen Schiffahrt. Wenn die Gelegenheit sich ergibt, Sir, werde ich den entsprechenden Dämonen von Ihrem Interesse berichten.” Ich setze mich auf die beiden Hundertpfundbarren Eisen. MaldiviusundYurogbegannenmitihremZauberspru eh. Bevordie Umgebung verschwand, winkte ich den Erstebenern zu, die zu meiner Verabschiedung gekommen waren. Ich war froh, bis zum Ende meines Aufenthalts mit diesen Menschen in Kontakt bleiben zu können. Viele andere, mit denen ich in Kontakt gekommen war, wie Bagardo der Große, Aithor aus den Wäldern und Gavindos der Ringer-Archont, waren aus meinem Gesichtskreis entschwunden; ich weiß nicht, wie es ihnen ergangen ist. Ich war froh, erfahren zu haben, daß auch Ungah der Affenmensch den Kannibalenkrieg überlebt hatte. Ein paaluanischer Wachtposten sah ihn im Lager und verletzte ihn mit einem Spieß am Bein. Er wäre getötet worden, aber in diesem Augenblick lenkte der Tumult, der durch meine Entdeckung am anderen Ende des Lagers verursacht wurde, den Wachtposten ab, und Ungah entkam. Er kam bis zur Grenze von Metouro, aber dann verschlimmerte sich die Wunde an seinem Bein so sehr, daß er nicht weitergehen konnte. Er wäre umgekommen, hätte ihn nicht eine einheimische Hexenfrau mitgenommen und gesund gepflegt. Als er wieder in der Lage war zu reisen, war der Krieg vorbei; also ließ er sich auf Dauer bei seiner Retterin nieder. Man erzählte mir, daß sie eine einzigartig häßliche Frau sei; aber für Ungah sah sie zweifellos wie ein Weibchen seiner eigenen Rasse und daher genau wie sein Herzenswunsch aus. -201-
Provost Hwor blickte auf die beiden Barren. “Warum hast du nicht mehr mitgebracht?” bellte er. Ich hatte ein Lob erwartet und wurde zornig. “Weil das alles ist, was ihr Zauber über die Dimensionsgrenze bringen kann!” schrie ich. “Wenn sie dir nicht gefallen, dann schick sie doch zurück!” “Na, na, na, mein guter Zdim. Es war nicht böse gemeint. Yeth wird sich freuen, dich ein halbes Jahr vor der Zeit zu sehen.” “Wie ist es unserem Gelege ergangen?” “Die meisten Eier sind sicher ausgebrütet, habe ich gehört.” “Dann bin ich schon auf dem Heimweg!” EINE PETITION AN DEN PROVOST VON NING, VON ZDIM AKHS SOHN UND SEINER FRAU, YETH PTYGS TOCHTER. Sie sind mit den Umständen meiner Dienstzeit auf der Ersten Ebene vor wenigen Jahren vertraut. Als ich sicher zur Zwölften Ebene zurückgekehrt war, glaubte ich, nie wieder den Wunsch zu verspüren, die Erste Ebene wiederzusehen, die soviel weniger rational, logisch und berechenbar ist als die unsere. Jetzt jedoch, da unser Nachwuchs dem Schulalter entwachsen und daher unabhängig ist, würden meine Frau und ich gerne wissen, ob Vorbereitungen dafür getroffen werden könnten, daß wir zu einem ausgedehnten Aufenthalt auf die Erste Ebene umziehen. Im Falle, daß die Aufrechterhaltung der Energiebalance eine gleiche Anzahl Erstebener zu dieser Ebene gebracht werden müssen, kenne ich zumindest zwei Erstebener, die gesagt haben, sie würden sich gern zur Zwölften Ebene verändern. Ich werde sie aufsuchen und den Transport arrangieren. Was meinen Lebensunterhalt angeht, habe ich verschiedene Pläne im Kopf. Zum Beispiel weiß ich den Namen eines -202-
Professors in einer ihrer Lehrstätten, der eine Position für mich haben könnte. Schließlich bin ich ein ausgebildeter Philosoph, und aus meinen Erfahrungen auf der Ersten Ebene schließe ich, daß die Wissenschaft der Philosophie dort sich in völligem Durcheinander befindet. Wenn das fehlschlägt, so habe ich immer noch andere Verbindungen und Bekanntschaften. Fürchten Sie nicht, ich könnte nicht in der Lage sein, ein angemessenes Einkommen zu verdienen. Wenn Sie sich wundern, warum ich diese Petition aufsetze, dann müssen Sie wissen, daß jene Welt trotz ihrer Gefahren und Erschwernisse, trotz der zügellosen Irrationalität ihrer Bewohner viele Reize besitzt. Man langweilt sich nie, wie es, so fürchte ich, auf unser gut funktionierenden Welt oft der Fall ist. Irgend etwas Interessantes geschieht immer. Hochachtungsvoll Ihr Zdim ENDE
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