Duell der Gespenster Ein Gespenster-Krimi von Robert Lamont
Wer stirbt, lebt in der Erinnerung seiner Mitmenschen weit...
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Duell der Gespenster Ein Gespenster-Krimi von Robert Lamont
Wer stirbt, lebt in der Erinnerung seiner Mitmenschen weiter, und er ist erst dann wirklich tot, wenn diese Erinnerung vollständig er loschen ist, sagt man. Man kann Erinnerungen verdrängen und sich bemühen zu vergessen, was einmal war. So, wie die Menschen in Neuvy-sur-Loire die Erinne rung an die Brüder deMougon verdrängten. »Wenn du zwischen den Ruinen stehst, so frage nie, was geschah und wer dort lebte, und tra ge keinen Streit an jene Stätte, denn dies bringt nur größtes Unheil«, gab eine Generation an die andere weiter. Aber wenn verborgene Erinnerungsfetzen aus den verkapselten Tie fen des Unterbewußtseins hervorbrechen, lebt auch der uralte Fluch wieder auf, und die Gespenster der Vergangenheit finden sich ein zum Höllentanz . . .
»Laß uns doch nach Sancerre weiterfahren«, hatte Jacqueli ne Morret vorgeschlagen. »Da gibt es wenigstens etwas zu se hen. – Oder nach Cosne-Cours-sur-Loire, wo es einen Camping platz gibt.« Aber Maurice Loup wollte nicht mehr weiter fahren. »Wir ma chen’s uns draußen in der Landschaft gemütlich, da kann uns keiner stören. Ich mag heute abend keinen großen Rummel mehr. Ich will außer dir keine Menschen mehr um mich sehen.« Ganz zufrieden war Jacqueline damit nicht, aber sie konnte ihn verstehen. Er hatte den Fahr-Streß, und sie hatte ihn in den letz ten Tagen auch ganz hübsch herumgescheucht. Seit einer Woche waren sie auf großer Urlaubsfahrt unterwegs, mit einem Wohn mobil, und klapperten alle nur erdenklichen Sehenswürdigkeiten rechts und links der Loire ab. Für heute hatte Maurice die Nase gestrichen voll. Auf der Stra ße war der Teufel los gewesen und dreimal waren sie nur haar scharf einem Unfall entgangen, weil ein paar Möchtegern-RallyeFahrer die Straße mit der Wüstenstrecke Paris-Dakar verwech selten und keinerlei Rücksicht auf andere Verkehrsteilnehmer nahmen. Und auch wenn es bis zum Campingplatz nur noch gut zehn Kilometer waren – die wollte er nicht mehr fahren. »Dann laß mich doch fahren«, bot Jacqueline an. Aber Maurice wollte sie nicht ans Lenkrad lassen. Er war der Ansicht, das Wohnmobil sei für Jacqueline zu groß. Immerhin war es fast dreimal so lang wie ihr Renault 5, den sie normalerweise fuhr. Bei Neuvy-sur-Loire war Maurice abgebogen und fuhr in die Landschaft hinein. Auf einer schmalen Straße ließ er das Wohn mobil etwa drei Kilometer weit bergauf klettern, dann stoppte er vor einer Ansammlung von Blumen und Sträuchern, die sich als Wildwuchs mitten im hier fast ebenen Gelände erhoben. Der nächste richtige Waldstreifen war als grauer Strich am Horizont zu erkennen.
Maurice arretierte die Feststellbremse und schaltete den Motor ab. Erleichtert löste er den Sicherheitsgurt und stieg aus. Mehr mals federte er in den Knien durch und reckte sich. Er warf einen Blick zurück über die Straße, die sie gekommen waren. Wenn ihnen hier ein anderes Fahrzeug entgegengekommen wäre, hätte es Schwierigkeiten gegeben. Unten im Tal schimmerte das graue Band des Flusses. Die Dächer der kleinen Ortschaft Neuvy waren ein rötlicher Schatten zwischen Baumwipfeln. Jacqueline kletterte ebenfalls nach draußen. »Vielleicht sollten wir doch noch die paar Kilometer zum Campingplatz fahren«, sag te sie. »Da haben wir Strom und Wasser und brauchen nicht auf unsere eigenen Reserven zurückzugreifen. Oder laß uns an die Loire hinunter fahren, da gibt es bestimmt irgendwo verschwie gene Plätze dicht am Wasser.« Maurice schüttelte den Kopf. »Ich mag nicht«, sagte er. Jacqueline drückte ihm einen Kuß auf die Wange. »Das nächste Mal gibst du wieder den Takt an, und ich gehorche widerspruchslos«, bot er an. »Aber laß mich diese Nacht einmal fernab der Zivilisation bleiben.« »Ich sage ja schon gar nichts mehr.« Sie lächelte ihn an. »Ko chen wir im Mobil, oder versuchen wir’s mit einem Lagerfeuer?« »Das ist ’ne gute Idee«, stellte er fest. »Hier wird es uns kaum jemand verbieten. Und in dem Gestrüpp da drüben finden wir sicher genug Feuerholz. Ich gehe schon mal, was sammeln . . .« »Warte, ich komme mit.« Plötzlich sehnte sich Jacqueline gar nicht mehr so sehr nach dem Komfort eines modernen Camping platzes. Auf den wenigsten Plätzen war offenes Feuer gestattet, und wenn sie sich vorstellte, nachher mit Maurice eng aneinan dergekuschelt in die prasselnden und flackernden Feuerzungen zu schauen, wurde ihr bereits bei dem Gedanken daran warm. Maurice holte einen Eimer aus dem Wohnmobil. Darin ließ sich
kleineres Holz transportieren. Größere Teile würden sie so schlep pen müssen. Maurice hatte auch eine kleine Axt mitgebracht. So gerüstet, strebten sie der Ansammlung von einzeln stehenden Bäumen und dichtem Strauchwerk zu. Der 26jährige dunkelblonde Riese, der an der Sorbonne Wirt schaftswissenschaften studierte, schob sich durch das Unterholz vorwärts. Ehe er anfing, gesunde Triebe und Äste abzuhacken, wollte er sich erst einmal umsehen, ob abgebrochene Äste herum lagen. Plötzlich stoppte er. »Jackie . . . ?« »Was ist denn?« Sie kam hinter ihm her. »Hast du ’ne Leiche gefunden oder eine Schatztruhe?« »Weder noch«, sagte er. »Schau dir das an. Steine . . . das ist doch ein Mauerrest. Losgebrochen . . . moosüberwuchert . . .« »Tatsächlich. Hier muß einmal ein Haus gestanden haben.« »Oder jemand hat Bauschutt abgeladen«, überlegte Maurice. Er setzte den Eimer und die darin liegende Axt ab und kauerte sich neben das Mauerstück. Das waren Lehmziegel, mit zerbröckeln dem Mörtel aneinandergefügt. Ein Brocken von einem halben Meter Länge, vier Steinreihen hoch. Aber wie kam dieses einzelne Mauerfragment hierher? »Hier . . . ist noch etwas«, rief Jacqueline. Augenblicke später fand Maurice in der entgegengesetzten Richtung weitere Brocken. Und dann stießen sie auf etwas, das Ähnlichkeit mit einem Funda ment hatte. »Ein Haus . . . ? Die Grundmauern eines Hauses?« Aber das mußte uralt sein und die Zerstörung lange zurück liegen. »Vielleicht ist es im Krieg zerstört worden«, vermutete er. »Glaube ich nicht«, widersprach Jacqueline. »Siehst du irgend wo Bombentrichter? Und selbst für den ersten Weltkrieg ist es viel zu alt. Schau dir den Baum da drüben an. Ein paar von sei nen Wurzeln gehen über das Mauerwerk hinweg. Das heißt, es
war schon eine Ruine, als der Baum erst gerade keimte. Und der sieht mir aus, als hätte er schon mehr als hundert Jahre auf dem Buckel.« »Achtzehnsiebzig-einundsiebzig hat’s auch Krieg gegeben, den die Preußen leider gewonnen haben«, erinnerte Maurice. Jacqueline wollte dennoch nicht an einen Kriegsschaden glau ben. Sie schritt die Mauerreste ab. An einer Stelle erhob sich ein höher aufragendes Teilstück, alles andere war bis auf das Fundament abgetragen. Und erstaunlich wenig Steinreste und Ziegelbruch waren zu sehen. Gestrüpp überwucherte den größten Teil dieser Anlage. Das Haus mußte, als es noch heil und bewohnt war, relativ groß gewesen sein. Ein Herrenhaus eines Gutshofes vielleicht . . . »Wir müßten mal im Dorf nachfragen«, schlug Jacqueline vor. »Vielleicht kann man uns da etwas erzählen.« »Aber nicht mehr heute«, brummte Maurice. »Morgen ist auch noch ein Tag.« Das schlanke Mädchen mit den nixengrünen Augen und dem kupferroten Haar nickte. »Sicher, Maurice. Mehr will ich ja auch gar nicht von dir verlan gen. Außerdem – wenn wir wieder hier ankämen, wäre es bereits dunkel.« Maurice nickte. »Trotzdem wüßte ich schon gern, was hier passiert ist«, mur melte Jacqueline grüblerisch.
� Erstes, zögerndes Erwachen . . .
� Bernard Girodet genoß seinen Urlaub. Er war anspruchslos und kam mit wenigem aus. Das paßte in einen Rucksack, und das Zelt
nahm auf dem Fahrradgepäckträger auch nicht gerade viel Platz weg. So fiel für ihn lediglich die Verpflegung an. Billiger konnte er nie wieder Urlaub machen, war an keine festen Hotelbuchungen gebunden und sah eine Menge von der Landschaft, durch die er radelte. Wo es ihm gefiel, blieb er, schlug das Zelt auf und lernte die Gegend kennen. Und die Mädchen. Er war jung, sah gut aus, und sein Lachen zog die Mädchen an. Und er zog sie aus – meist schon am ersten Abend. Bei Yvette hatte es einen Tag länger gedauert, und er hatte schon überlegt, ob er nicht diesen Versuch aufgeben sollte, aber sie sah mit ihrem Stupsnäschen so süß aus und war so erfrischend unkompliziert, daß er doch noch ein wenig mehr Mühe investiert hatte. Daß sie ihn nicht in ihr Zimmer lotsen wollte, weil sie noch bei ihren Eltern wohnte und keinen separaten Eingang besaß, konnte ihm nur recht sein. Ihre Eltern interessierten ihn schließlich nicht. Also hatten sie sich zu zweit dorthin zurückgezogen, wo er sein Zelt aufgebaut hatte. Weit genug vom Dorf entfernt, daß niemand über ihn stolpern konnte – wildes Campen war gar nicht gern gesehen in dieser Gegend, aber Campingplätze kosteten Geld, und meist mußte man sich da auch noch vorher anmelden. Beides war nicht nach seinem Geschmack. Alldieweil Yvette weder Auto noch Fahrrad besaß, hatte er sie kurzerhand auf seinem Drahtesel mitgenommen. Hinter einem mitten in der Landschaft wachsenden Kleingehölz, aus dem ein paar Bäume wie Türme aufragten, stand sein Zelt, war die kleine Feuerstelle, und wurden sie auf keinen Fall von jemandem vermu tet. Weder von dem Eigentümer dieses Feldes, noch von Yvettes Eltern. Die glaubten, sie sei mit einer Freundin zur Disco in die Stadt gefahren. Aber das, was Bernard ihr bot, machte viel mehr Spaß als Disco. Er war beileibe nicht der erste Junge, mit dem sie schlief, aber er hatte eine Menge mehr drauf als alle anderen, mit denen sie
bisher zusammen gewesen war, und sie hatte ihn im Verdacht, daß er die Mädchen geradezu reihenweise vernaschte. Aber es störte sie nicht, wenn doch seine gesammelten Erfahrungen eines ausgefüllten Liebeslebens jetzt ihrem Genuß zugute kamen, und sie wußte ja auch, daß sie nicht die letzte Frau in seinem Leben bleiben würde. Morgen oder übermorgen zog er weiter, und dann war alles wieder vorbei. Sie wußte es, aber es machte ihr nichts aus. Gestern hatte sie noch gezögert, aber in der Nacht hatte sie sich entschieden. Und sie bereute diese Entscheidung nicht. Sie genoß, was Bernard ihr schenkte, und sie gab mit Vergnügen alles zurück. Atemlos geworden, pausierten sie nach einer langen Weile. Über ihnen zogen weiße Wölkchen am dunkler werdenden Himmel ent lang. Die Sonne stand schon tief, und es war etwas kühler gewor den. Aber sie merkten beide nichts davon. Außerdem wußten sie verflixt gut, wie sie sich gegenseitig wieder wärmen konnten. Sie lächelte. »Woran denkst du?« fragte er und wickelte eine ihrer Haar strähnen um seine Finger. »Jetzt müßten Suzette und ich gerade in die Disco stürmen, nach der üblichen langen Parkplatzsuche«, sagte sie. »Was ist, wenn deine Eltern Suzette jetzt über den Weg laufen?« »Sie laufen nicht. Suzette ist nämlich heute wirklich in Briare.« Er nickte zufrieden und küßte sie. »Schön, daß du keine Schwie rigkeiten bekommst. Sag mal, dieses Gestrüpp hier . . . hat es damit eine besondere Bewandtnis? Ich meine, es erhebt sich ein fach so mitten im freien Feld. Wenn ich hier Bauer wäre, würde es mich ungemein stören, und ich hätte es längst gerodet. Oder gibt es etwas, was dagegen spricht?« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Frag auch nicht, sondern küß mich lieber.« Sie reckte sich ihm wieder entgegen.
»Aber du müßtest es doch wissen«, grinste er. »Schließlich wohnst du nur ein paar Kilometer von hier im Dorf.« »He«, protestierte sie. »Es ist nicht gut, zu fragen. Außerdem bin ich ein liebeshungriges Mädchen und kein Auskunftsbüro. Richte dich danach, ja?« »Na gut«, gab er schmunzelnd zurück. »Ich werde meine Neu gierde noch ein wenig bezähmen. Verschieben wir die Fragen auf später, wenn du müde genug geworden bist.« Sie lachte und warf sich auf ihn. »Da kannst du noch lange warten, du Ekel«, rief sie. Und seine zärtlichen Küsse ließen sie in einem erneuten Strudel der Leidenschaft versinken. Das gedämpfte Brummen eines Dieselmotors, das auf der ande ren Seite des Dickichts verstummte, war ihnen beiden entgangen.
� Wacher als zuvor. Gesteigerte Aufmerksamkeit. Was war der Grund des Erwachens? Hoffnung, nicht wieder ins Vergessen zurückstürzen zu müssen . . .
� Maurice und Jacqueline erinnerten sich daran, daß sie nicht als Altertumsforscher in das Dickicht vorgedrungen waren, sondern weil sie Brennholz für das geplante Lagerfeuer sammeln wollten. Der Eimer füllte sich viel zu schnell, und sie mußten ständig hin und her laufen. Aber trotzdem kam nur kleines, dürres Holz zusammen, das recht schnell wegbrennen würde. Maurice spielte mit dem Gedanken, einen jungen Stamm zu fällen und in handliche Scheite aufzuspalten. Plötzlich entdeckte er einen bereits abgehackten Stamm. Er pfiff leise durch die Zähne. Sofort war Jacqueline bei ihm. »Schau an«, murmelte er. »Da hat sich schon einer bedient. Sauber
abgeschlagen und die untersten Äste weggehackt. Das kann noch gar nicht lange her sein.« »Woran siehst du das?« Er berührte die Kanten. »Ich spür’s einfach«, behauptete er. »Gestern abend oder auch heute früh muß es gewesen sein. Na ja, wahrscheinlich haben außer uns auch noch andere Leute diesen Platz entdeckt.« »Du meinst, wir sind nicht allein?« »Vielleicht.« Maurice zuckte mit den Schultern. »Ich hoffe, daß dieser andere Holzfäller weitergezogen ist. Fehlt nur noch, daß er unser Lagerfeuer riecht und sich dazugesellen will, wenn es dunkel wird.« Jacqueline seufzte. »Als wir kamen, haben wir keine Spuren gesehen«, erinnerte sie ihren Gefährten. »Schon. Aber vielleicht hat er sich auch auf der anderen Seite häuslich niedergelassen. Da haben wir ja noch nicht nachgeschaut. Wir sind ja nur hier in dieser Wildnis herumgestrolcht. Aber jetzt will ich’s wissen.« Er drang weiter vor. Schon nach einem Dutzend Metern hellte sich das Dickicht wieder auf, und da vernahm er auch Geräusche. Verdutzt blieb er stehen. »Da ist tatsächlich jemand.« Jacqueline räusperte sich. Sie zupfte an seinen Ärmel. »Komm«, sagte sie nervös. »Laß uns wieder gehen. Wir . . .« »Hm«, unterbrach er sie. Er versuchte die Geräusche einzu ordnen. Die leisen Laute kamen ihm irgendwie bekannt vor. Er machte noch ein paar Schritte vorwärts. Ein Ast knackte unter seinem Schuh. Im gleichen Moment sah er ein kleines Zelt, eine erloschene Feuerstelle, ein Fahrrad und zwei Menschen in inniger Umarmung. Na, da wollte er lieber doch nicht stören, obgleich das Bild recht reizvoll wirkte. Maurice wandte sich um, stieß gegen Jacqueline, und im gleichen Moment wurde hinter ihnen jemand aufmerksam.
Das Mädchen schrie leise auf. »Was zum Teufel . . .« Ihr Partner erhob sich ruckartig, starrte Maurice an. Jacqueline im Hintergrund konnte er noch nicht erkennen. »Verdammter Spanner«, fauchte der Mann am Zelt. »Dir mache ich Beine . . .« Maurice hob abwehrend die Hände. In der Linken hielt er dabei die Axt, die er mit sich herumschleppte. Das mußte der andere mißverstehen. Mit einem Sprung war er an der Feuerstelle und riß ein angekohltes Holzscheit hoch. Mit einer wilden Verwünschung kam er auf Maurice zu. »He, langsam«, warnte Maurice. »Sind Sie verrückt geworden? Ich . . .« »Bernard!« schrie das Mädchen. »Nicht! Hör auf!« Ihre Stimme schien den Mann halbwegs zur Besinnung zu brin gen. Zornrot stand er da, das Holzscheit halb erhoben. Maurice ließ die Arme wieder sinken. »Pardon«, sagte er. »Wir wollten nicht stören. Wir sind auch gleich wieder verschwunden.« »Nicht stören?« fauchte Bernard. »Du hast aber gestört, und wie! Und wenn du nicht in zwei Sekunden verschwunden bist, prügele ich dich windelweich!« Da erst stutzte er, weil sein Gehirn verarbeitete, was Maurice gesagt hatte: »Wir!« Und im Dunkel des Strauchwerks erkannte er auch noch eine junge Frau. Das brachte ihn vollends aus der Fassung. »Das – das ist ja unglaublich . . .« Er hob das Holz wieder und stürmte voran. »Haut ab!« schrie er. »Haut bloß ab, oder es kracht!« »Bernard!« schrie das Mädchen hinter ihm wieder. »Hör auf damit! Hast du den Verstand verloren?« Aber er war schon bei Maurice, der die Axt fallengelassen hatte und den Schlag mit den Händen abwehrte. Ein schneller Judogriff ließ Bernard zurückfliegen. Das Holzscheit segelte durch die Luft.
»Werden Sie jetzt vernünftig?« fragte Maurice. »Ich bringe dich um!« schrie Bernard. Hinter ihm eilte das Mädchen heran, hatte sich hastig die Decke um den Körper geschlungen, auf der sie beide vor einer Minute noch gelegen hatten. Das Mädchen faßte nach Bernards Arm, zerr te den Tobenden zurück. Maurice hob die Axt auf und verschwand mit Jacqueline wieder im Dickicht. »Himmel noch mal«, murmelte er. »Der ist ja wahnsinnig!« Sie sahen zu, daß sie zur anderen Seite kamen. »Vom wilden Affen gebissen ist der ja«, sagte Maurice. »Einfach auf uns loszugehen! Das darf doch einfach nicht wahr sein!« Jacqueline sah an ihm vorbei ins Gesträuch, als fürchte sie, der Wütende würde hinter ihnen wieder auftauchen. »Wie würdest du denn reagieren, wenn uns jemand beim Schäferstündchen stören würde?« fragte sie. »Auf jeden Fall nicht so«, wehrte sich Maurice. »Der Kerl ist ja gemeingefährlich.« »Er hat die Axt gesehen«, überlegte Jacqueline. »Vermutlich hat er sich dadurch bedroht gefühlt. Ich weiß nicht . . . wir sollten von hier verschwinden.« »Mist«, knurrte Maurice. »Dabei hatte ich mich schon so auf einen gemütlichen, ruhigen Ausklang des Abends gefreut. Und dann so etwas . . . Laß uns mal abwarten. Ich kann mir nicht vorstellen, daß er uns verfolgt und hier auftaucht. Und wenn wir nicht mehr nach drüben gehen, haben wir beide unsere Ruhe. Der Teufel muß mich geritten haben, daß ich nicht vorher umgekehrt bin. Aber ich wollte wissen, was da los war.« »Hinterher weiß man immer alles besser«, sagte Jacqueline. »Ich halte es wirklich für besser, wenn wir hier verschwinden und zum Campingplatz fahren.« Maurice sah auf die Armbanduhr. »Zu spät«, sagte er. »Bis wir da sind, haben sie die Schranken ’runter und lassen uns nicht mehr hinein. Also können wir auch gleich hier bleiben. Ich glaube,
wenn der Bursche kommt und sieht das Wohnmobil, müßte er eigentlich zur Vernunft kommen. Ein Spanner oder Liebespaar mörder wird ja wohl kaum so auffällig in der Gegend herumkut schieren.« Jacqueline zog die Schultern hoch. Sie fröstelte; ein ungutes Gefühl machte sich in ihr breit. Aber sie konnte nicht sagen, aus welchem Grund sie das Unbehagen verspürte. Mit dem nackten Fremden, der wütend auf sie eingestürmt war, hatte es nichts zu tun . . .
� Die Ohren gespitzt und begierig gelauscht! Streit entflammte. Kraft, die die alten Flüche wecken konnte. Nun gab es kein Zurück mehr.
� »Warum hast du das getan, Bernard?« fragte Yvette leise. »Was getan?« fauchte er. »Was machst du da? Was soll das denn?« Sie begann sich anzuziehen. Seine Hände, die sie festhalten und daran hindern wollten, schüttelte sie ab. »Komm doch zur Vernunft«, verlangte sie. »Du kannst doch nicht einfach auf jeden Fremden losprügeln . . .« »Aber er hat uns beobachtet!« fuhr Bernard Girodet auf. »Er und – und dieses Weib, das bei ihm war. Sie haben in den Büschen gesteckt und uns zugesehen. Diese verdammten Spanner . . .« Yvette seufzte. »Denk doch mal nach«, sagte sie. »Vielleicht waren sie gerade erst aufgetaucht. Außerdem mußten wir doch mit so etwas rechnen!« »Hier, in der Einsamkeit? Kilometerweit vom Dorf entfernt?« fuhr er auf.
»Bernard! Hör auf zu streiten!« flehte sie ihn an. »Weißt du überhaupt, was du damit anrichtest? Ausgerechnet hier!« »Ach? Was denn? Was heißt ›ausgerechnet hier‹?« »Du darfst keine Fragen stellen«, sagte sie. »Und . . . nein. Du würdest es nicht verstehen.« »Erst diese Spanner, und dann deine geheimnisvollen Andeu tungen! Das hat mir gerade noch gefehlt!« Sie war fertig angezogen. »Es war so schön«, sagte sie leise. »Und jetzt hast du alles kaputtgemacht.« »Die beiden haben alles kaputtgemacht«, widersprach er wü tend. »Dieser Kerl mit seiner Axt . . .« »Sie werden nur Holz für ein Lagerfeuer gesucht haben. Viel leicht sind sie auf der anderen Seite. Hast du schon mal darüber nachgedacht? Wie würdest du dich fühlen, wenn du deinerseits bei der Holzsuche auf ein Liebespärchen gestoßen wärest? Setz mal deinen Verstand ein, Bernard. Du bist als Liebhaber der beste, den ich kenne, aber wenn du nicht mehr drauf hast . . . schade. Bringst du mich nach Hause?« »Aber wieso? Der Abend hat doch erst angefangen . . .« »Für mich ist es vorbei, Bernard.« »Also schön.« Er suchte seine Kleidung. »Ausgerechnet mir muß so etwas passieren. Zum Teufel auch . . .« Murrend zog er sich an. Insgeheim mußte er sich eingestehen, daß er falsch reagiert hatte. Aber durch Yvettes erschrockenen Schrei und das so unverhoffte Erscheinen eines Mannes mit einer Axt in der Hand hatte er sich und Yvette bedroht gefühlt. Man las fast täglich in den Zeitungen von Überfällen . . . da hatte er einfach geglaubt, Angriff sei die beste Verteidigung. Das war’s also gewesen. Mürrisch setzte er sich auf das Fahr rad. Yvette hockte sich quer auf die Stange. Bernard fuhr los. Der Boden war einigermaßen eben und der Feldweg nicht weit. Was ihn ärgerte, war, daß ein so schöner Abend auf diese Weise
zerstört worden war, und daß er nachher in der Dunkelheit wieder zurück mußte. Aber ab einem bestimmten Punkt hatte er nicht mehr zurückge konnt. Er hätte sonst seinen Stolz verloren. Er ahnte nicht, daß er noch viel mehr angerichtet hatte, als er eigentlich ahnte. Denn Yvette, die ihm mit Erklärungen hätte dienen können, hüllte sich in Schweigen. Aber es war ohnehin schon zu spät.
� Der Streit setzte sich fort. Auf anderer Basis zwar, und abge schwächt, aber die ständig neuen Aggressionen weckten auch die andere Entität auf. Kraft floß und stärkte zwei Wesen, de nen nichts Menschliches mehr anhaftete, aus jahrhundertealtem Schlaf. Unwiderruflich waren sie wieder da, zurückgekehrt aus den grauen Sphären einer Ebene zwischen dem Diesseits und dem Jenseits. Und sie beabsichtigten nicht, sich wieder vertreiben zu lassen. Die alten Flüche und der alte Hader, sie waren wieder da wie einst . . .
� Sie sahen das Wohnmobil, als sie das Wildwuchs-Dickicht umrun deten. »Siehst du?« fragte Yvette. Mehr sagte sie nicht. Bernard schwieg verdrossen. Mittlerweile zürnte er sich selbst. Aber da durch war seine Fehlreaktion nicht mehr wieder rückgängig zu machen. Was so gut begonnen hatte, hatte ein jähes Ende gefun den. Es hatte keinen Sinn mehr, Yvette wieder umstimmen und seiner Friedfertigkeit versichern zu wollen. Die Stimmung, in der sie sich beide befunden hatten, war ein für alle Mal zerstört.
Morgen würde er weiterfahren. Wenn die Morgensonne am Horizont erschien, hielt ihn hier nichts mehr. Vielleicht sollte er nachher, wenn er Yvette abgesetzt hatte und aus dem Dorf zurück kam, am Wohnmobil anklopfen und versuchen, sich für seine Fehlreaktion zu entschuldigen. Schweigend fuhr er den holperigen Weg talwärts. Mehr und mehr kam er sich dumm vor. Und je stärker dieses Gefühl wurde, desto leichter konnte er auch auf seinen Stolz Yvette gegenüber verzichten. Kurz vor den ersten Häusern hielt er an. »Yvette . . . vielleicht könnten wir noch irgend etwas zusam men unternehmen. Ich möchte nicht, daß unsere ohnehin kurze Bekanntschaft so im Streit endet.« »Dann hättest du dich vorhin anders verhalten sollen«, warf sie ihm vor. »Du hast heute abend zwei Fehler gemacht. Zu einem dritten gebe ich dir keine Chance. Aber ich gebe dir einen Rat . . .« Er fühlte sich schon wieder angegriffen. »Moment mal«, warf er ein. »Was für zwei Fehler, he? Gut, ich hätte nicht aufbrausen und diesen Mann nicht unbedingt angreifen sollen. Aber ich war einfach zu durcheinander. Es war wie ein Schock. Aber . . .« Sie rutschte von der Fahrradstange und schüttelte den Kopf. »Bernard, der zweite Fehler war, daß du anschließend kampflos aufgegeben hast. Du hättest mich vorhin vielleicht noch wieder fesseln können, wenn dir dieser Gedanke früher gekommen wäre. Jetzt ist es auch dafür zu spät. Du hast die Chance verpaßt. Schade, es hätte schön werden können. Aber vielleicht ist es gut, daß unsere Wege sich jetzt trennen. Du solltest noch in dieser Nacht aufbrechen.« »Was soll das denn heißen?« Sie zuckte mit den Schultern. »Auch ich habe einen Fehler gemacht«, gestand sie. »Ich hätte nicht mitkommen sollen. Vielleicht hätte es auch ein lauschiges Plätzchen an der Loire gegeben. Warum mußtest du dein Zelt auch unbedingt hinter der Ruine aufschlagen?«
»Was für eine Ruine? Du hast schon ein paar Andeutungen gemacht. Worum geht es überhaupt? Ich will es jetzt wissen!« In das Dickicht war er doch nicht vorgedrungen, ahnte nicht, was sich darin verbarg. »Wenn du zwischen den Ruinen stehst, frage nie, was geschah und wer dort lebte, und trage keinen Streit an jene Stätte, denn das bringt nur Unheil«, sagte sie. Er hob verwirrt die Brauen. Seine Augen funkelten im Mond licht. »Ich weiß nicht, was das wirklich zu bedeuten hat«, sagte sie. »Ich weiß nur, was schon meine Urgroßeltern meinen Großeltern sagten, was eine Generation der anderen erzählt. Niemand weiß etwas Genaues, aber wir alle versuchen, dieses Dickicht und die Ruinen darin zu umgehen. Aber du hast da oben neugierige Fragen gestellt, und du hast einen Streit vom Zaun gebrochen. Beides sollte man nicht tun.« »Aber warum nicht, zum Teufel? Speise mich doch nicht mit Halbheiten ab, Yvette!« »Es ist ein verfluchter Ort, glaube ich. Ich hätte nicht mit hinauf kommen sollen. Aber ich dachte doch nicht, daß es so endet. Es war ein Fehler, und nun ist es zu spät, wenn die Überlieferungen stimmen.« »Ein verfluchter Ort?« Er lachte spöttisch. »Alter Aberglaube, wie? Mach dich nicht lächerlich. Yvette. So etwas gibt es nicht. Damit kann man kleine Kinder erschrecken. Wenn keiner etwas weiß, woher weiß man dann, daß es ein verfluchter Ort sein soll? Das ist doch albern . . .« »Es ist zu spät. Es ist nichts mehr zu ändern«, sagte sie. »Ich weiß nicht was, aber irgend etwas wird geschehen. Über so viele Generationen ist die Warnung im genauen Wortlaut überliefert worden; ich bin sicher, daß das etwas zu bedeuten hat. Stelle keine Fragen und trage keinen Streit in die Ruine.« »Was ist das für eine Ruine?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Es ist zwar schon dunkel, aber du solltest dein Zelt abbauen und von dort weggehen«, empfahl sie leise. »Es ist besser für dich. Mehr sage ich nicht mehr. Alles weitere ist deine Sache. Glaube mir oder laß es.« Sie wandte sich ab und setzte sich in Bewegung. »Warte«, rief er ihr leise nach. »Yvette . . .« Aber sie antwortete nicht, sondern setzte weiter einen Fuß vor den anderen. Er kam ihr nach, faßte nach ihrer Schulter. Abrupt blieb sie stehen und streifte seine Hand ab. »Geh«, sagte sie schroff. »Laß mich in Ruhe, Bernard. Ich habe genug. Es reicht mir, was da oben passiert ist.« »Mir reicht es auch«, knurrte er. Allmählich begriff er, daß es vorbei war. Ende einer Urlaubsbekanntschaft. Er drehte das Rad und fuhr langsam wieder zurück, die leichte Steigung hinauf. Die Gangschaltung erleichterte ihm das Fahren. Er versuchte über das, was Yvette ihm gesagt hatte, nachzudenken, aber es war einfach zu verworren. Dörflicher Aberglaube . . . Nun, morgen war er nicht mehr hier. Er würde weiter fahren, und es gab am nächsten Etappenziel garantiert wieder genug Mädchen, die er für sich gewinnen konnte. Was hier passiert war, war ein Ausrutscher. Warum hatten sie sich auch nicht ins Zelt verkrochen, sondern waren draußen unterm freien Himmel geblieben? Dann sähe wahrscheinlich alles ganz anders aus. Man lernt, dachte er verdrossen. Man lernt dazu. Beim näch stenmal gibt’s nichts unterm Sternenzelt. Wenn bei dem Mädchen daheim nichts zu machen ist, verkriechen wir uns eben in diese Dackelgarage, auch wenn’s tierisch eng ist im Zelt und bei je der falschen Bewegung alles zusammenbrechen kann. Aber dann kann wenigstens keiner von uns über Fremde erschrecken, die sich angeschlichen haben . . . In der Ferne tauchte das Wohnmobil vor ihm auf. Ein dunkler Schatten am Horizont, direkt neben dem Mini-Wäldchen mit sei
nem dichten Unterholz, das angeblich Ruinen verbergen sollte, und halb beleuchtet von einem prasselnden Lagerfeuer.
� Stein auf Stein! Langsam wuchsen auf den alten Fundamenten Mäuerchen empor, wurden zu Mauern, verdrängten Sträucher, Gras, Bäume. Noch sahen die geisterhaften Schatten zu, die selbst nur langsam stabiler wurden. Ein Bauwerk entstand aus dem Nichts, so wie es vor langer Zeit in Nichts zerfallen war. Die aus den grauen, unnennbaren Sphären Zurückgekehrten warteten darauf, das Gebäude wieder in Besitz nehmen zu kön nen . . .
� Allmählich war die Ruhe zurückgekehrt. Maurice hatte das ge sammelte Holz aufgeschichtet und in Brand gesetzt; die dürren Zweige flammten schnell weg, aber recht bald verfing sich die Glut auch in den dickeren Hölzern, und die Flammen züngelten allmählich höher. Ein vernünftiges Abendessen zuzubereiten, lohn te sich über dem Feuer allerdings nicht, und Maurice hatte den Gasherd des Wohnmobils in Betrieb genommen und bewies einmal mehr seine Qualitäten als Koch. Vorhin hatten sie das Pärchen auf dem Fahrrad talwärts fahren sehen. Maurice zuckte mit den Schultern. Er machte sich immer noch Vorwürfe, die beiden vorhin gestört zu haben. Aber es war nun mal so gekommen. Und jetzt, da jene das Feld räumten, waren keine weiteren Unruhen zu befürchten. So schnell würden die zwei wohl nicht wiederkommen. Der Schreck mußte tief sitzen. Jacqueline zupfte an der Gitarre. Sie saß draußen am Feuer, sah in die Flammen und versuchte sich an einem alten bretonischen
Volkslied. Nach einer Weile gab sie auf. »Wird heute wohl nichts mehr«, sagte sie und kletterte in das Mobil. »Meine Finger sind zu steif. Bin nicht in Stimmung.« Maurice lächelte und küßte sie auf die Wange. Das Fleisch brutzelte in der Pfanne. Jacqueline setzte sich auf die Ruhebank und sah Maurice zu. Das Klopfen schreckte sie beide auf. »Was zum Teufel . . .«, entfuhr es Maurice. Er fuhr herum zur offen stehenden Tür des Wohnmobils. Auch Jacqueline sah den Fremden da stehen. Erst als er sprach, erkannte sie an der Stim me, daß er der Fremde von der anderen Seite des Dickichts war. Er sah jetzt ganz anders aus, viel friedlicher und zivilisierter . . . »Hallo«, krächzte er. »Ich . . . ich wollte mich dafür entschul digen, daß ich vorhin so auf Sie losgegangen bin. Aber ich war dermaßen durcheinander, daß . . .« »Schon gut«, sagte Maurice. »Wir sind ja auch nicht ganz schuldlos. Aber wir waren auf Holzsuche – deshalb auch die Axt –, und ich hörte Geräusche. Da wollte ich wissen, was los war. Es ist ja nichts passiert.« Der Fremde räusperte sich. »Ich bin Bernard Girodet«, sagte er. »Ich hoffe, Sie haben nun keine schlechte Meinung von mir, und ich . . .« »Was denn?« fragte Maurice etwas unfreundlicher. Wenn er Gesellschaft außer Jacqueline hätte haben wollen, hätte er auch ebensogut doch noch zum Campingplatz fahren können. Warum verschwand der Typ nicht? Merkte er nicht, daß er störte? »Äh . . . vielleicht kann ich versuchen, mein Verhalten von vorhin wiedergutzumachen«, sagte Girodet. »Ich habe drüben im Zelt noch eine Flasche Wein. Ich könnte sie holen, und dann . . .« Maurice seufzte. »Nein« sagte er. »Kein Interesse.« »Maurice!« griff Jacqueline ein. »Er meint es doch nur gut. Du bist so störrisch.«
Maurice Loup hob die Stimme. »Ist das denn so schwer zu verstehen, daß ich heute abend meine Ruhe haben will? Sonst könnte ich auch ins Dorf hinunter in die Kneipe gehen. Freut mich, Sie kennengelernt zu haben, Girodet. Aber ich bin sicher, Sie kommen auch allein zurecht.« »Schon gut!« Verdrossen hob Girodet die Arme und zog sich zu rück. Er hob sein Fahrrad auf, das er in der Nähe des Lagerfeuers auf den Boden gelegt hatte, und schob es auf den Weg zurück, um dann in Richtung Dickicht zu verschwinden. »Mußtest du ihn so vor den Kopf stoßen?« fragte Jacqueline leise. Maurice atmete tief durch. Aber er sagte nichts mehr, sondern wandte sich wieder der Pfanne zu. Lautlos kletterte Jacqueline wieder nach draußen. Das Gefühl, daß etwas nicht in Ordnung war, verstärkte sich. Sie sah zum Dickicht hinüber. Irgend etwas hatte sich dort verändert. Aber was?
� Fortgesetzte Aggressionen stärkten die Zurückgekehrten weiter. Das Gebäude nahm Formen an. Aus den Schattengestalten wurden greifbare Körper. Die Umgebung wurde verdrängt vom Erbe der Vergangenheit. Sie waren endgültig wieder da, die feindlichen Brüder . . . . . . und nichts war anders geworden seit damals!
� Bernard war stinksauer. Wenn er geahnt hätte, daß dieser Kerl im Wohnmobil ihn so kalt abwies, hätte er sich den Versuch ge spart, zu einem Frieden zu kommen. Und die Flasche Wein, die er ursprünglich besorgt hatte, um sie irgendwann in der Nacht gemeinsam mit Yvette zu trinken, die konnte er wirklich selbst
trinken und brauchte sie nicht diesem eingebildeten Fatzke in den Rachen zu schütten. So verkorkst war noch kein Abend in seinem bisherigen Leben gewesen. Alles, was nur hatte schiefgehen können, war auch schief gegangen. Er erreichte sein Zelt. Wenigstens das stand festgezurrt. Kurz dachte er an Yvettes Rat, abzubauen und diesen Ort zu verlassen. Nein, jetzt erst recht nicht. Mit ihrem Aberglauben hatte er nichts zu tun. Wenn sie der Ansicht war, daß es hier spukte, war das ihr Problem. Er glaubte nicht daran. Er schlüpfte ins Zelt, fand nach kurzem Tasten den Wein und kroch wieder ins Freie. Vielleicht sollte er versuchen, das Feuer in Brand zu setzen und eine Dose Fertigsuppe darüber zu erhitzen. In der Zwischenzeit konnte er schon mal einen Schluck nehmen. Becher und Flaschenöffner befanden sich noch von gestern abend draußen. Er wollte den Korkenzieher gerade ansetzen, als er den Schat ten sah, der neben ihm auf dem Boden lag. Er wandte sich um. War der Typ aus dem Wohnmobil gekom men? Nein. Der Mann hier – sah anders aus. Er war seltsam gekleidet. Wie aus einem Kostümfilm entsprun gen. Aber Karneval war doch jetzt nicht. Warum trug der Bursche dann so vorsintflutliche Kleidung? Und in der Hand hielt er eine Peitsche. Der Bauer, dem dieses Stück Land gehört! durchfuhr es Bernard. Dem gefiel’s nicht, daß er hier zeltete, und er war gekommen, um ihn fortzuscheuchen . . . na, das fehlte ihm nun endgültig noch zu seinem Glück an diesem verkorksten Abend. Er hatte gedacht, es könnte keine Steigerung des Verdrusses mehr geben, aber dieser Bauer belehrte ihn eines Besseren.
Und hinter ihm tauchten zwei andere Typen auf, ebenso eigen artig gekleidet, wenn auch nicht ganz so gepflegt. Langsam richtete Bernard sich auf. Da sah er, daß auch mit dem Wäldchen etwas nicht stimmte. Wo waren die Bäume und Sträucher geblieben, aus denen vorhin dieser Wohnmobil-Bursche gekommen war? Statt dessen gab es eine Art Lichtung, und dahinter, im Schatten, ein Haus . . . ? Wie kam denn ein Haus dorthin? Wie konnte sich die Landschaft einfach so verändern? »Ich träume«, flüsterte er verblüfft. »Das kann nicht sein. Es ist ein Traum.« »Was faselt Er?« knurrte der Mann mit der Peitsche. »Weiß ER nicht, wie ER sich zu benehmen hat?« »Wie – wie bitte? Was sagten Sie?« stieß Bernard verblüfft hervor. »Frecher Kerl!« brüllte der vermeintliche Bauer. »Auf die Knie!« Und er holte mit der Peitsche aus und schlug zu!
� »Was zum Teufel ist denn jetzt schon wieder los?« entfuhr es Maurice, als von der anderen Seite des Dickichts ein lauter Schrei ertönte, dem weitere folgten. »Hat man denn hier keine fünf Minuten Ruhe? Das muß doch wieder dieser komische Vogel sein.« Er war mit dem Essen nach draußen gekommen, hatte Pla stikteller in den Händen, von denen er einen Jacqueline reichen wollte. Sie war leicht zusammengezuckt. »Da passiert was«, stieß sie hervor. »Ohne Grund schreit ein Mensch doch nicht so!« »Ich hätte gute Lust . . .«, begann er, aber Jacqueline unterbrach
ihn. »Laß uns nachsehen. Vielleicht braucht er Hilfe. Er könnte gestürzt sein und sich verletzt haben.« Maurice kauerte sich ins Gras neben das Feuer. Jacquelines Teller stellte er neben sich. Er griff nach dem mit auf seinen Teller gepackten Besteck und begann zu essen. »Maurice!« entfuhr es Jacqueline. »Willst du nicht . . . ?« Er schüttelte den Kopf. »Wie du siehst, esse ich«, sagte er. »Der Bursche hat mir heute genug Ärger bereitet. Er wird ja nicht gerade sterben.« »Dann laufe ich eben allein hinüber!« entschied Jacqueline. Sie sprang in das Wohnmobil, kam Augenblicke später, mit dem Verbandskasten wieder heraus. Für alle Fälle wollte sie den mit nehmen, falls der Fremde tatsächlich verletzt war. Sie fiel in einen leichten Trab. »He, dein Essen wird kalt!« rief Maurice ihr nach. »Stell’s warm!« schrie sie wütend über die Schulter zurück. Sie verstand Maurice nicht mehr. Er war so aggressiv an diesem Abend, wie sie ihn noch nie erlebt hatte. Das konnte nichts mehr damit zu tun haben, daß er den ganzen Tag über Streß gehabt hatte. Aber einem Menschen, der in Not war und schrie, Hilfe zu verweigern, war doch das allerletzte! Die Schreie waren verstummt. Trotzdem beeilte sich Jacqueline, das Dickicht zu umrunden. Es war ausgedehnter, als es in der Abenddämmerung ausgesehen hatte. Sie hätte den Weg abkürzen und quer hindurch laufen können, aber irgend etwas hielt sie zurück. Sie nahm die längere Strecke außen herum in Kauf. Und dann sah sie das Zelt im Mondlicht. Und sie sah einen Mann, der es systematisch zerstörte. Er war seltsam gekleidet. Von Bernard Girodet, dem Fremden, war nichts zu sehen. »He«, schrie Jacqueline. »Was machen Sie da? Was soll das?« Der etwas altertümlich und abgerissen gekleidete Mann hielt
inne und wandte sich ihr zu. Sein eben noch gleichgültiger Ge sichtsausdruck veränderte sich. »Ja, was haben wir denn da?« zischte er begierig. »Das Täubchen schickt mir doch der Himmel!« Wie ein von der Sehne geschnellter Pfeil stürmte er los, direkt auf Jacqueline zu. Ihre Schrecksekunde dauerte nicht lange. Zum Fortlaufen war es zu spät. Sie sah, wie schnell und kraftvoll der Mann sich be wegte und wußte, daß er sie rasch einholen würde. Auf jeden Fall noch bevor sie wieder am Wohnmobil war. Aber nicht umsonst hatte sie Jiu-Jitsu gelernt. Der Mann sprang sie an, und sie nutzte seine eigene Kraft und seinen Schwung, um ihn über sich hinweg zu Boden zu schleudern. Hart prallte er auf, aber blitzartig stand er wieder auf den Beinen. Geradeso, als sei er auf ein Trampolin gefallen. Er griff schon wieder an. Noch einmal konnte sie ihn abwehren, beim dritten Mal fing er es etwas anders an. Sie konnte keinen Abwehrgriff mehr richtig ansetzen, stieß mit dem Knie zu, aber diesen Stoß, der jeden ande ren Mann schreiend hätte zusammenbrechen lassen, verkraftete ihr Gegner, als sei er eine nachgiebige Gummipuppe. Dabei entfaltete er selbst aber eine Kraft, wie sie sie noch nie erlebt hatte. Sie konnte sich nicht mehr aus seinem Griff befreien, konnte nicht einmal mehr um Hilfe schreien. Innerhalb weniger Sekunden verlor sie die Besinnung.
� Irgendwann wurde Maurice Loup nachdenklich. Warum, zum Teufel, kam Jacqueline nicht zurück? Glaubte sie ihn ärgern zu müssen? Wollte sie, daß er ihr folgte? Es war sehr still geworden in der Landschaft. Nicht ein mal Nachtvögel machten sich bemerkbar, oder zirpende Grillen. Nichts.
Die Stille war unnatürlich. »Wenn du mich ärgern willst, kannst du lange warten«, mur melte er und trug die beiden Teller ins Mobil zurück. Jacquelines Schnitzel war längst kalt. Das hatte sie nun davon, wenn ihr dieser aufdringliche Girodet wichtiger war. Aber Sorgen machte er sich doch. Warum ließ sie nichts von sich hören? Sie mußte doch wissen, daß er leicht nervös wurde, wenn er nicht wußte, was geschah. »Sei’s drum«, knurrte er. Er nahm die Taschenlampe, auf die Jacqueline in ihrer Hektik verzichtet hatte, und setzte sich in Bewegung. Der Gedanke kam ihm, daß sie im Dunkeln gestürzt sein konnte und irgendwo bewußtlos lag. Er ließ den Lichtkegel tanzen und leuchtete den Boden rechts und links des Weges ab, konnte aber nichts erkennen. Schließlich erreichte er die Seite, an der Girodets Zelt stand. Gestanden hatte. Nur noch Fetzen lagen herum, das Fahrrad war verborgen. Und von Jacqueline und auch von Girodet nichts zu sehen! Die konnten sich doch nicht in Luft aufgelöst haben? Der kleine Lagerplatz sah aus wie nach einem Überfall. Aber wer sollte schon einen Camper überfallen? Ein erzürnter Landbe sitzer, dem dieses wilde Zelten nicht paßte und der zur Selbstjustiz schritt? Unmöglich war es nicht, aber diese Zerstörungen deute ten doch schon auf einen unnatürlichen Haß hin. So etwas brachte doch nur ein Verrückter fertig. »Jacqueline?« rief er. »Wo steckst du?« Er drehte sich im Kreis und sah auch zum Dickicht hinüber, das kein wild wucherndes Dickicht mehr war, sondern eine Lichtung. »Das gibt’s doch nicht!« Ein sehr großes Haus stand da, wo am Abend Ruinen gewesen waren. Ein großes Herrenhaus, rechts und links hölzerne Anbauten, die Stallungen sein konnten. Es schien auch die Rückseite des
Gebäudes zu sein, vor der Maurice stand. Hinter drei Fenstern war schwacher Lichtschein zu erkennen, der besagte, daß das Haus bewohnt und seine Bewohner noch wach waren. Aber wie war das möglich? Wie konnte hier ein Haus stehen? »Ich bin doch nicht verrückt«, stieß er hervor. Unwillkürlich machte er ein paar Schritte auf das Gebäude zu. Und noch ein paar. Er gab sich einen Ruck. Er mußte sich davon überzeugen, nicht zu träumen, keiner Halluzination zu erliegen. Er wollte die Mauern anfassen. Rasch überquerte er die freie Fläche, sah nach rechts und entdeckte Girodet. Der aufdringliche Fremde hing mit dem Kopf nach unten in einem vorspringenden Querbalken, der aus dem rechten Stallge bäude ragte. Von weitem hatte Maurice ihn nicht sehen können, weil die Licht-Schatten-Wirkung ihn verbarg. Auch jetzt sah er ihn nur zur Hälfte. Aber er erkannte ihn sofort wieder. Von Girodets Kleidung waren nur noch ein paar Fetzen übrigge blieben, und seine Haut war von blutigroten Striemen überzogen. Jemand hatte ihn brutal ausgepeitscht und ihn dann an den Füßen aufgehängt. Mit ein paar schnellen Schritten war Maurice bei ihm. Jetzt wußte er, warum Girodet so laut geschrien hatte. Er machte sich Vorwürfe, daß er nicht doch sofort aufgebrochen war. Vielleicht hätte er noch etwas tun können. Aber wo steckte Jacqueline? Was war mit ihr? Girodet lebte, aber er war ohne Bewußtsein. Maurice zog sein Taschenmesser hervor, klappte die Klinge auf und reckte sich. Das scharfe Messer durchschnitt den Hanfstrick, mit dem jemand Girodet an den Balken gebunden hatte, mühelos, und dann hatte Maurice Schwierigkeiten, den stürzenden Körper des Bewußt losen festzuhalten und zu verhindern, daß er kopfüber auf den Boden schlug. Er ließ ihn niedergleiten. Wer hatte den Mann so zugerichtet?
Er hörte eine Bewegung hinter sich. Als er herumfuhr, war es zu spät. Etwas traf seinen Hinterkopf und löchte alles aus.
� Sie waren wie Feuer und Wasser im Umgang miteinander, einer des anderen Teufel. Doch in einem Punkt waren sie sich stets einig gewesen, selbst wenn sie sich haßten bis aufs Blut: Jedem anderen waren sie überlegen. Sie besaßen die Macht, die Herr schaft. Niemand, der ihnen gleichkam, niemand, der ihnen nicht gehorchte und vor ihnen in den Staub fiel. Damals wie heute. So sollte es wieder sein.
� Die Morgensonne ging auf, und Nicole Duval stand im Zimmer. Im ersten Moment glaubte Professor Zamorra an einen Traum. Denn Nicole befand sich in Brasilien, bei der Waldhexe Silvana, und nicht hier im Château Montagne am Berghang über der Loire. Aber dann bewegte Nicole sich lächelnd auf ihn zu, ließ sich auf der Bettkante neben ihm nieder und zeigte ihm, daß sie alles andere als eine Traumgestalt war, die verweht, wenn der Träumende erwacht, denn Traumgestalten küssen nicht so aufregend. Zamorra schloß die Augen, öffnete sie wieder, umarmte Nicole und zog sie zu sich herab. Abermals küßte er sie, und sie zeigte ihm ihr strahlendstes Lächeln. Sie konnte es wieder, ohne dabei Vampirzähne entblößen zu müssen! »Sie hat es geschafft?« flüsterte er. »Sie hat es wirklich ge schafft?«
»Ja«, gab Nicole wie ein Hauch zurück. »Und ich bin froh, daß ich wieder bei dir bin!« »Ich habe von dir geträumt«, sagte er leise. »Jede Nacht. Und am Tage. Du hast mir gefehlt. Ich habe dich vermißt, Nici. Sehr. Ich war drauf und dran, wieder nach Manáos zu fliegen und zu dir zu kommen.« »Das brauchst du jetzt nicht mehr.« Wieder küßte sie ihn, und wieder sah er ihre makellosen Zähne, frei von jedem vampirischen Merkmal. Es war vorbei . . . und er konnte es kaum glauben, daß die Hoffnungen, die sie beide in Silvana gesetzt hatten, in Erfüllung gegangen waren. Je mehr Zeit verstrich, desto weniger hatte er schließlich noch zu hoffen gewagt . . . Als sie ihr Abenteuer in der Vergangenheit des Silbermondes, der mittlerweile zerstörten Heimat der Druiden, erlebten, hatte der MÄCHTIGE Coron Nicole mit einem Zauber belegt, den nur er hätte lösen können. Er hatte sie zu einer Vampirin gemacht. Doch bevor Zamorra ihn zwingen konnte, diesen Zauber rückgängig zu machen, war Coron unter dem Schock eines magischen Angriffes geflohen, und es gab keine Möglichkeit, ihn zu verfolgen und wieder aufzustöbern. Nicole hatte gegen den Blutdurst angekämpft. Sie hatte gelit ten, aber sie war fest geblieben, denn sie wußte, daß sie endgültig verloren war, wenn sie zum ersten Mal gezwungen war, Menschen blut zu trinken. Sie war in die Einsamkeit der brasilianischen Wildnis geflohen, um nicht in die Nähe von anderen Menschen und damit in Versuchung zu kommen. Zamorra hatte sie gefunden – und sie waren auf die Waldhexe Silvana gestoßen, die einen verzweifelten Kampf gegen die Zer störung des tropischen Regenwaldes führte. Silvana glaubte eine Möglichkeit zu sehen, Nicole von dem Vampirfluch zu befreien. So war die Französin in Brasilien geblieben, während Zamorra zurückkehrte nach Frankreich. Sie hatten abgesprochen, daß sie
erst wieder Verbindung miteinander aufnehmen würden, wenn Silvana erfolgreich – oder Nicole tot war. Denn es war für Nicole klar, daß sie nicht als Vampirin leben konnte und wollte. Es gab keine Perspektive. Zamorra hatte gefiebert. Um zu verdrängen, hatte er sich in haarsträubende Abenteuer gestürzt. Er liebte Nicole wie niemanden sonst auf der Welt, und wenn sie starb, würde auch er daran zerbrechen. Er hatte sogar mit dem Gedanken gespielt, selbst den Vampirfluch auf sich zu nehmen, um weiterhin in ihrer Nähe bleiben zu können und mit ihr zu leben, falls Silvana erfolglos blieb. Aber dieser Gedanke war nicht tiefgreifend, und er war zu selbstzerstörerisch, als daß er ihn lange hätte verfolgen können. Dennoch . . . die Angst und die Sorge war sein ständiger Begleiter geblieben. Und jetzt war Nicole hier. Völlig überraschend, ohne Ankündigung. Und sie war geheilt. Sie unterlag nicht mehr dem unheilvollen Drang, Menschenblut trinken zu müssen . . . »Ich glaube, Silvana hat sich einen Orden verdient«, sagte Zamorra glücklich. »Wie hat sie das gemacht?« »Ich weiß es nicht. Sie versetzte mich jedesmal in Tiefschlaf, wenn sie eine Behandlung vornahm. Sie hat nichts verraten.« »Trotzdem – wir werden ihr jeden Wunsch erfüllen, sofern es in unserer Macht liegt«, sagte Zamorra. »Ich bin froh, daß du wieder hier bist. Warum hast du nicht angerufen, daß ich dich vom Flughafen abhole?« Sie lächelte. Ausgestreckt lag sie neben ihm auf dem Bett, schmiegte sich an ihn und küßte seine Lippen. Er empfand es als störend, daß sie bekleidet war. Der Stoff verhinderte, Haut an Haut spüren zu können. Aber er hatte so lange gewartet, Woche um Woche, da kam es auf ein paar Minuten oder Stunden nicht an. Wichtig war nur, daß sie wieder da war. Er hätte die ganze
Welt umarmen können. Ihm war, als fielen Geburtstag, Ostern und Weihnachten auf einen Tag. »Ich habe angerufen«, sagte sie. »Heute früh. Raffael hat mich von Lyon hierher geholt. Ich habe ihm gesagt, daß er dich nicht wecken sollte, weil ich dich überraschen wollte.« »Das ist dir gelungen.« Er richtete sich halb auf und streichelte ihre Wange. »Aber trotzdem hättest du doch schon gestern abend anrufen können . . . ehe du aus Manáos abflogest . . .« Sie schüttelte den Kopf. »Dann wäre es ja keine Überraschung mehr gewesen. Ich war in Florida . . .« Alarmiert sah er sie an. Die euphorische Stimmung verflog. »Du auch . . . ? Und . . . ?« Ihr Lächeln verlosch. Sie nickte. »Ich weiß jetzt, daß sie tot sind«, sagte sie. »Rob Tendyke, die Peters-Zwillinge . . . und Julian, den ich nicht mehr kennengelernt habe. Du warst in der Nähe, als sie starben, nicht? Scarth deutete so etwas an.« »Du warst in Tendyke’s Home? Teri war vor ein paar Tagen hier. Sie hatte versucht, dort anzurufen, aber niemand meldete sich.« »Vielleicht ein Zufall. Scarth, der Gärtner und Chang sind nach wie vor dort. Das Haus ist so furchtbar leer. Wie . . . wie ist es wirklich passiert, chéri?« »Eine magische Bombe explodierte im City-Hospital im Miami, in ihren Zimmern. Ich kam zu spät, um es zu verhindern, weil ich nichts davon ahnte. Ombre muß damit zu tun haben, der Schatten.« »Ombre? Der Neger aus Baton Rouge?« »Er war da, als die Bombe explodierte. Ich weiß nicht, ob er sie gezündet hat, ob er nur ein Werkzeug war oder ob er nur zufällig in der Nähe war. Aber ich glaube, er ist der Mörder. Die Situation war zu eindeutig, Nici . . . Später wurde er von Dämonen gejagt. Leonardo deMontagne versuchte ihn zu töten. Aber das besagt nicht viel. Der Fürst der Finsternis hat nicht vergessen, daß Ombre floh. Ich versuchte ihm zu folgen und auch, ihn in
Baton Rouge aufzuspüren. Ich wollte ihn stellen und herausfinden, in welcher Weise er in die Sache verwickelt ist. Ist er der Mörder, der die Bombe zündete, werde ich ihn vor Gericht bringen.« »Aber du hast ihn nicht gefunden?« »Ich habe tagelang gesucht. Mit allen Mitteln, die mir zur Ver fügung stehen. Aber ich habe ihn nicht aufspüren können. Er ist wie vom Erdboden verschluckt, und er hat wohl auch eine Menge Leute, die dafür sorgen, daß niemand Fragen stellt. Die blauen Flecke sieht man inzwischen nicht mehr.« (siehe Nr. 419, ›Schattenjäger‹) »Sie haben versucht, dich zu verprügeln?« »Nicht nur versucht. Aber das ist vorbei.« Er winkte ab. »Ich nehme an, Ombre wird warten, bis Gras über die Angelegenheit gewachsen ist. Dann taucht er wieder auf. Aber dann werde auch ich da sein. Ich habe Zeit, kann warten. Den Tod unserer Freunde werde ich nicht so schnell vergessen.« »Du scheinst ziemlich sicher zu sein, daß er der Täter ist.« »Warum sonst sollte er vor mir fliehen und spurlos untertau chen? Er muß ein Amulett eingesetzt haben, um sich vor meinen Nachforschungen zu schützen, und es muß ein unheimlich star kes Amulett sein, wenn die Kraft des meinigen nicht durchdringt. Vielleicht ist es das fünfte oder sogar das sechste, das er besitzt.« Vor langer Zeit hatte der Zauberer Merlin nacheinander sieben magische Amulette geschaffen, eines stärker und besser als das andere, aber erst das siebte, das Zamorra besaß, hatte endgültig seinen Erwartungen entsprochen. Zamorra wußte, daß Sid Amos eines besaß, und eben jener Ombre ein weiteres. Über den Ver bleib der restlichen vier Sterne von Myrrian-ey-Llyrana war ihm nichts bekannt . . . »Vielleicht versucht er sich nur vor dämonischen Nachstellun gen zu schützen«, gab Nicole zu bedenken. »Du sagtest doch, daß Leonardo deMontagne versucht, ihn umzubringen . . .« »Das ist mir alles zu spekulativ«, sagte Zamorra. »Aber ich weiß
nicht, ob dies ein Thema für unser Wiedersehen ist. – Sag mal, hast du eigentlich schon gefrühstückt?« Sie schüttelte den Kopf. »Na, dann wäre das doch eine Maßnahme«, schlug er vor und wollte sich erheben. Nicole drückte ihn sanft auf das Bett zurück. »Ich werde Raffael bitten, daß er uns das Frühstück hierher bringt«, sagte sie. »Was hältst du davon?« Und sie begann, sich aus ihrem Kleid zu schälen. »Ich brenne, chéri«, flüsterte sie. »Hilf mir, das Feuer zu lö schen. Die ganzen Wochen ohne dich waren furchtbar.« »Komm«, sagte er. »Wir holen jetzt alles nach . . . und das Früh stück kann warten . . .«
� Sie tollten wie die Kinder herum, ausgelassen und glücklich, bis in den Nachmittag hinein. Irgendwann erinnerten sie sich, daß sie eigentlich hatten frühstücken wollen. Aber an einem Frühstück im Bett waren sie inzwischen nicht mehr interessiert. Raffael, der alte Diener, richtete ein kleines Büfett am Swimmingpool, an den sie sich zurückzogen, um sich zu erfrischen und auszuruhen. Nach einigen Runden im Pool machten sie es sich auf den Ruheliegen direkt neben dem Tischchen bequem, und fütterten sich gegenseitig mit den von Raffael servierten Leckerbissen. Nicole nippte am süßen Wein. »Sag mal«, fragte sie plötzlich mißtrauisch, »du hast doch wohl nicht in der Zwischenzeit mein Auto zu Schrott gefahren?« »Sehe ich so aus?« erkundigte Zamorra sich mit hochgezogenen Brauen. »Ja.« »Das ist ungerechtfertigt«, wehrte er sich. »Ich habe dein wei ßes Geschoß gehegt und gepflegt und sogar selbst in die Wasch anlage gebracht . . .«
»Und dabei ein paar Beulen hineingefahren, Antenne und Spoi ler abgeknickt . . .« »He, so etwas traust du mir zu?« »Dir ist alles zuzutrauen«, versicherte sie todernsten Gesichtes. »Deshalb traue ich dir lieber nicht über den Weg. Also, was hast du angestellt?« »Nichts. Wie kommst du darauf?« »Weil Raffael mich nicht mit dem Coupé abholte, sondern mit einem silbergrauen Monstrum . . .« »Ach, der 735i«, entfuhr es Zamorra. »Den habe ich geleast. Erst vor ein paar Tagen, weil ich endlich auch mal wieder ein eigenes Auto fahren wollte. Dein 635er ist zwar ein schneller und schöner Wagen, aber zuweilen reizt mich doch eine Limousine mehr. Ich hatte mir schon dein Gesicht vorgestellt, das du machst, wenn du den BMW siehst.« »Und? Entspricht die Realität deinen Erwartungen?« »Nicht hundertprozentig«, gestand er. »Du hättest vielleicht dem Mercedes einen neuen Motorblock spendieren sollen. Oder hast du den Wagen mit dem zerstörten Motor in Zahlung geben können?« »Nein. Er steht immer noch unten in der Dorfwerkstatt. Wir konnten uns nicht einig werden. Und jetzt überlege ich, was wir mit dem guten Stück machen. Wenn ich ihn zu einem akzeptablen Preis verkaufen will, braucht er eine neue Maschine, und wenn ich ihn so abstoße, wie er ist, bekomme ich höchstens ein Zehntel seines tatsächlichen Wertes.« Nicole zuckte mit den Schultern. »Laß trotzdem einen neuen Motor einbauen und behalte den Wagen.« »Und was soll ich mit zwei viertürigen Limousinen? Vergleich stestfahrten organisieren, oder was?« »Vielleicht erinnerst du dich, daß zu Beginn unseres Sil bermond-Abenteuers, des recht unfreiwilligen, die Männer in Schwarz in England unseren Jaguar zerstört haben. Wir brauchen
dort wieder einen fahrbaren Untersatz, wenn wir uns rund ums Beaminster-Cottage ein bißchen bewegen wollen. Wie wäre es – bring den Mercedes hinüber.« »Er hat Linkslenkung, und in England herrscht Linksverkehr.« »Ja und? Die paar Wochen im Jahr, die wir uns im Beaminster-Cottage aufhalten, wirst du das schon überleben. Notfalls fahre ich den Wagen. Ich komme auch ohne Rechtslenkung im englischen Straßenverkehr zurecht.« Zamorra seufzte. »Ich hatte gehofft, ich würde den Wagen irgendwie ehrlich los . . .« »Beschwer dich bei dem Poltergeist, der dir den Motor zerstört hat«, sagte Nicole. »Zwischendurch darfst du mir noch etwas Wein nachschenken.« Er tat ihr den Gefallen, und sie revanchierte sich mit einem verlangenden Kuß. »Sei vorsichtig«, warnte er. »Sonst vernasche ich dich gleich hier noch einmal.« Sie grinste jungenhaft. »Nimm dir nicht zuviel vor, mein Lie ber . . .« Das sah er als Herausforderung an. Schließlich hatten sie ja eine ganze Menge nachzuholen . . .
� Bernard Girodet erwachte. Er fühlte sich wie gerädert. Als er sich bewegte, durchrasten ihn Schmerzwellen. Vorsichtig richtete er sich auf und versuchte, sich zu orientieren. Er befand sich nicht in seinem Zelt? Er lag hier inmitten von wild wuchernden Sträuchern und Bäu men im Unkraut? Kein Wunder, daß er sich so schlecht fühlte! Er war zwar eine Menge gewöhnt bei seinem Einfach-Urlaub, aber ohne Luftmatratze auf dem harten, unebenen Boden zu schla fen, war ihm bisher auch noch nicht vorgekommen. Hatte er sich gestern abend so betrunken?
Im nächsten Moment war er hellwach. Er war gar nicht betrunken gewesen! Er hatte geglaubt, sich in einem Alptraum zu befinden, und es mußte wirklich einer gewesen sein, denn von dem großen Herrenhaus, das er hier gesehen hatte, war doch nichts mehr vorhanden, aber konnte man von Alpträumen körperliche Spuren zurückbehalten? Er sah an sich herunter. Was er am Leib getragen hatte, war zerfetzt und kaum in der Lage, seine Blöße zu bedecken. Und überall hatte er Striemen von Peitschenhieben, die immer noch schmerzten und teilweise geblutet hatten. An ungefähr zwei Dutzend Stellen war die Haut aufgeplatzt, und er durfte sich nicht zu schnell bewegen, um die Wunden nicht abermals aufreißen zu lassen. Er betrachtete seinen Körper lange und ausgiebig. Man hatte ihn ausgepeitscht und an den Füßen aufgehängt, und dann erst hatte er die Besinnung verlieren dürfen. Jetzt lag er auf hartem Boden, aber an seinen Fußgelenken waren noch die Reste des Hanfstrickes, der auch dort die Haut wundgescheuert hatte! Was zum Teufel war hier nur passiert? Das Walddickicht war größtenteils verschwunden gewesen, und auf der Lichtung darin war dieses große Haus gewesen! Und die Männer in der altertümlichen Kleidung und mit der seltsamen Sprechweise, die eher in einen historischen Film paßten als in die Wirklichkeit . . . Irgendwie mußte er ihr Mißfallen erregt haben, und sie hatten ihn überwältigt und ausgepeitscht. Aber warum? Warum das alles? Langsam kam er auf die Beine, betrachtete sein linkes Handge lenk und sah, daß er seine Armbanduhr auch in den Müll werfen konnte. Ein Peitschenhieb mußte nicht nur das Deckglas, sondern auch die Zeiger und mit ihnen die darunter liegende Mechanik zerschmettert haben.
Sein Blick tastete sich weiter, während er sich vorsichtig erhob, und da sprang ihn das Grauen an wie ein wildes Tier. Nur wenige Schritte hinter ihm lag ein Toter! Er brauchte kein zweites Mal hinzusehen, um zu wissen, daß dem Mann niemand mehr helfen konnte. Sein Hinterkopf war eine einzige große Wunde, und die glasigen Augen sagten alles. Er erkannte ihn wieder. Das war der Mann aus dem Wohnmobil, der erst Girodets Schä ferstündchen mit Yvette gestört und ihn später vom Lagerplatz verwiesen hatte. Was machte er hier? Und warum hatte man ihn erschlagen? Die Unheimlichen, die Girodet ausgepeitscht hatten, waren garantiert auch für diesen brutalen Mord verantwortlich zu ma chen. Nur konnte Bernard sich keinen vernünftigen Grund dafür vorstellen, aber war Mord überhaupt vernünftig zu begründen? Bernard schluckte heftig. Der Ermordete war doch nicht allein gewesen. Ein Mädchen war bei ihm, aber wo steckte es? Lag es ebenfalls tot irgendwo im Gesträuch zwischen den RuinenFundamenten? Bernard suchte nach ihr, konnte sie aber nirgendwo finden. Dafür bekam er einen vagen Eindruck von der Größe des Gebäu des, das hier einmal gestanden haben mußte. Hier und da lagen Steinbrocken, lagen Mauerreste, aus Lehmziegeln zusammenge setzt, und sie mußten schon sehr, sehr lange hier liegen. Vielleicht hundert Jahre, wahrscheinlich viel länger. Verzweifelt versuchte Bernard Girodet, ein System hineinzu bringen. Er hatte in der Nacht hier ein Haus gesehen, war ausge peitscht worden – und jetzt sah alles wieder so aus wie vorher. Ein Spuk? Yvettes Warnung fiel ihm ein. Hatte sie ihm nicht nahegelegt, so schnell wie möglich von diesem Platz zu verschwinden? Was hatte sie gewußt und ihm verschwiegen, der aus ihren Andeutungen nicht schlau geworden war?
Er wurde es doch auch jetzt noch nicht. Alles, was er sah und erlebt hatte, schien auf Spuk hinzudeuten, aber an den glaubte er nicht. Hypnose? Hatte man ihn mit Hypnose dazu gebracht, hier ein großes Herrenhaus zu sehen, wo eigentlich nur Ruinen standen? Aber dann mußte dieser Hypnose-Überfall sehr schnell geschehen sein. Wie hatte man das geschafft? Und wer? Was immer auch hier geschehen war – er mußte die Polizei informieren. Der Mann aus dem Wohnmobil war tot, war ermordet worden. Bernard ließ ihn liegen, wo er war. Bevor die Polizei die Spu ren nicht gesichert hatte, durfte hier nichts verändert werden. Mit vorsichtigen Bewegungen arbeitete sich Bernard durch das Dickicht, schrie ein paarmal auf, wenn Zweige über seine Haut kratzten und die Peitschenwunden wieder aufrissen. Dann trat er in die freie Landschaft hinaus und schaute sich an, was von seinem Zelt übriggeblieben war. Alles war zerstört, zerschnitten. Sein Fahrrad war verbogen, als wäre ein Raupenschlepper darüber hinweg gefahren. Hier war nichts mehr zu reparieren. Aber dann fand er unter den Resten seines Zeltes den Rucksack. Er war beschädigt, aber die wahnsinnigen Zerstörer schienen die Lust verloren zu haben, sich auch damit noch abzugeben. Die zwei Schnitte im Material ließen sich flicken, und immerhin war die Ersatzkleidung, die er mit sich führte, noch in Ordnung. Er fand das Verbandszeug, versorgte seine Wunden und kleidete sich dann an. Er konnte nur hoffen, daß er sich nicht bereits in der Nacht Infektionen zugezogen hatte. Eine Blutvergiftung war genau das, was ihm jetzt noch zu seinem Pech fehlte. Zu Fuß machte er sich auf den Weg, das Stück Wildnis zu umrunden. Auf der anderen Seite stand noch das Wohnmobil. Das
Lagerfeuer war niedergebrannt. Bernard sah, daß die Tür des Mobils offen stand. Er kletterte hinein und sah sich um. Hier hatte niemand übernachtet. Eine Portion Essen stand kalt neben dem Gasherd. Von dem Mädchen war auch hier nichts zu sehen. Er überlegte, ob er mit dem Wohnmobil hinunter ins Dorf fahren sollte, ließ es dann aber sein. Es gehörte ihm nicht, und es würde nur weiteren Ärger geben. Aber zu Fuß fielen ihm die Kilometer doch schwer. Wenigstens ging es leicht bergab. Während er ging und sich allmählich wieder besser fühlte, hat te er Zeit zum überlegen. Der Mann ermordet, seine Begleiterin verschwunden . . . was würde die Polizei dazu sagen? An die Ge schichte mit dem Haus konnte doch niemand glauben. Was blieb? Ein unglaubwürdiger Zeuge. Vielleicht würde man annehmen, er habe den Wohnmobilfahrer erschlagen! Seine Verletzungen sprachen dabei sogar noch gegen ihn. Mög licherweise kam man bei der Polizei auf den Gedanken, es habe eine Auseinandersetzung zwischen ihnen gegeben, bei der Ber nard geschlagen wurde und den anderen Mann aus Rache tötete! Daß es einen Streit gegeben hatte, konnte immerhin Yvette be zeugen. Yvette! Vielleicht war es besser, erst mit ihr zu reden! Aber damit kam die nächste Schwierigkeit. Sie wohnte bei ihren Eltern, und sie hatte versucht, die vorübergehende Zufallsbekanntschaft mit Bernard ihren Eltern zu verheimlichen. Außerdem war sie mögli cherweise gar nicht zu Hause, sondern arbeitete. Wie spät es war, konnte er nur schätzen, weil seine Uhr zerstört war und er im Wohnmobil vergessen hatte, auf die Borduhr im Armaturenbrett zu sehen. Aber wenn er den Stand der Sonne richtig einschätzte, war es bereits früher Nachmittag.
Er erschrak.
So lange hatte er bewußtlos gelegen?
Ratlos setzte er seinen Weg ins Dorf hinab fort.
� Jacqueline Morret fühlte sich elend. Jedes Zeitgefühl hatte sie verloren, seit sie in der grauen Sphäre schwebte, in der es nichts gab – buchstäblich nichts. Alles um sie herum war grau. Grau in Hunderten, in Tausenden von Abstufungen, Grau, das sich wie Nebelschleier um sie herum bewegte, aber dabei kein Nebel war, sondern nur Schattierungen in einer dimensionslosen Sphäre! Es gab auch keine Schwerkraft. Frei schwebte Jacqueline im Raum, und bei jeder Bewegung driftete sie in eine andere Rich tung, ohne diese Richtung zu erkennen. Ihr war übel, und von dem ständigen Kampf gegen die Übelkeit bekam sie mittlerweile bohrende Kopfschmerzen. Ein dumpfer Schmerz zog sich auch durch ihren gesamten Kör per, aber sie konnte sich nicht daran erinnern, was geschehen war. Sie besaß nur einen vagen Eindruck von Männern in seltsamer Kleidung, von wildem Gelächter und brutalen Fäusten, die nach ihr griffen. Wie sie in diese Grauzone geraten war, wußte sie nicht. Aber einmal glaubte sie weit entfernt Maurice gefühlt zu haben. Aber kaum tauchte dieser Eindruck in ihr auf, als er schon wieder verschwand, und danach war wiederum nur die Leere in ihr und um sie herum. Maurice, das Wohnmobil, der Hilfeschrei . . . alles verwischte sich. Einmal versuchte sie sich genug Schwung zu geben, um zum Rand dieses unheimlichen Grau zu gelangen. Der seltsame Raum, in dem sie sich befand, mußte doch einen Anfang und ein Ende haben, ein Oben und ein Unten, wenn man nur lange genug
danach suchte. Aber nach einer unmeßbar langen Zeitspanne gab sie auf, weil sie zwar spürte, sich bewegen zu können, aber scheinbar um keinen Zentimeter vorwärts kam. Bin ich tot? fragte sie sich entsetzt. Ist das hier, dieses grauen hafte Nichts, das Ende für mich? Eine Ewigkeit in der Hölle? Aber warum war sie dann plötzlich hier vorhanden? Unsichtbare Hände berührten sie, und sie erschauerte, aber niemand war in ihrer Nähe. Stimmen erklangen in ihrem Kopf, blieben aber unverständlich und verblaßten wieder in unendlicher Weite. Waren in diesem Nichts noch andere Menschen unterwegs, so wie sie nicht in der Lage, auch nur ein winziges Detail ihrer Umgebung zu erkennen? War einer für den anderen unsichtbar geworden? Sie ahnte, daß sie nahe daran war, den Verstand zu verlieren. Wie lange würde sie in dieser grauen Hölle noch existieren müs sen? Gab es einen Ausweg? Oder war sie für alle Zeiten hier gefangen? Angst hielt sie gepackt. Die Angst, den Verstand zu verlieren . . .
� Neuvy-sur-Loire besaß einen kleinen Polizeiposten, und weil er bei seiner Ankunft zufällig daran vorbei gekommen war, wußte Bernard Girodet auch, wo er ihn zu finden hatte. Aber je näher er kam, desto langsamer ging er. Man würde ihm doch seine Geschichte gar nicht glauben. Sie war zu fantastisch. Aber wenn er sie etwas verbog und in einigen Punkten veränderte, würde man das erst recht feststellen, und wie sollte er dann noch beweisen können, daß er an dem Geschehen unschuldig war? An Yvettes Elternhaus war er bereits vorbei. Er hatte sich nicht getraut, anzuklingeln und nach Yvette zu fragen. Aber als er gerade noch zweihundert Meter von der Polizeiwache entfernt
war, stoppte neben ihm ein kleiner Renault 4, und das Fenster der Beifahrertür wurde aufgezogen. »Bernard?« Das war doch Yvette! Er blieb stehen. »Was machst du zu Fuß hier?« hörte er sie fragen. »Du willst zur Polizei? Ist etwas passiert?« »Wir müssen miteinander reden«, stieß er hervor. »Warte, ich habe jetzt Zeit«, sagte sie. Das Fenster schloß sich, sie sprach mit der Frau auf dem Fahrersitz und stieg dann aus. Der Renault 4, gelb mit braunen Rostflecken und an der Heckklappe von bunten Aufklebern so übersät, daß von der Farbe nichts mehr zu erkennen war, knatterte mit defektem Auspuff davon. »Das war meine Freundin, mit der ich gestern angeblich in der Disco war«, erklärte Yvette. »Bernard, du siehst ja furchtbar aus! Was ist geschehen?« »Du bist mir sicher noch böse, wegen gestern abend«, murmelte er. »Wir haben beide falsch reagiert«, sagte sie. »Aber wolltest du nicht heute schon weiterfahren? Komm, da drüben ist eine Bank. Setzen wir uns.« Sie führte ihn zu der grün gestrichenen Holzbank, die jemand nebst einem Abfallkorb unter eine Linde gestellt hatte. »Der Mann aus dem Wohnmobil ist tot«, sagte Bernard. Yvettes Augen wurden groß. »Habt ihr – habt ihr euch noch einmal wieder gestritten?« fragte sie, und er glaubte Angst in ihren Augen zu sehen. »Nein. Ich wollte mich bei den Wohnmobil-Leuten entschul digen, aber der Mann jagte mich förmlich fort. Aber dann . . .« Stockend erzählte er, woran er sich erinnern konnte. »Aber du wirst es mir nicht glauben«, sagte er schließlich. »Niemand wird es mir glauben.« Sie nagte an der Unterlippe. »Es klingt so – so unsinnig«, sagte sie. »So unglaubwürdig. Ein
Haus, das plötzlich da ist und dann wieder verschwindet . . . wie ein Spuk, nicht?« Er nickte. »Gestern abend ist dort oben etwas geweckt worden. Ich weiß nicht, was es war, aber ganz umsonst gibt nicht eine Generation diese Warnung an die andere weiter, dort oben keine Fragen zu stellen und nicht zu streiten. Beides ist passiert. Nein, Bernard – bitte, brause nicht schon wieder auf. Ich will dir keine Vorwürfe mehr machen. Davon wird ja doch nichts mehr anders. Aber . . . es muß etwas Schlimmes sein. Und ich glaube nicht, daß man dich hypnotisiert hat. Davon bleiben keine Verletzungen.« Er schluckte. Daran hatte er noch gar nicht gedacht. »Aber was für eine Erklärung kann es dann geben?« »Doch ein Spuk. Aber ein gefährlicher . . . ich werde meine Großeltern fragen«, sagte sie. »Vielleicht wissen die mehr. Sie haben zwar nie etwas gesagt, aber nun, wo es passiert ist . . . Komm mit. Bernard.« »Und die Polizei?« »Informieren wir anschließend. Ich kenne Alan Regnac. Er ist von hier, er wird dir eher glauben als seine Kollegen, die von anderswo hierher versetzt wurden.« Sie zog ihn hinter sich her. Daß sie sich gestern abend im Unfrieden getrennt hatten, war jetzt nicht mehr zu spüren. »Wie kommst du überhaupt jetzt weiter, oder nach Hause zurück, je nachdem?« »Ich weiß es nicht. Vielleicht verkauft mir irgend jemand hier sein altes Fahrrad. Aber darüber mache ich mir keine Gedanken. Erst mal muß diese Sache hier überstanden sein. Wenn ich Pech habe, werde ich ohnehin erst mal als Mörder dieses Wohnmobilfah rers verhaftet. Wenn ich nur wüßte, wohin die Frau verschwunden ist . . .« »Vielleicht hat sie den Mann ermordet und will es dir nun in die Schuhe schieben?« überlegte sich Yvette.
Bernard schüttelte den Kopf. »Glaube ich nicht . . . Was meinst du, ob man mir einen Strick daraus drehen kann, daß ich den Mord so spät melde? Wer wird mir denn glauben, daß ich bis in den frühen Nachmittag hinein bewußtlos war?« Sie konnte ihm keine Antwort darauf geben. Gemeinsam gingen sie zu dem kleinen Haus am Ortsrand, in dem ihre Großeltern lebten. Aber Bernard Girodet erhoffte sich von dem Gespräch nichts.
� »Wenn du zwischen den Ruinen stehst, so frage nie, was geschah und wer dort lebte, und trage keinen Streit an jene Stätte, denn dies bringt nur größtes Unheil.« Es klang wie auswendig gelernt. Auch beim zweiten Mal verän derte der Wortlaut sich nicht, und Großvater Laventier zeigte sich darüber hinaus nicht besonders gesprächsbereit. Dafür war er an Informationen interessiert. Aber in diesem Punkt waren Yvette und Bernard sich einig, ohne sich vorher abgesprochen zu haben, und schwiegen sich ihrerseits aus. »Aber ohne einen Grund kommt ihr doch nicht hierher und wollt mehr über diese Sache wissen!« polterte Großvater Laventier und klopfte seine Pfeife aus. Aus dem Ständer suchte er eine neue und begann sie umständlich zu stopfen und in Brand zu setzen. Seine Augen in dem faltenreichen Gesicht blitzten. »Sie sind ein Fremder, Monsieur Girodet, Sie kommen aus der Stadt. Städter glauben doch nicht an so etwas. Sie halten uns für Idioten.« Und zur Bekräftigung tippte er sich mehrmals an die Stirn. »Ist da oben etwas passiert? Und was habt ihr damit zu tun?« »Nichts ist passiert. Nichts haben wir damit zu tun«, behauptete Yvette. »Wir sind nur im Gespräch darauf gekommen, und Bernard wollte mehr über diese alte Sache wissen.«
Sie war eine schlechte Lügnerin. »Yvette . . .«, sagte Claude Laventier drohend. Bernard zupfte Yvette am Ärmel. »Komm, wir gehen. Dein Groß vater möchte mich dumm sterben lassen. Na gut . . . so neugierig bin ich auch wieder nicht.« Der alte Herr grinste. »Nein, Monsieur Girodet, so einfach ist es auch wieder nicht. Wenn ich etwas darüber wüßte, würde ich es Ihnen sagen, aber es hat auch keinen Sinn, jemand anderen zu fragen. Keiner von uns, der diese alte Überlieferung kennt, weiß den Grund dafür zu nennen. Daß sich in jenem Dickicht Ruinen befinden sollen, höre ich selbst heute zum ersten Mal, weil ich auch niemanden kenne, der sich jemals hinein begeben hat . . .« Das wollte Bernard ihm nicht glauben. Aber er widersprach nicht. »Aber von einer Generation zur anderen wird die Ermahnung weitergegeben, und auch Yvette wird ihren Kindern beibringen, daß dort oben keine Fragen gestellt und nicht gestritten werden darf . . . und jetzt kommen Sie mir nicht aus dem Haus, ohne daß wir einen Cognac miteinander getrunken haben.« Es wurden drei Cognacs, aber dann drängte es Bernard Girodet wieder nach draußen, weil er mit dem alten Herrn nicht so zurecht kam, wie er es sich erhofft hatte. Und Wissen hatte er auch nicht hinzugewinnen können. Der nächste Weg führte sie beide zur Polizei. Alan Regnac erwies sich als ein etwa fünfzigjähriger Beamter und schien ein Freund der Familie Laventier zu sein. »Es geht um den verfluchten Hain?« erkundigte er sich, noch ehe Yvette oder Bernard etwas sagen konnten. »Woher weißt du das, Alan?« staunte Yvette. »Von deinem Großvater. Er rief gerade bei mir an, daß irgend etwas geschehen sein müsse, was dich und deinen Begleiter förm lich aus dem Häuschen gebracht haben soll.« Bernard verzog das Gesicht. »So ein mißtrauischer Vogel«, flü
sterte er Yvette zu. »Wie kommt er dazu, einfach bei der Polizei anzurufen?« Alan Regnac war das Flüstern nicht entgangen. Er lächelte. »Neuvy-sur-Loire ist zwar längst kein kleines Dorf mehr, sondern eine richtige kleine Stadt, aber trotzdem kennt hier noch fast jeder jeden, und man hilft sich gegenseitig aus. Deshalb gab uns Yvettes Großvater auch den Tip. Er muß geahnt haben, daß ihr anschließend hierher kommt. Was also ist da oben passiert? Hat es etwas mit dem Fluch zu tun?« »Sie erwähnen jetzt zum zweiten Mal den Begriff ›Fluch‹, Mon sieur«, sagte Bernard. »Wieso?« »Kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen. Aber ein paar Leute nennen dieses Gestrüpp den ›verfluchten Hain‹, und es gibt da diese Warnung: Wenn du zwischen den Ruinen stehst . . .« Bernard winkte ab. Den Spruch kannte er inzwischen fast aus wendig. »Wieso überhaupt Ruinen? Laut Monsieur Laventier ist so gut wie niemand jemals im Dickicht gewesen, aber trotzdem redet der Spruch von Ruinen! Nur scheine ich der einzige zu sein, der diese Ruinen gesehen hat, die keine sind. Nur Fundamente . . .« »Für den Wortlaut der Überlieferung kann ich doch nichts . . . und da oben drin gewesen bin ich selbst auch noch nicht, weil ich dienstlich bisher noch nichts mit dem verfluchten Hain zu tun hatte . . .« »Aber ich«, warf ein anderer Beamter ein, der im Hintergrund des Zimmers neben einer Schreibmaschine hockte und interes siert lauschte. »Dienstlich nicht, aber ich habe mich privat mal da herumgetrieben. Da gibt’s tatsächlich Fundamente, aber das Haus, zu dem sie gehören, muß schon vor ein paar Jahrhunderten zerfallen sein.« »Du treibst dich da oben herum?« staunte Regnac und wandte sich wieder Yvette und Bernard zu. »Das ist Georges Marnaux. Früher war er in Feurs tätig und ist auf eigenen Wunsch hier
her versetzt worden, weil seine Frau nicht weiter nach Süden umsiedeln wollte, die er hier bei uns kennenlernte.« Yvette lächelte Bernard an. »Wo wirst du deine Frau kennenler nen?« fragte sie. »Auch hier in Neuvy-sur-Loire?« Bernard überhörte den Wink mit dem Zaunpfahl, weil er beim besten Willen nicht vorhatte, sich fest zu binden. Warum sollte er sich mit einer Frau begnügen, wenn es doch so viele auf der Welt gab? »Was ist also geschehen?« fragte Marnaux, der Jungverheirate te. »Erzählen Sie es ruhig. Wir sind neugierig und beißen nicht.« »Aber es ist alles recht unglaubwürdig . . .« Bernard spulte seinen Bericht abermals herunter. Er sah die beiden Polizisten nicht an. Er wollte den Unglauben in ihren Gesichtern nicht bemerken müssen, und daß sie ihn nur reden ließen, ohne Zwischenfragen zu stellen, bewies doch, daß sie ihn nicht ernst nahmen . . . Dann war er mit seinem Bericht fertig und hob endlich den Kopf. »Eine so präzise Aussage haben wir hier noch nie erlebt, was, Georges?« sagte Alan Regnac. »Lieber Himmel, was soll man da noch sagen?« »Hinfahren und den Toten ansehen«, sagte Marnaux. »Zum Teufel, wenn das stimmt, was Monsieur Girodet sagt, dann . . .« Er redete nicht weiter, sondern griff zum Telefon. Er forderte ein paar Leute von der Abteilung Spurensicherung an und einen Fotografen. »Dann heißt das zumindest, daß diese alte Warnung nicht ganz unbegründet ist«, ergänzte Regnac derweil. »Daß es diesen Spuk tatsächlich gibt und daß er sich in dieser Form bemerkbar macht . . . hm . . .« Bernard konnte es nicht fassen, daß man ihm so einfach glauben wollte. Regnac lächelte. »Erst mal schauen wir uns die Sache selbst
an. Und vergessen Sie nicht, daß ich selbst wie Yvette und alle anderen hier in Neuvy mit dieser Warnung vor dem verfluchten Hain groß geworden bin.«
� Eine halbe Stunde später befanden sie sich vor Ort. Mit zwei Einsatzwagen waren sie den schmalen Weg hinauf gefahren und hatte das Dickicht umrundet. Und dort fanden sie den Toten so, wie Bernard Girodet ihn beschrieben hatte. Yvette hielt sich zurück. Sie wollte den Leichnam nicht sehen. Bernard hatte auch kein gesteigertes Interesse daran, ihm noch einmal gegenüberzustehen. Die Polizisten durchsuchten das dicke Dickicht. Das Wohnmobil wurde stehengelassen, aber zunächst einmal versiegelt. Kopfschüttelnd begutachteten Regnac und Mar naux die Verwüstungen. »Also, wer das Fahrrad verbogen hat, der muß schon ganz schöne Kraft besitzen«, sagte Marnaux. »Man könnte glauben, ein Auto wäre darüber gerollt, oder ein Traktor . . . aber hier gibt es keine entsprechenden Spuren.« »Vielleicht hat jemand es erst anschließend hier hin geworfen, um seine unglaubliche Geschichte zu untermauern«, sagte einer der Spuren-Experten und warf Bernard einen schrägen Blick zu. »Nein . . . ich bin geneigt, ihm seine Geschichte abzunehmen, so wie er sie erzählt hat«, erklärte Regnac. »Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, wie dieses Unterholz verschwinden soll, um einem Haus Platz zu machen, das anschließend ebenfalls wieder verschwindet.« Marnaux trat zu ihm. »Vielleicht kenne ich jemanden«, sagte er, »der uns eine Erklä rung bieten kann.« Regnac sah ihn überrascht an. »Du? Woher? Du bist kein Ein heimischer . . .«
»Aber die Einheimischen kennen auch nicht mehr als den Wort laut der überlieferten Warnung«, sagte Marnaux zurück. »Und weil alles erfolgreich verdrängt wurde und niemand Fragen stel len darf, kann natürlich auch keiner etwas wissen. Aber es gibt einen Experten, der sich vielleicht damit auskennt. Ich müßte nur ein bißchen herumtelefonieren.« »Was ist das für ein Mann, und woher kennst du ihn?« »Ich kenne ihn nicht persönlich. Aber in Feurs hat unsere Dienst stelle ein paarmal mit ihm zu tun gehabt. Ein Parapsychologe. Ich muß mal bei meinem alten Chef nachfragen, ob er den Mann zu uns schicken kann.« »Ein Parapsychologe? Was hat denn . . . oh, ja. Wenn’s ein SpukPhänomen ist.« »Auf jeden Fall kann der Mann zumindest ein Gutachten zu erstellen versuchen. Er kann sich die Sache ja mal ansehen.« Regnac schüttelte den Kopf. »Ich glaube kaum, daß man uns das genehmigen wird. Der Mann will bezahlt werden. Und ein Gutachten . . . von einem Parapsychologen? Ich hege da meine Bedenken.« »Wenn wir das Geld für ihn nicht bewilligt bekommen, bezahle ich es eben aus meiner Tasche«, knurrte Marnaux. »Ich weiß nur, daß mein alter Chef damals große Stücke auf diesen Mann hielt. Vielleicht kann er ja auch eine Empfehlung schreiben, dann sieht die Sache schon wieder ganz anders aus. Ich werde nachher, wenn wir wieder unten sind, mal versuchen anzurufen.« Regnac zuckte mit den Schultern. »Es wird nichts nützen, aber vielleicht schadet es auch nicht. Tu, was du nicht lassen kannst. Monsieur Girodet . . . was werden Sie jetzt tun? Ihre Heimatadres se haben wir ja, aber Sie sind doch auf einer Urlaubstour. Wo werden Sie in den nächsten Tagen zu erreichen sein?« Er warf einen nachdenklichen Blick auf die zerstörten Reste des Zeltes. »Sieht so aus, als müßte ich eine Übernachtung im Gasthaus ins Auge fassen. Das tut meiner Urlaubskasse gar nicht gut«,
murmelte er. »Ich weiß noch nicht, wie und wann ich weiter komme oder ob ich wieder heimreise.« Yvette berührte seine Schulter. »Bleib noch ein bißchen hier«, sagte sie leise. »Gestern, da . . . da war alles ganze anders. Wenn dir ein Zimmer zu teuer ist, gebe ich ein bißchen dazu . . . und vielleicht können wir heute abend nachholen, was gestern nicht geklappt hat.« Bernard konnte sich nur noch wundern. »Ich melde mich morgen mittag bei Ihnen«, versicherte er Regnac. »Dann weiß ich vielleicht eher, was ich als nächstes tun werde.« Er wandte sich wieder Yvette zu. So leise, wie sie zu ihm ge sprochen hatte, sprach jetzt auch er. »Sag mal . . . Regnac und du, ihr kennt euch. Er kennt auch deine Eltern, nicht? Kann das nicht doch Ärger geben, wenn sich jetzt herumspricht, daß du und ich . . .« Sie lächelte ihn an. »Warte erst mal ab, was kommt«, sagte sie. »Alan ist nicht gerade geschwätzig, und vielleicht . . .« Was sie dachte, sagte sie ihm nicht: Vielleicht wird eine feste Bindung aus dieser Zufallsbekanntschaft! Und sie knüpfte schon an einem Netz, in dem sie diesen Bernard Girodet fangen wollte, denn warum sie sich gestern abend im Streit getrennt hatten, konnte sie heute beim besten Willen nicht mehr sagen . . .
� Zu seinem ehemaligen Vorgesetzten in Feurs hatte Georges Mar naux immer ein gutes Verhältnis gehabt und durch Thekengesprä che nach Feierabend auch genug von Dingen mitbekommen, die eigentlich nicht zu seinem eigenen Dienstbereich gehörten. Jener Parapsychologe und die Fälle, in denen er aktiv gewesen war, wa
ren zu diesen Dingen zu zählen, weil sie zu den Verschlußsachen gehörten. Marnaux rief in Feurs an. Sein Ex-Chef versprach ihm, Nachfra ge zu halten und sich so schnell wie möglich wieder zu melden, nachdem er sich erklären ließ, worum es ging. Den Fall selbst kommentierte er nicht, gab auch keine Ratschläge. Eine Viertelstunde vor dem ersehnten Feierabend klingelte dann an Marnaux’ Schreibtisch das Telefon. Marnaux hatte die ganze Zeit über darauf gewartet und gehofft, jener Parapsycho loge würde sich direkt selbst melden, aber dann war es nur der Dienststellenleiter in Feurs. »Tut mir leid, Georges. Aber der Professor hat abgelehnt. Die Sache sei ihm zu diffus, und er habe weder Zeit noch Lust, sich darum zu kümmern.« »Hast du es ihm denn überhaupt richtig erklärt?« »Natürlich«, kam es entrüstet zurück. »Aber du kannst es ja noch einmal versuchen. Vielleicht zeigt er sich dir gegenüber umgänglicher, Georges.« Der schrieb die Telefonnummer mit, bedankte sich und legte auf. Alan Regnac sah ihn fragend an. »Und?« »Heute versuche ich’s nicht mehr. Morgen vormittag, oder am Mittag. Dann fühlt er sich nicht so bedrängt, weißt du? Eigentlich soll er ja ganz umgänglich sein, zumindest hat mein Chef das immer behauptet. Er wird es ihm nur nicht richtig erzählt haben.« »Oder der Mann weiß ganz genau, was er kann und was nicht«, sagte Regnac. »Ich werde heute nacht mal hinauf fahren und sehen, ob der Spuk sich wiederholt, von dem dieser Girodet er zählte. Die paar Überstunden feiere ich demnächst irgendwann mal wieder ab . . . Und ich hoffe, daß nichts passiert, dann können wir den Fall nämlich als unerledigt und nicht zu lösen zu den Akten legen. Bloß was wir im Fall dieser verschwundenen Frau tun können, ist mir noch rätselhaft. Wir haben ja nicht mal eine
vernünftige Personenbeschreibung, und im Wohnmobil hat sich ebensowenig ein Foto von ihr befunden wie in der Brieftasche des Toten . . .« »Ja, schade, daß weder Mademoiselle Yvette noch Girodet sich diese Frau richtig angeschaut haben . . . aber wenn sie morgen nicht wieder auftaucht, müssen wir die Fahndung ’rausgeben, ob wir wollen oder nicht. Aber ob etwas dabei herauskommt . . . ?« Regnac wagte keine Prognose. Aber daß dieser Parapsycholo ge eine Erklärung bieten konnte, daran glaubte er trotz seiner Verwurzelung mit diesem Landstrich und dem verfluchten Hain nicht. Und deshalb war er gar nicht so unglücklich darüber, daß der Wissenschaftler abgesagt hatte. Das war besser, als sich später lächerlich zu machen . . .
� Die Nacht kam, und mit ihr das Erwachen. Als es dunkel wurde, begannen sie wieder in der Welt der Menschen zu existieren. Denn die Nacht war so düster wie ihre Seelen.
� Plötzlich riß das Grau auf, jene namenlose Zone, in der nichts existierte außer Jacqueline Morret. Um sie herum bildeten sich Wände. Ein kleines Zimmer, ein winziges Fenster . . . und es gab auch wieder Schwerkraft. Jacqueline stürzte nicht; sie senkte sich langsam zum Fußboden hinab, leicht wie eine Feder im Wind. Die Schwerkraft kam ebenso langsam, wie die Umgebung an Festigkeit gewann. Tief atmete Jacqueline durch. Eine zerschlissene Decke, Stroh . . . das war ein Lager, das man ihr offensichtlich bereitet hatte. War das hier eine Gefängniszelle?
War sie aus dem unendlichen, grenzenlosen Gefängnis nur in eines mit festen Wänden übergesiedelt worden? Sie versuchte aus dem Fenster zu sehen. Aber die Butzenschei ben waren blind. Hier hatte man viele Jahre lang versäumt, zu putzen. Millimeterdick lag der Staub auf der schmalen Fenster bank, und Spinnen hatten ihre Netze gewoben. Jacqueline wich vor dem Fenster zurück, als sie die beiden fast daumengroßen Kreuzspinnen sah, die eifrig an ihrem Netzwerk webten. Zwei der kleinen Scheiben waren gesprungen; in einer befand sich ein handtellergroßes Loch, durch das Frischluft hereinkam, aber auch Insekten, die sich dann in den Spinnennetzen verfingen. Ein gutes Dutzend Kokons in den Netzspiralen verriet, daß die beiden Kreuzspinnen auch in Zukunft nicht abmagern mußten. Jacqueline wandte sich der anderen Seite zu. Dort befand sich eine Tür aus massiven Holzbohlen mit einem großen eisernen Schloß, aber als sie versuchte, es zu öffnen, mußte sie feststellen, daß jemand von draußen einen schweren Riegel vorgeschoben hatte. Sie versuchte sich zu erinnern. Aber ihre Erinnerung setzte da aus, wo sie neben dem zerstörten Zelt überfallen worden war, nachdem sie den einsamen Camper schreien gehört und zu ihm geeilt war. Was dann kam, wußte sie nicht mehr. Aber sie stellte fest, daß sie ihre eigene Kleidung nicht mehr besaß; dafür hatte man ihr einen zerschlissenen Kittel gegeben, der dem Schnitt nach aus dem Mittelalter stammen mußte. Ihr Haar war zerzaust und klebte, ein paar Fingernägel waren gesplittert, und an zahlreichen Stellen war ihre Haut zerschrammt oder von blauen Flecken übersät. Vielleicht, dachte sie bitter, war es ganz gut, daß sie sich an nichts mehr erinnern konnte . . . Aber wohin hatte man sie verschleppt, und warum? Draußen war es dunkel geworden. Vielleicht dieselbe Zeit wie gestern . . . oder war es vor tausend Jahren gewesen? Wie lange hatte sie sich in dem erinnerungslosen Zustand befunden? Sie
wußte es nicht, konnte nur hoffen, daß nicht mehr als vierund zwanzig Stunden vergangen waren. Warum hatte Maurice sie nicht gesucht? Zu zweit hätten sie den unheimlichen Angreifer eher abwehren können, der über solch unmenschliche Körperkraft verfügt hatte. Allein war Jacqueline verloren gewesen. Und jetzt war sie eine Gefangene . . . Ihr Magen knurrte, sie hatte Durst, und von sonstigen mensch lichen Bedürfnissen blieb sie auch nicht verschont. Irgendwann hörte sie Schritte. Dann wurde mit einem metal lischen Laut draußen der Riegel zurückgezogen. Ruckartig flog die Tür auf. Hätte Jacqueline in diesem Augenblick dicht davor gestanden, wäre sie von ihr zu Boden geschleudert worden. Ein breitschultriger Mann, bärtig und nicht gerade angenehm riechend, stand breitbeinig in der Türöffnung. Hinter ihm ein zweiter, eine rußende Fackel in der Hand. Wie im Gruselfilm, dachte Jacqueline erschreckt. Gab’s hier keine vernünftigen Lampen? »Mitkommen«, schnarrte der Bärtige. »Wohin? Was soll das alles? Warum halten Sie mich gefangen? Ich verlange . . .« »Schnauze!« bellte der Bärtige. »Mitkommen, oder du kannst was erleben!« Drohend stapfte er auf sie zu. Sie überlegte, ob es sich lohnte, etwas gegen ihn und den Fackelträger zu unternehmen, entschied sich dann aber erst ein mal dagegen. Sie mußte zuerst mehr über ihre Umgebung her ausfinden. Es nützte nichts, wenn sie mit ein paar Jiu-Jitsu-Tricks die beiden Männer überrumpelte und dann doch nichts gewann, weil sie nicht wußte, wohin sie fliehen konnte. So mußte sie erst einmal verhältnismäßig gute Miene zum bösen Spiel machen und sorgfältig beobachten. Jede Einzelheit konnte wichtig sein. Sie gab dem Bärtigen keinen Grund, sie zu schlagen, obgleich
er schon ausholte. Aber sie konnte nicht verhindern, daß er sie am Arm faßte und brutal herumriß, um sie aus der kleinen Kammer auf den Gang hinaus zu stoßen. Da sah sie noch einen dritten Mann, der sich ihr vorher nicht gezeigt hatte. Sie gingen wahrlich kein Risiko ein! »Los, beweg dich!« Sie wurde erneut vorwärts gestoßen. Was erwartete sie?
� Alan Regnac war nicht allein hinaus gefahren. Als er von zu Hause zurückkam, wo er ein schnelles Abendessen eingenommen hatte, wartete Georges Marnaux bereits am Dienstwagen. Regnac staunte. »Hat deine Süße dir freigegeben?« Marnaux grinste. »Ich ihr, mein Lieber . . . du weißt doch, mitt wochs hat sie ihren Quassel-Abend mit dem Rest der weiblichen Bevölkerung dieses schönen Ortes . . .« Regnac nickte. »Schön, mir soll’s recht sein, wenn du mit kommst. Vier Augen sehen bekanntlich mehr als zwei.« Wenig später passierten sie das Wohnmobil. Regnac stoppte kurz und überprüfte das Siegel; es war unversehrt. Niemand hatte sich an dem Wagen zu schaffen gemacht. »Wir sollten zu Fuß weitergehen«, schlug Marnaux vor. »Wenn wir mit dem Wagen drüben auf der anderen Seite auftauchen, verscheuchen wir möglicherweise diejenigen, die sich hier herum schleichen . . .« »Die dürften uns längst bemerkt haben«, widersprach Regnac. »Mir ist es lieber, den Wagen direkt griffbereit zu haben. Schließ lich ist da Funk drin, und man kann sehr schnell mit ihm ver schwinden.« »Nanu?« staunte Marnaux. »Darf man an dem Resultat deiner düsteren Gedanken teilhaben? Was befürchtest du?«
»Nur, daß es vielleicht Ärger gibt. Aber ich weiß es nicht. Ich will nur nicht unvorbereitet in irgend etwas hineinstolpern.« »Hm«, machte sein Jungverheirateter Kollege. »Trotzdem finde ich, daß wir uns nicht gerade intelligent anstellen.« »Laß das nur meine Sorge sein. Und, Georges . . . über eines sollten wir uns im klaren sein: stelle keine Fragen und trage keinen Streit in die Ruinen . . .« Marnaux seufzte. »Das bedeutet ja, daß wir nicht einmal gegen sätzlicher Meinung sein dürfen . . .« Regnac stieg wieder in den Wagen und umrundete das Dickicht, den verfluchten Hain. Vor der verwüsteten Campingstelle stoppte er den Dienstwagen. Er löschte die Scheinwerfer und sah zum Dickicht hinüber. »Kneif mich mal, Georges . . .« Aber der glaubte seinen Augen selbst nicht trauen zu dürfen. Sie wurden Zeugen eines gespenstischen Vorganges. Das Sternenlicht reichte aus, die Einzelheiten erkennen zu lassen. Dennoch glaubten die beiden Männer zunächst an eine Sinnestäuschung. Aber mehr und mehr wurde ihnen klar, daß es keine war. Bäume verschwanden, wurden durchsichtig, lösten sich einfach auf. Sträucher verschwanden. Eine Lichtung bildete sich, die immer größer wurde und auf der Gebäude erschienen. Ein großes Haupthaus und Anbauten aus Holz. Es war wie in einer Überblendung zweier Filmszenen. Das Dickicht wich den Gebäuden. »Das gibt’s doch nicht . . .« Langsam stieg Marnaux aus dem Wagen. Er wollte näher heran und feststellen, ob das, was er sah, real war, oder ob ihnen hier auf irgendeine Weise etwas vorgegaukelt wurde. »Das kann nicht real sein . . .« »Aber was ist es dann? Mann, bleib hier! Du weißt nicht, was auf dich wartet«, warnte Regnac.
»Eine Holografie«, murmelte Marnaux. »Was, bitte? Was soll das sein?« »Ein dreidimensionales Bild. Räumlich, verstehst du? Es braucht keine Leinwand, nichts. Nur zwei Laserprojektoren, die ein stereoskopisches Bild erzeugen, das frei im Raum oder in der Landschaft steht.« »Und so was gibt es?« »Sag mal, lebt ihr hier in Neuvy hinter dem Mond?« erkundigte sich Marnaux trocken. »Das gibt’s schon seit bald fünfzehn Jahren, vielleicht sogar noch länger. Lies mehr Zeitung und interessier dich für die Welt, dann erfährst du auch davon. Daß schon mal Menschen auf dem Mond gelandet sind, weißt du hoffentlich?« »Banause«, knurrte Regnac. »Na gut. Man kann schließlich nicht alles wissen. Bei Gelegenheit mußt du mir mal genau erklä ren, wie diese Holo . . . diese Dingsdas funktionieren, ja?« Marnaux machte noch ein paar Schritte vorwärts. Das große Haus und die Stallungen, wie es schien, hatten jetzt feste Gestalt angenommen. Marnaux und Regnac suchten nach der Stelle, wo der Tote gelegen hatte. Diese Stelle mußte dicht neben einem der Stallbauten sein. Und im Haus brannte Licht. Hinter den kleinen Fenstern war hier und da ein seltsam flackernder Schein zu sehen. »Kerzen?« Regnac wußte nicht, daß er laut gedacht hatte, bis Marnaux sagte: »Ja, Alan . . . oder Fackeln! Wundert mich auch nicht, denn wer sollte auf die Idee gekommen sein, elektrischen Strom hierher zu verlegen?« »Ich dachte, du hältst es für ein Bild. Eine Holodingsda.« »Schon . . . aber es wirkt so verflixt echt . . .« Wieder machte er ein paar Schritte vorwärts. Und da kam ihnen jemand entgegen . . .
�
Yvette und Bernard waren bei einer Unterredung in einem kleinen Café zu der Übereinkunft gekommen, daß Bernhard sein Zimmer in einem Gasthof durchaus allein bezahlen konnte. Er hatte gegen Yvettes Angebot entschieden protestiert. »Hältst du mich für so bettelarm, nur weil ich einen Urlaub fast zum Nulltarif dem in Luxushotels vorziehe? Überhaupt . . . du bist heute so ganz anders als gestern.« »Ich sagte dir schon, daß ich Zeit zum Nachdenken hatte. Ich habe versucht, mich in dich hinein zu versetzen, und ich bin zu dem Schluß gekommen, daß ich dich näher kennenlernen möchte. Über das Gestern und das Heute hinaus.« »Kein Grund, mein Zimmer mitbezahlen zu wollen . . .« »Nimm’s als Angebot meiner Gastfreundschaft, weil ich dich bei uns daheim vorerst noch nicht einquartieren kann. Wir haben zwar Platz, aber meine Eltern würden in Ohnmacht fallen, wenn ich einen völlig fremden Mann anschleppe, den ich erst seit 48 Stunden kenne. Aber darüber haben wir ja schon gesprochen.« »Was das Kennenlernen angeht«, murmelte er, »so weiß ich ja nicht einmal, ob ich Lust habe, noch länger in dieser Gegend zu bleiben. Sobald ich ein Fahrrad bekomme, bin ich mit ziemlicher Sicherheit weg. Mich hält nach dem, was hier passiert ist, nichts mehr in Neuvy und Umgebung.« »Auch ich nicht?« »Yvette . . .« Hatte sie ihn gestern und vorgestern nicht verstanden, als er ihr erklärte, daß er nicht an einer festen Bindung interessiert war, und war sie nicht einverstanden damit gewesen, für ein paar Stunden ein bißchen gemeinsamen Spaß zu haben und sich dann wieder zu trennen? Er schien sie unterschätzt zu haben. Vielleicht war sie doch anders als die Mädchen, die er bisher auf seinem Urlaubstrip vernascht hatte . . . »Ich glaube, ich weiß, wer dir ein Fahrrad verkaufen könnte«,
bot sie zwischendurch an. »Er braucht es nicht mehr, und es steht da nur herum . . . wahrscheinlich macht er dir einen guten Preis.« Aber dann sprachen sie nicht mehr darüber, was Bernard mor gen vielleicht tun oder nicht tun würde. Yvette machte ihren Vorschlag: »Laß uns einen Spaziergang zur Loire hinunter ma chen. Draußen gibt’s einen prachtvollen Sonnenuntergang . . . und ich habe keine Lust, mich schon jetzt zwischen vier Wänden zu verkriechen.« Er schmunzelte. »Gestern warst du mit deiner Freundin in der Disco, wo bist du heute?« »Ach, mir wird schon was einfallen. Ich muß ja nicht um zehn Uhr zu Hause sein. Es reicht, wenn ich zum Frühstück erscheine.« Er küßte sie vorsichtig. Wenig später waren sie unterwegs. Bis zum Loire-Ufer war es nicht weit. Der breite Strom erstreckte sich als graues Band vor ihnen. »Gibt’s hier wenigstens auch ein paar romantische Uferstellen, wo man sich zwischen Sträuchern verstecken und Blätter zählen kann?« erkundigte Bernard sich. Sie schüttelte den Kopf. »Hier nicht, da müßten wir schon auf die andere Seite rüber. Oder noch weiter an den See, der drüben zwischen der Loire und dem Kanal liegt. Aber dazu müßten wir erst etwa fünf Kilometer weit bis nach Bonny, zur nächsten Brücke, und dann wieder zurück . . . ich glaube nicht, daß du dazu Lust hast.« »Nur, wenn es sich wirklich lohnt, bloß ist das zu Fuß eine ordentliche Strecke . . . vor allem zurück. Kann man nicht hinüber schwimmen? Oder ist der Fluß auch mit einem Fluch belegt?« Vorwurfsvoll schüttelte sie den Kopf. »Schwimmen? Hier?Du bist ja verrückt, Bernard. Durch diese Strömung? Lebensmüde bin ich nicht.« »Na ja, vielleicht finden wir doch noch ein paar verschwiegene
Stellen auf dieser Seite. Immerhin ist die Loire der letzte europäi sche Fluß, der noch halbwegs naturbelassen ist . . .« »Bloß warten die Bagger schon, auch hier die Ufer zu begra digen und zu befestigen und die letzten Biotope zu vernichten. Umweltschützer-Gruppen versuchen zwar Sperrgrundstücke zu kaufen, um diese Zerstörungen zu verhindern, aber ich fürchte, man wird gerichtlich gegen sie vorgehen, und in Paris kümmert sich niemand um die Natur. Wenn ich Geld hätte, würde ich mich den Kauf-Aktionen anschließen. Aber dann könnten wir uns auch ein Taxi leisten und zur anderen Seite an den kleinen See hinüber fahren . . .« »Warum tun wir’s nicht? Ich habe Geld.« »Du? Du Geizkragen, der im Zelt campiert, um kein Geld ausge ben zu müssen?« neckte sie ihn. »Ich zeige dir gleich, wer hier geizig ist . . .« »Wie? Schmeißt du deine Brieftasche in den Fluß?« »Nee. Dich«, grinste er und griff zu. Aber das tat im gleichen Moment noch ein anderer. Einer, der sich im Schutz der Dunkelheit lautlos herangepirscht hatte und wie ein Schatten hinter den beiden Menschen auftauch te, und er war nicht allein gekommen. Blitzschnell schlugen die Unheimlichen zu!
� Alan Regnac und Georges Marnaux starrten die Männer an, die ihnen entgegen kamen. Lautlos bewegten sie sich und schienen aus dem Nichts gekommen zu sein, denn keiner der beiden Po lizisten konnte sich erinnern, sie aus dem Haupthaus oder den Stallungen hervortreten gesehen zu haben. Vier Männer in altertümlicher Kleidung, mit derben Stiefeln, erdfarbenen Hosen und bunten Jacken, die schon vor ein paar
hundert Jahren aus der Mode gekommen sein mußten. Der Haar schnitt war entsprechend. »Alle Wetter, da hat sich aber einer Mühe gegeben, den Jungs ein zeitgetreues Outfit zu geben«, sagte Regnac. »Als die Leute so herumliefen, war die Französische Revolution noch Science Fiction . . .« Die vier blieben gut im Halbkreis verteilt stehen. Mit Befremden bemerkte Regnac, daß einer der Männer einen Dolch im Stiefel schaft trug; der Griff ragte heraus. Ein anderer hatte einen sehr langen Dolch oder auch ein sehr kurzes Schwert mit verziertem und edelsteinbesetztem Griff in einer bestickten Lederscheide am Gürtel hängen, und der dritte hielt eine zusammengerollte Peitsche in der Hand. Nur der vierte war entweder unbewaffnet, oder er trug seine Waffe nicht offen. Die Peitsche erinnerte Regnac an die unglaubliche Aussage Bernard Girodets, der berichtet hatte, ausgepeitscht und dann an den Füßen aufgehängt worden zu sein. War an seiner Story tatsächlich mehr dran, als es zunächst den Anschein hatte? Daß mehrere Menschen unabhängig voneinander zu unterschiedlichen Zeiten dieselbe Halluzination hatten, war so gut wie unmöglich. »Vorsicht«, murmelte Regnac. Marnaux nickte. »Wer gab die Erlaubnis zu reden?« knurrte der Mann mit dem verzierten Dolch. »Man schweige!« »He, Freundchen«, warnte Marnaux. »Sie sehen wohl nicht, wen Sie vor sich haben? Wer sind Sie, und . . .« Weder Regnac noch Marnaux sahen die Bewegung. Gedanken schnell hatte der Mann mit der Peitsche zugeschlagen. Die Schnur traf Marnaux und ließ ihn aufschreien. Einen Augenblick später gab der Schläger der Peitschenschnur mit einer geschickten Be wegung einen Drall, daß sie sich selbst wieder fast völlig aufrollte. Der Mann mußte ein absoluter Künstler sein. Regnac hatte nie
zuvor erlebt, daß jemand diesen Trick beherrschte – er war nicht einmal auf den Gedanken gekommen, es könne möglich sein. Aber er selbst war auch schnell. Sie waren beide in Uniform, und sie trugen beide ihre Dienst waffen, schon als das Haus aus dem Nichts auftauchte wie in der Film-Überblendung, hatte Regnac vorsichtshalber den Verschluß geöffnet. Er brachte es jetzt fertig, die Waffe blitzschnell zu ziehen und auf den Mann mit der Peitsche zu richten. »Fallenlassen!« befahl er. »Sie sind festgenommen!« Er konnte mit der Pistole niemanden beeindrucken. Statt des sen setzte der Kerl die Peitsche abermals ein. Regnac sah die Schnur nicht einmal kommen, so rasend schnell ging das, und dann glaubte er, sein Arm stehe in hellen Flammen. Im Reflex drückte er ab, obwohl er das eigentlich gar nicht wollte. Der Schuß krachte. Die Kugel traf. Deutlich sah Regnac den Einschlag. Unbeabsich tigt hatte er den Peitschenmann in die Brust getroffen. Glatter Lungendurchschuß. Bloß fiel der nicht um. Er verzichtete sogar darauf, zu bluten, aber alle vier hatten die Hände hochgerissen und gegen die Ohren gepreßt. Fassungslos starrten sie Regnac an. Der mit dem Zierdolch, der vorhin so hochtrabend geredet hatte, schrie: »Zauberer!« Und blitzschnell wirbelten die Männer herum und rannten auf das Haus zu. Der Peitschenmann hatte daran gedacht, seine Waffe mitzuneh men. Regnac ließ die Hand mit der Pistole sinken. Sein Unterarm schmerzte immer noch tierisch, aber er achtete nicht darauf. Mit offenem Mund sah er den Davonlaufenden hinterher. Er begriff nicht, wieso dieser Peitschenmann nicht auf die Kugel reagiert hatte. Selbst wenn er eine Schutzweste getragen hätte, hätte ihn allein die Aufprallwucht des Projektils aus nächster Nähe zurückwerfen müssen. Er hätte eine starke Prellung erlitten.
Auf jeden Fall wäre er jetzt nicht in der Lage gewesen, so schnell zu laufen. »Hast du – hast du das gesehen, Georges?« Marnaux schüttelte den Kopf. »Laß mal deinen Arm sehen«, verlangte er. »Der hat dir den Ärmel zerrissen . . .« »Und dir die Jacke an der Taille . . .« »Aber das tut nicht mehr weh. Was ist mit deinem Arm? Kannst du den noch benutzen?« »Natürlich.« Regnac zog das Magazin aus der Pistole und über prüfte es. »Ich kann’s nicht glauben, Georges. Ich habe ihn doch aus nächster Nähe getroffen, und der ist nicht umgefallen, son dern erfreut sich noch bester Gesundheit . . .« »Spuk!« behauptete Marnaux. »Geister kann man nicht erschie ßen.« »Und das behauptest du Städter?« staunte Regnac. »Du glaubst an Geister?« »Ich glaube an gar nichts, Alan . . . bloß – Menschen waren das nicht!« Der Ältere sah ihn an wie einen Irren. »Aber was dann, Georges? Was dann?«
� Bernard Girodet hörte Yvette schreien. Er sah Gestalten aus dem Dunkel auftauchen, die ihn an jene unheimlichen Angreifer vom vergangenen Abend erinnerten. Seine Fäuste flogen. Einer der Unheimlichen segelte über die Uferkante ins Wasser. Einem zwei ten versetzte Bernard einen Fausthieb, der ihn eigentlich hätte zusammenbrechen lassen müssen, aber dieser Angreifer steckte den Hieb ein und präsentierte Bernard das Echo. »Lauf!« schrie er Yvette zu. »Lauf weg, schnell!« Der nächste Hieb schloß ihm den Mund, der übernächste ließ
ihn Sterne sehen. Die Welt drehte sich um ihn, und er konnte nur noch hoffen, daß es Yvette gelang, zu flüchten und Hilfe zu holen. Ihr väterlicher Freund Regnac bei der Polizei! Zu ihm mußte sie. Hoffentlich dachte sie daran! Bernard selbst dachte nichts mehr. Wie einen Sack warf ihn sich einer der Düsteren über die Schul ter. Ein zweiter starrte ins Wasser, das brodelte, und versuchte im Brodeln den Mann zu erkennen, den Bernard hineingestoßen hatte. Aber da kam nichts. Der Mann zeigte sich nicht mehr, und nach einer Weile hörte auch das Brodeln auf. Keine Blasen, die an der Oberfläche zerplatzten, stiegen mehr auf, und kein Dampf entstand über dem Wasser, um schnell vom leichten Wind davon getrieben zu werden. Das Wasser, das gekocht hatte wie Säure, beruhigte sich und floß wieder in stetigem, unbeirrbarem Strom. Der Zuschauer wandte sich um. Die beiden Gestalten ver schwanden in der Dunkelheit wie Schatten, die mit der Nacht verschmelzen. Bernard, ihren bewußtlosen Gefangenen, nahmen sie mit.
� Yvette war gelaufen, aber nicht allzuweit. Als sie hinter sich keine Schritte hörte, blieb sie stehen und wirbelte herum. Entsetzt sah sie Bernard am Boden liegen, aber dann packte ihn einer der Angreifer und lud ihn sich über die Schulter, als wiege er überhaupt nichts. Konnten Menschen eine derartige Kraft entwickeln? Einer der Unheimlichen schaute in die Loire, wandte sich dann um und folgte seinem Komplizen. Um Yvette kümmerte sich keiner von ihnen. Sie hasteten davon. Yvette rang mit sich. Und dann wuchs sie über sich hinaus. Sie folgte den beiden Männern, die Bernard verschleppten!
Blitzschnell war sie zu dem Entschluß gekommen, daß sie zu viel Zeit verlieren würde, wenn sie jetzt erst die Polizei alarmier te. Und selbst wenn sie es schaffte, daß Alan Regnac aus dem Schlaf gerissen wurde – sie mußte doch annehmen, daß er längst Feierabend hatte –, würde es eine Weile dauern, bis man etwas unternehmen konnte. Sie hatte zwar den Verdacht, daß die Unheimlichen aus dem verfluchten Hain gekommen waren und daß sie dorthin auch wie der zurückkehren würden, aber sie mußte sicher gehen können. Und sie wollte herausfinden, was als nächstes geschah. Verschwand Bernard gleich so, wie das Mädchen aus dem Wohn mobil verschwunden war? Yvette wollte es wissen! Sie ahnte zwar, daß sie sich mit ihrer Neugierde in eine unend lich große Gefahr begab, aber dieses Risiko wollte sie eingehen. War es vielleicht, um Bernard später einmal sagen zu können: Ich habe dich nicht allein gelassen! In diesem Punkt verstand sie sich selbst nicht mehr. Irgend etwas fesselte sie an diesen jungen Mann, dem man erst den Unterschied zwischen Sex und Liebe noch beibringen mußte, aber Yvette, die selbst zu lieben gelernt hatte, hielt sich für die richtige Lehrerin. Vorausgesetzt, man gab ihr noch die Chance dazu! Aber um das so schnell wie möglich in Erfahrung zu bringen, mußte sie den Kidnappern jetzt folgen. Durch die Dunkelheit huschte sie hinter den Unheimlichen her . . .
� Jacqueline Morret folgte ihrem Abholkommando. Sie fragte sich, was jetzt auf sie wartete. Daß man sie aus ihrer seltsamen Gefan
genschaft freilassen würde, konnte sie sich nicht vorstellen, aber sie hoffte, irgendwo eine Chance zu sehen, zu entwischen. Bloß ließen ihre Begleiter das nicht zu. Sie führten Jacqueline durch Gänge, die plötzlich richtig luxuri ös wurden. An den Wänden hingen Bilder, die Landschaften oder grimmig dreinschauende ältere Frauen und Männer zeigten. An den Wänden hingen Kerzenlampen, und der Fußboden bestand nicht mehr aus Stein, sondern aus polierten Holzbohlen, über die man sogar schmale Läufer gelegt hatte. Es ging ein Stockwerk höher. Hier wurde es prunkvoll. Von einem Moment zum anderen glaubte Jacqueline sich in einen Herrscherpalast versetzt zu se hen, aber dazu paßte ihr zerschlissener Kittel nicht. Besser würde ihr hier ein schulterfreies, bodenlanges Kleid mit viel Spitzenbe satz stehen, und jede Menge Schmuck. Der Fackelträger hatte seinen Lichtspender gelöscht. Er brauch te ihn hier nicht mehr. Die in den Wandhaltern steckenden Kerzen verbreiteten genug Helligkeit. Der Bärtige wies jetzt auf eine doppelflügelige Tür, deren Griffe in Brusthöhe lagen. Der dritte Mann klopfte lautstark an und öffnete dann einen der Türflügel. Es bedurfte keiner Aufforderung mehr. Jacqueline wußte auch so, daß sie einzutreten hatte. Der Raum dahinter war kein Thronsaal. Er war ein kostbar ausgestattetes Wohnzimmer, und sie fragte sich, wieso sie eben noch auf den Gedanken gekommen war, es könnte ein Thronsaal sein. Befand sie sich nicht in dem Haus, das sie dort gesehen hatte, wo eigentlich dieses verwilderte Dickicht zu stehen hatte? In diesem Haus, so groß es auch angelegt sein mußte, war für Säle keinen Platz, wie sie sie sich vorstellte. Ein Mann im goldbestickten, jadegrünen Wams sah ihr entge gen. Huldvoll winkte er und bedeutete ihr näherzutreten, aber dann schien er mit schnell wachsender Ungeduld auf etwas zu warten.
Auf seiner Stirn bildete sich eine steile Unmutsfalte. Da landeten zwei Hände schwer wie Blei auf Jacquelines Schul tern, und etwas stieß in ihre Kniekehlen. Prompt knickte sie ein, und die Hände drückten sie nieder. Sie hockte auf den Knien! »Weiß Sie nicht, wie Sie sich zu benehmen hat, wenn Sie vor dem Comte steht?« hörte sie den Bärtigen hinter sich grollen. Es gefiel ihr nicht, daß sie knien sollte, und auch wenn dieser Mann im grünen Wams ein Graf sein sollte, gab ihm das noch lange nicht das Recht, so mit ihr umzuspringen. Sie richtete sich wieder auf. Noch schneller lag sie flach auf dem Boden, und ein Fuß stand demütigend auf ihrem Rücken. »Friß Staub!« zischte der Bärtige. »Oder lerne!« »Was soll das?« schrie sie. Sie bockte wie ein junges Pferd. Der Druck auf ihrem Rücken schwand, eine Verwünschung ertönte. Dann wurde sie halb hochgerissen, mußte eine Ohrfeige hinneh men und drehte sich wie eine Katze. Ihre Jiu-Jitsu-Kenntnisse hatte sie nie verlernt. Der Bärtige fand keine Zeit, sich zu wundern, warum er quer durch das Zimmer flog und auf dem Tisch landete, um dabei alles abzuräumen, was sich darauf befand – Trinkgefäße und eine tönerne Weinkaraffe, die ihren Inhalt über den Teppich entlud. Der Kerzenständer schwankte, kippte, und nur die blitz schnelle Reaktion des Bärtigen, der geistesgegenwärtig zufaßte und ihn festhielt, verhinderte einen Zimmerbrand. Schnell war er, dieser Bursche, der diese rasche Bewegung eigentlich in seiner Lage gar nicht hätte durchführen können! »Uns dünkt, Sie ist kratzbürstig und wehrhaft einem wilden Tiere gleich«, sagte der Wamsträger, der Graf. »Wir überlegen, ob wir selbst uns ihrer Zähmung annehmen sollten oder ob’s der Mühen bedarf, solcherlei zu tun.« Kann der nicht noch geschraubter reden? dachte Jacqueline wütend, die vom Emanzipationsgedanken zwar nicht sehr viel hielt, aber dennoch vernünftig und menschlich behandelt werden
wollte. Aber wie man hier mit ihr umsprang, war durch nichts zu entschuldigen, und sie wollte es sich auch nicht gefallen lassen. Und die seltsame Kleidung und die Art zu sprechen wollte ihr diese Männer auch nicht sympathischer erscheinen lassen. »Wer sind Sie überhaupt? Was soll dieses Affentheater?« fauch te sie den Grafen an. »Man ergreife sie und bringe ihr Manieren bei«, ordnete dieser grob an. Der Bärtige war mittlerweile wieder auf den Beinen und hatte den Kerzenleuchter abgestellt. Mit ausgebreiteten Armen kam er auf Jacqueline zu. Der Fackelträger löste sich von der Tür. Jacqueline überlegte und rechnete sich gegen die beiden Männer Chancen aus, auch wenn sie gleichzeitig angriffen, aber plötzlich fiel ihr ein, welche Kraft ihr Bezwinger aufgewiesen hatte, als er sie draußen vor dem verwüsteten Zelt anfiel wie ein wildes Tier. Da sah sie rechts das Fenster. Von links kamen ihre Gegner. Sie überwand die kurze Entfernung mit drei Sprüngen, war am Fenster und öffnete es. Der Flügel schwang ihr entgegen. Sofort sprang sie, ohne sich zu überlegen, daß sie sich doch nicht mehr im Erdgeschoß befand. Die Hände der beiden Männer griffen hinter ihr ins Leere. Da sah sie den Abgrund unter sich. Sie schrie entsetzt auf, aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Sie stürzte aus dem obersten Stockwerk des Hauses! Mitten ins wesenlose Grau.
� »Keine Menschen . . . was willst du damit sagen?« stieß Alan Re gnac hervor. »Keine Menschen? Was sollen sie denn sonst sein?« »Gespenster!« behauptete Marnaux wieder. »Spukgestalten, die geweckt worden sind. Warum nannte man diesen Platz denn
wohl den ›verfluchten Hain‹, eh? Warum diese Warnung, die von einem zum anderen weitergegeben wird? Das Unheil, vor dem gewarnt wird . . . das sind diese Gespenster, die aus der Hölle zurückgekehrt sind!« Alan Regnac atmete flach und schnell. »Georges, weißt du überhaupt, was du da erzählst? Wie kommst du darauf?« »Es liegt doch auf der Hand, und . . .« Da vernahmen sie den Schrei. Den Schrei einer Frau, der mit tendrin wieder abriß. Beide Polizisten sahen sich an. Hatte die Verschwundene geschrien, die Frau aus dem Wohn mobil, deren Begleiter ermordet worden war? »Das kam vom Haus her . . .« Sie stürmten los, hinter den mutmaßlichen Gespenstern her, die nach dem Krachen des Schusses geflohen waren, wobei einer von ihnen »Zauberer« schrie. Noch dachte keiner der beiden Beamten darüber nach. Sie hatten jetzt nur vor, der Frau zu Hilfe zu kommen. Aber draußen war sie nicht. Und dann schafften sie es nicht, das Gebäude zu betreten. Die Türen der Stallungen standen offen, und drinnen befand sich nichts und niemand, aber die große Eingangstür des Hauptge bäudes, die auf der anderen Seite lag, ließ sich nicht öffnen, und drinnen reagierte man weder auf lautes Klopfen hoch auf Rufe. »Dann versuchen wir’s eben mit Gewalt«, verkündete Regnac und zog seine Dienstpistole wieder. Er richtete sie auf das Tür schloß. »Das ist Hausfriedensbruch«, mahnte Marnaux. »Wir haben keinen Durchsuchungsbefehl!« »Gefahr im Verzuge, und das rechtfertigt auch ein gewaltsames Eindringen in das Haus!« wehrte Regnac ab. Er feuerte auf das Schloß.
Er schoß das Magazin seiner Waffe leer, und er forderte Mar naux auf, es ebenfalls zu versuchen. Aber keine einzige der Kugeln zeigte Wirkung. Die Tür schluckte die Geschosse einfach, so wie auch der Mann, auf den Regnac versehentlich geschossen hatte, offenbar nicht hatte verletzt werden können. Auch als Marnaux seine letzte Kugel in eines der Fenster setzte, splitterte das Glas nicht und zeigte auch kein Einschußloch. »Genausogut kannst du in einen Sumpf schießen . . .« »Das ist doch unmöglich«, knurrte Regnac. »Bei einem Gespensterhaus?« »Zum Teufel – wer soll uns das denn glauben?« stöhnte der Ältere. »Wem sollen wir denn mit einem Gespensterhaus kommen? Außerdem: wir müssen die Frau finden, die geschrien hat, und ihr helfen! Wir müssen in dieses Haus gelangen, egal wie!« Aber keiner von beiden fand eine Möglichkeit. »Keine Chance«, sagte Marnaux schließlich. »Laß uns gehen. Wir müssen uns überlegen, wie wir mit anderen Mitteln hinein kommen. Es tut mir zwar um die Frau leid, aber vielleicht gehört sie auch zu den Gespenstern . . .« ». . . deren Peitsche gar nicht so gespenstisch ist, und die auch Maurice Loup umgebracht haben müssen, den Wohnmo bil-Mann . . .« »Wenn das Haus in der letzten Nacht schon hier stand, wird es auch in der nächsten wieder hier sein«, sagte Marnaux. »Wir haben also einen ganzen Tag Zeit, uns etwas auszudenken. Viel leicht schaffen wir es, die Türschlösser mit Weihwasser zu öffnen. Wir sollten uns mal mit der Geistlichkeit unterhalten.« »Oder noch einmal versuchen, deinen Parapsychologen von Feurs hier einzuschalten.« »Den sowieso«, sagte Marnaux. »Ich rufe ihn gegen Mittag an und hoffe, daß er dann umgänglicher ist als bei dem Versuch meines Ex-Vorgesetzten . . .« Es gefiel Alan Regnac nicht, daß sie sich zurückzogen. Aber
was sollten sie denn tun? Und nur hier herumstehen, reden und die Zeit totschlagen, damit war auch niemandem geholfen, und am wenigsten ihnen selbst, die morgen früh wieder ausgeschlafen ihren Dienst anzutreten hatten. Wer schaffte es schon, erfolgreich gegen Gespenster zu kämp fen? Sie fuhren nach Neuvy-sur-Loire zurück. Ihre Überstunden in dieser Nacht hielten sich in Grenzen. Wer ihnen entgegenkam, sahen sie nicht, weil jene Umwege durch die Felder machten . . .
� Yvette verlor die Spur der beiden Unheimlichen, die sich mit geradezu unglaublicher Geschwindigkeit bewegten. Sie hatten einen Umweg eingeschlagen und machten einen weiten Bogen um Neuvy. Obgleich fast alles freies Gelände war, verlor Yvette sie schon bald aus den Augen, und zu ihrem Erstaunen hatten die Entführer auch keine Fußabdrücke im weichen Boden der gepflügten Felder hinterlassen. Gab’s denn das? Yvette überlegte. Konnte sie es unter diesen Umständen über haupt noch riskieren, die Verfolgung fortzusetzen und aufs Gera tewohl zum verfluchten Hain zu gehen? Sie entschied sich dafür. Wer rechnete denn damit, daß sie allein dort aufkreuzte? Sie war doch nur eine Frau, die hilflos darauf wartete, daß Männer etwas unternahmen! Mußten die Entführer nicht von dieser Vor aussetzung ausgehen? Yvette machte weiter! Zu Fuß war es eine hübsch weite Strecke den leichten Berghang hinauf zum verfluchten Hain. Vom Flußufer, wo alles begonnen hatte, waren es über fünf Kilometer, und in der Dunkelheit und
mit ihren Denkpausen brauchte sie fast eineinhalb Stunden, bis sie oben ankam. Den zurückkehrenden Polizeiwagen hatte sie nicht gesehen. Sie bewegte sich auf einer anderen Strecke. Und dann – sah sie das Unglaubliche, als sie sich der Rückseite des Dickichts näherte, das nur noch ein halbkreisförmiger Streifen wuchernder Pflanzen und Bäume war. Das Haus, von dem Bernard gesprochen hatte . . . Erleuchtete Fenster . . . Sie strolchte vorsichtig um das Haus herum, versuchte auch, einzudringen, aber sie schaffte es nicht, auch nur eine der Tü ren zu öffnen, obgleich die Klinken sich niederdrücken ließen. Stimmen waren auch keine zu hören. Was sollte sie tun? Sie war ratlos. Einen Stein nehmen, eine Fensterscheibe einwerfen? Die Be wohner dieses Hauses nach draußen locken? Menschen, die es eigentlich gar nicht geben durfte, weil dieses Haus keine Exi stenzberechtigung hatte? Menschen, die nur aus Angriffslust und Brutalität zu bestehen schienen? Plötzlich wurde ihr klar, daß sie ganz allein hier war. Und die anderen waren zu mehreren. Gegen sie hatte Yvette kaum eine Chance. Wenn sie Bernard helfen wollte, mußte sie Hilfe holen. Sie kehrte nach Neuvy zurück . . . Und dann stand sie vor der Tür der Gendarmerie, die verschlos sen war, und sie riskierte es doch nicht mehr, Alan Regnac zu Hause zu stören. Sie kehrte heim. Aber in dieser Nacht fand sie keinen Schlaf, weil sie immer wieder an Bernard denken mußte, und sie bezichtigte sich selbst der Dummheit und Feigheit, Regnac nicht doch noch zu Hause
aufgesucht zu haben, aber dennoch brachte sie es nicht fertig, noch einmal das Haus zu verlassen und ihn zu informieren. Irgend etwas blockierte ihr Denken, ohne daß sie es bemerk te . . .
� Jacqueline schwebte wieder im wesenlosen Grau, ohne zu ahnen, daß der Mann im grünen Wams dafür gesorgt hatte. Mit einem Befehl hatte er diesen Zustand für sie hervorgerufen und sie dadurch daran gehindert, beim Sturz aus dem Fenster verletzt oder getötet zu werden. Aus Menschenfreundlichkeit hatte er es nicht getan . . . Aber er hatte sie so auch an der Flucht hindern können, und er hätte sie mit seinem Befehl auch ins Grau geschleudert, wenn sie sich zu ebener Erde befunden hätten. Er war der Ansicht, daß die graue, namenlose Sphäre am ehesten geeignet war, diese eigenartige, dreiste Frau zu zähmen und für seine Zwecke zu formen. Und sie schwebte wieder im Nichts, mußte befürchten, daß es diesmal für alle Zeiten sein würde, und sie hatte panische Angst, die immer größer wurde. Es war die Angst, in diesem grauen Nichts, das keine Grenzen und keine Bezugspunkte kannte, wahnsinnig zu werden, und diese Angst zehrte erst recht an ihrem Verstand! Dabei ahnte sie immer noch nicht, daß Maurice Loup tot war, ermordet von den Unheimlichen, und sie ahnte auch nicht, daß sie nicht mehr die einzige Gefangene war, sondern in Bernard Girodet einen Leidensgefährten gefunden hatte. Denn sie besaß keine Verbindungsmöglichkeit zu ihm. Und selbst wenn – was hätte es ihr geholfen?
�
Zamorras Laune am Frühstückstisch war erstklassig. Er hatte sich schon lange nicht mehr so blendend gefühlt wie jetzt, da Nicole wieder bei ihm war. Daß sie beide ein wenig matt und verschlafen waren, war kein Wunder, da sie sich gegenseitig in den letzten 24 Stunden kaum Ruhe gegönnt hatten. Sie hatten kaum genug voneinander bekommen können, und auch jetzt spürte Zamorra immer wieder das Bedürfnis, Nicole in seine Arme zu schließen, ihre Wärme zu spüren und sie nicht wieder loszulassen. Lächelnd genoß er den verführerischen Anblick, den sie ihm bot; seit ihrer Rückkehr war sie noch keine Sekunde wieder in ihre Kleider gekommen und saß ihm auch jetzt wieder nackt gegenüber; alles was sie trug, war eine Blüte, die sie sich ins Haar gesteckt hatte. In der Sprechanlage knackte es, und Raffaels Stimme wurde hörbar. Er wußte, wann er nicht mit seinem persönlichen Auf tauchen stören durfte, obgleich es längst normal geworden war, daß das gesamte Château Montagne zuweilen zu einer einzigen Liebesinsel wurde. »Ein dringender Anruf für Sie, Professor . . . ein gewisser Geor ges Marnaux von der Gendarmerie in Neuvy-sur-Loire.« Den Ort kannte Zamorra, weil er und Nicole oft genug dort vorbei kamen, wenn sie mit dem Auto nach Paris fuhren, anstatt zu fliegen, weil der Weg zum und vom Flughafen inklusive der Abfertigungen meist länger dauerte als eine zügige Fahrt über die Schnellstraßen und Autobahnen. Aber mit dem Namen Georges Marnaux konnte er nichts anfangen. Fragend sah er Nicole an, aber sein ›Zusatzgedächtnis‹ schüttelte nur den Kopf. »Soll ich?« erkundigte sie sich, eingedenk ihrer Tätigkeit als seine Sekretärin. Aber Zamorra verneinte. »Ich erledige das schon . . . daran habe ich mich in den letzten Wochen ohnehin schon gewöhnt.« Er erhob sich, küßte Nicole im Vorbeigehen und machte sich auf den Weg zu seinem Arbeitszim mer. Raffael Bois erwartete ihn. Er hatte das Telefon vorübergehend
aus der Phase geschaltet. »Der Mann hat gestern schon einmal angerufen, aber da habe ich ihn noch abwimmeln können. Es erschien mir als nicht sonderlich dringend, Sie beide zu stören, nur weil jemand ein paar Sträucher auf Spukerscheinungen hin untersucht haben möchte, Professor.« Zamorra nickte. »Danke, Raffael.« Mittlerweile hatte er es tatsächlich geschafft, dem alten Herrn, der sich längst jenseits der Pensionsgrenze befand, aber nicht daran dachte, sich in den Ruhestand versetzen zu lassen, die übertriebene Höflichkeit abzugewöhnen, aber daran, Zamorra beim Namen zu nennen, wie er es eigentlich wünschte, konnte Raffael sich immer noch nicht gewöhnen. Wenigstens ließ er den ›Herrn‹ Professor weg. Zamorra griff zum Telefonhörer. Mit schnellem Tastendruck schaltete Raffael den Apparat in die Phase zurück; jetzt bestand kein Grund mehr, den Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung nicht mithören zu lassen, was im Büro kurz gesprochen wurde. »Zamorra. Bitte, was kann ich für Sie tun, Monsieur Marnaux?« »Wahrscheinlich kennen Sie mich nicht, Professor, aber ich hatte das Vergnügen, ein paar Jahre bei der Polizei in Feurs zu arbeiten, ehe ich nach Neuvy-sur-Loire versetzt wurde, und von daher ist mir Ihr Name als Experte für übersinnliche Phänomene ein Begriff. Der Dienststellenleiter in Feurs hat gestern schon ver sucht, Sie auf meine Bitte hin für unser Problem zu erwärmen . . .« Zamorra warf Raffael einen kurzen Blick zu. Der legte den Kopf leicht schräg. »Pardon«, raunte er. »Aber der Name Marnaux wurde erwähnt, und da habe ich es vorhin verwechselt . . .« Zamorra nickte und hörte zweigleisig zu, weil Marnaux längst weiter sprach. »Mir wurde gesagt, Sie hätten abgesagt, deshalb versuche ich es heute noch einmal selbst. Es erscheint mir wichtig, zumal es bereits einen Todesfall gegeben hat und . . .« Zamorra horchte auf.
Okkulte Phänomene und Todesfall, beides im Zusammenhang erwähnt, ließen ihn aufmerksam werden und deuteten darauf hin, daß das tatsächlich etwas für ihn sein konnte. »Bitte, berichten Sie, Monsieur.« Er lauschte. Kurz machte er sich Notizen und versprach Mar naux dann, sich im Laufe des Tages wieder zu melden. Dann legte er auf und sah Raffael an. »Es tut mir leid, Professor, wenn ich gestern mit der Abweisung einen Fehler begangen habe . . .« Zamorra schüttelte den Kopf. »War schon richtig so, Raffael«, lächelte er. »Ich bin sicher, daß ich gestern nicht einmal Interesse an einem Fall gehabt hätte, wenn mir jemand Lucifuge Rofoca les Kopf auf einem Silbertablett serviert hätte. Sie haben doch mitgehört. Kennen Sie die Geschichte von dieser seltsamen über lieferten Warnung in Neuvy?« »Tut mir leid, Professor . . . aber vielleicht ist im Archiv etwas darüber zu finden. Schade, daß die EDV-Anlage immer noch nicht wieder in Betrieb und datenmäßig ergänzt ist . . .« »Ach, so schade finde ich das längst nicht mehr«, wehrte Za morra ab. »Als ich anfing, mich mehr und mehr an dieses einfache Knopfdruck-Suchen zu gewöhnen, wurde ich nachlässiger und habe das selbständige Denken um ein Haar verlernt, und des halb bin ich gar nicht unfroh darüber, daß die Anlage damals beim Angriff des Fürsten der Finsternis aufs Château böse be schädigt wurde. Ich glaube auch nicht daran, daß ich die EDV jemals wieder in Betrieb nehmen werde. Wir lassen den Schrott rausreißen und verkaufen ihn billig. Computer machen abhängig von Computern, ohne daß man’s zunächst merkt, und wenn man es merkt, ist es zu spät, sich wieder umzugewöhnen . . . da lobe ich mir unser altes Papier-Archiv. Das kostet zwar Zeit, aber die haben Sie doch, Raffael. Hier, die Notizen. Forschen Sie doch mal bitte nach, ob wir über Neuvy und diesen sogenannten ›verfluch ten Hain‹ irgendwelche Andeutungen besitzen. Derweil versuche
ich Nicole klarzumachen, daß wir eine kleine Tour an der Loire entlang machen . . . na, die wird sich freuen!« Es klang gar nicht so. Zamorra konnte sich nicht vorstellen, daß Nicole gerade jetzt für ein neues Gespenster-Abenteuer zu begeistern war, nachdem sie gerade erst vom Vampir-Keim befreit worden war. Aber allein wollte er auch nicht nach Neuvy fahren, wo sie doch gerade gestern erst nach so langer Abwesenheit heimgekehrt war. Deshalb mußte er es ihr auch selbst beibringen, was bedeutete, daß Raffael im Archiv zu stöbern hatte. Das war eigentlich gar nicht seine Aufgabe, aber er hatte auch früher schon mal Nachforschungen für Zamorra betrieben, wenn der mit Nicole irgendwo im Ausland unterwegs war und Daten benötigte. Er würde schon mit den verstaubten Akten und Schriftrollen zurecht kommen, in denen normalerweise Zamorra selbst oder auch Nicole wühlten. Sie schenkte ihm gerade wieder frischen Kaffee ein, als er in den Frühstücksraum zurückkehrte. »Na?« »Was hältst du von einer Spritztour an der Loire entlang, nord wärts, um die letzten schönen Tage zu nutzen?« »Hat dich einer eingeladen, ganz nebenbei Dämonen zu jagen?« »Einem Spuk auf den Zahn zu fühlen«, erwiderte er. Nicole seufzte. »Dann werden wir wohl müssen, nicht wahr? Aber nur unter einer Bedingung, geliebter Chef: daß wir nach Paris weiterfahren und uns in den Boutiquen umschauen. Ich habe nämlich nichts mehr anzuziehen. Oder würde ich sonst hier so herumlaufen müssen?« Sie breitete die Arme aus, erhob sich und drehte sich einmal demonstrativ um die eigene Achse, wie um ihre Worte zu unterstreichen. »Das ist glatte Erpressung«, behauptete Zamorra. »Deine Klei derschränke quillen über . . .« »Mit Klamotten von vorgestern, die so antik sind, daß selbst die Motten ihnen schon weiträumig aus dem Weg gehen . . .«
»Und die Sachen, die du in Brasilien getragen und mit denen du hergekommen bist?« grinste er. »Die hast du Wüstling mir doch vom Leib gefetzt . . . da sind bestimmt ein paar Knöpfe abgesprungen . . .« Zamorra wehrte ab. »Wir machen’s noch einfacher und pflücken ein paar Blumen, aus denen wir dir einen Schurz flechten.« »Und wenn die verwelken, stehe ich wieder da . . . mein Lie ber, an dem Problem, daß Mode vergänglich ist, ganz egal, ob’s Stoff oder Blüten sind, kommst du nicht vorbei. Außerdem wäre es gemein, die Blumen aus diesem Grund zu pflücken und da mit zu töten. Nee, du nimmst dein Scheckbuch mit und ich den Kugelschreiber . . .« Über die Sprechanlage meldete sich Raffael wieder. »Professor, das war keine große Arbeit, weil das Archiv so hervorragend geordnet ist wie noch nie . . . aber über Neuvy-sur-Loire haben wir nichts, absolut nichts.« »Nanu«, staunte Zamorra. »Wer hat es denn geordnet? Du, Nici? Wann?« »Verzeihen Sie, Professor«, klang Raffaels Stimme wieder auf, der über die Gegensprechverbindung mitgehört hatte. »Aber . . . das habe ich getan. Wenn Sie auf Reisen sind, habe ich hier kaum etwas zu tun, und ehe ich mich langweile, suche ich mir eben eine Beschäftigung. Und ich dachte mir auch schon, daß die EDVAnlage nicht mehr opportun sei, deshalb habe ich schon mal . . .« Zamorra lachte auf. »Es ist nicht zu fassen«, stieß er hervor. »Raffael, wenn wir Sie nicht hätten . . . danke! Na, dann werden wir ohne Vorab-Informationen losfahren müssen.« »Ich fahre schon den Wagen vor und lege auch Ihr Dämonen köfferchen in den Gepäckraum, wenn’s recht ist, Professor.« De zentes Knacken verriet, daß Raffael abgeschaltet hatte, um seine angekündigte Arbeit durchzuführen. Nicole griff nach Zamorras Hand. »Na, dann laß uns starten,
ehe die Sonne untergeht.« Sie zog ihn von seinem Stuhl wieder hoch. »Es ist doch gerade erst Mittag«, gab er zurück. »Bis die Sonne untergeht, dauert’s noch einen halben Tag.« Er zog sie in seine Arme und küßte sie, bis sie sich von ihm löste. »Wir werden aber vielleicht Zeit brauchen, Informationen einzu holen und uns die Sache bei Tageslicht anzusehen«, erinnerte sie ihn. »Also, keine Müdigkeit vorschützen, ich höre draußen schon den Motor brummen.« Sie eilte zur Tür. »He«, rief er ihr zu. »Solltest du dir nicht lieber eine Kleinigkeit anziehen?« Sie wandte sich um und lachte. »Bin ich so häßlich, daß du dich nicht traust, dich mit mir in der Öffentlichkeit zu zeigen, wenn ich nichts anhabe? Dann fahre ich eben allein . . .« »Untersteh dich!« »Außerdem beweist das der Öffentlichkeit, daß du zu geizig bist, mir ein neues Kleid zu kaufen«, fuhr sie immer noch lachend fort und wollte endgültig nach draußen entwischen. Stöhnend lief Zamorra ihr nach. »Okay, du hast gewonnen, du Erpresserin . . . du bekommst ein Kleid aus Paris. Aber nur ein ganz kleines. Etwa diese Länge.« Er deutete sie an. »Dann kann ich auch gleich nackt bleiben«, seufzte Nicole, der süße Unschuldsengel, aber dann machte sie ihre Drohung doch nicht wahr. Eine halbe Stunde später waren sie unterwegs. Bis nach Neuvy waren es rund 180 Kilometer.
� Die Polizeiwache war schnell zu finden. Georges Marnaux wartete schon ungeduldig. Regnac war dienstlich unterwegs und erschien erst eine halbe Stunde später wieder. Marnaux hatte nur noch Augen für Nicole, bis Regnac ihn daran erinnerte, daß er doch glücklich verheiratet sei. Aber das störte ihn wenig; er war der
Ansicht, daß jeder verheiratete Franzose durchaus eine Geliebte nebenher haben konnte – oder deren mehrere. Nur lief er damit bei Nicole auf, die eine Menge von Treue hielt und außer Zamorra niemanden sonst brauchte. Zamorra ließ sich erzählen, was passiert war und was Zeugen und Polizisten bei Nacht beobachtet hatten. »Heute morgen, auf dem Weg zu ihrer Arbeit, tauchte dann Yvette wieder hier auf und behauptete, daß ihr Bekannter, dieser . . .« – »Bernard Girodet«, half Regnac aus, – ». . . daß der in der Nacht entführt worden sei. Am Abend, genauer gesagt. Es muß zur gleichen Zeit gewesen sein, als wir oben am verfluchten Hain dieses eigenartige Erlebnis hatten. Dabei begreift’s keiner, weil jetzt, bei Tage, wieder nichts mehr von dem Haus existiert, außer den Fundamenten und ein paar Ziegelbrocken.« »Wir haben noch nichts weiter unternommen, weil wir erst Ihre Meinung zu der Sache hören wollten«, sagte Regnac. »Wenn Sie übrigens den Toten, diesen Maurice Loup, sehen wollen, müssen Sie allerdings zurück nach Cosne-Cours, weil die dortige Mord kommission zuständig ist und den Leichnam abholen ließ. Aber die Leute dort können auch nicht mehr feststellen als wir. Und sie tappen ebenso im dunkeln.« Zamorra hob die Hand. »Sie gehen also davon aus, daß irgend etwas – nennen wir es mal ein Phänomen – seinen Ausgangspunkt in diesem verfluch ten Hain hat, und daß sich dort Leute versteckt halten, die mit normalen Mitteln nicht dingfest zu machen sind.« »Es gibt dort niemanden. Es kann sich auch niemand verstecken. Das ist ja das Verrückte. Wenn wir nicht selbst gesehen hätten, wie dieses Haus praktisch aus dem Nichts kam, würden wir an nehmen, daß sich jemand einen üblen Scherz mit dem örtlichen Aberglauben erlaubt. Theoretisch müßte alles auf die Einwirkung von Fremden hinweisen, die entsprechende Spuren vorzutäuschen versuchen. Aber . . . nun, wir haben unser Erlebnis gehabt.«
»Gibt es irgendwelche Informationen über diesen Platz, was dort einmal vorgefallen sein könnte. Besitzverhältnisse . . .« »Das ist es doch, was wir Ihnen schon erzählt haben«, sagte Regnac. »Nichts. Niemand weiß etwas. Es gibt nur diese Warnung. Alles andere ist erfolgreich verdrängt worden.« »So etwas muß doch Jahrhunderte dauern«, gab Nicole zu bedenken. »Viele Jahrhunderte, vielleicht tausend Jahre! Denn irgend jemand wird doch immer mal im Vertrauen seinem besten Freund etwas andeuten . . . aber daß nicht eine einzige Andeutung existiert, kann ich einfach nicht glauben!« »Wer etwas verdrängen will, der schafft das auch in kürzerer Zeit. Man kann Ereignisse auch totschweigen«, meinte Regnac. »Und genau das muß hier passiert sein. Anfangs wird man sich, vielleicht vor zweihundert oder vierhundert Jahren, ganz eng an diese Warnung gehalten haben, ganz autoritätsgläubig, und alles Wissen systematisch verdrängt haben. Später war dann nichts mehr da, und die Leute, die man hätte fragen können, starben aus. Später hat man dann nur noch aus Tradition die Warnung überliefert.« »Aber das ist doch verrückt«, behauptete Nicole. »Neugierde ist doch eine typisch menschliche Eigenschaft, und wenn man entsprechend eindringlich forscht, findet man doch auch nach vier, fünf Generationen versteckte Hinweise. Eintragungen über Grundbesitz zum Beispiel. Vielleicht findet sich im Kirchenbuch etwas . . .« »Das können wir uns ansehen, aber ich glaube nicht, daß wir dort fündig werden. Man wird seinerzeit die Eintragungen ge löscht haben, wenn man schon so großen Wert darauf legte, alles zu vergessen . . .« »Dann verzichten wir aufs Kirchenbuch und sehen uns die Ge gend direkt an«, schlug Nicole vor. Sie deutete auf Zamorras Brust, wo unter dem Hemd sein Amulett hing. »Es müßte doch mit dem Teufel zugehen, wenn wir nichts herausfinden.«
Zamorra zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich geht es tatsächlich mit dem Teufel zu.« »Da ist noch etwas, was ich sehen möchte«, sagte Nicole. Sie wandte sich an Marnaux. »Als Sie von dem Überfall am Loire-Ufer erzählten, haben Sie da nicht auch die Aussage des Mädchens erwähnt, das Wasser habe gebrodelt und einer der Entführer habe eine Weile hinein gestarrt? Oder habe ich mich da verhört?« »Korrekt«, sagte Marnaux. »Girodet soll einen der Angreifer ins Wasser geschleudert haben.« »Und den hat keiner wieder auftauchen gesehen, nur das Bro deln?« »Auch korrekt.« »Dann will ich mir die Stelle ansehen«, sagte Nicole. »Können Sie sie uns zeigen?« Man konnte. Die beiden Beamten fuhren mit dem Dienstwagen voraus. Za morra, der auf jeden Fall selbst mobil bleiben wollte, folgte ihnen mit dem BMW. Liebend gern hätte er diese Yvette selbst mit da bei gehabt, aber die schien noch an ihrer Arbeitsstätte zu sein. Zamorra fragte sich, wie sie das aushielt, mit dem Gedanken im Hinterkopf, daß es Bernard Girodet schlecht gehen mußte, oder daß er vielleicht sogar tot war. Wahrscheinlich hätte er es an ihrer Stelle nicht fertiggebracht, nach der Meldung bei der Polizei zur Arbeit zu gehen, und er fragte sich, warum Yvette die Meldung nicht schon sofort am gestrigen Abend gemacht hatte. Aber das mußte sich klären lassen. Dann standen sie am Ufer. »Hier soll’s gewesen sein«, sagte Marnaux. Nicole trat an die Uferböschung und betrachtete die Strömung. Sie war nicht anders als bei ihnen, nur daß die Loire hier bereits entschieden breiter geworden war, weil sie ein paar Bäche und Nebenflüsse hatte aufnehmen müssen.
»Ich sehe mir das mal aus der Nähe an«, entschied Nicole. »Warte einen Augenblick . . .« »Was hast du vor?« »Tauchen! Ich will wissen, weshalb dieser ins Wasser Geworfene nicht wieder auftauchte und warum das Wasser gebrodelt haben soll!« »Und was versprichst du dir davon? Selbst wenn er da ertrun ken ist, dürfte seine Leiche von der Strömung längst Dutzende von Kilometern fortgespült worden sein . . .« »Meine Nase sagt mir, daß das nicht so ist«, behauptete Nicole. »Nenn mich verrückt, aber ich habe die Ahnung, daß wir hier etwas finden werden.« Sie lief zum Wagen, öffnete den Kofferraum und den Reisekoffer und zog sich im Sichtschutz des Autos um. Augenblicke später tauchte sie in einem verwegen geschnittenen Bikini wieder auf. »Du bist wirklich verrückt«, behauptete Zamorra. »Leichtsin nig.« »Du weißt, daß ich gut schwimme und tauche.« Sie verschwand im Wasser. Die beiden Polizisten sahen ihr kopfschüttelnd zu. Zamorra hielt sich sprungbereit. Er traute dem Wasser hier nicht. Wenn ein Mann, der hineingestoßen wurde, nicht wieder auftauchte . . . Aber dann tauchte Nicole zweimal wieder auf und verschwand nach Atemholen wieder in der Tiefe. Das Ufer fiel hier relativ steil ab, und sie suchte eine größere Grundfläche ab. Als sie beim dritten Mal wieder auftauchte, brachte sie etwas mit hinauf. Knochenreste . . . Regnac klappte den Unterkiefer sprachlos abwärts. Marnaux stieß einen Pfiff aus. Nicole kletterte aus Ufer zurück und breitete ihren Fund aus. »Da unten ist noch ein bißchen mehr, aber nicht alles vollständig.« »Weggespült?« erkundigte sich Regnac, der seine Sprache wie dergefunden hatte.
»Nein. Zerfallen! Und ich hatte Schwierigkeiten, diese Knochen stücke vom Boden zu lösen, auf dem sie nur locker aufzuliegen schienen, dabei waren sie wie festgeklebt auf dem Sand. Ein paar sind mir beim Versuch, sie nach oben zu bringen, zwischen den Händen zu Asche oder Staub zerbröselt. Aber diese Asche mischte sich dann nicht mit dem Wasser, um als Schlamm wegzutreiben, sondern sank wieder nach unten!« »Wer’s glaubt«, murmelte Regnac zweifelnd. »Bitte, Sie können ebenfalls tauchen und sich da unten umsehen. Ihnen werden die Augen übergehen, wie sie mir übergegangen sind. Ich ahnte zwar, daß ich irgend etwas finden würde, aber hiermit habe selbst ich nicht gerechnet.« »Glauben Sie im Ernst, daß diese Knochenreste etwas mit dem Mann von gestern abend zu tun haben sollten?« fragte Marnaux kopfschüttelnd. Er griff nach dem Oberarmknochen, drückte et was zu fest zu und sah den Knochen zwischen seinen Fingern zerbröckeln! »Der muß doch uralt sein . . . steinalt . . . wie alt müssen Knochen sein, um so zu zerfallen?« »Und wieso werden sie nicht vom Wasser fortgespült und zer stört?« hakte Regnac nach. »Das paßt doch vorn und hinten nicht zusammen . . .« »Aber Häuser, die aus dem Nichts kommen, Bäume verdrängen und bei Tage wieder verschwunden sind, gibt’s, weil Sie die selbst gesehen haben«, sagte Zamorra trocken. Er spürte eine ganz schwache Erwärmung seines Amulettes. Merlins Stern, die hand tellergroße Silberscheibe vor seiner Brust, zeigte einen Hauch von Schwarzer Magie an! Aber es war nicht genug, um richtig zu reagieren. Von diesen Knochenresten ging keine Gefahr mehr aus. Nicole tauchte nicht noch einmal. Sie ging zum BMW zurück und zog sich dort wieder um. Viel Arbeit hatte sie eben wie jetzt nicht damit, weil sie außer Texas-Stiefeln, Shorts und einer fast
durchsichtigen Bluse nichts trug, um Zamorras Fantasie anzu heizen und ihn auf die Dringlichkeit eines ausgedehnten Ein kaufsbummels hinzuweisen, wie sie sich ausgedrückt hatte. Daß Marnaux seine Blicke kaum von ihr wenden konnte, war daher kein Wunder. »Sag mal«, murmelte Zamorra, als sie zurückkam, »woher hat test du eigentlich diese verrückte Idee, da unten im Wasser etwas zu finden? Das kommt doch nicht aus der hohlen Hand.« »Und wenn doch? Manchmal hat man solche Ideen . . . Mir wollte einfach dieses Brodeln nicht gefallen. Der Typ, der hier ins Wasser segelte, hat’s so wenig vertragen wie unsereiner Salzsäure. Was beweist, daß er nicht ganz menschlich gewesen sein muß.« Regnac schluckte und sah Marnaux an. »Hast du nicht gestern abend auch so was behauptet, als dieser Bursche trotz glattem Lungendurchschuß noch rannte wie ein zweiter Nurmi?« Marnaux nickte stumm. »Aber daß der hier . . . daß der zum verfluchten Hain gehören sollte . . . ich verstehe das alles nicht mehr.« »Haben Sie mal eine Plastiktüte greifbar?« erkundigte Nicole sich. »So ein Ding, wo Tatort-Fundsachen drin untergebracht werden . . .« Der Streifenwagen war damit ausgestattet. Den zweiten Kno chenrest, der ein Stück vom linken Schulterblatt der zerfallenen Wasserleiche sein mußte, legte Nicole vorsichtig hinein, aber dann händigte sie den Beutel nicht wieder den Polizisten aus. »Brauchen wir vielleicht nachher«, deutete sie an. »Auch wieder eine von deinen Ahnungen?« erkundigte Zamorra sich. Nicole nickte. »Hören Sie, wir brauchen das als Beweisstück«, wandte Regnac ein. »Schließlich müssen wir den Leichenfund melden. Die Jungs in Cosne-Cours werden sich freuen, wenn sie gleich schon wieder ausrücken müssen . . .«
»Und dann auch noch ein Unterwasserfund!« brummte Mar naux. »Da müssen wir auch noch die Feuerwehr einschalten . . .« »Lassen Sie’s erst einmal«, empfahl Nicole. »Der Leichnam beziehungsweise die paar Knochenreste, die dort noch liegen, schwimmen schon nicht weg. Aber vielleicht sollten wir uns jetzt mal um das Dickicht kümmern. Da ist doch der Teufel im Busch . . .« Wie wahr, dachte Zamorra. Aber weshalb Nicole den Plastik beutel mit dem Knochenrest unbedingt mitnehmen wollte, blieb ihm ein Rätsel.
� Um zum ›verfluchten Hain‹ hinauf zu kommen, durchquerten sie Neuvy. Während der Fahrt rückte Nicole mit der Sprache heraus. »Vorhin wollte ich’s nicht sagen, weil es dann doch zu unglaubwürdig gewesen wäre, aber den Tip, nach den Knochen zu tauchen, habe ich von Merlins Stern.« »Hä?« machte Zamorra überrascht. »Halt das Lenkrad fest. – Richtig, das Amulett hat sich mal wieder gemeldet.« »Aber warum habe ich davon nichts mitbekommen?« wunderte Zamorra sich. Es geschah öfters, daß er eine Gedankenstimme wahrnahm, die aus dem Amulett zu kommen schien. Allmählich sah es so aus, als entwickelte die handtellergroße Zauberscheibe eine Art von eigenem Bewußtsein; es gab Hinweise und Kommen tare. Allerdings ließ sich bisher noch kein vernünftiges System dahinter erkennen. Daß jetzt Nicole eine Wahrnehmung gemacht hatte, obwohl gerade nicht sie, sondern Zamorra das Amulett trug, war verblüffend. »Weil es nicht richtig ›gesprochen‹ hat«, erklärte Nicole. »Es war vielmehr eine Art von vagem Verdacht, den es noch nicht auszusprechen wagte.«
»Weißt du, was du da für einen Unsinn redest?« fragte Za morra. »Entweder meldet es sich und sagt etwas, oder es tut es nicht. Aber vager Verdacht . . . das klingt ja, als würde in diesem vertrackten Ding tatsächlich ein Denkprozeß ablaufen . . .« »Kann ich nicht einmal mit Bestimmtheit sagen, und wenn, dann funktioniert dieses Denken auf einer ganz anderen Basis, als wir es von uns selbst her kennen. Aber ich hatte plötzlich zu diesem . . . nennen wir es mal Pseudo-Denken, dazu hatte ich für ein paar Sekunden Kontakt. Und daraus habe ich dann etwas gemacht, indem ich selbst über den vagen Verdacht nachgrübelte.« »Zum Teufel, aber ich trage es doch! Es hätte zu mir sprechen müssen . . .« »Es hat doch nicht gesprochen!« protestierte Nicole. »Sondern ich habe . . . diese Pseudo-Gedanken aufgeschnappt.« Zamorra holte tief Luft. »Kannst du das mal im Klartext sagen?« Sie nickte. »Dieser Vampir-Keim ist zwar erloschen, und zwar restlos«, sagte sie leise. »Aber er hat nebenbei etwas bewirkt. Erinnerst du dich an damals, als Sara Moon mir das schwarze Blut verpaßte, weil sie mich damit zu einer Dämonin machen wollte?« Zamorra nickte. »Das klappte damals nicht«, fuhr Nicole fort. »Ich blieb Mensch, aber plötzlich konnte ich die Ausstrahlung von Schwarzer Magie spüren, so wie es das Amulett tut, bis Sara Moon mir dann bei einer anderen Auseinandersetzung diese Fähigkeit wieder nahm – worüber ich heilfroh bin.« Zamorra nickte wieder. »Und?« »Diesmal ist es etwas anderes. Eine Art . . . Telepathie. – Halt das Lenkrad fest, sage ich!« »Telepathie? Du kannst Gedanken lesen und senden?« stieß Zamorra überrascht hervor. »Das gibt’s doch nicht . . . aber wie ist das möglich?«
»Ich weiß es nicht, und auch Silvana konnte keine Erklärung da für finden. Irgend etwas in mir muß sich entsprechend verändert haben. Du erinnert dich, daß Vampire meistens auch bestimmte Para-Fähigkeiten besitzen? Meist ist’s Hypnose. Bei mir ist es eben Telepathie. Das fing schon in Italien an, als ich diese Gedan kenbotschaft von Julian Peters auffing . . . ich fasse es nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Warum sagst du das erst jetzt?« »Du hast mich ja bisher nicht darüber reden lassen. Wir sind ja kaum aus dem Bett raus gekommen . . . Und du solltest es dir auch nicht so perfekt vorstellen, wie es die Peters-Zwillinge konnten, oder wie die Druiden Teri und Gryf darin sind. Ich muß mich schon erheblich anstrengen dafür, und ich muß denjenigen sehen können, zu dem ich telepathische Verbindung aufnehme. Es ist also nicht so, daß ich plötzlich in jedermanns Gedanken herumwuseln kann . . . und das ist auch gut so.« »Mit mir könntest du aber Verbindung aufnehmen? Wir sind ja schon immer irgendwie in gleicher Phase gewesen . . .« »Ich könnte dir vielleicht eine Botschaft senden, aber durch deinen Abschirm-Block komme ich natürlich nicht durch. Deine unmoralischen Gedanken bleiben also weiterhin unangetastet, es sei denn, du öffnest die Abschirmung für mich.« »He, ich habe noch nie unmoralische Gedanken gehabt! Ich weiß nicht mal, wie man das schreibt! Was zum Teufel . . .« Er trat auf die Bremse, weil der vorausfahrende Streifenwagen kurz vor den letzten Häusern der Ortschaft plötzlich abstoppte. Regnac stieg aus und begrüßte ein junges Mädchen, das am Straßenrand gewartet hatte, dann kam er mit dem Mädchen zum BMW, den Zamorra ebenfalls angehalten hatte. »Das ist Mademoiselle Yvette«, stellte Regnac vor und machte das Mädchen auch mit dem Parapsychologen und Nicole bekannt. »Gerade, als wir vom Loire-Ufer abfuhren, funkte uns der Kollege an, der Stallwache in der Gendarmerie hält, und sagte, Yvette
habe angerufen und nach neuen Erkenntnissen gefragt. Da haben wir uns einfach hier verabredet.« »Wollen Sie mit hinauf zum Hain?« fragte Zamorra. »Steigen Sie ein, vielleicht können wir uns ein wenig unterhalten und zu weiteren Erkenntnissen kommen. Dann erfahre ich wenigstens erst einmal alles aus erster Hand.« Yvette nickte. »Einverstanden. Ich habe Zeit.« »Dann immer hinein in die gute Stube.« Zamorra wies auf den Fond der Limousine und war froh, daß sie nicht Nicoles Coupé genommen hatten, wie sie erst vorgeschlagen hatte. Aber Zamorra wollte die Limousine ›einweihen‹. Bei dem großen Viertürer waren Einsteigen und Platznehmen natürlich sehr viel bequemer. Die Fahrt ging weiter, und Zamorra hatte erst einmal keine Gelegenheit, weiter über Nicoles neu entwickelte Fähigkeit zu staunen. »Warum haben Sie den Überfall und Girodets Entführung nicht schon gestern abend gemeldet?« wollte er wissen. »Das ist doch etwas ungewöhnlich, oder nicht?« »Soll das ein Verhör werden, eine Beschuldigung oder so et was?« fragte Yvette zurück. »Meine Güte, ich bin nur etwas neugierig! Ist das nicht ver ständlich? Ohne Fakten kann ich doch nachher oben am Hain nichts unternehmen.« »Ich weiß selbst nicht genau, warum ich es nicht getan habe«, sagte Yvette. »Ich war wohl ziemlich durcheinander, und es war schon spät . . .« »Vermutlich hätte man ohnehin nichts mehr tun können. Hat Ihnen Regnac gesagt, was sein Kollege und er oben erlebten?« »Ja . . . heute morgen, als ich die Entführung meldete. Gibt es inzwischen irgend eine Neuigkeit?« »Wir haben die Reste des Entführers gefunden, den Girodet ins Wasser warf«, sagte Zamorra. »Er ist skelettiert.« Yvette unterdrückte einen Aufschrei. »Wie ist das möglich?«
Zamorra zuckte mit den Schultern. »Ich kann es nur vermuten«, sagte er. »Vielleicht war es schon ein paar Jahrhunderte alt . . .« »Bitte?« »Es ist eben nur eine Vermutung. Ich möchte vorerst noch nicht weiter darüber spekulieren. Mehr erfahren wir, wenn wir da oben mal auf den Busch klopfen . . .«
� Vergeblich versuchte Zamorra dann, in diesem Dickicht Spuren Schwarzer Magie zu erkennen. Das Amulett sprach nicht auf die Ruinen-Reste an. Kopfschüttelnd wanderte Zamorra zwischen den Fundamenten hin und her. Er hatte schon eine Menge zerfallener Häuser gesehen, aber das hier schoß den Vogel ab. Hatte er erst noch auf rund zweihundert oder dreihundert Jahre geschätzt, so konnte er jetzt locker die doppelte Zeitspanne veranschlagen. Und so lange hatte sich niemand um diesen Fleck in der Land schaft gekümmert? Das war kaum glaubhaft. So fest verwurzelt konnte der Aber glaube doch gar nicht sein, daß nicht zwischendurch einmal Neu gierige versucht haben sollten herauszufinden, was es mit diesen Überresten auf sich hatte. Fußspuren gab’s hier inzwischen längst genug, nachdem ein paar Dutzend Leute von der hiesigen Polizei und auch der Mord kommission hier herumgelaufen waren. Sie interessierten Zamor ra auch nicht. Mit dem aktivierten Amulett versuchte er ein Abbild des Hauses zu erkennen, das in der Nacht beobachtet worden war. Aber erst, als er einen Rückblick gegen den Ablauf des Zeit stroms versuchte, sah er tatsächlich verschwommen ein Gebäude aufragen. Er sah auch Menschen. Da war Yvette, wie sie mitten in der Nacht versuchte, in das Haus einzudringen. Weiter zurück in der Vergangenheit waren
die beiden Polizeibeamten, und zwischen Yvettes und ihrem Auf tauchen und Wiederverschwinden wurde eine bewußtlose Gestalt herangetragen und ins Haus gebracht. Sie schwebte! In ihrer Haltung mußte sie eindeutig über der Schulter eines Menschen liegen, der sie recht mühelos trug, aber von diesem Menschen war nichts zu erkennen. Er blieb ebenso unsichtbar wie die Personen, mit denen Regnac und Marnaux es zu tun gehabt haben wollten. Das Haus selbst war nur verschwommen zu sehen. Es überla gerte sich mit dem Bild des Dickichts, wurde von den Bäumen und Sträuchern durchdrungen. Es schien also nicht ganz mate riell zu sein, sondern nur die Wirklichkeit zu überlagern, so, als wenn zwei verschiedene Filme ineinander projiziert werden. Zwei Dimensionen schienen sich zu vermischen. Was aber noch fantastischer war, waren die Bewegungen der Menschen. Deutlich war zu sehen, wie Marnaux bei seinem Ver such, sich dem Haus zu nähern, einfach durch einen massiven Baumstamm hindurch ging, der auch jetzt in der Realität vorhan den war! Die Vermischung zweier Existenzebenen schien perfekter zu sein, als Zamorra angenommen hatte. Während er das Amulett zum Zeitreise-Bildschirm umfunktio niert hatte, das ihm die Szenen aus der letzten Nacht vorspielte, hatten die beiden Polizeibeamten Gelegenheit, ihm über die Schul ter zu sehen. Sie erkannten sich wieder. Sie begriff zwar nicht, wie diese Bildwiedergabe möglich war, aber nachdem sie diese Projektion jetzt sahen, konnten sie nicht mehr zweifeln, daß die gezeigten Bilder echt waren. Woher hätte Zamorra, wenn er manipulierte, wissen sollen, in welcher Weise sie sich in dieser Nacht bewegt hatten? »Vielleicht kann er auch feststellen, ob die verschwundene Frau aus dem Wohnmobil ebenso in das Haus gebracht worden
ist wie Girodet«, wandte Marnaux sich an Nicole, weil Zamorra in seiner für den Vorgang nötigen Halbtrance nicht ansprechbar war. »Dann hätten wir Gewißheit, ob wir die Fahndung stoppen sollen oder nicht . . .« Yvette ließ ihre Fantasie noch größere Kapriolen schlagen: »Wä re es nicht auch möglich, Bilder zu sehen von damals? Also aus dieser Zeit, in der hier irgend etwas passiert ist, das . . .« »Die Anfänge?« fragte Nicole. »Das dürfte nicht möglich sein. Der Kapazität dieser silbernen Zauberscheibe sind enge Gren zen gesetzt, was die Zeit-Schau angeht. Was vorgestern geschah, dürfte gerade noch so an der äußersten Grenze des Erreichbaren liegen . . .« Aber damit hatte sie schon zuviel versprochen. Zamorra war von selbst ebenfalls auf die Idee gekommen, den Blick in die Vergangenheit noch tiefer zurück zu treiben, und er versuchte die Nacht zu erfassen, in der das Unheil in die Welt geholt worden war. Aber da war schon nichts mehr zu sehen. Nicht einmal mehr verschwommene Szenen ließen sich erfassen. Da war absolut nichts. Zamorra löste seine Halbtrance auf. »Damit sind wir also immer noch nicht viel weiter«, sagte er. »Wer diese Unheimlichen sind, läßt sich mit dieser Methode nicht feststellen. Irgendwie werden sie vom Amulett nicht registriert, und das verstehe ich nicht so ganz.« »Gespenster? Die Geister von Toten?« warf Nicole ein. »Könnte es daran liegen?« »Aber warum konnte ich dann das Haus erkennen, wenn auch nur als Schemen? Und wieso hast du dann in der Loire die Kno chenreste gefunden, die von einem der Unheimlichen übriggeblie ben sind?« »Hm«, machte Nicole. »Da bin ich überfragt. Wahrscheinlich werden wir die Nacht abwarten müssen. Wenn das Haus und seine
Bewohner dann wieder auftauchen, können wir etwas unterneh men.« Zamorra nickte. »Aber wir werden sehr auf der Hut sein müssen. Diese Leute scheinen recht aggressiv zu sein, und wenn es stimmt, daß das ›Unheil‹, wie es in der Warnung heißt, durch Fragen nach der Vergangenheit und durch Streit in die Welt geholt wird, dann haben wir gerade diese Fremden, Gespenster oder was auch immer sie sind, abermals ganz erheblich gekräftigt.« Yvette erschrak. Weder sie noch die anderen hatten, im Bann der für sie ungewöhnlichen Ereignisse, noch an diese Warnung gedacht, die in der vorletzten Nacht zum Streit zwischen Yvette und Bernard geführt hatte. »Es ist wahrscheinlich besser, wenn wir zwei uns heute nacht allein hier aufhalten«, sagte Zamorra. »Kommt nicht in Frage!« protestierte Regnac. »Wenn Ihnen nun etwas zustößt . . .« »Können Sie das auch nicht verhindern. Wie denn auch? Reicht Ihnen das Erlebnis nicht, daß Ihre Kugel den Mann durchschlug, ohne daß er verletzt wurde? Ihr Kollege Marnaux hat mich herge beten, und dieser Gedanke war goldrichtig. Wir haben ein bißchen mehr Erfahrung in diesen Dingen als Sie. Überlassen Sie die Sa che ruhig uns.« Regnac wollte sich damit nicht zufrieden geben. »Trotzdem sind wir in unserer Eigenschaft als Polizisten für Ihre Sicherheit verantwortlich, und von dieser Verpflichtung kann uns niemand entbinden . . . außerdem müssen wir doch irgend etwas in die Akten schreiben können. Dazu sollten wir schon selbst dabei gewesen sein.« Zamorra lächelte. »Wetten wir, daß Sie für Ihre Berichte ein Märchen erfinden werden, weil Ihnen die Wahrheit doch niemand glaubt? Wahrscheinlich ist es am einfachsten, diesen Fall als un gelöst zu den Akten zu legen. Aber wir reden schon darüber, als
wäre alles vorbei, dabei haben wir noch nicht einmal richtig ange fangen. Es bleibt dabei, wir beide, Nicole und ich, kümmern uns heute nacht um diesen Spuk und berichten Ihnen dann . . .« Die beiden Polizisten sahen sich an und schüttelten die Köpfe. »Nein. Wir müssen in der Nähe sein.« »Aber dann halten Sie sich wenigstens in sicherer Entfernung, weil wir nicht auch noch auf Sie aufpassen können, wenn es losgeht, und umgebracht oder verschleppt werden möchten Sie doch sicher auch nicht . . . mir reicht’s schon, daß diese Fremden aus der anderen Existenz eine bis zwei Geiseln haben, mit denen sie uns unter Druck setzen können . . .« Yvette schluckte. »Hoffentlich passiert Bernard nichts«, sagte sie leise.
� Der Abend kam. Von Yvette hatten sie sich schon längst verabschiedet und den Rest des nachmittages mit dem verbracht, was außer dem ok kulten Fall auch noch auf der Tagesordnung stand: ein wenig Urlaub an der Loire! Zamorra hielt ebenso wie Nicole nichts da von, zu grübeln und zu spekulieren, solange es keine vernünftigen Grundlagen gab, auf denen man ein Gedankengerüst konstruieren konnte. Sie hatten auch beide keine Lust, als Wundertiere den neugierigen Beamten eine Frage nach der anderen zu beantwor ten und magische Phänomene zu erklären, wie zum Beispiel die Funktion des Amuletts. Zamorra reichte es, durch die Zeit-Schau seine Glaubwürdigkeit unter Beweis gestellt zu haben, und alles darüber Hinausgehende ging niemanden etwas an. Es hatte auch keinen Sinn, den Rest des Tages für Vorbereitun gen zu nutzen. Worauf sollten sie sich vorbereiten? Zamorra war sicher, mit dem Amulett ausreichend versorgt zu sein. Für den
äußersten Notfall würde Nicole mit dem Dhyarra-Kristall dritter Ordnung Eingreif-Reserve spielen. Was dann geschah, war eine Frage des Augenblicks. Allerdings rechnete Zamorra damit, eine Auseinandersetzung bestehen zu müssen. Sie schlenderten am Wasser entlang, bewunderten die hüb schen Fassaden einiger Häuser, nahmen in einem gemütlichen Restaurant ihr Abendessen ein und fuhren dann, als die Dämme rung einsetzte, wieder zum verfluchten Hain hinaus. Mit Regnac und Marnaux hatten sie sich nicht mehr in Verbindung gesetzt. Vielleicht verzichteten die ja von selbst auf ihr Vorhaben, ein mal mehr nächtliche Überstunden zu machen, und blieben zu Hause . . . Nicole tat wieder einen Griff in den Koffer. Ihr freizügiges Out fit wurde von dem schwarzen Lederoverall abgelöst, in dem sie geschützt war und sich trotzdem gut bewegen konnte. In einer der Taschen verschwand der Dhyarra-Kristall, stets einsatzbereit. Sie hatten den Wagen so geparkt, daß sie im Falle eines Falles schnell verschwinden konnten. Zamorra war sich nicht sicher, ob er in dieser Nacht bereits mit den Umheimlichen fertig wur de, oder ob er bei einer Auseinandersetzung fliehen mußte, um später zurückzukehren, besser vorbereitet nach eigenen Erkennt nissen . . . »Hoffentlich sind unsere beiden Freunde und Helfer, wenn sie doch auftauchen sollten, so clever, uns nicht den Fluchtweg zuzuparken«, unkte Nicole. »Denken können die auch«, beruhigte Zamorra sie. Graue Streifen zeigten sich am Himmel. Die Sonne verschwand am Horizont, senkte sich scheibchenweise ab. Allmählich wurde es dunkler. Das Warten begann.
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Als das namenlose Grau endlich wieder schwand, wußte Jacqueli ne Morret, daß sie alles tun würde, um es nicht noch einmal zu erleben. Ganz gleich, was man von ihr verlangte. Diese beiden Ewigkeiten im grenzenlosen Nichts, die ihr fast den Verstand geraubt hatten, waren das schlimmste gewesen, was sie jemals erlebte. Nicht einmal die Hölle konnte schlimmer sein. Diesmal hatte man sie nicht aus ihrer Zelle holen müssen. Als sie aus dem Grau zurückkehrte, befand sie sich wieder in dem Raum, aus dem sie mit einem Fenstersprung zu fliehen versucht hatte. Vor ihr stand wieder der Mann im grünen Wams mit der golde nen Stickerei. Spöttisch grinsend sah er sie an. »Nun?« Diesmal brauchte sie niemand zu zwingen, auf die Knie zu fallen. Jacqueline hatte ihre Lektion gelernt, und jede Demütigung, die sie hier würde ertragen müssen, konnte nicht so schlimm sein wie noch einmal ein Aufenthalt im grauen Nichts. Sie neigte den Kopf. »Herr . . .« »Ah, wie das klingt«, freute sich der Mann im grünen Wams. »Uns dünkt, es war recht nützlich, so zu handeln, wie Wir es taten. Nun lausche Sie: Sie wird künftig als Magd dienen, bis Wir anders verfügen. Sie wird stets dienstbereit sein, zu welcher Zeit auch immer, und Sie wird jeden Befehl flugs und ohne Widerspruch ausführen. Hat Sie verstanden?« »Ja, Herr«, stieß sie hervor. Daß sie selbst gemeint war, war ihr klar, trotz der mittelalterlichen Überheblichkeit, die aus der Sprechweise des Wamsträgers klang. »Aber, Herr, ist es erlaubt zu fragen, wem ich dienen darf?« Niemals hätte sie sich früher vorstellen können, ernsthaft so zu reden. Nicht einmal im Scherz hatte sie es getan, jetzt aber erschien es ihr ganz natürlich, unterwürfig zu sein. Besser das ertragen, als einmal das Grau . . . »Etienne deMougon«, erklärte der Überhebliche. »Sie soll es
als eine Gunst betrachten, daß Wir geruhten, Ihre Frage zu be antworten. Doch vergesse Sie nie, daß Sie es nicht wagen darf, Unseren Namen auszusprechen, wenn Wir mit Ihr reden.« Er klatschte in die Hände. Im gleichen Moment flog die Tür auf. Ein anderer Mann polterte hinein, umgeben von kräftigen, derb gekleideten Gestalten. »Was soll das hier, Brüderlein?« bellte er wütend. »Du führst dich auf, als sei das hier schon dein Haus! Dein Gesinde! Dein Eigentum! Was glaubst du eigentlich, wer du bist, Etienne? Ohne meine Einwilligung geschieht hier nichts, und du hast den Bogen wieder mal überspannt! Wer ist das?« Er deutete auf Jacqueline. »Eine Magd«, knurrte der andere. »Was geht’s dich an, Alphon se? Scher dich zum Teufel, denn da gehörst du hin! Du hast keinen Anspruch auf dieses Haus . . .« »Das werden wir ja sehen!« brüllte der Neuankömmling. Er wandte sich seinen Begleitern zu. »Packt diesen Vogel und schmeißt ihn raus, mit allem Gesindel, das er um sich geschart hat!« »Du wirst es nicht wagen, daß sich dieser Pöbel an Uns ver greift!« schrie Etienne deMougon. Alphonse, anscheinend Etiennes Bruder, ließ sich davon nicht beeindrucken. »Werft ihn hinaus, damit hier endlich Ruhe und Ordnung herrscht, und dann laßt uns sehen, ob dieses Bauernvolk draußen gut gewirtschaftet hat, um uns den Zehnten zu liefern . . . oder besser, laßt es diesen aufgeblasenen Lümmel mit seinem Diebesgesindel tun. Es wird Zeit, daß du lernst, auch mal zu arbeiten, Etienne . . . und jetzt ’raus mit dir!« Etienne griff zum Kurzschwert. Das hätte er besser nicht tun sollen. Zu dritt sprangen sie ihn an, entwaffneten ihn und zerrten ihn durch die Tür auf den Gang hinaus. Er spie, schlug und brüllte. Aber gegen gleich drei kräftige Männer kam er nicht an.
Alphonse versetzte der immer noch knienden Jacqueline einen Stoß. »Und nun zu dir, Täubchen. Was tust du hier?« »Ich . . . ich bin Herrn Etiennes Magd«, stieß sie hervor. »Er . . . er ließ mich hierher entführen . . .« Alphonse lachte brüllend. »Daran tat er gut, der Strolch. Du gehörst jetzt mir, bist mein persönliches Eigentum. Komm mit!« Seine Hand schoß vor, krallte sich in den fadenscheinigen Kittel und riß Jacqueline empor. Der Stoff wurde aufgefetzt, Alphonse zerrte das Mädchen hinter sich her, aus dem Zimmer und in einem anderen Teil des Gebäudes. Entsetzt sah sie ein großes Schlafzimmer mit Himmelbett, prunkvoll ausgestattet und mit Gold belegt. Ehe sie begriff, wie ihr geschah, hatte Alphonse sie an einen Bettpfosten gekettet. »Hier ist ab sofort dein Arbeitsplatz«, lachte er böse. »Überlege dir schon mal, wie du mich erfreuen willst, wenn ich nachher zurückkehre . . .« Er verschwand. Jacqueline blieb hilflos, gefesselt und allein zurück. Und sie begann zu ahnen, daß sie bei dieser Art Machtwechsel, dessen Zeugin sie geworden war, vom Regen in die Traufe gekommen war . . .
� Zamorra und Nicole sahen sich an. Aus dem Nichts heraus ent stand das Gebäude mit seinen Anbauten. Die Bäume und Sträu cher schwanden . . . lösten sich einfach auf. Das aus einer wesen losen Grauzone kommende Haus verdrängte sie, dehnte sich aus. Die Wirklichkeit verblaßte. Zamorras Vermutung, durch die heutige Aktion sei das Un heimliche noch weiter gestärkt worden, schien zu stimmen. Denn hatten die anderen noch übereinstimmend berichtet, daß sich im
verfluchten Hain eine Lichtung gebildet hatte, so verschwand der Hain diesmal sogar völlig. Im Hintergrund stand das Wohnmobil, als dunkler Schatten in der sternenklaren Nacht zu sehen, weiter rechts der 735i . . . und daneben der Polizeiwagen, den weder Zamorra noch Nicole gehört hatten, als er sich näherte. Zamorra öffnete sein Hemd, legte das Amulett frei. Wieder zeigte es eine nur äußerst schwache Erwärmung, wie am Nachmittag unten am Fluß. Damit ließ sich nichts anfangen. Schwarze Magie war so gut wie gar nicht zu spüren, und damit sanken auch die Chancen, das Phänomen mit Hilfe des Amuletts wirksam angehen zu können. »Versuchen wir’s« sagte Zamorra. Er setzte sich langsam in Bewegung. Nicole folgte ihm. Sie trug etwas in der Hand, das der Para psychologe nicht genau erkennen konnte. War es der DhyarraKristall? Nein. Es mußte etwas anderes sein. Er erreichte das große Haus. Er hörte Stimmen und Lärm, als würde drinnen eine Ausein andersetzung stattfinden, aber als er dann versuchte, eine der Türen zu öffnen, scheiterte er daran ebenso wie die Polizisten und Yvette in der Nacht zuvor. Er berührte das Haus mit dem Amulett. Keine Reaktion . . . Aber plötzlich fühlte er ein eigenartiges, nie gespürtes Desinter esse in sich aufsteigen. Was sollte es denn? Das Phänomen war da, vielleicht würde es wieder verschwinden . . . auf jeden Fall konnte man damit leben. Man würde sich arrangieren müssen, das war alles. Warum sollte er sich den Kopf zerbrechen und versuchen, in dieses Haus einzudringen . . . Da zuckte er zusammen. Was war das gewesen? Hatte er gerade einen Versuch erlebt, ihn zu beeinflussen? Es mußte so sein, und damit fand er auch eine Erklärung dafür, daß Yvette erst am anderen Morgen zu Polizei
gegangen war. Sie, die nicht die starken psychischen Barrieren gegen jede Art von hypnotischer Behandlung besaß, mußte diesem Einfluß viel leichter zum Opfer gefallen sein. Aber Zamorra konnte sich dagegen wehren. Er ließ sich nicht von Unbekannten manipulieren, die hier aus dem Nichts gekommen waren, um Menschen zu ermorden oder zu verschleppen. Was auch immer dieses Spukhaus war, er mußte etwas dagegen tun. Es gehörte nicht in diese Welt. Oder diese Zeit . . . Plötzlich war Nicole neben ihm. Jetzt sah er, was sie in der Hand hielt: den Plastikbeutel mit dem Knochenrest. Sie öffnete den Beutel, nahm das makabre Fundstück vorsichtig heraus, um es nicht zu zerstören, und berührte damit das Haus. »Das ist der Schlüssel . . .« »Hat dir das auch das Amulett verraten?« erkundigte Zamorra sich. »Diesmal nicht . . . es ist nur eine Vermutung, die auch falsch sein kann. Aber willst du es nicht ausprobieren, auf diese Weise nach drinnen zu kommen?« Zamorra nickte. »Okay . . . aber nicht nur mit dem Knochen allein, sondern auch mit der Amulett-Energie . . .« »Das ist doch der Sinn der Sache!« behauptete Nicole. Zamorra aktivierte Merlins Stern. Mit einem Gedankenbefehl zwang er es, Energie freizusetzen und das Raumzeit-Muster des Knochenfragmentes zu kopieren, um eine Annäherung an das Fremde zu erreichen. Was das für ein Muster war, war ihm selbst nicht ganz klar, aber die Substanz des Überrestes eines Menschen erschien ihm in dieser Welt und dieser Zeit fremd. Und im gleichen Moment wurde alles anders. Und Zamorra ging durch die Wand . . . !
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Nichts hielt ihn auf. Feste Materie, wie er sie vorhin noch gefühlt hatte, gab es jetzt nicht mehr. Das Haus existierte nicht! Es war nur ein Schatten aus der Vergangenheit, der stofflich geworden war für die Zeit der Dunkelheit, denn sobald es hell wurde, muß te dieser Schatten dem Licht wieder weichen, um erst in der nächsten Dunkelperiode wieder zurückzukehren. Wieder spürte Zamorra nur einen Hauch von Magie, gerade stark genug, um diese Illusion eines Hauses aufrechtzuhalten. Und dann sah er die ersten Menschen darin. Menschen des Mittelalters, wie ihre Kleidung und ihre Sprache verriet! Menschen, die ebenso wie dieses Haus aus einer fernen Vergangenheit ins Jetzt geholt worden waren, und die vor Zamorra erschraken, den sie durch die Wand gehen sahen. Einer schrie: »Der Zauberer! Der Zauberer ist wieder da, aber er trägt jetzt andere Kleidung . . .« Hatte nicht gestern einer der Männer Regnac für einen Zau berer gehalten, als der Schuß krachte? Für diese Leute mußte eine Automatik-Pistole tatsächlich Zauberei sein, denn sie mußten einer Zeit entstammen, in der in Europa das Pulver noch nicht erfunden war. So alt war das Haus schon . . . ? So lange hatte sich die überlie ferte Warnung erhalten? Zamorra sah die Männer vor ihm flüchten, aber dann wurden sie von einem breitschultrigen anderen gestoppt, der sich ihnen in den Weg stellte. »Habt ihr Angst vor einem Gespenst, das durch Wände geht, ihr Narren? Ihr Schwächlinge? Seht ihr nicht, daß er nur ein Trugbild ist? Vielleicht hat es uns Etienne schicken lassen, der doch schon immer sich mit Zauberlehrlingen abgegeben hat und mit Alchemisten . . .« Dieser Mann, der vor dem geisterhaft durch Wände gehenden Zamorra keine Angst hatte, interessierte den Parapsychologen. Ihm wandte er sich zu und näherte sich ihm. Die anderen wichen nicht mehr weiter zurück, und deutlich konnte er in ihren Augen
die Angst flackern sehen, aber angesichts ihres Anführers trauten sie sich nicht mehr zu fliehen. Die Angst vor ihm schien größer zu sein als die Angst vor dem Fremden, der so einfach aufgetaucht war. »Wie kommt Er hier herein?« schrie da jemand. »Das Haus ist doch gegen Seinesgleichen geschützt, außer wir holen euch herein . . .« Zamorra wandte den Kopf, um den Schreihals zu sehen, der hinter ihm aufgetaucht war. Der trug ein grünes, goldbesticktes Wams. »Habe ich dich nicht gerade hinauswerfen lassen?« polterte der andere jetzt los. »Da wagst du es, schon wieder hereinzukommen? Zum Teufel mit dir, Etienne, und was soll das Behaupten, das Haus sei geschützt?« »Durch meine Macht, du Narr!« schrie der Grüne. »Durch mei ne Künste wird dieses Haus doch vor Gespenstern geschützt . . .« »Schwarze Kunst! Du Narr, weißt du nicht, daß du damit dem Satan verfällst?« »Recht hast du, Freundchen«, murmelte Zamorra. »Zauberei ist selten etwas Gutes . . . darf man fragen, mit wem ich es hier überhaupt zu tun habe? Und weshalb ihr Menschen umbringt oder verschleppt? Was tut ihr überhaupt in unserer Welt?« »In eurer . . . in eurer Welt?« Der Grüne war bestürzt. »Wie überhaupt konnte Er die Bannsiegel durchbrechen?« »Wer seid ihr überhaupt?« »Ich bin Alphonse deMougon«, knurrte der Anführer der furcht samen Truppe. »Und dieser aufgeblasene Tropf ist mein mißrate ner Bruder Etienne, der glaubt, er sei schon der Herr in diesem Haus! Aber irrt er sich, der Narr . . .« »Wer hier Narr ist, werde ich dir schon zeigen, Brüderlein . . .«, brauste der Grüne auf. Zamorra ahnte, daß er hier nicht so schnell Antworten erhal ten würde. Die beiden Brüder waren miteinander verfeindet und
sahen in dieser Feindschaft offenbar ihren Lebensinhalt. Wenn Zamorra etwas erfahren wollte, mußt er sich die Antworten schon erzwingen. Er streckte beide Arme aus, so daß die Hände rechts und links durch die Korridor-Wände pflügten, ohne Widerstand zu spüren, und ging auf Etienne zu. Der war wohl am ehesten irritiert, weil Zamorra, das vermeintliche Gespenst, den Schutz um das Spukhaus durchbrochen hatte . . . »Wo ist Bernard Girodet? Wo habt ihr ihn versteckt? Und wo ist das Mädchen, das ihr in der Nacht zuvor entführt habt?« Er glaubte, Etienne zu einer Antwort zwingen zu können. Aber Etienne deMougon ließ sich nicht zwingen! Er fuhr herum und rannte vor dem vermeintlichen Gespenst davon! Im gleichen Moment vernahm Zamorra eine Gedankenstimme in seinem Kopf. Er erkannte sie sofort. Ihm war, als stünde Nicole unmittelbar neben ihm. Hier ist gerade einer nach draußen gekommen, aber der denkt nicht . . . weil er tot ist . . . Unwillkürlich nickte Zamorra, weil Tote noch nie hatten denken können, aber wem stand Nicole dort draußen gegenüber? Chef . . . ! Ein Gedanken-Schrei! Und Chef nannte sie ihn nur, wenn Ärger oder Gefahr drohte. Griff der Tote, der nicht dachte, Nicole etwa an? Er verließ das Spukhaus! Er stürmte durch die Wände nach draußen. Mit diesen Leuten aus der Vergangenheit konnte er sich auch später noch unterhalten, aber Nicole durfte nicht in Gefahr geraten und auch nicht als Geisel mißbraucht werden. Er durchschritt die letzte Wand und stand wieder draußen unter klarem Sternenhimmel. Vor ihm wich Nicole vor dem Mann in Grün zurück! Etienne deMougon mußte ein Hexenmeister sein, daß er es so
schnell geschafft hatte, nach draußen zu kommen, aber warum setzte Nicole ihren Dhyarra-Kristall nicht gegen ihn ein? »DeMougon . . . !« Irritiert fuhr der Grüne herum. »Er schon wieder!« kreischte er. »Geh’ Er weg! Verschwinde! Wir können’s nit leiden . . .« »Du wirst dich schon mit mir abfinden müssen, Etienne deMougon!« drohte Zamorra. »Denn ich werde dich mit meiner Zauberkraft zwingen, mir . . .« »Nein!« kreischte Etienne. Er machte ein paar hastige Hand bewegungen in der Luft. Zamorra sah, daß die Luft kurz glühte und Feuerzeichen bildete. Aber das war Etienne deMougons Feh ler gewesen. Denn in diesem kurzen Moment, in dem Schwarze Magie benutzt wurde, reagierte das Amulett. Es schlug zu. Und vor Zamorra flog Etienne deMougons Körper in einer grel len Lichtwolke auseinander! Blitzschnell verlosch das Licht wie der, und nur noch Staub rieselte zu Boden. Der Mann im grünen Wams war getötet worden. Getötet? Hatte Nicole nicht behauptet, er sei tot? Und Tote kann man nicht noch einmal töten . . . »Sie sind alle tot, Zamorra«, flüsterte Nicole. »Sie alle . . . sie sind nicht durch eine Zeitfalte in diese Welt gerutscht. Es sind keine zwei Existenzebenen, die sich überlappen, sondern es ist wirklicher, waschechter Spuk . . . ein Gespensterhaus, wie es im Buch steht . . .« Da sah er ihre Augen groß werden. Riesengroß wie die eines staunenden Kindes. Ahnungsvoll sah er sich um. Das Haus stand in hellen, irrlichternden Flammen! Ein Blitz gewitter zuckte aus heiterem Himmel herab, und im Feuersturm verging das Gebäude! Aber weder wurde dabei Hitze freigesetzt, noch war das ge ringste Geräusch zu hören. Wie in einem Stummfilm verbrannte das Spukhaus, und zwar in einem unglaublichen Tempo. Plötzlich
waren nur noch ein paar Mauerreste vorhanden, rußgeschwärzt, und Gras schoß aus dem Boden hoch, Sträucher wucherten und Bäume tasteten sich in den Himmel hinauf. Innerhalb von weniger als einer Minute war nichts mehr übrig außer den Fundamenten, die überwuchert waren vom Unkraut, und ringsum erhob sich der Wald und das Dickicht! »Das gibt’s nicht . . .«, flüsterte Nicole entgeistert. »Was ist denn jetzt wieder passiert?« Zamorra konnte ihr die Frage auch noch nicht beantworten, aber in ihm war ein Verdacht wach geworden! Aber um ihn zu erhärten, mußte er versuchen, die beiden Menschen zu befragen, die fassungslos und erschrocken zwischen den Ruinenresten stan den und allem Anschein nach die Welt nicht mehr verstanden . . .
� Im Wohnmobil hatten sie später genug Platz, sich in Ruhe zu unterhalten. Jacqueline Morret, die ihren zerfetzten Kittel gegen normale Kleidung vertauscht hatte und jetzt wieder halbwegs menschlich aussah, verhielt sich schweigsam. Daß ihr Haar weiß geworden war, schien ihr noch nicht aufgefallen zu sein, oder konnte selbst das sie nicht mehr aufregen? Bernard Girodet erzählte. »Einer von den Kerlen, die mich verschleppt haben, war etwas umgänglicher als die anderen, und er erzählte mir ein wenig, als ich wissen wollte, was hier überhaupt gespielt wurde. Dieses Haus gehörte einem mächtigen Grafen. Ich kann die Zeit nicht genau lokalisieren, aber es muß noch vor der Jahrtausendwende gewesen sein . . .« »Also noch ein paar Jährchen früher, als wir vermutet haben«, staunte Zamorra. »Daß so etwas möglich ist . . . ?« »Der Graf muß ein Ungeheuer gewesen sein«, fuhr Girodet fort. »Ein Blutsauger, der die Bauern der Umgebung auspreßte
bis aufs letzte. Er war mächtig. Aufstände wurden sehr schnell niedergeschlagen und fanden danach nicht wieder statt. Als er starb, hinterließ er zwei erwachsene Söhne, die sich um das Erbe stritten. Gemeinsam knechteten sie zwar die Bevölkerung, aber untereinander waren sie sich spinnefeind.« »Das waren also die Brüder deMougon«, murmelte Zamorra nachdenklich. »Etienne und Alphonse . . . und Etienne scheint sich mit Zauberei befaßt zu haben . . .« »Davon weiß ich nichts. Auf jeden Fall war plötzlich alles anders, und ich schwebte in einer fürchterlichen, grenzenlosen grauen Zone . . .« Jacqueline bestätigte das. »Und dann löste sich das Haus plötzlich in Flammen auf. Ich dachte erst, ich müßte verbrennen, aber das Feuer war kalt, und alles verschwand in Rauch und Asche . . .« Mehr wußte er nicht. Mehr konnte auch Jacqueline nicht sagen. Aber Zamorra hatte immerhin einen festen Anhaltspunkt bekommen. Für diese Nacht war längst alles zu spät, aber am nächsten Mor gen telefonierte er mit Raffael Bois und setzte diesen erneut aufs Archiv an. Diesmal hatte Raffael nach dem Stichwort deMougon zu suchen. Vornamen Alphonse und Etienne. Sein Rückruf zur Gendarmerie, in der man sich versammelt hatte, kam zwei Stunden später. »Über die Brüder deMougon haben wir eine alte Überlieferung, Professor«, berichtete Raffael. »Ich hab’s finden können, aber diese Unterlagen sind nicht ganz zuverlässig und gehen bis auf die Zeit zurück, in der Leonardo deMontagne hier noch Burgherr war. In seinem ersten Leben, wohlgemerkt . . .« Zamorra nickte. Leonardo deMontagne hatte zur Zeit des ersten Kreuzzuges gelebt und diesen auch mitgemacht. Zamorra wußte es, denn er war im Zuge einer Zeitreise in die Vergangenheit dabei gewesen. (siehe Nr. 124–126)
Was Bernard Girodet berichtet hatte, wurde von Raffael Bois bestätigt. Aber Raffael konnte auch mit der Fortsetzung dienen. »Die Brüder stritten sich ständig um ihr Erbe, aber in einer wilden Gewitternacht sollen Blitze das Haus in Brand gesetzt haben und zerstörten es bis auf die Grundmauern. Alle, die zu jener Zeit im Haus waren, sollen verbrannt sein. Im Streit gestorben, Profes sor . . . aber viel mehr geht nicht aus den Überlieferungen hervor. Man sagt, Etienne deMougon habe sich dem Teufel verschrieben und der habe ihn geholt . . . und irgend jemand hat einen Bann über das Gelände gelegt, das einmal dieses niedergebrannte Haus war. Man fürchtete wohl, daß die Hölle die beiden feindlichen Brüder und ihre Steuereintreiber-Horde wieder ausspeien würde und fürchtete sich davor . . .« »Daher also dieser Warnspruch, man solle keine Fragen stellen und keinen Streit zwischen die Ruinen tragen«, überlegte Zamor ra laut. »Man hat offenbar alles versucht, die Erinnerung an die Knechtschaft der deMougons zu vergessen, zu löschen . . . und das muß bis heute geklappt haben. Aber warum zum Teufel steht die ser Text, den Sie mir gerade vorgelesen haben, nicht auch unter dem Stichwort Neuvy-sur-Loire, Raffael?« Und dabei sah er auch Nicole an, die maßgeblich an dem großen Archiv mitgearbeitet hatte. »Das ist doch ganz einfach, Professor«, klang Raffaels Stimme aus der Freisprechanlage des Polizeitelefons. »Weil es Neuvy-surLoire damals, vor über neunhundert Jahren, unter diesem Namen noch gar nicht gab . . . und weil die Erzählung nur von Menschen aus den benachbarten Orten unter der Hand weitergeflüstert wurde, bis sie schließlich auch Château Montagne und damit den alten Leonardo erreichten, der es niederschreiben ließ, weil er ja auch an allem Unheimlichen interessiert war . . . deshalb war unter Neuvy nichts zu finden, Professor.« »Damit dürfte ja alles geklärt sein«, stellte Alan Regnac fest,
als die Telefonverbindung zum Château Montagne nicht mehr bestand. »Bis auf eines, Professor: Wie haben Sie es geschafft, diesen Spuk zu beenden?« Zamorra zuckte mit den Schultern. »Genau kann ich es auch nicht sagen«, gestand er. »Es ist nur eine Vermutung, wie so vieles in diesem seltsamen Fall. Aber die Warnung vor Streit muß mit dem Streit der Brüder zu tun haben, und mein Amulett«, er tippte auf die Silberscheibe unter seinem Hemd, »spürte einen ganz schwachen Hauch von Schwarzer Ma gie. Etienne, der Zauberlehrling, muß an einen Fluch gebunden gewesen sein, und als er vom Amulett vernichtet wurde, war nicht nur dieser an ihn gebundene Fluch erloschen, sondern auch die Grundlage für den Streit zwischen beiden Brüdern, den sie ja auch als Gespenster noch fortsetzten, existierte nicht mehr. Denn zum Streit gehören nun mal zwei . . . und da platzte alles wie eine Seifenblase, und das Spukhaus, das aus dem Jenseits wie der zur Erde geholt worden war, erlebte zum zweiten Mal seine Vernichtung.« »Aus dem Jenseits?« stieß Jacqueline Morret hervor, die sich wie Girodet ebenfalls in der Gendarmerie eingefunden hatte. »Soll das etwa heißen, daß . . .« Zamorra schüttelte den Kopf. »Glaube ich nicht, und der Be griff war wohl auch etwas falsch gewählt, wenn Sie auf diese Grauzone anspielen, Mademoiselle. Es muß eine Sphäre zwischen dem Diesseits und dem Jenseits sein, in dem das Haus mit seinen im Gewitterfeuer verbrannten Bewohnern all die Jahrhunderte wartete . . . und jedesmal, wenn es Tag wurde, mußte dieses Haus dorthin zurück und hat Sie, die sich in ihm befanden, jedesmal mitgenommen . . .« »Für die deMougons und ihre anderen Gespenster wird es wahrscheinlich ganz anders ausgesehen haben«, warf Nicole ein. »Aber Sie beide, Jacqueline und Bernard, waren im Gegensatz zu den anderen nicht tot . . . Jene waren Tote, die wieder körperlich
Scheingestalt annahmen, und der Mann, der ins Wasser geschleu dert wurde, vertrug das aus irgend einem Grund nicht und löste sich auf . . . ich fürchte, alle Rätsel werden wir nicht lösen können, es sei denn, das Haus taucht demnächst wieder einmal auf.« »Ist das denn zu befürchten?« staunte Marnaux. Zamorra hob die Hand. »Ich werde dafür sorgen, daß es nicht geschehen kann«, sagte er. »Der Weißen Magie stehen dafür ein paar recht probate und wirksame Mittel zur Verfügung. Das Haus und die feindlichen Brüder werden nicht wiederkehren. Das garantiere ich. Aber danach möchte ich doch noch ein paar Tage Urlaub machen . . .« »In Paris«, sagte Nicole. »In den Boutiquen . . .« Zamorra seufzte. »Urlaub in den Boutiquen? Nein, meine Liebe, dann bleibt es doch bei einem ganz einfachen Feigenblatt . . .«
ENDE
In der Tasman-See zwischen Australien und Neu seeland macht ein russisches Forschungsschiff telepathische. Experimente mit Delphinen. Plötz lich erscheint aus dem Nichts ein Segelschiff, das die Piratenflagge am Mast trägt. Ein verzweifelter Kampf entbrennt. Selbst die Feuerkraft eines zur Hilfe kommenden Nato-Kreu zers kann nicht helfen. Denn die Piraten sind Un tote, Gespenster . . . Es gibt nur einen, der ihrer Herr werden kann: Professor Zamorra. Doch als er dann vor dem Geisterkapitän steht, muß er erfahren, daß noch eine andere Macht die Fäden zieht.
Der Pirat und die Hexe
So lautet der Titel des in zwei Wochen erscheinenden neuen Grusel-Thrillers von Robert Lamont. Sie erhalten ihn wie im mer bei Ihrem Zeitschriften- und Bahnhofs buchhändler. DM 1,90