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Dan SHOCKER
Dr. Satanas, Herr der Skelette Niemand ist sicher vor Dr. Satanas.
Niemand weiß, wann und wo er wied...
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Dan SHOCKER
Dr. Satanas, Herr der Skelette Niemand ist sicher vor Dr. Satanas.
Niemand weiß, wann und wo er wieder zuschlägt.
Der PSA ist es immer noch nicht gelungen, diesen furchtbaren Feind unschädlich zu
machen. Dr. Satanas steht mit dem Teufel im Bund, und unsichtbare dämonische Mächte dienen ihm. Unerwartet schlägt der Unheimliche zu. Heute abend ist Dr. Gilbert Roché an der Reihe. Der Gynäkologe ahnt nichts von seinem Schicksal, und das, was geschieht, ist ungewöhnlich und erschreckend ...
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Das Team der PSA PSA (Psychoanalytische Spezialabteilung): Sie hat ihren Sitz in New York. Der geheime Einsatzort der PSA befindet sich zwei Etagen unter den Kellerräumen des bekannten Tanz- und Speiserestaurants »TAVERN ON THE GREEN« im Central Park in Manhattan. Die PSA befaßt sich ausschließlich mit ungewöhnlichen Fällen. Die Abteilung ist jetzt vier Jahre alt. In einem strengen Aussiebverfahren werden Spezialagenten herangebildet, die es bisher nicht gab. Nur die Besten bestehen und sind würdig, die Bezeichnung X-RAY- zu erhalten. Jeder Agent und jede Agentin der PSA trägt das Erkennungszeichen: eine massiv goldene Weltkugel in einer Ringfassung oder an einem Armkettchen. Die Weltkugel, auf der das stilisierte Gesicht eines Menschen durchschimmert, enthält eine vollwertige Miniatursendeund -empfangsanlage.
Initiator und Leiter der PSA ist DAVID GALLUN alias X-RAY-1. 56 Jahre alt, volles, graues Haar. Sehr väterlich, ruhig. Niemand kennt seine wahre Identität. Er ist den Mitarbeitern der PSA lediglich als X-RAY-1 bekannt, der geheimnisvolle Leiter im Hintergrund. Gallun erlitt einen Autounfall und verlor dabei sein Augenlicht. Danach war er vier Minuten klinisch tot. Eine etwa 28 Zentimeter lange Operationsnarbe am Kopf und Hals erinnern noch daran. Während der kritischen Minuten auf dem Operationstisch machte sein Gehirn eine Veränderung durch. Seit dieser Zeit kann er Stimmungen und Gefühle wahrnehmen und empfangen, er wurde zum Emphaten. Gallun kann sein Büro über einen geheimen Eingang betreten. Ein einziger Vertrauter, sein Diener Bony, der ihm das Leben rettete, begleitet ihn auf all seinen Wegen. Unter den vorgesehenen 20 Agenten, die innerhalb der PSA mit außergewöhnlichen Aufgaben betraut werden, nimmt einer eine Sonderstellung ein: LARRY BRENT alias X-RAY-3: Er erreichte den bisher höchsten Intelligenzquotienten, was durch die niedrige Zahl hinter der Bezeichnung 4
zum Ausdruck kommt. Larry ist 30 Jahre alt, groß, schlank, sportlich. Das Haar ist blond, die Augen sind rauchgrau. Ein ausgezeichneter Karate- und Taek-won-do-Kämpfer. Er liebt schnelle Wagen und fährt selbst das neueste Modell eines Lotus Europa, der mit Sondereinrichtungen ausgestattet ist. Larry, der Sohn einer deutschen Mutter und eines amerikanischen Vaters, arbeitet oft zusammen mit: IWAN KUNARITSCHEW alias X-RAY-7, ein Mann wie ein Bär, breit, kräftig, der beste Taek-won-do-Kämpfer in der PSA. Unschlagbar, 32 Jahre alt. Trägt borstiges Haar. Auffallend sein rotes Gesicht, das nicht nur vom Wodkatrinken kommt. Raucht nur selbstgedrehte Zigaretten. Der Tabak dazu ist schwarz wie Kohle, und niemand weiß, woher er diesen »Stoff« bezieht ... MORNA ULBRANDSON alias X-GIRL-C. Schwedin, 26, ehemaliges Mannequin. Außergewöhnlich hübsch und attraktiv. Trägt das blonde Haar schulterlang. Augen grün. Sie ist die erste weibliche Agentin in der PSA und spricht, wie auch ihre männlichen Kollegen, mehrere Sprachen fließend. Mornas Intelligenzquotient ist fast genauso hoch wie der Larrys. Sie nimmt deshalb in den Reihen der aufzubauenden Frauenabteilung eine ähnliche Stellung wie X-RAY-3 ein. Sie hat eine Schwäche für Larry Brent, läßt sich das aber nicht anmerken.
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Das Telefon schlug an. Gilbert Roché saß in seinem Arbeitszimmer. Er blickte nicht von den Papieren auf, die er gerade studierte, und hob den Hörer ab. »Roché«, meldete er sich einfach. »Madame Escallier«, sagte die Stimme am anderen Ende der Strippe. »Ah, Madame. Guten Abend!« »Ich hoffe, Sie erwarten mich noch nicht, Doktor. Wir hatten für halb sieben einen Termin abgespRochén. Ich kann nicht pünktlich sein.« »Das macht nichts, Madame.« »Es ist plötzlich Besuch gekommen, der ist länger geblieben, als wir erwartet hatten. Darf ich jetzt noch zu Ihnen kommen?« Sie hatte eine sympathische und fröhliche Stimme. Nadine Escallier war die Frau eines bekannten Pariser Juristen, der als Scheidungsanwalt weit über die Grenzen der Stadt bekannt war. »Sie dürfen nicht, Madame, Sie müssen. Sie wissen, was auf dem Spiel steht.« Gilbert Roché schob die dünne Akte zurück und blickte auf das Fenster seines Arbeitszimmers, in dem sich die Inneneinrichtung spiegelte. Draußen war es schon dunkel. »Mit der Injektion dürfen wir nicht ein einziges Mal aussetzen, nicht in diesem Stadium!« »Ja, ich weiß, Doktor. Ich bin spätestens in einer halben Stunde bei Ihnen. Vielleicht auch schon etwas früher.« Nadine Escallier legte auf. Sie war hochschwanger. In zwei Monaten erwartete sie ihr erstes Kind. Das erste, von dem sie hoffte, daß sie es lebend zur Welt brachte. Zwei Schwangerschaften lagen hinter ihr. Die erste hatte abgebRochén werden müssen, die zweite endete mit einer Totgeburt. Mit ihren jungen Jahren — sie war erst vierundzwanzig — hatte sie schon einiges durchgemacht. Sie sehnte sich nach einem Kind und hoffte, daß es diesmal klappte. Gilbert Roché hatte eine Methode entwickelt, die vielversprechend war und die er bereits bei anderen Frauen, die mit ähnlichen Schwierigkeiten wie Nadine Escallier kämpften, mit Erfolg angewendet hatte. Seine Therapie war ein Geheimnis. Die Präparate, die er anwendete, hatte er selbst entwickelt. Roché wohnte in einer alten Villa aus der Mitte des 18. Jahrhunderts. Das ganze Haus stand ihm zur Verfügung. Außer ihm lebte niemand hier. Er hatte sich die Villa wie ein kleines Märchenschloß eingerichtet. Es gab diverse Salons, ein Kaminzimmer, eine Bibliothek, zwei Clubräume, die ganz unterschiedlich eingerichtet waren und einen japanischen Salon, auf den er besonders stolz war. Die Parterrezimmer enthielten seinen Arbeitsraum, die Praxisräume und das Wartezimmer. Darüber hinaus war ein Raum für die Sprechstundenhilfe eingerichtet, wenn sie sich während der Mittagspause zurückziehen und ein wenig entspannen wollte. Gilbert Roché erhob sich und trat an das dunkle Fenster. Er blickte hinaus in den Garten. Der war nicht groß. Wenn man genau hinsah, konnte man die umlaufende Mauer hinter den Stämmen erblicken, die ihn vom Nachbargrundstück trennten. Es war sieben Uhr. Um diese Jahreszeit war es schon sehr dunkel. In Paris spürte man die Nähe des Winters.
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Roché war gerade dabei, sich eine Zigarette anzuzünden, als es klingelte. Er wunderte sich. Nadine Escallier hatte zwar gesagt, daß sie sich besonders beeilen werde, doch daß es so schnell ginge, damit hatte er nicht gerechnet. Im Vorübergehen legte er die Zigarette einfach auf seinen Schreibtisch, ohne sie angeflammt zu haben. Er passierte einen langen, mit einem kostbaren Perser ausgelegten Korridor. An den Wänden hingen altmodische Leuchten. Schwaches Licht brannte. Die Decken zeigten Stuckarbeiten eines unbekannten Meisters: Engel, welche die Säulen stützten, die oberhalb der Fensternischen herauswuchsen. Der Gang endete an einer massiven Holztür. Sie war von innen verschlossen. Roché drehte den Schlüssel im Schloß. »Madame, ich ...«, sagte er, mehr nicht, denn vor ihm stand nicht die erwartete Nadine Escallier, sondern ein Mann. Ein Fremder ... Rochés Mörder war gekommen! »Ja, bitte?« fragte der Gynäkologe und musterte den unbekannten Gast, der groß, schmal und schwarzhaarig war. Sein Gesicht zeigte eine ungesunde Blässe. Die Nase war auffallend spitz, und im indirekten Licht der Flurbeleuchtung glaubte Roché einen daumengroßen dunklen Fleck zu erkennen. Ein Muttermal. In der linken Hand trug der Fremde eine dunkle, nach neuem Leder riechende Aktenmappe. Roché war anzusehen, daß er um diese Zeit keinen Besucher mehr erwartet hatte. Rasch ging sein Blick über die Schultern des Unbekannten hinweg. Der Eindringling mußte einen rundum verbauten, düsteren Innenhof passieren, der vorn von einem bis zur Decke des Torbogens reichenden Gittertor gesichert war. Dieses Tor war auch jetzt nicht geöffnet, aber es war auch nicht verschlossen. Roché hatte davon abgesehen. Er wußte, daß seine Patientin für heute abend angekündigt war, und die wiederum wußte, daß das Außentor nicht verschlossen sein würde. Hinter dem Tor folgte eine belebte Hauptstraße. Passanten und Autos. Niemand achtete von dort aus auf das, was sich rund zwanzig Meter tief in dem Innenhof abspielte. Roché war überzeugt davon, daß der seltene Fall eingetreten war, wo ein Bettler oder Hausierer draußen am Tor ausprobiert hatte, ob es verschlossen war oder nicht. »Ich kaufe nichts, es tut mir leid«, versuchte er den Fremden auf diese Weise wieder schnell loszuwerden. »Außerdem steht vorn ein großes Schild, daß Betteln und Hausieren verboten ist, Monsieur.« »Ich möchte Ihnen nichts verkaufen, Doktor Roché.« »Sie kennen mich?« Der Hagere mit dem bleichen Gesicht lächelte. Aber es war ein merkwürdiges Lächeln. »Auch das steht auf einem Schild, Doktor.« »Ach so, natürlich«, entgegnete der Gynäkologe dumpf und ärgerte sich, daß er aufs Glatteis geführt wurde. »Und nun verlassen Sie bitte mein Grundstück! Gute Nacht!« Kurz entschlossen wollte er dem Eindringling die Tür vor der Nase zuschlagen. »Moment, bitte!« Der Fuß des Fremden stand schon zwischen der Tür. »So schnell geht das nicht. Mit einem Gast, der etwas von Ihnen will, geht man doch nicht so unhöflich um, Doktor!«
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»Ja, was wollen Sie denn von mir?« fragte Roché unbeherrscht. Es fiel ihm schwer, den Blick aus den kalten, schwarzen Augen des Ruhestörers zu erwidern. Seltsame Augen, ein unheimlicher Blick! Roché konnte sich eines gewissen Unbehagens nicht erwehren. War der andere verrückt? »Ich will nur ganz kurz in Ihr Haus, Doktor, das ist alles.« »Nur über meine Leiche«, preßte Roché ärgerlich hervor. »Wenn Sie unbedingt wollen: auch das ist zu machen!« Gilbert Roché glaubte seinen Augen nicht trauen zu können. Der andere hielt plötzlich eine Waffe in der Hand, und die Mündung zielte genau auf seine Brust. Roché schluckte und trat zurück. Der Fremde huschte ins Haus und drückte die Tür hinter sich zu. Knackend drehte sich der Schlüssel im Schloß. »Sie sind verrückt!« konnte der Arzt sich nicht beherrschen. »Was machen Sie da? Wenn Sie Geld brauchen — ich geb' ihnen welches. Aber stecken Sie das Ding da weg, es könnte losgehen!« Schweiß perlte plötzlich auf seiner Stirn. In den Augen seines Gegenübers flackerte ein wildes, böses Feuer. Roché erkannte, daß dieser Mensch zu allem fähig war. Er mußte sich auf dem schnellsten Weg aus der Gefahrenzone bringen und eine Wende herbeiführen, ehe der Wahnsinnige eine Dummheit machte. »Ich will kein Geld«, sagte der andere einfach, Roché weiter den Korridor hinabdirigierend. »Zeigen Sie mir Ihr Bad!« »Sie wollen kein Geld? Was wollen Sie in meinem Bad?« Das alles war unlogisch und paßte nicht zusammen. »Ich will Ihr Gesicht, das ist alles!« Auf dem Weg zum Bad fand Roché keine Gelegenheit zu einem Ausfallversuch. Im Bad war es zu spät, es noch mal darauf ankommen zu lassen. Roché hatte noch eine Hoffnung: Nadine Escallier! Wenn sie an der Tür auftauchte und läutete, wurde der Fremde abgelenkt. Das würde Rochés Chance sein! Ein Augenblick der Unaufmerksamkeit würde genügen. »Wer sind Sie?« fragte er betont langsam und zeigte sich ruhig. Er wollte Zeit gewinnen und den anderen in ein Gespräch verwickeln. Nadine Escallier mußte bald kommen ... »Namen sind Schall und Rauch, sagt man. Warum interessiert Sie ein Name — so kurz vor dem Sterben? Die Menschen sind manchmal komisch. Ich bin Dr. Satanas!« »Dr. Satanas?« fragte Roché wie ein Echo. Mit diesem Namen konnte er nichts anfangen. Plötzlich fauchte es. Es klang so, als ob jemand schnell und heftig die Luft aus dem Rachen stieß. Rochés Augen wurden groß wie Untertassen. Er taumelte, wollte noch etwas sagen, brachte aber keinen Laut mehr über die Lippen. Leblos stürzte er nieder. Es krachte dumpf, als er genau in die Badewanne fiel und dort in seltsam verrenkter Stellung liegen blieb. »Na wunderbar«, kam es im Selbstgespräch über die schmalen Lippen des Verbrechers. »Das erspart einem noch die Arbeit.« In Herzhöhe des toten Gynäkologen zeigte sich ein winziges, kaum wahrnehmbares
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Einschußloch, das sich langsam rot färbte. Dr. Satanas hatte es nun sehr eilig, ohne jedoch zu hetzen. Wie durch Zauberei hielt er plötzlich ein kleines scharfes Messer in der Hand und beugte sich über die Badewanne. Er löste von der Stirn des toten Roché ein etwa Quadratzentimeter großes Stück Haut ab. Blutig und frisch wie es war, klebte er es sich mit schneller Bewegung oberhalb seiner Nasenwurzel zwischen die Augen. Satanas drückte den Gummipfropfen in das Abflußloch der Badewanne, öffnete seine Ledertasche und nahm dort eine kleine braune Flasche heraus, auf der jegliches Etikett fehlte. Er schüttete den Inhalt einfach über den Toten und wandte sich dann dem Spiegel zu, in dem er sein Aussehen genau überprüfte. Er träufelte ein paar Tropfen eines geheimnisvollen Öls auf seine Fingerkuppen und tupfte es auf das fremde Hautstück. Von dort aus verstrich er es kreisförmig über seine ganze Stirn. Dumpfe, fremdartig klingende Laute kamen über seine Lippen. Es hörte sich an, als ob er die Hölle beschwöre ... Die Haut nahm eine unerklärliche Verfärbung an, sie wurde leicht rötlich und changierte dann ins Gelbe. Wie ein Nebel legte es sich über Satanas' Gesicht. Die Haut wurde weich und schwammig, und die Sinnesorgane waren in dem gelblichen Teig nur noch angedeutet. Die ursprünglichen Gesichtszüge waren so gut wie nicht mehr vorhanden. Nun griff Dr. Satanas mit beiden Händen an seine Backenknochen und löste das teigige Gesicht von seinem Kopf, das aussah, als hätte eine furchtbare Säure es zerfressen. Unter dem Gesicht kam eine graue, formlose Masse zum Vorschein, die Blasen warf wie ein Sumpf, der kochte. Dies hier war kein Mensch mehr. Dr. Satanas, der Mann ohne Gesicht, war eine Ausgeburt der Hölle! Was sich hier abspielte, ging nicht mit rechten Dingen zu. Ein heimlicher Beobachter wäre aus dem grausigen Staunen nicht mehr herausgekommen. Deutlich sichtbar und unverändert war jetzt nur noch das kleine Hautstück auf der Stirn. Wie eine winzige, aber doch unübersehbare Insel wirkte es in der formlosen Masse. Ein frisches, lebendes Gewebe auf einem grauen Untergrund ... Unablässig murmelte Satanas seine dumpfen, unverständlichen Beschwörungsformeln. Die Luft, die ihn umgab, wirkte eigenartig verändert. Eine unerklärliche Spannung erfüllte die gespenstische Atmosphäre des alten Hauses. Dr. Satanas beschwor die Geister des Dämonenreiches. Und sie kamen! Sie konnten sich dem Bann der Formeln nicht entziehen, die ihre schreckliche Existenz bestimmte. Sie griffen ein und steuerten einen Ablauf, den menschlicher Geist nicht zu begreifen vermochte. Die Zellen aus der Gesichtshaut von Gilbert Roché vermehrten sich. Tausendmal schneller als ein Krebsgeschwür wucherten sie über das formlose Gesicht und bildeten eine neue Form, eine neue Schicht. Die Baupläne des ganzen Körpers von Roché waren in jeder Zelle erhalten. Aus einer einzigen konnte nach den neuesten Erkenntnissen der DNS-Forscher ein vollständiger Körper neu entstehen. Aber einen neuen Körper brauchte Satanas nicht. Er brauchte nur ein neues Gesicht.
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Aus dem grauen, formlosen Brei, in dem das Gebiß, die Atmungslöcher für die Nase und die Augen saßen wie in einem unförmigen, erst zu modellierenden Fleischbrei, bildete sich ein neues Gesicht, und zwar rasend schnell. Drei Minuten waren vergangen ... Vor dem Spiegel stand nicht mehr der Mann mit dem Ausdruck von Dr. Satanas und auch nicht mehr der mit dem gräßlichen, rohen Gesicht. Gilbert Roché schien zu neuem Leben erwacht. Sein Gesicht blickte in den Spiegel. Dr. Satanas war nun — Gilbert Roché. Und der Arzt? Den gab es nicht mehr! Geruchlos und lautlos hatte die schreckliche Säure gearbeitet, die Satanas über dem Körper ausgegossen. Eine graue, wie Spülbrühe aussehende Flüssigkeit schwamm in der Badewanne ... Der Mörder zog die Kette. Gurgelnd verschwand das im Abflußrohr, was von Dr. Gilbert Roché übrig geblieben war. Nadine Escallier klingelte. Das Geräusch war im ganzen Haus zu hören. »Es klappt wie am Schnürchen«, murmelte der unheimliche Mörder mit der Stimme und dem Gesicht von Gilbert Roché. Satanas trug einen weißen Kittel, den er aus einem Schrank genommen hatte und in dem er Roché noch ähnlicher sah. Der teuflische Besucher eilte durch den dämmrigen Korridor und öffnete die Tür. Vor ihm stand eine attraktive junge Frau, die ihn freundlich grüßte, und die er ebenso freundlich hereinließ. Nadine Escallier plauderte munter drauflos, wie es ihre Art war, und Satanas-Roché hörte aufmerksam zu. Die junge Französin merkte nicht, daß sie in Wirklichkeit einem Fremden gegenüberstand. Satanas beherrschte Rochés Gestik und Mimik perfekt. Es war, als hätte sich mit der Übertragung der Zellstruktur auch die Wesensart Rochés mitgeteilt. Nadine Escallier ahnte auch nicht, daß erst vor wenigen Minuten in diesem großen, stillen Haus ein Mord passiert war und daß dieser Mord unmittelbar mit ihrem Auftauchen in Zusammenhang stand.
Das ›Château‹ war eine typische Kneipe. Gemeinsam mit anderen ähnlichen Bistros, Bars und Kabaretts fristete der Wirt ein recht erträgliches Dasein in einer Gasse in der Nähe des Montmartre. Noel Lefrue, Gelegenheitsarbeiter, neunundzwanzig Jahre alt, war einer von vielen Gästen seines Schlages. Im ›Château‹ brannte schummriges Licht. Die Luft hing voller Qualm, Alkoholdunst und Schweiß. Es herrschte ein Lärm wie auf einem Fußballplatz. Alles schrie durcheinander. Die Gespräche an den einzelnen Tischen wurden lautstark geführt, um das Gespräch am Nebentisch zu übertrumpfen, das ebenfalls schon laut genug
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war. So steigerte einer den anderen, und es wurde immer noch lauter. Noel Lefrue war einer der eifrigsten Redner. Er schimpfte über Staat und Regierung, bezeichnete viele Persönlichkeiten mit unflätigen Ausdrücken und gab zu verstehen, daß es wieder mal an der Zeit sei, eine neue Revolution zu organisieren. So jedenfalls könne es nicht weitergehen. Er entwickelte Pläne, widersprach seinen Freunden am Tisch und war aggressiv. Aber zu diesem Zeitpunkt war Noel Lefrue auch nicht im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte. Er hatte mindestens eine Flasche Rotwein über den Durst getrunken. Die Gläser Bier davor gar nicht mitgezählt. Noel Lefrue war im Grund seines Herzens ein einfacher, bescheidener Charakter. Aber immer dann, wenn er etwas getrunken hatte, wurde er merkwürdig. Dann schimpfte er über Gott und die Welt und behauptete, daß man — mit etwas gutem Willen — vieles besser machen könnte. Womit er sicher nicht ganz unrecht hatte. Es war gegen zehn Uhr abends, als Lefrue sein berühmtes Solo durch den Gastraum des ›Château‹ schmetterte. Josefine, mit überdimensionalem Busen und breitem Hintern, ein paar Händen wie ein Müllkutscher, kam aus der Tür zur Küche gerauscht. Es war immerhin erstaunlich, mit welchem Tempo und wie behend sie ihre kolossalen Fleischmassen durch die Tischreihen schob. Josefine war das Faktotum vom ›Château‹. Sie war Mädchen für alles, kochte und briet, bediente die Gäste, war immer guter Laune und hatte ein paar Pausbacken wie ein junges Mädchen. Mit über zwei Zentnern Lebendgewicht war sie eine stattliche Erscheinung, die nicht leicht zu übersehen war. Außer ihren Pflichtarbeiten im Haus und in der Wirtschaft war sie nebenbei Jeans, des Wirts auserwähltes Betthäschen. Aber Häschen war schon untertrieben, bei Josefine konnte man getrost Hase sagen ... Als Küchenmädchen hatte sie begonnen. Nach dem Tode der Wirtsfrau hatte sich Joseflnes Arbeitspensum beträchtlich erweitert. Aber sie meisterte die gestellten Aufgaben mit Bravour. Sie war immer heiter, immer zu einem Scherz aufgelegt, und keine Arbeit wurde ihr zuviel. Sie herrschte über Haus und Hof, und auch im Bett war Jean mit ihr zufrieden. Was wollte er mehr? Eine so vielseitige Kraft wie Josefine fand sich nicht alle Tage. Das Tablett mit Speisen über ihren Kopf haltend, vollbrachte Josefine beinahe eine artistische Leistung, als sie sich zwischen den engen Tischreihen durchschob. Sie lachte, ihre Augen blitzten, und ihr kräftiges, weißes Gebiß schimmerte. »Josefine ist da!« rief eine helle Stimme. »Mann, jetzt gibt's was zu essen!« Der Schreier klatschte in die Hände. Josefine steuerte seinen Tisch an. Es war der Tisch, an dem auch Noel Lefrue saß. Bis sie dort ankam, wurde sie in die Hüften gepackt, um festzustellen, ob sie kitzelig sei. Manche Gäste, die hier regelmäßig verkehrten, machten sich stets einen Scherz daraus, und es wurden sogar Wetten abgeschlossen, ob es vielleicht nicht schon heute soweit war, daß Josefine einen Schrei losließ und das Tablett mit den gefüllten Tellern ins Rutschen kam. Josefine aber kreischt nur und ließ nicht los. Ihr Organ aber stachelte die Männer noch mehr an.
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Außer den Fingerstichen in die Seiten erhielt sie auch manchen Klaps auf den Hintern. Die Stammgäste erlaubten sich das, und da die meisten hier im ›Château‹ zum Stamm gehörten, wurde Josefines Servieren zu einem regelrechten Spießrutenlaufen. Josefines Hintern war jedoch trainiert und hielt manchen Klaps aus. »Der gute Noel!« sagte sie mit ihrer markigen Stimme. »Er hält mal wieder zündende Reden. Ich erleb's noch, der wird irgendwann mal Staatspräsident!« Viele lachten. Josefine verteilte die Speisen auf dem Tisch. Die Teller waren so mit Pommes frites überladen, daß manche über den Rand kullerten. Lefrue fischte einen aus seinem Rotweinglas, leckte ihn von allen Seiten ab und schob ihn sich dann erst in den Mund. »Du bringst auch immer mehr Pommes frites«, knurrte er, sich seinen Teller zurechtschiebend. »Das ist nicht gut, gar nicht gut, Josi ... zu fett ... mehr Fleisch ist viel besser ...« Dabei konnten die Schnitzel und Steaks, die sie servierte, sich sehen lassen. »Die Ochsen werden auch immer teurer«, murrte die dicke Serviererin mit dem Superbusen. »Wenn ihr keine Preiserhöhung in Kauf nehmen wollt, müßt ihr eben damit einverstanden sein, wenn ich die Fleischportionen ein bißchen kürze, um mehr rauszubekommen. Im ›Château‹ ist noch keiner schlecht bedient worden, Noel! Wir haben die Preise seit zwei Jahren nicht angehoben. Das will etwas heißen in der heutigen Zeit, wo der Franc immer mehr verliert. Schau dir mal die Konkurrenz an! Da wirst du sehen, was ein Steak kostet.« Sie knallte die Teller auf den Tisch. Es ging alles ruck-zuck ... Und die Teller blieben dabei noch ganz. Noel Lefrue schien für diesen Abend sein Pulver verschossen zu haben. Müde blickte er auf seinen Teller, stocherte mit der alten, spitzen Gabel in seinem Pommes-frites-Berg herum und öffnete schon den Mund, um etwas zu erwidern. Dann winkte er einfach ab, brummte etwas, was kein Mensch verstand und schnüffelte wie ein Hund über dem Teller herum. Der Bratenduft stieg ihm in die Nase. »Laßt's euch schmecken, Jungens«, sagte Josefine jovial, packte ihr Tablett und zwängte sich durch die Tischreihen zur Küchentür zurück. Der Weg dorthin wurde wieder zum Vergnügen für die alten Freunde des Hauses. Noel Lefrue schaufelte inzwischen Pommes frites und Fleischstücke in sich hinein. Er aß langsam, aber sein alkoholgesättigter Magen rebellierte dennoch. Der Gelegenheitsarbeiter blickte plötzlich verstört und wurde seltsam grün im Gesicht. »Ich glaub', ich muß mal wohin«, war alles, was er noch sagen konnte. Das tat er denn auch. Mit schaukelnden, kantigen Bewegungen versuchte er, so schnell wie möglich durch die Tischreihen zu kommen zur Hintertür, die zu den Toiletten führte. Die befanden sich nicht innerhalb des Hauses. Dazu mußte Lefrue den langen, kahlen Flur verlassen und den Hof überqueren. Vor einer mannshohen Mauer stand ein Flachbau mit zwei dunkelgrün gestrichenen Türen. Die eine für Damen, die andere für Herren. Lefrue blieb einen Augenblick an der Hoftür stehen und krallte sich am hölzernen Türpfosten fest. Es wurde ihm schwindelig, alles vor seinen Augen verschwamm, und die Magenkrämpfe wurden heftiger.
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In seinem Bewußtsein stieg der Gedanke auf, daß es besser gewesen wäre, beim Rotwein zu bleiben und nichts mehr zu essen, aber dafür war es jetzt zu spät. Links neben ihm befand sich ein Eisengitter, das einen steil abwärts führenden Kellergang sicherte. Am Gitter lehnte ein altes, klappriges Fahrrad, Lefrue kam auf die Schnapsidee, aufzusteigen und schnell über den Hof zu radeln. Auf diese Weiser so glaubte er in seinem alkoholumnebelten Gehirn, käme er bedeutend rascher vom Fleck. Aber das war ein Irrtum. Die Zeit, die er zum Aufsteigen brauchte, war beachtlich. Er kam nämlich erst gar nicht auf den Sattel. So lief er schließlich doch, und es war auch allerhöchste Zeit. Die Übelkeit stieg wie eine Welle in ihm auf. Lefrue stieß sich an der Mülleimer-Batterie ab, die mitten in dem kleinen, finsteren Hinterhof stand. Die meisten Deckel standen offen. Die Behälter waren überfüllt. Lefrue erreichte die Stelle, wo er hin mußte, und übergab sich. Fünf Minuten später stand er gegen den Türpfosten des Flachbaus gelehnt und fühlte sich besser. Tief atmete er die Nachtluft ein. Hier draußen war es wesentlich angenehmer als drin in der Gaststube, land er mit einem Mal. Mit wäßrigen Augen starrte er über den Hof. Ganz klar sah er nicht. Alles war verzerrt, manches sah er doppelt. Nur beiläufig bekam er zunächst mit, daß die Hintertür zum Nebenhaus, die auch auf diesen Hof mündete, aufflog. Eine dunkle Gestalt jagte heran. Ein Mann. Er hielt etwas in der Hand und warf es einfach in einen bereitstehenden Mülleimer, ohne auch nur einen Moment lang innezuhalten. Wie von Sinnen jagte er quer über den Hof. Die Tür wurde ein zweites Mal aufgerissen. Noch ein Mann. Groß, stark und breitschultrig. Auch er rannte. »Bleiben Sie stehen!« rief er mit wahrer Stentorstimme durch den Hof, so daß es rundum dröhnte. Aber der andere reagierte überhaupt nicht. Er hatte einen beachtlichen Vorsprung, und den wollte er auch halten. Er kletterte flink wie eine Katze die Mauer hoch, stand einen Augenblick lang oben drauf und sprang dann in die Tiefe. Der Mann, der gerufen hatte, jagte mit weiten Sätzen über den Hof. »Mann, o Mann«, stöhnte Lefrue und wischte sich über die Augen »Langsam ... immer mit der Ruhe! Warum rennen Sie denn so verrückt?« lallte er, stieß sich vom Türpfosten ab und torkelte über den Hof. Es war ihm nicht entgangen, daß der erste, der vor dem nachfolgenden Mann geflohen war, etwas in den Mülleimer geworfen hatte. Vielleicht ein Bündel Banknoten? Das war sein erster Gedanke, und er kam davon nicht los. Er steuerte auf die Batterie der Mülleimer zu. Dort lag tatsächlich ein großer Plastikbeutel — mitten auf dem anderen Unrat, auf verschmierten Zeitungen, in die stinkende Heringe eingewickelt waren, und
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Konservendosen, deren restlicher Inhalt sauer und abstoßend roch. Lefrue griff nach dem Beutel, aber er verfehlte ihn. Er gähnte herzhaft. Drei Minuten stand er da mit schaukelndem Oberkörper, halb schlafend, ehe er wieder zusammenzuckte. Er dachte an sein warmes Bett in der Zweizimmerwohnung, nicht weit entfernt von der Straße, in der seine Stammkneipe lag. In wenigen Minuten konnte er dort sein. Er würde nicht mehr in die Gaststube zurückgehen, er fühlte sich schwach und elend, als ihm wieder der Plastikbeutel und die vermutlichen Banknoten einfielen. Er wandte den Kopf, und mit einer etwas verkanteten Bewegung hatte er den Beutel plötzlich in der Hand. Doch darin befanden sich keine Banknoten ... »Was is'n das?« staunte Lefrue. Plötzlich überzog ein breites Grinsen sein Gesicht. »Da hat sich einer 'nen dicken Spaß erlaubt,« kicherte er. Unwillkürlich führte er seinen Blick am Nebenhaus empor. Dort brannten hie und da nach einige Lichter hinter den Fenstern. »Da muß einer 'nen anderen mordsmäßig erschrocken haben.« Er lachte still in sich hinein. »Ein Skelett«, grinste er. »Damit läßt sich etwas anfangen ... Ich werd' Gertrude damit erschrecken. Wenn die morgen früh kommt ...« Er lachte und schüttelte das Skelett in dem Plastikbeutel. Es bewegte sich heftig hin und her. Es war etwas sechzig Zentimeter groß und feingliedrig wie ein kleines neugeborenes Kind ... Lefrue klemmte sich den Beutel unter den Arm. Das Skelett darin bewegte sich noch immer, ohne daß es geschüttelt wurde. Es bewegte sich wie von selbst, als ob Leben in ihm stecke.
Der Morgen graute über Paris. Der Himmel blieb düster, und die Sonne kam nicht richtig durch. Nadine Escallier bewegte ihren Kopf unruhig von einer Seite auf die andere Die junge Französin verzog im Schlaf schmerzhaft das Gesicht. Ihre Augenlider flatterten, dann zuckte sie zusammen. Da war er wieder! Der unangenehme, nach allen Seiten ausstrahlende Schmerz schien ihre Bauchdecke zerreißen zu wollen. Ihre Bauchdecke! »Doktor! Was passiert ... Was ist los?« Sie rief es laut heraus und schlug gleichzeitig ihre Augen auf. Das Ungeborene! Fing es schon wieder an? Sollte sie auch diesmal kein Glück mit einem Kind haben und ... Sie war von einem Augenblick zum anderen hellwach. »Nadine!« hörte sie im gleichen Augenblick die Stimme ihres Mannes. Ein Schatten eilte vom angrenzenden Zimmer auf sie zu. Pierre war schon auf. Sein Tag
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begann früh. Pierre kochte sich einen Kaffee und arbeitete dann schon eine oder zwei Stunden in seinem Arbeitszimmer, ehe er ins Büro fuhr. Die Stimme von Pierre Escallier klang erschrocken. Er sah seine Frau im Bett sitzen, verstört blickend und in sich lauschend, als höre sie geheimnisvolle Stimmen. »Ist dir nicht gut?« fragte er besorgt. »Soll ich dir eine Tasse Kaffee reichen?« Das half ihr morgens immer über die ersten Kreislaufbeschwerden hinweg. »Nein, es ist nichts. Ich habe geträumt.« Sie sah sich um und erblickte die vertraute Umgebung ihres Schlafzimmers. Es war romantisch und verspielt eingerichtet mit langen, bis zum Boden reichenden Vorhängen, mit Rüschen besetzt, und schweren Gardinen, welche die Seiten flankierten. Seidentapeten waren in einem zarten Blau gehalten, dazu passend der hochflorige Teppichboden und ein Spiegel, der eine ganze Wand einnahm und in dem das an sich große Zimmer riesig wirkte. »Entschuldige«, sagte sie leise und hob den Blick. Ihre dunklen Kirschenaugen versprachen alles Glück dieser Welt. Pierre Escallier, ganze fünfzehn Jahre älter als die charmante, reizvolle Frau, hauchte einen Kuß auf die feingeschwungenen Lippen. »Ich habe geträumt, ich bin erschrocken. Und im ersten Moment wußte ich nicht, wo ich mich befinde.« Pierre Escallier legte seine Hand auf Nadines Stirn. Sie war kühl. »Und ich habe einen Schmerz gespürt, hier, ich ...« Sie wollte es ihm gerade zeigen, als der Krampf wieder einsetzte. Es zog über die ganze Bauchdecke hinweg ... Kurze, stechende Schmerzen ... Ihr Gesicht verzerrte sich. Nadine krümmte sich. Da war es schon wieder vorbei. »So war es noch nie, Pierre«, entrann es ihren Lippen. »Das ist anders, ganz anders.« »Ich werde Roché anrufen.« »Ich verstehe das nicht, Pierre. Gestern abend war er äußerst zufrieden. Das Untersuchungsergebnis sei ausgezeichnet, sagt er. Und nun das! Da stimmt doch etwas nicht.« Nadine schloß zitternd die Augen. »Vielleicht hängt es mit dem neuen Medikament zusammen«, rief ihr Mann von seinem Arbeitszimmer aus. Von dort hörte Nadine das Drehen der Wählscheibe. »Vielleicht verträgst du es nicht.« Nadine zuckte die Achseln. Vielleicht, dachte sie sich. Roché hatte ein neues Präparat angesetzt. Davon hatte sie gleich gestern abend bei ihm in der Praxis dreißig Tropfen mit Wasser verdünnt genommen. Vor dem Schlafen sollte sie noch mal dreißig Tropfen einnehmen. Das hatte sie getan. Vorsichtig schlug sie die Zudecke zurück. Im Nebenzimmer hörte Nadine Escallier ihren Mann mit Dr. Roché sprechen. Dann legte er auf. »Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte er, als er zurückkam. »Roché hat damit gerechnet, daß so etwas auftreten würde. Wehen seien das nicht.« Nadine Escallier seufzte. »Das hab' ich auch gemerkt. Es war anders, ganz anders.« »Es hängt mit den Tropfen zusammen. Bei vielen Frauen trete das in dieser Form auf. Er
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wollte jedoch anfangs nichts darüber sagen, um dich nicht erst aufmerksam zu machen. Dennoch wäre es gut, wenn du kurz vorbeikommen könntest. Er möchte etwas nachsehen.«
Eine Viertelstunde später war sie soweit. Die Schmerzen waren nicht wieder aufgetreten. Pierre Escallier brachte seine Frau in die Praxis zu Dr. Roché. Der Anwalt wartete in einem separaten Raum, während der Gynäkologe die junge Frau ins Untersuchungszimmer bat. Er machte jedoch keine der gewohnten Untersuchungen. Nadine mußte ihren Oberkörper entblößen. Dann stellte sie sich hinter einen Röntgenschirm. Der angebliche Dr. Roché schaltete die Apparatur ein. Nadine sah nicht das teuflische Grinsen auf dem Gesicht des Mannes, dem sie ihre Gesundheit und ihr Leben anvertraute. Roché blickte in Nadine Escalliers Leib. Dort sah er das neue Leben, das sich zwar entwickelte, aber in eine Richtung, die eigentlich nichts mehr mit Leben im herkömmlichen Sinn zu tun hatte. Der Fötus im Mutterleib schien krank zu sein. An vielen Stellen des kleinen Körpers war das Fleisch zurückgewichen. Deutlich erkennbar waren der totenkopfähnliche Schädel und die kleine Brust. Ein Knochengerüst! In Nadine Escalliers Leib entwickelte sich ein Skelett! Und es lebte! »Es ist alles in bester Ordnung«, sagte Dr. Satanas-Roché mit klarer, zufriedener Stimme. Ein Triumphgefühl stieg in ihm auf. »Es entwickelt sich gut, sehr gut«, fuhr er fort, während Nadine sich hinter der Trennwand wieder ankleidete. »Sie brauchen keine Befürchtungen zu haben.« Die Französin ahnte nicht, daß Satanas-Roché nicht in ihrem, sondern in seinem Sinne sprach. Das Präparat arbeitete schnell und zuverlässig. Vor gut zwölf Stunden noch war das Kind in Nadine Escalliers Leib kerngesund gewesen. Der wirkliche Dr. Roché konnte auf seine Leistung stolz sein. Aber auch er, Satanas, konnte das sein. Es war ihm gelungen, einen Fötus im fortgeschrittenen Stadium zu beeinflussen. Er haßte die Menschen und wollte sie vernichten. Und er setzte dort an, wo das Leben begann. Seine kleine Armee entwickelte sich. Und sie würde sich immer schneller entwickeln. Jetzt erst recht. Er brauchte das Präparat nur in die Wasserversorgung zu gießen. Alle Frauen würden es trinken, die kurz vor einer Entbindung standen ebenso wie jene, die das werdende Leben noch nicht in sich spürten. Aber alle würden zu seinen, Satanas' Werkzeugen werden. Sie würden alle Skelette gebären!
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Und ihr eigenes Leben würde in der gleichen Stunde verlöschen wie eine Kerze, die der Wind ausblies.
Der Teuflische führte Nadine Escallier zu ihrem wartenden Mann. »Sie soll die Tropfen weiter nehmen«, sagte Satanas-Roché zum Abschied. »Das schlimmste ist überstanden. Eines allerdings möchte ich Ihnen noch mit auf den Weg geben. Sie befinden sich fast im achten Monat Ihrer Schwangerschaft, Madame. Wir haben alles Menschenmögliche getan. Sollten sich wider Erwarten doch in den nächsten Tagen Wehen einstellen, suchen Sie bitte umgehend die Gynäkologische Klinik von Dr. Lebuson auf. Ich habe meinen Kollegen über Ihren Fall informiert, er weiß über alles Bescheid. Wie Sie wissen, arbeite ich seit geraumer Zeit mit Lebuson zusammen. Er ist ein großartiger Arzt. Bitte informieren Sie mich über jede Veränderung, über jede Kleinigkeit, auch wenn sie Ihnen noch so unbedeutend erscheint. Ich bin immer für Sie da. Bin ich hier nicht zu erreichen, dann in Lebusons Klinik. Falls auch nicht dort, können Sie sich vertrauensvoll an meinen Kollegen wenden.« »Danke, Doktor!« »Und an die Tropfen denken! Dreimal dreißig am Tag.« »Ja, Doktor. Sie können sich darauf verlassen.« Als sie gingen, blickte Dr. Satanas mit dem Gesicht von Roché hinter dem geschlossenen Fenster durch den düsteren Torbogen zur Straße. Er entließ zwei glückliche Menschen und wußte, daß dieses Glück grausam enttäuscht werden würde. Wie eine Bombe würde die schreckliche Wirklichkeit einschlagen ... Erst die Angst, das Grauen — dann der Tod! Er war Satanas und kannte keine menschlichen Gefühle. Sein Innerstes war kälter als die Mechanik eines Roboters. Der handelte nur logisch nach genau festgesetzten Bahnen. Aber Satanas handelte, weil ein kranker Geist ihn geschaffen hatte. Und dieser Geist war der Hölle verhaftet. Satanas folgte mit kaltem Blick den Davongehenden, die um die Ecke verschwanden. Nadine Escallier trug ihren Mörder unter dem Herzen. Doch sie wußte es nicht.
Gertrude Trecon war Noel Lefrues Freundin.
Zur Dachwohnung Lefrues hatte sie einen Schlüssel. An diesem Samstagmorgen kam sie
früher als gewöhnlich vom Einkauf. Es war Lefrues Freitagabendvergnügen, sich vollaufen zu lassen. Schon als Gertrude Trecon die Wohnungstür aufschloß, schlug ihr eine Wolke aus Alkoholdunst entgegen.
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Der Mief kam aus dem Wohnzimmer, das gleichzeitig auch Lefrues Schlafzimmer war, für die obligaten Freitagssauftouren jedenfalls. Dann schaffte Lefrue es grundsätzlich nicht mehr, den Wohnraum noch zu durchqueren und sein Bett aufzusuchen. Auf halbem Weg dorthin brach er auf der Couch im Wohnzimmer zusammen und schlief dann seinen Rausch aus. Gertrude war Taxifahrerin. Dieser Beruf brachte es mit sich, daß sie oft bis in die Nacht hinein unterwegs war. Freitags nahm sie grundsätzlich die Spätschicht, weil Lefrue nicht davon abging, seinen Brauch aufzugeben, und freitags mußte und wollte er ins ›Château‹, da half alles nichts. Gertrude wollte er dorthin nicht mitnehmen. Dann war die alte Clique unter sich. Und die bestand nur aus Männern. Diesen Brauch wollte Lefrue auch beibehalten, falls er sein Junggesellendasein mal an den Nagel hing. Gertrude ließ die Tasche mit den Lebensmitteln einfach in einer Ecke neben der Tür stehen und eilte schnurstracks auf das Fenster zu, das mit einem Laden verschlossen war. Sie stieß den Fensterladen zurück und ließ auch das Fenster weit offen stehen, um frische Luft hereinzulassen. Gertrude Trecon trug das lange, schwarze Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Ihr schmales, etwas hart wirkendes Gesicht erschien dadurch noch kantiger und länger. Eine schmeichelnde Langhaarfrisur, mit einer Außenrolle vielleicht, hätte ihr besser zu Gesicht gestanden. Das schlanke Mädchen wandte sich ab vom Fenster. Ihr Blick fiel auf die Couch mit dem schnarchenden und geifernden Lefrue und auf den Tisch, der am Fußende der Couch stand. Gertrude schrie gellend auf. Wie gebannt starrte die Französin auf das, was dort lag. Ein blutverschmierter Plastiksack, darin ein menschliches Skelett ...
Das Mädchen wagte nicht, den durchsichtigen Beutel anzurühren. »Noel! Noel!« rief sie. Man mußte es im ganzen Haus hören, so laut war es. Noel Lefrue hörte kurz auf zu schnarchen. Seine Augenlider zuckten. Er bewegte seine Lippen. Es schien so, als käme er zu sich, aber er warf sich nur auf die andere Seite, zog die Beine an und schlief sofort wieder ein. Gertrude Trecon schüttelte den Freund. »Noel! Noel! Komm zu dir! Um Gottes willen, komm zu dir!« Sie schaffte es, aber es dauerte fast zehn Minuten. Schlaftrunken schlug Lefrue die Hände vors Gesicht, räkelte sich, stöhnte und kam mühselig in die Höhe. »Was ist denn los?« fragte er leise. Sein ganzer Körper roch nach Alkohol und kaltem Rauch. »Warum machst du so ein Theater?« »Noel! Der Beutel! Was ist in dem Beutel?« Gertrude saß auf dem Fußende der Couch und wagte nicht, den Kopf zu wenden. Mit beiden Händen hielt sie Lefrues Schultern umfaßt und schüttelte ihn, aus Angst, er könne wieder einschlafen.
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»Beutel? Was für ein Beutel?« fragte er mit schwerer Zunge. »Weiß nichts von einem Beutel.« »Ein Skelett liegt darin, und Blut ist am Beutel. Was hast du in der letzten Nacht getan, Noel?« Ihre Stimme zitterte, in ihren Augen stand die Angst. »Was redest du da für einen Unfug, Gertrude?« fragte er matt. Er rieb sich noch immer die Augen. »Habt ihr ein Kind getötet, Noel?« Wie eine Drohung stand die Frage im Raum. Aber Noel Lefrue zuckte zusammen und war blitzartig hellwach. Die nächsten beiden Minuten vergingen in tödlichem Schweigen. Gertrude deutete nur auf das Bündel und rutschte auf der Couch weiter nach vorn, um Lefrue die Möglichkeit zu geben, direkt an das Bündel heranzukommen, ohne daß er die Couch verlassen mußte. Noel Lefrue beugte sich weit nach vorn. Er zuckte zusammen beim Anblick des Skeletts in der Plastiktüte. »Was ist das?« fragte er verstört. »Wo kommt das her?« Er hatte keine Erinnerung mehr. »Das will ich eben von dir wissen.« Sie musterte ihn genau und erhob sich, weiteren Abstand von ihm nehmend. Vielleicht hatte er den Verstand verloren? Vielleicht hatte auch sein Gedächtnis für kurze Zeit ausgesetzt und er war zu einem grausigen Mörder geworden, ohne es zu wissen? Oder irgend jemand hatte sich mit Noel einen makabren Scherz erlaubt, der vielleicht von einem Saufkumpan nach Hause begleitet worden war. Alles mögliche ging ihr durch den Kopf. Lefrue berührte den Beutel, tastend mit den Fingerspitzen wie eine Bombenladung, deren Hochgehen er befürchten mußte. »Blut?« stammelte er entsetzt. Seine Augen waren zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen. Verzweifelt suchte er in seiner Erinnerung. Doch vergebens! Er hatte alles vergessen. Er mußte sinnlos betrunken gewesen sein. Er wußte nicht mal mehr, wie er eigentlich nach Hause gekommen war. Der Plastikbeutel knisterte. Vorsichtig legte er das kleine menschliche Skelett frei. Überall rote, eingetrocknete Flecken. Blutschlieren auch an der Tüte. Lefrue stöhnte. Er war kein Arzt und kein Anatom, aber das diese Knöchelchen nicht aus einer Plastikmasse bestanden, dies zu entscheiden, glaubte er doch zu können. Eine menschliche Bestie mußte hier Hand angelegt haben! Es war das Skelett eines neugeborenen Kindes! Aber wo war das, was diese Knochen bedeckt, was diesen Körper ausgefüllt hatte? Die Organe? Das Fleisch? Die Haut? »Wer hat diese Untat begangen, Gertrude« wisperte er entsetzt und spürte, wie das Grauen ihm die Kehle zuschnürte. Er hatte schon davon gelesen, daß es Mütter gab, die ihre neugeborenen Kinder in Plastiktüten irgendwo aussetzen, nachdem sie sie in vielen Fällen zuvor getötet hatten. Andere wiederum ließen Säuglinge einfach in einem Zugabteil zurück. Aber er hatte noch nie gelesen, daß jemand ein Skelett ausgesetzt hatte, nachdem zuvor
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alle Weichteile entfernt worden waren, um die Leiche eben völlig unkenntlich zu machen. Eine solche schändliche Tat konnte man sich als Mensch gar nicht vorstellen. Lefrue wollte die Gedanken nicht weiterverfolgen, eine dichte Gänsehaut bedeckte seinen gesamten Körper. Seine Hände zitterten, als er sich umdrehte und über seine Gesicht fuhr. »Ich muß es gefunden ... haben ...«, stammelte er. Ein ungläubiger Ausdruck stand in seinen Augen. »Irgendwo ... ich weiß nicht, wo ... auf dem Weg vom ›Château‹ hierher ... Anders kann es nicht sein, Gertrude.« Er blickte ängstlich und betrachtete seine Hände, als könne er dort Spuren entdecken, die ihm mehr über sich und das, was geschehen war, Aufschluß gaben. »Wir müssen die Polizei verständigen, Gertrude. Sie muß sich ansehen, was wir hier im Haus haben.«
Kommissar Marcel Tolbiac, ein schnurrbärtiger Mann mittleren Alters, nahm sich der mysteriösen Angelegenheit sofort an. Was er da zu hören bekam, interessierte ihn sehr, aber es erschreckte ihn nicht in dem Maß, wie Lefrue sich das vielleicht gedacht hatte. Es sah ganz so aus, als ob Tolbiac nur auf eine solche Meldung gewartet hätte! Und genau das stimmte. Es hing damit zusammen, daß er einen Teil der nächtlichen Vorgänge bereits kannte, und zwar aus berufenem Mund. Iwan Kunaritschew, schlagkräftiger PSA-Agent, weilte seit einigen Tagen in Paris. Hier ging etwas vor, womit Marcel Tolbiac, sonst ein Mann, der mit allen Wassern gewaschen war, nicht zurechtkam. Seit seiner letzten Begegnung mit Larry Brent, mit dem er gemeinsam den Nachtmahr gejagt hatte, wußte Tolbiac, daß es besser war, die Spezialgruppe in New York lieber einmal zuviel als gar nicht zu informieren. Dort, bei der PSA, die sich zur Aufgabe gemacht hatte, besonders außergewöhnlichen Kriminalfällen nachzugehen, sah man gewisse Dinge in einem anderen Licht. Vieles ging auf dieser Erde nicht mit rechten Dingen zu, vieles, was sich mit dem normalen Menschenverstand nicht begreifen ließ. Deshalb war die PSA gegründet worden, als man erkannt hatte, daß mit herkömmlichen, Methoden bestimmte Verbrechen nicht erklärt werden konnten. Tolbiac hatte intuitiv einen normalen Routinebericht weitergegeben. Aber die PSA hatte prompt reagiert und vor einigen Tagen Iwan Kunaritschew nach Paris entsandt, damit er sich persönlich um die anstehenden Probleme kümmerte. Rätselhafte Vorfälle beschäftigten die Pariser Behörden. Die Öffentlichkeit wußte bisher nichts davon, um sie nicht zu beunruhigen. Obwohl das, was geschah, beunruhigend genug war. In der Klinik von Dr. Lebuson hatte die ungewöhnliche Geschichte begonnen. Eine Frau hatte ein Skelett geboren. Dieses Skelett war auf rätselhafte Weise verschwunden, die Mutter unmittelbar nach der
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Geburt gestorben. Hätte es sich noch um einen Einzelfall gehandelt, wäre das mehr eine Sache für die Wissenschaftler als für die Polizei geworden. Doch in Lebusons Klinik war es zu weiteren Zwischenfällen gekommen, und auch die Ärzteschaft in der Umgebung stand vor einem Rätsel. Das Ganze sah aus wie ein Vernichtungsplan. Hier wurde gemordet — auf eine bisher unbekannte Art und Weise! Werdendes Leben wurde in seiner Entwicklung bereits in seinem Keim erstickt. Wer steckte dahinter? Es war zu einer offiziellen Untersuchung in den Häusern jener Frauen gekommen, die Skelette geboren hatten und die bei der Geburt gestorben waren. Doch nichts Verdächtiges war gefunden worden. Lebuson selbst stand vor einem Rätsel, wie viele seiner Kollegen auch. Eine neue, unbekannte Krankheit, die werdendes Leben vernichtete? Eine neue Krebsart? Strahlenkrankheit? Infektionsleiden? Eine Handvoll Wissenschaftler, die unter strengsten Sicherungsmaßnahmen arbeitete, versuchte Licht in das Dunkel der Angelegenheit zu bringen. Die beiden Super-Computer der PSA, ›Big Wilma‹ und ›The clever Sofie‹, brachten zuerst die Version in die Diskussion, daß es sich um ein Verbrechen handeln könne, das von einer geheimnisvollen Kraft gesteuert würde. Parallelen zu Dr. Satanas wurden gezogen. Der Geheimnisumwitterte, über den man nie etwas Genaueres in Erfahrung hatte bringen können, war nachweislich einmal in Aktion getreten. In Montevideo hatte er tödliche Lebewesen in mikroskopisch kleiner Form auf die Erde gerufen. Kaum war dieser Verdacht aufgetreten, hatte X-RAY-1, der geheimnisvolle Leiter der PSA, bereits gehandelt. Iwan Kunaritschew alias X-RAY-7 hatte seine ersten Recherchen bereits hinter sich. Von dem Gedanken ausgehend, daß Dr. Satanas tatsächlich im Hintergrund stehen könnte, war er sehr vorsichtig, aber intensiv zu Werke gegangen. Er hatte davon Abstand genommen, den wilden Mann zu spielen und die Klinik Lebusons auf den Kopf zu stellen. Das hatten bereits Tolbiacs Beamte gemacht. Und sie hatten nichts gefunden. Der vollbärtige Russe hatte seinen Angriff aus diesem Grund anders organisiert. Fest stand bisher nämlich nur eins: viele Frauen starben, nachdem sie skelettierten Kindern das Leben geschenkt hatten. Aber diese Skelette verschwanden still und heimlich, und keiner wußte, was mit ihnen geschah. Durch eine Indiskretion, so schien es, war diese makabre Geschichte überhaupt erst an Tolbiacs Ohren gedrungen, aber bis zur Stunde bestand immer noch keine Gewißheit, ob es auch wirklich so war. In der Öffentlichkeit war trotz der vertraulichen Mitteilung nichts bekanntgeworden. Vielleicht hing das auch damit zusammen, daß von Tolbiacs Seite aus viel getan worden war, um die Information einzudämmen. Wenn sich erst die Presse in ihrer Sensationsgier auf die angeblichen Vorgänge stürzte, dann würde unter den werdenden Müttern im Land eine Hysterie ausbrechen. Jede würde glauben, daß sie die nächste sei, der dieses seltsame und furchtbare Schicksal zuteil wurde. Iwan Kunaritschew war in den letzten sechsunddreißig Stunden einen Weg gegangen, der die beteiligten Kriminalisten einen großen Schritt voranbringen konnte. Er hatte sich kurzentschlossen eine junge Frau aufs Korn genommen, die mitten in Paris
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lebte und kurz vor ihrer Niederkunft stand. Der Russe hielt sich in der Nähe der Wohnung auf. Trotz aller Aufmerksamkeit jedoch mußte ihm etwas entgangen sein. Die Tatsache nämlich, daß kurz vor der Einnahme seines Beobachtungsplatzes bereits jemand in die Wohnung der jungen Frau gegangen war! Zwar lebte sie allein, und das Kind würde unehelich auf die Welt kommen, doch gab es jemand, der dort ein und aus ging und den Kunaritschew nicht kannte. In der letzten Nacht hätte er diesen Fremden jedoch fast kennengelernt, nachdem es zu der verwirrenden Situation gekommen war. Kunaritschew beobachtete die Wohnung der jungen Französin. Dann hörte er Klagelaute und leise Schmerzensschreie. Und dann war alles blitzschnell gegangen. Die Tür wurde aufgerissen — ein Schatten stürzte an dem überraschten Russen vorbei. Kunaritschew stürmte in die Wohnung, um zu sehen, was passiert war und um festzustellen, ob er noch helfen könne. Aber er kam zu spät. Er fand die Frau tot in ihrer Wohnung. Sie hatte entbunden. Kunaritschew jagte dem Fliehenden nach, in dessen Hand er einen Plastikbeutel bemerkt hatte. Unten im Hof hinter dem alten Mietshaus war dann der Flüchtling über die Mauer geklettert. Er war Iwan entkommen, doch der Agent hatte noch feststellen können, daß der andere zu diesem Zeitpunkt nicht mehr die große Tüte in der Hand hielt. Er mußte sie weggeworfen haben. Doch wo? Kunaritschews Suche begann. Aber er fand den Plastikbeutel nicht mehr, denn er konnte nicht wissen, daß in der Zwischenzeit Noel Lefrue in Aktion getreten war und den Beutel mit dem angeblichen Scherzartikel an sich genommen hatte. Bruchstückweise aber ließ sich diese Geschichte in der Wohnung von Lefrue zusammensetzen, als Kunaritschew dort unmittelbar hinter Kommissar Tolbiac eintraf. Der Kommissar hatte den PSA-Agenten in dessen Hotel benachrichtigt. X-RAY-7 konnte sich denken, auf welche Weise der volltrunkene Lefrue in den Besitz der Tüte mit dem makabren Inhalt geraten war. Tolbiac beschlagnahmte den Fund. Das erste Beweisstück für eine unglaubwürdige Geschichte existierte! Kunaritschew konnte es kaum erwarten, bis das Untersuchungsergebnis vorlag. Er wollte wissen, ob alles wirklich so war, wie man befürchtete. Die Untersuchung der Materie nahm drei Stunden Zeit in Anspruch. Dann stand fest, daß die Blutspuren an der Knochenhaut und der Plastiktüte menschlicher Natur waren und die Knochen auch. Dieses Knochenkind war von einer menschlichen Mutter geboren worden. Die Analyse der Blutspuren deckte sich mit den Werten des Blutes, das man bei der Toten untersuchte. Es war etwas geschehen, das vielleicht hätte vermieden werden können. Darüber machte Kunaritschew sich Gedanken. Und er war praktisch wieder an der gleichen Stelle angelangt, an der er auch schon vor drei Tagen bei seiner Ankunft gewesen war. Lediglich war ein Teil dessen, was bis dahin noch Vermutung gewesen war, nun zur Gewißheit geworden. In seinem kurzen Bericht an die Zentrale in New York schilderte er die Situation. Auf dem Funkweg erfuhr X-RAY-1 somit schnellstens neue Einzelheiten, welche sofort zu
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Daten für die Computer umgearbeitet wurden. Kunaritschew nannte auch seine Vorstellungen, die er von seinem weiteren Vorgehen hatte. Danach beabsichtigte er, sich die Wohnung der toten Frau näher anzusehen in der Hoffnung, vielleicht etwas zu finden, was von Belang für sie alle sein könne. Des weiteren wollte er nun auch Dr. Lebuson näher unter die Lupe nehmen. Zwar wurde Lebuson schon seit Wochen beschattet. Der Beobachter meldete stets: »Keine besonderen Vorkommnisse.« Es gab nichts Bemerkenswertes im Leben dieses Mannes, von dem man wußte, was er tat, wie alt er war, wie er aussah, wo er seine Freizeit verbrachte und mit wem er sich traf. Alles Leute, die Rang und Namen hatten. Der Verdacht, daß in Lebusons Klinik vielleicht verbotene Experimente durchgeführt wurden, ließ sich auch nicht halten. Das bewies der Tod der jungen Frau, die Iwan Kunaritschew eigentlich näher hatte kennenlernen wollen. Sie hatte nun überhaupt nichts mit Lebuson und dessen Klinik zu tun. Wie war sie in diesen Teufelskreis geraten? Es mußte alles von vorn aufgerollt werden. Kleinkram und trockene Materie lag vor ihm. Die aber schaffte ein Mann nicht allein. Tolbiac und sein eingearbeitetes Team mit all seinen Verbindungen mußten da einspringen. Zwei dicke Brocken nahm er sich selbst vor. Und von der PSA kam zusätzliche Unterstützung, um seinen nicht ganz einfachen Stand zu erleichtern. Larry Brent, mit dem er befreundet war, befand sich seit letzter Nacht in New York. Er war von einem Aufenthalt in Asien zurückgekehrt. »X-RAY-3 wird zu Ihnen stoßen, X-RAY-7«, sagte die ruhige, väterliche Stimme. Über Tausende von Meilen hinweg erklang sie klar und deutlich aus der Membran des winzigen Lautsprechers, der unter dem feinversponnenen Netz der Goldfäden seines PSA-Ringes untergebracht war. »Wir müssen mehr wissen über die Klinik und, wie Sie ganz richtig sagten, über Lebuson. Vielleicht aber ist dies auch alles falsch, und wir müssen an einer ganz anderen Stelle anfangen. Das werden wir bald wissen. Mit X-RAY-3 wurde bereits ein einführendes Gespräch geführt. Auch das Innenministerium in Paris ist informiert. Ich habe ein Telefongespräch mit dem zuständigen Minister geführt. Von dort aus sind bereits alle Schritte unternommen worden. Der Minister wiederum hat Kontakt mit der Leiterin einer Vereinigung aufgenommen, die sich um ledige und schwangere Mütter kümmert. Es wurde bereits ein Mädchen herausgesucht.« Iwan wurde stutzig. »Sie sprechen in Rätseln, Sir.« Der Russe kratzte sich am Kopf. »Wenn ich vielleicht noch einen erklärenden Satz erfahren könnte, würde ich ein bißchen mehr begreifen. Ich nehme an, Sie wollen mein Kombinationsvermögen anregen. Mir fehlt noch eine Unbekannte.« X-RAY-1 lachte leise. »Das Mädchen ist schwanger, X-RAY-7. Und Larry Brent ist der Vater!« Kunaritschew fuhr zusammen, aber dann begriff er. »Sie wollen 'ne Fremde in Lebusons Klinik einschmuggeln, die Kontakt mit Larry halten soll.« Er fletschte sein prächtiges Gebiß. »Verstehe, Sir, verstehe. Mit unserer weiblichen Abteilung ist da im Moment kein Blumentopf zu gewinnen. Schließlich können Sie nicht darauf warten, bis eine der Damen ein Kind bekommt. Na, der gute Larry wird sich
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freuen, so unverhoffte Vaterehren zu genießen. Ich kann es kaum erwarten, sein Gesicht zu sehen.«
Unmittelbar nach dem Mittagessen suchte der Russe die Wohnung der jungen Frau auf, von der er nur wußte, daß sie Edith Doler hieß. Ihr Alter kannte er. Sie war ganze dreiundzwanzig Jahre. Nach der Untersuchung des Polizeiarztes, der sich am Vormittag mit einem Assistenten Tolbiacs hier aufgehalten hatte, stand fest, daß Edith Doler an den Folgen der Geburt gestorben war. Weitere Durchsuchungen der Wohnung waren nicht erfolgt, zumindest keine sehr gründlichen. Die nahm Iwan jetzt vor. Er löste die polizeiliche Plombe an der Tür und betrat die kleine, bescheidene und sehr saubere Wohnung. Anhand der Einrichtung und der kleinen persönlichen Dinge, die er fand, machte er sich ein Bild der Toten, die er nur drei- oder viermal gesehen hatte. Sie war eine zierliche, ruhige Person gewesen, die von ihren Eltern hinausgeworfen worden war, weil sie ein Kind unter dem Herzen getragen hatte. Warum aus der Liebschaft keine Ehe geworden war, wußte niemand zu sagen. Aber während des Durchsuchens der Wohnung stieß X-RAY-7 auf Briefe, die Edith Doler selbst verfaßt, aber nie abgeschickt hatte. Sie fingen alle mit einem einzigen Wort an: »Cherie ...« Aus den Briefen, von denen er einige las, entnahm er, daß es sich offensichtlich um eine sehr unglückliche Liebe gehandelt haben mußte. Edith Doler wollte von dem Mann, den sie liebte, ein Kind haben, obwohl sie genau wußte, daß sie nie eine Familie werden konnten. Der Mann war verheiratet und bekleidete eine exponierte Stellung in einem großen französischen Kamerawerk. Nirgends war der Name geschrieben, aber aufgrund der Angaben, die er, Iwan, bis jetzt gefunden hatte, würde es der Polizei keine großen Schwierigkeiten bereiten, diesen Mann ausfindig zu machen. Aber noch war es nicht notwendig und kam ganz darauf an, wie dieser rätselhafte Fall sich entwickelte. Er notierte alle Medikamente, die er fand. In der PSA wollte man Vergleichsunterlagen haben. Gab es Stoffe, die im Körper biologische oder chemische Reaktionen auslösten und zur Geburt eines Skeletts und des Todes der Mutter führten? Sollte hier eine Erkenntnis gefunden werden, mußte man die Frage darauf ausweiten ob dieser Vorgang gewollt oder ungewollt ausgelöst wurde. Die bestehenden Verdachtsmomente — alle zusammengetragen — waren noch sehr dünn, aber sie ließen den Schluß zu, daß hier etwas Gesteuertes, etwas haarscharf Geplantes begann, was sich nicht weiter entwickeln durfte.
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Dr. Satanas, fuhr es Kunaritschew durch den Kopf, wenn er hinter allem stand, mußte man auch mit allem rechnen. X-RAY-7 nahm sich viel Zeit, er ging gründlich vor. Unter dem Nachttisch neben dem ßett fand er ein Fläschchen. Es war nicht etikettiert. Eine klare Flüssigkeit befand sich darin. Iwan roch daran. Sie war geruchlos wie Wasser. Iwan nahm es an sich. Das war etwas für's Labor. Die Experten würden herausfinden, was es war. Der Russe blickte in jede Schublade, in jedes Schrankfach und rückte alles ab, auch die Wäschekommode direkt neben dem Fenster. Von hier aus konnte man einen Blick hinabwerfen in den ewig dämmrigen Hinterhof, der von zahlreichen hohen Mietshäusern umstanden war. Er blickte auf die Mülltonnen, auf das schwarze Wellpappedach des Flachhauses, in dem die Toiletten des ›Château‹ untergebracht waren, und auf spielende Kinder, die mit einer alten Konservendose Fußball spielten. Der Klang der scheppernden Büchse dröhnte bis herauf in die Wohnung, der Hof wirkte wie ein Schallrohr. Jedes Wort, jedes Geräusch war zu verstehen. Iwan sah die Begrenzungsmauer, über die er letzte Nacht dem Unbekannten nachgejagt war, ohne ihn allerdings einzuholen. Der andere mußte rechtzeitig in einem dieser verschachtelten, stockfinsteren Höfe ein Versteck gefunden haben. Aus dieser Höhe jetzt erkannte er, daß es tausend Möglichkeiten gab, unterzutauchen. Sein Blick war in die Tiefe gerichtet, und noch während er sich diese Gedanken machte, passierte es ... Er hatte niemand kommen hören. Keine Tür war geklappt, und doch war da plötzlich etwas. Der Russe erhielt einen Stoß in den Rücken. Kraftvoll und hart. Der Angriff kam überraschend und für Kunaritschew wie ein Blitz aus heiterem Himmel. X-RAY-7 flog nach vorn. Er sah das Fenster auf sich zukommen, das nur wenige Zentimeter von ihm entfernt war. Es krachte und splitterte. Kunaritschew durchbrach die Scheibe, kippte mit seinem Oberkörper nach vorn über die niedrige Fensterbrüstung hinweg und sah den vier Stockwerke tiefen Hof auf sich zukommen.
Die Klinik von Dr. Claude Lebuson lag auf halbem Weg nach Versailles. Hinter einer hohen Mauer, die von Büschen und Bäumen umstanden war, befand sich eine große Anlage, die etwas von einem Erholungsheim an sich hatte. Dem Hauptbau waren zwei einstöckige Flachbauten angegliedert, die wie übergroße Bungalows wirkten. Die Anlage war gepflegt. Ein großer Garten lud zum Spazierengehen ein. Blumenbeete waren angelegt, aber um diese Jahreszeit blühte kaum noch etwas. Der Tag war grau und trüb, sanfte Nebel schwebten über den stumpfgrünen Rasen. Ein
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paar Frauen gingen spazieren. Fast überall hinter den Fenstern des Gebäudekomplexes brannten die Lichter. Die Fenster der Keller waren alle mit daumendicken Eisengittern versehen. Die waren grau angestrichen. Der weißgekachelte Korridor hatte eine Länge von knapp fünfzig Metern. Überall mündeten Türen auf den Gang. Das Ende des Ganges wurde abgeschlossen durch eine schmale, hellgrau gestrichene Eisentür. Es war bekannt, daß hinter dieser Tür Dr. Lebuson einen eigenen Experimentier- und Forschungsraum eingerichtet hatte. Es war ebenso bekannt, daß er versuchte, neue Geburtsmethoden zu entwickeln, die Säuglings- und Müttersterblichkeit bei Risikogeburten herabzusetzen und durch medikamentöse Behandlung die Lage eines Säuglings in der Gebärmutter so zu beeinflussen, daß er in der richtigen Lage auf die Welt kam und Kaiserschnitte nach Möglichkeit vermieden wurden. Lebuson arbeitete ohne jegliche Hilfe, so war der Verdacht aufgekommen, daß er vielleicht etwas Verbotenes tat ... Aber diesen Verdacht hatte die letzte Polizeiaktion, die durch die Indiskretion einer jungen Hilfsschwester ausgelöst worden war, weitgehend zerstreut. Die Beamten waren bis in den Forschungsraum Lebusons vorgedrungen, hatten aber nichts gefunden, was einen Verdacht in diesem Sinn gerechtfertigt hätte. Im Gegenteil: den führenden Köpfen, die ein Gutachten über den Einsatz anzufertigen hatten, war aufgefallen, daß Lebuson sich mit seinen Forschungen auf einen Weg begab, der Beachtung verdiente, und er schien Neider zu haben, die ihm einen Erfolg nicht gönnten. Skelette von angeblich totgeborenen Kindern hatte man ebensowenig gefunden, wie das Labor eines wahnwitzigen Dr. Frankenstein, der vielleicht mit Leichenteilen experimentierte. Sicher schien nur das eine zu sein, daß die Müttersterblichkeit angewachsen war. Doch dafür war — soweit man den Fall bis jetzt überblicken konnte — Lebuson nicht verantwortlich zu machen. Ein Rest Zweifel blieb allerdings, aber das war bei allen Dingen so. Die Klinik wurde weiter beobachtet. Schwestern und Ärzte wurden aufgefordert, über ihre Erfahrungen und Wahrnehmungen zu berichten, wenn sie es für richtig hielten. Aber außer den bereits erwähnten ersten Hinweisen der kleinen Hilfsschwester Jeanette, welche die Aktion vor ein paar Wochen ausgelöst hatte, war nichts mehr nachgefolgt. Es war, als ob alles im Sand verlief ... Doch der Eindruck täuschte. Zwar war der spezielle Arbeitsraum Lebusons, in dem er sich nachweislich besonders gern und oft aufhielt, einer genauen Untersuchung unterzogen worden. Doch der Raum dahinter war unbemerkt geblieben. Niemand wußte von diesem Raum. Er war erst später angelegt worden und in keinem Plan verzeichnet. Es gab keine Tür nach dort. Das massive Mauerwerk des Fundaments verbarg den geheimen Raum. Ein Mechanismus, dessen Handhabung nur Lebuson kannte, sorgte dafür, daß das Mauerwerk sich einen Spalt weit öffnete und den Weg freigab in das düstere Reich dahinter, wohin noch kein Mensch geblickt hatte außer Lebuson. Dr. Claude Lebuson hielt sich auch jetzt dort auf.
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Ein unwirkliches Licht, von dem man nicht wußte, woher es kam, schuf eine gespenstische Atmosphäre, aber es reichte nicht aus, den Raum völlig auszuleuchten. Hinter Lebuson, der vor einer hüfthohen Liege stand, auf der ausgestreckt ein schlafender Mensch lag, befand sich undurchdringliches Dunkel. Lebuson war Mitte dreißig. Er hatte ruhige, ausgeglichene Gesichtszüge, volles Haar und dichte Augenbrauen. Seine hohe Stirn war glatt und faltenlos. Ein energisches Kinn, kräftige Lippen und kluge Augen zeichneten sein Gesicht aus. Lebuson wirkte frisch und jugendlich, wie ein großer Junge, mit dem man Pferde stehlen konnte. Jetzt aber waren Lebusons Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepreßt, und der Ausdruck in seinen Augen war eigentlich so, wie er nicht zu ihm paßte. Der Mann auf der Liege, der die ganze Zeit über schon mit offenen Augen zur dunklen Decke gestarrt hatte, zuckte zusammen. Er warf den Kopf herum. »Wo bin ich?« fragte er überrascht. Er hatte keine Ahnung, wie er hierhergekommen war, und er wußte auch nicht, daß er sich in Hypnose befand und Lebuson vorhin auf einen Anruf hin gefolgt war. Der mit Jean Angeredete versuchte sich aufzurichten, aber er konnte nicht, obwohl keine Fessel seinen Körper band. Unsichtbare Hände schienen ihn niederzudrücken. »Ich bin wie gelähmt«, flüsterte er schwach, und das blanke Entsetzen stand in seinen Augen. »Doktor!« stieß er mit zitternder Stimme hervor, und seine Blicke suchten im umschatteten Gesicht Lebusons nach einem Fixpunkt. »Was ist mit mir? Was ist passiert? Hatte ich einen ... Unfall? Warum kann ich mich nicht bewegen?« »Sie haben versagt, Jean, das ist alles!« Eiskalt und unpersönlich war die Stimme des Arztes. Was hatte das zu bedeuten? Jean zermarterte sich das Gehirn. Was für ein Tag war heute? Was für ein Raum war das? Wieso war Lebuson so verändert? Fragen, Fragen und keine einzige Antwort! Er warf den Kopf hin und her. Es wurde ihm warm und heiß, wie Lava strömte das Blut durch seine Adern, und von seiner Stirn perlte Schweiß. Er schmeckte die salzigen Perlen auf seinen Lippen, über die sie rollten wie Tränen. »Ich kann mir solche Mitarbeiter nicht leisten.« Wie eine Drohung klang Lebusons Stimme. Jean, seit drei Jahren in dieser Klinik angestellt, war mit allen möglichen Arbeiten im Haus vertraut. Es gab keine festumrissene Aufgabe, die er zu erledigen hatte. Er war hauptsächlich für anfallende Reparaturen zuständig, übte die Funktion des Gärtners aus oder brachte auch mal eine Patientin in den Gymnastiksaal, wenn gerade keine Schwester frei war. Außerdem versorgte er im Haus alle Anwesenden mit Sprudelwasser und Zeitschriften, die er von einem nahen Kiosk holte. Jean war eine Art Faktotum und für alles zu gebrauchen. »Ich habe versagt?« Jean war bei vollem Bewußtsein. »Wie meinen Sie das, Doktor? Was habe ich getan?«
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»Letzte Nacht, Jean. Sie hatten einen Auftrag. Ich bat sie, mir das Kind zu bringen.« »Kind? Welches Kind?« Man sah dem jungen, unrasierten Franzosen an, daß er verzweifelt darüber nachdachte. »Das Kind von Edith Doler.« »Edith Doler?« Jeans Augen wurden zu schmalen Schlitzen. Wie ein heller, strahlender Fleck erschien Claude Lebuson in seinem weißen Kittel vor der verschwimmenden Dunkelheit hinter ihm. Vor seinem geistigen Augen stieg eine Frau auf. Jung und schön. Sie wohnte in einem alten Haus. Ein Hinterhof ... man konnte ihn sehen von der Stelle aus, wo er sich zwischen Wand und Schrank versteckt gehalten hatte. Dann hatten die Wehen eingesetzt, Jean hatte das Mädchen beobachet ... Schwach waren die Eindrücke, die in seiner Erinnerung aufstiegen, wie die Bilder eines längst vergessenen Filmes ... fetzenhaft, düster ... wie ein Traum. Vielleicht war dies ein Traum? Natürlich! Lebuson war kein Teufel, der ihm, Jean, Böses wollte ... Er träumte und brauchte nur aufzuwachen. Der Hinterhof ... Die Mauer, die Mülltonnen ... auch damit war etwas ... ein Mädchen verblutete ... nach der Geburt. Auf dem Bett lag, genau zwischen ihren Beinen ein Skelett ... es bewegte sich, es lebte ... das mußte er mitnehmen ... Lebuson hatte es so von ihm verlangt ... Er stürmte aus der Tür. Ein Fremder. Jean sah — wie im Traum — sich selbst und rannte die Treppe hinab, in der Hand einen Plastikbeutel, darin ein Skelett, das lebte. Irrsinn? Wieso diese Bilder, die ihm jetzt bewußt wurden? Unten im Flur des dunklen, fremden Mietshauses, in dem Edith Doler wohnte. Vor der Tür stutzte Jean. Er hatte etwas vergessen. Siedendheiß fiel es ihm ein: Das dunkelbraune Fläschchen mit dem Präparat! Lebuson hatte ausdrücklich darum gebeten. Jean erschrak. Er mußte zurück, aber das ging nicht mehr. Polternde Schritte erfolgten von oben. Der Fremde, breit wie ein Kleiderschrank und mit Muskeln hart wie Stahl, stürmte die Treppe herab und war hinter ihm her. Da ergriff Jean die Flucht. Wirklichkeit und Erinnerung mischten sich. Hatte er das, was ihm da alles schwach und verschwommen einfiel, wirklich erlebt? Er zweifelte daran, doch es drängten sich ihm neue Bilder auf. Flucht durch den Hinterhof ... Die Mauer ... Groß und schwarz ... Beide Hände mußte er frei haben ... Kurz entschlossen warf er den Beutel weg und nahm sich vor, später noch mal an die gleiche Stelle zurückzukehren, um den Beutel wieder an sich zu nehmen. Als oberstes Gebot galt: sich nicht fangen zu lassen,und mit niemand zusammenzutreffen. Das hatte Lebuson ihm nachdrücklich eingeschärft. Er mußte den Verfolger abschütteln, entweder über die Mauer in einen anderen Hof oder durch den Eingang in einen tiefliegenden Keller. Er hatte Glück. Die Tür war nicht verschlossen. Im Stockfinstern wartete er ab ... Weit entfernte Schritte ... Der andere ... Er suchte und fand ihn nicht ... Später kehrte er zu der Stelle zurück, wo er den Beutel in aller Eile hingeworfen hatte.
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Doch er war verschwunden ... Erfolglos kehrte Jean in die Klinik zurück, wo auch er wohnte. Er war alleinstehend und hatte keine Verwandten. Jean schluckte. Was hatten die Bilder, die so schwach und nebelhaft in ihm aufstiegen, zu bedeuten? Jetzt empfand und fühlte er ganz anders. Das andere schien er wie im Traum zu haben ... »Was beteutet das alles, Doktor?« wisperte er. »Mein Verstand rebelliert. Es ist alles so anders, ich begreife nicht ...« »Ich will es Ihnen sagen, Jean. Ich tue das immer, wenn etwas zu Ende geht.« »Zu Ende geht? Was meinen Sie damit?« Immer nur fragen und nichts wissen ... Es war zum Verzweifeln ... »Ich kann Sie nicht mehr gebrauchen! Aber bei vollem Bewußtsein sollen Sie erfahren, was Sie eigentlich getan haben und was Sie erwartet. Die ganze Zeit über nämlich befanden Sie sich nicht bei klarem Verstand. Sie standen unter Hypnose.« »Aber — warum, Doktor?« »Um mir zu dienen, Jean. Eigentlich hatte ich eine andere Todesart für Sie auserwählt, aber es ist noch so früh.« Er grinste teuflisch, als würde er die Maske des sympathischen und freundlichen Arztes endlich fallen lassen. »Meine Lieblinge brauchen noch Schonung. Noch ein bißchen. Ich werde sie woanders ausprobieren.« Das Licht, dessen Quelle Jean nicht feststellen konnte, dehnte sich aus. Grünlich-gelber Schein wanderte über die Decke, als würde ein unsichtbarer Scheinwerfer auf einen anderen Punkt ausgerichtet. Wie ein Magier bewegte Claude Lebuson seine rechte Hand in einer kreisenden Bewegung über Jeans Kopf. Da spürte er, daß seine Muskeln ihm wieder gehorchten. Er konnte sich aufrichten und tat es gleich. Aber sein Unterkörper saß noch wie angeklebt auf dem kühlen Leder, mit dem die Liege bespannt war. Das gespenstische Licht erreichte den vorderen Abschnitt des Hintergrundes. Jean preßte die Lippen zusammen, ein dumpfes Stöhnen entrann seiner Kehle. Dort saßen sie in Reih und Glied ... Zehn, fünfzehn, zwanzig? Er zählte sie nicht — die Knochenkinder, die sein Blickfeld ausfüllten. »Nein«, sagte er nur. Zu mehr war er nicht fähig. Sein Blick wanderte von einer Ecke zur anderen, und er hatte den Eindruck, als befänden sich in dem schummrigen Hintergrund noch mehr dieser puppengroßen Skelette. In ihrer Masse wirkten sie abstoßend und bedrohlich. »Komm«, sagte Lebuson und winkte einem der Knochenkinder. Etwas Unheimliches geschah! Ein Skelettkind drehte den Kopf. Es war das, welches Lebuson ansah. Die zarten, dünnen Knochenarme zuckten. Das Skelett regte sich, und geisterhaftes Leben erfüllte es. »Komm!« Wieder vernahm man Lebusons Stimme. Lockend, zwingend, wie ein Hypnotiseur, wie ein Magier. Das zweite Skelett füllte sich mit unbegreiflichem Leben. »Komm! Komm ... komm.«
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Jean hörte nur noch dieses eine Wort, das wie eine Beschwörung den dumpfen, gespenstischen Raum erfüllte. Und sie kamen. Einer nach dem anderen. Ihre kleine Beine schlackerten, als würden sie wie die Marionetten an unsichtbaren Fäden gezogen, die ein Spieler, der irgendwo in der verschwommenen Finsternis unterhalb der nicht wahrnehmbaren Decke hockte, bewegte. Leise, harte, knöcherne Geräusche. Die winzigen Füßchen tapsten auf den Boden. Jean biß sich auf die Lippen. »Jeder einzelne ist wichtig, keiner darf fehlen«, vernahm er Lebusons Stimme wie aus weiter Ferne. »Du hast eines verloren, das hierher gehört, Jean. Du hättest es bringen sollen. Nun müssen wir es holen. Meine Freunde und ich.« Was redete Lebuson da für ungereimtes Zeug? Wie paßte das zu einem Mann mit dieser Bildung? Jean begriff die Welt nicht mehr. Das alptraumhafte Geschehen nahm eine Form an, die die Grenzen seines Begriffsvermögens überstieg. Die Skelettkinder kamen wie in Gang gesetzte mechanische Puppen auf die Liege zu, sie kletterten wie die Affen an den vier Beinen der Liege hoch, kamen auf das Leder und berührten seinen Körper und seine Beine. Jean wollte nach ihnen greifen und sie wegschleudern, aber seine Arme und Hände versagten ihm den Dienst. Ein anderer Geist, ein anderer Willen zwang sich ihm auf. Der Mann zitterte am ganzen Körper wie Espenlaub. Die von teuflischen Leben erfüllten Skelettkinder kRochén wie Quälgeister seinen Rücken empor, hockten in seinem Nacken und auf seinen Schultern, und er spürte die kleinen Knochen, die spitzen, tastenden Finger an seinen Ohren, an denen sie ihn zupften. Das Grauen erfüllte ihn ... Lebuson stand wie ein Berg vor ihm und sagte kein Wort mehr und beobachtete nur. Es war eine Folter, eine Tortur, wie sie noch kein Mensch vor ihm zu ertragen hatte. Mit wachen Sinnen mußte er es über sich ergehen lassen, ohne sich zur Wehr setzen zu können. Ein Schauer nach dem andern lief ihm über den Rücken. Knochenhände fuhren in sein Gesicht, legten sich um seinen Hals und drückten zu. Jean riß den Mund auf und versuchte zu atmen. Die Kraft, welche die winzigen Hände auszuüben vermochten, war bemerkenswert. Er konnte nicht mehr atmen, er bekam keine Luft mehr! Jetzt ging es zu weit, jetzt ging es an sein Leben! Das erkannte er. Spätestens in diesem Augenblick hätte alles, wenn es ein Traum gewesen wäre, zu Ende sein müssen! Claude Lebuson, der Regisseur dieser schauerlichen Vorstellung, hatte alle Fäden in der Hand. Er kam Jean zu Hilfe. »Genug!« Dieses eine Wort reichte. Die Skelettkinder gehorchten. Sie lockerten ihre Griffe um Hals und Nacken und peinigten ihn nicht länger. Schweigend und ergeben wie ferngesteuerte Roboter tapsten
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sie wieder den Weg ins Dunkel zurück. Der Lichteinfall veränderte sich, und der Hintergrund wurde wieder schwarz. »So könnte es passieren, beispielsweise«, machte die gefährliche Stimme Lebusons sich wieder bemerkbar. »Aber noch ist es zu früh. Wie eine Flut sollen sie über die Menschen hereinbrechen, und alles hinwegschwemmen, was sich ihnen in den Weg stellt. Sie sollen Untertanen sein meines Sohnes, der sie leiten und führen wird, und dem ich den Weg ebne!« Lebuson kam einen Schritt weiter nach vorn. »Du hast als erster gesehen, was sich hier entwickelt, Jean. Du wirst dein Geheimnis mit ins Grab nehmen!« Mit einer beinahe schwebenden Bewegung hielt er seine Rechte ausgestreckt. »Du wirst wieder einschlafen, Jean. Du wirst nicht reden und nicht schreien können, wenn du mir jetzt nachfolgst. Du bist in meiner Gewalt! Du wirst von den Skelettkindern wissen, deren Herr ich bin, die geboren werden, weil ich es so will, weil sie meinen Willen erfüllen werden ... Du wirst bei vollem Bewußtsein deinen Tod erleben, und nie wird man dich finden!« Jean fiel sofort in Hypnose, in seinen flackernden Augen las man Angst. Aber er mußte gehorchen und folgte seinem Peiniger. Lebuson war ein Teufel in Menschengestalt. Er hatte sich ein grausames Ende für ihn ausgedacht ... Dr. Claude Lebuson ging um die Liege herum. Er steuerte auf die kahle, massive Wand zu, legte seine Hand auf einen Quader und wartete ab. Wie die Zähne eines Zahnrades schoben sich die beiden Wandhälften etwa fünfzig Zentimeter weit auseinander. Große Steine ragten aus dem Mauerwerk wie Auswüchse und schoben sich wieder fugendicht ineinander, nachdem Jean hinter seinem Vorgänger aus dem geheimen Labor gekommen war. Wortlos passierten sie gemeinsam das Speziallabor, das jedermann kannte, und in dem es nichts Außergewöhnliches und Verdächtiges festzustellen gab. Lebuson öffnete die vordere Tür einen schmalen Spalt breit und blickte hinaus auf den langen Korridor, der leer und dämmrig vor ihm lag. Nur zehn Schritte vom Eingang des Labors entfernt, führte ein Durchlaß zum Bezirk, wo die Verbrennungsöfen standen. Die riesige technische Anlage der Klinik lag in einer Versenkung. Man erreichte sie, wenn man drei schmale Stiegen hinabging. Wie ein Hund trottete Jean hinter Lebuson her. Man sah dem Gesicht des Faktotums an, daß eine Flut von Stimmungen und Gefühlen sein Innerstes aufwühlte, daß er sehr wohl die Gefahr begriff, in die er sich begab, gegen die er jedoch nichts ausrichten konnte. Lebusons teuflischer Geist, der ihn beherrschte, war stärker als alles andere. Niemand begegnete ihnen hier unten. Um diese Zeit wurden auch keine Behandlungen durchgeführt. Alles lag leer und verlassen. Es war Mittagszeit. Claude Lebuson drückte die Klinke einer grauen Tür. Eine Hitzewand schlug ihnen entgegen. Lebuson trat einen Schritt zur Seite, damit Jean an ihm vorübergehen konnte. Jean steuerte direkt auf die Tür eines Ofens zu. »Aufmachen«, sagte Lebuson nur.
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Jean gehorchte. Die rote Glut spiegelte sich auf seinem bleichen Gesicht. Wie ein Schlund gähnte das Feuerloch ihn an. Lebuson warf einen raschen Blick nach hinten. Er hörte ein Geräusch. Schritte vom Ende des langen Korridors! Ein Lift rauschte. Mindestens zwei Personen kamen ... »Man wird deine Leiche niemals finden, Jean! Spring!« Eine Minute später schlugen die Flammen über seinem Kopf zusammen, und der teuflische Arzt schloß die Tür des Verbrennungsofens, aus dem es für den Hypnotisierten kein Entrinnen mehr gab. Dann drehte Lebuson sich um und verließ den grausigen Ort. Auf dem Korridor draußen begegnete er zwei Patientinnen. Sie grüßten freundlich, und Lebuson grüßte zurück. »Na, meine Damen«, meinte er leutselig. »Mittagsschlaf schon zu Ende?« »Wir haben gar keinen gehalten«, sagte die eine Frau, einen üppige Blondine mit Kußmund und herrlich schimmernden, gleichmäßigen Zähnen. »Bewegung ist besser«, fügte die andere hinzu. Ein zierliches Persönchen, der man nicht ansah, daß sie in einer Woche bereits niederkam. »Um diese Zeit ist es im Schwimmbad am schönsten. Da ist es leer.« Sie blickte Lebuson verträumt nach. Er war ein stattlicher Mann und beliebt auf allen Stationen. Lebuson ging weiter auf den Lift zu, der noch unten stand, und es sah so aus, als wäre er aus seinem Speziallabor gekommen und hätte auf halbem Weg die Patientinnen getroffen. »Er ist ein wunderbarer Mann«, schwärmte die Blonde und sah ihm nach, wie er mit federnden Schritten zum Lift lief. »Da könnte selbst ich noch mal schwach werden. Drei Kinder hab' ich schon, aber wenn Lebuson zu kriegen ist, kenn' ich kein Pardon ...«
Instinktiv riß er die Arme auseinander. Und das rettete ihm das Leben. Kunaritschews Schwung wurde aufgefangen. Seine Brust ragte weit aus dem zersplitterten Fenster, und die im Hof mit der Konservenbüchse spielenden Kinder standen einige Sekunden lang da wie vom Schlag gerührt. Sie hörten die Scherben auf den Boden fallen und sahen den kräftigen Mann, der im Fensterkreuz hing und den nur seine blitzschnelle Reaktion vor Schlimmerem bewahrt hatte. Kunaritschew schwang nach hinten, um zu verhindern, daß sein unheimlicher Gegner, der sich hier versteckt gehalten hatte, noch mal aktiv wurde. Der Russe ging sofort auf Kampfstellung, aber da war niemand, den er auf Distanz halten konnte. Der Raum hinter ihm war leer. Seine Blicke irrten durchs Zimmer. Dann fing er an, sich die Glassplitter aus dem
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Gesicht zu ziehen. Wie Stacheln steckten sie in seinen Wangen, neben seinen Nasenflügeln und sogar im Ohrläppchen. Feine Blutstropfen quollen aus den Wunden, doch im Spiegel neben dem Bett von Edith Doler sah er dann, daß die Schnittwunden weniger waren, als er befürchtet hatte. Mit einem sauberen Taschentuch tupfte er sich das Gesicht ab und pflückte nebenbei weitere Glassplitter aus seinem buschigen Vollbart. »Bolschoe swinstwo«, fluchte er, »das allerdings hätte ins Auge gehen können! Mein schöner Bart! Aber zum Glück ist nicht ein Härchen abgeschnitten ... Da soll nur einer sagen, man hätte kein Glück im Unglück!«
Es gab keinen Zweifel: Etwas Unsichtbares war plötzlich aktiv geworden. Ein Spuk? Ein Dämon? Über das warum war er sich im klaren: Er sollte daran gehindert werden, sein Ziel zu erreichen und seine Nachforschungen fortzusetzen. In dem Augenblick, als er das Fläschchen gefunden hatte ... Da überlief es ihn siedendheiß. Sein Kopf ruckte herum. Das Fläschchen mit der undefinierbaren Flüssigkeit! Er hatte es verloren. In dem Augenblick, als die unsichtbare Faust ihn machtvoll in den Rücken stieß, hatte er es losgelassen. Er sah die braunen Scherben neben denen der Fensterscheibe auf dem Fußboden. Das Fläschchen war zersplittert. Und merkwürdig: Von der Flüssigkeit fand er nicht mehr einen einzigen Tropfen, auch einen nassen Fleck entdeckte er nicht. Wie ein Computer arbeitete sein Gehirn. Also doch ein Fund, der sich unter Umständen gelohnt hätte! Er sammelte die braunen Glasscherben auf und wickelte sie in sein Taschentuch. Viel Hoffnung hatte er nicht mehr, aber es war eine Möglichkeit, die er nicht ungenutzt lassen wollte. Vielleicht fanden die im Labor Spuren des Mittels an den Scherben. So konnte man doch noch erfahren, was hier aufbewahrt worden war und was einem Außenstehenden auf keinen Fall in die Hände fallen durfte. So sah er den Fall. Er hielt sich nicht mehr lange auf. Seine Sinne waren aufs äußerste gespannt und darauf vorbereitet, einem erneuten Angriff aus dem Unsichtbaren sofort zu begegnen. Er rechnete jede Sekunde damit, aber der Fall wiederholte sich nicht. Zehn Minuten später verließ Iwan Kunaritschew die Wohnung. Er schloß ab und brachte das Siegel wieder an. Mit dein mausgrauen Peugeot, den er vor dem Haus geparkt hatte, fuhr er davon. Der Wagen war unauffällig. Es war zwei Uhr mittags. Am Place du Theâtre Français mußte er an einer auf Rot stehenden Ampel warten. Neben ihm rollte ein Taxi heran.
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Kunaritschew, gerade dabei, eine seiner bitterbösen Selbstgedrehten aus dem Etui zu nehmen, in dem er gelegentlich einen kleinen Vorrat aufbewahrte, wandte den Kopf. Mehr zufällig als bewußt blickte er dabei in das Gesicht des Fahrgastes hinter dem Chauffeur und wollte schon seine Zigarette anflammen, als er stutzte. Das Gesicht des Mannes kannte er. Das war doch Dr. Claude Lebuson! Kunaritschew rauchte munter drauflos und blickte dabei unentwegt auf den Fahrgast. Es gab keinen Zweifel: Er war es. Aber eines stimmte Kunaritschew nachdenklich. Er kannte die Berichte, die Tolbiac von seinen Leuten entgegengenommen hatte. Minuziös waren darauf Lebusons Eigenheiten und sein Tagesablauf vermerkt. Danach stand fest, daß der Gynäkologe ein genau eingefahrenes System kannte, von dem er nicht ließ. Frühstück und Besprechungen waren eingeteilt, ebenso seine Arbeit im Speziallabor und die Untersuchungen von Patientinnen, bei denen mit Schwierigkeiten beim Geburtsvorgang zu rechnen war. Der Regel nach verließ Lebuson erst immer zwischen sechs und halb sieben Uhr abends die Klinik. Von dort aus fuhr er auf direktem Weg in seine Wohnung am Rande von Paris. Lebuson war verheiratet, und seine Frau erwartete ihr erstes Kind. Weshalb war Lebuson jetzt unterwegs? Kunaritschew stellte allerlei Gedanken darüber an. Der Gynäkologe wirkte ernst und verschlossen. Er starrte gedankenversunken vor sich hin ... Da schaltete die Ampel um. Das Taxi fuhr sofort los. Kunaritschew entschloß sich, dem Arzt zu folgen. Er fuhr hinter dem Taxi her und wollte sehen, weshalb Lebuson der in Verdacht geraten, dem aber nichts nachzuweisen war, um diese Zeit durch Paris fuhr.
Sie hieß Laurette Valmeuse. Larry Brent traf sie in einem nett eingerichteten Bistro am Montparnasse. Laurette war eine Augenweide. Sie hatte lange, seidige Wimpern, Augen wie schwarze Kirschen und ein Gesicht, das ein Künstler aus reinem, weißem Marmor liebevoll herausgearbeitet haben konnte. Die einzigen Farbakzente bildeten das dezente Augen-Make-up und die feingeschwungenen, feuchtschimmernden Lippen, die ein geschickt eingesetzter Lippenstift zum Blühen brachte. X-RAY-3, direkt von dem 16 Kilometer von Paris entfernten Flughafen Orly kommend, sah sie schon von der Tür aus. Sie saß an einem Ecktisch und konnte den Eingang im Auge behalten. Larry war nur der Name des Bistros und der Tisch genannt worden, an dem er Laurette Valmeuse treffen sollte. Er kannte weder ihren Namen, noch wußte er, wie sie aussah und was sie an hatte.
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Er sollte sich mit seinem Namen vorstellen. Der war ihr genannt worden. Der PSA-Agent steuerte auf den Ecktisch zu. Aus dunklen Augen wurde er gemustert. »Ich bin Larry«, sagte er vorschriftsmäßig und lächelte. »Ich heiße Laurette«, antwortete sie. Ihre Stimme hatten einen betörenden Klang. Er reichte ihr die Hand. »Dann bleiben wir gleich bei den Vornamen«, sagte er. »Wie Sie wissen, soll ich — zunächst — als Ihr Verlobter fungieren. Gehen wir also gleich zum Du über. Ich trinke zwar für mein Leben gern Brüderschaft, aber das können wir gelegentlich nachholen. Allein schon wegen des Kusses, der ist die Hauptsache!« Er nahm ihr gegenüber Platz. Sie sah ihn an und schien zufrieden. Brent gefiel ihr. »Das hatte ich nicht erwartet«, sagte sie unvermittelt. »Was hatten Sie nicht — hattest du nicht erwartet?« verbesserte er sich. »Daß Sie — Du — «, sie lachte, »so sympathisch sein würdest.« Über die einzelnen Vorgänge, die dem Treffen vorausgegangen waren, wußte Larry kaum etwas. X-RAY-1 hatte seine sämtlichen Verbindungen spielen lassen. Laurette erfüllte ihren ersten Auftrag. Zunächst erfuhr Larry, daß sie als Schauspielerin tätig war und das Kind, das sie austrug und das in knapp anderthalb Monaten auf die Welt kam, von einem Kollegen stammte, mit dem ernsthafte Heiratsabsichten bestanden hatten. Doch der Mann hatte sie im Stich gelassen. Nicht nur sie, sondern auch das Ensemble, und es hatte sich herausgestellt, daß dieser Bursche, dem keiner etwas Böses zugetraut hatte, eine Menge Schulden in Paris hinterließ und über seine Verhältnisse gelebt hatte. Larry, der sich einen Kaffee bestellte, nickte. »Dann mußt du froh sein, daß dies alles noch vor der Ehe passiert ist, Cherie«, sagte er, und sie blickte ihn erstaunt ob des Kosewortes an. Er nahm ihre schmale, zarte Hand zwischen seine Finger und streichelte sie. »Nachher wäre alles viel schlimmer geworden.« »Das stimmt.« Laurette lächelte. »Du spielst deine Rolle gut, Larry«, fügte sie hinzu. »Man tut was man kann, und es fällt mir nicht schwer. Mit soviel Rücksichtnahme meiner Auftraggeber habe ich nicht gerechnet. Auf die Betriebsatmosphäre kommt es an, wie die Arbeit einem von der Hand geht, nicht wahr? So heißt es doch immer in den betreffenden Stellenanzeigen. Die Atmosphäre hier gefällt mir. Mit einer solchen Schönheit als Verlobten hätte ich nicht gerechnet. Da lachte einem doch das Herz im Leib.« Es klang überzeugend, denn er meinte es ehrlich. Laurette bemerkte dies. Sie senkte den Blick. »Geht das bei Ihnen ...« »Bei dir«, unterbrach Larry sie. »Pardon, natürlich. Ich vergesse es immer wieder.« »Das kann ins Auge gehen. Stell' dir vor, wir siezen uns im Beisein von Dr. Lebuson! Der staunt Bauklötze, Cherie. Wie kommt denn das, wird er sich fragen? Noch per Sie — und schon ist ein Kind unterwegs. Da staunt der Laie und wundert sich der Fachmann.« Larrys hemdsärmelige Art reizte sie zum Lachen. »Aber vorhin wolltest du mich etwas fragen, Laurette-Kind.« »Ja, ob es immer so schnell bei dir geht?« »Was?«
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»Daß du gleich aufs Ganze gehst.« »Das kommt darauf an.« »Worauf?« »Wie weit die Dame mich gehen läßt. Und vor allen Dingen: Mit wem ich's zu tun habe. Manchmal will ich auch nicht.« Die Flachserei gefiel ihr. Das lockerte die Stimmung und schaffte eine persönliche, ausgelassene Atmosphäre, in der sich jegliche Fremdheit schnell verlor. Wie von selbst erzählte sie schließlich das, was Larry von ihr wissen wollte. Es sprudelte nur so aus ihr heraus. Laurette Valmeuse war erst vor drei Stunden ausgesucht und in die Aufgabe eingeweiht worden, die sie erfüllen sollte. Ein Beamter des Innenministeriums hatte sie in ihrer Wohnung besucht. Sie lebte derzeit unter eingeschränkten Verhältnissen. Ihrem Beruf konnte sie momentan nicht nachgehen. Sie bekam Unterstützung. Mit dem Auftritt des Beamten aber war ein Silberstreifen am Horizont aufgetaucht. Für die vor ihr liegende Aufgabe erhielt sie eine Summe, mit der sie ein halbes Jahr lang sorglos leben konnte. Und dabei war nicht mal viel zu tun. Sie konnte auf der faulen Haut liegen, sich in Dr. Lebusons Klinik verwöhnen lassen und durfte sogar dort — in diesem Terrain, wo eigentlich nur begüterte Frauen sich eine Entbindung leisten konnten — ihr Kind zur Welt bringen. Nur zu einem war sie verpflichtet: aufmerksam ihre Umgebung zu beobachten und jede Wahrnehmung an Larry Brent weiterzugeben. Dies alles wußte Larry Brent bereits. »Ich erwarte von dir also Informationen, die wir auf andere Weise so unverfälscht sicher nicht erhalten würden.« Er holte eine Zigarettenpackung aus seiner Jackettasche und reichte sie über den Tisch. »Ich rauche nicht, danke.« Laurette Valmeuse winkte ab und nippte an ihrem Picon. »Du sollst nicht rauchen! Da steckt auch nicht eine einzige Zigarette drin. Damit bleiben wir miteinander in Verbindung.« »Ein Taschenfunkgerät?« entfuhr es ihr. »Psst, nicht zu laut. Ja. Wenn du im Garten spazieren gehst, kannst du mit mir Verbindung aufnehmen. Achte immer darauf, daß niemand in der Nähe ist, der dich hören kann. Deine Mission ist geheim — und sie muß geheim bleiben!« »Ist Lebuson — ein Mörder?« Sie schien anzufangen, sich Gedanken darüber zu machen. »Vielleicht, niemand weiß etwas. Es ist unmöglich, einwandfreie Informationen aus der Klinik zu bekommen. Beamte einzuschmuggeln, ist schlecht möglich. Die Situation wäre sofort verändert. Es muß jemand rein, der einfach reingehört. Da kamen wir auf die Idee, es so zu machen, wie jetzt mit dir, Laurette.« Sie ließ sich die Handhabung des Funkgerätes erklären. Das war eine Sache von einer Minute. Nur ein Knopf war zu drücken und wieder loszulassen, je nachdem, ob sie empfangen oder senden wollte. »Stürzen wir uns also ins Abenteuer«, sagte Larry Brent, nachdem sie alles bespRochén hatten. Sie fuhren umgehend in die Klinik.
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Laurette Valmeuse war aufnahmefähig und phantasiebegabt. Sie brachte schauspielerische Qualität mit, die ihr im vorliegenden Fall große Dienste leisten würden. Wie alle anderen mußte auch Laurette die Anmeldung passieren. Sie wurde alles mögliche gefragt, wer ihr behandelnder Arzt gewesen sei und ob andere Untersuchungsergebnisse vorlägen. Beim Ausfüllen des Fragebogens ergaben sich manche beabsichtigte Hinweise und Bemerkungen von selbst, so gab Larry zu erkennen, daß Laurette seine Verlobte war, daß es noch nicht zu einer Heirat hatte kommen können, da sein Vater die Verbindung nicht wünschte. »Aber ich hab' da keine Angst, sie zu verlieren«, winkte X-RAY-3 ab und mimte den reichen, aber etwas naiven Industriellensohn mit solcher Überzeugung, daß Laurette Valmeuse aus dem Staunen nicht mehr herauskam. »Wenn Oldman — «, so sprach er über seinen imaginären millionenschweren Vater, »erst das Baby sieht, denkt er vielleicht anders. Am besten ist ein Sohn«, fügte er hinzu. »Wenn Sie's hier in der Klinik einrichten können daß es ein Junge wird, wäre das 'ne feine Sache!« Er grinste von einem Ohr zum anderen, und man wußte nicht, ob er das wirklich ernst meinte oder nur so dahersagte. Die hübsche Sekretärin, die sich die unglückliche Liebesgeschichte zwischen dem armen französischen Mädchen und dem amerikanischen Millionärssohn interessiert angehört hatte, lachte. »Wir sind kein Warenhaus, Mister Brent. Darauf haben wir leider keinen Einfluß. Wir vollbringen hier zwar erstaunliche Dinge, aber Wunder dürfen Sie auch von der Lebuson-Klinik nicht erwarten.« Dann wurde Laurette zu einer Untersuchung abkommandiert, bei der Larry nicht dabei sein konnte. In der Zwischenzeit machte eine junge Schwester eine Blutabnahme bei ihm. Er erfuhr, daß es in Lebusons Klinik üblich sei, das Blut von beiden Elternteilen zu untersuchen, um den Rhesusfaktor auszuschließen und einen sofortigen Blutaustausch vornehmen zu können. X-RAY-3 ließ sich das alles haarklein erzählen, obwohl er darüber bereits gelesen hatte. Er spielte erfolgreich den naiven und unbeschwerten Amerikaner, war aber in Wirklichkeit die konzentrierte Aufmerksamkeit und nahm Einzelheiten wahr, die anderen entgingen. Larry wußte, wie risikoreich dieser Einsatz war. Computerberechnungen ließen Dr. Satanas hinter all dem stehen, was man vermutete, von dem aber keiner etwas Genaues wußte. Satanas aber war aus einem besonderen Holz geschnitzt. Er stand mit der Hölle im Bund. Und da niemand wußte, wie er wirklich aussah, konnte man ihn auch nicht erkennen. Vielleicht hatte er sich hier in die Klinik eingeschmuggelt, um eine neue Untat vorzubereiten? Satanas konnte eine der Schwestern sein, konnte die Maske einer Sekretärin oder eines einfachen Mitarbeiters ebenso besitzen wie die einer leitenden Persönlichkeit in diesem Haus. Dies alles hatten die Computer berücksichtigt, ebenso, daß Larry schon mal einen äußerst gefährlichen Zusammenstoß mit Dr. Satanas gehabt hatte. Dr. Satanas kannte Larry, und er kannte auch Kunaritschew!
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Die menschliche Logik hätte gefordert, andere Agenten einzusetzen, die Satanas noch nie gesehen hatte. Aber Santanas verfügte über geistige Kräfte, mit denen er dem menschlichen Verstand voraus war. Egal in welcher Verkleidung PSA-Agenten immer an ihn herangekommen wären, ob die vertrauten Gesichter von Larry und Iwan verändert gewesen oder ob andere Agenten zum Einsatz gekommen wären, Dr. Satanas hätte auf jeden Fall gewußt, daß sich ihm Gegner in den Weg stellten. Es schien, als blieben ihm die diversen Gedankengänge derer, die ihm begegneten oder sich in der Nähe befanden, nicht unbekannt. Satanas kam es darauf an, Schrecken und Tod zu verbreiten. Er haßte die Menschen. Das Warum allerdings war bis zur Stunde unklar. Man mußte bei ihm andere Maßstäbe anlegen wie beispielsweise bei einem Triebverbrecher. Auf den ersten Blick schien es ein zusätzlicher Nachteil für Brent und Kunaritschew zu sein, daß sie bereits einmal Kontakt mit Satanas gehabt hatten und er seine Widersacher sofort wiedererkennen würde. Aber bei genauerem Hinsehen wurde die Entscheidung der Hauptcomputer verständlich und transparent. Satanas hatte durch Kunaritschew und Brent beim ersten Zusammenstoß in Montevideo eine entscheidende Schlappe einstecken müssen. Jetzt schien sich zwar zu zeigen, daß Larrys Befürchtung, Iwan und ihm sei es seinerzeit nicht gelungen, Satanas wirklich unschädlich zu machen, sondern nur zu vertreiben, sich zu bewahrheiten schien. Satanas konnte jetzt irgendwo in der Lebuson-Klinik weilen. Von diesem Gedanken aus wurde der Angriffsplan aufgebaut. Satanas hatte Brent und Kunaritschew den Tod geschworen. Er wollte sie vernichten. Sein Haß auf beide war grenzenlos. Und Larry suchte den direkten Kontakt. Ihnen gegenüber mußte Satanas die Maske fallen lassen, wenn er sein Ziel erreichen wollte. Dies war ein Vorteil, und gleichzeitig die größte Gefahr, denn niemand wußte, wie Satanas reagieren würde und welche Teufelei er sich diesmal ausgedacht hatte. Während seines Aufenthaltes in der gynäkologischen Klinik jedenfalls fand X-RAY-3 trotz aller Aufmerksamkeit keinen Anlaß, irgend jemand zu verdächtigen. Es ging alles ganz normal über die Bühne. Jeder benahm sich natürlich. Larry Brent sprach mit den Schwestern und dem Stationsarzt, und er lernte auch Lebuson kennen, einen frischen, sympathischen Menschen, der ein paar Worte mit ihm wechselte und ihm versicherte, daß Laurette Valmeuse sich hier in den besten Händen befand.
Die Begegnung war nur kurz.
Lebuson wurde schon während der ersten Unterhaltung wieder gerufen.
Eine Patientin war eingeliefert worden. Ein Eilfall, wie sich herausstellte.
Alle arbeiteten hier Hand in Hand, es lief wie am Schnürchen.
Eine Bahre wurde in den Kreißsaal geschoben. Darauf eine junge, sehr hübsche Frau.
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Larry hörte im Vorbeigehen ihren Namen. Sie hieß Nadine Escallier und war die Frau eines Pariser Rechtsanwaltes. Ihr Kind kam zu früh. Lebuson rannte über den Gang. Nadine Escallier war vorangemeldet, aber nicht für diesen Tag. Sie war Patientin von Dr. Gilbert Roché, dessen Praxis seit einem Tag geschlossen war. Ein fein säuberlich geschriebenes Schild, das draußen am Gittertor hing, gab den Patientinnen, die ihn konsultierten, zu verstehen, daß er für ein paar Tage verreist sei. Eingeweihten Freunden dagegen hatte er versichert, daß er sich wirklich ein paar Tage entspannen müsse. Aber deswegen würde er nicht einen einzigen Schritt vor die Tür setzen. Er blieb in seinem Haus, schloß sich ein, und niemand bekam ihn zu Gesicht. Niemand wußte auch, daß der Gilbert Roché, der sich dort eingenistet hatte, gar nicht mehr der Gilbert Roché war, den man kannte! Und das Haus stand meistens leer. Auch das wußte niemand. Larry nahm sich Zeit. Er blieb lange. Gemeinsam mit Laurette machte er einen Spaziergang durch den parkähnlichen Garten, der das Klinikgelände umgäbe. Es war kühl. Ein frischer Wind wehte. X-RAY-3 plauderte angeregt mit Laurette und wurde dabei gesehen. Auch dies war alles ganz natürlich. Er erfüllte seine Rolle als treusorgender Liebhaber, dem ein verständnisloser Vater Steine in den Weg legte. Er lernte den ganzen Garten kennen. Es gab herrliche Winkel und Ecken, Bänke standen bereit und luden zum Verweilen ein. Aber es war zu kühl, um sich hinzusetzen. Wenn die Temperaturen heute nacht sanken, dann war bei der augenblicklichen Wetterlage mit Schnee zu rechnen. Larry hielt sich im Garten auf und ahnte nicht, daß zu gleichen Zeit sich Nadine Escalliers Schicksal erfüllte.
Lebuson hielt sich mit einem Assistenten und einer hauseigenen Hebamme im Kreißsaal auf. Nadine Escallier gebar ihr Kind. Auf ihrer bleichen Stirn perlte der Schweiß. »Es ist zu früh!« kam es wie im Fieber über ihre spröden Lippen. »Ich will es diesmal behalten ... es soll nicht wieder passieren.« »Sie brauchen keine Angst zu haben«, erklang Lebusons ruhige Stimme dicht neben ihr. »Es wird normal geboren werden, ganz normal ... es macht nichts, daß es etwas zu früh kommt ... ich kenne Ihren Fall, Doktor Roché hat mir alle Unterlagen überlassen. Es ist alles in bester Ordnung.« »Aber warum so früh ... warum so früh?« Sie konnte sich nicht beruhigen. Ihre Gesichtsfarbe veränderte sich. Die Blässe wich einer hektischen Röte. Nadine fühlte das neue Leben aus sich herauskommen. Sie schrie. Jemand tupfte ihr die Stirn ab. »Es ist alles gut und wunderbar«, sagte die Schwester. Dann war der Akt vorbei. Innerhalb weniger Sekunden. Die Schmerzen ließen nach.
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Nadine Escallier fühlte sich wie von einer Last befreit. Vor ihren Augen flimmerte es, ihr Blickfeld wurde von den Seiten her eingeengt. Alles wich zurück. Sie hatte plötzlich das Gefühl, ganz allein zu sein. Sie fühlte sich seltsam leicht wie eine Feder, die davonschwebte. Warum sprach niemand? »Doktor?« fragte sie mit leiser Stimme. Eine Ewigkeit schien es zu dauern, ehe sie die Antwort vernahm. »Es ist alles gut und wunderbar, Madame. Ich habe ihr Kind — hier ist es!« Ein glückliches Lächeln umspielte die Lippen der charmanten Französin. Sie hob ein wenig den Kopf. »Neeeeiiiin!« Ihr gellender Schrei hallte durch den gekachelten Saal. Was Nadine sah, brachte sie zum Wahnsinn. Vor ihr stand in Lebensgröße Dr. Lebuson in seinem weißen Kittel, ein teufliches Grinsen auf dem Gesicht. Er wirkte häßlich und abstoßend. Das Schlimmste aber war das, was Nadine in der Rechten sah. Wie ein Kind eine Puppe umfaßt, so griff Lebuson den blanken Totenschädel auf dem skelettierten Körper. Das Skelett eines kleinen neugeborenen Menschen! Und es zeigte Lebenszeichen ... »Es ist prächtig entwickelt, Madame. Sie können stolz auf Ihr Kind sein!« Diese Stimme! Was für ein Triumph, was für ein Hohn! Auf ihr Kind? Aber das war nicht ihr Kind, das war eine Geburt der Hölle. Ein Skelett war in ihrem Leib gewachsen? Alles in ihr wehrte sich gegen diesen Gedanken. Ihre Haare sträubten sich, und sie sah ungläubiges Erstaunen in den Augen des Arztes. Nadine wußte nicht mehr, was sie tat. Sie schlug um sich. Niemand begriff, woher sie nach der Geburt die Kraft nahm. Sie war plötzlich auf den Beinen und taumelte wie von Sinnen durch den Saal, direkt auf die Tür zu, ehe Lebuson reagierte. Er war allein, die Hebamme und der Assistent waren gegangen, ohne daß Nadine es gemerkt hatte. Nadine ergriff ein Schwächeanfall. Sie hatte alles riskiert und sich durch ihr unbeherrschtes Verhalten selbst an den Rand des Grabes gebracht. Nur weil sie selbst nicht mehr logisch denken konnte, weil ihr Verstand sie im Stich ließ. Vor der Tür brach sie zusammen, aber noch die Kraft findend, die Klinke herabzudrücken. Spaltbreit ging die Tür auf. Mit der Hand fuhr Nadine in diesen Spalt und rutschte damit von oben nach unten. Da war Lebuson neben ihr. Er riß sie zurück, aber er konnte das Geschehen nicht mehr rückgängig machen. Draußen im Gang wartete jemand. Der war unruhig und nervös und brachte es nicht fertig, sich auf einen Sessel zu setzen.
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Das war Pierre Escallier. Er hörte die Klinke und sah die schmale, blasse Hand mit dem wertvollen Brillantring. »Nadine!« rief er, fing an zu laufen und war mit drei, vier schnellen Schritten an der Tür. Über der Tür flammte lautlos ein Licht auf. Vom anderem Ende des langen Korridors waren eilige Schritte zu hören. Zwei Schwestern und ein junger Arzt kamen. Escallier zuckte zusammen. Er wagte nicht, die Tür aufzureißen. Obwohl er ahnte, daß hinter dieser Tür etwas geschah, von dem er nur zufällig Zeuge geworden war. Er zögerte drei Sekunden. Das war schon zu lang. Weißkittel umringten ihn, eine Hand riß ihn von der Tür zurück. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte der Assistenzarzt, ein blasser junger Mann mit spitzem Kinn und blondem Flaum auf der Oberlippe, der sich wohl zu einem Bärtchen entwickeln sollte. »Wir müssen da 'rein. Sie haben da nichts zu suchen.« »Es ist etwas passiert ... meine Frau ...«, stotterte Escallier fassungslos. »Sie hat auf dem Boden gelegen. Ich habe es gesehen.« Pierre wurde zur Seite geschoben. Der junge Arzt eilte in den Kreißsaal, eine Schwester ihm nach, die andere blieb an der Tür, um beruhigend auf Escallier einzureden. Aber sie wußte wohl selber nicht recht, was sie eigentlich sagen sollte. Es fiel ihr schwer, Escalliers Argument, daß er seine Frau am Boden gesehen hatte, zu entkräften. »Sie haben sich getäuscht, sicher. So etwas gibt es nicht! Ihre Nerven! Sie sind sehr überreizt. Vielleicht haben Sie die letzten Nächte schlecht geschlafen. Ihrer Frau ging es nicht gut.« »Ich träume nicht, ich weiß, was ich gesehen habe, und ich möchte sofort wissen, wieso meine Frau ...?« Er war aufs äußerste erregt. Seine Stimme versagte ihm den Dienst. Plötzlich ging die Tür auf. Dr. Lebuson stand auf der Schwelle, kam nach vorn und zog die Tür hinter sich zu, ehe Escallier einen Blick erhaschen konnte. »Doktor ...« »Schon gut, Monsieur Escallier. Bitte, kommen Sie mit in mein Büro. Ich muß Sie sprechen.« »Nadine ... was ist mit ihr? Ist sie ...« »Bitte, nicht hier, nicht auf dem Gang.« Das Büro war holzgetäfelt. Schwere Polstersessel. Für Einzelheiten hatte Escallier keinen Sinn. »Ihre Frau lebt.« »Das Kind?« schluckte Escallier. »Deshalb ist alles passiert. In meiner ganzen langjährigen Praxis ist so etwas noch nicht vorgekommen. Das Kind wurde geboren, aber es lebte nicht. Dies Ihnen zu sagen, tut mir leid. Ihre Frau allerdings hat es mitbekommen. Sie stand unter einem schweren Schock, sie hat Kräfte entwickelt, über die Sie sich keine Vorstellung machen können. Jetzt ist sie ganz ruhig und schläft. Ich habe ihr eine Injektion gegeben.« »Wird sie leben?« »Wir sind alle nur Menschen, Monsieur Escallier. Nach menschlichem Ermessen — ja! Aber — und das muß ich gleich hinzufügen — Ihre Frau wird nicht mehr so sein wie vor
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der Geburt.« »Wie meinen Sie das, Doktor?« »Der Schock, fürchte ich, war zu stark für sie. Sie hat den Verstand verloren! Das erklärt, weshalb sie zu etwas fähig war, was unter normalen Umständen keine Frau fertiggebracht hätte, sich zu erheben und davonlaufen.« Escallier hörte der Stimme nicht mehr zu. Er stand da, wie zur Salzsäule erstarrt, und sein Blick war auf einen imaginären Punkt gerichtet. Alles aus, dröhnte es in seinem Gehirn. Er sah keinen Sinn des Lebens mehr. Von einem Augenblick zum anderen hatte sich seine Welt verändert ... Fünf Minuten vergingen. Es war so still, daß man eine Stecknadel hätte fallen hören. Claude Lebuson sprach beruhigend auf Escallier ein. »Sie müssen sich jetzt zusammennehmen. Noch ist nicht alles verloren, Monsieur Escallier. Es gibt noch Hoffnung. Zwei Prozent Hoffnung. Zwei Prozent Hoffnung, daß Ihre Frau wieder normal wird.« »Zwei Prozent?« Er stieß die beiden Worte wie angewidert aus und lenkte den Blick in Lebusons Gesicht, dem der ganze Vorfall offensichtlich zugesetzt hatte. »Was soll das: zwei Prozent?« »Ein Spezialist, er könnte es versuchen. Wir werden Ihre Frau so schnell wie möglich in die Behandlung eines Kollegen geben. Sobald sie wieder bei Kräften ist und Behandlungen einen Sinn haben.« Weitere fünf Minuten vergingen. Dann geleitete Lebuson mit großem Einfühlungsvermögen seinen Gast nach draußen. Escallier starrte noch mal auf die Tür, hinter der das Schreckliche und Unfaßbare geschehen war. »Kann ich sie sehen, Doktor?« fragte er matt. »Sie schläft. Es hätte keinen Sinn.« »Nur einen Blick auf sie werfen.« Lebuson nickte. »Schön, dann kommen Sie bitte mit. Aber nur eine halbe Minute.« »Ja, Doktor.« Wortlos ging Lebuson ihm voran. Der Gynäkologe fuhr ein Stockwerk höher. Nadine Escallier lag allein in einem freundlich eingerichteten Zimmer. Ihr Bett stand direkt neben dem Fenster. Wenn sie den Kopf hob, konnte sie in den stillen, friedlichen Park sehen. Aber sie hob den Kopf nicht, sondern atmete langsam, so daß Escallier im ersten Moment erschrak, weil er glaubte, sie würde überhaupt nicht mehr atmen. Ihr Gesicht war klein und kreidebleich. Fast durchscheinend wirkten die Augenlider. Escallier hauchte einen Kuß auf ihre Stirn. »Sie hatte so große Hoffnung«, preßte er hervor. »Gestern sah alles noch so gut aus. Die Untersuchung bei Dr. Roché. Er sah nicht den geringsten Anlaß für eine Befürchtung.« »Das kann manchmal sehr schnell gehen.« »Auf ein Wort noch, Doktor.« »Ja, bitte?« »Das Kind — kann ich das Kind…« Lebuson schüttelte den Kopf. »Es ist tot. Ich sagte es schon.«
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»Ja, ich weiß. Ich hätte es gern mal gesehen. Trotzdem! Es war ja fast entwickelt.« »Das ist richtig, aber es gibt Dinge, die ich trotz aller Rücksichtnahme und allem Verständnis nicht erlauben kann.« Escallier nickte. Das verstand er. »Was war es?« wollte er wissen. »Ein Junge? Ein Mädchen?« »Ein Junge. Sie hätten einen Sohn gehabt, Monsieur ...« Lebuson klingelte der Schwester. Sie brachte Escallier nach draußen. Der Gynäkologe blieb im Krankenzimmer zurück. Er beobachtete vom Fenster aus das vom Spaziergang zurückkehrende Paar: Larry Brent und Laurette Valmeuse. Sie kamen bis dicht vor das Haus und sahen den Pariser Anwalt aus der Eingangstür stürzen, als wären Furien hinter ihm her. Pierre Escallier stürmte zu seinem Wagen und fuhr los, ohne noch einen Blick zurückzuwerfen. Larry und Laurette blickten sich an. Sie merkten nicht, daß im Zimmer des ersten Stocks das Fenster geringfügig geöffnet wurde und Dr. Claude Lebuson deutlich die wenigen Worte zu hören bekam, die sie miteinander sprachen, die jedoch alles andere als verdächtig waren. X-RAY-3 blickte dem entschwindenden Auto des Anwalts nach und meinte: »Entweder ist er so verärgert, daß statt eines Jungen ein Mädchen auf die Welt kam — oder umgekehrt. Oder es ist etwas Furchtbares passiert. Er war ja völlig verstört.« Larry begleitete die kleine Französin noch bis zum Portal. Lebuson stand weit genug vom Fenster zurück, so daß der Agent ihn unmöglich wahrnehmen konnte. Larry aber war stets vorsichtig, wenn es sich um undurchsichtige Dinge handelte. Er riskierte kein falsches Wort und keine Andeutung, und auch Laurette, die genügend eingeweiht worden war, unterließ es. Als Larry zu seinem auf dem Parkplatz abgestellten giftgrünen Jaguar ging, der ihm als Playboy in Paris wie auf den Leib geschneidert war, blickte Lebuson ihm nach. X-RAY-3 dachte daran, daß jetzt eine günstige Zeit wäre, mit Iwan Kunaritschew und Kommissar Tolbiac Verbindung aufzunehmen und die Operation zu koordinieren. Kein Wort hatte er darüber mit Laurette gespRochén, um keine unnötige Gefahrenquelle für sie zu schaffen. Und doch wußte Claude Lebuson Bescheid! Die Gedanken des Mannes, der da unten davonfuhr, blieben ihm nicht verborgen. Lebusons fiebernde Sinne nahmen die Überlegungen auf wie eine Funkbotschaft. Schon die Begegnung mit Brent war für Lebuson ein Warnsignal gewesen, zeigte sie ihm doch, daß die PSA ihm wieder auf den Fersen war. Hinter der Maske von Lebuson verbarg sich niemand anders als — Dr. Satanas. Es war ein Gesicht von vielen. »Kunaritschew oder Tolbiac?« wisperte Claude Lebuson alias Dr. Satanas. »Egal, was du auch unternimmst, Brent, es wird dir zum Schicksal werden.« Er hielt sich in seinem Geheimlabor hinter der massiven Mauer auf. Hierher hatte er das neugeborene Skelettkind gebracht. In dem mit gespenstisch grünem Licht schwach
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beleuchteten Kellerraum befanden sich zahlreiche kastenförmige Regale. Fast alle waren schon gefüllt. Mit bewegungslos dastehenden Skelettkindern. Über hundertfünfzig Regale waren gefüllt. Die meisten Knochenkinder waren hier in der Klinik zur Welt gekommen. Aber nicht alle. Sehr viele Frauen, die zu Ärzten gegangen waren, die seinem hypnotischen Bann unterstanden, waren als Geburtshelfer ins Haus gerufen worden und hatten Beistand geleistet. Sie hatten Teufelskinder zur Welt gebracht und die toten Mütter beseitigt. All diese Skelette waren zu Lebuson gekommen, der Großes damit vorhatte. Nur ein Skelett hatte den Weg zu ihm noch nicht gefunden. Es war, als ob der Ruf es nicht richtig erreiche. Deshalb hatte er das Faktotum Jean losgeschickt. Aber der hatte den Ärger nur noch verschlimmert. Momentan befand sich das Skelettkind zur Analyse bei der Polizei. Während der zurückliegenden Stunden hatte Lebuson alias Satanas nur einmal Gelegenheit gehabt, das Teufelskind zu rufen und die Beschwörungsformel zu sprechen. Zuviel war auf ihn eingestürmt. Er konnte nicht alles allein machen. Zuviel lastete auf seinen Schultern. Aber bald würde er viele Helfer haben ... Er wandte, sich ab von der Wand mit den zahlreichen Regalen einer anderen, leeren zu und starrte mit halbgeschlossenen Augen darauf. Im Dunkel glaubte er Gestalten und eine neue Umgebung zu sehen. Ein Raum, Schreibtische. Und nicht nur das. Große Tische zum Experimentieren mit Glaskolben und Reagenzgläsern, im Hintergrund große, eiserne Aktenschränke. Ein Polizeilabor ... Ein Mann in einer Ecke, vor sich ein Mikroskop. Satanas sah die Bilder schwach und verschwommen. Er konzentrierte sich stärker auf den Ort, den er in seinen Gedanken sah. Das Bild auf halber Höhe seines Kopfes, das aussah, als würde es sich nebelhaft aus der Welt herauswinden, wurde klarer. Neben dem am Mikroskop Hantierenden befand sich ein Wandschrank mit großen Schubladen. Schilder mit verschiedenen Aufschriften. Lebuson hob wie ein Zauberpriester die Arme. Leise kamen die Worte aus seinem Mund, als er die Beschwörungsformel sprach. »Ich bin euer Meister, ihr habt mich erhört. Die Kräfte der Hölle erfüllen euch. Verleiht ihm die Macht, die auf euch zurückkommen wird.« Und er fügte nicht das fordernde, zwingende »Komm«, hinzu, das er im Beisein von Jean gespRochén hatte, sondern flüsterte mehrmals das Wort: »Töte, töte, töte ...« Und in dem fernen Polizeilabor der Stadt war eine Überraschung fällig ... Es erwischte Paul Archant. Er arbeitete in der Ecke des Labors direkt neben dem Schrank, in dem die Utensilien, die von Bedeutung für die einzelnen Fälle waren, aufbewahrt wurden. Er war in seine Arbeit vertieft und machte in einer Liste mehrere Vermerke. Er stelle eine Vergleichsanalyse an, die mit Dr. Satanas und seinen Skeletten eigentlich nicht das geringste zu tun hatte. Doch in einer Schublade befand sich das Skelett, das Iwan Kunaritschew in der vergangenen Nacht sicherstellen wollte. Archant, seit fünfzehn Jahren im Polizeidienst, war ein Laborarbeiter der alten Garde.
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Täglich vor neue Probleme gestellt, suchte er nach Mitteln und Wege, diese Probleme zu meistern. Er war so in seine Arbeit vertieft, daß er auf das leise, raschelnde Geräusch in der Schublade mit der Aufschrift »Kinderskelett 17./18.11.1972« nicht hörte. Die Lade bewegte sich nach außen als würde von innen jemand schieben. Stück für Stück glitt sie nach vorn. Archant war in seiner Ecke allein. Der Schrank lag im Halbschatten. Durch die bewegliche Lampe war nur der Arbeitstisch des Laboranten schattenlos ausgeleuchtet. Dünne, weiße Finger schoben sich über den Rand der Schublade. Archant drehte der Ecke den Rücken zu. Die Arme kamen schon nach außen. Der Spalt war jetzt groß genug, daß der kleine wendige Körper ganz herausgleiten konnte. Das Kinderskelett schob sich in die Höhe. In der Dämmerung hinter Archant wirkte es wie eine Marionette, die an unsichtbaren Fäden bewegt wurde. Erschreckend war die Tätsache, daß es eigenständiges Leben zeigte, daß rätselhafte Kräfte in diesem in einem Menschenleib gewachsenen Wesen sich bemerkbar machten und es belebten. »Töte!« Aus der Ferne schienen die Worte Dr. Satanas' diesen Raum zu erfüllen und ihn magisch aufzuladen. Paul Archant bemerkte nichts, auch nicht, wie der kleine skelettierte Körper sich vom Rand der Schublade, auf der er stand, abstieß. Zack! Wie ein Fremdkörper saß das Skelett in seinem Nacken ... Archant zuckte zusammen. Seine Hand kam nach oben. Er glaubte im ersten Moment, jemand aus der Abteilung würde sich einen Scherz erlauben und halte seinen Nacken umspannt. Solche Spaße machte manchmal ein Kollege. Aber dann ging der Spaß zu weit! Der hinter ihm Stehende, wie er vermutete, drückte fest zu ... Mensch, hör auf, wollte Archant sagen, du drückst mir ja die Gurgel ab! Aber er kam nicht dazu, es wurde nur ein schwaches, heiseres Krächzen. Sein Atem wurde gestoppt! Von panikartigem Entsetzen erfüllt, riß er beide Hände hoch, fühlte die blanken kalten Knochen und versuchte seine Daumen von beiden Seiten unter die kleinen Hände zu schieben. Aber es gelang ihm nicht. Wie ein Schraubstock lagen sie um seinen Hals. Archants Augen wurden groß und größer, er schnappte vergeblich nach Luft, seine Stirnader schwoll an und seine Halsadern und Lippen wurden blau. Was hier geschah, war ungeheuerlich. Dieses kleine, puppengroße Skelett verfügte über eine Kraft, die nicht zu brechen war. Archants Hände flogen nach vorn.
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Er sah seinen Peiniger als einen verzerrten, weißlich grauen Schemen, der sich auf dem blankpolierten Stativ spiegelte. Er sah, was ihm da im Nacken hockte, Und er konnte es nicht fassen. Archant konnte nicht mal auf sich aufmerksam machen. Er schaffte es, mit seinen verlöschenden Kräften die Papiere von seiner Arbeitsplatte zu fegen. Aber das Rascheln machte niemand von den Kollegen aufmerksam. Sein Kugelschreiber flog nach vorn. Er rollte weit nach vorn. Bis zu der Stelle, wo der schmale Wandvorsprung, hinter dem er ausgerechnet saß, zu Ende war. »Na, na Paul«, sagte die zierliche Laborantin, die dort ihren Platz hatte. Drei Meter von Archant entfernt, durch einen Mauervorsprung verdeckt, saß Yvette. Sie hatte sich auf Fingerabdrücke spezialisiert. Den ganzen Tag machte sie nichts anderes als Vergleichsproben und Fotoaufnahmen. »Erst die Papiere, dann wirfst du auch noch den Kugelschreiber nach mir. Ärgerst du dich, daß ich mich den ganzen Mittag noch nicht um dich gekümmert habe, Paul?« »Paul? Redest du nicht mehr mit mir? Dann steht es wirklich schlimm um uns.« Yvette schob ihren Stuhl zurück, der auf vier kleinen Metallrollen gelagert war. Lautlos rollte sie bis zur Wand, um einen Blick um die Ecke zu riskieren. Zwei Dinge trafen zusammen. Ihr Schrei — und der Eintritt von Kommissar Tolbiac und seinem Begleiter Larry Brent.
»Bon jour, meine Damen und Herren, ich ...« Das bekam Tolbiac gerade noch heraus. Der Rest ging unter in der allgemeinen Aufregung. Der gellende Schrei der aufspringenden Yvette ließ die Luft erzittern. Larry Brent reagierte auf seine eigene Weise. Er begann sofort zu rennen, und erreichte noch fünf Sekunden vor Tolbiac den Gang, wo das Gräßliche bereits passiert war. Archants Kopf fiel leblos nach vorn und plumste mit aller Wucht auf die Arbeitsplatte. Die Stirn platzte auf. Larry sprang nach vorn. Er sah das Skelett, das nun erst den Hals des Toten losließ, und sah auch die Laborantin, die zusammenbrach, ohne einen weiteren Laut von sich zu geben. Yvette stürzte ohnmächtig zu Boden. Geistesgegenwärtig sprang Larry auf sie zu, um zu verhindern, daß sie sich durch den Fall auch noch verletzte. Er schaffte es in letzter Sekunde. Das mordende Skelett löste sich von den zusammengesunkenen Schultern des Opfers. Leicht wie eine Feder sprang es mit seinen klappernden Beinen über die Arbeitsplatte und wollte offensichtlich das Fenster gegenüber erreichen. Da peitschten zwei Schüsse auf. Tolbiac hatte geschossen. Eine Kugel pfiff durch den Raum zwischen den Rippen und schlug in einen Aktenberg,
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der aufgearbeitet werden mußte, die zweite durchbohrte mit Präzision den weißen Schädel der teuflischen Marionette, von hinten nach vorn und trat aus dem Stirnbein wieder heraus. Aber nichts geschah. Dies war kein menschliches Leben. Hier wurde ein Skelett als Werkzeug eines gefährlichen Geistes benutzt, der ebensogut in einen Hund, in eine Katze, vielleicht sogar in einen leblosen Gegenstand fahren konnte ... Ein böser Geist! Er tobte sich aus und war nicht zu vernichten. Jedenfalls nicht mit den Mitteln, die Tolbiac einsetzte. X-RAY-3 fand noch die Zeit, die ohnmächtige Laborantin sanft auf den Boden gleiten zu lassen und schnellte dann wie eine gereizte Raubkatze herum. Er warf sich einfach quer über den schräg hinter ihm stehenden Tisch, streckte beide Hände aus und erreichte das puppengroße, knöcherne Etwas. Brent griff mit beiden Händen zu. Keine Sekunde zu früh! Die teuflische Marionette hatte offenbar den Befehl erhalten, sich kurzerhand aus dem Fenster zu stürzen, um den Ort des makabren Geschehens zu verlassen. Doch der wendige PSA-Agent schob dem einen Riegel vor. Er spürte die sich windende Teufelsmarionette zwischen seinen Fingern, wie sie versuchte, dem Zugriff zu entkommen. Larry bot all seine Kräfte auf und schaffte es nicht, sie festzuhalten. Das Skelett schraubte sich aus seinen Händen, die er zusammenpreßte wie eine Stahlzange. Der Leib rutschte nach oben, die Beine entwanden sich ihm. Die kleinen dürren Arme streckten sich nach seinem Hals aus. Und dann drückten sie zu. Hart und unerbitterlich. »Töte ... töte ... töte!« Der magische Strom der gierigen Gedanken erreichte, aus der Ferne den teuflischen, Geist, der den knöchernen, blut- und fleischlosen Körper beseelte. Dem Amerikaner wurde die Luft abgestellt.
Nie hätte er für möglich gehalten, daß er den Tag auf diese Weise verbringen würde. Iwan Kunaritschew alias X-RAY-7 war klargeworden, daß Lebuson kein wirkliches Ziel hatte. Er benutzte verschiedene Linien der Untergrundbahn, und Iwan folgte ihm auch dahin. Er saß sogar im gleichen Abteil wie der Gynäkologe, und X-RAY-7 fragte sich, was dieser Mann eigentlich bezweckte. Gedankenversunken saß er da, den Blick auf die gefalteten Hände gerichtet, die er auf den Knien liegen hatte. Er rieb seine Finger aneinander, als wären sie ihm kalt geworden. Iwan zog sein erstes Fazit: Lebusons Verhalten war alles andere als normal.
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Ein Mann, der eine große Klinik leitete, reiste kreuz und quer durch die Millionenstadt. Er ging am hellichten Tag an der Seine spazieren, besuchte ein Café, fuhr mit der Untergrundbahn scheinbar ziellos von einer Station zur anderen und verbrachte seine Zeit mit Nichtstun. War das die Möglichkeit? Kunaritschew beobachtete sein Gegenüber und fragte sich, ob dies wirklich Lebuson war oder nur ein Doppelgänger? Nein, dies war Lebuson! Kunaritschews Personengedächtnis funktionierte ausgezeichnet. Der Russe warf schnell einen Blick auf seine Uhr. Es war gleich fünf. Seit drei Stunden machte er diese Verfolgung mit. Wie es ihm schien, alles ohne Zweck. Sie saßen in der Linie acht der Metro. Vom Place de la Bastille, wo Lebuson eine Zeitlang herumgebummelt war. war er schließlich in die Metro-Station gegangen und hatte diese Linie genommen, die nun die Endstation entgegenraste. In den Zügen war es angenehm warm. Wie verträumt saß Lebuson da, und Kunaritschew gewann den Eindruck, als wäre der Mann mit seinen Gedanken am anderen Ende der Welt. Warum verhielt Lebuson sich so? Weshalb konnte er es sich leisten, über drei Stunden von seiner Klink abwesend zu sein? Wenn er noch eine wichtige Begegnung oder Besprechung gehabt hätte, würde das verständlich sein. Aber so …? Irgend etwas stimmte hier doch nicht! Kunaritschew hatte sich vorgenommen, dieses undurchsichtige Spiel bis zum Ende weiterzuführen ... Lebuson konnte schließlich nicht die ganze Nacht so ziellos vergeuden. Der Arzt verließ seinen Platz nicht bis zur Endstation bei den Charenton-Écoles. Das Abteil war nur noch schwach besetzt, und es leerte sich deshalb schnell. Kunaritschew verließ als letzter den Wagen. Auf dem unterirdischen Bahnsteig war nicht viel los. Nur wenige Fahrgäste stiegen ein, und kurze Zeit später rauschte die Metro wieder in entgegengesetzter Richtung davon. Der Russe zündete sich an einem Schaukasten für weibliche Reizwäsche eine neue Zigarette an. Lebuson stand an einem Aushang daneben und studierte Geschenkartikel, die eine stadtbekannte Firma hier präsentierte. Kunaritschew lief nicht gleich hinter dem Gynäkologen her, als dieser sich wieder in Bewegung setzte. Es war jetzt der Punkt erreicht, wo er besondere Vorsicht walten lassen mußte. Seit Stunden hielt er sich in Lebusons unmittelbarer Nähe auf, und die Wahrscheinlichkeit, daß der Mann dies gemerkt hatte, war gegeben, obwohl Kunaritschew es nicht hoffte. Er glaubte sich sehr geschickt verhalten zu haben ... Lebuson machte keine Anstalten, die Station zu verlassen. Er ging weit in den Schacht hinein und bog schließlich hinter einem leerstehenden Häuschen ab, das früher einmal als eine Art Zeitschriftenkiosk fungiert zu haben schien, ehe es von einem modernen Komplex hundert Meter weiter zurück abgelöst worden war. Von hier aus führte der Weg in einen stillgelegten Schacht.
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Es war dunkel. Keine Lichter brannten. Der Schein, der von dem im Betrieb befindlichen Schacht hierher fiel, wurde immer schwächer. Lebusons Schritte hallten durch die Stille. Kunaritschew bemühte sich, kein Geräusch zu verursachen. Es verwunderte ihn, daß der Mann sich nicht ein einziges Mal umblickte, um festzustellen, ob er vielleicht verfolgt würde ... Dieser Gedanke schien ihm überhaupt nicht zu kommen. Was suchte der Arzt hier? Seine Ankunft an diesem Ziel zumindest wirkte befremdend und verdächtig, und Kunaritschew fühlte sich veranlaßt zu glauben, daß der Zeitaufwand den er bisher investiert hatte, sich nun doch noch lohnte. Lebuson ging tief in den finsteren, stillgelegten Stollen hinein. Links und rechts wichen die Galerien zurück, so daß schließlich nur noch äußerst schmale Pfade vorhanden waren, auf denen man kaum mehr gehen konnte. Sie liefen dann beide direkt auf dem alten Schienenweg in die Dunkelheit. Wie ein Berg türmte sich ein alter, nicht mehr benutzter Metro-Wagen vor ihnen auf. X-RAY-7 mußte auf die Plattform klettern, genau wie der Arzt das tat. Er lief durch den Mittelgang des Wagens. Leere Sitze, kein Laut, Dunkelheit. Dem Ganzen haftete etwas Spukhaftes an. Kunaritschew hörte in der Finsternis vor sich eine Tür klappen. Lebuson verließ den Wagen wieder. Wie ein Schatten huschte Kunaritschew durch den Gang. Es war erstaunlich, mit welcher Leichtigkeit der Russe seine fast zwei Zentner Lebendgewicht bewegte. Seine Muskeln arbeiteten geschmeidig, Iwan bewegte sich wie eine Katze. An diesem durchtrainierten Körper gab es kein Gramm Fett. Kunaritschew erreichte die hintere Plattform, öffnete die Tür und starrte in die Finsternis. Hier mußte jetzt auch Lebuson sein und ...
Da passierte es!
Ein Schatten, zwei, drei!
Eine Faust krachte in sein Gesicht, eine Handkante von hinten sauste schräg gegen
seinen Nacken, zwei Hände, die nach ihm greifen und ihn zu Boden zerren wollten, aber fanden nicht mehr ihr Ziel. Kunaritschew stieß seine großen, kräftigen Arme nach vorn. Der dritte Angreifer fühlte sich nach oben gerissen. Der Russe wirbelte herum wie ein Karussell und schleuderte den Angreifer einfach mit sich, ihn wie eine Sichel benutzend. Damit traf er den einen Kontrahenten voll in die Hüfte, riß ihn förmlich zur Seite, und der Mann stürzte ohne einen Laut von sich zu geben von der Plattform. Der andere rettete sich mit einem geschickten Sprung zur Seite. Gleichzeitig ging er in die Hocke, unterlief Kunaritschews Windmühlenflügel und tauchte wie ein Pilz aus dem Boden schießend direkt vor dem Russen auf. X-RAY-7 ließ den anderen, den er als Schleuder benutzt hatte, einfach los. Der Gegner flog über die Plattform und landete unten irgendwo im Dunkel zwischen den Schienen. Der vor ihm Auftauchende kam gar nicht dazu, noch mal voll aktiv zu werden. Kunaritschew schoß seine Rechte ab. Sie krachte wie ein Hammer auf das Kinn des Fremden. Er hörte es knirschen. Aber wieder erfolgte kein Schmerzenslaut und kein
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Aufschrei. Der Getroffene flog zurück gegen die Wagentür und es hallte durch den unterirdischen Stollen, als würde jemand einen indischen Gong schlagen. Wo Kunaritschew hinschlug, wuchs normalerweise kein Gras mehr. Doch seine Gegener waren nur zurückzudrängen, nur aufzuhalten. Er konnte sich ihrer nicht entledigen. Sie waren keine Menschen! Sie hatten nur menschliche Gestalt angenommen. Als er von der Plattform sprang, um sich mehr Bewegungsfreiheit zu verschaffen, waren sie plötzlich alle drei wieder da. Frisch und unbeschädigt ... Ihre hellen, bleichen Gesichter schimmerten wie Mondscheiben im Dunkel. Von Dr. Lebuson weit und breit keine Spur mehr. Stinkender Atem schlug dem Russen entgegen. Die menschlichen Gesichter vor ihm waren zu abstoßenden Fratzen verzogen, als wollten sie ihn damit erschrecken. Da wußte Kunaritschew, daß mit Sicherheit Dr. Satanas hinter allem steckte. Er rief die Dämonen. Diese drei waren Hilfsgeister, die ihn, Kunaritschew, zur Strecke bringen sollten. »Na warte!« preßte er hervor. »Da hab' ich was für euch!« Er riß sein Bein hoch und trat einen zurück, daß er im hohen Bogen gegen die Stollenwand klatschte und sekundenlang ausfiel. Gleichzeitig fummelte er in der Tasche seines Jacketts herum, über dem er eine fellgefütterte Lederjacke trug. Der Zusammenstoß mit einem leibhaftigen Dämon in einem Krankenhaus in Montevideo im Zusammenhang mit Dr. Satanas hatte ihn vorsichtig werden lassen. Durch einen Zufall hatte er dort erkannt, daß ein Kruzifix im Kampf gegen die Geisterwelt eine wirksame Waffe sein konnte. Als die Computer die Möglichkeit andeuteten, daß hinter den aufgetretenen Verdachtsmomenten ein Mann vom Format Dr. Satanas steckte, hatte Kunaritschew vorgesorgt. Er hatte sich ein Kruzifix mitgenommen und trug es stets bei sich. Er wich Schritt für Schritt auf den Schienen zurück, seine Widersacher nicht aus den Augen lassend. Beide Angreifer taten nun etwas, von dem sie erwarteten, daß es mehr einbrachte, als ihre Angriffe, die sie bisher vorgetragen hatten. Sie veränderten ihre Gestalt und wollten den Menschen, der hier nichts zu suchen hatte und der Lebuson gefolgt war, auf ihre Weise besiegen. Die Gesichter verformten sich, die Augen wurden groß und die Schädel sahen aus, als würden sie von innen her aufgeblasen. Sie wollten Kunaritschew zu Tode erschrecken oder zumindest erreichen, daß er vor Angst erstarrte und kampfunfähig wurde. Ein andere Mensch an Kunaritschews Stelle hätte gellend geschrien, nicht so der Russe. Er stellte sich der Herausforderung der Hölle. Doch auch ihm war mulmig zumute, obwohl dies nicht seine erste Begegnung mit leibhaftigen Dämonen war. Er fühlte, wie seine Haut kalt wurde, und das hing nicht allein damit zusammen, daß von den unheimlichen Angreifern ein Hauch eisiger Kälte ausging.
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Bevor sie ihre endgültige höllische Gestalt annehmen konnten, hielt X-RAY-7 das Kruzifix in der Hand. Er fühlte die kühle Wand hinter sich. Hier war der Schienenweg zu Ende. Eine Mauer aus Beton wuchs hinter ihm aus dem Boden und begrenzte den stillgelegten Schienenstrang. Er streckte die Hand mit dem geweihten Kruzifix aus. Zwei Dinge erfolgten zusammen, so daß er nicht mehr sagen konnte, ob das Kruzifix wirksam genug war, die unheimlichen Widersacher zurückzuwerfen, oder ob er sich erneut mit ihnen herumschlagen mußte, bis er vor Erschöpfung nicht mehr konnte. Er sah die beiden Dämonen zurückprallen. Ein heftiger Atemstoß traf sein Gesicht, der penetrante Geruch schlug ihm förmlich auf die Lungen. Aus den Augenwinkeln heraus erblickte er den dritten Gegner, der an der Außenwand langsam emporkam und auch seine Gestalt veränderte. Der Anblick, der sich X-RAY-7 bot, war so entsetzlich, daß sich ihm die Haare sträubten. Überhaupt der dritte, den er zurückgeworfen hatte, schien ein Dämon besonderer Art zu sein. Zwei Köpfe wuchsen aus seinen Schultern, auf denen sich große Schuppen zeigten. Er nahm die gedrungene Form eines Reptils an. Aber mehr erkannte Kunaritschew nicht. Das Ereignis trat ein ... Es krachte etwas gegen seinen Hinterkopf. Ein vierter Angreifer, gellte es noch durch sein Gehirn. Lebuson! Den hatte er ganz vergessen! Mit einem breiten, dicken Brett bewaffnet stand er auf dem Betonklotz, während Kunaritschew das Kreuz aus der Hand flog, direkt gegen die breiten, schwammigen Füße der Unheimlichen, die zurückwichen und dann die Arme hochwerfend das Weite suchten. Iwan verdrehte die Augen. Er hatte kein Gefühl mehr in seinem Hinterkopf. Er glaubte, ein riesiger, sich weiter aufblasender Ballon säße auf seinen Schultern. Der Russe rutschte an der Mauer herab, hockte mitten auf den Schienen, und sein Kopf fiel langsam auf die Seite. Wie ein Spuk verschwanden die drei Unheimlichen in der Dunkelheit, lautlos wie ein Schatten tauchte auch Dr. Claude Lebuson unter. Der Stollen verschluckte ihn restlos. In der Maschinerie des Metro-Wagens aber knackte es, als würde die Schaltapparatur betätigt. Es quietschte in den seit langer Zeit feststehenden Achsen und Rädern. Der Wagen begann zu rollen! Niemand saß im Führerhaus, und niemand betätigte den Mechanismus. Gespenstische Kräfte wurden frei. Der Metro-Wagen rollte langsam auf den bewußtlosen Russen zu. Der lag gegen die Betonwand zurückgelehnt und merkte nichts. Das unbeleuchtete Fahrzeug wirkte wie ein gigantischer metallener Sarg. Auf der einen Seite die flache, stählerne Schnauze — auf der anderen Seite die glatte Betonwand, vor der der PSA-Agent halb lag.
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Die Situation glich zwei Mühlsteinen oder einer Presse, in der Iwan Kunaritschew innerhalb einer Minute wie eine Traube zerquetscht werden sollte.
»Archant ist tot!« Heiser und erregt kamen die Worte über die Lippen eines Mitarbeiters, der sich ein Herz gefaßt hatte und den kürzeren Weg zum Arbeitsplatz des toten Laboranten gehabt hatte. Brent sollte nicht das gleiche Schicksal erleiden. Aber er war auf dem Weg dazu! Tolbiac, ein ihn begleitender Beamter und ein Laborant, der vom anderen Ende des mehrfach durch Aktenwände und Arbeitstische unterteilten Raumes vorgerannt waren, kamen Larry zu Hilfe. Der Amerikaner kämpfte wie ein Bär, um den stählernen Griff um seinen Hals zu lockern. Aber es schien, als würde er nicht gegen dieses kleine, schwächlich aussehende Skelett kämpfen, sondern gegen einen Giganten, der über unmenschliche Kräfte verfügte. Wie eine Klette hing das Skelettkind an Brents Hals. Larry konnte nicht mehr atmen. Er hatte das Gefühl, jeden Augenblick die Besinnung zu verlieren. Das Blut rauschte in seinen Ohren, und er hörte das wahnsinnig schnelle Pochen seines Herzens bis hoch zum Hals. Tolbiac griff ein, dann der Laborant. Jeder riß an einem der skelettierten Ärmehen. Es knirschte in den Gelenken des Skelettkindes. Beide Männer holten das Letzte an Kraft aus sich heraus. Da lockerte sich der Griff, aber nur minimal. Es war noch kein Erfolg. Larry reagierte blitzschnell. Er tauchte unter dem Zugriff weg und rollte sich zur Seite. Das Skelettkind flog durch die Luft. Die ungeheuerliche Spannkraft, welche den gespenstischen Körper erfüllte, war dann mit einem Mal verschwunden. Tolbiac und der junge Mann, der ihn unterstützt hatte, flogen zurück durch den eigenen Schwung. Der Laborant landete an einem Aktenschrank. Die Akten kippten nach vorn und fielen wie eine Flut zum Leben erwachter Papiere über ihn her. Dumpf polterten die Hefter auf den Boden. Tolbiac hatte mehr Glück. Der Kommissar flog auf den nächsten Stuhl, dessen vier Beine bedrohlich ächzten. Die Rückenlehne ging aus dem Leim, doch mehr passierte nicht. Das Skelett floh. Die ferne, lautlose Stimme rief den Geist, der diesen Körper erfüllte. Das Skelett jagte auf das Fenster zu. Es warf sich dagegen. Die Scheibe zersplitterte. Die physikalischen Gesetze wurden hier verhöhnt. Wie konnte ein so federleichter Körper, der so gering an Masse und Gewicht war, eine Scheibe von dieser Stärke zum Zerspringen verurteilen? Es war dasselbe, als wenn ein Vogel dagegenflog! Normalerweise würde so gut wie nichts geschehen.
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Doch bei diesem Skelett konnte man keine menschlichen Maßstäbe anlegen. Hatte das Skelettkind dies gar nicht bewirkt? War eine andere Kraft wirksam geworden, die beobachtete, befahl und steuerte? Larry Brent dachte bereits wieder scharf nach und handelte schnell und überlegt. Seine Smith & Wesson Laser blitzte auf. Der vernichtende Strahl strich wie eine Todespistole in einem Science-Fiction-Film über den blanken, weißen Knochenkörper, der sich durch den entstandenen Spalt in der zersplitterten Fensterscheibe in die Tiefe stürzen wollte. Die Laserstrahlen leisteten ganze Arbeit. Larry hatte sie auf die äußerste Wirksamkeit einjustiert. Er ging sehr sparsam mit dieser Waffe um. Hier war es notwendig. Ein Körper, der im eigentlichen Sinn kein wirkliches Leben beherbergte, mußte vernichtet werden, weil er menschliches Leben bedrohte. Dieses Skelett mußte bekämpft werden wie ein krankmachender Bazillus. Die Hitze ließ den Schädel der teuflischen Marionette zusammenschrumpfen. Ein dicker, unförmiger Klumpen, an einen deformierten Kloß erinnernd, saß auf den kleinen schmalen Schultern. Das Skelett zuckte, wie ein Krampf lief es durch die Knochen. Der Strahl fraß sich über das Schultergelenk und über die Rippen. Alles schmolz ineinander, die ungeheuerliche Hitze deformierte das Skelett vollständig, ehe es zusammengeklumpt und verformt doch noch durch das Loch im Fenster in die Tiefe stürzte. Mit in die Stirn hängenden Haaren blickte der braungebrannte PSA-Agent durch das weitgeöffnete Fenster, das er geistesgegenwärtig aufgerissen hatte. Hinter ihm drängten sich die anderen heran, starrten nach unten und verfolgten den Sturz des todbringenden Skeletts ... Das schlug unten auf. Einem Passanten direkt vor die Füße. Der prallte erschreckt zurück, riß den Kopf hoch und blickte ratlos nach oben, dann wieder auf das Ding zu seinen Füßen. Das Skelett rührte sich nicht mehr. Der gefährliche Geist, der es erfüllt hatte, war ausgefahren. Und er schien nur in diesem Körper, der im Leib einer irdischen Frau seine Existenz begonnen hatte, fähig zu sein, das zu vollbringen, was man von ihm erwartete. Der Körper war demoliert und vernichtet, kein nutzbringendes Gefäß mehr für das unheilvolle Leben, das sich eben noch gezeigt hatte. Tolbiac und Brent stürzten über die Treppe nach unten. Larry stellte das sich nicht mehr rührende Skelettkind sicher. Es hatte nicht mehr viel Ähnlichkeit mit einem menschlichen Skelett. Beide Männer kehrten durch das große Portal in das Polizeikommissariat zurück, als eine der auf den Korridor mündenden Türen aufgerissen wurde. »Kommissar Tolbiac, Kommissar! Schnell!« rief eine Stimme. An der Tür stand Tolbiacs Sekretärin. »Soeben traf ein Notruf ein! In den Tuilerien sind drei Menschen ermordet worden! Ein völlig verstörter Augenzeuge hat angerufen. Er ist wie von Sinnen gewesen und
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behauptete, daß lauter Skelette die Menschen angefallen — und erwürgt hätten!« Larry Brent und Marcel Tolbiac sahen sich an. »Nichts wie hin«, entfuhr es Larry, und er machte auf dem Absatz kehrt. »Satanas!« flüsterte er. »Man kommt mit einem fertigen Plan nicht an ihn heran.« Er mußte an Laurette denken, und es fror ihn. »Er geht zum Angriff über. Jetzt zeigt er, was er wirklich will!«
»Da war doch etwas!« sagte der Polizist, der gemeinsam mit einem Kollegen in den dunklen Stollen kam. Die beiden Beamten hatten einen Auftrag. Die Polizei war auf den Spuren einer Rauschgiftschmugglerbande. Zeugen wollten beobachtet haben, daß in der letzten Zeit immer wieder verdächtige Personen hier unten verschwunden waren. Auch war ein Mann aufgefallen, der des öfteren hier unten gesehen wurde und über den man nichts Genaueres wußte. Metro-Bedienstete waren aufgefordert worden, die Augen offenzuhalten. Alles wies darauf hin, daß das Nest der Schmuggler in diesem Arrondissement zu suchen war. Der Beamte, der gespRochén hatte, ließ seine Taschenlampe aufblitzen. Der andere griff sofort nach seinem Schlagstock. Vor ihnen in der Dunkelheit sahen sie schwach die Umrisse des stillgelegten Stollens, auf einer Schiene einen Wagen. Ein rollendes Geräusch, ein Ächzen! Der Wagen bewegte sich ... Die beiden Polizisten begannen zu rennen. Auch der andere schaltete nun seine Taschenlampe an. Lautlos huschten die breitgefächerten Strahlen über die stillgelegte Anlage. »Da ist etwas faul«, sagte nun auch der zweite Polizist. »Paß auf, Michel!« Sie stürmten weiter in den Stollen vor, immer den Strahl der Taschenlampe vor sich herführend. Der Wagen rollte nur langsam. Die beiden Männer sprangen auf die Plattform, rissen die Tür zum Passagierraum auf und passierten den Mittelgang, alle Sitze mit dem Strahl der Lampen ableuchtend. »Im Führerhaus ist kein Mensch! So was gibt's doch nicht! Da muß doch einer ...« Dem ersten Polizisten, der mit Michel angespRochén worden war, blieben die Worte im Hals stecken. Da war auch einer! Sie sahen ihn beide vor der Plattform. Er lag halb aufgerichtet vor der Betonwand. Sein Körper spannte sich. Der Mann war noch nicht ganz da, aber er erkannte die tödliche Gefahr, die ihm drohte, nämlich von dem anrollenden Wagen zermalmt zu werden. Iwan Kunaritschew kam — noch etwas schwach auf den Beinen — zum Stehen. Zwischen ihm und dem Metro-Wagen waren noch höchstens fünfzig Zentimeter Spielraum.
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Iwan riß die Arme hoch. Er fühlte den Betonklotz im Rücken. Da hinauf mußte er sich schwingen. Genügend Spielraum, sich auch noch umzudrehen, hatte er nicht mehr. Der Strahl aus den Taschenlampen tauchte das unwirkliche Geschehen in einen hellen Lichthof. Kunaritschew preßte die Augen zusammen. Instinktiv handelte er. Der Russe schaffte es im letzten Augenblick. Die tödliche Gefahr, in der er sich noch jetzt befand, wurde in den ersten Sekunden von den beiden Beamten gar nicht richtig erkannt. Sie wußten nicht, aus welcher Situation heraus der Fremde mit dem kupferroten Vollbart und den breiten Athletenschultern handelte. Alles war eigentlich unbegreiflich. Das fing schon an mit der Tatsache, daß der Wagen lief, obwohl der Motor nicht zu hören war. Iwan drückte sich nach oben. Sein Bauch wurde schon von der Metallverkleidung berührt. Michel und sein Kollege, die einen Logenplatz hatten, standen da wie vom Blitz gerührt. Keiner wäre imstande gewesen, hilfreich seine Hand auszustrecken. Es wäre auch sinnlos gewesen. Zumindest einer von ihnen hätte auf dem Betonklotz stehen müssen, um Kunaritschew hilfreich unter die Achseln zu greifen. Aber um dies noch bewerkstelligen zu können, war es schon zu spät. Keuchend riß Kunaritschew sich empor. Die Muskeln unter seinem Jackett spannten sich, als wollten sie den Stoff zerreißen. Sekundenlang schwebte der Russe in der Luft, dann warf er sich nach hinten. Er rollte sich herum. Da krachte es! Mit Donnergetöse stieß der Wagen gegen die Betonbegrenzung. Metall prallte auf Gestein. Ein häßliches Geräusch erfüllte die Luft, als das Metall eingebeult wurde. Der Wagen stand. Kunaritschew rappelte sich auf. Er schüttelte benommen den Kopf. »Bolschoe swinstwo«, stieß er respektlos hervor. »Das ging knapp vorbei.« Er blickte an seinem Bauch herunter. »Da hat nur noch knapp ein Zentimeter gefehlt.« Er klopfte vorsichtig darauf herum. »Die Fülle muß weg. Gleich morgen werd' ich anfangen. Weniger Wodka, weniger Whisky, das schränkt die Kalorienzufuhr ein.« »Was machen Sie hier?« Die Stimme eines Uniformierten dröhnte an sein Ohr. Der Polizist tauchte neben ihm auf, in der Rechten eine Schußwaffe. »Nicht das, was Sie vielleicht denken, meine Herren.« Iwans Stimme klang belegt. Er tastete sich den Hinterkopf ab und verzog angewidert das Gesicht. »Ich gehöre nicht zum technischen Wartungspersonal. Ich hab' mich auch nicht zum Schlafen auf die Schienen gelegt. Man hat mich niedergeschlagen.« »Hmm«, brummte der eine, während sein Kollege sich umsah. »Hier ist sonst niemand, Michel«, sagte der zweite Polizist, der den Stollen hinter dem Betonklotz einer genauen Inspektion unterzog.
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»Und wer hat Sie niedergeschlagen?« wollte der Uniformierte von Iwan wissen. »Drei Männer«, lautete die knappe Antwort. »Und wo sind die jetzt? Warum wurden Sie niedergeschlagen? Hatten Sie Ärger mit ihnen?« Der Polizist fragte ein bißchen zuviel. »Das alles könnte ich Ihnen erklären, aber ich fürchte, Sie werden mich nicht verstehen.« »Und wieso wurde der Wagen in Bewegung gesetzt, Monsieur?« Iwan zuckte die Achseln. Er hörte die Stimme des Uniformierten ein wenig verzerrt, wie durch eine schallgedämpfte Wand. »Auch das könnte ich — möglicherweise — erklären. Aber Sie würden mich wiederum nicht verstehen. Der Wagen begann einfach zu rollen.« »Ganz von selbst?« »Ja, gewissermaßen.« Michel schüttelte den Kopf. »Ein bißchen konfus, was Sie da von sich geben, Monsieur. Ich glaube, wir sollten uns in aller Ruhe mal unterhalten. Auf dem Revier. Wer Sie sind, woher Sie kommen und was Sie hier unten zu suchen haben. Dies ist ein stillgelegter Schacht. Vorn weisen Verbotsschilder darauf hin, daß es untersagt ist, ihn zu betreten wegen Einsturzgefahr.« »Nun, eingestürzt ist hier nichts. Eher wird man überrollt und ...« Iwan wurde unterbRochén durch die Stimme des anderen Polizisten aus dem Hintergrund. »Interessant, Michel! Das mußt du dir ansehen. Bring' den schrägen Vogel mal mit! Ich glaub' der Tip hat sich gelohnt. Ich hab' hier 'ne perfekt eingerichtete Wohnung gefunden.« Das stellte sich zwar als ein Scherz heraus, aber in einem Stollendurchbruch fanden sich eine dicke Matratze, ein paar Wolldecken und ein richtiges Lager! Eine Tüte mit Weißbrot, mehrere leere Konservendosen, in denen Wurst gewesen war, und eine halbleere Rotweinfiasche wiesen auf eine menschliche Behausung hin. Lebusons Lager! Iwan war sich sofort darüber im klaren. Hierher hatte der komische Gynäkologe sich zurückgezogen. Den ganzen Tag spazierte er durch Paris, und bei Einbruch der Dunkelheit suchte er dieses primitive Versteck auf! »Ihr Lager, nicht wahr?« meinte Michel. Die Begegnung mit dem Russen nahm Formen an, die Iwan selbst nicht für möglich gehalten hätte. Er mußte diesen beiden Männern, die mit einem bestimmten Auftrag unterwegs waren, verdächtig erscheinen. Es paßte alles zusammen. Schließlich war er auch bewaffnet. Sie hatten es festgestellt, als sie die Leibesvisitation durchführten, unmittelbar nachdem er auf den Beinen stand. »Na, dann kommen Sie mal mit«, forderte Michel den Russen auf. »Im Revier werden wir bestimmt ein anregendes Gespräch haben. Wenn Sie uns schon nichts über die Ware verraten wollen, dann werden Sie vielleicht unserem Reviervorsteher etwas Interessantes erzählen können. Er hat 'ne besonders nette Art, mit den Leuten zu plaudern.« »Das Ganze ist ein Mißverständnis. Ich habe nichts mit dem zu tun, was Sie denken.« »Das wird sich ja herausstellen.« Iwan konnte den beiden Polizisten keinen Vorwurf machen. Sie handelten völlig korrekt, und in Anbetracht der Situation, in der sie ihn aufgegabelt hatten, mußten sie das einfach
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alles in einem falschen Licht sehen. Sie glaubten ihm seine Geschichte, daß er niedergeschlagen worden war. Die Kopfwunde, die er davongetragen hatte, sprach für sich. Selbst beigebracht haben konnte er sich die nicht. Doch die beiden Polizisten hatten ihre eigene Version. Kunaritsohew war niedergeschlagen worden, ja. Aber von einem Kumpan. Hier mußte es Krach gegeben haben. Man wollte den Russen loswerden. Vielleicht war er unverschämt geworden, vielleicht wollte er anfangen auf eigene Rechnung zu arbeiten? Bei Millionenerträgen war dies ein Grund ... Iwan ging mit. Er machte keine Schwierigkeiten, und es paßte auch nicht in seine Vorstellungen, diesen beiden Männern etwas über seine Mission zu erzählen. Das hätten sie noch weniger verstanden. »C'est la vie«, murmelte er, als sie den dunklen, stillgelegten Stollen, in dem sich während der letzten halben Stunde soviel ereignet hatte, hinter sich ließen. »Da soll nur einer sagen, alles im Leben sei einmalig. Das stimmt nicht. Es passiert, doch immer wieder dasselbe. Entweder ich bin ein besonderer Trottel oder ich hab' einfach Pech.« Wie er das meinte, konnten die beiden Polizisten natürlich nicht ahnen. Kunaritschew beabsichtigte, im Gespräch mit dem Vorgesetzten der beiden Streifenbeamten eine Kontaktaufnahme mit Tolbiac zu erreichen. Marcel Tolbiac war für dieses Quartier hier nicht zuständig, Paris war in insgesamt 80 Quartiere eingeteilt. Durch Tolbiac konnte eine sofortige Freilassung erwirkt werden, ohne Kunaritschews Dienststelle einzuschalten und ohne weitere wichtige Behörden erst in Bewegung zu setzen. Er mußte an sein Abenteuer in Irland denken. Da hatte ein Chiefinspektor eingreifen müssen. »Alles im Leben war schon mal da«, sagte der Russe und fragte, ob er wenigstens eine Zigarette rauchen dürfe. Da er sich recht zugänglich gezeigt hatte, untersagte man ihm das nicht. Einer der beiden Beamten zündete ihm eine an. Die Fahrt zum Revier legten Michel und sein Kollege in Rekordzeit zurück. Sie konnten es kaum erwarten, aus dem Wagen rauszukommen. Sie hatten beide Fenster heruntergekurbelt, aber die hereinströmende Luft reichte nicht aus, die beißende Qualmwolke zu vertreiben, die Kunaritschew mit seinen Selbstgedrehten produzierte. »Oh, mon Dieu«, entrann es den Lippen Michels, und er warf einen Blick in den Rückspiegel in der Hoffnung, daß die Zigarette bald zu Ende geraucht war. Michels Kollege, der ebenfalls im Fond saß, machte einen gänzlich elenden Eindruck. Er sah aus wie ein Betrunkener, der nicht mehr wußte, wo er war. In diesem Zustand hätte Kunaritschew, würde er das gewollt haben, an der nächsten Straßenecke, als Polizist Michel an der Ampel halten mußte, aus dem stehenden Auto fliehen können. Michel schluckte und wagte kaum mehr zu atmen. »Drücken Sie die Giftnudel aus«, krächzte er, als würde er eine schwere Bronchitis durchmachen. »Das haut den stärksten Eskimo vom Schlitten. Mit dem Zeug brennen Sie einem ja
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Löcher in den Anzug. Oh verdammt! So muß es einer Wanze zumute sein, wenn der Kammerjäger im Haus aktiv wird.«
In den Tuilerien erwartete sie ein grauenvoller Anblick. Noch ehe Marcel Tolbiac und Larry Brent dort eintrafen, waren Streifenwagen in der Nähe der Tuilerien aufgefordert worden, die Eingänge zu bewachen, Neugierige fernzuhalten und für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Die drei Toten lagen alle im gleichen Parkweg. Der eine hing in seltsam verkrümmter Stellung über der Lehne einer Bank, auf der er sich vor seinen puppenhaften Würgern bis zuletzt vergeblich gewehrt hatte. Es war ein verhältnismäßig junger Mann, ein Student vielleicht. Die beiden anderen Toten waren ein Ehepaar, das hier noch einen Nachmittagsspaziergang gemacht hatte. Der Augenzeuge, der die Polizei verständigt hatte, machte einen verstörten Eindruck und schien das, was er gesehen hatte, noch immer nicht verdaut zu haben. Larry sprach zuerst mit ihm und ließ ihn stockend berichten. Danach war er aus einer Entfernung von nur fünf Metern Zeuge des makabren Überfalls geworden. »Plötzlich waren sie da«, berichtete der Mann. »Skelette, groß wie Puppen. Sie blinkten weiß und brachen zwischen den Büschen hervor. Den Mann auf der Bank erwischten sie zuerst. Sie hingen wie die Kletten an ihm, er wehrte sich verzweifelt und wollte sie abschütteln, aber sie mußten eine ungeheure Kraft entwickeln.« Larry Brent nickte. Das kannte er. Er hatte es am eigenen Leib erlebt. Wenn ein Skelett schon von einem einzelnen nicht abgeschüttelt werden konnte, wie aussichtslos war es dann bei mehreren! »Die anderen fielen sofort auch die beiden Spaziergänger an. Der Mann und die Frauen schrien entsetzt, als die Skelette auf sie zueilten. Sie versuchten davonzurennen, aber sie wurden angesprungen. Wie die Affen kletterten diese ... diese Dinger an ihnen empor«, fuhr der Augenzeuge fort. »Wieviel sind es insgesamt gewesen?« erkundigte sich Larry. »Zwanzig, fünfundzwanzig, vielleicht auch dreißig, 'ne ganze Menge jedenfalls. Aber ich hab' sie nicht gezählt.« »Und Sie haben nur wenige Schritte davon entfernt dabeigestanden und Ihnen ist nichts passiert?« »Nein, wie Sie sehen. – Ich stand da wie angewurzelt. Sie müssen mich auch gesehen haben. Gesehen, wie merkwürdig sich das anhört!« Er schüttelte sich. »Sie hatten ja gar keine Augen. Es war schrecklich, wie sie die beiden alten Leute anfielen. Wie ein Hornissenschwarm. Sie hingen dicht an dicht wie die Trauben, am Kopf, auf der Brust, man hat die Köpfe der Leute gar nicht mehr gesehen.« Der Augenzeuge hatte zusehen müssen! »Was ist dann geschehen?« »Dann sind diese makabren Teufel wie auf ein Kommando hin wieder in die Büsche
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gelaufen, als alles vorüber war.« »Sie sind nicht auch auf Sie zugekommen?« »Nein!« Larry preßte die Lippen zusammen. So eine Teufelei war typisch für Satanas! Wenn der gewollt hätte, wäre auch dieser junge Mann, der alles mitangesehen hatte, nicht mehr am Leben ... Aber er brauchte diesen Zeugen. Berechnung! Das hatte er mit einkalkuliert. Er brauchte jemand, der von der scheußlichen Tat berichtet und Einzelheiten gesehen hatte. Larry Brent sollte erkennen, wie weit die Macht des teuflischen Widersachers gediehen, wie unschlagbar er war. Ein Warnzeichen, ein Triumphzeichen, ganz wie man wollte. »Wohin sind sie gerannt?« bohrte X-RAY-3 weiter. »Über den Weg. Die Büsche sind kahl, ich konnte diese Teufel eine ganze Zeitlang sehen. Sie sind die Mauer drüben hochgeklettert« Man ging zu der bezeichneten Stelle hin. »Dann hab' ich gehört, wie ein Wagen davongefahren ist. Das war alles.« Larry preßte die Lippen zusammen. Teuflisch ausgedacht! In einem Wagen wurden die satanischen Marionetten zum Einsatzort gefahren; mit dem Wagen verschwanden sie auch wieder. Ein Marsch der Skelette durch die Stadt wäre — momentan jedenfalls — noch ein Ding der Unmöglichkeit. Satanas wollte kurz und hart zuschlagen, Verwirrung und Ratlosigkeit schaffen, aber wandelnde Skelettkinder in den Straßen würden bald zum Alltag von Paris gehören. In Satanas' Hirn gingen Dinge vor, die man kaum ausdenken konnte. Wohin der Wagen, der vermutlich die Skelette wieder aufgenommen hatte, gefahren war, das wußte der Augenzeuge nicht. Kaum, daß er sich aus seiner hypnotischen Starre hatte lösen können, war er zum nächsten Telefonhäuschen gerannt und hatte die Polizei verständigt. Larry Brent glaubte in den beiden dicht aufeinanderfolgenden Ereignissen Signale zu sehen, die ihm galten. War der Vorfall in Tolbiacs Labor ein Zufall? Das glaubte er nicht. Archants Tod war Schicksal, weil er gerade in erreichbarer Nähe für die Mördermarionette gewesen war. Aber daß das Skelett dann auch ihn, Larry, angefallen hatte, war gezielt erfolgt! X-RAY-3 verfolgte den ersten Gedanken, der ihm kurz vor dem übereilten Aufbruch im Kommissariat gekommen war. Er mußte daran denken, wo er sich entschlossen hatte, Tolbiac und dann Iwan aufzusuchen. In der Klinik von Lebuson noch hatte er diesen Gedanken erfaßt. Konnte jemand seine Gedanken lesen? Oder war es wirklich ein Zufall? Wenn jemand über seine Pläne informiert war, dann schwebte Laurette Valmeuse in akuter Lebensgefahr! Dann wußte man schon jetzt, was für eine Rolle sie spielte. Dies alles galt nur, wenn die Person, gegen die er kämpfte, sich tatsächlich in der Klinik Lebusons aufhielt. Dr. Satanas! Tolbiac wurde zu seinem Dienstwagen zurückgerufen. Über Funk hatte sich ein Mann gemeldet: Iwan Kunaritschew.
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Von seinem Wagen aus klärte Tolbiac den Fall im Kommissariat seines Kollegen vom 28. Quartier. Larry Brent wurde Zeuge des Gesprächs und bat — nachdem alles glatt über die Bühne gegangen war — mit Iwan ein paar Worte wechseln zu dürfen. »Schöne Sachen, die ich so nebenbei mitbekomme«, meinte Larry. »Während ich Satanas' Teufelsmarionetten am Hals hängen habe, lustwandelst du durch Paris und läßt dich als Rauschgiftschmuggler verhaften.« »Deine vertraute Stimme in meinem Ohr weckt Erinnerungen an schöne Stunden, Towarischtsch.« Der Russe freute sich, den Freund an der Strippe zu haben. »Ich hab' noch gar nicht gewußt, daß du überhaupt schon in Paris bist. So kann man sich täuschen. Wie schnell doch die Zeit vergeht! Schon den Folies Bergère oder Moulin Rouge einen Besuch abgestattet?« »Dazu werd' ich wohl heute nicht mehr kommen.« »Ah, bereits in die Arbeit gestürzt, Towarischtsch?« Larry erzählte, was passiert war und was er vorhatte: Nämlich gleich in die Klinik zu fahren und Laurette dort herauszuholen. Er war überzeugt davon, daß Satanas ihn aus seiner Reserve locken wollte. »Einer von ihnen dort muß es sein. Die Skelettkinder — jetzt sind sie Gewißheit und nicht mehr nur ein Gerücht«, meinte er abschließend. »Dann wünsch' ich dir viel Vergnügen«, sagte der Russe, der sich wieder in bester Laune befand. »Wieviel Angestellte, wieviel Pflegepersonal hat die Klinik? Rund zweihundert Leute, nicht wahr? Bis du jedem einzelnen die Maske vom Gesicht gepflückt hast, vergeht ein Tag. Jeder kann es sein, wenn ich deiner Theorie richtig gefolgt bin. Nur über einen brauchst du dir eigentlich keine Gedanken zu machen.« »So, über wen denn?« »Über Lebuson. Der ist nämlich nicht da. Hinter dem stiefele ich schon seit heute mittag her.« »Sag das noch mal, Brüderchen« schluckte Larry. »Nanu, seit wann bist du so schwer von Begriff, daß man dir etwas zweimal erklären muß?« »Ich denke, ich hab' nicht richtig gehört.« Kunaritschew sagte es noch mal. »Ich war mit Lebuson zusammen und hab' mit ihm gespRochén«, entgegnete Larry. »Wann?« fragte Iwan. »Kurz nach drei.« Kunaritschew lachte. »Seit zwei Uhr bin ich ihm auf den Fersen. Gegen drei hat Lebuson in einem Café am Place de la Bastille in einer Mokkatasse den Löffel umgedreht.« »Lebuson war den ganzen Nachmittag über in der Klinik, Brüderchen!« »Glaubst du, Towarischtsch! Den ganzen Nachmittag ist er durch Paris gebummelt. Nachdenklich, als müsse er neue Kraft schöpfen.« »Dann ist dein Lebuson nicht mein Lebuson«, entgegnete X-RAY-3 knapp. »Scheint mir fast auch so«, sprach Kunaritschew gedankenvoll. »Da stimmt doch was nicht, sage einer, was er will.« »Was hattest du ursprünglich vor?« wollte Larry wissen.
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»Nachdem mein Lebuson mir vorerst aus dem Blickfeld geraten ist, gilt es, so schnell wie möglich, seine Spur wiederzufinden. Ich weiß auch schon wie. Er hat Prinzipien. Um sechs Uhr abends erwartet ihn seine Frau. Da ist er immer zu Hause anzutreffen. Ich werd' mich dort anmelden.« »Okay, Brüderchen. Das tät' ich an deiner Stelle auch. Ich seh' in der Klinik nach und frag' nach meinem Lebuson. Die Sache stinkt mir.« »Und wie, Towarischtsch! Ich riech' es schon durchs Telefon. Das ist die reinste Lebusonerei ...«
Als er das breite Portal passierte, blickte die Schwester hinter dem gläsernen Verschlag der Portiersloge auf. Sie wunderte sich über den späten Besucher, aber sie sagte nichts. In Lebusons Klinik, die auf privater Basis arbeitete, konnten die Besucher eigentlich kommen und gehen, wann sie wollten. Sie wunderte sich deshalb, weil sie wußte, daß dieser Mann heute den ganzen Mittag hier im Hospital verbracht hatte und nun schon wieder kam. Larry Brent suchte umgehend das Zimmer in der ersten Etage auf, in dem Laurette untergebracht war. Er klopfte kurz an. »Ja?« fragte eine erstaunte Stimme. X-RAY-3 trat ein. Laurette merkte nicht, wie aufmerksam er sie studierte, als er ihr die Hand reichte, sich nach ihrem Befinden erkundigte und behauptete, noch mal vorbeigekommen zu sein, da er sich sowieso in der Nähe befand. Das stimmte nur bedingt. »Schon irgend etwas gewesen?« fragte er. Er beachtete ihre Worte und ihre Gestik sehr genau und verglich sie mit dem Verhalten des Klinikpersonals, mit dem er zu tun gehabt hatte. Sie benahmen sich alle ganz normal. Niemand machte den Eindruck, als stünde er unter Druck, Zwang oder hypnotischem Einfluß. Auch Laurette war unverändert. Aber Larry wußte nur zu gut, daß dieser Eindruck täuschen konnte. Wenn Dr. Satanas jemand seinen Willen auf zwang, merkten das Außenstehende nicht. Auch Larry war seinerzeit in die hypnotische Falle des Teuflischen gestolpert, ohne sie zu erkennen. Nicht mal Kunaritschew, mit dem er kurz danach zusammengetroffen war, hatte es gemerkt. Durch Satanas beeinflußt, hatte Larry damals Kunaritschew töten wollen. Blitzartig war es über ihn gekommen. »Dr. Lebuson hat mich noch mal persönlich untersucht«, sagte Laurette. »Wie lange warst du dort?« »Warum fragst du danach?« entgegnete sie verwundert. Sie dachte nach. »Zwanzig Minuten vielleicht.« »Das wäre noch normal. Aber genau weißt du es nicht?« Er lauerte, als könne er mit seinen Fragen etwas aus ihr herausholen, was für sie beide von Wichtigkeit war. Aber Laurette konnte es nicht genau sagen. Doch Larry war überzeugt davon: wenn Lebuson nicht der war, für den er sich ausgab, dann hatte er die Gelegenheit benutzt, um Laurette auszufragen und ihr vielleicht sogar einen Hinweis zu geben.
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»Worüber hast du mit Lebuson gespRochén?« erkundigte er sich. Er stand neben dem Fenster, Laurette trug einen seegrünen, rüschenbesetzten Morgenmantel und saß auf der Bettkante. »Er fragte mich, über welche Beschwerden ich in der letzten Zeit zu klagen gehabt hätte. Er war sehr nett, sehr sympathisch.« »Ja, das ist er.« Das Gespräch mit Laurette erbrachte so gut wie nichts. Nur eine Neuigkeit eigentlich gab es: Lebuson hatte ihr ein Fläschchen mit einer Flüssigkeit gegeben. Davon sollte sie täglich dreimal dreißig Tropfen nehmen. Larry ließ sich das Präparat zeigen. es war ein braunes Fläschchen ohne Etikett, und er mußte an das denken, was Iwan Kunaritschew in der Wohnung von Edith Doler erlebt hatte. »Hast du schon davon genommen?« fragte er schnell. Er hob das Fläschchen und hielt es gegen das Licht, als könne er dadurch mehr erkennen. »Einmal, ja. Vorhin.« Larry biß die Lippen zusammen, und sein Hirn begann zu kombinieren. Leitete so der Unheimliche den Lauf der Dinge ein? Bis jetzt stand noch nicht fest, ob alle Frauen, die Skelettkinder zur Welt gebracht hatten, zunächst dieses geheimnisvolle, ungenannte Präparat zu sich genommen hatten, aber man konnte es fast annehmen. Bei Edith Doler zumindest war es der Fall gewesen, und jetzt tauchte das gleiche Präparat bei Laurette Valmeuse auf. »Ich werde es an mich nehmen, Laurette. Du sollst es nicht benützen.« »Glaubst du ...« Sie starrte ihn aus großen, fragenden Augen an. »Ich habe über all das, was wir uns vorgenommen haben noch mal nachgedacht«, fuhr Larry fort, und während er sprach, war sein Blick aus dem Fenster gerichtet. Von hier aus konnte er auf das Gelände hinter dem Hauptgebäude sehen. Dort stand ein Wagen. Ein Citroën. An dem fiel ihm etwas auf. Die rückwärtigen Fenster waren milchig, sie waren nicht durchsichtig! Ein plötzlicher Gedanke schoß ihm durch den Kopf. Waren in diesem Wagen die Teufelsmarionetten zu den Tuilerien gefahren worden? »Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß es besser ist, wenn wir das Ganze abblasen.« Laurette sah ihn groß an. »Aber wieso? Wir haben doch gerade erst angefangen.« »Es ist etwas dazwischen gekommen. Ein Ereignis ist passiert, von dem ich annehme, daß es dich unter Umständen gefährden wird. Das Risiko ist mir zu groß.« »Hängt es mit dem Medikament zusammen?« »Vielleicht auch das. Ich werde jetzt zu Lebuson gehen und ihn sprechen, Laurette. Pack in der Zwischenzeit deinen Koffer und zieh dich an! Wenn ich in zehn Minuten nicht zurück bin, verläßt du einfach das Hospital. Nein, das kann vielleicht schon zu spät sein«, sagte er plötzlich, als hätte er eine dunkle Vorahnung! Er nannte ihr eine Telefonnummer, die sie sich notierte. »Ruf diese Nummer an, wenn ich in einer Stunde nicht im Bistro an der Ecke sein sollte!« »Oui, Larry«, erwiderte sie. Er machte auf dem Absatz kehrt und nahm den Koffer vom Schrank, den Laurette mitgebracht hatte. »Was ist mit dem Funkgerät, Larry?« wollte sie wissen. Diese plötzliche Änderung war zu schnell für sie gekommen, und sie wußte offensichtlich noch nichts Rechtes damit anzufangen. »Jetzt brauch' ich es doch nicht mehr.«
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»Nein, aber laß es in der Tasche, Laurette.« Die Französin zuckte die Achseln. Larry ging zur Tür, aber da wurde sie schon geöffnet. X-RAY-3 hielt wie durch Zauberei seine Smith & Wesson Laser in der Hand. Vor ihm stand Dr. Claude Lebuson. »Sie sind ein erstaunlicher Mensch«, sagte er einfach, die auf ihn gerichtete Waffe ignorierend und die Tür hinter sich gar nicht mehr schließend. »Ich habe mir gedacht, daß Sie kommen, Monsieur Brent und wollte Ihnen den Weg in mein Büro ersparen, deshalb bin ich hier.« Er deutete eine Verbeugung an. »Ich weiß, was ich alten Freunden schuldig bin.« Larry ließ sich von vornherein auf nichts ein. Über jeden Augenblick mußte er sich bewußt sein, kein falsches Wort durfte über seine Lippen kommen, nicht einen Atemzug lang durfte er Lebuson, hinter dessen Maske sich Dr. Satanas verbarg, die Möglichkeit geben, Einlaß in sein Bewußtsein zu erlangen. Blitzschnell konnte das gehen, das wußte er. Und dann arbeitete sein eigenes Hirn für Satanas, und der hatte leichtes Spiel. »Wir sollten uns unter vier Augen unterhalten, denke ich«, meinte Lebuson-Satanas. »Sie sollten mir die Skelette zeigen.« »Wenn Sie wollen, führe ich Sie hin, Monsieur Brent.« Er führte etwas im Schild. Das tat er zwar immer, aber man wußte nie genau, was in der nächsten Sekunde geschah. »Ich wußte, daß Sie kommen würden«, fuhr der Arzt fort. »Es ist Ihre Art, die Nase tief in Dinge zu stecken, die Sie eigentlich nichts angehen. Einmal werden Sie dabei so tief eintauchen, daß Sie nie wieder hochkommen!« Diese Warnung sprudelte eiskalt über seine Lippen. »Das lassen Sie nur meine Sorge sein, Satanas! Diesmal ist die Situation anders als seinerzeit in dem Schiffswrack, in dem Sie Ihr Labor untergebracht hatten. Diesmal bin ich Herr meiner Sinne!« »Sorgen Sie dafür, daß Sie es bleiben!« Hart und zynisch klang die Entgegnung. »Diesmal entkommen Sie uns nicht! Sie werden mitkommen und man wird herausfinden, wer Sie wirklich sind. Ihr Weg wird enden — in einem Gefängnis, das auch für Sie ausbruchsicher sein wird. Dafür werden wir sorgen, dazu haben wir die Möglichkeit. Es wird ein Gefängnis sein, in das auch Ihre dämonischen Helfershelfer nicht einzudringen vermögen.« »Sie haben sich viel vorgenommen.« Larry hörte Laurette hinter sich hantieren. Sie packte ihre Sachen zusammen. Der Gedanke, daß sie ihm in den Rücken fallen könnte, weil sie möglicherweise nach dem Gespräch unter vier Augen mit Lebuson nicht mehr Herrin ihres Willens war, kam ihm zwei Sekunden zu spät. Da stand Laurette schon hinter ihm. Larry fühlte den Einstich. Es ging blitzschnell. Wie ein Feuer rann etwas durch seinen Körper. X-RAY-3 begriff noch, daß er Satanas unter keinen Umständen in die Hände fallen durfte. Sein Zeigefinger drückte den Abzugshahn der Waffe durch. Er sah noch den grellen, vernichtenden Strahl aufblitzen und direkt auf Satanas zujagen. Aber dies alles geschah, als Larry bereits das Gleichgewicht verlor und wie ein schwerer
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Sack vornüber plumpste. Der Laserstrahl durchbohrte Satanas' Oberarm, den er mit wildem Aufschrei herumriß. Mehr bekam X-RAY-3 nicht mehr mit. Wie ein Stein fiel er zu Boden und rührte sich nicht mehr. Mit unbeweglichem Gesicht stand Laurette hinter ihm, mit leerem Blick auf die Spritze starrend, die sie Larry Brent zwischen die Schulterblätter gestoßen und die Dr. Satanas in teuflischer Voraussicht zurückgelassen hatte. »Narr«, sagte Lebuson, und sein Gesicht verzerrte sich zur Fratze. »Du glaubst wirklich, es mit Satanas aufnehmen zu können? Wie vermessen du bist! In ein Gefängnis wolltest du mich werfen? Dieses Gefängnis muß erst noch gebaut werden, Brent!« Er betrachtete seinen Arm. Der Laserstrahl hatte ihn glatt durchbohrt. Nicht mal ein Blutstropfen quoll hervor. In dem weißen Kittel zeigte sich ein nadelfeiner Stich, dessen Rand geschwärzt war. »Die Skelette wolltest du sehen«, er kicherte leise, während er auf Laurette Valmeuse überhaupt nicht mehr achtete. Die stand ganz in seinem Bann, begriff das Vorgehen hier nicht und reagierte nur so, wie es von ihr erwartet wurde. Ein Werkzeug war sie. »Diesen Wunsch werde ich dir erfüllen. Du sollst sie kennenlernen, meine Lieblinge. Und du wirst bereuen, diesen Wunsch geäußert zu haben, du wirst dir wünschen, ihn nie ausgespRochén, ja, nie gedacht zu haben.« Er ging zur offenstehenden Tür und winkte nach draußen. Eine halbe Minute später kamen zwei Krankenwärter mit einer Bahre. Sie luden Brent auf und brachten ihn hinunter in den geheimen Raum hinter Lebusons Speziallabor. Keiner der Männer wußte wirklich, wo er in diesem Moment war. Satanas, der sich Lebusons Maske zugelegt hatte, herrschte hier als ungekrönter König. Niemand widersprach ihm, niemand wußte wirklich, was hier vorging. Sie waren alle nur Marionetten und unterstanden seinem Willen. Die Insassen des Hospitals waren hypnotisiert. Kein Außenstehender erkannte das. Es war eine Hypnose, zu der nur Satanas fähig war. In dem geheimen, niemand bekannten Labor wurde die Bahre mit dem bewußtlosen PSA-Agenten abgestellt. Die beiden Männer gingen davon und vergaßen, was sie eben noch getan hatten. Sie kehrten in die offiziellen Stationen zurück. Auch Dr. Satanas als Lebuson blieb nicht mehr lange. Er bewegte die Hände wie ein Magier durch die Luft, als würden aus seinen Fingerspitzen unsichtbare Kraftströme fließen. In der Dunkelheit geschah etwas ... Diffuses Licht breitete sich aus dem Nichts herkommend unter der Türe aus und erleuchtete matt den gespenstischen Hintergrund, wo die Teufelsmarionetten, von menschlichen Frauen geboren, in den schmalen, hohen Kastenregalen auf ihren Einsatz warteten. Ein teuflisches Grinsen lag um Satanas' Lippen. »Leb' wohl, Brent«, kam es eisig über die schmalen Lippen des Verbrechers. »Wir werden uns wohl lebend nicht wiedersehen.« Dann ging er.
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X-RAY-3 blieb allein zurück. Die massive Wand schloß sich fugenlos. Es gab kein Entkommen, und Larrys Waffe befand sich auch nicht mehr in seinem Besitz. Die hatte Satanas an sich genommen. Dr. Claude Lebuson alias Dr. Satanas fuhr Punkt sechs Uhr von der Klinik weg. Er hielt sich streng an seinen Tageslauf. Dennoch war Satanas nicht zufrieden, als er während der Fahrt in seinen Gedanken grübelte. Es war einiges passiert heute. Es gab eine Organisation, der es gelang, ihn aufzuspüren und seine Pläne zu stören ... Das war die PSA ... Sie schickte die besten Pferde los, um seine Existenz zu bedrohen ... Wieder hatten sie ihn ausfindig gemacht. Und nur weil er sehr scnnell und für die andere Seite unvorbereitet gehandelt hatte, war es ihm gelungen, die Dinge zu seinen Gunsten zu entscheiden. Brent war erledigt. Um den machte er sich keine Sorgen mehr. Da würden die Knochenkinder für reinen Tisch sorgen. Aber es gab noch einen Agenten in Paris. Iwan Kunaritschew! Und der Mann, mit dem Brent sich abgestimmt hatte, war nicht minder gefährlich. Danach war dieser Kunaritschew auf die Spur des echten Lebuson gestoßen. Dies hatten auch seine Hilfsgeister bestätigt, die den echten Lebuson bewachten, um zu verhindern, daß ihm etwas geschah. Satanas ging von Fall zu Fall verschieden vor. Nie tat er das gleiche. Manche Menschen schaltete er aus, um ihre Rollen zu übernehmen. Andere hielt er verborgen, um bei Bedarf auf sie zurückgreifen zu können. Im Fall von Dr. Roché war es so gewesen, daß er den Arzt völlig von der Bildfläche verschwinden ließ, um eine Zuflucht in seinem Heim zu haben und sich als Gilbert Roché, dessen Gesicht er hatte, ausgeben zu können. Im Fall von Lebuson aber war es ihm günstig erschienen, den echten Lebuson am Leben zu halten, nur sich dessen Zellgewebe zu verschaffen und im übrigen abzuwarten, bis die Stelle, die er aus der Stirn herausgenommen hatte, wieder verheilt war. Lebuson dämmerte dahin, er wußte nicht mehr, wer er war, denn Satanas hatte ihm ganz seinen eigenen Willen aufgezwungen. Nur wenn er, Satanas, Lebuson zurückrief, kam er. Dann diente der wahre Lebuson für Stunden in seiner Klinik, benahm sich frei und ungezwungen und war sympathisch und nett wie auch der, der von Satanas dargestellt wurde. Und niemand merkte den Unterschied! Vom Personal würde sowieso kaum jemand etwas feststellen, denn hier war keiner mehr darunter, der sich freie Gedanken machte. Das gesamte Kritikvermögen war eingeschränkt. In diesen Stunden, wo der wahre Lebuson sich in der Klinik aufhielt, lebte Satanas in einer anderen Maske als Dr Gilbert Roché, um wichtige Dinge vorzubereiten und weitere Verwirrung zu schaffen. Satanas' nächster Schritt war so gut wie vorbereitet. Er verfügte über genug Chemikalien, um das gesamte Trinkwasser der Riesenstadt zu verseuchen. In einer anderen Maske würde er eine hohe Stellung im dortigen Betrieb einnehmen und
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der Wasserzubereitung seinen Stoff hinzufügen. Nicht eine einzige Frau in Paris würde dann mehr ein normales Kind zur Welt bringen. Wie eine Flut würde seine unbesiegbare Mörderarmee das Land überschwemmen. Der Gedanke daran machte ihn wieder zufrieden. Es lief doch eigentlich alles sehr gut ... Er brauchte rund zwanzig Minuten, um das am Rand der Stadt stehende Wohnhaus zu erreichen. Er parkte vor der Garage, löschte die Scheinwerfer und schaltete den Motor aus. Die niedrig liegenden Fenster zum Parterre waren anheimelnd beleuchtet. Im Wohnzimmer brannte der Kamin, als Lucienne Lebuson ihrem angeblichen Mann öffnete und ihn mit einem Kuß begrüßte. Sie war so wie immer. Nett und fröhlich, eine charmante Frau, um die man Lebuson beneidete. Sie war schwanger im siebten Monat. Und seit sieben Monaten weilte Dr. Satanas in der Stadt. Als er Lebusons Rolle übernahm, hatte er auch dessen Frau übernommen. Aber das wußte Lucienne Lebuson nicht. Sie ahnte auch nicht, daß das Kind nicht von ihrem richtigen Mann gezeugt worden war. Sie trug die Frucht des Teufels in ihrem Leib! Das Essen war vorbereitet. Es duftete nach einem gut gewürzten Steak. Satanas-Lebuson trug genau das Verhalten, das auch dem echten Lebuson eigen war. Dieser Teufel in Menschengestalt, der unter den Menschen wandelte und von dem man nicht wußte, woher er kam, übernahm die gesamte Gestik, das Benehmen und die Sprache jener Person, die er für seine Zwecke ausgewählt hatte. Nur so war es verständlich, daß selbst Menschen, die ständig mit dem zusammen waren, den sie seit Jahren kannten und der in Wirklichkeit gedoubelt wurde, keinen Verdacht schöpften. Die Maskerade war stets perfekt. Satanas verfügte über die Fähigkeiten eines Dämons, der kurzzeitig menschliche Gestalt annahm. Aber im Gegensatz zu diesem war er auf das Zellgewebe der zu kopierenden Person angewiesen. Ein wahrhaftiger Dämon brauchte das nicht. Satanas brauchte die Hilfe der Dämonenwelt, er hatte sie sich dienstbar gemacht. Er stand über ihr. Aber ein Teil seines Ichs war menschlich. So unterstand er auch den Gesetzen des Diesseits und mußte sich danach richten. Er zog seine Schuhe aus, schlüpfte in seine Pantoffeln, streckte sich auf dem bequemen Sessel und gehoß die Wärme, die dem Kamin entströmte. Dabei erzählte er von dem, was sich in der Klinik abgespielt hatte, ohne allerdings bei der Wahrheit zu bleiben, denn die konnte er nicht erzählen. Lucienne Lebuson brachte das Tablett mit den Speisen auf den bereits gedeckten Tisch. Lebuson-Satanas sah ihr lächelnd zu, wie sie die Platten garnierte. Plötzlich stutzte er. An der Wand neben der Bibliothek hing ein großes, dunkles Tuch. »Nanu?« wunderte er sich. »Hast du ein Bild gekauft?« »So etwas Ähnliches«, entgegnete Lucienne charmant lächelnd, aber etwas an ihr stimmte nicht. Sie wirkte ein wenig nervös, zwar kaum merklich, aber Satanas entging dies nicht. Er fühlte die feinen Ausstrahlungen und merkte, wie sie sich darauf
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konzentrierte, nicht an etwas ganz Bestimmtes zu denken. Ihr Denken wirkte verkrampft. »Eine Überraschung?« fragte er leichthin, sich der Wand nähernd. Unruhe erfüllte ihn. Etwas hüllte ihn ein, das seine sensiblen Sinne dämpfte. »Ja, vielleicht.« »Aber Weihnachten ist doch noch weit«, scherzte er und zog das schwarze Tuch herunter. Lebuson-Satanas prallte zurück. Etwas blendete ihn wie ein großes, gleißendes Licht, das auf ihn zukam. An der Wand hing ein geweihtes Kruzifix. Lebuson-Satanas riß die Hände vors Gesicht. Er empfand so etwas Ähnliches wie Schmerzen. Seine Hände zitterten, und er reagierte auf den Anblick des Kreuzes wie der Fürst der Vampire, Graf Dracula. Er wandte sich um, das Tuch noch in der Hand haltend, und man sah ihm an, daß er wie von unsichtbaren Fäden gehalten wurde, als er versuchte, sich aus dem Bannkreis zu schleppen. Eine ungeheure Kraftanstrengung war dazu notwendig, aber er schaffte es. Die Dinge, die folgten, überstürzten sich. Für Lucienne Lebuson war dies alles zuviel. Sie preßte noch die Hand vor den Mund, um zu schreien. Doch da stürzte ein großer Schatten die schmale Wendeltreppe empor, die neben dem Kamin durch ein kreisrundes Loch in eine Kellerbar führte. Iwan Kunaritschew tauchte auf! Keine Sekunde zu früh und keine zu spät! Er fing die ohnmächtig werdende Französin auf ... Das, was sie nicht gehofft hatte, war eingetreten. Dies war der Beweis! Der Mann, der sich als ihr Mann ausgab, war gar nicht ihr Mann! Auf den Anblick eines Kreuzes reagierte ein Mensch nicht so wie Lebuson! Dieser Mann fürchtete den Anblick, und all das, was Iwan Kunaritschew in einem ruhigen und ausführlichen Gespräch Lucienne Lebuson gegenüber erwähnt hatte, schien sich zu bestätigen. Iwan hielt die Smith & Wesson Laser in der Linken, über seinem rechten Unterarm lehnte die ohnmächtige Lucienne Lebuson, die er langsam auf die breite Couch gleiten ließ. »Satanas«, murmelte der Russe, »also doch!« Er stand dem Menschenfeind gegenüber. »Es war die Probe aufs Exempel!« Satanas schwankte leicht. Er riskierte keinen Blick zurück. Aber er erholte sich sehr schnell von dem Schrecken und dem Schmerz, der ihm in alle Glieder gefahren war. »Sie haben gut aus dem Krankenhaus berichtet. Sie haben Ihre Rolle vortrefflich in der Gewalt. Einer mußte hier auftauchen. Entweder Sie — oder der echte Lebuson, dem Sie eine triste Rolle zugedacht haben! Wo ist Lebuson jetzt?« »Man sucht ein neues Versteck für ihn«, antwortete Satanas rauh. »Wer ist man?« »Meine Helfer. Sie hatten die Ehre, mit ihnen zusammenzutreffen.« Iwan erkannte, daß Satanas durch den Anblick des Kreuzes noch immer so irritiert war, daß der Einfluß nachwirkte und eine Art Schwäche bei ihm auslöste.
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»Wir werden Fraktur miteinander reden, Satanas. Ich werde Ihnen meine Bedingungen nennen ... Sie werden sie erfüllen! Ich will alles über Lebuson und Larry Brent wissen.« »Über Brent ist nicht mehr viel zu sagen«, sagte Satanas hart. »Lebuson wird eines Tages wieder hier einlaufen, und er wird alles vergessen haben, was er in der Zwischenzeit erlebt hat. In dem Augenblick, wo er die Schwelle seines Hauses überschreitet, wird sein altes Leben wieder beginnen, und er wird glauben, nie fortgewesen zu sein.« »Was ist mit Brent?« bohrte Iwan, den eine Ahnung befiel. »Ihm kann keiner mehr helfen.« »Das werden wir sehen.« Er winkte mit der Waffe. »Wir rasen jetzt zur Klinik zurück, und Sie führen mich zu Brent. Und wenn Sie auch nur zu erkennen geben, daß Sie Unfug machen wollen, drück' ich ab! Das ist mein voller Ernst!«
Aber Iwan Kunaritschew konnte und wollte Lucienne Lebuson nicht allein lassen. Sie hatte sich in Gefahr begeben, und das Ganze durch ihr Verhalten mitbewirkt. Der Russe rief den Hausarzt der Lebusons an. Der Mann wohnte um die nächste Ecke. Er konnte in drei Minuten hier sein. In der Zwischenzeit kam Madame wieder zu sich. Der Schwächezustand war überwunden. Der Arzt kam. Verstört, weil Satanas ihn überhaupt nicht beachtete, begann er mit der Untersuchung, während Lucienne Lebuson versuchte, ihm klaren Wein einzuschenken. Aber sie kam über das Anfangsstadium nicht hinaus. Die Aufregung der letzten Minuten, die schockähnliche Begegnung mit etwas, was eigentlich nicht sein durfte, forderten ihren Tribut. Die Wehen setzen zu früh ein. Der Arzt wollte sofort zum Telefon greifen. »Ich ruf deinen Mann an, Lucienne. Die Klinik.« »Nein, bitte nicht!« Sie schüttelte den Kopf. »Eben das wollte ich dir ja gerade plausibel machen. Wir bleiben hier, wir schaffen es auch allein. Niemand von der Klinik ... niemand ...« Der Schweiß perlte auf ihrer Stirn, und sie mußte sich zurücklegen. Ihr Gesicht war gezeichnet vor Schmerzen.
Larry Brent erwachte in muffiger Atmosphäre. Leise, schabende Geräusche, wie von kleinen Beinen verursacht ... Was war geschehen? Er richtete sich auf. Seine Schultern schmerzten. Er erinnerte sich sofort wieder an die Begegnung mit Lebuson-Satanas.
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Laurette hatte Theater gemacht. Verdammt!
Seine Augen waren in die Dämmerung gerichtet. Was er sah, stockte seinen Atem.
Eine Mauer von lebenden Skeletten kam auf ihn zu!
Er griff mechanisch zur Halfter.
Leer ... Die Waffe war weg ...
Wie von einer Tarantel gestochen sprang X-RAY-3 auf.
Er war noch etwas benommen, aber dieser Zustand wich schnell in Anbetracht der
Gefahr, die da auf ihn zukam. Er schob das rollende Bett, auf dem er gelegen hatte, kraftvoll auf die Teufelsmarionetten zu. Zwanzig, dreißig purzelten durcheinander wie die Kegel, die von einer Kugel getroffen wurden. Aber schnell richteten sie sich wieder auf. Dieser Übermacht von Toten war er nicht gewachsen. Es hatte keinen Sinn, sich überhaupt erst auf einen Kampf einzulassen. Hier kamen potentielle Mörder auf ihn zu, und sie erschreckten viel weniger durch ihr Aussehen als durch die unheimliche Kraft, die ihren gespenstischen Leibern innewohnte. Die Luft war angefüllt mit einer beklemmenden Atmosphäre, die Brent körperlich spürte. Schichtweise kamen sie auf ihn zu. Er trat nach ihnen. Die Getroffenen flogen zurück. Gehetzt blickte Larry sich um. Vorwärts konnte er nicht. Durch die anrückende Armee der Mörder schaffte er es nicht. Keine Tür, so weit er sehen konnte. Hinter ihm? Er warf sich herum ... Die Zeit drängte. Rasend schnell liefen mit einem Mal die Sekunden ab. Wie die Ratten kamen sie heran, eine lebende Mauer, die ihn erdrücken und niederwalzen würde. Er starrte die Wand an, hastig ließ er seine beiden Hände darüber hinweggleiten. Er suchte nach Fugen, Ritzen und Spalten, die ihm einen Hinweis auf eine eventuelle Geheimtür gaben. Irgendwie mußte Satanas doch auch hier hereingekommen sein! X-RAY-3 fand keinen Mechanismus, und seine Suche war von Hast und Eile diktiert. Er spürte die ersten Bewegungen an seinem Bein. Die Angreifer krallten sich fest und kletterten wie die Affen daran empor. Larry versuchte sie abzuschütteln. Bei einigen gelang es ihm unter Aufbietung aller Kräfte. Aber es waren ihrer zuviele. Ebensogut hätte er in einen Ameisenhaufen stürzen können. Nie wäre es ihm auch dort gelungen, alle auf einmal von seinem Körper abzustreifen. Die ersten waren an der Hüfte. Wie Auswüchse hingen sie daran. X-RAY-3 kam sich vor wie ein Schwächling. Er trat und schlug um sich. Das schaffte ein wenig Luft, aber nicht viel. Er war so vermessen, sich wie ein Panther nach vorn zu stürzen und die Rollbahre herumzuziehen. Er wollte sie als Waffe benutzen. Er riß sie herum, hob sie an und knallte sie dann mit voller Wucht auf die ersten
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Angreifer. Es krachte und splitterte. Einige Skelettkörper zerbarsten. Ihre Arme flogen weg, ihre Schädel zersplitterten. Und diejenigen, die es so schwer erwischte, bewegten sich auch nicht mehr. Die Skelette mußten ganz sein, um als Wohnung für die bösen Geister zu dienen. Diese Erkenntnis kam ihm, aber sie reichte nicht, um ihn gegen die Übermacht bestehen zu lassen. Wie eine Sense schleuderte er die Rollbahre herum und warf damit immer wieder fünfzehn bis zwanzig zurück. Aber die nicht ernsthaft beschädigt waren, kamen wieder. Sie klebten an Brent wie die Kletten. An seinem Unterkörper, an seinen Armen. Jetzt wurde es gefährlich ... Larry erkannte, daß er so nicht mehr lange durchhielt. Da hing eines der Teufelsskelette mit der ungeheuerlichen Kraft an seinem rechten Schultergelenk. Schon spürte er die steifen Finger nach seiner Gurgel greifen. Eine verzweifelte Idee kam ihm. Ehe er gewürgt wurde, warf er sich mit aller Wucht mit der Schulter gegen die Mauer hinter ihm. Es krachte. Der Schädel des Teufelsskeletts, das ihm hätte gefährlich werden können, wurde zertrümmert. Sofort verpuffte auch die Kraft in den Ärmchen, die zu wahren Stahlseilen werden konnten. Drei, vier kamen von unten nach oben. Der Kampf begann. Wenn er jetzt ausrutschte, wenn er in das Meer der Skelette fiel, die ihn umwogten, hatte er nicht mehr die geringste Chance. Wieder und wieder warf X RAY-3 sich gegen das Mauerwerk. Es knirschte und krachte und splitterte. Aber dann hockte eine Teufelsmarionette auf seiner Brust, die zierlichen Hände umspannten seinen Hals. X-RAY-3 wirbelte herum. Es war nicht ganz einfach, mit dem Gesicht auf die Wand zuzurennen, ohne sich selbst zu verletzen. Während er versuchte, sich des einen Piesackers zu entledigen, waren schon wieder zwei andere da, die von der aufrecht stehenden Rollbahre leichtes Spiel hatte, direkt auf seine Schulter überzuwechseln ... Larry warf sich nach vorn. Es krachte, aber er zerschmetterte nur die Beine, und das Teufelsskelett war weiter aktiv. Der Kopf, zuckte es durch sein Bewußtsein. Man mußte den Schädel erwischen, dann verließ der böse Geist den ihm zugewiesenen Körper! Er warf sich erneut nach vorn. Doch diesmal war da kein Widerstand mehr. Ein mannsbreiter Spalt tat sich vor ihm auf. Die Wand glitt lautlos zu beiden Seiten auseinander. Durch den eigenen Schwung nach vorn gerissen, rannte er mehrere Meter weit in den angrenzenden Raum und prallte gegen einen großen Arbeitstisch, nachdem eine massige Gestalt, deren Statur ihm irgendwie bekannt vorkam, zur Seite gesprungen war. »Choroscho«, sagte eine wohlvertraute Stimme. »Schon gut, alter Junge! Nicht so stürmisch. Daß du mich gern hast, weiß ich. Daß du mich so heiß liebst, hätte ich nicht gedacht. Du brauchst mir doch vor Freude nicht gleich in die Arme zu fallen, nur weil wir uns ein paar Wochen nicht gesehen haben, ts, ts ...« »Die Köpfe, Brüderchen! Du mußt auf die Schädel schießen!« Larry warf sich herum.
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In Kunaritschews Begleitung befand sich Lebuson-Satanas. Kunaritschew schoß. Dreimal. Genau gezielt. X-RAY-3 bewegte sich nicht. Auf seinen Schultern verklumpten die kleinen weißen Schädel der Teufelsskelette und plumpsten wie reife Äpfel auf den Boden des offiziellen Speziallabors von Dr. Lebuson. Iwan drückte dem verwunderten Freund dessen Waffe in die Hand. »Hat auf dem Tisch gelegen«, stieß er hervor. »Schlamperei, so damit umzugehen. Ich kümmere mich weiter um die Tierchen, und wir können gemeinsam unsere Schießkunst unter Beweis stellen. Aber laß' den bösen Doktor nicht aus den Augen, den brauchen wir noch.« Laserstrahlen blitzten auf. Zielsicher fanden sie ihr Ziel. Larrys Beobachtungen zeigten sich als zutreffend. Sobald ein Strahl den Schädel eines Skelettkindes durchbohrte, reichte dies allein nicht aus, dem Geist seinen Hort zu vermiesen. Der Totenschädel mußte regelrecht zusammengeschmort sein, oder wie in den vorangegangenen Fällen förmlich zerschmettert werden. Beide hatten alle Hände voll zu tun, um die anrollende Flut zurückzuwerfen. Kunaritschew stand weiter vorn. Eine lautlose Salve nach der anderen schickte er durch den Spalt in das Geheimlabor, wo ein Berg regloser Skelette aufeinandergetürmt lag. Auch Larry jagte einen Schuß nach dem anderen los, und jeder traf. Dabei hatte er immer Lebuson-Satanas im Auge, der wie eine Steinsäule seitlich stand und nicht begriff, daß hier alles vernichtet wurde, womit er eigentlich hatte vernichten wollen! Plötzlich ging das Licht aus. Schlagartig. Larry reagierte sofort. Er wirbelte herum und schoß auf die Stelle, wo der satanische Widersacher eben noch gestanden hatte. Aber da war niemand mehr. Die äußere Labortür fiel ins Schloß. Sie standen in stockfinsterer Umgebung und mußten weiterkämpfen, weil die teuflischen Marionetten ihre ganze Aufmerksamkeit erforderten. Iwans Lampe grellte auf, Larrys Leuchte ebenso. Wie auf ein Kommando. Niemand sagte ein Wort. Die Situation sprach für sich. Keiner konnte den anderen jetzt im Stich lassen. Satanas gewann Zeit, daran war nichts zu ändern. Auch ein PSA-Agent konnte nicht an zwei Orten zur gleichen Zeit sein. Sie machten hier reinen Tisch. Kein Skelett überlebte. Zurück blieb ein Berg aus Knochen und zusammengeschmolzenen Schädeln. Die Teufelsbrut des unheimlichen Dr. Satanas war vernichtet.
Larry und Iwan gönnten sich keine Minute Verschnaufpause. Sie verließen das Speziallabor und eilten die Stufen nach oben. Überall war Finsternis. Einige Rufe hallten durchs Haus. Vereinzelt brannten Kerzen. Patientinnen fragten, was denn los sei. »Das Licht ist ausgefallen!« rief eine fröhliche Stimme. »Kein Grund zur Besorgnis,
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meine Damen! Wir machen das schon!« Auf der obersten Stufe zur Treppe trat Larry in etwas Weiches. Er bückte sich danach und hatte das Gefühl, in einen fauligen Schwamm zu greifen. Aber es war kein Schwamm. Iwans Taschenlampenstrahl fiel darauf. Larry Brent hielt das Gesicht von Dr. Claude Lebuson zwischen den Fingern, das Dr. Satanas wie eine Schlangenhaut abgestreift hatte ...
Dennoch ließ X-RAY-3 sich nicht von seinem ersten Gedanken abbringen. Er rief Tolbiac an, und der Kommissar leitete eine Großfahndung nach dem Unheimlichen ein. Man richtete sich dabei im Moment nur nach dem, was er zuletzt getragen hatte, denn wie Dr. Satanas jetzt aussah, wußte kein Mensch. Die beiden Agenten informierten auch das zuständige Ministerium und schilderten die Situation in der Klinik. Unbürokratisch und auf schnellstem Weg sollten Mediziner, die etwas von Hypnose verstanden, nach hier abkommandiert werden, um den gesainten Personalbestand wieder auf den Boden der Wirklichkeit zurückzuholen. Dazu gehörte auch die Patientin Laurette Valmeuse, für die Larry sich verantwortlich fühlte. Gemeinsam fuhren X-RAY-3 und X-RAY-7 dann noch mal in Lebusons Haus. Die Befürchtung, daß Dr. Satanas vielleicht dort Unterschlupf gesucht und Lucienne Lebuson als Geisel genommen hätte, war gegeben. Aber zum Glück war dies nicht der Fall. Dafür erlebten Larry und Iwan eine andere Überraschung. Lucienne Lebuson hatte entbunden. Sie lag in tiefem Schlaf. Durch den völlig verstörten Arzt, der noch immer anwesend war, erfuhren die beiden Freunde, daß Madames Bewußtlosigkeit schon während der Entbindung eingetreten war. »Zum Glück, kann ich da nur sagen«, fügte der Mediziner dumpf hinzu. »Wieso zum Glück?« fragte Larry. Die Augen des Arztes flackerten. »Sie hätte den Anblick nicht ertragen. Auch ich habe ihn nicht ertragen.« »Ein Skelettkind, nicht wahr?« warf der Russe ein. »Skelettkind? Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen. Ich muß Ihnen ein Geständnis machen«, sprudelte es plötzlich aus ihm heraus. »Rufen Sie die Polizei an! Ich habe getötet! Ich habe es nicht leben lassen können, als ich es in der Hand hielt! Es war wie ein Rausch ... Ich habe einfach zugedrückt, bis es nicht mehr geatmet hat ... Es war furchtbar ...« Larry und Iwan blickten sich an. »Wo ist es?« fragte Larry heiser. Der Arzt führte sie hinaus auf den Balkon. Dort stand eine gefüllte braune Abfalltüte. Darin lag es. Ein Menschenbaby. So wirkte es auf den ersten Blick. Aber auch Larry und Iwan, die schon einiges in ihrem Leben gesehen hatten, fuhren zusammen. Das Kind war am ganzen Körper dicht behaart. Es hatte lange, gebogene Fingernägel wie Krallen, und statt der fünf Zehen wuchsen drei Hornkrallen. Der Kopf war länglich, lief in einem dreieckigen Kinn aus, und auf dem mit
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schwarzgrauen Haaren bedeckten aufgedunsenen Schädel wuchsen zwei kleine knospenartige Hörner. »Ein Kind des Teufels«, murmelte der Arzt und ahnte nicht, wie recht er damit hatte.
Lucienne Lebuson sollte dies nie erzählt werden. Der bei der Geburt anwesende Arzt, der zum Mörder geworden war, brauchte nichts zu befürchten. Er hatte kein menschliches Leben zerstört. Er hatte der Menschheit sogar einen Dienst erwiesen. Die Großaktion, die Marcel Tolbiac in Zusammenarbeit mit anderen Dienststellen durchführte, währte die ganze Nacht. Satanas wurde nicht aufgespürt. Doch einen Erfolg gab es: Man stieß auf den echten Lebuson, der in einem anderen geheizten Metroschacht Unterschlupf gesucht und gefunden hatte. Man brachte ihn dorthin, wo er hingehörte. Dr. Satanas behielt recht. Lebuson war auf das Betreten seines Hauses in Hypnose eingestimmt worden. Er kam zu sich und war überzeugt davon, gerade aus der Klinik zu kommen. In diesem Glauben ließ man ihn. Daß seine Frau erkrankt war, traf ihn wie ein Schlag. Er wußte nichts von einer Schwangerschaft und nichts von der Geburt. Es würde schwer sein, ihm die wahren Hintergründe nach und nach plausibel zu machen. Dazu hatte sich der befreundete Hausarzt, der in einiges eingeweiht worden war, bereiterklärt. Drei Tage dauerte es insgesamt, ehe die Hypnose-Spezialisten in der Klinik Lebusons das Personal wieder auf Vordermann gebracht hatten und alle Spuren des scheußlichen Verbrechens in dem Geheimlabor beseitigt waren. Larry und Iwan hatten einen Erfolg errungen, aber sie waren nicht ganz glücklich darüber. Satanas hatte unerkannt irgendwo untertauchen können. In diesen drei Tagen stellte man — leider zu spät — fest, daß Satanas in den ersten beiden Tagen nach seiner gelungenen Flucht im Haus von Dr. Gilbert Roché untergetaucht war und sich dort auch aufgehalten hatte. Vieles wies darauf hin, daß der echte Roché dem Verbrecher zum Opfer gefallen war ... Doch nun war er wieder spurlos von der Bildfläche verschwunden. Vier Wochen nach diesen aufregenden Ereignissen saßen Larry und Iwan gemeinsam in einem Flugzeug. Über Funk wurde für Larry Brent ein Telegramm übermittelt. Es lautete: »Gesundem Knaben das Leben geschenkt. Darf ich ihn Larry nennen? Herzlichst — Laurette!« X-RAY-3 grinste, X-RAY-7 grinste. Der Russe meinte, als er sah, welchen Text Larry aufsetzte und an die Stewardess mit der Bitte weitergab, ihn per Funk zu übermitteln: »Ich glaube, die Verbindung war doch mehr als in den Spesenabrechnungen für die PSA später mal festzustellen sein wird. Ein kleiner Franzose namens Larry, sieh' einer an! Larry Valmeuse, hört sich gar nicht schlecht an. Die Mutter muß sich doch dabei etwas gedacht haben, als sie sich entschied, diesen Namen zu nehmen. Kanntest du sie schon früher Towarischtsch?«
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Der Russe blickte ihn von unten herauf an, und ein breites Grinsen lag auf seinem Gesicht. X-RAY-3 lehnte sich in die bequemen Polster des Jumbo zurück. »Mein Liebesleben ist in Paris etwas zu kurz gekommen, Brüderchen. Aber das werd' ich alles nachholen, alles!« Kunaritschew zuckte zusammen. »Gott bewahre«, stöhnte er und schloß die Augen. »Und das in Bangkok, wie?« Nach Thailand waren sie auf dem Weg. »Dann wird's schrecklich.«
ENDE
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