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Hallo, Herr Nachbar! Liz Fielding Stacey O’Heili ist durchaus zufrieden mit ihrem Leben als Single, aber ihre beiden Töchter wünschen sich einen Vater, denn ihrer ist vor drei Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen, Uly und Rosie wissen auch schon genau, wer der Richtige wäre: Nash Gallagher, der seit kurzem ihr Nachbar ist. Wie zufällig landet ihr Ball auf seinem Grundstück und da sie nicht über die Mauer klettern dürfen, bitten sie ihre Mutter darum. Und die Mädchen scheinen den idealen Mann ausgesucht zu haben: Stacey und Nash verlieben sich sofort ineinander…
1. KAPITEL Nash Gallagher befand sich auf der Durchreise und wusste, dass es verrückt gewesen war, herzukommen. Aber er hatte es seinem Großvater versprochen und auch gar nicht lang bleiben wollen. Nur noch einmal einen Blick in den Garten werfen, bevor die Planierraupe alles einebnete. Aber er hätte nicht kommen sollen. Irgendwie war er davon ausgegangen, der Garten würde noch so aussehen wie früher ordentlich und perfekt getrimmt wie damals, als dieser Ort seine einzige Zufluchtsstätte vor einer feindlichen Umwelt gewesen war. Aber die Natur veränderte sich. Der ummauerte Küchengarten mochte die Aufteilung des Grundstücks überstanden haben. Aber das kleine Gartencenter, das sein Großvater darin errichtet hatte, war nun schon seit fast zwei Jahren geschlossen. Die Büsche und Bäume hatte man ewig nicht beschnitten, und überall stand wenigstens kniehoch das Unkraut. Nash strich sich übers Gesicht, als würde er dadurch das chaotische Bild los, das er nun von dem Garten hatte. Er hätte schwören können, gefühlsmäßig nicht so auf den Anblick zu reagieren. Aber genau das schien sein Großvater mit seiner Bitte bezweckt zu haben. Anscheinend kannte der alte Mann ihn besser als Nash sich selbst. Dass ich schließlich doch sentimental geworden bin, liegt nur an den Pfirsichbäumen, versuchte Nash sich nun einzureden. Noch gut erinnerte er sich, wie sein Großvater ihn als Kind hochgehoben hatte, damit er sich die erste reife Frucht pflücken konnte. Und wie herrlich der Pfirsich geschmeckt hatte! Damals war Nash immer ganz begierig gewesen hineinzubeißen, und dann war ihm der Saft übers Kinn gelaufen… Das alles war Nash nun wieder so
gegenwärtig, dass er sich unwillkürlich das Kinn an der Schulter rieb. Dann zog er ärgerlich das Unkraut aus, das sich am Stamm eines alten Pfirsichbaums empor gewunden hatte und ihn zu ersticken drohte. Aber eigentlich waren nicht nur die Pfirsichbäume schuld an Nashs sentimentaler Stimmung. Da war auch das Gewächshaus mit seinem alten Kohleofen und den Heizrohren. Eine dürre Katze hatte dahinter ihre Jungen geworfen – wie früher. Das Wagemutigste der Kleinen hatte sich aus seinem Versteck hervorgewagt und stakste nun zwischen den Scherben zerborstener Gewächshausscheiben herum, die überall am Boden lagen. Nash wollte das Kätzchen gerade aus der Gefahrenzone bringen, als ein Ball eine der wenigen unversehrten Scheiben des Dachs durchschlug und Nash mit einem Schlag ins Jetzt zurückholte. Er fluchte laut, während die Splitter auf ihn hernieder regneten und das Kätzchen panisch zurück in sein Versteck flüchtete. Nachdem er sich die Glasstückchen aus den Haaren geschüttelt hatte, zog er sich vorsichtig das T-Shirt aus. Dann hob er den Ball auf, um demjenigen, der ihn so gedankenlos herübergeschossen hatte, die Meinung zu sagen. »Mummy, Lily hat den Ball schon wieder über die Mauer gekickt!« Stacey schraubte die Klinke der Tür gerade wieder an, die sie zuvor mit schnell trocknender Farbe gestrichen hatte. Deshalb konnte sie nur antworten: »Sag Lily, sie soll warten, bis ich komme!«, um ihre ältere Tochter davon abzuhalten, über die Mauer zu klettern. Es war gar nicht so einfach, mit einem Schraubenzieher umzugehen. Aber auch das Streichen war Stacey nicht leicht gefallen. Mittlerweile klebte beinah mehr Farbe an ihrer Kleidung und den Beinen als an der Tür. »Mummy!« »Was ist denn, Rosie?«
»Nichts, nur dass Lily gesagt hat, du sollst dir keine Sorgen machen. Sie klettert jetzt über die Mauer und holt den Ball.« »Gut«, murmelte Stacey, während sie den Schraubenzieher zwischen den Zähnen hielt, um noch eine Hand frei zu haben, mit der sie eine Schraube in eines der vier Bohrlöcher stecken konnte. Wenn erst einmal eine saß, wäre alles gleich viel einfacher! Stacey drückte die Schraube mit Gewalt ins Loch, nahm den Schraubenzieher wieder in die Hand und wollte die Schraube gerade festziehen, als ihr bewusst wurde, was Rosie soeben gesagt hatte. »Nein, dass soll Lily nicht!« rief Stacey nun, so laut sie konnte, und wandte den Kopf, um festzustellen, ob ihre ältere Tochter ihr auch gehorchte. Aber dabei drehte sich das Metallblatt der Klinke um die Schraube und machte einen halbrunden Kratzer in die Farbe der frisch gestrichenen Tür. Einen Moment sah Stacey wie gebannt auf den Schaden. Sie hätte vor Wut schreien mögen. Aber was änderte das schon? Würde sie jedes Mal ihren Gefühlen freien Lauf lassen, wenn wieder etwas schief ging, wäre sie ständig heiser. Nun legte sie den Schraubenzieher einfach zurück in den Werkzeugkasten, atmete tief durch und tat ihr Bestes, um ruhig zu bleiben, bevor sie in den Garten hinausging. Schließlich war ein Kratzer in der Tür kein Weltuntergang. Sie würde die Küche schon noch fertig bekommen und dann das Badezimmer fliesen. Sie würde auch die Dachrinne reparieren und das Esszimmer neu tapezieren, weil sie es musste. Denn in seinem jetzigen Zustand ließ sich das Haus einfach nicht verkaufen. Wenn Mike bloß einmal eine Sache zu Ende gebracht hätte, bevor er eine andere anfing, dachte Stacey nun. Aber so war Mike eben gewesen. Er hatte immer gesagt: »Morgen ist auch noch ein Tag.« Doch dann waren ihm
die Tage einfach ausgegangen… »Mummy! Lily klettert jetzt über die Mauer!« Rosies Geschrei brachte Stacey auf Trab, und sie rannte durch den Garten. Lily, neun Jahre alt und wie Unkraut in die Höhe geschossen, war den Stamm des Apfelbaums hinaufgeklettert und hing nun mit ihren dünnen Armen an der hohen Mauer, die den rückwärtigen Teil des Gartens vom Nachbargrundstück abtrennte. »Lily O’Neill, komm auf der Stelle da runter!« Lily warf ihrer Schwester einen vorwurfsvollen Blick zu, bevor sie tat, was ihre Mutter von ihr verlangte. Als sie sich fallen ließ, mussten allerdings mehrere Fingerhutstauden daran glauben, »Entschuldige, Mummy«, sagte sie und versuchte, die Stängel wieder aufzurichten. Stacey seufzte, zog die umgeknickten Stauden vorsichtig heraus und drückte den Boden um die unversehrten Pflanzen wieder fest. Dann fragte sie ihre Tochter: »Was denkst du dir eigentlich dabei, da hochzuklettern?« »Du hast gesagt, du willst nicht gestört werden, bis du mit der Tür fertig bist. Also wollte ich den Ball selber holen.« »Nun, das war sehr rücksichtsvoll von dir, mein Liebling, aber ein gebrochenes Bein hätte mich wesentlich mehr aus der Ruhe gebracht.« Die Mauer war wenigstens zweihundert Jahre alt und wurde an manchen Stellen nur noch von den Mooskissen zusammengehalten, die sich zwischen die Ritzen gesetzt hatten. »Du kletterst mir da nie wieder – und ich wiederhole –, nie wieder hinauf. Hast du verstanden? Das ist viel zu gefährlich.« Ihre Tochter verdrehte die Augen, und Stacey fügte hinzu: »Ich meine es ernst, Lily!« »Aber wie bekommen wir jetzt den Ball wieder?« wollte Rosie wissen, woraufhin Lily sie anfuhr: »Wenn du mich nicht verpetzt hättest, hätten wir den Ball schon längst
zurück.« »Das reicht jetzt, ihr beide! Ihr bekommt euren Ball schon wieder.« Denn wie immer würde sie selbst über die Mauer klettern. Aber erst, wenn ihre Mädchen im Bett waren und sich kein schlechtes Beispiel an ihr nehmen konnten. »Ich bin sicher, irgendjemand findet ihn und wirft ihn zurück. Letztes Mal war es auch so.« »Aber das könnte ewig dauern«, jammerte Rosie. »Niemand ist mehr dort drüben, so wie’s da aussieht!« Es entsprach der Wahrheit, dass das ehemalige Gartencenter, das an ihr Grundstück grenzte, zusehends verwilderte, seitdem der alte Archie Baldwin krankheitsbedingt aufgegeben hatte. Sie musste ihn unbedingt einmal wieder im Altenpflegeheim besuchen. Er hatte ihr so viel beigebracht. Wenigstens konnte sie ihm dafür Kekse mitbringen und den neuesten Klatsch und Tratsch vom Dorf erzählen. Vielleicht würde sie ihn auch fragen, was von dem deprimierenden Gerücht zu halten sei, er hätte seinen Grund und Boden an eine Baugesellschaft veräußert. Es wäre sehr viel einfacher, dachte Stacey nun, mein Haus zu verkaufen, wenn man den Ausblick vom Wohnzimmerfenster als ländlich bezeichnen könnte. Attraktives, einzeln stehendes, kaum renovierungsbedürftiges Cottage im viktorianischen Stil mit interessantem Wildblumengarten und ländlichem Ausblick, hörte sich doch verlockend an. Aber eigentlich hatte das Haus dringend eine Generalüberholung nötig, wenn es nur annähernd das einbringen sollte, was sie sich aus seinem Verkauf erhoffte. Eine mehrstöckige Wohnanlage, die die Sicht versperrte, war sicher nicht förderlich. Doch vielleicht, dachte Stacey nun, sollte ich aufhören, mir Gedanken um die Renovierung zu machen, und stattdessen lieber eine schnell wachsende Hecke pflanzen.
»Mum!« Stacey verdrängte ihre Zukunftsängste und widmete sich dem anstehenden Problem. »Es tut mir Leid, Lily, aber du hättest den Ball einfach nicht hinüber schießen sollen.« »Man kann nicht Fußball spielen, ohne zu schießen«, stellte Lily fest und wandte sich dann an ihre Schwester: »Mummy holt uns den Ball schon wieder. Sie will nur nicht, dass wir sehen, wie sie über die böse, gefährliche Mauer klettert.« »Lily O’Neill, das ist…« »Du brauchst es gar nicht abzustreiten, Mum! Ich habe dich vom Badezimmerfenster aus beobachtet.« Lily grinste frech. »Du holst ihn uns doch, oder nicht?« »Na, gut«, sagte Stacey. Nachdem die Mädchen nun Bescheid wussten, konnte sie auch gleich über die Mauer klettern. »Aber ihr müsst mir versprechen, dass ihr das nicht nachmacht.« »Versprochen«, sagte Lily und bekreuzigte sich, so wie Mike es immer getan hatte, wenn er ihr, Stacey, hoch und heilig versprochen hatte, etwas am nächsten Tag zu reparieren, oder als es darum ging, vorsichtig beim Motorradfahren zu sein. Stacey schluckte. »Okay«, sagte sie dann und zog sich mit Schwung an den Steinen hoch, so dass sie im Nu auf der bröckeligen alten Mauer saß. Das ehemalige Gartencenter war einst der ummauerte Küchengarten eines Herrenhauses gewesen, das schon vor langer Zeit zur Hauptniederlassung einer multinationalen Firma umfunktioniert worden war. Mittlerweile sah alles so traurig aus. In erschreckend kurzer Zeit waren die Beete völlig verwildert, und zwischen den geschotterten Wegen spross das Unkraut, während die seit Jahren nicht umgetopften Pflanzensetzlinge ihre Plastiktöpfe gesprengt hatten. Stacey blickte noch einmal zu den Mädchen hinunter,
sprang von der Mauer und machte sich auf die Suche nach dem Ball. Er war groß und rot und sollte eigentlich leicht zu finden sein. Das Problem war nur, dass Stacey ständig abgelenkt wurde. Hier von einer Gruppe Mohnblumen mit scharlachroten, seidig anmutenden Blütenblättern, dort von einem großen üppig gewachsenen Pfingstrosenbusch. Dabei fühlte sie sich nicht so sehr von der Pflanzenart selber angezogen, denn die war nun ja in fast jedem Garten vertreten. Aber es brach Stacey beinah das Herz, sich vorzustellen, dass der Busch bald von einer Planierraupe zerstört werden würde. Selbst wenn sie ihn verpflanzte, würde er wahrscheinlich eingehen. Pfingstrosen ließen sich nicht gern versetzen, was Stacey problemlos nachvollziehen konnte. Sie wollte auch nicht umziehen. Sie fühlte sich wohl dort, wo sie war, und hatte schon lange Wurzeln geschlagen. Aber genau wie dem Pfingstrosenbusch blieb ihr wahrscheinlich keine andere Wahl. Wenigstens würde in ihrem Fall ein Umzug nicht tödlich enden, sondern ihr nur jede Hoffnung zunichte machen, doch noch ihre Samenzucht für seltene Wildblumen aufzubauen. Stacey bahnte sich ihren Weg entlang der überwucherten Pfade und sah sich nach dem Ball um. Als sie sich gerade fragte, wie weit er denn bloß geflogen sein mochte, entdeckte sie etwas Rotes zwischen zwei verwachsenen Stachelbeerbüschen. Sie ging darauf zu und stellte fest, dass es sich dabei um Erdbeeren handelte – große, rote und unheimlich verlockend aussehende Früchte, nach denen man sich einfach bücken musste. Mit dem Ball unterm Arm verließ Nash das Gewächshaus und sah sich im Garten um. Aber da war niemand. Daraufhin begann er, sich seinen Weg um die Pflanzbeete herum und durch das an manchen Stellen hüfthohe Unkraut zu bahnen, um den Ball einfach zurück über die Mauer zu werfen. Er hatte schon den halben Garten durchquert, als er
eine junge Frau entdeckte und den Schritt verlangsamte. Doch als er ihr etwas zurufen wollte, bückte sie sich und war nicht mehr zu sehen. Es ist absolute Verschwendung, die süßen Früchte den Schnecken zu überlassen, dachte Stacey, und nur gerecht, ein halbes Dutzend für Lily und Rosie zu pflücken. Dann steckte sie sich selbst eine in den Mund. Sie war noch warm von der Sonne und schmeckte genau so, wie Erdbeeren schmecken sollten. Nun überlegte Stacey, dass sie ja wiederkommen könnte, um die Pflanzen auszugraben, da der Garten ohnehin eingeebnet wurde. Dann hätte sie nächstes Jahr ihre eigenen Erdbeeren dieser besonders schmackhaften alten Sorte. Stacey zählte gerade, wie viele Töpfchen sie brauchte, als sie innehielt. Es war doch völlig sinnlos, jetzt noch etwas bei sich anzupflanzen. Nächstes Jahr wären sie ohnehin nicht mehr hier. Und mit diesem niederdrückenden Gedanken begann Stacey, rückwärts aus dem Erdbeerbeet zu kriechen. Kurz darauf stieß sie mit den Füßen an ein Hindernis, das zuvor nicht da gewesen war. Sie wandte den Kopf und stellte fest, dass das vermeintliche Hindernis abgetragene Arbeitsschuhe und dicke, aufgerollte Socken trug, aus denen zwei muskulöse Beine mit vernarbten, schmutzig-braunen Knien stakten, die in muskulöse Schenkel übergingen, deren Fortsetzung nur von abgeschnittenen Jeans bedeckt wurde. Der Stoff war vom vielen Tragen ganz weich geworden und schmiegte sich wie eine zweite Haut um die Lenden des zugehörigen Mannes, dem man eigentlich ein Gefahrenschild hätte umhängen sollen, so sexy, wie er aussah. »Kann ich Ihnen helfen, Miss?« Auch seine Stimme klang überaus verführerisch. Stacey spürte, wie ihr Gesicht die Farbe der Mohnblütenblätter annahm. Es war schon schlimm genug, dabei erwischt zu werden, in Nachbars Garten einzudringen, aber
dann auch noch stibitzte Erdbeeren in der Hand zu halten besiegelte den Sündenfall und ergab eine Neun auf der Richterskala der Peinlichkeiten. Die Erdbeeren allerdings einfach wegzuwerfen würde dem Ganzen noch die Krone aufsetzen. Stacey überlegte immer noch krampfhaft, was sie zu ihrer Entschuldigung vorbringen konnte, als Lily ihr unerwartet zu Hilfe kam. »Mummy! Hast du ihn schon gefunden?« Ihre älteste Tochter hatte ihre Anweisung, nicht die Mauer hinaufzuklettern, beherzigt, saß stattdessen aber auf dem Ast eines nicht minder alten Baumes und spähte neugierig zu ihr hinüber. »Geh bitte da runter, Schatz!« Stacey hätte eigentlich verärgert sein sollen, aber das Auftauchen ihrer Tochter verlieh ihr wenigstens einen Hauch von Respektabilität. Sie war Mutter, eine verwitwete noch dazu. Was konnte es Ehrbareres geben? Stacey rappelte sich auf und wandte sich dem hinter ihr stehenden Mann zu, nur um festzustellen, dass man seinen gesamten wohlproportionierten Körper mit den breiten Schultern mit Gefahrenschildern hätte zuhängen sollen. Gar nicht zu reden von dem gut geschnittenen, sonnengebräunten Gesicht, den blauen, von Lachfältchen umgebenen Augen und dem auf eine Weise sonnengebleichten Haar, das Staceys Herz schon gleich hatte höher schlagen lassen. Wegen all dieser männlichen Eigenschaften war Stacey an ihrem achtzehnten Geburtstag den Bund der Ehe eingegangen und mit neunzehn Mutter einer Tochter gewesen. So kam es, dass sie Gemüsebreichen gekocht hatte, anstatt in der landwirtschaftlichen Fachschule den kaufmännischen Aspekt dessen zu erlernen, wie man die Grundstoffe dieser Babynahrung gewinnbringend vermarktete. »Suchen Sie etwa danach?« Der Mann deutete auf den Ball. »Suchen? Ach so, ja.« Stacey musste sich sehr zusammen-
nehmen, um wieder einen klaren Gedanken zu fassen. Vom Anblick des gut gebauten Mannes waren ihr inzwischen auch die Knie ganz weich geworden. »Ja, genau.« »Ich bin da drüben gewesen, als er durchs Dach flog.« Der Fremde nahm den Abstand zwischen Gewächshaus und Mauer in Augenschein und fügte anerkennend hinzu: »Ein enormer Schuss!« Dann lächelte er zu Lily hinüber, die immer noch auf ihrem Ast hockte. »Ist dein Vater Profifußball-Trainer?« »Nein, im Himmel!« Lilys Bemerkung unterbrach das Gespräch sofort, und Stacey sagte schnell, indem sie sich von den verführerisch breiten Schultern ihres Gegenüber abwandte: »Lily, wenn du da nicht sofort runterkommst, lasse ich deinen Ball gleich hier.« Dabei dachte sie, auch Mike hat solche Schultern gehabt. ,Überall Muskeln, aber kein Hirn’, hatte ihre Schwester immer dazu gesagt. Doch Stacey wollte jetzt nicht an Dee und ihre Ermahnungen denken. »Lily ist Kapitän der Schulmannschaft. Hat der Ball denn großen Schaden angerichtet?« »Schaden?« Auch der Fremde schien mit den Gedanken ganz woanders zu sein. »Am Gewächshaus, meine ich.« »Eine kaputte Scheibe mehr oder weniger ändert da auch nichts mehr, oder was meinen Sie?« Er lächelte schalkhaft. »Nei… nein, ich denke nicht«, sagte Stacey stockend und dachte, dass man ein derartiges Lächeln ebenfalls verbieten sollte. Doch dann rief sie plötzlich aus: »Oje, Sie waren doch wohl nicht in dem…? Ich meine, sind Sie ver…?« Nein, natürlich war er nicht verletzt. Sie sah ja selbst, dass sein bloßer, sonnengebräunter Oberkörper unversehrt war. Als ein Sonnenstrahl einen Splitter im Haar des Mannes zum Funkeln brachte, streckte Stacey, ohne weiter darüber nachzudenken, die Hand aus und nahm ihn heraus.
2. KAPITEL Wie gebannt blickte Stacey auf den Glassplitter, den sie zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand hielt, und spürte, wie ihr ganz heiß wurde. Sie konnte nicht glauben, dass sie das getan hatte. Was, um alles in der Welt, hatte sie nur dazu bewegen? Obwohl sie nicht wagte, dem muskulösen Hünen vor sich ins Gesicht zu sehen, schien er ihre heikle Lage zu erkennen, ließ den Ball fallen und umfasste ihr Handgelenk. Dann nahm er ihr vorsichtig den Splitter ab, ließ ihn fallen und trat ihn mit dem Absatz seines Arbeitsschuhs in den Staub. »Danke.« Staceys Stimme zitterte genauso wie ihre Hand. »Ich glaube, ich bin derjenige, der zu danken hat.« Der Fremde hielt sie noch immer am Handgelenk fest. Seine langen Finger hätten es fast zwei Mal umschließen können und brannten heiß wie Feuer. Erst nach geraumer Zeit ließ er Stacey urplötzlich los, als hätte er sich verbrannt. Dann fuhr er sich nervös durchs Haar und stellte danach mit Blick auf seine Hand fest: »Sehen Sie, dass ist so eine Angewohnheit von mir. Hätten Sie mir vorher nicht den Splitter aus dem Haar genommen, hätte ich mich böse verletzen können.« Stacey zuckte verlegen die Schultern. »Als Mutter tut man so etwas ganz unwillkürlich, und ich kann einfach nicht aus meiner Haut.« Im Augenblick fühlte sie sich allerdings kein bisschen mütterlich. Sie schluckte und versuchte, das gefährliche Kribbeln an der Stelle zu ignorieren, wo der Mann sie angefasst hatte. »Ich… ich habe mir erlaubt, einige der Erdbeeren zu pflücken«, sagte sie nun, um das Thema anzusprechen, bevor er es tat. »Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen.« »Nein, ich frage mich nur, warum Sie nicht mehr genom-
men haben.« Hatte er etwa schon die ganze Zeit über dagestanden und sie beobachtet? Wieder wetteiferte ihre Gesichtsfarbe mit dem tiefen Rot der Mohnblumenblätter. »Mummy!« rief da Rosie beinah verzweifelt, so dass der Mann feststellte: »Ich glaube, der Mannschaftskapitän will weiterspielen.« »Wie bitte? O nein, das war meine jüngere Tochter Rosie. Sie ist erst sieben, und Lily stellt sie immer ins Tor, weil Rosie nicht besonders gut Fußball spielt.« Stacey hob den Ball auf, klemmte ihn sich unter den Arm und zwang sich, etwas Abstand zu dem Mann zu gewinnen, der eine unbeschreiblich sexuelle Anziehungskraft auf sie ausübte. Aber der Mann begleitete sie zur Mauer. Will er mir etwa beim Hinaufklettern helfen? überlegte Stacey nun und versuchte, nicht daran zu denken, wie es wohl wäre, seine Hände um ihre Taille und seinen Atem im Nacken zu spüren. »Was passiert denn jetzt mit dem Grundstück?« fragte sie schnell, um sich abzulenken. »Wissen Sie das vielleicht? Ich habe gehört, es soll an irgendeinen schrecklichen Bauunternehmer verkauft werden.« Als der Mann nicht antwortete, fragte Stacey erschrocken: »Das sind doch nicht etwa Sie?« »Wäre das denn ein Problem?« Lächelnd wandte er sich ihr zu, und Stacey wünschte, sie hätte sich heute Morgen nicht einfach nur das Haar zurückgebunden, sondern auch ein wenig Wimperntusche und vielleicht sogar Lippenstift aufgelegt. ,Um eine Tür zu streichen?’ ließ sich gleich darauf eine spöttische Stimme in ihrem Innern vernehmen. ,Also, Stacey, jetzt komm mal wieder runter! Dieser Kerl ist eine Sportskanone mit Spatzenhirn, und du bist Mutter zweier Kinder, woran dein Bindegewebe keinen Zweifel lässt.’ »Vielleicht bekommen sie ja keine Baugenehmigung«,
sagte Stacey hoffnungsvoll. »Die haben sie schon.« »Oh!« Obwohl Stacey damit gerechnet hatte, war diese Neuigkeit für sie wie ein Schlag ins Gesicht. »Für Wohnhäuser?« »Nein, Industrieanlagen.« »Oh«, wiederholte Stacey betroffen. »Arbeiten Sie für die Baugesellschaft?« Er schüttelte den Kopf. »Nur für mich: Nash Gallagher.« »Stacey O’Neill, und die beiden Störenfriede auf der anderen Seite der Mauer sind meine Töchter Lily und Kosie.« »Freut mich, Sie kennen zu lernen, Stacey. Ich bleibe einige Tage hier. Das nur, damit Sie nicht glauben, hier triebe jemand sein Unwesen, und die Polizei rufen, falls Sie nachts einmal Licht brennen sehen.« »Sie bleiben? Ich meine, Sie campen? Hier?« Stacey sah sich um und entdeckte in einer schattigen Ecke des Gartens ein Zelt. Ob er wohl eine Genehmigung dazu hat? überlegte sie dann, bevor sie zu dem Schluss kam, dass sie das nichts anging. »Im Vergleich zu den Orten, wo ich schon geschlafen habe«, erklärte Nash Gallagher, der Staceys besorgten Gesichtsausdruck missverstanden hatte, »ist das hier der reinste Luxus. Es gibt fließend Wasser, eine Toilette und sogar eine Dusche…« Stacey wollte eigentlich fragen, welche Orte zum Übernachten noch schlimmer gewesen seien als dieser, hielt sich aber zurück und überlegte stattdessen, ob der Mann wohl ins Büro eingebrochen war, um Zugang zu den sanitären Anlagen zu bekommen. War das aber überhaupt von Belang?’Hier würde bald sowieso alles dem Erdboden gleichgemacht. »Trotzdem schlafen Sie nur in einem Zelt. Na ja, ich nehme an, das geht, wenn es nicht gerade regnet.«
»Wollen Sie damit andeuten, die Gutwetterperiode ist nicht von Dauer?« Der Fremde zog kaum merklich eine Augenbraue hoch. »Bisher war es die ganze Woche schön. Aber das stellt für diesen Sommer schon einen Rekord dar. Sie wissen ja, dass es das gesamte Frühjahr über geregnet hat.« Er zuckte die Schultern, und Stacey lenkte ein: »Aber gemäß der Wettervorhersage sind Sie noch ein oder zwei Tage vor etwaigen Schauern sicher.« Nash Gallagher sah zum wolkenlosen Himmel hoch. »Hoffentlich!« »Mummeeeee!« »Die Kinder werden ungeduldig.« Stacey warf den Ball in ihren Garten. »Ich werde versuchen, ihn zukünftig auf unserer Seite der Mauer zu halten.« »Es macht mir nichts aus, wenn die Kinder ihn herüberschießen.« Ihm mag es nichts ausmachen, dachte Stacey, aber mir. Denn wie sollte sie jetzt über die Mauer kommen und sich das letzte Fünkchen Würde bewahren, während er da stand und ihre vom Winter blassen Beine betrachtete, die zu allem Überfluss auch noch von oben bis unten mit blauer Türfarbe besprenkelt und mit Sandsteinstaub beschmiert waren. Das Grün der Erdbeerpflanzen an ihren Knien nicht zu vergessen. Stacey blickte auf die Früchte, die sie immer noch in der Hand hielt, und wünschte, sie hätte sie den Schnecken überlassen. Nun hatte sie nur eine Hand frei, um über die Mauer zu klettern. Es sei denn, sie warf die Erdbeeren schließlich doch weg. »Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?« fragte der Mann. Dabei stellte sich Stacey vor, wie er sie mit seinen großen Händen hochhob oder sie ihr womöglich von hinten unter den Po schob. »Nun…« sagte sie stockend und hoffte, nicht
schon wieder zu erröten – immerhin bewegte sie sich mit halsbrecherischer Geschwindigkeit auf die dreißig zu und hatte zwei Kinder. Nur junge Mädchen wurden wegen jedem bisschen rot. »Wenn Sie vielleicht die Erdbeeren halten könnten, während ich auf die Mauer klettere?« Aber er machte keine Anstalten, ihr die Früchte abzunehmen, sondern verschränkte die Hände und hielt sie ihr als Trittbrett hin. Stacey war beinah enttäuscht, dass er sie nicht anfasste, setzte dann aber ihren Fuß mit dem ramponierten Tennisschuh in seine verschränkten Handflächen. Er hob sie hoch, und Stacey fasste mit der freien Hand nach dem Mauergrat. Dann saß sie oben, ohne sich wie sonst Schrammen und blaue Flecke zugezogen zu haben. »Danke«, sagte sie. »Es war mir ein Vergnügen«, erwiderte der Mann, lächelte jungenhaft und fügte noch hinzu: »Sie können jederzeit wieder vorbeikommen.« Stacey schwang die Beine zur anderen Seite und tat so, als hätte sie ihn nicht gehört. Dann ließ sie sich in ihren Garten hinabgleiten, wobei sie den Fingerhutstauden endgültig den Garaus machte. In ihrer Aufregung hatte sie die Pflanzen ganz vergessen. Auch den Erdbeeren war die Aktion nicht gut bekommen – von ihnen war nicht viel mehr als Mus übrig. Während Nash Gallagher die Glasscherben zusammenfegte, dachte er daran, wie die Frau von gegenüber errötet war, als er ihr Handgelenk festgehalten hatte, und musste unwillkürlich lächeln. Er hätte schwören können, moderne Frauen wurden nicht mehr rot. Eigentlich sollte es ihm unangenehm sein, dass er sie so in Verlegenheit gebracht hatte: eine junge Witwe mit zwei kleinen Mädchen. Er schämte sich auch ein bisschen. Aber die Frau so gesehen zu haben war es wert gewesen. Doch als er sich nun umblickte, verschwand sein Lächeln.
Hier sollten demnächst Industrieanlagen errichtet werden? Allerdings solche, die sich dem Landschaftsbild anpassten und nicht allzu hoch hinausragten. In der Planung hatte sich das gar nicht so schlecht angehört, und es war ihm ganz einfach erschienen, sich anhand der Baupläne zu entscheiden. Aber nun hier zu stehen, in der Ferne das Weizenfeld zu sehen, das am Horizont an einen kleinen Wald grenzte, und um sich die knorrigen Pfirsichbäume zu wissen, die sich an die Jahrhunderte alte Mauer schmiegten, ließ in ihm schon Zweifel aufkommen. Doch eigentlich hatte er kein Interesse, irgendwo Wurzeln zu schlagen, und hing auch nicht wirklich an der Vergangenheit. So schön war seine Kindheit nicht gewesen. Nur die Erinnerung an die wenigen guten Dinge, die der Garten nun einmal mit sich brachte, ließ ihn die Entscheidung, das Grundstück aufzugeben, noch einmal überdenken. »Ich wünschte, ich hätte auch einen Sohn«, sagte Stacey unvermittelt, als sie mit ihrer Schwester Kaffee trank. Aber Dee setzte ihr sofort den Kopf zurecht. »Du wirst auch nicht jünger, Stacey, und Kinder sind ein echter Luxus.« »Jetzt mach aber mal einen Punkt, Dee! Das schont deine Stimmbänder und meine Nerven«, sagte Stacey, ohne ihrer Schwester wirklich böse zu sein. Sie wusste, dass Dee es nur gut meinte. »Nichts täte ich lieber, wenn ich nur den Eindruck hätte, du würdest einmal auf mich hören. Du brauchst nicht noch ein Kind, sondern einen Ehemann, und deine Töchter brauchen einen Vater.« »Was mir fehlt, ist ein Handwerker. Und die Mädchen haben einen Vater. Niemand kann ihnen Mike ersetzen.« »Nein«, sagte Dee und verstummte, während sie sich offensichtlich einen unschönen Kommentar bezüglich Mikes väterlicher Qualitäten verbeißen musste. Schließlich versuchte sie es im Guten und sagte beschwichtigend:
»Aber Mike ist nun einmal nicht mehr da, Stacey!« So rücksichtsvoll war Dee noch nie mit ihr umgegangen, und Stacey vermutete sofort, dass es sich hier nicht um eine der üblichen Vorträge ihrer Schwester handelte – von wegen, dass es für sie, Stacey, nun an der Zeit wäre, nach vorn zu sehen. Nein, Dee führte etwas ganz Konkretes im Schilde. »Du schuldest ihnen einen Vater, Stacey«, sagte sie nun und fügte schnell hinzu: »Eine Vaterfigur, jemanden, der ihnen all das bieten kann, was ihnen zusteht.« In der Hoffnung, dem Unvermeidlichen doch noch zu entgehen, begann Stacey, den Tisch abzuräumen. Aber Dee ließ nicht locker. »Lawrence Fordham zum Beispiel.« »Lawrence?« rief Stacey erstaunt. »Du willst, dass ich deinen Chef heirate?« »Wieso nicht? Er ist karriereorientiert, verlässlich und verantwortungsbewusst.« Alles Eigenschaftswörter, die man auf Mike auch beim besten Willen nicht hätte anwenden können, dachte Stacey. Aber damals, mit achtzehn, waren ihr solche Qualitäten bei einem Mann nicht wichtig gewesen. »Lawrence kann sehr unterhaltsam sein«, fuhr Dee nun fort. »Er ist nur ein bisschen schüchtern.« »Ein bisschen?« Vor kurzem hatte Stacey während eines Abendessens bei ihrer Schwester neben Lawrence Fordham gesessen. Sie wusste Bescheid. »Er ist genauso begabt im Small Talk wie ein Fisch.« »Das ist nicht fair.« Anscheinend hatte Dee bereits beschlossen, sie mit Lawrence zu verkuppeln. Und wenn sich ihre Schwester etwas in den Kopf gesetzt hatte, war es nicht leicht, sie davon abzubringen. »Du musst ihn nur besser kennen lernen.« »Ich kenne ihn bereits und gebe dir Recht: Er kann sehr unterhaltsam sein«, sagte Stacey und dachte, wenn man gern
über die Herstellung von Käse oder Joghurtkulturen spricht. »Ich wollte aber eigentlich niemanden Festes.« »Nun, du änderst deine Meinung schon noch«, entgegnete Dee. »Ich habe Lawrence gesagt, dass du ihn zu dem Essen, das die Molkerei übernächsten Samstag für ihre Werbeträger gibt, begleitest.« »Du hast was?« Stacey war wie vom Donner gerührt, wartete Dees Antwort aber gar nicht erst ab, sondern fragte sofort: »Du machst wohl Witze?« »Wieso? Er ist doch ganz nett, hat noch alle Haare, sämtliche Zähne und keine schlechten Angewohnheiten.« Stacey wollte dieses Thema eigentlich nicht vertiefen, doch Dee fuhr fort: »Er ist bestimmt ein wunderbarer Ehemann, und keine Frau braucht dringender einen als du.« »Ich höre immer ,Ehemann’. Ich dachte, wir reden von einem Rendezvous oder Geschäftsessen.« »Das tun wir auch. Aber ihr seid doch erwachsene Leute. Du würdest ihm gut tun und ihn ein bisschen aus der Reserve locken. Und ihm würde es nicht einmal etwas ausmachen, wenn du seinen Garten in eine Wildblumenwiese verwandeln würdest«, sagte Dee, und Stacey dachte: Weil er es gar nicht bemerken würde. Doch in diesem Moment fuhr ihre Schwester auch schon fort: »Du tust dein Bestes, allein klarzukommen, aber erzähl mir nicht, dass es kein ewiger Kampf wäre.« Das hatte Stacey auch gar nicht vorgehabt. Dee wusste über ihre Lage ohnehin bestens Bescheid. »Du kommst doch zu diesem Essen, oder?« »O Dee…« »Bitte!« »Ich habe überhaupt nichts, was ich dazu anziehen könnte!« fiel Stacey in diesem Moment gerade noch ein. »Ich leihe dir mein schwarzes Designerkleid.« »Was? Jetzt muss ich mir langsam wirklich Sorgen
machen, Dee. Könnte es sein, dass du eine Erfolgsprämie kassierst, wenn ich Lawrence zu diesem Abendessen begleite?« »Und wenn dem so wäre, würdest du dann mit ihm ausgehen?« »Würdest du denn mit mir teilen?« fragte Stacey, fügte aber schnell hinzu: »Bitte beantworte mir das nicht. Ich will nicht doppelt in Versuchung geraten. Nachher sage ich noch Ja. Das Kleid tragen zu dürfen ist schon verführerisch genug.« »O bitte, Stacey! Es ist doch nur für einen Abend. Wir haben ein todschickes Restaurant ausgesucht, wo man nebenbei auch noch hervorragend essen kann. Außerdem kommen lauter reiche Kerle. Wie oft erhältst du schon so ein Angebot?« Nicht so oft, dachte Stacey. Eigentlich nie. Dee wollte ihr die Sache schmackhaft machen und hoffte, sie, Stacey, könnte sich auf diesem Weg auch noch für Lawrence erwärmen. Aber sie wollte keinen Mann, der so etepetete war wie Lawrence. Sie wollte jemanden wie… Nash Gallagher. »Du brauchst auch keine Angst zu haben, dass er irgendwie zudringlich wird. Tim und ich begleiten euch.« Na, das würde ja ein wahnsinnig unterhaltsamer Abend werden, mit Dees Ehemann, der sich vor übertriebener Freundlichkeit kaum halten konnte, mit Dee selbst, die anscheinend nie genug vom Arbeiten bekam, und dann auch noch mit ihrem Chef, der tödlich langweilig, dafür aber hundertprozentig verlässlich war. Da hatte Stacey die rettende Idee. »Am Samstag bekomme ich bestimmt keinen Babysitter!« »Lily und Rosie können bei uns übernachten. Ich bitte unsere Haushälterin, auf die beiden aufzupassen, bis wir wieder da sind.« Stacey seufzte, doch dann fiel ihr das Designerkleid
wieder ein. »Und du leihst mir wirklich den schwarzen Fummel?« »Ich bringe ihn dir gleich morgen vorbei.« »Aber Dee, das Essen ist doch erst am Samstag in einer Woche!« Dee lächelte. »Ich weiß, Zeit genug, um dir eine Ausrede zu überlegen. Aber wenn das Kleid erst einmal in deinem Schrank hängt, wirst du der Versuchung nicht widerstehen können, es auch zu tragen.« »Wie hinterhältig!« sagte Stacey. Aber vielleicht konnte sie das Kleid vorher anprobieren, ein bisschen Wimperntusche auflegen und Lily dazu bringen, den Ball noch einmal über die Mauer zu schießen. »Darf ich ein paar von den Erdbeeren haben?« holte sie da Dees Stimme auf den Boden der Tatsachen zurück. »Oder sind die alle für die Mädchen?« »Du kannst sie ruhig aufessen. Die beiden hatten schon mehr als genug.« »Das sind die besten Erdbeeren, die ich seit Jahren probiert habe«, sagte Dee und schob sich eine ganz besonders große in den Mund. »Wo hast du sie her?« wollte sie dann wissen, nachdem sie wieder sprechen konnte. Stacey räusperte sich verlegen und sagte ausweichend: »Von einem Nachbarn.« Lily hatte den Ball natürlich noch einmal aufs angrenzende Grundstück geschossen, und am nächsten Morgen hatte er zusammen mit einer Plastiktüte voller Erdbeeren auf der Mauer gelegen. Dee zog die Augenbrauen zusammen und fragte skeptisch: »Von einem Nachbarn? Ich dachte, du bist hier diejenige, die alles verschenkt, was in ihrem Garten wächst.« Stacey zuckte die Schultern. »Wirst du etwa rot?« Stacey befühlte sich die Wangen und sagte schnell: »So
ein Quatsch, das ist nur die Hitze! Übrigens habe ich mir gedacht…« »Du kannst denken?« spottete Dee, aber Stacey ließ sich nicht beirren. »Also, ich habe mir gedacht, ich könnte vielleicht ein oder zwei Zimmer an Studenten vermieten. Was meinst du?« »Ich finde, du solltest das Haus so schnell wie möglich ausschreiben und losschlagen, solange die Sonne noch scheint und es nicht wieder überall hereinregnet. Wenn du Glück hast, findest du einen Käufer, der so begeistert ist, im Garten noch Hundsrosen vorzufinden, dass er nicht einmal bemerkt, wie der Putz von der Wand fällt und wie schief die Regenrinne hängt. Der Rasen müsste auch mal wieder gemäht werden.« »Ich weiß, aber ich habe so viel zu tun.« Ihre Schwester zuckte die Schultern. »Ich bin doch dabei, das Haus zu renovieren, Dee!« »Dann lass uns mal sehen, wie du vorankommst.« Dee stand auf. »Heute bin ich mit meiner Nörgelei durch.« Als Erstes inspizierten sie das Badezimmer. Dee schüttelte gerade den Kopf darüber, dass es ganz ohne Fliesen war, als Stacey jenseits der Mauer Nash entdeckte. Er schob einen schweren Schubkarren voll Gerumpel auf ein Feuer zu, von dem eine dünne Rauchsäule aufstieg. Die Sonne spielte auf seinem bloßen Oberkörper, und Stacey konnte seine mächtigen Oberarme bewundern. Als hätte er ihren Blick gespürt, drehte er sich nun um, und für einen Augenblick sahen sie einander an. Dabei fragte sich Stacey, was Nash wohl mit den Keksen gemacht hatte, die Lily ihm als Dankeschön für die Erdbeeren auf die Mauer gestellt hatte. Natürlich, ohne vorher gefragt zu haben. An sich hatte Stacey die Kekse für Archie gebacken. »Wo gibt’s denn so was?« riss Dee sie nun aus ihren
Gedanken. »Ein Badezimmer ohne Fliesen!« »Ich passe beim Duschen immer auf, dass es nicht so spritzt, aber das kann ich von den zukünftigen Besitzern wohl kaum erwarten.« Stacey warf noch einen letzten sehnsuchtsvollen Blick aus dem Fenster und sagte dann: »Ich kümmere mich darum.«
3. KAPITEL Nachdem Stacey ihre Schwester zum Wagen begleitet und sich von ihr verabschiedet hatte, betrachtete sie auf dem Rückweg eingehend das Cottage. Es hatte einen spitzen Giebel, einen etwas eingesunkenen Dachfirst und viele kleine Fenster. Sie liebte es, musste aber zugeben, dass es einem Hexenhäuschen nicht unähnlich war. Als Mike es von seinem Onkel geerbt hatte, hatte der Grundstücksmakler gesagt, es müsse an manchen Stellen ausgebessert werden, bevor man es verkaufen könne. Aber unglücklicherweise war Mike nicht der richtige Mann dafür gewesen. Er hatte lediglich eine Sache perfekt beherrscht. Doch als Ehemann und Vater reichte es nicht aus, nur gut im Bett zu sein. »Was siehst du dir an, Mummy?« »Da oben haben sich Schwalben eingenistet.« Stacey zwang sich, in die Wirklichkeit zurückzukehren, und ging in die Hocke, um Rosie zu zeigen, wohin sie sehen musste. »Dort, über der Dachrinne, ist ihr Nest.« »Toll!« »Ja, und wenn sie bei uns Eier legen und Junge aufziehen, kommen sie jedes Jahr wieder.« Das wären zwar keine zahlenden, aber trotzdem willkommene Gäste, dachte Stacey und sagte dann: »Lauf und hol Lily, Schätzchen! Ich möchte einen Spaziergang ins Dorf
machen.« Bevor sie es sich wieder anders überlegte, wollte sie den Tankstellenpächter fragen, ob sie bei ihm einen Hinweis auf das zu vermietende Zimmer aushängen durfte. Und wenn sie zurückkam, beabsichtigte sie, den Rasen zu mähen. Vielleicht achteten Studenten auf so etwas ja gar nicht, aber sie konnte es sich nicht erlauben, einen möglichen Mieter zu vergraulen, weil der Rasen nicht gemäht war. Na ja, mehr als den Gänseblümchen den Kopf abzuschneiden, wird es wohl nicht werden, dachte Stacey dann – bei dem schlechten Zustand des Rasenmähers. Lieber Nash, Mummy hat gesagt, ich muss warten, bis Du meinen Ball findest. Aber das kann ja ewig dauern, wenn Du gar nicht weißt, dass ich ihn schon wieder verschossen habe. Deshalb schreibe ich Dir jetzt einfach, damit Du ihn wieder zurückwirfst. Danke und alles Liebe, Uly P.S. Bitte erzähl Mummy nicht, dass ich das geschrieben habe. Sie hat gesagt, ich soll mich gedulden und abwarten. Als Nash bei Sonnenaufgang aus dem Zelt kroch, fiel sein Blick sofort auf das zusammengefaltete Blatt Papier, das oben in einer Mauerritze steckte. Nash brauchte eine Weile, um den Ball zu finden, aber das war ihm egal. Er hatte ohnehin nach einem Vorwand gesucht, seine Bekanntschaft mit Stacey O’Neill zu vertiefen, und gehofft, mit den Erdbeeren einen Anfang zu machen. Stacey hatte zwar nicht persönlich geantwortet, aber die Dose mit Keksen ließ vermuten, dass er nicht zurückgewiesen würde, wenn er einen Blick über die Mauer warf, um sich zu bedanken. Als er am späten Nachmittag das Geräusch eines schwer angeschlagenen Rasenmähers hörte, war ihm das
Entschuldigung genug. Stacey hatte sich über den Rasenmäher gebeugt und versuchte gerade, seinen anscheinend unlöschbaren Durst nach Öl zu stillen, als sie etwas aufblicken ließ. Nash Gallagher saß oben auf der Mauer und beobachtete sie. Dabei schien er mit seinen unglaublich muskulösen Beinen nur darauf zu warten, eine Einladung zum Herunterspringen zu bekommen, um es sich bei ihr gemütlich zu machen. »Brauchen Sie Hilfe?« fragte er. »Was ich brauche, ist ein neuer Rasenmäher«, entgegnete Stacey und richtete sich auf. Ihre Wangen waren ganz rot geworden, weil sie sich die ganze Zeit vornüber gebeugt hatte. Oder gab es noch einen anderen Grund dafür? »Ich hoffe nur, dass ich genug Öl habe, um dieses uralte Ding am Laufen zu halten, bis ich fertig bin«, erklärte sie und dachte, die Tatsache, dass das Gras fünfzehn Zentimeter hoch ist, könnte mir allerdings einen Strich durch die Rechnung machen. Nash sprang von der Mauer, ohne eine Einladung abzuwarten, und schob einfach den Rasenmäher einige Meter, um festzustellen, was damit nicht in Ordnung war. Schließlich runzelte er die Stirn und fragte: »Haben Sie einen Werkzeugkasten?« »Ja.« Er wartete. »Soll ich ihn holen?« »Keine schlechte Idee! Es sei denn, er kommt auf Zuruf.« Nash verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln, das aber eigentlich viel mehr war. Du meine Güte, dachte Stacey, diesen Typ Mann kenne ich. Aber anscheinend hatten sie sechs Jahre an der Seite eines Süßholz raspelnden Hünen mit Hundeblick nicht gegen diese Spezies gefeit. »Das müssen Sie nicht tun«, sagte sie nun schnell. »Wirklich, ich komme schon
zurecht.« »Bis Ihnen das Öl ausgeht.« Er beschattete sich die Augen und sah zu ihr hinüber. »Wenn Sie meinen, Sie könnten das nicht einfach so annehmen, dürfen Sie mir gern noch einmal Kekse auf die Mauer stellen.« »Oh!« Stacey hatte gleich gewusst, dass er das falsch verstehen würde. »Die waren von Lily, weil Sie den Ball wieder zurückgegeben haben. Schon wieder.« »Tatsächlich?« Er hörte sich überhaupt nicht enttäuscht an und bedachte nun ihre Tochter mit seinem jungenhaften Lächeln. »Die waren echt toll, Lily! Aber sag mir, geht dein hausfrauliches Geschick so weit, Tee zuzubereiten?« Lily kicherte. »Mum hat doch die Kekse gebacken. Ich habe sie nur da oben hingestellt, um mich zu bedanken. Aber Tee kochen ist einfach.« »Ich glaube, deine Mutter könnte eine Tasse vertragen. Und wenn du schon eine Kanne voll machst, hätte ich meinen Tee gern mit drei Löffeln Zucker.« Wieder kicherte Lily, und Stacey musste sich schwer zusammenreißen, um nicht mit einzustimmen. Lily hatte wenigstens eine Entschuldigung: Sie war erst neun Jahre alt. Aber mit achtundzwanzig sollte man über solche Banalitäten nicht mehr lachen müssen. Stacey war froh, sich entschuldigen zu können, um die Werkzeugkiste zu holen. Als sie in der Garage danach suchte, gelang es ihr, ihre Gesichtszüge wieder unter Kontrolle zu bringen. »Ich hoffe, Sie finden etwas Passendes«, sagte sie beim Zurückkommen und stellte die Kiste neben Nash ins Gras. Mike hatte sie zusammen mit dem Haus geerbt, und das Werkzeug darin war wenigstens fünfzig Jahre alt. Nash richtete sich auf, öffnete die Kiste und besah sich den Inhalt. Dabei hielt er hin und wieder einen Schraubenschlüssel an die zu öffnenden Schrauben, bis er die richtige Größe gefunden hatte. »Okay«, sagte er dann, »es kann
losgehen!« Während Stacey beobachtete, wie Nash ihren Rasenmäher auseinander nahm, biss sie sich unwillkürlich auf die Lippe. Bei Mike hatte es auch immer so angefangen. Voller Zuversicht war er an die Dinge herangegangen, um sich dann genauso schnell wieder entmutigen zu lassen. Nash sah zu ihr hoch und fing ihren Blick auf. »Keine Sorge, ich bekomme das Ding schon wieder hin!« Stacey schluckte. Das hatte Mike auch immer gesagt. »Ich… ich gehe dann mal die Kanten schneiden.« Nach einer Weile sah Stacey verstohlen zu Nash hinüber. Wenn es ihm nicht gelang, den Rasenmäher wieder in Gang zu bringen, hätte sie ein Problem. Vielleicht war es nicht so wichtig, dass das Gras superkurz gehalten wurde, um das Haus zu verkaufen, aber in jedem Fall durfte es nicht zu lang werden, damit die Mädchen noch darauf spielen konnten. Lily stellte einen Becher Tee neben sie und ging dann zu Nash hinüber, um ihm auch eine Tasse zu bringen. Sie blieb bei ihm stehen und sah ihm zu, aber Stacey rief: »Lily, geh aus dem Weg!« »Sie kann ruhig hier bleiben«, entgegnete Nash und klopfte neben sich aufs Gras. Dann erklärte er Lily, was er machte. Rosie wollte nicht ausgeschlossen sein und gesellte sich zu ihnen. »Das ist eine Unterlegscheibe und das eine Schraubenmutter. Und dieser Bolzen kommt hier rein.« Er beugte sich ein wenig zurück, damit die beiden besser sehen konnten. »Dann legt ihr die Unterlegscheibe da drunter… Willst du das mal versuchen, Rosie?« Rosie kicherte. »Eigentlich heißt sie Primrose«, erklärte Lily, »aber niemand nennt sie so.« »Ich mag den Namen aber«, sagte Rosie. »Okay, Primrose.« Nash hielt ihr die Unterlegscheibe hin, und Rosie tat sie an die Stelle, die er ihr gezeigt hatte. »Gut
so, und nun kommt die Mutter, die alles zusammenhält. Lily, kannst du das übernehmen?« Stolz schraubte Lily die Mutter auf die Schraube. »He, wenn wir so weitermachen, sind wir in null Komma nichts fertig!« Während Stacey die drei beobachtete, dachte sie, dass es für ihre Töchter eigentlich immer hätte so sein sollen, und ihr wurde das Herz schwer. Aber auch wenn Mike noch am Leben gewesen wäre, hätte das nichts geändert. Er war nie so geduldig mit den Mädchen umgegangen wie dieser Fremde. Als Nash bemerkte, dass sie ihn beobachtete, zog er eine Augenbraue hoch, als wollte er fragen: ,Ist das okay?’ Stacey rang sich ein Lächeln ab und quälte sich dann mit der stumpfen Gartenschere weiter, die Rasenkanten zu beschneiden. »Mummy, dein Tee wird kalt!« »O Lily, tut mir Leid.« Stacey trank einen Schluck, bevor sie, ohne es zu wollen, wieder zu Nash und ihren Töchtern hinübersah. »Haben Sie auch Kinder, Mr. Gallagher?« »Nein, weder Kinder noch eine Frau.« Er gab Lily eine weitere Schraubenmutter und blickte zu Stacey hinüber. »Ich bin wie ein Vagabund und nie lang genug irgendwo, um Moos anzusetzen – wenn Sie verstehen, was ich meine.« Stacey dachte daran, dass er gesagt hatte, schon an übleren Orten als dem Gartencenter übernachtet zu haben, und fragte nun: »Und wo waren Sie so?« »Überall.« Er musste ihr die nächste Frage an den Augen abgelesen haben, oder vielleicht wusste er einfach, was jetzt kam. »Ich war beim EEP, zuerst in Südostasien«, erklärte er. »EEP bedeutet .Englisches Entwicklungshilfepro…« »Ich habe davon gehört.« Stacey hatte immer selbst für ein Jahr mit dieser Organisation ins Ausland gehen wollen, als sie noch auf dem College gewesen war. Aber nachdem sie Mike kennen gelernt hatte, war für sie nur noch wichtig gewesen, mit ihm zusammen zu sein.
»Ich war einige Jahre dabei, bevor ich an einem Projekt des internationalen Entwicklungsdienstes mitgearbeitet habe. Danach bin ich nach Südamerika gegangen und dort ungefähr fünf Jahre geblieben.« »Und nun sind Sie wieder zu Hause.« Nash dachte einen Augenblick darüber nach und sagte dann: »Ja, das nehme ich an.« Er klang irgendwie, als könnte er es selbst noch nicht glauben. »He, Mädchen, ich denke, wir haben’s geschafft! Wollen wir ihn mal anwerfen?« Die beiden nickten. Nash legte das Werkzeug zurück in den Kasten und schob den Rasenmäher einige Meter übers Gras. Die Scherblätter drehten sich jetzt wieder ganz leicht und ohne das schleifende Geräusch, das Stacey dem Alter des Geräts zugeschrieben hatte – und der Tatsache, dass es so lange nicht mehr gewartet worden war. »Es hört sich ganz anders an«, sagte sie nun. »Was haben Sie gemacht?« »Nicht viel. Da hatte sich altes Gras und Unkraut um die Antriebswelle gewickelt. Ich habe alles sauber gemacht. Zukünftig sollten Sie keine Probleme mehr beim Rasenmähen haben.« Er warf einen Blick auf die stumpfe Gartenschere in Staceys Hand. »Ich könnte sie schärfen, wenn Sie wollen. Drüben gibt es einen Schleifstein.« Er nickte zur Mauer hinüber, wobei ihm das Haar in die Stirn fiel. Als er es zurückstrich, geriet ein bisschen Öl von seiner Hand auf die Stirn, und Stacey musste sich schwer zusammennehmen, um es nicht wegzuwischen. »Hm.« »Also, soll ich Ihnen die Schere nun schleifen?« Stacey wusste nicht recht, ob sie das auch noch annehmen konnte, und sagte: »Ich will Sie nicht belästigen.« »Das tun Sie auch nicht.« Er lächelte jungenhaft. »Ehrlich. Ich mache es jetzt schnell, dann können Sie den Rasen
fertig mähen.« Insgeheim war Stacey erleichtert, denn sie hatte schon befürchtet, er wollte das auch noch für sie erledigen. Sie hatte nichts gegen Hilfe einzuwenden, war nur nicht gewöhnt, jemanden um sich zu haben, der die Dinge in die Hand nahm. Staceys Eltern hatten sich für einen Ruhestand ohne Enkelkinder im Süden entschieden. Und Dee steckte ihr höchstens einmal Geld zu, nörgelte dafür aber ständig an ihr herum. Doch um in Arbeitskleidung bei ihr zu erscheinen und einen Pinsel in die Hand zu nehmen, war sie immer viel zu beschäftigt. Selbst am Wochenende war sie häufig unterwegs, um ihre hochfliegenden Karrierepläne in die Tat umzusetzen oder an einem für ihre berufliche Laufbahn sehr wichtigen gesellschaftlichen Ereignis teilzunehmen. Stacey seufzte. Wenn man alles allein machen musste, fühlte man sich ganz schön einsam. Und dann tauchte einfach dieser Fremde auf, sah sofort, was zu tun war, und bot ihr seine Hilfe an. Vielleicht hat Dee ja Recht, überlegte Stacey nun: Hier fehlt ein Mann im Haus! Doch sie hätte ihn sich schon lieber selbst ausgesucht. Nash stellte die Werkzeugkiste auf den Gartenweg, brachte sie aber nicht in die Garage. Er kam Stacey auch nicht zu nahe, als er ihr die Gartenschere abnahm. »Es dauert nur einige Minuten. Danke für den Tee, Lily«, sagte er noch und warf die Schere über die Mauer. Mit einer geschmeidigen Bewegung war er oben und ließ sich auf der anderen Seite wieder herunter. Stacey kam der Garten ohne ihn plötzlich unheimlich leer vor. »Kann Nash zum Abendessen bleiben, Mummy?« wollte Lily nun wissen, und auch Rosie sah ihre Mutter erwartungsvoll an. »Ich denke, er hat schon etwas vor«, antwortete Stacey.
So wie dieser Naturbursche aussah, hatte wahrscheinlich längst jeder weibliche Single in der Nachbarschaft mit seinen getuschten Wimpern einladend zu ihm hinübergeklimpert – und einige der verheirateten Frauen wohl auch. Bestimmt wollte Nash Gallagher den Samstagabend nicht mit einer Frau verbringen, die Grasflecken an den Knien und Gartenerde unter den Fingernägel hatte und deren Haar mit einer Mickey-Maus-Spange zurückgehalten war, weil sie, Stacey, gerade keine andere gefunden hatte. »Aber du wirst ihn doch wenigstens fragen, Mum?« Lily ließ nicht locker, und Stacey musste zugeben, dass sie durchaus versucht war, Nash Gallagher heute Abend zum Essen einzuladen. Schließlich war auch sie nur eine Frau, deren Hormone hin und wieder ihren Tribut forderten. Aber trotz allem hatte sie sich in den vergangenen Jahren ein wenig gesunden Menschenverstand angeeignet. Zumindest so viel, um nicht zwei Mal auf den gleichen Typ hereinzufallen. Sie konnte vernünftig sein, wenn sie es musste. Auch ohne mit Nash Gallagher etwas anzufangen, hatte sie genug Probleme. »Mal sehen«, sagte sie schließlich zu Lily. Als Stacey gerade mit dem Rasenmähen fertig war, sah Nash über die Mauer, und Lily platzte heraus: »Nash, Mummy hat gesagt, du kannst zum Abendessen bleiben, wenn du willst.« »Bitte, sag Ja!« ergänzte Rosie, noch bevor Stacey etwas dagegen einwenden konnte. Als Nash Staceys Gesichtsausdruck sah, wusste er sofort, dass Lily ihrer Mutter vorgegriffen hatte. Ohnehin hatte er Stacey nur die Gartenschere bringen und sich dann gleich wieder zurückziehen wollen. Auf keinen Fall beabsichtigte er, die Frau zu bedrängen. Sie war Witwe und Mutter zweier Töchter und hatte allen Grund, einem Fremden zu misstrauen, der sein Zelt auf der anderen Seite ihrer Gartenmauer aufgeschlagen hatte.
Inzwischen war Stacey allerdings zu dem Schluss gelangt, dass es unhöflich wäre, die vorschnelle Einladung ihrer Töchter zurückzunehmen – immerhin hatte Nash ihr den Rasenmäher repariert. Deshalb sagte sie nun: »Es gibt nichts Aufregendes, nur Spaghetti Bolognese. Aber es ist das Lieblingsessen der Mädchen.« »Meins auch«, erklärte Nash. »Aber ich will mich nicht aufdrängen. Eigentlich hatte ich mich nur für die Kekse bedanken wollen.« »Und sind dann geblieben, um den Rasenmäher zu reparieren, der jetzt wieder wie neu ist.« Er zuckte die Schultern. »Wenn Sie zwei Tagesreisen von der nächsten Stadt entfernt gelebt hätten, könnten Sie solche kleinen Reparaturen auch selbst vornehmen.« »Nun, wie auch immer, ich bin Ihnen sehr zu Dank verpflichtet und würde mich freuen, wenn Sie heute mit uns zu Abend essen würden.« Dabei sagte sich Stacey, dass sie nur auf gute Nachbarschaft machte. Wenn Nash Gallagher nebenan eingezogen wäre, hätte sie keine Sekunde gezögert, ihn einzuladen. Natürlich würde ihre Schwester etwas dagegen haben, dass ein wildfremder Mann bei ihr am Tisch saß. Aber bei der Vorstellung musste Stacey lächeln und bekräftigte: »Also, ich würde mich freuen. Wenn Sie überhaupt zum Essen kommen möchten, heißt das.« »Nichts wäre mir lieber. Ich glaube, es ist Monate her, dass ich etwas Hausgemachtes gegessen habe. Um welche Zeit soll ich da sein?« »So um sechs.« »Ich bin pünktlich.« Er reichte ihr die Schere, die er nicht nur geschliffen, sondern auch entrostet und geölt hatte. Stacey betrachtete ihre Hände und stöhnte. Als sie zur Nagelbürste griff, schwor sie sich, bei der Gartenarbeit zukünftig Handschuhe zu tragen. Danach überlegte sie, was sie anziehen sollte. Sie konnte sich wohl schlecht in kurzer Hose an den Tisch setzen, wenn ein Gast zum
Essen kam. Irgendwo hatte sie doch noch einen Rock – nicht gerade topmodisch, aber ordentlich. Sie entdeckte ihn ganz hinten im Schrank. Zum T-Shirt sah er allerdings irgendwie merkwürdig aus. Dann fiel ihr das ärmellose schwarze Oberteil ein, das Dee ihr vermacht hatte. Nicht schlecht! Und vielleicht noch ein bisschen Wimperntusche, aber nur ein bisschen. Schließlich wollte sie nicht, dass Nash Gallagher dachte, sie hätte sich seinetwegen zurechtgemacht. Andererseits… Vielleicht doch noch ein bisschen Lippenstift? »Lily, Rosie!« rief Stacey, als sie schließlich in die Küche hinunterging, um das Essen vorzubereiten. Sofort waren die beiden zur Stelle und schienen begierig, ihr behilflich zu sein. Die Mädchen hatten wohl ein schlechtes Gewissen, weil sie den Mann von nebenan einfach so eingeladen hatten. Aber Stacey war ihnen nicht böse. Sie war höchstens verärgert über sich selbst. »Deckt ihr bitte den Tisch?« »Haben wir schon!« Sie hatten es tatsächlich getan, wie Stacey feststellte, als sie die Küche betrat, und zwar mit dem besten Besteck und Porzellan, das sie besaßen. Die beiden hatten sogar die Stoffservietten hingelegt. Na ja, vielleicht dachte Nash, es wäre bei ihnen so üblich. »Können wir auch Blumen pflücken?« fragte Rosie nun, und Stacey überlegte: Blumenschmuck auf dem Tisch? Dann würde er bestimmt denken, sie führte etwas im Schilde. Aber da bettelte Rosie schon: »Bitte!«, und Lily fiel mit ein: »Bitte, Mummy, wir könnten doch einige der Hundsrosen abschneiden?« »Besser nicht. Ihr stecht euch nur an den Dornen, und die Blütenblätter fallen herunter, bevor ihr die Blumen hereingebracht habt. Pflückt doch irgendetwas Helles und Freundliches. Ihr könnt die Terrakottavase nehmen, in der ihr immer die Pinsel ausspült, wenn ihr mit
Wasserfarben malt.« Dann würde es auf jeden Fall so aussehen, als hätten die Mädchen die Blumen auf den Tisch gestellt. Die beiden spurteten davon, und Stacey band sich eine Schürze um, als die große Standuhr im Flur auch schon sechs Mal schlug. Oje, dachte Stacey, schon so spät! Und das alles nur, weil sie so lange fürs Umziehen und Schminken gebraucht hatte. Nun würde sie sich mit Nash Gallagher unterhalten müssen, bis das Essen fertig war. Worüber redeten Erwachsene heutzutage eigentlich? Wenn sie ihm nur etwas zu trinken anbieten könnte. Sie hatte nur einen klebrig-süßen Ingwerlikör im Haus, den sie bei der Tombola des Dorffestes gewonnen hatte, und ungesüßten schwarzen Johannisbeersaft. Stacey blickte zum Küchenfenster hinaus und sah Nash bereits über den Gartenweg aufs Haus zukommen. Er trug Jeans und ein dunkelblaues T-Shirt. Sein Haar glänzte golden im Schein der Abendsonne. Und mit einem Mal fühlte sich Stacey wieder wie mit siebzehn, als Mike auf seinem Motorrad vor dem Haus ihrer Eltern auf sie gewartet hatte, während ihre Mutter ein Gesicht gezogen hatte wie drei Tage Regenwetter. »Nimm nicht so viel Wasser«, sagte Stacey, als Rosie die Terrakottavase am Küchenbecken füllte. Aber dann achtete sie nicht weiter auf ihre Tochter, sondern rührte gedankenverloren in der Bolognesensoße, ohne den Blick von Nash zu wenden, der stehen geblieben war und sich ihre Wildblumenbeete genauer ansah. Als er weiterging, fing er ihren Blick auf und erwiderte ihr Lächeln. In diesem Moment hörte Stacey hinter sich ein Platschen und dann das Geschrei der Kinder.
4. KAPITEL An der geöffneten Tür blieb Nash stehen und sah sofort, was passiert war. Überall befand sich Wasser, der Boden war mit Scherben und Blumen übersät und Rosie den Tränen nah. »Bin ich zu früh dran?« Normalerweise hätte sich dieses kleine Unglück nicht ereignet, weil Stacey ein Auge auf ihre siebenjährige Tochter gehabt hätte, während die Kleine die gefüllte Blumenvase durch die Küche trug. Andererseits hätte Stacey wohl kaum vorhersehen können, dass Rosie aus den Gartenblumen eine Spinne über die Hand krabbelte. »Ich kann mich ja noch ein bisschen draußen umsehen und so tun, als hätte ich nichts davon mitbekommen«, sagte Nash. »Wenn Ihnen das lieber wäre, meine ich.« Stacey fischte gerade die Scherben aus der Wasserlache und sah auf. Sie hätte gar nicht erst versuchen sollen, Eindruck zu schinden. Wenn man Kinder hatte, brachten die einen immer sofort wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. »Nein, kommen Sie ruhig herein, wenn Sie einen Weg um die Pfütze finden.« »Schön, kann ich vielleicht irgendwie behilflich sein?« Stacey war überrascht, so etwas in dieser Situation von einem Mann zu hören, und das musste sich auf ihrem Gesicht abgezeichnet haben, denn Nash fügte hinzu: »Ich kann mit einem Wischmopp umgehen.« »Tatsächlich?« Wenn das stimmte, war er mit seinem Aussehen der Traum jeder Hausfrau. Kurzzeitig war Stacey versucht, seine Behauptung auf die Probe zu stellen, während sie mit ihren Frühlingsgefühlen kämpfte. Aber dann sagte sie: »Nein, danke, es geht schon«, warf die Scherben weg und holte den Wischmopp aus dem Wandschrank, während Nash dabei behilflich war, die restlichen Blumen aus der Wasserlache zu nehmen. »Ich würde Ihnen ja gern etwas zu trinken anbieten,
Nash, aber ich habe nur schwarzen Johannisbeersaft im Haus. Der steht im Supermarkt ganz hinten, letztes Regal, fünfzehntes Fach«, fügte sie noch hinzu und fragte sich dann, ob sie sich auch so nervös anhörte, wie sie sich fühlte. »Eine ganz besondere Sorte und voll mit Vitamin C.« »Ich bin ehrlich geneigt, dieses verlockende Angebot anzunehmen«, sagte Nash augenzwinkernd, »aber ich habe die Flasche da drüben in meinem Keller gefunden und dachte, es wäre doch schade, wenn sie verkommt.« Er wies auf eine Flasche Rotwein, die er wohl beim Hereinkommen auf der Arbeitsplatte abgestellt hatte. »Hat Ihr Zelt denn einen Keller?« fragte Stacey, während sie krampfhaft überlegte, wo sie den Korkenzieher hingetan hatte. »Ist das nicht bei jedem Zelt so?« Nash zog ein Taschenmesser mit Korkenziehereinsatz hervor, und Stacey dachte, dass dieser Mann auf alles vorbereitet war. »Wir haben auch einen Keller«, sagte Rosie, »aber da sind nur Spinnen drin. Igitt!« Sie schüttelte sich. Aus Angst vor der Spinne, die ihr über die Hand gekrabbelt war, stand sie schon die ganze Zeit im Flur, und Lily erklärte: »Rosie fürchtet sich vor Spinnen, und in den Blumen war eine.« »Aber die sind doch ganz harmlos, Primrose, und sogar sehr nützlich.« Das schien das Mädchen nicht zu glauben. »Sie fressen unter anderem Fliegen und Mücken, und als ich im Urwald war…« »Bist du wirklich dort gewesen?« fragte Lily, und auch Stacey hatte da so ihre Zweifel. »Natürlich, und eine Spinne hat mir das Leben gerettet.« »Und wie?« fragte Rosie ehrfürchtig, während Lily wissen wollte: »Wie groß ist sie gewesen?«
»Größer als der Küchentisch.« Nash konnte ja nicht ahnen, dass Lily ihre kleine Schwester mit der Frage nur hatte aufziehen wollen. Aber als Rosie erschauderte, schränkte er die Spinnengröße sofort wieder ein. »Na ja, vielleicht auch nur so groß wie ein Tablett. Sie hieß Roberta.« »Und woher kannten Sie ihren Namen?« Stacey hoffte, ihm durch diese Frage die Möglichkeit zu geben, seine Geschichte auf Fabelniveau zu halten – wegen Rosie. »Hat sie Ihnen ihren Namen verraten?« Nash sah verwundert drein. »Aber natürlich nicht! Spinnen sind sehr schüchtern und würden niemals einfach so mit einem Menschen reden. Nein, ein Papagei hat uns vorgestellt.« Lily kicherte und Rosie erstaunlicherweise auch, während Nash Stacey tief in die Augen sah und sie einen Moment den Eindruck hatte, als wären sie allein auf der Welt. Stacey kannte dieses Gefühl zur Genüge. Wären sie jetzt tatsächlich allein gewesen, würde das Essen auf dem Herd wahrscheinlich verkokein. Schnell wandte sie sich ab, stellte die Blumen in eine kleine Porzellanvase und platzierte sie mitten auf dem Tisch. Dann holte sie zwei Weingläser aus dem Schrank und war erstaunt, dass ihr die Hände dabei nicht zitterten. Aber dafür hatte sie wieder Schmetterlinge im Bauch. Nash nahm die Gläser entgegen und schenkte Wein ein. Als er Stacey ein Glas reichte, stellte sie fest, dass seine Hände ebenfalls ganz ruhig waren. Aber spontan fragte sie sich, wie es wohl bei ihm mit den Schmetterlingen aussah. »Könnten wir nicht auch einen Papagei haben, Mummy?« »Nein, Lily«, sagte Stacey entschieden – vielleicht eine Spur zu streng, und Nash wollte wissen: »Habt ihr denn sonst irgendwelche Haustiere?« »Nein. Daddy hätte gern einen Hund gehabt, aber er war
allergisch gegen die Haare. Glaubst du, Nash, dass er jetzt, da er im Himmel ist, einen hat?« »Ich wüsste nicht, was dagegen spräche«, erklärte Nash, als hätte er jeden Tag mit Kindern zu tun, und fügte hinzu: »Ich glaube, im Himmel muss keiner mehr unter Allergien leiden.« Er blickte zu Stacey hinüber, die sich schnell abwandte, damit er nicht sah, wie gerührt sie war. Bestimmt überlegte er nun, ob sie immer noch um ihren verstorbenen Mann trauerte. Stacey stellte das Weinglas ab und tat so, als müsste sie nach den Nudeln sehen. »Noch eine Minute!« sagte sie dann. »Setzt euch schon einmal an den Tisch.« »Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein, Stacey?« »Nein, danke.« Stacey hatte sich ihm wieder zugewandt und brachte auch so etwas wie ein Lächeln zu Stande. »Ich bin es nicht gewöhnt, dass mir ein Mann im Haus zur Hand geht.« »In meinem Fall geschieht das aus reiner Gewohnheit – im Urwald wird man auch nicht bedient. Aber vielleicht kann ich ja später beim Abwaschen helfen.« »Sie können wiederkommen«, sagte Stacey und errötete, während Nash lächelte und dachte: Ich sollte eigentlich ein wenig Distanz zwischen uns wahren. Eine junge Witwe mit zwei Kindern war viel zu kompliziert für einen Mann, der gern mit leichtem Gepäck reiste und nicht vorhatte, sich sesshaft zu machen. Aber Stacey hatte irgendetwas, und seitdem sie bei ihm im Garten aufgetaucht war, musste er unablässig an sie denken. Stacey konnte gar nicht glauben, dass sie Nash soeben noch einmal zum Essen eingeladen hatte. Das war ja, als flirtete sie mit ihm! Es wurde höchste Zeit, sich zusammenzureißen. »Es tut mir Leid, dass wir in der Küche essen müssen, aber ich bin gerade dabei, das Esszimmer zu tapezieren.« »Kein Problem. Ich finde es hier sehr gemütlich«, sagte
Nash, und Lily fragte ihn: »Hast du denn einen Hund?« »Ich bin nie lange genug an einem Ort, um ein Tier zu halten. Aber als ich in deinem Alter war, hatte ich einen Hund.« »Und was für einen?« »Einen Mischling. Er hatte ein bisschen von allem, aber am meisten von einem Dalmatiner.« Rosie seufzte. »Dalmatiner sind meine Lieblingshunde.« »Wegen des Disneyfilms«, sagte Stacey. »Können wir uns nach dem Essen das Video ansehen, Mummy? Nash würde es bestimmt auch gern gucken!« »Ich bin sicher, Nash hat wesentlich interessantere Dinge für den Abend geplant, als sich mit dir einen Film über Dalmatiner anzusehen, Rosie.« »Aber nichts, das nicht warten könnte«, sagte Nash und dachte: Das also zum Thema, Abstand wahren, während Stacey überlegte, dass es für ihn nur von Vorteil war, sich bei ihr einzunisten. Ein gedeckter Tisch und das warme Bett einer lustigen Witwe war bestimmt mehr, als er sich zunächst von seinem Quartier im Garten erwartet hatte – zumindest bis er weiterzog. Verdammt, überlegte Stacey nun, wahrscheinlich dachte er sogar, sie wäre ihm dankbar für seine Aufmerksamkeit. Dee hatte Recht. Sie sollte von einem Mann mehr erwarten als den Körper einer griechischen Statue und ein Lächeln, das einen dahinschmelzen ließ wie Schnee in der Frühlingssonne. Nun schwor sie sich, sich am Samstag bei Lawrence richtig ins Zeug zu legen und ganz besonders nett zu ihm zu sein. »Parmesan?« fragte sie Nash daraufhin und knallte ihm das Stück Käse mit der Reibe regelrecht neben den Teller. Das war zwar nicht gerade höflich, aber in jedem Fall machte es ihm deutlich, dass sie nicht bereit war, alles für ihn zu tun. Dann fragte sie: »Was haben Sie eigentlich in Südamerika gemacht?«, aber nur, um überhaupt etwas
zu sagen. Spätestens jetzt wurde auch Nash klar, dass sich mit Stacey eine Wandlung vollzogen hatte. Ihre Stimme klang ganz anders, und sie hielt sich auch steifer. Er hätte nicht gedacht, dass sie so verletzlich war. Doch dann ging er auf ihre geänderte Gangart ein und beantwortete die Frage. »Ich habe nach Pflanzen gesucht.« »Was?« Stacey konnte ihr erneut aufkeimendes Interesse für ihn kaum verhehlen. »Ich bin Botaniker, und der Regenwald ist voll von Pflanzen, die noch kein Mensch zuvor gesehen hat. Ich habe dort eine Sammlung angelegt.« »Fünf Jahre lang?« »Der Urwald ist groß.« Nash sah, dass es Stacey schwer fiel, dem Hilfsarbeiter von nebenan abzukaufen, dass er eigentlich Botaniker war. Er nahm die Weinflasche und schenkte seiner Gastgeberin noch einmal ein. Dann bot er ihr eine einleuchtende Erklärung an: »Botaniker werden nicht besonders gut bezahlt.« Sie zog eine Augenbraue hoch. »Offensichtlich nicht, wenn Sie in einem Zelt übernachten müssen und zwischendurch Aushilfsjobs erledigen.« Sie glaubte ihm tatsächlich nicht. Na ja, das war vielleicht besser so. Er wollte gar nicht, dass sie allzu gut über ihn Bescheid wusste. »Sie könnten doch bestimmt etwas Einträglicheres finden als diese Aushilfstätigkeit.« »Wahrscheinlich. Mein Vater sagt auch immer, ich solle endlich etwas Anständiges machen, wie etwa in einer Bank oder für eine Versicherung arbeiten – die nehmen auch Botaniker.« Stacey lachte. »Das sind ganz bestimmt sehr vernünftige Jobs.« »Ich denke, man könnte auch meinen Vater als äußerst vernünftigen Menschen bezeichnen«, sagte Nash und
dachte: Dad hat sogar aus Vernunftgründen geheiratet anstatt aus Liebe, bevor er fortfuhr: »Er ist der Meinung, ich sollte endlich mehr in die Zukunft sehen und vor allem an meine Altersvorsorge denken.« »Meine Schwester ist genauso. Vielleicht haben die beiden ja Recht.« »Vielleicht, doch ich bin lieber draußen im Freien als in einer Schalterhalle.« »Aber da Sie ja schon in einem Zelt wohnen, sind Sie doch eigentlich lange genug draußen.« »Nun, ja, das Zelt ist nur eine Notlösung, weil es hier in der Gegend keine Pension gibt. Es sei denn, Sie kennen jemanden im Dorf, der sich eines heimatlosen Botanikers annehmen würde.« »Ich fürchte nicht«, sagte Stacey schnell, bevor eine ihrer Töchter noch auf die Idee kam, Nash das freie Zimmer anzubieten. Dann nippte sie verlegen an ihrem Wein. Nash bemerkte, wie sie errötete, und überlegte, ob sie wohl davon ausgegangen war, dass er mit seiner Äußerung auf ihre leer stehende Doppelbetthälfte anspielte. Na, vielleicht lag sie damit ja gar nicht so falsch. Bei der Vorstellung, mit Stacey in einem großen, weichen Ehebett zu kuscheln, zeigte er Regungen, die bei Tisch – noch dazu mit Kindern – nichts zu suchen hatten. »Wie steht’s mit Ihnen, Stacey?« fragte Nash nun schnell, um sich auf andere Gedanken zu bringen. »Haben Sie einen Job?« »Ich beschäftige mich ein bisschen mit Gartenbau.« »Tatsächlich? An Ihrem Garten habe ich schon gesehen, dass Sie sich dafür interessieren, aber ich hätte nicht gedacht, dass Sie das auch beruflich betreiben.« »Na ja, so kann man das auch nicht nennen.« Sie zuckte die Schultern. »Nach der Schule habe ich eine landwirtschaftliche Fachschule besucht und Kurse in Gartenbau
belegt. Bevor ich jedoch meinen Abschluss machen konnte, kam mir das Leben dazwischen.« Damit meint sie wohl Ehe und Mutterschaft, dachte Nash, oder vielleicht war es auch umgekehrt. »Sie könnten sich doch wieder einschreiben und Ihren Abschluss nachholen. Bestimmt bekämen Sie staatliche Unterstützung.« »Vielleicht, ja… Doch ich kann das Rad jetzt nicht einfach so zurückdrehen. Schon wegen der Kinder. Aber immerhin habe ich das an der Fachschule Erlernte umgesetzt und bereits einige der Pflanzen verkauft, die ich in meinem Garten gezüchtet habe. Ich brauchte allerdings ein richtiges Ladenlokal. Die Löwenmäulchen und Veilchen finden beim Gärtner im Dorf regen Absatz«, sagte Stacey, »aber das bringt nichts ein.« Der Mann verkaufte sie eigentlich viel zu billig, so dass der Erlös kaum die Wasserrechnung deckte. Hätte sie ein eigenes Geschäft, brauchte sie ihm wenigstens die Kommission nicht abzutreten. Doch dann zwang sie sich, mit der Träumerei aufzuhören. Immerhin kostete ein Ladenlokal auch Miete. »Ich schätze, über kurz oder lang ziehe ich einfach in eine Dreizimmerwohnung in Stadtnähe und suche mir einen Bürojob.« »Warum verkaufen Sie nicht seltene Wildblumenarten?« fragte Nash nun. »Davon scheinen Sie ja etwas zu verstehen.« »Ja, das ist mein Traum«, erklärte Stacey und dachte: Aber ein dummer. Sie rang sich ein Lächeln ab, bevor sie fortfuhr: »Vielleicht finden Sie ja drüben im Garten eine geschützte Wildblumenart. Dann darf das Grundstück nicht bebaut werden, und ich kann das Cottage besser verkaufen.« Es entstand eine kleine Pause, bis Nash erklärte: »Ich werde ein Auge darauf haben.«
Erstaunt über seine plötzliche Ernsthaftigkeit, sah Stacey zu ihm hinüber. Er lächelte auch nicht mehr. »Wie sieht es eigentlich da drüben aus, Nash? Wissen Sie schon, wann mit den Erdarbeiten begonnen wird?« »Im Augenblick jedenfalls noch nicht!« erwiderte er geradezu ruppig, und Stacey dachte: Na großartig! Rosie und Lily ließen den Kopf hängen, weil sie nicht umziehen wollten. Ihr war die ganze Situation peinlich, und Nash… Nun, er bereute offensichtlich, dass er die Erdbeeren auf die Mauer gestellt und den Rasenmäher repariert hatte. Insgeheim verfluchte sich Stacey. Was war sie aber auch für ein Schaf. Nash Gallagher hatte einfach nur nett sein wollen, und sie setzte ihm gleich die Pistole auf die Brust, indem sie ihr Wohl scheinbar in seine Hände legte und darauf hoffte, dass er den Bau irgendwelcher Industrieanlagen verhindern konnte. Rasch leerte sie ihr Glas und rang sich ein Lächeln ab. »Esst auf, es gibt Stachelbeerkuchen mit Vanillesoße zum Nachtisch.« Nash schob seinen Stuhl zurück. »Das war einfach köstlich, Stacey! Vielen Dank.« »Gern geschehen.« »Kommt, Lily und Primrose, lasst uns den Tisch abräumen und eurer Mutter Kaffee machen.« »Das ist wirklich nicht nötig!« »Da bin ich aber ganz anderer Meinung. Eigentlich bin ich sogar der Ansicht, Sie sollten ins Wohnzimmer gehen und die Beine hochlegen, während wir abwaschen.« »Ja, aber…« »Kein Aber«, widersprach er. »Das wird Ihnen gut tun.« Dann fügte er noch hinzu: »Sie können mir vertrauen, ich bin Doktor.« »Doktor?« »Nun, ja, ein Doktor phil. nat.«
Und dann machte er Hilfsarbeiten? Ach so, jetzt verstand sie. Nachdem sie ihm den einfachen Botaniker nicht abgekauft hatte, versuchte er es nun so. Stacey wusste nicht, ob sie sich geschmeichelt fühlen sollte, weil er sie unbedingt beeindrucken wollte, oder böse sein, dass er sie deshalb belog. »Zählt ein Doktorat in Naturwissenschaften denn überhaupt?« fragte sie schließlich, ohne sich darüber Gedanken zu machen, dass sie sich extrem skeptisch anhörte. Aber er lächelte nur und schien kein bisschen beleidigt. »Wir erledigen jetzt das mit dem Abwasch, und Sie legen schon einmal das Video ein und machen sich’s auf dem Sofa gemütlich.« Es war ohnehin vergeblich, noch weiter dagegen zu protestieren, und Stacey fügte sich. Bis sie den Videofilm gefunden hatte, kam Nash mit einem Tablett in den Händen ins Wohnzimmer, auf dem ihre besten Tassen und eine Kanne mit frischem Kaffee standen. Als Stacey sich setzte, ließ sie neben sich genügend Platz. Bestimmt würden auch die Mädchen gleich hereinkommen, um sich zu ihr zu gesellen. Aber Nash war schneller. Er stellte das Tablett auf den Wohnzimmertisch und ließ sich einfach neben ihr nieder. Es war schon lange her, dass Stacey das Sofa mit einem Mann geteilt hatte. Das Möbelstück war alt und die Federung nicht mehr ganz in Ordnung, so dass Nash und sie gegeneinander rutschten und Stacey seinen Duft einatmen konnte. Wie gut er roch! Irgendwie frisch und sauber. Nach einer Weile räusperte sich Stacey verlegen. »Meinen Sie nicht, im Sessel hätten Sie’s bequemer, Nash?« Nash blickte zu dem Möbelstück hinüber und dann wieder tief in Staceys Augen. »Von hier aus kann ich viel besser sehen.«
Auch Rosie und Lily waren ihr keine Hilfe, Nash dazu zu bewegen, den Platz zu wechseln. Sie hatten sich bereits die Sitzkissen geholt und machten es sich zu ihren Füßen bequem. So wäre es auch mit Mike gewesen, dachte Stacey unwillkürlich. Alle vier zusammen im Wohnzimmer. Vielleicht… Dann sah sie verstohlen vom Bildschirm zu dem Mann neben sich, mit dem dichten hellen Haar und dem unwiderstehlichen Körper. In diesem Augenblick beugte er sich vor, um ihnen Kaffee einzuschenken, und streifte dabei Staceys Arm. »Milch und Zucker?« fragte er und sah sie an. Sein Lächeln brachte wirklich jedes Eis zum Schmelzen. »Nur Milch, bitte«, erwiderte Stacey, und er reichte ihr die Tasse. »Danke.« »Keine Ursache.« Mit dem Kaffeebecher in der einen Hand lehnte er sich wieder zurück und schien sich wie zu Hause zu fühlen. Dann legte er auch noch den anderen Arm auf die Rückenlehne – nur Zentimeter oberhalb von Staceys Nacken. Stacey versuchte, sich Lawrence Fordham neben sich auf dem Sofa vorzustellen, wie sie sich mit Rosie und Lily einen Disneyfilm ansahen, bei den lustigen Stellen lachten und sich über die bösen Machenschaften der Cruella de Ville ereiferten. Aber irgendwie verweigerte ihre Vorstellungsgabe dabei die Mitarbeit.
5. KAPITEL »Okay, Mädchen, Zeit fürs Bett!« Es folgten die üblichen Bitten, noch länger aufbleiben zu dürfen, weil Samstag und am nächsten Tag keine Schule sei. Aber Stacey blieb hart.
»Sagt Gute Nacht zu Nash. Ihr habt fünf Minuten, um euch fertig zu machen, dann komme ich hoch und decke euch zu.« »Nacht, Nash.« Rosie legte ihm die Arme um den Nacken und gab ihm einen KUSS. Er hob sie hoch, trug sie zur Treppe und ließ sie auf einer der ersten Stufen wieder herunter, bevor er ihr das Haar raufte. »Gute Nacht, Süße.« Lily mit ihren neun Jahren war zurückhaltender und zeigte ihre Gefühle nicht so offen. Aber sie fragte: »Kommst du morgen wieder, Nash? Wir könnten doch zusammen Fußball spielen.« »Lily!« ermahnte Stacey sie da, weil die Einladung ihrer Tochter nur darauf zurückzuführen war, dass sie sich verzweifelt einen Vater wünschte. Das Gleiche galt auch für Rosie. »Ich bin sicher, Nash hat morgen schon etwas vor.« Aber Nash bedachte Lily mit seinem strahlendsten Lächeln und sagte: »Es gibt nichts, das ich lieber täte, Schätzchen, aber ich muss morgen jemanden besuchen.« Lily blickte enttäuscht drein. »Dann am Montag?« »Lily«, ermahnte Stacey sie nun noch einmal, »nicht quengeln! Und jetzt nach oben mit euch, und vergesst das Zähneputzen nicht.« Zögerlich gingen die Mädchen die Treppe hinauf und ließen ihre Mutter mit Nash allein. »Es tut mir Leid«, fing Stacey an, »bitte denken Sie nicht…« »Das tue ich nicht«, unterbrach er sie, so dass sich Stacey sofort fragte, was er damit meinte. Etwa, dass er sich nicht von Lily um den Finger wickeln lassen würde? Oder hatte er ihr, Stacey, gerade versprochen, sich nicht aufzudrängen? Auch seinem Gesicht war nichts zu entnehmen. »Ich gehe jetzt, damit Sie die Mädchen in Ruhe ins Bett bringen können. Vielen Dank für alles, Stacey. Es war ein wundervoller Abend.« Eigentlich wollte Stacey nicht, dass der Abend schon
vorbei war, und hätte Nash am liebsten gebeten, noch zu bleiben. Sie könnte die Mädchen ins Bett bringen und dann frischen Kaffee machen oder vielleicht auch ein Glas von dem Ingwerlikör probieren. Doch dann sagte sie nur: »Sie sind sehr leicht zufrieden zu stellen.« »So, meinen Sie?« Es entstand eine kleine Pause, in der alles hätte passieren können, und Stacey wäre am liebsten gewesen, dass Nash sie jetzt küsste. Aber dieser Sehnsucht folgte die Panik auf dem Fuß, der Wunsch könnte in Erfüllung gehen. Es war schon so lange her, dass ein Mann zärtlich zu ihr gewesen war. Bestimmt wüsste sie gar nicht mehr, wie sie sich dabei verhalten sollte. »Mummy, die Zahnpasta ist alle!« Wieder einmal war die Versuchung der Wirklichkeit gewichen. Doch die Enttäuschung war groß, und Stacey wüsste plötzlich, welches Gefühl überwogen hatte: die Sehnsucht nach Liebe und nicht die Panik. »Gehen Sie ruhig nach oben, Stacey. Ich finde allein hinaus.« Nashs Lächeln hatte sich ein wenig verändert. Fast hätte man meinen können, die ganze Situation belustigte ihn. Stacey hatte ganz vergessen, was Begierde in einem auslösen konnte – wie sie einem den Verstand raubte und der Lächerlichkeit preisgab. Obwohl Nash sie nicht angefasst hatte, war ihr, als hätte er ihr über die Wange gestrichen. Er hatte sie auch nicht geküsst, und trotzdem pulsierte es heiß in ihren Lippen. Durch den anhaltenden Sonnenschein der vergangenen Tage war das Geißblatt aufgegangen, und nun erfüllte der Duft der rüsselartigen Fruchtstände die Nachtluft mit einem geradezu himmlischen Blütenaroma. Stacey stand an der geöffneten rückwärtigen Küchentür und sah in den Garten. Sie konnte einfach noch nicht ins Bett gehen, weil es draußen so gut roch. Aber dann schüttelte sie den Kopf. Sie brauchte sich gar
nichts vorzumachen. Der einzige Grund für ihre Unlust, schlafen zu gehen, war der Mann, der da jenseits der Mauer in seinem Zelt lag. So unruhig war sie auch immer gewesen, wenn Mike sie am nächsten Tag abholen wollte. Aber sie war nun einmal nicht mehr siebzehn, und Nash würde in ein, zwei Wochen weiterziehen. Danach wäre das Spannendste, was sie sich noch vom Leben erwarten durfte, mit einem Lawrence Fordham essen zu gehen. Stacey seufzte und schloss endlich die Tür. Ein Lawrence Fordham würde ihr aber wenigstens ein Leben ohne Geldsorgen bieten, was bei Nash sicher nicht der Fall wäre – mit seinen Aushilfsjobs. Deshalb beschloss Stacey, als sie die Nachttischlampe ausmachte, dass es das Beste wäre, Nash, sein weizenblondes Haar und sein sonniges Lächeln zu vergessen. Trotzdem drang durchs geöffnete Fenster weiterhin der himmlische Duft des Geißblatts in ihr Schlafzimmer, hielt Staceys Frühlingsgefühle wach und erinnerte sie beständig daran, dass da draußen jenseits der Mauer der Mann ihrer schlaflosen Nächte selig vor sich hin träumte. Doch weit gefehlt! Für jemanden, der sonst buchstäblich überall und sofort einschlafen konnte, hatte Nash eine furchtbare Nacht. Nach einer Weile gab er es auf, doch noch Schlaf finden zu wollen, rollte sich auf den Rücken und verschränkte die Arme im Nacken. Dann dachte er an früher und an den Garten, in dem er als Junge immer am glücklichsten gewesen war. Manche Dinge änderten sich eben nie. Stacey wälzte sich so lange im Bett hin und her, bis ihr Nachthemd derart verwickelt war, dass sie aufstehen musste, um es wieder gerade zu ziehen. Draußen dämmerte es bereits, und die Bäume zeichneten sich als schwarze Schatten gegen den etwas helleren Himmel ab. Eigentlich war es sinnlos, sich wieder hinzulegen, so aufgewühlt wie sie war. Vielleicht sollte sie sich einen Tee
machen und ein bisschen durch den Garten schlendern, um sich zu beruhigen. Trotz allem war es ja erst kurz vor vier. Möglicherweise konnte sie danach noch ein, zwei Stunden schlafen. Stacey machte das Fenster ganz auf und lehnte sich hinaus, um frische Luft zu atmen. Jenseits der Mauer war ein schwacher Lichtschein zu erkennen, der von der grünen Zeltplane gedämpft wurde. Dadurch fühlte sich Stacey nicht mehr so allein. Anscheinend war sie nicht die Einzige, die nicht schlafen konnte. Was Nash jetzt wohl macht? überlegte Stacey. Wahrscheinlich lesen oder sich Notizen machen oder seine nächste Urwaldexpedition planen. Bei dem Gedanken, dass er Botaniker sein sollte und sich auf eine Expedition vorbereitete, musste Stacey allerdings den Kopf schütteln. Der Mann war Hilfsarbeiter. Er räumte für andere Leute den Dreck weg. Wurde sie aus Fehlern denn nie klug? Offensichtlich nicht. Sie schlüpfte in eine Jogginghose und zog sich ein T-Shirt über, bevor sie in die Küche hinunterging, um Wasser aufzusetzen. Als es kochte, goss sie den Tee auf, stellte die Kanne und zwei Tassen auf ein Tablett und ging hinaus in den Garten. »Nash?« In der Stille der Morgendämmerung hörte sich ihr Flüstern an wie Donnerrollen. Ein Vogel tschilpte anscheinend verärgert im nächsten Baum. Aber Stacey hatte den Eindruck, dass ihr Herzschlag das Flüstern noch übertönte. »Nash?« Doch er antwortete nicht. Wahrscheinlich war er längst eingeschlafen, und nur die Taschenlampe brannte noch. Vielleicht gar nicht so schlecht. Mit einem an sich fremden Mann mitten in der Nacht Tee zu trinken war ja auch die dümmste Idee, die man haben konnte. »Stacey, ist irgendetwas nicht in Ordnung?« Oje! Sie hatte ihn gar nicht kommen hören, aber seine tiefe, dringlich klingende Stimme kam direkt von jenseits
der Gartenmauer. Das brachte ihren Herzschlag erst recht auf Trab. »Nein, ich habe Licht bei Ihnen gesehen, als ich mir Tee kochte, und dachte, Sie möchten vielleicht eine Tasse. Strecken Sie den Arm aus, ich reiche sie Ihnen hinüber.« Nash stand knietief in den Margeriten, die er im Dämmerlicht gar nicht gesehen hatte, und überlegte nun, ob Stacey tatsächlich wollte, dass die Mauer als Barriere zwischen ihnen bestehen blieb, oder ob sie ihn nur nicht so direkt hatte einladen wollen. Wahrscheinlich war es das Letztere. Aber Nash hatte so eine Ahnung, dass Stacey sich dessen gar nicht bewusst war. Um das zu klären, schwang er sich auf die Mauer und sah zu Stacey hinunter. Sie sah so süß und unschuldig aus – und unsicher. Na, damit war sie nicht allein. Aber es war ihm lieber, seine Unsicherheit auf der anderen Seite der Mauer und damit bei ihr auszuleben. »Warten Sie einen Augenblick, ich komme rüber. Das ist einfacher.« Sie wandte nichts dagegen ein, und er sprang nimmter, wobei er allerdings eine ihrer Lieblingspflanzen dem Erdboden gleichmachte. »Vielleicht sollte ich einen Durchgang einbauen«, sagte er entschuldigend. Es folgte eine schier endlose Stille, bevor Stacey antwortete: »Das wird sich wohl kaum lohnen, wenn Sie schon bald wieder wegmüssen.« Aus irgendeinem Grund hatte Nash den Eindruck, dass es sich dabei nicht um eine Feststellung, sondern um eine Frage handelte. Aber da er nicht wusste, was er darauf erwidern sollte, stellte er Stacey eine Gegenfrage: »Konnten Sie auch nicht schlafen?« »Nein.« Nashs weizenblondes Haar war zerzaust, und sein bloßer Oberkörper mit den breiten Schultern glänzte silbern im schwindenden Mondlicht. »Das liegt nur an der plötzlichen Hitzewelle«, sagte Stacey, der es mit einem Mal wirklich ziemlich heiß wurde. »Ich dachte aber, Sie
wären daran gewöhnt.« Dem war auch so. Es bedurfte schon mehr als einer warmen Nacht, um ihn am Schlafen zu hindern, zum Beispiel einer Stacey O’Neill. So, wie sie ihn angesehen hatte, bevor Lily mit der leeren Zahnpastatube gekommen war, hatte es ihn zu allen möglichen aufwühlenden Gedanken veranlasst und keine Ruhe finden lassen. Aber wie konnte man mit einer Frau schlafen, an deren Rockzipfel zwei kleine Kinder hingen? Die Antwort schien zu lauten: Indem sie vor Morgengrauen zu einem kam. Schon möglich, aber nicht, wenn man vorhatte, in naher Zukunft in einen entfernten Regenwald zu fliegen. »An manche Dinge gewöhnt man sich nie«, sagte Nash dann einfach, als er die Tasse entgegennahm. »Wollen wir uns nicht auf die Bank unterm Küchenfenster setzen, falls die Mädchen aufwachen.« Damit hatte er sozusagen an die Funktion der Kinder als Anstandsdamen erinnert. Zwei kleine unschuldige Herzchen, die die Erwachsenen vernünftig sein ließen. Nash trank einen Schluck Tee und ging entschlossenen Schrittes voran zum Haus – weg von der Versuchung, die das weiche Gras unter seinen bloßen Füßen nur noch verstärkte. Als er Stacey hatte rufen hören, war er sofort aufgesprungen und hatte sich nicht einmal damit aufgehalten, Schuhe anzuziehen. Sie setzten sich auf die Bank, und Nash stellte fest: »In Ihrem Garten duftet’s nachts wie im Himmel.« »Das liegt an den Fruchtständen des Geißblatts.« »Erzählen Sie mir doch mehr von Ihrem Plan, Wildblumen zu züchten.« »Ich habe keinen, das ist nur so eine Idee.« »Hätten Sie denn genug Platz, um das Ganze kommerziell aufzuziehen?« »Wahrscheinlich nicht. Vielleicht sollte ich aufhören, so
viel Obst und Gemüse anzubauen, dass ich es nachher ans ganze Dorf verschenken muss, und stattdessen Gewächshäuser auf die Beete stellen.« »Ich bin sicher, die Blumen würden sich gut verkaufen!« »Ja, klar!« Starr blickte Stacey in ihre Tasse und dachte: Aber Gewächshäuser kosten Geld. Sie und Archie hatten schon darüber geredet, und er hatte vorgehabt, ihr Hilfestellung zu geben. Aber dann hatte sie ihn eines Tages, den Kopf vornüber gebeugt, auf seinem Schreibtisch gefunden, nachdem er den Schlaganfall erlitten hatte. Sie müsste ihn bald einmal wieder besuchen. Doch das Altenpflegeheim war so weit weg, dass sie nicht mit dem Rad hinfahren konnte. Vielleicht konnte sie Dee überreden, sie hinzubringen oder ihr für einige Stunden den Wagen zu leihen. Immerhin schuldete Dee ihr einen Gefallen für nächsten Samstag. »Stacey?« Sie schüttelte den Kopf. »Vergessen Sie es, Nash, ich habe es aufgegeben. Es war nur ein Traum.« »Tatsächlich?« Nash hätte gern ihre Augen gesehen, um zu beurteilen, wie ernst es ihr damit war. Aber Stacey sah ihn nicht an. Trotzdem war sie sich Nashs Gegenwart ungeheuer bewusst und hatte auch von sich ein viel greifbareres Gefühl als sonst. Mit ihrem ganzen Körper verlangte es sie nach diesem Mann. Bestimmt würde sie gleich etwas ganz Dummes tun oder sagen, wie etwa: ,Ich will nicht über geplatzte Träume sprechen, sondern mir lieber neue ausdenken mit dir.’ Sie müsste sich so zusammenreißen, um ihre Gefühle im Zaum zu halten, dass sie regelrecht zusammenzuckte, als Nash sie berührte. »Ich denke nicht, dass Sie Ihre Träume wirklich aufgegeben haben.« Denken… denken… nichts lag Stacey im Augenblick ferner, obwohl sie genau wusste, dass sie schnell etwas
sagen müsste, damit Nash ihr nicht weiter über die Wange strich und ihr Blut in Wallung brachte. Unfähig, etwas dagegen zu tun, wandte sie sich ihm nun zu und sah ihm tief in die Augen. Sie hatten einen ganz dunklen Ton angenommen, aber im Dämmerlicht konnte man ihnen nichts entnehmen. »Ich glaube nicht, dass Sie diesen Traum wirklich aufgegeben haben«, sagte Nash nun noch einmal. »Vielleicht nicht«, pflichtete sie ihm bei. »Aber es hat keinen Sinn, nach den Sternen zu greifen.« »Schon möglich, aber ansehen kann man sie sich doch, hm? Man sollte seine Träume nicht aufgeben, Stacey.« »Und was haben Sie für welche, Nash?« Er ließ die Hand sinken und sah zu Boden. »Ich bin kein Träumer.« »Nein?« Stacey rang sich ein Lächeln ab. »Erstens widerspricht das dem, was Sie zuvor gesagt haben, und zweitens sehnen Sie sich doch bestimmt danach, eine unglaublich wichtige Pflanze zu entdecken, die dann nach Ihnen benannt wird? Da Sie doch Botaniker sind.« Ihr war anzuhören, dass sie das immer noch nicht wirklich glauben konnte. »Das bringt so etwas wie Unsterblichkeit – ähnlich wie Kinder in die Welt zu setzen.« »Ja, vielleicht.« Er lächelte höflich, stellte die Tasse aufs Tablett und stand auf. »Ich gehe jetzt lieber und mache mit meinen eigenen Plänen weiter. Danke für den Tee.« »Gern geschehen.« Stacey blieb sitzen und beobachtete, wie Nash den Garten durchquerte und sich über die Mauer schwang. »Ich koche Ihnen gern wieder Tee – jederzeit«, rief sie ihm noch nach. »Mummy, was machst du?« Stacey stand am Badezimmerfenster und sah in den Garten hinaus. »Ich denke nach.« »Worüber?«
Über Fliesen und Dinge, die man Abstandshalter nannte, und darüber, welche Wandfarbe dem Badezimmer eine so anheimelnde Atmosphäre verlieh, dass jeder der es besichtigte, sofort das Haus kaufen wollte. Aber am meisten beschäftigte Stacey der Gedanke, ob ihre laienhaften Renovierungsarbeiten den Zustand des Hauses wirklich verbesserten oder nur verschlimmerten. »Über nichts Besonderes«, sagte sie schließlich und wandte sich Rosie zu, die einen großen Blumenstrauß in der Hand hielt, der aus wilden Margeriten, Butterblumen und Geißblatt bestand. »Wo hast du denn den her?« fragte sie, als wüsste sie es nicht ganz genau. »Sie lagen draußen vor der Küchentür.« Stacey hatte die rückwärtige Tür nicht mehr geöffnet, seitdem sie nach ihrem Abenteuer im Morgengrauen ins Haus gegangen war. Eigentlich hatte sie den Garten seitdem regelrecht gemieden, obwohl sie nicht sicher war, warum. Aber jetzt konnte sie nicht widerstehen, die seidenen Blütenblätter zu berühren. Sie zog eine der besonders großen Margeriten heraus und roch daran. »Ich nehme an, Nash hat den Strauß gepflückt«, sagte Rosie. »Ja, wahrscheinlich. Wenn ihr es nicht gewesen seid?« Rosie schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich war er gern bei uns zum Tee. Er hat auch einen Zettel dazugelegt.« Stacey ignorierte ihr Vorhaben, vernünftig zu sein, und auch ihr Herzschlag verdoppelte sich. »Was für einen Zettel?« »Da stand nur drauf: ,Danke für gestern Nacht’ oder so was«, sagte Rosie. »Und wo ist der Zettel jetzt?« »Auf der Anrichte in der Küche.« Stacey widerstand dem Drang, sofort die Treppe hinunterzueilen, um die Mitteilung selbst zu lesen. Man konnte der Handschrift eines Mannes so viel entnehmen.
»Warum stellst du die Blumen nicht ins Wasser, Rosie?« »Okay.« »Und, Rosie, versuch, die Vase diesmal nicht fallen zu lassen.« »Kein Problem. Nash hat ein P.S. dazu geschrieben, dass er die Blumen vorher auf Spinnen untersucht hat.« Stacey konnte sich nicht vorstellen, dass die Lesekünste ihrer Jüngsten schon so weit reichten. Rosie musste ihr die Zweifel angesehen haben und sagte nun: »Lily hat es mir vorgelesen.« »Oh, ich verstehe.« »Da stand auch noch irgendwas von Träumen.« Stacey schluckte. Am liebsten wäre sie jetzt sofort in den Garten hinuntergeeilt und zur Mauer hinüber, um sich bei Nash zu bedanken und ihn zum Frühstück einzuladen und ihm alle möglichen törichten Dinge zu sagen, an die sie nicht einmal zu denken wagte, geschweige denn, sie laut auszusprechen. Stattdessen drehte sie gedankenverloren die Margerite in der Hand, sah weiter aus dem Fenster und schließlich auf die Uhr. Es war noch nicht einmal acht. Das würde ein ganz schön langer Tag werden. Obwohl Sonntag war, sortierte Stacey nach dem Frühstück einige Pflanzen aus, die schon verkauft werden konnten, wenn sie jemand fand, der sie für sie in Kommission veräußerte. Der Pächter der Tankstelle am Ortsausgang hatte gesagt, er würde ihr einige der Wildblumen abnehmen, vorausgesetzt, sie stellte auch normale Sommerblumen dazu. Aber Stacey überlegte noch. Das Problem war nicht ihre Abneigung gegen hochgezüchtete Pflanzen, sondern dass sie sich eigentlich besser einen Bürojob suchen sollte, anstatt ihre Zeit mit den Blumen zu vertun. Trotzdem vereinzelte sie daraufhin wenigstens hundert Löwenmäulchensetzlinge und träumte dabei ein bisschen von einem eigenen Laden – und von Nash. Nachdem die Mädchen wie jeden Sonntagnachmittag zum
Fußballspielen gegangen waren, bog Staceys Schwester mit ihrem roten Sportwagen in die Einfahrt des kleinen Cottages ein. Als sie ins Haus kam, hatte sie das Armani-Kleid dabei und eine Schuhschachtel unterm Arm. Verwundert besah sich Stacey die Schuhe, die für ihre Schwester eine Nummer zu groß waren, und fragte dann spöttisch: »Sind deine Füße noch einmal gewachsen?« Dee errötete, war aber um eine Ausrede nicht verlegen. »Ich habe sie mir gekauft, falls ich direkt nach Büroschluss mal zu einer Einladung müsste. Du weißt ja, dass meine Beine vom langen Sitzen immer anschwellen. Aber ich glaube, ich hätte sie nur eine halbe Nummer größer kaufen sollen. Und jetzt dachte ich, es wäre doch Verschwendung, sie im Schrank stehen zu lassen.« »Du hast sie ja überhaupt nicht getragen, da kannst du sie doch umtauschen.« »Ich habe sie schon vor einer halben Ewigkeit gekauft.« Stacey wusste sofort, dass es eine Notlüge war, weil sie die Schuhe vor zwei Wochen in der Stadt in Dees Lieblingsboutique gesehen hatte. Es müsste also einen Grund geben, warum ihr ihre Schwester die Schuhe schenken wollte, und Stacey fragte: »Was führst du im Schilde, Dee?« »Du musst mir einen Gefallen tun, einen ganz großen.« »Soll ich etwa am nächsten Samstag mit diesem Lawrence Fordham schlafen?« »Würdest du das denn?« fragte Dee hoffnungsvoll. »Nein!« »Wahrscheinlich hast du Recht: Man sollte die Dinge nicht überstürzen.« Da Dee anscheinend nicht gleich mit der Sprache herausrücken wollte, fragte Stacey: »Warum fährst du nicht mit mir zum Baumarkt? Heute ist verkaufsoffener Sonntag, und wir könnten die Fliesen fürs Badezimmer aussuchen.« »Ich verstehe nicht?«
»Du hast doch selbst gesagt, ein Haus mit einem Bad ohne Fliesen sei unverkäuflich.« »Stimmt! Aber eigentlich dachte ich, du lässt es machen.« »Dee!« »Ich weiß, du hast kein Geld dafür. Also, fahren wir zum Baumarkt!« Nachdem Dee und Stacey die günstigsten gelben und weißen Fliesen ausgesucht hatten, die sie finden konnten, und sich noch eine Kombination überlegt hatten, die das Ganze ansprechend würde wirken lassen, rückte Dee mit der Sprache heraus. »Weißt du, Montagabend findet im Rathaus ein Empfang statt. Lawrence ist Mitglied des Städtepartnerschaftskomitees, und ich hatte ihm versprochen, ihn zu begleiten.« »Und jetzt denkst du, ich wäre eifersüchtig?« fragte Stacey spöttisch. ‘ Aber Dee ließ sich nicht beirren. »Es gibt ein Problem mit unserem französischen Großabnehmer, und ich muss gleich morgen nach Paris. Es könnte einige Tage dauern…« »Dann wirst du ja den Empfang verpassen, Dee! Das ist wirklich hart.« Stacey war so damit beschäftigt, ihre Schwester aufzuziehen, dass sie die Falle gar nicht bemerkte, die Dee ihr gestellt hatte. »Für mich ist es nicht so schlimm, aber für Lawrence. Ich habe ihm wochenlang zugeredet, diesem Komitee beizutreten, wegen der europäischen Verbindungen. Aber wenn ich nicht da bin, weiß ich genau, dass er eine Ausrede findet, um nicht hinzugehen.« »Und?« »Bitte begleite du ihn!« »Hm.« Stacey stellte die gelbe Dispersionsfarbe wieder ins Regal, nahm stattdessen weiße und noch eine Dose gelbe Ölfarbe fürs Fenster. Eigentlich hatte sie schon das
Firmenessen mit Dee, ihrem Mann und Lawrence absagen wollen, nachdem Nash ihr heute Morgen die Blumen vor die Tür gelegt hatte. Aber sie musste vernünftig sein, und außerdem hatte sie ja selbst eine Bitte an Dee. Deshalb sagte sie schließlich: »Okay, aber du musst mir auch einen Gefallen tun.« Dee zog skeptisch eine Augenbraue hoch, aber schließlich konnte sie nicht mehr als Nein sagen, und Stacey fragte ganz offen: »Würdest du mir deinen Wagen leihen, während du in Paris bist?« Damit hatte Dee offensichtlich nicht gerechnet, doch dann erklärte sie: »Wenn du mir versprichst, keine Gartenerde damit zu transportieren und mir die Fußmatten nicht dreckig zu machen.« »Nein, nein, ich will nur Archie Baldwin im Pflegeheim besuchen. Du weißt schon, der alte Mann, der das Gartencenter geführt hat. Das Heim ist so weit weg, dass man mit dem Fahrrad nicht hinkommt, und mit öffentlichen Verkehrsmitteln wäre ich den ganzen Tag unterwegs.« »Meinst du, er weiß, ob das Grundstück tatsächlich an diesen Bauunternehmer verkauft wurde?« »Ich will ihn einfach nur besuchen, Dee, weil er ein Freund von mir ist.« Dee zuckte die Schultern. »Meinetwegen. Ich stelle dir den Wagen morgen früh vor die Tür und rufe mir über Handy ein Taxi zum Flughafen. Die Schlüssel werfe ich dir in den Briefkasten. Der Flug geht schon um sechs.« »Danke.« »Gern geschehen. So kannst du am Montag auch zum Friseur fahren.« Stacey wollte schon etwas einwenden, aber Dee schnitt ihr das Wort ab. »Das geht auf Kosten der Firma, schließlich handelt es sich ums Geschäft. Und zieh das Kostüm an, das ich dir Weihnachten geschenkt habe, mit den hohen Schuhen. Den Babysitter zahlen wir auch.«
Widerrede war offensichtlich zwecklos, und Stacey antwortete: »Ja, Ma’am, wie Sie wünschen, Ma’am.« »So habe ich es gern, Schätzchen. Dafür spendiere ich dir euch die Jalousien.« »Was für Jalousien?« »Die hier!« Dee warf eine dunkelblaue Rolle in den Einkaufswagen. »Du brauchst etwas, das das ganze Weiß und Gelb auflockert.« Stacey konnte sich gerade noch zurückhalten, sich nicht vor Wut auf den Boden zu werfen und mit den Fäusten zu trommeln. Gelb und Weiß war perfekt wie die Margeriten. Aber, sagte sie sich dann, ich kann die Jalousien ja erst anbringen, wenn ich ausziehe.
6. KAPITEL »Also, mein Junge, wie schlimm sieht es aus?« »Willst du wirklich die Wahrheit hören, Grandpa?« Nash stand am Fenster des Krankenzimmers seines Großvaters und sah auf den perfekt getrimmten Rasen des Altenpflegeheims hinunter. Nun wandte er sich dem alten Mann zu, der seit seinem Schlaganfall furchtbar abgenommen hatte und nur noch aus Haut und Knochen bestand. Dadurch wirkte sein Gesicht noch faltiger. »Du weißt doch, wie schnell ein Garten verwildert, wenn man sich nicht mehr darum kümmert, Archie.« »Allerdings, ich war mir nur nicht sicher, ob dir das auch bewusst ist. Bei Menschen verhält es sich übrigens genauso: Wenn man sich nicht mehr um sie sorgt, gehen sie ein.« Er verstummte und fuhr dann fort: »Wird es dieses Jahr Pfirsiche geben?« Nash wusste genau, was sein Großvater vorhatte. Er wollte ihn mit den guten Erinnerungen an früher mürbe
machen. Aber Nash weigerte sich, der Versuchung zu erliegen, und sagte schroff: »Nicht, wenn du das Grundstück einebnen lässt.« »Das stimmt.« Der alte Mann lachte verschlagen. »Aber das habe ja eigentlich nicht ich zu entscheiden.« Sein Lachen ging in ein keuchendes Husten über. »Du hast immer darauf bestanden, den ersten Pfirsich selbst zu pflücken. Weißt du noch?« »Ja.« Natürlich erinnerte sich Nash noch daran, wie sein Großvater ihn hochgehoben hatte und er gleich darauf die samtene, süße Frucht in Händen gehalten hatte. Lily und Rosie würde das auch gefallen. Und Stacey. Wie es wohl wäre, sie mit Pfirsichsaft auf den Lippen zu küssen und ihre sonnengebräunte Haut zu berühren? Und dann fragte er sich, ob er eigentlich verrückt war, an so etwas zu denken, da in knapp einer Woche sein Flugzeug ging. »Musst du eigentlich das Grundstück an einen Bauunternehmer verkaufen?« »Du kannst mich jederzeit davon abhalten.« Ja, dachte Nash, aber nur, wenn ich bereit bin, mich auf deine Spielchen einzulassen. Auf seine Weise versuchte sein Großvater ihn genauso zu beeinflussen wie sein Vater, der ihm eine Stellung im Aufsichtsrat der Bank angeboten hatte. Aber so viel Geld kann man mir gar nicht bezahlen, dachte Nash nun, dass ich dazu bereit wäre. Doch im Gegensatz zu seinem Vater wusste sein Großvater, dass es nur eine Sache gab, die Nash in Versuchung führen konnte, an seinen Geburtsort zurückzukehren: der ummauerte Garten seiner Kindheit. »Eine Industrieanlage wird den Dorfbewohnern die Sicht rauben.« »Vielleicht ist den Leuten eine feste Arbeit direkt vor der Haustür wichtiger«, gab sein Großvater zu bedenken und kam mit dem Rollstuhl ein wenig näher zu seinem Enkel. »Oder denkst du womöglich an einen Dorfbewoh-
ner im Besonderen, oder sollte ich sagen, eine Dorfbewohnerin? Schießen die kleinen Mädchen den Ball immer noch über die Mauer?« Nash nickte. »Ihre Mutter hat mir immer ausgeholfen, wenn viel zu tun war.« »So?« Nash überlegte, ob Stacey wohl die Abkürzung über die Mauer benutzt hatte, um zur Arbeit zu gelangen. »Sie hat nicht nur einen grünen Daumen, sondern grüne Arme, wenn du verstehst, was ich meine. Hast du ihren Garten gesehen?« »Für Unkraut braucht man keinen grünen Daumen.« »Bei Unkraut handelt es sich nur um eine Pflanze, die am falschen Ort wächst, Nash. Aber Staceys Garten ist genau der richtige Platz für Wildblumen. Da du ihn ja anscheinend gesehen hast, weißt du das genauso gut wie ich.« »Sie überlegt, Wildblumen gewerbsmäßig zu züchten und deren Samen zu vertreiben. Hältst du das für eine gute Idee, Grandpa?« »Sich zu spezialisieren ist die einzige Chance für ein kleines Unternehmen. Das, und den Samen zu verschicken. Das Internet eröffnet dabei gute Möglichkeiten, über die Stadtgrenzen hinaus bekannt zu werden.« »Ein Internet-Auftritt scheint mir aber doch übertrieben!« »Stacey braucht nur jemand, der sie ermutigt, ihr ein bisschen unter die Arme greift und Selbstvertrauen gibt. Dann könnte sie Großartiges leisten. Ihr Mann ist vor einiger Zeit bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen. Davon hat sie dir vielleicht erzählt?« Nash antwortete nicht. »Danach war sie eine ganze Weile völlig verzweifelt. Für den Anfang wäre sie vielleicht sogar zufrieden, wenn sie einfach nebenan wieder Arbeit finden könnte.« »Sie spricht davon, umzuziehen.«
»Dann muss es ihr aber finanziell ganz schön schlecht gehen. Das Haus ist zwar jämmerlich heruntergekommen, aber Stacey würde ihren Garten nur aufgeben, wenn es unbedingt sein muss.« »Das Haus lässt sich bestimmt nicht gut verkaufen, wenn jenseits des Gartens eine Industrieanlage errichtet wird«, sagte Nash und dachte: Eigentlich lässt es sich überhaupt nicht verkaufen, solange man es nicht gründlich renoviert. »Nun, das liegt ganz bei dir.« »Heißt das: Ich tue, was du verlangst, bleibe hier und eröffne das Gartencenter neu, oder du verkaufst das Grundstück an die Baugesellschaft? Na, das ist vielleicht eine Aussicht! Ich bin Botaniker und kein Gärtner, Grandpa.« »Du läufst nur davon, Nash. Sich in irgendeinem Dschungel zu verkriechen ist kein Leben für einen jungen Mann.« »Aber für einen alten auch nicht«, setzte Nash dem entgegen. »Wenn ich zu meiner Expedition aufbreche, komme ich ohnehin nicht wieder hierher. Da kann es mir doch völlig egal sein, was mit dem Garten geschieht.« Doch mittlerweile dachte er eigentlich nicht mehr wirklich, wenn ich aufbreche, sondern falls ich aufbreche. »Und wann soll’s losgehen?« »Nicht vor dem kommenden Donnerstag. Man hat mich gebeten, eine Gastvorlesung an der Universität zu halten. Na ja, eigentlich haben sie mir den neu eingerichteten Lehrstuhl in Botanik angeboten.« »Tatsächlich?« Nash konnte nicht sagen, ob sein Großvater deswegen stolz auf ihn war oder einfach nur verwundert. Denn der alte Mann steckte nun die Zeitung, die er ihm mitgebracht hatte, in die Bademanteltasche und sagte: »Da habe ich eine Weile was zu lesen. Und du komm wieder, wenn du dich entschieden hast. Und bring mir eine Flasche Scotch mit.«
»Darfst du denn Alkohol trinken?« »Nein, aber mach dir keine Sorgen: Der Alkohol bringt mich schon nicht um, da gibt es ganz andere Dinge.« Auf der Rückfahrt machte Nash an der Tankstelle Halt, um etwas Milch zu kaufen, aber sie hatte schon geschlossen. Doch als er gerade wieder aufs Motorrad steigen wollte, fiel ihm ein Zettel auf, der innen an der Glastür klebte. Zimmer zu vermieten! stand darauf. Gern auch an Studenten. Wenden Sie sich an Stacey O’Neill, wohnhaft im alten Cottage am Ende der Prior’s Lane. So war das also! Aber warum hatte sie ihm bloß nichts davon gesagt? Unwillkürlich musste Nash lächeln. Es gab nur zwei Gründe, wieso sie ihm nichts von dem Zimmer erzählt hatte. Entweder vertraute sie sich nicht oder ihm nicht. Dabei hatte er sich bisher hervorragend betragen, selbst noch, als sie ihn mit ihrem schmachtenden Blick geradezu angefleht hatte, sich danebenzubenehmen. Vielleicht sollte er jetzt gleich bei ihr vorbeifahren, um zu fragen, was zutraf. Immerhin war dieser Zettel an der Tür geradewegs eine Aufforderung dazu. Natürlich wusste Nash genau, dass er das Ganze besser auf sich beruhen ließ. Wenn Stacey ihm ein Zimmer hätte vermieten wollen, hätte sie ihm das gesagt, als er sich beim Spaghettiessen nach einer Pension im Dorf erkundigt hatte. Er wollte ja auch nicht ernsthaft bleiben, und es wäre ebenfalls nicht nett, sie das glauben zu machen. Aber, zum Teufel damit! Warum sollte er nett sein, obwohl er nachts nicht mehr richtig schlafen konnte und sich Gedanken darüber machte, dass Staceys schwer verkäufliches Haus durch eine an ihren Garten grenzende Industrieanlage unverkäuflich wurde. Abgesehen davon war die Vorstellung, morgens neben der so leicht errötenden Mrs. O’Neill aufzuwachen, sie mit zerzaustem Haar zu sehen, während ihre Augen noch träumerisch ins Leere blickten, nachdem sie einander die ganze Nacht
geliebt hatten… Nun, dieser Gedanke war einfach zu verlockend. Nash stieg wieder auf seine Harley und hatte die Prior’s Lane schon zur Hälfte hinter sich gelassen, als ihm wieder einfiel, dass kommenden Donnerstag sein Flug ging – direkt nach der Vorlesung. Wenn er Stacey dazu drängte, ihm ihr leer stehendes Zimmer zu vermieten, wusste er ganz genau, dass er lange Zeit überhaupt nirgendwo mehr hingehen würde. Der Boden im Zelt mochte hart sein und er allein in seinem Schlafsack liegen. Aber für einen Mann, der entschlossen war, Komplikationen zu vermeiden, war es so viel einfacher. Obwohl Sonntag war, bearbeitete Stacey den Rahmen des Badezimmerfensters mit Schleifpapier und wünschte, sie hätte nie damit angefangen. Lieber grub sie ihren Gemüsegarten zwei Mal um. Und dabei war sie immer noch bei der Handlangerarbeit. Das Streichen würde erst einmal eine Herausforderung werden, wenn sie später keine Nasen von der Ölfarbe am Rahmen haben wollte. Stacey hörte ein Motorrad die Straße herunterkommen, und für einen Moment – aber nur für einen Moment – klopfte ihr Herz wie wild. Sie sah auf und lauschte darauf, wie der Fahrer kurz vor ihrer Einfahrt herunterschaltete… Aber dann wendete er, bevor er das Cottage erreicht hatte, und brauste wieder davon. Da war wohl nur jemand falsch abgebogen. Es hatte Zeiten gegeben, da hatte es nur des sich entfernenden Brummens eines Motorrads bedurft, damit sich Stacey in Tränen auflöste. Aber jetzt bearbeitete sie einfach den Rahmen des Badezimmerfensters weiter mit Sandpapier. Sie hatte Mike viel mehr geliebt als er sie. Doch als Ehemann hatte er nichts getaugt und war zu allem Überfluss auch noch fremdgegangen, und als Vater war er nicht viel besser gewesen.
Über die Jahre hatte sich Stacey weiterentwickelt und war erwachsen geworden, Mike aber nicht. Doch irgendwie hatte sie sich nie von ihm trennen können, und nachdem er dann den tödlichen Unfall gehabt hatte, war sie schrecklich einsam gewesen. Aber ihre allwissende Schwester hatte Recht. Es wurde höchste Zeit, nach vorn zu sehen. Von ihrem Sitz auf der Fensterbank des Badezimmers im ersten Stock aus hatte Stacey einen guten Blick auf das ehemalige Gartencenter. Sie sah Nash auf einer schwarzen Harley in den Hof fahren und überlegte, ob er wohl zuvor in ihre Straße eingebogen war? Stacey lehnte sich ein wenig zurück, um Nash auch weiterhin heimlich beobachten zu können. Er stieg vom Motorrad und öffnete den Reißverschluss seiner Lederjacke. Stacey konnte sich noch gut daran erinnern, wie Mike nach seinen Spazierfahrten immer gerochen hatte – ein wenig nach Leder und Öl und nach viel frischer Luft. Meist war er dann in Stimmung gewesen, mit ihr zu schlafen, und egal, wie sehr sie sich vorher gestritten hatten, gelang es ihm dann immer wieder, ihr den Kopf zu verdrehen. Aber keine vernünftige Frau tut sich das zwei Mal an, dachte Stacey nun und blickte zu dem Blumenstrauß hinüber, den Nash ihr vor die Tür gelegt hatte. Zunächst hatte sie ihn ins Badezimmer gebracht, um sich davon inspirieren zu lassen, aber jetzt regte er sie auf, und sie stellte die Blumen auf den Boden. Lawrence Fordham würde mir bestimmt keine Wiesenblumen schenken, dachte sie dann. Er war der traditionelle Baccara-Rosen-Typ. Stacey wusste zwar nicht, ob es überhaupt noch Männer gab, die einer Frau rote Rosen schenkten, aber sie war überzeugt, dass es Lawrence nicht gefallen würde, wenn die Hände der Frau, mit der er ausging, rauer waren als seine eigenen. Seufzend zog sie sich nun Gummihandschuhe über. Nachdem Nash die Lederkleidung abgelegt hatte, nahm er
eine Dose Bier aus der Kühlbox und setzte sich auf ein niedriges Gartenmauerchen, um nachzudenken. In Mittelamerika mochte er Unsterblichkeit finden, wenn er eine Pflanze entdeckte, die eine wundersame Heilkraft besaß und unter seinem Namen katalogisiert wurde. Dann würde er in einem Atemzug mit den großen Pflanzensuchern der Vergangenheit genannt, und in den Fachzeitschriften würden Artikel über ihn erscheinen. Noch vor einer Woche war er der Meinung gewesen, dass er dann wunschlos glücklich wäre. Aber da hatte er auch Stacey noch nicht getroffen. Vielleicht sollte er seinem Großvater vorschlagen, ihr den Garten zu vermachen. Doch damit wäre der alte Mann bestimmt nicht einverstanden. Aber, überlegte Nash nun, was hält mich eigentlich davon ab, Stacey das Grundstück zu überlassen, nachdem Grandpa es mir überschrieben hat? Die Vorstellung war verlockend. Dann könnte Stacey ihre Wildblumenzucht von dort aus in die Tat umsetzen. Aber, realistisch betrachtet, hatte Stacey schon genug Probleme. Das Gewächshaus zu renovieren und neu zu verglasen würde ein Vermögen kosten. Natürlich könnte er ihr auch darin behilflich sein und einige Vorarbeiten leisten. Er musste nicht sofort abfliegen. Die Expedition sollte erst Anfang September starten, und er hatte noch den ganzen Sommer. Er könnte auch das kleine Büro auf Vordermann bringen und einen Computer installieren und sich darum kümmern, dass jemand eine Webseite für Stacey entwarf. Er könnte ein Tor in die Mauer einlassen und… Die Idee, Stacey zu helfen, ließ ihn nicht mehr los, und Nash stand auf, um sich das Gewächshaus einmal unter dem Gesichtspunkt anzusehen, es zu reparieren, anstatt es abzureißen. Eigentlich war es in keinem so schlechten Zustand. Während Nash die Wärmeröhren unter die Lupe nahm, wurde er plötzlich auf ein klägliches Miauen aufmerksam.
Nach dem Fußballspielen hatten Lily und Rosie ihrer Mutter beim Fensterabschmirgeln geholfen, sie aber schon lange wieder allein gelassen. Am Anfang waren sie ganz begeistert gewesen, doch bald hatte es sie gelangweilt, die alte Farbe abzuschleifen. Als ihre Töchter angefangen hatten, aus Nashs Strauß Blumengirlanden zu basteln, wusste Stacey, dass sie nicht weiter auf ihre Hilfe rechnen konnte, und hatte sie in den Garten geschickt, damit sie Erbsenschoten pflückten. Mit dem Saum ihres T-Shirts wischte sich Stacey nun die Stirn ab. Als sie wieder aufsah, entdeckte sie Nash, der einen Pappkarton auf die Mauer gestellt hatte und sich gerade hinüberschwang – wieder einmal mit bloßem Oberkörper. Trug dieser Mann eigentlich nie ein T-Shirt? Wusste er überhaupt, wie er mit nacktem Oberkörper auf Frauen wirkte? Stacey schnitt ein Gesicht. Natürlich wusste er das. Mike wäre sogar halb nackt im Schnee herumgelaufen, um diese Wirkung zu erzielen. Wenn Nash sie weiterhin besuchen wollte, sollte er sich lieber ein T-Shirt anziehen und an der Haustür klingeln, wie alle anderen auch. Sie würde ihm das bei Gelegenheit sagen. Aber nicht jetzt. Im Moment war sie viel zu beschäftigt. Sie würde einfach weiter den Rahmen abschleifen und so tun, als hätte sie ihn nicht gesehen. Egal, was er in dem Karton hatte. Bestimmt wollte er sich wieder zum Tee einladen. Aber heute würde das nicht funktionieren. »Stacey.« Nash stand direkt unter dem Badezimmerfenster, und sah zu ihr hoch. »Stacey!« rief er noch einmal, als sie nicht reagierte. »Ich habe zu tun, Nash. Falls Sie da noch mehr Blumen für mich haben, muss ich Ihnen leider sagen, dass mir allmählich die Vasen ausgehen.« »Nein, in dem Karton sind keine Blumen. Könnten Sie
nicht einfach mal kurz herunterkommen? Ich habe ein kleines Problem.« Er hat ein Problem? dachte Stacey. Da sollte er einmal für vierundzwanzig Stunden mit ihr tauschen, dann wüsste er, was Probleme waren. »Ich brauche Ihren Rat.« Natürlich! Für wie blöd hielt er sie eigentlich? »Darf ich reinkommen?« Stacey achtete einfach nicht weiter auf ihn. Aber er wartete ihre Antwort gar nicht erst ab, sondern ging wie selbstverständlich durch die rückwärtige Küchentür ins Haus. Weiß er eigentlich, was er sich damit herausnimmt? dachte Stacey verärgert. Was für eine Dreistigkeit! Nur weil er ihren Rasenmäher repariert und sie ihm im Morgengrauen eine Tasse Tee angeboten hatte, dachte er gleich, er könnte hier ein- und ausgehen. Stacey stieg von der Fensterbank und reckte erst einmal ihre steifen Glieder. Als sie in die Küche kam, hielt Nash eine Flasche Milch in der Hand. Da hat er sich doch tatsächlich auch noch an meinem Kühlschrank bedient! dachte Stacey und fragte ungehalten: »Was, um alles in der Welt, bilden Sie sich eigentlich ein?« Doch dann wurde sie auf die Kätzchen aufmerksam, die Nash in dem Pappkarton auf den Boden gestellt hatte. Sie bückte sich. Die Kätzchen saßen auf Nashs T-Shirt, sahen aus wie vier kleine Wollknäuel und miauten herzzerreißend. »Es tut mir Leid, aber ich hatte keine Milch mehr. Meinen Sie, ich sollte sie warm machen?« Stacey sah auf. »Wo ist denn die Mutter der Kleinen?« »Ich habe sie seit gestern nicht mehr gesehen und mich auf die Suche nach ihr machen wollen, sobald die kleinen Racker hier gefüttert sind. Also, soll ich die Milch nun aufwärmen?«
»Ja… nein… nur so, dass sie nicht mehr eiskalt ist.« Stacey nahm eines der Kätzchen aus dem Karton. Es war rot getigert, hatte weiße Pfoten und einen schwarzen Fleck auf der Nase. »Bist du süß!« »Dürfen die Kleinen vorerst hier bleiben, Stacey?« »Ich weiß nicht. Morgen kann ich mich auf jeden Fall nicht um sie kümmern.« Morgens musste sie zum Friseur, nachmittags Archie besuchen und am Abend mit Lawrence zu diesem Städtepartnerschaftstreffen. Und sie hatte Vera noch nicht einmal gebeten, den Babysitter zu spielen. »Sie werden ohnehin die meiste Zeit schlafen, und ich kann doch nach ihnen sehen, wenn Sie mir den Schlüssel geben.« Was, jetzt wollte er auch noch einen Hausschlüssel? Als Stacey nicht antwortete, fragte Nash: »Oder wäre es Ihnen lieber, wenn ich die Katzen wieder zurück ins Gewächshaus bringe?« Das kleine Kätzchen, das Stacey aus dem Karton genommen hatte, kuschelte sich jetzt wie Hilfe suchend an sie, und Stacey konnte nur antworten: »Ich glaube, hier sind sie sicherer, wenn Sie tatsächlich nach ihnen sehen.« »Da ich Ihnen die kleinen Racker schon aufgedrängt habe, ist es nur recht und billig, meinen Teil zu ihrer Pflege beizutragen. Vielleicht könnte ich Ihnen einige Pfirsiche als Bezahlung für die Unterbringung der Kätzchen anbieten?« Stacey lächelte schalkhaft. »Ich weiß genau, was Sie im Schilde führen, Nash. Sie denken, vielleicht mache ich dann davon einen Kuchen und lade Sie zum Tee ein.« »Auf die Idee wäre ich nie gekommen.« Nash lächelte jungenhaft. »Ach nein!« Nun tat er beleidigt. Doch Stacey ließ sich nicht täuschen.
»Aber, wenn Sie’s mir schon anbieten, würde ich nicht Nein sagen. Schließlich kann man auf einem offenen Feuer keinen Kuchen backen.« »Nash, ich renoviere gerade das Badezimmer! Ich habe keine Zeit für so etwas.« »Schade!« Er stand auf, um zu gehen, und Stacey hatte freie Sicht auf seinen bloßen, muskulösen Rücken. Ein Anblick, der ihr für einen Moment die Sprache verschlug, obwohl sie am liebsten gerufen hätte: ,O nein, bitte bleiben Sie!’ Doch an der Küchentür drehte sich Nash noch einmal um und kam wieder zurück. »Und wie war’s, wenn ich eine Schicht im Badezimmer übernehme und Sie währenddessen Kuchen backen?« Dabei sah er Stacey tief in die Augen, und sie dachte: Meinetwegen kann er das Badezimmer, den Flur und was immer er will, bepinseln, wenn er mich nur weiter so ansieht. Sie hätte auch nichts dagegen gehabt, wenn er seine Aufmerksamkeit danach ihr zuwenden würde. Aber dann zwang sie sich, ihrer regen Fantasie Einhalt zu gebieten. »Ich dachte, Sie hätten heute etwas Wichtiges vor.« Stacey wollte das eigentlich mit fester Stimme sagen, aber gedanklich war sie noch immer im Land der Träume und hörte sich dadurch so an, als hätte Nash sie soeben gebeten, mit ihr zu baden. »Das habe ich schon erledigt. Jetzt stehe ich ganz zu Ihrer Verfügung.« Daran zweifelte Stacey keine Sekunde. Sie hatte schon verstanden. Er würde ihr so lange gehören, bis der Reiz, den ihre Backkünste auf ihn ausübten, einer neuen Versuchung wich, und er weiterzog. Obwohl Stacey in ihm lesen konnte wie in einem offenen Buch, fragte sie schließlich: »Sind Sie sicher, dass Sie das übernehmen wollen?« »Einige Stunden Streichen für einen Ihrer leckeren
Kuchen hört sich für mich nach einem guten Tauschgeschäft an.« »Das Streichen wird mehr als nur einige Stunden in Anspruch nehmen. Ich bin erst dabei, die alte Farbe abzuschmirgeln.« »Das mache ich am liebsten«, erwiderte Nash und sah sie wieder so eindringlich an, dass sich Stacey unwillkürlich fragte: Worauf habe ich mich da nur eingelassen? Und was noch wichtiger war, was glaubte dieser Mann, wozu sie außerdem noch bereit wäre? Nash richtete sich auf und half dann Stacey aufzustehen. Als seine Finger ihre kalte Hand umschlossen, hatte Stacey den Eindruck, sie würde an einem eisigen Wintertag einen kuschelig warmen Handschuh anziehen. Es war ein himmlisches Gefühl! »Warum zeigen Sie mir nicht, was im Bad zu tun ist?« fragte Nash nun, hörte sich aber ganz so an, als hätte er gesagt: »Warum zeigen Sie mir nicht, wo das Schlafzimmer ist?« Sprachlos im Angesicht einer derartigen Versuchung, erlaubte Stacey ihm, sie auch weiterhin an der Hand zu halten und ihr voran die Treppe hinaufzugehen. Im Badezimmer angekommen, stellte Nash fest, dass Stacey bisher tatsächlich nur wenige Zentimeter Fensterrahmen freigelegt hatte. »Was haben Sie denn damit vor?« »Ich… ich wollte den Rahmen streichen«, sagte Stacey, nachdem es ihr gelungen war, wieder ein Wort herauszubringen. Nash hielt sie immer noch an der Hand. »Der Rahmen soll gelb werden wie die Fliesen, und die Wand oberhalb weiß, und das Ganze an Margeriten erinnern.« Die Blumen, die Nash Stacey geschenkt hatte, lagen in einem Haufen am Boden. Erst auf den zweiten Blick erkannte er, dass jemand versucht hatte, Blumengirlanden daraus zu basteln wahrscheinlich Lily und Rosie. Während
Stacey ihm erklärte, was zu tun war, hob er eine der Ketten auf und hielt sie in der Hand. Nervös sah Stacey ihn an. »Ach, wissen Sie was, Nash? Eigentlich haben Sie doch da drüben mehr als genug zu tun. Sie brauchen mir nicht unbedingt zu helfen. Ehrlich!« »Natürlich helfe ich Ihnen, schließlich möchte ich auf den Kuchen nicht verzichten.« Und dann setzte er ihr die Kette aufs Haar wie eine Feenkrone. Stacey wollte schon danach greifen, um sie herunterzureißen, aber Nash bekam ihr Handgelenk zu fassen und hielt sie davon ab. »Lass sie auf! Du siehst damit wunderschön aus, wie eine Elfenkönigin!« Dann legte er Stacey einen Arm um die Taille, zog sie an sich und tat, was schon seine Absicht gewesen war, als er Stacey das erste Mal gesehen hatte.
7. KAPITEL Stacey wollte sich eigentlich dagegen verwehren, dass Nash Gallagher sie küsste. Sobald er ihren Mund freigab, würde sie ihm sagen, dass er sich ungerechtfertigterweise einen Vorteil verschafft hatte. Erst ihr Herz mit den hilflosen Kätzchen zum Erweichen bringen, sich dann ihre unendliche Dankbarkeit erschleichen, indem er ihr anbot, mit dem Badezimmer weiterzumachen, um sie schließlich – nachdem sie sämtliche Schutzwälle aufgegeben hatte – zu küssen, war einfach nicht fair. Also wirklich! Doch leider war sie vollauf damit beschäftigt, Nashs süßer Verführung entgegenzukommen, der sich jetzt auch noch die Freiheit nahm, seine Zunge zum Einsatz zu bringen. Nun, aber sie, Stacey, würde da nicht mitmachen. Sie wollte zwar liebend gern, aber sie musste vernünftig sein. Ihr Entschluss war endgültig, egal, wie
groß die Versuchung auch sein mochte. Sie durfte das einfach nicht tun. Fest entschlossen packte sie Nash bei den Schultern, um ihm deutlich zu machen, dass er damit aufhören sollte. Aber seine Haut fühlte sich wunderbar weich an, und darunter spürte sie seine gestählten Muskeln. Unwillkürlich ließ Stacey die Hände zu seinem Nacken gleiten, und ehe sie sich’s versah, hatte Nash ihr auch noch den anderen Arm um die Taille gelegt. Dadurch war klar, dass es kein Entkommen mehr gab. Zumindest so lange nicht, dachte Stacey, bis einem von uns aufgeht, was wir hier eigentlich im Begriff zu tun sind. Aber längst hatte Stacey dem zärtlichen Drängen von Nashs Zunge nachgegeben und ihm Zugang zum warmen Innern ihres Mundes gestattet. Und auch der Rest ihres Körpers brauchte nicht lange, um aufzuholen. Es war schon über zwei Jahre her, dass Stacey einen Mann geküsst hatte, aber ihre Erinnerung ließ sie nicht im Stich. Von dem Augenblick an, als sie rückwärts aus den Erdbeeren krabbelnd gegen Nashs Schuhe gestoßen war, hatte sie unbewusst auf diesen Augenblick alles verzehrender Lust hingearbeitet. Doch dann hörte Nash plötzlich auf, sie zu küssen, und hielt sie ein wenig von sich ab. Er sah sie einfach nur mit seinen blauen Augen an, in denen sich die Hitze des Augenblicks spiegelte. »Hast du schon einmal…?« begann er, verstummte dann aber, als müsste er erst Atem schöpfen. Stacey sah, wie sich seine breite Brust hob und senkte. Am liebsten hätte sie den Kopf dagegen gelehnt, um Nashs Körperwärme zu spüren und ihrer drängenden Sehnsucht nachzugeben, ihn zu berühren. Aber irgendwie ahnte sie, dass das, was Nash zu sagen hatte, wichtig war. »Was habe ich jemals?« »Hast du jemals«, fing er noch einmal mit leicht heise-
rer, samtener Stimme an, »einen Pfirsich direkt vom Baum gegessen?« Stacey war auf vieles gefasst, aber darauf nicht. Verwirrt lehnte sie sich zurück, um an Nashs Augen abzulesen, was sich hinter seinen Worten verbarg. Aber dann sah sie Lily an der Tür stehen, die nachdenklich zu ihnen herübersah und ein Kätzchen auf dem Arm hielt. Verdammt! Was hatte ihre Tochter wohl mitbekommen? Und was mochte sie jetzt bloß denken? In Staceys Kopf überschlugen sich die Gedanken. Doch dann fragte sie, als wäre nichts gewesen: »Was machst du denn mit dem Kätzchen, Lily?« »Es lief bei uns in der Küche herum und hat miaut. Ich glaube, es ist hungrig. Können wir es behalten, und wird Nash unser neuer Daddy?« Es entstand eine schmerzliche Stille, bis es Stacey gelang, sich ein Lachen abzuringen und Nash von sich zu schieben, woran Nash sie nicht hinderte. »Neuer Daddy?« wiederholte sie dann, unfähig, Nash anzusehen, der sich wahrscheinlich gerade überlegte, ob er die Treppe hinuntereilen oder lieber den direkteren Weg hinaus nehmen und einen Sprung aus dem Fenster wagen sollte. »Er hat dich geküsst, wie Daddy es immer getan hat«, sagte Lily, und Stacey dachte: Der arme Nash! Da hatte er ihr nur einen KUSS gegeben, und ihre Tochter erwartete gleich, dass er sie heiraten würde. »Ach so, das! Ich… ich war einfach nur ein bisschen traurig, weil die Kätzchen ihre Mutter verloren haben«, improvisierte Stacey. »Unten in der Waschküche sind noch mehr, in einem Karton, weißt du? Und Nash wollte mich ein bisschen aufheitern.« Aber das schien Lily nicht zu überzeugen. Nun ja, sie war immerhin schon fast zehn und damit alt genug, um zwischen aufgeheitert und leidenschaftlich geküsst werden unterscheiden zu können. »Als Sarah Grahams
Mutter so aufgeheitert wurde«, erklärte Lily nun, »bekam Sarah einen neuen Vater und eine kleine Schwester.« Na, großartig! Diesmal sah Stacey Nash an und hoffte auf ein wenig Beistand, aber stattdessen streichelte er das Kätzchen. »Wo ist die Mummy von den Kleinen?« wollte Lily nun von ihm wissen. »Ich habe sie schon seit zwei Tagen nicht mehr gesehen.« »Vielleicht ist sie verletzt und liegt irgendwo.« »Ja, daran habe ich auch schon gedacht, Lily. Ich wollte ohnehin nach ihr suchen.« Das war’s dann also, dachte Stacey. Er brauchte gar nicht aus dem Fenster zu springen, damit ihre Tochter ihn vom Haken ließ. Lily hatte ihm eine viel elegantere Möglichkeit des Abgangs verschafft. »Ja, geh nur!« ermunterte Stacey ihn nun. »Ich komme schon allein mit dem Badezimmer klar.« »Tatsächlich?« Spöttisch zog er einen Mundwinkel nach oben. »Oder willst du dich nur vorm Kuchenbacken drücken?« »Zu viel Süßes ist ohnehin nicht gut.« Er zuckte die Schultern. »Ich mache mich dann mal auf die Socken.« Im Hinausgehen fuhr er Lily durchs Haar. Stacey nahm das Schmirgelpapier und setzte sich erst einmal aufs Fensterbrett, um tief durchzuatmen. Nebenbei wäre sie so auch nicht versucht, Nash hinterher zusehen, der mit seiner Suche nach der verschollenen Katze bestimmt im ummauerten Garten begann. »Mummy, Mummy!« Erst allmählich drang Rosies beharrliche Stimme zu Stacey durch. »Wo geht Nash denn hin?« »Er sucht nach der Mutter von den Kätzchen.« »Dann kommt er danach bestimmt wieder, hm?« Stacey wusste nicht, was sie ihrer Tochter darauf
erwidern sollte. Sie konnte nicht einmal sagen, ob es nur eine Ausflucht von Nash gewesen war, nach dem Tier Ausschau halten zu wollen, oder ob er es ernst gemeint hatte. »Ich weiß es nicht, Schätzchen. Es könnte einige Zeit dauern, bis er zurückkehrt«, sagte Stacey schließlich und dachte: Vielleicht kommt er auch nie wieder. Verdammt, verdammt, verdammt! Nash hatte eigentlich nicht vorgehabt, Stacey zu küssen. War er denn von allen guten Geistern verlassen? Er wollte sich nicht binden und einer Frau so viel Gefühl entgegenbringen. Wenn man allein war, konnte einem wenigstens keiner wehtun. Nach diesem Grundsatz hatte er gelebt, seitdem er alt genug war, um zu verstehen, in welche Spielchen Männer und Frauen sich einließen und welche Strategien sie anwendeten, um einander zu verletzen. Bisher war er mit seinem Einsiedlerdasein immer ganz gut klargekommen. Nash kletterte über die Mauer, ging danach aber erst einmal in die Hocke und lehnte sich gegen die warmen Steine. Angst nagte an seinem Herzen, wenn er daran dachte, wie weit er sich in den vergangenen Tagen von dem Gedanken, allein leben zu wollen, entfernt hatte. Es war einfach, solo zu bleiben, wenn es keinen Menschen gab, der einem attraktiv genug erschien. Es war auch einfach, den Blick auf den schmalen Pfad vor sich gerichtet zu halten, wenn niemand da war, der einen dazu brachte, gern einen Umweg einzuschlagen. Dann ging man aus reiner Gefühlsduselei noch einmal in den Garten seiner Jugend, sah die alten Pfirsichbäume und ließ sich von einem Ball, der plötzlich durchs Dach geflogen kam, völlig aus dem Gleis bringen. Aber was konnte man schon dagegen tun, wenn man lichterloh für einen Menschen entbrannt war und sich tief im Herzen nichts sehnlicher wünschte, als aufzuhören, vor sich selbst davonzulaufen? Und was, wenn einem das
Unterbewusstsein dann auch noch einredete, man würde die Entscheidung schon nicht bereuen? Aber, sagte sich Nash nun, darauf sollte man sich einfach nicht einlassen. Nicht, wenn man noch einen Funken Verstand hatte. Trotzdem wünschte er sich nichts sehnlicher, als Stacey in die Arme zu schließen und ihr den Sohn zu machen, nach dem sie sich so sehnte. Irgendwie hatte er ihr das an den Augen ablesen können. Aber vielleicht lag es auch nur daran, dass er sich selbst insgeheim immer ein Kind gewünscht hatte. Er war nur noch nicht der Frau begegnet, mit der er sich das vorstellen konnte. Und mit einem Mal kam ihm sein bisheriges Leben wahnsinnig einsam vor, auch wenn eigentlich alles so verlaufen war, wie er es geplant hatte. Aber, dachte Nash nun, er musste die Pfirsiche und Staceys süße Lippen vergessen und die Erfüllung, die er womöglich in ihren Armen gefunden hätte. Am Donnerstag ging sein Flugzeug, und er wäre für wenigstens ein Jahr außer Landes. Er hatte keine Zeit, sich mit einer Frau einzulassen – auch wenn sie der Traum seiner schlaflosen Nächte war. Nash stieß sich von der Wand ab, stand auf und dachte: Ich suche jetzt diese verdammte Katze, verscharre sie und sehe zu, dass ich von hier so schnell wie möglich wegkomme. Stacey erwachte, als etwas gegen die Scheibe ihres Schlafzimmerfensters klirrte. Zuerst konnte sie sich das Geräusch gar nicht erklären, aber dann flog noch ein Steinchen gegen die Scheibe. Stacey stand auf, ging zum Fenster und spähte in den Garten hinunter. War das etwa Nash? Wenn er der Meinung sein sollte, er könnte mitten in der Nacht von einer Kneipentour zurückkehren, um zu ihr unter die Bettdecke zu schlüpfen, hatte er sich geschnitten. »Stacey, ich habe die Katze.«
»Lebt sie noch?« »Natürlich«, flüsterte Nash, »sonst hätte ich sie wohl kaum mitgebracht. Bitte lass mich rein, Stacey!« Während Stacey die Treppe hinuntereilte, entschuldigte sie sich insgeheim bei Nash, um dann mit zittrigen Händen den Riegel der rückwärtigen Küchentür zurückzuschieben. »O Nash!« »Der Tierarzt hat sie wieder zusammengeflickt und ihr Antibiotika gegeben.« Nash hielt die Katze, die er zuvor in eine Decke gewickelt hatte, auf dem Arm. Obwohl das Tier noch halb betäubt war, miaute es kläglich. Stacey konnte kaum glauben, dass der Tierarzt es in diesem Zustand nicht über Nacht in der Praxis behalten hatte. Nash musste ihre Gedanken gelesen haben, denn nun sagte er: »Dr. Medley war der Meinung, es tut der Katze besser, wenn sie bei ihren Jungen ist und weiß, dass es ihnen gut geht.« Das Tier war nie eine Schönheit gewesen, aber nun, teilweise rasiert und mit schwarzen Fäden zusammengeflickt, sah es ganz so aus, als wäre es einem DoktorFrankenstein-Kabinett für Katzen entsprungen. »Wo hast du sie gefunden?« »Auf dem Feldweg, der zu Bennett’s Farm führt.« »Aber das ist doch meilenweit weg!« »Ich war ja auch lange unterwegs. Sie hatte sich in einem Stacheldrahtzaun verfangen.« Als Nash näher zum Licht kam, stellte Stacey fest, dass auch seine Hände und Arme gelitten hatten – ob nun unter dem Stacheldraht oder den Katzenkrallen, war schwer zu sagen. »Was ist mit dir, Nash? Solltest du nicht eine Spritze gegen Wundstarrkrampf bekommen?« »Mach dir keine Sorgen, meine Impfungen sind erst aufgefrischt worden.« Er legte die Katze in den Pappkar-
ton zu ihren Jungen, und einen Augenblick beobachteten Stacey und er, wie die Katzenmutter ihre Kleinen ableckte und sich vergewisserte, dass sie gesund und munter waren. Dann sagte Stacey: »Aufgefrischt oder nicht, es wäre besser, deine Kratzer und Schrammen zu säubern.« Sie holte eine Flasche Antiseptikum aus dem Schrank, goss ein wenig davon in eine Schüssel und gab abgekochtes Wasser aus dem Kessel dazu. »Ich habe mir die Hände beim Tierarzt gewaschen«, protestierte Nash, der nicht wollte, dass Stacey ihn anfasste, weil er ganz genau wusste, wozu das führen würde. »Und der Stacheldraht war sauber.« »Ich bitte dich! Krankheitskeime erkennt man doch nicht mit dem bloßen Auge«, entgegnete Stacey, verkniff sich aber den Zusatz: ,Als Doktor der Botanik solltest du das doch wissen.’ Dann nahm sie einen Wattebausch, tauchte ihn ein wenig in die Schüssel, ergriff Nashs Handgelenk und fing an, die Wunden behutsam zu säubern. Bei einem ganz besonders tiefen Kratzer sagte sie: »Meine Güte, das muss doch unheimlich wehtun!« »Ich werd’s überleben.« Während Nash Staceys kühle Finger um sein Handgelenk spürte und ihn ihr vom Bett zerwühltes Haar am Kinn kitzelte, dachte er, dass er gleich abheben würde. Stacey hielt inne, um sich eine Strähne hinters Ohr zu streichen. Dann beugte sie sich erneut über seinen Arm. Trotz des starken Geruchs des Antiseptikums stellte Nash fest, dass Stacey nach frischen Laken und Zahnpasta duftete was bei ihm eine betörendere Wirkung hatte als jedes Parfüm –, und er dachte: All die Stunden des Suchens waren diesen Augenblick wert. Als Stacey fertig war, sah sie zu Nash auf. »Bist du hungrig?« Ja, das war er, sogar sehr. Aber es verlangte ihn nicht
nach etwas Essbarem, sondern nach Stacey. Am liebsten hätte er sie auf der Stelle vernascht. »Hast du heute denn schon was gegessen?« Das war alles so lächerlich. Er brauchte doch eigentlich niemanden, das hatte er noch nie. »Nein, aber ich habe…« »Wie war’s mit Spiegeleiern?« »Stacey, ich…« »Mach dir keine Sorgen. Sie stammen von frei laufenden Hühnern und werden biologisch-dynamisch ernährt.« »Die Eier?« »Wie bitte? O… nein… die Hühner natürlich!« Stacey hatte gerade die Schüssel ausgegossen und wandte sich nun lächelnd wieder zu Nash um. »Stacey, es ist schon spät. Ich gehe jetzt lieber. Wenn du mit der Katze allein zurechtkommst, heißt das.« Stacey reagierte gar nicht darauf, sondern sagte: »Es ist wichtig, wo man seine Eier kauft. Oder möchtest du lieber Rührei?« Sie wusste, dass sie zu viel redete. Das tat sie immer, wenn sie nervös war, was jetzt mit Sicherheit zutraf. Denn sie hatte beschlossen, dass Nash heute Nacht nirgendwo mehr hinging, sondern bei ihr blieb. Er vergewisserte sich noch einmal, dass es der Katze gut ging, aber mehr, um Staceys Blick auszuweichen. Sobald er ihr in die Augen sah, bekam er Schmetterlinge im Bauch und spürte Dinge, die er nicht spüren wollte. Er verabscheute es, sich nach einer Frau zu verzehren und dadurch von ihr abhängig zu werden. Nun kniete sie sich auch noch neben ihn! Die Katze war halb eingedöst und schnurrte mittlerweile zufrieden, während sich die Kätzchen an ihren Bauch gekuschelt hatten. »Stacey…« Eigentlich wollte Nash ihr sagen, dass er nun gehen würde und am Donnerstag sein Flugzeug nahm. Aber als Stacey ihn ansah, blieben ihm die Worte
im Hals stecken, und er konnte einfach nicht anders, als ihr die Wange zu streicheln. »Stacey!« ließ sich da plötzlich eine Frauenstimme wie aus dem Nichts vernehmen, woraufhin Stacey schuldbewusst zusammenzuckte, aufsprang und erstaunt rief: »Was machst du denn hier, Dee?« »Ich habe den Wagen vorbeigebracht. Eigentlich wollte ich den Schlüssel i a in den Briefkasten werfen, aber dann habe ich noch Licht brennen sehen und dachte, hier stimmt vielleicht etwas nicht.« »Nein, es ist alles in Ordnung, das heißt…« Stacey schluckte. Sie fühlte sich wie ein Teenager, der von seiner Mutter dabei ertappt worden war, den verrufensten Jungen der Stadt zu küssen. Verlegen zerrte sie an ihrem kurzen Nachthemd. Warum hatte sie bloß keine Jogginghose angezogen? »Wir haben einen Notfall«, sagte sie dann, »die Katze hier.« »Eine Katze?« wiederholte Dee, während sie Nash musterte, als käme er von einem anderen Stern. »Aber du hast doch gar keine Katze!« »Nein, normalerweise lebt sie auch drüben in dem ehemaligen Gartencenter. Sie… sie hat Junge. Willst du eins?« »Nein, bestimmt nicht. Und seit wann stellen Katzenbabys einen Notfall dar?« Dee ließ Nash, der immer noch neben dem Karton kniete, nicht aus den Augen. »Ihre Mutter hatte sich in einem Stacheldrahtzaun verfangen«, erklärte er nun. »Wer sind Sie überhaupt?« fragte Dee kurz angebunden, und Stacey dachte: Dee macht mal wieder auf Hausherrin. »Nash Gallagher.« Er stand auf und hielt ihr die Hand hin, die Dee allerdings ausschlug, und Stacey erklärte schnell: »Nash arbeitet nebenan. Er räumt das Grundstück auf.« »Meinst du damit, er ist Handlanger?« »Dee!«
Beschwichtigend legte Nash Stacey eine Hand auf den Arm. »Es ist schon gut, Stacey. Da ist nichts, wofür ich mich entschuldigen müsste.« Dann wandte er sich an Dee. »Ja, Ma’am, ich habe in Archies Garten Handlangerdienste verrichtet.« Er verstummte, bevor er lächelnd fortfuhr: »Aber Stacey war so freundlich, mir gelegentlich eine Tasse Tee anzubieten und die mutterlosen Kätzchen hier zu sich zu nehmen.« »Das bezweifle ich auch nicht. Sie hatte immer schon eine Schwäche für kleine, hilflose Wesen und Männer mit Muskeln.« Stacey stöhnte und dachte: Mit einer Hausherrin hat das gar nichts mehr zu tun, mittlerweile hört sich Dee an wie unsere Mutter an dem Tag, als ich Mike kennen gelernt habe. Sie sah irgendwie auch genauso aus, in ihrem strengen Kostüm und den hohen Hacken, mit denen sie zur Not immer noch jeden aufspießen konnte, der nicht ihrer Meinung war. »Nash«, fragte Stacey nun, »darf ich dir meine Schwester vorstellen? Dee Harington. Sie ist auf dem Weg zum Flughafen.« Dabei hoffte Stacey, dass Dee den Wink verstand und ging. »Sehr erfreut, Mrs. Harrington«, murmelte Nash. Er war dieser Frau irgendwie sogar dankbar, weil sie ihn davon abgehalten hatte, den größten Fehler seines Lebens zu begehen. Trotzdem brachte er es nicht fertig, ihr noch einmal die Hand zu reichen. Sie nickte nur, ohne zu lächeln, und wartete anscheinend darauf, dass er das Feld räumte. Einen Augenblick war Nash geneigt, die Frau in ihre Schranken zu weisen und ihr zu erzählen, womit er eigentlich seinen Lebensunterhalt verdiente. Aber dann überwog sein gesunder Menschenverstand. »Ich gehe dann mal lieber, Stacey.« »Aber ich wollte dir doch noch Frühstück machen!« »Ein andermal«, sagte Nash und dachte: Soll Mrs.
Harrington mit dieser Äußerung anfangen, was sie will. Als ob sie das Leben ihrer Schwester etwas anging! »Wenn du irgendetwas brauchst, Stacey, weißt du ja, wo du mich findest.« »Und wo genau ist das?« fragte Dee, nachdem sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte. Stacey strich sich eine Strähne aus der Stirn. »Ich habe dir doch gesagt, dass er im ehemaligen Gartencenter arbeitet.« »Ich habe nicht gefragt, wo er arbeitet, sondern wo er wohnt.« »Er zeltet da drüben, wenn du es genau wissen willst.« »Und er hat es sich zur Angewohnheit gemacht, mitten in der Nacht mit verletzten Tieren auf dem Arm an deine Tür zu klopfen?« »Nein!« Fragend zog Dee eine Augenbraue hoch. »Er hat die Kätzchen bei mir gelassen und sich dann auf die Suche nach ihrer Mutter begeben. Sie war verletzt, Dee. Ganz schlimm. Er hat Stunden gebraucht, um sie zu finden, und sie gerade vom Tierarzt zurückgebracht.« »Um vier Uhr morgens?« Langsam war Stacey es Leid, so mit sich umspringen zu lassen. »Ich glaube nicht, dass die Katze die Uhrzeit lesen kann.« »Du hast wohl gar nichts dazu gelernt, was?« »Bitte, Dee…« »Ich kann es gar nicht glauben! Er ist genauso wie Mike. Überall Muskeln, aber kein bisschen Hirn, und natürlich null Ehrgeiz. Als du noch ein Teenager warst, hat dich dein Alter entschuldigt, aber heute…« »Er ist nicht wie Mike. Er ist…« Stacey konnte sich gerade noch zurückhalten, ihrer Schwester zu erzählen, dass Nash angeblich einen Doktor in Naturwissenschaften hatte. Aber auf jeden Fall war er kein bisschen wie Mike.
Nun ja, gestand sie sich dann ein, vielleicht vom Äußeren her, und sie konnte auch nachvollziehen, warum Dee von Nashs Körper gleich auf Mikes schlechte Eigenschaften schloss. Aber die beiden waren in ihrer Art grundverschieden. »Er ist nicht so wie Mike, Dee«, bekräftigte sie nun noch einmal. »Den Teufel ist er! Ich habe doch mitbekommen, wie du ihn ansiehst und er dich. Tu’s nicht!« »Das habe ich auch nicht vor!« sagte Stacey, errötete aber in Erinnerung daran, wie sie Nashs KUSS erwidert und was sie eigentlich vorgehabt hatte, bevor ihre Schwester so unerwartet aufgetaucht war. »Er ist doch nur auf eine kleine Affäre für den Sommer aus.« Als Stacey etwas dagegen einwenden wollte, hob Dee abwehrend die Hand. »Oh, ich bezweifle gar nicht, dass du auch deinen Spaß dabei hättest. Aber was kommt danach? Er wird weiterziehen, und du bleibst eine allein stehende Mutter, die auf ihren guten Ruf achten sollte. Schließlich hast du auch eine Verantwortung deinen Kindern gegenüber.« Daran hatte Stacey auch schon gedacht, deshalb widersprach sie ihrer Schwester nicht, sondern sagte nur: »Du übertreibst, Dee. Es ist nichts geschehen, ehrlich!«, wenn man von dem KUSS einmal absah. Aber was war schon ein KUSS? Einer zu viel! Anscheinend hatte Stacey nicht überzeugend geklungen, denn Dee legte ihr nun die Hand auf den Arm und sagte beschwörend: »Bitte, Stacey, hör auf mich! Ich bin auch nicht aus Stein. Ich kann verstehen, dass du dich zu ihm hingezogen fühlst. Aber denk doch mal darüber nach. Selbst wenn er bleiben sollte, was für eine Zukunft hättest du dann? Du machst nur da weiter, wo du mit Mike aufgehört hast – mit einem Mann, der sich auf dem Weg nach nirgendwo befindet. Aber diesmal bist du schon
dreißig.« »Achtundzwanzig!« stieß Stacey hervor, die es satt hatte, sich um ihr Alter Sorgen zu machen. Sie war noch zwei Wochen lang achtundzwanzig. Das war nicht alt. Und dann hatte sie noch ein ganzes Jahr bis zu ihrem dreißigsten Geburtstag. »Ehrlich, Dee, du übertreibst! Er wird in ein, zwei Tagen weiterziehen, und ich gehe morgen Abend mit Lawrence aus – das heißt heute Abend.« »Ja, und bitte streng dich ein bisschen an, Stacey.« Dee legte die Autoschlüssel auf den Tisch. »Tim wartet draußen auf mich. Ich konnte ihn dazu bewegen, mich zum Flughafen zu bringen. Ich schlage vor, du gehst jetzt wieder ins Bett. Du brauchst deinen Schönheitsschlaf.« Oh, vielen Dank, Schwesterherz! dachte Stacey, sagte dann aber: »Viel Spaß in Paris!« »Ich fliege nicht zu meinem Vergnügen dorthin, sondern um zu arbeiten, Stacey. Einige Menschen nehmen das Leben ernst, weißt du? Vielleicht ist es auch für dich langsam an der Zeit, mit deinen Tagträumen aufzuhören. Setz dich hin, und mach dir ein paar Gedanken, was du wirklich willst und welche Dinge für dich im Leben wichtig sind. Vielleicht ist Lawrence ja nicht der Mann deiner Träume, aber man muss im Leben schließlich ein Ziel vor Augen haben. Bevor du Mike kennen gelernt hast, konntest du doch auch klar denken. Warum versuchst du es nicht wieder. Vielleicht funktioniert es ja.«
8. KAPITEL Nun, dachte Stacey, nachdem ihre Schwester gegangen war, in den letzten vierundzwanzig Stunden, bin ich ja ganz schön zwischen Gefühl und Verstand hin- und
hergerissen gewesen. Das Gefühl sagte ihr: Gib deine Träume nicht auf, und greif nach den Sternen, der Verstand: Lass es. Das Gefühl: Gib dich Nash hin, der Verstand: Sei vernünftig. Von ihrem Bett aus konnte Stacey am Horizont schon den schwachen Schein der aufgehenden Sonne erkennen, und wie Dee ihr geraten hatte, dachte sie nun über ihre Ziele, Träume und Wünsche nach. Doch ihr ging einfach nicht aus dem Kopf, dass Nash in ein, zwei Tagen weiterziehen würde. Vielleicht war es auch für sie an der Zeit, nach vorn zu sehen. Aber nein, überlegte sie dann, ich sollte mir erst einmal eine Liste machen. Vielleicht half es, wenn sie schriftlich festhielt, was ihr wirklich wichtig war. Die kleinen und die großen Dinge genauso wie die völlig unmöglichen und die total verrückten. Es war zwar schon vier Uhr morgens, und sie hatte ihren Schönheitsschlaf bitter nötig, aber trotzdem war sie hellwach. Anstatt die Zeit zu nutzen, und ihr Leben zu ordnen, könnte sie auch hinausgehen und Setzlinge vereinzeln. Das reizte sie eigentlich mehr, aber Stacey suchte dann doch in der Schublade ihres Nachttischs nach dem Notizbuch. Sie hatte es sich gekauft, um die Dinge aufzuschreiben, die einem nur mitten in der Nacht einfielen, wenn man noch wach lag. Aber es war schon Monate her, dass sie etwas in das Buch geschrieben hatte. Interessiert überflog sie nun die erste Seite, um festzustellen, welche bahnbrechenden Ideen ihr mitten in der Nacht gekommen waren. Iss mehr Reis und Nudeln las sie und dachte: Habe ich das wirklich für so wichtig gehalten, um es aufzuschreiben? Suche das Gewächshaus jeden Abend nach Schnecken ab. Daran konnte sie sich noch erinnern. Sie hatte geträumt, dass sie eines Morgens ins Gewächshaus kam und nur
noch abgenagte Stiele vorfand. Aber nach dieser Notiz erschöpften sich ihre Geistesblitze bereits. Es folgte nur noch ein Hinweis darauf, beim Milchmann mehr Milch zu bestellen. Stacey riss die Seite heraus und schrieb auf die nächste: »Lebensplan«. 1. Mit Nash Gallagher schlafen, solange er noch da ist. Okay, das gehörte eindeutig zu der Kategorie völlig verrückt, aber es war trotzdem das Erste, was ihr eingefallen war, und damit bezeichnend. 2. Das Haus behalten. 3. Sich mit der Renovierung beeilen, damit ich ein Zimmer vermieten und das Haus behalten kann. 4. Ein Zimmer vermieten, damit ich das Haus behalten kann. 5. Lawrence Fordham heiraten, aber nur, wenn er bei mir einzieht, damit ich hier wohnen bleiben kann. 6. Endlich damit anfangen, die Wildblumenzucht kommerziell zu betreiben. An dieser Stelle beendete Stacey ihre Liste, weil sie längst bemerkt hatte, dass es an der Zeit war, die Punkte durchzustreichen, die völlig unmöglich oder verrückt waren. Also machte sie einen Strich durch Punkt eins und fünf. Damit blieb ihr, das Badezimmer zu fliesen, sich dringend einen Untermieter zu suchen, die Gewissheit, dass sie ihr Haus absolut nicht verlassen wollte, und das Eingeständnis, dass man Wünsche einfach nicht verscheuchen konnte – egal, wie unerreichbar sie erscheinen mochten oder wie sehr eine große Schwester sie als Träumerei abtat. Bei dem Gedanken an Dee unterstrich Stacey spontan Punkt eins, um deutlich zu machen, dass sie ihn nicht
gänzlich verwarf. Dann klappte sie das Buch zu und ging hinunter, um nach den Katzen zu sehen. »Ist die Luft jetzt rein?« Nashs Stimme reichte aus, um die Schmetterlinge in Staceys Bauch wieder zum Fliegen zu bringen. Das daraus resultierende Gefühl wollte leider so gar nicht zu den vernünftigen Gedanken passen, die sie sich beim Frühstück gemacht hatte. Es war ja auch schwierig, auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben, während man insgeheim nach den Sternen greifen wollte. Stacey versuchte, die Schmetterlinge zu ignorieren, und sah auf. »Wie meinst du das, ob die Luft rein ist?« fragte sie dann ganz locker. Konnte schon sein, dass ihr in der Morgendämmerung der erste Punkt auf ihrer Liste verlockend erschienen war, aber nun hatte sie ihre Hormone wieder im Griff. Aber als Nash sich eine weizenblonde Strähne aus der Stirn strich, genügte diese Geste, um Staceys Willenskraft auf eine harte Probe zu stellen. »Deine Schwester hatte was gegen meinen nächtlichen Besuch.« Es bedurfte nur eines Lächelns von ihm, und Stacey verlor völlig die Bodenhaftung. »Ich dachte, sie hätte vielleicht einen Wachhund dagelassen, der dich davor bewahrt, etwas mit mir anzufangen.« Oh, so war das also! Er hielt sich für unwiderstehlich. Nun ja, da könnte er wohl Recht haben. »Ich glaube, Nash, sicher ist nur eins: Dee wird dein Besuch immer missfallen, egal, um welche Uhrzeit du vorbeikommst.« Und ihre Schwester hatte zweifellos Recht mit ihrem Vorbehalt gegen Nash. Der Mann brachte nichts als Probleme. Dieses Bewusstsein machte es allerdings nicht leichter, seinem Charme zu widerstehen, und Stacey sagte lächelnd: »Aber du kannst dich erst einmal sicher fühlen. Sie ist jetzt in Paris. Vorhin war sie auf dem Weg zum Flughafen und hat hier Halt gemacht, um mir die Schlüssel von
ihrem Wagen dazulassen.« »Bleibt sie länger weg?« Seiner Frage war die Hoffnung zu entnehmen, dass dem so sein möge. »Nein, nur für einige Tage. Offensichtlich ist bei ihrer Joghurtvermarktung etwas schief gelaufen.« Nick zog erstaunt eine Braue hoch. »Sie ist Vertriebsleiterin von Fordham Foods, einer großen, in Maybridge ansässigen Molkerei.« »So? Na, eigentlich überrascht mich das nicht.« Stacey zuckte die Schultern. »Dee ist die Cleverere von uns beiden«, erklärte sie dann und dachte: Und ich hab’s nur mit Muskeln. Daraufhin reichte sie Nash ihren Ersatzschlüssel für die rückwärtige Küchentür, hielt ihn aber so, dass sie Nashs Finger nicht berührte. Aber Nash nahm den Schlüssel mit der ganzen Hand, und bei Stacey wetteiferten ihre hart erarbeiteten Gründe, nichts mit ihm anzufangen, mit dem überwältigenden Gefühl, sich ihm jetzt auf der Stelle hinzugeben. Es gelang ihr gerade noch, die Hand zurückzuziehen. »Ich… ich habe die Katze mit ihren Jungen in die Waschküche gebracht. Sie hat Futter bekommen, und ein provisorisches Katzenklo ist auch da.« Stacey war sich nicht sicher gewesen, ob Nash sein Versprechen, sich um die Tiere zu kümmern, einhalten würde. Sie hatte schon vorgehabt, Vera zu bitten, während des Tages ab und zu einmal nach dem Rechten zu sehen. Aber so war es einfacher. Zu einfach! Sich nach jemandem lustvoll zu verzehren sollte viel schwerer gemacht werden. »Ich bin wieder da, bevor die Mädchen aus der Schule kommen. Das wird so um vier sein.« »Was, so lange bleibst du weg?« »Ich muss es ausnutzen, wenn meine Schwester mir schon einmal ihren Wagen leiht. Wieso? Wolltest du noch etwas von mir?«
Nash war ganz deutlich anzusehen, worauf er aus war, aber dann sagte er: »Ich wollte dich beim Wort nehmen, wegen des versprochenen Frühstücks mit Rührei.« »Ach ja, kein Problem, bedien dich. Die Eier stehen in der Speisekammer.« Sie wussten beide, dass Nash eigentlich etwas anderes gemeint hatte, aber Stacey nahm schnell ihre Tasche und die Schlüssel und strebte der Haustür zu, bevor sie Nash noch Frühstück im Bett anbot. Im hellen Morgenlicht mit ihren schwatzenden Töchtern am Tisch, die sich um die Marmelade stritten, hatte Stacey den völlig verrückten Punkt eins auf ihrem Lebensplan ein für alle Mal verworfen. Abgesehen davon durfte sie den Termin bei ihrer Kosmetikerin nicht verpassen – allein schon, um Dee nicht zu enttäuschen. »In der Kanne ist noch Tee, wenn du welchen möchtest.« »Stacey!« Sie war schon beinah an der Tür und damit fast in Sicherheit vor diesem Mann und den Gefühlen, die sie ihm entgegenbrachte. Aber da sagte er: »Wenn du jetzt wirklich wegmusst, können wir ja vielleicht heute Abend etwas zusammen unternehmen?« Meint er damit, zusammen schlafen? überlegte Stacey, bevor sie ihrer Fantasie Einhalt gebot, indem sie sich daran erinnerte, dass sie heute Abend mit Lawrence verabredet war. »Wie war’s, wenn ich etwas zu essen besorge und später mal hereinsehe?« Was hieß das nun wieder? Wollte er nun mit ihr ausgehen oder lieber bei ihr bleiben? »Nachdem du Lily und Rosie ins Bett gebracht hast, meine ich«, fügte er noch hinzu, um keine Zweifel an seinen Absichten aufkommen zu lassen, und Stacey dachte: Das Leben ist einfach nicht gerecht, bevor sie sagte: »Es tut mir Leid, Nash, aber ich bin heute Abend
schon verabredet.« »Wie bitte?« In seiner Stimme schwang eindeutig Eifersucht mit, und Stacey fügte rasch hinzu: »Es ist nichts Besonderes. Eine Städtepartnerschaftsveranstaltung in Maybridge.« Beinah hätte sie noch gesagt, dass sie viel lieber zu Hause bleiben würde, um mit ihm zu essen und dann… Aber das hatte doch alles keine Zukunft. »Vielleicht ein anderes Mal«, sagte sie dann, und sie wussten beide, dass es kein anderes Mal geben würde. Nun, dachte Stacey, vielleicht ist es auch besser, wenn ich nicht weiß, was mir entgeht, sobald Nash weiterzieht. »Ich wollte mich doch bei dir revanchieren, weil du mich vor einer Blutvergiftung bewahrt hast.« »Das hätte ich für jeden getan.« Stacey wusste genau, dass es nicht gerade freundlich geklungen hatte. Aber ihr stand der Sinn auch nicht nach Nettigkeiten. Da war sie nun seit zwei Jahren Witwe, und während der ganzen Zeit hatte sie keinen einzigen Mann getroffen, der ihr Herz höher schlagen ließ. Doch nun genügte ein Blick von Nash, um es zum Rasen zu bringen. Aber dieser Mann war nach eigener Aussage ein Vagabund und viel zu flatterhaft für eine Witwe mit zwei Kindern. Es fiel Stacey schwer, ihn allein zu lassen, aber sie musste an ihre Zukunft denken. »Da ist noch Auflauf im Kühlschrank«, sagte sie, weil sie einfach schon zu lange so dagestanden hatte, um jetzt nicht etwas zu sagen. »Bedien dich.« Nash runzelte die Stirn. »Stacey, habe ich vorhin irgendetwas falsch gemacht?« »Nein… vorhin… nun, vorhin war vorhin.« Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, um Nash nicht ansehen zu müssen. »Es tut mir Leid, aber ich bin spät dran.« Schnell zog sie die Tür hinter sich zu, und Nash fragte sich, wie, um alles in der Welt, er den Tag herumbekommen sollte, ohne Stacey in Rufweite zu wissen.
Schweißperlen liefen Nash übers Gesicht, aber mit seiner Arbeit war er fast fertig. Nun öffnete er eine Flasche Mineralwasser, trank einige Schlucke und schüttete sich den Rest über den Kopf. Dann hörte er, wie Lily und Rosie in den Flur stürmten und aufgeregt schnatternd Ausschau nach den Katzen hielten. »Mummy, kommt Nash heute Abend zum Tee?« fragte Rosie, während sie eines der Kätzchen auf dem Arm hielt. »Nein, heute nicht. Ich bin verabredet. Das habe ich dir doch schon gesagt.« »Musst du denn unbedingt ausgehen?« »Mach dir keine Sorgen, Rosie, ihr werdet trotzdem Spaß haben. Vera kommt herüber, um auf euch aufzupassen. Sie hat mir gesagt, sie bringt einen neuen Disneyfilm mit, der euch bestimmt gefällt.« »Vielleicht könnte Nash ja trotzdem vorbeikommen und sich das Video mit uns ansehen?« Das würde vor allem Vera gefallen, dachte Stacey, während sie die Treppe hinaufging, um die Sachen auszuziehen, die sie für ihren Besuch in der Stadt getragen hatte. Sie knöpfte die Bluse auf und ließ sie im Vorbeigehen in den Korb mit Schmutzwäsche fallen. Dann öffnete sie die Badezimmertür und blieb wie angewurzelt stehen. Alles war gelb! Wunderschön gelb, so wie das Innere der Margeriten, die Nash für sie gepflückt hatte. Und die Holzverkleidung war so weiß wie deren feine Blütenblätter – ohne jede Nase oder Streifen in der Ölfarbe. Nash hatte sich Stacey zugewandt und wartete auf ihren Kommentar. Aber es war schwierig, etwas zu sagen, wenn es einem die Sprache verschlagen hatte. »Nash«, sagte Stacey schließlich, »es ist einfach wunderschön geworden. Ich habe gar nicht erwartet, dass du… Ich meine, das wäre doch nicht nötig gewesen.« »Ich weiß«, sagte Nash, ohne sich von der Stelle zu rühren. Dann schluckte er und fuhr erklärend fort: »Aber
der Auflauf war einfach so lecker.« »Tatsächlich?« fragte Stacey ein wenig verwundert über seine Antwort. Doch dann dachte sie: Er macht sich bestimmt nur über mich lustig. »Ich meine, musstest du heute nicht arbeiten?« »Ich dachte, das hätte ich getan«, antwortete Nash mit Blick auf das Badezimmer. »Und ich bin auch schon fast fertig. Die Fliesen verfuge ich morgen.« Er sammelte die Pinsel und Farbtöpfe ein. »Ich gehe dann mal, damit du dich anziehen kannst.« Daraufhin ließ er den Blick über Staceys Figur gleiten und fügte hinzu: »Obwohl du mir so sehr gut gefällst.« Stacey blickte an sich hinunter, stieß einen Schrei aus und schnappte sich ein Badehandtuch. Aber Nash lachte nur. »Versuch, keine Spritzer beim Duschen zu machen.« Stacey war nicht sicher, ob ihr das Seidenkostüm stand. Auch ihre Frisur war irgendwie viel zu geleckt. Damit sah sie aus wie Dee. Na ja, überlegte sie dann, das ist vielleicht gar nicht so schlecht. Bestimmt würde es Lawrence nicht gefallen, wenn sie zu ihrem Treffen barfuß, in einem Batikkleid und mit einem Pferdeschwanz erschien, den sie mit einer Kinderhaarspange gebändigt hatte. Es klingelte an der Haustür, und Stacey warf noch einen letzten Blick in den Spiegel. Dann ergab sie sich der Qual, die das Tragen hochhackiger Schuhe nun einmal mit sich brachte, und ging die Treppe hinunter, um zu öffnen. Dabei kam sie zu dem Schluss, dass sie niemals das Zeug dazu haben würde, die Frau eines reichen Mannes zu werden. Draußen stand Lawrence und hielt einen Strauß roter Rosen in der Hand, wobei er sich sichtlich unwohl fühlte. Wahrscheinlich hatte Dee ihm gesagt, dass er damit einen guten Eindruck machen würde. Vielleicht hatte sie sogar
eines ihrer wichtigen Geschäftsgespräche in Paris unterbrochen, um die Blumen für ihren Chef zu bestellen. Stacey kam ihm zu Hilfe, indem sie ihm den Strauß einfach abnahm. »Danke«, sagte Lawrence und schien gar nicht zu bemerken, dass es eigentlich an Stacey war, sich zu bedanken – so erleichtert war er, dass er sich nun keine passenden Worte für die Übergabe der Blumen überlegen musste. »Sie sind ein bisschen früh dran, Lawrence. Der Babysitter ist noch nicht da. Aber kommen Sie doch herein.« »Es tut mir Leid, aber ich wusste nicht genau, wo Sie wohnen, Stacey, und ich verabscheue es, zu spät zu kommen.« Er sah auf die Uhr. »Der Empfang beginnt um sieben.« »Da haben wir ja noch massig Zeit«, beruhigte ihn Stacey. Rosie und Lily, die gedacht hatten, Nash wäre doch noch gekommen, standen im Flur und ließen die Köpfe hängen. »Sie kennen meine Töchter noch gar nicht, nicht wahr? Darf ich vorstellen? Lily und Rosie.« »Lily und Rosie?« wiederholte Lawrence. »Wie hübsch!« »Eigentlich heißen wir Lily of the Valley und Primrose, also Maiglöckchen und Schlüsselblume«, sagte Rosie. »Mummy hat uns nach Wildblumenarten benannt. Sie züchtet sie in ihrem Garten.« »So?« fragte Lawrence und fuhr dann in dem Ton fort, den Männer, die selten mit Kindern zu tun haben, gern annehmen: »Wie gut, dass ihr keine Jungen geworden seid, dann hätte sie ja gar keine Namen für euch gehabt.« »Wenn wir Jungen geworden wären«, mischte sich nun Lily in das Gespräch ein, und ihrem Gesichtsausdruck war schon zu entnehmen, dass sie Lawrence nicht leiden konnte, »hätte Mummy uns Stinkende Nieswurz und Knöterich genannt.«
Stacey warf ihr einen ermahnenden Blick zu und wandte sich dann lächelnd an Lawrence. »Kommen Sie doch mit mir in die Küche. Während ich die Rosen ins Wasser stelle, können Sie mir erzählen, worauf ich mich heute Abend gefasst machen muss.« Dabei hoffte sie, dass ihre Töchter wie versprochen abgewaschen und alles aufgeräumt hatten. Doch auch wenn dem nicht so sein sollte, konnte sie den Mann wohl kaum der Obhut der beiden überlassen. Sie hatten ihr noch nicht verziehen, dass sie heute Abend ausging und Nash deshalb nicht kommen konnte. Und die beiden waren eindeutig nicht in der Stimmung, Gefangene zu machen. Stacey füllte eine Blumenvase mit Wasser und versuchte, die steifen, langstieligen Rosen so anzuordnen, dass sie irgendwie natürlich aussahen. Sie tat ihr Bestes, aber die Blumen waren so hochgezüchtet, dass sie sich kein bisschen ansprechend arrangieren ließen. Schließlich rang sie sich ein Lächeln ab und wandte sich Lawrence zu. »Das war wirklich eine nette Ü…« Ihr verschlug es die Sprache, als sie in diesem Moment Nash auf der Türschwelle der rückwärtigen Küchentür stehen sah. Sein Haar und sein T-Shirt waren nass, die kurze Hose war dreckig und die Boots waren mit gelber und weißer Farbe bekleckert. Der Gegensatz zu Lawrence’ dunklem Anzug, dem blütenweißen Hemd und der sorgfältig gebundenen Seidenkrawatte hätte größer nicht sein können. Das Einzige, was die beiden Männer gemeinsam hatten, war ihr Gesichtsausdruck. Dabei wandelte sich das beiderseitige Erstaunen rasch in Missfallen. »Hallo, Nash«, sagte Stacey schnell, »du wolltest bestimmt nach der Katze sehen. Ich glaube, ihr geht es gut.« Aber Nash antwortete nicht. »Und die Kleinen sind putzmunter.«
Nur mühsam konnte Nash den Blick von Lawrence abwenden, um Stacey anzusehen, die immer noch die Vase mit den Rosen in der Hand hielt. »Nette Blumen«, sagte er dann, und Stacey dachte: Nett teuer, nett langweilig und nett einfaltslos. Das war auch ihr erster Gedanke gewesen. »Und du hast dir ja auch die Haare machen lassen. Das habe ich vorhin gar nicht bemerkt. Ich schätze mal, da war ich einfach zu abgelenkt.« Stacey erinnerte sich natürlich noch, weswegen, und errötete. »Stacey?« Lawrence wusste offensichtlich nicht, was er von dem Ganzen halten sollte, wollte ihr aber irgendwie zu verstehen geben, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchte, und berührte sie leicht am Ellbogen. Aber das half nichts. Stacey war nun lediglich kurz davor, seine Hand abzuschütteln, sonst aber völlig hilflos. Schließlich fragte sie: »Was willst du, Nash?« »Dir das hier geben.« Er hielt ihr einen Zettel hin. »Heute Morgen hat jemand wegen des Zimmers nachgefragt, das du zu vermieten hast.« Seine Stimme hörte sich an, als könnte man damit Stahl schneiden. »Nash… wegen des Zimmers…« Die Situation wurde immer verzwickter, aber wie sollte sie ihm erklären, warum sie ihm das freie Zimmer nicht angeboten hatte? Als Stacey keine Anstalten machte, den Zettel entgegenzunehmen, ging Nash zu ihr, drückte ihn ihr in die Hand, die er dann mit den Fingern umschlossen hielt. Er roch nach feuchter Erde, gemähtem Gras und frischer Farbe. Eine herrliche Duftkombination, dachte Stacey und wurde fast ohnmächtig, so sehr sehnte sie sich danach, alles andere um sich her zu vergessen und sich von Nash lieben zu lassen. »Es war eine Studentin. Sie hat ihren Namen und eine Telefonnummer dagelassen.« »Ich habe jemanden Längerfristiges gesucht«, sagte
Stacey nun entschuldigend, »und schließlich wolltest du bald wieder weg.« »Du brauchst mir nichts zu erklären, Stacey«, entgegnete Nash kurz angebunden und fuhr, den Blick auf Lawrence gerichtet, fort: »Ich sehe doch, was los ist.« Immer noch hielt er Staceys Hand fest. Nun zog er mit der Linken etwas aus der Tasche und legte es neben Stacey auf den Küchentisch. »Da hast du deinen Schlüssel wieder.« »Ich will ihn nicht. Ich meine…« »Ich bin morgen nicht verfügbar, um mich um die Katzen zu kümmern.« Dann gab er ihre Hand frei, drehte sich auf dem Absatz um und verließ das Haus. »Nash!« Stacey wollte ihm schon nachlaufen, als ihr Lawrence wieder einfiel. Aber es war ihr egal, was er denken mochte. Sie musste Nash die Sache mit dem Zimmer einfach erklären. »Verdammt noch mal, Nash, warte!« Doch er sah sich nicht einmal um. »Ich bin hier diejenige, die freundlicherweise auf deine Katzen aufpasst!« Nun blieb er doch stehen und schien sogar noch einmal zurückkommen zu wollen. Aber dann blickte er nur über die Schulter, sah Vera mit einer Videokassette und einer Riesentüte Chips um die Hausecke biegen und sagte: »Vagabunden halten keine Katzen. Wenn du nicht mit ihnen klarkommst, bring sie ins Tierheim.« »Das würde ich niemals tun!« rief Stacey aufgebracht. Sie war richtig böse. Doch dann entdeckte auch sie Vera, die entgeistert zu ihr herübersah, während Lawrence starr auf seine Armbanduhr blickte und sicher wünschte, er wäre niemals hergekommen. Im Augenblick hatte Stacey also keine andere Wahl, als Nash ziehen zu lassen. Sie würde später mit ihm reden und ihn dann schon dazu bringen, ihr zuzuhören. Jetzt musste sie allerdings erst einmal ihren Termin mit Mr. Fordham wahrnehmen, der von dem
kleinen Zwischenfall mehr als peinlich berührt war. »Wollen wir los, Lawrence?« Er nickte, ging ihr voran aus dem Haus und hielt ihr die Wagentür auf. Er hatte natürlich einen Jaguar – mit einer anderen Automarke würde sich der Besitzer von Fordham Foods auch nicht zufrieden geben. Stacey wusste, dass sie eigentlich beeindruckt sein sollte. Aber es war ihr völlig egal, was für ein Auto Lawrence Fordham fuhr. Ohnehin wäre sie jetzt lieber mit Nash spazieren gegangen, anstatt sich in dieser Luxuskarosse von einem Mann chauffieren zu lassen, der ausschließlich nach sündhaft teurem After Shave roch. Es verlangte sie nach frischer Luft und bequemer Kleidung. Stattdessen wehte ihr das eigene, zu stark aufgetragene Parfüm um die Nase, der enge Rockbund drückte ihr auf den Magen, und in der Strumpfhose war ihr viel zu heiß. Außerdem fühlte sie sich ganz furchtbar, weil Nash nun dachte, sie hätte ein richtiges Rendezvous mit Lawrence – was vielleicht auf der Tagesordnung ihrer Schwester stehen mochte, aber keinen Platz in ihrem, Staceys, Lebensplan hatte. Doch im Augenblick konnte sie nichts daran ändern und fächelte sich lediglich mit der Hand Luft zu. Lawrence räusperte sich. »Immer noch ganz schön warm, was? Ein bisschen Regen könnte nicht schaden«, fügte er noch hinzu, und Stacey dachte: Wie einfaltslos, vom Wetter zu reden! Na, wenigstens fragte er sie nicht, wer Nash war. Oder, was er, ohne anzuklopfen, in ihrem Haus zu suchen hatte und wieso er eigentlich ihre Schlüssel besaß. Dazu war Lawrence viel zu höflich. Stattdessen wollte er nun wissen: »Sie haben nicht zufällig die Wettervorhersage gehört?« »Nein«, erwiderte Stacey und nahm sich vor, sie am Samstag auf keinen Fall zu verpassen, damit sie etwas hatte, worüber sie mit Lawrence während des Essens reden
konnte. »Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich das Fenster öffne?« »Nicht nötig.« Er drückte auf einen Schalter, und in Sekunden fiel die Temperatur im Wageninnern um wenigstens zehn Grad. »Klimaanlage«, fügte er überflüssigerweise noch hinzu. Stacey wollte gerade sagen, dass ihr eigentlich ein offenes Fenster lieber gewesen sei, doch Lawrence kam ihr zuvor: »Ich weiß doch, wie ihr Frauen es verabscheut, wenn eure Frisur durcheinander kommt.« Gar nichts wusste er! Ihr Haar schrie geradezu danach, in Unordnung gebracht zu werden. Sie wollte, dass ihr die Locken wild ins Gesicht hingen – in eins ohne Schminke wohlgemerkt. Und am liebsten hätte sie sich auf der Stelle die unbequemen Schuhe und die furchtbar enge, figurformende Strumpfhose ausgezogen, um barfuss durchs Gras zu gehen. Aber nicht mit Lawrence Fordham.
9. KAPITEL Nash hatte mittlerweile die Gartenmauer erreicht, zitterte aber zu sehr, um hinaufzuklettern. Dadurch war er gezwungen, eine Weile davor stehen zu bleiben und sich mit seinen Gefühlen auseinander zu setzen. Nun, derer gab es genug, und es bestand auch kein Zweifel mehr, welcher Natur sie waren: Er war eifersüchtig. Wenn er nicht auf dem Absatz kehrtgemacht und die Küche verlassen hätte, hätte er diesem Spießer eine verpasst, als er gewagt hatte, Staceys Arm zu berühren. Und dann, dachte Nash jetzt, hätte ich Stacey erklärt, dass sie nicht tonnenweise Makeup, eine Rühr-mich-nicht-anFassade und ein Seidenkostüm brauchte, um schön zu sein.
Sie hatte zum Anbeißen ausgesehen, als sie ihre braunen Locken mit Rosies Haarspange gebändigt, das T-Shirt und die kurze Hose getragen und überall an Händen und Beinen blaue Farbe gehabt hatte. Aber sicher war ihr egal, was er dachte – in Anbetracht der Mühe, die sie sich gegeben hatte, um Eindruck bei diesem Kerl zu schinden. Aber warum eigentlich? Nun, ganz einfach. Auch wenn der Mann wenigstens zehn Jahre älter war als sie, keineswegs zu ihr passte, hatte er zweifellos Geld ohne Ende. Und das war ein enormer Anreiz. Auch sein Vater hatte seine Mutter nur des Geldes wegen geheiratet so wenig Zuneigung wie die beiden einander entgegengebracht hatten. Eigentlich war Nash davon ausgegangen, Stacey würde mehr vom Leben erwarten als nur eine gesicherte Zukunft. Dieser Typ im Anzug wäre vielleicht in der Lage, Lily und Rosie kostspielige Hobbys wie Reit- und Klavierunterricht zu bezahlen. Aber all das war kein Ersatz für elterliche Liebe. Davon wusste Nash ein Lied zu singen. Offensichtlich war die unbedeutende Veranstaltung in der Stadthalle kein harmloses Partnerstadtstreffen, wofür es Nash in seiner Leichtgläubigkeit, die von Stacey auch noch genährt worden war, gehalten hatte. Es beinhaltete eindeutig, Bekanntschaft mit Würdenträgern zu schließen und weitläufige Verbindungen zu knüpfen. Auch der Kerl im Anzug schien nicht gerade eine kleine Nummer zu sein. Mit der Faust schlug Nash nun gegen die Wand, spürte den Schmerz aber nicht, da der in seinem Herzen bereits größer war, als er ertragen konnte. Sein ganzes Leben hatte Nash eine derartige Situation vermeiden wollen. Hieß es aber nicht, man hörte den Pfeil nicht kommen, der einem das Leben nahm? Doch wenn Nash ehrlich war, hatte er von Anfang an – schon als Stacey aus den Erdbeeren herauskriechend zu ihm aufgesehen hatte – gewusst, dass sie ihm schließlich
eine tödliche Verletzung zufügen würde. Er hatte sich die ganze Zeit nur vorgemacht, er hätte die Situation im Griff. Morgen würde er den Garten verlassen und sich ein Zimmer in der Stadt nehmen, seine Vorlesung halten und sich von seinem Großvater verabschieden. Sollte er auf dem Grundstück doch eine Industrieanlage errichten lassen. Stacey wäre es egal und ihm, Nash, auch, zumindest seitdem er wusste, worauf Stacey aus war. Wenigstens konnte er so guten Gewissens seine Dschungelexpedition antreten. Eigentlich ist der Abend gar nicht so schlimm gewesen, dachte Stacey, als Lawrence sie wieder nach Hause fuhr. Er hatte die Bekanntschaft einer Dame aus Brüssel gemacht, die ebenfalls Molkereibesitzerin war und genauso gern über Joghurtkulturen redete wie er. Dadurch hatte Stacey Zeit gefunden, beim Auswählen der kleinen Köstlichkeiten am Büfett den Kontakt zu ihrem Bankberater aufzufrischen. Auf neutralem Boden war er gar nicht mehr so zugeknöpft, äußerte sich sogar durchaus positiv über die Chancen einer Wildblumenzucht und stellte sie dem Verleger der Maybridge Gazette vor, der sich an die Blumenwiese erinnerte, die Stacey für die Schule angelegt hatte. Der Banker gab ihr abschließend seine Visitenkarte und sagte, sie könne jederzeit anrufen, um einen Termin zur Aufstellung eines Geschäftsplans zu machen. Wieder einmal musste Stacey ihrer Schwester Recht geben: Zum Kontakte knüpfen war der Abend durchaus nützlich. Als Lawrence schließlich zu ihr kam, um sie nach Hause zu bringen, konnte Stacey nur mit Mühe ein Gähnen unterdrücken. Die unterbrochene Nachtruhe begann sich zu rächen. Aber Stacey wollte nicht, dass
ihre Schwester Grund zur Klage hatte. Die anderen Gäste schienen auch noch bleiben zu wollen, und Lawrence war so in das Gespräch mit der belgischen Joghurtfabrikantin vertieft, dass Stacey schon dachte, sie müsste ihn irgendwann mit Gewalt von ihr losreißen. »Mein Babysitter kann bestimmt noch eine Stunde erübrigen«, sagte Stacey deshalb zu ihm, fügte dann aber schnell hinzu: »Nun ja, vielleicht keine ganze, aber bestimmt eine halbe.« Denn wenn sie tatsächlich noch so lange warten müsste, bestand die Gefahr, dass sie auf dem Stuhl einschlief. Das aber würde bei dem Filialleiter der Bank sicher keinen guten Eindruck hinterlassen. Andererseits würde dann vielleicht ihr Bild in der Morgenausgabe der Gazette erscheinen, zusammen mit der Aufforderung an die Leser, eine passende Bildunterschrift zu erfinden, die augenfällig machte, wie langweilig Empfänge in der Stadthalle sein konnten. Aber ein solches öffentliches Interesse benötigte sie nun ganz und gar nicht. »Nein, Stacey, ich bin Ihnen auch so schon zutiefst zu Dank verpflichtet«, erklärte Lawrence glücklicherweise daraufhin. »Sicherlich hat Dee Ihnen erzählt, wie ungern ich allein hergekommen wäre. Aber ich glaube, dass ich Ihre Zeit für heute Abend genug in Anspruch genommen habe.« Stacey blinzelte ihn verwundert an und dachte: Das hört sich ja ganz so an, als hätte er von der Joghurtdame eine Abfuhr bekommen. Offensichtlich machte ein Maßanzug einen Mann noch nicht zu einem schneidigen Kerl. Aber nicht, dass Stacey sich beklagt hätte, dass es schon nach Hause ging. Sie war wie versprochen für Dee eingesprungen und hatte sogar Kontakte geknüpft, die für ihre eigene Zukunft hilfreich sein konnten. Eigentlich konnte sie es kaum noch erwarten, ihren Zehen die Freiheit wiederzugeben, sich ins Bett sinken zu lassen
und wenigstens zehn Stunden tief und fest zu schlafen. Außerdem wollte sie auch mit Nash Frieden schließen, aber der Schlaf ging vor. Wenn sie mit ihm redete, brauchte sie einen klaren Kopf. Nash lag vor seinem Zelt auf dem Schlaf sack. Drinnen war es viel zu heiß und stickig. Selbst im Freien lastete die Schwüle schwer auf ihm, und Nash brauchte nicht die Wettervorhersage zu hören, um zu wissen, dass die angenehm warmen Sommertage bald vorbei wären. Auch in dieser Beziehung wurde es höchste Zeit, seine Zelte abzubrechen. Er hörte, wie ein Wagen vor Staceys Haus hielt und nach einem Augenblick weiterfuhr. Unbewusst hatte Nash den Atem angehalten, während er sich fragte, ob Stacey den Typ im Anzug wohl mit hineinnehmen würde, um ihm ein Stück Kuchen anzubieten und ihm damit ihre hausfraulichen Talente vorzuführen. Aber so schnell, wie das Auto weitergefahren war, hatte wohl nur Zeit für einen raschen Gutenachtkuss bestanden. Doch selbst das war Nash schon zu viel. Zehn Minuten später ging in Staceys Schlafzimmer das Licht an, dann im Badezimmer. Kurz darauf wurde alles dunkel. Stacey ist sicher zu Hause angekommen und allein ins Bett gegangen, dachte Nash beruhigt und schloss die Augen. Dann überlegte er, ob er seine Karten offen auf den Tisch legen sollte, Stacey die Situation erklären, ihr den Garten überlassen und sie bitten sollte, auf ihn zu warten. Darüber musste er wohl eingeschlafen sein, denn er erwachte von einer heftigen Windböe. Die Planen des Zelteingangs hatten sich losgerissen und flatterten wie wild. Schnell zog Nash seinen Schlafsack ins Zelt, als auch schon die ersten schweren Regentropfen fielen. Mitten in der Nacht schreckte Stacey hoch, und das Herz schlug ihr wie verrückt. Als es vom Blitz draußen
kurzzeitig taghell wurde, setzte sie sich auf. Der unmittelbar darauf folgende Donnerschlag bewies ihr, dass es sich nur um ein Sommergewitter handelte. Sie sprang aus dem Bett und zog das Schiebefenster herunter, aber der Bettvorleger war bereits triefend nass. Der Regen lief nur so an der Scheibe herab, und Stacey presste die Stirn dagegen, um draußen etwas zu erkennen. Dabei fragte sie sich, welche Auswirkung die sintflutartigen Regenfälle wohl auf ihr altersschwaches Haus hatten. Dann fiel ihr ein, dass Nash bei diesem Unwetter in seinem Zelt ausharren musste. Er mochte böse auf sie sein, aber bei diesem Sturm konnte sie ihn unmöglich da draußen lassen. Rasch schlüpfte sie in eine Jogginghose und sah noch schnell nach Lily und Rosie. Ihre Jüngste schlief tief und fest, aber Lily war aufgewacht. »Was ist das für ein Lärm, Mummy?« »Nur ein Gewitter, Schatz, kein Grund zur Sorge.« Im Schlafzimmer der Mädchen konnte man die Blitze wegen der dichten Übergardine nicht sehen, und trotz des fortwährenden Donnerrollens kuschelte sich Lily sofort wieder unter die Bettdecke und war gleich darauf erneut eingeschlafen. Stacey hielt sich nicht damit auf, eine Jacke überzuziehen, sondern nahm einfach nur die große Taschenlampe vom Haken hinter der Tür. »Nash!« rief sie, als sie ihren Garten zur Hälfte durchquert hatte. »Nash!« Keine Antwort. Es war ohnehin zweifelhaft, dass er sie bei dem Sturm und Regen hörte. Sie schulterte die Taschenlampe und versuchte, an der Mauer hochzuklettern. Aber ihre Finger waren klamm und rutschten immer wieder ab. Schließlich bekam sie einen Mauervorsprung zu fassen und zog sich daran hoch. Sie nahm die Taschenlampe von der Schulter und leuchtete in Nashs Garten – in die Ecke, in der sein Zelt stehen sollte. Aber da war keins mehr.
»Nash!« schrie Stacey nun, so laut sie konnte und auch ein bisschen panisch, aber ihre Stimme wurde vom Wind davongetragen. Daraufhin schwenkte sie mit der einen Hand wie wild die Taschenlampe und hielt sich mit der anderen fest, damit die Windböen sie nicht von der Mauer fegten. Einen Augenblick hatte sie den Eindruck, als bewegte sich etwas unterhalb von ihr im Gras. Aber als sie genauer hinsah, war da nichts. Und dann, als es wieder blitzte, schien irgendwie die Mauer nachzugeben. Bevor Stacey noch richtig registrierte, was geschah, stürzten die alten Steine auch schon in sich zusammen. »Was machst du bloß für Sachen?« Stacey erwachte in einem Krankenwagen, der Richtung Innenstadt brauste. Nash war bei ihr. »Und was, zum Teufel, hast du bei diesem Wetter mitten in der Nacht auf der Mauer zu suchen gehabt?« Er war lehmverschmiert, in seinem Gesicht klebte Ziegelsteinstaub, und seine Hände waren zerschunden und an manchen Stellen sogar blutig. Aber nun strich er ihr über die Stirn, und alles war gut. »Es… es hat so geregnet«, fing Stacey an. »Ich dachte, du holst dir noch eine Lungenentzündung.« »Das hätte dir was ausgemacht?« »Natürlich!« stieß Stacey hervor, sagte dann aber, weil sich ihr Ausruf ein bisschen zu sehr nach einer Liebeserklärung angehört hatte: »Du wolltest mir doch morgen die Fliesen im Badezimmer verfugen, da konnte ich einfach nicht zulassen, dass dir vorher etwas passiert. Oder haben wir etwa schon morgen?« Plötzlich geriet sie in Panik und versuchte aufzustehen, aber der Sanitäter hielt sie davon ab. »Sie sollten besser liegen bleiben, Mrs. O’Neill, bis wir wissen, was gebrochen ist.« Gebrochen? Das lenkte Stacey einen Augenblick ab. Aber dann fiel ihr wieder ein, warum sie hatte aufstehen
wollen. »Wer kümmert sich um Lily und Rosie?« »Vera. Sie hat das Unwetter von ihrem Schlafzimmerfenster aus beobachtet und die Mauer unter dir zusammenbrechen sehen. Sie war geistesgegenwärtig genug, sofort einen Notarzt zu verständigen, bevor sie mir geholfen hat, dich aus dem Schutt zu befreien.« Nash drückte ihr die Hand, die er anscheinend die ganze Zeit über festgehalten hatte. Und dieser Gedanke vermittelte Stacey ein unbeschreibliches Gefühl der Geborgenheit. Aber vielleicht lag das auch nur an den Schmerzmitteln, die man ihr gegeben hatte. Wie auch immer. Sie war froh, dass sie es bemerkt hatte, um es genießen zu können. »Du hast noch einmal Glück gehabt. Das hätte auch ins Auge gehen können.« Der Krankenwagen kam zum Stehen, und die Türen wurden aufgerissen. »Muss ich hier bleiben, Nash?« fragte Stacey und hielt seine Hand umklammert, während man die Tragbahre herauszog. »Wer kümmert sich denn dann um Lily und Rosie und um die Katzen?« »Das übernehme ich schon!« rief er ihr noch nach und wiederholte im Stillen: ,Das übernehme ich. Verlass dich auf mich.’ Dann wurde Stacey in eines der Untersuchungszimmer geschoben, während man ihn beiseite nahm, damit die Einlieferungspapiere ausgefüllt werden konnten. »Ich hatte Montagnacht einen kleinen Unfall, Dee.« »Montag? Das ist vorgestern geschehen? Da bin ich zwei Nächte nicht hier, und alles fällt in sich zusammen.« »Nicht alles, Dee, nur die Mauer. Und mir ist eigentlich kaum etwas passiert.« »Ich habe die Trümmer gesehen, Stacey! Damit einzubrechen kann man wohl kaum als Kleinigkeit abtun.« »In ein, zwei Tagen bin ich wieder auf dem Damm.« »Danach siehst du mir aber nicht aus. Du hast einen
gebrochenen Knöchel, ein blaues Auge…« »Danke, Dee, dass du mich daran erinnerst.« Stacey hatte fast den ganzen Dienstag geschlafen und war nicht einmal in die Nähe eines Spiegels gekommen. Aber das war vielleicht auch besser so. Dee war gleich morgens nach ihrer Ankunft am Flughafen bei ihrer Schwester vorbeigefahren. »Solltest du nicht im Krankenhaus sein?« »Da war kein Bett mehr frei. Sie hätten mich höchstens noch auf einer Pritsche im Flur unterbringen können. Da war es mir lieber, dass Nash mich mit nach Hause genommen hat.« »Aber es ist doch entwürdigend, sich von einem wildfremden Mann versorgen lassen zu müssen.« »Nein, das finde ich nicht. Mir geht es gut, und außerdem ist Nash kein Wildfremder. Er musste mich auch nicht mit seinem Motorrad herbringen. Sie haben uns mit dem Krankenwagen hergefahren.« Aber auch das passte Dee nicht. »Warum hast du denn nicht Tim angerufen? Am besten sage ich ihm sofort Bescheid, und wir bringen dich zu uns. Meine Haushälterin kann sich um dich und die Mädchen kümmern.« »Nein, Dee!« »Sei vernünftig, Stacey!« »Ich gehe nirgends hin. Nash kümmert sich großartig um mich. Er bringt mich heute hinunter ins Wohnzimmer, sobald die Mädchen in der Schule sind. Dann frühstücke ich etwas und setze mich hinaus in den Garten.« »Und was macht er inzwischen?« »Sein Name ist Nash, Dee. Nash Gallagher, und er wird die Fliesen in meinem Badezimmer verfugen, nachdem er es vorgestern gefliest hat. Gestern hat er mir übrigens den Haushalt gemacht.« Stacey richtete sich ein wenig auf und konnte kaum glauben, dass sie sich wirklich nur
den Knöchel gebrochen hatte – so weh tat ihr alles. »Deine Autoschlüssel liegen auf der Kommode.« Dee stand auf. »Ich komme später noch einmal vorbei.« Aber sie machte keinerlei Anstalten, das Zimmer zu verlassen. »Soll ich dir irgendetwas mitbringen?« »Ich hätte gern Weintrauben«, sagte Stacey und wünschte, dass ihre Schwester endlich gehen würde. »Sonst nichts? Vielleicht etwas zu lesen?« »Nein.« »Gut, wie du meinst.« Jetzt endlich kam Dee darauf zu sprechen, was sie eigentlich auf dem Herzen hatte. »Konntest du… ich meine, warst du vor dem Unfall noch bei dem Empfang?« »Ja, Dee. Lawrence hat mir wie befohlen Rosen mitgebracht, und wir hatten einen wundervollen Abend.« »Wundervoll?« Na gut, dachte Stacey, mit dem Wundervoll habe ich’s wohl übertrieben. »Sagen wir, nützlich. Der Abend war für uns beide sehr nützlich. Lawrence hat wie ein Wilder Verbindungen zu einem belgischen Milch…« Milchmädchen, hatte Stacey sagen wollen, konnte sich aber gerade noch zurückhalten, da Dee das sicher nicht witzig gefunden hätte. »… mit einer belgischen Joghurtfabrikantin geknüpft. Und ich habe mich sehr gut mit meinem Bankberater unterhalten. Du wärst richtig stolz auf uns gewesen, Dee.« Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, schien Dee davon nicht so überzeugt, ging aber endlich zur Tür. »Ich komme dann später noch einmal vorbei.« Sie öffnete ihre Handtasche, entnahm ihr etwas und kam wieder zu Stacey ans Bett. »Hier, das leihe ich dir, bis du wieder laufen kannst.« Es war ihr Handy. »Nur für alle Fälle.« Stacey war versucht zu fragen, was Dee mit »alle Fälle« meinte. Aber eigentlich kannte sie die Antwort bereits. »Ich bin doch nicht verrückt, Dee! Glaubst du, ich will
den ganzen Tag deine Telefonate entgegennehmen?« »Ich leite sie auf meinen Hauptapparat im Büro um.« »Das geht? Wie raffiniert! Es ist süß von dir, Dee, dass du mir dein Handy leihen willst«, sagte Stacey nun, »besonders da ich weiß, dass du es sonst wie deinen Augapfel hütest. Aber ich brauche es nicht.« Nash hatte ihr schon seinen Apparat gegeben, damit sie den Leuten absagen konnte, mit denen sie in den nächsten Wochen Termine gemacht hatte, um Wildblumenbeete anzulegen. Nashs Handy war eines dieser winzigen, unheimlich leistungsstarken Wunderdinge der Technik, genau wie Dees. Darüber war ihre Schwester so erstaunt, dass Stacey ihr sagen musste: »Mach den Mund wieder zu, Dee!« »Was kann ich für dich tun?« »Mich aus dem Bett heben. Ich möchte mich waschen und mir die Zähne putzen.« »In Ordnung.« Nash beugte sich zu Stacey hinunter, und sie legte ihm die Arme um den Nacken. Dann richtete er sich vorsichtig auf, so dass sich Stacey hinsetzen konnte. Dabei fluchte sie ohne Unterlass, weil die blauen Flecken, Kratzer und Schrammen, die sie sich beim Einsturz der Mauer zugezogen hatten, höllisch wehtaten. »Nun, das war doch mal äußerst interessant«, sagte Nash scherzhaft, als Stacey geendet hatte. »Sei ruhig, und hilf mir lieber auf die Beine.« Sie trug immer noch das OP-Hemd, in das man sie zur Untersuchung im Krankenhaus gesteckt hatte. Es war hinten offen, und Nash stellte fest: »Dein Po hat eine wirklich interessante Färbung angenommen.« »Das will ich gar nicht wissen, und du solltest nicht dahingucken.« »Entschuldigung«, sagte er, klang aber keineswegs, als würde es ihm wirklich Leid tun. Er hob Stacey hoch, trug sie ins Badezimmer und setzte sie vorsichtig auf die
Toilette. Dann riss er einige Blatt Toilettenpapier ab und drückte sie ihr in die Hand. Stacey wollte ihm schon sagen, sie käme ganz gut allein klar, beschloss dann aber, dass sie sich damit nur selbst etwas vormachte. »Ruf mich einfach, wenn du fertig bist, Stacey. Dann helfe ich dir beim Waschen.« »Das brauchst du nicht.« »Wie du willst. Ich kann dich auch vom Boden auflesen, wenn du fertig bist. Oder soll ich dich gleich zu deiner Schwester bringen?« »Nein, nein! Ich rufe dich, wenn ich so weit bin.« Als Nash wieder hereinkam, ließ er warmes Wasser ins Waschbecken laufen. Stacey saß immer noch auf dem Toilettenrand, und eigentlich hätte ihr das Ganze peinlich sein sollen. Aber das war es nicht. Irgendwie hatte sie das Gefühl, als ob sie Nash schon ewig kannte. Er nahm einen Waschlappen und rieb ihr damit vorsichtig Gesicht und Hals ab, bevor er das Hemd am Rücken aufband und ihr auch noch Schultern, Arme und Rücken wusch, wobei Stacey das Einmalhemd gegen die Brüste gedrückt hielt. »Ich komme mir vor wie ein kleines Kind«, sagte sie, als er ihr den eingeseiften Waschlappen hinhielt, damit sie im Schutz des Hemds ihren Oberkörper abreiben konnte. Als sie fertig war, zog er ihr ein sauberes Nachthemd über und half ihr auf, damit sie sich die Zähne putzen konnte. Als er sie danach ins Schlafzimmer zurücktrug, war ihr Bett frisch gemacht, und sämtliche Kissen waren am Kopfende zusammengeschoben, so dass sie sich bequem dagegen lehnen konnte. Nash kämmte ihr auch noch die Haare, die wieder genauso lockig waren wie vor dem Friseurtermin. »Soll ich dir einen Pferdeschwanz machen?« »Ja, bitte. In der Schublade des Frisiertisches findest du
etwas zum Zusammenbinden.« Zwischen all den Haarschleifen, Bindfäden und Wildblumen Samenproben entdeckte Nash ein Foto eines gut aussehenden Mannes in einem Rugby-T-Shirt, der über etwas lachte, das die Person, die ihn fotografiert hatte, in dem Augenblick gesagt oder getan haben musste. »War das dein Ehemann?« Nash hielt das Foto so, dass Stacey es sehen konnte. »Ja, das war Mike.« »Bestimmt vermisst du ihn.« Es folgte geraumes Schweigen, bevor Nash erklärte: »Es tut mir Leid. Du willst wahrscheinlich nicht darüber reden.« »Nein, das ist schon in Ordnung. Es ist nur hart für Lily und Rosie, dass sie keinen Daddy mehr haben. Ich weiß, dass heutzutage viele Kinder bei einem Elternteil aufwachsen. Aber sie haben immer noch den Trost, am Wochenende den anderen besuchen zu können – jemanden, der sie total verwöhnt und um ihre Liebe buhlt.« »Glaub mir, das wird überschätzt.« »Haben sich deine Eltern auch getrennt?« »O nein! So kultiviert waren sie nicht. Sie blieben zusammen, um sich einander das Leben zur Hölle zu machen. Und Zuneigung haben sie mir nur gezeigt, wenn sie dem anderen eins auswischen wollten.« »Tut mir Leid für dich, Nash.« »Es ist schon okay. Ich hatte noch Glück und konnte immer zu meinem Großvater, wenn es zu Hause zu schlimm wurde.« Nash legte die Fotografie wieder in die Schublade und nahm eine Hand voll Haarbänder heraus. »Nun, Ma’am, welches soll’s denn heute sein? Hätten Sie lieber das mit der Ente, den Margeriten oder den Rosen?« »Das mit den Margeriten, bitte.« »Und zum Frühstück?« »Darf ich im Bett bleiben?«
Nash nickte. Stacey war es lieber, im Bett zu frühstücken. Sie fühlte sich einfach zu schwach, um sich von Nash in die Küche hinuntertragen zu lassen. »Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, wann ich das letzte Mal im Bett gefrühstückt habe.« »Dann solltest du es richtig genießen. Wie war’s mit gekochtem Ei, Marmelade, Toast, Kaffee und frischem Orangensaft?« Stacey lachte und schnitt gleich darauf ein Gesicht, weil ihr beim Lachen alles wehtat. »Es ist toll!« sagte sie dann unter Schmerzen, und Nash sah sie entgeistert an. »Ich’meine nicht, dass es wehtut, sondern so bemuttert zu werden.« Nash fuhr ihr gerade durch die Locken, um ihr das Haar im Nacken zusammenzunehmen. Und das war einfach ein herrliches Gefühl!
10. KAPITEL Auch nachdem Stacey sich gestärkt hatte, war ihr nicht danach zu Mute, sich in den Garten zu setzen, wie sie Dee so vollmundig angekündigt hatte. Lieber kuschelte sie sich wieder unter die Decke und war bald darauf eingeschlafen. Als sie aufwachte, stand ein riesiger Korb Blumen neben dem Bett, von einem teuren Blumengeschäft aus der Stadt, in verschiedenen Rosatönen gehalten: Rosen, Gerbera und Nelken, die mit ihrem überwältigenden Duft die Luft verpesteten. Stacey brauchte gar nicht auf die Karte zu sehen, um zu wissen, von wem das Gesteck war. Obwohl Stacey hätte schwören können, dass die Handschrift ihrer Schwester gehörte, stand da: Mit den besten Wünschen zu einer baldigen Genesung, Lawrence. Dee
musste die Blumen noch auf dem Weg zur Arbeit geordert haben. Sie war eben eine leistungsfähige Führungskraft. »Nash!« rief Stacey nun, und er kam sofort herein, als hätte er draußen auf der Treppe gewartet. »Kannst du die Blumen bitte rausbringen? Von ihrem Geruch bekomme ich Kopfschmerzen.« »Wird dein eifriger Verehrer nicht erwarten, dass du sie neben dem Bett stehen hast, wenn er dich besuchen kommt?« Bloß nicht! dachte Stacey bei der Vorstellung, dass Lawrence in ihrem Schlafzimmer sitzen könnte und verzweifelt versuchte, Small Talk zu machen. Aber als sie den Stoß Gartenfachzeitschriften – ihre Lieblingsbettlektüre – sah, der auf den Boden gerutscht war, und den abschreckenden Haufen Pflanzenbänder und Namensschilder auf dem Frisiertisch, dachte sie, dass es vielleicht gar keine schlechte Idee wäre, Lawrence in ihrem Schlafzimmer zu empfangen. Danach wüsste er wenigstens, mit wem er es zu tun hatte – und damit wären Dees Verkupplungspläne ein für alle Mal gescheitert. »Falls er mich besuchen kommt«, sagte Stacey, wusste aber, dass Dee ihm keine andere Wahl lassen würde, »kannst du sie ja wieder herbringen.« »Oh, darf ich das?« Stacey war sonnenklar, dass Nash ein Besuch von Lawrence nicht gefallen würde, und musste sich schwer zusammenreißen, um nicht laut loszulachen. »Wo soll ich sie denn hinstellen?« »Ins Esszimmer. Da ist es kühl, und sie halten länger.« »Okay.« Nash rieb sich das Kinn an der Schulter, wobei ein grauer Streifen auf dem schwarzen ärmellosen T-Shirt zurückblieb. Kein Mann hatte das Recht, so sexy auszusehen und so begehrenswert. Das war einer Frau gegenüber, die beschlossen hatte, vernünftig zu sein, einfach nicht fair. Stacey wollte schon etwas Entsprechendes
sagen, schüttelte dann aber den Kopf. »Was ist?« »Nichts, du hast Mörtel am Kinn und in den Haaren.« »So? Du kannst ihn mir ja später entfernen.« Und sie wussten beide, dass er damit auf ihr erstes Zusammentreffen anspielte, als Stacey ihm den Splitter aus dem Haar genommen hatte und sie sich beinah in die Arme gefallen wären – zwei Sekunden, nachdem sie sich kennen gelernt hatten. Vielleicht sollte ich Dee anrufen, überlegte Stacey nun, und ihr sagen, dass ich doch lieber zu ihr möchte. Dadurch dass Nash sich um sie kümmerte, musste er sie auch oft berühren. Das machte es äußerst schwierig, Punkt eins ihres Lebensplans auch weiterhin zu verwerfen. »Möchtest du jetzt etwas essen oder warten, bis ich die Mädchen von der Schule abgeholt habe? Auf ganz speziellen Wunsch bekommen sie Fischstäbchen. Aber ich kann dir auch etwas Richtiges machen, wenn du willst.« In diesem Augenblick klingelte das Telefon, und Stacey sagte: »Das ist bestimmt für dich, Nash, nachdem du die Anrufe von deinem Handy auf mein Telefon umgeleitet hast.« Nash zuckte die Schultern, ging zum Festanschluss und stellte auf »laut«. »Ist da…« Rauschen. »… Gallagher?« fragte eine lebhafte Frauenstimme. »Ja?« »Hier spricht Jennie Taylor von ,Botanic Survey International’. Wir haben Ihre Nachricht erhalten, dass Sie Ihren Aufbruch verschieben wollen. Der Direktor wüsste nun gern, ob es Ihnen Ende des Monats passt, um im Basislager schon einmal alles vorzubereiten?« Ende des Monats wäre in zehn Tagen, überlegte Nash und sah zu Stacey hinüber. Dann dachte er daran, wie unerträglich es wäre, ein ganzes Jahr von ihr getrennt zu
sein, und wüsste, was er Mrs. Taylor zu antworten hatte. »Es tut mir Leid, ich habe mich schon anderweitig verpflichtet. Wenn Sie es so eilig haben, müssen Sie sich jemand anderes suchen.« Es folgte erstauntes Schweigen am anderen Ende der Leitung. Das war ja auch verständlich, Nash konnte selbst kaum glauben, was er da soeben gesagt hatte. »Ich melde mich noch einmal bei Ihnen«, erklärte die Frau schließlich. Nash legte auf und ging zu Stacey zurück, die verzweifelt versuchte, ihre Neugierde zu verbergen. Und Nash dachte: Sie hat wohl nie geglaubt, dass ich tatsächlich Botaniker bin. Andererseits hatte er natürlich auch keinen besonderen Wert darauf gelegt, sie das glauben zu machen. Bisher war es ihm egal gewesen, aber jetzt… Nun, plötzlich war es wichtig geworden, dass Stacey ihn für den Mann hielt, der er war. Wenn es ihr allerdings nur darauf ankam, gut versorgt zu sein, war Lawrence eindeutig die bessere Wahl. Aber vielleicht interessierte sie ja tatsächlich, wer da gerade angerufen hatte, und Nash sagte: »Das war die Organisation, über die die Dschungelexpeditionen laufen. Sie wollen, dass ich ihre nächste Expedition in Mittelamerika leite.« Er lächelte jungenhaft. »Eine Dschungelexpedition in Mittelamerika?« Stacey versuchte, Nashs Gesicht zu entnehmen, was sie davon glauben konnte. Mike hatte man immer ganz einfach durchschauen können. Bei Nash war das nicht so leicht. Aber bestimmt wollte er sie nur auf den Arm nehmen. Oder etwa nicht? »Und du hast abgelehnt?« »Du brauchst mich mehr.« »Klar!« Jetzt war sich Stacey sicher, dass er die ganze Geschichte nur erfunden hatte. Da war ihm einfach nur ein Job für einige Tage angeboten worden. Konnte er es sich überhaupt leisten, das auszuschlagen? Vielleicht
sollte er sich ein bisschen mehr anstrengen. »Kannst du mir bitte helfen? Ich würde gern ins Bad gehen.« Er beugte sich wieder über das Bett, so dass Stacey ihm die Arme um den Nacken legen konnte. Dabei dachte er, dass es ihr schon viel besser gehen musste, weil sie diesmal überhaupt nicht fluchte. Was Nash nicht wissen konnte: Stacey war so damit beschäftigt, sich nichts anmerken zu lassen, dass sie nun aus Versehen mit ihrer Wange an seine kam und es ihr heißkalt den Rücken hinunterlief. Sie erschauerte spürbar, und Nash sah fragend zu ihr hinunter. »Alles okay?« Nein, nichts ist okay, dachte Stacey. Sogar weit davon entfernt. Doch sie bemühte sich trotzdem, ihn anzulächeln. Aber es gelang ihr nicht. Auch er lächelte nicht, und einen Augenblick lang dachte Stacey, er würde sie küssen, was er dann auch tat, aber nur auf die Schramme auf ihrer Stirn. »Übernimm dich nicht.« Nein, das sollte sie nicht. Um Nash jedoch nicht wieder zu berühren, bestand Stacey darauf, allein aufzustehen, wobei sie sich unheimlich schwer tat. Am Ende hob Nash sie einfach hoch und trug sie ins Badezimmer. Und in diesem Moment stellte sie fest, dass Nash nicht einfach nur auf der Treppe gesessen hatte, um darauf zu warten, dass sie aufwachte. Deshalb hatte er also Mörtel im Haar gehabt! Sie sah es genau vor sich, wie er die Fliesen verfugt und sich dann mit der Hand durch die Ponysträhne gefahren war, die ihm immer in die Stirn fiel. Nun war alles fertig, und es sah wunderbar aus. »O Nash! Es ist toll geworden!« Er hatte sogar den Vorhang wieder aufgehängt, der sich jetzt sacht im Wind bewegte. Das Fenster stand offen, und auf dem Fensterbrett stand ein Strauß Margeriten. Stacey berührte eine der Blüten. »Das sind meine Lieblingsblumen.« »Leucanthenum vulgäre«, sagte Nash und fügte, als Stacey ihn erstaunt ansah, hinzu: »Ich habe es nachge-
schlagen.« »Aha«, sagte Stacey, glaubte ihm aber kein Wort. Und wieso schlug ihr das Herz auf einmal so schnell? Als ob das soeben Gesagte von Wichtigkeit gewesen wäre – wichtiger als ein KUSS. »Du… du kannst mich jetzt runterlassen«, sagte sie ein wenig atemlos. Stacey hielt sich am Waschbecken fest, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, während Nash sie stützte, bis sie auf einem Bein stehend ihr Gleichgewicht wieder gefunden hatte. Sie hörte Männerstimmen im Garten und sah aus dem Fenster. Einige Bauarbeiter waren dabei, die zusammengestürzten Mauerreste wegzuschaffen. »Wo kommen die denn her?« »Wer?« Nash folgte ihrem Blick. »Ach, die Jungs. Sie sind heute Morgen hier aufgetaucht. Ich gehe davon aus, dass der Bauunternehmer sie geschickt hat. Sicher wirst du auch bald Schmerzensgeld bekommen.« »Wofür denn?« »Die Mauer war äußerst baufällig und gehörte eindeutig zum Nachbargrundstück. Stell dir bloß einmal vor, sie hätte Lily oder Rosie unter sich begraben.« »Das hat sie aber nicht.« Und die Mauer wäre wahrscheinlich auch nie zusammengebrochen, wenn sie, Stacey, sie nicht immer als Zugang zum Nachbargrundstück benutzt hätte. »Den Unfall habe ich selbst verschuldet, Nash. Ich hätte einfach nicht auf die Mauer klettern sollen. Die Kinder habe ich oft genug davor gewarnt.« Sie seufzte. »Wahrscheinlich stellen sie stattdessen einen Maschendrahtzaun hin. Schade eigentlich!« »Du willst hier gar nicht weg, Stacey, nicht wahr?« Sie schüttelte den Kopf. »Und würdest alles tun, um bleiben zu können?« »Ich bleibe auf jeden Fall. Erst dachte ich, das würde nicht gehen, aber seit Montagabend… Nun, ich habe einige wichtige Entscheidungen getroffen.«
»Ich verstehe.« »Nicht, dass ich im Augenblick in der Verfassung wäre, sie auch in die Tat umzusetzen.« »Du wirst schon bald wieder auf den Beinen sein. Kommst du hier allein klar?« Nun war Nash derjenige, der darauf bedacht war, einen gewissen Sicherheitsabstand zwischen ihnen zu wahren. »Ja, danke.« Stacey hielt sich am Waschbeckenrand fest und sah sehnsüchtig zur Badewanne hinüber. »Nash…« »Was?« Er klang plötzlich so kurz angebunden, dass Stacey nicht den Nerv hatte, ihn zu bitten, ihr ein Bad einzulassen, in das er sie dann auch noch hineinheben müsste. Es war vielleicht auch nicht vernünftig, sich ihm mit all ihren blauen Flecken und Schrammen nackt zu zeigen. »Du denkst doch daran, Lawrence’ Blumen hinunterzubringen?« sagte sie schließlich ausweichend. Nash öffnete die Esszimmertür. In dem Raum war er noch nie gewesen und dachte zunächst, er hätte sich vertan. Da stand zwar ein Tisch mit Stühlen, aber als Stacey gesagt hatte, sie wäre dabei, das Zimmer zu tapezieren, hatte sie doch wohl stark übertrieben. Sicher, irgendjemand hatte angefangen, die alte Tapete von den Wänden zu reißen. Da jedoch zusammen mit dem Papier auch Gips- und Mörtelstücke mit heruntergekommen waren, hatte man den Versuch schnell wieder aufgegeben. Das Ergebnis war ein unbeschreibliches Chaos. Nash warf einen Blick auf das teure Blumengesteck und überlegte, ob Stacey es ernsthaft in diesem Zimmer lassen wollte. Wäre Lawrence nicht tödlich beleidigt, wenn er das wüsste? Aber, dachte Nash dann, eigentlich Grund genug, die Blumen hier zu lassen, stellte das Gesteck auf den Tisch und zog die Tür hinter sich zu, um Tee zu machen.
Auf der Schwelle zur Küchentür blieb er allerdings wie angewurzelt stehen. Dee Harrington saß am Küchentisch. »Oh, hallo, ich habe Sie überhaupt nicht hereinkommen hören. Stacey ist im Bad.« »Ich bin nicht wegen Stacey hier, sondern um mit Ihnen zu sprechen.« »So? Hätten Sie dann vielleicht gern eine Tasse Tee oder Kaffee?« »Machen Sie sich meinetwegen bloß keine Umstände. Ich bin nicht wie Stacey und lasse mich von diesem: .Endlich ist wieder ein Mann im Haus’-Quatsch beeindrucken.« Die Tür zur Waschküche stand offen, und Nash bemerkte, dass die Wäsche fertig war. Am liebsten hätte er sie herausgenommen und die Laken aufgehängt. Aber er hielt sich zurück, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich zu Dee an den Küchentisch. »Wollen Sie mir nicht sagen, was Ihr Problem ist?« »Sie, Mr. Gallagher, Sie sind mein Problem. Stacey wurde das Herz schon einmal gebrochen, und ich will nicht, dass sie das noch einmal durchmachen muss.« »Und was bringt Sie auf die Idee, dass ich ihr das Herz brechen könnte?« »Die Tatsache, dass Sie ein Abbild von Mike sind«, sagte Dee und fügte, falls Nash das nicht wissen sollte, erklärend hinzu: »Das war Staceys Mann. Er sah genauso aus wie Sie, war blond und blauäugig und hatte unheimlich viele Muskeln.« »Dafür kann ich ja nun nichts, Mrs. Harrington. Die Muskeln sind zum Teil Veranlagung und vor allem auf harte Arbeit zurückzuführen.« »Mike hat auch hart gearbeitet – beim Training mit der Rugby-Mannschaft. Und im Spiel ist er immer aufs Ganze gegangen. Er war ein großer Junge, und als Spielzeug hatte er am liebsten Motorräder und lebensechte Puppen –
wenn Sie verstehen, was ich meine. Aber als Ernährer und Ehemann hat er sich nie ins Zeug gelegt. Stacey ist ihm eine gute Frau gewesen, hat immer zu ihm gehalten und sich die Augen aus dem Kopf geheult, als er tödlich verunglückt ist. Aber diesmal hat sie etwas Besseres verdient.« »Und Sie haben vor, ihr das zu ermöglichen?« »Würden Sie das nicht, wenn Stacey Ihre Schwester wäre?« Dee beugte sich zu Nash hinüber. »Lawrence Fordham ist ein guter Mann und kann Stacey ein ruhiges Leben ermöglichen. Aber solange Sie hier herumlungern, wird sie ihn nicht einmal ansehen. Stacey muss nach vorn blicken, in die Zukunft. Sie, Mr. Gallagher, stellen für meine Schwester nur einen Rückschritt dar.« »Vielleicht unterschätzen Sie Stacey ja, Mrs. Harrington, mich aber auf jeden Fall. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden.« Er war aufgestanden. »Ich muss Stacey herunterbringen, bevor ich die Mädchen von der Schule abhole. Soll ich ihr sagen, dass Sie da waren, Mrs. Harrington? Oder würden Sie es vorziehen, wenn wir unseren kleinen Plausch hier für uns behielten?« Auch Dee war aufgestanden und vor Wut ganz rot im Gesicht geworden. »Sie haben ein ungeheures Talent, sich einer Hilfe bedürftigen Witwe unentbehrlich zu machen. Aber bilden Sie sich nur nichts ein! Sie glauben, hier ein hübsches kleines Nest gefunden zu haben, in dem sie sich verkriechen können. Doch lassen Sie sich eins gesagt sein, Mr. Gallagher, Stacey mag leicht hinters Licht zu führen sein, aber ich nicht. Wenn Sie irgendetwas zu verbergen haben, rücken Sie jetzt besser gleich damit raus, und Sie sehen zu, dass Sie Land gewinnen – weil ich Erkundigungen über Sie einziehen werde.« »Wenn Sie wollen, können Sie sich ja um Stacey kümmern!« sagte Nash herausfordernd. »Bleiben Sie doch hier, und machen Sie ihr den Haushalt. Oder vielleicht
kommt ja auch Mr. Fordham vorbei, krempelt die Ärmel hoch und schwingt den Staubwedel.« »Wenn Sie endlich verschwinden, nehme ich Stacev mit zu mir nach Hause«, schimpfte Dee. »Da können sich viele Leute um sie kümmern.« »Erstens glaube ich das nicht, und zweitens habe ich hier genau wie Sie sagen – all das gefunden, was ich immer haben wollte.« Nash bückte sich und hob eines der Kätzchen hoch. Dann setzte er es zurück in den Karton in der Waschküche und schloss die Tür, damit es nicht noch einmal Reißaus nahm. »Nash!« rief in diesem Moment Stacey von oben. »Ich bin jetzt so weit, du kannst mich runterbringen.« Er lächelte Dee an. »Wie Sie sehen, ist hier eindeutig Muskelkraft gefragt, die nur ein neuer Mann im Haus leisten kann. Oder wollen Sie Ihre Schwester vielleicht die Treppe heruntertragen, Mrs. Harrington?« »Lawrence, Sie haben mir doch schon Blumen geschickt, da hätten Sie sich doch nicht extra herbemühen müssen!« sagte Stacey, obwohl sie nicht glaubte, dass Dee ihm eine andere Wahl gelassen hatte. »Die Blumen stehen oben«, fügte sie schnell hinzu, falls er sich fragen sollte, warum er sie nirgends sah. »Aber setzen Sie sich doch.« Stacey lag, einer Diva des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts gleich, auf dem Sofa, obwohl das Möbelstück mit seinem schäbigen Aussehen die Illusion sofort wieder zunichte machte. Auch die Kinder trugen nicht gerade dazu bei die richtige Atmosphäre aufkommen zu lassen, da sie darauf bestanden hatten, den Zeichentrickfilm zu Ende zu sehen, der gerade im Fernsehen lief. Die Geräuschkulisse machte Lawrence eindeutig nervös. »Wo ist Nash?« fragte Stacey ihre Töchter, in der Hoffnung, sie aus dem Wohnzimmer zu locken. »Er repariert irgendwas«, sagte Lily, »und hat gesagt, dass er mit uns Trippeln übt, wenn wir eine halbe Stunde
nicht in den Garten kommen.« Daraufhin stellte Lily den Fernsehapparat noch lauter. Zunächst war es Stacey ein wenig unangenehm, aber dann dachte sie: Vielleicht ist es am besten, wenn Lawrence erlebt, wie es bei uns wirklich zugeht. Er saß auf der äußersten Kante des Lehnstuhlpolsters und fühlte sich eindeutig unwohl in seiner Haut. »Vielen Dank übrigens für die vielen Blumen. Sie waren wunderhübsch.« »Oh, tatsächlich? Nun ja, Dee hat sie organisiert. Solche Sachen kann sie einfach besser als ich. Wie… wie geht es Ihnen, Stacey? Ich wusste ja von Ihrem kleinen Unfall, aber mir war nicht klar, dass…« Dass sie der Sturz wirklich so übel zugerichtet hatte? »Es sieht schlimmer aus, als es ist. Tut mir Leid, dass ich Sie jetzt am Samstag nicht begleiten kann.« »Oh, das ist kein Problem.« War es nicht? »Als Dee mir erzählt hat, was passiert ist, habe ich sofort Cecile angerufen, und sie war entzückt, mich an Ihrer Stelle zu begleiten.« Lawrence strahlte für seine Verhältnisse regelrecht, und Stacey hatte das untrügliche Gefühl, dass Cecile nicht die Einzige war, die sich »entzückt« über die Entwicklung der Ereignisse zeigte. Aber Stacey ertrug die Tatsache, von Lawrence fallen gelassen worden zu sein, mit Gleichmut – dass es dazu eines Mauerfalls bedurft hatte, war schlimmer. »Cecile?« fragte sie dann. »Wer ist denn das?« »Mademoiselle Latour. Sie haben sie am Montagabend kennen gelernt. Auf dem Empfang im Rathaus«, fügte Lawrence hinzu, als Stacey immer noch nicht zu verstehen schien. »So?« sagte sie und überlegte: Meint er etwa die belgische Molkereiprinzessin? Na, war ja auch egal! »Ich erinnere mich.«
»Sie kommt Samstagmorgen mit dem Eurostar hierher.« »Den ganzen Weg von Brüssel, um an einem Abendessen teilzunehmen?« »Nun ja, nicht nur. Sie bleibt übers Wochenende.« Es zeigte sich ein Hauch von Rosa auf Lawrence’ sonst so milchig-weißen Wangen, und bei Stacey fiel endlich der Groschen. Deshalb hatte er es am Montag so eilig gehabt, sie nach Hause zu bringen. Er hatte einen Mitternachtsimbiss mit seiner belgischen Kollegin arrangiert. Und das ohne Dees Erlaubnis! So ein Schlingel! Da hatten sie ihn wohl beide unterschätzt. »Das freut mich für Sie«, sagte Stacey schließlich. »Weiß Dee schon davon?« Lawrence sah sie ein wenig bedrückt an, aber Stacey tätschelte ihm die Hand. »Nur Mut, sie wird Sie schon nicht auffressen!« Nash hatte zwei Möglichkeiten gehabt, um über Lawrence’ Anwesenheit hinwegzukommen: sich in eine Ecke zu verkriechen und sich maßlos darüber aufzuregen, dass der Kerl jetzt auch noch persönlich vorbeigekommen war, oder etwas zu tun, das Stacey viel mehr nützte als ein sündhaft teures Gewächshausblumengesteck. Nash ging davon aus, dass ihm noch eine Woche blieb, bevor Dee herausfand, wer er wirklich war. Das ließ ihm nicht mehr viel Zeit, aber er wollte unbedingt, dass Stacey sich vorher zwischen ihm und Lawrence entschied. In der Zwischenzeit hatte er schon einmal seine kleinen Anstandsdamen zu den beiden ins Haus geschickt, um sich ganz darauf konzentrieren zu können, die losen Dachschindeln zu befestigen. »Stacey, morgen früh werde ich für einige Stunden weg sein.« Nash hatte sie ins Bett gebracht, schien ihr Schlafzimmer aber noch nicht verlassen zu wollen, was Stacey ganz gelegen kam. »Kommst du allein klar, oder soll ich deine Nachbarin herüberbitten? Oder dich zu
deiner Schwester bringen?« »Du meine Güte, bloß nicht!« »Dann sage ich Vera Bescheid. Ich bin ruhiger, wenn ich weiß, dass jemand da ist.« »Es geht mir schon viel besser, Nash, und ich habe ja auch meine Krücken.« »Ich lasse dir auf jeden Fall das Handy da.« »Danke. Ich glaube, wenn ich mein Geschäft anfange, brauche ich auch eins. Dann kann ich immer die Straße entlang laufen, hineinsprechen und wichtig aussehen.« »Willst du das wirklich? Ein Geschäft eröffnen, meine ich?« »Du hast doch gesagt, man soll seine Träume nicht aufgeben. Leider besteht mein Bankberater darauf, dass ich vorher eine Geschäftsidee mit ihm ausarbeite. Und Archie hat gesagt, ich brauche mehr Land.« »Archie?« »Archie Baldwin, der alte Mann, der das Gartencenter geführt hat. Ich habe ihn am Montag besucht. Ich dachte, er wüsste vielleicht, was jetzt mit dem Grundstück geschieht.« Stacey beschloss, Nash nun ebenfalls auf den Zahn zu fühlen. »Ich meine, es mag ja schon sein, dass du da drüben alles auf Vordermann gebracht hast, aber doch wohl nicht, damit irgendein Bauunternehmer das Ganze wieder einebnet.« Nash sagte nichts dazu. »Ich dachte, wenn das Gartencenter wieder eröffnet wird, könnte ich vielleicht mit dem neuen Besitzer aushandeln, einige Quadratmeter Schaufensterfläche anzündeten.« »Gehört das zu deiner Geschäftsidee?« »Ja.« »Und was hat Archie gesagt?« »Nichts. Ich habe immer geglaubt, er wäre der Besitzer des Grundstücks, aber anscheinend hat er es nur gepachtet
und vorgeschlagen, dich zu fragen.« »Und warum hast du das nicht getan?« Ja, warum eigentlich nicht? Stacey lächelte hilflos. »Ach, weißt du, Montag war alles so hektisch, und als du mir die Telefonnummer von der Studentin gebracht hast, warst du so schlecht gelaunt.« Sie zuckte die Schultern. »Und seitdem konnte ich mich vor Schmerzen kaum rühren.« Oder, dachte sie dann, vielleicht sind das alles auch nur Ausreden, weil ich nicht sicher bin, ob mir Nashs Antwort gefallen würde. Unbefriedigte Lust war nun einmal nicht hilfreich, wenn es darum ging, den Charakter eines Menschen einzuschätzen. Das hatte Stacey ja nun schon einmal erlebt. Jetzt hatte sie eine Heidenangst, sich womöglich schon wieder in einem Mann getäuscht zu haben. »Es tut mir Leid.« Nash kam zu ihr hinüber, kniete sich neben das Bett und nahm Staceys Hand. Dabei sah er so ernst aus, dass Stacey richtig Angst bekam. »Was tut dir Leid?« »Ich hätte es dir sagen sollen. Ich weiß auch nicht, warum ich es nicht getan habe.« »Du hättest mir was sagen sollen, Nash?« »Du hattest Recht damit, dass ich den Garten nicht für irgendeinen Bauunternehmer auf Vordermann gebracht habe. Archie ist mein Großvater.« »Archie?« Es wäre eine Untertreibung gewesen, zu behaupten, Stacey wäre darüber nur erstaunt gewesen. Aber mehr noch verwunderte sie, dass sie es nicht bezweifelte. Zwischen Archie und Nash bestand eine gewisse Ähnlichkeit – nicht so sehr vom Gesicht her, sondern so wie sie sich bewegten, Dinge anpackten und alles unter Kontrolle hatten. »Aber warum hat er mir denn nichts davon gesagt?« Stacey fühlte sich verletzt. Sie hatte gedacht, Archie wäre ihr Freund. Aber das Gleiche hatte sie auch von Nash
angenommen. »Und warum hast du mir nichts gesagt, Nash?« Nash hob ihre Hand an die Stirn, als könnte Stacey dadurch fühlen, warum er mit der Wahrheit hinter dem Berg gehalten hatte. »Als Kind habe ich fast die ganze Zeit in dem Garten verbracht. Nur dort fühlte ich mich geborgen.« Er verstummte und sah zum Fenster. »Dann, ungefähr vor zwanzig Jahren, gab es in unserer Familie einen Riesenkrach. Archie beschuldigte meine Mutter, mich zu vernachlässigen. Nun, ein Wort gab das andere, und es wurde viel gesagt, das man besser hätte für sich behalten sollen. Ich war damals dreizehn Jahre alt und der Einzige, mit dem sämtliche Familienmitglieder noch redeten. Aber ich weigerte mich, Nachrichten für meine Mutter oder meinen Großvater zu überbringen. Es war einfacher, mit keinem mehr zu sprechen. Danach kam ich ins Internat.« »O Nash, das ist ja furchtbar. Dee ist ja manchmal eine echte Nervensäge, aber ich weiß, dass sie mich gern hat, so wie ich sie auch.« »Als Archie krank wurde, wusste ich, dass ich mit ihm Frieden schließen müsste. Er hat sich kaum verändert und ist genauso stur wie früher. Aber er hat mich gebeten, noch einmal nach dem Garten zu sehen und mich an seiner Stelle von ihm zu verabschieden. Man hat ihn dort auf einer Bahre hinausgetragen, weißt du?« »Ja, ich habe Archie gefunden.« »Dann bist du diejenige, die ihm das Leben gerettet hat!« Nash küsste ihr die Hand und sah dann zu Stacey auf. »Vielen Dank, ich hätte es mir nie vergeben, wenn ich meinen Großvater nicht wenigstens noch einmal hätte sprechen können.« »Schon gut«, flüsterte Stacey. »Schon gut.« »Als ich dann sah, in welchem Zustand sich der Garten befand…« Er verstummte abermals, als wäre er zu
bewegt, um weiterzusprechen. »Am Anfang wollte ich einfach nur das Unkraut um die Pfirsichbäume jäten. Mein Großvater hat mich immer hochgehoben, damit ich die erste reife Frucht pflücken konnte.« Stacey stellte sich einen blonden kleinen Jungen vor, der in einen reifen Pfirsich biss. Hast du jemals einen Pfirsich vom Baum gegessen? hatte Nash sie gefragt, nachdem er sie geküsst hatte, weil er dabei an den schönsten Augenblick in seiner Kindheit gedacht hatte. Stacey hätte vor Rührung heulen mögen. »Danach…« Er zögerte. »Hast du einfach weitergemacht.« »Nein, erst nachdem du über die Mauer geklettert bist und ich mich nicht mehr von dir losreißen konnte.« Nash wusste, dass das seinem Widersacher gegenüber ein Schlag unter die Gürtellinie war. Doch Lawrence Fordham hatte ja auch nicht die Chance, in der Stille der Nacht bei Stacey zu sein, während ihm das Herz vor Aufregung bis zum Hals schlug. Wenn es aber um Liebe ging, war alles erlaubt. Und er, Nash, hatte sich zweifellos in diese Frau verliebt und soeben nur die Wahrheit gesagt. »Stacey…« »Schh, komm her!« Sie machte ihm Platz auf dem Bett, und vor Aufregung wurde Nash der Mund ganz trocken. Nur der Himmel wusste, wie sehr er diese Frau begehrte. Aber er hatte große Angst, einen Fehler zu machen, und fragte deshalb: »Bist du sicher?« »Ich will dich nur im Arm halten, Nash«, sagte Stacey, und Nash dachte: In Ordnung. Wahrscheinlich würde er dabei vor sexueller Erregung sterben, aber das hatte er dann ja auch verdient. Also zog er die Schuhe aus, kam zu Stacey aufs Bett und legte ihr einen Arm um die Schultern. Stacey fühlte sich so warm an und roch einfach himmlisch süß, irgendwie nach Pfirsich. Am liebsten hätte
Nash sie richtig in die Arme genommen und sie so geliebt, wie die Dichter es immer beschrieben. Wenn sie ihn aber nur neben sich haben wollte, war das auch gut. »Entschuldige bitte…« Oje! dachte Nash, ich habe sie völlig falsch verstanden. »Ziehst du dir denn gar nicht die Socken aus, wenn du ins Bett gehst?« Ins Bett? Nicht nur aufs Bett? Plötzlich hatte Nash den Eindruck, am Eingang zum Paradies zu stehen. »Normalerweise ziehe ich alles aus.« »Dann schlage ich vor, dass du das jetzt tust.« Einladend sah sie ihn dabei an. »Und wenn du schon aufstehst, kannst du auch gleich das Licht ausmachen. So wie ich im Augenblick aussehe, wäre es mir lieber, wir würden uns erst einmal im Dunkeln lieben.«
11. KAPITEL »Mummy, wir haben verschlafen!« »Wie bitte?« Stacey öffnete die Augen und blinzelte, weil das Sonnenlicht genau auf ihr Kopfkissen fiel. »Wie spät ist es?« Sie sah zum Nachttisch hinüber. »Wo ist der Wecker?« »Da drüben.« Lily schlenderte ums Bett herum, sagte: »Hi, Nash« und brachte ihrer Mutter den Wecker. »Es ist Viertel nach acht, siehst du?« Stacey warf einen Blick aufs Zifferblatt. Lily hatte Recht. Dann dämmerte ihr, was letzte Nacht geschehen war. Rasch setzte sie sich auf und bemerkte dabei nicht einmal ihre blauen Flecken. Nash hatte sich zu ihr hinübergerollt, den Kopf auf den Ellbogen gestützt und lächelte. »Mummy…«
Oh, verdammt! dachte Stacey. Was, um alles in der Welt, sollte sie ihrer Tochter jetzt sagen? Wie ihrem cleveren großen Mädchen die Situation erklären? »Wenn Nash jetzt hier bei dir schläft, kann ich dann das leer stehende Zimmer haben? Ich bin doch schon zu groß, um mir eins mit meiner kleinen Schwester zu teilen.« So einfach war das? »Wir sprechen später darüber, Lily. Wasch dich jetzt, und sieh zu, dass Rosie aufsteht.« Nashs jungenhaftes Lächeln war noch breiter geworden, und Stacey fuhr ihn halb verärgert an: »Das ist nicht witzig!« Er küsste ihren mit blauen Flecken übersäten Oberschenkel und sah dann wieder zu ihr hoch. »Nein, todernst. Meine Absichten sind todernst. Das weißt du doch, nicht wahr?« Nein, das tat sie nicht. Sie wusste nur, dass sie zu spät dran war und Lily heute wahrscheinlich die ganze Schulklasse damit unterhalten würde, dass sie nun bald einen Bruder bekäme. »Bitte hilf mir auf. Wir sind beide gefordert, damit die Mädchen noch einigermaßen rechtzeitig zur Schule kommen.« »Das schaffe ich schon allein.« Nash rollte sich aus dem Bett, schlüpfte in die Boxershorts und strebte zur Tür, drehte sich dann aber noch einmal um. »Rühr dich nicht von der Stelle, Stacey! Ich bin sofort wieder da.« Fünf Minuten später stellte er ihr ein Tablett mit einer Tasse Tee und einer Schale Kekse ans Bett und gab ihr noch rasch einen KUSS, bevor er Lily und Rosie zur Schule brachte. Dabei dachte Stacey, dass allein das schon ausreichte, damit die Leute im Dorf etwas zu reden hatten. Nachdem sie den Tee getrunken hatte, stieg sie aus dem Bett und schaffte es mit Hilfe der Krücken bis ins Bad. Das war natürlich nicht halb so nett, wie getragen zu werden, aber eine Frau musste schließlich auf eigenen Beinen stehen können.
Als Nash zurückkam, hatte sich Stacey ein wenig geschminkt und die Haare hochgesteckt. Nash war beeindruckt, aber nicht genug, um alles wieder in Unordnung zu bringen. »Ich habe Vera getroffen, als ich die Mädchen zur Schule gebracht habe«, sagte er und griff nach dem Rasierer. »Sie kommt gleich rüber, um bei dir zu bleiben.« »Das ist aber nicht nötig. Ich komme ganz gut allein zurecht.« Zweifelnd sah Nash auf die Krücken. »Du könntest hinfallen, außerdem weiß ich auch noch nicht, wie lange ich wegbleiben werde.« »Ich dachte, du bist nur den Morgen über unterwegs.« »Na ja, es wird schon deutlich nach zwölf Uhr werden.« Nash verteilte Rasierschaum auf seinem Kinn. »Ich wollte Archie noch einen Besuch abstatten.« »Bestell ihm Grüße von mir!« Nash fuhr sich mit der Klinge übers Kinn und dann am Hals hinunter. Es war schon lange her, dass Stacey einem Mann beim Rasieren zugesehen hatte. Aber sie war immer schon der Meinung gewesen, dass das einer der aufregendsten Momente im Leben zu zweit war… So intim, so gefährlich. Eine falsche Bewegung, ein falscher Zug und… Fast so wie in der Liebe. »Nash?« Er wandte sich ihr zu. »Danke für letzte Nacht.« »Es war mir ein Vergnügen.« Er lächelte und gab ihr einen KUSS . Dabei geriet Rasierschaum an Stacevs Nase, den Nash wegwischte, bevor er sagte: »Heute Nacht probieren wir es mal bei Licht.« »Aber Lily und Rosie…« »Die beiden sind kein Problem.« Ganz im Gegenteil, Lily
und Rosie wären ganz aus dem Häuschen… »Aber du solltest dir vielleicht einmal Gedanken darüber machen, wie du deiner Schwester beibringst, dass ich hier bleibe.« »Du bleibst?« Einen Augenblick wandte Nash die Aufmerksamkeit von seinem Kinn ab und sah Stacey im Spiegel an. »Soll ich etwa nicht?« »Doch, doch.« Das war nicht der Augenblick, um mit der Wahrheit hinterm Berg zu halten. Wenn sie nicht ehrlich miteinander sein konnten, sollten sie das Ganze lieber gleich lassen – bevor es richtig wehtat, sich trennen zu müssen. Aber schon jetzt war Stacey der Gedanke, Nash könnte sie verlassen, unerträglich. »Ich möchte unheimlich gern, dass du bleibst. Aber du hast doch gesagt, du seist ein Vagabund.« »Nun ja, sagen wir, ich bin an ein Hindernis gestoßen und in einen Graben gefallen, aus dem ich nicht mehr herauskomme.« »Ach so!« Er tauchte die Rasierklinge ins Wasser und lächelte jungenhaft. »Aber es ist ein wahnsinnig kuscheliger Graben.« Stacey versuchte, keine Miene zu verziehen, aber das war unmöglich, und gleich darauf strahlte sie übers ganze Gesicht. »Arme Dee, das wird für sie die zweite Hiobsbotschaft in dieser Woche.« Stacey nahm ihre Krücken und humpelte zur Tür. Plötzlich fühlte sie sich ganz mutig. »Nash?« »Hm?« »Würdest du mir heute Abend behilflich sein, ein Bad zu nehmen?« Nash hielt mit dem Rasieren inne. »Du weißt wirklich, wie man einen Mann dazu bringt, abends so schnell wie möglich nach Hause zu kommen.« Ob Nash es sich mit dem Job, den er zunächst abge-
lehnt hatte, noch einmal anders überlegt hatte? Natürlich ging Stacey nicht wirklich davon aus, dass es sich dabei um die Leitung einer Amazonasexpedition gehandelt hatte. Denn als er jetzt das Haus verließ, trug er unter den Ledersachen nur Jeans und ein einfaches dunkelgrünes TShirt. Er küsste Stacey und drückte sie einen Augenblick an sich. Dabei spürte er, dass sie zitterte. »Was ist denn los?« »Nichts.« Eindringlich sah Nash sie an. »Ich mag nur keine Motorräder.« »Nein?« Nash setzte sich den Helm auf. »Nun, vielleicht ist es an der Zeit, die Harley gegen ein vernünftigeres Fortbewegungsmittel einzutauschen, eines für vier Personen.« »Wie war’s mit einem Volvo?« fragte Stacey, aber nur, weil dieser Wagen so sicher sein sollte. »Vielleicht könntest du einen gelben kaufen. Ich habe irgendwo gelesen, Leute, die gelbe Autos fahren, sind weniger häufig in Unfälle verwickelt.« »Das hört sich ja… interessant an.« »Aber lass nur! Ich will gar nicht, dass du dich für mich änderst. Kein bisschen. Ich bin nur immer so ängstlich, seitdem… Aber du musst dich meinetwegen nicht ändern. Wirklich nicht.« »Allein dich getroffen und lieben gelernt zu haben hat schon vieles bei mir verändert, Stacey. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich dich liebe.« Zu sagen, dass man jemanden liebt, ist einfach, dachte Stacey. Aber es war schwer, ein solches Gefühl den Alltag überdauern zu lassen. Stacey lenkte sich dadurch ab, dass sie sich überlegte, was Nash machte, wenn er nicht gerade Archies Garten auf Vordermann brachte. Und dann, als sie langsam mit ihren Krücken durchs Haus humpelte und sah, was er
alles für sie getan hatte, wusste sie Bescheid. Er hatte nicht nur das Badezimmer renoviert, sondern auch die Küchentür neu gestrichen und die Klinke wieder angebracht. Sie berührte das Kräuterregal, das sonst immer ein wenig schief gehangen hatte – nicht so schlimm, um daraus eine Affäre zu machen, aber immerhin… Jetzt war es gerade. Genau das aber war typisch Nash. An seinem Tun konnte man erkennen, was er für ein Mann war. Er mochte den gleichen Körperbau haben und die gleiche Haarfarbe wie Mike, aber das hatte nichts zu bedeuten. Mike war ein schöner, hünenhafter Mann gewesen, aber oberflächlich und verantwortungslos. Und darin war Nash ihm kein bisschen ähnlich. Nash war nicht nur schön anzusehen, sondern verfügte auch über innere Werte. Er wartete nicht, bis man ihn bat. etwas zu tun. Er sah, was gemacht werden musste, und tat es. So wie er den Rasenmäher repariert und dann einfach das Badezimmer gefliest und gestrichen hatte. So wie er sie letzte Nacht geliebt hatte – langsam und zärtlich – gebend, nicht nehmend. Er hatte vielleicht nicht den finanziellen Rückhalt wie ein Lawrence Fordham. Wenn Nash aber sagte, dass er sie liebte, konnte sie ihm glauben. Außerdem mochte er ihre Kinder und würde alles für sie geben. Was wollte sie mehr? »Stacey?« Vera steckte den Kopf zur hinteren Küchentür herein. »Du bist ja auf. Das ist schön!« Dann schüttelte sie den Kopf. »Was ist?« Vera kicherte. »Mir ist nur gerade durch den Kopf gegangen, dass ich mich eine Weile krank stellen würde, wenn ich so umsorgt würde wie du.« Stacey errötete, und Vera lachte. »Okay, ich habe verstanden. Es ist für dich noch zu frisch, um darüber zu
reden. Wo steht der Kaffee?« Sie waren schon bei ihrer zweiten Tasse, als Dee vorbeikam und die Maybridge Gazette schwenkte. »Warum hast du mir denn nichts davon erzählt, Stacey?« fragte ihre Schwester aufgeregt und schien nicht recht zu wissen, ob sie nun lachen oder weinen sollte. Stacey seufzte und setzte ihre Tasse ab. »Was hätte ich dir erzählen sollen, Dee?« »Das von Nash Gallagher, natürlich!« Du meine Güte, dachte Stacey, es stand doch wohl nicht in der Morgenzeitung, dass sie miteinander geschlafen hatten? Sie warf Dee einen fragenden Blick zu und überlegte, seit wann ihre Schwester wohl fleißige Leserin der Klatsch- und Tratschseite war. Aber üblicherweise standen dort nur Berichte von Verlobungen oder etwas über die spektakuläreren Scheidungen. Eine Nacht der Leidenschaft – wenn auch eine äußerst zärtliche als Zugeständnis an ihren gebrochenen Knöchel und all die Schrammen und blauen Flecken – schien Stacey da nicht so ganz hineinzupassen. Vera wusste auch nicht, was sie von Dees Äußerung halten sollte. Aber Dee ließ die beiden nicht lange im Ungewissen. »Seht nur, es steht auf Seite eins!« Und dann breitete sie die Zeitung vor ihnen aus. BALDWINERBE WIRD UNI-DOZENT stand in großen Buchstaben auf der Titelseite. »Nash Gallagher ist Archer Baldwins Enkel, verdammt noch mal!« »Archer?« fragte Stacey und überlegte: Meinte Dee etwa Archie. Sie hatte immer gedacht, das wäre die Kurzform von Archibald. Aber während sie jetzt so darüber nachdachte, wurde ihr bewusst, dass Archibald Baldwin nicht gerade eine gelungene Namenskombination gewesen wäre. Ohnehin hatte sie erst erfahren, dass Archies Nachname Baldwin war, als sie ihn das erste Mal auf der Krankenstation des Altenpflegeheims besucht hatte.
»Er ist Archer Baldwins Enkel, und du lässt mich ihn in deiner Küche einen Handlanger nennen!« »Wie bitte?« Stacey verstand überhaupt nicht, was Dee ihr damit sagen wollte und was Nashs Foto auf der Titelseite der Gazette zu suchen hatte. Er sah erhitzt aus, aber triumphierend, als wäre er gerade aus irgendeinem Sumpf aufgetaucht, in dem er eine ganz neue Pflanzenart entdeckt hatte. Der Bildunterschrift nach zu urteilen, hatte er das wohl auch. Und schließlich sagte Stacey langsam: »Eigentlich erscheint es mir wirklichkeitsgetreuer, zu sagen, Nash hat es zugelassen, dass du ihn einen Handlanger nennst.« Sie riss sich von Nashs Foto los. »Ich wollte dich ja davon abhalten – nicht weil er ein Handlanger ist, sondern weil du dich so unmöglich aufgeführt hast.« Dee wurde feuerrot, und Stacey freute sich insgeheim. »Aber ich verstehe trotzdem nicht, warum du darüber so aus dem Häuschen bist, Dee. Archie ist schließlich kein reicher Mann.« »Du machst wohl Witze?« Dee sah sie an, als käme Stacey von einem anderen Planeten. »Dieses Dorf war einmal Teil seines Grundbesitzes. Jeder, der hier wohnte, arbeitete auch für ihn. Mikes Onkel war sein Jäger. Deshalb hat er auch das Cottage bekommen.« Staceys Gesichtsausdruck musste immer noch von Unverständnis künden, denn Dee erklärte das Ganze jetzt noch einmal ein bisschen einfacher. »Als Archer Baldwin seinen Grundbesitz aufgeteilt hat, überließ er den Arbeitern die Cottages, in denen sie aufgewachsen waren und mit ihren Familien wohnten. Er hat sie ihnen geschenkt, Stacey! Nicht etwa verkauft, nicht einmal zu irgendeinem symbolischen Preis. Er hat sie ihnen einfach so vermacht.« Darüber schien Dee im Nachhinein noch derart überrascht, dass sie sich erst einmal setzen musste »…Habt ihr noch ein bisschen Kaffee für mich?«
Vera schenkte ihr eine Tasse ein. »Was Dee sagt, stimmt, Stacey. Meine Mutter hat früher einmal in dem Herrenhaus geputzt, und auch uns wurde das Cottage überschrieben, in dem wir wohnten.« »Die Geschichte war damals sogar in den überregionalen Tageszeitungen«, sagte Dee nun. »Du bist zu jung, um dich daran zu erinnern, Stacey. Aber ich weiß es noch.« »Was denn für eine Geschichte?« »Er hat seine Tochter quasi enterbt, indem er seinen Grundbesitz aufteilte, teilweise den Arbeitern überließ und Millionen einfach spendete. Er sagte, seine Tochter sei es nicht wert, eine Baldwin genannt zu werden, weil sie ihren Sohn so unmöglich behandelte. Danach ist Archer Baldwin untergetaucht, oder man hat ihn aus den Augen verloren. Zumindest ging das Gerücht, er würde irgendwo in einer Einsiedelei leben.« »Dee, Archie hat das Gartencenter jenseits der Mauer geführt. Ich habe manchmal bei ihm ausgeholfen, wenn viel zu tun war.« »Archie?« Dee sah sie erstaunt an. »Soll das heißen, der alte Mann ist Archer Baldwin?« »Ich kann mir nicht vorstellen, dass es in diesem kleinen Nest zwei Männer mit dem gleichen Namen gibt«, sagte Stacey ungeduldig. »Natürlich ist er es!« Sie warf einen Blick über Veras Schulter auf die Zeitung, wo oberhalb von Nashs Bild ein Jugendfoto von Archie Baldwin abgedruckt war. »Am Montag habe ich ihn noch mit deinem Auto besucht…« Langsam stand Stacey auf. Sie hatte immer gedacht, Archie wäre einer der pensionierten Gärtner, die früher die Anlagen des Herrenhauses in Ordnung gehalten hatten, und von Nash hatte sie angenommen… Ja, was eigentlich? Jetzt fiel ihr die Überschrift des Aufmachers wieder ein. »Dozent? Was denn für eine Dozentur?« Nun las Vera den Artikel vor. »,Dr. Nash Gallagher, Enkel
von Archer Baldwin, dem ehemaligen Besitzer von Summerville Hall, kehrt heute nach Maybridge zurück, um eine Gastvorlesung für Studenten der naturwissenschaftlichen Fakultät zu halten. Dr. Gallagher hat die letzten fünf Jahre in Südamerika verbracht, um unbekannte Pflanzenarten aufzuspüren und zu katalogisieren. Einige dieser Pflanzen wurden nach ihm benannt.’ Und so weiter und so weiter. Oh, hört euch nur das an! .Aus verlässlicher Quelle wissen wir. dass Dr. Gallaeher der neue Lehrstuhl in Botanik angeboten wurde, der erst kürzlich von einem unbekannten Wohltäter gestiftet worden ist.’ Das ist ja Wahnsinn! Hast du das gewusst, Stacey?« »Nein.« Stacey nahm Vera die Zeitung aus der Hand. Stacey hatte gehofft, dass Dee sich geirrt hatte. Aber hier stand es, schwarz auf weiß. »Er hat mich angelogen.« »Jetzt hör aber auf, Stacey!« rief Dee. »In Ordnung, dann will ich es einmal anders formulieren. Er hat mir nicht die Wahrheit gesagt. Nicht einmal letzte Nacht…« Selbst als er ihr von seiner Familie erzählt hatte, hatte er ihr verschwiegen, dass es bei dem ganzen Streit nur um Geld gegangen war. Kein Wunder, dass Dee nicht wusste, ob sie lachen oder weinen sollte, nachdem sie erst entdeckt hatte, dass Nash der Enkel eines Millionärs war, um sich dann daran zu erinnern, dass sein Großvater schon vor Jahren das meiste verschenkt hatte. Dafür wusste Stacey, wie sie auf die Neuigkeit reagieren sollte. Sie war stinksauer, dass Nash sie hinters Licht geführt hatte, und wollte ihm sofort die Meinung sagen. »Ich ziehe mich jetzt an und gehe zur Universität«, rief sie aufgebracht, und Vera und Dee sahen sie entgeistert an. »Hältst du das für eine gute Idee?« fragte Dee schnell. »Das kann ich nicht sagen, aber ich tue es trotzdem. Fährst du mich hin, oder soll ich mir ein Taxi nehmen?« fragte Stacey und dachte: Na, zur Not habe ich immer
noch sein Handy. Sie könnte es ihm einfach an den Kopf werfen. Wie hatte er es nur wagen können, sie anzulügen? »Ich fahre dich. Wer weiß, vielleicht kann ich dich davon abhalten, dich total lächerlich zu machen.« »Nicht nötig, das hat Nash Gallagher schon getan.« »Ich bin sicher, dass er einen guten Grund hatte, dir nichts von seiner Herkunft zu erzählen.« Stacey war schon zur Tür gehumpelt, fuhr nun aber noch einmal aufgebracht zu ihrer Schwester herum. »So, welchen zum Beispiel?« Doch als sie die Krücken nachsetzen wollte, lief ihr eines der Kätzchen zwischen den Beinen durch. Stacey dachte: Entweder ich oder das arme, kleine, wehrlose Ding, und die Entscheidung fiel ihr nicht schwer. »Was machst du nur immer für Sachen, mein Schatz!« Stacey öffnete die Augen und sah. dass sich Nash über sie gebeugt hatte. Einen Augenblick lang empfand sie freudige Erregung, dann aber fragte er: »Was ist denn passiert?« Du bist mir passiert, dachte Stacey, und sofort löste sich ihre Freude über das Wiedersehen in Wohlgefallen auf, wie Nebel in der Morgensonne. »Hat Dee dir denn nichts erzählt?« »Sie musste die Mädchen von der Schule abholen. Sie sagte nur, du seiest schon wieder gestürzt.« »So kann man das auch nennen!« erwiderte Stacey und dachte: Das fasst die Ereignisse grob zusammen. Irgendwie hatte das Ganze etwas von einem Dejavu Erlebnis. »Ich hatte es so eilig, zu dir in die Universität zu kommen, dass ich die Gefahr erst erkannt habe, als es schon zu spät war.« »Du wolltest zu mir kommen? Aber warum denn? Du wusstest doch, dass ich abends zurückkehren würde.« »Ja, aber das, was ich dir zu sagen hatte, konnte nicht warten. Ich hatte es so eilig, weil ich meine Mordgelüste
befriedigen wollte. Heute muss dein Glückstag gewesen sein, Nash. Ich bin über eines der Kätzchen gestolpert und habe mir den Kopf angeschlagen. Und diesmal lassen sie mich nicht nach Hause gehen. Also bist du fürs Erste vor mir sicher.« Als sie versuchte aufzustehen, sagte Nash: »Beweg dich nicht.« Dabei genügte es, dass er ihr die Hand auf die Schulter legte, um sie zurück in die Kissen zu drücken, so schwach war sie. Aber das war egal, ihr Mundwerk funktionierte noch. »Du bist eine hinterhältige Ratte, Nash. Ich habe dir vertraut. Ich habe alles, was du mir erzählt hast, für bare Münze genommen. Aber du hast mein Vertrauen missbraucht. Warum hast du mich angelogen?« Er wollte schon antworten, aber Stacey hatte nicht vor, sich mit einer Entschuldigung abspeisen zu lassen. »Ich habe den Artikel in der Zeitung gelesen, also wäre es besser für dich, die ganze Sache wieder gutzumachen.« Nash hätte sagen können, dass er sie niemals angelogen habe und sie ihm einfach nicht habe glauben wollen, als er ihr die Wahrheit erzählt hatte. Aber das hätte die Sache verfälscht. Er hatte die Wahrheit absichtlich vor Stacey geheim gehalten, und das wussten sie beide. »Es tut mir Leid. Ehrlich. Am Anfang schien es nicht wichtig zu sein, was ich mache oder wer ich bin. Und dann, als es ernst wurde, wollte ich sicher sein, dass du mich um meinetwillen liebst und nicht wegen der sagenhaften Baldwin-Millionen.« »Es war so gemein, mich im Dunkeln tappen zu lassen!« »Ja, das stimmt. Aber mein Vater hat meine Mutter nur des Geldes wegen geheiratet. Er brauchte ein Sprungbrett für seine Karriere. Durch die Ehe mit meiner Mutter hat er bekommen, was er wollte.« »Und du dachtest, ich würde genauso handeln?« Stacey
traute ihren Ohren nicht. Dann, plötzlich, fügte sich alles zusammen. »Wegen Dees Verkupplungsversuchen mit dem armen Lawrence? Glaubst du wirklich, ich hätte einen Mann geheiratet, der mir so hochgezüchtete Rosen schenkt.« »Ich dachte, sie hätten dir gefallen.« Stacey warf ihm einen Blick zu, der keinen Zweifel daran ließ, dass Nash ihrer Meinung nach verrückt sein musste, wenn er das glaubte. Unbeholfen zuckte Nash die Schultern. »Es tut mir Leid, Stacey. Aber bevor ich dich kennen gelernt habe, hat mir noch kein Mensch seine Liebe bedingungslos entgegengebracht.« »Archie auch nicht?« »Vielleicht als ich klein war. Doch selbst mein Großvater hat mich am Ende nur benutzt, als Waffe gegen meine Mutter. Auch das Gartencenter war lediglich Mittel zum Zweck. Er dachte, damit könnte er mich zum Bleiben bewegen. Aber als das nicht funktioniert hat, hat er mal eben einen Lehrstuhl für Botanik gestiftet. Ich wusste immer, dass er noch irgendwo ein, zwei Millionen für unvorhergesehene Fälle gebunkert hat. Wie du siehst, zieht er immer noch die Fäden.« »Und wirst du tun, was er möchte, und bleiben?« »Universitätsprofessoren verdienen nicht so viel wie Besitzer von Großmolkereien, Stacey. Ich könnte dir nicht das bieten, was…« »Ach, lass mich in Ruhe, Nash!« Stacey war so müde und verletzt, dass es auch keinen Unterschied mehr machte, wenn sie die Augen schloss, um ihn nicht mehr ansehen zu müssen. »Geh einfach, und werd endlich erwachsen!« sagte sie noch, doch als sie die Augen wieder öffnete, war Nash nicht mehr da. Und er kam auch nicht wieder. Stacey hatte von ihrem Sturz eine Gehirnerschütterung
davongetragen und musste eine Woche im Krankenhaus bleiben. Danach bestand Dee darauf, dass sie mit den Kindern erst einmal zu ihr kam. Als es Stacey wieder besser ging, fuhren sie alle für eine Woche in Urlaub nach Dorset, wo Dee ein Cottage gemietet hatte. Dee tat alles, um Stacey aufzuheitern. Sie zwang sich sogar, nette Dinge über Cecile Latour zu sagen und wie gut sie Lawrence tat. Und sobald die Mädchen davon anfingen, dass sie Nash wieder sehen würden, wenn sie nach Hause kamen, und dass sie wünschten, er hätte mit ihnen in Urlaub fahren können, bedeutete Dee ihnen, still zu sein. Durch die Ruhe und die frische Luft erholte sich Stacey körperlich ganz gut, aber gedanklich war sie längst nicht darüber hinweg, dass Nash sie verlassen hatte. »Was machst du, wenn wir morgen wieder zu Hause sind?« fragte Dee am Abend vor ihrer Rückreise und ließ sich in einen Sessel neben Stacey fallen. »Hast du schon irgendwelche Vorstellungen?« Stacey seufzte und wünschte, dass sie Nash gegenüber nicht so hart gewesen wäre. Er hatte sich doch nur schützen wollen, und außerdem war er gut zu ihr gewesen. Aber das Leben ging weiter. Es war Zeit, weiterzumachen und sich neue Pläne auszudenken. »Weißt du, Dee, eigentlich brauche ich einen Geschäftsplan. Hast du eine Vorstellung, was alles dazugehört?« »Nun, zunächst musst du dir einen Weg überlegen, wie du an Investitionskapital kommst.« »Ich habe doch das Haus. Ich könnte eine Hypothek aufnehmen.« »Und wenn das Geschäft schief läuft, hast du auch das Haus verloren.« »Ich weiß. Wenn ich aber nicht nach den Sternen
greife…« Sie verstummte und erinnerte sich an die Nacht, als sie und Nash zusammen im Garten gesessen und Tee getrunken hatten. »… wie kann ich sie mir dann vom Himmel holen?« »Das kommt mir bekannt vor«, sagte Dee und runzelte die Stirn. »Hat Bette Davis das nicht in einem ihrer Filme gesagt?« Dee schüttelte den Kopf. »Aber ich glaube nicht, dass das richtige Leben so funktioniert.« »Vielleicht nicht, aber so ähnlich. Darf ich einmal dein Handy benutzen?« Stacey tippte Nashs Nummer ein, erreichte aber nur die Mailbox. »Nash, ich bin’s, Stacey. Ich rufe dich an, um dir zu sagen, dass drei Wochen Zeit für dich genug sind, um erwachsen zu werden. Morgen komme ich nach Hause, und wenn mich nicht alles täuscht, werden wir uns dann sehen.« Als Stacey ihrer Schwester das Telefon zurückgab, sagte sie: »Und jetzt zurück zum Geschäftlichen.« Dee lächelte. Es war leicht, jemanden anzurufen und eine Nachricht zu hinterlassen. Doch wenn man nur noch eine Viertelstunde von zu Hause weg war und einem das Herz bis zum Hals schlug, weil man den geliebten Menschen endlich wieder in die Arme schließen wollte, aber Angst davor hatte, er könnte nicht da sein, war das etwas ganz anderes. Als sie in die Auffahrt einbogen, wirkte das Haus irgendwie freundlicher als sonst. Aber da war nirgends ein Zeichen von Nash oder seinem Motorrad. Dee war Stacey beim Aussteigen behilflich, und dann blickte Stacey eine Weile wie gebannt auf das alte Cottage, als traute sie ihren Augen nicht. »Es ist ja frisch gestrichen worden«, sagte sie schließlich. »Sieht gut aus, findest du nicht?« »Aber…« Vera öffnete die Haustür.
»Hallo, Vera«, sagte Stacey und fragte sofort: »Wer war das?« Dabei hoffte sie sehnlichst, dass es Nash gewesen sein möge. Aber das war doch viel zu viel Arbeit für einen einzelnen Mann. »Lass uns doch hineingehen!« drängte Dee. Lily und Rosie waren längst ins Haus geeilt, um nach den Kätzchen Ausschau zu halten. »Was ist hier los?« fragte Stacey nun und wollte dann von Vera wissen: »Wer hat das Haus gestrichen?« »Gefällt es dir etwa nicht?« Vera zuckte die Schultern. »Die Anstreicher hatten einen Brief dabei, in dem irgendwas von Wiedergutmachung stand, wegen des Unfalls. Sie haben auch das Esszimmer renoviert und eine Dusche eingebaut.« Stacey sah sie erschrocken an. »Keine Sorge, ich habe ein Auge auf sie gehabt.« Dann fügte Vera ein wenig zerknirscht hinzu: »Ich dachte, du würdest dich freuen.« »Das tue ich auch, aber ich habe Nash gesagt…« Doch dann fiel ihr ein, dass Archie von der Mauer gehört hatte, die unter ihr zusammengebrochen war. Jegliche Wiedergutmachung musste also von ihm kommen – und nicht von Nash. Stacey sank der Mut. Das war es also. Nash hatte sich aus dem Staub gemacht, und sie war schuld. »Warum legst du dich nicht ein bisschen hin, Stacey?« fragte Dee nun. »Du siehst müde aus. Wenn du willst, nehme ich die Mädchen mit zu mir. Meine Haushälterin macht ihnen Abendbrot, und ich bringe dir die beiden morgen wieder.« Bei meinem Gemütszustand ist es so vielleicht das Beste, dachte Stacey, der gar nicht bewusst gewesen war, wie leer ihr das Haus ohne Nash vorkommen würde. Dabei war sie sich so sicher gewesen, dass er hier auf sie warten würde. Aber da hatte sie sich wohl nur etwas eingeredet. Bestimmt war er mittlerweile in Brasilien und
schon den halben Amazonas hinauf. Besser, die Kinder gingen erst einmal zu ihrer Schwester. »Ja, danke, Dee. Das wäre großartig, wenn du Lily und Rosie mitnehmen könntest.« Vera tätschelte Stacey den Arm. »Ich bin gleich nebenan, wenn du etwas brauchst. Kommst du mit der Treppe klar?« Stacey nickte. »Kein Problem.« Doch Vera wartete, bis Stacey sicher oben angekommen war. Dann zog sie die Tür hinter sich zu, und gleich darauf hörte Stacey, wie Dee den Wagen anließ und davonfuhr. Daraufhin war alles ruhig. Mit einem tiefen, herzzerreißenden Seufzer öffnete sie die Schlafzimmertür. Im Raum war es düster, und sie ging erst einmal zum Fenster, um die Vorhänge zur Seite zu ziehen. Irgendjemand hatte angefangen, den Rasen zu mähen. Sie runzelte die Stirn. Es war alles ein bisschen unordentlich und das Gras nur hier und da geschnitten. Aber da stand ja etwas! Stacey stutzte. Überall dort, wo die Gänseblümchen noch ihre Köpfe hatten. STACEY – ICH LIEBE DICH – WILLST DU MICH HEIRATEN? Sie schlug die Hand vor den Mund, ihre Augen füllten sich mit Tränen, und trotzdem lachte sie. O ja! O ja, bitte! Dann riss sie das Fenster auf und rief laut: »Ja, Nash, ich will!« Doch nichts rührte sich. Eigentlich hatte sie erwartet, dass sein Kopf hinter der neuen Gartenmauer auftauchen würde. Aber nun, da sie darüber nachdachte, entdeckte sie das Tor. »Nash, wo bist du?« rief sie. »Ich will dich! Jetzt, sofort!« »Hier bin ich, Liebling.«
Stacey wirbelte herum, und da stand er, auf der Schwelle zu ihrem Schlafzimmer. »Komm her zu mir, Nash! Ich habe dich so vermisst.« Mit wenigen Schritten hatte er den Raum durchquert und nahm Stacey bei der Hand. »Warum bist du nicht nach Dorset gekommen?« »Du hast gesagt, ich soll erst zurückkommen, wenn ich erwachsen bin. Es hat natürlich nicht drei Wochen gedauert, aber ich dachte, ich bringe das Haus für dich in Ordnung, bevor ich dir die große Frage stelle. Nur falls du Nein sagen solltest.« »Idiot«, sagte Stacey stattdessen und ließ es zu, dass Nash ihr die Arme um die Taille legte. »Ja, aber irgendetwas muss ich wohl richtig gemacht haben. Sieh nur, wen ich im Arm halte!« Und dann küsste er sie ganz langsam, wie ein Mann, der alle Zeit der Welt hatte. Nach einer ganzen Weile hob er den Kopf und sah Stacey mit glänzenden Augen an. »Du schmeckst besser als jeder Pfirsich«, sagte er dann mit leicht heiserer Stimme und zog eine kleine Schachtel aus der Hosentasche. Als er die Schatulle öffnete, kam ein atemberaubender Diamantring zum Vorschein, und Stacey rief: »Aber Nash… ich… das wäre doch nicht…« »Ich weiß, Darling. Aber es gibt eine Zeit für wilde Margeriten und eine für Diamanten. Also, willst du mich nun heiraten, Stacey?« Ihre Reaktion ließ keinen Zweifel daran. Die Pfirsiche waren schön groß und reif, und Nash hob zuerst Lily hoch, damit sie sich einen pflücken konnte, und dann Primrose. Daraufhin war der kleine Junge an der Reihe, der genauso helles Haar hatte wie sein Vater. Stacey und Nash hatten ihn Archer genannt, nach seinem Urgroßvater, aber die Mädchen bestanden darauf, ihn Froggy zu nennen, bis er alt genug war, um einen so ehrwürdigen Namen wie Archer zu tragen.
Violet lag in ihrem Buggy. Sie war noch zu klein, um Pfirsiche zu essen. Stacey strich ihr über die Pausbäckchen und sah sich in ihrem Garten um. Sie hatte ihre Geschäftsidee in die Tat umgesetzt und auch nicht bereut, Punkt eins ihres Lebensplans nicht verworfen zu haben. Die Babys und Blumen gediehen wunderbar. Nash beobachtete seine Frau und erfreute sich daran, wie sehr die Zufriedenheit Stacey hatte aufblühen lassen. »Pflückst du dir keinen Pfirsich, Nash?« fragte ihn nun Rosie. »Nein, Schätzchen, Mummy und ich essen unseren Pfirsich später.« Und über die Köpfe der Kinder hinweg trafen sich ihre Blicke, in denen das Versprechen lag, auf ewig füreinander da zu sein, so wie sie es sich vor dem Traualtar geschworen hatten.
-ENDE-