Atlan - Minizyklus 07 Flammenstaub Nr. 11
Die verlorenen Rhoarxi von Uwe Anton
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Atlan - Minizyklus 07 Flammenstaub Nr. 11
Die verlorenen Rhoarxi von Uwe Anton
Auf den von Menschen besiedelten Welten schreibt man das Jahr 1225 Neuer Galaktischer Zeitrechnung. Der unsterbliche Arkonide Atlan kämpft in der Milchstraße, in der Galaxis Dwingeloo und in Gruelfin, der Heimat der Cappins, gegen die mysteriösen Lordrichter. Während er in der künstlichen Intrawelt den Flammenstaub besorgt, der eine ultimate Waffe sein soll, findet seine varganische Kampfgefährtin Kythara den Tod. Atlan trägt nun den Flammenstaub in sich. Aber je intensiver er ihn benutzt, desto verheerender ist sein Einfluss auf Psyche und Körper. In Gruelfin mischt sich der Arkonide in die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Ganjasen und aufgehetzten Takerern ein. Mit Hilfe eines Sammlers, des gigantischen Robotschiffs MITYQINN, und der geeinten Flotte der Jungen Clans verfügt Atlan nun über beträchtliche Machtmittel, die er zur Verteidigung der Freihandelszone Susch einsetzt. Unter Verwendung des Flammenstaubs gelingt dem Arkoniden die Gefangennahme des Lordrichters Saryla, mit dem er einen Pakt gegen die Macht im Hintergrund, das sogenannte Schwert der Ordnung, schließt. Auf Eschens Welt bahnt sich die Entscheidung an, denn das eigentliche Motiv der Invasion ist die Suche nach den VERLORENEN RHOARXI …
Die verlorenen Rhoarxi
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Die Hautpersonen des Romans: Atlan - Der Arkonide sucht den verlorenen Rhoarxi-Stamm. Myreilune - Pilotin und Stellvertretende Kommandantin der AVACYN. Atamina Mawysch - Die Halbweltdame von Brynsch unterstützt Atlan. Canosch Leyne - Der Wesakeno ist in erster Linie ein leidenschaftlicher Archäologe. Kradun Malgsa - Der Zaqoor will seinen Fehler gutmachen.
Prolog ErEsSie fühlte sich wohl in seiner Haut, war rundum glücklich. Wenn nur die Schmerzen nicht wären, die ErEsSie in dieser Welt verspürte. Aber vielleicht war solch eine Pein ja eine Grundvoraussetzung für jegliche Existenz. Unter Schmerzen geboren, unter Schmerzen gelebt, unter Schmerzen gestorben. Wie konnte es anders sein? Doch alles in allem bestand tatsächlich Grund zur Zufriedenheit. Jene Figuren, die ErEsSie bereits vor Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten aufgestellt hatte, fanden nun zu ihren Plätzen. Alles würde auf Eschens Welt entschieden werden. Alles. Und zwar in seinem Sinn. ErEsSie hatte stets, von Anfang an, drei Elemente benötigt: Flammenstaub, Rhoarxi und … nun ja. Wie sollte man es sachlich ausdrücken? Einen großen Knall? Zu lapidar. Eine Katastrophe? Zu verschwommen. Einen Weltuntergang? Ja, das traf es vielleicht am ehesten. Atlan trug nun den Flammenstaub in sich, den er in Dwingeloo gefunden hatte, in der Intrawelt. Die Rhoarxi waren jener Faktor, den die Lordrichter in Gruelfin suchten. Der große Knall … die Katastrophe … der Weltuntergang … ErEsSie nahm sich die Muße und rechnete erneut die Wahrscheinlichkeiten durch. Beim ersten Mal hatte ErEsSie noch Euphorie empfunden. So etwa beim hundertsten Mal war sie tiefer Befriedigung gewichen und vielleicht beim tausendsten Mal noch tieferer Gelassenheit. ErEsSie war immer wieder zum gleichen Schluss gekommen
und kam auch jetzt noch zu dieser Folgerung. ErEsSie würde all seine Ziele erreichen. Es gab keine andere Möglichkeit. Die Wahrscheinlichkeiten waren abgesteckt. Die Welten der Wahrscheinlichkeiten würden sich zu einer einzigen zusammenfügen. Zu einer Welt ohne Schmerz, oder zumindest mit viel weniger, als ErEsSie hier und jetzt empfand. Zu einer fast idealen Welt. Die wenigen Unwägbarkeiten, die Atlans Präsenz erzeugten, fielen nicht ins Gewicht. Atlan verhielt sich meist so, wie ErEsSie es erwartete, bewirkte. Natürlich hatte es Rückschläge gegeben. Die Sache in Dwingeloo, die Versperrung des Zugangs zum Varganen-Universum … das waren durchaus Erfolge Atlans. Auch bei der Psi-Quelle waren die Lordrichter nicht erfreut gewesen, als sie den Zugriff darauf verloren hatten. Aber im Großen und Ganzen …? Bei der Psi-Quelle, als er zum ersten Mal von den Lordrichtern erfahren hatte. Am Dunkelstern. In der Intrawelt. Und nun, da er den Flammenstaub in sich trug. Von Anfang an. Doch, man konnte es drehen und wenden, wie man es wollte, ErEsSie hatte exakt geplant und perfekt manipuliert. Über fünf Etappen hinweg. Centauri. Obsidian. Die Lordrichter. Die Intrawelt. Der Flammenstaub. Und der Dunkelstern? Nun ja … ein vernachlässigbarer Rückschlag. Ein Zeitraum, der sich nicht nur über einige wenige linear verlaufende Jahre messen ließ, sondern über Jahrhunderte. Und das alles würde nun ein Ende finden. Bald, sehr bald. Jedes Ende war ein Anfang. Bald würde etwas völlig Neues beginnen. In einer Welt ohne Schmerz.
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Und man konnte es drehen und wenden, wie man es wollte, es war auch an der Zeit dafür. Nichts hatte auf ewig Bestand. Stagnation war Tod. Und Schmerz. Veränderung war Leben. Ja, das Schwert der Ordnung fühlte sich wohl in seiner Haut.
1. Kradun Malgsa, Kommandeur des Achten Einsatzgeschwaders »Entfernung zweiundzwanzig Millionen Kilometer, schnell abnehmend!«, meldete der Orter. »Feindobjekt hat Waffensysteme aktiviert!« »Kernschussweite?«, fragte Kradun Malgsa. »Unbekannt«, antwortete sein Gegenüber. »Schätzungen? Und mit welchen Waffen müssen wir überhaupt rechnen?« »Initialstrahler und InitialDopplergeschütze, Kernschussweite bei einer Million Kilometern, genaue Leistungsstärke unbekannt. Wahrscheinlich werden sie unsere Verteidigungsschirme nur dann durchdringen, wenn diese durch andere Waffensysteme weich geschossen wurden.« Immerhin etwas, dachte Kradun. InitialDopplerkanonen erzeugten ein 5-D-Initialfeld, das gegnerische Fusionsreaktionen unkontrolliert überladen und solcherart zur Explosion bringen konnten: an sich eine teuflische Waffe, die auch der Flotten der Lordrichter würdig gewesen wäre, könnte man ihre Leistungsfähigkeit erhöhen. »Transformkanonen«, fuhr der Orter fort, »unterschiedliche Kaliber mit Leistungsstärken von eintausend bis zweitausendfünfhundert Gigatonnen TNT, Kernreichweite etwa drei Millionen Kilometer. Impulskanonen, Kaliber beziehungsweise Schussenergie bis 500 Gigatonnen, Kernreichweite wohl eine Million Kilometer. Für genaue Aussagen liegen zu wenig Daten vor.« Kein Wunder. Kradun schüttelte sich.
Dieser Gigantraumer war wie aus dem Nichts aufgetaucht und hatte die gesamte strategische Planung über den Haufen geworfen. »Das ist alles?« »Dann noch Thermogeschütze, allerdings minderer Leistungsstärke, die hauptsächlich bei den aus dem SAMMLER geschleusten Vasallen zur Anwendung kommen, den weich geklopften Feindschiffen aus der Nähe den Todesschuss verpassen. Wie bei allen Waffen unbekannte Stückzahl.« Auch das wunderte den Zaqoor nicht. Das Feindschiff war ein so riesengroßes, zerklüftetes und unübersichtliches Monstrum, dass vielleicht nicht einmal die Besatzung genau über die Anzahl informiert war. »Defensivbewaffnung?« »Mehrfach hintereinander geschaltete HÜ- und Paratronschirme, Leistungsvermögen unbekannt, da die Grenzen noch nicht ausgelotet werden konnten.« Trodar sei Dank, dachte Kradun. »Entfernung zwanzig Millionen Kilometer, weiterhin abnehmend. Erbitte Anweisungen, Kommandant!« Verzweifelt dachte Kradun nach, starrte in das grünliche Leuchten, das die riesige Feindeinheit in eine unheimlich anmutende Aura hüllte. »Anweisungen?« »Trodar«, flüsterte der Zaqoor und mahnte sich zur Ordnung. Er gehörte der Leibgarde der Lordrichter an, und ihre Philosophie bestimmte sein Leben, hatte es immer bestimmt und würde es immer bestimmen. Trodar. Ein Wort von magischer Bedeutung, Inbegriff von Unbesiegbarkeit und unbändiger Kampfkraft. Trodar – ewiges Leben in der Großen Horde. Er hatte sich oft gefragt, was Trodar war, und irgendwann hatte er eine Antwort gefunden. So deutlich hatte man es ihm nicht gesagt, er hatte es leben müssen. Erfahren. Verinnerlichen. Trodar, das war die Kriegsphilosophie schlechthin. Lebensanschauung und Todessehnsucht zugleich, Teil eines jeden Angehörigen der Leibgarde der Lordrichter. Ein Zauberwort für jeden GarbyorKämpfer, das ihm Kraft und Mut gab und
Die verlorenen Rhoarxi die Furcht vor dem Tod nahm. Garbyor-Krieger konnten im Kampf nicht sterben. Wenn sie heldenhaft fielen, gingen sie in die Große Horde ein, und es gab keinen Krieger, der sich nicht danach sehnte, zu Trodar zu gelangen. Vielleicht war er anders als die anderen. Der Tod barg zwar auch für ihn keinen Schrecken. Er wusste, der Tod war nicht das Ende für ihn, sondern seine Erfüllung, seine Bestimmung. Aber wenn er noch ein wenig leben konnte … vielleicht würde er eine weitere, noch tiefere Bedeutung Trodars finden, eine, die seine gesamte Existenz in ein anderes, noch bedeutungsvolleres Licht stellen würde? Nein, ich habe keine Angst vor dem Tod, sagte er sich. Ich habe keine Angst vor dem Tod. Und betrachtete wieder das Ungetüm, das aus dem Hyperraum hervorgebrochen war und Tod und Vernichtung spie. Tod und Vernichtung. Der Begriff kam ihm abgedroschen vor, aber ihm fiel kein treffenderer ein. Er hatte nicht an den bisherigen Kampfhandlungen teilgenommen, hatte auch nicht so richtig geglaubt, was die offiziellen Quellen verlauteten, es nicht glauben können, weil es sich zu unwahrscheinlich, zu unglaublich anhörte. Ein Raumschiff, mindestens 60 Kilometer lang und mehr als 30 Kilometer breit, das aus dem Nichts erschienen war und augenblicklich das Feuer auf die Flottille der Zaqoor-Schiffe eröffnet hatte, die immerhin in einer Entfernung von drei Lichtjahren zu Eschens Welt manövrierten. Er hatte keine Angst vor dem Tod. Aber ihre Flottille hatte 35 Schiffe umfasst, kleinere und größere Einheiten, die bis vor wenigen Minuten noch einen Patrouillenflug im Niemandsland durchgeführt hatten, fernab von allen lohnenden Angriffszielen. Und trotzdem war der Gigant ausgerechnet in ihrer unmittelbaren Nähe aus dem Überraum gestürzt. Nein, er hatte keine Angst. Er würde bereitwillig in den Tod gehen. Aber doch nicht jetzt! Doch noch nicht
5 jetzt! Jahrelang hatte er sich in der Flotte hochgedient, makellose Leistungen gezeigt, nur um dann nach dem Einfall in Gruelfin weiterhin auf ein Kommando zu warten. Er wusste, er war qualifiziert, und die Beförderung war nur eine Frage der Zeit, doch die Ungeduld brannte immer stärker in ihm. Alles hat seinen Sinn, sagte er sich. Dann lebe ich eben auf andere Weise für Trodar. Dann, endlich, vor zwei Tagen, als sie den Blockadering um Eschens Welt zogen, hatte man ihn abkommandiert – auf sein eigenes Schiff! Man hatte ihm endlich ein Kommando gegeben! Endlich war eingetreten, worauf er so lange gewartet hatte. Trodar! Ruhm und Ehre im Kampf gegen den Feind erwerben und dann irgendwann in Trodar aufgehen, eins werden mit sämtlichen Kriegern, die Trodar schon gefordert hatte. Bis dann der Koloss aufgetaucht war. Der SAMMLER, dessen Dienste sich der verfluchte Arkonide gesichert hatte. »Trodar«, flüsterte er erneut. »Es gibt keinen Tod, es gibt nur Trodar.« Die riesige Feindeinheit war aus dem All gestürzt, bevor Kradun Gelegenheit gehabt hatte, sich im Kampf auszuzeichnen und Ruhm zu erwerben. Bevor er sein Schiff überhaupt richtig kennen lernen konnte. Und sie war ein übermächtiger Gegner. Atemlos beobachtete er, wie weitere zehn, fünfzehn Schiffe ihrer Flottille vernichtet wurden. Alles in ihm schrie danach, sich in den Kampf zu stürzen, den Befehl zu geben, Konfrontationskurs zu setzen, das Feuer freizugeben, auch wenn ihm klar war, dass sie nicht die geringste Chance gegen diesen Feind hatten. Aber etwas hielt ihn zurück. Trodar wartet auf dich … Wenn er jetzt starb, bereitwillig in den Tod ging, hatte er sein Leben sinnlos vergeudet. Dann endete seine Existenz auf dieser Ebene, ohne dass er sich wirklich für die Lordrichter hatte einsetzen können. Aber stellte er damit nicht seine Interessen über die ihren, die unermesslich wichti-
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ger waren? Nein! Er wollte ihnen so gut wie möglich dienen, und das konnte er nur, wenn er sein Leben nicht fortwarf. »Kommandant!«, hörte er wie aus weiter Ferne eine Stimme. »Ich erwarte deine Befehle!« »Ortung!«, erklang sofort darauf eine andere. »Ein zweites Schiff ist in den Normalraum gestürzt und nimmt Kollisionskurs!« Er verdrängte die Gedanken um den Sinn seiner Existenz. »Auf den Schirm!« Wie lange hatte er darauf gewartet, diese Worte endlich sagen zu können! Ein Holo bildete sich und zeigte einen Cappin-Raumer der NAMEIRE-Klasse, ein Beiboot mit 70 Metern Länge und 25 Metern Breite. Kradun wusste, dass diese Einheiten als Unterstützung bei Kampfeinsätzen dienten. Ohne die Rückendeckung durch den SAMMLER hätte solch ein winziges Schiff es natürlich niemals gewagt, einen Raumer der Zaqoor anzugreifen. »Ich habe die Signatur des Schiffes identifiziert!«, rief der Orter. »Prioritätsstufe eins! Es ist die AVACYN!«
* Die AVACYN! Das Schiff, in dem sich ihren Informationen zufolge Atlan aufhielt, die Person, die die Lordrichter in ganz Gruelfin am dringendsten ergreifen wollten. Gab Trodar ihm damit ein Zeichen? War das die Bestimmung, die das Schicksal für ihn vorgesehen hatte? Würde er sich nun als würdig erweisen können? Sollte es ihm anheim fallen, Atlan für das Schwert der Ordnung zur Strecke zu bringen? Lebend, dachte er. Sie wollen ihn lebend haben! Entsetzt beobachtete er, wie das winzige Schiff sich geradezu tollkühn in die Schlacht warf. Es griff einen zehnmal größeren Feind an, eröffnete das Feuer auf ihn. Die Einheit der Lordrichter wagte nicht, es wirksam zu erwidern. Auch dort hatte man die AVA-
CYN identifiziert und wollte vermeiden, Atlans Leben in Gefahr zu bringen. Die Schutzschirme des Beibootes flackerten hell auf, und einen Moment lang befürchtete Kradun, sie würden unter den auf sie einschlagenden Energien zusammenbrechen, womit das Schicksal des gesuchten Arkoniden besiegelt gewesen wäre. Doch dann rasten fünf, sechs Vasallen des SAMMLERS heran und eröffneten das Feuer auf den Zaqoor-Raumer. Sekunden später explodierte er, und die AVACYN drehte bei. Der SAMMLER schickte Welle auf Welle seiner Vasallen aus dem Inneren des Schiffsleibes. Die autarken Einheiten kämpften ohne Rücksicht auf Verluste, zerstörten, was zu zerstören war. Von ihrer Flottille waren noch ganze fünf Einheiten übrig, noch vier … »Kommandant!«, hörte er wieder die Stimme. »Deine Befehle!« Es war aussichtslos, sinnlos. Sollte er sein Leben einfach so wegwerfen, statt es für die Lordrichter einzusetzen, zu einer anderen, einer besseren Zeit? Die AVACYN durfte er nicht vernichten, und der SAMMLER war unangreifbar. »Rückzug«, krächzte er. Einen Moment lang herrschte Totenstille in der Zentrale seines Schiffes. »Bitte um Bestätigung!« »Rückzug«, wiederholte er. »Wir müssen auf Verstärkung warten!« Sie hatten sie in dem Augenblick angefordert, als der Sammler erschienen war. Die Schiffe waren unterwegs, aus dem Orbit von Eschens Welt und von weiteren Stützpunkten in der Nähe. Warum dauerte es so lange, bis sie eintrafen? Alarm! Kradun riss den Kopf herum, starrte auf die Ortungsholos … und stieß einen derben Fluch aus. Die AVACYN hatte Angriffskurs auf sein Schiff genommen! Und der SAMMLER nahm zwei weitere Einheiten ihres kleinen Verbands unter Feuer. In diesem Augenblick fragte sich Kradun, ob seine Beförderung wirklich gerechtfertigt gewesen war. Was sollte er jetzt tun? Er durfte die AVACYN nicht vernichten, woll-
Die verlorenen Rhoarxi te er Atlan entgegen der Weisung des Schwerts der Ordnung nicht töten. Aber er durfte auch nicht zulassen, dass das kleine Beiboot sein Schiff in eine Kampfhandlung verwickelte und damit an Ort und Stelle festhielt, bis schließlich die Giganteinheit und ihre Tochterschiffe erschienen und sie nach Trodar schickten. »Volle Beschleunigung!«, befahl er. »Sämtliche Energie auf die Triebwerke und Schutzschirme!« Wieder diese eisige Stille. Kradun wurde klar, wie die Besatzung seine Befehle auslegte. Als Feigheit vor dem Feind. Als Verweigerung all dessen, was Trodar war. Auf dem Holo sah er, wie das winzige Beiboot auf sein Schiff zuhielt. Er las die Daten – Entfernung, Geschwindigkeit der beiden Raumer, Beschleunigungswerte –, doch sie sagten ihm in diesem Moment rein gar nichts, als hätte er nie eine Ausbildung genossen, die ihn befähigte, dieses Schiff zu führen. Dann hatte die AVACYN sie gestellt. Das kleine Schiff eröffnete sofort das Feuer. Noch war es zu weit entfernt, und seine Waffen waren sowieso zu schwach, um ihnen ernsthaft gefährlich zu werden, doch Kradun war völlig klar, was es beabsichtigte. Wieder gellten Sirenen auf. »Strukturerschütterungen!« Die Verstärkung war da. Kradun spürte, dass ihm der Schweiß ausbrach. Ein Blick auf die Holos verriet ihm, dass die zahlreichen Einheiten zu weit entfernt waren, um noch in die Schlacht eingreifen zu können – zumindest, was sein Schiff betraf. Natürlich würden sie den SAMMLER stellen können, wenn er seinen Kurs beibehielt … Der SAMMLER! Kradun vergrößerte ein anderes Holo, sah, dass die Giganteinheit schon gefährlich nah herangekommen war. Die Spezifikationen der Waffenreichweite waren ihm zwar noch immer nicht bekannt, doch das Gefühl verriet ihm, dass es allmäh-
7 lich knapp wurde. Sehr knapp. Ihm wurde klar, dass er sich etwas vorgemacht hatte. Dass seine Beförderung nicht gerechtfertigt gewesen war. Dass er nicht derjenige war, für den er sich sein Leben lang gehalten hatte. Diese Sekunden unmittelbar im Angesicht des Todes verrieten es ihm. Trodar hatte für ihn nicht die Bedeutung, von der er immer ausgegangen war. Er liebte sein Leben. Und wollte es erhalten. »Alle Energie auf die Waffen!« Seine Stimme kam ihm fremd vor, wie die eines anderen, doch er wusste, dass er diesen Befehl erteilt hatte, und er schämte sich dafür. Noch viel mehr schämte er sich für die nächste Anweisung. »Feuer frei auf die AVACYN!« Wieder diese schreckliche Stille in der Zentrale, der grausamste Beweis dafür, dass er bei der Besatzung jeden Respekt verloren hatte. Doch im Gegensatz zu ihm waren seine Leute gut ausgebildet. Einen Moment lang befürchtete er, sie würden den Gehorsam verweigern, doch dann führten sie den Befehl aus. Er starrte wieder auf die Holos, versuchte abzuschätzen, wann der SAMMLER endgültig in Feuerreichweite sein würde, doch die Daten sagten ihm noch immer nichts. Plötzlich vibrierte der Boden. Er wusste, was geschah. Energie strömte in schwere Geschütze, Waffensysteme wurden hochgefahren. Der SAMMLER … wann würde er die tödlichen Schüsse auf sie abgeben? Er sah auf den Holos, wie Energiestrahlen durch den Raum jagten, sich kreuzten und das Ziel erfassten. Die AVACYN explodierte in einem glühenden Feuerball, verwandelte sich in eine neue Sonne im All, die jedoch nur kurz leuchtete, nur furchtbar kurz, und dann wieder erlosch. Die AVACYN war nicht mehr. Und Kradun dachte an den Befehl, Atlan lebendig festzunehmen, und fragte sich, was
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nun aus ihm und seiner Karriere werden sollte.
2. Atlan 1. November 1225 NGZ Nurten war auf dem Hauptholo als leuchtende gelbe Kugel zu sehen, die beiden kleinen Monde Adnan und Zeyno – mit 843 beziehungsweise 766 Kilometern Durchmesser kaum der Rede wert – wurden als winzige leuchtende Punkte dargestellt. Das Äquivalent eines roten Ausrufezeichens verdeutlichte, dass es sich dabei um eine systematische Darstellung handelte. Mit dem bloßen Auge wären sie nicht zu sehen gewesen, da sie sich relativ zur Position der AVACYN hinter dem Planeten befanden. Und Eschen selbst? Ich zuckte die Achseln. Wie mir Persenpo Zasca, der ehemalige dritte Direktor der Mythischen Infothek von Extosch, zugetragen hatte, hatten die Zaqoor dessen Heimatplaneten überfallen, um nach einer besonderen Datei zu suchen. Und sie hatten sie schließlich auch gefunden. Es ging ihnen um den Aufenthaltsort des vierten Stammes der Rhoarxi. Und hier, auf Eschens Welt, sollten diese Vogelwesen zu Hause sein. Nun ja. Was ich auf einem Nebenholo sah, rief gewisse Zweifel an dieser Aussage hervor. Eschens Welt war ein weitgehend naturbelassener Planet, auf dem seit Cappingedenken, seit mindestens 220.000 Jahren, Wesakenos siedelten. Zum ersten Mal hatten wir im September 3437 alter Zeitrechnung Kontakt mit einem Angehörigen dieses Cappin-Stamms gehabt, mit dem Wissenschaftler Valtenosch. Dabei hatten wir – oder besser gesagt, die Terraner – auch die Initialdoppler-Kanone als Waffe kennen gelernt, die die Wesakenos gegen die Takerer einsetzten. Dieser Cappin-Stamm war also vom ersten Moment an ein Verbündeter der Terraner beziehungsweise Ovarons gewesen. Seitdem der Flammenstaub in dir ist, schwelgst du noch lieber in der Vergangen-
heit als zuvor, versetzte der Extrasinn. Da hast du bei deinem Alter ja auch einiges zu tun. Ich ignorierte ihn. Ich war zwar müde und schwach, aber geistig auf der Höhe. Und der Landevorgang verlief problemlos und erforderte nicht meine permanente Aufmerksamkeit. Es half mir, mich zu konzentrieren, indem ich die Dinge reflektierte, die mich beschäftigten. Oder mir in Erinnerung zurückrief, was ich über unser Ziel wusste. Auf Eschens Welt lebten etwa 800 Millionen Cappins, und das Bevölkerungswachstum war sehr gering. Der Planet war mit Vecchal assoziiert, dem Hauptplaneten der Wesakenos. Die Eschener waren ein durchaus friedliches Volk und hielten sich aus allen politischen Unannehmlichkeiten heraus. Bestehende Abkommen mit anderen Welten oder Regierungen beruhten hauptsächlich auf wirtschaftlichen Grundlagen. Eschen war also, bildlich gesprochen, der podex mundi der Galaxis Gruelfin. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ein vierter Rhoarxi-Stamm sich ausgerechnet diese von den She'Huhan verlassene Welt als neue Heimat ausgesucht haben sollte, aber andererseits passte es wieder. Vorausgesetzt, die Rhoarxi wollten nichts anderes als ihre Ruhe haben, so wenig Kontakt wie möglich mit anderen Völkern pflegen und sich keinerlei Vergnügungen hingeben. Was ihnen durchaus ähnlich sah. Ich beschloss, mich wieder ein wenig Eschens Welt zu widmen, bevor der Logiksektor mir einen weiteren Rüffel erteilte. Mit einem Äquatordurchmesser von 14.528 Kilometern, einer Schwerkraft von 1,1 Gravos und einer Ekliptik von 25 Grad konnte man sie durchaus als arkonähnlich bezeichnen. Ein Jahr dauerte 413 Tage zu je 22,6 Stunden, um den Äquator herrschten angenehme gemäßigte klimatische Verhältnisse bei Temperaturen zwischen 20 und 25 Grad Celsius, während sich nördlich und südlich vom 16. Breitengrad auf jedem der beiden riesigen Kontinente weite Tundra-Steppen
Die verlorenen Rhoarxi ausdehnten. Das schier endlose Land, meist flach und von gewaltigen Farnen, Sträuchern und Weichholzwäldern überzogen, beherbergte die ursprüngliche Flora und Fauna von Eschens Welt, während die Wesakenos die gemäßigten Streifen auf den beiden Kontinenten mehr oder weniger in Besitz genommen und kultiviert hatten. Das trennende Element zwischen den beiden Klimazonen waren jeweils Gebirgszüge, die Höhen von bis zu 9500 Metern erreichten. Die Polarregionen waren von Eisplatten überzogen und wurden von heftigen Eisstürmen beherrscht. Der sogenannte Westkontinent hieß Tundum, der Ostkontinent Zabrisk. Dort lag auch die Hauptstadt Abwanskay mit vier Millionen Einwohnern. Genau deshalb hatten wir uns Tundum als Ziel ausgesucht, genauer gesagt die Stadt Brynsch in der Region Ovolay. Ich hielt es nicht für sinnvoll, mich ins Zentrum der Macht zu begeben, in dem wir wahrscheinlich schneller auffallen würden als in der Provinz. Eschens Welt war lediglich in der gemäßigten Zone touristisch erschlossen. Ansonsten waren Hauptexportartikel Naturfasern, deren baumwollähnliche Rohstoffe großflächig angebaut wurden, Zynisch, eine Art Hopfen, Geflügelprodukte, aber auch von den geschickten Wesakeno-Männern angefertigte Feder-Fetische. Diese bunten Bilder aus großen und kleinen Federn wurden in sogenannten Hausmanufakturen sortiert und gesteckt und waren in weiten Teilen Gruelfins beliebt als Wandschmuck, Glücksbringer, Hängematten, Flugdrachen, Bekleidungskragen und so weiter. Ein ebenfalls sehr gefragtes Exportprodukt waren Storten-Eier, fingernagelgroße Gebilde mit extrem dünner Kalkschale, die, wenn man sie auslutschte, auf der Zunge zergingen und sowohl alkoholisch als auch – angeblich – luststeigernd wirkten. Ich wartete auf eine unpassende Bemerkung des Extrasinns – etwa, dass ich mir davon einen größeren Vorrat zulegen würde –,
9 aber sie blieb aus. Manchmal begriff sogar meine bessere Hälfte, dass gewisse dumme Bemerkungen alte Wunden aufbrachen, und noch war meine durch den Flammenstaub hervorgerufene Ermattung nicht so gravierend, dass ich aufgerüttelt werden musste. Eschens Welt wurde großteils matriarchalisch gelenkt, ein Umstand, der mir nicht gerade zugute kommen würde. Dort waren die Männer diejenigen, die zu Hause blieben und sich um die Kinder kümmerten und dank ihrer Fingerfertigkeiten in den Hausmanufakturen erfolgreich waren. Die Frauen hingegen beherrschten die Wirtschaft, und in der Ovolay beschäftigten sie sich mit dem Eierfang und bewiesen dabei waghalsiges Geschick. Viele Wesakenos auf Eschens Welt suchten die Nähe zu ihren gefiederten Freunden, wie ich den Datenspeichern entnommen hatte. Wobei es große Unterschiede gab. Manche betrachteten sie nur als Waren, für andere waren sie regelrechte Gefährten. Die Wesakenos sahen ihr Verhältnis zur Vogelwelt ähnlich differenziert wie die Menschen das ihre zur Tierwelt. Aber in dieser Hinsicht war das Studium der Datenbanken sehr aufschlussreich gewesen, was die Rhoarxi betraf. Sehr beliebt bei den Wesakenos waren die Symbrail, Papageienvögel, die auf den Schultern ihrer Besitzer saßen. Andere Wesakenos waren von ganzen Schwärmen von Zusthoas umgeben, faustgroßen, spatzenartigen Geschöpfen, die angeblich eine seltsame Aura der Zufriedenheit verbreiteten. Wiederum andere Cappins suchten die Nähe von Lauf-Kamasten, die halbe Körpergröße erreichten und ihren Besitzer wie eine Leibgarde umgaben. Und es gab auch winzige Brut-Ferynxen, die in Zahnlücken der hiesigen Bewohner ihren Unterschlupf fanden und sich dort nützlich machten, bis sie zu fett wurden und ihren Besitzern buchstäblich aus dem Maul fielen. Das alles war natürlich sehr, sehr trockene Theorie. Einen richtigen Eindruck von den Gegebenheiten auf Eschens Welt würde ich erst vor Ort bekommen. Aber ich war nicht
10 blauäugig in diesen Einsatz gegangen. Ich hatte mich informiert und vorbereitet. Und all diese Hinweise auf eine ausgeprägte exotische Vogelwelt sprachen natürlich für Zascas Behauptung, dass ich hier auf Eschens Welt die Nachkommen des vierten RhoarxiStammes finden würde. Gleich und Gleich gesellt sich gern. »Landeanflug auf Tundum eingeleitet«, sagte Myreilune, Stellvertretende Kommandantin und Pilotin der AVACYN, die ihr Können schon mehrfach unter Beweis gestellt hatte. Da Carmyn Oshmosh auf der Sternenstation BOYSCH zurückgeblieben war, fehlte der Anlass, sie zu kritisieren. Ein neues Holo entstand. Es zeigte den Kontinent, und mir fiel sofort ein gewaltiges, klimascheidendes Gebirge auf, das Atila. Es wurde nur von wenigen gangbaren Einschnitten durchbrochen und zog sich von Osten nach Westen über eine Länge von 4500 Kilometern. Atila war natürlich auch die Wasserscheide des Kontinents. An den westlichen und östlichen Küstenregionen liefen die Gebirgszüge langsam aus, und ich betrachtete genau die Ostküste zwischen dem 15. und 20. nördlichen Breitengrad. Sie wirkte besonders urtümlich. Dieser Landstrich also war die Ovolay. Dort konzentrierten sich die Einflüsse unterschiedlichster Klimazonen. Aus dem Norden zogen des Abends die kühlen Winde der unbegrenzt scheinenden Wälder, und die südlichen Einflüsse machten sich vor allem durch die fruchtbare Erde und prachtvolles Tageswetter bemerkbar. Von den Gebirgsausläufern kamen im kurzen, aber heftigen Winter Schneemassen sondergleichen herangeblasen, und der warme Busarstrom, der nahe der Küste vorbeifloss, sorgte in den Sommern für ein sehr warmes Klima. Besonders bemerkenswert in dieser Region war die reichhaltige Fauna, vor allem, was – erneut! – die Vogelwelt betraf. Rund um das Jahr siedelten dort gewaltige Vogelschwärme. In vielen kleinen und ruhigen Buchten, in deren Steilwänden, im Winter-
Uwe Anton quartier in den nahen Bergen, in den Wipfeln einzelnstehender platanenähnlicher Bäume. Wohin man auch sah, Vögel. Ich musste wieder an die Rhoarxi denken. Der vierte Stamm dieser Spezies hatte sich bereits vor langer Zeit, vor 1,5 bis 1,1 Millionen Jahren, aus der Galaxis Dwingeloo, ihrer Heimat, abgesetzt. Sie wollten damals nicht mehr Erfüllungsgehilfen der Kosmokraten spielen und waren bereit, einen äußerst schmerzhaften Weg zu gehen. Die bereits zu dieser Zeit häufige Nutzung des Flammenstaubs, die von den Hohen Mächten forciert worden war, hatte sie affin zu dem Stoff gemacht, um nicht zu sagen: süchtig. Während die drei anderen Stämme den Weg des geringsten Widerstandes gingen, flüchtete der vierte, suchte die Weiten des Weltalls, um mit sich selbst ins Reine zu kommen und einen Entzug durchzumachen. Damit verlor sich ihre Spur in den Aufzeichnungen jener Rhoarxi, die heute die Intrawelt besiedelten. Sollte ich sie tatsächlich hier auf Eschens Welt wiederfinden? Die bedeutendste Stadt der Ovolay hieß Brynsch. Sie lag auf einer Halbinsel, wurde von ungefähr 50.000 Wesakenos besiedelt und galt unter der einfachen Bevölkerung als mondäne Metropole. Soeben begann dort der Frühling. Alles blühte, wuchs, gedieh, die Vogelwelt brütete. Brynsch war unser Ziel, genauer gesagt ein Raumhafen in der Nähe der Stadt. Wie wir von aufgefangenen Funksprüchen wussten – und was sich während des Landeanflugs auch bestätigt hatte –, waren Truppen der Lordrichter mittlerweile mit kleineren Kontingenten in mehreren Städten und Gebieten von Eschens Welt gelandet. Offensichtlich waren sie bereits intensiv auf der Suche nach den Rhoarxi. Die Stadt Brynsch bot sich unter anderem als Landeziel an, weil die Zaqoor dort keine übermäßige Präsenz zeigten. Auch die Bösen wussten zwischen Provinz und Provinzhauptstadt zu unterscheiden. Aber ihre Anwesenheit war ein weiteres Indiz dafür, dass Per-
Die verlorenen Rhoarxi senpo Zasca keine haltlosen Hirngespinste von sich gegeben hatte. Ich hatte ihn auf der Station BOYSCH getroffen. Er hatte mir genauere Infos über Eschens Welt geliefert, aber aus der Rückschau betrachtet hatte ich mich damals, wie einige Male im letzten Jahr, nicht besonders clever angestellt. Ich hatte schlichtweg schlampig gearbeitet und musste die Suppe nun auslöffeln. Warum hatte ich Persenpo nicht mit nach Eschens Welt genommen, wenn der Extoscher doch Spezialist für Mythenforschung war? Und wohin war der Bursche überhaupt verschwunden? Er gab ein Stichwort wie auf der Theaterbühne – und dann gleich wieder der Abgang? Nein, das war einfach nicht rund. Ich bedauerte sehr, dass Persenpo nicht mitgereist war. Der Mythothekar mit dem Dakkardreieck auf seiner Schädelplatte hatte sich hartnäckig geweigert, mich zu begleiten. Er wollte unbedingt auf BOYSCH bleiben, um weiterhin Lobbying zur Befreiung seiner Heimatwelt zu betreiben. Ein durchaus nachvollziehbares Argument, aber trotzdem hätte ich damals nicht nachgeben dürfen. Ich hätte ihn an seinen flachen Händen packen und einfach mitschleifen müssen. Jeder macht mal Fehler, sagte der Extrasinn. Wieso hatte ich den Eindruck, dass die Bemerkung überaus zynisch klang? Und warum hatte ich bei Zasca nicht bei den entscheidenden Fragen nachgebohrt? Etwa … Wie alt sind die Spuren der Rhoarxi, die hier auf Eschens Welt gesichtet wurden, tatsächlich? Darüber hatte mir Persenpo Zasca keine Auskunft geben können. Wenn sie Jahrtausende- oder gar jahrhunderttausendealt waren, konnte man bestenfalls von Hinweisen sprechen. Wenn dem wirklich so war, musste ich davon ausgehen, dass auf Eschens Welt höchstens noch Spuren zu finden waren, aber keinesfalls die Rhoarxi selbst. Schließlich waren die Vogelwesen schon immer sehr mobil gewesen und hatten einen
11 Wandertrieb. Mit ziemlicher Sicherheit musste ich mich also auf eine länger dauernde Jagd einstellen. Was ich auch schon mehrmals zum Ausdruck gebracht habe, sagte der Extrasinn. »Ich weiß«, seufzte ich leise. Eine Alarmsirene gab ein gellendes Jaulen von sich, eine Stimme brüllte Ortung!, und ich riss schuldbewusst den Kopf hoch und sah zu den Holos. Sie zeigten zwei Kirigalos, Seesternschiffe der Lordrichter, im hohen Orbit von Eschens Welt. Ich stieß leise einen unflätigen Fluch aus. Zwei Lordrichter-Schiffe hier über dieser Welt? Also mussten sie Zascas Informationen eine hohe Bedeutung beimessen. Ein weiteres Indiz dafür, dass ich auf der richtigen Spur war, aber auch ein eindeutiger Hinweis darauf, dass ich mich in gewaltige Gefahr begab. Sie waren unterschiedlich groß. Die eine Einheit leuchtete in düsterem Blutrot vor dem Schwarz des Weltalls, und tatsächlich erinnerte sie mich spontan an einen Seestern. Ihr Kern wurde von einem Rotationsellipsoid gebildet, 1650 Meter hoch und mit einem Durchmesser von 2750 Metern. Diesem Zentrum entsprangen in Äquatorhöhe insgesamt acht Spitzkegel von 1125 Metern Länge und einem Basisdurchmesser von 520 Metern. Die andere Einheit war wesentlich kleiner. Ihr Kern hatte eine Höhe von lediglich 100 Metern und einen Durchmesser von 160. Die acht Spitzkegel waren den Daten zufolge bei einem Basisdurchmesser von 30 Metern 70 Meter lang. Und das Schiff leuchtete nicht im leidlich bekannten Blutrot, sondern in schlichtem Weiß. Hatten die Seesterne, denen ich bislang begegnet war, düster und bedrohlich gewirkt, so strahlte dieser Gelassenheit und Fröhlichkeit aus. Ein erstaunlicher Kontrapunkt, stellte der Extrasinn fest. Ich ließ mich von diesen Eindrücken tunlichst nicht täuschen. Ich ahnte und befürchtete, dass sich in diesem Schiff mein wahrer
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Gegenspieler befand. Das Schwert der Ordnung.
3. Canosch Leyne »Verräter! Feiglinge! Wir sind ganz nah dran! Die Entdeckung des Jahrhunderts werden wir machen!« Canosch Leyne riss die Arme hoch. Geschickt umrundete er die Tische in seinem Büro, die Dutzende von Aktenstapeln, aufgehäuften Folien und Datenkristalle, die säuberlich in Schachteln geordnet auf dem Boden lagen. »Die Hinweise sind eindeutig! Schon in wenigen Wochen können eure Namen auf ganz Eschen bekannt sein!« Abrupt blieb er stehen und fixierte die beiden anderen mit einem starren Blick. »Watun, Umschol, so dumm könnt ihr doch nicht sein! Auf ganz Eschen!« »Jawohl, auf ganz Eschen«, wiederholte eine krächzende Stimme. »Halt die Klappe«, fauchte Leyne. Sein Lauf-Kamaste hatte die Angewohnheit, bei längeren Sätzen die letzten Worte seines Herrn zu wiederholen, und das konnte manchmal ganz schön auf die Nerven gehen. Wie auch jetzt. Leyne bemerkte den seltsamen Blick, den Umschol dem etwa einen Meter und zwanzig großen Vogel zuwarf. Die Cappins hatten dessen Artgenossen ursprünglich als Leibwächter gehalten. Kamasten waren kräftig und schnell. Sie hatten große, orangefarbene Schnäbel, mit denen sie mühelos Nüsse und Knochen aufhacken konnten. Ihre körperliche Konstitution war auf Kampf ausgerichtet. Doch Canosch war klar, dass dieses Exemplar überhaupt nicht dem herkömmlichen Erscheinungsbild entsprach. Er wusste, dass man hinter vorgehaltener Hand behauptete, der verrückte Canosch Leyne habe Freude daran, seinen gefiederten Begleiter in Kleidung zu stecken und ihn gleichwertig wie einen Kollegen zu behandeln. »Du bist blind, wenn du die Gefahr nicht
siehst.« Watun schüttelte den Kopf. »Wir sind aus dem Rennen. Die Sache wird zu gefährlich.« Canosch gab ein leises Röcheln von sich, wie immer, wenn ihm etwas nicht passte. »Ich hätte dich für mutiger gehalten. Unsere Ausgrabungen stehen kurz vor der Vollendung. Mir fehlt nur noch ein einziges Teilchen in der Auflistung, dann ist meine Theorie wasserdicht. Und du, Umschol? Spricht Watun auch für dich?« »Jawohl, auch für dich.« Der LaufKamaste wäre durchaus eine bedrohliche Erscheinung gewesen, hätten seine Beine nicht in geringelten Strümpfen gesteckt. Der gedrungene Körper mit den verkümmerten Flügeln war nicht weniger bunt gekleidet. Canosch musste sich eingestehen, dass etwas anderes, was man ihm ebenfalls nachsagte, durchaus zutraf. Er hatte ein Faible für grelle Farben. »Lasdo, sei still! Ich möchte die Meinung des werten Kollegen hören.« Canosch öffnete einen Schrank und schob dem Kamasten einen Teller mit Storten-Eiern hinüber. Gierig stürzte sich der Vogel auf die Köstlichkeit. Umschol zuckte die Achseln. »Was willst du hören? Immerhin geht es um unseren Hintern, wenn das Verbot offiziell wird.« Canosch hatte den Eindruck, dass sein zweiter Mitarbeiter eher gleichgültig eingestellt war. »Und um unsere Existenz«, fuhr Umschol fort. »Unsere Zukunft.« Canosch röchelte wieder. »Das auch. Aber es geht noch um viel mehr. Doch das dauert noch mindestens drei Tage. Bis dahin sind wir längst fertig. Was soll groß passieren? Wir könnten höchstens einen Verweis bekommen, weil wir in stadteigenen Ruinen gegraben haben!« »Nein, die Sache wird mir zu heiß. Ich habe schließlich Frau und Kinder zu ernähren.« Watun stand auf. Dabei stieß er einen Stapel Akten um, der auf die Füße des LaufKamasten fiel. Erschrocken rülpste der Vogel. Mit verschleierten Augen starrte er den
Die verlorenen Rhoarxi Übeltäter an. »Dasch war nischt nett …« Die dünne Zunge behinderte ihn beim Sprechen. Die Storten-Eier wirkten bei Lauf-Kamasten schneller als bei den Wesakenos. Ihr alkoholischer Gehalt war für ihren Stoffwechsel eine schwer abbaubare Substanz. »Wie du meinst! Wir schaffen das auch ohne dich. Dranta ist auf jeden Fall noch dabei. Sie hat mehr Mut als ihr beide zusammen. Beschwert euch nicht, wenn in meiner Veröffentlichung eure Namen nicht genannt werden. Erwähnt werden nur jene, die bis zum Ende dabei waren.« Das bekannte Röcheln schloss seine Worte ab. »Schon gut, ich komme mit. Aber eine innere Stimme sagt mir, dass ich es bereuen werde.« Umschol schob eine dicke, dunkle Haarsträhne aus seinem Gesicht und betrachtete intensiv seine Fingernägel. Den vorwurfsvollen Blick seines Kollegen wollte er anscheinend nicht erwidern. »Glaubst du, sie ist es wert? Das muss ich nicht verstehen.« Krachend flog die Tür hinter Watun ins Schloss. »Jawohl, dasch musch isch nischt verschtehen.« Canosch sank röchelnd in seinen Sessel. »Das war eine weise Entscheidung. Aber was hat Watun gemeint? Ich habe nicht so ganz …« Scheppernd fiel der Lauf-Kamaste in eine Ansammlung Datenkristalle, speichelte über einige Folien, stürzte an Ort und Stelle um und schnarchte augenblicklich tief und fest. »Tja, er weiß nie, wann er genug hat.« Canosch tätschelte den Kopf des Vogels, der einen erheblichen Teil seines Schreibtisches vereinnahmte. »Ich habe meine Verbindungen spielen lassen. Dranta wird uns einen Plan besorgen, damit wir weiter in den Nordosten der Ovolay vordringen können. Zu den letzten erhaltenen Ruinen, den unersetzlichen archäologischen Fundstücken dieser Welt. Unsere Namen werden in den Geschichtschroniken stehen! Noch in tausend Jahren wird man sich an uns erinnern!« Canosch steckte sich ein Storten-Ei in den
13 Mund und ließ es langsam zergehen. Er war so nah dran, so nah … Die Arbeit von Jahren steckte in diesem Projekt. Er war sicher, er hatte ihn gefunden, den endgültigen Beweis des großen Sterbens.
* Geduckt lief Canosch durch die Straßen Brynschs. Das Leben brodelte hier nur so; er hatte gar nicht gewusst, dass es so viele Leute gab, die um diese Zeit ihren Vergnügungen nachgehen konnten. Keiner davon hatte Sorgen wie er oder ahnte auch nur, welche Sorgen ihn bedrängten. Er bedauerte, dass er allein war. Den Lauf-Kamasten hatte er zu Hause gelassen; Lasdo war noch zu benommen von den Storten-Eiern. Du bist Wissenschaftler, kein Geheimagent, versuchte er sich zu beruhigen. Dennoch fühlte er sich beobachtet. Seit einigen Tagen lungerte ein vermummter Mann in der Nähe seines Büros herum. Canosch hätte es als Zufall abgetan und nicht weiter darüber nachgedacht, wären nicht gewisse Dinge passiert … Er hatte die Augen überall, Nase und Ohren geöffnet, verfolgte die Bewegungen der anderen Passanten, sog die Gerüche ein, zuckte unter den Geräuschen zusammen, doch er sah nicht die Gestalt, die plötzlich nach ihm griff, einen Arm auf seine Schulter legte und ihn in eine Seitenstraße zog. »Du benimmst dich auffälliger als dein dummer Lasdo«, flüsterte eine bekannte Stimme in sein Ohr. Canosch zuckte zusammen und atmete gleichzeitig auf. »Dranta! Was soll diese Geheimnistuerei? Warum kommst du nicht in mein Büro? Hier draußen in diesem Gewühl fühle ich mich nicht wohl.« Eine kleine, drahtige Gestalt schälte sich aus dem Schatten der Gasse und blitzte ihn aus blauen Augen an. Sie war fast einen Kopf kleiner als Canosch, strahlte jedoch eine Dominanz aus, die der Wissenschafter sich nicht erklären konnte. Ihr Körper war
14 unter einem weiten Umhang verborgen; sie hätte genauso gut ein Mann wie eine Frau sein können. Sie holte einen Umschlag unter ihrem Mantel hervor. »Watun hat Recht, sie überwachen uns. Ich habe ein paar Typen beobachtet, die sich vor deiner Tür herumdrücken. Denen wollte ich nicht unbedingt in die Arme laufen.« Mit einer herrischen Bewegung verjagte sie den Symbrail, der sich auf ihre Schulter setzen wollte. »Verschwinde! Du hast deine Arbeit getan! Ich brauche dich jetzt nicht!« Der kleine Papageienvogel hatte Canosch die Botschaft überbracht, dass Dranta sich mit ihm treffen wollte. Krächzend flatterte er in die Höhe und setzte sich auf einen Fenstersims. Mit funkelnden Augen sah er zu Dranta hinab. »Der ist lästig! Eines Tages verkaufe ich ihn an eine Schnellküche.« Canosch röchelte entsetzt auf. »Das kannst du nicht ernst meinen. Wir schulden ihnen Respekt und An …« Dranta unterbrach ihn. »Ich lege keinen Wert auf eine Vorlesung! Hier, ich habe den Plan, der hat mich eine Menge Beziehungen gekostet.« Sie leckte mit der Zunge über die vollen Lippen. Canosch hielt sich für einen nüchternen Theoretiker. Doch er hätte blind sein müssen, um Drantas Attraktivität zu übersehen. Sie hatte die richtigen Proportionen, um einen Cappin um den Verstand zu bringen, wie er mittlerweile nur allzu gut wusste. Ganz im Gegensatz dazu stand ihr burschikoses Auftreten. »Hoffentlich sprichst du nicht von den Beziehungen, an die ich gerade denken muss. Du weißt, es gibt immer einen legalen Weg, um an …« Lachend fuhr sie ihm mit der Hand durch das kurze blonde Haar. »Du sollst nicht so viel denken, Professor.« Er mochte es nicht, wenn sie ihn so nannte. Es klang herablassend. »Den Titel muss ich mir erst verdienen. Bald ist es so weit. Dann bekomme ich die Anerkennung, die mir zusteht.« Er nahm den Umschlag aus ihrer Hand und steckte ihn unter seine Jacke. »Du weißt, wo wir uns
Uwe Anton treffen? Heute Abend geht es los. Ich habe als Tarnung eine Studienreise vorgegeben. Der Antrag liegt seit Monaten bei den Behörden; sie werden keinen Verdacht schöpfen. Außerdem reist ein staatlicher Partin mit. Er überwacht unsere Arbeit und ist damit auch unsere Sicherheit gegen diese unbekannten Schnüffler.« Mit großen Augen sah sie ihn an. »Woran du alles gedacht hast! Ich habe gewusst, dass in dir ein Abenteurer steckt. Vom ersten Moment an, als ich dich gesehen habe, wusste ich es.« Sie drückte sich an ihn. Verlegen schob Canosch sie fort. »Dranta, nicht hier. Wir können zum Fluss gehen. Es wird ein heißer Tag heute. Eine Abkühlung würde uns gut tun.« Sie lachte. Ihre blauen Haare schimmerten leicht, als sie den Kopf drehte. »Achtung, da steht wieder einer! Er hat uns noch nicht entdeckt. Wenn ich nur wüsste, für wen die arbeiten, verdammt! Aber das kriege ich noch heraus.« Sie gab Canosch einen schnellen Kuss und lief aus der Gasse in den morgendlichen Trubel. Canosch seufzte. Viele Wesakeno-Ganjasen gingen ihren Geschäften nach. In der Hauptstraße waren schon etliche Läden geöffnet, in denen die landestypischen Produkte angeboten wurden. Die ansässigen Manufakturen waren klein und übersichtlich. Viele Männer arbeiteten zu Hause und hüteten dabei die Kinder. Er wartete einige Sekunden, dann trat er wieder auf die Straße. Von Dranta oder einem Verfolger war nichts zu sehen. Das Geschiebe und Gedränge nahm zum Mittag hin zu. Er wollte nur schnell wieder in die ruhige Oase seines Büros zurück, in das Chaos, über das er die Kontrolle hatte. Langsam stieg der Duft verschiedener Schnellküchen in seine Nase. Sein Magen meldete sich. Wenige Minuten später fand er einen Laden, in dem die Tische nicht so dicht standen und an denen noch Plätze frei waren. Ein Blick auf die Speisekarte ließ ihn er-
Die verlorenen Rhoarxi schauern. Hier wurden Vogelgerichte in allen Variationen angeboten. Zum Glück gab es auch einige Gemüsespeisen. Er bestellte bei einem mürrischen Kellner ein Knollenpüree mit Beilagen. Während er wartete und ein Glas Wasser trank, schweiften seine Gedanken wieder zu den Ausgrabungen. Sie hatten sein Leben verändert. Die Kollegen mieden ihn, den Nestbeschmutzer. Er wühlte ihrer Meinung nach in Dingen, die man besser ruhen ließ. Aber ihre Abneigung schürte seinen Ehrgeiz umso mehr. In den Vorlesungen, die er leider halten musste – die Studenten waren uninteressiert und frech –, bekam er immer mehr den Eindruck, dass er boykottiert wurde. Das letzte Gespräch mit dem Dekan hatte er noch sehr lebhaft in Erinnerung. Er solle doch von seinem Handeln absehen, die Konsequenzen wären für alle unangenehm, aber für ihn, Canosch, geradezu karrieretödlich. Manchmal hatte er das Gefühl, alle würden ihn anstarren. Auf der Straße, in Geschäften und sogar in den Bethäusern. Er verfolgte die Maserung der Tischplatte. Wieso verstand ihn niemand? Wieso war er so allein? Von Dranta einmal abgesehen … Aber ihre Verbindung war inoffiziell, und sie lebten in der ständigen Gefahr, dass jemand hinter ihr Verhältnis kam. Doch irgendwann würde er die Anerkennung finden, die ihm zustand. Er blickte auf und sah den Vermummten, den Dranta erwähnt hatte. Er stand auf der anderen Straßenseite. »Das ist doch …!« Canosch warf ein paar Münzen auf den Tisch und sprang auf. Er war des Spiels überdrüssig; jetzt würde er den Fremden zur Rede stellen. Doch er wusste, er hatte keine Chance. Wesakenos und Fremdvölker wälzten sich durch die Straße, wirkten wie eine natürliche Barriere zur anderen Seite. Händler priesen schreiend ihre Waren an. Gegen das Stimmengewirr kam er einfach nicht an. Seine Worte gingen im Lärm unter. »Bleib stehen! Ich will mit dir reden!«
15 Doch der Fremde war schon längst verschwunden, wie immer, spurlos und ohne ein Wort an ihn zu richten. Die Ungewissheit nagte furchtbar an Canosch, schlimmer, als er es sich eingestehen mochte. War es ein staatlicher Beamter, oder schnüffelte er in privatem Auftrag hinter ihm her? Ging es um die Ausgrabungen, um Dranta oder irgendetwas, das ihm nicht einmal in den Sinn kam? Hatte er so mächtige Feinde, dass sie sich einen Jagdhund leisten konnten? Unwillkürlich hob er die Schultern. Ihn fröstelte, obwohl das Frühjahr begonnen hatte und Nurten eine angenehme Wärme verbreitete. Er tastete nach dem Umschlag, drückte ihn fester an den Körper und machte sich auf den Heimweg. Niemand sollte ihn aufhalten. Niemand. Zwischenspiel Eide Symtosch war zufrieden. Es war ihm problemlos gelungen, Aruma Cuyt, den Kommandanten der Pedopeiler-Einheit CAVALDASCH, als dessen Berater dazu zu bringen, Atlan in die Galaxis Gruelfin zu versetzen. Es war ein Leichtes gewesen, Aruma Cuyt zu überzeugen. Der Kommandant wollte es tun, es fehlten ihm bloß die Fantasie und der Mut. Ein paar wohl gesetzte Worte reichten vollends aus, um ihn dazu zu bewegen. Und so sandte der Ganjase Atlan nach Gruelfin statt zurück in die Milchstraße. So, wie ErEsSie es wollte. ErEsSie, das Schwert der Ordnung. Ja, Eide Symtosch fühlte sich sehr wohl in seiner Haut.
4. Atlan Die Sirenen verstummten wieder. Aber sie waren aus gutem Grund aktiviert worden. Schon allein ein Seesternschiff der Lordrichter hätte einen Alarm gerechtfertigt, aber gleich zwei davon …?
16 Ich spürte, dass meine Augen zu tränen begannen. Ich hatte so gut wie keine Informationen über diese Einheiten, wusste nicht, wie leistungsfähig sie waren. Aber ich musste davon ausgehen, dass sie die Golfballraumer der Zaqoor in jeder Hinsicht übertrafen. Wozu waren diese Schiffe und ihre Besatzungen imstande? Wie gut waren ihre Ortungsinstrumente? Konnten sie einzelne Lebensformen an Bord anderer Schiffe ausmachen? Genauer ausgedrückt – konnten sie feststellen, dass ich, ein Arkonide, an Bord der AVACYN war? Und wie würden sie auf die Annäherung unseres kleinen Schiffes reagieren? Bislang war alles nach Plan verlaufen. Wir hatten uns klammheimlich Eschens Welt angenähert. Die meisten Golfballraumer, die hier im Orbit stationiert waren, hatten sich auf den Weg gemacht, den Kampf gegen die MITYQINN aufzunehmen. Meine List hatte also geklappt. »Wir setzen den Landeanflug fort«, meldete Myreilune. Ich nickte knapp. Alles andere wäre Selbstmord gewesen. Es war zwar ungewöhnlich, eigentlich schon mehr als ein Zufall, dass die AVACYN sich Eschens Welt näherte, als gerade die meisten ZaqoorSchiffe im Orbit abgezogen worden waren, aber nicht so außergewöhnlich, dass es unwillkürlich Misstrauen erregen musste. Auch vorher hatte reger Raumverkehr geherrscht, wenn auch unter gewissen Einschränkungen, die die Besatzer diktiert hatten. »Wir werden angefunkt!« »Wir gehen weiter nach Plan vor.« Ich hatte alles ausgetüftelt. Eine falsche Identität – wir waren Handelstreibende von Vecchal, die eine dringend erwartete Hightech-Lieferung brachten –, eine gefälschte Signatur der AVACYN und eine rudimentäre Maske sollten eigentlich dafür sorgen, dass wir zumindest nicht bei einer normalen Kontrolle durch die Behörden aufflogen. Myreilune räusperte sich. Sie sah mich an,
Uwe Anton und in ihren Augen funkelten Zorn und Besorgnis gleichermaßen. Die Pilotin hatte keinen Zweifel daran gelassen, was sie von meinem Plan hielt. So gut wie nichts. Vor allem die Manipulationen an den Raumschiffen hatten schwere Bedenken bei ihr ausgelöst, vor allem jedoch, weil sie sie trotz ihrer Ausbildung als Pilotin einfach nicht verstehen wollte. Aber hatte ich denn eine andere Wahl gehabt? Der Plan des Schwerts der Ordnung war für mich mittlerweile ziemlich deutlich ersichtlich. Schon die Ereignisse in der Intrawelt bewiesen, dass man über mich an den Flammenstaub herankommen wollte. Genau wie über Peonu, der ja im Auftrag der Lordrichter tätig gewesen war. Nun war es wohl die erklärte Absicht meiner Feinde, mich und die Rhoarxi zusammenzubringen. Würde man mich dann töten, würde der Flammenstaub auf die Vogelwesen übergehen. Aber wie konnte das Schwert der Ordnung sicher sein, dass die Rhoarxi dann auch das tun würden, was es wollte? Seltsam … Das war eine Frage, auf die ich noch keine Antwort gefunden hatte, nicht einmal ansatzweise. Ich hatte lange darüber nachgedacht, ob es unter diesen Umständen für mich ratsam war, die Rhoarxi auf eigene Faust zu suchen. Sollte ich nicht besser eine möglichst große Entfernung zwischen mich und die Vogelwesen bringen? Nein, sagte ich mir. Die Entscheidung hinauszuzögern bedeutete lediglich weiteres Unglück und Blutvergießen in Gruelfin. Ich musste alles in meiner Macht Stehende tun, um endlich die rätselhaften Pläne der Lordrichter zu erfahren und sie zu durchkreuzen. Zudem wusste ich auch nicht, wie viel Zeit mir noch blieb, wie lange ich aus eigener Kraft in der Lage sein würde, eine Entscheidung zu meinen Gunsten herbeizuführen. Der Flammenstaub nagte an mir, unentwegt, beharrlich … Und jegliche Nutzung des Flammenstaubs würde mich nur noch mehr schwächen. Ich glaubte zu wissen, dass ich die Substanz nur noch ein- bis zweimal nut-
Die verlorenen Rhoarxi zen konnte, bevor ich wieder in jene Misere geriet, die ich bereits auf dem Planeten Ende hatte durchmachen müssen. Und eine Wiederholung der damaligen, für mich sehr glücklichen Lösung kam mir höchst unwahrscheinlich vor. Schon in Dwingeloo war es den Lordrichtern wohl um den Flammenstaub gegangen. Diese Galaxis hatte zweierlei Bedeutung für sie gehabt. Einerseits wollten sie die Hinterlassenschaften der Varganen ergründen und damit einen Zugang zum Mikrokosmos finden, andererseits die Bergung des Flammenstaubs aus der Intrawelt vorbereiten, so viel stand mittlerweile fest. In Gruelfin war es ihnen immer nur um den vierten Stamm der Rhoarxi gegangen. Sowohl hier als auch in Dwingeloo waren ihre Expansionsgelüste möglicherweise nur Nebengeräusche oder Beschäftigungstherapie für die TrodarGläubigen gewesen. Was aber hatten die Lordrichter in der Milchstraße gesucht? Warum hatten sie sich dort so intensiv mit den Psi-Quellen beschäftigt? Tatsächlich nur, um mittels Schwarzer Substanz über Dwingeloo in den Mikrokosmos der Varganen vorzudringen? Oder gab es einen weiteren Grund für ihren Aufenthalt in meiner Heimatgalaxis? Vielleicht einen, der mit meinen Erlebnissen in der jüngsten Vergangenheit zu tun hatte? Übersah ich irgendetwas? »Landeerlaubnis erteilt!«, sagte Myreilune. Die Überraschung in ihrer Stimme war unverkennbar. Wahrscheinlich hatte sie schon Ausweichmanöver vorbereitet, um vor dem Sperrfeuer der Raumhafen-Bodenforts zu fliehen. »Man hat uns ein Feld zugewiesen.« Ich lächelte schwach, vermied dabei jeglichen Anflug von Überheblichkeit. Ich wollte nicht den alten, erfahrenen Unsterblichen spielen, der mit jeder Geste ausdrückte: Habe ich es nicht gesagt? Das hätte die Pilotin nur noch mehr gegen mich aufgebracht. Ich entspannte mich. Zwar konnten wir eine Intervention durch die Seesternschiffe nicht völlig ausschließen, doch ich ging nun davon aus, dass wir unbehelligt auf Eschens
17 Welt landen konnten. Während die Halbinsel und dann der Raumhafen auf den Holos immer größer wurden, dachte ich an mein letztes dringendes Problem, an den Lordrichter Saryla, der mir als Verbündeter zur Verfügung stand. Dennoch hatte ich es vorgezogen, ihn vorerst einmal in eine Zelle zu sperren. Mir war es gelungen, den Lordrichter nach Absicherung der Sternenstation BOYSCH gefangen zu setzen. Da ich Flammenstaub einsetzen musste, um das Eishaarfeld des Lordrichters auszuschalten, war ich noch immer sowohl mental als auch physisch geschwächt. Aber es hatte sich gelohnt. Ich hatte eine armselige Gestalt unter dem Tarnfeld hervorgezerrt, einen Cappin, etwa so groß wie ich, der eine Narbe quer über das Gesicht trug und dessen rechte Hand teilweise deformiert war. Ohne das Eishaarfeld war jegliche Bedrohlichkeit von ihm abgefallen. Ich hatte es mit einem ganz normalen Lebewesen zu tun, das allerdings von Hass und Zorn verzehrt wurde. Saryla wusste längst, dass er vom Schwert der Ordnung als Kanonenfutter vorgeschoben wurde, um meine Schwächung herbeizuführen, und war daher, vom Drang nach Rache beseelt, einen Pakt mit mir eingegangen. Dass dies nur ein Bündnis auf Zeit sein konnte, war uns wohl beiden bewusst. Doch ich war nicht bereit, auf Saryla zu verzichten. Auch wenn unsere Übereinkunft auf äußerst wackeligen Beinen stand und ich den Takerer nach wie vor als Handlanger des Bösen betrachten musste, konnte er im bevorstehenden Kampf gegen den Obersten Lordrichter und das Schwert der Ordnung das Zünglein an der Waage darstellen. Mir war allerdings wirklich nicht wohl in meiner Haut, und ich vertraute Saryla nicht. Aber ich hatte keine Alternativen. Ich musste auf dieses heikle Spiel eingehen. Mein kurzfristiger Plan sah vor, ihn noch stärker gegen das Schwert der Ordnung aufzuhetzen, und ich hatte Saryla während des Flugs nach Eschens Welt versprochen, ihn zum Obersten Lordrichter oder sogar zum neuen
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Schwert der Ordnung zu machen, wenn er mir half. Ich vertraute dabei auf das psychologische Profil, das ich von ihm erstellt hatte. Für ihn war ich ein ehrlicher Narr. Wenn ich etwas versprach, würde ich es auch halten – ich nahm an, dass der Cappin davon ausging. Er würde mir zumindest kurzfristig keinen Dolch in den Rücken stoßen. Gab es für den Lordrichter einen größeren Triumph, als das Oberkommando über diese riesenhafte Machtbasis zu erhalten und zugleich jenen, der ihn reingelegt hatte, zu vernichten? Aber irgendwann würde es zur Konfrontation kommen. Ich war nicht gewillt, mit offenen Augen ins Verderben zu rennen, mich ohne Rückversicherung auf solch ein Spiel einzulassen, mich treiben zu lassen und dann zu hoffen, dass Saryla Wort hielt oder mir im entscheidenden Moment etwas einfiel. Ich brauchte ein Ass im Ärmel, und ich hatte eins. Auch wenn ich dessen Einsatz vielleicht nicht überleben würde. Aber noch stand mir der Flammenstaub zur Verfügung, und der Lordrichter wusste, dass ich ihn damit in Schach halten oder sogar töten konnte. Eine heikle, riskante Angelegenheit. Nein, obwohl bislang alles so gut geklappt hatte, wie es besser nicht klappen könnte, war meine Stimmung wirklich nicht die beste, als die AVACYN unbeschadet auf dem Raumhafen von Brynsch aufsetzte.
* Man konnte sich noch so gut auf seinen Einsatzort vorbereiten, echtes Lokalkolorit ließ sich durch Datenblätter und Holoaufzeichnungen nicht vermitteln. Ich roch das Leben auf dem Markt von Brynsch, die mannigfachen Gewürze, die hier feilgeboten wurden, von süß über scharf bis salzig und sauer, die Ausdünstungen der Cappins und ihrer Vögel. Gefiederte Wesen schienen in der Tat die bevorzugten Haustiere der Einheimischen zu sein. Was wiederum dafür
sprach, dass ein avoides Volk wie die Rhoarxi guten Grund gehabt hatte, sich hier unter ihresgleichen niederzulassen. Ich sah das Leben auf Eschens Welt, die einfach, aber adrett und sauber gekleideten Cappins, die eigentlich niemals mürrisch, immer gut gelaunt zu sein schienen und gern einen Plausch abhielten, während sie versuchten, ihre Waren an den Mann zu bringen. Wären da nicht … ja, wären da nicht die kleinen Zaqoor-Trupps gewesen, die sich zumeist zwar zurückhielten, manchmal aber auch willkürlich und ohne jeden offensichtlichen Grund auf die friedliche Bevölkerung zugingen, auf sie einprügelten und deutlich zeigten, dass sie hier das Sagen hatten. Ich tat es den Bewohnern der Stadt gleich und versuchte, ihnen aus dem Weg zu gehen, bevor ich bei einer besonders brutalen Attacke noch alle Vorsicht über Bord warf und ein paar Kriegern zeigte, dass nicht alle hier wehrlos waren. Und ich hörte das Leben, die schnellen, melodischen Gespräche der Zaqoor, aber auch das Kreischen ihrer Haustiere. Einmal gingen wir an einem Wesakeno vorbei, der von Zusthoas umschwärmt wurde. Die spatzengroßen Vögel, deren Flügel ähnlich gekrümmt waren wie die von Schwalben und deren Hornschnäbel sehr ausgeprägt waren, flatterten erregt hoch, als ich in einem Abstand von mehreren Metern am Besitzer der Vögel vorbeiging. Ich wusste nicht, woran es lag oder was es zu bedeuten hatte, aber auch ich fühlte mich von den Tieren irgendwie … berührt. Wir, das waren Myreilune und ich. Die Pilotin war meine einzige Begleiterin, und wir hatten umgehend Kontakt zur Bevölkerung gesucht. Wir benötigten dringend einen raschen Überblick über das, was hier gespielt wurde, und mussten herausfinden, ob die Zaqoor bereits eine Spur der Rhoarxi gefunden hatten. Die Zeit drängte; wer die lordrichterlichen Truppen kannte, wusste, dass sie in der Wahl ihrer Mittel nicht zimperlich waren. Wollte ich auch nur eine minimale Aussicht auf Erfolg haben, musste ich mich
Die verlorenen Rhoarxi auf meine Erfahrung und meinen Spürsinn verlassen. Myreilune kam mir allerdings ziemlich unkonzentriert vor und noch verdrossener, als es sonst bei ihr der Fall war. Vielleicht war es angebracht, diese Sache endlich aus der Welt zu schaffen. »Hat deine schlechte Laune damit zu tun, dass Carmyn mit ihrer Idee Recht behalten hat?«, fragte ich sie. »Dem kannst du nicht widersprechen, oder?« Die Kommandantin der AVACYN und ich hatten diesen Plan schon vor einiger Zeit durchgespielt, praktisch als Vorsorge für alle Fälle. Myreilune sah mich aus zusammengekniffenen Augen an. Ihr Blick war wirklich nicht sehr freundlich. Aber das war er ja eigentlich nie. »Wie meinst du das?« »Mir ist aufgefallen, dass du die Kommandantin prinzipiell unfreundlich behandelst. Und ich hatte den Eindruck, dass du nicht aus Überzeugung gegen unseren Plan gesprochen hast, sondern nur, um eine Gegenposition zu ihr beziehen zu können.« In den Augen der Ganjasin flackerte es hell auf. »Geht dich das irgendetwas an? Ich verstehe sowieso nicht, wieso Carmyn dich dermaßen vergöttert.« Ich zog die Brauen hoch. Mit solch einer heftigen – und unsachlichen – Reaktion hatte ich nicht gerechnet. Da schien mir mehr im Spiel zu sein als allgemeines Konkurrenzdenken. »Habe ich einen Nerv getroffen?« Myreilune schüttelte sich buchstäblich. »Ihr versteht gar nichts. Das ist schon immer so gewesen. Bei den Takerern, bei den Ganjasen, bei allen anderen.« Nun runzelte ich die Stirn. Ich verstand wirklich nicht, was sie meinte, und das sagte ich ihr auch. »Wer … ihr?« »Ihr Männer«, fauchte Myreilune. Allmählich dämmerte mir etwas. »Meinst du etwa … da läuft was zwischen Carmyn und dir?« Die Ganjasin verdrehte die Augen. »Eben nicht. Ihr versteht auch gar nichts!« »Wir … die Männer?«
19 Sie wandte den Blick ab, wirkte plötzlich nicht mehr aggressiv und streitlustig, sondern verletzt. »Genau. Ihr, die Männer.« Kristallprinz, meldete sich der Extrasinn, wie blöd bist du eigentlich? Offensichtlich sehr blöd, aber darauf wäre ich nicht gekommen. Nun gut, ich hatte auch nicht darauf geachtet, mir keine Gedanken darüber gemacht. Ich hatte es nicht einmal bemerkt. Ging mich ja auch nichts an. Wichtig war ausschließlich, dass das Team funktionierte. Ich lachte leise auf. »Du bist also so eklig zu Carmyn Oshmosh, weil du sie …« »Weil ich sie liebe, verdammt.« Sie blieb stehen. »Und sie weiß es nicht mal. Sie verknallt sich in einen weißhaarigen, rotäugigen Fremden aus einer weit entfernten Galaxis, der ihr Herz im Sturm erobert hat, und opfert sich für ihn auf.« »Das war nicht meine Absicht. Ich habe sie in keiner Weise ermutigt. Glaub mir, ich habe ganz anderes im Kopf als Beziehungen.« Ich musste an Li denken, die ich für die Liebe meines Lebens gehalten hatte, und an Kythara, die zur Liebe meines Lebens geworden war, weil ich sie nicht hatte haben können. Tot. Beide tot. »Es stört mich nicht, dass du Frauen liebst«, sagte ich. »Das ist völlig akzeptabel. Es geht nur dich und deine Freundin etwas an …« »Spar dir diesen Mist. Und versuche erst gar nicht, den Verständnisvollen zu spielen.« Überrascht runzelte ich die Stirn. »Ich hatte nicht vor …« Sie schnaubte verächtlich. »Jetzt reicht's mir«, sagte ich. »Habe ich mich in irgendeiner Hinsicht dir gegenüber nicht so verhalten, wie man es von mir erwarten kann? Also hör mit diesem Blödsinn auf. Deine Beziehungskisten sind deine Sache, ich kann nicht dafür, dass du … gewisse Probleme hast.« Wir gingen langsam weiter über den Markt. »Wie habt ihr es gemacht?«, fragte
20 sie leise und verdrossen. Ich drehte mich zu ihr um und sah sie an. »Was?« »Ich verstehe es nicht. Ich habe versucht, es zu begreifen, aber es erschien mir von Anfang an viel zu riskant, und ich …« Sie sah mich trotzig an und verstummte dann. »Wie man im Weltraum Schiffe voneinander unterscheiden kann? Ganz einfach. Durch Aktiv- und Passivortung sowie rein optisch. Natürlich nur bei ausreichender Annäherung, wobei das ›optisch‹ durchaus auch die übrigen Bereiche des elektromagnetischen Spektrums umfasst. Wenn Raumer also aufeinander treffen, geben sich die Syntroniken mit einer Meldung zu erkennen. Mit einem Kode oder so.« Sie schnaubte. »Hier spricht Kommandantin Carmyn Oshmosh, die Hochwohlgeborene, Kennung Unnahbar, Kode Rührmichnichtan.« Ich überging die Spitze. »So ungefähr. Damit wäre ihre Identität dann hinlänglich geklärt. Das dürfte zumindest das Standardverfahren sein. Gegebenenfalls auch automatisiert als Freund-Feind-Kennung, im Allgemeinen im Sinne eines aktiv ausgestrahlten Signals, um beim entsprechenden Ping des Gegenübers bei diesem nicht sofort die Alarmstufe eins mit dem Hochfahren aller Waffen hervorzurufen.« Myreilune schüttelte den Kopf. »Und das lässt sich bei Kenntnis des Signals oder genauer gesagt dessen Verschlüsselung auch fälschen …« »Genau das begreife ich nicht. Das hilft dir bei feindlichen Einheiten doch nicht weiter. Die vertrauen normalerweise keinen Signalen der Gegenseite.« Ich runzelte die Stirn. »Hinzu kommen dann noch die Standardcharakteristika, die sich zum Beispiel aus den schiffstypischen Streuemissionen ergeben. Aber die lassen sich ebenfalls fälschen.« »Also dürften sie nur einen Teil des Erkennungsverfahrens darstellen.« »Ganz genau …« »Und da komme ich nicht ganz mit.« »Die Frage lautete: Wie ist das nun mit ei-
Uwe Anton ner feindlichen Einheit, die ich suche, von deren Bauweise aber Zigtausende herumschwirren? Wie kann ich die eine spezielle herausfiltern?« »Normalerweise nur, wenn ich deren Charakteristika schon vorher kenne, um gezielt danach suchen zu können. Sonst wäre es ja eine Suche nach der Stecknadel im Stecknadelhaufen …« »Richtig! Ich habe also ein kleines Ablenkungsmanöver angeordnet. Einige Vasallen des SAMMLERS setzten sich auf meine Anweisung so zusammen, dass sie äußerlich wie die AVACYN aussahen, die in Wirklichkeit von uns bemannt wurde.« »So weit, so gut. Aber …« »Und zusätzlich strahlt ein jedes Schiff eine ganz spezielle Kennung aus. Ein Potpourri verschiedenster Abstrahlungen, die den Antrieb, die Aktivortung, den Schutzschirm und so weiter umfassten und in ihrer Gesamtheit Strahlungssequenzen ergaben, die sich in geringsten Kleinigkeiten von denen anderer Schiffseinheiten unterscheiden und eben eine einmalige Kennung ergaben.« »So weit ist mir das klar.« »Das Vasallenschiff hat nunmehr exakt diese Kennung nach außen hin abgestrahlt und so den Anschein erweckt, die AVACYN zu sein. Jene AVACYN, die wir in einem Ablenkungsmanöver vorgeschoben haben, war nur ein fliegendes potemkinsches Dorf. Ist das irgendwie nachvollziehbar?« »Bis zu diesem Punkt durchaus. Wer aber versucht nun wen zu orten?« »Jemand, der vorher schon mal die AVACYN und deren Charakteristika angemessen hat – und genau deshalb gezielt nach diesem Schiff sucht und eben deshalb getäuscht werden kann.« Myreilune war noch immer nicht überzeugt – obwohl es einwandfrei funktioniert hatte. »Das könnte so funktionieren und ist nachvollziehbar«, gestand sie ein. »Kennt die Gegenseite diese Charakteristika aber nicht, ist es vorbei, denn dann hat sie einen Stecknadelhaufen mit zahlreichen ›identischen‹ Stecknadeln, zu dem sich eine weitere in Form des Vasallenkonglomerats
Die verlorenen Rhoarxi gesellt.« »Das war das Risiko«, bestätigte ich. »Ich musste also auf die Intelligenz der Lordrichter setzen. Ihre Truppen mussten bereits mindestens einmal der AVACYN begegnet sein und ihre Signatur gespeichert haben, denn nur dann konnten sie auf der Basis dieser Informationen gezielt nach dem Schiff suchen. Die AVACYN ist mit Truppen der Lordrichter zusammengestoßen. Ich konnte also nur davon ausgehen, dass sie die Signatur des Schiffes gespeichert haben und mich mit ihm in Verbindung bringen. Ein Risiko, sicher, aber ein kalkuliertes.« Myreilune konnte sich nicht verstellen. Ihre Skepsis blieb bestehen. »Das wäre mir zu riskant gewesen. Und genau das wollte ich euch begreiflich machen. Das hat gar nichts mit Carmyn zu tun …« Nun musste ich doch lächeln, aber mir gelang es, den Kopf noch rechtzeitig zur Seite zu drehen. Myreilune konnte sich einreden, was sie wollte, es hatte mit der Kommandantin zu tun. Mit ihrer Liebe. Die sie nie erreichen würde, im Gegensatz zu mir. Aber was hatte es mir gebracht? Diesmal verdrängte ich die Gedanken an Li und Kythara. Und daran, wie Kythara gestorben war. Unwürdig, einfach unwürdig. Das würde ich den Sternengöttern, die die Fäden des Schicksals spinnen, niemals verzeihen. Ins Dengejaa Uveso mit ihnen! Ich schüttelte mich, verdrängte die Gedanken an Li und Kythara und auch die an Myreilune und ihre aus der Ferne angebetete Liebe und konzentrierte mich wieder auf die Gegenwart. Bislang war alles glatt gegangen. Die Lordrichter hatten die falsche AVACYN – das Vasallenschiffskonglomerat, das die Signatur des Originals gefälscht und ausgestrahlt hatte – geortet und darauf reagiert. Sie hatten Teile ihrer Truppen aus dem Orbit von Eschens Welt abgezogen und damit Löcher in der ganzflächigen Überwachung geschaffen. Das hatte es uns in der richtigen AVA-
21 CYN ermöglicht, sich dem Planeten anzunähern und im Geheimen zu landen. Mehr noch, die AVACYN galt bei dem Lordrichtern nun als vernichtet. Diese Täuschung würde nicht lange unbemerkt bleiben, doch sie verschaffte uns immerhin eine gewisse Atempause. Ich konnte nur hoffen, dass die verfrühte Meldung über meinen vorzeitigen Tod bereits nach Eschens Welt gelangt war, so dass die Truppen der Lordrichter die aktive Suche nach mir aufgegeben hatten. Früher oder später würden sie mich und Myreilune natürlich entdecken, doch es galt, diesen Augenblick so lange wie möglich hinauszuzögern und die Gunst der Stunde zu nutzen. Gut, dass du das einsiehst, meldete sich der Extrasinn. Nachdem du nun Myreilunes Gefühlsleben erkundet und ihr einfachste Astronautik erklärt hast, könntest du dich wieder dringenderen Angelegenheiten widmen … falls es dir nichts ausmacht. Ich seufzte innerlich. Natürlich hatte der Logiksektor Recht. »Du meinst also wirklich, diese Handelsherrin …« »Atamina Mawysch«, half Myreilune mir aus. Natürlich hatte ich den Namen nicht vergessen, konnte das aufgrund meines fotografischen Gedächtnisses gar nicht. Ich wollte damit nur bewirken, dass die Pilotin sich aufgewertet und wichtiger fühlte. »… könnte uns helfen, die verlorenen Rhoarxi zu finden?« »Wenn das jemand kann, dann sie.« »Was ist das für eine Frau?« Myreilune lächelte geheimnisvoll. »Sie besitzt eines der größten Handelskontore in Brynsch und betreibt mehrere andere Häuser. Es ist nicht mehr weit bis zu ihrem Anwesen. Wart ab und lass dich überraschen.«
5. Canosch Leyne Sie waren zu viert, schwer bewaffnet und unterhielten sich in einer rauen Sprache. Canosch drückte sich in den Eingang ei-
22 nes Hauses und hielt den Atem an. Das martialische Aussehen der Fremden ließ die Umgebung grau wirken. Sie trugen Rüstungen, Kampfpanzer, was auch immer. Ein jeder von ihnen hätte wohl die ganze Stadt in Schutt und Asche legen können. Sie rempelten Vorbeikommende an und lachten. Aber sie brachten keinen um. Noch nicht. Canosch kannte sie natürlich. Zaqoor! Aber was wollten sie hier? Auf Eschen? Auf einer unbedeutenden Welt, auf dem abgelegenen Westkontinent ohne besondere Infrastruktur, nur mit Feldern bedeckt, so groß, dass sie scheinbar von Horizont zu Horizont reichten? Hier gab es nichts von Bedeutung. Oder doch? Was trieb sie an? Eschens Hauptstadt Abwanskay mit unglaublichen vier Millionen Einwohnern lag auf dem Ostkontinent. Dort liefen die Fäden der Macht zusammen. Und doch standen sie hier, nur einige Meter von seinem Haus entfernt. Zufall? Canosch wusste, dass die Wesakenos die Zaqoor mieden wie eine ansteckende Krankheit. Sie gaben ihnen falsche Auskünfte, schickten sie in die Irre und hofften, sie würden nie wiederkehren. Doch diese Krankheit kam immer wieder zurück, breitete sich aus und brachte das pulsierende Leben zum Stillstand. Was sollte er also tun? Canosch nahm seinen ganzen Mut zusammen und ging langsam an den Zaqoor vorbei. Er hatte keine andere Wahl, sein Haus hatte nur diesen Eingang. Und er musste noch Vorbereitungen treffen; zu viel stand auf dem Spiel. Noch ein paar Schritte, dann war er vor … »He! Du da! Komm her!« Sie sprachen abgehackt und undeutlich, aber der Befehl war so eindeutig wie der Ton, in dem er ausgesprochen wurde. Canosch sank in sich zusammen. Er musste ruhig bleiben; sie konnten nichts wissen. Nicht davon … »Was für ein mickriger Bursche! Der sieht aus, als würde er seine Nase nur in Bü-
Uwe Anton cher stecken.« Ein fast zweieinhalb Meter großer Kerl mit kurz geschorenen Haaren – wohl der Anführer – stieß den Lauf seiner Waffe in Canoschs Magen. Stöhnend fiel er auf die Knie. Seine Jacke öffnete sich, und der braune Umschlag flatterte zu Boden. »Was haben wir denn da? Nacktfotos seiner Geliebten?« Eine grobe Hand griff nach dem Papier. Vor Canoschs Augen flimmerte es. Vorbei. Aus. Wie sollte er diesen Kerlen Paroli bieten? Seine einzige Hoffnung war, dass sie mit dem Papier nichts anfangen konnten. »Bah, da ist nur sinnloses Gekritzel drauf. Sieht aus wie eine Karte.« Der Zaqoor drehte den Plan von oben nach unten und von links nach rechts. »Er ist der Mühe nicht wert.« Canosch zuckte zusammen. Diese Stimme … er kannte sie! Mühsam hob er den Kopf. In seinen Ohren rauschte es, und sein Magen fühlte sich an, als wäre er von innen nach außen gestülpt worden. Dranta! Sie stand vor den vier Zaqoor und hatte die Hände in die Hüften gestemmt. »Ich dachte immer, so große Burschen wie ihr legen sich nur mit Gleichgesinnten an. Der hier sieht nicht besonders mutig aus.« Die erlösende Ohnmacht kam einfach nicht, und Canosch richtete sich hustend auf. Noch immer hielt ein Zaqoor den Umschlag in der Hand. Der Größte der vier grinste Dranta an. »Kleine, willst du uns belehren?« Sie grinste zurück. Canosch röchelte und hob die Arme. Er wollte sie wegschicken, doch er brachte kein Wort über die Lippen. »Ihr wollt euren Spaß? Ist doch stinklangweilig hier, oder? Ausgerechnet in dieses Nest schickt euch euer Boss? Wo doch überall gekämpft wird! In Gruelfin gibt es keinen öderen Ort als diesen.« Dranta senkte die Stimme; sie reichte dem Zaqoor gerade an die Brust. Der Krieger musste sich hinabbeugen, um sie zu verstehen.
Die verlorenen Rhoarxi Verschwörerisch flüsterte sie etwas in sein Ohr. Canosch verstand kein Wort, aber nach einigen endlosen Sekunden ließ der Kerl den Umschlag achtlos fallen und rief seine Leute zusammen. »Du hast eine kluge Freundin. Vielleicht kommen wir wieder!« Er lachte, und die vier setzten sich in Bewegung und gingen weiter. Langsam entschwanden sie aus Canoschs Blickfeld. Dranta lief zu ihm und legte einen Arm um ihn. »Ausgerechnet heute müssen die vor deiner Tür lungern! Komm, gehen wir hinein. Ich muss dir was erzählen. Hoffentlich hat der dämliche Lasdo ein paar Storten-Eier übrig gelassen. Ich hätte jetzt Lust auf eine gute Speise.« Sie zwinkerte ihm zu. Canosch war beschämt. Sie hatte ihm aus einer Lage geholfen, in der ein richtiger Mann anders gehandelt hätte. Er hatte nur auf dem Boden gelegen und gehofft, die Schwärze würde ihn schlucken, damit alles schnell vorbei war. »Ich … ich bin so feige. Es tut mir Leid, aber du hast Recht, ich bin der Mühe nicht wert.« Röchelnd brachte er die Worte hervor. Sie blieb stehen und nahm sein Gesicht in die Hände. »Sag es mir ins Gesicht! Sag, dass du ein Schlappschwanz bist!« Ihre Worte klangen hart. Er sah in ihre blauen Augen. Oder waren sie grün? Verdammt, sie war seine Freundin, seine große Liebe! Im Tageslicht schillerten sie in vielen Farben. Nein, er war kein Feigling! Er zog sie an sich und küsste sie. »Ich werde nie wieder an mir zweifeln. Wir haben einen schweren Weg hinter uns und einen noch schwereren vor uns. Wir müssen an uns glauben.« Sie nickte. »Endlich hast du es begriffen.« »Was hast du denen erzählt?« »Das willst du gar nicht wissen.« Canosch seufzte und musste wieder an ihre Beziehungen denken. Nein, er wollte es wirklich nicht wissen.
*
23 »Wer seid ihr? Wie kommt ihr in mein Haus?« Für einen Abend reichte es ihm. Die Auseinandersetzung mit seinen Kollegen, die Begegnung mit Dranta, die Zaqoor und nun ein Einbruch? Gerade eben war er noch voller guter Vorsätze gewesen, doch als er die beiden Unbekannten in seinem Büro sah, schmolz sein Mut wie Butter in der Sonne. Bei Ovaron! Das war alles zu viel für ihn. Und was sollte er jetzt tun? Den Einbruch konnte er nicht anzeigen, da viele Dokumente in den Akten lagerten, die besser kein Dritter zu Gesicht bekam. Manchmal dachte er verquer. Wieso glaubte er, jemals Anzeige erstatten zu können? Erwartete er etwa, diese beiden Typen allein durch sein Erscheinen zu vertreiben? Eher würden sie ihn zusammenschlagen, wenn nicht sogar umbringen. »Beruhige dich, Canosch.« Dranta setzte sich auf den Schreibtisch. »Das sind Frunk und Resbo. Ich dachte, wir könnten sie auf unserer … äh … Wanderung gebrauchen.« Er verstand gar nichts mehr. In seinem Sessel lümmelte ein junger Ganjase, der irgendein streng riechendes Kraut kaute. Der andere stand schier unbeteiligt da und war in eine Akte vertieft. Canosch riss sie ihm entrüstet aus den Händen. »Du kannst tatsächlich lesen?« Er spielte auf das heruntergekommene Äußere des Jungen an, der kein Kleidungsstück trug, in dem nicht Risse oder Löcher waren. Sie waren zerfranst, und die Farben waren ausgebleicht. Sein Blick schien dem Ganjasen nicht entgangen zu sein. »He, Mann, das sind Designerklamotten. Kann nichts dafür, wenn du das nicht kennst. Sind ferynxenteuer, hab lang dafür geschuftet.« »Gib mal nicht so an, Frunk, das sind Plagiate. Wenn du dafür viel bezahlt hast, bist du selbst schuld.« Canosch starrte Dranta an. Sie kannte diese Typen? Natürlich saßen genau diese jungen Leute auch in seinen Vorlesungen, mit genau diesem desinteressiertem Blick, und
24 genau deshalb mochte er sie nicht. »Sie wollen dir ihr Können unter Beweis stellen. Deshalb sind sie hier eingestiegen. Keine Angst, du kannst ihnen vertrauen, sie beklauen nur Leute, die sie nicht leiden können.« Dranta kicherte. Fand sie das etwa lustig? Canosch runzelte die Stirn. Das war seine Freundin? Ihre Mutter hatte angeblich einen gewissen Einfluss in dieser Stadt, aber Dranta hatte mit ihr gebrochen, wollte auf eigenen Füßen stehen. Und nun das? Ein ungewöhnliches Geräusch drang aus einem Schrank. Frunk sprang auf. »Ups, den hatte ich ganz vergessen.« Er öffnete die Tür, und ein zerzauster Lasdo torkelte aus dem dunklen Gefängnis. Canosch verdrehte die Augen und röchelte. »Seid froh, dass Dranta euch kennt. Ich weiß nicht, was ich mit euch Kamastenquälern sonst gemacht hätte.« Erschöpft ließ er sich in einen Stuhl fallen, von dem Resbo schnell seine Füße zog. »Strang, Alter. Wir sind nur hier, weil Dranta uns darum gebeten hat. Wir können wieder gehen, kein Problem. Ich hab noch ein paar Gigs am Laufen.« Frunk klang plötzlich sehr ernst. Er war anscheinend der Ältere, hatte wohl den Überblick. Dranta sah ihn empört an. »He, wir hatten eine Abmachung! Du hältst dich daran, oder du bekommst gar nichts von mir.« »Mal locker, Dranta-Maus. Der Typ scheint keine Peilung von uns zu haben. Hast du ihn noch nicht in deine Pläne eingeweiht?« Resbo stocherte mit dem Kraut zwischen den Zähnen herum. Canosch wurde fast übel von dem Gestank, den der Junge ausdünstete. Mit schweren Augen sah er nach Lasdo, der sich beleidigt in eine Ecke zurückgezogen hatte. »Das hatte ich gerade vor, aber ihr wart schon da.« Dranta griff nach Canoschs Arm und zog ihn von den beiden weg. »Sie haben einen absolut superschnellen Flitzer. Mit dem Ding sind wir locker in vier Stunden
Uwe Anton bei den Ruinen. Da können wir uns noch auf die Matte legen und ausruhen.« Beschwörend sah sie ihn an. Canosch wusste nicht, ob er schimpfen oder lachen sollte. Er fühlte sich überrollt von Dranta und ihren Ideen. Sie fragte ihn immer erst, wenn sie längst eine Entscheidung getroffen hatte. Das ärgerte ihn, auch wenn ihre Aktionen ihm oft geholfen hatten. »Du hättest mir früher Bescheid sagen müssen! Ich habe dich so oft darum gebeten, und dir ist das ganz egal! Warum gehst du nicht gleich mit deinen komischen Freunden in die Ovolay und lässt mich zurück?« Canosch versuchte, den intensiven Duft ihrer Haut zu ignorieren, den Blick ihrer Augen, dem er nicht widerstehen konnte. »Sei doch nicht gleich wieder beleidigt! Frunk hat etwas Wichtiges herausgefunden. Wir brauchen die beiden, mit deiner müden Klapperkiste kommen wir nicht weit.« Dranta war verletzend offen und ehrlich. Natürlich wusste Canosch, dass sein Flugpod nicht der neueste war, aber er hätte sie ans Ziel gebracht. »Du hast an alles gedacht, nicht wahr? Was hat Frunk so Bedeutendes zu sagen?« Er wollte vor den beiden Fremden keinen Streit mit Dranta anfangen, sich diese Blöße ersparen. »Da läuft so ein seltsamer Freak durch die Gegend und stellt Fragen. Er interessiert sich für die gleiche Sache, an der du arbeitest, und er hat viel Geld.« Frunk kratzte sein Kinn. »Er hat eine Frau dabei, nicht gerade die Schönste, da ist Dranta die reinste Göttin der Morgenröte, wenn du mich …« »Was du nicht sagst. Und was ist das für ein Typ?« Canosch steckte seine wichtigsten Dokumente in eine Tasche; bald würden sie aufbrechen und die Beweise finden, nach denen er so lange gesucht hatte. »Keine Ahnung. Irgendein Händler. Lange schwarze Haare, grüne Augen. Er hat eine seltsame Aura, als … würde etwas um ihn fliegen.« Frunk beugte sich vor. »Außerdem stellt er ziemlich präzise Fragen. Also, ich habe den Eindruck, der weiß mehr,
Die verlorenen Rhoarxi als er zugibt.« »Dein Eindruck interessiert mich aber nicht. In der Stadt herumlaufen und Fragen stellen kann jeder. Vielleicht eine Falle … Bist du darauf schon mal gekommen? Die wollen uns nervös machen, aus der Reserve locken …« Canosch röchelte wieder. Die Angaben des Jungen beunruhigten ihn mehr, als er zugeben wollte. Das Netz zog sich immer enger zusammen. Er konnte es fast spüren. »Wir ändern unseren Plan. Ich werde mit Lasdo allein losfliegen. Wir treffen uns dann in der Ovolay. So können sie nur einem von uns folgen, und wir können etwaige Verfolger besser abschütteln. Vorher werde ich die Zaqoor auf den Typen aufmerksam machen. Die werden sich dann um ihn kümmern.« »Ich komme mit dir!« Dranta sah ihn trotzig an. »Ich lasse dich doch nicht allein in die Ovolay fliegen!« Sie zeigte auf einen Beutel, den sie auf dem Rücken trug. »Ich habe schon gepackt.« Canosch zögerte kurz und nickte dann ergeben. »Aber ich bin nicht so schnell wie deine beiden jungen Freunde. Ich hoffe, du bist nicht zu sehr enttäuscht.« »Sei nicht albern. Ich kenne deinen lahmen Flugpod.« Sie drehte sich zu Resbo um, der stumm vor sich hin kaute. »Wir treffen uns am Zymschfeld. Seid pünktlich, sonst läuft die Geschichte ohne euch.« Der junge Mann lachte heiser auf. »Wir werden schon Stunden vor euch dort sein.« Canosch fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken, die beiden jungen Burschen dabeizuhaben. Warum sollte er ihnen trauen? Weil Dranta sie kannte? Konnte er Dranta überhaupt vertrauen? Weshalb engagierte sie sich so für seine Sache? Nur wegen ihrer Mutter? Das konnte er nicht so ganz glauben. Nein, er musste eine Rückversicherung einbauen, damit er bei einem Reinfall gewappnet war. »Es bleiben uns nur noch ein paar Stunden. Wir sollten uns hinlegen und etwas schlafen.« Canosch lächelte Dranta an. Sie
25 konnte ihn nicht immer durchschauen, und das war nur gut so.
* Canosch seufzte zufrieden. Obwohl Watun abgesprungen war und Umschol nur bei der Truppe blieb, weil er um Dranta balzte wie ein heißer LaufKamaste, waren seine Pläne nicht gefährdet. Am frühen Morgen, als Nurten gerade aufging und Brynsch in ein zartes rosa Licht tauchte, war er aus dem Haus geschlichen. Dranta hatte sich leise schnarchend auf die andere Seite gewälzt; sie schlief tief und fest und hatte nichts bemerkt. Sie war kein Morgenmensch, stand meist erst auf, wenn andere schon von der verrichteten Feldarbeit nach Hause kamen. Canosch war es nur recht. Er ging zu Fuß; der Weg zum Rathaus war nicht weit. Es lohnte sich nicht, den lauten und stinkenden Flugpod zu benutzen. Das alte Gefährt war längst schrottreif, aber ihm fehlten die notwendigen Mittel, es zu ersetzen. Das bescheidene Gehalt, das ihm die Anstellung als Doktorand einbrachte, floss fast komplett in die Forschungsarbeit. Mit seinen 34 Jahren war er einer der jüngsten Forscher auf dem umstrittenen Gebiet der Frühgeschichte Eschens. Vor dem Haus flatterte ein bunter Symbrail. Canosch blieb stehen und versuchte, in dem schwachen Licht Einzelheiten auszumachen. Ja, es war Drantas Bote. Der kleine Papageienvogel zirpte, als er Canosch erkannte. Der Wissenschaftler kramte aus einer Tasche die letzten Krümel seines eilig hinuntergeschlungenen Frühstücksbrots hervor. »Hier, Kleiner, du bist sicher hungrig.« Zwitschernd setzte sich der Vogel auf Canoschs Hand. Ein kleines Folienröllchen war an seinem Fuß befestigt. Eine Nachricht für Dranta? Eigentlich war es nicht Canoschs Art, hinter seiner Freundin herzuschnüffeln, aber sie war trotz der eineinhalb Jahre, die sie sich nun kannten, noch immer ein Mysterium für
26 ihn. Es war zu verlockend. Rasch löste er die Folie vom Fuß des Vogels. Zu seiner Enttäuschung war sie in einer kodierten Schrift verfasst. Er konnte nur seinen Namen lesen und einen anderen, Atamina Mawysch, der Rest war unverständlich. Canosch runzelte die Stirn. Er hatte diesen Namen schon einmal gehört. Das war doch eine halbseidene Dame der Halbwelt Brynschs, die von zweifelhaften Geschäften lebte. Ihr gehörten etliche Lokale, in die Canosch nie seinen Fuß setzen würde. Ihn schüttelte es nur bei dem Gedanken an die sogenannten Hotels. Dort gab es Zimmer mit einem bestimmten Service, den Männer der weiblichen Kundschaft anboten. Man erzählte sich, dass bei ihr nur die Besten arbeiteten. Ihre Geschäfte gingen gut, sie war reich und wurde von den Ganjasen in höherer gesellschaftlicher Stellung notgedrungen akzeptiert. Ihren Reichtum konnte niemand ignorieren. Aber was hatte Dranta mit dieser Frau zu schaffen? Canosch bereute, die Folie gelesen zu haben. Er musste versuchen, die Nachricht zu entschlüsseln; der restliche Text bot sicher eine Erklärung für dieses Rätsel. Flatternd flog der Symbrail davon. Canosch konnte sich nicht entsinnen, dass er einen Namen hatte. Er war für Dranta eben nur ein Vogel. Mit klopfendem Herzen legte er den Weg zum Rathaus zurück. Er hatte sich gut vorbereitet, den Text auswendig gelernt. Trotzdem wurde er nervös, er war noch nie ein guter Lügner gewesen. Aber nun heiligte der Zweck die Mittel. Seine Ausgrabungen und die damit verbundene Wahrheitsfindung waren ihm wichtiger als alles andere. Ein müder Partin empfing ihn. Der Ganjase trank einen heißen Süd aus Zynisch. Er blinzelte Canosch an. »Canosch Leyne? Sie sollten doch erst in zwei Stunden kommen. Ich habe jetzt noch keine Zeit, erst muss der ganze Bürokratenkram erledigt werden.« Canosch nickte. »Ja, natürlich. Aber ich komme in einer anderen Angelegenheit. Die
Uwe Anton neue Linie der Regierung …« »Die neue Linie der Regierung?« Der Partin hob stirnrunzelnd den Kopf. »Nun ja … gewisse Erkenntnisse einfach auf sich beruhen zu lassen, damit sich daraus für die Wesakenos keine Schande ergibt.« »Ach? Ist das die neue Linie?« Der Partin sah ihn gleichgültig an. Er hielt ihn wohl für einen Wichtigtuer. »Ich habe jedenfalls einen wichtigen Hinweis …« »Und?« »Ein seltsamer Fremder stellt gewisse Fragen, die diese Absicht zum Scheitern bringen könnten. Mir wurde zugetragen, dass er in der Unterstadt Erkundigungen über eine archäologische Grabungsstätte und gewisse Avoiden anstellt.« Der gelangweilte Partin richtete den Blick auf einen Monitor und drückte ein paar Tasten. »Du sprichst von diesem Oktron. Ein Händler von Vecchal, der eine dringend erwartete Hightech-Lieferung brachte. Sein Steckenpferd ist die Archäologie, und er sieht sich mit Billigung der Regierung ein wenig um. Wenn ich ihn verhafte und deine Anschuldigung trifft nicht zu, stehen wir dumm da.« Canosch nickte wieder. »Das habe ich schon bedacht. Wir könnten den Zaqoor einen Tipp geben. Dann verbrennen die sich die Finger, und wir sind aus dem Schneider.« Plötzlich war der Partin hellwach. »Ich bin beeindruckt. Auf diese Weise schaffen wir den lästigen Fremden aus dem Weg, und die Zaqoor haben endlich eine Aufgabe. Das Volk beschwert sich vermehrt über randalierende Krieger und deren Übergriffe. Aber was können wir schon gegen sie unternehmen? Uns bleibt nur die Hoffnung, dass sie bald wieder abziehen und auf Eschen Ruhe einkehrt.« Der Wissenschaftler in Canosch lachte auf. Wie naiv dieser Partin doch war! In Gruelfin würde niemals die alte Ordnung zurückkehren, wenn man den Zaqoor und ihren Hilfsvölkern keinen Einhalt gebot. Aber
Die verlorenen Rhoarxi wer war dazu imstande? Nicht nur in Brynsch demonstrierten sie deutlich ihre Überlegenheit. Der Partin nickte. »Ich kümmere mich um alles Weitere. Wir sehen uns wie vereinbart in zwei Stunden.« Damit war Canosch verabschiedet. Selbstverständlich würde der Partin die Lorbeeren kassieren, falls der Hinweis über diesen Oktron etwas wert war. Aber das war Canosch gleichgültig. Er wollte in die Ovolay, und niemand sollte ihn daran hindern.
6. Atlan Atamina Mawysch konnte in der Tat keine ganz unbedeutende Person sein. Man konnte Brynsch – zumindest das, was ich bislang von der Stadt gesehen hatte – nur als pittoresk bezeichnen. Niedrige, höchstens drei- oder vierstöckige Häuser an engen Straßen und Gassen erinnerten mich fast an ein Bild, wie ich es von der mittelalterlichen Erde her kannte. Das musste nicht auf sämtliche Metropolen von Eschens Welt zutreffen, doch hier, auf der Halbinsel am Rand der Ovolay, war eine Haupteinnahmequelle der Tourismus, und man musste den Gästen schon etwas bieten. Auch wenn es nur eine romantische Umgebung war. Das Haus der Handelsherrin, zu dem Myreilune mich geführt hatte, war das größte in dem Viertel. Aber es war schlicht gehalten, keineswegs protzig. Myreilune behandelte den Büttel, der uns öffnete, von oben herab. Ich hielt mich im Hintergrund, schwieg und beobachtete sie. Sie wusste mit ihm umzugehen, beharrte darauf, Atamina Mawysch in einer dringenden Angelegenheit sprechen zu müssen, und setzte ihr Begehr mit einer Mischung aus Drohungen, Versprechungen und Schmeicheleien durch. »Atamina wird dir bei lebendigem Leib die Haut abziehen lassen, wenn sie erfährt, dass du uns abgewiesen hast. Ich kenne sie gut, und es wird dein Schaden nicht sein, wenn du sie umgehend benach-
27 richtigst.« Zögernd führte der nur mit einer eng anliegenden Hose bekleidete Wesakeno uns in einen großen Saal, in dem wir allerdings nicht allein waren. Zehn, zwölf männliche, aber auch zwei, drei weibliche Cappins lungerten dort herum, alle ebenso spärlich bekleidet wie der Türöffner. Das Licht war gedämpft, die Einrichtung sehr plüschig: weiche, bequeme Sofas, zahlreiche Vorhänge über Türöffnungen, die zu Nebenräumen führten. Separees, stellte der Extrasinn fest. Ich sah Myreilune fragend an. »Ich glaube, ich weiß, um was für ein Etablissement es sich hier handelt.« »Um ein Bordell«, sagte sie achselzuckend. »Ein Männerbordell«, ergänzte ich. Narr, kommentierte der Extrasinn. Eschens Welt ist matriarchalisch organisiert. Hier haben die Frauen das Geld, die Muße und die Macht, sich zu vergnügen und den Stress des Alltags kurz zu vergessen. »Natürlich«, sagte die Pilotin. »Und was willst du dann hier?« Ich bedauerte die Bemerkung, kaum dass ich sie ausgesprochen hatte. »Atamina Mawysch erfüllt alle Wünsche«, sagte Myreilune sachlich und nickte zu zwei nur mit halbtransparenten Hemdchen bekleideten Wesakeno-Frauen hinüber, die die Pilotin offensichtlich richtig eingeschätzt hatten und ihr begehrlich zögernde Blicke zuwarfen. »Du warst also schon einmal hier?« »Auf Eschens Welt oder in diesem Bordell?« »Beides.« »Beides«, bestätigte sie. »Woher sollte ich Atamina Mawysch sonst kennen?« Trottel, versetzte der Extrasinn. »Ihr wolltet mich unbedingt sprechen?«, fragte eine dunkle, sehr autoritäre Stimme. Ich drehte mich um und musterte ausgiebig Atamina Mawysch.
*
28 Ich hatte mir eine rüstige alte Dame vorgestellt, die durchaus auf ihren Vorteil bedacht war, ein krummes Geschäft nicht unbedingt ausschlug, aber ihr Herz doch am richtigen Fleck trug, sah mich jedoch zumindest teilweise getäuscht. Sie war alt, aber sehr rüstig. Mein erster Eindruck besagte, dass ich einer verlebten Dreißigjährigen gegenüberstand, doch mein zweiter verriet mir, dass ihre Haut dafür einfach zu glatt war. Dann erkannte mein geschulter Blick die kaum wahrnehmbaren, gut überschminkten Narben auf ihrem Gesicht und Hals, und als sie ein paar Schritte auf uns zu tat, wurde mir klar, dass sie mindestens doppelt, wenn nicht sogar dreimal so alt war. Ihr Körper bewegte sich nicht wie der einer jungen Frau, sondern fast wie der einer Greisin, auch wenn er unter dem eng, aber schmeichelnd geschnittenen Kleid aus exquisitem Stoff noch sehr schlank und fest war, wie man ahnen konnte und sollte. Schönheitsoperationen, stellte der Extrasinn lapidar fest, die im verzweifelten Versuch, die Jugend festzuhalten, zur Farce geworden sind. Die Handelsherrin war nicht allein. Drei Lauf-Kamasten hielten sich in ihrer Nähe auf und ließen sie nicht aus den Augen, hüfthohe, flugunfähige Vögel mit muskulösen Beinen und kräftigen Schnäbeln. Ich bezweifelte nicht, dass sie mich mit einem gezielten Stoß schwer verletzen, wenn nicht sogar töten könnten. Und auf ihrer Schulter saß ein Symbrail, einer der bunten Papageienvögel, die hier so häufig vorkamen, und flatterte aufgeregt mit den Flügeln, während er mich intensiv musterte, aus Augen, in denen mehr Intelligenz zu funkeln schien, als man solch einem Tier eigentlich zutrauen mochte. »Ihr wolltet mich unbedingt sprechen?«, wiederholte sie, nachdem wir uns gegenseitig mit Blicken eingeschätzt hatten. »Ich kenne euch nicht. Worum geht es?« »Ich bin Oktron, ein Händler von Vecchal, und das ist meine Pilotin Myreilune. Mein Steckenpferd ist die Archäologie. Ich
Uwe Anton bin auf der Suche nach Relikten der Rhoarxi, die man hier auf Eschens Welt gefunden hat.« »Rhoarxi? Wer soll das sein? Ein Pfeifentabak? Eine Flugpodmarke? Der Name sagt mir nichts. Und warum wendet ihr euch damit an mich und nicht an die offiziellen Behörden, die euch bestimmt viel besser helfen könnten?« Das Spiel war eröffnet. Es ging darum, die Bonität beziehungsweise Leistungsfähigkeit des jeweiligen potentiellen Geschäftspartners zu taxieren. Und die letzte Frage war für Atamina Mawysch sicherlich die entscheidende: Wenn die offiziellen Stellen nichts von meinem Anliegen mitbekommen sollten, trieb das den Preis gewaltig in die Höhe. »Weil die Zaqoor nichts von meiner Suche mitbekommen sollen«, sagte ich stattdessen. »Das kannst du dir doch denken, nicht wahr? Die Zaqoor, die seit ihrer Landung an mehreren Orten vor zwei Tagen zwar noch keine planetenweite Katastrophe angerichtet haben, sich aber wie Usurpatoren benehmen. Die durch Stadt und Land wüten und mit offener Rücksichtslosigkeit nach etwas Bestimmtem suchen, ohne zu sagen, worum es sich dabei handelt.« Ihr Blick wurde eine Spur nachdenklicher. »Wer sagt mir, dass du kein agent provocateur unserer neuen Herren bist, der mich auf meine Loyalität ihnen gegenüber testen soll?« Ich lachte leise auf. »Glaubst du wirklich, dass sie so subtil vorgehen würden? Eher würden sie doch dein prachtvolles Haus in Schutt und Asche legen, gefiele ihnen deine Nasenspitze nicht.« »Auf jeden Fall bin ich nicht gut beraten, einen Fremden zu unterstützen, der gegen die Zaqoor agiert.« War das ernst gemeint? Hatte sie sich wirklich mit den Besatzern arrangiert, machte sie gute Geschäfte mit ihnen, oder fürchtete sie sie wie alle anderen Wesakenos auch? Ich konnte nur hoffen, sie richtig einzuschätzen, doch ich vermutete, dass sie
Die verlorenen Rhoarxi durchaus damit einverstanden war, diesen verdammten Zaqoor einen reinzuwürgen. Die übergroßen Cappinähnlichen hatten auf Eschens Welt die absolute Macht ergriffen, und das konnte einer wie Atamina Mawysch nicht recht sein. Nun waren alte Verpflichtungen wertlos, nun konnte man keine Gefallen mehr einfordern, und schmieren ließen die Zaqoor sich auch nicht so leicht. Und Hilfe war nicht in Sicht. Wir hatten bei der Landung einen Funkspruch aufgefangen. Eine an Vecchal, die Hauptwelt der Wesakenos, gerichtete Bitte um Beistand war ausweichend, wenn nicht sogar abschlägig beantwortet worden. Vecchal selbst müsse vor den lordrichterlichen Truppen geschützt werden und habe keine Kapazitäten, der kleinen und relativ unbedeutenden Siedlerwelt zu helfen. Was mir wiederum in die Hände spielte. »Nun gut, du hast deinen Standpunkt verdeutlicht. Ich weiß jetzt, deine Hilfe wird nicht billig sein. Aber das habe ich auch schon vorher gewusst, und ich bin bereit, einen angemessenen Preis zu zahlen.« »Kannst du denn überhaupt zahlen?« Nun lächelte ich, holte einen Datenspeicher aus der Tasche und reichte ihn ihr. »Hochverdichtete Speicherträger, modernste Ersatzteile für Raumschiffe, neueste Hightech.« Technik, die ich auf der Station BOYSCH »erbeutet« hatte. »Vielleicht kann ich auch jemandem, der dir nahe steht, einen der begehrten Studienplätze auf der Akademie Apenayn auf BOYSCH verschaffen. Reicht das?« »Für den Anfang bestimmt.« Auch die Bedeutung dieses Satzes war unzweifelhaft. Nachdem die Verhältnisse nun geklärt waren, machte die alte Handelsherrin und Puffmutter deutlich, dass sie sich nicht scheuen würde, mich für ihre Dienste geradezu auszumelken. »Dann sind wir uns einig?« »Was genau willst du in Erfahrung bringen?« Ich reichte ihr einen zweiten Datenspeicher mit allen relevanten Fakten. »Er infor-
29 miert dich über alles, was du wissen musst.« »Ich werde meine Beziehungen spielen lassen«, sagte Atamina Mawysch. »Kommt morgen wieder, und ihr erfahrt mehr.« Ich schüttelte den Kopf. »Die Zeit drängt. Heute noch.« »Dann werden diese Waren aber nicht ausreichen, mich für meine Mühe zu entschädigen.« »Die doppelte Menge.« »Einverstanden. Bringt die Waren mit.« »Wir werden uns natürlich noch anderweitig umhören«, sagte ich, wenn auch nur, um den Druck auf sie ein wenig zu erhöhen. »Das steht euch selbstverständlich frei.« Sie lächelte selbstbewusst. Ich nickte Myreilune zu. Täuschte ich mich, oder warf die Pilotin einen sehnsüchtigen Blick zu den beiden leicht bekleideten Cappin-Mädchen hinüber, die bei dem Honorar, das wir zu bieten hatten, sicherlich bereit gewesen wären, ihr jeden Wunsch zu erfüllen? Aber sie verzichtete klaglos auf das verheißene Vergnügen und folgte mir zur Tür. »Du solltest etwas wegen deiner schwarzen Haare unternehmen«, sagte Atamina Mawysch, als ich den Saal verlassen wollte. »Sie wirken nicht sehr natürlich. Und auch deine grünen Augen kommen mir ziemlich … ungewöhnlich vor.« Ich zuckte die Achseln und verließ wortlos den Raum. An Bord eines Cappin-Beiboots der NAMEIRE-Klasse Maske zu machen war mit gewissen Schwierigkeiten verbunden. Aber was scherte jemanden, der soeben in einem Männerbordell geschäftliche Verhandlungen geführt hatte, schon sein gutes Aussehen?
* Wir versuchten tatsächlich, weitere Erkundigungen über Rhoarxi-Relikte einzuziehen, auch wenn ich diesem Unterfangen keine großen Aussichten auf Erfolg zubilligte. An die offiziellen Stellen wenden konnte ich
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Uwe Anton
mich nicht, und einen Einbruch in einem Büro, in dem ich die entsprechenden Daten finden würde, zog ich lediglich als letzte Möglichkeit in Betracht. Ich ging allerdings das Risiko ein, mich an einen gewissen Canosch Leyne zu wenden, einen Wissenschaftler und Universitätsdozenten, der den Datenbanken der AVACYN zufolge eine Hand voll Wesakenos anführte, die sich den Zielen der Forschung hingaben und sich lediglich der Wissenschaft verpflichtet fühlten. Sie wollten laut den vorliegenden Informationen unbedingt die Wahrheit ans Licht zerren, wie schmerzhaft für das stolze Volk sie auch sein mochte. Ein idealer Verbündeter für mich, hätte ich Zeit genug gehabt, sein Vertrauen zu gewinnen. Aber ich traf ihn nicht einmal in seinem Büro an, das im Übrigen wie das typische Arbeitszimmer eines hochintelligenten Theoretikers aussah, der schneller denken als aufräumen konnte. Er war mit unbekanntem Ziel unterwegs, und so endete mein kurzer Kontakt mit der akademischen Welt von Eschen, bevor er überhaupt richtig begonnen hatte. Zwischenspiel Persenpo Zasca rieb sich die Hände. Die kleine Scharade, die er auf dem Planeten Caniscorr mit dem Jüngling Symaltinoron aufgeführt hatte, war gelungen. Eine Fehltransmission, die ihn vom Planeten Extosch ausgerechnet in die Nähe der Freihandelsstation BOYSCH geführt hatte … so etwas Lächerliches! Ha! Warum nur waren die Wesen dieses Universums so leichtgläubig? Nun, ihm konnte es recht sein. Atlan hatte den Köder aufgenommen und war genau zur rechten Zeit nach Eschens Welt gereist. ErEsSie wusste ganz genau, dass sich die Faktoren Rhoarxi und Flammenstaub wie magisch anziehen würden. Viele Dinge, die Atlan in letzter Zeit wahrscheinlich als Zufall abgetan hatte, waren in Wirklichkeit das Er-
gebnis der Wechselwirkung zwischen dem Arkoniden, dem Flammenstaub und den Rhoarxi. ErEsSie musste nun lediglich beobachten und abwarten. ErEsSie, das Schwert der Ordnung, hatte einmal mehr seine überlegene Intelligenz und seinen Weitblick bewiesen. Ja, Persenpo Zasca fühlte sich sehr wohl in seiner Haut.
7. Canosch Leyne Dranta empfing ihn in heller Aufregung. »Mein Symbrail ist verschwunden! Ich erwarte eine wichtige Nachricht, und er ist noch nicht aufgetaucht! Was soll ich nur tun?« In Canosch regte sich sofort das schlechte Gewissen. Aber er konnte schlecht zugeben, ihre Botschaft abgefangen zu haben. Das würde riesigen Ärger geben, und den wollte er im Augenblick nicht haben. Also spielte er den Unwissenden. »Das ist wirklich seltsam. Ob er den Zaqoor in die Hände gefallen ist? Aber welches Interesse sollten sie an ihm haben? Hoffentlich verrät deine Nachricht nicht unser Vorhaben.« Dranta sah ihn empört an. »Für wie dumm hältst du mich? Ich habe natürlich Vorkehrungen getroffen. Niemand, den die Nachricht nichts angeht, kann sie lesen.« Sie warf sich den Reisebeutel auf den Rücken. Canosch nahm seine kleine Umhängetasche mit den wichtigsten Unterlagen an sich. Die restliche Ausrüstung hatte er schon im Flugpod verstaut. Eine seltsame Unruhe befiel ihn. Hatte er etwas übersehen? Als sie das Haus verließen, stieß Dranta ihn an. »Da drüben steht wieder dieser Vermummte. Er hat meinen Symbrail auf der Schulter! Das darf doch nicht wahr sein!« Ihm stockte der Atem. Dann röchelte er, wie immer, wenn er aufgeregt war. Er wollte seine Freundin festhalten, doch sie war zu schnell für ihn, lief über die Straße und stellte den Fremden zur Rede. Einen Augenblick
Die verlorenen Rhoarxi lang befürchtete Canosch, dass es zu Handgreiflichkeiten zwischen ihnen kommen würde, doch Dranta gelang es anscheinend, ihr Temperament im Zaum zu halten. Sosehr Canosch sich auch anstrengte, er verstand kein Wort von dem hitzigen Wortwechsel, obwohl Dranta nicht leise sprach. Ihr Gesicht war gerötet, sie näherte sich einem ihrer berüchtigten Wutanfälle, von denen Canosch bislang weitgehend verschont geblieben war. Plötzlich streifte der Fremde die Kapuze zurück. Canosch riss erstaunt die Augen auf. Er kannte ihn, wenn auch nicht sehr gut und eigentlich erst seit kurzem. Es war Frunk! Dranta schlug ihm die Hand ins Gesicht und schrie etwas, das sich wie »Verräter!« und »Schleimbolzen!« anhörte. Frunk hingegen blieb ruhig. Seine Antwort fiel leiser aus; er gab der jungen Frau den Symbrail zurück und wandte sich dann ab. Drantas Gesicht hatte immer noch rote Flecken, als sie zu Canosch zurückkehrte. »Hat Frunk uns etwa die ganze Zeit über bespitzelt?«, fragte er. »Für wen arbeitet er wirklich? Damit sind die beiden raus aus der Sache! Ich will sie auf keinen Fall dabeihaben!« Er fühlte sich betrogen; die jungen Wesakenos hatten ihn hintergangen. Wahrscheinlich war der Hinweis mit dem schwarzhaarigen Händler ebenso falsch wie alles andere, was sie gesagt hatten. Dranta schnaubte und warf die Haare zurück. »Dann haben wir Probleme. Wir müssen sie wohl oder übel mitnehmen.« Canosch sah sie fragend an. »Eine mächtige Person in Brynsch wünscht ihre Anwesenheit bei deinen Ausgrabungen. Wenn du dich weigerst, bist du schneller in Haft, als du dich umdrehen kannst.« Dranta sprach leise; sie war blass, doch in ihren Augen glomm ein Feuer, wie Canosch es noch nie gesehen hatte. »Ich verspreche dir, Canosch, ich werde jemanden dafür bezahlen lassen.« Damit war der Fall für sie erledigt; sie drehte sich um und setzte sich in den Flugpod.
31 Canosch kannte sie gut genug, um nicht weiter auf sie einzureden. Was gesagt werden musste, war gesagt worden. »Meine Arbeit scheint mehr Dreck aufzuwirbeln, als ich mir vorgestellt habe. Aber wir werden die Wahrheit ans Licht holen!« Er ließ sich auf den Sitz neben ihr fallen und startete den Pod. Seinen Lauf-Kamasten hatte er in die Obhut einer Nachbarin gegeben. Die letzten Entwicklungen hatten Canosch davon überzeugt, dass es für Lasdo zu gefährlich werden könnte, ihn einfach mitzunehmen. Canosch ging das Risiko freiwillig ein, doch der einfältige Vogel konnte solch eine Entscheidung nicht treffen. Dem Lauf-Kamasten standen gut und gern noch zehn gesunde Lebensjahre zur Verfügung, und die wollte Canosch nicht auf dem Gewissen haben. Mittlerweile ging der Wissenschaftler vom Schlimmsten aus. Aber sein Tod war nur ein kleiner Preis für die Wahrheit. Sagte er sich zumindest jetzt. Er wollte lieber nicht darüber nachdenken, wie es aussehen würde, sollte sein Leben ernsthaft in Gefahr geraten. »Die Wahrheit!«, riss Dranta ihn aus den dummen Gedanken. »Ich habe schon lange den Glauben an sie verloren. Ebenso an die Aufrichtigkeit und Freundschaft.« Sie klang verbittert. Canosch fiel auf, dass sie den Symbrail fast zärtlich festhielt. »Wir werden nur manipuliert. Von Menschen, denen wir vertraut haben.« Diese Worte klangen ungewöhnlich für Dranta und seltsam endgültig. Canosch hatte den Eindruck, dass seine Freundin mit sich selbst kämpfte. Er kannte weder ihre Motive noch die Menschen, von denen sie sprach. Aber jemand hatte sie verletzt, zutiefst verletzt. »Kann ich dir helfen? Du musst mir schon vertrauen, sonst kann ich nichts für dich tun.« Sie lachte auf. »Du warst der Erste, dem ich nach langer Zeit wieder vertraut habe. Ich bin ein gebranntes Kind.« Sie hielt kurz inne. »Frunk ist mein Halbbruder«, fuhr sie
32 dann zu Canoschs Überraschung fort. »Er hat mich nie belogen. Er bleibt in meiner Nähe, um mich zu beschützen. Vor dir.« Canosch stoppte den Pod und starrte sie an. »Wie bitte? Warum dann das?« Sie zuckte die Achseln. »Er ist eben so. Nachdem du dich als harmloser Wissenschaftler ohne Ambitionen zum Schuft herausgestellt hast, war er beruhigt. Bis heute Morgen … als er sah, wie du die Nachricht an mich abgefangen hast. Canosch, du hast mich belogen.« In ihm breitete sich das unangenehme Gefühl aus, ertappt worden zu sein. Er spürte, wie sein Gesicht tiefrot anlief. »Es tut mir Leid. Ich … wollte dich nicht belügen. Ich hatte Angst, du würdest nicht mitkommen, wenn du erfährst, dass ich den Symbrail abgefangen habe. Es war dumm von mir.« Sie legte eine Hand auf seinen Arm. »Ich glaube dir. Aber tu das nie wieder. Ich kenne genug Lügner und Betrüger. Du bist für mich etwas Besonderes … so rein und voller Ideale. Bewahre dir dein gutes Herz. Du weißt gar nicht, wie sehr ich dich darum liebe.« Zuerst dachte er, sie wolle ihn mit dieser schwülstigen Ansprache verspotten, aber dann wurde ihm klar, dass sie es ernst meinte, und ihre Worte machten alles nur noch schlimmer. Er kam sich mies und schlecht vor. Was war aus ihm geworden? Er lief zu den Partin und verriet einen Mann, den er nicht einmal kannte. Die Zaqoor hatten ihn wahrscheinlich schon in Haft genommen. Stöhnend rieb Canosch mit den Händen über sein Gesicht. Er verabscheute sich für diese Tat, aber es war zu spät. Es gab kein Zurück mehr. Und dann spionierte er seiner Freundin hinterher, dem einzigen Menschen, der wirklich zu ihm stand … Er holte die Folie aus seiner Tasche und gab sie Dranta. Hastig entrollte sie das Schreiben, las es und zerriss es dann in kleine Fetzen, die sie auf die Straße warf. »Hast du schon mal von Atamina Mawysch gehört?« Canosch hielt den Atem an. »Äh … ja.
Uwe Anton Nicht gerade das Beste.« »Dann kennst du nicht einmal die halbe Wahrheit über sie. Sie ist eine der treibenden Kräfte im illegalen Handel mit Drogen, Waffen und Wesakenos. Wo immer sie ihren Vorteil wittert und Geld riecht, ist sie bereit, alles dafür zu tun. Ach ja, und sie ist meine Mutter.«
* »Sie ist deine … was?« Canosch riss so abrupt den Kopf herum, dass er fast die Kontrolle über den Flugpod verloren hätte. In letzter Sekunde bremste er und brachte das altersschwache Gefährt zum Stehen. Mit zitternden Fingern lenkte er es an den Straßenrand. »Deine Mutter?« Dranta zuckte die Achseln. »Freunde kann man sich aussuchen, Verwandte nicht.« »Aber … aber …« Bevor er die Informationen verdaut hatte und einen zusammenhängenden Gedanken fassen konnte, drangen Geschrei und Lärm aus der Nebenstraße gegenüber zu ihnen. Er ignorierte ihn. Er wusste genau, dass sich seine Gefühle für Dranta nicht ändern würden, ganz gleich, wer ihre Mutter oder ihr Bruder war. Sie war und blieb für ihn etwas Besonderes. Wütend machte ihn nur der Versuch Ataminas, ihn zu manipulieren. Und sie hatte es geschafft! Er war zum Verräter geworden, zu einem miesen, kleinen Verräter. »Sieh nur!« Dranta zerrte an seinem Arm. »Dahinten sind Zaqoor, und sie verfolgen den Händler von Vecchal! Es sieht nicht gut aus für ihn.« Canosch erkannte einen Wink des Schicksals, wenn er einen sah. Er würde wieder gutmachen, was er dem Fremden eingebrockt hatte. Das musste er, wenn er morgens in einen Spiegel blicken wollte, ohne sich anspucken zu müssen. »Wir müssen ihm helfen! Das bin ich ihm schuldig!« Dranta warf ihm einen seltsamen Blick zu. Canosch war sicher, er würde ihn nie
Die verlorenen Rhoarxi vergessen. Es lag mehr Liebe und Bewunderung darin, als er verkraften konnte. Manchmal verstand er diese Frau wirklich nicht. Ach was, eigentlich verstand er sie überhaupt nicht. »Wir sind es ihm schuldig!« Sie drückte ihn kurz und sprang aus dem Pod. »Ohne Waffen können wir gar nichts ausrichten! Ich besorge uns welche. Du bleibst ihnen auf den Fersen. Ich melde mich mit dem Symbrail, wenn ich sie habe.« Canosch zitterte. Als er ausstieg, drang ihm ein ätzender Gestank in die Nase – der von abgeschossenen Handfeuerwaffen. Er blieb in der Deckung des Flugpods und sah sich um. Der Fremde hatte sich in einem Haus verschanzt und schoss auf die Zaqoor, was seine Waffe nur hergab. Die vier Krieger sahen die Sinnlosigkeit ihres Unterfangens ein, stellten das Feuer ein und baten offensichtlich über Funk um Verstärkung. Lange würde sich der Fremde nicht halten können, das war Canosch klar. Seine Verhaftung – oder sein Tod – war nur eine Frage der Zeit. Hoffentlich kam Dranta bald mit den Waffen. Aber … wo wollte sie sie besorgen? Welche Kontakte hatte sie, von denen er nicht einmal zu träumen wagte? Und vor allem … ihr blieben kaum Minuten, höchstens Sekunden! Was hatte sie vor? Und was wollten sie dann mit den Waffen bewerkstelligen, falls Dranta welche organisieren konnte? Hoffte sie allen Ernstes, dem Mann damit helfen zu können? Und was erwartete sie von ihm? Schließlich war er Wissenschaftler und kein ausgebildeter Kämpfer! Aber er würde alles versuchen, um den Fremden herauszuhauen. Er wollte kein Schwächling sein, wollte Dranta beweisen, dass er auch kämpfen konnte … wie ein Mann. Der Gedanke an den Beweis seines Mutes durchdrang ihn, setzte sich in seinem Kopf fest. Er hatte doch einen kleinen Handstrahler! Nichts Besonderes, aber er konnte damit einen Zaqoor erschießen. Wie in Trance öffnete er die Tür des
33 Pods, nahm die Waffe aus dem Handschuhfach und ging auf die Zaqoor zu, die das Haus belagerten. Sie lachten, waren sich wohl ihres Gefangenen sicher. Canosch verbarg die Hand mit der Waffe hinter dem Rücken. Die Zaqoor mussten ihn für einen Händler halten, der seine Waren auf der Straße verkaufte. Seine Umhängetasche klatschte beim Gehen gegen seine Beine. Oder für einen Verrückten, den die Neugier dazu trieb, sich in Lebensgefahr zu bringen. Einer der Zaqoor drehte sich zu ihm um. »Verschwinde!«, brüllte der glorreiche Krieger. »Hier hast du nichts verloren!« Er zuckte zusammen. So hatte er sich das nicht vorgestellt. Wie hatte er jemals annehmen können, dazu fähig zu sein, die Waffe auf ein anderes Intelligenzwesen zu richten und einfach abzudrücken? Der nächste Warnruf trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. »Bleib stehen, oder wir schießen!«
8. Atlan Als wir zum zweiten Mal Atamina Mawyschs Haus betraten, behandelte der Büttel uns mit wesentlich größerem Respekt und führte uns auch nicht in den Raum, in dem sonst die Freier unter dem Personal auswählen konnten, sondern in einen Bürotrakt im ersten Stock. Die Handelsherrin und Bordellbetreiberin trug auch kein elegantes Kleid mehr, sondern eine gut geschnittene Hosenmontur, die wesentlich besser zu ihrem wahren Alter passte. Ich reichte ihr unaufgefordert die Waren, die wir uns aus der AVACYN hatten bringen lassen, doch sie warf nur einen flüchtigen Blick darauf und reichte sie dann dem Bediensteten, der mit ihnen den Raum verließ. Zweifellos würden Experten der Handelsherrin sie nebenan einer genauen Untersuchung unterziehen. Atamina Mawysch vertraute uns offenbar
34 so sehr, dass sie dessen Ergebnis nicht abwartete. »Ich habe herausgefunden, was es mit dem angeblichen Fund von Rhoarxi-Relikten auf sich hat«, kam sie ohne Umschweife zur Sache. Erwartungsvoll sah ich sie an. »Vor fünfundzwanzig Jahren sind Forscher vom Planeten Extosch nach Eschen gekommen, um Handel mit lebensnotwendigen Waren zu treiben. Die Extoscher gewährten ihren Handelspartnern außerordentliche Nachlässe, wenn diese ihnen Informationen über die hiesige Mythen- und Sagenwelt überlassen würden.« Ich nickte. So weit war die Geschichte noch glaubhaft; die Manie der Extoscher, alles über die Mythen Gruelfins herauszufinden, war mir hinlänglich bekannt. »Die Extoscher sind dann noch mehrere Wochen geblieben, um Nachforschungen auf eigene Faust zu betreiben. Sie haben sich dabei auf die ältesten Siedlungsgebiete der Wesakenos konzentriert, unter anderem auch auf einen Landstrich im Nordosten der Ovolay. Dabei sind sie auf uralte Relikte und Aufzeichnungen gestoßen, die sie mit der Erlaubnis der hiesigen Regierung vermessen und ausgewertet haben. Einen Teil der Reliquien haben sie auch mitgenommen.« »Die Ovolay«, sagte ich. Jener wildromantische Landstrich zwischen dem 15. und 20. nördlichen Breitengrad, an dessen Rand wir uns befanden. »Wird auch das Landesinnere von den Zaqoor heimgesucht, oder beschränken sie sich auf die Städte?« »Die Ovolay ist bislang noch nicht Ziel der … Erhebungen der Zaqoor geworden.« Überrascht sah ich sie an. »Und warum sind in der Ovolay noch keine ZaqoorTruppen zu finden?« »Nun«, sagte Atamina Mawysch gut gelaunt, »meine Landsleute können nicht direkt gegen die Zaqoor vorgehen, pflegen aber den passiven Widerstand. Sie versorgten die Besatzer absichtlich mit falschen Informationen, schickten sie in falsche Gebiete und verwirrten sie.«
Uwe Anton Ich sog heftig den Atem ein. Ich war mir völlig bewusst, was für ein gefährliches Spiel die Eschener damit trieben. Alles in mir schrie danach, die anscheinend etwas naiven Wesakenos zu warnen. Die Rache der Zaqoor würde fürchterlich sein, sobald sie bemerkten, dass sie gegängelt wurden. Du musst etwas unternehmen! Deine Überlegungen sind schlicht und einfach amoralisch! Ich zuckte zusammen. Es war nicht der Extrasinn, der sich in meinem Kopf zu Wort gemeldet hatte, sondern der Bewusstseinssplitter Ovarons, der sich seit Samptaschs Tod in mir befand. Zumindest in letzter Zeit war er ein angenehmer Wegbegleiter gewesen; er hatte sich so selten bemerkbar gemacht, dass ich kaum noch an ihn dachte. Doch nun verlieh er seinem Protest umso lautstärker Ausdruck. Ich ignorierte ihn. Dieser winzige Bewusstseinsteil des Ewigen Ganjos konnte mir zwar ins Gewissen reden, mich aber keineswegs beeinflussen. Nicht diesmal. Ich schwieg, behielt meine Besorgnis für mich. Mir war klar, dass ich mit meiner Entscheidung möglicherweise Wesakenos zum Tode verurteilte. Aber in dieser Situation ging es darum, meinen Feinden gegenüber einen Wissens- und Zeitvorteil zu erreichen. Arkonidischer Pragmatismus, hätte Perry Rhodan wohl dazu gesagt. »Gibt es auf Eschens Welt irgendwelche unbekannten Bauwerke«, wechselte ich das Thema, bevor Ovaron nachhaken konnte, »die auf die Zeit vor dem Siedlungsbeginn durch die Wesakenos datieren?« Der Bautrieb der Rhoarxi war mir ja hinlänglich bekannt. Überall in Dwingeloo hatten die Avoiden ihre Spuren hinterlassen. Vielleicht war das eine Fährte, der ich nachgehen konnte. »Nein.« Atamina Mawysch schüttelte nachdenklich den Kopf. »Mir ist nichts von Relikten bekannt, die auf eine frühere hier ansässige Lebensform schließen lassen.« Ich nickte. »Eine andere Sache. Ist dir be-
Die verlorenen Rhoarxi kannt, ob sich ein Befehlshaber der Zaqoor auf Eschens Welt aufhält? Jemand, der unter einem unheimlichen Energiefeld verborgen ist und Angstzustände um sich herum erzeugt?« Ich hielt das für eine ganz zutreffende Umschreibung eines Eishaarfelds. »Ja«, sagte die Händlerin zögernd. »Es wurden seltsame Beobachtungen gemeldet. Phänomene von Massenpanik unter der einfachen Bevölkerung, auch Todesopfer waren zu beklagen. Ein Wesen mit der Ausstrahlung eines Wahnsinnigen ist öfter hinter einem funkensprühenden Vorhang wahrgenommen worden.« Ein funkensprühender Vorhang? Das hörte sich nicht ganz nach einem Eishaarfeld an, alle anderen Aspekte hingegen schon. Ich nahm diese Neuigkeiten erst einmal so hin, wie sie waren; etwas anderes blieb mir auch schlecht übrig. Jetzt ging es vor allem darum, den kleinen Wissensvorsprung, den ich hatte, möglichst effizient auszunutzen. Die einzige Spur, der ich nachgehen konnte, waren die alten Relikte und Aufzeichnungen in der Ovolay. »Du kannst uns sicher einen Gleiter zur Verfügung stellen, mit dem wir jenen Landstrich der Ovolay erreichen können, in dem die Rhoarxi-Funde gemacht worden sind? Du bekommst ihn selbstverständlich zurück.« »Mein Großvater mütterlicherseits hat das Handelshaus aufgebaut, das ich nun leite«, erwiderte Atamina Mawysch. »Er hat als einfacher Fischhändler angefangen und hieß Verleihnix.« Ich verzog das Gesicht ob des lahmen Scherzes und nickte ergeben. »Aber du wirst uns sicher einen verkaufen?« Sie nannte uns den Preis, und ich akzeptierte ihn ohne das geringste Feilschen, wobei ich mich fragte, wieso sie überhaupt noch sprechen konnte. Normalerweise hätte die Gier ihr den Hals zuschnüren müssen. »Wir brauchen auch noch einige Ausrüstungsgegenstände für die Expedition.« »Ich kann euch alles zur Verfügung stellen.« »Meine Mittel sind nicht unbegrenzt. Bei
35 einem normalen Händler erhalten wir die Sachen bestimmt günstiger.« »Dann empfehle ich euch Honsten. Er ist vertrauenswürdig und hat anständige Preise.« Ungerührt beschrieb sie uns den Weg. »Wann steht der Gleiter bereit?« »Ein Flugpod, so nennen wir das hier. In zwei Stunden?« »Also in zwei Stunden.«
* Wir hatten kaum dreißig Schritte aus der Haustür getan, als ich Myreilune unsanft am Arm packte und in den nächsten Eingang zerrte. Bevor sie sich ob der unangemessenen Behandlung beschweren konnte, drückte ich ihr die Hand auf den Mund und den Kopf vorsichtig zur Seite. Sie riss die Augen auf, als sie den Zaqoor sah, der herrschaftlichen Schrittes zum Eingang des Anwesens der Handelsherrin ging und die Klingel betätigte. Er hatte uns nicht bemerkt; jedenfalls ließ nichts an seiner Reaktion darauf schließen. »Dsch Vrrtrn!« Ich nahm die Hand vom Mund der Pilotin. »Diese Verräterin!«, knirschte Myreilune erneut. Ich schüttelte zögernd den Kopf. »Das glaube ich nicht. Hätte sie uns an die Zaqoor ausgeliefert, hätte uns eine ganze Abteilung erwartet. Sie hätten das Haus umstellt und uns festgenommen.« »Aber …« »Das ist ein Höflichkeits- oder Antrittsbesuch. Atamina Mawysch ist eine mächtige Frau, und die Besatzer werden sich ihrer Unterstützung vergewissern wollen.« »Und wenn er sie unter Druck setzt und zwingt, uns nun an die Zaqoor auszuliefern?« »Sie weiß nicht, wer ich bin, dass die Zaqoor Order haben, mich lebend festzunehmen. Es würde mich wundern, wenn überhaupt die Sprache auf uns käme.« »Es ist zu riskant, Atlan! Wir können nicht zu Atamina Mawysch zurück.«
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»Haben wir eine andere Wahl? Nein, wir gehen anders vor. Du bleibst hier und beobachtest das Haus. Wenn du etwas Verdächtiges feststellst, warnst du mich über Funk. Ich besorge bei diesem Händler, was wir brauchen.« Sie schaute zweifelnd drein, doch die Logik obsiegte über ihre Befürchtungen. »Das hört sich vernünftig an. Aber sei vorsichtig, Atlan.« Ich lächelte schwach. »Das bin ich immer.«
* Die beste Vorsicht nutzte nichts, wenn man so aufmerksam wie nur möglich über eine Straße ging, sich nah an den Häusern bewegte, den Kopf gesenkt hielt, darauf achtete, stets Teil einer Menge oder zumindest kleinen Gruppe zu sein, und dann zwei Zaqoor um die Ecke bogen, wie erstarrt stehen blieben und dann brüllten: »Da ist er!« Ich stieß den großgewachsenen Wesakeno zur Seite, hinter dem ich mich – wie ich fälschlicherweise geglaubt hatte – verborgen gehalten hatte, und lief los. Auf ein Feuergefecht wollte ich mich nicht einlassen, nicht nur wegen der zahlreichen Passanten. Die Garbyor-Kämpfer durften mich nicht in die Enge treiben; wenn sie Verstärkung riefen, war ich erledigt. Meine einzige Chance bestand darin, in irgendeiner Seitengasse unterzutauchen und sie abzuschütteln. »Nicht schießen!«, gellte die gutturale Stimme eines der Krieger über die Straße. »Wir sollen ihn lebend ergreifen!« Ich fluchte leise. Das konnte nur bedeuten, dass meine bescheidene Tarnung aufgeflogen war und sie wussten, um wen es sich bei mir wirklich handelte. Aber wie konnte das sein? Sie hielten mich doch für tot, wussten gar nicht, dass ich auf Eschens Welt war! Müßige Überlegungen. Ich sprintete weiter, sah dreißig Meter vor mir eine Gasse, in die ich einbiegen konnte … und dann zwei andere Zaqoor, die just in diesem Augen-
blick daraus hervorkamen. Mein zweiter Fluch war noch derber als der erste. Gehetzt sah ich mich um. Zehn Meter vor mir öffnete ein Wesakeno gerade eine Haustür. Neugierig drehte er sich nach der Ursache des Lärms auf der Straße um. Ich ergriff ihn und schleuderte ihn zur Seite, bevor er richtig mitbekam, wie ihm geschah. Dann riss ich die Tür hinter mir zu und zog meine Waffe. Schwer atmend lehnte ich mich gegen die Wand. Eins war mir klar: Wenn dieses Haus nicht über einen Hintereingang verfügte, konnte ich schießen, was das Zeug hielt, dann kam ich hier nicht mehr heraus. Ich setzte mich wieder in Bewegung. Fünfzehn Sekunden später hatte ich festgestellt, dass das Haus tatsächlich nur über einen Eingang verfügte.
9. Kradun Malgsa Es gibt keinen Tod, es gibt nur Trodar. Kradun dachte an das Schwert der Ordnung, an das Achte Einsatzgeschwader, an sein verlorenes Kommando, und die kalte Wut packte ihn. Dabei konnte er von Glück sagen, überhaupt noch am Leben zu sein. Seine Vorgesetzten hatten sofort reagiert, ihn degradiert und auf Eschens Welt versetzt. Innerhalb von zwei Stunden war seine Karriere beendet gewesen. Immerhin hatten sie ihm noch das Kommando über einen Zug Soldaten gegeben. Sie hätten ihn auch standrechtlich erschießen lassen können. Es gibt kein Leben, es gibt nur Trodar. Aber … er hatte Atlan zur Strecke gebracht, den Erzfeind des Schwerts der Ordnung. Zählte das denn gar nichts? Nein. Er hatte den Befehl missachtet, den Gesuchten lebend festzunehmen. Um dein eigenes Leben zu retten, flüsterte etwas in ihm. Weil du Angst vor dem Tod gehabt hast!
Die verlorenen Rhoarxi Er schüttelte sich. Es gibt keine Angst, es gibt nur Trodar. Hier auf Eschens Welt ließ sich keine Ehre gewinnen. Hier ließ sich Trodar nicht leben. Und Ehre und Trodar, dafür lebte er. Etwas anderes gab es nicht. Hier wurden seine Leute und er nicht gefordert. Sie hatten die besten Waffen, doch gegen wen sollten sie sie einsetzen? Etwa gegen die erbärmlichen Wesakenos? Es gibt keine Freude, außer in Trodar. Die Langeweile war fast ein schlimmerer Feind, als die stärksten Gegner es sein konnten. Sie lauerte in den engen Gassen, sprang sie während der Wachgänge in den Straßen an und war stets zugegen, wenn sie ihre Übungen absolvierten. Kradun hatte Mühe, seine Männer unter Kontrolle zu halten. Es gab keine direkte Order, nur einen allgemeinen Überwachungsbefehl. Da wunderte es den Kommandeur nicht, wenn seine Leute mit ihrer aufgestauten Aggressivität die Bevölkerung belästigten. Er selbst war nicht ganz unbeteiligt, aber solange es zu keinen schwerwiegenden Zwischenfällen kam, ließ er die Männer gewähren. Diese Wesakeno-Ganjasen waren ein langweiliges Volk. Sie dümpelten am Rande der Gruelfin-Galaxis dahin und waren glücklich mit ihrem einfachen Leben. So viel Naivität schmerzte Kradun, doch solange er nicht den eindeutigen Befehl erhielt, die absolute Autorität des Schwerts der Ordnung über die Bevölkerung zu bringen, musste er abwarten und den Dingen ihren Lauf lassen. Er war erst wenige Stunden hier in diesem Kaff, doch schon machte ihm die Untätigkeit zu schaffen. Der lange Atem seiner Vorgesetzten war Kradun suspekt. Er hätte in Brynsch schon längst aufgeräumt, vor allem mit den aufsässigen Wesakenos, die sich für besonders klug hielten und ihnen ständig irgendwelche Märchen auftischten. Bald muss Bewegung in die Sache kommen, sonst kann ich für die Sicherheit der Ganjasen nicht mehr garantieren. Kradun starrte auf seine gepanzerten Stiefel, die aus
37 grauem Formchitin gefertigt waren. »Ein Hologespräch für dich, Herr!« War das die Erlösung aus der Starre? Kradun ließ eine Ausschnittvergrößerung auf ein Holofeld projizieren. Enttäuscht erkannte er das einfältige Gesicht eines hiesigen Ratsherrn. Kein Marquis, kein anderer Zaqoor wollte ihn sprechen, nur ein Cappin. »Was willst du? Wenn du dich über meine Leute beschweren willst, ist das vergebene Mühe. Ihr könnt froh sein, dass sie noch so zahm sind.« Kradun lachte rau. Er genoss die Angst in den Augen des Cappins. Sie alle hatten Angst vor ihm und den anderen Zaqoor. Und das zu Recht, sie waren eine schlagkräftige Eliteeinheit. »Wir wollen dich untertänigst auf einen Sachverhalt aufmerksam machen, der augenfällig deiner Aufmerksamkeit bedarf.« Die salbungsvollen Worte brachten den Kommandanten nicht aus der Ruhe. Was konnte dieser Kriecher schon Wichtiges zu sagen haben? »Ein gewisser Händler von Vecchal stellt Fragen, die mich aufhorchen ließen. Schließlich bist du an der gleichen Sache interessiert. Der Fremde nennt sich Oktron und hält sich zurzeit in der Unterstadt auf. Er hat nur eine Frau als Begleitung und scheint sich nicht bedroht zu fühlen. Wir haben keine weiteren Wächter in seiner Nähe beobachten können. Es dürfte dir nicht schwer fallen, ihn zu verhaften.« Oktron? Der Name sagte ihm nichts. »Hast du ein Bild des Mannes?« Der Ratsherr übermittelte ein Datenholo, und Kradun rief es auf. Und stutzte. Ein Humanoider, vielleicht ein Cappin, vielleicht auch … Nein, das konnte nicht sein. Schwarze Haare statt weiße, grüne Augen statt rote, etwas fülligere Wangen, aber ansonsten … Er war sich völlig sicher. Atlan. Der Arkonide, den er angeblich getötet hatte. Dem er die Degradierung und Versetzung hierher verdankte. Der dem Schwert der Ordnung immer und immer wieder ein Schnippchen geschlagen hatte. Den alle Zaqoor, alle Lord-
38 richter suchten. Und er lebte, war hier auf Eschen, und sie wussten nichts davon und mussten sich von einem Cappin darauf aufmerksam machen lassen? Kradun überlegte nicht lange. Es konnte eine Verwechslung sein, aber daran glaubte er nicht, und sie mussten sowieso jeder noch so schwachen Spur nachgehen. Er würde keine Meldung machen. Vielleicht war das die Gelegenheit, auf die er gewartet hatte. Vielleicht war Trodar ihm doch gnädig gesinnt … »Wo genau hält er sich auf?« »In der Unterstadt … mehr weiß ich nicht.« »Ich werde meine Leute losschicken!« Kradun löschte das Holofeld. Ein Tastendruck, und der Truppenverbundsender am rechten Unterarm war aktiviert. Schnell und präzise erteilte Kradun die nötigen Befehle. Er wollte sichergehen, auch wenn der Zugriff einfach zu sein schien. Bei Atlan konnte man nie wissen. Er hatte immer einen Trick parat, war den Zaqoor schon zu oft entkommen. Wenn du es wirklich bist, Atlan, habe ich dich. Diesmal gibt es kein Entkommen für dich. Noch einmal legst du mich nicht herein. Kradun griff nach seiner Kombiwaffe und verließ das Gebäude, das ihnen als Stützpunkt diente. Diese Atamina Mawysch, die das organisierte Verbrechen in der Stadt beherrschte, hatte ihnen wohl oder übel eine ansprechende Residenz überlassen müssen, Service und Getränke inklusive und nicht weit von ihrem Hauptwohnsitz entfernt. Dafür kümmerten die Zaqoor sich nicht um ihre Geschäfte und kamen ihr nicht in die Quere. So lange jedenfalls, bis sie anderslautende Befehle erhielten. Kradun sprach in den Sender. »Ich habe den Hinweis bekommen, dass ein gewisser Oktron, ein Händler von Vecchal, gefährliche Aktivitäten gegen uns entwickelt. Anbei sein Bild. Wir werden systematisch die Unterstadt durchsuchen. Beim ersten Kontakt mit dem Gesuchten werde ich sofort infor-
Uwe Anton miert. Wir gehen kein Risiko ein. Erst wenn sich genügend Truppen zusammengezogen haben, greifen wir zu. Achtung, dieser Oktron hat wichtige Informationen und muss unbedingt lebend ergriffen werden. Verstanden?« Er spürte die Unruhe seiner Leute; sie waren nervös und ungeduldig. Endlich hatten sie es mit einem Gegner zu tun, der eine Herausforderung darstellte. Ihr Jagdinstinkt war geweckt. Wie es bei guten Zaqoor auch der Fall sein sollte … »Jawohl, Kommandant!« Er hob eine Hand. Lautlos liefen die Männer vom Hof der Residenz und verschwanden in den Straßen von Brynsch. Kradun folgte ihnen nicht sofort. Er wollte der Handelsherrin noch einen Besuch abstatten; er weilte noch nicht lange genug auf Eschen, um die komplizierten Machtverhältnisse und Ränkespiele zu durchschauen, doch irgendetwas sagte ihm, dass sie wahrscheinlich mehr wusste als der Ratsherr.
* Er traf Atamina in ihren Privatgemächern an. Sie hatte die besten Jahre längst hinter sich. Trotz dick aufgetragener Schminke und diverser Schönheitsoperationen nagte der Zahn der Zeit immer stärker an ihr. Sie stieß Kradun schlichtweg ab in ihrer künstlichen Schönheit. »Du weißt sicher über einen gewissen Oktron Bescheid«, kam er direkt zur Sache. In ihrem glatten Gesicht verzog sich keine Miene. »Wer soll das sein? Warum sollte ich ihn kennen?« Ihre tiefe, dunkle Stimme stand in krassem Gegensatz zu ihrem betont weiblichen Auftreten. Kradun verzog das Gesicht zu einem Grinsen. »Du willst doch auch weiterhin gute Geschäfte machen, oder? Sag mir, was du über diesen schwarzhaarigen Bastard weißt, oder ich sehe mich gezwungen, andere Saiten aufzuziehen.« Atamina Mawysch seufzte theatralisch auf; sie mochte offensichtlich große Auftrit-
Die verlorenen Rhoarxi te. Der Kommandant stieß mit dem Kombigewehr so heftig gegen einen Stuhl, dass er umkippte. Auch er liebte große Auftritte, vor allem dramatische. »Ach, diesen dunkelhaarigen Händler meinst du … Sag das doch gleich! Ja, er war bei mir. Natürlich war er hier, früher oder später kommen sie alle zu mir. Er hatte einige Fragen, wollte gewisse Auskünfte über …« »Das ist im Moment nicht von Belang. Ich will wissen, wo er jetzt ist.« Kradun hatte keine Lust, sich das Geschwätz der Alten anzuhören. Sie langweilte ihn nicht minder als dieser ganze Planet. Sie zuckte die Achseln. »Er war nur kurz hier. Woher soll ich wissen, wo er sich in diesem Moment herumtreibt? Ich kann nur sagen, wohin er wollte. In den Nordosten der Ovolay, zu irgendwelchen Grabungsstätten. Keine Ahnung, was er da sucht.« Kradun trat nah an Atamina heran. Sie war groß für eine Cappin, aber um ihm in die Augen sehen zu können, musste sie den Kopf in den Nacken legen. »Du weißt alles, meine Beste, und du sagst mir jetzt, wo er ist. Sonst lasse ich deinen Laden in Schutt und Asche legen. Im Orbit kreisen genug Raumer, die nur auf meinen Befehl warten. Vielleicht brennen wir auch ganz Brynsch nieder. Wie würde dir das gefallen?« Ihr weiß getünchtes Gesicht blieb noch immer regungslos. Sie schien mit allen Wassern gewaschen zu sein, und Kradun stellte widerwillig anerkennend fest, dass sie sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen ließ. »Du überschätzt meinen Einfluss, Kommandant. Aber da Oktron in die Steppe wollte, muss er sich eine Ausrüstung besorgen. Und die kriegt er nur bei Honsten. Er hat sein Geschäft in der Hauptstraße, die dritte Ecke zum Rathaus.« Er bezweifelte nicht, dass diese Information zutreffend war. Das alte Weib wusste genauso gut wie er, dass er sonst zurückkommen und dann viel, viel Zeit mitbringen und mehr als einen Stuhl umstoßen würde. »Ich werde dein Entgegenkommen zum
39 gegebenen Zeitpunkt honorieren.« Er lachte humorlos und ließ sie stehen. Über Funk informierte er seine Männer über den möglichen Aufenthaltsort des Gesuchten. Allmählich ergriff auch ihn Unruhe, breitete sich aus wie ein Fieber. Er schritt die Straße entlang, stieß die Cappins, die nicht rechtzeitig Platz machten, grob zur Seite. Rücksichtslos bahnte er sich seinen Weg durch das morgendliche Gedränge, rempelte alles nieder. Kaum jemand schimpfte ihm hinterher. Schweigend ließen die Cappins ihn gewähren; niemand wagte es, das Wort an ihn zu richten. Sein Kombigewehr schüchterte auch die letzten Mutigen ein. Kradun hasste diese einfältigen Trottel, verachtete sie. Niemals würden sie die Herrlichkeit Trodars begreifen.
* Schon in einiger Entfernung von Honstens Geschäft hörte Kradun die Schüsse, die durch die laue Luft zischten. Er fluchte laut auf. Die Befehle waren eindeutig gewesen. Warum hielten seine Männer sich nicht daran? Er wollte kein Risiko eingehen, durfte den Arkoniden nicht unterschätzen. Falls er es denn war. Der Lohn war zu verlockend. Wenn er den Gesuchten hier auf Eschen stellte und den Lordrichtern übergab, war ihm eine Beförderung sicher. Dann konnte er nicht nur die Schlappe der Raumschlacht ausmerzen, sondern endlich am Kampf teilnehmen, an vorderster Front, wo nur die Tapfersten eingesetzt wurden. Dort war man Trodar nahe. Das Zischen wurde lauter, die Luft stank verbrannt. Kradun lief um eine Ecke und erkannte die Situation sofort. Der Arkonide hatte in einem Haus Stellung bezogen und schoss auf vier Zaqoor, die ihn offensichtlich gestellt hatten. Sie standen auf der Straße mit eingeschalteten Schutzschirmen und erwiderten das Feuer. »Geht sofort in Deckung! Ich rufe Ver-
40 stärkung!« Kradun zeigte auf eine Mauer auf der anderen Straßenseite. »Wir können ihn ausräuchern! Ich habe alles dabei!« Einer der Krieger hielt eine Brandbombe hoch. Kradun schüttelte den Kopf. »Zu riskant! Die Lordrichter wollen ihn lebend. Wir warten, bis die anderen hier sind. Er entkommt uns nicht.« Natürlich fiel es ihm schwer, nichts zu unternehmen und zu warten. Aber eine bessere Möglichkeit sah Kradun nicht. Einer seiner Männer drehte sich um und zeigte auf die Straße. Erstaunt bemerkte Kradun einen schmächtigen Cappin, der zögernd auf das Haus zuging. Hatte der Kretin den Verstand verloren? »Verschwinde!«, brüllte er. »Hier hast du nichts verloren!« Er starrte den Mann an. Sein Blick fiel auf eine Umhängetasche, die er an seinen Körper drückte. Bewahrte er darin etwa eine Waffe auf? Der Cappin kam immer näher. Er taumelte fast, wich aber nicht zurück. Stand er etwa unter Drogen? Irgendwie kam er Kradun bekannt vor, aber die Cappins sahen doch alle gleich aus. Seine zweite Warnung war deutlicher. »Bleib stehen, oder wir schießen!« Der Mann torkelte weiterhin auf sie zu. »Soll ich ihn abknallen?«, fragte einer seiner Krieger. Kradun winkte unwillig ab. Er hatte eine bessere Idee. Er kannte Atlans Dossier, das die Schwächen des Arkoniden aufführte, und glaubte zu wissen, wie er reagieren würde. Plötzlich kam ihm der verrückte Cappin wie gerufen. Mit seiner Hilfe konnte er den Gesuchten aus dem Haus locken, ohne einen einzigen Verlust bei seinen Leuten zu riskieren. »Wir nehmen den Mann als Geisel!«, befahl er. »Töten können wir ihn immer noch.« Der Krieger setzte sich in Bewegung, um den Befehl auszuführen, als Kradun spürte, dass der Boden unter seinen Füßen zitterte. Überrascht wirbelte er herum und riss den Kopf hoch.
Uwe Anton Ein Erdbeben? Das war doch unmöglich! Nicht ausgerechnet in diesem Augenblick, und dieser Teil Eschens war tektonisch stabil! Er sah, wie die Mauer des Gebäudes, neben dem er stand, wie in Zeitlupe zu schwanken und dann zu bröckeln begann. Er lief los, doch es war zu spät. Die Mauer wankte, brach endgültig zusammen und begrub zwei seiner Zaqoor unter schweren Steinbrocken. Kradun spürte einen stechenden Schmerz im Bein und fluchte. Ein Splitter hatte ihn getroffen und trotz der Chitinpanzerung verletzt. Mit dem Kombigewehr im Anschlag humpelte er von der zerstörten Mauer fort. Schmerzensschreie drangen durch Staub, der ihm die Sicht nahm, und weitere Steine krachten herab. Kradun konnte keinen Meter weit sehen, verlor kurz die Orientierung. Langsam legte sich der Staub. Kradun rieb sich die Augen. Der seltsame Cappin war verschwunden. Dort, wo er gestanden hatte, machte Kradun nun eine junge Frau aus, die ihm lachend ins Gesicht sah. »Wir haben auch ein paar Tricks auf Lager!« Ihre Worte klangen seltsam verzerrt. »So eine kleine Granate ist nicht zu verachten. Oktron haben wir übrigens in Sicherheit gebracht. Ihr werdet ihn niemals finden!« Kradun riss die Waffe hoch, zielte und drückte ab. Der Energiestrahl schlug in die Brust der Frau. Noch immer behinderte der Staub seine Sicht, doch er sah, wie ihr Körper sich in einer seltsamen Lichterscheinung auflöste. Ihr Lachen hallte noch in seinen Ohren, als sie längst verdampft war. Er fluchte. Das hätte nicht passieren dürfen! Offensichtlich verfügte der Arkonide auf Eschen über mehr Freunde, als Kradun geahnt hatte. Doch das war nur ein vorübergehender Rückschlag. Er würde Atlan noch bekommen. Die Ovolay war nicht groß genug, um ihn vor Kradun zu verbergen. Trodar war alles, und er würde alles geben, um Atlan festzunehmen. Die beiden anderen Krieger waren eben-
Die verlorenen Rhoarxi falls nur leicht verletzt. Einer rappelte sich auf und nahm die Trümmer des zerstörten Hauses unter Beschuss. Doch niemand erwiderte das Feuer. Die Cappins, die das Schauspiel aus der Ferne beobachtet hatten, verschwanden von der Straße. Kradun ballte die Hand zur Faust und schüttelte sie drohend. »Ihr werdet es bereuen, dem Fremden geholfen zu haben! Wenn ich mit euch fertig bin, steht hier kein Stein mehr auf dem anderen!« Alles für Trodar! Und Verlierer duldete Trodar nicht. Zwischenspiel Carpes Maluni frohlockte. Die Früchte seines Langzeitplans waren aufgegangen. Lordrichter Saryla war zu seinem Geschöpf geworden. Zu einem Wesen, dessen Hass und Verachtung für das Leben weit über die Lehrsätze des Trodar-Glaubens hinausgingen und zudem mit den Komponenten Machtgier und Zynismus angereichert worden waren. Indem er den Jüngling Saryla dazu gebracht hatte, ihn – angeblich!, – zu ermorden, hatte er diese Metamorphose vollendet. In den letzten 25 Jahren hatte Carpes Maluni weitere Wesen nach seinem Willen geformt, sie zu heimatlosen, amoralischen Geschöpfen gemacht, etwa Kelkapalin und Ibin Kyrela, die ebenfalls in den Rang eines Lordrichters erhoben wurden. Aber Saryla war eindeutig sein Musterschüler. Kein Wunder also, dass ErEsSie, das Schwert der Ordnung, seinen Liebling dazu abkommandiert hatte, Atlan vor Eschens Welt eine Falle zu stellen und ihn entscheidend zu schwächen. Das Ziel war nah, ganz nah … Ja, Carpes Maluni fühlte sich sehr wohl in seiner Haut.
10. Atlan Die Explosion traf mich völlig unvorbe-
41 reitet und riss mich von den Füßen. Bislang hatten die Zaqoor sich zurückgehalten, auf den Einsatz schwerer Waffen verzichtet – aus gutem Grund, wollten sie mich doch lebend festnehmen. Ein stechender Schmerz zuckte durch meine Brustplatte. Dichter Rauch stieg auf und nahm mir die Sicht. Wie durch Watte hörte ich, dass weitere Explosionen erklangen, dann ein dumpfes Grollen wie von einem einstürzenden Gebäude, dann Schüsse. Ich versuchte mich aufzurichten, doch der Schmerz war zu stark. Dann hörte ich Schritte. War es jetzt so weit? Musste ich jetzt das Risiko eingehen und den Flammenstaub einsetzen, vielleicht, um daran zu sterben? Ich konnte nichts sehen, aber meine Häscher schienen über Nachtsichtgeräte oder andere optische Instrumente zu verfügen, mit deren Hilfe sie mich ausmachen konnten. Die Schritte klangen zielgerichtet und wurden immer lauter. »Da ist er! Schnell! Sie werden gleich hier sein!« Meine Lungen schienen vergessen zu haben, wie sie atmen mussten, und mein rechter Arm verweigerte mir den Gehorsam, als ich die Waffe heben und auf die Neuankömmlinge richten wollte. Zum Glück, wurde mir klar, als sie ganz nah heran waren und ich sie verschwommen ausmachen konnte. Es waren keine Zaqoor, sondern Wesakenos.
* Ich rang noch immer nach Luft, während die beiden jungen Männer mich durch den Rauch und über Schotter ins Freie schleppten. Eine Dagor-Übung half mir, den Schmerz zu verdrängen. Ich bekam zwar nicht mit, wohin die beiden Cappins mich brachten, aber das war im Augenblick nebensächlich. Sie wollten mir zumindest jetzt noch nichts Böses, sonst hätten sie mich nicht aus der Falle gerettet, in die ich mich
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manövriert hatte, sondern an Ort und Stelle getötet. Immerhin war ich mir nun sicher, nicht schwer verletzt zu sein. Ein großer Stein war gegen meine Brust geprallt, aber ich hatte mir nichts gebrochen. Es ging mir von Sekunde zu Sekunde besser. Als die Cappins mich auf die Rückbank des Gleiters schoben, der in einiger Entfernung in einer Nebenstraße geparkt war, hätte ich sie schon, wenn auch mit Mühe, kampfunfähig machen können. »Wohin bringt ihr mich?«, krächzte ich wesentlich erbärmlicher, als es mir wirklich ging. »Abwarten«, sagte einer der beiden, und der Gleiter schwebte los. Nicht rasend schnell, was nur Aufmerksamkeit erregt hätte. Die galt es zu vermeiden. Denn auf unserem Weg kamen uns Dutzende von Zaqoor entgegen, die zum Ort des Feuergefechts und der Explosion strebten. Dank meines fotografischen Gedächtnisses wusste ich wenige Sekunden später, was unser Ziel war, und ich musste eine Spur von Selbstbeherrschung aufbringen, um nicht überrascht zu pfeifen.
* »Das sind Frunk und Resbo«, sagte Atamina Mawysch und bedeutete mir, mich zu setzen. »Dranta glaubt, dass sie ihre Freunde und Helfer sind, aber in Wirklichkeit haben sie von Anfang an für mich gearbeitet. Frunk ist übrigens ihr Halbbruder.« »Ach ja«, sagte ich. Ich hatte kurz ein »Ich verstehe!« in Erwägung gezogen, aber zu solch einer Lüge wollte ich mich auch vor dieser gierigen Halbweltdame nicht hinreißen lassen. Myreilune warf mir einen Blick zu, bei dem mir tatsächlich ein wenig bange wurde. Sie murmelte vor sich hin; ich verstand nur etwas, das sich wie Vorsicht anhörte. Ich nahm auf dem bequemsten Sessel des Büros Platz. In diesem Augenblick hätte ich ein Plüschsofa in dem Salon eine Etage
tiefer bevorzugt. »Es ist ziemlich kompliziert«, fuhr die Jugendsüchtige fort. »Dranta ist meine Tochter. Und ich muss leider eingestehen, dass sie ein verwöhntes, verschrobenes Gör ist. Was sie sich einmal in den Kopf gesetzt hat, will sie unbedingt durchsetzen. Und sie will nichts mehr mit mir zu tun haben, weil ich einen kleinen Teil meines Geldes mit dem Spaß anderer Cappins verdiene.« Ich nickte. Das schien mir die beste Option zu sein. »Sie ist himmelhoch jauchzend, dann wieder zu Tode betrübt. Es widerstrebt mir, sie unbeaufsichtigt zu lassen. Deshalb zahle ich Frunk und Resbo viel mehr Geld, als sie eigentlich verdient hätten.« »Nun ja …« Ich war nicht besonders stolz auf diese Abwandlung, wollte ihren Redefluss aber nicht unterbrechen. »Dranta hat sich ausgerechnet in diesen Canosch Leyne verliebt, diesen unfähigen, aufrührerischen, staatsfeindlichen Chaoten von Archäologen, Historiker oder was auch immer, der seinen abstrusen Ideen einer schändlichen Vergangenheit unseres Volkes nachhängt … Ideen, die leider wahr sein könnten.« Ich verstand noch immer nicht viel. Canosch Leyne war klar – ihn hatte ich ja vergeblich zu sprechen versucht. Aber die eigentlichen Zusammenhänge blieben mir noch verborgen. Auch der Logiksektor schwieg. »Wieso könnten diese Ideen wahr sein?«, fragte ich. »Weil die Zaqoor genau dasselbe suchen. Dasselbe wie du und Canosch. Ich nenne dich weiterhin Oktron, wenn es dir recht ist, obwohl das natürlich nicht dein richtiger Name ist.« »Atlan«, sagte ich gequält. »Relikte der Rhoarxi«, fuhr die Handelsherrin fort. »Relikte, die in der Ovolay auf denjenigen warten, der etwas mit ihnen anzufangen weiß.« Die Puzzlesteinchen fielen zusammen. »Nur deshalb hast du mir geholfen, nicht wahr? Weil deine Tochter mit diesem Ca-
Die verlorenen Rhoarxi nosch Leyne in die Ovolay fliegen will und du befürchtest, dass sie den Zaqoor in die Hände fällt, die kurzen Prozess mit ihr machen werden.« »Genau«, bestätigte sie ungerührt. »Dummerweise hat dieser lebensuntaugliche Canosch erfahren, dass du dich ebenfalls für diese Relikte interessierst …« »Ich war in seinem Büro …« »Und du hast ungewöhnliche Fragen gestellt. Jedenfalls hat er dich verraten, um übereifrige Staatsdiener davon abzuhalten, ihn und Dranta auf ihrer Expedition zu begleiten. Wären unsere Ratsherren und die Befehlshaber der Zaqoor nicht so – entschuldige den Ausdruck, aber es gibt keinen passenderen – blöd, hätten sie längst eins und eins zusammengezählt und wären schon unterwegs zu den Ausgrabungsstätten.« »In der Ovolay?« »Richtig.« »Dann müssen wir ihnen sofort folgen.« »Wir, das hast du ganz richtig erkannt.« Sie musterte mich mit einem Blick, der mir fast das Blut in den Adern gefrieren ließ. Er war nur eine winzige Spur zu warm. »Du bist nicht der, für den du dich ausgibst. Kein kleiner Händler von Vecchal. Du bist viel mehr. Und es wäre eine Beruhigung für mich, wenn du mich in die Ovolay begleiten würdest.« »Du willst deine Tochter zurückholen?« »Trotz allem, was geschehen ist, ist sie das einzig Wichtige für mich. Und freiwillig wird sie mich nicht begleiten.« »Dann brechen wir sofort auf!« Sie schüttelte den Kopf. »In Brynsch herrscht wegen dir heller Aufruhr. Die Gefahr, von den Zaqoor gefasst zu werden, ist zu groß. Wir müssen warten, bis sich die Lage beruhigt hat. Vielleicht morgen früh.« Wo sie Recht hatte, hatte sie Recht. Und ich hatte als Unsterblicher schon vor über 10.000 Jahren gelernt, mich in Geduld zu fassen. »Einverstanden.« »Morgen also.« Sie wandte sich zur Tür, drehte sich aber noch einmal um. »Ach ja … und pfeife deine Pilotin zurück. Nachdem
43 dieser Zaqoor-Rüpel von Kradun Malgsa mein Haus verlassen hatte, kam sie hereingestürmt und hielt mir einen Kombistrahler an die Stirn, um mein Geständnis zu erpressen, dass ich euch verraten hatte. Nur meinen Lauf-Kamasten verdanke ich, dass ich noch lebe.« Ich sah Myreilune an. »Vorsicht«, sagte ich. »Vorsicht und Vertrauen.« Zu meiner Überraschung senkte sie tatsächlich schuldbewusst den Blick.
* Der Himmel war schwarz von Vogelschwärmen unterschiedlichster Ausprägung. Die Tiere waren klein, mittelgroß und groß, aber die Verbände, zu denen sie sich zusammengefunden hatten, waren allesamt riesig. Und das Land war rau, urwüchsig und vielfältig, genau wie die Datenbanken es beschrieben hatten. Meine Vorstellung, die ich mir aufgrund deren Informationen gemacht hatte, wurde bei weitem übertroffen. »Und hier soll es archäologische Forschungsstätten der Wesakenos geben?«, fragte ich die Handelsherrin. »Mehrere, und alle wurden nachlässig behandelt. Hier hat sich früher eine WesakenoSiedlung befunden. Das mag über zweihundertzwanzigtausend Jahre her sein. Für weiterreichende Forschungen fehlte immer das Geld … und auch das Interesse. Wir Wesakenos sind zukunftsorientiert und scheren uns nicht besonders um das, was wir früher einmal gewesen waren.« Oder gibt es noch einen anderen Grund?, mutmaßte der Extrasinn. Schämen sich die Wesakenos etwa für Taten, die sie vor langer Zeit begangen haben? Ich schwieg, wartete auf eine Äußerung von Ovarons Bewusstseinssplitter, doch sie blieb aus. Entweder wusste der ehemalige Ganjo wirklich nichts, oder seine eingeschränkte Gedächtnisleistung – er war ja wirklich nichts anderes als ein Splitter – erlaubte es ihm nicht. Ich behielt diese etwas gewagte Theorie
44 für mich; schließlich war ich ja auf das Gutdünken meiner Führerin angewiesen. Atamina Mawysch führte mich unter dem Gekrächze der Vogelschwärme in ein Labyrinth verlassener und halb verfallener Gebäude. Ich hatte zwar keine archäologische Grabungsstätte im klassischen Sinn erwartet, war aber doch etwas überrascht. Natürlich war ich davon ausgegangen, dass die Wesakenos bereits vor 220.000 Jahren mit Kunststoffen und Metallplastik gearbeitet hatten, doch irgendwie empfand ich es als befremdlich, dass ich keine Steinruinen vor mir hatte, sondern bizarr geformte Kunststoffträger, die in die Höhe ragten, bis zur Unkenntlichkeit erodierte Stahlfundamente, eiförmige Gleiterwracks und weitere Gebilde, auf die ich mir keinen Reim machen konnte. Während Frunk und Resbo nach Dranta und dem »lebensuntauglichen Wissenschaftler« suchten, führte Atamina Mawysch mich herum; dabei war die Betroffenheit in ihrem Gesichtsausdruck nicht mehr zu verkennen. Anscheinend bereute sie es, mich hierher gebracht zu haben. An einen Ort, der für sie – vielleicht? – ein Platz der Schande war. Hak nach, drängte mich der Extrasinn. Gib dich nicht mit diesem unausgegorenen Wischiwaschi zufrieden. Was genau ist damit gemeint? Du musst es herausfinden, um deine Aufgabe erfüllen zu können. Aber ich schwieg. Nach den Anstrengungen der letzten Tage und der Nutzung des Flammenstaubs war ich ohnehin geschwächt, doch zusätzlich verspürte ich eine sich steigernde Nervosität. Sie schien nicht aus mir selbst zu kommen, sondern fremdbestimmt zu sein … als würde etwas an mir zehren, als fänden Dinge zueinander, die füreinander bestimmt waren. War dies etwa die Auswirkung der Annäherung des Flammenstaubs in mir an die Rhoarxi? Befanden sich die Avoiden tatsächlich in der Nähe? Hatten sie sich all die Jahrhunderttausende auf Eschens Welt versteckt, ohne entdeckt zu werden? Das konnte doch nicht sein! Aber … was, verdammt noch mal, stimmte bloß nicht mit
Uwe Anton meinen Überlegungen? Atamina Mawysch blieb stehen und aktivierte ihr Mehrzweck-Armbandgerät, an dem hektisch ein rotes Lämpchen blinkte. Als sie es wieder ausschaltete und zu mir aufsah, schwang Sorge in ihrem Blick mit. »Schlechte Nachrichten«, sagte sie. »Überall auf Eschens Welt schlagen die Zaqoor unvermittelt zu, töten Wesakenos, vernichten Strukturen, sorgen für Unruhe. Ungezählte Raumschiffe unterschiedlichster Bauweise tauchen im Äther auf. Flottenverbände der Lordrichter sonder Zahl werden im Orbit um unseren Planeten zusammengezogen. Die Zeit des Friedens auf dieser abgelegenen Welt ist endgültig vorbei.« Der Logiksektor hatte nur eine Erklärung für einen nebensächlichen Aspekt der Entwicklung parat. Offenbar hat man die Verfolgung der MITYQINN aufgegeben – oder der SAMMLER wurde vernichtet. Ich fühlte, wie Druck und Spannung in mir wuchsen. Ich wusste, dass ich mich auf eine Mausefalle zubewegte, fühlte mich aber nicht in der Lage, der Schnappfeder auszuweichen. Der Logiksektor gab mir Recht. Du wirst richtiggehend dorthin gedrängt, wo dein Gegner dich haben will. Dieser Gegner kann nur das Schwert der Ordnung sein. Ich stöhnte leise auf. Was hatte ich nur übersehen, welcher Fehler hatte sich in meine Überlegungen geschlichen? Doch der Extrasinn schwieg, während ich Stein und Bein geschworen hätte, dass eine unglaubliche Präsenz näher und näher kam. Ich musste die Initiative ergreifen, durfte nicht sehenden Auges ins Verderben rennen. Es gab ein einziges Element, mit dem ich für eine Überraschung sorgen konnte. Nun aktivierte ich mein MehrzweckArmbandgerät und sendete ein vorbereitetes Kodesignal an die AVACYN. Es war gleichbedeutend mit dem Befehl, den Lordrichter Saryla aus seiner Zelle zu befreien und unverzüglich hierher zu bringen. Was für ein Risiko!, dachte ich. Ein Lordrichter, ein Wesen, das Zehn- oder Hundert-
Die verlorenen Rhoarxi tausende Trodar-Gläubige bedenkenlos opferte, wenn es seinen Zwecken diente, als meine Geheimwaffe einzusetzen! Meine schon immer vorhandenen Zweifel meldeten sich stärker denn je. Saryla sollte mir gegen seinen ehemaligen Befehlshaber helfen? Aber was, so fragte ich mich, blieb mir in diesem Moment noch anderes übrig, als auf verzweifelte Taten zu setzen? Davonlaufen? Der Auseinandersetzung bis zum letzten Moment aus dem Weg gehen, obwohl ich ohnehin wusste, dass der Flammenstaub mich innerlich zerstörte? Nein. Ronald Tekener wäre stolz auf mich gewesen. Ich musste mich auf ein Spiel einlassen. Wenn ich das Schwert der Ordnung hier erwartete, inmitten der Ruinen der Rhoarxi, hatte ich zumindest die Platzwahl. Oder vielleicht doch nicht?
11. Canosch Leyne Canosch konnte es nicht fassen. Sie hatten den Händler tatsächlich gerettet! Er versuchte noch immer zu begreifen, was überhaupt passiert war. Alles war so schnell gegangen, und er hatte es gar nicht richtig mitbekommen, war sich nicht genau im Klaren darüber, wie Dranta es angestellt hatte. Er versuchte, sich zu beruhigen, während die Häuser der Stadt rasend schnell an ihm vorbeizufliegen schienen. Dranta war urplötzlich mit Frunk und Resbo im Schlepptau aufgetaucht, in einem superschnellen Gleiter, den sie wer weiß wo organisiert hatte. Und sie hatten allerlei technische Spielereien dabei. Nein, keine Spielereien, eher schon schweres Gerät. Granaten, Kombiwaffen und einen Holoprojektor. Und einen Plan hatte Dranta zu seiner Überraschung auch. Zuerst flog das Haus in die Luft, in dem der Fremde sich verschanzt hatte, dann mit einem donnernden Knall die Mauer, hinter der die Zaqoor Schutz gesucht hatten, und Resbo und Frunk liefen in die
45 Trümmer des Hauses, um den Fremden herauszuholen. Dranta aktivierte den Projektor, und plötzlich stand ein Ebenbild von ihr auf der Straße und lachte den Zaqoor aus. Canosch hatte sich die Augen gerieben. »Woher …?« Er hatte geröchelt; die Aufregung verschlug ihm die Sprache. Sie blitzte ihn aus dunklen Augen an. »Was hast du dir dabei gedacht? Du solltest auf mich warten und nicht in den sicheren Tod laufen!« Dranta riss ihn mit sich. Verschwommen bekam Canosch mit, dass ein Zaqoor das Feuer auf die Holoprojektion eröffnete. In einer Nebenstraße war der Gleiter geparkt, mit dem sie gekommen war. Dranta zerrte ihn hinein und gab Gas. Die Beschleunigung drückte Canosch in den Sitz. »Ich weiß nicht. Es war so seltsam … als hätte mich eine fremde Kraft auf diesen Platz gezogen. Aber … woher hast du all diese Dinge?« »Von Geschäftspartnern meiner Mutter geliehen. Es kann auch Vorteile haben, wenn man bekannte Verwandte hat. Halt dich fest, ich gebe Vollgas. In ein paar Stunden sind wir im Norden. Frunk und Resbo legen eine falsche Spur für die Zaqoor, damit sie beschäftigt sind. Aber dir ist klar, dass diese Aktion nicht ohne Folgen für unser Volk bleibt?« Dranta legte einen Hebel um, und Canosch sah die Häuser am Rand nur noch verschwommen. Ihm wurde übel. Ob es an dem Erlebten lag, an ihrer Geschwindigkeit oder dem Gedanken an die Zukunft der Welt Eschen, sein Hals zog sich zu. Die Häuser blieben weiterhin verschwommen. Zumindest erkannte er, dass sie nun nicht mehr so dicht an dicht standen. Sie hatten einen Außenbezirk der Stadt erreicht. »Auch das noch!« Dranta bremste, und Canosch konnte sich im letzten Moment aus dem Gleiter beugen. Er übergab sich hustend und würgend. Typisch, dachte er, als sein Magen sich beruhigt hatte. Er gab sich alle Mühe, vor Dranta seinen Mann zu stehen, und dann
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passierte ihm das. »Tut mir Leid, es war ziemlich viel für einen Morgen.« Sie lächelte ihn an und gab ihm ein Tuch. »Ich liebe dich, wie du bist, du Dummkopf. Wäre ich sonst bei dir? Ich ziehe bei dir ein, mit meiner Mutter bin ich endgültig fertig. Vielleicht werden wir zusammen Eschen verlassen und andere Welten besuchen. Der Händler könnte unser Fahrschein in eine neue Zukunft sein. Er wird sich erkenntlich zeigen wollen, und wir werden ihm sagen, wie er das bewerkstelligen kann.« Sie schmiegte sich an ihn, und Canosch wünschte sich, er wäre jetzt nicht auf dem Weg in die Ruinen. »Darüber reden wir, wenn ich die Artefakte gefunden habe. Den letzten Beweis für meine Theorie.« Er hatte sein ganzes Leben auf Eschen verbracht, konnte sich nicht vorstellen, die Heimat zu verlassen. Und wohin sollten sie? Von den fehlenden Mitteln ganz zu schweigen, aber das musste er Dranta jetzt nicht auf die kleine Nase binden. »Das ist der falsche Weg. Der Plan zeigt eine andere Route.« Canosch holte den Umschlag aus der Tasche, obwohl diese Geste überflüssig war. Er hatte den Plan so lange studiert, bis er ihn auswendig kannte. »Wir müssen Umschol abholen. Er wartet an einer Kreuzung auf uns.« Dranta gab wieder Gas. »Ich bin etwas durcheinander, den habe ich ganz vergessen. Und was ist mit dem Partin? Es gibt Ärger, wenn ich ihn nicht mitnehme. Du weißt doch, die staatliche Verordnung für Ausgrabungen schreibt die Anwesenheit eines …« Sie unterbrach ihn. »Du hast mir nicht zugehört, Canosch. Wir kehren nicht mehr in unser altes Leben zurück. Was schert uns da noch diese blöde Verordnung? Wir werden frei sein, frei wie die Zusthoas.« Canosch seufzte ergeben. In Gedanken formulierte er einen Brief, um den empörten Partin zu beruhigen. Irgendwie würde er es schon hinbiegen.
*
Der Nordosten der Ovolay. Ein wildes Land. Vogelschwärme bedeckten teilweise den Himmel. Krächzend zogen die Tiere ihre Bahnen, immer höher, der Sonne Nurten entgegen. In der Ferne ragten die Gebirgszinnen des Atila in verschwommenem Grau in die Höhe. An den westlichen und östlichen Küstenregionen liefen die Gebirgszüge langsam aus. Canosch atmete tief durch. Der Duft verschiedener Bäume und Blumen hing in der Luft. Hier gab es eine reichhaltige Flora und Fauna, vor allem, was die Vogelpopulation betraf. Rund um das Jahr siedelten hier riesige Schwärme. Man konnte sie überall antreffen, in den vielen kleinen, ruhigen Buchten, den Steilwänden der Klippen und den Wipfeln einzeln stehender Platanenbäume. Da die Wesakenos selten die markierten Wege verließen und die Vögel ihre Ruhe hatten, waren sie außerordentlich scheu. Canosch zog die Jacke aus und legte sie auf seine Beine. Er genoss die warme Luft, die Ruhe und die aromatische Brise vom Gebirge. »Da habe ich ja was verpasst, als ihr den Zaqoor Saures gegeben habt. Unglaublich! Hätte ich dir gar nicht zugetraut, Canosch. In deinem Büro geht es friedlicher zu. Manchmal konnte man dort vor Ruhe schlafen.« Umschol lachte keckernd; er erinnerte Canosch an Lasdo, wenn er zu viele Storten-Eier geschlürft hatte. Der Wesakeno saß hinter Dranta und trug neben seinem üblichen affigen Anzug eine bunt gemusterte Schirmmütze. Für eine Expedition war er keineswegs gekleidet, eher sah er nach einem Bummel durch das Zentrum der Hauptstadt Abwanskay aus. Canosch konnte darüber nur die Nase rümpfen; er zog den Mehrzweckoverall mit den vielen Taschen vor. Er war zwar nicht mehr das neueste Modell, erfüllte seinen Zweck aber noch sehr gut. »Wir hätten gern auf dieses Abenteuer verzichtet, aber gewisse Umstände zwangen uns dazu.« Dranta hatte Umschol nichts von Oktron erzählt. Canosch gefiel der Gedanke, dass sie es
Die verlorenen Rhoarxi verschwieg. Es war ihr Geheimnis, so wie die Sache mit Frunk und Atamina. Umschol nieste. Er war gegen alles Mögliche allergisch, wie er immer wieder betonte. Der Frühling in der Ovolay war für ihn die reinste Qual, aber er wollte Canosch und Dranta nicht so schmählich im Stich lassen wie Watun. Die Tatsache, dass sie hier durch die Gegend flogen, als wären sie im Urlaub, ließ Umschols Stimmung steigen. »Ich weiß gar nicht, warum Watun so ängstlich war. Hier ist es so friedlich wie in Canoschs Büro. Gleich schlafen wir alle.« Er lachte als Einziger über seinen Witz. Canosch verdrehte die Augen, und Dranta ignorierte ihn sowieso. »Gleich müssen wir an die Ruinenfelder kommen. Hier standen die ersten Siedlungen der Wesakenos. Vor etwa 220.000 Jahren haben wir diesen Planeten besiedelt.« Canosch sprach mehr zu sich selbst; er war von der Umgebung fasziniert. Er konnte nicht verstehen, warum die meisten Wesakenos nicht an den Ausgrabungsstätten interessiert waren. Sie gaben oft Geldmangel vor oder fehlende Freizeit, aber Canosch wusste es besser. Sie verdrängten ihre Vergangenheit, lebten nur in der Gegenwart, für die Zukunft. Aber er wollte das ändern, ihr Bewusstsein für die vergangenen Taten öffnen. »Wir haben ein Zeitpolster von gut drei Stunden. Wenn alles glatt geht, sind wir heute Abend am Ziel.« Dranta hatte die Automatik aktiviert und wandte sich Canosch zu. Ja, wenn alles glatt geht. Es ist so ruhig hier. Warum sind die Zaqoor nicht längst mit ihren Raumern am Himmel zu sehen? Canosch hütete sich, diese Gedanken laut auszusprechen. Umschol würde sicher sofort umkehren wollen oder zumindest mit seinem Gerede Drantas gute Laune verjagen. Sie schmiegte sich an ihn, und Canosch wollte dieses Gefühl in sich aufsaugen, für alle Zeit in seinem Kopf speichern. Ihr Duft war betörender, als Blumen es sein konnten, ihr weicher und doch durchtrainierter Kör-
47 per fühlte sich gut an. »Zum Turteln habt ihr noch genug Zeit. Erklärt mir lieber, warum wir plötzlich einen Verfolger haben!« Umschol klang aufgeregt. Canosch drehte sich erschrocken um. Kamen die Zaqoor ebenfalls mit Gleitern? »Das könnten Resbo und Frunk sein!« Dranta schaltete das Funkgerät ein. »Nein! Lieber nicht! Wenn sie es sind, lass sie zuerst Kontakt aufnehmen. Wir fliegen weiter! Wenn es ein Verfolger mit schlechten Absichten ist, werden wir das noch früh genug merken.« Dranta nickte. »Du hast Recht. Sie kennen unser Ziel; dort treffen wir uns.« Sie ist die Tochter ihrer Mutter. Hat alles durchdacht und geplant. An den Ruinenstätten werden wir sehen, wie es weitergeht.
* Im Scheinwerferlicht des Gleiters wirkten die Reste der alten Wesakeno-Siedlung auf Canosch verzerrt und bedrohlich. Er war Wissenschaftler, sein Interesse galt der Frühgeschichte Eschens, doch trotzdem befiel ihn ein merkwürdiges Gefühl. Der Anblick von bizarr geformten Kunststoffträgern und bis zur Unkenntlichkeit erodierten Stahlfundamenten zeigte ihm die Vergänglichkeit aller Dinge. Dranta hatte den Gleiter abseits des verfallenen Labyrinths abgestellt. Canosch wollte zu Fuß in die Siedlung. Umschol baute bereits das Lager auf. »Es ist zu spät. Wir können nichts mehr erkennen. Bei Tageslicht ist das Arbeiten leichter. Schau, die vielen Vögel. Sie haben die Ruinen für sich genutzt.« Tatsächlich erkannte jetzt auch Canosch die Nester in Nischen und auf Mauerresten. Ihre Ankunft hatte die Tiere aufgeschreckt. In Schwärmen umsegelten sie die Störenfriede. Canosch erkannte mindestens sechs verschiedene Arten des heimischen Symbrail. Sie waren teilweise ausgewildert worden oder Ausreißer, die hier ein neues Zuhause gefunden hatten. Dazwischen tummelten sich Krocks auf ihren
48 hohen Beinen; sie waren gute Läufer und schlechte Flugtiere. Ihre plumpen Körper waren zu groß für einen langen Flug. Viele Ganjasen schätzten ihr weißes Fleisch, einige Schnellküchen hatten sich auf dessen Zubereitung spezialisiert. Canosch lehnte den Verzehr von Avoidenfleisch strikt ab, in welcher Form auch immer. Er sah zum Himmel. Die Wolkendecke war dichter geworden, ein kühler Wind strich durch die Ruinen. »Es liegt Regen in der Luft.« Dranta zog an seinem Arm. »Komm ins Zeblu, ich habe auch Decken eingepackt. Was kümmert uns das Wetter heute Nacht, andere Dinge sind wichtiger.« Canosch war froh, dass es dunkel war und Umschol seine roten Ohren nicht sehen konnte. Es war ihm peinlich, wenn Dranta so offen über ihre Liebe sprach. »Was ist mit Frunk und Resbo?« Er hatte den Verfolger vom Mittag nicht vergessen, aber sie hatten die Siedlung ohne Zwischenfall erreicht. Das Funkgerät war stumm geblieben. Dranta zuckte die Achseln. Sie setzte sich in den Eingang des Zeblus, eines kleinen, runden, aus Leichtkunststoff gefertigten Allwetterschutzes. Und in dieser Nacht bot es auch Schutz vor neugierigen Blicken. »Sie werden schon kommen. Ich bin doch nicht ihre Mutter. Der Treffpunkt ist das verbotene Areal, außerhalb der offiziellen Grabungsstätten.« »Wir müssen uns also keine Sorgen machen, dass sie noch nicht aufgetaucht sind?« »Nein, wirklich nicht. Sie sind nicht dumm und wissen, dass wir heute nicht mehr arbeiten können. Da ziehen sie eine aufregende Nacht in den Armen einer Schönen dem hier vor. Sie werden morgen da sein, verlass dich auf mich. Sie bringen noch Proviant und ein paar Sachen von mir mit.« Dranta legte den Kopf an seine Schulter. »Ich bin noch gar nicht müde. Sollen wir einen Spaziergang machen, Dranta?« Belustigt sah Canosch auf. Sein freier Mitarbeiter hatte den affigen Anzug gegen einen olivbraunen Outdoor-Multi-
Uwe Anton funktions-Catsuit getauscht. Zugegeben, Umschol hatte einen durchtrainierten Körper, dass musste er neidlos eingestehen. Aber er würde ihn nie so schamlos zur Schau stellen. Stünde Dranta auf Muskelpakete, säße sie jetzt nicht neben ihm, dem Theoretiker und Feingeist. »Verschwinde, Umschol. Du stehst vor den Monden.« Dranta war wieder herzlich offen und ehrlich. »Ich dreh noch eine Runde. Wenn du es dir anders überlegen solltest …« Umschol war zäh, Canosch hätte längst aufgegeben. »Ich sage nur drei Worte: Gute Nacht, Umschol!« Dranta räkelte sich in Canoschs Armen, und ihre Augen versprachen ihm eine lange Nacht.
* Unruhig hatte Canosch die ersten Morgenstrahlen abgewartet. Er war leise aus dem Zeblu geschlichen und widmete sich den Vorbereitungen für die Expedition. Von Umschol war noch nichts zu sehen; dessen Abendspaziergang war wohl etwas länger ausgefallen. Canosch grinste. Wer konnte schon ahnen, wie lange der liebestolle Umschol auf Dranta gewartet hatte? Wann er endlich eingesehen hatte, dass sie seinen perfekten Körper nicht begehrte? Da die Anwesenheit seines Mitarbeiters noch nicht nötig war, ließ Canosch ihn schlafen. Vorsichtig packte er die Instrumente aus, legte sie in seine Tasche und faltete den Plan zusammen, den Dranta ihm besorgt hatte. Er wollte erst einmal allein losgehen und die Fundstätte begutachten. Es war noch sehr früh, und Canosch wusste, das Dranta gern lange schlief. Die Stille des Morgens inspirierte ihn; der Tag war jung, und er fühlte sich frisch und voller Kraft. Die ersten Vögel sangen ihr Lied und zogen am Himmel schon lange Bahnen. Ihr Geister der Vergangenheit, ich bin gekommen, um die Schmach und Schande unseres Volkes zu klären. Niemand kann
Die verlorenen Rhoarxi rückgängig machen, was geschehen ist, aber wir können um unserer Nachfahren willen um Vergebung bitten. Mit schnellen Schritten verschwand Canosch zwischen den Skeletten aus Kunststoff und Stahl, die einmal eine WesakenoSiedlung gewesen waren.
* Die Zeit war zu schnell vergangen. Er hatte gar nicht bemerkt, dass es schon Mittag war. Schwitzend stand er auf. Stundenlang hatte er kniend auf dem harten Boden gearbeitet. Sein Puls schlug ihm bis zum Hals, Schwindel erfasste ihn und ließ ihn kurz taumeln. Er war in dem braunen, trockenen Boden fündig geworden. In harter Arbeit hatte er Erde von den Fundamenten abgetragen, die in Tausenden Jahren dorthin geweht worden war. Meterhoch hatte sie die Artefakte unter sich begraben. Canosch hatte die Instrumente bis an ihr Limit beansprucht. Ein Desintegrator war bereits heißgelaufen. Doch er konnte nicht aufhören. Die zu Tage gebrachten Fundstücke bewiesen nicht nur seine Theorie, sie enthüllten noch anderes. Er arbeitete wie im Fieber weiter. Das Relief, das er schon zum Teil freigelegt hatte, war gut erhalten und laut Analysegerät über 300.000 Jahre alt. Unglaublich! Der Schweiß tropfte ihm vom Gesicht, der Overall klebte ihm unangenehm am Körper, und Durst quälte ihn. Aber er musste weitergraben, alles dokumentieren und abspeichern. Die Beweise für die Arbeit der letzten drei Jahre lagen vor ihm; er brauchte nur zuzugreifen. Stimmengewirr drang durch die mittägliche Hitze. Canosch hielt inne. Wenn Dranta kam, konnte er sich auf ein Donnerwetter einstellen. Sie wollte dabei sein, wenn die Ruinenstadt ihr Geheimnis preisgab. Aber er hörte nicht nur Drantas Stimme; eine andere Frau sprach jetzt. Dunkel und sehr autoritär. Hastig packte Canosch die ka-
49 talogisierten Fundstücke ein. Er würde sie gegen jeden verteidigen, falls das notwendig sein sollte. Notdürftig klopfte er den Sand vom Overall, stellte die Maschinen ab und sah zu den Ruinen, aus denen die Stimmen klangen. »Ich werde hier bleiben! Damit ist alles gesagt!« Dranta erschien mit hochrotem Kopf; sie war sehr wütend, stellte Canosch fest. Hinter ihr lief eine Frau, die auf sie einredete und versuchte, sie festzuhalten. Canosch kam sie bekannt vor. Aber eine Studentin war sie nicht. »Canosch, wo um alles bei Eschen treibst du dich herum? Ich habe uns ein hervorragendes Frühstück gezaubert, und du kommst nicht! Niemand kommt, nur diese Frau!« Sie betonte das letzte Wort auf eine Weise, die Canosch klar machte, um wen es sich handelte. Atamina Mawysch. Der Staub hatte sich auf ihre elegante Kleidung gelegt, ließ sie verschmutzt und alt aussehen. Canosch röchelte. Ein merkwürdiger Druck legte sich auf seinen Kopf. »Du verdammter Schreibtischwurm, was hast du meiner Tochter für Flausen in den Kopf gesetzt?«, keifte sie. »Ich werde dich vernichten! Du wirst nie wieder an irgendeiner Schule unterrichten oder Vorlesungen halten!« Aber ihre Worte prallten an ihm ab. Er war sich seiner Entdeckung sicher, würde dafür sorgen, dass die Geschichtsbücher neu geschrieben werden mussten. Dranta war nicht so ruhig. »Wie redest du mit dem Mann, den ich liebe? Alles, was du in deinem Leben gesagt oder getan hast, drehte sich um Geld! Dafür verachte ich dich! Geh wieder in dein Bordell zu deinen gekauften Freunden und lass mich und Canosch in Ruhe. Ich will dich nie wieder sehen, nie wieder!« Canosch hielt den Atem an. Eine tonnenschwere Last lag plötzlich auf ihm, drückte auf seine Lungen. Lag es am Streit zwischen Mutter und Tochter? Waren es die Artefakte
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in seiner Tasche, die immer schwerer zu werden schienen? Die Luft fing an zu flirren. Ein leises Summen ertönte, kaum hörbar, im unteren Frequenzbereich. Panik überkam Canosch. Die beiden Frauen schwiegen; in ihren Gesichtern stand die gleiche unerklärliche Angst. Sie kroch in ihm hoch, und sein Atem reichte nicht einmal mehr zum Röcheln. Er machte eine Bewegung zwischen den Ruinen aus, kniff die Augen zusammen und schirmte sie mit der Hand vor der hochstehenden Sonne ab. Täuschte er sich, oder …? Nein. Dort stand der Händler mit den schwarzen Haaren. Langsam kam er auf ihn zu. Eine Aura von kleinen schwarzen Funken umgab ihn. Er sagte etwas zu Canosch, doch in dessen Ohren dröhnte es nur noch. Die Welt um ihn verlor ihre Farben, wurde grau und matt. »Lauf weg, Dranta!«, krächzte er. »Hier geschieht Furchtbares! Und ich war so nah dran … Die Beweise … ich habe sie in der Tasche! Sie waren hier, als die Wesakenos diese Siedlung gründeten. Sie waren eindeutig intelligent und konnten fliegen …« Canosch fiel auf die Knie. Es wurde immer dunkler um ihn. Er sah, wie Dranta von ihrer Mutter weggezerrt wurde. Atamina war kräftiger als sie, kämpfte als Mutter um ihr Kind. Canosch Leyne sah Umschol und die beiden jungen Cappins mit schmerzverzerrten Gesichtern davonlaufen. Der Schwarzhaarige – Oktron – ging noch einige Schritte auf Canosch zu. Der Wissenschaftler erkannte den guten Willen in dem Mann; er würde seine Dranta in Sicherheit bringen. Vielleicht sehen wir uns wieder. Ich glaube, wir haben uns eine Menge zu erzählen. Dann nahm Dunkelheit von seinem Denken Besitz.
12. Atlan 3. November 1225 NGZ
»Geht«, krächzte ich. »Geht. Ihr habt hier nichts mehr verloren. Helfen kann mir ohnehin niemand. Und auch nicht deiner Tochter, Atamina.« Die Handelsherrin bedachte mich mit dem eisigsten Blick, den ich je bei ihr gesehen hatte. »Ich gebe Dranta nicht auf. Eher mein Leben, aber nicht sie. Ich gehe nicht ohne meine Tochter.« Diese Worte hatte ich schon einmal gehört, und ich wusste, ich würde die Frau nicht umstimmen können. »Im Übrigen habe ich gute Nachrichten«, fuhr sie fort. »Ich habe den Funkverkehr der Besatzer abgehört. Die Zaqoor haben weder unsere Verfolgung aufgenommen noch sich in die Ovolay begeben, da sie eindeutige Befehle von ganz oben bekamen, in dieser Hinsicht nichts zu unternehmen.« Ich schwieg, versuchte, diese Information einzuordnen. Es gelang mir nicht. Das Geschehen wurde immer undurchschaubarer. Warum gaben die Lordrichter einen offensichtlichen Vorteil auf? »Ich bleibe ebenfalls«, sagte Myreilune. »Ich habe noch nie etwas auf Vorahnungen gegeben, und deine Phantomschmerzen sind Mummenschanz, Atlan.« Ein lautes Krachen im Unterholz ließ mich zusammenzucken. Ich wirbelte herum, doch es waren nur Frunk und Resbo, die auf uns zugestürmt kamen. »Wir haben sie gefunden!«, rief der eine – ich wusste nicht, welcher. »Sie lagern nur ein paar Minuten von hier entfernt, doch es war reiner Zufall, wir hätten noch Stunden suchen können …« Am liebsten hätte ich laut aufgeschrien. Die Situation kam mir immer unwirklicher vor. Ich musste meine gesamte Selbstbeherrschung aufbringen, um mich verständlich zu äußern. »Zeigt uns den Weg!« Frunk und Resbo sahen mich an, als hätte ich sie aufgefordert, sich auf der Stelle zu entleiben. Nicht nur mir kam dieser Ort auf eine unheimliche Weise unnatürlich vor. Sie rührten sich nicht. »Na los!«, zischte Atamina Mawysch mit
Die verlorenen Rhoarxi ihrer dunklen, unglaublich kalten Stimme, und sie setzten sich in Bewegung. Ich rannte ihnen hinterher, durch das niedrige Gestrüpp der Tundra, hörte weit vor mir Ataminas und Myreilunes Schritte. Zwei Minuten konnten eine Ewigkeit sein, doch schließlich sah ich das primitive Zeltlager, das die Forscher errichtet hatten, sah zwei Männer, von denen ich einen als Canosch Leyne erkannte, und eine Frau, die mich anstarrten, als sei ich der Takerer-Höllenfürst leibhaftig, und die Handelsherrin und ihre Tochter wechselten hitzige, wütende Worte, und Canosch Leyne mischte sich auch ein, und … Und plötzlich flimmerte die Luft um mich herum. Eiseskälte durchdrang mich. »Wir dürfen nicht aufgeben!«, rief die junge Frau, zweifellos Ataminas Tochter Dranta. »Wir haben etwas entdeckt, was so gar nicht in das Weltbild der stolzen Wesakenos passt. Denn während unserer Gründerzeit gab es hier, wenn unsere Auswertungen stimmen, eine andere intelligente Lebensform. Vogelähnliche, die sich die Wesakenos Untertan gemacht haben und die heute …« Sie verstummte, spürte auch den Schrecken, das Entsetzen, das ich empfand. »Lauf!«, krächzte ich. »Du begreifst gar nichts! Lauf!« Aber es war längst zu spät. Das Flimmern um mich herum verdichtete sich zu einer Aura von kleinen schwarzen Funken. Ich war zu keiner Bewegung mehr fähig, und Dranta schrie auf und brach zusammen. Doch Atamina setzte sich mit einer Kraft in Bewegung, von der ich nicht wusste, woher sie sie nahm. Die Kraft einer Mutter, die um das Leben ihrer Tochter kämpfte. Das Flimmern um mich herum wurde körperlich greifbar. Ich musste nur die Hand ausstrecken, um es zu fassen, doch ich tat es nicht. Der Cappin, der Canosch Leyne und Dranta begleitet hatte, war schon längst los-
51 gelaufen, genau wie Frunk und Resbo. Atamina ebenfalls, doch in die entgegengesetzte Richtung. Mit Wucht hatte sie ihre Tochter hochgehoben und sich über die Schulter geworfen. Ich war ganz ruhig, obwohl ich begriff, was geschah. Das Flimmern der schwarzen Punkte neben mir verwandelte sich unmittelbar zu zwei Eishaarfeldern. Canosch Leyne fiel bewusstlos oder tot zu Boden, offensichtlich an Angstzuständen oder Wahnvorstellungen gestorben oder ohnmächtig geworden. Auch Myreilune brach mit schmerzverzerrtem Gesicht zusammen, während ich mich mit Müh und Not auf den Beinen halten konnte. Instinktiv griff ich zum Flammenstaub in mir. Oder wirst du etwa von den beiden Lordrichtern dazu gezwungen?, brüllte der Extrasinn. Mir schien, dass ich nicht dagegen ankämpfen konnte, das verfluchte Zeug aus mir herauszulassen. Schwarze Fussel umflatterten mich, wurden von dem kleineren Eishaarfeld wie magisch angezogen, verbanden sich mit ihm – und gaben die Identität des einen Lordrichters preis. Ich konnte kaum noch stehen oder denken, war vollends ausgebrannt, kaum noch fähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Verschwommen erkannte ich, wer oder was der Oberste Lordrichter war. Ein von Wahnsinn Gezeichneter. Zittrig stand er da, mit Schaumblasen vor dem Mund, mit irrem Blick, von Schüttelfrost geplagt. Und es handelte sich um … einen Rhoarxi. Choch. Das musste er sein. Jener, der den Sagen nach vor längerer Zeit aus der Intrawelt ausgebrochen war. Um mich wurde es plötzlich laut und schwarz. Ein gewaltiger Zug von Vögeln, sicher Zehntausende, umflatterten uns mit einem Mal. Zusthoas.
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Besser gesagt, meldete sich der Extrasinn, Rhoarxi, die anscheinend nichts mehr mit ihren intelligenten Artgenossen in der Intrawelt gemein haben. Sie haben sich zu vergleichsweise winzigen Vögeln zurückentwickelt. Das ist es wohl, was Dranta dir sagen wollte. Die Schuld, an der die Wesakenos knabbern. Dass sie ein ehemals intelligentes Volk versklavt haben … »Degeneration«, sagte die Stimme desjenigen, der hinter dem zweiten Eishaarfeld verborgen war, »aber für meine Zwecke wird es reichen.« Ich schaute auf dieses Feld, das noch größer und mächtiger war als das von Choch. Dahinter, so wusste ich, verbarg sich das Schwert der Ordnung. Jenes Wesen, das versuchte, drei Galaxien in seinen Bann zu zwingen. Das Feld erlosch. Eine Gestalt wurde sichtbar. Eine Gestalt, die ich nur allzu gut kannte. Eine Art Wurm mit einer Länge von zweieinhalb Metern und einem Durchmesser von 30 Zentimetern, ein Wesen mit vier Stielaugen und einem segmentierten, schlauchförmigen Körper, das sich mit raschen Bewegungen zu mir schlängelte, während es von aufgeregt flatternden Zusthoas umschwärmt wurde, und mich mit sämtlichen seiner Augen betrachtete. Das Schwert der Ordnung. Das Saqsurmaa.
Epilog ErEsSie fühlte sich wohl in seiner Haut. ErEsSie hatte stets drei Elemente gebraucht: Flammenstaub, Rhoarxi und einen richtig bösen Knall. Atlan trug den Flammenstaub in sich, den er in der Intrawelt geborgen hatte. Die Rhoarxi waren jener Faktor, den die Lordrichter in Gruelfin gesucht hatten. Und der Ort für den großen Knall würde die Milchstraße sein. ErEsSie hatte alles genau geplant, auch wenn der Start des Urschwarms gescheitert war, da Sardaengar und Litrak als seine Erfüllungsgehilfen versagt hatten. Aber er hatte Atlans Neugier und Interesse geweckt und war in dessen Nähe gelangt. Doch nun würde alles anders kommen. ErEsSie frohlockte. Atlan war da. Die Rhoarxi waren in der Nähe. Der Oberste Lordrichter befand sich in seiner Begleitung. Die Steine lagen perfekt. ErEsSie musste nur noch die letzten Züge tun, und das Spiel war gewonnen. Ja, ErEsSie fühlte sich sehr wohl in seinen Häuten. ENDE
ENDE
Das Schwert der Ordnung von Michael Marcus Thurner Atlan hätte es sich wohl nie träumen lassen, noch einmal dem Saqsurmaa zu begegnen. Emion, so dessen Eigenbezeichnung, war der Adjutant Litraks gewesen, eines im wahrsten Sinn des Wortes »alten Bekannten« Atlans in der Obsidian-Kluft. Der Kreis schließt sich – der große Showdown kann beginnen. Ohne die Unterstützung von Lordrichter Saryla würde unser Arkonide allerdings sehr schlechte Karten haben … Das aufregende Finale auf Eschens Welt!