Die Verlorenen von Timothy Stahl
Der Vollmond starrte auf das Sumpfland herab wie das aufgedunsene Gesicht eines fette...
23 downloads
658 Views
728KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Die Verlorenen von Timothy Stahl
Der Vollmond starrte auf das Sumpfland herab wie das aufgedunsene Gesicht eines fetten Weißen. Eines toten fetten Weißen … Der schwarze Junge lächelte leise bei dem Gedanken, der so oder ähnlich auch seinen Vorvätern schon in den Sinn gekommen sein mochte. Auch wenn er in deren Köpfen mit tieferen Empfindungen wie Haß, Zorn und Schmerz einhergegangen war. Die leidvolle Historie der Schwarzen war mit Blut und Tränen geschrieben worden. Dennoch konnte Levar nicht genug davon hören. Weil die Geschichten nicht allein von Knechtschaft kündeten, sondern auch von der Kraft und dem Stolz seines Volkes … Immer tiefer drang der Knabe ins Herz der Sümpfe vor. Dorthin, wo die Hütte des alten Zefrem stand. Sie war Levars Ziel. Denn Zefrem wußte die alten Geschichten zu erzählen, als wäre er selbst dabei gewesen.
Was bisher geschah Alle Vampiroberhäupter rund um den Globus werden von einer schrecklichen Seuche befallen, die sie auf ihre Sippen übertragen. Die infizierten Vampire – bis auf die Anführer selbst – können ihren Durst nach Blut nicht mehr stillen und altern rapide. Gleichzeitig wird in einem Kloster in Maine, USA, ein Knabe geboren, der sich der Kraft und Erfahrung der todgeweihten Vampire bedient, um schnell heranzuwachsen. Sowohl die Vampirseuche als auch die Geburt des Kindes erschüttern das Weltgefüge auf einer spirituellen Ebene. Rund um den Erdball reagieren para-sensible Menschen, träumen von unerklärlichen Dingen und möglichen Zukünften. Die »Illuminati«, ein Geheimbund in Diensten des Vatikans, rekrutiert diese Träumer. In vielen Visionen spielt ein widderköpfiger Tiermensch eine tragende Rolle – die Traumgestalt des Kindes, das auf der Suche nach starker Lebensenergie ist. Inzwischen trifft Lilith auf einen Vampir in der Kutte eines Mönchs. Er gehörte vor gut 500 Jahren dem Illuminati-Orden an, der nahe Rom in einem unzugänglichen Kloster ein Tor bewachte (und es noch heute tut). Eines Tages wurde er von jenseits des Tores versucht und besessen. Zwar konnte er die Pforte nicht öffnen, lebte fortan aber als Vampir weiter. Lilith stellt sich ihm. Dabei hört sie erstmals von dem geheimnisvollen Tor. Das nächste Abenteuer soll Lilith nach Al’Thera führen, einer Stadt der Vampire, die zwischen den Dimensionen der Menschen und des Bösen liegt. Seit tausend Jahren herrscht dort die Vampirin Salea, seit sie mit Hilfe eines gestaltwandlerischen Wesens namens Rank’Nor an die Macht kam. Doch der Seuchenimpuls erreicht auch Al’Thera und läßt die Bevölkerung innerhalb von Stunden dahinsiechen. In ihrer Not bittet Salea ihren Verbündeten um Hilfe. Die wird ihr gewährt – aber anders, als sie gehofft hat: Rank’Nor »friert« die
Vampire mitten in ihrem Todeskampf ein, macht sie gleichsam zu Zombies. Und jetzt wird auch offenbar, wer in Wahrheit die Stadt regiert. Salea holt mit einem Zauber Lilith nach Al’Thera, die größte Feindin aller Vampire, um dem Leiden ein Ende zu machen. Doch Lilith ist viel mehr daran interessiert, wie sie zurück auf die Erde gelangen kann. Sie erfährt, daß auch die fremden Wesen an einem solchen Weg arbeiten, um »das Tor zu umgehen«. In Al’Thera befindet sich ein Dimensionsriß, den sie in den letzten tausend Jahren so geweitet haben, daß bald eine Passage möglich sein wird. Doch dazu brauchen sie Salea – denn Al’Thera kann nur so lange bestehen wie sein Herrscher. Als Lilith die Wahrheit erfährt, tötet sie die Vampirin. Al’Thera vergeht, und Lilith wird in ihre eigene Dimension zurückgezogen. Die Gefahr durch den Dimensionsriß ist damit abgewendet – bleibt nur noch jenes ominöse Tor …
Der Mond verwandelte das Sumpfland in eine Welt aus bizarren Formen in Silber und Schwarz, ohne jede Zwischenschattierung. Was von seinem Licht berührt wurde, glitzerte wie aus purem Metall, die Schatten indes waren so finster, daß Levar glaubte, hineingreifen zu können wie in tiefe Löcher und Schlünde, die die Wirklichkeit zerklüfteten – und in denen Dinge lauerten, die nur darauf warteten, daß sich ihnen jemand unbedacht näherte. Ein paar dieser Dinge schienen die lichtlosen Abgründe bereits verlassen zu haben. Levar glaubte aus den Augenwinkeln zu bemerken, wie sie umherhuschten und immer dann zurück in die Schwärze schlüpften, wenn er den Blick wandte und direkt dorthin sah, wo er ihre Bewegung eben noch wahrgenommen hatte. Aber er mußte sie im Grunde nicht einmal wirklich sehen, um zu wissen, worum es sich bei den fliehenden Schatten handelte. Er kannte sie längst. Zefrems Geschichten waren voll davon. Und die Sümpfe waren voll davon … Manchmal glaubte Levar sogar, ihre Stimmen zu hören. Wenn Gasblasen aus den Tiefen des Morastes emporstiegen und an der dunklen Oberfläche zerplatzten, dann entließen sie – manche jedenfalls – nicht nur fauligen Gestank, sondern auch verwehende Schreie. Irgendwann hatte der Sumpf sie in fast schon toten Kehlen erstickt und ihre Echos über die lange Zeit hinweg konserviert, um sie nach und nach zu entlassen, im Laufe von Jahren, die einem kaum elfjährigen Jungen als unzählig vorkommen mußten. Andere Stimmen antworteten den geisterhaften Rufen aus der Tiefe. Die Laute jener, deren Heimstatt die Sümpfe seit Anbeginn waren, vermengten sich zu einem auf eigenartige Weise wohltönenden Chor, dessen Harmonie immer dann gestört wurde, wenn eine Blase sich mit feuchtem Blob! auflöste und Levar noch etwas anderes zu hören meinte. Dennoch kannte der Junge keine Angst. Ohne zu zögern oder gar innezuhalten lief er durch das Sumpfland, setzte seinen Fuß sicher
auf jene schmalen Streifen aus halbwegs festem Erdreich, die wie natürliche Stege zwischen morastigen Löchern und Tümpeln verliefen. Ebensowenig wie er die Jahre zählen konnte, die seit jener Zeit vergangen waren, von der Zefrem erzählte, wußte Levar, wie oft er den Alten schon aufgesucht hatte. Oft genug in jedem Fall, um jeden Fußbreit Boden im weiten Umkreis von Kraemer zu kennen. Und oft genug auch, um sich gewiß zu sein, daß nichts von dem, was hier lauern mochte, ihm wirklich gefährlich werden konnte. Nicht mehr, seit er sich diesen »Dingen«, den Schatten mehr verbunden fühlte als der Welt, aus der er kam – aus der er hierher manches Mal beinahe flüchtete. Weil er sich hier mehr daheim fühlte als in dem schäbigen Häuschen, das er in Kraemer mit seinen Geschwistern teilte. Manchmal meinte Levar sogar, gerufen zu werden – von etwas oder jemandem. Es war ein Ruf, dem er sich weder widersetzen konnte noch mochte. Und wenn er es recht bedachte – war es weit mehr als nur ein Ruf … Ohne sein bewußtes Zutun, als folgten seine Bewegungen einer geheimnisvollen Programmierung, beschleunigte Levar seine Schritte, rannte dann fast und schaffte es mit einem scheinbar mühelosen Sprung über ein Sumpfloch hinwegzusetzen, das im silbrigen Gewirr des kniehoch bewachsenen Bodens wie ein lichtschluckender Schlund gähnte. Der Junge hatte den jenseitigen Rand noch nicht erreicht, als er das naßdumpfe Platzen einer weiteren Blase hörte – und das fast lautlose Hilfe!, das mit dem Gestank zu ihm herüberwehte … Als er sich umwandte, glaubte er gerade noch zu sehen, wie sich etwas rasch und mit feuchtem Schmatzen in die Finsternis des Loches zurückzog; etwas Totenbleiches, das vor Schwärze troff – und das sich eben noch, zur Klaue gekrümmt, nach ihm gestreckt hatte … Levar schenkte der Erscheinung nicht mehr Aufmerksamkeit als einen schnellen Blick, und schon währenddessen lief er weiter, durchquerte ein in Silber und Schwärze erstarrtes Zypressenwäld-
chen, dessen Geäst sich wie die Gliedmaßen monströser Spinnen nach dem Nachthimmel reckte. Jenseits des Waldes klaffte dann das dunkelste Loch in der Wirklichkeit. So sah es zumindest aus der Ferne aus. Auf einer Fläche, die aus dieser Entfernung gerade einmal von der Größe einer Streichholzschachtel war, ballte sich Finsternis in einem Maße, daß man glauben konnte, sie berühren zu können. Darüber sammelte sich das Mondlicht auf einer Schräge, flirrend und sich bewegend wie geschmolzenes Silber, das jeden Moment herabfließen mußte. Doch es floß nicht, und auch der Eindruck kompakter Schwärze verlor sich, je näher Levar der Hütte mit dem moos- und flechtenüberwachsenen Dach kam. Er erinnerte sich noch daran, wie er die Karte auf einer seiner kindlichen Expeditionen durch die Sümpfe rund um Kraemer entdeckt hatte. Mehr als ein Jahr lag diese »Entdeckung« nun schon zurück, doch ihr Anblick hatte für Levar in all der Zeit nichts von seiner Faszination verloren. Im Gegenteil; die fast magische Anziehungskraft hatte an Stärke gewonnen, nachdem der Junge erst einmal erfahren hatte, was die Schwärze dort drüben an Faszinierendem barg. Die abstrusesten und unheimlichsten Gedanken hatten ihn seinerzeit angesprungen, waren wilden Tieren gleich über sein Denken hergefallen, als er die Hütte vor mehr als Jahresfrist gefunden hatte. Seine Phantasie, angestachelt von der ohnehin schon gespenstischen Umgebung, hatte die grausigsten Gestalten geboren, die ein kleiner Junge nur zu ersinnen vermochte. Eine häßliche Hexe und ein riesenhafter Voodoo-Priester hatten noch zu den harmloseren möglichen Bewohnern gezählt, auf die Levar damals zu treffen befürchtet hatte. Die Wahrheit war anders gewesen – im Grunde nicht einmal weniger schrecklich, nur anders …
Zunächst hatte er die Hütte für verlassen gehalten. Nicht einmal Levar, der Luxus allenfalls vom Hörensagen kannte, hatte sich vorstellen können, daß irgendein Mensch bereit sein konnte, in einer solchermaßen spartanischen Behausung zu leben. Dazu war der Gestank nach Fäulnis und allen möglichen anderen Dingen gekommen, so übel, daß jeder Atemzug Überwindung kostete. Seine nächste Entdeckung hatte Levar annehmen lassen, daß der Bewohner der Hütte gestorben war. Vor einiger Zeit bereits, so daß sein Leichnam zu dem Gestank in der Kate beitrug. Reglos hatte der Alte in einem Schaukelstuhl gesessen, in einem fast völlig finsteren Winkel der Hütte. Der Junge war nur deshalb auf ihn aufmerksam geworden, weil der Mann die Augen nicht geschlossen hatte und seine Augäpfel zwei kleinen Lichtern gleich in der Schwärze glänzten. Bis sie wie Lampen erloschen waren – weil der »Tote« die Lider geschlossen hatte. Dafür wurde ein gespenstisches Knarzen laut, als der Stuhl sacht zu schaukeln begann … Diese Begegnung war der Anfang einer wunderbaren Freundschaft zwischen einem alten Mann und einem kleinen Jungen geworden, die damals nicht mehr gemein hatten als die Farbe ihrer Haut. Heute teilten sie auch andere Dinge. Geschichten. Wissen. Geheimnisse. Und mehr … Wie immer, wenn Levar nur noch ein paar Schritte von der Hütte entfernt war, stieg ein Gedanke in ihm auf, der sein Herz vor Beunruhigung schneller schlagen ließ und ihm das Atmen schwermachte: Würde heute nun tatsächlich ein Toter im Schaukelstuhl sitzen …? Zefrem war nicht einfach nur alt, er war uralt in einem Sinn, daß Levar sich die Zahl seiner Lebensjahre nicht einmal ansatzweise vorzustellen vermochte. Und es war nicht nur jeder Tag ein Wunder, den Zefrem noch erlebte, sondern fast schon jede Stunde. Irgendwann, das wußte der Junge, würde er den Alten wirklich tot
vorfinden bei seinem Besuch. Und dieser Tag – oder vielmehr diese Nacht – konnte nicht mehr in allzu weiter Ferne liegen. Nach menschlichem Ermessen … Die Tür zu öffnen, bedeutete für Levar jedesmal einen Kraftakt. Die feuchte Sumpfluft hatte die dunklen Bohlen aufgequollen und verzogen, so daß die Türkante schwer über den Boden schleifte. Der Junge schaffte es, sie gerade weit genug aufzustemmen, daß er durch den schmalen Spalt schlüpfen konnte. Dämmerlicht und Leere nahmen ihn auf. Nichts regte sich, so weit die Blicke des Jungen reichten. Aber das mußte nicht unbedingt etwas bedeuten, denn Finsternis füllte die Winkel der Hütte mehr als großzügig, und in ihrem weiten Mantel konnte sich alles mögliche verbergen. »Zefrem?« Levars leiser Ruf tropfte in die Stille. Doch er blieb unbeantwortet. Sekunden reihten sich aneinander, fast zu einer Minute, dann hörte der Junge etwas. Keine Stimme jedoch, sondern einen Laut, von dem er sich nicht einmal ganz sicher war, ob er in der Hütte aufklang. Etwas wie ein Quietschen. Das Fiepen eines Tieres, einer Sumpfratte vielleicht. Und unzweifelhaft war es der letzte Laut, den die Kreatur in ihrem Leben ausgestoßen hatte … Erst nach weiteren Sekunden geriet Bewegung in die Schwärze in einer der Ecken. Ein nur unwesentlich hellerer Schatten schälte sich heraus und schien erst mit dem Schritt, der ihn in das einfallende Streulicht des Mondes brachte, menschliche Kontur anzunehmen. »Du kommst spät heute«, sagte Zefrem. Seine Worte raschelten und rochen wie schimmliges Brot in einer Papiertüte. Levar zuckte entschuldigend die Schultern. »Mein großer Bruder hat von meinen Ausflügen Wind bekommen. Er möchte nicht, daß ich mich nachts draußen herumtreibe. Ich mußte warten, bis er eingeschlafen war.«
»Weiß er denn, daß du mich besuchst?« fragte der Alte. Levar schüttelte den Kopf. »Nein«, erwiderte er grinsend. »Jake würde mich in Ketten legen, wenn er wüßte, daß ich nachts in die Sümpfe gehe.« »Er paßt gut auf dich auf, dein Bruder, hm?« »Nicht gut genug«, erklärte der Junge, »sonst wäre ich ja nicht hier.« »Und das wäre ein Jammer«, sagte Zefrem mit einem Lächeln, das die Runzeln und Falten in seinem Gesicht bewegte wie der Wind die Oberfläche eines schwarzen Tümpels. »Ja«, entgegnete Levar, wohl wissend, was der Alte meinte. Zefrem schlurfte hinüber in jene Ecke, in deren Dunkelheit der Junge den Schaukelstuhl wußte, ohne ihn sehen zu können. Als der Alte sich hineinsinken ließ, geisterten knarzende Geräusche durch die Finsternis, und als er im Stuhl zu wippen begann, schien die Schwärze Wellen zu schlagen. Unaufgefordert trat Levar zu ihm, zog sich eine alte Kiste heran und nahm darauf Platz. All das waren Teile des Rituals, mit dem sie ihr Zusammensein einleiteten. Und auch Zefrems immer gleiche Frage gehörte dazu: »Soll ich erst dir etwas erzählen, oder …?« Levar schluckte trocken, wie immer, bevor er die stets gleiche Antwort gab: »Erzähl du zuerst.« Und dann fügte er lächelnd hinzu: »Erst die Arbeit …« »… dann das Vergnügen«, ergänzte Zefrem rauh. »Nun gut.« »Ich habe dir heute auch etwas zu erzählen«, fügte Levar noch hinzu, als Zefrem schon zur Geschichte ansetzte. »So?« »Etwas, das ich auf der Straße gehört habe«, ergänzte Levar. »Was denn?« »Hinterher«, bestimmte der Junge. »Erst du.« Der Alte nickte. »Meinetwegen. Also, hör gut zu. Es war …«
*
… im Jahre 1863, auf der Zuckerrohr-Plantage Resolute in Louisiana. Um die Geschichte zu verstehen, mußt du wissen, daß einige Monate zuvor Präsident Abraham Lincoln mit der Verkündung der Emanzipationsproklamation allen Sklaven die Freiheit zugesichert hatte. Für die Schwarzen im Süden war dieses Versprechen nicht mehr als ein schlechter Witz, so es ihnen überhaupt zu Gehör kam. Denn die Erklärung des Präsidenten ging unter im Geschützdonner des Bürgerkriegs, der bereits seit zwei Jahren zwischen den Nordund Südstaaten der USA tobte – und der nicht zuletzt wegen Lincolns ablehnender Haltung zur Sklaverei ausgebrochen war. Im Süden glaubte sich die überwiegend weiße, von der Landwirtschaft lebende Bevölkerung auf die Negersklaven angewiesen. Deswegen hatte sich der Staat South Carolina im Dezember 1860 von den USA losgesagt, als Lincoln, der im Süden als geradezu fanatischer Sklaverei-Gegner galt, zum neuen Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt wurde. Wenig später folgten weitere zehn südliche Staaten diesem Beispiel und schlossen sich zu den Konföderierten Staaten von Amerika zusammen. Im April 1861 hatten Truppen der Konföderierten Fort Sumter beschossen, das zwar an der Küste South Carolinas lag, aber von Unionstruppen besetzt war. Damit war der Krieg losgebrochen, den der Norden nicht nur wegen der Frage der Sklaverei führte, sondern auch – und vielleicht vor allem –, um die gerade erst erblühenden United States of America in den Augen der Welt wiederherzustellen. Die Yankees waren den Südstaatlern in jeder Hinsicht überlegen – auf dem Papier jedenfalls. Aber diese theoretische Überlegenheit hatte den Norden gleich zu Beginn des Krieges unvorsichtig werden lassen, und so konnte der Süden zunächst eine ganze Reihe von Siegen für sich verbuchen. Außerdem fehlte es der Union an guten Führungskräften. Viele Offiziere der regulären Armee stammten aus den Bundesstaaten, die
nun zur Konföderation zählten, und sie schlossen sich deren Armee an. Die Yankees brauchten eine ganze Weile, bis sie den Ernst der Lage überhaupt erkannten, und dann noch einmal eine Zeitlang, bis sie sich darauf eingestellt hatten. Für die schwarzen Sklaven im Süden jedenfalls änderte sich im Bürgerkrieg nichts. Auch auf Resolute nicht. Die Geschichte begann in einer Nacht wie der heutigen. Still und klar; jeder Laut war weithin zu hören. Das Stöhnen, mit dem Agamemnon und Semiramis sich auf der säuerlich riechenden Drillichmatratze wälzten, konnte man wohl noch drüben im Herrenhaus hören, das immerhin eine knappe halbe Meile von den Sklavenhütten entfernt stand. Agamemnon und Semiramis – das waren natürlich nicht die richtigen Namen des jungen Burschen und des Mädchens. Aber die weißen Herren liebten es zu jener Zeit, ihre Sklaven nach eigenem Gutdünken zu benennen. Namen aus der Bibel und den Mythologien der Welt wurden gern hergenommen, »um den Negern wenigstens auf diese Weise ein bißchen Kultur angedeihen zu lassen«, wie es oft hieß. Und um nicht den Zorn ihrer Herren zu wecken, ließen die Schwarzen sich auch das gefallen. Agamemnon und Semiramis waren in der Dunkelheit der Hütte zu einem einzigen, sich unablässig bewegenden Schatten verschmolzen. Mem – so wurde Agamemnon auch vom Boß meist gerufen, und deswegen war die Abkürzung okay – hielt Semiramis’ süßen kleinen Hintern mit beiden Händen fest und hob ihr Becken dem seinen entgegen. Für ein paar Sekunden verlangsamte er das Tempo seiner Stöße, als er das nahende Beben ihres Körpers in den Fingern spüren konnte, doch seine eigene Selbstbeherrschung war in der Hitze ihrer Leidenschaft so bröckelig geworden wie eine alte Wand aus Torfziegeln. Semiramis’ kaum noch verhaltene Schreie ließen sie vollends einstürzen, und Agamemnon warf sich über die zierliche junge Frau. Schnaubend ließ er sich in die Gewalt dessen fallen, was
er in seinen Lenden hochbrodeln spürte, und er besaß gerade noch genug Geistesgegenwart, Semiramis’ Lippen mit seiner großen schwarzen Hand zu versiegeln, als sie vor entfesselter Lust wie am Spieß zu brüllen begann. Den allerhöchsten Gipfel gemeinsamer Wonnen erreichten Agamemnon und Semiramis jedoch nicht. Ein Schrei, um ein Vielfaches lauter als ihre eigenen, ließ sie innehalten in dem Moment, als sie nur noch den allerletzten und winzigkleinen Schritt hätten tun müssen! Das Feuer der Leidenschaft erlosch in ihren schweißglänzenden Körpern, übergangslos. Weitere Schreie folgten jenem ersten, so viele schließlich, das sie wie ein einziger klangen. Quelle und Echo wurden eins, überlagerten einander und schmerzten in den Ohren eines jeden, der sie mitanhören mußte. Und doch war das fürchterliche Gebrüll nur ein schwacher Abglanz des Grauens, das es gebar und nährte. Agamemnon erkannte die Stimme desjenigen, der da Not und Schmerz in die Nacht über Resolute hinausschrie. Wenn er sich selbst gegenüber ehrlich war, hatte er schon seit Sonnenuntergang darauf gewartet, sie zu hören. »Cuffey …«, flüsterte er heiser. In seiner Stimme klang ein winziger Teil des Schmerzes mit, den der andere verspüren mußte; als könnte Mem ihn selbst fühlen. Er wußte um die Pein, die Cuffey auszustehen hatte. Er hatte selbst schon an dessen Stelle gelegen. Vor vielen Nächten. Und nur einmal. Danach nie wieder. Nie wieder hatte er sich »etwas zu Schulden kommen lassen«. Was auf Resolute zwar keine Garantie dafür war, daß der Zorn des Bosses einen nicht mehr treffen würde, aber es bedeutete zumindest eine gewisse Sicherheit … Cuffey war ungehorsam gewesen, mehr als das sogar – aufsässig! Nachdem er sich in der Zuckerrohrmühle zum Schnapssaufen hatte
verleiten lassen. Und nun mußte er den Preis dafür bezahlen … »Herr im Himmel«, hauchte Semiramis. Sie zog das Laken hoch und verbarg ihre Blöße dahinter, doch die Geste war nur Ausdruck eines viel stärkeren Schutzbedürfnisses. Agamemnon legte seinen kräftigen Arm um ihre schmalen Schultern, genoß die samtige Weichheit ihrer Haut. Ein seltsamer Gedanke ging ihm angesichts des Dramas, das drüben beim Herrenhaus stattfand, durch den Kopf: Wie lange würde Semiramis’ Haut noch so weich sein? Wann würde die harte Arbeit auf der Plantage ihre Spuren hineingraben? Wann würden erste Narben sie verunstalten? Semiramis war noch nicht lange auf Resolute. Kein Sklave überstand hier die ersten drei, allerhöchstens vier Monate, ohne daß seine Schreie durch die Nacht gegellt wären … Wie die von Cuffey in dieser Nacht. Noch immer schienen sie lauter und lauter zu werden – wie seine Schmerzen. »Wenn er doch nur das Bewußtsein verlieren würde«, flüsterte Semiramis erstickt. Agamemnon starrte durch das winzige Fenster, als könnte er irgend etwas sehen außer der Dunkelheit. »Sie sorgen dafür, daß er bei Bewußtsein bleibt«, erwiderte er dann. Ein anderer Schrei mischte sich in das Brüllen des Sklaven. Ein Kreischen, hell und schrill – und nicht das eines Menschen. »Was war das?« fragte Semiramis erschrocken. Mem schluckte hart. »Eine Katze«, sagte er und konnte nicht verhindern, daß sein muskulöser Körper wie in leichtem Schüttelfrost zu beben begann. »Was hat das zu …?« setzte Semiramis an, doch ein Blick in Agamemnons schreckensstarres Gesicht und sein Zittern waren ihr Antwort genug. »O Gott, wie furchtbar«, wimmerte sie. Tränen liefen über ihre kaf-
feefarbenen Wangen, glitzerten im Mondlicht wie kleine Perlen. Trotzdem glitt sie vom Bett. Bevor Agamemnon etwas sagen, geschweige denn tun konnte, war sie in ihr Kleid geschlüpft und zur Tür hinaus. »Warte!« rief Agamemnon ihr nach, unwillkürlich lauter, als er wollte. »Semi, nicht!« Er stolperte ins Freie, weil er im Laufen seine Hose überstreifte. In der Richtung, in der das Herrenhaus lag, zeichnete sich flackernder Lichtschein ab. Man hatte den Ort des Geschehens geradezu feierlich illuminiert. Damit heimliche Beobachter auch alles mitbekamen. Im Gegenschein konnte er Semiramis’ schmale Silhouette sehen, die geradewegs auf das Haus zulief. Mem fürchtete, sie würde etwas Dummes tun – etwa versuchen, ein gutes Wort für Cuffey einzulegen. Sie würde sich neben Cuffey am Boden finden, bevor sie ihr kleines Plädoyer beendet hatte. Er mußte sie aufhalten! Agamemnon rannte los. Vorbei an den Sklavenhütten, windschiefe Bretterbuden, kaum mehr als Verschläge, die andernorts (im Norden) für das Vieh zu schäbig gewesen wären. Mem spürte die Blicke aus dem Dunkel wie körperliche Berührungen. Und das Konglomerat von Gefühlen darin: Angst, Bedauern, Mitleid … Keiner der Sklaven schlief noch. Wer sich nicht in die Nähe des Herrenhauses geschlichen hatte, stand an Tür oder Fenster seiner Unterkunft und wartete zitternd ab, was geschah. Geisterhaftes Flüstern verfolgte Agamemnon, gutgemeinte Warnungen. »Tu’s nicht!« »Laß sie!« »Bleib hier!« Doch Agamemnon lief weiter, schloß auf, und auf halber Strecke zum Herrenhaus holte er Semiramis schließlich ein. Seine Hände packten das Mädchen an den Schultern, rissen sie zurück. Sie versuchte sich aus seinem Griff zu befreien, doch er hielt sie eisern fest
und schaffte es irgendwie, auch ihren Mund zuzuhalten, so lange, bis sie aufhörte zu strampeln und zu zappeln wie ein auf dem Trockenen gelandeter Fisch. »Sei vernünftig«, mahnte er sie eindringlich. In ihren großen kohlefarbenen Augen, die der Widerschein der Feuer drüben beim Haus zum Glühen brachte, las er, daß sie keine Dummheit begehen würde. Er ließ sie los. Schweigend sahen sie beide hinüber zu der vom Feuer beleuchteten Fläche vor dem großen Haus mit dem gewaltigen Säulenportal. Nach wie vor zerrissen Cuffeys Schreie die Nacht. Und dazwischen mengte sich wieder und wieder das heisere Fauchen und Kreischen einer Katze … »Laß uns hingehen«, bat Semiramis. »Du solltest dir den Anblick ersparen«, sagte Agamemnon. »Bitte.« »Nun gut.« Mem nickte. Vielleicht war es nicht schlecht, wenn Semiramis sah, was der Boß mit Sklaven tat, die aufbegehrten oder ihm einfach nur dumm kamen. Cuffeys Anblick würde sich ihr unauslöschlich einprägen, ihr eine ewige Warnung sein. Er nahm sie bei der Hand und zog sie hinter die dichten Büsche, die den Weg von der Sklavensiedlung zum Herrenhaus säumten. Solcherart vor Blicken geschützt, schlichen sie so nahe heran, daß Agamemnon nur noch ein paar Zweige zur Seite drücken mußte, damit sie freie Sicht hatten. Instinktiv löste er seine Hand aus Semiramis’ Fingern und fand blind ihren Mund. Keine Sekunde zu früh. Der Schrei des Mädchens erstickte in seiner Handfläche, ehe er laut werden konnte. Dafür hätte Agamemnon selbst fast aufgeschrien. Weil Semiramis ihre kleinen Zähne in das Fleisch seiner Hand grub. Nicht, um ihn
zu zwingen, sie wegzunehmen, sondern um dem Entsetzen, das sie packte, ein Ventil zu geben. Aber es nützte nichts; natürlich nicht. Es gab nichts auf der Welt, womit der grauenhafte Anblick sich hätte ertragen lassen. Auch Agamemnon hatte alle Mühe, nicht kurzerhand durchzudrehen, nicht einfach loszustürmen, um Cuffey zu helfen, ihn zu befreien – ihn zu retten! Doch alles, was er mit einer solchen blindwütigen Aktion erreicht hätte, wäre gewesen, daß er sich spätestens in der nächsten Minute neben Cuffey am Boden inmitten des von Fackeln markierten Gevierts wiedergefunden hätte, Hand- und Fußgelenke an Pflöcke gebunden, die man ins Erdreich gerammt hatte, und nackt. Und allenfalls fünf Minuten später wäre er ein ebenso blutiges Bündel Mensch gewesen, wie Cuffey es jetzt war … Das Hohngelächter und die widerwärtigen Beschimpfungen drangen trotz ihrer Nähe nur wie durch Watte an Mems Ohren. Die Schreie und das Stöhnen des schwerverletzten Schwarzen waren nicht einmal wirklich lauter, aber sie vereinnahmten den allergrößten Teil von Agamemnons Aufmerksamkeit. Sie und das fürchterliche Bild, das Cuffey bot. Für alles andere war Mem nahezu taub und blind. Geradezu quälend langsam schälten sich weitere Details aus dem Nebel, hinter dem der Rest der Szenerie für ihn verborgen lag. Da waren drei junge Burschen, von denen allein der Älteste die Zwanzig schon erreicht hatte. Ihre Ähnlichkeit zueinander resultierte jedoch nicht nur aus ihrer Jugend. Ihre Gesichter schienen beinahe wie aus einem Guß, und Verschlagenheit nistete in jedem ihrer verkniffenen Züge. Der auffälligste Unterschied zwischen ihnen war die Wahl ihrer Worte: Einer versuchte den anderen in puncto Unflätigkeit zu übertreffen, wenn es darum ging, den bedauernswerten Sklaven zu verfluchen. Und wenn einem keine üblere Beschimpfung einfiel, versuchte er das Manko seinen Brüdern gegenüber mit Laut-
stärke wettzumachen. Drei Schritte von diesem Dreiergespann entfernt stand ein Mann, dessen Alter die Ähnlichkeit zu seinen Söhnen ein wenig verwischte. Aber auch die Härte der Falten in seinem Gesicht unterschied den Vater von den Sprößlingen. Wie mit einem Messer hineingeschnitten zeichneten sich die Linien auf der wächsernen Haut ab, die im Widerschein des Fackellichtes rötlich glühte. Jacques La Fore, der Herr von Resolute, beobachtete das grausige Schauspiel schweigend, und gerade deswegen wirkte er auf die heimlichen Beobachter um ein Vielfaches gefährlicher, bedrohlicher als seine Söhne. Die drei Burschen hörten nicht auf, den fünften Weißen, der zu den Akteuren zählte, anzufeuern. Rudge Vandermeere war weniger nobel gekleidet als die La Fores, hatte die Ärmel seines Leinenhemdes hochgekrempelt. Seine Hände steckten in gepolsterten Reithandschuhen – zum Schutz vor den scharfen Krallen des fast schon monströs großen schwarzen Katers, den Vandermeere an den Hinterläufen hielt. Das Tier zappelte im Griff des Sklavenaufsehers von Resolute, und es begann zu kreischen und zu fauchen, als Vandermeere damit ausholte. Winzigen Rasiermessern gleich schnitten die Krallen in Cuffeys schwarze Haut und rissen das Fleisch darunter auf. Das Geschrei des Tieres ging vollends unter in Cuffeys Brüllen. Vandermeere holte von neuem aus … »Genug.« Jacques La Fore sprach fast leise, sein Gesicht regte sich kaum dabei, nicht einmal seine Lippen schienen sich sichtlich zu bewegen. Ebenso knapp fiel seine Handbewegung aus, mit der er auf zwei bereitstehende Holzeimer wies. Agamemnon schloß die Augen. Er konnte nicht sehen, was die Eimer enthielten, aber er wußte es. Cuffey hatte noch nicht ausgelitten. Noch lange nicht … »Jetzt schon?« fragte Vandermeere, und die Enttäuschung in sei-
ner Stimme klang nicht aufgesetzt, was den Kerl noch widerlicher machte. La Fore nickte kurz. Vandermeere schleuderte den Kater fort, dann ging er zu den Eimern und rührte mit der Kelle darin herum. »Was …?« flüsterte Semiramis heiser. Doch die Kraft, mit der sie ihre Finger in Agamemnons Arm grub, bewies ihm, daß sie sehr wohl wußte, was jetzt kam. »Sie bringen Cuffey um«, sagte sie entsetzt. Mem konnte nicht einmal nicken. Das Grauen lähmte ihn im wahrsten Sinne. Semiramis hatte recht: Vandermeere war dabei, Cuffey zu töten. Wahrscheinlich würde der Sklave allein schon an den Verletzungen zugrunde gehen, die ihm der Aufseher mit Peitsche und Katze zugefügt hatte. Das Salzwasser, das er seinem Opfer gleich noch in die knochentiefen Wunden kippen wollte, würde Cuffeys Tod nur noch schmerzhafter machen … »Los, mach schon, Vandermeere!« Der Älteste der La Fore-Brüder trieb den Aufseher an. Pierre war sein Name, wie Agamemnon wußte. Die La Fores pflegten die französischen Wurzeln ihrer Familie. »Gib dem Nigger, was er braucht!« fiel Louis, der jüngste Sproß von Jacques La Fore, ein. »Ja, er muß doch durstig sein«, rief Gerald und lachte, wohl weil er seinen Spruch für den originellsten hielt. Vandermeere, ein grobschlächtiger, fettleibiger Zwei-Meter-Kerl, nahm die Schöpfkelle aus dem Eimer und trat an Cuffey heran. Seine rechten Stiefel setzte er hart auf den blutglänzenden Rücken des Liegenden, dem die neuerliche Mißhandlung nur noch ein kaum hörbares Stöhnen entriß. Seine Widerstandskräfte mußten restlos aufgebraucht sein; nicht einmal für einen Schrei konnte er noch genug Kraft sammeln. Das änderte sich allerdings, als Vandermeere die Kelle über ihn
hielt und die ersten Tropfen der salzigen Lauge sich in das rohe Fleisch seiner Wunden fraßen. Cuffey brüllte. Lauter noch als zuvor. Und als Vandermeere Hand und Kelle vollends drehte, schrie der Sklave in einer Art, wie Agamemnon es noch nie zuvor gehört hatte, weder bei einem Menschen noch bei einem Tier. Cuffeys Körper wollte sich in Agonie winden und krümmen, doch die Fesseln an Händen und Füßen ließen ihm nicht mehr als ein paar Zentimeter Spielraum. Der Aufseher füllte die Kelle ein weiteres Mal. »Nein.« Semiramis Flüstern erreichte Mem erst, als sie schon ansetzte, das Wort zu wiederholen, laut diesmal: »Nein!« Noch immer starr wegen des grausigen Dramas, dessen Zeuge sie waren, reagierte Agamemnon zu spät. Viel zu spät. Seine Hände griffen ins Leere, als er Semiramis zurückhalten wollte. Er öffnete die Lippen zu einem Ruf, doch er verschluckte ihn. Die junge Sklavin hatte den Sichtschutz der Büsche längst verlassen und rannte hinaus auf den Hof vor dem Herrenhaus. »Hört auf, ich flehe euch an!« Auf der imaginären Linie zwischen zwei der Fackeln fiel das Mädchen auf die Knie. Staub wölkte auf, im Feuerschein wie Glutfunken glimmend. Sekundenlang gefror die Szenerie. Rudge Vandermeere stand in seltsam grotesker Verrenkung neben dem Eimer, noch nicht wieder ganz aufgerichtet, während die La Fores das Sklavenmädchen wie einen urplötzlich aufgetauchten Geist anstarrten, so reglos, als hätten sie sich binnen eines Lidschlages in steinerne Statuen verwandelt. »Tut ihm nichts mehr.« Semiramis sprach leise, trotzdem konnte Agamemnon sie verstehen. Nicht verstehen konnte er indes, was er selbst tat.
Er trat vor. Mit dem festen Schritt eines Mannes, den nichts schrecken konnte – nichts mehr, weil er das Schrecklichste schon gesehen hatte. Die kurze Strecke zu Semiramis legte er wie in Trance zurück; jeden Schritt, den er auf dem Weg zu ihr tat, schien er schon in dem Moment zu vergessen, da er den Fuß zum nächsten hob. Neben dem Mädchen angelangt, beugte er sich hinab, die La Fores und Vandermeere keines Blickes würdigend. Seine Hand faßte Semiramis am Arm und zog sie sacht hoch. »Erniedrige dich nicht«, sagte er leise, aber nicht leise genug, daß die anderen seine Worte nicht gehört hätten. »Dein Gespiele hat recht«, sagte Jacques La Fore, wieder in jenem ruhigen, fast emotionslosen Tonfall, und wieder ohne sich zu rühren. »Erniedrige dich nicht.« In einer synchronen Bewegung wandten seine Söhne die Köpfe, und auch Vandermeere starrte unübersehbar verwirrt zu dem Plantagenbesitzer hin. »Was …?« setzte Pierre mit dem Vorrecht des ältesten Sohnes an. Eine knappe Geste seines Vaters schnitt ihm das Wort ab. Agamemnon erinnerte die Handbewegung des alten La Fores auf zutiefst beunruhigende Weise an das herabsausende Fallbeil einer Guillotine … »Das Erniedrigen übernehmen wir für dich, Niggerin«, fuhr Jacques La Fore tonlos fort. Und an seine Söhne gewandt sagte er: »Bringt sie ins Haus.« Wie ein Mann traten die jungen Kerle zu Semiramis und packten sie. »Beide!« La Fores Blick wies auf Agamemnon. Vandermeere kam hinzu und drehte dem Sklaven beide Arme auf den Rücken. Agamemnon hätte keine Mühe gehabt, den Griff des anderen zu sprengen. Doch Cuffeys Anblick erstickte den Gedanken noch im Keim.
Als Vandermeere ihn hinter den La Fores und Semiramis her auf das säulengesäumte Portal des Hauses zustieß, spürte er im Nacken mehr als nur den stinkenden Atem des Aufsehers. Bevor sie durch die Tür traten, gelang es Agamemnon, einen Blick über die Schulter zu werfen. Im Dunkel der Büsche sah er mehr als ein Dutzend Irrlichter zittern. Doch er wußte, worum es sich dabei tatsächlich handelte. Augenpaare, flackernd vor Angst. Und doch war die Angst derer, die das Drama von dort aus beobachteten, nicht mehr als ein unsagbar schwaches Echo jener Furcht, die in Agamemnon wucherte. Denn er hatte das sichere Gefühl, daß ihm das Schrecklichste dieser Nacht noch bevorstand.
* Sie zwangen Agamemnon zum Zusehen. Wenn er es wagte, den Blick abzuwenden oder auch nur die Augen zu schließen, traf ihn eine harte Faust ins Gesicht, mal die von Vandermeere, mal die eines der La Fore-Burschen – wer gerade nicht mit Semiramis befaßt war, paßte darauf auf, daß der Schwarze auch alles mitbekam. Jacques La Fore selbst beteiligte sich nicht, hatte nur den Befehl dazu gegeben und dann die Rolle des stummen Beobachters übernommen. Mit keiner Regung verriet er, ob ihn das »Schauspiel« befriedigte oder gar aufwühlte. Stumm und drohend, wie es seine Art war, stand er in der Nähe der Tür des Salons, und etwas Frostiges umhüllte ihn wie eine Aura, deren Ausläufer Agamemnon erreichten und ihn schaudern ließen. Die anderen taten im Grunde das Gleiche mit Semiramis wie Agamemnon selbst noch vor kaum einer halben Stunde. Und doch war es auf fürchterliche Weise anders – widerlich, ekelerregend, absto-
ßend, pervers … Vor einer halben Stunde … Mem schluchzte lautlos. Es schien ihm hier und jetzt Ewigkeiten her, daß Semiramis und er sich geliebt hatten. Als wäre es in einem anderen Leben gewesen … Wieder senkten sich seine Lider, ohne sein bewußtes Zutun; als wollte eine wohlmeinende Macht ihm den Anblick dessen, was nun Pierre La Fore dem hübschen Sklavenmädchen antat, ersparen. Und wieder klatschte eine geballte Hand hart in sein von Schweiß und Tränen feuchtes Gesicht, ließ sein rechtes Jochbein schier explodieren. Mühsam unterdrückte Agamemnon ein Stöhnen. Semiramis ertrug ihre Qual scheinbar stoisch. Kein Laut kam über ihre mittlerweile aufgeplatzten blutigen Lippen. Der Blick ihrer vorhin noch so herrlich strahlenden Augen war leer; zwei dunklen Löchern gleich schienen Pupillen und Iris in das Weiß ihrer Augäpfel zu führen. Und Agamemnon fürchtete, sie würden sich nie mehr mit den Funken des Lebens füllen. Sein Gesicht glühte vor Schmerzen. Er hieß ihn willkommen, denn er lenkte ihn wenigstens ein kleines bißchen von den Greueln ab. Wenn auch lange nicht in genügendem Maße. Irgendwann wurde der Sklave zumindest von der Grausamkeit des Sehens erlöst. Seine Lider schwollen unter den Schlägen allmählich zu der Größe kleiner Zwetschgen und machten ihn schlicht blind. Aber die Geräusche, die er nach wie vor zu hören gezwungen war, reichten aus, um die zugehörigen Bilder hinter seine schmerzenden Lider zu projizieren. Und dann, endlich, war es vorbei. »Es ist genug.« Jacques La Fore hatte gesprochen, leise, aber bestimmt. Agamemnon glaubte die knappe Handbewegung des Plantagenbesitzers zu spüren, als der eisige Hauch, von dem er sich unentwegt berührt fühlte, für eine halbe Sekunde stärker wurde. »Schafft das Gesindel hinaus«, befahl La Fore, dann entfernten sich
seine harten Schritte. Agamemnon konnte hören, wie sie Semiramis packten und zur Tür schleiften. Wenig später ergriffen auch ihn feuchte Hände und zerrten ihn mit sich. Er tat ein paar Schritte und wußte, daß sie gleich die Treppe erreicht haben mußten, über die sie in den ersten Stock des Herrenhauses gekommen waren … … der Boden verschwand wie weggezogen unter den Füßen des Schwarzen, der Griff der Hände löste sich. Agamemnon stürzte. Hart prallte er gegen die Stufenkanten, überschlug sich, fiel weiter. Er hörte ein leises Knacken, noch bevor er den Schmerz spürte, mit dem mindestens eine seiner Rippen brach. Die Treppe schien kein Ende zu nehmen. Schmerzen wurden zu Agamemnons einziger Wahrnehmung, während er über die scharfkantigen Stufen rollte. Und bevor er endlich unten anlangte, schlug er noch mit der Stirn gegen das marmorne Geländer. Feuchte Wärme floß ihm übers Gesicht. Reglos und sich sekundenlang selbst für tot haltend (hoffend! wünschend!) blieb er schließlich am Fuß der Treppe liegen. Nicht lange genug, um des tobenden Schmerzes auch nur ansatzweise Herr werden zu können. Wieder fühlte er sich gepackt und weitergestoßen, blind und stöhnend. Kühler Nachtwind fächelte ihm entgegen, als sie durch das Portal gingen. Ein winziger Teil der Hitze schwand aus seinem Gesicht, und der Sklave glaubte fast zu spüren, daß die Schwellungen ein ganz kleines bißchen zurückgingen. Seine verklebten Lider lösten sich einen kaum millimeterbreiten Spalt voneinander, durch den er zumindest einen klitzekleinen Teil der Welt sehen konnte, wenn auch noch immer wie durch blutrote Gaze. Flackerndes Licht lag über dem Vorplatz; die Fackeln brannten noch. In ihrer Mitte machte Agamemnon etwas wie ein dunkles Bündel aus, reglos, stumm. Cuffey. Niemand hatte es gewagt, seine Fesseln zu lösen und ihn wegzubringen. War das überhaupt noch
nötig? fragte sich Agamemnon mit einer Nüchternheit, die ihn selbst fast entsetzte. Die La Fore-Brüder und Vandermeere verhielten im Schritt, und sie hörten auch auf, die beiden Sklaven zu verfluchen und zu verhöhnen. Als hätten sie etwas gesehen oder bemerkt, das sie alles andere vergessen ließ und das in Agamemnons eng begrenztem Blickfeld keinen Platz fand. Einer der La Fores trat vor, schob Semiramis dabei unsanft zur Seite, so daß sie gegen Agamemnon fiel. Er spürte ihre samtweiche Haut an der seinen, und Wärme durchrieselte ihn, die ihn den Schmerz und alles andere für eine Sekunde zwar nicht vergessen, aber doch erträglicher werden ließ. Seine Finger tasteten unauffällig nach den ihren, schlossen sich um ihre Hand, drückten sie. »Es ist vorbei«, flüsterte er kaum hörbar in dem, wie er selbst wußte, lächerlichen Versuch, sie über einen Schmerz hinwegzutrösten, den Trost und auch sonst nichts lindern konnte. »Es kann nicht mehr schlimmer werden.« Ihr Nicken erahnte er eher, als daß er es wirklich sah. »Ja«, sagte Semiramis lahm. Sie irrten sich … Schatten lösten sich aus der Nacht, übertraten jene imaginäre Naht zwischen dem flackernden Feuerschein und der Dunkelheit. Harte Tritte auf staubigem Boden, schlagende und scharrende Hufe, erkannte Agamemnon. »Was ist?« fragte der Sklave leise. »Reiter«, antwortete Semiramis. »Soldaten …« In ihrer Stimme war etwas, das Agamemnon auf unbenennbare Weise beunruhigte. »Yankees?« Er versuchte Hoffnung, die nicht recht keimen wollte, in seinen Tonfall zu legen. Er wollte glauben, daß es sich bei den Reitern dort, die er noch immer nur als blutige Schatten ausmachen konnte, um
Unions-Soldaten handelte, die vielleicht endlich tief genug in den Süden vorgedrungen waren, um Lincolns Emanzipationsproklamation nötigenfalls mit Gewalt Geltung zu verschaffen – damit Greueltaten, wie Agamemnon und Semiramis sie heute nacht hatten erleiden müssen, endlich zu unseliger Vergangenheit wurden. Doch irgend etwas, das einem übelriechenden Hauch gleich in der Nacht lag, verriet dem Schwarzen, daß es nicht so war … »Auch«, antwortete Semiramis heiser. »Auch?« echote Agamemnon. »Einige tragen die Uniform der Nordstaatler, einige die der Konföderierten«, erklärte Semiramis. Verwirrung und etwas, das ihre Stimme beben ließ, schwangen in ihren Worten mit. »Wer seid ihr?« »Was wollt ihr?« Zwei der La Fore-Brüder hatten gesprochen. Nicht halb so herausfordernd und provozierend jedoch, wie sie es beabsichtigt haben mochten. Die zahlenmäßige Überlegenheit der anderen schüchterte sie ein. Doch sie war nicht der alleinige Grund. Etwas ging von den bislang schweigenden Reitern aus, etwas Erstickendes, das nur eine Regung unangetastet ließ – Angst. »Euch!« Die Antwort peitschte durch die Nacht, und nicht nur Agamemnon zuckte unter dem Klang dieses einzelnen Wortes wie unter einem wirklichen Hieb zusammen. »Was soll das heißen?« fragte Vandermeere mit eigenartig fremder Stimme. »Wir wollen euch«, kam es zurück. »Und unseren Spaß.« »Ihr …« Weiter kam der Aufseher nicht. Ein Befehl ertönte am Rande des von den Fackeln erhellten Hofes und schnitt ihm das Wort ab. »Auf sie! Holt sie euch, meine Brüder!«
Hufschlag klang auf, wurde lauter, kam näher. Agamemnon roch die Ausdünstungen der Pferde – und noch etwas anderes, Unangenehmes, Angstmachendes … Die Schatten, die die Reiter für ihn waren, wuchsen zu bedrohlicher Größe, und schließlich füllten sie den winzigen Bereich seiner Sicht zur Gänze aus. Hämisches Lachen brandete auf, vielfach schlimmer als das, mit dem die La Fores und Vandermeere ihr vorheriges Treiben begleitet hatten. Agamemnon spürte, wie Semiramis ihre Hand fester um die seine schloß – und ihn in der nächsten Sekunde mit sich riß. Irgend etwas hatte sie aus der Lethargie, in die sie sich zu ihrem eigenen Schutz begeben hatte, gerissen, urplötzlich und mit gewaltiger Kraft. »Was …?« rief er mehr überrascht denn erschrocken. »Herr im Himmel!« entfuhr es Semiramis – und ein bösartiges Zischen und Fauchen antwortete ihr. »Semi, was ist?« wollte Agamemnon wissen. Gebrüll wurde laut, wild und barbarisch. Einige der Soldaten sprangen aus den Sätteln, andere sprengten davon, in jene Richtung, in der die Sklavenhütten lagen. Andere Schreie mischten sich darunter. Agamemnon erkannte die Stimmen als die der La Fores und Vandermeeres. »Was geschieht hier?« rief der Schwarze. Er wandte den Kopf im Versuch, etwas zu erkennen, doch mehr als tanzende und ineinander verschlungene Schatten aus Rot sah er nicht. »Diese Männer«, keuchte Semiramis, während sie Agamemnon weiter mit sich zog, »sie sind …« Er hörte nicht, was das Mädchen noch sagte. Etwas Steinhartes traf seinen Hinterkopf, ließ etwas unter seiner Schädeldecke in Schmerz und tausend Farben explodieren. Der Schmerz wuchs in rasendem Tempo der Grenze des Erträglichen entgegen. Die Farben verblaßten binnen einer einzigen Sekunde, wurden zu Schwärze, in die sich Agamemnon nur zu gern stürz-
te. Denn die Schmerzen blieben jenseits der verschlingenden Finsternis zurück …
* Rot wie Blut war das Licht des neuen Tages. Und wie Blut floß es auch vom östlichen Horizont heran, schwappte zäh über die Plantage und kroch träge an den Wänden des Herrenhauses hoch, alles mit einem kupferfarbenen Glanz überziehend. Doch es war nicht die aufgehende Sonne, die Agamemnon aus der Bewußtlosigkeit weckte. Nicht nur jedenfalls. Der Schmerz, der in seinem Hinterkopf pochte und glühende Wellen durch seinen ganzen Körper sandte, trug ebenfalls zu seinem Erwachen bei. Aber da war noch etwas … Der Sklave konnte es nicht zuordnen, nicht ohne die Quelle der Laute zu sehen. Er versuchte die Augen zu öffnen und schaffte es nicht. Blut und Tränen hatten den Staub, der ihm während der Nacht ins Gesicht geweht war, zu Klebstoff werden lassen, der seine Lider regelrecht miteinander verschweißte. Die Hand in Augenhöhe zu bringen, ging fast über seine Kräfte. Zentimeterweise ließ er seine Finger wie eine fünfbeinige Spinne durch den Staub auf sein Gesicht zukriechen, dann zupfte er leise stöhnend die krustige Substanz von seinen Lidern, bis er sie endlich aufschlagen konnte. Und auch diese im Grunde lächerliche Bewegung schien ihm unsagbar mühsam. Er lag noch an derselben Stelle, an der er zu Boden gegangen war, nachdem etwas ihn am Kopf getroffen hatte … Agamemnon fuhr hoch. Oder er wollte es zumindest. Der Schmerz, der bei der geringsten Bewegung in jeder Faser seines Körpers explodierte, ließ ihn den Gedankenbefehl eiligst widerrufen. Erst jetzt war ihm eingefallen, weshalb er hier lag. Was zuvor ge-
schehen war. Nur – was war danach noch passiert, nachdem er selbst von der Bühne des Geschehens abgetreten war? Was war mit – »Semiramis?« Agamemnon wollte nach ihr rufen, doch aus seiner trockenen Kehle kam nicht mehr als ein Krächzen, so schwach, daß es kaum seine eigenen Ohren erreichte. Soldaten hatten die Plantage – angegriffen? So mußte es wohl gewesen sein. Der Sklave erinnerte sich an die Schreie der La Fore-Brüder und Vandermeeres. Aber was hatten die Angreifer mit ihrer Attacke bezweckt? Und warum hatten sie, wie Semiramis gesagt hatte, sowohl Uniformen der Union als auch der Rebellen (so nannte man die Südstaatler im Norden, und hinter vorgehaltener Hand hatten die Schwarzen diese Bezeichnung übernommen) getragen? Agamemnon hatte bislang vom Krieg wenig mitbekommen, wie die meisten Sklaven. Im Süden wurden Schwarze nicht zum Armeedienst herangezogen, im Gegensatz zum Norden. Dort kämpften sie Seite an Seite mit den Weißen, was allerdings noch nicht bedeutete, daß sie sich als »Brüder« fühlten … Aber Agamemnon wußte zumindest, daß es in diesem Krieg nicht nur die Parteien Union und Konföderierte gab. Dazwischen gab es verschiedene Gruppierungen, die weder für die Sache des Südens noch für die des Nordens kämpften, sondern allein auf eigene Rechnung. Deserteure und lichtscheues Gesindel fanden sich da zusammen, um unter dem Deckmantel des Krieges plündernd, brandschatzend und mordend durchs Land zu ziehen – nahezu unbehelligt. Denn die Armeen hatten anderes zu tun, als sich um diese Banden zu kümmern, die ihnen ja mitunter sogar – je nachdem, wo sie gerade zuschlugen – die Arbeit abnahmen … Möglicherweise war es ja eine solche Räuberbande gewesen, die Resolute überfallen hatte. Ja, Agamemnon war fast sicher, daß es sich so verhalten mußte. Siedendheiß war das Gefühl des Schre-
ckens, das ihn durchlief. »Semiramis!« rief er wieder, noch immer zu leise, als daß jemand, der weiter als zwei Schritte entfernt stand, ihn hören konnte. Wieder versuchte der Schwarze sich hochzustemmen, und diesmal ignorierte er den Schmerz, der damit einherging, mit zusammengebissenen Zähnen. Auf Händen und Knien verharrte er. Wie in der Bewegung des Moments eingefroren, starr vor Grauen. Er erinnerte sich auf einer tieferen Ebene seines Bewußtseins, daß außer dem Licht der Morgensonne und dem Schmerz noch etwas anderes ihn geweckt hatte. Geräusche, die er nicht hatte identifizieren können. Jetzt sah er, woher sie kamen, wer sie verursachte. Die La Fore-Brüder hatten den Überfall der marodierenden Bande nicht mit dem Leben bezahlt. Überhaupt konnte Agamemnon keine Spuren von Verwüstung ausmachen, soweit er das in der einen Sekunde erkennen konnte, die er für einen flüchtigen Rundblick zu erübrigen in der Lage war, ehe das Entsetzen ihn lähmte. Und auch Cuffey hatte die grausame Folter durch Rudge Vandermeere überlebt. Agamemnon hörte den Schwarzen stöhnen. Er lag noch immer gefesselt da drüben, kaum zwanzig Schritte entfernt. Die drei La Fore-Brüder knieten um ihn herum. Wie zu groß geratene Katzen um eine gemeinsame Schale Milch. Schlürfend und schmatzend leckten sie das Blut aus Cuffeys Wunden.
* Über Nacht hatte sich alles geändert auf Resolute, wenn auch der Schein trügen mochte. Denn auf den ersten Blick schien durchaus alles beim alten, nahm das tägliche Leben seinen gewohnten Gang. Darunter jedoch, unter dieser hauchdünnen Schicht südstaatlicher
Normalität, war die Welt nicht nur aus den Fugen geraten, sondern eingestürzt. Und aus ihren Trümmern war eine neue entstanden; eine Welt, in der nur Angst gedieh, von namenlosen Schrecken genährt. Agamemnon versuchte dieses Andere zu ignorieren. Doch es gelang ihm kaum. Weil ihm die Veränderungen auf Schritt und Tritt begegneten, bei allem, was er tat. Andere Sklaven, zu denen er vor dieser Nacht ein freundschaftliches Verhältnis gehabt hatte, schienen plötzlich ihre Stimme verloren zu haben. Sie sprachen nicht mehr, schienen nicht einmal mehr wirklich zu leben, sondern nur noch zu funktionieren. Die Herren der Plantage ließen sich kaum noch sehen, verschanzten sich im Haus. Auch Rudge Vandermeere gab seine Anordnungen fast nur noch aus dem Dämmer seiner kleinen Residenz am Rande der Sklavensiedlung heraus. Und auch Bestrafungen führte er nur noch dort durch. Doch nicht alle, die Vandermeere zu sich rief, wurden bestraft. Oft wartete Agamemnon vergebens auf die Schreie, die die neunschwänzige Peitsche noch jedem ihrer Opfer von den Lippen riß. Und manche derer, die Vandermeeres Haus betraten, kamen nicht wieder heraus. Andere wiederum kehrten zwar zurück, doch sie schienen nicht mehr dieselben zu sein … Agamemnon wollte die Augen vor der neuen Wirklichkeit verschließen. Aber er schaffte es kaum noch des Nachts. Ein Geräusch lotste ihn aus dem schwebenden Dämmerzustand, zu dem der Schlaf für ihn geworden war. Ein leises Rascheln von Stoff, dann behutsam gesetzte Schritte. Vorsichtig tastete Agamemnon zur Seite. Die Matratze dort war noch warm, aber leer. Nur Semiramis’ Duft hing noch darin. Das Mädchen selbst war zwischenzeitlich schon an der Tür angelangt und schlüpfte hinaus. Agamemnon verkniff sich den Ruf nach ihr gerade noch. Vielleicht
hätte sie ihn nicht einmal gehört. Schon in der vorigen Nacht hatte Semiramis sich davongestohlen, doch Agamemnon war erst bei ihrer Rückkehr darauf aufmerksam geworden. Sie hätte nicht schlafen können und sei spazieren gewesen, hatte sie auf seine Frage geantwortet. Mehr war ihr nicht zu entlocken gewesen. So wie sie – und alle anderen auf Resolute übrigens auch – über jene Nacht des Überfalls schwiegen. Es sei nichts geschehen, sagte sie, und schlug damit den allgemein gültigen Tenor an. Agamemnon wartete noch drei Atemzüge ab, dann stand er ebenfalls auf, stieg in Hose und Hemd und verließ die Hütte. Im Mondlicht entdeckte er Semiramis’ Schemen. Wie schwebend lief sie in Richtung des Herrenhauses. Was hatte sie nun wieder vor? Das Mädchen hatte sich verändert. Agamemnon wollte es den Mißhandlungen durch die La Fore-Brüder und Vandermeere zuschreiben, doch er hegte die unbestimmbare Ahnung, daß dies nicht der alleinige Grund dafür war. Vielleicht würde diese Nacht ihm eine Antwort geben. Agamemnon folgte dem Mädchen. Als Semiramis den Hof vor dem Haus überquerte, wartete er im Schutz der Sträucher ab, was geschehen würde – und zuckte zusammen, als es ihm bewußt wurde. Semiramis hielt geradewegs auf das Portal zu und betrat das Haus, ohne sich vorher bemerkbar zu machen oder auch nur zu zögern. Sekundenlang überlegte Agamemnon, was er tun sollte. Obwohl er tief in sich längst wußte, daß es nur eine Möglichkeit gab, die er nutzen konnte. Denn umkehren und so tun, als wäre nichts geschehen, das würde er ohnehin nicht fertigbringen. Also schlich auch Agamemnon hinüber zum Haus, um den Hof herum allerdings, immer in Deckung der Büsche ringsum bleibend,
damit er nicht zufällig von einem der Fenster aus gesehen wurde. Drüben angekommen, huschte er von Säule zu Säule, immer wieder wartend und lauschend, ob ihn nicht doch jemand bemerkt hatte. Aber nichts rührte sich. Auch nicht, als er am Portal anlangte. Er legte das Ohr gegen das dicke Holz. Auch dahinter blieb alles still. Vorsichtig drückte Agamemnon die Tür auf. Stille. Er schlüpfte durch den Spalt, schloß die Tür, wartete wieder. Seine Blicke tasteten durch die Halle, die vor kaltem Prunk schier starrte. Man sah auf den ersten Blick, daß hier nicht die Hand einer Frau gewirkt hatte, sondern nur die eines Mannes, dem der Sinn danach stand, seinen Reichtum und seine Macht in jedem noch so kleinen Detail seines Lebensraumes zu präsentieren. Agamemnon zuckte zusammen, als hätte ein Unsichtbarer ihn mit einer glühenden Nadel gestochen. Gerade noch schaffte er es, den Laut, der ihm schon auf der Zunge lag, hinunterzuschlucken. Ein Lachen war aufgeklungen. Hell, perlend – und voller Lust … »Semi«, entfuhr es dem Schwarzen. Er hatte die Stimme des Mädchens unzweifelhaft erkannt. Dieses Lachen, das sie ihm in ihren gemeinsamen Nächten so oft geschenkt hatte, bis zu jener einen Nacht … Es war von oben gekommen, und es wiederholte sich. Andere Geräusche gesellten sich hinzu, von denen Agamemnon wußte, was sie zu bedeuten hatten. Dennoch – die Vorstellung war so ungeheuerlich, daß er sie nicht einmal akzeptiert hätte, wenn er bereit gewesen wäre, daran zu glauben. Lautlos wie ein Schatten eilte er die breite Treppe empor. Oben verharrte er, lauschte, orientierte sich. Die Tür ausfindig zu machen, hinter der die Geräusche laut wurden, war nicht schwierig. Dazu ging das Treiben dahinter mittlerweile schon viel zu lautstark vonstatten. Agamemnon legte die Hand auf die Klinke, holte noch einmal tief
Luft und drückte die Tür dann einen Spaltbreit auf, gerade weit genug, um mit einem Auge hindurchspähen zu können. Er unterdrückte den reflexhaften Impuls, zurückzuweichen, zwang sich dazu, weiter in den Raum hineinzusehen. Er erkannte Semiramis. Nackt lag sie auf einem breiten Bett. Und über ihr – Insgeheim hatte Agamemnon damit gerechnet, sie mit einem der La Fore-Brüder vorzufinden, vielleicht auch mit allen dreien – – doch es war Jacques La Fore selbst, der nackt über ihr lag … mit dem geöffneten Mund an Semiramis’ Hals! Die beiden dornenspitzen Eckzähne in ihre kaffeebraune Haut gegraben! Agamemnon taumelte die Treppe hinab, als würde er die Stufen hinunter geprügelt. Schwankend wie ein Betrunkener torkelte er durch die Nacht, zurück zu den Sklavenhütten. Erst dort angekommen, lichtete sich der Orkan seiner Gedanken, ein wenig zumindest. Einer kristallisierte sich heraus, gewann an Macht, bis kein anderer neben ihm mehr Bestand hatte. Es war der Gedanke an – Flucht.
* »Währenddessen nahmen die Dinge auch drüben in New Orleans ihren Lauf«, erzählte der alte Zefrem weiter … Die Yankees hatten New Orleans bereits 1862 von der See her eingenommen. Indem sie die Hafenstadt kontrollierten und die südliche Küstenlinie von der Kriegsmarine blockieren ließen, konnten sie sowohl den Export von Baumwolle und anderen Dingen als auch den Import vor allem von Waffen und Munition, den sich die Rebellen von Europa erhofft hatten, lahmlegen. Der Süden hungerte und blutete förmlich aus. In New Orleans selbst jedoch änderte sich durch die Präsenz der Besatzungsmacht kaum etwas. Da die Unionstruppen vor Ort ver-
sorgt werden mußten, kam auch die Bevölkerung der Stadt nicht zu kurz, weil jeder irgend jemanden kannte, der irgendwelche Beziehungen zu den Nordstaatlern unterhielt. Und am damals noch stark französisch geprägtem Lebensstil (New Orleans war seinerzeit von Franzosen gegründet worden) fand auch der Feind rasch Gefallen, so daß er auch fürderhin gepflegt wurde. Die geheimen Herrscher von New Orleans indes nahmen von der Besetzung ihrer Stadt durch den Norden nicht einmal wirklich Notiz, denn die tatsächliche Gewalt konnte keine Armee der Welt übernehmen, wenn sie es nicht wollten. Es kümmerte die wahren Herren nicht, welcher Gesinnung die Menschen waren, derer sie sich bedienten, um ein in ihrem dunklen Sinne zufriedenes Dasein zu führen. Und da niemand von ihrem abseitigen Tun und Treiben wußte – niemand zumindest, der noch in der Lage oder auch nur willens gewesen wäre, sein Wissen weiterzugeben –, konnten sie es fortführen wie ehedem. Vielleicht kam ihnen auch ihre geringe Zahl zugute. Die Angehörigen der Alten Rasse, wie sie sich selbst nannten, waren in New Orleans an den Fingern zweier Hände abzuzählen. Der erste von ihnen, ein französischer Adliger, war kurz nach der Gründung der Stadt im Jahre 1718 in den Stand der Unsterblichkeit erhoben worden, und hernach durften zehn Kinder den Keim endlosen Lebens mit seinem Blute trinken. Um ihre Zahl zu mehren, reichte die Zeit jedoch nicht mehr. Denn das Unheiligtum der Vampire, das sie den Lilienkelch hießen, verschwand auf unerklärliche Weise, kaum daß New Orleans das zehnte Jahr der Gründung begehen konnte. Doch nur aus dem Kelch konnte neues Leben für die Alte Rasse fließen. Der Hüter, dessen Name und Gesicht kein Vampir kannte, reiste mit dem Artefakt um die Welt und besuchte die Sippen, auf daß deren Führer ihr Blut in den Lilienkelch gaben und geraubte Menschenkinder die Ewigkeit daraus empfingen.
So blieb dem uralten Volk, das der eigenen Legende nach die Menschheit seit Anbeginn aus dem Dunkel heraus regierte, echter Nachwuchs fortan versagt. Und die »Lebenden« mußten Vorsicht in noch stärkerem Maße lernen, wollten sie ihre Herrschaft und ihren Anspruch auf Ewigkeit nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. Denn mochten sie auch unsterblich sein – der Tod verschmähte sie dennoch nicht, wenn sie sich seiner Sense unbedacht in den Weg stellten. So war also auch vampirisches Leben nicht frei von Gefahren und Schwierigkeiten. Und allen Regeln und Gesetzen zum Trotz, die im Laufe von Jahrtausenden entstanden waren und die das Leben der Alten Rasse ordneten, erwuchsen ihr mitunter die ärgsten Probleme aus den eigenen Reihen. Stets dann, wenn einzelne den tarnenden Mantel der Heimlichkeit abstreiften und offen zur Schau stellten, wes finsteren Geistes Kind sie wirklich waren … Geromes Seufzen wehte in die Nacht hinaus. Die schlanken Hände auf das schmiedeeiserne Balkongeländer gestützt, sah er hinab auf die Straßen des Vieux Carre. Weder der Nebel, in den sich der eigentlich in Sichtweite gelegene Mississippi hüllte, noch der Regen wirkten sich auf das Treiben in den Straßen und Gassen zu den Füßen des Vampirs aus. Temperamentvolle Cajun-Musik drang allerorten aus den Tavernen und belebte die Nacht und die Menschen gleichermaßen. Gerome versuchte sich am Widerhall des Pochens, das dort unten in Hunderten von Adern klang, zu berauschen. Vergebens. Nichts konnte ihn die Schwere jener Bürde, die in diesen Tagen auf seinen Schultern lastete, vergessen lassen. Er mußte sich selbst davon befreien; es war seine Pflicht als Blutvater der New Orleans-Sippe. Doch er konnte es nicht – nicht ohne den Kodex der Alten Rasse zu brechen … Oder »heiligte« der Zweck die Mittel in einem solchen Fall? Gerome wußte es nicht.
Und so wartete er auf jenen, der es ihm vielleicht sagen konnte … Gerome verließ den Balkon und ging durch das prunkvoll ausstaffierte Zimmer, dessen Nutzung allein ihm vorbehalten war. Dem leblosen Körper des Kreolenmädchens, das mit verdrehtem Hals auf den seidigen Laken des Bettes lag, gönnte er nicht mehr als einen flüchtigen Blick, in dem Ärger aufblitzte. Nicht einmal sie hatte ihn für eine Weile abzulenken vermocht … Auf der Galerie jenseits der Tür blieb er stehen. Unten in der Schenke florierte das Geschäft. Männer jeden Alters und aus allen Schichten der Gesellschaft amüsierten sich mit Mädchen, die allesamt derselben Branche angehörten. Das schrille Lachen der Huren mengte sich mit dem Klirren der Gläser und den rauhen Stimmen der Freier. Auf Höhe der Galerie, die den Schankraum als Geviert umlief, hing Tabaksqualm wie eine dicke Wolkendecke am spätwinterlichen Himmel. Rings um Gerome her drückten sich Pärchen gegen das Geländer und die Wände, darauf wartend, daß eines der Separees frei wurde. Währenddessen gaben sie sich schon hier draußen dem Vorspiel hin. Gerome haßte die plumpe und ruppige Art, in der die geilen Kerle die Weiber betatschten. Sie hatten weder Kultur noch Lebensart, wußten offensichtlich nicht, daß der Genuß jener vermeintlich höchsten Lust schal schmecken konnte im Vergleich zu dem, was man ihm vorausschicken konnte – wenn man sich darauf verstand. Doch es mußte den Vampir nicht kümmern. Im Gegenteil, je kürzer der Weg, den die Freier zum Gipfel der Leidenschaft wählten, desto größer war sein Profit – weil seine»Kapazitäten« schneller frei wurden … Gerome ließ den Blick seiner strahlend blauen Augen ein weiteres Mal schweifen. Ein abfälliges Lächeln brachte für zwei, drei Sekunden etwas Dämonisches in seine engelhaften Züge. Kein anderes Bordell in New Orleans konnte sich eines solchen
Zuspruchs erfreuen wie das seine. Weil es keinen Wunsch gab, der abartig genug war, um hier nicht in Erfüllung zu gehen. Daß die Freier das Blut der Mädchen nicht wirklich in Wallung zu setzen vermochten, schien sie nicht zu kümmern. Und daß die Blässe ihrer Haut nicht Zeichen von Vornehmheit war, ahnte niemand … »Nekrophile Bastarde«, grinste Gerome. Im gleichen Zuge winkte er einem Kerl zu, der überzeugt war, zu den wichtigen Männern dieser Stadt zu zählen. Der Vampir hatte Mühe, sein Lächeln im Zaum zu halten. »Guillaume machte wieder von sich reden.« Der Sippenführer zuckte kaum merklich zusammen, als er von hinten angesprochen wurde. Beherrscht langsam wandte er sich um. Ein Echo der Sorge, die in ihm nagte und fraß, schien auf dem Gesicht seines Gegenübers zu liegen. »Dieser Narr«, knurrte Gerome. Gilles nickte nur. »Wo?« fragte das Oberhaupt. »Auf Resolute, wie man hört«, antwortete der andere Vampir. »Guillaume wird immer dreister. Die Plantage liegt kaum einen Steinwurf von New Orleans entfernt«, preßte Gerome hervor. Ein dunkler Schatten aus Unmut und Zorn, dessen Kühle selbst Gilles zu spüren schien, legte sich über sein Gesicht. »Ich traue ihm zu, daß er mit seiner Horde auch in diese Stadt einfallen wird«, unkte Gilles. »Das soll er wagen«, erwiderte Gerome, »dann pfeife ich auf den Kodex und werde dafür sorgen, daß er sein geschenktes Leben verflucht, ehe ich es ihm stückchenweise aus dem Leib reiße!« »Das wird vielleicht nicht nötig sein«, sagte der andere. »Den Kodex unbedacht zu brechen, meine ich.« Geromes Kopf flog förmlich herum, sein schulterlanges, weißblondes Lockenhaar wehte in der abrupten Bewegung wie ein Schleier. Sein funkelnder Blick schien das Dämmer für die Dauer eines trägen
Herzschlages zu erhellen, ehe eine stumme Frage in seinen Augen auftauchte. Gilles verstand sie dennoch. »Ein Schiff aus Frankreich ist im Hafen vor Anker gegangen.« »Die ›Lioncourt‹?« fragte Gerome erregt. Der dunkelhaarige Vampir nickte. »Ist er an Bord gewesen?« wollte sein Blutvater wissen. »Wir sollten nachsehen«, meinte Gilles lächelnd. »Die Passagiere sind noch nicht von Bord gegangen.« »Dann laß uns keine Zeit verlieren.« Gerome fuhr herum und eilte der Treppe zu und die Stufen hinab. Unten bahnte er sich rücksichtslos seinen Weg durch das Gedränge, während Gilles in seinem Heckwasser nachfolgte. Die Kutsche, mit der er hergekommen war, stand noch draußen. Sie stiegen ein. »Zurück zum Hafen!« rief Gilles dem bleichen Kutscher zu. Die Pferde trabten an, die Räder knirschten und rumpelten über das feuchte Kopfsteinpflaster. Nur langsam kam die Kutsche voran; zu viele Menschen drängten sich selbst in dieser ungemütlichen Nacht in den Straßen und Gassen des French Quarters. »Schneller!« befahl Gerome, und der Kutscher ließ die Peitsche knallen. Flüche und Verwünschungen säumten ihren weiteren Weg zum Hafen, und hätte die Zeit nicht so gedrängt, wäre Gerome sicher ausgestiegen, um die ehrfurchtslosen Kerle und Weiber da draußen Mores zu lehren. So aber nahm er die Stimmen derer, die sich mit waghalsigen Sprüngen vor der dahindonnernden Kutsche in Sicherheit bringen mußten, nicht einmal wirklich zur Kenntnis. Seine Gedanken eilten ihm noch voraus, in der Hoffnung, den zu erreichen, dem sie allein galten. Das Gedränge am Kai war groß und so dicht, daß der Kutscher die Pferde nicht weitertreiben konnte. Weil es kaum Platz gab, wohin die im Wege stehenden Menschen – Zivilisten wie Soldaten – hätten ausweichen können. Die Ankunft eines Schiffes lockte in dieser
Kriegszeit die Leute an – zum einen, weil die Neugierde sie leitete, zum anderen, weil die Chance bestand, daß es irgend etwas zu holen gab. Die Reling der dreimastigen »Lioncourt« lag mit der Kaimauer fast auf einer Höhe, und als die beiden Vampire sich ihr durch die Menschenmenge so weit genähert hatten, daß sie darüber hinwegschauen konnten, schoben Matrosen breite Bohlen über die Bordwand zum Kai herüber. Wenig später verließen die ersten Passagiere das Schiff, während Seeleute damit begannen, Fracht und Gepäck von Bord zu laden. »Siehst du ihn?« fragte Gerome, dessen Blick zwischen den Passagierströmen hin und herging. »Ich kann mich kaum an ihn erinnern«, erwiderte Gilles. »Ich war noch ein Kind, damals …« Er lächelte wehmütig. »Ach ja«, erinnerte sich Gerome, »du warst der letzte Sohn, der …« Er hielt inne. Nur noch vereinzelt verließen jetzt Menschen die »Lioncourt«. Und schließlich der letzte. »Das ist er«, stieß Gerome hervor. Er schob sich ungestüm vor. Gilles folgte ihm langsamer. Der Mann, dem sie sich näherten, stand einem gestaltgewordenen Schatten gleich am Fuß der Gangway – wenngleich er selbst keinen solchen warf. Gilles konnte den stechenden Blick der nachtfarbenen Augen selbst über die immer noch einige Schritte betragende Entfernung hinweg spüren. Und im Zwielicht, in dem das Gesicht des anderen auf seltsame Weise selbst für vampirische Sicht verschwamm, schien etwas dunkel zu glühen – in der Form des verhaßten Zeichens … Gerome langte bei dem Mann an, blieb vor ihm stehen und sagte: »Willkommen in New Orleans, Landru.«
*
Gerome schloß die gepolsterte Tür zu seinem Gemach. Der Lärm, der aus der Taverne im Erdgeschoß emporquoll, wurde zu einem dumpfen, an- und abschwellenden Raunen. Die Wände, die den Raum von den Nebenzimmern trennten, waren so dick, daß auch das dortige Treiben hier unbemerkt blieb. Die Leiche der schönen Kreolin hatte der Vampir wegschaffen lassen, ehe er Landru heraufgebeten hatte. Landru … Ein seltsamer Bursche. Und selbst auf andere der Alten Rasse unheimlich wirkend. Das Oberhaupt der New Orleans-Sippe sah eine halbe Sekunde lang zu ihm hin, ehe er zu ihm trat. Und unzählige Gedanken gingen ihm in dieser kaum meßbaren Zeitspanne durch den Sinn. Landru war in den Reihen der Alten Rasse etwas, das die Menschen eine »lebende Legende« nannten. Doch kein Vampir wußte recht, woher dieser Ruf rührte. Landru gehörte keiner Sippe an, schien es nie getan zu haben. Irgendwann war er aufgetaucht wie aus dunklem Vergessen heraus, und doch mußte er schon zuvor existiert haben. Denn Alter umwehte ihn einem spürbaren Hauch gleich, Alter – und eine Macht, die auf unbestimmbare Weise jene aller anderen Vampir übertraf. Wenngleich nie jemand ihr wahres Ausmaß oder gar ihre Wirkung erfahren hatte. Niemand jedenfalls, der darüber berichten konnte … Auf die Bühne war Landru mit dem Verschwinden des Lilienkelches getreten. Seit jener Zeit bereiste er die Welt, ging jeder noch so geringen Spur und jedem Gerücht nach, die auf den Verbleib des Unheiligtums der Alten Rasse verweisen konnten. Im Laufe der annähernd 150 Jahre, die seither verstrichen waren, hatten die Sippen Landru mit dem Beinamen »Kelchjäger« belegt. Einige wenige munkelten gar, er wäre früher der Hüter gewesen … Gerome zählte nicht zu jener kleinen Schar, deren Ansicht er für
geradezu ketzerisch hielt. Er hing einem anderen Gedanken an, und es gab etliche Vampire, die ihn teilten. Ihm zufolge war Landru eine Art »Gesandter«. Ausgeschickt von jener namenlosen Macht, die der Geschichte nach hinter der Entstehung der Alten Rasse stehen mußte. Sie mochte Landru die Aufgabe übertragen haben, den Kelch zu suchen, um den Fortbestand ihrer Blutkinder zu sichern. Landru selbst schwieg zu all dem. Und wob mit seinem Schweigen an jenem Mantel von Mysterien, in den er sich hüllte. Landrus besonderer Status war es, der Gerome bei ihm Rat suchen ließ. Wenn er tatsächlich in Verbindung zu der Macht hinter der Alten Rasse stand, dann konnte er Hilfe von ihm erwarten. Aus diesem Grund hatte der Sippenführer dem Kelchjäger eine Nachricht zukommen lassen und ihn um seinen Besuch in New Orleans gebeten. Landru hatte reagiert und seine Ankunft avisiert. Nun saß er in einem hochlehnigen Sessel, und Gerome ließ sich dem vom Kreuz Gezeichneten gegenüber nieder. Reglos wartete Landru darauf, daß der andere das Gespräch eröffnete. Nur in der Schwärze seiner Augen entdeckte Gerome ein irritierendes Blitzen. Doch es kündete ganz offensichtlich nicht von Neugierde, sondern vielmehr von einer Art Unruhe, die in völligem Widerspruch zu seiner äußerlichen Gelassenheit stand. »Ich danke dir für dein Kommen«, begann Gerome. Er hob das kunstvoll geschliffene Kristallglas von dem Rauchtischchen zwischen den beiden Sesseln und prostete Landru mit dem noch warmen Rot zu, das funkelnd und träge darin schwappte. Der Vampir mit dem dunklen Haar, das er im Nacken zu einem kleinen Pferdeschwanz zusammengebunden trug, erwiderte die Geste, nippte von seinem Glas und leckte genießerisch mit der Zunge über seine Lippe. »Kreolenblut«, erklärte Gerome. Gilles hatte den Trunk »besorgt«. »Die Yankees haben euch mit ihrer Ankunft ja eine neue Sorte ge-
wissermaßen frei Haus geliefert«, meinte Landru mit abseitigem Lächeln. Gerome erwiderte es. »Deren Blut schmeckt mir zu sehr nach Demokratie.« Landrus Mundwinkel wiesen noch für eine Sekunde nach oben, dann verschwand das Lächeln aus seinen Zügen wie fortgewischt. »Weshalb hast du mich gerufen?« fragte er. »Du kennst den Grund«, sagte Gerome. Er hatte in seiner Nachricht das Problem in knappen Worten erörtert. »Wie könnte ich dir helfen?« wollte Landru wissen, doch die Art und Weise, in der er es tat, verriet Gerome, daß der andere sehr wohl wußte, worum es ihm ging. Der Kelchjäger genoß es einfach nur, seine Macht auszukosten, und er gab sich keine sonderliche Mühe, es zu verhehlen. Gerome ließ sich seinen Unmut darüber nicht anmerken. »Einer unserer Sippe hat sich von uns abgespalten. Guillaume ist sein Name«, erklärte er. »Ich erin…«, setzte Landru an, doch er beendete den Satz nicht. Statt dessen sagte er: »Es ist die Pflicht eines Oberhauptes, solche Alleingänge zu unterbinden.« »Er gab nicht zu erkennen, daß er sich mit solchen Plänen trug«, erwiderte Gerome, nunmehr doch mühsam beherrscht ob der Überheblichkeit Landrus. »Glaubst du etwa, ich hätte seine Eigenmächtigkeit geduldet? Du müßtest mich besser kennen.« Landru verzog die Lippen zu einem freudlosen Grinsen und winkte gelangweilt ab. »Reg dich nicht auf. Anwandlungen, wie Guillaume sie hatte, sind mir nicht fremd. Fast scheint es, als wäre unsere Rasse nicht immun gegen jenen Wahnsinn, der die Menschen Kriege gegeneinander führen läßt. Wenn irgendwo auf der Welt ein Krieg ausbricht, gibt es fast immer einen, oft auch mehrere Vampire, die die Gelegenheit nutzen, um vermeintlich unbemerkt wahre Blutorgien zu veranstalten. Und im Rausch vergessen sie, daß sie damit al-
lem zuwider handeln, was für unser Volk seit jeher gilt. Sie offenbaren ihre wahre Natur, und sie schaffen Dienerkreaturen in einem Übermaße, das jeden, der halbwegs bei Verstand ist, unweigerlich auf unsere Fährte führen muß.« »Du hattest schon häufiger mit solchen Problemen zu tun?« fragte Gerome nicht ohne Hintersinn. Vielleicht konnte er ja ein klein wenig mehr über Landrus Vergangenheit erfahren, als bislang bekannt war. Doch der vom Kreuz Gezeichnete blieb ihm die Antwort darauf schuldig. »Um Guillaume zu stoppen, müßte der Kodex, der unserer Rasse verbietet, Unseresgleichen zu töten, gebrochen werden«, fuhr Gerome schließlich fort, als das Schweigen drückend zu werden begann. Landru nickte. »So ist es. Vielleicht ist auch dies eine Auswirkung des seltsamen Keimes, der die Menschen einander umbringen läßt. Es ist, als würde er zu Zeiten wie diesen in der Luft liegen, und niemand scheint vor ihm sicher zu sein.« »Dann billigst du es?« fragte Gerome. »Ich bin nicht der Richter über unsere Rasse«, sagte Landru, und der andere hatte den Eindruck, als läge unter diesem Satz unhörbar ein anderer: Ich bin viel mehr als das … Landru sprach weiter: »Doch wenn zwischen zwei Übeln zu wählen ist, neige ich dazu, mich für das kleinere zu entscheiden.« Gerome nippte vom Kreolenblut, überlegte, während er die Schlieren beobachteten, die wie durchscheinende Schlangen an der Innenseite des Glases nach unten liefen. »Man müßte sich auch der Dienerkreaturen annehmen, die Guillaume zwischenzeitlich geschaffen hat. Einige davon hat er dem Vernehmen nach um sich geschart, andere fristen ihr neues Leben an ihrem angestammten Platz«, sagte er dann. Wieder nickte Landru. »Eine Aufräumaktion im großen Stile wäre vonnöten.«
»Wie könnte man sie angehen?« Landru sah eine Weile in sein Glas, trank dann einen Schluck und stellte es ab. Er erhob sich, so überraschend, daß Gerome irritiert zu ihm aufsah. »Was …?« setzte er an. »Gib mir etwas Zeit«, sagte Landru. »Ich melde mich wieder bei dir.« »Du gehst?« »Ja. Um einen Plan auszuarbeiten.« »Ich habe dir eine Kreolin bringen lassen …«, erklärte Gerome und wies vieldeutig zur Wand zum Nebenzimmer. »Möchtest du dich nicht erst stärken …?« Landru winkte ab. »Die Verpflegung an Bord der ›Lioncourt‹ war gut und reichlich«, grinste er. Damit ließ er den Vampir stehen, verließ das Gemach und nur Sekunden danach das Gebäude. Als Gerome auf den Balkon hinaustrat, sah er Landru gerade noch in der Menge verschwinden. Und wenig später einen dunklen Schatten aufsteigen, der nach ein paar Flügelschlägen mit der Regennacht verschmolz.
* Was Gerome nicht wissen konnte, war … … daß Landru seine Zähne nur zu gern in die Schlagader der angebotenen Kreolin geschlagen hätte. Wäre da nicht jenes Gelübde gewesen, das er abgelegt hatte und demzufolge er erst dann wieder Blut saugen durfte, wenn er den Lilienkelch zurückerlangt hatte. Mit diesem Schwur hatte er sich selbst bestraft. Denn er hatte versagt. Seine Pflicht nicht erfüllt, die gewesen war, den Kelch zu hüten. Er hatte ihn verloren, ohne sich daran erinnern zu können, wie es dazu hatte kommen können. Doch annähernd 150 Jahre waren
genug, um den Gedanken an das Wie und das Warum zu verdrängen. Es zählte allein, das Unheiligtum zurückzuholen, wo und in wessen Händen es sich auch befinden mochte. Und Landru war bereit, zu diesem Zweck alle Mühsal auf sich zu nehmen. Daneben sah er seine Aufgabe jedoch auch darin, sich dem schleichenden Untergang der Alten Rasse entgegenzustellen. Denn mit dem Verlust des Kelches schwand auch die Lebensmoral der Vampire. Kaum merklich, aber stetig. Als wäre das Artefakt mehr gewesen als nur Mittel zur Fortpflanzung. Als hätte das Wissen um seine Präsenz dazu beigetragen, die alten Werte und Traditionen aufrecht zu erhalten. Deshalb war Landru dem Ruf Geromes nach New Orleans gefolgt. Zumal er, wenn getan war, was getan werden mußte, die Reise in die Neue Welt auch nutzen konnte, um hier nach Hinweisen auf den Verbleib des Lilienkelches zu forschen. Doch zunächst galt es, sich des Abtrünnigen anzunehmen. Wie er Gerome schon gesagt hatte, war ihm das Problem nicht neu. Es stellte sich in der Tat stets, wenn irgendwo auf der Welt Kriegsgemetzel entbrannten. Und Landru gestand sich ein, daß er die Beweggründe jener Vampire, die sich in solchermaßen verlockender Situation dem Blutrausch ergaben, nachvollziehen konnte – ein wenig zumindest. Denn viele Oberhäupter hielten die Angehörigen ihrer Sippen allzu kurz, was ihre Blutgelüste anging. Und so ergriffen manche eben die erstbeste Gelegenheit, sich das Gedärm im Überfluß mit dem Elixier der Alten Rasse zu füllen, zumal die Angst, in der die Opfer zu Kriegszeiten oft unterbewußt lebten, dem Blut die rechte Würze verlieh. Landru störte sich nicht in erster Linie daran, daß ein Vampir eigene Wege ging. Schließlich tat er selbst nichts anderes, wenn auch aus gutem Grunde. Viel schwerer wog der »Überschuß« an Dienerkreaturen, der solchen Alleingängen oft anhing. Einmal dem Blutrausch verfallen, saugten diese Vampire ihre Opfer bis zum letzten Tropfen aus, so daß sie daran starben – um sich dann, beseelt vom Keim des
Bisses, zu Untoten zu erheben. Und diese Kreaturen bedurften der Führung ihrer Herren. Doch ein solches Heer, wie es in diesen Fällen erstand, war von einem einzelnen nicht zu kontrollieren. Dazu kam noch, daß, wenn diese Unsitte um sich griff, die Vampire sich auf lange Sicht die Nahrungsquelle entzogen. Denn es war abzusehen – wenn man wie die Alte Rasse in Jahrzehnten als kleinster Zeiteinheit rechnete –, daß die Menschheit in naher Zukunft ausgerottet sein würde, samt und sonders überbordender Blutgier zum Opfer gefallen. Zumal sich ja auch die Dienerkreaturen aus den Adern Lebender nährten, ohne allerdings selbst Kreaturen schaffen zu können. Aber auch das war nicht der einzige, nicht einmal der wichtigste Grund, der Landru solchem Treiben Einhalt gebieten ließ. Die größere Gefahr sah er darin, daß Legionen von Untoten die Menschen auf die Alte Rasse aufmerksam machen würden. Früher oder später mußten auch der Dümmste und der Blindeste sich einen Reim darauf machen, wer für solche Vorfälle verantwortlich war. Und wenn erst einmal zur kollektiven Jagd auf die Vampire geblasen wurde, dann stand die Alte Rasse auf verlorenem Posten. Denn es gab sehr wohl Mittel und Wege, ihnen den Garaus zu machen. Doch diese Überlegungen waren müßig, und Landru schob sie beiseite. Er war mit der Lösung dieses Problems vertraut, und sie war nicht einmal sonderlich schwierig. Denn die Menschen selbst lieferten ihm mit ihren Kriegen das geeignete Werkzeug. Er mußte nur die richtige Verbindung knüpfen. Und Landru fand einen geeigneten Kontaktmann. Einen hochdekorierten sogar.
* »In derselben Nacht …«, fuhr Zefrem fort … … lag Agamemnon in seiner Hütte auf dem Bett, die Augen ge-
schlossen, ohne zu schlafen, darauf wartend, daß Semiramis sich wieder davonstehlen würde, hinüber zum Herrenhaus, um sich dem Master hinzugeben und ihm am Ende ihr Blut zu offerieren. Der Schwarze fröstelte trotz der Schwüle, die ihm den Schweiß aus allen Poren trieb und jeden Atemzug zur Qual machte. Doch die stickigfeuchte Luft im einzigen Raum der Hütte war nicht der eigentliche Grund. Der andere lag neben ihm. Semiramis. Nach jener Nacht, in der Agamemnon das schwarze Mädchen mit Jacques La Fore beobachtet hatte, hatte es sich noch einmal verändert. Gravierend. Sie war eine völlig Andere geworden. Daß sie sein Bett noch teilte, hätte Agamemnon zutiefst verwundert – wenn er fähig gewesen wäre, einen halbwegs klaren Gedanken zu fassen. Nun, das stimmte nicht ganz. Er konnte sehr wohl noch klar denken. Aber nur dann, wenn es um seinen Plan ging. Seinen Plan … Hätte der Schwarze sich nicht so elend gefühlt, hätte er vielleicht aufgelacht. Sein »Plan« für das, was er vorhatte, beschränkte sich darauf, abzuwarten, bis Semiramis die Hütte verließ, dann wollte er sich aus dem Staub machen, von der Plantage fliehen. Einen Fluchtweg hatte er sich bei der Arbeit ausgesucht. Er führte durch das mehr als mannshohen Zuckerrohr in die Sümpfe hinüber. Dort würde er dann weitersehen, darauf hoffend, daß etwaige Verfolger zwischen den morastigen Tümpeln und Wasserlöchern nicht so schnell vorankommen würden. Und um die Hunde abzulenken, hatte Agamemnon ein paar Fleischreste von den Mahlzeiten aufgehoben. Doch dieser großartige »Plan« schien schon im Anfangsstadium zu scheitern. Daran nämlich, daß Semiramis sich offenbar ausgerechnet in dieser Nacht nicht davonschleichen wollte.
Agamemnon wartete noch dreimal so lange, wie er brauchte, um so weit zu zählen, wie er konnte. Dann schob er sich aus dem Bett, zentimeterweise und fast lautlos – und doch nicht vorsichtig und leise genug. Die Stimme erreichte ihn auf halbem Wege zur Tür. »Agamemnon?« Er wandte sich um. Semiramis saß im Bett. Im schwachen Licht, das von irgendwoher kam und kaum mehr als Umrisse erkennen ließ, sah er eines doch ganz deutlich: die beiden dunklen Punkte, die wie nachtschwarze Muttermale seitlich an Semiramis’ Hals prangten. »Wo gehst du hin?« Er zögerte, vielleicht zu lange. »Nur … nur mal raus. Mir ist so warm«, brachte er dann endlich hervor. »Draußen ist es nicht kühler, trotz des Regens«, meinte sie. Und dann, mit einem zuckersüßen und zugleich unendlich verruchten Locken in der Stimme: »Komm her zu mir, Agamemnon, denn mir ist kalt, furchtbar kalt.« Sie breitete die Arme aus, stand auf. Nackt kam sie auf ihn zu, jeder Schritt eine Provokation. Doch sie verfing nicht bei Agamemnon, nicht mehr. Jede ihrer Bewegung erinnerte ihn daran, was Semiramis mit Jacques La Fore, diesem widerlichen Kerl, getrieben hatte. Ihre Schönheit, ihr makelloser und herrlicher Körper mit den kleinen festen Brüsten waren das einzige, was sich nicht an ihr verändert hatte. Die ärgste Veränderung aber fiel Agamemnon erst jetzt auf. Vielleicht war sie zuvor auch noch nichtdagewesen … Er hörte ein ganz leises, feucht klingendes Knirschen. Semiramis öffnete den Mund. Agamemnon schrie erstickt auf. Die Eckzähne des Mädchens waren mit einemmal nadelspitz und
so lang, daß sie die Unterlippe berührten. Wie jene, die der Master ihr in den Hals geschlagen hatte. Sie fauchte, und ihr Ton wurde schneidend. »Komm her, verdammter Bastard! Ich will dein Blut!« Agamemnon schluckte trocken; seine Kehle kratzte und schmerzte. »Semiramis«, stieß er dann hervor, »nein, geh weg. Bitte …« »Hör auf zu winseln!« Sie sprang. Agamemnon streckte wie im Reflex die rechte Faust vor. Semiramis stürzte getroffen zu Boden, ächzte benommen. »Ich … das wollte ich nicht …«, stammelte Agamemnon. Lauf, du Narr! Renn weg! So schnell du kannst! Die Stimme klang hinter seinen Ohren auf, direkt in seinem Kopf. Agamemnon gehorchte ihr. Er rannte aus der Hütte, zwischen anderen hindurch, und schon bald tauchte er in den hochstehenden Zuckerrohrfeldern unter. Trotzdem konnte er Semiramis’ gellenden Ruf noch hören. »Er flieht! Ihm nach!« Der Schwarze wußte, daß tatsächlich eine ganze Weile, mindestens ein paar Minuten vergangen sein mußten, bevor er weit hinter sich Geräusche vernahm, die von Verfolgern kündeten. Aber es kam ihm vor, als würde er sie hören, kaum daß Semiramis’ Stimme verhallt war. Er rannte scheinbar endlos durch die Felder und dann noch ewig lange über fast freie Flächen, auf denen nur vereinzelte Sträucher und Bäume Sichtschutz boten, bevor er die Sümpfe erreichte. Ein paarmal drehte er sich im Laufen um, doch er sah niemanden, der ihm folgte. Was nicht bedeuten mußte, daß ihm niemand folgte. Agamemnon rannte weiter, und als wäre das Schicksal zur Abwechslung einmal auf seiner Seite, fand er mit jedem Schritt festen Boden, obwohl er immer tiefer in das Sumpfland eindrang.
Seine Lungen brannten längst, als würde er flüssige Lava atmen, und in seinen Lenden bohrte ein Schmerz, als würden ihm fortwährend Messer hineingetrieben. Doch er verlangsamte sein Tempo nicht. Niemals! schrie es in ihm. Ihr kriegt mich nicht! Verdammte Blutsauger! Der Geruch und die Geräusche der Sümpfe nahmen ab. Nach einer Meile nahm Agamemnon sie überhaupt nicht mehr wahr. Und nach einer weiteren Meile erreichte er Baumwollfelder, nicht viele und nicht besonders groß. Sie gehörten demnach nicht zu einer Großplantage, eher zu einer kleineren Farm. Minuten später entdeckte Agamemnon in der Ferne ein Licht. Der Anblick weckte irgendwelche Restkräfte in seinem ausgelaugten Körper. Sie genügten, um ihn jenem anheimelnden Schein in der Nacht nahe kommen zu lassen. Aber nicht, um es zu erreichen. Ein paar Schritte vor dem Farmhaus gaben seine Beine unter ihm nach. Agamemnon hörte einen Hund kläffen, immer lauter, spürte heißen, hechelnden Atem im Nacken. Dann rief ein Mann einen scharfen Befehl in die Nacht. Und dann verschlang die Nacht Agamemnon und alles um ihn herum.
* Die Nacht war noch nicht zu Ende, als Agamemnon erwachte. Das Licht zweier Kerzen drängte die Dunkelheit so weit zurück, daß er das Bett erkennen konnte, in dem er lag – und die vier Gesichter, die auf ihn herabsahen. Das Gesicht des Mädchens sah dem der Frau ähnlich, das des Jungen dem des Mannes. Eines war ihnen gemeinsam: Sorge. Die nun allerdings von stummer Erleichterung abgelöst wurde.
»Wie fühlen Sie sich?« fragte die Frau. Agamemnons Lebensgeister erwachten nur zögernd und offensichtlich einer nach dem anderen. Jedenfalls paßten die Stimme und die Bewegung des Mundes der Frau für seine Blicke noch nicht zusammen. Ihre Lippen schienen sich noch zu bewegen, als die Stimme längst verklungen war und Agamemnon selbst schon zu einer Antwort ansetzte. »Es geht … Wo bin ich? Wie …?« »Ruhen Sie sich aus«, sagte der Mann. Mundbewegung und Worte begannen zu harmonieren. »Wir haben Sie draußen gefunden und hereingebracht.« Agamemnon nickte. »Danke, Sir … Master.« »Vergessen Sie den Sir und den Master«, sagte der Mann mit dem jungen, freundlichen Gesicht. »Ich bin Frank.« Er wies auf seine Frau, dann auf seine Tochter und seinen Sohn. »Kathy, Lucille und Frank junior, alle mit Nachnamen Shaugnessy.« Er fuhr sich mit der Hand durch das kupferfarbene Haar. »Wir stammen aus Irland. Und wir hassen Sklavenhalter.« Erst jetzt fiel Agamemnon der Dialekt des Mannes auf. Er sprach Englisch, natürlich, doch er tat es nicht wie die La Fores und die anderen Südstaatler, die er kannte. »Warum haben Sie sich dann nicht im Norden niedergelassen?« fragte er. Frank Shaugnessy grinste. Freundlich. Agamemnon hatte lange keinen Weißen mehr auf diese Art grinsen sehen. Eigentlich noch nie. »Dort hätte ich nur einen Job in einer Fabrik bekommen. Deswegen sind wir aber nicht ins gelobte Land gekommen. Wir wollen frei leben, von dem, was wir mit Gottes Hilfe und seiner Schöpfung erreichen können. Und das kann man überall dort, wo Gott gegenwärtig ist. Also auch im Süden der Vereinigten Staaten von Amerika«, behauptete Frank.
Agamemnon war zu erschöpft, um ihm zu widersprechen. Bleierne Schwere kroch in seinen Beinen hoch und weiter. »Sind Sie ein entflohener Sklave?« fragte der rothaarige Junge. Seine Augen leuchteten. Agamemnon nickte nur, die Lider halb geschlossen. »Sie sollten versuchen, in den Norden zu kommen. Dort wären Sie sicher. Wir werden Ihnen dabei helfen«, meinte Kathy. »Aber nicht heute«, erklärte Frank. »Heute nacht sind Sie auch bei uns sicher … Wie ist Ihr Name?« »Agamem…«, setzte der Schwarze fast tonlos an, doch dann besann er sich, daß er diesen Namen, den Weiße ihm gegeben hatten, mit dem Joch, von dem er sich mit seiner Flucht befreit hatte, ablegen wollte. Fortan würde er sich wieder mit jenem Namen anreden lassen, den seine Eltern ihm vor 30 Jahren gegeben hatten. »Z…« Seine Lider schlossen sich, bevor er ausgesprochen hatte. Einen Gedanken nahm er mit hinüber in Schlaf und Traum. Er war in Sicherheit. Wenn auch nur bis zur nächsten Nacht …
* »In der übelsten Gegend von New Orleans …«, wechselte Zefrem wieder den Schauplatz seiner Geschichte … … wurde Landru schließlich fündig. Einen Mann von der Art zu finden, nach der er gesucht hatte, hatte ihn keine sonderliche Mühen gekostet. Nur Zeit. Vor allem, den Mann ausfindig zu machen, hatte gedauert. Denn daß ein Mann wie dieser sich in einer solchen Gegend herumtrieb, diese Vorstellung hatte selbst Landru nur schwerlich akzeptieren können. Offensichtlich war an den anrüchigen Geschichten, die man sich über ihn erzählte, mehr dran, als die meisten, Präsident Lincoln ein-
geschlossen, zu glauben bereit waren … Die dunklen Gassen im Hafenviertel quollen über – vor zwei- und vierbeinigen Ratten ebenso wie vor Unrat. Der Gestank waberte fast sichtbar zwischen den eng beieinander stehenden Häusern. Und in den zahllosen Tavernen und Freudenhäusern wurde vermutlich in erster Linie zu Desinfizierungszwecken hochprozentiger Stoff ausgeschenkt. Der Mann jedenfalls, den Landru suchte und endlich fand, schien die fette Hure, deren wabbeligen Schoß er gerade mit arhythmisch zuckendem Becken bearbeitete, mit mindestens 90prozentigem Fusel eingerieben zu haben, bevor er sie in Angriff nahm. Der Dunst in der schmuddeligen Kammer ließ keinen anderen Schluß zu. In Fledermausgestalt durchschlug der Kelchjäger das Fenster des kleinen Zimmers. Das Geräusch berstenden Glases zählte in dieser Gegend zur üblichen Klangkulisse; niemand störte sich daran. Außer der dicken Nutte, die zwei, drei Sekunden lang Nebelhorn spielte, ehe Landrus bloßer Blick sie zum Schweigen brachte. Der nackte Mann war von kräftiger, aber keineswegs fettleibiger Statur. Und wenn man in Gedanken die Spuren wegretuschierte, die der Alkohol hinterlassen hatte, war er durchaus stattlich zu nennen. Das dunkle Haar hatte er mit Pomade zurückgekämmt; ein paar wirre Strähnen hingen ihm in die Stirn. Sein kurzgeschorener Vollbart wurde von Silberfäden durchzogen. »Wassollas?« Obwohl er nuschelte, klang seine Stimme doch noch immer befehlsgewohnt, wie man es von einem Mann wie ihm erwartete. Landru bohrte den Blick durch die Nebel, die über den tiefblauen Augen des Nackten hingen. Etwas verlosch hinter dem glasigen Glanz wie ein Windlicht, das man ausblies. »Ziehen Sie sich an«, verlangte der Vampir und wies auf das dunkelblaue Kleiderbündel, das am Fußende des Bettes auf dem Boden lag.
Ohne zu widersprechen stieg der nackte Mann in seine goldbetreßte Uniform der Unions-Armee. Landru sah währenddessen zu der Hure hin, die stieren Blickes alles zu beobachten schien und doch nichts mitbekam. Der Anblick ihrer wächsernen Haut, die Landru an Hefeteig denken ließ, ekelte ihn. Dennoch – er überwand seinen Widerwillen. Wer wußte schon, wann er wieder dazu kam, sich zu stärken? »Würden Sie sich bitte umdrehen?« bat der Kelchjäger mit unnötiger Höflichkeit. Der Uniformierte wandte sich gehorsam um und bekam nicht mit, was hinter seinem Rücken geschah. Landru legte die Hände aneinander, so daß die Fingerspitzen sich berührten. Dann verhärteten sich seine Züge, als er seine Gedanken sammelte, sich auf die Art des Aderlasses konzentrierte, die er sich auferlegt hatte. Zwischen seinen Händen entstand ein zunächst noch durchscheinendes Gebilde. Es wurde scheinbar fester, materieller, und blieb doch unwirklich. Ein Gefäß von der Form einer Lilie, eine gedanklich geschaffene Kopie des verschwundenen Unheiligtums. Dann ließ Landru seine Konzentration den zweiten Schritt tun. Unter seinen Blicken reckte ihm die Hure beide Arme entgegen, die Handgelenke nach oben gedreht. Über den Pulsadern schnappte die weiße Haut auf wie an perforierten Schnittlinien. Unsichtbare Messer drangen tiefer, öffneten die pochenden Kanäle darunter. Blut spritzte und wurde in gezielte Bahnen gelenkt, ehe es irgend etwas netzen konnte. Wie der Strahl aus den Mäulern von Wasserspeiern vereinigten sich die roten Fontänen noch in der Luft und verschwanden in der Öffnung der Kelchkopie, die Landru geschaffen hatte. Als das Gefäß bis dicht unter den Rand gefüllt war, ließ er das Blut der Hure sinnlos verströmen und leerte den Kelch bis zur Neige. Es schmeckte scheußlich. Der Mann hatte es offensichtlich nicht ge-
schafft, das Blut der jungen Vettel in Wallung zu versetzen. Aber immerhin – es erfüllte seinen Zweck. Landru spürte die Kraftreserven seines Körpers ansteigen. »Gehen wir«, sagte er zu dem Uniformierten, nachdem der Lilienkelch in seinen Händen verblaßt und schließlich verschwunden war. Der andere folgte ihm aus dem Zimmer, und wenig später traten sie aus dem Gebäude. Seite an Seite gingen sie durch das Hafenviertel in Richtung des French Quarters. Gestalten, deren Seelen so schwarz waren, daß ihre Träger schon deswegen unsichtbar wurden im Dunkel der Nacht, wichen zurück, wenn die eisige Aura sie traf, die der Vampir einer Bugwelle gleich vor sich herschob.
* »Und du meinst tatsächlich, er könnte uns helfen, das Problem zu lösen?« Gerome sah zweifelnd zu dem Uniformierten hinüber, der reglos in einem Sessel saß und versuchte, stieren Blickes das Nirgendwo zu entdecken. Landru nickte. »Er hat den Schlüssel zur Lösung – oder die Macht, wenn du so willst.« Im Morgengrauen hatten der Vampir und sein willfähriger Gefolgsmann jenes gastfreundliche Haus erreicht, in dem der Sippenführer auf Landrus Rückkehr gewartet hatte. Mittlerweile hatte der neue Tag den Himmel über New Orleans längst erobert, und durch die offenstehende Balkontür drang neben milder Frühlingsluft auch Lärm, der sich von dem der Nacht dadurch unterschied, daß er auf schwer zu beschreibende Weise »geschäftsmäßiger« klang. Landru wies auf die Karte, die Gerome auf seinen Wunsch hin besorgt und an der Wand befestigt hatte. Darauf war der südliche Teil Louisianas zu sehen. Gerome zeichnete mit Tinte und Federkiel Kreuze in die Landschaft.
»Sind das all jene Orte, an denen dein Freund Guillaume und seine Horde zugeschlagen haben?« wollte Landru wissen, mit dem Kinn zu der Karte hindeutend. »Zumindest alle, die mir bekannt sind.« Gerome sah wieder zu dem Uniformierten hinüber. »Ich hatte ihn droben bei Vicksburg vermutet«, sagte er. »Immerhin belagert er die Stadt doch angeblich seit Wochen, um dem Süden den letzten Zugang zum Mississippi zu schließen.« Landru zuckte die Schultern. »Er wird Vicksburg kaum allein belagern und hat vielleicht ein paar Tage Fronturlaub genommen«, meinte er. »Und das kulturelle Angebot ist in New Orleans wohl eher nach seinem Geschmack als dort oben.« Gerome rümpfte die Nase. »Er stinkt widerlich. Als hätte er in Schnaps gebadet.« »Ja, das ist ein Problem«, erwiderte Landru. »Ein betrunkener Verbündeter ist unter unserer Würde. Du solltest ihn ›trockenlegen‹, bevor es losgeht.« Er grinste und fuhr sich wie zufällig mit der Hand über den Hals. Gerome grinste zurück. »Warum hast du es nicht heute nacht schon getan?« fragte er dann. Landru winkte ab. »Ich bin nur Gast hier. Und ich fürchte, sein verdorbenes Blut ist nicht nach meinem Geschmack«, redete er sich heraus. »Nun gut, ich werde dafür sorgen, daß er unser treuer Diener wird«, versprach Gerome mit säuerlichem Gesicht. Landru befahl den Uniformierten mit einer Handbewegung zu sich. Der Soldat gehorchte und stakste heran. Der Vampir zeigte auf die Karte an der Wand und erklärte dem anderen sein Vorhaben. Dann lockerte er die Fessel um den Geist des Mannes so weit, daß er zum Denken in den entsprechenden Bahnen fähig war. Fast konnte
man sehen, wie das Räderwerk seines Gedankenapparates hinter seiner Stirn langsam in Gang kam. »Das ist zu schaffen«, erklärte der Uniformierte schließlich und erläuterte die Strategie, die er ersonnen hatte. »Haben Sie genug Männer dafür?« wollte Landru wissen. Der andere nickte. Der Vampir grinste zufrieden. »Dann schlagen wir heute nacht zu. Mobilisieren Sie alle verfügbaren Truppen, General Ulysses Grant!«
* Das Bild war beeindruckend. Ein Meer von Menschen zog vom südlichen Ufer des Mississippi weiter ins Land hinein, unruhig wogend in der Bewegung der uniformierten Männer. Landru vermochte ihr Zahl nicht zu schätzen. Aber er war sicher, daß es mehr als zwei- oder sogar dreitausend waren. Ulysses S. Grant, General der Unionsarmee, hatte ganze Arbeit geleistet und an Truppen zusammengezogen, was er im Laufe eines Tages in Marsch hatte setzen können. Nun saß er im Sattel seines Pferdes, flankiert von Landru und Gerome, die ebenfalls beritten waren. Der Führer der New Orleans-Sippe hatte den General zwischenzeitlich »trockengelegt«, bis zum letzten Tropfen – aber nur den geringsten Teil von Grants Blut auch tatsächlich getrunken. Das war auch nicht nötig gewesen. Es hatte genügt, den Keim ins Aderwerk seines sterbenden Körpers zu säen, auf daß er im Tode erblühte und Ulysses Grant ein neues Leben bescherte. Fortan würde nie wieder Alkohol den Geist des brillanten Taktikers benebeln. Und vielleicht würde das seiner weiteren Karriere in der Nordstaaten-Armee sogar dienlich sein – wer wußte das schon
zu sagen? Dennoch – das Zusammenziehen dieser gewaltigen Streitmacht war nicht mehr als der erste Schritt in Landrus Vergeltungsplan. Der weitaus schwierigere, anstrengendere Teil stand noch bevor. Zu diesem Zwecke hatte Gerome die Angehörigen seiner Sippe hierher ans jenseitige Ufer des Old Man River beordert. Auf Landrus Nicken hin machten sie sich ans Werk – der Kelchjäger und das Oberhaupt eingeschlossen. Sie schritten durch die Reihen der berittenen und Fußsoldaten und nahmen jeden einzelnen mit Blicken gefangen. In den Augen der Soldaten erlosch ein Funke – in denen der meisten jedenfalls. Es gab einige wenige, die sich immun zeigten gegen die hypnotischen Kräfte der Vampire. Sie hatten das Pech, daß ihnen eine »eingehendere Behandlung« zuteil wurde. Nie zuvor hatte die New Orleans-Sippe in einer einzigen Nacht so viel Blut fließen lassen … Stunden vergingen, bis die Vampire ihr kräftezehrendes Werk vollbracht hat. Die Erschöpfung stand ihnen in die bleichen Gesichter geschrieben, als sie sich schließlich wieder vor den Reihen der Soldaten einfanden. Einen einzelnen Menschen in Bann zu schlagen kostete sie nicht mehr als ein mentales Fingerschnipsen. Bei Tausenden ging es an die Grenzen des Machbaren. Landru wandte sich an Ulysses Grant. »Geben Sie die Befehle, General«, verlangte er. Grant nickte und unterrichtete seine Unterführer über das Vorhaben. Die wiederum gaben die Anweisungen an die Truppen weiter. Schließlich hob Grant den Arm. Trompetensignale schmetterten durch die Nacht. Die Bewegung in den Reihen wurde heftiger, das dunkle Meer aus uniformierten Leibern floß auseinander. In alle Richtungen diesseits des Mississippis machten sich die Truppen auf den vorgegebenen Weg. Die Vampire und ihre Dienerkreatur folgten den Soldaten, die auszogen, verlorene Seelen zu erlösen – in einer Nacht, in der nur der
Tod regieren würde.
* »Die vergangenen Nächte …«, sagte Zefrem … … in denen Agamemnon aus Angst und Sorge kaum geschlafen hatte, forderten ihren Tribut. Als er erwachte, war es wieder dunkel geworden. Er war allein in der kleinen Kammer. Allein mit der Dunkelheit, in der er in den ersten Augenblicken nach dem Aufwachen glühende Augenpaare sah, die auf ihn herabstarrten. Und obwohl kein Lichtstrahl in den Raum hereinfiel, blitzten unter diesen Augen mörderische Hauer in aufgerissenen Mündern … »Nein! Nein!« rief Agamemnon. »Ihr seid nicht wirklich! Ich bin in Sicherheit!« »Ja, das sind Sie.« In der Wand füllte sich ein fast deckenhohes Rechteck mit flackerndem Licht, als die Tür geöffnet wurde. Dann verdunkelte ein Schatten den Schein. Agamemnon erkannte die Stimme von Kathy Shaugnessy. Sie trat an sein Bett heran. »Sie müssen sich nicht fürchten«, sagte sie. »Niemand tut Ihnen hier etwas. Sie haben lange geschlafen. Wie fühlen Sie sich?« Agamemnon nickte. »Gut. Es geht mir gut. Danke, Missis …«, sagte der Schwarze mit belegter Stimme. Die Augenpaare und die Zähne verblaßten nur langsam in der Dunkelheit des Zimmers. »Nicht ›Missis‹«, lächelte die Farmerin. »Einfach nur Kathy ja?« Agamemnon nickte nur. Er brachte es nicht fertig, eine Weiße mit ihrem Vornamen anzureden. Er mußte noch eine Menge Dinge lernen, wenn er das Leben führen wollte, von dem er auf Resolute oft geträumt hatte … »Kommen Sie«, sagte Kathy Shaugnessy. »Ich habe Ihnen etwas zu
essen gemacht.« Erst jetzt nahm Agamemnon die Düfte wahr, die durch die Tür in die Kammer wehten. Und fast augenblicklich erwachte unter der Bettdecke brummend ein Bär zum Leben. Er hatte seit über einem Tag nichts mehr gegessen, und das Wasser lief ihm des bloßen Geruchs wegen im Munde zusammen. Der Küchentisch draußen stand voller Schüsseln, und sie schienen zu wetteifern mit den Düften, die ihnen entstiegen. Agamemnon langte nach anfänglicher Scheu tüchtig zu. Kathy beobachtete ihn lächelnd. »Wo sind Ihr Mann und Ihre Kinder?« fragte er zwischendurch. »Sie sehen draußen im Stall noch nach dem Rechten«, antwortete Kathy. Agamemnon nahm einen Schluck Milch. »Sie halten tatsächlich keine Sklaven?« erkundigte er sich dann. Kathy Shaugnessy lachte bitter. »Nein. Eher würde ich verhungern wollen, als daß ich Menschen zwingen würde, für uns zu arbeiten.« »Wie schaffen Sie es dann, Ihr Land zu bestellen?« »Mit Fleiß und der Einstellung, daß das, was man aus eigener Kraft schafft, zum Leben genug ist«, erklärte Kathy. Agamemnon nickte versonnen lächelnd. »Ein solches Leben habe ich mir oft gewünscht«, sagte er dann. »Ich möchte von dem leben, was ich mit meinen Händen vollbringen kann.« »Das können Sie«, sagte Kathy. »Sie sind ein freier Mann.« »Ich werde noch lange brauchen, um das selbst so zu sehen.« »Die Zeit heilt alle Wunden«, meinte die Frau. »Und Sie können bei uns bleiben, so lange Sie möchten. Wie heißen Sie noch gleich? Sie kamen gestern nacht nicht mehr dazu, es uns zu sagen.« »Mein Name ist …«, setzte Agamemnon an, doch Schritte, die draußen laut wurden, unterbrachen ihn. Die Tür wurde aufgestoßen. Frank Shaugnessy kam herein, gefolgt
von seinem Sohn und seiner Tochter. Einen Schritt hinter der Schwelle brachen sie zusammen. Stürzten zu Boden. Doch die Zeit reichte, um Kathy Shaugnessy aufschreien und Agamemnon vor Entsetzen erstarren zu lassen. Die Hälse des Mannes und der Kinder waren blutverschmiert. Unter ihren daliegenden Körper sammelten sich rasch größer werdende rote Lachen. Weitere Schritte klangen auf, die schwerer Soldatenstiefel. Ein Uniformierter trat durch die Tür. Und obwohl Agamemnon ihn und die anderen in jener Nacht auf Resolute nicht erkannt hatte, wuchs in ihm ein eisiges Déjà-vu-Gefühl zu etwas, das in schiere Panik überging. Ein bluttriefendes Maul wurde aufgerissen, in einem schmutzstarrenden Gesicht, aus dem der Wahnsinn lachte, Zähne blitzten. Kathy Shaugnessy starb als erste. Agamemnon folgte ihr kaum eine Minute später in den Tod.
* »In dieser Nacht …«, sprach Zefrem weiter … … tobte die vielleicht schlimmste Schlacht des Bürgerkrieges. In die Geschichtsbücher ging zwar die Schlacht bei Gettysburg als fürchterlichste ein, weil sie fast 50.000 Menschenleben gekostet hatte. Aber es mochten daran zumindest einige Soldaten beteiligt gewesen sein, die ihr Werk wider Willen verrichteten und bis an ihr Lebensende bedauerten, was ihnen zu tun befohlen worden war. Die Sümpfe von Louisiana indes verließ keiner der Beteiligten mit Gewissensnöten. Die Soldaten töteten in dieser Nacht mit der Kälte von Maschinen, unter der Knute fremder Mächte. Und sie taten es mit entsetzlicher Gründlichkeit. In weitem Bogen zogen sie Kreise um jene Gebiete, die der Vampir
Guillaume mit seiner blutgierigen Horde heimgesucht hatte. Dann wurden die Kreise enger gezogen, und schließlich begannen Kampf und Jagd. Dienerkreaturen und Menschen wurden von Farmen und Plantagen gejagt, wenn sie nicht vorher unter den Säbelklingen der Armee niedergingen. Wie Vieh trieben die Soldaten ihre Opfer vor sich her, in die Sümpfe hinein, wo die Panik der Gehetzten ein Entkommen unmöglich machte. Man drängte sich gegenseitig in den Morast; erstickende Schreie füllten den Mantel der Nacht zum Bersten. Daß dabei auch Soldaten in den Tiefen der Sümpfe versanken, nahm man billigend in Kauf. »Mit Schwund muß man rechnen«, zitierte Landru einen Spruch, den er irgendwann einmal aufgeschnappt hatte. Mit Gerome und General Grant an seiner Seite beobachtete er das grausige Töten aus der Ferne. Es gelüstete ihn nicht nach einer Beteiligung. Solches Treiben war ihm zuwider. Zwar liebte auch er die Jagd, nur mußte sie unter gänzlich anderen Voraussetzungen stattfinden – auf kultiviertem Niveau … Irgendwann, im Osten zeigte sich bereits der neue Tag als heller Streif am Horizont, war die gröbste Arbeit getan. Während allerorten Gehöfte und Häuser in Flammen standen und dem Licht des Morgens blutfarben Vorgriffen, gingen die Soldaten daran, übriggebliebene Anwesen gezielt zu durchsuchen und bei Bedarf auszuräuchern. So erreichten sie auch die Farm der Shaugnessys.
* »Nie gekannter, unvorstellbarer Schmerz …«, berichtete Zefrem … … zwang Agamemnon, vom Tode aufzuerstehen. Der Schmerz brannte wie Feuer und war zugleich kalt wie Eis, verzehrte Agamemnons Eingeweide und versetzte jede Faser seines
Leibes in Weißglut. Er wollte sich winden, wollte schreien – doch der Tod wich nur langsam und verdammte ihn zu Reglosigkeit und Schweigen. Und vielleicht war dies das Schlimmste daran – dem tobenden Schmerz in keiner Weise nachgeben zu können. Doch Agamemnon konnte hören. Stimmen klangen auf, nah und doch wie aus weiter Ferne, als würde die Grenze zwischen dem Reich der Lebenden und dem der Toten sie dämpfen. »Der ist hinüber«, sagte jemand. »Laßt uns die Bude anstecken und weiterziehen«, entgegnete ein anderer. Schritte erklangen, die bald leiser und schließlich von etwas anderem abgelöst wurden. Von einem Knistern und Knacken, von rasch wachsender Hitze und beißendem Gestank. Feuer. Als Agamemnon die Augen aufschlug, bestand die Welt um ihn herum schon aus nichts anderem mehr als aus flackerndem, brüllendem Licht. Im ersten Moment wollte der Schwarze liegenbleiben, sich den Flammen ergeben und darauf warten, daß sie seinen Schmerz verbrannten. Doch dann verging auch dieser allerletzte Rest alten Denkens, seines früheren Lebens. Das Neue in ihm übernahm die Kontrolle. Und diese andere Kraft, die ihm nicht lange fremd und unvertraut blieb, zwang ihn zum Aufstehen. Mit jedem Schritt, den er tat, wurde er ein kleines Stück mehr Herr über seinen untoten Körper, bis er sich schließlich fast geschmeidiger und sicherer bewegte denn je zuvor. Doch dieses Zuvor gerann zu Bedeutungslosigkeit; was darin wichtig gewesen war, zählte in diesem neuen Leben nicht mehr. Nur eines war ihm noch vertraut. Angst.
Wenn sie nun auch von etwas anderem geschürt wurde. Denn obwohl er wußte, daß es kaum mehr etwas gab, das ihm gefährlich werden konnte, so war ihm doch – fast schmerzlich – bewußt, daß Feuer zu dieser kleinen Zahl von Gefahren zählte. Er mußte raus aus diesem Flammenpfuhl. Durch ein rückwärtiges Fenster gelang Agamemnon schließlich die Flucht. Immer wieder in den wohltuenden Schatten von Bäumen und Sträuchern tauchend, machte er sich auf, seinen Herrn zu suchen, der ihm dieses neue Leben beschert hatte. Er fand ihn. Ohne ihn je zu erreichen.
* Gerome zügelte sein Pferd. »Das ist er!« rief er. Auch Landru zwang sein Pferd zum Stehen. »Wer?« fragte er. Gerome deutete nach vorne, wo sich in einiger Entfernung eine Handvoll Reiter befand, gekleidet in Uniformen sowohl der Yankees als auch der Rebellen. »Guillaume und seine Bande!« Das Oberhaupt der New Orleans-Sippe trieb seinem Braunen die Sporen in die Weichen. Wiehernd preschte das Tier los. Landru und Grant folgten nach. Der Vampir, der den Regeln der Alten Rasse zuwider gehandelt hatte, registrierte das nahende Trio auf halbem Wege. Er schrie etwas. Landru verstand die Worte nicht, aber als er sah, wie die Dienerkreaturen auf ihren Rössern Front gegen die Verfolger machten, wußte er, wie der Hase laufen sollte. Die Horde sollte sie aufhalten, so daß Guillaume sich absetzen konnte. »Ihren Säbel, General«, verlangte der Kelchjäger und brachte sein
Tier nahe an Grants heran. Der zog die geschwungene Klinge aus der Scheide und reichte sie hinüber. Dann trieb Landru sein Pferd an, die Waffe über dem Kopf schwingend. Diese Jagd war schon eher nach seinem Geschmack. »Hol du dir Guillaume!« schrie er Gerome zu. Wie ein tanzender Irrwisch drang er wenig später auf die Dienerkreaturen ein, ließ sein Pferd zwischen ihnen hindurchjagen, riß scharf an den Zügeln und umkreiste die Horde Untoter. Ihre Klingen kreuzten sich mit der seinen, klirrend und funkenschlagend. Doch nie brachte Landru einer ihrer Säbelhiebe in Gefahr. Der erste Kopf rollte. Der nächste … Doch kein Blut floß. Was da zerrissen aus den Halsstümpfen ragte, erinnerte an dürres Gras, war trocken und dunkel. Als die letzte Kreatur vollends entseelt aus dem Sattel rutschte, sprengte Landru in jener Richtung weiter, in die Gerome und Grant dem Vampir nachgeritten waren. Er fand sie am Rande eines Sumpfloches. Geromes Hände lagen um Guillaumes Gesicht, während er ihn mit seinem Körpergewicht am Boden hielt. Zorn und Rachsucht ließen seine Kräfte denen des anderen maßlos überlegen sein. »So breche ich jetzt den Kodex unseres Volkes, um dich für deinen Frevel zu strafen«, keuchte Gerome, als Landru absaß. »Das mußt du nicht«, sagte der Kelchjäger. »Wovon sprichst du?« fragte Gerome, ohne den Kopf zu wenden. »Du mußt den Kodex nicht brechen«, erklärte Landru. Nun sah Gerome doch in Richtung des Kelchjägers, ohne indes seinen Griff auch nur um eine Winzigkeit zu lockern. Landru wies mit dem Kinn auf den Sumpf. »Laß ihn ewig sterben«, sagte er. Gemeinsam zerrten sie Guillaume auf die Beine – und stießen ihn in die zähe Brühe, die wie ein gefräßiger Moloch augenblicklich be-
gann, ihr Opfer zu verschlingen. Stück um Stück sank der abtrünnige Vampir hinab. Schweigend, bis der Morast seine Unterlippe erreicht hatte. »Verflucht seid ihr!« stieß er funkelnden Blickes hervor. »Irgendwann, Gerome, wirst du dafür büßen …« Brauner Schlamm erstickte seine weiteren Worte. Eine Minute später schloß er sich über der Stelle, an der Guillaumes dunkler Schopf verschwunden war. »Ruhe in ewiger Qual, du Narr«, sagte Landru, die Hände wie ein Mensch zum Gebet gefaltet. Dann wandte er sich um, schwang sich in den Sattel und verließ Louisiana, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Eine ungleich wichtigere Aufgabe harrte seiner. Seit 136 Jahren.
* »Doch nicht alle, die in dieser Nacht in die Sümpfe getrieben worden waren …«, kam Zefrem allmählich zum Ende … … waren nicht des Todes. Denn der Tod hielt sie längst in seinen Fängen. Zu sterben war ihnen nicht vergönnt, nicht auf diese Weise jedenfalls. Und so waren sie zum Leben verflucht. Denn ihre Häscher hatten ihnen, unbewußt, in die Tiefe mitgegeben, was sie am Leben hielt. Blut. In reichlichem Maße floß es in den Leibern jener, die noch nicht vom Keim befallen waren. Und der Sumpf konservierte ihre Körper, ließ nicht zu, daß sie zu Staub zerfielen und mit ihnen das belebende Elixier der Untoten. Seltsame Dinge nahmen ihren Lauf in den Tiefen. Blut strömte auf unergründlichen Wegen hin zu jenen, die danach verlangten, obwohl sie sich dem unheiligen Trunk lieber verweigert
hätten, um zwar qualvoll, aber immerhin doch endlich krepieren zu dürfen. Doch etwas ließ nicht zu, daß es dazu kam. Jemandes Macht. Jemand, der seine Dienerarmee bereithielt für eine Zeit, die irgendwann kommen mußte …
* »… für die Zeit seiner Rückkehr«, schloß Zefrem. Schweigen füllte die Hütte in den Sümpfen, stieg wie eine feste Substanz darin an und legte sich schwer zwischen den Alten und den Jungen. Irgendwann, nach fast atemlosen Minuten, brach Levar die Stille. »Woher kennst du all diese Geschichten?« fragte er den Alten, dessen zerfurchtes Gesicht von barmherzigem Dunkel den Blicken des Knaben nahezu entzogen wurde. Zefrems Lächeln konnte Levar nur erahnen. »Du weißt es längst«, kam flüsternd die Antwort. Der Junge sandte ein Lächeln zurück in das Halbdunkel. »Agamemnons wahrer Name ist …«, sagte er, das Ende bewußt offenlassend und doch aussprechend, als stummen Gedanken. Zefrem nickte. »So ist es. Und seit weit über hundert Jahren sitze ich hier und halte stumme Zwiesprache mit meinem Herrn in der Tiefe. Zeit genug, um sich so manches zusammenzureimen.« Er richtete sich in seinem Stuhl auf. »Nun zahle den Preis für die Nacht der Geschichten, mein kleiner Freund.« Levar nickte, beugte den Kopf zurück, daß sich die dunkle Haut über seiner Kehle spannte – und Zefrem seine fast fingerlangen Augzähne hineintreiben konnte. Eine halbe Minute lang waren das Schmatzen und Schlürfen eines
uralten Mannes die einzigen Geräusche. Levar hielt still, ohne einen Laut von sich zu geben. Es tat nicht weh. Nicht wirklich und vor allem – nicht mehr … »Das genügt«, sagte Zefrem, als er sich wieder in die dunkelsten Schatten zurückzog. »Ich danke dir.« Der Junge nickte nur, während er mit den Fingern über die Bißmale fuhr, die schon jetzt von verkrustetem Blut verschlossen waren. »Du wolltest mir ebenfalls etwas erzählen«, erinnerte Zefrem seinen kleinen Besucher. »Ach ja!« sagte Levar. Im Bann von Zefrems Geschichten vergaß er jedesmal wieder die Welt und alles andere. »Nun?« »In der Gegend hier«, begann Levar geheimnisvoll und wichtig in einem, »wollen Petroleum- und Chemiekonzerne neue Werke bauen. Dazu werden sie …« Er setzte eine dramaturgische Pause, lächelte unergründlich. »… die Sümpfe trockenlegen«, beendete er den Satz schließlich. »Wann?« entfuhr es Zefrem. »Sie haben schon damit begonnen«, erklärte der Junge. Zefrem schwieg, fast eine Minute lang. Eine Minute, in der seine dunklen Augen auf eine Weise zu funkeln begannen, die Levar nie zuvor bemerkt hatte. Als füllten sie sich mit neuem Leben – oder mindestens doch mit neuer Hoffnung. »Weißt du, was das bedeutet?« fragte der Alte dann. Der Junge nickte stumm. »Die Zeit der Rückkehr ist nahe«, sagte Zefrem. Er stand auf, trat ans Fenster und sah hinaus. »Der Herr wird kommen …«
* Gegenwart
Lilith Eden fühlte sich wie in einem endlosen Traum gefangen. Nur war sie sich nicht sicher, ob es sich um einen von der angenehmen Art oder um einen Alptraum handelte. Denn die Halbvampirin lag nicht allein im Bett. Sie teilte es mit – – Beth MacKinsay! Beth, die Reporterin des Sydney Morning Herald. Beth, die beinahe zwei Jahre lang mehr als nur Liliths Freundin gewesen war. Mit der sie Freud und Leid geteilt hatte (nun, mehr Leid als Freud, revidierte sich die Halbvampirin). Bis Lilith vollends unter den Einfluß des Lilienkelches geraten war. Und Beth MacKinsay getötet hatte, indem sie ihr eigenhändig den Hals umdrehte. Damals, am Anfang jenes Korridors durch die Zeit in Uruk …* An dieser Schuld hatte Lilith schwer zu tragen. Am schwersten vielleicht von allem, was sie an Schuld auf sich geladen hatte, als sie im Bann Felidaes und der Ur-Lilith gestanden hatte. Beth MacKinsay verfolgte die Halbvampirin. Nicht nur in den Nächten und Träumen, in denen ihr die Reporterin die Tat einmal verzieh, um sie beim nächsten »Wiedersehen« dafür zu verfluchen. Manchmal glaubte Lilith die frühere Lebensgefährtin auch bei Tage zu sehen, wenn sie hellwach war. Auf dem Airport von Los Angeles war es wieder geschehen. Nach ihrer Rückkehr aus Al’Thera, der Stadt der Vampire, hatte Lilith L. A. verlassen wollen, um sich irgendwo von den kräftezehrenden vergangenen Wochen zu erholen. Für eine Weile wenigstens. Sie hatte sich auf der riesigen Anzeigentafel, die von der Decke der Wartetafel hing, über die bevorstehenden Abflüge informiert, als sie an einem der Check-in-Schalter die Frau mit dem kurzen Haar gesehen hatte. Selbst durch das Kostüm hindurch hatte Lilith die kna*siehe VAMPIRA 46: »Der bittere Kelch«
benhaft schlanke Figur der anderen erkennen können, und eine sehr bestimmte Erinnerung, die mit bitterer Wehmut einherging, war aus dunklen Winkeln ihres Denkens hervorgekrochen. Dann hatte die Frau sich umgedreht. Und Lilith fühlte sich eine geschlagene Minute lang unfähig, auch nur den kleinen Fingern zu rühren! Das Gesicht, dieses Gesicht … Es war das Gesicht Beth MacKinsays! Die Linien darin mochten ein klein wenig tiefer sein als bei ihrer im Wortsinn letzten Begegnung. Aber war das nicht verständlich – nach allem, was …? Nein, es war nicht verständlich. Es war unmöglich! Beth MacKinsay war tot. Tot! TOT! Und doch … Als Lilith endlich wieder fähig war, sich zu bewegen und auch nur einen klaren Gedanken zu fassen, war die andere verschwunden. Lilith hielt sich nicht lange mit der Suche nach ihr auf. Statt dessen eilte sie zu dem Schalter hinüber, an dem Beth (?) eingecheckt hatte. Der uniformierten Lady dahinter, die schätzungsweise die Hälfte ihres Monatsgehaltes der Avon-Beraterin zukommen ließ, die entsprechenden Informationen – »Name und Zielflughafen der Frau mit den kurzen Haaren, die gerade hier war! Schnell!« – zu entlocken, war eine Sache des Augenblicks – was durchaus wörtlich zu nehmen war. »Patsy Keenlan«, antwortete die Schalterdame bereitwillig, wenn auch verwirrten Blickes. »Sie fliegt mit der 15-Uhr-Maschine nach …« »Ich brauche ein Ticket für diesen Flug!« schnappte Lilith. »Dort drüben.«
Die Halbvampirin rannte zum Ticket-Verkauf. Patsy Keenlan … Beth hatte ein neues Leben begonnen. Unter neuem Namen. Damit die Geister der Vergangenheit sie nicht aufspüren konnten. »Patsy Keenlan – Beth MacKinsay …«, flüsterte Lilith halblaut vor sich hin. Der Klang der Namen war ähnlich. So ganz schien Beth doch nicht von dem lassen zu wollen, was früher gewesen war … Ihr Ticket bezahlte Lilith mit den Seiten einer Sicherheitsbroschüre, die sie aus einem Info-Ständer genommen hatte. »Achthundert, neunhundert. Bitte sehr!« zählte sie die herausgetrennten, etwa dollarnotengroßen Seiten hin. Das Mädchen hinter dem Tresen bedankte sich freundlich und mit glasigem Blick und wünschte einen guten Flug, während es die Broschürenteile einstreifte und zu einem ordentlichen Bündelchen zurechtstauchte. Lilith ging als letzte an Bord des Flugzeuges. Alles andere denn unauffällig schaute sie sich um. Um Vorsicht oder wenigstens Taktgefühl walten zu lassen, war sie viel zu aufgewühlt. In ihr tobte ein Orkan von Emotionen, und er wuchs über alle jemals gemessenen Windstärken hinaus, als sie Beth MacKinsay (Patsy Keenlan! schrie eine untergehende Stimme in ihr) im hinteren Bereich der Maschine sitzen sah. Ihr eigener Platz lag ein paar Reihen weiter vorn. Den Sessel neben Beth zu bekommen, kostete Lilith nicht sehr viel mehr als einen Wimpernschlag. »Hallo.« Das Wort rang sich als kaum verständliches Krächzen aus ihrer Kehle. »Hallo«, erwiderte – – Beth MacKinsay?
* In den Sümpfen südlich von New Orleans Seit vielen tausend Jahren hatte sich in den Sümpfen nichts verändert. Nichts zumindest, was nicht Mutter Natur selbst in die Wege geleitet hätte. Jetzt war binnen weniger Tage alles anders geworden. Von Menschenhand angelegte Kanäle zogen sich kreuz und quer durch die Landschaft. Surrende Pumpen speisten sie mit schlammigem Wasser, das in den Lac Des Allemands eingeleitet wurde und den See in ein tief schwarzes Loch verwandelte. Gewaltige Bagger halfen dort nach, wo die Pumpen nichts ausrichteten. Lastwagen brachten unzählige Tonnen triefender Erde fort und luden sie im Mississippi ab – wovon freilich niemand etwas wußte, offiziell natürlich. Die Sümpfe zwischen Kraemer und New Orleans wurden trockengelegt, Stück um Stück. Entlang des Highways 90 sollten die Lücken zwischen bestehenden Chemiefabriken und Ölraffinerien geschlossen werden. Bohrlöcher würden das Land perforieren, Deiche würden Grenzen sein, in einem Lebensraum, der grenzenlos sein sollte. Aus Abwasserrohren und Schloten würde tonnenweise Gift dringen und das, was in den Sumpfgebieten dann noch lebte, töten. Zuvor jedoch würde der Tod aus den Sümpfen kommen …
* Die Nacht schwirrte von Geräuschen. Zikaden zirpten, hier und da klang der Ruf eines einsamen Vogels auf, fand dutzendfache Echos in den Antworten von Artgenossen – und dazwischen mischte sich eine Vielzahl von Geräuschen, deren
Quelle Lucas Wade nicht kannte. Er hatte sich nie sonderlich für Flora und Fauna interessiert; ein Naturbursche war er trotz seiner kernigen Erscheinung nicht. Daß ausgerechnet er eine Nacht in den Sümpfen verbrachte, schien ihm selbst wie der höhnische Dreh eines nicht sehr wohlmeinenden Schicksals. »Verdammt!« Seine Hand traf klatschend seinen breiten Stiernacken und zerquetschte zielsicher den hundertsten Moskito – vielleicht war es auch schon der tausendste. Und natürlich hatte ihm auch dieses Biest den Rüssel längst ins Blut getaucht, ehe Wade den zermanschten Insektenleib im eigenen baden ließ. Diese heimtückischen Attacken aus dem Unsichtbaren war einer von einer Million Gründen, weshalb Lucas Wade ein Leben im Betondschungel der Großstadt dem in freier Natur oder auch nur auf dem Lande vorzog. Leider kostete das Leben in den Metropolen seinen Preis, und um den zu bezahlen, konnte Wade in schlechten Zeiten wie diesen nicht umhin, jeden Job anzunehmen, der ihm angeboten wurde. So auch den jenes Unternehmens, das seit Tagen damit befaßt war, weite Sumpfgebiete südlich von New Orleans trockenzulegen, damit Großkonzerne neue Werke aus dem festen Boden stampfen konnten. Was nichts daran änderte, daß der Job Lucas Wade ankotzte. Weil er langweilig war. Besonders jener Teil davon, zu dem man ihn heute nacht verdonnert hatte. Wache schieben. Auf den Maschinen- und Fuhrpark des Unternehmens aufpassen, damit niemand sich daran vergriff. Wade ging ein paar Schritte, als ihm die Füße einzuschlafen drohten. Die Pumpen und anderen Gerätschaften und Arbeitsfahrzeuge waren monströse Schatten in der Nacht. Von ihnen schien aber auch
schon die einzige »Bedrohung« auszugehen. Sonst war weder etwas zu sehen noch zu hören, das nicht hierher gehört hätte. Soweit Wade das in seiner Unkenntnis dieses Landes beurteilen konnte … Natürlich wußte er, daß das nicht so bleiben mußte. Es war ja nun so, daß er völlig grundlos dazu verdonnert worden war, auf das ganze Zeug hier achtzugeben. Denn die Trockenlegungspläne und erst recht der Beginn der Aktion hatten jene auf den Plan gerufen, die immer dann auftauchten und Alarm schlugen, wenn es Mutter Natur irgendwo auf der Welt an den Kragen ging. Umweltschützer. »Pah.« Wade spuckte verächtlich aus. Selbsternannte Weltverbesserer waren diese Typen in seinen Augen, die nichts anderes zu tun hatte, als anderer Leute Arbeit zu sabotieren. Und in diesem Fall hatten sie es mit einer ganz besonders üblen Abart dieser Spezies zu tun. Die Jungs von »Greenpeace« waren Waisenknaben gegen diese Leute. Denn sie beschränkten ihren Protest nicht auf spektakuläre Aktionen und rege Öffentlichkeitsarbeit, sondern griffen auch schon mal zu rabiateren Mitteln und gingen, wenn alles andere nichts nützte, bis zum Äußersten. Drüben in South Carolina hatte es vor knapp zwei Jahren bei einer ähnlichen Aktion Tote gegeben … Lucas Wade schloß die Fäuste fester um seine Pump-Gun. Sollten sie es ruhig wagen, aus ihren Löchern zu kriechen … Er ließ den Blick schweifen, aufmerksamer diesmal als zuvor. Im fahlen Mondlicht, das der Nebel noch filterte, sah er die Fortschritte ihrer Arbeit der vergangenen Tage. Gräben, an deren Seiten sich Erdreich türmte, zogen sich wie tiefe Wunden durch das Land, soweit sein Auge reichte. Und dann – verstummte die Nacht plötzlich. Von einer Sekunde zur anderen. Als hätte jemand ein Tonbandge-
rät abgeschaltet. »Was …?« entfuhr es Wade heiser. Der Lauf seiner Waffe beschrieb den Kreis mit, den er mit Blicken zog. Nichts. Keine Bewegung. Keine Geräusche. Oder? Wasser plätscherte. Das war nicht ungewöhnlich hier draußen. Nur die Art und Weise, wie es klang – war … Ja, wie? Wade überlegte, suchte nach einem Vergleich. Als würde etwas durch das Wasser bewegt oder selbst hindurch waten, mit schweren, mühevollen Schritten und … … ächzend und stöhnend? Lucas Wade lud die Pump-Gun durch! Die Geräusche wurden lauter und auf schwer zu beschreibende Weise wirklicher. Er hatte sich nicht getäuscht. Jemand kam, und er kam näher. Wades Wangenmuskeln zuckten heftig. Nein, das war keine einzelne Person, die er da durchs Wasser waten und schaurige Laute ausstoßen hörte. Verflucht, was trieben die Typen für ein Scheißspiel mit ihm? Wade ging ein paar Schritte in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. »Kommt raus, ihr Ratten!« rief er, nicht halb so energisch, wie er es gerne getan hätte. Etwas lag bleischwer auf seinen Stimmbändern, machte ihm das Sprechen zur Anstrengung. Verdammt, er hatte doch keine Angst! Nicht vor ein paar arbeitsscheuen Elementen! Er stapfte weiter. Und blieb dann stehen, so unvermittelt, als wäre die Luft vor ihm zu dickem Panzerglas geworden. Er sah, wer da durchs Wasser ging. Vier Gestalten zählte er: zwei größere, zwei kleinere. Zwei Erwachsene und – zwei Kinder?
»Meine Fresse, schreckt ihr denn …«, begann er angewidert und brach ab. … vor gar nichts zurück? hatte er eigentlich fragen wollen. Doch er vergaß die Worte. Als er feststellte, daß die Sache hier ganz und gar nicht so lief, wie er geglaubt hatte. Diese Gestalten da, die gehörten nicht zu den Umweltschützern. Sie schienen ja nicht einmal – – Menschen zu sein? »Was für eine Scheiße!« brüllte Wade. Er reckte die Waffe vor. Die anderen blieben völlig unbeeindruckt von seiner Drohgebärde. Schritt um Schritt wateten sie weiter durch das nur kniehohe Wasser, hielten mit pendelnden Armen das Gleichgewicht auf dem schwammigen Untergrund. Eine stinkende Wolke wehte ihnen voran. Sie schlug Lucas Wade entgegen und nahm ihm den Atem. Wenn der Gestank von den Gestalten ausging, dann mußten sie eine unglaublich lange Zeit im Sumpf zugebracht haben. Dazu hätte auch ihr Äußeres gepaßt. Schlammtriefend war ihre Haut, die nur an vereinzelten Stellen wachsbleich durch den Dreck leuchtete, abgerissen ihre Kleidung. Und unheilvoll glosend ihre Augen, die doch seltsam starr und – tot wirkten. »Wer seid ihr?« schrie Lucas Wade. Nur schreckenkündendes Schweigen schlug ihm entgegen. Die vier Kreaturen verließen das Wasser, doch sie blieben nicht stehen, gingen weiter auf Wade zu. »Bleibt stehen, verdammt!« warnte er sie. Er hätte sich die Worte sparen können. Dafür erfuhr er Augenblicke später, wer – vielmehr was – die Gestalten waren. Wenn er zu glauben bereit gewesen wäre, was seine Augen sahen. Sie öffneten ihre schlammumkrusteten Mäuler, bleckten die Zähne – dornenspitze Hauer!
Und dann waren sie da, bereit, sich auf Lucas Wade zu stürzen. Er drückte ab. Der Schuß rollte wie Donner durch die Nacht. Schlamm und etwas anderes – das nicht Blut war, wie Wade mit seltsamer Klarheit erkannte – spritzten auf, als die Frau zwei Schritte zurücktaumelte, ohne zu fallen oder gar zu sterben, wie es sich nach einem solchen Treffer in die Brust gehört hätte. Sie rückte wieder vor. Die zweite Kugel schlug in den Körper des Mannes ein. Doch auch er reagierte darauf nur mit zwei Schritten, um die Wucht des Einschlags auszugleichen. Zu einem dritten Schuß kam Lucas Wade nicht mehr. Gleichzeitig fielen die vier Kreaturen über ihn her. Beißender Schmerz setzte seinen Körper an mehreren Stellen zugleich in Brand. Verzehrendes Feuer floß durch seine Adern, dörrte sie aus. Sein Herz hörte auf zu schlagen, weil es nichts mehr gab, was es durch den Körper hätte pumpen können. Die Unheimlichen richteten sich auf. »Kommt. Das Leben wartet«, sagte Frank Shaugnessy und führte seine Frau und die beiden Kinder in die erste Nacht seit 134 Jahren, in der sie wirklich wieder zusammen waren. Wie eine Familie es sein mußte.
* Sie waren im Laufe vieler Jahrzehnte eins geworden mit den Sümpfen. Die Tiefe war vom Kerker zum Lebensraum mutiert, in dem kein Mangel herrschte an dem, was ihre Existenz sicherte. Und doch lebten sie nicht. Sie vegetierten dahin, so wie ein Mensch, der nichts anderes tat, als Nahrung aufzunehmen, nur um nicht zu sterben. Ihr Herr, dessen Keim in ihrer aller Adern war, wußte dies ebenso wie sie selbst. Doch die Hoffnung, daß irgendwann eine Zeit kom-
men würde, für die es das untote Leben auf diese Weise zu erhalten lohnte, diese Hoffnung hegte der Vampir allein. Bisher. Seit kurzem teilten andere sie. Seit Beben durch die Sümpfe liefen, Geräusche selbst in jene Tiefe drangen, in die sie verdammt waren. Etwas geschah, veränderte sich. Der Sumpf veränderte sich. Die Fesseln aus Schlamm und Morast, die sie seit nahezu 150 Jahren banden und ihnen nur geringe Bewegungen erlaubt hatten, lockerten sich … … und lösten sich schließlich. Die vermeintlich Toten erhoben sich aus nassen Gräbern und schlammigen Pfuhlen. Sie kehrten zurück in die Welt über den Sümpfen, um sich im Reich der Lebenden zu holen, was sie jahrelang und in rationierter Form von Leichnamen hatten nehmen müssen, die in der Tiefe die Zeit überdauert hatten. Von den ehemals Hunderten von Menschen – Dienerkreaturen! – waren nur wenige Dutzend übrig geblieben. Viele hatte der Sumpf hinabgezogen in den endgültigen Tod, hatte sie zerquetscht und zersetzt und eins werden lassen mit dem Morast – vor allem jene, die sich selbst aufgaben und die Vernichtung ihrer verderbten Existenz herbeisehnten. Guillaume hatte sich bemüht, so viele wie möglich vor dem Ende zu bewahren, indem er Zwiesprache mit ihnen hielt, ihnen Hoffnung machte und einen Teil seiner Kraft auf seine Diener übertrug. Doch er mußte haushalten damit, und so waren im Laufe der Jahrzehnte mehr und mehr seiner Diener dem Zerfall anheim gefallen. Als Guillaumes Dienerheer losmarschierte, um fortzusetzen, was vor 134 Jahren in einer einzigen Nacht ein jähes Ende gefunden hatte, waren es noch gut vierzig Kreaturen. Auch der Vampir selbst kroch aus dem brackigen Wasser, als sich der Griff des Sumpfes endlich gelöst hatte.
Er hatte kaum weniger gedarbt als seine Kreaturen. Nur hatte er es eher hingenommen. Weil er wußte, daß seine Zeit irgendwann kommen würde. Während jene, die sein Biß zu dem gemacht hatte, was sie waren, sich nicht damit abfinden wollten, ihr gerade erst neugewonnenes Leben auf solch unwürdige Weise zu fristen. Das Warten und sein Wirken zu ihrem Wohle hatte sich für die »Überlebenden« gelohnt. Sie waren zurück. Guillaume begleitete seine jenseitige Armee, denn sie hatten das gleiche Ziel. Richtung New Orleans, bis sie auf erste Menschen stießen, auf frisches Blut, das ihre morschen Körper neu beleben würde. Wahrscheinlich war es nicht notwendig, bis in die Stadt selbst vorzudringen. Das wäre in ihrer jetzigen Verfassung auch fatal gewesen. Regte sich Abwehr, würden sie ihr kaum widerstehen können. Noch waren sie zu schwach, um den Krieg zu beginnen. Doch während sich seine Diener also auf die Vororte der Millionenstadt beschränken würden, wo sie rasch zuschlagen konnten, ohne große Aufmerksamkeit zu erregen, verfolgte Guillaume ein anderes Ziel – mitten in der Stadt. Denn er hatte etwas zu erledigen. Jemanden! 134 Jahre waren für einen Vampir nicht lange genug, um etwas in Vergessenheit geraten zu lassen. Zumal dann nicht, wenn er so überreichlich Muße zum Nachdenken fand wie Guillaume.
* Die Rückkehr der Verlorenen ging nicht unbemerkt vonstatten. Zwei dunkle Augenpaare beobachteten aus sicherer Entfernung, was aus den Sümpfen kroch. Aus jedem Tümpel und Loch kamen sie hervor – triefende Gestalten mit seltsam glosenden Augen, die Haut vollgesogen mit fauliger
Nässe, deren Gestank bis zu den beiden Zuschauern herübertrieb, die Brandungswelle einer Flut längst toter Leiber. »Ist er dabei?« Levar wandte, auf dem Bauch liegend, den Kopf und sah Zefrem fragend an. Der Alte nickte. »Ich sehe ihn.« »Dann geh hin zu ihm, zu deinem Herrn«, sagte Levar ermutigend. »Du wartest seit vielen Jahren darauf. Jetzt kannst du es.« Zefrem schwieg. Es war seltsam. Der Junge hatte recht, auch wenn er sein Wissen nur von Zefrem selbst bezogen hatte. In all der langen Zeit hatte er sich nichts sehnlicher gewünscht, als daß der stummen Zwiesprache mit seinem in sumpfiger Tiefe gefangenen Herrn endlich ein persönlicher Kontakt folgen mochte. Und nun, da er die Möglichkeit dazu hatte, wollte er es nicht mehr. Nicht wirklich jedenfalls. Zefrem wußte, woher der plötzliche Gesinnungswandel rührte. Seine »Brüder und Schwestern« waren der Grund. Sie waren so – anders als er selbst. Er konnte ihren Zorn spüren, ihre Gier und Wildheit, die sie Tieren ähnlich machte. Alles Emotionen, die er im Laufe der endlosen Jahre nie entwickelt hatte. Er hatte sich, hier oben auf sich selbst gestellt, mit den Dingen und dem Leben arrangiert. Er lebte – friedlich. Und zufrieden. Bis heute. Denn diese Nacht, das wußte er, konnte sein Leben grundlegend verändern. Weil er nicht mehr allein, nicht mehr der einzige war. Andere wie er, die ihm in ihrem Wesen doch völlig fremd waren, waren in sein Reich gekommen. Sie würden es mit Zefrem teilen wollen. So er bereit war, sich ihnen anzugleichen. Andernfalls würden sie es ihm streitig machen. Zweifelsohne mit Erfolg …
»Was ist?« drängte sein junger Freund. »Laß uns ihnen folgen«, sagte der Alte. »Was – nur folgen?« hakte Levar nach. Zefrem nickte und erhob sich. Als die letzten der Sumpfkreaturen in der Nacht verschwunden waren – weit weniger, als Levar erwartet hatte –, liefen der uralte Untote und sein kleiner Freund los. Zefrem glaubte die Schrecken, denen sie entgegen gingen, erahnen zu können. Doch er irrte sich. Er konnte es nicht.
* Der Sturm in Lilith verebbte von einer Sekunde zur anderen. In genau dem Moment, da sie den Blick zur Seite wandte und die Frau mit dem kurzen Haar zum ersten Mal richtig und länger als nur für eine Sekunde ansah – und schließlich anstarrte. So lange, bis auch die andere Frau den Kopf drehte. Die Frau – die nicht Beth MacKinsay war. Sondern Patsy Keenlan. Lilith glaubte zu spüren, wie all ihre Kraft in ein endlos tiefes Loch gesogen wurde, das sich schlagartig in ihrem tiefsten Inneren aufgetan hatte und rasend schnell zu immenser Größe wuchs. Närrin! brüllte jene Stimme in ihr, die sie vorhin so mühelos ignoriert hatte und die jetzt laut wie ein Paukenschlag von innen gegen ihre Ohren anbrandete. »Ist irgend etwas? Ist Ihnen nicht gut?« Patsy Keenlans Stimme hatte keine Ähnlichkeit mit der von Beth MacKinsay. Sie war tiefer, rauchig – sinnlich. Liliths Züge gerannen zu einer Grimasse aus Enttäuschung, Scham und Bitternis. »Es tut mir leid«, flüsterte sie.
»Was?« »Nichts, schon gut«, wehrte Lilith ab und fügte dann doch hinzu: »Ich habe sie mit jemandem verwechselt. Entschuldigen Sie.« »Dafür brauchen Sie sich doch nicht entschuldigen«, meinte Patsy Keenlan. Lilith sah starr nach vorne. Wenn du wüßtest … »Wohin fliegen wir eigentlich?« fragte sie dann lahm. »Bitte?« Lilith wiederholte ihre Frage und merkte erst dabei, wie albern sie war: Sie saß in einem startenden Flugzeug und gab vor, nicht zu wissen, wohin sie unterwegs war … »Nach New Orleans«, antwortete Patsy Keenlan verwirrt. Daß sie in ihrem Sitz zur Seite rückte, als wollte sie eine möglichst große Distanz zwischen sich und die seltsame Schwarzhaarige auf dem Nebenplatz bringen, mochte unbewußt geschehen. Aber Lilith fühlte sich dadurch noch ein bißchen elender, als sie es ohnehin schon tat. Es war trotzdem noch ein angenehmer Flug geworden. Weil Patsy Keenlan das Schweigen, das zwischen ihr und der merkwürdigen Fremden wie eine Mauer stand, unangenehm geworden war und sie den ersten Schritt unternommen hatte, diese unsichtbare Wand zu durchbrechen. Auch die Hemmung, die von der seltsam düsteren Ausstrahlung der anderen verursacht wurde (und das lag nicht allein daran, daß sie ganz in Schwarz gekleidet war), überwand sie, als sie sagte: »Mein Name ist Patsy Keenlan.« Lilith nickt und verkniff sich ihr »Ich weiß« gerade noch. »Lilith Eden.« »Ein selt…ener Name«, meinte Patsy. Ihr Zögern entging der Halbvampirin nicht. Ein schwaches Lächeln bewegte ihre vollen Lippen. »Seltsam … ich weiß«, seufzte sie.
»Mit wem haben Sie mich denn verwechselt?« wollte Patsy wissen, um die Unterhaltung in Fluß zu halten. »Mit einer alten Freundin …« Das Gespräch plätscherte dahin und geriet allmählich in tieferes Fahrwasser. Lilith hatte Mühe, von sich zu erzählen, ohne etwas zu sagen, das Patsy Keenlan dazu veranlassen konnte, das Bordpersonal zu bitten, die Spinnerin doch bitteschön aus der Maschine zu schmeißen – ohne Fallschirm, wenn’s ginge. Daß Lilith ein solcher Rauswurf nicht gefährlich werden konnte, zählte beispielsweise zu den Dingen, die sie für sich behalten mußte. Und mit normalem Gesprächsstoff (Geburtsdatum, Schule, erste Ehe, letzte Scheidung und so weiter) konnte die hunderteinhalb-jährige Halbvampirin kaum aufwarten. Dafür erfuhr sie viel über Patsy Keenlan. Unter anderem, daß sie Beth MacKinsay über die Optik hinaus noch in einem anderen Punkt ähnelte. Eine Ähnlichkeit, die nach der Landung in New Orleans dazu geführt hatte, daß Patsy die Reservierung ihres Einzelzimmers im Hotel »Maison De Ville« in die Belegung eines Doppelzimmers änderte. Und in der Folge dazu, daß Lilith nun das Bett in eben diesem Zimmer mit ihr teilte … Patsy schlief. Lilith beobachtete sie, den Kopf auf die Hand gestützt, und konnte nicht verhindern, daß ihre Gedanken sich verselbständigten, zurückeilten in jene Zeit, die nicht wirklich besser, sondern nur anders gewesen war – die Zeit, die sie mit Beth verbracht hatte … Schlafend hatte Patsy Keenlan noch mehr Ähnlichkeit mit Beth MacKinsay. Was dem Schlaf vorausgegangen war, hatte jedoch nur von der Sache her mit dem zu tun, was Lilith und Beth gemeinsam erlebt und einander hatten erleben lassen. Mit Patsy war es anders gewesen. Nicht schöner, aber gut, großartig. Sie hatte die Halbvampirin Dinge gelehrt, auf die sie mit Beth
nicht gekommen war. Sie hatte Erregung erfahren, die keiner Berührung bedurfte, und vieles mehr. Doch auch Lilith hatte Facetten der Liebe gekannt, die für Patsy neues Terrain gewesen waren und auf das sie sich von ihr hatte führen lassen. Das Aroma ihrer Leidenschaft schwebte noch in der Luft, und Lilith genoß es, sich daran zu berauschen. Innere Feuer, die nach Stunden niedergebrannt waren, begannen wieder aufzuflackern. Patsy räkelte sich, schnurrte wie ein Kätzchen und schmiegte sich wie ein solches enger an Liliths samtigen Körper, der nackt war bis auf einen schwarzen Gürtel um ihre bestens proportionierten Hüften. Zum ersten Mal seit ihrer Rückkehr vom Anfang der Zeit war Lilith wirklich froh darüber, sich nicht mehr von menschlichem Blut nähren zu müssen. Jeder Biß war mit dem Gefühl einhergegangen, jene, die sich ihr zugetan fühlten, rücksichtslos auszunutzen. Es tat so gut, einfach nur lieben zu dürfen, bedingungslos und ohne Gewissensnöte. Nur der Symbiont lebte jetzt von menschlichem Blut. Auch an Patsy hatte er sich schon »gelabt«, hatte haarfeine Tentakel in ihren Körper gebohrt, doch sie hatte es im Eifer des »Gefechtes« nicht einmal gespürt … »Mmmh, ich freue mich auf den heutigen Tag«, maunzte sie jetzt. »Mardi Gras …« »Mardi Gras?« fragte Lilith verwirrt. »Mardi Gras«, wiederholte Patsy. »Französisch für ›fetter Dienstag‹, der Höhepunkt im Carnival in New Orleans. Sag bloß, du bist aus einem anderen Grund hierher gekommen als zu feiern?« Lilith schüttelte automatisch den Kopf. »Nein, natürlich nicht.« Was durchaus der Wahrheit entsprach. Sie hatte irgendwohin gewollt, um sich zu erholen und auszuspannen.
Warum also nicht beim Mardi Gras, am »fetten Dienstag«?
* Der Frühstückssaal des »Maison De Ville«, einem der ältesten Hotels im French Quarter und an der Toulouse Street gelegen, war brechend voll. »Um den Mardi Gras zu feiern, kommen in den Tagen davor rund zweihunderttausend Touristen aus aller Welt nach New Orleans«, interpretierte Patsy Keenlan das Staunen im Blick der grünen Augen der Halbvampirin richtig. Ein älteres Ehepaar stand gerade von einem Zweiertisch auf. Sie nickten den beiden jungen (nun, Lilith sah nur jung aus) Frauen grüßend zu, als die lächelnd die beiden frei gewordenen Stühle besetzten. »Viel Spaß heute!« wünschte der Mann im Weggehen. »Den hatten wir schon«, konnte Patsy sich nicht verkneifen zu erwidern. Sowohl die betagte Lady als auch ihr Gatte blinzelten zurück. Wer zum Carnival nach New Orleans kam, war nicht prüde … Während Lilith der herbeigeeilten Service-Maid die benutzten Gedecke zuschob, griff Patsy zu der Morgenzeitung, die zusammengefaltet auf dem Tisch lag. Ihr Blick ging über die erste Seite. »Ach du lieber Gott!« Lilith sah zu Patsy hin. Den Gedanken »Von wegen lieber Gott …« vergaß sie, kaum daß er sich ihr aufgedrängt hatte. »Was ist?« Wortlos hielt Patsy ihr die Zeitung hin. Lilith nahm sie und wußte schon, worum es ging, kaum daß ihr die 72-Punkt-Schlagzeile ins Auge gesprungen war. BLUTBAD IN NEW ORLEANS Lilith hätte sich selbst ohrfeigen mögen!
Wie hatte sie nur nicht daran denken können? Wie hatte sie vergessen können, weswegen sie überhaupt noch leben durfte – oder mußte …? Wie hatte sie glauben können, irgendwo auf der Welt Ruhe und Erholung zu finden, solange es sie noch gab? Die Vampirsippe von New Orleans mußte für das Massaker, von dem hier berichtet wurde, verantwortlich sein. In blutige Raserei verfallen wie alle Clans der Alten Rasse rund um den Globus, mußten sie mordend über die Stadt hergefallen sein, um ihrem unbändig gewordenen Trieb wahllos nachzugeben, nicht länger darauf bedacht, aus dem Geheimen heraus zuzuschlagen, wie es bislang gewesen war und was den Bestand von Liliths Stiefvolk seit dem Anbeginn allen Lebens gesichert hatte. Lilith las den Artikel. Und tat es noch einmal. Die Schlagzeile war – wie bei solcher Größe meist der Fall – übertrieben. Der Artikel berichtete von einer marodierenden Bande von etwa fünfzig Gestalten, die über einen Vorort von New Orleans hergefallen und ein Massaker unter der Bevölkerung angerichtet hatten. Erste Spekulationen gingen in Richtung Satanssekte oder Rockerbande, die einem Blutrausch verfallen waren. Kein Wort über Vampire. Natürlich nicht. Doch etwas, das nicht ausdrücklich in dem Artikel stand, machte Lilith stutzig. Sie konnte es selbst für sich nicht in Worte fassen. Aber was da an »Fakten« in der Zeitung stand, klang nicht nach dem, was Lilith bislang mit der Raserei der Alten Rasse erlebt hatte. Daß die Mörder von zitierten Augenzeugen als »stinkende Kreaturen«, die angeblich aussahen, als hätten sie »hundert Jahre im Sumpf gelegen« beschrieben wurden, war noch das Offensichtlichste, worüber Liliths rasende Gedanken stolperten. Wohin die Meute sich nach vollbrachten Untaten zurückgezogen
hatte, wußte niemand. Einzelne wollten zwar gesehen haben, daß die »Killer« sich in Richtung Süden abgesetzt haben, aber dort gab es »nichts außer Sümpfen, nichts, wo man sich verstecken könnte«, hieß es in dem Bericht. Die örtliche Polizei sei überfordert gewesen, hatte ein anderer Schreiber in einem eilends hingeschmierten Kommentar angemerkt. Und er machte keinen Hehl daraus, daß er dies hauptsächlich auf die bevorstehenden Festivitäten zurückführte, zu deren Sicherung die meisten Einsatzkräfte bereits am Vorabend zusammengezogen worden waren. Pathetisch verlieh er seiner Hoffnung Ausdruck, »daß sich die Cops bis zur Rückkehr der ›mörderischen Horde‹ darauf eingestellt hätten, denn ›sonst gnade uns Gott!‹« Lilith lächelte bitter ob dieses Schlußsatzes. Doch das Lächeln gerann ihr auf den Lippen, als sie die gelesenen Worte mit dem in Zusammenhang brachte, was Patsy Keenlan vorhin erzählt hatte. Um den Mardi Gras zu feiern, kommen rund zweihunderttausend Touristen aus aller Welt nach New Orleans … Der Tisch war reich gedeckt für jene, die blutig zu speisen bevorzugten. Und der Begriff vom »fetten Dienstag« bekam für Lilith binnen einer Sekunde eine neue, schreckliche Bedeutung …
* Wenige Stunden zuvor Die erste Blutnacht von New Orleans ging zu Ende. Die Dienerkreaturen zogen sich dorthin zurück, woher sie gekommen waren – in das morastige Bett des Sumpfes. Ihre Bewegungen wirkten hölzern, als bereitete ihnen jeder Schritt größere Mühe als der vorherige. Der Schlamm, der die Körper der
Kreaturen umschloß wie eine zweite Haut, war grau geworden im Laufe der Nacht, platzte nun an vielen Stellen ab, wurde zu Staub – und gab rohes, totes Fleisch den Blicken preis. Darunter schimmerte das Grau längst morscher Knochen. »Warum tun sie das?« fragte Levar. Zefrem hörte die Worte des Jungen nicht. In seinem Schädel tobte ein Sturm, der all das, was er in dieser einen Nacht mitangesehen hatte, durcheinanderwirbelte. Splitter furchtbarer Bilder fügten sich zu neuen zusammen, eines grausamer als das andere. Zefrem wußte, daß er eigentlich Gefallen an jedem einzelnen hätte finden müssen. Wäre er so gewesen wie die anderen … Doch er war es nicht. Und wollte es nie werden! Er hatte jenes zweite Leben, das ihm vor weit über hundert Jahren aufgezwungen worden war, zu leben gelernt – auf seine ganz eigene Weise. Er hatte sich mit den Gegebenheiten arrangiert, auf eine Art, die er für angemessen hielt. Und es war gut so. Nichts sollte sich daran ändern. Er würde nicht mordend und Blut saufend durch Städte ziehen. Jene, die den Sümpfen entstiegen waren, unterschieden sich in ihrer Art und Gesinnung kaum von den Unmenschen, unter denen sein Volk damals zu leiden gehabt hatte … Zefrem würde sich nicht mit ihnen auf eine Stufe stellen. Er hatte die Shaugnessys gesehen heute nacht. Sie mußten damals von den Männern in die Sümpfe getrieben worden sein, bevor er selbst vom Tode auferstanden war. Damals … Damals hatte die Familie ihn aufgenommen, und Zefrem hatte diese Leute für die besten Menschen gehalten, denen er je begegnet war. Was hatte »der Herr« aus ihnen gemacht, was hatte er ihnen angetan? Der Vampir hatte sie zu Mördern gemacht. Zefrem hatte gesehen,
wie sie – Eltern und Kinder! – in eine Vorortkneipe eingedrungen waren, in der das Leben brodelte. Die Shaugnessys – oder vielmehr das, was in den Sümpfen aus ihnen geworden war – hatten Angst hineingetragen und den Tod hinterlassen … »Zefrem?« Eine kleine Hand rüttelte an seiner Schulter. Levar sah besorgt zu dem alten Mann auf. »Was?« fragte er, heftig blinzelnd, als könnte er die Bilder der Nacht damit auslöschen. »Warum kehren sie zurück in die Sümpfe?« wiederholte der Junge seine Frage, die er wohl schon einmal gestellt haben mußte. »Sieh sie dir an«, sagte Zefrem. »Sie zerfallen. Der Sumpf war nicht nur ihr Grab, er hielt sie auch am Leben. Und wenn sie überleben wollen, müssen sie sich wieder dem hingeben, was er ihnen angedeihen läßt.« »Wie Vampire, die bei Tageslicht zurück in ihre Särge müssen«, gab Levar eine Weisheit zum besten, die er in einem Film aufgeschnappt hatte. »Ja, so ungefähr«, erwiderte Zefrem. Er verzichtete darauf, ihm zu erklären, daß echte Vampire das Tageslicht nicht fürchten mußten, sondern nur deren Dienerkreaturen. Wenn auch Guillaume in gewisser Hinsicht eine Ausnahme zu verkörpern schien. Denn auch er, der Herr, mußte zurück in die Sümpfe, weil auch sein Leib zusehends verdorrte, nachdem er seinem feuchten Grab entronnen war. Sie hatten den Vampir eine Weile beobachtet, waren ihm nach New Orleans ins Vieux Carre gefolgt. Zefrem hatte ziemlich sicher gewußt, wessen Spur Guillaume aufzunehmen versucht hatte. Die Fährte Geromes, seines Sippenführers, von dem er sich losgesagt hatte und an dem zu rächen er sich geschworen hatte. Zefrem kannte seinen Herrn gut genug, um zu wissen, daß er die-
ses Versprechen einlösen würde. 134 Jahre gedanklicher Zwiesprache hatten ihn an fast jedem Gedanken des Vampirs teilhaben lassen. In einem vornehmen Bordell war der Vampir schließlich verschwunden, nachdem er sich verschiedentlich »umgehört« hatte – und zu schnell wieder herausgekommen, als daß seine Suche von Erfolg gekrönt sein konnte. Danach hatte Guillaume sich jenen Genüssen hingegeben, die seine Diener schon seit Erreichen der Ausläufer der Stadt pflegten. Mit dem Unterschied, daß der Vampir seinen Opfern den Hals brach, nachdem er ihre Adern leergesaugt hatte. Die Kreaturen konnten darauf verzichten, denn ihr Biß übertrug den Vampirkeim nicht. Zefrem und Levar hielten sich weit hinter den Untoten, unter denen sie auch Guillaume wußten. Niemand bemerkte sie, und irgendwann, die Sonne lugte gerade über die Dächer von New Orleans und trieb auch Zefrem zu seiner Hütte zurück, war auch die letzte Kreatur in schlammige Tiefen abgetaucht. »Was jetzt?« fragte Levar. Was er in der Nacht gesehen hatte, hatte auch in seinem jungen Gesicht Spuren hinterlassen. Doch seine kindliche Seele schien von einem geheimnisvollen Schild geschützt zu werden, so daß sie nicht an den Greueln zerbrechen konnte. Ein Vorrecht der Jugend, vermutete Zefrem wehmütig. Der Alte straffte die mageren Schultern. »Wir werden etwas gegen diese Brut unternehmen.« »Wir?« fragte der Junge erschrocken. »Wie sollen wir das tun? Und was sollen wir tun?« »Wir brauchen Hilfe«, erklärte Zefrem. »Wer sollte uns dabei helfen können? Du hast gesehen, wie machtlos selbst die Polizei diesen Typen gegenüber war …«, gab Levar aufgeregt zu bedenken. »Es gibt jemanden, der uns beistehen kann.« »Woher weißt du das?« fragte Levar.
Der Alte sah lächelnd auf seinen jungen Freund hinab. »Mein Junge, glaubst du denn, du wärst der einzige, der mich in einhundertvierunddreißig Jahren besucht hat?« fragte er. »Und auch manche dieser anderen Besucher hatten Geschichten zu erzählen …« Er holte einen langen schwarzen Mantel mit einer angenähten, weiten Kapuze aus einer Truhe und streifte ihn über. Dann wickelte er einen ebenfalls schwarzen Schal um sein Gesicht, so daß nur die Augen freiblieben, zog sich Handschuhe über und setzte zum Schluß eine dunkle Sonnenbrille auf. »Es ist lange her, seit ich das letztemal tagsüber in der Stadt war«, kommentierte er sein Tun. »Das Risiko ist einfach zu groß. Aber ich sehe keinen anderen Weg, wenn sich das Morden in der nächsten Nacht nicht wiederholen soll.« Damit faßte er Levar an der Hand. Seite an Seite kehrten sie zurück nach New Orleans.
* Gerome hätte manches Mal etwas darum gegeben, wäre ihm ein Blick in den Spiegel vergönnt gewesen. Doch dies war eine Gesetzmäßigkeit der Alten Rasse, die sich nicht einmal dann umgehen ließ, wenn man festen Willens war, die Regeln zu brechen. Im Laufe der Jahrhunderte hatte der Vampir deshalb gelernt, sein Gesicht mit den eigenen Finger »zu sehen«, in der Art eines Blinden. Jetzt tastete Gerome wieder einmal seine Züge ab, und sie waren längst nicht mehr jene des jungen Landadligen, als der er Anfang des 18. Jahrhunderts von Frankreich herüber in die Neue Welt gekommen war. Zu dem Gesicht eines alten Mannes waren Geromes Züge allerdings erst vor kurzem geworden. Als das »große Sterben« – wie er es jetzt, da es vorüber war, bei sich nannte – begonnen hatte. Er erinnerte sich noch, womit es begonnen hatte. Auf eigenartige,
aber doch harmlose Weise – wenn man sie in Relation zu den furchtbaren Folgen setzte … Eine Wolke wie aus purpurfarbenem Staub hatte ihn selbst aus dem Nichts getroffen und ihm das Bewußtsein geraubt. Er hatte keine Erklärung dafür gefunden, aber auch keine weiteren Auswirkungen feststellen können. Nicht an sich selbst zumindest … Wohl aber, im Laufe der nächsten Tage, bei den Angehörigen seiner Sippe, den Kindern seines schwarzen Blutes. Die Begegnung jedes einzelnen von ihnen mit ihm war zur letzten geworden. Denn danach überkam unstillbarer Blutdurst jene sechs, die die Zeit noch übriggelassen hatte. Sie begannen wahllos Opfer zu schlagen und leerzusaufen, doch nicht alles Blut der Welt konnte ihren körperlichen Verfall noch stoppen. Gerome hatte den Kodex der Alten Rasse gebrochen. Sechsmal. Zum einen, um seinen Kindern das Leid qualvollen, unausweichlichen Sterbens zu ersparen; zum anderen, um zu verhindern, daß die Menschen durch das Morden auf ihn selbst als einzigen verbleibenden Vampir aufmerksam wurden und ihn zu jagen begannen. Die vergangene Nacht jedoch hatte jene Gewissensnot, die er mit dem Töten seiner Kinder auf sich geladen hatte, zur Farce verkommen lassen. Gerome hatte zu spät davon erfahren, um viel dagegen tun können. Als er den Ort des Geschehens erreichte, waren die Dienerkreaturen bereits im Rückzug begriffen. Einigen wenigen hatte er noch das Genick gebrochen, aber das war nicht mehr gewesen als ein Tropfen auf den heißen Stein. Gerome wußte, was dem Morden vorausgegangen war. Dazu hätte es nicht einmal jener dreckbeschmierten Nachricht bedurft, die er am Morgen bei seiner Rückkehr in seinem Gemach vorgefunden hatte. Triff mich morgen Nacht auf dem St. Louis Cemetery No. 1. Dort soll sich weisen, wer würdig ist, über diese Stadt zu herrschen.
Unterzeichnet war die Aufforderung nicht. Doch Gerome hatte nicht den geringsten Zweifel daran, wer sie ihm hinterlassen hatte. Guillaume sollte seinen Kampf bekommen. Bis zum Anbruch der Dunkelheit war noch genügend Zeit zum Tanken neuer Kräfte. Gerome läutete nach seinen Gespielinnen – und ließ sie alle zu sich kommen. Jedoch nicht, um mit ihnen zu spielen. Dazu war die Lage zu ernst.
* Lilith gab sich alle Mühe, sich das wahre Ausmaß ihres Entsetzens nicht anmerken zu lassen. Aber es ging zu tief, um es überspielen zu können. »Was ist mit dir los?« fragte Patsy Keenlan, nachdem sie die zweite Tasse Café au lait getrunken hatte. »Du hast dein Frühstück kaum angerührt und bist überhaupt – so anders auf einmal.« Lilith verzog die Lippen zum Hauch eines Lächelns, eines freudlosen und krampfhaften noch dazu. »Es ist nichts. Jetlag vielleicht«, winkte sie ab. »Nach einem Inlandsflug?« fragte Patsy. Ihre rechte Braue wanderte in die Höhe, und wieder einmal verstärkte sich ihre Ähnlichkeit mit Beth MacKinsay. Lilith zuckte nur die Schultern. Patsy wies auf die Zeitung, die Lilith absichtlich so hingelegt hatte, daß sie die Titelseite nicht ansehen mußte. »Es ist diese Sache, stimmt’s? Sie macht dir zu schaffen.« »Dir nicht?« wich Lilith aus. »Doch. Aber ich ändere mit Selbstgeißelung nichts daran. Sie werden diese Bande von Verrückten schon schnappen.« »Ist mir wohl auf den Magen geschlagen«, sagte die Halbvampi-
rin, und die Lüge war nicht einmal eine wirkliche. Patsy stand auf. »Na, komm. Wir bringen dich auf andere Gedanken. Laß uns in den Geschäften nach einem tollen Kostüm für den Mardi Gras suchen, hm?« Lilith lächelte wieder, eine Spur echter diesmal. »Lieb gemeint. Aber ich lege mich lieber noch ein Weilchen aufs Ohr, okay? Damit ich fit bin, wenn’s losgeht.« Wenn’s losgeht … Lilith seufzte schwer. Sie wußte nicht, was sie tun sollte, »wenn’s losging« – denn sie sprach nicht vom Mardi Gras … »Na gut«, erwiderte Patsy Keenlan. »Wir sehen uns später.« Sie hauchte der Halbvampirin einen Kuß auf die Wange und verließ den Frühstückssaal. Lilith ging wenig später. Doch sie kam nur bis zur Rezeption. »Miss Eden?« sprach der Concierge sie an. »Ja?« »Sie haben Besuch.« »Besuch? Für mich?« Wer wußte denn, daß sie hier war? Und vor allem: Wer kannte sie denn überhaupt – und lebte noch? »Diese beiden Herren haben nach Ihnen gefragt«, erklärte der Concierge und wies zu einer ledernen Sitzecke in der mit allerlei Schnörkeleien ausstaffierten Empfangshalle. Lilith folgte seinem Fingerdeut und sah zwei Gestalten auf einer Couch sitzen. Einen vielleicht zehnjährigen schwarzen Jungen – und einen Mann, dessen Hautfarbe und Alter hinter einem dunklen Mantel, Kapuze, Schal und Sonnenbrille verborgen lag. Die Erscheinung jagte Lilith einen Schauer über den Rücken, und eine leise Ahnung setzte sich in ihren Gedanken fest. Als die beiden den Blick der Halbvampirin auffingen, erhoben sie sich und kamen näher, mit der Befangenheit farbiger Menschen, die vor über hundert Jahren die Peitsche weißer Sklavenhalter gefürch-
tet hatten. »Sie sind Lilith Eden?« fragte der Vermummte, der ebenfalls ein Schwarzer sein mußte, mit kaum verständlicher Stimme. Seine Stimme klang uralt und brüchig. Sie nickte. »Mein Name ist Zefrem«, sagte der Mann, »das ist Levar. Wir brauchen Ihre Hilfe.« Lilith verstand nicht – bis der Alte den Schal nach unten zog, sein Mund sichtbar wurde – – und für den Bruchteil einer Sekunde die Spitzen zweier überlanger Eckzähne unter seiner Lippe hervorlugten! Im ersten Moment war Lilith versucht, den Kopf des Mannes zu umfassen und ihn mit einem schnellen Ruck auf den Rücken zu drehen. Aber sie tat es nicht. Noch nicht. Daß die beiden sie aufgesucht hatten, mußte mit den Greueln der Nacht in Zusammenhang stehen. Und Lilith war zu begierig darauf, den Grund zu erfahren, als daß sie ihrer Bestimmung gleich an Ort und Stelle nachgekommen wäre – zumal das in der Hotelhalle auch für einige Aufregung gesorgt hätte.
* Lilith hatte die schweren Vorhänge vor den Fenstern ihres Hotelzimmers zugezogen. 134 Jahre als Dienerkreatur hatten Zefrem höchst anfällig werden lassen gegen das Sonnenlicht. Wie ein Tiger im Käfig lief die Halbvampirin nun umher, pendelte hin und her zwischen Zefrem, der in der einen Ecke hockte, und Levar, der in der anderen saß – und dem Zefrem sein untotes Leben zu verdanken hatte. Überzeugt von der Geschichte der beiden war sie noch immer nicht. Andererseits – warum hätten sie ihr ein solches Märchen auf-
tischen sollen? Wenn sie ihr aus irgendeinem Grund nach dem Leben trachteten oder sie auch nur in eine Falle locken sollten, hätten sie das einfacher bewerkstelligen können. »Woher wußten Sie überhaupt, daß ich in der Stadt bin?« begann Lilith mit der Frage, die sie am meisten beschäftigte. Zefrem zuckte die mageren Achseln. Er hatte seine Vermummung abgelegt. »Ich spürte es in dem Moment, da ich an Sie dachte, Miss Eden. Während der Zeit des Wartens habe ich ein Gespür für gewisse – Dinge entwickelt. Dafür sind andere verkümmert. Worüber ich nicht unglücklich bin«, sagte er. Sein Lächeln hing wie ein umgekippter Halbmond im Dämmerlicht. »Und was erwarten Sie jetzt von mir?« stellte Lilith die zweitdringlichste Frage. »Sie sind doch eine Vampirkillerin«, warf der Junge ein. »Gehen Sie raus und legen Sie die Brut um.« Lilith wandte sich an Zefrem. »Sie verderben den Jungen mit Ihren Geschichten. Schon gemerkt?« »Er hat ja nicht ganz unrecht«, bekannte der Alte mit gesenktem Blick. »So ähnlich hatte ich mir das vorgestellt«. »Da hat Ihnen Ihr geheimnisvoller Besucher ja ein hübsches Märchen aufgetischt«, erklärte Lilith, sich daran erinnernd, wie Zefrem von ihr erfahren hatte. »So läuft das jedenfalls nicht. Wir brauchen schon einen Plan, wenn wir etwas gegen diese Meute ausrichten wollen.« »Wo wollen wir beginnen?« fragte Zefrem. »Am liebsten würde ich mir zuerst den Führer der hiesigen Sippe vorknöpfen, ehe dieser Guillaume mir zuvorkommt«, erklärte Lilith. »Durstig?« Sie hatte Zefrem erzählt, daß sie sich vom schwarzen Blut seiner Herrenrasse zu ernähren gezwungen war. »Sehr«, entgegnete sie.
»Ich weiß, wo wir Gerome finden«, sagte Zefrem. »Und wenn Sie sich noch ein wenig gedulden können, bekommen Sie Guillaume vielleicht noch dazu. Denn ich bin sicher, daß die beiden einander heute nacht begegnen werden.« »Ein Festmahl«, meinte Lilith mit einem sofort wieder erlöschenden Lächeln. Ein »Festmahl« würde auch das Heer der Dienerkreaturen in New Orleans vorfinden. Und sie konnte nichts tun, um ihnen den Appetit zu verderben. Fetter Dienstag …
* Mardi Gras war unbestritten die »greatest free Show on Earth«, wie New Orleans für seinen Carnival warb. Eine pompöse, frivole, ausgelassene, kesse Party, die von und in der ganzen Stadt gefeiert wurde. Dixie-Bands dröhnten durch die Straßen, jeder Stein schien unter dem Lärm zu erzittern, der wie eine Glocke über New Orleans hing. Farbenprächtige und phantasievolle Kostüme verwirrten die Sinne, Gesang und Alkohol taten ein Übriges dazu. Lilith, Zefrem und Levar schienen die einzigen zu sein, die nicht an dem rauschenden Fest teilnahmen. Was ihnen jedoch nicht leichtgemacht wurde in jenem dunklen Winkel, in den sie sich drängten und von dem aus sie das Bordell im Auge behalten konnten, in dem Gerome noch immer residierte. Fast minütlich reckte sich ihnen eine Hand entgegen, um wenigstens einen der drei Trauerklöße zum Mitfeiern und Mittanzen hervorzuholen, und vor allem Lilith hatte große Mühe, die ausgelassenen Menschen zu vertrösten. Seit Anbruch der Dämmerung warteten sie hier. Nachdem sie für die kurze Strecke vom »Maison De Ville« bis hierher fast eine Stunde gebraucht hatten. Die Straßen und Gassen des French Quarter
hatten sich in reißende Ströme aus feiernden Menschen verwandelt. Lilith zwang sich, nicht daran zu denken, was geschehen würde, wenn die Kreaturen aus den Sümpfen die Riesenfete heimsuchten … Im Laufe der verbliebenen Stunden bis zum Abend hatte Lilith über Möglichkeiten nachgesonnen, wie das Schlimmste zu verhindern wäre. Zefrem hatte ihr berichtet, daß die Kreaturen Guillaumes nach ihren »Ausflügen« in die Sümpfe zurückkehren mußten, wollten sie nicht vollends austrocknen und zugrunde gehen. Daraus ließ sich etwas machen. Sie hatte mit ihren beiden »Kampfgefährten« darüber gesprochen, und Levar hatte schließlich etwas gesagt, das sie auf eine Idee gebracht hatte. Doch die ließ sich erst am kommenden Morgen in die Tat umsetzen – wenn es bereits zu spät war, um eine Wiederholung der Ereignisse der Nacht zu verhindern. Lilith hatte schließlich nach einem Strohhalm gegriffen und den Leiter des New Orleans Police Departments aufgesucht. Zu ihm vorzudringen, war wegen der Reporter, die das Polizeihauptquartier an der Jane Street belagerten, selbst für sie nicht leicht gewesen. Commissioner Jefferson Davis (»Wie unser früherer Präsident«, hatte er sich vorgestellt und sich als Südstaatler ursprünglichster Art zu erkennen gegeben) hatte sich dann sehr umgänglich gezeigt. Lilith hatte schon befürchtet, er würde zu den wenigen Menschen zählen, bei denen Hypnose nicht verfing. Sie hatte ihm eingetrichtert, wie einem weiteren Vordringen der Sumpfkreaturen nach New Orleans am besten zu begegnen wäre. Und er hatte ihr (natürlich) glaubhaft versichert, ihren Anweisungen entsprechend zu handeln. Lilith hoffte, daß das jenseitige Ufer des Mississippi bald in Flammen stehen würde und der Commissioner auch dafür gesorgt hatte, daß die Feuerwehr nicht ausrückte, um den brennenden Schutzwall zu löschen. »Da kommt er!«
Zefrems Zischen erlöste Lilith von ihren bangen Gedanken. Da sie etwas erhöht standen, konnten sie – Lilith und Zefrem jedenfalls – über die Köpfe der feiernden Menge hinwegsehen. Drüben trat ein Mann aus dem portalähnlichen Gebäudezugang, dessen Kleidung ganz den Eindruck erweckte, als wollte er nichts anderes tun, als sich ins Getümmel zu stürzen. Die Kleider mochten vor hundert und mehr Jahren modern gewesen sein. Gerome ließ sich vom Strom der Menschen mitreißen. Lilith, Zefrem und Levar folgten ihm in einem Abstand, der gerade groß genug war, daß sie ihn in dem Gewimmel nicht aus den Augen verloren. Nach einer Weile tauchte Gerome in eine weniger belebte Gasse ein – was nicht hieß, daß hier nichts los gewesen wäre. Der Vampir bog um weitere Ecken, und schließlich meinte Levar: »Ich glaube, er geht zum St. Louis Cemetery.« Lilith nickte. »Ein Friedhof. Das würde passen.« Sie blieb stehen und wandte sich ihren Begleitern zu. »Ihr wartet hier auf mich«, bestimmte sie. »Warum?« begehrte der Junge enttäuscht auf. »Ohne uns wärst du gar nicht …« »Ohne mich wärt ihr ganz schön aufgeschmissen«, erwiderte sie. Dann wurde sie zu einem pelzigen Knäuel, das noch in derselben Sekunde flatternd in der Nacht verschwand.
* Der St. Louis Cemetery No. 1 war der älteste Friedhof von New Orleans. Und er wurde nicht ohne Grund City of the dead, »Stadt der Toten«, genannt. Bis zu Beginn des Jahrhunderts pflegte man die Toten überirdisch zu »beerdigen«, weil der Boden schlammig war und durch den Kontakt der Leichen mit dem Wasser Seuchengefahr drohte. So wurden die Särge mit roten Backsteinen ummauert, und
die wiederum verputzte und strich man weiß. Die Wege zwischen den Grabstätten wurden mit Straßennamen bezeichnet. Die Särge mancher Familien wurden gestapelt, und so entstanden auf dem alten Friedhof gewissermaßen miniaturisierte Wolkenkratzer. Wohlhabende ließen über den Särgen ihrer Lieben oft ganze Häuser errichten, von Skulpturen oder schmiedeeisernen Zäunen umgeben. Es war ein bizarrer, zumindest aber ungewöhnlicher Anblick, der sich Liliths vampirischen Blicken, die die Schwärze der Nacht in rotstichige Schatten verwandelten, darbot, als sie niederging und sich einen Meter über dem Boden zurückverwandelte. In menschlicher Gestalt landete sie sicher im Sichtschutz zweier Grabstätten und ging noch in der Bewegung in die Hocke, lauschte. Sie hörte die Stimmen sofort. Zefrem hatte sich nicht geirrt. Den Worten, die durch die Nacht schwangen, war unschwer zu entnehmen, worum es in dem Gespräch ging. »Hast du gedacht, ich würde nicht kommen?« fragte der eine, wohl Gerome. »Du hättest gut daran getan«, erwiderte der andere, der dann Guillaume sein mußte. »Und es hätte mich nicht gewundert, weil du doch heute nicht auf die Hilfe deines mächtigen Freundes zählen darfst.« Gerome lachte verächtlich. »Um dir den Garaus zu machen, bedarf ich keiner Unterstützung.« Lilith schlich zwischen den Grabmälern entlang, näher zu jener Stelle hin, an der die beiden Kontrahenten einander gegenüberstanden, um den Kampf um die Herrschaft über New Orleans auszutragen. Um die Ecke einer weißgetünchten Backsteinwand herum konnte Lilith sie beobachten. Gerome kannte sie bereits. Guillaume war beinahe so schwarz wie Zefrem. Stellenweise jedenfalls. Denn an anderen Stellen begann der Schlamm auf seiner Haut bereits zu trocknen und bildete helle Fle-
cken. »Genug geredet.« Gerome hatte gesprochen, und die letzte Silbe war kaum noch verständlich, weil sie bereits aus einer mutierenden Kehle kam. Das Sippenoberhaupt von New Orleans ließ der Bestie, die sich in ihm verbarg, freien Lauf. Sein Körper verformte, verwandelte sich in etwas, dessen Anblick einen Menschen um den Verstand bringen konnte. Lilith beobachtete mit stoischer Ruhe weiter. Sie kannte Bilder wie dieses zur Genüge, bot es viel zu oft selbst. Guillaume zögerte nicht den Bruchteil einer Sekunde. Auch er leitete die Verwandlung ein, doch bei ihm vermißte Lilith die Geschmeidigkeit, in der sie bei Gerome vonstatten ging. Als wären Körper und Fähigkeiten Guillaumes »eingerostet« in der langen Zeit, da er zur Tatenlosigkeit verurteilt gewesen war. Der Ausgang des Kampfes stand eigentlich schon vor Beginn fest. Doch Lilith war entschlossen, ihn zu ihren Gunsten zu verändern. Aber sie wartete noch ab, ließ die beiden Vampire aufeinander losgehen. Sollten sie ihre Kräfte erst einmal messen – und verbrauchen. Der Kampf war mörderisch im wahrsten Sinne, und nie zuvor mochten solch grauenhafte Laute die Ruhe der Toten auf dem St. Louis Cemetery No. 1 gestört haben. Gerome und Guillaume nutzten nahezu das gesamte Areal als Arena ihrer Schlacht, in solchem Maße entfesselten sie ihre Kräfte. Meterweit schleuderten sie den Körper des anderen durch die Luft, um nachzusetzen und ihm die langen Krallen ins kalte Fleisch zu stoßen. Schwarzes Blut tränkte die Nacht. Der Anblick ließ Lilith unruhig werden. Sie befreite das Biest aus dem Kerker ihres Seins. Und stürmte vor! Das Überraschungsmoment nutzend, schlug sie Gerome die Zähne in den Hals, mit einer Gewalt, als gelte es, Beton zu durchdringen.
Mehr mußte sie im Augenblick nicht tun. Ihr Keim befand sich im Blut des Vampirs und machte ihn umgehend gefügig. Sie hieß ihm mit einem blitzenden Blick abzuwarten, ehe sie sich nach Guillaume umwandte. Der starrte ihr für allerhöchstens eine Sekunde verwirrt entgegen, und sie konnte die Frage, wer im Namen der Hohen sie sein mochte, in seinen bernsteinfarbenen Augen lesen. Dann trat ein Funkeln an ihre Stelle, das Lilith verriet, daß Guillaume springen würde. Jetzt! Sie ließ ihn kommen, wich dann zur Seite und setzte ihm nach. Bekam ihn zu packen, und trieb ihm die Zähne ins tote Fleisch. Widerlich … Zu widerlich, als daß sie es über sich gebracht hätte, aus Guillaume zu trinken. Sein Blut war so verrottet wie sein ganzer Körper, der unter der erstarrenden Lehmschicht langsam auseinanderzubrechen schien. Auch sein Rückgrad war morsch geworden; sie brach es mit einem energischen Ruck. Der Vampir zerfiel zu Staub. Und Lilith wandte sich wieder Gerome zu, um sich endlich den Trunk zu holen, den sie für ihre eigene Existenz brauchte, so lange, bis alle Vampire vom Angesicht der Erde getilgt sein würden …
* Die Feuer am südlichen Ufer des Mississippi ließen das Wasser des Old Man River zu einem Strom glutflüssiger Lava werden. Commissioner Jefferson Davis sorgte auf Wunsch der Halbvampirin dafür, daß eine Lücke im Flammengürtel geschaffen wurde, durch die Lilith, Zefrem und Levar hindurchschlüpfen konnten und die sich hinter ihnen wieder schloß. Davis stellte ihnen sogar ein Fahrzeug zur Verfügung. Liliths Wünsche waren ihm eben Befehl.
Die Halbvampirin saß am Steuer und lenkte den Wagen den Highway 90 entlang. Hinter dem Fahrzeug sah sie im Gegenlicht der Feuerwälle dunkle Punkte hin- und herlaufen. Die Dienerkreaturen, die nicht einsehen mochten, daß ihnen der Weg hinüber verwehrt war. Gut so … Zu beiden Seiten des Highways ragten die bizarren Gebäude- und Anlagenkonstruktionen von Fabriken und Raffinerien in den Nachthimmel, der selbst in dieser Entfernung noch von flackernder Helligkeit überzogen war. »Cancer Alley«, flüsterte Levar auf dem Rücksitz. »Wie?« »Straße der Krebsgeschwüre«, präzisierte der Junge und deutete nach oben, wo fette Rauchsäulen aus Aberdutzenden von Schloten unterschiedlichster Höhe und Größe aufstiegen. »Die Menschen werden nicht sehr alt hier.« »Die meisten jedenfalls«, berichtigte Zefrem ihn. Lilith sah sein trauriges Lächeln im Widerschein der Armaturenbeleuchtung. »Reynolds Petrols, da müssen wir hin«, rief der Junge nach einer Weile, in der sie schweigend dahingefahren waren. Lilith lenkte den Wagen vom Highway und durch das offenstehende Tor auf den Hof des Werkes. Winzig kam sie sich vor, umgeben von monströsen Bauten, die teils in sinnverwirrender Weise ineinander verschachtelt waren. »Was wird denn das, wenn’s fertig ist?« Die rauhe Stimme dröhnte durch die Nacht, kaum daß sie ausgestiegen waren. »Laßt mich machen, ich regle das«, erklärte Levar im Brustton der Überzeugung. »Der Bursche ist mein Bruder. Hi, Jake!« »Levar!« brüllte der baumlange Schwarze in Jeans und T-Shirt, offensichtlich absolut nicht erfreut, seinen kleinen Bruder zu dieser Stunde und noch dazu in Begleitung zweier Wildfremder hier zu se-
hen. »Ich sollte dir den Hintern …« »Nicht nötig.« Lilith trat zwischen die Brüder, sah Jake an und zauberte seine Wut weg. Dann erklärte sie ihm, was er für sie tun konnte – oder vielmehr, was sie von ihm zu tun erwartete. Jake nickte, als hätte sie ihn um nicht mehr als die Uhrzeit gebeten. »Okay«, sagte er. »Dauert aber ‘n Moment.« »Schicken Sie Ihre Kollegen vorher zu mir«, rief Lilith ihm nach, als er davonstiefelte. »Wird gemacht.« Vier weitere Jungs in Jakes Größenordnung, aber unterschiedlichen Alters kamen wenig später heran. Lilith überzeugte auch sie davon, daß sie ihren eigentlichen Job für eine Weile vergessen konnten. »Ich sagte doch, Jake ist ein umgänglicher Bursche. Mit dem kann man reden«, meinte Levar grinsend. Ein paar Minuten später erwachten in einiger Entfernung Ungeheuer brüllend zum Leben. Riesenhafte Augenpaare begannen in weißer Glut zu strahlen. Rumpelnd und ächzend näherten sich fünf Tank-Trucks dem ungleichen Trio. »Sind Sie sicher, daß der Boden dort draußen die Lastwagen trägt?« fragte die Halbvampirin an Zefrem gewandt. Der Alte nickte. »Die Trockenlegungsarbeiten sind weit genug fortgeschritten. Außerdem kenne ich die festen Wege dort draußen. Hatte ja lange genug Zeit, sie ausfindig zu machen.« »Gut«, sagte Lilith. »Dann steigen Sie als Lotse in den ersten Wagen; die anderen sollen ihnen folgen.« Sie kletterten in die Kabinen der Trucks. Türen schlugen zu, dann donnerten die gewaltigen Laster hinaus auf den Highway. Und wenig später in die Sumpfgebiete hinein.
* Ein stechender Geruch hing über den Sümpfen. »Sind Sie sicher, daß der Kreis groß genug gezogen wurde?« vergewisserte Lilith sich zum mindestens dritten Mal, seit die Trucks nach getaner Arbeit verschwunden waren. »Ja. Außerhalb der Linie gibt es kein Loch, in dem die Kreaturen sich verkriechen könnten«, bestätigte Zefrem zum ebensovielten Male. »Sie kommen!« Levar wies nach Norden. Lilith und Zefrem folgten der Richtung seines ausgestreckten Armes mit Blicken. Seltsam verzerrte Silhouetten zeichneten sich gegen den heller werdenden Horizont ab. »Dann kann’s ja losgehen«, meinte Lilith. »Kommt mit.« Sie trat als erste über den gut drei Meter breiten, stinkenden und feuchtglänzenden Streifen hinweg, den die Tanklaster hinterlassen hatten. Zefrem und Levar folgten ihr. Im Innern des gewaltigen Kreises bat sie den Jungen um Streichhölzer. »Kann ich nicht …?« maulte er. »Messer, Schere, Feuer, Licht …«, setzte Lilith an. »Haha.« Widerwillig reichte er ihr die kleine Schachtel. Lilith riß ein Hölzchen an und schnippte es davon. Es erlosch, bevor es den naßglänzenden Streifen erreichte. »Verdammt.« »Soll ich nicht doch …?« »Ruhe!« Das nächste Streichholz tat seine Wirkung. Eine Flammenwand wuchs brüllend meterhoch empor und verlängerte sich in rasendem Tempo nach beiden Seiten. Das Prasseln des Feuers dröhnte in ihren Ohren. Die Hitze wurde
so unerträglich, daß sie Kühlung im feuchten Boden suchen mußten. Für die Kreaturen aus dem Sumpf gab es keinen Schutz. Eingeschlossen zwischen zwei Feuerbarrieren mußten sie erleiden, daß ihre Körper, beschleunigt noch durch die Flammenglut, immer weiter und schneller austrockneten, wie der schützende Schlamm in Bruchstücken von ihnen abfiel und das tote Fleisch darunter verdorrte. Als sich die Sonne am Horizont ankündigte, erstarben die letzten Schreie der sterbenden Dienerkreaturen. Ein wenig konnte Lilith die Qualen der Verlorenen da draußen nachvollziehen, denen der Weg ins rettende Sumpfgrab verwehrt war. Staubschlieren trieben in der Luft, als Lilith, Zefrem und Levar schließlich den nur noch niedrig brennenden Feuerring verlassen konnten. »Was werden Sie jetzt tun?« fragte Levar. »Ich fahre zurück nach New Orleans«, sagte Lilith. »Dort wartet jemand auf mich.« Sie wandte sich an Zefrem. »Und was Sie betrifft …« »Geben Sie sich keine Mühe«, sagte der Alte, und seine Stimme klang noch brüchiger als zuvor. »Es ist ohnehin zu spät – und das ist gut so. Ich habe die Zeit viel zu lange betrogen.« Er wies auf den orangeroten Horizont, und Lilith verstand. Sie bemerkte Levars Erschrecken, ohne ihn ansehen zu müssen. »Aber es ist nicht zu spät!« begehrte der Junge auf. »Komm schnell, wir …« Zefrem löste die kleine Hand, die an seinem Ärmel zerrte, und sah dem Jungen in die Augen. »Darum geht es nicht«, sagte er. »Ich will es. All die Jahrzehnte hat mich die Hoffnung belebt, meinen Meister zu sehen. Jetzt wünschte ich, es hätte mich nicht so lange vom Sterben abgehalten.« Er wandte sich Lilith zu. »Nehmen Sie ihn mit?« Levar verstummte, und er sprach auch lange nicht, nachdem er und Lilith wieder in New Orleans einfuhren. Zefrems Asche blieb
am Rand der Sümpfe zurück.
* In New Orleans wartete niemand auf Lilith Eden. Nur ein leeres Hotelzimmer. Und ein kurzer Brief in geschwungener Handschrift. Lilith, meine Liebe, ich weiß nicht, ob du diese Zeilen je lesen wirst, aber für den Fall, daß du es tust, möchte ich Dir sagen, daß es wunderschön war. Ich hätte der herrlichen Nacht gerne einen ebensolchen Mardi Gras folgen lassen – und auch weitere Nächte wie unsere erste … Aber vielleicht ist es gut so, wie es gekommen ist. Ich weiß nicht, wo Du bist, was Du tust – und wenn ich ehrlich bin, weiß ich nicht einmal, was Du bist. Nur eines: Das seltsamste und doch wundervollste Wesen, dem ich je begegnet bin. Ich spüre, daß es Dir gut geht. Und bin glücklich. Alles Liebe, Patsy »Es ist gut so, wie es gekommen ist. Glaub mir, Patsy«, flüsterte Lilith. Und sie sah dabei Beth MacKinsays Gesicht. ENDE
Der letzte Jäger Leserstory von Pal Lamian Olivier erwachte mit einem dicken Schädel und schmerzenden Gelenken. Verwundert mußte er feststellen, daß man ihn mit Armen und Beinen auf einen Tisch gebunden hatte, umringt von brennenden Kerzen. Der Raum, in dem er sich wiederfand, schien ein altes Gewölbe zu sein, dunkel und muffig, die Luft erfüllt vom Staub zahlreicher Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte. Durch dunkle Mosaikfenster drang gerade genug Licht, um wenigstens einen Teil des Raumes sichtbar werden zu lassen. Ein stechender Schmerz jagte durch seinen Hinterkopf, und die Welt begann, sich um ihn zu drehen. Der Schlag, der ihn k.o. gesetzt hatte, war ganz offensichtlich nicht von schlechten Eltern gewesen. »Wo bin ich?« Seine Stimme verlor sich in der Dunkelheit der unsichtbaren Weite des Raumes, und er fühlte sich hilflos. Aber etwas geschah. Von den Wänden hallten Schritte wieder, die sich seinem unfreiwilligen Lager näherten, aber vom Kopfende her, so daß er nicht erkennen konnte, wer da kam. Er zerrte an seinen Fesseln, ohne etwas zu erreichen. »Was soll das? Wer ist da?« Seine Stimme klang unsicher, verängstigt. Zugegebenermaßen befand er sich auch nicht eben in einer beruhigenden Lage, doch er wünschte sich, daß er nicht die Gewalt über sich verlieren und in Panik ausbrechen würde. Er hörte leises Gelächter, das aus der Dunkelheit jenseits des Fußendes zu ihm herüberwehte, während sich weiterhin vom Kopfende her die Schritte näherten. Er versuchte, sich so weit wie möglich aufzurichten.
»Was wollen Sie von mir?« Ein Schatten legte sich über ihn. Er schaute auf und blickte in das Gesicht eines fremden Mannes, der sich am Kopfende des Tisches aufgebaut hatte. Ein überhebliches Grinsen spielte um die Lippen des Fremden; wilde Augen funkelten ihn an. »Haben Sie wohl geruht, Monsieur Olivier?« So überheblich das Grinsen, so herablassend auch der Ton, in dem der Fremde ihn ansprach. Das Gelächter aus dem Dunkel vom anderen Ende des Gewölbes verebbte langsam. Olivier wich dem Blick des Mannes nicht aus. »Wer sind Sie?« Der Fremde stützte seine Arme zu beiden Seiten von Oliviers Kopf auf. Das Gesicht des Mannes beugte sich ihm entgegen, und ein Atem, in dem sich Alkohol und eine Menge Knoblauch vermischten, legte sich über ihn. Die Kleidung des Mannes stank nach Rauch und feuchter Erde. »Ich bin Ihr Ende, Olivier. Das Ende Ihrer langen, langen, verfluchten Existenz. Wie gefällt Ihnen das?« Wieder ertönte das leise Gelächter aus dem Dunkel. Olivier hatte das Gefühl, in Schwärze zu versinken; die Welt begann sich immer wilder um ihn zu drehen. Der Fremde über ihm nickte zur anderen Seite des Raumes hinüber. »Und das sind die helfenden Hände Ihres Endes, Monsieur Olivier. Rebaud, die ausführende Rechte, und Francesco, die hilfreiche Linke.« Aus dem Dunkel traten zwei Gestalten; Männer in langen Mänteln. Der rechte lachte weiter leise vor sich hin, während der linke ihn nur stumm anblickte. Die Luft um Olivier herum schien kälter geworden zu sein. Er schluckte hart. In den Händen des Stummen erkannte er einen schweren Hammer und einen zugespitzten Holzpflock. Eine Stimme in seinem Kopf begann, ihm klarzumachen, daß er sich in Gefahr befand.
»Was, zum Teufel, wollen Sie von mir?« Panik breitete sich in ihm aus und weitete seine Augen. Der Fremde hatte inzwischen begonnen, um den Tisch herumzugehen. »Wir haben Sie gesucht, Olivier«, sagte er. »Lange gesucht und endlich gefunden.« Olivier bewegte sich träge unter seinen Fesseln, so hilflos wie ein auf den Rücken geworfener Käfer. Es hatte keinen Sinn; die Schnüre waren zu fest gebunden. »Bemühen Sie sich nicht, Francesco leistet keine halbe Arbeit. Außerdem kämen Sie auch gar nicht aus diesem Raum hinaus.« »Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen«, ächzte Olivier. »Nein?« Der Fremde fuhr mit der Hand über die Oberfläche des Tisches. Unverhohlene Herablassung schwang in seiner rauhen Stimme mit »Wirklich nicht?« Er schaute amüsiert zu seinen nähertretenden Helfern. »Welche dieser Kreaturen hat eigentlich je begriffen, daß ihr Ende gekommen war, Rebaud?« Der Gefragte schüttelte lachend den Kopf. »Keine, soweit ich zurückdenken kann, Monsieur.« »Nein, keine.« Der Mann packte Oliviers Kopf und drehte ihn zu sich herum. »Weil ihr so schrecklich uneinsichtig und phantasielos seid.« Oliviers Kopf wurde herumgezwungen. »Was siehst du, Francesco? Was sieht dein geschultes Auge?« fragte der Fremde. Francescos Stimme klang unwirklich tief und hallte dumpf von den Wänden wieder. »Einen Nosferatu, Monsieur.« Für einen Moment legte sich Stille über den Ort, und die schwarzen Wirbel vor Oliviers Augen drehten sich nicht mehr ganz so schnell. Er schaute abwechselnd in die Gesichter seiner Entführer, von einem zum anderen. Und jetzt war er es, der in Gelächter ausbrach. Sein Leib erbebte unter seinen Fesseln und ließ die Tischplatte zittern, auf die man ihn geschnallt hatte.
»Ihr haltet mich … für einen Vampir?« Auf dem Gesicht des ungläubig dreinblickenden Fremden über ihm breitete sich Zorn aus, was Olivier nur noch weiter zur Heiterkeit trieb. Er war ein paar Irren in die Hände gefallen! »Ihr haltet mich für einen Vampir!« Der Faustschlag, der ihn in den ungeschützten Bauch traf, trieb ihm die Luft aus den Lungen, ließ sein Gelächter verstummen und zu einem verhaltenen Stöhnen werden. »Du Kreatur lachst über mich?« Ein weiterer Schlag jagte Olivier Tränen in die Augen. Für einen Moment weigerten sich seine Lungen, neue Luft aufzunehmen. »Du verfluchtes Mistding lachst über mich?« Mit einer wilden Handbewegung fegte der Fremde gut die Hälfte der brennenden Kerzen vom Tisch. Der nächste Schlag ließ die Holzoberfläche erzittern. »Du wagst es, dich vor mir zu verleugnen? Vor mir?« Die Brust des Mannes hob und senkte sich unter heftigen Atemzügen. Olivier sog ebenfalls wieder die muffige Luft ein. Seine Stimme klang brüchig. »Sie sind verrückt.« »Ich weiß nicht mehr, wie viele Vampire ich zur Strecke gebracht habe! Glaubst du tatsächlich, ich hätte nicht gelernt, sie zu erkennen, und wüßte nicht, wann ich einem gegenüberstehe?« »Sie sind verrückt«, wiederholte er. Der Fremde hielt inne. Auf seinem Gesicht breitete sich wieder ein gehässiges Grinsen aus. Scheinbar hatte er sich wieder etwas beruhigt. Seine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern, das sich im Dunkel des Gewölbes verlor. »Ja. Ja, vielleicht bin ich das. Aber du … du bist mit Sicherheit bald … Staub, Olivier.« Rebaud baute sich an Oliviers Seite auf, Holzpflock und Hammer in den Händen, die Francesco ihm inzwischen übergeben hatte. Der
Pfähler blickte dem Gefesselten unbewegt in die Augen. Das überlegene Grinsen schien in das feiste Gesicht dieses Mannes eingemeißelt worden zu sein. Auch Rebauds Atem war durchsetzt von Knoblauchgeruch. »Deine zusammengewachsenen Augenbrauen haben dich verraten.« Das keuchende Lachen, das in ihm aufbrandete, versetzte Olivier stechende Schmerzen. »Das ist alles? Ihr seid ja wahnsinnig!« Der Fremde schlug ihm hart ins Gesicht. »Vor nunmehr elf Jahren wurde angeblich der letzte Vampir zur Strecke gebracht«, sagte er. »Und die Jäger wurden zurückgerufen. Es gäbe keine Arbeit mehr für uns, sagte man. Keine Vampire mehr.« Die Augen des Mannes blickten auf Olivier herab und versprühten maßlosen Haß. »Trotzdem haben wir in diesen elf Jahren immer wieder Vampire aufgespürt, Nosferatu«, fuhr er fort. »Unerkannt von den anderen Jägern. Zu raffiniert, um den kurzsichtigen Romantikern in die Falle zu gehen, die nur auf fehlende Spiegelbilder, Lichtempfindlichkeit und ähnlichen Nonsens achten wollten. In den letzten elf Jahren haben Francesco, Rebaud und ich unzählige Vampire aufgespürt, die allesamt nicht die klassischen Merkmale aufwiesen. Genausowenig wie du.« Olivier schaute den Mann ungläubig an. »Sie haben …« Rebaud führte den Satz fort: »… sie alle zur Strecke gebracht und gepfählt, ja, das haben wir.« Der Fremde packte Olivier am Kragen und zog ihn zu sich hoch. Die Fesseln schnitten tief in die Haut seiner Gliedmaßen und schnürten sie weiter ab. Seine Arme und Beine fühlten sich merkwürdig taub an, als wären sie gar nicht da. »Es war ein Fehler, die Jagd zu beenden! Ich bin der letzte der Jäger; der einzige, der eure Herrschaft über die Welt verhindern kann!«
Olivier schüttelte den Kopf. »Sie haben jahrelang weitergemacht, obwohl sie genau wußten, daß es keine Vampire mehr gibt?« »Verleugne nicht deine Existenz, Nosferatu!« Der Mann nickte Rebaud zu, der den Holzpflock über Oliviers Oberkörper in Position brachte, das zugespitzte Ende auf die Herzgegend gerichtet, den Hammer schlagbereit in der rechten Hand. Olivier spürte, wie ihm der Schweiß aus allen Poren lief. Eine Stimme in seinem Geist plapperte unentwegt auf ihn ein, daß er hier nicht mehr lebend herauskommen würde. »Sie wissen, daß ich kein Vampir bin! Sie wissen es!« flehte er. »Sie wissen, daß Ihre Aufgabe erfüllt ist; Sie wollen es nur nicht wahrhaben!« Der Mann schlug ihm erneut ins Gesicht und brüllte Rebaud an, der mit dem rechten Arm ausholte, während Francesco den an seinen Fesseln zerrenden Olivier festhielt. Sein Toben brandete noch einmal verzweifelt auf, ein Schrei löste sich aus schmerzenden Lungen, aufgerissene Augen verfolgten die Bewegung des Armes und die Bahn des Hammerkopfes. Als die Spitze des Holzpflocks durch Oliviers Rippen brach und das wild schlagende Herz durchbohrte, ein Regen aus Blut Rebauds und Francescos Hände benetzte und Oliviers Schrei von den Wänden des dunklen Gewölbes widerhallte und verebbte, trat der Vampirjäger vom Fesseltisch zurück, um die Pfählung zu vollenden. Aus dem Mantel zog er eine schwere Machete, holte aus und schlug dem Toten den Kopf ab. Er atmete heftig, während Rebauds leises Lachen durch die Luft des Raumes trieb. Enttäuscht nahm er zur Kenntnis, daß auch Oliviers Leib nicht zu Staub zerfiel. Seit elf Jahren hatte er diesen Vorgang nicht mehr beobachten dürfen. Es war zu schade. »Schafft ihn fort. Und macht sauber.« Er wandte sich an Francesco. »Wo, meintest du, hast du noch einen aufgespürt?« Er hatte sich irgendwann vorgenommen, nicht zuviel über das,
was er tat, nachzudenken. Es war wichtig, daß man seine Aufgabe nicht aus den Augen verlor … © Klaus Giesert, Semmelländerweg 10, 13593 Berlin ENDE
Totem des Bösen von Adrian Doyle Die Seuche hatte furchtbar gewütet. Von den Sippenoberhäuptern ausgehend infizierte sie die Vampire überall auf der Welt mit ihrem Keim. Rasender Durst kam über die Blutsauger – ein Durst, den sie nicht zu löschen vermochten. Die betrogene Zeit holte die Vampire ein, und sie verfielen bei lebendigem Leibe. Nur einer stellte sich gegen das Verderben: Makootemane, das Oberhaupt eines vampirischen Indianerstammes. Die Seuche gab sich selbst eine Gestalt. Als Purpurdrache focht sie einen Kampf gegen den alten Schamanen – und mußte sich geschlagen zurückziehen. Doch dies war erst der Beginn der Schlacht. Es gab andere Wege zum Sieg. Und so beschwor der Drache das Böse herauf, dem die Angehörigen des Stammes vor langer Zeit abgeschworen hatten …