William Corlett Die Tür im Baum Das Haus des Magiers – Band 02 Aus dem Englischen von Christa Holtei
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William Corlett Die Tür im Baum Das Haus des Magiers – Band 02 Aus dem Englischen von Christa Holtei
dtv junior 70.665 Deutsche Erstausgabe In neuer Rechtschreibung Januar 2002 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH 8c Co. KG, München www.dtvjunior.de © 1991 William Corlett Titel der englischen Originalausgabe: >The Door in the Tree< erschienen 1991 bei Red Fox, a division of Random House UK Ltd. erstmals erschienen 1991 bei The Bodley Head Children’s Books © für die deutschsprachige Ausgabe: 2002 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen Umschlagbild: Ludvik Glazer-Naude Gesetzt aus der Baskerville 11/13 ½ Gesamtherstellung: Ebner Ulm Printed in Germany ISBN 3-423-70.677-5
Buch Osterferien im Golden Valley. Endlich kommen die Geschwister William, Mary und Alice wieder zurück nach Golden House, jenem wilden und idyllischen Ort an der walisischen Grenze, an dem Tante Phoebe und Onkel Jack leben. Dorthin, wo sie während ihrer letzten Ferien dem Magier begegnet sind, Stephen Tyler. Durch ihn konnten die Geschwister erfahren, was Magie bedeutet. Hier, in einer Umgebung voller Wälder, Moore und Geheimnisse, scheint alles denkbar und nichts unmöglich. Denn mit Vernunft lässt sich nicht erklären, wie es sein kann, plötzlich in einem Tierkörper zu stecken, so wahrzunehmen, zu fühlen, und zu schmecken wie Spot, der Hund, Cinnabar, der Fuchs, und Jasper, die Eule. Und während William, Mary und Alice noch darüber grübeln, wie so etwas möglich sein kann, hat Stephen Tyler längst anderes im Sinn. Er betraut die drei mit einer großen Aufgabe, die ihnen alles abverlangt…
Autor William Corlett, geboren 1938, machte eine Ausbildung an der Royal Academy of Dramatic Art in London und war zunächst Schauspieler, bevor er selbst erfolgreich Theaterstücke und Drehbuchtexte zu schreiben begann. Seit den 70er-Jahren veröffentlicht er Jugendromane, die vielfach ausgezeichnet wurden, und ist inzwischen auch als Autor belletristischer Romane bekannt. Seine Serie >Das Haus des Magiers< hat er selbst fürs Fernsehen adaptiert.
Für Alice
1 Versteckspiel Alice rannte, so schnell sie konnte, den Hügel hinauf. Fort von dem Baumstamm, wo Mary sich die Augen zuhielt und laut zählte. William krabbelte ins Unterholz neben dem Waldweg und in einiger Entfernung blitzte Spots weißes Fell auf. Der Hund kam mit großen Sprüngen angelaufen und wedelte heftig mit dem Schwanz, damit er nicht vor lauter Aufregung laut bellte. Es war ein strahlender Frühlingstag. Ein leichter Wind streifte die Zweige der Bäume und ließ sie knarrend und raschelnd über Alices Kopf hin und her schaukeln. Die ersten grünen Blättchen zeigten sich an den Hecken und Schlüsselblumen, wilde Narzissen und Veilchen durchbrachen das Moos und die Herbstblätter auf der Böschung, wo Alice kauerte. Durch die Bäume konnte sie jenseits des Tals die Spitze des Taubenschlags im Küchengarten sehen und dahinter das Dach und den Kamin von Golden House. Der Blick war ihr so vertraut, dass sie sich wie zu Hause fühlte. Obwohl sie erst zum zweiten Mal hier war, kannte sie die Umgebung. Irgendwie ist es beruhigend, dachte sie, wenn man sich auskennt. Dann konnte man sich auch nicht verlaufen. William gab ja ziemlich mit seinem Kompass an, aber eigentlich brauchte man nur seine Augen. Unter ihr wurde Marys Stimme lauter, weil sie sich der >Hundert< näherte. Alice duckte sich tiefer hinter den Ginsterbusch und wartete mit klopfendem Herzen. Sie hatte
eigentlich gar nicht Versteck spielen wollen, weil sie es für eine ungeheure Zeitverschwendung hielt, aber nachdem sie einmal angefangen hatte, ließ sie sich doch vom Spiel mitreißen. Es war der erste Tag ihrer Osterferien – oder besser: ihr erster Tag in Golden House. Alle drei Kinder hatten das Osterwochenende bei Freunden in London verbracht und waren am Tag zuvor mit dem Zug angekommen. Phoebe hatte schon am Bahnhof auf sie gewartet. Sie waren durch die dunstige Abenddämmerung gefahren und hatten das Haus erst erreicht, als die Dunkelheit sich über das Tal legte. Jack wusch gerade seine Hände über der Spüle in der Küche, als sie hereinkamen. Von irgendwoher sprang Spot plötzlich laut bellend herbei und begrüßte Alice so ungestüm, dass er sie umwarf. Er leckte mit seiner nassen Zunge über ihr Gesicht und sie wehrte ihn glücklich ab. Stephanie hatte in ihrem Bettchen geschlafen, aber jetzt war sie wach und beteiligte sich mit lautem Brüllen an dem wilden Durcheinander. Das ganze Haus zitterte und bebte vor Krach. »O Gott«, rief Jack lachend und hielt sich die Ohren zu. »Ihr seid wieder da! Ich hatte ja völlig vergessen, was ihr Bande für einen Lärm veranstalten könnt!« Er schubste Spot von Alice weg, zog sie auf die Füße und drückte sie an sich. Später ging er mit ihnen zu ihren Zimmern oben an der Wendeltreppe über der großen Halle, setzte sich auf Marys Bett und unterhielt sich mit ihnen, während sie auspackten. Er berichtete von seinen Reparaturarbeiten am Haus und den Überraschungen, auf die er dabei gestoßen war. »Die Keller und die Dachböden und jede Menge altes Zeug und wer weiß, was sonst noch alles!«, erzählte er aufgeregt. Aber sie hatten
ihm nicht richtig zugehört. Sie wollten allein sein, damit sie wirklich genießen konnten wieder hier zu sein. Nicht mal unter sich, sondern jeder wollte ganz allein sein, zum Fenster laufen und herausschauen oder auf dem Bett liegen und zu der steil aufsteigenden Zimmerdecke mit den dunklen Holzbalken und den Spinnweben und dem weißen, bröckelnden Putz hinaufsehen. Dann hatte Phoebe nach ihnen gerufen und sie saßen um den Küchentisch und alle fingen gleichzeitig an zu erzählen, was seit dem letzten Zusammensein geschehen war. Sie aßen dicke Bohnensuppe und danach Gemüseauflauf und Pellkartoffeln mit Käsefüllung. Als Nachtisch gab es Siruptorte und Alice nahm sich eine zweite Portion und dachte einen Augenblick, gleich würde sie platzen. Aber die anderen achteten gar nicht auf sie und deshalb aß sie auch noch einen Apfel. Schließlich hatten sie genug Aufregungen für einen Tag gehabt und sich die Treppe in ihre Zimmer hinaufgeschleppt. Bevor die Uhr in der Halle neun schlug, lagen sie schon in ihren Betten und schliefen fest. Alice duckte sich tiefer in ihr Versteck und dachte, dass es eigentlich enttäuschend gewesen war. In der Schule hatte sie die ganze Zeit über von Golden House geträumt und von der geheimnisvollen Magie und besonders von Spot. Mit niemandem hatte sie über ihre Erlebnisse reden können. Mary war jetzt in einer anderen Schule, so dass sie sich nicht mehr ständig sahen, und William war in Yorkshire. Und am letzten Tag der Weihnachtsferien hatten sie natürlich den feierlichen Eid geschworen, mit niemandem sonst über die Ereignisse in Golden House zu sprechen. Nicht mal bei ihren Freunden in London hatten sie in Ruhe reden können. Eigentlich hatte sie gestern im Zug erwartet, dass einer von ihnen das Thema anschneiden würde, aber Mary und William hatten die Nase in ihre Bücher gesteckt und wollten nicht über den letzten Besuch in Onkel
Jacks Haus sprechen. Als Alice den Magier erwähnte, hatte Mary ihr unter dem Tisch gegen das Schienbein getreten und William hatte gezischt, sie solle die Klappe halten, jemand könnte sie vielleicht hören. Also hatte Alice sich auf ihre Hände gesetzt, mit den Beinen gebaumelt, eine kleine Melodie gesummt und düster aus dem Fenster gestarrt, bis sie in Bristol ankamen. Während sie auf den Anschlusszug warteten, konnte sie auch nicht reden, denn sie war zu sehr mit Würstchenessen beschäftigt. Einen Würstchenvorrat anzulegen schien eine vernünftige Maßnahme gegen das vegetarische Essen bei Phoebe. Das hatte sie lange im Voraus geplant. Wahrscheinlich würde ein Kamel sich auch so vorbereiten, dachte sie, wenn es eine lange Reise durch die Wüste machen müsste. Nur hatte sie keinen Höcker und nach der Hälfte ihrer dritten Riesenwurst wurde ihr ein bisschen schlecht, so dass sie den Rest auf dem Pappteller liegen lassen musste. Der Zug war voller Menschen gewesen und sie hatten noch nicht einmal zusammensitzen können. Alice ergatterte einen Fensterplatz und starrte auf die vorbeifliegende Landschaft. Die Würstchen lagen ihr wie ein Stein im Magen und die Heizung im Waggon bullerte mit voller Kraft. Sie fühlte sich erhitzt und missmutig. Sie hatte sich so darauf gefreut, aber William und Mary schienen alles vergessen zu haben. Das war mal wieder typisch für sie und ausgesprochen langweilig. Phoebe hatte sie an der Haltestelle Druce Coven abgeholt, und als sie einmal im Landrover saßen, gab es auch keine Gelegenheit mehr zum Reden. Als sie endlich am Haus ankamen, waren sie die ganze Zeit mit Onkel Jack zusammen, bis sie auf ihre Zimmer gingen. Da hatte Mary gesagt – fast widerwillig, war es Alice vorgekommen –, dass sie nach dem Abendessen eine Besprechung abhalten wollten. Aber als es so
weit war, konnten sie die Augen kaum noch offen halten und schliefen fast schon, noch bevor sie in ihren Betten lagen. So hatten sie erst am nächsten Morgen Zeit für sich selbst. Gleich nach dem Frühstück hatte Mary vorgeschlagen den Wald zu erkunden. »Geht nicht zu weit«, hatte Jack sie gewarnt. »Die Wege sind zwar gut zu erkennen, aber nach einer Weile wird alles ein bisschen verwirrend.« »Wir verlaufen uns schon nicht«, hatte William versichert. »Wir haben Orientierungsläufe in der Schule gemacht. Hast du eine Karte mit großem Maßstab, Onkel Jack?« Aber Jack hatte den Kopf geschüttelt und gemeint, dass er es noch nicht geschafft hätte, eine zu besorgen. Er hatte eine normale Karte, aber die Waldwege waren nicht darauf eingezeichnet. »Ihr braucht eine, auf der Wege und Pfade zu erkennen sind«, sagte er. Phoebe versprach eine mitzubringen, wenn sie später am Vormittag in die Stadt fuhr. »Eine Karte ist wirklich wichtig«, meinte William, »wenn wir alles genau auskundschaften wollen. Mit einer Karte und einem Kompass kann man sich gar nicht verlaufen.« Alice hatte geseufzt und sich eine patzige Bemerkung verkniffen. William war so aufgeblasen und in solchen Momenten hasste sie ihn. Aber sie hielt es für besser, sich nicht sofort mit ihm zu streiten. Nicht gleich nach ihrer Ankunft. Phoebe schlug vor, dass sie vielleicht mit ihr in die Stadt fahren sollten.
»Die Stadt ist wirklich recht nett. Es gibt sogar eine Burg. Na ja, eigentlich mehr einen Turm. Die Engländer haben ihn gebaut, um die Waliser zu unterdrücken. Oder vielleicht waren es auch die Waliser, um die Engländer abzuschrecken? Ich bin hoffnungslos schlecht in Geschichte!« Mary war hellhörig geworden, denn Geschichte war ihr Lieblingsfach, aber da hatte Alice die Nase voll. Sie konnte ihren Ärger kaum noch zurückhalten. »Wenn Mary jetzt Geschichte mit uns pauken will«, hatte sie verkündet, »dann gehe ich!« Damit war sie zur Hintertür gelaufen, um sich ihre Schuhe anzuziehen. William war der gleichen Meinung wie Alice, denn wenn Mary erst einmal anfing über Geschichte zu reden, konnte es Stunden dauern. Aber er schwieg und folgte Alice zur Tür. »Wenn du uns eine Karte mitbringen könntest«, sagte er, »wäre das wirklich gut. Man kann sich dann besser orientieren.« Aber er nahm seinen Kompass mit, und als sie alle ihre Schuhe angezogen hatten, spielte er sich ganz selbstverständlich als ihr Führer auf. Das machte Alice nur noch wütender und Mary blieb absichtlich zurück und machte deutlich klar, dass sie »nicht dazugehörte«. Sie waren durch den Küchengarten gegangen und weiter durch ein Tor in der Mauer, wo nach Onkel Jacks Beschreibung ein Waldweg hinter dem Grundstück entlanglief. William blieb auf dem Waldweg stehen und überlegte, in welche Richtung sie weitergehen sollten. Alice hatte ihn eingeholt, kurz danach auch Mary. »Ich glaube euch beiden einfach nicht!«, sagte Alice. Sie bemühte sich, nicht enttäuscht zu klingen, stattdessen hörte es sich ärgerlich an.
»Was ist denn los?«, fragte William und konzentrierte sich weiter auf seinen Kompass. »William!« Alice zitterte vor Wut. »Du kannst es doch nicht vergessen haben?« Aber William starrte seinen Kompass nur noch angestrengter an und Mary hatte sich ein Stück weiter weg mit dem Rücken zu ihnen an einen Zaun gelehnt. »Ich habe seit Weihnachten auf das hier gewartet…«, fing Alice wieder an, aber da wurde sie von Spots Bellen unterbrochen, der einen Moment später schwanzwedelnd aus dem Küchengarten auf sie zulief. »O Spot!«, rief Alice und schlang ihre Arme um den Hals des Hundes. »Du weißt es noch, oder? Du weißt noch, wie der Magier es geschafft hat, dass ich in dir war und mit deinen Augen gesehen und mit deiner Nase gerochen habe? Du weißt bestimmt noch, wie wir über den Schnee gejagt sind… Sag es mir bitte, Spot. Ich weiß, dass du es kannst. Du kannst doch in meinem Kopf sprechen, oder? Es ist wirklich passiert. Das haben wir doch gemacht, oder nicht? Bitte sag es mir endlich…« Aber Spot hatte sie nur mit schief gelegtem Kopf bittend angesehen, als ob er verzweifelt versuchen würde ihre Worte zu verstehen. Das war zu viel für Alice gewesen. Wenn Spot sich nicht erinnerte, dann niemand. Es bedeutete, dass sich niemand auf der Welt erinnerte… außer ihr. »Was ist hier los?«, fragte sie sich stirnrunzelnd. Sie hatte sich auf die Fersen gesetzt und sich dabei an der Wange gekratzt, was immer ein Zeichen dafür war, dass sie über etwas nachgrübelte.
Aber William drehte sich langsam um und sah sie an. »Natürlich erinnere ich mich«, sagte er mit leiser, zweifelnder Stimme. Dann guckte er schnell weg und widmete sich wieder seinem Kompass. »Wirklich?«, rief Alice erleichtert. »Ich dachte schon, ich würde verrückt. O Will, warum willst du dann nicht darüber reden?« »Ich habe viel darüber nachgedacht. Aber… es kann nicht passiert sein«, sagte William ruhig. »Ich meine… es ist nicht möglich.« »Es ist aber passiert«, warf Mary ein. »Irgendwie ist es passiert.« »Natürlich!«, rief Alice. »Was ist los mit euch? Warum seid ihr so komisch?« Sie kniete auf dem Boden und sah sie verzweifelt an. »Bin ich nicht«, antwortete William. »Ich weiß nicht. Es ist nur… na ja, es ist nicht möglich – Magie, meine ich. Also… wenn es nicht möglich ist… dann ist es auch nicht passiert.« »Aber wir wissen doch, dass es wirklich passiert ist!« Alice hätte ihn ohrfeigen können, weil er sich so dumm anstellte. »Was würdest du sagen, wenn es jetzt passiert? Dass du nur träumst? Dann möchte ich wissen, wie wir alle drei denselben Traum haben konnten. Das ist doch wirklich sehr merkwürdig!« »Wenn es noch mal passiert…«, antwortete William sehr langsam, »dann muss ich es wahrscheinlich glauben – wenigstens, solange ich hier bin. Aber als ich in der Schule war, schien alles so… unwirklich. Ist es euch nicht auch so gegangen? Ich konnte nicht darüber nachdenken, weil ich nicht mehr daran geglaubt habe.«
»Vielleicht weil du Angst hattest?«, fragte Mary ihn. »Nein!«, antwortete er gereizt. »Ich aber«, sagte Mary. »Ich musste aufhören daran zu denken, weil es mir Angst gemacht hat. Zum Beispiel…«, sie holte tief Luft, und als sie wieder sprach, war ihre Stimme nur noch ein Wispern, »… als ich in der Eule geflogen bin.« »Aber war das nicht wunderbar, Mary? Daran musst du dich doch erinnern?«, bohrte Alice weiter. »Es war das Schrecklichste, was mir jemals passiert ist«, flüsterte Mary und schüttelte fröstelnd den Kopf. »Lasst uns Verstecken spielen«, sagte sie und wechselte das Thema. Egal wie sehr Alice sich bemühte, die beiden wollten nicht mehr über dieses Thema sprechen. »Ich glaube, ihr seid verzaubert«, meinte sie mürrisch. »Jemand hat euch verzaubert, damit ihr so komisch seid.« »O Alice!«, stöhnte William und steckte seinen Kompass in die Tasche. »Es gibt keine Zauberei.« Bevor Alice protestieren konnte, hatte er abwehrend eine Hand gehoben. »Ich finde Marys Vorschlag gut. Lasst uns Verstecken spielen!«
2 »Ki-ki-ki!« »Achtundneunzig, neunundneunzig, HUNDERT!« Marys Stimme wurde noch lauter. »Ich komme!« Alice konnte ihre Schwester sehen, die am Fuß des Hügels auf dem schmalen Waldweg stand und sich langsam in der Umgebung umblickte. Sie sah, wie Mary die Augen dabei mit den Händen gegen die grelle Sonne schützte, die in der Frühlingsluft hinter den Wolken auftauchte und wieder verschwand. Ziel des Spieles war, dass man aus seinem Versteck zum Baumstamm rannte und ihn berührte. Dabei musste man »Eins, zwei, drei, frei!« rufen. Mary als die Sucherin musste die anderen daran hindern. Aber zuerst musste sie ihre Verstecke finden, sie dann fangen und abschlagen, bevor sie den Baumstamm erreichten. Eigentlich war es ganz einfach. Mary musste nur beim Baumstamm stehen bleiben, warten, bis einer sich näherte, und ihn dann jagen. Aber sobald sie den einen Mitspieler jagte, konnte der andere sich heimlich zu dem unbewachten Baumstamm schleichen. Es war das Beste, so nah wie möglich an den Baumstamm heranzukommen ohne entdeckt zu werden und dann blitzschnell hinzulaufen, wenn Mary gerade nicht hinsah. Alice merkte sofort, dass sie sich viel zu weit weg vom Baumstamm versteckt hielt. Aber auf den unteren Waldweg konnte sie nicht wieder zurück, weil Mary mit dem Zählen fertig war. Auf der Böschung, die sie hinaufgeklettert war, wuchsen Gräser, Farnkräuter, junger Adlerfarn, Brombeergestrüpp und dornige Wildrosen, aber nur ein paar verkümmerte Büsche, hinter denen sie sich nicht verstecken
konnte. Wenn sie auf diesem Weg zurückginge, würde Mary sie mit Sicherheit bemerken. Sie sah sich nach einer anderen Möglichkeit um. Sie brauchte unbedingt irgendeine Deckung. Ein schmaler Pfad, nicht mehr als eine Vertiefung im Gras, schlängelte sich an ihr vorbei zu den Ginsterbüschen, dann über ein Stück unbewachsenes Land bis in den dichteren Wald, an dessen Lichtung sie sich kauerte. Wenn sie den Schutz der Bäume erreichen könnte, überlegte sie, dann käme sie leicht zum Fuß der Böschung ohne gesehen zu werden. Das einzige Problem war das unbewachsene Stück Land. Unten auf dem Waldweg ging Mary langsam den Pfad in die Richtung, wo William sich versteckt hielt. Von ihrem Aussichtspunkt sah Alice, wie er hinter einem Baum direkt neben dem Pfad stand. Er konnte Mary wohl nicht sehen, denn einmal lugte er langsam um den Baum herum, zog sich aber schnell wieder zurück, als er überrascht merkte, wie nahe sie seinem Versteck schon war. Doch plötzlich drehte sie sich schnell nach einer Bewegung auf der anderen Seite des Pfades um. »Spot!«, schrie sie. »Ich sehe dich!« Und der Hund kam in großen Sätzen bellend aus dem Unterholz und sprang um sie herum. William nutzte die Gelegenheit, um aus seinem Versteck in Richtung Baumstamm zu rennen. »William!«, schrie Mary. »Ich sehe dich!« »Du musst mich erst abschlagen, Mary!«, rief ihr Bruder und lief ohne sich umzusehen weiter zum Baumstamm. Spot sah, dass William fortlief, und hielt das für ein viel besseres Spiel. Er rannte hinterher, sprang um seine Füße und zwang ihn dadurch den Weg zu verlassen und zwischen den Bäumen weiterzulaufen.
»Spot!«, schrie William lachend. »Hör auf damit. Du bist doch nicht auf Marys Seite…« Mary lief jetzt mit ausgebreiteten Armen auf William zu und versuchte ihn zu erwischen. Die ganze Zeit sprang Spot bellend und schwanzwedelnd zwischen ihnen herum und berührte sie fast gleichzeitig mit seinen Pfoten. Mary war abgelenkt, also rannte Alice den Wiesenpfad hinunter, duckte sich tief hinter die Ginsterbüsche und kroch fast über den unbewachsenen Teil des Hügels, wo sie leicht vom unteren Waldweg gesehen werden konnte. Aber Mary, William und Spot purzelten alle in einem lachenden und bellenden Knäuel über- und untereinander und achteten überhaupt nicht auf sie. Vor ihr ragte eine Reihe Tannen auf. Sie waren so dicht nebeneinander gepflanzt, dass sie zuerst dachte, sie könnte sich nicht hindurchzwängen. Aber der Pfad wand sich um einen der ersten Bäume, dessen schlanke Äste voller dunkelgrüner Nadeln fast bis auf den Boden reichten. Danach führte er durch eine Öffnung zwischen zwei weiteren Bäumen hindurch, die bis dahin nicht zu sehen gewesen waren. Sie stand mitten in einem düsteren Tannenwald. Nach dem strahlenden, windigen Tag war es hier plötzlich wie in einer anderen Welt. Das Licht wurde braun und schwach, es durchdrang kaum das dicke Geflecht von Zweigen ohne Nadeln. Nur an den grünen Spitzen, die irgendwo da oben bis zum Himmel reichten, konnte Alice erkennen, dass die Bäume überhaupt lebten. Der Waldboden war mit einer viele Jahre alten dicken Schicht Nadeln und Tannenzapfen bedeckt. Auf der sauren Erde wuchsen nur wenige, dünn in die Höhe geschossene Pflanzen. Ein paar Farnkräuter, wucherndes Efeu, lange, dornige Brombeerranken und an einer Stelle fast schwarze, übel aussehende Giftpilze. Aber am auffälligsten war die Stille. Der Wind draußen war frisch und belebend
gewesen. Hier presste er sich dumpf und fern heulend durch das Netz der ineinander verflochtenen Äste und Zweige. Kein Vogel sang. Sogar von Spots Bellen und Williams und Marys lachenden Stimmen war nichts mehr zu hören, als ob sie nicht mehr existierten. Die Luft hier roch nicht sauber und prickelnd, sondern schwer nach feuchtem Moder. Der Pfad war kaum noch zu sehen. Auf dem Boden lagen überall faulende Äste und umgefallene Tannen, unsicher eingeklemmt zwischen den Baumstämmen. Hier und da lagen mit Moos und dunklen Flechten bewachsene Steine und plötzlich ragten raue, dunkle Felsbrocken aus der Erde. Als Alice um eine dieser Felsnasen herumging, stellte sie überrascht fest, dass der Boden vor ihr fast senkrecht abfiel, in eine dunkle Mulde, wo die Bäume so dicht standen, dass sie wie eine Mauer aus Stämmen aussahen, durch die sie niemals hindurchpassen würde. Alice drehte sich um und verfolgte ihre Spur zurück zu der Stelle, wo sie in den Wald hineingegangen war. Sie mochte diese tote Halbwelt überhaupt nicht, in die sie da geraten war, und freute sich darauf, wieder herauszukommen. Aber sie konnte den Weg nicht erkennen. Alles sah hier so gleich aus, dass sie unsicher wurde, in welche Richtung sie gehen sollte. Sie folgte der schmalen Trittspur, die vermutlich von einem Tier stammte, bis zur Spitze des Hügels. Plötzlich konnte sie durch die Düsterkeit ein paar grüne Büsche und einen plötzlichen Sonnenstrahl sehen. Sie lief weiter und hoffte, dass sie vielleicht am Waldrand mit der Lichtung dahinter angekommen war, aber als sie das Licht erreichte, waren da nur ein paar Stechpalmenbüsche und ein Teppich aus langen, dünnen Gräsern, wo vor vielen Jahren ein paar Bäume gefällt worden waren. Die modernden Stämme lagen noch am Rand der kleinen Lichtung. Von allen Seiten bedrängte sie der dunkle, stille Wald und erstickte sie fast.
Sie drehte sich langsam einmal im Kreis und suchte nach irgendeinem Anhaltspunkt, der ihr die richtige Richtung zeigen würde. Aber es gab keinen. Wohin sie auch schaute, überall ragten Baumstämme in die Düsterkeit hinein. Jetzt wusste sie überhaupt nicht mehr, woher sie gekommen war und wohin sie gehen sollte. Alice hatte sich verirrt. »William!«, rief sie und kämpfte gegen die Panik an, die sie aus ihrem Magen aufsteigen fühlte. Ihr Herz schlug schneller und sie hatte einen Kloß im Hals. »William? Mary?«, rief sie noch lauter. Dann wartete sie ohne viel Hoffnung auf eine Antwort. Die Stille um sie herum war fast greifbar. Sie schien so undurchdringlich zu sein wie der große Kreis aus Baumstämmen um sie herum. Sie rief wieder, aber ihre Stimme hörte sich fremd an und so gedämpft und leblos, als ob sie in ein Kissen riefe. »William!«, schrie sie. Und: »Mary!« Sie zog die Wörter so lang und rief so laut, wie sie konnte. Aber niemand antwortete ihr. Nur die schreckliche Stille und ein furchtbares, brausendes Nichts. Schließlich setzte sich Alice auf den Stapel gefällter Baumstämme und steckte ihre Hände in die Anoraktaschen. Sie versuchte sich zu beruhigen und die Richtung wiederzuerkennen, aus der sie gekommen war. Sie dachte an Williams Prahlerei mit seinem Kompass, aber sie wusste, dass sie auch mit einem Kompass nicht den richtigen Weg finden würde. Sie überlegte, wenn sie ihre Spur zu der Felsnase zurückverfolgen könnte, dann würde sie schon ihren Pfad wiederfinden, aber mit einem ängstlichen Keuchen stellte sie fest, dass sie noch nicht einmal genau wusste, wie sie auf diese Lichtung gekommen war.
»Hilfe!«, flüsterte sie und blickte hinauf, wo ein Fleckchen blauer Himmel über ihrem Kopf leuchtete. Die Tannenspitzen schwankten und schaukelten im Wind und Wolken jagten über den Himmel. Es war so, als ob sie in einem dunklen Schrank säße und durch ein Schlüsselloch die helle Welt draußen sehen könnte. Alice holte tief Luft und verzog den Mund. Fliegen wäre der leichteste und sicherste Weg aus diesem Labyrinth. Aber das war natürlich nicht möglich. Es sei denn… »Wenn doch der Magier hier wäre«, dachte sie. »Er könnte mir helfen.« Ein winziger Punkt am blauen Himmel drehte seine Kreise über ihrem Kopf und wurde immer mehr zu einem Vogel, je näher er den Baumkronen kam. Alice fühlte auf seltsame Art, dass er sie ansah. Oder zumindest hoffte sie, dass er sie sehen konnte, weil er das einzige Lebewesen weit und breit war. Sie streckte ihre Hand nach ihm aus und wünschte, dass der Vogel nicht wegfliegen würde. Sie sah, wie er mit ausgestreckten Flügeln durch die Luft segelte. Sie hörte seinen Schrei, ein langes, klagendes »Ki-ki-ki«. Dann streckte er seine Krallen nach unten und ließ sich wie ein Stein fallen, um mit viel Flügelschlagen auf einem der höchsten Äste einer Tanne zu landen. Dort blieb er sitzen, beugte langsam seinen Kopf und spähte zu ihr herunter. Einen Augenblick lang bewegte sich keiner von ihnen. Die Augen des Vogels sahen wie kleine Lichtpunkte aus. Sie schienen Alice mit ihrem stechenden Blick festzuhalten, so dass sie wie angewurzelt dasaß. Aber sie hatte keine Angst. Der Blick war nicht unfreundlich, eher kühl und interessiert und fragend, wie bei einem Wissenschaftler, der durch ein Mikroskop schaut, oder einem Künstler, der einen Gegenstand betrachtet.
»Bitte«, wisperte Alice, »ich habe mich ein bisschen verirrt.« »Ki-ki!«, rief der Vogel. Der Schrei klang sehnsüchtig und erinnerte Alice an Hochmoore und einsame Landschaften. Ein kalter Schrei. Sie fröstelte. Sie steckte ihre Hände tiefer in die Taschen und biss sich auf die Unterlippe. »Ich war mit meinem Bruder und meiner Schwester zusammen«, fuhr sie fort, weil sie dachte, dass einer von ihnen etwas sagen sollte. »Wir haben Verstecken gespielt…« »Ki-ki!«, rief der Vogel. »Du gehörst nicht zufällig irgendwie zu dem Magier, oder?«, fragte Alice. Der Vogel ruckte seinen Kopf nach vorne und dann scharf zur Seite, als ob er zuhörte. Alice war von seinem Blick befreit und schaute schnell in dieselbe Richtung. Da hörte sie Spot bellen. »Spot!«, rief sie, sprang von den Stämmen und lief in die Richtung, aus der das Bellen kam. »Spot! Hier bin ich. Spot!« Als das aufgeregte Bellen näher kam, sah Alice noch einmal zum Baum hoch. Der Vogel streckte die Flügel aus und hob sich in die Luft. »Jetzt ist alles in Ordnung«, rief Alice. »Was du da hörst, ist mein Freund Spot. Er zeigt mir den Weg.« »Ki-ki!«, rief der Vogel, kreiste langsam über der Lichtung und war einen Moment später verschwunden.
3 Zwei Wege Spot merkte zuerst, dass Alice nicht da war. William und Mary saßen am Wegrand, noch ganz außer Atem nach ihrer anstrengenden Balgerei, als er plötzlich den Kopf hob und die Gegend hinter ihnen mit den Augen absuchte. »Was ist los, Spot?«, fragte Mary. »Hast du Alice gesehen?« Und sie sprang auf die Füße, drehte sich um und rief: »Komm raus, Alice! Wir sehen dich!« »Du lügst, Mary!«, sagte William und stand ebenfalls auf. »Du kannst sie überhaupt nicht sehen.« Dann runzelte er die Stirn. »Ich möchte wissen, wo sie ist.« »Immer noch versteckt«, antwortete Mary und suchte den Waldrand mit den Augen ab. »Du kennst Alice. Sie gibt niemals auf.« »Aber sie hatte jede Menge Gelegenheiten, zum Baumstamm zu kommen, während wir uns gebalgt haben«, sagte William und begann hinter Spot herzurennen, der schon fast oben auf der Böschung war und mit der Nase am Boden Alices Spur folgte. Spot fand die Stelle hinter dem Ginsterbusch, wo Alice gekauert hatte. Hier konnte er sie besonders stark riechen. Er wedelte kläffend mit dem Schwanz und suchte den Boden weiter mit seiner Nase ab. Dann hob er den Kopf und eine Vorderpfote und blickte auf die Bäume in einiger Entfernung. Dabei klemmte er den Schwanz zwischen die Beine und fing jämmerlich zu winseln an.
»Was ist, Spot? Was ist los?«, fragte William, der ihn eingeholt hatte und ihm beruhigend die Hand auf den Nacken legte. Dann sah auch er auf die dichten Tannen, die wie eine Wand vor ihnen aufragten. »Was gibt’s?«, fragte Mary. Sie kam ganz außer Atem den Hügel hinaufgelaufen. »Ich weiß nicht«, sagte William. »Es ist Spot. Irgendwas beunruhigt ihn.« Spot winselte und drehte sich immer wieder um sich selbst, als ob er nicht weiterlaufen wollte. »Da stimmt was nicht, Mary«, flüsterte William und kniete sich vor den Hund auf den Boden. »Was ist los, Junge?«, fragte er mit sanfter Stimme. »Ist was mit Alice? Ist sie in Gefahr?« Spots Winseln wurde zu einem Jaulen. Er sprang auf und ab, drehte sich um und begann sehr zögernd zu den Bäumen zu gehen. »Er will nicht da reingehen«, sagte Mary verwirrt. Dann fügte sie hinzu: »O Will, ich wünschte, die Magie würde wieder beginnen.« »Ich dachte, du hättest Angst davor«, murmelte William, als ob er sich die Magie noch immer nicht eingestehen wollte. »Wenn die Magie beginnen würde, dann könnte Spot mit uns reden. Das habe ich gemeint«, antwortete Mary. »Du glaubst also, es ist wirklich passiert?«, fragte William. »Ich weiß es«, antwortete Mary. »Und du auch. Tust du doch, oder?«
William seufzte. »Ja«, antwortete er, »aber nicht wie Alice. Ich bin nicht so sicher wie sie. Jetzt, wo wir wieder hier sind, fällt es mir leicht. Aber in der Schule schien alles so… unwahrscheinlich.« Er sah den Hund an. Spot hatte sich wieder mit ausgestreckten Vorderpfoten auf den Boden gelegt und starrte die Bäume an. »Du willst da nicht reingehen, oder?«, sagte William sanft zu ihm und kraulte ihn hinter dem Ohr. Der Hund schaute ihn winselnd von der Seite an. »Ist Alice da drin?«, fragte Mary und hockte sich auf die andere Seite neben Spot. Sie legte ihren Arm um ihn. Er winselte lauter und ängstlicher. William und Mary sahen sich an. » William zuckte mit den Schultern. »Mir ist es egal«, sagte er. »Es sind nur ein paar Bäume und davor habe ich keine Angst. Du etwa?« Mary schüttelte nachdenklich den Kopf. »Aber Spot«, antwortete sie. »Komm«, sagte sie sanft zu dem Hund. »Wenn Alice in Gefahr ist, müssen wir es tun, Spot. Und ich möchte, dass du bei uns bist. Bitte.« Der Hund stand langsam auf und leckte ihre Hand. Dann drehte er sich um, schnüffelte auf dem Boden herum und folgte mit gesenktem Kopf und langsam wedelndem Schwanz Alices Spur zu den Bäumen. Der düstere Wald umhüllte sie wie eine Nebelschwade. Sie mussten hintereinander hergehen und folgten Spot, der den Boden, die Baumstämme und sogar die Luft um sich abschnupperte, um Alices Spur zu finden.
»Er hat Schwierigkeiten, weil die Nadeln den Geruch überdecken«, rief Mary über ihre Schulter William zu, der ihr folgte. »Es ist schwer, ihre Spur zu finden.« William fasste sie an der Schulter. »Woher weißt du das?«, fragte er sie flüsternd. Mary blieb stehen und sah sich verwirrt und stirnrunzelnd nach ihm um. »Keine Ahnung«, antwortete sie. »Es ging mir gerade so durch den Kopf.« Sie drehte sich ruckartig zu Spot um, der immer noch vor ihr herlief. »Spot?«, rief sie. Er blieb sofort stehen. »Was?«, fragte Spot. »Du sprichst mit uns«, rief Mary aus. »Hast du das gehört, Will?« William nickte und ließ Spot dabei nicht aus den Augen. »Du sprichst mit uns, Spot«, sagte Mary wieder und streichelte seinen Kopf. »Nicht wirklich«, antwortete Spot. »Ich denke nur.« »Aber… wir wissen, was du denkst. Das ist die Magie, nicht? Der Magier lässt es geschehen.« Sie sah sich ungeduldig um und suchte unter den dichten Bäumen nach ihm. »Wo ist er nur?«, seufzte sie. »Ich wünschte, er wäre hier.« »Er muss nicht immer kommen, wenn wir ihn brauchen«, sagte Spot zu ihr. »Manchmal müssen wir die Dinge allein in die Hand nehmen.« Dabei sah Spot sich um, als ob auch er sich wünschte, dass Stephen Tyler, der Magier, auftauchen würde.
»Also – wenn Stephen Tyler dies nicht geschehen lässt…«, meinte William gedankenvoll. Dann brach er ab. »Was, Will?« »Dann müssen wir es selbst tun.« »Was denn?«, fragte Mary ungeduldig. »Spot hören… es ist nicht nur Magie. Es ist etwas… das wir tun… weil wir daran glauben, dass wir es können.« »Das ist das Geheimnis der Magie«, sagte Spot. »Der Glaube daran.« Er grollte die Worte sehr leise. »Ja«, sagte William nachdenklich. »Aber um zu glauben, muss man irgendwie… das Fragen aufgeben. Es ist mehr wie… aufzuhören nicht zu glauben. Als ich in der Schule war, konnte ich nicht glauben, was hier passiert ist… weil nichts einen Sinn ergab. Ich stellte mir Fragen und… konnte den Antworten nicht trauen. Ich hab es einfach nicht geglaubt.« »Also, dann lass uns damit anfangen, zu glauben, dass wir Alice finden«, schlug Mary vor. »Ich mag diesen Wald genauso wenig wie Spot.« Und sie rief: »Alice? Alice, wo bist du? Alice?« Der Klang ihrer Stimme verlor sich zwischen den Bäumen. »Welche Richtung, Spot?«, fragte William. Der Hund sah sich um, schnupperte und horchte mit schief gelegtem Kopf und aufgestellten Ohren. Seine Nackenhaare standen hoch. »Das ist das Üble an diesem Ort«, grollte er. »Er ist tot.« »Tot?«, fragte Mary und betrachtete die hohen, braunen Stämme.
»Nein, die Bäume leben«, antwortete Spot. »Aber sie sind nicht natürlich. Dieser Wald war einmal hell und licht. Man konnte nirgendwo so viele Grüntöne sehen wie hier. Der Boden war im Frühling mit Glockenblumen und süß schmeckendem Gras bedeckt. Es gab Beeren und Schmetterlinge… Die Sonne strahlte durch die Äste und im Sommer war es schön kühl. Im Herbst fielen die Blätter und bedeckten den Boden wie ein braunroter Teppich – so eine Farbe habt ihr noch nie gesehen. Und wenn es Winter wurde, dann lag der Schnee an manchen Stellen so hoch, dass man kaum hindurchkam.« »Aber das muss eine Ewigkeit her sein, Spot«, sagte William und folgte dem Hund, der vor ihnen herschnüffelte. »Lange bevor du geboren wurdest. Ich glaube, diese Bäume stehen schon ewig hier.« Spot sah sich um und grollte. »Du tust es schon wieder«, sagte er. »Nachdenken.« William runzelte die Stirn und schwieg. Das ist ja alles gut und schön, dachte er. Aber das war es doch, was Menschen konnten – ihren Kopf zum Denken benutzen. Das machte sie doch den Tieren überlegen. »Wenn Menschen uns wirklich überlegen sind«, antwortete Spot ohne sich umzublicken, »wie kommt es dann, dass sie diesen Wald so zugrunde richten konnten? Die meisten Tiere, die hier gelebt haben… sind nicht mehr da.« Die letzten Worte seufzte er so traurig, dass Mary fröstelte. »Ich verstehe nicht, wieso du die Menschen dafür verantwortlich machst«, sagte William. »Sie mussten den Wald nutzbar machen, so wie Bauern die Felder.« »Aber sie haben die richtigen Bäume gefällt und stattdessen diese hier gepflanzt«, grollte Spot. »Solche Bäume wachsen normalerweise nicht hier. Sie haben sie gepflanzt,
weil sie schneller wachsen, das war alles. Die Vögel nisten nicht auf ihnen und die Pflanzen können nicht unter ihnen wachsen. Nichts lebt hier mehr…« Sie kamen zu einer Stelle, wo eine Felsnase vor ihnen aus dem Boden ragte. Zu beiden Seiten fiel der Boden steil ab. Spot führte sie auf die Spitze des Felsens, wo er durch die Bäume brach, als ob er in den Himmel steigen wollte. Unter ihnen und um sie herum erstreckte sich der Wald bis zum Horizont. Die Tannenspitzen standen in geraden Linien, so wie sie gepflanzt worden waren. »Es sieht aus wie ein Gitter«, überlegte Mary laut. Und das stimmte. Von ihrem Aussichtspunkt aus sah der Wald sauber und ordentlich aus. Alle Bäume hatten die gleiche Höhe und standen in geraden, gleichen Reihen auf den Hügeln und in den Mulden der Landschaft. William zeigte auf etwas. »Seht mal da drüben«, sagte er. Der Hügel weiter weg, auf den er deutete, stach aus der Landschaft wie eine grün und weiß blühende Oase. »Blüten«, sagte Mary und freute sich an dem Anblick. »Echte Bäume«, sagte William. »So sah es hier früher auch aus«, sagte Spot. »Können wir mal dahin gehen?«, fragte Mary. »Ihr könnt überall hingehen«, antwortete der Hund. »Nur geht ihr besser nicht allein und entfernt euch nicht zu weit von den bekannten Wegen.« Da erinnerten sich die Kinder wieder an Alice. »Hilfe«, murmelte Mary. »Sie könnte überall sein.« Dann hielt sie den Atem an. »He!«, sagte sie. »Ist da unten nicht so
was wie ein Weg?« Sie zeigte auf eine braune Linie, die schnurgerade zwischen die Bäume geschnitten zu sein schien. Dieser Spalt reichte bis zu der steilen Böschung weiter weg und verschwand zwischen den Bäumen hinter ihnen. »Dahinten ist noch einer«, sagte William und zeigte in die Ferne, wo ein hellgrüner Streifen die düstere Regelmäßigkeit des Waldes unterbrach. Auch dieser schmale Weg führte die Böschung hinauf und verlor sich in den Bäumen hinter ihnen. »Der Helle und der Dunkle Weg«, grollte Spot. »Ihr dürft nie den Dunklen Weg gehen. Niemals.« »Wohin führt der?«, fragte Mary und schaute die braune Linie an. »Immer tiefer in den Wald. Das ist kein guter Ort. Wir gehen nie dorthin.« »Und der andere?«, fragte William und betrachtete den grünen Weg. »Er geht auch tief in den Wald.« »Ist er sicher?« »Das müsst ihr den Magier fragen«, antwortete Spot. »Der Magier«, sagte Mary wehmütig. »Wenn er nur hier wäre! Wir werden Alice zwischen diesen Bäumen niemals finden. Sie kann überall sein.« »Können wir ihn nicht irgendwie herbeirufen, Spot?«, fragte William. »Aha, jetzt glaubst du also wieder an ihn, wie?«, sagte der Hund und starrte ihn unverwandt an. »Ich habe nie nicht an ihn geglaubt«, protestierte William ein bisschen verärgert. »Es war nur… ach, das kann ich einem
Hund doch nicht erklären. Wieso rede ich überhaupt mit einem Hund? Die Jungs in der Schule würden meinen, ich hätte nicht mehr alle Tassen im Schrank.« »Das denkst du also?«, fragte Spot. »Dass du nicht mehr alle Tassen im Schrank hast?« »Nein, das denkt er nicht«, sagte Mary fest, bevor William antworten konnte. »Und jetzt bitte, Spot, beantworte Williams Frage. Können wir irgendwie den Magier rufen? Ich meine, dass er zu uns kommt?« »Ich denke schon, dass er kommen würde, wenn ihr ihn genug braucht«, antwortete der Hund. Er sah in den Himmel hinauf und wedelte langsam mit dem Schwanz. »Aber wie können wir ihn rufen?«, fragte Mary weiter. »Das braucht ihr nicht«, antwortete Spot. »Er kommt einfach… Hört mal!« Er bellte das letzte Wort mit vorgestrecktem Kopf und erhobener Vorderpfote und horchte auf ein fernes Geräusch. »Ki-ki!« »Was ist das?«, fragte Mary und suchte den Himmel nach der Quelle des seltsamen, traurigen Rufes ab. »Ein Turmfalke«, sagte William und da sah er den Vogel. Hoch über ihnen zog er seine Kreise. »Ki-ki-ki!«, rief er wieder. William und Mary sahen ihn plötzlich wie einen Stein fallen und irgendwo in den Bäumen verschwinden. »Kommt mit«, sagte Spot. Er trabte zurück in den Wald. »Wohin gehen wir?«, fragte William und folgte ihm.
»Du verstehst wirklich nichts, was?«, sagte Spot. Dann fing er an zu bellen und einen Augenblick später hörten sie weit weg, aber trotzdem deutlich eine Stimme, die nach ihnen rief. »Das ist Alice!«, sagte Mary aufgeregt. »Natürlich ist sie das«, sagte Spot. »Kommt mit.« »Aber in welche Richtung?«, wollte William wissen. »Ki-ki-ki!«, rief der Turmfalke und erschien wieder über den Bäumen. Sie beobachteten, wie er sich immer höher schraubte und seine Rufe schwächer wurden. Schließlich verschwanden seine Umrisse im blauen Himmel. »Mr. Tyler!«, rief William unwillkürlich und rannte dabei mit ausgestreckten Händen vorwärts, als ob er den Vogel aufhalten wollte. »Wo?«, fragte Mary und sah sich mit neuer Hoffnung um. »Der Turmfalke«, antwortete William. »Aber – er ist weg«, sagte Mary. »William! Mary! Spot!«, hörten sie Alice ganz aus der Nähe rufen. »Er hat uns gezeigt, wo sie ist«, sagte William ruhig. »Oh«, sagte Mary. »Dann ist er also wirklich gekommen, um uns zu helfen.« Vor ihnen bellte Spot aufgeregt. Er wich beim Laufen Baumstämmen aus und rannte über den weichen, braunen Untergrund zu einem fernen, grünen Schimmer. Ein dünner Sonnenstrahl zeigte ihnen die Lichtung, wo Alice auf sie wartete.
4 Brock Alice saß auf einem Stapel Baumstämme am Rand der Lichtung, hatte die Hände in die Anoraktaschen gesteckt und sah so aus, als ob sie jetzt wirklich genug hätte. »Wieso habt ihr so lange gebraucht?«, fragte sie vorwurfsvoll. »Wirklich, Alice!«, fuhr Mary sie an. »Du könntest zumindest ein bisschen dankbar sein.« »Ich bin jetzt schon ewig in diesem blöden Wald«, sagte ihre Schwester und trampelte heftig mit den Füßen auf den Boden. Mary und William tauschten einen Blick und schwiegen. Es gab Zeiten, da ging man besser nicht auf Alices Launen ein. »Wir sind noch nicht wieder aus dem Wald heraus«, grollte Spot. Er klang nicht sehr zuversichtlich, als ob er wüsste, dass sie sich immer noch verirrt hatten. Aber beim Klang seiner Stimme sprang Alice erfreut auf. Ihre Laune besserte sich sofort. »Spot!«, rief sie und Kummer und Angst waren vergessen. »O Spot! Du hast gerade gesprochen!« »Wirklich?«, sagte der Hund müde. »Das hast du vorhin noch nicht getan. Du hast überhaupt nichts zu mir gesagt, obwohl ich dich so sehr darum gebeten habe.«
»Ich habe die ganze Zeit mit dir gesprochen«, grollte der Hund. »Du hast bloß nicht zugehört.« »Nicht zugehört!«, protestierte Alice. »Ich wollte mehr als alles auf der Welt, dass du mit mir sprichst.« »Na gut, dann hast du nicht richtig zugehört«, antwortete der Hund schroff. »Ich konnte dich hören. Aber du warst so damit beschäftigt, mich antworten zu hören, dass du nicht bemerkt hast, als ich es tat.« Aber als er sah, wie niedergeschlagen Alice nach diesem Tadel aussah, tat sie ihm sofort Leid und er leckte ihre Hand. Alice streichelte den Kopf des Hundes, der vor ihr saß und seine Schnauze auf ihre Knie gelegt hatte. William und Mary setzten sich auf die Baumstämme. Alle schwiegen gedankenverloren. »Es ist wirklich sehr seltsam«, sagte Alice schließlich und sah ihren Bruder und ihre Schwester an. »Überhaupt nicht so, wie ich gedacht hatte. Ich meine… Ich dachte, wir kommen zurück nach Golden House… und die Magie würde sofort wieder einsetzen… und der Magier wäre da…« »Er war da«, sagte William traurig zu ihr. Dabei blickte er zu dem Fleck blauen Himmels über ihren Köpfen. »Wo?«, rief Alice. »William glaubt, dass der Vogel Stephen Tyler war«, erklärte Mary ihr. »Welcher Vogel?«, wollte Alice wissen. »Der hier über die Lichtung geflogen ist«, antwortete Mary. »Der Turmfalke«, sagte William ruhig.
»Ihr habt ihn gesehen?«, fragte Alice. Mary nickte mit dem Kopf. »Es war so, als ob er uns zeigen würde, wo du warst«, erzählte sie Alice. »Wenigstens haben wir dich rufen hören, kurz nachdem wir den Vogel gesehen hatten.« »Ich glaube nicht, dass der Vogel Stephen Tyler war!«, sagte Alice. »Er hat mir wirklich Angst gemacht. Wie diese Dinger in der Wüste… wie heißen die Vögel nochmal, die darauf warten, dass die Leute sterben?« »Geier«, antwortete Mary. »Also für mich sah er so aus«, sagte Alice. »Er hatte wirklich komische Augen. Sie haben richtig in mich hineingestarrt. Er hat bestimmt bloß darauf gewartet, dass er mich fressen kann.« »Aber das ist es doch«, sagte William. »Erinnerst du dich nicht mehr? Genauso hat der Fuchs geschaut… wirklich tief in einen hinein.« »Die Eule auch«, stimmte Mary zu. Dann drehten sich alle um und sahen Spot an, der sie genauso anstarrte. »Und Spot«, sagte Alice ruhig. »Du guckst genauso. Heißt das, dass der Magier gerade in dir ist? Jetzt im Moment, Spot?« Aber der Hund legte nur seinen Kopf auf die Seite und wedelte ein bisschen mit dem Schwanz. »Manchmal«, sagte Mary nachdenklich, »ist es so, als wäre er einfach nur ein ganz normaler Hund.«
»Vielleicht weil ich genau das bin«, grollte Spot. »Ganz normal. Ihr seid seltsam, nicht ich!« Dann gähnte der Hund, streckte seine Beine nach vorne und leckte eine seiner Pfoten. Sie schwiegen wieder. Der Wald um sie herum beobachtete sie und wartete. »Wirklich!«, sagte Alice schließlich fröstelnd. »Ich hasse diesen Ort.« »Ja«, stimmte William zu. »Wir sollten besser gehen. Es muss schon fast Mittag sein.« Er sah sich langsam auf der Lichtung um. »Aber… in welche Richtung, Spot?«, fragte er. Spot blickte sich ebenfalls um und schnupperte in die Luft. »O Mist!«, sagte Alice und kratzte sich an der Wange. »Jetzt habe ich wirklich Hunger!« »Es ist auch schon ziemlich spät«, sagte Mary und sah auf ihre Uhr. Alice hatte keine Uhr. Doch, eigentlich besaß sie eine. Sie hatte sie vor einem Jahr von ihren Eltern zu Weihnachten bekommen. Aber sie war nie richtig gegangen, und nachdem sie ein paar Mal repariert worden war, wurde beschlossen, dass Alice zu den Leuten gehörte, die keine Uhr tragen konnten, weil sie selbst zu sehr unter Strom standen. Nach dieser Enthüllung hatte Alice versucht eine Glühbirne zum Leuchten zu bringen, indem sie sich damit durch ihre Haare strich, aber ohne Erfolg. Das Äußerste, was sie erreichen konnte, war ein schwacher Stromschlag beim Öffnen der Autotür oder ein knisterndes Geräusch, wenn sie ihren Pullover auszog. Aber keine dieser Erscheinungen, das musste sie sogar selbst zugeben, war wirklich ein welterschütternder, wissenschaftlicher Durchbruch. Sobald es um Tageszeiten ging, behauptete sie jedoch, dass ihr Magen besser als jede
Uhr funktionierte und sie deshalb immer genau wüsste, wie spät es sei. »Es ist Zeit zum Mittagessen«, verkündete sie, »und ich habe wirklich Hunger. Ich könnte mindestens sieben Würstchen essen.« Würstchen waren ihr Lieblingsessen. »Spot!«, jammerte sie, »führ uns bitte hier raus!« Sie ging zu dem Hund, der sehr interessiert auf dem Boden herumschnüffelte, und legte ihren Arm um seinen Hals. »Ein Dachs!«, sagte Spot und sah grinsend zu ihr auf. Sie drehten sich beide um und schnupperten wieder am Boden entlang. Auch Alice konnte den scharfen, stechenden Geruch riechen. Er war so stark, dass sie einen Augenblick lang glaubte, ihr würde schlecht. Sie zog sich aus dem Hund zurück und sah sich nach William und Mary um. »Igitt!«, schüttelte sie sich. Dann merkte sie, was gerade geschehen war, und setzte sich auf ihre Fersen. »William!«, wisperte sie. »Gerade ist es wieder passiert.« »Was?« Er hörte sich ein bisschen gereizt an. William war nicht gerne verirrt. Er fühlte sich in seiner männlichen Ehre gekränkt, weil er dadurch wie ein Waschlappen aussah. Diese Gefühle hatten ihn erst kürzlich befallen, eigentlich hatte es ihn bis zu diesem Augenblick kein bisschen interessiert, ob er männlich oder ein Waschlappen war. Aber jetzt fühlte er sich aus irgendeinem unerfindlichen Grund persönlich durch die missliche Lage beleidigt, in der sie sich befanden. Er hatte deshalb überhaupt keine Lust, Alice zuzuhören, die von den Stämmen gesprungen war und ihn und Mary mit leuchtendem Gesicht ansah. »Ich war in Spot«, sagte sie. »Ich habe durch seine Nase gerochen.«
»O Alice!«, stöhnte William unwirsch. »Aber es ist wahr!«, protestierte Alice. »Ist es nicht«, sagte Mary. »Ich habe dich die ganze Zeit beobachtet. Du hast nur einfach neben ihm gekniet.« »Ich habe durch seine Nase gerochen, Mary«, beharrte Alice. »Wirklich. So wie damals, weißt du noch? So wie du mit der Eule geflogen bist…« »Ich habe dich beobachtet, Alice«, sagte Mary. »Und du hast einfach nur neben ihm gekniet.« Bevor Alice antworten konnte, sprang schwanzwedelnd vorwärts, die Nase dicht am Boden.
Spot
»Kommt mit«, bellte er. »Hier lang!« Die Kinder mussten laufen, um mit ihm Schritt halten zu können. Sie wichen Bäumen aus und zwängten sich durch Zweige. Sie überquerten düstere Lichtungen ähnlich der, auf der sie Alice gefunden hatten. Manchmal mussten sie um Tümpel mit dunklem, stehendem Wasser gehen oder über schlammige, nasse Pfade springen. Sie rutschten in Mulden und kletterten außer Atem steile Böschungen hinauf. Die ganze Zeit umgab sie das braune Halblicht und die reglosen Bäume umzingelten sie von allen Seiten. Die einzigen Geräusche waren das Getrappel ihrer Füße auf der dunklen Erde und das Knacken von trockenen Zweigen. Schließlich kamen sie zu einer Stelle, wo ein breiter Weg ihren Pfad kreuzte. Die Bäume lehnten sich über der Schneise aneinander und waren mit Kletterpflanzen bewachsen. Auf dem Boden darunter wucherten Unkräuter und Holz verfaulte. Scheußliche Giftpilze wuchsen aus morschen Baumstümpfen und tote Äste ragten wie schwarze Tierknochen aus dem Unterholz.
Spot blieb am Wegrand stehen. Er lief zwischen zwei Bäumen hin und her ohne einen Fuß auf den Weg vor sich zu setzen. Seine Nackenhaare sträubten sich. Ein leises Grollen kam aus seiner Kehle. Sein Schwanz peitschte zornig über den Boden. »Was ist los?«, wisperte William, der die Unruhe des Hundes spürte. »Spürst du es nicht?«, grollte Spot, während er den Weg nicht aus den Augen ließ. William sah sich um. Er konnte nichts Ungewöhnliches entdecken. »Was denn?«, fragte er und trat aus dem Schutz der Bäume auf die Mitte des Weges. Spot bellte kurz und sprang vom Weg zurück. Dabei stieß er Mary an, die direkt hinter ihm stand. »Was ist?«, fragte sie und legte ihm eine Hand auf den Rücken, um ihn zu beruhigen. Der Hund neben ihr zitterte. »Kommt weiter«, rief William. »Wir können auf dem Weg viel leichter gehen. Er muss ja irgendwohin führen.« »Nein!«, bellte Spot. »Das ist kein guter Ort.« »Ist das der Weg, den wir vom Felsen aus gesehen haben?«, fragte Mary und fröstelte plötzlich. »Den du den Dunklen Weg genannt hast?« »Ihr müsst es spüren«, bat Spot inständig. »Ich fühle mich ein bisschen… kalt«, sagte Mary schließlich. »Aber es ist nicht schlimmer als anderswo in diesem scheußlichen Wald«, rief William.
Nur Alice blieb still. Sie stand unschlüssig am Wegrand und steckte zur Beruhigung ihre Hände in die Taschen. »Du spürst etwas, oder?«, sagte Spot zu ihr und stieß sie mit seiner Nase an. »Stimmt, ich mag es hier nicht besonders«, sagte sie zaghaft. »Was ist das für ein Ort, Spot?« »Der Dunkle und Schreckliche Weg«, sagte der Hund ruhig. »Kein Tier kommt hierher. Nicht freiwillig. « Dann schnupperte er wieder erstaunt auf dem Boden. »Aber der Dachs ist hier hergegangen«, sagte er schließlich, hob seinen Kopf und blickte über den Weg auf die gegenüberliegenden Bäume. Dann fing er plötzlich unheimlich lang und hoch zu jaulen an. Es klang fast wie das Heulen eines Wolfes in der Nacht, schauerlich und traurig. »Spot«, rief Alice und schlang tröstend die Arme um seinen Hals. »Was ist mit dir?« Und sie war so voller Mitleid, dass sie fast geweint hätte. Einen Augenblick später fand William den Grund für den Kummer des Hundes. Auf der anderen Seite des Weges entdeckte er, halb unter einem Hügel aus Zweigen im Unterholz versteckt, den leblosen Körper eines Dachses. Es sah aus, als ob das Tier versucht hatte unter den Zweigen Schutz und Wärme zu finden. Es blutete am Nacken, als ob es von einem wilden Tier angegriffen worden wäre. »Nein!«, rief William entsetzt aus. Dann drehte er sich um, damit er das traurige Bild nicht länger ansehen musste. »Was ist?«, fragte Alice und rannte zu ihm. »Sieh nicht hin«, sagte William und hielt sie auf. »Ich glaube, es ist ein Dachs. Er ist tot.«
Spot lief schnell über den Weg zu dem toten Dachs. Er beschnüffelte ihn traurig und winselte dabei. »Brock!«, rief er jämmerlich. Dann bellte er laut und zornig und knurrte den Wald an, als ob er auf eine seltsame Art die Bäume oder den Ort selbst für das Schicksal des Dachses verantwortlich machen wollte. »Es geschieht wieder«, grollte er. »Es geschieht wieder.« Immer noch murrend und bellend ging er auf der anderen Seite des Weges in den Wald hinein. »Kommt jetzt mit«, jaulte er auf, »wenn ihr zur Fütterung wollt.« Damit verschwand er unter den Bäumen. Mary lief über den Weg zu William und Alice. »Ich habe noch nie einen Dachs gesehen«, sagte sie und starrte den leblosen Körper an. »Wie ist er gestorben?«, fragte Alice traurig. »Ich glaube, er ist angegriffen worden«, sagte William. »Das arme Tier«, schluchzte Alice und kämpfte mit den Tränen. »Ich mag diesen Wald überhaupt nicht, William.« Sie nahm seine Hand. »Ich auch nicht«, stimmte ihr Bruder zu. »Kommt schon«, bellte Spot weiter weg ungeduldig. »Hier unten ist ein Weg.« »Wir sollten besser gehen«, sagte Mary. »Wir kommen sonst gleich am ersten Tag zu spät.« Und sie folgte dem Klang von Spots Bellen. Als William sie wegzog, sah Alice den toten Dachs ein letztes Mal lange an, dann rannten sie Hand in Hand fort von dem Dunklen und Schrecklichen Weg.
5 Die Schrift auf dem Boden Phoebe stand am Herd und rührte in einem Kochtopf, als sie hereinkamen. »Da seid ihr ja«, sagte sie und blickte auf. »War euer Spaziergang schön? Das Mittagessen ist fast fertig.« William lief nach oben und Alice ging Onkel Jack suchen, der >irgendwo im Haus< war, wie Phoebe ihnen sagte. »Ich weiß nie genau, wo. Manchmal bin ich ganz heiser von der vielen Ruferei. Sagt ihm, das Essen steht auf dem Tisch, ja?« Stephanie lag in ihrem Bettchen und wachte beim Geräusch ihrer Stimmen plötzlich auf. Mary ging zu ihr, nahm sie ohne um Erlaubnis zu fragen auf den Arm und drückte sie. »Das ist deine Patentante, Stephanie«, sagte Phoebe. Dabei schüttete sie den Inhalt des Kochtopfs in eine große Schüssel. »Erinnerst du dich an Mary?« »Ich glaube, das kann sie nicht«, sagte Mary schüchtern. »Das sollte sie aber!«, rief Phoebe aus. Sie legte Besteck auf den Tisch und stellte ein großes Brot auf einem Brett in die Mitte. »Ohne deine Hilfe hätte sie es schwer gehabt, auf diese Welt zu kommen.« »O Stephanie!«, sagte Mary und wiegte sie hin und her. Sie war plötzlich überwältigt von einem Gefühl der Traurigkeit und Tränen schossen ihr in die Augen. »Was ist los?«, fragte Phoebe sofort besorgt.
»Nichts«, sagte Mary und kämpfte mit den Tränen. »Wir haben einen toten Dachs gesehen, das ist alles.« Phoebe wischte sich stirnrunzelnd ein paar Haare aus der Stirn. »Du liebe Güte!«, rief sie aus. »Wie schlimm für euch alle! Aber das ist die Natur, nicht? Ein Wald ist nun mal voll von Leben und Tod.« Sie fröstelte. »Ich fühle es manchmal überall um mich herum. So viel Leben, so viel Überlebenskampf, so viel Jagd und Töten.« Dann zuckte sie die Schultern, als ob sie einen unerfreulichen Gedanken abschütteln wollte. »Die Natur ist grausam – wenn man den Tod für grausam hält. Aber auf seine Art ist er Teil eines Kreises, nicht wahr? Ich denke, wenn wir nur wüssten, wo, dann fänden wir jetzt einen kleinen Dachs, der gerade sein Leben beginnt, so wie Stephanie, und alles noch vor sich hat. Manchmal sehe ich sie an und bin… überwältigt davon, wie bereit und erwartungsvoll sie ist. Wie absolut zäh sie ist. Wirklich.« Sie nahm Mary in den Arm. »Sei nicht traurig. Bitte.« »Bin ich nicht«, sagte Mary verlegen durch diese unerwartete Zuneigung. »Soll ich sie wieder in ihr Bettchen legen?« »Ja«, sagte Phoebe. »Ich füttere sie später.« Alice und Jack kamen beide kichernd herein. »Onkel Jack, Onkel Jack! Was ist ölig und glotzt?«, schrie Alice. »Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht«, rief Jack und gab sich geschlagen. »Fettaugen!«, sagte Alice und fing wieder an zu kichern. »Der Witz ist albern, Alice«, sagte Mary. »Und ziemlich alt.« Alice zuckte die Schultern. »Onkel Jack kannte ihn noch nicht.«
»Wo ist William?«, fragte Phoebe. »Auf der Toilette, glaube ich. Ich hole ihn«, sagte Alice und ging wieder in die Halle. Einen Augenblick später hörten sie, wie Alice, so laut sie konnte, seinen Namen brüllte. Als William wieder herunterkam, setzten sie sich zum Essen. Phoebe hatte einen Gemüseeintopf gemacht, den sie Ratatouille nannte. »Aber ich dachte, du wärst ein Gemüseesser, Phoebe«, protestierte Alice. »Aber es ist Gemüse!«, sagte Phoebe zu ihr. »Ist es nicht. Es ist Ratte!«, sagte Alice kichernd und ließ sich ihr Essen schmecken. William und Mary tauschten einen verzweifelten Blick aus. »Manchmal ist sie so«, erklärte William. »Habt ihr einen schönen Spaziergang gemacht?«, fragte Jack. »Ja, war gut. Wir haben uns ein bisschen verlaufen. Hast du an die Karte gedacht, Phoebe?«, fragte William. »Ich bin doch nicht in die Stadt gefahren. Ich gehe morgen. Tut mir Leid.« »Macht nichts«, sagte William. »Spot hat uns den Weg gezeigt«, sagte Alice. »Was habt ihr gesehen? Was habt ihr gemacht?«, fragte Jack beim Brotschneiden. »Einen toten Dachs«, sagte Mary ruhig. »Ich glaube, wir hätten ihn begraben sollen«, fügte sie zu William und Alice gewandt hinzu.
»Das konnten wir nicht. Wir hatten keinen Spaten oder so was.« »Ich mag gar nicht daran denken, wie er einfach so daliegt«, beharrte Mary. »Ach hör auf, Mary. Ich will gar nicht mehr daran denken«, sagte Alice bedrückt. »Vielleicht könnten wir das morgen tun«, sagte William nachdenklich. »Was?«, fragte Alice. »Den Dachs begraben«, antwortete er. »Ich will nicht wieder dahin zurück«, sagte Alice. Sie blickte auf ihren Teller, damit sie die anderen nicht ansehen musste. »Ich glaube, Will hat Recht«, sagte Mary. »Ich bin dafür, dass wir das arme Tier begraben.« »Da bin ich mir nicht so sicher«, unterbrach Phoebe und sah Jack nervös an. »Er könnte jetzt schon voller Krankheiten stecken und überhaupt ist es der natürliche Weg ihn einfach liegen zu lassen. Er ist wahrscheinlich Futter für andere Tiere.« »Wie ekelhaft!«, rief Alice aus. »Daran will ich erst recht nicht denken.« »Vielleicht solltest du >Gemüseesser< werden, Alice«, sagte Phoebe augenzwinkernd. Alice schmollte und sah wieder auf ihren Teller hinunter. Sie hatte das Gefühl, dass Phoebe sie auslachte, und das gefiel ihr überhaupt nicht.
»Würstchen liegen nicht einfach so im Wald rum«, sagte sie ärgerlich. »Und wenn doch, dann würde ich sie als Erste essen.« »Aber doch nicht roh, Alice!«, rief William aus. »Ach halt die Klappe, William«, rief seine Schwester aus. »Ich sag euch was«, unterbrach Jack sie. »Ich komme morgen früh mit euch und wir beerdigen den Dachs alle zusammen. Was haltet ihr davon?« Die Kinder waren begeistert, aber Phoebe schüttelte den Kopf. »Haltet Stephanie und mich da raus. Ich habe noch nie einen lebendigen Dachs im Wald gesehen und ich will jetzt keinen toten sehen. Vielen Dank.« »Wir dürfen uns nur nicht so lange damit aufhalten«, fuhr Jack fort. »Ich habe furchtbar viel zu tun und muss auch noch in die Stadt fahren.« »Musst du das?«, fragte Phoebe. »Kann ich das nicht für dich erledigen?« »Gerne, wenn du Lust hast, mit einem Bankdirektor zu reden«, sagte Jack zu ihr. »Nein danke!«, sagte Phoebe fest. »Wenn wir bankrott sind, hätte ich es lieber, wenn du die schlechte Nachricht zuerst hörst.« »Was ist bankrott?«, fragte Alice. »Kein Geld«, sagte Phoebe nachdrücklich. »Wir haben immer noch etwas übrig«, sagte Jack grinsend. »>Etwas< ist genau das richtige Wort«, sagte Phoebe.
»Onkel Jack, ihr seid nicht wirklich bankrott, oder?«, fragte Mary ängstlich. »Nein!«, sagte Jack. »Wir haben immer noch genug Geld, um über die Umbauzeit zu kommen. Dann…« – er tat so, als würde er in eine Trompete blasen, und machte eine Fanfare nach – »nächstes Frühjahr, wenn alles nach Plan läuft, wird Hotel Golden House sich einer gespannten und beeindruckten Öffentlichkeit vorstellen und wir werden ein bescheidenes, aber ausreichendes Einkommen haben. Nur… alles würde glatter gehen, wenn ich die Bauarbeiter zurückholen könnte.« »Geht das wieder los«, stöhnte Phoebe »Welche Bauarbeiter?«, fragte William. »Wir hatten vor ein paar Wochen Bauarbeiter hier, die am Dach gearbeitet haben«, erklärte Phoebe. »Phoebe konnte sie nicht leiden«, unterbrach Jack sie. »Also musste ich sie wegschicken.« »Jack, das stimmt doch gar nicht«, protestierte Phoebe. »Es gab nichts mehr für sie zu tun – wir können sie uns nicht die ganze Zeit über leisten.« »Jetzt gibt es wieder Arbeit für sie…«, sagte Jack. »Dann hol sie zurück«, sagte Phoebe scharf. »Ich halte dich nicht auf.« Für einen Augenblick herrschte bedrückende Stille am Tisch. Die Kinder spürten die Spannung zwischen Jack und Phoebe und waren ganz verlegen. »Ich habe nur gesagt«, fuhr Phoebe nach einer Weile fort, »dass sie mehr Zeit damit zugebracht haben, Tee in der Küche zu kochen, als tatsächlich zu arbeiten…« »Sie haben das Dach glänzend repariert«, erwiderte Jack.
»Ja, das stimmt. Ich gebe auf. Hol sie zurück!« »Musstest du das ganze Dach erneuern lassen, Onkel Jack?«, fragte William und versuchte das Thema zu wechseln. »Nein, wir hatten Glück. Alle Balken waren in Ordnung. Wir mussten nur die Ziegel befestigen. Wer auch immer dieses Haus gebaut hat, wollte, dass es sich hält. Wenn ihr mit dem Essen fertig seid, nehme ich euch auf einen großen Rundgang mit und zeige euch, was wir getan haben.« »O jaaa!«, sagte Alice begeistert. »Wir haben alles Mögliche entdeckt«, sagte Jack. »Was denn?«, fragte William nervös. »Ich warne euch«, sagte Phoebe, »ihr lasst euch auf stundenlange Vorlesungen über die Baugeschichte des Hauses ein und wofür jeder kleine versteckte Winkel gut war.« »Versteckter Winkel?«, fragte Mary. »Heißt das… du hast das Geheimzimmer entdeckt, Onkel Jack?« William streckte seinen Fuß unter dem Tisch aus und trat Mary, so dass sie vor Schmerz aufheulte. »Au! William!«, rief sie aus. »Tut mir Leid«, sagte ihr Bruder, aber es klang nicht wirklich so. »Nein, wir haben kein Geheimzimmer und keinen Geheimgang entdeckt«, sagte Jack, der die Unruhe der Kinder gar nicht bemerkte. »Jedenfalls noch nicht. Es sollte natürlich eines geben. So was gehört schließlich in jedes Haus, das etwas auf sich hält. Der Hauptteil des Hauses war ursprünglich eine Art religiöser Zufluchtsort. Ein Platz, wo Mönche sich zum Gebet und zur Meditation trafen. Es soll einen geheimen Tunnel geben, der von hier zur Abtei Llangmarren führt. Aber
irgendwie halte ich das nicht für sehr wahrscheinlich. Llangmarren ist fünf Meilen gerade Strecke entfernt auf der anderen Seite des Tales und der Tunnel müsste direkt durch einen massiven Klotz von Berg führen! Und wofür sollten Mönche überhaupt einen Geheimgang brauchen? Sie haben nichts Unrechtes getan, als sie hierher kamen. Man braucht nur einen Geheimgang oder, wenn ihr wollt, ein Geheimzimmer, wenn man etwas zu verstecken hat, oder etwa nicht?« »Woher weißt du das überhaupt alles?«, fragte William ihn. »Von meiner Freundin Miss Prewett im städtischen Museum. Sie kramt immer neue Geschichten über das Haus hervor.« Nach dem Mittagessen nahm Jack sie zum versprochenen Rundgang durch das Haus mit. Auf der rechten Seite der Halle befanden sich zwei große, quadratische Räume mit hohen Fenstern nach vorne und zur Seite des Hauses. Die Türen zu diesen Räumen lagen zu beiden Seiten des Kamins in der Halle. Im ersten Stock gab es die gleichen Räume noch einmal und die Türen führten auf die Galerie gegenüber von Jacks und Phoebes Schlafzimmer. Diese Räume, erklärte Jack, waren im 18. Jahrhundert verändert worden. »Gegen Ende des Jahrhunderts. Offensichtlich gehörte das Haus zu dieser Zeit einem Gutsbesitzer, der sich selbst sehr wichtig nahm – er war tatsächlich ein bisschen hochnäsig –, und der wollte mit der modernen Architektur eben zeigen, wie reich und wichtig er war! Lustig, dass diese Architektur einmal >modern< war, nicht? Wie auch immer, er kam nur dazu, vorne und an der Seite neue Wände ziehen und die Löcher mit den neuesten Schiebefenstern stopfen zu lassen. Alle Originalbalken aus dem 16. Jahrhundert sind noch hinter dem Putz. Dieser Vorderraum soll einmal die Bar werden. Die Räume oben werden Gästezimmer mit jeweils einem
Badezimmer… hoffe ich! Ich muss immer noch die große Kunst der Installation lernen!« Auf der linken Seite der Halle war ein schmaler und dunkler Gang, den man durch eine Tür in derselben Wand erreichte, in der auch die Küchentüre war. Der Gang führte zu einem Labyrinth von Räumen in allen Formen und Größen mit Eichenbalken und niedrigen Decken und viel kleineren Fenstern, von denen manche Butzenscheiben hatten. »So hat auch die andere Seite der Halle mal ausgesehen«, fuhr Jack fort und führte sie weiter. »Wir werden einige dieser Räume zum Speisesaal des Hotels umbauen.« Er zeigte ihnen eine zweite Treppe, die zu weiteren Schlafzimmern führte. »Und irgendwann werden wir selbst hier oben einziehen«, erzählte er ihnen, »also entscheidet euch schon mal, welches der Zimmer ihr haben wollt.« »Können wir jeder eins haben?«, fragte Alice schnell. Sie hatte sich ihr ganzes Leben schon nach einem eigenen Zimmer gesehnt. »Du kannst sogar ein eigenes Bad haben, wenn du möchtest – aber das kostet mehr!«, witzelte Jack und legte seinen Arm um ihre Schultern. »Aber wir müssen doch nicht bezahlen«, protestierte sie. »Wir gehören zur Familie!« »Na gut. Du kannst dafür ja das Geschirr spülen!«, sagte Jack. Dann blieb er vor einer weiteren Türe stehen. »Und hier«, sagte er und öffnete schwungvoll die Tür, hinter der eine steile Treppe zu sehen war, »sind die Kellerräume. Wollt ihr sie sehen?« Er schaltete eine Wandlampe ein und führte sie hinunter in einen schmalen Gang. Dicke Balken stützten die niedrige Decke. Von dem Gang gingen eine Anzahl Vorratsräume voll Gerümpel und Schutt ab.
»Gott weiß, was das alles ist«, sagte Jack. »Ich habe ein oder zwei Stapel untersucht, und soweit ich sehen kann, handelt es sich um jahrhundertealten Müll. Wie das hier zum Beispiel« – er hielt einen verbeulten, rostigen Eimer hoch – »oder das«, fügte er hinzu, ließ den Eimer zu Boden poltern und hob einen vermoderten Koffer hoch. Dabei ging der Deckel auf, ein Haufen verrotteter Kleider fiel heraus und landete in einer Staubwolke auf dem Boden. »Seht ihr, was ich meine?«, sagte er und ließ den Koffer fallen. »In diesen Keller ist der ganze Abfall geworfen worden, den die Leute nicht mehr haben wollten und nicht haben wegschaffen lassen. Das heißt bis jetzt. Ich werde einen Container bestellen und ihn so lange füllen, bis alles sauber ist. Irgendwie ist es ein bisschen bedrückend, wenn man weiß, dass man auf einer Müllkippe wohnt! Eins ist sicher – hier gibt es keinen Schatz! Zumindest nicht auf den ersten Blick. Das ist noch eine von Miss Prewetts Geschichten. Offensichtlich hat Golden House seinen Namen daher, dass hier Gold versteckt ist. Ich möchte zu gerne wissen, wo! Ich könnte mit Sicherheit etwas davon brauchen. Wie auch immer, eines Tages ist das hier der Weinkeller und hier unten wird auch der Heißwasserspeicher sein und ich habe vielleicht sogar einen Raum für Spirituosen, wo ich mich auf ein kleinen Schluck Brandy hinschleichen kann, wenn mich niemand sieht!« Er führte sie noch weiter durch den schlecht beleuchteten Gang. Am Ende war eine dunkle Holztür. »Aber das hier«, sagte er und drehte den eisernen Türknauf, »ist der absolute Hauptgewinn.« Er öffnete schwungvoll die Tür und winkte sie herein. Sie traten in völlige Dunkelheit und die Temperatur fiel um mehrere Grad. Die Kellerräume waren stickig und warm gewesen, aber hier war die Luft plötzlich kühl und feucht.
»Wartet, bis ich den Lichtschalter gefunden habe«, sagte Jack und sie sahen ihn im trüben Licht, das aus dem Gang hinter ihnen kam, die Wand abtasten. »Ah!«, sagte er schließlich und mit einem Klick! gingen ein paar Deckenleuchten an. Sie standen in einem niedrigen Gewölbe mit Steinboden und quadratischen Steinsäulen, die die behauenen Rundbögen der Decke stützten. »Wir sind genau unter dem Mittelturm«, erklärte Jack mit gedämpfter Stimme. »Dies ist das ursprüngliche mittelalterliche Gebäude. Vielleicht war es einmal eine Krypta. Es muss eine Treppe hier hinunter gegeben haben, aber ich habe sie noch nicht gefunden. Eine seltsame Sache gibt es hier jedoch – seht mal, da drüben«, sagte er und führte sie zur gegenüberliegenden Wand. »Seht ihr?« Er zeigte auf einen niedrigen Steinbogen in der Wand, der mit Steinen ausgefüllt war. Die Spitze des Bogens reichte nicht höher als bis zu Alices Knien. »Es sieht so aus, als ob hier einmal eine Tür gewesen ist, niedriger als der Rest des Bodens – oder Stufen, die zu einem weiteren Stockwerk unter diesem geführt haben. Vielleicht ist hier der vermutete Geheimgang, was meint ihr? Aber dann wäre er eigentlich nicht unbedingt geheim, oder?« Aber die Kinder hörten Jack kaum zu, denn sie hatten gleichzeitig gesehen, dass genau vor dem Bogen Buchstaben auf den Steinboden gekratzt waren. »He!«, sagte Jack und beugte sich hinunter, um besser sehen zu können. »Jemand hat auf meinen Boden geschrieben! Glaubt ihr, es sind mittelalterliche Graffiti? Was steht da?« Alice bückte sich und schaute auf die grob gekratzten Buchstaben.
»Hier steht >Fang war hierFang