Bareneed mit seinen alten Fischerkaten ist genau so, wie Joseph Blackwood es sich vorgestellt hat: wunderbar pittoresk ...
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Bareneed mit seinen alten Fischerkaten ist genau so, wie Joseph Blackwood es sich vorgestellt hat: wunderbar pittoresk und voller Atmosphäre. Drei Sommerwochen wird er mit der achtjährigen Robin in dieser Abgeschiedenheit am Meer verbringen und zum ersten Mal seit der Trennung von seiner Frau wieder Zeit für seine Tochter haben. Doch schon am ersten Urlaubstag wird Joseph mit den unerklärlichen Geschehnissen konfrontiert, die die Bewohner von Bareneed in Angst und Schrecken versetzen. Aus den Tiefen des Meeres tauchen Kreaturen auf, die keiner je zuvor zu Gesicht bekommen hat. Und täglich spült die Flut mehr und mehr Leichen von Menschen an Land, die auf See verschollen sind - manche vor wenigen, manche jedoch schon vor Hunderten von Jahren. Joseph fragt sich, ob es nicht besser wäre, mit Robin unverzüglich nach Hause zu fahren. Doch statt seinem Instinkt zu folgen, bleibt er - bis es zu spät ist. Der Ort ist vom Militär abgesperrt worden, da in Bareneed eine Seuche ausgebrochen ist. Die Erkrankten werden zuerst schwermütig, dann wahnhaft gewalttätig, und schließlich ersticken sie qualvoll. Auch Joseph erkrankt. Während der Irrsinn langsam Besitz von ihm ergreift, wird seine Tochter von ihrer neuen Freundin Jessica in eine andere Welt gezogen. Eines Nachts lockt das geheimnisvolle Mädchen sie aus dem Bett, hin zu den steilen Klippen... Der mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnete Neufundländer Kenneth J. Harvey hat mit Die Stadt, die das Atmen vergaß einen Roman vorgelegt, der so schaurig wie tiefgründig, so packend wie bewegend ist.
KENNETH J. HARVEY hat schon mehr als ein Dutzend Bücher publiziert, Romane, Kurzgeschichten, Gedichte und Essays, und wurde bereits für mehrere prestigeträchtige Preise nominiert, u.a. für den Commonwealth Writers' Prize und den Canada First Novel Award. Doch erst Die Stadt, die das Atmen vergaß brachte dem kanadischen Autor den internationalen Durchbruch. Kenneth J. Harvey lebt mit seiner Familie in Burnt Head, Neufundland.
Kenneth J. Harvey
Die Stadt, die das Atmen vergaß Roman Titel der Originalausgabe: The Town That Forgot How to Breathe Originalverlag: Raincoast Books, Vancouver
Für Emma Sarah, Katherine Alexandra und Jordan Rowe Durch das Meer ging dein Weg, dein Pfad durch gewaltige Wasser, doch niemand sah deine Spuren. Psalm 77
Donnerstag Miss Eileen Laracy ging mit schlurfenden Schritten die Obere Straße hinauf und hielt nach Flieder Ausschau, den sie auf ihren Bettüberwurf aus weißer Chenille legen wollte. In der gleißenden Sommersonne trat jede einzelne Linie in der faltigen Landkarte ihres Gesichts hervor, während sie in klagendem Ton vor sich hinsang: »Begrabt mich nicht auf 'm Meeresgrund, im eisig kalten Wellenschlund, wo die Sonne nimmermehr zu mir dringt, kein Lichtstrahl mein stummes Grab mehr findt.«
Mit einem schmatzenden Laut schloss sie ihre zahnlosen Kiefer, als wolle sie die herrliche Nachmittagsluft schmecken, und blieb stehen, um ein Spitzentaschentuch aus dem Ärmel ihres grünweiß gestreiften Kleids zu ziehen. Ihr Kopftuch, das sie unter dem Kinn gebunden hatte, war grün mit kleinen blauen Tupfen darauf. Sie schnäuzte sich kräftig, wischte sich ein paar Mal die knollige Nase ab und stopfte das Taschentuch wieder in ihren Ärmel zurück. »'s Mädchen am Ufer weinet vor Gram, weil's Meer ihm seinen Liebsten nahm, nun ruht er in kalter Tiefe vermisst, nur's Fischlein die bleichen Lippen küsst.«
3 Eine Fliege surrte an ihrem Ohr und unterbrach ihr Klagelied. »Hau ab, du verfluchter Quälgeist«, murrte sie und scheuchte die Fliege mit einem Schlenker ihrer zierlichen Hand weg. »Es sei denn, du wärst mir 'ne Fliederfee, die als Fliege daherkommt.« Sie kicherte in sich hinein und setzte dann vor sich hinsummend ihren Weg fort. Flieder galt seiner kurzen Blüte und seines atemberaubenden Dufts wegen als eine Lieblingspflanze der Geister. Miss Laracy schätzte Besucher aus dem Jenseits, im Gegensatz zu all jenen, die fürchteten, die Boten aus der anderen Welt kämen, um die Seelen von Nahestehenden mit sich fortzunehmen. Miss Laracy dagegen verwandte viel Zeit und Mühe darauf, die Geister zu sich nach Hause zu locken, um ihnen unter ihrem Dach Schutz und Zuflucht zu bieten. Schon als kleines Mädchen und noch weit in ihr Erwachsenendasein hinein hatte Miss Laracy mit den Toten kommuniziert. Wenn sie im Bett lag, hockten sie einfach da und starrten sie an oder schwatzten ungeniert vor sich hin. Doch in einer kühlen Herbstnacht kurz nach ihrem vierundvierzigsten Geburtstag waren sie auf einmal ausgeblieben, und dies für immer. Ihre heiter-gleichmütige Gesellschaft war Miss Laracy ein Trost gewesen. Sie hatte sich mit ihnen über Neugeborene und Verstorbene unterhalten, denn in den Geistern loderte das Licht ihrer Vorfahren, und sie zogen ihre Ahnenreihe wie einen bernsteinfarbenen Schweif hinter sich her. Das war das Geschenk, wenn ein Sterblicher verschied - seine Energie verschmolz mit der verwandter Seelen, bildete ein weiteres Glied in der Kette der Geister und stärkte ihre Herrschaft über das Absolute. Über die Jahre hinweg hatte Miss Laracy viele Geburten und Tode erlebt und sich daran gewöhnt, dass Dinge begannen und endeten. Doch die Geister vermisste sie noch immer. Wie sehr sehnte sie sich danach, nur einmal wieder der unheimlichen Gegenwart einer Kerzenflamme gewahr zu werden, die, von keiner Hand geführt, die Stiege im Haus hinauf wanderte. Schon dies wäre ein hoffnungsvolles Zeichen gewesen! Mit einem Seufzer setzte Eileen Laracy ihren Weg die Obere Straße hinauf fort
3 und löste mit ihren puppenhaften Füßen kleine Steinchen vom Weg. Irgendwo juchzte ein Kind beim Spiel, und unten in der Codger's Lane lärmte ein Rasenmäher. Sie blickte nach links, wo das Land nach Norden hin zu den alten, quadratischen Häusern rund um die glitzernde Bucht von Bareneed abfiel. Es war ein strahlender Tag, doch Miss Laracy fühlte sich nicht recht wohl. Seit jener Nacht, als die Geister sie verlassen hatten, spürte sie eine schmerzliche Leere tief in ihrer Brust. Ein paar Krähen kündigten krächzend ihr Herannahen an. Miss Laracy spähte zum stahlblauen Himmel empor und hielt nach den schwarzen Vögeln Ausschau. Sie horchte und versuchte, aus den Rufen auf ihre Anzahl zu schließen: eine für Leid, zwei für Freud. Ihre Hand war in der Tasche ihres Kleids vergraben und hielt ein dickes, ovales Stück Schiffszwieback fest, so hart, dass man sich daran einen Zahn ausbeißen konnte. Das hatte sie immer dabei, wenn sie in die Nähe des Waldes ging. Es war ein Geschenk für die Feen, sollte eines der winzigen Geschöpfe plötzlich vor ihr aufflattern. Als im sechzehnten Jahrhundert die ersten Auswanderer von England und Irland aus in See stachen, um die Fischgründe vor Neufundland zu durchfahren, war Schiffszwieback eines ihrer Grundnahrungsmittel. Was lag da näher, als ihn auch den Feen anzubieten, damit sie einen nicht in ihre unterirdischen Behausungen entführten. Als Kind hatte Miss Laracy die Feen zwei Mal gesehen und ihnen Zwieback gegeben, wobei sie sorgsam darauf geachtet hatte, die Augen abzuwenden. Schließlich wollte doch kein Kind von den
kleinen Leuten entführt werden. Es wusste ja jeder, was mit Babys und Kindern passierte, die die Feen mitgenommen hatten. Sie kamen in anderer Gestalt und Größe zurück und waren nicht mehr sie selbst. So war es Tommy Quilty ergangen, der ein Stück weiter die Straße runter wohnte. Den hatten sie verwandelt. Und das zweite Gesicht hatten sie ihm auch gegeben. Miss Laracy blieb stehen und ließ den Blick auf einem Haus mit steilem Glasdach ruhen, das weit von der Straße zurückgesetzt stand. Eine dunkelviolette Aura umgab es. Nicht weit vom
4 Haus, ein gutes Stück den Gartenweg hinunter, wuchsen zwei kleine Fliederbüsche mit ineinander verschlungenen Ästen. »Das ist doch das Haus, wo sich die Künstlerin verkrochen hat«, stellte sie fest. »Die ihre Tochter verloren hat. So viel Unrast, nee«, sagte sie kopfschüttelnd und schnalzte mitleidig mit der Zunge. »Schlimm, schlimm, das alles, nee.« Sie ging schlurfend weiter und suchte mit den Augen die Büsche entlang der Straße ab, ob nicht vielleicht schon Blaubeeren reif waren. Jedoch vergebens. Ein brauner Schmetterling mit schwarzen Flügelspitzen flatterte auf. Sie blieb stehen, um ihn zu betrachten, und musste gerührt daran denken, wie sie als Kinder Schmetterlinge gefangen und unter einen schweren Stein gelegt hatten. Wenn sie dann tags darauf zurückkamen und den Stein hochhoben, dann lag da Geld anstelle des Schmetterlings. Als sie erneut aufblickte, war sie beim alten Critch-Haus angelangt. In der Einfahrt stand ein kleiner, blauer Wagen mit offenem Kofferraum. Wohl neue Sommergäste. Die unteren Zweige eines Fliederbuschs ragten fast bis auf die Straße. Der Geruch war betäubend. Miss Laracy verstand vollkommen, warum dieser Duft die Geister anzog. Er war einfach wundervoll. Sie hob die faltige Hand, um über die zarten Blüten zu streichen, und rieb den blassvioletten Staub zwischen den Fingerspitzen. Ihr Blick wanderte zu der offen stehenden Haustür, in der eben ein Mann erschien. Er kam heraus, die Augen auf den Rasen gerichtet, und stutzte, als er sie sah. Miss Laracy winkte ihm lebhaft zu. »Heda, wie geht's denn so, mein Hübscher?«, rief sie ihm zu. »Bestens, danke«, erwiderte der Mann und kniff die Augen zusammen, um die Besucherin gegen die Sonne auszumachen. »Ich dacht mir, ich könnt mir vielleicht 'n bisschen von Ihrem Flieder borgen?« »Nur zu.« Der Mann kam heran. »Bedienen Sie sich.« »Eileen Laracy heiß ich.« Miss Laracy grinste und zwinkerte ihm zu, während sie einen dünnen Fliederzweig ein paar Mal knickte und dann abriss. »Und selber?« »Joseph Blackwood.« Der Mann streckte ihr die Hand hin.
4 Miss Laracy schüttelte sie und musterte ihr Gegenüber einmal von oben bis unten. Er war nicht zu groß und nicht zu klein, hatte kräftige Gliedmaßen und warme, tüchtige Hände. Seine Kleidung verriet den Städter: rotes Hemd, Jeans, neue Sommerschuhe, allerdings keine Baseballmütze auf dem Kopf wie die meisten Männer heutzutage. Ein beinahe hübsches Gesicht mit rötlich blondem, fransigem Haar, das über der hohen Stirn schon dünner wurde. Klare, blaue Augen, die geradewegs in einen hineinblickten, doch ohne eine Spur von böser Absicht. Das Lächeln, mit dem er ihr begegnete, wirkte natürlich, nicht aufgesetzt, und ohne jede Scheu vor der fremden Frau. Miss Laracy hatte den Verdacht, dass er den Menschen gegenüber, die ihm nahe standen, verschlossener war. Vor allem aber fiel ihr der feine Dunstschleier auf, der ihn umgab: hellblau mit etwas dunkleren Rändern. Ein Übergang zwischen Gelöstheit und Unruhe. »So, so, Blackwood, einen Blackwood gibt's in Bareneed auch. Doug Blackwood. War das wohl ein Verwandter von Ihnen?« »Mein Onkel.« »Wusst ja gar nicht, dass der noch Verwandtschaft hat.« »Wir sind aus St. John's.« »Ahhh«, sagte Miss Laracy mit einem müden Seufzer. »Städter. « »Genau.« Joseph lachte verschmitzt. »Und von der schlimmsten Sorte noch dazu. Sie sollten mich am besten gleich um die Ecke bringen, damit Sie mich los sind.« »Nee, das steht mir nicht an, Sie von Ihrem Elend zu erlösen.« Eileen Laracy grinste. Der junge Mann war gar nicht übel. »Hätten Sie vielleicht einen Stift und einen Fetzen Papier für mich?« Ein
kleines Mädchen trat aus dem Hauseingang und blieb auf der Schwelle stehen, als wären seine Turnschuhe plötzlich festgeklebt. Es hatte blonde, schulterlange Locken und große, ausdrucksvolle Augen. Sein Gesicht war einnehmend, ein paar Sommersprossen zierten Nasenwurzel und Wangenknochen. Es konnte nicht älter als sieben oder acht sein. In einer Hand trug es einen Block, in der anderen einen Stift. Miss Laracys Aufmerksamkeit ruhte neugierig auf dem Mädchen, bis ihr Blick,
5 den Augen der Kleinen folgend, unwillkürlich zum Nachbarhaus gelenkt wurde. Na, wenn sich da mal nicht was anbahnt, sagte sie sich im Stillen. »Hallo, Schätzchen«, sprach sie das Kind schließlich an. Das Mädchen antwortete nicht. »Sag Hallo«, ermunterte es der Vater. »Hallo«, grüßte das Mädchen scheu. »Das ist Robin«, erklärte Joseph. »Was für 'n herrlicher Tag heut, Robin! Nu schau dich bloß mal um.« Miss Laracy machte eine ausholende Geste mit dem Arm. »Und wie.« Die Hände in die Hüfte gestemmt, sah Joseph ihr zu, wie sie flink einen Zweig nach dem anderen abbrach. »Soll ich Ihnen eine Schere holen? Oh, Sie wollten ja etwas zum Schreiben.« »Nee, nee, 'ne Schere brauch ich keine.« Knack, knack, knack. Schon bald verschwand ihr runzliges Gesicht fast hinter der Masse von zartlila Blüten. »Aber 'n Stück Papier war ganz prima.« »Ich hab was im Auto.« Joseph ging zur Beifahrerseite, beugte sich durch das offene Fenster und kramte im Handschuhfach. Miss Laracy nickte Robin aufmunternd zu. Ihre Blicke ruhten in einem vagen, jedoch aufmerksamen gegenseitigen Erkennen aufeinander, bis schließlich Joseph mit einem Bleistift und einem abgerissenen Fetzen von einer Papiertüte wiederkam. Er hielt eins dieser winzig kleinen, schwarzen schnurlosen Telefone in der Hand, drückte auf den Tasten herum und lauschte angestrengt, sprach jedoch nicht hinein. Schließlich warf er das Ding wieder durchs offene Fenster ins Auto. »Ich kann Handys nicht ausstehen«, sagte er. »Na, warum haben Sie denn dann eins von den Dingern?« Miss Laracy trat näher zu Robin. Als sie eine Zeichnung auf dem Block erspähte, fragte sie das Mädchen, was es gemalt habe. Robin steckte sich den Stift hinters Ohr und hielt Miss Laracy mit beiden Händen den Block hin. Er zeigte eine recht gelungene
5 Wiedergabe des Nachbarhauses, allerdings so, als ob das Haus vollständig aus Glas wäre. Umgeben war es von lauter bernsteinfarbenen Wirbeln. »Nu schau einer an, du bist mir ja 'ne richtige Künstlerin.« »Danke«, erwiderte Robin. Sie hatte ein niedliches Stimmchen, klang jedoch ein wenig verschüchtert. »Nun sei mal so nett und halt das für mich, Kleine.« Robin legte ihren Block auf der Türschwelle ab und hielt die Arme auf, worauf Miss Laracy ihr umständlich ihren Fliederstrauß auflud und sie fast darunter begrub. »Und schnupper mal ordentlich dran«, ermunterte Miss Laracy sie und nahm Bleistift und Papier von Joseph entgegen. Mit zusammengekniffenen Augen kritzelte sie etwas in dicken Buchstaben darauf. Ihr ganzer Körper war dabei angespannt vor Konzentration. Nach einem letzten prüfenden und offensichtlich befriedigten Blick auf ihr Werk reichte sie das Papier samt Stift Joseph zurück. »Das war mein Name und Telefon«, erklärte sie mit einem Nicken auf den Papierfetzen in Josephs Hand. »Schauen Sie doch mal bei mir vorbei. Auf einen Schwatz, 'n Tässchen Tee und 'n Rosinenbrötchen.« Mit beiden Händen nahm Miss Laracy liebevoll ihren Fliederstrauß wieder aus Robins Armen entgegen und redete dabei zärtlich flüsternd auf die Zweige ein. Dann wandte sie sich abrupt zu
dem Busch um und pflückte noch ein paar. Es war wirklich großzügig von den Leuten, ihr das zu gestatten. Sie bedankte sich noch einmal und zwinkerte Joseph zu. »Ganz prächtig«, sagte sie und bemerkte auf einmal, dass Robin gebannt aufs Meer hinausschaute und sich silbrige Blitze in ihren tiefblauen Augen spiegelten. »Du siehst 's Blitzen?«, fragte Miss Laracy atemlos und blickte aufs Wasser hinaus, während sie sich zu dem Mädchen hinunter beugte. »Blitzen?« Joseph beschattete mit der Hand die Augen und spähte suchend Richtung Meer. »Ja, ja, und was für ein prächtiger Anblick das ist.«
6 »Was denn?«, fragte Joseph, während seine Augen angestrengt den Hafen absuchten. »So was sehen solche wie Sie nicht«, bemerkte Miss Laracy und richtete sich erbost zu ihrer vollen, zierlichen Größe auf. »Solche von der Fischereibehörde.« »Woher wissen Sie, dass ich bei der Fischereibehörde bin?«, fragte er lächelnd. Die alte Frau zeigte mit dem Finger auf sein Auto. »Parkplakette, da auf Ihrer Windschutzscheibe, Freundchen.« »Oh.« »Geheimnisse für Fischersleut und solche, die mit der Gabe gesegnet sind, nicht Ihresgleichen.« Aufgebracht machte sie sich von dannen, blieb jedoch kurz darauf noch einmal stehen und blickte auf ihren Arm voll Fliederzweige hinunter, ein Anblick, bei dem ihr warm ums Herz wurde und der sie mit Freude und Ehrfurcht erfüllte. Sie warf einen verschmitzten Blick zu Joseph zurück. »Schönen Dank für die Blumen, mein Hübscher.« Dann blieb ihr Blick noch einmal an Robin hängen, und sie konnte sich einen letzten gut gemeinten Ratschlag nicht verkneifen: »Wenn du im Wald spazieren gehst, nimm ja immer 'n schönes Stück Zwieback mit.« Robin nickte und beobachtete mit vor Verwunderung offen stehendem Mund, wie Miss Laracy den riesigen Fliederstrauß vorsichtig ein wenig in ihre Armbeuge schob und mit der freien Hand in der Tasche ihres Kleides kramte. Sie zog etwas Ovales heraus und reichte es Robin, die zuerst verdutzt auf das glatte Stückchen Zwieback starrte und dann auf die geäderte, faltige Hand, die es ihr, gen Himmel zeigend, hinhielt. »Bist selbst gesegnet«, flüsterte Miss Laracy ihr geheimnistuerisch zu. »Mögen alle Schutzgeister mit dir sein.« »Ist schon gut jetzt«, ging Joseph ein wenig belustigt dazwischen, die Hände lässig in den Taschen seiner Jeans vergraben. »Wir können uns ja welchen besorgen, wenn wir ihn brauchen.« Miss Laracy steckte den Zwieback murrend wieder in ihre Tasche. Sie warf Joseph einen vernichtenden Blick zu und wollte sich schon zum Gehen wenden, als sie erneut das silberne Blit-
6 zen in Robins verstörten Augen sah. Sie hielt den Mund ganz dicht vor Robins Ohr und flüsterte aufgeregt: »Du siehst 's Blitzen?« Robin nickte unsicher. »Das sind die Fische, Schätzchen, die versuchen zu fliegen.«
Acht Tage zuvor
Dumpfe Verzweiflung erfüllte Donna Drover, als sie sich zögernd der Türschwelle des quadratischen Fischerhäuschens näherte, in dem ihr Sohn Muss wohnte. Ihr dunkler Haaransatz trat im Sonnenlicht deutlich unter dem künstlichen Blond hervor. Sie hatte sich diesen Monat nicht aufraffen können, sich die Haare machen zu lassen, obwohl sie an dieser Gewohnheit sonst nie rüttelte. Ihre Dauerwellen waren herausgewachsen. Das unfrisierte Haar betonte ihre groben Gesichtszüge, und die braunen Säcke unter ihren Augen wirkten noch auffälliger, seit sie neuerdings so blass war. Ein Raucherhusten schüttelte sie. Schwindlig von der sengenden Hitze stand sie vor der Tür zu Muss' Haus und bemerkte, ganz unten, eine bräunliche, gelb gesprenkelte Flechte, die sich an das verwitterte Holz klammerte. Mit der Zeit würde sie immer höher hinaufkriechen und schließlich die ganze Oberfläche bedecken, bis man die Tür nicht mehr streichen konnte. Donna versuchte, das Gewächs mit der Spitze ihres
Turnschuhs wegzukratzen, doch ihre Anstrengung hinterließ nicht einmal eine Spur. Sie ließ davon ab, um Muss nicht auf sich aufmerksam zu machen. Sie wusste genau, was sie hinter dieser Tür erwartete: Muss würde im Wohnzimmer sitzen, und in seinen Augen, falls er sie denn überhaupt von der Mattscheibe losriss, um Donna eines Blickes zu würdigen, läge wieder diese alles andere auslöschende, beängstigende Gewalttätigkeit. Bei jedem Besuch schien es Donna, als hätte sich diese Wut noch fester in ihm eingenistet. Als sie vor zehn Tagen vorgeschlagen hatte, auf ein Bier und eine Runde Video-Lotterie in die Caribou Lounge hinaufzufahren, hatte Muss sich
7 schlicht geweigert, aus dem Haus zu gehen. Die Welt da draußen habe ihm nichts mehr zu bieten, hatte er gesagt. Donna blickte auf die Plastiktüte in ihrer Hand - Einkäufe für Muss. Sie hatte angefangen, ihm Essen vorbeizubringen, doch er strafte alles, was sie brachte, mit purer Verachtung. Neulich lagen die Tüten, die sie ihm bei ihrem vorigen Besuch gebracht hatte, noch immer unberührt auf dem Küchentisch unter dem Fenster. Nicht einmal die Milchtüte hatte er in den Kühlschrank geräumt. Das hatte Donna am meisten geärgert: die säuerliche, stockende Milch in der Packung, wie eine sich verdichtende Furcht. Donna hatte sich zu dem Besuch gezwungen, hatte sich extra von ihren Lieblingsfernsehserien und Talkshows losgerissen. Wenn sie in letzter Zeit fernsah, beschlich sie das Gefühl, kein bisschen besser zu sein als die verrückten Weiber in den Serien. Muss war ihr Sohn, und sie überließ ihn einfach sich selbst, ja, sie hatte sogar noch Angst vor ihm. Brauchte er sie nicht? Sie blickte über die Schulter zum Hafen hinunter, gleich auf der anderen Straßenseite. Das Wasser lag ruhig da, nicht ein Meeresgeschöpf durchbrach die Oberfläche. Wie oft war sie schon von Bareneed aus zum Fischen hinausgefahren. Und wie oft schon hatte sie den Geschichten über all die Kreaturen gelauscht, die unter der Oberfläche lauerten. Den Erzählungen von Riesenfischen und vom Überleben entgegen allen Erwartungen. Den Legenden. Von Fischen im Meer. Jetzt war alles bedeutungslos, ihr Herz abgestumpft. Ein schwarzer Wagen rumpelte vorbei, tiefer ins Dorf hinein. Sie wunderte sich, wer das wohl sein mochte, verlor aber sofort wieder das Interesse. Donna ging einen Schritt zurück und spähte zum Wohnzimmerfenster hinüber. Die Gardinen waren vorgezogen. Sie hatte sie selbst vor ein paar Jahren genäht und aufgehängt. Muss hatte sogar geholfen. Er war so ein lieber Junge gewesen, ein netter, braver Junge, hilfsbereit und immer bemüht, durch einen Scherz oder ein Lächeln die Spannungen zwischen ihr und seinem Vater, Francis, zu lösen. Ohne einen weiteren Gedanken machte sie kehrt und trottete zu ihrem Pick
7 up zurück. Sie stieg ein, legte die Tüte mit den Lebensmitteln auf den Beifahrersitz und betrachtete sie einen Moment lang abwesend, bevor sie den Wagen anließ. Sie blickte in den Rückspiegel, ließ einen Wartungswagen der Stromwerke vorbei und stieß rückwärts auf die Straße hinaus. Vor zwei Tagen hatte Muss Donna schroff abgewiesen, als sie ihm Abendessen kochen wollte. Er sah sie nicht an, wenn er etwas zu ihr sagte, sondern starrte nur auf die Mattscheibe. Seine Augen waren zwei seichte Pfützen ohne erkennbare Tiefe; sein schwarzes Haar hing wirr herum, wie vom Wind zerzaust, und ein struppiger, schwarzer Bart überzog sein Gesicht. Seit Wochen trug er dieselbe schwarze Jeans und ein blaues Jeanshemd. Von Zeit zu Zeit brummte er bösartig vor sich hin und seufzte gleich darauf wieder entschuldigend, als hätte er es gar nicht gewollt. Dann erschrak er und rang panisch nach Luft. Als Donna aus Muss' Einfahrt auf die Untere Straße zurückstieß, ging ihr der Gedanke durch den Sinn: Der bringt mich um, wenn ich da reingehe. Sie fuhr an dem L-förmigen, betonierten Dorfkai vorbei. Krabbenkörbe lagen herum wie riesige, rostige, mit grünen oder orangefarbenen Netzen umwickelte Lampenschirme und warteten darauf, repariert zu werden. Am Kai lagen zwei Krabbenkutter vertäut. Drei Kinder hatten ihre Angelschnüre in das ruhige Wasser geworfen, um sich den Tod zu angeln. Nein, nicht den Tod, sondern Fische. Wie kam sie bloß auf so einen Gedanken? Warum nur? Die Kinder angelten nach Tomeods, Plattfischen oder Groppen. Aber was fingen sie wirklich? Was für absonderliche Formen verbargen sich unter der
schuppigen Oberfläche der Fische? Und warum fingen die Kinder überhaupt Fische? Warfen sie sie nicht hinterher wieder ins Wasser zurück? So was Sinnloses! Und woher kam überhaupt dieses Bedürfnis, lebendige Geschöpfe zu fangen und aus dem Meer zu ziehen? Weiter draußen zogen Albino-Haie mit ihren Finnen strudelnde Kreise in die leuchtend blaue Oberfläche. Näher am Ufer bäumte sich ein türkisgrüner Schwanz aus dem Wasser und schlug mit einem schallenden Klatschen wieder auf. Die Tenta
8 kel eines riesigen Tintenfischs ringelten sich träge fast zwei Meter über dem Wasser. Obwohl sie all das irgendwie wahrnahm, schenkte sie dem keinerlei Beachtung. Das war doch alles Unsinn. Töricht. Sie kämpfte gegen den wachsenden Drang an, sich eigenhändig die Augen auszukratzen. Donna fuhr weiter Richtung Osten, mit dem Atlantik zu ihrer Linken, jenseits der Unteren Straße, und den Häusern und Scheunen zu ihrer Rechten. Sonnenuntergangsfarben standen am Himmel. Während ihr Pick-up dahin rollte, berührten die sanften Schattierungen den Ozean und verliefen ineinander; Gelb und Orange verwandelten sich in Rosarot und Violett und erinnerten sie an einen hässlichen Bluterguss. Donna betrachtete mit emotionslosem Blick die Farben. Sie waren weniger intensiv, als sie sie in Erinnerung hatte, verloren ihre Kraft, verblassten zu Grau. Wieder ein Sonnenuntergang. In ihrer Magengrube ballte sich ein Gefühl von Zwecklosigkeit wie unverdauliches Essen. Eigentlich war sie um diese Zeit immer gerne spazieren gegangen, den Blick auf den massigen Ozean geheftet, ihr Inneres von Ehrfurcht erfüllt. Von der Schwere der See. Jetzt sah sie alles mit schonungsloser Nüchternheit. Ihre Abendspaziergänge gehörten der Vergangenheit an, genau wie ihre Liebe zu diesem Ort. Sie hatte nichts mehr. Gar nichts. Einen kranken Sohn, der sie hasste. Keinen Job. Bareneed, einst eine lebendige, fröhliche Gemeinde, stank nach Trostlosigkeit und Gram. Etwas Silbriges knallte plötzlich von oben auf ihre Motorhaube und sprang nach links weg. Donna trat auf die Bremse, und der Wagen machte einen Satz nach vorn. »Himmel!« Noch während sie in ihren Sitz zurückgeschleudert wurde, suchte ihr Blick den Rückspiegel. Eine Möwe stach herunter, um sich einen kleinen Fisch zurückzuholen, eine glitschige Lodde, wie es aussah. Wahrscheinlich kamen die Lodden gerade zuhauf an die Strände zum Laichen. Ihnen folgten die Wale, die sich von den Millionen Fischen ernährten, die sich jeden Sommer an Land kämpften, um ihre Eier zu legen. Donna fluchte halblaut vor sich hin, fuhr wieder an und er
8 reichte das Ende der Unteren Straße, da wo der Asphalt aufhörte und eine Schotterstraße, Codger's Lane, links den steilen Hang hinaufführte. Im Rückspiegel sah sie das Meer und die Reihe kleiner Häuschen, die zu Port de Grave auf der anderen Seite der länglichen Bucht gehörten. Ein silbriges Blitzen hing über dem Wasser, wie eine Abfolge explodierender Feuerwerkskörper. Die Blitze stiegen höher, hingen dort einen Moment, sanken tiefer und stürzten ins Meer. Auf halber Höhe der Codger's Lane bog Donna in ihre Einfahrt ein. Die Räder rutschten auf dem Kies, und das Heck des Pick-ups brach aus, und jetzt erst fiel Donna auf, wie schnell sie gefahren war. Wäre sie der Straße weiter hinauf gefolgt, so hätte sie die verlassene Kirche und den alten Friedhof erreicht, wo der Asphalt erneut begann und die Obere Straße scharf nach Westen bog und zurück ins Dorf führte. Von dort bot sich ein weiter Blick über die Häuschen, die geschützte Bucht und den massigen, kantigen Felsbuckel an der Spitze der Landzunge, der hinter den drei weißen Gebäuden der Fischfabrik auf der anderen Seite des Hafenbeckens aufragte. Voller Zorn über ihren gefährlichen Fahrstil und über die Litanei von Verfehlungen gegenüber ihrem Sohn stellte Donna den Motor ab, sprang aus dem Pick-up und warf die Autotür hinter sich zu. Ihr Blick fiel auf die alte Scheune hinter dem Haus. Sie schien bar jeder Farbe, nur schwarz-weiß mit ein wenig Grün von den Nadelbäumen dahinter und dem Gras rechts und links. Donna war, als hätte sie jemanden aus dem Augenwinkel gesehen - ein Kind im Türrahmen, ein Mädchen, vielleicht sieben oder acht, mit glattem, rostrotem Haar und in einem patschnassen
Kleid, das an ihrem zarten, zitternden Körper klebte. Ihr Gesicht war perlmuttweiß und fleckig grün, die bläulichen, aufgedunsenen Lippen zur Fratze eines Lächelns verzerrt. Die Erscheinung jagte Donna einen eisigen Schauer durch den ganzen Körper. Das Mädchen ähnelte der Tochter der Künstlerin, die allein in dem Haus an der Oberen Straße wohnte, von dem es hieß, es würde von der Sonne beheizt. Die Tochter, Jessica, war vor einiger Zeit zusammen mit dem Vater verschwunden.
9 Donna kannte den Namen des Mädchens, weil sie die Polizei gerufen hatte, als das Mädchen vor zehn Tagen zum ersten Mal in ihrer Scheune aufgetaucht war. Ein Polizist war vorbeigekommen keiner aus der Gegend. Er sah irgendwie anders aus -dunklere Haut, braune Augen, fast indianisch. Ein Sergeant Soundso. Wie hieß er noch? Irgendwas mit Auto. Eine Verfolgungsjagd. Chase, genau. Ein Sergeant Chase war vorbeigekommen. Ein Suchtrupp hatte daraufhin den Wald durchkämmt. Keine Spur von dem Mädchen. Hinterher hatte sich Donna furchtbar geschämt, weil sie womöglich falsche Hoffnungen geweckt hatte, vor allem bei der Mutter. Beim zweiten Mal, als sie das Mädchen sah, hatte Donna erneut die Polizei gerufen, doch wieder war alle Suche vergebens gewesen. Und auch nach dem dritten, widerstrebenden Anruf war das Kind nicht gefunden worden. Schließlich hatte Donna erst gar nicht mehr zum Telefon gegriffen. Und nahm auch nicht mehr ab, wenn es läutete. Die Stimmen am anderen Ende der Leitung waren ihr unverständlich. Sie konnte sich die Gesichter dazu nicht mehr vorstellen. Sie erkannte sie nicht mehr. Verängstigt vom Verlust ihrer Fähigkeiten, legte sie auf und fragte sich, was sie nur verkehrt gemacht hatte. Kein Lüftchen regte sich mehr. Donna horchte angestrengt. Die Stille wurde noch intensiver. Die Tür der Scheune stand offen. Von einem Mädchen nichts mehr zu sehen. Hätte sie ein Streichholz zur Hand gehabt, Donna hätte die Scheune glatt niedergebrannt. Sie war voll von altem Krempel, Sachen, die sie nie mehr brauchte, die sie an ihr vergangenes Leben erinnerten, an ihren Mann, lang dahin, an ihren Job, lang dahin, an ihr Leben... Nein, die Scheune abzubrennen, das war ja verrückt. Was dachte sie nur? Sie würde sie mit einer Axt kurz und klein hacken, dass das Holz splitterte und ihr Herz bei jedem markerschütternden, krachenden Hieb vor Erleichterung schneller schlug. Wie sich die Axtschneide tief ins Holz verbiss. Stecken blieb. Festhing. Verkeilt. Ein leichter Windhauch kam auf und trug die quälend leisen, gehauchten Worte eines Kindes heran: »Fische im Meer.«
9 Das Krachen von Axthieben in ihren Ohren. Dann tonlose Stille. Donna atmete nicht. Panik packte ihr Herz. Es raste wie wild, hämmerte in ihrer Brust. Das war's, sagte sie sich erschöpft. Ich sterbe. Jetzt sterbe ich also. Ihr wurde schwindlig. Sie schloss die Augen und machte sich auf die Schwärze gefasst, die seit Wochen in ihr lauerte: Auf einmal war sie vollkommen und undurchdringlich. Donna schnappte nach Luft, hielt den Sauerstoff in ihren kraftlosen Lungen fest. Kein Atemdruck. Kein Drang, erneut Luft zu holen. Als ob sie schon tot wäre. Sie unternahm eine bewusste Anstrengung, um auszuatmen. Dann holte sie, ohne dass ihre Lungen auch nur den leisesten Anstoß gegeben hätten, wieder tief Luft und hielt sie an, bis sie wusste, dass es Zeit war auszuatmen, erneut ohne jeden Impuls ihres Körpers. »Lieber Gott!«, stieß sie hervor, als noch ein Kälteschauer sie durchfuhr. Schweiß bildete sich in ihren Handflächen und auf ihrer Stirn, rann ihr über die Wangen. Sie fürchtete, einen Herzinfarkt zu bekommen. Doch sie spürte keinen Schmerz in der Brust. Nirgends. Sie fühlte sich taumelig, orientierungslos. Ihr war, als würde sie gleich ohnmächtig, bis ihr einfiel, dass sie Luft holen musste. Mit aufgerissenem Mund atmete sie aus und setzte sich in Bewegung, taumelte jedoch, weil ihr die nackte Angst jegliche Kraft aus den Beinen sog. Sie stemmte eine Hand gegen die beigefarbene
Kunststoffverkleidung des Hauses. Ihr Blick wanderte zum Himmel, sie nahm die graue, radkappengroße Satellitenschüssel vorne am Haus wahr und dahinter den leeren blauen Himmel. Da hörte sie die eisige Stimme des Mädchens: »Mein Vaaater fuhr zur See-See-See, da wollte er was sehn-sehn-sehn, doch alles, was er sah-sah-sah, war der Grund der tiefen See-See-See.« Das triefende Mädchen stand wieder in der offenen Scheunentür. Es hielt eine schillernde Lachsforelle in der Hand. Die V-för-
10 mige Schwanzflosse des Fischs zappelte. Donna blickte wie gebannt darauf, dann senkte sie den Kopf. Sie war bis ins Mark erschöpft, ihr Herz hämmerte, es dröhnte in ihren Ohren. Sie hatte nur noch den Wunsch, sich hinzulegen. Sie strengte ihren Verstand an: Wenn ich reingehe, komme ich da nie mehr raus. Sie stemmte auch die andere feuchte Hand gegen die Verkleidung der Hauswand. Ganz langsam sackten ihre Beine ein, und auf einmal fand sie sich im Gras kniend wieder, spürte, wie die Feuchtigkeit durch ihre Jogginghose drang. Mit einem erschöpften Stöhnen legte sie sich hin. Die Welt war vollkommen still, alles gebannt und lautlos. Die Farben schwanden. Donna starrte in die sinnlose Unendlichkeit des blauen Himmels hinauf, der langsam zu Grau verblasste, sah die Sonne, ein brennendes, schwärzliches Silber. Sie lag wie gelähmt auf dem Rasen, in Schüben zitternd und zuckend, unfähig sich zu bewegen, als sie sah, wie drei weiße Möwen, nein, nicht Möwen, sondern grau geflügelte Fische, hoch droben am schiefergrauen Himmel über ihr kreisten.
Donnerstagnachmittag und -abend
Dr. George Thompson, ein beleibter Mann von einundsechzig Jahren mit einem knabenhaften, gutmütigen Gesicht und einem dicken Schopf weiß-grauer Haare, eilte beunruhigt zur Anmeldung hinaus, um Lloyd Fowler und seine Frau ins Behandlungszimmer zu geleiten. Thompson war überrascht, Lloyd Fowler in seiner Praxis zu sehen. Mit Atembeschwerden hätte er eigentlich schnellstens in die Notaufnahme gehört, doch anscheinend hatte Lloyd sich - so die hastigen Ausführungen seiner Frau Barb - geweigert, ins Krankenhaus zu gehen, und sich nur mit Mühe und Not überreden lassen, wenigstens Dr. Thompson aufzusuchen. Er war sofort, ungeachtet der anderen Patienten im halb vollen Wartezimmer, vorgelassen worden. »Nun, sehen wir uns das mal an, Mr. Fowler«, hob Dr. Thompson an. Das weiße Krepppapier auf der Untersuchungsliege knisterte, als der Patient sich darauf niederließ. Der Doktor betrachtete Lloyds rosiges Gesicht mit einer Gründlichkeit, die den Mann nervös zu machen schien: graue Augen, die eine Idee zu weit auseinander standen, weiße Nasenhaare und Augenbrauen, die dringend gestutzt gehörten. Dr. Thompson wusste, dass Lloyd für einen Mann seines Alters in bester Verfassung war. Offen gesagt, war er sogar gesünder und fitter als der Doktor selbst. »Sie rauchen nicht, Lloyd, oder?« Thompson wärmte das Stethoskop in seiner Handfläche an, was er sonst nur bei Frauen tat, doch so unwohl, wie sein Patient sich fühlte, schien es ihm geboten. Mr. Fowler schüttelte den schweren Schädel, den Blick unverwandt auf den Teppich gerichtet.
10 »Wenn Sie dann bitte das Hemd aufmachen würden. Irgendwelche Herzprobleme in der engeren Verwandtschaft?« »Nein«, erwiderte Fowler dumpf, während er den zweiten und dritten Knopf seines Hemds löste. Mr. Fowler war nicht der Typ, der viel Aufhebens um sich machte. Er war einer von der Sorte, die erst zum Arzt gehen, wenn ihr Arm nur noch an einem Faden hängt, und selbst dann das Ganze noch als eine Lappalie abtun, nicht der Rede wert, nur wieder so eine kleine Prüfung, damit man nicht zu wehleidig wird. »Ich komme auch mit einem Arm aus, kein Problem«, würde er wohl ungerührt versichern und dann unter Ächzen und Stöhnen doppelt so hart arbeiten wie vorher, damit auch ja keiner es wagte, an seiner robusten Konstitution zu zweifeln. Barb Fowler hatte ihren Mann praktisch zum Doktor zerren müssen. Barb war eine zierliche Frau mit lockigen, schwarzen Haaren und männlichen Gesichtszügen, die ein schwarzer Flaum auf der Oberlippe noch betonte. Sie und Lloyd kamen gerade von Muss Drovers Beerdigung. Woran Muss, Donna Drovers Sohn, gestorben war, war Dr. Thompson ebenso wie allen anderen Ärzten,
die ihn untersucht hatten, ein Rätsel. Zuerst hatte man Depressionen vermutet, sogar spekuliert, dass er sich das Leben genommen habe. Es hatte Gerüchte gegeben, doch eine Autopsie hatte Selbstmord als Todesursache ausgeschlossen. Und jetzt lag Donna selbst im Krankenhaus von Port de Grave und hing an einem Beatmungsgerät. Donna hatte über Atembeschwerden geklagt, ganz ähnlich wie Lloyd Fowler, doch auch eine Reihe von Untersuchungen hatte keine erkennbare Ursache zutage gefördert. Es war ein ungewöhnlicher Fall, wie er Dr. Thompson in seinen achtunddreißig Jahren als Mediziner noch nicht untergekommen war. Die Ärzte im Krankenhaus glaubten, es könne vielleicht einen Zusammenhang zwischen Muss' Tod und Donna Drovers Zustand geben, doch es ließ sich keinerlei Verbindung nachweisen. Eine wissenschaftliche Erklärung, die sonst im Angesicht des Todes einen gewissen Trost spendet, konnte im Falle von Muss nicht gefunden werden. Es war, als
11 hätte der Mann trotz seines jungen Alters und anscheinend bei bester Gesundheit einfach mit dem Leben aufgehört. »Tief Luft holen bitte«, forderte Dr. Thompson seinen Patienten auf und fuhr mit dem Stethoskop langsam über Mr. Fowlers wolliges, weißes Brusthaar. Mr. Fowler zog die Luft scharf durch die Nase ein. Seine Stirn war gerunzelt. »Und ausatmen.« Der Doktor horchte aufmerksam. »Noch einmal bitte.« Er warf einen kurzen Seitenblick auf Mrs. Fowler, die nicht weit weg stand und angespannt ihre Handtasche umklammerte, bereit, alles zu tun, was der Doktor vorschlagen mochte. »Bitte noch einmal tief einatmen und den Atem anhalten.« Dr. Thompson hielt selbst den Atem an, so aufmerksam horchte er. Doch da war nichts Ungewöhnliches. Fowlers Lungen waren frei, sein Herzschlag regelmäßig. »Und ausatmen.« Er zog sich die Enden des Stethoskops aus den Ohren und schaute seinem Patienten prüfend in die Augen. Mr. Fowler saß kerzengerade auf der Liege, seine weiß behaarten Hände umklammerten den Rand des schwarzen Kunstlederbezugs, seine Augen waren auf das Schaubild eines Skeletts an der gegenüberliegenden Wand geheftet. »Irgendwelche Schmerzen in der Brust?« »Nein, Sir.« »Oder in den Armen oder Beinen?« »Nein, Sir.« »Ein Brennen in den Lungen beim Atmen?« »Nein, Sir.« »Sodbrennen?« »Nein, Sir, nichts...« »Schwierigkeiten beim Einschlafen?« Mr. Fowler schüttelte stumm den Kopf und kniff die Lippen zusammen. »Sind Sie vielleicht mal mit klopfendem Herzen und schweißgebadet aufgewacht und wussten nicht recht, wie Ihnen war?« »Um Himmels willen, nein!« Er schaute Thompson so entsetzt an, als halte er den Arzt für völlig übergeschnappt.
11 »Ihm ist einfach beim Gehen schwindlig geworden«, warf Barb Fowler ein und beugte sich dabei ein wenig vor. »Es war, als ob er nicht richtig Luft bekäme. Das ist vorher auch schon mal passiert.« Mr. Fowler warf seiner Frau einen feindseligen Blick zu. »Sei still, Frau.« »Wann fing das an?« »Ich weiß nicht genau«, erwiderte Mr. Fowler erregt. Seine Wangen waren gerötet. »Zum ersten Mal habe ich es letzten Sonntag bemerkt.« »Heute ist Donnerstag«, überlegte Thompson laut. »Sie können jetzt von der Liege runterkommen, wenn Sie wollen.« Mr. Fowler nickte und richtete den Blick auf die cremefarbenen Jalousien, als wäre es ihm zutiefst peinlich, beim Arzt zu sein. »Es ist nichts«, murmelte er, rutschte von der Pritsche und knöpfte sich
das Hemd zu. Ein kurzes Schweigen trat ein, während Thompson seinen Patienten aus dem Augenwinkel musterte; dann schnappte Fowler nach Luft. »Sind Sie vielleicht gegen irgendetwas allergisch?«, fragte Thompson. Er kehrte hinter seinen Tisch zurück, setzte sich behutsam und versuchte dabei ein Stöhnen zu unterdrücken. Trotzdem rutschte ihm ein leises »Herrje« heraus. Seine Knie machten ihm heute mehr als sonst zu schaffen. Arthritis. Die Extrapfunde, die er über die Wintermonate zugelegt hatte, verschlimmerten das Ganze noch. Er würde wohl auf seinen geliebten Donut mit Milch am späten Abend verzichten müssen. Dicke Soßen und Bier, Liköre und großzügige Stücke Brie oder Havarti mit Dill gönnte er sich praktisch täglich. »Er ist gegen nichts allergisch, Herr Doktor.« Der Doktor schlug Lloyds Karteikarte auf und überflog die Einträge. Nichts, was auf eine Ursache für Atembeschwerden hindeuten könnte. Keine Anzeichen von Asthma, allerdings war eine Untersuchung angeraten. Mit Atemnot war nicht zu spaßen. Es war ein Warnsignal, ein Hinweis auf einen größeren Zusammenhang. »Jede Menge Pollen in der Luft im Augenblick. Ein Scheiß
12 zeug. Davon kriegt man schnell mal eine Entzündung. Gerade um die Jahreszeit. Tränen Ihre Augen manchmal?« »Nein, Sir«, antwortete Lloyd. Er stand jetzt mit angelegten Armen an der Wand. Wie ein großes Kind, das ins Zimmer des Direktors zitiert wurde, ging es Thompson durch den Kopf. »Ihr Herz hört sich bestens an, die Lungen sind auch frei. Vielleicht ist es eine allergische Reaktion, ein leichtes Asthma, oder vielleicht auch gar nichts.« Thompson kritzelte etwas auf seinen Rezeptblock. »Das ist für eine Routineuntersuchung der Blutwerte. Wir haben seit Jahren keine mehr gemacht bei Ihnen. Das sehen wir uns mal an. Vielleicht liegt irgendeine Infektion vor. Ein Virus. Wenn Sie Schmerzen in der Brust hätten, würde ich Ihnen ein Belastungs-EKG vorschlagen. Vielleicht machen wir das einfach trotzdem, nur um auf Nummer sicher zu gehen.« Er riss das oberste Blatt ab und legte es zur Seite. »Das hier ist für Allergie- und Asthma-Tests. Ich lasse Ihnen einen Termin im Krankenhaus in St. John's geben.« Er riss das zweite Blatt ab und reichte beide Mrs. Fowler. Ihr Mann warf einen flüchtigen Blick auf die zwei weißen Zettel und gab sich ansonsten größte Mühe, all das zu ignorieren. »Wie sieht's denn so mit Bewegung aus?« »Er hockt ein bisschen zu viel vorm Fernseher in letzter Zeit«, warf Mrs. Fowler tadelnd ein und fügte dann noch flüsternd an: »Seit unser Bobby nicht mehr da ist.« Mr. Fowler sandte noch einen bitterbösen Blick in Richtung seiner Frau. Nun schien ihm endgültig der Geduldsfaden zu reißen. Angesichts dieser letzten Demütigung machte er sich auf und ging zur Tür. »Und«, brummte er, »ich fall also nicht gleich tot um?« Dr. Thompson lachte gutmütig und spürte, wie er dabei ein Doppelkinn bekam. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und spielte mit dem Kugelschreiber. »Ich weiß nicht, Mr. Fowler. Wir können alle jeden Augenblick tot umfallen.« »Oh, sicher«, erwiderte Lloyd Fowler, riss die Tür auf und stürmte hinaus. Mrs. Fowler blickte ihrem Gatten nach. Sie zögerte einen Mo
12 ment, als ringe sie mit sich selbst, und reckte den Kopf in Richtung Tür, um zu sehen, ob ihr Mann außer Hörweite war. »Haben Sie noch etwas auf dem Herzen?« Als sie sich vergewissert hatte, dass die Luft rein war, wandte sie sich wieder dem Doktor zu und gestand: »Er ist in letzter Zeit richtig launisch.« »Inwiefern?« »Immer so zornig.« »Gereizt?« »Ja, Herr Doktor. Nur noch schlimmer.«
»Sie haben Bobbys Tod erwähnt.« Thompson legte eine respektvolle Pause ein. Er stützte die Ellbogen auf seinen Schreibtisch, eine Geste, die seinen veränderten Ton unterstreichen sollte. »Die Atembeschwerden könnten eine Art Panikreaktion sein, eine Depression. Hat er seinen Tagesablauf geändert? Hat er noch Freude an den Dingen, die er vorher getan hat?« »Nein, überhaupt nicht. Er ist ganz anders.« »Das klingt nach Depression. Ich könnte ihm ein niedrig dosiertes Antidepressivum verschreiben. Aber dazu brauchte ich eine Schilddrüsenuntersuchung.« »Da würde Lloyd nie mitmachen.« Thompson schrieb etwas auf seinen Rezeptblock, riss den Zettel ab und reichte ihn im Aufstehen Mrs. Fowler. »Vielleicht können Sie ihn dazu bringen, erst mal dieses Medikament gegen Angstzustände zu versuchen. Und dann beobachten Sie mal, ob es ihm damit besser geht.« Mrs. Fowler legte das Rezept auf die anderen, die sie schon in der Hand hatte, faltete sie mit einem gequälten Seufzer zusammen und steckte sie in ihre Handtasche. Thompson begleitete Mrs. Fowler auf den Gang hinaus. »Bringen Sie ihn wieder her, wenn es nicht besser wird.« Mit gedämpfter Stimme fügte er hinzu: »Und behalten Sie ihn im Auge.« Er zwinkerte ihr aufmunternd zu. »Ja, Herr Doktor, danke.« Einen flüchtigen Moment lang lächelte Mrs. Fowler tapfer und ging dann durch den Wartebereich davon, während Dr. Thompson sich von seiner Sprech-
13 Stundenhilfe die nächste Patientenkarte reichen ließ. Er runzelte die Stirn, als er den Namen las, und rief dann: »Aggie Smith, bitte.« Er musste sich auf die Zunge beißen, um nicht noch anzufügen: »Der berüchtigtste Hypochonder der ganzen Gegend.« »Guten Tag, Aggie. Kommen Sie rein. Na, was quält uns denn heute?« Lloyd Fowler wandte sich verstohlen um, als seine Frau hinter ihm aus der Eingangstür geeilt kam und ihn im hölzernen Treppenaufgang zur Praxis einholte. Er sagte keinen Ton, presste die Lippen aufeinander und kniff im hellen Licht des Spätnachmittags, das von den Autos auf dem bekiesten Parkplatz reflektiert wurde, die Augen zusammen. »Diese Leute«, brummte er. Kaum hatte er gesprochen, fiel ihm ein, dass er Atem holen musste. Sein Gesicht lief rot an, er schnaubte hitzig. Verärgert schnappte er nach Luft und vermied es immer noch hartnäckig, Barb anzusehen. »Diese Leute im Wartezimmer denken jetzt, ich war ein kranker Mann. Ich bin aber kein kranker Mann.« »Nein, Lloyd«, sagte Mrs. Fowler beschwichtigend und streckte die Hand aus, um ihm die Schulter zu tätscheln. »Bestimmt ist es nichts weiter.« Er zuckte unter der Berührung seiner ach so fürsorglichen Frau zusammen, stürmte auf einmal wie wild die drei Stufen hinunter und verwünschte diesen Zwang, schon wieder Atem holen zu müssen. Diesmal richtig tief. Wie er diesen Ort hasste, an dem er lebte, Meer und Land und all die belanglosen Geschöpfe, die diese Welt mit ihrem törichten Treiben bevölkerten. Und dann dieses bedrohliche Gefühl, den Verstand zu verlieren -dass ihm die Luft ausging, dass ihm seine ganze Identität abhanden kam. Eine nagende Sinnlosigkeit quälte ihn bis ins Mark. Wie er seine mittelmäßige Frau hasste und sein mittelmäßiges Haus! Seit wann nur hatte die Welt jeglichen Charakter verloren, fragte er sich, und war zu dieser unerträglichen Hässlichkeit verkommen?
13 »Geh da nicht allein rein!«, rief Joseph. Die zweistöckige Scheune war rostrot gestrichen. In mehreren der weiß lackierten Fensterrahmen fehlten die Scheiben. Die Löcher waren mit Plastikfolie verklebt; offensichtlich hatte jemand gehofft, so die Elemente auf Distanz zu halten. Kein Lüftchen regte sich. Hinter Robin surrte ein Insekt - es klang nach einer Hummel - und flog flach über der Erde von einer zierlichen Wiesenblume zur nächsten. Ein Vogel zwitscherte irgendwo in der Höhe, in einem Baum oder im blauen Himmel. Die schmale Scheunentür stand offen. Auch sie war rostrot. In der Mitte prangte ein ausgemaltes weißes Herz. Robin trat auf die morsche Schwelle. Den Malblock hatte sie mit einer Hand an ihre Brust gepresst, die andere Hand ruhte auf der Außenwand, wo die Farbe von
den Holzlatten blätterte. Unbewusst kratzte sie ein Stück Lack ab, spürte es unter ihrem Fingernagel. »Warum nicht?«, beklagte sich Robin. »Ich hab sie mir noch nicht angesehen. Da könnten Nägel auf dem Boden liegen. Jetzt komm, hilf mir die restlichen Sachen reintragen.« Robin spähte in die schummrige Tiefe der Scheune hinein. Allmählich gewöhnten sich ihre Augen an das Halbdunkel und begannen, vage Umrisse auszumachen. Offenbar diente die Scheune als Schuppen. Das da musste eine alte Matratze sein und dort irgendein hohes Möbelstück. Nicht weit von der Tür lagen vier Reifen, die sie ganz deutlich ausmachen konnte. Sie hielt den Atem an, lauschte angestrengt auf ein Geräusch, vielleicht herum huschende Mäuse oder eine streunende Katze. Sie hörte etwas tropfen, wie Wasser, das auf den Boden tropfte, von oben. Dann ein Surren. Nicht wie eine einzelne Fliege. Eher wie ein ganzer Schwärm fliegender Insekten. Sie spähte in die Richtung, aus der die Geräusche kamen, und fragte sich: Fliegen oder Hornissen? Beim Gedanken an Hornissen wich sie unwillkürlich einen Schritt zurück und entdeckte ein kleines Mädchen in der Tiefe des Schuppens, das die Hand zum Gesicht hob, wie um sich vor dem einfallenden Licht zu schützen. Robin ließ erschrocken ihren Block fallen. Hastig bückte sie sich, um ihn auf
14 zuheben, richtete aber den Blick sofort wieder auf die Stelle, wo sie das Mädchen gesehen hatte. Niemand da. Doch als Robin aufstand, war das Mädchen erneut zu sehen, und so vermutete Robin, dass es sich um ihr eigenes Spiegelbild in einem verstaubten, hohen Spiegel an der hinteren Schuppenwand handeln musste. Sie beugte sich zur Seite, und die Spiegelung tat genau dasselbe. Sie rümpfte die Nase und kratzte sich. Was sagte man gleich, wenn einen die Nase juckte? Dass sich ein Besucher ankündigte oder ein Schreck. »Robin, komm her und hilf mir«, rief ihr Vater von draußen. Er ächzte unter irgendetwas, was er gerade schleppte. »Sei nicht so ein Faulpelz.« Das Tropfen wurde langsamer und hörte ganz auf. Das Fliegengesurre verklang nach und nach. Plötzlich hing ein so fauliger Fischgeruch in der Luft, dass Robin sich mit einem unwillkürlichen Laut hastig abwandte. In der eintretenden Stille wartete sie auf eine Reaktion ihres Körpers und spürte, wie sich ihr Magen und ihre Kehle zuschnürten. Sie würgte, hatte das Bedürfnis, den üblen Geschmack auszuspucken. Sie fuhr sich mit den Zähnen über die Zunge. »Daddy, was ist denn das für ein scheußlicher Gestank?« Joseph stand über den Kofferraum gebeugt. Auf ihren Ruf hin richtete er sich auf, je ein Kissen unter dem Arm, und sog schnuppernd die Luft ein. »Ich rieche nichts. Der Flieder vielleicht.« »Nein, das stinkt richtig.« Ihr Vater zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht.« Umständlich hob er eine schwarze Reisetasche hoch, presste die Kissen noch fester an sich und setzte sich in Richtung Haus in Bewegung. »Diese Hitze macht mich fertig«, murmelte er. »Dann lieber Schnee.« Robin fiel auf, dass das Auto auf dem Rasen stand, da die Einfahrt ganz überwachsen war. Ihr gefiel es, wenn alles wild wuchs. Im Gras prangten kleine rote Blumen, und die Fliederbüsche an der Straße standen in voller Blüte. Ihr betörender Duft vermischte sich mit dem Geruch von warmem Gras in der Sonne und verdrängte schließlich den Fischgestank. In der Ferne,
14 jenseits der hügeligen Landschaft aus verstreuten Nadelbäumen, hohen Wiesen und den alten Häuschen, glitzerte das Meer blau in der gleißenden Sommersonne. Die Hitze juckte auf der Haut. Robin kratzte sich am Hinterkopf, spürte die Feuchtigkeit in ihrem Haar. Sie hielt nach den silbernen Blitzen Ausschau, auf die die alte Frau sie aufmerksam gemacht hatte. Fische, die versuchten zu fliegen. Ihr fiel ein, dass sie vor ein paar Wochen fliegende Fische gezeichnet hatte, und so klappte sie ihren Block auf und blätterte darin herum, doch die Zeichnung musste in einem älteren Block sein. Die alte Frau, Miss Laracy, schien sich zu freuen, dass Robin malte. Sie hatte Robin eine Künstlerin genannt. Robin mochte die alte Frau sehr. Ihr Vater kam aus dem Haus und holte tief Luft. Seine Stirn glänzte. Er stöberte wieder im Kofferraum herum, blinzelte ins Sonnenlicht und wischte sich mit der Hand den Schweiß aus den
Augen. »Nimm die Tasche da«, sagte er und zeigte mit dem Kopf auf eine Plastiktüte mit Essen. »Ich mache eine Pause.« Mit einem Seufzer setzte er sich auf den Kofferraumrand. »Du hast Chips mitgebracht. Lecker.« Joseph lachte und zauste Robins Haar. »Wie findest du das Haus?«, fragte er mit einem Nicken in die Richtung. »Hübsch, oder?« »Es ist toll. Gefällt mir super.« Robin zog den Stift hinter ihrem Ohr hervor und fing an, das Haus zu zeichnen. »Es hat mal einem Fischer gehört, vor vielen Jahren. Sie haben es aus einem anderen Dorf weiter oben an der Küste hierher gebracht. « »Hergebracht?« »Ja, das hat man damals so gemacht. Weißt du, wie?« »Warum haben sie denn die Häuser woanders hingebracht?« »Die Regierung hat das so gewollt. Man wollte, dass alle enger beisammen wohnen, damit man Straßen bauen und alle erreichen konnte. Und da haben viele ihre Häuser einfach mitgenommen, anstatt sich neue zu bauen. Weißt du, wie sie das gemacht haben?« »Mit großen Lastern?«
15 Ihr Vater lachte. »Nein, nicht so wie heute.« »Mit Pferden?« »Nein. Letzter Versuch.« »Hundert Leute zusammen?« »Mhm, sie haben sie auf dem Wasser schwimmen lassen.« Joseph stand auf und blickte zum Hafen hinunter. »Da unten rein und an Land und dann den Hang hoch.« »Stimmt doch gar nicht. Häuser schwimmen nicht.« Nichtsdestoweniger malte Robin Wasser unter dem Haus. Lebhafte, spitze Wellen. »Oh, doch. Man baute ein großes Floß mit Fässern drunter und zog es dann mit Seilen hinter den Booten her.« Joseph hob einen Pappkarton voller Töpfe und Teller aus dem Kofferraum. Sie klirrten, als er sich einen sicheren Griff zu verschaffen versuchte. »Sie nahmen ihre Häuser einfach mit. Ozeannomaden. Nicht schlecht, oder?« »Mhm.« Robin malte eifrig ein Floß unter das Haus und beeilte sich, die Fässer hinzuzufügen. »Was sind Nomaden?«, fragte sie in der Hoffnung, es handle sich um etwas, das sich bildlich umsetzen ließ, damit sie ihrem schwimmenden Haus noch mehr Charakter verleihen konnte. »Das sind Leute, die von einem Ort zum anderen ziehen. So wichtig waren ihnen ihre Häuser. Aber jetzt ist genug gequatscht. Auf geht's, wieder an die Arbeit.« »Ich zeichne gerade.« »Dann legst du es eben mal weg.« Mit einem tiefen Seufzer klappte Robin ihren Zeichenblock zu, musste ihn dann aber erneut aufschlagen, um noch schnell sieben fliegende Fische über das Dach des Hauses zu malen. »Du sollst das weglegen, hab ich gesagt.« Rasch tat sie, wie ihr geheißen, konnte es sich jedoch nicht verkneifen, ihrem Vater im Scherz einen finsteren Blick zuzuwerfen und ihn zu ärgern, indem sie Anstalten machte, den Block noch einmal aufzuschlagen. Seinem Blick nach war er jedoch zu Spaßen gerade nicht aufgelegt, und so gab sie nach. »Kann ich ein paar Chips haben? Ich bin am Verhungern.«
15 »So siehst du auch aus«, erwiderte Joseph besänftigt. »Armes Kind.« »Darf ich?« »Es sind schließlich Ferien. Da darfst du essen, was du willst.« »Juhu! Du bist der beste Papa der Welt.« Ihr Vater musste grinsen und zwinkerte ihr zu, bevor er sich zum Haus umwandte. Robin spähte zum oberen Stockwerk hinauf. Die Fenster bestanden aus lauter kleinen quadratischen Scheiben. Sie zählte sie sorgfältig. Es waren acht pro Fenster. Alles hier kam ihr so alt vor, so ganz anders als
zu Hause in der Stadt. Sogar die Luft war anders. Ihrer Mom würde das gefallen. Auf einmal sank Robins Stimmung, und sie klemmte sich ihren Block unter den Arm und nahm die Plastiktüte auf. »Das ist zu schwer«, stöhnte sie, während ihr Vater gerade ins Haus ging»Pech gehabt«, rief er zurück, und die Teller und Töpfe klapperten im Karton. »Du bist jetzt an der Küste, Mädchen. Da muss man stark und zäh sein.« Robin hielt kurz inne, spähte zu den Bäumen hinter der Scheune hinüber und zum obersten Fenster hinauf, dessen Scheibe noch ganz war. An dem gedämpften grauen Schimmer, der davon ausging, erkannte sie, dass dies ein unsicherer Ort war. Schon als kleines Kind hatte sie mit dieser Farbe immer eine flirrende Gefahr verbunden, ein Kribbeln in ihrem Magen, wie wenn man hungrig ist. Ein pulsierendes Grau und ein leises, geheimnisvolles Flüstern, die Stimme eines Mädchens: »Robin.« Robin spürte ein eisiges Frösteln am ganzen Körper und eine Gänsehaut an ihren Armen hochkriechen und wich einen Schritt zurück. Das langsame Tropfgeräusch und das Surren der Fliegen hallten erneut in ihren Ohren. Der Geruch von fauligem Fisch verdarb ihr jeglichen Appetit. »Igitt.« Sie verzog angeekelt das Gesicht, während das Grau um den Schuppen herum immer tiefer wurde und sich dunkel von dem schönen blauen Himmel abhob. »Daddy?«, rief sie unsicher. »Da ist wieder dieser Gestank.«
16 Eileen Laracy hielt den warmen Laib Beerenbrot liebevoll in beiden Händen. Er war sorgsam in Wachspapier eingewickelt, das an den Enden eingeschlagen und mit gleich langen Streifen Klebefilm befestigt war. Ein hübsches kleines Paketchen, dachte sie sich und bewunderte ihr Werk. Die Straße war leer, und bis zu Tommy Quilty war es nicht mehr weit, nur noch drei Häuser, gleich hinter dem Gemeindesaal. Miss Laracy sog genüsslich die frische, belebende Abendluft ein und stellte sich vor, wie junge Liebespaare an so einem Abend irgendwo abgeschieden im Gras lagen. Sich küssten und in den Armen hielten und süße Liebesschwüre ablegten. Sie musste vor sich hinlächeln. »Ach, ja«, sagte sie, schnalzte mit der Zunge und zwinkerte spitzbübisch angesichts dieser unverblümten Vorstellung. Als sie am Gemeindesaal vorbeikam, hörte sie Geräusche aus dem Inneren und spitzte die Ohren. Gedämpfte Männerstimmen und dann ein verzerrtes, knisterndes Rauschen wie von einem Taxifunk. Vielleicht ein Treffen der freiwilligen Feuerwehr. Die Metalltür war geschlossen, so dass sie keinen Blick auf das Geschehen erhaschen konnte. Im Weitergehen fiel ihr ein grüner Lastwagen auf, der im Schatten der zwei großen Container - für Abfälle und Recycling - neben dem Gemeindesaal parkte. Hin und wieder, wenn sie dienstags die Müllabfuhr verpasste, schleppte sie ihre Säcke hier hinüber und warf sie selbst ein. Sie hatte nichts dagegen, sich ein bisschen anzustrengen. Sie war noch immer »fit wie eine Fiedel«, wie man hier sagte. Sie spähte zu dem Laster hinüber und konnte im Lichtschein einer Straßenlampe das Abzeichen der Armee auf den rückwärtigen Türen ausmachen. Was hatte denn die Armee im Gemeindesaal zu suchen, fragte sie sich verwundert. Vielleicht planten sie einen Bingo-Abend, um Geld für eine neue Raketenrampe oder einen größeren Hubschrauber zu sammeln. Erneut hörte sie eine Männerstimme, doch diesmal von links. Sie kam aus Edyth Pottles Haus an der Ecke der Pottle's Lane. Miss Laracy erkannte sogleich die Stimme von Darry Pottle. Er schrie, was sonderbar war, wo er doch sonst so ein stiller Junge war. Kriegte ja kaum je den Mund auf. Im Haus wohnten
16 nur Darry und seine Mutter. Beide hatten früher Arbeit gehabt, Fische ausnehmen in der Fischfabrik drüben. Bis die Fischfabrik wegen des Kabeljaufangverbots zugemacht hatte. Miss Laracy reckte den Hals, um besser hören zu können. In einem der Zimmer ging ein Licht aus, dann herrschte Stille. Das Haus lag in andächtiger Dunkelheit. Ein Auto brauste die Straße hinunter. Die Scheinwerfer waren aufgeblendet und schienen ihr direkt in die Augen, dröhnende Musik drang heraus, als es vorbeiraste. »So eine wilde Jagd«, stellte Miss Laracy mit einem betrübten Schnaufer fest, während sie sich umwandte und den roten Rücklichtern des Wagens nachsah, wie sie immer kleiner wurden und schließlich ganz verschwanden.
Verstimmt schaute sie auf das Gebäck in ihren Händen hinunter. Es war warm wie ein Babypopo. Ach, was hätte sie nicht darum gegeben, ein Enkelkind zu haben! Aber das war ja unmöglich, da sie doch selbst kinderlos war und inzwischen so unfruchtbar wie eine Wüste. Sie setzte sich wieder in Bewegung, überquerte den Bach, der an Tommy Quiltys Haus entlangführte. Er floss unter der Straße durch und ins Meer. Tommy behauptete, man könne da drin noch immer Bachsaiblinge fangen, man brauchte bloß ein Fass voll Geduld und einen schönen fetten Wurm dazu. Es ging doch nichts über das Geplätscher eines Bächleins in der Nacht, das sanfte Knirschen der Kieselsteine unter dem munter dahinsprudelnden Wasser. Es hatte etwas Tröstliches. Doch nie wäre sie auf den Gedanken gekommen, hier zu verweilen. Nachts allein an einem Bach zu stehen, das hieße ja, das Unheil geradezu einzuladen. In Tommy Quiltys Wohnzimmer brannte Licht. Miss Laracy stapfte die ungepflasterte Einfahrt hinauf, vorbei an Tommys rostigem braunem Lieferwagen, und ging zur Hintertür. Eine Außenlampe tauchte den im Hof verstreuten Krempel in taghelles Licht. Eine Ansammlung von Blechteilen lag herum, und weiter hinten waren ein paar ausrangierte gelbe Busse ohne Räder abgestellt. Eine streunende grau-weiße Katze strich durchs Gras und verschwand unter einem der Busse. Ein weiterer Bus, mit dem Tommy Leute vom Bingo und Kartenspielen abholte, parkte
17 näher beim Haus. Tommy war eine Sammlernatur. Was andere nicht mehr brauchen konnten, holte Tommy mit Freuden bei ihnen ab, zerlegte es und baute die Einzelteile wieder zu Neuem zusammen. Dank seiner besonderen Gabe lebte er in ständiger Erwartung: Er konnte die Zukunft sehen, lange bevor sie eintrat. Die hölzerne Fliegentür wurde von einem Haken offen gehalten. Miss Laracy klopft an die innere Tür, doch Tommy erwartete sie schon, machte sogleich auf und begrüßte sie mit einem Nicken und einem Grinsen, das von einem Ohr zum anderen reichte. Ein paar seiner schiefen Zähne waren schwarz verfärbt, und sein Haarschopf war ein Knäuel aus braunen Locken, das seit Jahren keinen Kamm mehr gesehen hatte. Er trug eine zerknitterte braune Hose und ein cremefarbenes Hemd, das bis zum Kragen zugeknöpft war. Miss Laracy fiel unwillkürlich der rote Schimmer auf, der seinen Körper einhüllte. Seine eigentliche Aura war ein beruhigendes Gelb mit Wellen von Blau darin. Der rote Schimmer verriet, dass Tommy gezeichnet hatte. Er rührte von der Leidenschaft und Erregung her, die das Blut dichter unter der Hautoberfläche zirkulieren ließen. »Ich hab dir 'n Rebhuhnbeerenbrot mitgebracht.« Miss Laracy hob den Laib Tommy direkt unter die Nase, trat mit einem genüsslich grunzenden Laut über die Schwelle und ging an ihm vorbei. Sie brauchte keine Extraeinladung, um einzutreten. »Ganz frisch aus 'm Ofen, mein Junge.« »Das ist nett von dir«, sagte Tommy und nickte zwei Mal, während Miss Laracy das Brot auf den alten Küchentisch legte und sich umwandte, um Tommys strahlendes Dankeslächeln zu sehen. Er war ein so lieber Kerl, ein wunderbarer Bursche mit einem Herzen aus purem Gold. »Nu, was steilste denn grade wieder alles an?«, fragte sie und rieb sich gespannt die Hände. »Lass doch mal sehen, was du ausbrütest.« Joseph machte es sich auf dem schmalen Wohnzimmersofa bequem und betrachtete Robin, die im Lehnsessel ihm gegenüber
17 eingeschlafen war. Im Schlaf wirkte seine Tochter viel jünger, ihre Züge hatten dann etwas richtig Kindliches. Wenn er sie so betrachtete, gab es ihm immer einen Stich, so überwältigt war er auf einmal von der grenzenlosen Liebe, die er für sie empfand, und auch von einer väterlichen Furcht, dass ihr etwas zustoßen könnte. Sie wirkte so unendlich zerbrechlich. Er fragte sich, ob er diesen heftigen Drang, sie zu beschützen, je würde ablegen können. Robin hatte in einem Buch über Wildblumen gelesen: woran man die einzelnen Arten erkannte und was ihnen früher, laut Überlieferung, für Eigenschaften zugeschrieben wurden. Joseph hatte sie angewiesen, den Zeichenblock einmal beiseite zu legen. Jetzt lag er auf dem Teppich, wo er hingerutscht war, als Robin einschlief. Der Block war auf einer Seite mit Zeichnungen von allerlei aus dem Wasser auftauchendem Meeresgetier aufgeschlagen. Joseph fragte sich, woher seine Tochter wohl ihr künstlerisches Talent hatte. In seiner Verwandtschaft gab es, seines Wissens
jedenfalls, niemanden mit dieser Begabung. Er wusste auch von niemand Derartigem in Kims Verwandtschaft. Robins Lehrer hatten schon des Öfteren Robins Neigung angesprochen. Ihren Mitschülern war sie weit voraus. Ihrer Lieblingsbeschäftigung beraubt, hatte Robin in einer Vitrine in der Wohnzimmerecke das Buch über Blumen gefunden. Sie liebte Blumen, egal welche, und hatte bereits einen Strauß Flieder und Wiesenblumen im Garten hinter dem Haus gepflückt und in einem blauen Glas auf den Küchentisch gestellt. Das sei eins der ersten Dinge, die es zu tun galt, wenn man ein neues Haus bezog, hatte sie Joseph aufgeklärt. Sie hatte ihm die Namen ihrer Lieblingsblumen genannt, doch Joseph war nicht genug bei der Sache gewesen, um sie sich zu merken. Auch er saß mit einem Buch da. Er hatte es von zu Hause mitgebracht. Es war eine Sammlung neufundländischer Seefahrerlegenden, wie die Seeleute und Fischer sie sich erzählten. Kim hatte es ihm vor Jahren einmal geschenkt. Er hatte sich gedacht, es wäre bestimmt eine passende Einstimmung auf ihre Sommerferien hier. Wenn er sich nur auf die Lektüre konzentrieren könnte! Er war 18 kein großer Leser. Lieber war er auf den Beinen und werkelte oder wanderte irgendwo herum. Kim dagegen konnte von Büchern nicht genug bekommen. In jeder freien Minute hatte sie irgendetwas Lesbares in der Hand, meist irgendeinen Klassiker, einen Roman aus vergangenen Zeiten, in dem die Heldin infolge ihres niedrigen sozialen Status Schlimmes erdulden musste, bis sie schließlich von einem düsteren, gewalttätigen Mann erobert wurde. Joseph hatte für solche Bücher nichts übrig, und es überstieg seine Vorstellungskraft, warum Kim mit solcher Begeisterung von tragischen Schicksalen las. Als ob sie das Leben unter harten Bedingungen romantisierte. Aus unerfindlichen Gründen - wahrscheinlich, weil er sich fremd fühlte in der neuen Umgebung und irgendwie aufgeregt war - las er nun schon zum x-ten Mal vergeblich den gleichen Satz. Die Wörter drangen einfach nicht bis in sein Gehirn vor. Er versuchte, nicht an Kim zu denken, daran, wie sehr es ihr hier gefallen würde. Dabei würde sie das alles noch weit mehr schätzen als er selbst. Er hatte gelernt, ihre Wahrnehmungen nachzuvollziehen. Er hatte sich verändert. Kim hatte ihn verändert. Vor ihrer Beziehung hätte ihm die Atmosphäre in einem Haus wie diesem hier nichts bedeutet. Während sein Blick auf dem zarten Gesicht seiner Tochter ruhte, fiel Joseph ein, wie Kim oft festgestellt hatte, dass Robin im Schlaf einfach hinreißend aussah. Kim hatte selbst toll ausgesehen, als er an diesem Morgen Robin bei ihr abgeholt hatte. Er hatte sie lebhaft vor Augen, wie sie in einer legeren, rostbraunen Baumwollhose und passender Bluse mit Robins Reisetasche in der Hand zur Haustür herausgekommen war. Sie hatte ein Fernglas um den Hals hängen. Ihr kurzes, braunes Haar war frisch gewaschen und glänzte seidig. Sie trug den tiefbraunen Lippenstift, den er am liebsten an ihr mochte, da er die Farbe ihrer Augen betonte. Er hatte ihr Gesicht studiert, war, nach all den Monaten, die sie sich nicht gesehen hatten, aufs Neue fasziniert davon gewesen. Die hohen Wangenknochen, die ihr etwas Frisches, eine ungebrochene Jugendlichkeit verliehen, die Stupsnase. Sein Blick war auf der Narbe auf ihrem Kinn verweilt, die
18 von einem Fahrradsturz im Alter von zwölf Jahren herrührte, nebst der anderen, größeren auf ihrem Handgelenk. Die Narben gaben ihr etwas Menschliches, Fehlbares. Vor neun Jahren, als Joseph Kim zum ersten Mal in einem Pub in der Stadt erblickt hatte, hatte er sie für eine dieser oberflächlichen, modevernarrten Frauen gehalten, die nichts im Kopf hatten, doch er hätte nicht weiter von der Wahrheit entfernt liegen können. Sie hatte gerade ihr Studium der Meeresbiologie abgeschlossen. Sie besaß ein gewinnendes Lächeln, war jedoch extrem zurückhaltend und wählte ihre Worte mit Bedacht, und sie trank lieber Starkbier als Sekt. Sie war ein einziger wunderschöner Widerspruch. Er hatte sich in sie verliebt, als sie ihm von den mannigfachen Verhaltensweisen der Krustentiere und anderer Bewohner des Meeresbodens erzählte, die geräuschlos unter unzähligen Tonnen Meerwasser existierten. Die Gedanken, die sie vorsichtig in Worte kleidete, waren voller Poesie.
Was war aus jenen Tagen geworden, aus jenen Gesprächen? Jetzt ging es in ihrer Beziehung nur noch um Geld und darum, wie man was machte, wer Recht hatte und wer Unrecht. Die richtige und die falsche Art, Geld auszugeben. Die richtige und die falsche Art, Robin zu erziehen. Die richtige und die falsche Art, eine Dose aufzumachen, Brot zu schneiden, die Zeitungen zu stapeln, die Stühle hinzustellen, die Kleider zusammenzulegen... Wer war am fleißigsten? Wer schuftete am meisten? Wer hatte die meiste Arbeit, und wer machte die meiste Hausarbeit? Wer erduldete das schlimmste Martyrium, wie Kim es sarkastisch ausdrückte? Was hatte Kim verändert? Hatte er sie verändert, wie Kim behauptete? Und vor allem, was hatte ihn verändert? Er war nicht mehr der, für den er sich gehalten hatte, sondern ein innerlich zerrissener Mann: Teile seines früheren Ichs waren betäubt und abgetrennt. Ein taumelndes Gefühl, wie wenn man tagelang auf See war und plötzlich wieder auf festem Boden steht, überkam ihn auf einmal. Eine nagende Unruhe stieg in ihm auf. Der Schweiß brach ihm aus, als sein Herz so heftig schlug, als wolle es ihm aus der Brust springen. Er hatte Mühe zu schlucken. Seine Kehle
19 war wie ein verkrampfter Muskel. Er setzte sich gerade auf und krallte die Hände in den rauen Stoff der Couch. Nach vier angestrengten Versuchen schaffte er es endlich zu schlucken. Als ihm das vor zwei "Wochen zum ersten Mal passiert war, hatte Joseph geglaubt, sterben zu müssen; ihm war, als ob ihm das Gehirn aus dem Schädel rutsche, während das Herz ihm im Hals und in den Schläfen pochte. Er bekam kaum Luft, und eine panische Angst befiel ihn. Er hatte sich vor den Badezimmerspiegel gestellt, um sich zu vergewissern, dass er noch da war, und hatte beobachtet, wie sein Spiegelbild anschwoll und wieder schrumpfte. Seine schlotternden Knie hatten unkontrolliert gegen den Schrank unter dem Waschbecken geschlagen. Er wollte schon den Notarzt rufen, als der Anfall nachließ. »Panikattacke«, hatte sein Arzt nüchtern konstatiert und ihm ein Rezept für Ativan ausgestellt. »Überlastung des Nervensystems. Vermutlich vom Stress durch die Trennung. Man staunt, wie oft das vorkommt.« Joseph hatte sich gefragt, ob der Doktor jetzt Trennungen oder Panikattacken meinte. Sein Arzt redete immer sehr schnell, war ständig in Eile, weil alle Termine doppelt belegt waren. Der Doktor riss den kleinen Zettel vom Block und reichte ihn Joseph zwischen zwei Fingern über den Schreibtisch hinweg. »Bei Bedarf eine oder zwei davon unter die Zunge. Sie wirken schnell.« Eine klare Sache. Die Tabletten würden ihn in Ordnung bringen, die Wissenschaft ihn stabilisieren. So einfach war das. Als Joseph vom Wohnzimmersofa aufstand, knisterte ein Papierchen in der Brusttasche seines Hemds. Er fischte es heraus. Es war Miss Laracys Adresse und Telefonnummer. Eine komische alte Frau. Er wollte nicht an sie denken; sie war ihm beinahe unheimlich. Er legte den Papierfetzen auf den Beistelltisch und ging in den Gang, versuchte, nicht an die Abgeschiedenheit des Hauses zu denken. Sie würde ihm nur noch mehr zusetzen. Seine Augen fühlten sich angestrengt an, als er seine Reisetasche am Fußende der Treppe erblickte. Er trug sie in den ersten Stock hinauf und ging in sein Schlafzimmer, das nach vorne hinauswies und einen Ausblick auf Dorf und Hafen bot. Er ließ die Tasche auf das weich gefederte Bett fallen, öffnete
19 sie und kramte unter seinen Kleidern nach der Flasche mit den Tabletten. Zahnbürste, Nassrasierer, Tabletten. Seine schweißnasse Hand zitterte, als er das Röhrchen aufmachte. Vor lauter Fahrigkeit ließ er beinahe die beiden winzigen Pillen fallen, schaffte es dann aber doch, sie sich unter die Zunge zu legen. Er schloss die Augen, stand reglos und atmete tief und regelmäßig ein und aus, zählte bis fünf, wartete, spürte, wie allmählich Entspannung seinen Körper durchflutete und eine erlösende Wärme sich in seinem Inneren ausbreitete. Joseph öffnete die Augen und erschrak, als sein Blick auf die Spiegelung eines Mannes im Fenster fiel. Ein massiger Mann mit Bart. Joseph fuhr herum - das Zimmer war leer. Ein schlichtes, makellos gemachtes Bett. Ein hölzerner Schaukelstuhl mit einem von Hand bestickten Kissen. Ein mit Brettern verschlossener Kamin. Niemand da. Er blickte erneut zum Fenster. Der Mann war weg. Joseph schüttelte fassungslos den Kopf. Er rieb sich mit der Hand übers Kinn. Stoppeln, aber kein Bart.
Er stieg wieder hinunter und erwog kurz, Robin zu wecken, doch dann schien es ihm zu egoistisch. Stattdessen ging er vors Haus, um ein wenig frische Luft zu schnappen. Laue Sommernächte erinnerten ihn auf beruhigende Weise an seine Kindheit. Die Lichter in den Häusern unten am Wasser schimmerten hell und klar, alles war messerscharf umrissen. Er legte den Kopf in den Nacken und blickte in den sternenübersäten Nachthimmel hinauf. Ein Hund bellte in der Ferne, als protestiere er gegen Josephs Auftauchen im Freien. Irgendwo zwischen ihm und dem Wasser hupte ein Auto, eine Kuh fing an zu muhen. Er drehte sich zu dem Solarhaus um. Ein Schatten huschte übers Gras, dann ging die Haustür auf, und im Licht des Hausinneren zeichnete sich eine Frau mit rötlichem Haar und in einem lose fallenden weißen Kleid ab. Sie hatte beide Hände an der Tür, warf noch einen Blick über die Schulter und schloss die Tür dann sorgfältig hinter sich. Neugierig geworden, behielt Joseph die Tür noch eine Weile im Blick, doch sie ging nicht mehr auf. Er suchte in den Fenstern, doch die Frau zeigte sich nirgends. Er wollte sich schon abwenden, als noch ein Schatten, diesmal
20 flacher am Boden, über das Gras strich. Ein großer, zottiger, schwarzer Hund lief auf das Solarhaus zu, setzte sich ohne ein Geräusch vor die Haustür und starrte still vor sich hin, reglos wie eine Statue, streng wie ein Hüter. Ich lebe mit den Toten. Im Schlaf und im Wachen lebe ich mit den Toten. Selbst meine Träume sind verdorben und unerträglich. Nacht für Nacht sehe ich Regs finstere Miene vor mir. Jessica hat mir, in ihrer plötzlich so erwachsenen Art, mitgeteilt, dass ich Reg im Schlaf sehe, weil ich ihn noch immer liebe, nur in wachen Stunden kann er sich nicht zeigen. Dafür ist die hiebe nicht stark genug; sie ist vom Hass vergiftet. Und ich hasse ihn, weil er mich in diesem Zustand ständiger Unschlüssigkeit und inneren Aufruhrs zurückgelassen hat. Reg beharrt darauf, dass ich denjenigen töten muss, der ihn zu dieser verhängnisvollen Tat gegen sich und Jessica getrieben hat. Seine vor Zorn bebende Stimme hallt nun seit Monaten in meinem Kopf wider und redet mir ein, dass ein Mann kommen werde, ein Mann mit seiner Tochter. Die Lebenden reizen die Toten. Jede Nacht, im Traum, reicht mir Reg den Griff eines schmalklingigen Messers. Die Zeit verrinnt ohne Ziel. Ich schlafe. Ich bin aufgewacht. Wenn ich auf meine Hand hinunterblicke, sehe ich einen roten Fleck auf meinem Kleid, und der Fleck breitet sich aus, bis ich völlig rot bin, jeder Zentimeter meines Kleides und meiner Haut. Mein Magen krampft sich zusammen, und ich erwache, zusammengekrümmt, die Hand auf dem Bauch und in meiner Kehle ein Schluchzen wie eine Messerklinge. Jessica. Claudia Kyle legte ihren Füllfederhalter ab und schlug das Tagebuch auf dem polierten Eichentisch zu. Drei Kerzen flackerten in Ständern vor ihr. Ihr Blick ruhte auf dem Einband des Tagebuchs, der einen Putto, umrahmt von riesigen weißen und leuchtend roten Blüten, zeigte, und sie überlegte, welcher Künstler das Bild wohl gemalt hatte. Rembrandt, vermutete sie. Gedankenversunken strich sie mit der Hand darüber, wobei ihr zwei Tintenflecken auf dem Ärmel ihres weißen Seidennachthemds auffielen. Was war da zu tun? Tinte auf Stoff. Sie konnte
20 sich nicht helfen: Sie griff nach dem Füller, drückte die Spitze auf den weißen Stoff und schrieb in großen, fließenden Buchstaben: Mein Hemd ist Pergament. Ich trage es wie eine Haut, die meine Geschichte erzählt. Claudia blickte auf und richtete den Blick auf die schwarze Fensterscheibe, die ihr von einem Lichtschein umrahmtes Gesicht zurückwarf. Ihre puderige weiße Haut schimmerte stellenweise rosarot, und ihr kupferrotes Haar, das ihr bis zur Hüfte reichte, war aus der Stirn gekämmt und mit einem weißen Haarband fixiert. Sie hatte sich immer für anmutig gehalten, und mehr als einmal war anderen ihre Haltung aufgefallen. Jetzt, mit jedem Tag, der verging, jeder Phase, in der sie noch weniger aß, sich keinen Tropfen Wasser gönnte und durch Augen starrte, die ihr oft nicht wie die eigenen vorkamen, empfand sie sich nur noch als zerbrechlich. Wie groß ist wohl der Abstand zwischen Anmut und Zerbrechlichkeit, fragte sie sich, und ihre rosaroten Augenlider flatterten. Sie riss sich von ihrem Spiegelbild los, zwang ihre Konzentration auf das, was jenseits der Scheibe lag. Ihr eigenes Abbild war jetzt verschwommen. Die dunkle Landschaft draußen fiel sanft ab. Im Vordergrund waren im Licht einer Straßenlampe dichte Nadelbäume zu erkennen; ihre Spitzen
senkten sich zur Unteren Straße hin, zu den Grüppchen von Lichtern aus den Fischerhäuschen am Hafen. So wie die Lichter sich im dunklen Wasser spiegelten, erinnerte es fast an Weihnachten. An sonnigen Tagen war das Meer ein einziges sattes Blau. So ausgesprochen schön und makellos. Jenseits des Hafens, auf der Landzunge, thronte eine mächtige, schroffe Erhebung über dem Wasser, eine Schwärze, schwärzer als der Himmel, als wäre der Felsklotz aus kohlrabenschwarzer Pappe geschnitten, ein schwarzes Loch, das nur dorthin verpflanzt worden war, um die Sinne in Bann zu schlagen. Diese herrliche Aussicht auf Bareneed, die sich vom großen Fenster oben im Haus bot, gewährte Claudia einen Standpunkt hoch droben über dem Geschehen. Freunde und Journalisten, die zu Besuch kamen, staunten über diese verschwenderisch hin
21 gebreitete Bilderbuchszenerie. Es kam ihr vor, als sei es gar nicht so lange her, dass andere Journalisten, nicht die Kunst- und Kulturreporter, die von Zeit zu Zeit bei ihr vorbeischauten, vor ihrer Tür gestanden und Fragen über das Verschwinden ihres Mannes und ihrer Tochter gestellt hatten. Es war um Weihnachten herum passiert und damit genau die Art von Tragödie, nach der die Medien lechzten: ihr ganz eigenes Weihnachtsfest. Eineinhalb Jahre war es jetzt her, vorletztes Weihnachten, und noch immer kein Wort oder Zeichen von ihren Liebsten. Sie wollte ihren Träumen keinen Glauben schenken. Diese Träume waren Ausgeburten der Entrücktheit. Das jedenfalls sagte sie sich, wenn sie die Angst befiel, den Verstand zu verlieren. Der Glaube, dass Reg Jessica unmöglich etwas angetan haben konnte, war eine Art Medizin für sie. Doch sie wusste auch, dass seine Gewalttätigkeit, die scheinbar aus dem Nichts gekommen war, ihn verändert, ihn »böse« gemacht hatte. Es gab kein anderes Wort dafür. Er war »böse« geworden, seine wildesten Triebe hatten sich Bahn gebrochen. Als Claudia und Reg sich kennen lernten, war Reg ein gutherziger Mensch gewesen. Über Jessicas Geburt hatte er vor Freude geweint. Hemmungslos geheult hatte er, selbst wie ein Baby, als er seine winzige Tochter zum ersten Mal im Arm hielt. Er war der perfekte Vater gewesen, immer zu einem Kartenspiel oder einer Runde Verstecken aufgelegt oder bereit, eine wunderschöne, geheimnisvolle Geschichte über seinen Vater, seine Mutter oder seine Großeltern zu erzählen. Er war ein hingebungsvoller Ehemann, nahm Rücksicht auf Claudias Bedürfnisse und ihre zarte Natur, stand ruhig, aber stark an ihrer Seite. Bis er seinen Job verlor. Das war der Wendepunkt. Von da an hatte er seine Familie zusehends vernachlässigt, sich zurückgezogen, kaum noch gesprochen. Wieder ein paar Wochen später beobachtete er Claudia und Jessica nur noch mit finsteren Blicken. Sie bekamen Angst vor ihm. Er ging so weit, Jessica anzuschreien, nur weil sie versehentlich die Fernbedienung mit Erdnussbutter verschmiert hatte. Er hatte sie sogar an ihren zarten Armen gepackt und geschüttelt, bis sie schrie und schluchzte,
21 schrill und ganz außer sich. Claudia wurde immer nervöser und verängstigter in seiner Nähe, schmiedete Pläne, sich mit Jessica aus dem Staub zu machen, als Reg auf einmal verschwand. Und Jessica mit ihm. Es war ein grauer, böiger Wintertag gewesen. Ein harscher Wind und gefrorener Schnee fegten Claudia ins Gesicht als sie draußen in den Elementen stand und nach Jessica rief ihren Namen in den blinden weißen Aufruhr hinausschrie. Zwei Tage nach Weihnachten. Fünf Tage vor Neujahr. Vor eineinhalb Jahren. Die Polizei hatte die Akte noch immer nicht geschlossen. Noch immer suchten sie nach Reginald Kyle. Nach Reg und Jessica. Die Obere Straße, die vor Claudias Haus vorbeiführte, war geteert, jedoch kaum befahren. Heute war ein Auto vorbeigekommen. Ein Mädchen hatte Claudia vom Beifahrersitz aus angesehen. Das Auto war in die Einfahrt des Critch-Hauses abgebogen. Die Vorstellung, dass ein Kind gleich nebenan wohnte, verstörte Claudia. So nah am Wald hätte sie Angst um das Mädchen. Wald und Wasser. Aber sie sorgte sich auch ihrer selbst wegen - ein Mädchen, das so lebendig vor ihren Augen herumsprang. So schmerzlich lebendig. Sie hörte das kaum vernehmliche Gurgeln des Wassers in den Wänden, das von den Solarzellen aufgeheizt und durch das Skelett des Hauses gepumpt wurde. »Mommy?«, rief ein Mädchen aus einem Zimmer irgendwo hinter Claudias Rücken.
Claudia drehte sich nicht um, sondern starrte weiter auf die im Dunkeln liegende Landschaft hinaus. »Mommy?«, rief die Stimme. »Hast du das Mädchen gesehen? An das du gerade gedacht hast?« Claudia fokussierte erneut ihr bleiches Abbild in der Fensterscheibe. Ihre feuchten Augen schimmerten. Dahinter lag der schwarze Ozean. Zwei Tränen lösten sich, rannen über ihre Wangen, zu ihren Mundwinkeln, dann weiter hinunter, hingen als Tropfen an ihrem Kinn, bis Claudia sie schließlich mit der Fingerspitze wegwischte. Sie hob die Fingerspitze an ihre Lippen
22 und verschmierte die Flüssigkeit darauf, erlaubte sich jedoch nicht, sie zu kosten. Woher kommen diese Tränen?, fragte sie sich. Woher kommt das Wasser? Ihr Durst hatte eine neue, faszinierende Qualität erreicht. Obwohl ihr Herzschlag inzwischen auch schon ohne jegliche Anstrengung schwankte, obwohl ihr manchmal schwindlig war, konnte sie sich uneingeschränkt bewegen, zügig die Treppe hinaufsteigen, ohne dabei auch nur einen Tropfen Schweiß zu vergießen. Ihr Körper konnte keinen Schweiß mehr produzieren, aber immer noch Tränen hervorbringen. Drüben beim Critch-Haus bewegte sich ein Schatten. Die vagen Umrisse eines Mannes, der zur Scheune hinüberspähte. In dem Auto hatte keine Frau gesessen. Wo war die Frau, die Ehefrau, die Mutter? »Mommy?« Claudia wandte sich um und starrte zum Türrahmen hinüber. Undeutlich konnte sie die obersten zwei Stufen der Holztreppe ausmachen, die in den unteren Stock hinunterführte. Sie hörte Gesang: »Mein Vaaater fuhr zur See-See-See, da wollte er was sehn-sehn-sehn, doch alles, was er sah-sah-sah, war der Grund der tiefen See-See-See.« Claudias Finger rührten sich, als wolle sie die verborgene Textur der Wörter ertasten. Ihre Augen beobachteten das Zittern ihrer Finger: wie Gegenstände, die sich ohne ihr Zutun bewegten. Der Ärmel ihres Nachthemds bedeckte ihren Arm mit den Worten: Ich trage es wie eine Haut, die meine Geschichte erzählt. »Mommy? Wusstest du, dass das Mädchen da ist?« Claudia blieb stumm. Sie wollte nicht fragen: »Wer?«, doch die Stimme des Mädchens sagte wie zur Antwort: »Sie hat einen Namen wie ein Vogel, und sie kann zwischen Traum und Wirklichkeit sehen, also werden wir zusammen spielen können. Wir werden Freundinnen sein.« Anstatt Robin in ihr eigenes Bett zu tragen, hatte Joseph sie sicherheitshalber lieber in seines gelegt und dann die Nacht
22 tischlampe ausgeknipst. Jetzt lag er neben ihr, hellwach, den Kopf voller Bilder und Gedanken. Tagsüber war er mit Robin draußen gewesen. Sie hatten Wiesen und offenes Gelände erkundet, hatten Häuser und Scheunen gesehen, zwischen denen riesige ländliche Gärten lagen, und alte Wege, die kaum breit genug waren, um einem Auto Platz zu bieten. Alles duftete lieblich und leuchtete in der Sommersonne. Joseph fühlte sich wieder wie ein Kind. Frei. Er hatte überlegt, wo wohl Onkel Dougs Haus sein mochte. Es war gut möglich, dass sie, ohne es zu wissen, daran vorbeispaziert waren. Bareneed war genau, wie er es sich vorgestellt hatte, malerisch und voller Charakter - der perfekte Ort für die Sommerferien. Als er im St. John's Telegram auf die Annonce gestoßen war, in der ein einstöckiges Fischerhaus in Bareneed zur Miete angeboten wurde, hatte ein nostalgisches Lächeln seine Lippen umspielt. Sofort hatte er an seinen verstorbenen Vater, Peter, denken müssen und dann an die Schwarz-Weiß-Fotos von seinem Onkel Doug, der nach wie vor in Bareneed lebte. Der Doug auf den Fotos war ein streng und stolz dreinblickender junger Mann. Jetzt musste er Ende sechzig sein. Joseph hoffte, das Geburtshaus seines Vaters sehen zu können, in dem, so nahm er an, Doug wohl nach wie vor wohnte. Robin hatte er noch nichts von dem Onkel erzählt, da er sich nicht sicher war, wie Doug -angesichts der heiklen Beziehung zwischen ihm und seinem Bruder Peter - auf seinen, Josephs, Besuch reagieren würde. Doch eigentlich sollte dies kein Grund sein, Robin um die Chance zu bringen, ihren Großonkel kennen zu lernen.
Als Beamter der Fischereibehörde hatte Joseph schon vor fast der ganzen Küste Neufundlands patrouilliert, doch noch immer staunte er über die ausgefallenen Ortsnamen. Bareneed -die bare Not. Er rief sich die Lage der Ortschaft in Erinnerung, in der Conception Bay eineinhalb Stunden südwestlich von St. John's. Andere Ansiedlungen in der Gegend hatten nicht minder ausdrucksvolle Namen: Cupids, Port de Grave, Shearstown, Cutland Junction und Burnt Head. Gäbe es eine spannendere Gegend für ein Kind? Ein historisches altes Haus, eine ländliche
23 Scheune, das weite Meer. In den drei Ferienwochen würde Robin einen richtigen Eindruck vom Leben in einem abgeschiedenen Fischerdorf erhalten. Ein bisschen Familiengeschichte mitbekommen. Einen Draht zur Vergangenheit. Onkel Doug, ein unverwüstlicher Fischer wie sein Vater und Großvater vor ihm, hatte Josephs Vater, Peter, enterbt, als dieser sich entschloss, samt Familie in die Stadt zu ziehen. Joseph war damals noch ein Kind gewesen. Peter hatte erklärt, dass er vom Fischen genug habe und von dem ganzen damit verbundenen Lebensstil genauso und dass er für seine Familie was Besseres wolle. Was Besseres. Dieses Wort hatte den ganzen Schaden angerichtet. Ein Leben an Land. Josephs Mutter erzählte, Onkel Doug hätte Peter vorgeworfen, nur auf die Annehmlichkeiten eines leichten Lebens aus zu sein, zu verweichlichen, ein Städter zu werden. Ein hässlicher Streit war entbrannt, in dessen Folge die beiden Männer nie wieder ein Wort gewechselt hatten. Allerdings war Onkel Doug zur Totenwache an Peters Sarg erschienen, hatte ganz allein in seinem einen guten Anzug in einer Ecke der Aufbahrungshalle gestanden und war nach einem angemessenen Zeitraum wieder verschwunden. Als der blitzblanke Sarg in das offene Grab hinuntergelassen werden sollte, hatte Joseph sich nach Doug umgesehen, ihn jedoch nicht mehr finden können. Weiß Gott, wie Doug darüber dachte, dass Joseph Beamter der Fischereibehörde geworden war. Wahrscheinlich fand er, dass jetzt die ganze Sippschaft unter die Verräter gegangen war. Onkel Doug war Peters einziger Bruder und der Letzte aus der Familie, der noch am Leben war. Und so verspürte Joseph ein Bedürfnis und eine Verpflichtung, ihn noch kennen zu lernen, bevor auch er nicht mehr da war und all die Geschichten und Familienlegenden mit sich ins Grab nahm. Joseph kannte ein paar dieser Geschichten von seinem Vater, der, wenn er sie erzählte, durchs Fenster hinaus ins Weite geschaut und in einem aufrichtigen, respektvollen Ton des Erinnerns gesprochen hatte. Da war die Geschichte von Onkel Doug, wie er beim Fischen in einen heftigen Sturm geraten war und sich die obere Hälfte
23 des Daumens in einer Winde abgerissen hatte. Der Daumen war in dem Tosen lautlos über Bord gegangen, und Doug hatte, unerschütterlich in seinem schaukelnden Boot stehend, den blutenden Stumpen mit einer Nadel und einem Stück Angelschnur zugenäht, während sich um ihn herum die See auftürmte, Wellen über den Rand des Boots schwappten, dass es zu kentern drohte, und salzige Gischt ihm in die Augen sprühte. Eine andere Geschichte erzählte davon, wie Doug und Peter als Jugendliche an einem schönen Sommertag mit dem Boot draußen waren. Als sie in der Ferne ein Geräusch hörten, blickten sie zum Himmel auf und erspähten am Horizont einen Doppeldecker, der auf sie zukam. Er sank tiefer und tiefer, steuerte direkt auf Mr. Hawcos Haus oben auf dem Hügelkamm zu, streifte es und riss dabei das obere Stockwerk mit, geriet schließlich heftig ins Trudeln und kam nun mit einem ohrenbetäubenden Dröhnen direkt auf Peter und Doug zu. Wie durch ein Wunder verfehlte das Flugzeug die beiden und stürzte keine hundert Meter von ihnen ins Meer. Doug sprang sofort vom Boot und schwamm auf das rauchende Wrack zu, um den Piloten zu retten. Doch als er herankam, war kein Pilot zu sehen, nicht im Cockpit und nirgendwo sonst. Erst als Doug auf die Tragfläche geklettert war, entdeckte er den Piloten: Er war bei dem Aufprall geköpft worden. Der Kopf war nicht mehr auffindbar. Wenn all diese Geschichten der Wahrheit entsprachen, dann war Onkel Doug schlichtweg unverwüstlich.
Josephs Eltern waren beide gestorben. Zuerst sein Vater an einem Hirntumor, den man auf giftige Substanzen in dem Gebäude zurückführte, in dem er dreißig Jahre lang als Angestellter der staatlichen Tourismusbehörde gearbeitet hatte. Seine Mutter war sechs Monate später gestorben. An Herzversagen, hatte der Arzt gesagt. An ihrem Kummer, war Josephs Vermutung. Sie hatte als Krankenschwester gearbeitet und war seit vier Jahren in Rente gewesen. Seine Eltern waren intelligente, hart arbeitende Leute mit einem unerschütterlichen Humor. Dieser Humor fehlte ihm am meisten - die Abende, die sie gemeinsam im Wohnzimmer verbrachten, sich gegenseitig Geschichten über
24 begangene Dummheiten und schief gelaufene Abenteuer erzählten, bis sich alle vor Lachen bogen, nach Luft rangen und sich die Tränen aus den Augen wischten. Joseph tat es Leid, dass Robin ihre Großeltern kaum kennen gelernt hatte. Als sie vor drei Jahren starben, war Robin erst fünf. Joseph fiel ein, wie Robin am Nachmittag, kaum dass das Auto in der Einfahrt des Critch-Hauses zum Stehen gekommen war, herausgesprungen war, um nach anderen Kindern Ausschau zu halten. Da war das Solarhaus direkt westlich von ihnen, und im Osten, weiter den Hügel hinauf, stand eine verlassene Kirche. Dort gab es keine Kinder. Ein paar Leute hatten um ein frisches Grab in dem angrenzenden Friedhof herumgestanden, als Joseph und Robin vorbeischlenderten. Das war sicherlich die Beerdigung, die sie bei der Ankunft im Ort gesehen hatten. Joseph war sein Onkel Doug durch den Sinn gegangen. Es hätte er sein können in dem Sarg. Die Trauernden hatten mit einem zutiefst betrübten Ausdruck im Gesicht kurz aufgesehen, als Joseph und Robin vorbeigingen, jedoch keine Reaktion gezeigt. Joseph starrte an die Decke, auf die alten, weiß gestrichenen Holzlatten, die antike Messingfassung der Deckenlampe mit der Kugel aus Milchglas. Wer war die Frau in dem Solarhaus? Er versuchte, sich an ihr Bild zu klammern, doch seine Gedanken schweiften immer wieder zu den grämlichen Mienen der Leute auf dem Friedhof ab. Es waren verdrießliche Gesichter, in denen eine schleichende Wut arbeitete. Tommy grinste Miss Laracy an und neigte den Kopf in Richtung des engen Flurs, der in den vorderen Teil des Hauses führte. »Hab gezeichnet.« »Fische?«, fragte Miss Laracy und strich dabei zärtlich über den warmen Brotlaib, den sie auf dem Holztisch in der Küche abgelegt hatte. Sie verspürte ein bisschen Hunger und hätte gegen eine Scheibe davon und eine Tasse Tee dazu nichts einzuwenden gehabt, doch zuerst wollte sie Tommys Zeichnungen sehen, denn die waren immer sehr interessant und so außergewöhnlich.
24 »Nee keine Fische, so anderes Zeug.« Tommy wandte sich abrupt um und ging den Flur hinunter. Rechts und links an den Wänden hingen in Schönschrift aufgemalte Bibelsprüche und gerahmte Schwarz-Weiß-Porträts von Familien, die gar nicht mit Tommy verwandt waren. Miss Laracys liebster Bibelspruch war »By Grace are Ye Saved«: »Aus Gnade seid ihr durch den Glauben gerettet.« Da steckte eine wunderschöne Wahrheit drin, doch sie witzelte auch gern mit Tommy darüber, indem sie stehen blieb, auf den Glasrahmen klopfte und, auf seine Bartstoppeln anspielend, sagte: »By Grace are Ye Shaved.« Tommy lud sie mit einer ausholenden Geste ein, ihr zu folgen. »Rayna ist grade auf einen Besuch da«, sagte er. »Haste frische Butter im Haus für's Brot?«, fragte Miss Laracy, während sie Tommy auf den Fersen folgte. »Ja, ja. Ich setz dann den Wasserkessel auf, wenn du 'ne Tasse magst.« »Da sag ich nicht Nein«, flötete Miss Laracy und trat mit einem Zwinkern zu Tommy ins Wohnzimmer. »Prima.« Das Wohnzimmer war voll gestellt mit Möbeln verschiedener Stile und Epochen. Miss Laracy nickte Rayna zum Gruß zu. Rayna saß mit einem Glas in der Hand und einer offenen, halb vollen Flasche braunem Rum neben sich auf einem der niedrigen Sofas und sah aus, als ob sie sich nie wieder erheben wolle. Der Schimmer ihrer Aura war gefährlich schwach und schimmlig grün -offensichtlich trank sie schon seit einer ganzen Weile. Ihre Leber war angeschlagen, ihre Körpersäfte verdüsterten ihr inneres Licht, »'n Abend«, sagte Miss Laracy.
»Was machst'n du hier?«, platzte Rayna heraus. Ihr Kopf wackelte dabei, und sie leckte sich die aufgedunsenen Lippen. Sie trug ein hellblaues T-Shirt und eine dunkelblaue Hose aus Jersey, was bei ihrer Figur alles andere als vorteilhaft wirkte. Eine Frau in ihrem Alter sollte ein wenig auf ihr Äußeres achten, fand Miss Laracy. Obwohl die Männer heutzutage ja nicht mehr wählerisch waren und allem nachliefen, was einen Rock anhatte, so dass man sich eigentlich nicht mehr groß Mühe zu geben brauchte. Jetzt schau sich nur einer diesen Haarwust an,
25 den sie da auf dem Kopf hatte. Wie ein zerzauster Reisigbesen. So was Trauriges. Rayna hatte sich gehen lassen, seit sie ihren Mann verloren hatte. Um den es allerdings auch nicht schade war. Ein toller Fang war der wahrlich nicht gewesen, bloß nutzloser Abschaum, der das Haushaltsgeld versoffen hatte. Miss Laracy bemerkte, dass Raynas Füße nackt waren. Schockierend war das. Sie hatte sich die Turnschuhe von den Füßen gestreift und die Socken ausgezogen. Die reinste Dirne. »Na, auch 'n Schluck gefällig?«, fragte Rayna und hob schlenkernd die Flasche. »Nee. Solche Dummheiten sind nix für mich.« Tommy stand steif vor dem Esstisch, auf dem seine Zeichnungen ausgelegt waren. Der Tisch war aus Mahagoni, mit massiven, geschnitzten Beinen. Tommy hatte ihn in einem Hof aufgelesen, wo ihn jemand entsorgt hatte, um Platz für einen neuen, glänzenden Chromtisch zu schaffen. Neben dem Tisch stand eine blau gestrichene Anrichte mit zwei tiefen Schubfächern, auf der eine kunterbunte Ansammlung von vergilbtem, mit winzigen Röschen bemaltem Geschirr prangte. Ein Trödelladen, in dem nichts zu verkaufen war. Tommy schob eine seiner Zeichnungen mit dem Finger ein Stück von sich weg und steckte dann rasch die Hände in die Hosentaschen. Die Zeichnung, die direkt vor seinem Stuhl mit dem weinroten Lederbezug und den Messingbeschlägen lag, zeigte drei große Insekten, die über einem Berg schwebten. Sie war mit Kohlestift gemalt, was die schwarzen Streifen vorne auf seinem Hemd erklärte. Genau da rieben jetzt seine Finger langsam auf und ab, während er Miss Laracy beobachtete und gespannt auf ihre Meinung wartete. Er nickte mit einem verlegenen Grinsen, um sie zu ermuntern. »Der Tommy kann ganz toll zeichnen«, grölte Rayna. »Hab noch nie einen gesehen, der so gut ist.« »Was ist denn das da?«, fragte Miss Laracy und kam näher, um das Bild genauer zu betrachten. Raynas Bemerkung überging sie einfach. »Hubschrauber«, verkündete Tommy, und seine Augen wei
25 teten sich alarmiert. Er deutete auf das Wohnzimmerfenster. »Da, über der Landzunge.« Miss Laracy nahm die Zeichnung auf und hielt sie sich direkt vor die Augen. »Wann kommen die denn?«, fragte sie. Das Papier streifte fast ihre Nasenspitze, während sie peinlichst genau jeden Quadratzentimeter studierte. Tommy zuckte mit den Schultern und trat wie ein schüchterner Schuljunge von einem Fuß auf den anderen. »Also, 'n Tee, oder was?«, fragte er in einem Anfall von Nervosität. So lief das mit schöner Regelmäßigkeit jedes Mal, wenn Tommy Miss Laracy seine Kunstwerke präsentierte. Ganz offensichtlich sehnte er sich danach, ein wenig mit seinem Können anzugeben, doch war das geschehen, dann wollte er nicht mehr groß über seine Schöpfungen reden. Es war, als wären die Omen, die er zeichnete, ungehörig, und wenn die Ereignisse schließlich eintraten, dann fielen sie auf ihn zurück. »'ne Tasse Tee«, murmelte Rayna schläfrig. »Wohl eher nicht.« Sie kicherte und prustete. Es klang wie ein Pferd. Sie lachte schrill, hob schlenkernd den Arm und ließ ihn auf ihr Bein plumpsen. Miss Laracy spähte über die Schulter zu Rayna hinüber, die inzwischen die Füße auf die Couch hochgezogen und sich ausgestreckt hatte. Die Augen fielen ihr zu, und das Glas in ihrer Hand neigte sich gefährlich über dem roten Orientteppich. Zum Glück hatte sie es leer getrunken. Während sie schlummernd atmete, intensivierte sich ihre Aura: Sie war gestärkt, weil der Körper ruhte. Das Glas rutschte aus ihren Fingern und landete mit einem dumpfen Laut auf dem Teppich. »Der geht's nicht so gut«, sagte Tommy entschuldigend und mit einem zärtlichen Unterton in der Stimme. »Ist gar nicht auf der Höhe, die Arme.«
»So sieht's wohl aus.« »Ich pass schon auf sie auf.« »Bist 'n Geschenk des Himmels, Tommy, mein Junge.« »Also, dann setz ich mal 'n Teekessel auf.« »Nur zu«, sagte Miss Laracy, während sie mit nachdenklicher Miene Tommys Zeichnung ablegte. Wieder etwas munterer fügte
26 sie hinzu: »'n Tässchen Tee, das war jetzt grade das Richtige.« Sie sah, dass Tommy schaute, wo sie die Zeichnung hingelegt hatte. Sein Blick hing gebannt an dem, was er da geschaffen hatte, und sie hätte schwören können, dass sich eine Bewegung in seinen Augen spiegelte, die fliegenden Hubschrauber, oder vielleicht war es auch nur der Glanz von Tränen, die sich in seinen Augen sammelten, obwohl er so tapfer zu lächeln versuchte. Miss Laracy nahm tröstend seine Hand zwischen die ihren. »Nun mach dir mal keine Sorgen, Tommy, mein Junge.« Sie schenkte ihm ein hingebungsvolles zahnloses Grinsen zum Trost und tätschelte liebevoll seine Hand. »Mach dir nicht so viele Sorgen über die Zukunft, 's geht alles vorbei. Alles geht vorbei, und auf lange Sicht kann uns das alles nix anhaben.« Joseph wünschte sich nur noch, er könnte sein Gehirn abschalten, einfach einen Knopf drücken, und da wäre nichts als schwarze, gefühllose Leere. Obwohl er still dalag und die Ereignisse des Tages längst hinter ihm lagen, schoben sich immer wieder flüchtige Bilder in seinen Kopf. Im Augenblick lief in seinen Gedanken die Anfahrt von St. John's mit Robin zusammen im Auto ab. Die erste halbe Stunde auf der Autobahn war Robin ganz aufgeregt gewesen. Sie hatte die neuesten Lieder im Radio mitgesungen, an den Stellen, wo sie den Text nicht genau wusste, einfach ihren eigenen erfunden und hatte Joseph auf diese unglaubliche Art angestrahlt, wie es nur eine Tochter vermag. Für eine Weile hatte sie sogar das Zeichnen vergessen, eine Obsession, die Joseph allmählich Sorgen machte. Es war ein solches Vergnügen, Robins Stimme zu hören. Doch irgendwann konnte Joseph den süßlich kitschigen Überschwang dieser Songs nicht mehr ertragen und legte eine Kassette mit Opernmusik ein. Das stetige Fahren und die Klarheit des Orchesterklangs ließen Robin stiller werden. Ohne ein weiteres Wort griff sie in ihre Tasche, zog ihren Block und einen Stift heraus und fing an zu zeichnen. Die Musik - Joseph hätte nichts davon auf Anhieb benennen können - unterstrich die Erhabenheit der Landschaft, die sich ihnen vom Highway aus darbot: die Hügel in fahlem
26 Gelb, Grün und Weinrot, durchsetzt von schweren, dunkelgrauen Felsblöcken, die nach dem verhängnisvollen Rückzug der Eisdecke in der Gegend verstreut lagen; in der Ferne Streifen dichter Nadelwälder und immer wieder kleine Seen und Teiche, willkürlich in die Landschaft gebettet. Hin und wieder warf Joseph einen Blick auf Robin, ihr makelloses Gesicht, ihre kindlich unschuldigen Angewohnheiten. Überfließend vor Liebe und Stolz, strich er ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht oder fasste ihre Hand - diejenige, die nicht gerade den Stift hielt - und staunte über ihre kleinen Finger. Als sie schließlich die Abzweigung zur Shearstown Line erreichten, kündigte ein Wegweiser Bareneed an: nur noch dreiundzwanzig Kilometer. Eine wellige Ebene mit Feldern öffnete sich vor ihnen. Schafe grasten, das Heu war gemäht und lag in Ballen auf sattgrünen Weiden. Joseph und Robin betrachteten neugierig die Landschaft. Die Opernmusik erreichte ein Crescendo und ebbte wieder ab, erfüllte sie mit einem erhebenden Gefühl. »Ist das nicht schön?«, fragte Joseph. »Ja«, stimmte Robin leise zu. Zuerst warf sie nur kurze Blicke nach draußen, doch irgendwann nahm die Landschaft ihre ganze Aufmerksamkeit in Beschlag, und sie beugte sich vor und stützte die Arme aufs Armaturenbrett. Ein Schild wies den Weg nach Bareneed. »Da ist es!«, rief Robin. Joseph ging vom Gas und bog um die Kurve. Weit vor ihnen ragte eine felsige Landzunge hoch über dem Hafen auf. Großzügige Landparzellen trennten die quadratischen, schindelverkleideten
Häuser, doch je tiefer sie in die Ortschaft hineinfuhren, desto schmaler wurden die Grundstücke. Noch immer gehörte zu jedem Haus ein großes Stück Land, doch jetzt befand es sich hinter den Häusern und stieg sanft zu den felsigen, grauen Hügeln an, die die Ortschaft im Norden und Süden schützend umrahmten. Joseph warf einen prüfenden Blick auf Robins Gesicht, um zu sehen, wie sie alles fand.
27 »Da ist es.« »Es ist hübsch. Es gibt Wasser, oder?« »Siehst du den Hafen da drüben?« Robin richtete sich ein wenig in ihrem Sitz auf. »Oh, ja. Wow! Toll!« »Schöne alte Häuser, was? Vielleicht können wir später angeln gehen.« Robin grinste spitzbübisch, hob die Hände mit gekrümmten Fingern zum Gesicht und zuckte aufgeregt mit den Augenbrauen. »Ehrlich? Bitte, bitte, gleich.« »Erst mal müssen wir auspacken.« Sie fuhren am Postamt vorbei; gegenüber, auf der anderen Straßenseite, lag der eingeschossige rote Bau des Gemeindezentrums und der Feuerwache. Nur Augenblicke später lag zu ihrer Linken das Meer. Robin reckte den Hals zu Josephs Fenster hinüber. »Schau nur, die ganzen Boote!« »Hier hat praktisch jeder Einwohner eines.« »Ist das Wasser nicht toll, Daddy?« »Und ob, meine Süße.« Joseph schenkte ihr ein zurückhaltendes Lächeln und spähte auf die gleichmäßige, dunkelblaue Fläche hinaus, auf der er jetzt seit über zwölf Jahren herumfuhr. Meist ohne Turbulenzen, nur hin und wieder mal eine heftigere Auseinandersetzung mit einem einheimischen oder ausländischen Fischer, der entgegen dem Verbot Fischfang betrieb. Der schlimmste Zwischenfall hatte sich erst vor ein paar Wochen ereignet: Als er ein Schiff betrat, hatte sich ein Eimer fauligen Fischs über ihn ergossen. Der Geruch hatte auch nach zweimaligem ausgiebigem Duschen noch an seinem Körper gehaftet oder aber sich in seiner Nase festgesetzt. Das Wasser übte eine magische Anziehungskraft aus. Joseph durchflutete eine Woge der Freude, als er sah, dass seine Tochter die Schönheit des Meeres erkennen konnte, dass sich in ihr genau das widerspiegelte, was er selbst empfand. Weiter oben standen Autos auf beiden Seiten der Straße. Die Nachmittagssonne glänzte auf Fenstern und Chrom. Leute in
27 altmodischen Kleidern und Anzügen, die Joseph an seine Abschlussfeier in der Highschool erinnerten, strebten auf eine Kirche zu. Wehmut überkam ihn. Er ging vom Gas, als er merkte, dass Robin sich für das Geschehen interessierte. Als sie sich den Kirchenstufen näherten, sah Joseph den schwarzen Sarg. »Ist das eine Beerdigung, Daddy?«, fragte Robin. »Ja, sieht so aus.« Er bremste den Wagen auf Schritttempo ab, aus Respekt vor dem Verstorbenen, aber auch, um nicht noch jemanden zu überfahren. »Wer ist gestorben?«, fragte sie flüsternd und in einem so abgrundtief traurigen Ton, dass man schon fast Tränen zu hören glaubte. »Ich weiß es nicht, Schatz.« Ein älteres Ehepaar ging mit untergehakten Armen die Straße hinunter. Die schwarzhaarige Frau trug ein biederes, schwarzweiß gestreiftes Kleid und einen schwarzen Hut, der alte Mann einen blauen Anzug, der über dem Bauch spannte. Der Mann blieb stehen, steif und mit einer Hand auf der Brust, und schien mühsam nach Atem zu ringen. Die Frau wirkte besorgt. Joseph beobachtete sie im Rückspiegel, als sein Auto an ihnen vorbeigerollt war. Die Frau fasste den Mann am Arm und führte ihn vorsichtig weiter. Hätte er anhalten und Hilfe anbieten sollen? Aber da waren überall genügend Leute, Leute aus dem Dorf, die einander kannten. Warum hätte er da anhalten sollen? Josephs Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück, in das dunkle Schlafzimmer. Das Haus wirkte so still, als er aus seinen Erinnerungen auftauchte. Wieder verspürte er dieses wässrige
Schwanken und war gezwungen, erneut in die Vergangenheit zurückzugehen, um sich dort einen Ankerpunkt zu verschaffen. Bevor er Robin am Vormittag abgeholt hatte, hatte er Kissen, Decken, Bücher, Teller, Töpfe, Essen und - am allerwichtigsten -die Angelruten ins Auto gepackt. Seit Monaten schon freute er sich auf diesen Urlaub. Er vergötterte seine Tochter, und er litt sehr darunter, dass er sie durch die Trennung von Kim nur noch selten zu Gesicht bekam. Wenn er nachts auf der Couch in seiner Wohnung lag, stellte er sich vor, wie er mit Robin Karten
28 oder Backgammon spielte oder wie sie sich zusammen ein Video ansahen und sich dabei eine Riesenschüssel Popcorn mit Schokoladenguss teilten. Robin liebte Popcorn mit Schokoladenguss, mehr noch als das Video, an dem ihr nie allzu viel zu liegen schien. Filme konnten sie nie richtig fesseln. Sie hatte sogar schon öfter die Nase über ein Video gerümpft und lieber irgendein ausgefeiltes Phantasiespiel weitergespielt. Auf die Frage, warum sie den Film nicht anschauen wollte, hatte sie ihrem Vater erklärt: »Da ist schon zu viel da.« »Zu viel was?«, hatte Joseph gefragt. »Alles. Die Geschichte und die Leute und so. Die zeigen immer alles.« Joseph hatte nicht nachgehakt und angenommen, sie meinte damit, dass nichts der Phantasie überlassen blieb. Robin verbrachte viel lieber Zeit draußen, spielte im Park, schaukelte oder ließ sich von Joseph die Rutsche hochjagen, wobei er wie ein Hund knurrte und sie vor Begeisterung juchzte. Mit diesen Erinnerungen im Kopf ging Joseph dann zu Robins leerem Zimmer in seiner Wohnung und starrte auf das leere Bett, das sie immer selbst machte. Er stand da und ließ den Blick über ihre Stofftiere und ihre Zeichnungen an der Wand wandern und fühlte sich auf einmal unendlich einsam und niedergeschlagen. Meistens musste er dann die Wohnung verlassen und einen Spaziergang machen, um die Bedrückung loszuwerden, die sich wie Blei in seinen Gliedern eingenistet hatte. Erneut zwang er seine Gedanken zurück in das Schlafzimmer des Critch-Hauses mit der verblichenen Rosenknospentapete. Nicht ein Laut mit Ausnahme von Robins sanftem Atmen. Er betrachtete seine Tochter, küsste sie auf die Wange, betrachtete sie erneut und küsste sie auf die Stirn. Nachdem er aus dem Bett geklettert war, wagte er sich in die düstere Küche hinunter. Er ließ das Licht aus und lehnte sich gegen die Küchenzeile, die Hände auf den kühlen Rand der Spüle gestützt, während er zum Fenster hinaussah. Es bot einen Blick auf das Solarhaus. Die Sterne spiegelten sich in dem schrägen Dach. Er genoss es, einfach nur dazustehen und zu warten, ob sich im Nachbarhaus etwas regte. In der Dunkelheit hinter einem der oberen Fenster tauchte ein schwacher Lichtschein auf,
28 ein orangefarbener Schimmer, der schwankend heller wurde und sich in einer anderen Ecke verdoppelte: mehrere Kerzen, die nacheinander angezündet wurden. Eine bleiche Gestalt erschien im Fenster - die rothaarige Frau, in einem scharlachroten, bis zum Kragen zugeknöpften Nachthemd. Sie hob die Hände und presste sie flehentlich gegen die Scheibe, während ihre Augen unverwandt auf Josephs Küchenfenster gerichtet waren. Das bläuliche Licht des Fernsehers flackerte über Lloyd Fowlers Gesicht. Er saß in seinem verdunkelten Wohnzimmer und schaute eine Dokumentation über den Zweiten Weltkrieg an. Schwarz-Weiß-Bilder von nackten, ausgemergelten, zu reglosen Haufen aufgeschichteten Körpern. Grau hervortretende Brustkörbe. Graue Gesichter. Graue, auf die Knochen abgemagerte Beine. Als Lloyd im Zweiten Weltkrieg mitgekämpft hatte, hatte er keine Ahnung von den unmenschlichen Verbrechen gehabt, die die Nazis begingen. Es kursierten Gerüchte, doch auf solche Gräuel waren er und seine Kameraden vom Royal Newfoundland Field Regiment nicht vorbereitet gewesen. Dagegen erschien alles, was er durchgemacht hatte, beinahe trivial. Nichtsdestoweniger war er einst stolz gewesen, seinen wenn auch noch so bescheidenen Beitrag geleistet zu haben, um diesen deutschen Schweinen den Garaus zu machen. Er hatte es einst für ehrenvoll gehalten. Jetzt hätte es ihm nicht gleichgültiger sein können. Was für Grausamkeiten die Menschen einander zufügten, das ging ihn nichts mehr an.
Er holte tief Luft und hörte ein Geräusch aus der Küche: Barb ließ ihn nicht aus den Augen. Sie wollte, dass er die Pillen nahm, die der Doktor verschrieben hatte. »Wofür?«, hatte er sie angeschrien und dabei die Fäuste auf die Armlehnen seines Sessels niedersausen lassen. »Wofür denn? Wofür?« In seiner Brust kochte ein Zorn, ein schier unbändiges Bedürfnis, von seinem Sessel aufzuspringen und seiner Frau das letzte Quäntchen Leben aus dem Leib zu prügeln. »Brauchst du irgendwas, Lloyd?«, kam ihre Stimme flüsternd aus dem kühlen Halbdunkel der Küche.
29 Er hielt einen Moment inne, schöpfte Luft, schloss die Augen und starrte in die Tintenschwärze. Er würde erst sie umbringen, dann sich selbst. Würde sie mit seinen steinharten Fäusten erschlagen. »Lloyd?« Er schlug die Augen wieder auf, fasste sich und versuchte, sich darauf zu konzentrieren, was er vielleicht brauchen könnte, doch ihm fiel kein Bedürfnis ein, das er hätte in Worte fassen können. »Nichts.« »Bist du sicher?« Er antwortete nicht, atmete nur, während in seinen Augen der Hass brannte. Warum bloß diese Atemnot?, fragte er sich. Starb man so als alter Mann? Eine verschwommene Erinnerung an seinen Sohn ging ihm flüchtig durch den Sinn. Bobby. Praktisch ein Fremder für ihn. Tot. Hepatitis, hatte Barb ihm gesagt, aber als er hörte, dass der offene Sarg in der Aufbahrungshalle mit Plexiglas zugedeckt war, waren seine Befürchtungen bestätigt. Aids. Hielt Barb ihn für so dumm? Es scherte ihn nicht, was es gewesen war. Es war ihm egal. Er hatte fünfzehn Jahre lang nicht mit seinem Sohn gesprochen und weigerte sich, zur Beerdigung zu gehen. Bobby war auf dem Festland, in Montreal, begraben worden, neben seinem toten Freund. Barb hatte ihn heimbringen und im Familiengrab beisetzen lassen wollen, doch Lloyd wollte nichts davon wissen und ließ Barb allein nach Montreal fliegen. Ehrlich gesagt, war Lloyd froh, dass sein Sohn tot war. Er war froh und spürte eine tiefe Genugtuung. »Ist alles in Ordnung?«, kam Barbs besorgte Stimme. Wieder schloss Lloyd Fowler die Augen. Er spürte die hievende, pechschwarze See, die immer höher stieg, den Tod, den das Meer für sie alle bereithielt, spürte, wie seine Hände an den Maschen eines Netzes zogen, vom Wetter gegerbte Hände, die das leere Gewicht einholten, während schwarzes Wasser durch die Maschen rann. »Ich gehe nach oben. Warum kommst du nicht auch ins Bett?« Seine Lider öffneten sich eigenmächtig. Er holte tief Luft und füllte seine Lungen. Die Stille um ihn herum drohte ihn zu ersti
29 cken. Seine Fäuste ballten sich steinhart auf den abgewetzten Armlehnen. Schlaf nützte ihm auch nichts, bot weder Linderung noch Erholung. Seit Wochen kein einziger Traum, nur seine düsteren Visionen von der See. Die Treppe knarrte, als Barb nach oben ging. Lloyd erhaschte einen letzten Blick auf sie - Pantoffeln, Waden und das Nachthemd - und wandte den Blick wieder dem Fernseher zu. Die schwarz-weißen Bomber flogen durch den schwarz-weißen Himmel. Er atmete aus, wartete. Kein Drang, erneut Luft zu holen. Wie lange konnte er ohne Atmen auskommen? Die platte Sinnlosigkeit schien grenzenlos. Über ihm quietschten die Bettfedern unter Barbs Gewicht. Wenn er jetzt aufstand, würde er, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf und ins Schlafzimmer stürmen und Barb zu Brei schlagen. Sie schlagen, bis sie wie am Spieß schrie und starb, während sein Kopf vor Furcht und Erregung hysterisch summte und er wieder neues Leben in sich spürte. Er weigerte sich, noch einmal Luft zu holen. Weigerte sich stur. Nie wieder. Seine Haut kribbelte. Auf dem kleinen Bildschirm fielen schwarz-weiße Bomben durch fahle, graue Wolken, während Lloyd Fowler die Augen schloss und mit seinen grauen, ledrigen Fingern an dem Netz zog, um es aus dem schwarzen Wasser zu hieven, die Sehnen und Adern seiner Hände gespannt, die Poren atmend, bis das Netz sich aus dem Wasser hob, einen darin verhedderten Gummistiefel zum Vorschein brachte, aus dessen Öffnung sich ein Schwall Wasser über graues Fleisch ergoss, ein
Stück schimmerndes Bein, und dann das dicke, jahrzehntealte Ölzeug einer Hose. Ein Mann, das Haar wie Algen im Wasser schwimmend, ein kragenloses Hemd mit grau-weißen Nadelstreifen, die leeren Augen starr in den elfenbeinfarbenen Himmel hoch über dem Boot gerichtet. Lloyd Fowlers Hände zogen fester. Der Körper hob sich vollends aus dem Wasser und plumpste in sein Boot. Dann kam noch ein Körper, auch er in den Maschen des Netzes gefangen: der kleine Kopf eines Kindes, nasses, weißes Haar, offene Augen, graue, aufgequollene Lippen, die zur Begrüßung lächelten und sich dann öffneten, um zu sagen: »Du hast mich ge-
30 funden. Fische noch weiter, dann fängst du auch meinen Vater. « Wo sind die Fische?, wollte er das Mädchen fragen. Wieso sind da jetzt menschliche Körper? Ist das jetzt mein Geschäft, die Toten aus dem Meer zu ziehen? Die Fragen kamen mehr in Bilderfetzen als in Worten. Er beherrschte die Sprache nicht mehr. Seine Lungen waren leer und verlangten nach nichts. Lloyd Fowler starrte auf den Fernsehbildschirm und schaute dabei tief in sich hinein. Flugzeuge. Bomben. Erinnerungen. Ein leichtes, schwindliges Gefühl stellte sich in seinem Kopf ein, seine treibenden Gedanken verschwammen mit den flackernden Bildern vor seinen Augen. Sein Kopf sackte nach vorn, das Kinn ruhte auf der Brust. Kein weiterer Atemzug sollte ihm mehr zu schaffen machen.
Freitag
»He, langsam«, rief Joseph Robin hinterher, während sie lachend vom Vorgarten auf die Obere Straße hinausrannte. »Ja genau, du, ich rede mit dir, Faulpelz. Schau mich bloß an. Ich schleppe hier die gesamte Ausrüstung.« Er gab sich so vergnügt und ausgelassen wie möglich. Das machte der Sommer. Die Ferien. Endlich frei von den Hunderten winziger Häkchen, die sich bei der Arbeit in den Gedanken festsetzten. Es war ein glühend heißer Morgen. Nicht der Hauch eines Lüftchens. Seine Haut spannte bereits von der Sonne. Vielleicht sollte er eine Schirmmütze tragen. Seit ein paar Jahren, seit sein Haar dünner wurde, hatte er Angst, sich einen Sonnenbrand auf dem Kopf zu holen oder gar einen Sonnenstich, doch er brachte es einfach nicht über sich, einen Hut aufzusetzen. Er war kein Hut-Typ. Mit einem Blick über die Schulter vergewisserte er sich, dass die Haustür zu war, und winkte dann mit den zwei Angelruten. »He!« Er hob die Hand mit der orangefarbenen Kiste, in der das Angelzeug war. »Bin ich vielleicht dein Lastesel, oder was?« »Genau«, rief Robin munter zurück und sprang voraus in ihrem gelben T-Shirt und den rosaroten Shorts mit den weißen Katzengesichtern an unübersehbarer Stelle. Ihre Sandalen schlappten beim Rennen auf dem Asphalt. Joseph betrachtete zufrieden den auf und ab hüpfenden Pferdeschwanz, den er ihr geflochten hatte: ein klein wenig schief, aber sonst ganz gut gelungen. »Nun warte doch mal.« Rechts und links der Straße standen kleine blaue Wiesenblumen im hohen Gras zwischen Nadel- und Ahornbäumen. Wie schön es war, so ganz im Vorbeigehen Blu
30 men zu sehen. Ein Blick nach vorn zeigte Joseph, dass Robin vor dem Solarhaus Halt gemacht hatte. Sie sah sich mit einem bedrückten Ausdruck nach ihm um. Ein paar Vögel zwitscherten in den Bäumen, als Joseph seine Tochter einholte. In der sommerlichen Stille hörte er das ferne Quietschen einer Wäscheleine. Jemand hängte Wäsche auf oder ab. »Hübsches Haus. Jede Menge Glas«, stellte Joseph fest. Vor allem den Balkon im zweiten Stock bewunderte er. Herrlich, da oben zu sitzen und auf das Dorf hinunterzuschauen. »Es ist ein Solarhaus. Weißt du, was das ist?« Robin sagte nichts. »Große Fenster. Natürliches Licht.« Er drehte sich weiter, um zu sehen, welchen Blick man von den Fenstern und vom Balkon aus hatte, betrachtete die Häuser und den Hafen. Eine überwältigende Aussicht. »Hast du schon von Solarhäusern gehört?« Robin schüttelte den Kopf. »Die Kollektoren auf dem Dach fangen das Sonnenlicht ein und heizen das Wasser auf, das durch die Wände gepumpt wird. Das Wasser beheizt dann das Haus.«
Beide betrachteten schweigend das Haus, während die Sonne ihnen ins Gesicht schien. »Von da oben kann man alles sehen«, sagte Robin mit einer Überzeugung, die Joseph verblüffte. »Woher willst du denn das wissen, Spatz?« »Ich kann auch sehen, weißt du«, stellte sie fest und spähte mit zusammengekniffenen Augen die gewundene Straße hinunter. Zehn Meter weiter näherte sich eine Frau. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und den Kopf gesenkt, als ob sie tief in Gedanken versunken wäre. Die Falten ihres langen cremefarbenen Baumwollkleids streiften ihre sandalenbeschuhten Füße. Ihr kupferrotes Haar war aus der Stirn gekämmt und mit einem cremefarbenen Band fixiert. Die auffallende Blässe ihrer Haut verlieh ihr eine zerbrechliche Anmut und kontemplative Zurückhaltung, die an eine frühere Epoche erinnerten.
31 »Robin«, flüsterte Joseph, »hör auf, so zu starren.« Er berührte seine Tochter sanft mit der Angelbox an der Schulter. »Komm.« Er schlenderte weiter, doch seine Wangen brannten. Das war ohne jeden Zweifel die Frau von vergangener Nacht, die im Fenster gestanden hatte, als wolle sie ihm ein Zeichen geben, ihn einladen. Er ging ruhig weiter die Straße hinunter, bemüht, die Augen abzuwenden und ein Interesse an der Landschaft vorzuschützen, doch sein Blick suchte immer wieder die geheimnisvolle Nachbarin. Als er nur noch drei Meter von ihr entfernt war, schaute sie auf. Sie schien nicht im Geringsten zu erschrecken, sondern blickte Joseph und Robin einfach an. »Tag«, sagte Joseph, während Robin sich an ihn drängte und an sein Bein drückte. Er versuchte, nicht an das Bild von der Frau im Fenster zu denken, die die Hände gegen die Scheibe gepresst hatte, bis ihre Fingerspitzen weiß waren. Doch je mehr er sich anstrengte, desto hartnäckiger erforschten seine Augen ihre unberingten Finger und Hände. Jetzt, aus nächster Nähe, fielen Joseph die eigenartigen Konturen ihres Körpers auf, die schlanken, sinnlichen Arme und Beine im Zusammenspiel mit den vollen Brüsten und einer breiten Hüfte. Eine Gestalt, die deplatziert wirkte, die in einem Missverhältnis zu sich selbst stand. Doch die Gegensätzlichkeit erhöhte nur noch ihren Reiz. »Tag«, erwiderte die Frau schließlich ohne die Andeutung eines Lächelns. Ihre Stimme klang rau, ausgedörrt. Sie versuchte, sich zu räuspern, und warf einen flüchtigen, unsicheren Blick auf Robin. Sie fuhr sich mit der Zunge über die vollen Lippen und blinzelte. Ihre Lider waren rosarot, ihr Gesicht herzförmig, die Nase auffallend klein, und die grünen Augen zeigten leicht schräg nach unten, was eine Melancholie andeutete, die ihrem Wesen innezuwohnen schien. »Sie sind im Critch-Haus abgestiegen, nicht wahr?« Sie betrachtete Joseph mit geistesabwesendem Blick. Hatte sie ihn gestern Nacht überhaupt gesehen, oder hatte sie nach jemand anderem Ausschau gehalten? Wenn ja, nach wem? Wen außer Joseph hätte sie wohl sonst an
31 starren können? Außer seinem Haus gab es nur Wald ringsum. Hatte sie in den Wald hinein gestarrt? »Wir sind gerade erst angekommen«, platzte Joseph heraus und kam sich sofort wie ein Idiot vor. »Ich wohne da.« Die Frau deutete mit einer vagen Geste auf das Solarhaus. Ihr flackernder Blick richtete sich zu Boden und schweifte dann zum Hafen, als würde das Wasser sie beschäftigen. »Wir wollen angeln gehen.« Joseph hob die Ruten ein wenig in die Höhe. »Aber das sieht man wohl.« Die Frau antwortete nicht. Sie betrachtete aufmerksam Josephs Hände und das Angelzeug. »Tolle Aussicht«, sagte Joseph. »Ja, das ist es.« »Ich heiße Joseph.« Er wollte ihr die Hand reichen, als er feststellte, dass er in der rechten die Angelbox hielt. Umständlich setzte er den Kasten auf dem rissigen Asphalt ab und bot ihr die Hand. Die Frau erwiderte die Geste zögernd, indem sie flüchtig seine Fingerspitzen ergriff. »Ich heiße Claudia.« »Und das hier ist Robin.«
»Hallo«, sagte Claudia mit einem höflichen, jedoch müden Lächeln. Ohne auf eine Erwiderung zu warten, schlang sie erneut die Arme um ihren Oberkörper, erschauerte und schlenderte auf ihr Haus zu, als wären die beiden gar nicht da. »Hallo«, brachte Robin endlich heraus. Joseph legte die Hand auf Robins Haar und zog ihren Kopf an seine Hüfte. »Wahrscheinlich sehen wir uns dann öfter«, rief er Claudia nach. »Wir bleiben ein paar Wochen.« Er bückte sich, um die Angelbox wieder aufzunehmen. »Schön«, sagte Claudia, die bereits halb die grasbewachsene Einfahrt zu ihrem Haus hinaufgegangen war. Erneut richtete sie den Blick aufs Wasser, beschattete mit der Hand die Augen gegen das gleißende Licht. »Danke«, rief ihr Joseph als Erwiderung nach, was höflich gemeint, jedoch unpassend war. Doch Claudia war zu sehr in ihre eigenen Gedanken vertieft, um es zu bemerken.
32 Ein wenig gekränkt setzte Joseph schweigend seinen Weg fort. Einen Augenblick später wandte er sich noch einmal um und sah, wie Claudia zur Haustür hineinging und sie hinter sich schloss. Der schwarze Hund von vergangener Nacht fiel ihm wieder ein, und er hielt suchend nach ihm Ausschau. Keine Spur von ihm. Joseph fragte sich, warum Claudia so distanziert war. Er war sich sicher, dass sie ihn gestern Nacht gut und gern zehn Minuten lang angestarrt hatte, und er hatte mit ihr gefühlt in ihrer Einsamkeit, bis sie schließlich in die von Kerzenschein beleuchtete Tiefe ihres Schlafzimmers entschwunden war. Mit einem Seufzer schalt er sich dafür, dass er sich wie ein Schuljunge benahm. Schließlich war er mit seiner Tochter hier. Jetzt einen Flirt anzufangen wäre Robin gegenüber unfair. Dessen ungeachtet, schärfte er sich ein, dass es mit Kim aus war, stählte sich gegen sie, verschloss sein Herz. Es tat ihm weh, doch er musste realistisch sein. Sie gehörten einfach nicht mehr zusammen. Ihre Interessen hatten sich verlagert, und sie empfanden nichts mehr füreinander. Joseph kannte jede Kleinigkeit an Kim. Sie hatte ihm jeden ihrer Gedanken anvertraut, jeden Ärger, jede Vorliebe und jede Abneigung, jede triviale oder komplexe Überlegung. Sie hatte sich auf eine Zeit der Offenheit eingelassen, und die Offenheit hatte alles Geheimnisvolle an ihr restlos getilgt. Die Ehe fiel ihrem eigenen Entwicklungsprozess zum Opfer. Das Einzige, was Kim und Joseph schließlich noch zusammenhielt, war Robin, doch - so traurig es war - nicht einmal Robin reichte, um ihre Liebe neu zu entfachen. Claudia dagegen besaß eine viktorianisch anmutende Schönheit, eine sanfte Weiblichkeit, die Joseph ans Herz ging. In ihr glaubte er in seiner idealistischen, unverbesserlichen männlichen Art, die vollkommene Frau zu sehen. Und es war Sommer, was die Sache zusätzlich beflügelte, da diese Jahreszeit in besonderem Maße Verliebtheit und Grillen und romantische Höhenflüge verhieß. Unter dem Eindruck dieser Gedanken warf Joseph noch einen Blick zurück zum Solarhaus. Robin stand da und beobachtete es. Sie hob einen Arm und winkte.
32 »Wem winkst du?«, fragte Joseph. »Einem Mädchen.« »Wo?« »Oben im Fenster.« Joseph schaute, sah aber nur die Spiegelung einer großen fedrigen Wolke am blauen Himmel. »Ich sehe nur Wolken.« »Sie ist hinter den Wolken, Daddy«, sagte Robin ein wenig entnervt, weil er nie irgendwas sah. Sie winkte erneut, und ihr Arm beschrieb dabei einen eleganten Bogen durch die Luft. »Siehst du, sie winkt auch.« Nach einer neuen Vorschrift musste Sergeant Brian Chase im Laufe einer Schicht vier Mal durch Bareneed fahren. Noch vor zwei Wochen hatte er die kleine Ortschaft kaum je besucht, da sie nicht auf seiner Hauptroute lag, der Shearstown Line. Die RCMP hatte jedoch ihre Streifen in der Gegend intensiviert, um Präsenz zu zeigen: Die Leute sollten wissen, dass die Polizei da war, um bei Bedarf zu helfen.
Bareneed war für gewöhnlich ein ruhiges Dorf, genau wie jedes andere abgelegene Fischerdorf an der Küste: nur hin und wieder mal ein paar Jugendliche, die etwas anstellen, eine Prügelei, ein Auto im Straßengraben, jemand betrunken am Steuer oder ein Familienzwist. In jüngster Zeit jedoch lag eine unterschwellige Unruhe und Gewalttätigkeit in der Luft. Nicht zu vergleichen mit den Problemen, die Chase von den indianischen Siedlungen in Saskatchewan her kannte. Die ersten acht Jahre seiner Polizistenlaufbahn hatte er dort mit Fällen zugebracht, die zum Schlimmsten gehörten, was ihm je untergekommen war, bis sich die Depressionen, unter denen seine Frau Theresa litt, zusehends verschlimmert hatten. Wenn er von Vergewaltigungen, Kindsmissbrauch, Selbstmord und Mordfällen erzählte, schien es sie fast körperlich zu treffen. Theresa war nicht fähig, sich gegen die Grausamkeit abzuschotten, wie er es gelernt hatte. Selbst als er ihr versprach, nicht mehr von den Verbrechen zu reden, schien Theresa all das Düstere, das Chase begegnete, irgendwie an ihm zu spüren und in sich aufzusaugen. In ihrem
33 schleppenden Tonfall, eine Nebenwirkung der Medikamente, hatte sie ihm erklärt: »Ich spüre, wie du es abstrahlst, Brian, das furchtbare Ende der Dinge.« Nicht nur die Worte selbst, sondern auch die Art, wie sie es sagte, machten ihn wütend auf sich selbst. So wie sie ihn ansah, kam er sich vor wie ein Eindringling in seinem eigenen Haus, und von diesem Gefühl bekam er schon bei seiner Arbeit mehr als genug mit. Er war halb indianischer Abstammung, weshalb ihm viele Indianer mit Feindseligkeit begegneten. Dass er ausgerechnet zur Polizei gegangen war, also in die Fußstapfen des weißen Mannes getreten war und den indianischen Ureinwohnern nun die Gesetze der Weißen aufzwang, verschlimmerte das Ganze nur noch. Trotzdem wollte er eigentlich nicht wegziehen. Er hatte sich in Saskatchewan eine Existenz aufgebaut, dort hatte er seine Wurzeln. Seine Mutter war in dem Red-Lake-Reservat wieder richtig aufgelebt, nachdem sein Vater, ein Weißer, umgekommen war. Bei einem Bootsunfall. Alkohol war im Spiel gewesen. Chase hatte mit der Zeit gelernt, die Manifestationen von Theresas Krankheit zu ertragen: den Verlust jeglicher Intimität zwischen ihnen, ihre tiefe Gleichgültigkeit gegenüber dem, was er leistete, ihr ständiges Kreisen um alte Probleme. Er nahm die Symptome hin, half im Haushalt, kochte, wusch und bügelte selbst und vergrub sich in seiner Freizeit in ein anderes Leben im Internet. Websites, die sich mit Verbrechen beschäftigten, faszinierten ihn. Er hatte sich zahllose Seiten markiert, auf denen er über alte Fälle las, und studierte Tatortfotos, die er sich auf die Festplatte herunterlud. Inzwischen besaß er eine ziemlich eindrucksvolle Sammlung davon, kannte die Einzelheiten, die zu jedem dieser Fotos gehörten, die fesselnden Rekonstruktionen dieser Tode. Besonders faszinierten ihn Ertrunkene: Menschen, die versehentlich ertrunken waren, solche, die sich auf diese Weise das Leben genommen hatten, und Mordopfer, die in Seen versenkt worden waren. Warum diese Neigung der Menschen zum Wasser? Warum kamen Mörder auf die Idee, eine Leiche ins Wasser zu werfen, gerade so, als würde sie dadurch wieder ihrem ursprünglichen, angemessenen Platz zugeführt?
33 Isoliert wie er war, hatte Chase schließlich angefangen, Chatrooms zu besuchen. Während Theresa auf dem Wohnzimmersofa vor sich hin döste, knüpfte er Beziehungen über das Datennetz und glaubte, endlich einen Weg gefunden zu haben, um mit seiner brutalen Einsamkeit fertig zu werden. Doch als Theresas Arzt andeutete, die Krankheit seiner Frau sei womöglich zu einem Großteil von der äußeren Lebenssituation bestimmt - dem Leben am Rand des Reservats -, blieb ihm keine Wahl mehr. Chase fühlte sich verpflichtet, eine Versetzung zu einer Dienststelle mit niedrigerer Verbrechensrate irgendwo abgelegen auf dem Land zu beantragen. Theresa fand Gefallen am Landleben. Sie konnte nach und nach ihre Medikamente absetzen und lag nicht mehr die ganze Nacht allein auf dem Sofa, um wahllos alles in sich aufzusaugen, was zufällig gerade im Fernsehen lief. Sie kaufte im Drugstore des Dorfs Zeitschriften über Wohnen im ländlichen Stil und schmiedete Pläne, das Haus, das sie für ein Butterbrot in Port de Grave gekauft hatten, zu renovieren. Die Immobilienpreise in der Gegend waren so niedrig, dass es schon zum Lachen war. Ihr Haus lag direkt am Wasser, sie hatten das Meer buchstäblich hinter ihrem Garten,
und das Krankenhaus lag - nur für alle Fälle - ein paar Hundert Meter weiter die Straße hinauf. Doch sosehr er es sich auch wünschte, Chase konnte nicht recht an Theresas Anfälle von Klarheit und Tatkraft glauben. Er hatte das alles schon so oft mitgemacht. Sie stürzte sich mit geradezu manischem Eifer in ein Projekt, ging vollkommen darin auf, bis sie irgendwann ausgebrannt war und sich wieder völlig in sich selbst zurückzog. Vor ein paar Tagen war im Badezimmerschrank wieder ein neues Fläschchen mit einem Antidepressivum aufgetaucht, nachdem Theresa wiederholt über schlimme Träume geklagt hatte, Träume, die immer noch schlimmer wurden und in denen so abstoßende, schreckliche Dinge passierten, dass sie sie nicht einmal Chase erzählen wollte. Die Pillen unterdrückten die Träume. Aber sie töteten auch ihre Lebendigkeit. Wenn Chase nicht im Dienst war, dann werkelte er pausenlos
34 mit Gipskarton, Mörtel und Kiefernholz. Wenn er sich ein paar freie Minuten stehlen konnte, war er im Internet. Vor der Abreise aus Saskatchewan hatte er seinen Computer aufgerüstet, um mit den Kollegen in Kontakt bleiben zu können. Chase staunte immer noch darüber, wie leicht man in Bareneed eine Auseinandersetzung, zu der man gerufen wurde, unter Kontrolle bringen konnte. Da war alles vorbei, bevor es überhaupt richtig begonnen hatte. Die einzige echte Gefährdung ging von häuslicher Gewalt aus. Da konnte man nie ganz sicher sein. Doch nie waren ihm irgendwelche Verrückten mit Schrotflinte untergekommen, die die ganze Welt ausradieren wollten. Jedenfalls noch nicht. Das Schlimmste, was ihm hier begegnet war, war ein Mann, der sich im Garten vor seinem Haus umgebracht hatte. Mit einer Schrotflinte. Chase und seine Kollegen hatten Teile seines Gehirns auflesen und in Plastiktüten sammeln müssen. Man hatte die Feuerwehr gerufen, um die blutverschmierte Fassade des Hauses abzuspritzen. Wenn Chase sich, nachdem er eine Situation entschärft hatte, wieder in seinen Streifenwagen setzte, dann beruhigte er sich mit den Worten: »Das war doch gar nichts«, während ihm Bilder von Toten durch den Kopf geisterten, die er in Saskatchewan oder auf dem Computerbildschirm gesehen hatte. Die Ruhe des Landlebens wirkte eigentümlich zerstreuend nach dem Chaos des Red-Lake-Reservats. Oft überkam Chase das Bedürfnis, mit den Kollegen seiner Dienststelle in Port de Grave Geschichten auszutauschen. Man erzählte sich gegenseitig von den Fällen, an denen man gearbeitet hatte, und Chase malte sich im Geiste aus, was aus den Opfern der Morde, der barbarischen Vergewaltigungen und Verstümmelungen, aus den verängstigten, verprügelten Kindern geworden war. Wenn er zu Boden blickte, sah er auf einmal eine Leiche daliegen, sah einen starren Arm mit schmutzigen Fingernägeln und schleimig grünen Algen ums Handgelenk unter seinem Schreibtisch hervorragen. Er machte den Kofferraum seines Streifenwagens auf und fand eine Ansammlung abgetrennter Körperteile vor. Er sah einen
34 weggeworfenen Pappkarton am Straßenrand liegen und vermutete sofort einen blau gefrorenen Säugling darin. Haufenweise Geschichten. Trotzdem zog er es vor, kein Wort darüber zu verlieren. Er wusste einfach nicht, wie er die richtigen Worte finden sollte. Von solchen Geschichten zu erzählen klänge wie hohle Angeberei. Und gerade das war es nicht. Es ging um menschliche Urängste und menschliches Leid: nichts, was man leicht nehmen durfte. Chase hatte den Unterton von Gewalttätigkeit, der in Bareneed neuerdings in der Luft lag, bemerkt. Wegen des Kabeljaufangverbots und der damit einhergehenden Schließung der Fischfabrik war die halbe Stadt arbeitslos. Die saisonale Krebs-und Krabbenfischerei ging zwar weiter, doch sie bot bei weitem nicht so vielen Männern und Frauen Arbeit. In den sieben Monaten seit seiner Versetzung nach Port de Grave hatte er alles über die Not, die Bareneed heimgesucht hatte, erfahren. Arbeitslosigkeit führte zu Untätigkeit und allem, was damit einherging: Stimmungsschwankungen, Alkohol als Trost, Gewaltausbrüche, die aus Frust und Hilflosigkeit geboren waren, und ein Leidensdruck, der sich irgendwann, wenn er zu groß wurde, als Zorn entlud.
Chase fuhr am Dorfkai vorbei, der sich um das Ende der Bucht zog, und warf einen Blick auf die kleinen Fischerboote, die nach einer festgelegten Ordnung im Hafen vertäut lagen. Das Meer machte ihn nervös. Er hatte genügend Ertrunkene, Selbstmorde in der Badewanne oder aus einem See gefischte Kinderleichen gesehen, um eine gesunde Angst vor dem Wasser zu entwickeln. Ein Damm jenseits der Hafenanlagen schützte das Wasser rund um den Kai vor Wellen und Brandung. Schließlich erreichte Chase den großen, L-förmigen, betonierten Anlegesteg, der im Besitz der Atkinsons, einer reichen Händlerfamilie, war. Ein Mann und ein kleines Mädchen saßen am Ende des Stegs und angelten. Er kannte die beiden nicht. Vermutlich Touristen. Chase fragte sich, ob sie wohl vom Kabeljaufangverbot wussten. Auch wenn es nicht in seine Zuständigkeit fiel, beschloss er, sie über die Fischereibeschränkungen aufzu
35 klären. So konnte er sich ihnen vorstellen und gleichzeitig seine Neugier über die Neuankömmlinge befriedigen. Zumindest wären sie dann gewarnt, falls ein Beamter der Fischereibehörde auftauchte und ihnen Schwierigkeiten machte. Er lenkte seinen Streifenwagen auf den Kiesstreifen am Kai und stellte den Schalthebel auf Parken. Seine Mütze wollte er lieber im Auto lassen, um nicht so förmlich zu wirken. Dieselbe Überlegung stellte er hinsichtlich der Sonnenbrille an, behielt sie dann aber doch auf. Sonst würde er wie ein Idiot dastehen und blinzeln. Kaum beugte er sich aus dem Auto, bereute er es auch schon, die klimatisierte Kühle des Wagens zu verlassen. Angesichts des Seeklimas von Neufundland war es selten notwendig, die Klimaanlage anzuschalten, doch heute war die Luftfeuchtigkeit erdrückend. Er überprüfte den Sicherungsbügel an seinem Revolver und zögerte, bevor er den Steg betrat. Ein ätzender Geruch von Kreosot, Salzwasser und verrottetem Fisch hing in der Sommerluft. Er blickte ins Wasser hinunter und glaubte, dicht am Ufer, wo die Lodden laichten, einen menschlichen Körper mit dem Gesicht nach unten treiben zu sehen. Die Massen schleimiger Fische umschwärmten den Körper, so dass er schwarz gestreift war. Chase verdrängte das Bild. Es konnte nur eine Erinnerung an ein Foto oder einen längst vergangenen Fall sein. Nichts weiter. Sobald er wegschaute, würde der Körper verschwunden sein. Und genauso war es. Joseph hockte neben Robin und zeigte ihr, wie sie die Schnur einholen musste. Beim Klang von Schritten hinter ihnen wandte er sich rasch um und sah einen RCMP-Officer, einen Berg von einem Mann, näher kommen: Das Leder seiner Stiefel glänzte in der Sonne, die Hände hatte er in die Hüfte gestützt, während er Masten und Takelwerk eines Krabbenkutters betrachtete. Der Officer hatte etwas Indianisches an sich - dunkles Haar und einen dunklen Hautton. Sein Blick war auf den felsigen Strand gerichtet, wo ein paar Möwen sich durch die Schwärme winziger Eier und laichender Lodden pickten, die ans Ufer gespült wurden und nun auf dem Strand lagen, tot oder lebendig.
35 Zwei Möwen gingen flügelschlagend und kreischend aufeinander los. Der Polizist kam näher, lächelte Joseph freundlich an und sagte: »Tag.« »Tag.« Joseph blickte mit verhaltener Freundlichkeit auf. Er fühlte sich unausgeruht, seine Nerven lagen blank. Vergangene Nacht hatten ihn Träume vom Ertrinken gequält: Dickflüssiges Wasser, wie Treibsand, zog ihn unaufhaltsam hinunter. Dann wachte er auf, schlief nach kurzer Zeit ein und war sofort wieder in demselben Traum gefangen. »Herrliches Wetter.« »Kann man wohl sagen.« Joseph musterte den Polizisten flüchtig, um seine Größe und sein Gewicht zu schätzen - er musste an die zwei Meter groß sein und mindestens hundert Kilo wiegen. Joseph wandte sich an Robin: »Lass die Schnur einfach hängen, Schatz.« Als er sich aufrichtete, spürte er, wie die Anspannung einem Gefühl von Schwäche in seinen Knien und Beinen wich. »Lehn dich nicht zu weit vor«, mahnte er Robin, die vorsichtig über den Rand des Stegs hinweg zu ihrem rot-weißen Spinnköder im Wasser hinunterspähte. Sechs größere und kleinere Fische hatten sich darum herum versammelt. Das Wasser hatte einen Grünton, war jedoch klar. Deutlich konnte man die Steine auf dem Boden ausmachen.
»Ich kann die Fische sehen, Daddy.« »Genau, da unten sind sie.« Der Officer lachte kopfschüttelnd. Er nahm seine Sonnenbrille ab und steckte sie an einem Bügel in seine Brusttasche. »Was Kinder doch für einen Spaß haben am Angeln.« »Da haben Sie Recht.« Joseph nahm die friedlich daliegende Ortschaft in sich auf, genoss das reizende und doch auch raue Terrain um sich herum. »Sie müssen ein viel beschäftigter Mann sein«, merkte er mit einem ironischen Lächeln an. »Eigentlich nicht. Bin bloß auf Urlaub hier. Meine Frau braucht mal etwas Ruhe.« Joseph forschte in den großen braunen Augen, den weichen und doch habichtartigen Zügen nach einem Hinweis, ob der
36 Mann das ernst meinte, aber er fand keinen. Falls das Humor war, dann jedenfalls von einer extrem trockenen Sorte. »Schon was gefangen?«, fragte der Officer. »Sind gerade erst gekommen.« Der Officer betrachtete Robin, wie sie ihre Schnur auf dem Wasser tanzen ließ. »Es gibt jede Menge Lodden hier. Da drüben kann man einfach ins Wasser greifen und ganze Eimer voll herausziehen.« Joseph sog prüfend die Luft ein. »Unverkennbar.« »Oh ja, es liegt dieses gewisse leckere Aroma in der Luft.« Zwei Möwen flogen hintereinander in einer geraden Linie über sie hinweg. »Jedenfalls ein Fest für die Möwen«, verkündete der Polizist und richtete den Blick nach oben. »He, bring gefälligst mein Mittagessen zurück.« Er hob drohend die Faust zum Himmel und spähte dann zu Robin hinüber, die ihn scheu anlächelte. Ihre Augen wanderten zu dem Pistolenholster an seinem breiten Ledergürtel. »Ich habe keine Kinder«, sagte der Officer zu Joseph. »Leider. Und geangelt habe ich auch noch nie. Nicht ein einziges Mal. Was das wohl aus mir macht?« Joseph wusste nicht, was er darauf entgegnen sollte. »Meistens gibt's hier nur schleimige Cunners. So viel weiß ich. Bei den Einheimischen heißen sie Connors. Gelegentlich mal eine Lachsforelle, aber die sind schwer zu kriegen, wie es heißt. Tomeods ab und an, aber von denen haben Sie wahrscheinlich gehört. Sind ungefähr so selten wie Meerjungfrauen.« »Darf man sowieso nicht behalten.« »Sie wissen also Bescheid.« »Ich bin Beamter der Fischereibehörde von St. John's. Keine Sorge also.« »Ah, ein Mann prallvoll mit ozeanischem Wissen. Stille Wasser sind tief, schätze ich.« »Tja, wird wohl so sein«, stimmte Joseph mit einem Lacher zu und dachte sich: Was soll das jetzt heißen? »Ich hab einen!«, kreischte Robin auf einmal los und schlen
36 kerte dazu aufgeregt mit den Beinen. »Daddy, Daddy, ich hab einen Fisch gefangen.« Die blaue Angelrute senkte sich in einem Bogen tief hinunter. Robin hielt die Rute verzweifelt mit beiden Händen fest und lehnte sich nach hinten. »Daddy!«, schrie sie erneut mit einer Mischung aus Furcht und Entzücken. »Zieh ihn raus, Schatz.« Josephs Blick schweifte über den Kai hinweg. Er stand zu dicht am Rand, und der magnetisierende Sog des Wassers strengte die Muskeln in seinen Augen an. Einen Meter oder so unter der Wasseroberfläche hing ein hässlicher Fisch mit breitem Maul und dunkelgrün gesprenkelter Haut am Haken. Die Dichte des Wassers verzerrte seine exakte Größe, doch es war ohne jeden Zweifel ein Seeskorpion. »Der ist schwer«, jammerte Robin. Sie zog wie verrückt und biss dabei die Zähne zusammen. »Ich kann ihn nicht einholen.«
Joseph fiel plötzlich ein, wie Robin mit vier oder fünf immer starrköpfig verkündet hatte: »Ich kann selber rollen«, wenn Joseph versucht hatte, ihr beim Aufrollen der Schnur zu helfen. Seit Jahren hatte er nicht mehr daran gedacht. Er griff nach der Angelschnur, wickelte sie sich um die Faust und zog den Fisch aus dem Wasser. Überrascht sah er, dass er leuchtend rote Spuren auf der Seite hatte. »Wow«, rief der Officer aus, zweifelsohne Robin zuliebe, obwohl auch er neugierig schien, was für eigentümliche Streifen das waren. »Das ist ja ein Riesending. Ich glaube, so einen habe ich noch gar nie gesehen. Der ist rekordverdächtig.« Joseph ließ den Fisch auf den Betonboden fallen. Nur seine Kiemen bewegten sich, gaben beim Öffnen den Blick auf das blutrote Körperinnere frei und schlossen sich wieder: die Verzweiflung eines Exilierten. »Ich habe einen Fisch gefangen.« Das Entzücken schwand aus Robins Stimme, als sie sich tiefer über den Fisch beugte und ihn anstarrte. »Können wir ihn behalten?« »Pass auf die Stacheln auf«, warnte Joseph. »Daran kann man sich schneiden.« »Iiih.«
37 »Ich habe noch nie einen mit solchen roten Malen gesehen«, bemerkte der Officer. Joseph setzte vorsichtig die Spitze seines Turnschuhs vor den Kopf des Fischs und bückte sich, um ihm den Haken aus der gummiartigen Lippe zu ziehen. Es war wirklich ein außergewöhnlich hässliches Exemplar. Grün-braun, golden und gebrochen weiß mit roten Streifen. Knorpelig, zäh und stachlig. Große, runde, schwarze, pulsierende Augen, fleckige Haut und Stacheln um die Kiemen. Die roten Streifen schienen entlang den Flanken zu rinnen, als Joseph den Haken herausdrehte. »Er blutet«, schrie Robin auf. »Igitt!« »Nein«, stellte Joseph richtig, während auch er die eigentümlich wandernden roten Streifen genau betrachtete. »Das ist nur die Farbe.« Der Seeskorpion bäumte sich auf, weniger zappelnd als zuckend, wie unter Stromstößen. Er vollführte einen Satz in der Luft und schlug mit einem nassen Klatsch wieder auf dem Beton auf. Joseph zog ihn an der Leine zu sich her. Ein klebriger, gurgelnder Laut drang aus dem Schlund des Fischs, als auf einmal ein tiefes Rumpeln durch den Anlegesteg ging. Der Officer blickte suchend zum Felsmassiv der Landzunge auf der anderen Seite des Hafens hinüber. »Anscheinend wird schon wieder irgendwo gesprengt«, mutmaßte er. »Vielleicht Straßenarbeiten.« »Vielleicht Terroristen«, witzelte Joseph, doch der Officer schien es nicht zu verstehen. Joseph spürte etwas Warmes auf seinen Fingern, die noch damit beschäftigt waren, den Haken herauszudrehen, und zuckte zurück. Eine fleischfarbene Flüssigkeit rann aus dem offenen Maul des Fischs. Während Joseph sich noch die Finger an der Hose abwischte, schob sich langsam ein fester Gegenstand aus dem Fischmaul - eine hautfarbene, modellierte Kugel mit etwas schleimig Verklebtem darauf, das nach Haaren aussah. »Was zum Teufel ist das?«, rief Joseph aus und trat einen Schritt zurück, um einen besseren Blick darauf zu bekommen. Flüssigkeit sammelte sich um die Kugel, die jetzt klar zu er37 kennen war: ein kleiner Puppenkopf. Abgeschlagene Lider, die sich behutsam öffneten, schwarze Augen, die voller Überraschung zu ihnen aufblickten. Aufgemalte Porzellanlippen, zersprungen zu einem gequälten Lächeln. Eine Möwe kreischte über ihnen und ließ die Lodde fallen, die sie im Schnabel gehabt hatte. Der glitschige Fisch klatschte direkt neben Robin, die eben die Finger nach dem Puppenkopf ausgestreckt hatte, auf den Beton. »Nicht anrühren.« Joseph packte Robin am Handgelenk. Erschrocken schaute sie zu ihm hoch. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck von Schmerz. Hatte er zu fest zugefasst? Er ließ ihr Handgelenk los, als hätte er einen Stromschlag erhalten.
Der Seeskorpion lag jetzt vollkommen still. Nicht einmal mehr seine Kiemen pumpten. Er war nun von der wulstigen Lippe bis zur stachligen Schwanzflosse komplett rot, wie in Farbe getaucht. Noch ein fernes Beben erschütterte den Steg. »So was Seltsames ist mir noch nie untergekommen«, sagte der Officer. »Du weißt wirklich, wie man Fische fängt.« Er fuhr Robin durchs Haar. »Ich glaube, den musst du behalten.«
Freitagabend
Die Seiten des Fotoalbums waren vom vielen Ansehen so brüchig geworden, dass sie drohten, sich beim nächsten Umblättern aus ihrer geliebten Abfolge zu lösen. In ihnen kam die ganze zerbrechliche Kostbarkeit zum Ausdruck, die Miss Laracy seit Jahrzehnten ihren liebevoll umhegten Erinnerungen beimaß. Im Augenblick hatte sie das Album auf dem Schoß und studierte mit einem seligen Lächeln auf den Lippen - wie immer in diesen Momenten - die in silbernen Fotoecken steckenden Schwarz-Weiß-Bilder. Sie saß auf ihrem bequemen, in Rot- und Grautönen gehaltenen Sofa. Ihr kleines Wohnzimmer war übersät mit einer Fülle von Nippes aus ihrem Leben und dem ihrer Eltern und Großeltern. Jedes Teil bildete ein unverzichtbares Glied in der Kette, die einst die Geister aus dem Jenseits zu ihr geführt hatte: die Liebe, die in diese Gegenstände eingegangen war; der vielfältige Duft der Liebe, der ihnen anhaftete; die still weitergereichte Liebe der Fortgegangenen, absorbiert durch Berührung und Atem. Die Möbel waren aus massivem Holz gefertigt, die Polster des Sofas abgewetzt. Selbst gestrickte Deckchen lagen über den Armlehnen. In einer Glasvitrine standen alte, ledergebundene Bücher und in einem Regal, unter einem Grammofon, fein säuberlich in ihren Hüllen, alte Schallplatten mit 78er-Drehzahl. Auf dem Couchtisch vor ihr stand eine Gebäckschale aus rotem Kristallglas neben einem Zigarettenanzünder, der in den Kopf eines geschnitzten Eisbären eingearbeitet war. Seit Jahrzehnten war er schon da, obwohl niemand im Haus rauchte. Neben dem Sofa stand eine schmiedeeiserne Lampe; der Schirm aus Milch 38 glas hatte die Form einer Orchidee und warf warmes, gedämpftes Licht auf das Fotoalbum auf Miss Laracys Schoß. Die Seiten des Albums waren aus schwarzem Tonpapier, die Schwarz-Weiß-Fotos weiß umrandet. Miss Laracy betrachtete das Gesicht ihres Verlobten, Uriah Slaney, genau. Er trug seine Offiziersuniform aus dem Zweiten Weltkrieg. Das Foto hatte er ihr geschickt, mit einem Gruß auf der Rückseite. »Ich bin hier in Frankreich. Nicht zu vergleichen mit Neufundland. In Liebe, Uriah.« Sie fuhr mit dem Finger über sein lächelndes Gesicht mit dem Eiffelturm im Hintergrund. Uriah hatte den Krieg überlebt. Und den Verlust eines Beins -ein kleiner Preis dafür, ihn wieder zu Hause zu haben. Lebendig, in Sicherheit. Der Verlust des Beins hatte ihn tiefer als nur auf körperlicher Ebene getroffen. Doch Miss Laracy hatte alles getan, um ihn zu pflegen und ihn wissen zu lassen, dass es keine Rolle spielte. Dass sie nicht dieses Bein liebte, sondern ihn, seine jungenhafte Herzlichkeit und seinen ungekünstelten Charme. »Ich liebe dich«, flüsterte sie und heftete ihren Blick hingebungsvoll auf ein anderes Foto, auf dem ein junges Liebespaar auf einer Decke saß. Es war bei einem traditionellen Herbstausflug mit Picknick aufgenommen. Sie hatten zusammen mit den Eltern Heidelbeeren gepflückt, unten bei der alten Kirche, wo Beeren in Hülle und Fülle wuchsen. Es gab dort hauptsächlich Heidelbeeren, doch mit etwas Glück konnte man auch einen versteckten Platz mit Rebhuhnbeeren finden, die leuchtend rot im Moos dicht am Boden wuchsen. Miss Laracys Vater hatte das Foto von ihr und Uriah aufgenommen. Sie lächelten beide, knieten jedoch in einer etwas gestellten Pose, auf den Fersen sitzend, auf dem Boden. Hinter ihnen standen über einem Feuer auf einem Eisenrost ein Topf und der Wasserkessel. Wie lange war es her, seit sie das letzte Mal mit Cornedbeef-und-Kohl-Eintopf beim Beerenpflücken gewesen war? Es war eine Tradition und immer einer ihrer liebsten Ausflüge gewesen. Aus Miss Laracys Lächeln sprach dasselbe innige Gefühl wie auf der Aufnahme, fast so, als würde ihr Vater in diesem Augenblick den Moment erneut festhalten. So lange war das jetzt her.
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Beinahe eine Ewigkeit. Damals war die Kamera eine absolute Neuheit gewesen, genau wie die Automobile, die allmählich das Geklapper der Pferdehufe auf der Unteren Straße ersetzten. Sie hatte diesen Tag als einen jener makellosen Nachmittage von damals in Erinnerung behalten. Nicht zu heiß, nicht zu kühl. Eine wohltuende Sonne im herbstblauen Himmel und dazu ein sanftes Lüftchen. Nachdem das Foto geknipst war, hatte ihr Vater das junge Liebespaar allein gelassen. Nach einer Weile, als ihre Eltern auf der Suche nach weiteren geheimen Plätzen voller saftiger Beeren tiefer im Gebüsch verschwunden waren, hatte Uriah sich auf die Decke sinken lassen, und Eileen hatte den Kopf auf seine Brust gelegt. Er hatte ihr Haar gestreichelt. Sie schloss einen Moment die Augen und rief sich das Gefühl der kühlen Herbstluft und der warmen Sonne in Erinnerung, die angenehmen, betörenden Augenblicke, das Schwirren der Insekten, die von der kommenden Kühle schon schwerfällig geworden waren. Uriahs Finger in ihrem Haar hatten sie zum ersten Mal vor Wonne seufzen lassen. »Oh ja«, flüsterte sie vor sich hin und nickte still. »Ja, das hat er wohl.« Sie blätterte die Seite um und betrachtete das letzte Foto von Uriah, wie er in seinem Fischerboot saß, die schwarzweiß gesprenkelte Kappe auf dem Kopf, die seine Augen beschattete, nicht jedoch sein breites Lächeln. In dem Wollpullover, den sie ihm gestrickt hatte, sah er so flott aus, hatte etwas verschmitzt Bubenhaftes. Der Pullover war aus meerblauer Wolle, die sie bei Garfield Ralph's in Cutland Junction gekauft hatte. Es war feine, weiche Wolle, so herrlich blau, dass sie Uriahs blaue Augen gleich noch heller leuchten ließ. Neben ihm saß Edward Pottle. Die beiden fischten zusammen. Uriah hatte den Verlust seines Beins schließlich verwunden und sich ein Holzbein zugelegt. Nie vermochte es ihn zu bremsen, nie seinen Charakter zu verderben. Er war deswegen kein bisschen weniger ein Mann. Miss Laracys Augen ruhten auf dem Foto, das die beiden zeigte, als sie gerade in ihrem Boot auf die offene See hinausfuhren, um ihre Netze auszuwerfen. Ohne den Hauch einer 39 Warnung waren Wind und Chaos hereingebrochen, hatte sich die See binnen weniger Minuten in kochendes Schwarz verwandelt. Der dunkle Himmel senkte sich über die Wellen, die sich wie schwarze Gebirge fünfzehn Meter hoch auftürmten. Der herabstürzende Himmel und das sich aufbäumende Meer vereinigten sich und verschluckten die zwei winzigen menschlichen Punkte in dem winzigen Boot, die es gewagt hatten hinauszufahren. Sie waren seit zwei Tagen vermisst, als Miss Laracy den dreigeteilten Brotlaib backte, der helfen sollte, ihren Geliebten zurückzubringen. Dafür bedurfte es einer ruhigen Nacht, und genau eine solche war es. Sie holte das Brot aus dem Ofen und eine lange geweihte Kerze aus einer Kiste. Die steckte sie fest in den mittleren Teil des Brots und achtete darauf, dass sie auch gerade stand. Als sie sicher war, dass ihre Eltern beide fest schliefen, schlang sie sich ein Tuch um die Schultern und trug den warmen Laib zum Strand hinunter. Das Wasser lag glatt wie eine Glasscheibe da. Nicht ein Lufthauch. Sie setzte das Brot auf dem Kiesstrand ab und zündete die Kerze mit einem Streichholz an, das sie in der Tasche ihres Kleides mitgebracht hatte. Dann nahm sie den Brotlaib in beide Hände, ging zum Wasser, bückte sich und setzte ihn auf die Oberfläche. Er schaukelte gleichmäßig auf und ab, wollte sich jedoch nicht entfernen. Sie gab ihm einen kleinen Schubs, und da trieb der Laib mit der Kerzenflamme aufs Wasser hinaus. Der Brotlaib, geknetet, geformt und gebacken von den Händen der Liebsten des Mannes, der auf See verschollen war, dieser Brotlaib galt als das einzige Mittel, den Verschollenen zurückzubringen. Am Ufer hockend, hatte Miss Laracy zugesehen, wie das Brot, als wäre es gelenkt von ihrem Willen, zur Hafenmündung hinaustrieb. Als die Nacht kühler wurde, hatte sie sich das Tuch fester um die Schultern gezogen. Bring ihn mir wieder, und ich lass kein Unheil mehr über ihn kommen, flehte sie. Bring ihn zurück, und gewähr ihm die Liebe, die er verdient hat. Sie hatte der immer kleiner werdenden Flamme nachgesehen, bis sie in der Dunkelheit verschwunden war. Voller Zuversicht hatte sie aus
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geharrt und darauf gewartet, dass die Flamme wiederkehrte, größer und größer würde und samt ihrem verschollenen Geliebten in seinem Boot zu ihr zurückkam, dass ihr fester Glaube ihr ihren Uriah zurückbrächte. Die Kälte und dazu die Feuchtigkeit des Tagesanbruchs krochen ihr in die Glieder. Ungeachtet dessen hielt sie Wache. Mit den Stunden wurden ihre Beine müde, und sie setzte sich ans Ufer, suchte nach einer bequemen Position auf den Kieselsteinen. So saß sie im Mondlicht und wandte die Augen nicht vom Horizont. Irgendwann sackte ihr Kopf schläfrig nach vorn, doch sie riss sich zusammen, schüttelte sich, um wieder munter zu werden. Ach, wenn sie sich doch nur ein paar Augenblicke hätte ausstrecken können. Ganz in ihrer Nähe erspähte sie ein Stück Treibholz mit einer Aushöhlung in der Mitte, die das beständige Schwappen der Wellen geschaffen hatte. Es war nicht zu groß, um es mit einer Hand herbeizuziehen. Sie streckte den Arm danach aus und bekam es zu fassen, zog es heran und lehnte sich dagegen. Ihr Kopf passte genau in die Mulde, und sie konnte aus dieser Position immer noch den Horizont sehen. So hielt sie weiter Ausschau. Ab und zu drohten ihr die Lider zuzufallen, doch sie merkte es immer sofort und riss sich aus dem Schlaf. Als sie aus einem solchen kurzen Schlummer erwachte, sah sie am Horizont einen Schimmer und vermutete schon, es wären die Kerzenflamme und der Brotlaib, die zu ihr zurückkehrten. Ihr Herz klopfte vor Erwartung. Da war es, ganz ohne Zweifel, das flackernde Licht. Gespannt setzte sie sich auf und sprang auf die Füße. Die Dunkelheit selbst schien zurückzuweichen, um ihre Verzweiflung zu lindern. Sie hatte es geschafft. Sie hatte es wirklich geschafft. Doch dann breitete sich das Flackern aus, ergoss sich längs des Horizonts, und der ganze Erdkreis - nicht nur ihre eigene kleine Welt - wurde heller und heller vor ihren Augen. Es war nur die Morgendämmerung. Wieder ein Tagesanbruch ohne Uriah. Uriah Slaney und Edward Pottle tauchten nie mehr auf. 40 Miss Laracy strich mit tastenden Fingerspitzen über das Foto und zeichnete die Gesichtszüge ihres Verlobten nach. »Uriah«, flüsterte sie zärtlich. »Du bist noch immer mein Liebster. Bei Gott, das bist du.« Joseph stand im dunklen Garten neben dem Critch-Haus und blickte gespannt zum erleuchteten Fenster seiner Nachbarin hinüber. Die Grillen zirpten vorne im Garten, und irgendwo summten leise elektrische Leitungen. An der Unteren Straße schrie ununterbrochen eine Katze, als wolle sie eingelassen werden. Derselbe zottige, schwarze Hund wie in der Nacht zuvor saß vor Claudias Haustür und blickte zur Straße herüber, ohne Joseph auch nur im Geringsten zu beachten. Joseph überlegte schon, ob er ihm die Essensreste vom Abend hinwerfen sollte. Ein übrig gebliebener Hamburger und jede Menge Pommes frites. Joseph gab unabsichtlich einen lockenden Laut von sich, ein Geräusch wie ein Kuss, doch der Hund ignorierte es. Für Robin wäre es ein Riesenspaß, mit diesem Hund zu spielen, wenn er sich nur einmal bei Tag zeigen würde. Nach dem Abendessen hatte er mit Robin im Garten Fangen gespielt und schließlich erschöpft vorgeschlagen, nach drinnen zu gehen und Radio zu hören. Robin hatte ein wenig widerwillig zugestimmt, nachdem sie sich erst noch ein paar Minuten an sein Bein geklammert und gebettelt hatte, er solle doch noch mit ihr draußen bleiben. Im Radio konnten sie einen Fernsehsender empfangen, in dem gerade eine Sitcom lief. Sie lauschten und stellten sich dazu die Figuren vor und was diese wohl zu dem jeweiligen Text machten. Joseph hatte vorgeschlagen, dass eine der Frauen sich gerade die Augen herausnahm, während sie sagte: »Hast du vielleicht danach gesucht?« Eine Lachkonserve vom Band wurde eingespielt, und sie hatten beide überdreht mitgelacht. In einer anderen Szene sagte ein Mann: »Und das ist alles, was ich kriege?« Robin hatte darauf bestanden, dass der Mann eine riesige tonnenschwere Erdkugel auf den Schultern balancierte. Cleveres Mädchen, hatte sich Joseph gedacht. Als es Zeit zum Schlafengehen war, hatte Joseph ihr hastig
40 drei Bücher vorgelesen und gehofft, sie möge bald einschlafen. Er war erschlagen, und doch konnte er es kaum erwarten, vielleicht wieder einen Blick auf Claudia zu erhaschen.
Der Schimmer, der aus dem Fenster des Solarhauses drang, hatte etwas Tröstliches. Zwei Menschen, beide allein in getrennten Häusern, so wie er und Kim. Aber war Claudia wirklich allein? Bis jetzt hatte er keinen Hinweis auf einen Mann gefunden. Joseph blickte zum Himmel empor. Helle Sterne und trübere Sterne und Sternenstaub, so weit weg, dass es ihm einen Kälteschauer einjagte. Dieses Gefühl von Einsamkeit und Sehnsucht hatte er nicht erwartet, doch jetzt, seit er Claudia begegnet war, ließ es ihn eigentümlicherweise nicht mehr los. Zu Hause in St. John's beschäftigte er sich immer mit dem Computer, recherchierte, hielt sich auf dem Laufenden in allem, was die Meeresverwaltung betraf, oder überflog Zeitungen und Zeitschriften darüber. Wenn ihm die Arbeit langweilig wurde, machte er einen Spaziergang durch die Stadt, trank irgendwo gemächlich ein Bier, sah dabei den Leuten zu und überlegte, was wohl jeder Einzelne von ihnen im Leben so machte. Auf dem Heimweg nahm er vielleicht ein Video mit. Für Zerstreuung war immer gesorgt. Hier draußen war es etwas anderes. Die Ruhe und Stille zwangen ihn, über das Leben in seiner ungeschöntesten Form nachzudenken. Er richtete seine Aufmerksamkeit erneut auf das Haus. Als Robin sagte, sie hätte ein Mädchen in Claudias Fenster gesehen, hatte Joseph sich sofort gefragt, ob das Kind allein im Haus war oder ob vielleicht ein Mann dabei war. Ein Vater. Er hoffte nicht. Claudias auffallende Niedergeschlagenheit musste ihre Ursache in schlimmen oder grausamen Geschehnissen haben. Hoffentlich erfüllte ihre Tochter sie mit derselben Freude, die Joseph an Robin hatte. Am Ende zählte nur das. Kinder. Für sie war man bereit, alles zu tun, und im Gegenzug bekam man von ihnen die kostbarste und liebevollste Bestätigung zurück. In Claudias überwachsener Einfahrt stand kein Auto. Bestimmt würde da ein Auto stehen, wenn ein Mann im Haus wäre. Höchstwahrscheinlich ein Pick-up. Vielleicht war der Mann ja fort. Auf
41 See. Doch die Einfahrt war vollkommen überwuchert. Joseph erwog, ein Stück weit die Straße hinunterzuschlendern und einen Blick durchs Fenster zu wagen, um vielleicht herauszufinden, wer im Haus wohnte. Wie er so in der Nacht draußen stand, Claudias Fenster beobachtete und die kühle Sommerluft auf seiner Haut spürte, regte sich auf einmal Lust in ihm. Die Vorstellung, einen genaueren Blick zu erhaschen, erregte ihn noch mehr. Ihm fiel das Fernglas ein, das Kim ihm in St. John's gegeben hatte. Sein Herz pochte. Rasch wandte er sich zur Hintertür um, achtete jedoch darauf, in der Dunkelheit nicht über Unebenheiten im Gras zu stolpern. In der Küche angekommen, hielt er inne und starrte das Fernglas an, das über einer Stuhllehne hing. Was sollte denn das Ganze? Als er noch mit Kim zusammen war, hatte er mit dem Fernglas Spatzen und Finken und Blauhäher im Vogelhaus beobachtet. Gestern Vormittag hatte Kim das Fernglas um den Hals hängen gehabt, hatte es abgenommen und es ihm umgehängt. »Für die Wale«, hatte sie dazu gesagt. Er hatte es angenommen, ohne zu ahnen, welchem Zweck es einmal dienen würde. Als er das Glas jetzt hochhob, stieg ihm ein Hauch von Kims hinreißendem Parfüm in die Nase, das vermutlich der schwarze Behälter verströmte. Die Wärme ihres Körpers musste den Duft transportiert haben. Wale. »Wenn du ein Tier sein könntest, welches wärst du gerne?«, fragte Robin oft ihre Mutter, und deren Antwort war immer standhaft dieselbe: »Ein Wal.« Trotz seiner Bedenken ging Joseph wieder hinaus, hob vorsichtig das Fernglas an die Augen und richtete es auf das große, seitliche Fenster im ersten Stock des Solarhauses. Als Claudia in sein Blickfeld kam und hinter der Scheibe stehen blieb, beschleunigte sich Josephs Herzschlag. Er zuckte ein wenig, hielt jedoch das Fernglas auf sie ausgerichtet. Claudia trug dasselbe karmesinrote, bis oben zugeknöpfte Nachthemd wie am vorigen Abend. Sie blickte auf ein offenes Buch in ihrer Hand hinunter. In der anderen Hand hielt sie etwas, vielleicht einen Stift. Sie schrieb. Hinter ihr an der Wand, anscheinend über einem Bett, hing ein großes Gemälde. Es zeigte Wellen, die an
41 eine braun-graue Steilküste donnerten. Im Vordergrund sprühte weiße Gischt auf. In ihr Buch vertieft, ging Claudia zu dem Gemälde hinüber und setzte sich aufs Bett, mit dem Rücken zur Wand, so dass ihr Kopf und ihre Schultern im Blick blieben. Keine ihrer Gesten wies
auf eine weitere Person hin, die etwa mit ihr das Bett teilte. Diese Nahaufnahme - wie Claudia in den simplen Akt des Lesens von etwas selbst Geschriebenem vertieft war und ahnungslos die Seiten umblätterte - war wunderbar erotisch. Seit fast einem Jahr hatte Joseph keine solche sexuelle Lust mehr verspürt. Scheinwerfer wanderten über den Rasen und streiften Joseph. Ein Auto kam den Hügel herauf. Er ließ das Fernglas sinken und verrenkte sich beinahe den Hals, als er hastig in den Schatten zurückwich. Das Auto verlangsamte vor Claudias Haus. Der zottige schwarze Hund beobachtete es und hob witternd die Schnauze. Als Joseph verstohlen das Fernglas wieder ansetzte, sah er, dass Claudia noch immer im Bett saß und las. Eben blickte sie auf, schaute zum Fenster, alarmiert durch ein Geräusch. Joseph bekam feuchte Hände. Der Tabubruch, jemanden auszuspähen, das Gefühl, Kim zu betrügen, die Vorstellung, womöglich ertappt zu werden - all das ließ seine Hände zittern und bescherte ihm brennende, rote Flecken auf den Wangen. Dennoch schaute er noch einen Moment länger, scherte sich nicht um die Gefahr, entdeckt zu werden. Schließlich setzte er das Fernglas ab, um sich dem Fahrzeug zuzuwenden, das da langsam durch die Dunkelheit rollte. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und lauschte angestrengt. Das Fahrgeräusch deutete auf einen starken Motor. Im Näherkommen entpuppte es sich als ein Jeep. Fahr weiter, flehte er leise. Bitte, bitte, fahr weiter. Das Fahrzeug blieb am Ende seiner Einfahrt stehen. Joseph wich noch tiefer in den Schatten zurück. Er stieß mit dem Rücken gegen die Holzschindeln und fluchte leise. Er überlegte, ob er sich Zentimeter um Zentimeter zur Hintertür zurücktasten und hastig hineinretten sollte. Sein Herz pochte, sein Atem wurde flacher und angestrengter, als im Jeep ein Licht anging. Ein Mann in grüner
42 Armeejacke und mit Barett auf dem Kopf blickte suchend auf eine Landkarte. Der Fahrer - er trug dieselbe Montur - deutete auf eine Stelle auf der Karte, woraufhin der andere dort etwas notierte. Das Licht wurde wieder ausgeknipst, und der Jeep fuhr weiter die Straße hinauf, in Richtung der alten Kirche und des stillgelegten Friedhofs. »Daddy.« Die flehende Stimme eines Mädchens klang von der Scheune herüber. Joseph überlief eine Gänsehaut. Aus jeder Pore seines Körpers brach ihm der Schweiß aus, während er verstohlen einen Blick auf das im Schatten liegende Scheunentor wagte. War das Robin? Wollte sie ihm einen Schrecken einjagen? Niemand war zu sehen. Er spitzte die Ohren, lauschte auf einen weiteren Laut, während er mit den Augen das obere Stockwerk der Scheune absuchte. Sein Blick blieb an einem Bild im linken Fenster hängen: das blassgrüne Gesicht eines bärtigen Mannes, vom fahlen Mondlicht beleuchtet. Zwei aschgraue Hände schienen einen Fisch in die Höhe zu halten, während sich der Mund des Mannes aberwitzig weit öffnete. Der Mann drehte den Kopf ins Profil, schob sich den Fisch Kopf voraus in den Mund und rammte ihn sich mit der flachen Hand in den Schlund. Die Vision verblasste allmählich, als ziehende Wolken sich vor den Mond schoben. Joseph hob zitternd das Fernglas und schaute zu dem Fenster hinauf, doch er sah nur Wolken, die sich in der Scheibe spiegelten. Keinen Mann. Er richtete das Fernglas noch einmal auf Claudias Haus. Das Kerzenlicht war ausgelöscht worden. Ein kühler Wind kam auf und fuhr eisig durch Josephs nass geschwitzte Kleider, während er das Fernglas sinken ließ. »Wie heißt du?«, fragte Robin das Mädchen mit den kupferroten Haaren, das sie nur als Claudias Tochter kannte. Sie standen einander regungslos auf dem Speicher eines alten, halb verfallenen Schuppens gegenüber. Lagen schwerer Netze, die über ihnen zum Trocknen aufgehängt waren, warfen Spinnweben aus Licht und Schatten über ihre Gesichter und diverse vor sich hin rot
42 tende Fischereigerätschaften. Sie standen wie gebannt. Auf das Mädchen tropfte Wasser herab, nicht jedoch auf Robin. Das Mädchen erhob seine Hände, die Handflächen Robin zugewandt, und schaute. Es schien nicht zu bemerken, dass es bis auf die Haut durchnässt war. »Wie heißt du?«, fragte Robin erneut.
»Halt die Hände hoch«, forderte das Mädchen sie auf. Robin tat, wie ihr geheißen, und das Mädchen klatschte einmal in die Hände und dann auf Robins Hände, zuerst rechts auf links und dann links auf rechts, und dann wieder in die eigenen. Dazu sang sie: »Mein Vaaater fuhr zur See-See-See, da wollte er was sehn-sehn-sehn, doch alles, was er sah-sah-sah, war der Grund der tiefen See-See-See.« Robin konnte nicht anders als laut auflachen, als wäre die Vorstellung lustig. Sie wollte das Spiel noch weiterspielen, obwohl die Hände des Mädchens eiskalt und ganz aufgeweicht waren, als hätte es zu lange in der Badewanne gesessen. »Du bist dran«, sagte das Mädchen. Nun klatschte Robin über Kreuz auf die Hände des Mädchens und sang: »Mein Vaaater fuhr zur See-See-See, da wollte er was sehn-sehn-sehn, doch alles, was er sah-sah-sah, war der Grund der tiefen See-See-See.« Sie sah die traurigen Augen des Mädchens und spürte ein Bedürfnis, es zu umarmen, als auf einmal das Schwarz im Mund des Mädchens auslief und sich um seine Lippen herum ausbreitete. »Wie heißt du?«, fragte Robin wieder. Sie hatte plötzlich Angst und fühlte sich allein, fragte sich, wie weit weg ihre Eltern waren und welcher Elternteil wohl näher war, weil sie doch inzwischen an verschiedenen Orten wohnten. Das Mädchen antwortete nicht. Robin fragte immer weiter. Es war wie ein endloses Kuckuck-Spiel ohne Antwort, das immer lustiger wurde. Robin musste heftig lachen. Endlich brach sich ein fauliges Lachen aus dem Inneren des Mädchens Bahn, und eine schwarze ölige Schmiere troff aus seinen Mundwinkeln. Das Mädchen ließ sich auf den vom Wasser morschen Holz
43 boden nieder und wischte sich übers Kinn. Vor ihm standen Bauklötze in der Gestalt kleiner Scheunen. Im Inneren schimmerte jeweils eine Kerze und erleuchtete die winzigen Fenster. Robin setzte sich dem Mädchen gegenüber, und die zwei Kinder spielten mit den Bauklötzen. »Ich wohne gern in denen«, sagte das Mädchen mit einem resignierten Seufzer. Sie schaute auf die Klötze hinunter. Einzelne Lichtpunkte spiegelten sich in ihren Augen. Rot und grün und gelb, wie Christbaumlichterketten. »Ich wohne in den Sachen, die meine Mutter macht.« »Ehrlich?« »Ja.« »Wie denn?« »Da steckt so viel Liebe drin. Sie halten mich in ihrer Nähe. Weißt du, die Drähte, die zerschneiden alles. Sie machen uns blind, schneiden uns in Stücke, peitschen uns. Bis wir schreien.« »Was für Drähte?« »Die die Welt vernetzen, aus den ganz falschen Gründen.« Das Mädchen legte eine Scheune auf die andere. Die Flammen flackerten. Die obere Scheune versank in der unteren, bis daraus eine einzige mit den Merkmalen von beiden wurde. »Hey, ich will auch mal versuchen.« Robin setzte zwei der Klötze aufeinander, doch sie wollten nicht zu einem verschmelzen. »Was hast du zu Weihnachten bekommen?«, fragte das Mädchen. Die bunten Punkte schillerten noch in seinen Augen, nachdem es aufgesehen hatte. »Jetzt ist doch nicht Weihnachten«, wandte Robin ein. »Oder?« »Mein Vater hat uns umgebracht. Die Drähte lassen ihn immer weiter nach oben steigen, immer weiter weg. Aber manchmal kommt er noch herunter, weil meine Mutter ihn immer noch liebt, ein Teil von ihr jedenfalls. Wenn meine Mutter mich loslässt ...« »Was?« »Dann sieht sie mich nur noch im Traum.« »Oh.« Robin roch Gras und Blumen. Sie blickte sich um. Sie
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waren auf einem Feld mit lauter Zirkustieren: Elefanten, Tiger und Hunde saßen ringsum am Rand, und in den Bäumen hockten Papageien und bunte Vögel in den phantasievollsten Formen und Musterungen. »Toll!« »Da, wo ich bin, kann man sich alles nur vorstellen«, sagte das Mädchen unbeeindruckt. »Vorstellen, vorstellen, vorstellen. Das ist das Einzige, was einem bleibt, wenn man tot ist.« »Bist du denn tot?« Das Mädchen nickte. »In den Träumen werden wir Wirklichkeit, weißt du? In ihnen werden wir wieder lebendig. Nur die Träume können das noch.« Zwei winzige Ativan-Tabletten lagen auf Josephs Handfläche, während er pflichtschuldig die Dosierungsanweisung las, um herauszufinden, wie viele davon man maximal nehmen dufte. Da nichts angegeben war, steckte er sich beide in den Mund und behielt sie sorgfältig unter der Zunge, wo sie sich langsam auflösen konnten. Ich sehe schon Gespenster, sagte er sich immer wieder, während er seine verschwitzten Kleider gegen frische aus dem Koffer austauschte. Er stand hellwach mitten im erleuchteten Schlafzimmer. Gespenster. In einem fremden Zimmer in einem fremden Haus. Einem Zimmer aus längst vergangenen Zeiten mit cremefarbener Rosenknospentapete und handgeschnitzter Stuckverzierung an der Decke und ebensolchen Bodenleisten. All seine Bewegungen waren hyperreal, sein Atem hallte in seinen Ohren, jede Form und Farbe war ein Angriff auf seine überreizten Sinne. Ein Gespenst. Ein Mann. Was machte er, Joseph, überhaupt hier? Warum saß er nicht zu Hause bei seinen liebsten Beschäftigungen, die ihn davon abhielten, zu grüblerisch in sein Inneres zu blicken? Seinem Computer, seinem Fernseher, seinem kleinen, rund um die Uhr geöffneten Kiosk um die Ecke? Zu Hause bei seinen Straßenlampen und Krankenhäusern in wenigen Autominuten Entfernung? Wo Tabletten verschreibende Ärzte und freundliche, sanfte Krankenschwestern einen auf ein steriles, weißes Bett legten und einem
44 Medikamente gaben, die die Gedanken selig verschwimmen ließen? Er versuchte, sich auf irgendetwas Harmloses zu konzentrieren. Er durchsuchte seine Gedanken nach einem sicheren Hafen und blieb bei Kim hängen. Ob sie wohl allein zu Hause war oder mit ihren Gummistiefel tragenden Kollegen im Ship Inn saß, ihr übliches Guinness trank, sich den Schaum von der Oberlippe leckte, dem Mann neben ihr freundlich zulächelte? Joseph schauderte. Er ging zum Schlafzimmerfenster und schaute zum Hafen hinunter. Lichter aus den Häusern warfen lange Spuren auf den schwarzen Ozean. Silbrige Blitze schössen aus dem Wasser, schwebten darüber und tauchten wieder hinab. Nur ein paar davon stiegen in einer Abfolge eleganter Kreise, wie Flügelschlagen, weiter hinauf, erreichten die Höhe des Felsmassivs auf der Landzunge und versanken dahinter. Joseph schloss die Augen und holte tief Luft, zählte beim Einatmen bis fünf, dann beim Ausatmen bis fünf. Hinter seinen geschlossenen Lidern sah er den roten Seeskorpion und den Puppenkopf, wie er aus dem Fischmaul glitt. Joseph hatte den Fisch danach ins Meer geworfen, mit dem Hinweis, er könne voller Schadstoffe sein. Im nächsten Augenblick hatte er es bereut. Der Officer hatte über seine Bemerkung gelacht und hinzugefügt: »Allerdings kann man nie wissen. Die versenken ja heute alles Mögliche im Meer. Und alles ist ja heutzutage gleich giftig. Einmal nicht aufgepasst, schon bist du tot.« Dazu hatte er mit den Fingern geschnippt, und just in diesem Augenblick, wie auf Kommando, war auf der Atlantic Charm ein Mann auf Deck gestürmt, hatte einen weißen Styroporbehälter ins Wasser geschleudert und sich wieder in seine Kabine verzogen. Der Officer hatte Joseph angewiesen, den Puppenkopf an Ort und Stelle liegen zu lassen, und Joseph hatte sich schon gefragt, ob er irgendein Beweisstück sein könnte. Der Polizist war zu seinem Wagen gegangen, mit einer Tüte und einer überdimensionalen Pinzette zurückgekommen und hatte den Puppenkopf ganz methodisch in die Tüte verfrachtet. »Kleines Andenken«, hatte er dazu gesagt. »Da werden die Jungs staunen.«
44 Joseph schlug wie unter Zwang die Augen auf. Die Ahnung einer Gefahr trieb ihn um. Ein roter Seeskorpion. So etwas gab es eigentlich gar nicht. Sicher, es gab Geschichten von so was. Rote
Drachenköpfe. Aber das waren eben bloß Geschichten. Seemannsgarn. Mythen, die man von einer Generation zur nächsten weitererzählte. Ein Vorzeichen einer nahenden Katastrophe. Er könnte Kim anrufen, um sich von ihr die Nicht-Existenz eines solchen Geschöpfs bestätigen zu lassen, um sich bestätigen zu lassen, dass er nicht verrückt war. Die ganze Episode mit dem Seeskorpion kam ihm wie ein Traum vor, weit weg und doch unleugbar vertraut und authentisch. Die Geschichte wäre ein perfekter Vorwand, um Kim anzurufen. Sie selbst wüsste es vielleicht nicht ganz sicher, doch sie hatte einen Freund, der Spezialist für genetische Abweichung in der Meeresfauna war. Wie hieß der Kerl gleich noch mal? Ein arroganter Typ, Sweatshirt tragender Vegetarier mit Bart und fleischigen Lippen. Tobin. Luke Tobin. Die vertrauten Gedanken gaben Joseph ein Gefühl von Sicherheit, und seine unmittelbare Anspannung legte sich etwas. Sein Herzschlag ging allmählich ruhiger, und er verspürte eine wohltuende Verlangsamung in seinen Adern. Die Tabletten wirkten. Es fiel ihm nicht mehr so schwer zu denken. Nur noch eine sanfte Anstrengung. Sanft. Er achtete weiter auf seine Atmung, atmete durch die Nase ein und zählte dabei »eins... zwei... drei... vier... fünf«, atmete durch den Mund aus, exakt zählend. Wie weit weg ist das Krankenhaus?, fragte er sich und flößte sich mit schädlichen, befremdlichen Gedanken erneut Angst ein. Ein Gefühl des Sinkens erfasste seine Fersen, zog ihn hinunter in die Untiefen seines Selbst. »Ist schon okay«, hörte er seine Tochter aus dem angrenzenden Zimmer murmeln. Er warf einen raschen Blick hinüber und erwartete schon, den Geist des Mannes im Türrahmen stehen zu sehen. Niemand da. Nur der leere Rahmen. Robin musste im Traum sprechen. Joseph blickte sich nach einem Gegenstand um, den er zu seiner Verteidigung in die Hand nehmen könnte. Ein alter Stock stand in einer Ecke. Er sprang hin, packte ihn 45 und spähte vorsichtig in den Gang hinaus. Keine Menschenseele da. Mit dem Stock in der Hand und in der Erwartung, jeden Augenblick von etwas oder jemandem angegriffen zu werden, schlich er sich zu Robins Zimmer und streckte den Kopf durch den Türrahmen. Sie schlief tief und fest. Er ließ den Stock sinken, setzte ihn neben ihrem Bett ab und betrachtete ihr schlafendes Gesicht. Sie sah so friedlich aus. Er legte eine Hand auf ihre Wange. Warm. Hob sich ihre Brust? Er starrte darauf. Schwer zu sagen, ob die Bettdecke sich hob. Er beugte sich über sie, um ihr sanft die Nase zuzuhalten, und sie rührte sich. Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn, roch an ihrem Haar. Der Zeichenblock lag aufgeschlagen neben ihr. Eine Zeichnung von drei Insekten, die über einem gewaltigen Berg oder Felsen schwebten. Wie üblich hatte Robin zum Einschlafen gezeichnet. Joseph nahm den Plastikkasten mit den Buntstiften und den Block und legte beides auf die leere Kommode. Dann drehte er sich wieder um und betrachtete erneut das Gesicht seiner Tochter. Sie war so wunderschön und so kostbar. Er wäre verzweifelt, wenn ihr je irgendetwas zustoßen sollte. Es war schon so viel Distanz zwischen ihnen.
Samstag
Doktor Thompson erwachte aus einem Traum von einem Museumsbesuch. In den Glasvitrinen lagen Kleidungsstücke von Menschen, die bei Schiffsunglücken ertrunken sein mussten, Gegenstände aus Truhen und Kisten, die an der Küste angeschwemmt worden waren und deren rechtmäßige Besitzer vermutlich nie auftauchen würden, um ihr Hab und Gut einzufordern. Andere Vitrinen enthielten Wrackteile von Schiffen, die an Klippen zerschellt oder mit Eisbergen kollidiert und gesunken waren. Auf Messingschildern vorne an den Vitrinen stand die Geschichte jedes einzelnen Fundstücks. Thompson blieb bei einem Schaukasten mit lebensgroßen menschlichen Körpern in der Tracht verschiedener Epochen stehen. Der Text auf dem Messingschild lautete: Tod durch Ertrinken. Ihm war, als würde eine der Gestalten ihm zuzwinkern, als ein Klingelton das Ende der Öffnungszeit verkündete und ihn aufweckte. Er fuhr hoch, halb erstickt unter der Bettdecke, und vernahm das Rattern einer Kettensäge in der Ferne. Jemand machte bereits Holz für den Winter. Das Telefon klingelte. Klingelt es schon länger?, fragte er sich. Was für ein Tag ist heute? Samstag? Es ist Samstag, und wer hat gleich wieder Wochenenddienst? Die Praxis in Burnt Head? Er ging
jedenfalls davon aus, auch wenn das hartnäckige Bimmeln des Telefons den Verdacht in ihm aufkommen ließ, dass er irgendetwas durcheinander gebracht und verschlafen hatte. Als Thompson den Hörer auf seinem Nachttisch abnahm, teilte ihm Will Peters vom Krankenhaus in Port de Grave mit, dass Lloyd Fowler eingeliefert worden war. Tot. 46 »Todesursache?«, fragte Dr. Thompson ohne Umschweife. Peters' überhebliche Art war ihm seit vielen Jahren ein Ärgernis. Warum so überheblich? Schließlich verbrachte der Mann seine Tage mit den Toten. Aber vielleicht lag es genau daran. Peters musste sich nicht mit den Höflichkeitszwängen der Lebenden herumschlagen. »Unklar«, erwiderte Peters trocken. »Bin mit der Autopsie noch nicht ganz fertig.« »Herzinfarkt?«, fragte Thompson. Seine Verärgerung manifestierte sich bereits in Form eines leichten Schmerzes hinter den Schläfen. Er presste die Finger dagegen und schloss die Augen. »Kein Herzinfarkt. Das Herz ist tipptopp. Keinerlei Schäden.« Thompson atmete im Stillen auf. Erst vor zwei Tagen, am Donnerstag, hatte er Lloyd Fowler untersucht, und wenn der Mann jetzt an einem Herzinfarkt gestorben wäre, hätte sich der Doktor Vorwürfe gemacht. Habe ich etwas übersehen? Werde ich langsam senil? Und wenn ja, würde ich es überhaupt merken, dass ich nicht mehr richtig ticke? Er hörte weiche Pfoten die Treppe herauftappen. Ein neugieriges Miau. Agatha, seine Katze, hatte ihn wohl sprechen hören. »Seine Frau sagt, er hatte Atembeschwerden. Lungen sind aber frei.« Thompson dachte an Donna Drover, die Mutter von Muss. Muss war eines natürlichen Todes gestorben, hieß es, doch ganz so natürlich schien das nun alles nicht mehr. Donna Drover hing nach wie vor im sechsten Stock des Krankenhauses von Port de Grave an einem Beatmungsgerät. Ihr Zustand war unverändert: Lungen uneingeschränkt funktionsfähig, keine Entzündung oder Fremdkörper in den Atemwegen. Waren es wirklich nur Depressionen, wie ein paar Ärzte spekulierten? Konnten Depressionen dazu führen, dass jemand nicht mehr richtig atmen konnte? »Doktor?« Agatha kam mit einem Laut, der halb Miauen und halb Schnurren war, aufs Bett gesprungen, schmiegte sich an ihn, rieb
46 ihr schwarzes Fell an seiner Wange und schnurrte. »Entschuldigen Sie, aber ich bin ein bisschen perplex.« Geistesabwesend streichelte er die Katze. »Natürliche Todesursache. Zwar steht noch die toxikologische Untersuchung aus, aber ich sehe keinen Hinweis auf eine Vergiftung. Kein Alkoholeinfluss.« »Schon wieder natürliche Todesursache.« »Kommt vor. Es gibt Gerüchte über noch mehr Leichen. Wie natürlich deren Tod war, da kann man drauf wetten. Mein Tipp ist Ertrinken.« »Was für Leichen?« »Im Hafenbecken von Bareneed.« »Leichen? Wie viele?« »Weiß nicht genau. Zwei anscheinend.« Agatha stieß liebkosend die Schnauze in sein Gesicht, so dass Thompson den Kopf wegdrehen musste. Peters neigte immer ein wenig zur Panikmache, war ein Fan von Verschwörungstheorien. »Was meinen Sie mit Gerüchten?« »Ich habe die Leichen nicht gesehen. Angeblich sind es zwei. Und wir kriegen die nicht zu Gesicht. Die Army oder Navy kümmert sich darum. Die haben eigene Forensiker dabei.« Thompson wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Er spürte ein Kitzeln in der Nase, den Drang zu niesen. Er war ein klein wenig allergisch auf Katzenhaare. Er spähte zum Nachttisch hinüber, ob seine Allergie-Medikamente dort standen, doch da lag nur der Krimi, in dem er letzte Nacht gelesen hatte, mit der bäuchlings im Wasser treibenden Leiche auf dem Umschlag. Der Niesreiz peinigte ihn, das Niesen wollte einfach nicht kommen. Schließlich entlud es sich doch, allerdings nicht richtig, und so tränten ihm heftig die Augen. Er fühlte sich zittrig und schwach und zog die Nase hoch.
»Eine Nummer zu groß für uns«, sagte Peters mit einem abfälligen Lacher. »Eben.« Thompson tupfte sich das Wasser aus den Augen und sann über Peters' Worte nach. Auf einmal hatte er keine Lust mehr zu telefonieren. »Wir sehen uns dann Montag.« Er legte
47 auf. Montagvormittag machte er seine Visite im Krankenhaus, doch Lloyd wäre dann nicht mehr da. »Na, wie geht's denn meinem kleinen Schmusekätzchen heute Morgen?« Agatha miaute, als Thompson sie auf den Arm nahm und liebevoll sein Gesicht an ihrem Fell rieb, trotz seiner Allergie. Zum Teufel mit den Allergien, sagte er sich, dann fuhr ihm der Schmerz in die Knie. Und zum Teufel mit diesem ganzen nichtsnutzigen Körper. Er stand vorsichtig auf und zog mit der freien Hand den Bund seiner Boxershorts hoch. Noch länger im Bett zu bleiben brachte auch nichts mehr, da er nun schon hellwach war. »Was wohl unsere Blumen machen, hm?« Er nahm seinen Krimi zur Hand, um auf dem Klo zu lesen, tappte barfuß nach unten in die Küche, setzte Agatha am Boden ab, legte dann das Buch auf den Tisch und machte die Kühlschranktür auf. Gähnend kratzte er sich auf der Brust und rieb sich seinen vorstehenden Bauch. Zwei Eier, ging es ihm durch den Sinn. Zwei Leichen. Er machte die Kühlschranktür wieder zu und entschied sich für Müsli. Während er die Flocken in seine kobaltblaue, getöpferte Müslischale schüttete, spähte er zu Agatha hinunter, die ihm um die Beine strich. Hin und wieder eine »natürliche Todesursache« war ja durchaus zu erwarten, doch als eingefleischter Krimifan war Thompson überzeugt, dass hier irgendwas nicht stimmte. Es war nicht nur seine Lust an Puzzlespielen, sondern ein Instinkt. Und was war das für ein Unsinn mit den Leichen im Hafen von Bareneed? Er goss Sahne über sein Müsli und streute einen vollen Teelöffel Zucker darüber. Eigentlich sollte er ja fettarme Milch nehmen, da seine Cholesterinwerte etwas überhöht waren, doch fettarme Milch wurde zu schnell warm und ließ die Haferflocken matschig werden. Fettarme Milch war einfach widerlich. Alles Fettarme war eine gemeine Pockennarbe auf der sahnig weißen Epidermis des Vergnügens. Wenn man als Mann in seinem Alter nicht einmal mehr das Leben genießen durfte, was sollte das dann alles noch? Es sprach nichts dagegen, gute Rat
47 schlage zu verteilen, aber sie selbst zu befolgen, das war etwas anderes. Auf der Anrichte standen drei Tablettenfläschchen neben dem Weinglas vom Vorabend. Ein Schluck war noch drin. Er öffnete die Fläschchen und kippte je eine der Tabletten in seine Handfläche. Novo-Atenol gegen zu hohen Blutdruck, Ranitidin gegen Reflux und Isoptin gegen Herzrhythmusstörungen. Er spülte sie mit dem Weinrest hinunter und sagte sich dabei: Ist gut fürs Herz. »Na, was tut sich heute so in der Welt?«, fragte Thompson seine Agatha. »Der Tod mal wieder«, gab er sich selbst zur Antwort. Er trug die Müslischale auf die sonnige Terrasse hinaus, machte es sich, noch in Boxershorts, in seinem Liegestuhl aus Massivholz bequem und genoss sein Frühstück im Luxus vollkommener Ruhe. Die Terrasse war auf drei Seiten von Blumenkästen gesäumt. Thompson begutachtete sie von seinem Stuhl aus: Büschel winziger violetter Lobelien, gelbe Tagetes, die kleinen, ihm zugewandten Gesichter blassblauer und weißer Stiefmütterchen, rote Petunien, die selbst jetzt im Juni noch nicht voll aufgegangen waren, doch dafür würden sie bis in den Herbst halten, genau wie das rosarote Springkraut. Das waren starke Pflanzen, ganz im Gegensatz zu den empfindlichen Stiefmütterchen. Er durfte nicht vergessen, etwas Dünger in die Erde zu geben. Ein paar Spatzen zwitscherten drüben im Wald. Agatha wandte den Kopf in die Richtung und lauschte elektrisiert. Die Kettensäge war verstummt, Gott sei Dank. Während er sein Müsli kaute, ging ein tiefes, grummelndes Beben durch das Holz seines Liegestuhls. »Was sprengen die denn jetzt schon wieder?«, fragte er die Katze. »Na, Agatha. Immer wird irgendwas gesprengt. Immer müssen sie irgendwo durch, meine Güte, wieder ein neues Loch in den Fels bohren. Immer weiter, weiter.« Eine Wespe tauchte aus dem Nichts auf und kreiste über seiner Müslischale. Er versuchte, sie wegzuscheuchen, doch sie schwirrte nur noch hartnäckiger um ihn herum. Erneut verscheuchte er sie mit der Hand, setzte sich in seinem Stuhl auf. Die Wespe wurde immer erregter. Als sie weiterhin über seinem eingezogenen Kopf
48 kreiste, schlug er heftig nach ihr. Mit einem ungehaltenen Laut hievte er sich aus dem Liegestuhl hoch und warf dabei versehentlich seine Schale auf den Boden. Sie zerbrach in vier Teile. Die Sahne rann ihm über die nackten Zehen. Er schaute auf seine Füße hinunter. Agatha kam neugierig heran, schnupperte und fing ganz ungeniert an, die Sahne aufzulecken. Ihre Augen waren auf ihr Herrchen gerichtet, als hoffte sie, er würde es nicht merken, wie ihre schleckende Zunge hervorschoss, oder ihr zumindest vergeben. Zwei weitere Wespen schwebten jetzt abwartend über der Sahne. Eine stieg bis zu Thompsons Knie auf, die andere flog erst weg, kam dann wieder her und schwirrte direkt auf seine Lippen zu. Er machte einen Satz zur Seite, sprang zur Tür hinein und knallte sie hinter sich zu. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass keine Wespe auf seiner Haut saß, blickte er durch das kleine Fenster in der Tür hinaus. Seine Lieblingsschale lag in Scherben auf dem Boden der Terrasse. Agatha leckte genüsslich die Sahne auf. » Scheißwespen«, murmelte er und öffnete die Tür einen Spalt. »Na komm, Agatha, bring dich in Sicherheit vor den Biestern.« Doch die Katze betrachtete ihn mit verächtlichem Desinteresse und wandte sich dann wieder der Sahne zu. »Stures Vieh.« Warum wurde Agatha nicht von den Wespen geplagt? Wahrscheinlich war das Ganze ein Komplott, um an seine Sahne zu kommen. Er ließ die Tür ins Schloss fallen - das war's erst mal mit dem Draußen sein - und ging in die Küche. Auf dem Tisch stand noch der Teller, auf dem er sich gestern Nacht das Pizzastück in der Mikrowelle warm gemacht hatte. Der Rand war mit Soße verschmiert. Er rieb die Soße mit dem Finger ab und führte ihn zum Mund. Würzig und scharf. Vorige Nacht war er lange aufgeblieben und hatte sich ein wenig mehr gegönnt als gewöhnlich, da er ja davon ausgegangen war, heute Morgen ausschlafen zu können. War wohl nichts gewesen. Sein Kopf fühlte sich schwammig an, alles ein wenig neblig. Er hatte vorgehabt, in St. John's ins Museum zu gehen und Agatha mitzunehmen. Zwei Mal hatte er sie schon in seiner Arzt
48 tasche mit hineingeschmuggelt. Vor Jahren hatte er damit angefangen, seine jeweiligen Haustiere in seiner Tasche versteckt mit in öffentliche Gebäude zu nehmen. Seinen geliebten Chihuahua Peppy hatte er auf diese Weise immer ins Kino mitgebracht. Da saß er dann ganz still in der geöffneten Tasche und schaute gebannt auf die große Leinwand, während Thompson ihn mit Popcorn fütterte und ihm Coca-Cola aus der hohlen Hand zum Auflecken gab. Agatha hingegen interessierte sich nicht für Kino. Ihr hatte es die Sammlung von Gebeinen der Beothuk angetan, der neufundländischen indianischen Ureinwohner, die von den Inselbewohnern niedergemetzelt worden waren. Heute wäre eigentlich der perfekte Tag für einen gemütlichen Museumsbesuch gewesen. Doch eine quälende Neugier drängte ihn, stattdessen ins Krankenhaus zu fahren und sich Lloyd Fowlers Leiche anzusehen. Außerdem gebot es der Anstand, die Witwe, Mrs. Fowler, anzurufen und ihr sein Beileid auszusprechen. Hoffentlich verkraftete sie es einigermaßen. Was konnte er schon Tröstendes sagen, um die Tränenflut einzudämmen? Die Sirene eines Krankenwagens heulte in der Ferne. Joseph blickte auf seine Uhr - 7.45 -, sprang aus dem Bett und eilte zum Fenster. Kommen die zu mir?, fragte er sich geistesabwesend und mit einem Hauch Paranoia. Er war nach unruhigem Schlaf aus einem intensiven Traum hochgeschreckt und noch gar nicht ganz wach. Vielleicht sollte er fliehen, schoss es ihm durch den Kopf, doch dann kam er allmählich zu sich, und ihm dämmerte, wo er war. Auf der Unteren Straße fuhr ein Rettungswagen in westliche Richtung stadtauswärts. Im Morgengrauen war Joseph endlich eingeschlafen, nachdem er sich zuerst stundenlang in dem stickigen Zimmer hin und her gewälzt hatte. Auch das Öffnen eines der Fenster mit diesen altmodischen, hochschiebbaren Fliegengittern hatte nichts geholfen. Es wehte nicht ein Hauch frischer Luft herein. Josephs Blick folgte dem Rettungswagen. Krankheit auf Rädern. Ihm rann der Schweiß, und ein strenger Geruch ging von 48
seiner Haut aus. Warum bloß?, fragte er sich. War das eine Folge der Hitze oder der Anspannung und des Schlafmangels, unter dem sein Körper litt? So wenig Schlaf. Wo war Kim? Als er aufwachte, hatte er erst gedacht, sie wäre bei ihm und nur einen Augenblick aus dem Zimmer gegangen. Wohin? Um ihm Robin wegzunehmen? Sie mit nach Hause zu nehmen? Aber nein, er hatte nur von Kim geträumt. Sie war mit einem anderen Mann im Bett gewesen, dem Mann mit dem Bart, während Joseph heimlich in einer Ecke genau dieses Schlafzimmers hier gekauert und zugesehen hatte. Nur Kim wusste von seiner Gegenwart. In ihren Augen lag ein neckischer Ausdruck vermischt mit Verzagtheit. Das hier war der stämmige, aufregende Mann, von dem Joseph dachte, dass Kim ihn sich immer gewünscht hatte, der Mann, der vor großartigen Abenteuern strotzte, der Felskletterer und Tiefseetaucher, der lebendig gewordene, halb erfrorene, halb zerfressene, Rekorde brechende Forscher und Entdecker aus den Büchern, die sie oft las. Kim hatte einmal gedacht, Joseph wäre so ein Mann. Ein Mann der See, ein Mann mit einem Stammbaum zäher Fischernaturen. Als sie sich kennen lernten, hatte er stolz in schillernden Details von seiner Herkunft erzählt. Kim hatte unglaubliche Geschichten von ihm erwartet, doch außer den Erzählungen über seinen Onkel Doug hatte Joseph nichts bieten können, schien durch den Umzug vom Fischerdorf in die Stadt seiner Geschichte beraubt. Und wie sich irgendwann herausstellte, war auch Kim nicht genau das, was sie vorgab zu sein. Joseph entdeckte ihren Hang zu Extravagantem, Raffiniertem, Äußerlichem. »Qualität« nannte sie das dann. »Das kostet eben.« Mitten in dieser Phase, als sie beide die weniger erfreulichen Seiten der Persönlichkeit des Partners erkannten und damit umzugehen versuchten, brachte Kim eines Tages einen Schwangerschaftstest mit nach Hause, und beide hatten sie ungläubig zugesehen, wie sich die Farbe auf dem Stäbchen veränderte. Der Test war positiv, ihre eigenen Gefühle gemischt. Sechs Monate später, nachdem Kim bereits einen Monat lang Fruchtwasser verloren hatte und im Krankenhaus im Bett liegen musste, war
49 das Baby, als sie auf der Toilette saß, einfach herausgeflutscht. »Sie war vollkommen«, hatte Kim später Joseph erzählt. »Ich wünschte, du hättest sie gesehen.« Doch er hatte sie damals nicht sehen wollen. Es wäre zu schmerzlich gewesen, mit dieser Erinnerung zu leben. Er hatte den Leichnam des Babys in der Pathologie im Keller des Krankenhauses abgeholt. Der knochentrockene Assistent hatte ihn einfach in das Tuch eingeschlagen, das Joseph für diesen Zweck mitgebracht hatte, ein besonderer Stoff, der eigentlich als Bettüberwurf für das Baby gedacht gewesen war. Und Joseph hatte das Bündel zum Wagen hinausgetragen, während ihm angesichts des Gewichts in seinen Händen die Tränen übers Gesicht liefen, eines Gewichts, das er von etwas so Kleinem nie erwartet hätte. Er war zutiefst verstört, traurig und wütend darüber, dass er ohne jede Formalität einfach so mit einem toten Baby in den Händen aus dem Krankenhaus marschieren durfte. Sie hatten es in einem kleinen Loch in der Erde begraben. Ohne Priester, nur der Totengräber hatte in respektvoller Entfernung ausgeharrt, bis er die kleine Holzkiste, die Josephs Vater gezimmert hatte, mit Erde zuschütten durfte. Kein Wort fiel dabei. Sie wären an der Sprache erstickt. Schon zu lange hatte Joseph in dem Gefühl gelebt, nicht gut genug zu sein, und der Verlust ihres ersten Kindes hatte diese Ahnung nur noch verstärkt. Er hatte versucht, Kim zuliebe stark zu sein, sie trauern zu lassen, doch der Tod des Babys hatte einen emotionalen Keil zwischen sie getrieben. Und trotzdem waren sie zusammengeblieben, hatten sich, aus der Bahn geworfen durch ihren Verlust, aneinander geklammert, bis Kim zum zweiten Mal schwanger wurde. Sechzehn Monate nach der Totgeburt kam ihr zweites Baby zur Welt. Sie hatten es Robin genannt - der Name, den sie für das erste Kind vorgesehen hatten. Diese Erinnerungen hatten etwas Eindringliches, fast Strafendes, als wolle Josephs Verstand alle Spuren seines grellen Traums von eben gewaltsam tilgen. Was ihn am meisten an diesem Traum irritierte, war, dass ihn Kims fleischliche Ausschweifungen nicht im Mindesten geärgert hatten. Vielmehr hatte er
49 mit einer unbeteiligten Faszination zugesehen: die beiden fiebrigen, verschwitzten, ineinander verschlungenen Körper, Kim, die den Sex aus vollem Herzen genoss, ungehemmt stöhnte, die
Beine fest um den Körper des Mannes schlang, ihn gierig ermunterte, mit Wucht in sie hineinzustoßen. Würde der Mann sie schwanger machen? War es das, was sie wollte? Ein Kind von robustem, kernigem Schlag? So war Kim in Wirklichkeit gar nicht im Bett, jedenfalls nicht mit ihm. Diese Vorstellung einer wilden, ungehemmten Kim, einer Kim, die das Resultat seiner eigenen Ängste und Wunschphantasien war, rief in ihm eine verzweifelte Sehnsucht nach ihr hervor. Auf einmal wünschte er sich nichts sehnlicher, als nach St. John's zurückzukehren. Er sah dem Rettungswagen nach, der immer noch auf der Unteren Straße nach Westen fuhr. Zehn Kilometer weit lief sie immer so fort, bis sie auf die Shearstown Line traf. Joseph fragte sich, wer wohl krank war. Sofort kam ihm die Beerdigung vom Vortag in den Sinn, die Gemeinde, die sich zum Abschied nehmen versammelt hatte. Ob wohl sein Onkel Doug in der Menge gestanden hatte? Wenn hier draußen jemand starb, wusste es jeder gleich. Und bestimmt kam dann die ganze Gemeinde, um dem Toten die letzte Ehre zu erweisen. Soll ich vielleicht Onkel Doug anrufen? Aber was soll ich ihm sagen? Dass ich nur einen Tag hier bin? Dass wir ein Haus gemietet haben, aber jetzt fahren wir wohl doch lieber wieder heim, weil ich im Schuppen einen Geist gesehen habe? Würde sein Onkel ihn wohl auslachen oder aber darin ein Omen sehen, einen weiteren Beweis für die überbordende, sich verdichtende Gegenwart des Gestern? Ohne Zweifel würde Onkel Doug über kurz oder lang von Josephs Anwesenheit in Bareneed erfahren, wenn er es nicht sowieso schon wusste. Der Rettungswagen war fast außer Sicht, die Sirene nicht mehr zu hören. Vielleicht war sie ausgeschaltet worden. Mit etwas Totem innen drin, wie sein Herz. Er runzelte die Stirn, musste gähnen und dachte an Claudia. Wirklich schade, dass er sie nicht näher kennen lernen würde. In den vergangenen paar Minuten hatte er sich nämlich dazu entschlossen, nach St. John's
50 zurückzukehren. Seine Nerven lagen blank. Alles konnte passieren. Er könnte stundenlang ununterbrochen reden oder in ein brütendes, tödliches Schweigen verfallen oder plötzlich in Tränen ausbrechen. Noch eine Nacht in diesem Haus konnte Gott weiß was mit ihm anrichten. Er wollte Kim. Er wollte sein Zuhause, nicht seine Wohnung. Sein Zuhause, das er mit gestrichen und möbliert und bezahlt hatte. Sein Schlafzimmer, das er mit Kim zusammen eingerichtet hatte - eine Lektion in Kompromissfähigkeit für sie beide. Er wollte einen vertrauten Frauenkörper neben sich liegen haben, sich an ihn kuscheln, wie ein Baby schlafen. Der Rettungswagen war jetzt komplett verschwunden. Joseph richtete den Blick aufs Meer hinaus. Zwei Leute in schwarzen, glänzenden Taucheranzügen und Ausrüstung fischten etwas aus dem Wasser. Sie zogen es an einem silbernen Stock mit einem Haken daran zu sich her und beugten sich über den Bootsrand, um es ins Boot zu hieven. Etwas Schweres, allem Anschein nach. Von der Größe und dem Gewicht eines menschlichen Körpers. War jemand ertrunken? Er hörte Geräusche aus Robins Zimmer: Seine Tochter wälzte sich hin und her und äußerte seufzend ihr Missfallen über das Aufwachen. »Daddy?«, rief sie mit schlaftrunkener Stimme. »In meinem Zimmer, Schatz.« Wie würde Robin die Nachricht von der plötzlichen Rückkehr nach Hause aufnehmen? Sie hatten noch nicht einmal Onkel Doug besucht, hatten Josephs ehemalige Heimstatt noch nicht ausfindig gemacht, nicht in alten Fotoalben geschmökert oder gebannt den schillernden Geschichten über seine Vorfahren gelauscht. Er hörte, wie Robin sich gähnend im Bett reckte. Sie wäre zweifelsohne enttäuscht, aber das würde vorbeigehen. Sie könnten campen. Aber nein, die Wälder waren ihm zu unheimlich als Alternative. Die Geräusche der Nacht würden ihm eine Heidenangst einjagen. Sie könnten wegfliegen, nach Toronto zum Beispiel. Da gab es einen großen Freizeit- und Vergnügungspark. Sie könnten mit allerlei Schwindel erregenden Fahrgeschäften fahren, sich so, auf spaßige Art, Angst einflößen lassen. Angst, die einen greifbaren An
50 fang und ein Ende hatte. Angst, die man in kontrollierten Dosen kaufte. Das war die Art von Angst, die ihm zusagte. Sie würde ein paar Dollars kosten, aber das wäre es schon wert, einfach um einmal wegzukommen. Sie würden in einem Hotel übernachten. Robin würde das gefallen.
Zimmerservice und im Bett liegen und fernsehen. Die abgepackten Miniseifen und kleinen Shampoofläschchen. Ein Paradies für jedes Kind. Doch dann ließ die Vorstellung, allein und isoliert in einem Hotelzimmer einer fernen Stadt zu sitzen, Joseph auf einmal noch ängstlicher und mutloser werden. Das tappende Geräusch zweier nackter Füße näherte sich. »Morgen, Daddy.« Joseph wandte den Blick von den zwei Männern draußen im Boot ab und sah Robin in ihrem Prinzessinnennachthemd im Türrahmen stehen. Einfach süß. »Morgen, meine Hübsche.« »Ich hab Hunger«, sagte sie mit gerunzelter Stirn. Ihre vollkommenen kleinen Hände hingen baumelnd herunter. »Mein Hals kratzt.« Sie kam träge herüber, umarmte Joseph und hielt ihn fest, während sie sich schlaff hängen ließ und so tat, als schliefe sie im Stehen wieder ein. »Komm, wir machen Frühstück.« Er spähte noch einmal aus dem Fenster. Das Meer war ruhig und von einem tieferen, satteren Blau als der Himmel. Der Tag jenseits der Scheibe war bereits heiß. Flüchtig glaubte er, noch so ein Bündel hinter dem Boot treiben zu sehen, in der Nähe der Landzunge. Eine Mülltüte oder irgendeine Markierung vielleicht. Er hob seine Tochter hoch, und sie schmiegte sich an ihn, legte ihren warmen, schläfrigen Kopf an seine Schulter. Es gibt nichts Schöneres, dachte er, während er eine Hand sacht auf ihr Haar legte. Väterliche Seligkeit! Robin hob ein wenig den Kopf. »Ich finde es richtig toll hier, Daddy«, sagte sie. »Ach ja?« Er streichelte ihr Haar, während sie ihm mit der Hand über die Wange fuhr. »Du musst dich mal rasieren. Du kratzt.« »Ich weiß ja gar nicht, ob ich einen Rasierer dabeihabe.« Bei dem Wort »Rasierer« schauderte er unwillkürlich. Er wusste,
51 dass einer in seinem Koffer war, doch er wollte ihn überhaupt nicht anrühren. »Mich schüttelt es schon bei der Vorstellung.« Robin lachte an seiner Schulter. »Können wir noch länger als die drei Wochen bleiben?« »Ich weiß nicht.« Als er die Treppe erreichte, drückte er Robin fester an sich; sie schlang die Beine um ihn, und er machte sich vorsichtig ans Hinuntersteigen. »Du wirst mir allmählich viel zu schwer.« Die alte Treppe knarrte unter dem weiß und weinroten Läufer. Der Flur erstrahlte in hellem Tageslicht. Nichts erschien auch nur irgendwie beängstigend. Alles lag schlicht und klar vor ihm. Keine Toten, die irgendwelche unheimlichen Sachen machten. »Was machen wir nach dem Frühstück?« »Oh, ich weiß nicht. Vielleicht sollten wir überlegen...« »Können wir Claudia und ihre Tochter besuchen?« »Ich...« »Bitte, bitte, bitte, Daddy.« Sie hüpfte fast in seinen Armen, während er die letzte Stufe hinter sich brachte. »Uuuh. Jetzt aber runter mit dir«, sagte er und beugte sich mit ihr nach vorn. Doch Robin ließ nicht los. Ihr Gewicht zerrte an seinem Kreuz. »Bitte, bitte, bitte.« Robin zog im Scherz eine Schmollmiene wie in einem Comic und klimperte dazu mit ihren blonden Wimpern. Den Trick hatte sie von Kim gelernt. »Ach bitte.« » Stell dich hin, Robin «, wies Joseph sie scharf an. Der Schmerz in seinem Rücken strahlte in seine Hüfte und in die Beine aus. »Das fährt mir ins Kreuz.« Sie ließ sofort los, stellte sich hin, mit glasigen Augen und vor der Brust verschränkten Armen. Und diesmal einer ernst gemeinten Schmollmiene. Jetzt war der Schaden angerichtet. Joseph blieb nur noch der Versuch, ihn wieder gutzumachen. Robin hatte ein Recht auf ihre Ferien. Sie hatten ein Recht auf diese Zeit zusammen, auch wenn es hieß, dass er sich mit Medikamenten zuschütten musste, um seine Nerven unter Kontrolle zu halten. Er würde sich noch einen Tag geben, würde Bareneed noch eine Chance geben, entspannend anstatt erregend auf ihn zu wirken.
51 »Na gut«, erwiderte er mit einem dramatischen Seufzer. »Na gut, na gut.« Er ging in die Hocke, um auf Augenhöhe mit Robin zu sein. Ihre Augen wurden noch glasiger. Sie wischte sich mit dem
Ärmel ihres Nachthemds eine Träne ab. »Es tut mir Leid«, sagte er mit trauriger Miene. »Verzeihst du mir?« Vielleicht würde ja wirklich alles gut werden. Es ist nur der Ortswechsel, bis man sich eingewöhnt hat, das regt wohl meine Phantasie etwas zu sehr an, beruhigte er sich. Er konnte doch nicht auf einmal übergeschnappt sein. Oder doch? Vielleicht hatte er ja überhaupt keine Tasse mehr im Schrank, wie seine Mutter scherzhaft zu sagen pflegte. »Ich verzeih dir, Daddy.« »Ach, du bist vielleicht lieb.« Sie umarmten einander. »Ich mag es, wie du riechst, Daddy«, sagte sie und umarmte ihn noch fester. »Ich habe noch dein Kissen von zu Hause. Wenn du nicht da bist, dann rieche ich daran. Es riecht genauso wie du.« Sein Herz machte einen Satz, und er drückte sie noch fester an sich und küsste sie auf den Hals. Durch welchen emotionalen Trümmerhaufen muss ich mich noch arbeiten, überlegte er, um uns wieder dahin zurückzubringen, wo wir einmal waren? In Miss Laracys Küche hing der Duft von getoastetem Brot. Sie hatte die Scheibe so dick geschnitten, dass sie kaum in den Toaster passte. Je dicker, desto besser, um den Tee aufzusaugen, wenn sie das Brot in ihre Tasse tunkte. Dieses hier war zwar nicht so gut wie ihr eigenes, aber es musste genügen. Letztes Jahr hatte sie aufgehört, jeden Donnerstag selbst Brot zu backen, ein Ritual, das sie über sechzig Jahre lang gepflegt hatte. Das Kneten war ihr zu anstrengend geworden. Es erschöpfte sie einfach zu sehr. Jetzt blieb ihr nichts anderes übrig, als sich Brot im Supermarkt zu kaufen. Es war nicht annähernd so fest wie ihr Selbstgebackenes, es hielt die Wärme nicht so lange und war leichter, als bestünde es zur Hälfte aus Sägemehl, aber es musste eben gehen. Das waren die Klippen des Altwerdens, wenn man
52 auf Lebensmittel von minderer Qualität aus dem Supermarkt zurückgreifen musste. Gab es etwas Trostloseres?, fragte sie sich. Miss Laracy war vom Klang einer Sirene aufgewacht, ein seltenes Vorkommnis in Bareneed. Sie erkannte sofort, dass es die Sirene eines Rettungswagens war. Die Feuerwehrsirene hatte einen länger gezogenen, heulenderen Ton. Polizeisirenen hatten etwas Blubberndes, wie hintereinander herrennende, verbeulte Ovale. Die Sirene des Krankenwagens dagegen klang scharf und schrill und präzise, stechend wie ein Nadelkissen. Wer wohl krank geworden war?, überlegte sie. Sie schüttelte missmutig den Kopf und schmierte sich reichlich Butter auf ihren Toast, bis die braunen Streifen fettig glänzten und herrlich dufteten. Dann wandte sie sich mit ihrem Teller und ihrer Tasse um. Ihr Blick fiel auf eine große Zeichnung, die auf dem Tisch lag. Es sah nach einer von Tommys Zeichnungen aus. Sie konnte sich nicht erinnern, sie dort hingelegt zu haben. Tommy hatte ihr gestern Abend keine mitgegeben, wie er es manchmal tat. Vielleicht hatte Tommy frühmorgens vorbeigeschaut und sie dagelassen. Das tat er oft, wenn er Miss Laracy unbedingt zeigen wollte, was er gerade machte. Er schien überhaupt nie zu schlafen, sondern trieb sich ständig irgendwo herum, malte und besuchte Leute, um bei ihnen nach dem Rechten zu sehen. Wer sich nicht wohl fühlte, dem ging es nach einem Besuch von Tommy immer gleich besser. Tommy hatte eine Art, die auch auf ein bedrücktes Gesicht ein Lächeln zu zaubern vermochte. Die Zeichnung zeigte zwei kleine Mädchen, die Hand in Hand hinter einem Wasserfall zu stehen schienen. Eines der beiden Mädchen sah aus wie die Kleine aus dem Critch-Haus an der Oberen Straße. Miss Laracy setzte ihren Teller und die Tasse auf dem Tisch ab und sah sich die Zeichnung genauer an. Das andere Mädchen kannte sie nicht. Vom Gang draußen kam ein Geräusch. Miss Laracy spähte suchend hinaus, als eine Tür knarrte. Sofort musste sie an die Geister denken, doch es war helllichter Tag, und so war dies eher unwahrscheinlich. »Wer ist 'n da?«, rief sie aus. In ebendiesem Moment erschien
52 Tommy im Türrahmen. Er kratzte sich am Kopf, hatte die Finger in seinem zerzausten Haar vergraben und schaute Miss Laracy ein wenig verschämt an.
»Hab gestern Abend noch reingeguckt. Wie die Rayna schon im Bett war.« Er deutete nach hinten, in die Richtung, aus der er kam. »Hab 'n bisschen in deinem Wohnzimmer gesessen, und da bin ich prompt eingenickt.« Er lachte laut auf, wobei sich sein Unterkiefer und Kinn nach vorn schoben. Das Gelächter schüttelte ihn, als wäre es das Lustigste überhaupt. »Stell dir mal vor! Sitz ich da und Schlummer einfach so ein wie 'n Baby.« Miss Laracy lachte mit. »Du bist mir schon so 'n Prachtstück, Tommy, mein Junge. Nu komm und trink 'ne Tasse Tee mit.« Tommy kam zum Tisch heran und blickte stumm auf sein Werk, während Miss Laracy ihm Tee einschenkte. Er beugte sich über die Tischplatte, um die Zeichnung eingehender zu betrachten. Als sich Miss Laracy mit der Tasse in der Hand wieder zu ihm umwandte, sah sie, dass er eine Serie von Mädchen gezeichnet hatte, die alle aussahen wie das Mädchen aus dem Critch-Haus. Er hatte die Schatten des Mädchens gezeichnet, wie es umfiel und schließlich am Boden lag. Dann fing er an, einen großen, kräftigen Mann mit rauem Bart zu zeichnen, der neben dem Mädchen stand. »Das ist die Kleine vom Critch-Haus oben«, sagte Miss Laracy. »Du warst da. Ich weiß.« Tommy malte so eifrig, als müsse er die Vision einfangen, bevor sie ihm wieder entrissen wurde. »Ich hab Bilder gemalt von den Leuten, die schon lange tot sind«, murmelte Tommy. »Die da bei mir im Gang hängen, die ganzen Verwandten.« Miss Laracy legte Tommy eine Hand auf den Rücken, während er wie wild zeichnete. »Die ganzen Verwandten, die schon fort waren, die kommen alle wieder«, erklärte Tommy. »Wie denn das?« »Die kommen alle wieder«, sagte Tommy. »Die sind zwar tot, aber die kommen alle wieder.« Er drehte den Bogen Papier um
53 und malte auf der Rückseite weiter: eine Reihe von Gestalten, die aus dem Wasser kamen, erst Köpfe, dann Schultern und Oberkörper, die nach und nach aus dem Wasser zum Vorschein kamen. Und dann Wesen, die um sie herumschwebten, die wie feiner Nebel aus den menschlichen Körpern selbst hervorzukommen schienen und durch die Bewegung der ehemals Toten Gestalt annahmen. Claudia stand auf der Türschwelle zum Kinderzimmer und schaute dumpf zu Jessica hinüber, die mit dem Gesicht zur Wand auf dem ungemachten Bett saß. Das Mädchen zitterte, sein langes Haar hing in verfilzten, nassen Zotteln herab. Schon seit einer verwirrend langen Weile stand Claudia so und betrachtete das Abbild ihrer Tochter. »Jessica?« Das Kind antwortete nicht. »Warum ziehst du dir nicht etwas Trockenes an? Du hast doch so viele hübsche Sachen.« Kein Wort von Jessica. Keine Regung, außer ihrem Zittern. Sie saß reglos wie ein Foto, das vor Claudias Augen aufgehängt war. Wie kann man nur so bewegungslos sitzen, wunderte sich Claudia. »Du musst doch nicht so bleiben, oder?« Schweigen, verstärkt durch die Reglosigkeit. »Jessica?« Das muntere Lachen eines Kindes. Claudia fuhr in die Richtung herum, aus der es gekommen war. Von der Wand her. Als Claudia wieder zum Bett zurückschaute, hatte Jessica sich ein winziges Stückchen bewegt, saß jedoch noch immer atemlos still. »Ich gehe nach unten«, sagte Claudia, mehr zu sich selbst als zu irgendjemand anderem. Sie riss ihren Blick von der Fotoserie über ihrem Schreibtisch los, die Jessica auf dem Bett sitzend mit dem Gesicht zur Wand zeigte; sie war von einem Spaziergang im Regen heimgekommen und hatte wegen irgendeiner kleinen Missetat geschmollt. Claudias Blick fiel auf eine Zeitschrift, die auf dem Schreibtisch lag. Sie nahm einen Stift zur Hand und schrieb: Ich hielt ihre kleine Hand. Ich hielt ihre kleine Hand. Ich hielt ihre kleine Hand...
53 Wieder das Lachen eines Kindes. Claudia wich von ihrem Arbeitstisch an der Wand mit den Fotos zurück. Sie wandte sich um und ging auf die breite Treppe zu, die so sanft ins Erdgeschoss hinunterführte, dass es ein Genuss war, darauf hinabzuschreiten. Vor acht Jahren hatte Reg,
nachdem er monatelang alles über Solarhäuser gelesen hatte, das Haus mit ein paar Freunden zusammen errichtet. Claudia war damals mit Jessica schwanger gewesen. Ihr Mann hatte das Haus nach Plänen aus einer Fernsehsendung gebaut, die er beim Sender bestellt hatte. Die riesigen Glasfronten wurden auf einem Tieflader angeliefert und mithilfe eines Krans aufgestellt. Claudia war entsetzt gewesen über die Kosten dieser Fenster, doch Reg hatte stur behauptet, dass sie ihr Geld wert waren. »Du willst doch so viel Licht, wie man nur kriegen kann«, hatte er augenzwinkernd gesagt. »Für deine Arbeit, meine ich.« Reg hatte sie immer unterstützt und war so stolz auf ihre Töpferarbeiten gewesen. Doch er hatte dieses Gefühl immer nur ihr gegenüber gezeigt. Er wollte nicht Freunde oder Verwandte einschüchtern, indem er die künstlerische Arbeit seiner Frau auf ein Podest stellte. Das war typisch Reg, genau so war er. Behandelte immer alle gleich. Sie hatten zunächst in Regs Elternhaus gewohnt, einem alten, quadratischen Häuschen an der Unteren Straße gleich beim Hafen. Regs Mutter war gestorben und hatte das Haus ihrem einzigen Sohn hinterlassen. Claudia hatte versucht, dort zu arbeiten, doch schon bald gingen ihr der knappe Raum und der Mangel an Regalplatz auf die Nerven. Die Zimmer waren mit Absicht klein gebaut worden, weil das zu Zeiten, als man noch mit Holz und Kohle heizte und im Winter der Südwestwind vom Meer her ums Haus fegte, praktischer war. Als Claudia anfing, ihre Töpferwaren zu exportieren, musste ein neuer Brennofen her, um mit den Bestellungen mithalten zu können. Sie hatte kaum genug Platz, sich in dem bis oben voll gepfropften Raum umzudrehen, und das wurde irgendwann unerträglich. Als das Haus im August jenes Sommers fertig war, waren Claudia und Reg in ihr neues Heim mit Blick auf den Hafen umgezogen. Claudia war hingerissen von der Lage. Die geräumige
54 vordere Hälfte im ersten Stock wurde ihr Studio, während der hintere Teil zwei große Schlafzimmer beherbergte. Als Claudia jetzt die letzte Stufe hiunterstieg, öffnete sich zu ihrer Rechten das Wohnzimmer. Das anregende, helle Kiefernholz an den hohen Wänden schuf eine offene, befreiende Atmosphäre. Helles Morgenlicht durchflutete den ausladenden Raum und glänzte auf den Rahmen der Kunstwerke an den Wänden. Meeresszenen. Ruhige See und tosende Wellen. Das Meer, sinnierte Claudia. So ähnlich den Strömungen, die uns in unserem Innersten bewegen. Auf der untersten Stufe angekommen, blieb Claudia auf einmal abrupt stehen: Ein kleines Mädchen wartete vor der Haustür. »Jessica?«, murmelte Claudia. Wie konnte sie nur so schnell nach draußen gelangt sein? Das Mädchen lächelte und hatte die Hände rechts und links von ihrem Gesicht auf das Glas gelegt, das in der Mitte der Tür längs nach unten lief. Es war das Mädchen, das im Critch-Haus wohnte. Für wie lange? Eine groß gewachsene Gestalt stand hinter ihr, hatte eine Hand auf ihre Schulter gelegt und zog sie sanft von der Tür weg. Der Vater des Mädchens? Der Mann und das Mädchen, denen sie gestern auf der Straße begegnet war. Sie konnte sich nicht mehr an ihre Namen erinnern. Claudia zuckte zusammen - ein Klopfen. Sie fuhr sich mit der Hand an die Brust. Mit einem verstohlenen Blick zurück zur Treppe ging sie zur Tür. Sie schloss die Augen und hielt einen Moment inne, um einen sicheren Stand zu finden. Sie konnte die Stimme des Mädchens und seine Bewegungen gedämpft durch die Tür hindurch hören. Warum konnte das Mädchen nicht einfach still sein, schweigen? Claudia griff nach dem Türknauf und holte tief Luft, bevor sie die Tür aufzog. »Guten Morgen«, sagte der Mann. Sein unverhohlener Enthusiasmus erlitt sofort einen Dämpfer. Er warf hastig einen Blick auf seine Armbanduhr. »Haben wir Sie aufgeweckt?« »Nein, überhaupt nicht.« Claudia versuchte ein freundliches
54 Lächeln, das dem Mann über sein Zögern hinweghelfen sollte. Sie kniff die Augen zusammen und strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr, wobei ihr einfiel, dass sie sich heute Morgen die Haare nicht gekämmt hatte. Wie viel Uhr war es wohl?, fragte sie sich. Frühstückszeit? Die Zähne hatte sie sich auch nicht geputzt; ein Hauch ihres fauligen Atems stieg ihr in die Nase. Kein Tropfen Wasser darf über meine Lippen kommen. Kein Tropfen. Sie hoffte, allmählich innerlich
auszutrocknen, jeden Flecken Feuchtigkeit in sich auszudörren. Das grelle Tageslicht von draußen peinigte sie. Sie fühlte sich unansehnlich, verletzlich in der Gegenwart anderer Menschen. In der Ferne lag das zu grelle Meer, dort der Hafen, der Sicherheit bot vor der gewalttätigen See weiter östlich, jenseits des Blickfeldes, wo die wahre Natur des Meeres uneingeschränkt regierte. »Robin konnte es nicht erwarten, Ihre Tochter kennen zu lernen. « Der Mann warf einen Blick auf seine Tochter hinunter, aus dem seine große Liebe sprach. Er legte ihr die flache Hand aufs Haar. »Das wäre doch schön, wenn die beiden zusammen spielen könnten. An so einem wunderschönen Morgen.« »Meine Tochter?« Claudias unsicheres Lächeln bebte und verschwand auf einmal von ihren Lippen. Das puderige Rosarot auf ihren vorstehenden Wangenknochen verblasste schlagartig. Sie konnte ihre benommenen, eingesunkenen Augen nicht mehr von Robin wenden. »Du weißt von meiner Tochter?« »Ja«, sagte das Mädchen mit piepsiger Stimme. »Woher?« Ihre Haut spannte. Sie spürte, wie ihr Gesicht mit jedem Augenblick unansehnlicher wurde. Worte machten sie hässlicher. »Kommen wir ungelegen?«, fragte der Mann. Claudia warf ihm einen verstörten Blick zu. Die Farbe kehrte in ihre Wangen zurück, Zorn versengte die zarte Haut in ihrem Gaumen. »Ja, Sie kommen ungelegen.« Das Mädchen schaute fragend zu seinem Vater auf, der nur ein schlichtes »Oh« hervorbrachte. »Ich meine, nein.« Claudia fuhr sich mit der Hand an die Lippen und blickte besorgt die Treppe hinauf. »Es ist nur...«
55 »Sie schläft wohl noch?«, sagte der Mann. Sein Blick blieb an Claudias Ärmel hängen, an den Wörtern, die sie mit schwungvoller Zierschrift darauf geschrieben hatte. »Ja«, stimmte Claudia leise zu, dankbar für die einfache Lösung. »Ja.« Sie ließ den Arm sinken, war erneut gebannt von der Reglosigkeit des Mädchens. Sie konnte nicht anders, als sich zu ihm hinunterzubeugen, um es genauer zu betrachten, von Angesicht zu Angesicht. Mit einem bemüht freundlichen, jedoch überreizt wirkenden Ausdruck fragte sie: »Wo hast du Jessica denn gesehen?« Das Mädchen deutete zögernd nach oben. »Im Fenster.« Claudia warf einen hastigen Blick nach oben. »In meinem Studio!« Der Mann runzelte die Stirn. Seine offensichtliche Verwirrung wich allmählich einem Ausdruck von Beunruhigung. »Wir kommen dann ein andermal wieder«, sagte er. »Im Fenster meines Studios?« Ein prickelndes Weiß überflutete Claudias Blickfeld. In ihren Ohren knisterten unzählige Nadelstiche. Sie wollte nach dem Arm des Mädchens greifen, feststellen, ob es tatsächlich aus Fleisch und Blut war, und, falls ja, es mit aller Kraft festhalten. Doch als sie die Hand ausstreckte, verlor sie das Gleichgewicht. Sie kippte nach hinten, fing sich mit der anderen Hand auf dem Dielenboden ab. »Jessica«, murmelte sie hilflos, als das grelle Schneeweiß in ein Flimmern überging und das Abbild des Mädchens vor ihr zu verhüllen drohte. Sie sank mit einem Plumps rückwärts auf den Boden, schlang die Arme um die Knie und presste den Kopf dazwischen. Schweiß stand ihr auf Armen und Kopfhaut, während sie in ihr Kleid atmete. »Gehen Sie weg«, murmelte sie, die Worte halb erstickt im Stoff ihres Kleides. Das Blut rauschte in ihren Schläfen. »Bitte... nehmen Sie sie... und gehen Sie.« Für Dr. Thompson war das Krankenhaus ein zweites Zuhause. Wo manche Angst oder Beklommenheit empfanden, fühlte er sich wohl in all der grellen Sterilität. Hier herrschte eine Ordnung - Formulare, Routinen, Vorgehensweisen -, die ihm half,
55 seine Gedanken zu strukturieren, eine Sauberkeit, die nicht er zu erhalten brauchte. In seinem Beruf musste man sich auf die Lichtblicke konzentrieren, anstatt zu viel über die Gebrechlichkeit nachzugrübeln. Wie sollte man das sonst aushalten? Auf den meisten Stationen gab es Hoffnung. Absolute Hoffnung oder vielleicht auch nur vage Hoffnung, aber Hoffnung allemal.
Die Pathologie dagegen war etwas anderes. Selbst Thompson befiel eine düstere Beklemmung, wenn er den Aufzug in den Keller hinunter nahm. Als die Aufzugtüren aufglitten, stieg ihm Formaldehydgeruch in die Nase, der sich verstärkte, je näher er den Türen zur Pathologie kam. Drinnen saß der Assistent, Glen Delaney, im obligatorischen weißen Kittel auf einem Hocker an der metallenen Theke. Er war gerade eingehend mit seinem Finger beschäftigt und zupfte mit einer Pinzette daran herum. Thompson nahm an, dass er sich einen Splitter herauszuziehen versuchte. Der Assistent hob flüchtig den Kopf, als Dr. Thompson eintrat, und konzentrierte sich dann wieder auf den Gegenstand seiner Prozedur. Ungehobelter Mistkerl, schimpfte Thompson im Stillen. Was hatten diese Kerle hier unten bloß alle? Er suchte nach dem Pathologen, doch der war nirgends zu sehen. »Ist Dr. Peters da?« Delaney zuckte die Achseln. Zuckte die Achseln! Wenn Thompson jünger gewesen wäre, Mitte dreißig wie dieser Kerl hier vor ihm, dann hätte er ihm eine bissige Bemerkung zu seinem Benehmen an den Kopf geworfen, aber mit dem Alter hatte er sich die Tugend der Zurückhaltung auferlegt. Was hätte es denn auch gebracht? Delaney würde sich nie ändern. Der war ein eigenwilliger Kauz, und wahrscheinlich konnte ihn nur ein tief greifendes emotionales oder physisches Trauma aus seiner Selbstbezogenheit herausreißen. Thompson schob seine harschen Gedanken beiseite, um sich Mr. Fowler anzusehen, der noch nicht in eines der Kühlfächer geschoben worden war, sondern auf dem Seziertisch lag. Er trat einen Schritt näher und betrachtete die Stiche, mit denen der Pathologe die Leiche zugenäht hatte und die immer so sadis
56 tisch wirkten, irgendwie respektlos. Der erste Gedanke, der sich Thompson unweigerlich aufdrängte, wenn er sich in dieser unerfreulichen Situation befand, war: Der Mann ist tot, da besteht kein Zweifel. Schau ihn dir doch an. Sie schneiden ihn auf, nehmen ihn auseinander, schnippeln an ihm herum, um festzustellen, was zu seinem Ableben geführt hat. Ein zäher, kräftiger Mann; vor zwei Tagen noch stand er in meiner Praxis. Und heute ist er nur noch ein Haufen seziertes Fleisch. Aber wo war der wahre Mr. Fowler? Die Essenz des Seins. Thompson blickte sich nach einem Stuhl um. Seine Knie schmerzten. Er trat von einem Fuß auf den anderen. Er hatte das Bedürfnis, etwas zu Delaney, der immer noch an seinem Finger herumstocherte, zu sagen - einfach nur, um etwas Menschlichkeit in den Raum zu bringen. Er hätte nach den Umständen von Mr. Fowlers Tod fragen können, doch die Einzelheiten hatte er schon von Mrs. Fowler erfahren, als er bei ihr angerufen hatte. Sie hatte ihren Mann in seinem Sessel vorgefunden. Als ob er schliefe, wenn nur die Farbe nicht gewesen wäre. Seine Hautfarbe war völlig unnatürlich gewesen: grau. »Wie gekochter Kohl«, hatte sie mit einem Schluchzer hervorgestoßen. »Wie läuft das Geschäft?«, fragte Thompson Delaney und erwartete die Standardantwort: »Ziemlich tot.« »Das ist kein Geschäft hier«, erwiderte Delaney, noch heftiger an seinem Finger zupfend. »Das ist ein Krankenhaus.« Thompson runzelte die Stirn. Die Verbissenheit, mit der Delaney seinen Finger malträtierte, ging ihm auf die Nerven. Was machte der da überhaupt? Thompson war nahe daran, seine selbst auferlegte Zurückhaltung zu durchbrechen und seinem Gegenüber ein »Idiot« entgegen zuschleudern, als hinter ihm die Tür zum Gang aufging. Ein groß gewachsener Polizist mit dunklem Teint - er musste mindestens zwei Meter groß sein - setzte einen Fuß in den Raum und blieb dann wie angewurzelt stehen, als befürchtete er, gleich wieder nach draußen verwiesen zu werden. »Ist das hier die Leichensektion?«, fragte er schließlich. Himmel!, ging es Thompson durch den Sinn. Was soll es denn
56 sonst sein? Ein Sonntagnachmittagspicknick? Er biss sich auf die Zunge. Im Grunde war es ja verständlich, dass der Polizist sich erkundigte. »Sieht so aus«, erwiderte Thompson trocken. Er
hörte Delaney hinter sich kichern und verspürte sogleich eine wachsende Sympathie für den Polizisten und eine noch größere Feindseligkeit, falls das überhaupt möglich war, gegenüber dem Assistenten. Der Polizist trat ein und beugte sich dabei leicht nach vorn, um nicht mit dem Kopf am Türrahmen anzustoßen, obwohl das nicht nötig gewesen wäre. Er blieb neben Dr. Thompson stehen, den Blick auf die Leiche von Mr. Fowler geheftet, genauer gesagt, auf die sechs breiten Stiche aus Nylonfaden, mit denen sie zugenäht worden war. Er nahm seine Mütze ab, klemmte sie sich unter den Arm und strich sich, offensichtlich aus Respekt vor dem Toten, das kurz geschorene schwarze Haar glatt, bis jede Strähne richtig saß. »Das ist eine Leiche da, oder?«, sagte er. Thompson betrachtete die Leiche und überlegte, was genau der Polizist wohl mit seiner Frage gemeint haben könnte. »Ja.« Etwas anderes fiel Thompson dazu nicht ein. »Mmh.« »Also, wenn jemand hier unten ist, dann ist er mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit tot.« »Wird wohl so sein.« Delaney blickte auf, um den Polizisten in Augenschein zu nehmen. Ein ungläubiger Ausdruck wanderte über sein Gesicht, dann wandte sich der Assistent wieder seinem Finger zu. »Sind Leichenhallen nicht schrecklich?«, merkte der Officer in traurigem Ton an, als wende er sich an Mr. Fowler. Trotz der ernsten Umstände hätte Thompson angesichts des melodramatischen Tons des Polizisten beinahe laut losgelacht. »Der ist tot«, stellte der Officer mit Blick auf den Doktor fest. »Das ist Lloyd Fowler, nicht wahr?« »Ja«, erwiderte Thompson. Der Officer schaute Thompson eindringlich in die Augen und streckte ihm die Hand hin. »Sergeant Chase.«
57 »Dr. Thompson.« »Schön«, erwiderte Chase, schüttelte Thompson die Hand, presste die Lippen zusammen und nickte zum Gruß. »Freut mich. Normaler Tod?« »Mr. Fowler?« »Ja.« »Wie meinen Sie?« »Irgendeine Fremdeinwirkung?« »Wir warten noch auf die Ergebnisse der toxikologischen Untersuchung, aber es sieht nach natürlicher Todesursache aus.« »Okay.« Chase wandte sich Delaney zu und beobachtete, wie der auf seinem Hocker sitzend an seinem Finger herumbohrte. Das Verhalten des Assistenten schien den Polizisten mehr und mehr zu verblüffen. »Was für einen Splitter kann man sich denn hier drin einziehen?«, fragte Chase schließlich. »Bei dem ganzen Stahl hier.« Thompson bemerkte, dass sich Schweißtropfen an Chases Haaransatz bildeten. »Knochen«, erwiderte der Assistent. Der Polizist verzog das Gesicht. »Sie sollten hier mal ein Fenster aufmachen«, schlug er vor, als wäre das die Lösung für das Problem des Assistenten. Er blickte sich suchend um, doch es gab keine Fenster. »Leichenschrubber«, murmelte er vor sich hin, ein wenig grün im Gesicht. Er schob einen Finger unter seinen Hemdkragen. »Ist es heiß hier drin?« »Eigentlich nicht.« Thompson konnte praktisch seinen Atem in der kalten Luft dampfen sehen. »Kann ich draußen sprechen?«, fragte Chase und schluckte angestrengt. »Wo draußen?«, fragte der Doktor zurück, den Advocatus Diaboli spielend. »Nein, ich meine... Okay.« Er lächelte schwach und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ich weiß auch, dass ich draußen sprechen kann. Ich meinte, ob Sie so nett wären, draußen mit mir zu sprechen?« »Sicher doch.«
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Chase winkte dem Assistenten zum Gruß zu. »War nett, mit Ihnen zu reden. Viel Glück mit Ihrem Knochenjob.« Wieder zog er beim Hinausgehen den Kopf ein. »In dem Assistenten da steckt weniger Leben als in dem armen Lloyd Fowler«, bemerkte Chase, verstummte dann und holte tief Luft. »Ich glaube, Sie sollten sich hinsetzen«, sagte Thompson. »Das glaube ich auch.« Chase lehnte sich seitlich an die Wand und griff nach einer Holzleiste, die auf halber Höhe waagrecht die Wand entlanglief. Ein kurzes Stück, das zwei längere verband, löste sich unter seinem Griff. Chase wankte, einen Augenblick kämpften seine langen Beine mit dem Gleichgewicht, dann fing er sich und richtete sich mit einem um Lässigkeit bemühten Ausdruck auf. Sein Blick fiel auf seine Faust und das Stück Holzleiste darin: Zwei Nägel hingen hinten heraus. Seine Mütze war ihm heruntergefallen, und er ging in die Hocke, um sie aufzuheben. Er setzte sie sich fein säuberlich auf den Kopf, blieb aber in der Hocke sitzen. »Während meiner Ausbildung«, hob er an - dabei versuchte er, das Holzstück wieder einzusetzen -, »mussten wir zu einer Autopsie gehen. So wie die die Leute aufschneiden, das ist schlimmer als jedes Rentierschlachten, das ich je gesehen habe. Sie haben uns das Herz in der Hand halten lassen.« Er hämmerte das Holz mit der Seite seiner Faust in die Wand, zuckte vor Schmerz zusammen und untersuchte seine Hand. »Autsch! Ich glaube, ich brauche einen Arzt.« Chase blickte grinsend zu Thompson hoch. Sein Lächeln mit den blendend weißen Zähnen war charismatisch und herzlich; allmählich kehrte Farbe in sein Gesicht zurück. Unter seiner braunen Haut zeigte sich eine feine Röte. »Krankenhäuser sind mir unheimlich. Ein Tatort ist zwar auch nicht gerade ein lauschiges Plätzchen, aber in Krankenhäusern wird bei mir alles weiß im Kopf.« »Stehen Sie nicht zu schnell auf. Sie sind zu groß, als dass ich Sie auffangen könnte.« »Nein, nein, jetzt geht es schon wieder.« Chase nickte nachdenklich und richtete sich langsam aus der Hocke auf. »Sie untersuchen den Tod von Mr. Fowler?«
58 »Ich weiß noch nicht. Wenn es mehrere Tode in einer Ortschaft gibt, dann gibt unser Computersystem einen Hinweis aus. Automatisch, reine Vorsichtsmaßnahme. Wir prüfen dann, ob es irgendeinen Zusammenhang gibt und ob ein Risiko besteht. Neue Richtlinien.« »Computer eben.« »Wo ist denn hier der Notausgang?«, fragte Chase und spähte suchend den Korridor entlang. »Ich habe völlig die Orientierung verloren.« »Der Aufzug ist gleich da drüben.« Wieder im Erdgeschoss angelangt, konsultierte Thompson die Oberschwester in der Notaufnahme. Zwei Patienten waren in den vergangenen zwei Tagen wegen Atemnot eingewiesen worden. Im ersten Fall handelte es sich um eine ältere Frau aus Port de Grave mit einem Herzproblem, die zur Überwachung dabehalten worden war - nichts Ungewöhnliches. Der zweite Patient war behandelt und nach Hause geschickt worden. Ein siebzehnjähriger junger Mann aus Bareneed, Andrew Slade. Thompson kannte die Slades, er war ihr Hausarzt. Andrew war übergewichtig und hatte in letzter Zeit ein gewisses Rowdytum an den Tag gelegt. Er wohnte bei seinem Bruder und dessen Frau, seit seine Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. Alkohol am Steuer. Mrs. Slade, Andrews Schwägerin, war die reinste Hypochonderin, ohnegleichen unter Thompsons Patienten. Erst vor ein paar Tagen war sie bei ihm gewesen. Weswegen gleich wieder? Es fiel ihm nicht mehr ein. Es hätte praktisch alles sein können. Der Arzt in der Notaufnahme hatte bei Andrew eine Allergie diagnostiziert und ihn mit einem Rezept nach Hause geschickt. Der Doktor blickte grübelnd auf seine Füße hinunter. Irgendetwas rumorte in seinem Unterbewusstsein, doch er kam nicht darauf, was es war. Er dachte an Donna Drover. Muss Drover. Lloyd Fowler. Atemnot. Andrew Slade. Wenn Andrew Slade etwas zustieß, dann konnte es kein Zufall mehr sein. Sergeant Chase hing immer noch im Wartebereich herum, als der Doktor aus der Notaufnahme kam.
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»Haben Sie noch was für mich?«, erkundigte sich Chase. »Ist einfach gerade Hochsaison für Allergien«, wiegelte der Doktor ab. Er wollte kein Panikmacher sein. Chase kramte in seiner Brusttasche herum und zog einen Fetzen Papier mit ein paar drauf gekritzelten Wörtern heraus. »Was ist mit Muss Drover?« »Natürliche Todesursache. Seine Mutter liegt oben.« »Weswegen?« »Atembeschwerden. Sie ist stabil. Kein Anzeichen für ein Virus. Das war unsere erste Sorge.« Thompson spähte zu einem fünf- oder sechsjährigen Jungen hinüber, der im Wartebereich zu weinen angefangen hatte. Die Mutter des Jungen saß neben ihm und schaute ihren Sohn so böse an, als wolle sie ihm jeden Moment eine Ohrfeige verpassen. »Keine Viruserkrankung der Atemwege«, murmelte Thompson abwesend. Die Mutter riss den Jungen am Arm, schlug ihm mit einem vernehmlichen Klatsch ins Gesicht und schimpfte auf ihn ein. Das Kind schrie lauter. Chase hatte das Spektakel ebenfalls beobachtet und trat sofort hinzu. Thompson hatte selbst schon losgehen wollen, hielt sich nun jedoch zurück, um Chase seine Pflicht tun zu lassen. Er hörte, wie der Officer die Frau aufforderte, sich auszuweisen. Ein junges Mädchen mit blonden Haaren und einer Bandage um das linke Handgelenk saß auf der anderen Seite und neben ihr ein Mann, vielleicht ihr Vater. Er starrte Thompson drohend an. Erneut blickte Thompson in Gedanken versunken auf den Fußboden hinunter. Ihm fiel wieder ein, was Mrs. Fowler über ihren Mann gesagt hatte, dass er ungewöhnlich aufgebracht gewesen sei. Heute am Telefon war sie noch deutlicher geworden. Er sei so gewalttätig geworden, hatte sie erklärt, dass sie nahe daran gewesen war, ihre Sachen zu packen und ihn zu verlassen. »Ehrlich gesagt, Herr Doktor«, hatte sie unter Tränen hervorgebracht, »ich hatte Angst um mein Leben.« Als Chase zurückkam, blickte Thompson auf. Der Officer klappte seinen kleinen Notizblock zu und klopfte befriedigt mit
59 den Fingerspitzen darauf. Nach einem kurzen Blick zurück auf die Frau sagte er vertraulich zum Doktor: »Ich habe ihre persönlichen Daten aufgenommen, fürs Jugendamt, die sollen ihr mal einen Besuch abstatten. Außerdem werde ich einen Bericht schreiben. Mit Name und Adresse. Das ist Misshandlung. Ich kann doch als Zeuge auf Sie zählen, oder?« Er steckte den Notizblock wieder in die Brusttasche seines khakifarbenen Hemds und warf noch einmal einen Blick zu der Frau hinüber. Sie schaute hartnäckig in eine andere Richtung. »Und ob.« Thompson beobachtete, wie die Frau ihren Sohn bei der Hand fasste und sie sanft drückte. Sie ließ den Kopf sinken, schloss die Augen ganz fest und zitterte. Das Mädchen mit dem bandagierten Handgelenk hatte einen irgendwie flehentlichen Ausdruck in den Augen, als bitte sie um Hilfe. Der Mann neben ihr stierte weiterhin unverwandt Thompson an. »Nun, geht Ihnen sonst noch was durch den Kopf?«, fragte Chase. »Nein, nichts.« »Auf ein andermal dann.« »Schätze, wir sehen uns noch.« Chase reichte ihm die Hand. Thompson schüttelte sie und sah dann dem Officer nach, wie er durch die automatische Glastür hinausging. Nachdem er noch einmal den Blick über die Vielfalt der Gesichter im Wartebereich hatte schweifen lassen, verließ Thompson das Hospital. Er stieg in seinen Range Rover und fuhr los, stadtauswärts. Hinter Port de Grave würde er die Shearstown Line nehmen und dann die Abzweigung nach Bareneed. Andrew Slade. Thompson wusste, wo die Slades wohnten, in einem Bungalow an der Slade's Lane, nicht weit vom Hafen. Er beschloss, vorbeizufahren und sich mal umzusehen. Wenn Andrew zu Hause war, würde er anhalten und ihm ein paar Fragen stellen, schauen, ob mit seiner Atmung alles in Ordnung war. Thompson nahm seinen eigenen Atem wahr - das Einatmen, das Ausatmen. Seine Aufmerksamkeit biss sich so daran fest, dass er schon glaubte, Gespenster zu sehen. Um sich abzulen
60 ken, schaltete er das Radio an und lauschte der Musik. Gordon Lightfoot sang: »If you could reach my mind, love. What a tale my thoughts could teil.« Thompson sang laut mit, versuchte sich davon zu überzeugen, dass das alles nichts zu bedeuten hatte. Doch er konnte den Verdacht nicht abschütteln, dass ihm bei seiner Analyse der Situation etwas Grundlegendes entgangen war; dass Bareneed im Begriff war, von einem machtvollen Virus befallen zu werden, das die Menschheit noch nicht kannte. Das war jetzt endgültig genug für Joseph. Wir fahren, sagte er sich. Wir packen unsere Sachen und fahren. Jetzt. Diese Idee mit dem Sommerhaus war ein Riesenfehler gewesen. Ein einziger Albtraum. Gestern Nacht diese unheimliche Vision von dem Mann im Schuppen und dazu noch die Mädchenstimme, die »Daddy« rief, und jetzt Claudias Erklärung, dass ihre Tochter und ihr Mann vor eineinhalb Jahren spurlos verschwunden waren. »Wir fahren«, erklärte er Robin, während er den Kofferraumdeckel aufspringen ließ. »Hol deine Sachen. Keine Widerrede. Keine Diskussionen.« Das war kein gesunder Aufenthaltsort für ein kleines Mädchen. Hier auf dem Land. Das regte die Phantasie zu sehr an, mehr als ihr gut tat. »Können wir nicht noch einen Spaziergang machen?« »Hast du mich nicht verstanden?« »Doch.« »Hast du gehört, was Claudia gesagt hat? Ihre Tochter, die, die du im Fenster gesehen hast, ist verschwunden.« »Nein, ist sie nicht.« »Verschwunden.« Er deutete aufs Haus. »Los jetzt.« »Bitte, Daddy.« Sie hatte die Hände gefaltet und bettelte. »Einen einzigen Spaziergang.« »Nein.« Joseph bemerkte, dass sie sich mit rotem und braunem Filzstift Zeichen auf die Handrücken gemalt hatte. Linien, Bögen und Kreise. Tränen. Die Schmollmiene.
60 »Robin, schau...« Er ging in die Hocke und legte die Hände auf ihre Schultern, mehr um sich selbst zu stählen, als um seine Tochter zu besänftigen. »Das ist alles zu seltsam hier. Ich will hier nicht bleiben. Willst du denn nicht weg?« Robin schüttelte den Kopf. Zwei Tränen lösten sich und kullerten über ihre Wangen. Joseph warf einen verstohlenen Blick aufs Meer hinunter. Ein sonniges, malerisches Städtchen. Lag es nur an ihm? War das alles nur ein Ausdruck seiner Unausgeglichenheit? Es war Vormittag. Helles Tageslicht. Sicherheit. Keine Geister bei Tag. Wenn sie nicht gleich in dieser Minute aufbrachen, was würde das schon ausmachen? Sie konnten nach dem Mittagessen fahren. Dann blieb immer noch genug Zeit bis zum Einbruch der Dunkelheit. Er kam sich sowieso schon schäbig vor, Robin um ihre Ferien zu bringen, auf die sie sich monatelang gefreut hatte. »Ich bin nicht übergeschnappt, oder?«, fragte er Robin sanft. »Bin ich übergeschnappt?« Sie schenkte ihm ein kleines Lächeln, und Joseph wischte ihr mit den Daumen die Tränen weg. »Okay. Machen wir einen Spaziergang.« Robin grinste und umarmte ihn stürmisch. »Danke, Daddy.« »Aber danach fahren wir.« »Können wir zum Wasser runtergehen?« »Sicher. Also los.« Joseph schlug den Kofferraumdeckel zu und nahm seine Tochter bei der Hand. Sie machten sich auf den Weg, die Obere Straße hinunter zum Dorfkai. Joseph stellte sich vor, wie es wohl wäre, abends Kim gegenüberzustehen. Wie sollte er es ihr erklären? Sie würde doch denken, bei ihm sei eine Schraube locker, wenn er ihr mit Geistergeschichten kam. Sie war Biologin, Wissenschaftlerin. Stand mit beiden Beinen fest auf der Erde. Könnte sich all das negativ auf sein Recht auswirken, Robin zu sehen? Was, wenn er tatsächlich kurz davor war überzuschnappen? Würde Kim ihm gerichtlich verbieten lassen, Robin zu sehen? Eine kühle Brise kam auf. Er blickte nach Osten und sah weit draußen am wässrigen Horizont eine dunkelgraue Wolkenbank
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lauern. Da kam Regen. Wenn sie binnen der nächsten zwei, drei Stunden packten und abfuhren, könnten sie ihm entgehen. Er fuhr nicht gern im Regen, aber wenn es sein musste, dann würde er auch das tun. Notfalls mit zwei Stundenkilometern durch Blitz und Donner, Graupel- und Hagelschauer und herabregnende Kröten, wenn ihn das von hier wegbrachte. Er holte tief Luft. Er brauchte Sauerstoff, um die plötzlich aufkommende Panik in seinem Körper niederzukämpfen. Seine Tabletten waren oben im Haus. Es war noch in Sichtweite. Er sah, dass Robin zurückschaute, den Blick gebannt auf Claudias Haus richtete, auf das obere Fenster. »Da ist sie, Daddy«, sagte Robin und zeigte mit dem Finger. »Wer?«, fragte Joseph. Er schaute bereits zum Fenster hinauf, sah aber nur das gleichförmige Blau des Himmels, das sich darin spiegelte. Kein Mädchen. »Siehst du sie?« Robin winkte, riss sich aus Josephs Griff los und rannte zurück, die Straße hinauf. »Robin«, schrie Joseph und eilte ihr hinterher. »Komm zurück. « »Jetzt ist sie weg«, rief Robin schmollend und blieb stehen. »Du hast sie erschreckt.« »Ich sie erschreckt!« Er packte seine Tochter an der Hand. »Komm jetzt. Wir gehen zum Hafen runter, und dann fahren wir nach Hause, bevor es dunkel wird. Punkt. Wir können woandershin fahren. Campen gehen oder sonst eine Reise machen. Wie war's mit Toronto? Hawaii? Madagaskar?« »Ich würde lieber hier bleiben. Das macht mehr Spaß.« »Spaß?« Joseph warf einen entgeisterten Blick auf Robins Gesicht. »Spaß?« »Wir haben nicht mal Onkel Doug besucht.« »Das können wir auch ein andermal. Es ist ja nicht weit von St. John's. Wir kommen wieder. He, woher weißt du überhaupt von Onkel Doug?« »Mom hat mir von ihm erzählt. Was ist mit Jessica?« Joseph holte tief Luft. »Die kommt auch ohne uns klar.« Am
61 liebsten hätte er hinzugefügt: Sie ist tot, ein Geist, Herrgott noch mal. Natürlich kommt sie klar. Wir, die Lebenden, sind es, die dringend Schutz brauchen. »Von Jessica habe ich letzte Nacht geträumt. Sie war das, die ich im Schuppen gesehen habe.« Joseph blieb abrupt stehen. »Im Schuppen? In unserem Schuppen?« Robins Miene gab nichts preis. »Wann?« »Das war nur ich in einem alten Spiegel«, erwiderte Robin, rümpfte dazu die Nase und schüttelte den Kopf, um es ganz beiläufig klingen zu lassen. »Das war nicht sie. Nein. Nichts. Vergiss es.« »Wann war das?« »Ich weiß nicht. Gestern.« »Lassen wir das Reden. Komm, wir gehen einfach. Reden ist schlecht. Das Gehen wird uns gut tun. Na komm, schneller.« Sie gingen rasch die Straße hinunter. Ihre Schritte schlurften auf dem Kies und Asphalt. Aus der Ferne drang ein dröhnendes Hämmern zu ihnen. Zwei Krähen schrien zu ihrer Linken im Wald. Ein Vogel flog über sie hinweg und warf einen flüchtigen Schatten, bevor zehn Meter vor ihnen ein Fisch auf die Straße klatschte. Joseph blickte zum Himmel hinauf und sah eine Krähe wegfliegen. Er sollte silbern sein, dachte Joseph, den Blick auf den Fisch gerichtet, als sie näher herankamen, doch er war vollkommen schwarz, und das Schwarz bewegte sich. Der Fisch war von einer wimmelnden Schicht fressender, spuckender, Eier legender Fliegen bedeckt. Joseph starrte ihn mit aufgerissenen Augen an. Er blinzelte, schloss mit aller Macht die Lider und schlug sie wieder auf. Jetzt schien der Fisch grau zu sein. Überhaupt nicht mehr schwarz. Graue Fliegen, die wimmelnd übereinander krochen. Graue Fliegen, wie er sie noch nie gesehen hatte. Robin betrachtete den Fisch und richtete dann den Blick zu ihrem Vater empor. Er wollte sie schon fragen, ob sie das Grau
61 auch sah, als sie ihm selbst mit einer Frage zuvorkam: »Wie ist es, zu sterben, Daddy?« Oh, Scheiße, dachte Joseph.
Andrew Slade drückte das Stück hausgemachtes Brot in seiner verschwitzten Hand zu einem Klumpen zusammen. Es fühlte sich eklig und gut an. Es hatte etwas, was er nicht genau fassen konnte. Ein verschwommenes Bild vom Gesicht seiner Großmutter ging ihm durch den Sinn. Eine alte Frau, seit langem dahin, kaum zu erkennen, dazu der Duft von selbst gebackenem Brot, der aus seinen fleischigen Händen aufstieg. Er blickte zum Himmel auf. Die Sonne ließ die weißen Rundungen seines Gesichts noch bleicher scheinen, sein ungepflegtes, fettiges schwarzes Haar glänzen. Seine grünen Augen glitzerten wie das schillernde Wasser. Drei weiße Punkte spiegelten sich darin, drei Möwen, die hoch über dem Hafenbecken schwebten und klagend kreischten. Andrew öffnete die Faust und betrachtete den Brotklumpen, die Linien seiner Hand, die sich darin abzeichneten wie Wurzeln. Er grinste hämisch und rollte den Klumpen zwischen seinen Handflächen, bis er kugelrund war und so groß wie ein Gummiball. Seine Angel war bereits mit einem großen Haken versehen. Er beugte sich hinunter, spürte den Druck auf seinem Gesicht, die Augen, die fast herausquollen. Seine Jeans war schon wieder zu eng. Er wuchs allmählich aus allem heraus, was er hatte. Er holte rasselnd Atem, hob den Haken zwischen seinem fleischigen Daumen und Zeigefinger hoch und steckte die Brotkugel auf die gebogene Spitze. Als sie fest saß, stand er auf, hob die Angelrute in die Höhe und warf die Leine weit ins Wasser des Hafenbeckens hinaus. Hoffentlich schluckte eins der blöden Geschöpfe dort unter der Oberfläche den Köder. Er schaute verdrossen zum Himmel empor. »Los, macht schon«, murmelte er. »Wollt ihr's vielleicht noch getoastet?« Eine der Möwen löste sich von den anderen und stieß zum Wasser hinab, segelte knapp über der Oberfläche dahin und
62 stieg dann wieder empor, als die Rolle an Andrews Angel surrte und die Schnur sich straffte. Andrews Miene verfinsterte sich. Er packte den Griff der Rolle und hielt ihn fest. Die Angelschnur blockierte, und die Spitze der Rute schaukelte. Die Möwe wirbelte mitten im Flug herum wie ein Auto, das auf Glatteis schleuderte. Sie schlug panisch mit den Flügeln, um sich wieder zu stabilisieren, und schwebte dann einfach, gefangen, kreischend. Der Himmel war blau. Die Möwe schwamm darin, zog an der Leine, schlug mit den Flügeln, kämpfte darum, in der Luft zu bleiben. »Ja«, stieß Andrew zwischen den Zähnen hervor. »Jetzt hab ich dich.« Geduldig rollte er die Schnur auf, und die Möwe, die gegen den Zug ankämpfte, sank immer weiter zu ihm herab. Bald würde sie in seinem Bauch landen. Jemand hatte ihm gesagt, sie schmeckten wie Hühnchen, nur fettiger und mit nicht so viel Fleisch dran. Möwe und Pommes, mit extra viel Soße. Oder vielleicht würde er gar nicht so lange warten und sie gleich roh essen, ihr die Federn ausreißen, während sie noch warm war. Er fuhr sich mit dem nackten Arm über die Lippen und blickte nach rechts, wo sich etwas bewegt hatte. Drüben am Dorfkai standen ein Mann und ein Mädchen, die er nicht kannte. Sie waren bei den Booten unten, schnüffelten herum. Blöde Touristenärsche, wie es aussah. Städter. Fremde. Andrew starrte in den Himmel hinauf. Seine Möwe hing wie ein Drachen an der straffen Schnur und driftete seitlich. Er spähte wieder zu dem Mann und dem Mädchen zurück. Aus seiner Hosentasche zog er ein Messer, klappte es auf und schnitt die Möwe los. Er warf seine Angelrute auf den Boden, sah zu, wie seine grauen Turnschuhe ihn wegführten. Steine am Straßenrand. Er könnte die Steine benutzen, um die Städter zu verjagen. Die machten bloß alles kaputt, kamen einfach hierher und veränderten alles. Er hatte gute Lust, sie mit Steinen zu bewerfen und sie anzuschreien: Blöde Touristenärsche. Er bückte sich und hob einen schönen, großen Stein auf. Der Stein lag warm in seiner Hand. Ein gutes Gewicht, um Schaden anzurichten. Er umklammerte ihn fester, als auf einmal eine
62 Furcht sich in seine Brust krallte. Ihm fiel auf, dass er nicht atmete. Als ob sämtliche Luft aus seinen Lungen gesogen wäre. Er erschrak und schwitzte noch mehr als sowieso schon. Er holte rau Atem und hörte die Stimme seines älteren Bruders in seinem Kopf: »Alles geht hier kaputt wegen den ganzen Fremden. Kommen nach Bareneed und fischen mit ihren Fabrikschiffen unsere ganzen
Fische vor der Küste ab. Klaun uns unsre Jobs. Machen alles kaputt, machen unser ganzes Leben kaputt. Umbringen würd ich den ganzen Haufen am liebsten.« Noch ein rasselnder Atemzug. Andrew kniff die Augen gegen den beißenden Schweiß zusammen. Er hatte keine Bilder mehr im Kopf, als er sich nun mit seinem schweißnassen Arm das Gesicht abwischte, nur Pechschwärze, die ihn mehr ängstigte als dunkle Nacht. Er schlug die Augen wieder auf, beschleunigte seinen Schritt, immer die Straße entlang, die rund um den Hafen führte, als wolle er der seichten Schwärze entrinnen, die er nicht nur in seinem Kopf sah, sondern auch spürte. Die harten, festen Kanten des Steins immer noch in seiner Hand. Das Brot ist hart geworden, dachte er. Er starrte zu Boden, erinnerte sich an nichts mehr. Das Brot hatte sich in Stein verwandelt. Er holte tief Luft, dann sah er den Mann und das Mädchen. Verdammte Touristenärsche. Verdammte Touristenärsche... Andrew Slade rannte noch schneller. Wegen seines Gewichts wabbelte sein ganzer Körper. Er rannte direkt auf den Mann und das Mädchen zu. Als er nahe genug war, warf er den Stein, holte dabei mit dem Arm aus, als würde er eine Granate werfen. Er hatte sie eigentlich nur erschrecken, das Holz des Stegs anvisieren wollen. Als der Stein das Mädchen am Hinterkopf traf, rannte er sofort weg, die Slade's Lane hinauf, rannte, so schnell er konnte, bis ihm auf einmal der Atem stockte. Er hatte keine Ahnung, wie er das Atmen wieder in Gang setzen sollte. Was musste er tun, um zu atmen? Wie ging das noch mal? Ihm war, als stecke er in einem Plastikmodell seines Körpers, das erst noch Teil für Teil zusammengeklebt werden musste. Er rannte noch schneller. Seine Turnschuhe rutschten in der Kurve weg. Er fiel hin, schlug vernehmlich mit der Schulter auf, schrammte mit
63 dem Gesicht über den Asphalt, schürfte sich die Haut ab. Sand, Kies und winzige graue Steinchen bohrten sich hinein. »Au!«, schrie Robin auf. Ihre Hand schoss zum Hinterkopf. »Was?« Joseph fuhr herum, um seine Tochter zu schützen, und sah ihr schmerzverzerrtes Gesicht. Er machte eine rasche Bewegung, um ihr zu Hilfe zu eilen, stolperte über ein wirr hingeworfenes Tau und verlor das Gleichgewicht. Er wollte noch nach seiner Tochter greifen, die jetzt auf ein Knie gesunken war, sich vornübergebeugt mit beiden Händen den Hinterkopf hielt, doch es war zwecklos. Er stürzte bereits. Seine Arme beschrieben verzweifelte Kreise in der Luft, seine Schuhspitzen hoben sich vom Boden des Stegs, seine Gesichtszüge verzerrten sich in Erwartung des Falls. Er erhaschte einen Blick auf einen Jungen, ein gutes Stück weg von ihm, der auf der Straße lag. Ein blauer Range Rover war gerade in die Slade's Lane eingebogen und kam im letzten Moment mit quietschenden Bremsen zum Stehen, der vordere Reifen nur einen halben Meter vom Kopf des Jungen entfernt. Im Kippen schlug Joseph mit einem Bein aus, traf eine Planke an der Oberseite des Stegs; ein stechender Schmerz fuhr ihm in den Knöchel. Seine Gliedmaßen kämpften panisch darum, ihn in der Senkrechten zu halten, doch er fiel seitlich und stürzte mit einem klatschenden Aufprall ins kalte Wasser. Joseph stockte der Atem hinter den Rippen. Die durchdringende Kälte des Wassers ließ seine Hoden zusammenschrumpfen, als sauge ein Vakuum sie ins Körperinnere zurück. Er sank, die Wangen aufgeblasen, die Arme im Protest gegen den Sturz ausgestreckt. Als er nicht mehr weiter zu sinken schien, öffnete er die Augen. Er schwebte im Wasser, ohne den leisesten Auftrieb. Direkt vor ihm blubberten Luftblasen, wie eine Vielzahl durchsichtiger Eier, und dahinter, nicht weiter als einen Meter von ihm entfernt, trieb ein Mann und schaute ihn in dem glasig grünen Wasser unverwandt an, ein Mann mit weißer, welliger Haut in einem langen, schweren Mantel und einem dicken, gestrickten Pullover. Joseph stieß die Arme durch das lähmende
63 Wasser nach unten, um sich irgendwie Auftrieb zu verschaffen. Der Mann machte keine Anstalten, Joseph an seiner Flucht zu hindern. Joseph drehte sich schwerfällig um die eigene Achse und sah sich einer weiteren menschlichen Gestalt gegenüber, die in einiger Entfernung verschwommen im schmutzig trüben Wasser hing. Eine Frau in einem weißen Baumwollnachthemd mit breiten
Spitzenborten an den Ärmeln und am Kragen. Auch sie starrte ihn aus aufgerissenen Augen an, reglos, mit Ausnahme von ein paar Haarsträhnen, die sich sanft im Wasser bewegten. Joseph kämpfte sich in hektischen Spiralen nach oben, schlug wild mit den Beinen, aus Angst, jeden Augenblick den Griff knochiger Finger um sein Fußgelenk zu spüren. Doch keiner der menschlichen Körper unter ihm, die aufrecht über dem Schlick des Bodens trieben, machte Anstalten, ihm zu folgen. Keine Luftblase entwich aus ihren Lippen, als sie ihm nachstarrten; nur ihre forschenden Augen verfolgten geduldig die Spur seines Aufstiegs an die Oberfläche.
Samstagabend
Auf dem Weg nach oben hob Kim eine von Robins blonden Puppen von der Treppe auf, und dann, ein paar Stufen weiter, ein weißes T-Shirt und ein Märchenbuch. Sie musste daran denken, wie heute Morgen, als sie den Fernseher einschaltete, auf allen Sendern Zeichentrickfilme liefen, weil Samstag war. Das hatte Kim an ihre eigene Kindheit und auf diesem Wege an Robin erinnert. Nicht dass Robin Zeichentrickfilme mochte oder überhaupt Fernsehen. Nur Tiersendungen schienen sie zu interessieren. Aber Kim war derart daran gewöhnt, Robin um sich zu haben, dass die Abwesenheit ihrer Tochter eine greifbare Leere hinterließ. Sicher, sie schätzte es, auch einmal Zeit für sich zu haben, doch wie lange würde es wohl dauern, bis sie sich einsam fühlte? Konnte sie wirklich einen ganzen Monat ohne Robin aushalten? Die Vorstellung schmerzte sie. Ihr Magen und ihr Herz krampften sich vor Sehnsucht zusammen. »Sie ist gerade mal drei Tage weg«, tadelte sich Kim selbst. Oben an der Treppe angekommen, wandte sich Kim nach links und ging in Robins Zimmer. Die Fensterwand war mit Robins Zeichnungen voll gehängt, hauptsächlich Ungeheuer und Kreaturen, die Robins Phantasie entsprungen waren. Kim warf das Buch und die Puppe auf das Bett ihrer Tochter. Ihr fiel auf, dass der pfirsichfarbene Bettüberwurf nicht im Mindesten verknittert war. Robin machte jeden Morgen unaufgefordert ihr Bett. Sie war so verantwortungsbewusst. Vielleicht sogar ein bisschen zu sehr. Sie machte sich immerzu Sorgen und wachte oft wimmernd aus Träumen auf, in denen sie sich verirrt hatte oder ertrank oder eine Freundin von einem Auto angefahren wurde.
64 Sie ist genau wie ich in ihrem Alter, ging es Kim durch den Sinn, während sie zu ihrem Schlafzimmer ging, um sich auszuziehen. Ihr fielen die Nächte in ihrem eigenen Kinderbett ein, als sie sich Sorgen gemacht hatte, ihre Eltern könnten sterben, oder an ihren eigenen Tod dachte. Was würde dann mit ihr passieren? Wer würde sich um sie kümmern, wenn ihre Eltern nicht mehr auf der Erde weilten? Lieber nicht über diese alten Ängste nachdenken, sagte sie sich. Am besten, man konzentrierte sich auf das, was die Gegenwart von einem verlangte. Sie sann über den wissenschaftlichen Aufsatz nach, an dem sie gerade für Bio-Journal arbeitete, eine Untersuchung der Auswirkungen des Sonars auf die Meeresfauna. Sie musste den Artikel in zwei Wochen abgeben. Das Datum war mit schwarzem Filzstift im Pfadfinderinnen-Kalender unten in ihrem Arbeitszimmer eingekreist. Sie hatte die Rohfassung noch nicht einmal annähernd fertig, geschweige denn die nötigen sieben oder acht Überarbeitungen. Sie schlüpfte aus ihrer Bluse und hakte ihren BH auf, erhaschte einen Blick auf ihr Abbild in dem großen Spiegel neben der Tür und schaute sofort wieder weg. Sie war unzufrieden mit sich selbst und ihrer gegenwärtigen Situation. Die Trennung von Joseph passte ihr nicht mehr ins Konzept. Eine Zeit lang war es ihr als der einzig richtige Schritt erschienen. Ihre Beziehung war nur noch eine Qual gewesen. Sie brauchten unbedingt Abstand voneinander. Jedes Gespräch mündete in einem Streit. Während der Trennungsphase hatte Kim abends, wenn Robin im Bett war, viel nachgedacht. Eine Erkenntnis war, dass sie vielleicht im Grunde gar nicht gegen Joseph kämpfte, sondern gegen die Einengung, die ihre veränderte Lebenssituation mit sich brachte, dagegen, dass sie selbst nicht mehr das freie, ungebundene Kind von früher war. Sie zog ihre Jeans aus und dann den Slip und kickte ihn mit dem Fuß weg. Vor ein paar Monaten hatte sie angefangen, nackt zu schlafen. Joseph hatte sich das immer von ihr gewünscht, doch sie
hatte ihm dieses Vergnügen aus irgendeinem Grund immer versagt. Warum? Es ergab jetzt keinen Sinn mehr für sie,
65 diese trotzige Verweigerungshaltung. Sie hätte nie erwartet, Joseph einmal so sehr zu vermissen. Ihre Freunde versicherten ihr, dass der Schmerz irgendwann nachlassen würde, doch das hatte er bisher nicht. Nicht einmal ansatzweise. Vielmehr war er noch stärker geworden. Sie fröstelte zwischen den kalten Laken, als sie ins Bett kroch, und zog die Decke hoch, während sie darüber nachsann, ob sie nicht eine Ausrede finden konnte, um Robin und Joseph in Bareneed zu besuchen. Sie sah die beiden vor sich, wie sie vom Bootssteg aus angelten, auf Feldwegen spazieren gingen, alte Leute aus dem Dorf grüßten und Zeit mit Josephs Onkel Doug verbrachten. Die Vorstellung von Joseph und Robin zusammen ließ sie schmunzeln. Sie griff nach ihrem Roman auf dem Nachttisch, schlug das Buch beim Lesezeichen auf und las da weiter, wo sie am Vorabend aufgehört hatte: Die viktorianische Dame mit einst lebhafter künstlerischer Neigung saß in kümmerlicher Stille in ihrer Kammer. Ihre Augen hatten allen Glanz verloren, waren nur noch zwei schwarze Tümpel, die auf die statische Szenerie vor ihr starrten und sie so selbst zu einem Abbild verfehlter Natur werden ließen. All ihre Kräfte zusammennehmend, erhob sie sich und hielt den Kerzenleuchter in die Höhe, um ihren Wachtposten am Fenster einzunehmen. Seit gut zwei Wochen wartete sie schon auf die Rückkehr ihres Mannes und ihrer Tochter, doch keine Kunde war von ihnen gekommen. Nicht ein einziger Hinweis, der ihre Stimmung hätte heben können. Ihr Mann und ihre Tochter waren verschwunden. Kim klappte das Buch mit einem Seufzer zu. Die Lektüre hätte sie eigentlich aufbauen sollen, doch stattdessen schlug ihr die Situation in dem Buch nur noch zusätzlich aufs Gemüt. Vater und Tochter zusammen. Das war doch gut so, oder? Das Haus war still. Friedlich. Sie konnte lesen, wann immer sie wollte. Essen, wann und was sie wollte. Es war in Ordnung so. Getrenntsein war notwendig, damit die Sinne zur Ruhe kommen konnten. Mit der Zeit würde die Streitsucht durch die Sehnsucht verdrängt. Jedes Mal, wenn Kim sich Joseph vorstellte, sich an die guten
65 Zeiten erinnerte, die sie zusammen erlebt hatten, den Urlaub in Spanien, das wilde Gelächter zusammen, die kleinen Dinge, die er für sie tat, dann vermisste sie ihn noch heftiger, sehnte sich nach ihm an ihrer Seite. Kleine Gesten, wie eine langsame, liebevolle Massage oder eine Tasse Kaffee, die er für sie kochte, wurden zu Monumenten von Josephs Großzügigkeit. Er machte den besten Kaffee, den sie je gekostet hatte. Natürlich wusste sie, dass es Hindernisse aus dem Weg zu räumen gab. Als Kim und Joseph noch zusammengewohnt hatten, hatte jeder sein eigenes Arbeitszimmer mit Computer im Haus gehabt. Sie arbeiteten in jeder freien Minute. Oft überließen sie Robin ihren Zeichnungen oder einem Tierfilm-Video. Nicht dass sie vernachlässigt wurde - sie unternahmen jede Menge spannender Sachen zusammen -, nur schien der Computer ihnen mehr und mehr Spaß zu rauben. Manchmal war Kim richtig erleichtert, wenn sie nichts mit Robin unternehmen musste, sondern ihren Computer anschalten und ein wenig im Internet shoppen oder einen ihrer Artikel überarbeiten konnte. Und jetzt, da Robin nicht da war, fiel ihr auf, wie viel Zeit sie tatsächlich arbeitend vor dem Computer verbrachte. Es machte ihr Robins Abwesenheit noch schmerzlicher bewusst. Was die Trennung von Joseph anging - das war wohl hauptsächlich ihre Schuld gewesen. Sie hatte ihm zu sehr zugesetzt. Sie hatte versucht, ihn zu kontrollieren, ihn von seinen Freunden fern zu halten. Ihre Eifersucht hatte sie dazu getrieben, ihm Stück für Stück ihre Liebe vorzuenthalten, bis diese Liebe praktisch nicht mehr zu existieren schien. Doch sie wusste, dass die Liebe noch da war, erstickt unter Jahren der Eintönigkeit. Das viele Arbeiten war nur ein Teil des Problems. Kim war da ganz realistisch. Sie machte sich nichts vor. Sie hatten verschiedene Vorstellungen davon, wie sie ihre Tochter erziehen wollten. Kim fand, dass Joseph viel zu nachgiebig mit ihr war, ihr alles durchgehen ließ. Robin konnte ihren Vater um den kleinen Finger wickeln. Sie war zwar nicht unbedingt verzogen, aber doch eben
Papas Töchterchen. Joseph behandelte sie wie ein Baby. Kim wollte, dass er es praktischer anging. Aber was sollte er
66 denn tun, sagte sich Kim, vielleicht Robin ins Pfadfinderlager schicken? Als sie sich auf Josephs Seite des Betts drehte, verlor sich ihr amüsierter Gesichtsausdruck. Sie starrte ihr Buch an und musste daran denken, wie Joseph ihr immer im Bett vorgelesen hatte. Wie sie zum tiefen, rhythmischen Klang seiner Stimme allmählich eingeschlummert war. Da sie sich nicht mehr auf ihre Lektüre konzentrieren konnte, wanderte ihr Blick zu dem dunklen, offenen Fenster hinüber. Regentropfen fielen auf die schwarze Scheibe. Ein kühler Windstoß drang herein und erfüllte sie mit Erleichterung. Kim spähte zum Nachttisch hinüber. Das Telefon. Sie holte tief Luft und wollte schon danach greifen, um Joseph anzurufen und zu fragen, wie es Robin ging, als es klingelte. Sie zuckte zusammen. Verblüfft starrte sie das Telefon an und versuchte zu entscheiden, ob sie abnehmen sollte. Sie ließ es noch einmal klingeln und erwog schon, überhaupt nicht ranzugehen. Wenn es Joseph war, würde er annehmen, dass sie ausgegangen war und sich prächtig amüsierte. Andererseits konnte aber auch etwas passiert sein in Bareneed. Ein Unfall. Nach dem vierten Läuten würde sich ihr Anrufbeantworter einschalten. Beim dritten Läuten griff sie hastig nach dem Hörer und versuchte, möglichst aufgekratzt zu klingen. »Hallo?« »Hi, ich bin's.« Es war Joseph. Seine Stimme klang brüchig, angespannt, wie inzwischen meistens, wenn er anrief. »Hi.« Sie wartete auf seine Entgegnung. Schweigen. »Wie ist es so in Bareneed?« »Prima. Hör zu, Robin hatte einen kleinen Unfall.« Kim setzte sich kerzengerade im Bett auf. »Was?« Sie spürte eine Gänsehaut am ganzen Körper, panische Furcht kroch ihren Nacken hoch. Ihre Hände auf dem Plastik des Hörers waren plötzlich feucht. »Jemand hat einen Stein geworfen und sie am Kopf getroffen. « »Am Kopf! Warst du im Krankenhaus mit ihr?«
66 »Ja, es ist alles in Ordnung. Sie haben gesagt, es geht ihr gut, aber jetzt hat sie Fieber bekommen. Wir waren schon auf der Shearstown Line auf dem Rückweg nach St. John's...« »Wie hoch?« »Hoch?« »Das Fieber.« »Vierzig.« »Himmel, Joseph, das ist zu hoch. Hast du Tabletten da?« »Nein. Wir waren auf der Shearstown Line, auf dem Rückweg nach St. John's, als mir auffiel, dass sie ganz heiß war und glasige Augen hatte, und im Auto hatte ich keine Tabletten. Eine Apotheke gab es auch nirgends. Da wollte ich die Fahrt nicht riskieren und bin umgedreht und hierher zurück...« »Haben sie dir denn im Krankenhaus nichts mitgegeben?«, fragte Kim. »Nein, da ging es ihr noch gut.« »Hol dir ein Tuch und eine Schüssel kaltes Wasser, mach das Tuch nass und leg es auf ihren Körper...« »Das mache ich schon. Ich habe den Arzt angerufen. Heute Vormittag, als es passierte, da war ein Arzt dabei. Er hätte den Typ beinahe überfahren.« »Welchen Typ denn?« »Den Typ, der den Stein geworfen hat.« »Ein Typ?« Sie warf die Beine über die Bettkante. »Ein Mann?« »Nein.« Joseph klang vollkommen gerädert. »Ein junger Kerl.« »Warum hat der denn einen Stein geworfen? War es ein Unfall?« »Ich weiß nicht.« Es trat eine Pause ein, und Kim hörte, wie Joseph weg vom Hörer sagte: »Es ist Mommy.« Und dann Robins schwache Stimme: »Kann ich mit ihr reden?«
»Robin?«, rief Kim. »Hi, Mommy.« Ihr Stimmchen klang so schwach. Kim konnte die Spur eines Zitterns heraushören. »Hallo, mein Liebling. Wie fühlst du dich denn?« »K-k-kalt.«
67 »Willst du, dass ich komme? Ich kann zu euch rauskommen. Jetzt gleich.« »Nein, Mom. Es regnet draußen. Du könntest einen Unfall haben.« Kims Mund war ganz trocken, sie spürte ein Kribbeln am ganzen Körper, eine Angst, die sie auf einmal zittern ließ. Trotzdem musste sie darüber lächeln, wie Robin sich auch noch um sie sorgte. »Wenn deine Temperatur nicht bald fällt, dann komme ich schnellstens, okay? Der Regen macht mir nichts aus.« »Okay, Mom. Tschüss. Ich hab dich lieb.« »Ich hab dich auch lieb.« Es raschelte am anderen Ende der Leitung. Dann war Joseph wieder dran. »Der Arzt bringt ein Acetaminophen für Kinder vorbei.« »Wenn das Fieber nicht bald runtergeht«, sagte Kim streng und zog die Bettdecke fester an sich, »bring sie ins Krankenhaus zurück. Das ist ganz wichtig. Sie könnte eine Gehirnerschütterung haben.« »Ich weiß. Ich ruf dich in einer halben Stunde wieder an.« »Lass es nicht darauf ankommen, Joe. Hol das Tuch.« »Ich habe ein Tuch hier. Ich mache schon die ganze Zeit...« »Die Temperatur muss runter, sonst könnte sie einen Hirnschaden bekommen. Vierzig ist zu hoch.« »Okay.« Seine Stimme klang jetzt nicht mehr ruhig. »Okay. Ich rufe später wieder an. Ich bin da.« »Ist mit dir alles in Ordnung?« »Nein.« Er legte auf. »Joe?« Der Hörer war rutschig. Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum, besorgt und wütend. Was machte Joseph bloß da draußen? Wie konnte er zulassen, dass jemand mit einem Stein nach Robin warf ? Wie kam überhaupt jemand dazu, mit einem Stein auf ein kleines Mädchen zu werfen? »Was für ein Scheißkerl macht so was?«, murmelte sie außer sich vor Wut, während sie den Hörer auf die Gabel knallte. Sie warf die Decke zurück und spürte den Schweiß auf ihrer Haut erkalten. Der Schock und die Furcht raubten ihr die Fassung. Sie stand auf und griff nach ihrem Morgenmantel, schlüpfte hinein, band
67 ihn zu und schlang die Arme um ihren Oberkörper, um warm zu werden. Der Regen fiel jetzt in Strömen, hämmerte aufs Dach, doch noch immer stand sie erregt und unschlüssig da. Jetzt hatte sie ihre Ausrede, um nach Bareneed hinauszufahren. Robin, ihre geliebte Kleine, ihr einziges Kind, hatte gefährlich hohes Fieber. Sie spürte Scham in sich aufwallen. Sie hatte höllische Schuldgefühle. Als Joseph ein Klopfen an der Haustür hörte, lief er sofort die Treppe hinunter und riss die Tür auf. Dr. Thompson stand in einem gelben Regenmantel mit hochgeschlagener Kapuze draußen. Er trat behutsam über die Schwelle des Critch-Hauses. Der Regen prasselte ununterbrochen nieder. Ein Tosen drang herein, entweder vom Sturm in den Wipfeln der Nadelbäume oder von den Wellen am fernen Strand. »Vielen Dank, Doktor, dass Sie vorbeikommen.« Ein eisiger Windstoß fegte durch die offene Tür herein und ließ Joseph krampfartig zittern. Seit er am Vormittag ins Meer gestürzt war, war er nicht mehr warm geworden. Ein hartnäckiges Gemisch aus Furcht und Eiseskälte war ihm bis in Mark gedrungen und hatte sich dort festgesetzt. Kalte, tote Finger, die seine Knochen umklammerten. Tote Gesichter, die vor ihm trieben und ihn beobachteten. Unter Wasser herrschte eine vollkommen andere Welt. Hier an Land war er sicher. In einem Haus. Umgeben von Wänden. Fenstern. Doch der Regen bot selbst Grund zur Besorgnis. Er war wie ein Ozean, der in einem bestimmten Muster über ihnen niederging. Was wollte er ihnen sagen? Was für eine Gestalt gab er sich?
»Keine Ursache«, erwiderte Thompson mit erschöpfter, schlaftrunkener Stimme. Er schob die nasse Kapuze zurück und schüttelte das Wasser von seiner schwarzen Tasche. »Ich nehme Ihnen das ab.« Thompson nickte und zog mit einem Seufzen die Arme aus dem Regenmantel. Joseph konnte dem Doktor seine Müdigkeit an den dunklen Tränensäcken unter den Augen und den schleppenden, zerstreuten Bewegungen ansehen.
68 »Danke«, sagte Thompson und hustete einmal, als Joseph den Regenmantel an einen Haken hinter der Tür hängte. »Oben?« »Ja.« Joseph ging voran. »Ich habe sie die ganze Zeit mit einem nassen Waschlappen abgerieben.« »Gut.« Joseph erreichte das Ende der Treppe vor Thompson, der sich Zeit ließ. »Kaputte Knie«, erklärte Thompson, als er zu Joseph kam. »Seien Sie froh, dass Sie Ihre noch haben.« Joseph warf einen verwunderten Blick auf seine Knie hinunter und führte den Doktor in Robins Zimmer. Auf ihrem Nachttisch brannte eine Lampe mit rosarotem Plastikschirm. Obwohl Robin die Augen geschlossen hatte, murmelte sie wie zur Begrüßung: »Es ist noch nicht Weihnachten.« Der Doktor, der nach Wein und Knoblauch roch, zog die buschigen Brauen hoch und trat ins Zimmer. Er nahm die silberne Schüssel mit Wasser zur Kenntnis, die auf dem Teppich stand, und den blauen Waschlappen, der darin schwamm. Erneut seufzte er, stellte dann seine Tasche auf dem Bettrand ab und machte den Verschluss auf. Robin murmelte: »Aber ich habe kein Geschenk für dich.« »Ein Geschenk?« Der Doktor ächzte leise, als er sich auf dem Bettrand niederließ. »Verflixte Knie«, schimpfte er. Dann wandte er sich in einem beruhigenden Tonfall an das Kind. »Hallo, Robin.« Er nahm seine Tasche auf den Schoß und kramte darin herum. »Ich bin Dr. Thompson. Ich werde jetzt deine Temperatur messen, in Ordnung?« Robin sagte mit ihrem süßen Kinderstimmchen, jedoch immer noch mit geschlossenen Augen: »Das ist für den Truthahn.« Der Doktor lachte leise. »Ich fürchte, heute bist du der Truthahn. Heiß genug bist du ja. Kannst du mich bitte ansehen?« Er schüttelte das Thermometer herunter und versuchte, es abzulesen. »Ich sehe nicht das Geringste.« Er reichte es Joseph, der prüfte, ob das Quecksilber weit genug unten war. »Jetzt geht's«, stellte Joseph fest und reichte das Thermometer dem Doktor zurück.
68 Robin schlug die Augen auf. Das Haar klebte ihr an der Stirn. »So, jetzt mach mal bitte den Mund auf, Kleine.« Robin öffnete langsam den Mund, und der Arzt steckte das Thermometer hinein. Dann stand er mit einem erneuten Ächzen auf, stützte sich dabei eine Hand ins Kreuz und drehte sich zu Joseph um. »Wie ich schon sagte, ich glaube nicht, dass der Stein das ausgelöst hat. So hart war der Aufprall nicht. Vielleicht hat sie sich einfach nur ein Grippevirus eingefangen oder irgendeine Infektion, gegen die sich ihr Körper jetzt wehrt. Ist mit ihrer Atmung alles in Ordnung?« »Mit ihrer Atmung?« »Ja. Einatmen. Ausatmen.« Er zeigte auf seinen Mund. »Ja, ganz normal.« »Gut.« »Soll ich sie noch mal ins Krankenhaus bringen?« »Ich weiß nicht. Das liegt bei Ihnen. Das Röntgenbild war eindeutig. Der Stein hat sie da getroffen.« Er griff sich mit zwei Fingern an den Hinterkopf. »Das ist eine robuste Stelle. Wenn es vorne gewesen wäre, die Schläfengegend, dann hätten wir eher Grund zur Sorge. Außerdem hat sie eine hübsche Beule bekommen, was auch ein gutes Zeichen ist.« Der Doktor blinzelte ein wenig
und wurde auf einmal auf Josephs Zustand aufmerksam. Er zog die Brille aus der Brusttasche seines Hemds und setzte sie sich tief auf die Nase. »Sie zittern.« »Das ist nichts. Ein wenig ausgekühlt. Wie lange kann das noch so gehen mit dem Fieber?« »Nicht mehr lange. Ich werde ihr etwas geben. Wenn das das Fieber nicht runterbringt, dann legen Sie sie in eine Wanne mit kaltem Wasser.« Er wandte sich mit einem tröstenden Lächeln zu Robin um. »Das macht keinen Spaß, so ein Ding im Mund zu haben, hm?« Robin schüttelte stumm den Kopf. »Könnten Sie es bitte rausnehmen?«, bat er Joseph. »Mein Rücken und die Knie plagen mich. Arzt, heile dich selbst. Von wegen.« Joseph beugte sich über Robin und zog das Thermometer zwi
69 sehen ihren Lippen heraus. Er widerstand dem Drang, es gleich selbst abzulesen, und reichte es an den Doktor weiter. Thompson betrachtete den Stand des Quecksilbers. Seine Miene verriet nichts. Dann schüttelte er das Thermometer, steckte es weg und holte ein Döschen Tabletten aus der Tasche. »Kirschgeschmack«, sagte er lächelnd zu Robin. »Ich muss mich immer zusammenreißen, sie nicht alle selber aufzuessen, so gut schmecken die.« Er gab zwei davon Joseph in die Hand, der sich damit zu Robin hinunterbeugte. »Nimm die, Schatz.« Robin machte den Mund auf und fing dann langsam an, die Tabletten zu kauen, schob sie mit der Zunge herum, hielt ab und zu ganz inne, schloss die Augen, kaute weiter, hielt wieder inne. »Kann ich etwas Wasser haben?« Joseph hob das Glas von ihrem Nachttisch, hielt es ihr vorsichtig an die Lippen und neigte es leicht. Sie trank einen winzigen Schluck. Ein Windstoß schleuderte Regen gegen die Fensterscheibe, und von der Vorderseite des Hauses war ein peitschendes Geräusch zu hören. Ein Kabel, das gegen die Verkleidung schlug. »Gut so?«, fragte er sie. Robin nickte. »Wie steht es denn mit Ihnen?«, erkundigte sich Thompson in gedämpftem Ton bei Joseph, nachdem dieser sich wieder erhoben und dem Doktor zugewandt hatte. »Wie fühlen Sie sich?« »Ich kriege die Kälte nicht aus den Knochen.« Er bemerkte, dass er das Glas noch in der Hand hielt, und stellte es ab. »Das hat Sie wohl alles ein wenig mitgenommen. Der Sturz ins Wasser hat da gerade noch gefehlt.« Der Arzt schaute Joseph fest in die Augen, als erwarte er weitere Enthüllungen. Eine Stille breitete sich zwischen ihnen aus, bevor erneut eine Windbö einen Regenguss gegen das Fenster schleuderte. Thompson wandte sich um und schaute auf die schwarze Scheibe. »Eine elendige Nacht«, bemerkte er und sah nach einem weiteren Blick auf Robin wieder Joseph an. »Es sollte ihr bald besser gehen. Machen Sie sich nicht zu viele Sorgen.«
69 Joseph wandte sich zu Robin um, die jetzt zu schlafen schien. Ihre Brust hob und senkte sich gleichmäßig. »Nun denn...«, hob Thompson an. »Ja.« Joseph sah dem Doktor zu, wie er seine Tasche aufnahm. »Rufen Sie mich an, falls irgendwas...« »Erzähl ihm von den Leichen, Daddy.« Thompson und Joseph fuhren beide zu Robin herum, doch sie lag da, als hätte sie keinen Mucks gesagt. Ein heftiger Schauder schüttelte Joseph. »Gott«, stieß er unwillkürlich hervor. »Sie träumt wohl«, beruhigte ihn Thompson. »Fieberträume. Schon mal welche gehabt?« »Ich schätze schon«, erwiderte Joseph zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Ich mag die eigentlich«, gestand der Doktor. »Die besten kommen immer, unmittelbar bevor das Fieber sinkt.« Im Solarhaus standen zwei dunkle Schatten, eine Frau und ein Geisterkind, im oberen Fenster und schauten auf den Range Rover hinunter, der vom Nachbarhaus wegfuhr. Im Licht einer Straßenlaterne waren der
strömende Regen und für einen kurzen Augenblick die Gestalt des Doktors zu erkennen. Das Fahrzeug fuhr die Obere Straße hinunter und auf die Lichter des Dorfes zu. »Armes Kind«, flüsterte die Frau, als sie sich das Unglück im Nachbarhaus vergegenwärtigte. Der Mann, der sich mitten in der Nacht um ein krankes Kind kümmern musste. Solche Sorgen. Ein krankes Kind. Sie fühlte mit ihm. Flüchtig erwog sie, hinüberzugehen und ihre Hilfe anzubieten, dem Mädchen prüfend die Hand auf die heiße Stirn zu legen, zu sehen, ob es ihm gut ging, ob es die Prüfungen der Nacht überstehen würde. Doch würde der Mann sie akzeptieren, ihr überhaupt ungebeten Einlass gewähren? Das Geisterkind starrte in das Dunkel des Raums. Das Licht von draußen drang nicht weit hinein. Es hielt den Atem an, lauschte müde den entfernten Geräuschen unten im Haus, die
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sich kurz darauf in schwerfällige Schritte auf der Treppe verwandelten. Ein hörbares Ausatmen, bewegte Luft, die durch die Nase eines Mannes ausströmte. »Er ist hier«, stieß das Geisterkind erschrocken hervor. Die Frau rührte sich nicht. Ihr Gesicht war im Dunkeln verborgen. Nur ein Streifen gelben Lichts, der von der Straße hereinfiel, lag auf ihrer Wange und dem Kinn. Im Inneren des Hauses war kein Laut zu hören. Und außerhalb nur das Prasseln des Regens auf dem Dach. »Er kommt die Treppe herauf«, verkündete das Geisterkind mit einer Stimme, die dumpf und blubbernd klang, als würde das Kind unter Wasser gezogen. Ein Kampf mit den Wörtern: »Du musst...« - unter Wasser, untergetaucht, dann wieder nach oben kommend, spuckend - »... aufhören, ihn zu lieben.« Die Frau schluchzte auf. Sie drückte die Augen zu, berührte mit den Fingerspitzen ihre Brauen und schüttelte voller Furcht den Kopf. »Hör auf, Mommy«, rief das Geisterkind. »Hör auf, ihn zu lieben.« Seine Stimme schwoll zu einem schrillen Schrei an. »Hör auf. Hör auf, ihn zu lieben.« Die Frau schluchzte lauter, als sich das Geisterkind jetzt vom Fenster zurückzog und in einer Ecke verkroch, kauernd, zitternd, tropfnass. Der Teppich war voller Wassertropfen, als wäre das Dach undicht, als würde der Regen keine Grenzen mehr kennen. Die Frau richtete den Blick zur Decke, und da hingen lauter silbrige Wassertropfen und warteten pulsierend darauf zu fallen. »Du siehst ihn«, brüllte eine Stimme hinter ihr. Die Tropfen fielen alle auf einmal und durchnässten sie bis auf die Haut. »Den Mann, der gekommen ist.« Die Frau schüttelte den Kopf und begrub das Gesicht in den tropfnassen Händen. Sie schluchzte. »Du Hure. Nur weil ich tot bin, denkst du... denkst du...« »Ich liebe dich nicht«, murmelte sie. »Ich liebe dich nicht. Ich liebe dich nicht...« »Doch, du liebst mich. Sieh mich an. Ich bin hier.«
70 Es war vollkommen still, nicht ein Laut zu hören. Die Frau hegte den Verdacht, dass alles, was sie sich bisher vorgestellt hatte, nichts weiter war als ebendies - reine Vorstellung - bis sie auf einmal an den Haaren rückwärts vom Fenster weggerissen wurde, in die pechschwarze Dunkelheit hinein, und vor Schreck und Schmerz aufschrie. Ein massiger Schatten fiel über sie her, schlug auf sie ein, während sie hilflos die Hände hob, um sich vor weiteren Verletzungen zu schützen. Claudia legte erschöpft den Füller in ihr Tagebuch. Die Sehnen ihrer Hand schmerzten vor Anstrengung. Sie blickte aus dem Fenster. In der Scheibe, in der sich allumfassende Dunkelheit und begrenztes Licht spiegelten, sah sie Jessica direkt hinter sich stehen. »Träumst du, Mommy?« »Ich weiß nicht, Schatz. Träume ich?« »Manchmal weiß ich nicht recht, Mommy. Glaubst du, es spielt eine Rolle?« »Was denn?« »Wie real ich bin, Mommy. Ich weiß nicht, wie real ich bin.« Ohne Unterlass prasselte der Regen auf den schwarzen Ozean nieder. Die Wasseroberfläche wirkte wie flüssige Kohle, auf der Millionen matter Funken glommen. Zwei Wachtposten standen auf dem großen, L-förmigen Kai, an dem zwei Krabbenkutter vertäut lagen. Die Holzplanken der Boote ächzten im Auf und Ab der Wogen. Beide Männer trugen dunkelgrüne Regenmäntel und suchten jeder mit einem Fernglas die Wasseroberfläche ab. »Man sieht nicht das Geringste«, rief einer von ihnen über das Trommeln des Regens hinweg. Der andere entgegnete nichts.
Gut dreißig Meter vom Kai entfernt, etwa auf halber Strecke zum schwarzen Felsmassiv der Landzunge hinüber, tauchte plötzlich etwas Orangefarbenes auf und trieb schaukelnd an der Wasseroberfläche. Trotz der mondlosen Nacht glitzerte es schwach im strömenden Regen. Der erste Wachtposten deutete darauf. Sogleich schwenkte auch der andere sein Fernglas in die gewiesene Richtung.
71 »Ein toter Fisch. Orange. Ziemlich groß.« Der andere nickte, ohne das Fernglas abzusetzen, und blickte weiter aufmerksam auf die Stelle. Eine Fontäne aus Dunst oder Nebel stieg jetzt dort auf und hing über dem orangefarbenen Etwas. Dann wurde es auf einmal weggespült, und ein Körper tauchte auf und schaukelte schwerfällig auf dem Wasser. Die zwei Posten hatten bereits ihre Ferngläser sinken lassen und kletterten an der Seite des Kais hinunter zu ihrem bereitliegenden Motorboot. Während der eine den Motor in Gang setzte und Kurs auf den Körper im Wasser nahm, stand der andere mit erhobenem Fernglas im schaukelnden Bug des Bootes. Als sie bei der Leiche ankamen, stellten die beiden Posten zu ihrer Verblüffung fest, dass der Mann im Stil eines Entdeckers aus dem sechzehnten Jahrhundert gekleidet war, mit Kniehose, Weste und Lederschuhen. Er trieb auf dem Rücken und starrte, unbeeindruckt vom Regen, aus nassen Augen geduldig in den grau-schwarzen Himmel. Miss Laracy konnte nicht schlafen, wenn der Regen auf ihr Haus trommelte. »Kommt von Osten her der Regen«, flüsterte sie vor sich hin, »ist's für Mensch und Tier kein Segen.« Der Guss versetzte alles in Aufruhr: den Himmel, die Luft, das Wasser und die Erde. Alles, was sich nicht unter einem sicheren Dach befand, veränderte sich. Das Holz ihres Hauses wurde nässer, und das Ungeziefer nagte am Moder und vermehrte sich zuhauf. Sie hatte all das vor Augen und spürte es in den Knochen, während sie den schwarzen Wasserkessel mit dem langen Schnabel auf die eiserne Herdplatte ihres Holzofens schob. Der Regen füllte Hohlräume in der Erde, beschleunigte den Strom der Flüsse und füllte die See mit zusätzlicher Last. Eine Windbö peitschte Regen gegen das Küchenfenster. Miss Laracy spähte durch den Schlitz in den Spitzengardinen und gewahrte Bewegung auf der dunklen Scheibe, kleine Wasserbächlein, die herunterrannen und den Blick nach draußen verschwimmen ließen. Schon als Kind hatte sie die Traurigkeit des Regens geliebt.
71 Diese Qualität des Weinens, wenn die erhabene Natur draußen sich mit Wasser vollsog und weich wurde. An solchen Abenden konnte sie es kaum erwarten, ins Bett zu schlüpfen, das von zwei auf dem Ofen aufgeheizten Steinen vom Strand unten angewärmt worden war. Dann blickte sie gespannt zu ihrem Vater auf, der ihr Geschichten erzählte oder Lieder vorsang, während der Regen die Erinnerung aufwühlte. Er erzählte von seinen Reisen nach Labrador, von den Eskimos und ihren eigenartigen Bräuchen, wie die Frauen sich die Babys auf den Rücken schnürten und ihnen das Essen vorkauten, bevor sie es ihnen in den kleinen Mund schoben. Von Dog Island erzählte er, der Insel, auf der im Sommer die Hunde ausgesetzt wurden, die im Winter die Eskimoschlitten zogen. Wenn das Eis brach, wurden sie auf Booten dorthin gebracht und sich selbst überlassen. »Wenn man dicht genug dran war, 'ne Meile oder so vom Ufer, dann konnte man ihr Geheul hören, wie's durch die Luft schallte, so traurig und wunderschön, dass es einem Tränen in die Augen trieb.« Ihr Vater saß dann auf ihrer Bettkante, kratzte sich mit einem Finger in seinem dichten Bart und sprach in einem tiefen, ernsten Ton. »Heulten vor lauter Elend, die armen Köter. Wenn wir vorbeisegelten, liefen sie zum Ufer runter. Bellten und heulten wie wild gewordene Furien und schnappten und bissen nacheinander. Hunger hatten die. Ein oder zwei probierten gar, zu uns rauszuschwimmen, die Augen ganz, ganz fest auf dich gerichtet, aber dann drehten sie um und kämpften sich wieder zurück und paddelten mit letzter Kraft, bis ihnen der Saft ausging, 's war zu weit in dem kalten Wasser. Zu weit, als dass sie's hätten durchschwimmen können.« Dann erzählte ihr Vater von den Männern, mit denen er gesegelt war: Männer aus abgelegenen Fischerdörfern mit den wildesten Bräuchen und Überzeugungen.
Diese Erzählungen vom Aberglauben hinterließen einen tiefen Eindruck bei Miss Laracy. Sie schienen so wahr zu sein, so verwurzelt in einer kindlichen Vernunft. Aberglaube hatte etwas Magisches. An solchen Stellen hielt ihr Vater immer in seiner Erzählung inne, und dann fing er an zu singen, in einer hohen,
72 samtigen Jungenstimme, einer Stimme, die so ganz anders war als jene, mit der er sprach. Und während er sang, schien das Zimmer sanft zum Auf und Ab der Zeilen und Strophen zu schaukeln, als ob man in einem Boot läge, auf dem Meer draußen, und die Stimme ihres Vaters war das beständige Wogen der Wellen, das sie durch alles hindurchtragen würde. Dann sang ihr Vater ihr Lieblingslied, das vom Tod ihres Großvaters auf einer Eisscholle bei der Robbenjagd anno 1897 erzählte: »Im Frühjahr siebenundneunzig war's, Jungs, hört, was man erzählt, Im Eis voll Mühsal und Gefahr, Was haben wir uns gequält. Auf Robbenfang vor Cabot Isle, Vom Hafen fort fünf Tag'. Wir zählten auf 'ne kurze Weil' Und auf 'ne schnelle Jagd. Elf tausend Stück, schön jung und schwer, Fingen wir in einem Zug, Die Nacht darauf sechstausend mehr Verstauten wir im Bug.« Das war der fröhliche Teil, der von der harten Arbeit und ihrem Lohn handelte, doch Miss Laracy wartete immer schon zitternd auf die nahende Tragödie, und ihr Herz schlug schneller, als ihr Vater dann einen milderen, traurigeren Ton anschlug und versonnen zum Fenster hinausblickte, auf den strömenden Regen oder den wirbelnden Schnee, der ihn weitertrieb: »Tags drauf, da brach ein Sturm vom Eis, Von Backbord fegt' er her. Sich selbst zu retten Leben und Leib, Ein jeder kämpfte schwer. 72 Was litten wir für harte Qual, Oft durchgefror'n und nass. Es war ein Frühjahr voll Gefahr, Das keiner je vergaß.« Hier legte ihr Vater immer eine Pause ein und blickte ihr prüfend in die Augen, als wolle er sie vorbereiten auf das, was nun kam, als wolle er sicher sein, dass sie für das Schlimmste gewappnet war: »Doch schlimmer gar noch sollt es kommen Und bringen große Not, Denn einer unsrer tapfren Mannen fand bald darauf den Tod. Beim Jagen auf der eisgen Scholle, Da stand er seinen Mann. Doch als er einmal schwer gefallen, schlug ihn der Tod in Bann. Schiffskamerad Tom Laracy Ward solche Qual zu schwer. Acht Tage später schied er hin und ward vermisst gar sehr.« Tränen traten Miss Laracy in die Augen, wenn sie den Namen ihres Großvaters hörte und dazu die fatalen Umstände seines Todes. Diese Einzelheiten und dazu die klare Schönheit der Stimme ihres Vaters ließen ihr die Tränen übers Gesicht strömen, bis ihr das nasse Haar an den Schläfen klebte, denn immer hatte sie dabei dieses Bild vor Augen, wie ihr Großvater ausgestreckt auf dem ewigen, weißen Eis lag und der Wind um ihn heulte, heulte wie die ausgesetzten Hunde auf Dog Island. Er hatte schlichte wollene Hosen an, einen gestrickten Pullover und einen mottenzerfressenen Mantel. Schneeklumpen hingen in seinen Kleidern. Er lag auf der Seite, während die anderen Männer
72 um ihn herumstanden und die Köpfe gegen den beißenden Wind eingezogen hatten. So wachten sie über ihm, denn sonst konnten sie nichts tun für den tapfren Freund, um den sich die Schneewehen türmten. »Heim sehnt' er sich, drum kämpfte er, Jedoch, er hatt' kein Glück Und kehrte lebend nimmermehr Ans Southern Shore zurück.
Neufundland, du, in Nord und Süd Und rund um jede Bucht, Erbarm dich deiner Fischersleut', Die's Schicksal heimgesucht. Sie trotzten tapfer aller Not Und ließen oft ihr Leben Beim harten Kampf ums täglich Brot. Gott geb' ihn' seinen Segen.« So niederschmetternd tragisch war das, so herzzerreißend und doch auch tröstlich, indem es das grimmige Los, das dem Menschsein innewohnt, bestätigte. Immer musste Miss Laracy weinen, wenn sie diese Geschichte hörte, und ihr Vater - hatte er seinen Vortrag beendet - beugte sich dann besänftigend über sie und scheuchte ihre Sorgen fort. Jetzt betrachtete Miss Laracy den Regen, der vor ihrem Küchenfenster niederging, den Regen, der sich in ein paar Monaten in Schnee verwandeln würde. Sie erinnerte sich, wie ihr Vater, nachdem er seine Geschichte zu Ende erzählt hatte, sie auf die Stirn küsste und mit seinen starken Händen die Bettdecke über ihr glatt strich. Mit leisen Schritten verließ er dann ihr Kinderzimmer, als ob er sich aus einem Heiligtum zurückzöge. Seine Gegenwart aber hing auch danach noch im Raum in Form jenes Schimmers, der seine Gestalt umgab, ein Nachglimmen seiner Erzählung, und dieser Schimmer verdichtete sich zum Geist von
73 Thomas Laracy und stand am Fußende ihres Bettes, nicht etwa erfroren und fürchterlich entstellt, sondern warmherzig und lächelnd, wie er sich so mit einem verschmitzten Augenzwinkern an den Hut griff. Dann schloss er die Augen und wankte sanft hin und her, als lausche er dem Lied nach, das ihn herbeigerufen hatte, und erfreue sich daran. Thomas Laracy, ein Mann, den Miss Laracy liebte, auch wenn sie ihn nur aus Versen kannte. Obwohl seit langen Jahren tot, strotzte er doch in ihren Gedanken von Lebendigkeit, die die Trauer in ihrem Herzen heilte. Und Uriah Slaney, ihr Liebster, ein Mann, den sie so gut kannte wie sich selbst, ein Mann, der ihr in ihren Überzeugungen und tief in der Seele verwandt war. Wenn sie ihn doch nur noch einmal sehen könnte, als Geist, jenseits des Grabes, wie früher. Wenn doch nur die Geister aus ihrer Abgeschiedenheit zum Vorschein kämen. »Nun zeigt euch«, murmelte sie halblaut vor sich hin. »Schenkt mir doch den Trost und Frieden eurer Gegenwart.« Miss Laracy wandte sich vom Fenster ab und starrte zum Ofen hinüber. Das Wasser im Kessel kochte. Dampf stieg über dem Herd auf und hing unter der Decke. Sie grinste verschwörerisch. »Nehmt Gestalt an«, sagte sie, kicherte in sich hinein und kniff die Augen zusammen, um im Dampf einen Umriss zu erspähen. »Hier in der Stube seid ihr einst aus kochendem Wasser gestiegen.« Sie wartete, hielt in vollem Ernst inne - und musste doch nur ihre Hoffnung welken sehen. »Nimmermehr«, sagte sie schließlich, stapfte zum Kessel hinüber und riss ihn vom Herd. »Nimmermehr. Das ist nun mein Los, das ich tragen muss.« Joseph fuhr Robin mit dem kühlen Waschlappen über den Bauch, dann die Brust hinauf und übers Gesicht. Sanft tupfte er seine Tochter ab, die ohne Unterlass zitterte. Robin zog an der Decke, um sich zuzudecken, doch Joseph schob sie sanft wieder zur Seite. »Es tut mir Leid, Liebes«, flüsterte er. »Aber ich muss das Fieber runterbringen. Unter der Decke wird dir nur noch heißer.« Zitternd nickte Robin und murmelte tapfer: »Okay.«
73 Joseph tunkte das Tuch wieder in die Schüssel mit kaltem Wasser und wrang es aus. Er hatte Angst, das Fieber würde überhaupt nicht mehr sinken. Er hatte Angst, sein Herz würde samt ihrem zerspringen. Es kostete solche Kraft, sich einzureden, dass bestimmt alles wieder gut würde. Warum habe ich sie hierher gebracht? Wie hätte ich das denn wissen sollen? Es sollte doch bloß ein Urlaub sein. Wie hätte ich das ahnen können? Erinnerungen quälten ihn: Claudia, wie sie auf dem Boden ihres Hauses saß, den Kopf zwischen den Knien, während Joseph den Arm um Robins Schultern legte und sie von dem Anblick wegdrehte; die Spiegelung des bärtigen Mannes im Fenster; die Unterwasserleichen mit ihren erwartungsvollen Augen. Es war halb ein Uhr nachts. Eine Stunde lang hatten Joseph peinigende, unheimliche Bilder gequält, bis endlich das Quecksilber auf achtunddreißig drei gefallen und dort stehen geblieben
war. Als er sich endlich vom Katastrophenlärm seiner Gedanken losriss, fiel ihm die Stille im und um das Haus auf. Der Regen hatte aufgehört. Er sah nach Robin. Sie lag ruhig im Bett und zitterte nicht mehr. Ihr Atem ging gleichmäßig, und sie schwitzte ausgiebig. Das Fieber stieg nicht mehr. Joseph erhob sich vom Boden neben dem Bett, wo er gekniet hatte. Er verspürte ein Gefühl von Sicherheit und Freude. Die furchtbare Möglichkeit, Robin zu verlieren, war abgewendet und mit ihr die klaustrophobische Kette von Ereignissen der vergangenen Tage. Er sollte Kim anrufen. Sofort. Zögernd warf er einen Blick auf das Telefon neben Robins Bett. Jetzt anrufen? Oder sie noch leiden lassen? Sie leiden lassen, bis ihm der Sinn danach stand, sie aus ihrem Leiden zu erlösen. Wenn er mit Kim sprach, dann allein. Er wollte Robin nicht stören. Er ging nach unten, knipste dabei das Ganglicht an, dann das Licht in der Küche. Er nahm den Hörer des Wandtelefons und wählte Kims Nummer. »Es ist auf achtunddreißig drei runtergegangen«, platzte er heraus, sobald sie abgenommen hatte, gleich nach dem ersten Klingelton. »Gott sei Dank.« Sie seufzte erleichtert.
74 Joseph stellte sich Kim vor, wie sie den Kopf schüttelte, die bedrohliche Vorstellung einer Tragödie für sie alle von sich abschüttelte. Das war knapp gewesen. »Ich bleibe auf. Ich lasse sie nicht aus den Augen...« »Du musst doch erschöpft sein.« »Es geht schon.« In dem schwarzen Fenster, auf dem noch immer Regentropfen prangten, spiegelte sich schwach das Innere des Raums. Joseph wandte den Blick ab. Er erwartete, ein Gesicht auf der anderen Seite auftauchen zu sehen, ein nasses Gesicht mit einem kryptischen, andeutungsvollen Grinsen, das sich gegen die Scheibe presste, sie mit verwesenden Händen verschmierte. »Sonst bist du völlig gerädert morgen und funktionierst überhaupt nicht.« »Funktionieren?« Er stieß einen Lacher aus, schwieg eine Weile, bis er nicht mehr wusste, wie lange schon. »Wir fahren morgen heim.« »Du solltest nicht unausgeschlafen fahren. Ich kann zu euch rauskommen, das ist kein Problem.« »Ich glaube nicht, dass das so eine gute Idee wäre.« »Robin braucht ihre Mutter.« Noch eine Pause, in der Joseph den Faden verlor. Er seufzte unwillkürlich, was ihn wieder zu sich brachte. Seine Füße auf dem Holzboden fielen ihm auf. Seine grauen Socken. Er saugte an seiner Unterlippe und riskierte einen Blick zum Fenster. Nichts. Schwärze, die allmählich in ein Dunkelgrau überging, als ob Nebel hereinzöge. Sein Blick wanderte durch die Küche: die zwei Glastüren im Einbauschrank, in dem fein säuberlich Geschirr aufgereiht stand, der altmodische schwarz-weiße, emaillierte Herd, der klobige Holztisch. Als er das Haus gemietet hatte, hatte er dabei Kim im Hinterkopf gehabt und die vage Hoffnung, dass sie ihre Differenzen doch noch würden beilegen können und den Sommer zusammen verbrachten. Warum also zögerte er? Ein verquerer Versuch, die Kontrolle zu behalten, Kim zu bestrafen, weil sie ihn verlassen und ihre Familie entzweigerissen hatte?
74 »Joseph?« »Ich weiß nicht.« »Was weißt du nicht?« »Dann wird womöglich alles so kompliziert. Ich will Robin nicht enttäuschen.« »Es würde ihr gut tun, uns beide zusammen zu sehen.« »Und dann was? Noch mehr Enttäuschung?« »Wie du meinst. Ist egal, so oder so. Du entscheidest.« Sie legte auf. Joseph hielt den Hörer fest und war wie gelähmt durch Kims abrupten Rückzug. Der Hörer blieb stumm, leeres Plastik. Er war wieder allein. Nein, nicht allein, aber wieder angedockt an die Furcht vor diesem Ort und seinen Bewohnern. Kim hatte sich aus den Kabeln und Leitungen zurückgezogen. Sie war wie eine Art Schutz für ihn gewesen.
Einen Augenblick später legte er mit dem Gefühl auf, nichts erreicht zu haben, außer dass er sich in seinem sowieso schon angeschlagenen Zustand noch mehr zugesetzt hatte. Er wandte sich zum Fenster um. Nichts. Langsam wagte er sich dichter an die Scheibe heran, als wolle er sich mit einem plötzlich dort auftauchenden Gesicht selbst einen Schrecken einjagen, einem dieser Gesichter vom Meeresgrund. Was hatten die da zu suchen? Waren sie überhaupt wirklich da gewesen? Auf einmal stürzte noch ein Regenguss aus dem Himmel und prasselte wie ein Schauer aus berstenden Steinen aufs Dach. Joseph stellte sich vor, wie die Tropfen auf die Wasseroberfläche des Meeres niedergingen und die Ertrunkenen, mit dem Gesicht nach oben im Wasser treibend, diese Perforierung der Grenze zwischen Luft und Wasser betrachteten, ein Sperrfeuer, das die Oberfläche durchsiebte, bis sie womöglich ganz zerbrach und ihnen, den Toten, den Weg nach oben in die Freiheit eröffnete. Als Tommy Quilty zwei Jahre alt war, und kurz nachdem er von den Feen mitgenommen und verwandelt zurückgebracht worden war, fielen ihm erstmals die schimmernden, fließenden Farben auf, die die Körper der Menschen umgaben. Babys waren in
75 die kräftigsten, aufregendsten Farben gehüllt, aber auch viele alte Leute. Wenn die Babys heranwuchsen, wurden ihre Farben entweder blasser oder blieben leuchtend klar. Es schien davon abzuhängen, was jemand mit seinem Leben anfing. Die Selbstlosen behielten ihre gesunden Farben, doch die, die sich nur um ihren eigenen Vorteil kümmerten, verschlangen selbst ihre grundlegendsten Farbtöne. Es dauerte nicht allzu lange, bis Tommy herausfand, dass die Leute ohne einen Lichtschein böse und rücksichtslos waren. Ihnen fehlte eine innere Eigenschaft, die die Farben hervorbrachte. Tommy vermutete, dass es sich bei dieser inneren Eigenschaft um die Fähigkeit zum Mitgefühl handelte. Solche Menschen mied man am besten, da sie einem extremes Unbehagen bereiten konnten. Miss Laracy hatte Tommy erklärt, dass diese fließenden Farben »Aura« genannt wurden. Auch Miss Laracy konnte sie sehen, und daher war es in Ordnung, sie zu sehen. Miss Laracy war Tommy ein großer Trost und eine Stütze, doch wenn sie nicht da war, hatte Tommy oft Angst vor seiner eigenen Beobachtungsgabe. Am meisten litt er darunter, dass mit der Zeit bei immer mehr Menschen die Aura verschwunden war. Die Bäume, das Gras, das Meer und der Himmel besaßen nach wie vor ihre lebendigen Farben, Schattierungen, die über das hinausgingen, was die meisten Menschen wahrnahmen. Doch immer weniger Menschen besaßen auch nach ihrer Kindheit noch eine Aura. Natürlich fragte sich Tommy, ob es vielleicht an ihm selbst lag, ob er »das Gesicht« nicht mehr besaß oder ob die Auren tatsächlich verschwanden. Auch Miss Laracy hatte den Rückgang der Farben beobachtet, und sie erklärte ihn so: »'s ist, weil die Leute nicht mehr ans Übersinnliche glauben, und das raubt ihnen ihre Farben.« Tommy nahm an, dass Miss Laracy wohl Recht hatte, und doch fragte er sich immer wieder, ob es nicht vielleicht sein Glaube an sich selbst war, der nachließ. Denn auch wenn Miss Laracy ihm versicherte, dass er etwas ganz Besonderes war, ließ man ihn doch immer wieder spüren, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Der Rückgang der Farben hatte schon vor Jahrzehnten be
75 gönnen, und am deutlichsten wurde er nach dem Verschwinden der Geister und Feen. Tommy war damals acht Jahre alt. Er war mit einem Lachen auf dem Gesicht in den Wald gegangen, um den geheimen Ort zu besuchen, an dem die Feen zusammenkamen. Nachdem er sich mit einem Blick zurück vergewissert hatte, dass niemand ihm folgte, schob er die Nadelzweige auseinander und sah die Stelle, wo all die Heidelbeeren, Preiselbeeren und Rebhuhnbeeren wuchsen. Die Beeren leuchteten in ihren saftigen Farben, prall vor Leben. Die Feen liebten es, mit den Beeren zu spielen und sie zu essen. Sie warfen die Früchte wie winzige Bälle durch die Luft, flatterten im Spiel herum, um sie zu fangen, bis eine Beere auf einem Pechvogel zerbarst und die vom Saft durchnässte Fee zu Boden fiel. Tommy hatte sich schon darauf gefreut, ihrem Spiel zuzusehen. Er hatte einen Klumpen Schiffszwieback mitgebracht, den sie in Stücke brachen und sich daraus Häuser bauten, bis der Regen die Häuser durchweichte und wegspülte. Natürlich wurden dann
einfach aufs Neue Häuser gebaut. Die Feen ließen sich nie entmutigen oder durch Widrigkeiten ihrer Daseinsfreude berauben. Tommy hatte also die Nadelzweige beiseite geschoben und erwartete, die Feen in ihr munteres Spiel vertieft vorzufinden, doch nirgends war eine Spur von ihnen zu sehen. Eine Libelle schwirrte vorbei. Ihre Flügel flatterten ganz ähnlich denen der Feen, was Tommy momentan hoffen ließ. Vielleicht hatten sich die Feen ja nur versteckt und spielten ihm einen Streich. Er ging einen Schritt weiter auf ihren üblichen Tummelplatz hinaus und wartete, schloss dabei die Augen und rief: »Kommt raus, kommt raus.« Doch als er die Augen wieder aufschlug, war er immer noch allein. Die Feen, die sich doch nie weit von ihrem Zuhause wegwagten, waren fort. Dabei bedeuteten ihnen ihre Behausungen alles. Nie wandelten sie fernab von ihrer Gemeinschaft oder verließen sie gar. Im Wald herrschte eine neuartige, freudlose Stille. Das sonst so verspielte Gewebe der Luft war stumm geworden, von all dem fröhlichen Geflitze und Gesumme der Feen entleert, und die Farben des Laubs wirkten auf einmal staubig, da die Feen früh
76 morgens nicht mehr die Blätter polierten. Tommy Quilty stand an dem Fleck, wo die Feen einst ihren Zauber über ihn ausgestreut und ihn verwandelt hatten, ihn in den Augen aller anderen hässlich, doch auf seine ganz eigene Art zu etwas Besonderem hatten werden lassen. Er wusste, dass sich an ihm der Charakter seiner Mitmenschen erwies. Wie sie ihn sahen, wie sie ihn behandelten, das sagte aus, was sie in ihrem Innersten für Menschen waren. Das hatten ihm die Feen erklärt, wobei allerdings ein paar von ihnen dabei hinter dem Rücken der anderen gekichert hatten. Doch Tommy nahm an, dass die, die kicherten, einfach bloß neidisch waren, denn wie bei den Menschen waren auch im Feenreich die niedrigeren Geschöpfe zu großem Neid und Eifersucht fähig. Nun, fast vierzig Jahre später, waren die Feen noch immer fort, die Geister der Verstorbenen hatten sich höher hinauf in den Himmel zurückgezogen, und Frauen und Männer, die noch eine fließende, farbige Hülle besaßen, waren rar geworden. Tommy saß an seinem Tisch und drückte seinen Kohlestift fest auf das teure, gebrochen weiße Zeichenpapier. Mit akkuraten Strichen zeichnete er ein aufgewühltes Meer mit so außergewöhnlichen Geschöpfen darin, dass ihm selbst vor Staunen der Mund offen stand. Auf dem Kai herrschten Aufregung und Durcheinander. Leute standen da, zeigten ungläubig mit den Fingern oder hielten sich aneinander fest. Die Figuren auf dem Kai waren Tommy allesamt bekannt. Es waren Leute aus dem Ort. Als er Kopf und Körper einer kleinen Figur fertig gezeichnet hatte, erkannte er darin Rayna. Ströme nebligen Lichts - Geister - füllten den Nachthimmel über ihr. Tommy hielt inne. Der Anblick Raynas verblüffte ihn. War das etwas Gutes oder etwas Schlechtes? Er fürchtete, es war etwas Schlechtes. In den vergangenen paar Monaten hatte er beobachtet, wie Raynas farbige Hülle immer dünner wurde. Sie trank zu viel, versank zu tief in sich selbst, kappte ihre Verbindung mit der Welt um sie her. Tommy richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf seine Zeichnung. Er befeuchtete die Spitze des Kohlestifts mit der Zunge
76 und setzte ihn auf dem Papier an. Er zeichnete mit Entschlossenheit, unfähig aufzuhören, selbst als seine Hand zu zittern begann und er merkte, dass er dringend pinkeln musste. Dennoch blieb er auf seinem Stuhl sitzen, wollte unbedingt erst seine Zeichnung fertig machen, aus Angst, sie könnte sich verändert haben, wenn er zurückkehrte, könnte sich hinausentwickelt haben über den Zustand, den er gerade malte, eine Szene über der anderen, so dass das Gesamtbild verschwamm. Er fürchtete die Verwirrung, die ein Hinausgehen über diese Vision mit sich brächte. Jahrelang hatte Tommy vage Bruchstücke dieser Bilder in seinen Gedanken auftauchen sehen, und nun, da sie in seinen Bildern vollständig ans Licht kamen, war er sich ziemlich sicher, dass sie Wirklichkeit würden. Er ließ den Stift fallen. Das Bild war fertig. Er hatte den Wunsch, Rayna anzurufen, um zu sehen, ob alles in Ordnung war. Es war Samstagabend. War sie zu Hause oder
zum Tanzen in der Caribou Lounge? Er eilte in die Küche hinaus und von dort ins angrenzende Badezimmer. Mit einem gigantischen Seufzer der Erleichterung pinkelte er und beobachtete, wie das Wasser in der Toilettenschüssel kreiste. Er drückte die Spülung und sah zu, wie der Wasserstand sank und dann bei der Hälfte stehen blieb. Der Mechanismus im Spülkasten der Toilette verstummte. Tommy drückte erneut den Hebel. Nichts rührte sich. Er drückte noch einmal, und das Wasser fing an zu steigen. Tommy griff nach der Gummiglocke, steckte sie jedoch noch nicht in die Schüssel. Er würde den Wasserstand noch höher steigen lassen, der jetzt kurz vor dem Überlaufen stehen geblieben war. Tommy wartete, die Saugglocke startbereit in beiden Händen wie einen Talisman. Schließlich lief das Wasser mit ein paar gurgelnden Lauten langsam ab. Wieder in der Küche, tippte Tommy eine Nummer ins Telefon. Die Verbindung wurde hergestellt, und es klingelte vier Mal, bevor abgenommen wurde. Zuerst war nur ein Haufen Lärm zu hören, weil der Hörer wohl gegen irgendetwas stieß oder zu Boden fiel und fahrig wieder aufgehoben wurde. »... llo?«
77 »Rayna?« Tommy strahlte, als er ihre Stimme hörte. »Ja, wer ist 'n dran?« »Tommy.« Ein nasses, schlabberndes Lachen ertönte vom anderen Ende der Leitung. »Tommy, Tommy... wie geht's denn? Ist nett, dass du anrufst, Tommy.« »Rayna?« »Ja genau, so heiß ich. Wülste meine Adresse auch noch?« Ein heiseres Lachen. »Rayna?« »Was 'n los Tommy, was willste denn sagen?« »Als ich klein war, da haben mich die Feen mitgenommen.« »Ja sicher, das weiß ich doch.« »Ich war nicht immer so hässlich.« »Tommy, du bist doch ein Goldstück, 'n Prinz bist du.« »Nee. Bin ich nicht.« »Du bist der allerbeste Prinz, den ich kenn, und ich hab dich ganz doli lieb.« »Rayna? Es kommen Geister.« Noch mehr Lachen. Dann ungläubig: »Das ist ja mal was anderes.« »Das Wasser steigt, und es kommen Geister, Rayna. Was soll ich 'n jetzt bloß machen?« »Schick sie zu mir rüber auf 'n Schluck Rum.« Nun musste Tommy doch laut lachen. Rayna schaffte es immer, ihn zu erheitern, egal, in welchem Zustand sie war. Das war ihre besondere Gabe. »Die trink ich untern Tisch, keine Sorge, 'n Haufen besoffene Geister. Uh-huuuhh. Da krieg ich ja gleich eine Heidenangst. Das wird 'ne Mordsparty, Tommy. Schick sie ruhig gleich her, und dann saufen wir uns alle zusammen zu.«
Sonntag
Für gewöhnlich mochte Sergeant Chase Sonntage. Da ließ er es langsam angehen, fuhr gemächlich seine Streife durch Bareneed, genoss den Anblick der stillen Häuser, eines frei laufenden Pferdes oder hier und da einer grasenden Kuh. Sonntags war keine Eile geboten. Die Menschen gaben sich beruhigt der Vorstellung hin, dass Gott heute irgendwie noch strahlender und nachhaltiger über ihnen schwebte, und ließen neben ihrem Werkzeug auch die feindseligen Gefühle ruhen, die sie füreinander hegten. Doch dieser Sonntag brachte keinen Frieden. Ein Jugendlicher aus Bareneed, Andrew Slade, war gestorben. Er war auf der Straße hingefallen, hatte sich den Kopf aufgeschlagen und aufgehört zu atmen. Die Rettungssanitäter hatten vergeblich versucht, ihn wieder zu beleben. Er war auf schnellstem Weg ins Krankenhaus von Port de Grave transportiert worden, doch bei der Einlieferung konnte nur noch sein Tod festgestellt werden. Als Chase Dr. Thompson auf seinem
Handy angerufen hatte, um Näheres über die Todesursache zu erfahren, hatte der Doktor ihm mitgeteilt, dass eben zwei neue Fälle mit denselben Atembeschwerden, an denen auch Donna Drover litt, eingeliefert worden waren. Chase musste zugeben, dass drei Tote binnen weniger Tage und dazu die Möglichkeit eines Virusausbruchs für eine kleine Gemeinde wie Bareneed nicht mehr bloß ein zufälliges Zusammentreffen sein konnten. Es kursierten bereits Gerüchte über eine bevorstehende vollständige Untersuchung. Noch ein Toter, dann wäre sie unvermeidlich. Dann würde ein Heer von Experten über den Ort hereinbrechen, zunächst aus St. John's, doch
78 wenn sich die Lage verschlimmern sollte, würden sie aus dem ganzen Land eingeflogen. Irgendwas im Wasser. Irgendwas in der Luft. Irgendwas im Boden. Ein Virus. Eine Seuche. Eine Botschaft vom Schöpfer. Angst und Untergangsstimmung. Oder doch einfach nur ein Zufall. Drei Tote. Was war das schon? Es ist nichts, versuchte er sich einzureden, und dachte dabei an seine Frau, Theresa. Schon um ihretwillen hoffte er, dass alles ruhig bleiben würde und diese Nachrichten nicht bis zu ihr vordrangen. Chase schaltete das Radio an und lauschte Bruce Springsteens Glory Days. Es erinnerte ihn an eine bestimmte Phase in seinem Leben, die ihm mindestens so viel bedeutete wie die Gegenwart, wenn nicht mehr. Mit den Jungs in der Kneipe zu sitzen - damals war er noch nicht mit Theresa verheiratet. Freitagabende beim Poolbillard. Eine attraktive Frau in engen Jeans, die ihm viel sagende Blicke zuwarf. Er hatte immer schon anziehend auf Frauen gewirkt. Sie schienen auf seine dunkle Haut und große Statur zu stehen. Er lächelte vor sich hin, als er im Geiste das Klicken der Billardkugeln hörte. Er drehte den Song lauter, kurbelte sein Fenster herunter und fuhr an dem eingezäunten Kriegerdenkmal und dem Postamt von Bareneed mit der rot-weißen Kanada-Flagge vorbei. Dann passierte er das längliche, rote Gebäude, in dem der Gemeindesaal und die freiwillige Feuerwehr untergebracht waren. Zwei Armeefahrzeuge parkten auf dem schmalen Grundstück. Er betrachtete die Fahrzeuge im Außenspiegel und fragte sich, was die hier wohl zu suchen hatten. Gleich darauf erschien das Halbrund des Hafens direkt zu seiner Linken. Wasser. Sein Magen krampfte sich zusammen und hob sich ein wenig. Scharen von Möwen und Krähen hatten sich über dem Kai versammelt. Wenn es irgendwo einen Toten gab, waren Vögel immer an Ort und Stelle. Vögel und Ungeziefer. Auf diese Aasfresser konnte man immer zählen. Weiter vorn parkten Autos zu beiden Seiten der Straße. Am Dorfkai schien es irgendeinen Auflauf zu geben. Dreißig oder vierzig Leute hatten sich dort versammelt und starrten auf etwas, das auf dem Betonboden lag. Chase hielt am Ende einer
78 Reihe parkender Autos auf dem Kiesstreifen an und nahm seine Sonnenbrille ab. Nichts war so unbeliebt wie ein Polizist mit Sonnenbrille inmitten einer Menschenmenge. Er legte die Brille auf dem Armaturenbrett ab und stieg aus seinem Streifenwagen. Dann setzte er sich die Mütze auf, drückte sie fest und überprüfte die Verriegelung seiner Waffe im Holster. Im Näherkommen schnappte er Gesprächsfetzen von Leuten auf, die am Rand der Menge standen: »... ja noch nie gesehen... so 'n Anblick... von unter dem Boot hoch...« Er erreichte den Rand der Versammlung und bahnte sich mit einem mehrmaligen »Entschuldigung« einen Weg hindurch. Die Angesprochenen blickten erst zu ihm auf, bevor sie Platz machten, doch schließlich öffnete sich eine Gasse in dem Gedränge, die ihm freien Blick auf den Gegenstand des allgemeinen Interesses bot: ein Hai, schneeweiß und so grell leuchtend im Sonnenlicht, dass Chase unwillkürlich die Augen zusammenkniff und sie mit der Hand beschattete. Das könnte was sein, sagte er sich. Das könnte wohl was sein. Er bückte sich und betrachtete eingehend den Kopf des Hais. Das Tier hatte rosarote Augen, wie zwei Ringe aus rohem Fleisch inmitten von grellem Weiß. Ein Albinohai. »Das ist ganz was anderes«, krähte eine ältliche Stimme über ihm. Chase blickte neugierig hoch und sah eine alte Frau in Schürzenkleid und mit Kopftuch zu ihm herunterschauen. Sie zwinkerte ihm zu und neigte den Kopf in einer für Neufundland typischen Geste des Grußes leicht zur Seite. »Haben Sie schon mal so was gesehen?«, fragte sie.
»Nein, ich muss zugeben...« »Nee, haben Sie nicht, was?« »Wo kam der her?«, fragte er, während er zusah, wie ein Junge den Hai mit einem Stock anstieß und dann rasch zu seinen Freunden zurückrannte. Bestimmt eine Mutprobe. »Von dem Boot da«, sagte die alte Frau und deutete auf einen grün-weißen Krabbenkutter. »Hat mit seinen gewaltigen Kiefern einen Krabbenkorb gepackt und nicht mehr losgelassen. Die mussten ihn mit 'ner Stange wegschlagen. Zuerst war er
79 auch gar nicht weiß.« Die Alte entblößte grinsend ihre zahnlosen Kiefer, rosarot wie die eines Babys. »Ist erst weiß geworden, als sie draufeingeschlagen haben.« Chase musste an den Seeskorpion denken, der sich feuerrot verfärbt hatte, wie als Reaktion darauf, der Luft ausgesetzt zu sein. Vom Boden neben seinen Füßen kam ein röchelnder, zittriger Laut, halb Stöhnen, halb Grummeln, während sich das Tier erbrach. Ein Gestank wehte über Chase hinweg, der ihn das Gesicht verziehen und sich die Hand an die Lippen pressen ließ. Die alte Frau griff nach seinem Arm. Ein paar Leute wichen angstvoll zurück, und einige rangen erschrocken nach Luft, als sich die Kiefer des Hais mechanisch öffneten und die Reihen scharfer, krummer Zähne auseinander glitten. Eine fleischfarbene Flüssigkeit sammelte sich in seinem Unterkiefer, in solcher Menge, dass es wie verwesendes Fleisch an einem Mordschauplatz roch. Der faulige Gestank drang einem bis ins Mark. »Wo bleibt der Puppenkopf?«, murmelte Chase leise und bemühte sich, nicht zu atmen. »Puppenkopf?«, fragte die alte Frau zurück. »Sind Sie jetzt übergeschnappt oder was?« Chase ließ das rosarote, geöffnete Maul des Hais nicht aus den Augen und beobachtete, wie sich die Muskeln des Schlunds in einem beunruhigenden Rhythmus kontrahieren, als wollten sie drohendes Unheil abwenden. Ein verklebter Haarschopf kam im Schlund zum Vorschein und schob sich nach oben, die nasse Wölbung eines Schädels, eine glänzende Stirn, offene Augen, bärtige Wangen. Der Kopf löste sich aus dem Maul und kullerte wie eine verkrümmte Rübe über den Beton, bis er vor Chases Füßen liegen blieb. Obgleich Chase sich geschworen hatte, auch bei der schlimmsten Katastrophe immer ruhig und gefasst zu bleiben, wich er vor Unbehagen einen Schritt zurück. Noch mehr Leute rangen nun erschrocken nach Luft und versuchten, mehr Abstand zwischen sich und den Schädel zu bringen. Ein Raunen ging durch die Menge. »Heilige Maria, Mutter Gottes!«, rief eine Frau aus und bekreuzigte sich. Eine andere verzog das Gesicht und stammelte
79 ein »Oh, lieber Herrgott«, wobei sie sich die Hand vor die Augen hielt und nur noch zaghaft zwischen ihren Fingern hindurchzuspähen wagte. Es war kein Puppenkopf, sondern der Kopf eines Mannes. Auf dem fleckig grünen Gesicht lag ein Ausdruck von Verblüffung, das Haar war nass und verklebt. Die alte Frau ließ Chases Arm los, nur um mit der Hand darauf zu klopfen und auszurufen: »Heilige Mutter Gottes, das ist der Kopf von Kevin Pottle. Dem Mann von der Edyth.« »Nein«, entfuhr es einer schockierten jungen Frau. »Und ob«, bekräftigte die Alte. Der Name Kevin Pottle machte die Runde in der versammelten Schar, und der Geräuschpegel stieg. Chase starrte die alte Frau fassungslos an. Er spürte seinen Magen mit unangenehmer Deutlichkeit. »Was?«, war das Einzige, was er herausbekam. »Kevin Pottle. Vier oder fünf Jahre ist das jetzt her, seit der auf See verschollen ist. Seine Leiche hat man nie gefunden. Da gab's einen Sturm, vom Schlimmsten überhaupt. Viele Fischer von hier sind dabei auf See geblieben. Und da kommt noch mehr.« Die alte Frau nickte in fester Überzeugung. »Wenn das mal kein Zeichen ist, ein Kopf im Bauch von 'nem Fisch.« »Ein Zeichen?« Chase traute seinen Ohren nicht: abergläubisches Geschwätz in dieser Zeit. Er bemerkte, dass die Augen in dem Kopf ihn aufmerksam betrachteten.
»Da kämen Sie nie im Leben drauf, was das verheißt.« Die alte Frau streckte sich zu seinem Ohr hinauf und flüsterte im Brustton der Überzeugung: »Eine schlimme Zeit der Abrechnung für alle, die's miterleben.« Obwohl Sonntag war, hatte die Krankenhausleitung von Port de Grave einen Gerichtsmediziner aus St. John's kommen lassen, Dr. Basha, einen kleinwüchsigen Mann mit zimtfarbener Haut und einem schmalen, jedoch angenehmen Gesicht. Dr. Basha hatte das Krankenhaus angewiesen, die Leiche von Lloyd Fowler für eine Untersuchung aufzubewahren. Im Krankenhaus angekommen, sichtete er die vorliegenden Informationen und nahm dann
80 sowohl an Fowler als auch an Andrew Slade eine ausführliche Autopsie vor. Der Leichnam von Muss Drover sollte tags darauf exhumiert werden. Außerdem hatte Basha Blut- und Gewebeproben von Donna Drover und anderen, die unter den Atembeschwerden litten und an Beatmungsgeräten hingen, untersucht. Die Leichen von Lloyd Fowler und Andrew Slade hatte bereits der Pathologe des Krankenhauses, Dr. Peters, einer Autopsie unterzogen. Es war nichts Ungewöhnliches entdeckt worden. Fowlers Fall wurde als »natürlicher Tod« eingestuft, und Andrew Slade war an einer Kopfverletzung mit Hämatom infolge seines Sturzes gestorben. Was Donna Drover anging, so ließ sich kein Anzeichen eines Virus oder einer Infektion feststellen. Die Anzahl der weißen Blutkörperchen war normal. Auch eine Computertomografie hatte keine Narben oder Tumorbildungen am Hirnstamm zum Vorschein gebracht, von wo aus automatische Körperfunktionen wie Atmung, Herzschlag, Blutdruck, Schlucken, Schlafmuster und Körpertemperatur gesteuert wurden. Das Krankenhauspersonal hatte die Neuigkeiten mit Erleichterung aufgenommen und drückte die Daumen, dass keine weiteren Todesfälle auftraten. Das Letzte, was sie - oder irgendjemand sonst jetzt noch brauchen konnten, war eine Panik. Gegenwärtig stieg schon die Anzahl der Anrufe in der Notaufnahme. Mehr und mehr Leute machten sich Sorgen wegen Atemproblemen oder fürchteten, die Luft in der Gegend von Bareneed könne von einem Virus oder etwas Chemischem verunreinigt sein. Dr. Thompson war von Dr. Basha über die bevorstehenden Autopsien informiert worden und hatte darum gebeten, anwesend sein zu dürfen. So war er, neben dem Chefarzt des Krankenhauses, einer der Ersten, der Dr. Bashas Beobachtungen während der Untersuchung der beiden Leichen zu hören bekam: »Keine Anzeichen von Schädigung in den Lungen.« Basha hatte die Schädeldecken abgenommen und beiden Leichen die Gehirne entnommen, um den Hirnstamm zu untersuchen. »Keine Anomalitäten am Hirnstamm.« Fachmännisch hatte Basha eine
80 lange Liste von Möglichkeiten abgearbeitet, während er Organe aufschlitzte oder Proben wog und sich Notizen auf seinem Klemmbrett machte. »Andrew Slade starb an einem Hämatom«, verkündete Dr. Basha mit leuchtenden Augen und einem strahlenden Lächeln. »Natürliche Todesursache im Fall von Lloyd Fowler. Schlicht und ergreifend.« Trotz der Tatsache, dass Dr. Basha die Diagnose von Dr. Peters bestätigt hatte, verließ Thompson das Krankenhaus unbefriedigt. Er kletterte in seinen Rover, um nach Bareneed zu fahren und die Slades zu besuchen, wie er es schon am Vortag vorgehabt hatte, bevor Andrew so plötzlich gestorben war. Thompson war fast die ganze Nacht im Krankenhaus gewesen, hatte sich jedoch nach fünf Uhr morgens etwas Zeit für ein Nickerchen im Praktikantenzimmer stehlen können. Er brauchte dringend eine Rasur und eine ordentliche Runde Schlaf, doch momentan war es wichtig, mit jemandem über die Tode zu reden. Er brauchte genauere Informationen, um beruhigt zu sein. Zwar hatte Dr. Bashas Bericht nach Entwarnung geklungen, doch Thompson irritierten diese jüngsten Todesfälle auf eine Art und Weise, die nur jemand nachvollziehen konnte, der tagaus, tagein in dieser Ortschaft lebte. Zwei der Toten waren seine Patienten gewesen. Lloyd Fowler hatte ihn wegen Atemnot aufgesucht, Andrew Slade war am Vorabend seines Todes ebenfalls deshalb behandelt und dann vom Krankenhaus nach Hause geschickt worden.
Thompson wollte den Slades sein Beileid aussprechen und bei dieser Gelegenheit fragen, ob ihnen irgendetwas Seltsames an Andrew aufgefallen war. Sollte einer aus der Familie Anzeichen von Atembeschwerden zeigen, so würde Dr. Thompson höchstpersönlich dafür sorgen, dass derjenige sofort ins Krankenhaus gebracht und zur Beobachtung dabehalten würde. Auf der Shearstown Line kam Thompson ein grüner Armeejeep in rasendem Tempo entgegen. In Sekundenbruchteilen war er an ihm vorbei. Thompson blickte in den Rückspiegel und fragte sich, was wohl jemanden vom Militär dazu bringen mochte, so schnell zu
81 fahren. Flüchtig erwog er, Sergeant Chase mit seinem Handy anzurufen, um eine Beschwerde einzureichen, aber was hätte das schon gebracht? So hoffte er nur, der Jeep würde kein Kind überfahren. Die Shearstown Line war ein karger Streifen praktisch baumlosen Landes, auf dem kleine Häuschen verloren inmitten klumpiger, steiniger Erde standen. Halb verfallene Schuppen mit schiefen Wänden und eingesunkenen Dächern säumten die uneingezäunten Grundstücke hinter den Häusern. Hie und da lehnte Brennholz an einem Schuppen, und jede achte oder neunte Einfahrt war von einem demolierten Autowrack verunstaltet. Die Gegend wirkte verlassen, doch das war sie nicht. Thompson gruselte bei der Vorstellung, hier zu leben, und doch empfand er eine Ehrfurcht vor diesen Menschen und ihrem schonungslosen, brutalen Dasein. Viele der Bewohner kannte er aus seiner Praxis. Sie ernährten sich praktisch ausschließlich von Frittiertem und von Fleisch, das sie mit eigenen Händen erlegt hatten. Thompson ging ein wenig vom Gaspedal und nahm die Abzweigung nach Bareneed. Die Landschaft veränderte sich jetzt merklich. Nadelbäume, Hartriegel und Ahornbäume wuchsen entlang der Straße und rund um die gut in Stand gehaltenen Häuser und kleinen Scheunen, in denen früher auch Fischereigerätschaften aufbewahrt worden waren. Was für ein Unterschied zwischen Shearstown und Bareneed, dachte sich Thompson. Die zwei Ortschaften waren wie Tag und Nacht, wie seine Mutter es immer ausgedrückt hatte. Doch Thompson hatte mit angesehen, wie es mit Bareneed seit dem Verbot der Kabeljaufischerei bergab gegangen war. Leute zogen weg aufs Festland, andere wurden verbittert und apathisch angesichts der großen Ungerechtigkeit, die die Regierung ihnen gegenüber begangen hatte, indem sie ihnen ihre Lebensgrundlage entzogen hatte. Viele Einwohner besaßen noch den feurigen Geist der Neufundländer und die Findigkeit echter Inselbewohner, doch für ungefähr die Hälfte war eine ganze Lebensart zerstört worden, und die Niedergeschlagenheit war mit Händen zu greifen.
81 Die Zufahrt zum Haus der Slades hinauf war eine lange, gewundene Schotterstraße voller Schlaglöcher. Sie führte in beständiger Steigung hinten ums Haus herum, wo zwei alte, aber anscheinend funktionstüchtige Autos geparkt waren. Ein Motorschlitten rostete auf dem Rasen vor sich hin, und etwas weiter weg stand ein gelbes Geländefahrzeug frontal vor dem Felshügel, der sich in den blauen Himmel erhob. Alles schien in seinem eigenen Stadium von Verfall befangen, ein bisschen Shearstown in Bareneed. Thompson parkte seinen Jeep und stieg aus. Er drehte sich um und ließ den Blick über das Dorf schweifen: den Hafen zu seiner Linken und die Häuser vor ihm, die hingebettet in dem geschützten Tal zwischen den zwei Hügelketten lagen. Sogar das Critch-Haus, in dem er gestern Nacht in dem Sturm das Blackwood-Mädchen besucht hatte, konnte er sehen, am Hang gegenüber vom Dorf. Jetzt war von Regen keine Spur. Er nahm an, dem Mädchen ging es besser. Sonst hätte er von dem Vater gehört. Weiter im Osten erblickte er den alten Kirchturm, der durch die Baumwipfel hervorlugte. Ein herrlicher Rundblick, um den sich die meisten reißen würden, doch an so geistloses Volk wie die Slades war er verschwendet. Während er die Holzstufen zum Hintereingang hinaufschritt, tadelte sich Thompson dafür, schlecht von den Slades zu denken. Auf der Veranda angekommen, brach er plötzlich mit dem linken Fuß durch ein Loch in den Holzplanken, sackte seitlich weg und verrenkte sich heftig den Knöchel. »Verfluchter Mist!« Er fing sich gerade noch, hüpfte zur Seite und starrte wütend auf die Stelle, wo eine morsche Planke nachgegeben hatte. Ein stechender Schmerz tobte in seinem
Knöchel. Das würde eine schöne Schwellung geben. »Mist, Mist, Mist!« Er hüpfte weiter herum, bis er nicht mehr konnte und sich mit dem Kopf an die Hauswand lehnen musste, wobei er versuchte, den Schmerz zu vertreiben, indem er die Augen zusammenkniff. Er spürte, wie sich der Schmerz seinem Höhepunkt näherte. Da war es. Er kniff die Augen noch fester zusammen. Genau. Da kam es. Jetzt. Er hielt vollkommen still, die Muskeln angespannt, und wartete,
82 bis der Schmerz abzuebben begann. Schweiß trat ihm auf die Stirn. Er zog ein Taschentuch aus seiner Gesäßtasche, tupfte sich die Stirn ab und ließ sich ein paar Augenblicke Zeit, um sich zu fassen. Als er gerade die Faust hob, um anzuklopfen, wurde die innere Tür plötzlich aufgerissen, und die äußere Fliegentür flog nach außen auf und knallte ihm ungebremst gegen die Stirn. Er fluchte erneut, wich stolpernd zurück und griff sich mit beiden Händen an die Stirn. Der heftige Schmerz trieb ihm Tränen in die Augen. »Himmel noch mal!« Jenseits der Türschwelle stand ein Kind und kicherte. Thompson verspürte auf einmal einen wilden Zorn in sich, der ihm die Röte in die Wangen trieb. Er riss die Augen auf. Der Aufprall hatte wirklich wehgetan. Vor ihm stand Bonnie Slade, eine pummelige Sechsjährige, splitternackt und mit einem tief in einem ihrer verkrusteten Nasenlöcher versenkten Finger. Sie schaute Thompson wortlos an, während ihr Finger grub und bohrte, sich dabei geschickt krümmte und schließlich die Trophäe ans Licht beförderte. Thompson wandte den Blick ab, hörte jedoch, wie Bonnies fleischige Lippen sich schmatzend schlossen, das Mädchen sich mit einem Kichern umdrehte und, einen Schwall vollkommen sinnloser Worte plappernd, ins Haus zurückstürmte. Joseph hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan. Er hatte an Robins Bett gesessen und Wache gehalten, nichts gegessen, sich überhaupt kaum gerührt. Nur seine Pillen hatte er eingenommen. Wie viele, daran konnte er sich nicht mehr erinnern. Jedenfalls genug, um sich ruhig zu stellen. Sein Körper genoss dieses Abtauchen in einen Zustand der Inaktivität und sein Gehirn anscheinend noch mehr. Erst hatte er Ativan genommen und dann Wachmacher, um nicht einzunicken. Pillen waren wirklich ein Segen der heutigen Zeit, eine Huldigung an den Erfindergeist der Menschheit. Winzige weiße Tabletten, von Menschen geschaffen, um den Stress zu lindern, den die Menschheit sich selbst bescherte. Einfach genial! Er hoffte nur, dass sie ihm auch noch den Rest seines Lebens reichen würden.
82 Die Sonne war gemächlich und grandios in einem diffusen Meer von Licht aufgegangen, das der Inbegriff von Erleuchtung war. Dieser Sonnenaufgang hatte ihn bis zum Bersten erfüllt. Das vorher düstere Zimmer war jetzt strahlend hell. Er stand auf und stellte fest, dass ihn die Bewegung nicht anstrengte, sondern etwas Befreiendes hatte. Während Robin noch tief und fest schlief, ging Joseph hinaus an die frische Luft und blickte zu Claudias Haus hinüber. Es war eine so eigenwillige Konstruktion. Mehr moderne Fabel als Legende. Die Luft schmeckte frisch und wohltuend. Unmöglich, sich irgendeine Ungerechtigkeit auf der Welt vorzustellen, geschweige denn hier, im magischen Land von Bareneed! Plötzlich fiel Joseph auf, dass er etwas im Arm trug, etwas Weiches, das ihm fast den Blick auf den Weg versperrte. Ihm fiel ein, dass er ja Decken aus dem Schlafzimmer mit heruntergebracht hatte, um sie - oder sich selbst - im Kofferraum zu verstauen und von diesem bedrohlichen Ort zu verschwinden. Aus Gründen, die ihm selbst nicht recht klar waren, fesselte ihn das Solarhaus mehr und mehr. Seine Architektur. Das ganze Glas, in dem sich der blaue Himmel spiegelte. Und irgendwo innen drin wie ein trauriger Schwan Claudia. Sie war ihm im Lauf der Nacht mehrmals durch den Sinn gegangen. Ungefähr um fünf Uhr morgens hatte er sich überlegt, ob er ihr einen Besuch abstatten sollte. Einmal glaubte er gar, er wäre schon aufgestanden, um loszugehen, doch dann kam er plötzlich zu sich und stellte fest, dass er reglos dasaß. Vor seinen Augen nur Robins Bett. Er ließ die Decken in den Kofferraum fallen. Sie nahmen fast den ganzen Raum ein. Würde er alles unter bekommen? Er schaute entgeistert zum Critch-Haus zurück. Es war groß. Solide gebaut. Was sollte er bloß mitnehmen? Nur die Dinge, die er hergebracht hatte. Keine Möbel. Er würde
einen Lastwagen brauchen, wenn er alles im Haus in Besitz nehmen wollte. Das Haus selbst müsste zerlegt werden und zu allererst die Fenster ausgebaut. Erneut spähte er zum Solarhaus hinüber. War das Claudia in
83 dem oberen Fenster? Sie musste es sein. Die Gestalt war zu groß, um die zierliche tote Tochter zu sein. Er winkte heftig, doch sein Enthusiasmus zeitigte keinerlei Erwiderung. Es war überhaupt nicht Claudia, sondern nur eine Spiegelung von Dingen im Fenster - Licht, Wolken, Himmel. »Ah-oh«, entfuhr es Joseph in dem Gefühl eines innerlichen Sinkens. »Höchste Zeit, was zu essen.« Vielleicht briet Claudia ja gerade was Leckeres zum Frühstück. Pfannkuchen mit Ahornsirup. Er kicherte angesichts der Vorstellung von Claudia, wie sie Pfannkuchen wendete, in ihren Pantoffeln, die aussahen wie aus irgendeinem bedrückenden Roman aus dem neunzehnten Jahrhundert. Wie sahen damals Pantoffeln aus? Auf jeden Fall wären sie zu klein für ihre Füße. Sie müssten wehtun, das war der entscheidende Punkt. Unterdrückung. Claudias ständiges Gefühl von Abgetrenntheit, sowohl von ihrem körperlichen Selbst als auch von der Welt. Die Pantoffeln wären aus der Haut früherer Liebhaber gemacht, zusammengenäht mit Zwirn aus deren Sehnen dem Einzigen an diesen Liebhabern, das zu etwas nütze war. Das wäre Claudias Geheimnis, und wenn sie dann Joseph gegenüberstand, würde sie ihn mit brennenden Augen anstarren, die zwei Löcher in sein plötzlich blutleeres Herz sengen würden. Und das Sahnehäubchen auf dem Kuchen, der Speck in der Mausefalle, der Staub auf dem Kaminsims wäre ihr schleppendes, eingekerkertes Lächeln, das die teuflische Tatsache besiegelte, dass sie für ihn unerreichbar war und er ein bloßes Werkzeug ihrer Wut. Die Pfannkuchen wären aus zerriebenen Würmern und Spinnen. Der Sirup bestünde aus profanen Flüssigkeiten, die Claudia sich mit rauschhaftem Entzücken von den Fingern leckte. Sei endlich still, schalt er sich selbst. Hatte er es laut gesagt? Oder hallte der Ausruf nur im Inneren seines Kopfs nach? Der Schrei einer Krähe. Sei still. Das Klingeln eines Telefons. Ein Buch, das auf den Tisch geknallt wurde. Aber wie sollte er denn still sein, aufhören, ablassen? Claudia war die pure Faszination: verloren und erotisch, erbittert und zerstörerisch in ihrem Künstlertum, auf eine Art und Weise, die ein schmutziges Grinsen auf Josephs Gesicht rief. Ehrlich gesagt,
83 hatte Joseph sich selbst ab und zu heimlich einen Blick in Kims Romane genehmigt. Hatte hie und da eine Seite überflogen und, wenn Kim nicht zu Hause war, sogar ein paar Kapitel gelesen. Er hatte geglaubt, dass ihm dies einen tieferen Einblick in die weibliche Wesensart verschaffen würde. Aber während Kim nur Romane aus dem neunzehnten Jahrhundert las, erschien ihm Claudia wie aus einem solchen entstiegen. Sie war eine überzüchtete Überbringerin von Unglück, Elend, Angst, von allem Pikanten, bereit, mit rasender Geschwindigkeit in die Tiefe zu stürzen, und Joseph wollte ein Teil dieses Sturzes sein, ja, das wollte er. Das hatte er verdient. Es wäre das schönste, tragischste, herzzerreißendste Spektakel, das man sich vorstellen konnte. Er könnte als Claudias zu Grunde gerichteter, wahnsinniger Liebhaber weiterleben, weggesperrt im flachen Hohlraum unter dem Dachstuhl, kriechend, nur nachts herausgelassen, um gehetzt durch die düsteren Wälder mit ihren modrigen Geheimnissen zu streifen, während drinnen im Haus fette Kerzen in ge-töpferten Haltern oder lange, dünne in hohen schmiedeeisernen Ständern in allen vier Ecken des ausladenden Raums brannten. Claudia würde in einem durchsichtigen Nachthemd im diffusen Schein der Kerzen stehen, die Hände ausgestreckt, um ihn aus dem Wald hereinzulocken, nach ihm hungernd, genau wie er nach ihr, voller Liebe für ihn, nicht wegen seiner Entstellung, sondern wegen seiner zügellosen und unerfüllten Liebe zu ihr. Gemeinsam sehnten sie sich nach der Berührung der warmen Haut des anderen, dem Körper, der sich nahtlos anschmiegte. Bereitwillig würde er sich um ihretwillen noch weiter entstellen lassen, ein schauriger Außenseiter, ein Unhold mit abgetrenntem Schwanz. Mit Kim war es ein so langer, ermüdender Kampf gewesen. Der Niedergang ihrer Beziehung und danach der juristische Mahlstrom, der ihn so vollkommen ausgelaugt, leer gesaugt hatte. Rechtsanwälte. Ratten. Die Zeit war reif für einen Schuss wohligen Errötens. Die Zeit war reif,
wieder einmal an sich zu denken und an die köstliche, leidenschaftliche Qual, die ihm beschert würde, wenn die Liebe ihn aufs Neue enttäuschte.
84 Ich bleibe hier, sagte er sich trotzig. Ja, es war ein wundervoller Morgen, ein wundervoller Morgen, um in einer erfundenen Welt auf die Knie gezwungen zu werden. Die Sonne war eben erst aufgegangen, sanftes Orange überall. Tief am Himmel hing sie über dem Meer und lag warm über dem Wasser. Ein Krabbenkutter lud etwas Großes, Weißes aus. Eine Menschenmenge hatte sich am Kai versammelt. Da war nichts Geheimnisvolles dabei. Er würde da nichts Geheimnisvolles dulden. Das Gras war trocken, und Joseph konnte riechen, wie sich der Boden erwärmte, wie die stumme Hitze einen Tag extremer Temperaturen verhieß. Warum nicht bleiben? Es ist perfekt hier. Ich habe alles, was ich brauche. Das Wirkliche und das Eingebildete. Was für eine tolle Gelegenheit. Sei doch kein solcher Angsthase. Raff dich auf und ergreife die Gelegenheit beim Schopf. Besitzt du denn gar keine Männlichkeit? Er ließ den Kofferraum offen und wandte sich zum Haus zurück. Bei dem Wort »Männlichkeit« fragte er sich auf einmal, ob er Kondome mitgebracht hatte. Hatte er? Nein, auf die Idee war er gar nicht gekommen. Er zog seine Brieftasche heraus und durchsuchte sie, weil ihm einfiel, dass er vor ein, zwei Monaten einmal auf der Toilette einer Bar in der Stadt ein Kondom gekauft hatte, nachdem er mit einer attraktiven Frau ins Gespräch gekommen war. Doch am Ende hatte er nicht den Mumm gehabt, es durchzuziehen. Er schaffte es einfach nicht, Kim zu betrügen. Jetzt stieß er in seiner Brieftasche auf ein Foto von Kim und Robin. Es war vor zwei Jahren aufgenommen worden. Er hatte die Kamera gehoben, den Sucher auf die beiden ausgerichtet und den Auslöser gedrückt. Und da waren sie jetzt. Saßen auf einer Holzliege, die er für den Garten gezimmert hatte, Robin auf Kims Schoß. Die Liege stand im Schatten, unter den ausladenden Zweigen der Hartriegelsträucher. Robin und Kim hielten einander im Arm und lächelten. Kim sah wunderschön aus. Wenn er sie nicht gekannt hätte, hätte er gesagt, sie sei die schönste Frau, die er je gesehen hatte. Nur leider war er kein Fremder für sie, der einfach an ihre Tür klopfen und warten konnte, dass sie herauskam, um sie so zu sehen, wie sie gesehen
84 werden sollte, frei von all dem emotionalen Schutt. Und da war Robin. Immer reizend und voller Leben, egal wann. Ob sie schon auf war? Er war erst vor ein paar Minuten mit den Decken heruntergekommen, und da hatte sie noch geschlafen. Ihre Stirn hatte sich normal angefühlt, und sie atmete regelmäßig. Das Fieber war weg. Wo war es wohl hin? Es war doch Energie, oder? Oder doch nicht? Robin würde nicht sterben. Das war furchtbar wichtig, dass sie nicht starb. Er fand das Kondom, zog es heraus und hielt es zwischen zwei Fingern fest. Schutz. Schutz vor Krankheit. Schutz vor Empfängnis. Schutz vor Komplikationen. Er schob es in die Brieftasche zurück und steckte sie weg. Auf einmal brach übermächtig die Erkenntnis über ihn herein, dass sie wegfahren mussten. Lad das Auto voll und fahr los. Schutz vor Komplikationen. Das war ja dumm. Ein dummer Gedanke. Wieder im Haus ging Joseph in die Küche und blickte sich um. Sie hatten noch nicht einmal alle Lebensmittel ausgepackt. Der Hunger nagte an seinem flauen Magen. Als sein Blick auf die Müslipackung fiel, riss er sie auf und schaufelte sich eine Hand voll Müsli in den Mund, einfach so, staubtrocken. Er zog die Kühlschranktür auf und erwartete, fein säuberlich aufgereiht in jedem Fach die Köpfe von Ertrunkenen vorzufinden, die ihn mit dumpfem Ausdruck abwartend ansahen. Wie er auf so einen Gedanken kam, wusste er selbst nicht. Vielleicht hängt das mit meinem radikalen Wahnsinn zusammen, überlegte er. Oder vielleicht mit diesem Drang, die Kühlschranktür aufzureißen. Er knirschte mit den Zähnen, und es fühlte sich gut an. Er wollte zubeißen, verletzen. In den Kühlschrankfächern standen Lebensmittel, die er für den Urlaub mitgebracht hatte. Garantiert keine menschlichen Köpfe. Nicht einmal ein winzig kleiner, den er wie einen Kürbis hätte zertreten können. Er zog den Milchkarton aus dem obersten Fach, setzte ihn an die Lippen und trank in Riesenschlucken. Das war kalt. Es war Milch. Kuhmilch. Warum Kuhmilch? Warum
nicht Milch von Menschen? Muttermilch. Milch von menschlicher Güte. Er fühlte sich völlig gerädert, wie ein Ju
85 gendlicher, der die ganze Nacht Bier trinkend und Musik hörend durchgemacht hatte. Er wusste, dass diese messerscharfe Klarheit, diese fast manische Präzision, schon bald in sich zusammenbrechen und einer nervigen Gereiztheit weichen würde. Er musste schlafen, dann würde sich sein Nervenkostüm wieder erholen. Falls er noch eines hatte. Zieh es raus unter der Haut mit der Pinzette, Faser für Faser. Das Telefon an der Wand. Er starrte es an. Warum? Es war ein Telefon genau wie jedes andere. Grau. War es nicht vorher blau gewesen? Kim. Sie hatte gelächelt auf dem Foto. Sie hatte so verführerisch ausgesehen. Vertraut und unkompliziert. Er könnte sie anrufen, wenn er die Milch leer getrunken hatte, ihr sagen, dass sie ganz sicher heimkämen. Vielleicht würden sie sich aussöhnen. Gelächter. Ein Schwall Gelächter aus der Konserve. Wer weiß? Wieder schweiften seine Gedanken zu Claudia hinüber, allein in dem leeren Haus. Eine vermisste Tochter. Unheimliche Streichermusik. Warum hatte er bloß dieses Gefühl, Claudia im Stich zu lassen? Ausgerechnet Claudia. Er schüttete weiter Milch in sich hinein. Junge, war das gut. So kalt, dass es seine Eingeweide gefrieren ließ. Warum hatte er das Gefühl, schon wieder sich selbst im Stich zu lassen? Er wollte bleiben, wurde ihm jetzt klar, aber nicht in diesem Haus. Er wollte bei Claudia bleiben. Er wollte Neues von ihr lernen, sich neu beleben lassen von den Einzelheiten eines Lebens, das noch nicht von einer gemeinsamen Vergangenheit verunreinigt war. Eine neue Geliebte. Frische Entdeckungen und ein jungfräulicher Körper zum Berühren. Zusammen in der Shopping Mall neue Korbmöbel aussuchen. In einen Wäscheladen gehen. Identische Schrotflinten für sie beide aussuchen. Joseph hörte, wie Robin die Treppe heruntergestapft kam. Er setzte den fast leeren Milchkarton ab und sprang hinaus, um ihr entgegenzugehen. Seine Tochter. Vater und Tochter. »Guten Morgen, mein Liebling«, rief er, noch bevor er die Treppe erreichte. »Was für ein großartiger Tag, um am Leben zu sein.« Er lächelte strahlend und leckte sich den Schnurrbart aus Milch von der Oberlippe, während er mit den Augen den Flur
85 absuchte, um sicher zu sein, dass dort oder auf der Treppe niemand stand. »Robin?« Er lauschte. Unheimliche Streichermusik. Ein leiser Windhauch. Sonst nichts. Ein tiefes Bassgrummeln im Boden. »Robin?« Er spähte die Treppe hinauf, griff nach dem Geländer und riss daran, als er hinaufging. Im oberen Stock angelangt, wandte er sich zu Robins Zimmer um und ging hinein. Das Bett seiner Tochter war leer. »Robin?« Er fuhr herum und schoss in den Gang hinaus, um in seinem Zimmer nachzusehen. Da war sie. Da war Robin, lag schlafend in seinem Bett, den Kopf auf dem Kissen, die Lippen leicht geöffnet und mit dem zittrigen Hauch eines Lächelns. Wer hatte sie da hingelegt? War sie selbst hier herübergetappt? Hatte sie sich versteckt? Joseph ließ sich langsam auf dem Bettrand nieder. Es war ein Spiel. Sie wollte ihn bloß ärgern. Das war lustig, aber auch respektlos. Er konnte nicht anders als lächeln, als er sie so sah. Er lächelte, bis ihm der Kiefer wehtat, dann rüttelte er sie sanft und sagte: »Du verstellst dich bloß, das ist nicht nett.« Er erwartete, dass sie jeden Augenblick in Gelächter ausbrach, weil er sie durchschaut hatte. »Wach auf, du Schlingel.« Doch sie rührte sich nicht. Joseph rüttelte sie erneut, diesmal etwas heftiger, verzweifelt oder fordernd. »Robin?« Seine Tochter schlug die Augen auf und blickte ihn mit schläfrigem Unmut in den zusammengekniffenen Augen an. »Was?«, fragte sie mit verwirrter, erschöpfter Stimme und rieb sich ein Auge. »Guten Morgen«, sagte er. »Es ist Morgen.« »Morgen, Daddy«, erwiderte sie, und ihre Gereiztheit wich einem erwachenden Lächeln, bei dem ihm ganz warm ums Herz wurde. Sie gähnte. »Ich bin müde.«
Joseph würde in die Stadt zurückfahren und Robin bei Kim abliefern. Nein, warum sie abliefern? Sie konnte bei ihm in der Wohnung bleiben. Aber wenn er sie zu Kim brachte, dann konnte er hierher zurückkommen und Claudia besuchen, konnte end
86 gültig seinen sowieso schon inkontinenten Verstand verlieren, ohne sich über Mitbetroffene Gedanken machen zu müssen. »Es ist schön draußen«, sagte Robin mit Blick aufs Fenster. Unwillkürlich stand Joseph auf und sah ebenfalls hinaus. Er bemerkte, dass die Menschenmenge am Kai unten jetzt größer geworden war, zweifelsohne aus Neugier über den wie auch immer gearteten Wahnsinn, der von dem Krabbenkutter geladen worden war. Joseph wurde das Gefühl nicht los, dass es etwas mit dem roten Seeskorpion zu tun haben musste, den Robin gefangen hatte. Sogar ein Polizeiauto stand dabei. Oder vielleicht ging es auch um die Wasserleichen, die er gesehen hatte. Um all das eben. Um all das ging es. Draußen jenseits des Kais schaukelte ein kleines Fischerboot gemütlich vor sich hin. Josephs Blick folgte dem Kielwasser. Seine Gedankengänge gefielen ihm nicht. »Was siehst du, Daddy?«, fragte Robin. »Ein Boot«, entgegnete er. »Ein winziges Boot, das aufs Meer hinausfährt.« Während sein Boot langsam dahintuckerte, stellte sich Doug Blackwood genüsslich vor, wie er ein paar hübsche Kabeljaue fangen würde. Er steuerte geradewegs auf die offene Hafenmündung zu und war froh, weg vom Land und auf seinem geliebten Wasser zu sein, wo er sich am wohlsten fühlte. Heute Morgen war er in seinen Pick-up geklettert und von seinem Haus an der Codger's Lane aus Richtung Westen aufgebrochen, vorbei am Gemeindezentrum, an einem kleinen Menschenauflauf am Atkinson-Kai und sogar an ein paar Soldaten der Armee weiter oben an der Straße. Die Soldaten hatten seinen Pick-up scharf beobachtet, jedoch nichts unternommen oder gesagt. Nur mit den Augen waren sie ihm gefolgt, als er vorbeifuhr. Mussten immer alles beobachten, diese Kerle. Schickten die jetzt tatsächlich die Armee, um die Fischer vom Fischen abzuhalten? Waren diese Mistkerle jetzt schon derart verkommen? Doug hatte vor Wut gekocht, als er an ihnen vorbeifuhr, und schon gehofft, sie würden ihn rauswinken und mit ihren Fragen nerven,
86 etwa ob er vorhätte, Kabeljau zu angeln. Denen würde er was erzählen, denen würde er eine solche Tirade halten, dass ihnen Hören und Sehen verging. Bramble, Dougs weiße Husky-Hündin, die er vor Jahren heulend wie ein Baby in den Himbeersträuchern hinter der Scheune aufgelesen hatte, war auf dem Beifahrersitz beim Anblick der Soldaten in Gebell ausgebrochen. Das war ungewöhnlich, da Bramble sonst nie jemanden anbellte und vollkommen harmlos war. Sie benahm sich in letzter Zeit komisch, hing faul herum und winselte wegen nichts und niemandem. Und eine besondere Abneigung schien sie gegen diese Soldaten zu hegen. Was in Gottes Namen hatte die Armee überhaupt hier in Bareneed zu suchen?, fragte sich Doug einmal mehr, während das Kielwasser seines Boots eine vom Dorfkai wegführende Spur hinter ihm herzog. Beim Anblick der leeren Sitzbank ihm gegenüber wurde ihm ein wenig einsam ums Herz. Für gewöhnlich nahm er Bramble mit aufs Meer hinaus, doch wegen ihres Verhaltens in jüngster Zeit hatte er beschlossen, sie lieber im Auto zu lassen und das Fenster einen Spalt weit zu öffnen, damit sie Luft bekam. Wenn sie anfing, bellend im Boot herumzuspringen, dann ertranken sie am Ende beide noch. Links von ihm lag die stillgelegte Fischfabrik vor dem Felsmassiv der Landzunge. Seit Jahren kreuzte er nun schon vor der Landzunge herum, doch jedes Mal, wenn er daran vorbeifuhr, erfüllte ihn der eindrucksvolle, majestätisch hoch aufragende Felsblock mit einem ehrfürchtigen Schauer. Der Atkinson-Kai, an dem die großen Krebs- und Krabbenkutter anlegten, lag zu seiner Rechten. Inzwischen hatte sich dort eine Menschenmenge versammelt, die gaffend und die Hälse reckend um etwas herumstand, was dort aus dem Wasser gezogen worden war. Doug achtete nicht weiter auf sie. Das war nur klatschsüchtiges Volk. Doug würde ihnen ganz bestimmt nicht die Freude machen, sich auch nur im Ansatz interessiert zu zeigen. Wahrscheinlich war es ja doch
nur wieder irgendein dämliches Fest, das die Gemeinde organisiert hatte. Ständig gab es jetzt irgendeine Feier oder Festlichkeit, irgendeinen Zirkus oder ein Tamtam. Die
87 waren im Stande und feierten noch ein Fest auf dem Kai, bei dem sich dann irgendwelche dreckigen Monarchisten groß aufspielten. Ständig schleppte der verdammte Gemeinderat neue Touristenhorden an, um ihnen die Schönheit von Bareneed vorzuführen. Als ob man davon irgendjemanden überzeugen müsste. Herrje, das war hier von jeher der schönste Fleck auf Gottes Erde! Warum musste man das den Leuten denn noch mit Gewalt einbläuen? Wie kamen die bloß auf die Idee, damit jetzt auch noch hausieren gehen zu müssen, um am Ende vielleicht ein Vermögen draus zu schlagen, wo doch das Vermögen schon vor ihren Augen lag? Die Leute von Bareneed vorzuführen, als wären sie irgendwelche Ausstellungsstücke im Museum: die letzten verbliebenen Fischersleute in historischer Tracht für irgendein saudummes Geschichtsspektakel. Schauen Sie nur, meine Damen und Herren, immer hereinspaziert. Schauen Sie nur, wie sie an ihren Haken zappeln wie Fische und um ihren letzten Atemzug ringen. Ein hübscher Köder. Schauen Sie nur, wie ihre Boote verrotten und ihre Kinder keinen blassen Dunst mehr haben, wie ein Kabeljau überhaupt aussieht. Kein Kind mehr, das mit dem Vater raus aufs Meer fährt, kein Vater mehr, der sein Handwerk an die Jungen weitergibt. Es war ein Verbrechen gegen das Dasein selbst. Als Doug zehn Jahre alt war, war er in das Skiff seines Vaters geklettert und zum ersten Mal zum Fischen mit hinausgefahren. Pechschwarze Nacht herrschte, als sie zusammen mit den anderen Booten vor und hinter ihnen aus der Bucht aufbrachen, und ihre Lampen schaukelten im Takt mit der Bewegung ihrer Boote. Als das Ufer längst still und dunkel hinter ihnen lag, hatte Doug das eigenartige Gefühl gehabt, zu schweben, nicht auf dem Wasser, sondern in der Luft, hin und her, auf und ab, wie Geister, die über dem Meer dahinziehen. Seine Augen lernten auf eine ganz neue Weise sehen. Zwei Stunden oder länger - er konnte die Zeit nicht genau schätzen - waren sie in der Schwärze dahingesegelt, bis auf einmal winzige Lichtpunkte, wie Glühwürmchen, in der Ferne auftauchten. Doug blickte zu seinem Vater am Ruder des Skiffs auf
87 und sah, dass er gelassen geradeaus schaute. Glühwürmchen gab es in Neufundland gar nicht, doch Doug hatte Erzählungen über Feen und die Lichter, die sie des Nachts begleiteten, gehört. Von seinem Aussichtspunkt im Boot aus nahm er an, dass sie sich einer geheimen Ansammlung von Feen-Behausungen weit draußen auf dem Meer näherten. »Feen«, hatte er zu seinem Vater gesagt, der darauf nur gelächelt hatte. Doug hatte die Größe der Lichter unterschätzt. Schon bald schienen sie größer zu werden, heller, bis Doug und sein Vater schließlich nicht mehr auf sie zu-, sondern in sie hineinfuhren, zwischen den erleuchteten Klecksen hindurchsegelten, die links und rechts von ihrem Boot schwebten. Es waren die Lampen der versammelten Boote, die an ihren Ankerleinen auf dem Wasser schaukelten, während die Männer auf das erste Tageslicht warteten, um ihre Netze auszuwerfen. Die Stimmen der Männer in der Nachtluft, der Dialekt ihrer Kameradschaft, war etwas, was Doug nie mehr vergessen sollte. Es war, als ob sie sich in einem großen, gemütlichen Raum befanden, doch anders als in einem Raum waren die Stimmen vom Kissen der samtigen See gedämpft. Die Stimmen um ihn her waren forsch, witzelten, lachten. Alle warteten darauf, zu fischen, und es herrschte keinerlei Feindseligkeit oder Konkurrenz unter den Männern. Jeder hatte seinen Platz und war froh, Teil einer Gemeinschaft zu sein, schwimmend, auf See. Doug konnte sich nicht daran erinnern, bewusst mit dem Pfeifen begonnen zu haben. Doch genau das tat er, und plötzlich erstarben die Stimmen und die Bewegung in den Booten ringsum, eine nach der anderen, bis kein Laut mehr zu hören war. Vollkommene Stille herrschte, nur noch sein Pfeifen war zu vernehmen. Die gelben Lichter der Boote schaukelten um ihn her, und es war, als seien die Männer und Jungen in den Booten, deren dunkle Umrisse sich vage gegen den allmählich heller werdenden, königsblauen Himmel abzeichneten, auf einen Schlag zu Grunde gegangen und
existierten nur noch als Silhouetten. Oder vielleicht waren sie auch nur verstummt, um sein Pfeifen zu wür
88 digen, dessen schöne Melodie in alle Richtungen übers dunkle Wasser schallte und selbst den leeren Himmel erfüllte. Doug genoss es, blies mit Inbrunst seine Melodie durch die geschürzten Lippen, als er auf einmal spürte, wie eine Hand machtvoll seine Schulter packte. Aufblickend sah er das verärgerte Gesicht seines Vaters im schummrigen Lampenschein. »Schhh«, mahnte ihn der Vater in ernstem Ton. »'s bringt großes Unglück, aufm Wasser zu pfeifen.« Und natürlich war der Fang an jenem Tag auch prompt magerer als sonst ausgefallen, und Dougs Gedankenlosigkeit war in aller Munde und erntete schweren Tadel. Doch Dougs Zerknirschung hielt nur ein paar Tage an. Ein Fischer blieb er sein Leben lang. Sein Vater war Fischer gewesen und sein Großvater. Sein einziger Bruder, Peter, war ebenfalls Fischer gewesen, doch der hatte dieses Leben aufgegeben und war nach St. John's gezogen, um ein lahmarschiger Städter zu werden. Jetzt war Doug der letzte verbliebene Mann in der Familie. Und der einzige Fischer. Und zu allem Überfluss hatte sein Neffe, Joseph, sein letzter lebender Verwandter, auch noch die Unverfrorenheit besessen, Beamter der Fischereibehörde zu werden. Was für ein himmelschreiender Humbug war denn das nun? Und jetzt war Joseph auch noch in Bareneed, gleich ein Stück die Straße rauf von ihm aus. Er hatte es von Aida Murray gehört, die es von der Frau wusste, die das Haus gekauft hatte und es jeden Sommer an irgendwelche Gaffer aus der Stadt vermietete. Dougs eigener Neffe, Joseph - ein Fischereispion der Regierung. Die Regierung hatte angeordnet, dass niemand mehr Kabeljau fischen durfte. Sie hatten die Kabeljaufischerei verboten. Verboten. Jetzt patrouillierten Beamte der Fischereibehörde in großer Zahl auf den Gewässern, um sicherzustellen, dass die Leute sich nicht heimlich was aus dem Meer angelten. Ihr dürft nicht mehr fischen, verkündete dieser Haufen käsiger Bürokraten. Vertäut eure Boote. So einfach war das. Bleibt an Land und lernt einen neuen Beruf. Bildet euch weiter in neuen Technologien, Wirtschaftswissenschaft, Haustierstyling. Doug konnte
88 sich schon sehen, wie er einem Pudel das Fell kämmte. Eher würde er das Vieh kahl rasieren und ihm einen ordentlichen Tritt in den Hintern versetzen. Von der Regierung hatten die Fischer Geld erhalten, das ihnen beim Übergang von einer Existenz in die Nicht-Existenz helfen sollte. Almosen waren das, sonst nichts. Scheißalmosen von der Regierung. Auch nichts anderes, als von der öffentlichen Wohlfahrt zu leben. Lieber würde Doug zum Teufel gehen, als diesen Mistkerlen von Regierungsbeamten hinter ihren Schreibtischen, wo sie von Tag zu Tag noch käsiger und lästiger wurden, auch noch eine fette Akte mit seinen persönlichen Daten zu bescheren. Das ging die einen feuchten Dreck an. Und auf ihr schmutziges Geld pfiff er. Die hatten kein Recht, ihm zu sagen, was er zu tun und zu lassen hatte. Wenn er Kabeljau fischen wollte, dann würde er Kabeljau fischen. Was in drei Teufels Namen bildeten die sich eigentlich ein? Dasselbe galt für das Jagen von Elchen. Wozu brauchte man denn bitte schön eine Jagdlizenz oder eine Jagdsaison, wenn die Viecher einem direkt in den Garten spazierten? Die konnte man mit einem 12-Kaliber durchs offene Fenster erlegen, wenn man den Lauf auf dem Sims ablegte. Bum, und das Tier fiel einfach um. Da hatte man seinen Elch fürs Jahr. Einer reichte schon. Zerlegen und einfrieren, ein paar Päckchen davon an Verwandte und Freunde weiterreichen, die sich über eine Portion Elchfleisch freuten, und das war's. Dazu war doch die Natur da, um für die Menschen zu sorgen. Deshalb hatte der liebe Gott doch Tiere auf der Erde und Fische in den Ozeanen erschaffen. Damit wir uns damit die hungrigen Mägen füllen können. Was war denn so christlich daran, anders zu leben und Zeug aus Dosen zu fressen, das irgendwelche Wissenschaftler fabriziert hatten? Jetzt schufen sie schon selber Tiere. Spielten Gott, und wenn man dann das Zeug aß, das sie da hergestellt hatten, was passierte denn dann mit einem? Was machte denn das aus einem? Ihr werdet noch an mich denken, sagte sich Doug. Da köchelte was vor sich hin. Aber besser, man grübelte nicht über diese Dummheiten nach. Stattdessen richtete Doug seine Gedanken auf den schönen Kabeljau, den er mit heimbringen würde. Einen
89 leckeren Fischeintopf würde das geben. Und dann würde er gleich noch ein paar mehr fangen und zu Joseph raufbringen. Die Vorstellung, was Joseph für ein Gesicht machen würde, rief ein Schmunzeln auf seine Lippen. Das würde ein Spaß werden. Oder vielleicht ließ er den Fisch einfach in ein bisschen Wasser in der Spüle zurück, wo Joseph ihn irgendwann finden würde. Was konnte dieser Stadt-Neffe da schon machen? Seinen eigenen Onkel verhaften? Vielleicht sollte er Joseph anrufen, wenn er nach Hause kam, sagte sich Doug. Er hatte zwar die Nummer nicht, aber die musste ja im Buch stehen. Die Sonne stieg inzwischen am endlos blauen Himmel empor, und der orangefarbene Hauch des Sonnenaufgangs war verschwunden. Kein Lüftchen regte sich. Als Doug die Landzunge umschiffte, öffnete sich zu seiner Linken die Wasserfläche und gab den Blick auf den Küstenabschnitt von Port de Grave frei. Rechts von ihm, im Osten, ragte die zerklüftete, braune Felsküste von Bareneed auf. Doug lachte vor sich hin, so vollkommen war der Ausblick. Immer, wenn ihn jemand fragte, was er da draußen in seinem Boot machte, versicherte er eifrig, dass er nach Lachsforellen fischte. »Oh, ja, mein Freund«, sagte er dann. »Lachsforellen. Schöner Fang. Keine Frage.« Und dazu schmatzte er genüsslich mit den Lippen. »Ganz prächtig.« Doch die Frager ließen sich von seinen Märchen nicht täuschen. Sie sahen es Doug an dem Schalk in seinen Augen an, dass er log. In seinen besten Zeiten hatte er so manche Lachsforelle gefangen. Große, silbrig wie Lachse, aber mit einer V-förmigen Schwanzflosse anstatt der geraden, wie beim Lachs. Das waren Vier- oder Sechspfünder gewesen. Gerade die richtige Größe, um Steaks daraus zu schneiden. Es gab noch andere im Dorf, die Kabeljau fischten. Das Wasser war immer noch voll davon, und die ausländischen Trawler mit ihren Schleppnetzen, die draußen vor der Zweihundert-Meilen-Zone ankerten, fischten noch jede Menge davon ab. Fremde, die ihre Gewässer leer fischten. Gemeine Räuber waren das, von der schlimmsten, dreckigsten Sorte. Für einen Haufen Fremde
89 war es legal, ihre Fischbestände zu plündern, aber die Einheimischen durften nicht einmal einen einzigen Kabeljau aus dem Wasser ziehen - den Fisch, von dem sich schon Generationen ihrer Vorväter ernährt hatten. Als Doug die kleinere Landzunge mit ihren grau-braunen Felsen am Ende von Bareneed erreichte, stellte er den Motor ab. Hoch droben, rechts über ihm, stand die Kirche, auch wenn er sie nicht sehen konnte. Die Wand der Steilküste versperrte ihm die Sicht. Mit Port de Grave zu seiner Linken steuerte er sein Boot in Richtung Blind Island, das ungefähr zehn Kilometer entfernt lag, flach wie ein Pfannkuchen. Blind Island hatte einst mit die ergiebigsten Eisenerzminen der Welt. In den fünfziger Jahren war Doug ein paar Mal drüben gewesen und hatte gesehen, wie großstädtisch es dort zuging. Sogar berühmte Sängerinnen aus den Staaten flogen sie damals ein. Die Schiffe mit Eisenerzladungen waren im Zweiten Weltkrieg von den U-Booten der Nazis beschossen worden, direkt hier vor der Küste. Die Wracks lagen noch immer auf dem Meeresgrund. Doch jetzt waren die Minen von Blind Island geschlossen und die Stadt nur noch ein Schatten ihres früheren Selbst. Auch die Reichtümer der Insel hatten Fremde abgeräumt. Doug zog seine Angel hervor, die er unter dem Brett, auf dem er saß, verstaut hatte. Hier draußen auf dem Wasser, das war eine ganz andere Welt. Wer nie in einem Boot gesessen hatte, der konnte nicht ermessen, was das war, das Meer. Doug rückte den Schild seiner Mütze zurecht und beugte sich über den Bootsrand hinaus. Das Wasser war klar und grün. Er verzichtete inzwischen auf seinen Kabeljau-Jigger. Der war zu offensichtlich für die Hubschrauber von der Fischereibehörde. Stattdessen bediente er sich seiner Forellenrute und eines großen Red-Devil-Spinners mit Drilling an einer starken Schnur. Er hob die Rute, klappte den Schnurfangbügel zurück und ließ den Köder ins Wasser plumpsen. Schlinge um Schlinge wickelte sich die Schnur ab, während der Spinner sank. Das war genug Schnur. Doug drehte einmal an der Rolle, um den Bügel wieder zuzuklappen. Dann bewegte er die Rute ein
90 mal auf und ab und noch einmal. Er ließ den Blick rundum schweifen und schenkte seiner Schnur keine allzu große Beachtung. Er blickte zur Sonne auf. Sie stand inzwischen so hoch, dass sie sengend heiß war. Wenn er nicht aufpasste, würde er sich einen Sonnenbrand im Nacken holen. Nur gut, dass er seine Mütze nicht vergessen hatte. Die Sonne brannte darauf. Ein lästiges, surrendes Geräusch drang von fern heran, wie ein Moskito, aber zu mechanisch dafür. Er tippte auf ein Rennboot. Als er sich in Richtung Port de Grave umwandte, entdeckte er es, wie es mit spitzer Nase über den Wellen dahinjettete und auf seinem ziellosen Kurs hart auf und ab schaukelte. Was für ein Schwachsinniger fuhr wohl in so einem Boot auf dem Wasser herum? Nur jemand, der keinerlei Respekt vor der See hatte. Jemand, der darauf aus war, sich umzubringen. Warum musste das Boot denn so schnell fahren und einen solchen Lärm machen? Das Geräusch wurde lauter und ebbte wieder ab, als das Motorboot wendete und in die Richtung zurückfuhr, aus der es gekommen war. Doug wünschte sich, es wäre ein Moskito, den man einfach mit einer raschen Handbewegung aus dem Wasser schlagen konnte. Dann kehrte wieder Stille ein, und Doug drehte ein paar Mal extra langsam an der Angelrolle. Ein gewaltiger Platsch hinter seinem Boot ließ ihn verdutzt herumfahren. Er dachte schon, es sei vielleicht eine Lachsforelle, die aus dem Wasser sprang, obwohl es dafür zu früh am Tag war. Die zeigten sich eigentlich erst spätnachts. Vielleicht ein Plattfisch, der aufs Wasser klatschte. Die konnten einen Heidenlärm machen. Von der Stelle, wo der Platsch hergekommen war, gingen kleine Wellen aus. Als sie Dougs Boot erreichten, schaukelte es sanft. »Verflucht großer Fisch«, murmelte Doug und stieß dabei halb amüsiert, halb ungläubig die Luft aus. Von vorn kam noch ein Platsch. Doug fuhr wieder nach vorn herum und sah eben noch einen gewaltigen Schwanz untertauchen, schlank und grün und mit breiten, bläulichen Schuppen. »Was in Gottes Namen...?« Konnte das ein Thunfisch sein?
90 Nein, nicht dick genug. Der Schwanz war zu lang und spitz zulaufend. »Douglas«, rief auf einmal eine lebhafte Frauenstimme, und dann hörte er einen erneuten Platsch hinter sich. Er fuhr so panisch herum, dass das ganze Boot schaukelte und er sich fast jeden einzelnen Muskel in Nacken und Schultern gezerrt hätte. Sein Boot schwankte jetzt heftig auf den Wellen, die von vorn und von hinten kamen. Er drehte sich wieder nach vorn, um die Kreatur beim nächsten Sprung aus dem Wasser zu erspähen, und da sah er sie vor sich, in ihrer ganzen Glorie. Das glatte, orangefarbene, tropfnasse Haar, die weiten, schmachtenden, braunen Augen, das Gesicht eines Engels und die nackten Brüste, auf denen das herabperlende Wasser glänzte. Das Geschöpf hob die weichen, korallenroten Arme über den Kopf, bog den Rücken durch und tauchte rückwärts wieder ins Wasser ein, wobei sein türkisfarbener Schwanz sich aufbäumte, einen Schlenker durch die Luft beschrieb und schließlich mit einem so gewaltigen Platsch verschwand, dass das Wasser in Dougs entgeistertes Gesicht spritzte. »Heiliger Herr Jesus und Maria im Himmel!«, stammelte er. Robin fühlte sich müde, obwohl sie wach war. Immer, wenn sie träumte, und je wirklicher ihr der Traum vorkam, wachte sie auf und war nach wie vor ganz schläfrig. Sie zog den zerknautschten Saum ihres Nachthemds, der sich um ihre Beine herum verheddert hatte, nach unten und tappte zum Fenster hinüber, um zu sehen, was ihr Vater da beobachtete. Suchend blickte sie auf den Hafen hinunter und hielt nach einem Boot Ausschau, doch da war keins. Dann sah sie aus dem Augenwinkel einen grünen Armeejeep die Straße heraufkommen. Ihr Vater wandte ebenfalls den Kopf. Der Jeep blieb vor Jessicas Haus stehen. Auf der Beifahrerseite stieg ein Soldat aus. Er ging rasch den Gartenweg hinunter und hielt dabei ein Klemmbrett hinter dem Rücken. Als er näher zum Haus kam, verlor Robin ihn aus den Augen. »Was schaust du?«, fragte sie ihren Vater.
90 »Sieht so aus, als ob wir gleich Besuch kriegen«, sagte er, als spräche er mit sich selbst.
Nach einer kleinen Weile kam der Soldat wieder zum Vorschein. Er schritt die Straße herauf und kam auf ihr Haus zu, während der Jeep im Schritttempo folgte. »Das ist ein Soldat«, sagte Robin. »Er kommt zu uns.« Ihr Vater spähte zum Türrahmen hinüber. Robin hörte, wie sich Schritte dem Haus näherten, dann klopfte es vernehmlich unten an der Haustür. Sie rannte zur Schlafzimmertür, wartete dort, um ihren Vater vorbeizulassen, und folgte ihm dann nach unten. Als die Haustür aufging, sah Robin den Soldaten dastehen. Er wirkte noch ziemlich jung. Er hatte ein schmales Gesicht, perfekt gescheitelte Haare und Pickel auf der Stirn. Er stand kerzengerade und hatte die Hände auf dem Rücken. »Guten Morgen, Sir. Ich bin Vollmatrose Nesbitt von der kanadischen Marine.« »Guten Morgen«, erwiderte ihr Vater in einem Ton, als ob er beunruhigt wäre, es jedoch nicht zeigen wollte. »Was gibt's denn?« Der Soldat warf einen Blick zu Robin hinunter und lächelte, wobei sich seine guten Farben, das Gelb und das Rosarot, intensivierten. Dann richtete er den Blick wieder auf Joseph. »Wir gehen im Dorf von Haus zu Haus, um zu fragen, ob es allen gut geht.« »Oh, uns geht's gut. Prima, wirklich, ganz prima.« Der Soldat beobachtete ihren Vater und nahm mehr wahr, als dieser zeigen wollte. Der Soldat konnte nämlich Dinge sehen, genau wie Robin. Das sagte ihr der kräftige Schein seiner rötlichen Farben. Es war dasselbe Rosarot wie bei der alten Frau, die den Flieder gepflückt hatte. »Und warum das?«, fragte ihr Vater jetzt. »Ich meine, warum fragen Sie nach? Ist es wegen uns? Haben wir irgendwas verbrochen?« »Es gab ein paar Krankheitsfälle, und wir wurden angewiesen, bei allen Bewohnern vorbeizuschauen, um sicher zu sein,
91 dass da nichts umgeht.« Wieder schenkte der Soldat Robin ein freundliches Lächeln und zwinkerte noch dazu. »Was für eine Art von Krankheit denn?« »Wir wissen es nicht genau, Sir.« »Was Ernstes? Eine Seuche oder so was?« Ihr Vater lachte nervös und spähte zu dem Jeep hinaus. Der Motor lief noch immer. Ein weiterer Soldat saß am Steuer, schaute gerade zu Josephs Wagen herüber und notierte sich etwas. »Eine Seuche, das wäre ziemlich unangenehm.« »Ich weiß es wirklich nicht, Sir, aber ich nehme es nicht an. Wir wurden nur gebeten, bei allen die Runde zu machen.« »Also, uns geht es jedenfalls gut, obwohl meine Tochter letzte Nacht Fieber hatte. Der Doktor war aber da, und jetzt ist hier im Haus nicht mal mehr ein Huster zu hören. O-beinig sind wir auch nicht, und wir haben beide noch alle Zähne.« »Nun, das freut mich.« Der Soldat lächelte, zog sein Klemmbrett hinter dem Rücken hervor und machte sich ein paar Notizen. »Wenn Sie noch so nett wären, mir Ihre Namen zu sagen, dann war's das auch schon.« »Unsere Namen?« »Wir stellen eine Namensliste aller Einwohner zusammen. Eine Anordnung.« »Von wem?« »Befehle, Sir.« »Befehle?« Eine Stille trat ein, in der Robin erst das Gesicht ihres Vaters, dann das des Soldaten beobachtete. »Ich muss nur einfach Ihre Namen notieren, Sir«, wiederholte der Soldat. Ihr Vater grinste. »Ich bin Vladimir Zandmark, und das ist Quintata«, sagte er rasch und warf dabei Robin einen verschwörerischen Blick zu. »Ihre Mutter ist Mexikanerin.« Der Soldat schrieb die Namen nieder, ohne sie sich buchstabieren zu lassen. »Sie sind Vater und Tochter?« »Ja, natürlich. Sie ist der Vater, ich bin die Tochter.« Das Lachen ihres Vaters schien schallender auszufallen als beabsichtigt.
91 »Ist sonst noch jemand im Haus, Sir?«
»Nein. Nicht, dass ich wüsste. Ein paar Geister vielleicht. Sie wissen schon. Altes Haus und so.« Er leckte sich mehrfach die Lippen beim Sprechen. »Voll von Geistern. Nicht, dass wir die einladen würden. Sie haben hoffentlich keine besondere Vorliebe für Geister? Ich habe Sie doch nicht beleidigt?« »Nein, überhaupt nicht.« Er lächelte flüchtig und ein wenig schüchtern, dann überflog er noch einmal die Notizen auf seinem Klemmbrett. »Und sind Sie aus Bareneed?« »Nein. Wir sind aus dem Urlaub. Ich meine, auf Urlaub hier.« »Verstehe.« Der Soldat wandte sich an Robin. »Und, gefällt es dir?«, fragte er. »Ist eine hübsche Gegend, oder?« Robin nickte. »Schön.« Dann wandte er sich wieder an ihren Vater: »Könnte ich bitte Ihre Adresse zu Hause haben?« »Warum?« »Falls wir etwas weiterverfolgen müssen.« »Was weiterverfolgen?« In der Nähe des Hafens fuhren mehrere Autos auf der Unteren Straße entlang. Robin sah, dass es Militär-Jeeps waren wie der vor ihrem Haus. Sie steuerten das rote Gemeindezentrum an, vor dem bereits eine Reihe von Jeeps parkten. Der Soldat an der Haustür warf einen Blick über die Schulter. »Ihre Heimatadresse bitte«, sagte er mit Blick zum Hafen hinunter. Auch Robins Vater beobachtete die Jeeps. Dann wandte er sich an den Soldaten, nannte ihm irgendwelche Ziffern und einen erfundenen Straßennamen und schaute wieder zu den Jeeps hinunter. Robin sah, dass drei Soldaten gerade das Gemeindezentrum betreten wollten, als ein anderer herauskam. Die neu Angekommenen blieben stehen und salutierten. »Hatten Sie vor, aus Bareneed wegzufahren, Sir?« Ihr Vater runzelte die Stirn. »Was? Wegfahren. Warum?« »Wir bitten die Anwohner, im Dorf zu bleiben, bis wir Näheres über die Art der Krankheit wissen.« »Geht es um irgendein Virus? Ist die Luft verseucht?«
92 »Ich habe keine Ahnung, Sir. Wirklich nicht.« »Wir sollen hier bleiben? Sie meinen hier, in diesem Haus?« »Ja, Sir.« »Dürfen Leute hereinkommen?« »In Ihr Haus, Sir?« »Nein, nach Bareneed. Von außerhalb.« »Ja, Sir.« »Also, das ergibt doch keinen Sinn.« »Das mag schon sein, Sir. Ich befolge nur meine Befehle.« »Na gut.« Robins Vater nickte. »Vielleicht verstehe ich Sie ja noch irgendwann. Einen ganz schön verwirrenden Job haben Sie da.« »Vielen Dank dann, und entschuldigen Sie die Störung.« Der Soldat drehte sich um, ging zum Jeep zurück und machte die Beifahrertür auf. Bevor er einstieg, wandte er sich noch einmal zu Robin um und rief: »Schöne Ferien noch.« Ihr Vater winkte lächelnd, bis der Jeep verschwunden war. Dann warf er einen verstohlenen Blick zu Robin, um sicher zu sein, dass sie nicht schaute (sie schielte aber dennoch zu ihm hin), bedachte den wegfahrenden Wagen mit einem hochgereckten Mittelfinger und schlug die Tür zu. »Warum hast du gelogen, Daddy?«, fragte Robin. Sie hatte den Soldaten nämlich gemocht. »Ich habe nicht gelogen, ich habe nur ein paar Sachen erfunden.« »Was ist der Unterschied?« Ihr Vater zuckte mit den Schultern. »Das hängt von deinem Glauben ab. Außerdem waren das Soldaten«, sagte er, als sei damit alles erklärt. »Soldaten operieren nicht im selben moralischen Bereich wie wir. Sie bringen Leute um. Wir tun so was nicht. Deshalb dürfen wir sie anlügen und müssen uns nicht dafür verantworten, nicht einmal vor einem Gericht und dem Gesetz. « »Oh.« Robin dachte einen Moment lang über diese neue Information nach. »Ich heiße aber nicht Quintata.« »Ehrlich?«
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»Der Soldat war nett.« »Es war ein Soldat.« »Er war nett.« »Warum zeichnest du nicht etwas?« »Ich will Jessica besuchen.« Ihr Vater stockte und sagte dann: »Die müsstest du erst mal finden.« »Ich weiß, wo sie ist.« »Wo denn?« Robin hob die Hand, wie um auf etwas zu zeigen, doch dann führte sie die Spitze ihres Zeigefingers an ihre Stirn und tippte sich mehrmals auf die Schläfe. Tippte und tippte. »Warum zeichnest du nicht was?«, fragte ihr Vater erneut. Diesmal wirkte er gar nicht glücklich. »Das tu ich doch schon«, erwiderte sie. »Merkst du das denn nicht?« Kim starrte auf ihren Computerbildschirm, eine Seite aus ihrem Artikel für Biojournal, mit dem sie kämpfte. Er sollte in nicht einmal zwei Wochen eingereicht werden. Mit müden Augen überflog sie noch einmal, was sie gerade umformuliert hatte: »Die Meeresflora und -fauna reagiert permanent auf Umweltfaktoren und Umwelteinflüsse wie Toxine, zu hohe oder zu niedrige Populationsdichte, Schwankungen der Wassertemperatur und elektronische Signale. So wird beispielsweise eine wachsende Inaktivität bei Walen, die Abnahme ihres Spieltriebs und der Rückgang der Walgesänge mit der Verbreitung des Sonars in Verbindung gebracht.« Die Worte wirkten schwerfällig, doch am schlimmsten war, dass es ihr nicht gelingen wollte, ihnen etwas mehr Eleganz zu verleihen. Jedenfalls nicht heute. Nicht mit diesen Gedanken im Kopf und ihrer Sorge um ihre Tochter. Sie griff nach ihrer Tasse und trank einen Schluck lauwarmen Kaffee. Doch egal, wie viel Kaffee sie trank, ihre Konzentration würde sich nicht verbessern. Sie merkte, dass sie insgeheim hoffte, das Telefon möge klingeln. Und wenn es klingelte, dann wollte sie, dass Joseph dran war und sie beschwor, zu ihm und 93 Robin nach Bareneed hinauszukommen. Dass er ihr signalisierte, dass alles in Ordnung war. In allerbester Ordnung, wie er immer sagte. Das würde die Dinge so viel leichter machen, als einfach vor seiner Tür aufzukreuzen. Kim stellte ihre Tasse ab. Seufzend blickte sie aus dem Augenwinkel zum Telefon hinüber. Es stand neben einem gerahmten Gedicht, das Robin im Kindergarten für Kim geschrieben hatte. Es handelte von einem Wal: Der große Wal schwimmt im blauen Meer; Mommy, ich liebe dich sehr. Der Hintergrund war mit bunten Streifen in Wachsmalkreide ausgemalt. Ein Regenbogen über einem Wal im Wasser. In der vorigen Nacht, als Robins Fieber hoch war, hatte Joseph noch angedeutet, dass er und Robin nach St. John's zurückkämen, doch Kim kannte ihn nur zu gut. In Situationen wie dieser, in der entschlossenes Handeln gefragt war, konnte man sich bei ihm nur darauf verlassen, dass er in einer halben Stunde ein Dutzend Mal seine Meinung änderte. Außerdem hatte er wahrscheinlich die ganze Nacht kein Auge zugetan. Er schlief nie, wenn ihn etwas belastete. Garantiert hatte er an Robins Bett gesessen und sie nicht aus den Augen gelassen, um sicher zu sein, dass es ihr gut ging. Man konnte über ihn denken, was man wollte, auf jeden Fall war er ein treu sorgender Vater. Wenn sie sicher wüsste, dass Joseph und Robin tatsächlich dort geblieben waren, sagte sich Kim, dann würde sie einfach in ihr Auto steigen und zu ihnen hinausfahren, ob mit oder ohne Einladung. Schließlich brauchte sie keine Einladung, um ihre Tochter zu sehen. Ihre Tochter. Was dachte sie bloß? Ja, natürlich würde sie rausfahren. Aber was, wenn sie am Ende auf dem Highway aneinander vorbeifuhren, in entgegengesetzten Richtungen? Ruf erst an. Ruf an. Kim schaute abwesend auf die Computertastatur hinunter, die auf einem Auszug lag. Joseph hatte ihn mit den Rollen einer Schublade unter die Platte des alten Holztischs montiert, der einst
93 Kims Urgroßmutter gehört hatte, einer draufgängerischen Frau, die in St. John's für die Suffragetten-Bewegung gearbeitet hatte. Joseph hatte den Tastatur-Auszug selbst entworfen und gebaut. Er funktionierte wunderbar. »Ist doch billiger, als einen neuen Schreibtisch zu kaufen«, hatte er fröhlich verkündet. Geld zu sparen machte ihn immer glücklich. Kim hatte sich oft über seine knauserige Art geärgert. Wenn sie den Auszug jetzt allerdings betrachtete, musste sie feststellen, dass er viel ansprechender war als ein neuer Schreibtisch. Joseph hatte ihn mit seinen
eigenen Händen gebastelt, und der Tisch hatte einen emotionalen Wert. Kim liebäugelte mit dem Ausschaltknopf ihres Computers. Wie gern würde sie ihn drücken, das System herunterfahren, alles verlieren, woran sie gerade arbeitete. Es einfach wegschieben. Wenn doch nur... Sie schnaubte bitter - es war ja unmöglich. Sie neigte den Kopf ein wenig zur Seite, dehnte Schultern und Nacken. Was gäbe sie nicht für eine Schulter- und Nackenmassage, ging es ihr durch den Kopf. Nach Bareneed fahren? Während sie noch überlegte, klingelte das Telefon. Sie griff hastig zum Hörer. »Hallo?«, fragte sie knapp. »Hi, Kim.« Es war nicht Joseph. »Luke?« »Genau der.« Luke Tobin, ein Exfreund und Kollege. Seit er von ihrer Trennung gehört hatte, rief er ständig an. Zwei Mal hatte Kim sich breitschlagen lassen, mit ihm etwas trinken zu gehen, doch schon beim ersten Mal war ihr vollkommen klar gewesen, dass sie nichts mehr für ihn empfand. Was es auch gewesen sein mochte, das sie einmal anziehend an ihm gefunden hatte, es war verschwunden. Ja, er ließ sie derart kalt, dass sie es kaum fassen konnte, ein halbes Jahr lang mit ihm geschlafen zu haben. Es war wohl einfach nur um den Sex gegangen. Luke war ein athletischer Typ und hatte jede Menge Ausdauer. Dennoch drehte sich ihr jetzt bei der bloßen Vorstellung, mit ihm zu schlafen, beinahe der Magen um. Bei ihrem zweiten gemeinsamen Abend war ihre Unterhaltung zu banalem Klatsch über gemeinsame Bekannte herabgesunken. Kim hasste Klatsch.
94 »Was machst du gerade?« »Vielleicht arbeiten?« »Woran?« »Einem Artikel.« »Worüber?« »Ist kompliziert.« Sie richtete ihren Blick, der am Kalender an der Tür gehangen hatte, auf den Bildschirm, las ein paar der Wörter, die sie geschrieben hatte, und war angewidert von sich selbst. Ein Kopfschmerz meldete sich hinter ihrer Stirn. Wenn sie den Nachmittag überstehen wollte, würde sie drei Ibuprofen einwerfen müssen. »So kompliziert wie ich?« »Viel komplizierter. Was nicht schwer ist.« Sie kicherte und fühlte sich gleich ein wenig besser. Sie hatte ganz vergessen, dass Luke sie auch zum Lachen bringen konnte. »Ich merke schon, dass du es kaum erwarten kannst, dich wieder in die Arbeit zu stürzen, also komme ich gleich auf den Punkt. Ich wollte dir nur sagen, dass ich wegfahre.« »Okay«, erwiderte Kim. »Bis dann.« Sie schwang auf ihrem Drehstuhl herum, um die Bücherregale nach dem Pillendöschen abzusuchen, das sie dort für diese ganz besonderen Arbeitskopfwehanfälle deponiert hatte. »Nein, dass du mich loswirst, ist noch gar nicht das verlockende Angebot. Die haben da in Bareneed eine unglaubliche Entdeckung gemacht.« »In Bareneed?« »Ja, warst du schon mal dort?« »Nein, das nicht.« »Aber du weißt, wo es liegt?« »Ja, nordwestlich von hier. Josephs Familie stammt da her. Joseph und Robin sind sogar gerade eben dort. Was denn für eine Entdeckung?« »Ein Albinohai. Schneeweiß, rosarote Augen. Ein echter Albinohai ...« »Das ist unmöglich.« »Entschuldigung, wenn ich da widersprechen muss. Hab's
94 aus einer vertrauenswürdigen Quelle. Boyd wohnt in der Gegend. Er war dort, hat ihn mit eigenen Augen gesehen.« Sosehr sich Kim auch anstrengte - was sie da hörte, wollte für sie keinen Sinn ergeben. Als Meeresbiologin hatte sie natürlich Erzählungen über Albinohaie gehört. Erst gestern hatte sie in Marine Nature einen Beitrag über die Geschichte solcher angeblicher Beobachtungen von Albinohaien durch Fischer gelesen. Doch nie konnte ein eindeutiger Beweis für die Existenz sol-
cher Tiere erbracht werden. Am Ende konnte sie kaum fassen, dass ein so oberflächlich recherchierter Artikel überhaupt in Marine Nature erschienen war. Das Niveau dieses Fachjournals ließ wohl etwas nach, zweifelsohne, um mit Sensationsgeschichten mehr Leser anzulocken. »Bist du das, die da so japst?« »Ich... Nein.« »Ich fahre jedenfalls raus, um mir das anzusehen. Das ist was Einmaliges, Kim. Der Stoff, aus dem Legenden sind.« »Das muss irgendeine Ente sein.« Kim schwirrte der Kopf vor all den Möglichkeiten, die sich da auftaten. Sie blickte aus dem Fenster, sah das Gras im Garten, den blauen Sommerhimmel, Josephs Vogelhäuschen, um das ein paar Finken herumflatterten. Ihr Blick wanderte wieder zum Bildschirm zurück. Wörter. »Das glaube ich nicht. Hast du Lust mitzukommen? Ein schneller Trip in einem schnellen Flitzer. Wird dir die Spinnweben von deiner ganzen Artikel-Schreiberei aus dem Kopf pusten. « Kim musste wider Willen lächeln. Eine Fahrt nach Bareneed mit einem legitimen Grund. Ein Albinohai! Also, natürlich war Robin legitimer Grund genug, doch das hier war etwas anderes. Ein Sonntagnachmittagsausflug und am frühen Abend wieder zurück und dabei nach Robin sehen und ihre aufgewühlten Gedanken beruhigen. »Na, überlegst du doch?« »Ja.« »Überleg nicht zu viel. Na gut, hier kommt das Beste.« Er räusperte sich und fuhr dann in majestätischem Ton fort: »Ich 95 werde höchstpersönlich die Verladung und den Transport des Hais beaufsichtigen. Wir packen ihn auf einen Tieflader und bringen ihn ins Institut.« Kim spähte zu ihrem Sekretär mit dem Rollo-Aufsatz hinüber. Dort saß sie, wenn sie Briefe an Freunde schrieb. Als sie das gerahmte Schulfoto von Robin sah, zögerte sie. Sie wollte auf keinen Fall, dass Robin sie mit Luke zusammen sah. Das würde ihr nur wehtun. Nichtsdestoweniger kreisten ihre Gedanken um den Albinohai. So ein Anlass und dazu noch die Gelegenheit, Robin zu sehen - wie konnte sie da Nein sagen? Sie konnte ja immer noch selbst hinausfahren. Außerdem hätte sie dann auch die Gelegenheit, sich das Haus näher anzusehen, in dem Joseph und Robin wohnten. Sie war neugierig, wie alles war. »Kim? Bist du noch dran, Kim? Erde an Kim?« »Ja, ja, 'tschuldigung. Wann fährst du los?« »In einer halben Stunde oder so. Aber wenn du noch mehr Zeit brauchst...« »Ich rufe dich in ein paar Minuten zurück.« »Okay. Prima. Ich bin da.« »Bis gleich.« Sie legte auf, griff nach der besagten Ausgabe von Marine Nature und blätterte die Seite mit der künstlerischen Darstellung eines gewaltigen Albinohais auf. War der Hai in Bareneed tot? Sie hatte nicht einmal gefragt. Ein Hai, aus dem das Leben entwichen war. Und die Farbe auch. Sie fragte sich, ob sie einen Film in ihrer Kamera hatte. Was, wenn Robin sah, wie sie mit Luke aus einem Auto stieg? Es wäre nicht schlimm, gesehen zu werden, wie sie mit Luke sprach, schließlich war er ihr Arbeitskollege, doch sie sollte in ihrem eigenen Auto kommen. Sie schlug die Zeitschrift zu und rief Luke zurück, um ihm zu erklären, dass sie sich lieber dort mit ihm traf. »Und was ist mit dem Trip in dem schnellen Flitzer?« »Hab kein Interesse, auf der Autobahn zu sterben.« »Ich werde ganz langsam fahren. Wenn du willst, kannst du sogar aussteigen und schieben, falls du dich dann wohler fühlst.« »Nein, danke, das würde auch nicht helfen.«
95 »Na gut.« Er seufzte übertrieben und fuhr in einem theatralischen Ton der Enttäuschung fort: »Dann sehen wir uns am Kai.« »Okay. Ich fahre in ein paar Minuten los.« »Bis dann also, schätze ich.«
Kim legte auf und starrte auf ihren Computerbildschirm. Sie beugte sich vor, schob die Maus an, klickte auf das X, um ihre Datei zu schließen, und dann auf das Symbol für Ausschalten. Dann wartete sie, bis die orangefarbenen Wörter erschienen, die ihr sagten, dass sie den Computer nun ausschalten durfte. Beim Druck auf den Schalter wurde der Bildschirm schwarz. Plötzlich herrschte Stille im Zimmer, und ihre Anspannung ließ etwas nach. Dr. Thompson beobachtete den leeren Türrahmen, in dem das nackte Slade-Mädchen gestanden hatte, und wartete, dass jemand anders an die Tür kam. Sein Knöchel war heiß und schmerzte fürchterlich. Vermutlich würde das Gelenk in den kommenden Stunden ziemlich anschwellen. Im Haus lief ein Fernseher. Thompson hörte die dramatische Begleitmusik einer Seifenoper, dann wurde anscheinend umgeschaltet, und man hörte, wie zwei Leute einander anbrüllten und immer wieder Schimpfwörter durch einen Piepton ausgeblendet wurden, während das Publikum schrie und johlte. Thompson hob erneut die Hand und klopfte an die Fliegentür. Allmählich ging ihm die Geduld aus. »Wer is 'n da an der Tür?«, fragte eine Männerstimme. Da niemand kam, rief der Doktor brüsk: »Dr. Thompson.« Der Mann hustete, doch sonst schien sich nichts im Inneren des Hauses zu rühren. Thompson klopfte erneut, diesmal eindringlicher. Die Männerstimme fluchte, dann erschien Wade Slades leichte, drahtige Gestalt im Türrahmen. Slade war nicht älter als fünfundzwanzig und hatte das seltsamste Haar, das Thompson je untergekommen war. Es war eine Mischung aus Blond und Orange und so dicht wie sein Schnauzbart. Er hatte traurige Augen, große 96 Sommersprossen übersäten sein gesamtes Gesicht, und seine Nase war offensichtlich mehr als einmal gebrochen gewesen, wie oft, konnte selbst Dr. Thompson nicht schätzen. Slade trug ein schwarzes T-Shirt der World Wrestling Foundation, auf das ein grimmig verzogenes Gesicht über einem Bibelspruch aufgedruckt war. »Sie haben da was auf der Stirn, Kumpel«, sagte Slade und zeigte mit einem sommersprossigen Finger. »Die Tür ist mir dagegengeknallt.« »Brauchte mal 'ne neue Feder.« Slade entblößte grinsend seine zwei abgeschlagenen Vorderzähne. »Dann muss es wohl Blut sein.« »Das muss es wohl.« »Hab leider keine Pflaster da.« »Wer ist 'n das?«, kreischte eine Frauenstimme hinter Slade. Slade beachtete sie gar nicht, ungefähr so, als wäre dies sowieso eine ständige Untermalung. Es war unverwechselbar Aggie Slades gellendes Organ. Egal, was für eine Krankheit diese Woche gerade in den Nachrichten war, Aggie hatte sie unweigerlich, und zwar in ihrer gemeinsten, fortgeschrittensten Form. Thompson stellte sich die Frau vor dem Fernseher sitzend vor, wie sie gebannt die Nachrichten verfolgte, als wären es die Bingo-Nummern, die auf dem Bildschirm aufleuchteten, und aus ihrem Sessel aufsprang, wenn der Sprecher einen Malaria-Ausbruch in New York verkündete. »Das ist's! Genau das hab ich! Genau das!« »Mein Beileid wegen Ihres Bruders«, brachte Thompson schließlich heraus. Die Wellen von Schmerz in seinem Knöchel waren allmählich nicht mehr ganz so intensiv. Wade Slade glotzte, sein Grinsen verschwand, er schlug die Augen nieder. Dann ließ er behutsam den Kopf sinken und fing an zu weinen. Er machte keine Anstalten, sein Gesicht zu verdecken, sondern drehte sich einfach um und ging, die innere Tür halb hinter sich zuschiebend, nach drinnen. Thompson wartete, doch niemand erschien anstelle von Wade Slade. Der Doktor hob schon die Hand, um erneut an die Fliegentür zu klopfen, da ging die innere Tür auf. Diesmal sprang Thompson hastig zu 96 rück, um nicht noch einen Schlag abzubekommen. Niemand war zu sehen. Thompson schaute sich um, ob es vielleicht windig war. Kein Wind. Er klopfte. »Wer ist 'n da an der verfluchten Tür?« Es war wieder die kreischende Frauenstimme.
Thompson erwog, auf dem Absatz kehrtzumachen und das Weite zu suchen. Ihm ging jetzt endgültig die Geduld aus. Doch dann kamen auf einmal Aggie Slades stapfende Schritte aus dem Wohnzimmer. Aggie war ein kurzer Stumpen von Frau mit einem gütigen Lächeln. Niemand hätte ihr je zugetraut, dass sie mit ihren eins fünfzig einen solchen Lärm verursachen konnte. Mrs. Slade war eine fromme Kirchgängerin, dabei aber jederzeit in der Lage, ohne mit der Wimper zu zucken, eine lästige Katze mit einem gezielten Messerstich ins Jenseits zu befördern, tags darauf zur Kommunion zu gehen und die Bluttat einem ihrer unseligen Leiden anzulasten. »Morgen, Doktor«, sagte sie. »Mrs. Slade. Mein herzliches Beileid.« Mrs. Slade schaute mit großen Augen. »Idiotisch, nicht wahr? Einfach hinzufallen und zu sterben. Dabei war er nicht mal krank wie ich.« Thompson fiel keine Entgegnung ein. Er bemerkte, dass seine Lippen leicht geöffnet waren. Das war wahrscheinlich für ihn ungefähr so, wie wenn man von jemand anderem sagte, dass ihm die Kinnlade herunterklappte. Er holte scharf Luft. »Ich habe mich gefragt, ob Andrew vielleicht irgendwelche Probleme hatte, gesundheitlicher Art.« »Er war fett wie 'n Ferkel.« »Nein, ich dachte eher an Atembeschwerden.« »Was?« »Ist Ihnen aufgefallen, dass er Mühe hatte zu atmen?« »Luft holen?« »Ja.« Sie schüttelte den Kopf. »Er hatte Allergien.« »Vielleicht. Aber hatte er vielleicht früher schon mal Atembeschwerden?«
97 »Was?« Mrs. Slade drehte den Kopf nach hinten und schrie: »Wade, ist dir aufgefallen, ob Andrew keine Luft gekriegt hat?« Ein Schluchzer drang aus dem Inneren des Hauses. Dr. Thompson räusperte sich. Mrs. Slade blickte ihn an, als wäre irgendwas nicht in Ordnung. »Ich bin heute gar nicht auf der Höhe«, gestand sie schließlich. »Ich hab Flecken.« Sie hielt einen Arm hoch und zeigte dem Doktor einen Ausschlag. »Von die Mäuse. Vielleicht diese Pocken da?« Thompson warf einen Blick auf ihren Arm. »Sieht eher nach einem Ausschlag aus, Mrs. Slade. Vielleicht haben Sie eine neue Seife verwendet? Eine Creme?« »Hab 'ne neue Flüssigseife in Port de Grave auf dem Flohmarkt gekauft. Fünf Cents die Flasche.« »Das ist es vielleicht. Eine allergische Reaktion.« »Ich bin einfach auf alles allergisch.« »Wann sind Ihnen Andrews Allergien denn zuletzt aufgefallen?« Mrs. Slade überlegte eine Weile. »Vor drei oder vier Tagen. Da hat er zum ersten Mal geheult. Hatte einen Heidenschiss.« Thompson lächelte knapp. »Also, noch einmal mein herzliches Beileid. Wenn Sie irgendetwas brauchen, kommen Sie einfach vorbei.« Mrs. Slade nickte. »Muss doch diese Flecken untersuchen lassen. Sind womöglich tödlich.« »Höchstwahrscheinlich. Am besten, Sie lassen sie wegoperieren.« Thompson machte vorsichtig kehrt. Sein Knöchel brannte unvermindert. Er richtete den Blick auf die morschen Holzplanken der Veranda und hoffte nur, sich auf dem Rückweg nicht den Hals zu brechen. Joseph drückte eine Folge von Tasten auf seinem Handy, die Telefonnummer seines alten Saufkumpans Kevin Dutton, der jetzt in St. John's als Rechtsanwalt tätig war. Nachdem es ein paar Mal geklingelt und Joseph sich, einem hysterischen Anfall nahe, durch das Telefon-Labyrinth der Rechtsanwaltskanzlei
97 gearbeitet hatte, erreichte er auch tatsächlich Kevins Mailbox, doch als er eine Nachricht hinterlassen wollte, blockierte sein Hirn. Zu viel müsste er erklären. Sobald er den Mund aufmachte, käme wahrscheinlich ein wirrer Schwall von Wörtern heraus. Er stockte, das Telefon
immer noch in der Hand. Es war fast, als wäre er im Stehen eingeschlafen, denn kurz darauf hörte er explosionsartig den verzerrten Klang einer Männerstimme, als ob ein Radio oder Fernseher plötzlich bis zum Anschlag aufgedreht und dann abgeschaltet worden wäre. Er hatte diesen plötzlichen Lärm schon öfter gehört, immer wenn er aus einem Traum hochfuhr. Es erschreckte ihn, jagte ihm eine Gänsehaut über den Rücken. Er lauschte, hörte nur noch das Knistern im Telefon. Er schaltete es aus und versuchte es bei Kevin zu Hause. Niemand da. Nicht einmal ein Anrufbeantworter. Die Welt verkam auch immer mehr. Joseph wollte Kevin fragen, auf welcher Rechtsgrundlage sich die Armee bewegte, wenn sie ihn aufforderte, Bareneed nicht zu verlassen. Vermutlich konnten die machen, was sie wollten, aber musste nicht wenigstens vorher irgendein Notstand ausgerufen werden? Schwindel überfiel ihn. Er rieb sich die Augen, drückte sich die Handflächen auf die geschlossenen Lider und sah graue und weiße Punkte. Als der Schwindel nachließ, schlug er die Augen auf und beobachtete, wie das Flimmern verschwand. Grau und Weiß lichteten sich knisternd zu einem klaren Bild. Er stand in der Küche. Im Critch-Haus. In Bareneed. Sein Blick fiel auf das Telefon. Wer war noch zu warnen? Seinen Onkel Doug hatte er noch nicht angerufen. Obwohl er es schon mehrmals vorgehabt hatte, war immer irgendetwas dazwischengekommen, hatte ihn abgelenkt oder ihm plötzlich eine Heidenangst eingejagt. Gegen ein Gefühl des Versinkens ankämpfend, umklammerte er die Stuhllehne neben sich, um sich festzuhalten. Bilder der Unterwasserleichen blitzten in seinen Gedanken auf. Tot und doch nicht tot, nur ihre Augen, die sich bewegten, ihn beobachteten. Das müssen die Tabletten sein, sagte er sich. Joseph zog seine Brieftasche heraus und durchwühlte die Vi 98 sitenkarten und zusammengefalteten Papierfetzen, bis er den Zettel fand, auf den er Doug Blackwoods Telefonnummer gekritzelt hatte. Er las die Ziffern und tippte mit zitterndem Daumen eine nach der anderen sorgfältig in das Handy. Wie sollte er den Mann überhaupt anreden? Doug? Onkel Doug? Dads Bruder. Es klingelte fünf Mal, dann meldete sich eine barsche Stimme. »Ja?« »Doug... Blackwood?«, fragte Joseph stockend. »Kann schon sein«, erwiderte die Stimme. »Wer ist da?« »Joseph Blackwood.« Er wollte noch etwas hinzufügen, unterließ es dann aber. »Joseph Blackwood. Das war dann wohl mein Neffe Joseph?« »Ja.« »Der von der Fischereibehörde?« »Ja.« »Aus St. John's?« »Ja.« »Hmmm.« Schweigen. »Hab deine Stimme noch nie gehört. Nicht dass ich wüsste.« »Ich bin hier in Bareneed, mit meiner Tochter, Robin.« »Hab's schon gehört. Hast 'ne Tochter?« »Ja.« »Recht so. Wie alt?« »Acht.« »Acht... Hmmm. Acht ist 'n hübsches Alter.« Ein hübsches Alter für einen Kinderfresser, schoss es Joseph unwillkürlich durch den Kopf. »Ja, stimmt.« »Und nun, kommste mich besuchen? Oder willste dein ganzes nichtsnutziges Madenleben lang den Fremden spielen?« Joseph war gleichzeitig fasziniert und schockiert, wie sehr Dougs Stimme ihn an die seines Vaters erinnerte. Ihm war, als spräche er mit einer verzerrten Version seines Vaters. »Nein, wir kommen vorbei.« »Ihr wohnt im alten Critch-Haus, an der Oberen Straße.« »Ja.« 98 »Ferien?« »Genau.« »Für solche wie euch sind das wohl Ferien.« Doug lachte so schallend, dass Joseph das scheppernde Handy ein Stück weit von seinem Ohr weghalten musste.
Als Onkel Doug sich bis auf ein paar kehlige Gluckser wieder beruhigt hatte, fragte Joseph: »Hast du schon gehört, dass die Armee von Haus zu Haus geht und...« »Sicher. Aber hast du von den zwei Kerlen aus St. John's gehört, die im Drive-in-Kino erfroren sind?« »Nein, ich...« »Wollten Im Winter geschlossen sehen.« Joseph war verwirrt. War das tatsächlich eine Nachrichtenmeldung? Es war gar nicht Winter. Wie konnten sie da erfroren sein? Er fragte sich, ob er selbst Im Winter geschlossen gesehen hatte. »Das ist 'n Witz«, sagte Doug. »Bist du so doof?« »Oh... Waren die Soldaten bei dir zu Hause?« »Was redest denn du. So ein Unsinn. Da werden 'n paar Leute krank, und die von der Regierung glauben, sie können hier reinkommen und alles abriegeln. Einen Höllenschiss vor Krankheiten haben die heutzutage. So was hab ich mein Lebtag noch nicht gesehen.« »Das heißt, man kann weg, wenn man will?« »Wieso weg?« »Aus Bareneed.« »Warum willste denn jetzt weg aus Bareneed? Du bist doch grade erst angekommen. Ich hab hier 'nen leckeren Kabeljau gekocht, falls du vorbeikommen magst. Und morgen fahr ich wieder mit 'm Boot raus, und deine Tochter ist herzlich eingeladen mitzukommen.« »Sie schläft gerade. Kleine Unpässlichkeit.« Joseph fragte sich, wo Doug wohl den Kabeljau herhatte. Aber vielleicht zog ihn sein Onkel ja nur auf. »Unpässlichkeit? Was in Gottes Namen soll denn das sein? Außerdem hab ich gesagt morgen. Schläft sie morgen vielleicht auch 'n ganzen Tag?« 99 »Nein.« »Also, dann kommt vorbei, wann's euch passt. Wenn sich mal grade keiner vor Schiss in die Hosen macht und alle auf dem Damm sind. Holt euch ein paar Vitamine und ein Buch über Hausmittel, und wenn ihr wieder auf der Höhe seid und gut aufgelegt und euch wohl fühlt wie 'n Ferkel im Dreck, dann schaut mal vorbei, und wir können uns 'n bisschen das Maul zerreißen.« Joseph musste widerwillig grinsen. Onkel Doug hatte denselben respektlosen Humor wie sein Vater. »Wo wohnst du?« »Frag irgendwen, jeder kann dir das sagen.« »Gut.« Am anderen Ende der Leitung wurde aufgelegt. Joseph klappte sein Handy zu, schob es in die Tasche und beschloss, Robin aufzuwecken. Die Aussicht auf einen Bootsausflug würde sie freuen. Aber ob sie allein mit Onkel Doug rausfahren würde? Joseph war nicht mit eingeladen worden. Gab es überhaupt genug Platz in dem Boot? Aber selbst im kleinsten Boot hatten drei Platz. Aber nein, was dachte er denn? Der milde, sonnige Tag war nur ein Schleier der Täuschung. Sobald es Nacht wurde, würden die Halluzinationen, die seine Medikamente auslösten, wieder Macht über ihn gewinnen. Er hatte Onkel Doug angerufen, um sich Rat zu holen, und hatte keinen bekommen. Was hatte er vorher gemacht? Er drehte sich um und stellte fest, dass er dabei gewesen war, Essen in Plastiktüten zu verpacken. Genau damit sollte er weitermachen. Onkel Doug konnte warten. Als Joseph vor dem Schrank in die Hocke ging und anfing, eine Plastiktüte mit Konserven zu füllen, kam ihm der Gedanke, dass er die Lebensmittel einfach dalassen sollte. Wenn sie jetzt fuhren, konnten sie vielleicht in einer Woche oder so zurückkommen. Das Haus wäre dann immer noch gemietet. Es war im Voraus für drei Wochen bezahlt. Er stand abrupt auf und musste wieder gegen den Schwindel ankämpfen. Er schloss die Augen. Da klingelte das Wandtelefon. Der ganze Raum schwankte, als Joseph die Augen aufschlug und nach dem Hörer griff. 99 »Hallo?« »Hi.« Eine Frauenstimme. Kim. »Hi.«
»Ich komme nach Bareneed raus, um mir den Albinohai anzusehen und um Robin zu sehen. Wie geht es Robin heute?« »Albinohai?« »Luke Tobin hat gesagt, in Bareneed sei ein Albinohai angespült worden.« »Oh, tatsächlich?« Joseph blickte sich in der Küche um. Ein Hai. Luke Tobin. Luke Tobin war mit Kim zusammen gewesen, genau. Garantiert war er bei ihr eingezogen. Wahrscheinlich mähte er inzwischen ihren Rasen und schnitt ihre Büsche. Brachte ihr Geschenke. Wahrscheinlich fuhren sie in seinem Sportwagen spazieren, mit einem breiten synthetischen Lächeln auf dem Gesicht, und winkten allen zu und sangen doofe Songs, während sie versehentlich Hunde und Katzen überfuhren und nicht mal anhielten. »Ich fahre in ein paar Minuten los«, teilte Kim ihm mit. »Ich will kurz vorbeischauen und nach Robin sehen.« »Hier? Wir wollen gerade aufbrechen, zurück nach St. John's.« Lukes Gesicht ging ihm einfach nicht mehr aus dem Kopf. Ein perfektes Gesicht. Perfektes Haar. Perfekte Brieftasche. »Ich packe gerade Sachen ins Auto. Ich muss jetzt aufhören.« »Warum? Ist alles okay mit Robin?« »Ja, ihr geht's gut. Es ist einfach... unheimlich hier.« »Unheimlich«, wiederholte sie lachend. »Wartet noch, bis ich da bin, okay? Ich will das Haus sehen.« Joseph ließ eine Stille eintreten. »Kommst du mit deinem neuen Freund?« »Ich komme allein.« »Ich will ihn nicht in Robins Nähe haben.« »Wen, Luke? Joseph, mach dir keine Gedanken. Wofür hältst du mich?« Er wollte noch hinzufügen: »Vielleicht lassen sie dich gar nicht ins Dorf«, doch dann wollte er sie nicht beunruhigen.
100 Außerdem hatte Joseph keine Ahnung, ob noch Leute hereindurften. Er hatte bisher keinerlei Straßensperren gesehen, auch wenn die Soldaten unten beim Gemeindezentrum anscheinend hin und wieder ein Auto anhielten und Fragen stellten. Er war sich ziemlich sicher, dass ein Soldat an seiner Haustür gewesen war. Robin war auch dabei gewesen. Sie hatte ihn gesehen. »Joseph?« »Na gut«, sagte er. »Aber sobald du da bist, fahren wir zurück. « »Warum?« »Weil eben...« »Was ist denn los?« »Nichts. Ich will einfach nur nach Hause. In meinem eigenen Bett schlafen.« Schweigen. »Zu Hause« bedeutete so vieles. »Mein eigenes Bett.« »Hast du letzte Nacht überhaupt geschlafen?« »Ja«, log er. »Wie lange denn? Zehn Minuten?« »Nein, mindestens vier Sekunden.« Seine Anspannung löste sich ein wenig, als er Kims Lachen hörte. Das Leben war so leicht, wenn sie lachten. Wenn sie doch nur einfach immer so weiterlachen könnten, mit aufgerissenen Mündern, wackelnden Mandeln, Fliegen, die reinschwirrten und ihre Eier legten. Maden. Vor Gelächter wackelnde Madenköpfe. Eine Kakofonie aus quietschendem Comicstrip-Gelächter. Verrottete, abbrechende Hälse. Oh nein! »Ich muss nach Robin sehen. Sie macht ein Schläfchen.« »Robin? Ein Schläfchen?« »Ja.« »Das macht sie eigentlich nie, Joseph.« »Nun, hier draußen macht sie es eben. Muss wohl die Landluft sein.« »Ich bin in Kürze bei euch.« »Bis dann.« Er legte auf, als Kim ihm gerade langsam und liebevoll »Tschüss« sagte.
100 Dieses »Tschüss« wärmte ihm das Herz und war zugleich ein Stachel darin. Wenn Kim hier war und sie sich aussöhnten, dann könnten sie noch eine Nacht bleiben. Er könnte ihr die Sehenswürdigkeiten zeigen. Sie zu dem Geist des bärtigen Mannes in die Scheune sperren. Sie mit zum Hafen hinunternehmen, sie reinschubsen und ihr die unter Wasser treibenden Toten zeigen. Die
Kiefer des Albinohais aufreißen und ihren Kopf hineinstopfen. Josephs Grusel-Reisen. Aber was würde aus Claudia? Was, wenn Claudia einfach hereinspaziert käme und vor Kims Augen mit Joseph intim würde? Dann würde die Hölle über ihn hereinbrechen. Nein, sie sollten lieber sofort heimfahren. Aussteigen, solange es noch tödlich war. Unsinn, möglich war. Er ging ins Wohnzimmer, um dort aus dem Fenster zu schauen, doch es gestattete keinen freien Blick auf den Kai, auch nicht auf einen Albinohai. Also stieg er die Treppe hinauf, versank dabei in dem verschlungenen Muster des Teppichs, bis es unter seinen Augen verschwamm. Seine Schritte verursachten nicht das leiseste Geräusch auf der Treppe. Als er Robins Zimmer erreichte, sah er, dass ihr Bett makellos gemacht war. Und leer. »Robin«, rief er und eilte mit großen Schritten in sein Schlafzimmer. Das Bettzeug war zerwühlt. Womöglich steckte Robin unter dem Knäuel oder versteckte sich wieder einmal. Joseph riss die Decke zurück, doch Robin war nicht darunter. Er spähte aus dem Fenster und bemerkte eine Menschenansammlung am Kai unten. Ein ziemlicher Auflauf. Der Albinohai? Er eilte die Treppe hinunter. Unten rutschte er aus und wäre beinahe hingefallen. Da schien Wasser auf dem Boden zu stehen. Er hastete ins Badezimmer. Die Wanne war bis zum Rand voll gelaufen, aber niemand saß darin. Der Boden war nass, und eine Spur führte durch die Küche auf die hintere Veranda hinaus. Hatte Robin sich ein Bad eingelassen? Hatte er ihr womöglich gesagt, sie solle ein Bad nehmen? Hatte er selbst das Wasser eingelassen? Er konnte sich nicht erinnern und bekam Angst. Sein Herz hämmerte, und sein Atem stockte, als er zur Hintertür hinausstürmte und mit den Augen das hoch stehende Gras der
101 Wiese absuchte, die sich bis zum Waldrand hinzog. Nie hatte er Angst vor Bäumen gehabt, doch jetzt bekam er sie. Himmel, was, wenn sich Robin im Wald verirrt hatte? Seine Panik nahm zu, und der blutig-metallische Geruch von Furcht hing in seinen Nasenlöchern. Robin? Hatte er sie überhaupt mit hergebracht? War er in Wirklichkeit allein hier, war es vielleicht schon die ganze Zeit gewesen? Hierher gekommen, um endlich von allen weg zu sein. Von absolut allen. »Robin?«, rief er voller Angst. Zwei Vögel zwitscherten abwechselnd im Wald, bis einer von ihnen aufflog und die Zweige raschelten. Joseph hastete weiter vom Haus weg und erblickte die Scheune zu seiner Rechten. »Robin?« Sie stand im Eingang und schaute nach drinnen. Ihr kleiner Rücken war vollkommen reglos. Sie zeigte nicht die leiseste Reaktion, als Joseph nach ihr rief. »Robin«, rief er noch einmal, diesmal fast grob, ein Resultat seiner Angst, die in Wut umzukippen drohte. Er rannte zu ihr hin und packte sie an den Schultern, doch sie wandte sich nicht zu ihm um. Ihr Nachthemd schien feucht zu sein. Joseph hörte, wie sie in einem heimlichtuerischen Flüsterton rhythmisch vor sich hinredete: »Fische im Meer. Fische im Meer...« »Robin.« Er drehte sie zu sich um und sah ihr schneeweißes Gesicht. Ihre Haut war aufgeweicht, als wenn sie zu lange in der Badewanne gesessen hätte, ihre bläulichen Lippen zitterten. »Robin!« »Fische im Meer«, leierte sie, wobei ihre Zähne klapperten wie Dominosteine in einer Tüte. »Fische im Meer...« Seit weit über einem Jahr war Kim nicht mehr auf der Autobahn gewesen. Als sie und Joseph noch zusammen waren, hatten sie am Wochenende oft Ausflüge unternommen, hatten irgendeine Ausfahrt genommen, die in eine einspurige Straße überging, und waren dieser Kilometer für Kilometer durch entlegene Landstriche bis zu irgendeinem Küstendorf gefolgt. Dort hatten sie dann die Häuschen betrachtet, die sich dicht gedrängt in eine Bucht schmiegten oder auf der Kuppe eines steilen Kliffs errichtet
101 waren, das dreißig Meter tief zu den zerklüfteten Felsen und der beständig wogenden Brandung unterhalb abfiel. Die Sonne über dem Meer verlieh der Szenerie eine schlichte, sanfte Klarheit. Kim staunte oft über die anscheinend endlosen Landstraßen, die angelegt worden waren, um Ortschaften zu verbinden, die einst nur vom Meer aus zugänglich gewesen waren. Seit ihrer Trennung von Joseph hatte Kim dann genug damit zu tun gehabt, sich um die grundlegenden Dinge des Alltags zu kümmern: kochen, putzen, zur Arbeit gehen und sich Robin
widmen. Keine Spazierfahrten mehr auf dem Highway. Ihre und Robins gemeinsame Freizeit verbrachten sie mit Einkaufen in der Shopping Mall oder mit einem Besuch im Park. Wie befreiend war es doch, jetzt durch diese Landschaft zu fahren, die sich um einen her öffnete, Ödland und Felsblöcke statt Möbel um sich zu haben, am Horizont den Saum von Nadelwäldern zu sehen statt senkrecht aufragende Mauern. Sie hatte nicht erwartet, dass es ihr so gut tun würde, einfach nur im Auto zu fahren. Vor Wochen, als Joseph ihr erstmals von seinen Plänen erzählt hatte, ein Haus in Bareneed zu mieten, wäre sie am liebsten gleich losgefahren, um es sich anzusehen. Die alten Ortschaften faszinierten sie. Es bereitete ihr ein immenses Vergnügen, auf den einst blühenden Grundstücken umherzuwandern, die zu verlassenen Häusern gehörten, von denen manche über hundert Jahre alt waren; durch die Fenster ins Innere zu spähen, wo noch fein säuberlich die Einrichtung stand, die antiken Möbel und die Teppiche, das Geschirr und die Lampen. Alles stand einfach so herum, ohne dass jemand einen Besitzanspruch angemeldet hätte. Ein ganzer Lebensstil, der aufgegeben worden war. Ein paar Mal hatte Kim sogar die Klinke der Hintertür gedrückt und die Tür tatsächlich offen vorgefunden, war eingetreten und hindurch gewandert wie durch die ferne, verlassene, romantisch anmutende Welt eines altehrwürdigen Romans, hatte sich auf gespenstische Weise angezogen gefühlt von dem Leben, das sich einst in den inzwischen staubigen und feuchten Räumen abgespielt hatte, in Räumen, die gleichzeitig zu trauern und der Rückkehr ihrer Bewohner zu harren schienen.
102 Kim schaltete das Radio an, gerade als der Sprecher sagte: »Zwanzig vor drei an einem wunderschönen Juninachmittag. Wir haben zwanzig Minuten Musik vor uns...« Sie warf einen prüfenden Blick auf ihre Armbanduhr - die Uhrzeit stimmte. Wenn sie ankam, war beinahe schon Abendessenszeit. Vielleicht könnte sie ja Joseph eine Einladung zum Essen abringen oder, besser noch, die Aufforderung, über Nacht zu bleiben. Die Vorstellung, in einem fremden Haus zu übernachten, erfüllte sie mit Erregung. Das war eine ihrer machtvollsten Phantasien, in einer fremden Umgebung Sex zu haben, inmitten der Ruinen eines anderen Lebens. Sie lächelte versonnen vor sich hin. Vielleicht gab es ja sogar Geister in dem Haus. Die ersten Takte von Van Morrisons Brown-Eyed Girl erklangen aus dem Radio. Kim drehte die Lautstärke weiter auf und fühlte sich auf einmal so zuversichtlich wie seit Monaten nicht mehr. Sie öffnete das Fenster einen Spalt und genoss die erfrischende Luft auf ihrem Gesicht. Ihr war, als gleite sie zurück in bessere Zeiten, zurück zu Joseph und Robin, zurück zu einer Ahnung von Harmonie und Versöhnung. Bei Kim antwortete niemand. Joseph hatte ihre Mailbox erreicht, wollte jedoch keine Nachricht hinterlassen. Was hätte er sagen sollen? Robin benimmt sich auf einmal, als wäre sie tot, und in meinem Kopf flimmert und rauscht es. Ich empfange Signale. Ich weiß nicht mehr, ob ich träume, mich in einer Sitcom befinde, in einem Horrorfilm oder in meinem eigenen Leben. Aber wie dem auch sei, ich bin wütend über irgendetwas und weiß nicht, was es sein könnte. Als er Robin abtrocknete, hatte er sie gefragt, wie sie so nass geworden war, und sie hatte schlicht entgegnet: »Beim Spielen mit Jessica.« Jessica! Joseph hatte bereits Dr. Thompson angerufen und war mit seinem Telefonservice verbunden worden. Er hatte eine kurze Nachricht hinterlassen. Das war einfach genug. Name. Telefonnummer. »Hilfe.« Nachdem er aufgelegt hatte, ruhte sein Blick auf Robin, die auf der Couch lag. Jetzt, in trockenen Kleidern, wirkte sie ganz normal. Sie zeichnete ganz ruhig ein Bild. Doch angesichts dieser
102 neuen Entwicklung fürchtete er, sie könne durch den Stein einen bleibenden Schaden am Kopf erlitten haben, und sein ganzer Körper schmerzte vor Anspannung und Angst. »Wie geht es dir, meine Süße?«, fragte er sanft, während er sich die Handflächen an der Jeans abwischte. Sie waren feucht. War er selbst auch nass geworden, oder schwitzte er nur? Er warf einen prüfenden Blick auf seine Kleider. Trocken. Ein Fieberschub ereilte ihn. Eine Hitzewallung. Energie aus fremden Quellen, die in ihn eindrang. Ein Geräusch, das Husten eines Mannes. Vielleicht sein eigenes. Dann ging es ihm wieder gut, alles in Ordnung.
»Gut«, antwortete Robin. »Du bleibst jetzt besser im Haus«, insistierte Joseph. Er versuchte, die Augen von Robins Zeichnung zu wenden, hoffte inbrünstig, dass der Mann, den sie da malte, nicht er war. Das Bild war so lebensecht, dass er den Verdacht bekam, sie hätte Bilder aus einem Katalog ausgeschnitten. Robin runzelte die Stirn und blickte von ihrer Zeichnung auf. »Warum?« »Weil ich es will. Vielleicht müssen wir noch einmal ins Krankenhaus zurück. Und außerdem hatte ich dir bereits gesagt, dass du im Haus bleiben sollst. Ich will, dass du...« »Du hast gesagt, es ist okay.« »Was?« Ein Pochen in seinen Schläfen, ein Zittern seines linken Augenlids, das er jetzt kratzte. Ein Lärm wie Gelächter oder Applaus in seinen Ohren, das Pfeifen des Wasserkessels. Hatte er Wasser aufgesetzt? »Was war okay?« »Ich hab dir gesagt, dass ich rausgehe, und du hast gesagt, dass es okay ist.« »Nein, habe ich nicht.« »Hast du doch. Ich bin doch direkt zu dir gekommen, du warst am Telefon und hast mit jemandem gesprochen.« »Wann denn?« »Bevor ich nach draußen ging.« Robin setzte sich jetzt ganz auf. Sie balancierte ein Buch auf den Knien, auf dem ihre Zeichnung lag. »Du hast mit jemandem gesprochen.«
103 »Als ich mit Mommy telefoniert habe?« »Nein.« »Doch.« Er stieß einen ernsten Lacher aus, einen, den er auch so meinte, der aussagte, dass er sich unmöglich täuschen konnte. »Doch. Ich habe mit Mommy gesprochen.« »Nein, ich glaube, es war Claudia.« »Robin, was redest du da?!« »Du hast ihren Namen gesagt und noch andere Sachen.« Robin wurde rot und richtete den Blick auf das blank polierte Klavier an der gegenüberliegenden Wand. Bestimmt würde es im nächsten Augenblick anfangen, von selbst zu spielen. Oder nein, das käme wahrscheinlich erst nach Einbruch der Dunkelheit. Um Mitternacht. Blut auf den Elfenbeintasten. Der Mann mit dem Gesicht, das man nicht sehen konnte. »Was für Sachen?« »Du hast schmutzige Wörter geflüstert.« »Habe ich nicht.« Joseph richtete sich kerzengerade auf und sah seine Tochter schockiert und empört an. »Was redest du denn da? Ich habe ja nicht einmal ihre Telefonnummer.« »Das Telefon hat hier geklingelt.« Auf einmal klopfte es an der Haustür. Joseph fuhr wie vom Blitz getroffen herum und brachte damit Robin zum Kichern. Oder war es nur wieder das Knistern in seinem Kopf? Er schaute Robin an. Ihr Gesichtsausdruck war neutral. Kein Anzeichen von Belustigung. Sie blickte zur Tür. »Wer ist das?«, fragte er. »Du findest das wohl lustig. Ha ha. Jetzt bin ich mal lustig.« »Das ist nicht lustig. Es ist Claudia.« Joseph sah Robin eindringlich an. Wie konnte sie das wissen? Diese Beule an ihrem Kopf. Machte die sie plötzlich hellsichtig? »Ich glaube, wir sollten dich ins Krankenhaus bringen.« »Dich?« »Dich«, gab er scharf zurück. »Dich?« »Dich.« Er ging zur Tür. Als er sie aufriss, stand Claudia vor ihm. Ihre großen, faszinierenden Augen fixierten ihn. Sie trug
103 ein weißes Baumwollkleid, das ihr bis zu den Knöcheln reichte. In ihren schlanken Händen hielt sie ein in Geschenkpapier gewickeltes Päckchen. Das Papier schien von Hand bemalt zu sein und zeigte graue Wale auf blauem Wasser. »Ich habe Ihnen eine Kleinigkeit zum Einstand im neuen Haus mitgebracht.« Sie hielt das Geschenk hoch und lächelte nervös, wobei sich ihre Gesichtshaut spannte und ihre Augen noch tiefer einsanken. Sie schien fünf Kilo abgenommen zu haben, seit Joseph sie tags zuvor gesehen
hatte, doch ihr Bauch unter dem engen Kleid wölbte sich leicht hervor. Joseph fragte sich, ob sie wohl schwanger sein könnte. »Was kann denn in so einem kleinen Päckchen stecken?«, fragte Joseph, während er sich vorstellte, Claudias Lippen zu küssen. Sie wirkten jetzt noch voller in ihrem hageren Gesicht. Er malte sich aus, wie sich seine Zunge zwischen ihre Lippen schob und ihre Zähne verschmierte, sich zwischen ihren Zähnen durchzwängte, um mit ihrer Zunge zu spielen, die erschreckend kalt und trocken war. »Komme ich ungelegen?«, fragte sie. »Ja.« Er wartete und überlegte, wie es wohl weiterging. »Nein.« »Darf ich reinkommen?« »Bitte«, erwiderte er und trat rasch einen Schritt zur Seite. »Kommen Sie herein.« Er blickte nervös an Claudia vorbei. »Ist sonst noch jemand bei Ihnen?«, fragte er beunruhigt, bemühte sich jedoch, möglichst vernünftig zu klingen. »Nein«, erwiderte Claudia und trat ins Haus. »Ich bin allein.« »Gut. Allein ist gut. Ich war auch mal allein. Das ist okay, wenn man es verkraften kann.« Joseph ließ den Blick noch einmal prüfend nach draußen wandern, entdeckte nichts Beunruhigenderes als das, was sich sowieso schon an Kommen und Gehen in seinem Kopf abspielte, und schloss die Haustür. Das Klingeln des Handys irritierte Dr. Thompson mehr als sonst. Auch die Tatsache, dass Sonntag war, konnte die Atmosphäre von Tod, die über Bareneed hing, nicht vertreiben. Thomp
104 son war gerade eben in seinen Wagen zurückgehumpelt, nachdem er sich den Albinohai angesehen hatte. Mit das Eigenartigste, was ihm je untergekommen war. Nachdem er von den Slades aufgebrochen war, war er auf die Menschenmenge gestoßen und ausgestiegen, um sich das Treiben näher anzusehen. Jetzt klappte er sein Handy auf und schaltete es an, während er im Rückspiegel einen Blick auf seine Stirn warf. Die Wunde, die ihm das Slade-Mädchen beigebracht hatte, war nicht schlimm. Nicht viel mehr als ein kräftiger Kratzer. »Ja?« »Dr. Thompson? Hier ist Betty von ihrem Telefonservice. Wir haben gerade einen Anruf von einer Frau in Bareneed erhalten, die ganz aufgelöst klingt. Ihr Sohn hat Atembeschwerden, und sie hatte gehofft...« »Wer war es?« »Edyth Pottle.« »Pottle's Lane?« »Ja. Ich habe schon einen Krankenwagen hinbestellt. Und dann hatten Sie noch einen Anruf von Joseph Blackwood. Die beiden Anrufe kamen gleich nacheinander. Er sagte >HilfeDa bauste dir deinen eigenen Sarg.< Der Schiffer ist schneeweiß geworden und stehenden Fußes davongegangen. Hat nie wieder 'n einzigen Nagel in das Boot gehauen, und verkaufen wollt er's auch nicht. Hat's einfach vor sich hinrotten lassen, an Ort und Stelle. Jahre später ist nur noch das Gerippe von übrig, und der Schiffer bringt noch genug Holz davon zusammen, um sich einen Sarg zu bauen. Da ist er jeden Abend reingestiegen, bevor er sich in sein Federbett gelegt hat. Drei Särge hat er so aufgearbeitet, bis er seinen letzten Schnaufer getan hat. Ein alter Kauz war der, als er's Zeitliche gesegnet hat.« »Sie glauben, das Boot wäre gesunken?«, murmelte Kim. Miss Laracy fuhr zu Kim herum, schenkte ihr dann aber ein sanftes Lächeln und nickte gütig. »Oh ja, mein Täubchen. Gesunken wie 'n Sack voll Steine.« Kim erwiderte das Lächeln. Joseph lachte laut auf. Kim und Miss Laracy betrachteten ihn nachdenklich.
148 »Ich kapier's nicht«, sagte er. »Sie«, fragte Miss Laracy vorwurfsvoll, »woran bauen denn Sie?« »Ich weiß nicht... an meinem Mut vielleicht?« »Sie bauen kein Boot, und das ist der Sarg, an dem Sie bauen.« »Sie ist eingeschlafen«, ertönte auf einmal eine tiefe Stimme vom Türrahmen her. Joseph zuckte zusammen, und Kim erschrak, während Miss Laracy glucksend kicherte, als Doug Blackwood, robust wie ein Fels, mit einer Kerze in der rauen, schwieligen Hand dastand. »Eingeschlummert. Geschichten, das lieben sie, die Kleinen.« Joseph hob den Blick zum Gesicht seines Onkels empor und betrachtete es. Miss Laracy fiel auf, was für markante, von Wind und Wetter gegerbte Züge Doug Blackwood hatte. Im Schein der Kerzenflamme wirkten sie noch kantiger als sonst. Sie wusste, dass Joseph sich in der Gegenwart seines Onkels schwächer fühlte, blasser. Seine plötzlich schrumpfende Aura zeugte davon.
»Wie geht's Ihnen?«, fragte Doug, an Kim gewandt, und trat über die Schwelle. Mit seiner Kerze in der Hand warf er große flackernde Schatten, so dass sie den ganzen Raum erfüllten, er und die Schatten seines Körpers. »Besser, danke.« Kim setzte sich ein wenig im Bett auf und versuchte tapfer zu lächeln. »Ein bisschen schwindlig, aber ganz okay. Der Schmerz ist nicht mehr so schlimm.« »Hol der Holden 'ne schöne Tasse Tee«, wies Miss Laracy Doug an. »Nein, danke«, sagte Kim. »Wie wär's mit einer Kleinigkeit zu essen?«, fragte Joseph dazwischen. »Du musst doch was essen.« »Nein, mein Magen ist völlig durcheinander«, entgegnete sie kühl. Die Schärfe ihres Tons machte klar, dass ihre Wut auf ihn nach wie vor anhielt. Miss Laracy beugte sich vor und tätschelte Kims Bauch. »Das ist nicht Ihr Magen, der Ihnen das antut. Ihr Verstand ist's, Schätzchen. Sie müssen erst mal den ganzen Stadtmist da oben 149 ausfegen. Dann geht's Ihnen wieder besser. Dann haben Sie wieder Klarschiff. So 'n bisschen alter Ärger, der geht bald vorbei.« Der Nachthimmel war tiefblau und wolkenlos. Die Sterne hatten sich in ihren akkuraten Mustern versammelt. Vom Land her, von den Häusern oder Straßenlampen in der Ortschaft, kam kein Licht, doch auf der anderen Seite der Bucht schimmerte Port de Grave von Elektrizität. Claudia war eben von der Terrasse ihres Studios im ersten Stock hereingekommen. Von dort hatte sie ganz deutlich die Helikopter gehört, die im Hafenbecken unten weiter ihrer anscheinend nicht enden wollenden Arbeit nachgingen. Fahrzeuge hielten beim Gemeindezentrum oder fuhren davon weg. Im Westen, entlang der Straße, blinkten alle fünfzig Meter die roten und blauen Lichter von Polizeistreifen. Auf Mercer's Field, das hell erleuchtet war, herrschte ununterbrochene Aktivität. Während Claudia das Treiben beobachtete, war ihr, als höre sie einen Hund beim Wasser unten bellen. Sie fragte sich, was die Hubschrauber da machten. Anscheinend bargen sie immer wieder etwas aus dem Wasser. Vielleicht hatte sich irgendeine Katastrophe ereignet, ein Schiffbruch vor der Küste. Das würde den ganzen Auflauf auf Mercer's Field erklären. Die großen Fahrzeuge waren womöglich Übertragungswagen vom Fernsehen. Claudia besaß weder einen Fernseher noch ein Radio, so dass sie keine Möglichkeit hatte, die Nachrichten zu hören. Zwei Rettungswagen waren, jeweils von einem anderen Haus im Dorf kommend, auf der Unteren Straße vorbeigerauscht: rotierende rote Punkte, begleitet von Sirenengeheul, in rasender Fahrt zur Shearstown Line. Unheil. Claudia selbst erschien das alles vollkommen normal. Alles um sie herum war nur die Kulmination ihres eigenen Kummers. Sie hatte inbrünstig gehofft, ihre Situation möge sich noch verschlimmern, noch düsterer, unerträglicher werden. Seit Regs und Jessicas Verschwinden hatte sie gebetet, die Welt möge zusammenstürzen und ihr in Form einer noch grausameren Tragödie als ihrer eigenen Linderung verschaffen. 149 Claudia betrachtete ihr Studio. Vor einiger Zeit war der Strom ausgefallen, und jetzt flackerte Kerzenlicht in fünf ihrer Miniaturhäuschen und -scheunen. Sie ging zu ihrem Arbeitstisch, setzte sich und nahm einen unglasierten Schuppen aus Ton in die Hand. Er war grau-weiß und vom orangefarbenen Schein des flackernden Kerzenlichts getönt, das sich jetzt, wo sie saß, allmählich beruhigte. Sie öffnete mehrere Fläschchen Farbglasur, tauchte ihren Pinsel in das Kobaltblau und fing an, die Linien der Schindeln aufzumalen. Sie musste an die Hände ihrer Mutter denken, denen sie als Kind dabei zugesehen hatte, wie sie sorgfältig Nadel und Faden durch den Stoff einer Stickerei führten. Die zarten Gesten ihrer Mutter überlagerten sich in Claudias Erinnerung mit den kräftigen Handbewegungen ihres Vaters, wenn er Walnuss- oder Kiefernholz schnitzte, dann glättete, die Skulptur rundete und mit Öl polierte. Der Geruch eines öligen Lappens und die untilgbaren Flecken auf seinen Fingerspitzen und in den Furchen seiner Fingernägel. »Ich weiß, woran du denkst«, sagte Jessica aus dem Halbdunkel heraus, in das der Raum gehüllt war.
»Was sagst du?«, murmelte Claudia oder dachte es nur. Die Unterscheidung war in letzter Zeit nicht mehr von großer Bedeutung. »Du wünschst dir, auch zu den Ertrunkenen zu gehören, wie wir.« Claudia malte weiterhin winzige Schindeln auf. Sie tauchte die Pinselspitze in die Flasche, bis die Borsten Farbe aufgesogen hatten, und tupfte sie dann am Rand des Gefäßes ab. Ihre Bewegungen waren im Kerzenlicht von großer Exaktheit und Zartheit. »Du versuchst es so angestrengt«, sagte Jessica. Claudia spülte ihren Pinsel in einem Glas Wasser aus. Der dünne Holzschaft klimperte gegen das Glas, das Wasser schaukelte hin und her. Sie sah zu, wie die klare Flüssigkeit sich eintrübte, tauchte ihren Pinsel in ein anderes Fläschchen, Senfgelb, und fing an, die Ränder des Dachvorsprungs und der Fenster nachzumalen. 150 »Du versuchst so angestrengt, meine Liebe in dem zu finden, was du tust.« Claudias Hand hielt inne. »Du spürst es, Mommy, oder? Wenn du Dinge mit deinen Händen machst, dann bringt mich das zurück.« Claudia fuhr mit ihren Pinselstrichen fort. Sie waren jetzt etwas ungleichmäßiger. »Ich gehe ein wenig mit Robin spielen.« Mit einer knappen Bewegung legte Claudia ihren Pinsel ab. Jessicas Stimme kam jetzt lauter, verzerrt, und ließ die Flammen aufflackern. »Ich will jemanden zum Spielen.« »Nicht«, flüsterte Claudia. »Bitte.« »Sie entgleitet ihnen immer mehr. Sie passen nicht auf. Sie sind alle gegeneinander, nicht füreinander.« Claudia lauschte und wunderte sich über die Stille, fragte sich, wie lange sie schon andauerte, bis die Stimme eines kleinen Mädchens ihre Zweifel widerlegte. »Ich hole sie«, sagte Jessica. »Dann hole ich dich.« Die kleine getöpferte Scheune, das Geschenk von Claudia, stand mit einer matt flackernden Kerze darin auf dem Kaminsims in Robins Zimmer. Robin lag auf der Seite mit dem Gesicht zur Wand und konnte wegen all der Ereignisse unten am Hafen und im Haus nicht einschlafen. Gerade eben lauschte sie, sorgte sich um ihre Mom und hoffte nur, dass es ihr bald wieder gut ging. Robin wäre gern zu ihrer Mom ins Bett gekrochen, doch ihr Dad hatte es ihr untersagt und gemeint, ihre Mom müsse sich ausruhen, damit sie wieder zu Kräften komme. Wobei er allerdings, wenn man seiner Aura traute, nicht meinte, was er da sagte. Er hatte den glühenden Farbton des Lügners an sich, und das trieb ihr die Tränen in die Augen. Warum hielt er sie von ihrer Mom fern? Ihr Vater hatte sie in ihr eigenes Zimmer geschickt, in ihr eigenes Bett. Jetzt war er irgendwo draußen, ging wahrscheinlich spazieren. Sie wollte zu ihrer Mom ins Bett kriechen. Sie wollte aufstehen und in ihr Zimmer laufen.
150 In diesem Augenblick rührte sich etwas im Zimmer am Ende des Gangs. An einem kurzen Huster erkannte Robin, dass es Onkel Doug war. Gleich darauf hörte sie ihn die Treppe hinuntersteigen. Onkel Doug war ein guter Mensch. Er hatte ihre Mom gerettet und hierher zu ihr und ihrem Vater gebracht. Jetzt war nur noch die alte Frau im Zimmer ihrer Mutter. Miss Laracy. Am Abend hatte die alte Frau Robin noch einmal nach den fliegenden Fischen gefragt, die Robin seit dem Tag ihrer Ankunft nicht mehr gesehen hatte. Doch Miss Laracy war ganz begeistert gewesen, als Robin ihr aufgeregt erklärt hatte, dass sie erst vor ein paar Wochen, zu Hause in St. John's, fliegende Fische gemalt habe. Außerdem hatte sie in der Vorfreude auf ihre Ferien hier ein Dorf gemalt, mit einem Hafen und alten, quadratischen Häuschen und Hügeln darum herum. Das Ganze sah Bareneed furchtbar ähnlich. Robin verspürte eine plötzliche Lust, nach ihren Farbstiften zu greifen, die sie zusammen mit ein paar Bögen Papier heimlich unter der Decke versteckt hatte. Doch ihre Hand war noch ganz schlapp von ihrer letzten Zeichnung, bei der sie so viel Raum mit ein und derselben Farbe hatte
ausmalen müssen. Dieses ganze Blau. Sie lag schön eingepackt unter der Bettdecke, die ihr Vater, bevor er gegangen war, um sie herum festgesteckt hatte. Robins Lippen waren leicht geöffnet, und sie atmete tief und gleichmäßig. So verstrichen Minuten. Sie war missmutig wegen ihres Vaters, als sich auf einmal ihr Atem verfing und nur noch Miss Laracys beständiges Schwatzen von der anderen Seite des Gangs herüberklang. Die flackernde Kerze in der Scheune brannte heller und warf pulsierende Schatten an die Decke und den großen Schatten eines Kopfs an die Wand, zu der sich Robin hingedreht hatte. Eine Stimme summte die Melodie von: »Mein Vaaater fuhr zur See-See-See...« Robin wandte sich um und sah, dass Jessica sie eindringlich musterte. Jessica streckte die Hand aus, um liebevoll Robins Haar zu berühren. 151 »Du bist so warm«, flüsterte Jessica. »Hallo«, sagte Robin lächelnd. »Warum bist du nicht im Bett? Es ist schon spät.« Jessica grinste. »Ich bin im Bett.« »Nein, bist du nicht.« »Ich schlafe im Bett der See, siehst du?« Sie hob die Hände, und da glitzerten winzige Fünkchen auf ihrer Haut. Als sie die Hände aneinander rieb, fielen feine Sandkörner zu Boden. Dann rieb sie mit den Händen über ihre schmutzigen Kleider, und der Sand rieselte an ihr herunter. »Komm, wir gehen zum Spielplatz.« Jessica neigte den Kopf in Richtung Fenster. »Wohin?« Robin stützte sich auf einem Ellbogen auf und blickte zur Tür, auf der ein warmer Lichtschein vom Zimmer gegenüber lag. »Wo ist der Spielplatz?« »Im Wasser«, sagte Jessica. »Das ist der allerschönste Spielplatz überhaupt. Da gibt's so viele Sachen, die du noch nie gesehen hast.« »Ich kann aber nicht schwimmen.« »Ich auch nicht. Aber das macht nichts. Du musst nur wissen, wie man sich treiben lässt.« Tommy Quilty lebte allein, doch er war niemals einsam, auch wenn die Leute das vielleicht dachten. Ein einsames Kind, ein einsamer, verlassener Mann. Gleich nach der Geburt war Tommy von der Hebamme auf dem Sideboard abgelegt worden - da kein Fünkchen Leben in dem Buben zu sein schien, hatte sie angenommen, dass es eine Totgeburt war. Nicht einen Atemzug hatte der Kleine getan. Sie hatte ihn also hingelegt, und die Frauen im Raum, die Hebamme und eine ältliche Tante, hatten einen Moment lang in qualvollem Kummer dagestanden, die Herzen schwer vom Schmerz des Verlusts. Die Hebamme wollte gerade Tommys Vater rufen, um ihm die traurige Nachricht zu überbringen, als das Baby auf einmal einen gurgelnden Laut von sich gab und dann einen Schrei ausstieß. Tommy konnte noch kaum krabbeln, als er seine ersten Mal 151 versuche machte. Die verschmierten Wachsmalkreidebilder reiften schon bald zu ausgefeilten Zeichnungen mit bunten Holzfarbstiften, die er geduldig spitzte, bis sie ganz fein waren. Er zeichnete immer die See, alles, was darauf fuhr, und alles, was sich in ihrer Tiefe verbarg - ihre zahllosen Ungeheuer. Tommys Vater kam zu dem Schluss, dass es sinnlos sei, den Jungen zur Schule zu schicken. »Hat keinen Zweck, dem Jungen was beibringen zu wollen«, hatte er verkündet. So blieb Tommy sich selbst und seinem Talent überlassen, in dem ihn auch alle anspornten und ständig überschwänglich lobten. Sogar eine Geschichte war einmal über ihn geschrieben worden - Tommy Quilty, künstlerisch begabtes Wunderkind - und in der Regionalzeitung erschienen. Er war fast zu einer kleinen Berühmtheit geworden und hatte mit zehn Jahren angefangen, seine Zeichnungen in Port de Grave zu verkaufen. Als er älter geworden war und sich sein Talent auf der ganzen Insel herumgesprochen hatte, wandten sich weitere Läden und sogar zwei Galerien an ihn und boten an, seine Werke zu führen. Das Geld, das er dafür bekam, schickte er an Adressen, die er im Annoncenteil verschiedener, im Antiquariat gekaufter Kunstmagazine unter Fotos von verhungernden Kindern las. Der Eigentümer ließ die Zeitschriften ausdrücklich für Tommy aus St. John's kommen.
Mit zwölf fuhr Tommy erstmals zusammen mit seinem Onkel Edward zum Kabeljaufischen hinaus. Tommys Vater war durch eine Rückenverletzung an den Rollstuhl gefesselt, so dass er zu Hause bleiben musste. Tommys Mutter, Agnes, kümmerte sich um ihn. Viele Jahre lang ging das so: Tommy malte und zeichnete und fischte. Bis die Regierung der Kabeljaufischerei ein Ende setzte. Tommy vermisste es sehr, nicht mehr im Boot hinauszufahren und ins Wasser hinunterschauen und die Geschöpfe sehen zu können, die da unten lauerten, geschmeidig näher glitten, sich jedoch selbst den Gläubigen nur selten zeigten. Obwohl Tommy seinen eigenen Van hatte, fuhr Rayna ihn einmal im Monat nach Port de Grave zur Bank, wo er die Schecks
152 einlöste, die er von den vier Galerien, die seine Bilder in Neufundland vertrieben, erhielt. Nachdem er davon die Strom- und die Telefonrechnung bezahlt, Lebensmittel eingekauft und seinen Hilfsorganisationen gespendet hatte, kaufte er mit dem verbliebenen Geld Zeichenmaterialien. Er malte mit Kohle, Pastell-und Wasserfarben. Die Pastellfarben mochte er am liebsten, weil sie sich so schön anfühlten und weil man das Bild auch hinterher noch durch Verschmieren verändern konnte, damit es so aussah, wie er manchmal die Welt sah, vor allem, wenn er ins Meer hineinguckte. Er versuchte, sich nicht Angst machen zu lassen von den Dingen, die er malte. Sie würden so oder so eintreffen. Das taten sie immer. Heute Nacht ängstigte ihn der Lärm der Hubschrauber im Osten nicht. Als er jetzt im Licht einer Öllampe, die er angezündet hatte, nachdem der Strom ausgefallen war, an seinem Esstisch saß, sagte er sich, dass er sich vor nichts zu fürchten brauchte. Es war Nacht, und er war allein, doch in seinem Kopf sah er Rayna, und bald würde er sie anrufen, würde sie anrufen, um sicher zu sein, dass es ihr gut ging, und dann würde es auch ihm gut gehen. Er fingerte an seinen Zeichenblöcken herum, zählte sie, von eins bis sieben. Die anderen waren in den Schubladen der Anrichte und oben im Schlafzimmerschrank verstaut. Er griff nach dem zweituntersten Block und zog ihn heraus. Mit einem zuversichtlichen Nicken schlug er den Pappdeckel auf und schaute das erste Bild an. Es zeigte den Albinohai am Kai, mit einem gelben Kran, der auf der Straße parkte, und einer Menge gesichtsloser Menschen. Die Leute unterschieden sich nur durch ein einziges Merkmal - die Aura, die manche von ihnen umgab. Manche waren violett, andere rosarot oder blassgelb. Als nächste Seite hielten Tommys fleckige Finger ein Blatt mit dem Bild einer Frau von vielleicht vierzig Jahren, genauso alt wie Tommy selbst. Sie hatte keine farbige Hülle um sich, und das machte Tommy unendlich traurig. Bald verschwamm das Bild in seinen warmen Tränen. Er wischte sie mit dem Hemdsärmel weg. 152 »Rayna«, murmelte er, kniff die Augen zu und blätterte weiter. Hubschrauber am Nachthimmel über dem Hafen. Scheinwerfer, die aufs Wasser gerichtet waren und Gesichter und Hände von Toten beleuchteten; ihre Kleider waren undeutlich und von matter Farbe. Tommy blätterte zu einer Zeichnung eines Krankenhauszimmers um. Die Betten waren alle belegt. Die Schwester hatte eine rosarote bis gelbliche Aura, doch die Patienten allesamt überhaupt keine, nicht einmal ein schwaches, wundes Violett. Tommy warf noch einen Blick auf das nächste Bild und schloss dann hastig den Block. Er schob ihn wieder in den Stoß zurück, an zweiter Stelle von unten. Er wusste genau, welcher Block wohin gehörte, und er wusste, wann die Skizzen entstanden waren. Die, die er sich gerade angesehen hatte, mit Szenen aus den vergangenen Tagen, hatte er vor über einem Monat gemalt. Er wusste, was als Nächstes passieren würde. Leichen überall, in einem großen metallischen Gebäude, das die Fischfabrik sein musste. Goldgelbe Streifen, die wie Sternschnuppen vom Himmel herunterregneten. Und dann Wellen, gefolgt von Schwärze. Er hatte viele volle Bogen Papier darauf verwendet, den besonderen Ton von Schwarz einzufangen, den er im Geiste sah. Ein winziger Hauch Kobaltblau
fand sich darin. Er fragte sich, ob das der Himmel war. Einzelheiten gab es nicht. Nur Dunkelheit, so schwarz und glänzend wie eine pitschnasse Nacht. Robin und Jessica gingen Hand in Hand auf die verlassene Kirche zu, bei der Jessica stehen blieb, um den dunklen Friedhof zu betrachten. »Auch in der Erde gibt es keinen Schutz und keinen Trost«, sagte Jessica. »Friedhöfe machen mich ganz traurig«, erwiderte Robin. »Du solltest es aber besser wissen.« »Warum?« Robin war eisig kalt draußen in der Nachtluft, ohne Pullover oder Jacke. Sie wünschte sich, sie hätte ihren Pulli 153 mitgenommen, den mit den aufgestickten rosaroten Blumen, den schon ihre Mutter als kleines Mädchen getragen hatte. »Die Leichen, die da begraben liegen, verrotten und verwandeln sich in Schlamm«, erklärte Jessica in dieser neuen Stimme, die Robin verwirrte, »und dann werden sie irgendwann vom Regen, der in die Erde sickert, und von unterirdischen Bächen fortgeschwemmt und gelangen in Flüsse, die sich ins Meer ergießen. « »Ich verstehe dich nicht. Du redest zu erwachsen.« »Der Regen ist nur ein Teil des Meers«, fuhr Jessica mit derselben eigenartigen Stimme fort. »Er versteht. Wasser kehrt zum Wasser zurück und nimmt auf seinem Lauf alles mit sich. Mit der Zeit landen winzige Teilchen von allen und allem da unten.« Jessica neigte den Kopf in Richtung Meer. »Es gibt keine einzige Ausnahme. Alles landet im Meer.« Robin blickte sich in der Dunkelheit um. Sie verstand ihre Freundin nicht, und sie konnte sich nicht für den Friedhof erwärmen wie Jessica. Jessica hatte sich an den Friedhofszaun gelehnt und streichelte die kühle Eisenstange, die den Maschendraht oben abschloss. Robin wandte sich um und blickte den dunklen Weg zurück, den sie gekommen waren. Sie spürte Jessicas feuchte, kalte Hand in ihrer, und zusammen gingen sie weiter, die Codger's Lane hinunter. Die Straße führte in noch tiefere Dunkelheit hinein, zum Strand und zur Spitze der Landzunge. Der Weg war uneben, und Robin versuchte, in den dunklen Schatten am Boden auf Löcher zu achten. »Es ist zu dunkel«, beklagte sie sich. In ihren Ohren hallte der ratternde Lärm eines Hubschraubers über dem Hafen wider. Der Lärm wurde lauter und ebbte wieder ab. »Ist es gar nicht. Es macht Spaß«, sagte Jessica unbeirrt. »Die Tiere sehen uns aus dem dunklen Gebüsch zu. Siehst du ihre grünen und roten Augen? Sie halten ganz still. Sie wollen unseren Geruch nicht stören.« Sie blieb stehen, um den Blick über den Saum der Bäume jenseits der Straße schweifen zu lassen. Voller Bewunderung rief sie: »Die Geschöpfe in den Bäumen glimmen. So was Schönes hast du noch nie gesehen.« 153 »Ich habe schon Tiere gesehen. Ich habe Bücher...« »Aber die hier noch nie. Manchmal sehen Menschen diese Geschöpfe, aber nur wenn sie sich richtig erschrecken, denn sich richtig zu erschrecken ist, als ob man ein kleines bisschen stirbt. Man stirbt und erhascht einen Blick, und dann wird man wieder lebendig. Oder wenn man eine Portion richtigen Tod abbekommt, bevor er einen noch einmal gehen lässt... Ich habe den Wald schon so lange nicht mehr gesehen. Lange, lange nicht mehr.« »Warum?« »Ich muss mit jemandem gehen. Jemandem, dem ich etwas bedeute. Ich brauche seine Energie. Ich kann nicht allein gehen. Ich kann nur an Orte der Liebe gehen, wo jemand mich in seinem Herzen trägt.« »Was ist das?« »Orte der Liebe?« Robin nickte. Die Sohlen ihrer Turnschuhe knirschten beim Gehen auf dem Sand und den Kieseln. Alles war so ruhig und still. Nur das schwache Surren von Leitungen über ihnen war zu hören, ein Geräusch, das an- und abschwoll und Jessicas Aufmerksamkeit erregte. Robin spürte Jessicas Griff um ihre Hand fester werden. Dann hörte das Surren ganz auf.
»Orte...«, hob Jessica an, doch ihre Stimme erstarb. Sie riss den Blick von den Leitungen los und öffnete den Mund wie zu einer Grimasse. »Orte der Liebe«, half ihr Robin aus, als könne es Jessicas Unbehagen lindern, wenn sie die Worte wiederholte. Jessica starrte Robin an, als wäre sie irgendwie verwirrt. »Orte, die von der Hand einer Mutter angewärmt sind... oder der Hand anderer, die mich führen. Halt meine Hand fester, bitte.« »Warum? Kannst du nicht hingehen, wo du willst?« »Nein. Hier nicht.« »Warum nicht?« Robin wandte den Kopf, als erneut das Knattern eines Hubschraubers näher kam. Ein seltsamer Krach ertönte, eine verzerrte Stimme aus einem Lautsprecher. Es erinnerte sie an einen Zirkus, einen Jahrmarkt, an Karussellfahrten und herumwirbelnde Farben in der Nacht. 154 Jessica zuckte mit den Schultern. »Weil ich tot bin. So sind die Regeln.« Sie lächelte. Robin erwiderte das Lächeln zögernd und war sich ihrer Freundschaft zu Jessica auf einmal unsicher. »Komm, da oben gibt es einen Weg.« Jessica führte Robin zum Straßenrand. »Siehst du die Öffnung da? Da drin habe ich immer gespielt, als ich noch am Leben war.« Sie zeigte mit dem Kopf zu der dichten Finsternis hin und schlüpfte hinein, wobei sie sich unter den Zweigen zweier riesiger Nadelbäume hindurchbücken musste. Dahinter begann ein Waldpfad. Er war gut ausgetreten und roch nach Harz, das in der Sonne erwärmt worden war, doch jetzt abkühlte. Es fühlte sich feucht an hier drin und randvoll mit Dunkelheit. »Das macht mir Angst hier«, sagte Robin. Ihr Zittern ging in Schaudern über, als Jessica sie weiterzog. So wie sich alles anfühlte und wie Jessica redete, kam es Robin vor, als wäre sie in einem Traum. »Sei doch nicht so ein Angsthase.« Der schmale Pfad öffnete sich bald zu einer Lichtung, über der der Geruch salziger Luft und eine beständige Brise hingen, die über dem Wasser nie zur Ruhe kam. Sie waren aus dem Wald heraus, standen auf einem Kliff, so hoch über dem schwarzen Ozean, dass sie ein Gefühl von Schwindel ergriff. In der Ferne sahen sie die winzigen Lichter der Häuser von Port de Grave jenseits des Wassers und über ihnen funkelnde Sterne im dunkelblauen Himmel. Jessica blickte Robin feierlich an. »Da drüben«, sagte sie, wobei ihr Flüssigkeit übers Kinn rann, in der sich das Mondlicht fing, so dass es aussah, als ob da etwas Lebendiges, Quecksilbriges entlangkröche. Sie zeigte mit dem Finger nach Port de Grave, dessen Lichter scharf und klar übers Wasser leuchteten. »Da drüben ist es passiert.« »Was?« »Es«, sagte Jessica. Ihre Stimme war ein Gurgeln, und Wasser lief ihr aus dem Mund. Sie hustete, beugte sich leicht vornüber; ihre Schultern hingen zuckend nach vorn, während ein
154 Schwall Wasser aus ihrem Mund ins Gras platschte, als müsse sie sich übergeben, fortwährend, jedoch ohne Anstrengung. »Jessica?!«, rief Robin, und ihre Stimme war angespannt und verängstigt. Sie wich einen Schritt zurück, damit ihre Turnschuhe nicht nass würden. Jessica hustete erneut, wobei ihr Kopf ruckartig zuckte. Ein Strahl hellorangefarbenen Lichts blitzte zwischen Jessicas Lippen auf und warf einen rotierenden Schein aus dunklem Orange über das Gras. Wieder hustete Jessica, rang röchelnd nach Luft. Ihre Gesichtshaut spannte sich, ihre Augen traten aus den Höhlen, ihre Arme waren nach hinten ausgestreckt. Der orangefarbene Lichtschein zitterte auf ihren Lippen. Die zappelnde Schwanzflosse eines Fischs. Jessica würgte eine ganze Weile, bis der Fisch endlich aus ihrem Mund glitt und ins Gras plumpste, wo er zuckend auf und ab hüpfte und dabei in den dunkelgrünen Grashalmen glomm wie ein schwelendes Feuer.
Verblüfft beobachtete Robin den Fisch. Er schien wie elektrisiert. Sie blickte auf und sah Jessicas dunkle Augen schweigend auf sich ruhen. Das einzige Geräusch war ein Rascheln im Gras - die Kiemen des Fischs, die sich in stummen Zuckungen öffneten und schlossen. Der Fisch wanderte zappelnd zum Rand des Kliffs, wo er in einem schwerelosen Taumel hinab zum Leben spendenden Wasser seine Freiheit fand. Robin lauschte, hörte jedoch kein Platschen. Als sie mit vor Verwunderung offenem Mund aufblickte, sah sie, dass Jessicas Augen jetzt deutlich größer waren als sonst. Ein Streifen braunen Schleims, der aussah wie fauliges, schlammverschmiertes Laub, klebte auf ihrer linken Wange, und ihre Haut wirkte grünlich und weich, dem Bersten nahe. »Ich bin voller Fische«, sagte Jessica traurig und spuckte einen kleinen grauen Fisch zu Boden. Beulen bildeten sich in ihrem Gesicht und verschwanden wieder - wellenartige Bewegungen unter ihrer Haut. »Ich will gehen.«
155 »Fische im Meer«, hauchte Jessica. Ihre Augen quollen noch stärker hervor, auf ihrer Haut entstanden rote saugende Punkte, die Robin an Pickel mit Lippen erinnerten, doch dann wurden sie größer und ähnelten Bissen: Ihre Haut brach auf, wurde zerfressen, vor Robins Augen. »Fische im Meer«, sagte Jessica. Ihre Stimme verklebte zu einem Unterwasser-Blubbern, jedes Wort versiegelt in einer Blase aus Speichel. »Fische im Meer.« Ein entsetzter Schrei durchzuckte Robins Brust, blieb jedoch in ihrer vor Angst zugeschnürten Kehle stecken. Sie wich stolpernd zurück, als Jessica auf sie zukam. »Mein Vaaater fuhr zur See-See-See, da wollte er was sehn-sehn-sehn ...« Robin drehte sich panisch um, wollte wegrennen, doch sie verlor auf der schmalen Grasnarbe das Gleichgewicht. Die nasse Sohle ihres Turnschuhs rutschte weg. Sie landete in einem schmerzhaften Spagat, während sie noch versuchte, sich an einem Strauch festzuhalten, doch die Zweige waren dünn und fein verzweigt, und als ihr Körpergewicht nach hinten sackte, lösten sich die winzigen Blätter unter ihrer hektischen Hand. Sie fiel senkrecht in die Tiefe, und ihr gellender Schrei verhallte langsam, bis er schließlich von einem schallenden Klatschen geschluckt wurde. Lieutenant-Commander French hatte Dr. Thompson einen speziellen reflektierenden Aufkleber gegeben, den er auf der Beifahrerseite an der Windschutzscheibe anbringen sollte. Darauf war das Wappen der kanadischen Armee und unterhalb eine Reihe fetter, roter Nummern zu sehen. Thompson hatte das vordere Fenster heruntergekurbelt, um Luft hereinzulassen und sich zu vergewissern, dass zumindest die süße Sommerluft noch nicht vollkommen fortgesogen war. Als er die Untere Straße entlangfuhr, begleitet vom Krach der Helikopter und der Bootsmotoren, die weiter ihrem Geschäft nachgingen, blieb sein Blick hier und da an den dunklen Häusern zu seiner Rechten hängen. Nur in ein paar von ihnen brannte Licht. Lampenlicht und das 155 Flackern von Kerzen in ein oder zwei Räumen. Einmal huschte der Schein einer Taschenlampe durch das Innere eines Raums und verschwand dann wieder. Wie lange würde der Stromausfall wohl noch andauern?, fragte er sich. Er hatte Lieutenant-Commander French gefragt, doch der Marineoffizier hatte ihm keine Antwort geben können. »Wir suchen gerade nach der Ursache«, hatte er halbherzig erwidert und den Blick dabei nicht von dem Computerbildschirm gewandt, der vor kurzem ausgepackt und auf seinem Schreibtisch aufgebaut worden war. Thompson hegte den Verdacht, dass das Militär selbst dahintersteckte, und wie er so im Eingang zu Frenchs provisorischem Büro stand, hatte er ihn einfach direkt gefragt, worauf French entgegnet hatte: »Wir sind hier, um zu helfen. Wenn das Abschalten des Stroms notwendig ist, um den Leuten in diesem Dorf zu helfen, dann wäre diese Aktion von den mit dieser Operation betrauten Personen auch sanktioniert.« »Soll das ein Ja sein?«, hatte Thompson mit einem herausfordernden Lächeln gefragt, auf Offenheit und, wichtiger noch, einen Schuss Kameraderie hoffend. »Was ich eben sagte, war kein direktes Ja, aber vielleicht -und ich betone vielleicht - eine Aussage, die in Richtung einer Bestätigung tendiert.« Dazu schnitt French eine Grimasse, räusperte sich und
wandte sich wieder seinem Bildschirm zu. Thompson hatte bemerkt, dass auf dem Schreibtisch des Lieutenant-Commanders ein großes, schweres Buch mit Legenden von der See stand. »Suchen Sie in dem Buch nach was Bestimmtem?« »Eine rein private Lektüre, nur zum Vergnügen«, sagte French, ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden. »Drucken.« Der Befehl, in sein Funk-Mikrofon gesprochen, galt dem Drucker an der gegenüberliegenden Wand, der auch sogleich zu rattern begann. »Schon irgendeine Idee, was da vor sich geht?« »Wahrscheinlich nur ein übles Grippevirus.« Die Aussage rief bei Dr. Thompson einen einzigen, kurzen, pistolenschussartigen Lacher hervor. French machte sich nicht 156 die Mühe, zu Thompson aufzublicken. Er stand einfach auf und holte sich die Seiten aus dem Drucker. Thompson erhaschte einen Blick auf die fett gedruckten Wörter »elektromagnetische Hypersensitivität« ganz oben auf der Seite. »Hätten Sie was dagegen, wenn ich mal einen Blick reinwerfe?«, fragte der Doktor, auf das Buch deutend. »Nur zu.« French setzte sich und überflog die ausgedruckten Seiten. Thompson nahm das Buch, schlug es auf und blätterte darin herum. Die Hochglanzseiten zeigten Zeichnungen eines alten Matrosen von Geschöpfen, die aus dem Wasser auftauchten: Riesenkraken, dreiköpfige Ungeheuer und Fische mit menschlichen Köpfen. »Ganz schönes Rätsel«, merkte er an, worauf French sich mit der Fingerspitze seitlich an die Stirn tippte und sagte: »Rätsel. Mysterium. Vexierspiel. Änigma. Das sind Kampfwörter. Wir lassen uns von denen nicht schlagen, oder, Doktor?« Eine zweite Straßensperre war inzwischen auf der Unteren Straße errichtet worden, ungefähr auf halbem Weg zwischen Gemeindezentrum und Codger's Lane. Thompsons Scheinwerferlicht fiel auf die Soldaten, die dort standen. Der Soldat auf der linken Straßenseite, also am dichtesten beim Wasser, hob die Hand und leuchtete mit einer Taschenlampe auf Thompsons Windschutzscheibe. Der Doktor kniff geblendet die Augen zusammen und wandte das Gesicht ab. Als der Soldat den Armeeaufkleber entdeckte, winkte er Thompson weiter. »In Ordnung, Doktor.« »Abend«, grüßte Thompson durchs Fenster, als er vorbeifuhr. »Abend, Sir.« Was sollte er eigentlich genau machen? French hatte ihm aufgetragen, die Gegend abzufahren und die Augen nach eventuellen Anzeichen von Unwohlsein offen zu halten. War das nur ein Trick gewesen, mit dem sich French den Doktor vom Hals schaffen wollte, oder erwartete er tatsächlich von ihm, dass er durch Wände sehen konnte? Woran sollte er denn ein Unwohlsein erkennen? Und wäre er nicht in der Fischfabrik drüben von grö
156 ßerem Nutzen, wo sie die Leichen aus dem Meer aufbahrten? Er hatte eine entsprechende Frage gewagt, doch French hatte trocken erwidert: »Ärzte brauchen wir da drüben nicht. Nicht im Moment. Die sind ja alle tot. Und ich bin auch Doktor, Herr Doktor. Doktor der Umweltbiologie. Und ich darf Ihnen versichern, dass die Medizin für diese Unglücklichen dort drüben, die an Land gezogen wurden, nichts mehr tun kann. Was hingegen den Lebenden in dieser Situation sehr von Nutzen sein kann, sind wache Augen im Inneren der Gemeinde. Sie haben solche Augen. Meine sind dafür verkehrt. Die sind von einer Uniform verhängt.« Thompson fuhr an zwei Häusern mit schwarzen Fenstern vorbei und versuchte, sich zu erinnern, wer darin wohnte. Im Dunkeln war es schwierig, die Häuser zuzuordnen. Weiter vorn fiel ihm ein Haus besonders auf, durch dessen Fenster Licht strömte. Jedes Zimmer war erleuchtet, und mehrfach huschten Schatten an den Scheiben vorbei. Auf dem Rasen vor dem Haus waren ein paar Holzstühle so aufgestellt, dass man auf den Hafen blicken konnte. Leute saßen im Halbdunkel da, nur ab und an strich ein Suchscheinwerfer eines Helikopters über sie hinweg. Andere kamen und gingen durch die offene Haustür. Kinder rannten spielend im Garten und auf der Straße herum. Als Thompson sich näherte, sprang ein Motor an, und ein Pick-up stieß aus der zugeparkten
Einfahrt rückwärts auf die Straße heraus und fuhr auf der Unteren Straße in Richtung eines weiteren erleuchteten Hauses in der Ferne. Jetzt wusste Thompson wieder, wo er war. Das war Wilf Murrays Haus. Er wusste auch genau, weshalb sich die Leute bei Wilf versammelt hatten. Wilf genoss hohes Ansehen als ein großartiger Geschichtenerzähler und galt vielen im Dorf als eine Quelle der Inspiration. Der alte Mann musste in seinen Achtzigern sein, doch nach wie vor hackte er selbst Holz und baute Boote, die er in der ganzen Provinz verkaufte. Er war ein erfahrener Bootsbauer. Selbst in den besten Zeiten kamen immer ein paar Leute auf einen Besuch bei ihm vorbei, um ihm zu lauschen, wenn er sein Seemannsgarn spann.
157 Thompson stellte seinen Wagen hinter einem grauen Van ab. Ein paar Autos parkten am Straßenrand, und die Einfahrt war fast vollkommen zugeparkt. Beim Aussteigen streckte Thompson ganz automatisch die Hand nach seiner Tasche aus, die auf dem Beifahrersitz stand, doch dann entschied er sich noch einmal anders. Warum sollte er die mitnehmen? Sein Magen knurrte. Er dachte an die Tabletten in der Tasche. Was hatte er dabei, was seinen Magen und Darm in Ordnung bringen könnte, und, wenn er schon dabei war, was für ein Medikament hätte er wohl, um eine absolut surreale Situation zu behandeln? Vielleicht hatte ja Mrs. Murray etwas auf dem Herd stehen. Halt, nein, der Strom war ja weg. Aber, fiel ihm da ein, sie hatte doch einen alten Holz-und-Kohle-Ofen in der Küche. Die Murrays hatten es nie für nötig befunden, sich einen Elektroherd anzuschaffen, hatten eigensinnig alles Moderne abgelehnt. Das letzte Mal, als Thompson hier gewesen war, hatte Wilf einen schlimmen Gichtanfall gehabt, der schließlich unter Kontrolle gebracht worden war. Als Thompson den Gartenweg hinaufhumpelte, erreichte der Schein einer Kerosinlampe, die an einem Baum hing, sein Gesicht, und ein paar der Männer erkannten ihn und grüßten wie üblich. »Hallo, Doc.« »'n Abend, Doc.« Thompson erwiderte die Grüße und blieb einen Moment stehen, um sich umzudrehen und den Hafen zu betrachten. Eine rote Leuchtkugel hatte im Westen einen Streifen durch den Himmel gezogen und versank langsam in der Nähe der Landzunge. Hinter Thompsons Rücken öffnete sich die Haustür, und er trat einen Schritt zur Seite, um den Mann, der gerade ging, vorbeizulassen. In diesem Augenblick hörte er Geschirr klappern und den fröhlichen Radau einer Unterhaltung, und mit einem Schlag hob sich seine Stimmung merklich. Er trat ein, nicht ohne sich die Schuhe auf der Fußmatte abzuwischen. Gerade hatte er sich mühsam gebückt, um sie auszuziehen - der Gürtel schnürte ihm dabei den Atem ab -, als jemand zu ihm trat und eine besorgte Stimme sagte: »Nun lassen Sie mal schön brav die Schuhe an. Machen Sie sich bloß keine Sorgen des 157 wegen, Dr. Thompson. Ich hatte hier schon 'n ganzen Tag lang Leute herum stiefeln.« Thompson schaute auf und erblickte Mrs. Murray mit rosigen runden Wangen vor sich. Sie trug eine Schürze mit einem großen, roten Hummer darauf über einem schlichten, blauen Kleid. Drei Kinder sausten hinter ihr vorbei und jagten einander polternd und unter begeisterten Juchzern die Treppe hinauf. »Schlimme Sachen, die da grade passieren«, sagte Mrs. Murray und schnalzte mit der Zunge. »Nun lassen Sie doch die Schuhe. Ich hab's Ihnen doch schon gesagt.« Sie schlug entrüstet mit dem Geschirrtuch nach ihm, das sie über der Schulter hängen hatte. »Jetzt sind die Schnürsenkel sowieso schon auf«, wiegelte Thompson ab. Japsend stützte er sich mit einer Hand an der Wand ab und stieg, einen Fuß nach dem anderen hebend, aus den Schuhen. »Sie sind mir vielleicht ein Dickkopf«, erwiderte sie. »Ich hab einen Topf voll Essen für alle auf 'm Herd stehen. Rindfleisch und Kohl. Kann ich Ihnen 'nen Teller voll herrichten?« Thompson, der sich inzwischen aufgerichtet hatte, stieß einen Seufzer der Erlösung aus. »Allmächtiger, Sie haben ja keine Ahnung, wie ausgehungert ich bin.« Hocherfreut wandte Mrs. Murray sich um und winkte ihm, ihr zu folgen. »Na, dann kommen Sie mal«, sagte sie. »Wir sitzen alle in der Küche.« Noch ein paar Kinder sausten vorbei und hätten Thompson beinahe umgerannt.
»Wir sehen nach 'n Kindern von denen, die krank geworden sind«, erklärte Mrs. Murray. »Die armen Kleinen.« Die Küche dampfte von Essensgerüchen und der geballten Körperwärme der Versammelten. Die Fensterscheiben beim Tisch waren beschlagen, und Tröpfchen von Kondenswasser rannen daran herab. »Mollig warm hier drin«, sagte Thompson, nachdem die um den Tisch Sitzenden oder an die Anrichte Gelehnten ihm zugezwinkert oder zugenickt oder sonst einen Gruß entboten hatten. 158 Ein Mann lachte und sagte: »Das können Sie wohl sagen, dass das mollig warm ist hier drin.« Ein paar andere lachten munter mit. Bevor Thompson wusste, wie ihm geschah, wurde ihm ein voll gehäufter Teller Essen in die Hände gedrückt. Mrs. Murray stand vor ihm, nickte und wischte sich die Hände an der Schürze ab. »Jetzt essen Sie mal schön auf, mein Lieber.« »Danke. Das ist einfach fabelhaft.« Ihm fiel auf einmal auf, dass ihm tatsächlich das Wasser im Mund zusammenlief und -peinlich genug - aus dem Mundwinkel troff, kaum dass der Essensduft seine Nase erreichte. Endlich ein richtiges Mahl. Er wischte sich mit dem Ärmel über Mund und Kinn. Mrs. Murray grinste breit, und ihre Wangen rundeten sich vor Stolz zu richtigen Apfelbäckchen. Sie wandte sich ab, um einen soßen verschmierten Teller abzuräumen, den jemand gerade leer gegessen hatte. Thompson schaute verzückt auf den dampfenden Berg Gemüse und Kohl, das cremige Erbspüree, die roten Streifen zähes Pökelfleisch, dazu noch ein Hühnchenbein, das knusprig goldbraun gebraten unter alledem hervorschaute; und das ganze himmlische Fest schwamm in Soße von perfekter Konsistenz. Er wollte gerade noch um eine Gabel bitten, als ihm von Mrs. Murray auch schon eine in die Hand gedrückt wurde. Sie hatte den gebrauchten Teller weggestellt und blies sich Luft auf die Stirn. Ihr Gesicht wirkte gerötet, und sie fächelte sich mit der Hand Luft zu. »Die Hitze hier macht einen fertig«, bemerkte sie. »Danke«, sagte Thompson mit einem breiten Grinsen, während er sich insgeheim fragte, wie es wohl um Mrs. Murrays Blutdruck stand. Dann tauchte er, ohne ein weiteres Wort und an dem Fleck, wo er gerade stand, die Gabel in den Berg Essen. Oh Wonne, ging es ihm durch den Sinn, als die erste Gabel voll seine Geschmacksnerven überflutete. Wonne, Wonne, Wonne. »Wilf erzählt grade vom Eissturm anno fünfundsechzig«, erklärte Mrs. Murray und nickte zu ihrem Mann hin. Thompson spähte zum Tisch und entdeckte Wilf auf dem Platz ganz an der 158 Wand. Der Alte rückte den Schirm seiner rot-weißen Baseballmütze zurecht und hob, als er Thompsons Blick begegnete, die Hand zum Gruß. Dann widmete er sich wieder seiner Erzählung. Thompson versuchte mitzuhören, während er sein Essen verschlang, doch das Malmen seiner Kiefer und seine wiederholten seligen Seufzer übertönten die Einzelheiten der Geschichte. Sosehr er sein Mahl auch genoss oder vielleicht gerade weil er es so über alle Maßen genoss - plötzlich hatte er ein schlechtes Gewissen wegen seiner Gier. Eigentlich sollte er im Krankenhaus sein, sich mit den anderen Ärzten unterhalten, geduldig arbeiten, um die Quelle dieser Krankheit zu entdecken. Er schaute im Raum herum und sah, dass aller Augen auf Wilf gerichtet waren. Jeder von diesen Leuten könnte im nächsten Augenblick zu atmen aufhören. Aber nein, sie sahen nicht danach aus. Keiner schien auch nur im Entferntesten aggressiv zu sein. Alle hatten ein Lächeln auf den Lippen oder grinsten oder warteten auf den rechten Moment, um laut zu lachen. Thompson betrachtete sie, während er weiteraß. Die Worte »Was bin ich?« gingen ihm wieder durch den Sinn. Er sollte unbedingt ins Krankenhaus zurückkehren. Aber war nicht die Tatsache, dass es diesen Leuten hier gut ging, genauso ein Teil des Rätsels wie der Zustand der Betroffenen? Wilf Murray beschrieb die vereisten Bäume, die unter der Last des gefrorenen Wassers einfach abknickten.
»Wie Eiszapfen, die man von der Dachrinne bricht«, führte er aus. »Und die abgerissenen Leitungskabel tanzten Feuer spuckend auf der Straße rum. Als wären sie auf einmal lebendig geworden.« Wilf hob die Hände in die Höhe und schnippte mit den Fingern, als ginge ein Funkenhagel nieder. »Als wären sie auf einmal lebendig geworden und zischten uns an, weil wir so verdattert dastanden und dachten, wir könnten sie einfach einfangen und wieder zusammenstecken. Und alles war wieder schön in Butter. Aber wer hat denn Kontrolle über so was, frag ich euch? Wer? Niemand hat Kontrolle über so was.« Er richtete den Blick fest auf einen der Dasitzenden, dann auf den nächsten. »Niemand.« 159 Onkel Doug stand in Robins dämmrigem Türrahmen und summte leise eine alte irische Ballade, während er im Schein der Kerze die zerwühlte Bettdecke beobachtete. Mit gedämpfter, aber klangvoller Stimme sang er vor sich hin, um sich abzulenken: »Es war mal ein Alter, der war zwar schon tot, jedoch noch so munter, dass 'n Doktor man holt, und in seinem Schädel, da fand der drei Quellen, drin sangen im Chor neununddreißig Forellen.« Die Kerze in dem Ständer auf dem Kaminsims flackerte. Der schwankende Schein verlieh dem Bettzeug auf einmal deutlichere Konturen. Etwas daran wirkte seltsam. Der Kopf auf dem Kissen war viel zu klein. Ganz leise, doch mit wachsender Sorge, ging Doug ins Zimmer. So klein, wie Robin war, konnte sie leicht in dem Bettzeug verloren gehen. Aber nein, nein, als er näher kam, sah er, dass der Kopf auf dem Kissen nur der einer Puppe war. Doug riss die Decke zur Seite, um ganz sicher zu sein. Nur die Puppe lag da. Und daneben Zeichenpapier und ein Behälter mit Malstiften. Als Doug das oberste Blatt in die Hand nahm, sah er, dass es vollständig in einer einzigen, dunklen Farbe bemalt war. Es schien blau zu sein, ohne irgendwelche Konturen. Blau mit Wellen von Weiß darin. Verblüfft warf er die Zeichnung wieder aufs Bett und kehrte in den Flur zurück. Niemand da. Er wollte schon laut rufen, hielt sich jedoch im letzten Moment zurück, um zuerst noch in Kims Zimmer nachzusehen. Man musste ja nicht gleich allen eine Heidenangst einjagen. Vielleicht war die Kleine ja nur zu ihrer Mutter ins Bett gekrochen, während Doug unten ein Glas Wasser holte. Doug ging zu Kims Zimmer und blieb neben ihrem Bett stehen. Er schaute, ob da zwischen ihrem Rücken und der Wand jemand lag. Nichts. Kims Lider flatterten. Anscheinend merkte sie, dass jemand da war. Er trat einen Schritt zurück, und ihre Augen gingen auf. 159 »Liegt Robin bei Ihnen im Bett?«, fragte Doug. Kim wandte sich um und setzte sich halb auf, um besser hinter sich sehen zu können. Sie klopfte mit der Hand auf die Bettdecke. »Nein«, sagte sie benommen. »Warum?« »Sie ist nicht in ihrem Zimmer.« Kim warf die Decke zurück und sprang auf. Sie hatte noch ihre normalen Straßenkleider an. Auf unsicheren Beinen eilte sie zur Tür, vorbei an Miss Laracy, die in ihrem Korbsessel eingenickt war. Noch bevor Doug die Türschwelle erreicht hatte, stand Kim schon wieder da, jetzt hellwach und mit einem panischen Ausdruck in den Augen. »Wo ist sie?«, fragte sie knapp. Ihr Blick huschte über das dunkle Fenster und dann zu der Kerze in dem Keramikständer. »Ich...« Doug schüttelte den Kopf. Kim drehte sich um und schrie aus voller Kehle: »Robin?« Dann stand sie mucksmäuschenstill und lauschte. Kein Laut. Kims Schrei hatte nun auch Miss Laracy aufgeweckt. Die alte Frau richtete sich auf und kniff die Augen zusammen, als Kim nach dem Kerzenständer auf dem Fenstersims griff und sich zur Tür umwandte. »Das Mädchen ist im Wasser«, murmelte Miss Laracy. »Was?« Kim, die schon halb zur Tür hinaus war, drehte sich abrupt um und stützte sich mit der freien Hand am Türrahmen ab, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. »Das Mädchen ist im Wasser.« »Was?« Kim schaute fragend zu Doug auf. »Was?«
»Sei still, red keinen Unsinn«, fuhr Doug Miss Laracy an. »Aber ihr passiert nichts«, fuhr Miss Laracy unbeirrt fort und entblößte grinsend ihr rosarotes Zahnfleisch. »Sie ist kerngesund.« Kims Blick ruhte einen Augenblick ungläubig auf Miss Laracy. Dann drehte sie sich auf dem Absatz um und rannte rufend zur Tür: »Robin? Joe?« Doug schüttelte tadelnd den Kopf über Miss Laracy, während Kim hastig die anderen Zimmer durchsuchte. Ihre aufgelöste
160 Stimme hallte durchs Haus. »Joe? Joseph?« Doug beobachtete immer noch die alte Frau. Doch Miss Laracy ließ sich nicht einschüchtern. Sie zwinkerte nur und grinste dazu. »Die werden suchen, aber sie werden sie nicht finden, nicht wo die suchen, 's war 'n Geist, der die Kleine weggeführt hat.« »Schluss mit diesem Altweibergeschwätz.« Doug verließ das Zimmer und eilte die Treppe hinunter. In diesem Augenblick ging die Haustür auf, und Joseph kam mit ahnungsloser Miene herein. »Ist Robin bei dir?«, fragte Kim. »Nein.« Das letzte bisschen Farbe wich aus seinem Gesicht. Er war jetzt aschfahl. »Wo ist sie? Hat ihr schon jemand etwas getan? Wer ist denn an der Reihe?« »Was?!« Kim stürmte nach draußen und stieß Joseph im Vorbeigehen vor die Brust. »Was redest du für ein Zeug?« Sie eilte nach draußen, und ihre Stimme hallte durch die stille Nacht, tönte über die Bergungsgeräusche vom Hafen unten hinweg: »Roooo-biiinnnn?« »Wenn sie schon einer umgebracht hat«, sagte Joseph, »dann ist das viel zu früh, weil nämlich die Show noch lange nicht vorbei ist.« In den Internet-Nachrichten aus St. John's kam, dass in Bareneed nun auch noch der Strom ausgefallen war, wodurch sich die bizarre Situation, die auf der Ortschaft lastete, noch weiter verkomplizierte. Sergeant Chase saß mit einem feuchten Handtuch um die Hüfte auf seinem Stuhl vor dem Computer. Er hatte sich heimlich eingeloggt, fasziniert von den Neuigkeiten. Nach seiner Dusche hatte er Theresa bei einer Sendung über Gartenarbeit im Wohnzimmer zurückgelassen, sich an seinen Computer in der kleinen Kammer geschlichen und den Kopfhörer aufgesetzt. Die Kammer war einmal ein Schlafzimmer gewesen. Er hatte sie zu seinem Arbeitszimmer umfunktioniert. Natürlich wusste er längst, dass der Strom ausgefallen war, doch jetzt erfuhr er auch, was der Chef der Elektrizitätswerke 160 von Neufundland dazu für eine Erklärung abgegeben hatte: dass sie keine technische Ursache für den Stromausfall entdecken konnten. Ihren Daten nach wurde Bareneed nach wie vor mit Strom versorgt. Chase verkleinerte eines der Fenster und vergrößerte ein anderes, die Website eines landesweiten Senders. Sogar dorthin hatte die Meldung aus Bareneed es geschafft, als kleine Story, an siebter oder achter Stelle. Er klickte auf Leichen vor der Küste Neufundlands gefunden und sah sich den Bericht an. Es war nur die Wiederholung eines Berichts, den er schon gesehen hatte und der von einem Lokalsender aus der Gegend stammte. Chase sagte sich, dass er eigentlich zu Bett gehen sollte. Es wurde allmählich spät, und er hatte keine Ahnung, wie lange er schon im Netz war. Andererseits, wenn er sich hinlegte, würde er doch nur allein daliegen und an die Decke starren. Theresa ging nicht vor drei oder vier Uhr nachts ins Bett, falls überhaupt. Womöglich blieb sie einfach auf der Couch liegen. Die nächsten paar Tage würde er sich sowieso noch keine Sorgen wegen Schlafmangels machen müssen. Er brauchte keinen Schlaf. Das Einzige, was er brauchte, war eine Dusche, und die hatte er gehabt. Chase wechselte die Fenster, um vielleicht noch irgendwo einen Bericht mit einem anderen Blickwinkel zu finden, doch die Storys glichen sich alle ziemlich. Die Informationen waren knapp, Antworten gab es kaum. Ärzte wurden interviewt. Spezialisten postulierten irgendetwas und gaben sich den Anschein professioneller Autorität, obwohl sie nicht die leiseste Ahnung hatten,
womit sie es hier zu tun hatten. Einige behaupteten, die Ursache liege im Wasser. Andere sagten: in der Luft. Niemand ließ sich auf irgendetwas festnageln. Alles war hundertprozentige Spekulation. Chase hatte ein seltsames Gefühl dabei, Bareneed auf dem Computer-Bildschirm zu sehen. Er arbeitete erst seit kurzem hier. Wenn er vor die Tür trat, in seinen Hof, konnte er über das Wasser hinweg Bareneed sehen. Die Nachrichten lieferten ihm ein aktuelles Bild von dort. Er konnte dabei zusehen, was gerade vor sich ging. Live. Wie viele Leichen waren es nun? Keiner
161 wusste es genau. Chase schüttelte den Kopf, nahm kurz den Kopfhörer ab und lauschte. Von Theresa war nichts zu hören. Er war dem Chaos im Norden Saskatchewans entflohen und inmitten des schlimmsten Szenarios gelandet, das er je erlebt hatte. In Saskatchewan hatte Chase sich immer noch damit trösten können, dass der Rest der Welt so funktionierte, wie er sollte, mehr oder weniger jedenfalls. Selbst wenn er in der Zeitung von Serienmorden las, ging das Leben um ihn herum seinen gewohnten Gang. Doch diese Misere hier in Bareneed hatte die Ausmaße einer Katastrophe. Keiner wusste, was noch alles kam. Und was Bareneed befallen hatte, konnte sich leicht auch auf Port de Grave ausdehnen. Er setzte den Kopfhörer wieder auf und hörte sich die kursierenden Theorien an. Etwas wusste er, was die Reporter nicht wussten: eine wichtige Information, die Lieutenant-Commander French ihm anvertraut hatte. Deswegen hatte Chase auch Bareneed verlassen dürfen. Es war kein Virus, das von Mensch zu Mensch übertragen wurde. Mehr hatte Lieutenant-Commander French dazu nicht gesagt, auch auf Nachfrage hin nicht. Chase hatte den Verdacht, dass French mehr wusste, als er zugab. Der Lieutenant-Commander hatte Chase, der offiziell als Verbindungsmann zwischen Polizei und Militär eingesetzt war, vorgeschlagen, nach Hause zu gehen und sich auszuruhen. Vielleicht wollte French ja einfach die Polizei aus dem Weg haben. Als Chase ihm entgegnet hatte: »Aber die Ortschaft steht unter Quarantäne«, hatte French bloß gesagt: »Es geht hier nicht um ein Virus. Die Straßensperren sind nur dazu da, den Schauplatz unter Kontrolle zu halten.« Dabei hatte er ihn angesehen, ohne eine Regung zu zeigen. Kein weiterer Kommentar. Chase wusste, dass es zwecklos war, mehr aus French herausholen zu wollen. Er klickte wieder eine andere Seite an. Ein Bildbericht. Eine Ansicht des nächtlichen Hafenbeckens von Bareneed. Umherhuschende Suchscheinwerfer von Helikoptern. Rote Leuchtkugeln, die aufsteigend eine Spur durch den Nachthimmel zogen und langsam, zu Rosarot verblassend, wieder herabsanken. Das Ganze hatte die Atmosphäre eines Kriegsschauplatzes. Und
161 Todesopfer gab es ebenfalls. Die Leichen im Wasser. Auch wenn manche von denen schon seit Jahren tot waren. Das Telefonsymbol auf seinem Computer blinkte. Er klickte es rasch an, da er wusste, dass es auch in der Küche klingelte. Er wollte Theresa nicht stören. »Hallo?«, sagte er in das Mikrofon, das oben an seinem Bildschirm befestigt war. »Sergeant Chase?« Es war eine Beamtin aus der Zentrale in St. John's. »Ja.« »Wir haben eine Vermisstenmeldung für eine Person aus Bareneed. Ein Mädchen, acht Jahre alt. Haarfarbe: rotblond. Augenfarbe: blau. Zu Größe und Gewicht ist im Augenblick nichts Näheres bekannt. Da Sie der zuständige Beamte für Such-und Rettungsteams in dieser Gegend sind, dachten wir, wir sollten Sie verständigen.« »Wer ist die Kontaktperson?« »Joseph Blackwood, der Vater. Adresse: Obere Straße, Bareneed. Die einzige weitere Angabe, die ich habe, ist >das Critch-Haus^« »Ich weiß, wo das ist«, sagte Chase. Er erinnerte sich an den Vater, der seiner Tochter auf dem Kai geholfen hatte, die Angelschnur einzuholen, an deren Ende der rote Seeskorpion hing. »Seit wann wird sie vermisst?« »Ein oder zwei Stunden.« »Geben Sie Mr. Blackwood Bescheid. Ich komme sofort hin.«
Als Joseph bei der Polizei anrief, wurde ihm mitgeteilt, dass so bald wie möglich ein Beamter vorbeigeschickt würde. Die Stimme am Telefon klang geschäftsmäßig, gefühllos, vorwurfsvoll. Bestimmt gab sie insgeheim ihm die Schuld dafür, dass seine Tochter verschwunden war. Joseph knallte fluchend den Hörer auf. Da schob ihn Doug zur Seite, nahm selbst den Hörer ab, wählte eine Nummer und lauschte. Er drückte die Gabel herunter, wartete, ließ sie wieder los. Drückte sie erneut, lauschte. 162 »Was denn?«, fragte Kim. »Nichts«, war Dougs Antwort. Er legte auf. »Das Telefon?« Kim beobachtete Doug mit einer Mischung aus Unmut und Verzweiflung. Schließlich packte sie selbst den Hörer und lauschte. Ihre Augen richteten sich auf Joseph. »Die Leitung ist tot.« Sie legte auf und stellte ihren Mann zur Rede. »Du hast mit jemandem gesprochen?« »Ja, hab ich«, schrie Joseph und ballte die Fäuste. »Die haben mich nicht gehört.« »Was?« »Los, gehen wir. Wir suchen sie.« Doug achtete nicht weiter auf seinen Neffen, sondern eilte zur Haustür. Joseph und Kim folgten ihm auf den Fersen. Miss Laracy saß mit einer weiß-gelben Häkeldecke über den Beinen auf dem Wohnzimmersofa. »Dem Mädchen passiert nichts«, sagte sie, als die drei vorbeigingen. Doch keiner außer Joseph achtete auf sie. Draußen blieb Joseph stehen und schaute mit leerem Blick auf das Treiben am und über dem Hafen. Ihm stand der Sinn danach, noch einmal ins Haus zurückzugehen und die Alte zu ersticken. Sie war alt genug, um das Sterben zu schätzen. Mit der hätte er leichtes Spiel, obwohl er sich über ein bisschen Gestrampel und Gekratze auch nicht beklagen würde. Oben gab es Kissen. Im Westen waren auf dem Hügelkamm riesige Lichtmasten errichtet worden. Eben wurde von zwei Hubschraubern etwas Enormes aus Metall in Position gebracht, das silbrig aufblitzte. Joseph sah Doug neben Kims Auto stehen und einen Lichtstrahl an- und ausknipsen. Eine Taschenlampe. Vielleicht wollte der alte Mann irgendwo hingehen, wo er ein Licht brauchte, um den Weg zu finden. Je weiter weg, desto besser. Für Joseph wäre dies eine Erleichterung, er würde sich nicht mehr so unter Druck fühlen. Weil der Alte ein Verwandter war, konnte Joseph in seiner Nähe nicht das tun, wonach ihn verlangte, und das Verlangen wurde jetzt immer größer, purer, tödlicher. »Wer will fahren?«, fragte Doug. »Wie weit weg sollen wir suchen?« Kim bewegte sich unge 162 duldig, konnte es nicht erwarten, endlich loszugehen. Ihr ganzer Körper lechzte danach, etwas zurückzubekommen, was ihm geraubt worden war. »Sie kann nicht weit sein. Wo könnte sie bloß hingegangen sein?« Sie formte die Hände zu einem Trichter um den Mund und schrie: »Roooo-biiinnn?« Keiner der beiden Männer hatte eine Antwort für Kim. Allerdings hegte Joseph den Verdacht, dass Claudias Tochter etwas Genaueres wissen könnte. Das tote Mädchen. Garantiert hatte sie Robin weggelotst, um mit ihr zusammen herumzutollen. So waren die Toten: gierig; sie dachten nur an sich selbst. Er vermutete, dass Jessica Robin irgendwo hingeführt hatte. Aber wohin? In der Scheune hatte er schon nachgesehen. Der Wald hinter dem Haus war zu dicht und zu dunkel, um sich da hineinzuschlagen. Bestimmt würde ein Kind in dem Dickicht nicht weit kommen, sondern sich in den spitzen, stechenden Zweigen verfangen. Sollte er ihnen das sagen? Seiner Frau, falls sie das war, und diesem Mann, Onkel Doug, dem hartgesottenen Neufundländer, dieser Klischeefigur? Ihm sagen, dass Robin mit einem toten Mädchen spielen gegangen war? Vielleicht würden dann alle die Hände in die Höhe werfen und ausrufen: Ach, warum hast du denn das nicht gleich gesagt? Dann ist ja alles klar. Bei dem toten Mädchen ist sie sicher. Schließlich ist das Mädchen ja tot, oder nicht? Tot und tot zusammen. Zwei Mal tot. Was sollte da schon Schlimmes passieren? Alles würde einfach so hingenommen. Die Leute hier draußen hatten eine Vorliebe für Geister. Den Städtern waren solche Mythen nicht heilig, über so was verdrehte man in der Stadt die Augen.
Josephs Augenlider flatterten. Etwas Nasses klatschte auf seinen Handrücken. Er hob die Hand, um die Linien in der Haut, die den Knochen umspannte, zu betrachten. Ein klarer Tropfen Flüssigkeit. Er schleckte ihn mit der Zunge auf. Wasser. Er blickte zum Himmel empor. Keine Wolke zu sehen. Die blendende Klarheit der Sterne. Ein weiterer Tropfen zerplatzte auf seinem Kopf und sickerte träge durch sein Haar. Noch ein Tropfen auf seiner Wange. Dann nichts mehr. Er dachte an die alte Frau im Haus. Es blieb noch immer Zeit, sie umzubringen, sie 163 mit einer hübschen Auswahl an Haushaltsbesteck in Stücke zu reißen und die ganze Mühe in einer Fotoserie zu dokumentieren, die er dann höchstbietend an die Medien verkaufen könnte. Hatte er nicht diese Einwegkamera im Auto? Die Alte verdiente es zu sterben, weil sie so gottverdammt alt war. Die Jungen würden das verstehen. Für die wäre er ein Held. Kim wanderte weiter die Straße hinauf. »Roooo-biiinnn?« Wie er Kim so beobachtete, erwog Joseph, lieber ihr den Hals zu brechen, ihr mit einer Holzlatte von hinten den Kopf einzuschlagen. Schön ausholen und dann... bumml Bei dem Aufprall ginge es ihm schon gleich viel besser. Oder er könnte sie ersticken, sie wild um sich schlagend, mit zerrissener Bluse und schon ganz voller Maden zu Boden werfen und ihr mit einem Stein den Schädel einschlagen. Dann käme ihre wahre Natur ans Licht. Das kinderlose Miststück. Wozu war sie denn überhaupt nütze? Das tote Baby, das war ihre Schuld gewesen. Sie hatte es nicht lange genug in sich drin halten können. Robin war ihre Schuld gewesen. Wenn Kim da gewesen wäre, um auf Robin aufzupassen, dann wäre Robin nicht verschwunden. Er überlegte, ob er bei Claudia nachsehen sollte. Das war eine, der es auch nichts ausmachen würde zu sterben. Sie würde schon darauf warten, hätte schon ihr Beerdigungskleid an, einen Blumenstrauß in den Händen, ein Kreuz um den bleichen Hals. Vielleicht war seine Tochter ja bei ihr. Eine schon tot, die andere kurz davor. Aber nein, er war ja vorhin schon drüben gewesen, hatte vor dem Haus gestanden und zu den Fenstern hineingespäht, seinen Angriff geplant, und da war von Robin nichts zu sehen gewesen, nur Claudia im Wohnzimmerfenster, hinter der Scheibe stehend. Die Züge ihres jenseitigen klassischen Gesichts voller Schatten. Die eingesunkenen Augen, die mit einem Ausdruck zu ihm herunterstarrten, der um Erbarmen flehte, dafür, dass sie ihr Herz auf Dauer verlegt hatte. Sie umbringen, damit es ihr besser ginge. Das wollte sie doch. Es ihr geben, das, was sie wollte. Ihr den Lauf einer Schrotflinte in den Mund stecken. Wie heiß vertrug sie es? Joseph bemerkte, dass Onkel Doug ihn misstrauisch beo337 bachtete. Der alte Mann schüttelte den Kopf und rückte seine Baseballmütze zurecht. »Bist du dabei?« »Ich gehe jetzt«, rief Kim. Sie schaute Joseph an und musste wohl ein für alle Mal zu dem Schluss kommen, dass er ein nutzloses Exemplar von einem Mann war. Sie deutete die Straße hinauf, in Richtung Kirche. Joseph packte sie roh am Arm und drückte zu. »Nirgendwohin«, knirschte er. »Aua!« Sie riss sich los. Joseph grinste sie an. Sein Gesicht war eine anzügliche Fratze. Kim schrie ihn mit vor Tränen wässriger, zornbebender Stimme an. »Was ist los mit dir?« »Was zum Teufel machst du?«, fuhr ihn Doug an. Joseph zeigte Doug die Zähne, während er sich vorstellte, wie er Sachen durch Kims Fleisch stieß, Löcher in sie hineinriss, damit sie gefügiger würde, leichter zu heben. Er atmete aus, wartete, holte durch die Nase Luft. Was war das bloß, fragte er sich, in seinen Lungen? Irgendetwas war da drin oder war herausgenommen worden. Irgendetwas, das erforderlich war. »Ich gehe hier lang«, sagte Doug schließlich und schob seinen Zorn auf Joseph beiseite. Er wandte sich in die Richtung, in der die Straße zum Dorf hinunter abfiel. »Sie nehmen die Taschenlampe.« Er ging zu Kim und reichte sie ihr. Kim knipste sie an und richtete den Strahl auf die Bäume. Josephs Blick hing an den Hügeln. Drei verschiedene Gruppen von Lichtern, drei verschiedene Projekte: Monströse Dinge wurden dort errichtet. Er warf einen Blick zurück aufs Haus. Sollte er
zu Hause bleiben, allein, nur mit sich selbst, sich in einem Schrank verstecken und warten, bis die anderen hereinkamen? Die alte Frau war noch da. Sie könnte eine gute Übung sein. Onkel Doug und Kim gingen in entgegengesetzte Richtungen los. Sollte er mit dem Mann gehen? Oder sollte er der Mann sein und mit der Frau gehen, seiner Frau? Ihr lebendig das Herz aus dem Leib reißen und es wie ein Eroberer essen, der Mann, der alles verschlang, der Mann mit dem herzhaften Appetit? Er
164 hörte, wie Onkel Doug schnellen Schrittes die Straße herauf zurückkam. Als er vor ihm stand, riss er sich die Baseballmütze herunter und schlug sie Joseph seitlich an den Kopf. »Geh mit deiner Frau mit«, rief er. »Stell dich nicht so an.« Kim näherte sich mehr und mehr der Dunkelheit, die sie demnächst verschlingen würde, drehte sich noch einmal um und schrie böse: »Kommst du jetzt?« Joseph vermutete, dass die Frau ihn meinte. Was hatte er für Pläne? Er sollte doch irgendetwas machen, etwas suchen. Aber er hatte es schon gefunden, den puren Trieb in ihm. Kein Drumherum. Das wollten sie doch, oder? Den puren Trieb. Der alte Mann entfernte sich die Straße hinunter, drehte dabei den Kopf zur einen, dann zur anderen Seite, spähte systematisch ins Gebüsch und rief immer wieder einen Namen. Joseph ging einen Schritt, und seine Beine fühlten sich an, als ob er in Schlamm versinken würde. Die Gesichter, die er im Meer gesehen hatte, die Gesichter, die ihn unter Wasser mit dieser stummen Ergebenheit beobachtet hatten, tauchten aufs Neue vor seinem inneren Auge auf. Sie starrten ihn aufdringlich an. Eines von ihnen, das Gesicht eines kleinen Mädchens, trieb einsam näher; er erkannte es als ein Gesicht, das einst in einer Beziehung zu ihm gestanden hatte, auf eine Art, die ihm jetzt nichts mehr sagte. Seine »Tochter« hatten sie sie genannt - so hatte das Wort wohl gelautet. Joseph blickte nach vorn und sah den Rücken der Frau vollkommen in der Dunkelheit verschwinden. Doch ein Lichtstrahl erstreckte sich vor ihr und führte sie weiter. Er starrte ihr nach. Es war nicht schwer, ihr zu folgen, da sie ständig etwas rief, sich durch den Lärm, den sie machte, verriet. Wie wollte sie sich denn da vor ihm verstecken? Als Sergeant Chase das Critch-Haus erreicht hatte, ging er durch den dunklen Vorgarten zur Haustür, klopfte und wartete. Ein matter, orangefarbener Schein drang durch die Spitzengardinen des Wohnzimmerfensters. Er warf einen Blick über die Schulter auf das Straßenlicht. Dunkel. Als Nächstes spähte er zu dem So 164 larhaus auf der rechten Seite hinüber. Ein großer schwarzer Hund saß vor der Tür. Chase klopfte erneut. Keine Antwort. Vermutlich suchten sie alle nach dem Mädchen. Doch dann hörte er eine zerbrechliche alte Stimme singen. »'s Mädchen am Ufer weinet vor Gram, weil's Meer ihm seinen Liebsten nahm, nun ruht er in kalter Tiefe vermisst, nur's Fischlein die bleichen Lippen küsst.« Er war sich zwar nicht sicher, ob die Stimme tatsächlich aus dem Inneren des Hauses kam, drehte jedoch versuchshalber am Türknauf. Er gab widerstandslos nach. Chase schob die Tür auf und beugte sich zögernd ins Innere. Linker Hand, im Wohnzimmer, brannte tatsächlich Kerzenlicht. Auf den ersten Blick schien das Zimmer vollkommen leer zu sein. Nichts regte sich. An der gegenüberliegenden Wand stand ein altes Klavier, und auf dem blank polierten antiken Mobiliar schimmerte Kerzenlicht. Als sein Blick auf das Sofa fiel, sah Chase dort eine weißhaarige alte Frau sitzen, die ihn direkt ansah. »Hallo«, sagte er und erschrak unter dem Blick dieser Augen, die ihn so entschlossen fixierten. Die Alte nickte grinsend und sang weiter: »Begrabt mich nicht - da versagt ihm die Stimme, die Kameraden hörten sein Flehen nimmer. So ließen sie ihn an der Seite von Bord, und über ihm schloss sich die düstere Flut.« Nachdem sie aufgehört hatte, schaute die alte Frau Chase schweigend an, als würde sie eine trauervolle Bestätigung erwarten.
»Ist das hier, wo das kleine Mädchen vermisst wird?«, fragte Chase, wobei er vollends eintrat und die Haustür hinter sich schloss. Ein sanftes, ruhiges Gefühl überkam ihn auf einmal. Vielleicht lag es an dem Kerzenlicht. Oder auch an dem Lied, das er noch nie gehört hatte und das tragisch und wunderschön war. 165 »Ja,ja.« »Und hatten Sie schon Glück?« Chase nahm seine Mütze ab und hielt sie in der Hand. In der Gegenwart der Alten fühlte er sich eigenartig befangen. »Nicht, was das vermisste Mädchen angeht. Kein Glück bisher, mein Junge.« »Ich meinte bei der Suche.« Er machte noch ein paar Schritte ins Wohnzimmer hinein, das nach alten Polstern und Massivholzmöbeln roch. »Der geschieht nichts.« »Sie haben sie gefunden?«, fragte Chase hoffnungsvoll, während ihm ein Blatt Papier auffiel, das neben einer Vase mit Wiesenblumen auf dem Couchtisch lag. Es war eine Zeichnung von einer Frau mit langem, rotblondem Haar. Wenn es eine Kinderzeichnung war, dann musste das Kind außerordentliches Talent besitzen. Die alte Frau schaute bloß. »Wo sind sie jetzt?« »Suchen.« »Verstehe.« Chase sah sich in dem Raum um. »Wissen Sie, um welche Zeit genau das Mädchen verschwunden ist?« »Oh ja.« Die alte Frau gab ein kehliges, warmes Lachen von sich. Dann wischte sie sich mit einem Finger über die trockenen Lippen und lachte erneut. »Verschwunden, das ist sie wohl, und zu einer genauen Zeit.« Chase betrachtete das Gesicht der Alten unverwandt. Ihre respektlose Art ging ihm allmählich auf die Nerven. »Sind Sie die Großmutter?« »Die suchen an Land«, verkündete die Alte bedeutungsschwanger. »Immer suchen sie an Land. Dabei ist das Mädchen doch im Meer. Hat keinen Zweck, an Land zu suchen, wo doch die Antwort im Meer liegt.«
Montag
Rayna erwachte vom Klingeln des Telefons. Sie lag im Bett. Als sie sich bewegte, hatte sie das Gefühl, ihr Kopf sei mit nassem, matschigem Pappkarton ausgestopft, der eine Tonne wog. Das Telefon. Es klingelte. Es musste halb zehn sein. Tommy Quilty rief jeden Montag um halb zehn an, um sicher zu sein, dass es ihr gut ging. Seit vor sechs Jahren ihr Mann, Gregory, ertrunken war, kümmerte sich Tommy um sie, und Rayna empfand dies als Glück und Fluch zugleich. Er war ja süß, aber in Momenten wie diesen konnte er auch ganz schön lästig sein. Rayna vermisste Greg nicht groß. Er war ein brutaler, herzloser Mann gewesen, der sie misshandelte, wann immer ihn der Drang dazu überkam. Tommy hatte Gregs Gewalttätigkeit am eigenen Leib erfahren. Eines Nachmittags hatte Greg Rayna und Tommy dabei erwischt, wie sie ganz harmlos bei einer Tasse Tee am Küchentisch saßen und sich unterhielten, und er hatte Tommy eine ordentliche Tracht Prügel verpasst. Am Genick hatte er ihn gepackt und in den Garten hinausgeschleift und den »Schwachkopf«, wie er ihn nannte, seine Stiefel spüren lassen. Es war ein elender Anblick gewesen, wie sich Tommy wimmernd auf dem Boden zusammenkrümmte. Raynas Versuche, Greg von ihm wegzuzerren, hatten ihr nur zwei blaue Augen eingetragen. So etwas vermisste man zwar nicht, aber Rayna hatte dennoch das Gefühl, sich nach etwas zu sehnen, was sie nicht genau benennen konnte. Nicht Greg selbst, aber vielleicht seine Gegenwart. Oder die Gegenwart des Mannes, für den sie ihn einmal gehalten hatte. Das Telefon klingelte noch immer. Ihr Kopf schmerzte von der 165 Flasche Rum, die sie vergangene Nacht geleert hatte. Sie hatte einen bitteren Geschmack im Mund, vom Nikotin. Sie erinnerte sich vage daran, wie sie hinter dem Haus herumgestolpert und
hingefallen war, wie sie irgendetwas hatte verjagen wollen. War es nicht eine Katze gewesen? Oder hatte sie sie anlocken wollen? So oder so - Rayna wurde das verschwommene Gefühl nicht los, dass sie dem Vieh irgendwie hatte wehtun wollen. Sie umschlang das Kissen, presste den Kopf hinein und stöhnte. Seit kurzem rief Tommy nun schon jeden zweiten Tag an. Rayna vermutete, dass die ganze Aufregung in Bareneed der Grund dafür war, die Todesfälle und die seltsamen Entdeckungen im Meer. Letzte Nacht hatte sie sich im Fernsehen die Berichte über Bareneed angeschaut. Sogar Clarence Pike und Alice Fitzpatrick waren da gekommen; man hatte sie interviewt über das, was hier vor sich ging. Die beiden hatten natürlich keinen blassen Schimmer. Sie standen bloß da und sagten, es sei »irgendwas Furchtbares« und ein »Topf voll fauliger Fische«. So Zeug eben. Rayna hatte in sich hineingegluckst, weil die Reporter aus St. John's und anderen Teilen Kanadas wahrscheinlich kein Wort verstanden, aber trotzdem ganz eifrig zu allem nickten, als wären sie die mitfühlendsten Leute, die je auf Gottes Erde wandelten. Dann waren die Lichter ausgegangen, und seither war der Strom nicht wieder gekommen. Und das Telefon hatte auch nicht funktioniert. Sie hatte versucht, jemanden anzurufen. Wen gleich noch mal? Tommy? Jedenfalls war die Leitung tot gewesen. Sie spähte zu dem kleinen Radiowecker auf ihrem Nachttisch hinüber. Er zeigte noch immer 22.30 Uhr an. Sie griff nach dem Telefonhörer und legte ihn an ihr Ohr. »Hallo«, sagte sie benommen. Als sie jetzt die Hand auf ihre Stirn legte, wurde ihr erst richtig bewusst, wie sehr ihr alles wehtat. Sie holte tief Luft. Sie bewegte sich in dieser Situation besser nicht. Am besten, sie blieb ganz still liegen. Sie lauschte in den Hörer und vernahm Tommys Seufzer. »Tommy?« 166 »Ja«, sagte er rasch. »Geh auf und scheine, meine Sonne.« Rayna lächelte und schloss die Augen. Sie hustete und stöhnte in einem plötzlichen Anflug von Angst auf, wandte den Kopf zur Kommode an der entgegengesetzten Zimmerwand. Die Luft war irgendwie drückend. Es musste heiß sein draußen. Schwül. »Was machste grade, Tommy?« »Reden.« »Ist nicht wahr«, sagte sie kichernd. Ihre Schultern spannten sich dabei und lösten erneut Schmerz aus. Ein Hauch kalter Asche stieg ihr in die Nase. Der Aschenbecher auf dem Nachttisch lief über. Der bloße Anblick löste Übelkeit bei ihr aus. Sie wartete, da sie Tommys stumme Pausen kannte. Dann schnappte sie nach Luft. »Was machste denn jetzt?« »Bin im Bett.« Wieder hörte sie ihn seufzen. »Ich stehe auf... vielleicht.« »Ich auch.« »Biste im Bett?« »Nee.« »Oh.« Ihr Lächeln wurde milder. Tommy war wie ein großes Kind. Er war der einzige Mensch, der nie etwas von ihr wollte. Er hatte sie nur einfach gern, wollte in ihrer Nähe sein, brauchte sie. »Weißt du was?« »Nee.« »Ich war gestern in Port de Grave im... Gemüseladen, und dann bin ich zu Maxine's rüber. Da hab ich deine neuen Bilder gesehen.« Schweigen am anderen Ende der Leitung. Sie wartete, wollte schon nach einer Zigarette greifen, als ihr auffiel, dass sie nicht atmete. Sie setzte sich erschrocken im Bett auf, verspürte ein Prickeln. Sie holte Luft und lauschte auf sich selbst. Alles schien in Ordnung zu sein, nur dass ihr auf einmal der Schweiß ausgebrochen war. Das kam vom Saufen. Sie konnte den üblen Geruch riechen, den ihr Körper absonderte. Zeit für eine Dusche. »Tommy?« »Ja?« »Ich muss dann mal aufhören.« 166 »Okay. Kann ich vorbeikommen?« »Sicher.« Sie holte tief und panisch Luft. »Herrje«, murmelte sie und fasste sich an die Brust. »Ist's schwül draußen?« »Was?« »Hier drin ist gar keine Luft.« »Hä?«
»Nichts. Komm vorbei, wann du willst«, sagte sie, jetzt beunruhigt. Sie legte auf und schwang die Beine über die Bettkante. Als sie die Decke beiseite geschoben und ihr verrutschtes rotes T-Shirt zurechtgezupft hatte, spürte sie Luft auf ihren Armen, und das Gefühl beunruhigte sie. Und dann erschrak sie gleich noch mehr, als sie sich sagte, dass sie jetzt womöglich dieses Virus bekommen hatte, von dem alle redeten. Oder waren es doch nur die Zigaretten? Als sie aufstand, fingen ihre Knie zu zittern an. Sie setzte sich aufs Bett und spürte auf einmal eine Leere in sich aufsteigen, die ihr geradewegs in den Kopf schoss. Sie holte Luft. Der Schweiß stand ihr auf der Stirn und sammelte sich in ihren Augenbrauen. Bestimmt fehlte ihr nur ein Drink. Einer zum Nüchtern werden. Sie wischte sich mit einem Zipfel ihres T-Shirts die Stirn ab, drückte sich den Stoff ans Gesicht und schloss die Augen. Nichts. »Ich brauch 'nen Drink«, hörte sie sich sagen, doch im nächsten Augenblick hatte sie die Worte schon vergessen. Sie blickte sich in ihrem Schlafzimmer um und spürte vollkommene Verständnislosigkeit durch ihre Nervenbahnen rinnen. Einen Sekundenbruchteil lang erkannte sie ihre Umgebung nicht wieder. Wessen Haus war das? Das eines Fremden? Wo bin ich? Dann fiel es ihr ein. Das Zimmer kam ihr bekannt vor. Sehr bekannt sogar. Es war ihres. Dr. Thompson stand im Wartebereich der Notaufnahme und betrachtete die Leute, die herumstanden oder -saßen. Die meisten von ihnen mussten Verwandte von Patienten mit Atembeschwerden sein. Mütter und Väter. Nein, nicht Mütter und Väter, denn es waren keine Kinder mit den entsprechenden Symptomen eingeliefert worden. Nur Erwachsene. Warum? Krankheiten, die 167 nur in einer bestimmten Altersgruppe auftraten. Was waren das für welche? Ihm fiel nichts ein, was für die Situation hätte relevant sein können. Donna Drover war inzwischen nicht mehr ansprechbar, und Darry Pottle litt unter Gedächtnisausfällen. Amnesie trat normalerweise nicht in einzelnen Schüben auf wie hier, sondern als Ergebnis eines einmaligen Traumas oder sonstigen Auslösers. Andere Patienten zeigten ähnliche Symptome: mentale Degeneration ohne sichtbare Schädigung des Gehirns. Thompson war die ganze Nacht im Krankenhaus gewesen. Am Abend zuvor, während seiner Pause bei den Murrays, als er gerade genüsslich sein leckeres Mahl in sich hineinschaufelte und sich anstrengen musste, nicht dauernd vor Wonne zu seufzen, hatte zum dreißigsten Mal an diesem Tag sein Mobiltelefon geklingelt. Die Gespräche in der Küche waren mit einem Schlag zum Erliegen gekommen und sämtliche Köpfe zu ihm herumgefahren. Das Klingeln seines Handys war ein Alarmsignal, das allen den Grund für Thompsons Anwesenheit ins Bewusstsein rief. Die Gesichter beobachteten ihn, während er mit vollem Mund dastand. Mucksmäuschenstill war es auf einmal in der Küche; Wilf Murray rückte seine Schildmütze zurecht und hob lauschend sein stoppelig graues Kinn. Das Handy klingelte erneut. Thompson kaute einmal, nahm das Telefon von seinem Gürtel und klappte es auf, während er mit der anderen Hand seinen Teller hielt. Die Gesichter betrachteten ihn mit neu erwachtem Interesse. Thompson hatte sich etwas abgedreht und, während er sprach, mühsam eine Ladung Essen hinuntergeschluckt, an der er sich beinahe verschluckte. Trotz eines Hustenanfalls hatte er jedoch den Kern der Information mitbekommen, nämlich dass Donna Drover ins Koma gefallen war. Nach einem kurzen Zwischenstopp zu Hause, um die dankbare und elend einsame Agatha zu füttern und das geliebte Kätzchen dann mit zu sich ins Auto zu nehmen, war er direkt zum Krankenhaus gefahren und in Donna Drovers Zimmer geeilt. Sein rascher Gang ließ den Schmerz in seinem Knöchel wieder aufflammen. Ihm wurde übel davon, und so war er ge 167 zwungen, etwas langsamer zu gehen, sofern er das so gastfreundlich gewährte Abendessen von Mrs. Murray bei sich behalten wollte. Seit seinem letzten Besuch waren noch zwei weitere Betten in Donna Drovers Zimmer gestellt worden. Das am Fenster war Donnas. Thompson hinkte hinüber und blieb neben seiner Patientin stehen. Sie sollte eigentlich auf der Intensivstation liegen, aber da war kein Platz mehr.
Thompson warf einen Blick auf die anderen zwei Betten: zwei Frauen aus Bareneed an Beatmungsgeräten. Eine der beiden lag mit geschlossenen Augen da. Die andere, eine jüngere Frau, sah ihn mit unversöhnlichem Blick an. Ihre Handgelenke waren am Bettgestell festgeschnallt. Thompson hörte im Geiste Donnas Stimme: »Was bin ich?« Dann fielen ihm die Worte ein, die Lieutenant-Commander French auf die Tafel geschrieben hatte: »Menschenfischer.« »Wie geht es Ihnen?«, fragte Thompson die Frau, die ihn betrachtete. Sie schüttelte bloß den Kopf. Ihre hasserfüllte Miene wich einem Ausdruck wachsender Verzweiflung und Hilflosigkeit, der Thompson tief berührte. Nachdem er Donna noch einmal angesehen hatte, verließ er das Zimmer und ging zum Aufenthaltsraum der Ärzte. Zwei andere Ärzte waren gerade dort, eine Frau und ein Mann. Thompson kannte keinen von beiden. Sie mussten von außerhalb sein, nicht aus der Gegend hier, und waren gerade in ein Gespräch über die Situation vertieft. Die Ärztin, eine schlanke Frau mittleren Alters mit langem, braunem Haar, war überzeugt, Bareneed sei von einem Umweltgift verseucht, das den Hirnstamm angreife. Der Arzt, ein Mann Anfang dreißig mit schwarzen Locken und Brille, hielt dagegen, dass keinerlei Toxine im Körper der Betroffenen gefunden worden seien. Er vermutete eine psychologische Erkrankung, eine Art Massenhysterie. »Diese Patienten sind nicht physisch krank«, argumentierte er. »Aber wie erklären Sie dann die Todesfälle?«, fragte die Ärztin. »Wie kann denn Hysterie zum Tod führen?« 168 »Ich weiß nicht«, erwiderte der Mann. »Sie? Aber das ist es ja gerade. Wir wissen eigentlich nichts, oder?« Thompson hatte selbst schon eine Hysterie in Erwägung gezogen, doch die Theorie hielt nicht stand. Im Augenblick war er zu müde, um sich in das Gespräch einzuschalten. Die zwei Ärzte spähten in seine Richtung, anscheinend in der Hoffnung, er würde auf ihre Mutmaßungen eingehen, gaben jedoch irgendwann auf. Thompson dachte an Agatha draußen im Wagen und fragte sich, ob er auch das Fenster einen Spalt aufgemacht hatte. Ja, jetzt erinnerte er sich daran. Auf seiner Seite, der Fahrerseite. Dann dachte er über das neue Stadium der Krankheit nach: Koma. Der Verlauf: aggressives oder gewalttätiges Verhalten; Verlust der Atmungsfähigkeit; Identitätsverlust; Amnesie; Koma. Und kein einziges Kind war betroffen. Während ihm noch die Abfolge der Stadien durch den Kopf ging, schlummerte er ein und schnarchte schon bald vor sich hin. Ein paar Stunden später stand er im Wartebereich der Notaufnahme und wartete, aber worauf bloß? Ihm fiel ein, dass er vor zwei Tagen mit Sergeant Chase zusammen genau hier gestanden hatte und verblüfft gewesen war, wie misstrauisch ihn die Wartenden betrachteten. Die Bösartigkeit in ihren Augen. Im Gegensatz zu neulich stand heute allerdings ein Soldat am Haupteingang, breitbeinig aufgepflanzt und die Hände auf dem Rücken verschränkt. Keine Waffe. Thompson hätte ein Gewehr erwartet. Schließlich befand man sich in einem Notstand, wo jeden Augenblick Chaos von Wänden, Decken, Fußböden über alle hereinbrechen konnte. Thompson musste rülpsen. Das Essen vom Vorabend lag ihm noch im Magen. Was für angenehme Erinnerungen. Der Wartebereich war übervoll von Erwachsenen und Kindern. Die meisten standen oder saßen mit leerem Gesichtsausdruck herum. Ein paar ältere Leute beugten sich auf ihren Stühlen zueinander und unterhielten sich, nickten oder schüttelten den Kopf, wohl weil sie ihren Teil an Tragödien miterlebt hatten und nun die gegenwärtigen Ereignisse gegen vergangene
168 Vorfälle abwogen. Die Hitze, die von der Menschenmenge ausging, war erdrückend, raubte einem die Luft zum Atmen. Thompson schaute sich ein Gesicht nach dem anderen an. Keine Anzeichen von Böswilligkeit. Hatte er sich die Bosheit neulich nur eingebildet? Er wandte sich zur Glastür um und glaubte, aus der Ferne eine Krankenwagensirene zu hören.
Auch andere wandten die Köpfe. Thompson lauschte und humpelte auf die Türen zu, wobei er noch immer die Leute im Wartebereich musterte: die übliche Mischung aus Erkältungen, Verstauchungen und kleineren Schnittwunden. Von der Atemkrankheit betroffene Patienten durften keinen Besuch erhalten; trotzdem waren Angehörige hier und warteten auf Neuigkeiten. Ein paar hatten sich mit Fragen an ihn gewandt, doch er hatte ihnen nichts sagen können außer ein paar um Zuversicht bemühte, ausweichende Worte. Der sechste Stock des Krankenhauses war inzwischen komplett abgeriegelt worden. Thompson erreichte die automatischen Glastüren, und sie glitten vor ihm auf. Die Morgenluft war kühler, als er es für einen Sommermorgen erwartet hätte. Erfrischend. Er betrachtete die Nadelbäume in der Ferne. Eine einzelne Krähe flog hoch über den Wipfeln hinweg. Die Sirene wurde gellend laut und verstummte dann schlagartig: Der Krankenwagen fuhr heran und verstellte Thompson die Sicht. Die Sanitäter sprangen aus dem Fahrerhäuschen und rannten nach hinten, um die Türen aufzumachen. Eine Trage wurde herausgeschoben. Thompson sah, dass ein kleines Mädchen darauf lag, sieben oder acht Jahre alt. Er sah zu, wie sie an ihm vorbeigerollt wurde, und ging hinterher. »Was ist passiert?«, fragte er. »Unterkühlung«, bemerkte einer der Sanitäter. Die Trage rollte ratternd durch den Eingangsbereich mit den doppelten Glastüren. »Die Körpertemperatur bewegt sich nicht.« »War sie im Wasser?« »Ein Boot der Navy hat sie herausgefischt und zur Fischfabrik rübergebracht. Die dachten, sie wäre eine von den vielen Toten. Dann fiel ihnen auf, dass sie ganz normale Kleider anhat, von
169 heute.« Der Sanitäter schaute den Doktor an und schüttelte den Kopf, als könne er selbst nicht glauben, was er da gerade sagte. Thompson betrachtete das Gesicht unter der Sauerstoffmaske. Es kam ihm definitiv bekannt vor. Eine Patientin von ihm? Nein, das Kind aus dem Haus in Bareneed. Wie hieß sie gleich noch? Ein Name wie irgendein Tier. Ein Vogel. »Blau«, murmelte er, als die Trage die Tür der Notaufnahme erreichte und hindurchgeschoben wurde. Die Ärzte und die Schwestern in ihrer blauen Montur warteten schon. »Robin«, sagte er, als die Türen der Notaufnahme vor ihm zugingen. »Sie heißt Robin.« Sonntagnacht war Kim auf der Codger's Lane an einem Schlagloch gestolpert, die Taschenlampe war ihr aus der Hand geflogen und in den Bäumen gelandet. Sie hatte sich eben noch abfangen können, als sie auf einmal von hinten gerammt und mit dem Gewicht eines Körpers zu Boden geworfen wurde. Sie landete seitlich auf der steinigen Erde. Ein Mann lag auf ihr und versuchte roh, sie auf den Rücken zu drehen. Dann war auf einmal in der Dunkelheit Josephs Gesicht über ihrem. Seine Augen waren schmale Schlitze und flackerten in den Schatten, die die Bäume im Mondlicht warfen. Er presste ihr die Arme auf die Erde. Sein fauliger Atem direkt über ihr ließ sie angeekelt das Gesicht wegdrehen. »Schlampe«, zischte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch. »Mit diesem Kerl. Dem Fischmann.« »Geh runter von mir«, stieß sie hervor und versuchte, die Hüfte zu heben, um ihn abzuwerfen, doch ein furchtbarer Schmerz durchzuckte sie an der Stelle, wo ihre Hüfte bei dem Sturz aufgeprallt war. »Meine Hüfte! Geh runter!« »Du wirst mich nicht mehr verlassen.« »Geh runter von mir!« Trotz der Schmerzen wehrte sie sich weiter, doch sie konnte ihn nicht abschütteln. »Schlampe.« Seine Hand löste sich von ihrem rechten Arm. Er führte einen Finger zum Mund, leckte ihn ab und rieb mit der Spucke auf ihrer Wange herum, als wolle er etwas abwischen. »Was bist du da drunter? Make-up. Jeden Zahn einzeln raus
169 ziehen.« Er fasste ihren Schneidezahn und zog daran. »Löcher in deinen Kopf bohren. Werd schon rausfinden, wer.« Seine freie Hand suchte ihre Kehle. Seine Finger spielten mit ihrer Luftröhre, drückten ein wenig zu, nicht zu fest, und ließen wieder los, als wolle er den Widerstand testen.
Kim sah ihre Chance, griff mit der freien Hand nach einem Stein und schlug ihn Joseph seitlich an den Kopf. Sofort lockerte sich sein Griff um ihren Hals, und ein paar Augenblicke lang sah er sie verwundert aus seinen unsteten Augen an. Sein Gesicht kam langsam näher. Sie glaubte schon, er würde gleich die Besinnung verlieren oder sie beißen, und holte erneut mit dem Stein aus. Doch dann küsste er sie stattdessen, verstörend zart und gefühlvoll. Ein Abschiedskuss mit dem Piksen seiner Bartstoppeln auf ihrer Haut. Auf einmal sprang er von ihr herunter und rannte in den Wald hinein. Das Rascheln und Knacken von Zweigen und eine Folge tierischer, grunzender Laute waren noch zu hören, als er sich entfernte. Kim lag auf der Schotterstraße, spürte die Kieselsteine in ihrem Rücken und ihren Beinen und einen frisch aufflammenden Schmerz in ihrer Hüfte. Ein Schluchzer schüttelte sie. Sie fühlte sich schwach und dann wütend und wieder stärker. Vorsichtig stützte sie sich mit den Händen am Boden ab und kämpfte sich auf die Beine. Angst und Schmerz trieben ihr Tränen in die Augen. Sie schaute zum Waldrand hinüber, in der Hoffnung, ihre Taschenlampe wieder zu finden, doch sie war nirgends zu sehen. Kim lief weiter und rief dabei laut Robins Namen. Sie war allein und halb tot vor Angst. Das alles ergab nicht den geringsten Sinn. Joseph hatte sie überfallen und war dann blindlings in den Wald hineingerannt, als wüsste er, wohin. Sie musste stehen bleiben und sich nach vorn beugen. Ihre Angst und der Schmerz in ihrer Hüfte wurden so stark, dass sie sich in den Graben am Wegrand übergeben musste. Weinend und nach Luft ringend, folgte sie der jetzt absteigenden Codger's Lane, rief immer wieder Robins Namen, während der tiefe, stechende Schmerz in ihrer Hüfte heftiger wurde. Am Fuß der Straße angelangt, erhaschte sie einen Blick auf das 170 Geschehen am Hafen unten. Das einzige Wort, das ihr dazu in den Sinn kam, war »albtraumhaft«. Nicht weit vom Ufer zogen zwei Männer in einem der Boote, die auf dem schwarzen Wasser schwammen, ein Bündel an Bord. Es war ganz offensichtlich ein menschlicher Körper. Ein Hubschrauber schwebte über dem Ganzen und leuchtete mit einem Scheinwerfer direkt in das Boot. Der Lichtschein erhellte die Männer in den schwarzen Taucheranzügen und ließ die Blässe der Leiche in ihren Händen aufscheinen. Kim hatte das Gefühl, den Boden zu verlieren. Ihr war, als befände sie sich in einem vollkommen fremdartigen Land, aus dem schwärzesten Terrain der Einbildung geformt. Hier suchte sie nach ihrer Tochter, die sich verirrt hatte oder von Fremden verschleppt worden war, ohne sie jemals finden oder das Ganze verstehen zu können, weil es ein furchtbares Rätsel war, das sich nicht lösen ließ. Es war unbegreiflich. Sie wollte sich nicht überlegen, weshalb Robin verschwunden war. Sie wagte nicht, daran zu denken. Das Einzige, wozu sie fähig war, war weiterzusuchen. Als sie ein paar Schritte weit auf der Unteren Straße entlanggegangen war, hörte sie hinter sich das Knacken von Zweigen und Schritte auf grasigem Boden und blieb stehen. Sie wandte sich um und sah, dass ihr der Schatten eines Mannes folgte. Eben huschte er von der Straße herunter und in den Wald zurück. Joseph. Hatte er vollkommen den Verstand verloren? Er schien sie wie eine Beute zu verfolgen, ihr aufzulauern. Sie setzte sich wieder in Bewegung, ging noch schneller, trotz der Schmerzen, während sie hellwach und von quälender Sehnsucht erfüllt Robins Namen rief. Keine Antwort. Wenn doch nur ihre Tochter auftauchen würde. Kim würde alles dafür geben. Das sagte sie auch dem lieben Gott, versicherte ihm, dass sie alles tun würde, wenn sie nur ihre Tochter heil zurückbekäme. Alles. Bitte, bettelte sie immer wieder aufs Neue. Bitte, lieber Gott, tu mir nur diesen einen Gefallen, für meine Kleine. Bitte. Als sie die erste Straßensperre erreichte, in westlicher Rich 170 tung auf der Unteren Straße, hinderte ein Grüppchen von Soldaten mit Taschenlampen sie am Weitergehen, selbst als Kim über den Hubschrauberlärm hinwegschrie: »Meine Tochter ist verschwunden. Sie ist weg.« Ein groß gewachsener Soldat, der das Sagen zu haben schien oder jedenfalls so tat als ob, bemerkte ihre Verletzung und rief über Funk Hilfe herbei. Dann erklärte er Kim, dass es Einwohnern nicht erlaubt war, den abgesperrten Bereich zu verlassen. Ein anderer Soldat, der ein wenig weiter weg
stand, beobachtete Kim mit einem Ausdruck von Beunruhigung, der fast an Angst grenzte. Der Anblick dieses verängstigten Soldaten löste etwas in Kim aus. Sie schrie wie wild los und schlug auf den Soldaten ein, der ihr den Weg versperrte. Ein dritter Soldat zerrte sie zurück. Ihr Atem kam heiß, während sie dastand und den groß gewachsenen Soldaten voller Hass ansah. Dem Blick des verängstigten Soldaten versuchte sie auszuweichen. Er stand mit hochgezogenen Schultern da und schaute angstvoll auf das Wasser hinaus. »Es tut mir Leid«, sagte der große Soldat. Da zog sich Kim zurück, den Blick immer noch zornig auf ihn gerichtet. Sie wollte sich schon umdrehen, als Scheinwerferlicht auf die Straßensperre zukam. Kim musste sich eine Hand vor die Augen halten, als das Fahrzeug zum Stehen kam und seine rotblauen Signallichter einschaltete. Die Gestalt eines Polizisten löste sich aus dem Inneren und blieb im pulsierenden Schein des Lichts stehen. Er war noch größer und kräftiger als der große Soldat. »Sind Sie Mrs. Blackwood?«, rief die Silhouette. »Ja«, stieß Kim hervor und ging schlurfend einen Schritt näher. »Ja«, rief sie noch einmal, diesmal lauter, um das Peitschen der Rotorblätter des Hubschraubers zu übertönen, der jetzt direkt über ihnen schwebte, als würden sie von ihm beobachtet. Sie ging einen Schritt auf den Officer zu, doch erneut hielt sie der Soldat auf. Sie versetzte ihm mit beiden Händen einen Stoß, der ihn zurücktaumeln ließ. »Ist schon okay«, sagte der Polizist vernehmlich und kam 171 schnell heran, um sie beim Arm zu nehmen. »Ich bin Sergeant Chase.« Er blickte an ihr hinunter. »Haben Sie sich verletzt?« »Haben Sie meine Tochter gefunden?«, fragte Kim. Er öffnete ihr die hintere Tür seines Wagens. »Nein, tut mir Leid. Noch nicht. Wir stellen gerade einen Suchtrupp zusammen. Die werden bald hier sein.« Kim stieg in den Streifenwagen und zuckte vor Schmerz zusammen, als sie sich setzte. Die Heizung war an, die Luft jenseits der Fenster kühl. Es war mitten in der Nacht. Es kühlte ab. Die Wärme tat gut, zu gut. Ihre Hüfte schmerzte heftig, und der Schmerz schlug ihr erneut auf den Magen. Sergeant Chase kletterte auf den Fahrersitz. Kim wandte den Kopf nach hinten um und schaute durch die Heckscheibe zu den Hügeln hinauf, wo im grellen Schein von Flutlicht Hubschrauber silberne Scheiben, jede so groß wie ein Haus, errichteten. »Suchen wir jetzt nach ihr?«, fragte sie den Polizisten. »Suchen?« »Ja.« »Das wäre sinnlos, jetzt in der Nacht und nur wir beide.« »Es ist nicht sinnlos!« Kim schlug auf den Vordersitz ein. »Verdammt noch mal!« »Es ist besser, wenn wir alle an einem Ort bleiben. Die Dinge geordnet angehen. Die Suche muss systematisch verlaufen.« Sein Blick wanderte zum Rückspiegel. »Kinder verhalten sich anders als Erwachsene, wenn sie sich verirren. Sie verstecken sich dann meistens an einem Ort. Sie wandern nicht umher.« Kim folgte dem Blick des Polizisten im Spiegel und sah auf einmal Joseph auf der Straße stehen und rasch wieder in den Wald hineinspringen. Der groß gewachsene Soldat war aufmerksam geworden und ging ihm nach. Sergeant Chase fuhr mit Kim zurück zum Critch-Haus. Unterwegs fragte er, ob sie medizinische Hilfe brauche. Sie lehnte ab und sagte nur, sie sei im Dunkeln gestolpert und hingefallen. »Mir fehlt nichts«, wiegelte sie ab. Beim Critch-Haus angelangt, fragte Sergeant Chase über Funk beim Armeestützpunkt im Gemeindezentrum nach, ob es etwas 171 Neues von dem verschwundenen Mädchen gebe. Man unterrichtete ihn davon, dass ein Kind gefunden worden sei, Genaueres war jedoch nicht zu erfahren, ob Mädchen oder Junge, lebendig oder tot. »Wo ist das Kind jetzt?«, fragte Kim.
»Ich weiß nicht genau«, erwiderte Chase. »Wir müssen hier warten. Die werden uns sofort verständigen. Ich kümmere mich darum.« Wie lange war das jetzt schon her? Eine Nacht, eine Woche, nur Sekunden? Es war noch immer erdrückend dunkel draußen, das Wohnzimmer nur von Kerzenschein erleuchtet. Kim hatte drei Tabletten geschluckt, die jedoch nicht zu helfen schienen, und so hatte sie noch zwei genommen. Ihr Denken verschwamm in einem Zustand der Betäubung, der hin und wieder von einem Panikanfall durchzuckt wurde. Wenn die Schmerzen schlimmer wurden, machte sie Anstalten, vom Sofa aufzustehen, als sei der Schmerz dadurch ausgelöst, dass Robin in diesem Moment dringend ihrer Hilfe bedurfte, doch dann sank sie wieder zurück, erschlagen von der Sinnlosigkeit ihres Unterfangens. Nicht einmal etwas so Grundlegendes wie Gehen brachte sie fertig. Miss Laracy saß ihr in einem Schaukelstuhl gegenüber. Sie hatte Sergeant Chase gebeten, den Stuhl aus Josephs Schlafzimmer herunterzutragen, und er war so freundlich gewesen, ihr den Gefallen zu tun. Jetzt schaukelte die alte Frau am Wohnzimmerfenster und summte eine Melodie vor sich hin. Kim glaubte, Stille Nacht herauszuhören. Sergeant Chase gesellte sich eine Weile zu ihr, ohne ein Wort zu sagen, und wusste nicht recht, was er tun sollte. Dann kam ein Funkspruch für ihn, die Nachricht, dass der Suchtrupp bereit sei. »Wo ist Ihr Mann?«, fragte der Officer Kim. Kim schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung.« Chase entschuldigte sich, um in der Küche ein paar Telefonate zu führen. Kim lauschte, konnte jedoch nichts verstehen. Nur das tiefe Gemurmel seiner Stimme war zu hören. Er kehrte zurück, ohne ein Wort zu sagen, setzte sich auf den Klavierstuhl und schaute zum Fenster hinaus, wartete schweigend auf die ers 172 ten Anzeichen der Morgendämmerung, die schon bald das Zimmer erhellten. »Zeit zu gehen.« Er griff nach seiner Mütze, die auf dem Couchtisch lag, setzte sie auf und erhob sich. Miss Laracy unterbrach ihr Summen, um zu sagen: »Dem Mädchen geht's gut.« Sergeant Chase sagte nichts dazu, sondern betrachtete die alte Frau nur im Vorbeigehen. Kim folgte ihm zur Tür, wobei sie versuchte, das Hauptgewicht auf ihr rechtes Bein zu legen, um das andere zu entlasten. »Ich werde versuchen, Ihren Mann zu finden.« »Finden Sie meine Tochter.« Als Sergeant Chases Wagen wegfuhr, blickte Kim auf das Hafenbecken im trüben Morgenlicht hinab. Alles war still: keine Boote, keine Hubschrauber. Der Himmel wandelte sich von Schwarz zu Dunkelblau. Das Wasser lag ruhig da, so klar, als wäre die Szenerie der vergangenen Nacht nur eine Ausgeburt der Phantasie gewesen, eine ausgefallene, überbordende Filmsequenz. Kim spähte die Straße hinauf und hinunter und hielt nach Onkel Doug Ausschau. Er war die ganze Nacht nicht zurückgekehrt. Auch jetzt war nichts von ihm zu sehen. Einer wie er würde sich von der Dunkelheit nicht aufhalten lassen. Es tröstete Kim, dass er immer noch da draußen war und suchte, zusammen mit Freunden oder Nachbarn, ausgerüstet mit Taschenlampen. Sie kannten die Gegend und wussten am ehesten, wo ein kleines Mädchen sich verirren konnte. Wohin man sie verschleppen könnte. Ihr wehtun könnte. Diese Gedanken ertrug sie einfach nicht. Stunde um Stunde verstrich, und die Hoffnung starb mehr und mehr... Kim ging ins Wohnzimmer zurück. »Dem Mädchen geht's gut«, sagte Miss Laracy. Kim setzte sich aufs Sofa und schloss die Augen, um die Tränen zurückzuhalten. Ihr Kinn bebte, als sie die Augen wieder aufschlug und Miss Laracy ansah. Wer war diese alte Frau? Und weshalb war sie da? Sie war ein böses Omen. Ein böser Mensch. 172 Eine Hexe mit einem verschrumpelten Gesicht, das sie angrinste. Grinste! »Dem Mädchen geht's gut.« »Bitte«, sagte Kim und fasste sich mit einer Hand an die Stirn. »Bitte, hören Sie auf...«
»Nee«, rief Miss Laracy laut. »Ich werd nicht wegen Ihnen den Mund halten. Wenn Sie jetzt Ihren Glauben verlieren, dann war's das für Sie alle. Heiliger Herrgott! Nun halten Sie doch an Ihrem Glauben fest, junge Frau.« Kim schaute die Alte fassungslos an. »Stellen Sie sich Ihr kleines Mädchen vor, da, in Ihrem Kopf.« Auf einmal blickte Miss Laracy zur Decke und sagte: »Da kommt irgendwas.« Sie richtete den Blick hinaus auf den Hafen, dann zurück zur Decke und an der Wand entlang nach unten. Am Telefon auf dem Beistelltisch blieb er hängen. In diesem Augenblick klingelte es. Kim angelte sofort nach dem Hörer. »Hallo«, sagte sie, während sie sich verzweifelt den Hörer ans Ohr presste und ihre Hüfte von der plötzlichen Bewegung pochte. »Ist Joseph Blackwood zu sprechen?« »Ich bin seine Frau. Ist es wegen Robin? Ich bin ihre Mutter.« »Hier ist Dr. Thompson. Ich bin im Krankenhaus in Port de Grave und versuche schon die ganze Zeit, Sie zu erreichen, aber die Leitung war tot.« »Ist Robin okay?« »Sie sollten ins Krankenhaus kommen. Gleich.« Oft klammere ich mich an dem Ort fest, an dem ich gerade stehe oder sitze, weil ich spüre, dass die Erde mich zum Wasser hintreiben will. Die Schwerkraft verlagert sich, schaukelt, schlingert. Ich könnte zwischen Bäumen und Gras hindurch- und über schroffe Felsen hinwegrutschen und ins Meer stürzen. Ist das der Ort, wo ich hingehöre? Wo wir alle letztendlich hingehören? Wenn ja, warum halte ich mich dann noch fest? Dann soll mich der Sog der See erfassen. In meinem Studio sitzend, habe ich zum Fenster hinausgese
173 hen. Der Hafen ist wunderschön. In der Nacht. Am Tag. Ein Gemälde, das sich immer wieder übermalt - die Bilder, die Farben, das Licht. Das Licht verändert ständig die Konturen, ein nahtloses Fortschreiten von Zeit und Energie, das seine eigene Realität erschafft, mit jeder Sekunde, in der es mich und jegliche Materie in meinem Blickfeld verändert. Doch es ist nicht Realität. Es ist nur der Blick durch mein Fenster, umrahmt von einer Wand, an der andere Gemälde und Fotos hängen, die sich nicht verändern. Eine Täuschung. Eine Maskerade. Als ich heute Morgen aufwachte, schlief Jessica nicht neben mir. Ich frage mich, wo sie wohl ist. Ich esse die letzten getrockneten Aprikosen und Birnen. So süß. Ich fahre mit dem Formen der Scheunen und Häuser für das Dorf fort. In Miniaturausgabe. Ich habe angefangen, kleine Figuren zu formen. Fischer in Keramikbooten und Soldaten in Jeeps. Alles ist fast fertig, jedes Haus und jede Person. Die geformten Menschen klopfen an meine Tür. Ich mache nicht auf. Sie gehen weg. Ich warte darauf, dass jemand eindringt. Meine Träume von Reg werden immer mächtiger, meine Nerven dünner. Je mehr ich verfalle, desto stärker scheint Reg zu werden. Ich will die Augen nicht mehr schließen. Im Traum ist er klarer als im Wachen. Ich sehe ihn in Joseph. Einem Mann wie der Mann, der einst meiner war. Nicht zum Lieben. Nie mehr zum Lieben. Etwas drängt mich, nach unten zu eilen, die Besteckschublade aufzureißen und mit einem Messer über den Rasen zum Critch-Haus hinüberzurennen, um auf Joseph einzustechen, bis er tot ist, immer wieder zuzustechen, bis ich endlich frei von diesen Gedanken bin. Ein Klopfen an der Haustür riss Claudia aus dem Strom von Wörtern. Sie lauschte auf das Geräusch, um sicher zu sein, dass es tatsächlich da war. Da war es erneut. Sie seufzte und wartete, dass es aufhörte. Sie setzte die Spitze ihres Federhalters aufs Papier und wartete, dass erneut Wörter flössen, doch es kam nur das Klopfen. Ein lautes Klopfen. Als sie es nicht länger ertragen konnte, stand Claudia auf. Das Klopfen schwoll zu einem insistierenden Donnern an, so dring 173 lieh, dass Claudia die Treppe hinunterhastete. Wer könnte das sein? Sie riss die Tür auf und sah einen hübschen, jungen Mann in Uniform vor sich, der ein Klemmbrett vor der Brust hielt. Er war unverkennbar nervös und angespannt in ihrer Gegenwart und hielt den Stift über dem Klemmbrett gezückt, bereit, sich Notizen zu machen. »Guten Tag«, sagte er.
»Guten Tag.« »Ich bin Vollmatrose Nesbitt.« Claudia blickte über seine Schulter hinweg zum Hafen. Eine Sperrholzwand war entlang dem Strand errichtet worden, zweifelsohne, um Neugierige vom Schauplatz fern zu halten oder ihnen die Sicht auf das, was da vor sich ging, zu versperren. Die Hubschrauber waren jetzt auf den Hügeln im Westen zugange, wo riesige Metallscheiben aufgestellt wurden. Claudia konnte zahllose Lichtreflexe sehen, da, wo die Scheiben verschweißt und an Ort und Stelle zusammengesetzt wurden. Wofür waren die? Satellitenschüsseln für die Medien? »Wir gehen von Haus zu Haus, um sicherzustellen, dass die Bewohner bei guter Gesundheit sind.« Nesbitt schaute auf sein Klemmbrett. »Sie sind Claudia Kyle?« »Ja.« Ihr fiel auf, wie jung der Mann war, achtzehn oder neunzehn vielleicht, praktisch noch ein Kind. »Es war schon jemand hier.« Nesbitt blickte über seine linke Schulter zurück. Er hatte eine Autotür zuschlagen hören. Das Geräusch kam vom Critch-Haus herüber. Ein Motor sprang an, und ein Auto rauschte vorbei, die Obere Straße hinunter. Am Steuer saß eine Frau, Josephs Frau. Ihr Wagen beschrieb einen Schlenker. Der Soldat sah aus, als wolle er dem Auto hinterher jagen. Er hob die Hand und war im Begriff, etwas zu rufen, doch dann hielt er inne. Er richtete den Blick wieder auf Claudia und errötete vor Verlegenheit. »Um die werde ich mich dann wohl später kümmern«, bemerkte er, leckte sich die Lippen und lächelte jungenhaft. »Sieht so aus.« 174 Nesbitt blickte auf Claudias Brust und dann in ihre Augen. »Fühlen Sie sich gesund?«, fragte er und errötete noch tiefer. Claudia schloss, von einer plötzlichen Schwäche erfasst, die Augen und runzelte die Stirn. Der junge Soldat sprach weiter. »Insbesondere, was Ihre Atmung betrifft?« »Meine Atmung?« Claudia schlug die Augen auf, und die Farben schienen einen Hauch lebendiger zu sein als vorher. Das Gesicht des jungen Mannes wirkte so frisch und eifrig. Sie betrachtete seine Lippen. Sie waren weder zu schmal noch zu voll. Wenn sie ihn doch nur küssen könnte. Sich in diese Jugend zurückversenken und gerettet werden. Nichts weiter. Ihn küssen und vielleicht sein Gesicht an ihren Busen drücken. Seinen warmen Kopf halten, das warme Haar. Ihn küssen und jahrelang reglos sein Gesicht betrachten. Keine Komplikationen, die von ihrem Herzen Besitz ergreifen könnten. »Ja, Ihre Atmung.« Sie atmete tief ein, dann wieder aus. Der Soldat warf erneut einen flüchtigen Blick auf ihre Brust, wollte ihn jedoch nicht dort ruhen lassen. Er war befriedigt, nickte, machte einen Haken in ein kleines Kästchen auf seinem Klemmbrett und schrieb dann eine Nummer daneben. »Vielen Dank, Ma'am. Und entschuldigen Sie bitte die Störung. Falls Sie Hilfe brauchen sollten, können Sie diese Nummer anrufen.« Er reichte ihr eine Karte. »Es ist ein Aufkleber. Vielleicht kleben Sie ihn einfach auf Ihr Telefon. Und halten das Telefon griffbereit. Oh, wohnt sonst noch jemand im Haus?« »Nein, niemand.« Sie nahm den Aufkleber entgegen und schaute ihn interesselos an. »Ich habe kein Telefon.« Sie bemerkte, dass der Blick des Soldaten am Ärmel ihres Nachthemds hängen blieb, an den Worten, die sie der Länge nach darauf gekritzelt hatte. Der Soldat blickte wieder auf, doch sein Gesicht zeigte keinerlei Urteil oder Tadel über den Zustand ihres Nachthemds. »Ich muss das hier an Ihre Tür kleben.« Er zog einen größeren Aufkleber unter seinen Blättern hervor. Darauf war ein grünes 174 Symbol aus drei dicken, übereinander angeordneten Wellen. Er zog die Folie auf der Rückseite ab und klebte das Zeichen oben an die Haustür. »Danke«, sagte Claudia.
»Keine Ursache.« Der Soldat lächelte und griff sich zum Gruß an die Mütze. »Es ist also sonst niemand im Haus?« Claudia starrte ihn an, ohne etwas zu sagen. Ein Zitat von irgendwem ging ihr durch den Kopf: Mein Haus ist niemals leer, mein Herz immer voll. »Nein«, sagte sie schließlich. Erneut nickte der Soldat, schenkte ihr ein wunderschönes, ehrliches Lächeln, das ausdrückte, dass er sie schätzte oder sie besser kannte, als sie ahnte. Dann drehte er sich um und ging. Er war zu Fuß und ging zum Critch-Haus weiter. Claudia warf einen Blick auf den Aufkleber mit der grünen Welle, biss sich auf die Lippe und schloss mit zitternden Händen die Tür. Oben angelangt, setzte sie sich und schrieb weiter: Ich bin wieder da. Ich war unten, und da war ein Soldat an meiner Tür. Ich habe mit ihm gesprochen, und er hat mir einen Aufkleber dagelassen, den ich jetzt hier aufklebe. Eine Telefonnummer, für den Notfall. Kontakt soll mich retten. Nur eine Minute oder wenig mehr ist es her, dass der Soldat vor mir stand. Und jetzt ist er fort. Doch er hält noch immer einen Kaum in meinem Kopf besetzt. Ein optisches Echo. Ich sehe ihn, wie er mir den Aufkleber reicht, und ich sehe, wie er mich anlächelt. Er hat mein Leben wieder verlassen, aber er ist noch da. Nachdem ich ihn einmal von Angesicht zu Angesicht gesehen habe, bleibt er bei mir. Jeder, den ich je gesehen habe, bleibt bei mir, als wären sie alle erforderlich, um zu verhindern, dass mein Leben sich von dem entfernt, was es eigentlich ist. Sie erschaffen mich aus ihrem Leben, aus ihren Bedürfnissen. Mein Leben. Was aber ist mein Leben für sich allein? Über mir ist ein Hämmern, rhythmisch, dann sporadisch und dann wieder rhythmisch. Ein Vogel, der mit seinem Schnabel gegen das Dach hämmert. Bestimmt eine Krähe, die zuhackt, als läge ich bereits in meinem Sarg, Futter für das dunkle Getier mit 175 Flügeln, das kriecht, gleitet. Ich werde Staub aus mir machen. Ich werde ihnen nichts zum Verrotten hinterlassen. Warum muss ich die Tragödie sein? Als Vollmatrose Nesbitt das Critch-Haus erreichte, öffnete eine alte Frau, noch bevor die Knöchel seiner bereits erhobenen Hand die Tür berührten. »Ja?«, fragte sie und grinste dazu aus ihrem kleinen Gesicht, so dass ihr rosarotes Zahnfleisch in der Sonne glitzerte. Sie sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an und tätschelte ihm zur Begrüßung den Handrücken. »Wen suchen Sie denn, mein Junge?« »Ist das hier das Critch-Haus?«, fragte Nesbitt. Es war eigentümlich, welche Wärme und Farbe von ihrer Berührung ausging und wie ihre Augen direkt in ihn hineinzuschauen und jeden Schlag seines Herzens zärtlich festzuhalten schienen. Dieses Gefühl hatte er bisher nur in der Liebe erlebt. »Ja, ja, aber die Critchs selber sind ja schon seit Jahren tot.« »Das Haus ist vermietet.« »So ist's.« »An einen Mann und seine Tochter.« Mit einem Nicken sagte sie: »Jawohl, und andere sind jetzt auch noch da.« »Andere Leute}«, fragte Nesbitt, da der Ton ihrer Antwort etwas nicht von dieser Welt Stammendes suggerierte. Er hoffte inbrünstig, nicht auf noch mehr Beunruhigendes zu stoßen; er hatte so schon eine Heidenangst wegen dieser ganzen Leichen und der Geschöpfe im Wasser. Fliegende Fische. Die Dinge, die er sah, verstörten ihn zutiefst, und die anderen Soldaten schienen nicht im vollen Umfang zu sehen, was er wahrnahm. Die alte Frau zuckte mit den Schultern: »Städter, die sich mal 'ne Runde auf 'm Land austoben wollen.« Nesbitt schaute aufmerksam auf sein Klemmbrett. Die Worte, die er suchte, standen da, doch er hatte Schwierigkeiten, sich darauf zu konzentrieren. Sie verschafften ihm keinerlei Klarheit. Er fürchtete schon, sie seien nur dazu da, ihn zu verwirren. »Wie 175 es scheint, haben wir Sie nicht auf unserer Liste hier«, sagte er und runzelte angestrengt die Stirn. »Soll mir nur recht sein«, erwiderte die Alte mit einem heiteren Glucksen. Dann deutete sie zu den Hügeln hinauf. »Was wird 'n da alles aufgestellt? Die großen silbernen Dinger da?«
»Ich weiß nicht, Ma'am.« Nesbitt studierte weiter sein Klemmbrett. »Das ist doch das Critch-Haus, oder? Sind Sie Mrs. Critch?« »Ich hab Ihnen doch grade gesagt, dass die Critchs schon seit vielen Jahren tot sind. Sind Sie taub oder einfach bloß stockdumm?« Nesbitt starrte die Alte entgeistert an. Er brachte keine Antwort heraus, und so sagte er: »Sagen Sie mir bitte Ihren Namen?« »Eileen Laracy.« Als fiele ihr plötzlich seine Verunsicherung auf, tätschelte sie ihm noch einmal die Hand und fuhr in sanfterem Ton fort: »Nun machen Sie sich mal keine Sorgen, mein Junge, 's ist alles in bester Ordnung.« Nesbitt blickte in die mitfühlenden Augen der alten Frau. Wenn es nicht gegen die Anstandsformen verstoßen hätte, hätte er sie am liebsten angebettelt, ihn zu halten und zu trösten. »Die Frau, die hier wohnt, ist grade zum Krankenhaus losgefahren. Und die anderen sind draußen und suchen nach dem vermissten kleinen Mädchen. An Land, nicht im Wasser.« »Oh.« Nesbitt bemerkte, dass die Frau etwas in der Hand hielt, eine Kette aus kleinen Perlen, die um ihre Hand gewickelt war, mit einem kleinen silbernen Kreuzchen und kleinen Medaillons von Heiligen an einem Ende. »Geht es Ihnen gut? Ich meine, gesundheitlich. Deswegen bin ich nämlich hier. Ich soll mich danach erkundigen.« »Ganz prächtig geht's mir.« Die alte Frau grinste breit, zwinkerte dazu und hielt ihm ihr Handgelenk hin. »Prüfen Sie ruhig meinen Puls, Schätzchen.« Nesbitt lachte kurz auf. »Nein, nein, ich glaube nicht, dass das nötig ist.« »Nun, was wollen Sie denn dann noch wissen? Ihnen spukt doch noch irgendwas im Kopf rum, ich seh's doch.« 176 »Wie?« »'ne Frage, die Ihnen noch auf der Zunge brennt.« »Ach ja, das ist richtig. Genau. Die Navy wird demnächst eine Übung durchführen, um die Leichen zu identifizieren...« »Übung? Ich brauch keine Übung für irgendwas...« »Um die Leichen zu identifizieren, die angespült wurden. Die Navy bittet um Mithilfe von älteren Gemeindemitgliedern, in der Hoffnung, dass sie vielleicht einige der Ertrunkenen identifizieren können.« Miss Laracy kniff die Augen zusammen. Wieder berührte sie Nesbitts Hand. »Sie müssen ein wenig langsamer reden. Ich kann Ihnen ja gar nicht folgen, so schnell rasseln Sie alles runter.« »Leben Sie schon lange in Bareneed?« »Von dem Tag an, wo ich auf die Welt gekommen bin.« »Würden Sie uns vielleicht helfen, einige der Leichen zu identifizieren?« »Ich kenn die wahrscheinlich allesamt, Sir. Jeden Einzelnen von denen.« »Sie wären also bereit?« Die Vorstellung, dass die alte Frau mithelfen würde, erfüllte Nesbitt mit neuer Hoffnung. Er spürte es in seinem Inneren, dass sie der Schlüssel zu einem großen Teil dieses Rätsels war. »Gibt's Geld dafür?« »Eine Bezahlung?« »Genau.« »Ich... glaube nicht.« »Hmmm.« »Sie würden uns aber eine große Hilfe sein.« »Und wer wären denn wohl diese >unsSind Sie Sie selbst?< positiv beantworten konnten, dann haben Sie zweifelsfrei bestanden.« Was zum Teufel sollte das denn jetzt heißen. Sie nahm einfach einmal an, dass es ein Ja war. Als sie das Gemeindezentrum erreichten, wurde Rayna an den zwei großen Toren für die Feuerwehrautos vorbei zum Haupteingang geführt. Nesbitt ging schnell, doch Rayna blieb auf einmal verblüfft stehen, als sie bemerkte, was im Hafenbecken alles vor sich ging. Da schwamm etwas grün Gesprenkeltes auf dem Wasser, ungefähr so lang wie ein Schiff, doch gewunden wie eine Schlange. Riesige blaue Fische von genau derselben Farbe wie das Wasser sprangen über die Schlangengestalt hinweg und tauchten platschend ins Wasser. Rayna warf Nesbitt einen überraschten Blick zu. Dann lachte sie laut auf. »So was!«, rief sie. »Das ist ja ein Ding! Wie in 'nem Film oder so!« Nesbitt lächelte nervös, doch seine Augen wirkten traurig. Er hielt ihr die Tür auf und neigte den Kopf, als versuche er, nichts von dem Geschehen in der Bucht zu sehen. »Was ist denn da los?«, fragte sie und blickte aufs Wasser hinaus. »Schauen Sie doch!« Nesbitt zuckte mit den Schultern. »Jetzt sehen es alle.« »Das Zeug da?« »Ja. Ich habe das schon die ganze Zeit gesehen«, gestand er. »Jetzt sehen es alle.« »Wie Tommy.« »Was?« Nesbitt schaute kurz zu ihr auf und richtete den Blick dann wieder zu Boden. »Wie Tommy gesagt hat: Du bist in Sicherheit, wenn du siehst.« »Ich verstehe nicht. In Sicherheit?« »Ach, nichts.« Sie warf noch einen letzten Blick aufs Wasser, doch jetzt war die schlangenartige Kreatur verschwunden. Rayna wartete eine Weile, ob sie noch einmal auftauchte, doch sie tat es nicht, und so betrat sie auf Nesbitts Drängen hin den Gemeindesaal. Über die Jahre war sie bei zahllosen Anlässen hier 227 drin gewesen: zu Geburtstagsfeiern, Kartenspiel-Abenden und zum Tanz. Jetzt sah hier alles ganz anders aus. An der hinteren Wand waren vier kleine Räume errichtet worden. »Hier lang, bitte«, sagte Nesbitt und deutete auf einen davon. Als sie die Tür des Büros erreichten, rief Nesbitt: »Lieutenant-Commander French, Sir?«
Der Mann hinter dem Schreibtisch blickte von einer Liste auf, die er gerade durchging. Ein dickes Buch über Atlantikfische lag offen auf seinem Schreibtisch, neben einer Reihe von Seekarten. »Ja.« »Hier ist die genesene Patientin aus dem Krankenhaus«, sagte Nesbitt. »Rayna Prouse höchstpersönlich.« French erhob sich und reichte ihr die Hand. Er schien sich ehrlich zu freuen, sie zu sehen. »Hallo.« Sein Händedruck gefiel ihr. Er war kräftig, und die Augen des Offiziers hatten das wunderschönste Blau. Außerdem sah er gut aus, auf so eine raue, bärbeißige Art. »Es freut mich, Sie kennen zu lernen«, sagte er und betrachtete dabei ihr Gesicht. »Und zu hören, dass es Ihnen besser geht. Mit der Atmung alles in Ordnung?« Rayna zuckte mit den Schultern. »Schätze schon. Fragen Sie doch diesen Frankenstein-Doktor im Keller da.« Ein paar Bücher fielen ihr auf, die auf einem Stuhl in der Ecke lagen: Seeunglücke des zwanzigsten Jahrhunderts; Atlantische Flutwellen; Die Verbreitung elektromagnetischer Felder; Elektromagnetische Hypersensitivität. French bot ihr mit einer Geste den leeren Stuhl direkt vor seinem Schreibtisch an. »Bitte, setzen Sie sich.« Vollmatrose Nesbitt salutierte und zog sich zurück. »Kann ich Ihnen einen Kaffee oder etwas anbieten?«, fragte French, wobei seine Stimme fast im Lärm eines Hubschraubers über dem Gebäude unterging. Rayna schüttelte den Kopf. Sie wartete, bis sich der Hubschrauber etwas entfernt hatte, und sagte dann: »Nein, mir geht's gut.« Sie schenkte ihm ein Lächeln, das vollkommen schief he 228 rauskam, spitz fast. Sie wollte einfach nur nach Hause und schlafen. Sie hatte nicht viel Schlaf gehabt. Und Uniformen konnte sie auch nicht leiden. Ob Polizisten oder Militär. Und sie mochte nicht, wie sich ihr Kopf anfühlte, so als träume sie halb. »So scheint es«, erwiderte French und betrachtete sie auf eine Art und Weise, als wisse er mehr, als er zugab. Auch das gefiel ihr nicht. Es bedeutete, dass etwas vor sich ging, wovon sie keine Ahnung hatte. Sie hätte jetzt wirklich einen Drink vertragen können. Und eine Zigarette. French hob sein Päckchen Zigaretten hoch und bot ihr eine an. Der Anblick ließ sie fast in Tränen ausbrechen. Es gab tatsächlich noch jemanden, der rauchte! »Darf man hier drin rauchen?«, fragte sie, während sie sich eine Zigarette aus dem Päckchen schnappte. »Wer sollte es Ihnen denn verbieten?« Er beugte sich über den Schreibtisch hinweg, um ihr mit einem schicken Feuerzeug Feuer zu geben. »Dann sind Sie also der Boss hier«, stellte Rayna fest und nahm genussvoll einen tiefen Zug. French zündete sich selbst eine an, und dann saßen sie eine Weile schweigend da, French in gefasstem Staunen, Rayna in nikotininduziertem Entzücken, die Blicke aufeinander gerichtet, während sich der Raum mit blauem Dunst füllte. »Oh Gott, oh Gott.« Kim wollte ihre Tochter nicht aus den Händen lassen aus Angst, sie oder Robin würde fortgerissen werden. Robin war doch noch immer so warm. Wie konnte sie da nicht lebendig sein? Eine Woge unerträglicher Qual erfasste Kims Körper. Sie zitterte und zuckte. Die Kraft versagte ihr in den Armen, und sie ließ Robin aufs Bett sinken. Zitternd stand sie da und betrachtete Robin von oben bis unten. Kaum hörte sie die Stimme neben sich. Sie hatte die Hände seitlich an den Kopf gelegt, wo sie praktisch ihre Ohren bedeckten. Eine Taubheit pochte in ihrem Inneren. »Mrs. Blackwood?« Es war der Doktor. Er wollte sie etwas fragen, etwas, was ihre Tochter betraf, dass er sie mitnehmen 228 wollte oder so etwas. Sie schüttelte den Kopf und beugte sich wieder zu Robin hinunter, um sie in den Arm zu nehmen. »Mrs. Blackwood?« Durch ihr Schluchzen hindurch nahm sie eine andere Stimme wahr. Eine Männerstimme, die sie nur flüchtig kannte. Feste Hände legten sich auf ihre Schultern. »Nein...« Sie wandte sich verzweifelt um und sah das tränenverschmierte Gesicht von Onkel Doug.
»Schauen Sie doch«, sagte er und blickte zu der Glasscheibe hinüber, die den Blick auf den Zentralraum der Intensivstation freigab. »Schauen Sie doch«, sagte er noch einmal und lächelte. Lächelte! »Nein.« Sie fuhr sich über die Augen. »Was?« »Der Monitor.« Kim wandte sich um und richtete den Blick konsterniert auf den Herzmonitor. »Wir haben einen Herzschlag«, rief der Doktor, und sofort kam eine Schwester ins Zimmer gerannt, um Robin etwas zu injizieren. Robins Lippen bewegten sich jetzt. Sie flüsterte etwas, ganz schwach. »Was?« Kim wurde vom Arzt behutsam vom Bett weggezogen. »Sie hat etwas gesagt.« Kim machte sich von dem Arzt los, legte ihr Ohr an Robins Lippen und verstand die Worte: »Daddy kommt.« Erneut wurde sie vom Arzt und von der Schwester weggeführt. Robins Augen blieben geschlossen, und ihre Lippen waren jetzt still. »Wir müssen an die Arbeit«, sagte der Doktor. »Sie müssen nach draußen gehen. Bitte, für ein paar Minuten.« Onkel Doug führte Kim zur Tür. Auf der Schwelle drehte sie sich wieder um und beobachtete ängstlich das Geschehen. »Lebt sie?«, fragte sie, noch immer ungläubig, während der Arzt und die Schwester sich an ihrer Tochter zu schaffen machten. »Ich glaube schon«, sagte Onkel Doug. »Sie hat was gesagt.« Kim wischte sich die Tränen weg. »Sie sagte: >Daddy kommt.< Haben Sie es gehört?«
229 »Nein.« »Sie haben es nicht gehört?« Eine weitere Schwester schob sich an ihnen vorbei. Sie stellte einen Stuhl, der an Robins Bett gestanden hatte, ganz an die Wand. Ein geschnitzter Wal lag darauf und schaukelte hin und her. »Kommen Sie«, sagte die Schwester, als sie zu Kim und Doug zurückkehrte. »Sie müssen hier Platz machen.« Kim lehnte sich an die Wand und quälte sich mit ihren Ängsten. Diese Warterei war das Schlimmste. Wie lange war Robin tot gewesen, bevor sie zurückkam? Es kam ihr wie Stunden vor, doch es konnten nur fünf oder zehn Minuten gewesen sein, seit der Arzt sie für tot erklärt hatte. Kim hatte davon gehört, dass Leute gestorben waren und wieder zurückkamen. Manchmal erlitt das Gehirn dadurch einen Schaden. War Robin so lange tot gewesen? Sie blickte suchend den Gang hinauf und hinunter und sah Doug auf und ab gehen. »Wo ist Joseph?«, fragte sie ihn, als müsse Onkel Doug, Josephs Fleisch und Blut, darüber am ehesten Bescheid wissen. »Er ist vor einer Weile weggefahren«, rief sie sich selbst wieder in Erinnerung. »Er ist schon eine ganze Weile weg, oder?« Onkel Doug zuckte mit den Achseln. »Ich weiß es nicht. Soll ich nach ihm suchen?« »Robin hat gesagt, er kommt.« Nach ein paar Augenblicken des Schweigens sagte Kim: »Genau. Er ist losgefahren, um mir ein paar Sachen zu holen.« Sie blickte auf ihre Uhr und berührte kurz das Glas, als versuche sie, die Uhrzeit auszurechnen. Eine Schwester ging vorbei, und Kim blickte sie hoffnungsvoll an, doch sie bekam nur den Hinterkopf der Frau zu sehen. Kein Wort wurde gewechselt. »Vor ungefähr einer Stunde«, sagte sie zu Doug. »Wie lange dauert es bis nach Bareneed?« »Eine Viertelstunde für die einfache Strecke.« Der Gedanke, dass Joseph nicht hier war, schien an ihm zu nagen. Er gab sich keine große Mühe, seine Wut zu verbergen. »Ich sehe mal nach ihm«, bot er an. 229 Kim sah Onkel Doug nach, wie er den Korridor hinunterschritt, auf die Türen der Intensivstation zu. Wann kam endlich jemand? Wann sagte ihr endlich jemand, was los war? Himmel! Da brauchten ihn seine Frau und seine Tochter, und wo steckte der Kerl?
»Ich versuch's mal mit dem Telefon«, murmelte Doug vor sich hin. »Vielleicht funktioniert es ja wieder. Wo sind denn bloß die Scheißtelefone?« In der Eingangshalle des Krankenhauses erblickte er Sergeant Chase, der mit einem Arzt sprach und ihn herüberwinkte. »Wie geht's dem kleinen Mädchen?«, fragte Chase sofort. »Ich weiß nicht. Sie hatte... Ihr Herz hatte aufgehört zu schlagen. Aber jetzt schlägt es doch wieder. Hoffen wir.« Er hob die gedrückten Daumen und klopfte Chase auf die Schulter. »Ja, hoffen wir's.« Chase schaute suchend in Dougs Gesicht. »Kann ich etwas tun?« »Ich brauchte eine Fahrgelegenheit«, sagte Doug. »Wohin?« »Bareneed.« »Soll ein netter Urlaubsort sein, hab ich mir sagen lassen.« »Das ist nicht zum Lachen.« »Ich lache auch nicht. Die Falten da«, sagte er und deutete auf seine Augenwinkel, »das sind Sorgenfalten.« Im Wagen schnallten sich die beiden Männer an und fuhren los. »Wo in Gottes Namen steckt bloß dieser verflixte Neffe?« »Vielleicht wurde er an einer Straßensperre aufgehalten«, schlug Chase vor. »Festgehalten. So, wie er sich benommen hat... nicht ganz normal.« Doug stieß bei der Vorstellung einen verächtlichen Schnaufer aus. Das Funkgerät rauschte, und Chase nahm es aus der Konsole. Er warf Doug einen Blick zu, bevor er sich meldete: »Sergeant Chase.« 230 »Wir haben einen Anruf von einer Miss Laracy für Sie, von der Fischfabrik in Bareneed aus.« »Verstanden.« »Ich stelle durch.« »Was zum Teufel will das Weib jetzt wieder?«, brummte Doug, während sein Blick auf Chases Hand am Funkgerät ruhte. »... lo?« »Hallo.« »Ist das der Sergeant Chase?« »Ja.« »Hier ist Eileen Laracy. Erinnern Sie sich noch an mich? Das hinreißende Frauenzimmer von oben im Critch-Haus.« Doug schüttelte missmutig den Kopf und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ja, Sie vergisst man nicht so schnell.« Chase schmunzelte, während sie jetzt die Kreuzung am Ende der Straße aus Port de Grave hinaus erreichten und anhielten, um einen langen Tanklaster vorbeizulassen. Doug deutete in die erforderliche Richtung, nur für den Fall, dass der Polizist nicht wusste, wohin. Chase bog nach links auf die Shearstown Line. »Also, ich sag Ihnen was, was Ihnen die Barthaare aufstellen tat, wenn Sie welche hätten. Bei den Leichen da fehlen 'n paar von den Geistern.« »Wie meinen Sie?« »Ich bin bei den Leichen in der Fischfabrik.« »Ja?« »Ich kenn die meisten davon. Die sind anscheinend alle aus Bareneed.« »Ja, ich erinnere mich.« »Ich hab mich 'n bisschen ausgeruht und hab nachgedacht. Ich wollt's den Kerlen von der Armee sagen, aber ich trau denen keinen Steinwurf weit. Das sind solche Dickköpfe. Spröd und stur und herzlos sind die.« »Was wollten Sie ihnen denn sagen?« »Die Leichen gehören alle zu Leuten, die die Krankheit haben.« 230 »Die sind im Krankenhaus.« »Ne, nicht die. Die mit den Kranken verwandt sind. So, als ob die Toten zurückkämen, um den Kranken beizustehen.« »Die müssen zwangsläufig alle verwandt sein bei so einem kleinen Dorf.« »Lieber Herrgott im Himmel, nee. Jetzt hören Sie doch mal und stellen sich nicht so dumm. Das sind ganz speziell die Angehörigen von den Kranken. Ich hab doch die Liste mit den Kranken gesehen.«
Doug schnitt eine böse Grimasse zu Sergeant Chase hinüber. Wie viel von diesem Unsinn würde er sich denn noch bieten lassen? Chase schwieg einen Moment und drückte dann wieder den Sendeknopf. »Und was ist nun mit den fehlenden Geistern?« »Ja, genau. Zwei von denen fehlen jetzt.« »Geben Sie mir das mal her.« Doug Blackwood riss Chase das Funkgerät aus der Hand. »Was ist denn das für unsinniges Geschwätz, Frau? Geister!« Vom anderen Ende der Leitung kam ein schallendes Lachen. »Doug Blackwood. Der alte verschrobene Kauz.« »Der Polizist hier hat Wichtigeres zu tun, als sich dein wirres Geschwätz anzuhören.« »Halt deinen Schnabel, du alter Sack, und gib mir den Sergeant. « Chase hob die Hand und nahm geduldig das Funkgerät entgegen. »Ich bin wieder dran.« Doug gefiel nicht, wie der Polizist ihn ansah. Er starrte aus dem Fenster, schüttelte deprimiert den Kopf und schickte ein Stoßgebet um geistige Gesundheit zum Himmel. »Die zwei Geister, die fehlen, gehören zu Rayna Prouse.« »Zwei Geister.« »Genau. Zwei von den Leichen. Ihr Mann und ihr Großvater.« »Und Rayna Prouse ist eine von den Kranken, richtig?« »Jawoll, die steht auf der Liste.« »Ich bin grade unterwegs nach Bareneed. Ich schau dann mal vorbei.« 231 »Prächtig, mein Junge. Ich seh Sie dann in der Fischfabrik. Und das ist 'ne Verabredung, Hübscher.« »Und ob.« Doug warf Chase einen vorwurfsvollen Blick zu und ärgerte sich doppelt, als er sah, dass der Polizist lächelte. Fleisch, dachte Claudia. Fleisch. Fisch. Fleisch. Sie bewunderte das Filetiermesser, wie schlank und glatt es war, wie ein Finger, der den Weg wies. Als sie sich umdrehte, stand auf einmal Reg vor ihr, und sie stieß einen Schrei aus und streckte unwillkürlich die Hand mit dem Messer vor. Regs Augen waren von einem dunklen Glimmen erfüllt. In jeder Hand hielt er einen Fisch. Ihr Aufschrei hatte den Mann, Joseph, wieder ins Zimmer zurückkommen lassen. Jetzt stand er mit der Tasche in der einen Hand im Türrahmen. »Was?«, fragte er. Claudia deutete auf ihren Mann, der gerade die Fische hochhob und sie zusammendrückte. Aus einem schoss ein Schwall glitzernder, bernsteinfarbener Eier hervor, aus dem anderen ein Strom milchig weißen Spermas. Die beiden Ströme trafen sich mitten in der Luft und schufen eine winzige Gestalt, ein Kind. Jessica mit runden Augen und Lippen, die pulsierend auf- und zugingen, als schnappe sie nach Luft. Das Kind wandte sich ab, so dass es Claudia den Rücken zukehrte, während Reg grinsend nickte, nacheinander die beiden Fische hochhob und sie gekonnt in seinen Schlund gleiten ließ. Dann ging er einen Schritt auf sie zu, griff nach ihrer Hand und nahm ihr das lange Filetiermesser ab. Sein Grinsen wurde noch breiter, als er die Klinge zu sich umdrehte und auf seinen Bauch setzte. »Was ist passiert?«, fragte Joseph, den Blick auf Claudias Hand gerichtet. Claudia zeigte auf Reg. Ihre Wangen röteten sich vor Furcht, während Reg sein Hemd aufknöpfte, so dass sein haariger, weißer Bauch zum Vorschein kam. Behutsam führte er die Klinge über seinem Nabel vertikal nach oben, bis ein zehn Zentimeter langer Schnitt entstanden war. Dann zog er die Wunde ausei 231 nander, so dass das lachsrote Fleisch darunter zum Vorschein kam. Es floss kein Blut, nur eine klare Flüssigkeit sickerte heraus und hinterließ Flecken auf seiner bereits durchnässten Hose. Als die Flüssigkeit versiegte, blitzte etwas Silbriges auf, und der spitz zulaufende Kopf eines Fisches kämpfte sich hervor. Reg nickte Claudia zu, als wolle er ihr seine Zustimmung signalisieren. Der Fisch hatte sich zur Hälfte freigezappelt und zuckte nun vor und zurück, vor und zurück, wie um sich vollends zu lösen. Schließlich half das Gewicht des bereits heraushängenden Körpers, und die Schwerkraft ließ ihn wie Blei auf den Boden plumpsen. Noch mehr Fische strömten aus Reg hervor
und ergossen sich auf den Boden, bis der gesamte Küchenboden eine wimmelnde Schicht aus zuckenden Schuppen war. Joseph kam mit ausgestreckter Hand auf sie zu. »Geben Sie mir das«, sagte er. Ein Schauder überlief Claudia. Sie schloss die Augen, taumelte, rutschte aus und schlug gegen die Küchentheke. Reg eilte zu ihr und fing sie in seinen Armen auf. Sie sah sein Gesicht ganz dicht über ihrem. Sie kannte ihn. Ganz bestimmt kannte sie ihn. Etwas blitzte rechts von ihr. Sie richtete den Blick dorthin und sah, dass ihr Arm an Regs Seite hing und ihre Faust den Griff des Messers umklammerte, dessen Spitze auf ihn zeigte. »Reg«, sagte sie. »Nein«, entgegnete die Stimme. »Ich bin Joseph.« »Es spielt keine Rolle«, murmelte sie, »wer stirbt.« »Können Sie sich aufsetzen? Ich hole Ihnen ein Glas Wasser.« »Nein.« Matt hob sie die Hand mit dem Messer. »Kein Wasser«, bat sie, und dann stieß sie die Klinge in sein Fleisch. Fisch. Fleisch. Eine Gruppe von Mädchen und Jungen spielte auf einem Feld Ringelreihen. Als sie mit ihrem Spiel fertig waren, hockten sie sich in die Wiese, drückten die Grashalme um sich herum platt und legten Gegenstände von hier nach da. Steine. Die Kinder stapelten die Steine zu Häusern aufeinander oder schoben sie, auf den Knien kriechend, durchs Gras, als wären es Autos. »Das 232 ist mein Haus«, sagte ein kleines Mädchen. »Das ist mein Auto«, sagte ein kleiner Junge und machte dazu das Geräusch eines laufenden Motors, und dann ließ er sein Auto in das Haus des Mädchens krachen. »Autos sind hier verboten«, sagte das Mädchen. »Die überfahren uns bloß.« »Genau«, stimmte ein anderes Mädchen zu. Über ihnen flackerte das Tageslicht, und sie blickten alle zum Himmel hinauf. Ein metallisches, trillerndes Geräusch erklang, während die Sonne trudelnd verblasste. Die Kinder standen in der kalten Dämmerung und wussten nicht, was tun. Das metallische Trillern dauerte an. Thompson erwachte und war verwirrt darüber, wie das Geräusch aus dem Traum ihm ins Wachsein gefolgt war und jetzt irgendwo aus seinem Haus kam. Agatha sprang aus dem Sessel, in dem sie oft schlief, und streckte sich mit jener Grazie und Geschmeidigkeit, zu der nur eine Katze fähig war. Thompson sah ihr benommen zu; der Wachzustand war noch nicht ganz bis zu seinem Gehirn vorgedrungen. Tageslicht flutete durch die Fenster seines Wohnzimmers. Er war auf der Couch eingeschlafen. »Das ist mein Handy.« Von einer plötzlichen Erregung befallen, setzte er sich auf. Er rieb sich das Gesicht und gähnte. Der Schmerz in seinem Knöchel erwachte wieder. Ihm fiel ein, dass er im Krankenhaus eine Krücke mitgenommen hatte. Sie lag auf dem Boden neben dem Couchtisch. Er bückte sich hinunter, ergriff sie und stützte sich darauf, um in die Küche zu humpeln. Sein Mobiltelefon lag auf der Küchentheke. Die Nummer im Display wies auf einen Anruf aus dem Krankenhaus. Thompson schaltete das Handy ein und meldete sich. »Habe ich Sie geweckt?« Es war Dr. Basha. »Nein, nein.« »Ich dachte, es würde Sie interessieren, dass Rayna Prouse wieder ganz normal atmet.« »Nein!« Thompson war zuerst vollkommen verblüfft, doch dann verspürte er neuen Mut. Endlich einmal gute Nachrichten. »Ja. Und den Persönlichkeitstest hat sie mit Bravour bestanden. Hoffen wir, dass die anderen ihrem Beispiel folgen.«
232 »Und ob.« Wieder musste er gähnen. Zu wenig Schlaf. Außerdem hatte er Hunger. »Entschuldigung.« »Keine Ursache.« »Ich komme gleich vorbei.« »Bis dann.« Thompson klappte das Handy zu. Obwohl er nur kurz geruht hatte, fühlte er sich um ein Vielfaches besser, und die gute Nachricht tat noch das ihre dazu. Vielleicht war dies das Ende des Unheils.
Agatha saß in der Ecke und knabberte geräuschvoll ihr Trockenfutter. Thompson lehnte seine Krücke an die Küchentheke, humpelte zum Kühlschrank und holte ein Glas eingelegter Artischockenherzen heraus. Das war jetzt genau das Richtige. Als er mit seiner Mahlzeit fertig war und aus dem Haus trat, überraschte ihn die blendende Nachmittagssonne. Irgendetwas stimmte in letzter Zeit mit der Sonne nicht. Sein Traum von den Kindern und der Dunkelheit, in der sie standen, fiel ihm wieder ein. Bloß ein Traum. Was er wohl bedeuten mochte? Er stieg in seinen Wagen. Im Inneren war es unerträglich heiß und stickig. Thompson warf die Krücke auf den Beifahrersitz und ließ einen Moment die Fahrertür offen stehen, während er das Fenster herunterkurbelte. Dann ließ er den Motor an, schlug die Tür zu und warf einen Blick auf sein Buch auf dem Beifahrersitz: Das Ende im Wasser. Agatha hatte drauf gelegen, ihre schwarzen Haare waren überall. Thompson rieb sich die juckenden Augen und fragte sich, wo er seine Allergietabletten gelassen hatte. Er suchte in den Taschen seines Hemds und seiner Hose. Heute hatte er noch keine genommen. Egal. Er würde es auch ohne überleben. Erneut betrachtete er den Buchdeckel mit der Wasserleiche, die mit dem Gesicht nach unten in einem Tümpel schwamm. In Gedanken rief er sich die Handlung in Erinnerung. Ob er wohl je dazu käme, weiterzulesen und die Umstände zu erfahren, die zum Tod des Opfers geführt hatten? Es war nicht nötig, wegen der Tabletten noch mal ins Haus zurückzugehen. Er konnte sich auch im Krankenhaus welche besorgen, da lagen immer irgendwo Probepäckchen herum. 233 Nach einem Blick in den Rückspiegel legte er den Rückwärtsgang ein, ließ einen Lieferwagen mit Backwaren vorbei und stieß auf die Straße hinaus. Als er das Zimmer von Rayna Prouse im Krankenhaus betrat, war ihr Bett leer. Im Badezimmer war auch niemand. Sie konnte doch nicht schon entlassen worden sein. Schließlich war sie seine Patientin, und er hatte keinen Entlassungsschein unterschrieben. War sie einfach so gegangen? Durchaus möglich, wenn man ihren Eigensinn in Betracht zog. Im Schwesternzimmer erfuhr er, dass Rayna in die Obhut von Lieutenant-Commander French gekommen war. Thompson überflog das Fax, das die Schwester erhalten hatte. Es war vom Chefarzt des Krankenhauses unterzeichnet. »Soldaten haben sie weggebracht«, erklärte die Schwester vorsichtig. Thompson griff sofort nach dem Telefon und wählte Frenchs Nummer. Er verlangte, dass Rayna ins Krankenhaus zurückgebracht wurde. »Das ist leider nicht möglich«, teilte ihm French mit. Frenchs unerbittlichem Ton nach zu urteilen, war es sinnlos, die Sache weiterzuverfolgen. »Ich verstehe Ihre Besorgnis, Doktor«, sagte French. »Ich will auch nicht Ihre Autorität untergraben, aber hier geht es um eine Angelegenheit von höchster Dringlichkeit für die öffentliche Gesundheit und Sicherheit. Sicher werden Sie dafür Verständnis haben.« French schwieg und wartete offensichtlich auf eine Antwort von Thompson. Der Doktor wusste, wenn er jetzt den Mund aufmachte, dann kämen garantiert die falschen Worte heraus. Schließlich fuhr French fort: »Warum kommen Sie nicht einfach zu uns ins Gemeindezentrum? Mrs. Prouse ist gerade eben hier eingetroffen.« »Ich bin sofort da«, sagte Thompson. Kurz darauf fuhr er die Straße wieder zurück, die aus Port de Grave herausführte, vorbei an den Häusern mit dem spektakulären Blick auf die Bucht und Bareneed. Kinder spielten in ein paar der Vorgärten. Autos kamen ihm entgegen, auf denen
233 die Sonne funkelte. Ein weiterer sonniger Sommertag nahm seinen Lauf, sosehr er selbst sich auch gerade ärgern mochte. Er schimpfte halblaut vor sich hin. Als er sich der Kreuzung am Ende der Straße näherte, fiel Thompson auf, wie rasch das Stoppzeichen auf ihn zukam. Sein Herz schlug schneller, während er hastig verlangsamte, anhielt und ein paar Augenblicke stehen blieb, um sich zu fangen. Dann bog er auf die Shearstown Line ab. Er fragte sich, was für ein Wochentag wohl heute war. Dienstag? Wie ging es seinen Patienten,
jetzt, da seine Praxis geschlossen war? Er konnte die Praxis nicht mehr viel länger geschlossen lassen. Wegen seiner Patienten. Rayna ging es besser. Was war der Auslöser dafür? Er erreichte die Abzweigung nach Bareneed und bog nach links. Mercer's Field lag verlassen da. Im Weiterfahren stellte er fest, dass alle Straßensperren abgebaut worden waren. Er brauchte sich nirgends auszuweisen. Vor dem Gemeindesaal brachte er seinen Range Rover abrupt zum Stehen, packte den Türgriff und hielt dann auf einmal inne. Mein Gott, er war ja richtig geladen. Seine Schläfen pochten. Er holte tief Luft, um sich zu beruhigen. Es brachte ja nichts, dort hineinzustürmen und einen Aufstand zu machen. Wie würde das aussehen in einem Armeehauptquartier, wo alle professionell und diszipliniert ihrer Arbeit nachgingen? Er würde sich nur zum Idioten machen. So atmete er noch ein paar Mal tief durch und stieg erst dann aus. Mit der gebotenen Würde beugte er sich noch einmal zurück in den Wagen und griff nach seiner Krücke. Ein donnerndes Geräusch ließ ihn in die Bucht hinausblicken. Wellen brachen sich am Ufer und am Felsbuckel der Landzunge. Ihr Widerhall klang wie eine Sprengung. Als sein Blick die Fischfabrik streifte, fragte er sich, wie viele Leichen wohl insgesamt gefunden worden waren. Zuletzt hatte er gehört, dass keine neuen mehr aufgetaucht waren. Der Himmel über Bareneed war blau, doch am Horizont sammelten sich dunkle Wolken. Thompson konnte die Elektrizität eines nahenden Sturms in der Luft spüren. Er hörte Holz splittern und spähte zum Dorfkai hinüber. Ein kleines Boot war 234 hochgeworfen worden und auf dem Deck eines größeren gelandet. Jetzt lag es auf der Seite, und der Bug ragte über die Reling hinaus. Vor der Landzunge sprangen zwei Schwertfische aus dem Wasser, stießen die Köpfe vor und schnitten einander gegenseitig entzwei. Die vier Hälften fielen auseinander und ins Wasser, dessen Oberfläche wie wild zu schäumen begann. Delirium? Fieberträume? Ein Albtraum? Einen Moment lang hegte Thompson schon den Verdacht, er wäre womöglich gar nicht von seiner Couch zu Hause aufgestanden. Er versuchte, mit aller Gewalt seine Augen aufzumachen. Doch sie waren schon offen. Er zog an den Haaren auf seinem Handrücken. Es tat weh. Er war wach. Eine Welle der Angst flutete durch seine Magengegend und kitzelte jeden einzelnen Nerv in ihm wach. Sie waren in tödlicher Gefahr. Was sonst sollte die sich sichtbar manifestierende Gegenwart des Phantastischen implizieren? Ohne die Schranken der Realität konnte es nur Chaos und Furcht geben. Schaden. Vernichtung. Sein Blick schweifte zum Gemeindesaal. Ein rotes Gebäude, unverändert. Nur ein Soldat als Posten am Eingang, der stur vor sich hin schaute, ihn nicht einmal wahrnahm. Thompson blickte wieder in die Bucht hinaus. Drei Möwen glitten übers Wasser und beobachteten das eigenartige Treiben unter der Oberfläche. Sie sanken tiefer herab, ließen das sich hier bietende Mahl nicht aus den Augen und wurden auf einmal von drei riesigen, fliegenden, orangefarbenen Fischen verschluckt. Synchron tauchten die drei fliegenden Fische ins Wasser ab und ließen den Himmel leer zurück. Thompson stand wie gebannt und spürte, wie sich das Entsetzen in seiner trockenen Kehle zusammenballte. Er sammelte einen Rest Speichel im Mund und versuchte angestrengt zu schlucken. Ihm war, als müsse er ersticken. Auf einmal wollte er nur noch weg von dem, was er da sah, und so humpelte er auf den Eingang des Gemeindesaals zu. Der Soldat trat einen Schritt zur Seite und hielt ihm die Tür auf. Das phantastische Spektakel, das sich keine zwanzig Meter 234 vor ihren Augen abspielte, würdigte er mit keiner noch so leisen Geste. Sah nur er selbst diese Sachen?, fragte sich Thompson. Oder war das alles ein unheimliches Mysterium, von dem man am besten nicht sprach, weil man ihm sonst womöglich erst Wirklichkeit verlieh? Ein Geräusch wie ein Klopfen, das von der Haustür herkam. Joseph mühte sich, den Blick vom Boden zu heben, wo er lag. Er schien ohnmächtig geworden zu sein. Claudia stand über ihm. Ihr Haar hatte sich gelöst und hing wie ein Flammenmeer um ihr Gesicht. Ihre eingesunkenen Augen
beobachteten ihn mit einem verwunderten Ausdruck. Sie bot den Anblick einer einzigartigen monströsen Schönheit. In der Faust hielt sie das Messer, mit dem sie drei Löcher in Josephs Seite gestoßen hatte. Doch die Klinge war blank. Nicht ein Tropfen Blut trübte ihren metallischen Glanz. »Wenn ein Mann und eine Frau sich finden«, flüsterte sie und blickte dabei direkt zu ihm hinab, »dann stammen sie aus einer vergleichbaren Energiewelle. Sie erkennen die identische Flamme in ihrem Herzen und ihrer Seele. Oftmals ähneln sie einander. Fühlen sich zueinander hingezogen, weil ihre Energien nacheinander verlangen. Liebe auf den ersten Blick.« Das Klopfen wurde lauter und trieb Joseph dazu, in Richtung Tür zu kriechen, trotz der furchtbaren Schmerzen, die an jeder Faser seines Körpers zerrten und Schweißbäche an ihm herunterrinnen ließen. »Nicht bewegen.« Claudia drückte die Sohle ihres cremefarbenen Hausschuhs in seine Seite, so dass er vor Schmerz zusammenzuckte und die Augen schloss. »Rühr dich nicht.« Hinter geschlossenen Lidern stellte Joseph sich vor, wie Kim das Haus betreten wollte. War die Tür verriegelt? Wer auch immer da stand, würde bald an der Hintertür auftauchen. Joseph schnappte nach Luft, schlug die Augen auf und richtete sie auf die Hintertür. Von oben kam Claudia flehentlich näher und kniete sich schwer auf seine Brust. Ihre Hände legten sich um seinen Nacken.
235 »Ihre Energien sind verdorben durch Elemente eines anderen Mannes oder einer anderen Frau. Sie verschmelzen nicht mehr.« Ihre Finger krochen nach vorn, leicht wie Spinnenbeine. »Konflikt, Zusammenstoß, Verderben. Und dann muss die Energie in dem Mann oder der Frau die andere zerstören, um sich voll und ganz lösen zu können. Von der Anziehung zur Abstoßung.« Claudias Finger tasteten sich bis zu seiner Kehle, hielten reglos inne, breiteten sich dann aus und packten zu. Joseph griff nach ihnen, doch sie drückten bereits fest auf seine Luftröhre, und ihre Nägel krallten sich in seine Haut wie Klauen. Er röchelte und versuchte, sich zur Seite zu drehen. Der Schmerz raubte ihm jegliche Kraft und Geschicklichkeit, jeden vernünftigen Gedanken. Mit gefletschten Zähnen knurrte Claudia: »Der Fluss des Begehrens. Der fehlgeleitete Wille. Das Loch muss gefüllt werden.« Joseph versuchte erneut zu schlucken. Es war unmöglich. Er versuchte zu atmen. Ein heiserer, gurgelnder Laut löste sich. Sein Gesicht lief rot an, während der Druck hinter seinen Augen zunahm. Seine Arme ruderten, und er versuchte noch immer, sich zur Seite zu drehen oder mit der Hand ein Stück Haut oder Haar von ihr zu fassen zu bekommen. Doch alles war außer Reichweite. Alles war taub. Der Druck auf seinen Hals blieb konstant. Er konnte nicht atmen, nur röcheln. Seine Panik wuchs, als er feststellte, dass seine zitternden Glieder allmählich schwerelos wurden. Das war sein Ende. Das Leben abgewürgt. Er entglitt sich zusehends. Das wütende Tier über ihm mit dem jetzt noch heller lodernden kupferroten Haar fletschte die Zähne und näherte sie seinem Gesicht, um zuzubeißen, von neuem Leben erfüllt. Lieutenant-Commander French räumte respektvoll die Bücher von dem zweiten Stuhl vor seinem Schreibtisch, um Dr. Thompson einen Platz anbieten zu können. French selbst blieb stehen und blickte flüchtig zu Rayna hin, während der Doktor es sich bequem machte. Dann setzte auch er sich, nahm einen Bleistift zur Hand und hielt ihn waagrecht zwischen den Fingern. »Dr. Thompson macht sich Sorgen um Ihre Gesundheit.« 235 »Ist nicht nötig«, erwiderte Rayna und blickte den Doktor schulterzuckend an. French wandte sich an Thompson. »Wie ich Mrs. Prouse schon erklärt habe, ist der Grund für ihre Anwesenheit hier der, dass sie als Erste von dem Syndrom - oder was es auch sein mag, woran diese Stadt leidet - genesen ist.« Er erhob sich von seinem Stuhl und betrachtete eine Landkarte von Neufundland an der Wand. Dann ruhte sein Blick einen Moment auf Rayna, bevor er fragte: »Sind Sie selbst Fischerin?« »War.«
»Ja, Sie waren.« Er legte den Bleistift in das offene Buch vor ihm auf dem Tisch und spähte zur Bürotür hinüber. Vollmatrose Nesbitt war dort erschienen. Dr. Thompson rückte seinen Stuhl etwas zur Seite, damit French vorbeikonnte. »Sir, die Refraktoren auf der Südseite werden um dreiundzwanzig null null funktionsbereit sein. Das scheint jetzt hundert Prozent sicher.« »Danke, Nesbitt.« French sah Nesbitt nach, wie er, nachdem er salutiert hatte, zu den anderen noch verbliebenen Matrosen, Crocker und O'Toole, hinüberging. Bestimmt nahmen sie an, dass das Chaos unausweichlich war und direkt auf sie zukam. Da er keinen Evakuierungsbefehl hatte erreichen können, hatte French alle nicht unbedingt benötigten Soldaten weggeschickt und nur das nötigste Personal hier behalten. Die Matrosen wussten sehr wohl, was im Hafenbecken vor sich ging, und konnten daraus schließen, dass sich die Dinge bald drastisch ändern würden. Obwohl das Geschehen vor der Küste sich stabilisiert hatte, konnte die Situation sich nur ihrem Höhepunkt nähern: Sie löste sich nicht auf, sondern änderte ihre Form. Crocker und O'Toole waren die Ersten gewesen, die Leichen aus dem Wasser gefischt hatten. Sie wussten, was da unter der Wasseroberfläche alles war. Ihr Boot war mehrmals gekentert, bis es schließlich zu gefährlich geworden war, aufs Wasser zurückzukehren, und die restlichen Leichen dem überlassen blieben, was da in der Tiefe hauste. Den Kreaturen. Bei diesem Wort ging French einmal mehr die lächerliche Natur dieser neuen 236 Realität auf. Denn es war eine neue Realität, die da auf sie eindrang, eine Realität, die nicht Teil von ihrer Realität sein konnte. Sie musste außer Kraft gesetzt werden, damit die Welt wieder in den Normalzustand zurückkehren konnte. French schloss die Tür, setzte sich hinter seinen Schreibtisch und sammelte seine Gedanken. »Haben Sie irgendeine Ahnung, weshalb Sie jetzt wieder frei atmen können?« »Nein.« »Nicht die leiseste Ahnung?« »Nein.« »Ist irgendetwas Außergewöhnliches passiert?« »Zum Beispiel?« »Ein Schreck, Angst?« Rayna schüttelte den Kopf. »Sind Sie mit irgendeiner Substanz in Kontakt gekommen, die Ihnen fremd ist? Ein Geruch? Ein Geräusch?« »Die haben mich das alles schon im Krankenhaus gefragt.« »Sicher.« French starrte das dicke Buch über Atlantikfische an und spähte dann zu Thompson hinüber. »Es hätte also alles sein können, nicht wahr?« Er hielt inne, doch niemand war bereit, sich zu der Spekulation zu äußern. Rayna rutschte auf ihrem Stuhl herum. Ihre Augen waren müde. Vielleicht brauchte sie ja noch eine Zigarette. »Hat es irgendeine Veränderung in Ihnen gegeben? Gab es irgendeine plötzliche Erleichterung, einen Fiebersturz, eine Kette von Gedanken?« »Ich weiß nicht.« »Wann ist es Ihnen denn besser gegangen?« »Im Krankenhaus.« »Ja, aber wann genau? Was war um Sie herum?« »Nachdem ich mit Tommy gesprochen hatte.« »Tommy?« »Tommy Quilty.« French griff an seinen Gürtel und schaltete auf Kanal fünf um. Dann schaute er auf seinen Computerbildschirm und sagte: »Tommy Quilty.« Mehrere Einträge kamen auf den Schirm, 236 nach dem Geburtstag geordnet. French sagte: »Bareneed«, und die gewünschte Information erschien, samt dem Farbfoto aus dem Führerschein des Gesuchten. »Wer ist Tommy Quilty?«, fragte French und wandte den Blick vom Bildschirm. Den Schalter an seinem Gürtel stellte er wieder auf Kanal eins um, der im Augenblick ruhig war. »Ein Freund. Guter Freund.« »Und was hat dieser Tommy Quilty gemacht?« Als die Soldaten kamen, um Rayna wegzubringen, hatte Tommy sich den Schlauch wieder in den Mund gesteckt und war auf sein Kissen zurückgesunken. Die Soldaten wussten nichts über ihn. Das würde noch eine kleine Weile dauern. Am besten, er schlich sich aus dem Krankenhaus, bevor
sie ihn zu fassen bekamen. Er konnte zwar ein Stück weit in die Zukunft sehen, jedoch nicht sein eigenes Schicksal voraussagen, nur das der anderen, mit Ausnahme von Vorfällen, die irgendwie mit ihm zu tun hatten. Vor dem Hintergrund dessen, was er peripher von den kommenden Tagen und Jahren gesehen hatte, fürchtete er sich mehr vor der Zukunft als die meisten anderen, und oft quälte er sich mit Gedanken darüber, in welcher Beziehung die nahenden Ereignisse zu ihm stehen mochten. Er hoffte nur, Rayna möge nichts zustoßen. Zwar hatte die Army Rayna mitgenommen, doch bestimmt wollten die nur von ihr wissen, warum es ihr besser ging. Tommy hatte noch ihre Aura gesehen, als Rayna in Begleitung der Soldaten durch die Tür verschwand. Sie hatte wieder ihr Licht. Das hatte Tommy Mut gemacht und ihn davon überzeugt, dass er mit seinem Tun weitermachen sollte. Es war wichtig für ihn, dass er aus diesem Krankenhaus herauskam, aber es war auch wichtig für ihn, dazubleiben und mit seinen Freunden zu reden. Alle fünf Männer, die mit ihm auf dem Zimmer lagen, dämmerten im Nebel ihres eigenen Unglaubens vor sich hin. Nur kümmerlich und sporadisch pulsierte Licht um sie her. Da lagen Fred Winter, Paddy Wells, Zack Keen, George Corbett und George Newell. Sie waren alle aus Bareneed und be 237 durften seiner Hilfe. Wenn sie noch weiter wegglitten, dann wären sie für immer verloren, ausgelöscht wie ein leeres Tonband. Fred Winter war am schlechtesten dran. Er hatte praktisch schon keine Ahnung mehr, wer oder was er war. Das fast nicht mehr vorhandene Licht seines Körpers gab darüber Auskunft. Tommy blieb wahrscheinlich gerade eben genug Zeit, um Fred zu retten, doch danach musste er sich schleunigst von dannen machen. Sonst würden ihn die Soldaten holen, und dann käme er so schnell nicht mehr von denen los, um zu tun, was er zu tun hatte. So jedenfalls sah er es, auch wenn das vielleicht nicht der Wahrheit entsprechen mochte. Er rutschte von der Matratze und ging zum Bett von Fred Winter. Respektvoll setzte er sich auf den Stuhl neben dem Bett und betrachtete Fred. Fred sah Tommy nicht an. Seine Augen waren geschlossen, und die Maschine atmete für ihn. Tommy streckte die Hand aus und stieß Fred sanft mit dem Handballen an der Schulter an. Keine Reaktion. Er bückte sich vor und flüsterte: »Fred, du musst jetzt zuhören, alter Junge.« Tommy schaute auf Freds geschlossene Augen wie ein Arzt, der nach Lebenszeichen seines Patienten suchte. Dann brachte er die Lippen noch näher an Freds Ohr und erzählte davon, wie Freds Vater, Gabe, als kleiner Junge von zwölf Jahren einen Mann auf See gerettet hatte. Gabe war es gewesen, der, bei seinem Vater im Boot sitzend, schon fast in der Dämmerung ein gekentertes Boot entdeckt und einen gellenden Schrei ausgestoßen hatte, der übers Wasser hallte. Gabe und sein Vater waren hingesegelt, hatten den Mann aus dem Wasser gezogen, in Decken gewickelt und mit ihrer Wärme ins Leben zurückgeholt: ihm die Hände und das Gesicht gerieben, ihm ihren warmen Atem eingehaucht, bis das Wasser, das in seinen Lungen eingeschlossen war, aus ihm herausgesprudelt war und der Mann wieder allein atmen konnte. Sie hatten ihn an Land zurückgebracht und seiner in Angst und Bangen und mit schwindender Hoffnung am Kai wartenden Familie übergeben. Tommy flüsterte: »Deine Großmutter, Sarah, das war 'ne gutherzige, wunderbare Frau. Hat die ganzen Handschuhe, Mützen
237 und Pullover für die Coles gestrickt, die sich nicht haben leisten können, Kleider zu kaufen, noch nicht mal die Wolle dafür. Und deine Großmutter, 'ne ganz zierliche Frau war sie, weißte ja bestimmt noch, und hatte eine ganz verkrüppelte, rheumatische Hand - die wollte keinen Penny dafür haben. Nix wollte sie hören, wenn man ihr mit Dank kam, hat bloß mit ihrer verkrüppelten Hand abgewinkt und lachend gemeint, dass das nun eben ihre Art ist, dem Wort des Herrn zu folgen.« Tommy war verstummt, als Freds Lider flatterten. Schließlich gingen sie ganz auf. Fred starrte an die Decke, während Tommy weitererzählte. Seine Geschichten brachten frische Farbe in Freds Haut und erfüllten ihn wieder mit Wärme.
Irgendwann, während Tommy sprach, erschien ein dünner Faden Blau wie eine Welle in Freds schwarzen Augen, dann noch ein Faden, diesmal grün und leuchtend, und schließlich Punkte von Braun, die aussahen, als wären sie in die Luft geworfen. Blaue Augen, grüne, braune. Die Linien zeichneten sich ganz allmählich deutlicher ab und malten ein Bild von Häusern an einer Küste, den Himmel, das grüne Gras und die Erde, und das Blau erstreckte sich, so weit das Auge reichte. Kim saß im Wartebereich vor der Intensivstation und hatte den Kopf in die Hände gelegt. Neben ihr ein Mann mittleren Alters mit einer älteren Frau. Kim wollte nichts von ihnen sehen oder hören. Sie saßen still und schweigend da wie sie selbst. Keiner wagte, ein Wort zu sagen oder sich auch nur zu rühren. Der Chirurg, Dr. O'Shea, hatte ihr mitgeteilt, dass Robin sofort operiert werden müsse. Sie hatte jetzt zum zweiten Mal einen Herzstillstand gehabt, und es war notwendig, Elektroden zu implantieren, die Robins Herz stimulieren konnten, so dass man nicht wiederholt auf den traumatisierenden Defibrillator zurückgreifen musste. Bitte, hilf, betete Kim jetzt im Stillen. Bitte, bitte, hilf. Doch sie wusste selbst nicht genau, wen sie da eigentlich um Hilfe anflehte. Wo blieb Joseph? Dieser Mistkerl. Wo war er hin? Er war nicht da. Nicht da. Gott, bitte hilf meinem kleinen Mädchen. 238 Schritte näherten sich. Kim blickte auf und sah eine Schwester im scharfen, klaren Licht der Neonlampen vorbeigehen. Die Schwester lächelte ihr zu, ein Lächeln, das mit Antiseptikum getränkt war. Am liebsten wäre Kim aufgesprungen und hätte auf sie eingeschlagen. Sie fühlte sich so abgetrennt von allem. Sie gehörte hier nicht her. Niemand gehörte hierher. Wie lange war es jetzt her, seit sie das letzte Mal nach ihrer Tochter gefragt hatte? Sie zögerte, hatte beinahe Angst davor, sich erneut zu erkundigen. Sie holte tief Luft und stand auf, ging zum Schwesternzimmer und wartete dort. Die Schwester teilte ihr mit, dass immer noch operiert werde. »Wie lange noch?«, fragte Kim mit zitternder Stimme. »Es tut mir Leid. Ich weiß es nicht. Aber wir geben Ihnen sofort Bescheid, sobald es etwas Neues gibt, glauben Sie mir. Brauchen Sie vielleicht sonst irgendetwas?« Kim schüttelte den Kopf. »Wenn Sie etwas brauchen, sagen Sie einfach Bescheid.« Sergeant Chase hatte einen Blick durchs Küchenfenster erhascht und daraufhin sofort seinen Revolver aus dem Holster gezogen. Die Hintertür war verschlossen, und so trat er sie ein. Das Holz barst unter seinem Tritt. Doug Blackwood folgte ihm auf den Fersen. Chase hielt ihn mit ausgestrecktem Arm zurück, um ihm zu bedeuten, er solle bleiben, wo er war. Chase sprang in die Küche und richtete die Waffe auf den zottigen schwarzen Hund, der auf die reglos am Boden liegende Gestalt von Joseph Blackwood einbiss, die Pfoten auf seine Brust gestellt hatte und kratzte und scharrte. Chase schoss knapp an dem Hund vorbei. Der Hund erschrak, sauste ohne einen Blick auf die Quelle des Knalls auf den Flur hinaus und rannte zur Vordertür. Chase hörte hinter sich ein Geräusch und fuhr mit dem Revolver in der Hand herum. Es war Doug, der erschrocken die Hände vor sich ausstreckte und zurückzuckte. »Heilige Maria und Joseph«, entfuhr es ihm. »Was machen Sie denn um Himmels willen?« 238 Chase ließ die Waffe sinken und schaltete sein Funkgerät an. »Ich habe einen Verwundeten im Critch-Haus in Bareneed. Ich brauche einen Krankenwagen.« Dann wandte er sich an Doug, der sich eben über Joseph beugte. »Kennen Sie sich mit Herzmassage aus?« Doch Doug hatte bereits mit Mund-zu-Mund-Beatmung angefangen. Durchs Küchenfenster sah Chase, wie der Hund an einem jungen Mädchen mit orangefarbenem Haar vorbei im Türrahmen des Solarhauses verschwand. Das Mädchen blickte direkt zu Chase herüber, als wäre der Hund nach erfüllter Mission zu ihm zurückgekehrt. Dann verschwand das Mädchen ebenfalls im Haus und schloss die Tür. Chase fragte sich verwundert, wie der Hund ins Freie gelangt war. Die Haustür des Critch-Hauses war verschlossen gewesen, als sie kamen. Abgesperrt. Er warf einen Blick auf Joseph Blackwood und sah, dass er wieder zu sich kam.
Doug war selbst außer Atem und stieß zwischen dem Luftholen vorwurfsvoll hervor: »Deine Tochter liegt im Krankenhaus, ihr geht's gar nicht gut« - und nach einem weiteren Luftschnappen »und du balgst dich hier mit diesem Köter herum«, und noch ein angeekeltes Schnaufen. »Du bist wirklich das jämmerlichste Exemplar von einem Mann, das mir je unter die Augen gekommen ist.« Chase fuhr zur Hintertür herum. Seine schweren Stiefel donnerten auf den Dielen, als er losrannte, um den schwarzen Hund zu verfolgen. »Er hat nichts gemacht«, sagte Rayna. Sie hatte das Gefühl, Tommy verteidigen zu müssen. Was würden diese Leute sonst mit ihm machen? Was würden sie ihm vorwerfen? »Er hat nur geredet.« »Worüber hat er geredet?« »Ich weiß nicht mehr. So Zeug eben.« »Was für Zeug?« Der Mann, der hier das Sagen hatte, French, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Er sah erst Rayna an und dann den Doktor. »Ich weiß nicht. Zeug eben.« 239 French schloss mit einem Seufzer das Buch über die Fischarten und schob es an den Rand seines Schreibtischs. Darunter kam ein aufgeschlagenes Buch über elektrische Stürme zum Vorschein. Seine Finger fuhren über ein grau-schwarzes Foto eines Sturms auf hoher See, auf dem gezackte Blitze das Wasser berührten, Kontakt herstellten, unter Wasser weiterwanderten. »Worüber genau haben Sie gesprochen?« »So Geschichten eben.« »Geschichten worüber?« »Fischen.« »Fischfang, Stürme, phantastische Begebenheiten, was denn?« »Ich weiß nicht.« Raynas Augen schmerzten. Ihr war schwindlig, sie hatte Hunger und Durst. Und sie war müde, so müde. Sie wollte nach Hause. In ihrem eigenen Bett schlafen. Auf weichen Kissen. »So phantastische Sachen, wie Tommy sie eben immer erzählt.« »Und danach ging es Ihnen besser?« »Ja.« »Warum?« »Woher soll ich das wissen?« »Denken Sie nach. Warum?« »Ich weiß es nicht. Sagen Sie's mir doch.« Dr. Thompson stand von seinem Stuhl auf. Rayna erschrak von der plötzlichen Bewegung. »Das reicht jetzt«, sagte er. »Mrs. Prouse braucht Ruhe. Warum machen Sie nicht...« »Mrs. Prouse braucht keine Ruhe. Das weiß ich«, widersprach French mit lauter Stimme. »Setzen Sie sich, Doktor, oder gehen Sie. Sofort.« Die beiden Männer starrten sich in die Augen. Widerwillig setzte sich Thompson wieder hin. »Rayna, es gibt keine phantastischen Begebenheiten. Dahinter verbirgt sich nur eine Schwäche des Verstands, der die physische Welt nicht mehr erfassen kann.« French löste die verschränkten Arme und stützte die Ellbogen auf der Tischplatte auf. Als er weitersprach, untermalte er seine Aussagen mit den 239 Händen. »Die Vorstellungswelt ist nicht real. Es ist eine Abstraktion. Leute erfinden phantastische Geschichten, weil sich der Erzähler als Held oder Abenteurer darstellen will, als jemand, der überlebensgroß ist... Glauben Sie so etwas nicht. Das Leben ist nicht so groß wie in diesen Geschichten.« »Was meinen Sie damit?« Rayna war auf einmal verwirrt. Sie wartete und lauschte auf die Stille um sie herum. Sie brauchte jetzt wirklich dringend eine Zigarette. Die würde sie mit einem einzigen Zug bis auf einen Stummel herunterrauchen. Sie warf einen Blick auf das Päckchen auf Frenchs Schreibtisch. Ihre Schultern schmerzten und zuckten vor Begierde. Kopfschmerzen drückten von beiden Seiten gegen ihren Schädel.
»Warum glauben Sie einen solchen Unsinn?«, insistierte French. »Diese Dinge werden nur erfunden, damit ein langweiliges, bedeutungsloses Leben interessanter erscheint. Mythen. Mythologie. Wir sind bloß ein Klumpen Fleisch. Fleisch und Knochen, nichts weiter. Innen drin ist gar nichts. Wenn wir sterben, verschwinden wir.« Er schnippte mit dem Finger. »Einfach so. Weg.« Wie benommen starrte Rayna auf Frenchs Fingerspitzen. Das ergab doch alles keinen Sinn. Warum erzählte er ihr das? Sie wandte den Blick ab und schaute zu Dr. Thompson hinüber. Sie wollte, dass er ihr half, doch der Doktor sah sie nur mit einem hilflosen Ausdruck an. Ihr Atem quälte sich schwer durch ihre Nasenlöcher, als hätte sie einen heftigen Schlag in die Magengrube erhalten. Als sie den Mund aufmachte, um Atem zu holen, stellte sie fest, dass ihr wieder schlecht wurde, dass wieder dieses Grau an den Rändern da war. Dr. Thompson betrachtete sie mit neuem Interesse, das jedoch gleich darauf in Schock umschlug. »Was machen Sie da?«, fragte er French. »Ich mache sie krank.« French griff an seinen Gürtel und legte einen Schalter um. »Im Krankenhaus befindet sich ein Tommy Quilty. Suchen Sie ihn und kontaktieren Sie mich, wenn Sie ihn gefunden haben. Lassen Sie ihn nicht weg. Ich schicke seine Akte rüber.« Er drückte drei Tasten auf seiner Tastatur. 240 »Nein«, sagte Rayna, und ihre Lungen waren auf einmal leer. Schweiß brach ihr auf der Kopfhaut aus. Sie setzte sich gerade auf und griff mit den Händen nach vorn. »Oh, nein.« Auf einmal befiel sie eine enorme Furcht. Sie hasste dieses Gefühl. Ihr Verstand schien zu verblassen und alle Gedanken mitzunehmen, so dass sie in einem grauen Nebel zurückblieb. Frenchs Blick hing an jeder ihrer Reaktionen. Er wusste, was gerade passierte, und er wusste sehr wohl, was er tat. Der Mistkerl wusste es ganz genau. Dann fing er wieder an zu reden. »Rayna? Hören Sie mir zu, Rayna. Ich habe gelogen. Tommy spricht die Wahrheit. Es ist alles wahr, was er sagt. All das existiert. Alles. Es ist da draußen, jetzt, in diesem Augenblick. Draußen im Meer, da wartet es. Sie können hingehen und es selbst sehen. Es erwacht gerade zum Leben. Sie dürfen mir das jetzt so fest glauben, wie Sie Tommy glauben. Ich habe diese Dinge auch gesehen. Alle. Sie existieren.« Rayna wollte ihm glauben. Sie starrte sein Gesicht an. Log er jetzt? »Es ist die Wahrheit«, versicherte ihr French noch einmal und streckte die Hand über den Tisch hinweg aus, um ihre Finger zu fassen, die sich an die Tischkante geklammert hatten. Die Berührung war warm und gütig. »Es ist die absolute Wahrheit. Glauben Sie mir, Rayna?« »Ja«, sagte Rayna, und ihr Atem glitt sanft in sie hinein, verschmolz mit ihrem Instinkt. »Ja, ich glaube es.« Und mit diesen Worten tiefster Überzeugung verschwand das unheimliche Taumeln aus ihrem Sinn, und eine beruhigende Klarheit breitete sich in ihr aus. Jemand hämmerte an Claudias Tür. War es der Polizist, Reg oder Joseph? Sie hatte sich in ihrem Haus in Sicherheit gebracht und die Tür verriegelt. Nach Atem ringend, das Filetiermesser immer noch in der Hand, raste sie die Holztreppe hinauf und blieb oben stehen. Sie streifte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die auf ihren ausgedörrten Lippen klebte, und wandte sich um, rannte zuerst in ihr Schlafzimmer, dann zu ihrem Studio. 240 Panisch durchsuchte sie den Raum. Wonach bloß? Nach einem Ausweg. Würde sie den Mann an ihrer Tür umbringen, wer er auch sein mochte, falls er hereinkam? Sie hatte schon Reg umgebracht. Nein, Joseph. Warum? Was hatte sie damit vollbracht? Was hatte sie getan? Was? Sie ging hastig zum Fenster. Das Schlucken fiel ihr schwer, ihre Kehle war so trocken, es schien kein Tropfen Flüssigkeit mehr in ihr zu sein. Sie könnte sich durch den Rahmen des Aussichtsfensters stürzen, durch die sich überlagernden Szenen, die sie all die Jahre betrachtet hatte. Der Tod wäre die durchdringendste Form von Flucht. Ihr Leben war jetzt vollkommen unwirklich. Oder war sie längst tot? Hatte sie es endlich geschafft, an Dehydrierung zu sterben, und war in die bizarre Welt der Toten oder Fast-Toten versunken? Unten wurde krachend die Tür aufgebrochen. Sie erstarrte vor Schreck. Ihre Augen suchten panisch nach einem möglichen Versteck. Im Wohnzimmer trampelte ein Mann herum, dann war
er auf der Treppe, schwere Stiefel, die sich rasch näherten. Um sie herum züngelte eine Flamme nach der anderen aus den getöpferten Häuschen auf ihrem Arbeitstisch, während ein Streichholz, geführt von der Hand eines Phantoms, von einem zum nächsten wanderte. Der Polizist, ein Mann in Uniform, stand im Türrahmen zu Claudias Studio und hatte den Revolver auf sie gerichtet, doch dann ließ er ihn langsam sinken, so, als dämmerte ihm eine Erkenntnis, bis sein Arm mit der Waffe schlaff herunterhing. Claudia taumelte gegen die Wand zurück. Schluchzend blickte sie auf das Messer hinunter, als sähe sie es zum ersten Mal, und die glänzende Klinge reflektierte in ihren kindlichen Augen. Sie richtete die Spitze gegen ihren Bauch, wie Reg es vorhin gemacht hatte - konnte nicht anders. Ein Stich. Ein Schnitt. Der das Leben aus ihr herausströmen ließ in die Freiheit. »He, Mädchen«, rief der Polizist so laut, dass Claudias Hände zuckten. Die Spitze des Messers ritzte den Stoff ihres Kleids ein. Sie sah mit aufgerissenen Augen und kühler Faszination zu, stieß die Spitze tiefer hinein, durch den Stoff in ihren 241 aufgeblähten Bauch, lauschte dem leisen, flüsternden, fast kratzenden Geräusch, das der Stahl in ihrem Fleisch erzeugte. Sie fühlte sich so betäubt und entwurzelt. Ihr Atem ging schnell und tief, ihr Puls rasch und schwach. Ein Krampf erfasste ihr linkes Bein, dann das rechte, drückte auf ihr Kreuz, bis ihre Hüfte schmerzte. »Bitte, leg das Messer weg, Kleine.« Der Polizist kam unsicher einen Schritt näher, blieb jedoch abrupt stehen, als Claudia das Messer mit beiden Händen hochhob. Die Klinge bebte wie wild, während Claudia knurrte und die Zähne fletschte. Der Polizist blieb wie angewurzelt stehen. Sein Blick hing an dem Schnitt, den sie sich zugefügt hatte. Sie blickte nach unten, sah jedoch keinen Tropfen Blut. Behutsam und geschmeidig führte sie die Spitze des Messers wieder in das trockene Loch, das sie gemacht hatte, und spannte die Muskeln ihrer Arme, um es tiefer hineinzuschieben. Ihr Rückgrat zuckte, und ihr Kopf fiel in den Nacken, als hätte ein Hitzeschub sie erfasst. Sie schloss die Augen, zog langsam die Klinge zurück und war überrascht, etwas Kühles über ihre Finger rieseln zu spüren. Neugierig öffnete sie die Augen. Der Polizist war ganz nahe. Sie richtete das Messer auf ihn, und er wich zurück. Als sie nach unten blickte, sah sie, dass sich ein Schwall feinsten Sands aus der Wunde ergoss und einen kleinen Hügel auf dem Boden bildete. »Ich dachte, ich wäre voller Fische«, flüsterte Claudia mit einer Kinderstimme. Ihre Lider wurden immer schwerer, während sich der Sand auf dem Boden sammelte und das Häufchen immer größer und höher wurde. »Aber ich bin ja ganz trocken.« Mit jeder Sekunde wurde ihr gewölbter Bauch flacher. Verblüfft fuhr sie mit den Händen durch den rieselnden Sand und betastete dann forschend mit den Fingern die zarten Ränder der Wunde. Als auch das letzte Sandkorn herausgerieselt war, sank sie auf den Sandhaufen nieder. Körner klebten an ihren Lippen. Das ganze Haus bebte unter der Erschütterung. Drei der getöpferten Häuschen fielen um und mehrere Flaschen Glasur. Die bren 241 nenden Kerzen entzündeten die Glasur, auf der sich das Feuer wie auf Benzin ausbreitete, über den Tisch hinweg und über den Dielenboden, entlang einer Linie, die zwischen ihr und dem Polizisten verlief. Claudia sah, wie der Officer versuchte, über die brennende Linie hinwegzurennen, jedoch zurückzuckte. Er sprang auf einen Korbstuhl zu, der berstend in Flammen aufgegangen war, musste jedoch auch davor zurückweichen, so rasch griffen die Flammen um sich und loderten auf, eine durchsichtige Wand, die ihn zurückhielt. Claudia hörte, wie ihr Haar knisternd verschmorte und nahm den ungewohnten Geruch wahr, der davon ausging. Der Polizist griff nach einem Schultertuch, das über ihrem Arbeitsstuhl hing, und versuchte, das um sich greifende Feuer auf der verschütteten Glasur zu ersticken, doch schon bald stand das Tuch selbst in Flammen. Er trat darauf und hielt sich hustend eine Hand vor den Mund. Rauchschwaden hingen im Raum, weiß und dunkelgrau. Der Officer schlug heftig auf sein Hosenbein und hüpfte zur Schlafzimmertür zurück.
Durch das Flimmern der Hitze hindurch wirkte der Polizist grenzenlos, wie aus Wasser; seine Konturen waren verwackelt. Claudia sah, wie er in sein Funkgerät sprach, irgendwelche verzerrten Worte, die mit Feuer zu tun hatten. Dann war er auf einmal weg, aus ihrem flackernden Blickfeld verschwunden. Wo war er hin, und zu welchem Zweck? Sie wusste es nicht. Ihre Augen waren so trocken und von Rauch verhüllt, dass sie sie kaum noch bewegen konnte. Das Zimmer um sie herum hatte sich aufgelöst, und sie kam sich vor, als wäre sie so durchsichtig wie Glas. Das wirbelnde Feuer erinnerte sie an die glühend heißen Wirbel in ihren Brennöfen, in denen sie den knetbaren Ton brannte, um ihn zu härten und in einer unabänderlichen Position zu fixieren. Wenn noch Wasser im Ton war, wenn der Ton nicht genügend ausgetrocknet war, dann explodierte er beim Brennen. Claudia dachte an das Wasser in den Wänden, das von Sonne und Glas erwärmt und bei Bedarf durch das Röhrensystem in den Hauswänden gepumpt wurde. 242 Die Hitze des Feuers drang mit solcher Intensität auf ihren Schädel ein, dass ihre Zunge sich dick und klebrig anfühlte, wie ein halb gekautes Steak. Sie schob die Zunge im Mund herum und spürte durch Tasten mit der Zungenspitze, dass ihre Zähne sich gelockert hatten. Sie versuchte, die Augen zu öffnen, doch die Lider waren nicht mehr da. Sie kam zu dem Schluss, dass es eben doch unwirklich war. Was hätte es sonst sein sollen als ein Traum, der ihr eine Existenz in einer gefährlichen Welt aufgezwungen hatte, wo das Klima sich änderte und Menschen, die ein integraler Bestandteil von ihr geworden waren, einfach so wieder fortgerissen wurden. Jetzt, da ihre trockene Haut weg war, da jeder Tropfen Flüssigkeit in ihr endgültig verdunstet war, spürte sie, dass es vielleicht doch noch eine Möglichkeit gab, sich sicher zu fühlen, dass sie Bestand haben konnte, fixiert, wie sie es jetzt war, in dieser kunstvollen, bleibenden Pose. Chase sprang, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunter. Seine Hand berührte kaum das Geländer. Er hastete ins Wohnzimmer, suchte den Raum panisch nach der signalroten Farbe eines Feuerlöschers ab. Nichts zu sehen. Sein einziger Gedanke war: Das kleine Mädchen da oben verbrannte. In seinen Augen standen Tränen. Er rannte in die Küche und drehte die Wasserhähne auf. Es kam nichts. Panisch schaute er unter die Spüle, um zu sehen, ob das Wasser abgedreht war, doch an den zwei Kupferrohren fanden sich keine Ventile, die auf- oder zugedreht werden konnten. Er versuchte, die Leitungsrohre aus der Wand zu reißen, rüttelte mit aller Kraft daran, doch sie gaben nicht nach. Als Nächstes blickte er sich nach einem Gefäß um, in dem man Wasser transportieren konnte. Kein Eimer. Er riss die Schranktüren über der Küchentheke auf. Gläser, Teller, kleine Schüsseln. Er griff mit einer Hand nach ein paar Schüsseln und rannte ins Wohnzimmer zurück. Durch das große Fenster erhaschte er im Vorbeieilen einen Blick auf das Meer, eine Fülle von Wasser, verlockend nah und doch außer Reichweite. Er rannte ins Bad zu seiner 242 Rechten, warf die Schüsseln in die weiße Spüle und drehte beide Hähne auf. Nicht ein Tropfen kam. Er versuchte die Badewanne. Nichts. Als er zurück nach oben rannte, zogen bereits graue Rauchschwaden auf die Treppe heraus. Er ging in die Hocke, um ihnen auszuweichen, und suchte in den beiden Schlafzimmern nach einem Feuerlöscher und auch nach der Mutter des kleinen Mädchens, schaute in dem Zimmer, das dem Mädchen zu gehören schien, in den Schrank. Auch dort war kein Feuerlöscher montiert. Ein Hustenanfall schüttelte ihn. Seine Lungen hatten sich mit Rauch gefüllt. Dessen ungeachtet suchte er weiter, suchte im anderen Schlafzimmer, offensichtlich dem der Mutter. Es war leer. Hustend riss er die Schranktüren auf und stand vor einer Stange voller Kleider, die alle auf den Ärmeln mit kunstvollen, verschnörkelten Wörtern in Tinte voll geschrieben waren. Er schob sie zur Seite, um zu sehen, ob vielleicht dahinter ein Feuerlöscher an der Wand hing. Der Druck in seiner Brust nahm zu. Es war fast unmöglich zu atmen, und dem dumpfen, betäubenden Gefühl in seinem Kopf nach zu urteilen, würde er, wenn er noch länger hier blieb, aus Sauerstoffmangel ohnmächtig werden, ohne je wieder aufzuwachen. Noch ein Hustenanfall, als er sich zum Flur umwandte und zurück in das Studio rannte, das jetzt lichterloh brannte. Er zuckte in Richtung des Mädchens, das reglos auf dem Boden lag, brennend. Die
gnadenlose Hitze, zehn Mal stärker als die Mittagssonne auf seinem Gesicht oder seinen Händen, versengte ihn fast. Er wich seitlich zurück, schrie auf gegen die Vergeblichkeit, war kurz davor, einfach geradewegs in die Flammen hineinzurennen. Wenn er schnell genug war, würde er sich dann so schlimm verbrennen? Seine tränennassen Augen hingen an dem Mädchen, erneut versuchte er einen Vorstoß, doch die Hitze versengte ihm das Gesicht. Das Geräusch des Feuers, das jetzt auf die Wände übergriff, wandelte sich von einem Knistern in ein Brüllen. Verzweifelt hob Chase das Funkgerät und rief durch seine Huster und Schluchzer hindurch nach der Feuerwehr. In diesem Augenblick stieg ihm der Geruch von gebratenem Fisch in 243 die Nase. Die Abendessenszeit war längst vorbei. Sein Magen knurrte, und dann überfiel ihn eine Welle heftigen Ekels, als ihm klar wurde, dass das, was er da roch, nicht Fisch war, sondern der Geruch des verbrennenden Mädchens, das er zu retten versuchte. Als Joseph die Augen aufschlug, war das Gesicht seines Vaters ganz dicht über seinem. Sein Vater war gealtert, und seine Züge hatten sich verbreitert. Auf dem Kopf saß eine rote Baseballmütze, die sein Vater nie getragen hatte. Im Verlauf dieses unterschwelligen Erkenntnisprozesses ging Joseph auf, dass sein Vater, wenn er es denn tatsächlich war, sich verändert hatte. Aber warum auch nicht? An dem Ort, wo er sich jetzt befand, war vermutlich alles möglich. Oder war es das Gesicht von jemandem, der seinem Vater nur sehr ähnlich sah? Das Gesicht eines Mannes, den er lange Zeit nicht gekannt hatte, womöglich sogar viel länger, als er dachte. Eines Verwandten. Eines verlorenen Bruders. »Was für ein Narr bist du eigentlich?«, fragte sein Vater jetzt. »Einer von der schlimmsten Sorte, so einer.« Er schaute Joseph wütend an und schüttelte mit einer Mischung aus Groll und Verwunderung den Kopf. »So einer ist mir ja noch nie untergekommen. Noch nie. Jetzt steh auf, du faules Stück. Steh auf und sieh zu, dass du zu deiner kranken Tochter kommst.« Der Mann erhob sich aus der Hocke. »Die paar Kratzer da sind gar nichts. Steh schon auf.« Der Mann war nicht sein Vater. Er hatte einen Dialekt, der typisch für eine abgeschiedene Fischergemeinde in einer Bucht war. Sein Vater hatte diesen Dialekt nicht gesprochen, obwohl er aus derselben Gemeinde gekommen war. Zwei Männer, wie Spiegel füreinander, und doch vollkommen gegensätzlich. Dieser Mann war der Bruder seines Vaters. Tochter, schoss es Joseph auf einmal angstvoll durch den Kopf. Robin. Angst kroch ihm eisig kalt unter die Haut. Er stemmte die Hände auf den Dielenboden und versuchte, sich hochzudrücken. Ein stechender Schmerz fuhr ihm in die Seite. Sein Kopf sackte mit einem dumpfen Laut auf den Boden zurück. Er stöhnte 243 und verzog vor Schmerz das Gesicht. Aus der Ferne näherte sich das Geräusch einer Sirene, als ob sie zum Haus käme. »Wer zum Teufel hat diesen wild gewordenen Köter hier hereingelassen? Du blutest gar nicht. Stell dich nicht so an. Bloß eine Fleischwunde. Ich hab auf 'm Boot draußen auf See weit Schlimmeres gesehen. Einen erwachsenen Mann würde so was nicht einmal stören. Die würden noch fischen und ihr Tagewerk verrichten, wenn sie aufgeschlitzt wären und sich vor Schmerzen übergeben müssten.« Joseph rollte sich auf die Seite. Er konnte kaum schlucken. Mehrere Sekunden lang versuchte er es angestrengt, bis es ihm endlich gelang. Seine Hand griff nach einem Stuhlbein und dann höher, nach dem Sitz. Onkel Doug blieb einfach neben ihm stehen und schimpfte ihn aus. »Hast du keine Beine? Die funktionieren doch, oder? Steh endlich auf.« Doug beugte sich zu ihm hinunter und streckte ihm die Hand hin - Joseph griff danach. Dann zog Doug ihn mit solcher Heftigkeit auf, dass Joseph war, als würde sein Gehirn im Schädel herumgeschleudert. Er stützte sich mit einer Hand auf der Tischplatte ab und schloss die Augen. Er fürchtete, erneut das Bewusstsein zu verlieren. Jetzt ging ihm auf, dass er, während er bewusstlos gewesen war, geträumt hatte: eine von Robins Zeichnungen, die bernsteinfarbene Spirale, die vor Hitze wirbelte und Strahlen aus ihrem Kern aussandte, verbrannte hinter seinen Augen. Er blickte auf seine Hände hinunter. Sie waren von Claudias Nägeln zerkratzt. Am Boden stand immer noch Kims
Tasche. Er bückte sich, um den Riemen zu packen, und der Schweiß trat ihm auf Stirn und Kopfhaut. Trotzdem nahm er die Tasche auf und presste sie an seine Brust, umarmte sie, drückte sie, und Kims Geruch stieg zu ihm auf. »Und jetzt beweg deinen Arsch.« Doug schlug Joseph auf den Arm, ging los und rief vom Flur noch einmal zurück: »Um des lieben Herrgotts willen, jetzt mach endlich.« Joseph ging schlurfend und vor Schmerzen zuckend hinter seinem Onkel her zur Haustür, doch seine Gedanken waren bei Robin. Durch die offene Tür lockte Sonnenlicht. Joseph roch
244 Rauch, und als er aus der Tür ins Freie stolperte, fiel ihm das Polizeiauto auf, das nicht weit weg am Straßenrand geparkt war. Während er Kims Tasche immer noch an sich presste, schaute er zu Claudias Haus hinüber. Vor ihm sprang sein Auto an. Ein rotes Feuerwehrauto stand auf der Straße. Gelbe Schläuche zogen sich zu dem brennenden Haus hin. Ein breiter, beständiger Wasserstrahl ging über die Außenwände nieder. Drei Feuerwehrleute standen nebeneinander, und weiter hinten der Polizist, regungslos, den Blick entgeistert auf den oberen Stock gerichtet. Joseph ging gequält einen hilflosen Schritt darauf zu. »Claudia«, murmelte er. Seine Stimme war ein heiseres Rasseln. Das Sprechen tat weh. »Ist sie... da drin?« Die Hupe seines Autos erschallte. Onkel Doug saß auf dem Fahrersitz, winkte und gestikulierte wie wild und schnitt erregte Grimassen hinter der Windschutzscheibe. Joseph humpelte zum Wagen, bemüht, seine verwundete Seite zu entlasten. Er verlagerte die Tasche in einen Arm, um mit dem anderen in seiner Brusttasche nach dem Handy zu suchen und... wen anzurufen? Erneut fürchtete er, ohnmächtig zu werden, und lehnte sich ans Auto. Wen anrufen? Die Feuerwehr? Nein, die war schon da. Das Krankenhaus? Ja, um sich nach Robin zu erkundigen. Er klappte das Handy auf und stellte fest, dass die Batterie leer war. Die Beifahrertür ging auf: Onkel Doug hatte sich quer über den Sitz gelehnt und am Griff gezogen. »Jetzt steig ein und sieh zu, dass du zu deiner Familie kommst. Und schau nicht so memmenhaft drein. Ist das alles, was du bist? Eine saft- und kraftlose Memme?« Joseph schaute zum Hafen hinunter. Dem Sonnenstand nach zu urteilen, konnte es erst kurz nach Mittag sein. Das Wasser in der Bucht war schwarz; graue und weiße Schaumkronen bildeten sich auf den Wirbeln und Strudeln. Die Schmerzen in seiner Seite waren jetzt beinahe erträglich, solange er die Zähne so fest wie möglich zusammenbiss. »Joseph«, brüllte Doug, und Joseph ließ vor Schreck das Handy ins Gras fallen. Er starrte darauf hinunter und sagte sich, dass der Schmerz durch das Bücken weit größer wäre als der 244 Wert dieses Dings. So kletterte er auf den Autositz, die Tasche auf dem Schoß. Einen Moment lang musste er sich ausruhen, bevor er mit einem Stöhnen die Tür zuziehen konnte. Dann ließ er den Kopf an die Lehne zurücksinken. Er schwitzte wieder exzessiv. Ihm war zugleich heiß und kalt. Abgeriegelt im Inneren des Wagens mit seinem Onkel, der jetzt den Rückwärtsgang einlegte, auf die Straße zurückstieß, den Schalthebel nach vorn schob, anfuhr, so dass Joseph im Sitz vor- und zurückgeschleudert wurde. Mit dem Gefühl, schon wieder halb zu halluzinieren, warf Joseph im Vorbeifahren einen Blick durch Dougs Fenster auf das Feuerwehrauto. Die Feuerwehrleute sprühten Wasser auf das Haus. Meerwasser. Schwarzes Wasser, das die Hauswände mit schwarzen Flecken einfärbte, als würden sie mit Kohlestift übermalt. »Hoffentlich ist niemand drin«, murmelte Doug, den Blick auf das Haus gerichtet. »Geht es Robin gut?«, fragte Joseph. »Sie musste am Herz operiert werden. Aber woher solltest du das wissen.« »Was? Was meinst du damit?« »Ich meine damit, dass sie operiert werden musste.« »Und ist es jetzt vorbei?« »Das weiß ich nicht.« »Ist Claudia...«
»Wer?« »Claudia. Da drin.« Doug blickte auf Josephs Kehle. »Der Hund hat dich ja ziemlich übel zugerichtet.« »Der Hund?« Joseph reckte den Hals nach dem brennenden Haus, das jetzt hinter ihnen am Hang verschwand. Es tat weh, sich so zu strecken. Sprach sein Onkel von Claudia als einem Hund? »Jemand sollte das Vieh erschießen.« Für Joseph ergab diese Aussage ebenso wenig Sinn wie die Nachrichten von Robin. Was war denn mit ihrem Herzen? Er ertrug es nicht, sich Robin leidend vorzustellen.
245 Der Wagen erreichte das Ende der Oberen Straße. Direkt gegenüber lag der Hafen. »In letzter Zeit traue ich meinen Augen nicht so recht«, sagte Doug mit einem Blick aufs Wasser, bevor er auf der Unteren Straße in östliche Richtung weiterfuhr. »Der Hund?«, wiederholte Joseph benommen. »Vielleicht hat der Köter was gegen Beamte der Fischereibehörde.« Sie fuhren schweigend weiter. Joseph versuchte, die Bruchstücke zu einem sinnvollen Ganzen zusammenzufügen. »Ich glaube nicht, dass sie wusste, was ich bin«, erwiderte Joseph. Doug lachte. »Der Hund?« »Was ich bin, ja.« »Und das wäre?«, fragte Doug, die schwieligen Hände auf dem Lenkrad. »Ein Beamter der Fischereibehörde.« »Das bist du?« »Ja.« »Bist du das, oder ist das nur, was du machst? Was man ist, lässt sich nämlich schwerer ändern, als das, was man macht.« »Ist das nicht beides dasselbe?« Doug warf Joseph einen Seitenblick zu, der zugleich vorwurfsvoll und forschend war, und dann wurden seine Züge etwas milder, und der Hauch eines Lächelns zeigte sich darauf. »Also, das ist das erste weise Wort, das ich aus deinem Mund gehört habe. Vielleicht gibt's ja doch noch Hoffnung für dein nichtsnutziges Dasein.« Der Krankenwagen war niemandem mehr von Nutzen und wurde weggeschickt. Der verkohlte, zusammengeschrumpfte Körper musste erst fotografiert und die Spuren gesichert werden, bevor er abtransportiert werden konnte. Dr. Basha würde in seiner Funktion als Friedensrichter vorbeikommen müssen. Chase stellte sich den schwarzen Sack vor, an dem der Reißverschluss zugezogen würde. Ihm wurde immer ganz schlecht da 245 von, wenn er sah, wie die Sanitäter den Sack hochhoben und wegtrugen. Wie Müll, den man beseitigt. Als der Krankenwagen die Obere Straße hinunter verschwand, blieb Chase vor dem verbrannten Solarhaus zurück. Das obere Stockwerk war noch immer nicht eingebrochen, vielleicht würde es das auch gar nicht. Mehrere Wände waren allerdings durch und durch verkohlt und hatten ein Gitterwerk aus Kupferrohren freigelegt, das die gesamte Breite, Länge und Höhe des Hauses umspannte. Obwohl das Feuer inzwischen gelöscht war, kam noch immer Wasser aus dem Schlauch. Im Gegensatz zu seiner Erfahrung mit bisherigen Tatorten blieb er diesmal vollkommen allein, mit Ausnahme der Männer von der freiwilligen Feuerwehr, die eine solche Tragödie höchstwahrscheinlich zum ersten Mal miterlebten. Ein kleines Mädchen, das in den Flammen verbrannt war. Das waren gewöhnliche Männer, Väter und Söhne, die als Beamte, Tischler, Maschinisten oder was auch immer arbeiteten und die ihn mit einer Mischung aus Bewunderung und Verstörung betrachteten, weil er mitten in dem Feuer gewesen war und alles mit angesehen hatte. Keiner sagte ein Wort. Chase hatte keine richtigen Kollegen hier. Die waren alle anderswo im Einsatz. So stand er im Garten vor dem Haus, die Sonne im Rücken, und rieb sich die Nase. Vermutlich waren seine Nasenlöcher voller Ruß und seine Haut ebenfalls.
Das Rattern eines Hubschraubers über den südlichen Hügeln weckte seine Aufmerksamkeit. Dort wurde gerade eine weitere Reihe riesiger, metallischer Scheiben aufgestellt, genau wie bereits auf dem Hügelkamm der Nordseite. Zuerst dachte er, sie dienten vielleicht der Navy zur Kommunikation, doch die schiere Menge ließ vermuten, dass es sich wohl eher um ein geheimes Waffenarsenal handelte. Er schaute zum Solarhaus zurück. Leer. Schwarz. Die Fenster geschmolzen oder geborsten. Vor nicht mehr als zwanzig Minuten war er noch da drin gewesen. Mit einem lebendigen Kind, das sich das Leben genommen hatte, das sich auf eine zutiefst verstörende Art selbst aufgeschlitzt hatte. 246 Jetzt war er wieder hier draußen, und das Mädchen, dessen Beweggründe er nicht einmal annähernd je würde verstehen können, war tot und bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Schwarz verkohlt. Ein Mädchen, das einmal so blass war und so zerbrechlich wirkte wie feinstes Pergamentpapier. Die Szene der Verwüstung vor ihm, die Sinnlosigkeit, die darin zum Ausdruck kam, ließ ihn auf einmal an seine Frau denken: Ihre Gedanken waren so schwarz und brüchig wie Asche, doch ihr Gesicht makellos, die Augen, durch die sie blickte, perfekt und schön. Erneut schweifte sein Blick über den Hafen und blieb an der Fischfabrik hängen. Die alte Frau kam ihm wieder in den Sinn, Miss Laracy. Er sollte sie dort unten abholen. Als er schon Anstalten machte, zu seinem Wagen zurückzugehen, fiel ihm ein, dass er sich von den Feuerwehrleuten noch verabschieden sollte, doch er schien zu keinem Wort fähig. Einer der Männer, ein kleiner mit Brille und schwarzem Schnurrbart, merkte, dass Chase im Gehen war, und hob schlicht die Hand mit dem gelben Handschuh in einer Geste, in der zu gleichen Teilen Anerkennung und Verbundenheit zum Ausdruck kamen. Miss Laracy hielt die eisige Kälte in der Fischfabrik nicht länger aus. Sie schien einem binnen kürzester Zeit bis ins Mark zu dringen. Als sie vor vielen Jahren hier gearbeitet hatte, war es genauso gewesen. Es dauerte immer Stunden, bis sie, nach ihrer Schicht zu Hause vor dem knisternden Feuer sitzend, wieder warm geworden war. Jetzt trat sie vor das Gebäude, um die warme Nachmittagsluft einzuatmen. Sie stand in einigem Abstand zu dem Wellblechbau und beobachtete die Rauchsäule, die von dem eigenartigen Haus an der Oberen Straße aufstieg. »Gütige Mutter Gottes«, sagte sie traurig. Dort stand ein Feuerwehrauto. Der schwarze Hund, kam es ihr in den Sinn. In diesem Augenblick hörte sie einen Wagen auf dem Schotter des Parkplatzes. Als sie sich umdrehte, stellte sie ermutigt fest, dass der gut aussehende Polizist hinter der Windschutzscheibe saß. »Der weiß bestimmt, was da los ist«, sagte sie laut und ging 246 direkt auf das Polizeiauto zu. »Wo waren Sie denn? Das hat ja gedauert.« Sergeant Chase, der soeben ausstieg und die Tür zuschlug, erwiderte nichts. Er lächelte ihr nicht einmal zu, sondern starrte nur auf den Boden, während er seinen schweren Gürtel hochzog. Miss Laracy nahm den Rauchgeruch an ihm war und betrachtete die schwarzen Rußspuren auf seinen Händen und in seinem Gesicht und die Spuren von Tränen darin. Sie deutete zum Hügel hinauf. »Da ist eine Tragödie passiert, oder?« Chase schaute Miss Laracy direkt an, und ihr war, als suche er in ihren Augen nach etwas. »Die Künstlerin?« »Nein«, sagte er. »Das war der schwarze Hund. Jemand war zum Sterben bestimmt.« Chase richtete den Blick wieder zum Hügel hinauf, und Miss Laracy tat es ihm gleich. Der Rauch war so dick und tiefgrau, dass er fast schon schwarz wirkte. Sie trat einen Schritt näher zu dem Polizisten, leckte ihren Daumen ab und streckte die Hand aus, um ihm den Ruß vom Kinn zu wischen. »Welche Rolle haben denn Sie in dem Ganzen gespielt?« Chase schüttelte bloß den Kopf und schaute auf ihre Hand hinunter, die sie jetzt sinken ließ. Er wischte sich mit dem Ärmel über die Nase und ging auf die Fischfabrik zu. »Keine«, erwiderte er, und aus seiner tonlosen Stimme sprachen Schuldgefühle.
Miss Laracy tappte hinter ihm her. Sie wollte mehr von den schlimmen Umständen wissen. Wieder im Inneren des Gebäudes angelangt, rang sie erschrocken nach Atem und blieb zögernd stehen. Drei weitere von den zerlumpten, entstellten Geistern waren verschwunden. Sie ging auf die erste Leiche zu, beugte sich darüber und schaute dem Mann ins Gesicht, betrachtete eingehend seine Lippen und Wangen, die jugendliche Rundung seines Kinns. »Das ist der Sohn von Fred Winter, der Edgar.« Sie schlurfte 247 weiter, blieb neben einem älteren Mann stehen, der im Stil des achtzehnten Jahrhunderts gekleidet war. »Den kenn ich nicht, aber sein Geist hat sich jedenfalls aus 'm Staub gemacht.« Dann eilte sie weiter, zu einer Leiche im hinteren Teil der Fabrik, nicht weit von der Wand mit den Computern, an denen jetzt nur noch zwei Leute arbeiteten. »Der sieht mir auch ganz nach 'nem Winter aus. Bestimmt einer von Freds Leuten. Könnte sein, dass die drei alle zu ihm gehören.« »Wo ist Fred Winter?«, fragte Chase. »Im Krankenhaus. Denk ich mal.« »Wie die anderen.« »Genau, aber ich glaub, dem geht's besser. Man kann wohl annehmen, dass die Geister sich in Zeiten ernster Gefahr ihren Angehörigen zeigen. Und von den ganzen Drähten sind sie ziemlich ramponiert. Das jedenfalls ist's, was ich mir dazu in meinem verschrumpelten Hirn zusammenreime.« Chase holte das Funkgerät aus seiner Brusttasche und rief die Zentrale an. Er ließ sich zum Krankenhaus von Port de Grave durchstellen, verlangte die Oberschwester zu sprechen und erkundigte sich nach Fred Winter. Er erfuhr, dass Mr. Winters Zustand sich zu bessern schien, genau wie bei Rayna Prouse. »Das sind jetzt zwei«, stellte die Schwester mit Erleichterung fest. Chase blickte über die Leichen von Bareneed hinweg, sah jedoch nichts von den Geistern, von denen die alte Frau sprach. Nur Leichen sah er, mehr Leichen, als er je an einem Ort versammelt gesehen hatte. Er musste sich zusammenreißen, um sie nicht anzustarren, um sich nicht selbst ein Gruseln einzujagen. So richtete er den Blick wieder auf Miss Laracy. »Wem sollen wir es sagen?«, fragte er sie. »Wer ist dafür zuständig?« Miss Laracy zuckte bloß mit den Schultern. »Mir ist das egal. Der Schaden ist ja längst angerichtet. Oder wie mein Vater immer gesagt hat: Es gibt doch nichts Erfrischenderes als das Gefühl, dem Untergang geweiht zu sein.« Damit zwinkerte sie ihm 247 zu und grinste so breit, dass ihr rosarotes Zahnfleisch glänzte wie bei einem Säugling. Mit Kims Tasche, deren Riemen er sich um die Hand gewickelt hatte, rannte Joseph auf den Eingang des Krankenhauses zu, während Onkel Doug nach einem Parkplatz suchte. Innen drin ging er als Erstes auf die Toilette, schloss die Tür hinter sich und legte die Tasche auf dem Toilettendeckel ab. Sein Hemd war zerrissen und blutig. Zum Glück war die Frau am Empfang beschäftigt gewesen und hatte ihn gar nicht richtig wahrgenommen. Als er jetzt vor dem Spiegel auf der Toilette stand, erschrak er beim Anblick des bärtigen Mannes, den er einst in der Scheibe des Schlafzimmerfensters gesehen hatte. Joseph erkannte sich selbst nicht wieder. Sein Gesicht war zerkratzt und schmutzig und von dichtem Bartwuchs überzogen. Er sah völlig verwildert aus. Er betastete mit den Fingern die Wunden an seinem Hals und dachte an Claudias Griff, ihre Fingernägel, ihre Zähne. Warum hatte sie versucht, ihn umzubringen? Und wohin war sie verschwunden? War sie in dem brennenden Haus gewesen? Er drehte das Wasser an, hielt einen Finger darunter, bis es warm kam, und spritzte es sich dann mit beiden Händen ins Gesicht. Es gab keine Papiertücher mehr, nur einen Fön zum Händetrocknen, und so rieb er sich das Gesicht mit dem Saum seines Hemds ab und rubbelte an den Dreckspuren herum, bis sie weg waren. Als er das Hemd auszog, klebte es an seinen Wunden. Er riss kurz daran, und es tat weniger weh, als er befürchtet hatte. Er knüllte das Hemd zusammen, warf es in den Mülleimer und untersuchte die Verletzungen. Etwas Schorf war mit abgerissen worden, doch es blutete nirgends. Er tastete die Schnitte mit den Fingern ab, um herauszufinden, wie tief sie waren, konnte es jedoch nicht sagen. In der Tasche fand er ein großes blaues T-Shirt,
das Kim manchmal als Schlafshirt verwendete. Er zog es sich über den Kopf, atmete dabei den zarten, betörenden Geruch seiner Frau ein, zog den Reißverschluss der Tasche zu und verließ die Toilette. 248 Joseph folgte den Pfeilen zur Intensivstation, bis er, um eine Ecke biegend, auf einmal Kim erblickte: Sie saß auf einem gepolsterten Stuhl am Ende des Flurs und hatte den Blick zu Boden gerichtet. Als sie Josephs behutsame Schritte hörte, sah sie ihm entgegen, wie er auf sie zuhumpelte. Im Näherkommen verwandelte sich Kims Miene in Neugier und dann in Sorge, als wolle sie eine Frage stellen. Im grellen Licht der Neonlampen konnte Joseph deutlich sehen, dass sie geweint hatte. Ihre Augen waren verquollen, die Nase gerötet, die Lippen geschwollen. Sie starrte ihn vollkommen reglos an. »Wie geht es Robin?«, fragte er und hustete ein wenig, um sich für seine heisere Stimme zu entschuldigen. Kims Tasche stellte er auf dem Sitz neben ihr ab. »Sie operieren sie gerade, am Herzen.« Kim schluchzte in das zerknüllte Taschentuch in ihrer Hand. Der Schluchzer brach mittendrin ab, als wäre er plötzlich versiegt. Trotz der furchtbaren Ungewissheit, in der sie sich befanden, war Joseph irgendwie erleichtert, seine Frau in diesem Zustand vorzufinden. Er fühlte sich ihr in Mitgefühl und Liebe tief verbunden und wusste, dass er jetzt besser nicht zu viele Fragen stellte. Er bot ihr nur einfach seinen stummen Beistand an. Über die Sprechanlage wurde ein Arzt gerufen. Joseph runzelte die Stirn, überlegte, wie nahe er Kim wohl kommen durfte. So hatte er sie nicht mehr gesehen, seit sie das Baby verloren hatten, und die Erinnerung daran schüchterte ihn ein. Kim war sonst immer so stark, so fähig, zauderte nie angesichts einer zu treffenden Entscheidung. Eine Heldin aus einem ihrer Romane. War ihr nun dies hier bestimmt: Unglück und Kummer, der Tod all ihrer Kinder? War es das, was sie sich heimlich ersehnt hatte? Die gramgebeugte Frau vergangener Epochen zu sein? Die intelligente und doch verlorene Frau, die duldsam ihr düsteres Schicksal erträgt? Die Sorge und die Stunden der Schlaflosigkeit hatten Kims Aussehen verändert. Ihr Blick blieb an Josephs Hals hängen, und einen Moment lang wirkte sie besorgt, doch dann wieder wütend. Kratzer von Fingernägeln oder Zähnen. 248 Mit einem Seufzer schob Joseph die Tasche einen Sitz weiter, setzte sich neben Kim und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Kim drehte sich von ihm weg und hob abwehrend die Hand. Die Hand sagte: genug. Ihm fiel auf, dass an ihrer anderen Hand, der mit dem Taschentuch, der Ehering fehlte, und es schmerzte ihn. »Wo ist sie?« Kim putzte sich die Nase und nickte mit dem Kopf zur Tür der Intensivstation hin. »Wie geht es ihr?« Seine Frau schüttelte nur kurz den Kopf. »Kim?« »Ich weiß es nicht«, rief sie aufschluchzend. Sie versuchte vergeblich, mit beiden Händen das Taschentuch glatt zu streichen, und gab schließlich auf, knüllte es ganz fest in ihrer Faust zusammen und presste es auf ihre Lippen. »Ich kann das alles nicht glauben.« »Was glauben?« »Das Ganze.« Sie wandte ihm ihre von Qual erfüllten Augen zu. »Das hier. Robin. Du. Was hier vor sich geht. Ich kann das alles nicht glauben.« Über die Sprechanlage ertönte eine weitere Durchsage. Joseph streckte die Hand aus und legte sie Kim aufs Knie. Die Berührung ließ eine Woge von Gefühl in ihm hochschwappen. Kims Blick ruhte auf seiner Hand, und aus dem Zweifel und der Verwunderung in ihren Augen ging hervor, dass sie sich vollkommen unsicher darüber war, was er ihr bedeutete. Lieutenant-Commander French sah zu Dr. Thompson hinüber, der an der Wand stand und geduldig auf Anweisungen wartete. Der Doktor hatte das Gesicht ein wenig verzogen, vermutlich wegen der Arthritis in seinen Knien und des verletzten Knöchels. Dann wanderte Frenchs Blick zu der alten Frau zurück, die jetzt auf dem Stuhl saß, den Thompson für sie frei gemacht hatte. Der
Polizist, Sergeant Chase, hatte Miss Laracy in Frenchs Büro vorbeigebracht. Miss Laracy hatte ihnen alles über die Geister er 249 zählt, was sie wusste. Allmählich setzten sich die Informationen bei ihnen. Daher das Schweigen. Chase stand turmhoch hinter Rayna, die Arme locker vor der Brust verschränkt. French faltete eben auf seinem Schreibtisch die Hände ineinander und runzelte die Stirn angesichts der Absurdität dessen, was er wusste: dass jede einzelne Person in diesem Raum in wenigen Stunden ertrunken sein konnte. Das jedenfalls sagte ihm seine Intuition, das sah er vor seinem geistigen Auge. Und mit seiner Intuition lag er niemals falsch. Deshalb war er Lieutenant-Commander. Wie sollte er das dem Arzt mitteilen, der Dorfbewohnerin, dem Polizisten und der alten Frau? Welche Version des Kommenden wäre in der Lage sicherzustellen, dass sie sich so verhielten, wie er es sich wünschte? Welche Version war nötig, um seine Autorität zu erhalten und noch zu untermauern? »Ich werde ganz offen zu ihnen sein«, sagte er und dachte: Ehrlichkeit. Thompson nickte. Miss Laracy klopfte mit den Füßen auf den Boden, als ginge ihr irgendeine Melodie durch den Kopf. Sergeant Chase blieb still stehen, und Rayna schaute bloß vor sich hin und kaute auf ihrer Unterlippe herum. »Wie es scheint, hat es Situationen wie diese hier bereits früher gegeben.« Aus irgendeinem Grund konnte er den Blick nicht von Miss Laracy wenden, von dem großzügigen, wohl meinenden Lächeln, mit dem sie ihn ansah. Sie nickte und zwinkerte dazu. »Wann?« French blickte Thompson an, den Mann der Vernunft, der Wissenschaft, einen Mann, ganz ähnlich wie er selbst einer war. »Auf verschiedenen Kontinenten, ganz konkret aber auf dieser Insel. Vor ungefähr siebzig Jahren, als die Elektrizität eingeführt wurde, in der Gegend von Burin. Genauer gesagt, als der Funk eingeführt wurde. Es gibt Berichte über Phänomene genau wie die, von denen die Bewohner hier betroffen sind. Leute konnten nicht atmen, sonst keinerlei Symptome. Die Fischbestände waren drastisch minimiert. Und Menschen sahen Meeresgeschöpfe, wie 249 sie nie zuvor gesehen worden waren. Mehrere Fischer führten Tagebuch über die phantastischen Kreaturen.« »Burin«, sagte Thompson in Gedanken halblaut vor sich hin. Er zupfte nachdenklich an seinem Bart, während er in seinem Gedächtnis stöberte. »Vor siebzig Jahren.« Der Doktor wirkte jetzt abwesend, doch sein Blick ruhte nach wie vor auf French. »Gab es da nicht eine Flutwelle?« French antwortete nicht. Er wandte den Blick ab und sah Miss Laracy an. Wieder herrschte Schweigen im Raum. Alle versuchten, die Informationen zu verarbeiten. »Moment mal«, platzte jetzt Thompson mit einem erheiterten Lacher heraus. »Sie wollen doch wohl nicht sagen, dass dieses ganze Durcheinander das Vorspiel zu einer Flutwelle ist?« »Heiliger!« Rayna setzte sich mit einem Schlag kerzengerade auf ihrem Stuhl auf. Sie reagierte mit Schock, nicht Belustigung. »Nein«, erwiderte French und hob abwehrend die Handflächen. »Nicht zwangsläufig.« Miss Laracy lachte und warf einen Blick zur Decke. »Der Strom«, murmelte sie. Dann schaute sie zur westlichen Wand hinüber, als könne sie das dahinter liegende Hafenbecken sehen. »Alle paar Jahre mal werden die Geister zornig. Dann bäumt sich's Wasser auf und bringt einen Wandel.« Sie blickte, nach Bestätigung suchend, zu Sergeant Chase auf, doch der sagte kein Wort. »Wir vermuten, es hängt irgendwie mit elektromagnetischen Feldern zusammen. Draußen auf dem Meer hat sich eine Masse von Energie angesammelt. Sie scheint von hier auszugehen.« »Geister«, sagte Miss Laracy, grinste und nickte dazu, schmatzte einmal und fuhr sich voller Überzeugung mit der Zunge über die Lippen. »Ich hab gesehen, wie die vom Himmel runtergekommen sind, als Sie Ihre großen Maschinen da angeschaltet haben. Die Geister können nicht zu ihren Liebsten, wegen der Krankheit. Warum ist das denn so?« »Sie können nicht atmen«, spekulierte Thompson. »Atmen sie denn die Geister ein?«
»Nee«, erwiderte Miss Laracy und winkte ab. »Sie können die Geister nicht sehen, das ist der Grund.« 250 »Die Patienten wissen nicht mehr, wer sie sind«, führte Thompson aus. »Oder was sie sind. Es ist, als ob sie verblassen. Verschwinden. Amnesie. Sie können sich selbst nicht mehr wahrnehmen.« French lauschte geduldig, doch seine eigenen Überzeugungen behielt er sorgsam für sich. Stattdessen bot er den anderen eine Spekulation an: »Wir vermuten, dass die Energie mit der Mikro-und Gammastrahlung zusammenhängt. Wir werden versuchen, ob wir die Energie abschalten können. Die Gegend hier ist ein bedeutender Kreuzungspunkt für Telekommunikationssignale, Signale, die zwar nicht sichtbar, aber sehr kraftvoll sind. Vielleicht bündeln sich die elektromagnetischen Felder hier und strahlen von den Hügeln ab. Die Felder sind in der Luft, richten sich auf die offene See hinaus und verursachen dort eine Art Störung. Wir haben den Strom abgeschaltet, aber das scheint nicht viel zu bringen. Die elektromagnetischen Wellen fließen immer noch von überallher. Unzählige Mikrowellen und Gammastrahlen, die die ganze Welt vernetzen. Wir haben auf den Hügeln oben Refraktoren aufgestellt.« French blickte sich in der Runde um und fragte sich, ob die Anwesenden ihm seine Erklärung abkauften. »Die ganze Elektrizität zerschneidet die Geister kreuz und quer«, warf Miss Laracy ein. Sie holte ihr Taschentuch aus dem Ärmel hervor, schnäuzte sich kräftig und zupfte dann an jedem Nasenloch herum. »Aber warum kommen die Geister zu den Leichen in der Fischfabrik zurück? Wieso kommen denn die hierher? 's muss irgendwas mit dem Verlust der Atmung zu tun haben.« »Unsinn«, sagte French mit ungewohnter Heftigkeit. Miss Laracy blickte ihn eine kleine Weile grollend an und malte dabei mit dem Finger eine zunächst kleine und dann immer größer werdende Spirale auf den Tisch. Als sie wieder anhob, sprach sie in einem Ton unerschütterlicher Überzeugung: »Sie wissen das sehr wohl. Sie machen hier keinem was vor außer sich selbst, Frenchie-Boy.«
250 Claudia und Jessica wirkten irgendwie durchsichtig und phantomhaft, wie sie so vor Robins Augen auf der Bank im Boot saßen. Sie hielten einander umschlungen, während sie allmählich mehr Substanz annahmen. Claudia machte den Mund auf, um zu sprechen, doch sie hatte ihre Stimme noch nicht gefunden. Jessica hatte die Arme um die Hüfte ihrer Mutter geschlungen, und ein Strahlen umgab die beiden, das Claudias Gegenwart noch mehr Substanz verlieh. Robin staunte, wie sehr sich die beiden ähnelten. Dann gab es einen beunruhigenden dumpfen Schlag von unten gegen den Bootsrumpf, direkt unter Robins Füßen. »Das ist bloß Dad«, sagte Jessica. »Er kommt hoch, weil Mom jetzt hier ist.« Sie ließ ihre Mutter los und spähte über den Rand des Bootes. Robin tat es ihr gleich. »Komm schon, Dad.« Ein schwankendes Gesicht materialisierte sich unter der Oberfläche, wurde größer und weniger wackelig und tauchte schließlich, durchsichtige Tropfen verspritzend, aus dem Wasser auf. Große Hände fassten den Rand des Boots, das die Form eines Wals hatte und nicht einmal annähernd ins Schaukeln geriet. Reg stemmte sich hoch und kletterte herein. Er war strohtrocken und setzte sich an Jessicas Seite, lächelte und umarmte sie. Claudia beugte sich an Jessica vorbei, um den Kuss ihres Gatten entgegenzunehmen. »Oh«, sagte Claudia. »Wie wunderbar.« »Jetzt geht es uns allen besser«, sagte Jessica zu Robin, »weil wir jetzt von der Schwerkraft befreit sind.« Die Familie aus Vater, Mutter, Kind saß Robin Arm in Arm gegenüber. Das Boot schaukelte sanft auf dem Blau auf und ab. Jessica sagte: »Jetzt, da dein Vater doch nicht tot ist, lassen sie dich vielleicht nicht gehen.« »Mein Vater?«, fragte Robin zurück. Ihre Stimme klang jetzt noch dünner. »Er ist zurückgekommen.« Robin rührte sich ein wenig. »War er denn tot?« Ihre Stimme war nur noch ein Piepsen, das erstarb. »Meine Mutter hat ihn erwürgt.«
251 »Ich wollte das nicht«, erklärte Claudia mit einem zärtlichen Lächeln zu ihrer Tochter hin. »Das weißt du doch.« Sie zauste Jessicas Haar. »So was Dummes.« »Du hast gedacht, dass wir das so wollen«, sagte Jessica zu ihrer Mutter. »Ich und Dad. Du hast uns nicht richtig verstanden, weil du immer noch in der Welt warst. Da sieht man nur, was man sehen will. Ihr legt uns Wörter in den Mund. Ihr erfindet uns so, dass ihr euch Dinge erklären könnt, dass sie für euch leichter zu verstehen sind.« Jessica wandte das Gesicht wieder Robin zu. Robin sah, dass die Augen ihrer Freundin jetzt blau waren, dann braun und dann grün... »Die Lebenden tun das immer«, fuhr Jessica fort. »Sie verändern uns. Sie tun so, als wären wir da, obwohl wir es gar nicht sind. Wir können gar nicht zurück an Land kommen.« Robin lächelte Jessica an. Es war schön, sie so mit ihren Eltern zu sehen. Sie saßen still da wie auf einem Familienfoto, einem Schnappschuss, auf dem alle glücklich waren. »Ich würde so gern meine Mom und meinen Dad sehen«, sagte Robin, doch ihre Stimme war praktisch stumm, so dass nur sie selbst zu merken schien, dass sie es sagte. Oder hatte sie es nur gedacht? »Am besten wartest du einfach hier auf sie«, schlug Claudia vor und nickte aufmunternd, »und ersparst dir die Last eines ganzen Lebens.« »Du musst wieder zu Kräften kommen«, warf Jessica ein. »Wie?« Die Frage war ein hohler Laut, ein dumpfer Pulsschlag in ihrem Kopf. »Du kannst das nicht selbst. Deine Mutter und dein Vater müssen es für dich tun.« »Wie?« »Wenn sie alles andere vergessen können und dich einfach nur lieben. Wenn sie so zusammen sind, dann multipliziert sich ihre Energie, und sie können dich aus dem Meer ziehen. Deine Energie kam von ihnen. Ihre Energie kam von ihren eigenen Eltern und hat dich erzeugt. Wenn sie ihre Energie bündeln, dann können sie dich zurückholen.« 251 »Ich will, dass sie das tun.« Auf einmal war Robin, als sei sie vollkommen taub, und doch hörte sie irgendwie noch die Stimmen der anderen. »Ich will hier weg.« »Geht es dir nicht gut?«, fragte Claudia. »Dir wird es bald besser gehen«, sagte Reg mit einem Zwinkern. Robin schüttelte den Kopf. Sie hatte langsam genug davon. »Das ist alles so komisch hier.« Nur ihre Lippen bewegten sich. »Wir sind nur Energie, die darauf wartet, von jemandem angezogen zu werden«, erklärte Jessica. »Wir müssen uns an jemanden klammern, um Form zu werden.« Tommy nahm seinen Zeichenblock vom Nachttisch neben dem Krankenhausbett, winkte Fred Winter zum Abschied noch einmal zu und floh aus dem Zimmer. Keine Schwester in Sicht. Am Ende des Korridors fand er das rot-weiße Exit-Schild, nahm die Treppe durch das hohl klingende Treppenhaus hinunter und ging durch die Metalltür, die direkt auf den Parkplatz führte, ins Freie. Frische Luft. Zwar wünschte er sich verzweifelt, auch den anderen Kranken zu helfen, doch er befürchtete, dass die Soldaten ihn holen kämen, und noch mehr fürchtete er das, was die unmittelbare Zukunft für ihn bereithielt. Noch nie waren seine Gedanken von einer solchen Düsternis überschwemmt worden. Eine Wand aus nasser Schwärze türmte sich hinter seinen Augen auf, als er den Blick über die Autos und Häuser hinwegschweifen ließ. Er verspürte ein hilfloses Bedürfnis zu zeichnen, konnte jedoch vor seinem inneren Auge nicht ein einziges Detail sehen, nicht einen Umriss oder eine Bewegung. Nervös eilte er über den Parkplatz, schlängelte sich zwischen Autos hindurch und überlegte, was er tun sollte. Er könnte warten, ob vielleicht jemand Bekanntes aus dem Krankenhaus kam, der ihn nach Bareneed mitnahm. Aber das könnte lange dauern. Nein, ein Auto half auch nichts. Er wollte Rayna sehen, jetzt sofort. Da gab es nur einen Weg. Er eilte an den Rand des Parkplatzes und zur Straße, blieb dort kurz stehen und blickte in 251
Richtung Bareneed. Dann schaute er nach links und nach rechts, überquerte die Straße und nahm einen schmalen Weg, der zwischen zwei Häusern zum Strand hinunterführte. Hier war er schon oft gegangen, wenn er bei einem Krankenbesuch eine Pause einlegen, ein Sandwich essen und dabei aufs Meer hinausschauen wollte. Die Sonne stand niedrig über dem Wasser, und ein kleines Boot war an dem wackeligen alten Holzsteg vertäut, der aus alten Holzplanken und entrindeten Ästen zusammengezimmert war. Das Boot selbst sah aus, als ob es fahrtauglich sei. Er hob einen schweren Stein auf und sprang ins Boot, suchte sein Gleichgewicht, legte den Zeichenblock neben sich auf das Sitzbrett und den Stein obenauf, damit der Block nicht wegfliegen konnte. Dann beugte er sich zu dem Pflock, um den die Leine gewickelt war, und legte ab, mit Bareneed vor Augen. Der Motor sprang beim ersten Versuch an. Mit einem Anflug von Nervenflattern blickte er zurück, ob ihn womöglich jemand ertappt hatte, doch niemand kam aus den Häusern am Strand zum Vorschein. Er brachte den Bug auf Kurs zur Landzunge. Sie war eigentlich nicht weit weg, doch als er nun darauf zufuhr, erschien es ihm weiter als sonst: Das Land schien immer in derselben Entfernung zu bleiben, egal, wie sehr er Gas gab. Endlich brach die Illusion, und Tommy wusste, dass er der Landzunge näher kam. Obwohl das Meer ruhig war, fing das Boot an, hart zu schaukeln, als er sich Bareneed näherte, und das Wasser schwappte vernehmlich gegen den Bootsrumpf. Je weiter er kam, desto rauer wurde die See. Das Wasser schwoll grau-grün an und bildete weiße Schaumkronen. Es zischte und köchelte. Wie Schaum vor dem Mund, schoss es Tommy durch den Kopf. Etwas schlug gegen den Bootsrumpf, und als Tommy aufblickte, sah er, dass der Stein von seinem Zeichenblock gerutscht und heruntergefallen war. Er nahm den Block auf und presste ihn an sich. Drei Meter vor dem Boot tauchte ein totenkopfähnlicher Schädel mit eingedrückten breiten Wangenknochen aus dem Wasser auf. Ein Wasserschwall lief 252 daraus hervor. Ein weiteres monströses Gesicht folgte, noch näher als das erste. Beide Köpfe schienen an ein und demselben schuppigen Hals zu hängen, und beide trugen mattgoldene Kronen. Tommy hatte die Kreatur schon einmal gezeichnet, und so erschrak er gar nicht sehr darüber. Vielmehr staunte er. Er wusste, dass es noch mehr Köpfe gab, und schon bald kam ein dritter zum Vorschein, reckte sich direkt über ihm aus dem Wasser und schaute zu ihm herunter; der große Mund blieb stumm. Bei diesem Anblick dämmerte Tommy auf einmal, wie riesig das Geschöpf sein musste und dass es sich jetzt genau unter seinem Boot befand. Zitternd riss er den Steuerhebel herum, um nach Port de Grave zurückzukehren, da er hoffte, so einen Zusammenstoß vermeiden zu können. Das Boot drehte ein wenig ab, doch kurz darauf wurde es aus seinem Kurs gerissen, seitlich in Richtung Bareneed geschleudert und dann in rasendem Tempo durchs Wasser gezogen. Wie aus eigener Kraft erhob es sich aus dem Meer und schwebte auf einmal durch die Luft. Dahinflitzend spähte Tommy nach unten und sah, dass der Bootsrumpf auf dem Rücken des Geschöpfs lag. Auf einmal wurde Tommy kopfüber vorwärts geschleudert und segelte durch die Luft, den Zeichenblock verzweifelt an sich gepresst. Er kniff die Augen ganz fest zusammen und murmelte, während er nun langsam abstürzte: »Oh Mutter Gottes, oh Mutter Gottes, oh Mutter Gottes...«, bis er plötzlich in das eisige Wasser einschlug, eher, als er es erwartet hatte. Sofort gefror sein Atem, und er sank wild strampelnd in spritzendem Wasser und weißem Schaum hinab. Eine Masse aus Luftblasen bildete sich um ihn herum. Sinkend zwang er sich, die Augen aufzumachen, und erblickte in einiger Entfernung die verschwommenen Köpfe. Keiner zeigte irgendein Interesse an ihm. Tommy zählte sechs davon, während er mit aufgeblasenen Wangen den Atem anhielt und das salzige Wasser in seine Nasenlöcher zu dringen versuchte. Wo war der siebte Kopf? Tommy schlug mit den Beinen, um sich umzudrehen, und nun hatte er das siebte Gesicht direkt vor sich,
252 schwarze Augen, die ihn anstarrten, und eine spitze Krone, die matt schimmerte. Tommy strampelte panisch, um wegzukommen. Die Hydra ähnelte einer Schlange mit einem stachligen
Kamm entlang dem Körper und schwerfällig paddelnden Hinterbeinen mit Klauen wie die eines Vogels. Die sieben Köpfe schienen jetzt Tommys Gegenwart bemerkt zu haben, denn alle sieben fuhren zu ihm herum. Tommy dachte: Es hätte ja doch keinen Zweck, irgendeinen von den Köpfen abzuschlagen, selbst wenn ich ein Schwert dabeihätte, weil dann würden bloß zwei neue anstelle des einen nachwachsen. Das hatte er jedenfalls mal irgendwo in einem Buch gelesen. Es war das letzte Bild in seinem Kopf, bevor die Hydra sich nun in einer fließenden Bewegung aufzulösen schien; ihre Farben verschwammen, ihre Gestalt und Textur verloren an Ausdehnung, bis nur noch eine sepiafarbene Wolke im Wasser um Tommy herum zurückblieb. Tommy selbst ging soeben die Luft aus, und während er noch immer seinen Tintenschwaden abgebenden Zeichenblock umklammerte, fing er nun an, heftig mit den Beinen zu schlagen, um sich nach oben zu katapultieren. Wie weit, fragte er sich verzweifelt, war es wohl bis zur Oberfläche? Wie hoch über ihm war sie wohl?
Dienstagabend
Dunkelheit. Lieutenant-Commander French hatte alle, die in seinem Büro versammelt waren, zum Strand hinuntergeführt. Jetzt standen sie neben dem ersten der drei großen EF-7-Scheinwerfer, die auf das Aufspüren von Gammastrahlen, Mikrowellen und Hintergrundstrahlung kalibriert waren. Die anderen zwei waren weiter oben am Strand platziert. Im angeschalteten Zustand erspürten sie Mikrowellen, die von Mobiltelefonen, Mikrowellenöfen und Sendemasten ausgingen, nukleare und ionisierende Strahlung, ausgelöst durch Röntgen-, Alpha- und Beta-Kontamination, und elektromagnetische Strahlung von elektronischen Geräten, Strommasten, Hochspannungsleitungen, Stromleitungen in Gebäuden und Transformatoren. French blickte auf seine Uhr: 22.17. Trotz des leisen Summens der gasgetriebenen Generatoren konnte er das nasse Schlagen der Schwanzflossen frisch angespülter Fische hören, die sich zu den Massen schon vorhandener toter Fische in allen Formen und Größen gesellten, zu den unzähligen Loddeneiern, die sich mit dem Sand vermischten und an den Steinen klebten. Von Zeit zu Zeit trug ein Windstoß den Gestank verrottender Fische und Eier zu ihm heran, so widerlich, dass ihm vor Übelkeit der Speichel im Mund zusammenlief und der Magensaft im Hals hochstieg. Wasser trat ihm in die Augen, doch er wischte die Tränen nicht weg, denn der Wind trocknete sie von selbst. Und trotzdem, wenn er aus irgendeinem anderen Grund hier wäre und eine Gasmaske dabeihätte, dann würde er jetzt den Strand entlangwandern und die angespülten Fischarten studieren, die 253 in dieser Region eigentlich gar nichts zu suchen hatten. Er konnte das Rot und Blau und Silber der Fische ausmachen, das im Licht der Wolframlampen irisierend schimmerte. Und er sah den Rücken von Rayna Prouse, die erwartungsvoll aufs Meer hinausblickte. Der Wind nahm jetzt zu und blies scharf von der unruhigen Wasserfläche herein. »Es riecht wie Menschenfleisch«, merkte Sergeant Chase an und verstummte dann wieder. Sein Blick wanderte zu den Häusern auf dem Hügel hinauf - dem Solarhaus, aus dem nun kein Rauch mehr aufstieg, und dem Critch-Haus, das fast unsichtbar war in der Nacht. French wusste, dass Chase sich fragte, ob das verbrannte Mädchen wohl schon weggebracht worden war. Er wusste, dass der Polizist an seine Frau dachte, daran, dass sie ihn brauchte. Wann würde er nach Hause fahren? Warum sollte er nach Hause fahren? Chase stellte sich das einst hübsche Mädchen in dem Haus vor und wie jemand es über sich bringen konnte, sie zu untersuchen. Aber irgendjemand würde zweifelsohne damit beauftragt. »Das ist kein Menschenfleisch. Ist bloß Fisch«, sagte Miss Laracy zu Dr. Thompson, der sich umblickte, als überlege er, was er hier sollte, was er zu erwarten hatte. Sie waren alle zutiefst verunsichert. French blickte zur Fischfabrik hinüber, deren Fenster mit dem Strom der Generatoren erleuchtet waren. Das Weiß der Wände war selbst im Dunkeln auszumachen. Innen drin lagen die Toten. Was hatten sie mit alldem hier zu tun? Er hob das Fernglas und blickte zu den Hügeln im Süden
hinauf. Vereinzelt zuckte bläulich weißes Licht darüber hinweg. Seine Leute erledigten die letzten Schweißarbeiten. Der Himmel verschmolz mit dem Land zu einem endlosen Schwarz. French setzte das Fernglas wieder ab und sagte in sein Funkmikrofon: »Lieutenant-Commander French hier. Wie lange noch?« Eine Stimme in seinem Kopfhörer, zehn Mal klarer als durch eine Telefonleitung, klarer als die beste Hi-Fi-Anlage, eine Stimme, die direkt in sein Hirn eingespeist zu werden schien, erwiderte: »Zehn Minuten, Sir.«
254 »Bedingungen auf See?« »Die Küstenwache meldet nach wie vor denselben wirbelnden Derwisch in Sektor sieben.« French wandte sich zu Dr. Thompson um. Seine Anwesenheit war ihm ein Trost. Jemand, der sie retten würde, sollte die Welt sie plötzlich alle blind machen. »Wissen Sie«, sagte er zum Doktor, »ich versuche mir einzureden, dass dies hier eine elektrische Störung ist.« »Ist es das denn nicht?« »Da können wir beide nur raten.« »Ich bin Arzt. Ich kenne mich nur mit dem menschlichen Körper aus.« »Der Körper ist auch elektrisch.« Thompson antwortete darauf nicht. »Sie erwähnten, dass die Menschen im Krankenhaus leblos wirken, keinen Lebenswillen mehr besitzen. Vielleicht ist etwas im menschlichen Geist zerstört worden?« »Ja, aber warum?« Frenchs Miene blieb unverändert. »Ich weiß nicht.« Als er erneut das Fernglas an die Augen hob, sah er die bläulich weißen Lichtblitze in der Ferne wie winzige Signale. Er hörte Miss Laracy und Dr. Thompson zu, die über mögliche Erklärungen spekulierten. »Das ist wegen den Geistern, ich sag's euch«, bemerkte Miss Laracy aufs Neue. »Ihr seid ja allesamt so stockdumm und taub, du meine Güte.« Sie schwenkte die erhobene Faust zu den beiden Männern hin. »Das sind die Geister, die von dem ganzen Mist da in der Luft ausgesperrt werden. Wenn ich's doch sage. Lassen Sie die los, und dann werden Sie schon sehen. Frenchie, Sie haben doch die Gabe des zweiten Gesichts, Herrgott noch mal, also nutzen Sie's doch.« Thompson trat von einem Bein auf das andere und räusperte sich. French ließ das Fernglas sinken. Der Ausdruck, mit dem er dem Vorwurf zu begegnen beschlossen hatte, war der des Mitleids. Er betrachtete die alte Frau, als könne er Verständnis für
254 ihre archaischen Überzeugungen aufbringen, doch in seinem tiefsten Inneren verabscheute er sie. Im Stillen sagte er sich: Koste es, was es wolle, das Leben wieder in normale Bahnen zurückzuführen. Kein Preis ist dafür zu hoch. Miss Laracy sah French unverwandt an, doch es wurde kein weiteres Wort zwischen den beiden gewechselt. Vom Meer her kam ein ferner Schrei, der in der Luft nachhallte. Sie starrten alle auf die schwarze See hinaus. Die Stimme, die in Frenchs Kopf hineinverdrahtet war, meldete sich wieder. »Refraktoren sind bereit, Sir.« »Aktivieren, Nord- und Südseite.« Dann wandte er sich an Vollmatrose Nesbitt: »EF-7 anschalten. Kommunikationsausfall einkalkulieren.« Die drei Scheinwerfer wurden von den drei noch vor Ort verbliebenen Soldaten angeschaltet, und blaues Licht ergoss sich in den Himmel und ließ das wirre Gitternetz aus roten Linien hervortreten, das wie eine undurchdringliche rote Wand vom Boden bis in den Himmel hinaufreichte. Auf beiden Hügeln, die die Ortschaft umrahmten, glommen die riesigen Scheiben in grünlichem Licht. Als ihre Leuchtkraft sich intensivierte, wurde der Cluster aus roten Linien in alle Himmelsrichtungen abgelenkt, prallte von Menschen, Hügeln, Felsen, Straße, Land, Wasser ab und schoss zum Himmel empor. Dann wurden die Linien allmählich schwächer, so dass schmale schwarze Löcher in dem Gitternetz entstanden. Dreißig Sekunden später waren die Linien völlig verschwunden, und nur noch das Summen der Scheinwerfer störte die dunkle Nacht.
»EF-7 abschalten«, rief French laut. Der Befehl wurde von Nesbitt an den zweiten Soldaten weitergerufen, der ihn schließlich dem dritten zurief. Die drei mächtigen blauen Lichtkegel verschwanden, und French blickte in den Himmel. Alle anderen taten es ihm gleich und wandten die Augen zum Firmament empor. Die Sterne schienen in ihrer ursprünglichen Klarheit noch heller zu strahlen und dabei zu pulsieren und, als könnten sie ihrer eigenen, sich ausbreitenden Leuchtkraft nicht standhalten, zu zerfallen. 255 Tiefgelbe Lichtpartikel lösten sich, sammelten sich. Die Sterne zerfielen überhaupt nicht. Das abtrünnige Licht war viel weiter unten, näher an der Erde. »Auswertung für das Geschehen am Himmel«, murmelte French in sein Funkmikrofon. Er vermutete einen massiven Energieausstoß irgendwo. Keine Stimme antwortete. Die Kommunikation war unterbrochen, das hatte er vergessen. In seinem Kopf meldete sich niemand, nicht einmal ein Rauschen war zu hören. Er fühlte sich unendlich allein. Wirbelnde Wellen bernsteinfarbenen Lichts breiteten sich herabsinkend am Himmel über Bareneed aus. Wie tiefgoldene Schneewehen rieselte das Licht weiter herunter, bildete verschwommene Gesichter aus zahllosen Epochen, und Mienen, die aufmerksam auf die Zuschauer herabblickten, als suchten sie Wiedererkennen und Kameradschaft. Flüchtig hing das Licht so, und dann strömte es in die Häuser von Bareneed, drang durch Wände, Fenster und geschlossene Türen ein, flackerte im Inneren, glänzte auf Scheiben und warf noch hellere Blitze nach draußen, wenn es an Spiegeln vorbeirieselte. Es dauerte nur einen kurzen Moment, dann war die Suche abgeschlossen. Die bernsteinfarbenen Ströme preschten wieder durch die Wände hinaus und in östlicher Richtung aufs offene Meer zu. Die Stimme in Frenchs Kopf sagte: »Verstärkte elektrische Aktivität in Sektor sieben wird gemeldet. Intensität verdreifacht. Eine Störung von Hurrikan-Stärke im Wasser, jedoch kein Wind. Blitze werden gemeldet, Sir. Das Wasser scheint sich... zu teilen.« Doch die Stimme kam nicht per Funk aus seinem Kopfhörer. Er hörte nur die Bestätigung dessen, was er vorausgesehen hatte, was er wusste, was er sab. French schaute zu Thompson hinüber, dann zu Chase. Keiner hatte eine Ahnung, was fern dem Ufer vor sich ging. Miss Laracy schien irgendetwas zu ahnen, lachte jetzt augenzwinkernd und summte eine Melodie, während sie gespannt die Hände aneinander rieb. 255 Die Stimme in Frenchs Kopf sagte: »Wir verzeichnen seismische Aktivität. Eine Energie scheint in den Meeresgraben einzudringen. Stärke zwei auf der Richterskala... Das Sonar zeigt an, dass die seismische Aktivität von einer Energiemasse auf dem Meeresgrund verursacht wird.« French warf einen Blick zu den grün glimmenden Scheiben auf den Hügeln hinauf. War es zu spät? Würde es reichen? Wie viel Energie konnten sie noch freisetzen, bevor die ganze Welt vernichtet wurde? Er hob den Arm und feuerte eine blaue Leuchtkugel in den Himmel, das vereinbarte Signal zum Abschalten der Refraktoren. Er ließ den Arm mit der Leuchtpistole sinken, hob das Fernglas an die Augen und beobachtete die Hügel. Seine freie Hand hatte er vor sich ausgestreckt, als prüfe er die Teilchen der Luft. Die Stimme in seinem Kopf, seine eigene oder die eines anderen, erklang erneut: »Die Refraktoren werfen die Mikrowellen und Gammastrahlen auf die See hinaus. Sie verursachen eine Störung.« Eine andere Stimme meldete sich und korrigierte die erste: »Nein, es sind die Geister. Sie konnten ihre Angehörigen nicht finden.« Die Scheiben auf dem Hügelkamm erloschen. Das Sternenlicht wurde wieder matter. French senkte das Fernglas und murmelte: »Die Energie bohrt ein Loch.« Die verdrahtete Stimme in Frenchs Kopf, nun definitiv nicht mehr seine eigene, sagte: »Wir verzeichnen jetzt Stärke sieben, Sir.« French spähte zu Dr. Thompson und dann zu Sergeant Chase hinüber. Er betrachtete Miss Laracy, deren Erheiterung inzwischen verflogen war. Sie starrte auf die Kieselsteine am Strand hinunter, die leise knirschten, hart und kalt unter dem schwappenden Wasser. Der Wind blies ihnen jetzt einen noch herberen Gestank ins Gesicht. Das Knirschen nahm von allen Seiten her zu, wurde
lauter, erfüllte den ganzen Strand. French blickte zu Boden. Ein tiefes Grummeln kam aus der Erde. Er stolperte, als die Vibrationen ihm den festen Stand raubten, griff nach Miss Laracys Arm, doch sie war bereits gestürzt. 256 Weiter oben am Strand ertönte ein Knall. Splitterndes Glas. Einer der Scheinwerfer war umgestürzt. Das Rumoren legte sich, noch während Dr. Thompson Miss Laracy aufhalf. »Alles in Ordnung?«, fragte Thompson. »Nur 'n kleiner Sturz. Ist nix passiert«, erwiderte Miss Laracy, während sie sich sorgsam abklopfte. »Mir geht's prächtig, keine Sorge.« Die Stimme in Frenchs Kopf sagte: »EF-7 Nummer drei ist umgestürzt, Sir.« »Sind Sie verletzt?« »Nein, Sir. Ich bin unterwegs zu Ihrer Position.« Die Gruppe stand schweigend da und lauschte den Wellen, die mit neuer Heftigkeit auf den Strand zurollten. Von oben aus der Luft kam ein Kreischen. Es konnte eine Möwe oder eine Krähe sein, doch beides wäre an einem Abend wie diesem ungewöhnlich gewesen. Einer nach dem anderen legte den Kopf in den Nacken und blickte hinauf. Weitere Vogelschreie ertönten über ihnen, das Schlagen von Flügeln erfüllte die Luft. Die Vögel erwachten in der Dunkelheit. Ein gequälter Schrei kam vom Wasser her, diesmal ein menschlicher. »Wer ist da draußen?«, flüsterte French. Nicht weiter als zehn Meter vom Ufer weg sah er glitzernde Flügel aufblitzen, die sich kaskadenartig zum Himmel emporschwangen: Eine Mauer aus nassen Vögeln brach unter der Wasseroberfläche hervor und schwang sich in die Lüfte. Die See schäumte, Schwärme exotischer Fische sprangen heraus auf den Strand. In einem verblüffenden Wirbel aus Federn und Flügeln stürzten sich vor den Augen der Dastehenden die Vögel in wildem Getöse und Gekreische auf die Fische, bis nicht ein einziger mehr übrig war. Eine Stimme in Frenchs Kopf verkündete: »Wir haben einen Tsunami, Sir.« Die Neonröhren an der Decke flackerten ein paar Mal und tauchten den Krankenhauskorridor in ein unheimliches Licht, das die vorherrschende Stimmung noch verstärkte. 256 Kim umklammerte mit beiden Händen den Schaumstoff am Rand ihres Stuhls. Halt durch, sagte sie sich. Nicht loslassen. Ihr Blick wanderte von der Tür der Intensivstation zu Joseph hinüber, der neben ihr saß. Auf sein Gesicht fiel ein Schatten, dann war es wieder im Licht. »Hast du das gespürt?«, fragte Kim. »Was?«, entgegnete er. Die Lampen strahlten erneut mit voller Kraft, zu grell für Kim und Joseph, die mit zusammengekniffenen Augen zur Decke spähten. Dann flackerten sie wieder. Kim fasste Josephs Hand. Genau in diesem Augenblick gingen die Lichter ganz aus. »Joseph!« Ein paar Augenblicke später wurde eine gedämpfte Notbeleuchtung am Ende des Korridors angeschaltet. »Jetzt reicht's«, sagte Joseph und sprang auf. »Komm mit.« Er zog Kim auf, eilte auf die Türen der Intensivstation zu und läutete Sturm. Als die Schwester kam, rauschte Joseph einfach an ihr vorbei, tiefer in den Raum hinein, wo eine weitere Schwester angespannt umherhuschte, Schalter umlegte, auf Knöpfe drückte, Monitore und Beatmungsgeräte überprüfte. »Wo ist Robin?«, fragte Joseph. »Ich weiß nicht«, entgegnete Kim, obwohl sie wusste, dass die Frage nicht an sie gerichtet war. Sie blickte durch die Scheibe, hinter der ihre Tochter gelegen hatte, doch da waren nur ein alter, kahler Mann in dem einen Bett und eine ältere Frau in dem anderen. Im nächsten Raum lagen ein dunkelhaariger Mann in den Vierzigern und ein Kind - ein Kind, das sie überall erkannt hätte, ein Kind, bei dessen Anblick sich Schmerz und eine angstvolle Enge in ihrer Brust einstellten und dazu eine Woge von Liebe und der unbändige Wunsch, es zu beschützen. »Da«, rief sie und zog Joseph mit.
Sie betraten den Raum und eilten zu Robins Bett. Eine Schwester folgte ihnen auf dem Fuß, protestierte heftig und winkte die beiden zurück: »Sie ist eben erst vom OP heruntergekommen. Sie müssen warten, bis...« Doch Joseph fuhr herum und schleuderte ihr ein so heftiges 257 »Seien Sie still« entgegen, dass die Schwester sich kleinlaut und schmollend zurückzog. »Robin?«, sagte Joseph und fasste seine Tochter an der Hand. Robins Gesicht war reglos. Ein Verband aus weißer Gaze klebte auf ihrer Brust über dem Herzen. »Robin«, flüsterte Kim. »Mein Schatz«, sagte Joseph. Tränen standen ihm in den Augen und hingen in seinen Wimpern, als er sich jetzt tiefer über seine Tochter beugte. »Ich habe dich doch so lieb, mein Schatz.« Kim betrachtete ihren Mann und fragte sich: Was ist nur mit dir passiert, Joseph? Was ist nur mit dir passiert? »Robin?«, sagte Joseph. »Kannst du mich hören, Robin?« Kim nahm Robins andere Hand und wandte sich nun ebenfalls an ihre Tochter: »Robin?« »Robin? Hier ist Daddy.« »Robin, meine Kleine? Mommy ist hier.« Lieutenant-Commander French sprach in sein Funkmikrofon: »Wir verzeichnen einen Tsunami, der sich mit fünfundfünfzig Knoten auf den nordöstlichen Teil der Küste Neufundlands zubewegt. Uns bleiben ungefähr dreißig Minuten, um die Region zu evakuieren. Schicken Sie sämtliche verfügbaren Land- und Lufttransportmittel, ich wiederhole: alle verfügbaren Land- und Lufttransportmittel. Verstanden?« Die Vollmatrosen Nesbitt und O'Toole hatten eine Landkarte auf dem Strand ausgebreitet. Der dritte, Crocker, stand neben Miss Laracy, die ihm von früher erzählte, von den Picknicks im Herbst beim Blaubeerpflücken mit ihren Eltern. »Die Region von Heart's Content bis Conception Harbour im Südosten muss evakuiert werden. Wir brauchen Luftunterstützung für die Evakuierung des Krankenhauses in Port de Grave und des Pflegeheims Our Lady. Informieren Sie die Patienten, dass sie zu ihrer eigenen Sicherheit weggebracht werden, aber behalten Sie die Dringlichkeit der Lage für sich. Überprüfen Sie weitere medizinische Einrichtungen in der Gegend und beginnen Sie sofort mit der Evakuierung. Verstanden?« 257 »Soll ich einen Hubschrauber anfordern, Sir?«, fragte Nesbitt. French starrte Nesbitt an, als käme er allmählich erst zu sich. Dann blickte er auf die Leute, die mit ihm im Dämmerlicht standen und warteten. »Für uns gilt niedrige Prioritätsstufe mit Ausnahme von Miss Laracy und Mrs. Prouse.« Er schaute zum Saum des Wassers. Rayna Prouse sah angespannt aufs Meer hinaus. Was suchte sie da? Seit geraumer Zeit schon rührte sie sich nicht vom Fleck. »Wir nehmen einen Wagen zum Krankenhaus, sobald alle Zivilisten evakuiert wurden.« »Entschuldigen Sie, Sir, aber uns bleiben nur dreißig Minuten. Angesichts dieser knappen Zeit und der erwarteten Größe der Flutwelle, sollten wir da nicht sofort abfahren?« French schaute Nesbitt in die Augen und las Anspannung darin. Nicht die Augen eines Navy-Soldaten, sondern die eines jungen Zivilisten mit einem Leben vor sich und geliebten Menschen, die auf ihn warteten. French warf einen Blick auf die anderen zwei Rekruten. Auch sie waren junge Männer, die das Leben noch vor sich hatten. »Es sind Leute hier in den Häusern. Gehen Sie von Haus zu Haus und schicken Sie sie weg. Sie kennen die Häuser, die bewohnt sind, von Ihren Patrouillen. Die Murrays, die Cutlands, die Greenings. Schauen Sie die anderen Häuser rasch durch, einmal die ganze Runde im Dorf.« Die drei Matrosen salutierten. Nesbitts Blick hing an French. »Bitte um Erlaubnis zu bleiben und die Sicherheit des Lieutenant-Commanders zu gewährleisten, Sir.« »Abgelehnt. Nehmen Sie die Jeeps und suchen Sie die Gegend ab. Wenn Sie auf Zivilisten stoßen, weisen Sie sie an, in ihre Autos zu steigen und nach Südwesten zu fahren, nach Salmonaire. Wenn
nötig, informieren Sie sie über den Tsunami. Bestehen Sie darauf, dass die Leute wegfahren.« Er blickte zur Fischfabrik hinüber. Drei Paar Scheinwerfer entfernten sich von dort, fuhren rasch, dicht hintereinander, um die Biegung des Hafens und bewegten sich in Richtung Westen davon. French wurde auf einmal klar, dass sein Mikrofon auf sämtliche Kanäle geschaltet gewesen war. War er dafür verantwortlich?, fragte er sich.
258 Vom Wasser her kam auf einmal ein gewaltiges schallendes Platschen. Alle Köpfe fuhren in die Richtung herum. Sekundenlang hing weißer Schaum wie gefroren in der Luft und stürzte dann ins Wasser zurück. Es schien, als sei etwas Riesiges ins Wasser geplumpst. Eine einzelne Welle war gegen die Landzunge geprallt, hatte das Felsmassiv erschüttert und ein Stück davon weggebrochen. Der Schaum zischte, als er auf das brodelnde schwarze Wasser niederprasselte. »Sollen wir einen Transportlaster anfordern, Sir?«, fragte Nesbitt. »Zu wenig Zeit. Die wurden von höherer Kommandoebene zur Basis zurückbeordert.« »Nachdem wir die Zivilisten im Dorf informiert haben, sollen wir zu Ihnen zurückkommen, Sir?« »Ja. Los jetzt, gehen Sie.« »Danke, Sir.« Nesbitt salutierte und eilte mit O'Toole und Crocker in die Dunkelheit hinein. Miss Laracy schaute French misstrauisch und düster an. Sie hatte die Lippen zu einem Strich zusammengepresst. »Was ist 'n das alles mit dem Tsunami?«, fragte sie herausfordernd. French wählte seine Worte bewusst: »Eine riesige Welle.« »Aahhh«, murmelte sie und blickte sehnsüchtig aufs Meer hinaus. Dann grinste sie. »Die Brandung ist ziemlich hoch.« »Meine Frau ist in Port de Grave«, verkündete Chase jetzt und neigte die Mütze in Richtung der fernen Lichter jenseits der Bucht. »Ist jemand bei ihr?«, fragte French. »Nein. Es geht ihr nicht gut.« »In Ordnung. Sie sollten zu ihr fahren. Nehmen Sie Dr. Thompson, Mrs. Prouse und Miss Laracy mit zum Krankenhaus zur Evakuierung.« »Selbstverständlich.« Chase wandte sich zu Thompson um, doch Thompson sagte: »Ich bleibe hier für den Fall, dass jemand medizinische Hilfe braucht.« Dann wandte sich der Doktor an French. »Wir bekommen doch einen Hubschrauber, oder?«
258 French nickte. »Bald.« »Dann kann ich genauso gut hier warten wie im Krankenhaus drüben.« Thompson schaute über das Wasser hinweg zu den verstreuten Lichtern. In diesem Augenblick kam Rayna vom Saum des Wassers zurück und gesellte sich schweigend zu ihnen. Sergeant Chase bot Miss Laracy den Arm, doch sie wich zurück. »Nun gehen Sie schon. Ich hab nicht die Absicht, mein Zuhause zu verlassen.« Sie breitete die Arme aus, und Chase ließ sich von ihr umarmen. »Na, jetzt will ich aber 'ne ordentliche Umarmung von Ihnen.« Sie drückte ihn fest und seufzte hingebungsvoll, dann tätschelte sie ihm den Rücken. »Jetzt haben die Geister endlich gesprochen«, raunte sie ihm zu. »Richtig schön ist das.« »Na gut, sie kann mit uns zusammen warten«, willigte French ein. »Ich bleibe bei Miss Laracy«, sagte nun auch Rayna und fasste die alte Frau an der Hand. Ihr Blick suchte noch immer das Wasser ab, als hätte sie etwas vernommen, das haarscharf am Rand ihrer Hörweite war. Chase warf einen letzten Blick auf die Gruppe und zog sich dann zurück, immer weiter, bis er mit der Dunkelheit verschmolzen war. »Sie sollten sich auch auf den Weg machen«, mahnte French Dr. Thompson. »Womöglich wird am Ende der Platz im Hubschrauber knapp.« »Ich weiß nicht, ob ich hier wirklich weg will«, erwiderte Thompson mit einem traurigen Lächeln. »Das ganze Schauspiel ist einfach zu faszinierend.« »Seien Sie nicht töricht. Sie haben doch einen Wagen, oder? Fahren Sie los.«
»Arzt, heile dich selbst.« Thompsons Bemerkung rief ein ungewohntes Lächeln auf Frenchs Lippen. »Genau.« Der Doktor runzelte nachdenklich die Stirn. »Ich habe eine Hütte in Horsechops.« Er wandte sich an Miss Laracy. »Ich kann Sie dorthin mitnehmen, bis...« »Nee, ich geh nirgendwohin. Mich kriegt hier keiner weg. 259 Mein ganzes Leben lang hab ich dieses Dorf nicht verlassen, und, beim lieben Herrgott, dann werd ich's jetzt auch nicht tun, bloß um 'nem Schwapps Wasser aus 'm Weg zu gehen.« »Es geht hier um mehr als einen Schwapps...« »Ich pfeif auf die Welle. Was kann mir die schon tun? Dann krieg ich eben nasse Füße. Häng mich hinterher wieder zum Trocknen auf, und dann ist wieder gut.« Thompson blickte zu French auf, der nickte und mit einem raschen Seitenblick auf Miss Laracy signalisierte, dass er sich um ihre Sicherheit kümmern würde. »Wenn jemand tatsächlich medizinische Hilfe braucht, wird er per Hubschrauber abtransportiert.« French sagte dies, um Thompson zu beruhigen. »Sie sollten wirklich gehen. Wir können hier keine Krüppel brauchen.« »Wissen Sie nicht, dass man das Wort nicht mehr benutzen darf?« Thompson blickte dem Navy-Offizier forschend ins Gesicht und reichte ihm dann die Hand. French schüttelte sie kräftig. »Viel Glück«, sagte der Doktor. »Ihnen auch, und jetzt nehmen Sie die Beine in die Hand«, erwiderte French. Auch Miss Laracy hielt dem Doktor die Hand hin. Er schüttelte sie und legte der Frau die freie Hand auf die Schulter. »Passen Sie auf sich auf.« »Mach ich, Doc.« Thompson wandte sich um und ging mit etwas steifen Schritten davon, weil seine Krücke immer wieder in den Steinen wegrutschte. Als er die schmale Uferböschung bei der Straße erreicht hatte, rief ihm French nach: »Brauchen Sie Hilfe?«, worauf Thompson nur abwinkte und sich allein von dannen machte. Schon bald hatte auch ihn die pechschwarze Dunkelheit verschluckt. Ein paar Augenblicke später sprang ein Auto an, und Scheinwerfer leuchteten auf der Straße auf. Miss Laracy wandte sich an French, holte kräftig Luft und sagte: »Ich wette, Sie hätten jetzt auch nichts gegen 'ne Tasse Tee und 'n Rosinenbrötchen einzuwenden.« 259 French lachte. Wie viel Zeit blieb ihnen noch, bis das alles vorüber war? Erneut hörte er Steine auf dem Strand knirschen. Irgendjemand ging da entlang. Er wandte sich um und sah einen Mann triefnass in den Lichtkegel der Notbeleuchtung treten. »Tommy Quilty«, krähte Miss Laracy und bekreuzigte sich. »Alle Heiligen, steht uns bei.« Rayna stieß einen freudigen Juchzer aus und eilte Tommy entgegen. Sie schlang die Arme um ihn und küsste ihn vor überschwänglicher Freude so heftig auf die Lippen, dass Tommy ganz rot wurde und zu stottern anfing. »Ich hab gewusst, dass du hier bist«, sagte Tommy zu Rayna und hielt dabei seinen durchweichten Zeichenblock hoch. Grinsend verkündete Miss Laracy: »Also, mein Junge, du bist mal wieder 'n Anblick für Götter.« Der Jeep raste auf die erleuchteten Fenster von Wilf Murrays Haus zu. O'Toole blieb am Steuer sitzen, Crocker hinten im Wagen, während Nesbitt ins Haus eilte, um den versammelten Menschen mitzuteilen, dass ein Evakuierungsbefehl ausgegeben worden war. Ein paar der urtümlichen Gestalten schmunzelten, andere brachen in solches Gelächter aus, dass sogar die Teller in der Vitrine klirrten. Keiner war bereit, Haus und Dorf zu verlassen. Wie einer von ihnen es ausdrückte: »Wir lassen uns von keinem Fremden sagen, wo wir hingehen sollen.« Nesbitt sah die vielen Kinder, die bei Wilf Murray herumsprangen. Seine Anspannung wuchs, und allein schon, um die Kleinen zu beschützen, enthüllte er die Art der bevorstehenden Tragödie. Doch auch dies trug ihm nur weitere Lacher ein, ob-schon nun ein paar Frauen und jüngere Männer besorgt wirkten und unsichere Blicke tauschten.
»Ich flehe Sie an«, rief Nesbitt schließlich verzweifelt aus und erreichte damit, dass alle schlagartig verstummten. »Lasst mich hier!«, schimpfte Wilf Murray. »Egal, was da kommt, ob Hochwasser oder die Hölle.« Aller Augen, die zunächst noch an Wilf gehangen hatten, richteten sich jetzt auf Nesbitt, der an seinen Gürtel griff und den 260 Funk abschaltete. »Bitte. Ich weiß, dass es passieren wird, und ich weiß, dass Sie alle ertrinken werden. Ich weiß es.« Wilf Murray stierte Nesbitt finster an. »Vielleicht kann er ja in die Zukunft sehen«, sagte Wilf. Ein paar Leute kicherten und schüttelten die Köpfe, doch der Rest lauschte aufmerksam. »Sie müssen hier weg«, beharrte Nesbitt weiter. Er hatte den Blick zu Boden geschenkt, betrachtete seine Schuhspitzen und die Holzdielen darunter. »Dieses Haus wird von der Flutwelle erfasst werden.« Wilf Murray rückte seine Baseballmütze zurecht. Er betrachtete Nesbitt aus klaren blauen Augen, und dann schien er auf einmal die Fakten intuitiv zu erfassen und nickte vage mit dem Kopf. »Hört auf den jungen Mann«, sagte Wilf. »Lasst uns gehen.« Auf Wilfs Worte hin hoben sogleich ein Stühlerücken und ein Gemurmel an, das lauter wurde, als die Frauen die Kinder einsammelten und sich zum Gehen wandten. Draußen sprangen Autos an. Als Nesbitt aus dem Haus trat, sah er eine Hand voll Leute, die noch zögernd im Garten standen und sich unterhielten, doch auch sie stiegen gleich darauf in ihre Fahrzeuge. Mr. und Mrs. Murray kamen als Letzte aus dem Haus. Nesbitt sah, wie Wilf seiner Frau die Hand reichte, als sie aus dem Haus trat. »Solltest mal 'n paar Pfund abspecken«, murrte er. Im Gang brannte noch eine Lampe. »Die sollten Sie vielleicht ausmachen«, warnte Nesbitt und zeigte auf den Hauseingang. »Man soll immer ein Lichtlein brennen haben im Haus«, erklärte Wilf Murray und zwinkerte Nesbitt zu. Nachdem sichergestellt worden war, dass alle, die bei Wilf Murray versammelt gewesen waren, in den vorhandenen Fahrzeugen unterkamen, fuhren Nesbitt, O'Toole und Crocker zu Bren Cutland weiter. Fiedel- und Akkordeonmusik drang aus der offenen Haustür. Wieder redete Nesbitt mit Überzeugung und tief empfundenem Ernst auf die Anwesenden ein, und nach einigem Sträuben wurde auch dieses Haus schließlich geräumt.
260 Das dritte und letzte Haus gehörte Honey Greening. Im Gegensatz zu den vorherigen beiden war hier nicht jedes Fenster von Kerzenlicht, Kerosin- oder batteriebetriebenen Lampen erleuchtet. Nur durch ein Fenster an der Seite schimmerte schwacher Kerzenschein. Die dunkle Haustür, an der die rote Farbe abblätterte, war geschlossen. Nesbitt klopfte, doch niemand kam zur Tür oder bat ihn herein. Er versuchte, den kühlen Türknauf aus Messing zu drehen, und er gab nach. Nesbitt schob die Tür auf und rief ein zögerndes »Hallo?« hinein. Erneut kam keine Antwort. Mit wachsender Bangigkeit trat Nesbitt ein und ging vorsichtig den Flur entlang. Vor ihm, auf der linken Seite, drang Kerzenschein durch einen offenen Türrahmen. Er lauschte, doch jedes Geräusch, sofern es vor seinem Eintreten eines gegeben hatte, war auf einmal verstummt. Nesbitt erreichte den Türrahmen, wandte sich dem Raum zu und sah in der niedrigen, quadratischen Küche fünf Menschen beim Schein zweier flackernder Kerzen versammelt, die ihn in trübseligem Schweigen anblickten. Vier saßen um einen Tisch herum, die fünfte Person, möglicherweise ein Kind, hockte in einer Zimmerecke. Düstere, erwartungsvolle Blicke ruhten auf Nesbitt und ließen ihn wie angewurzelt stehen bleiben, denn ihm war auf einmal klar - und die Erkenntnis durchzuckte ihn mit einem heftigen, eisigen Schrecken -, dass diese fünf Seelen hier bereits wussten, was kam. Die Älteste in der Runde, eine Frau mit strohigem grauem Haar und einem grauen, zerknitterten Gesicht, das im Schatten lag, blickte Nesbitt herausfordernd an. Sie sollte als Erste sprechen. »Wir haben gerade Geschichten erzählt«, berichtete die Frau mit einer Stimme, so rau und kratzig, dass einem das Peitschen eines Wintersturms in den Sinn kam. Die anderen rückten unwillkürlich
zusammen und nickten eifrig. Ein junger Mann mit länglichem Kopf, kreuz und quer stehenden, krummen Zähnen und einem schielenden Auge gab zur Bestätigung einen grunzenden Laut von sich und fuhr sich über die Nase. Die kleinwüchsige Person in der Ecke, die Nesbitt erst fälschlicherweise für ein Kind gehalten hatte, entpuppte sich nun als 261 ein Mann. Seine Gliedmaßen waren heftig verkrümmt und sein Gesicht kaum mehr als ein formloser Klumpen. Jetzt fing er an, mit kehliger, schleimerstickter Stimme zu singen: »Manch Sturm hab ich gesehn, manch unheilschwang're Nacht, Und doch hat mich mein Glück stets heil hindurchgebracht. Nun will ich zwar nicht prahlen, jedoch, es sei gesagt, Ich bin nu' wahrlich keiner, dem man leicht Angst einjagt. Die Nacht, von der die Rede, da waren wir auf See, Als mich zu düstrer Stunde, als ich auf Wache steh, Ein eisiges Entsetzen durchfährt am ganzen Leib: Mir war's, als hätt' ein Rufen von Toten mich ereilt. Auf einmal war's, da kamen aus 'm Wasser triefend nass Ein Dutzend fast, Matrosen, lautlos und leichenblass. Die stiegen nacheinander ganz still zu uns an Bord und wandelten und machten und sprachen nicht ein Wort. Mit geisterbleichen Gesichtern, schimmernd in der Nacht, Ein jeder nahm sein' Platz ein, als war es so gedacht. So lenkten sie das Schiff, die Küste grad in Sicht, Dazu hoch auf den Klippen des Leuchtturms blinkend Licht. Und dann auf einmal wandelten die Männer zur Reling hin Und verschwanden in der Tiefe, eh die Sonne sie gesehn. Ihr Leut, ich könnt nicht sagen, warum sie das getan, Zu steuern unser Boot, bis fast zu Haus wir warn. Und doch, es waren jene so armen und bleichen Geselln, Die unser Schiff sicher führten, durch Sandbank' und untiefe Stell'n. Jetzt kennt ihr meine Geschichte, und denkt dran, wenn ich sag, Dass ich an Geister glaube... allemal seit jenem Tag.« 261 Nesbitt stand wie erstarrt, als der Kleinwüchsige mit schlurfenden Schritten zum Tisch kam und auf seinen Platz im Kreise der anderen kletterte. Dann erhob sich die alte Frau geräuschlos, ohne eine Andeutung ihrer Absicht, und ging zum Kaminsims hinüber, auf dem eine der beiden Kerzen flackerte. Sie näherte sich ihr mit dem Gesicht, und in dem vollen goldenen Licht erschienen die tiefen Furchen ihrer Haut geglättet, und sie wirkte auf einmal frisch und jugendlich. Sie öffnete den Mund und sog die Luft ein: Die Flamme erlosch und mit ihr der Ausdruck ihres Gesichts, den die Dunkelheit verschluckte. Die letzte noch brennende Kerze stand in der Mitte des Tischs, an den sich die Alte nun wieder setzte. Alle fünf fassten sich in Ehrfurcht vereint an den Händen und starrten ahnungsvoll in die Flamme. »W-w-wir h-h-haben«, stotterte der junge Mann mit dem länglichen Kopf, »G-g-geschichten erzählt.« Er grinste Nesbitt stolz an und entblößte dabei einen Mund voll schwärzlicher Zähne, während die Frau neben ihm, kräftig gebaut mit kupferrotem Haar und gierigem Gesicht, den Kopf des jungen Mannes an ihren Busen drückte und beschützend über sein dünnes Haar strich. »Sch, sch«, sagte sie zu dem jungen Mann. »Jetzt kommen wir bald ans Ende unserer Geschichte. Der Matrose Nesbitt hat uns gefunden.« Nesbitt jagte ein Schauer nach dem anderen über den Rücken. Er wagte nicht zu fragen, woher die Frau seinen Namen kannte. In der friedlichen Stille, die nun einkehrte, wandten die Männer und Frauen den Blick wieder der Kerzenflamme zu und starrten mit einem geheimnisvollen, flehenden Ausdruck hinein. Gleichzeitig öffneten alle fünf den Mund und sogen die Luft ein, und die Flamme teilte sich in fünf Zünglein, eines für jeden am Tisch. Alle schlossen auf einmal den Mund, und das Licht war erloschen.
Das Letzte, was Nesbitt sah, war, wie der kleinwüchsige Mann sich in die Ecke zurückzog und ein verwachsenes Augenpaar auf ihn richtete. Mit pochendem Herzen stand Nesbitt in 262 der Finsternis und erwartete jeden Augenblick, dass Hände oder Klauen über ihn herfielen. Er wich aus dem Türrahmen zurück, rannte taumelnd den Flur entlang und ins Freie hinaus und sprang in den Jeep. »Fahren sie?«, fragte O'Toole mit Blick auf die offene Haustür. »Du bist ja kreideweiß. Hast du einen Geist gesehen?« »Niemand da.« Nesbitt schüttelte den Kopf. »Fahr weiter«, sagte er. »Willst du die Tür nicht zumachen?«, kam es von Crocker vom Rücksitz her. »Fahr. Fahr endlich«, sagte Nesbitt nur und starrte stur geradeaus. Auf der Unteren Straße fuhren Autos und Pick-up-Trucks in Richtung Westen zur Shearstown Line und strebten dem Highway zu. Die drei Soldaten machten die Runde im Dorf, hielten nach Licht und Lebenszeichen Ausschau, doch es war niemand mehr zu finden. Als sie sicher waren, dass ihre Suche vollständig war, kehrten sie zum Lieutenant-Commander zurück. Doch als der Jeep am Strand anhielt, war keine Menschenseele mehr zu sehen. Der Strand war verlassen. Nur noch die Generatoren, die Wolframlampen und die EF-7-Strahler standen da. Hinter dem militärischen Gerät schimmerten Fische in allen Farben im Licht eines riesigen Mondes, der jetzt hinter den Wolken hervorgebrochen war und über dem Felsbuckel der Landzunge stand. Die Fische zappelten verzweifelt auf dem Strand, bis sie von den Schnäbeln wild herunterstoßender Vögel gepackt und in die Luft hinauf entführt wurden. Nesbitt schaltete seinen Funk wieder an. »Alle Häuser in Bareneed sind geräumt, Sir.« »Nesbitt, wir haben den Strand verlassen und begleiten Tommy Quilty zu seinem Bus. Verstanden?« »Ja, Sir.« »Wir werden mit seinem Fahrzeug Anwohner weiter westlich entlang der Hauptstraße in Richtung Highway aufnehmen.« »Verstanden, Sir. In Ordnung, Sir.«
262 »Sie fahren mit voller Geschwindigkeit nach Westen zum Highway. Haben Sie das verstanden?« »Ja, Sir, habe verstanden.« Tommy war Schulbusfahrer gewesen, bis die örtliche Schulbehörde ihn entließ, weil er die Schulkinder immer umarmte. Er konnte einfach nicht anders. Wenn er sie so sah, wie sie in ihren winzigen Jacken und Mützen, mit ihren großen Kinderaugen und tapsigen Schritten in den Bus stiegen, dann wollte er sie am liebsten alle abküssen, weil sie doch so hinreißend aussahen und so gelb leuchteten. Dann nahm er sie in die Arme und drückte sie und wusste, dass sie die süßesten Geschöpfe auf Erden waren, und merkte, wie ihre Energie seine eigene noch reiner und klarer machte. Die Schulbehörde sagte, sie hätten keine andere Wahl, als Tommy zum Gehen aufzufordern. Es hatte bereits Beschwerden von Eltern gegeben, die ihm nicht trauten, die Bedenken wegen seiner geistigen Fähigkeiten hatten. Die Frau von der Schulbehörde erklärte Tommy am Telefon, dass sein Verhalten früher vielleicht noch durchgegangen wäre, aber jetzt nicht mehr. Nicht heutzutage. Niemand durfte einen anderen berühren, wenn dieser es nicht ausdrücklich erlaubt hatte. »Nicht mal aus Freundschaft oder Freude?«, hatte Tommy gefragt, worauf die Frau von der Schulbehörde mit einem strengen und hässlichen »Nein« geantwortet hatte. Das war vor fünf Jahren gewesen. Der Bus hatte ein Jahr lang ungenutzt herumgestanden, bis die Kirche Tommy beauftragt hatte, Leute zum Bingo und Kartenspielen zu fahren. Wenn der Bus nicht in Gebrauch war, parkte Tommy ihn bei sich hinter dem Haus und prüfte jeden Tag, dass sich keine Mäuse und Eichhörnchen, die in den alten Buswracks hausten, in dem noch intakten Bus einnisteten. Tommy kam sich komisch vor, als er jetzt in dem Bus saß, nachts und noch dazu mit pitschnassen, schweren Kleidern, die an seiner Haut klebten und ihn störten. Komisch war das, die Scheinwerfer
einzuschalten, während dieser Navy-Offizier hinter ihm Platz genommen hatte und seine Gedanken ziemlich für 263 sich behielt. Wenn Tommy um diese Zeit fuhr, dann für gewöhnlich, um Leute vom Spielen abzuholen. Jetzt sollte er Leute aus einer Gefahr retten, die Tommy nicht verstand, auch wenn er spürte, wie gewaltig sie war und dass sie unmittelbar bevorstand. Sein durchweichter Zeichenblock lag auf dem Sitz neben dem Navy-Mann, auf der anderen Gangseite. Seine ganzen Zeichnungen waren untergegangen. Die Seiten klebten zusammen, die Tinte und Farben waren vollkommen verlaufen. Tommy ließ den Motor an. Er röhrte ein paar Mal, sprang dann an und heulte in sattem Ton auf. »Also los«, rief Lieutenant-Commander French über den Lärm hinweg. Als er in den Rückspiegel schaute und den langen, vibrierenden Schalthebel nach vorn schob, musste Tommy an Miss Laracy denken. Sie hatte auf keinen Fall mitkommen wollen und stur darauf bestanden, dass sie mit Port de Grave und dem Krankenhaus nichts zu schaffen haben mochte. Lieber wollte sie bei sich zu Hause Zuflucht suchen. Es bleibe keine Zeit für langes Hin und Her, hatte der Lieutenant-Commander gesagt. Rayna wollte bei Miss Laracy bleiben, um der alten Frau Gesellschaft zu leisten, bis French mit dem Hubschrauber wiederkam. Der Motor heulte noch lauter auf, während Tommy nun die Tränen übers Gesicht rannen. Er fürchtete Schlimmes für seine Freundinnen, und dazu klebten die nassen Kleider so quälend unangenehm auf seiner Haut. Wenn er die doch bloß ausziehen und sich trockene überziehen könnte. Er fuhr die breite Einfahrt neben seinem Haus hinunter, dicht vorbei an seinem Van. An der Straße angelangt, bog er ab und legte dann, auf gerader Strecke, den zweiten Gang ein. Der Motor dröhnte noch lauter, als sie durch ein Schlagloch fuhren und von ihren Sitzen hochgeschleudert wurden. »Ich schicke einen Hubschrauber für Rayna Prouse und Miss Laracy«, verkündete French, als könne er den Grund für Tommys Traurigkeit ahnen. »Wir müssen nach Anwohnern suchen, die noch in ihren Häusern sind. Es ist wichtig.« Tommy wischte sich mit der Hand über die Augen, um zu 263 sehen, wo er hinfuhr. Sein Gefühl sagte ihm, dass -niemand mehr in den Häusern entlang der Straße war, doch das erzählte er dem Navy-Kerl nicht, weil er sich nicht einmischen wollte. Noch einmal verschmierte er die warmen Tränen auf seinem Gesicht und musste daran denken, dass den Kranken in Port de Grave nichts geschehen würde, wenn er nur mit ihnen reden und sie gesund machen dürfte. Alles, was da passierte, die ganzen Kreaturen im Wasser und die Rückkehr der Toten aus dem Meer, wurde von den Menschen, die krank geworden waren, heraufbeschworen. In seinen Zeichnungen hatte er gesehen, dass diese Menschen etwas verloren hatten. Es war weggebrochen, in einem Wirbel von Farben, und ins Wasser zurückgekehrt, an seinen Ursprungsort. Jetzt musste es zu ihnen zurückkehren. »Alles, was hier geschieht, hat mit Energie zu tun«, erklärte der Navy-Offizier jetzt, während sie schaukelnd dahin fuhren. Tommy war sich nicht sicher, ob der Mann mit ihm oder mit seinem Mikrofon sprach, durch das er mit Leuten reden konnte, die meilenweit weg waren. »In diesen Geistern steckt Energie, und sie hat sich zu einer riesigen Masse gesammelt.« Er beugte sich vor und versuchte, Tommys Gesicht zu erkennen, als fände er es wichtig, wie Tommy darüber dachte. »Die Küstenwache meldet, dass eine Wand aus goldgelbem Licht hinter der Flutwelle aufragt. Vielleicht ist es dieselbe Energie, die wir von hier fortströmen gesehen haben.« Der Offizier korrigierte sich rasch. »Die einige von uns haben fortströmen sehen. Haben Sie es gesehen?« »Ja.« »Vielleicht ist das die Energie von den Toten in der Fischfabrik. Ich weiß nicht. Wissen Sie es?« Tommy zuckte mit den Achseln. Er fuhr durch eine große Mulde in der Straße, und sein Magen hüpfte. Das erinnerte ihn daran, wie er die Kinder im Schulbus gefahren hatte. Er lächelte ein
wenig, als er daran denken musste - er hatte immer ein bisschen beschleunigt, wenn er auf eine dieser Mulden zufuhr, weil die Kinder dann vor Begeisterung juchzten. Er hatte immer mit ihnen mitgelacht. 264 »Miss Laracy hat mir erzählt, dass Sie als Baby von den Feen mitgenommen wurden. Stimmt das?« »Das stimmt, Sir.« »Und Sie haben das zweite Gesicht?« »Ja.« »Diese Energie hinter der Welle, das könnten die Geister der Toten sein, oder?« Erneut zuckte Tommy bloß abwesend mit den Schultern, doch dann fügte er mit leiser, unsicherer Stimme hinzu: »Ich denke, da ist wohl ein Riss im Meeresgrund, wo die zu dem wirbelnden Derwisch zurückkehren.« »Was?« »Der wirbelnde Derwisch im Zentrum.« »Was ist das?« »Unterm Wasser.« »Was denn?« Tommy warf einen flüchtigen Blick auf seinen durchweichten Zeichenblock. Dann saugte er schweigend an seiner Unterlippe. Wenn er dem Kerl von der Navy doch nur seine Zeichnungen zeigen könnte. Die mit dem Riss im Meeresboden und dem bernsteinfarbenen Licht, das hineinflutete, um zu dem Wirbel im Zentrum zurückzukehren. Dann würde es der Mann vielleicht verstehen. »Was ist unter dem Wasser?« Tommy spähte in den Rückspiegel und sah, dass der Offizier auf eine Antwort von ihm wartete. »Alles«, erwiderte Tommy. Der Navy-Mann starrte Tommy an und wandte dann den Blick zum Straßenrand hin. »Halten Sie an. Ich sehe mal in dem Haus nach.« Tommy nickte und tat, wie ihm geheißen. Seine Hände zitterten auf dem Lenkrad. Trotzdem wusste er, dass es eine Zeitverschwendung war. Indem sie bei jedem Haus anhielten, retteten sie niemanden und sorgten höchstens für ihren eigenen Untergang.
264 Doug Blackwood ließ den Lichtkegel seiner Taschenlampe über den sauber geschrubbten Boden seiner Scheune wandern und stellte erleichtert fest, dass diesmal kein Kabeljau da war. Keine Geistervisionen, keine Meerjungfrau, die ihm eine Kusshand zuwarf. Sein Hirn schien fast wieder normal zu funktionieren. Dann ging er geradewegs zum Generator. Weil sein Grundstück an einem hoch gelegenen Punkt an der Codger's Lane lag und sein Haus dem Wasser zugewandt war, konnte er einen guten Teil des Dorfs überblicken. Außerdem hatte er einen ungehinderten Blick über die Bucht hinweg nach Port de Grave hinüber. Von da oben aus hatte er beobachtet, wie der Militärjeep von Haus zu Haus gefahren war, bei Wilf Murray und Bren Cutland und schließlich bei Honey Greening Halt gemacht hatte. Kurz darauf hatte Doug einen Massenexodus mit ansehen können. Alle waren sie schleunigst abgehauen wie ein Haufen hysterischer Heulsusen. Als der Militärjeep vor seinem Haus aufgetaucht war, hatte Doug seine Taschenlampe ausgeknipst, Bramble bedeutet, keinen Ton von sich zu geben, und hatte selbst mucksmäuschenstill gestanden, bis sie wieder abgezogen waren. Diese Soldaten waren doch bloß ein einziges lästiges Ärgernis. Nur gut, dass sie weg waren. Jetzt hatte er endlich seine Ruhe. Während Bramble geduldig wartend dasaß, baute Doug im Gras neben der Scheune den Generator auf. Immer wenn er eine Maschine benutzte, mit der er sich körperliche Arbeit sparte, hörte er im Geiste unvermeidlich die verächtlichen Worte seines Vaters: »Was bleibt denn da noch übrig von 'nem Mann, wenn er sich auf solches Teufelszeug verlässt? Nicht einen Muskel wird er bald mehr haben. Weiß denn keiner heutzutage mehr, wie er seine Finger benutzen muss? Drücken auf irgendwelchen Knöpfen rum wie ein Haufen närrischer Zauberer, die sich mit ihren Tricks selber um ihre gesunde Arbeitskraft bringen!« Doug prüfte den Benzintank und fand ihn bis oben hin gefüllt und alles startbereit, genau wie erwartet. Anders duldete er es auch gar nicht. Er erinnerte sich sogar ganz genau daran, wann er den Generator das letzte Mal aufgetankt hatte. Das war vor 264
drei Wochen gewesen. Er hatte nachts wach gelegen und sich gefragt, was da gerade in ihm rumorte, und dann war ihm eingefallen, dass der Generator nicht voll war. An diesem Tag hatte er ihn für seine Holzsäge benutzt und hatte das gesamte Holz gespalten und klein gemacht und fein säuberlich aufgeschichtet, damit es über den Sommer trocknen konnte. Nach getaner Arbeit hatte er glatt vergessen, den Tank wieder aufzufüllen. Der Gedanke hatte so hartnäckig an ihm genagt, dass er mitten in der Nacht hatte aufstehen müssen, um das nachzuholen. Jetzt zog Doug an der Schnur und lauschte zufrieden dem gleichmäßigen Brummen, das sofort einsetzte. »Beim ersten Versuch«, sagte er stolz zu Bramble. Der tausendfünfhundert Watt starke Scheinwerfer stand im Inneren der Scheune. Doug zog ihn heraus, steckte ihn am Generator an und schaltete ihn ein. »Heiliger«, entfuhr es ihm. »Heller, als ich gedacht hätte.« Das Licht glühte weiß und grell. Bramble sprang auf, starrte zu der Lichtquelle hinauf, wich ein wenig zurück und setzte sich wieder. Doug ging erneut in die Scheune und holte einen Eimer Farbe und einen neuen Pinsel heraus, den er speziell für dieses Vorhaben gekauft hatte. Als er ins Freie trat, fielen ihm mehrere große flatternde Schatten seitlich der Scheune auf, und er hielt inne. Auch Brambles lange, weiße Schnauze zeigte in die Richtung. Die Augen der Hündin hingen gebannt an dem pulsierenden Geflatter, und sie winselte. Falter, die zum Licht drängten. Doug bückte sich, hob mit einem Schraubenzieher den Deckel des Farbkübels an, legte ihn sorgsam zur Seite und tauchte den Pinsel hinein. Das war Farbe von allererster Güte. Dicklich und satt. Nicht dieses billige Zeug, das nach einem Jahr schon wieder ab war. Er bestrich damit eine trockene Latte und staunte, wie glatt und gleichmäßig die Farbe das Holz überzog. Die Wand wird so gut wie neu aussehen, sagte er sich. Faulheit konnte ihm jedenfalls niemand vorwerfen. Das war schon mal sicher. Er nickte voller Stolz und Verachtung und fuhr fort, die frische Farbe aufzutragen. »Na, wie sieht das aus, Bramble?«
265 Der Hund beobachtete nach wie vor die flatternden Schatten, die immer zahlreicher und zahlreicher wurden, winselte und richtete die Augen aufs Meer hinaus. »Was ist denn los, meine Gute?«, fragte Doug, während die Insekten, zu Zehntausenden angelockt von der Intensität des Lichts, eine immer dickere Schicht auf der Lampe bildeten. Bald war auch der letzte Schein von dem schwarzen Gewimmel verschluckt, und anstelle des hellen Lichts überflutete eine Mauer aus verhängnisvoll bebenden Schatten die Wetterseite der Scheune. Als der Bus das Krankenhaus erreichte - eine endlose Schlange von Autos war in der entgegengesetzten Richtung an ihnen vorbeigefahren -, waren es noch fünfzehn Minuten bis zum voraussichtlichen Eintreffen der Flutwelle. Die sieben Häuser, in denen French und Tommy entlang der Straße nach Bareneed noch nachgesehen hatten, waren bereits leer gewesen. Zwei Transporthubschrauber, ein Labrador und ein Sikorsky, nahmen gerade am Rand des Krankenhausparkplatzes Patienten auf. Der Lärm der Rotorblätter übertönte alle anderen Geräusche in Frenchs Kopfhörer. Die Verladung der Patienten ging mit Dringlichkeit vor sich, doch es war keine Panik zu beobachten. Die Patienten wirkten eher perplex, während sie sich geordnet voranbewegten. »Wurden die Patienten mit der Atemstörung bereits abtransportiert?« Keine Antwort. French lauschte, wartete. Tommy stand neben dem Bus und sah sich die Kranken in Hausschuhen und Schlafanzügen oder Bademänteln an, die in einer Schlange zu den Hubschraubern tappten. Einige schoben Ständer mit Injektionslösungen neben sich her, andere hatten Zeitschriften oder Bücher in der Hand. Eine blasse, junge Frau trug einen Kopfhörer und presste ein tragbares Musikabspielgerät an ihre Brust. An der Ausfahrt des Krankenhausparkplatzes waren zwei Soldaten postiert und dirigierten die Schlange der Autos auf die Hauptstraße hinaus. 265 »Wer ist da draußen? Hier spricht Lieutenant-Commander French.«
Tommy beobachtete die Schlangen und wurde immer unruhiger, und schließlich ging er auf den Eingang des Krankenhauses zu. French folgte ihm auf den Fersen. Aus seinem Kopfhörer kam eine ferne Stimme: »Nein, Sir. Die Patienten mit der Atemkrankheit sind im sechsten Stock. Wir sind im Augenblick beim fünften.« »Verstanden.« Er ging um eine Reihe von Krankenwagen mit offen stehenden Türen herum, in die Patienten verladen wurden, und näherte sich den Türen der Notaufnahme. »Was ist mit den Frauen?« Stille. Er betrat das Krankenhaus direkt hinter Tommy, der bereits mit tropfenden Kleidern und vor Nässe quietschenden Schuhen durch das leere Wartezimmer eilte, den nassen, aufgequollenen Zeichenblock immer noch an sich gepresst. »Ich wiederhole, was ist mit den Frauen?« Sie fuhren im Aufzug in den sechsten Stock hinauf. Tommy trat als Erster hinaus und zeigte auf ein Zimmer am Ende des Gangs. Er ließ den Arm ausgestreckt und eilte mit immer schneller werdenden Schritten in die Richtung, während French in Trab verfiel, um mit ihm mitzuhalten. Sie kamen an Leuten vorbei, die von Soldaten begleitet wurden, und an einer Reihe von Betten, die seitlich an die Wand geschoben waren. Sie mussten sich an ihnen vorbeizwängen. Eine matronenhafte, aufgeregt wirkende Schwester warf ihnen einen angespannten Blick zu. »Ich bin mir nicht sicher, ob die Frauen schon abtransportiert wurden, Sir. Es gab ein Missverständnis.« »Verstanden. Was machen Sie?«, rief French Tommy zu, der die Frage ignorierte und in einem Zimmer verschwand. Sofort fand Tommy seinen Platz an einem der Betten und fing an, ernst mit dem Mann zu reden, der darin lag. French war hinter ihm ins Zimmer getreten, zog jetzt einen Stuhl mitten in den Raum und rief, mit der Hand auf den Sitz klopfend, Tommy zu: »Hier ist doch Ihr Platz, oder?« 266 Tommy blickte verdutzt zu French hinüber, und dann breitete sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus, und er eilte zu dem Stuhl. Er stieg hinauf, drückte seinen durchweichten Zeichenblock an sich, wurde wieder ernst, räusperte sich und ließ den Blick von einem Bett zum anderen wandern. Dann hob er in hölzernen Worten, als wäre er ein Schauspieler in einem Stück, an: »Einmal war ich mit meinem Boot draußen, und über mir war 'n herrlicher blauer Himmel, und kein Hinweis auf irgendein Unheil. Da sitz ich also und hab meine Leine über Bord hängen, um Kabeljau zu fischen.« Ein kurzes heiteres Lächeln erschien auf seinem Gesicht, als ihm die schöne Erinnerung wieder lebendig ins Gedächtnis kam. Während der kurzen Pause in seiner Erzählung wandten sich zwei Köpfe teilnahmslos zu ihm um. Im nächsten Augenblick verschwand Tommys Lächeln mit einem Mal, und er starrte auf seine grauen Turnschuhe hinunter. »Und dann kam plötzlich eine Schwärze über mich. Ein Schatten, als ob was die Wärme von der Sonne abblockt. Aber da war keine einzige Wolke am Himmel. Da hör ich's auf einmal über mir rauschen wie im Frühling die Flüsse, und als ich über meine Schulter gucke, seh ich, wie's Meer sich am Horizont auftürmt. Hoch wie 'n Berg war's und kam immer weiter auf mich zu. Ich hab geschaut und geschaut. So was hab ich noch nie vorher gesehen. Ich saß in meinem Boot und könnt überhaupt nicht aufstehen, weil mich das Meer mit seiner Kraft richtig auf meinen Sitz drückte. Nicht einen Mucks könnt ich machen.« Inzwischen rührten sich auch die anderen vier Männer in den Betten und wandten die Gesichter aufmerksam Tommy zu. »Da hab ich gewusst, jetzt ist's aus für mich. Ich hab zugesehen, wie die Schwärze immer näher und näher kam, ganz schnell und donnernd, und dann...« - Tommy holte Luft, während ihn alle anstarrten - »...war sie auf einmal weg. Die Schwärze war einfach weg, Jungs. Weg...« Tommys Stimme erstarb. Im Zimmer herrschte Stille, nur die Beatmungsgeräte summten und zischten. »Ich wusste nicht mal mehr, wo ich eigentlich war... War ich auf 'm Meer draußen, oder war's bloß meine Einbildung gewesen, die mir so einen Heidenschiss eingejagt hatte?« 266 Ein paar Männer grummelten oder husteten und versuchten, mit den Beatmungsschläuchen im Mund zu sprechen. Andere nickten schwach. Aller Augen waren auf Tommy gerichtet, aus dessen
Kleidern Salzwasser auf den Boden troff und kleine Pfützen bildete, die in alle Richtungen flössen, bis zu den Metallgestellen der Betten. Als die Männer den salzigen Geruch schnupperten, wurden ihre Augen heller. Augenblicke später schössen vier goldgelbe Lichtschweife durchs Fenster herein, und ein jeder trat durch den Kopf in einen der Männer ein. Eine Stimme in Frenchs Kopf sagte: »Der Tsunami verliert an Energie, Sir. Der Energieausstoß ist auf zwanzigtausend kp zurückgegangen. Die Welle hat sich verlangsamt auf siebenundvierzig Knoten. Ihr Eintreffen verzögert sich um zirka zehn Minuten.« »Verstanden«, sagte er und dann zu Tommy: »Wo noch?« Tommy sprang vom Stuhl, grinste breit und zeigte den Männern im Zimmer zwei hochgestreckte Daumen. Dann führte er French in das Zimmer gegenüber auf der anderen Gangseite, in dem einige der Frauen gelegen hatten, doch die Betten waren leer. Gestärktes Bettzeug. Aufgeschüttelte Kissen. »Was ist mit den Patientinnen hier geschehen?«, fragte French die matronenhafte Schwester, die eben vorbeikam. »Die Soldaten haben sie weggeschafft«, erklärte sie vorsichtig, eingeschüchtert von Frenchs Ton. »Die Frauen kamen zuerst dran. Schon vor einer Weile.« »Wo sind die restlichen Männer mit der Atemkrankheit?« »Alle auf diesem Gang.« Die Schwester zeigte auf die Reihe von Türen. »Wir bereiten sie für den Abtransport vor.« French nickte Tommy zu, der das nächste Zimmer betrat. Wieder nahm er seine Position in der Mitte des Raums auf einem Stuhl ein und entwarf eine weitere Geschichte von der See, eine, die auf die Bedürfnisse der Männer in diesem Raum abgestimmt schien. Und wieder kamen die Männer nach einiger Zeit zu sich. Von der Tür aus sah French zu und betrachtete den alten Mann im ersten Bett von ihm aus genauer. Er sah, wie der Mann 267 zunächst zu Tommy hinüberblickte, wie seine Lippen zu zittern begannen, seine Fingerspitzen auf der Decke zuckten. Die Augen des Mannes waren gänzlich von der Schwärze seiner Pupillen erfüllt - wie zwei Pfützen voll schwarzer Tinte mit einem winzigen Punkt reflektierten Lichts in der Mitte. Ein Ruck seines Kopfes, und die Augen schienen heller zu werden, das Schwarz sich zurückzuziehen. In jedem Auge erschien eine hellblaue Iris. French blickte zum Fenster: Ein bernsteinfarbener Schweif rauschte durch die Scheibe und trat durch den Mund des Mannes in seinen Körper ein. Die Stimme in Frenchs Kopfhörer berichtete: »Energieausstoß jetzt bei fünfzehntausend kp; neununddreißig Knoten. Eintreffen verzögert sich um weitere zehn Minuten. Voraussichtlicher Zeitpunkt des Einschlags jetzt dreiundzwanzig siebenundvierzig, Sir.« Auf dem Gesicht des alten Mannes erschien ein schwaches, schimmerndes Lächeln, dann schloss er mit einem abgeklärten, liebevollen Nicken die Augen. »Die Krankheit«, flüsterte French bestürzt, »verursacht die Welle. Die Geister.« »Verzeihung, Sir, habe Sie nicht verstanden.« Benommen sah sich French im Raum um und stellte fest, dass Tommy nicht mehr da war. Er eilte auf den Gang hinaus und schaute im nächsten Zimmer nach. Tommy stand bereits auf einem Stuhl und erzählte mit wachsendem Elan und inzwischen zur Ausmalung mit den Händen und seinem ruinierten Zeichenblock gestikulierend eine weitere phantastische Geschichte. »Wenn du Angst hast, dann biste hier unten schön sicher.« Miss Laracy hängte die Kerosinlampe an einen Nagel in einem der Stützbalken und schaute in das warme heimelige Licht. Die Querbalken der niedrigen Decke zwangen Rayna, den Kopf einzuziehen, um sich nicht zu stoßen, doch Miss Laracy kannte solche Sorgen nicht und stand zu ihrer vollen Größe aufgerichtet da. »Wenn sich diese Welle wirklich herwagt, dann wird das Wasser nicht durch die Dielen dringen.« Sie deutete nach oben, 267
um Rayna die Angst zu nehmen. »Die sind so dick wie Ziegel und mit Gummi abgedichtet. Das Haus is gebaut wie 'n Boot, von meinem Vater, der 'n Bootsbauer war. Das schwimmt, das Haus hier. Vor vielen Jahren ist es auf 'm Wasser schwimmend hierher gezogen worden.« Miss Laracy richtete den Blick auf eine Truhe, die neben einem Regal voll Marmeladen und Eingemachtem auf dem alten Lehmboden stand. »Ich warte lieber oben auf den Hubschrauber. Da kann ich ihn sehen, wenn er...« »Hilf mir mal eben schnell, das Ding hier 'n Stück zur Seite zu rücken«, wies Miss Laracy Rayna an. »Die Truhe?« »Ja, ja, genau die.« Als Rayna sich bückte und abmühte, um die blaue, mit Messingbeschlägen versehene Truhe zur Seite zu schieben, schweiften Miss Laracys Augen forschend über die Deckenbalken über ihr. Sie lauschte. Rettung, dachte sie. Wenn das mal kein Wort für Narren ist. Sie wandte sich wieder zu Rayna um, die die Truhe gerade mal zwanzig Zentimeter hatte bewegen können. »Oh ja, die ist schwer. Ich war hier so oft unten, dass mein Vater mir irgendwann verboten hat, in den Keller zu gehen.« Sie blickte sich suchend um, saugte zufrieden die beschützende Atmosphäre des lehmkühlen, sicheren Raums in sich auf. »Mein Vater hat die Truhe da hingestellt, damit ich nicht an die Sachen dahinter rankam. Die Sachen, an denen mein Herz hängt.« Rayna machte sich noch einmal ächzend ans Werk, und der Spalt hinter der Truhe vergrößerte sich noch ein wenig, bis eine blank polierte Holzkiste zum Vorschein kam. »Gott, ist das schwer«, stöhnte Rayna und richtete sich prustend auf. »Das ist meine Kiste der guten Hoffnung«, gestand Miss Laracy. »Die hat auch mein Vater gemacht, aus Rosenholz. Das ist 'n ganz besonders schönes Holz. Glatt und auffallend gemasert. So hat's jedenfalls Uriah beschrieben. Hat's von meinem Vater gehört.« Sie beugte sich zu der Kiste hinunter, strich zwei Mal zärtlich mit der Hand darüber und öffnete dann den Deckel. Im Inneren kam Männerkleidung zum Vorschein. Ein mari 268 neblauer Pullover, eine Anzahl Taschentücher und mehrere graue und braune Hosen. Alles fein säuberlich zusammengelegt. Miss Laracy entfaltete eins der Taschentücher auf ihrer flachen Hand; die gestickten Ränder hingen seitlich herunter. »Die Tüchlein hab ich für Uriah gestickt.« Sie hob es hoch, damit Rayna die feine Stickerei bewundern konnte. »Hübsch«, sagte Rayna. Sie war abgelenkt, faltete mehrmals die Hände und löste sie wieder, trat von einem Bein aufs andere und blickte zur Decke hoch. »War das - ich glaub, ich hab da 'n Brummen gehört...« »Du brauchst dich nicht zu sorgen«, versicherte ihr Miss Laracy. »Wirst heut Abend nicht in tödliche Gefahr geraten.« Sie legte das Taschentuch zurück und hob den blauen Wollpullover hoch. Dabei entfuhr ihr ein liebevoller Seufzer. In wunderschönen Erinnerungen versinkend, brachte sie den Pullover an ihr Gesicht und schloss die Augen, atmete den Duft der Wolle ein, in dem die Ausdünstung ihrer eigenen Hände und ein Rest vom Hauch ihres tragisch verlorenen Geliebten hingen. »Uriahs Mutter hat mir seine Kleider vermacht, weil ich doch seine Auserkorene war.« Von oben war jetzt Lärm zu hören, ein fernes Pochen, das durch die Holzbalken des Hauses drang. Rayna ging sofort zur Treppe, blieb dort stehen und hielt Miss Laracy die Hand hin. Doch Miss Laracy hatte für Raynas Bedürfnisse nichts übrig. Sie schnupperte noch einmal kräftig an dem Pullover, schloss die Augen und hielt den Atem an, um den Geruch zu genießen. Ihre Gedanken verschwammen in purem Entzücken. »Wir sollten gehen.« Miss Laracy kam wieder zu sich, schlug verdattert die Augen auf und atmete langsam den geliebten Duft aus. Dann faltete sie den Pullover zusammen, legte ihn an seinen Platz zurück und strich ihn glatt. »Das ist der Hubschrauber«, erklärte Rayna und ging ein paar Stufen in Richtung des dunklen Hauses hinauf. »Kommen Sie, gehen wir.«
»Nur keine Sorge.« Miss Laracy schloss den Deckel der Kiste. 269 Noch einmal strich sie mit der Hand über das polierte Holz und wischte den Staub ab. »Uriah«, flüsterte sie und starrte einen Moment lang auf die Maserung des Holzes. Dann holte sie die Lampe vom Nagel und ging, noch immer ganz in ihrer Melancholie versunken, zu Rayna, die sie an der Hand fasste und die steilen, schmalen Stufen hinaufzog. Miss Laracy warf einen Blick zurück in den Keller, der mit jeder Stufe, die sie nach oben stiegen, dunkler wurde. »Wieso denn so 'ne Eile?«, sagte sie murrend zu Rayna. Und dann noch einmal, so niedergeschlagen und tief in sich selbst versunken, dass es kaum vernehmlich war: »Warum denn so 'ne Eile... willste dich weglocken lassen?« Agatha hatte ihr ganzes Futter aufgefressen, und die Wasserschüssel war auch trocken. Als Dr. Thompson, begleitet vom Quietschen seiner Krücke auf dem Linoleumboden, in die Küche trat und mit der Taschenlampe das traurige Spektakel beleuchtete, entschuldigte er sich sogleich überschwänglich bei seiner Katze. Sie miaute, und ihre Augen glühten im Schein der Lampe. Er nahm das wohl genährte Tier auf den Arm, und es schmiegte sich genüsslich an ihn. Thompson leuchtete in das Badezimmer hinein und sah, dass der Toilettendeckel hochgeklappt war. »Dann hast du ja Wasser gehabt.« Auf dem Weg nach draußen zum Wagen, in dem er mit Agatha das Weite suchen wollte, kam ihm ein Gedanke, und er blieb abrupt stehen. Er schaute sich im Wohnzimmer um, ließ den Lichtkegel der Taschenlampe über die stillen, fast geisterhaft anmutenden Gegenstände wandern. Dann warf er einen Blick auf die Uhr. »Ein paar Minuten haben wir noch«, murmelte er. Er ging eilig durch die Küche auf die hintere Veranda hinaus und von dort die Treppe in den Keller hinunter, wobei er Acht gab, nicht über die Krücke zu stolpern. Als er seinen Weinkeller erreichte, überlegte er laut: »Was nehme ich bloß mit?« Er fand einen Sack am Boden, ließ die Krücke fallen und setzte sich Agatha auf die Schulter. Was waren seine liebsten Tropfen? Wie sollte 269 er jetzt bloß so schnell eine Wahl treffen? Er ließ den Schein der Taschenlampe über das elegante, strenge Design der Etiketten wandern. Das Feinste vom Feinen: Port, Cabernet, Merlot, Bordeaux und Brandy. Agatha schnurrte dicht an seinem Ohr, während er sich auf seine Aufgabe konzentrierte und systematisch eine Flasche auf die andere schichtete, bis er immer schneller wurde und schließlich den Sack mit der Geschwindigkeit eines Einbrechers füllte. Als er fertig war, hievte er sich den Sack mit einem Stöhnen über die Schulter. Die Krücke würde er zurücklassen müssen. Entweder die Krücke oder den Sack, beides ging nicht. Er leuchtete sich mit der Taschenlampe und humpelte zur Treppe. Die Flaschen klirrten auf seinem Rücken, und er kam sich vor, als plündere er ein fremdes Haus. Oben im Kühlschrank fand er dreierlei Käse: Brie, Havarti mit Dill und seinen heiß geliebten, salzigen, den Blutdruck in die Höhe treibenden Feta. Die Dose russischen Kaviar und die Schachtel mit den feinen Weizen-mit-Sesam-Crackern, die er erst letzte Woche in einem Feinkostgeschäft in St. John's gekauft hatte, fielen ihm ein. Wenn er sich schon in seiner Hütte in Horsechops verkroch, dann wollte er zumindest Nahrung dabeihaben. Er füllte eine Plastiktüte mit dem Essbaren und warf sie in den Sack mit den Flaschen. »Und jetzt runter von meinem Kopf, Agatha«, sagte Thompson und hievte sich den Sack erneut auf die Schulter. Dann humpelte er in die Einfahrt hinaus, wo sein Range Rover mit angeschalteten Scheinwerfern wartete. Als er im Wagen saß und Agatha es sich auf dem Beifahrersitz bequem gemacht hatte, sagte Thompson: »Oh, Agatha, mein liebes kleines Kätzchen, was werden wir für ein Festessen haben. Ein fürstliches Bankett wird das.« Er schaute noch einmal auf den Rücksitz, wo er den Sack mit den Weinflaschen festgeschnallt hatte, und sog einmal tief die Luft ein. Mit einem Seufzer legte er den Rückwärtsgang ein und warf einen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett. »Wie weit müssen wir wohl die Straße rauf«, fragte er sich
270 und leckte sich in freudiger Erwartung die Lippen, »bis wir mal zu einem kleinen Picknick anhalten können?« Miss Laracy beobachtete durch die geteilten Spitzenvorhänge hindurch Rayna, die aufgeregt im Scheinwerferlicht vor dem Haus stand, zum Hubschrauber emporschaute und sich dabei die Hand gegen das grelle Licht vor die Augen hielt. Ihr Abbild wurde von Augenblick zu Augenblick gleißender, bis Raynas Umrisse fast gar nicht mehr zu erkennen waren. »Es ist der Hubschrauber«, rief Rayna zur Haustür zurück, da sie nicht wusste, dass Miss Laracy durchs Fenster spähte. Der Hubschrauber landete mitten auf der Straße und richtete den Suchscheinwerfer aufs Haus, so dass Miss Laracy hinter der Scheibe auf einmal hell erleuchtet war - die erhobene Hand am Vorhang, die losen Hautfalten und blauen Adern, der grüne Ärmel ihres Hauskleids. Die Augen zusammenkneifend, wich sie vor dem grellen Lichtkegel zurück und verzog empört das Gesicht. »Wollen die mich mit ihrem Zauberkram da blenden?« Auf einmal dröhnten sämtliche Wände, die Haustür wurde weit aufgerissen, und der Lärm der Rotorblätter und des Hubschraubermotors drang in voller Lautstärke herein. Miss Laracy flüchtete vor dem Lärm auf ihr Sofa, setzte sich und nahm ihre Strickarbeit zur Hand. Als Rayna eintrat, rief Miss Laracy ihr zu: »Mach die verfluchte Tür zu. Da platzt einem ja das Trommelfell bei dem Krach.« »Kommen Sie«, rief Rayna außer Atem. Miss Laracy beachtete Rayna gar nicht. Sie strickte geduldig, eins rechts, eins links, und hielt dann den weißen Schal in die Höhe, um zu sehen, wie lang er schon war. »Sie müssen jetzt kommen.« Miss Laracy ignorierte stur ihre Bitte. Das Haus dröhnte noch lauter und bebte in seinem Fundament. Als Miss Laracy den Blick erneut hob, war Rayna verschwunden, und an ihrer Stelle stand Lieutenant-Commander French im Türrahmen. In Uniform und mit Barett auf dem Kopf. So wie der aussah, war mit dem Mann nicht zu scherzen. 270 »Sind Sie wieder da mit Ihrem Maschinenkrempel?«, rief sie gegen den Lärm an. Sie winkte ihn herein, klopfte auf das Polster neben sich: »Immer hereinspaziert, mein Junge. Machen Sie sich's gemütlich. Lust auf 'ne schöne Tasse Tee und ein Rosinenbrötchen? Ich setz auch gleich Wasser auf.« French schüttelte mit ernster Miene den Kopf. »Keine Zeit.« Miss Laracy grinste und lachte laut auf. Ihr Zahnfleisch glänzte im hereinfallenden Licht des Scheinwerfers. »Man hat immer Zeit, Skipper.« Erneut fiel das Licht des Scheinwerfers auf sie. »Sagen Sie dem Kerl da draußen, er soll gefälligst das Licht ausschalten. Da wird einem ja ganz zweierlei, so grell ist das. In dem Licht muss ich ja aussehen wie irgendwas, was die Katze hereingeschleift hat.« »Sie sehen prima aus.« »Na, na, danke.« »Wir müssen jetzt weg hier. Sonst kann ich nicht mehr für Ihre Sicherheit garantieren.« »Wo hat sich denn die Rayna verkrochen?« French deutete mit dem Kopf zur Tür hinaus. »Sie ist im Hubschrauber«, erwiderte er ohne die geringste Spur von Ungeduld. Der Mann war der reinste Fels. Durch und durch pragmatisch. Ein echter Kerl, wie man früher gesagt hätte. »Woher sind Sie eigentlich, mein Junge? Ich hab gar nie gefragt. « »Burin.« Miss Laracys Stricknadeln klickten beharrlich vor sich hin. »Ha, nette Geschichte. Sie sind kein Neufundländer.« »Das ist keine Geschichte.« French erlaubte sich, den Blick kurz durch das Innere des Raums schweifen zu lassen. »Schönes altes Haus.« »Das ist mein Zuhause.«
»Kommen Sie, es ist jetzt Zeit zu gehen.« Er nickte ernst. »Ach«, murrte sie. »Hab kein Interesse.« »Wir haben noch ungefähr fünf Minuten.« Miss Laracy zuckte die Achseln. »Sie haben noch ungefähr fünf Minuten. Ich dagegen zehn.« 271 »Kommen Sie mit raus, und sehen Sie sich das an. Nur bis vors Haus.« French trat zu ihr und bot ihr die Hand als Hilfe. Miss Laracy schaute die Hand an, die kräftigen Finger, die raue Haut. Der Mann lebte kein Leben zwischen seidenen Laken und weichen Polstern. Der gebrauchte seine Hände tagtäglich. Wie selbstverständlich legte sie die Hand in seine und ließ sich von ihm aufhelfen, so schnell, dass ihr ein kokettes Kichern herausrutschte. Mit der freien Hand griff sie nach ihrem Fotoalbum, das auf dem Couchtisch lag. Sie verspürte einen Anflug von Stolz, als sie von dem Navy-Soldaten hinausgeleitet wurde. Schließlich war er ein Offizier, ein Mann, der selbst gegen unüberwindliche Widrigkeiten ankämpfen und durchs Feuer gehen konnte, ohne sich ein Haar zu versengen. Und dazu war er auch noch ein kluger Kerl. Das musste er sein als Offizier. Sie traten vors Haus, in den Lärm und Wind hinaus. Sie und ihr Mann. Miss Laracy ließ Frenchs Hand los und drückte das Fotoalbum mit beiden Händen an sich, um es vor den Elementen zu schützen. Der Hubschrauber stand immer noch mitten auf der Straße. Tommy und Rayna saßen drin, inmitten einer Schar von Gesichtern, die Miss Laracy unbekannt waren. Trotzdem winkte sie ihnen freundlich zu, und sie winkten ungeduldig zurück, flehten sie an einzusteigen, legten die Hände zu Trichtern um den Mund und riefen ihr zu. Frenchs unerschütterlicher Blick ging zum Hafenbecken hinaus. Auch Miss Laracy schaute dorthin: Schwärze. Kein Land mehr zu sehen, nur ein verschwommenes, pechschwarzes Schimmern. French zeigte mit dem Finger hinaus. »Bevor ich zu Ihnen ins Haus kam, war die Landzunge noch zu sehen, jetzt ist sie fort. Verstehen Sie, was ich meine?« Er fasste Miss Laracy am Arm und versuchte, sie weiterzudrängen, doch sie riss sich los und stieß ihn kräftig mit dem Fotoalbum vor die Brust. »Hauen Sie ab«, rief sie. »Ich steig nicht in Ihre verrückte Scheißkiste da.« French warf einen Blick zum Hubschrauber zurück. Mit einem
271 Seufzer betrachtete er Miss Laracy, hob sie dann ohne Vorwarnung hoch und rannte mit ihr auf den Hubschrauber zu. »Ich kann Sie nicht hier zurücklassen«, schrie er. »Dann bleiben Sie eben mit da und lassen sich tüchtig durchnässen«, krähte sie und wehrte sich, so heftig sie konnte. In dem ganzen Gerangel rutschte ihr das Fotoalbum aus den Händen und fiel ins Gras. French sagte jetzt in einem strengeren Ton: »Entfernung?« »Was? Mein Fotoalbum.« Sie streckte den Arm danach aus, krümmte die Finger, doch die aufgeblätterten Seiten waren schon weit weg. »Wie viel Zeit noch?« »Was denn, wie viel Zeit?« Miss Laracy war noch immer in seinen Armen, als er in das Innere des Hubschraubers stieg. Sofort hob die Maschine vom Boden ab, und Miss Laracy hob sich der Magen vor Übelkeit. »Jetzt hab ich wegen Ihnen mein Fotoalbum fallen lassen, Sie Mistkerl.« Sie schlug mit den Handflächen auf ihn ein, und dann mit den Fäusten. »Jetzt setzen Sie mich endlich ab und benehmen Sie sich wie 'n Gentleman. Sie gebärden sich ja wie der letzte Lümmel.« French gab nach und stellte sie auf die Füße. Sie strich empört ihr Kleid glatt, warf einen Blick auf den Boden und sprang hinunter, bevor der Hubschrauber noch weiter abheben konnte. Kaum hatte sie ihren Stand wieder gefunden, eilte sie zu dem Fotoalbum zurück, das offen im Gras lag. Sie packte es und drückte es beschützend an sich. Der Hubschrauber schwebte jetzt einen Meter über dem Boden. Schreie und Rufe drangen zu ihr heraus.
»Nun fliegt schon los, ihr alle«, rief sie und winkte mit der Hand ab. »Eure Welt ist nix mehr für mich.« Chase legte die Hausschlüssel neben der Topfpflanze bei der Tür ab, löste seinen Pistolengürtel und hängte ihn an einen der hölzernen Haken. Einen Moment lang blieb er so stehen, um sich das Gefühl, zu Hause zu sein, bewusst zu machen, die Erfahrung 272 des Eintretens und der Ruhe, die Atmosphäre von Schutz und Geborgenheit, während die Welt draußen blieb. Das Haus war still, wirkte unbewohnt. Er bückte sich, um seine Schuhe aufzuschnüren, und wurde den Eindruck nicht los, dass jede seiner Handlungen etwas Gekünsteltes hatte. Als wäre er sich all dessen, was er tat, viel zu bewusst. Er gähnte und streckte den Kopf ins Wohnzimmer. Leer. Der Fernseher in der Ecke war schwarz. Chase holte tief Luft. Er hatte immer noch den Geruch von Asche in der Nase. Langsam ging Chase den dunklen Flur entlang, an dem kleinen Nachtlicht im Landhausstil vorbei, das über dem Heizkörper gedämpft vor sich hin glomm. Der Teppich fühlte sich weich unter seinen Füßen an, und der Duft Theresas hing in der Luft: halb Lotion, halb Medizin. Er kam an der Tür zu seinem Arbeitszimmer vorbei, steckte den Kopf hinein und merkte, dass die Belüftung an seinem Computer lief und der Bildschirmschoner mit seinen farbigen Wellen in der Begrenzung des Rahmens hin und her sprang. Die Fotos der Mordopfer in seinem Ordner auf der Festplatte kamen ihm in den Sinn. Ihre Gesichter wären nicht mehr abgewandt, zur Erde hin oder zur Seite, sondern würden ihn direkt ansehen. Er trat über die Schwelle und setzte sich an den Schreibtisch, schob die Maus ein Stückchen an, so dass der Bildschirm zum Leben erwachte. Er klickte sich durch eine Reihe von Fenstern, bis er auf einen Ordner mit dem Namen »Erstochen« stieß, öffnete ihn und sah eine Liste von Bilddateien vor sich. Jede einzelne enthielt das Bild eines Mordopfers, das durch eine Klinge umgekommen war. Die Bilder zeigten die indiskreten Einzelheiten eines jeden dieser Tode. Sie reichten von der Zeit, als erstmals Tatorte fotografiert wurden, bis in die unmittelbare Gegenwart. Von schwarzem Blut und weißer Haut bis zu Blutbädern in grellen Farben. Chase markierte sämtliche Dateien und klickte auf »Löschen«. »Sind Sie sicher, dass Sie alle 143 ausgewählten Dateien löschen wollen?« Ja. Als Nächstes öffnete er den Ordner »Erschossen« und löschte alles. Dann folgten »Zu Tode geprügelt«, »Stranguliert«, »Selbstmord«, »Ertrunken«... Alles wurde aus 272 seiner Erinnerung getilgt und dann im Papierkorb gelöscht. Er dachte an das kleine Mädchen im Solarhaus. An die alten Leichen in der Fischfabrik. Wer war realer? Im Aufstehen schaltete er den Computer ab, ohne ihn richtig herunterzufahren. Dann ging er zum Schlafzimmer, blieb vor der offenen Tür stehen und betrachtete von weitem das Bett. Theresa schlief unter der Bettdecke. Vielleicht träumte sie nicht einmal, war in einem medikamenteninduzierten Nichts versunken, oder vielleicht quälten sie gerade furchtbare Albträume, so obszöne und gewaltvolle Bilder, dass sie nicht einmal Chase gegenüber Einzelheiten nennen wollte. Er betrachtete seine Frau. All seine besänftigenden und aufmunternden Worte waren bedeutungslos für sie gewesen. All seine Liebe belief sich am Ende auf null. Theresa war in den Fängen einer Krankheit, die ihn ausschloss. Ihr Verstand war in einer Dunkelheit gefangen, die er selbst erlebt und mit zu ihr nach Hause gebracht hatte. Seine Arbeit. Sein Lebenswerk war wenig mehr als ein unheilbares, fasziniertes Kreisen um den Tod. Er trat in das stille Zimmer und auf Theresas Seite ans Bett. Das Pillendöschen auf dem Nachttisch stach ihm ins Auge. Er griff danach und umschloss es mit der Hand. Er ging auf den Flur zurück und ins Badezimmer. Sein Spiegelbild, das seitlich vorbeiglitt, ließ ihn innehalten. Er drehte sich zum Spiegel um und stellte fest, dass er eine Rasur nötig hatte. Er wirkte hager, gealtert vor seiner Zeit. Seine Uniform gehörte gewaschen. Sie war schmutzig und voller Flecken. Das war alles so untypisch für ihn.
Ich habe meine Pflicht getan, sagte er sich. Ich habe meine Pflicht getan und bin weder gescheitert, noch war ich erfolgreich. Ich habe dafür gesorgt, dass mein kleiner Teil der Welt in einem Zustand irgendwo zwischen gut und böse geblieben ist. Oder nicht? Ich habe meine Pflicht getan. Er zog den Deckel von dem Pillendöschen und kippte den Inhalt in die Toilettenschüssel, sah zu, wie die winzigen weißen Tabletten herauspurzelten, im Wasser der Schüssel landeten und darin schwammen. Er hatte erwartet, dass sie sich auflösen 273 würden, doch sie waren robuster, als er dachte. Er drückte die Spülung und sah zu, wie sie in das klare, wirbelnde Wasser hinuntergesogen wurden. Am Waschbecken wusch er sich die Hände, ließ sich kaltes Wasser in die hohlen Handflächen laufen und spritzte es sich ins Gesicht, wieder und wieder. Aus einem Regal hinter ihm nahm er ein weißes Handtuch und trocknete sich ab. Er erwartete, schwarze Flecken auf dem Handtuch vorzufinden, doch da war nichts. Der Stoff blieb makellos weiß. Er kehrte ins Schlafzimmer zurück und machte sich nicht erst die Mühe, sich auszuziehen. Er legte sich einfach in seiner Uniform auf die Bettdecke und schlang den Arm um Theresa, schmiegte sich an ihren Körper unter der Decke, drückte die Lippen auf die nackte, warme Haut ihres Nackens. Sie rührte sich nicht. Das einzige Geräusch war ihr tiefes, gleichmäßiges Atmen. In diesem Augenblick, in diesem verzweifeltsten aller Augenblicke, hielt er sie ganz fest, umarmte sie inbrünstig, verehrte sie mehr, als er es je für möglich gehalten hätte, denn es gab für keinen von ihnen beiden mehr eine Zukunft, und diese Negation erfüllte ihn mit tiefer Liebe. Auf Robins Gesicht war ein Lächeln erschienen, obwohl ihre Augen noch geschlossen waren und ihre Haut bleich. »Robin?«, flüsterte Kim, beugte sich über sie und strich ihr zärtlich über die Stirn. »Mein Liebling? Mommy ist hier. Robin?« Robins Lächeln weitete sich, wie Joseph jetzt feststellte. Er hielt noch immer die Hand seiner Tochter. Als er zu Kim aufschaute, fiel sein hoffnungsvoller Blick auf etwas über ihrer Schulter. Er starrte verwundert darauf. Kim wandte sich um und sah nur pure Dunkelheit hinter der Fensterscheibe. Eine Schwester kam ins Zimmer geeilt. »Wir müssen sie jetzt rausschieben. Der Evakuierungshubschrauber ist da.« Vor ein paar Minuten hatte dieselbe Schwester allen im Raum mitgeteilt, dass Kim und Robin sofort wegmussten, noch vor Joseph, doch Kim hatte sich geweigert. Sie glaubte, die Gegend werde
273 aus Angst vor einer weiteren Ausbreitung der Atemkrankheit evakuiert. »Jetzt gleich?«, fragte Kim. »Wir haben noch eine Minute oder so«, erwiderte die Schwester hastig und eilte dann aus dem Zimmer. Joseph ging vom Bett weg und trat ans Fenster, vor dem er vollkommen still stehen blieb. »Joseph?« Ihr Mann drehte sich zu ihr um; sein Gesicht war bleich und leer. Von da, wo sie stand, konnte sie durchs Fenster aufs Meer hinaussehen. Die schwarze Wand der Nacht schien einen Moment lang zu glitzern. Flüssiges Schwarz. Dann wurde der Schimmer heller und fing verschwommenes Mondlicht ein. »Was ist das?«, fragte Kim und trat zu Joseph. »Ich weiß nicht.« Kim drückte sich gegen die Scheibe. Ihr Spiegelbild starrte wie das von Joseph verschwommen zu ihr zurück, jedoch ohne ihr den Blick auf das zu verstellen, was draußen lag. Eine Wand aus Wasser war von Osten her ans Ufer gestürmt und verdeckte jedes Licht am Himmel. Sie rückte weiter vor und schien jetzt über der Straße zu hängen. Unwillkürlich trat Kim einen Schritt zurück, während die flüssige Dunkelheit vorbeirauschte, das Draußen wie ein Aquarium füllte. Kim entfuhr ein Schreckenslaut, ihr Spiegelbild zitterte, und die Scheibe bebte. Taumelnd löste sich Kim vom Fenster und rannte zu Robins Bett, beugte sich über ihre Tochter, um sie zu beschützen, zu halten. »Nein, nein...« Sie umarmte ihre Tochter, legte die Wange fest an
ihre, küsste Robin und versuchte schließlich, sie aus dem Bett zu heben, doch die Schläuche, die an ihrem Körper befestigt waren, erlaubten es nicht. So hielt Kim ihre Tochter in beiden Armen ein paar Hand breit über dem Bett. »Es geht vorbei«, stellte Joseph fest, während das Glas noch heftiger bebte. Er legte die Hände auf die Scheibe und starrte angestrengt hinaus. »Ich glaube, es geht vorbei.« »Mommy?« Die Stimme des Mädchens erklang dicht neben Kims Ohr. 274 »Robin!« Kim sah, dass Robins Augen auf sie gerichtet waren. »Hallo, Mommy.« »Robin. Oh, mein Schatz.« Kim ließ den Körper ihrer Tochter ins Bett zurücksinken. »Daddy?« »Ja, Daddy ist auch hier. Da drüben.« Robins Blick wanderte müde zum Fenster, wo Joseph mit gesenktem Kopf stand, die Hände gegen die Scheibe gepresst, als wolle er die Schwärze aufhalten. French stemmte sich mit aller Gewalt gegen die Stahlrohre der Einstiegsluke, um nicht doch noch aus dem Hubschrauber zu springen und Miss Laracy zurückzuholen. Tommy und Rayna hockten rechts und links vom Einstieg. Er selbst hatte einen Fuß draußen hängen, doch da war nichts untendrunter, und so musste er ihn zurückziehen. Panisch sah er sich nach einem Gurt um, schob die Leute im Hubschrauber zur Seite. Als er ihn gefunden hatte, zog er ihn sich über Kopf und Arme, zurrte das daran hängende Seil auf die erforderliche Länge. Wenn er sprang, würde das Seil ihn zurückziehen, sobald er Miss Laracy gepackt hatte. Eine Stimme in seinem Kopfhörer sagte: »Die Zeit reicht nicht, Sir.« French blickte zu dem Piloten hinüber, der zu ihm hersah, den Kopf schüttelte und mit dem Daumen zu Boden zeigte. »Sie würden uns herunterziehen, Sir.« Frenchs Blick schweifte über die Gesichter um ihn herum. Sie waren auf Miss Laracy gerichtet, vermutlich in stillem Flehen, die alte Frau möge entweder näher oder ganz weit weg sein. »Na los«, schrie ein junger Mann den Piloten an. Eine pummelige Frau versuchte, den Piloten an der Schulter zu packen, doch er duckte sich zur Seite. Durch die Windschutzscheibe des Hubschraubers war die schwarze Wand zu sehen, jetzt nicht einmal mehr dreißig Meter weit weg. Zwei Frauen schrien bei dem Anblick auf, während ein junger Mann die pummelige Frau zur Seite stieß und selbst versuchte, den Piloten zu fassen zu bekommen. 274 French fluchte zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch, rang darum, Ordnung herzustellen. Er wollte rufen: Runtergehen, sofort. Doch er durfte nicht. Die anderen würden sterben, wenn die Welle sie alle erfasste und den Hubschrauber wie ein Spielzeug aus dem Himmel fegte. Sie würden alle ertrinken. Der Scheinwerfer des Helikopters schaukelte unruhig über den Boden, wo Miss Laracy stand, das Gesicht dem Meer zugewandt, ihr Fotoalbum an sich gepresst. Sie hatte das Gesicht nach oben gekehrt und den Kopf in den Nacken gelegt, als wolle sie das Prickeln eines warmen Sommerregens genießen. Port de Grave war entweder verschwunden, oder die Sicht darauf war verstellt. Die Welle erreichte jetzt den Hafen und würde jeden Augenblick mit der Landzunge kollidieren. »Ich warte auf Ihren Befehl, Sir«, sagte die angespannte Stimme in Frenchs Kopf. Frenchs Blick schoss zur Windschutzscheibe. Die Welle war gerade noch zwanzig Meter weit weg. Er blickte noch einmal hinunter, stemmte sich fester gegen den Stahlrahmen des Einstiegs, war kurz davor zu springen. »Sir? Ihr Befehl, Sir!« »Höher«, stieß er schließlich hervor, obwohl er doch tiefer meinte, und der Befehl zerrte an jeder Faser seines Körpers. Tiefer, tiefer, tiefer. Aller Augen, die meisten voller Angst, waren auf Miss Laracy gerichtet, während der Hubschrauber über ihr in die Höhe stieg, zwanzig Fuß, fünfundzwanzig... Die alte Frau hatte ihr Fotoalbum fallen lassen und die Arme ausgebreitet wie in einer Geste uneingeschränkten Willkommens. Über die panischen Schreie im Hubschrauber hinweg erhaschte
French Fetzen einer Melodie, ein paar Noten und vereinzelte Wörter: »... Mädchen am Ufer... weinet vor Gram... Meer ihm seinen Liebsten nahm...« »Höher«, rief er, und dann biss er sich auf die Zunge, so fest, als wolle er sie abbeißen, während nun die Wand aus schwarzem Wasser über Miss Laracy hereinbrach, sie aber nicht eigent 275 lieh mitriss, sondern nur einfach schluckte, verschwinden ließ. Direkt unter dem Hubschrauber flutete nun das Wasser, stieg immer höher, bis es gegen den Boden des Gehäuses schwappte. Noch mehr Schreie ertönten im Inneren, während die Insassen sich aneinander klammerten und sich ängstlich an die Rückwand drückten. »Höher«, brüllte French. Er schmeckte Blut im Mund, und die anderen stimmten beschwörend ein. »Höher, höher...« Tommy hielt sich die Ohren zu, während Rayna sich an seinen Körper klammerte und ihn mit ihrem Gewicht zurückzog. Tränen ließen die Farben vor seinen Augen verschwimmen, die er im Wasser dicht unter ihnen sah, die Farben, die Miss Laracy umstrahlt hatten und die jetzt mit ihrem Schimmern das Wasser durchzogen wie verlaufenes Pigment, bis sie bernsteinfarben zu funkeln begannen und dann in Richtung Osten davonschossen. Das schwarze Wasser stieg so schnell wie der Hubschrauber, drang in den Boden der Kabine ein, während die Insassen hilflos mit den Beinen ausschlugen und verzweifelt versuchten, es zu verjagen. Der Motor heulte unter der Belastung auf. Bald schon schwamm der Hubschrauber auf dem Wasser, ein mechanisches Geschöpf, das schaukelnd festhing, obwohl es eigentlich in die Luft abheben sollte. Die Insassen schlugen noch immer heftig mit den Beinen und drückten sich noch enger an die hintere Wand, während der Hubschrauber auf der Strömung der Wellen dahintrieb, kurz davor zu sinken, krampfhaft bemüht, zu steigen, mit wild röhrendem Motor. Das Wasser schwappte im Inneren herum, bis Tommy auf einmal glaubte, Brandgeruch wahrzunehmen. Das schmerzhafte Dröhnen der Maschine nahm noch immer zu, wurde noch lauter und schriller. Das Gefährt schwankte heftig hin und her, Metall knirschte, als wolle es bersten, bis es auf einmal einen Ruck gab und der Hubschrauber sich zur Seite neigte, so dass die offene Tür noch tiefer ins Wasser hinunterhing. 275 Alles schrie mit einer einzigen, panischen Stimme auf. Tommy schlang die Arme um Rayna; er fürchtete wie die anderen, dass der Hubschrauber jetzt untergehen würde, da er immer mehr Schräglage bekam, heftig ruckte, und die Rotoren zu blockieren und immer langsamer zu werden schienen. Doch dann machte das Gefährt einen Satz zur Seite, kämpfte erneut, um sich aus den Fängen dessen, was es da gepackt hielt, zu befreien, brach sich schließlich Bahn und hob ab, höher und höher hinauf, während das Wasser in Strömen aus der Kabine lief und die Insassen zwang, sich an ihren Gurten festzuklammern, so unfassbar schief hing es in der Luft. Tommy brach in lautes Gelächter aus, als der Hubschrauber in die Höhe stieg. Noch immer jagte das steigende Wasser hinter ihnen her, schwappte erneut gegen den Boden der Kabine, bis das Gehäuse nur noch dreißig Zentimeter über dem schwarzen Wasser war. Aller Augen blickten durch die Öffnung nach unten. Plötzlich vergrößerte sich der Abstand zum Wasser von selbst. Das Wasser sank und sank, auf dem Hügel im Westen kamen wieder Bäume zum Vorschein, und das Wasser fing an zurückzuebben, bis es schließlich gänzlich dorthin zurückgeflutet war, wo es hingehörte. Tommy spürte einen Kuss auf seiner Wange. Es waren Raynas Lippen. Er wurde rot und kicherte, blickte aber noch immer nach unten, um sich zu vergewissern, dass alles auch wirklich vorbei war. Im Hafen waren jetzt keine Kreaturen mehr zu sehen, nur die dunkle, gewalttätige See selbst. Und da lag Bareneed, verändert und doch noch wie vorher, die Giebel der dunklen Häuschen rund um die Bucht, die weißen Boote größtenteils unbeschädigt. Hoch droben über dem Ganzen schauten Tommy, Rayna, Lieutenant-Commander French und die anderen staunend auf das glitzernde Land und die Häuser hinab, die im vollen Mondlicht wieder auftauchten. Die leuchtenden Schatten der Tiere im Wald. Blau und grün und braun. Die Bäume, rein gewaschen, glimmend in majestätischen Farben.
Selbst in der Dunkelheit konnte Tommy die Bäume an ihren 276 Farben erkennen, das zarte Rosa der Ahornbäume, das Goldgelb der Nadelbäume und das leuchtendste Rosarot von allen in den duftenden Blüten des prächtigen Flieders.
Epilog
So wie Robin Harvey (geborene Blackwood) es ihren Enkelkindern erzählte: Jordan, Katherine und Emma Sarah. Die Fischfabrik und die identifizierten und nicht identifizierten Toten, die darin gelegen hatten, waren von der Urgewalt der Flutwelle mit ins offene Meer hinausgerissen worden. Am folgenden Tag war die See ruhig und fast blau im milden Licht der Morgensonne. Die Flutwelle hatte Bäume entwurzelt und Zäune umgerissen, Häuser aus ihren Fundamenten gehoben, mehrmals um die eigene Achse gewirbelt und andernorts abgesetzt. Autos waren umgekippt worden und auf dem Dach liegen geblieben und alte morsche Scheunen zu Holzspänen zermahlen worden. Entgegen allen Erwartungen war nicht ein Boot verloren gegangen oder zerstört worden, und die Laderäume der Fischerboote waren übervoll mit Fischen. Auch landeinwärts wurden Fische gefunden, in Bäumen und auf Feldern zappelnd, in Gärten und Häusern. Allerlei Fischarten fand man, doch jede einzelne davon war bekannt. Sogar in Schränke, Betten und Toilettenschüsseln hatten sie sich verirrt. Im Anschluss an die Flutwelle erholten sich die von der Atemkrankheit Befallenen wieder vollkommen, fast als hätte das Wasser sie irgendwie von ihren Gebrechen erlöst. Als die Erwachsenen heimkehrten, scharten sich die Kinder um ihre Eltern und empfingen sie mit ausgebreiteten Armen in ihrem Zuhause. Niemand konnte je mit Sicherheit sagen, was die Krankheit verursacht und was sie wieder zum Verschwinden gebracht hatte. 276 Als Erstes war nun geboten, den zurückkehrenden Bewohnern von Bareneed ein Dach über dem Kopf bereitzustellen. Die Häuser mussten dringend renoviert werden. Mannschaften der Elektrizitätswerke arbeiteten rund um die Uhr, um das Stromnetz herzustellen und damit das Leben in der Gemeinde wieder der Normalität zuzuführen. Das war eine große Aufgabe. Stromleitungen waren von den Masten gerissen, verknotet und ins Meer hinausgesogen worden, und oft waren auch noch die Masten umgestürzt. Die Bewohner von Bareneed richteten sich aufs Neue in ihrem Städtchen ein und lebten mit Kerzenlicht, Öl und Kerosinlampen. Generatoren wurden von einem großen Hersteller gespendet, doch sie blieben größtenteils unbenutzt. Die Bewohner kochten auf Holzöfen oder im Freien auf offenen Feuerstellen, die sie mit ein paar großen Steinen vom Strand einsäumten. Der orangefarbene Schein der Flammen, der nachts auf den Gesichtern lag, schweißte die Leute zusammen, wenn sie sich trafen und Geschichten von der jüngsten Katastrophe und noch manch anderen Unglücken aus früheren Zeiten erzählten. Es dauerte zweieinhalb Monate, bis die fehlenden Strommasten wieder aufgestellt und die Kabel installiert waren. Am Tag siebenundsiebzig nach der Flutwelle wurde der Strom angeschaltet. Die Medien berichteten darüber als Fortsetzung der Story, die sie Die riesige Welle betitelt hatten. Die Einwohner von Bareneed hatten sich inzwischen so daran gewöhnt, im warmen Schein der Lampen zu sitzen, dass sie das klare, sterile Licht der elektrischen Beleuchtung ehrfürchtig bestaunten. Manche vergossen Tränen - warum, konnten sie selbst nicht genau sagen. Manche hießen das elektrische Licht willkommen, priesen die Bequemlichkeit, die es brachte, während andere das Gefühl hatten, eine wunderbare Ruhe und Klarheit sei auf schamlose Weise vernichtet worden. In den folgenden Tagen legten viele in Bareneed den Hauptschalter in ihrem Stromkasten um und kehrten endgültig zu Lampenschein und Holzofen zurück. Geschichten wurden erzählt, von harten Zeiten, die man überstanden hatte, und die 276
Kinder saßen mit großen Augen rundum und lauschten staunend. Als die Fischbestände allmählich zurückkehrten, fuhren die Einwohner von Bareneed wieder raus auf See. Mit der Zeit kehrte jeder Einzelne in Bareneed zu Lampenlicht und Holzofen zurück, und in einer extra einberufenen Sitzung des Gemeinderats wurde beschlossen, dass die neu verlegten Stromleitungen und Masten in der Gemeinde entfernt wurden. In der Nacht lag die Gemeinde in tiefer Dunkelheit, nur von Sternen und Mondlicht beschienen und dem Kerzenschimmer der Geister, die in den Häusern wieder Schutz und Zuflucht gefunden hatten und die Stiegen auf und ab wanderten. Und noch Jahrzehnte später setzten sich Großmütter und Großväter ihre Enkelkinder auf die Knie und erzählten von der Zeit, als die Geister nicht mehr kamen. Sie erzählten, wie Kreaturen, die einsam in den dunkelsten Tiefen des Meeres hausten, heraufstiegen, um sich zu zeigen. Sie erzählten die Geschichte, wie die Menschen in Bareneed das Atmen verlernten, bis ihnen aufging, wer sie wirklich waren, und sie, wachgerüttelt vom Tumult der Katastrophe, ihr Leben als ihr ureigenes erkannten und in die Hand nahmen.
Danksagung
Mein besonderer Dank gilt dem Writer in Residence Program der Memorial University in St. John's, Neufundland. Während meines Trimesters an der Memorial University konnte ich die Recherchen zu diesem Buch abschließen und die vorhandene Fassung überarbeiten. Mein Dank geht auch an Janet Power, die mir geholfen hat, den Ton und die Ausrichtung des Romans festzulegen. Wie bei den meisten meiner Bücher stammen Bruchstücke der darin erzählten Geschichten aus Erzählungen meiner Eltern. Ohne sie und ihre Geschichten wäre dies nicht der Roman geworden, der er ist.