Tatsachen 286
Erwin Nippert
Die Spur der grauen Wölfe
1. Auflage © Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republ...
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Tatsachen 286
Erwin Nippert
Die Spur der grauen Wölfe
1. Auflage © Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik (VEB) - Berlin, 1985 Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland, Berlin Lektor: Rosemarie Trebeß Illustrationen: Archiv des Autors Umschlaggestaltung: Bernhard Kluge Typografie: Ingeburg Zoschke
Yusuf Öztürk schläft schlecht in dieser Nacht. Unruhig wälzt er sich in dem schmalen Feldbett hin und her und fährt dann plötzlich erschreckt hoch. Im Traum sah er - auf dem morastigen Boden einer Uferböschung liegend - ein fremdes, zur Fratze erstarrtes Gesicht mit eiskalten, stechenden Augen langsam auf sich zukommen. Er meint noch den Druck des Militärstiefels am Halse zu spüren, als er - im letzten Moment, so scheint es ihm - schweißgebadet aufwacht. Ein Alptraum, dem Erleben der hinter ihm liegenden Tage und Wochen entsprungen. Er versucht des wirren, ihn bedrängenden Gedankenknäuels Herr zu werden und läßt sich wieder zurückfallen. Sollten seine Nerven doch nicht so stark sein, wie er bisher geglaubt hat? Erlebte Kemal Elbir, der Ausbilder, seinen Musterschüler so, er würde sich wundern. Obwohl sich Öztürk zur Ruhe zwingt, kann er dennoch nicht gleich wieder einschlafen. Das sind offensichtlich die Anspannungen der letzten Zeit und die Ungewißheit des Bevorstehenden, was sich da im Unterbewußtsein zu solchen Schreckensbildern formt, beruhigt er sich. Morgen wird er mehr wissen, und bis dahin braucht er einen klaren Kopf. Aber da ist sie wieder, die monotone, manchmal dröhnende, befehlsgewohnte Stimme des Ausbilders, die ihm selbst noch im Schlaf in den Ohren klingt. Acht lange Wochen hat sie ihn Tag für Tag begleitet, unaufhörlich auf ihn eingeredet, seinen Willen, sein Denken und Handeln beeinflußt, ein bedenkenlos alle Befehle ausführendes roboterhaftes Wesen aus ihm gemacht. Vom Fenster, durch das der Mond sein fahles Licht wirft, wandert der Blick Öztürks von den kahlen Wänden zu dem Tisch mit den Stühlen, erfaßt die Spinde, die Betten und verliert sich schließlich in dem schmucklosen, kasernenartig eingerichteten Schlafraum; einer von dreien in der grau getünchten Holzbaracke. Jeder ist mit sechs Personen belegt. Der vierte Raum - er trägt die Nummer l -, in dem Elbir untergebracht ist, wird gleichzeitig für Schulungszwecke genutzt. Die »Minikaserne«, etwas abseits gelegen, in Wahrheit Teil eines Camps, steht auf dem Betriebsgelände der Textilfabrik von Murat Kuzu am Stadtrand von Adana, im Süden der Türkei.
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Kuzu, ein begeisterter Anhänger von Alpaslan Türkes und seiner »Nationalistischen Bewegung« (MHP), hat sie einem Kommando der »Grauen Wölfe«, einer der Jugendgruppen dieser Partei, als Ausbildungsstätte zur Verfügung gestellt. Es gibt etwa 30 solcher als Camp bezeichneten Lager in der Türkei. Man sagt, die 18 Mann bereiten sich auf ihre Arbeit in der Textilfabrik vor. Jeder hier weiß natürlich, daß die Firma Kuzu keine neuen Arbeitskräfte einstellen kann. Es ist ein offenes Geheimnis, was die Männer in der Baracke in Wirklichkeit treiben, aber keiner von Kuzus Arbeitern spricht darüber, aus Angst um seinen Arbeitsplatz - und um sein Leben. Es sind höchst unsichere Zeiten in der Türkei, und jeder kennt die Methoden der »Grauen Wölfe«. Schon manch einer hat sich ins Grab geredet. Der Dienst im Camp geht bis an die Grenzen des Menschenmöglichen. Blinder Gehorsam und bedingungslose Disziplin sind das A und O der paramilitärischen Ausbildung. Jeden Tag fahren sie mit einem LKW in ein mehrere Kilometer entferntes, schwerzugängliches Berggelände, ein ehemaliger Truppenübungsplatz der türkischen Armee. Hier drillt Elbir sie in Rangermanier. Er ist ein altgedienter, aus undurchsichtigen Gründen vorzeitig vom regulären Dienst suspendierter Offizier mit einer Söldnerseele. »Ich mache aus euch Männer!« ist eine seiner vielgebrauchten Redensarten. Er hat sein Killerhandwerk bei einem US-Militärberater erlernt, der bei den berüchtigten Green Berets am Koreakrieg teilgenommen hatte. Der ungeschriebene Lehrplan im Camp, nach dem Elbir seine Leute ausbildet, weist Mord, Sabotage, Brandstiftung und Sprengstoffanschläge aus. In grün-grau gefleckte Tarnanzüge gekleidet, ausgerüstet mit Schnellfeuergewehren, Pistolen und Messern amerikanischer Herkunft, werden ihnen die verschiedensten Kampftechniken der »Selbstverteidigung« und des lautlosen Tötens ebenso wäe die ausgefallensten Folterpraktiken beigebracht. Geschossen wird grundsätzlich mit scharfer Munition. Und auf wen sie im Ernstfall zu schießen haben, darüber läßt Elbir keinen Zweifel. Der Feind - das sind die Kommunisten! Für ihn sind alle Andersdenkenden Kommunisten, denen sie die Köpfe einzuschlagen hätten, wann und wo immer sie dazu
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aufgefordert würden! In den Ausbildungstagen sind einige Männer völlig erschöpft auf den steinigen Berghängen zusammengebrochen. Danach läßt Elbir die Leute zwei Tage in Ruhe und betreibt mit ihnen Seelenmassage, wie er das nennt, denn schließlich will er keinen von ihnen frühzeitig verlieren. Dann geht der Dienst im Gelände, nur wenig gemildert, weiter. Jetzt halten alle durch, offensichtlich haben sie den toten Punkt überwunden. In den Pausen und auch abends, wenn sie in der Baracke zusammensitzen und Raki trinken, erzählt Elbir mit glänzenden Augen von seinem militärischen Vorbild - der SS. Öztürk hat zwar schon manches von der SS im zweiten Weltkrieg gehört, ohne jedoch die von dem Ausbilder gepriesenen »Heldentaten« dieser Truppe näher zu kennen. »Das waren Männer«, sagt Elbir schwärmerisch. »So müssen wir unsere Kommandos ausbilden.« Elbir erklärte ihnen auch, was es mit dem Zeichen der »Grauen Wölfe« auf sich hatte, und interpretierte dabei die türkische Geschichte auf seine Weise. Das Zeichen des Bozkurt - ein hochaufgerichteter, mit nach oben gestrecktem Fang im türkischen Halbmond stehender grauer Wolf - ist ein Symbol der türkischen Mythologie. Der Bozkurt ist für viele Türken ein Sinnbild des Retters aus der Not. Wie die Legende vom Ergenekon, dem Eisernen Berg, berichtet, waren in historischer Zeit die türkischen Krieger in Zentralasien eingeschlossen, als der Bozkurt mit einer brennenden Fackel im Maul erschien. Mit der Fackel konnten die Türken den eisernen Berg schmelzen und, mit dem grauen Wolf voran, ihre Feinde besiegen. Türkes mißbraucht diese nationale türkische Legende. Die »Grauen Wölfe« geben vor, dem türkischen Volk die Freiheit, das »Licht«, bringen zu wollen. Nach der von Türkes und seiner Partei vertretenen »Doktrin der neun Lichtstrahlen« sind ihre hervorstechenden Merkmale Großmachtstreben und Rassismus. Unter diesen Vorzeichen sollen alle einst im Mittelalter, zum Osmanischen Reich gehörenden kleinasiatischen Länder erneut zu einem Großtürkischen Reich - Turkan genannt - zusammengeschlossen werden. Dazu zählt Türkes auch die Millionen Menschen, die zu den Turkstämmen im Irak, Iran, in Afghanistan, Bulgarien, Jugoslawien,
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Rumänien, Griechenland, der UdSSR und sogar in China gehören. Zu diesem Großmachtchauvinismus paßten auch die »theoretischen« Auslassungen Elbirs in den Schulungsstunden. Er zitierte aus den »Notizen für Idealisten«, in denen es heißt: »Wo auf der Welt ein Türke ist, da fängt unsere Staatsgrenze an. Türke, du besitzt die Fähigkeit, von Mittelasien bis zum Balkan noch viele weitere Kaiserreiche zu gründen. Dies wird die Türken in der Türkei zur Bewegung bringen.« Das andere Werk, »Zum Türkentum«, aus dem er gern vortrug, enthielt ebenfalls rassistisches Gedankengut. »Der neue Türkismus ist rassistischer Nationalismus. Die Reinheit des Blutes der türkischen Nation muß geschützt werden. Die nicht zur türkischen Rasse zugehörigen Völker und Minderheiten müssen vertrieben werden.« Aus dem Lebenslauf des Parteiführers Alpaslan Türkes lernten Elbirs Schüler, daß er 1917 auf Zypern geboren wurde, 1938 die militärische Laufbahn einschlug, bald darauf Offizier wurde und einen raschen Aufstieg nahm. Nur wenigen war bekannt, daß der ehrgeizige, extrem nationalistisch gesinnte junge Militär die Aufmerksamkeit des faschistischen deutschen Geheimdienstes erregte, der aus wirtschaftlich-politischen und militärstrategischen Gründen während des zweiten Weltkrieges stark an der Türkei interessiert war. Ein Geheimdokument aus dem Jahre 1944 belegt das hinreichend. Darin wird gefordert, die Kontakte in die Türkei dringlich zu aktivieren. Und es werden auch die Personen genannt, zu denen »aufgrund ihrer Haltung gute Verbindungen« bestehen: An erster Stelle steht »Alpaslan Türkes - Absolvent einer Offiziersschule und Führer der pantürkischen Bewegung«. Nach 1945 einige Zeit bei der türkischen Militärmission in Washington tätig, stellte er enge, dauernde Kontakte zu Militärexperten des Pentagon und zur CIA her. In die Türkei zurückgekehrt, schloß sich Oberst Türkes den reaktionärsten Kräften des Landes an. Am Militärputsch im Jahre 1960 gegen die Menderes-Regierung beteiligt, wurde er jedoch aus dem »Nationalen Einheitskomitee« der Offiziere und damit aus der Armee ausgeschlossen, da er bei dieser Aktion eigenständige machtpolitische Ziele verfolgte. Fortan nahm Türkes einen verhängnisvollen Einfluß auf die politische
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Entwicklung in der Türkei. Im Jahre 1969 gründete er schließlich die faschistische MHP, die ihre ideologischen Wurzeln im bürgerlichen Chauvinismus und Antikommunismus hat. Er wollte alle Ansätze einer parlamentarischen Demokratie beseitigen und einen hierarchisch nach dem Führerprinzip aufgebauten Staat errichten. Teile der türkischen Großbourgeoisie unterstützten ihn, um mit seiner Hilfe die reaktionären Machtverhältnisse zu festigen und die demokratischen Kräfte des Landes auszuschalten. Als ihm klar wurde, daß er seine Ziele auf legalem Wege nicht erreichen würde, griff er zu terroristischen Mitteln der Sabotage und dem politischen Mord -, um durch bürgerkriegsähnliche Zustände einen Vorwand für das Eingreifen der Militärs als Voraussetzung für den faschistischen Umsturz zu schaffen. Yusuf Öztürk, ohne diese Zusammenhänge im einzelnen zu kennen, ist dennoch bereit, ein guter Gefolgsmann von Türkes zu werden. Lange Zeit ohne Arbeit, hat er sich ihm in dem Glauben, daß es unter seiner Führung auch für ihn besser werde, bedingungslos angeschlossen. Er setzt auf den starken Mann, der Ordnung im Lande schaffen würde. Und so ist er zu den »Grauen Wölfen« gekommen. Als Arbeitsloser hatte er viel Zeit, die Propagandaveranstaltungen zu besuchen. Der bereitwillige junge Mann fiel den Funktionären schon bald als geeignet für höhere Aufgaben im Dienste der Bewegung auf. Er erhielt eine, wenn zunächst auch geringe, finanzielle Unterstützung, und man warb ihn dafür, als »Gastarbeiter« in die BRD zu gehen und dort besondere Aufträge auszuführen. Seine Bedenken, daß es bei der gegenwärtigen Krisensituation für Ausländer kaum möglich sei, dort Arbeit und Unterkunft zu finden, schob man, vielsagend lächelnd, beiseite. »Wir haben verläßliche Freunde, die dir Papiere und eine gutbezahlte Arbeit beschaffen.« Daraufhin sagte er zu, den Job anzunehmen. Öztürk hatte sich vorher schon selbst mit dem Gedanken getragen, in der BRD Arbeit zu suchen, aber viele hatten ihm davon abgeraten. Die Zeit, da man dort Ausländer als billige Arbeitskräfte einstellte, war längst vorbei. Nicht wenige seiner Landsleute kehrten sogar wieder zurück. Jetzt wußte er jedoch über die Beziehungen der Türkes-Partei in der BRD Bescheid, und da er auch mit deren politischen Zielen konform
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ging, ließ er sich im Frühjahr 1979 für die Spezialausbildung der »Grauen Wölfe« anwerben. Am heutigen, letzten Tag im Camp hatten sie hohen Besuch. Zur feierlichen Verabschiedung war der Exgeneral und ehemalige Stadtkommandant von Istanbul, Mehmet Ünlütürk, erschienen. Er hat sie auf Alpaslan Türkes eingeschworen und Treue bis in den Tod verlangt. Ünlütürk verlas ein Begrüßungsschreiben des Führers Türkes: »Liebe >Graue WölfeGrauen Wölfe< sind praktisch eine Art Entsprechung, wenn auch auf der nationalen Tradition in der Türkei, und wir haben große Sympathie für ihre Zielsetzung.« Auch zu der inzwischen verbotenen »Wehrsportgruppe Hoffmann« in Süddeutschland bestanden enge Kontakte. Die »Grauen Wölfe« interessierten sich für das Pamphlet des Neonazis Hoffmann »Anleitung zur Gründung und Ausbildung von Zellen« und wollten es als Schulungsmaterial ins Türkische übersetzen lassen. Die »Grauen Wölfe« streben darüber hinaus nach enger Zusammenarbeit mit den neofaschistischen Organisationen in Westeuropa und werben zielstrebig für eine internationale Allianz aller Rechtsradikalen. Ihre Verbindungen gehen nach Italien, Frankreich, England, Belgien und in die Niederlande; verwiesen sei hier nur auf die französische Organisation Ordre Nouvou. In Westberlin laufen die Fäden der türkischen rechtsextremistischen Organisation in der Mevlana-Moschee zusammen. Die religiösen Gefühle gläubiger Türken - zumeist bäuerlicher Herkunft - werden
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häufig politisch mißbraucht. Nicht selten wird Zwietracht zwischen Türken und Deutschen gesät und damit nationalistischen Ressentiments und religiöser Intoleranz Vorschub geleistet. Der ehrenwerte Großimam dieser Moschee, Nail Dural, hat keine Mühe, allein die monatlichen Mietkosten in Höhe von 9000 Mark aufzubringen. Die Spendenaufkommen der türkischen Gläubigen dürften dafür nicht ausreichen. Großindustrielle, die Furcht vor politischen Reformen haben, Waffen-Schmuggel, Rauschgifthandel und »Schutzgelder«, die von türkischen Gaststättenbesitzern und Händlern erpreßt werden, sind trächtige Finanzierungsquellen. Es ist bekannt, daß erhebliche Summen auch von der CIA stammen. Neben der Mevlana-Moschee gibt es in Westberlin über 20 Moscheen verschiedener islamischer Sekten; hinzu kommen eine Reihe von Koranschulen und sogenannte Islamische Kulturzentren. Im Gewand religiöskultureller Traditionspflege wirken darin auch türkische Eiferer mehr oder weniger offen für nationalistisch-chauvinistische Ziele und predigen das Cihat Cagri - den »Heiligen Krieg«. Aber über all diese Bindungen und Beziehungen wurde bei dem Treffen in der Mevlana-Moschee nicht gesprochen. Der Kurier ergreift wieder das Wort und fordert eindringlich von Öztürk, beim bevorstehenden Besuch von Türkes in Westberlin alles zu unternehmen, um Störungen durch die Linken wie damals in der Hasenheide rigoros zu verhindern. »Derartige Zwischenfälle können wir zum jetzigen Zeitpunkt in der Öffentlichkeit nicht gebrauchen. Ich hoffe, ihr habt die Sache dieses Mal besser im Griff. Deshalb müßt ihr schon vorher die kommunistischen Rädelsführer ausschalten. Was ist mit diesem Kesim? Der hat doch damals die Krawalle inszeniert.« Seine Stimme wird zornig. »Um diesen Burschen kümmert euch besonders. Dem muß man das Maul für immer stopfen. Ihr müßt jeden seiner Schritte beobachten und ihm eine Falle stellen, aus der er nicht mehr entkommen kann. Einfach ein bedauernswerter kleiner politischer Zwischenfall, wie er immer und überall passiert!« Und direkt an Öztürk gewandt: »Aber sei vorsichtig dabei und halte dich vor allem im Hintergrund. Du darfst nicht auffallen, wir brauchen dich hier noch länger.«
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Öztürk fühlt sich geschmeichelt und beeilt sich zu sagen: »Die Sache wird schon laufen. Es ist uns gelungen, einen zuverlässigen Mann bei Kesim einzuschleusen, der uns über seine wichtigsten politischen Vorhaben rechtzeitig informiert. Die Falle wird bald zuschnappen, darauf könnt ihr euch verlassen.« Damit ist der Kurier zufrieden, und die Zusammenkunft wird beendet. Der junge Mann, der an jenem feuchtkalten Novembernachmittag des Jahres 1979 durch die Westberliner Straßen geht, hat es eilig, nach Hause zu kommen. Celalettin Kesim wohnt im Bezirk Kreuzberg, einem sanierungsbedürftigen Altbaugebiet zwischen den U-BahnStationen Hallesches und Schlesisches Tor. In den alten Mietskasernen mit häßlichen Fassaden und düsteren Hinterhöfen aus der Gründerzeit, in denen kaum noch Leben zu vermuten ist, hausen viele seiner türkischen Landsleute - Gastarbeiter wie er. In den 60er Jahren des wirtschaftlichen Aufschwungs als billige, willige Arbeitskräfte in die BRD und nach Westberlin gelockt, hatten sie an den großen Traum vom sozialen Glück und Wohlstand im »Wirtschaftswunderland« geglaubt und waren voller Hoffnung hierhergekommen. Allein in Westberlin mögen es 100 000 Türken sein, die in den baufälligen Häuserblocks von Neukölln, Schöneberg und Wedding wohnen, die meisten aber leben in Kreuzberg. Jetzt, in den schweren Zeiten der Wirtschaftskrise, müssen sie zufrieden sein, überhaupt ein Dach über dem Kopf zu haben. Viele, inzwischen arbeitslos geworden, vegetieren in Elendsquartieren und können kaum das Geld für die hohen Mieten aufbringen. Sie sind immer Fremde in dieser Stadt geblieben. Viele Kreuzberger sind von ihrem Kietz, wie sie ihn nannten, in andere Stadtbezirke verzogen, und mit den Übriggebliebenen versteht man sich mehr schlecht als recht. Die Fälle von Ausländerfeindlichkeit häufen sich. Die abfällig gebrauchten Bezeichnungen wie »Kleen Smyrna« oder »Türken-Ghetto« drücken zwar in gewissem Sinne etwas durchaus Zutreffendes aus, werden aber den tatsächlichen sozialen Hintergründen nicht gerecht. Es ist nicht zu übersehen - der Kietz hat sich orientalisiert.
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Die kleinen »Tante-Emma-Läden«, längst von ihren deutschen Besitzern aufgegeben, haben ihr Gesicht gewandelt. Die türkischen Händler bieten in den Schaufenstern die begehrten landeseigenen Produkte wie Hammelfleisch, Hirse, Sesam und Reis feil. Davor stapeln sich die Kisten mit dem für ein türkisches Gericht unentbehrlichen Obst und Gemüse - Wassermelonen, Wein, Orangen, Zitronen und Feigen. Aus einem türkischen Speiselokal, an dem Kesim vorübergeht, dringt ihm der würzige Bratenduft von Hammelfleisch entgegen, das sich an Spießen im Infrarotgrill dreht. Und er freut sich schon jetzt auf das heimatliche, von seiner Frau vorzüglich zubereitete Essen, das ihn am Abend erwartet und zu dem sie Gäste aus dem engsten Freundeskreis eingeladen haben. Bis dahin aber gibt es noch einiges zu tun, deshalb beschleunigt Kesim seine Schritte. Die kleine Wohnung der Kesims ist erfüllt von freundlich-lebhaftem Stimmengewirr. Askin Erdemif, Gazel Yemes, Rysa Yrmakly und die anderen Besucher haben sich ganz zwanglos auf Stühlen, Matratzen und Bastmatten niedergelassen. Fast alle sind Mitglieder des Türkischen Demokratischen Arbeitervereins, der sich für die politischen und sozialen Forderungen der türkischen Landsleute in Westberlin und in der BRD einsetzt. Sie essen die schmackhaften Speisen, die herumgereicht werden. Es gibt ein beliebtes türkisches Nationalgericht: Reis mit dem köstlichen Schich-Kebab - kleine, auf Spießchen aneinandergereihte Stücke zarten, gebratenen Hammelfleisches, dem kaukasischen Schaschlik ähnlich, und dazu Auberginen mit Fladenbrot, Tomaten und Gurkensalat, und selbstverständlich fehlen auch Getränke nicht. Die Gastgeberin, Frau Sevim Kesim, freut sich, daß es allen schmeckt. Die etwas langsamen, schwerfälligen Bewegungen der ansonsten zartgliedrigen, schwarzhaarigen Frau verraten, daß es nur noch wenige Wochen dauern wird bis zur Geburt ihres zweiten Kindes. Sie wünschen sich ein Mädchen, es soll Leyla heißen. Wird es ein Junge, wollen sie ihn Can nennen. Frau Kesims liebevoller Blick streift den siebenjährigen Sohn Özgür, der stolz neben seinem Vater sitzt und versucht, den ausgelassenen Gesprächen der Erwachsenen zu folgen. Wenn er auch nicht alles versteht, so begreift er doch, daß es für den
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Vater ein freudiger Anlaß ist, den sie mit Freunden zusammen feiern. Lange ist von einem Brief die Rede. Celalettin hat ein Schreiben vom Stadtbezirksamt erhalten, in dem seiner schon lange beantragten Neueinstellung als Berufsschullehrer zugestimmt wird. Er habe nur noch zur Erledigung einiger Formalitäten in den nächsten Tagen bei der Behörde vorzusprechen. Als er vor zehn Jahren hierherkam, war an eine Tätigkeit in seinem Lehrerberuf vorerst nicht zu denken. Er hat die deutsche Sprache erlernt und einfache Jobs als Lagerarbeiter und bei der Stadtreinigung angenommen. Erst als es ihm im Jahre 1973 gelungen war, als Dreher bei der Firma Borsig anzukommen, konnte er seine Frau Sevim nachkommen lassen. Nur wenigen türkischen Gastarbeitern ist in der BRD oder in Westberlin ein solch beruflicher Aufstieg vergönnt, aber alle Anwesenden freuen sich mit Celalettin und seiner Familie. Özgür ist, zumindest nach der Geburtsurkunde, ein waschechter Berliner Junge. Den Kindern soll es einmal besser gehen, hier oder später in der Türkei, wenn sich dort die Verhältnisse gebessert haben, wünscht sich Celalettin und wirft seiner Frau, die gerade mit einem Tablett das Zimmer betritt, einen fragenden Blick zu. Mache dir keine Sorgen um mich und kümmere dich weiter um unsere Gäste, ich schaffe das schon, liest er aus ihrem Lächeln ab. Trotz der Ausgelassenheit seiner Gäste erfaßt Kesim eine wachsende Unruhe, die er jedoch verbergen kann. Es ist bereits spät geworden, und er ist in Sorge um Bülent Gündogdu, der bei seiner sprichwörtlichen Pünktlichkeit längst hier sein müßte. Bülent, ein guter Freund und verläßlicher politischer Mitstreiter, ist im Sommer auf offener Straße von den »Grauen Wölfen« überfallen und übel zugerichtet worden. Erst in der vergangenen Woche hat er - zum wiederholten Male - einen Drohbrief erhalten. Das Gespräch in der Wohnung der Kesims wendet sich einem Thema zu, das alle bewegt - der Heimat. Rysa hat einen Brief von den Eltern aus der Türkei erhalten. Sie schreiben von zunehmenden politischen Unruhen, vom Terror der Rechtsradikalen im Lande. Das ist das Stichwort für Kesim, sich einzuschalten. »Wir sollten etwas dagegen unternehmen, die Menschen hier wissen zuwenig über die tatsächlichen Vorgänge in unserer Heimat, sie werden von der
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Boulevardpresse und den türkischen nationalistischen Blättern falsch informiert.« »Aber was sollen wir tun?« kommt sofort die Gegenfrage. »Es besteht die dringende Gefahr, daß die reaktionären Militärs die unsichere politische Lage ausnutzen und unter dem Vorwand, das Land vor dem Chaos zu retten, einen Putsch inszenieren und die Macht an sich reißen«, nimmt Kesim wieder das Wort. »Der Ruf nach dem >starken MannRuhe und Ordnung< schreien, bereiten den Nährboden für einen politischen Umsturz vor, mit dem auch die letzten Reste von Demokratie beseitigt werden sollen. Das ist dann die Stunde der TürkesBewegung. Darüber müssen wir mit unseren Leuten reden, in den Versammlungen und wo immer wir dazu Gelegenheit haben.« »Nicht nur reden, handeln müssen wir, eine Protestdemonstration organisieren und mit Flugblättern dafür werben«, ruft einer dazwischen. Der Vorschlag findet Zustimmung, und Einzelheiten werden besprochen. Man ist sich rasch einig, daß es möglichst bald sein muß spätestens Anfang des kommenden Jahres. Celalettin soll den Text für Flugblätter entwerfen, ein anderer wird sie drucken lassen. Askin Erdemir, der Sekretär des Türkischen Demokratischen Arbeitervereins (TDAV), fügt hinzu: »Bei uns werden sie auch immer dreister. Hier - ein Drohbrief! Dieses Mal gleich an alle, an unseren Verein adressiert.« »Lies vor, Askin!« fordern ihn die anderen auf. Er beginnt: »An die Anhänger des TDAV! Dieses Land, diese Nation werden wir bis zum letzten Blutstropfen gegen Eure allseitigen Angriffe verteidigen. Dafür haben wir dem türkischen Volk unser Versprechen gegeben. Ihr verkauften, gottlosen Roten! Falls in Westdeutschland und in Berlin solche provokatorischen Flugblätter weiter verteilt werden« »damit meinen sie unsere Flugblattaktion vor vier Wochen«, ergänzt Askin und fährt dann fort - »werden wir in die Häuser der Roten Bomben legen. Wir werden unseren Kampf mit schärfsten Methoden
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weiterführen und Euch Roten zur Strecke bringen. In Kürze werdet Ihr von uns hören, Ihr gottlosen Kommunisten! Mit der Kraft, die Allah uns verleiht, werden wir an die Sache gehen und Euch auf den richtigen Weg bringen, oder wir werden Eure Leichen auf die Straße schleppen. Das ist unser gutes Recht! Ihr roten Vaterlandsverräter, laßt den falschen Weg, sonst wissen wir nicht, wie Euer Ende aussieht! Das ist die erste und letzte Warnung! Unterzeichnet ist das Pamphlet mit >Friedenskommando der Freien TürkenGraue Wölfe< waren, und auch die Deutschen wollten sich da nicht
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einmischen.« »Ja, so ist das meistens in solchen Fällen«, sagt einer aus der Runde resignierend. »Und wie ging es weiter?« »Ich befand mich dicht an der Tür, und es gelang mir schließlich, mich aufzuraffen und an der Haltestelle Kottbusser Tor den Schlägern zu entkommen und mich hierher zu schleppen.« »Dein Leben verdankst du nur dem Umstand, daß es in dem U-BahnWagen zu viele Zeugen gab. Sonst hätten sie dich totgeschlagen. Hast du vielleicht einen dieser Banditen erkannt?« »Nein, keinen, aber ich kann sie beschreiben, ihre Visagen haben sich mir fest eingeprägt«, antwortet Bülent erregt. Niemand der Anwesenden zweifelt daran, daß es sich bei dem feigen Mordanschlag um die Tat der »Grauen Wölfe« handelte. Doch was kann man gegen das feige Gesindel tun? »Wir werden die Polizei verständigen«, schlägt Kesim vor, »sie müssen die Täter ausfindig machen und bestrafen.« Nur wenige Minuten, nachdem er telefoniert hat, erscheint ein Funkstreifenwagen. Sie schildern den Polizeibeamten, was vorgefallen ist. Ein Oberwachtmeister fordert Gündogdu auf, zum nächsten Polizeirevier mitzukommen und dort die Aussage zu Protokoll zu geben. Als Kesim den noch immer schwachen Freund begleiten will, wird das abgelehnt. Ob er bei dem Vorfall dabeigewesen sei, will man von ihm wissen, ansonsten habe er auf dem Revier nichts zu suchen. Erst kurz vor Mitternacht - die Freunde haben auf Bülent gewartet kehrt er müde und abgespannt zurück. »Sie haben mich behandelt, als sei ich der Verbrecher und nicht das Opfer des gemeinen Überfalls«, erzählt er empört. »Auf der Polizeiwache haben sie mich verhört, fotografiert und meine Fingerabdrücke abgenommen. Danach fuhren sie mich zum Sitz des Westberliner Staatsschutzes, Tempelhofer Damm 3. Dem Beamten mußte ich noch einmal alles ganz genau erzählen, und die Fragerei ging von neuem los. Als ich ihm erklärte, daß die Täter nur unter den >Grauen Wölfen< zu suchen seien, lachte er spöttisch und sagte: >Graue Wölfe