ENID BLYTON
Die Pimpernells
auf fröhlicher Seefahrt
Eine großartige Idee: Die Pimpernells vertauschen für die Ferien...
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ENID BLYTON
Die Pimpernells
auf fröhlicher Seefahrt
Eine großartige Idee: Die Pimpernells vertauschen für die Ferien ihren Wohnwagen – ihr Haus auf Rädern – mit der „Polarstern“, die sie bis nach Nordafrika bringt. Wie in einer „schwimmenden Stadt“ kommen sie sich vor. Und jeder Landausflug – nach Lissabon, ins alte Sevilla, auf die Insel Madeira, ins afrikanische Casablanca – öffnet ihnen eine eigenartige, fremde Welt. Ihr seid eine glückliche Familie, sagen die Leute. Ja, das sind sie wirklich – die Pimpernells!
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel:
THE POLE STAR FAMILY
© Lutterworth Press, London
Berechtigte Übertragung aus dem Englischen
Ein großartiger Plan „Tom, Jessie und Margaret Pimpernell haben’s gut!“ Das fanden alle ihre Schulfreunde. „Ich möchte auch einmal in einem Wohnwagen zu Hause und jedes Wochenende dort sein dürfen“, sagte Toms Klassenkamerad Bob. „Zwei Wagen“, verbesserte ihn Tom sofort. „Rot und gelb sind sie angestrichen. In einem wohnen Mutti und Vati, im anderen wir drei. Es macht wirklich Spaß.“ „Und es gibt Wasserhähne in jedem Wohnwagen, die man richtig aufdrehen kann, und wir schlafen in Kojen“, erzählte Jessie. „In warmen Nächten lassen wir die Tür offen und können dann direkt auf die Felder schauen. Und genau vor der Wohnwagentreppe blühen Butterblumen.“ „Das hört sich wunderbar an“, sagte Bob. „Habt ihr nicht auch schon einmal in einem Hausboot auf einem Fluß gewohnt?“ „Ja, auf einem Kanal“, sagte Margaret. „Ich wünschte, wir könnten mal wieder auf einem Schiff wohnen!“ „Aber dann müßte es ein Schiff sein, das umherfährt“, rief Tom. „Unser Hausboot lag immer am gleichen Platz. Viel lieber würde ich einmal auf einem Dampfer fahren!“ „Was, vielleicht sogar in andere Länder?“ fragte Bob. „Das meinst du doch nicht im Ernst?“ „Mit unserer ganzen Familie natürlich“, sagte Tom. „Wir tun alles gemeinsam. Sonst macht es ja keinen Spaß.“ „Ihr seid eben eine glückliche Familie!“ Bob lachte, und die anderen stimmten ein. „Ihr erlebt immer nette Dinge.“ Hatten die eine Ahnung! Bei den Pimpernells ging es durchaus nicht immer vergnügt zu. Als die Geschwister am nächsten Samstag nach Hause kamen, hatte ihre Mutter gerade ein Telegramm bekommen, daß Omi sehr krank sei. Sie erzählte es dem Vater. „Lies nur mal! Ich muß sofort hinfahren. Kannst du dich an diesem Wochenende allein um die Kinder kümmern?“ „Aber natürlich“, sagte der Vater. „Außerdem ist Jessie jetzt schon recht vernünftig. Wir können ihr ruhig das Einkaufen und das Kochen überlassen. Nicht
wahr, Jessie?“ „Aber gewiß“, versicherte Jessie. „Die arme, gute Omi! Nimm ihr von uns allen ein paar Blumen mit, Mutti, ja?“ Die Mutter machte sich eilig auf den Weg. Sie war in großer Sorge. Ihre Kinder aber fingen sofort an, beide Wagen in Ordnung zu bringen. Dann ging Jessie einkaufen. Hoffentlich war Omi nicht zu schlimm krank! Sie war sehr lieb, nett und großzügig und immer zu Spaßen aufgelegt. Gerade jetzt hatte sie ihren Besuch angesagt: In einer Woche mußte der Vater für ein paar Tage verreisen, und in dieser Zeit wollte die Omi bei ihnen wohnen. Nun konnte sie vielleicht gar nicht kommen. Und dabei fingen doch in der nächsten Woche die Schulferien an! So kam es tatsächlich auch: Am folgenden Sonntag war Omi immer noch krank. Im August kam das nächste Unheil: Tom fing an zu husten, mit einem seltsamen, keuchenden Geräusch. „O weh!“ sagte die Mutter. „Das hört sich verdächtig nach Keuchhusten an. Wie gut, daß ihr Ferien habt, so versäumst du nichts in der Schule.“ Und sie fragte den Vater: „Ist es nicht besser, wenn ich ihn in Omis Haus bringe, solange sie im Krankenhaus ist? Dann werden hoffentlich Jessie und Margaret nicht angesteckt. Sie können mit dir hier in den Wohnwagen bleiben.“ Die Mädchen waren sehr traurig. Armer Tom! Ganz allein in Omis Haus! Und nicht einmal Omi war da! Aber als die nächste Woche vorbei war, hatten Jessie und Margaret auch Keuchhusten. Tom konnte also ruhig zum Wohnwagen zurückkommen, und so waren sie wenigstens alle wieder zusammen. Tom und Margaret hatte es böse erwischt, bei Jessie ging es. „Was für Sommerferien!“ stöhnte die arme Mutter. „Omi die ganze Zeit krank – wenn es ihr auch schon wieder besser geht – ,und nun alle drei Kinder Keuchhusten!“ „Wir sind im Augenblick ganz bestimmt keine glückliche Familie“, sagte Tom niedergeschlagen und hustete. Die Ferien gingen vorbei. Das Wetter war nicht sehr schön. Die Mutter war verzweifelt. Die Kinder hätten sonniges, trockenes Wetter gebraucht, die trüben, feuchten Tage waren nichts für sie. Bald sollte die Schule wieder anfangen. Die Mutter schaute ihre drei blassen Kinder besorgt an. „Sie hätten schöne Ferien mit viel Sonne gebraucht“, sagte sie zu Omi, als sie wieder mal bei ihr war. „Mir ist es gar nicht recht, daß sie als Blaßschnäbel in die Schule gehen.“ Omi faßte sie bei der Hand. „Nun hör mal zu, mein Liebes“, sagte sie. „Ich habe eine großartige Idee: Du weißt doch, die Ärzte wollen, daß ich irgendwo auf einem Schiff Ferien machen soll – auf einer Kreuzfahrt. Allein möchte ich aber nicht fahren. Und deshalb wünsche ich, daß ihr alle mitkommt. Den Kindern wird es guttun – und dir auch!“ Die Mutter sah Omi erstaunt an. „Eine Kreuzfahrt! Mutter! Welch schöner Gedanke! Aber wir können doch nicht…“
„Doch, ihr könnt. Ich werde es euch bezahlen. Es wird sehr vergnügt werden – und stell dir nur vor, wie sich die Kinder freuen werden, wenn sie auf einem großen Dampfer reisen und all die fremden Länder kennenlernen können!“ „Ja, das werden sie. Sie werden begeistert sein!“ sagte die Mutter und wurde allmählich selbst aufgeregt. „Ich muß schnell nach Hause und sehen, was unser Vati dazu meint. Und die Kinder! Was werden sie nur sagen, wenn sie es erfahren!“ Sie verabschiedete sich mit einem Kuß von Omi und lief mit strahlenden Augen davon. Jetzt kamen erst die richtigen Ferien.
Sollen wir fahren?
Die Pimpernell-Kinder sahen ihre Mutter kommen und liefen ihr entgegen. „Mutti wie geht es Omi? Hast du ihr die Heide gegeben, die wir ihr gepflückt hatten? Wann kommt sie wieder aus dem Krankenhaus?“ „Sehr bald“, sagte die Mutter. „Wo ist Vati? Ich habe eine Neuigkeit für ihn.“ „Eine gute oder schlechte?“ fragte Tom. Jessie schaute ihn vorwurfsvoll an. „Brauchst Mutti ja nur anzusehen, dann weißt du es! Natürlich eine gute Nachricht, nicht wahr, Mutti? Was ist es denn?“ „Ich kann es euch noch nicht sagen“, antwortete die Mutter. „Ah, da kommt ja Vati.“ Sie lief über das Feld zum Fluß hinüber, wo der Vater etwas wusch. „Es wäre schön, wenn wir zur Abwechslung mal wieder Glück hätten“, meinte Tom bedrückt. „In der letzten Zeit waren wir vom Pech verfolgt. Der Keuchhusten war ja furchtbar.“ „Nun, jetzt bist du ihn ja los!“ Margaret lachte. „Du hast aufgehört zu husten. Und wenn du noch mal hustest, dann tust du es nur, um dich daran zu erinnern, daß du ihn hattest.“ „Sei nicht albern“, sagte Tom ärgerlich. Tom war ganz verändert. Er war meist schlecht gelaunt und trübsinnig. Die Mutter sagte, das käme noch von dem schlimmen Keuchhusten. Er brauchte dringend eine Luftveränderung. Kurz darauf kamen die Eltern zu den Kindern hinüber, die in einer Reihe, einer über dem anderen, auf den Stufen ihres Wagens saßen. Die Mutter lächelte. Margaret war plötzlich aufgeregt. Sie sprang auf und lief zu ihrer Mutter hinüber. „Was ist es? Du machst ein Gesicht wie zu Weihnachten, als wüßtest du lauter schöne Geheimnisse.“
„Genauso fühle ich mich“, sagte Mutti. „Jetzt hört mal zu, Kinder – was haltet ihr davon, einige Wochen in der Schule zu fehlen und mit mir, Vati und Omi eine Ferienreise zu machen?“ „Oooh“, sagte Margaret fassungslos. Tom und Jessie sahen Mutti an. Eigentlich hatten sie sich schon wieder auf die Schule gefreut – diese Ferien waren wirklich zu lang und vor allem zu langweilig gewesen. „Wohin?“ fragte Tom vorsichtig. „Nach Portugal – und Spanien – und den Kanarischen Inseln – und hinunter nach Nordafrika“, sagte die Mutter strahlend. „Aber Mutti! Ist das dein Ernst? So weit und über das Meer – auf einem Schiff?“ rief Tom. „Ja, auf einem großen Dampfer“, sagte der Vater lächelnd. „Das wolltest du doch schon immer einmal, nicht wahr, Tom?“ „Ich kann es einfach nicht glauben!“ Tom machte ein Gesicht, als ob er vor Freude zerspringen wollte. Er wurde rot wie der Klatschmohn in den Feldern. „Nun, ihr habt uns immer noch nicht gesagt, ob ihr das gern möchtet“, fragte der Vater lachend. Seine drei Kinder stürzten sich auf ihn, daß er beinahe umfiel. „Vati! Du weißt doch, daß wir gern fahren möchten. Das brauchst du doch gar nicht zu fragen. Wann fahren wir? Wie lange? Mit was für einem Schiff? Wie…“ „Setzen wir uns erst einmal und sprechen darüber“, sagte die Mutter und lächelte glücklich. „Jetzt hört mal zu – der Arzt hat gesagt, daß Oma eine Kreuzfahrt mit dem Schiff machen muß…“ „Was ist eine Kreuzfahrt?“ fragte Margaret sofort. „Eine Reise auf dem Schiff. Nun, Omi möchte nicht gern allein fahren. Sie möchte, daß wir alle mitkommen. Eigentlich könntet ihr ja nicht, wegen der Schule. Weil ihr aber alle drei durch den schrecklichen Keuchhusten so blaß und dünn geworden seid, meinen Vati und ich, es wäre eine gute Idee, Omis Vorschlag anzunehmen – und alle zusammen zu fahren!“ „Oh, Mutti, das ist herrlich“, sagte Jessie. „Fangen wir sofort mit dem Planen an. Fahren wir morgen?“ „Natürlich nicht! Wir müssen Karten kaufen, die Sachen packen, die Wohnwagen unterstellen und die Pferde irgendwo unterbringen.“ „Aber ich kann einfach nicht länger als einen Tag warten“, murmelte Margaret. Alle lachten. Das war typisch Margaret. „Nun, Liebling, möchtest du gern allein fahren?“ sagte die Mutter. „Es ginge vielleicht zu machen.“ Das wollte die Kleine natürlich nicht. „Ich warte“, sagte sie seufzend. „Hoffentlich dauert es nicht mehr zu lange. Stellt euch nur vor: Wir werden an Bord eines großen Schiffes schlafen, direkt auf dem Meer! Du glaubst doch nicht, daß wir Schiffbruch erleiden, Vati?“ fragte sie nach kurzem Überlegen. „Das nehme ich nicht an“, beruhigte sie der Vater. „Sollte es jedoch geschehen, dann gibt es genug Rettungsboote, weißt du. Und außerdem können wir ja alle
schwimmen und uns treiben lassen.“ „Wir sind wieder eine glückliche Familie!“ rief Tom. „Wochenlang waren wir unglücklich, jetzt sind wir wieder glücklich. Fangen wir gleich mit dem Packen an?“ „Liebling, wir fahren doch nicht vor Anfang Oktober“, sagte die Mutter. „Da bleiben noch zwei ganze Wochen Zeit. Ich würde an eurer Stelle einen Atlas suchen und mir genau anschauen, wo unser Schiff hinfahren wird. Vati kann es euch sagen.“ Die nächsten Stunden studierten also Tom, Jessie und Margaret den Atlas genauer, als sie es je in der Schule getan hatten! „Wir starten in London – hier – dann geht es hinunter nach Süden. Hier ist Portugal – dann geht es ein Stück an Spanien entlang, und dann nach Madeira oder auf die Kanarischen Inseln – was für ein schöner Name!“ „Und dann nach Afrika. Gibt es dort Affen?“ „Es werden extra drei da sein, wenn ihr kommt!“ sagte die Mutter. „Ach, was wird das doch für eine schöne Zeit!“
Endlich geht’s zum Hafen!
Die nächsten beiden Wochen vergingen recht langsam. Die Geschwister waren ungeduldig und konnten den Tag des Aufbruchs kaum erwarten. Jessie schlug schließlich vor, daß sie und Margaret schon alle ihre Sachen zusammenpackten. Sie holten warme Jacken heraus, einen dicken Wintermantel für jede und auch ihre warmen Pullis und Hosen. Die Mutter kam herein, um nachzuschauen, was die Mädchen taten. „Wir haben unsere ganze Kleidung schon zusammengepackt“, sagte Jessie stolz. Die Mutter starrte auf den Stapel warmer Pullover, Mäntel und Jacken. Dann fing sie an herzlich zu lachen. „Liebling! Wir nehmen nur unsere Sommersachen mit! Es ist Herbst, wenn wir aufbrechen und wieder zurückkommen – aber unterwegs wird es heißer sein als im Sommer bei uns! Diese sämtlichen Kleider brauchen wir nicht; nur die dünnsten Röcke, Sommerkleider und Sandalen, das ist alles.“ „Daran habe ich gar nicht gedacht“, gestand Jessie. „Ach, Mutti, wie wunderbar! Wird es wirklich so heiß und sonnig wie im Sommer sein?“ „Viel heißer“, sagte Mutti. „Packt also das hier wieder weg, ihr zwei Dummchen. Ich fahre mit euch in die Stadt, um ein paar leichte Baumwollsachen zu kaufen. Für mich auch.“ Vater hatte die Schiffskarten besorgt. Sie würden auf einem Schiff reisen, das „Polarstern“ hieß. Er zeigte ihnen ein Bild. „Das sieht ja einfach herrlich aus“, rief Tom begeistert. „Ganz weiß. Und so groß! Vati, wo werden unsere Kabinen sein? Oben auf dem Deck?“ „O nein. Ich habe drei Kabinen genommen, die dicht unter dem Wasserspiegel liegen; die werden kühl sein.“ „Haben wir dann keine Bullaugen, aus denen wir hinausschauen können?“ fragte Jessie enttäuscht. „Ich wollte doch hinausgucken aus diesen runden Löchern, wie sie an den Seiten der großen Schiffe sind.“ „Ja, du sollst dein Bullauge haben!“ sagte der Vater lachend. „Es wird gerade über dem Wasserspiegel sein – die Wellen werden manchmal dagegenschlagen!“ Das hörte sich gut an. Die Kinder betrachteten das Bild. Es gab zwei Decks, eines über dem anderen. Den hohen Aufbau auf dem oberen Deck nannte Vater die „Brücke“. „Auf der Brücke steht der Kapitän“, sagte er. „Wo ist der Maschinenraum?“ fragte Tom. „Ich möchte gern mal die Maschinen sehen, die das Schiff antreiben.“ „Unter dem Wasserspiegel“, erklärte sein Vater. „Du wirst alles zu sehen bekommen, sobald wir an Bord sind. Es wird genug Zeit dafür vorhanden sein, denn an einigen Tagen werden wir gar nicht anlegen.“ „Ich wünschte bloß, es wäre endlich soweit“, seufzte Margaret. „Wieviel Tage noch? Morgen und übermorgen – und dann geht es endlich los!“ Endlich kam er dann, dieser große Tag. Die Wohnwagen waren in die Stadt gefahren und in einer Garage untergestellt worden. David und Clopper, die beiden
Pferde, wurden einem Bauern geliehen. Die Pimpernells verbrachten die letzte Nacht bei der Großmutter. Sie war jetzt wieder zu Hause – schmaler geworden, aber voller Freude und auch aufgeregt. „Nun!“ sagte sie und küßte die Kinder. „Werden wir nicht wunderbare Ferien zusammen verbringen? Ich hoffe, ihr habt euch alle vorgenommen, nicht über Bord zu fallen. Es ist so ärgerlich, wenn das Schiff extra anhalten muß, um Kinder aus dem Wasser zu fischen!“ Sie lachten. „Wir fallen bestimmt nicht über Bord“, sagte Tom. „Wir passen auf, Omi.“ „Wann brechen wir auf?“ fragte Margaret. „Morgen früh“, sagte der Vater. „Wir fahren mit dem Wagen in die Stadt und von dort zum Hafen. Um halb zwei werden wir an Bord sein. Die ,Polarstern’ soll um vier Uhr ablegen.“ „Oh, das hört sich alles so herrlich an“, sagte Margaret. „Ich werde heute gleich nach dem Abendessen ins Bett gehen. Dann vergeht die Zeit bis morgen schneller. Oh, Mutti, du glaubst doch nicht, daß jetzt noch etwas dazwischenkommt?“ „Ich wüßte nichts“, sagte die Mutter. „Nun trink aber deinen Kakao, Margaret. Das Brot und die Butter liegen auch schon eine Ewigkeit auf deinem Teller.“ „Ich kann nichts essen“, jammerte Margaret. „Ich bin so aufgeregt – ja wirklich, Mutti, als ob ich eine ganze Menge Aufregung gegessen hätte und jetzt nichts anderes mehr runterbringen könnte!“ Dann war der Morgen da. Alle wachten früh auf. Die Koffer standen bereit. Die Sonne strahlte vom Himmel. Es war richtiges Ferienwetter. Plötzlich hörten sie es von der Einfahrt her tuten. „Der Wagen, der Wagen! Schnell, Vati, der Wagen!“ rief Tom. „Er wird sich schon nicht gleich in Luft auflösen, wenn wir ihn einen Moment warten lassen“, sagte Vater. „Hier, Tom, du nimmst diesen Koffer. Sag bitte dem Fahrer, er möchte hereinkommen und mir helfen.“ Und einige Minuten später fuhren sie in Richtung Stadt und weiter zum Hafen.
An Bord der „Polarstern“
„Wir müssen zu den Kais und unser Schiff suchen“, sagte der Vater. „Tom, lauf nicht vor. Wir müssen zusammenbleiben, du törichter Junge! Es ist noch ein weiter Weg.“ Und so war es auch. Als sie schließlich in den Kais ankamen, waren sie vor lauter Staunen sprachlos. Die Dampfer waren so furchtbar groß – viel größer, als sie es sich vorgestellt hatten! „Oh, Vati – das sind ja riesige Pötte!“ sagte Tom ganz ehrfürchtig. Der Träger, der ihre Koffer auf seinem Karren hatte, lächelte ihn an. „Schau mal dort drüben hin, junger Mann – dort siehst du das schönste Schiff, das es überhaupt gibt: die »Königin Elisabeth’. Sie ist gerade eingelaufen!“ Sie schauten alle hinüber. Tom fühlte plötzlich einen Kloß in seiner Kehle, so wunderschön fand er dies Schiff. Dort lag es am Kai und ragte hoch in den Himmel, es glänzte weiß. „Oh – das hätte ich mir nicht träumen lassen“, sagte Tom schließlich. „Es muß ja Tausende von Menschen aufnehmen können!“ „Ja, das kann es auch“, sagte der Gepäckträger. „Es ist eine schwimmende Stadt. Ein toller Anblick, nicht wahr? Jetzt aber wollen wir mal nach der ,Polarstern’ schauen.“ „Dort ist sie, dort ist sie!“ rief Jessie plötzlich. „Ganz in der Nähe.“ So war es. Die Kinder schauten sie entzückt an. Im Vergleich zur „Königin Elisabeth“ war sie klein – aber trotzdem noch viel größer, als sie erwartet hatten. Sie strahlte von oben bis unten in Weiß. „Auch ein sehr schönes Schiff“, sagte der Vater. „Schnell, bequem und mit sehr schönen Routen. Nun, dann wollen wir mal an Bord! Komm, Omi, ich helfe dir die Gangway hinauf.“ Eine kleine hölzerne Brücke reichte vom zweiten Deck der „Polarstern“ bis zum Kai hinunter, wo sie standen. „So, das ist also eine Gangway“, sagte Jessie. „Eine richtige Gangway hinaufzugehen, das habe ich mir schon immer gewünscht. Laßt mich bitte zuerst rauf!“ Tom und Margaret folgten ihr. Vati half Omi. Ein Matrose folgte nach, er legte seine Hand auf Muttis Arm, denn bewegte sich das Schiff, wackelte die Gangway. Und jetzt waren sie an Bord. Margaret blickte sich auf dem Deck um. Es schien wirklich sehr lang zu sein. Eine Menge Leute wimmelten dort mit Koffern und Bündeln herum. Matrosen in dunkelblauen Uniformen gingen ihrer Arbeit nach. Margaret fand sie sehr hübsch. „Wir suchen jetzt erst einmal unsere Kabinen und stellen sämtliche Koffer dort ab“, riet die Mutter. Ein Matrose führte sie einige Stufen hinunter in eine Art Halle. Von da aus ging es noch einmal ein paar Stufen tiefer. „Wir steigen in das Herz des Schiffes hinunter“, sagte Jessie. „Sind unsere Kabinen hier unten?“ Sie gingen einen erleuchteten Gang entlang und kamen zu drei Türen mit den Nummern 42, 43, 44. Der Matrose öffnete die erste Tür.
„Oh!“ rief Margaret, als sie einen Blick hineingeworfen hatte. „Was für ein herrlicher Raum! Aber schaut doch – wir haben richtige Betten zum Schlafen. Ich dachte, wir hätten Kojen. Und dort ist ein Waschbecken. Und ein kleiner Frisiertisch mit Schubladen – und sogar ein Kleiderschrank! Genau wie in einem richtigen Schlafzimmer.“ „Ein Bullauge gibt’s auch!“ rief Tom begeistert und lief gleich darauf zu. „Seht doch bloß: das Wasser ist gleich darunter. Können wir öffnen, Herr Matrose?“ „Wenn du willst“, sagte der Mann lächelnd. „So lange wir in ruhigen Gewässern sind, tu es ruhig. Schließe es, sobald wir ablegen, sonst spritzen Wellen auf dein Bett!“ Das Glas der runden Fenster war sehr, sehr dick, keineswegs wie die gewöhnlichen Fensterscheiben. Keine Welle konnte es zerbrechen. Die Kinder hörten das Wasser gegen die Scheiben klatschen. Es klang richtig anheimelnd. „Legt eure Sachen her“, sagte die Mutter. „Und dann kommt an Deck. Wir wollen doch zusehen, wenn wir ablegen, nicht wahr?“ Sie spähten schnell noch in die beiden anderen Kabinen hinein, die genauso eingerichtet waren. In jeder waren zwei Betten. Mutter und Omi sollten eine Kabine teilen, Tom und Vater die nächste und die beiden Mädchen die dritte. Tom kam sich sehr erwachsen vor, weil er mit Vater zusammen wohnte. Alle Pimpernells freuten sich schon auf den Spaß, in einer Kabine zu Bett zu gehen. Nun aber stiegen sie wieder an Deck. Was war dort oben für ein Krach und ein Gedränge! Dampfer ließen ihre Sirenen ertönen, Möwen kreischten, Matrosen riefen, und mit furchtbarem Kreischen und Ächzen zog ein Kran alles mögliche Gepäck hoch und ließ es durch die Luken wieder hinunter. Die Kinder fanden einen Platz an der Reling und schauten von dort aus hinunter in das Gewimmel. Noch immer strömten Leute die Gangway hinauf. Der Kran beförderte gerade einen riesigen Gepäckstapel in die Luke hinab und schwang dann wieder zum Kai hinüber, um den letzten Stapel zu holen.
Plötzlich ein gewaltiger Lärm! Die Kinder erschraken furchtbar. „Es ist alles in Ordnung!“ Ihr Vater lachte über die entsetzten Gesichter. „Das ist unsere eigene Schiffsstimme – die Sirene. Seht ihr: Die Gangway wird jetzt
eingeholt. Nun kann niemand mehr an Bord.“ Dann stampfte etwas unter ihnen. Irgendwo aus dem Innern des Schiffes schien das Geräusch zu kommen. Die Maschinen begannen zu arbeiten. Gleich würden sie ablegen! „Wir fahren, wir fahren!“ rief Tom plötzlich aufgeregt. „Schaut nur, der Kai entfernt sich von uns. Wir haben abgelegt, wir haben abgelegt!“ Jeder winkte und rief: „Auf Wiedersehen! Auf Wiedersehen!“ Die Kinder riefen auch: „Auf Wiedersehen! Wir fahren wirklich! Wir fahren wirklich!“
Lieb Heimatland, ade!
Das große Schiff bewegte sich langsam an den Kaianlagen entlang in Richtung Meer. Tom bemerkte einige kleine Schlepper, die durch Taue mit dem Schiff verbunden zu sein schienen. Konnten sie das Schiff ziehen? „O ja – sie lenken es und helfen ihm“, erklärte ihm der Vater. „Schaut, dort hinten ist das Meer. Jetzt seht mal zurück auf den Hafen: die vielen Schiffe, alle möglichen Schiffe – einige löschen ihre Fracht, einige übernehmen Ladungen, einige warten auf die Passagiere, ein paar möchten Kohle und Wasser übernehmen, andere warten auf die Reparatur.“ „Es ist alles einfach wunderbar!“ Tom war so glücklich, wie noch nie in seinem Leben. „Diese Schiffe und Dampfer und Kräne! Wenn man sich vorstellt, daß viele dieser Schiffe schon in der ganzen Welt gewesen sind. Ich wollte, ich wäre ein Seemann. Vati, kann ich einer werden, wenn ich erwachsen bin?“ „Wenn du es wirklich möchtest“, sagte der Vater. „Du mußt abwarten. Neulich wolltest du Busfahrer werden. Vielleicht überlegst du es dir noch einmal anders.“ „Nein, nein“, sagte Tom. „Ich möchte Seemann mit einem eigenen Schiff werden. Ich werde es Jessie Margaret’ taufen.“ „Sehr nett“, sagte der Vater. „Doch seht mal, – jetzt sind wir auf dem offenen Meer. Die Wellen werden gleich stärker werden.“ „O ja!“ rief Jessie. „Das Schiff bewegt sich nicht nur vorwärts, sondern auch seitwärts. Es rollt ein bißchen. Ich mag das gern. Es wird lebendig!“ „Ja, es wird lebendig“, sagte Tom. „Hoffentlich bekommen wir einen Sturm. Das wäre doch ein tolles Gefühl, wenn die ,Polarstern' über die riesigen Wellen reitet, auf und nieder und von einer Seite zur anderen.“ „Ich hoffe es nicht“, sagte ihre Großmutter. „Das würde mir gar nicht gefallen. Höchstwahrscheinlich würde ich dann seekrank.“ „Keiner von uns wird seekrank“, sagte Tom. „Wir haben es uns vorgenommen. Nicht eine einzige Minute der Seereise möchten wir dadurch versäumen.“ „Jetzt sind die kleinen Schlepper weg“, rief Margaret. „Auf Wiedersehen, kleine Schlepper. Ich mag euch. Ihr wart so fleißig, ihr lieben Dinger, und immer in Eile.“ „Ich bin hungrig“, sagte Tom. „Aber ich möchte trotzdem nicht in den Speisesaal. Dann sehe ich ja nicht, was hier oben vor sich geht.“ „Komm nur mit!“ Die Mutter wurde energisch. „Kommt alle! Wir gehen in den Speisesaal hinunter. Ich bin sicher, Großmutter wartet schon sehnsüchtig darauf!“ Sie gingen die Treppe zum zweiten Deck hinunter und dann zum Saal. Ein Steward brachte ihnen eine Kanne Kakao und eine Menge kleiner Kuchen. „Ob es gutes Essen an Bord gibt?“ fragte Jessie. „Sehr gutes“, versicherte der Vater. „Margaret, iß. Oder bist du immer noch so aufgeregt?“ „Ja, ziemlich“, sagte Margaret mit einem großen Seufzer. „Aber diese Kuchen machen Appetit. Ich muß ein paar probieren. Oma, magst du unser Schiff?“ „Ja, es ist herrlich“, sagte die Großmutter zufrieden. „War es nicht eine gute
Idee von mir?“ „Die beste, die du in deinem ganzen Leben gehabt hast, Omi“, beteuerte Jessie. „Mutti, was tun wir nach dem Essen? Dürfen wir wieder an Deck? Auf das oberste Deck? Ich möchte sehen, wie wir am Festland vorbeifahren.“ „Ja, wenn du möchtest“, sagte die Mutter. „Ich brauch euch ja nicht besonders zu sagen, daß ihr vorsichtig sein müßt und daß ihr nicht irgendwelche dummen Sachen an Bord anstellen dürft. Kommt am besten nach einiger Zeit immer wieder zu uns her. Dann wissen wir, daß alles in Ordnung ist.“ „Ich passe auf die Mädchen auf, Mutti“, versprach Tom. „Vati, bald sehen wir den letzten Zipfel Land, nicht wahr?“ „Ja“, meinte Vater. „Den allerletzten. Geht jetzt nach oben, wenn ihr wollt. Wir kommen später nach.“ Die „Polarstern“ schwamm nun auf offenem Meer. Die Kinder erkannten noch eine Insel auf der einen und das Festland auf der anderen Seite. Das Schiff fuhr sehr schnell. „Seht ihr den langen weißen Schwanz hinter dem Schiff?“ fragte Tom. „Das ist das Kielwasser. Das Seewasser wird so umhergeschleudert, daß es schließlich weiß wird.“ „Es sind immer noch Möwen um uns herum. Ich finde ihr Kreischen so drollig.“
„Es hört sich an, als ob sie lachen“, sagte Tom. Die Dämmerung brach jetzt langsam herein. Die Lichter auf dem großen Schiff gingen an. Kleine Lichter funkelten von anderen Schiffen in der Ferne zu ihnen herüber. Die Mutter kam zu den Kindern herauf. „Jetzt heißt es, von der Heimat Abschied nehmen“, sagte sie. „Morgen werden wir in der Bucht von Biskaya sein. Dort wird die See oft recht bewegt. Ich hoffe es jedoch nicht.“ „Mir würde es nichts ausmachen!“ prahlte Tom. „Fahren wir nach Frankreich?“ „Nein, nur daran vorbei. Unsere erste Station wird Lissabon sein, die
Hauptstadt von Portugal“, sagte Mutti. „Wenn ihr jetzt noch länger hier oben bleiben wollt, dann müßt ihr eure Mäntel überziehen. Es ist recht frisch heute abend. Aber wartet nur: Bald wird es so heiß werden, daß wir am liebsten nur noch im Badeanzug herumlaufen möchten.“ „Was ich möchte“, sagte Margaret, „ist, in unserer Kabine schlafen gehen. Mutti – stell dir nur vor: Unter Wasser zu Bett gehen und dabei die Wellen gegen die Schiffsseite schlagen hören. Wißt ihr was? Ich gehe jetzt wirklich!“
Schlafenszeit an Bord
Auch die Großmutter war nach dem aufregenden Tag sehr müde. Sie wollte nicht bis zum Abendessen aufbleiben, sondern sich nur ein paar belegte Brote in die Kabine bringen lassen. „Dürfen wir bis zum Essen aufbleiben?“ fragte Tom. Er wäre sehr gern jeden Abend mit den Erwachsenen in den Speisesaal gegangen. „Natürlich nicht“, antwortete seine Mutter. „Dafür müßtest du älter sein. Der Kabinensteward wird euch die Mahlzeit in eure Kabine bringen. Ich suche euch etwas Gutes aus und schicke es hinunter.“ „Wie steht’s mit dem Baden?“ erkundigte sich Jessie. „Haben wir Badezimmer an Bord?“ „Natürlich“, sagte Mutti. „Am Ende unseres Ganges ist eines, das nur für uns sechs bestimmt ist. Ihr könnt genauso an jedem Abend baden wie in Omis Haus. Du ißt am besten in der Kabine der Mädchen, Tom – wenn du möchtest – und gehst dann in eure schlafen.“ Das hörte sich alles aufregend an. Sie suchten das Badezimmer. Es war klein, dafür aber sehr nett. Die Badewanne war grün. Aus den glänzenden Hähnen kam das Wasser fast kochend heiß heraus. Große, dicke Handtücher, die ,P. S.’ gezeichnet waren, lagen bereit. „P.S.! Wie komisch – das schreibt man doch an das Ende eines Briefes, wenn man noch etwas hinzufügen will, nicht wahr?“ fragte Jessie. „P. S. ist die Abkürzung für ,Polarstern’, du Dummchen“, sagte Tom überlegen. „Ich frage mich nur, ob das Badewasser einfach in das Meer läuft.“ „Sicherlich“, meinte Jessie. Und gleich darauf schrie sie laut: „Huch, das Schiff rollt aber ganz schön. Beinahe wäre ich in die Badewanne gefallen!“ „Ja, du mußt erst Seemannsbeine bekommen“, sagte der Vater, der auch den Kopf ins Badezimmer steckte. „Wenn es noch stärker rollt, mußt du dich an den Stangen festhalten.“ Sie badeten also. Margaret bürstete Jessies Haar hundert Striche und genauso Jessie Margarets Haar. Mutter sagte immer, dadurch würde es glänzender. Sie putzten sich die Zähne über dem kleinen Becken, und dann erschien der Steward mit ihrem Abendbrot. „Oooh!“ staunte Margaret, als sie die Tabletts sah. „Das sind aber schöne Sachen! Recht herzlichen Dank.“ „Eierkuchen mit Kirschen!“ rief Tom, der gern schleckte. „Und die Suppe duftet! Hmmm!“ machte Jessie und schnupperte. „Und seht nur diese kleinen Toasts.“ „Und rosa Geleespeise“, sagte Margaret. „Meine Lieblingsspeise. Wackelpudding, du Armer zitterst ja! Hast du im Kühlschrank so frieren müssen? Laß nur, in meinem Magen wird dir bald wärmer!“ Sie lachten alle, setzten sich auf ihre Betten und aßen die leckere Mahlzeit. Sie waren sehr glücklich. Es war alles so neu und fremd und schön. Und es fing gerade
erst an. „Der schönste Teil der Ferien ist der Anfang“, überlegte Tom gerade, da fing das Schiff wieder an zu rollen. Seine ganze Geleespeise kullerte vom Teller. „O je“, rief er erschrocken. „Seht doch nur! Da liegt meine Speise auf deinem Bett, Margaret. Hoffentlich fallen wir nachts nicht einmal aus den Betten.“ „Meinst du, das wäre möglich?“ erkundigte sich Margaret ängstlich. „Das kann schon geschehen, wenn die See rauh ist“, behauptete Tom, während er seine Speise vom Bett weglöffelte. „Die Betten sind übrigens am Boden festgemacht. Seht ihr: Sie bewegen sich überhaupt nicht.“ Margaret kletterte auf ihr Bett hinauf und schaute aus dem Bullauge. Das war jetzt fest verschlossen. Sie durfte es auch nicht öffnen, bevor sie wieder in einem Hafen waren. Zu erkennen war draußen überhaupt nichts. Es war völlig dunkel. „Beten wir hier auch vor dem Schlafengehen?“ fragte Margaret die großen Geschwister und rutschte von ihrem Bett herunter. „Wieso nicht?“ fragte Tom erstaunt zurück. „Es ist doch ganz gleich, wo wir sind.“ „Nun – ich finde es komisch, daß man sich auf einen Boden kniet, der hin und her schwankt“, sagte Margaret. „Ich werde mich an meinem Bett festhalten müssen.“ „Ich habe heute nacht viel zu beten“, sagte Jessie. „Ich werde für diese schönen Ferien danken und bitten, daß wir alle gesund bleiben und nicht schiffbrüchig werden, und für unsere Pferde David und Clopper, daß es ihnen gutgeht, solange wir unterwegs sind und…“ „Nun, dann sei jetzt still und bete leise“, sagte Tom. Ein paar Minuten lang war kein anderer Laut in der Kabine zu hören als das Schlagen der Wellen gegen die Schiffswand. Dann krabbelte Margaret in ihr Bett und Jessie in das ihre. Die Betten waren weich und gut gefedert, und die Mädchen kuschelten sich vergnügt zurecht. Omi kam herein, um gute Nacht zu sagen. Sie hatte schon ihren Morgenmantel an. „Hast du dasselbe gegessen wie wir?“ erkundigte sich Margaret. „Macht es nicht Spaß, an Bord eines Schiffes zu sein, Omi? Ich freue mich schon aufs Aufwachen morgen früh!“ Dann kamen die Eltern herein. Sie hatten sich für das Essen umgezogen und sahen hübsch aus. „Du bist sehr schön, Mutti“, sagte Jessie bewundernd und umarmte sie. „Gute Nacht! Ich möchte eigentlich nicht sehr lange schlafen, aber ich fürchte, ich schlafe gleich ein. Ich bin zu müde.“ Tom ging in seine Kabine. Die Mutter hatte ihm erlaubt, noch eine halbe Stunde lang zu lesen. Er war ja älter als die Mädchen. Aber Tom wollte das gar nicht. Er fand es viel schöner, einfach im Bett zu liegen und die Bewegungen des Schiffes zu spüren. Hin und her und her und hin, und dann etwas vor und etwas zurück. Herrlich! dachte Tom. Ich werde Seemann, wenn ich erwachsen bin. Ich werde Kapitän eines Schiffes, so wie dieses hier. Ich werde… Aber da schlief er schon – und in seinen Träumen war er Kapitän der
„Polarstern“. Was für ein wunderbarer Traum!
Land in Sicht!
„Jessie! Wir sind auf dem Meer! Wach auf“, rief Margaret am nächsten Morgen und beugte sich zum Bett der Schwester hinüber. Wie wunderbar war dieses Erwachen doch, wenn man sich langsam erinnerte, wo man war! Ein paar Minuten später klopfte es, und Tom steckte den Kopf durch die Tür. „Seid ihr wach? Es ist ein schöner Morgen. Steht auf!“ rief er und lachte über das ganze Gesicht. Schnell zogen sie sich an und gingen an Deck. Die Sonne strahlte auf sie herunter. Der Himmel war blau und die See leuchtend grün. Wunderschön! Weit und breit war kein Land zu sehen. Es war ein merkwürdiges Gefühl für die drei, als sie da an der Reling standen und nichts als Wasser um sich herum erblickten. Nicht mal ein anderes Schiff entdeckten sie. „Wenn dies wirklich die Biskaya-Bucht ist, dann finde ich sie sehr friedlich“, meinte Tom, und es klang halb enttäuscht. „Ich schlage vor, wir erforschen das Schiff. Was meint ihr?“ „Nach dem Frühstück“, sagte die Mutter, die leise herangekommen war. „Was glaubt ihr wohl, welch herrliches Frühstück auf euch wartet! Sechs verschiedene Brotarten, Orangensaft, so viel ihr wollt, und lauter leckere Sachen, unter denen ihr wählen könnt: Speck und Eier, Schinken, Marmelade…“ „Ich werde ganz bestimmt ein Seemann, wenn ich groß bin!“ sagte Tom. „Wenn du so viel vom Essen erzählst, werde ich furchtbar hungrig, Mutti.“ Nach dem Frühstück aber gingen sie auf Entdeckungen. Sie liefen erst das Oberdeck, dann das Unterdeck entlang. Überall standen Liegestühle, und viele Leute saßen dort, lasen oder dösten in der Sonne. An einem Ende des Schiffes entdeckten die Pimpernell-Kinder ein Schwimmbad. „Stellt euch vor: Ein Schwimmbecken an Bord eines Schiffes! Da können wir jeden Tag baden!“ rief Tom. Unter der Brücke des Kapitäns gab es ein wunderbares Sonnendeck. Die Mutter nahm sich vor, dort oft mit der Oma zu sitzen. „Alles was man sich wünscht, kann man praktisch auf diesem Schiff haben“, sagte Tom zu seiner Mutter. „Man kann an Deck spielen, es gibt Plätze zum Sitzen, einen Lesesaal, den großen Speisesaal, wo wir essen, einen Ballsaal zum Tanzen – es ist einfach alles da!“ „Dürfen wir baden?“ fragte Jessie. „Im Schwimmbecken?“ „Wenn ihr wollt!“ antwortete die Mutter, und die Geschwister holten ihre Badesachen. Schwimmen, tauchen, die Rutsche hinuntersausen – das alles war ein Riesenspaß. Nur Margaret wollte zuerst nicht auf die Rutsche, aber dann versuchte sie es doch, und es gefiel ihr so, daß sie nicht genug davon bekam. Platsch! Sie sauste ins Wasser hinein und tauchte keuchend wieder auf. „Das sind herrliche Ferien!“ beteuerte Tom immer wieder. „Ich liebe die ,Polarstern’, ein prima Schiff.“ Sie schwammen, spielten Decktennis, indem sie sich den Ring über das Netz
gegenseitig zuwarfen; sie stiegen in den Maschinenraum hinunter und schauten die Maschinen an. Verschwitzt und schmutzig kamen sie zurück. Plötzlich fiel Jessie etwas auf. „Seht bloß!“ sagte sie überrascht. „Alle Matrosen haben ihre dunkelblaue Uniformen gegen weiße ausgewechselt! Wie hübsch sie darin aussehen!“ Das stimmte. Der Vater lachte über die erstaunten Gesichter seiner Kinder. „Das beweist: Wir verlassen die kalten Gebiete und kommen in wärmere Zonen. Ihr werdet auch bald eure luftigsten Sachen anziehen wollen.“ Eines Nachmittags, als sie alle zusammen auf dem Sonnendeck saßen, gab die Schiffssirene plötzlich ein lautes, jämmerliches Signal: „Oooooooooooooo!“ Sie sprangen erschrocken auf. „Das hört sich an, als ob eine Riesenkuh muht“, sagte Margaret. „Was bedeutet es, Vati?“ „Sieh mal aufs Meer hinaus! Wir kommen in einen dicken Nebel. Gleich sind wir mitten drin. Wie schade! Bald sind wir in Lissabon. Ich hätte euch gewünscht, daß ihr seht, wie Portugal langsam näher kommt.“ Der Nebel wurde immer dichter, und die Sirene tutete ununterbrochen. Nichts war zu sehen. Durch den Nebel wurde es kühl. Die Kinder gingen nach unten, um dort zu spielen. „Ist es gefährlich?“ fragte Margaret ängstlich. Sie dachte an die Geschichten von Schiffen, die sich blind durch den Nebel bewegten. „Wir werden doch nicht auf etwas auflaufen?“ „Der Kapitän steht oben auf der Brücke“, tröstete sie der Vater. „Er bleibt dort, bis der Nebel sich verzogen hat und das Schiff in Sicherheit ist.“ Als das Schiff endlich in den wunderschönen Hafen von Lissabon dampfte, war der Nebel verschwunden. Die Nacht war gekommen, und der Hafen glitzerte von vielen bunten Lichtern. Das große Schiff fuhr an seinen Platz am Kai.
„Hier bleiben wir über Nacht“, sagte die Mutter. Sie stand mit den Kindern an der Reling und betrachtete die vielen Schiffe im Hafen, die alle in vollem Lichterglanz erstrahlten. „Ihr werdet ganz bestimmt das Rollen des Schiffes
vermissen, nicht wahr? Morgen fahren wir zum Königlichen Palast von Pena, der auf einem steilen Hügel liegt und vorher zum Schloß von Cintra.“ „Oh – zwei Schlösser! Lebten dort Könige?“ fragte Margaret. „Mutti, es wird bestimmt aufregend werden, wenn wir wieder auf dem festen Land herumgehen. Ich weiß gar nicht mehr, wie das ist!“ An diesem Abend öffneten sie beim Zubettgehen das Bullauge ihrer Kabinen und schauten auf den stillen Hafen. Viele große Schiffe lagen dort vor Anker, daneben auch kleine Fischerboote mit roten Segeln. Es war herrlich anzusehen, wie sie sich leicht auf dem dunklen Wasser bewegten, in dem sich alle Lichter spiegelten. „Es riecht hier sogar anders“, sagte Margaret schnüffelnd. „Es riecht fremd! Ach – und morgen sehen wir uns die Schlösser an! Ich freue mich schon darauf!“
In Portugal
Am Morgen, als die vielen Boote hinausfuhren, war der Hafen noch hübscher. Die Fischerboote mit den farbenprächtigen Segeln gefielen den Pimpernells am besten. Sie wollten sich von diesem Anblick gar nicht trennen. Aber dann kam ein Taxi, und sie fuhren nach Cintra und weiter zu dem Königlichen Schloß in Pena. Nach einer knappen Stunde kamen sie an einen steilen, zerklüfteten Hügel. Ein kleiner gewundener Weg führte zum Gipfel hinauf. Dort oben stand das Schloß! „Können wir hineingehen?“ fragte Tom. Natürlich konnten sie. Es war seltsam, durch dieses Schloß zu wandern, in dem vor langer, langer Zeit viele Könige gewohnt hatten. Nach einer Weile dachte Margaret an das Schiff und bekam plötzlich Angst. „Mutti, ich glaube, wir kehren lieber um! Stell dir nur vor: Wenn die .Polarstern’ ohne uns abfährt! Bitte, bitte, laß uns umkehren!“ Sie bettelte so lange, bis sie wirklich aufbrachen. In halsbrecherischem Tempo fuhr das Taxi den Hügel hinunter. Jessie schloß entsetzt die Augen. „Sind das Palmen?“ fragte Tom, als sie auf der ebenen Straße durch die schöne Landschaft sausten. „Und was sind das für Bäume, die so traurig dreinblicken? Zypressen – aha! Dies dort müssen Orangenbäume sein, stimmt’s? Aber was ist das für eine große Gruppe von Bäumen, die mit den graugrünen Blättern? Solche Bäume habe ich noch nie zuvor gesehen.“ „Olivenbäume“, erklärte ihm sein Vater. „Du hast doch sicherlich schon von Oliven und Olivenöl gehört, nicht wahr?“ „Ich freue mich schon wieder auf unser Schiff“, sagte Margaret. „Wenn es bloß nicht ohne uns abgefahren ist.“ Natürlich war es das nicht. Dort lag es im Hafen und glänzte im Sonnenlicht. Sie liefen die Gangway hinauf und fühlten sich so, als kämen sie nach Hause. „Nun fahren wir nach Spanien“, sagte die Oma, die schon wartete und sie herzlich begrüßte. Sie war nicht mit an Land gegangen, weil sie nach der langen Krankheit immer schnell erschöpft war. „Nach Sevilla geht es. Dort kenne ich ein Geschäft, das sich das Haus der tausend Schals nennt. Vati, würdest du hingehen und einen für Mutti aussuchen?“ „Ja, natürlich“, sagte der Vater. „Und ich möchte auch gern zu der herrlichen Kathedrale – und mir auch eine Stierkampfarena anschauen. Einen Stierkampf möchte ich freilich nicht sehen.“ „O nein“, sagte Tom. „Die armen Pferde! Sie können es ja nicht mit den Stieren aufnehmen. Aber die Stierkämpfer würde ich gern sehen; sie müssen sehr tapfer sein.“ Das Schiff fuhr also weiter nach Spanien, einen großen Fluß hinauf, bis zur alten Stadt Sevilla. „Mutti, du kochst doch immer Marmelade aus Sevilla-Orangen. Stammen die aus dieser Gegend?“ fragte Jessie. „Jawohl. – Tom, schau mal dort die Stiere auf der Wiese. Was für große Tiere
das sind!“ Sevilla war eine wunderschöne Stadt. Das Schönste in der Stadt war die Kathedrale. Die Kinder gingen leise hinein, voll Ehrfurcht vor der Größe und Schönheit dieser Kirche. Sie betrachteten die großen bunten Fenster. Als sie wieder herauskamen, schien ihnen das Sonnenlicht allzu grell. Jessie blinzelte. „Wißt ihr“, sagte sie, „normale kleine Kirchen sind einfach Gotteshäuser – aber eine Kathedrale ist wie ein Gottespalast.“ „Doch jetzt“, sagte die Großmutter, „gehen wir zu dem Haus der tausend Schals. Kommt!“ Es war ein großer Laden, in dem es nur Schals zu kaufen gab. Aber was für welche! Herrliche Schals lagen überall ausgebreitet, hingen von der Decke und an den Wänden herunter. Allein die Farben: rot und grün und blau und orange und schwarz; alle Schals wunderschön bestickt. „Welchen möchtest du?“ fragte der Vater die Mutter. „Was hältst du von diesem tiefroten? Der würde dir sehr gut stehen.“ „O ja, Mutti, nimm den“, bettelte Jessie. „Ich mag die großen dunklen Rosen, mit denen er bestickt ist. Ist Sevilla nicht eine wunderbare Stadt – mit diesen wunderbaren Sachen?“ Die Stierkampfarena gefiel ihnen längst nicht so gut. Sie war vollkommen leer und mit Sägemehl ausgestreut. Margaret zog die Nase kraus; sie konnte den Geruch nicht vertragen. „Kommt weg!“ sagte sie und zog ihren Vater an der Hand zum Ausgang. „Ich denke nicht gern an die Stiere, die die Pferde verletzen, und an die Stierkämpfer, die die Stiere verletzen. Und an die Menschen, die sich darüber noch freuen! Laßt uns mit Muttis schönem Schal zum Schiff zurückgehen.“
Das taten sie auch. Sie wanderten durch die spanischen Straßen und wurden bestaunt von schwarzäugigen, schwarzhaarigen Mädchen, die kleine, schwarze Schals über die Haare gelegt hatten. Niemand trug einen Hut. Alle schauten froh
und lustig drein und sprachen sehr schnell miteinander. Natürlich verstanden die Pimpernells kein Wort. Die Mutter kaufte ihren Töchtern kleine goldene spanische Armbänder. Tom suchte sich einen aus Holz geschnitzten Stier aus. Sie brachten alles stolz zum Schiff zurück. „Es tutet, es tutet!“ rief Margaret aufgeregt, als sie näher kamen. „Wir müssen uns beeilen!“ „Es ist schon in Ordnung. Wir haben noch eine halbe Stunde Zeit“, beruhigte sie der Vater lachend. „Hast du deinen Schal, Mutti? Die Gangway hinauf mit euch!“ „Jetzt geht es nach Madeira und den Kanarischen Inseln“, sagte die Großmutter. „Wir werden eine Zeitlang kein Land zu Gesicht bekommen. Aber vielleicht sehen wir doch allerlei interessante Dinge – fliegende Fische zum Beispiel!“ „Fliegende Fische!“ rief Jessie erstaunt. „Gibt es die wirklich? Ich dachte, die gäbe es höchstens im Märchen, so wie die Einhörner und Drachen.“ „Ich werde mich morgen den ganzen Tag an die Reling stellen und nach ihnen Ausschau halten!“ sagte Margaret. „Sag, Mutti, glaubst du, daß ich einen fangen und mit nach Hause nehmen kann? Ich würde ihn gern einmal um unseren Wohnwagen fliegen sehen!“
Fliegende Fische und Delphine
„Ob wir wohl fliegende Fische zu sehen bekommen?“ fragte Tom am nächsten Tag einen Matrosen. „Ich denke schon!“ war die Antwort. „Paßt an den nächsten Tagen gut auf. Wir sehen oft welche auf dieser Strecke.“ Zwei Tage später hörte Jessie, als sie gerade aufs Oberdeck kamen, laut rufen: „Schaut! Fliegende Fische! Schaut doch!“ „Kommt fix!“ mahnte sie die Geschwister, die langsam die Treppe heraufstiegen. Dann liefen sie alle drei zur Reling. Und was sie sahen, war ganz seltsam: Aus dem Meer erhob sich ein kleiner Schwarm glänzender Fische! Sie breiteten ihre großen Flossen aus und flogen ungefähr eine halbe Minute durch die Luft. Sie flogen sehr schnell, tauchten dann wieder graziös ins Wasser und kamen im nächsten Augenblick glitzernd im Sonnenschein hoch. „Die sind aber schön!“ rief Margaret. „Nie hätte ich gedacht, daß es so etwas wie fliegende Fische überhaupt gibt. Vati, wie fliegen sie eigentlich?“ „Sie haben natürlich keine Flügel“, sagte Vater. „Sie schwimmen ungeheuer schnell unter Wasser, und dann springen sie über die Wasseroberfläche, um einem Feind zu entkommen. Dabei benutzen sie ihre langen Flossen.“ „Wollen sie jetzt auch einem Feind entkommen?“ fragte Tom. „Wahrhaftig, seht doch – was sind das für Tiere, die hier und dort aus dem Wasser schauen und die fliegenden Fische jagen?“ „Delphine“, erklärte der Vater. „Seht ihr: Sie schwimmen mit einer Geschwindigkeit von einer Meile in der Minute durchs Wasser. Es gibt nur wenige Tiere, die schneller schwimmen können. Sie gehören zur Familie der Wale.“ Die Kinder beobachteten die seltsamen Delphine mit ihren langen, schnabelähnlichen Mäulern, wie sie hinter den fliegenden Fischen schwammen und dabei auch aus dem Wasser sprangen. Es war wirklich sehr aufregend. „Ich glaube, die fliegenden Fische sind weg“, sagte Margaret schließlich. „Delphine und fliegende Fische – ich hätte nie geglaubt, daß ich einmal so etwas sehen würde.“ Die Sonne wurde immer heißer, je weiter sie in den Süden kamen. Die Kinder trugen so wenig Kleider wie möglich. Alle Passagiere der „Polarstern“ wurden allmählich zu einer großen Familie. Jetzt, wo kein Land in Sicht war, mußten sie sich miteinander unterhalten. Eines Tages gab es eine Rettungsbootübung. Jeder mußte lernen, wohin er sich im Falle einer Gefahr zu begeben hatte. Die Pimpernell-Kinder wußten längst, zu welchem Rettungsboot sie gehörten und wie man schnell einen Schwimmgürtel umlegt. „Wenn jeder weiß, was er zu tun hat und wo er hingehen muß, gibt es bei Gefahr keine Panik und kein Durcheinander,“ hatte der Vater ihnen gleich in den ersten Tagen erklärt. „Und wir dürfen nie vergessen, daß Furcht genauso
ansteckend ist wie Keuchhusten. Man muß gerade bei Gefahr tapfer sein, besonders wenn man mit vielen anderen Menschen zusammen ist.“ „Ist Tapferkeit auch ansteckend?“ fragte Tom. „O ja“, meinte sein Vater. „Und es ist eine sehr gute Art von Ansteckung.“ Die Tage vergingen viel zu schnell. Das Schiff nahm Kurs zum nächsten Hafen, den sie anlaufen sollten: Madeira. „Bald sind wir vor der Insel Madeira“, sagte die Mutter. „Sie wird euch gefallen. Wir werden dort eine Fahrt in einem Ochsenkarren machen, steile, schmale Straßen hinunter, die mit kleinen Steinen gepflastert sind!“ „Ein Ochsenkarren!“ rief Jessie. „Das gefällt mir. Warum gibt es bei uns keine Ochsenkarren? Ich glaube, die wären viel hübscher als Busse.“ Madeira war herrlich. Die „Polarstern“ kam immer näher an die sonnenüberflutete Insel, und dann fuhren sie in den Hafen, wo viele Menschen aufgeregt am Ufer herumliefen und sie willkommen hießen. Es schien den Pimpernells schon lange her zu sein, seit sie das letzte Mal Land gesehen hatten! Und als sie auf dem Kai waren, kam ihnen das direkt komisch vor. „Nach diesem Schaukeln und Schwingen auf dem Schiff scheint die Erde viel fester zu sein als früher“, sagte Tom. „Ich habe jetzt Seemannsbeine statt Landrattenbeine!“
Ochsenkarren warteten auf die Passagiere, die eine Spazierfahrt über die Insel machen wollten.
„Aber die Karren haben ja gar keine Räder!“ rief Margaret überrascht. „Schaut doch nur – sie haben anstelle der Räder Kufen wie Schlitten. Können wir einsteigen?“ Einige Straßen waren sehr steil, und die Pflastersteine glänzten und waren schlüpfrig. Die Kufen der Ochsenkarren glitten leicht und schnell über sie hinweg. Die großen, schläfrig dreinschauenden Ochsen waren stark und zogen sie mit Leichtigkeit. Die Kinder freuten sich riesig. „Mutti, diese Ochsenkarren könnten wir neben unserem Wohnwagen gebrauchen!“ „Wir möchten ein paar Andenken kaufen,“ sagte die Omi. „Kommt, wir gehen in diesen kleinen Laden. Ihr dürft euch jeder sechs Taschentücher aussuchen. Auf dieser Insel wird viel und sehr schön gestickt – oft von Kindern, die so jung sind wie Margaret.“ Wunderhübsche Näharbeiten gab es in dem kleinen, seltsamen Haus zu kaufen. Sie erstanden eine ganze Menge und stiegen dann wieder in ihren Ochsenkarren. „Ochsen, bitte zu den Schiffen!“ rief Tom, und mit größtem Tempo ging’s die Kopfsteinpflasterstraßen hinunter. Margaret japste. Was für ein Tempo! „Eigentlich kann man sich gar nicht vorstellen, daß es zu Hause jetzt kalt ist und vielleicht regnet“, sagte Tom plötzlich und fächelte sich frische Luft zu. „Seht doch all die bunten Blumen dort – genau wie im Sommer! Und so heiß ist die Sonne bei uns niemals. Wenn ich meinen Hut abnähme, bekäme ich gewiß einen Hitzschlag!“ „Ganz bestimmt!“ sagte der Vater ernst. „Also versuch es lieber gar nicht erst. So, jetzt sind wir wieder da! Und nun zurück an Bord. Was meint ihr wohl, wo es als nächstes hingeht? Zu den Kanarischen Inseln.“ „Leben dort die Kanarienvögel?“ fragte Margaret. „Natürlich!“ sagte Vati. „Du wirst sie überall herumfliegen sehen, genauso wie die Spatzen bei uns!“ „Fliegende Fische, Delphine, Ochsen, Kanarienvögel“, sagte Jessie und schüttelte den Kopf. „Was kommt wohl noch alles?“
Eine Aufregung jagt die andere
Weiter fuhr ihr gutes Schiff, die „Polarstern“, immer weiter über südliches Meer. Und als sie zu den Kanarischen Inseln kamen, da war es genauso, wie Vati gesagt hatte: Viele wilde Kanarienvögel flogen umher und sangen laut! „Aber so leuchtend gelb wie bei uns zu Hause sind sie nicht“, meinte Tom enttäuscht. „Sie sind grün. Doch sie singen genauso schön. Vati, gibt es hier auch Papageieninseln? Ich hoffe, wir fahren dann dorthin. Ich möchte gern einen Papagei mit nach Hause nehmen und ihn sprechen lehren.“ „Drei Papageien in einer Familie, das reicht schon“, sagte die Mutter lachend. „Seht nur die kleinen Jungen, die um das Schiff herumschwimmen. Sie sind wie Fische – als ob sie im Wasser zu Hause wären.“ Ein paar Passagiere warfen kleine Geldstücke in das klare Wasser. Eine Horde Jungen tauchte sofort danach. Sie holten sich jede einzelne Münze vom Meeresboden hoch. Ihnen zuzuschauen war ein Vergnügen. „Das werden wir im Schwimmbecken nachmachen“, sagte Tom. „Wir üben es. Es sieht sehr leicht aus, aber ich nehme an, man muß die Augen unter Wasser offen halten. Und das ist bestimmt nicht einfach.“ Ein Junge rief etwas zum Schiff hinauf. Einer der Matrosen übersetzte es den Passagieren. „Er meint, für eine Peseta wird er unter dem Schiff durchschwimmen und auf der anderen Seite wieder heraufkommen.“ „Eine Peseta – was ist das?“ fragte Jessie den Matrosen, und er erklärte ihr, es sei ein spanisches Geldstück, für das man für mindestens drei Tage Brot bekäme. „Von mir bekommt er eine Peseta“, sagte ein Passagier und warf das Geldstück ins Wasser. Es fiel hinunter. Der Junge tauchte ihm nach und erwischte es. Er tauchte wieder zur Oberfläche auf und winkte allen an der Reling zu. Dann tauchte er an der einen Schiffsseite hinunter. Bald konnte man ihn nicht mehr sehen. Die Passagiere verließen die eine Schiffsseite und gingen zur anderen hinüber, um zu beobachten, wie der Junge wieder auftauchte. Margaret hatte Angst um den kleinen Burschen. „Er kann doch nicht unter dem Schiff durchschwimmen – es reicht ja tief ins Wasser hinein, dorthin, wo es ganz dunkel ist“, jammerte sie. „Vati, er wird doch wieder auftauchen, nicht wahr?“ „Natürlich“, beruhigte sie der Vater. „Er macht es am Tage ein dutzendmal! Jetzt bleib hier und schau, wie er wieder auftaucht.“ Trotzdem dauerte es recht lange, ehe tief unten im Wasser ein kleiner, dunkler Punkt auftauchte. Und dann schoß der Junge an die Wasseroberfläche, keuchend und fröhlich winkend. Er hatte es geschafft! „Bravo!“ riefen die Passagiere. „Donnerwetter! Ganz unter dem Schiff hindurch! Wo nahm er nur die Luft her?“ Kleine Boote kamen, fuhren um das Schiff herum und die Händler darin verkauften Südfrüchte – Bananen, Pfirsiche, Orangen, sogar Ananas. Die
braungebrannten Leute priesen ihre Ware an und kletterten damit sogar an der Schiffsseite empor. Es war alles sehr aufregend. Die Pimpernell-Kinder, braungebrannt von der heißen Sonne, freuten sich über alles Neue und Seltsame. Sie merkten auch, daß viele wilde Kanarienvögel gefangen waren und nun in Käfigen zum Kauf angeboten wurden.
„Nur wenige werden lebend nach Hause gebracht“, sagte der Vater. „Sie sind zu sehr an das heiße Klima hier gewöhnt und werden die Reise kaum überstehen.“ Trotzdem kauften viele Leute die kleinen Piepmätze in ihren Weidenkäfigen. Sie gaben sie den Matrosen zum Aufheben. Die Pimpernell-Kinder besuchten die armen kleinen Gefangenen oft. Die sangen sich die Seele aus dem Leib in ihren Käfigen. Margaret hätte sie zu gern alle freigelassen.
„Sie sind nicht in Käfigen geboren und aufgewachsen, so wie unsere Hauskanarienvögel“, sagte sie traurig zur Schwester. „Sie sind bestimmt sehr unglücklich.“ Die Matrosen hatten ein Tau gespannt und die kleinen Käfige daran aufgehängt. Das war ein seltsamer Anblick. Die Kinder schauten jeden Tag nach, um sich davon zu überzeugen, daß die Vögel auch Wasser zu trinken bekamen… Das schöne Schiff fuhr weiter über die tiefblaue See. Die Tage schienen nur so dahinzufliegen. Kein Mensch achtete darauf, was für ein Wochentag war. Nur am Sonntag wurde ein Gottesdienst an Deck abgehalten, zu dem auch alle Matrosen kamen. Der Kapitän las dann aus der Bibel und sprach die Gebete. Die Kinder standen in Sonne und Wind dabei und lauschten andächtig. Es gefiel ihnen sehr gut. „Mutti“, fragte Margaret, „findest du nicht auch, daß die Lieder zum Rauschen des Meeres besonders schön klingen?“ „Morgen ist Montag, denn heute ist Sonntag“, sagte Tom. „Ich kann die Tage nicht mehr auseinanderhalten! Bis morgen habe ich sicher wieder vergessen, daß Montag ist. Das ist das Komische an diesen Ferien. Man weiß nie, welcher Tag gerade ist – sie sind alle schön.“ „Wo fahren wir als nächstes hin?“ fragte Margaret. „Nach Afrika!“ antwortete die Mutter. „Nach Französisch-Marokko. Und dann, mein Liebes – dann geht’s wieder nach Hause!“ „O je – so bald schon?“ fragte Margaret traurig. „Können wir nicht um die ganze Welt fahren, Mutti?“ „Das geht nun wirklich nicht“, sagte die Mutter lächelnd. „Ich nehme dich und Jessie mit um die Welt, wenn ich erst Seemann bin“, versprach Tom der kleinen Schwester. „Wir werden in jedem Hafen anlegen, der uns gefällt und dort so lange bleiben, wie wir möchten.“ „Jetzt ist wieder mal kein Land mehr zu sehen“, sagte Jessie und schaute über das Meer. „Nur blaues Wasser. Kommt, wir spielen Decktennis. Ich möchte gern gegen dich spielen, Tom. Danach baden wir im Schwimmbecken. Vati, kommst du und wirfst uns Münzen ins Wasser, bitte? Wir werden danach tauchen wie die Jungen!“ „In Ordnung“, sagte der Vater. „Und wer schwimmt für eine Peseta unter dem Schiff entlang?“ Aber das wollte niemand.
Vater muß feilschen
Die „Polarstern“ fuhr weiter nach Nordafrika. Die Pimpernells standen an der Reling und sahen, wie das Land allmählich näher kam. Eine große Stadt breitete sich vor ihnen aus, eine Stadt mit strahlend weißen Gebäuden und breiten Straßen. „Das ist Casablanca“, erklärte der Vater seinen Kindern. „Wenn ihr brav seid, nehme ich euch mit an Land, und dann dürft ihr in den Basaren einkaufen. Die Basare sind kleine Straßen, in denen die Eingeborenen ihre Geschäfte haben, wo man praktisch alles kaufen kann!“ „Wir werden Andenken aussuchen, die wir mit nach Hause bringen“, sagte die Mutter. „Und die besorgen wir nicht in einem der großen Läden in den Hauptstraßen. Wir gehen, wie Vati sagt, in die Basare.“ Die Geschwister gingen also in Casablanca voll besonderer Spannung an Land. Sie hatten all ihr Geld eingesteckt. Ein Taxi brachte sie zu den kleinen Geschäftsstraßen. Aber kaum hatten sie solch eine schmale Gasse betreten, da wandte Margaret sich entsetzt zu ihrer Mutter um. „Mutti! Hier stinkt es ja fürchterlich. Das halte ich nicht aus!“ „Oh, an diesen Orten riecht es nie besonders gut“, sagte die Mutter. „Damit muß man rechnen. Nimm mein Kölnisch Wasser und halte es dir unter die Nase.“ Der armen Margaret war ganz übel. Aber die anderen hielten sich auch ihre Taschentücher vor die Nase. Trotzdem betrachteten sie die kleinen, seltsamen Läden interessiert. Alles mögliche wurde da angeboten: handgemachte Broschen, Ringe, Armreife, wunderschönes Geschirr, seltsame Hausschuhe mit hochgezogenen Spitzen, Beutel, Körbe, Blechtöpfe… „Es ist alles recht billig“, sagte der Vater. „Aber man muß mit ihnen feilschen.“ „Was ist feilschen?“ fragte Margaret, die sich immer noch Mutters Fläschchen unter die Nase hielt. „Nun, ich nenne einen niedrigen Preis und der Ladeninhaber einen hohen. Dann gibt er etwas nach, und ich gehe ein bißchen höher. So geht es weiter, und am Ende zahle ich nur die Hälfte des ursprünglichen Preises.“ „Aber warum zeichnen sie die Ware nicht richtig aus, wie unsere Geschäftsleute zu Hause?“ fragte Jessie. „Diese Art hier ist doch nur Zeitverschwendung.“ „Ihnen macht das Feilschen Spaß“, sagte Vati. „Und sie haben furchtbar viel Zeit. So, jetzt paßt auf.“ Vater wollte ein paar buntbemalte schöne Schüsseln kaufen. Er fragte nach dem Preis. Dabei sprach er französisch wie jeder in Casablanca. Der Händler nannte einen Preis, und Vater machte ein entsetztes Gesicht. Vater nannte selber einen Preis, und nun schaute der Händler erschrocken drein. So ging es hin und her. Die Kinder lachten, als sie ihren Vater und den Händler verhandeln sahen. Sie fuchtelten beide wild mit den Händen und redeten lebhaft. Schließlich waren sie einig: Der Vater zahlte mit französischem Geld, und der Mann überreichte ihm die Schüsseln. Beide lächelten. Der Kauf war
abgeschlossen. Der Mann bekam den Preis, den er wünschte, und Vater fand auch, daß er den richtigen Preis zahlte. Also waren beide zufrieden.
„Darf ich auch mal handeln?“ erkundigte sich Margaret. Sie wollte sehr gern eine Brosche haben, die wie ein fliegender Fisch geformt war. „Das gelingt dir nicht, Dummerchen“, sagte Tom. „Du kannst ja noch nicht mal französisch sprechen.“ „Nein – das stimmt“, gab Margaret zu. „Aber ich werde es ganz schnell lernen, wenn wir wieder zu Hause sind. Dann kann ich feilschen, wenn wir wieder mal herkommen. Vati, bitte kauf mir die Brosche.“ Also begann Vati wieder zu handeln. Er bekam die Brosche, und Margaret freute sich. Dann erstand Jessie ein paar rote Pantoffeln mit silbernen hochgezogenen Spitzen und Tom einen seltsamen Messingtopf, in den lauter kleine Schiffe eingraviert waren. „Mutti, warte mal! Schau dir doch mal dieses süße kleine Baby an“, sagte Jessie plötzlich. „Aber schrecklich! Überall auf seinen Augen sitzen Fliegen!“ „Das arme Ding!“ sagte die Mutter erschrocken und versuchte, die Fliegen wegzuscheuchen. Doch die ließen sich nicht vertreiben, sie kamen sofort wieder zurück. „Ich fürchte, viele Babys müssen wegen dieser schrecklichen Fliegen erblinden. Ja, Casablanca ist eine wunderschöne Stadt, und man findet hier viele hübsche Sachen – doch wenn man genauer hinsieht, entdeckt man auch viele entsetzliche Dinge.“ „Ich glaube, mir wird wieder übel“, sagte Margaret. „Es riecht so furchtbar. Ich möchte hier nicht noch einmal her, nicht einmal, um schöne Sachen zu kaufen.“ Sie kehrten zum Schiff zurück. Vater nickte Margaret zu:
„Ja, meine Kleine“, sagte er, „jetzt habt ihr gesehen, wie manche Menschen leben. Aber nun mach wieder ein fröhliches Gesicht – wir fahren mit einem Auto über Land.“ Sie fuhren am Nachmittag los und sahen Hunderte von Affen, die lustig schnatterten und sich von Baum zu Baum schwangen. Dann kamen sie zu einem hübschen weißgetünchten Haus, nahe am Wasser. Dort tranken sie Pfefferminztee aus kleinen Tassen ohne Henkel. „Pfefferminztee!“ rief Jessie vergnügt und schnupperte daran. „Ach, den mag ich. Mutti, wenn wir nach Hause kommen, mach uns bitte auch welchen.“ „Gestank, Affen und Pfefferminztee“, sagte Margaret. „Was uns die nächsten Tage wohl noch bringen!“
Zu Hause ist es doch am schönsten
Eines Tages wurde es ernst: Die große Reise ging zu Ende! Die „Polarstern“ fuhr wieder nach Norden. Die schöne weiße Stadt Casablanca lag schon weit zurück. Es ging nach Hause. Und die Pimpernells waren gar nicht traurig. Sie hatten sogar ein bißchen Sehnsucht nach der Heimat. „Man merkt erst, wie schön es zu Hause ist, wenn man in andere Länder reist“, sagte Jessie. „Mir kommt es vor, als wüßte ich jetzt erst, wie ich dort alles liebe: die Heckenrosen, die Apriltage, wenn Sonne und Regen dauernd wechseln, die goldenen Butterblumen und die Wiesen mit dem hohen Gras.“ „Genauso geht es mir“, sagte Tom. „Wir haben eine herrliche Zeit verlebt, und ich werde sie nie vergessen, aber zu Hause ist es doch am schönsten. Trotzdem – wenn ich erwachsen bin, werde ich Seemann. Ich möchte noch viel mehr von der Welt sehen!“ „Aber einen Sturm haben wir nicht gehabt“, sagte Margaret. „Nun, kleines Fräulein, was nicht ist, kann noch werden“, sagte ein großer Matrose, der in der Nähe stand. „Heute nacht wahrscheinlich schon! Ich fühle, daß einer kommt. Und ich ziehe meine weißen Sachen lieber aus und dafür die warmen blauen an, ehe es zu spät ist!“ „Ooooh“, sagte Margaret und bekam vor Staunen große Augen, „ist das Ihr Ernst? Ein Sturm heute nacht? Wird das gefährlich? Müssen wir uns in die Rettungsboote setzen? Wie gut, daß die .Polarstern’ so viele hat.“
„Auf dieser Reise brauchen wir die Rettungsboote nicht“, beruhigte sie der Matrose lachend. „Aber vielleicht wirst du seekrank. Und geh ja nicht an Deck, wenn das Schiff anfängt zu rollen!“ Der Matrose behielt recht. In der nächsten Nacht kam ein Sturm, als die Kinder kaum in ihren Betten lagen. Der Wind heulte und türmte große Wellenberge auf.
Die „Polarstern“ begann fürchterlich zu schlingern. Margaret wurde ängstlich. Die Mutter sah in die Kabine der beiden Mädchen, und ihre Jüngste jammerte: „Wenn das Schiff von der einen auf die andere Seite schwankt, das macht mir nicht so viel. Aber wenn es rauf und runter geht, das mag ich nicht. Das gibt mir so ein komisches Gefühl in der Magengegend. Ich glaube, ich bin seekrank.“ „Omi fühlt sich auch nicht wohl“, sagte die Mutter lächelnd. „Wenn es so weitergeht, werden vermutlich noch viele Leute seekrank. Leg dich ruhig hin und lutsche an diesem Bonbon, dann fühlst du dich nicht ganz so elend.“ Der Sturm hielt die ganze Nacht über an. Margaret schrie laut, als plötzlich irgend etwas über den Boden rutschte. Jessie knipste das Licht an. „Was rutscht da bloß über den Boden?“ fragte Margaret fast weinend. „Was ist das?“ „Aber Margaret – es ist nur der Koffer unter deinem Bett“, antwortete Jessie lachend. „Siehst du, dort guckt er wieder vor, und jetzt verschwindet er unter meinem. Paß auf: Wenn sich das Schiff auf die andere Seite legt, rutscht er wieder unter dein Bett. Siehst du, da kommt er schon! Das wird eine ganze Zeit so hin und her gehen.“ Da mußte Margaret doch lachen. Am anderen Morgen war die See immer noch sehr aufgewühlt. Alle Fahrgäste hatten Schwierigkeiten beim Gehen und noch mehr beim Treppensteigen. Sie hielten sich an den Geländern fest und versuchten mühsam, ihr Gleichgewicht zu halten. „Heute wird wohl alles vom Frühstückstisch rutschen!“ vermutete Tom. Aber er irrte sich: Die Stewards hatten an jedem Tisch hölzerne Umrandungen angebracht. Die verhinderten, daß die Teller und Tassen vom Tisch fielen. Es war das reinste Geduldsspiel, beim Essen und Trinken nichts zu verschütten, wenn das Schiff so schlingerte. Die Pimpernell-Kinder hatten ihren Spaß an den Mitreisenden, die ihre Teller kaum festhalten konnten. Dann nahm der Vater sie mit an Deck, um ihnen die wilde See zu zeigen. Huh – wie hoch reckten die riesigen Wellen ihre graugrünen Köpfe! Wie sie gegen das Schiff schlugen! Manche Wellen brachen sich an Deck, und das Wasser lief überall umher. Es war wirklich sehr aufregend. Aber langsam legte sich der Sturm. Das Meer wurde wieder ruhig, und die Oktobersonne schien friedlich hernieder. Doch trotz der Sonne war es empfindlich kälter geworden. Sie holten langsam die paar warmen Sachen hervor, die sie mithatten. Und eines Tages standen sie an Deck, und Tom rief plötzlich: „Dort, dort drüben!“ Seine scharfen Augen hatten einen schwachen Strich am Horizont erkannt. „O Vati, Mutti, seht bloß: Dort ist Land! Wir sind bald zu Hause.“ „Ja, unsere Reise ist wirklich gleich zu Ende“, sagte die Omi. „Sie war schön, nicht wahr? Und wie braun und gesund sind wir! Aber jetzt, Kinder, heißt es fleißig sein in der Schule! Ihr müßt nachholen, was ihr versäumt habt!“ „Klar!“ Jessie nickte eifrig. „Ich habe gar nichts dagegen, daß wir wieder in die Schule gehen. Wir haben viel zu erzählen.“
„Hoffentlich nehmen wir Portugal und Spanien und Nordafrika noch in diesem Jahr durch“, meinte Tom. „Dann bin ich bestimmt der Beste in Erdkunde!“ Jetzt war das Land klar zu erkennen. Die Mutter drückte Vaters Hand, und sagte etwas ganz Ähnliches wie ein paar Tage vorher ihre Kinder: „Die Heimat ist noch schöner, wenn man sie mal für einige Zeit verlassen hatte, nicht wahr? Wir kommen zwar zurück zu den Herbstnebeln, den gelben Bäumen und fallenden Blättern; aber wir sind doch froh und glücklich!“ „Wie schön wird es sein, wieder in den Wohnwagen zu leben, David und Clopper zu sehen und den Regen auf das Wagendach klopfen zu hören, während wir gemütlich darin sitzen!“ sagte Jessie mit einem tiefen Seufzer. „Jetzt kann ich es kaum erwarten, daß wir endlich landen!“ „Zu Hause ist es am schönsten!“ sang Margaret plötzlich. „Auf Wiedersehen, Stiere, fliegende Fische, Delphine und Taucherjungen, Ochsenkarren und Affen – und Gerüche! Auf Wiedersehen! Am schönsten ist es zu Hause!“