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Titel des chinesischen Originals: Ssi ju dji. Der Übersetzung liegt die Ausgabe des Verlags des Schriftstellerverbandes, Peking 1954, zugrunde. Lizenz Nr. 384-220/17/62 (ES 8 C)
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Alle Rechte vorbehalten Copyright 1962 by Greifenverlag Rudolstadt Schutzumschlag und Einband: Dietrich Bauer Gesetzt aus der Korpus Garamond Antiqua Druck: Buchdruckerei Richard Hahn (H. Otto) Leipzig III/18/I2 Bindearbeiten: C. H. Schwabe, Leipzig
WU TSCHÖNG-ÖN
DIE PILGERFAHRT NACH DEM WESTEN
ROMAN
AUS DEM CHINESISCHEN ÜBERTRAGEN UND HERAUSGEGEBEN VON JOHANNA HERZFELDT
――――――――――――――――――――――――――――― GREIFENVERLAG ZU RUDOLSTADT
DIE LEBENSGESCHICHTE DES AFFEN WU-KUNG BIS ZU SEINER GEFANGENSETZUNG IM BERG DER FÜNF ELEMENTE
1. Von der wundersamen Geburt des „Vollkommenen Affenkönigs“ und seinem Verlangen nach Unsterblichkeit
Endlich trat das große Geschehen ein: Himmel und Erde lösten sich aus dem Chaos und schieden sich voneinander. Es begann ein erster Zyklus von einhundertsechsundneunzig Jahrhunderten. Dieses Dahingleiten durch die Zeit vollzog sich in zwölf Perioden von je zehntausendacht Jahren. Schenkt man den Alten Glauben, so versank in der Mitte der letzten Periode die Welt von neuem in das Chaos und blieb darin für die folgenden fünftausendvier Jahre, während deren der erste Zyklus sich vollendete. Danach begann ein neuer Zyklus, der im gleichen Rhythmus ablief. In dessen erster Periode formte sich der Himmel, in der zweiten die Erde. In der dritten gingen aus der Vereinigung des männlichen und weiblichen Prinzips die Menschen, Vierfüßer und Vögel hervor. Der große Baumeister des Universums war Panku. Seine Nachfolger, die „Drei Souveräne“, vervollkommneten sein Werk, und die „Fünf Kaiser“ festigten es durch gerechte Gesetze. Die Erde wurde in vier große Regionen aufgeteilt: den Westen, Süden, Norden und Osten. Die in dieser Erzählung berichteten Ereignisse spielten sich alle im Osten ab. Im Grenzgebiet der Östlichen Region ragte hoch über die Gebirgsketten der Berg der Blumen und Früchte empor. Ein Fels5
block von sechsunddreißig Fuß Höhe und achtzig Fuß Umfang krönte ihn. Seit Urzeiten von den Strahlen der Sonne und des Mondes beschienen, schwoll dieser Felsblock ohne Unterlaß an. Schließlich klaffte er an einer Stelle auseinander und stieß ein kugelrundes steinernes Ei aus. Unter dem Druck eines gewaltigen Orkans spaltete es sich und gab einem steinernen Affen den Weg frei, der die fünf Sinne des Menschen besaß und durch angestrengtes Üben die Fähigkeit erwarb, sich in den vier Himmelsrichtungen zu bewegen. Er hatte einen funkelnden Blick; zum Himmel aufschauend, verdunkelte er den Glanz der sieben Sterne des Großen Bären. Eines Tages wurde Dshang Di*, der Oberste Himmelsherr, in seinem Palast der Himmlischen Höhen auf ein starkes Leuchten aufmerksam, das von den irdischen Bergen aufstieg. Er konnte sich den Ursprung nicht erklären und sandte zwei Boten, Auge der Tausend Li und Ohr des Günstigen Windes, zur Erkundung aus. Bei ihrer Rückkehr berichteten die beiden: „Aus dem felsigen Gipfel des Berges der Blumen und Früchte in der Östlichen Region ist durch das Zusammenwirken des männlichen und weiblichen Prinzips, der Sonne und des Mondes, ein steinernes Ei hervorgegangen, dem ein steinerner Affe entstiegen ist. Dieser Affe wendet dem Himmel seinen alles überstrahlenden Blick zu. Aber er ernährt sich von Baumfrüchten und Quellwasser und wird darum über kurz oder lang seinen leuchtenden Blick einbüßen.“ Dshang Di winkte verächtlich ab. „Ein vom Odem des männlichen und weiblichen Prinzips gezeugtes irdisches Wesen – das bedeutet nicht Außergewöhnliches.“ Er wandte sich den Regierungsgeschäften zu. Besagter Affe ließ sich im Gebirge nieder und schloß Freundschaft mit den langarmigen Affen und Kranichen, mit den Hir*
Erklärungen zum näheren Verständnis befinden sich am Schluß. 6
schen und Eichhörnchen. Einmal suchte er an einem glühend heißen Tag mit anderen Affen zusammen den kühlenden Schatten eines dichten Tannenwaldes auf. Sie gelangten an das Ufer eines schäumend dahinbrausenden Bergstromes, und mehrere Affen riefen: „Wo mag er entspringen? Wir haben nichts zu tun – machen wir uns auf, seine Quelle zu finden!“ Und mit lautem Geschrei wanderten sie an dem reißenden Bergstrom aufwärts bis zu der Stelle, wo seine Quelle, wie aus einer Trompete mit aller Kraft hervorgestoßen, aus dem Erdboden sprudelte. „Was für ein schönes Gewässer!“ riefen die Affen. „Ob wohl einer von uns sicher im Tauchen ist und seine Tiefe messen kann? Bei seiner Rückkehr würden wir ihn zu unserem König proklamieren!“ Diese Zusage wiederholten sie dreimal. Der steinerne Affe sprang mit einem Satz vor die Rufer. „Ich tauche!“ schrie er und sprang, die Augen schließend, mit kühnem Schwung in die Tiefe. Als er die Augen wieder aufschlug, sah er vor sich eine eiserne Brücke, an deren Fuß ein starker breiter Wasserstrahl aus dem Felsgestein quoll. Er ging dem Lauf des Strahls nach und gelangte bald vor ein großes steinernes Gebäude, an dessen Giebel die Inschrift eingemeißelt war: Berg der Blumen und Früchte, Bezirk der Glückseligkeit, Höhle der Wasservorhänge, Höhle der Himmlischen. Mit einem einzigen Klimmzug schwang sich der steinerne Affe wieder an die Oberfläche, gab das verschluckte Wasser aus Mund und Nase von sich und rief mit schallender Stimme: „Welches Glück!“ Die Affen umringten ihn und bedrängten ihn mit Fragen: „Wie sieht es unten aus? – Ist das Wasser tief?“ Er beschrieb, was er gesehen hatte: die eiserne Brücke, den breiten Wasserstrahl, das steinerne Gebäude, die Inschrift an dem Giebel. „In dem Haus“, sagte er, „gibt es Kochtöpfe und Feuerstellen, Eßschalen und Schüsseln, Lagerstätten und Sitze und viele andere Dinge, alle aus Stein. Rings um das Haus stehen Obst7
bäume. Die Himmlischen haben uns diese Unterkunft zugedacht. Wir wollen unseren Einzug halten; fortan werden wir vor Sonne und Regen geborgen leben.“ Die Affen vollführten Freudensprünge. „Ältester Bruder“, jauchzten sie, „spring voran, wir folgen dir!“ Der steinerne Affe sprang von neuem in die Tiefe, die anderen Affen taten das gleiche. Sie überschritten die eiserne Brücke, drangen in das Haus und ergriffen Besitz von allem, was sich darin befand. Als sie von dem Hin und Her erschöpft waren, ließ sich der steinerne Affe auf einem steinernen Sitz nieder und richtete folgende Worte an seine Gefährten: „So seid ihr nun! Es ist gemein, ein gegebenes Versprechen nicht zu halten. Aber ihr verschmäht solche gemeine Handlungsweise nicht. Eben noch habt ihr euch verpflichtet, den zu eurem König auszurufen, der in die Tiefe springen würde. Ich bin in die Tiefe gesprungen, ich habe diese Höhle der Himmlischen entdeckt und euch hierher geführt. Mir habt ihr es zu verdanken, daß ihr fortan euch der Ruhe erfreuen und ungestört schlafen werdet. Aber eures Versprechens uneingedenk, habt ihr mich noch nicht zu eurem König ausgerufen.“ Darauf bildeten die Affen einen Kreis um ihn, erwiesen ihm die althergebrachten Ehrenbezeigungen und verliehen ihm den Titel „Großer König“. Der steinerne Affe legte sich die Bezeichnung „Vollkommener Affenkönig“ bei und ernannte die langarmigen Affen zu seinen Hofbeamten. Tag für Tag streifte er vom frühen Morgen an durch das Gebirge; des Abends legte er sich in der Höhle der Wasservorhänge schlafen. Solch glückliches Leben führte er nahezu drei Jahrhunderte lang. Aber es kam ein Abend, an dem er während eines Banketts unerwartet in heftiges Schluchzen ausbrach. Verwundert umringten ihn die anderen Affen und begehrten, die Ursache seiner Traurigkeit zu erfahren. Der Affenkönig erwiderte: „Ich verfüge über alles, was ich mir wünschen könnte, und doch bedrückt mich ein Kummer und entlockt mir 8
Tränen: ich fürchte mich vor dem Alter und dem damit verbundenen Kräfteverfall. Wie bald werde ich auf das Leben verzichten müssen! Ich habe das Glück gehabt, in diese Welt hineingeboren zu werden, und soll die Freude zu leben nicht bis ans Ende der Zeiten auskosten dürfen! Ist dieser Gedanke nicht dazu angetan, Kummer zu bereiten?“ Darauf ließ sich ein Affe also vernehmen: „Es gibt nur drei Arten von Wesen, Großer König, denen der Tod nichts anhaben kann. Das sind die Buddhas, die Unsterblichen und die Geheiligten Geister. Sie wohnen im Himmel und in den Höhlen im Innern der Gebirge.“ Hocherfreut entgegnete der Affenkönig: „So werde ich euch verlassen und mich auf die Suche nach einem dieser bevorzugten Wesen begeben, um von ihm zu erfahren, wie ich dem Tode entrinnen kann.“ Die Affen billigten den Entschluß ihres Großen Königs und bereiteten ihm am nächsten Tag ein feierliches Abschiedsmahl mit einer Fülle von Gerichten. Jeder von ihnen überreichte dem Großen König eine seltene Frucht, die sie eigens auf den Berghängen gesammelt hatten. Am folgenden Morgen erhob sich der Affenkönig bereits in dämmernder Frühe, fällte mehrere Bäume, zimmerte ein Floß und trat, mit einem langen Bambusstab als Lenkstange versehen, die Fahrt ins Ungewisse an. Ein günstiger Wind trug das Floß schnell an die Gestade der Südlichen Region. Der Affenkönig erblickte Menschen beim Fischfang und auf der Vogeljagd, beim Salzschürfen und Muschelsammeln. Mit großen Sätzen eilte er auf sie zu; es machte ihm Spaß, sie zu erschrecken. Sie ließen auch augenblicklich Körbe und Netze im Stich und flüchteten bis auf einen, der, von Entsetzen gepackt, bewußtlos zu Boden stürzte. Der Affenkönig zog ihm die Kleider aus, hüllte sich darein und trat, also als Mensch gewandet, den Weg zur Stadt an. Er wanderte Tag für Tag und übte sich in einem fort in der Sprache der Menschen, 9
immer mit dem Ziel vor Augen, unter den ihm Entgegenkommenden einen Buddha, einen Unsterblichen oder einen Geheiligten Geist herauszufinden, um sich von ihm den Weg zur Unsterblichkeit weisen zu lassen. Allmählich stiegen Zweifel am Gelingen seines Vorhabens in ihm auf, denn wahrhaftig: Wen er traf, der gierte nach Reichtum und Ruhm, achtlos der Schwäche durch späteres Siechtum. Neun volle Monate streifte der Affenkönig durch die Lande. Schließlich gelangte er an das Ufer des in schier endlose Ferne sich dehnenden Westmeeres. „Am jenseitigen Ufer werde ich bestimmt einen Unsterblichen finden“, dachte er und zimmerte sich abermals ein Floß. Die Strömung trieb ihn an den Strand der Westregion. Wieder machte er sich auf die Wanderschaft. Eines Tages fand er sich am Fuß eines steil aufragenden Berges, dessen Hänge mit frischem Grün und dichten Waldungen bedeckt waren. Er schickte sich gerade zum Aufstieg an, als ein Lied an sein Ohr drang und ihn zum Stehenbleiben veranlaßte. Meine Axt ist meine Standarte. Im dichten grünen Wald fälle ich Bäume, kenne alle Pfade um die Höhle der Geheiligten Geister. Vom Holzerlös kaufe ich Reisschnaps und trinke mich voll. Hoch ist der Berg und dicht der Wald, aber lauer Wind und Mondschein erquicken mich. Weiß ich, wovon ich leben kann, scher’ ich mich nicht um den Trubel der Städter. Das ist der Weg zur Langlebigkeit, den mich gelehrt ein Unsterblicher. Der Affenkönig spähte durch das Dickicht und entdeckte den Sänger: es war ein Holzfäller bei der Arbeit. Er schritt eilends auf ihn zu, grüßte höflich und sagte: „Unsterblicher Geist, gestattet einem, der von euch lernen 10
möchte, sich Euch zu nähern.“ Der Holzfäller erwiderte den Gruß, legte die Axt beiseite und entgegnete: „Ihr irrt, gnädiger Herr. Ich bin ein armer Schlucker und unwürdig des Titels, den Ihr mir beilegt.“ „Aber Ihr habt soeben gesagt, daß Ihr von einem Unsterblichen den Weg zur Langlebigkeit gelernt hättet. Wie ist es dann möglich, daß Ihr kein Unsterblicher seid?“ beharrte der Affenkönig. Den Holzfäller kam das Lachen an. „Das Lied, das ich sang, heißt ,Wohlgerüche im Palast’. Ein Unsterblicher, der in unserem Dorf lebt, hat es mir beigebracht. Ich sollte etwas zum Singen haben, um meine Trübsal zu vertreiben.“ „Ich verstehe nicht“, drang der Affenkönig weiter in den Holzfäller, „wie es möglich ist, daß Ihr im gleichen Dorf wie ein Unsterblicher wohnt und euch von ihm nicht habt sagen lassen, wie man dem Tode entrinnen kann. Das ist schade.“ Der Holzfäller seufzte. „Ich bin ein Elendswurm“, antwortete er. „Mein Vater ist schon seit vielen Jahren tot, meine Mutter hochbetagt. Da ich ihr einziger Sohn bin, muß ich sie unterhalten. Deswegen schlage ich Holz und tausche es in Reis um. Mir bleibt keine Zeit, Schüler eines Unsterblichen zu sein.“ „Ihr befolgt die Vorschriften der Kindespietät“, räumte der Affenkönig ein. „In Zukunft wird es euch sicher besser ergehen. Aber ich habe für mich eine große Bitte an Euch. Weist mir den Weg zu der Wohnung des Unsterblichen, von dem Ihr sprächet. Ich möchte ihn um Unterweisung angehen.“ „Er wohnt nicht weit von hier“, sagte der Holzfäller und beschrieb dem Affenkönig bereitwillig, wie er gehen müsse. „Auf dem Berg der Herzenshöhe ist die Höhle des Mondes und der drei Sterne. Darin wohnt er. Vor kurzem entließ er viele 11
Schüler und hat jetzt nur etwa vierzig um sich versammelt.“ Der Affenkönig verabschiedete sich höflich und schlug den ihm gewiesenen Pfad ein. Nach höchstens sieben oder acht Li stand er bereits vor dem Eingang der Höhle. Er war hochbeglückt, brachte aber nicht den Mut auf, an die Tür zu pochen. Mit ein paar Sätzen schwang er sich mitten in das Ästegewirr einer hohen Fichte. Dort wollte er abwarten, wie sich die Dinge entwickeln würden; zum Zeitvertreib knabberte er Fichtenzapfen. Unerwartet schnell öffnete sich die Tür der Höhle. Ein junger Schüler trat hinaus und rief ärgerlich: „Wer macht hier solchen Lärm?“ Der Affenkönig schnellte sich von seinem hohen Sitz herunter, verneigte sich und sagte: „Ich suche einen Meister, der mich den Weg zur Unsterblichkeit lehrt. Ich mache keinen Lärm.“ „Der Meister ist im Begriff, mit der Unterweisung zu beginnen. Ich soll alle hereinlassen, die nach dem Weg der rechten Lebensweise trachten. Gehörst du zu denen?“ „Ich gehöre zu denen!“ antwortete der Affenkönig. Er strich schnell glättend über seine Kleidung und folgte dem jungen Schüler in die Höhle, die mehrere Hallen umschloß. In der Mitte eines Podiums saß der Meister. Davor hatten die Schüler, deren Zahl die Dreißig übersteigen mochte, in zwei Reihen Platz genommen. Der Affenkönig näherte sich dem Podium, wobei er sich ein über das andere Mal verbeugte, und sagte: „Großer Meister, Euer Schüler wagt es, vor Euch zu erscheinen!“ Der Meister fragte den Ankömmling, welchen Namen seine Sippe trage und welchen Namen Vater und Mutter ihm gegeben hätten. „Ich habe weder Vater noch Mutter“, antwortete der Affenkönig. „Dann hat dich also ein Affe zur Welt gebracht?“ fragte der Meister weiter. „Ich bin nicht auf einem Baumwipfel geboren“, erklärte der 12
Affenkönig. „Ich bin aus einer Steinkugel hervorgegangen. Das geschah in dem Jahr, in dem der felsige Gipfel des Berges der Blumen und Früchte auseinanderklaffte. Dabei gelangte ich in die Weit.“ Der Meister entgegnete: „Danach bist du von der Sonne und dem Mond gezeugt. Das ist sehr gut. Richte dich auf und geh einige Schritte; ich will sehen, wie du das fertigbringst.“ Der Affenkönig streckte sich mit einem Ruck und tat, wie ihm geheißen. Der Meister lächelte. „Du bist recht häßlich“, sagte er. „Du hast eine wunderbare Ähnlichkeit mit den Affen, diesen Fichtenzapfenknackern. Ich will dir einen wohlklingenden Sippennamen verleihen. Du sollst dich Ssun nennen. Von den beiden Schriftzeichen, die in diesem Namen vereinigt sind, bedeutet das eine ,Sohn’, das andere ,Jugend’; das aus ihnen zusammengesetzte Schriftzeichen ,einen jungen Sohn, der stetig wächst’. Das ist ein glückverheißendes Symbol.“ Der Affenkönig vollzog eine tiefe Verbeugung, bei der er mit der Stirn den Boden berührte, und entgegnete hocherfreut: „Dieser Name ist über alle Maßen schön, Großer Meister! Fügt ihm, ich bitte Euch, noch einen persönlichen Namen hinzu, damit Ihr mich leicht herbeirufen und mir Weisungen erteilen könnt.“ „Unter den zwölf Namen“, hub der Meister wiederum an zu sprechen, „die einem Menschen beigelegt werden, der nach dem Weg der rechten Lebensweise trachtet, trifft der Name Wu-kung am besten auf dich zu. Er bezeichnet einen Menschen, der durch Meditation die Leere ergründet.“ „Auch dieser Name ist über alle Maßen schön, Großer Meister!“ sagte der Affenkönig mit freudigem Lächeln. „Fortan nenne ich mich also Ssun Wu-kung.“
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2. Ssun Wu-kung dringt in die Grundgeheimnisse ein und tötet den Teufelskönig des Chaos
Wu-kung paßte sich in seiner Lebensweise genau den anderen Schülern an. Er studierte die Sutren, übte sich in den Schriftzeichen und lernte Weihrauch zu verbrennen. In seiner Freizeit kehrte er die Hallen aus, hielt den Garten in Ordnung und trieb Blumenzucht. Als sieben Jahre vergangen waren, stellte er fest, daß es für ihn in den Unterweisungen des Großen Meisters nichts mehr zu lernen gab, und benahm sich ungebührlich. Zur Rede gestellt, sagte er: „Ihr tragt nichts vor, Großer Meister, was ich nicht schon wüßte. Das macht mich närrisch vor Freude, und ich kann mich nicht ruhig verhalten. Ich lärme nicht aus bösem Willen.“ Darauf bot ihm der Meister an, ihn einen der dreihundertsechzig Wege zu lehren, die zur Großen Wahrheit führten. Wu-kung ließ sich erklären, was er auf den verschiedenen Wegen lernen würde. Aber es ergab sich, daß ihn keiner zur Unsterblichkeit zu führen vermochte. Da trumpfte er auf: „Dann will ich überhaupt keinen Weg lernen!“ Der Meister ergrimmte. „Jämmerlicher Affe du!“ schrie er Wu-kung an. „Für wen hältst du mich, daß du alle meine Methoden abzulehnen dich erdreistest!“ und schlug ihm mit seinem Bambusstab dreimal auf den Kopf. Darauf verschränkte er die Hände auf dem Rücken, begab sich in sein Gemach am Ende der Höhle und schloß die Tür hinter sich. Die Schüler erstarrten vor Schrecken und gaben ihrem Unmut über Wu-kungs Benehmen in bösen Worten Ausdruck. Dieser aber blieb völlig ruhig, denn er verstand das Verhalten des Großen Meisters zu deuten: zu Beginn der dritten Nachtwache sollte er ihn, unbeobachtet von den anderen Schülern, durch die Hintertür in seinem Privatgemach aufsuchen. 14
Zur vorgesehenen Stunde schlüpfte Wu-kung aus dem Schlafsaal und schlich sich zu der Hintertür, durch die man in das Gemach des Großen Meisters gelangte. Er fand sie angelehnt, trat lautlos ein und kniete in respektvoller Entfernung vor der Lagerstatt des ruhenden Meisters nieder. Dieser schlug die Augen auf und erkannte Wu-kung. ,So ein durchtriebener Kerl’, ging es ihm durch den Sinn. ,Aber da Sonne und Erde ihn geboren haben, verstand er eben, mein Verhalten zu deuten.’ Er winkte Wukung zu sich heran und flüsterte ihm geheimnisvolle Dinge ins Ohr. Als er geendet hatte, bedankte sich Wu-kung und eilte in die vorderen Räume zurück. Dort sagte er alles vor sich hin, was er soeben gelernt hatte, um es seinem Gedächtnis unauslöschlich fest einzuprägen. Drei Jahre lang wiederholte er sich täglich um die Mittagsstunde und zu Beginn der dritten Nachtwache in genau derselben Reihenfolge der Themen alles, was er darüber erfahren hatte. Eine Tages unterbrach sich der Große Meister mitten in der Unterweisung und fragte Wu-kung, wie weit er mit seinen Übungen gelangt sei. „Stetige Arbeit hat mich die Wahrheit restlos erkennen lassen“, antwortete Wu-kung. „Damit hast du eine zuverlässige Grundlage erworben“, entgegnete der Große Meister. „Aber die Zukunft birgt trotzdem drei schwere Gefahren für dich.“ Wu-kung überlegte einen Augenblick. Dann wandte er ein: „Euer Schüler hat aus den Büchern ersehen, daß, wer die Unsterblichkeit erlangt hat, so lange leben wird, wie Himmel und Erde bestehen. Welche Gefahren sollen ihn also bedrohen können?“ „Niemals werden Himmel und Erde dem Vergebung gewähren, der in das Geheimnis der Wandlungen eingedrungen ist“, belehrte ihn der Große Meister. „In fünfhundert Jahren wird der Himmel einen todbringenden Schlag gegen dich führen. 15
Schaffst du es, dieser Gefahr zu entrinnen, so wird dich nach abermals fünfhundert Jahren das aus der Tiefe der Erde auflodernde Feuer des weiblichen Prinzips bedrohen. Es wird ein Aschenhäufchen aus dir machen und dich um die Früchte deines durch tausend Jahre hindurch in Frömmigkeit geführten Lebens bringen. Gelingt es dir, dieser entsetzlichen Bedrohung zu entgehen, so wird nach einer neuen Frist von fünfhundert Jahren der Himmel einen giftgeschwängerten Wind gegen dich aussenden, der dein Fleisch und deine Knochen restlos zerstören wird. Das sind die drei Gefahren, denen du unweigerlich entgegengehst.“ Diesmal wußte Wu-kung keinen Einwand zu erheben. „Ich flehe Euch an, Großer Meister“, stammelte er, „mich wissen zu lassen, was ich tun muß, um diesen Gefahren zu entgehen.“ Der Große Meister flüsterte ihm einige Worte ins Ohr. Was diese Worte bedeuteten, vermöchte niemand von uns zu sagen, aber Wu-kung verstand ihren Sinn ebenso mühelos wie alle früheren Geheimnisse. Von Stund an übte er sich in den zweiundsiebzig Fähigkeiten der Verwandlung. Ein andermal fragte der Große Meister auf einem Spaziergang mit seinen Schülern Wu-kung, ob er schon so weit sei, ihr ihn gelehrten Fertigkeiten anzuwenden. Wu-kung antwortete bejahend; er könne unter anderem durch die Luft fliegen. „Fliege einmal“, befahl der Lehrer, „ich will deine Fähigkeit prüfen!“ Selbstgefällig schnellte sich Wu-kung vom Erdboden etwa fünf oder sechs Fuß in die Höhe und legte in der Zeit, die ein Kessel voll Reis zum Garwerden braucht, ungefähr drei Li auf zusammengeballten Wolken zurück. „Ist das die richtige Art, auf den Wolken zu schweben?“ fragte er, unten angelangt, zuversichtlich den Meister. „Du schwebst nicht auf den Wolken, du klammerst dich mühsam daran fest“, wies ihn dieser zurecht. „Bei den Alten heißt es: „Die Götter und Heiligen Geister steigen morgens im Nordmeer 16
auf und kehren abends heim. In der Zwischenzeit überfliegen sie die Meere im Osten, Süden und Westen. Nur wer vermag, an einem einzigen Tag über die vier Meere dahinzugleiten, schwebt wirklich auf den Wolken.“ „Das zu schaffen, scheint mir sehr schwer“, sagte Wu-kung enttäuscht und wurde abermals zurechtgewiesen: „Nichts fällt dem schwer, der den Willen dazu aufbringt.“ Aber auf Wukungs flehentliche Bitte, ihn die Kunst des Fliegens zu lehren, nahm ihn der Meister bei der Hand, flüsterte ihm den erforderlichen Zauberspruch ins Ohr und ließ ihn die Worte wiederholen. Alsbald stiegen sie beide hoch in die Luft empor und beschrieben eine Riesenkreislinie von einhundertachttausend Li. Zur Abendzeit, als die Fackeln eben angezündet wurden, langten sie wieder auf ihrem Ausgangsplatz an. Fortan übte sich Wu-kung allnächtlich in seiner neuen Fertigkeit. Es kam ein Abend, an dem die Schüler, zu einer Diskussion unter einer Fichte vor der Höhle versammelt, Wu-kung glücklich priesen, daß er sich die Geheimnisse der Verwandlung angeeignet habe, und ihn aufforderten, die Gestalt einer Fichte anzunehmen. Bereitwillig sagte Wu-kung den entsprechenden Zauberspruch vor sich hin, spürte ein Zittern durch den ganzen Körper und stand als Fichte vor seinen überraschten Gefährten, die in lautes Gelächter ausbrachen und Beifall klatschten. Der ungebührliche Lärm veranlaßte den Großen Meister, nach dessen Ursache zu forschen. Er führte Wu-kung abseits und hielt ihm vor, dem Wunsche seiner Gefährten aus Wichtigtuerei gewillfahrt zu haben. „Wenn dir ein Mann durch seine Geschicklichkeit auffällt“, sagte er, „willst du erfahren, wie er sie erworben hat. Wer Zeuge deiner Fertigkeit wird, will ähnliches vollbringen. Du erweckst also, indem du sie zur Schau stellst, böse Begierden und mußt dich entscheiden, ob du dein Geheimnis preisgeben oder dir Neid und Verfolgung zuziehen willst. Ich kann dir ein solches 17
Verhalten nicht verzeihen, und darum mußt du mich sofort verlassen. Ich fürchte, du wirst dich nach der Rückkehr auf den Berg deiner Herkunft dem Bösen zuwenden. Merke dir das eine: du darfst niemals sagen, daß du mein Schüler gewesen bist. Ich werde es sofort erfahren, wenn du gegen mein Gebot verstoßen hast, und Unheil über dich verhängen.“ Wu-kung erkannte die Schwere seines Vergehens und sah ein, daß er sich dem Befehl des Großen Meisters fügen mußte. Er verabschiedete sich von ihm und seinen Gefährten, stieg zu den Wolken auf und flog über das Meer des Ostens heimwärts. Es dauerte gar nicht lange, so hörte er unter sich das wohlvertraute Gekreisch der Affen auf dem Berg der Blumen und Früchte. Im Nu stand er mitten unter ihnen. „Da bin ich wieder, meine lieben Kinder!“ rief er ihnen zu. Und schon umringten sie ihn; von den Bäumen herunter, hinter den Felsen und aus den Büschen hervor drängten sie in Mengen herbei, große und kleine Affen, und alle brachen sie sofort in jämmerliches Klagen aus: sie waren vom Teufelskönig des Chaos überfallen worden und hatten mit knapper Not die Höhle der Wasservorhänge vor seinem Zugriff retten können; viele von ihnen schmachteten in der Gefangenschaft des Feindes. Augenblicks schwang sich Wu-kung wieder in die Lüfte und glitt auf einer Wolke zur „Höhle der Nieren“, wo der Teufelskönig residierte. Hohnlachend stellte sich dieser dem Besucher zum Kampf. Aber es erwies sich schnell, daß der „kleine, verächtliche Affe“ durch seine Wendigkeit und Verschlagenheit der Riesenkraft des plumpen Gegners überlegen war. Er entriß ihm das gewaltige Schwert und spaltete ihm den Schädel, als zerteile er eine Melone, drang in die „Höhle der Nieren“ ein und befreite die gefangenen Affen. Ehe er den Rückweg mit ihnen antrat, schärfte er ihnen ein, die Augen bis zur Ankunft auf dem Berg der Blumen und Früchte fest geschlossen zu halten. Darauf sagte er den passenden Zauberspruch vor sich hin. Ein gewalti18
ger Wind hob sie allesamt vom Erdboden auf und trug sie über das Meer genau vor den Eingang zur Höhle der Wasservorhänge. Die Affen waren höchlichst erstaunt, ihren Großen König so bald wiederzusehen, und jubelten über die Befreiung ihrer Gefährten. Sie beglückwünschten Wu-kung zu seinen wunderbaren Fähigkeiten und bestürmten ihn mit Fragen, wo er sie erworben habe. Wu-kung berichtete von seiner Wanderschaft, von dem Großen Meister, der ihn den Weg zur Unsterblichkeit und alle Fertigkeiten, die er jetzt besitze, gelehrt habe, und erklärte ihnen zum Schluß voller Stolz, daß er einen Sippen- und einen persönlichen Namen erhalten habe und sich Ssun Wu-kung nenne. Alle Affen klatschten begeistert in die Hände und riefen: „So seid Ihr also, Großer König, unser Vater, der Ehrwürdige Ssun; wir sind Eure Kinder, jedes ein Ssun, alle Einwohner Eures Königreichs sind ebenfalls jeder ein Ssun, und dieser Berg ist unser Stammland Ssun!“ Zur Feier der Heimkehr ihres Großen Königs veranstalteten sie ein üppiges Festmahl. Er war im Besitz eines Namens. Welch ein Glück! Nicht zu sagen! Doch wer würde ihn in das Buch der Unsterblichen eintragen?
3. Die vier Meere und tausend Berge sind dem Affenkönig untertan. Die zehn Todesgötter geben ihn aus der Unterwelt frei
Der Affenkönig hatte das gewaltige Schwert, das er dem Teufelskönig des Chaos entwunden hatte, mit auf den Berg der Blumen und Früchte gebracht und ließ sofort seine Untertanen aus Bambusstäben Lanzen und aus Holz Schwerter schneiden, unterwies sie in der Handhabung der Waffen und teilte sie in vier Banner auf. Dabei verhehlte er seine Befürchtung nicht, daß die 19
Könige der Menschen, der Vögel und der Vierfüßer unter dem Vorwand, daß er ein Heer zu Eroberungszwecken aufgestellt habe, mit ihren Truppen gegen ihn ziehen und ihm den Besitz des Berges streitig machen möchten. „Wie soll ich ihnen mit Holz- und Bambuswaffen erfolgreich widerstehen?“ rief er aus. „Dazu sind richtige Waffen erforderlich!“ Die jungen Affen setzten eine bedenkliche Miene auf, ließen die Zunge lang heraushängen und kratzten sich hinter den Ohren. Aber vier alte Affen – zwei rotschwänzige und zwei langarmige – traten aus der Versammlung hervor und sagten: „Euer Begehr, Großer König, läßt sich leicht befriedigen. Zweihundert Li südwärts von unserem Stammland erstreckt sich am Südmeer entlang das Reich Aulai. Dort könnt Ihr Kupfer und Eisen kaufen, soviel Ihr nur wollt, und Euch von den Waffenschmieden Schwerter in jeder gewünschten Menge fertigen lassen. Derart ausgerüstet, werden wir uns den Besitz dieses Berges für immer sichern können.“ Ssun Wu-kung schwang sich in die Lüfte gen Süden und gewahrte aus der Höhe eine gewaltige Stadtfeste. Mit Recht vermutete er in deren Arsenalen fertige Waffen. ,Aber man wird sie mir nicht verkaufen wollen’, überlegte er, ,ich muß sie durch List an mich bringen.’ Und schon beschwor er mit einem Zauberspruch einen Orkan herauf, der Sand und Steinmassen durch die Luft wirbelte. Die Tore der Festung wurden eingedrückt, die Krieger flüchteten. Wu-kung ließ sich auf die Erde niederfallen und drang in die Arsenale ein. Wohin er sich wandte, erblickte er ungeheure Mengen aufgeschichteter Waffen. Wie sollte er sie fortschaffen? Schnell riß er sich eine Handvoll Haare aus, zerbiß sie und pustete die winzigen Teilchen in die Luft, wobei er rief: „Verwandlung! Verwandlung!“ In einem Nichts von Zeit standen zehn Millionen junge Affen arbeitsbereit um ihn herum. Behende räumten sie die Arsenale aus und kehrten schwer beladen mit Wu-kung auf den Berg der Blumen und Früchte zurück. 20
Ssun Wu-kung verteilte die Waffen unter seine siebenundvierzigtausend Untertanen. Deren Freude darüber war so groß, daß sie sich nach der Waffenausgabe bis in die sinkende Nacht hinein mit Tanzen vergnügten. Am nächsten Morgen begann Wu-kung mit der militärischen Ausbildung seiner vier Banner. Der Berg der Blumen und Früchte glich fortan einer eisengespickten Festung, in der es von tapferen Generälen und klugen Ministern wimmelte. Aus den zweiundsiebzig Höhlen der Umgegend nahten sich ehrfurchtsvoll die Gebieter der Ungetüme und der Vierfüßer. Sie huldigten dem Vollkommenen Affenkönig als ihrem Lehnsherrn und verpflichteten sich zu regelmäßigen Tributzahlungen. Abermals beschlich Ssun Wu-kung eine drückende Sorge: noch besaß er keine schwere, seiner Kraft angemessene Waffe. „Wo kann ich sie finden?“ fragte er seine Berater, die beiden rotschwänzigen und die beiden langarmigen Affen. „Ich vermag mich unsichtbar zu machen, mich schneller fortzubewegen als die Wolken, ungefährdet Metall und Holz zu durchdringen und durch Wasser, Feuer und Erde zu gehen. Ratet mir!“ „Im Besitz solcher Fähigkeiten könnt Ihr Euch mit Leichtigkeit die gewünschte Waffe verschaffen!“ beschieden ihn seine Ratgeber und wiesen ihm den Weg zum Kristallpalast des Drachenkönigs auf dem Grund des Ostmeeres. Ssun Wu-kung schwang sich auf das Geländer der eisernen Brücke, die in die Tiefe des Ostmeeres führte, machte die magische Bewegung des Wasserzerteilens und befand sich im nächsten Augenblick vor dem Tor zum Kristallpalast des Drachenkönigs. Ein Triton fragte nach seinem Begehr. „Ich bin ein Unsterblicher, residiere in der Höhle der Wasservorhänge auf dem Berg der Blumen und Früchte und nenne mich Ssun Wu-kung. Als Nachbar des Drachenkönigs möchte ich ihm meinen Besuch abstatten. Melde mich bei ihm!“ gab er zur Antwort. Der Triton beeilte sich, seinem Herrn den hohen Gast anzukünden. 21
Der Drachenkönig geleitete Wu-kung in das Innere seines Palastes und bewirtete ihn mit Tee. Wu-kung kam ohne Umschweife auf sein Anliegen zu sprechen. „Ich bin auf der Suche nach einer für meine Hand geeigneten Waffe“, sagte er, „um im Notfall meinen Berg und meine Höhlen zu verteidigen. Euer Palast steht in dem Ruf, Kostbarkeiten zu bergen. Wollet mir also aus meiner Not heraushelfen.“ Bereitwillig ließ der Drachenkönig dem Gast einen wuchtigen Speer und einen gewaltigen Dreizack vorlegen. Wu-kung wog die Waffen in der Hand und fand sie beide zu leicht. Auch die siebentausendzweihundert Djin schwere Lanze, die der Drachenkönig selbst führte, schleuderte er nichtachtend mitten in die Halle. Auf den Rat seiner Gemahlin und seiner Töchter führte der von Entsetzen gepackte Drachenkönig seinen unheimlichen Besucher an den Nabel des Ostmeeres, von dem ein helles Leuchten ausging. Es rührte von einer ungeheuren Eisenstange her, die über die Wasserfläche emporragte. „Mit dieser Eisenstange“, sagte der Drachenkönig erklärend, „maß der Große Jü, als er die Gewässer regulierte, an verschiedenen Punkten die Tiefe des Meeres aus. Nach getaner Arbeit ließ er sie an Ort und Stelle zurück, damit sie mit ihrem Gewicht die aufschäumenden Wogen niederhalte. Niemand in der Welt vermag diese Stange von der Stelle zu bewegen und nutzbringend zu verwenden.“ Wu-kung streifte die Ärmel seines langen Obergewandes hoch, richtete sein Denken fest auf seine Körperkraft und schlang beide Arme um die Stange. „Ich wünsche sie mir niedriger und dünner“, sagte er vor sich hin. Und schon schrumpfte die Stange ein, und Wu-kung vermochte sie zu rütteln. „Ich wünsche sie mir noch ein wenig niedriger und dünner!“ murmelte er vor sich hin, und schon schrumpfte die Stange noch mehr zusammen. Wu-kung hob sie mühelos hoch und betrachtete sie eingehend: sie bestand aus massivem Eisen, um die beiden Enden waren Goldreifen gelegt und in der Mitte des Schafts war zu lesen: 22
Goldbereifte Eisenstange, wunschgemäß verwendbar. Gewicht: dreizehntausendfünfhundert Djin. Außer sich vor Freude, kehrte Wu-kung mit seinem kostbaren Schatz in den Händen eilends in den Kristallpalast zurück. Der Drachenkönig geriet ob dieses Anblicks in solche Erregung, daß ihn eine Gelbsucht befiel. Seinen Söhnen drohte das Blut in den Adern zu gerinnen. Wahrlich: Noch tiefer, als sie es ohnehin schon zu tun belieben, zogen Landschildkröte und Wasserschildkröte Hals und Kopf in sich ein; scharenweise ergriffen, von panischem Schrecken getrieben, Krabben, Fische und Krebse die Flucht landein. Seine Eisenstange schwingend, ließ sich Wu-kung gegenüber dem Drachenkönig nieder. „Ihr habt meine volle Anerkennung erworben, ehrenwerter Nachbar!“ nahm er lächelnd das Wort. „Wollet geruhen, mir Eure Hilfe ein zweites Mal zuteil werden zu lassen. Ich besitze jetzt eine meiner würdige Waffe, aber noch keine gestickte Schabracke und keinen Panzer. Gewährt mir beides als Geschenk und seid dafür meiner steten Dankbarkeit versichert.“ Der von solcher Formlosigkeit peinlich berührte Drachenkönig nahm seine Zuflucht zu Klagereden: er verfüge nicht über die gewünschten Dinge, sie seien sicher in anderen Ländern leicht zu beschaffen. „Ihr zwingt mich, meine Eisenstange an Euch auszuprobieren!“ schrie der Affenkönig aufgebracht. In dieser höchsten Gefahr ließ der Drachenkönig eine eiserne Trommel rühren und eine goldene Glocke anschlagen. „Das ist das Zeichen für meine drei jüngeren Brüder, die Drachenkönige des Südlichen, Westlichen und Nördlichen Meeres, sich ungesäumt zu mir zu begeben“, erklärte er dem Affenkönig. „Ich werde ihnen Eure Wünsche vortragen, und sie werden sie bereitwillig erfüllen, wenn sie dazu in der Lage sind.“ 23
Die drei Drachenkönige waren alsbald zur Stelle. Ihr ältester Bruder erwartete sie in der Vorhalle des Palastes und berichtete den vom eilenden Lauf Atemlosen die Veranlassung zu seinem Notruf. Der Drachenkönig des Südmeeres brauste auf: „Er ist allein! Wir sind unser vier und sollten uns fürchten?“ Aber der älteste Bruder verwies ihn warnend auf die Eisenstange. „Sie ist schwer genug, daß er uns damit den Schädel zertrümmern kann!“ Der Drachenkönig des Westmeeres riet, dem Ansinnen des Fremden zu willfahren und danach den Fall Dshang Di, dem Obersten Himmelsherrn, zur Bestrafung zu übergeben. Mit diesem Vorschlag erklärten sich die drei anderen einverstanden. Gemeinsam betraten die vier Brüder das Innere des Palastes. Der Drachenkönig des Nordmeeres überließ dem Affenkönig seine bestickten hohen Stiefel; der des Südmeeres trat ihm seinen goldenen Panzer und der des Westmeeres seinen mit Phönixflügeln verzierten Goldhelm ab. Wu-kung schlüpfte in die hohen Stiefel, legte den Panzer an und stülpte sich den Helm auf den Kopf. So ausgerüstet, schwang er, in seinem Gebaren einem eitlen Pfau vergleichbar, seine wuchtige Eisenstange einige Male hin und her, worauf er plötzlich in einen gemäßigten Ton verfiel und sagte: „Ich habe mich vom ersten Augenblick meines Besuchs an über die Etikette hinweggesetzt. Gestattet mir, mich jetzt auf den Heimweg zu begeben.“ Beim letzten Wort verschwand er. Einen einzigen Augenblick nur zerteilte der Affenkönig das Meer. Völlig trocken erschien er auf der eisernen Brücke, wo die Affen erwartungsvoll seiner Rückkehr harrten. Der unerwartete prächtige Anblick, den ihr König bot, löste Jubel und Entzücken bei ihnen aus. Ein solcher Empfang behagte Wu-kung über alle Maßen. Er setzte mit einem Sprung bis in die Mitte seiner Höhle, blieb dort, auf die Eisenstange gestützt, einen Augenblick bewe24
gungslos stehen und ließ sich dann schwer auf den Ehrensitz niederfallen. Die Affen umringten ihn und versuchten, die Eisenstange anzuheben. Sie glichen in ihrem Bemühen Libellen, die einen Steinpfeiler stürzen wollen. Wu-kung erhob sich lachend. ,,Es gibt kein Ding unter dem Himmel“, sagte er, „das nicht seinen Meister fände“, hob die Stange mit einer Hand hoch und schwang sie vor den verblüfften Affen durch die Luft. Darauf umspannte er sie mit beiden Händen und flüsterte vor sich hin: „Schrumpfe zusammen! Schrumpfe zusammen!“, worauf die Stange sich in eine winzige Nadel verwandelte, die er zutiefst in seinem Ohrgang versteckte, wo sie für niemanden sichtbar war. Ssun Wu-kung wollte fortan ein Leben ohne Mühen und Verantwortung führen. Er empfing noch einmal seine zweiundsiebzig Vasallen, hielt eine Truppenschau ab, ernannte seine vier ältesten Ratgeber zu Generälen, jeden mit dem zusätzlichen Ehrentitel „Der Kühne“, und beauftragte sie mit der Leitung des gesamten Militärwesens. Danach fühlte er sich frei, jeden Morgen eine Wolkenreise anzutreten und erst bei Einbruch der Abenddämmerung heimzukehren. Er schloß Freundschaft mit den sieben Geisterkönigen der Ochsen, der ungehörnten Drachen, der geschwänzten Vögel, der Löwen, der behaarten Affen, der Gorillas und der Füchse, unterhielt sich mit ihnen über Fragen der Wissenschaften und schönen Künste, erfreute sich mit ihnen der Schönheiten von Landschaften und Blumen und lud sie oft zu Gelagen ein. hei einem solchen Bankett geschah es, daß Wu-kung sich einen gehörigen Rausch antrank und sich unter einer Fichte zum Schlafen ausstreckte. Sein Schnarchen dröhnte wie rollender Donner durch die Nachbarschaft. Die vier „Kühnen“ umstellten geschwind die Fichte mit Truppen, damit jede Störung von ihrem Gebieter ferngehalten werde. Im Traum sah Wu-kung zwei Männer auf sich zukommen, die eine Tafel mit den drei Schriftzeichen seines Namens und eine Schnur zum Erdrosseln in der 25
Hand hielten. Sie stürzten sich auf ihn, schnürten ihm die Kehle zu und entführten seinen Geist. Zu dritt gelangten sie vor das Tor einer umwallten Stadt, auf dessen Schwelle eine Tafel verkündete: Zur Unterwelt. Wütend langte Wu-kung aus seinem ()lir die winzige Nadel heraus, ließ sie groß werden und versetzte seinen beiden Entführern einen heftigen Schlag, daß sie tot zu Boden stürzten. Darauf riß er sich die würgende Schnur ab und durchschritt, seine Eisenstange drohend nach links und rechts schwingend, das Tor. Die beiden Torwächter, der büffelgesichtige und der pferdegesichtige, rannten bei seinem Anblick entsetzt davon, und die Teufel liefen schreiend durcheinander. Die zehn Herrscher der Hallen der Gerechtigkeit, die gerade eine geheime Beratung abhielten, begaben sich, durch den ungewohnten Lärm gestört, eilends vor die Tür und stießen auf ein sich wild gebärdendes, ihnen unbekanntes Wesen. Sie verneigten sich und fragten ehrerbietig: „Wie nennt Ihr Euch, Unsterblicher?" „Ihr achtet mich als einen Unsterblichen und wagt, mich hierher holen zu lassen?“ entgegnete Wu-kung. „Nehmet zur Kenntnis, daß ich ein vom Himmel geborener Heiliger bin, den Namen Ssun Wu-kung führe und in der Höhle der Wasservorhänge auf dem Berg der Blumen und Früchte residiere. Aber wer seid Ihr? Sagt mit eure Namen, sonst erschlage ich euch!“ Zitternd nannten die zehn Herrscher ihre Namen und die Nummer der von ihnen regierten Hallen. „Geruhet, Euren Zorn zu dämpfen!“ fügten sie demütig hinzu. „Ein und derselbe Name kommt oft in der Welt vor. Zweifellos haben die Sendboten des Todes in Eurem Fall einen Irrtum begangen.“ „Versucht nicht, euch herauszureden!“ rief Wu-kung mit Donnerstimme. „Auch ihr kennt das alte Wort: ,Der Mandarin trägt die Verantwortung für alle Befehle, nicht die mit deren Ausführung Beauftragten!’ Und nun laßt mir auf der Stelle das Buch des Lebens vorlegen!“ Es geschah, wie Wu-kung gesagt 26
hatte. Er blätterte die Register durch, bis er an die Liste der Affen kam und feststellte, daß er darin unter der Nummer 1350 aufgeführt war. Geschwind griff er nach einem Pinsel, befeuchtete ihn auf dem Tuschreibestein und überpinselte alle Affennamen. Daraufhin warf er mit der Bemerkung: „Wir haben abgerechnet!“ Buch und Pinsel beiseite und stapfte, drohend seine Eisenstange schwingend, aus der Unterwelt hinaus. Der Geist kehrte wieder in den Körper zurück, und Wu-kung wachte aus seinem tiefen Schlaf auf. „Ich habe ein merkwürdiges Erlebnis gehabt“, sagte er zu den ihn umstehenden Generälen und Truppen. „Ich bin in die Unterwelt entführt worden, aber ich habe mich zur Wehr gesetzt und danach im Buch des Lebens unser aller Namen auswuscht. Fortan sind wir allesamt, ich, euer König, und ihr, meine Untertanen, im Besitz der Unsterblichkeit.“ Die Affen verneigten sich tief und dankten ihrem Großen König. Zur gleichen Zeit setzten die Zehn Könige der Unterwelt eine Klageschrift an Dshang Di, den Obersten Himmelsherrn, auf und beauftragten den Herrscher der Ersten Halle, sie zum Palast der Himmlischen Höhen zu schaffen. Dort hielt Dshang Di gerade eine Versammlung ab, in welcher der Klageschrift der Drachenkönige stattgegeben und die Entsendung von Truppen gegen den Angeklagten beschlossen worden war. Er nahm Kenntnis von der zweiten Klage und unterrichtete den König der Unterwelt von dem geplanten Strafzug gegen den Affenkönig. In die Beratung über die Maßnahmen zur Gefangennahme Wu-kungs griff der golden leuchtende Abendstern vermittelnd ein. „Dieser steinerne Affe“, führte er aus, „ist vom Himmel geboren, hat sich viele Jahre hindurch auf dem Weg der rechten Lebensweise gehalten, besitzt die Fähigkeit der zweiundsiebzig Verwandlungen und vermag sogar Drachen zu besiegen. Eure Himmlische Majestät möge Gnade für Recht ergehen lassen und ihn unter dem Vorwande, ihn mit einem hohen Amt betrauen zu wollen, in den Palast der Himmlischen Höhen berufen. Begeht er 27
hier einen neuen Frevel, wird es ein leichtes sein, ihn gebührend zu strafen. Aber die gegen ihn ausgesandten Feldherren würden ihre Kräfte erfolglos verschwenden.“ Dshang Di erkannte die Richtigkeit dieses Vorschlages und schickte den Abendstern mit einer schriftlichen Vollmacht auf den Berg der Blumen und Früchte. Der himmlische Sendbote übermittelte dem Affenkönig die Einladung des Obersten Himmelsherrn. Wu-kung nahm sie mit stolzem Lächeln an. Er beauftragte seine vier Generäle, sich nach bestem Vermögen dem Heerwesen zu widmen und nicht nachzulassen in der Bewachung des Berges und der Höhle der Wasservorhänge. „Ich werde mir die zum Himmel führenden Wege genau merken und Euch alle bald nachholen!“ sagte er abschließend. Darauf schwang er sich, dem Abendstern folgend, auf eine Wolke und glitt davon.
4. Wu-kung erklärt das Marschallamt für eine Kränkung. Er legt sich den Titel „Ebenbürtiger der Himmlischen“ bei
Vom Abendstern vor das Angesicht des Obersten Himmelsherrn geleitet, blieb Wu-kung stocksteif stehen, während sein Begleiter sich tief verneigte und ehrerbietig meldete: „Wie mir befohlen, habe ich den Unsterblichen heraufgeholt. Hier steht er!“ „Wer ist dieser Unsterbliche?“ fragte Dshang Di. „Der Ehrwürdige Ssun in Person!“ antwortete Wu-kung selbst mit Donnerstimme. Die anwesenden Himmlischen waren entsetzt. „Was für ein formloses Benehmen!“ flüsterten sie einander zu. „Verneigt sich nicht höflich beim Eintreten, läßt kein Wort respektvoller Begrüßung fallen, und nun nennt er sich selbst hochfahrend mit sei28
nem Ehrentitel! Er hat wahrlich das Leben verwirkt!“ Aber der Oberste Himmelsherr entschied anders. „Ssun Wukung ist mit unserem Zeremoniell noch nicht vertraut“, sagte er, „wir werden ihm dieses erste Mal Verzeihung gewähren.“ Alle Himmlischen verbeugten sich ehrfurchtsvoll; Wu-kung grüßte mit einem Neigen des Kopfes. Darauf übertrug Dshang Di dem Affenkönig das Amt des Marschalls und befahl, ihn zu den Himmlischen Pferdeställen zu geleiten. Dort erwarteten die vier Beamten des Marstalls bereits ihren neuen Marschall. Sie legten ihm die Listen vor, in denen tausend Pferde namentlich aufgezählt waren, und machten ihn mit seinem Pflichtenkreis bekannt. Wu-kung war als Marschall für den gesamten Pferdebestand verantwortlich. Von den vier Beamten hatten zwei die Ausführung seiner Anordnungen zu überwachen; die beiden anderen waren als Futtermeister und Bademeister tätig. Auf dem anschließenden Rundgang durch die Ställe stellte Wu-kung fest, daß die Pferde die Köpfe senkten und die Ohren hängen ließen. Das beruhigte ihn ungemein, denn er schloß daraus, daß sie nicht an Auflehnung dachten. Es vergingen fünfzehn Tage. Die Pferde wurden unter Wukungs Obhut groß und stark, und zum Zeichen ihrer Freude darüber luden die vier Beamten ihren Marschall zu einem Festessen ein. Beim Tafeln fragte Wu-kung, welche Stufe er in der Rangliste einnehme. Mit Befremden vernahm er die Antwort: „Das Amt des Marschalls wird in der Rangliste nicht geführt.“ „Besagt eure Auskunft, daß es noch über der höchsten Rangstufe steht?“ forschte er weiter. „Mitnichten! Es verleiht seinem Inhaber nur die Anwartschaft auf die Eintragung in die Rangliste“, lautete die Antwort. „Es ist also ein unbedeutendes Amt?“ fragte Wu-kung weiter, um sich zu vergewissern. „Ein ganz unbedeutendes sogar“, bestätigten die Beamten. „Wer es bekleidet, wird für jedes Versehen schwer bestraft.“ 29
Der ob dieses Bescheides ergrimmte Wu-kung stieß mit den Beinen gegen die Festtafel, daß sie mit lautem Gepolter umstürzte, und rief mit Donnerstimme: „Mich, den Ehrwürdigen Ssun, wagt man so verächtlich zu behandeln? Auf dem Berg der Blumen und Früchte war ich König und Vater! Ich gehe!“ Und die Zähne fletschend, langte er die bewußte winzige Nadel aus seinem Ohr hervor, verwandelte sie im Nu in die Eisenstange zurück und begab sich zum Südtor des Himmels. Er durchschritt es ungehindert, da er den Wachen als Marschall bekannt war, und kehrte auf den Berg der Blumen und Früchte zurück. Die vier Kühnen, alle Affen und die zweiundsiebzig Vasallen hießen Wu-kung jubelnd willkommen. „Fünfzehn Jahre habt Ihr fern von uns geweilt, Großer König“, sagten sie, „wir beglückwünschen Euch zu Eurer Rückkehr!“ – „Was redet ihr von fünfzehn Jahren!“ entgegnete Wu-kung. „Vor fünfzehn Tagen erst verließ ich diesen Berg.“ Er mußte sich belehren lassen, daß ein himmlischer Tag einem irdischen Jahr entspreche, er seinem Reich also fünfzehn Jahre lang fern geblieben sei. Danach begehrten die vier Kühnen zu erfahren, mit welchem hohen Amt ihr Großer König im Himmel betraut worden sei. „Eure Frage erhöht meine Schmach!“ entgegnete Wu-kung aufgebracht. „Dshang Di versteht es nicht, die Ämter in seinem Hofstaat angemessen zu verteilen. Mir übertrug er das Amt eines Marschalls, ein so niedriges Amt, daß es überhaupt nicht in der Rangliste geführt wird! Ich erfuhr das am fünfzehnten Tag meines Dortseins und verließ darauf umgehend den Palast der Himmlischen Höhen. Nun wißt ihr den Grund meiner Rückkehr.“ „Großer König“, erwiderten die Affen, „Ihr residiert in der Höhle der Wasservorhänge, in der das Glück seinen Sitz hat, und seid im Genuß aller Vorrechte der königlichen Würde. Was kümmert Euch ein Amt im Himmel! Geruhet, von dem Wein zu trinken, den wir Euch kredenzen. Möge er Eure Verstimmung 30
beheben!“ Während Wu-kung sich dem Genuß des Weines hingab, machten zwei Einhörner ihm ihre Aufwartung und überreichten ihm als Geschenk ein kostbares gelbes Obergewand. Auch diesen beiden berichtete er von der ihm widerfahrenen Kränkung. „Es geziemt sich nicht, Großer König“, sagten die Besucher, „Euch zum Pferdehüter zu bestellen. Euch gebührt vielmehr der Ehrentitel Großer Heiliger – Ebenbürtiger der Himmlischen.“ Dem für jede Schmeichelei zugänglichen Wu-kung gefiel solche Rede über alle Maßen. Er befahl seinen vier Kühnen sofort, eine Fahne mit dem Zeichen „Großer Heiliger – Ebenbürtiger der Himmlischen“ beschriften und vor dem Eingang zu seiner Höhle hissen zu lassen. Am nächsten Morgen erfuhr Dshang Di vom Verschwinden des Marschalls und befahl, Truppen zur Festnahme des Widerspenstigen auszusenden. No Tscha, der dritte Sohn des Pagodentragenden Himmelskönigs und Oberbefehlshabers Li Dsing, begab sich zum Eingang der Höhle der Wasservorhänge, um den geflüchteten Marschall zum Zweikampf herauszufordern. Wukung beobachtete ihn, wie er sich siegesgewiß näherte, und rief ihm entgegen: „Wer bist du, Bürschlein? Welche Angelegenheit führt dich so eilig zu meiner Residenz?“ Hochmütig nannte No Tscha seinen und seines Vaters Namen und setzte hinzu: „Ich habe vor, Euch gefangenzunehmen!“ Wu-kung lachte schallend. „Prinzlein“, sagte er, „du hast ja noch die Milchzähne im Munde! Wie kannst du es wagen, so hochtrabend daherzureden! Lies die Inschrift auf der Fahne vor dem Eingang zu meiner Residenz und ersuche Dshang Di in meinem Auftrag, diesen meinen Ehrentitel anzuerkennen. Andernfalls werde ich seinen Palast mit meinen Truppen angreifen.“ Wütend schrie No Tscha: „Verwandlung! Verwandlung!“ und stürmte als dreiköpfiger Gott, der in sechs Armen verschiedene Waffen schwang, auf den Gegner ein. 31
Wu-kung war verblüfft. Aber schnell gefaßt rief auch er: „Verwandlung! Verwandlung!“ und nahm als dreiköpfiger Riese, der in sechs Händen drei goldbereifte Eisenstangen hielt, den Kampf auf. Unter der Wucht der gegenseitig ausgeteilten Schläge erzitterte die Erde. Nach dreißig Runden war der Ausgang noch immer nicht entschieden, und Wu-kung beschloß, eine List anzuwenden. Er riß sich ein einzelnes Haar aus und verwandelte es in seinen Doppelgänger. Der nun von vorn und im Rücken bedrängte No Tscha mußte die Flucht ergreifen. Von seinem Vater begleitet, begab er sich zu Dshang Di, um den schmählichen Ausgang des Zweikampfes einzugestehen und von dem Ansinnen Wu-kungs, den Ehrentitel eines „Ebenbürtigen der Himmlischen“ anzuerkennen, zu berichten. Dem Himmelsherrn versagte sich vor Überraschung einen Augenblick die Sprache. Dann aber beschloß er, alle Generäle und die gesamte himmlische Truppenmacht gegen den Berg der Blumen und Früchte in Marsch zu setzen. Abermals griff der Abendstern vermittelnd ein. „Eure Majestät wolle diesem Frevler noch einmal Verzeihung gewähren und ihm auch den angemaßten Titel zusprechen“, sagte er. „Es gibt zwei Gründe für ein solches Vorgehen. Der eine: es ist mit Heeresmacht gegen dieses Ungetüm von Affen nichts auszurichten. Der andere: der von ihm begehrte Titel ist in der Rangliste nicht enthalten, verleiht ihm also keinerlei Rechte. Im übrigen kann der Affe, wenn er von neuem in Gnaden aufgenommen wird, nicht umhin, Eure Majestät dann und wann an seinen Gelagen teilnehmen zu lassen.“ Dshang Di würdigte diesen weisen Rat und sandte den Abendstern mit entsprechenden Vollmachten ein zweites Mal zu Wu-kung. Der Berg der Blumen und Früchte bot dem himmlischen Sendboten ein völlig verändertes Bild. Übelriechende Winde erschwerten ihm das Atmen. Trupps von Affen übten sich im Sä32
belfechten und Bogenschießen. Bewaffnete Affen wehrten ihm mit wilden Gebärden den Zutritt zur Höhle der Wasservorhänge. Aber er verlor die Ruhe nicht und bat höflich, dem „Großen Heiligen“ seine Ankunft zu melden. „Sicher will der Himmel aus Angst vor meinem Angriff die mir zugefügte Kränkung gutmachen!“ rief Wu-kung triumphierend. Er ließ die Trommeln rühren und trat inmitten eines großen Gefolges mit wehenden Fahnen aus der Höhle, um den Abgesandten des Himmels zu begrüßen und in die Vorhalle zu geleiten. Der Abendstern blieb in der Mitte der Halle stehen und richtete feierlich seinen Auftrag aus: „Von dem Wunsch erfüllt, eine kriegerische Auseinandersetzung zu vermeiden, habe ich den Obersten Himmelsherrn bewogen, Euch den begangenen Frevel zu verzeihen und Euch den begehrten Titel „Großer Heiliger – Ebenbürtiger der Himmlischen“ zuzuerkennen. Ich habe den Auftrag, Euch in den Palast der Himmlischen Höhen zurückzugeleiten. Wollet mir also folgen!“ Wu-kungs Einladung zu einem schnell herzurichtenden Festmahl lehnte er ab; er bestand auf sofortigem Aufbruch. Dshang Di empfing Wu-kung unmittelbar nach der Ankunft in Audienz. „Wir verleihen Euch hiermit den Ehrentitel „Großer Heiliger – Ebenbürtiger der Himmlischen“, eröffnete er ihm. „Aber laßt Euch gesagt sein, das Ihr kein zweites Mal Unruhe verursachen dürft. Jeglichen Ungehorsam gegen unsere Anordnungen werden wir als Verbrechen bewerten und mit schwerer Strafe ahnden.“ Wu-kung vollführte eine tiefe Verbeugung. Zwei himmlische Baumeister errichteten in Dshang Dis Auftrag für den neuen Würdenträger in einer lieblichen Landschaft nahe dem Pfirsichgarten der Königinmutter des Westens einen Palast, zu dem zwei Gartenhäuschen gehörten. Das eine benannten sie „Zur Besinnlichen Ruhe“, das andere „Zur Muße der Geister“. Wu-kung wurde mit großen Förmlichkeiten in seinen Wohnsitz eingeführt und begann inmitten eines Hofstaats von 33
Unsterblichen ein glückliches Leben, dem kein Ende gesetzt zu sein schien.
5. Der Ebenbürtige einverleibt sich Pfirsiche und Lebenselixier. Die Himmlischen umstellen den Berg der Blumen und Früchte mit Truppen
Von keinerlei Pflichten und Verantwortung gebunden, schweifte Wu-kung Tag für Tag durch die Wolkengefilde und führte sich in allen Palästen ein. Seine Besuche folgten oft so schnell aufeinander, daß es den Himmlischen den Atem verschlug. Einer von ihnen brachte dieses störende Treiben auf einem großen Empfang bei Dshang Di zur Sprache. „Der Große Heilige ist ohne Unterlaß planlos unterwegs“, führte er aus. „Die Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen, daß solcher Müßiggang ihn zu törichten Streichen verleitet. Eure Majestät möge erwägen, ihm eine Pflicht zu übertragen, damit er zur Seßhaftigkeit genötigt und von törichtem Tun ferngehalten wird.“ Dshang Di hieß diesen Vorschlag gut und befahl Wu-kung zu sich. In aufbegehrendem Ton fragte dieser beim Eintreten: „Aus welchem Grunde bin ich hierher beordert?“ Worauf Dshang Di ihm eröffnete: „Es geht Uns durch den Sinn, daß Ihr, dem Müßiggang frönend, der aus der Pflichterfüllung quellenden Befriedigung entbehrt. Darum übertragen Wir Euch die Obhut über Unseren Pfirsichgarten und ersuchen Euch, Eure Wachsamkeit aufzubieten, um ihn gegen Diebe zu schützen.“ Wu-kung bedankte sich erfreut und begab sich sogleich zu dem Garten, um ihn zu besichtigen. Er durchquerte ihn in allen Richtungen und ließ sich von dem Obergärtner den Baumbestand angeben. „Im Garten stehen insgesamt dreitausendsechs34
hundert Pfirsichbäume“, begann der Mann seinen Bericht, „je zwölfhundert im vorderen, mittleren und hinteren Abschnitt. Die Früchte im Vorderabschnitt reifen alle dreitausend Jahre. Wer von ihnen genießt, gelangt in den Besitz der Unsterblichkeit, der Verschlagenheit und der Stärke. Im Mittelabschnitt reifen die Früchte alle sechstausend Jahre. Sie sind besonders zart und saftig, und ihr Genuß verleiht Langlebigkeit und die Fähigkeit zu fliegen. Die Bäume im letzten Abschnitt tragen Früchte mit kleinem Stein und bläulichem Fleisch; sie reifen alle neuntausend Jahre. Wer sie verzehrt, lebt so lange, wie es Sonne und Mond, Himmel und Erde geben wird.“ Diese Auskunft erfreute Wukung über alle Maßen. Er zählte die Bäume abschnittweise durch und kehrte in seinen Palast zurück. Wie erwartet, stellte der Große Heilige das Umherschweifen ein. Jeden dritten oder vierten Tag inspizierte er in Begleitung seines Hofstaats und des Obergärtners den seinem Schutz anvertrauten Pfirsichgarten. Die Reifezeit für die Früchte im dritten Abschnitt des Gartens hatte gerade begonnen, und es gelüstete ihn arg nach einer Kostprobe. Aber in Anwesenheit des Gefolges und des Obergärtners brachte er nicht den Mut auf, einige Pfirsiche zu pflücken. Schließlich ersann er eine List. Mit den Worten: „Ich will mich noch ein Weilchen im Pavillon ,Zur erfrischenden Kühle’ ausruhen. Erwartet mich vor dem Gartentor!“ verabschiedete er eines Morgens seine Begleitung, die sich sogleich zurückzog. Darauf legte er die lästige Kleidung ab, kletterte auf einen Baum, suchte die reifsten Früchte heraus und verzehrte sie. Als er seine Eßlust befriedigt hatte, zog er sich wieder an und kehrte mit den seiner harrenden Höflingen in den Palast zurück. Allmählich wurde dem Großen Heiligen die einmal ersonnene List zur Gewohnheit, und er verschlang jeden Tag die über Nacht gereiften Pfirsiche. Die Erntezeit für die Pfirsiche im hinteren Garten war natürlich auch der Königinmutter des Westens, der Eigentümerin 35
des Gartens, gegenwärtig. Es oblag ihr, zu diesem Termin die „Große Pfirsichgesellschaft“ zu veranstalten, zu der alle Himmlischen geladen wurden. Deswegen schickte sie eines Vormittags ihre Dienerinnen, die „ Sieben Unsterblichen Maiden“, mit Bambuskörben zum Pfirsichpflücken. Es war gerade um die Stunde, in der Wu-kung angeblich im Pavillon „Zur erfrischenden Kühle“ der Ruhe pflegte und sein Gefolge vor dem Gartentor auf ihn wartete. Wie es die Vorschrift erforderte, pflückten die Mädchen je drei Körbe reife Pfirsiche im Vorder- und Mittelgarten; danach mußten sie noch einen siebenten Korb mit den jetzt reifenden Früchten im Hintergarten füllen. Zu ihrem Befremden sahen sie nur grüne Pfirsiche an den Zweigen. Der Große Heilige hatte kurz zuvor die frischgereiften verschmaust und es sich in der Gestalt eines fingerlangen Pfirsichwurms in der rissigen Borke eines Baumes zum Schlafen bequem gemacht. Just an einem Zweig dieses Baumes entdeckten die eifrig spähenden Maiden einen Pfirsich, der sich auf einer Seite rötete. Eine von ihnen zog den Zweig herunter, damit eine andere den Pfirsich pflücken konnte, und ließ ihn danach mutwillig hochschnellen. Durch die Erschütterung plumpste der Große Heilige auf die Erde. Wütend verwandelte er sich augenblicks in seine eigene Gestalt zurück und stand plötzlich dräuend vor den erschrockenen Mädchen. „Wer seid ihr Ungetüme? Wieso erdreistet ihr euch, in diesem Garten Früchte zu ernten?“ schrie er sie an und schwang seine goldbereifte Eisenstange drohend über ihren Köpfen. Die Mädchen sanken zitternd in die Knie. „Wir sind keine Ungetüme, Großer Heiliger“, stammelten sie. „Die Königinmutter des Westens hat uns, ihre Dienerinnen, beauftragt, für die bevorstehende Pfirsichgesellschaft Früchte einzusammeln.“ Der Ebenbürtige der Himmlischen vergaß sogleich seinen Zorn und fragte: „Welche hohen Persönlichkeiten lädt die Königinmutter zu 36
dieser Gesellschaft ein?“ Geschwind zählten die Mädchen namentlich alle Götter, Heiligen Geister und Unsterblichen auf, die der Ehre einer Einladung teilhaftig wurden. „In diesem Jahr müßte ich auch geladen werden“, sagte der Ebenbürtige darauf. „Davon ist uns bisher nichts zu Ohren gekommen“, versetzten die Mädchen. In dem Ebenbürtigen der Himmlischen wallte von neuem ein mächtiger Zorn auf. Er bannte die Maiden durch einen Zauberspruch an den Boden, daß sie nicht die geringste Bewegung machen, nicht einmal ihre Blicke umherschweifen lassen konnten, kleidete sich an und schwang sich auf eine Wolke, um zum Palast der Königinmutter zu gleiten. Unterwegs begegnete er dem Unsterblichen Barfüßler und erfuhr, daß dieser bereits auf dem Wege zu der Pfirsichgesellschaft war. Sofort fiel dem Ebenbürtigen eine List bei. „Dshang Di hat mich, den Schnellfüßigsten in den Himmlischen Gefilden, beauftragt, allen zur Pfirsichgesellschaft Geladenen mitzuteilen, daß sie sich auf dem Wege dorthin im Palast der Durchdringenden Klarheit einfinden sollen!“ log er mit frecher Miene. Gutgläubig änderte der Barfüßler seine Richtung und glitt zu dem genannten Treffpunkt. Der Ebenbürtige nahm die Gestalt des Barfüßlers an und setzte seinen Weg zum Palast der Königinmutter fort. Ungehindert trat er ein und gelangte in den prächtigen Festsaal, in dessen Mitte eine lange Tafel mit einer Fülle leckerer Gerichte bestellt war. Während er noch darunter Umschau hielt, stieg ihm ein verführerischer Duft in die Nase. Er ging ihm nach und erspähte in einer östlich gelegenen Halle reihenweise aufgestellte hohe Krüge, denen ein köstliches Aroma entquoll. Aber er konnte nicht bis zu ihnen vordringen, weil sie von mehreren 37
Dienern bewacht wurden. Wieder einmal griff er zu einer List: er zauberte den Männern Schlaffliegen auf die Augenlider, die sie in Betäubung versenkten. Voller Behagen tat er sich nun an erlesenen Speisen gütlich und trank sich einen schweren Rausch an. Verschwommen sah er die Liste seiner Freveltaten vor sich: die verschmausten Pfirsiche, die vielen bis auf den Grund geleerten Weinkrüge, die auf der Festtafel fehlenden Gerichte … ‚Meine Trunkenheit macht mich ganz hilflos’, überlegte er. ,Ich werde in meinen Palast zurückkehren und mich erst einmal ausschlafen. Danach werde ich fähig sein, alles in Abrede zu stellen, was man mir vorhalten wird.’ Gedacht, getan. Der Ebenbürtige trat den Heimweg an. Aber er schlug die falsche Richtung ein und fand sich plötzlich vor dem Eingang zu dem Palast des Unsterblichen Laudse. Er erschrak, wie weit er vom Wege abgekommen war, beschloß aber, die Gelegenheit zu nutzen und dem erhabenen Philosophen nach langer Zeit wieder einmal einen Besuch abzustatten. ,Die Unterhaltung mit ihm wird mich ein wenig erheitern’, dachte er und trat in die Vorhalle ein. Niemand ließ sich blicken. Der Große Meister führte gerade mit seinen Schülern auf der Terrasse ein gelehrtes Gespräch. Dem Großen Heiligen kam das sehr gelegen. Er schlich sich in das geheime Gemach, in dem der Meister die Lebenselixiere zubereitete. Sein erster Blick fiel auf fünf Kürbisflaschen, die bis zum Rande mit Pillen aus rotem Zinnober gefüllt waren. „Welch ein unerwartetes Glück!“ sagte er vor sich hin. „Seit ich lebe, höre ich von diesem Lebenselixier als von etwas Unerreichbarem erzählen, und hier steht es zum Greifen nahe vor mir!“ Und schon schüttete er sich den Inhalt einer Kürbisflasche ins Maul. Der würzige Geschmack sagte ihm sehr zu, und er ließ den Inhalt der vier übrigen Behälter den gleichen Weg gehen. Zu seiner Überraschung verschwand seine Benommenheit; er konnte wieder denken und machte sich klar, daß er diesmal mit schwerer Bestrafung rechnen mußte. Um ihr zu ent38
gehen, beschloß er, in seiner Höhle der Wasservorhänge Zuflucht zu suchen. Dank seiner Gabe, sich unsichtbar zu machen, entwischte er durch das Westtor des Himmels und ließ sich alsbald wieder auf den Berg der Blumen und Früchte niederfallen. „Hier bin ich wieder, meine lieben Kinder!“ rief er mit weithin schallender Stimme. Affen und Vasallen begrüßten ihn ehrerbietig; sie waren hocherfreut, daß ihr Großer König nach einhundertzehn Jahren wieder zu ihnen zurückgekehrt war. Mit Genugtuung berichtete Wu-kung, daß man ihn diesmal im Himmel mit gebührender Achtung behandelt und Dshang Di ihn als Ebenbürtigen der Himmlischen anerkannt habe. Während er erzählte, reichten ihm die Affen Wein und Gurkenmilch zur Erfrischung. Aber der Geschmack zog ihm den Mund zusammen, er spie den Schluck aus. „Heute vormittag genoß ich im Palast der Königinmutter des Westens von dem auserlesenen Wein der Himmlischen“, sagte er erklärend, „fortan kann ich unsere Getränke nicht mehr über die Lippen bringen. Dabei geht mir durch den Sinn, daß es ein leichtes ist, noch einmal hinaufzufliegen und ein paar Krüge für euch herunterzuschaffen. Jeder von euch wird mit einer Kostprobe davon zugleich das Geschenk der Langlebigkeit empfangen.“ Blitzschnell war Wu-kung verschwunden, ebenso schnell aber auch mit einem Krug Wein in jedem Arm wieder zur Stelle und lud seine vier Kühnen Generäle und zweiundsiebzig Vasallen zu einem Umtrunk ein. Im Pfirsichgarten hatten inzwischen die „Sieben Unsterblichen Maiden“ zwölf Stunden lang in ihrer Bewegungslosigkeit verharren müssen. Am Ende der zwölften Stunde verlor der Zauber seine Kraft; die Mädchen kehrten mit ihren Körben über dem Arm zur Königinmutter zurück und berichteten, was ihnen widerfahren war. Die hohe Frau eilte alsbald zu Dshang Di und brachte in höchster Erregung ihre Beschwerde über den Großen Heiligen vor. Während ihrer letzten Worte erschienen ihre Diener und jammerten, daß ein Unbekannter die Festtafel geplün39
dert, die wachehaltenden Schenken verzaubert und den Wein ausgetrunken habe. Als dritter Ankläger trat unmittelbar nach ihnen der Unsterbliche Laudse auf. „Ein Verruchter hat die fünf Kürbisflaschen geleert, die ich für die bevorstehende Pfirsichgesellschaft mit Lebenselixierdrogen aus Zinnober gefüllt hatte“, trug er kniend vor. „Ich bitte Eure Himmlische Majestät, diesen Diebstahl zu untersuchen.“ Kaum hatte der Weise geendet, als gemeldet wurde, daß der Große Heilige aus den Himmelsgefilden verschwunden sei. Der Oberste Himmelsherr schöpfte bereits Verdacht, als unerwartet der Unsterbliche Barfüßler eintrat und sich auf die Weisung des Großen Heiligen berief. In einem Nichts von Zeit erkundeten die Himmlischen Späher, daß der Ebenbürtige sich auf den Berg der Blumen und Früchte zurückbegeben habe und im gegenwärtigen Augenblick sich mit seinen Zechkumpanen an dem gestohlenen Wein delektiere. Der Zorn des Obersten Himmelsherrn flammte stärker auf als der Blitz. Alle himmlischen Könige und Generäle mußten sich sofort mit der gesamten himmlischen Heeresmacht, die hunderttausend Kämpfer zählte, zur Erde begeben, um den Berg der Blumen und Früchte einzuschließen. Den Oberbefehl erhielt wiederum der Pagodentragende Himmelskönig Li Dsing. Unter dem Himmel und über der Erde wurden das Himmelsnetz und das Erdnetz und dazwischen noch sechzehn Netze ausgespannt. Die achtzehnfach übereinandergespannten Netze machten den Bewohnern des Berges der Blumen und Früchte das Entrinnen unmöglich. Drohend erscholl immer wieder der Ruf der Neun Sternbilder des Lichts, die an der Spitze der Vorhut den Eingang zur Höhle der Wasservorhänge besetzt hielten: „Wir sind gekommen, um den Großen Heiligen vor das Himmlische Gericht zu führen. Stellt er sich uns nicht, werden wir jedem hier den Garaus machen!“ Aber der Große Heilige ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. 40
„Heute habe ich Lust zum Trinken und Verse-Hersagen. Mag man vor meiner Tür sich klug oder töricht betragen.“ beschied er die Affen, die ihm die Botschaft der Feinde überbrachten. Plötzlich drang vom Eingang der Höhle her lautes Getöse zu den Zechenden. Die feindliche Vorhut schlug das Tor ein. Da loderte in Wu-kung trotz des Rausches, den er sich bereits wieder angetrunken hatte, die Wut auf. Er schickte die beiden Einhörner und die zweiundsiebzig Vasallen gegen die Eindringlinge vor und folgte ihnen mit den vier Kühnen. Mit seiner goldbereiften Eisenstange wild um sich schlagend, bahnte er sich den Weg ins Freie. Die neun Sternbilder nahmen den Kampf auf, mußten sich aber bald von Li Dsing Verstärkung erbitten. Wohl gelang es ihnen danach, alle Vasallen und die Einhörner gefangen zu nehmen, aber der vier Generäle und gar des Großen Heiligen konnten sie nicht habhaft werden. Mit einem Mal drang eine Unzahl Großer Heiliger, die alle mit goldbereiften Eisenstangen wuchtige Schläge austeilten, auf sie ein: Wu-kung hatte sich verzehntausendfacht! Augenblicks war der Ausgang entschieden: die Himmlischen ergriffen die Flucht, und der Große Heilige kehrte in seine Höhle zurück. Der Rest des Tages verlief ruhig. Wukung befahl ein allgemeines Sattessen und Ausschlafen; Li Dsing ordnete seine Truppen, entschlossen, am nächsten Morgen den Kampf wieder aufzunehmen.
6. Guanjin läßt sich die Ereignisse berichten. Der Kleine Heilige bändigt den Großen Heiligen
Auf die Einladung zur Pfirsichgesellschaft hin hatte sich auch die Göttin Guanjin, die auf der heiligen Insel Putu inmitten des 41
Südmeeres residierte, zum Palast der Königinmutter des Westens begeben. Bei ihrer Ankunft fand sie viele Unsterbliche vor, die sich inmitten der Unordnung im Festsaal über die Freveltaten des Großen Heiligen unterhielten. Sie ließ sich alle Geschehnisse berichten und schlug den enttäuschten Gästen vor, sich gemeinsam zum Palast der Durchdringenden Klarheit auf den Weg zu machen, um dem Obersten Himmelsherrn einen Besuch abzustatten. Die vier Zeremonienmeister des Himmels und der Unsterbliche Barfüßler eilten Guanjin entgegen und geleiteten sie zu Dshang Di, der sich noch immer mit der Königinmutter und dem Unsterblichen Laudse über die jüngsten Ereignisse unterhielt. Mit den Worten: „Die Pfirsichgesellschaft, die Uns in bestimmten Zeitabständen zusammenführt, ist dieses Mal durch das ungehörige Verhalten eines Ungetüms von Affen verhindert worden“, wandte sich Dshang Di der eintretenden Guanjin zu. „Wir haben ein Heer von hunderttausend Kämpfern gegen ihn ausgeschickt. Aber über den Verlauf des Kampfes ist Uns noch nichts bekannt.“ In diesem Augenblick traf endlich eine Nachricht von Li Dsing ein. Er bat um Verstärkung! Dshang Di überlegte laut, während er die Botschaft las. „Diesem Ungetüm von Affen müssen wirklich außergewöhnliche Fähigkeiten eigen sein. Sonst würde er Unserer gewaltigen Heeresmacht nicht Widerstand zu leisten sich erkühnen. Was für Verstärkungen können wir Li Dsing schicken?“ Da nahm Guanjin, die mit gesenktem Kopf nachdenklich zugehört hatte, das Wort. „Eure Himmlische Majestät wolle sich über den Gegner keine Sorgen machen“, sagte sie. „Dem Heiligen Jan Örl-lang, dem Sohn Eurer zweiten Tochter, wird es eine Kleinigkeit sein, an der Spitze seiner zwölfhundert Geister, die ihm treu ergeben und jeder Heldentat fähig sind, diesen Affen zu besiegen. Geruhet, ihm sofort Euren Auftrag zukommen zu lassen.“ Erleichtert fertigte Dshang Di einen entsprechenden Schriftnutz aus und schickte den Himmlischen Sendboten Da Li, die 42
„Große Kraft“, damit zum Tempel des Heiligen Örl-lang. Da Li machte sich sogleich auf den Weg. Als er Örl-lang seine Ankunft melden ließ, ging ihm der Heilige bis vor das Tor entgegen und geleitete ihn selbst in die Tempelhalle. Dort entzündete er Weihrauch, kniete vor dem Altar nieder und verharrte in dieser Stellung, während Da Li mit feierlicher Stimme die Botschaft des Obersten Himmelsherrn verlas. Sie lautete: „Ssun Wu-kung, der die Titel „Der Große Heilige“ und „Ebenbürtiger der Himmlischen“ trägt und auf dem Berg der Blumen und Früchte in der Höhle der Wasservorhänge residiert, hat Uns durch frevelhaftes Tun gehindert, Unsere Pfirsichgesellschaft abzuhalten, und bedrängt jetzt Unsere gegen ihn ausgesandte Heeresmacht von hunderttausend Kämpfern. Im Vertrauen auf Eure Freundschaft bitten wir Euch, Uns mit Eurer Klugheit und Erfahrung zu Hilfe kommen zu wollen. Wir werden nicht verfehlen, Euch für aufgewandte Mühen durch huldvolle Verleihung neuer Würden zu danken.“ Hocherfreut über diese Botschaft, erhob sich der Heilige Örllang, dankte Da Li mit tiefer Verneigung und sagte: „Wollet mit meiner Antwort zurückeilen: Ich werde sofort meine Truppen kampfbereit aufstellen und mich mit ihnen auf den Berg der Blumen und Früchte begeben.“ Danach versammelte er seine sechs erprobten Waffengefährten um sich, ließ seine zwölfhundert kampfgeübten Geister antreten, ungeheure Mengen Bogen und Pfeile zusammenpacken und alle Jagdhunde und Jagdfalken bereithalten. Von einem großen Sturm in die Höhe gehoben, gelangte die gesamte Streitmacht bis zu den Netzen, die den Berg der Blumen und Früchte gegen die Außenwelt abschlossen. Mit weithin hallenden Rufen meldete Örl-lang dem Oberbefehlshaber Li Dsing seine Ankunft, teilte dem schnell Herbeieilenden mit, daß er die erbetene Verstärkung heranführe, und ließ sich über die augenblickliche Lage berichten. Danach traf er einige vorbereitende Maßnahmen für den Angriff. Die Netze wurden 43
eingezogen, die Ausgänge mit starken Wachen besetzt und ein Zauberspiegel aufgestellt, der das Bild des Ungetüms von Affen in der jeweils angenommenen Gestalt zurückwarf. Li Dsing übernahm es, mit seinen beiden Söhnen den Spiegel ständig zu beobachten. Örl-lang sicherte sich mit dieser Anordnung gegen die Möglichkeit, den Gegner aus den Augen zu verlieren. Nach Abschluß der Vorbereitungen begab er sich mit seinen sechs ausgesuchten Kampfgenossen zur Höhle der Wasservorhänge. Auf dem freien Platz davor waren Affen in Schlachtordnung aufgestellt; über dem Eingang zur Höhle wehte die Fahne des Großen Heiligen und Ebenbürtigen der Himmlischen. Auf die Meldung vom Herannahen des kleinen Trupps Himmlischer stürzte der Große Heilige aus der Höhle. „Wer seid Ihr armseliger Feldherr, der Ihr Euch erkühnt, mich zum Kampf herauszufordern?“ rief er mit höhnischer Miene und schwang drohend seine goldbereifte Eisenstange. „Habt Ihr Eure Pupillen eingebüßt, daß Ihr nicht wißt, wer ich bin?“ fragte Örl-lang mit Donnerstimme zurück. „Ihr kennt mich wohl, mich, den Neffen des Obersten Himmelsherrn, den Heiligen Örl-lang. Nehmt zur Kenntnis, daß ich mit dem Befehl, Euch festzunehmen, vor Euch stehe.“ „Ai-ja, ich erinnere mich, irgendwann schon einmal Euren Namen gehört zu haben“, gab Wu-kung verächtlich zurück. „Entstammt Ihr nicht der Ehe der zweiten Tochter Dshang Dis mit dem erdgeborenen Jan? Es heißt ja wohl, Ihr wäret stark genug, um den Berg Jau mit einem einzigen Schwerthieb zu spalten. Aber mich verlangt nicht danach, meine Kräfte mit den Eurigen zu messen. In meinen Augen seid Ihr ein schwacher Knabe. Schickt die Vier Himmlischen Könige zum Kampf gegen mich!“ Orl-lang kochte vor Wut. „Großmäuliger Affe!“ schrie er, „mit deinem Kopf sollst du solche Rede büßen!“ Und schon stürmten die beiden aufeinander los. Dreihundertmal kreuzten sie die Schwerter. Beim letzten Waffengang verwandelte sich Örl-lang 44
in einen zehntausend Dschang messenden Riesen mit feuerroten Haaren und grünlich funkelnden Augen in silberner Wehr; sein Schwert ragte über die benachbarten Bergkuppen hinaus. Der Große Heilige stutzte einen Augenblick, aber schon im nächsten reckte er sich zu gleicher Höhe, und seine Eisenstange ragte über den Gipfel des Taischan hinaus. Mit zäher Verbissenheit gingen die Widersacher von neuem aufeinander los. Die umstehenden Affentruppen wurden von panischem Schrecken gepackt, und als auf Örl-langs Befehl die Hunde und Falken auf sie losgelassen wurden, war ihres Bleibens nicht mehr. Ihre Reihen lösten sich in wilder Flucht. Da gab der Affenkönig den Zweikampf auf. Er verwandelte sich in seine Gestalt zurück, ließ seine Eisenstange zur Nadel zusammenschrumpfen, verbarg nie nach alter Gewohnheit im Ohr und setzte den Seinen nach, um sie zusammenzuhalten. Aber Örl-lang heftete sich ihm mit dem pausenlos wiederholten Ruf „Ergebt Euch oder laßt das Leben!“ an die Fersen. In dieser höchsten Gefahr verwandelte sich der Große Affenkönig in einen Sperling und versteckte sich im Blättergewirr einer hohen Eiche. Aber der ihm anhaftende üble Teufelsgestank verpestete die Luft um den Baum und führte Örl-lang, der auf der Suche nach dem plötzlich verschwundenen Gegner hin und her hastete, schnell auf die Spur. Sofort stieg er als Adler in die Höhe. Der von Todesangst gepackte Sperling verwandelte sich in einen Kormoran und schwang sich auf eine Wolke, Örl-lang wechselte vom Adler zum Kranich über und flog dem Kormoran nach. Blitzschnell ließ sich dieser als Barbe in einen Bergfluß fallen. Der Kranich nahm die Gestalt eines Fischreihers an und schwebte, der Strömung folgend, suchend über dem Fluß dahin. Die Gegner gewahrten einander im gleichen Augenblick. Die Barbe ging auf den Grund, verwandelte sich in eine Schlange und suchte im Schilfdickicht Deckung. Gerade wollte der Fischreiher mit seinem langen Schnabel zustoßen – da war die Schlange verschwunden. Auf dem felsigen Uferhang stelzte eine Trap45
pe dahin. Sofort nahm Örl-lang seine eigene Gestalt an und schoß mit einem Pfeil auf die Trappe. Der Vogel kippte auf die Seite, rollte den Hang hinunter und verwandelte sich in den Tempel eines Feldgottes. Das mächtige, weit aufgesperrte Affenmaul war Eingang und Vorhalle, die beiden gewaltigen Kiefer mit den Zähnen die Torflügel, die funkelnden Augen die Fenster, die Zunge im dunkeln Hintergrund die Götterstatue. Nur eines war merkwürdig: gegen die Gewohnheit ragte die Fahnenstange an der hinteren Mauer in die Höhe! Wu-kung wußte seinen Schwanz nicht anders zu verwenden. Örl-lang war der Trappe nachgestiegen und blieb verdutzt vor dem Tempel mit der Fahnenstange dahinter stehen. „Dieser Affe ist wahrlich ein Meister der Verschlagenheit!“ sagte er vor sich hin. „Er will mich beim Betreten des Tempels zwischen seinen mächtigen Kiefern zermalmen! Aber ich werde mich hüten, ihm in die Falle zu gehen. Ich werde zuerst die Fenster zerschlagen und danach die Türflügel eintreten.“ Wu-kung erschrak bei diesen Worten über alle Maßen. ,Ich kann weder meine Augen noch meine Zähne preisgeben’, überlegte er, ,ich muß auf einen anderen Ausweg sinnen.’ Und schon schnellte er sich mit einem kühnen Satz in die Luft und ließ sich in der Gestalt Örl-langs vor dessen eigenem Tempel auf die Erde fallen. Die Tempelwächter verneigten sich mit gebührender Ehrfurcht vor ihrem vermeintlichen Herrn, geleiteten ihn zu seinem Sitz in der Mitte der Tempelhalle und legten ihm auf seinen Wunsch die Listen der vorgebrachten Bitten und der eingegangenen Opfergaben vor. Auf der Suche nach dem Affen erhob sich Örl-lang in die Luft und glitt zu dem Zauberspiegel, in dessen Beobachtung sich gerade Li Dsing mit seinem Sohn No Tscha teilte. „Könnt Ihr den Affen irgendwo sichten, Himmlischer König?“ fragte Örl-lang. „Wir haben uns beide ein um das andere Mal verwandelt, aber beim letzten Mal ist er mir entschlüpft. Ich kann ihn nirgends entdecken.“ 46
„Im Augenblick zeigt der Spiegel sein Bild nicht“, entgegnete Li Dsing. „Ich werde ihn nach allen Seiten drehen, um das Ungetüm ausfindig zu machen.“ Und langsam ließ er die Landschaft sich in dem Zauberglas spiegeln. Mit einem Mal lachte er laut auf und sagte: „Dieser Frechling hat Eure Gestalt angenommen, Erhabener Prinz, und thront in Eurem eigenen Tempel! Eilt dorthin und bemächtigt Euch seiner!“ Das Schwert kampfbereit schwingend, glitt Örl-lang vor seinen Tempel und rief gebieterisch nach seiner Leibwache. Wie erstaunten die Männer, als wiederum Örl-lang vor ihnen stand! „Ist der Große Heilige und Ebenbürtige der Himmlischen im Tempel?“ fragte Örl-lang. „Nicht daß wir wüßten“, entgegneten die Wächter. „Es ist nur ein alter Heiliger gekommen und befahl uns, ihm die Listen der Bitten und Opfergaben vorzulegen.“ Aufgebracht drang Örl-lang in den Tempel ein und trat mit drohender Gebärde auf den Großen Heiligen zu. „Betragt Euch gebührlich!“ tönte es ihm gebieterisch entgegen. „Ihr befindet Euch in meinem Tempel!“ Wortlos holte Örl-lang mit seinem Schwert aus, blitzschnell parierte Wu-kung mit seiner Eisenstange. Von neuem entspann sich ein wütender Kampf. Die Gegner drängten sich gegenseitig vom Erdboden fort auf die Wolken und wurden fechtend bis an den Berg der Blumen und Früchte herangetragen. Im Palast der Durchdringenden Klarheit waren Dshang Di, die Königinmutter, Guanjin und Laudse zusammengeblieben und berieten sich. Als der Tag sich dem Ende zuneigte, äußerte Dshang Di seine Verwunderung darüber, daß sie noch keine Meldung vom Stande der Dinge auf dem Berg der Blumen und Früchte erhalten hätten. Auf den Vorschlag Guanjins begaben sich die vier hohen Persönlichkeiten an das Südtor des Himmels, um von dort Ausschau zu halten. Mit Schrecken sahen sie, welche Anstrengungen es Örl-lang kostete, sich gegen den Affen zu behaupten. Guanjin war besonders betroffen, weil sie Örl-lang 47
als Retter in der Not vorgeschlagen hatte, und äußerte die Absicht, ihm mit ihrer kostbaren Schale der Lauterkeit zu Hilfe zu kommen. „Sie wird dem Affen einen solchen Stoß versetzen, daß er bewußtlos zu Boden stürzt“, sagte sie, „dann kann Örl-lang ihn fesseln.“ Aber Laudse riet von diesem Plan ab. Die Schale wäre aus Porzellan und würde an der Eisenstange zerschellen; ihr Verlust wäre nicht gutzumachen. „Ich werde Örl-lang mit einer anderen Waffe unterstützen“, fuhr er fort, streifte einen schweren Armreif ab und hielt ihn den Anwesenden zur Ansicht hin. „Ich habe ihn mehrmals einige Zeit in verschiedene Lebenselixierlösungen gelegt und dadurch eine besondere Wirksamkeit in ihm erzeugt. Wasser und Feuer rufen keinerlei Veränderung an ihm hervor; was von ihm berührt wird, zerfällt in Staub. „Ich betätige jetzt diesen Armreif“, schloß er und streckte den Arm aus, und schon flog der Reif durch die Luft genau auf den Großen Heiligen zu, der unablässig die wie Hagel auf ihn niederprasselnden Schwerthiebe Örl-langs abwehren mußte und der auf ihn zusausenden neuen Waffe nicht ausweichen konnte. Mit gespaltenem Schädel stürzte er bewußdos zu Boden. Im nächsten Augenblick war Örl-lang mit seinen sechs Waffengefährten bereits dabei, den Wehrlosen in Ketten zu legen. Befriedigt rief Laudse den schweren Armreif zurück und schlug vor, sich wieder in den Palast der Durchdringenden Klarheit zu begeben. Kaum waren sie dort angelangt, als sich bereits Örl-lang melden ließ. „Der Heilige Örl-lang und die Himmlischen Generäle führen den Großen Heiligen gefangen mit sich!“ setzte der Abgesandte Örl-langs hinzu. Dshang Di befahl, den Affen sogleich auf den Richtplatz zur Enthauptung zu bringen.
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7. Der Große Heilige entwischt aus dem Ofen der Acht Naturkräfte. Buddha schließt ihn in den Berg der Fünf Elemente ein
Der gefangene Wu-kung wurde an den Marterpfahl gebunden. Aber jeder Versuch, ihn mit dem Schwert zu enthaupten oder mit der Lanze zu durchbohren, mit dem Schlachtmesser der Länge nach aufzuschlitzen oder mit dem Beil zu spalten, schlug fehl. Auch die Geister des Blitzes und des Donners vermochten ihm keinen Schaden zuzufügen. Schließlich mußten der Himmlische Sendbote Da Li und die Himmlischen Generäle dem Obersten Himmelsherrn das Vergebliche ihrer Bemühungen, die über den Großen Heiligen verhängte Todesstrafe zu vollstrecken, eingestehen. Dshang Di geriet in maßlose Wut. „Wie hat sich dieses Ungetüm von Affe die Unverletzbarkeit aneignen können? Auf welche Weise kann die Hinrichtung bewerkstelligt werden?“ schrie er. Laudse sagte erklärend: „Der Affe ist gegen jeden Angriff auf sein Leben gefeit. Er hat die Pfirsiche der Unsterblichkeit und fünf Kürbisflaschen meiner Lebenselixierpillen aus Zinnober gefressen, dazu Unmengen von dem Wein der Himmlischen getrunken. Es ist also ausgeschlossen, ihn zu töten. Eure Himmlische Majestät wolle ihn mir übergeben. Ich werde ihn im Schmelzofen der Acht Naturkräfte einer erstickenden Hitze aussetzen und das Zinnober aus seinem Körper ausschmelzen, worauf er in Asche zerfallen wird.“ Dshang Di billigte Laudses Vorschlag. Der Affenkönig wurde vom Marterpfahl losgebunden und in den Palast des Erhabenen Philosophen geschleppt. Laudse ließ dem Großen Heiligen die Ketten abnehmen und ihn in seinen Schmelzofen werfen, überzeugte sich, daß der Dekkel fest auf den Ofen aufgesetzt war, und befahl, das Feuer sie49
benmal sieben Tage und Nächte in voller Glut zu unterhalten. Wu-kung aber schlüpfte sofort auf den Platz unter dem Zeichen des Windes, wo das Feuer ihm nichts anhaben konnte. Nur der Rauch belästigte ihn sehr; seine Augen wurden rot wie Granatäpfel. Am Abend des neunundvierzigsten Tages ließ Laudse den Ofendeckel anheben. Nach seiner Berechnung mußte der Affe zu diesem Zeitpunkt das Zinnober aus seinem Körper ausgeschieden haben. Der Große Heilige rieb sich gerade wieder einmal die tränenden Augen, als ein leises Geräusch vom Lüften des Deckels an sein Ohr drang und ein heller Schimmer über ihm sichtbar wurde. In einem Nichts von Zeit richtete sich Wu-kung kerzengerade in die Höhe, stieß den Ofen mit einem wuchtigen Fußtritt um und sprang mit einem gewaltigen Satz hinaus. Die Diener, die sich ihm in den Weg stellten, und den herbeieilenden Laudse schleuderte er mit solcher Heftigkeit zu Boden, daß sie sich mehrmals überschlugen, und setzte in Riesensprüngen quer durch die himmlischen Gefilde. Ohne Aufhören schlug er mit seiner goldbereiften Eisenstange um sich. In allen Palästen wurden die Tore geschlossen, Götter und Heilige brachten sich in Sicherheit. Weder die sechsunddreißig Götter des Donners noch die mit Stahlruten vorgehenden Torwächter vermochten dem Rasenden die geringste Furcht einzuflößen. Das Himmelsgewölbe widerhallte von Kampfgetöse und Angstgeschrei. Von Entsetzen gepackt, schickte Dshang Di in aller Eile zwei Gesandte zu dem Erhabenen Buddha und ließ ihn als seine letzte Zuflucht dringend um Unterstützung bitten. Die beiden himmlischen Gesandten glitten auf einer schnellen Wolke gen Westen zum Tempel des Erhabenen Buddha auf dem Lingschanberg und wurden sofort vorgelassen. Vor dem Lotosthron niederkniend, flehten sie Buddha um Hilfe für ihren bedrängten Herrscher an und fanden Erhörung. Buddha begab sich mit zwei Schülern unmittelbar in das Kampfgetümmel, gebot 50
den Donnergöttern Einhalt und fragte den Großen Heiligen, was ihn zu seinem kriegerischen Vorgehen bewogen habe. Der Gefragte verwandelte sich in seine eigentliche Gestalt zurück, trat einige Schritte vor und sagte in aufbegehrendem Ton: „Wer seid Ihr, daß Ihr Euch erkühnt, von mir Rechenschaft zu fordern?“ Mit begütigendem Lächeln entgegnete Buddha: „Mein Reich ist das Paradies der Seligkeit. Man hat mir berichtet, daß du Unruhe in die himmlischen Gefilde getragen hast, und ich möchte von dir erfahren, wer du bist, woher du kommst, welche Ansprüche du erhebst und worauf du sie gründest.“ „Meine Lebensgeschichte wollt Ihr erfahren?“ fragte der Große Heilige zurück. „Wohlan, Ihr sollt sie erfahren!“ Und in gleichmäßig singendem Tonfall trug er vor: Ich bin der steinerne Affe, von Himmel und Erde gezeugt, residiere seit uralten Zeiten auf dem Berg der Blumen und Früchte in der Höhle der Wasservorhänge und verfüge über vielerlei seltene Gaben. Ein großer Meister im Westen lehrte mich die geheimsten Künste. Durch rechte Lebensweise und Läuterung wurde ich langlebig wie Sonne und Mond. Ich kann mich nach Belieben verwandeln und böse Geister bändigen. Aber mir sind der irdische Raum und die Stätten der Menschen zu klein. Mich verlangt nach himmlischen Höhen, nach dem Sitz auf dem Lotosthron. Den Wechselfällen des irdischen Daseins will ich mich nicht unterwerfen, ich gebe dem himmlischen Thron den Vorzug 51
und der Herrschaft über die Drei Regionen. Hohe Würden stehen dem zu, der Tugend und Fähigkeit aufweist, und die ihm unterlegen sind, müssen ihm ihren Platz überlassen. Buddha kam das Lachen an. „Du kannst dich bestenfalls als einen Affen mit übersinnlichen Fähigkeiten bezeichnen“, nahm er wieder das Wort. „Was berechtigt dich zu der Anmaßung, den Obersten Himmelsherrn Dshang Di seines Thrones für unwert zu erklären? Er hat fünfzehnhundertfünfzig verschiedene Arten des Weges der rechten Lebensweise befolgt, jede über eine lange Zeit. Welche Bewährungen hast du aufzuweisen? Willst du einen vorzeitigen Tod vermeiden, so laß von deinen unverschämten Ansprüchen ab und halte dich streng an den Weg der Tugend.“ „Dshang Di mag sehr wohl sich unendlich viele Male bewährt haben“, wandte der Große Heilige ein, „aber daraus kann er keinen Anspruch auf ein ewiges Herrschertum ableiten. Ein altes Sprichwort besagt: ,Es gibt keinen Sitz, der nicht seinen Inhaber wechselt.’ Weshalb sollten also die Herrscher nicht ihren Thron einmal abtreten müssen? Dshang Di möge sich freiwillig entschließen, seinen Thron aufzugeben, andernfalls bin ich zum Kampf entschlossen.“ „Alles in allem betrachtet“, entgegnete Buddha, „gründest du deine Ansprüche auf den Thron einzig und allein auf deine Langlebigkeit und deine Verwandlungsfähigkeit, scheint mir?“ Der Große Heilige widersprach in überzeugtem Ton. „Meine Langlebigkeit und Verwandlungsfähigkeit verleihen mir eine unbegrenzte Macht. Dazu kommt, daß mich mein Großer Meister die schnellste Art der Fortbewegung gelehrt hat. Sie ermöglicht es mir, mit einem einzigen Sprung hundertachttausend Li zurückzulegen. Berechtigen derlei Fähigkeiten nicht zur Übernahme eines Thrones?“ 52
„Ich mache dir einen Vorschlag“, sagte Buddha. „Versuche, mit einem einzigen Satz über meine rechte Handfläche zu springen. Schaffst du es, bin ich bereit, deine Überlegenheit anzuerkennen und Dshang Di zu bestimmen, daß er dir seinen Thron abtritt. Mißlingt dir aber der Sprung, so mußt du auf lange Zeit hinaus dich streng an einen Weg der rechten Lebensweise halten, bevor du abermals Ansprüche auf eine Machtstellung erheben darfst.“ Der Große Heilige warf einen Blick auf Buddhas Hand und machte sich innerlich über die Vorstellung lustig, daß er nicht mühelos mit einem Satz darüber hinwegkommen sollte. Laut aber sagte er: „Abgemacht!“ und setzte zum Sprung über die einem Lotosblatt gleichende ausgestreckte Hand Buddhas an. Vor seinem Blick tauchten fünf fleischfarbene Säulen auf, über denen azurblaue Wolken dahinzogen, und er triumphierte: er hatte das Ende der Welt erreicht, bei der Rückkehr würde ihm der Thron zufallen. Um jeden Zweifel an seinem Erfolg auszuschließen, beschloß er, ihn urkundlich festzuhalten. Er riß sich ein Haar aus, drehte einen Schreibpinsel daraus und schrieb auf die mittlere der fünf Säulen: ,Der erste Besucher dieses Ortes bin ich, der Große Heilige und Ebenbürtige der Himmlischen!’ Danach pißte er am Fuß der ersten Säule und wandte sich zum Rücksprung um. Er legte ihn in dem schnellsten Tempo, das sein Meister ihn gelehrt hatte, zurück und ließ sich mit dem siegesbewußten Ausruf: „Geschafft!“ zu Boden fallen. Verwundert stellte er fest, daß er sich auf Buddhas Handfläche befand. „Was hast du geschafft?“ tönte ihm Buddhas Frage entgegen. „Du bist nicht von meiner Handfläche heruntergekommen!“ „Ich bin bis an das Ende der Welt gelangt!“ widersprach der Große Heilige. „Ich sah fünf fleischfarbene Säulen, über denen azurblaue Wolken dahinzogen, und habe auf zweien von ihnen einen Beweis für mein Dortsein hinterlassen. Wollet mir folgen 53
und Euch von der Richtigkeit meiner Worte überzeugen!“ „Es bedarf dieser Mühe nicht!“ sagte Buddha ablehnend. „Schau nur einmal nach unten!“ Der Große Heilige richtete seinen funkelnden Blick auf die noch immer ausgestreckten Finger: vom Mittelfinger schimmerten ihm seine Schriftzeichen entgegen: ,Der erste Besucher dieses Ortes bin ich, der Große Heilige und Ebenbürtige der Himmlischen’, und vom Daumen drang ihm der stechende Geruch seines Urins in die Nase. Er erschrak und suchte eine Möglichkeit, sich davonzumachen. „Ich schlage Euch nochmals vor, mir zu folgen und Euch von der Richtigkeit meiner Worte zu überzeugen!“ sagte er und setzte zu einem weiten Sprung an. In demselben Augenblick kehrte Buddha seine Handfläche nach unten. Der Große Heilige plumpste herunter, und Buddha schob ihn durch das Westtor aus den Himmlischen Gefilden heraus. Er schlug hart auf den Erdboden auf. Zugleich wölbte sich von oben her eine dunkle Hülle über ihn: Buddha knetete aus Feuer, Metall, Holz, Erde und Wasser den „Berg der Fünf Elemente“ und preßte die Masse mit festem Druck über den Affen. Seine beiden Schüler sahen seinem Werke zu und bewunderten die Geschicklichkeit ihres Meisters. Mit dem Überstülpen des Berges über den Frevler hielt Buddha seine Aufgabe für abgeschlossen und schickte sich mit seinen Begleitern zum Aufbruch an. Da aber nahten sich Herolde und meldeten ihm die bevorstehende Ankunft des Obersten Himmelsherrn und seines Gefolges. Alsbald folgten ihnen der Drachenwagen und die Phönixsänfte, und unter den Klängen der Sphärenmusik trat, von würzigen Weihrauchdüften umwallt, Dshang Di auf Buddha zu. „Ihr habt mir in meiner Ratlosigkeit beigestanden und mich von diesem Affen befreit!“ sagte er. „Erlaubt mir, Euch zum Ausdruck meiner Dankbarkeit zu einem Festmahl einzuladen.“ Auf seinen Wink wurden sogleich auserlesene Speisen und Götterwein aufgetischt, und die Königinmutter ließ Riesenpfirsiche anbieten. 54
„Wollet diese außergewöhnlich großen Pfirsiche als Zeichen meines Dankes annehmen!“ sagte sie zu Buddha. „Ich habe mir eigens die Hände gewaschen, um sie selbst für Euch zu pflükken.“ Buddha dankte für die Ehre. Junge Himmlische ließen während des Tafelns ihre Gesänge ertönen. Plötzlich durchzogen köstliche Weihrauchdüfte die Luft, und auf einem Rehbock nahte sich der Unsterbliche des Südpols. Vor Buddha und Dshang Di angelangt, stieg er ab, vollzog eine Verbeugung und bat um Erlaubnis zu sprechen. „Ich glaubte, das Ungetüm von Affe sei unentrinnbar in dem Schmelzofen des Weisen Laudse eingeschlossen“, begann er. „Wie konnte man damit rechnen, daß er aus der Glut lebendig entwischen und Tumult in den himmlischen Gefilden verursachen, ja den Obersten Himmelsherrn selbst in Schrecken versetzen würde. Euch ist es gelungen, Erhabener Buddha, ihn unschädlich zu machen! Erlaubt mir, Euch einige kleine Gaben zu überreichen: glückbringende Kräuter, schimmernde Perlen, Zinnoberkügelchen und zu Lotosblüten geformte Edelsteine.“ Diesem Besucher folgte der Unsterbliche Barfüßler. Er brachte Buddha voller Demut Geschenke dar: zwei köstliche Birnen und ein Beutelchen mit Heilbeeren. Buddha hieß seine Schüler die Geschenke in Verwahrung nehmen und schickte sich zum zweiten Mal an, aufzubrechen. Während er sich von seinen Gastgebern verabschiedete, meldete sich der Wächter, der soeben den Rundgang um den Berg der Fünf Elemente beendet hatte. „Der Große Heilige steckt den Kopf aus dem Berg heraus“, berichtete er. Buddha entnahm einer Tasche seines Gewandes einen Streifen Pergamentpapier, auf dem sechs mit flüssigem Gold geschriebene Schriftzeichen leuchteten: An Ma Ni Na Mi Hung. „Befestige diesen magischen Spruch auf dem Gipfel des Berges“, befahl er einem seiner Schüler. „Unter seinem Bann wird es dem Affen nicht gelingen, aus seinem Gefängnis zu entweichen.“ Darauf ordnete er an, wie der gefangene Affe mit Nahrung zu 55
versorgen sei, und verkündete, daß er ihm nach Ablauf der Sühnezeit einen Befreier schicken würde. Bei der Rückkehr in das Paradies der Seligkeit wurde Buddha von den dreitausend Buddhas und allen Geistern und Schülern mit wehenden Fahnen und lieblichen Weihrauchdüften willkommen geheißen. Er begab sich auf den Gipfel des Lingschan und verkündete von dort: „Jedes Wesen, dem eine feste Gestalt zuteil geworden ist, unterliegt den Vorgängen des Alterns, des Verfalls und des Vergehens. Diesem Gesetz hat sich auch der in seinen Forderungen maßlose Affe nicht zu entziehen vermocht, und darum ist über ihn das Unglück hereingebrochen.“ Nach dieser Verkündung erzeugte der Erhabene Buddha ein unendliches Leuchten, das sich in zweiundvierzig Regenbogen durch das Himmelsgewölbe spannte. Buddha stieg vom Heiligen Berg herab und nahm auf seinem Lotosthron Platz. Alle Buddhas, Geister und Schüler gruppierten sich in einem großen Kreis, mit gefalteten Händen zu andächtigem Lauschen bereit, und Buddha berichtete ihnen den Hergang der Ereignisse.
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DES BONZEN SSÜAN TSANG LEBENSGESCHICHTE BIS ZUM ANTRITT DER PILGERFAHRT NACH DEM WESTEN
8. Buddha will die Menschen durch seine Schriften bessern. Guanjin wandert in die Hauptstadt des Ostens, um einen geeigneten Mönch zu suchen
Eines Tages rief der Erhabene Buddha die dreitausend Buddhas und alle Buddhaschüler zu einer Belehrung zusammen, die er mit folgender Betrachtung schloß: „In den vier Regionen bestehen verschiedene Auffassungen von Laster und Tugend. Die Bewohner des Ostens ehren Himmel und Erde und befleißigen sich der Rechtsprechung. Dagegen sind die Bewohner des Nordens dem üblen Brauch ergeben, Menschen zu töten und deren Fleisch zu verzehren; zugleich halten sie sich aber auch an die Prinzipien der Gerechtigkeit und Treue. Was die Bevölkerung des Westens, also die unserer eigenen Region, betrifft, so achtet sie die Wesen aller Gattungen; sie ist nicht verschlagen und läßt ihr Tun und Handeln von dem Grundsatz des Guten bestimmen. Bleiben noch die Bewohner des Südens: bei ihnen stehen Wohlleben, Trinken und Reichtum an erster Stelle; sie sind grausam und hinterhältig und scheuen nicht vor Mord zurück. Um den Menschen die Wege zum Guten zu weisen und sie zu lehren, wie sie das Böse meiden können, habe ich drei Sammlungen von Schriften über den Himmel, die Erde und die Unterwelt verfaßt. Mein Wunsch ist, diese Schriften in die Hauptstadt der Ostregion schaffen zu lassen, damit sie dort für die Unterweisung der Ein57
wohner verwandt werden mögen. Zu diesem Zweck muß eine umsichtige und erfahrene Persönlichkeit einen in der Hauptstadt des Ostens ansässigen rechtschaffenen Mann ausfindig machen, der bereit ist, allen Gefahren die Stirn zu bieten, hohe Gebirge zu überwinden und reißende Bergströme zu durchqueren, um meine Schriften von hier abzuholen und sie auf demselben beschwerlichen Wege in seine Heimatstadt zu schaffen. Dort soll er seine Mitbürger an Hand meiner Schriften den Weg der rechten Lebensweise lehren. Zur Entschädigung für seine Mühen will ich ihn zu einem Buddha erheben. Wer wird einen solchen Mann für mich ausfindig machen?“ Aus den Reihen der Zuhörer trat die Göttin Guanjin hervor, warf sich vor Buddha nieder und bat mit zusammengelegten Händen: „Geruhet, mir den Auftrag anzuvertrauen, in die Hauptstadt des Ostens niederzusteigen und den geeigneten Mann dort zu suchen.“ „Ihr seid wohl in der Lage, diese Aufgabe auszuführen“, entgegnete Buddha. „Höret meine Weisung: Ihr werdet Euch nicht im schnellen Wolkenflug mitten in die Hauptstadt begeben, sondern die Reise zu Fuß zurücklegen, damit Ihr sorgfältig Umschau halten könnt. Habt Ihr den rechten Mann gefunden, so müßt Ihr ihn mit aller Umsicht gegen die Gefahren, die ihn auf dem weiten Weg bedrohen werden, sichern.“ Darauf überreichte Buddha der Göttin ein mit kostbaren Stikkereien verziertes seidenes Obergewand und einen Wanderstab, wie ihn die Bonzen zu tragen pflegen. „Diese beiden Gegenstände“, sagte er dabei, „sind dem Mann zugedacht, der meine Schriften abholen wird. Legt er das Obergewand an, so gerät er nicht auf die Straße der Wiedergeburt, und der Wanderstab schützt ihn in jeder Gefahr.“ Außerdem gab er Guanjin drei goldene Reifen. „Diese drei Reifen“, erklärte er, „sind im Aussehen ganz gleich, aber jeder wird durch einen besonderen Zauber58
spruch betätigt, dessen Wortlaut Ihr auf einem Streifen Papier findet. Gewahrt Ihr auf dem Wege, den der von Euch erwählte Pilger einschlagen wird, ein übernatürliches Wesen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten, so befehlt ihm, diesen Pilger auf seiner Wanderung zu begleiten und zu beschützen. Weigert er sich, so streift ihm mit List oder Gewalt einen dieser Reifen über und sagt dabei den angegebenen Spruch her. Der Reif wird ihm die Kehle zuschnüren, so daß es sich sofort zwischen Leben und Sterben entscheiden muß.“ Guanjin dankte ehrerbietig und verabschiedete sich. Sie bestimmte Mo Tscha zu ihrem Begleiter und vertraute ihm das seidene Obergewand an; den Wanderstab und die drei Goldreifen trug sie selbst. Mo Tscha bewaffnete sich mit einer tausendpfündigen Eisenkeule. Nach diesen Vorbereitungen traten die beiden ihre Reise an. Sie hatten bereits eine beträchtliche Strecke Weges zurückgelegt, als sie unerwartet vor sich den dreitausend Li breiten Schafluß, den ,Fluß des Treibsandes’, erblickten. Erschrocken rief Guanjin: „Wie soll der armselige Irdische, der das Wagnis auf sich nimmt, die Schriften zu holen, diesen Fluß überschreiten!“ Bei ihrem letzten Wort tauchte ein furchtbar anzusehendes Ungetüm aus der Tiefe des Wassers empor, schwang in seinen beiden Pranken einen schweren Stock und setzte zum Sprung auf Guanjin an. Mo Tscha warf sich ihm entgegen. Das Ungetüm fauchte ihn an: „Woher kommt Ihr? Und weshalb sucht Ihr Streit mit mir?“ Darauf erwiderte Mo Tscha: „Ich bin der zweite Sohn des Himmlischen Königs Li Dsing und ein Heiliger.“ „Wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht“, entgegnete das Ungetüm, „so gehört Ihr zum Hofstaat der Göttin Guanjin auf der Insel Putu inmitten des Südmeeres und haltet Euch an den Weg der rechten Lebensweise. Was für eine Angelegenheit veranlaßt Euch, durch dieses Gebiet zu reisen?“ 59
„Darüber müßt Ihr meine Gebieterin, die Ihr hier am Ufer vor Euch erblickt, befragen“, antwortete Mo Tscha. Das Ungetüm fuhr bei diesen Worten erschrocken zusammen und machte eine demütige Gebärde der Unterwerfung. Mo Tscha packte es mit festem Griff am Nacken und zerrte es vor Guanjin. „O Göttin“, wimmerte das Ungetüm, „habt Erbarmen mit mir! Ich bin in Wirklichkeit nicht das ungeschlachte Wesen, das Ihr vor Euch seht. Ursprünglich bekleidete ich ein hohes Amt im Palast der Himmlischen Höhen. Auf einem Pfirsichfest hatte ich das Unglück, eine Kristallschale zu zerbrechen, und wurde dafür von Dshang Di auf die Erde verbannt. Seitdem lebe ich in dieser grauenerregenden Gestalt in der Tiefe des Schaflusses. Tag für Tag bohren sich vom Himmel herabfliegende Schwerter in mein Fleisch und verursachen mir quälende Schmerzen. Dazu werde ich von rasendem Hunger gepeinigt. Um ihn zu stillen, tauche ich jeden dritten Tag an die Oberfläche des Wassers empor und lauere den Reisenden auf, um sie zu verschlingen. Mein Unglück wollte es, daß ich mich heute auf Euch, Göttin, stürzen wollte, und ich erflehe Eure Vergebung dafür.“ „Euch hätte geziemt, durch Reue und Buße Eure Verfehlung zu sühnen, um eine allmähliche Linderung der über Euch verhängten Strafe zu erreichen. Statt dessen verschärft Ihr sie, indem Ihr Menschen mordet. Aber ich bin bereit, die Schwerter von Euch fernzuhalten, wenn Ihr gelobt, ein Leben der Reue zu führen und zu gegebener Zeit einen Mann, der auf mein Geheiß aus der Hauptstadt hier vorbeikommen wird, um die Schriften Buddhas aus dem Westen zu holen, auf seiner beschwerlichen Wanderung zu begleiten und ihm in allen Gefahren zur Seite zu stehen. Wenn Ihr diesen Auftrag ausgeführt haben werdet, will ich erwirken, daß man Euch wieder in Eure früheren Würden einsetzt.“ „Es ist mein größter Wunsch, zu büßen und Vergebung zu erlangen!“ rief das Ungetüm aus. Erfreut schor Guanjin ihm die 60
Tonsur nach der Vorschrift für die Bonzen und verlieh ihm den Flußnamen Scha als Sippennamen; zu Rufnamen bestimmte sie die Schriftzeichen Wu Tsing, die ‚Friedvolle Klarheit’ bedeuten. Darauf trug Scha Wu-Tsing die beiden Wanderer über den Fluß und legte das Gelübde ab, sich bis zur Ankunft des Pilgers aus der Hauptstadt nur von Früchten und Kräutern zu ernähren. Abermals hatten Guanjin und Mo Tscha eine beträchtliche Strecke Weges zurückgelegt, als sie plötzlich in Schwaden übelriechender Dämpfe gerieten und vor ihnen jäh ein hoher Berg aufragte. Guanjin hielt es für das beste, auf einet Wolke darüber hinwegzugleiten. Während sie noch überlegte, erhob sich ein heftiger Wind, und aus dem Hintergrund tauchte ein furchterregendes Wesen auf. Es hatte den Kopf eines Wildschweins mit einer abscheulichen Fratze und ging mit einer neunzinkigen Gabel auf Mo Tscha los. Guanjin schwang sich auf eine Wolke und warf aus der Höhe eine Lotosblüte mit lähmender Wirkung auf die Kämpfer herab. „Wer seid Ihr, daß Ihr Euch erdreistet, mit einer Lotosblume meine Kampfkraft zu schwächen?“ schrie das Ungeheuer erbost. „Ihr seid ein armseliges irdisches Lebewesen“, gab Mo Tscha zurück, „und deshalb sind Eure Augen nicht fähig, mich zu erkennen. Ich bin der Schüler der Göttin Guanjin, und die Blüte hat die Göttin selbst aus der Höhe auf uns heruntergeworfen.“ Das Ungetüm warf seine Waffe in weitem Bogen von sich, stürzte Mo Tscha zu Füßen und bat flehentlich, ihn zu der Göttin zu führen, er wolle ihre Verzeihung erbitten. Guanjin glitt von der Wolke herunter und sprach das Ungeheuer an: „Da Ihr Euch mir in den Weg zu stellen wagt, seid Ihr vermutlich ein in der Wiedergeburt zum Wildschwein gewordenes Wesen?“ „Mitnichten“, lautete die Antwort. „Ursprünglich bekleidete ich ein hohes Amt im Palast der Himmlischen Höhen. Eines Tages beleidigte ich in der Trunkenheit die Möndgöttin, und Dshang Di verbannte mich zur Strafe auf die Erde. Mein Un61
glück wollte es, daß ich in der abschreckenden Gestalt eines Wildschweins wiedergeboren und auf diesen Berg verschlagen wurde, wo ich mich von Menschenfleisch ernähre und zu einem grausamen Mörder geworden bin. Ich flehe Euch an, gütige Göttin, mich von meinem traurigen Geschick zu erlösen.“ Darauf erwiderte Guanjin: „Bei den Alten heißt es: ,Wer einen bestimmten Weg verfolgt, muß achtgeben, daß er nicht davon abweicht, und wenn er abgewichen ist, daß er auf den richtigen Weg zurückgelangt.’ Dieses Wort gilt auch für jeden Bewohner der oberen Region, der wegen Überschreitung der Gesetze aus den himmlischen Gefilden verstoßen wurde. Wenn er in seinem falschen Verhalten beharrt, häuft er neue Schuld auf die alte und findet überhaupt nicht mehr auf den richtigen Weg zurück.“ „Es heißt aber auch bei den Alten: ,Wer den Befehlen der Mandarine gehorcht, kommt unter deren Schlägen um; wer den Befehlen Buddhas gehorcht, kommt vor Hunger um’“, wandte das Ungetüm ein. „Ich bin es zufrieden, meinen Hunger mit Menschenfleisch zu stillen. Was macht es schon aus, wenn ich auf meine alten Sünden tausend, ja zehntausend neue häufe!“ Guanjin entgegnete: „Wenn Ihr gewillt seid, mir zu gehorchen und einen Weg der rechten Lebensweise innezuhalten, so werdet Ihr nicht unter Mangel an Nahrungsmitteln zu leiden haben. Was kümmert Euch Menschenfleisch, wenn Ihr Euch von Früchten und Wurzelwerk sättigen könnt?“ Wie aus tiefer Betäubung erwachend, warf sich das Ungetüm der Göttin zu Füßen und sagte: „Ich bin gewillt, von meinen Fehlern abzulassen und einen Weg der rechten Lebensweise einzuschlagen. Aber wie kann ich der himmlischen Strafe ledig werden?“ Darauf antwortete Guanjin: „Ich bin im Auftrage Buddhas in diesem irdischen Staub unterwegs, um einen Mann ausfindig zu machen, der geeignet ist, Buddhas Schriften aus dem Westen in die Hauptstadt des Ostens zu schaffen. Wollt Ihr diesen Mann 62
auf seiner Reise in den Westen begleiten, so werde ich Straferlaß für Euch erwirken.“ Das Ungetüm nahm den Vorschlag mit Freuden an. Guanjin schor ihm die Tonsur nach der Vorschrift für die Bonzen und verlieh ihm den Sippennamen Tschou, mit dem Zeichen für Wildschwein zu schreiben, und dazu die Rufnamen Wu-nöng, die ‚Umsichtiges Können’ bedeuten. Darauf schärfte sie ihm ein, in allen Dingen ein Buddha wohlgefälliges Leben zu führen, bis der Pilger bei ihm vorbeikomme, und machte sich mit Mo Tscha wieder auf den Weg. Zum dritten Mal wurden die beiden Wanderer unerwartet aufgehalten: aus der Höhe des offenen Himmelsraumes hing vor ihnen ein schneeweißer Drache herab. Als er der beiden Wanderer ansichtig wurde, begann er sofort, ihr Erbarmen zu erflehen. Auf Guanjins Frage nach seinem Namen und Vergehen berichtete er, daß er der älteste und erbberechtigte Sohn des Drachenkönigs des Westmeeres sei. Durch sein Versehen sei eine kostbare Perle aus dem Besitz des Vaters von Flammen zerstört und er zur Strafe dafür auf Geheiß Dshang Dis in der Leere aufgehängt worden. Guan-jin begab sich sofort auf einer schnellen Wolke vor das Antlitz des Obersten Himmelsherrn und bat ihn, ihr den Drachen zu überlassen. Er solle den Pilger, den ausfindig zu machen sie unterwegs sei, auf dessen Reise nach dem Westen als Beschützer begleiten und dadurch zugleich sein Vergehen sühnen. Dshang Di willfahrte der Bitte. Der Drache wurde freigelassen, und Guanjin geleitete ihn auf eine Bergeshöhe. „Haltet Euch hier auf“, befahl sie ihm, „bis ein Bonze aus der Hauptstadt des Ostens, der Buddhas Schriften aus dem Westen abholen soll, am Fuße dieses Berges vorbeikommt. Bei seinem Erscheinen werdet Ihr Euch in ein Drachenpferd verwandeln und ihm zu Diensten sein.“ Der Drache gelobte, den Auftrag zu erfüllen. Guanjin und Mo Tscha wanderten weiter und gelangten an den Berg der Fünf Elemente. Um seinen Fuß wogten undurch63
sichtige Nebel, doch sein Haupt umhüllte der Glanz eines goldenen Strahlenbündels. Die Reisenden erklommen den leuchtenden Gipfel. In Guanjin erwachte das Mitleid mit dem in den Berg eingekerkerten Gefangenen und entlockte ihr die Klage: „Ungewollt regt sich das Mitleid mit diesem seltsamen Affen, der, vom Vertrauen auf seine Tapferkeit geblendet, den Weg der Rechtschaffenheit verließ und sich gegen den Himmelsherrscher empörte. Unentrinnbar fest in diesem fünffach gesicherten Kerker hält ihn seitdem des mächtigen Buddha Wille. Wann wird dieses Verlies ihn freigeben, die Rückkehr in den Osten ihm winken?“ „Wer erdreistet sich, mich in meinem Elend zu verhöhnen?“ tönte die Stimme des gefangenen Großen Heiligen aus der Tiefe herauf. Von Mo Tscha gefolgt, trat Guanjin den Abstieg an und gelangte zu der Stelle, wo der Affenkönig den Kopf aus einer Felsspalte heraussteckte. Seine großen funkelnden Augen hefteten sich auf die Göttin, als er sagte: „Ich grüße Euch, Göttin Guanjin, die Ihr die Liebe und Güte verkörpert und die Unglücklichen erlöst. Für mich hat jeder Tag hier die Länge eines Jahres, kein einziges Wesen will meines Elends gewahr werden. Erbarmt Euch meiner und befreit mich! Danach werde ich mich an den Weg der rechten Lebensweise halten!“ Von freudiger Zuversicht erfüllt, nahm Guanjin das Wort. „Wenn Ihr wahrhaft gewillt seid, fortan ein rechtschaffenes Leben zu führen, so wird der Himmel Euch dabei behilflich sein. Wartet die Ankunft eines Pilgers aus der Hauptstadt lies Ostens ab, den ich mit dem Auftrag, Buddhas Schriften aus dem Westen abzuholen, diesen Weg schicken werde. Schließt Euch ihm als Schüler an, begleitet ihn in den Westen und von dort in den 64
Osten zurück. Auf diese Weise werdet Ihr der vollkommenen Tugend teilhaftig werden.“ Diese Verheißung ließ in dem Großen Heiligen den Vorsatz, sich einem Weg der rechten Lebensweise zuzuwenden, zum festen Entschluß reifen. Ohne weiteren Aufenthalt gelangte Guanjin mit Mo Tscha endlich nach Tschangan, der Hauptstadt des Ostens. In der Gestalt zweier von Kopfgrind geplagter Bonzen durchschritten sie unerkannt das Tor, quartierten sich im Tempel des Erdgeistes ein und begannen sofort mit der Suche nach dem geeigneten Pilger.
9. Tschön Kwang-jui wird auf der Reise zu seinem Amtssitz ermordet. Sein Sohn Ssün Tsang rächt ihn
Es sei nun die Rede von der Hauptstadt Tschangan und den Geschehnissen dort. Überall unter dem Himmel herrschte zu jener Zeit tiefer Friede, der Kaiser Tai Tsong regierte bereits im dreizehnten Jahr. Auf den Rat seiner Minister rief er alle befähigten Männer seines Reiches zu einem literarischen Wettbewerb auf; die besten Prüflinge sollten in hohe Staatsstellen berufen werden. Von den zahlreichen Bewerbern legte ein Mann aus der Sippe der Tschön, der die Rufnamen Kwang-jui führte, die weitaus beste Prüfung ab und wurde dafür vom Kaiser mit dem Titel ‚Mandarin der Ersten Klasse’ ausgezeichnet. Drei Tage lang paradierte er voller Stolz hoch zu Roß durch die Straßen der Hauptstadt. Sein Ritt führte ihn an dem Palast des Staatsministers Jing Kai-schan vorbei. Dieser hohe Mandarin hatte eine überaus liebliche Tochter, Grazia mit Namen, die er über alle Maßen verwöhnte. So hatte er ihr als besondere Vergünstigung erlaubt, sich von der Terrasse aus die Vorüberreitenden anzuschauen; gefalle ihr ein Mann so gut, daß sie ihn sich zum Gemahl wünsche, solle sie ihm einen 65
kleinen Ball aus Brokat zuwerfen. Als Kwang-jui an der Palastmauer entlang ritt, erkannte sie in ihm voller Bewunderung den soeben ernannten hohen Mandarin und war zugleich von der anmutigen Würde seiner Erscheinung entzückt. Flugs warf sie ihm das Brokatbällchen zu, und sofort geleiteten zehn Sklavinnen den überraschten Jüngling in den Palast. Der Vater Staatsminister und seine Gemahlin, tief beeindruckt von der aussichtsreichen Zukunft des jungen Würdenträgers, richteten dem Paar eine prunkvolle Hochzeit aus. Am Tage danach ernannte Kaiser Tai Tsong seinen neuen Mandarin Erster Klasse zum Gouverneur der Provinz Djangdschou und befahl ihm, sein Amt schnellstens anzutreten. Mit einem Abstecher von der vorgeschriebenen Route holte Kwang-jui aus seiner Heimatstadt seine alte Mutter ab; sie sollte fortan in der Obhut ihrer Kinder leben. Bald nach dem Aufbruch erkrankte die würdige Dame, und die Reisenden mußten für einige Tage in einem Gasthaus absteigen. Auf der Suche nach einem leckeren Essen für die Kranke stieß Kwang-jui auf einen Mann, der einen Karpfen mit goldglänzenden Schuppen zu verkaufen hatte. Hocherfreut nahm er das Angebot an. Auf dem Rückweg zur Herberge kam es ihm mehrmals vor, als blinzele der Karpfen ihn an, und wunderlich berührt davon, mochte er ihn nicht töten, sondern trug ihn an den nahen Hungfluß und gab ihm die Freiheit wieder. Er berichtete seiner Mutter das Erlebnis, und die lebenserfahrene Frau meinte: „Einem Lebewesen das Leben schenken ist eine gute Tat, die Glück bringt.“ Am nächsten Morgen schlug sie dem Sohn vor, sie im Gasthaus zurückzulassen, damit er seinen Amtsantritt nicht allzu lange hinauszögere, und sie im kühlen Herbst zu sich zu holen. Kwang-jui war einverstanden; er versah die alte Dame mit Geld und setzte mit seiner jungen Frau die Reise fort. Wenige Tage später wurde das Paar mit seinem Gefolge von zwei Fährmännern, denen das wertvolle Gepäck und die Schön66
heit der Herrin in die Augen stachen, überfallen. Kwang-jui und alle Diener wurden ermordet, die Leichen in den Fluß geworfen. Die beiden Räuber teilten sich in die Beute. Der eine suchte mit seinen Reichtümern das Weite. Der andere, Liu Hung mit Namen, staffierte sich mit dem vornehmen Gewand und dem Mandarinkäppchen des getöteten Kwang-jui heraus, nahm auch dessen Ernennungsurkunde und Dienstsiegel an sich, zwang die jammernde Witwe, ihm gefügig zu sein, hielt feierlichen Einzug in die Provinzhauptstadt und trat das Amt des Gouverneurs an. Dem Drachenkönig, der seinen Palast auf dem Grunde des Hungflusses hatte, wurde gemeldet, daß die Leiche eines ermordeten Literaten im Fluß treibe. Er ließ sie in den Palast schaffen, und ihr Anblick entlockte ihm tiefe Seufzer. „Dieser von einem unbekannten Frevler ermordete Mann hat mich vor kurzem meiner wahren Existenz wiedergegeben“, sagte er bekümmert. „Ich werde meine Dankesschuld an ihn abtragen, indem ich ihm jetzt meinerseits das Leben wiedergebe.“ Er beauftragte zwei Geister, die noch umherirrende Seele des Ermordeten in den Palast zu geleiten, und ließ sich von ihr berichten, was sich zugetragen hatte. Darauf befahl er, die Leiche auf ein Ruhebett zu lagern und ihr eine verwesungshemmende Perle in den Mund zu legen. „Erinnert Euch“, sagte der Drachenkönig zu der Seele, „daß Ihr vor kurzem einen Karpfen mit goldglänzenden Schuppen gerettet habt! Dieser Karpfen war ich, und darum rette ich heute Euch.“ Fortan weilte Kwang-juis Seele hochgeehrt im Palast des Drachenkönigs. Monate gingen dahin. Das Herz der jungen Witwe war von Trauer um den Gemahl, von Sehnsucht nach den Eltern und Sorge um die Schwiegermutter erfüllt. Liu Hung war oft in Regierungsgeschäften auf Reisen. Als sie wieder einmal aus solchem Anlaß allein im Palast war, suchte sie im Park den Pavillon ,Zur Erholung’ auf und ließ in der stillen Einsamkeit ihren Tränen freien Lauf. Plötzlich wurde ihr schwarz vor den Augen, und ihr 67
Leib krampfte sich in heftigen Schmerzen zusammen. Zugleich drang eine Stimme an ihr Ohr: „Du erhältst einen Sohn, der über außergewöhnliche Fähigkeiten verfügen wird. Gib gut acht auf ihn, denn Liu Hung wird ihm sogleich nach dem Leben trachten. Dein Gatte ist vom Drachenkönig gerettet worden; ihr werdet wieder vereint und gerächt werden!“ Damit erstarb die Stimme. Die junge Witwe genas eines Knäbleins. Kaum war Liu Hung seiner ansichtig geworden, beschloß er, es töten zu lassen. Die bekümmerte Mutter hielt es für das beste, ihr Söhnchen den Geistern des Hungflusses anzuvertrauen. Sie biß sich einen Finger ab und schrieb mit ihrem Blut auf einen Streifen Papier die Namen des Knaben und einige Angaben über seine Herkunft und Familie, und um das Wiedererkennen zu sichern, biß sie ihm die Hälfte der kleinen Zehe am linken Fuß ab. Darauf wickelte sie das Kind mitsamt dem Streifen Papier in ihr Obergewand und trug es auf ihren Armen behutsam an den Fluß. Die Strömung trieb ein Brett dicht am Ufer entlang; sie griff danach, band den kleinen Körper darauf fest und überließ es wieder der treibenden Kraft des Wassers. Ein kleines Stück jenseits der Stadtgrenze stieß die Planke gegen die zum Wasser hinabführende Treppe des Jinschan-Tempels, in dem der Bonze Fa Ming seit vielen Jahren ein Leben der Vervollkommnung führte. Von anhaltendem kläglichem Wimmern aufgeschreckt, eilte er an die Treppe und barg erstaunt ein winziges Kind aus dem Fluß. Aus den beigegebenen Angaben erfuhr er, was für eine Bewandtnis es mit dem seltsamen Fund hatte. Er taufte den Knaben nach dem Fundort auf die Namen Djang-liu, die ,Flußströmung’ bedeuten, und ließ ihn von einer Amme, die in der Nähe des Tempels wohnte, nähren. Den Streifen Papier und das Obergewand verwahrte er sorgfältig. Während Sonne und Mond in gleichbleibendem Rhythmus in ihren Bahnen dahinwandelten, wurde Djang-liu achtzehn Jahre alt. Fa Ming schor ihm die Tonsur nach der Vorschrift für die Bonzen und verlieh ihm zum Zeichen seiner Mönchswürde 68
die Namen Ssüan Tsang. Danach enthüllte er ihm das Geheimnis seiner Herkunft und wies ihm den Weg zum Palast des Gouverneurs Liu Hung, in dem er seine Mutter finden werde. Der Himmel fügte es, daß Liu Hung außerhalb der Hauptstadt weilte, als Ssüan Tsang in der Gestalt eines Bettelmönchs im Palast eintraf. Stimme, Aussehen und Gebaren des jungen Bonzen erinnerten die von unwandelbarer Trauer erfüllte Witwe an ihren ermordeten Gemahl, und Frage und Antwort, unterstützt von den Beweisen, die der Mönch vorzeigte, führten Mutter und Sohn schnell zusammen. Danach suchte Ssüan Tsang seine Großmutter väterlicherseits auf, die ein klägliches Dasein als Bettlerin führte. Er überzeugte sie durch einen goldenen Armreif, den seine Mutter ihm zu diesem Zweck mitgegeben hatte, von der Wahrheit seiner Angaben und besorgte ihr eine gute Unterkunft. In einigen Tagesmärschen gelangte er schließlich in die Hauptstadt und führte sich durch einen Brief der Mutter bei dem Staatsminister Jing Kai-schan ein. Voll tiefer Trauer vernahmen der hohe Mandarin und seine Gattin den Bericht von dem entsetzlichen Geschick, das ihre Tochter und ihren Schwiegersohn betroffen hatte. Bereits in der Frühe des nächsten Tages hielt der Minister dem Kaiser Vortrag über Liu Hungs Verbrechen. Darauf wurde er zum Oberbefehlshaber eines sechzigtausend Mann starken Heeres ernannt und stürmte den Palast des vorgeblichen Gouverneurs. Liu Hungs Herz und Leber wurden als Opfergabe in den Hung-Fluß versenkt. Zum Abschluß der Zeremonie ließ der Minister eine Bittschrift an den Drachenkönig um Wiedererweckung seines Sohnes vorlesen. Nach der Bekanntgabe wurde der Text verbrannt und die Asche in den Fluß gestreut. Dem Drachenkönig wurde von dem Opfer und der Bittschrift Meldung erstattet. Darauf ließ er Kwang-juis Seele vor seinen Thron führen. „Freude ist Euch widerfahren!“ begrüßte er sie. „Euer Schwiegervater, Eure edle Gemahlin und Euer hochverdienter Sohn haben Euch soeben Herz und Leber des Räubers 69
Liu Hung zum Opfer gebracht. Geruhet, von mir als Geschenk diese Zauberperle, zehn Rollen Brokatseide und einen mit Jade verzierten Gürtel anzunehmen. Zugleich gestatte ich Euch die Wiedervereinigung mit Eurer Familie.“ Kwang-juis Seele bedankte sich und kehrte in ihre leibliche Hülle zurück, die der Drachenkönig inzwischen hatte bereitlegen lassen. Auf diese Weise ward Tschön Kwang-jui dem Leben wiedergegeben. Er stieg aus der Tiefe des Wassers an die Oberfläche empor und trieb dicht an das Gestade heran. Seine Frau erkannte ihn sofort und rief Soldaten herbei, die ihm behilflich waren, an Land zu gelangen. Voller Freude und Staunen tauschten Eltern und Sohn ihre Erlebnisse aus, und der Staatsminister veranstaltete zum Ausdruck seines Glücks ein prächtiges Festmahl, an dem alle Offiziere und Soldaten des Heeres teilnahmen. Einen Tag später traten die Truppen den Rückmarsch nach Tschangan an. Kwang-jui bog mit seinem Sohn Ssüan Tsang vom Wege ab, um seine alte Mutter abzuholen. Feierlich führten die beiden Gatten Sohn und Mutter der Gattin des Staatsministers zu, die, hocherfreut, sofort ein großes Essen herrichten ließ. „Diese gemeinsame Mahlzeit sei das Symbol unserer Wiedervereinigung!“ sagte der Minister, als sie sich an der Tafel niederließen. „Laßt uns nach Herzenslust essen und trinken und uns völlig unserem Glück hingeben!“ Am folgenden Tage bat der Minister den Kaiser Tai Tsong, seinem Schwiegersohn wiederum ein Amt zu übertragen. Seine Bitte wurde bereitwillig erhört und Kwang-jui zum Präsidenten der Kaiserlichen Akademie ernannt. Ssüan Tsang versorgte sich mit einer großen Summe Geldes und ließ den baufälligen Tempel seines Meisters Fa Ming völlig aufbauen. Er wollte damit seinen Dank für die ihm erwiesenen Wohltaten abstatten. Für sich selbst wählte er als Unterkunft das nahebei gelegene Kloster der Unermeßlichen Glückseligkeit und führte dort ein Leben der Vervollkommnung. 70
10. Der Drachenkönig verstößt gegen den Befehl des Himmels. Der Minister Wee Tscheng gibt dem sterbenden Kaiser einen Brief in die Unterwelt mit
Unweit der Hauptstadt Tschangan lebten am Ufer des Djingflusses zwei rechtschaffene Männer: der Fischer Tschang Schau und der Holzfäller Li Ding. Eines Tages tranken sie in Tschangan zusammen einen Hirseschnaps. Auf dem Heimweg sagte Tschang Schau zu Li Ding: „Hör zu, was ich mir überlegt habe, Bruder Li! Wer nach Ruhm trachtet, büßt sein Leben ein; wer auf Raub ausgeht, gefährdet seine Existenz; wer von der Gunst des Fürsten lebt, nährt sich gleichsam von einer Schlange an seinem Busen; wer einem Herrn um Lohn dient, kann ebensogut im Schlaf einen Tiger in den Armen halten. Deswegen denke ich, daß es uns beiden weit besser als all jenen Leuten geht, denn wir erfreuen uns am grünen Bergwald und klaren Wasser, haben unsere Freiheit und können uns vergnügen, wie es uns Spaß macht.“ Li Ding pflichtete seinem Gefährten bei, nur schätzte er den grünen Bergwald höher ein als das klare Wasser. So plaudernd, gelangten die beiden Männer in die Nähe ihrer Hütten und verabschiedeten sich voneinander. „Nehmt Euch bei Eurer Arbeit im dichten Wald vor den Tigern in acht, Bruder Li!“ sagte der Fischer. „Was redet Ihr daher!“ entgegnete der Holzfäller. „So wie mich ein Tiger zerreißen kann, können Euch die Wellen in der Tiefe des Flusses begraben. Im Menschenleben wechseln Tage des Glücks mit solchen des Unheils. Jedes Gewerbe ist mit Gefahren verbunden.“ „Mein Gewerbe ist völlig ungefährlich“, widersprach der andere. „Ich will Euch auch sagen, warum. In der westlichen Vor71
stadt von Tschangan wohnt ein sehr kluger Wahrsager. Ich bringe ihm täglich einen Karpfen mit goldglänzenden Schuppen, und er sagt mir, an welcher Stelle im Fluß ich einen guten Fang tun werde. Morgen fahre ich in den westlichen Nebenarm des Djing, um meinen Kahn bis oben hin mit Fischen und Krabben zu füllen. Danach, lieber Bruder, wollen wir uns in der Stadt eine Kanne Reisschnaps leisten und uns nach Herzenslust vergnügen. Für heute lebt wohl!“ Wieder einmal bewahrheitete sich das alte Sprichwort ,Auf dem Weg wird gesprochen, im Gebüsch gelauscht’. Ein Flußgeist, der gerade die Inspektionsrunde abging, hörte mit an, was der Fischer seinem Gefährten von dem Wahrsager erzählte, und berichtete es dem Drachenkönig, der seinen Kristallpalast im Djingfluß hatte. Der Drachenkönig geriet in heftigen Zorn, stieg alsbald an die Oberfläche des Flusses empor, erkletterte die steile Böschung und begab sich in der Gestalt eines Studenten im langen Oberrock nach Tschangan. Dort erkundete er Namen und Wohnung des klugen Wahrsagers und suchte ihn sofort auf. Er wurde sehr höflich empfangen, mit einer Schale Tee bewirtet und nach seinem Begehr gefragt. „Ich will von Euch den Tag erfahren, an dem es regnen wird!“ antwortete er. Darauf warf der Wahrsager die Stäbchen und verkündete: „Regenwolken umhüllen die Berge, entziehen schon deren Gipfel dem Blick. Ihr begehrt zu wissen, wann es regnen wird: Morgen wird es der Fall sein, verlaßt Euch darauf.“ Der Student fragte weiter, wann der Regen beginnen und enden und wie hoch die Wassermenge steigen werde. Der Wahrsager antwortete: „In der Stunde Dshön ballen sich die Wolken zusammen, in der Stunde Sse gewittert es, in der Stunde Wu stürzt der Regen 72
herunter, und in der Stunde Wee klärt sich das Wetter wieder auf. Das Wasser wird drei Dji drei Dsun achtundvierzig Li hoch stehen.“ „Wenn sich Eure Voraussage bewahrheitet“, versetzte der Student mit spöttischem Lachen, „zahle ich Euch fünfzig Silbertael. Andernfalls schlage ich Euer Haus und alles, was darin ist, kurz und klein und verjage Euch aus Tschangan. Es soll Euch künftig verwehrt sein, die Menschen hinters Licht zu führen.“ Der Wahrsager nahm die Drohung gelassen hin, und der Student verließ das Haus. In seinem Kristallpalast angelangt, berichtete der Drachenkönig den Wassergeistern, die ihn schon gespannt erwarteten, ausführlich von dem Besuch bei dem Wahrsager. Die Höflinge machten sich über die Prophezeiung lustig. „Ihr seid mit der Herrschaft über die Acht Flüsse betraut, lenkt den Regen und die Winde“, sagten sie, „und könnt das Wetter voraussagen. Wie sollte dieser Wahrsager das gleiche vermögen!“ Plötzlich ertönte eine fremde Stimme, die dem Drachenkönig gebot, einen Befehl des Obersten Himmelsherrn entgegenzunehmen. Verwundert eilte der König dem Himmlischen Sendboten entgegen, der gerade die Schriftrolle auf den dafür bestimmten Altar niederlegte, ergriff das Dokument, löste die Siegel und las den Befehl. Er lautete: ,Der Drachenkönig des Djingflusses führe diesen Befehl genau nach den untenstehend angegebenen Weisungen aus: morgen soll es über Tschangan regnen!’ Die Angaben über den zeitlichen Verlauf und die verlangte Regenhöhe deckten sich genau mit denen des Wahrsagers! Der Drachenkönig wurde von Entsetzen gepackt. „Dieser Wahrsager verfügt über einen Himmel und Erde durchdringenden Scharfsinn. Ich werde seiner Macht erliegen!“ sagte er zu seinen Ratgebern. Einer der Generäle schlug ihm einen Ausweg vor: der Drachenkönig solle die Stundenfolge und die Regen73
menge ändern, damit sich die Prophezeiung des Wahrsagers nicht erfüllen und er an der Macht bleiben könne. Der Drachenkönig befolgte den Rat. Am nächsten Morgen ließ er die Geister des Donners und des Blitzes, des Windes und der Regenwolken in veränderter Stundenfolge über Tschangan gewittern und regnen und ihr Tun beenden, als das Wasser erst drei Dji und vierzig Li hoch stand. Darauf nahm er die Gestalt des Studenten vom Vortag an und drang in das Gemach des Wahrsagers ein. Er zertrat den Tuschreibestein und warf die Schreibpinsel auf den Fußboden, riß die handgestickten Wandteppiche herunter, hob die Tür aus den Angeln und beschimpfte und bedrohte den Wahrsager. Aber wie erschrak er, als dieser in ein überlegenes Lachen ausbrach und sagte: „Mich vermögt Ihr nicht zu täuschen. Auch seid Ihr kein Student, sondern der Drachenkönig im Djingfluß. Ihr habt dem Befehl des Himmels zuwider gehandelt – auf dieses Verbrechen steht der Tod durch Enthauptung! Wie könnt Ihr noch wagen, mich in meinem Hause zu schmähen!“ Dem Drachenkönig sträubten sich bei diesen Worten die Haare, und die Todesfurcht zerriß ihm die Leber. Seinen langen weißen Oberrock zusammenraffend, kniete er vor dem Wahrsager nieder und flehte ihn an, ihm das Leben zu lassen. „Ich habe darüber nicht zu befinden“, beschied ihn dieser. „Morgen in der Stunde Wu wird dem kaiserlichen Minister Wee Tscheng befohlen werden, die Enthauptung an Euch zu vollziehen. Euch kann nur der Kaiser selbst helfen!“ Der Drachenkönig wischte sich die Tränen vom Gesicht und verließ des Wahrsagers Haus. Bis zur dritten Nachtwache irrte er in geringer Höhe im freien Raum umher. Dann drang er in das kaiserliche Schlafgemach ein, in dem Tai Tsongs Lebensgeister hin und her schwirrten, warf sich vor dem Herrscher nieder und sagte: „Ich flehe Euch, den Wahrhaften Drachen, an, mich vor dem Tode zu bewahren! Ich bin Euresgleichen! Aber ich habe ein Verbrechen 74
begangen, und Euer würdiger Minister Wee Tscheng wird morgen den Befehl erhalten, mich zu enthaupten.“ „Wenn es an dem ist“, antwortete der Kaiser, „so kann ich Euch retten. Beruhigt Euch und geht heim.“ Der Drachenkönig verneigte sich tief und verließ das kaiserliche Gemach. Zur gleichen Zeit beobachtete der Minister Wee Tscheng die Sterne. Plötzlich vernahm er den Schrei eines Kranichs, und alsbald ließ sich ein Himmlischer Sendbote unmittelbar vor ihm nieder und sagte: „Dem Minister Wee Tscheng wird aufgetragen, sich morgen in der Stunde Wu des Drachenkönigs im Fluß Djing zu bemächtigen und ihn zu enthaupten.“ Der Minister verneigte sich tief, kehrte in sein Haus zurück, nahm ein Bad und machte sich daran, sein Schwert zu schärfen. Mitten in dieser Arbeit wurde er zum Kaiser befohlen. Betroffen ordnete er Kleidung, Haar und Bart und begab sich in den Palast. Der Kaiser unterhielt sich ausführlich über Staatsangelegenheiten mit ihm, und als die Stunde Wu näherrückte, forderte er ihn zu einer Partie Mahjong auf. Sie mochten eine halbe Stunde gespielt haben, als der Minister plötzlich einschlief. Der Kopf sank ihm auf die Brust, und sein Schnarchen dröhnte durch das Zimmer. Der Kaiser hütete sich wohl, ihn zu wecken. Als er nach einem Weilchen aufwachte und sich bestürzt für sein unziemliches Betragen entschuldigen wollte, beschwichtigte ihn der Kaiser lächelnd und schlug ihm vor, die unterbrochene Partie Mahjong zu Ende zu spielen. In diesem Augenblick stürzte ein Höfling aufgeregt in das Gemach. Vor sich hielt er auf beiden Händen das bluttriefende Haupt des Drachenkönigs! „Majestät!“ stammelte er, sich vor dem Herrscher niederwerfend, „es hat sich noch nie Dagewesenes ereignet. Die Flüsse sind ausgetrocknet, das Meer kann man durchwaten, und dieser Kopf ist vom Himmel herniedergefallen, genau auf die Kreuzung der Vier Wege.“ Der Kaiser wurde aschfahl im Gesicht. Den Blick fest auf Wee Tscheng gerichtet, sagteer: „Solltet Ihr, mein Minister, etwa in 75
diese Angelegenheit verwickelt sein?“ Wee Tscheng warf sich vor dem Kaiser nieder. „Ich habe vorhin im Schlaf den Drachenkönig enthauptet. Dshang Di, der Oberste Himmelsherr, erteilte mir gestern abend den Befehl dazu!“ gestand er. Dieses Bekenntnis erfüllte Tai Tsong mit Freude und Kummer zugleich. Mit Freude deswegen, weil sein Minister ein so viel vermögender und bei den Himmlischen so hochangesehener Mann war; mit Kummer deswegen, weil er sein dem Drachenkönig gegebenes Versprechen nicht gehalten hatte. „Laßt dieses Haupt dem Volk zur Warnung auf dem Markt zur Schau stellen!“ befahl er dem Höfling; zu Wee Tscheng sagte er: „Ihr sollt belohnt werden!“ Darauf verließen die beiden Männer das Zimmer. Die Erregung ließ den Kaiser nicht einschlafen. Um die zweite Nachtwache hörte er auf dem Gang eine klagende Stimme. Von böser Ahnung erfüllt, öffnete er die Tür: Vor ihm stand der Drachenkönig und hielt ihm auf beiden Händen sein bluttriefendes Haupt entgegen. „Gestern verbürgtet Ihr Euch für mein Leben“, sagte er. „Warum ließet Ihr mich heute durch Euren Minister Wee Tscheng ermorden?“ Dabei packte er den Kaiser an der Gurgel und wies ihm den Befehl vor, zum Höllengericht hinunterzusteigen. Im gleichen Augenblick tauchte eine Frau auf und fuhr mit einem Weidenzweig über das Gesicht des Drachenkönigs. Entsetzt griff dieser nach seinem bluttriefenden Haupt und flüchtete. Seine Seele stieg in die Unterwelt hinab und erhob Klage gegen den Kaiser Tai Tsong. Die unerwartet erschienene Frau war die Göttin Guanjin; das jämmerliche Weinen und Stöhnen hatte sie aus dem Tempel des Erdgeistes herbeigerufen. Der Kaiser zitterte am ganzen Körper. Sein angstvolles Schreien: „Die Geister! Die Geister!“ hallte durch den Palast und versetzte alle Mandarine in größte Unruhe. Er wurde von Tag zu Tag kränker, und bei Hof begann man be76
reits, über die Nachfolge und die Trauerzeremonien zu beraten. Eines Abends nahm der Kaiser ein Bad; danach legte er sich nieder und harrte des Schlafes. Ungerufen trat der Minister Wee Tscheng an sein Lager und überreichte ihm eine Schriftrolle. „Gebt diesen Brief bei Eurer Ankunft in der Unterwelt dem Gerichtsschreiber Tsui Pan, der das Buch des Lebens führt!“ sagte er. „Wir waren zu seinen Lebzeiten gut befreundet, und in der Erinnerung daran wird er Euch die Wiederfleischwerdung ermöglichen.“ Der Kaiser hörte aufmerksam zu und verbarg die Schriftrolle in dem weiten Ärmel seines Oberrockes. Darauf schloß er die Augen und verschied. Die Kaiserinwitwe, der Erbprinz und alle Mandarine bereiteten mit vielem Wehklagen die Beisetzung des kaiserlichen Leichnams vor. Wir wollen sie der Erfüllung ihrer Pflicht überlassen und lieber hören, wie der Kaiser Tai Tsong wieder ins Leben zurückkehrte. 11. Kaiser Tai Tsong in der Unterwelt. Liu Tjüan überbringt den Zehn Göttern Melonenkürbisse
Der Kaiser Tai Tsong irrte planlos über eine weite Ebene; lähmende Angst bemächtigte sich seiner. Plötzlich rief ihn eine kräftige Stimme an. Aufblickend, gewahrte er einen Mann mit einem Mandarinkäppchen, der ein weites Obergewand aus bestickter Seide mit einem breiten Gürtel aus Rhinozerosleder anhatte und in der Hand ein Elfenbeintäfelchen hielt. Der Fremde kniete vor ihm nieder und sagte: „Mein unwürdiger Name ist Tsui Pan. Zu meinen Lebzeiten war ich ein hoher Mandarin unter dem Vorgänger Eurer Majestät. Nach seinem Tode bin ich Gerichtsschreiber in der Unterwelt geworden. Gestern hat ein Drachengeist 77
Klage gegen Euch erhoben, daher wußte ich von Eurem Kommen.“ Erfreut überreichte der Kaiser dem Sprecher das Schreiben seines Ministers Wee Tscheng. Tsui Pan war hochbeglückt, eine Nachricht von seinem alten Freunde zu erhalten. Er las sie sofort und sagte: „Eure Majestät wolle sich völlig beruhigen. Ich werde ohne Säumen die Wiederfleischwerdung vorbereiten, und Eure Majestät wird von neuem die Regierung antreten.“ Und er geleitete den Kaiser vor die Zehn Herrscher der Hallen der Gerechtigkeit. Befragt, was er mit der Enthauptung des Drachenkönigs zu tun habe, legte der Kaiser dar, daß ihn keine Schuld daran treffe, worauf die Zehn Könige Tsui Pan das Buch der Toten holen ließen; sie wollten feststellen, wie viele Jahre der Herrschaft für Tai Tsong noch vorgemerkt waren. Ehe Tsui Pan das Buch vorlegte, schlug er heimlich das Register der Herrscher auf und fand die Eintragung: ,Tai Tsong aus der Dynastie der Tang: Regierungsdauer dreizehn Jahre!’ Tsui Pan tauchte schnell einen Schreibpinsel in Tusche und setzte zwei Striche vor das erste Schriftzeichen, so daß aus der Dreizehn eine Dreiunddreißig wurde. Die Götter fragten Tai Tsong: „Wieviel Jahre regiert Eure Majestät bereits?“ Auf die Antwort „Dreizehn Jahre!“ verkündeten sie ihm, daß er den Thron noch zwanzig Jahre innehaben werde, und gestatteten seiner Seele die Rückkehr in seinen Körper. Zwei Würdenträger, Tsui Pan und Dju Tai-wee, wurden beauftragt, den Kaiser aus der Unterwelt hinauszugeleiten. Tai Tsong vollzog eine tiefe Verbeugung und versprach den Zehn Göttern, ihnen nach der Rückkehr in sein Reich zwei Melonenkürbisse zum Ausdruck seiner Dankbarkeit zu schicken. Die Aussicht auf diese Gabe erfüllte die Götter mit großer Freude. Die beiden Begleiter führten den Kaiser auf einem anderen Wege aus der Unterwelt hinaus als dem, auf dem er hineingelangt war. Er kam jetzt an den vielen Abteilungen der Zehn Hallen der Gerechtigkeit vorbei, in denen die Seelen der Sünder unter jämmerlichem Wehgeschrei die ärgsten Foltern erleiden 78
mußten. Denn: Seit undenklichen Zeiten macht die ewige Gerechtigkeit aus den Menschen gute und böse Geister nach Maßgabe ihrer guten und bösen Werke im Leben. Keine einzige Tat, sei sie löblich oder verwerflich, entgeht dem Gesetz der Vergeltung. Die einen trifft es früh, die anderen spät, aber es trifft jeden. Niemand entrinnt ihm. Gegen das Ende des langen Weges gelangte der Kaiser zu der ,Stadt der zu Unrecht Verdammten’. Scharen von Geistern, viele ohne Kopf, andere ohne Hände oder Füße, manche mit heraushängenden Eingeweiden, stürzten auf ihn zu und heischten Rettung. „Diese Seelen sind ohne Reis und Geld hier angelangt; niemand gibt ihnen die Möglichkeit der Wiedergeburt“, erklärte Tsui Pan dem Kaiser, den vor Entsetzen Fieberschauer durchrieselten. Jenseits der ‚Stadt der zu Unrecht Verdammten’ öffneten sich vor den Augen des Kaisers die , Sechs Wege der Wiedergeburt’. „Eure Majestät wolle meine Worte genau im Gedächtnis bewahren und sie den Lebenden wiederholen!“ nahm Tsui Pan abermals das Wort. „Wer sich der Vervollkommnung befleißigt oder verdienstliche Werke vollbracht hat, gelangt auf den ,Weg der Unsterblichkeit’; wer seinem Herrscher treu gedient hat, auf den ,Weg der Ehren’; wer der Kindespietät genügt hat, auf den ,Weg des Glücks’; wer Tugend erstrebt hat, auf den ,Weg des Reichtums’. Wer sich als niederträchtig oder grausam erwiesen hat, muß den ,Weg der Dämonen’ oder den ,Weg der wilden Tiere’ einschlagen.“ Nach diesen Worten verabschiedete sich Tsui Pan von dem Kaiser. Auf dessen Dankesworte entgegnete er: „Heimgekehrt in Ihr Reich, wolle Eure Majestät ein großes Fasten für die Erlösung aller zu Unrecht Verdammten anordnen. Wenn in 79
den Gerichtshallen der Unterwelt kein Klagegeschrei mehr ertönt, werden ewiger Friede und unendliches Glück ihren Einzug in die Welt halten. Wenn Eurer Majestät Untertanen gegen die Gesetze verstoßen, möge Eure Majestät sie belehren und zum Guten anhalten.“ Dju Tai-wee geleitete den Kaiser durch das Tor. Davor stand ein gesatteltes Pferd. Der Kaiser schwang sich hinauf, und das Tier jagte pfeilgeschwind davon. Dju Tai-wee wich Roß und Reiter nicht von der Seite. Vor einer Flußböschung brachte der Kaiser das Pferd zum Stehen: in dem klaren Wasser spielten zwei Karpfen mit goldglänzenden Schuppen, und der Kaiser verharrte regungslos, um ihnen zuzuschauen. Dju Tai-wee drängte ihn, über den Fluß zu setzen. „Nur noch eine kleine Strecke, und Eure Majestät befindet sich wieder in Ihrem Königreich!“ rief er ihm zu. Aber der Kaiser machte keine Anstalten, weiterzureiten. Da zog ihn Dju Taj-wee vom Pferd herunter und stieß ihn kopfüber in den Fluß. So führte er die Seele in ihren Körper zurück. Zu dieser Zeit waren die Kaiserinwitwe und der Erbprinz und alle Mandarine im Trauertempel wehklagend um den Sarg des Kaisers Tai Tsong versammelt. In das Jammern und Weinen hinein ertönte plötzlich eine Stimme aus dem geschlossenen Sarg: „Das Wasser benimmt Mir den Atem! Ich ertrinke! Das Wasser benimmt Mir den Atem!“ Der Kaiserinwitwe und den Konkubinen zerriß vor Entsetzen die Leber, und sie stürzten aus dem Tempel hinaus. Einige Minister mit kräftiger Leber blieben gefaßt. „Eure Majestät wolle Ihre hundert hier versammelten Mandarine nicht als Leichengespenst erschrecken, sondern ihnen die Zusammenhänge erklären!“ riefen sie. Der Minister Wee Tscheng verwehrte ihnen solche Rede. „Unser Kaiser kehrt ins Leben zurück!“ erklärte er den staunenden Anwesenden und ließ den Sarg öffnen. Der Kaiser lag mit geschlossenen Augen vor ihnen. „Das Wasser benimmt Mir den Atem! Ich ertrinke!“ rief er deutlich. „Hilft mir denn niemand aus dem Fluß?“ Wee 80
Tscheng und einige andere Minister richteten den Kaiser auf, und der herbeigerufene Arzt verordnete ihm einen Heiltrunk zur Belebung des Geistes und ein leichtes Fleischgericht mit Reis. Vom Sterben bis zur Wiederfleischwerdung des Kaisers waren drei Tage und drei Nächte vergangen. Als der Abend dämmerte, baten die Mandarine den Kaiser, in einem langen Schlaf neue Kräfte zu sammeln; sie selbst kehrten in ihre Häuser zurück. Am nächsten Tage vertauschten sie die Trauergewänder mit den seidenen Amtstrachten und begaben sich wieder zum Palast. Der Kaiser war völlig ausgeruht und empfing sie sofort. Er berichtete von seinem Aufenthalt in der Unterwelt, schilderte die Strafen für die vielfachen Verbrechen, deren sich die Menschen zu Lebzeiten schuldig gemacht hatten, und beschrieb zum Schluß die Stadt der zu Unrecht Verdammten. „Mein Begleiter Tsui Pan“, sagte er, „hat es mir zur Pflicht gemacht, eine Fastenzeit für die Erlösung dieser unglücklichen Seelen anzusetzen.“ Die Mandarine legten den kaiserlichen Bericht sofort schriftlich fest, damit er in vielen Abschriften überall im Reich verteilt werden konnte. Der Kaiser erließ alle wegen leichter Vergehen festgesetzten Gefängnisstrafen und gewährte den zum Tode Verurteilten, insgesamt über vierhundert Männern, einen einjährigen Strafaufschub. Außerdem befahl er, große Summen Geldes unter die Armen und Waisen zu verteilen, und gab dreitausendsechshundert seiner Konkubinen die Freiheit mit der Erlaubnis, sich nach eigenem Ermessen zu verheiraten. Somit wurde der erste Regierungstag des wiedergeborenen Kaisers Tai Tsong der Beginn einer langen Epoche tugendhaften Lebens. Schließlich gab der Kaiser noch durch Anschlag in allen Provinzen bekannt, daß er einen Mann suche, der gewillt sei, den Zehn Herrschern der Hallen der Gerechtigkeit ein kaiserliches Geschenk zu überbringen. Wer diesen Auftrag übernehmen wolle, möge die Bekanntmachung von der Mauer abreißen und sich damit bei ihm melden. 81
Es sei nun von einem gewissen Liu Tjüan erzählt, der aus einer reich begüterten Sippe in der Provinz Djün-Dschou stammte. Er hatte vor kurzem seine Frau Tsui-ljän aus der hochangesehenen Familie Li mit schweren Vorwürfen überhäuft und aus dem Hause gewiesen, weil sie Bonzen für deren Kloster eine kostbare goldene Nadel geschenkt hatte. Die junge Frau hatte sich in ihrer Verzweiflung erhängt; ein kleiner Sohn und eine kleine Tochter weinten um ihre Mutter. Von Trauer und Gewissensbissen gequält, war Liu Tjüan zu dem Entschluß gelangt, seine Frau in der Unterwelt aufzusuchen. Als er die Bekanntmachung las, riß er sie ab und meldete sich damit bei dem Kaiser. Auf dessen Befehl nahm er zwei Melonenkürbisse als Traglast auf den Kopf, trank eine Schale Gift und starb. In der Unterwelt angelangt, ließ er sich zu den Zehn Herrschern führen und übergab ihnen das kaiserliche Geschenk. Sie waren über Tai Tsongs Zuverlässigkeit hocherfreut und erkundigten sich nach der Person des Überbringers und den Umständen seines Todes. Liu Tjüan nannte seinen und seiner Frau Namen und erzählte wahrheitsgetreu, was sich ereignet hatte. Die Zehn Götter ließen die Seele der Li Tsui-ljän in die Halle führen. Aber es stellte sich heraus, daß Tsui-ljän bereits vor drei Monaten gestorben, ihr Körper also verwest war und die Seele nicht mehr in ihn zurückkehren konnte. Da gerade die Lebenszeit der jüngsten Schwester des Kaisers Tai Tsong ablief, beschlossen die Götter, die Seele der Tsui-ljän in deren Körper eingehen zu lassen, und beauftragten den zuständigen Amtsteufel, die Seelen des Ehepaares Liu auf die Erde zurückzugeleiten.
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12. Kaiser TaiTsong ordnet ein großes Fasten an. Ssüan-tsang begibt sich auf die Pilgerfahrt nach dem Westen
In Tschangan angelangt, ging der Amtsteufel zuerst in die Herberge, in der Liu Tjüan aufgebahrt lag, und ließ die Seele in seinen Körper zurückkehren. Danach begab er sich zu des Kaisers jüngster Schwester Ju-jing, die gerade mit ihren Hofdamen in den Kaiserlichen Gärten lustwandelte. Er stieß sie zu Boden, entriß ihr die Seele und führte die der Frau Liu in ihren Körper ein. Entsetzt über den vermeintlichen Schwächeanfall ihrer Herrin, holten die Hofdamen das Kaiserpaar herbei. Tai Tsong hob behutsam den Kopf seiner Schwester ein wenig an und sagte: „Liebe jüngste Schwester! Erwacht aus Eurer Betäubung! Erwacht! Euer Bruder und Eure Schwägerin, die Kaiserin, sind bei Euch!“ Ju-jing schlug die Augen auf. „Ich bin nicht des Kaisers Schwester!“ rief sie erregt, „meine Sippe nennt sich Li, meine Rufnamen sind Tsui-ljän …“ und geschwind erzählte sie, wie sie sich erhängte, ihr Mann ihr als Bote des Kaisers in die Unterwelt folgte, die Zehn Götter voller Mitleid sie beide auf die Erde zurückführen ließen. „Ihr entbehrt jedes Anstandes“, schloß sie, „daß Ihr mich zu berühren und anzusprechen wagt.“ „Unsere Kaiserliche Schwester hat beim Sturz den Verstand verloren“, “sagte der Kaiser erklärend zu den Umstehenden, und er ließ die Kranke in den Palast schaffen. Sein Vorhaben, sich sofort mit den eilends zusammengerufenen Mandarinen zu beraten, wurde von der Meldung durchkreuzt, daß Liu Tjüan, sein Bote in die Unterwelt, sich zurückmelden wolle. Das Mißtrauen, mit dem er den Mann sprechen hieß, wandelte sich während des Berichts, den Liu Tjüan erstattete, in immer größeres Staunen. Er ließ seine Schwester vor den Thron führen: sie stürzte auf Liu Tjüan zu und überhäufte ihn mit Vorwürfen, daß er, ihr vorausgehend, sich 83
nicht nach ihr umgesehen und auf sie gewartet habe. „Der Austausch von Seele und Körper hat sich schon oftmals glaubwürdig vollzogen“, bemerkte der Minister Wee Tscheng. Aber der Kaiser entgegnete kopfschüttelnd: „Vieler Menschen Augen vermögen Bergstürze und Erdrisse zu bezeugen. Daß ein Körper die Seele austauscht, kam noch niemand zu Ohren.“ Darauf wandte er sich Liu Tjüan zu und sagte: „Zweifellos ist die Seele Eurer Gattin in den Körper Unserer jüngsten Schwester eingegangen. Unsere jüngste Schwester ist gestorben, aber ihr Körper lebt weiter. Ihr habt die Euch übertragene Aufgabe zu Unserer vollen Zufriedenheit gelöst und damit das Anrecht auf ein glückliches Geschick erworben. Wir bestimmen hiermit, daß alle Besitztümer Unserer jüngsten Schwester an Euch übergehen und alle Frondienste und Abgaben Euch auf Lebenszeit erlassen werden.“ Die beiden Ehegatten dankten mit tiefen Verneigungen. Sie kehrten in ihre Heimat zurück und führten mit ihren heranwachsenden Kindern ein tugendsames Leben in behaglichem Wohlstand. Eingedenk des ihm von Tsui Pan erteilten Auftrages, befahl der Kaiser den Mandarinen, alle Bonzen des Reiches zusammenzurufen, um ein großes Fasten für die Erlösung der zu Unrecht Verdammten abzuhalten; zugleich gebot er seinem berühmten Hofchronisten Fu Ji, einen geeigneten Bonzen für die Durchführung der Zeremonien ausfindig zu machen. Aber Fu Ji war gegen die Veranstaltung und begründete seine Ansicht in einem ausführlichen Bericht. ,In der Lehre des Westens’, führte er darin aus, ,gibt es weder Untertanen noch Herrscher, weder Eltern noch Kinder. Sie lehrt sechs Wege der Wiedergeburt und sieht drei Arten der Bestra84
fung vor: durch Schwert, Wasser und Feuer. Sie ermahnt die Unkundigen ohne Unterlaß, nicht von neuem in die Laster ihres früheren Lebens zurückzufallen, damit ihr künftiges neues Dasein sich glücklich gestalte. Sie schreibt das Hersagen langer Gebete zur Abwendung von Frondiensten und Abgaben vor. Steht aber dem nicht die Wahrheit entgegen, daß die Länge oder Kürze des Daseins von der Natur des Menschen abhängt und die Strafen entsprechend dem Willen der Herrscher auferlegt werden? Und da behaupten diese Ungebildeten, daß Buddha allein unser aller Schicksal bestimme! Was für ein gewaltiger Irrtum! In der Zeit der Drei Souveräne und der Fünf Kaiser gab es keine Lehre Buddhas; trotzdem führten die Herrscher ein ruhmreiches Regiment über ihre treuen Untertanen. Dem Kaiser Ming Ti aus der Han-Dynastie offenbarte sich Buddha, aber so viele Tempel er ihm auch errichtete – das Glück blieb ihm versagt. Warum will also Eure Majestät ein solches Vorhaben durchführen?“ Kaiser Tai Tsong bat seine Ratgeber, über Fu Jis Bericht zu beraten. Sie erklärten sich alle dagegen, und der Kaiser beauftragte nun drei von ihnen, darunter seinen Kanzler Sjau Jü, ihm einen geeigneten Bonzen vorzuschlagen. Bereits am nächsten Tage fanden sie sich wieder vor dem kaiserlichen Thron ein. „Dem Befehl Eurer Kaiserlichen Majestät gehorchend“, sagten sie, „haben wir einen Bonzen gewählt, der sich durch Tugenden wie Fähigkeiten besonders auszeichnet. Er heißt Tschön Ssüan-tsang.“ „Seid Ihr nicht der Sohn des Tschön Kwang-jui, des berühmten Präsidenten der Akademie?“ fragte der Kaiser. „Genau der bin ich!“ antwortete der Bonze mit ehrerbietiger Verneigung. „Diese Wahl ist wahrlich zu Recht erfolgt!“ entgegnete der Kaiser. Er verlieh Ssüan-tsang sofort den Titel des Obersten Bonzen im Reich und befahl ihm, den glückverheißenden Tag für den Beginn der großen Fastenzeremonie zu ermitteln. Ssüantsang setzte den dritten Tag des neunten Monats des dreizehnten 85
Jahres der Regierung des Kaisers Tai Tsong dafür fest. Von diesem Tage an sprachen im ‚Tempel der Verwandlung’ sieben Wochen lang eintausendzweihundert Bonzen Gebete für die Seelen der ohne männliche Nachkommenschaft Gestorbenen und brachten Opfer für sie dar. Wir müssen uns nun wieder der Göttin Guanjin zuwenden. Sie residierte noch immer im Tempel des Erdgeistes und bemühte sich, einen Mann zu finden, der geeignet sein möchte, die Schriften Buddhas in die Hauptstadt der Ostregion zu schaffen. Die Kunde, daß der Kaiser den Bonzen Ssüan-tsang mit der Abhaltung der Fastenzeremonien beauftragt hatte, drang auch zu ihr und erfüllte sie mit großer Freude. Sie beschloß, mit Mo Tscha, wieder in der Gestalt von Bettelmönchen, nach Tschangan zu wandern und dort auf dem Markt Buddhas Geschenke, das kostbare Obergewand und den Wanderstab, zum Kauf anzubieten. Auf der Landstraße begehrten zwei durch Kopfgrind übel anzusehende Mönche den Preis für Gewand und Stab zu erfahren. Auf die Antwort: „Fünftausend Silbertael für das Obergewand und zweitausend für den Wanderstab!“ brachen sie in Schmähungen aus. Guanjin und Mo Tscha wehrten sich nicht dagegen, sondern gingen schweigend weiter. Vom östlichen Blumentor her kam ihnen der Kanzler Sjau Jü mit großem Gefolge entgegen. Herolde sprengten voraus und drängten das gemeine Volk zur Seite; aber die beiden Wanderer ließen sich nicht von ihrer Richtung abbringen. Das fiel dem Kanzler auf, und er ließ durch Diener den Preis des Obergewandes erfragen. Die genannte Summe veranlaßte ihn, Guanjin vor sich rufen zu lassen. „Worin besteht der Wert dieses Gewandes, daß Ihr einen so hohen Preis dafür fordert?“ fragte er. Guanjin erwiderte: „Dieses Gewand ist unschätzbar und zugleich wertlos. Ich verkaufe es entweder zu einem sehr hohen Preis oder gebe es umsonst fort.“ Sjau Jü heischte eine Begründung für diese Antwort. 86
„Wer dieses Gewand anlegt“, erklärte Guanjin, „bleibt vor der Wiedergeburt, vor den Folterkammern der Unterwelt und vor jeglichem Unglück bewahrt. Darum will ich es einem tugendhaften Mann, der nach Vervollkommnung trachtet, ohne Entschädigung überlassen. Aber von einem Mann, der das Gesetz Buddhas nicht achtet und in seinem Herzen keine Güte hegt, fordere ich für Gewand und Stab nicht weniger als siebentausend Silbertael.“ Der Kanzler erfaßte sofort die tiefe Bedeutung dieser Worte. Er sprang vom Pferde, verneigte sich höflich und sagte: „Mein Herrscher hegt Güte in seinem Herzen und achtet das Gesetz Buddhas. Zurzeit läßt er ein großes Fasten abhalten und hat einen hervorragend tugendsamen und befähigten Bonzen beauftragt, die damit verbundenen Zeremonien durchzuführen. Er nennt sich Ssüan-tsang und ist des Gewandes wie des Stabes würdig. Erlaubt mir, daß ich Euch vor den Kaiserlichen Thron führe.“ Guanjin nickte zustimmend. Der Kaiser stellte die gleichen Fragen an Guanjin wie sein Kanzler und erhielt die gleichen Antworten von ihr wie dieser. „Nehmt zur Kenntnis, Meister“, sagte er, indem er das Gewand voller Bewunderung auseinanderbreitete, „daß wir zur Zeit im Tempel der Verwandlung ein großes Fasten für die Erlösung der zu Unrecht Verdammten abhalten lassen und den Bonzen Ssüan-tsang mit dem Aufsagen der Gebete betraut haben. Er verkörpert die höchsten Tugenden. Wir wollen Euch Gewand und Stab zu dem genannten Preis abkaufen und ihm beides als Geschenk überreichen.“ Aber Guanjin weigerte sich, einen Kaufpreis anzunehmen. „Wir haben uns gelobt“, sagte sie zur Erklärung, „einem tugendhaften und nach Vervollkommnung trachtenden Mann diese beiden Gegenstände zum Geschenk zu machen. Eure Majestät befleißigt sich der Gerechtigkeit und Güte, befolgt das Gesetz 87
Buddhas und achtet die Bonzen. Darum bitten wir Sie, dem mit dem Aufsagen der Gebete betrauten Bonzen Gewand und Stab zukommen zu lassen. Wir nehmen kein Geld dafür an.“ Bei diesen Worten wandten sich Guanjin und Mo Tscha zum Gehen. Sie kehrten in den Tempel des Erdgeistes zurück. Der Kaiser beauftragte seinen Minister Wee Tscheng, den Bonzen SsüanTsang zu rufen. Er begrüßte den Eintretenden mit den Worten: „Zwei Bonzen, die Unser Kanzler Sjau Jü zu Uns geleitete, haben Uns dieses Gewand und diesen Stab, Gegenstände von unschätzbarem Wert, überlassen. Nehmt beides zum Ausdruck unserer Dankbarkeit als Geschenk von uns entgegen!“ Ssüan-tsang verneigte sich ehrerbietig, und der Kaiser fuhr fort: „Legt dieses Gewand sofort an. Uns verlangt zu sehen, wie Ihr Euch darin ausnehmt!“ Ssüan-tsang tat, wie der Kaiser ihn geheißen, und nahm auch den Stab in die Hand. Die von Edelsteinen und Jade leuchtende Tracht verlieh ihm majestätische Würde. Von zwei Abteilungen Soldaten eskortiert, begab er sich in den Tempel der Verwandlung zurück. Die dort seiner Rückkehr harrenden Bonzen brachen in laute Rufe des Staunens und der Bewunderung aus, und von Stund an drängten sich mehr Neugierige um den Tempel als je Ameisen in einem Ameisenhaufen. Guanjin und Mo Tscha mischten sich, wiederum in der Gestalt von Bettelmönchen, unter die zum Tempel strömenden Menschen. Sie wollten die Gebete hören, die der Bonze hersagte. Ssüan-tsang sprach Gebete für die Erlösung der Seelen in der „Stadt der zu Unrecht Verdammten“. Danach predigte er über den Frieden in der Welt und die Güte als Tugend der Menschen. Guanjin trat vor den Altar und sagte: „Eure Gebete sind nicht dazu angetan, die Menschen zu erheben! Beherrscht Ihr keine Gebete, denen erlösende Kraft innewohnt, Bonze?“ „Andere Texte sind uns nicht bekannt!“ entgegnete Ssüantsang. 88
„Es gibt drei Bücher mit Gebetstexten“, sagte Guanjin darauf. „Buddha hat sie gesprochen. Sie bewahren die Menschen vor Unglück, erlösen die Toten und verleihen Tugendhaftigkeit.“ Es entspann sich ein Streitgespräch. Ein anwesender Mandarin eilte erschrocken in den Palast und berichtete dem Kaiser von dem ungebührlichen Benehmen der Bettelmönche. Tai Tsong ließ sie alsbald vor den Thron führen. Beim Eintreten vollzogen sie keine Verbeugung, nicht einmal die Augen schlugen sie nieder. Ohne Scheu fragten sie: „Was begehrt Eure Majestät von uns?“ „Habt Ihr Uns nicht das kostbare Gewand und den Wanderstab überlassen?“ fragte der Kaiser dagegen, und als die beiden bejahten, fuhr er fort: „Weswegen habt Ihr unseren Obersten Bonzen zur Rede gestellt?“ Guanjin antwortete: „Den Gebeten des Obersten Bonzen Eurer Majestät wohnt nicht die Kraft inne, verdammte Seelen zu erlösen. Der Zweck des von Eurer Majestät angesetzten Fastens kann nur mit Buddhas Gebeten erreicht werden.“ „Und wo befinden sich diese Gebetstexte?“ fragte der Kaiser hocherfreut. „Im Lande des Bambus, im Tempel des Großen Donners“, beschied ihn Guanjin. „Könnt Ihr Uns Texte aufsagen?“ wollte Tai Tsong wissen. „Das kann ich!“ antwortete Guanjin. „So bitten wir Euch, das Podium zu besteigen und sie uns hören zu lassen!“ Im selben Augenblick nahmen Guanjin und Mo Tscha ihre wahre Gestalt an und entschwanden auf einer Wolke. Der Kaiser und mit ihm alle Höflinge und Bonzen stürzten vor Entsetzen zu Boden. Als sie sich wieder aufrichteten, gewahrten sie an der Stelle, wo die beiden Bettelmönche gestanden hatten, einen weißen Papierstreifen, mit den Versen: 89
Dem Tangherrscher sei kund getan: Buddhas Gebete sind im Westen zu finden. Einhundertachttausend Li muß wandern, wer den Weg dorthin schaffen will. Kehrt er damit in das Reich zurück, können die Seelen der Hölle entrinnen. Der dieses verdienstvolle Werk vollbringt, hat Anspruch, ein goldener Buddha zu werden. Als Tai Tsong diese Verse gelesen hatte, beschloß er, die Fastenzeremonie abzubrechen und zuerst die Gebetstexte aus dem Westen holen zu lassen. Er begab sich in den Tempel der Verwandlung und fragte die Bonzen, wer von ihnen die Pilgerfahrt nach dem Westen wohl unternehmen wolle. Sofort trat Ssüan-tsang vor den Kaiser, kniete nieder und sagte: „Ich bin solcher hohen Aufgabe unwürdig. Trotzdem bitte ich Eure Majestät, sie mir zu übertragen!“ Der Kaiser hob den Knienden auf. „Im Herzen unseres Obersten Bonzen wohnen Tugendhaftigkeit und Treue!“ sagte er tief bewegt, verlieh Ssüan-tsang den Ehrentitel eines Jüngeren Kaiserlichen Bruders und befahl, die Geleitbriefe für ihn auszustellen. Im Kloster der Unsterblichen Glückseligkeit wollten die Bonzen Ssüan-tsang von seinem Vorhaben abbringen. Sie warnten ihn eindringlich vor den unzähligen wilden Tieren, Ungeheuern und bösen Geistern, die, allen Reiseberichten zufolge, den Pilger auf dem Hin- und Rückweg gleichermaßen bedrohten. Aber Ssüan-tsang beharrte auf seinem Entschluß. „Ich habe das Gelübde abgelegt, diese Reise zu unternehmen“, sagte er. „Erfülle ich meinen Auftrag nicht, mögen sich die Tore der Folterkammern in der Unterwelt hinter mir schließen. Ich habe einen sehr weiten Weg vor mir; ich weiß nicht, welche Ergebnisse meine Reise haben wird; auch nicht, ob sie zwei oder drei, fünf oder 90
sieben Jahre dauern wird. Achtet auf ein Zeichen, meine Brüder: wenn die Fichten am Fuß des Berges ihre Wipfel nach Osten neigen, so habe ich den Heimweg angetreten. Wenn Ihr aber nach Ablauf der angegebenen Frist dieses Zeichen nicht wahrnehmt, so gebt das Warten auf.“ Am Tage danach versammelte Tai Tsong seinen gesamten Hofstaat um sich. Nachdem der Hofastrologe verkündet hatte, daß der Tag unter einem günstigen Vorzeichen für den Antritt der Reise stehe, überreichte der Kaiser Ssüan-tsang die mit dem Kaiserlichen Siegel versehenen Geleitbriefe und eine goldene Trinkschale. Darauf gaben die Versammelten mit dem Kaiser an der Spitze Ssüan-tsang das Geleit bis an das Stadttor. Zum Abschied sagte der Kaiser: „Wir haben von der Göttin Guanjin erfahren, daß es ,ssan Tsang – drei Sammelwerke’ der Heiligen Schriften Buddhas gibt. Darum verleihen wir Euch hiermit den Beinamen Ssan Tsang. Jüngerer Bruder, wann gedenkt Ihr heimzukehren?“ – „Nach drei Jahren!“ entgegnete Ssan Tsang. „Das ist eine lange Zeit“, versetzte der Kaiser. Er bot dem Pilger eine goldene Schale duftenden Reisweins, in den er zuvor so viel Erde, wie man mit drei Fingern fassen kann, geschüttet hatte, und sagte: „Trinkt diese Schale Wein, lieber jüngerer Bruder, denn: Eine Prise heimischer Erde zu ehren, ist mehr wert als in der Fremde nach tausend Djin Gold zu trachten!“ Ssan Tsang leerte die Schale bis auf den letzten Tropfen. Danach verneigte er sich tief vor dem Kaiser, schwang sich auf das bereitstehende Pferd und trat, von zwei Dienern begleitet, die Pilgerfahrt gen Westen an.
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SSAN TSANG ERHÄLT EIN SCHNEEWEISSES DRACHENPFERD UND NIMMT DREI SCHÜLER AN
13. Der Abendstern befreit den Bonzen aus der Höhle der Tiger. Im Grenzgebirge steht ihm der Jäger Bai-tjin bei
Der Tag, an dem der Tangkaiser Tai Tsong mit seinem Hofstaat den Bonzen Ssan Tsang zum Stadttor geleitete, war der zwölfte Tag des neunten Monats des dreizehnten Jahres seiner Regierung. Der Bonze ritt den ganzen Tag, ohne auch nur einmal abzusitzen; seine beiden Diener hielten sich unentwegt neben ihm. Bei Sonnenuntergang erreichte er den Tempel des Rechten Glaubens. Die Mönche, fünfhundert an der Zahl, versammelten sich, um ihn zu begrüßen, und setzten ihm Tee und Reis mit Gemüsen vor. Auch sie wiesen ihn auf die vielen Gefahren der weiten Reise hin und rieten ihm, von seinem Vorhaben zu lassen. Aber er antwortete: „Es liegt in der menschlichen Natur, sich vor eingebildeten Gefahren zu fürchten. Ich habe im Tempel der Verwandlung gelobt, alle meine Kräfte für die Erfüllung meines Auftrages einzusetzen, damit die zu Unrecht Verdammten erlöst werden können.“ Am nächsten Morgen verabschiedete sich Ssan Tsang von seinen Gastgebern und bestieg sein Pferd. Leichtfüßig eilten die Diener neben ihm her. Er aß etwas, wenn er hungrig war, und trank Wasser, wenn ihn dürstete; legte sich bei einbrechender Dunkelheit zum Schlafen nieder und erhob sich im ersten Morgengrauen. Am dritten Tag erreichte er die Grenzstation Hods93
hou, deren Kommandant ihm Unterkunft im Tempel zum Ursprung der Glückseligkeit gewährte. Bereits um die vierte Nachtwache brach Ssan Tsang im hellen Licht des Vollmondes wieder auf. Die drei Männer hatten etwa zehn Li zurückgelegt, als plötzlich steile Gebirgsketten vor ihnen aufragten. Der Weg war zu Ende. Mühsam bahnten sie sich durch wild wucherndes Gras einen Pfad, ängstlich darauf bedacht, sich in westlicher Richtung zu halten. Plötzlich stürzten sie in einen Graben, und eine laute Stimme rief: „Greift sie und führt sie zu mir!“ Und schon umringten sie fünfzig bis sechzig Ungeheuer; einige packten sie an der Kehle und zerrten sie in eine Höhle. Vor Angst an allen Gliedern zitternd, schaute Ssan Tsang verstohlen auf. Vor ihm saß Mo Wang, der Geisterkönig der Tiger. Alles an ihm war zum Fürchten. Denn wahrlich: Grausen erregte der unförmige Körper, fauchend ging der Atem. Wie Blitze funkelnde Augen gierten nach allen Seiten, wie Donnergepolter hallte die Stimme. Einer Säge gleich, ragten die Hauer weit heraus aus dem Maul scharf schienen die Zähne wie Meißel. Eisernen Stacheln gleich stand der Bart im Gesicht, scharfe Krallen waren bereit, die Beute zu packen. Dem Bonzen wurde es vor Entsetzen dunkel vor den Augen, den Dienern versagten die Glieder den Dienst. Mo Wang ließ allen dreien die Arme auf dem Rücken fesseln und wollte sie gerade zu einem leckeren Mahl herrichten lassen, als ihm zwei hohe Besucher gemeldet wurden. In die Begrüßung hinein tönte das jämmerliche Stöhnen der Diener. „Wozu sind diese drei Wesen hergekommen?“ fragte der eine Besucher. „Um mich mit Menschenfleisch zu versorgen!“ antwortete Mo Wang. 94
„Seid Ihr immer so bemüht für Eure Gäste?“ fragte der andere Besucher und lachte schallend. „Es liegt mir daran, Euch zufrieden zu stellen, und ich werde sie für Euch herrichten lassen!“ beschied ihn Mo Wang. „Uns genügen zwei, hebt den dritten für morgen auf!“ entgegneten die Gäste. Darauf ließ der Tigerkönig aus den Köpfen und Gliedern der Diener ein Essen zubereiten, das restliche Fleisch und die Knochen fielen dem Gesinde zu. Ssan Tsang hatte noch keine Mahlzeit mit einem Gericht aus Menschenfleisch erlebt; vor Ekel verlor er das Bewußtsein. Bei Tagesanbruch kam er allmählich wieder zu sich, aber noch vermochte er nicht, Osten und Westen, Süden und Norden auseinanderzuhalten. Vor ihm stand ein Greis, er löste seine Fesseln und hauchte ihm wiederholt über das Gesicht. „Seht“, sagte er dabei, „hier sind Eure beiden Reisesäcke, und dort steht Euer Pferd. Ihr wäret in die Höhle der Tiger geraten. Ich werde Euch herausführen und Euch den richtigen Weg weisen. Kommt hinter mir her!“ Ssan Tsang verneigte sich mehrmals zum Ausdruck seines Dankes, befestigte die Reisesäcke am Sattel und ging, das Pferd am Zügel führend, hinter dem Alten her. Plötzlich kam ein heftiger Wind auf. Ssan Tsang hob den Kopf: der Greis vor ihm entschwand auf einer Wolke in die unermeßliche Weite des Himmelsraumes – ein Papierstreifen flatterte aus der Höhe hernieder. Darauf waren vier Zeilen geschrieben. Sie lauteten: Ich bin der helleuchtende Abendstern vom westlichen Himmel. Zur Erde hernieder stieg ich, dem bedrängten Gerechten zu helfen. Er verzage in keinerlei Mißgeschick. Wer die Heiligen Bücher holt, wird von den Göttern geschützt. 95
Ssan Tsang las diese Worte und verneigte sich in wortlosem Dank. Danach setzte er seinen Weg fort. Gegen seine Gepflogenheit führte er das Pferd weiter am Zügel, um es zu schonen. Er marschierte Stunde um Stunde. Der Hunger begann ihn zu quälen, seine Kräfte ließen nach, doch nirgendwo kündete aufsteigender Rauch die Nähe einer menschlichen Behausung. Um die Mittagsstunde sah er vor sich auf dem Weg zwei blutgierige Tiger sprungbereit kauern; hinter ihm bewegten sich mehrere Schlangen auf ihn zu. Von rechts tauchten Wölfe mit gefletschten Zähnen auf, von links her Eber mit aufgerissenem Rachen. Dem unglücklichen Ssan Tsang war klar, daß jede dieser ausgehungerten Bestien ihn mit einem einzigen Satz schnappen konnte. Außerstande, einen Gedanken zu fassen, ließ er sich auf untergeschlagenen Beinen mitten auf dem Weg nieder. Das übermüdete Pferd war kraftlos in die Knie gesunken. So unglaublich es klingt: in die lastende Stille hinein ertönte ein schrilles Rufen und widerhallte in vielfachem Echo in den Bergen – im selben Augenblick schlängelten sich die Schlangen rückwärts, sprangen die Tiger in langen Sätzen zur Seite, suchten die Eber und Wölfe grunzend und heulend das Weite. Ein Riese von Mann kam auf Ssan Tsang zu. Er hielt einen eisernen Dreizack in der Hand, am Gurt hing ein Köcher mit Pfeilen. Die Hände aneinandergelegt, kniete Ssan Tsang vor dem Ankömmling nieder und flehte: „Erhabener König! Schont meines Lebens! Schont meines Lebens!“ Der Fremde ließ den Dreizack fallen, richtete den Knienden auf und sagte: „Hört auf, Euch zu fürchten, Meister! Ich bin kein Bösewicht! Bin ein Jäger in diesem Gebirge. Meine Sippe nennt sich Liu, gerufen werde ich Bai-tjin, und mein Spitzname hier in der Gegend ist ,Beschützer der Berge’. Hungrig von einer Tigerjagd, wanderte ich heimwärts. Da sah ich Euch und die Bedrängnis, in der Ihr waret, und vertrieb die Bestien.“ Ssan Tsang entgegnete: „Ich pilgere im Auftrag des Tangkaisers gen Westen, um die Heiligen Schriften des Erhabenen 96
Buddha ausfindig zu machen. Soeben wart Ihr mein Lebensretter, habt vielen Dank dafür!“ Bai-tjin entgegnete abwehrend: „Ich bin in dieser Gegend daheim und ernähre mich von der Jagd auf wilde Tiere. Sie haben Angst vor mir und laufen davon, sobald sie mich nur erblicken. Ihr kommt aus der Hauptstadt, ich lebe auf dem Lande. Aber auch ich trage einen der Hundert Familiennamen, und Ihr und ich sind Untertanen desselben großen Kaisers. Begleitet mich jetzt in meine Hütte und ruht Euch aus, morgen werde ich Euch auf den richtigen Weg bringen.“ Diese Worte erfüllten des Bonzen Herz mit großer Freude. Er dankte Bai-tjin und stieg, sein Pferd am Zügel führend, mit ihm bergab. Am Fuße des Abhangs blies von der Seite her ein scharfer Wind. „Setzt Euch,Meister!“ sagte der Jäger. „Diese Windrichtung ist verdächtig, es muß eine Bergkatze in der Nähe sein! Die soll mir nicht entwischen! Wartet hier auf mich!“ Und schon stürmte er mit hochgehaltenem Dreizack los – vor ihm sprang ein Tiger auf und trachtete, mit weiten Sätzen zu entwischen. Bai-tjin stellte ihn, und ein wilder Kampf begann. Der Bonze hatte noch keine Jagd auf Tiger erlebt. In Schweiß gebadet und am ganzen Körper zitternd, wartete er auf das Ende des zähen Ringens. Erst nach gut einer Stunde ermattete das Tier, und Bai-tjin konnte ihm den Todesstreich versetzen. Über und über mit Haaren bedeckt und mit Blut bespritzt, kehrte er zu Ssan Tsang zurück, die Beute an den Ohren hinter sich her schleifend. Er zeigte keine Spur von Müdigkeit und war nicht einmal in Schweiß geraten. Ssan Tsangs Lobreden wehrte er ab; in aller Gelassenheit setzte er den Weg mit ihm fort, und bald war das Ziel erreicht. In dieser Nacht schlief Ssan Tsang einen todesähnlichen Schlaf bis in den hellen Morgen hinein. Es traf sich, daß sich gerade zum ersten Mal der Todestag von Bai-tjins Vater jährte, und auf die Bitte von Mutter und Sohn las Ssan Tsang die vorgeschriebe97
nen Gebete und verbrannte eine Bittschrift um Erlösung der Seele des Verstorbenen. Am nächsten Morgen fanden die beiden nicht genug Worte des Dankes für den Bonzen: die Seele des Verstorbenen war jedem von ihnen in der Nacht erschienen und hatte berichtet, daß sie durch Gebete erlöst und in einer wohlhabenden Persönlichkeit wiedergeboren worden sei. Ssan Tsang war über die Wirkung der Gebete Buddhas hoch beglückt. Das ihm angebotene Geldgeschenk aber lehnte er ab. „Es ist uns Bonzen verboten, Geld als Belohnung anzunehmen“, sagte er zu Liu Bai-tjin. „Wenn Ihr meint, mir Dank zu schulden, so stattet ihn ab, indem Ihr mich ein Stück Weges geleitet.“ Am nächsten Morgen ließ Bai-tjin einen Reisesack mit trockenem Reis und Lebensmitteln füllen, bestimmte einige Diener zum Gepäcktragen und ließ des Bonzen Pferd füttern und tränken. Darauf setzte sich der kleine Reisetrupp in Bewegung. In einem halben Tagesmarsch gelangten sie an den Fuß steil aufragender Gebirgsketten. „Nehmt zur Kenntnis“, sagte Bai-tjin zu Ssan Tsang, „daß dieses Gebirge alle andern überragt und eine Ländergrenze bildet. Der uns zugewandte Ostabhang gehört zum Kaiserreich der Tang, der entgegengesetzte, der westliche, zum Königreich der Tataren. Auf der Westseite sind die Tiger besonders reißend und haben keine Furcht vor mir. Aber wenn Euch die Götter Mut und Kraft verleihen, diesen Gefahren zu trotzen, will ich Euch noch einige Tage als Führer dienen.“ Ssan Tsang stand unschlüssig, Tränen stürzten ihm aus den Augen. Da hörten sie eine gewaltige Stimme rufen: „Mein Meister kommt! Mein Meister kommt!“ Ssan Tsang war vor Schreck völlig benommen; Liu Bai-tjin dagegen horchte auf, er wollte den Sinn der Worte erfassen. Aber der Ruf wurde nicht wiederholt.
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14. Der Affe gelangt auf den Weg der Tugend. Sechs Räuber büßen ihr Leben ein
Während Ssan Tsang und Liu Bai-tjin noch zweifelnd überlegten, hob abermals das Rufen an: „Mein Meister kommt! Mein Meister kommt!“ und die Diener meinten, es rühre von dem uralten Affen her, der in der Tiefe eines Berges in ein Felsverlies eingeschlossen sei. Ihr Herr pflichtete ihnen bei und ging mit dem Bonzen auf diesen Berg zu. Bereits einige Li davor wurden sie Kopf und Hände eines Affen gewahr, von dem übrigen Körper war nichts zu sehen. Neugierig betrachtete Ssan Tsang den spitz zulaufenden Kopf mit dem vorgeschobenen breiten Maul und den funkelnden Augen. Aus den Ohrmuscheln ragten lange Grasbüschel heraus, auf dem Schädel wucherten Moosflechten, und dicke Algen hingen wie ein Bart von Lippen und Kinn herunter. Liu, der sich vor nichts fürchtete, machte sich sofort daran, sie auszureißen. „Seid Ihr der Mönch, der nach dem Westen unterwegs ist, um die Heiligen Schriften herbeizuschaffen?“ fragte der Affe den Bonzen. „Der bin ich“, antwortete dieser, „warum fragt Ihr danach?“ „Nehmt zur Kenntnis“, nahm der Affe wieder das Wort, „daß ich der Ebenbürtige der Himmlischen bin. Buddha hält mich gefangen, weil ich im Himmel Tumult verursachte. Guanjin aber hat mir verheißen, daß ein Mönch auf dem Wege nach dem Westen hier vorbeikommen und mich erlösen wird. Ich soll ihn als sein Schüler in den Westen begleiten. Wie lange habe ich schon auf Euch gewartet, Meister! Nun befreit mich, ich flehe Euch an!“ Hocherfreut entgegnete SsanTsang: „Ich bin bereit, Euch zu befreien, doch habe ich kein Handwerkszeug dazu.“ „Dessen bedarf es nicht“, sagte der Affe. „Ihr braucht nur auf den Gipfel des Berges zu steigen und den dort angebrachten 99
Streifen Pergamentpapier mit dem Zauberspruch abzunehmen.“ Bonze und Jäger kletterten von Fels zu Fels, bis sie auf dem Gipfel des Berges anlangten. Ein mit zehntausend Spitzen leuchtender Strahlenkranz und Wolken von Wohlgerüchen umhüllten ihn. Tatsächlich: auf einer Steinplatte war ein Streifen Pergamentpapier mit sechs goldenen Schriftzeichen darauf – An Ma Mi Ba Mi Hung – befestigt. Behutsam griff Ssan Tsang danach – im gleichen Augenblick trug ein duftgeschwängerter Windstoß das Papier in den lichten Strahlenschein empor, und eine gewaltige Stimme verkündete: „Die Zeit ist erfüllt, und ich, der mit der Obhut über den Großen Heiligen betraute Geist, bringe diesen Zauberspruch zu Buddha zurück.“ Ssan Tsang und Liu Bai-tjin berührten ehrfurchtsvoll mit der Stirn den Boden. Danach stiegen sie den Berg hinab. Unten fanden sie alles so, wie sie es verlassen hatten. Ssan Tsang wandte sich an den Affen. „Ich habe den Zauberspruch abgenommen“, sagte er, „wie werdet Ihr nun aus Eurem Kerker herausgelangen?“ „Ich bitte Euch nur, Euch zu entfernen“, beschied ihn der Affe, „damit Ihr nicht von umherfliegenden Felsblöcken getroffen werdet, wenn ich mich aufrichte.“ Liu griff Ssan Tsang an der Hand, und beide rannten davon. Als sie fünf oder sieben Li entfernt waren, blieben sie stehen, um Luft zu holen. Aber der Affe drängte: „Weiter! Noch weiter!“ und sie setzten sich abermals in Trab. Hinter ihnen ging ein entsetzliches Getöse los; man konnte meinen, der Himmel berste auseinander, und die Berge stürzten zusammen. Ssan Tsang war wie gelähmt, so hatte ihn das Entsetzen gepackt. Da kam der Große Heilige auf ihn zu, kniete mit den Worten „Hier bin ich, Meister!“ vor ihm nieder, erhob sich und wandte sich, die Hände vor der Brust aneinandergelegt, zu Liu Bai-tjin: „Ich schulde dir Dank, älterer Bruder! Du hast meinen Meister zu mir geführt und mich dann noch von den Algen gesäubert, die mein Gesicht verunstalteten.“ 100
Ssan Tsang fragte den neuen Schüler nach seinen Namen. „Meine Sippe nennt sich Ssun, mein priesterlicher Name ist Wu-kung“, lautete der Bescheid. Ssan Tsang freute sich, daß sein Schüler bereits einen priesterlichen Namen trug, wollte ihn aber durch einen anderen ersetzen und entgegnete: „Erlaubt mir, Euch einen neuen heiligen Namen zu verleihen! Euer kleiner spitz zulaufender Kopf ähnelt dem der Schildkröte, die ihn aus ihrem Gehäuse vorstreckt, wenn sie sich in Bewegung setzt. Darum möchte ich Euch Ssingtschö, der Wanderer, nennen.“ „Gut! Gut! Sehr gut! Fortan heiße ich also Ssun Ssing-tschö!“ stimmte der Affe hochbeglückt zu. Jetzt nahm Liu Bai-tjin das Wort. „Großer Meister! Ihr habt nun einen Schüler, das ist mir eine große Freude. Erlaubt mir, Euch zu verlassen!“ Und er verabschiedete sich und trat den Heimweg an. Ssing-tschö forderte Ssan Tsang auf, sein Pferd zu besteigen, und belud sich mit den Reisesäcken. Meister und Schüler begaben sich zum ersten Mal gemeinsam auf den Weg. Sie waren noch nicht weit gekommen, als ein ausgehungerter Tiger auftauchte. Die Flanken mit dem Schwanz peitschend, den Rachen weit aufgerissen, stand er lauernd vor seiner Beute. Ssan Tsang erinnerte sich sofort der Worte des Jägers und hockte zitternd im Sattel. Ssing-tschö aber sagte lachend: „Habt keine Angst, Meister! Diese Bestie wird mir die Kleidung liefern, die ich so nötig brauche!“ Schon hatte er die Reisesäcke abgestellt, holte die winzige Nadel aus seinem Ohr hervor, blies darüber hin und hielt plötzlich eine Eisenstange in der Hand. Mit dem drohenden Ruf: „Du sollst mir nicht entwischen!“ schwang er die Waffe gegen den Tiger, der sich duckte, und zertrümmerte ihm den Schädel. Ssan Tsang war abgestiegen. „Großer Himmel!“ rief er. „Der Jäger Liu benötigte eine gute Stunde, um einen solchen Tiger zu 101
bezwingen, und Ihr braucht nur einmal zuzuschlagen. Ich sah einen Helden, und ich sehe einen noch größeren Helden!“ Ssingtschö erwiderte: „Ich bin Euer Schüler, darum darf ich nichts vor Euch geheimhalten. Nehmt zur Kenntnis, daß die Tiger mich fürchten. Auch die Drachen bezwinge ich. Ich kann das Meer ausschöpfen und Berge versetzen und besitze die Gabe, mich zweiundsiebzig Mal zu verwandeln. Wenn mich die Lust dazu ankommt, kann ich mich in die Erde versenken oder auf eine Wolke springen und durch den Raum gleiten. Einen Tiger zu erlegen, macht mir also gar nichts aus, und ich verdiene kein Lob dafür.“ Ssan Tsang fühlte, wie Ruhe und Freude in sein Herz einkehrten, jedwede Angst vor Ungeheuern fiel von ihm ab. Sie setzten ihren Weg fort, bis die Sonne hinter den westlichen Gebirgen versank. Im Licht des aufgehenden Mondes erblickten sie eine Hütte, und der Besitzer, ein gütiger Greis, gewährte ihnen für die Nacht Unterkunft. Er bereitete ihnen ein warmes Bad und bewirtete den Bonzen, den Vorschriften der Enthaltsamkeit gemäß, mit Reis und Gemüsen. Der Affe erbat sich Zwirn und Nadel und nähte sich, geschickt wie ein erfahrener Schneider, eine lange Hose, die ihm bis an die Achseln reichte; Ssan Tsang schenkte ihm dazu seinen langen ärmellosen Überrock. Schließlich führte Ssing-tschö noch das Pferd auf die Weide, und es war schon sehr spät, als er endlich zur Ruhe kam. Bei Tagesanbruch verabschiedeten sich die beiden Reisenden nach einem kleinen Morgenimbiß von ihrem Gastgeber und traten die Weiterreise an. Ssing-tschö marschierte voran. Auf einem Bergabhang traten ihnen sechs bewaffnete Räuber entgegen. „Bonzen! Gepäck und Pferd her, wenn Euch Euer Leben lieb ist!“ brüllten sie wie ein Mann. Ssan Tsang fiel vor Schreck vom Pferd. Ssing-tschö half ihm auf. „Sorgt Euch nicht, Meister!“ sagte er. „Diese Kerle werden uns mit Kleidung versorgen!“ Uner102
schrocken ging er auf die Wegelagerer zu. ,,Darf ich wohl erfahren, edle Herren“, sagte er gelassen, „mit welchem Recht Ihr dem Bonzen, meinem Meister, den Weg zu versperren wagt?“ „Ich bin der Beherrscher dieses Gebirges!“ antwortete der Anführer, „und habe Anspruch auf den Wegzoll. Ihr kommt ohne Bezahlung nicht durch.“ „Ich war auch Beherrscher eines Gebirges“, sagte Ssing-tschö. „Wie mag es kommen, daß ich Euch nicht kenne?“ „Wahrscheinlich habt Ihr uns niemals zu Gesicht bekommen“, entgegnete der Anführer. „Aber sicher habt Ihr unsere Namen gehört …“, und einer nach dem anderen von der Bande stellte sich vor. „Ai-ja!“ rief Ssing-tschö und lachte schallend, „und alle zusammen nennt Ihr Euch die ,Bande der Sechs Straßenräuber’? Stimmt’s? Nun, Ihr habt Euch erdreistet, uns den Weg zu versperren. Besänftigt meine schlechte Laune darüber und händigt mir all Euer zu Unrecht erworbenes Gut aus. Wir werden es in sieben gleiche Teile aufteilen, einen davon bekommen wir. Unter dieser Bedingung bin ich bereit, Euch Verzeihung zu gewähren.“ Die Räuber murrten, schrien sich gegenseitig Mut zu und gingen auf den Affenkönig los. Der hielt ihren Hieben und Püffen regungslos stand, die Hände in die Hüften gestemmt. „Dieser Knirps von Mönch ist von einer Zähigkeit, wie wir sie noch nie erlebt haben …“ riefen die Banditen. „Da Ihr des Zuschlagens überdrüssig zu sein scheint“, warf Ssing-tschö ein, „werde ich einmal meine Nadel an Euch probieren!“ „Du Jammergestalt von Bonze“, tönte es aus dem Haufen zurück. „Laß deine Nadel, wo sie ist. Wir haben keine Eiterpusteln zum Aufstechen und zum Muschelöffnen im Augenblick keine Zeit.“ Ssing-tschö holte die Nadel aus seinem Ohr, warf sie in die Luft und fing sie als gewaltige Eisenstange auf! Das sehen und 103
kehrtmachen, war eines bei den Banditen. Schnell wie das schnellste Pferd, setzte Wu-kung ihnen nach, versetzte jedem einen tödlichen Hieb und eignete sich all ihr Silber und ihre Kleider an. Beutebeladen kehrte er zu Ssan Tsang zurück. „Steigt ohne Sorge wieder auf Euer Pferd, Meister!“ sagte er und schlug eine dröhnende Lache an. „Diese Kerle habe ich erschlagen. Alle sechs!“ Ssan Tsang fuhr in die Höhe. „Diese Männer mußten dem Provinzialrichter vorgeführt werden“, tadelte er seinen Schüler. „Er allein hat das Recht, sie zum Tode zu verurteilen oder freizusprechen. Euch stand nichts weiter zu als sie in die Flucht zu jagen. Eure Tat beweist, daß Euch das Mitleid völlig abgeht. Wie soll man es rechtfertigen, Euch weiterhin einen Bonzen zu nennen?“ „Hätte ich die Kerle nicht umgebracht, hätten sie Euch umgebracht!“ verteidigte sich der Affenkönig. Ssang Tsang anerkannte diese Begründung nicht. „Ich führe ein Leben im Sinne Buddhas“, erklärte er, „und befleißige mich, Güte walten zu lassen. Darum würde ich eher selbst sterben wollen, als mich am Leben eines Menschen oder eines Lebewesens überhaupt zu vergreifen.“ „Ich bin Euer Schüler und darf nichts vor Euch geheimhalten“, sagte Ssing-tschö darauf. „Nehmt zur Kenntnis, daß ich vor fünfhundert Jahren lange den Titel eines Königs trug und als solcher – ich kann nicht zählen wie viele – Menschen getötet habe.“ „Darum seid Ihr auch von Buddha eingekerkert worden“, hielt ihm Ssan Tsang vor. „Als Bonze seid Ihr verpflichtet, nach Besserung Eures Wesens zu trachten. Tut Ihr das nicht, werdet Ihr nie des Bonzentitels würdig werden und wir nie in den Westen gelangen.“ In Ssun Wu-kung kam die Affennatur zum Durchbruch; er donnerte los: „Nach Eurer Meinung, Meister, kann ich weder Bonze werden noch in den Westen gelangen. Also gut: ich gehe!“ 104
Und schon war er auf eine Wolke gesprungen und glitt in östlicher Richtung davon. Ssan Tsang stand plötzlich allein da. Er war wie vor den Kopf geschlagen. „Was für ein sonderbares Wesen“, sagte er vor sich hin. „Kaum habe ich meine Gedanken ausgebrochen, geht er auf und davon. Das Schicksal vergönnt mir nicht, einen Schüler um mich zu haben.“ Er verstaute die Reisesäcke auf dem Sattel und trat, das Pferd am Zügel führend, den Weitermarsch an. Als er aus dem Gebirge heraus auf die freie Ebene kam, sah er sich einer würdigen alten Dame gegenüber, die ein besticktes seidenes Obergewand und ein Bonzenkäppchen in der Hand hielt. Sie sprach ihn an: „Der Erhabene Buddha residiert in der Westregion im Lande des Bambus im Tempel des Großen Donners. Es liegen einhundertachttausend Li zwischen ihm und Euch. Das ist keine kleine Entfernung! Wie wollt Ihr sie ohne Begleiter, nur mit einem Pferd, bewältigen?“ „Ich hatte einen Schüler“, sagte Ssan Tsang, „aber er war nicht gewillt, sich meinen Ratschlägen zu fügen, und suchte das Weite. Nun bin ich unschlüssig, was ich tun soll.“ „Dieses Gewand und dieses Käppchen gehörten meinem Sohn“, nahm die alte Dame wieder das Wort. „Er starb vor drei Jahren, gerade an dem Tage, an dem er als Bonze aufgenommen werden sollte. Nehmt beides für Euren Schüler.“ „Ich danke Euch. Aber wie ich bereits sagte, hat mein Schüler mich verlassen, und ich habe keine Verwendung für Eure Gabe“, sagte Ssan Tsang. „In welcher Richtung hat er sich entfernt?“ fragte die alte Dame und fuhr auf die Antwort: „In östlicher!“ lebhaft fort: „Die Ostregion ist nicht weit von hier entfernt. Dort wohne ich. Sicher wird Euer Schüler mich aufsuchen. Hört noch das eine! Ich lehre Euch einen Zauberspruch. Er heißt: ,Zur Festigung des Herzens’, 105
und Ihr dürft ihn an niemand anderen, wer es auch sein möge, weitergeben. Wenn Euer Schüler zu Euch zurückkehrt – und er kehrt bestimmt zurück, denn ich werde ihn Euch zurückschicken –, richtet es ein, daß er das Gewand anlegt und das Käppchen aufsetzt. Will er abermals nicht auf Euch hören, so sagt den Zauberspruch ,Zur Festigung des Herzens’ vor Euch hin. Alsbald preßt sich ein in dem Käppchen verborgener Goldreif um seinen Kopf, und der Schmerz zwingt ihn dann sofort, Euch zu folgen.“ Während sich Ssan Tsang noch dankend verneigte, entschwand die alte Dame mit einem lichten Strahlenkranz gen Osten. Wie ein Blitz durchfuhr Ssan Tsang die Erkenntnis, daß Guanjin sich ihm offenbart hatte. Er verneigte sich nochmals, brachte Gewand und Käppchen sorgfältig in einem Reisesack unter und ließ sich auf untergeschlagenen Beinen am Wegrand nieder, um sich dem Nachdenken hinzugeben. Inzwischen langte Ssing-tschö beim Drachenkönig des Ostmeeres an. Auf dessen verwunderte Frage, wieso er nicht auf dem Wege nach dem Westen sei, berichtete er wahrheitsgemäß, daß er sechs Räuber erschlagen und sein Meister ihm deswegen ernste Vorhaltungen gemacht habe. Da es gegen seine Natur gehe, sich tadeln zu lassen, habe er sich entschlossen, auf den Berg der Blumen und Früchte zurückzukehren, und auf dem Wege dorthin habe er dem Drachenkönig, seinem alten Freund, einen Besuch abstatten wollen. Der Drachenkönig warnte Wu-kung nachdrücklich vor den Folgen seines Verhaltens. „Ihr werdet nicht mehr zu den Unsterblichen gerechnet und in niedrigen Verhältnissen wiedergeboren werden, wenn Ihr Euch den Ratschlägen Eures Meisters nicht fügt“, schloß er seine Ermahnung. Bestürzt erklärte Wu-kung, daß er sofort zurückkehren wolle, und verabschiedete sich von seinem Gastgeber. Im Begriff, sich auf eine Wolke zu schwingen, erblickte er die seiner harrende Göttin Guanjin. Auch sie fragte, warum er nicht mit Ssan 106
Tsang zusammen unterwegs nach dem Westen sei, und auch ihr erzählte er wahrheitsgemäß, was vorgefallen war. „Aber ich kehre jetzt zu ihm zurück“, schloß er seinen Bericht, „und werde ihn fortan immer beschützen.“ – „Beeilt Euch mit der Rückkehr“, befahl die Göttin, „denn allein kann er leicht von bösen Geistern und wilden Tieren angegriffen werden.“ Ssun Wu-kung legte den Weg übers Meer in größter Eile zurück. Ssing-tschö fand seinen Meister niedergeschlagen am Wegrand sitzen und fragte: „Wie kommt es, Meister, daß Ihr den Marsch nach dem Westen unterbrochen habt?“ „Ich wußte nicht, wohin Ihr gegangen wäret, und darum blieb ich hier, um auf Eure Rückkehr zu warten“, war die Antwort. „Mich plagte der Durst, und ich suchte schnell den Drachenkönig des Ostmeeres auf, um ihn dort zu stillen“, gab Ssing-tschö vor. „Es geziemt sich nicht, daß Ihr Euren Meister zu täuschen versucht. Wie wollt Ihr in der kurzen Zeit Eures Fortseins den Weg von hier bis zum Ostmeer und zurück geschafft haben!“ sagte Ssan Tsang erregt. „Ich vermag auf Wölken schnell dahinzugleiten und mich mit einem einzigen Satz über einhundertachttausend Li zu schwingen!“ verteidigte sich der Beschuldigte. „Was für ein Glück für Euch, daß Ihr solche Fähigkeiten besitzt und mit ihrer Hilfe Euren Durst schnell zu löschen in der Lage wäret. Ich verfüge nicht über derlei Gaben und muß mich der Gewalt der Verhältnisse beugen. Deswegen quält mich im Augenblick grausamer Hunger.“ Ssing-tschö war sofort bereit, nach einer menschlichen Behausung auszuschauen und für den Meister etwas Eßbares zu erbetteln. Aber Ssan Tsang verwehrte es ihm und hieß ihn aus einem Reisesack Reis und eine Schale zum Wasserschöpfen herausnehmen. Ssing-tschö tat, wie ihm befohlen, und entdeckte 107
dabei die beiden Geschenke der Göttin Guanjin. „Auserlesen schön!“ rief er voller Bewunderung. „Stammen die beiden Dinge aus einem Tempel, Meister?“ In gleichmütigem Ton erwiderte Ssan Tsang: „Als junger Bonze hatte ich die größten Schwierigkeiten, Gebete auswendig zu lernen. Von dem Tage an, da ich dieses Obergewand und dieses Käppchen trug, erfaßte ich den Sinn der Riten ohne Mühe. Ich bewahre beides zur Erinnerung auf.“ „Wozu das? Der Weg nach dem Westen ist lang, und wir beide werden uns niemals trennen – erlaubt, daß ich sie trage, Meister!“ entgegnete Ssing-tschö. Ssan Tsang willfahrte der Bitte seines Schülers. Der hing sich sofort den Oberrock um und stülpte sich das Käppchen auf. Lächelnd sah ihm Ssan Tsang zu und begann, den Zauberspruch ,Zur Festigung des Herzens’ vor sich hin zu sagen. „Ai-ja! Ai-ja!“ begann Ssing-tschö zu stöhnen. „Mein Kopf! Wie weh mir der Kopf tut. Er wird zerspringen, und ich werde sterben müssen!“ Laut schreiend, wälzte er sich auf der Erde, der einschneidende Ring zog sich immer fester um seinen Kopf zusammen. Ssan Tsang hörte mit dem Hersagen auf, sofort ließ der Schmerz nach. Ssing-tschö tastete seinen Schädel ab und fühlte den fadendünnen Goldreif. Flugs holte er die Nadel aus seinem Ohr, verwandelte sie in eine Zange und wollte damit den Reif entfernen. Im gleichen Augenblick begann Ssan Tsang wieder mit dem Hersagen, und der schmerzhafte Druck setzte von neuem ein. Ssingtschö kippte um wie ein zweirädriger Schubkarren; Ohren und Gesicht röteten sich, die Augen quollen aus den Höhlen und die Stirn schwoll an. Der Anblick rührte Ssan Tsang; er schwieg und der Druck schwand. Ssing-tschö begehrte auf; der Meister habe einen bösen Zauber gegen ihn angewandt. Ssan Tsang klärte ihn auf: er habe nur den Spruch ,Zur Festigung des Herzens’ vor sich hergesagt. „Sagt ihn noch einmal!“ rief der Affe. „Ich will ausprobieren, ob er wirklich solche Wirkung hat!“ Ssan Tsang be108
gann von neuem mit dem Hersagen, wieder brüllte der Affe vor Schmerzen. „Werdet Ihr künftig auf meine Ratschläge hören? Werdet Ihr Euch an die Gesetze halten?“ fragte Ssan Tsang. „Bestimmt!“ antwortete der Affe unterwürfig, aber zugleich wallte die Wut über die erlittene Niederlage in ihm auf, und er schwang mit wilder Gebärde die schwere Eisenstange über seines Meisters Kopf. Abermals brach er unter dem Zwang des Zauberspruchs zusammen. „Ich habe Euch befreit!“ sagte Ssan Tsang, „und Ihr trachtet mir nach dem Leben!“ „Ich will Euch nie wieder Anlaß zur Furcht geben“, gelobte Ssing-tschö, „nur laßt mich wissen, wer Euch diesen Zauberspruch gelehrt hat.“ „Eine würdige alte Dame. Unmittelbar vor Eurer Rückkehr“, entgegnete Ssan Tsang. „Schon gut!“ fuhr Ssing-tschö auf. „Diese alte würdige Dame war niemand anders als die Göttin Guanjin. Sie wird meine Rache zu spüren bekommen!“ „Du einfältiger, jeder Vernunft barer Affe!“ schrie ihn Ssan Tsang an. „Vergehst du dich an der Göttin, straft sie dich mit dem Tode!“ Wu-kung sank in sich zusammen. „Stimmt! Stimmt!“ sagte er in kläglichem Ton. „Sie hat Euch den Spruch gelehrt, damit Ihr mich zwingen könnt, Euch in den Westen zu begleiten. Nehmt also zur Kenntnis, mein Meister, daß ich nicht mehr auf Rache sinnen werde. Aber wendet niemals wieder diesen Zauberspruch gegen mich an. Ihr sollt es auch nicht mehr nötig haben. Denn ich werde Euch in den Westen folgen und mich nicht mehr Euren Ratschlägen widersetzen.“ „Abgemacht!“ erwiderte Ssan Tsang. „Haltet Ihr Eure Zusage, so bedarf es nicht des Zauberspruchs. Bereitet nun alles für den Weitermarsch vor, wir dürfen keine Zeit mehr verlieren.“ Ssing-tschö belud sich mit dem Gepäck, Ssan Tsang bestieg 109
sein Pferd, und gemeinsam setzten sie die unterbrochene Reise fort.
15. Der Geist der Gebirge und der Wächter über den Erdboden helfen den Reisenden. Guanjin verwandelt den weißen Drachen in ein Pferd
Schon viele hundert Li hatten die beiden Reisenden in westlicher Richtung zurückgelegt. Der letzte Monat des Jahres war herangekommen. Der Nordwind blies schneidend, und die Luft war eisig. Der Weg führte über reißende Ströme, steile Berghänge hinauf und hinab, auf schmalen Graten entlang. Einmal brachte Ssan Tsang sein Pferd unmittelbar am Rande eines Abhangs, der jäh zu einem gurgelnden und tosenden Bergfluß abstürzte, zum Stehen. Ssing-tschö glaubte sich zu erinnern, daß dieser ungestüme Wasserlauf der ,Fluß der Unglücklichen Adler’ sei. Aus der Tiefe tauchte ein junger Drache auf. Er kletterte den Felshang hinauf und sauste auf Ssan Tsang zu. Ssing-tschö warf die Reisesäcke auf die Erde, umfaßte seinen Meister mit beiden Armen und stürzte, geschwind wie der Wind, mit ihm davon. Auf einer entlegenen, geschützten Steinplatte setzte er ihn ab und kehrte zurück, um Gepäck und Pferd zu bergen. Inzwischen verschlang der Drache das Pferd mitsamt dem Sattel und dem Glockenspiel. Ssing-tschö meinte, das Pferd sei vor dem Ungetüm davongelaufen, und hielt von der Höhe einer Wolke Ausschau nach ihm. Aber er konnte es nirgends entdecken und meldete seinem Herrn, daß es wohl dem Drachen zur Beute gefallen sei. Ssan Tsang brach bei dieser Nachricht in Schluchzen aus. „Was für ein Unglück“, jammerte er, „ein so wertvolles Pferd einzubüßen. Ich fühle mich außerstande, die weite Entfernung, die uns noch von unserem Ziel trennt, zu Fuß zu bewältigen.“ Ssing-tschö hatte 110
großes Mitleid mit seinem Herrn und ging zum Ufer des reißenden Bergstromes. „Gib mir mein Pferd zurück, du Räuberdrache!“ schrie er ein über das andere Mal, daß es weithin widerhallte. Der Drache, der sich nach der Pferdemahlzeit zusammengerollt auf dem Grunde des Flusses ausruhte, stieg an die Oberfläche empor. „Wer bist du? Woher kommst du? Weshalb erhebst du ein solches Geschrei?“ fragte er. „Ich komme, woher ich komme“, entgegnete Ssing-tschö. „Gib mir mein Pferd zurück!“ Er holte mit seiner Eisenstange gegen den Drachen aus. Der wich geschickt zur Seite und sperrte drohend seinen Rachen auf, daß die spitzen Zähne sichtbar wurden. Aber nach einem kurzen Versuch, den Kampf aufzunehmen, versagten ihm bereits die Kräfte, und er tauchte in die Tiefe des Bergstroms zurück. Ssing-tschö wühlte das Wasser mit seiner Stange auf und ließ nicht nach mit seinem Rufen: „Gib mir mein Pferd zurück!“ Der Drache kam zum zweiten Mal an die Oberfläche. „Ich habe dein Pferd verspeist und es längst verdaut. Wie sollte ich es dir also zurückgeben können!“ schrie er verärgert. Abermals holte Ssing-tschö mit seiner Stange aus. Blitzschnell verwandelte sich der Drache in eine Schlange und schlüpfte, unauffindbar für seinen Gegner, zwischen das Schilf. Den Affen packte die Wut. Mit einem Zauberspruch rief er Tschang Tschön, den Geist der Gebirge, und Tou Di, den Wächter über den Erdboden, herbei. Sie erschienen sofort, knieten nieder und entschuldigten sich unterwürfig für die Versäumnis, ihn noch nicht begrüßt zu haben, sie hätten angenommen, er sei noch immer im Berg der Fünf Elemente eingeschlossen. Ssing-tschö begehrte von ihnen Näheres über den Drachen im Fluß der Unglücklichen Adler zu erfahren, und sie berichteten ihm bereitwillig, was sie wußten. In dem Fluß hatte in der jüngsten Zeit kein Ungeheuer gelebt. Sein Wasser war so klar, daß die darüberfliegenden Adler ihre Spiegelbilder darin als lebende, unter ihnen dahinschwebende Vögel ansahen und sich auf die willkommene Beute stürz111
ten, wobei viele von ihnen ums Leben kamen. Vor kurzem hatte die Göttin Guanjin einen jungen Drachen von den Qualen erlöst, zu denen der Oberste Himmelsherr ihn verurteilt hatte, weil durch sein Versehen eine kostbare Perle aus dem Besitz seines Vaters vernichtet worden war, und ihm befohlen, in diesem Fluß das Leben eines Einsiedlers zu führen, bis ein Bonze auf dem Wege nach dem Westen, wo er die Heiligen Schriften Buddhas abholen wolle, an dem Fluß vorbeikäme. „Euer Pferd werdet Ihr nur mit Hilfe der Göttin Guanjin zurückbekommen können“, schlossen die beiden Geister ihren Bericht. Aber Ssan Tsang erlaubte Ssing-tschö nicht, die Göttin Guanjin aufzusuchen. „Der Weg zum Südmeer und zurück erfordert viel Zeit“, wandte er ein, „und so lange allein gelassen, werde ich den Gefahren und der Erschöpfung erliegen.“ Mitten in ihrer Auseinandersetzung hörten sie hoch aus der Luft die befehlende Stimme Djin Tous, des Himmlischen Herolds. „Bleibt bei Eurem Meister, Großer Heiliger! Ich werde die Göttin selbst aufsuchen“, verkündete sie. Ssing-tschö dankte mit einer tiefen Verneigung. Der Himmlische Herold begab sich ohne Verzug auf die Insel Putu inmitten des Südmeeres und erstattete der Göttin in deren Bambushain Bericht. Sie vertauschte sofort ihren Lotosthron mit einer Wolke und glitt mit dem Herold zusammen zum Fluß der Unglücklichen Adler. Ssing-tschö stieg ihr entgegen in die Lüfte auf. „Ihr nennt Euch Göttin des Mitleids“, rief er ihr schon von weitem zu, „und weiht Euch der Befreiung der Menschen. Wie konntet Ihr meinen Meister einen verhängnisvollen Zauberspruch lehren, mit dem er mich verfolgt?“ – „Ihr laßt Euch vom Zorn verblenden und verkennt meine Wohltaten“, wies ihn Guanjin zurecht. „Ich habe meine ganze Kraft eingesetzt, um den Mann ausfindig zu machen, der zum Wohle der gesamten Menschheit die Heiligen Schriften aus dem Westen hierher schaffen kann, und Ihr empfangt mich mit Schmähungen, ohne auch 112
nur einmal daran zu denken, daß Ihr mir Dank schuldet.“ „Wohl habt Ihr mir einen Befreier geschickt“, sagte Ssingtschö, „und ich habe Euch gedankt, indem ich ihn auf Schritt und Tritt begleitete. Aber warum habt Ihr, allen Gesetzen der Menschlichkeit zuwider, mir dieses Bonzenkäppchen mit dem Goldreif aufgezwungen? Warum habt Ihr meinen Meister den Zauberspruch gelehrt, der Leiden über mich bringt? Ihr seid der Feind aller lebenden Wesen! Wie soll man Euch Göttin der Barmherzigkeit, Befreierin der Menschen nennen!“ „Ohne diesen Reif wäret Ihr Eurer alten ungezähmten Wildheit verfallen!“ belehrte ihn Guanjin. „Ihr habt Euch den Ratschlägen Eures Meisters widersetzt. Sollte er Euch etwa um Gehorsam anflehen?“ „Warum habt Ihr dann nicht dem Drachen den Reif umgelegt, der meinen Meister und mich mit dem Tode bedroht und uns unseres Pferdes beraubt hat?“ beharrte Ssing-tschö. „Diesen Drachen“, erwiderte Guanjin, „habe ich von der schweren Strafe, die er eines Verbrechens wegen erleiden mußte, erlöst. Er erwartet, meinem Befehl gemäß, Euren Meister, dem er als Pferd dienen soll. Denn ein irdisches Pferd kann eine so weite Reise nicht bewältigen.“ Und sie hieß den Himmlischen Herold den Drachen herbeirufen. Der Jadedrachen stieg aus den Fluten empor und warf sich vor Guanjin nieder. „Ich verdanke Euch, hohe Göttin, die Erlösung aus ärgsten Qualen“, sagte er. „Eurem Befehl zufolge habe ich Tag für Tag nach Eurem Abgesandten Ausschau gehalten, aber bisher ist er nicht erschienen!“ Guanjin wies auf Ssing-tschö. „Er ist der Schüler des Bonzen“, sagte sie, „der nach den Heiligen Schriften unterwegs ist.“ Drache und Affe waren nahe daran, aufeinander loszugehen. Aber Guanjin wies den Affen mit strengen Worten zurecht und warnte ihn vor Widersetzlichkeiten gegenüber allen, die ihrem 113
Schutz unterständen. Dem Drachen legte sie eine Perlenschnur um den Hals, strich ihm mit einem Pappelzweig, den sie zuvor mit köstlichem Tau getränkt hatte, über den Körper und hauchte ihm über das Gesicht. Darauf sagte sie: „Bjän! –Verwandlung!“ und der Drache nahm augenblicklich die Gestalt eines Pferdes an. Darauf sagte die Göttin: „Wenn Ihr alle Kraft aufbietet, um die Länder Buddhas zu erreichen, wird Euch nach der Erreichung dieses Ziels ein unvergänglicher Körper verliehen werden.“ Und der junge Drache bewegte zustimmend den Kopf. Guanjin wandte sich zum Gehen. Aber Ssing-tschö hielt sie am Saum ihres Gewandes zurück. „Ich gehe nicht! Ich gehe nicht!“ erklärte er. „Dieser Bonze ist ein irdisches Wesen, wir werden immer nur diskutieren und niemals in den Westen gelangen. Statt den Rang eines Bodhisattva zu erlangen, werde ich mein Leben einbüßen. Ich gehe nicht!“ „Als Ihr ein wildes Tier wart“, entgegnete die Göttin, „scheutet Ihr keine Mühe, auf den Weg der Vervollkommnung zu gelangen. Nun Ihr allen Gefahren, mit denen der Himmel Euch bedrohte, entronnen seid, laßt Ihr in Eurem Streben nach. Der Vollkommenheit stellen sich viele Hindernisse entgegen, und sie kann nur mit tausendfältigen Mühen erreicht werden. Aber ich werde Euch einen Talisman geben. Ruft in der Stunde der Not den Himmel an, er wird Mitleid mit Euch haben, und ruft die Erde an, sie wird Euch zu Hilfe kommen. Dreht Euch um!“ Sie befestigte im Nacken des Affen drei Pappelblätter und sagte das Wort: „Bjän!“ Alsbald verwandelten sich die Blätter in drei lange, in feine Spitzen auslaufende Haare. „Wenn Euch ein Unglück heimsucht“, erklärte die Göttin, „werden Euch die drei Haare eine große Hilfe sein.“ Ssing-tschö vernahm diese gütigen Worte, und die Hoffnung, dereinst ein Bodhisattva zu werden, wurde wieder in seinem Herzen lebendig. Ein duftgeschwängerter Wind kam auf, leichte Nebelschleier wallten hin und her, und die Göttin entschwand den Blicken. – 114
Ssing-tschö stieg von der Wolke herunter. Das weiße Drachenpferd an der Mähne führend, trat er vor SsanTsang hin und sagte: „Meister, wir haben wieder ein Pferd!“ Ssan Tschang schrie auf: „Ein Pferd!“ Er glaubte zu träumen. Ssing-tschö berichtete ihm genau, welche Bewandtnis es mit dem neuen Pferd hatte. Danach bat er ihn aufzusitzen und belud sich mit dem Reisegepäck. Sie stiegen den steilen Hang abwärts an das Ufer des Flusses der Unglücklichen Adler, den sie überqueren mußten. Bei dem Anblick der tosenden Wassermassen drehte sich ihnen alles vor den Augen; eine Furt war nicht zu sehen. Da gewahrten sie einen Fischer auf einem Floß, das er mit einer Stange stromabwärts stakte. Auf Ssing-tschös bittenden Zuruf lenkte er das Floß ans Ufer, nahm Bonzen und Pferd, Affen und Gepäck auf und stieß ab. Schnell wie der Wind schoß das schwanke Fahrzeug quer über den Strom an das Westufer. Ssan Tsang wollte den Flößer entlohnen, aber der lehnte Geld und Dank ab und verschwand in einem plötzlich aufkommenden Nebel. Da wußte Ssing-tschö, daß es der Flußgeist gewesen war, der ihnen geholfen hatte. Ssan Tsang hörte sich die Erklärung seines Schülers schweigend an, bestieg sein weißes Pferd und trat, von Ssing-tschö gefolgt, die Weiterreise an. Abseits von der Straße ragte ein großer Tempel auf. Über dem Tor war zu lesen: Um den Ahnen zu opfern. Ein alter Mann, der einen Rosenkranz aus Feigenbaumholz in der Hand hielt, kam auf die Reisenden zu und lud sie zur Rast ein. Er bewirtete sie mit Reis und Gemüsen, den Speisen der Enthaltsamkeit, und ließ sich von Ssan Tsang über das Woher und Wohin berichten und von Ssing-tschö erklären, warum das Pferd ohne alles Sattelzeug wäre. Am nächsten Morgen überreichte er Ssan Tsang einen Sattel und eine Reitpeitsche; beides, sagte er erklärend, sei durch eine glückliche Fügung in seinem Besitz gewesen. Ssan Tsang nahm das Geschenk mit vielem Dank entgegen und stieg zu Pferd. Als er, zum Tor hinausgeritten, sich noch einmal zu115
rückwandte, sah er den Greis nicht mehr, und auch der Tempel war verschwunden. Er hörte nur eine Stimme in der Luft, die zu ihm sagte: „Bonze! Auf Geheiß der Göttin Guanjin haben wir beide, der Geist der Gebirge und der Wächter über den Erdboden, Euch Sattel und Peitsche zukommen lassen, deren Ihr bedurftet. Bietet nun alle Eure Kräfte auf, um in den Westen zu gelangen!“ Ssan Tsang stieg vom Pferd und verneigte sich. „Ich bin ein irdisches Wesen, das nur mit den Augen des Fleisches zu Rehen vermag. Ich erflehe Eure Vergebung, daß ich den Riten Euch gegenüber nicht genügt habe.“ Danach saß er wieder auf, und die Reise ging weiter.
16. Der Obere des Tempels der Guanjin begehrt das kostbare Obergewand. Der Dämon vom Berg des Schwarzen Windes stiehlt es
Dem Winter war endlich der Frühling gefolgt. Eines Tages sahen Ssan Tsang und Ssing-tschö seitwärts von ihrem Wege ein Kloster aufragen, und da die Sonne bereits im Untergehen war, beschlossen sie, dort bis zum nächsten Morgen zu rasten. Beim Näherkommen entzifferten sie über dem Tor vier große Schriftzeichen: Tempel der Göttin Guanjin. Darüber war Ssan Tsang ungemein glücklich. Er stieg vom Pferd ab, und schon eilten Mönche herbei, begrüßten ihn, fragten nach dem Zweck seiner Reise und baten ihn, einzutreten. Ssing-tschö ging, das Pferd am Zügel führend, hinter seinem Meister her. Die Mönche gerieten bei seinem Anblick in große Bestürzung und begehrten zu erfahren, wer dieses Ungeheuer sei. Ssan Tsang beruhigte sie. „Es ist mein Schüler“, sagte er, „meinen Belehrungen schwer zugänglich und abschreckend häßlich, aber mit ungewöhnlichen Fähigkeiten 116
ausgestattet.“ Danach erschien an der Spitze zweier Knabentrupps ein alter Bonze. Auch er hieß den Gast willkommen und fragte ihn, eine wie große Entfernung er bis zum Tempel der Guanjin zurückgelegt habe. „Von der Hauptstadt des Tangreiches bis zu dessen Westgrenze über fünftausend Li und weitere sechstausend Li, um das Grenzgebirge zwischen dem Kaiserreich Tang und dem Königreich der Tataren zu überschreiten und das Land der Barbaren bis hierher zu durchqueren“, beschied ihn Ssan Tsang. „Ihr habt also über zehntausend Li zurückgelegt“, nahm der Greis wieder das Wort. „Mein Leben spielt sich weit bescheidener als das Eure ab. Ich bin nur wenig in der Welt herumgekommen und habe seit vielen Jahren dieses Kloster nicht mehr verlassen. Ich gleiche dem Frosch, der auf dem Grunde des Brunnens hockt und immer nur das gleiche Stückchen Himmel gewahr wird.“ „Wieviel Jahre zählt Ihr, Meister?“ mischte sich Ssing-tschö in das Gespräch. „Die gütigen Götter haben mich bereits das zweihundertsiebzigste Jahr erreichen lassen“, sagte der Greis. „Da ist er ja jünger, als mein Urenkel sein würde“, flüsterte Ssing-tschö seinem Herrn zu, aber der bedeutete ihm zu schweigen. Die Knaben reichten den Gästen Tee in goldverzierten Jadeschalen, deren Schönheit Ssan Tsang entzückte. Aber der alte Bonze wehrte jedes Lob seiner Schätze ab; ihn verlangte vielmehr, die Kostbarkeiten in Augenschein zu nehmen, die im Gepäck der Reisenden enthalten sein mochten. Ssan Tsang verhielt sich ablehnend, aber Ssing-tschö rief: „Meister, bei Euren Sachen ist ein Meßgewand, ein wahres Kleinod! Wollet es den Mönchen zeigen!“ Über diesen Vorschlag lachten die Mönche: jeder von ihnen besitze deren mindestens dreißig, ihr Oberer sogar an die achthundert. Und weil sie nicht Lügen gestraft werden wollten, 117
schleppten sie Truhen heran und breiteten eine schimmernde Pracht rot- und schwarzseidener und bestickter Brokatgewänder vor den Gästen aus. „Eure Meßgewänder sind wohl schön“, bemerkte Ssing-tschö lächelnd, „aber ich lasse es mir nicht nehmen, Euch zum Vergleich unser Meßgewand zu zeigen!“ Ssan Tsang flüsterte ihm zu: „Mein Schüler, prahlt nicht mit der Kostbarkeit unserer Habe. Wir sind hier völlig allein und müssen auf der Hut sein. Bei den Alten heißt es: Man soll seine Reichtümer verbergen, um nicht die Begehrlichkeit der anderen zu wecken!“ Ssing-tschö antwortete nur: „Sorgt Euch nicht, Meister! Ich kenne mich aus.“ Und schon schaffte er das Reisegepäck heran und entnahm ihm das kostbare Obergewand. Durch eine doppelte Seidenpapierhülle hindurch erfüllte sein Glanz den ganzen Tempel und blendete die staunenden Mönche. In dem alten Bonzen reifte sofort der Entschluß, diese Seltenheit an sich zu bringen. „Vertraut mir dieses Gewand über Nacht an“, wandte er sich an Ssan Tsang. „Meine alten Augen können im Dämmerlicht nichts mehr erkennen, ich möchte es in der Nacht bei Fackelschein genau betrachten. Morgen früh erhaltet Ihr es zurück.“ Ssan Tsang überlief es bei diesen Worten eiskalt vor Schrecken; aber Ssing-tschö lächelte und überließ dem Alten das Gewand in seiner Papierhülle. Der dankte überschwenglich und bewirtete seine Gäste aufs beste. Bei Einbruch der Nacht ließ er sie in einen kleinen Tempel neben dem Kloster führen, wo Kammern für sie hergerichtet waren. Verzückt drückte der alte Bonze bei Fackelschein das kostbare Paket an seine Brust und jammerte, daß er dieses Gewand nicht sein eigen nennen dürfe. Er wagte nicht, es von den Hüllen zu befreien und sich an seinem Anblick zu erfreuen, weil das Verlangen, es zu besitzen, es zu tragen, dadurch noch verstärkt würde. Die Mönche hatten Mitleid mit ihrem Oberen, und einer schlug ihm vor, die Fremden hinterrücks zu erschlagen. Ein anderer warnte jedoch vor diesem Vorhaben. „Von dem Bonzen 118
mit dem weißen Gesicht“, sagte er, „hätten wir keinen großen Widerstand zu fürchten. Aber sollten wir den Alten mit dem behaarten Gesicht nicht beim ersten Streich umlegen können, wird er mühelos mit uns fertig werden.“ Und er schlug vor, den Tempel in Brand zu setzen und die beiden Fremden auf diese Weise zu beseitigen. Der Vorschlag fand allgemeinen Beifall. Als es vollends dunkel geworden war, häuften die Mönche Reisigbündel um den kleinen Tempel. Ssan Tsang und Ssingtschö waren gleich nach dem Hinlegen in tiefen Schlaf gesunken. Aber Ssing-tschö wurde dank seines feinen Gehörs von der Unruhe um den Tempel herum wach und flog sofort als Biene durch das Fenster ins Freie. Da sah er, wie die Mönche die Reisigbündel bereits mit Öl tränkten und anzündeten. ,Die Überlegung meines Meisters war also richtig’, schoß es ihm durch den Sinn. ,Wir sollen in diesem Feuer umkommen, damit der alte Bonze in den Besitz unseres kostbaren Meßgewandes gelangt. Ich sollte die heiligen Brüder für ihre Verruchtheit samt und sonders erschlagen. Aber mein Meister würde mich dann vielleicht wiederum des Mordes beschuldigen … Ich muß also glimpflich mit ihnen verfahren!’ Sofort schwang er sich mit einem gewaltigen Satz vor das südliche Himmelstor, drang zu dem Gott Guang Mu vor, berichtete ihm in wenigen Worten, in welcher Gefahr sein Meister schwebe, und bat, ihm seinen Feuerschutzschleier zu leihen. Der Gott willfahrte seiner Bitte. Ssingtschö eilte zum Tempel zurück und sicherte Ssan Tsang sowie Pferd und Gepäck gegen jeglichen Schaden durch das Feuer. Danach entfachte er einen starken Wind, damit die Flammen sich schnell ausbreiteten. Die Bonzen klagten und jammerten, als der Brand den ganzen Tempel erfaßte und auf die Gebäude in der Nähe übergriff. Wahrlich: Eine böse Tat vollendet sich selbst, 119
indem sie rückwirkend den Urheber schlägt. Daß die Menschen für ihre Taten büßen, will das Gesetz ihres Zusammenlebens. Der Feuerschein leuchtete weithin bis zum Berg des Schwarzen Windes und weckte das Ungeheuer, das dort in einer Höhle hauste. Mit dem Schrei: „Der Tempel der Göttin Guanjin brennt!“ glitt es auf einer Wolke zu der Brandstelle, um den Mönchen zu helfen. Während es einen Augenblick verweilte, um das Flammenmeer zu beobachten, traf aus einem Fenster des nicht brennenden Hintergebäudes ein blendender Lichtstrahl sein Auge. Er rührte von einem in Seidenpapier gehüllten Paket her, das auf einem Tisch lag. Das Ungeheuer ließ Feuersbrunst Feuersbrunst sein; es bemächtigte sich des Pakets und eilte damit in seine Höhle zurück. Als das Feuer um die fünfte Nachtwache erloschen war, brachte Ssing-tschö dem Gott Guang Mu den Feuerschutzschleier zurück. Darauf trat er an die Lagerstatt seines Herrn und rief laut: „Meister, erhebt Euch! Die Sonne steht bereits hoch am Himmel.“ Ssan Tsang machte sich reisefertig und trat vor die Tür: der Tempel war verschwunden, nur verkohltes Gebälk schwelte. Entsetzt hörte er den Bericht »eines Schülers an. „Ist das Meßgewand verbrannt?“ fragte er besorgt. Ssing-tschö beruhigte ihn. Er habe das Gebäude, in das der Obere das Gewand geschafft hätte, vor dem Feuer bewahrt und werde das kostbare Stück jetzt suchen. Ssan Tsang nahm das Pferd am Zügel, Ssingtschö belud sich mit dem Reisegepäck, und so schritten sie auf das Kloster zu. Die Mönche standen wehklagend herum, mitten unter ihnen ihr Oberer. Beim Anblick der Reisenden, die sie verbrannt wähnten, überfiel sie lähmendes Erschrecken. Sie meinten, die Seelen der Opfer kämen, um ihr Leben von ihnen zurückzufordern, „Hundesöhne!“ schrie Ssing-tschö sie an. „Wir 120
sind keine umherirrenden Seelen. Gebt uns unser Meßgewand zurück, wenn Euch Euer Leben lieb ist!“ Der alte Bonze stürzte davon, das Paket zu holen. Da er es nicht finden konnte, zertrümmerte er sich den Schädel. Ssingtschö forderte nun die Mönche auf, das Gewand zu suchen. Aber sie weigerten sich. Sie seien an dem Brand unschuldig, die Anstifter wären der Obere und ein einziger junger Mönch gewesen. Wütend durchwühlte Ssing-tschö alle Truhen und grub die Erde drei Fuß tief auf. Die Beteuerungen der Mönche, daß sie mit der Feuersbrunst nichts zu tun hätten, erschienen ihm glaubwürdig. So kam ihm der Gedanke, daß ein Dämon seine Hand im Spiele habe, und er fragte die Mönche, ob es in der Nähe des Klosters einen solchen gebe. Sie verwiesen ihn auf die etwa zwanzig Li entfernte Höhle im Berg des Schwarzen Windes; der dort lebende Dämon sei mit dem alten Bonzen befreundet gewesen. Ssing-tschö gebot ihnen, auf seinen Meister achtzugeben, schwang sich zum Entsetzen der Mönche auf eine Wolke und glitt dem genannten Berg zu.
17. Ssing-tschö kämpft mit dem Schwarzgesicht. Guanjin zwingt das Ungeheuer zur Unterwerfung
Am Ziel angelangt, hielt Ssing-tschö erst einmal Umschau. Aus einem Gebüsch drangen Stimmen an sein Ohr. Er ging dem Klang nach und entdeckte drei Dämonen, die auf der Erde hockten und sich unterhielten. Der eine, ein Schwarzgesicht, erzählte gerade den beiden anderen, die an ihrer Kleidung als dauistischer Mönch und Literat zu erkennen waren, daß er soeben ein kostbares Meßgewand in seinen Besitz gebracht habe und es am nächsten Tag anlegen und zu diesem feierlichen Akt seine Freunde einladen wolle. 121
Mit Donnerstimme rief Ssing-tschö dazwischen: „Du bist also der Dieb! Gib mir auf der Stelle unser wertvolles Gewand zurück!“ und holte mit seiner schweren Eisenstange aus. Augenblicks verschwand das Schwarzgesicht in einem Wirbelwind, und der Dauist glitt auf einer Wolke davon. Nur der Literat wurde getroffen; im Sterben verwandelte er sich in seine wahre Gestalt, die Schlange der Weißen Blüten, zurück; Ssing-tschö hob sie vom Boden auf und zerhieb sie in zwei Teile, die er fortschleuderte. Darauf durchmaß er mit Riesenschritten das Berggelände und gelangte schließlich an eine Höhle, über deren Eingang vier Schriftzeichen in die Felswand eingeritzt waren: Höhle des Schwarzen Windes. Wieder schrie Ssing-tschö: „Hundesohn! Gib mir auf der Stelle unser Meßgewand zurück! Das Feuer im Tempel der Göttin Guanjin gab dir die günstige Gelegenheit, es zu stehlen, und morgen, sagst du, willst du dich in einer großen Feier darin zeigen. Wage nicht, es zu leugnen, wenn dir dein Leben wert ist!“ Das Schwarzgesicht war schlagfertig im Entgegnen, und das Wortgefecht ging in ein erbittertes Ringen über, bei dem es um die Mittagsstunde noch keinen Sieger und keinen Besiegten gab. Plötzlich schlug das Schwarzgesicht vor, eine Kampfpause einzuschieben, und verschwand in seiner Höhle. Ssing-tschö versuchte, das Tor einzudrücken. Das gelang ihm nicht, und so benutzte er die aufgezwungene Unterbrechung, um zu seinem Herrn zu eilen und ihm Bericht zu erstatten. Der zweite Kampfgang dauerte bis in den späten Abend hinein. Abermals fiel keine Entscheidung, abermals schob das Schwarzgesicht unversehens eine Kampfpause ein und zog sich in seine Höhle zurück. Ssing-tschö tat in dieser Nacht einen tiefen Schlaf, aber Ssan Tsang verbrachte sie in quälender Unruhe. Am folgenden Morgen eröffnete Ssing-tschö seinem Herrn, daß er die Göttin Guanjin um Rat bitten werde, wie er den Kampf weiterführen solle. Er habe gründlich überlegt: die 122
Schuld an dem Diebstahl des Meßgewandes treffe die Göttin, denn sie habe geduldet, daß sich ein Ungeheuer wie das Schwarzgesicht in der Nachbarschaft des ihr geweihten Klosters niederließ. Auf Ssan Tsangs ängstliche Frage, wann seine Rückkehr zu erwarten sei, antwortete er: „Wenn nichts Unvorhergesehenes- dazwischenkommt, morgen zur ersten Mahlzeit, sonst gegen Mittag.“ Ssing-tschö sprang auf eine Wolke und glitt südwärts auf die Insel Putu zu. Am Ziel seiner Fahrt lag die unendliche Weite des Meeres vor ihm, das sich in der Ferne mit dem Himmel zu vereinen schien. Wie ein riesiger Korb stülpte sich das Weltall darüber, tausendfältig schwebten Federwölkchen durch den Raum. Ein glückverheißender Glanz lag über den Bergen und Flüssen der Insel. Durch den Bambushain gelangte Ssing-tschö vor den Lotosthron der Göttin. Er grüßte, wie es die Riten erforderten, und sie fragte: „Was führt Euch zu mir?“ Ssing-schö antwortete: „Mein Meister ist zur Rast in den Euch geweihten Tempel eingekehrt, und Ihr habt zugelassen, daß Feuer an den Tempel gelegt und sein kostbares Meßgewand gestohlen wurde. Ich erflehe Eure Hilfe, es wieder herbeizuschaffen.“ „Feuer und Diebstahl, beides habt Ihr verschuldet!“ sagte die Göttin. „Ihr habt mit Eurem Besitztum geprahlt und damit in dem alten Bonzen die Habgier geweckt. Und Ihr habt zum ersten Frevel einen zweiten gefügt: Ihr habt einen Sturm entfacht, damit die Flammen sich ausbreiteten und mein Heiligtum völlig zerstört wurde. Nur um Eures Meisters willen bin ich bereit, Euch zu helfen.“ Eilends begaben sich Guanjin und Ssing-tschö zum Berg des Schwarzen Windes. Am Abhang entlang ging ein Mann seines Weges. Es war der Dauist, in einer Hand hielt er ein Schälchen mit zwei Pillen darin. Ssing-tschö stürzte auf ihn zu und schlug 123
ihm mit einem Hieb den Kopf ab. „Was für ein Ungeheuer von Affe Ihr doch seid!“ rief die Göttin entsetzt. „Schon wieder habt Ihr eine Scheußlichkeit begangen. Dieser Mann war nicht der Dieb Eures Meßgewandes. Warum habt Ihr ihn ermordet?“ „Göttin, Ihr kennt ihn nicht“, rechtfertigte sich Ssing-tschö. „Er war mit dem Schwarzgesicht befreundet, bestimmt wollte er ihm mit diesen Pillen ein Geschenk machen.“ Dabei drehte er die Leiche hin und her, und es stellte sich heraus, daß der Dauist in Wirklichkeit ein Wolf war. Ssing-tschö besah auch das Schälchen und entdeckte darauf eingeätzt vier Schriftzeichen: Ling Ssü Dse Dji – Von Ling Ssü gefertigte Pillen. Das versetzte ihn in große Heiterkeit und brachte ihn auf eine List, die er der Göttin vortrug: Sie solle die Gestalt des Dauisten annehmen, er selbst würde die beiden Pillen verschlucken und sich in eine Pille verwandeln, die das Schwarzgesicht als Geschenk seines Freundes einnehmen werde. Er würde ihm dann in den Eingeweiden gehörig herumrumoren, und aus Angst um seine Leber würde das Schwarzgesicht das Meßgewand herausgeben. Die Göttin hatte köstlichen Spaß an dem Vorschlag und verwandelte sich alsbald in den Dauisten. „Bei Eurem Anblick weiß ich wirklich nicht, ob ein Buddha ein Dämon oder ein Dämon ein Buddha geworden ist!“ rief Ssing-tschö. Guanjin belehrte ihn lächelnd: „Dämonen und Buddhas können in der gleichen Gestalt auftreten. Die guten Wesen unterscheiden sich von den bösen nur durch ihre Gesinnung.“ Ssing-tschö prägte sich diese Worte genau ein. Das Schälchen mit der Pille darin in der Hand haltend, betrat Guanjin die Höhle. „Ihr geht Eurem Geburtstag entgegen“, sagte sie zu dem sich höflich verneigenden Schwarzgesicht. „Deswegen bringe ich Euch eine Zinnoberpille, sie verleiht Euch tausendjähriges Leben.“ Dabei hielt sie das Schälchen zum Zugreifen einladend hoch, und der Dämon verschluckte die Pille. Sogleich begann Ssing-tschö ihm in den Eingeweiden herumzuwühlen. Von unerträglichen Schmerzen gequält, wälzte sich der 124
Dämon auf der Erde und flehte um Erbarmen. Mit einem Mal war sein Gast verschwunden, vor ihm stand die Göttin Guanjin! „Gebt das gestohlene Meßgewand heraus!“ befahl sie, und er ließ es ihr sofort durch die Diener überreichen. Im selben Augenblick entschlüpfte Ssing-tschö dem Innern seines Opfers durch dessen Nasenlöcher und umklammerte es mit eisernem Griff, während Guanjin ihm einen schmalen Goldreif um den Kopf preßte. So bezwungen, gelobte der Dämon Besserung und Gehorsam. Guanjin schor ihm die Tonsur nach der Vorschrift für die Bonzen und setzte ihn als Wächter über ihre Berggefilde ein. Danach ermahnte sie Ssing-tschö: „Seid ständig darauf bedacht, Eurem Meister durch Euer Betragen keine Schwierigkeiten mehr zu bereiten!“ Schlagfertig versetzte Ssing-tschö: „Und Ihr, Göttin, wollet ständig darauf bedacht sein, Euren neuen Schüler durch den Goldreif zu bändigen. Er kann Euch große Reichtümer verschaffen, denn er hat die Gabe dazu.“ Mit diesen Worten verließ er die Höhle. Guanjin schlug mit dem Schwarzgesicht die Richtung zum Südmeer ein. Ssing-tschö häufte Holz um die Höhle des Ungeheuers und steckte sie in Brand. Danach kehrte er zu seinem Meister zurück und überreichte ihm das kostbare Obergewand. Ssan Tsang war überglücklich und verneigte sich dankend gen Süden; die Mönche sagten, weithin hörbar, ihre Gebete her. Auf Ssan Tsangs Geheiß bestatteten sie den alten Bonzen und schafften auf dem Gelände wieder Ordnung. Am folgenden Morgen traten Meister und Schüler die Weiterreise an, die Mönche gaben ihnen ein kleines Stück Weges das Geleit.
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18. Ssang-tschö befreit die Azurblaue Orchidee. Kampf mit einem neuen Ungeheuer
Kurz vor einem Dorf stießen die beiden Reisenden auf einen Burschen, der an ihnen vorbeihasten wollte. Wu-kung packte ihn mit festem Griff und fragte ihn nach dem Namen des Dorfes und dem Grunde seiner Eile. Mit heftigem Widerstreben ob des Aufgehaltenwerdens gab der Mann Auskunft. „Dieses Dorf“, begann er, „heißt Gau-lau-dshwang und ist Eigentum des gnädigen Herrn Gau Tai-gung. Ich selbst heiße Gau Tsai und bin Knecht in der Familie Gau Tai-gung. Mein Herr hat eine zwanzigjährige Tochter. Vor drei Jahren nahm ein Ungeheuer sie zur Frau und hält sie seitdem in den Innenräumen des Gauschen Hauses verborgen. Um diesen Zauber zu brechen, läßt mein Herr mit großen Kosten Bonzen und Geisterbeschwörer kommen. Ich bin immerfort auf den Beinen, um einen nach dem andern heranzuholen, und weiß nicht mehr aus noch ein. Eben war ich auch auf dem Wege zu einem Magier, da hieltet Ihr mich an. Bitte, laßt mich endlich gehen.“ Aber Ssing-tschö ließ den Mann nicht laufen, sondern sagte: „Dich hat dein Glück mit uns zusammengeführt. Du brauchst nicht mehr herumzulaufen, und dein Herr braucht kein Geld mehr auszugeben. Mein Meister ist der jüngere Bruder des Tangkaisers, und wir sind auf dem Wege nach dem Westen, um die Heiligen Schriften Buddhas zu holen. Beide haben wir eine geschickte Hand im Umgang mit Ungeheuern und bösen Geistern.“ Und er redete so lange auf den Mann ein, bis der schließlich einwilligte, die beiden Reisenden zum Hause der Familie Gau zu führen. Dort ließ er sie vor dem Haupttor warten und berichtete seinem Herrn von der Begegnung mit den Bonzen. Mißtrauisch ging Gau Tai-gung vor das Tor. Ssing-tschös Ausse126
hen versetzte ihn in größte Bestürzung. „Ist es nicht genug, daß mein Schwiegersohn den Kopf eines wilden Ebers hat und sich wie ein böser Dämon aufführt? Nun bringst du mir noch einen Bonzen mit einer Affenfratze und furchterregend funkelnden Augen ins Haus!“ tadelte er Gau Tsai. Ssing-tschö hörte diese Worte und sagte: „Gnädiger Herr Gau! Ihr habt nun schon so viele Jahre gelebt und doch noch keine Weisheit erlangt! Ich bin häßlich anzusehen, verfüge aber über einige besondere Fähigkeiten. Ich werde Eure Tochter vor Euren Augen befreien. Danach werdet Ihr feststellen, daß ich gut gehandelt habe, und mich nicht mehr häßlich finden.“ Diese Worte ermutigten Gau Tai-gung. Er bat die Fremden ins Haus, ließ ihnen Tee reichen und berichtete von dem Unglück, das auf seinem Hause lastete. „Ich bin ohne männliche Nachkommen“, sagte er. „Meine beiden älteren Töchter haben in das gleiche Dorf geheiratet. Die jüngste, die ‚Azurblaue Orchidee’, übertraf ihre Schwestern seit frühester Kindheit an Schönheit und Klugheit. Mein Wunsch war, daß der Mann, der sie ehelichen würde, mit ihr unter meinem Dach lebte: der Schwiegersohn sollte mir den leiblichen Sohn ersetzen. Vor drei Jahren bat mich ein junger Mann aus der Sippe der Tschou, ihn als Schwiegersohn anzunehmen. Er schien mir klug zu sein und Aussichten zu haben, dereinst eine hohe Stellung zu erhalten. Ich willigte also in die Heirat ein. Bald danach veränderte sich mein Schwiegersohn völlig im Aussehen und im Wesen. Er bekam einen unförmigen Kopf mit großen, abstehenden Ohren und langer Schnauze und einer struppigen Mähne im Nacken, einen richtigen Wildschweinkopf. Dazu muß sich sein Magen geweitet haben. Zu jeder Mahlzeit verlangt er drei bis fünf Dou gekochten Reis und hundertzehn Pasteten, dazu kannenweise Schnaps. Und das alles ist noch nicht das Ärgste. Mein Schwiegersohn springt auf Wolken, wirbelt den Sand auf und wälzt Felsblöcke hin und her. In meinem Hause und in 127
der Nachbarschaft fühlt sich niemand mehr sicher. Meine Tochter, die Azurblaue Orchidee, hält er in den Innengemächern eingeriegelt. Seit ich sie zuletzt gesehen habe, ist schon ein halbes Jahr vergangen; ich weiß nicht einmal, ob sie noch am Leben oder tot ist. Von dem Tage an, da ich merkte, daß mein Schwiegersohn ein Dämon ist, lasse ich Bonzen und Geisterbeschwörer kommen, die den Zauber brechen sollen. Aber bisher ist noch keinem die Austreibung geglückt.“ „Beruhigt Euch!“ sagte Ssing-tschö. „Schon in dieser Nacht werde ich Euer Haus von dem Unheil befreien. Es wird mir ein leichtes sein, denn ich weiß von den Ungeheuern alles, was es von ihnen zu wissen gibt.“ Diese Worte stimmten Gau Tai-gung von Herzen froh, und er ließ den Gästen, so schnell es nur ging, die Gerichte der Enthaltsamkeit auftischen. Am Ende der ersten Nachtwache nahm Ssing-tschö seine Eisenstange zur Hand und ließ sich von seinem Gastgeber zu den Innengemächern führen. Mühelos schob er den schweren Riegel zurück: vor ihnen lag das Schlafgemach im Halbdunkel. Auf Gau Tai-gungs vorsichtiges Rufen kam die Tochter mit unsicheren Schritten an die Tür und klammerte sich verängstigt an ihren Vater. Sie war blaß und schlank wie eine Weidengerte, das Haar hing ihr wie eine lichte Wolke um den Kopf. Ssing-tschö fragte sie, wohin das Ungeheuer gegangen und wann seine Rückkehr zu erwarten sei. Sie wußte weder das eine noch das andere, und Ssing-tschö hieß Vater und Tochter sich entfernen. Darauf nahm er dank der ihm eigenen Verwandlungskunst die Gestalt der Azurblauen Orchidee an und setzte sich auf den Bettrand. Plötzlich fuhr ein heftiger Windstoß durch das Gemach, und der Schwiegersohn trat ein. Auf einem menschlichen Körper saß der Kopf eines wilden Ebers mit abstehenden Ohren, langer Schnauze und dichter Mähne im Nacken Er umschlang seine Frau mit beiden Armen und wollte sie küssen. Zu seinem Er128
staunen wurde er an Schnauze und Ohren gepackt und mit dem Kopf heftig auf den Boden gestaucht. Auf die Frage nach dem Grunde dieses seltsamen Verhaltens bekam er zur Antwort: „Ich bin freudlos. Entkleidet Euch nur und legt Euch schlafen.“ Wortlos tat er, wie ihn geheißen. Inzwischen stand Wu-kung vom Lager auf und hockte sich auf den Nachteimer. In dieser Haltung begann er zu jammern: es sei Spott und Schande für eine Frau, einen Dämon, den alle Menschen verabscheuten und fürchteten, zum Manne zu haben. Aber binnen kurzem würde sie ihre Freiheit wiedererlangen, denn die Eltern hätten vor, sich seiner Person mit Hilfe Wu-kungs zu bemächtigen. Diese Nachricht versetzte den Dämon in Bestürzung. „Dem Ebenbürtigen der Himmlischen, diesem Affen, der im Himmel wilde Unruhe stiftete, wäre ich nicht gewachsen, da gehe ich lieber gleich in meine Höhle zurück!“ rief er, und schon war er wieder angezogen und wollte zur Tür hinaus. Im gleichen Augenblick nahm Wu-kung seine wahre Gestalt an und packte den Fliehenden am Zipfel seines Oberrocks. „Schau zurück, Ungeheuer, damit du deinen Gegner erkennst!“ schrie er. Mit einem einzigen Blick erkannte der Dämon seinen Verfolger, riß sich los, daß der Rock zerfetzte, und hastete nackt weiter in der Richtung zum Berg der Glückseligkeit. Als er Wu-kung unmittelbar hinter sich spürte, stieg er als lodernde Flamme in die Höhe. „Du entwischst mir nicht!“ brüllte Wu-kung hinter ihm her, „Wohin du auch fliehst, ob in den Himmel oder in die Unterwelt – ich bekomme dich in meine Gewalt!“
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19. Wu-kung besiegt den Dämon. Ssan Tsangs Begegnung mit dem Bonzen Rabennest
Auf dem Berg der Glückseligkeit angelangt, holte der Dämon aus seiner Höhle eine neunzinkige Forke und stellte sich damit seinem Verfolger. Ssing-tschö brüllte ihm entgegen: „He, du Ungeheuer! Welche Fähigkeiten hast du aufzuweisen? Wieso kennst du mich mit Namen?“ „Du solltest meine Fähigkeiten nicht kennen?“ gab der Dämon zurück. „Wohlan, ich spreche, höre zu! Ich war von Kind an der Trägheit hold, geriet in eines Unsterblichen Schule, lernte dort geheime Künste, erhielt die Aufsicht über den Himmelsstrom, vergriff mich im Rausch an der Göttin des Mondes, wurde verbrannt und als Wildschwein wiedergeboren, bekam danach die Namen Tschou Wu-nöng.“ Bei den letzten Worten holte er mit seiner Waffe gegen Wukung aus. Aber der wehrte den Schlag mit seiner Eisenstange ab. Die zweite Nachtwache hatte gerade begonnen, als der Kampf sich entspann; er dauerte die ganze Nacht über an. Beim Morgengrauen flüchtete das Ungeheuer in seine Höhle. Ssing-tschö, besorgt, daß sein Meister ihn bereits ungeduldig erwartete, flog auf einer schnellen Wolke in das Dorf Gau-lau-dshwang zurück. Er fand Ssan Tsang im Gespräch mit Gau Tai-gung und berichtete den beiden, wer das Ungeheuer in Wirklichkeit war und was sich inzwischen zugetragen hatte. Ssan Tsang ermahnte ihn, den Kampf zum siegreichen Ende zu bringen, und der Affe kehrte eilends auf den Berg der Glückseligkeit zurück. 130
„Komm nur heraus aus deiner Höhle, du Kleiefresser, und versuch dich im Kampf mit dem alten Ssun Wu-kung!“ schrie er mit Donnerstärke und drückte die Höhlentür ein. Aus tiefem Schlaf aufgestört, griff das Ungeheuer nach seiner neunzinkigen Forke, stürzte wütend zum Ausgang und schrie auf den Affen ein. „Womit habe ich dich beleidigt, daß du dich erdreistest, meine Tür aufzubrechen? Nach dem Gesetz erwartet den, der eine fremde Tür aufbricht, die Todesstrafe!“ „Ist jetzt der richtige Augenblick, um miteinander zu rechten?“ dröhnte es von der anderen Seite dagegen. „Du hast dir eine Frau erschlichen und keine Gebühren für Ehevermittler und Trauzeugen bezahlt, nicht einmal schwarzen Tee und roten Hirseschnaps spendiert! Wenn es um die Frage geht, wer von uns beiden das Gesetz verletzt hat, so bist du der Schuldige.“ „Hör mit dem Gerede auf! Schau dir mal diese Forke an!“ versetzte das Ungeheuer schlagfertig. Ssing-tschö warf einen verächtlichen Blick auf das lange Gerät und sagte: „Die Forke da – die ist gut, um Gau Tai-gungs Heu zu wenden. Zu was anderm taugt sie nicht.“ „Da irrst du gewaltig!“ wies ihn das Ungeheuer zurecht. „Hör, was ich dir sage: Lau Djün selbst hat sie geschmiedet. Ihre neun Zinken sind so blendend weiß wie des Kranichs Gefieder. Sie war wohl verwahrt in der Himmlischen Schatzkammer. Doch Dshang Di anvertraute sie mir als Waffe zum Schutz seiner Paläste und des Himmlischen Stromes. Und laß dir gesagt sein: ein einziger Schlag mit dieser Forke macht einen Leichnam aus dir. Selbst ein Schädel aus Kupfer und 131
Knochen aus Eisen vermögen dich nicht vor dem Tod zu bewahren.“ Ssing-tschö hörte schweigend zu. Als der andere geendet hatte, sagte er: „Du einfältiger Narr! Gönne deiner Schnauze jetzt Ruhe. Der alte Ssun Wu-kung hält dir bereitwillig seinen Kopf hin. Probier’s! Schlag zu!“ Das Ungeheuer holte weit aus und schlug mit aller Gewalt zu: es sprühten wohl Funken, aber der Hieb hatte nicht einmal die Haut geritzt. Dem Ungetüm versagten vor Entsetzen Arme und Beine den Dienst. „Ich sehe ein, daß dein Ruf auf Wahrheit beruht. Aber warum willst du dich mit mir schlagen? Etwa im Auftrag meines Schwiegervaters?“ „Davon ist keine Rede“, versetzte Ssing-tschö und berichtete, wie Gau Tai-gung ihm und seinem Meister auf der Pilgerfahrt nach dem Westen, wo sie die Heiligen Schriften Buddhas ausfindig machen wollten, Gastfreundschaft gewährt und er zum Dank dafür des Gastgebers Tochter befreit habe. Bei der Erwähnung der Heiligen Schriften warf das Ungeheuer seine Waffe beiseite, verneigte sich ehrerbietig und bat, ihn zu dem Meister zu führen, er wolle ihm als Schüler folgen. Auf Ssing-tschös mißtrauische Frage nach der Veranlassung zu solchem Plan kam die überraschende Antwort: „Die Göttin Guanjin hat mich einstmals befreit und mir befohlen, einem Bonzen, der auf der Pilgerfahrt nach dem Westen an dieser Stelle vorbeikommen würde, als Schüler zu folgen.“ Ssing-tschö ließ das Ungeheuer die Wahrheit seiner Worte beschwören, packte es an den Ohren und glitt auf einer schnellen Wolke ins Dorf zurück. Wiederum war Ssan Tsang mit Gau Tai-gung in ein Gespräch vertieft. Mit großem Erstaunen vernahm er die Bitte des Ungeheuers und ließ sich die näheren Umstände berichten. Darauf nahm er den neuen Schüler an und verlieh ihm die Rufnamen Ba Djä, die mit den Schriftzeichen für ,Acht Verbotene Gerichte’ geschrieben werden. Sie sollten ihn ständig daran erinnern, saß er 132
sich bisher der fünf Fleisch- und drei Gemüsegerichte enthalten habe und das auch weiterhin tun müsse. Zwischen Wu-kung und Ba Djä sollte fortan das Verhältnis des älteren und jüngeren Bruders bestehen. Gau Tai-gung überreichte Ssan Tsang in einer rotlackierten Schale die stattliche Summe von zweihundert Silbertael. Er sprach von einem Gastgeschenk; in Wirklichkeit wollte er damit den Dank für die Befreiung seiner Tochter und seines Hauses zum Ausdruck bringen. Ssan Tsang lehnte die Gabe ab; sein Bonzentum, sagte er zur Erklärung, verbiete ihm die Annahme. Ssing-tschö jedoch nahm eine Handvoll Münzen aus der Schale und gab sie Gau Tsai mit den Worten: „Gau Tsai! Gestern warst du uns ein guter Führer, heute hast du mir einen jüngeren Bruder zugeführt. Nimm diese kleine Summe und kauf dir dafür ein Paar Sandalen.“ Gau Tsai nahm das Geld und bedankte sich mit tiefer Verneigung. Als Geschenk für Ba Djä ließ der Hausherr ein Meßgewand aus wunderbar gemustertem blauem Brokat und zwei Paar Sandalen bringen. Ba Djä verband mit seinem Dank die Bitte, während seiner Abwesenheit seinen Hausstand zu überwachen; nach der Rückkehr wolle er wieder im Gauschen Hause wohnen. Ssing-tschö schrie ihn darob wütend an: „Wie kannst du so törichtes Zeug daherschwatzen!“ Aber Ba Djä entgegnete gelassen: „Das ist durchaus nicht töricht, älterer Bruder. Wie leicht ist es möglich, daß das Bonzenleben mich nicht zur Heiligkeit führt, und es ist schwer, eine gute Frau zu finden!“ Ssan Tsang beugte dem aufkommenden Streit mit dem Befehl vor, sich zum Aufbruch zu rüsten. Darauf belud sich Ba Djä mit dem Reisegepäck, Ssan Tsang bestieg sein weißes Drachenpferd, und Ssing-tschö griff nach seiner Eisenstange. Reisefertig traten sie in einer Reihe vor Gau Tai-gung hin und verabschiedeten sich von ihm. Darauf machten sie sich zu dritt auf den Weg. In einem Gedicht heißt es: 133
Von diesem Tage an trug Ssing-tschö kein Gepäck mehr, gab sich würdevoll als älterer Bruder und sprach nur noch mit erhobener Stimme. Unermüdlich setzten die drei Pilger ihre Reise gen Westen fort. Schon waren sie wieder über einen Monat unterwegs, als eines Tages ein hoher Berg vor ihnen aufragte. Ssan Tsang schreckte vor dem neuen Hindernis zurück; aber Ba Djä kannte sich in der Gegend aus und beruhigte ihn. „Dieser Berg“, sagte er während des Aufstieges, „ist der Futou-Berg. Ein Mann aus meiner Sippe führt dort in einem Baumnest das beschauliche Leben, er ist unter dem Namen Wu-tschau tschan-schi, der Bonze Rabennest, wohlbekannt.“ Bei den letzten Worten wies Ba Djä auf einen Bonzen, der von einem hohen Baum auf die Erde sprang. Ssan Tsang stieg vom Pferde, die beiden Bonzen begrüßten sich nach den Riten, und der Bonze Rabennest erkundigte sich nach den Namen der Begleiter Ssan Tsangs und dem Ziel der Pilgerfahrt. Ssan Tsang fragte mit kläglicher Stimme nach der voraussichtlichen Dauer und den Schwierigkeiten der Reise und erhielt eine recht entmutigende Antwort: es liege noch eine sehr weite Strecke vor ihnen, die dazu von Ungeheuern und bösen Geistern unsicher gemacht werde. Aber er, der Bonze Rabennest, wolle Ssan Tsang ein Gebet von vierundfünfzig Zeilen mit zweihundertsiebzig Schriftzeichen lehren, das sie in jeder Gefahr schützen würde. Und er sagte den Text zweimal nacheinander auf. Danach konnte Ssan Tsang ihn bereits sicher auswendig, so geübt war er im Zuhören und Merken. Ssing-tschö empfand es als eine Kränkung, daß der Meister jemand anderen als ihn nach Weg und Gefahren fragte, und schlug mit seiner Eisenstange nach dem Baumnest. Schauer von Lotosblüten fielen zur Erde, das Nest blieb unversehrt. Er mußte ernste Vorwürfe von Ssan Tsang für seine Ungebühr hinnehmen, 134
und Ba Djä sagte: „Älterer Bruder, Ihr erregt Euch grundlos. Der Bonze Rabennest weiß um viele Dinge, die uns nicht vertraut sind. Die Zukunft wird uns lehren, ob seine Warnungen berechtigt waren oder nicht.“ Ssan Tsang bestieg sein Pferd, und die Reise nahm den jenseitigen Abhang hinunter ihren Fortgang.
20. Ssang Tsang wird in der Höhle des Gelben Windes gefangen gehalten. Ba Djä beweist auf halber Bergeshöhe seine Tapferkeit
Unbeirrt bewegten sich die drei Pilger in westlicher Richtung voran, bald gegen Sturm und Regen ankämpfend, bald im funkelnden Monden- und Sternenlicht, dann wieder im sommerlichen Sonnenschein. Eines Mittags gerieten sie unmittelbar vor einer steil aufragenden, zerklüfteten Bergkette in einen Wirbelsturm. „Wukung, was für ein Wind kommt da auf?“ fragte Ssan Tsang verängstigt. Wu-kung hielt die Hand gegen den Wind und zog die Luft ein. Dann sagte er: „Das ist kein guter Wind. Er trägt einen Geruch heran, als sei ein Tiger im Anmarsch.“ Und schon sprang ein Tiger mit einem gewaltigen Satz von einem Baum herunter und kauerte sich vor ihnen mitten auf den Weg. Ssan Tsang fiel vor Schrecken von seinem weißen Drachenpferd herunter. Ba Djä setzte geschwind das Reisegepäck ab und stürzte, die neunzinkige Forke angriffsbereit in der Hand, auf den Tiger zu. Der richtete sich auf den Hinterbeinen in die Höhe und rief herausfordernd : „Ich bin General und Wach-Tiger des Großen Königs Huang Föng und halte gerade Ausschau nach gemeinem Volk, damit mein Gebieter einen guten Bissen zu seinem Hirseschnaps bekommt! Und wer seid Ihr, daß Ihr Euch untersteht, mit Waffen 135
gegen mich anzugehen?“ Hochfahrend versetzte Ba Djä: „Wir sind kein gemeines Volk, sondern Bonzen aus dem Reich des großen Tangkaisers und unter Führung unseres Meisters Ssan Tsang auf der Pilgerfahrt begriffen, um die Heiligen Schriften aus dem Westen zu holen. Hebe dich schnellstens von hinnen! Meine neunzinkige Forke wird dich sonst das Leben kosten.“ Der Tiger setzte zum Sprung auf seine Opfer an. Ba Djä vertrat ihm den Weg. Ein wütendes Ringen entbrannte. Inzwischen hatte Ssing-tschö seinem Herrn geholfen, sich aufzurichten, und bemühte sich, ihn zu beruhigen. Zitternd vor Angst hockte Ssan Tsang auf der Erde und versuchte, seine Gebete herzusagen. Aber er war so erregt, daß er bei jeder Silbe dreimal ansetzen mußte. Ssing-tschö eilte Ba Djä zu Hilfe. Bisher hatte in dem Kampf der Eber dem Tiger und der Tiger dem Eber nichts nachgegeben. Aber bei dem Auftauchen des Affen verlor der bereits erschöpfte Tiger den Mut und ergriff die Flucht. Unterwegs streifte er sein Fell ab, breitete es in der Form eines schlafenden Tigers auf einer Felsplatte aus, verwandelte sich in einen Sturmwind und brauste davon. Dabei entdeckte er Ssan Tsang, riß ihn hoch und führte ihn mit sich fort in die Höhle des Königs Huang Föng, wo er seinem Gebieter sofort Bericht erstattete. „Großer König, von dem Rundgang durch das Gebirge hat Euer General und Wach-Tiger diesen Bonzen Ssan Tsang mitgebracht, der auf einer Pilgerfahrt nach dem Westen begriffen ist, um die Heiligen Schriften zu holen. Er wird eine vortreffliche Mahlzeit für Euch abgeben. Die beiden Schüler, die ihn begleiten, haben mich hart bedrängt, der eine mit einer neunzinkigen Forke, der andere mit einer schweren Eisenstange.“ Diese Meldung erschreckte den König. „Der Bonze Ssan Tsang“, sagte er, „soll ein sehr kluger und gelehrter Mann sein. Wieso habt Ihr ihn entführt? Seine Schüler werden uns Unan136
nehmlichkeiten bereiten. Laßt ihn vorläufig an einer Säule des ‚Pavillons zur Muße’ anbinden.“ Der Tiger führte den Befehl sofort aus, und Ssan Tsang erging sich in Jammern und Wehklagen. Ba Djä und Ssing-tschö waren dem fliehenden Tiger nachgeeilt und hatten dabei den schlafenden Tiger auf der Felsplatte entdeckt. Ba Djä stach mit seiner Forke kräftig auf das Ungetüm ein und spießte eine leere Hülle auf! Ssing-tschö durchschaute sofort die List des Gegners und drängte zur Umkehr. Er sorgte sich um den Meister. Der war nirgends zu sehen, und beide machten sich auf die Suche nach ihm. Ssing-tschö kletterte bergauf, bergab, durchstreifte die Wälder und wühlte die Flußbetten auf. Schließlich gelangte er vor den Eingang zu einer Höhle. Sechs große Schriftzeichen über dem Tor besagten: Huang Föng Ling Bergkette des Gelben Windes
Huang Föng Dung Höhle des Gelben Windes
Mit gewaltiger Stimme rief er: „Ungeheuer! Gib auf der Stelle meinen Meister frei! Ich schlage dir sonst deinen Schlupfwinkel kurz und klein.“ Der König des Gelben Windes hörte den Lärm und fragte nach der Ursache. Ein kleiner Dämon antwortete: „Vor dem Tor steht ein behaartes Ungetüm mit einer Eisenstange in der Hand, so groß, wie ich noch keine gesehen habe, und verlangt, daß Ihr auf der Stelle seinen Meister freigebt. Sonst will es Eure Höhle kurz und klein schlagen.“ Der bestürzte König befahl den General und Wach-Tiger zu sich. „Warum habt Ihr nur diesen Bonzen hierher geschleppt?“ fuhr er ihn an. „Ein Wildschwein, einen Wolf oder einen Hirsch mit schönem Geweih solltet Ihr heranschaffen. Jetzt bedrohen uns die Schüler dieses Bonzen mit Vernichtung. Was sollen wir tun?“ „Keine Sorge, Großer König!“ versetzte der General über137
heblich. „Ich werde diesen Affen gefangennehmen, und Ihr sollt ihn alsbald verspeisen können!“ Er ließ fünfzig Wachsoldaten mit wehenden Fahnen und Trommelwirbeln vor dem Tor Aufstellung nehmen, trat, zwei Lanzen schwingend, mitten unter sie und rief: „He, du Affenungetüm! Wie kommst du auf den Einfall, uns zu bedrohen?“ „Felloser Vierfüßer!“ schallte es zurück. „Zügle deinen Hochmut! Wenn ich zuschlage, gibt es kein Entrinnen!“ Wütend sprang der Tiger vor. Schon nach dem ersten Waffengang erkannte er seine Unterlegenheit und flüchtete den Berghang hinab. In die Höhle zurück wagte er sich nicht, weil er seinem Herrn gegenüber siegesgewiß gewesen war. Ba Djä war nach erfolglosem Suchen zu dem weißen Drachenpferd zurückgegangen, um wenigstens dieses vor Unheil zu bewahren. Mit einem Mal traf ihn ein starker Windstoß: das vor Ssing-tschö fliehende Tigerungetüm stürmte den Weg entlang und auf ihn zu. Blitzschnell stand Ba Djä mit seiner Forke in der Hand angriffsbereit und bohrte dem vorüberhastenden Ungeheuer die neun Zinken tief in den Körper. Es verendete sofort. Auf der Verfolgung des flüchtigen Ungeheuers gelangte Ssing-tschö zu der Stelle, wo Ba Djä es erlegt hatte. „Wohl mußte ich Mut aufbringen, um den Kampf mit ihm aufzunehmen“, sagte er zu Ba Djä, „aber der Ruhm für diesen Sieg kommt allein Euch zu, jüngerer Bruder.“ Die beiden verabredeten, daß Ba Djä Pferd und Gepäck bewachen und Ssing-tschö den König des Gelben Windes zum Kampf herausfordern würde, um den Meister befreien zu können. Mit der Linken den Tigerkadaver hinter sich herzerrend, mit der Rechten die Eisenstange schwingend, begab er sich zur Höhle des Gelben Windes zurück.
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21. Der Gesetzeshüter hilft dem Großen Heiligen. Der Bodhisattva Ling Dji macht den König des Gelben Windes unschädlich
Die besagte Wache von fünfzig Mann kehrte mit eingezogenen Fahnen und ohne Trommelwirbel in die Höhle zurück und meldete: „Großer König! Der Tigergeneral hat den behaarten Affen nicht bezwingen können und ist den östlichen Berghang abwärts geflüchtet.“ Der König war so bestürzt, daß er kein Wort herausbringen und keinen Plan fassen konnte. Und schon kam eine zweite Meldung! Ein Dämon trat ein und sagte: „Großer König! Euer Tigergeneral ist ermordet worden, der behaarte Affe hat soeben seinen Leichnam vor das Tor geworfen; dazu droht er, gewaltsam in die Höhle einzudringen.“ Diese Nachricht versetzte den König in maßlose Wut. Mit seinem schweren Dreizack bewaffnet, schritt er an der Spitze der Wache vor das Tor. „Das ist Ssun Wu-kung?“ tief er und lachte schallend. „Ich war auf einen wilden Riesen als Gegner gefaßt und sehe einen kümmerlichen Zwerg vor mir!“ Ssing-tschö lachte ebenso schallend los und entgegnete: „Hast du armseliger Wicht deine Pupillen eingebüßt? Ich bin zwar klein von Wuchs, aber gewaltig an Kraft. Du brauchst mich nur mit deinem Dreizack zu berühren, schon werde ich um sechs Dji größer sein.“ Der König versetzte Ssing-tschö einen Schlag gegen die Hüfte, und augenblicks reckte er sich um sechs Dji in die Höhe. Sofort holte der König zu einem wuchtigen Hieb aus, Wu-kung fing ihn auf. Der Kampf entbrannte in aller Heftigkeit, nach dreißig Runden war er immer noch unentschieden. Da riß sich Wu-kung ein Haar aus, zerkaute es und spie das Klümpchen mit dem Ruf: „Verwandlung! Verwandlung!“ in die Luft. Im gleichen Augenblick tummelten sich hunderttausend Ssing139
tschös auf der Kampfstätte und drängten, jeder seine Eisenstange schwingend, auf den König des Gelben Windes ein. Gelassen wandte der sein Gesicht dem Stundenzeichen des Affen am Himmel zu und stieß einmal kräftig die Luft aus: ein gelber Wind wirbelte alle Ebenbilder Ssing-tschös hoch in die Luft hinauf. Darauf wandte der König sein Gesicht Ssing-tschö selbst zu und stieß zum zweiten Mal kräftig die Luft aus. Ssing-tschö war zumute, als habe ihn ein Gifthauch getroffen; völlig benommen, mußte er die Flucht ergreifen. Ba Djä, der Pferd und Gepäck bewachte, sah den gelben Staubwind treiben und schloß die Augen. Als er sie wieder aufschlug, stand zu seinem Erstaunen Ssing-tschö vor ihm und begann sofort auf ihn einzureden. „Wir müssen schnellstens einen Augenarzt ausfindig machen, jüngerer Bruder“, sagte er. „Der Herrscher des Gelben Windes hat mir mit seinem beißenden Atem ins Gesicht gehaucht, und ich kann mich nicht mehr orientieren. Morgen werden wir dann beraten, wie wir unseren Meister befreien können; der Gegner wird bisher nicht gewagt haben, Hand an ihn zu legen.“ Ba Djä war in Sorge, wie sie als Fremde in einer so entlegenen Gegend Arzt und Medikamente auftreiben sollten, aber er lud das Gepäck auf das Drachenpferd und nahm das Tier am Zügel, worauf sich der kleine Zug in Bewegung setzte. Schon nach einer kurzen Strecke Weges hörten sie Hundegekläff und sahen in geringer Entfernung die erhellten Fenster einer Hütte vor sich. Sie gingen darauf zu, pochten ans Tor und baten den Besitzer, einen alten Mann, um Gastfreundschaft. Der Greis nahm sie bereitwillig auf, bewirtete sie mit Tee und Reis und ließ das Pferd tränken. Danach fragte Ssing-tschö, wie er schnell eine Hilfe für seine kranken Augen erlangen könne, und berichtete zur Erklärung, daß er mit dem König des Gelben Windes gekämpft und er ihn mit seinem beißenden Atem angehaucht habe. „Welch ein Unglück!“ rief der Greis mitleidig. „Der Große König verfügt über einen giftigen Atem. Die Luft, die er ausstößt, 140
nennt sich ‚SsanMee Schöng Föng – Der übernatürliche Wind aus drei dunklen Öffnungen’; er gelangt durch Mund, Nase und Augen nach außen. Auf dem Weg, den er nimmt, verlieren die Bäume ihr Laub, endet das Geschick der Menschen. Ich wundere mich, daß Ihr am Leben geblieben seid, denn nur die Unsterblichen, Heiligen und Bodhisattvas überstehen ihn.“ „Ich bin kein Unsterblicher“, warf Ssing-tschö ein, „aber nach Euren Worten dazu auserwählt, einer zu werden, da der Wind mir nur die Augen versehrt hat.“ Der Greis fuhr in seiner Rede fort. „Ein Unsterblicher hat mich die Zubereitung einer Salbe gelehrt, die ein gutes Heilmittel für die Beschwerden ist, über die Ihr klagt. Sie nennt sich Ssan Hau Dju Dse Gau – die Salbe aus drei Blumen und neun Samen.“ Hilfsbereit holte der Greis ein wenig von der Salbe, bestrich Ssing-tschö die Lider damit und gebot ihm, die Augen bis zum nächsten Morgen geschlossen zu halten. Ssing-tschö fühlte, wie der Schmerz allmählich nachließ, und um die dritte Nachtwache schlief er ein. Bei Anbruch der fünften Nachtwache wachte er auf, rieb sich die Augen und rief erstaunt: „Diese Salbe rührt wahrlich von einem Unsterblichen her. Meine Augen sehen so scharf wie nie zuvor.“ Und er hielt Umschau. Da merkte er zu seinem Erstaunen, daß keine Hütte mehr da war und er mitten in einem Weidengebüsch auf einer Schilfschütte lag. Mittlerweile war auch Ba Djä munter geworden. „Warum seht Ihr Euch so verwundert um, älterer Bruder?“ fragte er. „Macht nur die Augen weit auf und überzeugt Euch selbst!“ war die Antwort. Verblüfft richtete sich Ba Djä auf. „Wo ist unser Pferd? Unser Gepäck?“ fragte er erschrocken. Aber Ssing-tschö konnte ihn schnell beruhigen: das Pferd war an einen Baumstumpf angebunden, die Reisesäcke hatten ihnen über Nacht als Kopfstützen gedient! Ihr Gastgeber müsse ein abgefeimter Betrüger gewesen sein, meinte Ba Djä. Er habe über Nacht die Hütte abgetragen und sich aus dem Staube 141
gemacht, um seinen Gläubigern zu entrinnen. Ssing-tschö verwies ihm solch törichtes Gerede und hieß ihn von einem Baum gegenüber einen Streifen Papier abnehmen, der von einem Zweig herunterhing. Auf diesem Streifen standen vier Spalten Schriftzeichen. Ihr Inhalt war: Kein menschliches Wesen baute sich je hier eine Hütte! Der Gesetzeshüter kam in Menschengestalt zu Euch, brachte Euch heilende Salbe für Eure Augen. Sinnt nun auf Wege, den Dämon schleunigst zu töten! Wieder einmal erkannte Ssing-tschö, daß die Geheiligten Geister ihm auf Guanjins Befehl helfend zur Seite standen. Er beauftragte Ba Djä mit der Obhut über Pferd und Reisesäcke und schwang sich mit einem Riesensatz vor die Höhle des Gelben Windes. Die Tore waren noch fest zugesperrt, die Bewohner schienen noch in tiefem Schlaf zu liegen. Ssing-tschö schlüpfte als Mücke durch eine Ritze im Vordertor in das Innere der Höhle. Das Ungeheuer war gerade dabei, seine Dämonen zu wecken und den Tagesbefehl auszugeben: „Bewacht die Zugänge zur Höhle mit größter Aufmerksamkeit! Sollte Ssing-tschö am Leben geblieben sein, kommt er bestimmt wieder hierher.“ Ssing-tschö flog durch die Höhle hindurch bis zum Hintertor. Es war ebenfalls fest zugesperrt. Durch eine Ritze entwischte er in den riesengroßen Garten; in dessen Mittelteil entdeckte er, an eine Säule angebunden, seinen Herrn. Er setzte sich ihm auf den Kopf und flüsterte: „Meister! Meister!“ Ssan Tsang erkannte die Stimme und fragte: „Wo seid Ihr, Wu-kung? Der Tod steht mir nahe bevor!“ – „Auf Eurem Kopf!“ flüsterte Ssing-tschö zurück. „Noch heute werden wir Euch befreien.“ Schon schwirrte er davon und flog summend in die Höhle zurück. Gerade meldete ein kleiner Dämon: „Auf meiner Runde durch das Waldesdickicht sah ich den einen Bonzen mit der langen Nase. Aber von dem Affen fand ich keine Spur.“ 142
„Wäre er doch nur umgekommen!“ sagte der König des Gelben Windes. „Meinem Wind kann ja nur der Bodhisattva Ling Dji widerstehen, aber wenn dieser Ssing-tschö sich Verstärkung verschafft und den Kampf von neuem aufnimmt, werden wir einen schweren Stand haben!“ Ssing-tschö hatte genug gehört. Er flog zu Ba Djä zurück, um mit ihm zu beraten, wie sie den Wohnsitz des Bodhi-sattva Ling Dji ausfindig machen könnten. Während sie miteinander überlegten, kam ein alter Mann des Weges daher, und Ba Djä flüsterte Ssing-tschö zu: „Älterer Bruder! Gedenkt des Sprichwortes: Wer den Weg bergab will wissen, frage den bergauf Kommenden.“ Ssing-tschö lief schnell zu dem Wanderer hin und bat ihn um Auskunft. Der Greis wies mit der Hand nach Süden. „Genau dreitausend Li südlich von hier“, sagte er, „erhebt sich der Berg der Kleinen Hoffnung. In dem Tempel auf seinem Gipfel wohnt der Bodhisattva, den Ihr sucht.“ Bei dem letzten Wort wurde der alte Mann von einer Staubwolke emporgetragen, an den Wegrand flatterte ein Streifen Papier mit Schriftzeichen in vier Spalten. Ba Djä las sie vor: Dem Ebenbürtigen der Himmlischen sei kundgetan: Der mit ihm sprach, war der Abendstern. Ling Dji besitzt den Stock des Fliegenden Drachen, damit kann er Huang-föng besiegen. Ssing-tschö beschloß, sofort den Bodhisattva um Hilfe anzugehen ; Ba Djä sollte sich während seiner Abwesenheit mit Pferd und Reisesäcken im Waldesdickicht verborgen halten. Ein Weitsprung führte Ssing-tschö gen Süden. Von einem Lichterkranz umstrahlt, ragte der Gipfel des Berges der Kleinen Hoffnung vor ihm auf; inmitten einer lieblichen Landschaft erhob sich ein Tempel. Glöckchen läuteten, Weihrauch stieg in feinsten Windungen in die klare Luft. Ssing-tschö durchschritt das Tor und erblickte einen Bonzen, 143
der seine Gebete hersagte. Er grüßte ihn mit einer tiefen Verneigung und bat ihn, dem Bodhisattva Ling Dji zu melden, daß ,Ssun Wu-kung ihn in einer dringenden Angelegenheit sprechen müsse’. Der Bonze kam der Bitte nach. Ling Dji führte Wu-kung in den Tempel und ließ sich die Veranlassung zu seinem Besuch vortragen. Als Wu-kung geendet hatte, sagte er: „Buddha hat mich mit dem Stock des Fliegenden Drachen und dem Windauffangenden Zinnober ausgerüstet. Mit diesen beiden Waffen kann ich Euch im Kampf beistehen.“ Gemeinsam glitten sie zu der Bergkette des Gelben Windes. Ling Dji blieb in der Luft, Wukung sprang zur Erde und führte mit seiner Eisenstange wuchtige Schläge gegen das Tor der Höhle. Wutentbrannt eilte Föng Huang hinaus und drang mit seinem Dreizack auf Wu-kung ein. Schon nach wenigen Kampfrunden wandte er sich dem Stundenzeichen des Affen am Himmel zu; er wollte die List vom Vortag anwenden. Da sah er vor sich Ling Dji, und im gleichen Augenblick berührte ihn der Stock des Fliegenden Drachen. Staunend sahen Wu-kung und die Dämonen, wie der Stock sich augenblicks in einen gelben Drachen verwandelte, der mit acht scharfkralligen Klauen den König des Gelben Windes in lauter winzige Stückchen zerriß, aus denen eine Ratte mit langhaarigem, safrangelbem Fell erstand. Gerade wollte Wu-kung ihr den Todesstreich versetzen, da ertönte die Stimme Ling Djis: „Großer Heiliger, Ihr dürft sie nicht töten! Vernehmt ihr Schicksal! Sie war ursprünglich auf dem Lingberg zu Hause und führte sich ohne Tadel, bis sie eines Tages in den Leuchtschalen auf Buddhas Altar das Öl austrank, worauf die Lichter erloschen. Seitdem hat sie in der Gestalt des Königs des Gelben Windes viele Untaten begangen. Aber jetzt über ihr Schicksal zu entscheiden, steht nur Buddha zu. Seinem Gericht überantworte ich sie.“ Und er verschwand mit der Ratte. Ssing-tschö holte Ba Djä zu Hilfe. Zusammen drangen sie durch die Höhle hindurch in den Garten und befreiten ihren 144
Meister, labten ihn mit Reis und Tee und berichteten ihm den Hergang der Ereignisse. Ausgeruht und gesättigt, setzten sich Meister und Schüler danach wieder in westlicher Richtung in Bewegung. 22. Da Djä kämpft mit einem Flußungeheuer. Ssan Tsang nimmt einen dritten Schüler an
In einer Tagereise gelangte der Meister mit seinen Schülern aus dem Bereich der Bergketten des Gelben Windes hinaus auf die Ebene. Der Herbst war im Vorrücken, die Abendsonne streifte nur noch die Baumkronen, tagsüber zirpten die Zikaden im dichten Weidengebüsch. Der Weg verlief schnurgerade nach Westen. Unerwartet endete er vor dem Steilufer eines in der Tiefe ungestüm dahinbrausenden Flusses. Der hoch zu Pferd sitzende Ssan Tsang übersah als erster die ungeheure Breite des Gewässers. „Wie sollen wir es nur schaffen, an das jenseitige Ufer zu gelangen?“ rief er besorgt. Ssing-tschö entdeckte eine in die Felsen eingelassene Tafel, die mit Schriftzeichen in alter Schreibweise bedeckt war: Schafluß, der Fluß des Treibsandes. Darunter stand: Achthundert Li ist dieser Strom breit und dreitausend Jau tief. Keine Gänsefeder, keine abgerissene Blüte vermögen auf seiner Strömung zu treiben. Meister und Schüler mühten sich noch, die Schriftzeichen zu entziffern, als sich mit großem Getöse die Wassermassen auseinanderschoben und ein reißendes Ungeheuer aus der Tiefe emportauchte. Um Kopf und Nacken zottelte eine rote Mähne, die großen runden Augen leuchteten wie Fackeln, um den Hals hing ihm eine Kette aus neun Menschenschädeln, und in der Hand 145
hielt es einen Stock, dessen Knopf einer reifen Lotoskapsel glich. Mit wenigen Sätzen erklomm es das steile Ufer. Ssing-tschö konnte gerade noch den Meister ergreifen und mit ihm davonstürzen. Ba Djä warf die Reisesäcke ab und nahm den Kampf mit dem neuen Gegner auf. Nach zwanzig Kampfrunden war er immer noch unentschieden. Da kam Ssing-tschö in weiten Sprüngen angesetzt, um Ba Djä beizustehen. Bei seinem Anblick flüchtete das Ungeheuer ins Wasser und tauchte in die Tiefe. Ba Djä, der sich als ehemaliger Wächter über den Himmelsstrom im Wasser zu bewegen verstand, setzte ihm nach. „Wer bist du und wohin willst du?“ schrie ihm das Ungetüm, keuchend von den Anstrengungen des Kampfes, entgegen und holte mit dem Stock nach ihm aus. Ba Djä fing den Schlag ab und rief zurück: „Und was für ein Dämon bist du? Ich kenne dich nicht. Gib Antwort, wenn ich dein Leben schonen soll.“ Eilig antwortete das Ungetüm: „Ich führe ein Leben der Vervollkommnung, wurde Himmlischer Geist und Schirmwächter Dshang Dis; zerbrach zum Unglück eine Kristallschale und flüchtete aus Angst vor dem Tode; fand einen Schlupfwinkel auf dem Grunde des Flusses und suche von Zeit zu Zeit mir Beute am Ufer; trage als Rosenkranz diese neun Menschenschädel und bekomme von dir den zehnten dazu.“ „Mich zu verschlingen, soll dir schwer fallen!“ donnerte Ba Djä zurück. Er drang wütend auf den Gegner ein und drängte ihn in zähem Ringen allmählich an die Oberfläche. Um ihn aufs Ufer zu locken, flüchtete er zum Schein. In diesem Augenblick sprang Ssing-tschö, der kampfeslüstern in einem Hinterhalt gelauert hatte, vor – abermals glitt das Ungeheuer bei seinem Anblick in die schützende Tiefe. Die beiden Schüler suchten ihren ängstlich wartenden Meister auf, und Ssing-tschö schlug vor, bis 146
zum nächsten Morgen eine Kampfpause einzulegen. Darauf nahm er einen Reiskessel aus dem Gepäck und entfernte sich. Einen Augenblick später kehrte er bereits mit dem gefüllten Kessel zurück. Ssan Tsang wollte gern die Nacht in der Hütte verbringen, aus der Ssing-tschö soeben den Reis geholt hatte. Sie würden dort, meinte er, auch eine Furt über den Fluß erfragen können. „Diese Hütte ist siebentausend Li von hier entfernt“, beschied ihn Ssing-tschö, „und ihre Bewohner kennen diesen Fluß überhaupt nicht.“ „Da Euch die Gabe eigen ist, älterer Bruder, so weite Strecken in einem Fluge zurückzulegen“, mischte sich Ba Djä ein, „solltet Ihr mit dem Meister auf den Armen den Fluß überqueren. Wir würden unnötigeKämpfe ersparen.“ „Warum übernehmt Ihr nicht selbst diese Aufgabe, jüngerer Bruder?“ fragte Ssing-tschö. „Auch Ihr habt die Fähigkeit, auf Wolken dahinzugleiten. Aber unser Meister ist ein irdisches Wesen und darum schwerer als der hohe Tai-chan; uns geht das Vermögen ab, ihn in die Luft emporzuheben. Er ist an die Daseinsbedingungen irdischer Wesen gebunden, denen zufolge er sich nur schrittweise von einem Ort zum anderen bewegen kann. Wir können ihm wohl behilflich sein, aber ihn von den irdischen Hemmungen zu befreien, ist uns nicht gegeben. Er wird auch schwere Mühen auf sich nehmen müssen, um die Heiligen Schriften zu beschaffen. Bemühen wir uns, sie zu erlangen, so berauben wir ihn des ersehnten Ruhmes.“ Ba Djä nickte zum Zeichen seines Einverständnisses. Die drei Reisenden stillten ihren Hunger und legten sich schlafen, das Gesicht gen Westen gewandt. In der Morgendämmerung tauchte Ba Djä von neuem in den Fluß. Abermals maßen sich die Gegner, dreißig Waffengänge entschieden nicht über Sieg und Niederlage. Der am Ufer wartende 147
Ssing-tschö ersann eine List. „Ich werde den Gegner von oben her schnappen, wie ein Geier eine Henne schnappt“, sagte er vor sich hin, stieg in die Luft empor und wollte das Ungetüm an der roten Mähne packen. Aber das pfeifende Geräusch, mit dem er die Luft durchschnitt, ließ das Ungeheuer aufhorchen. Es erkannte sofort die drohende Gefahr und tauchte unter. Ssing-tschö sah nur noch einen Ausweg: die Göttin Guanjin um Rat anzugehen. Ssan Tsang war einverstanden. „Kommt so bald wie möglich zurück“, mahnte er, „und erspart mir die Unruhe des Wartens.“ Ssing-tschö schwang sich auf eine schnelle Wolke und glitt in der Richtung auf das Südmeer davon. Die Göttin Guanjin weilte gerade am Ufer eines Teiches und ergötzte sich an der Schönheit der Lotosblüten. Als ihr Ssing-tschös Ankunft gemeldet wurde, nahm sie den Platz auf ihrem Lotosthron ein, ließ den Besucher hereinführen und fragte ihn nach dem Grunde seines Kommens. Ssing-tschö berichtete von dem zweiten Schüler und dem schrecklichen Ungeheuer, das ihnen den Übergang über den Fluß des Treibsandes versperre. „Warum hast du sonst so großmäuliger Affe nicht gesagt, daß Ihr auf dem Weg nach dem Westen seid, um die Heiligen Schriften herbeizuschaffen?“ fragte die Göttin. „Ba Djä hat gekämpft und nicht von den Heiligen Schriften gesprochen. Ich war nur Zuschauer!“ redete sich der Getadelte heraus. „Das Ungeheuer, von dem Ihr berichtet, ist der in Ungnade gefallene Schirmwächter des Obersten Himmelsherrn“, belehrte ihn Guanjin und sprach: „Ich habe ihm befohlen, auf das Vorbeikommen des Bonzen Ssan Tsang zu warten und sich ihm als Schüler anzuschließen. Sagt ihm, daß Ihr unterwegs seid, um die Heiligen Schriften zu holen, und er wird Euch folgen.“ Darauf rief die Göttin Mo Tscha, gab ihm einen roten Kürbis und befahl ihm, Wu-kung zu 148
begleiten. „Wenn Ihr das Flußufer erreicht habt“, sagte sie, „ruft ,Wu Tsing!’, und das Ungetüm wird aus der Tiefe emportauchen. Dann befehlt ihm, aus den neun Menschenschädeln, die es als Kette um den Hals trägt, ein Viereck zu bilden, und legt in dessen Mitte den roten Kürbis, den ich Euch soeben gegeben habe. Sofort wird sich dieses Viereck in einen Zauberkahn verwandeln und Ssan Tsang ungefährdet über den Fluß tragen.“ Eilends machte sich Mo Tscha mit Ssing-tschö auf den Rückweg zum Fluß des Treibsandes. Ba Djä sah sie kommen und lief ihnen mit Ssan Tsang entgegen. Mo Tscha hielt seine Wolke über der Mitte des Flusses an und rief, nach unten gewandt: ,,Wu Tsing! Wu Tsing! Der Bonze, der mit seinen Schülern die Heiligen Schriften aus dem Westen holen will, ist schon lange hier. Warum hast du dich noch nicht angeschlossen?“ Das Ungeheuer tauchte empor, und Mo Tscha richtete ihm den Befehl der Göttin Guanjin aus. „Aber wo sind die Bonzen, die Buddhas Heilige Schriften abholen?“ wollte es wissen. Mo Tscha wies auf das Ufer. Bestürzt eilte das Ungetüm den Abhang hinauf und warf sich vor Ssan Tsang nieder. „Ich habe die Pupillen aus den Augen verloren und Euch versehentlich angegriffen! Verzeiht Eurem Schüler!“ flehte es. „Ist es Euer aufrichtiger Wille, mir als Schüler zu folgen?“ fragte Ssan Tsang. „Ich habe bereits der Göttin Guanjin gelobt, mich Euch anzuschließen“, erwiderte das Ungetüm. „Wie sollte ich also jetzt anders handeln wollen!“ Erfreut schor ihm Ssan Tsang die rote Mähne nach der Vorschrift für die Bonzen und verlieh ihm die Namen Scha Ssöng, Bonze des Sandes. Darauf ordnete der neue Bonze, wie Mo Tscha ihm befohlen hatte, die Kette aus Menschenschädeln zu einem Viereck. Mo Tscha legte in dessen Mitte den roten Kürbis, und im Augenblick stand ein Kahn für die Überfahrt bereit. Ssan Tsang nahm darin Platz, und schnell wie ein Pfeil glitt der Kahn 149
über die plötzlich spiegelglatte Oberfläche des Flusses. Ba Djä und Scha Ssöng flogen zur Rechten und Linken ihres Meisters, Ssing-tschö bildete mit Pferd und Gepäck den Schluß. Am jenseitigen Ufer angelangt, verneigten sich die vier heiligen Männer gegen Süden, um der Göttin Guanjin ihre Dankbarkeit zu bezeigen, und darauf gegen Mo Tscha. Der trat mit dem roten Kürbis in der Hand den Rückweg zur Insel Putu an, die neun Schädel lösten sich in eine Rauchwolke auf, und die vier Pilger gingen in westlicher Richtung von dannen.
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DIE VERSUCHUNG DER VIER PILGER
23. Vier Unsterbliche führen die Pilger in Versuchung. Ssan Tsang hält sich an die Gebote
Der Weg nach Westen führte den Meister mit seinen drei Schülern über grünende Bergrücken und saphirblaue Flüsse. Noch erfreute die Lieblichkeit des bunten Blumenteppichs, der die weiten Ebenen bedeckte, Augen und Herz der Pilger. Aber immer deutlicher kündete sich überall in der Natur das Ende des Herbstes an. Eines Tages waren die Pilger bei Anbruch der Abenddämmerung noch ohne Obdach für die Nacht, und Ssan Tsang geriet darob in Unruhe. Ssing-tschö aber sagte gelassen: „Wer danach trachtet, ein Leben der Vervollkommnung zu führen, der labt sich an Quellwasser, nährt sich von Früchten und schläft, des kühlen Taus nicht achtend, im Mondenschein. Nach einem schützenden Dach Ausschau zu halten, ist ein überflüssiges Beginnen, denn in dieser Gegend gibt es keine Häuser.“ Lebhaft fiel ihm Ba Djä ins Wort:,,Ihr geht mit leeren Händen Eures Weges, älterer Bruder. Der schwerbepackte Weggefährte an Eurer Seite kümmert Euch nicht. Euch fallen die Vorrechte des Ersten Schülers, mir die mühseligen Pflichten zu, und das Pferd unseres Meisters bleibt rund und wohlgenährt, denn die ihm zukommenden Lasten werden mir aufgebürdet.“ Ssing-tschö unterbrach ihn. „Dieses Pferd ist von Natur gar kein Pferd! Es ist der dritte Sohn des Drachenkönigs des Westmeeres, der schwere Schuld auf sich geladen, aber durch Guanjins Vermittlung die Vergünstigung erhalten hat, den Meister in 151
die Länder des Westens zu tragen. Jedem ist ein eigenes Schicksal beschieden; welches Recht habt Ihr, ihm das seine zu neiden?“ Da Djä war nicht leicht zu beschwichtigen. „Von den Drachcn wird gesagt, daß sie die Meere durcheilen und mit ihrem Schnauben aus weit geöffnetem Rachen die Wolken am Himmel dahintreiben können. Wie kommt es dann, daß dieses Drachenpferd so langsam trabt wie ein gewöhnliches Irdisches Pferd?“ ,,Ich werde es in Galopp setzen, und Ihr werdet über seine Schnelligkeit staunen“, versetzte Ssing-tschö. Beim letzten Wort bewegte er seine Eisenstange, ein grellroter Strahl zuckte auf, und das Pferd schoß wie ein Pfeil dahin. Ssan Tsang beugte sich angsterfüllt längelang über den Rücken des Tieres und umklammerte mit beiden Armen dessen Hals. Das Pferd raste bis an einen Waldessaum. Dort blieb es stehen. Ssan Tsang schöpfte Atem. Darauf hielt er Umschau und gewahrte zwischen den Bäumen ein Haus. „Oh, meine Schüler“, rief er, „hier gibt es eine menschliche Behausung, die uns Schutz für die Nacht bieten wird.“ Ssing-tschö schaute zum Himmel empor: er war von dichtem Gewölk verhüllt, aus dem sich weithin ein purpurner Lichtschein verbreitete. Das war für ihn das untrügliche Zeichen, daß Buddha und die Unsterblichen sich ihnen offenbarten; aber die Sorge, daß er mit einem schnellen Wort den Himmlischen vorgreifen könnte, ließ ihn schweigen und auf des Meisters Zuruf nur mit der kurzen Zustimmung antworten: „Sehr gut! Wir wollen hineingehen und die Nacht dort verbringen!“ Ssan Tsang stieg vom Pferd und wartete mit den Schülern bescheiden vor dem Tor des Reichtum kündenden Palastes, daß jemand herauskäme; dem wollten sie ihre Bitte um Obdach vortragen. Es verging eine geraume Weile; niemand ließ sich blikken. Ssing-tschö, außerstande, seine Ungeduld zu zügeln, setzte den Fuß über die Schwelle zur Empfangshalle. An der Wand 152
dem Eingang gegenüber erhob sich ein großer, schwarzgelackter Altar, auf dem aus schweren Kupferschalen wohlriechende Dämpfe aufstiegen. Im hinteren Teil der Halle standen, gegen Zugluft durch Wandschirme geschützt, lederbezogene Stühle. Das Aufsetzen von Schuhen wurde hörbar: eine Frau Anfang der Dreißiger schritt auf Ssing-tschö zu. Mit angenehmer Stimme sagte sie: „Ihr schleicht Euch in das Haus einer Witwe ein! Laßt mich wissen, wer Ihr seid und woher Ihr kommt!“ Verwirrt von der Schönheit und Freundlichkeit der Dame, nannte Ssing-tschö den Zweck der Pilgerfahrt und bat für Meister und Schüler um Unterkunft für die Nacht. Lächelnd beschied ihn die Dame: „Ich bitte Euch und ebenso Eure drei Gefährten, in mein Haus zu kommen und Euch als meine Gäste zu betrachten.“ Darauf rief Ssing-tschö, zum Tor gewandt: „Meister! Ihr werdet gebeten, einzutreten!“ Ssan Tsang führte sich bei der Dame ein, ihm folgten Ba Djä und Scha Ssöng, den Schluß bildete das weiße Drachenpferd. Die Dame empfing ihre Gäste mit anmutiger Freundlichkeit und bat sie, sich, ihrer Rangordnung entsprechend, zum Mahle niederzulassen. Dabei streifte sie die Ärmel ihres langen Obergewandes auf und reichte ihnen köstliche Früchte, die Dienerinnen in Jadeschalen und auf goldenen Tabletts hereinbrachten. Dazu gab es würzig duftenden Tee und Reis mit den Gemüsen der Enthaltsamkeit. Die aneinandergelegten Hände in Brusthöhe haltend, bat Ssan Tsang die Dame, ihn ihren Namen und den Namen des Landes wissen zu lassen. Darauf wurde ihm zur Antwort: „Dieses Land nennt sich Döngjindou und gehört zur Region des Westens. Ich stamme aus der Sippe der Dja, mein Gatte aus der der Mo. Seine Eltern hinterließen uns unermeßliche Reichtümer, dazu eine unübersehbare Zahl von Äckern und Gärten. Im vergangenen Jahr starb mein Gatte; erst vor kurzem war meine Trauerzeit beendet. Ich habe drei Töchter, aber keinen Sohn; daher verwalte ich meine großen Besitztümer selbst, und 153
mein innigster Wunsch ist der, meine Töchter zu verheiraten. Als Ihr hier einträfet, stellten wir zu viert gerade eine Liste der Männer auf, die als Gatten in Frage kommen könnten. Dürfen wir Euren Namen mit auf die Liste setzen, Großer Meister?“ Ssan Tsang schwieg und verzog keine Miene. Er glich einem Taubstummen. Mit niedergeschlagenen Augen bemühte er sich, sein Denken auf Buddha zu konzentrieren. Beredt zählte die Dame die einzelnen Posten ihres Wohlstandes auf: dreihundert Sumpf- und dreihundert Bergreisfelder … Reisvorräte für neun und Seidenvorräte für fünfzehn Jahre… „Ihr werdet Euch unsagbare Mühen und Leiden ersparen, wenn Ihr die Pilgerfahrt nach dem Westen aufgebt, und Euch eines Lebens in unveränderlicher Glückseligkeit erfreuen, wenn Ihr Euch zum Hierbleiben entschließt …“ drang der Wortschwall an Ssan Tsangs Ohr. Unbeweglich verharrte er schweigend auf seinem Platz. In Ba Djä entbrannte die natürliche Begierde nach Wohlleben und Reichtum. Er trat auf Ssan Tsang zu und berührte leicht seinen Arm. „Vernehmt Ihr nicht, was diese Dame Euch verheißt, Meister?“ fragte er. In Ssan Tsang wallte der Zorn auf. „Seid Ihr von Sinnen?“ schrie er, und seine Augen funkelten. „Ihr behauptet, das Leben eines Bonzen zu führen, aber kaum hört Ihr von Reichtum, verlassen Euch die guten Vorsätze, und der Anblick einer schönen Frau genügt, Eure Willenskraft zu brechen!“ Ba Djä wich entsetzt auf seinen Platz zurück. Die schöne Dame aber lächelte verächtlich und sagte: „Ihr seid wahrlich ein bedauernswertes Geschöpf! Was nützt es Euch, ein Leben der Vervollkommnung zu führen?“ „Und was würde es mir nützen, ein weltliches Leben zu führen?“ fragte Ssan Tsang zurück. „Das will ich Euch sagen“, antwortete die Dame, und sie zitierte die folgenden alten Verse: 154
„Im Frühling ergeht man sich auf grünenden Hängen und freut sich der Buntheit unzähliger Blumen. Im Sommer lagert man sich am Ufer des Teiches und bewundert die Schönheit seines lotosgewirkten Teppichs. Im Herbst genießt man köstliche Früchte und berauscht sich an würzig duftendem Wein. Im Winter versammelt man sich um das wärmende Feuer und dehnt sich behaglich auf elfenbeinernen Liegen. Locken diese Wonnen der Tage und Nächte nicht mehr, als himmelwärts Gebete zu Buddha zu senden?“ Darauf entgegnete Ssan Tsang: „Das ist der Inhalt des Lebens, das Euch gefällt, große Dame. Ihr seid angesehen und unermeßlich reich, habt Nahrung und Kleidung im Überfluß und eine zahlreiche Dienerschaft für Eure Bequemlichkeit zur Verfügung. Ich bin ein unbedeutender Bonze und halte es für nützlich, ein Leben der Vervollkommnung zu führen. Hört folgende Verse, und Ihr werdet verstehen, was ich meine!“ Und in halbsingendem Ton trug er vor: „Nur wer dem Wein und der Ausschweifung abhold, kann ein Leben der Vervollkommnung führen. Sein Herz ist frei von der Sucht nach Reichtum und Ruhm. Ihn lockt nicht die Kunst der Beredsamkeit noch der Sieg im Wettstreit der Dichter. Für ihn heißt es nur, die Gebote achten, sich das Paradies des Westens erringen.“ In der Dame loderte der Zorn auf. „Ihr seid wahrlich allzu unhöflich, Meister!“ rief sie in erhobenem Ton. „In ehrlicher Hilfsbereitschaft bot ich Euch und Euren Schülern ein Leben voll ständiger Behaglichkeit und Glückseligkeit, und Ihr antwortet mir darauf mit Beleidigungen! Aber ich bin gewillt, meine Groß155
herzigkeit noch zu steigern. Da Ihr selbst die Genüsse eines weltlichen Lebens verachtet, bin ich bereit, einen Eurer Schüler als Schwiegersohn anzunehmen.“ „Schweigt!“ gebot Ssan Tsang und fragte Wu-kung: „Seid Ihr gewillt, in diesem Hause zu bleiben?“ „Ich bin mit weltlichen Dingen nicht vertraut“, entgegnete Wu-kung, „und trete mein Vorrecht an Ba Djä ab, der sich darin gut auskennt.“ Sofort erhob Ba Djä Einspruch. „Älterer Bruder! Wälzt dieses Ansinnen nicht etwa auf mich ab! Ich entscheide mich aus freiem Entschluß dagegen.“ „So falle die Freiheit der Entscheidung Scha Ssöng zu!“ bestimmte Ssan Tsang. Aber der lehnte ebenfalls sofort ab. „Durch Buddhas Gnade“, sagte er, „führe ich, seinen Vorschriften gemäß, ein Leben der Vervollkommnung. Ehe ich dem Gesetz zuwider handle, will ich lieber sterben.“ Erzürnt kehrte die Dame in die inneren Gemächer zurück und schloß die Tür hinter sich ab. Die vier Pilger blieben allein in der Halle zurück. Ba Djä begann zu wehklagen. „O Meister! Ihr habt Euch nicht als lebenskluger Mann erwiesen. Von Eurer Rede hing es ab, daß wir ein gutes Abendessen und ein warmes Lager bekamen. Wie sollen wir eine Nacht, ohne Reis zuvor, durchhalten!“ Ssing-tschö griff ein. „Überlegt nicht lange, jüngerer Bruder!“ riet er Ba Djä. „Willigt ein, hierzubleiben. Wer einmal verheiratet war, findet erst Ruhe, wenn er sich wieder verheiraten kann. Und bei dem festlichen Hochzeitsschmaus werdet Ihr die Möglichkeit finden, auch uns ausgiebig zu sättigen.“ „Älterer Bruder“, entgegnete Ba Djä, „warum wollt Ihr gerade mich und nur mich allein zu einer schimpflichen Handlung überreden? Seid des Sprichworts eingedenk: ,Der Bonze entsagt dem Wohlleben, wenn er allen Reis aus dem Kadaver herausge156
fressen hat.’ Und bedenkt auch: Wir können eine Nacht verbringen, ohne vorher Reis gegessen zu haben. Aber wie soll das Pferd durchkommen? Und wie soll es morgen den Meister tragen? Doch genug der Worte! Ich führe es jetzt auf die Weide und zur Tränke.“ Und schon ging er aus der Halle, pflockte das Pferd los und führte es der Wiese entgegen. Ssing-tschö verwandelte sich in eine Libelle und flog hinter Ba Djä her. Der ging mit dem Pferd am Zügel geradewegs zur Hinterseite des Palastes. Dort traf er die Dame, wie sie mit ihren drei Töchtern die Blumenpracht bewunderte. „Zu welchem Zweck kommt Ihr diesen Weg entlang?“ fragte sie, als sie Ba Djäs ansichtig wurde, und auf dessen Antwort, daß er das Pferd zur Weide und Tränke führen wolle, fuhr sie fort: „Ist Euer Meister inzwischen zu der Einsicht gelangt, daß in meinem Hause zu bleiben die Pilgerfahrt nach dem Westen aufwiegt?“ Ba Djä wehrte lächelnd ab. „Diese Pilger sind auf Befehl des Tangkaisers auf dem Wege nach dem Westen, um die Heiligen Schriften Buddhas herbeizuschaffen, und wagen nicht, ihre Reise abzubrechen. Mir haben sie freigestellt, auf Euer Angebot einzugehen! Nur fürchte ich, Ihr werdet meines Rüssels und meiner abstehenden Ohren wegen nicht geneigt sein, mich als Schwiegersohn anzunehmen.“ „Ich wünsche sehnlichst“, entgegnete die Dame, „meinem Palast einen neuen Hausherrn zu geben, und nur die Sorge, daß meine hochmütigen Töchter Euch mit Spott begegnen möchten, hält mich davon ab, Euch sofort zuzusagen. Sinnt auf einen Weg, den Mädchen zur rechten Entscheidung zu verhelfen.“ „Mein Meister ist ohne Zweifel schön anzusehen“, nahm Ba Djä das Wort, „aber als Ehemann wahrlich nicht begehrenswert. Dagegen habe ich große Vorzüge anzubieten.“ Und in halbsingendem Ton fuhr er fort:
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„Zwar bin ich häßlich, doch wohltalentiert. Ich kann einen Brunnen umgraben, ehe eine Dreiviertelstunde vergeht; Regen erflehen, und er fällt noch am gleichen Tag; den Acker tiefer pflügen als der vom Büffel gezogene Pflug; hundert Dinge gleichzeitig tun und mit meinen Händen Reichtum erzeugen.“ Die Dame hatte mit Staunen und Bewunderung zugehört. „Ich könnte mir keinen besseren Schwiegersohn als Euch wünschen“, sagte sie. „Bittet Euren Meister um seine Einwilligung, daß ich Euch mit einer meiner Töchter vermähle.“ „Mein Meister bedeutet mir nicht Vater und Mutter“, widersprach Ba Djä. „Ich bedarf seiner Zustimmung nicht.“ „Gut!“ versetzte die Dame. „So habe nur ich mich mit meinen Töchtern zu beraten.“ Sie ging ins Haus zurück, die Tür hinter sich schließend, und Ba Djä schickte sich an, das Pferd zurückzuführen. Ssing-tschö, der als Libelle die Unterhaltung mit angehört hatte, flog eilends zurück, nahm seine eigene Gestalt wieder an und berichtete lachend in allen Einzelheiten, was Ba Djä und die Dame miteinander gesprochen hatten. Kaum hatte er geendet, meldete sich auch schon Ba Djä zurück. „Habt Ihr das Pferd weiden lassen?“ fragte Ssan Tsang. „Nein, ich fand keine saftige Grasnarbe!“ erhielt er zur Antwort. „Statt dessen habt Ihr Euch spazierengehend vergnügt?“ mischte sich Ssing-tschö ein. An dieser Frage erkannte Ba Djä, daß er durchschaut war. Ohne ein Wort der Erwiderung setzte er sich und erging sich in Seufzern. Unerwartet öffnete sich die Tür. Dienerinnen trugen zwei Doppelleuchter mit brennenden Wachskerzen und Schalen mit schwelenden Duftstäbchen herein und ließen Glöckchen aus feinstem Jade erklingen. Mit hellen Stimmen riefen sie im Chor: „Liebliche Schwestern! Tretet ein und erweist dem Bonzen aus 158
der Hauptstadt des Tangherrschers Eure Ehrerbietung!“ Darauf näherten sich drei junge Mädchen von so wunderbarer Schönheit, wie man sie nur Unsterblichen zuschreibt, und begrüßten die Gäste in den althergebrachten zeremoniellen Formen. Ssan Tsang saß mit aneinandergelegten Handflächen und niedergeschlagenen Augen regungslos auf seinem Platz; Scha Ssöng blickte unverwandt auf seinen Gürtel; Ssing-tschö sah beharrlich zur Seite. Ba Djä dagegen schaute den jungen Mädchen erwartungsvoll entgegen; er war so erregt, daß seine Seele und »eine sieben Lebensgeister davonflogen und seine Eingeweide sich verfärbten. Mit verhaltener Stimme sagte er: „Ich grüße Euch, Ihr jungen wiedergeborenen Schönen! Laßt es mit diesem Anblick genug sein, o Mutter, und heißt Eure Töchter sich zurückziehen!“ Darauf verließen die drei Mädchen das Gemach. Die Mutter aber fragte: „Empfindet jemand von Euch Liebe zu einer meiner Töchter und Neigung, ihretwegen in diesem Palast zu bleiben?“ Scha Ssöng übernahm es zu antworten. „Unser Entschluß ist bereits gefaßt: Ba Djä wird hierbleiben.“ „Jüngerer Bruder!“ fuhr Ba Djä auf, „wie könnt Ihr über mich hinweg einen solchen Beschluß fassen! Laßt mich zuerst jedes Für und Wider reiflich erwägen.“ „Seid Ihr überhaupt noch in der Lage dazu?“ fragte Ssingtschö. „Ihr habt bereits an der Hinterpforte alles abgesprochen, habt bereits das Wort ‚Mutter’ über die Lippen gebracht. So bittet nur, daß Ihr als Schwiegersohn angenommen werdet, und laßt uns eine Einladung zur Hochzeitsfeier zukommen. Nach dem Stand der Gestirne ist morgen ein glückverheißender Tag.“ Bei diesen Worten reichte er Ba Djä die rechte, der Dame die linke Hand und sagte abschließend: „Möge die Mutter der Auserwählten nun ihren Schwiegersohn in die inneren Gemächer führen!“ Eiligst ließ die Dame ihren Gästen das Abendessen der Enthaltsamkeit vorsetzen. Nachdem alle vier ihren Hunger gestillt 159
hatten, begaben sich Ssan Tsang, Ssing-tschö und Scha Ssöng zur Ruhe. Ba Djä wurde von der Dame durch eine Flucht großer Räume geführt, und die Dame nannte den Zweck, dem jeder einzelne Raum diente. „Dieser Palast enthält wahrlich unzählbar viele Gemächer!“ rief Ba Djä ein über das andere Mal bewundernd aus. Schließlich gelangten die beiden in einen prächtig ausgestatteten Ruheraum. Die Dame nahm vor dem Altar Platz, der an der Rückwand, dem Eingang gegenüber, aufgestellt war, und Ba Djä erwies ihr mit mehreren Kotaus die vorgeschriebene Reverenz. Darauf fragte er, welche der drei Töchter ihm zur Frau bestimmt sei. Die Dame antwortete, sie habe noch keine Entscheidung getroffen; ganz gleich, welche Tochter sie ihm gäbe, immer würden die beiden anderen Gründe zur Unzufriedenheit vorzubringen wissen. Ba Djä wußte sofort einen Ausweg: die Dame möge ihm ihre drei Töchter zur Ehe geben. „Nach dem Gesetz darf man drei Töchter nicht an einen einzigen Schwiegersohn vergeben“, belehrte ihn die Dame. „Aber laßt uns den Brauch der Blinden für die Wahl der Gattin anwenden: bedeckt Euer Gesicht mit diesem viereckigen Seidentuch und hascht nach meinen Töchtern. Die Ihr greift, werdet Ihr heiraten.“ Ba Djä verhüllte sein Gesicht. An dem feinen Geklirr der Geschmeide und dem würzigen Moschusduft merkte er, daß die drei Schönen das Gemach betraten. In erwartungsvoller Freude bewegte er sich, nach allen Seiten um sich greifend, schnellfüßig hin und her. Aber er griff ins Leere oder umschlang einen Pfeiler oder rannte mit dem Gesicht gegen eine Wand. Ermüdet und in Schweiß gebadet, ließ er sich schließlich auf einen Stuhl fallen: „O Mutter! Eure Töchter sind wahrlich allzu listig. Ich weiß nicht, wie ich einer von ihnen habhaft werden könnte.“ „Meine Töchter sind keineswegs listig“, versetzte die Dame, „vielmehr jagen sie sich gegenseitig, von Eifersucht gepeinigt.“ „Wenn keine Eurer Töchter sich für mich entscheiden kann, so gebt doch Ihr selbst mir Eure Hand!“ schlug Ba Djä vor. 160
„Dummkopf!“ wies ihn die Dame schroff zurecht. „Kaum seht Ihr eine Frau, begehrt Ihr sie, ohne zu bedenken, wer sie ist. Vergeßt Ihr, daß ich bereits Eure Schwiegermutter bin? Aber ich will Euch helfen. Meine Töchter haben jede mit eigener Hand ein kostbares Obergewand bestickt. Probiert eines nach dem anderen an. Die Stickerin desjenigen, das Euch paßt, gebe ich Euch zur Frau.“ „Sehr gut! Sehr gut!“ rief Ba Djä hocherfreut. „Und wenn mir alle drei Gewänder passen, gebt Ihr mir alle drei Stickerinnen zur Frau!“ Geschwind entblößte er den Oberkörper und streifte das ihm dargereichte Gewand über. Im selben Augenblick stürzte er zu Boden: das Gewand war ein engmaschiges Gewirr von eisernen Bändern und Fesseln und preßte ihn so zusammen, daß ihm der Atem versagte. Als er aufschaute, waren die Dame und ihre Töchter spurlos verschwunden. Ssan Tsang schlief mit seinen beiden Gefährten bis zur Morgendämmerung. Beim Erwachen stellten sie verblüfft fest, daß sie sich mitten in einem dichten Fichten- und Zypressenwald befanden und von dem prächtigen Palast nichts zu sehen war. Ssan Tsang stand vor einem Rätsel. Ssing-tschö dagegen durchschaute alsbald die Zusammenhänge: „Die Dame mit ihren drei Töchtern waren unsterbliche Bodhi-sattvas, die uns in Versuchung führen sollten. Ba Djä ist ihr sicher erlegen.“ Darauf rief Ssan Tsang unter den vorgeschriebenen Verneigungen Buddha an. Und siehe: vom Wipfel einer hohen Fichte flatterte ein mit Schriftzeichen bedeckter Streifen Papier zu ihnen herunter. Scha Ssöng hob ihn auf, und gemeinsam lasen die drei: Die Alte Mutter des Schwarzen Berges nahm auf Guanjins Geheiß im Erdenstaub Menschengestalt an. Drei Bodhisattvas spielten die Rollen der schönen Töchter. Der Bonze hielt sich streng an die Fünf Gebote. Aber Ba Djä begehrte die Blumen und vermengte, was zu vermengen verboten. 161
Will er der Vervollkommnung teilhaftig werden, hüte er sich vor dem Rückfall in alte Fehler! Plötzlich ertönte aus der Tiefe des Waldes eine klägliche Stimme: „Meister! Rettet mich! Meister! Rettet mich! Ich werde nie wieder gegen die Gebote verstoßen!“ Es war unverkennbar Ba Djä, der um Hilfe rief. „Euer Versprechen hat keinen Wert, jüngerer Bruder!“ schallte es von Wu-kung zurück. „Wir haben mit Euch nichts mehr zu schaffen und setzen jetzt unseren Weg fort.“ Aber Ssan Tsang griff vermittelnd ein: „Guanjin hat ihm die erste Hilfe erwiesen und uns dadurch gezeigt, wie wir handeln müssen!“ Scha Ssöng belud sich mit den Reisesäcken, Ssan Tsang bestieg sein weißes Drachenpferd, Wu-kung ergriff die Zügel, um das Tier zu führen, und so drangen die drei tief in den Wald ein, den Klageschreien nach. Schließlich stießen sie auf Ba Djä: er war an einem Ast aufgehängt. Ssing-tschö spottete: Ob seine Schwiegermutter oder seine junge Frau ihn dieser Qual ausgeliefert habe? Aber Scha Ssöng lud schnell seine Lasten ab und befreite den Gepeinigten, der vor Scham nicht aufzuschauen wagte und sich nur schweigend verneigte. Ssing-tschö hielt ihm den Streifen Papier hin … „O, mein Meister, und Ihr, meine Gefährten“, sagte Ba Djä bittend, „erinnert mich nicht mehr an meine Leichtfertigkeit! Ich werde mich nie wieder auf eine Torheit einlassen und Euch, die Reisesäcke schleppend, in das Land des Westens begleiten.“ „Ihr sprecht, wie es sich für Euch geziemt“, beschied ihn Ssan Tsang. Darauf setzten sich die vier Pilger in westlicher Richtung in Bewegung.
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ENTWURZELUNG UND WIEDERBELEBUNG DES GINSENGBAUMES
24. Der alte Freund auf dem Berg des zehntausendjährigen Lebens. Ssing-tschö stiehlt Ginsengfrüchte
Die Pilger zogen in Sturm und Regen ihres Weges, der sie quer über Gebirge und reißende Bergflüsse führte, und gelangten an den Fuß einer Berglandschaft von unbeschreiblicher Schönheit. In dieser Berglandschaft, deren höchster Gipfel der Wanschou-schan war, der Berg des zehntausendjährigen Lebens, hatte der dauistische Unsterbliche Dshön Jüan seine Einsiedelei. In seinem Lustgarten stand ein selten kostbarer Baum, dessen Ursprung in die Zeit zurückreichte, da es nur erst Erde und Himmel gab. Er trug den Beinamen ,Baum des langen Lebens’. Seine Blüten brauchten zehntausend Jahre, um sich zu entfalten, und weitere zehntausend Jahre, um Früchte zu erzeugen. Deren Reifezeit betrug abermals zehntausend Jahre, und bei jeder Ernte gab der Baum nur dreißig Stück. Wer den Duft einer Frucht einatmete, lebte dreihundertsechzig Jahre; wer sie verzehrte, siebenundvierzigtausend Jahre. Bei der Ankunft der Pilger war Dshön Jüan mit sechsundvierzig Schülern auf dem Wege zu einer Tempelfeier, um dort die Predigt eines berühmten dauistischen Mönchs zu hören. Er hatte seine beiden jüngsten Schüler, den zwölfhundertjährigen Ming Jüä und den dreizehnhundertjährigen Tjing Föng, zur Bewachung der Einsiedelei zurückgelassen und ihnen unter anderem befohlen, seinen Freund Ssan Tsang, einen Bonzen, der dem163
demnächst auf dem Wege von Tschangan nach der Hauptstadt des Westens bei ihm vorsprechen würde, gastfreundlich aufzunehmen. Sie sollten ihm sogar zwei Ginsengfrüchte vorsetzen, aber die Begleiter des Bonzen, allesamt abgefeimte Burschen, nichts davon gewahr werden lassen. Da die Schüler sich wunderten, daß ihr Meister, der Dauist, mit einem Bonzen befreundet war, erzählte ihnen Dshön Jüan, daß Ssan Tsang vordem ein Schüler Buddhas und unter dem Namen Djin Tschan in der Westregion ansässig gewesen sei. Er habe ihn vor fünfhundert Jahren kennengelernt und Freundschaft mit ihm geschlossen. Seine Freundschaft für Djin Tschan übertrage er auf Ssan Tsang, in dessen Person dieser die Fleischwerdung vollzogen habe. Auf ihrem Weg durch die Berglandschaft gelangten die Pilger vor ein stattliches Haus, das von einer Bambushecke umfriedet war. Ssan Tsang stieg vom Pferd und erblickte links vom Toreingang eine Tafel mit der Inschrift: Berg des zehntausendjährigen Lebens – Wohnstätte eines Himmlischen. Auf der Schwelle waren die Schriftzeichen eingeschnitzt: Wohnung der Diener des Dau, der im Alter dem Himmel gleichkommt. Die beiden Schüler Dshön Jüans traten aus dem Haus und hießen die Fremdlinge willkommen. Sie berichteten, daß der Hausherr auf dem Wege zu einer Tempelfeier sei und sie beauftragt habe, seinen alten Freund gastlich aufzunehmen. Er möge sich ausruhen und mit würzigem Tee erquicken, fügten sie hinzu; sie wollten inzwischen, wie ihr Meister sie geheißen, Früchte für ihn aus dem Garten holen. Darauf versahen sich die beiden mit einem goldenen Greifhaken und einer roten Porzellanschale, deren Boden mit Seidentüchern ausgelegt war, und gingen zu dem Ginsengbaum. Tjing Föng holte zwei Früchte herunter, Ming Jüä fing sie behutsam in der Schale auf. Zu Ssan Tsang zurückgekehrt, sagten sie: „Wir sind armselige Bergbewohner und haben nur diese Früchte anzubieten. Wollet ihren Saft schlürfen und ihr Fleisch verzeh164
ren!“ Beim Anblick der Früchte begann Ssan Tsang heftig zu zittern. Er sprang von seinem Sitz auf und rief entsetzt: „Ihr seid unmenschliche Geschöpfe! Wie sollte ich es über mich bringen, Menschenfleisch zu verzehren! Diese Früchte sind in Wirklichkeit vor drei Tagen geborene Kinder.“ Es gelang den beiden Schülern nicht, Ssan Tsang von seiner vorgefaßten Meinung abzubringen, und sie zogen sich in ein Innengemach zurück. Dort beschlossen sie, die Unwissenheit des Bonzen für sich auszunutzen, und aßen jeder eine Frucht. Ba Djä hatte in der anstoßenden Küche die Unterhaltung der beiden mit angehört und winkte Ssing-tschö heran, der gerade vor der Küchentür das Pferd anpflockte. „Hier im Garten gibt es einen Ginsengbaum“, flüsterte er ihm ins Ohr, „die beiden Schüler haben unserem Meister zwei Früchte davon angeboten, aber er hat abgelehnt, sie zu essen. Wir wollen uns solche Früchte verschaffen!“ Ssing-tschö war sofort dazu bereit. Auf der Suche nach einem Pflückgerät entdeckten sie in einem Gemach nahebei einen goldenen Greifhaken. Sie durchquerten eilends einen Blumen- und einen Gemüsegarten und gelangten durch eine kleine Pforte vor einen uralten Baum. Er ragte wohl tausend Fuß in die Höhe, seine dunkelgrünen Blätter waren wie bei den Bananenbäumen zu Büscheln vereinigt, und es ging ein starker Duft von ihm aus, der die ganze Umgebung erfüllte. Ssing-tschö bemerkte an einem Zweig an der Südseite des Baumes eine Frucht. Sie glich einem neugeborenen Kind mit einem Schwanz, der, mehrfach um den Zweig gewunden, sie daran festhielt. Man meinte zu sehen, wie das Kind an allen Gliedern zitterte und die Stirn runzelte, und sein leises Wimmern zu vernehmen. Freudestrahlend langte Ssing-tschö mit dem Greifhaken hoch: die Frucht fiel herunter, schlug auf den Erdboden auf und verschwand spurlos. Ssing-tschö argwöhnte, daß Tou Di, der Wächter über den Erdboden, der auch über diesen Garten gesetzt war, ihm einen Streich gespielt habe, und rief ihn mit einem Zauberspruch her165
bei. „Ihr beschuldigt mich zu Unrecht, Großer Heiliger“, wies der Ssing-tschös Vorwurf zurück. „Ihr müßt wissen, daß die Früchte des Ginsengbaumes die fünf Elemente meiden. Sie lösen sich nur bei der Berührung mit Gold vom Ast, darum bedarf es eines goldenen Greifhakens, um sie zu pflücken. Wenn sie auf die Erde fallen, bohren sie sich sofort tief in den harten Boden und sind unauffindbar; deswegen fängt man sie in einer mit Seidentüchern ausgelegten Schale auf.“ „Ich habe Euch fälschlich verdächtigt“, gab Ssing-tschö zu und entließ den Wächter. Das Vorderteil seines langen Obergewandes zum Auffangen benutzend, holte er mit dem goldenen Greifhaken drei Früchte herunter und eilte mit Ba Djä in die Küche zurück. Hier riefen sie Scha Ssöng und machten sich zu dritt daran, jeder eine Frucht zu verspeisen. Ba Djä nahm sich keine Zeit zum Kauen; er verschlang seine Frucht in großen Bissen und begehrte eine zweite, die er mit Behagen genießen wollte. Ssingtschö tadelte ihn wegen seiner Maßlosigkeit und gebot ihm Schweigen. Als er selbst seine Frucht aufgegessen hatte, warf er den Greifhaken in weitem Bogen zum Fenster hinaus. Inzwischen waren Tjing Föng und Min Jüä in die Vorratskammer für Zinnober eingetreten, die an die Küche anstieß, und hörten Ba Djäs Betteln um eine zweite Frucht. Eingedenk der Warnung ihres Meisters, eilten sie voller Mißtrauen zu dem Ginsengbaum. Dabei entdeckten sie mitten auf einem Weg den goldenen Greifhaken; am Baum zählten sie nur zweiundzwanzig Früchte. Von den dreißig reifen Früchten hatten sie nach der Weisung ihres Meisters zwei für sich und zwei für den Bonzen gepflückt. Die fehlenden vier hatten sich ohne Zweifel die Begleiter des Bonzen angeeignet. Sie eilten zu Ssan Tsang, um sich zu beklagen, und der rief seine Schüler, um sie zur Rede zu stellen. Den dreien ahnte peinliches Verhör und Strafe, und sie kamen schnell überein, jede Schuld zu leugnen. 166
25. Dschö Jüan setzt dem Bonzen nach. Ssing-tschö stiftet große Verwirrung
Ssan-Tsang fragte die Eintretenden sofort geradezu: „Meine Schüler, wer von Euch hat sich die Früchte des Ginsengbaumes, der zu dieser Einsiedelei gehört, angeeignet?“ Ba Djä antwortete als erster. „Ich weiß von nichts.“ Ssing-tschö verbiß ein Lächeln. „Wer lacht, hat ein schlechtes Gewissen!“ mischte sich Tjing Föng ein. Ssing-tschö wies den Angriff zurück. „Der Himmel hat mich mit einer lächelnden Miene ausgestattet. Beschuldigt mich nicht zu Unrecht! Ich weiß von nichts.“ „Laßt Euch das eine gesagt sein, meine Schüler“, sagte darauf Ssan Tsang mahnend, „wer, wie Ihr, ein Leben der Vervollkommnung führt, darf sich weder eine Lüge noch einen Diebstahl zuschulden kommen lassen. Habt Ihr diese Früchte an Euch gebracht, so bekennt demütig Euer Vergehen. Lügen und Leugnen ist zwecklos.“ Die schlichte Wahrheit dieser Worte bestimmte Ssing-tschö zum Geständnis. „Der Diebstahl ging nicht von mir aus. Ba Djä war Zeuge, wie die beiden Dauisten solche Früchte verzehrten, und bat mich, auch uns einige zu verschaffen. Darauf pflückte ich drei und verteilte sie unter uns. Richtet uns nun!“ Ming Jüä widersprach. „Ihr habt Euch nicht drei, sondern fünf Früchte angeeignet.“ Ba Djä fuhr erregt auf. „Wir haben vier Früchte abgenommen und drei davon gegessen, jeder eine. Ist das ein so schweres Vergehen?“ Darauf brachen die Dauisten in endlose Schimpfreden aus. Ssing-tschö war vor Wut dem Ersticken nahe. „Ihr sollt die Rache zu spüren bekommen!“ knirschte er, zupfte sich ein Nakkenhaar aus und verlieh ihm seine eigene Gestalt. Er selbst 167
huschte unbemerkt in den Lustgarten und schlug mit seiner Eisenstange sämtliche Früchte von dem Ginsengbaum herunter. Eine nach der anderen schlug auf die Erde auf und verschwand spurlos in dem harten Boden. Darauf riß er, seine ganze Kraft aufbietend, den Baum mitsamt dem Wurzelwerk aus und warf ihn längelang hin. Befriedigt kehrte er in die Halle zurück und nahm die Stelle seines Doppels ein. Die Dauisten wurden allmählich unsicher, weil ihre lärmenden Anklagen ohne Wirkung auf den Bonzen und dessen Schüler blieben. Hatten sie sich am Ende beim Zählen der Früchte in dem dichten Laubwerk versehen? Sie verständigten sich und gingen noch einmal zum Lustgarten. Schon von der kleinen Pforte aus sahen sie den entwurzelten Baum. Voller Angst im Gedanken an die Rückkehr ihres Meisters ersannen sie eine List: sie warfen sich, Vergebung erflehend, vor Ssan Tsang nieder: Es fehle keine einzige Ginsengfrucht, sie hätten sich beim Zählen in dem dichten Laubwerk versehen! Ssing-tschö war von dieser Erklärung verblüfft. Aber Ssan Tsang fühlte sich dadurch völlig beruhigt und befahl, den Reis, den Ba Djä inzwischen gekocht hatte, aufzutragen. Die Dauisten setzten ihren Gästen zu dem Reis eine große Platte mit verschiedenen Gerichten vor, um sie möglichst lange mit dem Essen zu beschäftigen, und sperrten währenddessen alle Tore fest zu. Auf diese Weise, wähnten sie, könnten sie die Fremden in Gewahrsam halten und die Entscheidung ihrem Meister überlassen. Ba Djä wurde ihr merkwürdiges Treiben gewahr und fragte verwundert, ob die Tore immer schon zur Stunde der Abendmahlzeit geschlossen würden. Ming Jüä gebrauchte Ausflüchte; aber Tjing Föng verplapperte sich. „Es genügte Euch Bonzen nicht, Eure Gier nach den Früchten des Ginsengbaumes zu befriedigen. Ihr mußtet auch diesen Wunderbaum selbst vernichten! Damit habt Ihr Euch jeglicher Möglichkeit, in die Länder des Westens zu gelangen, beraubt!“ Bei diesen Worten fielen Ssan Tsang vor Entsetzen die Eß168
stäbchen aus der Hand. Die beiden Dauisten verließen die Halle und legten sich in ihrem Gemach im Innern des Hauses zur Ruhe. Ssan Tsang tadelte Ssing-tschö mit ernsten Worten wegen seiner unheilvollen Streiche. „Führt uns sicher von hier fort“, schloß er seine Rede, „und zwingt mich nicht, die Goldreifformel gegen Euch anzuwenden.“ Ssing-tschö wehrte ab: der Meister werde ihrer nicht bedürfen. Als es dunkelte, berührte er, einen Zauberspruch vor sich hinmurmelnd, das erste Tor mit seiner Eisenstange. Alsbald öffneten sich, eines nach dem andern, alle Tore. Ssan Tsang bestieg sein Pferd, Scha Ssöng ergriff dessen Zügel, Ba Djä belud sich mit dem Reisegepäck, Ssing-tschö bildete den Schluß, und alle vier verließen den Bereich der Einsiedelei. Jenseits der Grenze gebot Ssing-tschö halt. Er eilte in die Einsiedelei zurück und setzte den Dauisten zwei Schlaffliegen auf die Augenlider, die sie in einen todesähnlichen Schlaf versetzten. Darauf eilte er zu seinen wartenden Gefährten zurück, und sie setzten ihren Weg die ganze Nacht hindurch fort. Bei Anbruch der Morgendämmerung ließ sich der Meister, der über große Ermüdung klagte, mit Ba Djä und Scha Ssöng unter einer Fichte zur Rast nieder. Ssing-tschö suchte sich seinen Platz im Geäst des Baumes. Um diese Zeit kehrte Dshö Jüan mit seinen sechsundvierzig Schülern in die Einsiedelei zurück. Es befremdete sie, daß die Tore offen standen und aus den Weihrauchschalen keine Dämpfe aufstiegen. Als Ming Jüä und Tjin Föng auch auf lautes Rufen nicht antworteten, drangen sie in deren Gemach ein, zogen die völlig Bewußtlosen von der Lagerstatt herunter und stellten sie auf die Beine. Dschön Jüan blies ihnen Wasser übers Gesicht und weckte sie damit aus der Betäubung. Sie warfen sich vor ihrem Meister nieder und berichteten, was sich zugetragen hatte. Außer sich vor Wut, befahl Dshön Jüan den Schülern, Ruten und Ketten bereitzulegen, und eilte, von Ming Jüä und Tjing Föng begleitet, 169
auf einer schnellen Wolke hinter Ssan Tsang her. Sie hatten schon gut tausend Li durchmessen, da entdeckten die beiden Schüler Ssan Tsang am Fuß der Fichte. Von der Wolke heruntergleitend, nahm Dshön Jüan die Gestalt eines dauistischen Gelehrten an, der, mit einem Fliegenwedel in der Hand, auf der Wanderung begriffen war, näherte sich dem Baum und tauschte mit dem Bonzen die übliche höfliche Begrüßung aus. Darauf fragte er ihn nach dem Woher und Wohin und sagte auf dessen Antwort erstaunt: „Ihr seid also durch den Bezirk mit dem Berg des zehntausendjährigen Lebens gewandert, der mir gehört und in dem ich meine Einsiedelei habe!“ Vom Baum herunter erklang Ssingtschös Stimme: „Dieser Berg und Eure Einsiedelei sind uns unbekannt. Wir streben nur immer dem Westen zu.“ Der Gelehrte wies mit dem Finger auf Ssing-tschö und sagte lächelnd: „Das Leugnen nützt Euch nichts! Ihr habt die Ginsengfrüchte verzehrt und den Baum entwurzelt und die Nacht zur Flucht benutzt. Den Schaden werdet Ihr mir ersetzen!“ Wütend holte Ssing-tschö mit seiner Eisenstange aus, der Dauist fing den Schlag mit seinem Fliegenwedel ab, erhob sich über den Erdboden und stülpte seine weiten Ärmel über Ssan Tsang, die drei Schüler, das Drachenpferd und alles Gepäck. Danach kehrte er auf der gleichen Wolke, auf der er gekommen war, zu seiner Einsiedelei zurück. Erstaunt sahen die herbeieilenden Schüler unter den Ärmeln des Meisters vier gefangene winzige Wesen hervorschlüpfen und in der frischen Luft die Gestalt der vier Pilger annehmen. Auf Geheiß ihres Meisters banden sie sie an Schandpfählen fest und versetzten zuerst Ssing-tschö dreißig Hiebe. Der hatte beim Anblick der kräftigen, in Wasser geweichten Gerten schnell einen Schuppenpanzer über seinen Körper gezaubert und verspürte nun keinen Schmerz. Nach Ssing-tschö sollte die Prügelstrafe an Ssan Tsang vollzogen werden, weil er die Verbrechen seiner Schüler tatenlos geduldet habe. Aber Ssing-tschö schrie laut dazwischen: „Mein Meister hat nichts von 170
meinen Vergehen gewußt, Ihr beschuldigt ihn zu Unrecht. Habt Ihr aber andere Anklage gegen ihn zu erheben, so erlaubt, daß ich die Strafe für ihn erdulde.“ Dshön Jüan war überrascht. „Ihr habt gefrevelt, Affe“, sagte er, „aber ich muß Eure Treue zu Eurem Herrn anerkennen, und darum willfahre ich Eurer Bitte.“ Nach der zweiten Prügelstrafe mit abermals dreißig Hieben gebot Dshön Jüan Einhalt. „Genug für heute! Legt die Ruten in Wasser, sie sollen morgen neue Arbeit leisten!“ Darauf begab er sich mit all seinen Schülern in das Innere des Hauses. Bei Anbruch der Dunkelheit machte sich Ssing-tschö zwergengleich und schlüpfte aus seinen Fesseln heraus. Darauf befreite er seinen Meister und seine Gefährten und brachte Ssan Tsang zu Pferde und Scha Ssöng mit dem Gepäck auf den Weg. Er selbst band vier Weidenstämme, die Ba Djä fällen und vom Astwerk befreien mußte, an die vier Schandpfähle, biß sich in die Lippen und benetzte jeden Stamm mit einigen Tropfen von seinem Blut. Sofort nahm jeder Stamm Gestalt und Sprache des Pilgers an, der über Tag an dem Pfahl festgebunden war. Ssingtschö und Ba Djä verließen, jedes Tor hinter sich schließend, die Einsiedelei und holten bald Ssan Tsang und Scha Ssöng ein. Wie in der Nacht zuvor, war auch in dieser Nacht Füßen und Hufen keine Pause vergönnt. Der erschöpfte Ssan Tsang schlief schließlich im Sattel ein. Die Sorge um den Meister bestimmte Ssingtschö, bei Tagesanbruch auf einer Felsplatte zu rasten. Um die gleiche Zeit befahl Dshö Jüan seinen Schülern, mit der Prügelstrafe fortzufahren. Sie begannen bei dem falschen Ssan Tsang, der sie erstaunt fragte: „Weshalb schlagt Ihr mich?“ Danach kam die Reihe an den falschen Ba Djä, der ebenso erstaunt fragte: „Was habe ich eigentlich verbrochen?“ Bei Scha Ssöng verlief es ähnlich. Aber Ssing-tschö schrie sie wütend an: „Gestern habe ich schon sechzig Rutenstreiche erdulden müssen. Wozu habe ich mit meinem Blut vier Doppelgänger von uns gezaubert?“ 171
Verblüfft besahen die Schüler ihre Gefangenen genau und entdeckten, daß sie Weidenstämme vor sich hatten! Sofort erstatteten sie ihrem Meister Bericht. Der brach in schallendes Gelächter aus. „Dieser Ssing-tschö treibt es wahrlich zu arg! Die Flucht hätte ich ihm hingehen lassen. Aber daß er mich mit solchen Zauberkunststückchen zum Narren hält, kann ich ihm nicht verzeihen.“ Abermals holte Dshön Jüan die Flüchtenden ein, abermals nahm er sie in seinen Ärmeln gefangen und brachte sie in die Einsiedelei zurück. Die Schüler mußten sie an Baumstämme binden, Ssing-tschö mit dem Kopf nach unten, und sie von Kopf bis Fuß mit breiten Baumwollbinden umwickeln. Darauf wurde in einem Kessel Öl zum Sieden gebracht. Ssing-tschö hatte Angst um seinen Herrn. Er rollte sich an einen steinernen Löwen heran, benetzte ihn mit einigen Blutstropfen aus seiner Lippe und verlieh ihm seine Gestalt. Er selbst verschwand in den Wolken. Inzwischen fing das Öl an zu sieden. Ssing-tschö sollte als erster hineingeworfen werden und sich darin auflösen. „Dieser Affe ist so schwer wie hundert Granitblöcke!“ stöhnten die Schüler, die ihn aufheben und in den Kessel werfen sollten. Endlich schafften sie es. Im selben Augenblick barst der Kessel auseinander. Öltropfen spritzen den Schülern ins Gesicht, und mitten in dem auslaufenden Öl lag ein steinerner Löwe! Auf das Geschrei der Schüler eilte Dshön Jüan herbei. „Schafft einen neuen Kessel zur Stelle!“ befahl er wutentbrannt. „Darin soll Ssan Tsang gebrüht werden.“ In seinem Wolkenversteck hörte Ssing-schö des Dauisten Befehl. Er glitt auf die Erde herunter und sagte zu Dshön Jüan: „Erlaubt, daß ich die Strafe für meinen Herrn erdulde!“ „Scheußliches Ungetüm!“ schrie ihn Dshön Jüan an. „Warum habt Ihr meinen Kessel zum Bersten gebracht?“ „Mich trifft keine Schuld daran, Großer Herr!“ entgegnete Ssing-tschö in spöttischem Ton. „Der Gedanke, ein heißes Ölbad 172
zu erhalten, war mir sehr erfreulich. Aber ich konnte den Drang zu pissen nicht mehr bezwingen. Jedoch wollte ich meiner Notdurft nicht in Eurem Kessel nachgehen, weil alle Eure Gerichte dann nach Urin geschmeckt hätten. Nun ich meine Blase geleert habe, will ich das für meinen Meister bestimmte Ölbad nehmen, denn ihm soll kein Unrecht widerfahren.“ Dshön Jüan lachte, innerlich kochte er vor Wut.
26. Ssing-tschö auf der Suche nach einem Heilmittel. Guanjin erweckt den Baum zu neuem Leben
„Ich weiß, daß Ihr über besondere Gaben verfügt“, begann Dshön Jüan, „aber Ihr seid doch nicht imstande, aus dem Ärmel meines Obergewandes zu entwischen. Diesen Umstand will ich ausnützen, um Euch in den Westen zu bringen. Dort werden wir gemeinsam vor Buddha treten: er möge bestimmen, welche Entschädigung Ihr mir für die Vernichtung des Ginsengbaumes leisten müßt.“ Ssing-tschö machte einen Gegenvorschlag. „Laßt meinen Meister und meine Gefährten frei, so erwecke ich Euren Baum zu neuem Leben.“ „Wenn Ihr das schafft, will ich Euch zeitlebens ein brüderlicher Freund sein“, entgegnete Dshön Jüan. Er vergewisserte sich, daß der Bonze und seine Begleiter keine Möglichkeit zum Entkommen hatten. Daraufließ er ihre Fesseln lösen. Ssing-tschö glitt über das Westmeer zu der Höhle der Lichten Wolken, berichtete den drei dort residierenden Unsterblichen Geistern des Glücks, des Gewinns und der Langlebigkeit, was sich zugetragen hatte, und bat sie um ein Wiederbelebungsmittel für den Ginsengbaum. „Ich kann meinen Meister nur retten, wenn ich diesen Baum zu neuem Leben erwecke!“ schloß er sei173
ne Rede. Die drei Geister sannen angestrengt nach. Ihr Bescheid lautete abschlägig: sie hätten wohl wirksame Pillen zur Auferweckung toter Vögel, Vierfüßler und Fische, aber keine für den Ginsengbaum, den Baum der Langlebigkeit. Ssing-tschö müsse sich also anderweitig bemühen. Aber sie sagten ihm zu, Dshön Jüan einen bereits überfälligen Besuch abzustatten und bei dieser Gelegenheit Ssan Tsang über das längere Ausbleiben seines Schülers zu unterrichten. Ssing-tschö setzte seine Reise fort und gelangte zum Lingberg, dem Wohnsitz des Kaiserlichen Prinzen des Ostens, Dung Hua. Auch der konnte ihm nicht helfen. Die Kraft der Zinnoberpillen, über die er verfüge, sei nicht stark genug, um einem unvergänglichen Baum, der zu Zeiten Pan-kus gepflanzt worden wäre, neues Leben zu verleihen. Ssing-tschö verabschiedete sich von dem Prinzen und begab sich auf den Jingdshouberg zu den Neun Greisen. Sie saßen um einen Baum herum; einige spielten Mahjong, andere musizierten auf ihren Zupfgeigen. Sie gingen Ssing-tschö entgegen und begrüßten ihn. „Ich beneide euch um das behagliche Leben, das Ihr führen könnt!“ bemerkte Ssing-tschö. „Großer Heiliger, hättet Ihr nicht ehedem in den himmlischen Gefilden Unruhe verursacht, könntet Ihr Euch jetzt ebenso vergnügen wie wir!“ tönte es spöttisch zurück. „Aber wie kommt es, daß Ihr uns aufsucht, da Ihr doch den Bonzen Ssan Tsang auf der Pilgerfahrt nach dem Westen begleitet?“ Ssing-tschö trug sein Anliegen vor. „Großer Heiliger, das Unglück läßt wahrlich nicht von Euch. Es steht nicht in unserer Macht, Euch zu helfen!“ riefen die Neun Greise bestürzt. „Dann muß ich weiter auf die Suche gehen!“ entgegnete Ssingtschö, verzehrte aber vor dem Aufbruch noch schnell mehrere Lotoswurzeln. Guanjin erging sich in ihrem Bambushain, vom Schwarzgesicht, dem Wächter über ihre Berggefilde, begleitet. Plötzlich hielt sie inne und befahl dem Wächter zu dessen Erstaunen, 174
Ssing-tschö zu ihr zu führen. Das Schwarzgesicht lief an den Rand des Gehölzes und rief wiederholt: „Ssun Wu-kung! Wo bist du?“ Mit Donnerstimme tönte es zurück: „Wie kannst du dich erdreisten, mich bei diesem Namen zu rufen? Ohne meine Nachsicht hättest du auf dem Berg des Schwarzen Windes dein Leben eingebüßt! Aus deinem Mund gebührt mir die Anrede: Ehrwürdiger Vater!“ Das Schwarzgesicht lächelte spöttisch: „In den Klassikern heißt es: ,Der Weise bewahrt keinen Zwist in seinem Gedächtnis.’ Ich soll Euch zu meiner Herrin führen.“ Ssing-tschö folgte dem Wächter. Vor dem Lotosthron angelangt, vollzog er die vorgeschriebene Begrüßung und trug den Zweck seines Besuches vor. „Warum seid Ihr nicht sofort zu mir gekommen?“ sagte die Göttin. „Ich besitze ein Fläschchen des bis auf den Grund klaren Ganluschi – des köstlichen Taus, der vertrocknete Bäume zu beleben vermag.“ Sie griff schnell nach dem Heilmittel und glitt, von Ssing-tschö begleitet, auf hurtiger Wolke zu Dshön Jüans Einsiedelei. Der dauistische Unsterbliche war mit den drei Unsterblichen Geistern und Ssan Tsang in ein Gespräch vertieft. Unvermutet tauchte Ssing-tschö vor ihm auf und sagte: „Die Göttin Guanjin wird in wenigen Augenblicken erscheinen! Bittet sie, den Ginsengbaum zu retten!“ Dshön Jüan war hocherfreut. Er befahl sofort, den Weihrauch in den Becken im Lustgarten anzuzünden, empfing Guanjin nach den Riten und geleitete sie zu dem versehrten Baum, der mit beschädigten Wurzeln, geknickten Zweigen und vertrockneten Blättern mitten auf dem Boden lag. Mit dem Ende eines Weidenzweiges, das sie mit Ganluschui genetzt hatte, zeichnete die Göttin in Ssing-tschös linke Handfläche das Zeichen der Wiederbelebung und hieß ihn mit dieser Hand über die Wurzeln streichen. Schon im nächsten Augenblick quoll schäumend der Saft heraus; mehr als fünfzig Jadeschalen waren nötig, um ihn aufzufangen. 175
Danach mußte Ssing-tschö, von Ba Djä und Scha Ssöng unterstützt, den Baum aufrichten, ihn tief in das alte Erdloch hineinsenken und um den Stamm herum Erde häufeln. Guanjin bestrich den Stamm mit einem Weidenzweig, den sie zuvor in den aufgefangenen Saft getaucht hatte, und murmelte dabei einen Zauberspruch vor sich hin. Und siehe da! Der Baum erstand in neuem Grün, die Blätter schlossen sich zu Büscheln zusammen, und in dem dichten Laubwerk wurden dreiundzwanzig Früchte sichtbar. Ob dieser Zahl waren Ming Jüä und Tjing Föng höchlich verwundert: sie hatten an dem Baum zuletzt zweiundzwanzig Früchte gezählt! Woher kam die dreiundzwanzigste? Ssing-tschö klärte sie auf. „Die erste Frucht, die ich pflückte, schlug auf die Erde auf und verschwand. So wird jetzt die Wahrheit kund!“ Dshön Jüan war von der Freude über die Wiederbelebung des Baumes überwältigt. Er ließ sich den goldenen Greifhaken bringen und pflückte zehn Früchte. Darauf bat er Guanjin, beim ‚Festmahl der Ginsengfrüchte’ den Ehrensitz einzunehmen; er selbst nahm mit den drei Unsterblichen Geistern zu ihrer Linken, Ssan Tsang mit seinen drei Begleitern zu ihrer Rechten Platz, und jeder von ihnen verzehrte eine Frucht – auch Ssan Tsang. Er hatte inzwischen den übernatürlichen Charakter der Ginsengfrüchte erkannt. Die überbleibende Frucht wurde unter die dauistischen Schüler aufgeteilt. Nach dem Festmahl trat Guanjin die Rückreise in das Südmeer an, und die drei Unsterblichen Geister begaben sich auf den Heimweg zur Höhle der Lichten Wolken. Dshön Jüan aber schloß brüderliche Freundschaft mit Ssing-tschö.
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27. Wu Mo versucht in drei Verwandlungen, sich Ssan Tsangs zu bemächtigen. Der Bonze jagt den Affen davon
Der Unsterbliche Dauist bestand darauf, daß Ssan Tsang sich vor der Weiterreise bei ihm erhole, und nach sechs Tagen hatte er tatsächlich dank der Ginsengfrucht, die er verzehrt hatte, seine Kräfte wiedererlangt. Die vier Pilger machten sich abermals auf den Weg. Am Ende eines anstrengenden Tages gelangten sie an den Fuß eines hohen Gebirgszuges. „Mir ist schwach vor Hunger, Wukung“, sagte Ssan Tsang, „erbettelt ein wenig gekochten Reis für mich!“ Ssing-tschö lachte. „Ringsum ist kein Haus zu sehen. Wo sollte ich wohl um Reis betteln?“ Da warf Ssan Tsang seinem Schüler Undankbarkeit und Mangel an Eifer vor, und Ssingtschö, voller Angst vor den Qualen des Goldreifens, erhob sich über den Erdboden und hielt Umschau nach etwas Eßbarem für seinen Meister, In südlicher Richtung gewahrte er rotfarbige Früchte, die er aus der Ferne für Pfirsiche hielt. Er informierte seinen Herrn, versah sich mit einem Betteltopf und machte sich auf den Weg gen Süden. In luftiger Höhe spazierenwandelnd, gewahrte Wu Mo, der böse Geist der Leichname, den auf der Erde sitzenden Ssan Tsang. „Was für ein Glück! Dieser Ssan Tsang, der Djin Tschan von ehedem, hat eine Anzahl tugendsamer Leben geführt. Verzehre ich ein Stück von seinem Fleisch, wird mir Langlebigkeit zuteil werden!“ Und er ließ sich in Gestalt einer jungen Frau auf die Erde hernieder. Mit einem Säckchen in der Linken und einer Eßschale in der Rechten näherte sie sich von Westen her dem Rastplatz der Pilger. Ssan Tsang sah die Frau kommen. Verwundert sagte er zu Ba Djä: „Nach Wu-kung gibt es in dieser Gegend weit und breit kein Haus. Wie ist es möglich, daß eine Frau hier auftaucht?“ 177
„Das werden wir gleich feststellen!“ erwiderte Ba Djä und ging der Frau entgegen. Der unerwartete Anblick ihrer Schönheit ließ sein Herz sofort heftig schlagen. Mit den Worten: „Befragt die Frau selbst, Meister!“ führte er sie zu Ssan Tsang. Bereitwillig erzählte sie diesem, daß sie mit ihrem tugendsamen Mann auf dem Westabhang des vor ihnen aufragenden Baihuling, des Weißen Tigergebirges, wohne und mit einer Schale gekochtem Reis und einem Beutel voll Weizenmehlklöße unterwegs sei, um einem wandernden Bonzen eine Erfrischung anzubieten. Dabei wies sie Ba Djä den Inhalt des Napfes vor. In diesem Augenblick kehrte Ssing-tschö zurück. Er durchschaute auf den ersten Blick die Gefahr, die seinem Meister drohte, und holte mit seiner Eisenstange gegen die junge Frau aus. Sie stürzte leblos zu Boden, aber Wu Mo entschlüpfte dem Körper rechtzeitig vor dem tödlichen Schlag. Ssan Tsang war über die vermeintliche Untat seines Schülers aufs höchste erregt. Wie entsetzt fuhr er jedoch zurück, als er auf Wu-kungs Vorschlag das Säckchen öffnete und ekle Würmer herauskrochen und aus dem Eßnapf ihm Kröten entgegenhüpften! Aber Ba Djä mischte sich ein und verhinderte, daß Ssan Tsang die Gefahr erkannte, der er soeben entronnen war. „Mein älterer Bruder hat aus Unachtsamkeit einen Mord begangen und versucht nun, ihn vor dem Meister durch Zauberei zu vertuschen!“ rief er. Von sinnlosem Entsetzen gepackt, sagte Ssan Tsang die verhängnisvolle Goldreifenformel wohl zwanzigmal her und befahl schließlich dem um Erbarmen flehenden Wukung, ihn auf der Stelle zu verlassen. „Da Ihr es wünscht, Meister, werde ich gehen. Aber es bedrückt mich, daß ich Euch den Dank für meine Befreiung nicht abstatten kann. Das wäre nur möglich, indem ich Euch sicher in die Länder des Westens geleiten würde.“ Diese Worte rührten Ssan Tsangs gutes Herz. „Ich verzeihe Euch noch dieses eine Mal“, sagte er, „aber ich werde die von 178
Euch so gefürchtete Formel anwenden, sobald Ihr von neuem Euren schlechten Gewohnheiten nachgeht.“ Ssing-tschö hob seinen Meister aufs Pferd und reichte ihm die Pfirsiche, die er im Süden gepflückt hatte. Der böse Geist der Leichname hatte inzwischen eine neue List ausgeheckt: er nahm die Gestalt einer Achtzigjährigen an, die, auf einen Bambusstecken gestützt und leise vor sich hinweinend, mühsam dahergehumpelt kam. „Das ist die Mutter auf der Suche nach ihrer Tochter – eben der jungen Frau, die mein älterer Bruder ermordet hat“, rief Ba Djä, als er die Greisin gewahr wurde. „Schwatz nicht so törichtes Zeug!“ fuhr Ssing-tschö auf. „Die junge Frau war etwa zwanzig! Soll die Alte sie mit sechzig Jahren geboren haben? Ich werde mich sofort vergewissern, wer sie in Wirklichkeit ist!“ Er lief auf die Frau zu, durchschaute den Anschlag auf seinen Meister und schlug mit seiner Eisenstange zu. Auch diesmal entschlüpfte Wu Mo rechtzeitig. Ssan Tsang fiel vor Entsetzen vom Pferd. „Es ist endgültig Schluß zwischen uns! Geht Eurer Wege!“ rief er und sagte wiederum zwanzigmal die Goldreifformel vor sich hin. Ssing-tschö wand sich vor Schmerzen. „Da Ihr mich fortjagt, Meister, muß ich gehen. Aber befreit mich zuvor von dem Goldreifen, den Ihr um meinen Schädel gezaubert habt. Denn ich werde auf den Berg der Blumen un Früchte zurückkehren, auf dem ich vor fünfhundert Jahren als König residierte und über alle Affen gebot, und müßte mich dieses Reifens schämen.“ Ssan Tsang sah die Berechtigung dieser Bitte ein, aber ihre Erfüllung stand nicht in seiner Macht: Guanjin hatte ihn die entsprechende Formel nicht gelehrt. „Wenn die Dinge so liegen, kann ich Euch nicht verlassen, Meister!“ erklärte Ssing-tschö, und der Meister verzieh ihm abermals. Darauf machten sich Meister und Schüler wieder auf den Weg. Wu Mo sah die Pilger sich entfernen und geriet in Angst, daß sie allzu schnell aus dem Bereich seiner Zaubermacht hinausgelangen könnten. Darum nahm er eilends die Gestalt eines Greises 179
an, der im Wandern den Rosenkranz abbetete, und näherte sich den Pilgern von einem Kreuzweg her. „Der Rächer naht! Dieser Mann sucht den Mörder von Tochter und Frau!“ schrie Ba Djä, als er des Alten ansichtig wurde. „Hört mit Eurem törichten Geschwätz auf!“ donnerte Ssing-tschö, rief mit dem vorgeschriebenen Zauberspruch seine getreuen Helfer, Tschang Tschön, den Geist der Gebirge, und Tou Di, den Wächter über den Erdboden, herbei und beauftragte sie, den alten Mann an seinen Platz zu bannen. Darauf stürzte er mit dem Ruf: „Ich weiß genau, wer Ihr seid!“ auf den Greis zu, der wie versteinert stehen blieb, und holte mit seiner Stange zu einem gewaltigen Schlag aus. Diesmal konnte Wu Mo nicht rechtzeitig entweichen: Greis und böser Geist erlagen dem tödlichen Streich. Erstaunt vernahm Ssan Tsang, daß der Haufe Knochen, den Ssing-tschö ihm wies, die Überreste des bösen Geistes der Leichen waren, der ihm nach dem Leben getrachtet hatte. Aber Ba Djäs Verleumdungen behielten die Oberhand: zum dritten Mal wandte er die Formel an. Kaum noch fähig, die Qualen zu ertragen, hockte sich Ssingtschö am Wegrand nieder. „Ihr seid ungerecht in Eurem Zorn, Meister! Ich tötete diesen bösen Geist, um Euch zu retten. Aber Ihr hört auf Ba Djä, und deswegen sind meine Erklärungen zwecklos. Bei den Alten heißt es: In allen Dingen darf man die Zahl drei nicht überschreiten. So gehe ich also, Eurem Befehl Folge leistend. Aber ich beklage für Euch, daß Ihr Euren Beschützer gehen heißt!“ „Eure Überheblichkeit ist unerträglich, Affe!“ fuhr Ssan Tsang auf. „Haltet Ihr Euch allein für fähig, mich zu schützen? Zählen Ba Djä und Scha Ssöng überhaupt nicht?“ Ssing-tschö schüttelte abwehrend den Kopf. „Wollet einmal mit mir überlegen, Meister!“ sagte er. „Im Anfang setztet Ihr Euer Vertrauen auf Liu Bai-tjin. Darauf befreitet Ihr mich und machtet mich zu Eurem Beschützer. Ich durchmaß Gebirge und Abgründe mit Euch und hielt Ungeheuer von Euch fern. Danach 180
sicherte ich Euch die Gefolgschaft von Ba D ja und Scha Ssöng. In wenigen Monden lernte ich zehntausend Bitternisse kennen, stand ich tausend Leiden durch. Warum riefet Ihr Euch das alles nicht ins Gedächtnis zurück, bevor Ihr beschlosset, mich gehen zu heißen? Aber es ist nun einmal so: Hat man den Vogel getroffen, zerbricht man den Bogen; hat man den Hasen erlegt, schlägt man den Hund nieder. Ihr verlaßt Euch auf die Formel, auf nichts weiter!’’ „Ich werde es fortan nicht mehr nötig haben, diese Formel anzuwenden!“ versetzte Ssan Tsang. Wieder schüttelte Ssing-tschö abwehrend den Kopf. „Das glaube ich nicht. Bei dem ersten Unglück, in dem Ba Djä und Scha Ssöng Euch nicht zu helfen vermögen, werdet Ihr sie vor Euch hinsagen, und ich werde unter Qualen über Tausende von Li zu Euch eilen müssen! Willigt ein, daß ich Euch weiter begleite!“ Ssan Tsang fühlte seine Leber vor Wut glühen wie noch nie zuvor. Er stieg vom Pferd und hieß Ba Djä das Schreibzeug aus dem Gepäck herausnehmen. Darauf schrieb er eine Entlassungsurkunde für Ssing-tschö und übergab sie ihm mit den Worten: „Fortan erkenne ich Euch nicht mehr als meinen Schüler an. Begebt Euch von hinnen!“ Ssing-tschö sah ein, daß er solche Hartnäckigkeit nicht zu besiegen vermochte, und wandte sich zum Gehen. Die Angst, daß sein Herr Feinden zum Opfer fallen könnte, trieb ihm einen Strom von Tränen in die Augen. „ Ruft meinen Namen, wenn ein Ungeheuer euch bedroht. Es wird aus Angst vor mir euch den Weg freigeben!“ waren seine letzten Worte an Ba Djä und Scha Ssöng.
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28. Der Berg der Blumen und Früchte – ein Schauplatz der Verwüstung. Ssan Tsang fällt im Schwarzfichtenwald einem Teufel in die Arme
Ssing-tschö glitt über das weite Meer des Ostens und gelangte auf den Berg der Blumen und Früchte. Er bot einen traurigen Anblick völliger Verwüstung. Noch ganz der Trauer darüber hingegeben, gewahrte Ssing-tschö sieben oder acht ganz kleine Affen, die aus Erdlöchern herauskrochen und auf ihn zueilten. Sie warfen sich vor ihm nieder und begrüßten ihn mit lauten Zurufen. „Großer Heiliger! Unser Vater! Bleibst du jetzt bei uns?“ ertönte es um ihn herum. Weinend berichteten sie, daß sie Tag für Tag von grausamen Männern überfallen würden, die viele von ihnen töteten, um ihr Fleisch zu verzehren, andere gefangennähmen und zum Tanzen abrichteten. Ssing-tschö begab sich in die Höhle der Wasservorhänge, in der er fünfhundert Jahre zuvor residiert hatte, und setzte sich auf den Ehrenplatz. Die vier Generäle, die in seiner Abwesenheit die Herrschaft ausgeübt hatten, bewillkommneten ihn, und von allen Seiten strömten die großen und kleinen Affen herbei. Sie wußten, daß der Bonze Ssan Tsang ihn aus der Gefangenschaft im Berg der Fünf Elemente befreit und als Schüler angenommen hatte, und begehrten, den Grund seiner Heimkehr zu erfahren. „Der Bonze ist ein rechtschaffener Mensch“, erklärte ihnen Ssing-tschö, „aber er vermag nicht, den erfahrenen Mann von dem Nichtskönner zu unterscheiden. Ich wandte alle Gefahren von ihm ab, doch er hörte auf den Verleumder, beschuldigte mich der Grausamkeit und stellte mir eine Entlassungsurkunde aus.“ Die Affen waren über diesen Bericht höchst beglückt. „Welchen Nutzen bringt es Euch, Großer Heiliger, als Bonze zu leben? 182
Ihr habt gut daran getan, auf den Berg der Blumen und Früchte zurückzukehren. Hier werdet Ihr mit Euren Söhnen und Enkeln ein glückliches Leben führen!“ riefen sie und holten Reiswein und Kokosmilch herbei. Aber Ssing-tschö verspürte noch keine Muße zum Trinken und Feiern. „Um welche Zeit pflegt der Feind zu kommen?“ fragte er. Auf die Antwort: „Er kann jeden Augenblick hier sein!“ ließ er sofort gewaltige Felsblöcke auf das Plateau schaffen und hieß alle Affen in der Höhle der Wasservorhänge zusammenbleiben. Nach einer kleinen Weile dröhnte vor der Höhle der Lärm von Kampftrommelwirbeln und Gongschlägen. Von Süden her rückten tausend schwerbewaffnete Reiter heran und verteilten sich über den Berghang. Ssing-tschö wandte sich dem Sternbild des Affen zu, holte tief Luft und stieß sie aus: ein brausender Orkan fegte über den Berg. Felsen zerbarsten, Sandmassen wirbelten durcheinander, die Feinde sanken mit zerschmetterten Schädeln zu Boden. Befriedigt überblickte Ssing-tschö den Schauplatz seines Sieges und ließ eine Fahne hissen, auf der zu lesen war: Der Große Heilige ist in die Höhle der Wasservorhänge heimgekehrt und hat auf dem Berg der Blumen und Früchte Ordnung geschaffen. Nach Ssing-tschös Fortgang bestieg Ssan Tsang wieder sein Pferd, um die Pilgerfahrt fortzusetzen. Ba Djä hatte er die Leitung der Reise, Scha Ssöng die Pflichten des Gepäckträgers zugewiesen. Beim Austritt aus dem Gebirgszug des Weißen Tigers rastete Ssan Tsang am Rande eines dichten Waldes; Ba Djä machte sich mit einem Bettelnapf in der Hand auf, um etwas gekochten Reis für seinen Herrn zu beschaffen. Er wanderte über zehn Li und erspähte keine einzige Hütte. „Die Sorge für den Reis fiel früher Ssing-tschö zu“, sagte er verdrossen vor sich hin. „Nun er fortge183
jagt ist, muß ich für meine Verleumdung büßen! Das alte Sprichwort sagt wahrlich mit Recht: Man muß selbst Kinder großziehen, um den Wert der Wohltaten zu ermessen, die man von den Eltern empfangen hat.“ Müde und mutlos streckte er sich unter einem schattigen Baum aus und schlief bald fest ein. Der Abend dämmerte, und Ba Djä war noch immer nicht zurückgekehrt. Ssan Tsang geriet in Sorge um das Nachtquartier, und Scha Ssöng machte sich auf, um nach seinem Gefährten Ausschau zu halten. Als Waffe nahm er seinen wertvollen Stock mit, dessen Kopf einer reifen Lotoskapsel glich. Einsam und von trüben Gedanken heimgesucht, entschloß sich Ssan Tsang, einen Spaziergang zu unternehmen, um sich zu zerstreuen. Er stieß auf einen festgetretenen Weg und schlug ihn ein in der Hoffnung, daß er zu einem Hause führe. Tatsächlich gelangte er bald zu einem großen Gebäude. Vorsichtig lüftete er eine der Fenstermatten ein wenig und lugte in das Innere. Entsetzt fuhr er zurück: auf einem steinernen Ruhebett lagen mehrere grüngesichtige Männer in tiefem Schlaf. Ssan Tsang lief davon, so schnell ihn seine Beine trugen. Ein böser Zufall fügte es, daß Huang Bau, der Oberste dieser teuflischen Geschöpfe, in diesem Augenblick aus dem Schlaf hochfuhr. „Wer sucht da so schnellen Fußes das Weite?“ fragte er. „Ein hellhäutiger Bonze. Sein Fleisch ist sicher besonders zart!“ lautete der Bescheid. Bereits wenige Augenblicke später wurde Ssan Tsang als Gefangener eingebracht und an den Marterpfahl gebunden. Nach dem Verhör beschloß Huang Bau, die beiden Schüler und das Pferd abzufangen und sich aus der Gesamtbeute ein leckeres Mahl bereiten zu lassen. Inzwischen war Scha Ssöng über zehn Li kreuz und quer gelaufen und hatte nirgends eine Spur von Ba Djä gefunden. Schließlich kletterte er auf einen Hügel und suchte mit den Augen den Horizont ab. Da drang aus unmittelbarer Nähe eine Stimme an sein Ohr. Eiligst stieg er von seinem Ausguck herun184
ter und ging ihr nach: sie rührte von Ba Djä her der in tiefem Schlaf lag und im Traum redete. Er rüttelte ihn wach und eilte mit ihm zu dem Rastplatz zurück. Da lagen wohl die Reisesäcke und weidete das Pferd, aber von Ssan Tsang war nichts zu sehen. In Scha Ssöng kam sofort die Angst auf, der Meister sei entführt worden. Ba Djä dagegen, sorglos wie immer, glaubte an einen Spaziergang und schlug einen Rundgang vor. Mit Gepäck und Pferd näherten sich die beiden auf dem gleichen festgetretenen Weg wie Ssan Tsang dem großen Gebäude. Ba Djä hielt es für einen Tempel. Der Herr habe sicher bereits Einlaß gefunden und seine Bitte um gekochten Reis vorgetragen, meinte er, und der Gedanke an eine kräftige Mahlzeit für sie beide ließ ihm das Wasser im Munde zusammenlaufen. Scha Ssöng aber schloß aus der Inschrift über dem Eingang, ,Höhle des Mondscheins’, daß sie an ein Räuberversteck geraten seien und ihr Meister vielleicht schon als Gefangener darin schmachte. „Das werde ich gleich feststellen!“ beschwichtigte ihn Ba Djä und donnerte, Einlaß heischend, mit seiner neunzinkigen Gabel gegen das Tor. Es öffnete sich: Huang Bau trat heraus und bat sie höflich, einzutreten und sich mit einer Schale Tee zu erquicken. Ihr Meister sei bereits eingetroffen und eben dabei, sich mit einem würzigen Gericht Menschenfleisch zu stärken. Ba Djä, der niemals nachdachte, wollte arglos die Schwelle überschreiten. Aber Scha Ssöng hielt ihn zurück. „Unser Meister und Menschenfleisch essen?“ flüsterte er ihm zu. Ba Djä stutzte im ersten Augenblick, im nächsten holte er mit seiner schweren Gabel gegen den Teufel aus. Der fing den Schlag geschickt auf, und ein erbitterter Zweikampf begann. In der Hitze des Gefechts stiegen die Gegner in die Lüfte auf.
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29. Ssan Tsang kommt frei und gelangt in ein großes Reich. Ba Djä flüchtet erschöpft in den dichten Wald
Abseits vom Kampfgetümmel wehklagte Ssan Tsang am Marterpfahl. Plötzlich sah er eine junge Frau von überirdischer Schönheit aus dem Gebäude heraustreten und auf ihn zukommen. Sie lehnte sich gegen den Pfahl und sprach ihn an: „Großer Meister, woher kommt Ihr? Warum hat man Euch hier angebunden?“ Erstaunt hörte Ssan Tsang diese Fragen; die Augen voller Tränen, schaute er auf die Frau, die dreißig Jahre zählen mochte, und antwortete: „Bodhisattvagleiche Frau! Es ist zwecklos, mich zu fragen. Mein Schicksal vollendet sich hier durch meine eigene Schuld. Verschlingt mich, wenn es Euch danach gelüstet.“ ,,Es gelüstet mich keineswegs danach“, versetzte die schöne Frau. „Wisset, daß ich den Namen Bai-hua-sju – Schönheit der Hundert Blumen – führe und mein Vater der Beherrscher des dreihundert Li von hier entfernten Elfenbeinstaates ist. Ich bin seine dritte Tochter. Vor dreizehn Jahren entführte mich Huang Bau in einem gewaltigen Orkan und zwang mich, seine Frau zu werden. Seitdem haben Eltern und Tochter einander nicht mehr gesehen. Aber wollet Ihr mich nicht wissen lassen, woher Ihr kommt?“ Ssan Tsang berichtete vom Auftrag des Tangkaisers und seiner Gefangensetzung durch Huang Bau, den es nach seinem und seiner beiden Schüler Fleisch gelüste. Die Schönheit der Hundert Blumen beruhigte ihn mit einem feinen Lächeln, sie könne ihm helfen. „Auf dem Weg nach den Ländern des Westens müßt Ihr das Elfenbeinreich passieren. Ich gebe Euch einen Brief an meinen Vater mit – er sichert Euch freien Durchzug!“ Und schon löste sie Ssan Tsangs Fesseln und machte sich daran, die Bot186
schaft an den Vater zu schreiben. Sie verschloß sie mit ihrem Siegel und überreichte sie Ssan Tsang. Der verbarg sie sorgfältig im Ärmel seines Oberrockes uud schickte sich zum Fortgehen an. „Verlaßt das Grundstück durch das Hintertor!“ wies die Dame ihn an. „An der Vorderseite des Hauses schlägt sich Huang Bau gerade mit Euren Schülern. Ich werde ihn bitten, sie freizugeben, und sobald sie Euch gefunden haben, könnt Ihr Eure Pilgerfahrt fortsetzen.“ Ssan Tsang versteckte sich unweit des Hauses in einem Gebüsch, um Ba Djä und Scha Ssöng zu erwarten. Die Schönheit der Hundert Blumen aber eilte vor das Haus und rief laut: „O mein Gemahl Huang Bau, kommt auf die Erde herunter! Ich habe Euch eine dringende Sache vorzutragen!“ Huang Bau sprang mit einem gewaltigen Satz aus der Höhe auf den Erdboden, warf sein Schwert zur Seite und begehrte zu wissen, was die Prinzessin bedrücke. Darauf legte sie ein Geständnis ab. „Als ich noch im Elternhause lebte, gelobte ich: wenn ein talentierter Mann mich zur Frau begehrte, würde ich den Bonzen regelmäßig Almosen spenden. Die Heirat mit Euch übertraf meine höchsten Erwartungen und ließ mich mein Gelübde vergessen. Soeben erschien mir im Traum ein Geist in goldener Rüstung und mahnte mich an die Erfüllung. Ich eilte zu Euch, mein Gemahl, um Euch meine Sorge mitzuteilen, und wurde auf dem Wege unerwartet einen Bonzen am Marterpfahl gewahr. Erbarmt Euch meiner, o mein Gemahl, und gebt ihn frei, damit ich an ihm mein Gelübde abtragen kann!“ „Eure Bitte ist gewährt!“ entgegnete Huang Bau. ,,Es gibt genug anderes Menschenfleisch für mich. Öffnet des Bonzen Fesseln und entlaßt ihn durch das Hintertor!“ Beglückt kehrte die Schönheit der Hundert Blumen in das Innere des Hauses zurück. Huang Bau hob sein Schwert vom Erdboden auf und schrie mit Donnerstimme aufwärts: „Kommt herunter, Ba Djä! Ich fürchte Euch nicht, aber ich breche den Kampf 187
mit Euch ab, denn ich habe soeben Euren Meister freigelassen. Geht beide zu ihm; er hält sich hinter meiner Höhle auf.“ Wortlos vor Überraschung und Glück eilten Ba Djä und Scha Ssöng mit Gepäck und Pferd hinter das Haus. Auf ihr lautes Rufen kam Ssan Tsang aus seinem Versteck zum Vorschein, und in aller Eile verließen die drei den dichten Wald. Auf einer breiten Landstraße gelangten sie nach etwa dreihundert Li vor das Südtor einer Feste. Sicher, daß sie den Sitz des Königs des Elfenbeinstaates erreicht hätten, heischte Ssan Tsang Einlaß. „Ein Bonze aus dem Tangreich bittet den König, ihn in geheimer Sache zu empfangen.“ Vor den Thron geführt, begrüßte Ssan Tsang den Herrscher genau nach der vorgeschriebenen Etikette; die der Audienz beiwohnenden hundert Zivil- und Militärmandarine zollten seiner Gewandtheit mit den Worten: „Er ist ein würdiger Untertan eines großen Reiches!“ lauten Beifall. Nach Beendigung der Zeremonie prüfte der König die Geleitbriefe, die der Tangkaiser seinem Bonzen mitgegeben hatte, und setzte sein Siegel darunter. Darauf sagte Ssan Tsang: „Eure Majestät wolle mir nun erlauben, Ihr eine persönliche Botschaft Ihrer dritten Tochter, der Prinzessin Bai-hua-sju, zu überreichen.“ Dabei holte er aus seinem Ärmel den Brief hervor, der auf dem Umschlag die beiden Schriftzeichen ,Bing An – Frieden und Sicherheit’ trug, und gab ihn dem König. Vor heftigem Weinen war der König nicht imstande, selbst zu lesen, und so trug der Kanzler des Literaturamtes den Inhalt des Schreibens vor. Der König und alle Anwesenden waren von den Leiden der Prinzessin tief erschüttert. Aber als der Herrscher fragte, wer von den Anwesenden bereit sei, mit einem Heer gegen Huang Bau zu ziehen und die Prinzessin zu befreien, meldete sich niemand. Die einen zweifelten plötzlich an der Echtheit des Briefes; die anderen scheuten die Überlegenheit eines Gegners, der auf Wolken dahingleiten und sich unsichtbar machen könne. Ihr Vorschlag ging dahin, 188
den Bonzen, der sich bereits als hervorragend tapfer erwiesen habe, damit zu beauftragen. Ssan Tsang bekannte freimütig, daß seine Schüler ihn in allen Gefahren schützten, worauf der König befahl, die Begleiter des Bonzen in die Audienzhalle zu führen. Er und alle Mandarine waren über die Häßlichkeit und Wildheit der beiden entsetzt. Von den tausend Tael Belohnung, die der König bot, gelockt, erklärte sich Ba Djä bereit, den Kampf mit dem Ungeheuer zur Befreiung der Prinzessin zu wagen. Von Scha Ssöng begleitet, glitt er alsbald auf einer schnellen Wolke davon. Ssan Tsang blieb bei dem König. Ba Djä und Scha Ssöng schlugen das Tor zur Höhle des Mondscheins ein und eröffneten Huang Bau, daß er die Prinzessin herausgeben oder sterben müsse. Wutentbrannt nahm der Teufel erneut den Kampf mit Ba Djä auf. Nach neunzig Waffengängen gab es noch keinen Sieger und keinen Besiegten. Wohl aber fühlten Ba Djä und Scha Ssöng ihre Kräfte schwinden. Unversehens warf sich Ba Djä zu Boden und kroch in einen geschützten Winkel, wo er sofort in tiefen Schlaf fiel. Der so schmählich im Stich gelassene Scha Ssön wurde gefangengenommen und, an Händen und Füßen gefesselt, fortgeschleppt. 30. Huang Bau bringt Scha Ssöng in seine Gewalt. Das Drachenpferd gedenkt des Affen
Huang Bau sann nach, warum der Bonze seine Schüler zum Kampf gegen ihn zurückgeschickt haben mochte, und kam zu dem Schluß, daß die Prinzessin die günstige Gelegenheit benutzt habe, ihrem Vater eine Botschaft zukommen zu lassen. Wutschäumend drang er in das Gemach der Schönheit der Hundert Blumen ein und stellte sie zur Rede. Als sie, von Todesangst gepackt, leugnete, zerrte er sie an den Haaren durch den Raum, 189
stieß sie zu Boden und bedrohte sie mit dem Schwert. Scha Ssöng wurde herbeigeschleppt, um als Zeuge zu dienen. „Die Prinzessin hat einen Brief an ihren königlichen Vater geschickt; daraufhin seid Ihr hierher, zurückgekommen! Gib zu, daß dem so ist!“ schrie ihn der Teufel an. „Du bist ein Ungeheuer, das keinen Anstand kennt!“ versetzte Scha Ssöng mutig. „Die Prinzessin hat meinem Meister keine Botschaft mitgegeben. Er hatte hier ihr Antlitz erblickt, und als der König ihm ein Bild seiner Tochter zeigte mit der Frage, ob er sie vielleicht auf seiner langen Reise gesehen habe, sagte er ihm die Wahrheit. Darauf befahl uns der König, seine Tochter zu ihm zurückzubringen, und behielt unseren Meister als Pfand bei Hofe. Können wir unseren Auftrag nicht ausführen, erhalten wir keinen Durchzug durch den Elfenbeinstaat.“ Die entschiedene Redeweise Scha Ssöngs stimmte den Teufel um. Er bat seine Gattin um Verzeihung, und sie gewährte sie ihm lächelnd. „Es geziemt Euch aber, Scha Ssöng freizulassen!“ setzte sie hinzu. Der Teufel ließ ihm jedoch nur die Fesseln abnehmen. Abends kündigte er seiner Gemahlin auf einem Festessen zur Feier der Versöhnung an, daß er seinem Schwiegervater einen Besuch abstatten wolle. Erschrocken suchte die Prinzessin ihn von diesem Vorhaben abzubringen. Ihr Einwand, daß seine ungebärdige Wildheit den König mit Entsetzen und Angst erfüllen würde, hatte eine unerwartete Wirkung: Huang Bau verwandelte sich augenblicklich in einen schmucken Studenten. Die Prinzessin war von der neuen Erscheinung ihres Gemahls freudig überrascht und beglückwünschte ihn. „Aber hütet Euch, in der Trunkenheit Eure wahre Gestalt anzunehmen. Trinkt nur schluckweise!“ fügte sie warnend hinzu. Auf schnellen Wolken flog Huang Bau vor das Südtor der Königsfeste. „Der dritte Schwiegersohn des Königs ersucht darum, empfangen zu werden!“ trug er dem Mandarin auf, der nach seinem Begehr fragte. Erstaunt über den unerwarteten Besuch, 190
ließ der König, der gerade in ein Gespräch mit Ssan Tsang vertieft war, die hundert Hofdienst tuenden Mandarine zusammenrufen und den Gast in den Audienzsaal führen. Da alle Anwesenden nur menschliche Augen hatten, vermochten sie nicht dessen Verwandlung zu durchschauen. „Fu ma –Gatte einer Prinzessin! Woher kommt Ihr? Wann habt Ihr meine Tochter geheiratet?“ fragte der König seinen Schwiegersohn. „Ich wohne im Dorf des Mondscheins, dreihundert Li von hier entfernt“, antwortete der Gefragte. „In meiner Jugend ergötzte ich mich oft auf der Jagd. Einmal – das war vor dreizehn Jahren – stieß ich auf einen Tiger, der in seinem Rachen ein junges Mädchen fortschleppte. Ich überwältigte ihn und rief seine Gefangene mit einem Heiltrunk, auf dessen Zubereitung ich mich verstehe, wieder ins Leben zurück. Von ihrer Lieblichkeit entzückt, machte ich sie zu meiner Frau. Als Hochzeitsgabe wollte ich Euch, mein Schwiegervater, den Tiger überbringen. Im Begriff, ihn zu töten, wurde ich von meiner Frau daran gehindert: wir seien von diesem Tiger und nicht von einem Ehevermittler zusammengeführt worden, und deswegen müsse ich ihm die Freiheit wiedergeben. Das tat ich, und er verschwand mit weiten Sätzen in den Wald hinein. Später erfuhr ich, daß er menschliche Gestalt annehmen kann. Laßt Euch gesagt sein, daß der Bonze, der neben Euch sitzt und sich Ssan Tsang nennt, in Wirklichkeit dieser Tiger ist.“ Der König fuhr erschrocken zusammen. „Könnt Ihr die Wahrheit Eurer Behauptung beweisen?“ fragte er. „Ohne Mühe“, antwortete der verkappte Huang Bau. Er ließ sich eine halbvoll mit Wasser gefüllte Schale bringen, hauchte darüber hin, murmelte eine Zauberformel, nahm einen Mund voll Wasser und blies es Ssan Tsang mit dem lauten Ruf: „Bjän! – Verwandlung!“ ins Gesicht. Im selben Augenblick verschwand der Bonze. Ein Tiger schoß mit wütendem Geheul kreuz und quer durch die Feste. Der König und alle Zivilmandarine brach191
ten sich in Sicherheit; die Militärmandarine setzten mit ihren Stöcken hinter dem reißenden Tier her. Hätten die Götter nicht schützend über Ssan Tsang gewacht, wäre er erschlagen worden. So wurde er lebend erwischt und in einen Eisenkäfig gesperrt, den man zur Schau stellte. Abends wurde Huang Bau als Retter auf einem großen Festessen gefeiert. Zur Nacht besuchten ihn achtzehn auserlesen schöne Mädchen in seinem Schlafgemach. Sie unterhielten ihn mit Musik, Gesang und Tanz und schenkten ihm ohne Aufhören schweren würzigen Wein ein. Plötzlich begann er zu schreien und nahm seine eigene Gestalt an, schnappte nach einem jungen Mädchen und machte sich daran, dessen Kopf zu zerbeißen. Die siebzehn anderen Mädchen flüchteten und versteckten sich hinter einer Mauer. Sie wagten nicht, um Hilfe zu rufen, aus Sorge, den Schlummer des Königs zu stören. Das Drachenpferd hatte die Rufe vernommen: „Ssan Tsang ist in Wirklichkeit ein Tiger! Der dritte Schwiegersohn des Königs hat ihn in seine wahre Gestalt zurückverwandelt! Jetzt wird er in einem Käfig gefangen gehalten!“ Überzeugt, daß sein Herr ein guter Mensch und die Verwandlung in böswilliger Absicht erfolgt war, zerbiß es um die zweite Nachtwache herum seinen Halfter, nahm die Gestalt einer liebreizenden Zofe an und betrat das Gemach des grüngesichtigen Huang Bau, der Menschenfleisch schmauste und Wein schlürfte. „Soll ich Euch Wein eingießen?“ fragte sie. „Ich bitte darum!“ war die Antwort. „Aber Ihr müßt Euch beeilen.“ Der junge Drache verfügte über die Gabe, sein Wasser beliebig lange zurückzuhalten. Er füllte die Trinkschale bis zum Rande; nicht ein Tropfen ging daneben. Das Ungeheuer war entzückt und ließ die Schale ein zweites und drittes Mal füllen. „Versteht Ihr auch zu tanzen?“ wollte es wissen. „Ja, aber ich muß dabei etwas in der Hand halten!“ entgegnete 192
die Zofe. Das Ungeheuer reichte ihr sein Schwert. Sie griff danach und begann zu tanzen. Unerwartet führte sie mit der Waffe einen Hieb gegen das Ungeheuer. Das versetzte ihr wütend einen Schlag mit einer schweren Eisenstange. In dem sich entspinnenden Zweikampf drängten die beiden aus dem Gemach heraus und fochten in den Lüften weiter. Das Ungeheuer entwand seinem Gegner das Schwert und brachte ihm damit eine schwere Verletzung am Schenkel bei. Kampfunfähig fiel der Drache in den Fluß. Huang Bau kehrte in sein Gemach zurück und schmauste und trank weiter. Der Drache tauchte aus dem Fluß an die Oberfläche und nahm im Stall wieder seine Pferdegestalt an. Die Wunde schmerzte sehr und machte ihm jeden Versuch, Ssan Tsang zu helfen, unmöglich. Um die dritte Nachtwache hatte Ba Djä in seinem sicheren Versteck ausgeschlafen und kehrte in die Feste zurück. Sein Meister war unauffindbar. Der Atem des Pferdes ging schwer. Als er nach der Ursache forschte, entdeckte er zu seinem Erstaunen die Wunde. Im selben Augenblick seufzte das Pferd in die nächtliche Stille hinein: „O mein Meister! O mein älterer Bruder!“ Ba Djä fuhr entsetzt zusammen und wollte schleunigst zur Tür hinaus. Aber das Pferd hielt ihn mit den Zähnen am Rocksaum fest und berichtete ihm alles, was sich in seiner und Scha Ssöngs Abwesenheit zugetragen hatte. Darauf beschwor es ihn, Ssing-tschö um Hilfe anzugehen ; er allein wäre imstande, den Meister zu retten. Die Eindringlichkeit, mit der das Pferd sprach, überzeugte Ba Djä von der Richtigkeit dieses Vorschlages. Er schwang sich abermals in die Lüfte, breitete die Arme aus, wie ein Schmetterling die Flügel ausbreitet, und flog durch den weiten Raum dem Berg der Blumen und Früchte entgegen. Ssing-tschö saß inmitten einer Menge von Affen; zahllose andere – es mochten ihrer zwölfhundert sein – knieten vor ihm. Ba Djä grüßte mit tiefer Verneigung. „Der Meister schickt mich, 193
Euch zurückzuholen! Er bedauert aufrichtig, daß er Euch fortgeschickt hat.“ ,,Der Meister hat mich fortgejagt. Wie kommt es, daß er meiner gedenkt?“ „Ich will Euch die Wahrheit gestehen, älterer Bruder. Gestern sagte der Meister zu Scha Ssöng und mir: ,Ihr zwei seid mit Ssöng-tschö nicht zu vergleichen. Er wußte immer Rat, war immer bereit zu handeln. Rief ich ihn, kam er sofort. Ihm war nichts, Euch ist alles zuviel.’ Zum Schluß beauftragte er mich, Euch zurückzuholen. So flehe ich Euch an, älterer Bruder: Kommt ohne Verzug mit mir zurück!“ Ssing-tschö sagte nicht ja und nicht nein. Er zeigte dem früheren Gefährten alle Schönheiten und Reichtümer seines Berges. Schließlich forderte er ihn auf, die Höhle der Wasservorhänge zu besichtigen. Ba Djä lehnte ab: die Zeit dränge zum Aufbruch. „Dann wage ich nicht, Euch länger aufzuhalten. Gute Fahrt!“ „Ihr kommt nicht mit mir zurück, älterer Bruder?“ „Warum sollte ich? Hier erfreue ich mich der Muße und Glückseligkeit. Was nützt es mir, ein Leben der Vervollkommnung zu führen? Berichtet Eurem Meister den Mißerfolg Eurer Reise. Er hat mich verjagt – möge er fürder nicht mehr meiner gedenken.“ Ba Djä fühlte die Unabänderlichkeit dieses Entschlusses. Er verabschiedete sich und trat den Rückweg an. Unterwegs hob er drohend die Hand gegen den Berg der Blumen und Früchte und stieß Verwünschungen gegen Ssingtschö aus. Zwei junge Affen, die heimlich mitflogen, um ihn zu beobachten, meldeten Ssing-tschö seine bösen Worte. Der rief wutentbrannt: „Bringt ihn her!“, und alsbald wurde Ba Djä, an Fell und Schwanz gepackt und weidlich gezerrt, auf den Berg der Blumen und Früchte zurückgeschafft.
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31. Ba Djä bewegt den Affen zur Rückkehr. Ssun Wu-kung macht das Ungeheuer unschädlich
In zerfetzter Gewandung erschien Ba Djä vor der Höhle der Wasservorhänge. Abermals verlegte er sich aufs Leugnen: er habe keine Schmähungen gegen den älteren Bruder ausgestoßen. Ssing-tschö mahnte ihn, bei der Wahrheit zu bleiben. „Wir könnt Ihr wagen, mir, was es auch sei, verheimlichen zu wollen! Mein linkes Ohr vernimmt alles, was im Himmel, mein rechtes alles, was auf Erden geschieht.“ Und er befahl, ihm zwanzig Stockhiebe für sein Reden und weitere zwanzig für sein Leugnen zu verabfolgen. Erst die Angst vor dieser Strafe bewog Ba Djä, genau alle Geschehnisse zu berichten. Als er geendet hatte, sagte Ssing-tschö mit strengem Tadel in der Stimme: „Vor meinem Fortgehen empfahl ich Euch, meinen Namen zu rufen, sobald ein Ungeheuer Euch gefahrdrohend entgegenträte; es würde Euch aus Furcht vor mir den Weg freigeben. Warum befolgtet Ihr meinen Rat nicht?“ Ba Djä zögerte einen Augenblick mit der Antwort. Dann sagte er: „Ich befolgte Euren Rat, älterer Bruder. Aber das Ungeheuer erwiderte mir: ,Glaubt nur nicht, daß Ihr mich mit diesem Affen schrecken könnt. Er wird es nie wagen, sich mit mir in einen Kampf einzulassen. Von mir aus würde ich gern einmal seine Kräfte erproben.’“ Diese Äußerung versetzte Ssing-tschö in unbezähmbare Wut. Mit funkelnden Augen sprang er von seinem Sitz auf und schrie: „Dieses Ungeheuer muß ich für seine Überheblichkeit strafen!“ In aller Eile legte er die Kleidung an, die er als Schüler des Bonzen getragen hatte, und bewaffnete sich mit seiner gewaltigen Eisenstange. „Wohin wollt Ihr gehen, Großer Heiliger und unser aller Vater?“ fragten die Affen aufgeregt. 195
„Wohin die Pflicht mir zu gehen befiehlt! Ich will meinem Meister in einer wichtigen Sache behilflich sein. Danach kehre ich zu euch zurück!“ sagte Ssing-tschö beschwichtigend. Über das weite Meer des Ostens flogen Ssing-tschö und Ba Djä zu der Höhle des Mondscheins. Zwei Jungen von neun und zehn Jahren spielten vor dem Eingang. Ssing-tschö packte sie im Nakken und hielt sie fest. Auf ihr Geschrei trat die Prinzessin Baihua-sju heraus und stellte Ssing-tschö zur Rede. „Nehmt zur Kenntnis, daß ich der erste Schüler des Bonzen Ssan Tsang bin. Laßt Scha Ssöng frei, und ich gebe Euch Eure Söhne zurück!“ war die Antwort. Die Schönheit der Hundert Blumen tat, wie der Affe sie geheißen. Freudestrahlend stürzte Scha Ssöng vor das Tor. „Älterer Bruder“, rief er, „Euch haben die Himmlischen hierher gewiesen!“ Ssing-tschö lachte spöttisch. „Ihr scheint zu meinen, Scha Ssöng, daß sich jeder selbst der Nächste ist. Sooft unser Meister sich darin gefiel, seine Zauberformel gegen mich anzuwenden, tatet Ihr nicht den Mund auf, um mir beizustehen.“ Ssing-tschö überlegte seinen Racheplan gegen Huang Bau. Ba Djä und Scha Ssöng sollten mit dessen Söhnen zur Königsfeste fliegen und sie dort aus der Höhe hinunterwerfen. Der Tod seiner beiden Kinder würde den Vater veranlassen, sofort nach Hause zu eilen, wo er, Ssing-tschö, den Nichtsahnenden kampfbereit erwartete. Wie Ssing-tschö es ihnen befohlen hatte, nahm Ba Djä und Scha Ssöng jeder einen Knaben in die Arme und eilten durch die Lüfte der Feste zu. Dort ließen sie ihre Last mit dem lauten Ruf: „Das sind Huang Baus Söhne!“ zur Erde fallen. Die Kinder waren auf der Stelle tot. Der trunkene Huang Bau wurde von dem Lärm auf dem Platz vor der Feste ernüchtert und eilte hinaus. Er erfuhr das Unglück, das ihm widerfahren war, und gewahrte hoch über der Erde die beiden Schüler des Bonzen. Ba Djä mochte sich irgendwie aus dem Kampf davongeschlichen und sich 196
hierher geflüchtet haben … aber wie war Scha Ssöng freigekommen? „Wie konnten meine Söhne den beiden in die Hände fallen? Ich muß sofort die Lage daheim klären“, überlegte er laut und trat ohne Zögern den Rückflug an. Inzwischen nahm Ssing-tschö die Gestalt der Prinzessin an und befahl ihr selbst, sich im Innern des Hauses zu verstecken. Laut jammernd trat die falsche Prinzessin dem heimkehrenden Gatten entgegen: beide Knaben seien unauffindbar verschwunden. „Sie sind vor der Feste Eures Vaters hoch aus der Luft auf die Erde geworfen worden. Aber ich werde den Mord an ihnen zu rächen wissen!’’ sagte Huang Bau mit wuterstickter Stimme. Er führte die aufgeregte und über heftige Schmerzen klagende Frau beiseite und gab ihr ein Elixier, so groß wie ein Hühnerei, das er heimlich aus seinem Mund herausgeholt hatte. Es war die ,Perle zur Verteilung des Glücks’. „Haltet es in der Hand“, empfahl er ihr, „aber hütet Euch, es zu verschlucken. Einmal im Körper, nimmt es andere Form und Wirkung an.“ Die falsche Prinzessin triumphierte im stillen, daß sie in den Besitz einer solchen Kostbarkeit gelangt war. Sie machte eine Bewegung, als wolle sie das Elixier zur Linderung der Schmerzen gegen ihren Leib pressen; im selben Augenblick verschluckte sie es. Maßlos erregt, schlug Huang Bau sie ins Gesicht. „Wahrt den Anstand! Bedenkt, wen Ihr vor Euch habt!“ schrie sie ihn an. „Frau! Denkt nicht, daß Ihr mich in Angst versetzen könnt!“ donnerte das Ungeheuer zurück. „Ich bin nicht Eure Frau!“ Ssing-tschö stand plötzlich in seiner wahren Gestalt da. „Ich bin der erste Schüler des Bonzen Ssan Tsang und nenne mich Ssun Wu-kung.“ „Ein Lügner seid Ihr!“ versetzte Huang Bau. „Der Bonze hat nur die beiden Schüler Ba Djä und Scha Ssöng. Von dreien war nie die Rede.“ „Solltet Ihr nicht erfahren haben, daß der Meister mich meiner 197
unbezähmbaren Wildheit wegen auf meinen Berg der Blumen und Früchte zurückgeschickt hat?“ fragte Ssing-tschö. „Wenn der Meister Euch fortgejagt hat, habt Ihr kein Recht mehr, Euch in seine Angelegenheiten zu mischen!“ trumpfte Huang Bau auf. „Ihr kennt eben den Begriff der Treue und der damit verbundenen Pflichten nicht“, wies ihn Ssing-tschö zurecht. „Selbst wenn ich dem Bonzen nur einen einzigen Tag gedient hätte, wäre ich ihm stärker verbunden als meinem leiblichen Vater. Ich werde stets Anteil an seinem Geschick nehmen. Ihr habt den Meister und Scha Ssöng in Eure Gewalt gebracht und mich beleidigt.“ „Ich kannte Euch nicht. Wie konnte ich Euch beleidigen?“ „Leugnet nicht! Ba Djä hat mir Eure Äußerungen Wort für Wort hinterbracht. Genug der Worte! Haltet Euren Kopf her, damit ich ihn abschlagen kann!“ „Auf meinem eigenen Gelände, wo mir Diener ohne Zahl zur Verfügung stehen? Ihr gelangt nicht lebend hier hinaus!“ Und schon wurden alle Tore geschlossen, eilten von allen Seiten streitbare Männer ihrem Gebieter zu Hilfe. Sie sahen sich einem dreiköpfigen Riesen mit sechs Armen gegenüber, der mit drei schweren, goldbereiften Eisenstangen gegen sie vorging. Im nächsten Augenblick lagen sie allesamt tot am Boden. Mit lautem Wutgeheul stürzte sich Huang Bau auf den Gegner – nach sechzig Waffengängen war der Sieg noch immer nicht entschieden. Mitten im Kampf stieg Ssing-tschö in die Luft auf. Er sah, wie Huang Bau ihm folgte. Aber plötzlich war er spurlos verschwunden. ,Nur ein Unsterblicher Geist, den die Götter seiner Würde für verlustig erklärt haben, kann meiner Sicht entrinnen’, überlegte er, ,ich werde im Palast der Durchdringenden Klarheit um Nachforschung bitten.’ Am Himmelstor trug Ssing-tschö sein Anliegen vor. „Der Bonze Ssan Tsang hält sich zur Zeit im Elfenbeinstaat auf und 198
wird von einem teuflischen Ungeheuer bedroht. Als ich es vernichten wollte, verschwand es, und da es sich meinem Blick völlig entzogen hat, ist es sicher ein aus den Himmlischen Gefilden verbannter Unsterblicher Geist. Ich bitte den Himmelsherrscher, mir zu helfen, daß ich seiner habhaft werden kann.“ DshangDi befahl, eine Umfrage zu veranstalten. Dabei stellte sich heraus, daß eines der achtundvierzig Sternbilder aus dem Tierkreis fehlte: Gwee Ssing, das Sternbild der Andromeda, hatte sich nach dem Himmelskalender seit dreizehn Tagen, denen dreizehn Jahre des Erdenkalenders entsprachen, nicht mehr blikken lassen. Dshang Di ließ den Missetäter durch den Himmlischen Herold auffordern, sich unverzüglich im Palast der Durchdringenden Klarheit einzufinden. Der Befehl erreichte Huang Bau auf dem Grund eines Flusses, in dessen Tiefe er sich aus Furcht vor Ssing-tschös Überlegenheit gestürzt hatte. Er nahm das goldene Täfelchen, das ihn als Unsterblichen Geist auswies, zur Hand und begab sich ohne Verzug zum Südtor des Himmels. Die Wächter führten ihn sofort dem Obersten Himmelsherrn vor. „Gwee Ssing! Den Unsterblichen Geistern steht die Obere Region als Wohnsitz zu. Warum seid Ihr in die Region des Staubes hinabgestiegen?“ fragte der Himmelsherrscher. Huang Bau erwiderte: „Ich will Eurer Himmlischen Majestät die volle Wahrheit berichten. In Eurer Majestät Palast des Weihrauchs waren die Jadeprinzessin und ich in Liebe zueinander entbrannt, aber Eure Majestät verbot uns, die eheliche Verbindung einzugehen. Darauf stieg die Jadeprinzessin auf die Erde hinab, ging in den Leib der Gemahlin des Elfenbeinkönigs ein und wurde als dritte Tochter geboren. Als sie das heiratsfähige Alter erreicht hatte, stieg auch ich auf die Erde hinab. Ich entführte die Prinzessin, und wir lebten seit dreizehn Jahren in meiner Höhle des Mondscheins. Ich unterwerfe mich der Strafe, die Eure Majestät über mich verhängen wird.“ 199
Der Himmlische Herrscher nahm Gwee Ssing das goldene Täfelchen ab und übertrug ihm das niedrige Amt eines Ofenheizers. Würde er sich in dieser Stellung bewähren, stände ihm die Rückkehr in seine alten Rechte offen. Ssing-tschö vollzog die vorgeschriebene Zeremonie der Verabschiedung und verließ die Himmelsgefilde. In Begleitung von Ba Djä und Scha Ssöng führte er die Prinzessin Bai-hua-sju in ihr Elternhaus zurück und erklärte den erstaunten Eltern die Zusammenhänge. Darauf gab er Ssan Tsang seine wahre Gestalt zurück, und Scha Ssöng berichtete ihm, was sich alles zugetragen hatte. Ssan Tsang drückte Ssing-tschö herzlich die Hand. „Ich danke Euch, mein weiser Schüler, und bitte Euch, mich in die Länder des Westens zu begleiten, um die Heiligen Schriften Buddhas zu erlangen. Nach der Heimkehr werde ich den Himmlischen von Euren großen Verdiensten berichten.“ Ssing-tschö wehrte lachend ab. „Mo schuo! Mo schuo! – Verliert kein Wort darüber! Wendet die Goldreifformel gegen mich nicht mehr an. Weiter habe ich keinen Wunsch!“ Der König des Elfenbeinstaates bot dem Bonzen und den drei Schülern kostbare Geschenke an: Juwelen, Gold und Silber, dazu einen hohen Geldbetrag, aber sie lehnten alles ab. Nach einem prächtigen Festmahl setzten die Pilger, von neuem zu viert, ihre Reise gen Westen fort.
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SSING-TSCHÖ BEZWINGT GOLDHORN UND SILBERHORN UND GIBT LAU DJÜN SEINE KOSTBARKEITEN ZURÜCK
32. Ssan Tsang wird vor der Weiterreise gewarnt. Ba Djä geht seinem Unglück in der Höhle der Lotosblumen entgegen
Der Frühling war im Anzug. Die Reisenden hatten bereits ein gut Stück Weg zurückgelegt, da ragte ein hoher Gebirgszug vor ihnen auf, und Ssan Tsang ermahnte seine Schüler zur Wachsamkeit. Ssing-tschö beruhigte ihn: er möge an das Gebet denken, das der Bonze Rabennest ihn einstmals gelehrt habe. Darauf brachte Ssan Tsang sein Pferd zum Stehen und schrieb folgende Verse nieder: Höchstem Befehl gehorchend, entfernten wir uns aus des Kaisers Schutz, uns im Westen Buddha zu Füßen zu werfen. Fährnisse, Flüsse und Berge lehrte die Reise uns ausgiebig kennen. Wann werden wir unser Ziel erreichen? Wann nach Tschangan heimkehren? Ssing-tschö kam das Lachen an. „O mein Meister! Ihr wünscht Euch, daß Ihr bereits im Besitz der Heiligen Schriften, bereits in die Hauptstadt zurückgekehrt wäret! Bringt noch ein wenig länger Ausdauer auf; Eure Wünsche werden sich bald erfüllen.“ Ssan Tsang fühlte die Ruhe in sein Herz einkehren: er setzte sich von neuem mit seinem Pferd in Bewegung. Aber der Weg war sehr holprig: außerdem riet ihm ein Holzfäller, der ihn nach dem 201
Reiseziel gefragt hatte, von seinem Vorhaben abzustehen. „In diesem Gebirge wimmelt es von Ungeheuern, die den Reisenden auflauern, um sie zu verschlingen.“ Von Ssing-tschö um nähere Auskünfte gedrängt, berichtete der Mann, daß in der ,Höhle der Lotosblume’ auf dem ‚Friedlichen Gipfel’ zwei Ungeheuer residierten, die alle Bonzen vertilgen wollten und Ssan Tsang nach einem Bilde erkennen würden, das sie von ihm besäßen. Ssingtschö überlegte: ,Sage ich meinem Herrn die Wahrheit, verliert er den Mut; sage ich sie nicht, begeht er Unvorsichtigkeiten. Soll Ba Djä einmal die Gefahr auf sich nehmen! Kommt er zurecht, ist die Ehre sein; versagt er, kann ich immer noch eingreifen!’ Er stellte dem Gefährten frei, entweder bei dem Meister zu bleiben, um ihn in jeder Gefahr zu schützen, gekochten Reis für ihn herbeizuschaffen und das Pferd zu führen, oder aber die Wege durch das Gebirge auszukundschaften. Ba Djä entschied sich für die zweite Aufgabe. Er griff zu seiner neunzinkigen Forke und machte sich auf den Weg. Ssing-tschö war überzeugt, daß er die Gelegenheit benutzen würde, um sich im ersten sicheren Schlupfwinkel zum Schlafen auszustrecken, nahm flugs die Gestalt einer Grille an, flog ihm nach und setzte sich auf sein Ohr. Nach einigen Li blieb Ba Djä plötzlich stehen, drehte sich dem Rastplatz zu und rief: „Ich durchschaue dich, du jämmerlicher Pferdewart! Hast gehört, daß es hier Ungeheuer gibt, und schickst mich aus, sichere Wege zu ermitteln! Ich werde mich hüten, mich bis zu dieser Höhle der Lotosblumen vorzuwagen! Ausschlafen werde ich mich statt dessen. Bei der Rückkehr werden mir schon passende Lügen einfallen.“ Umschau haltend, entdeckte er eine von alten Bäumen beschattete Waldwiese und streckte sich behaglich ins Gras. „Es ist etwas Wunderbares um den Schlaf. Der Pferdewart schläft bestimmt nicht so sorgenfrei wie ich!“ murmelte er vor sich hin. Ssing-tschö verlor die Geduld. Er verwandelte sich in einen Specht, versetzte dem Schläfer einen kräftigen Schnabelhieb und flog auf einen Ast nahebei. Ba Djä schreckte aus dem ersten 202
Schlummer hoch und wischte sich das Blut ab. „Ein Ungeheuer! Hilfe! Hilfe!“ rief er und sah sich um. Dabei erblickte er den Specht. „Da hat sich doch der Pferdewart in einen Specht verwandelt, um mich zu überwachen!“ Fluchend kuschelte er sich von neuem ins Gras. Als er im besten Schnarchen war, versetzte ihm der Specht einen zweiten Schnabelhieb. Laut schimpfend fuhr Ba Djä auf. „Macht nichts. Ich habe ausgeschlafen. Heimzahlen werd’ ich’s ihm!“ Er setzte sich wieder in Bewegung, Ssing-tschö flog als Grille neben ihm her. Bereits nach weiteren fünf Li machte Ba Djä abermals halt. Ein riesiger Stein hatte seine Aufmerksamkeit erregt. „Dieser Stein sei mein Meister!“ sagte er vor sich hin. „Ich werde ihm probeweise meinen Bericht vortragen.“ Er ging auf den Stein zu, verbeugte sich tief und hielt eine Rede. „O mein Meister! In diesem Gebirge gibt es eine riesige Steinhöhle mit drei Kammern. Sie wird von einer nägelbeschlagenen Eisentür verschlossen, und mächtige Ungeheuer hausen darin. Sollte man mich nach der Zahl der Nägel fragen, so werde ich sagen, ich hätte mir nicht die Zeit genommen, sie zu zählen.“ Damit glaubte sich Ba Djä auf seinen Lügenbericht gut vorbereitet und trat den Rückweg zum Rastplatz an. Ssing-tschö richtete es ein, vor ihm anzukommen. Er nahm seine eigene Gestalt an und berichtete SsanTsang, was er erlebt hatte. Darüber traf Ba Djä ein. „Gibt es wirklich Ungeheuer in diesem Gebirge?“ wollte Ssan Tsang wissen. „Unzählige! Es gelang mir nicht, sie zu zählen!“ antwortete er. „Wie konntet Ihr denn mit ihnen zurechtkommen?“ war die nächste Frage, und er berichtete, daß sie ihn als Ahn der Wildschweine begrüßt und mit kandiertem Gebäck bewirtet hätten. Aber als er begann, die Höhle zu beschreiben, zog ihn Ssing-tschö am Ohr und trug statt seiner vor, was er sich zurechtgelegt hatte. „Kläglicher Kleiefresser! Meine Eisenstange wird Euch lehren, künftig bei der Wahrheit zu bleiben.“ Und schon holte er zum Schlag aus. Da griff 203
Ssan Tsang ein. „Ihr habt die Euch zugedachte Strafe verdient. Aber ich bitte Ssing-tschö, sie aufzuschieben, denn wir brauchen Eure Hilfe!“ Darauf ließ Ssing-tschö seine Waffe sinken. „Ich habe mich unserem Meister zu fügen. Geht ein zweites Mal auf Kundschaft aus, aber mit allem Bedacht! Versucht Ihr wiederum, uns zu belügen, ist Euch der Tod gewiß!“ Ba Djä griff abermals zu seiner neunzinkigen Forke und ging schnellen Schrittes davon. Ein Tiger, der ihm über den Weg lief, ein krächzender Rabe versetzten ihn in Angst. „Älterer Bruder, warum spürt Ihr mir nach?“ Aber diesmal war Ssing-tschö ihm nicht auf den Fersen. Zur gleichen Stunde führten die beiden Herren der Höhle der Lotosblume, die Könige Goldhorn und Silberhorn, ein ernstes Gespräch miteinander. Es ging um die vier in ihren Machtbereich eingedrungenen Pilger. Goldhorn, der ältere Bruder, erinnerte den jüngeren daran, daß Ssan Tsang der wiedergeborene Djin Tschan sei, der bereits eine Anzahl tugendsamer Leben geführt habe. Ein einziger großer Bissen von seinem Fleisch würde ihnen Langlebigkeit verschaffen. Silberhorn war sofort entschlossen, sich der Reisenden zu bemächtigen. Er nahm ein Bild von ihnen an sich und machte sich mit dreißig Begleitern auf die Suche nach ihnen. So kam es, daß Ba Djä plötzlich seinen Weg von Bewaffneten versperrt sah. Sie schenkten seiner Behauptung, daß er ein einzelner, armer Wanderer sei, keinen Glauben. Vielmehr stellten sie auf dem mitgeführten Bild an den großen Ohren und dem Rüssel fest, daß er Ba Djä sein müsse. Der Unglückliche hörte die Unterhaltung an und versuchte, mit weiten Sätzen zu entkommen. Aber der böse Zufall wollte, daß er sich in einer Schlingpflanze verhedderte und hinfiel. Die Bande nahm ihn gefangen, und Silberhorn ließ ihn in den Fischbehälter werfen. Nach ein paar Tagen sollte sein Fleisch gepökelt werden. 33. 204
Der falsche Dauist überwältigt Ssing-tschö. Die Himmlischen gewähren ihm Beistand
Wo der Diener ist, muß der Herr in der Nähe sein! Silberhorn machte sich von neuem auf die Suche, diesmal von fünfzig Bewaffneten begleitet. Die Überlegung, daß die zweiundsiebzig Fähigkeiten Ssing-tschös es ihm erschweren könnten, sich des Bonzen Ssan Tsang zu bemächtigen, bestimmte ihn, sich einer List zu bedienen. Er verwandelte sich in einen alten dauistischen Gelehrten, der aus einer großen Wunde blutete und hilfesuchend durch den Wald humpelte. Ssan Tsang hörte das klägliche Jammern und wies dem scheinbar Verunglückten mit lauten Rufen die Richtung zum Rastplatz. Als der Greis aus dem dichten Untergehölz heraustappte, eilte er ihm hilfsbereit entgegen. Ein Tiger habe den Schüler, der ihn begleitete, fortgeschleppt, er selbst sei auf der Flucht gestürzt und habe sich schwer verletzt, log der Alte und flehte, ihn in seine Höhle zu schaffen. „Mein Schüler Ssing-tschö wird Euch tragen!“ bestimmte Ssan Tsang. Ssing-tschö erklärte sich bereit, und der Alte dankte ihm für seine Freundlichkeit. Mit höhnischem Lachen versetzte Ssingtschö: „Ihr wagt wirklich, mich zu hintergehen? Ich weiß sehr wohl, daß Ihr der Herr der Höhlen auf dem Berg des Friedens seid und meinen Herrn fressen wollt. Aber um dieses kostbare Fleisch werdet Ihr hart mit mir kämpfen müssen!“ Der Alte versetzte: „Ich führe das fromme Leben eines dauistischen Gelehrten. Welches Unglück für mich, solche Verleumdung anhören zu müssen.“ Ssing-tschö huckte sich den Greis auf und folgte dem Meister, der mit Scha Ssöng voranging. Er war entschlossen, den Dauisten im Dunkel des Waldes abzuwerfen und ihm den Garaus zu machen. Aber Silberhorn erhob sich plötzlich von Ssing-tschös Schultern in die Lüfte. Zugleich stürzten die Berge rechts und links von Ssing-tschö und hinter ihm zusammen und begruben 205
ihn unter sich wie einstmals der Berg der Fünf Elemente. Der neben Ssan Tsang dahinschreitende Scha Ssöng sah überrascht, wie sein Herr von einer Hand aus der Luft ergriffen und fortgetragen wurde. Gleich darauf widerfuhr ihm dasselbe, und auch das Pferd wurde entführt. Alle drei wurden in einem hoch umfriedeten Gehege an Pfähle angebunden. Ssing-tschö versuchte mit aller Kraft, sich aus den ihn einengenden Bergmassen herauszuarbeiten. Dabei erinnerte er sich an seine Befreiung aus dem Verlies im Berg der Fünf Elemente. „O mein Meister“, seufzte er, „meine Trübsal kennt keine Grenzen. Ich habe gelobt, Euch sicher in die Länder des Westens und zurück in die Heimat zu geleiten. Wie soll ich das nun schaffen? Wie Euch aus der Gewalt dieser Ungetüme befreien? Wie Ba Djä und Scha Ssöng und das weiße Drachenpferd retten? Das alte Sprichwort sagt mit Recht: Die hohen Bäume locken den Sturm herbei, und der Sturm beraubt sie ihres Laubwerks; die mit besonderen Gaben ausgestatteten Lebewesen erlangen Berühmtheit, und die Berühmtheit treibt sie ins Grab.“ Die ‚Hüter der Gerechtigkeit’ hörten Ssing-tschös Klagen und fragten die Geister der über Ssing-tschö aufgetürmten Berge: „Wem gehören diese drei Bergzüge?“ „Uns“, war die Antwort. „Wen habt ihr darunter eingesperrt?“ fragten sie weiter. „Das wissen wir nicht“, war die Antwort. „So vernehmt: Es ist der Große Heilige und Ebenbürtige der Himmlischen, Ssun Wu-kung. Er untersteht gegenwärtig Buddha und begleitet den Bonzen Ssan Tsang als Beschützer auf einer Pilgerfahrt in die Länder des Westens. Warum macht ihr euch den Ungeheuern dienstbar und fügt dem Großen Heiligen Schaden zu? Bedenkt, daß er euch alle miteinander dem Tode überantworten wird, wenn es ihm gelingt, sich frei zu machen.“ Von Entsetzen gepackt, beeilten sich die Geister, die Zauberformel der Befreiung auszusprechen, und knieten vor Ssing206
tschö nieder, der wütend mit seiner Eisenstange um sich schlug. „Habt Erbarmen mit uns“, flehten sie ihn an, „die Ungeheuer, die diese Berge beherrschen, verfügen über außergewöhnliche Kräfte und geheime magische Sprüche. Wir müssen uns ihren Befehlen fügen.“ „O ihr Himmlischen!“ rief Ssing-tschö, „wart ihr nicht zufrieden damit, mich, den alten Ssun Wu-kung, erschaffen zu haben? Mußtet ihr nach mir noch solche abscheulichen Unwesen zeugen?“ Ein strahlendes Leuchten breitete sich über die Landschaft. Es ging von zwei kostbaren Kleinoden aus, einem roten Krug und einer weißen Urne, mit denen die Könige Goldhorn und Silberhorn zwei Bewaffnete ausgeschickt hatten, um damit Ssing-tschö zu überlisten und gefangenzunehmen. Ssing-tschö verwandelte sich geschwind in einen alten dauistischen Gelehrten und führte sich bei den beiden Bewaffneten als Unsterblicher ein. Sie begrüßten ihn hocherfreut. „Wir wünschen uns nichts sehnlicher als ein Leben der Vervollkommnung zu führen.“ „Woher kommt ihr? Was führt euch hierher?“ begehrte Ssingtschö zu wissen und erfuhr aus der Antwort, daß er in dem einen oder anderen der beiden Gefäße eingefangen und zerschmolzen werden sollte. Es überlief ihn kalt, aber er ließ sich nichts merken und bat, sich diese kostbaren Gefäße einmal ansehen zu dürfen. Er betrachtete sie genau und gab sie mit den Worten zurück: „Ihr kennt sicher nicht den Krug, den ich besitze. Er ist bei weitem wertvoller!“ Dabei zupfte er aus seinem Schwanz ein langes Haar aus und verwandelte es in einen hohen Krug. „Euer Krug ist größer“, gaben die Bewaffneten zu, „aber wertvoller? Der unsere faßt tausend Menschen!“ „Tausend Menschen? Was besagt das schon! In meinen Krug kann ich den ganzen Himmel einfangen! Wann immer er mir Anlaß zur Klage gibt, sperre ich ihn in diesen Krug ein. Das geschieht etwa sieben oder acht Mal im Monat.“ 207
Die Bewaffneten gerieten in Aufregung. Sie wollten sofort ihre beiden Gefäße gegen das eine des Dauisten eintauschen, nur müsse er zuvor in ihrem Dabeisein einmal den Himmel darin einsperren. Ssing-tschö frohlockte. Augenblicks zauberte er die Vagabundierenden Geister herbei und beauftragte sie, dem Obersten Himmelsherrn eine Botschaft zu überbringen: Der Bonze Ssan Tsang ist auf dem Berg des Friedens in die Gefangenschaft der Ungeheuer geraten. Um ihn zu befreien, habe ich, der alte Ssun Wu-kung, mit den Räubern den Austausch kostbarer Gefäße verabredet. Zuvor aber muß ich für eine einzige Viertelstunde die Gewalt über den Himmel erhalten. Gewährt sie mir!“ Dshang Di ließ sich die Botschaft vortragen und geriet in hellen Zorn. „Die Gewalt über den Himmel! Dieser Affe ist tollkühn! Wie will er sein Vorhaben überhaupt durchführen!“ Seine Ratgeber wußten einen Ausweg: sie wollten schwarze Fahnen vor den Himmelstoren ausspannen, worauf sich Finsternis, finsterer als die Nacht, über die Welt breiten würde. Dshang Di war einverstanden, und die Geister überbrachten Ssing-tschö die Nachricht. Voller Freude rief er den Bewaffneten zu: „Ihr erlebt jetzt, wie ich über den Himmel verfüge!“ Dabei warf er seinen Krug hoch in die Luft, und vor den Himmelstoren entfalteten sich schwarze Fahnen. „Die Sonne steht hoch am Himmel. Wie kommt es, daß es plötzlich dunkler als die dunkelste Nacht um uns ist und wir uns nicht sehen können?“ riefen die Bewaffneten erschrocken. „Ich habe den Himmel in meinen Krug eingefangen, also ist auch die Sonne verschwunden!“ antwortete Ssing-tschö mit erhobener Stimme. „Und wo seid Ihr, Meister?“ „Ich stehe vor euch!“ „Wo sind wir in diesem Augenblick?“ „Am Meeresufer. Hütet euch, einen einzigen Schritt zu tun! 208
Ihr könntet ausgleiten und würdet sieben Tage lang fallen, um auf den Grund der Tiefe zu gelangen.“ „Meister! Wir flehen Euch an: laßt den Himmel werden, wie er war!“ Ssing-tschö sagte die passende Zauberformel, die schwarzen Fahnen wurden eingezogen, und es wurde wieder hell und warm. Ssing-tschö gab seinen Krug hin und nahm Krug und Urne in Empfang. Darauf verschwand er. 34. Die Großen Könige wollen sich des Goldseils bedienen. Ssing-tschö bemächtigt sich dieser Kostbarkeit
Die beiden Bewaffneten wollten ihre Macht über den Himmel ausprobieren. Beim ersten Mal fiel der hochgeworfene Krug wieder auf die Erde hinunter. Beim zweiten Mal entschwand er spurlos ihren Blicken: Ssing-tschö hatte sein verwandeltes Haar zurückgerufen! Mit fürchterlichem Wutgeheul durchsuchten sie jeden Grasbüschel. Sie konnten es nicht fassen, daß der Krug unauffindbar sein sollte. Zu fliehen schien ihnen zwecklos; die scharfen Augen der Großen Könige würden sie überall aufspüren. Entschlossen, die Wahrheit zu gestehen, traten sie schließlich mit leeren Händen den Heimweg an. Ssing-tschö verwandelte sich in eine Fliege und flog neben den beiden her. Es möchte jemand fragen, wo er die beiden kostbaren Gefäße ließ? Nun – er hatte sie punktklein werden lassen, wie er es mit seiner goldbereiften Eisenstange zu tun gewohnt war. Der Bericht vom Verlust der beiden Gefäße versetzte die Könige Goldhorn und Silberhorn in höchste Wut gegen Ssing-tschö, der ihre unerfahrenen Diener schmählich hintergangen habe. Es standen ihnen noch drei Kostbarkeiten von der Art der entwendeten zur Verfügung. Eine davon, ein Goldseil, befand sich bei 209
ihrer Mutter. Sie einigten sich, der alten Dame vorzuschlagen, daß sie sich bei ihnen aus dem Fleisch des Bonzen Ssan Tsang einen Festschmaus bereiten lasse, und ihnen bei dieser Gelegenheit das Goldseil mitzubringen. Damit wollten sie Ssing-tschö fesseln. Eilends machten sich zwei Boten auf den Weg zur Höhle der gezähmten Drachen, der Residenz der Königsmutter. Ssingtschö flog als kleine Fliege neben ihnen her. Unterwegs rastete er auf einem Zweig, verwandelte sich in einen jungen Leibwächter und hastete hinter den dahintrottenden Boten her. „Wartet! Wartet!“ rief er sie an. Sie drehten sich verwundert um. Wer er sei, wollten sie wissen. „Ich gehöre zur Außenwache!“ erklärte der falsche Wächter. „Die Großen Könige befürchten, daß ihr euch zuviel Zeit laßt. Ich soll euch von ihnen ausrichten, daß ihr die Einladung schnellstens überbringen und das Goldseil nicht vergessen sollt. Ai-ja, ich bin ganz außer Atem, so bin ich hinter euch her gerannt!“ Arglos wandten sich die Boten zum Weitergehen; der junge Wächter lief neben ihnen her. „Wohnt die Königinmutter weit von hier?“ fragte er. „Nein! Ihre Höhle ist in dem Wald vor uns.“ Diese Auskunft genügte Ssing-tschö.Er blieb einen Schritt zurück, holte mit seiner Eisenstange aus und erschlug die Boten. Die Leichen zerhackte er und versteckte die Stücke im dichten Gras. Darauf nahm er die Gestalt des einen Boten an und zauberte aus einem Schwanzhaar den anderen. Die beiden falschen Boten folgten einem Waldpfad und gelangten vor eine Felsenhöhle. Der Türwächter führte sie vor die Königinmutter, und Ssing-tschö richtete die beiden Aufträge der Großen Könige aus. Die alte Dame war über alle Maßen erfreut. „Meine Söhne befleißigen sich wahrlich der Kindespietät!“ sagte sie, ließ sofort ihre Sänfte herbeibringen und trat, von den beiden Boten begleitet, den Weg zur Höhle der Lotosblume an. Nach einem Marsch von sechs Li wollten sich die Träger verschnaufen und setzten die Sänfte nieder. Diesen günstigen Augenblick benutzte Ssing-tschö, um ihnen die Schädel ein210
zuschlagen. Ebenso verfuhr er mit der alten Dame, die bei dem Lärm die Vorhänge ein wenig beiseite geschoben und hinausgeschaut hatte. Darauf nahm er seine eigene Gestalt wieder an und verbarg voller Genugtuung das Goldseil in dem weiten Ärmel seines Oberrocks. ,Von den fünf Kostbarkeiten dieser Ungeheuer sind jetzt drei in meiner Hand!’ ging es ihm durch den Sinn. Er riß sich vier Haare aus und verwandelte sie in vollendeter Gleichheit in die Boten und Sänftenträger. Sich selbst gab er die Gestalt der Königinmutter, wobei er feststellte, daß sie eine neunschwänzige Füchsin war. Als der feierliche Zug sich der Höhle der Lotosblume näherte, öffneten sich beide Torflügel. Festliche Musik ertönte; die beiden Könige entzündeten die Weihrauchstäbchen in den Schalen, die auf einem Tisch bereitstanden, und näherten sich mit tiefen Verneigungen der Sänfte. „Würdige Mutter! Habt Ihr das Goldseil mitgebracht?“ war ihre erste Frage. Die alte Dame bejahte. In diesem Augenblick trat ein Melder herzu. „Großer König! Ssing-tschö hat Eure würdige Mutter erschlagen und ihre Gestalt angenommen, um hier Einlaß zu finden!“ Wutentbrannt zog König Goldhorn sein Schwert und stürzte sich auf die falsche Mutter; aber schon schwebte Ssing-tschö in Form einer Strahlenkrone gen Himmel. König Silberhorn eiferte seinem Bruder nach. „Gebt uns unsere Kostbarkeiten zurück!“ schrie er. Von einer hohen Wolke herunter ertönte Ssing-tschös Stimme. „Laßt meinen Meister und meine Gefährten frei, und ich unternehme nichts gegen Euch. Weigert Ihr Euch, vernichte ich alles Leben in Eurer Höhle.“ Bei diesen Worten sprang er auf die Erde, sagte den vorgeschriebenen Spruch und schnürte Silberhorn mit dem Goldseil ein. Er wußte nicht, daß man sich mit einem Gegenspruch aus der Umschnürung befreien konnte. Silberhorn tat das, nahm seinerseits Ssing-tschö gefangen und schleppte ihn in die Höhle, wo Goldhorn den Bruder beglückwünschte. Gemeinsam bemächtig211
ten sie sich des roten Kruges und der weißen Urne und zogen sich zu einem Siegesschmaus in ihre Gemächer zurück. Ssing-tschö befreite sich mittels der zweiten Formel, zauberte sich aus einem Schwanzhaar täuschend ähnlich einen Doppelgänger und fesselte ihn mit dem Goldseil. Er selbst drang in der Gestalt eines Aufsehers in das Innere der Höhle und verlangte von den Brüdern eine andere Fessel für den ungebärdigen Gefangenen, der die Metallschnur durchzureiben drohe. Die Könige glaubten seinen Worten, und Goldhorn überließ ihm seinen eigenen Gürtel. Ssing-tschö vertauschte den Gürtel mit dem Goldseil, das er in seinem Ärmel verbarg, und brachte den noch immer zechenden Brüdern ein falsches Goldseil zurück. Darauf trat er in seiner wahren Gestalt vor die Höhle und forderte die Könige zum Kampf heraus. Die waren verblüfft. Silberhorn eilte ins Freie. „Wer seid Ihr?“ fragte er. Ssing-tschö stellte seinen Namen um. „Ssing Tschö-ssun“, antwortete er. „Ich fordere die Freilassung meiner Gefährten, die ihr gefangen haltet!“ „Es ist zwecklos, daß wir miteinander kämpfen“, versetzte Silberhorn. „Ich werde einen lauten Ruf ausstoßen. Bringt Ihr den Mut auf, mit einem Gegenruf zu antworten, ist der Sieg Euer!“ „Stoßt tausend Rufe aus, und ich werde Euch tausendmal antworten!“ erklärte Ssing-tschö. Silberhorn hielt den roten Krug mit der Öffnung nach unten schräg gegen den Erdboden und rief: „ Ssing Tschö-ssun!“ Ssing-tschö überlegte: ,Da ich einen falschen Namen angegeben habe, kann ich ungefährdet mit einem Gegenruf antworten.’ Er rief also; im selben Augenblick umschloß ihn der rote Krug. Es war eine Finsternis um ihn herum, die finsterer als die finsterste Nacht war. Daß er sich in Wasser auflösen würde, sorgte ihn nicht, war er doch Laudses Schmelzofen entronnen, 212
ohne Schaden zu nehmen; aber der Verlust der Freiheit bedrückte ihn. Die Könige warteten in aller Gelassenheit, daß ein Plätschern aus dem Krug hörbar würde. „Wir brauchen dann nur den Dekkel abzuheben und den Inhalt des Kruges auszuschütten!“ frohlockten sie. Ssing-tschö sann auf einen Ausweg. ,Ich sollte pissen und die beiden damit täuschen!’ dachte er. Aber dabei würde er sein Obergewand beschmutzen, und diese Vorstellung war ihm unerträglich. Er beschloß zu spucken, und er spuckte ohne Aufhören, laut und kräftig. Aber die Könige achteten nicht darauf, sondern zechten weiter. Nach einer Stunde rief er: „Ai-ja! Meine Füße und Beine werden zu Wasser!“ Ein Weilchen später brüllte er: „Ai-ja! Meine Eingeweide werden zu Wasser!“ Da endlich hörte er Goldhorn sagen: „Jetzt dauert es nicht mehr lange!“ Schnell riß er sich ein Haar aus und verwandelte es in ein Häuflein Knochen; er selbst setzte sich als kleine Grille dicht an die Krugöffnung. Plötzlich hob Silberhorn den Deckel vom Krug, und flugs schwirrte die Grille hinaus, nahm die Gestalt des Drachens I-hailung an, der die Meere wie eine Säule stützt, und stellte sich neben die Könige, die bereits wieder beim Schnapstrinken waren. Ohne daß sie es gewahr wurden, ersetzte er den roten Krug durch einen falschen und spazierte frohlockend mit dem echten zur Höhle hinaus.
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35. Ssing-tschö befreit die Gefangenen. Lau Djün erhält die gestohlenen Kostbarkeiten zurück
Draußen angelangt, nahm Ssing-tschö wieder seine eigene Gestalt an und sagte zu den Torwächtern: „Ruft Eure Herren auf der Stelle zum Kampf mit Ssing Tschö-ssun!“ Die Wächter taten, wie ihnen geheißen. Goldhorn setzte mitten im Trinken die Schale ab; er war vor Schreck wie gelähmt. „Mit diesem Ungeheuer ist kein Fertigwerden!“ rief er. Silberhorn dagegen griff voller Zuversicht nach dem roten Krug und trat siegesgewiß vor die Tür. „Wer seid Ihr, daß Ihr Euch untersteht, hier einzudringen? Es ziemt sich nicht für mich, einen Kampf mit Euch aufzunehmen. Aber ich werde einen lauten Ruf ausstoßen. Bringt Ihr den Mut auf, mit einem Gegenruf zu antworten, ist der Sieg Euer.“ Mit höhnischem Lächeln versetzte Ssing-tschö: „Ruft mich, und ich werde Euch antworten. Aber danach werde ich Euch rufen! Werdet Ihr wagen, mir zu antworten?“ Verächtlich sagte Silberhorn: „Ich werde Euch bereits vorher gefangengenommen haben. Warum solltet Ihr mich rufen wollen?“ „Weil ich einen Krug mein eigen nenne, der dem Euren gleicht! Schaut her!“ und Ssing-tschö hielt den echten Krug hoch. „Aber Wert hat nur der Krug, der den Feind einfängt!“ rief Goldhorn zurück. Er machte einen gewaltigen Satz auf Ssingtschö zu, hielt seinen Krug mit der Öffnung nach unten schräg gegen den Erdboden und rief mit Donnerstimme: „Ssing Tschössun!“ Der Gerufene antwortete einmal, zweimal … Beim achten Mal hatte der Krug noch immer nicht seine Schuldigkeit getan; ein kalter Schauer überlief den König. Ssing-tschö lachte laut auf. „Tauschen wir die Rollen!“ rief er und erhob sich in die Lüfte. 214
„Großer König Silberhorn!“ tönte es aus der Höhe herunter. Der wagte nicht, sich seiner Zusage zu entziehen, und antwortete. Aber nur einmal. Denn ohne Verzug umfing ihn der Krug und wurde mit einem Deckel verschlossen. Mit dem Krug in der Hand trat Ssing-tschö den Rückweg zur Höhle der Lotosblume an. Die Wächter sahen ihn kommen und erstatteten ihrem Herrn entsetzt Meldung. Der vergewisserte sich, daß ihm noch drei Kostbarkeiten zur Verfügung standen: das Schwert des Siebengestirns, der Fächer und die weiße Urne. Er bewaffnete sich mit dem Schwert und verbarg den Fächer im Kragen seines Obergewandes; die Urne ließ er auf einem Tisch zurück. Zornentbrannt trat er vor die Tür und rief: „Laß dir gesagt sein, du vernunftloses Wesen, daß ich meinen jüngeren Bruder und meine würdige Mutter an dir rächen und deine Gebeine in alle Winde zerstreuen werde!“ „Gib meinen Meister und meine Gefährten frei! Weigerst du dich, kostet es dich und dein Geschlecht das Leben!“ wurde ihm zur Antwort. Ein wütendes Ringen entspann sich. Den Hunderten von Ungeheuern, die ihrem König zu Hilfe eilten, stellte Ssing-tschö Hunderte Doppelgänger von sich gegenüber, die er aus einigen ausgezupften Haaren gezaubert hatte. Aufs äußerste bedrängt, entfaltete Goldhorn den Fächer. Im Augenblick loderten an den vier Ecken des Horizonts gewaltige Feuer auf und wälzten sich auf die Kämpfenden zu. Ssing-tschö rief alle seine Doppelgänger zurück; er selbst drang in die Höhle ein, tötete alle Ungeheuer, die er darin vorfand, und nahm die weiße Urne an sich, die ihm inmitten eines blendenden Strahlenkranzes entgegenleuchtete. Der vom Kampfplatz zurückkehrende König brach beim Anblick der vielen Leichen in lautes Wehklagen aus. Aber von Erschöpfung und Müdigkeit überwältigt, verfiel er bald in tiefen Schlaf. Ssing-tschö, der ihn keinen Augenblick aus den Augen gelassen hatte, benutzte die günstige Gelegenheit, um sich des Fä215
chers zu bemächtigen. Als er diese Kostbarkeit in seinem breiten Gürtel versteckte, wachte Goldhorn auf und stürzte sich von neuem auf den Feind. Aber schon nach wenigen Runden gab er die Hoffnung auf den Sieg auf und flüchtete in die Höhle der Gezähmten Drachen. Ungestört durchsuchte Ssing-tschö nun die Höhle, entdeckte die Gefangenen und befreite sie. Voller Freude stärkten sie sich alle vier mit einer Reismahlzeit und streckten sich zu einem erquickenden Schlummer aus. In der Frühe des nächsten Tages näherte sich ein starker Trupp Bewaffneter der Höhle. Ssing-tschö befahl Scha Ssöng, über Meister und Pferd zu wachen; er selbst ging mit Ba Djä vor das Tor. Eine weißbärtige Riesengestalt mit menschlichen Zügen trat ihnen entgegen und rief mit drohender Stimme: „Ich bin gekommen, den Tod meiner würdigen Schwester und meines jüngeren Neffen zu rächen. Bereitet Euch vor zu sterben.“ Aber der Gegner ermattete nach kurzem Kampf mit Ssing-tschö und wurde auf der Flucht erschlagen. Im Sterben nahm er seine wahre Gestalt an und wurde wieder ein Fuchs. Seinem Neffen Goldhorn versagten die Kräfte unter den Schlägen von Ba Djä und Scha Ssöng, den es nicht untätig in der Höhle geduldet hatte; schließlich fing ihn Ssing-tschö in der weißen Urne ein und nahm das Schwert des Siebengestirns an sich, das dem König aus der Hand gefallen war. Ssan Tsang ließ sich genau Bericht erstatten,und die Pilger setzten zu viert den Weg gen Westen fort. In einiger Entfernung von der Höhle trat unvermutet vom Wegrand her ein Greis auf sie zu und brachte das Pferd mit einem Griff in die Zügel zum Stehen. „He schang – Bonzen!“ sagte er, „gebt mir die Kostbarkeiten wieder, die Ihr Euch angeeignet habt.“ Ssing-tschö durchschaute sofort die Verkleidung: es war der Unsterbliche Lau Djün, der vor ihnen stand. Er grüßte ihn mit tiefer Verneigung und sagte: „Lau guan-dse – Ehrwürdiger Hoher Herr! Was ist Euer Begehr?“ Lau Djün erhob sich über den Erdboden und wiederholte sei216
ne Forderung. Ssing-tschö erhob sich ebenfalls über den Erdboden und fragte: „Von welchen Kostbarkeiten sprecht Ihr?“ Darauf erklärte Lau Djün: „Von Krug und Urne, die ich brauche, um mein Wasser aufzufangen; vom Schwert des Siebengestirns, mit dem ich meine Zaubertränke umrühre; vom Fächer, mit dem ich mein Feuer anfache, und vom Goldseil, das ich als Gürtel trage. Goldhorn und Silberhorn, mir als Diener zugeteilt, beraubten mich dieser fünf Kostbarkeiten und nahmen sie mit sich auf die Erde hinunter. Ihr habt sie ihnen abgenommen, und ich bitte Euch, sie mir zurückzugeben.“ „Ich bitte Euch zu bedenken, Ehrwürdiger Hoher Herr, daß Eure Unachtsamkeit große Unruhe über die Erde gebracht hat. Vor dem Gesetz zur Rechenschaft gezogen, werdet Ihr Euch der Verantwortung nicht entziehen können.“ „Ich fürchte das Gesetz nicht“, entgegnete Lau Djün. „Ihr aber wollet bedenken, daß Ihr nicht die Heiligkeit erlangen werdet, wenn Ihr auf Eurer Pilgerfahrt keine Hindernisse überwindet.“ Ssing-tschö erkannte die tiefe Bedeutung dieser Worte und überreichte Lau Djün die fünf Kostbarkeiten. Darauf erklärte er seinem Meister den Zusammenhang, und die Pilger setzten ihren Weg fort.
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DER KÖNIG DES REICHES DER SCHWARZEN HÄHNE WIRD VON DEM GRÜNEN LÖWEN IN DEN BRUNNEN GESTÜRZT UND VON SINGTSCHÖ INS LEBEN ZURÜCKGERUFEN
36. Ssing-tschö erzwingt sich Respekt. Die Pilger betrachten den Vollmond
Eines Tages stießen die Pilger wiederum auf einen hohen Gebirgszug. Steil ragte er vor ihnen auf, und von Furcht vor neuen Zusammenstößen mit Ungeheuern gequält, ermahnte Ssan Tsang seine Schüler zu besonderer Wachsamkeit. Ssing-tschö beschwichtigte ihn. „Meister, sorgt Euch nicht. Wir werden alle Hindernisse bezwingen, wenn wir uns standhaft und mutig erweisen.“ Auch Ssan Tsangs Einwand, daß er bereits vor fünf Jahren von Tschangan aufgebrochen sei und die Länder des Westens noch immer nicht vor sich sehe, wies er zurück. „Meister, gebt Euch nicht mit derlei Überlegungen ab. Bringt Ausdauer auf, so werdet Ihr Euer Ziel erreichen.“ Bei Einbruch der Dämmerung gelangten die Pilger vor einen großen Tempel, der sich an einen Berghang schmiegte. Über dem Eingang war eine Tafel mit fünf Schriftzeichen angebracht: Dji Djän Bau Lin Sse –Durch kaiserlichen Erlaß errichtetes Kloster zum kostbaren Walde. Ssan Tsang saß ab und trug dem von einem Mönch herbeigerufenen Abt voller Demut seine Bitte um ein Nachtquartier vor. Aber dieser königliche Bonze wollte nur mit hohen Würdenträgern zu tun haben und verwies Ssan Tsang an eine ziemlich weit entfernte Herberge, wo er für sich und seine Gefährten eine Reismahlzeit und Unterkunft finden würde. 219
Weinend kehrte Ssan Tsang zu seinen Schülern zurück und berichtete ihnen seinen Mißerfolg. „Ihr habt die Sache falsch angepackt!“ sagte Ssing-tschö. „Ich werde es schaffen.“ Laut brüllend und drohend mit seiner goldbereiften Eisenstange herumfuchtelnd, stürzte er in den Tempel. Beim Anblick dieses schrecklichen Wesens wollte der Abt schnell die Tür zusperren. Aber Ssing-tschö hielt sie fest und schrie: „Laßt sofort tausend Zimmer herrichten! Ich, der Ehrwürdige Ssun Wu-kung, will hier schlafen!“ Dabei schlug er zum Beweis seiner Stärke mit einem einzigen Hieb einen steinernen Löwen im Vorhof mitten durch. Der königliche Abt war entsetzt. „Ihr vermögt wahrlich viel mit Eurem Stock, Ehrwürdiger Greis!“ sagte er einlenkend. „Laßt es bei dieser Kraftprobe sein Bewenden haben. Ich gewähre Euch Gastfreundschaft.“ Er ließ sofort die Glocken läuten und die Trommeln rühren und befahl den von allen Seiten herbeieilenden fünfhundert Bonzen, die im Kloster lebten, zum Empfang erlauchter Gäste Feiertagsgewandung anzulegen. Darauf bewegten sich alle Mönche mit dem Abt an der Spitze in feierlichem Aufzug vor das Tempeltor und hießen den verblüfften Ssan Tsang willkommen. Einige von ihnen schafften ihn auf ihren Schultern in einer Sänfte ins Kloster; andere trugen Ba Djä, Scha Ssöng und das Gepäck hinein, und wieder andere führten das weiße Drachenpferd am Zügel in den Stall. Der königliche Abt ließ den Gästen Reis und Tee vorsetzen und entschuldigte sich bei ihnen für seine anfängliche Unfreundlichkeit. Die vier bequemsten Gemächer wurden zum Schlafen hergerichtet. Fackelträger geleiteten die Pilger zu ihren Schlafstätten. „Lasset uns jetzt ruhen!“ sagte Ssan Tsang, und alle vier strebten auseinander wie Fische, die ihre Freiheit wiedererlangt haben. Von Ssing-tschö gefolgt, trat SsanTsang durch eine kleine Hintertür ins Freie, um sein Wasser abzuschlagen. Der klare Mondschein und der linde Nachtwind riefen alte Verse in ihm wach: 220
In dem nächtlichen Gebirgstempel erfüllten sich ihm beim Anblick der Zimtbäume und dem Duft des Weihrauchs alle Träume. Scha Ssöng und Ba Djä hörten den Meister diese Verse hersagen und traten gleichfalls ins Freie, um den Mond zu bewundern. Ssing-tschö kam das Spotten an. „Der Mond nimmt zu und wieder ab“, begann er, „ebenso erheben sich die Menschen aus ihrer Schwäche zur höchsten Kraft und sinken wieder in die Schwäche hinab. Sie freuen sich der einen Phase, ohne der anderen eingedenk zu bleiben, und begehen damit einen schweren Fehler, denn unausbleiblich folgen diese beiden Phasen aufeinander. Zur Zeit, mein Meister, gleicht Ihr dem Mond in seinem ersten Viertel: Eure Verdienste wachsen von Tag zu Tag! Warum also fürchtet Ihr, die Länder des Westens nicht zu erreichen?“ Ssan Tsang hieß diese Worte gut, und die Freude verdrängte die Trauer aus seinem Herzen. Es verlangte ihn danach, in Muße seine Gebete zu lesen, und er gebot den Gefährten, zur Ruhe zu gehen. „Wozu das?“ begehrte Ssing-tschö auf. „Ihr seid von Jugend an Bonze. Fürchtet Ihr, Eure Gebete zu vergessen, wenn Ihr sie nicht immer wieder von neuem lest? Verschwendet Ihr Zeit und Kraft dazu, werdet Ihr Euer Ziel, die Länder des Westens zu erreichen, niemals verwirklichen!“ Ssan Tsang erwiderte: „Die Zeit gebiert das Vergessen,und der Mensch muß durch Arbeit dagegen ankämpfen. Darum lese ich immer wieder meine alten Gebete durch.“ Alle vier kehrten in ihre Zellen zurück. Die Schüler legten sich zum Schlafen nieder, Ssan Tsang setzte sich an die Arbeit.
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37. Der Geisterkönig beschwört Ssan Tsang, ihm zu helfen. Ssing-tschö überlistet den Thronerben
Um die dritte Nachtwache setzte ein starker Wind ein, und die Lampen erloschen. Ssan Tsang vernahm eine Stimme, die ihn ins Freie rief. Wie betäubt ging er an die Hintertür seiner Zelle, um hinauszusehen. Eine menschliche Gestalt stand vor ihm und flehte ihn mit tränenüberströmtem Gesicht um Hilfe an. Er sah, daß sie mit einem aus Gold gewirkten Obergewand, einem Königsbarett und einem Jadegürtel angetan war und in der Hand ein Jadezepter hielt. Von Furcht gepackt, kniete er nieder und fragte: „Wie heißt der Staat, über den Eure Majestät regiert? Was veranlaßt Eure Majestät, mich in der Dunkelheit der Nacht hier aufzusuchen?“ Darauf hub die Gestalt zu sprechen an. „Ich bin der König des Reiches der Schwarzen Hähne; meine Hauptstadt liegt vierzig Li westlich von hier. Vor acht Jahren suchte eine große Dürre mein Land heim. Meine Mandarine vermochten nicht, ihr Einhalt zu gebieten, und auch die öffentlichen Gebete blieben ohne Erfolg. Nach drei Jahren waren alle Flüsse ausgetrocknet. Im Augenblick der höchsten Not kam uns ein Einsiedler aus den Südlichen Bergen, Tschuan Dshön, zu Hilfe. Er bewegte nur die Hand, und schon strömte der Regen vom Himmel hernieder und tränkte die dürstenden Felder. Von Dankbarkeit erfüllt, lebte ich mit diesem Mann fortan wie mit einem Bruder zusammen. Es waren etwa zwei Jahre seit der Dürre vergangen, da lustwandelte ich mit ihm in den Gärten meines Palastes. Wir kamen an einem Brunnen vorbei; unvermutet warf er irgend etwas in das Wasser, und sogleich strahlte ein blendendes Leuchten aus der Tiefe herauf. Neugierig bückte ich mich über die Brunnenfassung; im selben Augenblick stieß mich der 222
Schuft hinunter und verschloß die Öffnung mit einer schweren Steinplatte. Seitdem herrscht er unerkannt in meiner Gestalt, aber ohne mein Zepter, über Land und Volk der Schwarzen Hähne. Ihn bei den Herrschern der Unterwelt anzuzeigen, wäre zwecklos gewesen, er verfügt über allzu viele mächtige Freunde. Aber einer der über die Erde schweifenden Geister tröstete mich: in Bälde komme der Bonze Ssan Tsang, der auf der Pilgerfahrt nach dem Westen begriffen sei, hier vorbei. Dessen Schüler, der Große Heilige und Ebenbürtige der Himmlischen, verfüge über die Macht, den Betrug zu entlarven und mich wieder in meine Rechte einzusetzen. So bitte ich Euch, daß Ihr Eurem Schüler gestattet, mir zu helfen.“ Ssan Tsang war dazu bereit, aber er hatte ein Bedenken: das Volk halte den Betrüger für seinen rechtmäßigen Herrscher, es würde sich gegen den erheben, der ihn anzugreifen wage. Der Geisterkönig erkannte die Richtigkeit dieses Einwandes und fand einen Ausweg. Sein Sohn, der Erbprinz, wolle am nächsten Tag in der Tempelgegend jagen. Ssan Tsang möge eine Begegnung mit ihm herbeiführen und ihm den wahren Sachverhalt berichten. Der Sohn werde darauf brennen, seinem Vater beizustehen. Dabei legte der Geisterkönig Ssan Tsang sein Jadezepter zu Füßen, es werde ihn dem Sohn gegenüber ausweisen. Ssan Tsang verneigte sich zustimmend, und der König wandte sich zum Gehen. Im Begriff, seinem Besucher das Geleit zu geben, stolperte Ssan Tsang über eine Baumwurzel und fiel längelang auf die Erde. Am ganzen Körper zitternd, rief er nach seinen Schülern. Ssing-tschö war beim Anblick des erregten Meisters ungehalten. „Ihr gebt Euch unnützen Grübeleien hin“, hielt er ihm vor. „Nähern wir uns einem Gebirge, seht Ihr bereits die Ungeheuer aus den Höhlen auf uns zustürzen. Die Länge des Weges, der noch vor Euch liegt, schreckt Euch; der Gedanke an die Rückkehr nach Tschangan beschäftigt Euch. So plagt Euch ein Albdruck 223
nach dem anderen. Macht es wie ich! In mir steht der Entschluß fest, Euch in die Länder des Westens zu geleiten, und ich lasse keine Unruhe aufkommen, die mich wanken machen könnte.“ Ssan Tsang wies die Vorwürfe zurück. Er habe im Traum seltsame Dinge erlebt, und er erzählte, was ihm soeben widerfahren war. „Schaut Euch vor der Hintertür nach einem Jadezepter um!“ schloß er. Ssing-tschö trat hinaus: vor ihm leuchtete auf dem Boden ein kostbares, aus Jade geschnitztes und mit Gold verziertes Zepter. Er hob es auf; es bewies ihm die Wahrheit des Erlebnisses, von dem der Meister berichtet hatte. Sofort traf er Anstalten, den Betrug aufzudecken. Er zupfte sich ein Haar aus und verwandelte es in ein rotes Lackkästchen. Das überreichte er dem Meister und trug ihm auf, am nächsten Tag das Gewand der Guanjin anzulegen und im Tempel, mit dem Lackkästchen in der Hand, vor dem Altar Buddhas kniend im Gebet zu verharren. Erselbst werde den Erbprinzen ausfindig machen und es einrichten, daß er den Weg zum Tempel einschlagen müsse. „Was soll ich beim Eintritt des Erbprinzen tun?“ fragte Ssan Tsang, und Ssing-tschö fuhr in seiner Anweisung fort: „Ich werde den Tempel vor ihm in der Gestalt eines winzig kleinen Generals betreten, und Ihr sperrt mich in das Lackkästchen ein. Unterbrecht Eure Gebete nicht, wenn der Erbprinz sich vor dem Altar niederwirft. Er wird darob in Wut geraten und Euch fragen, wer Ihr seid. Antwortet ihm, daß Ihr im Auftrag des mächtigen Tangkaisers auf dem Wege nach dem Westen seid, um die Heiligen Schriften Buddhas herbeizuschaffen und Buddha kostbare Geschenke darzubringen. Auf des Prinzen Frage nach diesen Geschenken weist ihm das Gewand Guanjins und deutet auf das Lackkästchen: es enthalte das schon anderthalb Jahrtausende alte Li-ti-huo, das Emblem der Herrscherwürde.“ Ssan Tsang war mit diesem Plan einverstanden. Am nächsten Tag beobachtete Ssing-tschö von der Höhe einer Wolke, wie sich in der Tiefe unter ihm zahlreiche Jäger in einem 224
langen Zug in Bewegung setzten. Ihr Führer glich einem Drachen oder einem Tiger; er trug einen Panzer und war mit Lanze und Schwert bewaffnet, auf dem Rücken hing ihm ein Köcher mit Pfeilen. ,Das ist bestimmt der Erbprinz!’ dachte Ssing-tschö, sprang auf die Erde hinunter und hockte sich als Schneehase vor dem herannahenden Zug mitten auf den Weg. Der Erbprinz schoß einen Pfeil auf das Tier, traf es aber nicht und verfolgte sein Opfer, das sich in den Tempel flüchtete. „Der Erbprinz folgt mir auf den Fersen!“ flüsterte der Hase Ssan Tsang zu und wurde zum winzigen General. Ssan Tsang sperrte ihn in das Lackkästchen und fuhr in seinen Gebetsübungen fort. Der Erbprinz betrat an der Spitze seines großen Gefolges den Tempel. Ringsum begrüßten ihn die Mönche mit tiefen Verneigungen. Ssan Tsang, der vor dem Altar des Buddha knien geblieben war, wurde sofort von der Leibwache gepackt und vor den Prinzen gezerrt. Das Verhör verlief, wie Ssing-tschö es vorausgesehen hatte. Die Kostbarkeit des göttlichen Gewandes beschrieb Ssan Tsang in Versen: ,Dieses Buddhagewand ist von einem Wert ohnegleichen, Kein Sterblicher vermag seine Schönheit zu schätzen. Tausend Spulen webten aus zehntausend Fäden die köstliche Seide, neun Perlen und acht Juwelen verliehen ihr schimmernden Glanz, Tschang-o, die Unsterbliche, schuf daraus dieses leichte Gewand … Schande über Euch, daß Ihr Euren Vater nicht rächt!“ Diese unerwartete Beleidigung versetzte den Erbprinzen in höchste Wut. „Ihr behauptet, ich hätte meinen Vater nicht gerächt! Was hat er erlitten, das zu sühnen mir oblag?“ Ssang Tsang entgegnete gelassen: „Diese Frage vermag ich nicht zu beantworten. Ich wiederholte soeben nur, was mir der 225
General Li-ti-huo, der sich in diesem roten Lackkästchen aufhält, sagte. Er weiß alles aus der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Wollet ihn selbst befragen!“ Dabei hob Ssan Tsang den Deckel des Kästchens an, und ein fingerlanger General schlüpfte heraus. „Dieser Wicht soll mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vertraut sein?“ fragte der Prinz spöttisch. Wie verblüfft war er, als der eben noch Geschmähte sich zu voller Größe hochreckte. „Gebt mir einen Bericht über die letzten Ereignisse in meinem Lande!“ bat der Prinz höflich. Bereitwillig schilderte Ssing-tschö die Dürre und das rettende Eingreifen des Einsiedlers Tschuan Dshön. Darauf stellte er dem Erbprinzen zwei Fragen: „Wer regiert das Reich der Schwarzen Hähne seit drei Jahren?“ und: „Was wißt Ihr über das Verschwinden Tschuan Dshöns?“ Der Prinz beschrieb zuerst, wie Tschuan Dshön eines Tages seinem Vater auf einem Spaziergang das Zepter entrissen und im Schutz eines Orkans spurlos verschwunden sei. „Aber wer das Reich regiert?“ fuhr er fort, „wer anders als der, der mich gezeugt hat?“ Da hieß ihn Ssing-tschö alle Anwesenden aus der Tempelhalle hinausschicken. Als das geschehen war, sagte er: ,,In dem Orkan ist in Wirklichkeit der König verschwunden. Tschuan Dshön hat sich des Thrones bemächtigt und gibt sich als Euer Vater aus.“ Zum Beweis der Wahrheit seiner Worte überreichte er dem Prinzen das Jadezepter und berichtete ihm von dem Besuch, den sein Vater in der vergangenen Nacht Ssan Tsang abgestattet hatte. Des Prinzen Schwanken zwischen Glauben und Zweifeln bemerkend, sagte er zum Schluß: „Verharret nicht in der Ungewißheit; sucht die Königin, Eure Mutter, auf und fragt sie, ob die Beziehungen zwischen ihr und ihrem königlichen Gemahl in den letzten drei Jahren sich gleichgeblieben seien.“ Diesem Vorschlag stimmte der Erbprinz zu. Er schwang sich sofort auf sein Pferd und ritt der Hauptstadt zu. 226
38. Der Erbprinz befragt seine Mutter. Die Wahrheit wird offenbar
Ungesehen gelangte der Erbprinz durch eine Geheimtür in die Gemächer seiner Mutter. Er fand sie in bitteren Tränen über einen seltsamen Traum, der sie in der Nacht heimgesucht hatte. Betroffen vernahm sie die Frage, die der Sohn ihr vorlegte: „Ist der König Euch in den letzten drei Jahren ebenso zugetan gewesen wie vordem?“ und gestand voller Wehmut: „Ehedem war mein Lager weich und warm, seit drei Jahren ist es hart und eisigkalt. Als ich den Grund zu erfahren begehrte, hieß es, des Königs alternder Körper sei ohne Verlangen.“ Erschüttert bekannte der Prinz seiner Mutter die Veranlassung zu seiner Frage und reichte ihr das Zepter hin. Tiefbewegt umschloß sie das Abzeichen der königlichen Würde mit beiden Händen und sagte, von neuem in Tränen ausbrechend: „Vernehmet, mein Sohn, den Traum, den ich in der Nacht hatte. Euer Vater trat, völlig durchnäßt, vor mich hin und erzählte mir, er sei eines gewaltsamen Todes gestorben und habe soeben den Bonzen Ssan Tsang gebeten, ihn zu rächen. Seine Worte entsprechen genau den Euren. Eilet, mein Sohn, dem Bonzen Bericht zu erstatten. Wir werden ihm zum Dank für seine Hilfe ein sorgenfreies Alter bereiten.“ Der Prinz verabschiedete sich, trieb sein Pferd zu größter Eile an und langte bei Anbruch der Abenddämmerung wieder im Tempel an. Wortgetreu übermittelte er Ssan Tsang und Ssing-tschö sein Gespräch mit der Mutter. Danach mußte er ohne Verzug mit seinem Gefolge aufbrechen, um nicht durch allzu späte Rückkehr bei dem falschen König Verdacht zu erregen. 227
Seine drückende Sorge, daß er keine Jagdbeute vorzuweisen hatte, wußte Ssing-tschö schnell zu beheben. Er stieg in die Lüfte auf, rief den Geist der Gebirge und den Wächter über den Erdboden, seine zuverlässigen Helfer, herbei und befahl ihnen, längs des Weges, den der Erbprinz benutzen mußte, Hirsche, Füchse, Rehe und Hasen mit durchschnittenen Sehnen als Jagdbeute auszulegen. Das Gefolge sammelte sie ein und frohlockte über das Jagdglück seines Herrn. In dieser Nacht fand Ssing-tschö keinen Schlaf. Er grübelte hin und her, wie er den falschen König seiner Verbrechen überführen könnte. Es bedurfte unwiderlegbarer Beweise dazu. Schließlich kam er auf den Gedanken, die Leiche des wahren Königs aus der Tiefe des Brunnens herauszuholen und sie dem versammelten Hofstaat zur Begründung seiner Anklage vorzuweisen. Es war gerade eine helle Vollmondnacht, das Vorhaben würde sich mit Hilfe des verschlagenen Ba Djä leicht ausführen lassen. Ssing-tschö versicherte sich der Zustimmung des Meisters zu seinem Plan. Darauf zupfte er Ba Djä an den Ohren, um ihn aufzuwecken. Der brummte über die Störung seiner Nachtruhe und war nur unter der Bedingung zum Mitgehen bereit, daß ihm die Schätze des Königs zufallen würden. Auf einer schnellen Wolke glitten die beiden zum Palast, sprangen über die hohe Einzäunung und durcheilten den Garten, bis sie an den bewußten Brunnen gelangten. Ba Djä rückte die schwere Steinplatte beiseite, legte seine Kleider ab und ließ sich an Ssing-tschös verlängerter Eisenstange in die Tiefe hinab. Er glitt immer weiter nach unten, ohne Boden unter den Füßen zu spüren. Schließlich bemerkte er einen Turm. Die Schriftzeichen über dem Eingang besagten: Kristallpalast des Drachenkönigs. Im selben Augenblick entdeckte ihn der wachthabende Flußgeist und erstattete dem Drachenkönig Meldung. „Das kann niemand anderes als der Wächter des Himmlischen Stromes sein“, entgegnete dieser. „In der vergangenen Nacht hat der Geist des ermordeten Herrschers 228
über den Staat der Schwarzen Hähne den Bonzen Ssan Tsang um Hilfe angefleht. Vermutlich hält sich der Bonze mit seinen Schülern in der Nähe auf.“ Dabei trat er vor das Tor seines Palastes und lud den Wächter des Himmlischen Stromes mit lauter Stimme ein, sich ein wenig in seiner Gesellschaft auszuruhen. Hocherfreut, sich bei seinem alten Titel gerufen zu hören, betrat Ba Djä den Palast. „Ich hörte, Marschall des Himmlischen Stromes, daß Ihr den Bonzen Ssan Tsang auf der Suche nach den Heiligen Schriften begleitet. Welche Veranlassung führt Euch also heute zu mir in die Tiefe?“ begann der Drachenkönig die Unterhaltung. Ba Djä steuerte sofort auf sein Ziel los. Ssun Wu-kung habe ihn mit der Suche nach Schätzen in dieser Tiefe beauftragt, der Drachenkönig möge sie ihm aushändigen. Aber dieser wehrte ab. „Ich besitze keine Schätze wie meine reichen Verwandten in den Meeren und Flüssen. Der einzige wertvolle Gegenstand, über den ich verfüge, ist so massig und schwer, daß Ihr ihn kaum fortschaffen könnt. Ich will ihn Euch zeigen.“ Und er führte seinen Gast zu der Leiche des ermordeten Königs. „Ich habe sie mit einer das Fleisch zusammenhaltenden Pille vor dem Zerfall bewahrt“, sagte er erklärend. „Schafft sie zu dem Großen Heiligen; er hat die Mittel, ihr neues Leben einzuhauchen, und wird von der königlichen Familie dafür reich belohnt werden.“ ,,Und was gebt Ihr mir dafür, daß ich die Leiche fortschaffe?’ fragte Ba Djä. „Ich habe nichts, was ich Euch geben könnte“, antwortete der Drachenkönig. Enttäuscht verließ Ba Djä den Palast. Das kalte Wasser umbrauste ihn, und er stieß sich zum Unglück auch noch an dem gefrorenen Leichnam. Schaudernd näherte er sich allmählich der Oberfläche und rief: „Älterer Bruder, reicht mir Eure verlängerte Eisenstange zu!“ „Bringt Ihr den Schatz?“ fragte Ssing-tschö. „Da unten gibt es keinen Schatz. Nur eine Leiche. Die habe ich nicht mitgenommen.“ 229
„Und warum nicht? Diese Leiche ist von unschätzbarem Wert!“ „Worin soll der bestehen? Sie ist hart und angefressen.“ „Gut! Bleibt, wo Ihr seid! Ich eile nach Hause und lege mich schlafen!“ tönte es zurück. „Wartet! Wartet! Ich hole sie Euch!“ schrie Ba Djä voller Angst. Er tauchte noch einmal in die dunkle kalte Tiefe und packte die Leiche mit der einen Hand; mit der anderen zog er sich an der Eisenstange in die Höhe. Oben angelangt, warf er die Last ab und kleidete sich an. Dabei berichtete er Ssing-tschö von seinem Besuch beim Drachenkönig und erklärte ihm, wie dieser die Leiche durch eine Pille vor dem Zerfall bewahrt habe. „Was für ein unerwartetes Glück! Unsere Verdienste um diese irrende Seele steigen dadurch ins Unermeßliche!“ rief Ssing-tschö und beauftragte Ba Djä, die Leiche in den Tempel zu schaffen. Ba Djä weigerte sich. „Erst hole ich statt des verheißenen Schatzes eine Leiche aus dem Wasser, und jetzt soll ich sie auch noch in den Tempel tragen! Womit habe ich solche unwürdige Behandlung verdient?“ Ssing-tschö wußte die passende Antwort. „Ihr verweigert mir den Gehorsam? Gut. Aber macht Euch stark – ich versetze Euch jetzt zwanzig Stockhiebe!“ Ba Djä zog es vor, sich die Leiche abermals aufzuladen, und setzte mit kühnem Schwung über die Palastmauer. Ssing-tschö sprang hinter ihm her und erzeugte einen starken Wind, der sie beide schnell zum Tempel führte. Unterwegs gelobte sich Ba Djä, Rache an dem Affen zu nehmen. Beim Anblick der Leiche brach Ssan Tsang in lautes Weinen aus. Ba Djä fand solche Trauer übertrieben. „Meister“, sagte er, „dieser Mann war doch nicht Euer Vater, daß Ihr so sein Schicksal beklagt!“ „Hört, meine Schüler“, versetzte Ssan Tsang, „wer ein Leben in Frömmigkeit führt, wird von solch jammervollem Anblick tief ergriffen. Wer so spricht wie Ihr, hat kein Herz.“ 230
„Wäre ich ein Lebewesen ohne Herz“, widersprach Ba Djä, „hätte ich diese Leiche nicht aus dem Wasser geholt und hierher geschleppt. Ich tat das in der Hoffnung, daß mein älterer Bruder dem Toten neues Leben einhauchen wird.“ Darauf sagte Ssan Tsang zu Ssing-tschö: „Erweckt diesen Mann vom Tode! Ein Leben zu retten, ist mehr wert als sieben Tempel zu bauen, ja sogar mehr wert als die Suche nach den Heiligen Schriften Buddhas, so viele gute Eigenschaften sie auch erfordern möge!“ Ssing-tschö erklärte es für unmöglich, einem vor drei Jahren Verstorbenen das Leben wiederzugeben, und warf dem Meister vor, daß er immer wieder auf Ba Djäs törichte Reden höre. „Meister!“ rief Ba Djä dazwischen, „er will nur nicht! Sprecht die Goldreifformel, und der Tote wird sich alsbald erheben!“ Ssan Tsang sagte den Spruch her. Ssing-tschö quollen vor Schmerzen die Augen aus den Höhlen.
39. Ssing-tschö beschafft eine Zinnoberpille. Ein vor drei Jahren Verstorbener kehrt ins Leben zurück
Schließlich konnte Ssing-tschö die Qual nicht mehr ertragen. „Meister, erbarmt Euch meiner!“ flehte er. „Ich werde den Großen Höchsten Lau Djün um eine Zinnoberpille angehen!“ Ssan Tsang war mit diesem Vorschlag einverstanden, und Ssing-tschö glitt auf einer Wolke zu seinem Ziel. Lau Djün empfing ihn mit großem Mißtrauen, denn er kannte ihn als Pillendieb, und fragte nach der Veranlassung zu seinem Besuch. Darauf erzählte ihm Ssing-tschö die Geschichte des ermordeten Königs und trug ihm seine Bitte um eine Zinnoberpille vor. Lau Djün gab sie ihm, um den unerwünschten Gast so schnell 231
wie möglich loszuwerden. Ssing-tschö bedankte sich und eilte zum Tempel zurück. Im Beisein von Ssan Tsang und Ba Djä führte er dem Toten die Pille mit ein wenig Wasser durch die zusammengebissenen Zähne in den Mund ein. Nach einer Stunde begann es in den Eingeweiden der Leiche zu rumoren, aber der Atem setzte nicht ein. Da preßte Ssing-tschö seine Lippen auf die des Toten und atmete mit aller Kraft ein paarmal aus. Langsam fing der Tote an, Luft zu holen; schließlich atmete er regelmäßig, stand auf, kniete vor Ssan Tsang nieder und sagte: „O großer Meister! Erst in der vergangenen Nacht erflehte ich Eure Hilfe, und heute bin ich schon ins Leben zurückgekehrt.“ Ssan Tsang half dem König, sich zu erheben, und bat ihn, Platz zu nehmen. Die Mönche, die ihren Gästen den Morgenimbiß brachten, wurden von Entsetzen gepackt, als sie ihres Königs ansichtig wurden. Ssing-tschö erklärte ihnen die Zusammenhänge. „Wir werden ihn in die Hauptstadt zurückführen und dort die Wahrheit bekanntgeben!“ schloß er. Nach dem Frühstück bat Ssing-tschö den König, Mönchsgewandung anzulegen, damit er sich nicht von ihnen, den Pilgern, unterscheide und unerkannt den Palast betreten könne. Der König kam der Aufforderung nach, kniete aber danach abermals vor Ssan Tsang nieder und sagte: „Meister! Ich betrachte mich als Euren Sohn und werde Euch auf der Pilgerfahrt in den Westen begleiten.“ „Das wäre ein unnützes Unterfangen“, widersprach Ssan Tsang. „Wir erachten es als unsere Pflicht, Eure Majestät in die Hauptstadt zurückzuführen und dort in Ihre Rechte einzusetzen. Wenn wir das geschafft und mit dem Betrüger abgerechnet haben, wollen wir unsere Pilgerfahrt fortsetzen. Jeder ist verpflichtet, die ihm vom Schicksal zugewiesene Aufgabe zu erfüllen.“ In einem halben Tag erreichten die fünf Reisenden die Hauptstadt und begaben sich ohne Verzug zum königlichen Palast. Der falsche König empfing sie und ließ sich ihre Einführungsbriefe 232
aushändigen. Er beanstandete, daß ihm nur deren vier vorgelegt wurden. „Welche Bewandtnis hat es mit dem fünften von Euch?“ fragte er schroff. Der wahre König erschrak und begann heftig zu zittern; aber Ssing-tschö sagte schnell: „Dieser Pilger ist leider völlig taubstumm und kann seine Sache nicht selbst vertreten. Eure Majestät wolle erlauben, daß ich für ihn spreche, denn seine Lebensumstände sind mir genau bekannt.“ Der König war damit einverstanden, ermahnte Ssing-tschö aber, zur Vermeidung schwerer Strafe nur die lautere Wahrheit zu sagen. In halbsingendem Ton trug Ssing-tschö vor, was er zu sagen vorhatte: „Jedermann im Reich der Schwarzen Hähne soll erfahren, daß diesen zum Nichthören und Nichtsprechen verurteilten Mann Tschuan Dshön hinterrücks in den Brunnen gestürzt und sich seine Gestalt und Würde angemaßt hat. Drei Jahre lang vorenthielt das Wasser dem Volk seinen König, eine Zinnoberpille rief ihn ins Leben zurück. Wir setzen ihn wieder als Herrscher ein und künden die Wahrheit. Der Betrüger wird fallen durch meine Hand.“ Der falsche König hatte mit wachsendem Entsetzen zugehört. Bei den letzten Worten entriß er dem Hauptmann der Palastwache das Schwert und war im selben Augenblick spurlos verschwunden. Ssing-tschö sprang auf eine Wolke und glitt nach allen Seiten durch den Himmelsraum. Schließlich erspähte er den Fliehenden in nordwestlicher Richtung und zwang ihn, den Zweikampf aufzunehmen. Aber ehe er sich dessen versah, war 233
der Gegner unter ihm weggeschlüpft und flog bereits wieder in den Palast. Ssing-tschö holte ihn ein und wollte gerade seine Eisenstange auf ihn niedersausen lassen, als Ssan Tsangs Stimme ihn zurückhielt: „O mein Schüler, warum wollt Ihr Euren Meister erschlagen?“ Verblüfft wandte sich Ssing-tschö gegen den wahren SsanTsang: die gleiche vorwurfsvolle Frage tönte ihm entgegen. Im selben Augenblick packte der falsche Ssan Tsang den wahren und wirbelte mit ihm durch den Saal. Die beiden Ssan Tsang waren nicht mehr zu unterscheiden. Der schadenfrohe Ba Djä hielt sich die Seiten vor Lachen. Aber er wußte auch einen Ausweg. Wenn Ssing-tschö gewillt wäre, die Schmerzen auf sich zu nehmen, würden er und Scha Ssöng je einen Ssan Tsang packen und jeden die Goldreifformel hersagen lassen. Wessen Formel ohne Wirkung bliebe, der wäre der falsche Ssan Tsang. Ssing-tschö war mit dem Vorschlag einverstanden, und es kam so, daß der von Ba Dj ä festgehaltene Ssan Tsang keinen Erfolg mit seinem Spruch hatte. Schon holte Ba Djä mit seiner neunzinkigen Forke aus – da riß sich der falsche Ssan Tsang los und schwang sich hoch in die Luft. Ba Djä und Scha Ssöng setzten ihm nach. Ssing-tschö schwang sich schnell entschlossen weit über den Gegner hinaus in die Höhe, um von oben her auf ihn herunterzustoßen. Gerade wollte er den todbringenden Streich führen – da sagte eine ihm wohlbekannte Stimme: „Ssun Wukung, haltet ein! Ich werde Euch von diesem Ungeheuer befreien!’’ Ssing-tschö wandte den Kopf: der Bodhisattva Wön Schu stand vor ihm und wies ihm in dem ,Spiegel zur Enthüllung der bösen Geister’ das Bild eines Löwen mit grünem Fell. „Das ist ja der Löwe, der Euch als Reittier dient! Warum ist er nicht bei Euch?“ rief Ssing-tschö verwundert. „Er hat mich auf Buddhas Befehl verlassen“, entgegnete Wön Schu. „Laßt Euch erzählen, was geschehen ist. In der Zeit vor den letzten drei Jahren führte der König des Staates der Schwarzen Hähne ein Leben der Frömmigkeit und gab viele Almosen. Zur Belohnung dafür woll234
te Buddha ihm einen Platz an seiner Seite einräumen und schickte mich in der Gestalt eines Bonzen zu ihm, um ihm die Nachricht zu überbringen. Aber der König wollte mich nicht anhören. Er ließ mich in Fesseln schlagen und ins Wasser werfen; drei Tage mußte ich darin ausharren. Zur Strafe dafür wurde er selbst auf Buddhas Befehl von meinem grünen Löwen in einen Brunnen gestürzt und mußte drei Jahre in der Tiefe bleiben. Der Löwe nahm seine Gestalt an und regierte statt seiner. Soeben hat der König seine Strafe abgebüßt. Ihr wißt selbst, welchen Anteil Ihr an seiner Rückkehr ins Leben habt.“ „So war dieses Ungeheuer nur ein Werkzeug der Strafe“, meinte Ssing-tschö. „Das mag gut sein. Aber die Königin hat schwer unter ihm leiden müssen.“ „Keineswegs“, versetzte WönSchu, „der Löwe ist kastriert.“ Er wandte sich dem Ungeheuer zu und schrie es heftig an: „Verwandle dich zurück!“ Sofort stand der Löwe im grünen Fell da. Wön Schu bestieg ihn und ritt zum Wu Tai Schan, zum Berg der Fünf Terrassen, zurück. Ba Djä und Scha Ssöng hatten, neben Ssing-tschö stehend, alles mitgehört und miterlebt.
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DER ROTE KNABE ENTFÜHRT SSAN TSANG IN EINEM SANDSTURM
40. Das Ungeheuer Hung-Hai-örl verwandelt sich. Ssan Tsang wird entführt
Ssing-tschö, Ba Djä und Scha Ssöng kehrten in den Palast zurück und berichteten Ssan Tsang und der königlichen Familie ihr Erlebnis mit Wön Schu und dessen grünem Löwen. Danach gab der König ein festliches Abschiedsessen, und die Pilger schickten sich an, ihre Reise fortzusetzen. Der König gab ihnen mit der Königin, dem Erbprinzen und hundert Mandarinen das Geleit bis zu den Stadttoren. Bis weit in den neunten Monat des Jahres hinein waren die Reisenden Tag für Tag unterwegs. Der Herbst ging zu Ende, das Nahen des Winters machte sich bemerkbar. Da versetzte wieder einmal ein am Horizont jäh ansteigendes Gebirge Ssan Tsang in Unruhe. Er winkte Ssing-tschö zu sich heran und sagte: „In diesem Gebirge haben sicher berüchtigte Ungeheuer ihre Schlupfwinkel. Bietet die größte Wachsamkeit auf.“ Lächelnd wies Ssing-tschö die Befürchtungen des Meisters zurück, er habe ihn ja zum Schutz neben sich. Aber als Ssan Tsang das Pferd antrieb, um die erste Steigung zu nehmen, drang unerwartet aus einer Felsenhöhle ein feuerrotes Leuchten heraus und tauchte Himmel und Wolken in Purpur. Blitzschnell hob Ssing-tschö den Meister vom Pferd und befahl Ba Djä und Scha Ssöng, ihre Waffen bereitzuhalten, es nähere sich ihnen ein Ungeheuer. Dieses Ungeheuer war Hung Hai-örl, der Rote Knabe, der in einer Höhle auf dem Huojen-schan, dem Flammenberg, residier237
te. Er beobachtete von der Höhe einer Wolke den herannahenden Pilgertrupp. ,Immer wieder ist die Rede von Djin Tschan, der in der Person des Bonzen Ssan Tsang wiedergeboren und zur Zeit nach den Ländern des Westens unterwegs ist’, überlegte er. ,Der Genuß seines Fleisches würde mir die Langlebigkeit verschaffen. Ohne Zweifel ist der hellhäutige und wohlgenährte Bonze dieser Ssan Tsang! Aber seine Begleiter machen einen gefährlichen Eindruck; ich muß sehr bedachtsam vorgehen.’ Er sprang auf die Erde hinab und verwandelte sich in einen siebenjährigen Knaben, der, drei Li vor den Pilgern, gefesselt von einem Baum am Wegrand herunterhängend, jämmerlich weinte und um Hilfe barmte. Das Leuchten verschwand, die purpurne Färbung von Himmel und Wolken verblich. In der Meinung, daß das Ungeheuer eine andere Richtung eingeschlagen habe, ließ Ssing-tschö den Meister wieder aufsitzen und gab das Zeichen zum Aufbruch. „Dju jän! Dju jän! – Helft mir! Helft mir!“ begann eine Stimme zu rufen. Sie klang immer dringlicher. „Ein Mensch ist in Not! Wir müssen ihm beistehen!“ drängte Ssan Tsang. „Hört auf nichts, was um Euch herum vorgeht!“ mahnte Ssing-tschö, „denkt an nichts anderes als an den Weg, den Ihr zurücklegen wollt!“ Aber das anhaltende Rufen begann ihn mit Sorge zu erfüllen. Mittels einer Zauberformel hob er Meister und Schüler über den Berg hinüber auf den jenseitigen Abhang. Der diesseits des Berges zurückgebliebene Hung Hai-örl wunderte sich, daß sein Rufen die Pilger nicht in die Falle lockte. Er erhob sich in die Lüfte und hielt Umschau. Ssing-tschö wurde ihn gewahr, hob den Meister wiederum vom Pferd und befahl Ba Djä und Scha Ssöng abermals, ihre Waffen bereitzuhalten, es nähere sich ihnen ein anderes Ungeheuer. Hung Hai-örl beobachtete Ssing-tschös Vorsichtsmaßnahmen und war über seine Umsicht erstaunt. „Ich werde dieses Ssan Tsang nicht habhaft werden können’, ging es ihm durch den Sinn, ,bevor ich seine Beglei238
ter unschädlich gemacht habe.’ Er verwandelte sich wieder in das jammernde Kind, diesmal nur ein Li von den Pilgern entfernt. Als Ssing-tschö das Ungeheuer nirgends mehr sah, ließ er den Meister von neuem aufsitzen. Ssan Tsang riß die Geduld. „Affe, was erdreistet Ihr Euch, mich zum Narren zu halten!“ schrie er Ssing-tschö an. „Zweimal hintereinander habt Ihr mich jetzt abund aufsitzen lassen! Ich werde mir noch Genick und Arme brechen!“ Ssing-tschö versuchte, ihn zu beschwichtigen. „Meister, Eure gebrochenen Glieder würde ich heilen können. Aber gegen Eure Mutlosigkeit kann ich nicht an.“ Doch er fand kein Gehör. Ssan Tsang war bereits im Begriff, die verhängnisvolle Goldreifformel auszusprechen; im letzten Augenblick griff Scha Ssöng vermittelnd ein, und der kleine Zug setzte sich wieder in Bewegung. Da ertönten von neuem die kläglichen Hilferufe, diesmal ganz aus der Nähe. Ssan Tsang hielt das Pferd an: unmittelbar vor ihm baumelte von einem Ast ein an Händen und Füßen gefesselter Knabe herunter. Er ritt dicht an ihn heran und fragte ihn, wer er sei und warum man ihn gefesselt habe. Unter Tränen erzählte der Knabe: „Mein Vater wohnte auf dem Westabhang dieses Berges. Er war sehr wohlhabend und besaß viele Äcker. Alle Bedürftigen bekamen von ihm Geld geliehen. Undankbare Schuldner stifteten eine Räuberbande an, ihn zu ermorden. Unser Haus wurde ausgeraubt, meine Mutter fortgeschleppt und ich an diesem Baum aufgehängt. Drei Tage und Nächte lang rufe ich schon um Hilfe.“ Ssan Tsang befahl Ba Djä, den Knaben loszubinden. Ssingtschö wollte ihn daran hindern. „Ich durchschaue dich!“ schrie er den Knaben an. „In deiner Gestalt verbirgt sich der böse Geist dieses Berges!“ Aber er konnte sich gegen den Meister und Ba Djä nicht durchsetzen und mußte sich mißmutig Ssan Tsangs Anordnung fügen, sich den Knaben auf die Schulter zu laden. Er 239
hob ihn hoch, der Junge wog keine vier Djin. „Du bist leicht wie Papier“, fuhr er ihn abermals an, „das beweist mir, daß du ein Ungeheuer bist.“ Der Junge blieb die Antwort nicht schuldig. „Ich bin erst sieben Jahre, darum sind meine Knochen noch leicht!“ versetzte er. Innerlich vor Wut kochend, trabte Ssingtschö hinter seinem Herrn her, entschlossen, das Ungeheuer bei der ersten passenden Gelegenheit abzuwerfen und umzubringen. Mit einem Mal hatte er das Gefühl, von einer tausend Djin schweren Last niedergedrückt zu werden. „Höre, Bürschlein“, sagte er, „wendest du etwa gegen einen Greis das Verfahren des Körperschwere-Erzeugens an?“ Die Frage bewies Hung Hai-örl, daß er durchschaut war. Er schlüpfte unbemerkt aus der Leihgestalt heraus und entwich in die Luft. Ssing-tschö aber warf den unerträglich schweren Körper zu Boden, trampelte auf ihm herum, riß ihn kurz und klein und warf die Stücke, eines nach dem anderen, in weitem Bogen fort. Hung Hai-örl sah von oben her diesem Treiben zu. „Ich kann mein Vorhaben nur mit größter Geschicklichkeit und Schnelligkeit verwirklichen!“ sagte er vor sich hin und erzeugte einen heftigen Sandsturm. Ba Djä und Scha Ssöng schlossen die Augen und hielten den Kopf gesenkt, um sich zu schützen. Ssing-tschö dagegen dachte sofort an die Gefahr für den Meister und eilte zu ihm. Er kam zu spät: Hung hatte ihn bereits gepackt und in seine Höhle geschleppt. Der Sturm ließ schließlich nach, und die drei Schüler schauten sich suchend nach ihrem Meister um. Er war spurlos verschwunden. „So gibt es für uns nur eine Lösung, meine jüngeren Brüder“, nahm Ssing-tschö das Wort, „jeder kehre in seine Heimat zurück.“ Ba Djä nickte zustimmend. Scha Ssöng dagegen war verblüfft und widersprach mit großer Entschiedenheit. „ÄltererBruder! So zu handeln, würde einen schweren Fehler bedeuten! Die Göttin Guanjin selbst hat uns drei auf den Weg des Lebens der Vervollkommnung gewiesen und uns befohlen, den Meister in die Länder des Westens zu begleiten. Geht jeder 240
von uns in seine Heimat zurück, verstoßen wir gegen die Gebote der Göttin, lassen unseren Meister im Stich und brechen eine große Aufgabe unvollendet ab.“ „Deine Worte sind wohlüberlegt und klug, jüngerer Bruder“, entgegnete Ssing-tschö. „Leider vernimmt sie der Meister nicht. Ihm ging es nur darum, die Bitten zu erhören; der Überlegung gewährte er keinen Raum in seinen Gedanken. Er befahl uns, Ungeheuer in Freiheit zu setzen, und zürnte uns, wenn wir zögerten. Nie hörte er auf meine Ratschläge. Eben noch blieb er dabei, daß das gefährliche Ungeheuer ein Mensch sei. Nur so ist es gekommen, daß er im Sandsturm entführt werden konnte. Das alles entmutigte mich, und darum wollte ich ihn seinem Schicksal überlassen. Aber Eure Treue und Standhaftigkeit, jüngerer Bruder, haben mich umgestimmt! Wir wollen unseren Meister suchen und ihn befreien!“ Die drei streiften die Gegend in einem Umkreis von sechzig Li ergebnislos ab. Da schwang sich Ssing-tschö auf den Gipfel des Flammenberges, verdreifachte sich und begann, mit drei Eisenstangen den Berg unter lautem Getöse zu zertrümmern. Erschrocken kamen die Berg- und Bodengeister herbeigelaufen; Ssing-tschö war von dem erbärmlichen Anblick, den sie boten, betroffen. Er fragte sie nach den Ungeheuern des Berges, und sie berichteten ihm, daß es nur eines gebe. „Wären ihrer zwei, hätten wir alle längst unser Leben eingebüßt!“ sagten sie klagend. Dieses eine Ungeheuer sei der Große Junge König, der Sohn des Nju Mo-wang, des Geisterkönigs der Büffel und der Lo Tscha, die den Beinamen ‚Prinzessin mit dem Eisenfächer’ führe, nenne sich Hung Hai-örl und wohne in einer Höhle im Tal des reißenden Bergstroms der Verdorrten Fichten. Sie beschrieben Ssing-tschö genau den Weg dorthin und flehten ihn an, ihren furchtbaren Unterdrücker zu vernichten. Ssing-tschö hieß die Geister in ihre Schlupfwinkel zurückkehren und nahm seine eigene Gestalt wieder an. Danach beru241
higte er seine beiden Gefährten: dieses Ungeheuer bedeute keine Gefahr für sie, denn er habe mit dessen Vater vor fünfhundert Jahren den Brudereid ausgetauscht, und das Ungeheuer selbst betrachte ihn seitdem als seinen Onkel. Ba Djä spottete über diese Erklärung. „Älterer Bruder, solltet Ihr das alte Sprichwort nicht kennen: ‚Sieht man sich nicht zwei Jahr oder drei, ist’s mit der Verwandtschaft vorbei!’ Und nun gar fünfhundert Jahre! Meint Ihr im Ernst, das Ungeheuer wäre gewillt, Euch zu erkennen, wenn Ihr bei ihm vorsprecht?“ Nach einem Marsch von einhundertzehn Li kamen die drei in einen dichten Fichtenwald. Scha Ssöng blieb an einer geschützten Stelle mit dem Gepäck zurück. Ssing-tschö und Ba Djä gingen ein Stück weiter bis zu dem Bergstrom, überschritten eine Brücke und gelangten auf den Vorplatz zu der Höhle des Ungeheuers. Einige Wächter übten sich im Lanzen- und Säbelfechten. Mit gewaltiger Stimme rief Ssing-tschö ihnen zu: „Bestellt Eurem Herrn, er solle ohne Verzug meinen Meister freilassen! Ich würde ihm sonst seinen Schlupfwinkel zerstören!“
41. Ssing-tschö gerät in ein nicht löschbares Feuer. Ba Djä wird in einen Sack eingefangen
Hung Hai-örl lachte schallend über die Bestellung, die Ssingtschö ihm ausrichten ließ. Mit einer langen Lanze in der Hand, an deren Spitze eine Flamme loderte, fuhr er auf einem Kampfwagen vor das Höhlentor. Er hatte keine Rüstung angelegt. Sein Gesicht war mit einer dicken Puderschicht bedeckt, die Lippen zinnoberrot geschminkt. Das Haar glänzte blauschwarz, und die Augenbrauen glichen schmalen Mondsicheln. „Wer maßte sich an, mich rufen zu lassen?“ fragte er von der Höhe seines Ge242
fährts herunter. „Ich, Euer Onkel väterlicherseits“, antwortete Ssing-tschö. „Gebt ohne Verzug meinen Meister frei! Sonst, mein Neffe, wird Euch Euer Vater zur Rede stellen!“ „Alter Affe, wir sind nicht miteinander verwandt, und es kommt Euch nicht zu, mich als Euren Neffen anzusprechen!“ Und schon drang Hung Hai-örl mit seiner Lanze auf Ssing-tschö ein. Der fing den Stoß geschickt auf. „Armseliges Ungeheuer!“ donnerte er los, „seid versichert, daß es in diesem Kampf nur einen Überlebenden geben wird.“ Damit stieg er in die Luft auf. Hung glitt ihm nach. Aber er erkannte sofort die Überlegenheit des Gegners, und als ihn auch noch Ba Djä mit seiner neunzinkigen Forke angriff, flüchtete er auf die Erde zurück. Im Eingang zu seiner Höhle blieb er stehen, schlug sich kräftig auf die Nase und murmelte eine Zauberformel. Sofort quoll ihm dichter schwarzer Rauch aus den Nasenlöchern; eine grellrote Flamme schoß aus dem Mund hervor und stieg, sich nach allen Seiten ausbreitend, bis zum Himmel empor. Ba Djä duckte sich und brachte sich mit weiten Sprüngen in Sicherheit. Ssing-tschö sagte den Feuerschutzspruch vor sich hin und rannte durch die Glut auf den Gegner zu. Der blies ihm eine Feuergarbe ins Gesicht und zwang ihn dadurch, bis über den Fluß zurückzuspringen. Siegesgewiß ließ Hung Hai-örl das Feuermeer verlöschen, kehrte in die Höhle zurück und befahl, die Tore zu versperren. Ssing-tschö suchte Ba Djä und fand ihn schließlich in einem sicheren Versteck im Gespräch mit Scha Ssöng. „Feiges Schwein! Nimmst vor dem kleinsten Feuer Reißaus!“ schrie er ihn aufgebracht an. „Du bist reinweg zu nichts brauchbar!“ Ba Djä lächelte überlegen. „Älterer Bruder! Bei den Alten heißt es: ,Der vorsichtige Vogel geht der Falle und dem Netz aus dem Wege!’ Der umsichtige Mensch erkennt die Gefahr und geht ihr rechtzeitig aus dem Wege! Warum seid Ihr mir nicht gefolgt? Tadelt mich nicht, sondern gebt zu, daß Ihr es an Scharfsinn fehlen ließet!“ 243
Scha Ssöng griff vermittelnd ein. „Nach Eurer Unterhaltung zu urteilen, hat das Ungeheuer keine andere Waffe als das Feuer. Sucht die geeignete Waffe dagegen. Das ist nützlicher als miteinander zu streiten.“ „Das ist in der Tat richtig!“ gab Ssing-tschö zu. „Ich werde sofort den Drachenkönig des Ostmeeres um Hilfe bitten!“ Und schon schwebte er auf einer Wolke davon. Er fand eine sehr freundliche Aufnahme bei dem König, berichtete ihm die Entführung des Meisters auf den Berg der Klagen, schilderte ihm die Feuersbrunst im Kampf mit dem Ungeheuer und trug seine Bitte vor, ihm mit einem Regenschauer beizustehen. Der Drachenkönig war gern bereit, mit seinen drei jüngeren Brüdern bei der Rettung Ssan Tsangs behilflich zu sein. Zu viert folgten sie Ssingtschö, der eiligst den Rückweg zum Bergstrom der Verdorrten Fichten antrat. Am Ufer angelangt, verabredete er mit ihnen ein Zeichen für den Beginn des Regens. Darauf setzte er mit einem einzigen Sprung über den Bergstrom und trat, mit drohender Gebärde die Eisenstange schwingend, vor das Höhlentor. Von den Wächtern benachrichtigt, trat Hung Hai-örl heraus und fragte spöttisch: „Ssun Ssing-tschö, warum kommt Ihr hierher zurück?“ „Um Euch aufzufordern, meinen Herrn sofort freizugeben!’ antwortete Ssing-tschö. Das Ungeheuer lachte schallend. „Euren Herrn halte ich in guter Hut, denn ich habe die Absicht, ihn zu verspeisen!“ Ssing-tschö holte mit seiner Eisenstange gegen das Ungeheuer aus; der Kampf entbrannte von neuem. Beim zwanzigsten Waffengang flüchtete Hung Hai-örl und wandte zum zweiten Mal seine List an. Die Feuersbrunst breitete sich in rasender Eile aus. Ssing-tschö gab das verabredete Zeichen; die Drachenkönige ließen einen wahren Platzregen los. Weder sie noch Ssing-tschö wußten, daß diese Art Feuer mit Wasser nicht zu löschen war, vielmehr von Wasser und Öl immer mehr angefacht wurde. Die sengende Hitze des Feuers machte Ssing-tschö nichts aus, aber 244
der beißende Rauch drohte ihn zu ersticken. Er stürzte sich in den Fluß, um sich abzukühlen. Aber das kalte Wasser nahm ihm den Atem, und er verlor das Bewußtsein. Erschrocken stellten die Drachenkönige den Regen ein und riefen nach Ba Djä und Scha Ssöng. Die kamen eilends herbei. Scha Ssöng sprang in den Fluß und schaffte Ssing-tschö an Land; Ba Djä rieb ihm Gesicht, Hände und Leib. Langsam erwachte Ssing-tschö aus der Betäubung. „O mein Meister!“ klagte er. Scha Ssöng traten Tränen der Rührung in die Augen. „Niemals verläßt ihn der Gedanke an den Herrn“, sagte er, „und kaum kommt er wieder zu sich, gilt ihm sein erstes Wort.“ Sich mühsam aufrichtend, dankte Ssingtschö den Drachenkönigen für ihre Hilfsbereitschaft. Darauf befahl er Ba Djä, statt seiner die Göttin Guanjin aufzusuchen und ihre Hilfe zu erbitten. Hung Hai-örl beobachtete von seiner Höhle aus, daß Ba Djä in die Lüfte stieg, und erriet aus der Richtung, die er einschlug, sofort das Ziel seiner Reise. Er befahl den Wächtern, einen gut verschnürten Ledersack bereitzuhalten, um Ba Djä darin einzufangen. Er selbst nahm die Gestalt der Guanjin an und erwartete Ba Djä am Fuß des Tempelberges. Ba Djä begrüßte die falsche Göttin nach den vorgeschriebenen Riten, berichtete ihr die Gefangennahme Ssan Tsangs und bat sie, Ssing-tschö bei der Befreiung des Meisters zu helfen. „Hung Hai-örl gehört zu meinen treuesten Freunden“, versetzte die falsche Göttin. „Ich werde ein gutes Wort bei ihm einlegen, daß er den Bonzen freigeben möge. Gehen wir zusammen zu ihm.“ Nichtsahnend flog Ba Djä mit dem Ungeheuer zurück. Vor der Höhle stülpten ihm die Wächter unversehens den Sack über, banden ihn fest zu und hängten ihn an einen Dachbalken. Ssing-tschö wartete, neben Scha Ssöng sitzend, voller Unruhe auf Ba DJ äs Rückkehr. Plötzlich trug der Wind den beiden einen fürchterlichen Gestank zu, das untrügliche Vorzeichen böser Geschehnisse. So schwach Ssing-tschö sich auch noch fühlte, griff er 245
doch sofort nach seiner Eisenstange, verwandelte sich in eine grüne Fliege und ließ sich auf der Schwelle des Höhlentores nieder. Die klagende Stimme Ba Djäs drang an sein Ohr. Er flog so lange kreuz und quer, bis er den Sack entdeckte, aus dem sie heraustönte, und ließ sich auf dem Sack nieder, um nachzudenken, wie er den Gefährten befreien könne. Mitten in seiner Überlegung vernahm er die Stimme Hung Hai-örls, der seinen sechs Tapferen Generälen befahl, seinem Vater, dem Alten Großen König, eine Einladung zu überbringen: der Sohn wolle mit dem Vater zusammen den Bonzen Ssan Tsang verspeisen, sie würden durch den Genuß dieses Fleisches die Langlebigkeit erhalten. Die Generäle machten sich sofort auf den Weg. Ssing-tschö flog als grüne Fliege neben ihnen her. 42. Ssing-tschö erfleht Guanjins Hilfe. Die Göttin verfährt barmherzig mit Hung Hai-örl
Unterwegs flog er vor die Generäle, verwandelte sich in die Gestalt des Alten Großen Königs, schuf sich aus einigen ausgerissenen Haaren ein Gefolge und trat, wie auf der Jagd begriffen, den Generälen überraschend in den Weg. Sie richteten ihm die Einladung aus; er dankte und schloß sich ihnen sogleich an. Zwei Generäle, Feuersbrunst und Windeseile, ritten voraus, um ihrem Herrn die Ankunft des Alten Großen Königs zu melden. Hung Hai-örl ließ alle Bewohner der Höhle zum Empfang antreten; die Trommeln wurden gerührt und die Banner wehten, als der falsche königliche Vater langsamen Schrittes über den Vorplatz auf die Höhle zuschritt, eintrat und sich auf dem Ehrensitz niederließ. „Aus welcher dringenden Veranlassung hast du mich so eilig hergebeten, mein Sohn?“ fragte er. 246
Der Sohn antwortete: „Mein Vater! Es ist mir gelungen, den Bonzen Ssan Tsang, der bereits zehn Leben der Vervollkommnung geführt hat, in meine Gewalt zu bekommen. Wer sein Fleisch verzehrt, lebt tausend Jahre. Ich will den Genuß mit Euch, o mein Vater, teilen, und darum habe ich Euch hergebeten.“ „Hat dieser Bonze Ssan Tsang nicht den Ssun Wu-kung zum Schüler?“ fragte der falsche König weiter. Auf des Sohnes bejahende Antwort machte er eine ablehnende Handbewegung. „Laß dich nicht mit diesem Ssun Wu-kung ein! Du hast keine Vorstellung von dessen Kräften. Vor fünfhundert Jahren hat er den ganzen Himmel in Unordnung gebracht; hunderttausend Kämpfer der himmlischen Heeresmacht konnten ihn nicht bändigen. Er wird dir und allen Höhlenbewohnern die Knochen zerschlagen, und ich, dein alter Vater, werde deiner Hilfe entbehren müssen.“ Die Einwände des Sohnes, daß er den Affen bereits zweimal zur Flucht gezwungen und dessen Boten Ba Djä, der die Göttin Guanjin um Hilfe anflehen sollte, abgefangen und in einem Sack am Dachgebälk aufgehängt habe, machten auf den Vater keinen Eindruck. Ssing-tschö verfüge über zweiundsiebzig Fähigkeiten der Verwandlung und beherrsche sie in vollendetem Maße. „Er könnte es fertigbringen, Euch in der Gestalt einer grünen Fliege oder einer Biene, ja sogar in meiner eigenen Gestalt zu überlisten“, schloß er seine Warnung. Hung Hai-örl ließ sich nicht überzeugen. Selbst eine Haut aus Kupfer und Knochen aus Eisen würden ihn nicht schrecken. Der falsche Vater lenkte ein. „Wenn du auf der Einladung bestehst, so laß uns den Schmaus auf morgen verschieben. Mit Rücksicht auf mein hohes Alter halte ich auf den Rat deiner Mutter allmonatlich vier Fastentage inne, und heute ist gerade einer fällig.“ Hung Hai-örl stutzte. Über tausend Jahre war der Vater alt, da sollte er jetzt mit Fasten angefangen haben? Und gerade an diesem Tage sollte ein Tag der Enthaltsamkeit sein? Er ging in den 247
rückwärtigen Raum, wo die Generäle seiner harrten, und ließ sich von ihnen berichten, wo sie dem Großen Alten König die Einladung ausgerichtet hätten. Also nicht in des Vaters Höhle! Er erklärte ihnen, was ihn mißtrauisch mache, befahl ihnen, sich kampfbereit zu halten, und kehrte in die Haupthalle zurück. Vor dem Vater niederkniend, sagte er: „Mein königlicher Vater! Euer Besuch gibt mir Gelegenheit, eine Frage an Euch zu richten. Der Große Himmlische Meister Tschang Dauling hat sich erboten, mir mein Horoskop zu stellen. Dazu muß ich ihm Tag und Stunde meiner Geburt angeben. Habt die Güte, mich beides wissen zu lassen.“ Diese hinterhältige Frage brachte Ssing-tschö in arge Verlegenheit. „Erhebe dich, mein Sohn“, sagte er lächelnd. „Bedenke, wie alt ich bin! Mein Gedächtnis versagt, und ich kann deine Frage nicht zuverlässig beantworten. Aber gleich bei meiner Heimkehr werde ich mich bei deiner Mutter erkundigen und dir danach sofort Bescheid zukommen lassen.“ Hung Hai-örl versetzte: „Wie oft habt Ihr früher meiner Geburt gedacht und mir ein Leben, so lang wie Himmel und Erde bestehen würden, gewünscht. Diese Erinnerung sollte Euch gänzlich entfallen sein? So seid Ihr doch ein Betrüger!“ schloß er schreiend und rief damit die Generäle herbei. Sie umzingelten den angeblichen König, und Ssing-tschö hatte Mühe, sie sich mit seiner Eisenstange vom Leibe zu halten. „Warum verletzest du so die Pflichten der Kindespietät?“ sagte er zu Hung Hai-örl. Unschlüssig senkte der sein Schwert, im selben Augenblick schwebte Ssing-tschö in einer Strahlenkrone aus der Höhle hinaus und stieg hoch in die Luft. Mit einem einzigen Sprung landete er, über den Bergstrom hinweg, bei Scha Ssöng und berichtete diesem unter schallendem Gelächter seine letzten Abenteuer. Dann aber kam bei beiden wieder die Sorge um den Meister auf. Sich der schnellsten Art des Fliegens bedienend, eilte Ssing-tschö zur Göttin Guanjin und 248
berichtete ihr alles, was mit Hung Hai-örl zusammenhing. Dessen Unverschämtheit, ihre Gestalt anzunehmen, versetzte die Göttin in höchste Empörung. Sie begab sich in größter Eile an das Meeresgestade, wo sie von der Tochter des Drachenkönigs ein Lotosblatt abpflücken und auf die Wasserfläche legen ließ. Darauf befahl sie Ssun Ssing-tschö, auf das Blatt zu springen; im selben Augenblick wurde daraus eine feste Barke, die Ssingtschö sicher an das jenseitige Ufer trug. Die Göttin selbst nahm das Fläschchen mit dem köstlichen, bis auf den Grund klaren Ganluschi an sich und glitt, von Mo Tscha begleitet, auf einem Thron aus sechsunddreißig Lotosblättern zum Berg der Klagen. Dort angekommen, rief sie die Geister der Gebirge und die Wächter über den Erdboden zusammen und trug ihnen auf, von einer dreihundert Li großen Fläche alle Vögel und Vierfüßer zu vertreiben. Als das geschehen war, befeuchtete sie eine Weidengerte mit dem köstlichen Tau und schrieb damit in Ssing-tschös rechte Handfläche das Zeichen für ,Mi – Verzauberung’. Danach befahl sie ihm, Hung Hai-örl zum Kampf herauszufordern und, scheinbar fliehend, ihn ihr zuzuführen. Ssing-tschö näherte sich dem Eingang der Höhle. Hung Haiörl ließ sofort das Tor zusperren. Wutentbrannt drückte Ssingtschö einen Torflügel ein; ebenso wutentbrannt stürzte Hung Hai-örl, die Lanze kampfbereit schwingend, ihm entgegen. Es entspann sich ein hitziger Zweikampf. Nach dem fünften Waffengang wandte sich Ssing-tschö scheinbar zur Flucht. „Macht Euch nur davon! Ich werde mich jetzt in Muße an des Bonzen Ssan Tsang Fleisch laben!“ rief Hung hinter ihm her. „O Ihr Himmlischen! Laßt Euren Blicken einen solchen Mangel an Frömmigkeit nicht entgehen!“ schallte ihm als Antwort entgegen. Ssing-tschö hatte kehrtgemacht, der Kampf begann von neuem. Abermals wandte sich Ssing-tschö scheinbar zur Flucht; sich umwendend, hielt er die rechte Hand einen Augenblick ausgestreckt hoch. Wie gebannt setzte Hung ihm nach und sah 249
sich unvermutet der Göttin Guanjin gegenüber. „Ai-ja! Hat Euch also der Affe tatsächlich zu seiner Unterstützung herbeigerufen!“ schrie er sie an. Als keine Antwort erfolgte, warf er die Lanze nach ihr. Die Göttin erhob sich von ihrem Thron und stieg, von Mo Tscha und Ssing-tschö begleitet, auf einer Wolke in die Lüfte. Mit höhnischem Lachen rief Hung Hai-örl hinter der Göttin her: „Wahrlich, das Glück ist Ssing-tschö nicht hold. Die vier Drachenkönige konnten mein Feuer nicht löschen! Die Göttin Guanjin flieht beim bloßen Anblick meiner Lanze! Gut! Ich werde mir den Thron, den sie im Stich gelassen hat, aneignen!“ Und schon saß er mit untergeschlagenen Beinen und über dem Bauch zusammengelegten Händen auf dem Thron aus sechsunddreißig Lotosblättern und äffte Haltung und Gebärden der Göttin nach. Aus der Höhe herunter berührte Guanjin den Thron mit einer Weidengerte. Er verschwand. Hung Hai-örl saß auf sechsunddreißig scharfgeschliffenen Schwertern, die ihn tief ins Fleisch schnitten und stark blutende Wunden verursachten. Dazu preßten ihm fünf Goldreifen den Schädel, die Hand- und die Fußgelenke zusammen. Er brüllte vor Schmerzen. „Habt Erbarmen! Ich gelobe, fortan ein tugendhaftes Leben zu führen!“ flehte er. Es verging aber eine geraume Weile, bis die Göttin sich seiner erbarmte und ihn von den Qualen befreite. Sie hatte die Hinterhältigkeit seines Charakters erkannt und nahm ihn mit sich auf die Insel Putu. Ssing-tschö kehrte inzwischen in das Tal der Verdorrten Fichten zurück. Unterwegs stieß er auf Scha Ssöng, der mit dem weißen Drachenpferd am Zügel bereits voller Sorge nach ihm Ausschau hielt. Sie erschlugen die Ungeheuer in der Höhle und befreiten Ba Djä aus dem zugebundenen Sack. Dann durchsuchten sie zu dritt alle Schlupfwinkel nach ihrem Meister. Schließlich fanden sie ihn gefesselt im Hintergarten, banden ihn los und erstatteten ihm ausführlich Bericht. Ssan Tsang kniete nieder, das Gesicht nach Süden gewandt, und verneigte sich tief zum Ausdruck seines Dankes an Guanjin. Inzwischen kochte 250
Scha Ssöng reichlich Reis, und nachdem die vier Pilger, wieder vereint, ihren Durst und Hunger ausgiebig gestillt hatten, brachen sie zur Fortsetzung ihrer Wanderung gen Westen auf.
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DIE PILGER ÜBERSCHREITEN DEN SCHWARZWASSERFLUSS UND SIEGEN IM WETTBEWERB MIT DREI HOHEN DAUISTEN
43. Die Unbescholtene Schildkröte im Schwarzwasserfluß. Der Drachenkönig des Westmeeres hilft den Pilgern
Die Reisenden waren bereits wieder einen Monat lang unterwegs. In einem dichten Wald vernahm Ssan Tsang ein Getöse, das von brausenden Wassermassen herrühren mochte, und fragte Ssing-tschö nach der Ursache dafür. „Ihr seid der einzige von uns, Meister“, bekam er zur Antwort, „der das Getöse hört. Das kommt nur daher, daß Ihr des Gebetes, das Euch der Bonze Rabennest gelehrt hat, nicht ständig eingedenk seid.“ Ssan Tsang widersprach. „Ich sage dieses Gebet Tag für Tag her! Welche Zeile sollte ich dabei ausgelassen haben?“ Ssing-tschö zitierte die entscheidende Mahnung: „Habt weder Augen noch Ohren, weder Nase noch Zunge, weder Körper noch Geist! – Das besagt“, fuhr er fort: „wer ein Leben der Frömmigkeit führt, verschließt seine Augen dem Schönen, seine Ohren unziemlichen Einflüsterungen, seine Nase dem Duft. Er bietet seiner Zunge nichts Wohlschmeckendes, seinem Körper keine Wollust, seinem Geist keine Wünsche. So wird er der sechs Feinde Herr, die der Mensch in sich birgt. Ihr laßt nicht ab von der Furcht, Meister, meint aber, Ihr überginget keine Zeile in dem Gebet des weisen Bonzen! So werdet Ihr Euer Ziel niemals erreichen!“ „Seitdem ich Tschangan verlassen habe“, versetzte Ssan Tsang, „biete ich Sturm und Regen die Stirn, nähre mich vom 253
Tau und bette mich in den Schnee. Trotzdem habe ich nicht die Zuversicht, daß ich das Land Buddhas erreichen und in den Besitz der Heiligen Schriften gelangen werde.“ „Ihr braucht nur Ausdauer aufzubringen, Meister, und Ihr werdet Euer Ziel erreichen!“ ermutigte ihn Ssing-tschö. Da begehrte Ba Djä auf. „Wir werden es nicht erreichen, wenn uns Ungeheuer aufhalten wie bisher!“ Sofort widersprach Scha Ssöng. „Zweiter älterer Bruder, Ihr und ich, wir entbehren beide jeder besonderen Fähigkeit. Aber wenn wir unserem Ziel beharrlich zustreben, werden wir schließlich die Vollkommenheit erlangen.“ Beim Austritt aus dem Wald sahen sich die Pilger vor einem breiten Fluß, dessen Wasser schwarz wie Schreibtusche war und dessen Wogen aufschäumend daherbrausten, als würden sie aus Trompeten ausgestoßen. Wie sollte der Meister dieses Gewässer überqueren? Während die vier noch darüber berieten, näherte sich, mit der Strömung fahrend, ein Kahn, den ein alter Mann ruderte. „Haltet an und setzt uns über! Wir werden Euch Eure Mühe angemessen vergelten!“ rief Scha Ssöng. Der Mann hielt tatsächlich an, aber der Kahn war zu klein, um vier Fahrgäste aufzunehmen. Es wurde beschlossen, zweimal zu fahren. Für die erste Überfahrt stiegen Ssan Tsang und Ba Djä ein, und der Schiffer trieb den Kahn mit kräftigen Ruderschlägen voran. Als er die Mitte des Flusses erreichte, erhob sich plötzlich ein starker Wind und peitschte die Wellen auf; der Kahn schlug um und versank. Scha Ssöng warf seine Kleidung ab und sprang mitten in die starke Strömung hinein. Während er abwärts glitt, drang eine Stimme an sein Ohr: „Dieser Bonze hat in zehn Leben der Vervollkommnung unzählige gute Taten vollbracht; wer ein Stück von seinem Fleisch verzehrt, entgeht dem Tode. Laß ihn mitsamt seinem Schüler kochen, und ich werde meinen Onkel zu dem Schmaus einladen.“ Scha Ssöng wandte sich in die Richtung, aus der er die Stimme vernahm, und erblickte ein Gebäude, dessen 254
Giebel die Inschrift trug: Palast des Flußgeistes des Schwarzwasser-Flusses. Er trat das Tor ein und schrie, auf der Schwelle stehend: „Verruchtes Ungeheuer! Gib sofort meinen Meister und meinen älteren Bruder frei!“ Der Herr des Palastes trat ihm entgegen. Er war mit einer Eisengerte bewaffnet und sagte laut lachend: „Liegt dir nichts an deinem Leben, daß du dich erdreistest, bei mir einzudringen? Deinen Meister werde ich mit meinen Gästen verspeisen, und du wirst zusammen mit deinem älteren Bruder gleichfalls gekocht werden! Die Suche nach den Heiligen Schriften ist für Euch zu Ende.“ Scha Ssöng holte mit seinem Stock, dessen Knopf einer reifen Lotoskapsel glich, zu einem wuchtigen Schlag aus. Das Ungeheuer fing ihn geschickt auf. Der Zweikampf begann. Scha Ssöngs List, den Gegner durch scheinbare Flucht ans Ufer zu locken und Ssing-tschö auszuliefern, mißlang. „Bring dich nur in Sicherheit!“ schallte es hinter ihm her. „So habe ich Muße, meine Einladungen zu schreiben.“ Keuchend erklomm Scha Ssöng das Ufer und erstattete Ssingtschö Bericht. Während er noch mitten im Sprechen war, trat ein Greis auf sie zu und führte sich als Flußgeist der Schwarzen Gewässer bei ihnen ein. Im vergangenen Jahr, berichtete er, habe er einem mit der Flut aus dem Westmeer in den Schwarzwasserfluß gelangten Ungeheuer seinen Palast abtreten müssen. Seine Beschwerde bei dem Großen Alten Au Schun, dem Drachenkönig des Westmeeres, habe keinen Erfolg gehabt, weil dieser des Eindringlings Onkel mütterlicherseits sei und seinem Neffen recht gegeben habe. Ssing-tschö beschloß, dem Drachenkönig sofort einen Besuch abzustatten. Er glitt auf einer schnellen Wolke zum Westmeer, tauchte in die Tiefe und wanderte auf dem Meeresgrund dahin. Dabei überholte er einen Tintenfisch, der mit einem versiegelten Kästchen im Maul pfeilgeschwind vor ihm herschwamm, erschlug ihn und öffnete das Kästchen. Es enthielt die höfliche Einladung des Neffen To Djä, der Unbescholtenen Schildkröte, an 255
seinen Onkel mütterlicherseits, den Großen Alten Au Schun, mit ihm gemeinsam das Fleisch eines Bonzen, der zehn Leben der Vollkommenheit geführt habe, zu verspeisen. Mit einem Lächeln der Befriedigung verbarg Ssing-tschö den Brief im Ärmel seines Obergewandes und setzte seinen Weg fort. Der Drachenkönig geriet beim Lesen der Einladung in arge Verlegenheit. Er erklärte Ssing-tschö, daß dieser To Djä der neunte Sohn seiner jüngeren Schwester sei. Der Vater sei als Staatsverbrecher enthauptet worden; er, Au Schun, habe dem jungen Neffen helfen wollen und ihm darum eine Unterkunft im Schwarzwasserfluß angewiesen. Daß er sich solchen Vergehens schuldig machen würde, habe er nicht erwartet. Der Erbprinz, Hui Ang, solle sofort mit einer Truppe von fünfhundert verwegenen Hummersoldaten gegen To Djä ziehen und ihn gefangennehmen. Ssing-tschö schloß sich dem Erbprinzen an. Inzwischen hatte To Djä voller Unruhe auf die Rückkehr des ausgesandten Boten gewartet und vernahm bestürzt die Meldung von der Ankunft des Erbprinzen mit einem bewaffneten Gefolge auf dem Westufer des Flusses. Er ordnete hastig seine Kleidung, griff nach seiner Eisengerte und stieg an die Oberfläche empor, um den Besuch willkommen zu heißen. Er erhielt keine Antwort darauf. Vielmehr forderte ihn der Erbprinz mit donnernder Stimme auf, sofort seine beiden Gefangenen freizulassen, andernfalls würde er im Kampf gegen die übernatürliche Kraft des Großen Heiligen und Ebenbürtigen der Himmlischen das Leben einbüßen. To Djä geriet in Wut. „Ich fürchte mich vor niemandem in der Welt und nehme den Kampf mit jedem in der Welt auf!“ schrie er. Schon streckte ihn Hui Ang mit einem gewaltigen Hieb über den Kopf zu Boden, und die Hummersoldaten schleppten ihn vor Ssing-tschö, der auf des Erbprinzen Anordnung das Urteil über ihn fällen sollte. „Für den Überfall auf meinen Meister und meinen jüngeren Bruder verdient Ihr die Todesstrafe!“ sagte Ssing-tschö zu dem Gefangenen. „Aber ich 256
will davon absehen, Euch mit meiner schweren Eisenstange die Knochen zu zerschmettern. Sagt mir nur ohne Umschweife, wo Ihr Eure, beiden Opfer verborgen haltet!“ „Löst meine Fesseln, und ich führe Euch zu ihnen“, antwortete To Djä. Der Erbprinz warnte Ssing-tschö, sich auf diese Zusage einzulassen; der Hinterhältigkeit dieses Ungeheuers sei nicht zu trauen. Scha Ssöng erklärte sich ortskundig. Von dem Flußgeist begleitet, sprang er ins Wasser und führte nach kurzer Zeit die beiden befreiten Gefangenen ans Ufer. Ssing-tschö mußte Ba Djä mit Gewalt davon zurückhalten, mit seiner neunzinkigen Forke auf To Djä loszugehen, den zu bestrafen allein dem Drachenkönig zustehe. Darauf trat der Erbprinz mit dem Gefangenen den Heimweg an. Der Flußgeist teilte die Wasser des Flusses, und die vier Pilger gelangten durch eine trockene Furt an das jenseitige Ufer. 44. Die Pilger treffen schwer arbeitende Bonzen. Diese hoffen auf Rettung durch Ssun Wu-kung
Monatelang setzten die Pilger ungestört ihren Weg fort. Eines Tages veranlaßte ein merkwürdiger Tumult, der aus der Ferne zu ihnen herüberdrang, Ssing-tschö, in die Luft emporzusteigen und aus der Höhe Umschau zu halten. In einiger Entfernung gewahrte er eine Stadt und Bonzen, die einen großen, mit Brettern, Mauersteinen und Ziegeln beladenen vierrädrigen Wagen einen steilen Abhang hinaufzogen und sich gegenseitig mit einem eintönigen Singsang: Ta li wang Pu Ssa – Buddha, du großmächtiger König! ermunterten. Ssing-tschö sprang nahe dem Wagen auf die Erde hinunter. Die Bonzen waren in Lumpen gehüllt, und man hätte sie dem 257
Aussehen nach leicht für Verbrecher halten können. Zwei junge Dauistenpriester traten hinzu und trieben sie mit heftigen Worten zur Eile an. Die Bonzen waren darüber offensichtlich sehr erschrocken, und der Schweiß lief ihnen über das Gesicht, so angestrengt mühten sie sich, die schwere Last bergauf zu schaffen. Ssing-tschö war betroffen, daß Bonzen eine Sklaven zukommende Arbeit verrichteten und vor Dauisten Angst zeigten, und beschloß, die Ursache dafür in Erfahrung zu bringen. Er verwandelte sich in einen alten Dauistenmönch, trat auf die beiden Priester zu, grüßte sie, der Sitte gemäß, mit aneinandergelegten Händen und sagte: „Ehrenwerte Priester! Habt die Freundlichkeit, mir, einem armen Wandermönch, eine mildtätige Familie zu nennen, in deren Haus ich etwas gekochten Reis erbitten kann!“ Die Angesprochenen lachten spöttisch. „Ehrwürdiger Greis, Ihr stellt eine müßige Frage. Sicher kommt ihr von weit her, daß Ihr die Sitten in unserem Staat nicht kennt. Hier sind der König und die hundert Zivil- und Militärmandarine und alle vornehmen Familien der Lehre des Dau und ihren Priestern und Mönchen wohlgesinnt.“ „Wie heißt Euer Staat? Und warum laßt Ihr Bonzen Sklavenarbeit verrichten?“ fragte Ssing-tschö. Die Priester antworteten: „Unser Staat nennt sich Dshö Tschi. Vor mehreren Jahren wurde er von einer verheerenden Dürre heimgesucht. Die Bonzen beteten drei Tage und drei Nächte hindurch ohne den geringsten Erfolg. Die Dauisten hatten kaum mit dem Aufsagen ihrer Litaneien begonnen, da stürzte bereits der Regen herab. Zum Dank dafür verlieh der König uns hohe Ämter und Würden und verkündete die Nutzlosigkeit der Lehre Buddhas. Die buddhistischen Tempel wurden zerstört, die Bonzen uns als Sklaven zugewiesen. Wir müssen sie aber bei der Arbeit streng beaufsichtigen, denn sie sind sehr träge.“ Ssing-tschö sann auf einen Vorwand, um mit den Bonzen 258
selbst sprechen zu können. Wehleidig erzählte er den Priestern, daß der Zweck seiner Wanderung sei, den jüngeren Bruder seines Vaters, der vor vielen Jahren von daheim fortgegangen sei, um ein Leben der Vervollkommnung zu führen, und nichts von sich hören lasse, ausfindig zu machen. Vielleicht gehöre er zu den vielen Bonzen, die unter den Priestern arbeiteten. „Ihr könnt Euch gern nach Eurem Onkel umsehen“, sagten die Priester. „Wir werden hier auf Euch warten. Findet Ihr Euren Onkel tatsächlich heraus, so werden wir ihn aus Hochachtung gegen Euch freilassen.“ Nach den üblichen Dankesbezeigungen eilte Ssing-tschö zu den sich schwer abplagenden Bonzen. Sie erschraken bei seinem Kommen und warfen sich vor ihm nieder. Er hieß sie sich erheben. „Ich bin kein Aufseher!“ sagte er. „Aber mich wundert, daß Ihr Euch dazu hergebt, den Dauisten als Sklaven zu dienen.“ Darauf berichteten sie ihm, was er bereits von den beiden Dauisten erfahren hatte. Auf seine Frage, warum sie sich diesem unerträglichen Los nicht durch die Flucht entzögen, antworteten sie: „Flucht ist für uns ausgeschlossen. An allen Straßen, die aus dem Königreich hinausführen, hängen Tafeln mit unseren Bildern und der Bekanntmachung: Wer einen entlaufenen Bonzen einfängt, erhält fünfzig Silbertael Belohnung, und wenn er Mandarin ist, wird sein Rang um drei Stufen erhöht.“ Auch die Möglichkeit des Selbstmordes wiesen die Bonzen zurück. Von den zweitausend, die sie insgesamt waren, sagten sie, seien siebenhundert durch Krankheiten und achthundert durch Selbstmord aus dem Leben geschieden. „Uns überbleibenden fünfhundert ist dieser Ausweg versagt: wir besitzen die Langlebigkeit. Eine trostlose Langlebigkeit, in der uns nur die Hoffnung auf das Eintreffen des Bonzen Ssan Tsang aufrechterhält: dessen mächtiger und gütiger Schüler, ehemals der Große Heilige und Ebenbürtige der Himmlischen, wird die Dauisten vernichten und den König von Dshö Tschi zur Lehre Buddhas zurückführen.“ 259
Erfüllt von dem Gedanken, daß sein Ruhm sich durch die Welt verbreitet habe, kehrte Ssing-tschö zu den beiden jungen Priestern zurück. „Ich habe fünfhundert Verwandte herausgefunden“, berichtete er. „Zweihundert wohnen in den Dörfern, die dem meinen benachbart sind, hundert gehören zu meiner väterlichen, weitere hundert zu meiner mütterlichen Sippe. Die restlichen hundert sind frühere Gefährten von mir. Gebt sie alle frei!“ Natürlich lehnten die Priester die Forderung ab, und Ssingtschö erschlug sie beide mit seiner Eisenstange. Entsetzt kamen die fünfhundert Bonzen angerannt. Der König würde sie des Mordes anklagen. Ssing-tschö beruhigte sie lachend. „Nehmt zur Kenntnis, daß ich kein Dauist bin! Ich bin gekommen, Euch zu retten!“ Bei diesen Worten nahm er seine eigene Gestalt an. Mit kräftigem Ruck schob er den schweren Karren auf den Gipfel des Berges; dort zerbrach er ihn, Bretter und Steine rollten bergab. Die Bonzen warfen sich, von Ehrfurcht überwältigt, zu Boden. Ssing-tschö befahl ihnen, sich in erreichbarer Nähe aufzuhalten und Nachrichten von ihm abzuwarten. Während er sich noch mit etwa zwanzig Bonzen unterhielt, tauchte unvermutet Ssan Tsang auf. Er war über Ssing-tschös langes Ausbleiben in Unruhe geraten und hatte sich, von Ba Djä und Scha Ssöng begleitet, aufgemacht, um ihn zu suchen. „Wo werden wir nun unterkommen?“ rief er erschrocken, als er die letzten Geschehnisse vernommen hatte. Die Bonzen beruhigten ihn. „Großer Meister, macht Euch keine Sorgen! Unser Vater Ssun Wu-kung wird über Euer Wohl genauso wachen, wie er über das unsere wacht!“ Und sie geleiteten Ssan Tsang in das Kloster, in dem sie wohnten – das einzige, das der König nicht hatte zerstören lassen, weil es von seinem Vater erbaut worden war –, boten ihm Reis an und richteten ihm ein Nachtlager her. Die gleiche Fürsorge erfuhren Ssing-tschö, Ba Djä und Scha Ssöng. 260
Ssing-tschö konnte nicht einschlafen. Um die zweite Nachtwache vernahm er Gongschläge und Trommelwirbel und stellte von der Höhe einer Wolke fest, daß die dauistischen Priester sich anschickten, im Tempel der drei Reinen Gottheiten Opfer darzubringen. Ohne den Meister zu wecken und ungesehen von den Klosterbonzen, eilte er mit Ba Djä und Scha Ssöng auf einer schnellen Wolke zu diesem Tempel. Über dem Eingang war ein Spruchband aus feiner gelber Seide angebracht, auf dem zweiundzwanzig große Schriftzeichen besagten: Der Regen sei reichlich, der Wind günstig. Mögen die Himmlischen diesem Staat ihr Wohlwollen erweisen. Das Wasser der Flüsse sei ungetrübt, das Meer friedlich. Zehntausend Jahre seien dem Herrscher beschieden! Beim Anblick der vielen Opfergerichte konnte Ba Djä seine Eßlust kaum noch bezwingen. Ssing-tschö sagte eine Zauberformel vor sich hin, tat, das Gesicht dem Sternbild des Affen zugewandt, einen tiefen Atemzug und stieß die Luft gerade vor sich hin kräftig aus. Im selben Augenblick erhob sich ein toller Wirbelsturm. Alle Lampen und Fackeln erloschen, die Türvorhänge flatterten und bauschten sich zum Zerreißen. Entsetzt beschlossen die Dauisten, den Abschluß der Zeremonien auf den nächsten Tag zu verschieben, und brachten sich schleunigst in Sicherheit. Kaum waren sie draußen, bestiegen Ssing-tschö, Ba Djä und Scha Ssöng das Podium. Jeder von ihnen nahm die Gestalt einer der drei Götterstatuen an; die Bronzestatuen selbst verbarg Ba Djä in einem Sumpf neben dem Tempel. Darauf begannen sie nach Herzenslust zu schmausen und zu zechen. Ai-ja! Es geschah etwas Schreckliches! Ein junger Dauist hatte sein Glöckchen auf dem Altar liegen lassen. Er tastete sich im Dunkeln in den Tempel. Menschliche Atemzüge drangen an sein 261
Ohr! Erschrocken kehrte er um, glitt über einen Obstkern aus, schlug längelang hin und stöhnte. Ssing-tschö mußte schallend lachen, und der Jüngling flüchtete schreiend aus dem Tempel. Die Priester schreckten aus tiefem Schlaf auf: „Was gibt es?“ Der Bericht des jungen Schülers versetzte sie in maßlosen Zorn. In aller Eile brannten sie die Fackeln an und begaben sich zum Tempel, um die dort eingedrungenen bösen Geister zu vertreiben.
45. Der Große Heilige vermehrt seinen Ruhm im Tempel der Drei Gottheiten. Im Königreich Dshö Tschi muß er sein Ansehen verteidigen
Ssing-tschö packte Scha Ssöng mit der linken, Ba Djä mit der rechten Hand. Sie verstanden beide, was er damit sagen wollte, und verharrten völlig bewegungslos, wie richtige Bronzestatuen. Die Dauisten gingen mit helleuchtenden Fackeln suchenden Blicks durch den Tempel. „Es ist anscheinend niemand eingedrungen, obwohl die Opfergaben so gut wie alle verzehrt sind“, stellte der Erste Priester, Huli – die Tigerstärke – fest. „Und das von Menschen!“ bemerkte der Zweite Priester, Luli, die Hirschstärke. „Denn überall liegen Schalen und Kerne umher!“ Der Dritte Priester, Jangli, die Widderstärke, fand die Erklärung: „Von der Aufrichtigkeit unserer Gesinnung gerührt, haben die drei Reinen Gottheiten menschliche Gestalt angenommen, um sich an unseren Opfergaben zu erquicken! Nützen wir diesen günstigen Augenblick und bitten wir sie um ein wenig Zinnober für unseren König!“ Die beiden anderen waren einverstanden. Huli, der Erste Priester, befahl den Schülern, mit den Glöckchen zu läuten, die Trommeln zu schlagen und die Gebete herzusagen. Er selbst warf sich vor den Statuen nieder und flehte sie um 262
eine kleine Gabe Zinnoberpillen an. Sie würden sie dem Herrscher überreichen, um ihn der Lehre des Dau noch enger zu verbinden. Erst nach mehrfach wiederholter Bitte erklärte sich Ssing-tschö bereit, sie zu erfüllen. „Meine Schüler! Ich gewähre Euch eine kleine Menge Zinnober. Geht äußerst sorgfältig damit um, es wird Euch sonst Unglück widerfahren. Bringt mir einen geeigneten Behälter!“ Die drei Priester stellten eine große Trinkschale bereit. Besorgt, daß sie für den vorgesehenen Zweck nicht das Richtige sei, holten sie noch eine Schüssel und schließlich auch noch einen hohen Krug herbei. „Genug!“ rief Ssing-tschö. „Entfernt Euch aus unserer Nähe. Wer es wagt zuzusehen, was hier vor sich gehen wird, büßt es mit seinem Leben! Ich werde Euch rufen!“ Die drei Priester zogen sich in den Hintergrund zurück. Ssing-tschö streifte seine kurze Hose ab, hielt sich den hohen Krug unter und pißte ihn randvoll. Ba Djä wollte nicht zurückstehen und füllte die Schüssel. Auch Scha Ssöng wünschte sein Teil beizutragen und schlug sein Wasser in die Trinkschale ab, sie wurde halbvoll. Wie verabredet, rief Ssing-tschö die Priester zurück; sie kamen eilends herbei, und er überreichte ihnen die drei Gefäße. Huli füllte ein Trinkschälchen mit der Flüssigkeit und kostete. Seine Brauen zogen sich zusammen. „Würzig?“ fragte Luli. „Würzig? Denkbar scharf und beißend!“ schrie Huli aufgebracht. Darauf probierte Luli. „Schmeckt wie Schweinepisse!“ stellte er fest. Ssing-tschö merkte, daß er das Spiel verloren hatte, und zog vor, sich zu erkennen zu geben. „Ehrenwerte Priester!“ hub er an. „Wisset, daß die drei Reinen Gottheiten noch niemals auf die Erde hinabgestiegen sind. Der wahre Hergang ist folgender: Wir drei Schüler des Bonzen Ssan Tsang, der auf der Pilgerfahrt nach dem Westen unterwegs ist, um die Heiligen Schriften Buddhas zu holen, wollten uns heute eine lustige Nacht machen und sind 263
dabei an Eure Opfergerichte geraten. Ihr habt uns beim Schmaus überrascht und uns so dringlich um Zinnober gebeten, daß wir es nicht fertigbrachten, Euch zu enttäuschen. Darum haben wir Eure Gefäße nach bestem Vermögen mit unserer Pisse gefüllt.“ Wütend griffen Priester und Schüler nach Besen und Ziegeln, um auf die Übeltäter loszugehen. Aber sie kamen gar nicht erst dazu: die drei Frevler entschwebten auf einer Wolke. Im Kloster angelangt, legten sie sich geräuschlos schlafen. Der Meister merkte nichts. In der Morgenfrühe rief der König von Dshö Tschi seine hundert Zivil- und Militärmandarine zusammen. Der Türhüter meldete: „Ein Bonze aus dem Reich des großen Tangherrschers bittet, seine Einführungsbriefe zu siegeln. Er ist auf der Pilgerfahrt nach dem Westen unterwegs, um die Heiligen Schriften Buddhas zu holen.“ Der König hielt eine solche Pilgerfahrt für ein tollkühnes Unterfangen, aber er würdigte, daß der Bonze dafür sein Leben aufs Spiel setzte, und ließ die vier Bonzen in den Saal führen. Während er. die vorgelegten Briefe durchsah, traten die drei hohen dauistischen Priester in den Saal. Der König erhob sich, um sie zu begrüßen, und die hundert Mandarine warfen sich zu Boden und hielten die Augen gesenkt. Von der Anwesenheit der Bonzen befremdet, sagten die Priester, sie seien gekommen, um Klage gegen diese zu erheben. Dreier Vergehen beschuldigte sie Huli, der Erste Priester: des Mordes, begangen an zwei jungen Priestern, der Befreiung von fünfhundert Sklavenbonzen, des Frevels im Tempel der drei Reinen Gottheiten. Zornentbrannt befahl der König, die Missetäter sofort zu enthaupten. Aber Ssing-tschö erhob so nachdrücklich begründeten Einspruch gegen eine Verurteilung ohne Beweise, daß der König schwankend wurde. Während er noch über das Für und Wider in diesem Fall nachsann, ließ der Türhüter vierzig Vornehme eintreten. Sie knieten vor dem Thron nieder, und ihr Sprecher trug die Sorge vor, die sie bedrückte: 264
„Der Frühling ist zu Ende gegangen, ohne daß es geregnet hat. Wir können die Aussaat nicht vornehmen.“ Der König heftete seinen Blick auf Ssan Tsang und entgegnete: „Immer wieder sucht die Dürre unseren Staat heim. Bisher fruchteten die Gebete der Bonzen nichts dagegen. Die drei hohen dauistischen Priester dagegen erreichten, daß ausreichend Regen niederging, und bewahrten dadurch unser Volk vor dem Verhungern. Deswegen haben wir die Lehre des Dau angenommen und sind von Haß gegen die Bonzen erfüllt. In der vergangenen Nacht habt Ihr Bonzen gegen die Priester des Dau gefrevelt. Trotzdem sind wir gewillt, Euch mit ihnen in Wettbewerb treten zu lassen. Schafft Ihr mit Euren Gebeten, daß es regnet, sollt Ihr freigelassen werden. Andernfalls werdet Ihr enthauptet.“ „Wir sind bereit, den Wettbewerb aufzunehmen!“ sagte Ssingtschö. Der König stieg vom Thron und begab sich, von den drei Hohen Priestern begleitet, auf die Terrasse der Fünf Phönixvögel. Auf dem Platz davor wurde in aller Eile eine Bühne aufgebaut; ein Mandarin verkündete mit lauter Stimme: „Die Bühne ist fertig. Die Hohen Priester mögen mit dem Aufsagen ihrer Gebete beginnen!“ Der Erste Priester verabschiedete sich vom König und verließ die Terrasse, um sich auf die Bühne zu begeben. Ssing-tschö vertrat ihm den Weg. „Ehrwürden“, sprach er ihn an. „Ihr wißt sehr wohl, daß bei einem Wettbewerb dem Fremden der Vorrang zusteht. Aber es soll mir recht sein, daß Ihr den Anfang macht. Nur müssen wir zuvor den Beweis festlegen, aus dem sich zum Schluß ergibt, wer von uns beiden den Regen erwirkt hat.“ „Für mich bedarf es keines Beweises“, entgegnete Huli, „meine Methode bürgt für sich selbst. Ich schlage fünfmal an die goldene Tafel: beim ersten Schlag erhebt sich ein Wind, beim zweiten ballen sich die Wolken zusammen, beim dritten zucken die Blitze auf, beim vierten setzt der Regen ein, und beim fünften 265
klärt sich der Himmel wieder auf. Sollten diese fünf Phasen nicht nacheinander eintreten, fällt das Verdienst, den Regen erwirkt zu haben, Euch zu.“ Ssing-tschö hatte genug gehört. „Hau la! – Sehr gut! Beginnt mit Euren Gebeten!“ sagte er. Huli bestieg die Bühne. Rechts und links von ihm nahmen zwei junge Priester Aufstellung. Im Hintergrund reihten sich die Schüler auf. Der eine junge Priester reichte ihm ein Schwert und ein Amulett aus Goldpapier. Mit dem Schwert in der linken Hand sagte Huli eine Zauberformel her und verbrannte das Amulett. Darauf las er ein Bittgebet um Regen vor und versiegelte den Text. Der andere junge Priester verbrannte ihn auf der Handfläche einer Statue des Obersten Wächters über den Erdboden. Nun schlug Huli zum ersten Mal an die kostbare Tafel. Ein leichter Wind kam auf. Flugs schuf Ssing-tschö aus einem ausgerissenen Haar sein Doppel und setzte es auf seinen Platz zwischen Ba Djä und Scha Ssöng; er selbst glitt zu den beiden Windgottheiten, die gerade dabei waren, den Wind anschwellen zu lassen; erklärte ihnen, was auf dem Spiel stände, und bat sie, den Wind abzustellen. „Wir schulden Euch Gehorsam, Großer Heiliger!“ sagten sie und geboten dem Wind Einhalt. Huli schlug das zweite Mal an seine Tafel: schwere Regenwolken zogen am Himmel auf. Aber schnell zerteilten sie sich wieder: Ssing-tschö verhandelte mit der zuständigen Gottheit ebenso wie zuvor mit den Windgottheiten. Auch Hulis dritter und vierter Schlag gegen die Tafel, womit das Gewitter hervorgerufen und der Regen entfesselt werden sollte, brachten kein Ergebnis. Jedesmal griff Ssing-tschö verhindernd ein. Nach der vierten Phase nahm er seine eigene Gestalt wieder an und rief dem ersten Priester zu: „Ehrwürden! Viermal habt Ihr vergeblich an Eure Tafel geschlagen. Nun ist die Reihe an mir!“ Huli hatte völlig die Fassung verloren; auch wagte er nicht, sich der Aufforderung zu widersetzen. Mit Tränen in den Augen verließ er die Bühne und kehrte 266
auf die Terrasse zurück. Befremdet fragte ihn der König: „Wir hörten Euch viermal an die goldene Tafel schlagen. Wie kommt es, daß noch immer kein Regen fällt?“ Er stammelte eine ausweichende Erklärung: „Die Götter ließen sich heute nicht rufen.“ „So möge der Bonze auf die Bühne steigen! Wir werden abwarten, was bei seinem Tun herauskommt!“ erklärte der König. Sofort führte Ssing-tschö seinen Meister auf die Bühne. „Sagt nur das Gebet des Bonzen Rabennest vor Euch hin! Alles andere überlaßt getrost mir!“ sagte er und stellte sich neben Ssan Tsang, holte aus seinem Ohr die winzige Nadel hervor und verwandelte sie in seine goldbereifte schwere Eisenstange. Viermal fuhr er damit in gleichen Zeitabständen weit ausholend durch die Luft. Ein Orkan brach los, der Himmel bedeckte sich mit dunklen Regenwolken, Blitze zuckten und der Donner rollte, als krachten Berge auseinander. Zum Beginn der Stunde Tschön setzten gewaltige Regengüsse ein, gegen Ende der Stunde Wu dauerten sie noch immer in unverminderter Stärke an. Die dürstenden Felder standen unter Wasser, die Landstraßen verwandelten sich in Flußläufe. Der König geriet in Sorge: „Wenn der Regen anhält, wird unser Land unter Überschwemmungen zu leiden haben.“ Da schwang Ssing-tschö seine Eisenstange zum fünften Mal, und zugleich mit der Stunde Wu endete auch der Regen. Der Himmel war wieder strahlend hell. Hochbefriedigt verließ der König die Terrasse und nahm seinen Platz auf dem Thron ein; er wollte, wie zugesagt, die Einführungsbriefe der vier Pilger siegeln. Die hundert Mandarine ergingen sich in Lobpreisungen über die Geschicklichkeit des Bonzen Ssan Tsang.
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46. Wettbewerb zwischen den vier Bonzen und den drei Dauisten. Ssing-tschö vernichtet die Ketzer
Unerwartet traten die drei dauistischen Priester in die Halle. Auf des Königs Frage nach ihrem Begehr antwortete Huli: „Majestät! Seit über zwanzig Jahren stehen wir Euch und Eurem Volk helfend zur Seite. Unser Mißgeschick mit dem Regen entzieht uns das Vertrauen, das wir bisher genossen. Wir möchten darum unser Können in einem neuen Wettbewerb mit den vier Bonzen beweisen.“ Der König hatte für diese Bitte Verständnis und ließ sich erklären, worum es in dem Wettbewerb gehen solle: es würden je fünfzig Tische in zwei Stößen aufeinander gestellt werden; ein Bonze und ein Dauist müßten sich im Fluge – denn die Benutzung einer Leiter sei verboten – auf den obersten Tisch begeben und regungslos darauf sitzen bleiben. Wer das am längsten fertigbrächte, sei Sieger. Ssing-tschö erklärte sich unfähig zu dieser Probe, seiner Wildheit sei Bewegungslosigkeit nicht gegeben. Unerwartet nahm Ssan Tsang das Wort. Er könne zwei bis drei Jahre unbewegt in der Meditation verharren; nur vermöge er nicht, hochzufliegen. Ssing-tschö bat den Meister, den Wettbewerb anzunehmen; er würde ihn hochschaffen. Darauf erklärte Ssan Tsang dem König seine Bereitschaft, und in aller Eile wurden an der Ost- und Westseite des Palastes je fünzig Tische aufgestellt. Huli flog aufwärts und ließ sich auf dem obersten Tisch an der Westseite nieder. Ssing-tschö schuf aus einem ausgerissenen Haar sein Doppel und setzte es zwischen Ba Djä und Scha Ssöng. Er selbst trug Ssan Tsang in einem Strahlenkranz aufwärts, setzte ihn auf die oberste Tischplatte an der Ostseite, flog wieder abwärts und ließ sich als Zikade auf Ba Djäs einem Ohr nieder. Es war noch keine Stunde vergangen, da zog Ssan Tsang den Kopf 268
zwischen die Schultern. Mißtrauisch schwirrte Ssing-tschö dicht an des Meisters Kopf heran und entdeckte an dessen Hals eine Laus. Er schleuderte sie auf die Erde und kratzte die gebissenen Stellen ; der Meister reckte den Kopf wieder in die Höhe. ,Auf dem glattgeschorenen Schädel und Nacken des Meisters nistet sich keine Laus ein’, überlegte Ssing-tschö, ,sicher hat sie ihm ein Dauist angesetzt.’ Und schon war er auf dem Weg zu der westlichen Säule und setzte Huli einen Hundertfüßer in die Nase. Der stach gleich so derb zu, daß Huli ins Schwanken geriet und in die Tiefe stürzte. Die Untenstehenden fingen ihn auf, er hätte sich sonst beim Aufschlagen auf die Erde das Genick gebrochen. Er wurde sofort in eine Schlafkammer im Palast getragen. Ssingtschö schaffte den Meister abermals in einem Strahlenkranz auf den Vorplatz zurück, und der König sprach dem Bonzen den Sieg zu. Aber die Dauisten gaben noch keine Ruhe. Luli setzte dem König auseinander, daß dem Ersten Priester von dem starken Wind in der Höhe schwindlig geworden und er darum abgestürzt sei. Sie wollten noch einen Wettbewerb mit den vier Bonzen durchführen, bei dem der Inhalt eines verschlossenen Kastens zu erraten wäre. Der König war einverstanden. Die Diener schafften einen großen Kasten herbei, die Königin packte insgeheim von ihr ausgesuchte Gegenstände hinein, und der König verkündete: „Beide Parteien mögen erraten, welche Kostbarkeit wir in diesen Kasten eingeschlossen haben. Gewinnen die Bonzen, erhalten sie die Freiheit. Verlieren sie, sollen sie gebührend bestraft werden.“ Schon schrumpfte Ssing-tschö so zusammen, daß er von unten her durch eine Ritze in den Kasten schlüpfen und den Inhalt feststellen konnte: ein besticktes Obergewand und darunter eine ebenfalls bestickte Amtstracht. Er rollte beide Kleidungsstücke zu einer Kugel zusammen, biß sich auf die Lippe, ließ das ausfließende Blut auf die Kugel tropfen und gab ihr das Aussehen einer gesprungenen Glocke. Darauf schlüpfte er 269
aus dem Kasten heraus und flüsterte Ssan Tsang zu: „In dem Kasten befindet sich eine gesprungene Glocke.“ Luli erhob Anspruch, als erster zu antworten. ,,In dem Kasten befinden sich ein besticktes Obergewand und eine bestickte Amtstracht.“ „Ihr seid in einem groben Irrtum befangen“, behauptete Ssan Tsang, „in dem Kasten liegt eine gesprungene Glocke.“ Der König brauste empört auf. „Großmäuliger Bonze! Eine gesprungene Glocke! Meint Ihr, in meinem Königreich gelte das als eine Kostbarkeit? Soldaten, nehmt diesen Bonzen gefangen!“ „Majestät wolle befehlen, den Kasten zu öffnen, und sich von der Wahrheit meiner Worte überzeugen!“ sagte Ssan Tsang gelassen. Der Kasten wurde geöffnet: jeder konnte die gesprungene Glocke sehen. Wütend hieß der König seine Gemahlin sich in das Innere des Palastes zurückziehen. Eigenhändig pflückte er einen großen reifen Pfirsich und packte ihn ungesehen in den Kasten, verschloß diesen und forderte erneut beide Parteien zum Raten auf. Er hatte noch nicht ausgesprochen, da schlich sich Ssingtschö schon wieder in den Kasten ein. Er verzehrte den Pfirsich, ließ den Kern liegen, schlüpfte hinaus und flüsterte Ssan Tsang zu: „In dem Kasten liegt nur ein Pfirsichkern.“ Diesmal nahm Jangli das Recht auf die erste Antwort in Anspruch. „In dem Kasten befindet sich ein großer reifer Pfirsich.“ „Mitnichten“, widersprach Ssan Tsang, „es ist nur ein Pfirsichkern.“ Der Kasten wurde geöffnet: ein Pfirsichkern lag darin. Der König war ratlos. „Diese Bonzen erfreuen sich der Hilfe aller Geister“, erklärte er. „Es ist unnütz, sie weiter auf die Probe zu stellen. Händigen wir ihnen die Reisebriefe aus.“ Aber Huli schlug eine neue Kraftprobe vor. Ihnen dreien seien besondere Fähigkeiten eigen. Die erste: sie vermöchten nach einer Enthauptung ins Leben zurückzukehren. Die zweite: schnitte man ihnen den Leib auf, daß Leber und Eingeweide bloßlägen, 270
würde sich die Wunde von selbst wieder schließen. Die dritte: in siedendes Öl geworfen, würden sich ihre Körper nicht auflösen. Der König erschrak über diese Vorschläge; sie forderten den Tod heraus. Aber die drei Priester waren sich ihrer Überlegenheit sicher und entschlossen, sie gegen ihre Widersacher auszunützen. So trug der König den Bonzen die drei Herausforderungen vor. Ohne Zögern erklärte sich Ssing-tschö zur Enthauptung bereit. „Ich freue mich, daß sich mir endlich eine Gelegenheit bietet, meine Gaben unter Beweis zu stellen“, erklärte er. Als Partner auf Seiten der Dauisten meldete sich Huli. Der Henker fesselte Ssing-tschö, schlug ihm den Kopf ab und warf ihn mit kräftigem Schwung weg. Die Umstehenden sahen erstaunt, daß die Schnittfläche am Hals nicht blutete, und hörten eine Stimme aus dem Rumpf: „Tou lai! – Kopf, komm zurück!“ Auf der Stelle kehrte der Kopf zurück und saß wie zuvor auf dem Rumpf. Der Henker verlor vor Entsetzen das Bewußtsein. Die hundert Mandarine wurden aschfahl vor Grauen, und der Richter meldete dem König: „Der Bonze ist enthauptet worden, das abgeschlagene Haupt ist auf den Rumpf zurückgekehrt.“ Sicher, daß auch er die Probe bestehen würde, trat Huli vor den Henker. Während der die Enthauptung vollstreckte und den Kopf weit fortschleuderte, setzte Ssing-tschö sein Doppel zwischen Ba Djä und Scha Ssöng; er selbst rannte in Gestalt eines gelben Hundes neben dem durch die Luft fliegenden Kopfe Hulis her, packte ihn im Niederfallen und warf ihn in den Fluß nahebei. Auch aus Hulis Rumpf ertönte der Ruf: „Tou lai! – Kopf, komm zurück!“ Aber der Kopf kehrte nicht zurück, die Stimme verstummte, und der Rumpf verwandelte sich in einen gelben Tiger ohne Kopf. Dem König schwanden vor Grausen die Sinne. Luli sann auf Rache und verlangte den Leibschnitt. Lächelnd meldete sich Ssing-tschö. Er habe sich am Vortag von einem Greis überreden lassen, gekochte Speisen zu genießen, und büße 271
das mit heftigen Schmerzen. Der Leibschnitt würde ihm die willkommene Gelegenheit geben, seine Eingeweide zu reinigen. Und schon stand er mit entblößtem Bauch bereit, und der Henker waltete seines Amtes. Leber und Därme wurden sichtbar, gleich darauf schloß sich die Wunde. Kein Tropfen Blut war geflossen. Während der Henker Luli den Leib öffnete und Leber und Eingeweide zutage traten, setzte Ssing-tschö abermals ungesehen ein Doppel an seinen Platz und stieß als Adler aus der Höhe auf die offene Wunde herab, packte Leber und Gedärm mit den Krallen und flog davon. Aus der Wunde strömte das Blut, und der Rumpf verwandelte sich in einen weißen Hirsch. Der König wurde aschfahl vor Entsetzen. Jangli war überzeugt, daß Zauberei im Spiel war, und bestand darauf, seinen älteren Bruder durch die Ölbadprobe zu rächen. Ssing-tschö erklärte sich sofort einverstanden. „Ich schulde Eurer Majestät Dank für diesen Vorschlag“, sagte er, „es verlangt mich schon seit Tagen nach einem heißen Bad.“ Es wurde ein Zuber Öl herbeigeschafft und das Öl bis zum Sieden erhitzt. Ssing-tschö warf seine Kleidung ab und sprang in das Bad. Ba Djä lachte und sagte: „So vielerlei verschiedene Fähigkeiten hätte ich bei diesem dürren Affen nicht vermutet.“ Ssing-tschö konnte die Worte nicht verstehen; er vernahm nur den spöttischen Ton und dachte, Ba Djä, der zu nichts nütze Dickwanst, habe sich über seine Affengestalt lustig gemacht. Zur Strafe wollte er ihm einen gehörigen Schrecken einjagen. Er tauchte bis auf den Grund des Zubers und verwandelte sich in einen kleinen Nagel. Auf die Meldung, daß der Bonze untergesunken sei, befahl der König, die übergebliebenen Knochen mit einem Sieb herauszufischen. Aber die Mühe war vergebens, und der kleine Nagel blieb unberührt auf dem Boden des Zubers liegen. Der Richter meldete dem König, die Knochen seien so leicht gewesen, daß sie sich gänzlich aufgelöst hätten. Damit war das Schicksal der Bonzen entschieden: der König befahl, sie in Ketten 272
zu legen. Ssan Tsang bat um einen kurzen Aufschub. Er wolle seinem Schüler zum Ausdruck der Dankbarkeit für alle Hilfe, die er von ihm erfahren habe, das letzte Opfer darbringen, das dem Toten in Anerkennung seiner Treue gebühre, und der König möge ihm dafür gekochten Reis und Wasser zugestehen. Diese Bitte machte großen Eindruck auf den König. „Die Untertanen des großen Reiches der Mitte sind sich wahrlich der Freundestreue bewußt“, entgegnete er und gewährte die ihm vorgetragene Bitte. Ssan Tsang trat mit den Opferschalen in der Hand an den Zuber heran, kniete nieder und sagte: „O mein Schüler Ssun Wu-kung, möge deine Seele Reis und Wasser als Opfergaben annehmen und meiner Trauerklage Gehör schenken!“ und in singendem Tonfall trug er vor: „Voller Trauer denke ich an die vergangenen Jahre zurück, in denen du dich in der Vervollkommnung übtest. Jäh sind all unsere Hoffnungen auf Erfolg vernichtet. Aber dein Wille wird, nun du ein Geist bist, nicht erlahmen, und du wirst eingehen in den Tempel Buddhas.“ Als Ssan Tsang geendet hatte, begehrte auch Ba Djä des Toten zu gedenken. Er kniete gleichfalls vor dem Zuber nieder und trug mit erhobener Stimme folgende Verse vor: „Es war dir bestimmt, aus dem Leben zu scheiden. Darum bist du jetzt tot und bereits verwest. Dem Affen ist recht geschehen, der Pferdeknecht ist gerichtet.“ Deutlich drangen die Worte zu Ssing-tschö in die Tiefe. Solche Schmähung konnte er nicht hinnehmen. Im Nu sprang er in seiner richtigen Gestalt über den Rand des Zubers auf die Erde und kleidete sich vor aller Augen an. Ssan Tsang schrie vor Freude laut auf. Die hundert Mandarine, die Ba Djäs Singsang mit schadenfrohem Gelächter zugehört hatten, erstarrten vor Schreck. 273
Den Richter aber ergriff eine lähmende Angst, daß er falscher Angaben wegen zur Rechenschaft gezogen werden könnte, und er erklärte, allen hörbar: „Der Bonze ist tot und bleibt tot. Er offenbart sich uns jetzt in der Gestalt eines bösen Geistes.“ Wutentbrannt holte Ssing-tschö mit seiner Eisenstange aus: der Richter stürzte ihm leblos vor die Füße. Zitternd vor Furcht, daß ihnen Gleiches widerfahren möchte, warfen sich die Mandarine zu Boden. Der König stieg vom Thron herunter, aber Ssing-tschö packte ihn am Arm. „Versucht nicht, mir zu entwischen!“ schrie er mit fürchterlicher Stimme. „Befehlt dem dritten Priester, unverzüglich dasÖlbad zu nehmen!“ Jangli erklärte sich ohne Zaudern dazu bereit und sprang in den Zuber. Von einem unbestimmten Argwohn getrieben, tauchte Ssing-tschö die Hand in das Öl: es war kalt. Sein Verdacht fiel sofort auf den Drachenkönig. Geschwind glitt er auf einer Wolke zum Drachenkönig des Nordmeeres, erklärte diesem die Zusammenhänge und erfuhr, daß der Drache der Kälte, von dem dritten Dauistenpriester um Hilfe angegangen, sich in den Ölzuber eingeschlichen habe. „Ich werde mich dieses Drachens bemächtigen, und Jangli wird qualvoll umkommen“, schloß er seinen Bericht. Und tatsächlich machte sich der Drachenkönig alsbald unsichtbar, drang in den Zuber ein und schaffte den Kältedrachen ins Meer. Das Öl geriet von neuem ins Sieden; Jangli machte eine vergebliche Anstrengung, hinauszuspringen; er fiel rücklings in das Öl zurück, und im nächsten Augenblick waren seine Knochen und sein Fleisch völlig aufgelöst. Bei dieser dritten Unglücksmeldung stürzten dem König die Tränen aus den Augen.
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SCHWIERIGER ÜBERGANG ÜBER DIE DURCHFAHRTSSTRASSE ZUM HIMMEL
47. Der Durchgangsfluß zum Himmel versperrt den Pilgern den Weg. Zwei Kinder werden vor dem Opfertod bewahrt
Am folgenden Tag ließ der König durch Anschläge die fünfhundert Bonzen auffordern, sich in ihrem Kloster einzufinden. Er selbst begab sich ebenfalls dorthin und bewirtete Ssan Tsang und dessen Schüler. Die von allen Seiten herbeigeeilten Bonzen warfen sich vor Ssing-tschö nieder und dankten ihm für ihre Befreiung. Ssing-tschö richtete das Wort an den König. „Es entspricht den Tatsachen, daß ich diese fünfhundert Bonzen befreit und die drei Dauisten entlarvt und ihren Tod herbeigeführt habe. Eure Majestät möge sich hinfort an die drei Grundsätze halten, die Regierung mit Hilfe der Schriftgelehrten ausüben und die Bonzen achten. Auf dieser Grundlage wird das Staatswesen gedeihen.“ Der König erkannte die Wahrheit dieser Worte. An der Spitze seiner hundert Mandarine und von zahlreichem Volk umringt, geleitete er die Pilger aus der Stadt hinaus. Es wurde Herbst, die Dämmerung brach immer früher herein. Eines Tages standen die Pilger vor einem unabsehbar breiten, wild dahinschäumenden Fluß. „Wo sollen wir übernachten?“ fragte Ssan Tsang bedrückt. Ssing-tschö entdeckte eine Holztafel mit einem Text in der altertümlichen Dshwang-Schreibung. Mühsam entzifferte er die drei großen Schriftzeichen Dung Diän Ho – Durchgangsfluß zum Himmel. Zehn kleine Schriftzeichen besagten, daß seit uralten Zeiten nur wenige Menschen den Mut 275
aufbrächten, diesen achthundert Li breiten Strom zu überqueren. Während Meister und Schüler noch überlegten, drang aus nicht zu weiter Entfernung Zimbel- und Trommelmusik an ihr Ohr. Ssan Tsang spornte sein Pferd an und ritt am Steilufer entlang den Klängen entgegen; die Schüler rannten hinter ihm her. Ein Dorf mit vier- bis fünfhundert Häusern tauchte vor Ssan Tsang auf. An den Toren flatterten Fahnen, durch die Gassen zogen Weihrauchdüfte. Ein alter Mann mit einem Rosenkranz zwischen den Fingern kam ihm, Gebete murmelnd, entgegen. Ssan Tsang grüßte ihn mit aneinandergelegten Händen. Der Greis erwiderte den Gruß und bedauerte, daß der Bonze erst zu so vorgerückter Stunde komme: die Einwohner hätten aus Anlaß ihres Dorffestes an alle Bonzen je drei Schöng Reis, ein Stück gebleichtes Tuch und zehn Kupferkäsch ausgegeben, aber nun seien die Vorräte verbraucht. Ssan Tsang sagte berichtigend, er komme nicht, um an dem Fest und den Geschenken teilzuhaben. „Ich bin in Wirklichkeit ein Bonze“, fuhr er fort, „der, aus dem Tangreich kommend und auf dem Weg nach dem Westen begriffen, sich verirrt hat und um ein Unterkommen für die Nacht bittet.“ Abwehrend hob der Greis die Hand. „Ein Bonze darf keine Lüge über seine Lippen kommen lassen“, sagte er. „Das Reich des Tangkaisers liegt vierundfünfzigtausend Li von hier entfernt. Wie wollt Ihr allein auf Eurem Pferd eine solche Strecke zurückgelegt haben!“ „Aus Euren Worten spricht kluge Überlegung“, entgegnete Ssan Tsang. „Wisset, daß ich von drei Schülern begleitet werde, die mich beschützen.“ Und er winkte seinen drei Gefährten, die ihn mittlerweile eingeholt hatten. „Kommt heran, meine Schüler! Wir werden ein Obdach für die Nacht erhalten.“ Aber der alte Mann schrie entsetzt auf: „Böse Geister! Böse Geister!“ Auf Ssan Tsangs beruhigende Worte sagte er zitternd: „Meister, Ihr seid von einer Schönheit, wie sie nur Unsterblichen eigen ist. Wie kommt es, daß Ihr Schüler von so wildem Aussehen annehmt?“ „Sie sind wohl häßlich anzusehen“, gab Ssan Tsang zu, „aber 276
allmächtig gegen böse Geister.“ Der Greis faßte sich und führte die Fremden in den Festsaal, in dem zahlreiche Bonzen anwesend waren. Auch sie fuhren beim Anblick der furchterregenden Gestalten erschrocken zusammen und fielen rücklings zu Boden. Die drei Schüler brachen darob in schallendes Gelächter aus. Der Meister tadelte sie mit harten Worten. „Wie ist es möglich, daß Ihr alle Regeln des Anstandes vergeßt! Ich habe mich stets bemüht, Euch ein würdevolles Benehmen zu lehren. Ihr habt Euch soeben eines schweren Fehlers gegen mich schuldig gemacht.“ Diese Worte und die demütige Haltung, die sie bei den Schülern hervorriefen, beruhigten die Anwesenden. Ein zweiter Greis, der Bruder des ersten und Hausherr und Gastgeber, begrüßte die späten Ankömmlinge und ließ frische Gerichte der Enthaltsamkeit für sie auftragen. In der Unterhaltung kamen die beiden Alten auf das Unglück zu sprechen, das ihr Dorf Jahr für Jahr heimsuchte und gerade an diesem Abend wieder fällig wurde: der Große König Ling Gan, dessen Tempel am Flußufer nahe der den Reisenden bekannten Tafel stehe, schicke ihnen milde Winde und ausreichende Regenfälle, so daß sie regelmäßig reiche Ernten einbrächten. Aber als Gegenleistung fordere er alljährlich zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen, als Opfer. „Dieses Mal“, sagte der Hausherr, „sind mein Bruder und ich an der Reihe, unsere Kinder herzugeben. Ich, Dshön Dshöng, bin schon dreiundsechzig Jahre und habe keinen Sohn, nur eine achtjährige Tochter. Mein Bruder, Dshön Tjing, ist achtundfünfzig und hat nur einen siebenjährigen Sohn. Unserer Kinder wegen begehen wir heute mit den Bonzen die ‚Feier der Erlösung’.“ Ssan Tsang war von diesem Bericht tief bewegt. Ssing-tschö ermahnte ihn, sich nicht nutzloser Rührung hinzugeben, und bat um seine Erlaubnis, den Gastgebern einige Fragen vorzulegen. Darauf ließ er sich von den Brüdern Angaben über deren Besitz an Ackerland, an Vorräten, an Gold und Silber machen. Es stellte 277
sich dabei heraus, daß beide recht begütert waren, und Ssingtschö beschuldigte sie, aus Geiz keine fremden Kinder gekauft zu haben, um sie den eigenen unterzuschieben. Bei dieser Anklage brachen die Alten in bitteres Weinen aus. Der Große König kenne jeden einzelnen Menschen im Dorf genau, vom ältesten bis zum jüngsten. Ersatzopfer zu finden, die ihren Kindern im Alter und Aussehen glichen, liege für sie außerhalb jeder Möglichkeit, und kämen sie ihrer Verpflichtung nicht nach, würde der Große König das Dorf mitsamt allen Einwohnern durch Sturm und Überschwemmung vernichten. „Da die Dinge sich so verhalten“, sagte Ssing-tschö zu Dshön Tjing, „laßt mich einmal Euren Sohn genau anschauen!“ Der Vater rief seinen Sohn. Der Siebenjährige trat in die Halle – ein ahnungsloses Kind, dem Leben und Sterben noch nichts bedeuteten. Es sprang in dem hellen Schein der Lampen vergnügt umher und verzehrte mit großem Appetit eine saftige Frucht, die es aus seinem weiten Rockärmel hervorgeholt hatte. Ssing-tschö beobachtete den Knaben mit großer Aufmerksamkeit und murmelte eine Zauberformel vor sich hin. Unerwartet stand er als genaues Ebenbild des Kindes neben diesem. Im nächsten Augenblick strich er sich mit der Hand über die Augen und wurde wieder er selbst. „Glich ich Eurem Sohn?“ fragte er den Vater. „Zum Verwechseln!“ war die Antwort. „Ihr werdet mich also als Opfer unterschieben. Euer Sohn wird sein Leben behalten und die Pflichten der Kindespietät gegen Euch erfüllen.“ Von Freude überwältigt, sagte der Vater: „Ich schulde Eurer Hilfsbereitschaft die Rettung meines Sohnes. Zum Ausdruck meines Dankes werde ich Euren Gefährten tausend Silbertael zahlen. Diese Summe wird ihnen ermöglichen, ihre Pilgerfahrt zu Ende zu führen.“ „Und weshalb zahlt Ihr diesen Betrag nicht mir aus?“ wollte 278
Ssing-tschö wissen. „Weil der Große König Euch verspeisen wird. Affenfleisch riecht zwar widerlich, aber er wird Euch trotzdem nicht verschmähen.“ Ssing-tschö antwortete lachend: „Jeder hat sein Schicksal selbst in der Hand!“ Dshön Dshöng war, bitterlich weinend, Zeuge dieses Vorganges. Ssing-tschö trat auf ihn zu und fragte: „Beklagt Ihr bereits das Schicksal Eurer kleinen Tochter?“ „Wie sollte ich nicht!“ antwortete der unglückliche Vater. „Grämt Euch nicht!“ entgegnete Ssing-tschö. „Laßt schnell eine große Schüssel Reis kochen und bietet sie zusammen mit ausgesuchten Leckerbissen dem langnasigen Bonzen an. Er wird nämlich die Gestalt Eurer Tochter annehmen und seine gute Tat neben die meine stellen.“ Ba Djä fuhr bei diesen Worten entsetzt auf. Er war nicht gewillt, sich dem sicheren Tod auszuliefern. Aber Ssan Tsang ermahnte ihn, dessen eingedenk zu sein, daß ein Leben zu retten mehr wert sei als sieben Tempel zu errichten, und daß ein nach der Vervollkommnung Strebender darauf bedacht sein müsse, sein möglichstes zum Glück der Menschen beizutragen. Ssing-tschö hielt ihm außerdem vor, daß er die sechsunddreißig Formen der Verwandlung beherrsche, und befahl Dshön Dshöng kurzerhand, seine Tochter zu rufen. Das achtjährige Mädchen trat in die Halle. Es war wunderschön anzuschauen und prächtig gekleidet. Von neuem weigerte sich Ba Djä; er sei außerstande, eine so schwierige Verwandlung mit sich vorzunehmen. Erst als Ssing-tschö ihm mit wuchtigen Stockhieben drohte, entschloß er sich zu der Verwandlung und wurde genau so schön und feingliedrig wie das Mädchen. Alle Anwesenden bewunderten seine Kunst. Ssing-tschö befahl nun den Müttern, die beiden Kinder in ein sicheres Versteck zu bringen. Vor der Halle ertönte bereits laute Zymbal- und Trommelmusik: viele Dorfbewohner riefen lärmend durcheinander und 279
forderten die Übergabe der Opfer. Auf Dshön Tjings Anordnung wurden Ssing-tschö und Ba Djä auf rotgelackte Tragen gelegt und von je acht Dienern in den Tempel des Großen Königs Ling Gan geschafft, während die beiden Väter zum Schein ein herzzerreißendes Wehklagen anstimmten.
48. Der Große König läßt den Fluß zufrieren. Die Pilger brechen auf dem Eis ein
Es war ein langer Zug, der sich zum Tempel bewegte: hinter den sechzehn Trägern gingen zahlreiche Dorfbewohner mit den vorgeschriebenen Abgaben an Wein, Schweine-, Ziegen- und Büffelfleisch. Die beiden Tragen wurden vor dem Altar abgesetzt, die Gaben auf dem Altar verteilt. Darauf sagten die Dörfler die üblichen Gebete her und verbrannten Papiergeld für die Seelen der beiden Kinder. Zum Schluß flehten sie den Großen König an, daß er sie seinerseits mit warmen Winden, reichlichem Regen und guten Ernten beglücken möge. Ssing-tschö und Ba Djä lagen nicht lange allein in dem dunklen Tempel. Ein kalter Wind blies über sie hin: das Anzeichen, daß ein Ungeheuer sich näherte. Schon fragte der Große König von der Tempelschwelle her: „Welche Familien haben mir in diesem Jahr ihre Kinder geopfert?“ Lachend antwortete Ssing-tschö: „Die beiden angesehensten Familien: die des alten Dshön Dshöng und die des alten Dshön Tjing.“ Der Große König wunderte sich über den kecken Ton des Knaben. Er war gewohnt, daß die Opfer beim ersten Ton seiner Stimme zitterten und ihnen die Sinne schwanden. „Wie heißt ihr?“ fragte er weiter. Wieder antwortete der Knabe lachend: „Ich heiße Dshön, der Paßverteidiger. Das Mädchen heißt Dshön, das lautere Gold.“ Der Große König fuhr fort: „Damit ihr wißt, was Euch bevorsteht: ich 280
verschlinge euch beide!“ Lachend tönte es zurück: „Tut, wie Euch beliebt, Großer König! Wie sollten wir uns Euch widersetzen?“ Argwohn durchzuckte den Großen König. Aber nicht gesonnen, ihm nachzugeben, donnerte er, über die Tempelschwelle tretend: „Bisher habe ich immer mit dem Knaben angefangen. Diesmal soll das Mädchen zuerst an die Reihe kommen!“ Und schon stand er an der Trage und streckte die Arme aus, um das Mädchen zu packen. Im selben Augenblick nahm Ba Djä seine wahre Gestalt an, sprang auf und holte mit seiner neunzinkigen Forke gegen den Großen König aus. Er traf keinen Körper! Nur ein Panzer fiel klirrend zu Boden. Im Nu verwandelte sich auch Ssing-tschö in seine eigentliche Gestalt zurück und besah den Panzer: er bestand aus silbernen und kupfernen Schuppen und gehörte der Größe nach zu einem Riesenfisch. Auf schnellen Wolken jagten die beiden Gefährten ihrem Gegner nach. Sie stellten ihn sehr bald, und Ssing-tschö rief ihm zu: „Wir sind Schüler des Bonzen Ssan Tsang, der auf der Pilgerfahrt nach dem Westen begriffen ist. In dem Dorf, in dem wir gestern übernachteten, haben wir von Euren Verbrechen erfahren und beschlossen, das Volk von Euch zu befreien!“ Von Entsetzen gepackt, brachte sich der Große König mit einem jähen Sprung in die Tiefe in Sicherheit und verschwand in dem Fluß. Da er, wie der Panzer erkennen ließ, zu den Wasserwesen gehörte, war es aussichtslos, ihn zu verfolgen. Ssing-tschö und Ba Djä flogen wieder in den Tempel, um die Opfergaben einzusammeln, und kehrten mit schwerer Last in das Haus der Brüder Dshön zurück. Ling Gan hatte inzwischen seine Höhle aufgesucht und schilderte den Dienern, die sich über seine Niedergeschlagenheit wunderten, mit welcher Verschlagenheit zwei Schüler des berühmten Bonzen Ssan Tsang ihn um die beiden Menschenopfer betrogen und seinen Ruf geschädigt hätten. „Wüßte ich nur ein Mittel, mich dieses Bonzen, der schon zehn Leben der Vollkom281
menheit geführt hat, zu bemächtigen!“ rief er und jammerte: „Wer auch nur ein einziges Stück von seinem Fleisch verzehrt, erlangt die Langlebigkeit!“ Eine alte Fischfrau fing an zu lachen. „Den Bonzen zu erwischen, ist nicht schwer. Wäret Ihr gewillt, Großer König, sein wertvolles Fleisch mit mir zu teilen?“ „Ich sage Euch Brüderschaft zu“, erklärte der Große König, „wenn ich den Bonzen mit Eurer Methode überlisten kann, und wir werden sein Fleisch gemeinsam genießen.“ Darauf sagte die Fischfrau: „Laßt es von der dritten Nachtwache an bitterkalt werden, daß der Fluß zufriert, und ohne Aufhören schneien. Ich werde morgen mit vielen Gefährten auf dem Eis hin und her gehen, und am Haus der Dshön vorbei werden Reisende zu Pferd und in Sänften zum Fluß eilen, um die günstige Gelegenheit, die Eisfläche zu überqueren, auszunützen. Der lebhafte Verkehr wird diesen Bonzen zum Aufbruch veranlassen, denn alle Bonzen, die nach dem Westen streben, haben es eilig. Hat er mit seinen Schülern die Flußmitte erreicht, laßt Ihr sie allesamt einbrechen und bringt sie damit in Eure Gewalt.“ „Schön mjau! – Wirklich ausgezeichnet!“ rief Ling Gan und traf alle notwendigen Vorbereitungen. In der Nacht schreckte eisige Kälte die Pilger aus dem Schlaf auf. In der Frühe brachten die Diener heißes Wasser für die religiösen Waschungen, und in der Halle wurde ein Feuer angezündet, um das sich die Brüder Dshön mit ihren Gästen versammelten. Auf den Wegen lag bald eine dichte Schneedecke, und Ssan Tsang verzehrte sich in Ungeduld über den neuen Reiseaufschub. Am Nachmittag wurde es auf der Straße vor dem Hause lebhaft. Reisende zu Fuß, zu Pferd und in Sänften hasteten vorbei; aus ihren lauten Reden war zu entnehmen, daß sie sich die Möglichkeit, über die Eisfläche schnell und ohne die üblichen Kosten für einen Fährkahn an das jenseitige Flußufer zu gelangen, nicht entgehen lassen wollten. 282
Die beabsichtigte Wirkung auf Ssan Tsang ließ nicht auf sich warten. „Meine Schüler! Dieses Eis ist ein unerwartetes Glück für uns. Bereitet alles für den Aufbruch vor!“ rief er. Die Gastgeber bemühten sich, ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Die anhaltende Kälteperiode habe noch nicht begonnen; die Reisenden seien Kaufleute, die sich von der Kostenersparnis und der Aussicht auf lockende Gewinne im fremden Lande verleiten ließen, ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Scha Ssöng gab zu bedenken, daß sie angesichts der Breite des Flusses tagelang unterwegs sein müßten und eine plötzliche Eisschmelze sie in größte Gefahr bringen würde. Schließlich gab Ba Djä den Ausschlag. Er prüfte die Eisdecke, indem er seine schwere Forke wuchtig darauf niedersausen ließ: die Zinken hinterließen nur oberflächliche Spuren auf dem Eis. Darauf erklärte er jede Sorge für unbegründet. Ssan Tsang war hocherfreut und der Aufbruch damit eine beschlossene Sache. Die Brüder Dshön versorgten die Pilger reichlich mit Reisevorräten und überreichten Ssan Tsang als Abschiedsgeschenk eine Schale voll Gold und Silber. Aber Ssan Tsang weigerte sich, sie anzunehmen. Ssing-tschö bat ihn, die Gastgeber nicht zu kränken und ihnen wenigstens einen kleinen Teil abzunehmen: er fand kein Gehör und nahm schließlich selbst einen kleinen Silberbarren aus der Schale und verbarg ihn im Ärmel seines Oberrocks. Von den Brüdern Dshön begleitet, setzte sich der Pilgerzug zum Fluß hin in Bewegung. Am Ufer verabschiedeten sich Gastgeber und Gäste voneinander. Die einen gingen zurück; die anderen betraten die spiegelnde Fläche. Im letzten Augenblick befestigte der immer auf das Praktische bedachte Ba Djä Strohbüschel unter den Pferdehufen, damit sie auf der glatten Fläche Halt hätten, und riet dem Meister, die Reitgerte quer über den Rücken zu nehmen und die Enden mit den Händen festzuhalten, er würde damit immer das Gleichgewicht herstellen können. 283
„Wie gut dieses Wildschwein sich im Leben auskennt!“ brummte Ssing-tschö vor sich hin und tat ein Gleiches mit seiner Eisenstange. Scha Ssöng nahm seinen Stock zum Balancieren; Ba Djä begnügte sich mit dem Tragbalken, an dem die Reisesäcke hingen. Die vier gingen sicher und gleichmäßig wie auf einer breiten Straße über die endlose Eisfläche, machten nur zum Essen eine kurze Rast und wanderten im hellen Schein des Vollmondes und unzähliger Sterne die ganze Nacht hindurch. Im Morgengrauen wurden die Reisenden von einem unterirdischen Rollen erschreckt. Gleich darauf barst das Eis auseinander. Ssing-tschö konnte sich auf eine Wolke schwingen; Pferd und Reiter, Ba Djä und Scha Ssöng fielen in die Eisspalte. Der Große König zog nur Ssan Tsang in die Tiefe hinunter. Er schleppte ihn in seinen Wasserpalast und rief laut nach seiner Schwester Fischfrau. Sie kam angerannt. „Ich bin niederer Herkunft. Ihr könnt mich nicht als Eure Schwester ansehen, Großer König!“ wehrte sie die ehrende Anrede ab. Der König entgegnete: „Ein altes Sprichwort sagt: ,Hat ein Wort den Mund verlassen, vermögen die vier schnellsten Pferde nicht, es zurückzuholen.’ Ich habe Euch Brüderschaft zugesagt für den Fall, daß ich mit Eurer Methode den Bonzen Ssan Tsang überlisten würde. Er ist in meiner Hand, und wir beide werden uns in sein Fleisch teilen.“ Darauf sperrte er Ssan Tsang in einen Steintrog, den er mit einem Felsblock zudeckte und an die Rückseite des Palastes schaffte, und gab Anweisung für den Festschmaus. Ba Djä und Scha Ssöng kletterten aus dem Wasser und zogen das Pferd und die Reisesäcke heraus. Nach ihrem Meister hielten sie vergeblich Ausschau. Ssing-tschö sprang aus den Wolken zu ihnen herunter. Auch seine erste Frage war: „Wo ist unser Herr und Meister?“ Ba Djä antwortete: „Unser Herr und Meister hat einen anderen Namen angenommen. Er heißt jetzt Dau Di – Der auf dem Grund Angelangte. Trocknen und wärmen wir uns erst 284
einmal bei den Dshöns auf. Dann werden wir die Suche nach ihm aufnehmen.“ Und sie kehrten eilends in das gastliche Haus zurück. Die Brüder sahen die drei kommen. Sie erwarteten sie am Tor und sprachen sofort lebhaft auf sie ein. „Würdige Greise, wie kommt es, daß Ihr völlig durchnäßt seid? Sicher hat Euch ein Unglück an der Weiterreise verhindert! Warum ist der Ehrwürdige Meister nicht bei Euch?“ „Er hat einen anderen Namen angenommen und heißt jetzt Dau Di“, antwortete Ba Djä. Bei dieser Nachricht brachen die beiden Alten in lautes Schluchzen aus. Aber Ssing-tschö wollte von Wehklagen nichts wissen. „Würdige Herren, jammert nicht, daß es so viel Trauriges in der Welt gibt. Wohl hat sich der Große König unseres Meisters bemächtigt, aber nicht jeder Gerechte, über den das Unglück hereinbricht, kommt um! Laßt Eure vornehmste Sorge vielmehr sein, unsere Kleider zu trocknen und das Pferd zu füttern. Danach werden wir überlegen, wie wir unseren Meister befreien und Euch alle vor künftigem Unglück bewahren können.“ Bei diesen Worten wurde das Herz der Gastgeber wieder froh. Die drei Gefährten bekamen zu essen und zu trinken vorgesetzt und gingen an das Flußufer zurück. 49. Die Göttin Guanjin befreit Ssan Tsang. Eine Schildkröte trägt die Pilger über den Fluß
Bevor die drei Schüler in den Fluß hinabtauchten, besprachen sie den Plan für die Rettung des Meisters. Ba Djä und Scha Ssöng waren mit dem Element Wasser vertraut; Ssing-tschö dagegen im Kampf unter Wasser ungewandt. Darum sollte Ssing-tschö 285
die Verhältnisse in der Residenz des Großen Königs auskundschaften, Ba Djä und Scha Ssöng den Kampf übernehmen. Ba Djä erklärte sich außerdem bereit, Ssing-tschö zu tragen. Er rechnete mit der Möglichkeit, sich bei dieser Gelegenheit an dem verhaßten Affen zu rächen. Ssing-tschö durchschaute jedoch seine Absicht, und während er ihm auf den Rücken sprang, schuf er aus einem ausgerissenen Haar sein Doppel, das Ba Djä schleppte; er selbst verbarg sich als Laus in Ba Djäs Ohr. Scha Ssöng tauchte zuerst und ging auf dem Grunde des Flusses voran. Ba Djä folgte ihm mit seiner Last auf dem Rücken. Nach kurzer Zeit stolperte er absichtlich und fiel längelang hin. Als er wieder hochkam, war Ssing-tschö verschwunden. „Warum achtet Ihr nicht darauf, das Gleichgewicht zu halten? Wie sollen wir es nur anfangen, unseren ältesten Bruder wiederzufinden?“ rief Scha Ssöng aufgebracht. Ba Djä winkte verächtlich ab. „Dieser Affe war eben so dürr, daß er sich bei dem Fall in ein Nichts aufgelöst hat! Was macht das schon aus?“ Scha Ssöng aber bestand darauf, sofort mit dem Suchen zu beginnen. Da rief Ssing-tschö aus Ba Djäs Ohr heraus: „Lau Ssun dsai dshö li jä! – Der alte Ssun ist hier!“ Ba Djä fiel auf die Knie. „Älterer Bruder! Eure Stimme schien aus meinem Ohr zu kommen! Nehmt wieder Eure eigene Gestalt an! Ich verspreche Euch, vorsichtig zu gehen, damit ich nicht zum zweiten Mal stolpere!“ Ssing-tschö entgegnete: „Genug der Worte! Geht weiter!“ Nach hundertzehn Li sahen sich die Wanderer vor einem hohen Turm, über dessen Eingang vier große Schriftzeichen standen: Schui Jüan Dji Ti, Residenz der Flußschildkröte. Ba Djä und Scha Ssöng versteckten sich; Ssing-tschö nahm die Gestalt eines Hummers an und hüpfte in zwei, drei Sätzen auf die Schwelle des Palastes. In der Eingangshalle unterhielt sich Ling Gan mit seiner Fischfrau-Schwester über die beste Art, den Bonzen Ssan Tsang zu verspeisen. Ssing-tschö fragte einen vorüberkommenden Hummer, wo 286
sich denn dieser Bonze, den der Große König zu verzehren beabsichtigte, befinde. Er sei eben erst angekommen und daher von nichts unterrichtet. „Hinter dem Palast in einem großen Steintrog. Morgen soll das Festessen stattfinden!“ war die Antwort. Ssing-tschö hüpfte hinter den Palast. In einem Schweinekoben stand tatsächlich ein Steintrog, und deutlich tönte Ssan Tsangs Stimme heraus. Er wehklagte : „Ein böses Geschick führte mich an das Ufer dieses Flusses, in der Blüte meines Lebens riß mich der Strudel abwärts. Das Glück ließ mich den Schwarzwasserfluß überqueren, das Unglück die Durchfahrtsstraße zum Himmel erreichen. Werden meine Schüler den Abgrund finden, der mich verschlang?“ Ssing-tschö rief laut Ssan Tsangs Namen und sagte: „Meister, hört mit dem nutzlosen Klagen auf. Wartet geduldig, bis wir Euch retten!“ Ssan Tsang flehte ihn an, keine Zeit zu verlieren, aber Ssing-tschö war schon auf dem Rückweg zu den Gefährten. Er befahl ihnen, Ling Gan zum Kampf herauszufordern und ihn dabei ans Ufer zu locken, wo er den Kampf weiterführen wolle. Ba Djä und Scha Ssöng lärmten vor dem Palasttor und verlangten die Freigabe ihres Meisters. Wie erwartet, erschien Ling Gan, seinen Speer schwingend, und es entbrannte ein wütendes Ringen, wobei Ling Gan sich in Angriff und Verteidigung sehr gewandt zeigte. Nach einer Stunde war noch immer keine Entscheidung gefallen. Ba Djä und Scha Ssöng verständigten sich durch einen Blick, wandten sich scheinbar zur Flucht und erklommen das Ufer. Ling Gan setzte ihnen nach und stand unerwartet einem dritten Gegner gegenüber, der mit einer schweren Waffe wütend auf ihn losschlug. Er entzog sich ihm durch einen Sprung in den Fluß. „Wie sollen wir weiter vorgehen?“ fragte Scha Ssöng ratlos. „Ihr müßt ihn aufs neue zum Kampf zwingen und mir in die Arme treiben! Die Zeit drängt!“ sagte Ssing-tschö. 287
Ba Djä und Scha Ssöng tauchten abermals in die Tiefe des Flusses hinab. Ling Gan war in seine Residenz zurückgekehrt und beschrieb seiner Fischfrau-Schwester den furchtbaren Gegner, dem er hatte weichen müssen. Der Fischfrau liefen Schauer des Entsetzens über den Rücken. „Das Glück war Euch hold, Großer König, daß es Euch in letzter Minute dem Tode entrinnen ließ. Ihr habt Ssun Wu-kung, dem Großen Heiligen und Ebenbürtigen der Himmlischen, gegenübergestanden, der vor fünfhundert Jahren den Himmel in Unruhe versetzte. Er ist jetzt unter dem Namen Ssun Ssing-tschö der erste Schüler des Bonzen Ssan Tsang und begleitet seinen Herrn auf der Suche nach den Heiligen Schriften Buddhas in den Westen. Er verfügt über ungeheure Kräfte, und Ihr solltet vermeiden, ihm noch einmal entgegenzutreten.“ Mittlerweile waren Ba Djä und Scha Ssöng vor der Residenz angekommen und forderten mit lautem Geschrei den Großen König auf, sich erneut mit ihnen zu messen. Eingedenk der klugen Rede der Fischfrau, blieb Ling Gan im Palast und befahl, alle Tore zu verrammeln und sie an den Innenseiten mit Felsblöcken zu sichern. Die Torwächter gaben auf das ungestüme Rufen keinerlei Antwort, und Ba Djäs Versuche, einen Torflügel einzudrücken, blieben erfolglos. Enttäuscht kehrten die beiden Gefährten zu Ssing-tschö zurück und erstatteten ihm Bericht. Auch er sah die Aussichtslosigkeit ihres Tuns ein und machte sich sofort auf den Weg zur Göttin Guanjin. Die Göttin empfing ihn mit einem Bambuskorb in der Hand. „Fliegt sofort mit mir zusammen Eurem Meister zu Hilfe!“ waren die einzigen Worte, die sie an Ssing-tschö richtete. Im nächsten Augenblick glitt sie bereits in einem Strahlenkranz dahin; Ssing-tschö flog hinter ihr her. Am Flußufer angelangt, band Guanjin ihren Gürtel ab und ließ daran den Korb in das Wasser hinab. Dabei murmelte sie siebenmal einen Zauberspruch vor sich hin: „Ssu di tjü, huo di dshu“ –Auf daß die Toten im Wasser 288
bleiben, die Lebenden sich in dem Korb fangen!“ Danach zog sie den Korb wieder an die Oberfläche: auf dem Boden lag ein Fisch mit funkelnden Augen und golden glänzenden Schuppen. „Dieser Fisch“, erklärte sie den drei Gefährten, „hat bereits zahlreiche Leben geführt und wohnt seit vielen Jahren auf dem Grunde meines Lotosteiches. Jeden Morgen steigt er an die Oberfläche empor und lauscht meinen Gebeten. Eine Überschwemmung verlockte ihn, den Teich zu verlassen und sich in diesem Fluß niederzulassen. Heute morgen bemerkte ich sein Verschwinden und flocht in aller Eile diesen Bambuskorb, um ihn darin wieder einzufangen. Steigt zum Palast der Flußschildkröte hinab, befreit Euren Herrn!“ „Erlaubt uns, Göttin, diese beglückende Nachricht allen Einwohnern zur Freude im Dorf zu verkünden. Viele von ihnen werden fortan den Weg des Guten gehen!“ rief Ssing-tschö, und da Guanjin einverstanden war, rannten die drei Gefährten in das Dorf, berichteten den herbeiströmenden Menschen kurz die letzten Ereignisse und schlossen mit der Aufforderung: „Wer die auf die Erde hinabgestiegene Göttin Guanjin sehen will, komme mit uns mit!“ In Scharen eilten Männer und Frauen, Knaben und Mädchen an den Fluß und warfen sich betend vor der Göttin nieder. Ein geschickter Künstler malte geschwind ihr Bildnis; es ist mit der Unterschrift ‚Göttin Guanjin mit dem Bambuskorb’ auf unsere Tage gekommen. Ba Djä und Scha Ssöng stiegen zum dritten Mal in den Fluß hinab. Im Palast der Flußschildkröte machten sie alle Lebewesen nieder. Darauf befreiten sie ihren Meister aus dem Steintrog und geleiteten ihn aufs Land zurück. Hinter ihnen her schwamm eine große alte Schildkröte ans Ufer; auf ihrem Rückenpanzer wucherte eine dichte Moosdecke. Zu aller Erstaunen begann sie in menschlicher Sprache zu reden. „Seit Urzeiten wohnt meine Sippe in diesem Fluß. Ich selbst führe ein Leben der Vervollkommnung und errichtete die Residenz der Flußschildkröte, die Ihr 289
kennt. Vor neun Jahren mußte ich sie dem Großen König abtreten. Dank Euch, Großer Heiliger, hat die Göttin Guanjin dieses Ungeheuer auf ihre Insel Putu zurückgeholt, und ich kann wieder in meine Residenz zurückkehren. Ich will mich Euch erkenntlich erweisen, Großer Heiliger, und biete Euch an, Euren Meister und Euch drei Schüler auf meinem Rücken über den Fluß an das jenseitige Ufer zu tragen.“ Bei den letzten Worten schob sie sich das Steilufer hinauf, und alle konnten sehen, wie groß ihr Rückenpanzer war: sein Umfang betrug reichlich vier Dshang. Ssing-tschö nahm das Angebot an. Er führte das Pferd mit dem Reiter im Sattel in die Mitte des Rückens; rechts und links davon postierte er Ba Djä und Scha Ssöng. Er selbst stellte sich vor das Pferd. Mißtrauisch wie er war, zog er seinen Gürtel der Schildkröte durch die Nüstern: so hatte er die Lenkung in der Hand. Die Schildkröte setzte sich in Bewegung. Sie schoß pfeilgeschwind über die breite Wasserfläche und erreichte das gegenüberliegende Ufer noch am Abend desselben Tages. Ssan Tsang dankte der Schildkröte mit aneinandergelegten Händen und versprach, bei der Rückkehr seine Dankesschuld bei ihr abzutragen. „Ich rechne nicht mit einer Belohnung“, erwiderte die Schildkröte, „wohl aber habe ich Euch eine Bitte vorzutragen. Seit dreizehnhundert Jahren führe ich ein Leben der Vervollkommnung; ich habe die Fähigkeit zu sprechen und die Langlebigkeit erworben. Mein größter Wunsch aber ist, die Wiedergeburt als Mensch zu erlangen! Wollet Buddha fragen, wann die Zeit dazu für mich gekommen sein wird.“ „Ich werde nicht versäumen, mir Antwort auf Eure Frage zu holen!“ versetzte Ssan Tsang. Darauf glitt die Schildkröte in den Fluß zurück; Meister und Schüler traten die Weiterreise an.
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DIE UNTATEN DES BLAUEN BÜFFELS
50. Ssan Tsangs Arglosigkeit stürzt ihn in neues Unglück. Das Einhörnige Rhinozeros nimmt ihn gefangen
Der Winter setzte sehr früh mit eisiger Kälte ein. Wieder einmal stießen die Pilger unerwartet auf ein wildes Gebirge. Von Ssingtschö ermutigt, trieb Ssan Tsang sein Pferd an, den ersten steilen Hang zu erklimmen, und wurde zu seiner großen Freude ein stattliches Gebäude gewahr. „O tu di – o meine Schüler! In diesem Haus wollen wir uns stärken und ausruhen!“ rief er. Ssingtschö aber beobachtete eine düstere Rauchsäule, die vom Dach zum Himmel aufstieg, und deutete sie als unheilkündendes Zeichen. „Meister, in diesem Haus ist nicht gut sein!“ warnte er. Der Meister widersprach. „Wenn man es ansieht, wirkt es gesichert und bequem. Warum sollte es nicht gut sein, darin Unterkunft zu finden?“ Ssing-tschö lachte spöttisch. „Meister, kennt Ihr es von innen? Es führt den Namen: ,Lung schöng dju dshung’ – Drachen gebären neun ihrer Art!’ Es betreten bedeutet, sich ihnen ausliefern!“ Ssang Tsang war nicht zu überzeugen, Hunger und Erschöpfung quälten ihn. Ssing-tschö schlug ihm vor, abzusteigen und sich auszuruhen; er selbst ließ sich von Scha Ssöng aus dem Gepäck den Betteltopf geben, denn er wollte für den Meister Reis erbetteln. Ehe er sich auf den Weg machte, beschrieb er mit seiner Eisenstange einen Kreis um Ssan Tsang und sagte: „Bleibt inmitten dieses Kreises sitzen, Meister! Besser als jede Mauer es vermöchte, schützt er Euch vor bösen Geistern, von denen es in 291
dieser Gegend wimmelt, denn sie wagen nicht, ihn zu überschreiten. Geht Ihr aus dem Kreis hinaus, müßt Ihr jedes Unglück, das Euch heimsuchen wird, Euch selbst zuschreiben. Ba Djä und Scha Ssöng sollen sich ständig in Eurer unmittelbaren Nähe aufhalten.“ Eilig glitt Ssing-tschö auf einer Wolke in südlicher Richtung fort. Es dauerte eine geraume Weile, ehe er unter sich ein kleines Dorf erspähte. Er mache sich unsichtbar und drang in eine Küche ein. Der Reiskessel stand auf dem Feuer, er war bis oben hin gefüllt. Mit vollem Betteltopf flog Ssing-tschö geschwind zu dem Rastplatz zurück. Ssan Tsang wurde inzwischen die Zeit lang. „Wohin mag dieser Affe nur auf Reissuche gegangen sein!“ sagte er verdrossen. „Einen Vergnügungsflug macht er“, entgegnete Ba Djä höhnisch. „Meister und Schüler hat er klüglich ins Gefängnis gesperrt.“ Erstaunt fragte Ssan Tsang: „Ins Gefängnis? Was soll das bedeuten?“ Ba Djä fuhr fort zu hetzen. „In alten Zeiten beschrieb man einen Bannkreis um die Gefangenen, er ersetzte den Wächter. Bleiben wir noch ein Weilchen länger bewegungslos in diesem Kreis, erfrieren wir uns die Beine. Wir sollten unseren Weg langsam fortsetzen ; der ältere Bruder versteht sich darauf, uns ausfindig zu machen.“ Dieser Vorschlag sagte Ssan Tsang zu, und da er nicht Böses und Gutes voneinander zu unterscheiden verstand, bestieg er sein Pferd und ritt weiter den Berg hinan bis vor das Tor des großen Hauses. In der Hoffnung, daß bald jemand heraustreten würde, setzte er sich auf die Schwelle. Scha Ssöng stellte die schweren Reisesäcke ab; Ba Djä spielte Kundschafter und ging durch die stille und leere Vorhalle auf den Innenhof, wo er die Treppe zum Oberstock hinaufstieg. Hinter einem Türvorhang entdeckte er auf einem Ruhebett ein Skelett mit auffallend großem Schädel und ungewöhnlich langen Schienbeinen. In demselben Raum schimmerten im hellen Tageslicht auf einer Truhe drei kostbare, mit Blumenmustern bestickte Seiden292
gewänder. Ba Djä riß sie an sich und hastete zu Ssan Tsang zurück. „Im ganzen Hause habe ich nichts weiter gefunden als einen Haufen Knochen und diese drei Kleidungsstücke“, sagte er, „sie werden uns bei der Kälte ausgezeichnete Dienste tun.“ Dej: Meister war außer sich über den Diebstahl, aber Ba Djä lachte und zog sich ohne Gewissensbisse unverzüglich eine der wärmenden Hüllen über; Scha Ssöng tat das gleiche. Kaum hatten sie sie angelegt, als sie wie von Eisenbändern zusammengepreßt und die Arme ihnen auf dem Rücken festgeschnürt wurden. Stöhnend und jammernd wälzten sie sich auf der Erde hin und her. Der vor Entsetzen zitternde Ssan Tsang mühte sich vergeblich, ihnen zu helfen. Aus dem Klagegeschrei entnahm der böse Geist, der sich in dem Hause unsichtbar verborgen hielt, daß die Fremden ihm in die Falle gegangen waren. Mit einem Zauberspruch brachte er das Gebäude zum Verschwinden und ließ die drei Reisenden mitsamt dem weißen Drachenpferd gefangen nehmen und sich vorführen. Aus dem Verhör erfuhr er, daß ihm der berühmte Bonze Ssan Tsang in die Hände gefallen war, und beschloß sofort, ihn zu verspeisen, um die Langlebigkeit zu erlangen. Nur der Gedanke an die Begegnung mit Wu-kung, der es fertiggebracht hatte, Tumult im Himmel hervorzurufen, war ihm unbehaglich. Er beschloß, die drei Gefangenen einzusperren, bis er auch Ssing-tschö in seine Gewalt gebracht hätte. Mittlerweile war Ssing-tschö auf den Rastplatz zurückgekehrt und hatte den Kreis leer gefunden, auch festgestellt, daß das große Gebäude vom Erdboden verschwunden war. Von bösen Ahnungen erfüllt, ging er, nach allen Seiten Umschau haltend, den Spuren der Pferdehufe nach. Ein alter Mann kreuzte seinen Weg und erzählte ihm auf Befragen, er habe gesehen, wie ein Reiter mit seinem Pferd und zwei Begleitern als Gefangene in die Höhle des Ungeheuers Du Djüä Sse, des Einhörnigen Rhinozeros, abgeführt wurden. „Dieses Ungeheuer verfügt über außer293
ordentliche Kräfte“, schloß der Greis seinen Bericht. „Solltet Ihr Euren Gefährten zu Hilfe kommen wollen, so ist Euch der Tod ebenso gewiß wie ihnen.“ „Habt Dank für die Auskünfte“, versetzte Ssing-tschö. „Ich bin trotzdem entschlossen, die Gefangenen zu befreien.“ Im selben Augenblick verschwand der Greis, und Tou Di, der Wächter über den Erdboden, lag vor Ssing-tschö auf den Knien. „Ich habe eine andere Gestalt angenommen, Großer Heiliger“, sagte er, „um Euch besser Auskunft erteilen zu können. Gebt mir nun Euren Betteltopf, damit Ihr die Hände zum Kampf frei habt. Rettet Ihr den Bonzen Ssan Tsang, will ich ihm den Betteltopf zurückgeben und bei der Gelegenheit erfahren, ob Ihr aus wahrer Not betteln gehen mußtet.“ Ssing-tschö überließ ihm den Topf. „Nehmt ihn, aber gebt ihn mir zurück, nicht meinem Meister!“ Darauf trennten sich die beiden. „Ich, der erste Schüler des Bonzen Ssan Tsang, Ssun Wu-kung, der Große Heilige, fordere die Freigabe meines Meisters! Ich erschlage sonst alle Lebewesen in dieser Höhle!“ rief Ssing-tschö mit Donnerstimme vor dem Eingang zu der Höhle des Einhörnigen Rhinozeros. Das Ungeheuer ließ sich eine lange Lanze bringen und begab sich an der Spitze eines großen Gefolges auf den Platz vor der Höhle. Der Kampf begann unverzüglich. Jeder Gegner staunte über des anderen Gewandtheit. In einem Augenblick der Bedrängnis schleuderte Ssing-tschö seine Eisenstange in die Luft. Sofort fielen hunderttausend Eisenstangen herunter, die Ungeheuer brachten sich schleunigst in Sicherheit. Aber Tu Djüä Sse lachte verächtlich und rief: „Großspuriger Affe! Du nanntest dich einmal Ssun Wu-kung und brachtest den Himmel in Aufruhr. Jetzt sollst du meine Macht kennenlernen!“ Dabei warf er einen wie Jade glänzenden Armreif hoch in die Luft, eine strahlende Helle verbreitete sich am Himmel, und Ssing-tschö wurde die Eisenstange aus den Händen gewunden. Seiner Waffe beraubt, flüchtete er in gewaltigen Luftsprüngen davon. 294
51. Feuer und Wasser sind machtlos. Ssing-tschö findet seine Eisenstange
Auf einem Berghang machte Ssing-tschö Rast und überließ sich mutlosem Grübeln: ,O mein Meister, ich gedachte, Euch sicher in den Westen und zurück in die Heimat zu führen. Nun ich ohne Waffe bin, vermag ich nichts mehr für Euch zu tun.’ Plötzlich fiel ihm die Anspielung seines Gegners auf den Tumult im Himmel ein. Da er davon Kenntnis hatte, gehörte er vielleicht zu den Sternengeistern. Das wollte er sofort erfragen. Er flog auf die schnellste Art, deren Kenntnis er dem Großen Meister in der Höhle des Mondes und der drei Sterne verdankte, zum Palast der Himmlischen Höhen. Auf seine dringende Bitte führten ihn die Torwächter unverzüglich vor den Thron des Obersten Himmelsherrn, und er trug sein Anliegen vor: „Ein blutdürstiges Ungeheuer hat meinen Herrn gefangengenommen und ist gewillt, ihn zu verspeisen. Ich nahm den Kampf mit ihm auf und büßte dabei meine goldbereifte Eisenstange ein. Da dieses Ungeheuer von meinen früheren Ämtern im Himmel weiß, ist es vielleicht ein auf die Erde hinabgestiegener Sternengeist! Ich bitte, mich wissen zu lassen, wer dieses Ungeheuer in Wirklichkeit ist.“ Dshang Di befahl, sofort alle Gestirne aufzurufen. Das geschah, keines fehlte. Darauf ordnete er an, daß der Himmlische König Li Dsing, der Oberbefehlshaber der himmlischen Heeresmacht, und No Tscha, dessen dritter Sohn, Ssing-tschö in der Fortführung des Kampfes gegen das Ungeheuer beistehen sollten. Außerdem gab er Ssing-tschö auf dessen besonderen Wunsch auch noch die beiden Götter des Blitzes und des Donners, Döng Hua und Dshang Fan, mit. In einem einzigen Augenblick waren die fünf auf dem Djintouschan, dem Goldhelmberg, angelangt. Von No Tscha beglei295
tet, begab sich Ssing-tschö vor die Höhle des Einhörnigen Rhinozeros und rief ein über das andere Mal: „Ungeheuer! Gib meinen Meister frei!“ Mit seiner Lanze bewaffnet, trat Du Djüä auf den freien Platz vor dem Eingang. Verblüfft, No Tscha zu erblicken, sagte er spöttisch: „Dritter Sohn des Königs Li, was führt Euch vor mein Tor?“ No Tscha entgegnete: „Ihr habt den heiligen Bonzen Ssan Tsang in Eure Gewalt gebracht. Ich komme auf Befehl des Obersten Himmelsherrn, um mich Euer zu bemächtigen.“ Wütend versetzte Du Djüä: „Nehmt zur Kenntnis, daß ich entschlossen bin, diesen Bonzen zu verspeisen. Ihr seid ein Knabe, und es kommt Euch nicht zu, solche hochtrabenden Reden zu führen!“ Schon holte er mit seiner Lanze aus. No Tscha fing den Hieb mit seinem Schwert auf und ging zum Angriff über. Er kämpfte in der Gestalt eines dreiköpfigen Wesens mit sechs Armen; in jeder Hand hielt er eine andere Art Waffe. Das Ungeheuer hatte eine ähnliche Gestalt angenommen, kämpfte aber mit drei ungewöhnlich langen Lanzen. No Tscha schleuderte seine sechs Waffen gleichzeitig in die Luft; sie vervielfältigten sich und fielen zu Zehntausenden hernieder. Furchtlos warf Du Djüä seinen glänzenden Armreif hoch: als unterlägen sie einer Anziehungskraft, glitten No Tscha die Waffen aus den Händen, daß er wehrlos einen Augenblick wie gelähmt vor Entsetzen war und im nächsten auf die Bergkuppe flüchtete. Ssing-tschö folgte ihm auf den Fersen. Das Ungeheuer kehrte in seine Höhle zurück. Die beiden Götter des Blitzes und des Donners hatten während des kurzen Kampfes abseits gestanden. „Welch ein Glück, daß wir noch nicht eingegriffen hatten!“ sagten sie. „Auch uns hätte der Reif die Waffen entwunden!“ Sie trafen gleichzeitig mit No Tscha und Ssing-tschö bei König Li Dsing ein. „Ich habe den Kampf genau beobachtet“, nahm der König das Wort, „und sehe keine Methode, die uns den Sieg verbürgt.“ Ssing-tschö hielt es für das beste, sich zuerst des Armreifs zu 296
bemächtigen. König Li Dsing hieß diesen Vorschlag gut. Man könne ihn mittels der Kraft des Feuers und des Wassers verwirklichen; es sei ein altes Gesetz, daß diesen beiden Mächten niemand und nichts in der Welt zu widerstehen vermöge. Ssingtschö versetzte: „Das Gesetz trifft wahrlich zu. Ich werde Huo Dö, den Sternengeist der Feuerkraft, bitten, diesen Armreif zu verbrennen. Danach werden wir das Ungeheuer überwältigen, meinen Meister befreien und unsere Waffen wiedererlangen können.“ No Tscha billigte Ssing-tschös Vorhaben und bat ihn, sich zu beeilen. Ssing-tschö machte sich auf den Weg zur Residenz des Sternengeistes der Feuerkraft. Er wurde freundlich aufgenommen und fand bereitwilliges Gehör für seine Bitte. Huo Dö ließ sich ohne Zögern die sieben Feuerarten bringen: Feuerdrachen und -pferde, Feuerraben und -ratten. Feuerschwer-ter, Feuerbogen und -pfeile, und begleitete Ssing-tschö auf die Bergkuppe zurück. König Li Dsing erwartete sie schon kampfbereit. Er bat den Sternengeist, vom Gipfel des Djin-tou aus dem Kampf zuzusehen und auf ein Zeichen von Ssing-tschö den Armreif des Ungeheuers durch Feuer zu zerstören. Er selbst begab sich mit Ssingtschö vor die Höhle. Du Djüä, dem die Wächter das Kommen des Königs bereits gemeldet hatten, stand vor dem Eingang. „Ai-ja, König LiDsing!“ rief er höhnisch, „wollt Ihr Euren jungen Sohn rächen und seine Waffen zurückerobern?“ „Ja, und dazu den Bonzen Ssan Tsang befreien und mich Euer bemächtigen!“ rief der König zurück. Ein wütendes Ringen begann. Ssing-tschö gab dem Feuergeist ein Zeichen, und eine Feuerkugel schwebte von der Bergkuppe in die Tiefe hinab. Der König wurde gewahr, wie das Ungeheuer nach seinem Armreif griff, und flüchtete an die Rückseite des Berges. Der Armreif zog die Feuerkugel an sich, sie erlosch, und das Ungeheuer kehrte in seine Höhle zurück. 297
Auf der Bergkuppe wurde von neuem beraten. Ssing-tschö erklärte sich bereit, den Sternengeist der Wasserkraft, Schui Dö, um Hilfe anzugehen. „Er wird die Höhle unter Wasser setzen und uns den Sieg ermöglichen“, meinte er. Durch das nördliche Himmelstor erreichte er die Residenz des Sternengeistes der Wasserkraft. Auch dieser war sofort bereit zu helfen; er gab Ssing-tschö den Flußgeist des Gelben Flusses, Huangho Schuibai, zur Unterstützung mit. Vor dem Aufbruch langte Schuibai aus seinem Ärmel eine Schale heraus. „Sie faßt alles Wasser des Huangho“, erklärte er Ssing-tschö, „aber für Euren Zweck genügt es, wenn ich sie bis zur Hälfte fülle.“ Das tat er, und sie traten den Flug zum Goldhelmberg an. „Schuibai“, sagte Ssing-tschö, „wartet vor der Höhle! Wenn sie sich öffnet, setzt sofort das Innere unter Wasser.“ Er selbst trat unmittelbar vor den Eingang und schrie: „ Jau guai kai mön! – Ungeheuer, komm heraus!“ Die Tür ging auf: im gleichen Augenblick trat Du Djüä aus der Höhle heraus und goß Schuibai das Wasser in die Höhle hinein. In tosenden Fluten wälzte es sich dem Inneren zu. Du Djüä wandte sich zurück, erfaßte sofort die Gefahr und hielt seinen Armreif hoch: das Wasser staute sich und begann zurückzufließen. Ssing-tschö sprang auf eine Wolke, Schuibai flüchtete auf die Bergkuppe. Unaufhaltsam ergossen sich Wassermassen über das Land. „Schuibai, gebiete der Überschwemmung Einhalt!“ rief Ssing-tschö, „sie vernichtet die Äkker des Volkes.“ „Dazu bin ich nicht imstande“, rief Schuibai zurück. „Ich gehöre zu den niederen Geistern. Wir können wohl unser besonderes Talent betätigen, vermögen aber nicht, die einmal entfesselte Gewalt zu bändigen.“ Vor der Höhle hatte sich das Wasser bald verlaufen; die Krieger des Ungeheuers bewegten sich auf dem freien Platz hin und her, als sei nichts gewesen. Ssing-tschö konnte seine Wut nicht mehr zügeln. Er krempelte sich die Ärmel auf und fiel, blindlings 298
um sich schlagend, über die Krieger her. Du Djüä trat aus der Höhle heraus. „Böswillige Mißgeburt eines Affen!“ donnerte er los. „Dem Mächtigen bist du nicht gewachsen; Feuer und Wasser vermochten nicht dir beizustehen; deswegen versuchst du dich an den Schwachen! Erprobe deine Kraft an mir!“ „Du wirst die Wucht meiner Fäuste zu spüren bekommen!“ donnerte Ssing-tschö zurück. Das Ungeheuer brach in schallendes Gelächter aus. „Waffenlos willst du den Kampf aufnehmen? Wohlan, ich bin bereit, meine Lanze beiseitezulegen.“ Schon drangen die beiden Gegner aufeinander ein. Ssing-tschö mußte sehr schnell seine Unterlegenheit erkennen. Er riß sich ein Büschel Haare aus und streute es in die Luft. Dreißig, vierzig langarmige Affen umringten das Ungeheuer ; die einen zwackten es in die Beine, die anderen knufften es in die Seiten, etliche versuchten, ihm die Augen auszukratzen. In einem einzigen Augenblick hatte sie der funkelnde Armreif gebannt, wieder kehrte Du Djüä in seine Höhle zurück. Von neuem wurde auf der Bergkuppe beraten. Ssing-tschö wußte keinen Ausweg mehr. „Ohne den Zauberreif wäre das Ungeheuer zu besiegen. Aber wie ihm den entreißen?“ Die beiden Götter des Blitzes und des Donners lachten. „Um in den Besitz des Armreifs zu gelangen, Großer Heiliger, braucht Ihr nur die Kniffe anzuwenden, mit denen Ihr Euch einstmals die Pfirsiche, den auserlesenen Wein der Himmlischen und die Zinnoberpillen angeeignet habt.“ „Hau schuo! Hau schuo! – Gut gesagt! Gut gesagt!“ rief Ssingtschö lachend, verwandelte sich in eine grüne Fliege und flog schnurstracks mitten in die Höhle hinein. Du Djüä war gerade beim Schmausen. Schüsseln mit Schlangen- und Hirschfleisch, mit einem Kamelhöcker und Bärentatzen standen vor ihm, dazu schlürfte er einen Tonkrug Schnaps nach dem anderen leer. Ssing-tschö nahm die Gestalt eines dachsköpfigen Ungeheuers 299
an und mischte sich unter die Dienerschaft. Ungehindert konnte er sich nun in der Höhle umschauen. Der Armreif war nirgends zu sehen. Wohl aber entdeckte er, durch Drachengebrüll und Pferdewiehern auf die Spur gebracht, in einem entlegenen Teil der Höhle das Feuerpferd und den Feuerdrachen aufgehängt an einer Wand. Und an derselben Wand lehnte seine Eisenstange! Er riß sie an sich, nahm seine eigene Gestalt an und bahnte sich, rennend und wild um sich schlagend, einen Weg aus der Höhle hinaus. Krieger und Diener rührten sich, von Entsetzen gebannt; nicht von der Stelle; ihr Herr aber ließ Essen und Trinken im Stich und setzte dem Fliehenden nach.
52. Das Ungeheuer auf dem Goldhelmberg. Lau Djün holt den Blauen Büffel in den Stall zurück
Ssing-tschö war gerade im Zuge, seinen Gefährten Bericht zu erstatten, als Trommelwirbel und herausforderndes Geschrei alle aufschreckten: Du Djüä rückte an der Spitze einer zahlreichen Kriegerschar auf die Bergkuppe vor. „Großmäuliger Affe!“ brüllte er. „Erdreistest dich, am hellichten Tage mein Eigentum zu stehlen!“ „Dein Eigentum?“ brüllte Ssing-tschö zurück. „Die Eisenstange, die ich mitgenommen habe; ist mein Eigentum! Wie kannst du es wagen, mich des Diebstahls zu bezichtigen!“ Die beiden gingen aufeinander los. Nach drei Stunden gab es noch immer keinen Sieger und keinen Besiegten. Bei Anbruch der Dämmerung zog sich Du Djüä mit seinem Gefolge zurück. Ssing-tschö beschloß, einen neuen Versuch zu wagen, um in den Besitz des Armreifs zu gelangen und die Waffen seiner Kampfgenossen zurückzuschaffen. No Tscha riet ihm, dafür das Morgengrauen abzuwarten; mit verschmitztem Lächeln lehnte 300
Ssing-tschö den Vorschlag ab. „Ihr kennt Euch in den Dingen dieser Welt nicht aus. Wie soll man am hellichten Tag einen Diebstahl fertigbringen? Solchem Vorhaben ist nur die Nacht hold.“ Nach alter Gewohnheit verbarg er seine Eisenstange in Form einer kleinen Nadel im Ohr und begab sich mit einigen Luftsprüngen vor das Höhlentor, kroch als Spinne in die Höhle und beobachtete von der Wand aus, wie die Ungeheuer Matten auf dem Boden ausbreiteten und Decken zurechtlegten und sich zum Schlafen anschickten. Um die zweite Nachtwache herum kroch Ssing-tschö in die Kammer, in der Du Djüä mit einem Ungeheuerweib das Lager teilte. Der Armreif funkelte an seinem Handgelenk. Flugs wurde aus der Spinne ein Floh, der das Ungeheuer unmittelbar am Armreif kräftig in das Handgelenk biß. Schlaftrunken schimpfte Du Djüä: „Die Diener sollten mit Stockhieben bestraft werden! Lassen Ungeziefer in meinem Bettzeug nisten!“ und schlief weiter. Ssing-tschö wollte das Ungeheuer dazu bringen, den Armreif abzunehmen, um sich tüchtig zu kratzen; so würde er sich des Reifs bemächtigen können. Etwa so stelle ich mir jedenfalls die Überlegung dieses Stammvaters aller Spitzbuben vor. Allerdings kann ich nur eine Vermutung äußern, da mir jegliche Erfahrung in Diebeskünsten abgeht. Der Floh biß zum zweiten Mal kräftig zu. Der Schlafende rührte sich nicht. Hatte er tatsächlich nichts gemerkt? Oder tat er nur so? Ich nehme an, daß er nur so tat, und daß Ssing-tschö der gleichen Annahme war. Warum hätte er wohl sonst die kaum begonnene Partie aufgegeben! Ssing-tschö sprang von der Lagerstatt herunter und kroch als Spinne in den entlegenen Teil der Höhle, wo das Feuerpferd und der Feuerdrache an der Wand aufgehängt waren und ohne Aufhören ihr Wiehern und Brüllen ertönen ließen. Daneben hingen auch die sechs Waffen, die No Tscha eingebüßt hatte, und in einem Wasserbecken nahebei trieb ein Büschel Haare! Ssing-tschö 301
nahm seine eigene Gestalt an und blies über das Wasserbecken: aus dem Büschel Haare wurden wieder langarmige Affen, denen er befahl, sich der sechs Waffen zu bemächtigen. Er selbst befreite Drachen und Pferd, bestieg den Drachen und ritt, von dem Feuerpferd und dem Zug Affen gefolgt, zur Hintertür aus der Höhle hinaus. Draußen angelangt, ließ er die Höhle in Flammen aufgehen. Die Ungeheuer kamen im Feuer um oder erlitten schwere Brandwunden. Von der Röte und dem Rauch angelockt, eilten Götter und Geister von der Bergkuppe herbei. Ssing-tschö gab ihnen die Waffen zurück und verwandelte die langarmigen Affen in Haare zurück. Mittlerweile war das Ungeheuer von dem Feuer und Lärm hellwach geworden. Mit dem Armreif in der Hand eilte es durch die brennende Höhle: überall erlosch das Feuer. Die Krieger begannen unverzüglich mit dem Aufräumen und dem Wiederaufbau. Im Morgengrauen marschierten die Götter und Geister unter Ssing-tschös Führung von der Bergkuppe vor die Höhle; sie waren entschlossen, ihr Waffenglück zu probieren. Du Djüä sah sie kommen und trat ihnen entgegen. „Stellst du dich noch einmal zum Kampf, du Dieb, du Brandstifter?“ schrie er Ssing-tschö zu und ging sofort zum Angriff über. Götter und Geister wollten dem hart Bedrängten zu Hilfe kommen. Funkelnd stieg der Armreif in die Luft: mit einem einzigen Zugriff brachte Du Djüä sämtliche Waffen der Gegner in seine Hand. Wahrlich: In diesem Augenblick verlor der Große Heilige sein Selbstvertrauen, wußten die Götter des Blitzes und des Donners, was Furchtsamkeit heißt.
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Bestürzt und beschämt verzogen die Waffenlosen sich auf die Bergkuppe. Du Djüä kehrte siegesbewußt zwischen die Trümmer der Höhle zurück und verkündete seiner Gefolgschaft, daß er sich sofort daran machen wolle, den Bonzen und dessen beide Schüler zu schlachten und für den Festschmaus vorzubereiten; das gemeinsame Mahl werde ihnen allen Langlebigkeit verleihen. Hocherfreut verdoppelten die Krieger ihren Arbeitseifer. Auf der Bergkuppe kam es zum Streit. Einer beschuldigte den anderen des Übereifers, der mangelnden Vorsicht, des schnellen Versagens. Schließlich griff Ssing-tschö beschwichtigend ein. „Der Raub unserer Waffen ist kein Grund, daß wir uns entzweien. Überlegt vielmehr, ob es günstig ist, daß ich mich auch noch in die Länder des Westens begebe und Shu Lai über die Herkunft des Zauberreifs befrage.“ Alle Anwesenden waren mit diesem Vorschlag einverstanden und baten Ssing-tschö, sich zu beeilen. Wieder wählte Ssing-tschö die schnellste Flugart, wie der Große Meister sie ihn gelehrt hatte, um zum Mittelpunkt der Welt zu gelangen, wo Shu Lai residierte. Er gab am Eingang an, daß er einer überaus dringenden Angelegenheit wegen komme, und Shu Lai ließ ihn sofort eintreten. Ssing-tschö vollzog die vorgeschriebene Begrüßungszeremonie und berichtete auf die Frage nach der Veranlassung zu seinem Besuch von dem Ungeheuer auf dem Djintouberg, das den Bonzen Ssan Tsang und zwei Schüler gefangen halte und sie alle mittels eines Zauberreifs ihrer Waffen beraubt und damit kampfunfähig gemacht habe. „Wollet uns Eure Hilfe gewähren, damit wir meinen Meister befreien können!“ Shu Lai blickte in die Richtung des Djintouberges und erkannte alle Zusammenhänge. Darauf sagte er zu Ssing-tschö: „Ich darf Euch keine Erklärung geben. Aber ich bin bereit, Euch zu helfen!“ und befahl den achtzehn Dsun, den Mönchen, die frei von allen Sünden und darum von Furcht und Angst erlöst sind, sich aus einer Kassette mit je einem Körnchen Zinnober zu ver303
sehen und Ssing-tschö zu begleiten, um ihm im Kampf beizustehen. Zu Ssing-tschö gewandt, fuhr er fort: „Lockt das Ungeheuer aus der Höhle heraus. Sobald es draußen ist, werden die Dsun ihm die goldglänzenden Körnchen zuwerfen. Es wird sie gierig aufschnappen und davon gelähmt werden, so daß Ihr mit ihm verfahren könnt wie mit einem Stück Holz.“ „Mjau! – Wunderbar!“ sagte Ssing-tschö ein über das andere Mal. Er verabschiedete sich gebührend von Shu Lai und verließ mit seinem neuen Gefolge den Tempel. Vor dem Tor zählte er die Dsun: es waren nur sechzehn. „Wie kommt es, daß Ihr statt der zugesagten achtzehn nur sechzehn seid?“ fragte er mißtrauisch. Schon kamen die fehlenden zwei angerannt. „Wollet uns nicht kränken, indem Ihr einen Verdacht gegen uns aufkommen laßt“, sagten sie. ,Wir mußten zurückbleiben, um von unserem Gebieter noch einen wichtigen Befehl entgegenzunehmen.“ Ssing-tschö war beruhigt, und mit einem Sprung auf einer Wolke landend, glitten sie gemeinsam der Bergkuppe zu. Die Götter und Geister empfingen die Dsun mit großer Ehrerbietung, und Ssing-tschö machte sich ans Berichten. Aber die Dsun wollten von langen Reden nichts wissen. „Wu-kung, reizt den Gegner zum Kampf!“ riefen sie laut durcheinander. Ssing-tschö streifte die Ärmel auf und sprang in weiten Sätzen vor das Höhlentor. Die achtzehn Dsun folgten ihm auf den Fersen. Kampfwütig die Arme hin- und herschwenkend, forderte er das Ungeheuer gebieterisch zum Kampf ohne Waffen heraus. Du Djüä betrat an der Spitze seiner Krieger den freien Platz. „Diebischer Affe“, schrie er, „genügt es dir nicht, daß du schon besiegt und mit dem Leben davongekommen bist?“ „Gib mir meinen Meister und meine Gefährten heraus, so bedarf es keines Kampfes!“ schrie Ssing-tschö zurück. „Deinen Meister und deine Gefährten habe ich bereits fürs Schlachten gewaschen. Ich warte nur darauf, daß das Wasser kocht, um sie zu zerschneiden und gleich hineinzuwerfen!“ ent304
gegnete das Ungeheuer höhnisch. Wutentbrannt ging Ssing-tschö zum Angriff über. Nach kurzem Ringen trat er scheinbar den Rückzug an; der Gegner war bemüht, nicht die Fühlung mit ihm zu verlieren. Auf ein Zeichen Ssing-tschös warfen die achtzehn Dsun gleichzeitig Du Djüä ihre Körnchen entgegen. Mit seinen scharfen Augen, die unablässig die Gegend durchforschten, sah er sie auf sich zufliegen. Schon sank er in den Boden ein, und je mehr er strebte, sich obenzuhalten, desto tiefer glitt er, und das Blut wich ihm aus dem Gesicht. Da – ein Griff an den Armreif, und schon hatte er sich der Körner bemächtigt und kehrte gelassen in die Höhle zurück. Aus der Ferne erklang ein Trompetenstoß. „Habt Ihr die Körner auf das Ungeheuer geworfen?“ fragte Ssing-tschö die Dsun erschrocken. „Das haben wir“, antworteten sie, „und auch beobachtet, wie es unter ihrer Wirkung in die Erde einzusinken begann. Aber plötzlich erklang ein Trompetenstoß, und was danach geschah, wissen wir nicht.“ „Ich kann Euch sagen, was geschah: auch Ihr seid durch den Armreif Eurer besonderen Kräfte beraubt worden.“ Da nahmen die beiden Dsun, die sich dem Zug verspätet angeschlossen hatten, das Wort. „Wu-kung, unser Gebieter hielt uns zurück, um uns folgenden Befehl zu erteilen: ,Solltet Ihr der Zinnoberkörnchen verlustig gehen, sagt Wu-kung, er möge sich unverzüglich an Lau Djün um Hilfe wenden.’“ Und alle Dsun fügten wie aus einem Munde hinzu: „Großer Heiliger, handelt ohne Zögern!“ Ssing-tschö flog eilends los. Lau Djün war befremdet, ihn zu sehen. Er vermutete ihn mit dem Bonzen auf dem Weg nach dem Westen, um die Heiligen Schriften Buddhas zu holen. „Wir bemühen uns unentwegt, die Heiligen Schriften zu holen“, brauste Ssing-tschö auf, „aber immer wieder halten uns Ungeheuer auf, deren wir nicht Herr werden können.“ Lau Djün schüttelte ab305
lehnend den Kopf, er habe mit weltlichen Dingen nichts zu schaffen, es sei also zwecklos, ihm Klagen vorzutragen. Ssingtschö schwieg; er suchte nach einer Antwort und ließ seine Blicke dabei über den großen Hof schweifen. Plötzlich gewahrte er, daß der blaue Büffel nicht in seiner Einfriedung stand und der Wächter schnarchend im Grase lag. „Ehrwürdiger Meister, weidet Euer blauer Büffel frei?“ fragte er. Lau Djün schaute hinaus und erschrak. „Er ist wahrhaftig verschwunden!“ rief er. Von dem lauten Sprechen erwachte der Wächter und warf sich seinem Herrn, um Vergebung flehend, zu Füßen. Er habe zufällig eine Pille gefunden und sie eingenommen. „Woher sollte ich wissen, daß sie eine so folgenschwere Wirkung haben würde!“ jammerte er. „Diese Pille“, erklärte ihm Lau Djün, „enthält eine siebenfache Dosis Zinnober und verursacht sieben Tage Schlaf. Das Unbewachtsein hat der Büffel ausgenützt, um das Weite zu suchen. Möglicherweise hat er die eine oder andere meiner seltenen Kostbarkeiten mitgehen heißen.“ „Das Ungeheuer, mit dem ich jetzt im Kampf liege“, warf Ssing-tschö ein, „besitzt auch eine seltene Kostbarkeit: einen Armreif, mit dem er seinen Gegnern die Waffen entwindet.“ „Dieser Armreif gehört mir!“ fuhr Lau Djün auf. Er sah schnell seine Kassetten durch: der Armreif fehlte. „Wo hat dieses Ungeheuer seine Höhle?“ begehrte Lau Djün zu wissen, und Ssingtschö erstattete ihm ausführlich Bericht. „Dieser Armreif hat eine ungewöhnlich starke Zauberkraft“, sagte Lau Djün, als Ssingtschö geendet hatte. „Nur gut, daß der Schuft nicht noch meinen Fächer mitgenommen hat. Ich wäre dann jedes Zaubermittels gegen ihn beraubt.“ Dabei griff er nach diesem Fächer und verließ seine Klause. Ssing-tschö folgte ihm hocherfreut. Auf der Bergkuppe wurde Lau Djün von den Göttern und Geistern und den achtzehn Dsun ehrerbietig begrüßt. Darauf befahl er Ssing-tschö, das Ungeheuer zum Kampf herauszufordern und ihm zuzutreiben. Wieder höhnte Du Djüä, wieder 306
wandte sich Ssing-tschö nach kurzem Ringen zur Flucht und lockte den Gegner sich nach. Unvermittelt ertönte von der Bergkuppe herunter eine Stimme: „Büffel, was muß geschehen, damit du in deinen Stall zurückkehrst?“ Lau Djün bewegte beim Sprechen seinen Fächer einmal langsam hin und her. Das Ungeheuer warf den Armreif hoch, und Lau Djün fing ihn auf. Danach bewegte er seinen Fächer zum zweiten Mal langsam hin und her, und das Ungeheuer stand in seiner wahren Gestalt als blauer Büffel da. Lau Djün steckte ihm den Reif durch die Nüstern, befestigte einen Strick daran und trat nach kurzem Abschied mit dem Büffel neben sich den Heimweg an. Ssing-tschö drang an der Spitze der Götter, Geister und Dsun in die Höhle ein. Sie töteten alle Ungeheuer und nahmen ihre Waffen an sich. Darauf ging es an ein gegenseitiges Abschiednehmen. Ssing-tschö blieb allein zurück. Er befreite seinen Meister und seine beiden Gefährten, die sich vor Freude kaum zu lassen wußten, und führte sie aus der Höhle hinaus. Seine Eisenstange hielt er fest mit der einen Hand umschlossen, mit der anderen lenkte er das weiße Drachenpferd. Sie waren gerade dabei, die Richtung nach dem Westen einzuschlagen, als sie eine Stimme rufen hörten: „Bonze Ssan Tsang, Ihr müßt essen, bevor Ihr die Weiterreise antretet!“ Ssan Tsang erschrak so heftig, daß er nahe daran war, das Bewußtsein zu verlieren.
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DIE REISE DURCH DAS WESTREICH DER FRAUEN
53. Ssan Tsang trinkt vom Wasser der Befruchtung. Ssing-tschö schafft einen Krug voll Wasser der Geburtenverhinderung herbei
Wer war der Mann, der so laut gerufen hatte? Niemand anderes als Tou Di, der Wächter über den Erdboden. Mit einem Betteltopf in der Hand trat er auf Ssan Tsang zu und sagte freundlich: „Heiliger Bonze! Diesen Betteltopf hatte der Große Heilige mitgenommen, als er auszog, Reis für Euch zu erbetteln. Ihr habt seine Ratschläge nicht befolgt, Meister, und das schwer büßen müssen. Laßt Euch jetzt diesen Reis munden, den Euch die Treue und Geschicklichkeit Eures Schülers verschafft haben.“ Ssan Tsang sah ein, daß er falsch gehandelt hatte. „Fortan werde ich mich Euren Anordnungen fügen, ganz gleich, was Ihr von mir verlangen möget!“ sagte er zu Ssing-tschö. Sie ließen sich zum gemeinsamen Mahl nieder und waren verwundert, daß beim Abnehmen des Deckels aus dem Topf dichter Dampf herausquoll. „Wie ist es möglich“, fragte Ssing-tschö, „daß der Reis nach so langer Zeit noch immer kochend heiß ist?“, und Tou Di antwortete: „Großer Heiliger, Ihr habt mir den Reis anvertraut, und während Ihr ruhmreiche Taten vollbrachtet, war ich bemüht, ihm seine Wärme zu erhalten.“ Als die Mahlzeit beendet war, nahmen Ssang Tsan und seine Schüler Abschied von Tou Di und machten sich wiederum in westlicher Richtung auf den Weg. Der Frühling war im Kommen, die Luft erwärmte sich immer mehr. Nach kurzer Zeit kamen die Pilger aus dem Walde heraus 309
und folgten der schnurgerade vor ihnen verlaufenden Straße. Aber jäh wurde sie von einem quer zu ihr dahinströmenden Fluß unterbrochen. Sein Wasser war durchsichtig klar; am jenseitigen Ufer erhob sich ein Haus, und an dem dazu gehörenden Landungssteg schaukelte ein Kahn. „Dort wohnt bestimmt ein Fährmann“! sagte Ba Djä erleichtert, stellte die Reisesäcke ab und rief ein paarmal nach dem Fährmann, daß er sie gegen reichlichen Lohn herüberholen möge. Tatsächlich fuhr der Kahn los; wenige Augenblicke später stellte sich heraus, daß eine alte Frau ihn ruderte. Sie setzte Pilger und Pferd über, Ssan Tsang bezahlte ihr den Fährlohn. Sie kicherte in einem fort vor sich hin, sagte aber kein Wort. Von Durst arg gequält, tranken Ssan Tsang und Ba Djä einen Krug des kristallklaren Flußwassers, ehe sie weitergingen. Etwa um die Mitte der Drachenstunde* begann Ssan Tsang über Bauchweh zu jammern, und Ba Djä stimmte die gleiche Klage an. Scha Ssöng führte die Beschwerden auf den Genuß des kalten Wassers zurück, aber Ba D ja behauptete: „In meinen Eingeweiden bewegt sich eine Geschwulst hin und her; so muß einer Frau zumute sein, die im dritten oder vierten Monat schwanger ist.“ Und Ssan Tsang erklärte, er habe die gleiche Empfindung. Nach einer ziemlichen Weile gelangten sie zu einem Haus, das den Eindruck einer Herberge machte. Ssing-tschö trat ein: in der Stube saß eine alte Frau am Spinnrocken. Er berichtete ihr kurz von den beiden Krankheitsfällen und war sehr verwundert, daß sie darüber in die größte Heiterkeit geriet. Als er sie bat, schnellstens Tee für den Meister zu bereiten, und ihr gute Bezahlung dafür in Aussicht stellte, versetzte sie: „Eure Gefährten können sofort Tee haben, aber er kann ihnen nichts nützen. Wisset, daß Ihr Euch hier im Ssi Ljang Nu Guo – im Westreich der Frauen – befindet, in dem es keinen einzigen Mann gibt und Euer Besuch darum Heiterkeit erregt. Eure Ge*
Siehe S. 568.
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fährten haben in Unkenntnis vom Wasser der Befruchtung getrunken. Nur die Mädchen, die das zwanzigste Lebensjahr vollendet haben, dürfen es genießen und werden bereits durch einen einzigen Schluck geschwängert. Ohne Zweifel sind Eure Gefährten schwanger und werden bald entbinden.“ Inzwischen waren auch Ssan Tsang und Da Djä, die sich vor Schmerzen kaum noch auf den Beinen halten konnten, von Scha Ssöng in die Stube geführt worden. Ssan Tsang redete auf die Alte ein: sie möge einen Arzt aufsuchen und ein Abtreibungsmittel bei ihm erstehen. Aber nach der Alten gab es nur eine einzige Möglichkeit der Hilfe: auf dem in südlicher Richtung dreitausend Li entfernten Djäjangberg schenkte der Unsterbliche Jou Ji gegen hohe Bezahlung jedem Bittsteller eine einzige Trinkschale Wasser aus dem Brunnen der Geburtenverhinderung aus, und sie meinte, angesichts des weiten Weges und der für armselige Bonzen unerschwinglichen Kosten käme dieser Ausweg nicht in Frage. Ssing-tschö aber sagte nur: „Hau la! Hau la! – Ausgezeichnet!“, borgte sich eine Trinkschale von der Wirtin, bat den Meister, sich bis zu seiner baldigen Rückkehr zu gedulden, und glitt auf einer Wolke davon. Diese Tatsache versetzte die alte Frau in die größte Aufregung. Sie holte die Nachbarinnen herzu, und alle warfen sich Ssan Tsang zu Füßen, um ihm ihre Verehrung zu bezeigen. Darauf tischten sie den Pilgern Tee und Gerichte der Enthaltsamkeit auf. Auf dem Djäjangberg wurde Ssing-tschö von einem alten dauistischen Priester empfangen, der mit kreuzweise untergeschlagenen Beinen in seiner Klause saß. Er führte sich als Ssun Wu-kung ein und trug den Zweck seines Kommens vor. Der Priester fragte sofort nach den mitgebrachten Geschenken, ohne solche werde kein Besucher vorgelassen. Ssing-tschö erwiderte: „Angesichts des mir vom Himmel erteilten Auftrages, meinen Meister in die Länder des Westens zu geleiten, und aus Mitleid mit meiner Armut wird der Unsterbliche Jou Ji mir nicht nur eine 311
Schale, sondern den gesamten Inhalt seines Brunnens überlassen wollen.“ Der Priester war von solcher Zuversicht so betroffen, daß er es wagte, seinem Herrn den geschenklosen Besucher zu melden. Bei der Nennung des Namens geriet Jou Ji in Wut. Mit einem goldenen Enterhaken bewaffnet, trat er vor das Tor und fragte drohend: „Seid Ihr auf der Reise nach Westen nicht über den Flammenberg gekommen?“ „Das sind wir“, antwortete Ssing-tschö, „und haben dort die Bekanntschaft mit dem Ungeheuer Hung Hai-örl gemacht.“ „Und sein Unglück herbeigeführt!“ donnerte Jou Ji. „Ich bin der jüngere Bruder seines Vaters und habe einen Eid abgelegt, daß ich meinen Neffen rächen werde.“ Schon entbrannte der Kampf. Jou Ji erkannte jedoch schnell die Überlegenheit des Gegners und ergriff die Flucht. Ssing-tschö nahm die Verfolgung nicht auf, war ihm doch nur an dem Wasser gelegen. In größter Eile ließ er einen Eimer in den Brunnen hinab. Aber während er ihn heraufwand, schlug ihm der unbemerkt zurückgekehrte Gegner den Enterhaken um die Beine und brachte ihn zu Fall. Der Eimer fiel in den Brunnen. Zu einem neuen Angriff gebrach es Jou Ji an Mut. Er postierte sich zwischen Ssing-tschö und den Brunnen und wiederholte ein über das andere Mal: „Ich verbiete Euch, Wasser zu schöpfen.“ Ssingtschö überlegte, daß er ohne Hilfe nicht zum Ziel kommen würde, glitt auf einer Wolke in die Herberge zurück und erzählte seine Erlebnisse. Ssan Tsang begann sofort, gemäß seiner Gewohnheit zu klagen: „Wie sollen wir unter solchen Umständen in den Besitz des Heilwassers gelangen?“ Ssing-tschö sagte beschwichtigend: „Macht Euch darum keine Gedanken, Meister! Erlaubt nur, daß Scha Ssöng mit mir auf den Djäjangberg fliegt! Während ich unseren Gegner in Schach halte, soll er Wasser schöpfen.“ Auch dieser Vorschlag mißfiel Ssan Tsang. „Wer soll für uns hilflose Kranke sorgen, wenn Ihr beide fortgeht?“ gab er zu be312
denken. Da mischte sich die Herbergswirtin in das Gespräch. „Seid unbesorgt, Großer Meister! Wir Frauen haben großes Mitleid mit Euch und werden nach besten Kräften um Euer Wohl bemüht sein.“ Ssing-tschö borgte sich von der Alten einen Eimer und ein langes Seil und flog mit Scha Ssöng auf den Djäjangberg zurück. Scha Ssöng sollte sich verstecken, bis Ssing-tschö mit Jou Ji im Zweikampf stände, dann einen Eimer Wasser schöpfen und damit schnellstens den Rückflug antreten. Ssing-tschö wurde zum zweiten Mal bei Jou Ji gemeldet. Der stürzte wütend vor das Tor und brüllte: „Langarmiger Affe! Was untersteht Ihr Euch, wiederzukommen?“ „Um Wasser von Euch zu erbitten!“ erwiderte Ssing-tschö. „Ich gebe an niemanden Wasser ohne Geschenke ab, und sollte mich ein König oder hoher Mandarin darum angehen! Und schon gar nicht an Euch, den ich mit grimmigem Haß verfolge!“ Da holte Ssing-tschö mit seiner Eisenstange aus. Jou Ji wehrte den Hieb geschickt ab. Ssing-tschö wich zum Schein zurück und verlockte dadurch den Gegner, sich mit voller Kraft auf ihn zu stürzen. In diesem Augenblick rannte Scha Ssöng zum Brunnen, wobei er dem dauistischen Priester, der ihn aufhalten wollte, mit seinem wuchtigen Stock über die Hände schlug, daß die Gelenke brachen und der alte Mann laut jammernd flüchtete, füllte den Eimer bis zum Rand und rief: „Älterer Bruder, wir haben, was wir brauchen! Laßt den Gegner laufen und kommt mit mir zurück. Unsere Kranken warten auf uns!“ Bei den letzten Worten glitt er bereits auf einer Wolke davon. Ssing-tschö schulterte seine Eisenstange und sagte: „Da wir erlangt haben, was wir wollten, brauche ich nicht länger mit Euch zu kämpfen. Gebt fortan jedem, der Euch darum angeht, Wasser, ohne dafür Geschenke zu verlangen. Der Mensch darf nicht Güter aufhäufen, um daraus Nutzen für sich herauszuschlagen.“ Und mit schallendem Gelächter flog er davon. Nacheinander gelangten Scha Ssöng und Ssing-tschö in der 313
Herberge an. „Das Wasser ist da! Ein ganzer Eimer voll!“ rief Scha Ssöng dem vor Schmerzen wimmernden Ba Djä zu. Ssan Tsang aber sagte: „Dieses Heilwasser verdanken wir Euren Bemühungen und Strapazen.“ Die Frauen brachen in Rufe der Bewunderung aus; sie füllten sofort eine Trinkschale zur Hälfte mit dem kostbaren Naß und boten sie Ssan Tsang an: „Trinkt, Großer Meister! Aber nur einen einzigen Schluck! Er bewirkt bereits Erleichterung!“ Ba Djä wollte durchaus den Eimer leer trinken; nur die dringliche Warnung der Frauen, daß Leber und Eingeweide ihm davon aufgelöst würden, bestimmte ihn, sich zu mäßigen. Gleich nach dem Genuß des Wassers setzte bei Meister und Schüler heftiges Bauchkollern ein, die Frauen stellten geschwind zwei Eimer bereit. Nach wiederholten Entleerungen schwoll bei beiden der Leib ab; sie fühlten sich erleichtert und wuschen sich ausgiebig in warmem Wasser. Bei dem reichlichen Abendessen, das die Frauen auftrugen, aß Ssan Tsang zwei volle Eßnäpfe leer; Ba Djä war nach dem zehnten noch nicht befriedigt. Nach erquickender Nachtruhe und sättigendem Morgenimbiß verabschiedeten sich Meister und Schüler, um ihren Weg gen Westen fortzusetzen.
54. In der Hauptstadt des Frauenstaates. Entführung des Meisters
Nach dreißig bis vierzig Li ungehinderten Weges durch das Westreich der Frauen erreichten die Pilger eine Stadt, in der sie mit Recht die Hauptstadt des Frauenstaates vermuteten. Überall eilten Frauen geschäftig hin und her, kein einziger Mann war unter ihnen zu sehen. Das Auftauchen der Fremden erregte Aufsehen. Von allen Seiten liefen Frauen zusammen. Sie staunten und lachten, klatschten in die Hände und riefen: „Shön dshung 314
lai la! – Unsere männliche Art ist da!“ Aber sie stoben entsetzt auseinander, als Ba Djä sich zu voller Höhe emporreckte, seine langen Ohren hin und her bewegte und mit seinen Kiefern mahlte. Ungehindert gelangten die Reisenden auf den Marktplatz. Vor dem Jamen hielt sie ein weiblicher Mandarin an: sie müßten die königliche Erlaubnis erwirken, um das Westreich der Frauen zu passieren. Ssan Tsang stieg vom Pferd und tauschte die übliche Begrüßung mit dem weiblichen Mandarin aus. Darauf wurden sie alle vier in das Amtsgebäude geführt, von weiblichen Soldaten mit Tee bewirtet, nach ihren Namen und dem Woher und Wohin gefragt und um Vorlage ihrer Reisebriefe gebeten. Mit diesen Dokumenten eilte der weibliche Mandarin zur Königin und erstattete Meldung. Die Königin ließ die Glocken läuten und die Trommeln schlagen, das Zeichen für ihre hundert Zivil- und Militärmandarine, sich ohne Verzug bei ihr einzufinden. Sie eröffnete die Versammlung mit einer Ansprache. „In der vergangenen Nacht sah ich im Traum einen in leuchtenden Farben bemalten Fächer und einen Spiegel aus schimmerndem Jaspis. Das sind glückverheißende Vorzeichen. Eben wurde mir gemeldet, daß der jüngere Bruder des großen Tangkaisers in unserem Staat eingetroffen ist. Das verheißene glückliche Ereignis ist also sehr schnell eingetreten.“ „Worin besteht das Glück des genannten Ereignisses?“ begehrten die Mandarine zu wissen. Die Königin erwiderte: „Den Besuch des jüngeren Tangbruders hat der Himmel herbeigeführt. Ich schlage vor, diesem Manne den Thron unseres Staates zu überlassen; ich werde fortan nur als seine Frau existieren. Indem wir auf diese Weise Jin und Jang, das männliche und das weibliche Prinzip, miteinander verbinden, werden wir eine zahlreiche Nachkommenschaft erlangen; unser Staat wird an männliche Erben übergehen und schließlich über ebenso viele Männer verfügen wie die übrigen Staaten.“ 315
Die hundert Mandarine waren hocherfreut und klatschten ihrer Herrscherin Beifall. Die Hofmeisterin wurde zur Ehevermittlerin bestimmt und begab sich mit der Beamtin aus dem Jamen zu den Fremden. Sie erwiesen Ssan Tsang die vorgeschriebene höfliche Begrüßung; die Hofmeisterin war beglückt, daß der Himmel einen Mann so würdigen Gebarens geschickt habe, um über das Reich der Frauen zu herrschen. Mit feierlicher Miene legte sie die Hände in Brusthöhe aneinander und sagte: „Jüngerer Bruder des Tangkaisers! Wisset, daß Euch ein großes Glück erwartet! Unter den Bürgern unseres Frauenstaates gibt es keinen Mann. Das Schicksal hat es gefügt, daß Ihr unsere Grenzen überschritten habt, und unsere Königin schickt mich mit dem Auftrag her, ihre Eheschließung mit Euch zu vermitteln.’’ Die junge Beamtin ermunterte Ssan Tsang, den Heiratsantrag anzunehmen. Sie erzählte den Traum, den die Königin in der vergangenen Nacht gehabt habe und in der Ankunft Ssan Tsangs verwirklicht sehe. Sie sei voller Freude bereit, seine Gemahlin zu werden und ihm den Thron abzutreten. Ssan Tsang hatte mit gesenktem Kopf zugehört und verharrte in Schweigen. Ba Djä nahm das Wort. „Frau Hofmeisterin, wollet der Königin berichten, daß unser Meister seit vielen Jahren ein Leben der Vervollkommnung führt und bereits ein lebender Buddha geworden ist. Sein Sinn steht also nicht nach Reichtum, Königswürde und Schönheit. Man möge seine Reisebriefe siegeln und ihn seinen Weg gen Westen zum Auffinden der Heiligen Schriften fortsetzen lassen. Ich, Tschou Wö-nöng, werde an seiner Statt hier bleiben. Ich werde allen Anforderungen genügen.“ Die Hofmeisterin war von Ba Djäs Rede und Aussehen so erschrocken, daß ihr die Stimme versagte und sie die Antwort schuldig blieb. Aber Ssing-tschö donnerte los: „Jüngerer Bruder, hört auf mit Eurer Überheblichkeit. Die Entscheidung steht ausschließlich dem Meister zu!“ Zum ersten Mal sprach nun auch Ssan Tsang. „Wu-kung, ich 316
bin bereit, mich Eurem Rat zu fügen.“ „Mein Rat lautet: bleibt hier!“ entgegnete Ssing-tschö. „Das Schicksal hat es gefügt, daß Mann und Frau zueinander gefunden haben. Ihr werdet es nirgendwo besser für Euch treffen als hier.“ Ssan Tsang seufte schmerzlich. „Wer wird die Heiligen Schriften suchen, wenn ich mich von Reichtum und Ruhm bestechen lasse? Und meinen Kaiser soll ich vergeblich zeitlebens auf meine Rückkehr warten lassen?“ Über beide Bedenken konnte die Hofmeisterin ihn beruhigen. „Die Königin hat bereits angeordnet“, sagte sie, „daß im Falle Eurer Zusage Euren Schülern sofort neue Reisebriefe ausgefertigt werden und sie unverzüglich die Pilgerfahrt nach dem Westen fortsetzen können. Bei ihrer Rückkehr wird die Königin sie mit allen erforderlichen Mitteln ausstatten, damit sie die Heiligen Schriften nach Tschangan schaffen können.“ Ssan Tsang neigte zustimmend den Kopf. Die Hofmeisterin und die Jamenbeamtin dankten Ssing-tschö für seine kluge Vermittlung und entfernten sich. Sofort brach Ssan Tsang in heftige Schmähungen gegen Ssing-tschö aus. „Ihr seid ein Affe, zu nichts anderem tauglich als anderen Verwirrung zu schaffen. Warum soll ich ohne Rücksicht auf meine schon erworbenen Verdienste hier bei der Königin bleiben? Selbst gesetzt den Fall, es gelingt Euch, die Heiligen Schriften Buddhas zu finden und nach Tschangan zu schaffen, so werde ich immer des Treubruchs gegen meinen Kaiser schuldig bleiben. Eher sterben als eine solche Schmach auf mich nehmen!“ „Meister, beruhigt Euch!“ bat Ssing-tschö. „Seid überzeugt, ich durchschaue unsere Lage. Unser Weg ist von Feinden versperrt, die Zehntausende von Soldaten und Waffen zur Verfügung haben. Ich vermag gegen Ungeheuer zu kämpfen, aber nicht gegen solche Heeresmacht. Uns kann nur Verschlagenheit helfen. Mein Plan ist folgender: die Königin wird Euch jetzt mit 317
der Drachensänfte in den Palast geleiten. Folgt Ihr bereitwillig. Sobald Ihr die Thronbesteigung vollzogen habt, drängt Ihr auf die Ausstellung der Geleitbriefe für uns. Wenn das Hochzeitsmahl beendet und der Augenblick gekommen ist, Euch mit der Königin in die Brautkammer zurückzuziehen, besteht Ihr darauf, zuvor Eure Schüler zur Stadt hinauszugeleiten. Sobald wir das Stadttor passiert haben, banne ich die Königin und das ganze Gefolge für vierundzwanzig Stunden an ihren Platz. Ihr klettert aus der Sänfte, besteigt Euer Pferd, und wir haben einen ganzen Tag Vorsprung, ehe sie die Verfolgung aufnehmen können.“ Ssan Tsang kam allmählich zu sich wie jemand, der nach einem schweren Rausch die Besinnung wieder erlangt. Er dankte Ssingtschö für den wohlüberlegten Plan, und auch Ba Djä und Scha Ssöng waren über die Lösung befriedigt. Die Ereignisse traten ein, wie Ssing-tschö es vorausgesehen hatte. Die Königin fand, daß Ssan Tsang ihren geheimsten Herzenswünschen entsprach. Sie geleitete ihn, von ihren hundert Mandarinen gefolgt, in der Drachensänfte in den Palast, wo ein prächtiges Festmahl der Gäste harrte. Auf der rechten Seite der Halle waren gewürzte Fleischgerichte, auf der linken Speisen der Enthaltsamkeit aufgetischt. Ssan Tsang nahm auf der linken Seite Platz und bat die Königin geziemend, sich an der Tafel gegenüber niederzulassen. Es begann ein fröhliches Schmausen und Zechen. Nur Ba Djä konnte wieder einmal im Essen kein Maß halten und trank so schnell, daß ihm der Reiswein schließlich in einer Kanne gereicht wurde. „Wir müssen schnellstens aufbrechen!“ grölte er durch die Halle. Zitternd vor Angst, daß Ba Djä den Plan verraten könnte, bat Ssan Tsang, die Pässe für seine Schüler zu siegeln, damit sie ohne Zeitverlust aufbrechen könnten. Die Königin entsprach dem Wunsch ihres Gemahls und erklärte sich auch bereit, mit ihm zusammen den Pilgern das Geleit bis zum Stadttor zu geben. Die 318
Sänfte wurde bereitgestellt. Ssan Tsang und die Königin stiegen ein, die hundert Mandarine ordneten sich dahinter. Ein prächtiger Zug bewegte sich unter Führung der drei Schüler durch die Stadt. Vor allen Häusern waren Opferschalen aufgestellt, aus denen duftende Weihrauchdämpfe emporstiegen, und das gemeine Volk drängte sich auf der Hauptstraße, um der Königin zu huldigen, aber auch, um die Fremden neugierig zu bestaunen, denn niemand in der Menge hatte bisher ein männliches Wesen zu Gesicht bekommen. Am Westtor angelangt, geboten die drei Schüler dem Zug Halt und riefen: „Eure Majestät wolle uns gestatten, uns auf die Pilgerfahrt zu begeben, und uns gnädigst entlassen!“ Im selben Augenblick stieg Ssan Tsang aus der Sänfte, legte die Hände in Brusthöhe aneinander und sagte: „Eure Majestät wolle allein zurückkehren und mir, einem armen Bonzen, gestatten, die Suche nach den Heiligen Schriften fortzusetzen!“ Die Königin schrie entsetzt auf und packte Ssan Tsang am Zipfel seines Obergewandes. Aber Ba Djä, mit Ohren und Nase wackelnd, brüllte: „Wie konntet Ihr erwarten, daß ein Bonze ehelicht? Laßt unseren Meister frei!“ und versetzte die Königin so in Angst, daß sie bewußtlos zur Seite sank. Geschwind half Scha Ssöng seinem Herrn in den Sattel, als eine unbekannte Frau gerannt kam mit dem Ruf: „Jüngerer Bruder des Kaisers, folgt mir! Die Stunde ist gekommen, da Mond und Wind sich verbinden müssen!“ Scha Ssöng hob abwehrend seinen Stock, da heulte ein Wirbelsturm los, die Frau packte Ssan Tsang mit beiden Armen und entschwand mit ihm auf einer Wolke.
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55. Ssan Tsang wird mit unzüchtigen Verführungen gelockt. Seine Heiligkeit verleiht ihm die Kraft zu widerstehen
Ssing-tschö verfolgte von der Höhe einer Wolke den Weg, den die fremde Frau einschlug, und rief seinen beiden Gefährten auf der Erde zu, sie sollten sofort mit ihm die Suche nach dem Meister aufnehmen. Darauf schwangen sich Ba Djä mit dem Pferd und Scha Ssöng mit dem Reisegepäck ebenfalls auf eine Wolke und glitten in nordwestlicher Richtung hinter Ssing-tschö her. Die Königin und ihr Gefolge wurden aschfahl vor Schrecken, als sie die vier Pilger in die Lüfte aufsteigen sahen. „Wir haben Augen ohne Pupillen“, ging ein Geraune durch die Reihen, „daß wir diese Heiligen für Bonzen aus dem Tangreich angesehen und unsere Zeit mit Vorbereitungen allerlei Art vertan haben.“ Schamrot bestieg die Königin ihre Sänfte, um in den Palast zurückzukehren. Die drei Gefährten beobachteten, wie die Kraft des Wirbelsturms sich an einem hohen Berggipfel brach. Sie spähten aufmerksam umher und entdeckten eine steinerne Schutzmauer, die den bösen Geistern den Eintritt ins Haus verwehrt, und dahinter ein in den Felsen gehauenes Tor, über dem sechs Schriftzeichen besagten: Du Di Schan Pi-pa Dung – Höhle der Pi-pa im Berg der tückischen Feinde. Ssing-tschö hieß seine Begleiter auf ihn warten und flog als Biene in die Höhle. In der Mitte saß, von zahlreichem Gefolge umringt, ein weibliches Ungeheuer. Zwei Dienerinnen hatten gerade ein Gericht der Enthaltsamkeit und ein Gericht gewürztes Fleisch serviert und waren dabei, Ssan Tsang von hinten zum Mittelteil der Höhle zu führen. An den gelb verfärbten Augen und den schwarzen Lippen erkannte Ssing-tschö, daß der Meister bereits von giftigem Odem angehaucht worden war. Die 320
Frau begann sofort, süßlich auf ihn einzureden, daß er bei ihr bleiben möge. Sie könne ihm Vergnügen bieten, die dem Bonzenleben vorzuziehen seien, und ihm hundert Jahre vollkommener Glückseligkeit zusagen. Dabei schmiegte sie sich an ihn und streichelte ihn. Von Angst um seinen Herrn gepackt, nahm Ssing-tschö seine wahre Gestalt an und schrie, seine Eisenstange schwingend, die Verführerin an: „Entartetes Weib, fürchtet Ihr den Tod nicht? Gebt meinen Herrn auf der Stelle frei!“ Das Ungeheuer befahl sofort, den Bonzen einzusperren, stieß eine schwarze Rauchwolke aus dem Mund aus und stürzte sich, mit einer eisernen Heugabel bewaffnet, auf Ssing-tschö. „Das sollst du mir büßen, erbärmlicher Affe! In meine Höhle einzudringen und hier herumzuschnüffeln!“ Ssing-tschö nahm den Kampf auf und lockte die Gegnerin dabei vor das Tor. Überrascht, sich drei Feinden gegenüberzusehen, blies sie Rauchwolken aus dem Mund und Feuerstrahlen aus beiden Naslöchern und verfügte plötzlich über unzählige Hände, deren jede eine Heugabel schwang. Dabei schrie sie in einem fort: ,,Wu-kung, Ihr müßt die Pupillen aus den Augen verloren haben, daß Ihr mich nicht erkennt, mich, die sogar der Erhabene Buddha fürchtet!“ Und unversehens versetzte sie mit einer unbekannten Waffe, die sie bis dahin verborgen gehalten hatte, Ssing-tschö einen wuchtigen Schlag gegen den Kopf, daß er vor Schmerzen aufschrie und flüchtete. Ba Djä und Scha Ssöng liefen hinter ihm her. An einer geschützten Stelle angelangt, machten die drei halt. Ba Djä spottete: Ssing-tschö habe stets mit seinem eisenharten Schädel geprahlt, es scheine aber mit dessen Unverwundbarkeit doch nicht allzu weit her zu sein. Scha Ssöng schnitt ihm das Wort ab mit dem Hinweis auf die Gefahr, in der sich der Meister befinde und die sie ohne den älteren Bruder nicht meistern könnten. Ssing-tschö teilte diese Besorgnis nicht; die Heiligkeit des 321
Meisters werde ihm die Festigkeit verleihen, allen fleischlichen Verführungen zu widerstehen. Über Nacht verschwanden Ssing-tschös Kopfschmerzen; es belästigte ihn nur noch ein heftiges Jucken am ganzen Körper. In der Morgendämmerung machte er sich mit Ba Djä auf den Weg zur Höhle der Unholdin. Scha Ssöng blieb zur Bewachung von Pferd und Reisegepäck zurück. Wiederum drang Ssing-tschö als Biene in die Höhle ein. Er fand den Meister, wie er geknebelt und gefesselt in einer Ecke vor sich hin wimmerte, und setzte sich ihm auf den Schädel. „Meister, wie habt Ihr die Nacht verbracht?“ flüsterte er ihm ins Ohr. Ssan Tsang erkannte sofort die Stimme und antwortete leise: „Während der ersten Hälfte der Nacht hat das entartete Geschöpf unentwegt auf mich eingeredet, daß ich meine Kleidung ablegen solle. Als ich standhaft auf meiner Weigerung beharrte, wurde ich geknebelt und hierher geworfen. Ich flehe Euch an: befreit mich, damit wir unsere Pilgerfahrt fortsetzen können.“ Ssan Tsangs Schluchzen schreckte die Unholdin aus dem tiefen Schlaf auf, in den sie nach den Anstrengungen des Vortages und der Nacht verfallen war, und sie hörte seine letzten Worte. „Ihr bleibt also bei Eurer Weigerung, mein Gatte zu werden!“ fuhr sie ihn wütend an. Ssing-tschö flog eilends zu Ba Djä zurück, nahm seine eigene Gestalt wieder an und begab sich mit Ba Djä zusammen von neuem zur Höhle. Auf die Meldung von ihrer Ankunft trat die Unholdin vor das Tor. „Weshalb laßt Ihr Euch zum zweiten Mal vor meiner Höhle sehen, erbärmlicher Affe und ebenso erbärmliches Wildschwein!“ schrie sie den beiden entgegen. Auf Ba Djäs drohend vorgetragene Forderung, den Meister freizulassen, wurde sie sofort wieder zu einem vielhändigen Wesen mit unzähligen Heugabeln und versetzte unversehens mit derselben unbekannten Waffe wie Ssing-tschö am Vortag Ba Djä einen heftigen Schlag ins Gesicht. Der Getroffene wandte sich laut jammernd 322
zur Flucht. Ssing-tschö folgte ihm. Beide hasteten zu Scha Ssöng. Während die drei Gefährten einander noch ratlos anblickten, kam von Süden her eine Frau mit einem bambusgeflochtenen Fischkorb auf sie zu. Ssing-tschö erkannte in der Verkleidung Guanjin, und alle drei erwiesen sie ihr die vorgeschriebene Begrüßung. Darauf nahm die Göttin ihre wahre Gestalt an und erhob sich über die Erde. Ssing-tschö folgte ihr und erflehte ihre Hilfe bei der Rettung des Meisters. Die Göttin erwiderte: „Dieses Ungeheuer ist äußerst heimtückisch. In seinen eisernen Heugabeln verfügt es über gefährliche Waffen, aber noch weit gefährlicher ist das Gift, das es aus seiner Schwanzspitze ausspritzen kann. Es war ursprünglich ein Skorpion, der einstmals in unbezähmbarer Wildheit Buddha in die linke Hand biß und seitdem ein Leben in der Gestalt dieses Ungeheuers führen muß. Ich selbst wage nicht, mich ihm zu nähern. Begebt Euch zum Palast der Himmlischen Klarheit und erbittet dort die Hilfe des Sterngeistes Ang-shi.“ Nach diesen Worten entschwebte die Göttin in südlicher Richtung. Ssing-tschö berichtete seinen Gefährten von dem Gespräch, befahl ihnen, auf dem Rastplatz seine Rückkehr abzuwarten, und eilte zum Himmelstor. Während er sich erkundigte, wo er den Sternengeist Ang-shi finden könne, kam dieser auf der Rückkehr von einer Inspektion aus der entgegengesetzten Richtung auf ihn zu. Als er erfahren hatte, was Ssing-tschö zu ihm führte, erklärte er sich ohne Zögern bereit, Ssan Tsang zu helfen, und begab sich mit Ssing-tschö zu der Geisterschutzwand. Scha Ssöng sah Ssing-tschö mit seinem hohen Begleiter kommen und machte Ba Djä darauf aufmerksam. Beide erhoben sich; aber statt sich tief zu verneigen, hielt sich Ba Djä mit beiden Händen den Kopf und klagte laut: „Die entartete Unholdin hat mir heute morgen einen heftigen Schlag ins Gesicht versetzt, und ich kann die Schmerzen kaum ertragen. Wollet verzeihen, daß ich Euch nicht in der vorgeschriebenen Form begrüße.“ Der Ster323
nengeist blies ihm zweimal über das Gesicht; der Schmerz hörte auf, und Ba Djä lachte wieder. Der Anblick dieser wundersamen Heilung ermutigte Ssingtschö zu der gleichen Bitte. „Was Ba Djä heute widerfahren ist“, sagte er, „hat das Ungeheuer mir gestern angetan, und ich leide unter einem unerträglichen Jucken. Wollet auch mir Heilung gewähren.“ Und der Sternengeist blies auch Ssing-tschö zweimal über das Gesicht, das Jucken hörte im Augenblick auf. „Bringt das Ungeheuer nun dazu, vor das Tor zu kommen“, sagte der Sternengeist, „damit ich ihm das verdiente Schicksal bereiten kann!“ Ssing-tschö und Ba Djä rannten das Tor zur Höhle ein. Die Unholdin war gerade dabei, Ssan Tsang ein Mahl auftragen zu lassen. Beim Anblick ihrer Gegner griff sie zu ihrer Eisengabel und stürmte ihnen kampfwütig entgegen. Noch bevor sie dazu kam, ihre geheime Waffe anzuwenden, lockten sie die Angreifer in vorgetäuschtem Rückzug vor das Tor. Kein Sternengeist war zu sehen! Ein Hahn mit doppeltem Kamm und goldenem Gefieder stolzierte auf Menschenbeinen einher und reckte einen sechs bis sieben Dji langen Hals in die Höhe. Als er der Unholdin ansichtig wurde, fixierte er sie und krähte einmal: sie schlug längelang auf den Rücken und verwandelte sich in die ihr eigene Gestalt eines weiblichen Skorpions. Der Hahn krähte zum zweiten Mal: sie wurde stocksteif, und er zertrat sie. Die drei Gefährten dankten dem Sternengeist und verneigten sich ehrerbietig zur Sonne hin. Dann eilten sie in die Höhle. Die Diener des vernichteten Ungeheuers empfingen sie auf Knien und sagten: „Wir waren Gefangene Eurer Feindin und verübten keinerlei Grausamkeiten. Euer Herr liegt weinend und klagend gefesselt im hinteren Teil der Höhle.“ Ssing-tschö befreite den Meister und erzählte ihm, was sich zugetragen hatte, seitdem sie aus der Hauptstadt des Frauenstaates ausgezogen waren. Darauf sättigten sich alle vier an einem Mahl der Enthaltsamkeit, brachten die Diener auf den Weg 324
zur Hauptstadt und setzten die Höhle der Pi-pa in Brand. Gemeinsam gingen sie schließlich in westlicher Richtung los.
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ZWEI SSING-TSCHÖS VERURSACHEN IN DEN DREI REGIONEN GROSSEN TUMULT
56. Ssing-tschö trägt einen unfrommen Trauerspruch vor. Ssan Tsang entläßt ihn
Am fünften Tag des fünften Monats stiegen die Pilger einen steilen Gebirgshang in die Ebene hinab. Da Ba Djä über erschreckende Leere in seinem Bauch klagte und möglichst schnell ein Dorf erreichen wollte, um von den Bauern Nahrungsmittel zu erbetteln, trieb Ssing-tschö das Pferd an, daß es pfeilgeschwind dahingaloppierte und Ssan Tsang sich am Zügel festklammerte, um nicht abgeworfen zu werden. Die drei Schüler rannten in weitem Abstand hinterher. Als Ssan Tsang gut zwanzig Li über flaches Land zurückgelegt hatte, blieb das Pferd plötzlich stehen. Zimbeln ertönten, etwa dreißig Bewaffnete versperrten den Weg. Zwei Bandenführer traten hervor und fragten: „Bonze, wohin so eilig?“ Ssan Tsang fiel vor Schreck aus dem Sattel; sich mühsam aufrichtend, flehte er: „Erhabene Könige, wollet mein Leben verschonen!“ Die beiden Räuber entgegneten: „An Eurem Leben liegt uns nichts. Gebt uns Euer Geld, und wenn Ihr keines habt, Eure Kleidung, und wir lassen Euch unverzüglich weiterreiten.“ Ssan Tsang erwiderte, daß er als armer Bonze kein Geld bei sich habe und seine abgetragenen und geflickten Sachen brauche, um sich gegen Kälte und Unwetter zu schützen. Die Herren täten gut, ihrem bösen Treiben zu entsagen, fügte er hinzu, denn wer in diesem Leben stehle, werde im nächsten in ein vernunftloses Tier verwandelt. Über diese Rede ergrimmten die Kerle 327
und wollten auf ihn losschlagen. Da entlockte die Todesangst Ssan Tsang eine Lüge. „Werte Herren, bringt ein wenig Geduld auf! Meine Schüler kommen hinter mir her, sie haben einige Silbertael bei sich.“ Die Räuber waren bereit zu warten, ließen aber bis zur Ankunft der Schüler Ssan Tsang von den Zimbelspielern an einem Ast aufhängen. Inzwischen näherten sich Ssing-tschö, Ba Djä und Scha Ssöng der Stelle des Überfalls. Sie hatten auf der letzten Wegstrecke bereits unruhig nach dem Meister ausgeschaut und sahen ihn nun zu ihrem Schrecken an einem Baum hängen! Ssing-tschö kletterte auf eine niedrige Anhöhe und wurde die Räuberbande gewahr. Er nahm schnell die Gestalt eines sechzehnjährigen Bonzen an, der mehrere in blaue Baumwolltücher eingeschlagene Reisesäcke schleppte, und ging auf Ssan Tsang zu. „Meister, was soll das bedeuten?“ fragte er. Ssan Tsang erkannte Ssing-tschö unter der Verkleidung und berichtete ihm den Überfall und seine Lüge. „Hau, hau! – Sehr gut!“ versetzte Ssing-tschö. „Sollen sie haben, was sie wollen!“ Die Räuber hatten die Verhandlung ihres Gefangenen mit dem jungen Bonzen beobachtet und umringten die beiden. „Ssjau ho schang! – Junger Bonze! Euer Meister hat uns gesagt, daß Ihr Geld im Gepäck habt. Heraus damit, wenn Euch an Eurem Leben liegt.“ Ssing-tschö setzte das Reisegepäck ab und entgegnete in aller Gelassenheit: „Ssjä wee dshang gwan, bu jau sjang! – Hochgeehrte Herren, wollet nichts überstürzen! Geld ist im Gepäck, das stimmt, aber viel ist es nicht. So an zwanzig Gold- und zwanzig bis dreißig Silbertael, außerdem einige verschieden schwere Gold- und Silberbarren. Gebt meinen Meister frei, und ich überlasse Euch die gesamte Summe. Wir ernähren uns durch Betteln und sind nicht auf die Güter dieser Erde angewiesen.“ Die Räuber strahlten vor Freude und ließen Ssan Tsang von dem Ast losbinden. Im selben Augenblick saß er bereits im Sattel 328
und ritt in der Richtung, aus der die Pilger gekommen waren, zurück. Ssing-tschö raffte das Reisegepäck vom Boden auf und wollte dem Davongaloppierenden mit lautem Rufen: „Dsou dso lu la! –Anders lang!“ nachrennen. Aber die Räuber packten ihn und schrien: „Erst das Geld abliefern!“ Ssing-tschö lachte. „Gut! Und danach teilt Ihr Eure Beute mit mir!“ „Ein verschlagener Bursche!“ sagte der eine Bandenführer. „Wir sind bereit, Euch von dem Geld, das wir im Gepäck Eures Herrn finden werden, einen kleinen Betrag abzugeben, damit Ihr Euch einige Leckerbissen kaufen könnt.“ „Ich bezog die Teilung nicht auf meines Herrn Besitztümer“, entgegnete Ssing-tschö, „sondern auf die gesamte Beute, die Ihr bisher gemacht habt.“ Dieses Ansinnen versetzte die Bandenführer in maßlose Wut, und sie schlugen mit ihren Lederpeitschen ohne Aufhören auf Ssing-tschös Kopf ein. „Schlagt bis Neujahr!“ bemerkte Ssingtschö lächelnd. Die beiden feuerten sich gegenseitig an; die Hiebe prasselten wie Hagelkörner nieder. „Ssjä wee dshang gwan! – Hochgeehrte Herren! Laßt den Zorn nicht Herr über euch werden!“ sagte Ssing-tschö schließlich. „Ich will euch die einzige Kostbarkeit zeigen, die ich besitze.“ Und dabei holte er aus dem Ohr eine winzige Nadel heraus und hielt sie den begierig auf sein Tun achtenden Banditen hin. „Ich schenke Euch diese Nadel! Nehmt sie!“ „Ihr habt das Schneidern gelernt, behaltet Euer Handwerkszeug!“ schrien die Räuber erbost. „Wir haben an derlei Dingen keinen Bedarf.“ Ssing-tschö warf die Nadel hoch in die Luft und fing seine goldbereifte Eisenstange auf. Mit den Worten: „Sie soll dem gehören, der sie herausziehen kann!“ stieß er sie in den Erdboden. Aber keinem der Banditen gelang es, sich der anscheinend locker im Boden haftenden Stange zu bemächtigen. Ssing-tschö griff zu und hielt sie in der Hand. Wiederum sausten die Peitschenhiebe 329
auf seinen Schädel nieder. Einen Augenblick hielt er noch stand. Dann schrie er: „ Jetzt ist die Reihe zu handeln an mir!“ Schon holte er mit der Stange gegen den einen Führer aus. Ohne einen Schrei, ohne Zittern fiel er vornüber zu Boden. „Junger Bonze! Genügt es Euch nicht, uns unsere Beute vorzuenthalten? Müßt Ihr auch noch ein Leben vernichten?“ brüllte der andere Führer. „Ein Leben, das kein Bedauern wert ist!“ brüllte Ssing-tschö zurück und holte noch einmal aus. Auch der zweite Bandenführer fiel tot zu seinen Füßen nieder. Die Räuber und Zimbelspieler flüchteten. Inzwischen hatten Ba Djä und Scha Ssöng den auf seinem Drachenpferd dahinjagenden Ssan Tsang verwundert angehalten. „Meister, wohin wollt Ihr? Ihr habt die falsche Richtung eingeschlagen!“ Ssan Tsang entgegnete: „Eilt beide zu Ssing-tschö und verbietet ihm in meinem Namen, auch nur einen einzigen Räuber zu töten.“ Ba Djä bat den Meister, erst einmal abzusteigen und unter Scha Ssöngs Obhut zuwarten; er selbst werde Ssingtschö den Befehl überbringen. Er mußte aber mit dem Bescheid zurückkehren, daß Ssing-tschö die beiden Bandenführer erschlagen hatte. Ssan Tsang brach in heftige Vorwürfe gegen die Affen im allgemeinen aus und beschuldigte sie der Herzlosigkeit. Von Ba Djä und Scha Ssöng begleitet, begab er sich zu der Kampfstätte. Ba Djä mußte ein Grab ausheben, und nach der Beisetzung der Leichen sprach Ssan Tsang die vorgeschriebenen Gebete. Er schloß mit einem von ihm selbst verfaßten Trauerspruch: „Verehrungswürdige Helden, höret mein Gebet! Ich war auf der Pilgerfahrt in die Länder des Westens, um die Heiligen Schriften Buddhas zu suchen, und Ihr versperrtet mir den Weg. Auf meine gütliche Ermahnung, von Eurem Treiben abzulassen, hörtet Ihr nicht, darum seid Ihr einem grausamen Tod anheimgefallen. Erhebt deswegen Klage gegen Ssing-tschö in den Zehn Hallen der Gerechtigkeit. Mich, den Bonzen Ssan Tsang, dürft 330
Ihr in Eurer Klage nicht nennen.“ Sofort beklagte sich Ba Djä, daß der Meister ihn und Scha Ssöng nicht in seine Rede einbezogen habe, und Ssan Tsang fügte seinem Spruch hinzu: „Erhebt Eure Klage nur gegen Ssing-tschö. Ba Djä und Scha Ssöng haben mit dem Mord an Euch nichts zu schaffen.“ Ssing-tschö vermochte nicht länger an sich zu halten. „Meister, Ihr handelt ungerecht und undankbar gegen mich. Ohne meine Hilfe hättet Ihr die vielfältigen Hindernisse, die sich bisher Eurer Reise entgegenstellten, nicht überwunden. Nur die Sorge um Euch hat mich veranlaßt, die beiden Banditen zu töten, und Ihr gebt ihnen auf, Klage gegen mich zu erheben. Erlaubt, daß ich meinen eigenen Trauerspruch vortrage.“ Ssing-tschö stampfte dreimal mit seiner Eisenstange auf den Erdboden und sagte: „Mit der Pest geschlagene Räuber, hört genau zu! Ihr habt Euch nicht begnügt, mir einige Hiebe, ihrer sieben oder acht, zu versetzen, sondern einen wahren Hagel von Peitschenhieben auf mich niedergehen lassen. Solcher Behandlung leid, versetzte ich jedem von Euch einen einzigen Schlag mit meiner Eisenstange. Wie sollte ich ahnen, daß Ihr dem erliegen würdet! Wisset aber, daß es mir nichts ausmacht, wenn Ihr Klage gegen mich erhebt. Ich, der alte Ssun Wu-kung, bin dem Obersten Himmelsherrn wohlbekannt, und ich habe zu allen führenden himmlischen Persönlichkeiten die besten Beziehungen.“ Von Furcht geschüttelt, brachte Ssan Tsang heraus: „O mein Schüler, ich habe immer nur Euer Bestes gewollt. Wie kommt Ihr auf den Gedanken, ich wollte Euch Schaden zufügen?“ Ssing-tschö entgegnete: „Das Reden führt zu nichts, beeilen wir uns, weiterzukommen!“ Ssan Tsang stieg zu Pferde. Im tiefsten Innern hegte er Groll, und Ssing-tschö war es traurig ums Herz. Die Reisenden waren ein erhebliches Stück weiter westwärts vorangekommen, und der Abend nahte, als im Norden ein einzelnes Haus sichtbar 331
wurde. Ssan Tsang saß ab und betrat das Grundstück, nannte dem Greis, der herbeieilte, seinen Namen und das Ziel seiner Pilgerfahrt und bat für sich und seine Schüler um ein Nachtquartier. Der Alte führte die Fremden in die Hütte, obwohl ihn das Aussehen der drei Begleiter des Bonzen in argen Schrecken versetzte, und seine Frau trug Gerichte der Enthaltsamkeit auf. In der Unterhaltung stellte sich heraus, daß der Sohn des Gastgebers, mit Namen Jang, unter die Räuber gegangen war, und die Pilger konnten leichtlich erraten, daß er zu der Bande gehörte, deren Hauptleute Ssing-tschö erschlagen hatte. „Würdet Ihr trauern, ehrwürdiger Vater“, fragte Ssing-tschö, „wenn dieser mißratene Sohn nicht zu Euch zurückkehrte?“ Darauf erwiderte der Alte: „Wenn er Brüder hätte, nein. Aber er ist mein einziger Sohn und muß mich bestatten und um mich trauern.“ Die Gäste erwiderten nichts darauf, und da es spät geworden war, führte der Wirt seine Gäste in ein Gartenhäuschen und versorgte sie mit Matten für die Nachtruhe. Während der vierten Nachtwache klopfte Jang mit seinen Kumpanen die alten Leute aus dem Schlaf und begehrte eine kräftige Mahlzeit. Dabei entdeckte er das angepflockte Drachenpferd, und als der Vater ihm von den vier Pilgern erzählte, denen er Unterkunft gewährt habe, frohlockte er und verabredete mit seinen Begleitern einen Überfall auf die Mörder ihrer Führer; zuvor aber wollten sie ihren gewaltigen Hunger stillen. Der Greis hatte die Unterhaltung gehört, eilte in das Gartenhäuschen, berichtete den Pilgern von dem Anschlag gegen sie und ließ sie durch eine Hintertür entkommen. Um die fünfte Nachtwache machten sich die Banditen an die Ausführung ihres Vorhabens. Sie suchten das Grundstück mit Fackeln ab, entdeckten das offengebliebene Hinterpförtchen und setzten den Fliehenden nach. Die Sonne ging gerade auf, als sie sie einholten. Ssan Tsang hörte als erster den näherkommenden Lärm und blickte sich um. „Räuber! Zwanzig bis dreißig Mann! 332
Wie sollen wir ihnen entkommen?“ jammerte er verängstigt. „Keine Sorge!“ sagte Ssing-tschö beschwichtigend. Er mußte es schweigend hinnehmen, daß Ssan Tsang entgegnete: „Begnügt Euch, sie einzuschüchtern und in die Flucht zu jagen! Begeht keine neuen Morde!“ Ssing-tschö stellte sich der Bande entgegen und rief, seine Eisenstange schwingend: „Ehrenwerte Herren, wohin des Weges?“ Schon umzingelten ihn die Kerle und drängten auf ihn ein. Aber vergeblich. Wer nicht von der Eisenstange gefällt wurde, ergriff die Flucht. Von Entsetzen gepackt, setzte Ssan Tsang sein Pferd in Trab. Ba Djä und Scha Ssöng rannten hinter ihm her. Ssing-tschö ließ sich von einem Räuber, der ihm gerade entwischen wollte, unter den Leichen den Spießgesellen Jang zeigen. Er köpfte ihn mit einem der umherliegenden Schwerter und eilte mit dem bluttriefenden Haupt in der erhobenen Hand seinem Herrn nach. ,,Das ist der Kopf des mißratenen Jang!“ rief er. Ssan Tsang wurde aschfahl und fiel vom Pferd. „Dieser Affe kostet mich noch das Leben! Vergrabt den Schädel sofort!“ rief er, von Grauen geschüttelt. Während ihm Scha Ssöng half, das Pferd wieder zu besteigen, sprach er bereits die unheilvolle ,Goldreifformel’ vor sich hin, und Ssing-tschö wälzte sich, vor Schmerzen schreiend, auf dem Boden. „Ich verzichte auf Eure weiteren Dienste!“ erklärte Ssan Tsang. „Wie oft habe ich Euch zum Guten ermahnt! Kein einziges Mal habt Ihr auf mich gehört. Ihr bleibt dem Mord und der Grausamkeit verhaftet! Untersteht Euch nicht, mir weiterhin zu folgen!“ „Mo njän! Mo njän! – Schon gut! Schon gut! Ich gehe!“ entgegnete Ssing-tschö und flog in der schnellsten Flugart davon.
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57. Ssing-tschö klagt der Göttin Guanjin sein Leid. Auf dem Berg der Blumen und Früchte herrscht ein falscher Ssing-tschö
Bei Beginn des Fluges ließ sich Ssing-tschö von der Sehnsucht nach dem Berg der Blumen und Früchte leiten. Aber plötzlich überkam ihn die Befürchtung, die Gefährten könnten ihn verspotten, daß er das gesteckte Reiseziel nicht erreicht habe, und er beschloß, seinen Meister noch einmal um Gerechtigkeit anzugehen. Er flog also zurück und warf sich vor Ssan Tsang nieder. „Meister, ich will fortan keine Grausamkeiten mehr verüben“, flehte er, „erlaubt, daß ich Euch fürderhin begleite.“ Aber Ssan Tsang beschied ihn mit harten Worten abschlägig, und Ssingtschö schlug den Weg zur Insel Putu ein: es trieb ihn, der Göttin Guanjin sein Leid vorzutragen. Die Göttin empfing Ssing-tschö sofort, und er erzählte ihr, von heftigem Schluchzen unterbrochen, was sich ereignet hatte. Sie wies ihn darauf hin, daß Ssan Tsang jedem sittenwidrigen Verhalten abhold sei und darum Mord und Kränkung ablehnen müsse; Ssing-tschö verfüge über so viele Möglichkeiten, seine Feinde unschädlich zu machen, daß er des Mordes als Waffe entraten könne. Sie sah aber mit göttlichem Blick voraus, daß Ssan Tsang in allernächster Zeit in große Gefahr geraten und der Hilfe Ssing-tschös dringend bedürfen werde. Darum schlug sie ihm vor: „Bleibt hier und wartet, bis ich mit Ssan Tsang verhandelt habe, daß Ihr ihn in die Länder des Westens begleiten dürft und damit die Möglichkeit erhaltet, die höchsten Stufen der Heiligkeit zu erreichen.“ Ssing-tschö wagte nicht, dem Vorhaben der Göttin zu widersprechen. 334
Inzwischen hatte Ssan Tsang reichlich fünfzig Li zurückgelegt. Er war erschöpft, dazu hungrig und durstig, und beauftragte Ba Djä, ihm wenigstens etwas Wasser zu verschaffen. Es verging eine geraume Weile, Ba Djä kam nicht zurück. Scha Ssöng hatte Mitleid mit seinem Herrn, der schweigend vor sich hin weinte, und begab sich auf die Suche nach Ba Djä und nach Wasser. Dem einsamen Ssan Tsang näherte sich unvermutet Ssingtschö. Er kniete vor ihm nieder, hielt ihm einen Krug Wasser entgegen und sagte: „Meister, nun ich Euch nicht ständig zur Verfügung stehe, müßt Ihr unter Hunger und Durst leiden. Labt Euch erst einmal an diesem köstlich frischen Wasser; schon ein einziger Schluck wird Euch erquicken. Ich will sofort auch noch Reis für Euch beschaffen.“ „Ich verdurste lieber, als daß ich Eure Hilfe in Anspruch nehme! Verlaßt mich auf der Stelle!“ versetzte Ssan Tsang. „Meister, Ihr könnt ohne meinen Beistand nicht in die Länder des Westens gelangen!“ wandte Ssing-tschö ein. „Ihr habt mit meinem Vorhaben nichts mehr zu schaffen!“ beharrte Ssan Tsang. „Hört auf, mich zu belästigen.“ Da packte Ssing-tschö die Wut. „Niederträchtiger Bonze!“ donnerte er los, „immer habt Ihr nur kränkende Worte für mich gehabt!“ Und dabei versetzte er Ssan Tsang mit seiner Eisenstange einen Hieb in die Nierengegend, daß der bewußtlos zur Seite sank. In aller Eile bemächtigte sich Ssing-tschö des gesamten Reisegepäcks und entschwand auf einer Wolke. Ba Djä hatte erst nach langem Suchen eine Hütte entdeckt und von den beiden Frauen, die er darin antraf, einen Eßnapf voll Reis erbettelt. Auf dem Heimweg traf er Scha Ssöng, vertraute ihm den Napf Reis an und füllte in einem Bach nahebei einen Krug mit Wasser. Wie erschraken sie, als sie, voller Freude mit ihren Schätzen zurückkehrend, ihren Meister wie leblos auf dem Boden vorfanden und ihm Blut aus Mund und Nase sickerte. Allmählich erlangte Ssan Tsang das Bewußtsein wieder, und sie 335
schafften ihn behutsam auf dem Rücken des Pferdes zu der Hütte, in der Ba Djä vor kurzem den Reis bekommen hatte. Die Frauen nahmen den Kranken auf, und Scha Ssöng bereitete ihm eine kräftige Mahlzeit. Als Ssan Tsang sich wieder frisch fühlte, beratschlagten sie zu dritt, wer dem Meister das Wasser gebracht und sich des Gepäcks bemächtigt haben mochte, und sie wurden sich schnell darüber einig, daß Ssing-tschö der Frevler sei. Ba Djä erklärte sich bereit, Ssing-tschö ausfindig zu machen und ihm das entführte Gut abzunehmen; aber Ssan Tsang befürchtete, daß die beiden angesichts ihrer gegenseitigen Abneigung ins Streiten und Schlagen geraten würden, und beauftragte Scha Ssöng, Wukung nachzufliegen. Er gebot ihm, keinerlei Gewalt anzuwenden und im Fall der äußersten Bedrängnis die Göttin Guanjin um Beistand zu bitten. Scha Ssöng schwang sich auf eine Wolke und erreichte nach drei Tagen den Berg der Blumen und Früchte. Ssing-tschö saß inmitten einer Gruppe Affen und las mit großer Aufmerksamkeit einen Geleitbrief. Als er Scha Ssöngs ansichtig wurde, ließ er ihn sofort greifen und vor sich führen. „Wie kommt Ihr auf die Frechheit, in mein Gelände einzudringen?“ fragte er barsch. Scha Ssöng erwiderte: „Älterer Bruder, als der Meister Euch im Zorn gehen hieß, wagte ich nicht, mich einzumischen. Danach aber habt Ihr Ba Djäs und meine Abwesenheit ausgenützt, um unserem Meister körperlichen Schaden zuzufügen und ihm sein Gepäck fortzunehmen. Ich bitte Euch nun in des Meisters Namen, Euer Amt bei ihm wieder anzutreten. Bedenkt dabei auch, daß die zahlreichen Gefahren, die der Meister auf seiner Pilgerfahrt mit Eurer Hilfe überwunden hat und weiterhin wird überwinden müssen, Euch die höchste Stufe der Heiligkeit sichern. Seid Ihr aber entschlossen, auf dem Berg der Blumen und Früchte zu bleiben, so gebt mir die Reisesäcke heraus.“ Ssing-tschö lachte laut. „Ihr irrt gewaltig. Ich beabsichtige 336
nicht, auf die Suche nach den Heiligen Schriften zu verzichten. Ich werde sie nämlich selbst durchführen und damit meinen Ruhm für ewige Zeiten begründen.“ Diese Worte brachten wiederum Scha Ssöng zum Lachen. „Älterer Bruder, Ihr redet ohne Überlegung. Die Göttin Guanjin hat auf Buddhas Geheiß ihren Schüler Djin Dshön, der in seiner jetzigen Wiedergeburt den Namen Ssan Tsang führt, mit dem Abholen der drei Bücher, die Buddha verfaßt hat, beauftragt. Ihr allein werdet niemals in deren Besitz gelangen.“ „Ehrenwerter jüngerer Bruder“, nahm Ssing-tschö abermals das Wort, „ich habe alles wohl überlegt und trete meine Reise bereits morgen an. Ihr wähnt, es gebe nur den Ssan Tsang, den Ihr kennt; aber Ihr irrt gewaltig, ich werde es Euch beweisen.“ Er gab seinen Affen einen kurzen Befehl, und hereingeführt wurden ein zweiter Ssan Tsang, ein zweiter Ba Djä, der Reisesäcke schleppte, und ein zweiter Scha Ssöng, der in der einen Hand den wertvollen Stock mit dem Lotoskapselknopf hielt und mit der anderen ein weißes Drachenpferd führte. Wutentbrannt schrie Scha Ssöng: „Ich erlaube keinem Wesen, sich meinen Namen zuzulegen!“ Mit einem wuchtigen Hieb erschlug er seinen Doppelgänger und flüchtete. Sein nächstes Reiseziel war die Insel Putu. Er wurde sofort vorgelassen. Beim Eintreten gewahrte er am Fuß des Lotosthrones Ssing-tschö. In sinnlosem Zorn stürmte Scha Ssöng, seinen Stock schwingend, auf ihn los. Guanjin gebot ihm Einhalt und fragte nach dem Grunde seines Besuchs. Darauf berichtete Scha Ssöng, wie Ssing-tschö dem Meister Wasser angeboten, dann ihn niedergeschlagen und seines Reisegepäcks beraubt habe, und welche Pläne er hinsichtlich der Heiligen Schriften hege. Die Göttin hielt Scha Ssöng vor, daß Ssing-tschö sich seit vier Tagen bei ihr aufhalte und die Insel mit keinem Schritt verlassen habe. Scha Ssöng beteuerte seinerseits, daß er unmittelbar nach dem Gespräch mit Ssing-tschö auf dem Berg der Blumen und Früchte auf die Insel Putu geflogen 337
sei, und äußerte die Vermutung, daß es auch einen zweiten Ssing-tschö gebe. Um Klarheit zu schaffen, befahl die Göttin, daß Scha Ssöng und Ssing-tschö gemeinsam auf den Berg der Blumen und Früchte fliegen und den Betrug aufklären sollten.
58. Zwei Ssing-tschös verursachen großen Tumult. Der Erhabene Buddha entlarvt den Betrüger
Auf dem Berg der Blumen und Früchte fanden Ssing-tschö und Scha Ssöng den zweiten Ssing-tschö, der unverkennbar mit den Vorbereitungen zu seiner Pilgerfahrt beschäftigt war. Ssing-tschö stürzte sich sofort auf seinen Doppelgänger. „Wer bist du, daß du dich unterstehst, meine Gestalt anzunehmen und von meinen Höhlen Besitz zu ergreifen?“ schrie er ihn an und holte mit seiner Eisenstange aus. Im Kampfe erhoben sich die beiden in die Luft. Scha Ssöng wollte seinem älteren Bruder beistehen, konnte aber den wahren nicht vom falschen Ssing-tschö unterscheiden und mußte auf die Erde zurückkehren. Ohne Unterlaß miteinander ringend, gelangten die Gegner auf die Insel Putu. Wie aus einem Munde trugen sie der Göttin ihr Anliegen vor: „Dieses Geschöpf hat meine Gestalt angenommen. Ich komme vom Berg der Blumen und Früchte hierher, um Euch, Göttin, zu bitten, eine Entscheidung zu fällen.“ Guanjin sagte die Goldreifformel vor sich hin. Im gleichen Augenblick griff sich der eine wie der andere Ssing-tschö mit beiden Händen an den Kopf, brüllte vor Schmerzen und wälzte sich auf der Erde. Die Göttin brach mitten im Hersagen ab, sofort standen beide wieder auf den Beinen und fielen wütend übereinander her. Darauf rief die Göttin: „Ssun Wu-kung!“ Beide meldeten sich zur Stelle. Unbeirrt fuhr die Göttin fort zu sprechen. „Ihr waret ehemals Marschall in den himmlischen Gefilden und habt dort Unruhe verur338
sacht. Die himmlischen Geister kennen Euch also gut. Begebt Euch in die Obere Region und sucht dort um Entscheidung nach.“ Beide Ssing-tschös nahmen den Vorschlag an und begaben sich zum Südtor des Himmels. Himmlische Könige, Generäle und Geister verwehrten den mit lautem Kampfgetöse Einlaß Heischenden den Zutritt. Wie aus einem Munde trugen beide ihre Geschichte vor und begehrten, vor den Obersten Himmelsherrn geführt zu werden. Diesem trugen sie ebenso einstimmig ihre Bitte vor, den Betrüger zu entlarven. Dshang Di ließ den Zauberspiegel zur Unterscheidung der Ungeheuer aufstellen. Vergebens: er warf zwei Bilder des gleichen Ssing-tschö zurück. Zornig wies der Himmelsherrscher die beiden Störenfriede aus den himmlischen Gefilden. Wie aus einem Munde riefen sie unter schallendem Gelächter: „Gehen wir zu unserem Meister. Vielleicht bringt er es fertig, uns auseinanderzuhalten.“ Während dieser Auseinandersetzung um den wahren und den falschen Ssing-tschö war Scha Ssöng zu seinem Meister zurückgekehrt. Er erzählte ihm getreulich alle Geschehnisse, auch, daß er seinen Doppelgänger erschlagen und in der Leiche mit Sicherheit einen langarmigen Affen erkannt hatte. Bei dieser Stelle des Berichts wurde Ssan Tsang aschfahl vor Entsetzen. Lautes Getöse und Waffengeklirr, das aus den Wolken herunterdröhnte, verhinderte Scha Ssöng am Weitersprechen. Zwei wütend aufeinander losschlagende Ssing-tschös wurden sichtbar. Ba Djä und Scha Ssöng geboten ihnen mit lauten Rufen, vom Kampf abzulassen und sich der Entscheidung des Meisters zu unterwerfen. Sie stiegen bereitwillig auf die Erde hinab, und Ssan Tsang begann mit dem Hersagen der Goldreifformel. Sofort ertönte wie aus einem Munde Widerspruch. „Meister, ich gebe meine Kräfte hin, um Euch zu helfen. Weshalb verursacht Ihr mir qualvolle Schmerzen, die ich nicht aushalten kann?“ Ssan Tsang schwieg. 339
Die Gegner kamen wieder auf die Beine und wandten sich mit der gleichen Rede an Ba Djä und Scha Ssöng: „Jüngere Brüder, wollet über unseren Herrn wachen. Ich will meinen Doppelgänger den zehn Herrschern der Unterwelt vorführen. Mögen sie entscheiden!“ Als die beiden sich entfernt hatten, nahm Scha Ssöng seine unterbrochene Rede wieder auf und erklärte, warum er das Reisegepäck nicht mitgebracht hatte: der Eingang zur Höhle war durch einen Sturzbach versperrt. Ba Djä wollte gesehen haben, daß Ssing-tschö mit einigen Sprüngen dieses Hindernis überwand, und wollte Ssing-tschös Abwesenheit ausnützen, um des Meisters Hab und Gut zurückzuschaffen. Ssan Tsang erkärte sich mit dem Vorschlag einverstanden, und Ba Djä flog auf der nächsten Wolke davon. Die pausenlos miteinander ringenden Ssing-tschös erschienen in einem brausenden Sturm am Eingang zu den zehn Palästen. Unter den Torwarten entstand große Aufregung. Sie benachrichtigten die zehn Herrscher und versuchten, den Ankömmlingen den Zutritt zu verwehren. Gleichsam aus einem Munde scholl ihnen die Antwort entgegen: „Das Ungeheuer neben mir hat meine, des alten Ssun Wu-kung, Gestalt angenommen und schafft allerwärts Unruhe. Ich habe es gewaltsam hierher geführt, damit die Könige der Unterwelt sein Herkommen feststellen und es festnehmen.“ Die Könige befahlen schnellstens im Buch des Lebens in den Registern die Namenliste der Affen durchzusehen, um den Namen des falschen Ssing-tschö zu ermitteln. Sie dachten nicht mehr daran, daß Wu-kung einstmals alle Affennamen ausgepinselt hatte! Als sie ihre Vergeßlichkeit gewahr wurden, beschlossen sie, Di Ting, den Untersuchungsrichter, um Hilfe anzugehen. Er konnte nämlich, wenn er sich dicht über den Erdboden neigte, erlauschen, was im Himmel und auf Erden vor sich ging. Di Ting entsprach der Bitte. Sein Bescheid, den er nur im Flüsterton ver340
kündete, lautete: „Dieses Ungeheuer trägt einen Namen, den ich in seiner Gegenwart nicht aussprechen darf. Es würde dann sofort im Bereich des weiblichen Prinzips großen Tumult hervorrufen. An Fähigkeiten kommt es dem wahren Ssing-tschö mindestens gleich.“ Nach kurzer Beratung wiesen die zehn Herrscher der unteren Region die beiden Ssing-tschös an den Erhabenen Buddha. Auf seinem Lotosthron sitzend, erklärte Buddha einem großen Kreis von Schülern aller Rangstufen die Heiligen Schriften. Mitten im Vortrag hielt er inne, stieg vom Thron und sagte: „Ihr werdet jetzt das Wesen der Uneinigkeit kennenlernen.“ Die Schüler blickten sich erstaunt um, sie sahen nichts. Aber sie vernahmen heftiges Lärmen, und es wurde dröhnend ans Tor gepocht. Die acht Torwarte schauten hinaus. Wie aus einem Munde sagten zwei Ssing-tschös: „Das Ungeheuer, das Ihr an meiner Seite seht, hat meine Gestalt angenommen. Ich will den Erhabenen Buddha anflehen, Recht zu sprechen.“ Und sie erzwangen den Eintritt, fielen vor dem Lotosthron auf die Knie und fuhren fort, einstimmig zu sprechen: „Niemand hat bisher den Betrüger feststellen können. Darum flehe ich Euch, Erhabener Buddha, an, die Wahrheit zu verkünden, denn ich will ohne Säumen meinen Posten bei dem Bonzen Ssan Tsang wieder antreten und ihn bis zur Rückkehr in die Hauptstadt des Ostens sicher geleiten.“ Buddha durchschaute sofort die Zusammenhänge; aber er schwieg und sagte nur zu der Göttin Guanjin, die sich mittlerweile dem Zuhörerkreis zugesellt hatte: „Göttin Guanjin, schaut diese beiden Wesen genau an. Welches ist der wahre Ssun Wu-kung?“ Die Göttin gestand ihre Unfähigkeit ein, und Buddha sagte lächelnd: „Ihr könnt allesamt noch immer nicht die verschiedenen Arten der Wesen in der Welt unterscheiden. Zum einen: die fünf Arten der unsterblichen Wesen, nämlich Himmel und Erde, die unsterblichen Geister, die unsterblichen Menschen, 341
die niedrigen unsterblichen Geister. Zum anderen: die fünf Arten Lebewesen, nämlich die Nackten, das sind die Menschen, weiter die Schuppen-, Fell- und Federträger und schließlich die Gehäuseträger. Dieses Ungeheuer gehört zu keiner der zehn Arten. Es ist einer der vier aus der Art geschlagenen Affen. Von ihnen kennt der eine, der Steinaffe, den Mechanismus von Himmel und Erde; der andere, der Pferdeaffe, hat auf jede beliebige Entfernung hin von jedem Geschehnis Kenntnis; der dritte ist fähig, in das kleinste Ding einzudringen; und der vierte ist der sechsohrige Affe, dem die Gabe der beliebigen Verwandlung eigen ist, und der in einem Bereich von tausend Li alles weiß, was gesagt und getan wird. Sicher ist er der zweite Ssun Wu-kung.“ Bei diesen Worten wandte sich der eine Ssing-tschö zur Flucht. Damit hatte er sich als der sechsohrige Affe zu erkennen gegeben. Die fünfhundert Arhats – die Mönche, die bereits den höchsten Grad der Heiligkeit erlangt haben – setzten ihm sofort nach; Ssing-tschö wurde von Buddha zurückgehalten, sich ihnen anzuschließen. Der fliehende Affe verwandelte sich in eine Biene; Buddha schleuderte seinen Betteltopf hinter ihm her, und sie fing sich darin. Niedergeschlagen kehrten die Verfolger ohne Gefangenen zurück. Aber Buddha lächelte über ihre Enttäuschung und befahl ihnen, den Betteltopf umzukehren: da kam der sechsohrige Affe zum Vorschein! Mit einem einzigen Hieb machte der wahre Ssing-tschö seinem Leben ein Ende. „Schan dsai! Schan dsai! – Welch ein Jammer!“ sagte Buddha mit einem tiefen Seufzer. Ssing-tschö widersprach. „Erhabener Buddha, weshalb beklagt Ihr ihn? Als ich noch König auf dem Berg der Blumen und Früchte war, ernannte ich ihn zusammen mit drei Gefährten, deren Namen Ihr vorhin aufzähltet, zu meinen vier Kühnen Generälen. Er hat meine Gestalt angenommen, hat meinen Meister geschlagen und beraubt. Das ist Aufruhr, ein Verbrechen, auf dem die Todesstrafe steht.“ Aus dem Gesagten erklärt sich, warum es heutigen Tages kei342
ne sechsohrigen Affen mehr gibt. Buddha befahl Ssing-tschö, zu seinem Meister zurückzukehren. „Die Göttin Guanjin wird Euch begleiten und bei Ssan Tsang ein gutes Wort einlegen. Er kann Eure Hilfe nicht entbehren, und Ihr werdet durch die Erfüllung Eurer Aufgabe die höchsten Stufen der Heiligkeit erreichen.“ Scha Ssöng bemerkte das Näherkommen der Wolke, die Guanjin und Ssing-tschö zu ihnen trug, und meldete seinem Herrn den hohen Besuch. Ssan Tsang eilte der Göttin entgegen und begrüßte sie nach den Riten. Guanjin erklärte ihm, daß nicht Ssing-tschö, sondern der sechsohrige Affe ihn angegriffen und Ssing-tschö ihn mit Buddhas Hilfe getötet habe. Abschließend sagte sie: „Es stehen Euch auf der Weiterreise noch große Gefahren bevor, Ihr werdet sie nur mit Ssing-tschös Beistand überwinden können. Nehmt ihn darum wieder als Begleiter an und hütet Euch, ihn zu reizen oder ihm Vorhaltungen zu machen.“ Ssan Tsang verneigte sich und dankte der Göttin. Ein starker Wind trug eine Wolke heran. Ba Djä sprang auf die Erde und stellte das zurückgebrachte Reisegepäck ab. Darauf begrüßte er die Göttin und berichtete, wie er auf dem Berg der Blumen und Früchte einen falschen Ssan Tsang, einen falschen Ba Djä und einen falschen Scha Ssöng erschlagen habe. An den Leichen habe er erkannt, daß sie alle drei in Wirklichkeit langarmige Affen waren. Darauf erzählte ihn Guanjin das Ende des vierten langarmigen Affen. Die Göttin hatte ihren Auftrag erledigt, sie trat den Rückflug zum Südmeer an. Die vier Pilger, nun wieder einträchtig beisammen, schickten sich an, ihren Weg gen Westen fortzusetzen.
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DIE PILGER ÜBERWINDEN DEN FLAMMENBERG
59. Der Flammenberg versperrt den Pilgern den Weg. Ssing-tschö verschafft sich den Bananenfächer
Es war Herbst geworden und Westwinde kamen auf, aber die Hitze wurde von Tag zu Tag unerträglicher. Darüber wunderten sich die Pilger. In einem Haus mit rotem Ziegeldach gab ihnen ein Greis die Erklärung: sie waren in den Bereich des Flammenberges gelangt, der ihnen den Weg in westlicher Richtung versperrte. Kein Baum, kein Halm könne auf seinen Abhängen gedeihen; jedes Lebewesen, das ihn zu überqueren unternähme, würde in Asche zerfallen. Während der Alte derlei Schrecknisse schilderte, pries vor dem Hause ein Reiskuchenhändler seine Ware an. Ssing-tschö riß sich ein Haar aus, verwandelte es in einige Kupferkäsch und ging damit vor das Tor, um ein paar Küchlein zu erstehen und mit dem Verkäufer ins Gespräch zu kommen. Er erfuhr, daß die Unsterbliche Tjä Schan einen Fächer von der Form eines Bananenblattes besaß, der, dreimal nacheinander bewegt, Feuer löschte, darauf Wind und schließlich Regen erzeugte. Nur mit Hilfe dieses Fächers konnten die Bauern im Land ihren Feldern Ernten abgewinnen. Von dem Greis hörte Ssing-tschö weiter, daß die Einwohner des Landes alle zehn Jahre Geld zusammenlegten, um davon Reiswein, Schweine, Ziegen und Gänse aufzukaufen und alles zusammen der Tjä Schan als Opfergabe zum Ausdruck ihres Dankes darzubringen. Auf seine Frage nach dem Wohnsitz dieser Unsterblichen antwortete der Alte, sie lebe fünfzehnhun345
dert Li entfernt auf dem Berg der Blauen Wolken in der Höhle der Bananenbäume. „Eine solche Strecke ist für mich eine Kleinigkeit“, entgegnete Ssing-tschö. „Ich werde die Unsterbliche Tjä Schan gleich einmal aufsuchen.“ Und schon entschwand er auf einer Wolke. Der Greis war von Staunen überwältigt und behandelte Ssan Tsang mit allergrößter Dienstbeflissenheit und Ehrfurcht. Auf dem Berg der Blauen Wolken ging Ssing-tschö dem Lärm von Axthieben nach und stieß auf einen Holzfäller. „Wißt Ihr, wo die Unsterbliche Tjä Schan ihre Höhle hat?“ fragte er. Der Mann antwortete: „Meint Ihr Lo Tscha, die Frau des Nju Mo, des Geisterkönigs der Büffel, die den Beinamen ‚Prinzessin mit dem Eisenfächer’ trägt? Sie wohnt nahebei in der Höhle der Bananenbäume.“ ‚Da treffe ich ja schon wieder auf einen Feind’, ging es Ssingtschö durch den Sinn. ,Erst machte mir Hung Hai-örl, der Sohn des Nju Mo, zu schaffen, danach der Bruder des Nju Mo. Aber ein Zurück gibt es nicht mehr.’ Und er ließ sich von dem Holzfäller genau beschreiben, wie er am schnellsten zu der Höhle gelangen konnte. Der Weg führte durch eine unvergleichlich schöne Landschaft. Vor der Höhle mußte Ssing-tschö lange warten, ehe eine ärmlich gekleidete Frau auf sein lautes Pochen öffnete und nach seinem Begehr fragte. Als Lo Tscha den Namen Ssun Wu-kung hörte, wurde sie vor Ärger glühendrot im Gesicht. Sie legte sofort einen Harnisch an, bewaffnete sich mit zwei Schwertern und trat auf die Schwelle. „Mein Sohn Hung Hai-örl ist Euch zum Opfer gefallen“, begann sie mit einer Stimme wie Donnerrollen. „Da Ihr Euch von selbst hier einfindet, bin ich der Mühe enthoben, nach Euch zu forschen, um Rache an Euch zu nehmen.“ „Ihr sprecht ohne Überlegung“, entgegnete Ssing-tschö. „Euer ehrenwerter Sohn hatte vor, meinen Meister zu verspeisen. Die 346
Göttin Guanjin bewahrte ihn davor und nahm Euren Sohn als Schüler an. Er hat den höchsten Grad der Heiligkeit erreicht und wird in voller Zufriedenheit leben, solange Himmel und Erde bestehen. Zollt Ihr mir dafür keinen Dank, so solltet Ihr Euch wenigstens der Vorwürfe gegen mich enthalten.“ „Schwatzmaul!“ dröhnte es zurück. „Gesetzt den Fall, mein Sohn lebt – wiedersehen werde ich ihn auf keinen Fall.“ „Das ließe sich wohl einrichten“, widersprach Ssing-tschö; „Leiht mir nur für kurze Zeit Euren Fächer, damit ich die Feuergluten um den Flammenberg löschen und meinen Meister ungefährdet über den Berg geleiten kann. Danach werde ich Euren Sohn vom Südmeer abholen und ihn am selben Tag, an dem ich Euch den Fächer zurückbringe, zu Euch führen.“ Aber Lo Tscha weigerte sich, den Fächer zu verleihen. „Er ist sehr kostbar“, beharrte sie, „und ich habe keine Veranlassung, ihn gerade Euch anzuvertrauen.“ Ssing-tschö packte sie an der Schulter und holte mit seiner Eisenstange zum Schlag aus. Sie riß sich los, und es entspann sich ein heftiges Ringen, das bis zum Abend andauerte. Unversehens holte Lo Tscha den Fächer hervor und bewegte ihn, ein einziges Mal nur. Ssing-tschö fühlte, wie er vom Erdboden weg hoch in die Luft gehoben und weit in die Dunkelheit hinein fortgetragen wurde. Die Unsterbliche kehrte in ihre Höhle zurück. Ssing-tschö wurde wie ein abgefallenes Blatt vom Winde durch den unendlichen Raum getragen. Die ganze lange Nacht hindurch blieb er in Bewegung, manchmal näherte er sich dem Erdboden, dann wurde er wieder emporgerissen. In der Morgendämmerung streifte er ein Bergplateau und klammerte sich an einen Felsen, um nicht vom Sturm mitgerissen zu werden. Als er sich etwas ausgeruht hatte, hielt er Umschau. In dieser Gegend war er schon einmal gewesen: es war der Berg der Kleinen Hoffnung, der Wohnsitz des Bodhisattva Ling Dji, der ihm gegen 347
den König des Gelben Windes beigestanden hatte. In seine Überlegung hinein tönte Glockenläuten. Er ging ihm nach und stand bald vor dem Tempel des Bodhisattva. Der Bonze am Tor erkannte ihn und meldete seinem Herrn die Ankunft des Großen Heiligen. Ling Dji ging seinem Besucher entgegen. „Großer Heiliger, ich freue mich, Euch hier zu sehen. Sicher seid Ihr jetzt im Besitz der Heiligen Bücher und stattet mir auf der Rückreise einen Besuch ab.“ „Wie sollten wir wohl in so kurzer Zeit die Heiligen Bücher beschaffen können!“ entgegnete Ssing-tschö und berichtete dem Bodhisattva, wie er auf den Berg der Kleinen Hoffnung verschlagen worden war. Ling Dji klärte ihn über den Fächer auf. „Er ist so alt wie Himmel und Erde und auf dem Kunlungebirge erzeugt worden. Er hat die Kraft, jedes Feuer zu löschen. Gegen seine treibende Kraft gebe ich Euch die Pille des Windauffangenden Zinnobers mit, die mir der Erhabene Buddha einstmals zusammen mit dem Stock des Fliegenden Drachen überlassen hat. Sie verleiht Euch Standfestigkeit.“ Ssing-tschö dankte, nahm Abschied und eilte zur Höhle auf dem Berg der Blauen Wolken zurück. „Laßt mich sofort ein! Ich will den Fächer abholen!“ schrie er mit gewaltiger Stimme und hämmerte mit seiner Eisenstange gegen die Tür. Lo Tscha war über die vielseitigen Fähigkeiten des Affen höchst betroffen. Da hatte sie ihn weit hinein in den unermeßlichen Raum geschickt, und schon war er wieder vor ihrer Höhle angelangt! „Ich muß heute endgültig ein Ende mit ihm machen!“ sagte sie vor sich hin und trat auf die Schwelle. „Wie könnt Ihr Euch unterstehen, mich abermals zu belästigen!“ schrie sie Ssing-tschö an und bewegte ihren Fächer, ein einziges Mal nur. Ssing-tschö rührte sich nicht von der Stelle. „Fächelt noch ein wenig“, sagte er grinsend, „mir ist sehr heiß.“ Auch ein zweites und drittes Mal versagte der Fächer. Erschrocken willigte Lo Tscha ein, den Fächer auszuleihen. Eine Dienerin übergab ihn Ssing-tschö, der ihn behutsam 348
verwahrte und zu dem Haus mit dem roten Ziegeldach zurückflog. Der Greis bestätigte die Echtheit des Fächers. Die Pilger verabschiedeten sich und traten den Weg zum Flammenberg an. Sie waren vierzig und etliche Li vorangekommen, da meinten sie, in eine Glutsäule geraten zu sein, die ihnen die Haut ausdörrte. Ssing-tschö gebot Halt. Er selbst ging noch ein Stück an den Berg heran und bewegte den Fächer einmal. Die Flammen fingen an zu knistern. Er bewegte ihn ein zweites Mal. Die Flammen loderten hoch empor. Beim dritten Versuch züngelten sie bis zum Himmel auf. „Meister, reitet schnell zurück! Wir müssen uns in Sicherheit bringen!“ schrie Ssing-tschö. Alle vier wandten sich rückwärts und legten in großer Eile etwa zwanzig Li zurück. Da erst konnten sie wieder Luft schöpfen. Während sie sich verschnauften, trat aus dem Walde ein dauistischer Priester heraus. Ein junger Mönch, der auf dem Kopf eine Eßschale voll Reis trug und in beiden Händen Fische hielt, begleitete ihn. „Ich bin der Schutzgeist des Flammenberges. Da Ihr diesen Berg nicht bezwingen könnt, erquickt Euch wenigstens an Reis und Fisch!“ führte er sich bei den Reisenden ein. „Uns steht der Sinn nicht nach Essen“, versetzte Ssing-tschö. „Wir müssen den Flammenberg überschreiten und möchten wissen, woran es liegt, daß der Fächer versagte.“ Dabei wies er dem Schutzgeist den Fächer vor. Der Dauist besah ihn und sagte lachend: „Großer Heiliger, Ihr seid betrogen worden. Über den echten Fächer verfügt der Da Li Wang, der König der Großen Kraft.“
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60. Nju Mo bricht den Kampf ab und geht zum Festmahl. Ssing-tschö bemächtigt sich des echten Fächers
„Wer ist dieser Da Li Wang – der König der großen Kraft?“ fragte Ssing-tschö. „Nju Mo“, antwortete der Schutzgeist. „Hat er dieses Riesenfeuer angelegt und dem Flammenberg seinen Namen gegeben?“ fragte Ssing-tschö weiter. „Mitnichten“, entgegnete der Schutzgeist. „Wenn Ihr mir Redefreiheit zusagt, sollt Ihr die Wahrheit erfahren.“ Ssing-tschö gab die gewünschte Zusage. „So vernehmt, Großer Heiliger, daß Ihr dieses Feuer angelegt habt. Als Ihr aus dem Schmelzofen der Acht Naturkräfte heraussprangt, in den Euch der Unsterbliche Laudse gesperrt hatte, schleudertet Ihr glühende Holz- und Kohlenstücke auf die Erde, und dadurch geriet dieser Berg in Brand. Ich war der dauistische Priester, der Euch zu bewachen hatte, und zur Strafe für meine Nachlässigkeit dabei wurde ich zum Tou Di dieses Berges erniedrigt.“ Ssing-tschö dachte nach. Dann fragte er: „Und warum weist Ihr mich jetzt an Nju Mo?“ „Weil er der Gatte der Lo Tscha ist und Euch zu dem Fächer verhelfen wird“, versetzte der Tou Di. „Er hat vor zwei Jahren seine Frau verlassen und die Jadegesichtige Prinzessin in der Höhle der Wolkennähe auf dem Berg des ständigen Donners, dreitausend Li südlich von hier, geheiratet. Die Prinzessin suchte nach dem Tode ihres Vaters einen Beschützer für sich und ihre Reichtümer, und Nju Mo entbrannte in wilder Leidenschaft zu ihr. Mit Hilfe des echten Fächers werdet Ihr drei Dinge vollbringen. Erstens werdet Ihr das Flammenmeer löschen und damit Eurem Meister ermöglichen, seine Pilgerreise fortzusetzen. Zwei350
tens werden die Bauern künftig ungefährdet ihre Äcker bestellen und ihre Ernten einbringen können. Drittens werde ich wieder in den Himmel zurückkehren dürfen.“ Ssing-tschö übertrug Ba Djä, Scha Ssöng und dem Tou Di die Sorge für den Meister und fuhr auf einer südwärts gleitenden Wolke zum Berg des Ständigen Donners. Unter einer Fichte pflückte eine junge Frau, die schön wie eine Unsterbliche anzuschauen war, Orchideen. Ssing-tschö fragte sie nach dem Weg zur Höhle der Wolkennähe und bekannte auf die Frage, warum er das wissen wolle, daß er auf Geheiß der Prinzessin mit dem Eisenfächer Nju Mo aufsuchen wolle. Dieser Bescheid erregte die Frau über alle Maßen. Sie wurde dunkelrot im Gesicht und sagte aufgebracht: „Diese verwerfliche Person muß jedes Schamgefühl verloren haben, daß sie es wagt, einen Boten zu Nju Mo zu schicken. Als Nju Mo zu mir kam, sandte ich ihr Gold und Silber, Juwelen und Perlen und kostbare Seidenstoffe, und allmonatlich versorge ich sie reichlich mit Reis und Brennholz.“ An diesem Ausbruch von Eifersucht erkannte Ssing-tschö, daß die schöne Frau ihm gegenüber die Jadegesichtige Prinzessin war. Mit wütender Gebärde seine Eisenstange schwingend, schrie er: „Ihr gehört also zu den sittenlosen Frauen, die sich mit ihrem Reichtum einen Mann erkaufen!“ Voller Todesangst huschte die Prinzessin davon und ließ das Tor hinter sich verrammeln. Außer Atem und in Angstschweiß gebadet, warf sie sich Nju Mo in die Arme, der es sich bequem gemacht hatte und las. Er ließ sich berichten, was ihr widerfahren war, und beruhigte sie. Seine erste Frau sei die Tugend selbst, sie würde keinem Knaben, geschweige denn einem Mann Einlaß gewähren. Es müsse ein verkapptes Ungeheuer gewesen sein, das sie so erschreckt habe, und er wolle dem sofort nachgehen. Nju Mo trat vor das Tor, erkannte den Großen Heiligen und 351
donnerte los: „Ihr habt Tumult in der Oberen Region verursacht, mich meines Sohnes beraubt und soeben meine geliebte Frau zu Tode erschreckt! Was wollt Ihr von mir?“ Ssing-tschö berief sich auf den vor fünfhundert Jahren zwischen ihnen beiden ausgetauschten Brudereid und trug seine Bitte um den Fächer vor. „Wohlan“, entgegnete Nju Mo, „besiegt Ihr mich in drei Waffengängen, sollt Ihr ihn haben.“ Hundertmal hatten die Gegner bereits die Waffen gekreuzt, und noch immer war der eine nicht Sieger, der andere nicht Besiegter. Da mahnte eine Stimme vom Gipfel des Berges Nju Mo, das Festmahl nicht zu vergessen. Der Gerufene brach mitten im Kampf ab und kehrte in die Höhle zurück, legte vornehme Kleidung an und ritt auf seinem Saphirhengst in nordwestlicher Richtung davon. In Gestalt eines Wirbelwindes jagte Ssing-tschö hinter ihm her. Am Fuße eines Berges tauchte Nju Mo unversehens in einem Teich unter. Ssing-tschö glitt ihm als Krabbe bis auf den Grund des Teiches nach und gelangte vor einen Palast. Der Saphirhengst war an eine Säule angepflockt; aus dem Inneren des Hauses tönten durch die offenstehenden Türflügel Singen und Musik. Ssing-tschö krabbelte vorsichtig in die Festhalle. Am Kopfende der mit Speisen beladenen Tafel hatte Nju Mo den Ehrensitz inne; an der einen Längsseite saßen drei oder vier geladene Ungeheuer, ihnen gegenüber der Gastgeber, ein alter Drache, mit seiner Frau und seinen Söhnen und Enkeln. Der alte Drache bemerkte die Krabbe und herrschte sie an: „Wie seid Ihr hereingekommen? Was ist Euer Begehr?“ „Ich war noch niemals in einem solchen Palast“, erwiderte Ssing-tschö, „und weiß mich nicht zu benehmen. Wollet meine Ungeschicklichkeit entschuldigen, Großer König.“ „Aus Rücksicht auf meine Gäste gewähre ich der Krabbe Verzeihung“, sagte der Drache, „aber nach dem Mahl werde ich meine Diener für ihre Unachtsamkeit bestrafen.“ 352
Unbeobachtet schlich sich Ssing-tschö aus der Halle hinaus und stieg auf dem Rücken des Saphirhengstes an die Oberfläche des Teiches empor. Am Ufer nahm er die Gestalt des Nju Mo an, ritt auf dem Hengst zur Höhle der Bananenbäume und ließ sich bei Lo Tscha melden. Außer sich vor Freude, band die Prinzessin den Hengst eigenhändig fest und geleitete den vermeintlichen Gatten in ihr Gemach. Weinend erzählte sie ihm, wie Ssing-tschö sie am Tage zuvor bedrängte und sie schließlich zur Herausgabe des Fächers zwang. „Aber ich habe ihn überlistet“, schloß sie lächelnd, „und ihm einen falschen Fächer reichen lassen. Der echte ist nach wie vor in meinem Verwahrsam.“ Der vermeintliche Gatte rückte dicht an Lo Tscha heran, tätschelte ihre Schulter und Schenkel und nötigte sie immerfort zum Trinken. „Wo haltet Ihr den echten Fächer verborgen, edle Gattin?“ fragte er unvermittelt. „Bedenkt, daß er dem Zugriff des Affen entzogen bleiben muß.“ Wieder lächelte Lo Tscha und holte aus ihrem Munde einen winzig kleinen Fächer hervor. „Ein so zierliches Gebilde soll ein Flammenmeer von achthundert Li in der Länge löschen können?“ sagte der falsche Nju Mo zweifelnd. „In den zwei Jahren Eures Fortseins habt Ihr über Eurer Liebesleidenschaft vergessen, welche Schätze Euer Haus birgt!“ erwiderte Lo Tscha tadelnd. Sie fuhr mit dem Fingernagel auf der fadendünnen siebenten Stange des Fächers entlang und murmelte dabei vor sich hin: „Atme ein – aus, aus! Atme ein – aus, aus!“ Der Fächer dehnte sich, bis er je zwölf Tschö in der Höhe und Breite maß. „Wenn man ihn nur einmal bewegt“, sagte Lo Tscha, „kann man den Flammenberg zum Erlöschen bringen“, ließ den Fächer wieder zusammenschrumpfen und reichte ihn dem falschen Nju Mo. Der verbarg ihn im Munde, fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und stand in seiner wahren Gestalt vor der entsetzten Lo Tscha. Sie errötete vor Scham und fiel schreiend zu Boden. Ssing-tschö entwich aus der Höhle. 353
Unterwegs probierte er, den Fächer zu vergrößern, wie er es bei Lo Tscha gesehen hatte. Aber er erreichte nur ein Dshang zwei Tschö Höhe und Länge, und da er die Verkleinerungsformel nicht wußte, mußte er ihn tragen wie er war. Inzwischen war das Festmahl bei dem alten Drachen zu Ende gegangen, und Nju Mo wollte heimreiten. Aber sein Saphirhengst war nicht aufzufinden. Sofort erinnerte er sich der Krabbe und vermutete mit Recht dahinter eine List des Affen Wu-kung. In größter Eile zerteilte er das Wasser, gelangte an die Oberfläche und flog auf einer Wolke zur Höhle der Bananenbäume. Vor dem Eingang erblickte er seinen Hengst. Die Dienerinnen begrüßten ihren Herrn voller Freude. Aber Lo Tscha verwünschte ihn: Wäre er in Treue bei ihr geblieben, hätte das Ungeheuer von Affe sie nicht beleidigen und sich nicht des Fächers bemächtigen können. „Eure Empörung fruchtet nichts!“ wies Nju Mo die Aufgeregte zurecht, bewaffnete sich mit ihren Schwertern und eilte in der Richtung zum Flammenberg durch die Lüfte davon.
61. Nju Mo ergibt sich. Ssing-tschö erhält den Fächer
Unterwegs entdeckte Nju Mo auf einer auffallend schnell dahinziehenden Wolke Ssing-tschö, der freudestrahlend den bananenblattförmigen Fächer in der Hand hielt. Nju Mo überlegte: ,Der Affe weiß, wie man den Fächer vergrößert, weiß also bestimmt auch, wie man ihn wieder zusammenschrumpfen läßt. Fordere ich jetzt den Fächer von ihm zurück, kann er mich ohne weiteres vom Sturm in eine vierundachtzigtausend Li von hier entfernte Gegend verschleppen lassen. Ich muß also eine List anwenden.’ Flugs nahm Nju Mo die Gestalt Ba Djäs an, überholte Ssing 354
tschö und kehrte um, so daß er diesem entgegenkam. Er begrüßte den Ahnungslosen und ließ sich erzählen, wie er Lo Tscha den Fächer abgelistet hatte. Darauf nahm er ihm, angeblich, um ihm das Tragen zu ersparen, den kostbaren Gegenstand ab, ließ ihn mittels der vorgeschriebenen Zauberformel zusammenschrumpfen und verbarg ihn sorgfältig in seinem Gewand. Im nächsten Augenblick stand er in seiner wahren Gestalt vor Ssingtschö; während des erbitterten Zweikampfes stiegen die beiden Gegner immer höher in die Lüfte. Inzwischen wartete Ssan Tsang, von Sorge und Durst gequält, auf Ssing-tschös Rückkehr. Was ihm der Tou Di von den besonderen Kampfeigenschaften des Königs Nju Mo erzählte, steigerte seine Unruhe, und schließlich beauftragte er BaDja, nach dem älteren Bruder Ausschau zu halten und ihm im Notfall beizustehen. Der Tou Di übernahm es, den des Weges unkundigen Ba Djä zu führen. Die beiden flogen in südlicher Richtung los. Schon nach kurzer Zeit drang Waffengetöse und Geschrei an ihr Ohr. Ohne den Kampf auch nur für einen Augenblick zu unterbrechen, rief Ssing-tschö ihnen zu, daß Nju Mo ihn in der Gestalt Ba Djäs getäuscht und ihm den Fächer wieder abgenommen habe. Voller Wut griff Ba Djä in das Ringen ein; Nju Mo ermüdete und wandte sich zur Flucht. Der Tou Di hatte unterdessen Krieger des Jangprinzips herbeigerufen. An ihrer Spitze vertrat er Nju Mo den Weg zur Höhle der Wolkennähe, der er zustrebte, und forderte ihn auf, den Fächer herauszugeben, damit Ssing-tschö seinen Meister, den Bonzen Ssan Tsang, ungefährdet über den Flammenberg geleiten könne. Nju Mo lehnte dieses Ansinnen ab. Während die beiden noch miteinander rechteten, hatten Ssing-tschö und Ba Djä den fliehenden Gegner eingeholt. Der Kampf entbrannte von neuem. Er hielt die Nacht über an, und bei Tagesanbruch gab es noch 355
immer nicht Sieger und Besiegte. Nur hatte Nju Mo seine Gegner geschickt dicht an die Höhle der Wolkennähe herangelockt, so daß die Jadegesichtige Prinzessin das Getöse hörte. Auf den Bericht der Diener hin, die sie zum Kundschaften vor das Tor schickte, ließ sie ihre Truppen ausrücken, um Nju Mo zu unterstützen. Beim Anblick der Verstärkung ergriffen Ba Djä und Ssing-tschö, dann auch der Tou Di mit seinen Kriegern die Flucht. In ihrer Beratung kamen die drei zu dem Ergebnis, daß sie unbedingt in den Besitz des Fächers gelangen mußten, weil ohne ihn der Flammenberg nicht gelöscht werden und damit der Meister seine Pilgerfahrt nicht fortsetzen konnte. Ssing-tschö und Ba Djä eilten also abermals vor die Höhle der Wolkennähe. Sie schlugen die Felsblöcke vor dem Zugang zur Höhle kurz und klein. Das Lärmen und Poltern schreckte Nju Mo aus dem Plauderstündchen auf, das er gerade mit der Jadegesichtigen Prinzessin abhielt. Er legte den Harnisch an, griff nach seiner Eisenkeule und stürzte vor den Eingang. Unter gegenseitigen Beschimpfungen gingen die Gegner abermals aufeinander los. Ssing-tschö bedrängte Nju Mo so hart von vorn, und Ba Djä schlug so unerbittlich bald von rechts, bald von links zu, daß Nju Mo kehrtmachte, um in die Höhle zu flüchten. Aber er fand den Rückweg von dem Tou Di versperrt. Im Augenblick höchster Not warf Nju Mo den Harnisch ab, schleuderte die Keule beiseite und stieg in Gestalt einer Wildgans hoch in die Lüfte auf. Der Tou Di und Ba Djä waren über das plötzliche Verschwinden ihres Gegners verblüfft; Ssing-tschö aber wies lachend nach oben: er hatte die Verwandlung beobachtet. Darauf befahl er den beiden: „Lauft in die Höhle, brennt sie nieder und tötet alle Lebewesen. Nju Mo darf keine Zuflucht mehr haben.“ Er selbst schwang sich als azurblauer Adler des Westmeeres in die Luft und nahm die Verfolgung der Wildgans auf. Aus der Wildgans wurde ein gelber Adler, aus dem azurblauen Adler ein schwarzer Phönix. Auf 356
beiden Seiten löste eine Verwandlung die andere ab. Schließlich nahm Nju Mo seine ursprüngliche Büffelgestalt an und dehnte sich tausend Dshang in die Länge und achthundert Dshang in die Höhe. Sofort sagte Ssing-tschö das eine Zauberwort „Dshang – Vergrößerung“ vor sich hin, und sein Körper reckte sich zehntausend Dshang aufwärts, sein Kopf nahm den Umfang des Taiberges an, sein Mund wurde so groß wie ein Blutteich, und die Stange in seiner Hand glich einer Eisensäule. Mit voller Kraft rannte er gegen den Riesenbüffel an, der den Gegner mit gesenktem Kopf stoßbereit erwartete. Das Kampfgetöse erfüllte den Himmelsraum und pflanzte sich über die Erde fort. Ssing-tschö erhielt Verstärkung durch die Umherirrenden Geister, die in Scharen zu seiner Unterstützung herbeieilten. Nju Mo erkannte die Aussichtslosigkeit seiner Lage und flüchtete in der Richtung zur Höhle der Bananenbäume. Alsbald umzingelten die Geister den Berg der Blauen Wolken. Unterdessen hatten Ba Djä und der Tou Di ihr Zerstörungswerk an der Höhle der Wolkennähe vollendet und erstatteten Ssing-tschö Bericht. Ba Djä hatte die Jadegesichtige Prinzessin erschlagen und an der Leiche festgestellt, daß sie in Wirklichkeit eine Füchsin war. Der Tou Di schloß aus verschiedenen Anzeichen, daß Nju Mo auf dem Wege zu seiner alten Höhle war, und setzte seine Krieger dorthin in Bewegung. Ssing-tschö bestätigte die Richtigkeit seiner Vermutung, und Ba Djä schlug vor, ohne Zeitverlust auch in diese Höhle einzudringen, sie könnten sich bestimmt des Fächers bemächtigen. Da Ssing-tschö den Plan billigte, flog Ba Djä zu der Höhle und begann, das Tor zu zertrümmern. Nju Mo hatte soeben seiner Gattin Lo Tscha den Fächer zurückgegeben und war dabei, ihr die letzten Ereignisse zu berichten, als die Diener meldeten, daß ein unbekanntes Ungeheuer sich mit Gewalt Einlaß in die Höhle verschaffen wolle. „Überlaß dem Affen den Fächer, damit er endlich Ruhe gibt!“ sagte Lo Tscha. Aber Nju Mo hörte nicht auf sie, sondern eilte an 357
das Tor, vor dem Ba Djä ihn schon kampfbereit erwartete. Das Ringen steigerte sich schnell zur gewohnten Heftigkeit; nach dem fünften Waffengang lockte Ba Djä den Gegner in scheinbarem Rückzug auf den Berggipfel, wo Ssing-tschö ihm zu Hilfe kam und der Tou Di mit seiner Kriegerschar und den Umherirrenden Geistern das Bergplateau umstellten. Angesichts der erdrückenden Übermacht versuchte Nju Mo, nach Norden auszubrechen. Aber auf dem Berg der fünf Elemente war der Weg durch Netze versperrt; dahinter ertönte der Warnruf: „König Nju Mo! Nehmet zur Kenntnis, daß der Zutritt zur Nordregion Euch auf des Erhabenen Buddha Geheiß verwehrt wird.“ Nju Mo wandte sich zur Rückkehr und wurde der Scharen von Feinden ansichtig, die zu seiner Umzingelung heranrückten. Von Entsetzen gepackt, flog er zum Omeeberg, um sich nach Süden durchzuschlagen. Doch auch in der Südregion fand er keinen Einlaß. Aschfahl wandte er sich nach Osten: die gleiche Schranke! Und ebenso war ihm der Westen verschlossen. Nju Mo war ratlos. Die Feinde waren bereits bedrohlich nahe. Kurz entschlossen stieg er in die Lüfte auf. „König Nju Mo! Haltet ein! Auch die Wege durch den Himmelsraum sind Euch auf Geheiß des Erhabenen Buddha mit Netzen verhängt!“ Da kehrte Nju Mo auf die Erde zurück, nahm seine wahre Gestalt an und stellte sich den Gegnern. An deren Spitze stand jetzt der Himmelskönig Li Dsing, der Oberbefehlshaber der Himmlischen Heerscharen, unterstützt von seinem Sohn No Tscha. Li Dsing nahm sofort den Kampf mit Nju Mo auf, während No Tscha dem gerade eintreffenden Ssingtschö mitteilte, daß Dshang Di auf Buddhas Befehl seinen Vater und ihn beauftragt habe, Ssing-tschö im Kampf gegen Nju Mo beizustehen, damit er in den Besitz des flammenlöschenden Fächers gelange. „Dieses Ungeheuer ist keineswegs zu unterschätzen! Was vermögen wir dagegen, wenn es sich abermals verwandelt?“ 358
wandte Ssing-tschö zweifelnd ein. Aber No Tscha lachte und erwiderte: „Ihr werdet sehen, wie ich seiner Herr werde!“ Er rief laut: „Bjän! – Verwandlung!“ und erschien als dreiköpfiger Riese mit sechs Armen, der in seinen Händen die sechs Arten Waffen hielt. Mit einem geschickten Satz sprang er dem Büffel auf den Rücken und hieb ihm mit einem Schwert den Kopf ab. Aber aus der klaffenden Halswunde reckte sich ein neuer Kopf mit funkelnden Augen in die Höhe, dessen Maul schwarzer Rauch entquoll. No Tscha trennte ihn wiederum mit einem einzigen Schwerthieb vom Rumpf. Als dieses Geschehen sich zehnmal wiederholt hatte, schleuderte No Tscha das Feuerrad gegen die Hörner des Büffels; im selben Augenblick war das Ungeheuer von lodernden Flammen eingehüllt, daß es vor Schmerzen brüllte und sich verzweifelt aufbäumte. Mit kläglicher Stimme flehte es um Gnade. „Wenn Euch am Leben liegt, gebt den Fächer heraus!“ entgegnete No Tscha. „Er befindet sich in der Höhle. Fordert ihn von meiner Frau!“ versetzte Nju Mo. Darauf zog No Tscha dem Büffel den zum Fesseln der Ungeheuer bestimmten Strick durch die Nasenlöcher und führte ihn zur Höhle der Bananenbäume. Der Himmelskönig Li Dsing, Ssing-tschö und Ba Djä, der Tou Di und die Wächter der Himmelsgegenden, die Nju Mo den Eintritt in die vier Regionen verwehrt hatten, folgten No Tscha, der mit dem Büffel am Strick neben sich als erster die Höhle betrat. Nju Mo sagte laut: „Ehrenwerte Gattin, gebt den Fächer heraus, wenn Euch am Leben liegt!“ Lo Tscha vertauschte zum Zeichen der Trauer ihr prächtiges buntes Gewand mit einem weißen, griff nach dem Fächer, ließ sich vor den Siegern auf die Knie nieder und sagte: „Hohe Herren! Ich flehe Euch an: laßt meinem Gemahl das Leben! Und Ihr, 359
ehrwürdiger Ssun Wu-kung, nehmt diesen Fächer. Er wird Euch ermöglichen, den Flammenberg zu löschen!“ Ssing-tschö nahm den Fächer in Empfang und schwang sich auf eine Wolke, um zum Flammenberg zu eilen. Li Dsing und No Tscha, den Büffel am Strick hinter sich, der Tou Di mit Lo Tscha und seiner Kriegerschar, die vier Himmelswächter und Ba Djä folgten ihm, so schnell es ihnen nur möglich war. Ssan Tsang saß untätig mit Scha Ssöng an seiner Seite und wartete in wachsender Ungeduld und Unruhe. Mit einem Mal wurden am Himmel in einer blendenden Lichtfülle Gestalten sichtbar. Scha Ssöng beobachtete sie aufmerksam, während sie näherkamen; dann nannte er sie seinem Meister einzeln mit Namen. „Und Euer erster Schüler führt den Zug an und trägt den Fächer!“ schloß er seine Aufzählung. Ssing-tschö stieg zuerst auf die Erde. Ssan Tsang ging ihm entgegen, verneigte sich tief und sagte: „O mein Schüler! Welche Taten habt Ihr unter unendlicher Mühsal mit Hilfe Buddhas und der Himmlischen vollbracht!“ Da nahmen die vier Wächter der Himmelsgegenden das Wort. „Freuet Euch, heiliger Bonze! Ihr kommt Eurem Ziel näher, denn der Erhabene Buddha hat Euch unsere Hilfe zuteil werden lassen. Verdoppelt Eure Anstrengungen und laßt niemals die Mutlosigkeit Herr über Euch werden!“ Inzwischen hatte Ssing-tschö den Fächer langsam einmal bewegt: die Flammen erloschen. Er bewegte ihn zum zweiten Mal: ein kühlender Wind kam auf. Und er bewegte ihn zum dritten Mal: sanfter Regen strömte auf die Fläche nieder, auf der eben noch das Feuer gewütet hatte. Meister und Schüler dankten allen himmlischen Mächten für die erwiesene Hilfe. Darauf traten Li Dsing und sein Sohn, dieser mit dem Büffel am Strick hinter sich, und alle anderen Himmlischen den Heimweg an. Nur der Tou Di blieb zur Bewachung der Lo Tscha zurück. 360
Lo Tscha warf sich vor Ssing-tschö nieder und sagte: „Großer Heiliger! Als Ihr mich um den Fächer batet, sagtet Ihr mir die Wiedergabe zu, sobald Ihr damit den Flammenberg gelöscht hättet. Ich entsprach Eurer Bitte nicht sogleich, das ist wahr, und ich bereue es jetzt. Aber ich bitte Euch, mir den Fächer zurückzugeben, sobald er Euch den gewünschten Dienst geleistet hat.“ Bevor Ssing-tschö das zusagte, wollte er wissen, ob er mit der einmaligen Bewegung des Fächers das Feuer endgültig gelöscht oder nur vorübergehend erstickt habe. Lo Tscha erwiderte, daß er den Fächer vierzigmal bewegen müsse, um den Brandherd ein für allemal zu beseitigen. Darauf schwang Ssing-tschö den Fächer vierzigmal nacheinander hin und her, und ein gewaltiger Regen ging über den Berg nieder. Als es aufgehört hatte zu regnen, gab er den Fächer zurück; Lo Tscha ließ ihn mit Hilfe der Zauberformel zusammenschrumpfen und verbarg ihn wieder in ihrem Mund. Sie verabschiedete sich höflich und zog sich in die Tiefe des Gebirges zurück. Auch dem Tou Di stand nun frei, den Heimweg anzutreten; er kehrte voll Freude zu seinem Meister, dem Ehrwürdigen Laudse, zurück. Ohne jegliche Behinderung überschritten die vier Pilger den erloschenen Flammenberg und setzten ihren Weg gen Westen fort. Der Herbst rückte immer weiter vor, die Tage wurden kürzer und kälter.
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DER STAAT DJISSAI ERHÄLT SEIN GESTOHLENES WAHRZEICHEN ZURÜCK
62. Ssan Tsang will zur eigenen Läuterung den Tempelturm auskehren. Zwei Ungeheuer fallen in seine Gewalt
Die Reisenden hatten eine beachtliche Strecke zurückgelegt und die Hauptstadt eines ihnen unbekannten Staates erreicht. Auf dem Marktplatz war ein Gewimmel wie in einem Ameisenhaufen, so viele Menschen waren unterwegs. In dem Gedränge fielen zwei Bonzen auf, die zerlumpte Kleidung anhatten und den schweren Holzkragen trugen. Auf Ssan Tsangs erschrockene Frage nach dem Grund ihrer Bestrafung baten sie ihn, sie zu ihrem Tempel zu begleiten: auf offener Straße könnten sie nicht wagen, freimütig zu sprechen. Über dem Tor des Tempels, zu dem die Bonzen die Pilger führten, stand in sieben goldenen Schriftzeichen: Tji Tjän Hu Gwo Djin Gwang Sse Zum Schutz des Staates auf königlichen Befehl errichteter Tempel des Leuchtenden Goldes. Die Tempelgebäude waren hoch und geräumig, aber die Umgebung wirkte verödet. Überall waren junge Bonzen an Pfosten angekettet. Ssan Tsang wurde ehrfurchtsvoll begrüßt und gefragt, ob er aus Tschangan komme; erklärend fügten die Bonzen hinzu, sie hätten in der letzten Nacht geträumt, daß ein Bonze aus der östlichen Hauptstadt am folgenden Tag zu ihnen kommen und sie befreien würde. Darauf begehrte Ssan Tsang Näheres über das ihm unbekannte Königreich und das Vergehen der 363
Bonzen zu erfahren, und sie berichteten ihm folgendes: „Das Königreich Djissai war allen Nachbarstaaten an Größe und Ansehen überlegen und erhielt von ihnen alljährlich zum Zeichen der Unterwürfigkeit kostbaren Jade und wertvolle Edelsteine, schöne Jungfrauen und schnelle Pferde. Das Wahrzeichen seiner Macht war ein Strahlenkranz, der von der Turmspitze des Tempels des leuchtenden Goldes heller als der Tag leuchtete und eine wahre Lichtfülle in das Dunkel der Nacht aussandte. Aber vor zwei Jahren – man schrieb den ersten Tag des siebenten Monats – ging unerwartet ein Blutregen hernieder. Der Strahlenkranz erlosch; er hat seitdem nie wieder geleuchtet. Die Zivilund Militärmandarine redeten dem König ein, daß wir Bonzen dieses Unglück verschuldet hätten. Wir wurden grausam gefoltert, die Älteren von uns gingen an den Martern zugrunde, die jüngeren hielten stand, aber sie müssen, wie Ihr seht, den Holzkragen tragen oder werden in Fesseln gehalten.“ Und alle Bonzen flehten Ssan Tsang an, sie zu befreien. Ssan Tsang antwortete, daß er dem König die Geleitbriefe für sich und seine Schüler zum Siegeln vorlegen müsse und bei dieser Gelegenheit die Sache der Bonzen zur Sprache bringen wolle. Zuvor aber werde er, in Erfüllung des Gelübdes, das er beim Aufbruch aus Tschangan abgelegt habe, den Tempel des Leuchtenden Goldes ausfegen. Die Bonzen brachten Ssan Tsang eilfertig heißes Wasser, damit er die religiösen Waschungen für die heilige Handlung an sich vornehmen könne, und mehrere Besen. Arbeitsbereit schickte sich Ssan Tsang an, in den Turm hinaufzusteigen. Ssing-tschö, der in Sorge war, daß sich in den oberen Stockwerken Ungeheuer verborgen halten möchten, begleitete den Meister. Mit einer brennenden Lampe in der Hand öffnete er die Tür zum ersten Stock, und Ssan Tsang machte sich ans Werk. Um die dritte Nachtwache hatte er sein Vorhaben bis zum siebenten Geschoß geschafft. Aus dem Umlauf dieses Stockwerks schloß Ssing-tschö, daß es etwa in mittlerer Höhe des Turms lie364
ge. Mit großer Anstrengung säuberte Ssan Tsang noch die folgenden drei Stockwerke; dann verließen ihn die Kräfte. Er mußte sich setzen; Ssing-tschö übernahm es, die Arbeit zu Ende zu bringen. Er kehrte das elfte Stockwerk aus und stieg zum zwölften hinauf. Dort hörte er beim Hin- und Hergehen mit dem Besen Stimmen über sich. Mißtrauisch schlich er sich auf der Stiege zum dreizehnten Stock in die Höhe: da saßen zwei Ungeheuer zusammen und schmausten und pichelten drauf los. Ssing-tschö stellte sich in die Türöffnung, fuchtelte drohend mit seiner Eisenstange und schrie: „Haha! Hier sitzen also die Räuber, die den Turm seines Kleinods beraubt haben!“ Und schon packte er die um Gnade winselnden Ungeheuer im Genick und schleppte sie in das zehnte Turmgeschoß hinunter zu Ssan Tsang. Schlotternd vor Angst, berichteten sie: „Beide haben wir eine Wiedergeburt erfahren: der eine von uns ist eine Forelle, der andere ein schwarzer Fisch. Unser Herrscher, der alte Drachenkönig der Zehntausend Heiligkeiten, hat seine Tochter, eine blumengleich schöne und vielseitig talentierte Jungfrau, mit dem Neunköpfigen Ritter vermählt, dem ein alles durchdringender Scharfsinn, geheime Künste und besondere Geschicklichkeiten eigen sind. Dieser Ritter erzeugte mit Wissen des Drachenkönigs einen Blutregen und stahl, während der Regen fiel, von der Turmspitze des Tempels den kostbaren Stein, von dem der Strahlenkranz ausging. Die Prinzessin wollte nicht hinter dieser Heldentat ihres Mannes zurückstehen. Im Garten des Palastes der Übernatürlichen Leere stahl sie einen Tuff von dem neunblättrigen Kraut der Langlebigkeit, bettete ihn in den Grund des Teiches und stellte darauf den kostbaren Stein, der nun bei Tag und Nacht eine blendende Lichtfülle aussendet. In den letzten Tagen des vergangenen Monats verbreitete sich das Gerücht, daß Ssun-Wukung, ein schier allmächtiges Wesen mit der Fähigkeit, Ungeheuer zu entlarven, auf dem Wege nach dem Westen, wo er die Heiligen Schriften ausfindig machen will, durch diese Gegend 365
kommen würde. Im Auftrag des Ritters warten wir auf dieses Ereignis, um es ihm unverzüglich zu melden. So kommt es, daß Ihr uns beide oben auf dem Turm vorfandet.“ Ba Djä und mehrere junge Bonzen kamen die Stiegen hinauf: sie waren verwundert, daß der Meister so lange ausblieb. Ssingtschö berichtete ihnen, wer das Turmkleinod gestohlen und daß er zwei Ungeheuer gefangengenommen habe, die sie dem König als Zeugen vorführen würden. Die Bonzen frohlockten: „Hau la! Hau la! – Wunderbar! Nun wird die Sonne für uns bald wieder scheinen!“ Ssing-tschö ließ die beiden Ungeheuer mit Eisenketten an Pfosten fesseln und befahl den Bonzen, sie zu bewachen. Darauf begaben sich die Pilger zur Ruhe. In der Morgenfrühe des folgenden Tages begab sich Ssan Tsang, von Ssing-tschö begleitet, zum Südtor des Palastes und ließ den König durch den aufsichtführenden Mandarin bitten, ihn zu empfangen, damit er ihm seine Geleitbriefe zum Siegeln vorlege. Er wurde sofort vorgelassen und trug den Zweck seiner Pilgerfahrt vor, worauf der König ihn bat, auf einem mit bestickter Seide bezogenen Sessel Platz zu nehmen, und folgendes zu ihm sagte: „Der große Tangherrscher kann sich glücklich preisen, einen rechtschaffenen und tugendhaften Bonzen ausfindig gemacht zu haben, der sich durch Strapazen und Gefahren nicht abschrecken läßt, die Heiligen Schriften herbeizuschaffen. Die Bonzen in unserem Reich sind verderbt und nur darauf bedacht, sich durch Diebstahl zu bereichern und ihren Herrscher zu hintergehen.“ Ssan Tsang bat, ihm Beispiele solchen Verhaltens zu nennen, und hörte die gleiche Beschuldigung, die ihm die Bonzen bereits vorgetragen hatten. Als der König geendet hatte, legte Ssan Tsang die Hände in Brusthöhe aneinander und schilderte, wie er mit seinem Schüler am vergangenen Abend den Namen des wahren Diebes erfahren und zwei Zeugen dafür in seine Gewalt gebracht hatte. 366
Der König bat Ssing-tschö, ihm die beiden Ungeheuer vorzuführen, und stellte ihm für den Weg zum Tempel seine eigene Sänfte mit acht Trägern und für den Gefangenentransport seine durch Soldaten verstärkte Leibwache zur Verfügung. Als Ssingtschö in solchem feierlichen Aufzug im Tempel des Leuchtenden Goldes eintraf, spottete Ba Djä: er habe wohl seine frühere Würde eines Königs über die Affen wieder angenommen. Ssing-tschö hörte nicht darauf. Er ließ die beiden Gefangenen losbinden und führte sie, von Ba Djä und Scha Ssöng bewacht, zum Palast. Vor dem König wiederholten die Ungeheuer alle Angaben, die sie am Vorabend Ssan Tsang gemacht hatten. Darauf wurden sie eingekerkert und die Bonzen durch königliches Dekret von jeder Schuld freigesprochen. Am Abend veranstaltete der König zu Ehren Ssan Tsangs ein großes Festgelage. Im Verlauf der Unterhaltung bat er seinen hohen Gast, den Schüler zu nennen, der geeignet sei, die königlichen Truppen gegen den Drachenkönig der Zehntausend Heiligkeiten und dessen Schwiegersohn zu führen. Ssan Tsang schlug Ssun Wu-kung vor. „Er ist mein erster Schüler“, fügte er hinzu, „und wird diesen Auftrag aufs beste erledigen.“ Mit aneinandergelegten Händen erklärte sich Wu-kung zur Annahme bereit. Der König war einverstanden; er wollte nur noch wissen, wieviel Soldaten und Pferde Wu-kung mitzunehmen wünschte. Da rief Ba Djä lachend: „Solchen Kampf führt man nicht mit Soldaten und Pferden. Aber da ich jetzt vollauf gesättigt bin, wolle Eure Majestät mir gestatten, meinen älteren Bruder zu begleiten. Zu zweit werden wir der Ungeheuer leicht Herr werden!“ Nun fragte der König nach Zahl und Art der Waffen, die sie benötigten. Und wiederum rief Ba Djä lachend: „Mein älterer Bruder und ich, wir haben unsere eigenen Waffen, an die wir gewöhnt sind!“ Und die beiden Kampfgefährten klemmten sich jeder eines der Ungeheuer unter den Arm, sprangen auf eine Wolke und verschwanden in südöstlicher Richtung. 367
63. Ssing-tschö und Ba Djä vernichten die Ungeheuer im Palast des Drachenkönigs. Mit Hilfe des Heiligen Örl-lang erlangen sie die gestohlenen Kostbarkeiten zurück
Am Teich der Saphirfluten angelangt, verwandelte Ssing-tschö seine Eisenstange in ein scharfes Schwert. Damit hieb er dem Schwarzen Fisch die Ohren und der Forelle den Unterkiefer ab und trug beiden auf, dem Drachenkönig der Zehntausend Heiligkeiten zu melden, daß der Große Heilige und den Himmlischen Ebenbürtige, auch Ssun Ssing-tschö genannt, von ihm die sofortige Herausgabe des kostbaren Turmkleinods verlange; die Weigerung würde ihn und die Seinen das Leben kosten. Die beiden Ungeheuer gelangten nur mit großer Mühe auf den Grund des Teiches und zum Palast des Drachenkönigs, weil die Wunden und die schweren Eisenketten sie in der Bewegung hinderten. Sie trafen den König und dessen Schwiegersohn beim Zechen und erzählten ihnen, was sich seit dem Vorabend ereignet hatte. Darauf richteten sie die ihnen aufgetragene Bestellung aus und fügten hinzu, daß der Große Heilige zusammen mit Ba Djä am Ufer des Teiches auf die Erledigung warte. Der Drachenkönig erschrak bei dieser Nachricht über die Maßen und war jeglichem Widerstand abgeneigt. Aber der Schwiegersohn lachte höhnisch: sein Waffenruhm sei auf den vier Meeren bekannt; nach drei Waffengängen werde er beider Gegner Köpfe als Siegestrophäen vorweisen. Er stieg an die Oberfläche empor und sagte zu Ssing-tschö: „Es heißt, daß Ihr, der Große Heilige und Ebenbürtige der Himmlischen, auf der Suche nach den Heiligen Schriften unterwegs seid. Was geht es Euch also an, daß ich in dieser Welt des Staubes das kostbare Wahrzeichen des Staates Djissai gestohlen habe?“ „Ihr versteht Euch ausgezeichnet darauf, viele Worte zu ma368
chen“, entgegnete Ssing-tschö, „aber Eure Rede zeigt, daß es Euch an Verstand gebricht. Ich bin, wie Ihr richtig meint, kein Untertan des Staates Djissai. Trotzdem bleibt bestehen, daß Ihr das Wahrzeichen des Staates gestohlen und den Bonzen im Tempel des Leuchtenden Goldes schweres Leid zugefügt habt. Bedenkt, daß ich ein Bonze wie sie bin. Wie sollte ich also nicht darum bemüht sein, meine Brüder zu befreien?“ „Aus Euren Worten spricht Euer Wille zu kämpfen“, erwiderte der Neunköpfige Ritter. „Die Alten sagten: ,Es ist verwerflich, Krieg anzufangen, denn das Überleben des einen bedeutet den Tod des anderen.’ Bedenkt, daß nach dem Kampf zwischen uns beiden niemand mehr auf die Suche nach den Heiligen Schriften gehen kann!“ „Eure Fähigkeiten entsprechen Euren hochtrabenden Reden!“ In höchster Wut ging Ssing-tschö mit seiner Eisenstange auf den Gegner los. Nach dreißig Waffengängen gab es noch immer keinen Sieger und keinen Besiegten. Ba Djä eilte Ssing-tschö zu Hilfe. Im selben Augenblick wurden an dem Ritter seine neun Köpfe sichtbar, und er nahm mit achtzehn Augen rundum alles sofort wahr. Aber sich gegen zwei zu behaupten, wurde ihm zuviel. Entsetzt sahen sich Ssing-tschö und Ba Djä plötzlich einem Vierfüßer mit zwei Flügeln gegenüber, und noch ehe Ssing-tschö darauf losgehen konnte, erhob sich dieses Ungeheuer über den Erdboden, stieß von oben her auf Ba Djäs Kopf, biß sich mit seinem weitgeöffneten, innen blutroten Schnabel darin fest und zerrte den Wehrlosen auf den Grund des Teiches hinunter, wo er sofort gefesselt wurde. Ssing-tschö ließ sich ohne Verzug als Krebs in den Teich fallen. Von den scharenweise fröhlich auf dem Grund umherwimmelnden Schalentieren erfuhr er, daß der ,Bonze mit der langen Nase’ im Westpavillon eingesperrt sei und jämmerlich stöhne. Sofort suchte sich Ssing-tschö den Weg zu diesem Pavil369
lon. Ba Djä war an einen Pfosten gebunden und wehklagte in einem fort; die Kopfwunde verursachte ihm unerträgliche Schmerzen. Mit seinen scharfen Scheren zerriß Ssing-tschö die Fesseln. Aber sie konnten nicht eilends flüchten, wie er es vorhatte, denn die Wachen hatten Ba Djä die neunzinkige Forke abgenommen, und ohne Waffe war er ja jedem Feind hilflos ausgeliefert! Ssing-tschö befahl also Ba Djä, vor dem Pavillon zu warten. Er selbst machte sich unsichtbar, schlüpfte in den Palast, durchforschte alle Räume und fand schließlich die Waffe. In größter Eile kehrte er zu Ba Djä zurück, der seine gewaltige Forke freudestrahlend in Empfang nahm. „Steigt zum Ufer auf, älterer Bruder, und wartet dort auf mich“, sagte er, „ich will erst noch im Palast alles kurz und klein schlagen und jegliches Leben vernichten!“ Ssing-tschö war mit diesem Vorhaben einverstanden und entfernte sich. Ba Djä drang in den Palast des Drachenkönigs ein und schlug jeden nieder, der ihm in den Weg trat. Zähnefletschend stellte sich der Neunköpfige Ritter zum Kampf; der Drachenkönig eilte ihm mit seiner Sippe und seinem Riesenaufgebot von Unholden zu Hilfe. Einer solchen Übermacht mußte Ba Djä weichen. Er stieg an die Oberfläche des Teiches empor. Der Drachenkönig folgte ihm auf den Fersen. Als sein Kopf auftauchte, holte Ssingtschö, der mit seiner Eisenstange im Arm auf der Lauer lag, zu einem wohlgezielten Schlag aus und zertrümmerte dem Ungeheuer den Schädel. Der schwere Körper sank ab; das Wasser färbte sich weithin blutrot. Der Neunköpfige Ritter schleppte den Leichnam zum Palast, die Sippe stob auseinander. Aufatmend setzten sich Ssing-tschö und Ba Djä zum Ausruhen ans Ufer. Ein plötzlich aufkommender starker Wind kündete die Ankunft einer hohen Persönlichkeit an: der Heilige Örllang erschien mit einem Jagdgefolge. „Er hat mich zwar einstmals gefangengenommen“, sagte Ssing-tschö zu Ba Djä, „aber trotz der Schmach, die er mir damit angetan hat, will ich ihn um 370
Hilfe angehen.“ Er begrüßte den Ankömmling geziemend und bat ihn um seinen Beistand gegen die Ungeheuer, um die Unschuld der zu Unrecht verurteilten Bonzen zu beweisen. Örl-lang war sofort dazu bereit, aber da der Abend bereits dämmerte, wurde der Kampf auf den folgenden Morgen verschoben. Alle lagerten sich und aßen und tranken nach Herzenslust von den Vorräten, die das Gefolge des Heiligen Örl-lang mit sich führte. Beim Morgengrauen krempelte Ba Djä die Ärmel seines langen Obergewandes auf. Mit den Worten: „Älterer Bruder, wir haben klares Wetter, ich werde den Kampf eröffnen!“ sprang er in die Tiefe des Teiches. Er stieß auf den Sohn des Drachenkönigs, der, in Trauergewänder gekleidet, seinen toten Vater wehklagend im Arm hielt. Ba Djä holte mit seiner neunzinkigen Forke aus und traf ihn tödlich. Die Drachenkönigin flüchtete schreiend; der Schwiegersohn-Ritter nahm den Kampf auf, unterstützt von dem Enkel des Drachenkönigs. In vorgetäuschtem Rückzug lockte Ba Djä die beiden an die Oberfläche, wo Örl-lang und Ssing-tschö zum Zuschlagen bereit warteten. Der Enkel fiel gleich beim ersten Zusammenstoß. Der Ritter nahm abermals die Gestalt des neunköpfigen Vierfüßers mit zwei Flügeln an und versuchte, sich Örl-langs zu bemächtigen, wie er es am Tage zuvor mit Ba Djä gemacht hatte. Aber einer der scharfen Jagdhunde des Heiligen sprang ihn an und biß ihm den zwischen den Rippen hervorgewachsenen einen Kopf ab; in einem gewaltigen Strahl schoß das Blut aus der Wunde und färbte den Teich. Der Ritter flüchtete mit heftigen Flügelschlägen zum Nordmeer hin. Ba Djä wollte ihm nachsetzen, aber Ssing-tschö hielt ihn zurück: der Gegner werde der schweren Verwundung ohnehin bald erliegen, und er habe einen anderen Plan. Er werde die Gestalt des Ritters annehmen und, von Ba Djä scheinbar verfolgt, sich in den Palast des Drachenkönigs flüchten, wo er von der Prinzessin die Herausgabe des Turmkleinods und des Krautbündels der Langlebigkeit erzwingen wolle. 371
Alles verlief, wie verabredet. Besorgt, die beiden Kostbarkeiten vor dem Feind zu verbergen, händigte die Prinzessin ihrem angeblichen Gemahl zwei Schatullen mit dem Turmkleinod und dem Kraut aus. Im selben Augenblick nahm Ssing-tschö seine wahre Gestalt an, und als die Prinzessin ihm mit aller Gewalt die Schatullen entreißen wollte, wurde sie von dem dazukommenden Ba Djä erschlagen. Die Drachenkönigin wollte abermals flüchten, aber Ba Djä packte sie am Arm und zerrte sie hinter sich her an die Oberfläche des Teiches. Ssing-tschö folgte den beiden auf den Fersen. Am Ufer angelangt, wies Ssing-tschö dem Heiligen Örl-lang die beiden wertvollen Schatullen vor. „Ehrwürdiger älterer Bruder“, sagte er dabei, „dank Eurer Hilfe können wir das Turmkleinod in die Hauptstadt des Staates Djissai zurückschaffen.“ Freundlich erwiderte Örl-lang: „Großer Heiliger, Ihr habt wiederum verdienstvolle Taten vollbracht. Erlaubt, daß ich mich jetzt mit meiner Begleitung von Euch verabschiede!“ Und schon sprang er mit seinem Gefolge auf eine Wolke und glitt davon. Ssing-tschö und Ba Djä machten sich auf den Weg zum Palast des Königs von Djissai; der eine von ihnen trug die beiden wertvollen Schatullen, der andere führte die Drachenkönigin als Gefangene hinter sich her. Der König empfing sie in Gegenwart aller Bonzen aus dem Tempel des Leuchtenden Goldes und ließ sich von der Drachenkönigin genau schildern, wie ihr Schwiegersohn und ihre Tochter die Diebstähle begangen hatten. Er war bereit, ihr das Leben zu schenken, wenn sie fortan den Turm sorgfältig bewachen wolle. Mit den Worten: „Ein elendes Leben ist immer noch besser als der Tod!“ nahm sie den Auftrag an. Danach begaben sich der König mit seinem Hofstaat, Ssan Tsang mit seinen Schülern und alle Bonzen in feierlichem Zuge zum Tempel des Leuchtenden Goldes. Ssing-tschö brachte das Turmkleinod an seinem alten Platz an; der Turm erstrahlte alsbald in neuem Glanz, der sich weithin am Himmelsgewölbe aus372
breitete. An diese Zeremonie schloß sich ein großes Freudenfest, bei dem der König seine Gäste von berühmten Malern auf einem Gemälde darstellen ließ. Aber alle Geschenke, die er ihnen als Ausdruck seiner Freude und Dankbarkeit anbot, lehnten sie ab; sie nahmen nur einige Kleidungsstücke zum Auswechseln ihrer abgetragenen an und Reisvorräte. Vom König und allen Bonzen bis vor das Stadttor geleitet, setzten die ihre Pilgerfahrt fort.
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GEFÄHRLICHER DICHTERWETTSTREIT AUF DEM DJINGDJIBERG
64. Ssan Tsang gerät auf dem Djingdjiberg in Gefangenschaft. In der Einsiedelei der Unsterblichen Bäume dichtet er
Nach ihrem Aufbruch aus der Hauptstadt von Djissai waren die Reisenden über das Jahresende hinaus unterwegs, ohne aufgehalten zu werden. Am Tage des ersten Vollmonds im ersten Monat des neuen Jahres fanden sie sich vor einem nicht sonderlich hohen, aber langgestreckten Gebirgszug, der über und über mit Dornengestrüpp und wuchernden Schlingpflanzen bedeckt war. Ba Djä bahnte mit seiner Forke einen Pfad durch das schier undurchdringliche Dickicht, und Ssing-tschö ging hinter ihm her und bog die Zweige zur Seite, so daß der Meister zu Pferd passieren konnte. Scha Ssöng bildete mit dem Gepäck den Schluß. In dieser Weise legten sie an einem Tage reichlich hundert Li zurück und gelangten gegen Abend auf eine Rodung, in deren Mitte eine Steinplatte in die Erde eingelassen war. Sie entzifferten die Inschrift: ,Über eine Strecke von achthundert Li wuchert dichtes Gestrüpp, der Weg führt gradaus zum Ziel, aber nur wenige gehen ihn.’ Über diese günstige Aussicht waren sie alle hocherfreut, und weil der Vollmond schien, setzten sie ihre Reise die Nacht hindurch und auch noch den nächsten Tag ohne Unterbrechung fort. Bei Anbruch der Dämmerung erhob sich ein sanfter Wind, sein Säuseln klang wie Musik, und das leise Rauschen in den Bambushainen glich lieblichen Flötentönen. Inmitten von Föhren 375
und Zypressen wurde ein schönes Haus sichtbar. Aber Ssingtschö nahm die darüber lagernden üblen Rauchschleier wahr und warnte den Meister, die Bewohner um Obdach anzugehen. Er hatte kaum zu Ende gesprochen, als ein Wirbelwind losging und von der Hinterseite des Hauses her ein alter Mann an einem Stock auf sie zugehumpelt kam. Ein grüngesichtiger Teufel mit rotem Haar ging hinter ihm her. Der Greis kniete vor Ssan Tsang nieder, stellte sich als der Tou Di des Djingdji-ling, des Dornengebirges, vor und bot ihm zum Willkommen mit Chinarinde gewürztes Gebäck an. Ssing-tschö schrie hastig dazwischen: „Tjän dshu! – Halt, nicht anrühren!“ und wies dem Alten drohend seine Eisenstange. „Du gehörst nicht zu den guten Wesen! Gibst dich als Tou Di aus, weil du meinst, du könntest damit mich, den erfahrenen Ssun Wu-kung, hinters Licht führen!“ Aber schon hatte der Greis Ssan Tsang mit beiden Armen umklammert und erzeugte mit einer Handbewegung einen Wirbelsturm, von dem er sich davontragen ließ. Der Teufel eilte hinter ihm her. Während Ssing-tschö, Ba Djä und Scha Ssöng ohne Säumen in der Richtung, die das verkappte Ungeheuer eingeschlagen hatte, losrannten, um ihren Meister zu befreien, schaffte der Alte seinen Gefangenen unbemerkt in ein großes steinernes Gebäude. Dort bat er Ssan Tsang, sich nicht zu beunruhigen; er sei keinem Unhold in die Hand gefallen, und es drohe ihm keine Gefahr. Er selbst nenne sich Schi Bagung und residiere auf dem Dornenberg. Darauf begrüßten noch drei alte Männer Ssan Tsang nach der vorgeschriebenen Etikette und gaben ihrer Freude über sein Erscheinen Ausdruck. Ssan Tsang beruhigte sich allmählich und sah sich die drei Greise genau an. Der eine fiel durch ehrfurchtgebietende Haltung auf, der andere durch seine Brauen, die zu grünen Löckchen geringelt waren; der dritte wirkte demütig und hatte eine Haut, so dunkel wie Ebenholz. Nun begehrte Ssan Tsang die Namen der Greise zu erfahren. Schi Ba-gung stellte sie vor. „Der ehrwürdige Greis nennt sich 376
Gu Dji-gung, der mit den grünen gelockten Brauen Ling Gungdse und der dunkelhäutige Fu Jün-schou. Mir hat man den Beinamen ‚Unerschütterliche Standhaftigkeit’ gegeben.“ Ssan Tsang fragte weiter nach dem Alter der Greise. Gu Djigung antwortete für seine Person in Stegreifversen: „Schon tausend Jahre halte ich meinen Namen geheim. Von früher Kindheit an trachte ich nach vollkommener Tugend. Meine einzige Freude ist: Raben und Phönix betrachten. Ich liebe Berge und verabscheue Märkte und Städte.“ Lächelnd schloß sich LingGung-dse mit folgenden Versen an: „Schon tausend Jahre lang machen Tau und Schnee meine Haut nicht runzlig. Ich bin groß von Wuchs, habe starke Knochen und gesunde Eingeweide. Die Läuterung verleiht dem alternden Körper die Frische der Jugend. Wer sich in stiller Landschaft ergeht, kann auf Unsterblichkeit hoffen. Nun war die Reihe an Fu Jün-schou. Auch er lächelte: „Frischen Wind und klaren Mond bin ich gleichermaßen gewohnt. Tausend Jahre hindurch wiederhole ich schon des Großen Weisen Lob. Ich verehre den Bambus als Stütze der Dichtkunst und genieße es, trotz meines Alters im Föhrenwalde zu leben.“ Schi Ba-gung lächelte wie seine Gefährten, als sie das Wort ergriffen, und dichtete als letzter: „Auch ich lebe seit einem Jahrtausend fern der Welt, dankbar dem Regen, der die Erde befruchtet, 377
und dem Ablauf im Weltall, der das Wachsen und Grünen erzeugt. Die Muße genießend, pflegt der Unsterbliche das Flöten- und Schachspiel.“ Als Schi Ba-gung geendet hatte, sagte Ssan Tsang, die Hände ehrfurchtsvoll in Brusthöhe aneinandergelegt: „Ehrwürdige Unsterbliche, Euer Leben zählt viele Jahre. Sicher habet Ihr bereits zur Zeit der Han-Dynastie gelebt?“ Alle vier antworteten wie aus einem Munde: „Wir stammen nicht aus der Han-Periode. Wir sind nichts weiter als schlichte Bewohner des Djingdjiberges. Laßt uns nun etwas über Euer Alter erfahren, Heiliger Bonze.“ Ssan Tsang kam der Bitte nach. „Seit vierzig Jahren bin ich der Meditation ergeben. Schon im Mutterleib suchte das Unglück mich heim. Den Neugeborenen trug der Fluß mit sich fort. Ein Spiel der Strömung, trieb ich zur Treppe des JinschanTempels. Der mich rettete, wurde mein Meister und lehrte mich Buddhas Gesetze. Buddhas Heilige Schriften im Westen zu suchen, trug mein Kaiser mir auf. Die drei Bände zu finden, ist mein einziges Streben. Kein anderer Gedanke lebte in mir, bis ich Euch, Hohe Unsterbliche, traf.“ Die vier Greise hatten in ehrfürchtiger Bewunderung zugehört. „Da uns das Glück zuteil geworden ist, mit Euch zusammenzutreffen, Hoher Heiliger“, sagten sie, „bitten wir Euch, uns die Regeln der Meditation zu lehren.“ Ssan Tsang willfahrte dem Wunsch seiner Gastgeber und trug folgendes vor: „Die Meditation ist nur auf der Grundlage der Lauterkeit möglich. Der Mensch muß sich von jeder Bindung an die Güter 378
der Welt des Staubes gelöst haben. Seine Augen dürfen weder Schönheit noch Reichtum wahrnehmen; seine Ohren müssen sich unreinen Worten und seine Nasenlöcher unreinen Gerüchen verschließen; seine Zunge darf nichts Unreines schmecken, sein Körper mit nichts Unreinem in Berührung kommen, sein Geist sich nicht unreinen Gedanken hingeben. Wer sich ohne Aufhören in der absoluten Innehaltung dieser sechs Grundsätze zu vervollkommnen trachtet, handelt gut, erlöst seinen Nächsten und erlangt die Vollkommenheit.’’ Die Greise bedankten sich; Fu Jün-schou stellte abschließend fest: „Unsere Vorschriften zur Regelung des Lebens weichen von den Euren erheblich ab.“ Verwundert entgegnete Ssan Tsang: „Die Lehre Laudses gründet sich ebenso wie die Buddhas auf die Lauterkeit und spricht der Tugendhaftigkeit den ersten Platz zu. Wie sollten sich also Laudses Vorschriften erheblich von denen Buddhas unterscheiden? Wollet mich kleinen Bonzen darüber belehren.“ Lächelnd erwiderte Fu Jün-schou: „Unsere Lehre hat keine Beziehung zu der Euren, die das Hauptgewicht auf die Meditation legt. Merket das eine: Himmel und Erde vermögen zu zeugen; Tau und Regen befruchten. Darum lassen wir die Strahlen des Mondes und der Sonne auf uns wirken und uns von Tau und Regen tränken. Ein einzelnes Blatt ist nichts, tausend Zweige dagegen bilden ein dichtes Laubwerk. Der Kernpunkt Eurer Lehre jedoch, die im Reich der Mitte Geltung hat, liegt darin, daß Ihr die Buddhas des Westens anruft und, mit Lumpen und Strohsandalen bekleidet, einem Ziel entgegenstrebt, das wir für unerreichbar halten. Ihr sagt, Buddha habe seinen Sitz in des Menschen Herz, das Herz sei also Buddha selbst und vermöge sich allüberall zu läutern. Nach unserer Lehre erreicht der Mensch die Vollkommenheit, wenn er an einem Ort des Friedens ein Leben gemäß den Vorschriften führt.“ Ssan Tsang war im Begriff, für die Ausführungen zu danken, 379
aber Ling Gung-dse ließ ihn nicht zum Sprechen kommen. „Heiliger Bonze“, sagte er, „gewährt Fu Jün-schou Verzeihung für die Gedanken, die er vorgetragen hat, und laßt uns dazu übergehen, zu gegenseitiger Unterhaltung Verse zu verfassen.“ Mit diesem Vorschlag waren alle einverstanden. Man begab sich in den Garten, über dem silberner Mondenschein lag, und nahm in einem Pavillon Platz. Beim Eintreten hob Ssan Tsang bewußt die sonst stets niedergeschlagenen Augen: über dem Tor war eine Tafel mit drei Schriftzeichen angebracht: Mu Sjän An, deren Sinn er nicht zu deuten vermochte. Der grüngesichtige Teufel mit dem roten Haar servierte mit Chinawurzel gewürztes Gebäck und fünf Schalen heißen duftenden Tee. Ssan Tsang langte erst zu, als die Greise mit Essen und Trinken angefangen hatten. Nach dem Imbiß bewunderte er die liebliche Frühlingslandschaft und sagte, von überschwenglicher Freude erfüllt, einen Vers vor sich hin: „Das reine Herz gleicht dem klaren Mond bei Tagesanbruch.“ Schi Ba-gung fügte geschickt einen Vers hinzu, den dritten dichtete Gu Dji-gung, und schon war das Wettdichten in Gang gekommen. Stunden verflogen, bis schließlich Ssan Tsang, erschrocken über die vorgerückte Zeit, bat, ihm den Ausgang zu weisen, er wolle seine Schüler, die sicher schon auf der Suche nach ihm seien, nicht in Unruhe versetzen. Aber die Greise hielten ihn zurück; zugleich traten zwei in grüne Seide gekleidete Dienerinnen ein; ihnen folgte eine Unsterbliche, die einen blühenden Aprikosenzweig in der Hand hielt. Mit lächelnder Miene schritt sie auf die Greise zu, die sie ehrerbietig begrüßten, und sagte: „Ich habe erfahren, daß ein vornehmer Fremder angekommen ist, und möchte ihn kennenlernen.“ Schi Ba-gung wies auf Ssan Tsang, der sich mit aneinandergelegten Händen erhob, aber kein Wort sagte. Wiederum traten zwei Dienerinnen ein, sie waren in gelbe Seide gekleidet und brachten eine Kanne Tee und Schalen dazu. Die Unsterbliche schenkte das duftende Getränk ein, zuerst für 380
Ssan Tsang, dann für die Greise, zuletzt für sich selbst. Fu Jünschou berichtete von dem Wettdichten und wiederholte die von Ssan Tsang vorgetragenen Verse, deren Schönheit sie die Überlegenheit der Tang-Dichtkunst erkennen gelehrt hätte. Lächelnd bat die schöne Dame Ssan Tsang, einige Verse auf sie zu dichten. Da er sie keiner Antwort würdigte, schmiegte sie sich dicht an ihn und flüsterte ihm ins Ohr: „Heute nacht geht ein leiser Wind und scheint der Mond silberhell. Was verlangt Ihr mehr, um Euch zu freuen? Schaut mich an, und Ihr werdet merken, daß ich keine hundert Jahre zähle!“ Schi Ba-gung fiel der Unsterblichen ins Wort. „Ihr spannt Eure Erwartungen zu hoch, schöne Aprikosenblüte. Dieser Heilige Bonze wird gewichtige Gründe haben, Eurer Schönheit keinen Blick zu gönnen.“ Gu Dji-gung sprach auf Ssan Tsang ein. „Heiliger Bonze, wie ist es zu erklären, daß ein so angesehener und kluger Mann wie Ihr so unverständlich handelt? Es liegt uns fern, Euch zu drängen, daß Ihr das Werk des Mondes und der Blumen heute nacht verrichtet. Vielleicht wollt Ihr nur eine Verbindung von Dauer eingehen. Wenn dem so ist, werden Schi Ba-gung und Fu Jün-schou gern die Rolle der Vermittler übernehmen, Ling Gung-dse und ich uns als die hochgestellten Eltern betätigen.“ In SsanTsang stieg die Wut auf. „Ihr seid tatsächlich Unholde!“ rief er. „Erst wollt Ihr mich durch Schmeicheleien zugänglich stimmen, dann durch den Anblick liebreizender Mädchen verführen! Und das zu dem Zweck, daß ich meinen Auftrag nicht erfüllen kann!“ Die Greise entgegneten kein Wort. Aber der grüngesichtige Teufel mit dem roten Haar schrie aufgebracht: „Ihr seid ein Bonze, der nicht weiß, was sich schickt! Findet Ihr meine ältere Schwester etwa häßlich, daß Ihr sie verschmäht? Ich werde Euch zu zwingen wissen, das Werk des Mondes und der Blumen zu vollbringen.“ Ssan Tsang schwieg, Tränen flossen ihm über das Gesicht. Die Schöne tupfte sie mit ihrem Seidentüchlein ab und flüsterte: 381
„Warum seid Ihr nur traurig? Vereinigt Euch mit mir!“ Ssan Tsang stieß einen Schreckensschrei aus und sprang auf, um zu flüchten. Seine Gastgeber hielten ihn fest, und der Pavillon widerhallte von dem Wehklagen des sich Wehrenden und den dringlichen Reden der Greise. In die Unruhe hinein klang lautes Rufen: „Meister, wo seid Ihr? Mit wem habt Ihr Streit?“ Ssing-tschö, Ba Djä und Scha Ssöng, die auf der Suche nach ihrem Meister waren, hatten dessen Stimme erkannt. Die Greise schraken zusammen und ließen ihn los; alle Anwesenden verschwanden spurlos. – Ssan Tsang trat aus dem Pavillon ins Freie: seine Schüler kamen auf ihn zu! Er berichtete ihnen, was er erlebt hatte, und führte sie zu dem Pavillon. Ssing-tschö las die Schriftzeichen auf der Tafel über dem Eingang und schaute sich um: in der Nähe sah man eine Fichte und eine Zypresse, einen Wacholderstrauch, ein Bambusgebüsch und einen Indigostrauch. Etwas dahinter ragten ein Aprikosenbaum, zwei Zimt- und zwei Pflaumenbäume auf. Ssing-tschö lachte schallend und sagte, auf die Bäume und Sträucher weisend: „Das sind die Ungeheuer! Die Inschrift auf der Tafel besagt ,Einsiedelei der Unsterblichen Bäume’. Sie führen alle ein Leben der Wiedergeburt.“ Und er deutete die Gewächse als die vier Greise und die vier Dienerinnen, die Schöne und den Teufel. Schon bei Ssing-tschös letzten Worten stürzte Ba Djä auf die Bäume und Büsche zu und begann, mit seiner gewaltigen Forke die Wurzeln auszugraben und zu zerhacken. Ssan Tsang wollte ihn daran hindern. „Die Unholde sind ja nicht dazu gekommen, mir ein Leid anzutun!“ sagte er. „Warum wollt Ihr sie also vernichten?“ Ssing-tschö mischte sich ein. „Meister, wenn diese Bäume, Sträucher und Büsche erhalten bleiben, werden sie den Menschen Schaden zufügen! Mitleid ist hier fehl am Platze!“ Ba Djä zerhackte das Wurzelwerk der vier letzten Bäume; Blutlachen bedeckten weithin den Boden. 382
Beglückt, den Dornenberg bezwungen zu haben, setzten die Pilger auf einem bequemen Weg ihre Reise fort.
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SSAN TSANG BEGEHT EINEN VERHÄNGNISVOLLEN IRRTUM
65. Das Ungeheuer Hwang Mee gibt sich als den Erhabenen Buddha aus. Ssang Tsang erkennt seinen Irrtum zu spät
Nach geraumer Zeit ragte ein steiles Gebirge, dessen Spitze die Wolken berührte, vor den Pilgern auf. Sie erklommen es unter großen Anstrengungen. Inmitten einer überirdischen Helligkeit, die weithin in den Himmelsraum ausstrahlte, stand ein großes hohes Gebäude. Durch die Stille erklang Glockengeläut. Ssan Tsang war überglücklich: er wähnte sich am Ziel seiner Pilgerfahrt, dem Lee-jin-sse, dem Donnertempel, wo der Erhabene Buddha residierte. Ssing-tschö dagegen war mißtrauisch. Sein scharfes Auge gewahrte verhängnisvolle Schleiergebilde in dem blendenden Glanz, der das Gebäude umflutete, und von früheren Reisen war ihm klar, daß sie noch weit vom Lee-jin-sse entfernt waren. Ssan Tsang hörte jedoch nicht auf die Warnungen seines Schülers. Er ritt dicht an das Tor heran und las die darüber angebrachte Inschrift: Lee-Jin-Sse. Von Freude überwältigt, sprang er vom Pferd. „Erbärmlicher, hinterlistiger Affe! Lest, was hier steht!“ fuhr er Ssing-tschö an. Der lächelte und erwiderte: „Meister, wollet sorgfältig lesen, ehe Ihr Euren Mißmut an mir auslaßt! Ihr habt nur drei Zeichen gelesen, die Inschrift weist deren vier auf!“ Betroffen schaute Ssan Tsang noch einmal in die Höhe: er hatte wahrhaftig das erste Zeichen übersehen, und die vollständige Inschrift lautete: Sjau-Lee-Jin-Sse, kleiner Donnertempel. Aber es gab kein Halten mehr für Ssan Tsang. Von den drei 385
Schülern gefolgt, trat er in die prächtige Tempelhalle ein. Auf dem Lotosthron saß der Erhabene Buddha. Unterhalb des Thrones standen die fünfhundert Lo Han, die höchsten Würdenträger im Reich des Erhabenen Buddha, die dreitausend Ankläger, die vierundfünfzig Tempelwächter, die acht Bodhisattvas – die Wesen, denen bestimmt war, dereinst Buddhas zu werden – und unzählige Bonzen. Ssan Tsang schritt, immer gefolgt von seinen Schülern, auf den Thron zu; nach jedem Schritt verneigten er und ebenso Ba Djä und Scha Ssöng sich tief, wobei sie den Boden mit der Stirn berührten. Ssing-tschö hielt sich hocherhobenen Hauptes dicht hinter seinem Herrn. Von der Höhe des Thrones herunter donnerte plötzlich die Stimme des Erhabenen Buddha: „Ssun Wu-kung, warum verneigst du dich nicht gemäß den Riten vor mir?“ Ssing-tschö musterte Buddha mit forschendem Blick und erkannte in ihm ein getarntes Ungeheuer. Mit lauten Rufen: „Ungeheuer, die Ihr es wagt, Euch als Gefolge Buddhas auszugeben! Verächtliches Ungeheuer, das sich anmaßt, die Gestalt des Erhabenen Buddha anzunehmen!“ stürzte er, seine schwere Eisenstange schwingend, auf den Thron zu. Im selben Augenblick stülpte sich, von der Decke herunterkommend, eine große goldene Glocke über ihn. Der Tempel verwandelte sich in eine riesengroße Höhle, in der tausend Ungeheuer umherwimmelten. Unversehens wurden Ssan Tsang, Ba Djä und Scha Ssöng gefesselt, und der falsche Buddha verkündete laut: „In drei Tagen hat sich Ssun Wu-kung verflüssigt, danach werden wir den Bonzen Ssan Tsang verspeisen.“ Ssan Tsang erkannte seinen Irrtum. Es war zu spät. Ssing-tschö war von Dunkelheit umgeben. Das Atmen wurde ihm schwer, sein Körper war in Schweiß gebadet. Er sagte die Zauberformel der Vergrößerung vor sich hin in der Überlegung, 386
daß die Glocke sich dann über ihm heben müsse. Aber die Glokke erweiterte sich seiner zunehmenden Größe entsprechend. Also gab Ssing-tschö diesen Befreiungsversuch auf und rief die Umherirrenden Geister zusammen. Sie versammelten sich alsbald um die Glocke herum und bemühten sich, sie zu lüften. Aber sie war wie in den Erdboden eingeschweißt. Die Geister wandten sich an den Obersten Himmelsherrn, und Dshang Di entsandte unverzüglich die achtundzwanzig Sternbilder zum Sjau-lee-jin-sse. Beim Beginn der zweiten Nachtwache versammelten sie sich um die Glocke. Kang, das Sternbild des Metalldrachens, brachte es fertig, das Ende seines Horns, das fein wie eine Nadelspitze war, unter den Glockenrand zu schieben. Dann zog er sie wieder zurück, und Ssing-tschö, der durch die passende Zauberformel zu einer Winzigkeit zusammengeschrumpft war, glitt hinterher. Außerhalb der Glocke nahm er seine natürliche Größe wieder an und hieb mit seiner Eisenstange auf die Glocke. Sie sprang mit donnerähnlichem Getöse auseinander. Alle Ungeheuer fuhren aus tiefem Schlaf in die Höhe. Sofort entbrannte ein heftiger Kampf. „Wüßtest du, mit wem du es zu tun hast“, schrie der falsche Buddha seinem Gegner Ssing-tschö entgegen, „hättest du dich niemals hierher gewagt. Wisse, daß ich der Hwang Mee tai wang – der Große König Gelbe Augenbraue – bin. Ich werde dich besiegen und an deiner Stelle die Heiligen Schriften aus dem Westen nach Tschangan schaffen.“ Ssing-tschö lachte ob solcher Überheblichkeit. Aber als die beiden ihre Kräfte fünfzigmal miteinander gemessen hatten, war der Sieg noch immer unentschieden. Überraschend warf der falsche Buddha einen alten Baumwollsack in die Luft, der im Herunterfallen Ssing-tschö und die achtundzwanzig Sternbilder umschloß. In der Höhle befahl der falsche Buddha, die Gefangenen aus dem Sack herauszulassen, sie zu knebeln und in einen verlassenen Winkel zu werfen. Dann feierte er mit seinen Kum387
panen ein üppiges Siegesmahl. In der Nacht ließ sich Ssing-tschö zusammenschrumpfen, wand sich aus den Fesseln heraus und befreite alle Gefangenen. Darauf hob er Ssan Tsang in den Sattel und hieß alle die Höhle verlassen und in einiger Entfernung auf ihn warten, er wolle noch das Gepäck herausschaffen, in dem sich die Geleitbriefe befanden. In Gestalt einer Fledermaus gelangte er in die Halle, wo der geheimnisvolle Sack, in den man ihr Reisegepäck getan hatte, lag. Nichts Böses ahnend, nahm er ihn hoch. Aber das war ein Sack ohne Boden: er war an beiden Enden offen, und als Ssing-tschö ihn mit festem Griff hochzog, fiel sein Inhalt mit lautem Gepolter zur Erde. Die Gelbe Augenbraue erwachte und ließ sofort alle Fackeln anbrennen. Mit schnellen Flügelschlägen brachte sich Ssing-tschö in Sicherheit. Eine dräuende Heeresmasse wälzte sich alsbald aus dem Tor, an ihrer Spitze die Gelbe Augenbraue, und bewegte sich auf die kleine Gruppe zu, die den nachkommenden Ssing-tschö erwartete. Vom frühen Morgen bis in den späten Abend wogte das Kampfgetümmel. Plötzlich griff die Gelbe Augenbraue an ihren Gurt, Ssing-tschö wurde die Bewegung gewahr und rettete sich im letzten Augenblick durch einen Sprung auf eine Wolke. Alle übrigen wurden zum zweiten Mal von dem Sack eingefangen. Im Siegeszug kehrte Hwang Mee tai wang in seine Höhle zurück. Ssing-tschö ließ sich wieder auf die Erde hinab und brach in bitteres Weinen aus über die schweren Fehler, die sein Herr immer wieder von neuem beging. Dann kam ihm der Gedanke, den Herrscher der Nordregion, Dshön Wu, um Hilfe anzugehen.
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66. Die hilfsbereiten Geister unterliegen Hwang Mee. Der Buddha Mi Lee überlistet ihn
Der Herrscher der Nordregion lieh Ssing-tschös Bitte um Hilfe ein williges Ohr und beauftragte zwei Generäle und fünf Drachengeister, Ssing-tschö im Kampf gegen die Gelbe Augenbraue beizustehen. Aber auch sie wurden mit dem Baumwollsack eingefangen; nur Ssing-tschö entkam abermals auf einer Wolke. Mit tiefgebeugtem Kopf ließ er sich auf dem Gipfel des Berges nieder und vergoß wahre Ströme von Tränen. Aus südöstlicher Richtung näherte sich ihm, die Wolken schnell durchschneidend, eine Gestalt, die er an ihrer Leibesfülle erkannte: es war der immer lachende Buddha Mi Lee. „Eure Sorge, wie Ihr den Kampf gegen Euren Gegner Hwang Mee erfolgreich führen sollt, veranlaßt mich, Euch aufzusuchen“, sagte er. „Dieser Hwang Mee war mein Schüler und hatte das Amt, in meinem Tempel die Pauke zu schlagen. In diesem Jahr vertraute ich ihm am dritten Tage des dritten Monats, an dem ich eingeladen war, die Obhut über meine Kostbarkeiten an. Er nahm sie alle an sich und ließ sich auf diesem Berg nieder. Was er hier treibt, wißt Ihr selbst. Der Baumwollsack, in den er seine Gegner einfängt, ist der Himmlische Erbsack; seine Keule der Paukenschlegel. Dazu hat er mir noch eine Goldglocke entwendet. Jetzt werde ich ihn gefangennehmen!“ „Wie wollt Ihr das schaffen?“ rief Ssing-tschö erstaunt. „Ihr seid ohne Waffen!“ „Ich habe einen ganz anderen Plan“, versetzte Mi Lee. „Dieser Hwang Mee hat eine unbezwingbare Vorliebe für Wassermelonen. Ich werde die Gestalt eines Melonenzüchters annehmen und auf meinen Beeten nur unreife Melonen stehen haben. Ihr fordert Hwang Mee zum Kampf heraus und lockt ihn in 389
scheinbarem Rückzug dicht an meine Melonenpflanzung heran. Habt Ihr’s so weit geschafft, verwandelt Ihr Euch in eine reife Melone und stellt Euch zwischen die unreifen. Ich werde ihm anbieten, die eine schon reife Frucht zu kosten. Auf diese Weise gelangt Ihr in seine Eingeweide und könnt ihm die ärgsten Qualen bereiten.“ Alles verlief wie verabredet. Als der falsche Buddha Ssingtschös Aufforderung zum Kampf vernahm, stürzte er vor das Tor und brüllte: „Diesmal entwischt Ihr mir nicht durch die Flucht! Ich bringe Euch in meine Gewalt, ganz gleich, wen Ihr zu Eurer Unterstützung aufgeboten habt.“ Die Gegner schlugen aufeinander los, Ssing-tschö ergriff zum Schein die Flucht und lockte die Gelbe Augenbraue bis zur Melonenpflanzung. Dort verwandelte er sich in eine reife goldgelbe Melone und stellte sich zwischen die noch grünen Früchte. Verdutzt, daß er seinen Feind plötzlich nicht mehr sah, fing Hwang Mee an zu suchen und geriet zwischen die Melonen. Sofort rief er nach dem Eigentümer der Pflanzung. Mi Lee humpelte an einem Stock aus seiner Schilfhütte heraus, ein demütiger Greis, der sofort die reife Melone abpflückte und sie dem Fremden anbot. Hwang Mee verspeiste die köstliche Frucht, und Ssing-tschö begann in seinen Eingeweiden zu rumoren und ihm gräßliche Qualen zu verursachen. Stöhnend und um Hilfe bettelnd, wälzte er sich auf der Erde. Li Mee trat in seiner wahren Gestalt auf ihn zu und fragte: „Erinnert Ihr Euch meiner?“ Beim Anblick seines Meisters stockte dem Ungeheuer vor Angst der Atem. „Habt Erbarmen mit mir, Meister!“ stammelte es. Li Mee nahm ihm Sack und Schlegel ab, und Ssing-tschö gebot: „Macht den Mund weit auf, damit ich ins Freie schlüpfen kann!“ Hwang Mee gehorchte verwundert; Ssing-tschö gelangte in Gestalt eines Käfers wieder ins Freie und nahm seine wahre Gestalt an. Gerade wollte er mit seiner Stange auf den Gegner losgehen, da stülpte Li Mee diesem den Sack 390
über; Ssing-tschö konnte eben noch erkennen, daß er in Wirklichkeit ein junger Bursche mit goldgelben Augenbrauen war. Li Mee befestigte den Sack an seinem Gurt und ließ sich von Ssingtschö zu der zertrümmerten Goldglocke führen. Während er über die Bruchstücke hauchte und eine Zauberformel murmelte, fügten sich die Teile zu der ursprünglichen Glocke zusammen. Darauf verabschiedete er sich von Ssing-tschö, um in seine Residenz zurückzukehren. Ssing-tschö befreite zuerst den Meister, Ba Djä und Scha Ssöng. Danach wälzte er die Steinplatte über dem unterirdischen Verlies beiseite, in dem die übrigen Gefangenen schmachteten. Tief beschämt über die ihnen zugefügte Kränkung, stiegen sie ans Tageslicht empor, verabschiedeten sich und traten in verschiedenen Richtungen den Heimweg an. Ssan Tsang und seine Schüler stärkten sich ausgiebig an Speise und Trank und schliefen sich aus. Als sie sich wieder kräftig fühlten, steckten sie die Höhle in Brand und nahmen von neuem ihren Weg in westlicher Richtung auf.
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SSING-TSCHÖ BEFREIT DAS DORF TOLO VON EINEM UNGEHEUER
67. Das Dorf Tolo wird von schwerer Gefahr befreit. Reinen Herzens gelangen die Pilger durch das verpestete Mispeldickicht
Ungehindert konnten die Pilger monatelang ihre Reise fortsetzen. Das Jahr ging zu Ende, dem Winter folgte der Frühling. Die Blumen wetteiferten in bunter Fülle miteinander um den Preis der Schönheit. Eines Abends klopfte Ssan Tsang an ein alleinstehendes Haus, sagte dem alten Mann, der an einem Stock zur Tür gehumpelt kam, sein gewohntes Sprüchlein von dem Auftrag des Tangkaisers her und bat für sich und seine Schüler um Obdach für die Nacht. Der Greis erwiderte: „Ihr werdet die Länder des Westens niemals erreichen, denn der Weg dorthin ist so weit und so voller Gefahren, daß Ihr ihn nicht schaffen könnt. Zudem werdet Ihr aus dieser Gegend nicht herausgelangen, denn nur dreißig Li von hier entfernt erhebt sich der Tji djüä schan – der Berg der Sieben Seltsamkeiten. Er ist nämlich über und über mit mannshohen Mispeln bedeckt, die sieben seltsame Eigenschaften aufweisen“, und der Alte erging sich des langen und breiten in deren Beschreibung. Ssing-tschö unterbrach den Redseligen. „Alter Vater, wir sind müde und hungrig; deswegen baten wir Euch um Obdach. Ihr aber haltet uns mit unwichtigem Geschwätz auf. Wollt Ihr uns keine Unterkunft gewähren, so werden wir im Schutze eines Baumes nächtigen.“ „Von der Auszehrung ausgehöhltes und ausgetrocknetes Ge393
schöpf, hütet Euch, mich zu beleidigen!“ fuhr der Alte auf. „Ihr habt zwar Augen im Kopf, ehrenwerter Herr“, entgegnete Ssing-tschö lachend, „aber die Pupillen daraus verloren, und darum werdet Ihr ausfallend gegen mich. Bedenkt, daß es in den Lehrbüchern der Physiognomie heißt: ,Wie der edle Jaspis in grobem Gestein, so verbirgt sich das Talent hinter einer nicht alltäglichen Miene.’ So abschreckend ich nach Eurer Meinung auch anzuschauen sein mag, so abschreckend ist auch meine Kraft. Ich besiege Löwen und Drachen und jedwedes Ungeheuer.“ Von solcher Rede schien der alte Mann höchst befriedigt. Er bat die Pilger, bei ihm einzutreten, setzte ihnen Früchte und Tee vor und trieb die Diener an, den Reis schnell zu dämpfen. Es erfüllte Ssing-tschö mit Mißtrauen, daß der Greis, der sie eben noch so ablehnend behandelt hatte, sich unvermittelt überaus gastfreundlich zeigte, und um den Grund dafür herauszufinden, fing er ein Gespräch mit ihm an. Er kam schnell zum Ziel. Der Alte nannte seinen Namen: Li, auch den des Dorfes: Tolo, und begann sofort, freimütig zu sprechen. „Als Ihr soeben sagtet, Eure Kraft reiche aus, jegliches Ungeheuer zu besiegen, überlegte ich mir gleich, ob Ihr unserem Dorf wohl helfen würdet. Wir leiden unter schrecklichen Überfällen und würden Euch für Eure Hilfe gebührend belohnen. Das Dorf Tolo zählt fünfhundert Familien, und bis zur Mitte des vorletzten Jahres lebten wir alle in Ruhe und Frieden. Als wir an einem Tag des sechsten Monats bei der Weizenernte waren, erhob sich plötzlich ein gewaltiger Sturm. Wie konnten wir wissen, daß ein furchtbares Ungeheuer diese Form gewählt hatte, um uns zu überfallen? Es verschlang Wasserbüffel und Ochsen, Hühner und Gänse und schließlich sogar einige Menschen. Im letzten Jahr suchte uns das gleiche Unglück heim. Wenn Ihr die Macht besitzt, ehrwürdiger Meister, uns von diesem Unhold zu befreien, und bereit wäret, uns zu helfen, würden wir Euch zum Dank geben, was immer Ihr fordern möget.“ 394
Ssing-tschö wandte ein, daß es den fünfhundert Familien an Eintracht gebrechen müsse, sie hätten sonst gemeinsam die Mittel zusammengebracht, um einen Bonzen mit der Vertreibung des Unholds zu beauftragen. Der alte Li wies den Vorwurf zurück. „Im letzten Jahr“, erzählte er, „steuerte jede Familie fünf bis sieben Tael zu einer Sammlung bei. Von dieser Summe wollten wir die Hilfe eines erprobten Bonzen, der jenseits der Gebirge im Süden wohnte, bezahlen. Der Bonze rief mit Paukenschlägen und Glockenläuten das Ungeheuer in der Form eines furchtbaren Orkans herbei und geriet in heftigen Streit mit ihm. Plötzlich schlug er längelang auf die Erde hin und blieb stocksteif liegen; sein Kopf war so weich anzufassen wie ein überreife Wassermelone. Das Ungeheuer war verschwunden. Wir begruben die Leiche, gaben dem Schüler des Bonzen einen Teil der vereinbarten Summe und schickten ihn in den Jamen, um dem Kreismandarin Bericht zu erstatten. Der wußte sich keinen Rat und hat bis heute noch nichts in der Sache veranlaßt.“ „Unternahmt Ihr nur diesen einen Versuch zu Eurer Befreiung?“ fragte Ssing-tschö. „Mitnichten“, versetzte Herr Li. „Wir ließen einen dauistischen Priester kommen. Er lockte das Ungeheuer mit Trommelschlägen herbei. Der Kampf zwischen den beiden währte von der Abend- bis zur Morgendämmerung. Dann trat Stille ein, und wir gingen hinaus, um zu sehen, wie die Dinge ständen. Der Dauist trieb wie ein überbrühtes Huhn im Gebirgsbach, das Ungeheuer war abermals spurlos verschwunden. Nun sind wir bereit, demjenigen, der es schafft, uns von dieser Gefahr zu befreien, jedwede Summe, die er fordert, zu zahlen.“ „Macht Euch keine Sorgen mehr, wir werden Euch helfen“, sagte Ssing-tschö. Herr Li schickte alsbald seine Diener aus und ließ die Dorfältesten zusammenrufen. Als sie sich alle eingefunden hatten, teilte er ihnen mit, daß Ssing-tschö den Kampf mit dem Unge395
heuer aufnehmen wolle. In der Versammlung wurden Bedenken laut. „Das Ungeheuer verfügt nicht nur über Riesenkräfte, sondern auch über eine Riesengestalt. Dieser Bonze füllt nicht einmal seinen Rachen aus.“ Ssing-tschö lachte. „Ich armseliger Bonze bin wohl klein und mager, aber ich habe schon einer nicht zu zählenden Menge von Ungeheuern den Garaus gemacht.“ Darauf fragten die Dorfältesten, was der Bonze als Belohnung beanspruche. Ssing-tschös Antwort: „Wir führen ein Leben in Frömmigkeit und tun das Gute, ohne eine Gegenleistung dafür zu fordern“ verwunderte sie. „Wir können Eure Dienste nicht umsonst in Anspruch nehmen“, entgegneten sie und boten ihm Ländereien an, auf denen sie ihm einen Tempel errichten würden. Er könne dann ein Leben in Frömmigkeit führen und sich die unendlichen Strapazen der weiten Reise in die Länder des Westens ersparen. Ssing-tschö lehnte das Angebot ab. „Landbesitz“, sagte er, „ist noch drückender als Geldbesitz. Den Boden zu bestellen, erfordert vielerlei schwere Arbeiten. Dazu muß man den Wasserbüffel ernähren und die Abgaben zahlen! Nein, Land nehme ich nicht an.“ „Aber womit sollen wir Euch belohnen, wenn Ihr Geld und Land ausschlagt?“ fragten die Dorfältesten verwirrt. „Macht Euch darüber keine Gedanken“, beschwichtigte sie Ssing-tschö. „Uns Wanderbonzen genügt es, wenn wir uns satt essen können.“ Da gaben sich die Männer zufrieden und wollten nur noch wissen, wie der Bonze das Ungeheuer zu besiegen gedenke. „Es soll sich nur zeigen. Trotz seiner Größe und Stärke bedeutet es für mich nicht mehr als ein Kind“, antwortete Ssingtschö. Im selben Augenblick heulte ein furchtbarer Sturm los. Die versammelten Dorfältesten, die ganze Familie Li und Ssan Tsang schrien entsetzt auf und drängten sich in ein Zimmer im Innern 396
des Hauses zusammen. Ba Djä und Scha Ssöng wollten sich ihnen anschließen, aber Ssing-tschö hielt sie mit festem Griff zurück. „Ihr seid Bonzen und flieht vor der Gefahr? Wir werden gemeinsam erkunden, was es mit diesem Ungeheuer für eine Bewandtnis hat!“ Die drei traten vor das Haus. Der Sturm wurde immer heftiger. Ba Djä wollte wenigstens sein Gesicht schützen und bohrte seinen Rüssel tief in die Erde, daß er unbeweglich wie in langer Nagel darin stak. Scha Ssöng zog sich den langen Oberrock über den Kopf. Ssing-tschö, der schnell erkannte, daß der Sturm übernatürlicher Art war, hielt aufmerksam Ausschau. Er wurde zwei Fackeln gewahr, die sich langsam auf ihn zu bewegten. Das waren die funkelnden Augen des Ungeheuers. Er befahl seinen Gefährten, über die Sicherheit des Meisters zu wachen, schwang sich auf eine Wolke und brüllte in der Richtung der funkelnden Augen: „Hier bin ich! Spart Euch die Mühe, weiterzugehen!“ Das Ungeheuer hielt in der Bewegung inne, gab aber keinen Ton von sich. Darauf holte Ssing-tschö in wuchtigem Schwung mit seiner Eisenstange aus, der Gegner fing den Schlag geschickt auf. Damit kam der Kampf in Gang. Um die dritte Nachtwache gab es noch keinen Sieger und keinen Besiegten, und Ba Djä eilte dem älteren Bruder zu Hilfe. „Dieses Wesen gibt sich zwar äußerlich wie ein Mensch, beherrscht aber nicht die Kunst des Sprechens“, erklärte ihm Ssing-tschö. „Um diese Stunde regiert das weibliche Prinzip die Natur und verbreitet Finsternis rundum. Tritt das männliche Prinzip seine Herrschaft an, muß sich das Ungeheuer zurückziehen. Wir dürfen es dann nicht entkommen lassen.“ Und richtig! Beim ersten Schein der Morgendämmerung ergriff das Ungeheuer die Flucht, Ssing-tschö und Ba Djä setzten ihm nach. Ein widerlicher Gestank durchzog vom Berg der Sieben Seltsamkeiten her in dichten Schwaden die Luft und benahm ihnen schier den Atem. „Als wäre der Unrat aus allen Abtritten in der Umgegend 397
ausgeräumt!“ stöhnte Ba Djä. Aber Ssing-tschö kniff sich mit zwei Fingern die Nase zu und drängte: „Wir müssen weiter!“ Jenseits des Berges stießen die beiden Verfolger auf das Ungeheuer in seiner wahren Gestalt: eine Riesenschlange! „Wahrlich eine beachtliche Länge!“ rief Ba Djä, „in dem Leib haben fünfhundert Menschen Platz, und sie wird davon noch nicht gesättigt sein!“ Dabei stürzte er mit seiner neunzinkigen Forke auf das Ungetüm los. Das glitt geschwind in eine tiefe enge Spalte hinein, kam in einiger Entfernung aus einem anderen Loch wieder heraus und wollte sich in einen Bergstrom gleiten lassen. Ssingtschö aber stürzte, seine Eisenstange schwingend, zum Angriff vor: das Reptil verschluckte ihn mitsamt seiner Stange! Ba Djä war so erschrocken, daß er erst einmal den Erdboden befeuchtete; dann brach er in Tränen aus und stimmte ein Klagelied auf den Tod seines älteren Bruders an. Inzwischen war Ssing-tschö mitten in die Eingeweide des Reptils gelangt. „Hör auf mit deinem Trauergesang! Ich bin nicht tot!“ rief er Ba Djä zu und stocherte so anhaltend mit seiner Stange im Innern der Schlange herum, daß sich diese vor Schmerzen wie eine Brücke über den Strom ausstreckte und Ssing-tschö ihr mit der Stange den Rücken durchbohren konnte. Von furchtbaren Qualen gepeinigt, versuchte sie zu fliehen; aber nach zwanzig Li war sie am Ende ihrer Kräfte und verendete. Ba Djä eilte herbei und schlug mit seiner Forke auf das Reptil ein, während sich Ssing-tschö aus dem Leib herauswand. „Warum hackst du noch auf der Schlange herum?“ fragte er. „Sie ist tot!“ „Älterer Bruder“, antwortete Ba Djä, „im Volksmund heißt es: Die Schlange zu töten, genügt nicht; man muß ihr Gift unschädlich machen.“ Vergnügt traten die beiden Kampfbrüder den Rückweg an; ihr Opfer zogen sie am Schwanz hinter sich her. Im Dorf wurden sie mit großem Jubel empfangen; Männer und Frauen warfen sich ihnen zu Füßen, dankten ihnen und baten sie, einige Tage ihre 398
Gäste zu sein. Aber Meister und Schüler bestanden darauf, ihre Pilgerfahrt unverzüglich fortzusetzen, und wiesen alle Geschenke zurück. Die Dorfbewohner mußten sich damit begnügen, Reis und Früchte als Reisevorrat zusammenzupacken und ihren Befreiern ein Stück Weges das Geleit zu geben. Nach etwa dreißig Li ragte der Berg der Sieben Seltsamkeiten steil vor ihnen in die Höhe. Schwaden stinkender Luft quollen von ihm auf, in dem übermannshohen undurchdringlichen Dickicht gab es keinen Fußbreit Weg zum Durchkommen. Ssing-tschö wußte Rat: Ba Djä sollte seine ursprüngliche Gestalt annehmen und ihnen als Wildschwein mit seinem starken Rüssel einen Pfad bahnen. Damit er bei dieser anstrengenden Arbeit nicht kraftlos würde, sollten die Dorfbewohner ausreichende Mengen Reis und Lebensmittel für ihn heranschaffen. Ba Djä war mit dem Vorschlag einverstanden. Er legte seine Kleidung ab und stand im nächsten Augenblick als mächtiges Wildschwein von hundert Dshang Länge vor den verblüfften Dorfleuten. Nachdem er Riesenmengen Reis und Gebäck in sich hineingeschlungen hatte, stellte er sich an die Spitze des Zuges und begann schrittweise einen Durchgang zu schaffen. Hinter ihm führte Ssing-tschö das Pferd mit dem Meister im Sattel, den Schluß bildete Scha Ssöng mit den Reisesäcken. Eine Kolonne von Dörflern hielt Reis und Lebensmittel bereit, sooft Ba Djä die Kräfte zu versagen drohten. Auf diese Weise wurde der achthundert Li lange Weg über den Berg bewältigt, Ba Djä nahm seine gewohnte Gestalt wieder an, und reinen Herzens zogen die Pilger weiter gen Westen.
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SSING-TSCHÖ HEILT EINEN KÖNIG UND BEFREIT EINE KÖNIGIN
68. Ssan Tsang trägt dem König des Reiches der Purpurfarbe die Geschichte der Tangdynastie vor. Ssing-tschö führt drei Pulsmessungen durch
An einem Hochsommertag gelangetn die Pilger zu einer Feste, deren gelbe Flagge drei Schriftzeichen trug: Dshu ssö guo – Reich der Purpurfarbe. Sie sicherte den Zugang zur Hauptstadt, die in einer wunderbar schönen Landschaft lag. Auf den Straßen herrschte lebhaftes Gedränge, und viele Menschen schauten neugierig auf die fremdartigen Gestalten. In der Herberge „Treffpunkt“ jenseits des Marktes stiegen die Pilger ab. Ssan Tsang beauftragte Ssing-tschö, die Zubereitung von Tee und Reis zu überwachen, wechselte in aller Eile die Kleidung und begab sich zum Südtor des Königlichen Palastes, wo er den diensttuenden Mandarin bat, ihn beim Herrscher zur Vorlage der Geleitbriefe zu melden. Der König war über die Ankunft eines so seltenen Gastes hoch erfreut. „Was für ein großes Glück!“ rief er. „Da sind Wir auf der Suche nach einem Arzt, der Uns von Unserer langwierigen Krankheit zu befreien vermag, und unerwartet meldet sich ein Bonze aus einem fernen Land!“ Ssan Tsang wurde sofort vorgelassen; er begrüßte den Herrscher nach dem vorgeschriebenen Zeremoniell, wies die Geleitbriefe vor und bat, sie zu siegeln. Der König las die Papiere durch und ließ sich von Ssan Tsang die Geschichte der Tangdynastie vortragen. Besonders fesselte seine 401
Aufmerksamkeit der Bericht vom Tod und der Wiederfleischwerdung des Kaisers Tai Tsong, in dessen Auftrag Ssan Tsang auf der Pilgerfahrt nach dem Westen begriffen war. „Wir sind seit vielen Jahren krank“, sagte er, als Ssan Tsang geendet hatte. „Wie glücklich wären Wir, wenn uns ein Minister so beistehen möchte wie Wee Tscheng Eurem Kaiserlichen Gebieter.“ Die Klage des Königs veranlaßte Ssan Tsang, einmal die Augen zu erheben: er sah voller Schrecken, wie abgemagert und gebrechlich der König war. Inzwischen beklagte sich Scha Ssöng, daß er keinerlei Gemüse, kein Öl und keine Gewürze habe, um die Beilagen zum Reis zuzubereiten. Ssing-tschö verfügte über einige Käsch und erklärte sich bereit, die fehlenden Zutaten zu besorgen. Ba D j ä, dem bei dem bloßen Gedanken an eine leckere Mahlzeit wieder einmal das Wasser im Munde zusammenlief, griff nach der Einkaufsschüssel und ging mit. Unterwegs fragte Ssing-tschö einige Soldaten nach einem großen Spezereiladen; sie wiesen ihn an den Kaufmann Dshöng und beschrieben ihm den Weg. Ssing-tschö ging achtlos an den vielen kleinen Läden vorbei, entschlossen, alle Einkäufe in dem empfohlenen Geschäft zu erledigen; er wollte bei dieser Gelegenheit möglichst viel von der Stadt und ihren Bewohnern sehen. Unweit vom Ziel gerieten die beiden in ein arges Gedränge. Ba Djä, der immer voller Sorge war, durch sein Aussehen unliebsames Aufsehen zu erregen, gab seinem Gefährten die Einkaufsschüssel und versteckte sich in einer Mauernische. Furchtlos bahnte sich Ssing-tschö einen Weg durch die Menge und sah, daß deren Neugier einem Maueranschlag galt. Natürlich las er ihn auch. Der König gab darin bekannt, daß er einen tüchtigen Arzt suche, der ihn von seiner langwierigen schweren Erkrankung zu heilen vermöge, und diesem im Falle des Gelingens die Hälfte seines Königreichs abtreten wolle. Ssing-tschö 402
klopfte beim Lesen das Herz bis in den Hals vor Freude. ,Gewürze hin, Gewürze her!’ dachte er. ,Wir werden unseren Aufbruch um einen Tag hinausschieben, und an diesem einen Tag braue ich das wirksame Heilmittel für den König und mache mir einen großen Namen damit!’ Im selben Augenblick nahm er eine Handvoll Sand hoch, atmete kräftig den Südostwind ein und blies ebenso kräftig über den Sand hin: ein Wirbelwind erfüllte die Luft mit Staub, daß die Leute die Augen zukniffen und schleunigst das Weite suchten. Geschwind löste Ssing-tschö den Anschlag los und hastete zu Ba Djä. Der hatte den Rüssel gegen die Mauer gepreßt und war fest eingeschlafen. Ssing-tschö steckte ihm den Anschlag, zweifach geknifft, in die Tasche des Oberrocks und begab sich in die Herberge ,Treffpunkt’ zurück. Als der Wirbelwind sich gelegt hatte, entdeckten die zwölf Eunuchen und die zwölf Strafrichter, die mit der Bewachung der Königlichen Proklamation beauftragt waren, zu ihrem größten Schrecken, daß sie verschwunden war. Sie gingen sofort auf die Suche nach dem Verbrecher und entdeckten Ba D ja, der endlich aufgewacht war und sich gerade zum Gehen anschickte. Sein Anblick entsetzte sie so, daß sie erst einmal längelang zu Boden stürzten und übereinander purzelten. Aber die Strafrichter fanden schnell wieder ihre gebietende Haltung und durchsuchten den fremden Bonzen, wobei alsbald die Proklamation zum Vorschein kam. Sie meinten, er habe sie als Ausweis an sich genommen, um sich beim König als Arzt zu melden, und wollten ihn unverzüglich zum Palast führen. Ba Djä aber begann kläglich zu jammern: sicher habe sein älterer Bruder, der nichtswürdige Affe, die Bekanntmachung abgerissen und ihm in die Tasche gesteckt, um ihm einen Streich zu spielen. „Kommt mit mir in die Herberge“, schloß er, „dort könnt Ihr leicht die Richtigkeit meiner Angaben feststellen.“ Inzwischen hatten sich viele Neugierige angesammelt, und zwei hohe Eunuchen, denen das fremd403
ländische Aussehen des Beschuldigten auffiel, fragten Ba Djä nach dem Woher und Wohin. Auf diese Weise erfuhren sie von Ssan Tsang und der Pilgerfahrt und hießen Ba Djäs Vorschlag gut, mit ihm in die Herberge ,Treffpunkt’ zu gehen, wo sich alles klären würde. Diese Entscheidung entlockte Ba Djä den Ausruf: „Wahrlich, die Ansicht der beiden Damen zeugt von scharfem Verstand!“ Die Strafrichter gerieten in Wut. „Blödsinniger Bonze!“ fuhren sie auf Ba Djä los. „Wie kommt Ihr darauf, diese hohen Herren als Damen zu bezeichnen!“ Ba Djä lachte und entgegnete: „Eure Worte verraten, daß Euch die Vernunft abgeht! Ich drücke mich schon richtig aus, wenn ich diese Halb-Mann-, Halb-Frau-Wesen als Damen bezeichne!“ Und der Zug setzte sich in Bewegung. Vor der Herberge blieb Ba Djä stehen. „Laßt Euch das eine gesagt sein“, ermahnte er seine Begleiter, „mein älterer Bruder ist sehr empfindlicher Natur. Versäumt nicht, ihn nach den Riten zu begrüßen! Er ergeht sich sonst in ausfallenden Reden und lehnt jede Bitte, einen Kranken zu heilen, ab.“ Ssing-tschö erzählte Scha Ssöng gerade seinen Streich, als die beiden Eunuchen und die Strafrichter auf ihn zutraten. Sie begrüßten ihn entsprechend den Vorschriften und sprachen ihn feierlich an: „Ehrwürdiger Greis! Der Himmel schickt Euch zum großen Glück unseres Herrschers in unser Land. Unser erhabener König leidet an einer ernsten Krankheit. Benutzt Eure Gaben, um ihn zu heilen, und er wird Euch die Hälfte seines Königreichs abtreten.“ Mit gewichtigem Ernst nahm Ssing-tschö die Proklamation zur Hand und sagte: „Diesen Anschlag habe ich eigenhändig von der Mauer abgenommen und meinem jüngeren Bruder mit dem Auftrag gegeben, Euch zu mir zu führen. Ihr kennt das Sprichwort: ,Bei jedem Unternehmen kommt es zu einem Drittel aufs Glück an.’ Bestellt Eurem König: Wenn er genesen will, so möge er sich zu mir bemühen!“ Die Eunuchen waren ob solcher Hoffahrt sprachlos; die Strafrichter tuschelten: „Wer solche Reden zu 404
führen wagt, muß unerhörte Fähigkeiten besitzen.“ Und ein Teil der Eunuchen und Strafrichter machte sich sofort auf, um dem Herrscher Bericht zu erstatten. Der König befahl seinen hundert Zivil- und Militärmandarinen, in seiner Vertretung den hochwürdigen Ssun Wu-kung aufzusuchen, ihn ehrerbietig zu begrüßen und in den Palast zu geleiten, damit er den Krankheitsfall prüfe und die erforderlichen Medikamente verabreiche. In tiefem Schweigen empfing Ssing-tschö würdevoll die hundert Mandarine, die sich mehrmals tief vor ihm verneigten. Darauf sagte ihr Sprecher: „Im Auftrag unseres Königs möchten wir Euch, Heiliger Bonze und Hochwürdiger Ssun Wu-kung, in den Palast geleiten!“ „Warum kommt Euer Gebieter nicht zu mir?“ fragte Ssingtschö. „Weil er seit Jahren krank ist und nicht mehr die Kraft aufbringt, seine Sänfte zu besteigen.“ „Es genügt! Ich folge Euch!“ beschied sie Ssing-tschö und begab sich unter dem Vorantritt der Mandarine in den Palast. Der König ließ den Bettschirm beiseite rücken, richtete sich auf und fragte: „Wo ist der Vielvermögende und Hochwürdige Ssun Wukung?“ Ssing-tschö trat auf die drachenförmige Bettstatt zu und antwortete mit weithin schallender Stimme: „Hier stehe ich, der alte Ssun.“ Aussehen und Ton erschreckten den König so, daß er auf sein Lager zurücksank, sich ins Schlafgemach zurücktragen ließ und es ablehnte, sich den Puls von solchem entsetzlichen Wesen fühlen zu lassen. Darauf ließ Ssing-tschö, der fest entschlossen war, sein Vorhaben durchzuführen, die Untersuchung mittels der drei Seidenfäden vorschlagen, und der König erklärte sich auf Zureden seines Leibarztes damit einverstanden. Während Ssing-tschö sich in der Vorhalle drei Haare ausriß und sie in lange Seidenfäden verwandelte, trat Ssan Tsang auf ihn zu und stellte ihn wegen seiner Anmaßung, sich als Arzt aufzuspielen, hart zur Rede. „Meister, Ihr kennt noch lange nicht alle meine 405
Fähigkeiten“, versetzte der Getadelte mit überlegenem Lächeln. „Laßt mich gewähren und für das Ansehen meiner Person arbeiten. Schaut mir zu und urteilt dann!“
69. Ssing-tschö bereitet nachts eine Arznei. Auf dem Festmahl berichtet der König von einem tückischen Ungeheuer
Von der Vorhalle aus ließ Ssing-tschö einen Eunuchen das eine Ende der Seidenfäden mit drei Fingern auf das linke Handgelenk des Königs aufdrücken; das andere Ende preßte er mit drei Fingern der rechten Hand auf sein eignes linkes Handgelenk und beobachtete aufmerksam die Pulsbewegungen. Darauf nahm er die Prüfung am rechten Handgelenk vor. Als Ergebnis der Untersuchung verkündete er sechs verschiedene Beschwerden, die er unter der Bezeichnung ,Schwang njau schi djin’ – Leiden des gewaltsam getrennten Vogelpärchens – zusammenfaßte. Zur Erklärung fügte er hinzu: „Wenn ein Vogelpärchen etwa durch einen Sturm aus seinem Nest vertrieben und voneinander getrennt wird, lebt das Männchen in Traurigkeit dahin, weil es sich nach seinem Weibchen sehnt, und das Weibchen in ständiger Angst, weil es den Schutz des Männchens entbehrt.“ Der König war hocherfreut, wie genau der Bonze seine Leiden erkannt hatte, und bat ihn, die wirksamen Medikamente zuzubereiten. Gleichzeitig wurde Ssan Tsang im Namen des Königs ersucht, die Nacht im Palast zu verbringen, was ihn in große Angst versetzte. Er fürchtete, und nicht mit Unrecht, daß er als Geisel für die ärztliche Kunst seines Schülers zurückgehalten wurde. Ssing-tschö beauftragte den Leibarzt, ihm von den achthundert Drogen und Lösungen, die zur Behandlung der vierhundert Krankheiten verwandt wurden, je eine kleine Menge in die Herberge ,Treffpunkt’ schaffen zu lassen. Bis in die späte Nacht hin406
ein war er bei Fackelschein beschäftigt, das geeignete Heilmittel herzustellen. Ba Djä mußte hin- und herflitzen, um ihm zuzureichen, was er brauchte, und kleine Handgriffe zu verrichten. Schließlich wurde zum größten Staunen Ba Djäs eine kleine Menge frisch abgelassenen goldgelben Urins von dem weißen Drachenpferd unter die Masse gerührt, und Ssing-tschö knetete daraus drei Pillen, die er achtsam in ein Schächtelchen legte. Dann ging er mit Ba Djä und Scha Ssöng schlafen. In der Morgenfrühe ließ der König das Heilmittel abholen. Aber nun tauchte eine ernste Schwierigkeit auf! Laut Ssing-tschös Verordnung mußten die Pillen mit frisch im Fallen aufgefangenem Regenwasser eingenommen werden, und man war in der regenarmen Jahreszeit! Der König ließ sofort die dauistischen Priester zusammenrufen: sie sollten mit den vorgeschriebenen Gebeten einen Regenfall herbeiführen. Ssing-tschö griff helfend ein. Er rief mit einer Zauberformel den Drachenkönig des Ostmeeres zu Hilfe, und der ließ bereitwillig eine Regenhusche auf dem Platz vor dem Palast niedergehen. Überglücklich fingen die hundert Mandarine den Regen auf, und der König nahm die drei Pillen mit drei Schalen Regenwasser ein, wie Ssing-tschö es ihm vorgeschrieben hatte. Es dauerte gar nicht lange, da fühlte er seine Kräfte wiederkehren. Hocherfreut legte er seinen langen Oberrock an, setzte sein Seidenkäppchen auf und befahl, ein Festessen für den Meister und dessen drei Schüler herzurichten. Während des Tafeins unterhielt ei sich mit Ssing-tschö über seine Krankheit und Genesung, und Ssing-tschö sagte: „Die Art der Krankheit erkannte ich am Aussehen Eurer Majestät; aber die Ursache ist mir unbekannt.“ Diese Worte entlockten dem König einen tiefen Seufzer, und er erwiderte: „Bei den Alten heißt es: ,Laß den Fremden nicht wissen, was es in deinem Hause Häßliches gibt.’ Aber Ihr seid Unser Wohltäter, und Wir wollen vor Euch keine Geheimnisse haben.“ Und er erzählte Ssing-tschö, wie ein Ungeheuer, das sich Ssai Dai-ssui nenne, ihn vor drei 407
Jahren gezwungen hatte, ihm seine Gemahlin, die unvergleichlich schöne Djin Dshöng-gung, zu überlassen, und seitdem in Abständen von einigen Monaten immer wieder auftauche, um jedesmal zwei Dienerinnen mitzunehmen. Er habe sich im letzten Jahr ein sicheres Versteck anlegen lassen, in das er mit dem ganzen Hofstaat flüchte, sobald sich ein Wirbelwind, der Vorbote des Ungeheuers, erhebe. Obwohl die Gäste noch beim Essen und Trinken waren, bat Ssing-tschö, ihm das Versteck zu zeigen, und der König erhob sich ohne Säumen. Da begehrte Ba Djä auf. „Älterer Bruder, Ihr kennt keinen Anstand! Das Festmahl hat kaum begonnen, da sollen wir es durch Eure Schuld einbüßen!“ An diesen Worten merkte der König, daß Ba Djä ein Liebhaber guter Kost war, und ließ alle Gerichte und Getränke in das Versteck schaffen. Darauf gingen alle Festteilnehmer durch die Gärten hinter dem Palast zu einer kahlen Fläche, auf der zwei hohe Eunuchen eine schwere Steinplatte hochhoben: Stufen führten abwärts. „Das ist unsere Zuflucht“, sagte der König. „Sobald der Sturm aufkommt, steigen wir in die unterirdischen Hallen hinunter, und die Diener verschließen den Zugang wieder mit der Platte.“ Ssing-tschö lachte und sagte: „Das Ungeheuer hegt keine bösen Absichten gegen Eure Majestät; es würde sonst eine solche Platte mit Leichtigkeit entfernen.“ Kaum hatte er das letzte Wort ausgesprochen, als vom Süden ein Sturm heranbrauste, der riesige Staubwolken vor sich hertrieb. Der König, alle Mandarine und Ssan Tsang eilten die Stufen hinunter, Ba Djä und Scha Ssöng wurden von Ssing-tschö zurückgehalten. In den Wolken erschien ein Ungeheuer.
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70. Das Ungeheuer vermag Feuer, Rauch und Sandsturm zu erzeugen. Ssing-tschö bringt die goldenen Schellen durch List an sich
Von der Höhe einer Wolke schwang Ssing-tschö seine goldbereifte Eisenstange und rief dem Ankömmling mit Donnerstimme entgegen: „Wer bist du, und wohin willst du, verruchtes Ungeheuer?“ Und mit Donnerstimme hallte es zurück: „Ich bin des Königs Ssai Dai-ssuis Kommandant der Vorhut und auf dem Wege zum Reich der Purpurfarbe, um zwei neue Dienerinnen anzufordern. Und wer bist du, der die Keckheit aufbringt, mich aufzuhalten und auszufragen?“ Gelassen antwortete Ssing-tschö: „Ich bin Ssun Wu-kung und begleite den Bonzen Ssan Tsang, meinen Herrn und Meister, auf der Suche nach den Heiligen Schriften in die Länder des Westens. Vom König des Reiches der Purpurfarbe erfuhren wir, welches Unheil Ssai Dai-ssui seit Jahren über dieses Land bringt, und ich bin auf dem Wege zu ihm.“ Wütend ging der andere zum Angriff über; mit einem wohlgezielten Hieb zerschlug ihm Ssing-tschö die Lanze, und er ergriff die Flucht. Ssing-tschö versagte es sich, ihn zu verfolgen; er hob vielmehr die Steinplatte über der Zuflucht hoch und rief dem König zu, herauszukommen. Dankerfüllt reichte dieser seinem Befreier eine Schale Wein. Ssing-tschö setzte gerade zum Trinken an, als ein Melder eintraf: das Tor der Westfeste stand in Flammen! Statt zu trinken, schüttete Ssing-tschö den Inhalt seiner Trinkschale westlich von sich auf den Boden. Der König wurde aschfahl, so erschrocken war er über solch ungebührliches Benehmen. Ssing-tschö sagte beschwichtigend, er habe keinen Verstoß begangen, Seine Majestät möge sich nicht beunruhigen. Im selben Augenblick kam ein zweiter Melder: ein Regenguß, der zu aller Erstaunen nach Wein duftete, hatte den Brand schnell gelöscht! Erklärend fügte Ssing-tschö den Worten des Boten hinzu: 409
„Das Ungeheuer hatte auf seiner Flucht Feuer an das Tor gelegt, um seine Spuren zu verwischen. Ich verschüttete den Wein und erzeugte damit das Wasser zum Löschen.“ Die Dankbarkeit und Hochachtung des Königs stiegen ins Unermeßliche. Ssing-tschö begehrte, den Wohnsitz dieses Ssai Dai-ssui zu erfahren; er wollte ihn im Einzelkampf vernichten und danach die Königin, die unvergleichlich schöne Djin Dshöng-gung, befreien. Der König war von der Kühnheit dieses Vorhabens überwältigt, aber er beschwor Ssing-tschö, mit dem Aufbruch zu warten, bis die notwendigen Reisevorbereitungen für die fünfzig Tage währende Wanderung über dreitausend Li bis zur Höhle des Ungeheuers auf dem Einhornberg getroffen seien. Lachend erwiderte Ssingtschö: „Eure Majestät sprechen wie alle Wesen, die sich auf dem Erdboden bewegen. Ich lege dreitausend Li in der Zeit zurück, die eine Schale heißer Reiswein zum Abkühlen braucht.“ Beim letzten Wort schwang er sich auf eine Wolke und entschwand sofort dem Blick. Von einem Berggipfel aus gewahrte Ssing-tschö einen Boten, der auf dem Gebirgskamm dahinwanderte. Dessen Reiseziel zu erkunden, schien ihm ratsam, und er ließ sich in Gestalt einer Grille auf der Schulter des Boten nieder. Der Mann brabbelte vor sich hin: „… Mein König ist wahrlich allzu grausam … Will sich durchaus die Königin aus dem Reich der Purpurfarbe gefügig machen… acht Dienerinnen mußten bereits ihr Leben lassen … Den Kommandanten der Vorhut hat dieser Ssing-tschö in die Flucht gejagt; dafür muß ich dem Purpurkönig die Herausforderung zum Zweikampf überbringen, der unterliegt natürlich meinem Herrn …“ Ssing-tschö hatte genug erfahren. Er schwirrte ab, nahm die Gestalt eines dauistischen Priesters an und ging dem Boten entgegen. Höflich grüßend, sprach er ihn an und ließ sich das bereits Gehörte von ihm erzählen. Dann fragte er, wieso es dem König noch nicht gelungen sei, sich die Königin aus dem Pur410
purreich gefügig zu machen. „Sie hat von einem Unsterblichen einen mit Nadeln gespickten Rock erhalten“, versetzte der Bote. „Damit hält sie sich, wie ein Stachelschwein, den König fern.“ Nach diesem kurzen Gespräch verabschiedeten sich die beiden voneinander und setzten ihre Wege fort. Ssing-tschö machte nach wenigen Schritten kehrt, um den Boten von hinten zu erschlagen, und entnahm dem Reisesäckchen des Toten das Schreiben, das die Herausforderung zum Zweikampf enthielt. Er verbarg es in seinem Ärmel und entdeckte am Gurt des Toten ein Täfelchen mit der Inschrift: „Dieses Plättchen hängt am Gurt des Jo-lai Jo-tjü, des Kommt-und-Geht. Er darf es nicht aus den Händen geben.“ Das brachte Ssing-tschö zum Lachen. „Aus dem Jolai Jo-tjü hat meine Eisenstange einen Jo-tjü Wu-lai, einen Gehtund-Kommt-nicht, gemacht!“ rief er und befestigte das Plättchen an seinem eigenen Gurt. Darauf schleppte er die Leiche in den Vorhof des Palastes und befahl Ba Djä, den Meister herauszubitten. Ssan Tsang kam eilends herbei; Ssing-tschö steckte ihm das Schreiben in den Ärmel und bat ihn eindringlich, es sorglich zu behüten und keinesfalls dem König zu zeigen. Inzwischen war auch der König auf den Vorhof gekommen. Ssing-tschö wies ihm die Leiche des Boten, berichtete kurz, was sich zugetragen hatte, ohne die Herausforderung zum Zweikampf zu erwähnen, und bat den König, ihm einen Gegenstand zu überlassen, mit dem er sich der Königin gegenüber ausweisen könne. Der König überließ ihm ein kostbares Halsgeschmeide aus Gold, Jade und Edelsteinen, Ssing-tschö streifte es sich über den Unterarm und glitt auf einer Wolke zum Einhornberg. Auf dem Bergplateau angelangt, nahm er die Gestalt des Jo-lai Jo-tjü an. Aufgebracht beschwerte er sich beim König über die schlechte Behandlung, die ihm, dem königlichen Boten, im Purpurreich widerfahren sei, und kündete an, daß der Purpurkönig im Anmarsch auf den Einhornberg sei. Sein Heer zähle Zehntausende und aber Zehntausende. Der siegesgewisse Ssai Dai-ssui 411
nahm diese Nachricht gleichmutig auf; aber er schickte den angeblichen Jo-lai Jo-tjü zur Königin Djin; er solle sie ihrer Traurigkeit entreißen, indem er ihr die Überlegenheit ihres Gemahls und den sicheren Untergang Ssai Dai-ssuis vorgaukle. Ssing-tschö gab sich der schönen Djin Dshöng-gung durch das Halsgeschmeide zu erkennen, erstattete ihr einen genauen Bericht und erfuhr von ihr, daß Ssai Dai-ssui seine Siege drei goldenen Schellen verdankte, mit denen er Feuer, Rauch und Sandstürme hervorbrachte. Sofort war sein Plan gefaßt. Djin Dshöng-gung sollte Ssai Dai-ssui zu sich bitten, ihn voller Heiterkeit empfangen und ihm in einem Liebesstündchen die kostbaren Schellen ablocken unter dem Vorwand, sie angesichts des bevorstehenden schweren Kampfes in Gewahrsam nehmen zu wollen. Djin war dazu bereit. Der falsche Jo-lai Jo-tjü überbrachte dem König die Einladung der schönen Djin zu einem Plauderstündchen und beschwichtigte dessen begreifliches Mißtrauen über diese Veränderung in der Gesinnung gegen ihn mit der Behauptung, er habe der Königin mitgeteilt, daß deren ungetreuer Gemahl eine Nebenbuhlerin zur Königin gemacht habe. Ssai Dai-ssui lobte seinen Boten ob dieser Verschlagenheit und begab sich hocherfreut in die Frauengemächer. Die Königin lenkte die Unterhaltung so geschickt, daß er ihr schließlich die drei Schellen, die er in einem Beutel aus Leopardenfell bei sich trug, zur Aufbewahrung anvertraute. „Hütet sie mit größter Sorgfalt“, sagte er. „So klein sie sind, so kostbar sind sie. Achtet darauf, daß sie weder bewegt noch zum Klingen gebracht werden!“ Die Königin verschloß den Beutel in ihrem Schminkköfferchen und ließ das Liebesstündchen mit einem Festgelage enden, auf dem sie den König völlig betrunken machte. Das war der verabredete Augenblick für Ssing-tschö, die Schellen an sich zu nehmen und damit in einen Gartenpavillon zu eilen. Aber als er sie aus dem Beutel nahm, brachte er verse412
hentlich eine zum Klingen: eine Feuersäule stieg auf, der Pavillon brannte lichterloh. Ssai Dai-ssui eilte herbei und löschte das Feuer. Dabei gewahrte er die Schellen in Jo-lai Jo-tjüs Hand und befahl wutentbrannt, ihn zu fesseln. In dem Augenblick höchster Not ließ Ssing-tschö die Schellen fallen und brachte sich in Gestalt einer grünen Fliege in Sicherheit. Als alles Suchen nach dem Frevler vergeblich war, kam Ssai Dai-ssui der Gedanke, daß Ssing-tschö ihm einen üblen Streich gespielt habe, ließ alle Tore verrammeln und überall Posten aufstellen.
71. Ssing-tschö besiegt das Ungeheuer. Die Göttin Guanjin holt ihren Schakal zurück
Ssing-tschö surrte als grüne Fliege in das Gemach der bitterlich weinenden schönen Djin Dshöng-gung und flüsterte ihr ins Ohr, welches Unheil er mit den Schellen angerichtet hatte. Die Königin mißtraute seinen Worten; da bat er sie, die linke Hand auszustrecken, ließ sich auf der Handfläche nieder und überzeugte sie, daß er Ssing-tschö in Verwandlung war. Wieder hatte er einen Plan bereit! Nach dem alten Wort ‚Duan ssung i schöngwee jo dju’ – Soll ein Unternehmen scheitern, gibt’s nichts Besseres als den Wein – sollte die Königin Ssai-ssui zum Trinken einladen, damit er sich von der eben durchlebten Aufregung und Anstrengung erhole. Inzwischen wollte er die Dienerin, die das Amt des Mundschenken versah, einschläfern und deren Gestalt annehmen. Die Königin war einverstanden. In dem traulichen Beisammensein erzählte der König, daß der Lederbeutel, in dem er die Schellen aufbewahrte, verbrannt sei und er sie an seinem Gurt befestigt habe. Geschwind zauberte ihm Ssing-tschö eine Unmenge Wanzen, Läuse und Flöhe in die Kleidung und auf den Körper, daß er sich ohne Aufhören kratzen mußte und der Köni413
gin gegenüber in arge Verlegenheit geriet. Die Königin bedauerte ihn und schlug ihm vor, seine Kleidung von der Dienerin säubern zu lassen. Er befolgte den Rat, und die falsche Dienerin bannte das Ungeziefer und ersetzte die Schellen durch unechte. Danach übergab der König die Schellen zum zweiten Mal der Königin zur Aufbewahrung und zog sich zum Schlafen in seine Gemächer zurück. In der Morgenfrühe ließ Ssing-tschö als angeblicher Fürst Wai im Namen des Purpurkönigs Ssai Dai-ssui auffordern, sofort die Königin Djin Dshöng-gung freizugeben. Ssai trat vor das Tor, erkannte Ssing-tschö und ging gleich wutentbrannt auf ihn los. Aber nach vierzig Waffengängen war der Sieg noch immer nicht sein. Unter dem Vorwand, eine Mittagspause einlegen zu wollen, brach er den Kampf ab, um sich von der Königin die Schellen zu holen. Voller Angst händigte sie ihm die Königin aus; sie wußte nicht, daß Ssing-tschö die Schellen ausgetauscht hatte, und bangte für dessen Leben und ihre Befreiung. Auf den Kampfplatz zurückgekehrt, prahlte Ssai mit seinen goldenen Schellen. Ssing-tschö wies die seinen vor. Verblüfft bewegte Ssai die Schellen nacheinander: es gab kein Feuer, keinen Rauch, keinen Sandsturm. „Jetzt bin ich an der Reihe!“ schrie Ssing-tschö und bewegte die echten Schellen: Flammen lohten auf, Rauchschwaden erfüllten die Luft, ein gelber Sandsturm brauste daher. Ssai Dai-ssui flüchtete. Im selben Augenblick rief eine Stimme aus den Wolken: „Ssun Wu-kung, ich komme!“ Guanjin stieg auf die Erde herab und ließ aus einem Krug einige Tropfen kristallklaren Wassers in das Feuer fallen, das alsbald erlosch. Ssing-tschö versteckte in aller Eile die Schellen in seinem Gurt, begrüßte die Göttin gemäß den Riten und fragte sie nach dem Grund ihres Kommens. „Ich suche meinen Schakal mit dem gelben Fell, der die Gestalt des von Euch verfolgten Ungeheuers angenommen hat“, antwortete sie. So erfuhr Ssing-tschö, daß der König des Reiches der Purpurfarbe vor drei Jahren auf der Jagd 414
zwei junge Pfauen getötet hatte, die Kinder des hochangesehenen Königs der Pfauen, und zur Strafe für dieses Vergehen seine Gemahlin für drei Jahre in die Obhut des gelben Schakals geben mußte. Die drei Jahre waren jetzt abgelaufen, und die Göttin wünschte ihren Schakal zurückzuholen. Für dessen schändliches Benehmen gegen die ihm anvertraute Königin gestand sie Ssingtschö zu, ihm drei Stockhiebe zu versetzen. Darauf rief sie laut: „Wie lange säumst du noch, deine ursprüngliche Gestalt anzunehmen!“ Ssai Dai-ssui sprang mit einem gewaltigen Satz herbei und verwandelte sich augenblicks in einen gelben Schakal; Guanjin forderte die drei goldenen Schellen von Ssing-tschö zurück, befestigte sie am Hals des Schakals und stieß einen kräftigen Schrei aus. Da verwandelten sich die Füße des Tieres in Lotosblüten, die Göttin schwang sich auf seinen Rücken und entschwebte in die Wolken. Nachdem Ssing-tschö alle Lebewesen in der Höhle des Ungeheuers erschlagen hatte, führte er die schöne Djin Dshöng-gung in das Reich des Purpurs zurück. Bei der Ankunft näherte sich ihm der Unsterbliche Tschang Tse-jang. Von ihm hatte die Königin den nadelbespickten Rock erhalten, der es ihr ermöglichte, ihre Reinheit zu bewahren. Der Unsterbliche streckte die Hand nach dem Rock aus, daß er an der Königin zu Boden glitt, nahm ihn an sich und entschwand in den Lüften. Auf einem großen Festessen überreichte Ssan Tsang dem König den Brief mit der Herausforderung zum Zweikampf, und Ssing-tschö beschrieb alle Geschehnisse bis zur Rückkehr der Königin. Gleich am nächsten Morgen siegelte der König die Geleitbriefe und führte zusammen mit der Königin die Pilger in westlicher Richtung aus der Stadt.
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SPINNEN BRINGEN DIE PILGER IN LEBENSGEFAHR
72. Seidenspinnerinnen spielen Ssan Tsang übel mit. Am Teich der Reinigung verstößt Ba Djä gegen den Anstand
Viele Li legten die Pilger ungefährdet in westlicher Richtung zurück. Herbst und Winter gingen dahin; der Frühling brach an. Eines Morgens erblickten sie in geringer Entfernung am Wege ein vertrauenerweckendes Haus, und Ssan Tsang wollte einmal selbst dort um Reis betteln. Er stieg vom Pferd, ließ sich von Ba Djä den Bettel topf geben und gelangte über eine kleine Brücke auf das Grundstück. Er war verwundert, daß kein Huhn gackerte, kein Hund anschlug, und geriet in große Verlegenheit, als er vor dem Eingang vier junge Mädchen von der Schönheit der Unsterblichen mit Sticken beschäftigt und einige Schritte weiter noch drei junge Mädchen beim Federballspiel erblickte. Die Angst vor dem Spott seiner Schüler, wenn er ohne Reis im Topf zurückkäme, überwog schließlich die Scheu, und er bat die Ballspielerinnen, einem armen Bonzen ein Almosen nicht zu versagen. Die Mädchen führten ihn freundlich ins Haus, das sich als eine große, in das Felsgestein gehauene Höhle erwies, und er sagte auf Befragen wie gewohnt sein Sprüchlein von der Pilgerfahrt her. Es dauerte nicht lange, so tischten ihm drei der Schönen zwei Gerichte auf und luden ihn ein, zuzulangen. Aber die Speisen rochen verdächtig nach Menschenfleisch; er wollte sich entsetzt sofort entfernen und erhob sich mit höflicher Entschuldigung. Im selben Augenblick umringten ihn die Mädchen, fessel417
ten ihn und hängten ihn am Deckenbalken auf. Darauf legten sie ihre Gewänder ab, und aus ihren Nabeln quollen Fäden über Fäden von endloser Länge, die sich zu Seilen verdickten und über den Ausgang breiteten. Unruhig warteten Ssing-tschö, Ba Djä und Scha Ssöng auf die Rückkehr des Meisters. Plötzlich spannten sich, von unsichtbaren Händen angebracht, über alle Zugänge zu Grundstück und Haus dicke schneeweiße Seile. Ssing-tschö zerrte daran; sie ließen sich aber nicht bewegen, und seine Hände wurden klebrig. Mit einem Zauberspruch rief er den Tou Di, den Wächter über den Erdboden, herbei und fragte ihn: „Wie heißt dieser Berg? Wer sind die Ungeheuer, die darin hausen?“ Der Tou Di antwortete: „Der Berg heißt Bang-ssu-schan, der Berg der Seidenspinnerinnen, so genannt nach den sieben Spinnerinnen, die in einer steinernen Höhle in dem Berg hausen, gefährliche weibliche Unholde, die über große Kräfte und besondere Gaben verfügen. Sie baden dreimal täglich im Teich der Reinigung nahebei. Es dauert nicht mehr lange bis zur Stunde Wu; da könnt Ihr sie sehen, wenn sie die Höhle zum mittäglichen Bad verlassen.“ Ssing-tschö bedankte sich und ließ sich in Gestalt einer Fliege auf einem Grasbüschel nieder, um abzuwarten, was geschehen würde. Es erhob sich ein Rascheln, wie es Seidenraupen verursachen, wenn sie beim Fressen zwischen den Maulbeerblättern herumkrabbeln. Die Seilnetze verschwanden, die sieben Spinnerinnen traten aus der Höhle. Geschwind setzte sich Ssing-tschö einer von ihnen ins Haar und hörte, wie sich die Mädchen verabredeten, nach dem Bade den Bonzen Ssan Tsang zu verspeisen. „Er hat bereits zehn Leben der Vervollkommnung geführt“, sagte das Mädchen, das den Trupp führte, „und wer ein Stück von seinem Fleisch genießt, verschafft sich dadurch die Langlebigkeit.“ In einem Gartenhäuschen am Teich legten die sieben ihre Gewänder ab und sprangen in das durchsichtig klare Wasser, in dem sie sich lär418
mend mit Schwimmen und allerlei Kurzweil vergnügten. Ssingtschö verwandelte sich in einen Adler, schnappte die Kleider der Unholdinnen mit seinem Schnabel und flog auf einem Umweg zu seinen Gefährten zurück, wo er seine wahre Gestalt annahm. Ba Djä lachte laut, als er den älteren Bruder mit den Armen voller Kleidungsstücke ankommen sah. „Unser Meister wird wohl in einer Pfandleihe gefangen gehalten?“ rief er. Ssing-tschö verwies ihm solche Rede und berichtete, was er gehört und erlebt hatte. Ba Djä war dafür, die Mädchen umzubringen; aber Ssingtschö lehnte es für sich ab, Frauen zu töten. Darauf ließ sich Ba Djä den Weg zum Teich beschreiben und eilte hin. Er traf die sieben Spinnerinnen noch im Wasser an; sie ergingen sich in Verwünschungen gegen den diebischen Adler. Munteren Tones fiel er ihnen in die Rede: „Junge Frauen, gestattet einem armen Bonzen, bei dieser Gluthitze mit Euch zusammen ein erfrischendes Bad zu nehmen.“ Die Mädchen widersprachen aufgeregt: „Bonze, Euch geht jedes Gefühl für Anstand ab, daß Ihr ein solches Ansinnen an uns stellt!“ Als Ba Djä, ihrer Reden nicht achtend, seine Kleidung ablegte und ins Wasser sprang, schwammen sie von allen Seiten auf ihn zu. Er witterte die ihm drohende Gefahr und verwandelte sich geschwind in eine Forelle, die kreuz und quer durch den Teich schoß und sich immer wieder dem Zugriff der Mädchen entzog. Verdrossen kletterten die sieben Spinnerinnen schließlich aus dem Wasser und gingen splitternackt heim. Ba Djä schwamm ans Ufer, nahm seine eigne Gestalt an und kehrte zu Ssing-tschö und Scha Ssöng zurück. Kampfesmutig überschritten die drei Gefährten die steinerne Brücke und drangen durch das Vordertor in die Höhle ein. Sie lösten ihrem Meister die Fesseln und nahmen die Suche nach den Unholdinnen auf. Aber sie konnten keine Spur von ihnen finden und hielten es für geraten, den unheimlichen Ort schnellstens zu verlassen. Sie ermahnten den Meister, nicht noch einmal selbst Almosen sammeln zu wollen. „Ich verspreche euch, solchen 419
Gang nie wieder zu unternehmen, und wenn ich Hungers sterben müßte!“ versprach ihnen Ssan Tsang. Darauf häuften sie Reisig um die Höhle und zündeten es an. Das Feuer brannte licherloh, als die vier sich in westlicher Richtung wieder auf den Weg machten.
73. Ssan Tsang gerät mit zwei Schülern in Lebensgefahr. Die Bodhisattva Pi Lang rettet sie
Nach einiger Zeit gewahrten die Pilger ein palastähnliches Gebäude, über dessen steinernem Portal drei Schriftzeichen besagten, daß es der Hwang hua gwang – der dauistische Tempel der Gelben Blume – war. „Die Dauisten haben zwar einen anderen Glauben als wir“, meinte Ba Djä, „aber sie streben ebenso wie wir nach der Vollkommenheit. Machen wir uns mit ihnen bekannt!“ Scha Ssöng war der gleichen Ansicht. Ssing-tschö meinte lächelnd, daß der dauistische Bewohner dieses Tempels Heiltränke braue, und tatsächlich fanden sie bei ihrem Eintritt einen dauistischen Priester beim Pillendrehen. Er erhob sich, hieß sie willkommen und gebot den Schülern, Tee für die Gäste zu bereiten. Just bei diesem Priester hatten die sieben Spinnerinnen, die spurlos aus ihrer Höhle verschwunden waren, Zuflucht gesucht. Sie waren in einer abseits gelegenen Kammer beim Kleidernähen, und als sie, durch die Unruhe aufmerksam geworden, auf ihre Frage von der Ankunft der vier Bonzen erfuhren, ließen sie den Priester in ihre Kammer bitten und berichteten ihm voller Empörung die Geschehnisse der letzten Stunden. Der Dauist war sofort bereit, den beleidigten Frauen beizustehen; aber er wollte keinen Kampf, ihm war List lieber als Gewalt. Er bohrte in zwölf rote Datteln eine feine Öffnung, in die er ein giftiges Pulver füll420
te, und ließ je drei Datteln in die vier Schalen Tee für die Gäste legen. Um einer Verwechslung vorzubeugen, wurden in die für ihn bestimmte Schale schwarze Datteln getan. Auf Ssing-tschös mißtrauische Frage beeilte er sich zu erklären, es seien nur zwölf rote Datteln vorrätig gewesen und aus Höflichkeit gegen seine Gäste begnüge er sich mit schwarzen. Ssing-tschö war von der Begründung nicht befriedigt und ließ seinen Tee stehen. Die anderen wurden nicht stutzig, sie tranken ihren Tee aus und verzehrten die Datteln. Wenige Augenblicke später wurden die drei aschfahl und glitten, von heftigem Schwindel befallen, zu Boden. Wütend drang Ssing-tschö mit seiner goldbereiften Eisenstange auf den Priester ein. Der setzte sich mit einem Schwert zur Wehr, und aus dem Hintergrund eilten die sieben Unholdinnen herzu. Ssing-tschö erkannte sofort, daß die Lage nun auch für ihn gefährlich wurde, und entwich aus dem Tempel in die Wolken. Aus sicherer Höhe beobachtete er, wie das Tempelgebäude ringsum in weiße Fäden eingesponnen wurde. Wieder zauberte er den Tou Di herbei und erfuhr von ihm, daß die Unholdinnen in Wirklichkeit Spinnen waren. Er sprang auf die Erde hinab, riß sich siebzig Haare aus und verwandelte sie in Affen, die auf sein Geheiß mit Harken die Netze auseinanderzerrten und kurz und klein rissen, während er die Spinnerinnen mit seiner Eisenstange zu Brei zermalmte. Danach schickte er sich an, dem dauistischen Priester das gleiche Schicksal zu bereiten. Aber der wurde plötzlich zu einem Riesenungeheuer, das ein furchtbares Gebrüll ausstieß, die Arme ausbreitete und aus unzähligen Augen an seinen Seiten unzählige Strahlen aussandte, die Ssing-tschö völlig einhüllten. Er wollte ihnen durch einen Sprung auf die Wolken entgehen, aber sie schossen in die Höhe, und er fiel kraftlos auf die Erde hinunter. Da verwandelte er sich in einen Fisch mit menschlichem Gesicht und menschlichen Händen und grub sich etwa zwanzig Li tief in den Erdboden hinein. Nun hatte er endlich Ruhe, denn die Strah421
len konnten nur dreizehn oder vierzehn Li weit dringen. Ssing-tschö wagte sich aus seinem Versteck heraus und nahm wieder seine eigene Gestalt an. Sein Blick fiel auf eine Dame in Trauer, in der er die Li schan lau mu, die Mutter des Schwarzen Berges, erkannte, und begrüßte sie nach den Riten. Sie hatte auf dem Flug zum Ostmeer von dem Unglück des Bonzen Ssan Tsang erfahren und einen Umweg gemacht, um Ssing-tschö an die Bodhisattva Pi Lang, die tausend Li südwärts auf dem Berg der Purpurwolken in der Höhle der Tausend Blumen residierten, zu weisen; sie würde den Meister befreien können. Ssing-tschö dankte höflich und begab sich in größter Eile auf den genannten Berg. In der Höhle war niemand anwesend. Aber im Garten saß auf einer Bank eine alte Dame; sie blickte bei seinem Kommen auf und begrüßte ihn als den Großen Heiligen. Auf seine erstaunte Frage, wieso sie wisse, wer er sei, erwiderte sie lächelnd: „Wer sollte Euch nicht von Angesicht und Ruf her kennen! Habt Ihr Euch nicht einstmals gegen die Himmlischen aufgelehnt?“ Ssing-tschö stellte sich in seiner neuen Würde als Schüler des Bonzen Ssan Tsang vor, berichtete, wie der dauistische Priester den Meister und zwei Schüler mit Tee vergiftet und ihn selbst mit blendenden Strahlen kampfunfähig gemacht hatte, und bat die Bodhisattva um Hilfe. „Ich lebe hier in der Verborgenheit“, antwortete Pi Lang, „und begebe mich ungern fort. Aber ich kann es nicht verantworten, Euch meine Hilfe zu versagen.“ Und sie glitt mit Ssing-tschö auf einer Wolke zu dem mit einem funkelnden Strahlenkranz umgebenen Tempel der Gelben Blume. Dort angelangt, zog sie wortlos aus ihrem Obergewand eine Nadel, so fein wie ein Haar aus den Augenbrauen, aber nur ein Fünftel so lang, und zielte. Die Nadel schwirrte davon, es knisterte, und die Strahlen erloschen. Im Tempel fand Ssing-tschö den Meister, Ba Djä und Scha Ssöng steif auf dem Fußboden liegen. Er schob jedem von ihnen eine Pille in den Mund, die ihm Pi Lang zureichte; langsam kehrte 422
das Leben in die drei zurück. Staunend vernahmen sie, daß der Priester ihnen vergifteten Tee gereicht und die Bodhisattva sie vom Tode errettet hatte. Darauf streckte Pi Lang die Hand gegen den Priester aus, der bewegungslos wie ein Toter saß und ins Leere starrte. Er fiel zu Boden und nahm die Gestalt eines sieben Tschö langen Tausendfüßlers an. Pi Lang hob den Wurm mit dem kleinen Finger auf und nahm ihn mit in ihre Höhle. Meister und Schüler stärkten sich mit einem Reisgericht. Dann legte Ssing-tschö Feuer an den Tempel der Gelben Blume, und die vier Pilger machten sich wieder einmal auf den Weg.
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AUF DEM BERG DER LÖWEN UND ELEFANTEN GREIFT DER ERHABENE BUDDHA SELBST EIN
74. Der Abendstern warnt die Pilger vor reißenden Ungeheuern. Ssing-tschö erweist sich als Meister in der Verwandlungskunst
Wiederum war der Herbst im Anzug, es wurde bereits empfindlich kühl. Ssan Tsang lenkte sein weißes Drachenpferd bergan: das Gebirge vor ihnen ragte bis in die Wolken auf und verdeckte die Sonne. Nach wenigen Li versperrte ein Greis Ssan Tsang den Weg. „Bonze, nicht weiter!“ rief er. „Dieser Berg beherbergt reißende Ungeheuer, die mit einem Mal fünfzigtausend Menschen verschlingen.“ Ssan Tsang fiel vor Schreck vom Pferd, Ssing-tschö half ihm wieder in den Sattel und sprach ihm Mut zu. „Meister, laßt Euer Ziel nicht aus den Augen! Ich, der alte Ssun Wu-kung, nehme den Kampf mit jedem Feind auf, der sich uns entgegenstellt.“ Der kleine Trupp setzte sich wieder in Bewegung. Der Warner war spurlos verschwunden. „Dieser Greis war sicher ein verkapptes Ungeheuer, das uns Angst einjagen wollte“, meinte Scha Ssöng. „Ich werde uns Klarheit darüber verschaffen“, entgegnete Ssing-tschö und sprang mit einem mächtigen Satz auf den Gipfel des Berges. Kein lebendes Wesen war zu sehen, am Himmel funkelte ein Strahlenkranz. Ssing-tschö schwang sich in die Lüfte und sah sich dem golden leuchtenden Abendstern gegenüber, packte ihn an einem Zipfel seines Oberrocks und fragte: „Habt Ihr uns nicht in Verkleidung soeben in Furcht versetzen wollen?“ Der Abendstern antwortete: „Wollet mir meine Warnung nicht 425
verübeln! Ihr befindet Euch auf dem Berg der Löwen und Elefanten, und in der Höhle gleichen Namens hausen drei Ungeheuer, die wahrlich über ungeheure Kräfte verfügen. Ihr könnt ihnen nur mit Hilfe Eurer Verwandlungskunst entgehen, und selbst dabei müßt Ihr Euren Scharfsinn aufbieten, um den geeigneten Zeitpunkt abzupassen und die geeignete Form zu wählen. Es sind drei Könige, die mit sieben- oder achtundvierzigtausend Teufeln den Berg beherrschen.“ Ssing-tschö verabschiedete sich und eilte zu seinem Meister zurück, um ihm Bericht zu erstatten. Ssan Tsang floß bei der schlechten Nachricht eine wahre Tränenflut über das Gesicht, und er jammerte über die Aussichtslosigkeit, dieses neue Hindernis zu überwinden. Abermals bemühte sich Ssing-tschö, ihn zu beruhigen, und ging von neuem auf Erkundung aus. Von der Höhe einer Wolke sah er einen Herold des Weges ziehen, einen wahren Riesen von Wuchs und wohl auch von Kräften; in der einen Hand hielt er eine Standarte, in der anderen eine Holzklapper, mit der er rasselte, um jeweils sein Kommen anzukündigen. Ssing-tschö setzte sich ihm flugs als grüne Fliege auf sein seidenes Käppchen. Ein Zittern überfiel ihn, als er die Proklamation vernahm: „An alle Bergstreifen! Laßt größte Wachsamkeit walten! Ssun Ssing-tschö hält sich in unserer Gegend auf; er verwandelt sich gewöhnlich in eine grüne Fliege, um alles auszukundschaften.“ Flugs wurde aus der grünen Fliege ein Teufel, der hinter dem Herold herrannte und ihn anrief. Der wandte sich um. „Was soll das Rufen? Ich kenne Euch nicht!“ sagte er ablehnend. „Dabei habt Ihr mich wer weiß wie oft schon gesehen!“ behauptete Ssing-tschö, „ich gehöre zur Küche.“ Der andere schüttelte den Kopf. „Die von der Küche sind mir ohne Ausnahme bekannt. Ihr scheint übrigens nicht zu wissen, daß die hohen Herren alles äußerst genau nehmen. Wer Rundgänge zu machen hat, macht Rundgänge; wer zu kochen hat, kocht. Die einen dürfen niemals die Pflichten der anderen übernehmen; 426
niemals dürfen Pflichten ausgetauscht werden. So halten es die hohen Herren.“ „Ihr wißt trotzdem nicht recht Bescheid“, versetzte Ssingtschö. „Die hohen Herren haben mir zur Belohnung für meine gute Arbeit in der Küche die Oberaufsicht über die Sicherheit im gesamten Gelände übertragen. Aus diesem Grunde muß ich Euch ersuchen, mir Eure Dienstmarke zu zeigen.“ Immer noch etwas unsicher, holte der Herold seine Marke hervor: ein Zinnplättchen mit der Inschrift: Sjau tsuan föng – Hilfskundschafter. Ssing-tschö betrachtete sie aufmerksam und gab sie mit den Worten zurück: „In Ordnung. Seht nun auch meine Dienstmarke.“ Dabei faßte er unter seinen Gurt, zauberte aus einem schnell ausgerissenen Haar eine Marke mit Inschrift und hielt sie dem Herold hin. Der fuhr erschrocken zusammen. „Eure Marke weist ja einen anderen Titel als die unseren auf: Tsung tsuan föng – Generalkundschafter!“ Und er bat um Verzeihung, daß er in Unkenntnis der Ernennung es an der gebührenden Achtung habe fehlen lassen. „Es liegt mir nicht, wegen eines solchen Verstoßes Groll aufkommen zu lassen“, beruhigte ihn Ssing-tschö. „Geht jetzt voran, ich muß zur Höhle der Könige, um ihnen Bericht zu erstatten.“ Unterwegs erschlug Ssing-tschö den Herold, legte dessen Kleidung an, versah sich mit Dienstmarke, Standarte und Holzklapper und wanderte weiter. Nach kurzer Zeit erreichte er die erste Postenkette. Ohne auf die Zurufe zu achten, ging er bis zur zweiten Postenkette. „Heda, Sjau tsuan föng, seid Ihr diesem Ssing-tschö begegnet?“ fragten die Wächter. „Sicher“, antwortete der vermeintliche Herold. „Er sitzt am Flußufer und wetzt seine Eisenstange. Die ist über zehn Dshang lang. Als ich vorbeikam, sagte er gerade: ,Meine teure Eisenstange, ich habe deine Dienste lange nicht in Anspruch genommen! Aber nun sollst du mir helfen, drei hohe Herren mitsamt deren hunderttausend Teufeln umzulegen!’“ 427
Die Posten erschraken über die Maßen. „Ihr Torhüter müßt bestimmt zuerst dran glauben, wenn dieser Ssing-tschö anrückt!“ fuhr der verkleidete Ssing-tschö fort. „Und von dem bißchen Fleisch des Bonzen fällt für uns sowieso nichts ab. Wir sind nur gut genug, für die hohen Herren beim Festmahl die Fackeln zu halten! Am besten bringen wir uns alle schleunigst in Sicherheit!“ Wären die Posten im Dienste eines Herrschers auf Erden Soldaten gewesen, hätten sie den Tod der entehrenden Flucht vorgezogen. Aber sie waren nur wilde Tiere in einem Leben der Wiedergeburt und ließen sich von einer Lüge täuschen. Zu Zehntausenden liefen sie nach allen Richtungen auseinander. Ssing-tschö frohlockte: jetzt konnte er ungehindert in die Höhle eindringen.
75. Ssing-tschö entschlüpft aus dem mit übernatürlichem Odem gefüllten Krug. Der erste König verschluckt ihn
An der Innenhalle saßen auf einer erhöhten Tribüne die drei Könige; unterhalb derselben verharrten regungslos in zwei Reihen die Minister. Ssing-tschö trat keck vor die drei hohen Herren hin und meldete sich zurück. „Sjau tsuan föng, bist du auf deinem Rundgang diesem Ssing-tschö begegnet?“ fragten sie. Der vermeintliche Herold antwortete: „In Ausführung Eures Befehls habe ich ihn nach langem Suchen aufgespürt. Zu voller Größe aufgerichtet, mißt er reichlich zehn Dshang. Er wetzte gerade eine goldbereifte Eisenstange und sagte dabei: ,Ich habe mich deiner lange nicht bedient, aber heute will ich dich benutzen, um drei Große Könige zu erschlagen’ …“ Der inzwischen eingetretene Kommandant der Wachmannschaften unterbrach Ssing-tschö mit der Meldung, daß die Posten auseinandergelau428
fen waren. Den drei hohen Herren brach der Angstschweiß aus, und sie befahlen, sämtliche Ausgänge der Höhle zu verrammeln. Das bedeutete für Ssing-tschö eine große Gefahr, und er sann schnell auf eine List, daß die Tore offen blieben. „Dieser Ssingtschö hat noch gedroht“, setzte er darum seinen Bericht fort, „er werde Euch alle Knochen im Leibe zerbrechen und die Leber ausreißen. Er will in Gestalt einer grünen Fliege hier eindringen. Wie sollen wir uns in Sicherheit bringen, wenn er seinen Plan ausführt und alle Tore verschlossen sind?“ Und dabei riß er sich schon ein Haar aus und verwandelte es in eine grüne Fliege, die sich laut summend auf dem Gesicht des ersten Königs niederließ. Entsetzt fuhren alle Anwesenden in die Höhe und begannen mit Besen und Mistgabeln eine wilde Jagd auf die Fliege. Der Anblick war so komisch, daß der angebliche Sjau schallend lachen mußte. Die Vorschriften der Verwandlung besagen aber, daß unbändiges Gelächter die angenommene Verwandlung aufhebt, und so kam es, daß der Herold plötzlich einen Affenkopf aufwies. Dem dritten König fiel das veränderte Aussehen sofort auf. „Ältere Brüder“, rief er, „dieser Herold ist in Wirklichkeit gar nicht unser Sjau tsuan föng. Das ist Ssun Ssing-tschö selbst!“ Sofort stürzten sich mehrere Teufel auf den gefürchteten Feind und rissen ihm Oberrock und Hosen vom Leibe, um ihn zu fesseln. Dabei kam der Affenkörper zum Vorschein, denn Ssingtschö konnte sich, wiederum nach den Vorschriften der Verwandlung, wohl vollständig in einen Vierfüßer, Fisch oder Vogel, in einen Baum oder eine sonstige Pflanze verwandeln, beim Übergang in eine menschliche Gestalt aber nur deren Kopf annehmen. Der erste König frohlockte: „Nun der Affe in unserer Gewalt ist, können wir ungestört das Fleisch des Bonzen Ssan Tsang genießen.“ Aber der dritte König mahnte zur Vorsicht. „Dieser Affe verfügt über starke, uns unbekannte Kräfte. Wir müssen uns sichern, daß er uns nicht entwischt.“ Und er ließ einen Deckelkrug herbeischaffen, der nicht besonders groß, aber 429
sehr schwer war, weil der Odem des männlichen und weiblichen Prinzips darin eingefangen war. Sechsunddreißig Teufel hatten daran zu schleppen. Der dritte König packte Ssing-tschö an der Kehle und hielt ihn über die Öffnung des Kruges: der starke Sog des Odems zog ihn in den Krug hinein. Darauf befestigte der König eigenhändig den Deckel über der Öffnung, und die drei Hohen Herren ließen sich im Gefühl behaglicher Sicherheit zu einem Zechgelage nieder, denn wer in den Krug eingesperrt war, löste sich binnen dreieinhalb Stunden zu Wasser auf. Ssing-tschö hockte zusammengekauert auf dem Boden des Kruges. Nach einem Weilchen schoß eine Flamme in die Höhe. Er murmelte Zauberformeln und vermochte sich in den oberen Teil des Kruges zu retten. Es dauert nicht lange, so züngelten vierzig Schlangen auf ihn zu. Kaum hatte er nacheinander jede in der Mitte durchgerissen und einen Haufen von achtzig halben Schlangenleibern aufgeschichtet, als ihn drei feuerspeiende Drachen umringten. Schon fingen seine Beine zu brennen an, und er brach in einen Strom von Tränen aus. Mit einem Mal fiel ihm ein, daß die Göttin Guanjin ihm einst drei in feine Spitzen auslaufende Nackenhaare als Talisman verliehen hatte, und ihm schien der Augenblick gekommen, deren Wirksamkeit zu erproben. Geschwind riß er die drei Haare aus, formte das eine zu einem Bohrer, das andere zu einem Bogen und das letzte zur Sehne dazu, zielte – und ein Lichtstrahl drang ein: der Krug war durchbohrt. Flugs zauberte Ssing-tschö seine drei Nackenhaare wieder an Ort und Stelle zurück, schrumpfte zu einer Winzigkeit zusammen, schlüpfte durch das Löchlein und setzte sich in Gestalt eines kleinen Käfers dem ersten der drei Könige auf den Kopf. Der stellte gerade seine geleerte Reisweinschale auf den Tisch zurück, dabei entfuhr ihm die Frage: „Ob dieser Ssing-tschö sich wohl inzwischen verflüssigt hat?“ Die Diener mußten den Krug an den Tisch holen. Sie staunten: die vor kurzem noch so schwere Last war federleicht. Es wußte ja niemand, daß durch die klei430
ne Öffnung auch der Odem des männlichen und weiblichen Prinzips entwichen war! „Hohe Herren“, riefen die Teufel, „wieso ist der Krug jetzt so leicht?“ Und zum Beweis nahm ihn einer von ihnen allein hoch und setzte ihn vor den ersten König nieder. Der lüftete verwundert den Deckel und sah den durch die Schußöffnung eindringenden Lichtstrahl. „Sofort alle Tore fest schließen!“ befahl er. Aber Ssing-tschö war schon entwischt und auf dem Weg zu seinem Meister. Ssan Tsang freute sich über die Rückkehr seines Ersten Schülers und ließ sich dessen Abenteuer berichten. Danach sagte er: „Aber Ihr habt noch keinen Sieg erfochten, und bevor Euch das nicht gelingt, können wir nicht über dieses Gebirge gelangen.“ „Uns stehen drei Könige mit etlichen Tausend Kriegern gegenüber“, entgegnete Ssing-tschö. „Befehlt Ba Djä, mich in den Kampf zu begleiten, denn allein bin ich der Übermacht nicht gewachsen.“ Ssan Tsang willfahrte dieser Bitte, und die beiden Gefährten flogen auf schnellen Wolken vor die Höhle der Löwen und Elefanten. Mit Donnerstimme forderte Ssing-tschö die Ungeheuer auf, sich mit ihm zu messen. Den ersten König schüttelte es vor Angst, daß ihm die Leber zu zerreißen drohte. „Wer will den Kampf mit diesem ungebärdigen Affen aufnehmen?“ fragte er. Ringsum herrschte Schweigen. Der König bekam einen Wutanfall. „Es ist um unseren Ruf geschehen, wenn wir auf diese Herausforderung nicht die gebührende Antwort geben!“ schrie er. „Auf meine alten Tage werde ich den Waffengang wagen!“ Schon stürzte er vor die Höhle, der Zweikampf entbrannte mit ungeheurer Wucht, und die Gegner erhoben sich alsbald in die Lüfte. Schließlich konnte Ba Djä nicht mehr untätig zusehen; er schwang sich ebenfalls auf eine Wolke und griff in das Ringen ein. Das Ungeheuer flüchtete auf den Gipfel des Berges, Ssingtschö und Ba Djä setzten ihm nach. Oben angelangt, sahen sie sich einem Riesen mit weit ge431
öffnetem Rachen gegenüber, bereit, sie zu verschlingen. Ba Djä schlug sich sofort seitwärts in die Büsche; Ssing-tschö stürmte kampfwütig blindlings auf das Ungeheuer zu, das ihn in sich hineinschluckte. Er konnte nur noch in aller Geschwindigkeit seine Eisenstange zu der winzigen Nadel zusammenschrumpfen lassen, die sich im Ohr verbergen ließ. „Dieser Pferdeaufseher muß den Verstand verloren haben! Dem Tode geradewegs in die Arme zu laufen!“ murmelte Ba Djä kopfschüttelnd und brachte sich mit langen Sätzen endgültig in Sicherheit. Außer Atem langte er bei Ssan Tsang und Scha Ssöng an. „Mein älterer Bruder ist von dem Ungeheuer verschluckt worden!“ meldete er. Ssan Tsang brach in Schluchzen aus und beklagte das unglückliche Ende seines Ersten Schülers. Ba Djä aber sagte ungerührt zu Scha Ssöng: „Jüngerer Bruder, wir wollen jetzt das Gepäck unter uns verteilen und den Heimweg antreten. Du kehrst in den Fluß des Treibsandes zurück, wo du dich wie früher von Menschenfleisch ernähren wirst, und ich gehe wieder zu meinem Schwiegervater. Das Pferd verkaufen wir und erstehen aus dem Erlös einen Sarg für unsern Meister, denn mit der Suche nach den Heiligen Schriften ist es vorbei.“ Das Ungeheuer war mittlerweile in die Höhle zurückgekehrt und frohlockte über seinen Erfolg. Der zweite und dritte König dagegen waren darüber höchst erschrocken, und auf ihr Drängen quälte er sich eine gehörige Menge stark gesalzenes Wasser hinunter, um den Affen auszubrechen. Aber so angestrengt er auch würgte, Ssing-tschö wich nicht aus seinem Bauch. Er reckte nur seine langen Arme in die Höhe und preßte dem König mit den Fingern die Kehle zusammen. Der Gequälte erbrach Galle und wälzte sich vor Schmerzen auf dem Boden. Um den Peiniger zu schwächen, wollte er ihn trunken machen und ließ sich eine Schale mit einer Mischung von Lebenselixier und Reiswein bringen. Kaum setzte er zum Trinken an, da schnupperte Ssing-tschö schon den verlockenden Duft und richtete sich auf: der Trunk floß bis zum 432
letzten Tropfen in seine Kehle! Ebenso ging es mit den folgenden Schalen. Der Wein tat bald seine Wirkung: Ssing-tschö schaukelte sich hin und her, trat dem König auf der Leber herum, schlug um sich und vermochte überhaupt nicht mehr, sich ruhig zu verhalten. Der König rollte sich längelang auf dem Boden vor Schmerz.
76. Ssing-tschö richtet sich darauf ein, in dem Bauch des ersten Königs zu bleiben. Er sagt den Ungeheuern gegen freies Geleit Straflosigkeit zu
Nach Ablauf eines halben Tages gönnte Ssing-tschö seinem erschöpften Opfer eine Ruhepause. Sofort flehte ihn der König, der nur mühsam Luft holen konnte, um Erbarmen an. „Habt Mitleid mit mir“, bettelte er. „Selbst die kleinen Ameisen hängen am Leben! Ich verspreche Euch unter Eid, Euren Meister sicher über dieses Gebirge zu geleiten.“ Mit diesem Vorschlag war Ssingtschö einverstanden. „Macht Euer Maul auf“, erwiderte er, „ich komme heraus.“ Aber während er sich in die Höhe reckte, hörte er den dritten König flüstern: „Älterer Bruder, beiß zu, sobald du ihn zwischen den Zähnen spürst, zermalme ihn zu Brei und schluck ihn abermals hinunter. Dann sind wir ihn endgültig los.“ Ssing-tschö gab seiner Eisenstange die richtige Lage und schob sie dem Ungeheuer zwischen die Kiefer, krachend bissen die Zähne zu. „Niederträchtiges Ungeheuer!“ schrie er aus der Tiefe herauf, „ich komme nicht heraus und werde dich bis zu deinem Ende quälen.“ Der dritte König nahm das Wort. „Ssun Wu-kung, dein Ruhm ist in aller Welt verbreitet. Sogar die Himmlischen sollst du besiegt haben. Aber du bist keineswegs ein Held, du bist nichts weiter als ein jämmerlicher Affe, der sich, wie ein ungeborenes 433
Kind im Mutterschoß, im Bauch unseres älteren Bruders in Sicherheit wiegt. Nimm den Zweikampf mit mir auf!“ Diese Worte gaben Ssing-tschö zu denken. ,Wenn ich mich nicht zum Kampf stelle, ist es um meine Ehre geschehen!’ überlegte er. ,Einem Ungeheuer die Leber zertrampeln und die Gedärme ausreißen, ist keine Heldentat.’ Und er entgegnete: „Ich nehme die Herausforderung an. Aber auf freiem Gelände. In der Höhle ist es zum Kampf zu eng.“ Der dritte König stellte sich mit einer zahlreichen Gefolgschaft außerhalb der Höhle auf. Der zweite König führte den ersten König, der sich nur mühsam fortbewegen konnte, und rief: „Ssun Wu-kung, kommt heraus! Wir befinden uns auf einem ausgezeichneten Kampfplatz.“ Ssing-tschö vernahm in der Tiefe des königlichen Bauches das Krächzen der Raben und das Singen der Waldvögel. Daraus schloß er, daß die Könige sich wirklich ins Freie begeben hatten. Um sich gegen jede Niedertracht zu schützen, zauberte er aus einem ausgerissenen Haar einen vierzig Dshang langen Strick und befestigte dessen eines Ende an der Leber des Königs, das andere schlang er sich um das Handgelenk. Seine Überlegung dabei war, daß er den König auf diese Weise hinschleppen konnte, wohin es ihm beliebte. Seine nächste Sorge war, aufweiche Weise er mitsamt dem Strick ungefährdet hinausgelangte. Die gewaltigen Hauer des Ungeheuers konnten allzu leicht ihn und den Strick zerbeißen. Er nahm schließlich die Gestalt eines Zwerges an und stieg in die Nase des Königs auf. Der spürte ein starkes Kitzeln und nieste. Dabei sprang Ssing-tschö heraus und reckte sich, bis er drei Dshang groß war. Die Könige griffen ihn sofort an; keiner von ihnen hatte den Strick bemerkt. Ssing-tschö sprang auf den Gipfel des Berges und zog den Strick nach. Der König hob sich aufwärts, er brüllte vor Schmerzen. Ssing-tschö zog immer kräftiger, der König hing frei in der Luft, vom Winde hin und her geschaukelt. Die beiden anderen Könige eilten auf Ssing-tschö zu 434
und beschuldigten ihn, sich vom Zweikampf gedrückt und eine verächtliche List gegen ihren Bruder angewandt zu haben. Ssingtschö lachte spöttisch und erwiderte: „Jämmerliche Kreaturen! Habt Ihr mich nicht aus dem Bauch Eures Bruders herausgelockt und diesem geraten, mich zwischen seinen Zähnen zu zermalmen? Habt Ihr mich nicht zum Zweikampf herausgefordert und mich mit Zehntausenden von Bewaffneten erwartet? Ich werde mit meinem Gefangenen zu meinem Meister gehen. Möge er entscheiden, auf wessen Seite das Unrecht liegt!“ Die drei Ungeheuer beschworen Ssing-tschö, Barmherzigkeit walten zu lassen, und gelobten, den Meister in einer Sänfte über das Gebirge zu tragen. Darauf entzauberte Ssing-tschö sein ausgerissenes Haar, der Strick verschwand, der erste König konnte sich endlich wieder frei bewegen. Die Brüder verließen mit ihrem Gefolge den Kampfplatz. Ssing-tschö machte sich auf den Weg zu seinem Meister und stellte ihm die Ankunft einer Sänfte und sicheres Geleit in Aussicht. Währenddessen hielten die drei Könige in ihrer Höhle eine Beratung ab, auf der sie den Vorschlag des jüngsten Bruders guthießen, die vier Pilger mit allen Zeichen guten Willens vierhundert Li bis zu dessen Feste zu geleiten, wo sie überwältigt und getrennt eingesperrt werden sollten. Die entsprechenden Vorbereitungen wurden getroffen, die Pilger mit gebührender Höflichkeit und großer Freundlichkeit abgeholt und tagelang mit reichlichem Essen und Trinken und allen Bequemlichkeiten versorgt. Selbst Ssing-tschö vergaß allmählich jeden Argwohn. Aber als sich der Zug der Feste näherte, gewahrte er voller Schrecken über den Dächern die unheilkündenden feinen Nebelschleier. Doch es war bereits zu spät. Schon griff ihn der dritte König an, der erste stürzte sich auf Ba Djä und der zweite auf Scha Ssöng. Die Gegner rangen in verbissener Wut miteinander und erhoben sich bald hoch über den Erdboden. Herolde bemächtigten sich des Drachenpferdes, des Bonzen 435
und des Gepäcks und zogen in die Feste ein. Die Könige hatten angeordnet, dabei jeden Lärm, jede Unruhe zu vermeiden. ,Der Bonze Ssan Tsang, hieß es im Erlaß, ,ist furchtsamer Natur. Erschrickt er, so kann sein Fleisch leicht einen scharfen widerlichen Geschmack annehmen.’ Eine Menge Diener standen Ssan Tsang zur Verfügung, Tee und Reis wurden reichlich aufgetragen. Aber er sah keinen seiner Schüler um sich und verharrte wortlos und unbeweglich auf dem einmal eingenommenen Platz.
77. Meister und Schüler sollen verzehrt werden. Ssing-tschö erlangt den Beistand des Erhabenen Buddha Der Kampf vor der Feste währte bis zur Abenddämmerung. Dann flüchtete Ba Djä, gleich danach auch Scha Ssöng. Aber beide wurden ergriffen und gefesselt fortgeschleppt. Den vereinten Kräften der drei Könige konnte auch Ssing-tschö nicht widerstehen, er schwang sich auf eine Wolke und wollte sich mit größtmöglicher Geschwindigkeit in Sicherheit bringen. Doch der dritte König nahm die Gestalt des Vogels Roch an, der mit einem einzigen Flügelschlag achthunderttausend Li zurücklegte, holte Ssing-tschö ein und brachte ihn in die Feste. Meister und Schüler wurden zusammen in ein Verlies gesperrt. Die Könige gaben bekannt, daß sie bis zum Beginn der fünften Nachtwache schlafen wollten. Bis dahin sollten die Diener die vier Gefangenen kochen und für das Abschmecken Essig, Knoblauch und Gewürze bereitstellen. In Ausführung dieses Befehls packten die Diener die vier Pilger längelang in einen Käfig: Ba Djä auf den Boden, über ihn Scha Ssöng, auf diesen Ssing-tschö und obenauf Ssan Tsang, und stellten den Käfig in einen Kessel, unter dem sie ein tüchtiges Feuer anbrannten. Im allerletzten 436
Augenblick zauberte Ssing-tschö aus einem ausgerissenen Haar seinen Doppelgänger, der den Platz im Kessel einnahm; er selbst wurde unsichtbar und entwich in die Lüfte. Seine größte Sorge galt dem Meister, weil er langes Verweilen im Wasser nicht aushalten würde. In aller Eile suchte er den Drachengott des Nordmeeres auf und schilderte ihm die Gefahr, in der sich Ssan Tsang befand. Der Drachenkönig erklärte sich zur Hilfe bereit, ließ sich als Wirbelwind auf dem Boden des Kessels nieder und bewirkte durch ständiges Kreisen, daß das Wasser nicht zum Kochen kam. Ssing-tschö schläferte erst einmal die zehn Diener ein, die den Kessel bewachten. Als sie in festem Schlaf lagen, nahm er den Deckel vom Kessel, gebot Meister und Gefährten Schweigen und holte sie nacheinander aus dem Wasser heraus. Danach entzauberte er seinen Doppelgänger und brachte das ausgerissene Haar wieder an seinen Platz. Zum Schluß ermöglichte er dem Drachengott mit einer magischen Formel die Rückkehr zum Nordmeer. Dann fanden sich trotz der Dunkelheit auch noch das Drachenpferd und die Reisesäcke, und in gewohnter Ordnung setzte sich der Zug mit aller nur erdenklichen Vorsicht in Bewegung. Durch die verrammelten und stark bewachten Tore zu gelangen, bestand keine Aussicht. Ssing-tschö klemmte sich den Meister unter den Arm, und die drei machten sich daran, über die hohe Mauer, die das Gelände einschloß, zu klettern. Der böse Zufall fügte es, daß die drei Könige schon um diese Zeit aufwachten. Sie kleideten sich schnell an und fragten eßgierig die neu aufgezogene Wache, ob der Bonze Ssan Tsang gut durchgekocht sei. „Der könnte schon siebenmal gar sein!“ antworteten die Diener und liefen zum Kessel: er war leer! Sofort machten sich die Posten an die Durchsuchung des Grundstücks und entdeckten alsbald im hellen Schein der Fackeln die Kletterer! Ssan Tsang fiel vor Schreck auf die Erde, und der erste König trug ihn fort. Der zweite und dritte König zogen Ba Djä und Scha Ssöng von der Mauer herunter; Ssing-tschö entwischte ihnen. Um zu 437
verhüten, daß der tollkühne Affe sich des Bonzen bemächtigte, schafften die Hohen Herren ihren Gefangenen in einem eisernen Käfig in ein Gartenhäuschen, das zur Residenz des dritten Königs gehörte, und ließen überall das Gerücht verbreiten, sie hätten ihn lebendig verzehrt. Ba Djä und Scha Ssöng wurden auf dem Palastgrundstück an zwei weit auseinanderstehende Pfosten gefesselt. Ssing-tschö eilte im Schutz des nächtlichen Dunkels zur Höhle der Löwen und Elefanten und erschlug Zehntausende von Teufeln. Darüber wurde es hellichter Tag, und er ging in die Stadt, um sich umzuhören. Überall raunte es: die Großen Könige haben gestern den Bonzen Ssan Tsang lebend verzehrt! Entsetzt schlug Ssing-tschö den Weg zum Palast ein. Dort gingen viele Ungeheuer, die ein Leben der Wiedergeburt führten, hin und her. Sie waren in gelbe Seide gekleidet, trugen Lederkappen und schwenkten einen Spazierstock aus rotem Mahagoniholz. Am Gurt baumelte ihnen als Rangabzeichen ein Elfenbeintäfelchen. Ssing-tschö verwandelte sich nach diesem Vorbild und spazierte aufmerksamen Blickes durch das Palastgrundstück. Bald entdeckte er Ba Djä und gab sich ihm flüsternd zu erkennen. Auch dieser hörte immerfort von des Meisters Ende murmeln. Niedergeschlagen setzte Ssing-tschö seinen Weg fort und stieß auf Scha Ssöng; er wußte ihm auch nichts anderes zu melden als Ba Djä. Ssing-tschö hatte ein Gefühl, als wäre sein Herz von einem Schwert durchbohrt, und vergoß Ströme von Tränen. Als er sich endlich etwas beruhigt hatte, begann er zu überlegen und kam zu dem Ergebnis, daß er in einer solchen Not den Erhabenen Buddha um Hilfe angehen müsse. Und schon sprang er auf eine Wolke und landete nach einer knappen Stunde in den Gefilden der Himmlischen Bambushaine auf dem Lingschan, dem Heiligen Berg. Die vier Torwächter verwehrten Ssing-tschö den Eintritt. „Ganz gleich, was Euch herführt“, wiederholten sie beharrlich, 438
„Ihr müßt vonuns dem Erhabenen Buddha gemeldet werden, und Er muß gewillt sein, Euch zu empfangen.“ Diese unerwartete Verzögerung brachte Ssing-tschö in maßlose Wut; er schrie und schlug um sich, daß der Lärm bis zu den Ohren des Erhabenen Buddha drang. Er ließ Ssing-tschö vor seinen Lotosthron führen und fragte: „Wu-kung, warum klagst du so jämmerlich?“ Ssing-tschö vergoß einen wahren Tränenregen, während er von dem Ende seines Meisters berichtete. Der weite Himmelsraum widerhallte von seinem Klagegeschrei. Der Erhabene Buddha beruhigte Ssing-tschö. „Das erste und zweite Ungeheuer haben Herren über sich“, sagte er und befahl zwei Himmlischen Sendboten, die beiden Bodhisattva Wön Schu und Pu Sjän vor seinen Lotosthron zu bitten. „Das dritte Ungeheuer“, fuhr er fort, „muß ich als Verwandten anerkennen. Ich werde Euch erklären, wieso. Als Himmel und Erde geschaffen wurden, kamen zehntausend Lebewesen zur Welt. Zu ihnen gehörten die Vögel und die Vierfüßer; ihre Könige wurden der Phönix und das Einhorn. Der Phönix zeugte eine Pfauhenne und einen Vogel Roch. Die Henne verschlang Unmengen von Lebewesen, eines Tages auch mich. Ich hätte auf dem natürlichen Wege entkommen können, aber ich scheute mich vor dem Unrat; deswegen bohrte ich ihr zwischen die Rippen ein Loch, durch das ich entwich. Die Henne nahm ich mit auf den Lingschan und wollte sie töten; aber alle Bodhisattvas erhoben Einspruch: Da ich im Leibe der Pfauhenne gelebt und ihn lebend verlassen hätte, müßte ich sie als Mutter achten. Ich ließ also von meinem Vorhaben ab, und sie lebt als die Bodhisattva ,Mutter des Erhabenen Buddha’ auf dem Lingschan. Da der Vogel Roch von derselben Mutter geboren wurde wie meine Pfauhennenmutter, muß ich ihn als Verwandten anerkennen.“ Mittlerweile waren die beiden Bodhisattvas eingetroffen. „Wann sind Eure Tiere geflüchtet?“ fragte sie der Erhabene Buddha. „Vor sieben Tagen“, antwortete der eine wie der ande439
re. „Das sind in der irdischen Berechnung etwa fünf Jahre“, sagte Buddha. „Wieviel Morde mögen so unersättliche Ungeheuer in dieser Zeit verübt haben! Wir müssen uns ohne Verzug ihrer bemächtigen!“ Und von Ssing-tschö geführt, gelangten die Hohen Himmlischen in wenigen Augenblicken in den Himmelsraum über der Feste. „Ssingtschö springt als erster hinunter!“ befahl der Erhabene Buddha. „Reizt die Ungeheuer zum Kampf und lockt sie in vorgetäuschter Flucht in meine Nähe. Das weitere übernehme ich.“ Ssing-tschö sprang vor den Toren der Feste hinunter und rief mit donnergleicher Stimme: „Heraus, Ihr Ungeheuer! Stellt Euch zum Kampf!“ Wortlos rannten die drei Könige gleichzeitig gegen ihren gefürchteten Gegner an. Nach dem siebenten Waffengang flüchtete Ssing-tschö mit einem gewaltigen Satz auf eine Wolke; hart bedrängt von den nachsetzenden Feinden, brachte er sich auf dem Strahlenkranz Buddhas in Sicherheit. Die drei Könige sahen sich plötzlich von zahllosen Himmlischen umringt. Der erste König wurde von Entsetzen gepackt, aber der dritte drängte ihn vorwärts: „Älterer Bruder, nur keine Angst. Vernichten wir diesen Erhabenen Buddha und nehmen wir von seinem Donnertempel Besitz!“ In sinnloser Wut stürmte der erste König vor, sein zweiter Bruder folgte ihm. Da ertönte eine Stimme: „Ungeheuer, wie lange wollt Ihr noch säumen, Euch zu unterwerfen?“ Die beiden Bodhisattvas hatten von ihrer Macht Gebrauch gemacht. Kraftlos ließen darauf die Könige ihre Schwerter fallen, wälzten sich auf dem Boden und nahmen ihre wahre Gestalt an: aus dem einen wurde ein grüner Löwe, aus dem anderen ein weißer Elefant. Der dritte König gab sich noch nicht geschlagen. Er breitete seine Flügel aus und wollte sich von oben her auf Ssing-tschö stürzen. Aber der saß geborgen im Strahlenkranz, und der Erhabene Buddha warf sein Käppchen in die Luft. Das verwandelte sich in eine Blutkugel, und als das Ungeheuer es gierig haschte 440
und seine spitzen Zähne hineinschlug, sanken ihm die Flügel wie gelähmt herab: seine Verwandlung war aufgehoben, er wurde wieder zum Vogel Roch und unterwarf sich Buddha. Ssing-tschö verabschiedete sich nach den Riten, sprang auf die Erde und eilte in die Stadt. Kein Teufel trat ihm entgegen, alle waren sie geflüchtet. Er befreite seine beiden Gefährten, und sie machten sich zu dritt auf die Suche nach ihrem Meister. Endlich gelangten sie auch in das Gartenhäuschen, in dem er eingesperrt war, und zerbrachen die Stäbe seines Eisenkäfigs. Ssing-tschö mußte alle Geschehnisse genau berichten, Ssan Tsang erging sich ununterbrochen in Dankesbezeigungen. Nachdem auch das weiße Drachenpferd und die Reisesäcke aufgefunden waren, labten sich Meister und Schüler an einer ausgiebigen Mahlzeit und schliefen sich aus. Danach machten sie sich wiederum auf den Weg gen Westen.
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DIE KINDER AUS BIDJU WERDEN VOR DEM TODE BEWAHRT
78. Die Kinder von Bidju sind einem Ungeheuer ausgeliefert. Ssing-tschö durchschaut den dauistischen Priester
Zu Beginn des Winters näherten sich die Pilger einer Stadt, und Ssan Tsang fragte Ssing-tschö nach deren Namen. „Laßt uns erst einmal dort sein, dann werden wir ihn erfahren“, entgegnete der Gefragte. Am Stadttor weckten sie einen alten Soldaten, der, an die Mauer gelehnt, ein kleines Schläfchen hielt. „Ihr befindet Euch im Königreich Bidju“, antwortete er auf Ssing-tschös Frage, „und diese Stadt hieß früher Bidju; jetzt haben die Leute sie in ,Stadt der kleinen Kinder’ umbenannt.“ Ssan Tsang wunderte sich über den Namen und nahm sich vor, die Erklärung dafür herauszufinden. In den Gassen, durch die sie ihr Weg führte, sahen die Pilger zu ihrem Erstaunen an jedem Haus einen Käfig hängen. Ssing-tschö verwandelte sich in eine Biene und entdeckte, daß in jedem Käfig hinter Vorhängen verborgen ein kleiner Junge auf dem Boden hockte. Manche spielten, andere weinten vor sich hin. Verwundert meldete er dem Meister, was er gesehen hatte; in Ssan Tsang stieg eine bedrückende Unruhe auf. In der Poststation fanden die Pilger Unterkunft. Der alte Mandarin, der ihr vorstand, ließ Tee und Reis mit Gemüsen auftragen und begann mit den fremdländischen Gästen eine Unterhaltung. In deren Verlauf erklärte er auf Ssan Tsangs inständiges Bitten, welche Bewandtnis es mit den eingesperrten Kindern hatte. Ein alter dauistischer Priester hatte vor drei Jahren ein sechzehnjähriges Mädchen von vollendeter Schönheit, wie sie nur den Himmli443
schen eigen war, an den Hof gebracht. Der König hatte es als Geliebte angenommen und ihm den Namen Mee Hou, Liebreizende Königin, gegeben und den Priester mit dem Titel Guo-dshang, Schwiegervater des Königs, geehrt. Die Leidenschaft für Mee Hou zehrte an dem König, und er verfiel in eine schwere Krankheit. Der Guo-dshang wußte das Rezept für den geeigneten Heiltrank und beschaffte alle dafür erforderlichen Drogen. Um sie aufzulösen und wirksam miteinander zu verbinden, mußte er aber einen Saft aus tausendeinhundertzehn Kinder-lebern und herzen brauen. Zu diesem Zweck hatte der König den Eltern in der Stadt die jungen Knaben fortnehmen und in Käfige sperren lassen. Die Furcht vor dem König verbot jeden Widerspruch und jedes Klagen; nur der Name der Stadt war geändert worden. Ssan Tsang war über solche Grausamkeit entsetzt. Ba Djä dagegen blieb von dem Kummer der fremden Menschen ungerührt. Scha Ssöng argwöhnte in dem Priester ein getarntes Ungeheuer, das sich auf solche Weise Kinderherzen und -lebern verschaffen wollte, um sie selbst zu verzehren. Diese Überlegung hieß Ssing-tschö gut. „Morgen will ich mir diesen Guo-dshang genau ansehen“, sagte er. „Ist er ein verkapptes Ungeheuer, werde ich mich seiner bemächtigen. Dem König aber werde ich raten, seine Leidenschaft zu zügeln und seine Einwilligung zum Mord zurückzuziehen. Die Kinder lasse ich heute nacht in Sicherheit bringen.“ Darauf verließ er das Zimmer. Von der Höhe einer Wolke rief Ssing-tschö Scharen himmlischer Geister herbei. Er unterrichtete sie von dem Vorhaben des Königs und bat sie, die Kinder in ihren Käfigen noch in der Nacht aus der Stadt fort in sichere Verstecke in den nahen Bergen zu schaffen und einige Tage für sie zu sorgen. Sobald er die Lage geklärt habe, werde er sie benachrichtigen, damit sie die Knaben zu den Eltern zurückbringen könnten. Die Geister erzeugten einen Wirbelwind, in dessen Schutz sie die kleinen Gefangenen entführten. 444
Am nächsten Morgen begab sich Ssan Tsang zum Palast und trug dem diensthabenden Mandarin vor, daß er dem König seine Geleitbriefe zum Siegeln vorlegen müsse. Ssing-tschö saß als kleiner Käfer auf des Meisters Käppchen. Der Herrscher war sofort bereit, einen Besucher aus dem Reich des Tangkaisers zu empfangen. „Ein solcher Bonze verfügt sicher über besondere Fähigkeiten“, meinte er. Nach der Zeremonie der Begrüßung machte er sich an das Durchsehen und Siegeln der Dokumente. Mittendrin trat der Guo-dshang in die Halle, er war als dauistischer Priester gekleidet und trug eine hochfahrende Miene zur Schau. Ssan Tsang begrüßte ihn mit tiefer Verneigung, und der König sagte einige erklärende Worte über die Pilgerfahrt des Bonzen. Der Guo-dshang lachte verächtlich und erwiderte: „Die Lehre Buddhas maßt sich an, die Menschen tugendhaft und glücklich zu machen. Aber es ist ein gewaltiger Irrtum, sich mit geschlossenen Augen müßigem Meditieren hinzugeben. Man muß danach trachten, seine Kräfte zu erhalten und in den Besitz der Mittel zu gelangen, die dem Menschen die Langlebigkeit verleihen.“ Ssan Tsang stieg die Schamröte ins Gesicht; er verabschiedete sich und verließ die Halle. Ssing-tschö surrte, immer noch in der Gestalt eines kleinen Käfers, auf einen Wandschirm und hörte zu, wie dem König das Verschwinden der Käfige mit den Kindern gemeldet wurde. Der König geriet in Verzweiflung darüber, aber der Guo-dshang wußte ihn zu beruhigen: „Die Himmlischen haben uns zum Ersatz bereits ein wertvolles Heilmittel geschickt, das weit besser ist als das von mir vorgeschlagene! Es wird Euch ein zehntausend jähriges Leben verleihen.“ Und er erklärte dem König, welche Bewandtnis es mit Herz und Leber des Bonzen Ssan Tsang habe. Der König befahl sofort, alle Stadttore zuzusperren und den Bonzen in den Palast zu führen. Ssing-tschö eilte in die Poststation zurück und erzählte Meister und Gefährten, was er erfahren hatte. „Das haben wir davon, 445
daß Ihr die Kinder retten ließet!“ rief Ba Djä aufgebracht, und Ssan Tsang stammelte mit zitternder Stimme und ganz in Schweiß gebadet: „Wie sollen wir aus dieser verhängnisvollen Lage herauskommen!“ In aller Gelassenheit antwortete Ssingtschö: „Dem Tode zu entrinnen ist eine Kleinigkeit. Der Meister muß nur einwilligen, daß er zum Schüler und der Schüler zum Meister wird.“ Erleichtert erwiderte Ssan Tsang: „Wenn ich auf diese Weise dem qualvollen Geschlachtetwerden entgehen kann, bin ich gern bereit, Schüler zu werden.“ Nun mußte Ba Djä auf Ssing-tschös Geheiß frisch aufgehackte Erde in eine Schüssel füllen; um sie zu durchfeuchten, pißte er kräftig darauf. Dann befahl Ssing-tschö allen, zu schweigen, knetete die Erde tüchtig durch, legte dem Meister von dem Brei eine dicke Maske über das Gesicht und rief das Wort: „Bjän! – Verwandlung!“ Und siehe da: der Meister war von Ssing-tschö nicht zu unterscheiden. Darauf trug Ssing-tschö auch auf sein Gesicht eine Maske auf und sagte abermals das Zauberwort: er glich völlig dem Meister. Während Meister und Schüler noch die Kleider auswechselten, ertönte vor der Poststation Trommel- und Gongschlagen, dreitausend Bewaffnete marschierten auf und umstellten das Haus. Ein in Brokat gekleideter Militärmandarin trat in die Gaststube und sagte: „Ehrwürdiger Bonze aus dem Tangreich, Seine Majestät der König lassen Euch zu Sich bitten!“ Der vermeintliche Ssan Tsang trat vor, der Mandarin nahm ihn bei der Hand und führte ihn hinaus.
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79. Ssing-tschö trifft den Gebieter über die Langlebigkeit. Die Kinder werden ihren Eltern zurückgegeben
Der falsche Ssan Tsang vollzog beim Eintritt nicht die vorgeschriebenen Verbeugungen; er schritt aufrecht auf den Thron zu und fragte laut: „König von Bidju, zu welchem Zweck habt Ihr mich hergebeten?“ Der König antwortete lächelnd: „Uns hat eine schwere Krankheit befallen. Der Guo-dshang hat für den geeigneten Heiltrank alle notwendigen Drogen bis auf einen einzigen Zusatz beisammen, und den erbitten wir von Euch.“ „Ich bin ein armer Bonze ohne irdischen Besitz“, versetzte der falsche Ssan Tsang. „Was sollte ich zu dem Heiltrank beisteuern können?“ „Ehrwürdiger Bonze, ich benötige dafür Euer Herz und Eure Leber“, antwortete der Guo-dshang. „Ich habe mehrere Herzen. Was für ein Herz braucht Ihr?“ begehrte der falsche Ssan Tsang zu wissen. „Euer schwarzes Herz genügt mir vollauf“, erklärte der Guo-dshang. „Wenn ich ein schwarzes Herz habe, will ich es Eurer Majestät gern überlassen. Aber ich will den Einschnitt selbst machen. Man gebe mir ein Messer.“ Bei diesen Worten entblößte der falsche Ssan Tsang die Brust und machte mit dem Messer, das ein Mandarin ihm reichte, einen langen tiefen Schnitt. Das Blut spritzte in weitem Strahl heraus. Der falsche Ssan Tsang griff mit der Hand in die Brusthöhle und holte von oben links eine richtige Traube von Herzen heraus. „Ich habe nicht nur mehrere Herzen“, sagte er und hielt das Büschel Herzen zum Ansehen hoch. „Sie haben auch verschiedene Farben“, und er wies auf die einzelnen Herzen. „Von den drei weißen ist dieses nicht blutdürstig, dieses nicht grausam und dieses nicht neidisch. Von den drei roten ist dieses nicht eingebildet, dieses nicht voreingenommen und die447
ses nicht ungestüm. Und von diesen drei gelben ist das eine nicht lasterhaft, das andere nicht habgierig und das letzte nicht grob. Ein schwarzes ist nicht dabei!“ Entsetzt rief der König: „Nehmt nur alle Herzen wieder an Euch!“ Der falsche Ssan Tsang willfahrte dem Befehl, nahm seine eigene Gestalt an und sagte: „Hier hat nur einer ein schwarzes Herz, nämlich der Guo-dshang. Ich werde mir Sicherheit darüber verschaffen, und wenn ich recht habe, wird sein Herz für den Heiltrank verwandt werden.“ Er holte mit seiner goldbereiften Eisenstange aus und griff den Guo-dshang an. Der hatte den Großen Heiligen und Ebenbürtigen der Himmlischen erkannt und versuchte, sich auf einer Wolke in Sicherheit zu bringen. Aber Ssing-tschö setzte ihm nach und zwang ihn zum Kampf. Plötzlich hatte er keinen Gegner mehr vor sich: ein Strahlenkranz entschwebte durch die Luft. In dieser Tarnung glitt der Guodshang in den Palast, holte die Mee Hou heraus und flüchtete mit ihr. Ssing-tschö sprang auf die Erde hinunter und kehrte in den Palast zurück. Der König lud ihn ein, auf einem mit Brokat bezogenen Armstuhl Platz zu nehmen, und dankte ihm. Darauf fragte er: „Ehrwürdiger Bonze, vor dem Kampf war Euer Gesicht von leuchtender Klarheit und Schönheit. Wie kommt es, daß es sich so verändert hat?“ Ssing-tschö erklärte ihm, daß und warum er die Gestalt seines Meisters angenommen hatte, und der König schickte alsbald zwei hohe Mandarine in die Poststation mit dem Auftrag, Ssan Tsang und Ssing-tschös beide Gefährten in den Palast zu geleiten. Ssing-tschö ging seinem Meister ein Stück Weges entgegen. Er hauchte ihm über das Gesicht, das sofort die gewohnte Klarheit des Ausdrucks und die helle Hautfarbe annahm. Im Palast angelangt, nahmen auf des Königs Aufforderung alle vier Platz, und Ssing-tschö bat den Herrscher, ihm zu sagen, was er über Herkunft und Residenz des Ungeheuers wisse; Angaben dieser Art 448
würden ihm die Verfolgung erleichtern. Der König war sehr verlegen, daß er einem Betrüger sein Vertrauen geschenkt hatte, und wußte auf Ssing-tschös Frage nur anzugeben, daß der vorgebliche Priester nach dessen eigenen Angaben in einer Einsiedelei lebte, die etwa siebzig Li südlich von der Stadt auf dem Ljulinschan, dem Weidenwaldberg, nicht weit von dem Dorf Tjing-hua lag. Seine Tochter, eben die Mee Hou, hatte er in Erfüllung eines Gelübdes an den Hof gebracht. Mit Ba Djä an der Hand, flog Ssing-tschö auf dem gewohnten Luftweg etwa siebzig Li in südlicher Richtung. Über einem Berghang sprangen sie auf die Erde und fanden sich vor einem reißenden Gebirgsfluß, dessen Ufer dicht mit Weiden bestanden waren; von einem Dorf war nichts zu sehen. Ssing-tschö rief seinen zuverlässigen Helfer, den Tou Di, herbei und fragte ihn nach dem Dorf Tjing-hua. „Ein Dorf dieses Namens gibt es nicht“, beschied ihn der Tou Di, „wohl aber eine Höhle. Wenn Ihr dorthin wollt, müßt Ihr Euch auf das jenseitige Ufer begeben. Dort steht eine neunfach gegabelte Weide. Umfaßt deren Stamm und geht je dreimal links- und rechtslang herum. Danach müßt Ihr, an den Stamm pochen und dreimal mit lautem Rufen Einlaß heischen, worauf sich eine Tür öffnen wird.“ Die beiden Gefährten setzten über den Fluß. Ssing-tschö befahl Ba Djä, ein Stückchen von der Weide entfernt stehen zu bleiben; er selbst führte alles aus, was der Tou Di ihn geheißen hatte. Tatsächlich öffnete sich eine Tür; hinter ihr ragte ein steinerner Schutzwall auf, in den vier große Schriftzeichen eingemeißelt waren: Tjing Hwa Sjän Fu – Residenz des Unsterblichen Tjing Hwa. Ssing-tschö sprang über den Wall und wurde des Guodshang ansichtig; er war noch ganz außer Atem und hielt ein wunderschönes Mädchen umschlungen. „Dieser erbärmliche Affe hat uns heute um den Erfolg dreijährigen Mühens gebracht!“ hörte Ssing-tschö ihn gerade sagen. „Von Euch soll nur noch das Fell übrigbleiben!“ brüllte Ssing-tschö und stürzte sich, 449
seine Eisenstange schwingend, auf den Gegner. Das Ungeheuer ließ das schöne Mädchen los und nahm den Kampf an. Der wartende Ba Djä vernahm den Waffenlärm. Voller Ungeduld stürzte er die Weide um, lockerte mit seiner Forke die Erde und durchhieb alle Wurzeln. Blut strömte heraus und breitete sich wie ein See über den Erdboden. Zugleich wurde das Ungeheuer sichtbar, es verwandelte sich in einen Strahlenkranz und stieg in die Lüfte auf. Ssing-tschö und Ba Djä wollten gerade zur Verfolgung auf eine Wolke springen, als Kranichgeschrei ertönte und inmitten einer blendenden Lichtfülle der als Gebieter über die Langlebigkeit gefürchtete und verehrte Ehrwürdige Stern des Südpols vor ihnen auftauchte. Er hatte den fliehenden Gegner bereits in seine Gewalt gebracht und fuhr ihn nun barsch an: „Ungeheuer, zeigt Euch in Eurer wahren Gestalt!“ Ein weißer Hirsch ließ sich vor dem Stern des Südpols nieder: er hielt den Kopf tief gesenkt, und aus seinen Augen flossen wahre Tränenströme. Ssing-tschö und Ba Djä drangen in die Höhle, um noch die Mee Hou unschädlich zu machen. Auch sie versuchte, sich als Strahlenkranz in Sicherheit zu bringen, aber Ssing-tschö versetzte ihr im letzten Augenblick mit seiner Eisenstange den Todesstreich. Sie schlug längelang zu Boden, die Leiche verwandelte sich in eine Füchsin mit hellfarbigem Kopf. Die beiden Gefährten schleppten den Kadaver aus der Höhle, und Ssing-tschö lud ihn sich auf die Schulter; der Stern führte den Hirsch, und zu dritt ging es in den Palast zurück. Bei dem Festmahl, das der dankerfüllte König für seine Gäste veranstaltete, erzählte der Stern des Südpols, daß der weiße Hirsch ihm entlaufen war, während er mit einem Besucher beim Mahjongspiel saß. Als Abschiedsgabe überreichte er dem König drei Brustbeeren, die ihm volle Gesundheit und Langlebigkeit verleihen würden, und entschwand in den Wolken. Auch Ssan Tsang schickte sich mit seinen Schülern an, die Reise fortzusetzen. Der König und die Mandarine gaben ihnen das 450
Geleit. Als der feierliche Zug sich über den Marktplatz bewegte, fuhr plötzlich ein starker Wirbelwind darüber hin. In der Höhe ertönte eine Stimme: „Großer Heiliger! Eurem Befehl gehorchend, haben wir diese Kinder versteckt und versorgt. Nun Ihr die Ungeheuer vernichtet habt, bringen wir sie den Eltern zurück.“ Zugleich stellten unsichtbare Hände tausendeinhundertzehn Käfige auf die Erde; in jedem hockte ein Kind, das vor Freude in einem lachte und weinte. Alt und jung, Männer und Frauen eilten auf die Pilger zu. Ohne Scheu vor den grauslichen Gestalten der Schüler trugen sie alle vier auf den Schultern in den Palast zurück und veranstalteten tagelang Freudenfeste. Überglücklich sammelten die Eltern Kleidungsstücke und Schuhwerk und Lebensmittelvorräte für die weitere Pilgerfahrt. Viele ließen die Pilger von bekannten Künstlern malen, andere Verse verfassen, in denen die Rettung der Kinder geschildert und dem Dank dafür Ausdruck gegeben wurde. Endlich brachen die Pilger zum zweiten Mal auf. Der König mit allen Mandarinen und die gesamte Bevölkerung der Stadt gaben ihnen zwanzig Li über das Stadttor hinaus das Geleit.
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SSAN TSANG DROHT EINE EHESCHLIESSUNG
80. Eine junge Schöne überlistet die Pilger. Ssing-tschö erkennt sie als Ungeheuer und warnt den Meister
Der zweite Monat eines neuen Jahres brach an, mit ihm hielt der Frühling seinen Einzug, und in Ssan Tsang erwachte wieder einmal die Sehnsucht nach der Heimat. Ssing-tschö sprach ihm Mut zu, aber Ssan Tsang entgegnete: „Meine Schüler, vor uns türmen sich hohe Berge. Wer vermag zu sagen, wie lange wir noch unterwegs sein müssen, um unser Ziel zu erreichen!“ Ba Djä stimmte dem Meister sofort zu: „Unser Leben wird zu Ende gehen, bevor wir am Ziel anlangen.“ Dem widersprach Scha Ssöng: „Streben wir beharrlich unserem Ziel entgegen! Wer jede Schwierigkeit bedenkt, gibt von vornherein auf.“ Unter solchen Gesprächen gelangten die Pilger in einen dichten Wald, nach einer halben Tagesreise konnten sie sein Ende noch nicht absehen. Auf einer Waldwiese von wunderbarer Lieblichkeit beschlossen sie zu rasten. In friedvoller Stille blühten zahllose Blumen und schwängerten die Luft mit ihren Düften; bunte Schmetterlinge gaukelten von Blüte zu Blüte. Ssing-tschö half dem Meister aus dem Sattel und bereitete ihm am Fuß einer Fichte einen Ruheplatz. Er selbst nahm den Betteltopf und stieg in die Lüfte, um Reis aufzutreiben, denn die Vorräte waren erschöpft. Aus der Höhe erblickte er unter sich einen weithin leuchtenden Strahlenkranz. Stolz erfüllte ihn, daß der Kranz zu seinem Meister gehörte, und Hoffnung, daß auch er dereinst ein Heiliger werden würde. Aber sein scharfes Auge entdeckte 453
schwärzliche Rauchschwaden, die sich auf den Strahlenkranz zu bewegten. Ein Ungeheuer war in der Nähe! Die Gefahr abzuwenden war im Augenblick wichtiger, als Reis zu beschaffen. Ssing-tschö kehrte eilig auf den Rastplatz zurück. Ssan Tsang hatte sich inzwischen im Grünen ergangen und mit Blumenpflücken vergnügt. Dabei waren plötzlich menschliche Klagelaute an sein Ohr gedrungen, und nach einigem Suchen hatte er unter einem Baum ein junges Mädchen entdeckt, das bis zu den Hüften in die Erde eingegraben und bis an die Schultern an den Stamm gefesselt war. Unter jämmerlichem Schluchzen hatte es ihm berichtet, daß es aus dem zweihundert Li entfernten Lande Pinbo stammte, daß seine Familie Buddha verehrte und Räuber es vor fünf Tagen vom Frühlingsfest entführt hatten. Die zwei Bandenführer hatten sich nicht einigen können, wem von beiden es zufallen sollte, es kurzerhand gefesselt und eingegraben und das Weite gesucht. Ssan Tsang hatte sofort Ba Djä befohlen, das Mädchen auszugraben und loszubinden. Ssing-tschö kam dazu. Er versetzte dem Gefährten einen Stoß, daß der, sich überschlagend, zu Boden stürzte, und rief: „Dieses Mädchen darf nicht befreit werden. Es ist ein getarntes Ungeheuer und will uns schaden.“ Empört sagte Ssan Tsang: „Nichtswürdiger Affe, Ihr seid ein elender Schwätzer. Wie könnt Ihr unbegründet solche Beschuldigung aussprechen!“ Schlagfertig versetzte Ssing-tschö: „Meister, Ihr habt irdische Augen und versteht von derlei Dingen überhaupt nichts!“ Ba Djä mischte sich ein: „Meister, hört nicht auf diesen Pferdewächter! Er ist groß im Erfinden!“ Aber Ssan Tsang entschied: „Bisher haben sich alle Voraussagen Eures älteren Bruders bewahrheitet. Wir wollen unsere Pilgerfahrt fortsetzen und alle Dinge in der Welt des Staubes außer acht lassen.“ Diese Worte beruhigten Ssing-tschö. „Meister, das ist ein guter Entschluß“, rief er. „Ihr geht damit einem neuen Verhängnis aus dem Wege!“ Die vier setzten sich in Bewegung. Von dem verlassenen Rast454
platz rief eine Stimme hinter ihnen her: „Ihr versagt einem Notleidenden eure Hilfe. Wie könnt Ihr behaupten, daß Ihr Buddhaschüler seid!“ Ssan Tsang hielt sein Pferd an und befahl abermals, das Mädchen loszubinden. Widerstrebend fügte sich Ssingtschö; er hatte Angst vor dem unheilvollen Spruch, mit dem der Meister ihn niederzuzwingen vermochte. Voller Freude über seine Befreiung, eilte das Mädchen auf die Pilger zu. Ssing-tschö brachte ein neues Bedenken vor: „Meister, das Mädchen wird uns nicht folgen können, denn Ihr reitet, und wir drei sind schneller als ein abgeschossener Pfeil. Es wird zurückbleiben und von wilden Tieren gefressen werden.“ Diese Überlegung leuchtete Ssan Tsang ein. „Was tun?“ fragte er ratlos. „Nehmt es in die Arme und laßt es mit Euch zusammen reiten!“ antwortete Ssingtschö. „Ich führe das Leben der Frömmigkeit“, fuhr Ssan Tsang auf, „wie könnt Ihr es wagen, mir einen solchen Vorschlag zu machen! Aber das Mädchen soll reiten und Ba Djä das Pferd führen; ich werde den Weg zu Fuß machen. Es wird sich ein Kloster finden, in dem wir das Mädchen zurücklassen können.“ Abermals brach der kleine Zug auf. Voran ging Ssan Tsang, hinter ihm Scha Ssöng mit den Reisesäcken. Es folgte Ba Djä, der das Pferd mit dem Mädchen im Sattel führte. Ssing-tschö bildete den Schluß. Als sie etwa dreißig Li zurückgelegt hatten, tauchten vor ihnen Klostergebäude auf. Welche gute Aussicht für die Nacht! Aber es war kein Mönch zu sehen, kein Laut zu hören. Ssan Tsang durchschritt das Tor und gelangte in einen Tempel. Auch darin nur Leere und Stille. Er strich mit der Hand behutsam über eine große Glocke, die von einer dicken grün-weißen Schimmelschicht überzogen war. Plötzlich ertönte sie, und San Tsang stürzte erschrocken zu Boden; ein Mönch kam herzugerannt und half ihm auf. „Ängstigt Euch nicht“, sagte er entschuldigend. „Ich befürchtete von weitem, ein Ungeheuer habe sich in den Tempel eingeschlichen. Um sicher zu gehen, warf ich ein Holzscheit gegen die Glocke und wollte abwarten, ob es bei ih455
rem Erklingen verschwinden oder eine andere Gestalt annehmen würde.“ Die beiden kamen ins Gespräch. Ssan Tsang erzählte von seiner Pilgerfahrt in die Länder des Westens, der andere von den Räubern und Unholden, deren ruchloses Treiben die Mönche veranlaßt hatte, die zur Straße hin gelegenen Gebäude zu räumen und einen neuen Tempel, eben den, in dem sie standen, zu bauen. Ssan Tsang sah auf, sein Blick fiel auf eine Tafel mit fünf großen Schriftzeichen: Dshön Hai Schön Lin Sse – Kloster zur beschaulichen Betrachtung der Meere. Ein ehrwürdiger Abt gesellte sich zu den beiden. Das klare helle Gesicht Ssan Tsangs gefiel ihm, und er fragte ihn freundlich nach dem Woher und Wohin. Als Ssan Tsang von seinen drei Schülern erzählte, die vor dem Tor seiner harrten, erschrak der Abt. „Es ist gefährlich, um diese Zeit im Freien zu verweilen. Ungeheuer und reißende Tiere streichen zahllos wie Ameisen durch die Gegend.“ Und er schickte sofort einen jungen Mönch ans Tor, um die Schüler hereinzuführen. Mit ihnen zusammen trat das junge Mädchen über die Tempelschwelle. Inzwischen fanden sich auch siebzig bis achtzig Mönche zur Begrüßung der Gäste ein.
81. Ssing-tschös Liebesstündchen mit der Schönen. Die drei Schüler auf der Suche nach ihrem Meister Während der Abendmahlzeit, an der auch das junge Mädchen teilhaben durfte, richteten viele Mönche wißbegierige Fragen über die Heiligen Schriften an ihre Gäste; andere dagegen, die der Sinnenlust noch nicht entsagt hatten, hefteten die Augen auf die junge Schöne in ihrer Mitte und wären gern bereit gewesen, in der kommenden Nacht auf den Schlaf zu verzichten. Der Abt 456
wies dem Mädchen klüglich eine abgelegene Tempelkammer an, in der es gesichert allein war, und ließ zwei gebratene Hühnchen hineinstellen für den Fall, daß ihm das klösterliche Abendessen nicht genügt hätte. Am nächsten Morgen fühlte sich Ssan Tsang zu schwach, um aufzustehen, und der Aufbruch mußte verschoben werden. Am dritten Tag wurde er arg von Durst gequält und bat um eine Schale Regenwasser; Ssing-tschö lief in die Küche, um des Meisters Wunsch zu erfüllen. Er fand die Mönche in Tränen und erfuhr, daß seit drei Tagen die beiden Brüder, die jeweils in der Morgenfrühe zum Läuten in den Hintergarten gingen, nicht ins Kloster zurückkehrten. Jedesmal lagen ihre Kleidungsstücke und die Gebeine in zwei Häufchen aufgeschichtet neben der Glocke. Auf diese unerklärliche Weise hatten die Mönche bereits sechs Brüder verloren. Ssing-tschö erklärte sich sofort bereit, den Mörder zu vernichten. Aber die Mönche wußten nichts von den Kräften, über die Ssing-tschö verfügte, und befürchteten von einem zum Kampf gereizten, aber nicht besiegten Ungeheuer noch weit Schrecklicheres. Solche Zaghaftigkeit versetzte Ssing-tschö in Zorn. „Ich merke, daß Ihr tatsächlich nicht wißt, wer ich bin“, fuhr er die Brüder an, „ich werde es Euch sagen.“ Und er zählte ihnen seine Heldentaten auf. „So aufschneiden kann man nicht“, tuschelten dieMönche, „dieser Bonze verfügt sicher über besondere Kräfte“, und sie stimmten seinem Vorhaben zu. Der Genuß des Regenwassers erquickte Ssan Tsang, und er ließ sich von Ssing-tschö überreden, eine kleine Mahlzeit einzunehmen. Dabei erkundigte er sich nach den Geschehnissen während seines Krankseins, und Ssing-tschö berichtete ihm von seinem Vorhaben, in der kommenden Nacht ein Ungeheuer, das die Mönche in Schrecken halte, ausfindig zu machen und zu beseitigen. Ssan Tsang geriet in Angst. „Mein Schüler, bedenkt, daß ich noch sehr geschwächt bin. Schlägt Euer Plan fehl, wird sich dieses Ungeheuer meiner bemächtigen wollen. Wie soll ich ihm Wider457
stand leisten!“ Da brachte Ssing-tschö den für seinen Meister ausschlaggebenden Grund vor: die Ermordung der sechs Mönche in den letzten drei Nächten. „Das traurige Schicksal meiner Brüder bewegt mich tief!“ rief Ssan Tsang sofort. „Mein Schüler, ich lasse Euch volle Freiheit! Führt Euer Vorhaben erfolgreich durch!“ Am Abend begab sich Ssing-tschö in den Tempel. Es war stockfinster darin, der Mond war noch nicht aufgegangen. Ssingtschö zündete ein Lämpchen an, läutete die Glocke an der Westmauer und verwandelte sich in einen zwölf- bis dreizehnjährigen Bonzen in der vorgeschriebenen weißen Gewandung. Darauf kniete er vor dem Altar nieder und begann, in halbsingendem Tonfall Gebete herzusagen. Um die zweite Nachtwache ging der Mond auf. Plötzlich fegte ein heftiger Wind durch die Tempelhalle; danach verbreitete sich ein starker Moschusgeruch, und als Ssing-tschö einen Blick zur Seite warf, bemerkte er, daß ein liebreizendes junges Mädchen auf ihn zukam. Es schlug die Arme um seinen Hals und flüsterte: „Was nützt Euch das Beten! Heute nacht leuchten Mond und Sterne. Folgt mir in den Garten und vergnügt Euch mit mir.“ Ssing-tschö schüttelte ablehnend den Kopf. „Ich bin ein armer und noch ganz junger Mönch“, erwiderte er mit lauter Stimme, „und wüßte gar nicht, wie ich mich mit Euch vergnügen soll.“ Die Schöne ließ nicht ab zu drängen. „Kommt nur mit“, schmeichelte sie, „ich werde es Euch lehren.“ Ssing-tschö gab zum Schein nach, und sich an den Händen haltend, gingen die beiden in den Garten. „O mein teurer älterer Bruder!“ flüsterte sie ihm ein über das andere Mal ins Ohr und konnte sich gar nicht genug tun in Liebkosungen. Ssing-tschö hielt den Augenblick zum Handeln für gekommen. Er nahm seine wahre Gestalt an und holte mit seiner goldbereiften Eisenstange zu einem wuchtigen Hieb aus. Die junge Schöne erkannte augenblicks ihren Gegner. Ohne eine Spur von Furcht zu zeigen, brachte sie flugs zwei Schwerter 458
zum Vorschein und fing sehr gewandt den ihr zugedachten Hieb auf. Nach kurzem Kampf wandte sie sich anscheinend zur Flucht. In Wirklichkeit gab sie ihrem linken, kostbar bestickten Schuh mit einem Zauberspruch ihre Gestalt; sie selbst drang als Wirbelsturm in Ssan Tsangs Schlafkammer ein, riß den Bonzen hoch und schaffte ihn in die Wu di düng, die Bodenlose Höhle, auf dem Sjän kung schan, dem Berg der abgrundlosen Tiefe. Die Diener mußten unverzüglich mit den Vorbereitungen für die Hochzeitsfeier beginnen. Ssing-tschö war der Fliehenden nachgeeilt und hatte sie mit einem Hieb zu Boden gestreckt. Die Leiche verwandelte sich in den bestickten Schuh zurück. Voller Schrecken erkannte er, daß die Schöne ihn genarrt hatte, und eilte in das Kloster zurück, um nach dem Meister zu sehen. Er war verschwunden! Die ganze Nacht hindurch beriet er sich mit seinen beiden Gefährten; in der ersten Morgenfrühe brachen sie auf, um ihren Meister zu retten. Beim Abschiednehmen von ihren Gastgebern erfuhren sie, daß auch das junge Mädchen verschwunden war. Ssing-tschö schlug den Weg zu dem Rastplatz ein, auf dem der Meister Tage zuvor das gefesselte junge Mädchen aufgefunden hatte. Aber nirgends war eine Spur von der Unholdin zu entdecken. Zornentbrannt rief Ssing-tschö den Schan Dshön und den Tou Di, den Geist der Gebirge und den Wächter über den Erdboden, herbei und begehrte, von ihnen den Aufenthalt des Meisters zu erfahren. „Das Ungeheuer, das Euren verehrungswürdigen Meister entführt hat, residiert nicht in diesem Gebirge, sondern über tausend Li südlich von hier in der Wu di düng auf dem Sjän kung schan“, lautete ihr Bescheid. Ssing-tschö entließ die beiden und eilte mit seinen Gefährten in schnellstem Flug gen Süden. Das Pferd flog mit, denn in seiner Urgestalt war es ja ein Drache und somit des Fliegens kundig. Über dem Bergplateau stiegen sie ab, und Ba Djä ging auf Ssing-tschös Geheiß los, um die Höhle auszukundschaften. 459
82. Die junge Schöne auf Bräutigamswerbung. Ssing-tschö rettet seinen Meister Mit weiten Sprüngen setzte Ba Djä auf einem Fußpfad bergab. Nach fünf Li stieß er auf zwei Unholdinnen, die an einer Tragstange volle Wasserfässer schleppten. Er verbarg seine Forke im Gurt, verwandelte sich in einen wohlgenährten Bonzen, überholte die beiden und sprach sie mit höflicher Verneigung an: „Nainai, pin ssöng dji shou la! –Meine Damen, ich armseliger Bonze grüße Euch höflichst!“ Die zwei Unholdinnen freuten sich über solchen Anstand und fragten: „Woher kommt Ihr, Meister?“ – „Von irgendwo“, antwortete der falsche Bonze. „Und wohin werdet Ihr zurückkehren?“ fragten sie weiter. „Dahin, woher ich komme“, wich der falsche Bonze abermals aus. Und auf die dritte Frage: „Wie nennt Ihr Euch?“ kam die Antwort: „Wie ich mich nenne?“ Die Unholdinnen verbissen sich das Lachen über den anscheinend etwas beschränkten Bonzen. Der aber fragte seinerseits: „Nai-nai, wohin schafft Ihr das viele Wasser?“ und erhielt den Bescheid: „Unsere Herrin hat den Bonzen Ssan Tsang als Besuch mitgebracht, und weil das Wasser in der Höhle nicht kristallklar ist, mußten wir für die Zubereitung des Festmahls Wasser vom Berghang holen, denn heute nacht wird unsere Herrin mit dem Bonzen die Ehe eingehen.“ Bei diesen Worten machte Ba Djä kehrt und eilte bergauf zu den seiner harrenden Gefährten. „Jüngerer Bruder“, rief er Scha Ssöng zu, „holt die Reisesäcke, wir wollen deren Inhalt unter uns verteilen. Unser Meister hat einen Ehevertrag abgeschlossen. Mit dem Büchersuchen ist es vorbei; wir müssen zusehen, daß wir auf unsere Kosten kommen!’’ „Was faselst du von der Heirat unseres Meisters!“ polterte 460
Ssing-tschö los. „Er ist entführt worden, und uns obliegt es, ihn zu retten!“ In größter Eile rannten sie zu dritt den Pfad bergab, auf dem Ba Djä die Unholdinnen getroffen hatte. Sie waren spurlos verschwunden. „Wahrscheinlich sind sie bereits in die Höhle zurückgekehrt“, meinte Ssing-tschö. Seine roten Augen mit den golden leuchtenden Pupillen suchten das Gelände ab: auf einem Wegweiser stand: Sjän kung schan – wu di düng. Die Höhle mußte also in unmittelbarer Nähe sein! Nach einigem Suchen entdeckten sie eine riesige, zehn Li im Geviert messende Steinplatte, in deren Mitte eine große Öffnung für die Luftzufuhr nach unten gehauen war. Ssing-tschö beugte sich darüber: der Schacht erstreckte sich gut dreihundert Li in die Tiefe. „Unseren Meister unter solchen Umständen zu retten, geht über unsere Kräfte!“ erklärte Ba Djä. Ssing-tschö packte die Wut. „Feigling! Sich schonen zu wollen, wenn es gilt, den Meister zu befreien! Ich werde selbst hinabsteigen, und finde ich unseren Meister, schaffe ich ihn nach oben!“ Ssing-tschö ging in die Hocke und sprang in die Tiefe. Es dauerte nicht lange, so fand er sich auf dem Boden des Schachtes, inmitten einer Landschaft voll blühender Blumen, über die ein leiser Wind strich. Sie weckte die Erinnerung an den Berg der Blumen und Früchte in ihm. Inmitten einzelner Häuser erhob sich ein prächtiges Gebäude mit dreifachem Dach, davor erstreckte sich ein Fichtengehölz. Ssing-tschö verwandelte sich in eine grüne Fliege und machte sich auf einen Erkundungsflug. In einem Pavillon saß eine junge Frau, vor deren Schönheit sich der Mond schamhaft verbergen und die Blumen vor Neid erblassen mußten. Sie gab gerade Anweisungen für ein Festmahl, das sie abends mit dem jüngeren Bruder des Tangkaisers einnehmen wollte, ehe sie die eheliche Vereinigung mit ihm vollzog. Im Innern des großen Gebäudes machte Ssing-tschö den Meister ausfindig. Er flog ihm auf den Kopf und sprach ihn an. Ssan Tsang 461
erkannte die Stimme seines Schülers und bat ihn flehentlich, ihm zu helfen. Sie verabredeten eine List. Ssan Tsang sollte bei dem Festessen die ihm servierte Schale Wein annehmen und sie, höflicher Sitte gemäß, der Unholdin anbieten. Der Wein würde beim Eingießen stark schäumen, Ssing-schö sich als kleiner Käfer in dem Schaum verbergen und auf diese Weise in die Eingeweide der Unholdin gelangen. Ssan Tsang nickte zustimmend. Bald darauf erschien die Unholdin. Sie nahm Ssan Tsang bei der Hand und führte ihn unter zärtlichen Liebesbeteuerungen in den Pavillon. Dort lud sie ihn ein, das Festmahl mit ihr zu teilen; sie habe es mit Rücksicht auf die für ihn geltenden Gebote ohne gesalzenes Fleisch zusammenstellen lassen. Dabei füllte sie selbst eine Schale mit Wein und reichte sie ihrem Gast. Im selben Augenblick surrte Ssing-tschö dem Meister ins Ohr: „Das ist ungegorener Traubensaft. Ihr dürft ihn trinken.“ Ssan Tsang trank, füllte seinerseits die Schale und bot sie der Unholdin. Beim Eingießen hielt er den Krug recht hoch, so daß sich starker Schaum bildete, und Ssing-tschö versteckte sich darin. Aber die Unholdin setzte die Schale auf den Tisch, um erst nach den Vorschriften der Höflichkeit ihren Dank abzustatten. In der Zeit verging der Schaum, und als die Unholdin die Schale aufnahm, um sie zu leeren, gewahrte sie den kleinen Käfer darin. Arglos schnippte sie ihn mit der Spitze ihres kleinen Fingers auf den Boden. Ssing-tschös List war mißglückt. Er ersann sofort eine neue. In Gestalt einer grünen Fliege ließ er sich abermals auf San Tsangs Kopf nieder. „Lustwandelt mit der Unholdin im Garten“, trug er ihm auf, „und richtet es ein, daß Ihr unter einem Pfirsichbaum stehen bleibt, eine besonders schöne und ausgereifte Frucht abpflückt und sie ihr anbietet. Sie wird sie mit Genuß verzehren, und ich gleite dabei in ihren Bauch und werde ihr die größten Qualen bereiten.“ Ssan Tsang lud die Unholdin ein, sich mit ihm im Garten zu ergehen. Beglückt willigte sie ein, schickte einige Dienerinnen voraus, um die Wege zu fegen, und befahl anderen, 462
ihr in kleinem Abstand zu folgen. An einem Pfirsichbaum, der dicht mit noch grünen Früchten behangen war, fiel ein schöner ausgereifter Pfirsich auf. Ssan Tsang blieb stehen. „Nai-nai“, sagte er, „ich verdanke es Euch, daß ich mich an diesem Farbenspiel der Blumen und Früchte erfreuen kann!“ Und er pflückte den wunderschönen reifen Pfirsich und überreichte ihn der Unholdin. „Wollet diese köstliche Frucht voller Wohlbehagen genießen!“ Die Unholdin war von Ssan Tsangs Höflichkeit entzückt und führte den Pfirsich an die Lippen. Kaum hatte sie hineingebissen, glitt er zu ihrer Verwunderung schon in den Magen. In diesem Versteck nahm Ssing-tschö seine Gestalt in winziger Größe an und rief: „Meister, keine unnötigen Reden. Unser Plan ist geglückt.“ Ssan Tsang rief zurück: „Aber laßt Milde walten!“ – „Mit wem sprecht Ihr?“ fragte die Unholdin. „Mit meinem Schüler Ssun Wu-kung“, antwortete Ssan Tsang. „Mit Ssun Wukung?“ wiederholte sie erstaunt. „Wo ist er?“ – „In Eurem Bauch! Ihr habt ihn als Pfirsich verschluckt.“ Und schon begann Ssing-tschö in den Eingeweiden der Unholdin umherzutollen, an der Leber zu zupfen, an den Lungen, am Herzen. Die Unholdin wurde aschfahl und wälzte sich vor Schmerzen auf dem Boden. Die Dienerinnen eilten erschrocken herbei; einige suchten der Herrin zu helfen, andere umringten Ssan Tsang. Aus seinem Versteck heraus rief Ssing-tschö: „Ich lasse nicht nach, Euch zu quälen, bis Ihr meinen Meister sicher aus der Höhle nach oben geschafft habt. Niemand außer Euch darf ihn anrühren!“ Da raffte sich die Unholdin auf, nahm Ssan Tsang in die Arme und glitt in einem Strahlenkranz die dreihundert Li aufwärts. Ba Djä und Scha Ssöng, die am Ausgang des Schachtes warteten, sahen erstaunt und erfreut ihren Meister in den Armen einer Frau zurückkehren.
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83. Ssing-tschö kommt der Unholdin auf die Spur. Ihre wahre Gestalt wird offenbar
Aus seinem Versteck heraus befahl Ssing-tschö der Unholdin, den Mund zu öffnen. Zur Vorsicht verwandelte er seine Eisenstange in einen langen Nagel und klemmte ihn ihr zwischen die Kiefer, damit sie ihn beim Durchschlüpfen nicht mit den Zähnen packe. Darauf sprang er hinaus und schlug sofort auf sie ein. Sie wehrte sich wieder mit ihren beiden Schwertern und zog sich dabei mit weiten Sprüngen auf den Gipfel des Berges zurück; Ssing-tschö setzte ihr ohne Säumen nach. Ba Djä zögerte, in den Kampf einzugreifen; er fürchtete sich vor den ihnen unbekannten Zauberkünsten der Unholdin. Scha Ssöng überredete ihn jedoch, auf ihrer beider Kräfte zu vertrauen; sie ließen also Ssan Tsang allein am Ausgang des Schachtes zurück und eilten dem älteren Bruder zu Hilfe. Von solcher Übermacht bedrängt, gab die Unholdin abermals ihrem linken Schuh ihre Gestalt; sie selbst flüchtete als Wirbelwind, riß im Vorbeibrausen Ssan Tsang, Pferd und Gepäck an sich und entschwand. Die drei Gefährten fochten nun gemeinsam gegen die falsche Unholdin. Von Ba Djäs Forke getroffen, sank sie leblos zu Boden und verwandelte sich in den linken Schuh zurück. „Schon im ersten Kampf hat die Unholdin mich in dieser Weise überlistet! Sicher hat sie sich wiederum unseres Meisters bemächtigt!“ rief Ssing-tschö, und Tränen strömten ihm über das Gesicht. Sie rannten zum Ausgang des Schachtes zurück: Meister, Gepäck und Pferd waren verschwunden! „Bewacht diesen Ausgang!“ gebot Ssing-tschö, „ich steige noch einmal in die Tiefe.“ Das Hauptgebäude mit dem dreifachen Dach war sein erstes Ziel. Er schlug das verschlossene Tor ein und durchsuchte alle Gemächer. Kein lebendes Wesen war zu sehen, aber plötzlich 464
stieg ihm Weihrauchduft in die Nase. Er ging der Spur nach und gelangte in eine Halle mit einem Altar, auf dem zwei Täfelchen mit einer Schale schwelenden Weihrauchs davor standen. In goldenen Schriftzeichen war auf dem einen zu lesen: DsunfuLi tjänwang dji wee Meinem ehrwürdigen Vater, dem Himmlischen König Li und auf dem anderen: Dsun sjung Na To ssan dai dse Meinem ehrwürdigen älteren Bruder Na To, dem dritten Erbprinzen Hocherfreut bemächtigte sich Ssing-tschö der beiden Täfelchen und der Weihrauchschale und kehrte mit einem einzigen Sprung zu den Gefährten zurück. „Seht hier!“ rief er und wies auf die Inschriften. „Die Unholdin, die unseren Meister entführt hat, ist die Tochter des Himmlischen Königs Li und die Schwester des Erbprinzen Na To. Ich werde unverzüglich eine Klageschrift gegen den König Li aufsetzen, des Inhalts, daß er seine Tochter in die Welt des Staubes entwischen ließ, wodurch sie die Möglichkeit erhielt, sich in eine Unholdin zu verwandeln und unseren Meister zu entführen; ferner, daß auch den dritten Erbprinzen Schuld trifft, weil er seine Schwester nicht durch gute Lehren vor bösen Handlungen bewahrt hat, und schließlich, daß ungesäumt Li Dsing, der Oberste Himmlische Heerführer, beauftragt werden muß, das Ungeheuer gefangenzunehmen und den Meister zu uns zurückzuführen.“ Mit der Weihrauchschale und den beiden Täfelchen als Beweisstücken und der Klageschrift eilte Ssing-tschö zum Südtor des Himmels. „Ich habe Klage gegen zwei hohe himmlische Persönlichkeiten vorzubringen“, erklärte er den Torwächtern und wurde tatsächlich ohne Verzug zum Obersten Himmelsherrn geführt. Dshang Di las die Klageschrift und genehmigte sie, in465
dem er Namen und Siegel darunter setzte. Der golden leuchtende Abendstern wurde beauftragt, Ssingtschö zum Palast der Himmelswolken, der Residenz des Königs Li, zu geleiten. Die Diener meldeten dem König die beiden Besucher. Wie es die Riten vorschrieben, führte sie der König persönlich in die Empfangshalle und nahm vor dem Altar aus der Hand des Himmlischen Sendboten das Dokument entgegen. „Dieser Affe bringt eine erlogene Beschuldigung gegen mich vor“, schrie er erbost beim Lesen. „Mein dritter Sohn lebt bei mir im Palast, und meine Tochter hat soeben das siebente Lebensjahr vollendet, sie ist also unbewandert in irdischen Dingen und wüßte nicht, wie sie sich in eine Unholdin verwandeln und den Bonzen Ssan Tsang entführen sollte. Das Gesetz besagt: Wer eine erlogene Beschuldigung gegen jemand vorbringt, lädt eine dreifach schwere Schuld auf sich.“ Und er ließ Ssing-tschö in Fesseln legen. Ssing-tschö lächelte und sagte: „Mit dem ersten Schritt in meiner Klage habe ich sie verloren; mit dem zweiten werde ich sie gewinnen.“ Ob dieser Worte ergrimmte König Li und holte mit dem Schwert gegen den Wehrlosen aus. Sein dritter Sohn fiel ihm in den Arm. „Wollet Euch beruhigen und mich anhören, mein König und Vater!“ rief er. „Erinnert Euch, daß Ihr vor dreihundert Jahren eine Tochter hattet, die auf dem Lingberg residierte. Dort verzehrte sie die Wachskerzen und trank die Ölbehälter aus, die für den Altar bestimmt waren. Der Erhabene Buddha gestand Euch zu, die Strafe für dieses Verbrechen selbst festzusetzen. Im Sinne des Buddhawortes ,Der mitleidige Mensch wirft die gefangenen Fische in den See zurück; der tugendhafte Mensch füttert das Wild im Gebirge’ sahet Ihr davon ab, die Todesstrafe über die Schuldige zu verhängen, worauf sie zum Ausdruck ihrer Dankbarkeit die Erlaubnis erbat, Euch weiter Vater und mich weiter Bruder zu nennen und auf einem Altar zwei Täfelchen mit unseren Namen aufzustellen, vor denen sie 466
uns ihre Verehrung bezeigen wollte. Sie hat sich jedoch in eine Unholdin verwandelt und den Bonzen Ssan Tsang geraubt. Der Affe hat ihr Versteck ausfindig gemacht und berechtigte Klage erhoben.“ Der König Li war verwirrt. „Wie konnte ich das alles nur vergessen!“ seufzte er und löste eigenhändig die Fesseln seines Gefangenen. „Ich hatte also recht mit der Behauptung, daß man mit der Niederlage beginnt und mit dem Sieg endet“, erklärte Ssing-tschö lächelnd. Während König Li seine Truppen zusammenrief, um die Verfolgung der Unholdin aufzunehmen, begaben sich der Abendstern und Ssing-tschö in den Palast des Obersten Himmelsherrn und erstatteten Bericht über den Besuch bei König Li. Abschließend sagte Ssing-tschö: „Der König Li ist dabei, sein Heer aufzustellen, um die Unholdin in seine Gewalt zu bringen. Ihn trifft keinerlei Schuld an deren Verbrechen, und ich bitte Euch, ihm Verzeihung zu gewähren.“ Dshang Di war dazu bereit. Vor dem Ausgang des Schachtes trafen König Li und Na To, aus dem Palast der Himmelswolken kommend, mit dem vom Obersten Himmelsherrn zurückkehrenden Ssing-tschö und dessen Gefährten zusammen. König Li gab den Kampfplan bekannt: Ssing-tschö und der Erbprinz sollten mit einer Heeresabteilung in die Tiefe hinabsteigen; er selbst wollte, von Ba Djä und Scha Ssöng unterstützt, mit dem Rest der Truppen am Ausgang des Schachtes Wache halten und der Unholdin die Wege zur Flucht verlegen. Von dem Lärm der anrückenden Soldaten aufgeschreckt, hielt die Unholdin Umschau. Sie konnte sich nicht mehr in Sicherheit bringen: sie war bereits erspäht und umzingelt, und der Erbprinz brachte sie gefesselt zu seinem königlichen Vater, der sie Dshang Di zur Bestrafung auslieferte. Ssan Tsang* das Gepäck und das Pferd wurden erst nach langem Suchen in einem Versteck entdeckt, dessen Zugang mit schwarzen Fahnen und wallenden Rauchschwaden getarnt war. Ssing-tschö berichtete seinem Meister alle Geschehnisse und 467
führte ihn zu dem Himmlischen König Li und dem Erbprinzen Na To. Ssan Tsang bedankte sich bei ihnen für seine Rettung und setzte sich sofort in den Sattel, um mit seinen Schülern die Reise gen Westen fortzusetzen. Die Himmlischen glitten auf einer Wolke davon.
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EIN KÖNIG WIRD ZUR GERECHTIGKEIT BEKEHRT
84. Der König von Mjä Fa will die Bonzen ausrotten. Auf ein Zeichen des Himmels gelobt er Achtung vor dem Gesetz
Überraschend trat aus dem Schatten einer Weide eine alte Frau hervor und stellte sich dem Pferd in den Weg. „Haltet ein, Bonze“, rief sie. „Wendet Euer Pferd schnell und reitet ostwärts zurück. Weiter nach Westen zu ziehen, bringt Euch allen den Tod.“ Aschfahl vor Schreck, stieg Ssan Tsang ab, grüßte die Frau mit höflicher Verneigung und fragte: „Alte Dame, warum ist die Weiterreise für uns so gefährlich?“ Die Alte wies mit der Hand nach Westen und erwiderte: „Fünf bis sechs Li von hier entfernt, beginnt das Mjä Fa Guo, das Land der Mißachtung des Rechts. Sein Herrscher hat einen Schwur geleistet, zehntausend Bonzen töten zu lassen; bisher sind ihm neuntausendneunhundertsechsundneunzig zum Opfer gefallen. Unter ihnen war aber kein einziger berühmter Bonze, und der König will zum Abschluß seines Vorhabens das Auftauchen von vier in der Welt bekannten Bonzen abwarten. Wenn Ihr, aus fernen Landen kommend, die Hauptstadt betretet, wird man Euch ohne Verzug als die rechten vier Opfer vor den König führen.“ Während dieses Gesprächs richtete Ssing-tschö seine scharfen Augen auf die alte Frau: in ihrer Gestalt verbarg sich die Göttin Guanjin. Er warf sich nieder und bat um Vergebung, sie nicht sofort erkannt zu haben. Darauf nahm die Göttin ihr eigenes Aussehen an und entschwebte auf einer Wolke in der Richtung zum Südmeer. Ssan Tsang verbeugte sich immer wieder und be469
rührte jedesmal den Boden mit der Stirn. Ssing-tschö erhob schließlich Einspruch: „Meister, die Göttin ist fort; es ist nutzlos, sich fortgesetzt zu verneigen. Für uns kommt es jetzt darauf an, schnell einen sicheren Schlupfwinkel zu finden, damit wir nicht von einer Streife entdeckt und gefangengenommen werden.“ Das sah Ssan Tsang ein. Der König von Mjä Fa schien ihm eine besonders ernste Gefahr zu bedeuten, da die Göttin in eigener Person vor ihm gewarnt habe. Ssing-tschö teilte diese Befürchtung nicht; er würde abends die Verhältnisse auskundschaften. Die Pilger bogen in einen Seitenpfad ein und entdeckten sehr bald eine Felsenhöhle, die ein geschütztes Obdach für die Nacht bot. Sie richteten sich darin ein; Ssing-tschö befahl Ba Djä und Scha Ssöng, Wache beim Meister zu halten, und stieg in die Lüfte auf. Bei Einbruch der Dunkelheit flog er in Gestalt einer Eintagsfliege in die Hauptstadt. Auf dem Marktplatz schaukelte der Wind an einem Haus eine Laterne; in ihrem Schein war zu lesen: An sjä wang lai schang mai gu Wang sjau örl tjän Herberge für reisende Kaufleute Inhaber Wang der Jüngere Ssing-tschö surrte in die Gaststube und erblickte acht oder neun Männer von vertrauenerweckendem Äußeren. Einige saßen plaudernd beisammen, andere hatten ihre Kleidungsstücke am Fußende ihrer Lagerstatt ordentlich zusammengelegt und waren im Begriff, schlafen zu gehen. ,Gut!’ dachte Ssing-tschö. ,Wenn die würdigen Herren eingeschlafen sind, werde ich mir deren Kleidung und Mützen ausborgen, und wir werden uns als Kaufleute ungehindert durch das Land bewegen können.’ Aber der Wirt durchkreuzte sein Vorhaben: er trug alle Sachen der Sicherheit wegen für die Nacht in sein Zimmer. Wütend flog Ssing-tschö hinter ihm her und ließ sich auf einem Wandbrettchen nieder. Herr Wang verschloß die 470
Türen, löschte die Lampen und legte sich zu Bett. Frau Wang blieb am Tisch sitzen und besserte im Schein eines Öllämpchens Kinderkleider aus. Ssing-tschö überlegte: ,Wenn ich warte, bis sie mit der Näherei fertig und eingeschlafen ist, sind die Stadttore geschlossen. Ich muß sofort handeln.’ Er sprang als Ratte auf den Tisch, warf die Lampe um, die natürlich verlöschte, nahm seine eigene Gestalt an, griff nach dem Packen Sachen und stürmte davon. Das Hilfegeschrei der Frau und das wüste Schimpfen des Mannes gellten hinter ihm her. In der Felsenhöhle legte Ssing-tschö seinen Plan dar: sie würden, Meister und Schüler, Kaufmannsgewandung anlegen, ihre Tonsuren mit den Mützen verdecken und sich Tang der ältere Bruder, Ssun der zweite, Tschou der dritte und Scha der vierte Bruder nennen. Auf jegliche Frage würde immer nur Ssing-tschö antworten. In aller Eile passierten die vier angeblichen Kaufleute das Stadttor und schlugen den Weg zum Marktplatz ein. Aus der ,Herberge für reisende Kaufleute’ scholl aufgeregtes Reden auf die Straße hinaus. Ssing-tschö beachtete es nicht. Ein Stückchen weiter kündete ein Schild eine andere Herberge an. Er trat durch die offenstehende Tür in die Gaststube und verhandelte mit der ältlichen Wirtin, der Frau Tschau, die seit dem Tode ihres Mannes die Herberge allein bewirtschaftete. Ssing-tschö gab sich und seine Begleiter als Pferdehändler aus, die gerade große Verkäufe abgeschlossen hatten. Die Frau witterte ein gutes Geschäft. Sie befahl einem Knecht, das Pferd in den Stall zu führen und es zu füttern und zu tränken. Den Gästen schlug sie ein reichhaltiges Essen mit Brathähnchen und Eiern, duftendem Tee und bestem Wein vor. Zu ihrer Enttäuschung wurden nur Fastenspeisen gewünscht. Sie überwachte trotzdem deren Zubereitung selbst und ließ sie bald auftragen. Die Pilger hatten mit gutem Appetit etwa die Hälfte der Gerichte verzehrt, als sich großer Lärm vor dem Hause erhob. Ssing-tschö rief nach der Wirtin, um die Ursache zu erfragen. „Es 471
ist nichts Besonderes“, erklärte die Gefragte, „die Sänftenträger machen sich auf, um einige junge Mädchen abzuholen, die abends den Gästen Wein einschenken und sie unterhalten.“ Ssing-tschö winkte ab: einen Fastentag dürfe man nicht in Gesellschaft schöner Frauen verbringen. Nach der Mahlzeit wies die Wirtin den Gästen die Schlafkammern im oberen Stock an. Dabei gab es wieder eine Schwierigkeit: der eine scheute die Kühle, der andere die Zugluft, der dritte und vierte konnten nur im Stockfinstern Ruhe finden. Laut jammernd lief die Frau zu ihrer Tochter: mit der Aussicht auf Verdienst sei es vorbei. Aber die junge Frau wußte Rat. Der Vater hatte eine drei Dji hohe, sieben Dji lange und vier Dji breite Kiste zimmern lassen; darin würden die Reisenden gegen Zugluft und Kühle geschützt und in völliger Dunkelheit ungestört schlafen können. Ssing-tschö fand das Angebot ausgezeichnet. Er ließ die Kiste vor das Haus schaffen und das Pferd daran anbinden. Darauf richteten sie sich zu viert mit ihrem Gepäck darin ein, und Ssing-tschö befahl, den Deckel zuzuklappen. Der Schweiß rann den vieren herunter wie der Regen durch die Dachtraufe, die stickige Luft erschwerte ihnen das Atmen. Trotzdem lagen sie um die zweite Nachtwache herum in tiefem Schlaf mit Ausnahme Ssing-tschös, den das Grübeln wachhielt. Schließlich verfiel er darauf, sich eine Geschichte auszudenken, und brabbelte vor sich hin: „Wir haben für fünftausend Tael Pferde erworben, davon selbst für dreitausend Tael und unsere Zwischenhändler für viertausend Tael Pferde verkauft, und der Restbestand bringt uns noch dreitausend Tael ein. Das ergibt insgesamt zehntausend Tael; unser Kapital hat sich also verdoppelt. Gou la! Gou la! – das reicht fürs erste!“ Das Unglück fügte es, daß just in diesem Augenblick Wasserträger auf dem Weg in die Küche an der Kiste vorbeikamen und Ssing-tschös Gemurmel mitanhörten. In aller Eile verständigten sie eine Diebesbande, der sie schon des öfteren profitbringende Winke gegeben hatten, und 472
es dauerte gar nicht lange, so zogen zwanzig Räuber vor der Herberge auf. Der Lärm riß die Wirtin jäh aus dem Schlaf; so schnell sie nur konnte, verrammelte sie Türen und Fenster. Aber ihr Mühen war ganz umsonst. Die Räuber hatten es nur auf die Kiste abgesehen. „Das müssen vermögende Kaufleute sein, die solche Kiste brauchen, um ihre Reichtümer unterzubringen!“ tuschelten sie. Geschwind bemächtigten sich ein paar Mann des Pferdes und gingen damit los; die anderen luden sich die Kiste auf und folgten ihren Kumpanen. In einer tüchtigen Prügelei überwältigten sie die Torwache und entkamen aus der Stadt. Ba Djä wurde als erster von den Schläfern wach. „Wer trägt uns wohl fort?“ flüsterte er Ssing-tschö zu. „Ruhe!“ wisperte der zurück. „Die Träger märschieren in westlicher Richtung, das erspart uns ein gutes Stück Weg.“ Ssan Tsang wurde ebenfalls munter und begann sofort, Ssing-tschö zu schmähen. „Närrischer Affe! Uns aus einer Gefahr in die andere zu stürzen. Durch Eure Schuld werden wir als die vier letzten Bonzen unser Leben hingeben müssen.“ Ssing-tschö entgegnete leise: „Meister, wollet uns mit Eurem Jammern nicht verraten. Schlaft ruhig weiter. Ich werde uns schon aus der Not heraushelfen.“ Inzwischen war dem Befehlshaber der Stadtwache und dem Stadtkommandanten der Räuberstreich gemeldet worden. Beide nahmen an der Spitze ihrer Truppen die Verfolgung der Diebesbande auf. Beim Herannahen der Soldaten ließen die Kerle das Pferd stehen, setzten die Kiste ab und brachten sich in Sicherheit. Der Stadtkommandant ritt auf dem weißen Drachenpferd zurück, Soldaten schafften die Kiste in die Stadt. Dort wurde sie mit Siegeln verschlossen und einer Wache übergeben. Um die Mitte der dritten Nachtwache verwandelte Ssing-tschö seine Eisenstange in einen Bohrer, durchstach damit den Kistenboden und flog als geflügelte Ameise auf eine Wolke. Dort zauberte er aus einer Handvoll ausgerissener Haare eine Menge Schlaffliegen und beauftragte den schnell herbeigerufenen Tou Di, dem König 473
und der Königin, den hundert Zivil- und Militärmandarinen und sämtlichen übrigen Bewohnern des Palastes Fliegen in die Nasenlöcher zu setzen. Aus einer zweiten Handvoll ausgerissener Haare zauberte Ssing-tschö eine große Zahl kleiner Ssing-tschös, versah sie alle mit Rasiermessern, die er aus seiner Eisenstange zauberte, und befahl ihnen, sämtlichen Bewohnern des Palastes eine Tonsur zu scheren. Er selbst nahm sich den König vor. Die Arbeit war schnell vollbracht. Ssing-tschö verwandelte seine Doppelgänger und die Rasiermesser zurück, schlüpfte in die Kiste und streckte sich zum Schlafen aus. Am frühen Morgen entdeckten der König und die Königin, die Mandarine, Ehrendamen und Diener, daß sie einen Kahlkopf hatten. In peinlicher Verwirrung versammelten sich alle zum Morgenempfang. Der Stadtkommandant berichtete von der Räuberverfolgung und ließ die Kiste in die Thronhalle schaffen und öffnen. Als erster sprang Ba Djä heraus. Die hundert Mandarine wurden bei seinem Anblick aschfahl vor Entsetzen. Ssingtschö folgte mit dem Meister, den er sorglich stützte. Den Schluß bildete Scha Ssöng mit den Reisesäcken. Der König stieg vom Thron herab, hieß die Fremdlinge willkommen und ließ sich von Ssan Tsang über den Zweck ihrer Reise berichten. Darauf wollte er wissen, warum sie in der Kiste genächtigt hatten. Wiederum nahm Ssan Tsang das Wort. Sie hätten von dem Vorhaben des Königs, zehntausend Bonzen zu töten, gehört und die Kiste als sicheres Versteck gewählt. „Eure Majestät möge Gnade walten und uns unsere Pilgerfahrt ungehindert fortsetzen lassen!’’ schloß er seine Erklärung. Darauf entgegnete der König: „Viele Bonzen lehnten sich in den letzten Jahren voller Vermessenheit gegen Unseren Thron auf, und Wir wollten Unseren Groll darüber in ihrem Blut ertränken. Aber der Himmel hat uns Einhalt geboten, und Wir sind gewillt, fortan seinen Gesetzen zu gehorchen.“ Er siegelte die Geleitbriefe und bat den Meister, seinem Staat einen neuen Namen zu verleihen. Ssan Tsang ersetzte das 474
Schriftzeichen Mjä durch das Schriftzeichen Djin, und das Königreich hieß fortan Djin Fa Guo, das Königreich der Ehrfurcht vor dem Gesetz. Nach einem reichlichen Fastenessen geleitete der König in Person seine Gäste aus der Stadt. Als die Pilger allein waren, lobte Ssan Tsang seinen Ersten Schüler für sein kluges Vorgehen. Scha Ssöng aber wollte wissen, wie die Palastbewohner zu ihrer Tonsur gekommen seien, und unter aller Gelächter berichtete Ssing-tschö sein listiges Vorgehen.
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IN DER HÖHLE DER VERSCHLUNGENEN WEGE
85. Ssing-tschö spielt Ba Djä einen Streich. Der König der Ungeheuer entführt den Meister in seine Höhle
Schon nach kurzer Zeit wurden die Pilger durch ein hohes Gebirge auf ihrem Wege gehemmt. Ein heftiger Wind wehte ihnen entgegen, und dichte Rauchschwaden stiegen zum Himmel auf. Ssing-tschö führte den erschrockenen Meister zu einem geschützten Platz, half ihm, abzusteigen und sich zu setzen, und befahl seinen beiden Gefährten, aufmerksam Wache zu halten. Er selbst schaute sich von der Höhe einer Wolke um und entdeckte dreißig bis vierzig junge Ungeheuer, die sich damit vergnügten, aus Mund und Nase Wind und Rauch auszustoßen. Mit dem Vorsatz, Ba Djä einmal gehörig hineinzulegen, flog er zurück und erzählte, die Rauchwolken stiegen aus einem vom Wohlstand der Besitzer zeugenden Haus auf, dessen Bewohner haufenweise Dampfküchlein aus Weizenmehl backten und damit vorbeiwandernde Bonzen erquickten. Sofort flüsterte Ba Djä: „Älterer Bruder, habt Ihr das Gebäck probiert?“ Ssing-tschö antwortete, ebenfalls im Flüsterton: „Ja, aber nur ein bißchen, es war mir zu scharf gewürzt.“ – „Mir würde das gar nichts ausmachen, ich komme reinweg um vor Hunger“, sagte Ba Djä aufgeregt. „Aber der Meister ist bei uns! Wie könntet Ihr wagen, vor ihm etwas zu Euch zu nehmen?“ gab Ssing-tschö zu bedenken. Doch wenn es ums Essen ging, war Ba Djä findig. „Meister!“ hub er an, „unser Pferd ist ausgehungert. Ich will ihm schnell etwas Gras schneiden, damit es in dem almosenspendenden Haus nicht alle 477
Vorräte verschlingt.“ Ssan Tsang lobte ihn für diesen guten Vorschlag, und Ssing-tschö wisperte ihm noch schnell ins Ohr: „Nehmt die Gestalt eines ehrfurchtgebietenden Bonzen an, Ihr bekommt sonst nichts!“ Dem Rat des älteren Bruders folgend, verwandelte sich Ba Djä in einen behäbigen Bonzen und machte sich auf den Weg, unverständliche Worte vor sich hinmurmelnd, denn Gebetstexte waren seine schwache Seite. Der König der Ungeheuer sah ihn kommen, und das Wasser lief ihm bei diesem Anblick im Munde zusammen. Die Wachen umringten Ba Djä, packten ihn an Oberrock und Hosen, an Nase und Ohren und wollten ihn vor den König schleppen. „Ihr braucht mich nicht so dringlich zum Essen einzuladen; ich bin ja auf dem Wege zu Euch“, widersetzte sich Ba Djä. „Zum Essen einladen?“ versetzten die Ungeheuer höhnisch, „es ist uns ein Vergnügen, Bonzen zu essen, aber nicht, sie zum Essen einzuladen.“ Ba Djä merkte, daß Ssing-tschö ihm einen bösen Streich gespielt hatte, nahm seine eigene Gestalt an und begann, auf die Feinde einzuschlagen. Der König der Ungeheuer schrie mit Donnerstimme: „Sagt, wer Ihr seid, woher Ihr kommt!“ Ba Djä lachte laut und erwiderte: „Solltet Ihr mich wirklich nicht kennen? So vernehmt, daß ich Tschou Ba Djä und der Schüler des Bonzen Ssan Tsang bin.“ Die Aussicht, den berühmten Bonzen in seine Gewalt zu bekommen und dessen Fleisch zu verspeisen, veranlaßte den König zu äußerster Kraftanstrengung. Er rief seine Truppen zusammen, und Ba Djä geriet bald in eine äußerst bedrohliche Lage. Ssing-tschö saß wachehaltend hinter dem Meister. ,Der kleinen Ungeheuer wird Ba Djä Herr werden’, ging es ihm durch den Sinn, ,aber im Zusammenstoß mit deren König wird er den Kopf verlieren. Ich werde nach ihm sehen.’ Schon verwandelte er ein ausgerissenes Haar in seinen Doppelgänger und ließ ihn seinen Platz einnehmen. Er selbst flog über den Kampfplatz und rief dem hart bedrängten Ba Djä zu: „Jüngerer Bruder, Mut! Ich, 478
der alte Ssun Wu-kung, komme dir zu Hilfe!“ Diese wenigen Worte verliehen Ba Djä neue Kräfte, er ging zum Angriff über und schlug die Angreifer in die Flucht. Beruhigt kehrte Ssingtschö zum Rastplatz zurück und nahm seinen alten Platz ein. Der Meister und Scha Ssöng hatten sein Verschwinden nicht bemerkt. Gleich danach fand sich auch Ba Djä ein. Er keuchte noch von der Anstrengung des Kampfes, seine Kleider saßen unordentlich und waren zerrissen. Ssan Tsang wunderte sich darüber, und der in die Enge getriebene Ba Djä gestand seine Lügerei und berichtete unter heftigen Beschuldigungen gegen Ssing-tschö, was ihm widerfahren war. Aber er schloß mit den Worten: „Der ältere Bruder kam mir jedoch zu Hilfe, und so war es mir beschieden, Euer Antlitz, mein Meister, wiederzusehen.“ Ssing-tschö fiel ihm empört ins Wort. „Hört mit Eurem verleumderischen Geschwätz auf! Nicht einen Augenblick bin ich von diesem Platz gewichen, nicht einmal um ein dringendes kleines Geschäft zu verrichten.“ Ssan Tsang bestätigte die Wahrheit dieser Worte. Ba Djä widersprach aufgebracht: „Meister, glaubt dem älteren Bruder nicht. Er hat die Gabe, unbemerkt zu verschwinden, und läßt seine alte Affenhaut als Ersatz zurück.“ Ssan Tsang wiegte nachdenklich den Kopf. „Ssun Wu-kung, gibt es in dieser Gegend Ungeheuer oder nicht?“ fragte er. Ssing-tschö sah sich gefangen und antwortete: „Es gibt Ungeheuer, aber sie sind klein und haben sich nicht getraut, mich anzugreifen.“ Zu Ba Djä gewandt, fuhr er fort: „Jüngerer Bruder, ich will Euch ein Amt übertragen, weil Ihr unseren Meister in vielen Gefahren beschützt und gleich denen, die Waffen tragen, Ungeheuer auf unserem Wege vernichtet habt!“ Ba Djä unterbrach ihn: „Waffen tragen, ist das gleichbedeutend mit Krieg führen?“ – „Das ist es“, bestätigte Ssing-tschö, „und weil Ihr an kriegerischer Gewandtheit Scha Ssöng überlegen seid, übertrage ich Euch die Aufgabe, fortan unsere Vorhut zu bilden. Ihr werdet also an der Spitze unseres Zuges marschieren 479
und alle Ungeheuer, die sich uns entgegenstellen, zurückschlagen.“ Ba Djä nahm die Aufgabe an, und die vier Pilger setzten sich in Bewegung. Mittlerweile wählte der König der Ungeheuer unter seinen Generälen die drei tapfersten aus, die zugleich die Gabe der Verwandlung besaßen, und befahl ihnen, seine Gestalt anzunehmen und mit ihm zusammen dem Pilgerzug aufzulauern. Sie sollten jeder einen Schüler angreifen, damit er selbst sich des Meisters bemächtigen könne. Beim Näherkommen der vier Reisenden stürzten sich die drei Ungeheuer unter wüstem Geschrei auf Ba Djä, Ssing-tschö und Scha Ssöng, und es entspannen sich drei gewaltige Zweikämpfe. Der König hatte nichts weiter zu tun, als den schutzlosen Ssan Tsang am Halse zu packen. In einem heftigen Wirbelsturm schaffte er ihn in seine Höhle und ließ ihn im Hintergarten an einen Baum fesseln. Ssing-tschö überwältigte seinen Gegner ziemlich bald und kehrte an die Stelle des Überfalls zurück. Er fand nur das Pferd und die Reisesäcke vor, der Meister war verschwunden. Auch von Ba Djä und Scha Ssöng war nichts zu sehen. Mit dem Gepäck auf dem Rücken und dem Schimmel am Zügel machte er sich auf die Suche nach Ssan Tsang.
86. Die drei Schüler auf der Suche nach ihrem Meister. Ssing-tschö bedient sich einer List, um die Ungeheuer zu vernichten
Ssing-tschö rief ohne Aufhören den Namen seines Meisters und zog kreuz und quer durch das Gebirge, aber nur ein vielfaches Echo antwortete ihm. Nacheinander fanden sich Ba Djä und Scha Ssöng ein. Die drei setzten ihren Weg gemeinsam fort und entdeckten nach etwa zwanzig Li den Eingang zu einer Höhle, über 480
dem acht Schriftzeichen verkündeten: Nebelkappenberg und Höhle der verschlungenen Wege. Ba Djä schlug mit seiner Forke wuchtig an das Tor, und Ssing-tschö rief mit Donnerstimme: „Gebt sofort unseren Meister heraus oder wir erschlagen Euch allesamt!“ Die Generäle rieten dem König dringend ab, sich auf einen Kampf mit Ssing-tschö einzulassen, diesem Affen sei nur mit List beizukommen. „Sagen wir ihm, der Bonze sei irrtümlich schon verzehrt worden, und wir ließen ihm sein übergebliebenes Haupt überreichen“, schlug ein General vor, formte in aller Eile aus einem Weidenstumpf ein Gebilde, ähnlich dem Kopf Ssan Tsangs, und beschmierte es mit Blut. Ein Teufel trat mit dem falschen Kopf auf einer Holzplatte in den Toreingang und rief: „Großer Heiliger, einige Diener haben Euren verehrungswürdigen Meister, den sie nicht kannten, verzehrt. Es ist nur sein Haupt übergeblieben.“ Ssing-tschö verlangte, den Schädel auf seine Echtheit zu prüfen; der entsetzte Teufel warf ihm den falschen Kopf vor die Füße und verschwand eiligst in der Höhle. „Das ist nicht des Meisters Haupt“, schrie Ssing-tschö aufgebracht. „Beim Aufschlagen gab es einen Widerhall, wie wenn eine Holztrommel zu Boden fällt.“ Er schlug mit seiner Eisenstange auf den Schädel ein: vor ihm lag unverkennbar der gespaltene Weidenstumpf. Im Tor erschien wiederum ein Teufel mit einer Holzplatte. Darauf lag diesmal ein frisch abgeschlagener, blutiger Menschenkopf, dessen Gesicht so mit Blut beschmiert war, daß man es nicht erkennen konnte. „Großer Heiliger“, rief der Teufel, „unser König wollte das Haupt des verehrungswürdigen Bonzen zur Erinnerung aufbewahren und schickte Euch darum einen Ersatz. Er bittet Euch um Verzeihung. Ihr erhaltet jetzt das wahre Haupt Eures Meisters.“ Dabei warf der Teufel Ssing-tschö wiederum den blutigen Kopf vor die Füße. Diesmal war Ssing-tschö sicher, Ssan Tsangs Haupt vor sich zu sehen, und brach in lautes Schluchzen aus. Auch Scha Ssöng begann jämmerlich zu weinen. Ba Djä aber nahm den Kopf be481
hutsam auf, drückte ihn an die Brust und ging ohne Säumen daran, ihn auf dem Ostabhang des Berges beizusetzen. Er umsteckte den kleinen Grabhügel mit Weidenzweigen und ordnete am Fußende Kieselsteine an, die er aus einem Bach herausgeholt hatte. Die Weidenzweige sollten die Fichten und Zypressen, die Kieselsteine die Opfergaben ersetzen, erklärte er seinen Gefährten. Scha Ssöng übernahm die Bewachung von Grabhügel, Pferd und Reisegepäck. Ssing-tschö und Ba Djä gingen zur Höhle zurück; sie wollten ihren Meister rächen und alle Ungeheuer erschlagen. Der König trat ihnen an der Spitze zahlreicher Truppen entgegen. Angesichts der Übermacht griff Ssing-tschö zu seinem bewährten Hilfsmittel: er verwandelte ein Büschel ausgerissener Haare in kleine Ssing-tschös. Die Ungeheuer fielen scharenweise. Der König flüchtete in einem Wirbelwind in die Höhle und ließ alle Tore von außen und innen mit Felsblöcken verrammeln. Ssing-tschö ging um die Höhle herum und spähte nach einem geheimen Zugang. Auf der Rückseite der Höhle fiel ihm ein rotes Wässerlein auf, das unter der Felswand hervor bergab rieselte. Er verwandelte sich in eine Wasserratte und gelangte, in dem Rinnsal aufwärts schwimmend, auf das Grundstück. Als geflügelte Ameise flog er in die Höhle hinein und hörte, wie ein hoher Teufel gerade den König beglückwünschte: die drei Schüler hätten den angeblichen Schädel ihres Meisters unter Tränen und Wehklagen beigesetzt. Sie würden sicher bald weiterziehen, und der König könne dann ungefährdet den Bonzen verzehren. „Mein Herr ist also noch am Leben, ich muß ihn suchen“, summte Ssing-tschö vor sich hin, entschlüpfte durch eine Türritze und befand sich in einem großen Garten. Schluchzen und Jammern drang an sein Ohr. Er flog in die Richtung, aus der es kam, und sah seinen Meister, an einen Baum gefesselt. Frohlokkend begrüßte er ihn und sprach ihm Mut zu. Darauf flog er eilends in die Höhle zurück. Der König beriet eben mit seinen Ge482
nerälen, ob man das Fleisch des Bonzen roh verzehren solle, Kochen könne dessen Wirksamkeit mindern. Wieder einmal zauberte Ssing-tschö aus einem Büschel ausgerissener Haare Schlaffliegen und setzte sie den Anwesenden in die Nasenlöcher. Es gab ein unbezwingbares Gähnen, eine unbezwingbare Müdigkeit, und bald lagen alle irgendwie hingerekelt auf ihren Plätzen oder auf dem Boden und schnarchten. Ssing-tschö nahm seine wahre Gestalt an, befreite Ssan Tsang und führte ihn zu der Grabstätte. Mit Freudentränen begrüßten ihn Ba Djä und Scha Ssöng und berichteten ihm die letzten Geschehnisse, während Ssing-tschö in die Höhle zurückkehrte, den König an Armen und Beinen fesselte, den schweren Körper hinausschleppte und ihn Ssan Tsang vor die Füße legte. Dann ging er mit Ba Djä daran, die Ungeheuer zu vernichten. Sie häuften trockenes Holz um die Höhle und zündeten es an. Die aus tiefem Schlaf aufgeschreckten Ungeheuer konnten nicht mehr ins Freie gelangen, sie erstickten und verbrannten. Während die Flammen loderten, kehrten die beiden Gefährten zu ihrem Meister zurück. Sie kamen gerade zum Erwachen des Königs zurecht, und Ba Djä schlug sofort mit seiner neunzinkigen Forke zu, die Leiche verwandelte sich in einen Leoparden. Ssan Tsang lobte seine Schüler und dankte ihnen. Darauf stieg er zu Pferde, und die vier Pilger setzten sich in westlicher Richtung in Bewegung.
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EINE PROVINZ MUSS FÜR DEN FREVEL IHRES GOUVERNEURS BÜSSEN
87. Die Provinz des Unsterblichen Phönix leidet seit drei Jahren unter anhaltender Dürre. Ssing-tschö führt den Gouverneur auf den Weg des Guten zurück und erwirkt fruchtbringenden Regen
Nach einigen Tagen gelangten die Reisenden in eine befestigte und von Wassergräben umschlossene Stadt. Die Gassen waren menschenleer, nur auf dem Marktplatz herrschte einiges Leben. Aus einem Toreingang traten mehrere Mandarine auf die Pilger zu und erkundigten sich nach dem Woher und dem Ziel ihrer Reise. Ssan Tsang gab die gewohnte Erklärung ab und erfuhr auf seine Frage, in welcher Stadt und in welchem Lande sie sich befänden, daß sie in der Hauptstadt der Provinz des Unsterblichen Phönix, einer Grenzmark des Staates der Himmlischen Bambushaine, angelangt waren. Die Mandarine schlugen gerade eine Proklamation des Gouverneurs Schang Guan an. Darin wurde demjenigen, der durch seine Gebete bewirken könne, daß zehntausend Mou Ackerland vom fruchtbringenden Regen durchtränkt würden, eine Belohnung von tausend Silberbarren versprochen. Zur Erklärung berichteten die Mandarine, daß in der Provinz seit drei Jahren anhaltende Dürre herrschte und die Bevölkerung schwer unter Teuerung und Hungersnöten zu leiden hatte. Ssan Tsang wandte sich an Ssing-tschö: „Mein Schüler, wenn es in Eurer Macht liegt, Regen zu erwirken, so säumet nicht, die Bevölkerung dieser Provinz zu retten.“ Ssing-tschö entgegnete: „Regen zu erzeugen, bedeutet mir seit 485
Kindesbeinen keine Schwierigkeit.“ Die Mandarine hatten das kurze Gespräch gehört und eilten zum Gouverneur, ihm die hoffnungsvolle Botschaft zu überbringen. Er ließ die Pilger sofort in den Jamen führen, begrüßte sie nach den Riten und klagte ihnen selbst noch einmal die Not der Provinz. Ssing-tschö ging ohne Säumen ans Werk. Er befahl seinen Gefährten, über den Meister zu wachen, und stieg zum Palast des Obersten Himmelsherrn auf, um von ihm Regen für die Provinz des Unsterblichen Phönix zu erbitten. Dem Gouverneur fiel Ssun Wu-kungs Verschwinden auf; Ba Djäs Erklärung brachte ihn völlig außer Fassung, und er ließ überall in der Provinz anordnen, daß jede Familie vor ihrem Hause einen Weidenzweig in einem mit Wasser gefüllten Krug aufstellte zum Ausdruck ihrer Hoffnung auf Regen. Ssing-tschö langte inzwischen vor dem westlichen Himmelstor an und wurde von den vier Wächtern vor den Obersten Himmelsherrn geführt. Er kniete nieder und trug sein Anliegen vor. Aber Dshang Di lehnte die Bitte ab. „Der Gouverneur Schang Guan hat vor drei Jahren am fünfundzwanzigsten Tage des letzten Monats im Jahr einen der schwersten Frevel begangen: er hat für den Himmel bestimmte Opfergaben den Hunden zum Fraß vorgeworfen. Zur Strafe herrscht seitdem in der von ihm verwalteten Provinz anhaltende Dürre. Die Himmelswächter sollen Euch die Maße zeigen, an denen wir den Ablauf der Strafdauer verfolgen. Danach setzt den Weg zur Auffindung der Heiligen Schriften fort und belastet Euch fürder nicht mit den Angelegenheiten der Menschen.“ Die Torwächter führten Ssing-tschö in die Halle der Weihrauchschalen. Sein Blick fiel auf einen zehn Dshang hohen Reishügel, aus dem ein faustgroßes Hühnchen Korn um Korn herauspickte. Dicht dabei leckte ein gelbes Hündchen ohne Aufhören an einem zwanzig Dshang hohen Mehlhügel. Links davon hing über einem Öllämpchen eine goldene Kette, die ein Djin 486
und drei oder vier Tsun lang war. Die Wächter erklärten Ssingtschö: „Wenn das Hühnchen all den Reis aufgepickt, das Hündchen all das Mehl aufgeleckt und die Flamme des Öllämpchens die Kette durchgeschmolzen haben wird, endet die Dürre.“ Ssing-tschö dankte und verabschiedete sich, den Regeln entsprechend. In den Jamen zurückgekehrt, fuhr er den Gouverneur mit Donnerstimme an: „Vor drei Jahren habt Ihr am fünfundzwanzigsten Tage des letzten Monats im Jahr Euch schwer gegen die Himmlischen versündigt, und deswegen bestraft der Oberste Himmelsherr die Bevölkerung der von Euch verwalteten Provinz mit anhaltender Dürre.“ Entsetzt fragte der Gouverneur: „Würdiger Bonze, wie habt Ihr das nur in Erfahrung gebracht?“ und legte ein Schuldbekenntnis ab. „Lehrt mich den Weg, auf dem ich das Unheil vom Volk abwenden kann!“ schloß er. Ssing-tschö gab ihm den Rat, das Böse zu meiden, Buddha anzurufen und gute Werke zu vollbringen. Der Gouverneur gelobte, fortan Buddhas Gesetze zu achten, und ordnete für den gesamten Hofstaat, seine Person einbezogen, und die Bevölkerung eine Fastenzeit an. In einer Versammlung aller Bonzen der Provinz befahl er die Errichtung von Altären zu Ehren des Erhabenen Buddha, und schließlich verfaßte er noch eine Bittschrift, in der er sich schuldig bekannte und den Obersten Himmelsherrn um Befreiung seiner Untertanen von der ihnen auferlegten Strafe anflehte. Ssan Tsang sagte die vorgeschriebenen Gebete auf und verbrannte die Bittschrift nach den Riten. Ssing-tschö begab sich zum zweiten Mal in den Palast des Obersten Himmelsherrn. Während Dshang Di die Bittschrift mit dem Schuldbekenntnis des Gouverneurs las, meldete ein himmlischer Bote, der Reis und der Mehlhügel seien vertilgt und die Goldkette durchgeschmolzen. Im selben Augenblick trat der Tou Di der Provinz des Unsterblichen Phönix ein, warf sich vor dem Thron nieder und sagte: „Alle Bewohner der Provinz geloben, 487
sich an die Gesetze des Erhabenen Buddha zu halten. Eure Himmlische Majestät möge Gnade walten lassen und ihnen einen fruchtbringenden Regen schicken.“ Unverzüglich gebot Dshang Di den Gottheiten des Donners und der Blitze, des Windes und der Wolken, über die Provinz des Unsterblichen Phönix Regen niedergehen zu lassen, bis der Boden dreiDji hoch mit Wasser bedeckt wäre. Alsbald heulte der Wind los und trieb am Himmel dunkle Wolken zusammen; unaufhörlich krachten Donnerschläge und zuckten Blitze. Es regnete einen halben Tag lang, das Wasser stand drei Dji hoch auf der Erde Pflanzen und Tiere erwachten zu neuem Leben, und die Menschen freuten sich. Der Gouverneur legte noch am gleichen Tage den Grundstein zu einem Tempel zu Ehren der Pilger, und Ssan Tsang verlieh ihm den Namen: „Geweiht den überallhin sich verbreitenden fruchtbringenden Wassermassen.“ Der Gouverneur bat Ssan Tsang flehentlich, mit seinen Schülern einige Zeit bei ihm zu verbringen. Aber der Meister bestand auf baldigem Aufbruch; er lehnte auch alle Geschenke ab und nahm nur Lebensmittel als Reiseproviant an. Mit Trommelschlag und wehenden Fahnen geleitete der Gouverneur mit dem gesamten Hofstaat und einer Menge Volks die Pilger dreißig Li weit aus der Hauptstadt hinaus.
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DER WAFFENDIEBSTAHL UND SEINE AUFDECKUNG
88. In der Jadeblumenprovinz zeigen die drei Schüler ihre Waffenkünste. Drei Königssöhne lernen das Waffenhandwerk
Die Zeit schoß so geschwind dahin wie die Webschiffchen. Wieder einmal ging ein Herbst zu Ende. Die Pilger näherten sich einer großen befestigten Stadt und erfuhren von einem alten Mann, daß sie die Hauptstadt der Jadeblumen-Provinz erreicht hatten. „Der regierende Fürst ist mit dem Herrscher des Königreichs der Himmlischen Bambushaine verwandt“, fügte der Greis hinzu. „Er ist immer auf das Wohl seines Volkes bedacht und den Bonzen ehrfurchtsvoll ergeben.“ Voller Freude über so günstige Nachrichten quartierten sich die Reisenden in einem Gasthof nahe dem königlichen Palast ein, und Ssan Tsang suchte sofort eine Audienz bei dem Herrscher nach, um seine Geleitbriefe siegeln zu lassen. Der König gewährte dem Bonzen aus dem Lande der Tangherrscher sofort Zutritt. Er begrüßte ihn feierlich und ließ sich von den Erlebnissen auf der Pilgerfahrt berichten. Danach befahl er, Speisen der Enthaltsamkeit herzurichten und die Schüler des Bonzen zum Essen in den Palast zu bitten. Aber deren Aussehen und ungebärdiges Benehmen erschreckten ihn so, daß er die Gäste im Gartenpavillon bewirten ließ und sich in seine Gemächer zurückzog. Die drei Söhne des Königs, hochfahrende und in den Waffenkünsten wohlbewanderte junge Herren, wunderten sich über 489
das schlechte Aussehen ihres Vaters, und als sie den Grund erfuhren, bewaffneten sie sich in aller Eile und stürmten in den Gartenpavillon. „Seid Ihr Menschen oder Ungeheuer? Antwortet, wenn Euch Euer Leben lieb ist!“ schrien sie. Ssan Tsang ließ entsetzt seine gefüllte Reisschale fallen und sagte seinen Spruch von der Pilgerfahrt her. „Ihr habt ein menschliches Aussehen“, entgegneten die drei, „aber die anderen sind böse Ungeheuer“, und schon machten sie sich kampfbereit. Lachend schlug Ba Djä seinen langen Oberrock zurück und wies auf seine neunzinkige Forke, die blendende Blitze aussandte. Scha Ssöng stemmte seinen Stock auf den Boden, ein funkelnder Lichtstrahl sprang auf. Schließlich holte Ssing-tschö die winzige Nadel aus seinem Ohr hervor und warf sie hoch in die Luft; als mächtige Eisenstange fiel sie auf die Erde herunter und grub beim Aufschlagen ein tiefes Loch in den Boden. Die drei Königssöhne zitterten an Händen und Füßen und ließen ihre Waffen sinken. „Wir werden Euch zeigen, was wir vermögen“, rief Ssing-tschö. Die drei Gefährten schwangen sich auf Wolken und bewegten ihre Waffen mit solcher Geschwindigkeit, daß ein wahrer Orkan entstand. Nach einem Weilchen sprangen sie herunter, verneigten sich vor ihrem Meister und nahmen ihre alten Plätze ein. Die Königssöhne eilten zu ihrem Vater. Sie schilderten ihm das Waffenspiel in den Lüften, das sie soeben erlebt hatten, und baten ihn um die Erlaubnis, diese Kunst von den Fremden zu lernen; sie würde sie in den Stand setzen, das Land gegen jeden Feind erfolgreich zu verteidigen. Der König stimmte bereitwillig zu, begab sich mit den Söhnen in den Pavillon und trug den Fremden das Anliegen vor. Ssing-tschö erwiderte: „Wenn Eure geehrten Söhne den Wunsch haben, unsere Waffenkünste zu lernen, so sind wir bereit, sie darin zu unterweisen. Aber nur aus Rücksicht auf Euch und nicht etwa des Gelderwerbs wegen. Als Gegenleistung erbitten wir nur Eure Bereitschaft, Gutes zu tun.“ 490
Der König war über diese Antwort sehr beglückt. Die Diener trugen reichlich Speisen und Getränke auf, die Musik spielte, und zur Schlafenszeit wurden für die Gäste vier Schlafkammern hergerichtet, in denen nicht einmal die Moskitonetze fehlten. In der Frühe des nächsten Morgens begrüßten die Prinzen ihre Lehrer in der für Schüler vorgeschriebenen zeremoniellen Art, und der Unterricht begann. „Welche Waffe wünscht Ihr handhaben zu lernen?“ fragte Ssing-tschö. „Eure drei Waffen, eine nach der anderen“, war die Antwort. „Es wäre ein leichtes, Euch darin zu unterrichten“, entgegnete Ssing-tschö, „wenn Ihr über die dazu nötigen Kräfte verfügtet. Aber wie ein gemalter Tiger kein wirklicher Tiger werden kann, so wenig kann jemand durch Beherrschung der Theorie ein wirklicher Künstler werden. Da Ihr jedoch ein lauteres Herz habt, kann Euch geholfen werden. Zündet Weihrauch an und verneigt Euch vor Himmel und Erde. Ich werde Euch die erforderlichen Kräfte übermitteln.“ In einer feierlichen Zeremonie ließ Ssing-tschö die Prinzen mit geschlossenen Augen niederknien, sagte eine Zauberformel her und blies ihnen einen starken Odem ein, der ihnen tief bis in die Eingeweide drang und ihnen Stärke verlieh, daß sie zehntausend Djin heben konnten. Danach begann jeder der drei Gefährten einen Prinzen im Gebrauch seiner Waffe zu unterweisen. Aber bereits am dritten Tag erkannten die Prinzen, daß sie wohl die Handhabung der Waffen erlernen würden, sich aber nie ihrer bedienen könnten, weil der Umgang mit diesen übernatürlichen Waffen irdische Kreaturen schnell ermüdete und kampfunfähig machte. Sie beschlossen daher, sich Waffen von derselben Art in einem für sie geeigneten Gewicht anfertigen zu lassen. Ba Djä hieß dieses Vorhaben gut und nannte zwei Gründe dafür: „Unsere Waffen sind in Wahrheit zu schwer für Euch; zum anderen können wir sie Euch nicht überlassen, denn wir brauchen sie zur Verteidigung unseres Meisters gegen Ungeheuer.“ Die Prinzen ließen Material und Arbeitsgeräte heranschaffen, 491
und viele Schmiede werkten ohne Pause. Als Vorlage benutzten sie die Waffen der Pilger. Der blendende Glanz dieser Waffen drang aus der Werkstatt heraus und erleuchtete Tag und Nacht Himmel und Erde. Ein Ungeheuer, das siebzig Li von der Hauptstadt entfernt auf dem Pantherkopfberg in der Tigermaulhöhle hauste, wurde eines Abends auf den Glanz aufmerksam und eilte auf einer Wolke in die Hauptstadt. Es entdeckte die Waffen und erkannte sofort deren Wert. In einem Wirbelsturm bemächtigte es sich ihrer und schaffte sie in seine Höhle.
89. Huang Schi, der Gelbe Löwe, lädt zum Forkenfest ein. Ssing-tschö gelangt durch List auf den Pantherkopfberg
Als das Ungeheuer in die Werkstatt eindrang, lagen die Schmiede in tiefem Schlaf. Nach tage- und nächtelanger Arbeit hatte sie die Müdigkeit übermannt. Entsetzt stellten sie beim Erwachen fest, daß die Waffen der Fremden verschwunden waren, und liefen aufgeregt zu den Prinzen. Die wußten auch keine Erklärung und begaben sich ohne Säumen zu den Pilgern. Ba Djä bezichtigte augenblicks die Arbeiter des Diebstahls; Ssing-tschö dagegen machte sich und den Gefährten Vorwürfe, daß sie die Waffen in der Werkstatt gelassen hatten. Ihr Glanz habe sicher Diebe angelockt, und er fragte den König, der sich inzwischen ebenfalls eingefunden hatte, ob in der Umgebung der Hauptstadt Ungeheuer hausten. „Es wird geraunt“, antwortete der König, „daß auf dem Pantherkopfberg, der sich nördlich von Unserer Stadt erhebt, in der Tigermaulhöhle Unsterbliche und übernatürliche Tiger Unterschlupf gefunden haben …“ Ssing-tschö lachte. „Da sind die Diebe zu suchen. Ich werde mich sofort vergewissern!“ rief er und entschwand mit pfei492
fendem Geräusch auf einer Wolke. Im nächsten Augenblick stieg Ssing-tschö bereits über dem Plateau des Pantherkopfberges wieder auf die Erde hinunter. Allerlei Zeichen verrieten ihm die Anwesenheit von Ungeheuern. Er begann Umschau zu halten und gewahrte ihrer zwei mit Löwenköpfen, die in lebhafter Unterhaltung in nordwestlicher Richtung munter fürbaß schritten. Flugs verwandelte er sich in einen Schmetterling und flog mit den beiden mit. „Heute nacht hat unser König drei Wunderwaffen von unschätzbarem Wert heimgebracht. Das will er morgen mit einem Forkenfest feiern“, sagte das eine Ungeheuer. „Wir haben schon Befehl erhalten, in dem Flecken Djänfang Ziegen und Schweine einzukaufen“, fiel das zweite Ungeheuer ein, „und zwanzig Silbertael dafür mitbekommen. Aber wir werden die Preise herunterhandeln, daß wir zwei oder drei Tael für uns überbehalten. Davon kaufen wir uns Kleidung für das Neujahrsfest und die Winterkälte.“ Das erste Ungeheuer fand diesen Plan ausgezeichnet. „Das ist immer so gewesen“, war seine Meinung, „Kälte und Hunger erzeugen Untreue.“ Ssing-tschö hatte genug gehört. Er flog ein Stück voraus, nahm seine eigene Gestalt wieder an, trat den beiden entgegen und lähmte sie mittels einer magischen Formel, daß sie zu Boden stürzten und sich nicht von der Stelle rühren konnten. Darauf nahm er dem einen Ungeheuer das Geld fort und hakte beiden das Zinnplättchen mit dem Namen des Trägers vom Gurt. Ohne sich weiter zu versäumen, flog Ssing-tschö zum königlichen Palast zurück und erstattete Bericht. Dann verteilte er die dem Ungeheuer abgenommenen zwanzig Silbertael unter die Schmiede, um sie für die Verdächtigung, die Ba Djä gegen sie ausgesprochen hatte, zu entschädigen, und bat den König, einige Schweine und Ziegen kaufen zu lassen. Sein Plan war, daß er und Ba Djä sich in der Gestalt der beiden Ungeheuer, die er für die nächste Zeit auf ihren Platz gebannt hatte, zu der Tigermaulhöhle begäben; Scha Ssöng sollte sie, als Hirte verkleidet, mit der 493
Herde Schweine und Ziegen begleiten. Der König ließ unverzüglich die gewünschten Tiere herbeischaffen; die drei Gefährten verabschiedeten sich und verließen die Stadt. Unterwegs nahmen Ssing-tschö und Ba Djä die Gestalten der beiden betäubten Ungeheuer an und befestigten das Namenstäfelchen an ihrem Gurt; Scha Ssöng trieb in der Gewandung eines Hirten die Herde vor sich her. Am Fuße des Pantherkopfberges begegnete ihnen ein Ungeheuer, das die falschen Gefährten freundlich begrüßte und ihnen die Einladung zum Forkenfest zeigte, die es wohlverwahrt in einem Dokumentenkästchen unter dem Arm trug, um sie einem hohen Gast zu überbringen. Sie war an den Neunköpfigen Heiligen gerichtet und unterzeichnet ,Huang Schi’ – der Gelbe Löwe. Sie tauschten noch einige Bemerkungen über das bevorstehende Fest aus und gingen in entgegengesetzten Richtungen auseinander. Die drei Gefährten langten bald vor der Höhle an. Viele große und kleine Ungeheuer tummelten sich vor dem Tor; sie stürzten sich auf die Schweine und Ziegen und banden ihnen die Beine zusammen. Der Lärm lockte den König aus der Höhle heraus. „Wir haben fünfzehn Tiere kaufen können“, berichtete ihm Ssing-tschö. „Sie kosten aber fünfundzwanzig Silbertael, und weil unser Geld nicht reichte, haben wir den Hirten mitgebracht, damit wir ihm den Rest auszahlen können.“ Der König ließ dem Hirten die fehlenden fünf Tael aushändigen und wollte ihn fortschicken. Dem widersetzte sich der getarnte Ssing-tschö: der Hirte sei ausgehungert und müsse erst mit ihnen Reis essen und Schnaps trinken. Von dem Ungeheuer gefolgt, betraten die drei Gefährten die Höhle. Ihr erster Blick fiel auf die Waffen: sie waren mitten in der Höhle in den Boden gerammt. Das Ungeheuer wies darauf und sagte zu dem angeblichen Hirten: „Fremdling, Ihr habt unerwartet die Gelegenheit, diese funkelnden Waffen zu bewundern. Hü494
tet Euch aber, irgend jemandem etwas davon zu erzählen!“ Scha Ssöng nickte zustimmend. Ba Djä dagegen schoß das alte Sprichwort durch den Kopf: ,Wu djän dshu, bi ding djü – Siehst du dein Gut, das dir gestohlen, hast du das Recht, es dir zu holen.’ Schon stand er in seiner eigenen Gestalt da, griff nach seiner Forke und schwang sie drohend über dem Kopf des Ungeheuers. Ssing-tschö und Scha Ssöng folgten seinem Beispiel. „Wer seid Ihr, daß Ihr es wagt, Euch meiner wertvollen Waffen zu bemächtigen?“ brüllte das Ungeheuer und griff nach seinem scharf geschliffenen Schwert. Ssing-tschö antwortete: „Wir sind die Schüler des Bonzen Ssan Tsang, der auf der Pilgerfahrt nach dem Westen begriffen ist, und Ihr seid der Dieb, der unsere Waffen aus der Werkstatt der Palastschmiede gestohlen hat!“ Ein wütender Kampf entbrannte; im Eifer des Gefechts drängten die Gegner bald aus der Höhle hinaus. Nach kurzer Zeit ermüdete das Ungeheuer; in einem Wirbelwind brauste es in südöstlicher Richtung davon. Die drei Gefährten erschlugen alle Ungeheuer, deren sie habhaft wurden, und steckten die Höhle in Brand. Darauf bepackten sie sich mit den Leichen und kehrten in den Königspalast zurück. Der König freute sich über den Erfolg für die Pilger, sorgte sich aber um die Rache, die das geflüchtete Ungeheuer nehmen werde. Ssingtschö beruhigte ihn: sie würden ihre Reise erst fortsetzen, nachdem sie das Ungeheuer unschädlich gemacht hätten. Inzwischen war der Gelbe Löwe zu seinem Ahn, dem Neunköpfigen Heiligen, geflüchtet, der in der Neunfach gewundenen Höhle residierte, und hatte diesem sein Leid geklagt. Der Ahn tadelte ihn wegen der Unklugheit, sich mit dem über gewaltige Kräfte verfügenden Ssing-tschö eingelassen zu haben. „Aber geschehene Dinge sind nicht zu ändern“, schloß er und sagte ihm seine Hilfe zu. Er rief seine sechs Löwenenkel herbei und bewaffnete sie, worauf der Gelbe Löwe Ahn und Enkel in einem 495
Wirbelsturm zu seiner Höhle trug. Beißender Rauch benahm ihnen den Atem, Klagen und Stöhnen drang an ihr Ohr. Der Gelbe Löwe schluchzte bitterlich. „Meine geliebte Königin ist in den Flammen umgekommen! Ich bin fortan ohne Söhne, ohne Lagerstätte!“ Der Neunköpfige Heilige sprach ihm Mut zu. „Ermannt Euch!“ sagte er. „Wir werden gegen die Hauptstadt des Jadeblumenreichs ziehen und uns des Königs und der Bonzen bemächtigen!“ In einem gewaltigen Wirbelsturm, dem dunkle Rauchschwaden vorauszogen, setzten sich die acht Ungeheuer an der Spitze zahlreicher Bewaffneter in Bewegung. Entsetzt ergriffen die Menschen, die den unheilverkündenden Zug in den Lüften gewahrten, die Flucht und suchten Schutz in der Hauptstadt. Die Generäle erstatteten dem König Meldung. „Ein Heer von Ungeheuern nähert sich unserer Stadt! Sie sind in Rauchwolken eingehüllt; Wirbelstürme treiben Sand und Steine vor ihnen her!“ Der König wurde aschfahl vor Schreck. „Was sollen wir tun?“ rief er ratlos. Lächelnd antwortete Ssing-tschö: „Wir werden den Kampf gegen die Ungeheuer aufnehmen. Eure Majestät möge nur befehlen, daß die Stadttore geschlossen und von Truppen bewacht werden.“ Ssing-tschö, Ba Djä und Scha Ssöng griffen zu ihren Waffen und sprangen in die Lüfte, um den Feind zum Kampf zu stellen.
90. Der Neunköpfige Heilige steht dem Gelben Löwen bei. Ssan Tsang wird entführt
Merkwürdige Wesen, menschliche Körper mit verschiedenfarbigen Löwenköpfen, näherten sich. Grüngesichtige Ungeheuer schwenkten Banner aus schwerer Seide. Der Gelbe Löwe hatte die Führung. Mit beiden Händen umspannte er kampf496
bereit sein kupfernes Schwert. Unter gegenseitigen lärmenden Herausforderungen begannen die Gegner aufeinander loszuschlagen. Der Kampf dauerte bis in die sinkende Nacht hinein. Die drei Gefährten konnten der Übermacht auf die Dauer nicht standhalten. Trotz der Dunkelheit gelang es Ssing-tschö noch, zwei Löwenenkel zu packen, ehe er sich mit Scha Ssöng zur Flucht wandte. Ba Djä erhielt einen heftigen Stoß in den Rücken und stürzte; zwei Löwenenkel zerrten ihn mit Siegesrufen vor den Neunköpfigen Heiligen, der ihn als Geisel für die beiden von Ssing-tschö entführten Enkel am Leben ließ. Ebenso sah Ssing-tschö in der Stadt in seinen beiden Gefangenen eine sichere Bürgschaft für Ba Djäs Leben; sie wurden gefesselt und von dreißig Mann bewacht. Während der ganzen Nacht standen die Posten im hellen Fackelschein auf der Stadtmauer, lärmten Trommeln und Zimbeln, stießen die Soldaten in kurzen Zeitabständen wildes Kampfgeschrei aus – alles, um die Ungeheuer in Schrecken zu versetzen. In der Morgendämmerung stellte der Neunköpfige Heilige den Kampfplan auf: der Gelbe Löwe sollte sich Ssing-tschös und Ba Ssöngs bemächtigen; er selbst wollte Ssan Tsang, den König und die drei Prinzen aus der Stadt heraus in seine Höhle schleppen. Der Gelbe Löwe war einverstanden. Von den vier Löwenenkeln begleitet, forderte er Ssing-tschö und Scha Ssöng mit Donnerstimme auf, sich mit ihm zu messen. Ihre Waffen schwingend, stürzten die Gegner wütend aufeinander los. Befriedigt, daß der Kampf so schnell und heftig entbrannte und Ssing-tschös Eingreifen in der Stadt für die nächsten Stunden nicht zu befürchten war, eilte der Heilige in einer riesigen Rauchwolke zu dem festen Turm, in den sich der König mit seinen Söhnen und Ssan Tsang zurückgezogen hatte. Er trat in seiner wahren Gestalt auf: ein Löwe mit neun Köpfen, in jedem Kopf klaffte der weit aufgerissene Rachen. Bei dem entsetzlichen Anblick, den er bot, fielen die hundert Zivil- und Militärmandarine, von Furcht ge497
lähmt, zu Boden; von der Höhe des Turmes stürzten einige Soldaten in die Tiefe. Das Ungeheuer schnappte mit seinen langen spitzen Zähnen nacheinander Ssan Tsang, den König und dessen drei Söhne und überquerte das Kampffeld mit lautem Rufen: „Macht Eure Sache gut, meine Lieben! Ich kehre in meine Höhle zurück!“ Aus diesen Worten entnahmen die Ungeheuer, daß der Ahn sein Vorhaben geschafft hatte, und drangen mit verdoppelter Kraft auf Ssing-tschö und Scha Ssöng ein. Auch Ssing-tschö hatte aus den Worten des Neunköpfigen eine Schlußfolgerung gezogen. Ohne Säumen zauberte er aus einer Handvoll ausgerissener Haare ein Heer von mehreren tausend Ssing-tschös, die den Gegner von allen Seiten umringten. Die vier Löwenenkel wurden gefangen genommen; der Gelbe Löwe fiel unter den wuchtigen Schlägen, die Ssing-tschö mit seiner Eisenstange gegen ihn führte. Als Leiche nahm das Ungeheuer seine wahre Gestalt an: die eines Löwen mit goldglänzendem Fell. Auf den Stadtwällen postierte Soldaten beobachteten die Erfolge der beiden Pilger. Sie eilten ihnen entgegen, um die Gefangenen in sicheren Gewahrsam zu bringen und den Löwenkadaver in die Stadt zu schaffen. Ssing-tschö und Scha Ssöng aßen und tranken erst einmal nach Herzenslust, dann legten sie sich schlafen. Am nächsten Tag galt es, den Meister und Ba Djä, den König und die drei Prinzen zu befreien. Zuerst rief Ssing-tschö seine erprobten Helfer, den Geist der Gebirge und den Wächter über den Erdboden, herbei. Er erfuhr von ihnen, daß der Neunköpfige Heilige erst seit drei Jahren in der Neunfach gewundenen Höhle residierte und in Wirklichkeit dem Himmlischen Großen Einen Tai Ji untertan war. Ssing-tschö erinnerte sich, daß der Große Eine immer auf einem Neunköpfigen Löwen zu reiten pflegte. Er glitt auf einer schnellen Wolke zum Östlichen Himmelstor, wurde zum Palast des Großen Einen geführt und auf seine Bitte auch 498
sofort vorgelassen. Er schilderte die letzten Geschehnisse und die Gefahr, in der sich der Meister und die übrigen Gefangenen befanden, und erflehte des Großen Einen Beistand gegen den Neunköpfigen Heiligen. Tai Ji ließ den Aufseher über seinen Marstall kommen und fragte ihn, ob der Löwe im Stall sei. Der Mann warf sich unter Tränen zu Boden und bekannte sich schuldig. Vor drei Tagen hatte er sich einen kleinen Rausch angetrunken und versäumt, den Löwen anzuketten. Diese günstige Gelegenheit hatte das Tier benutzt, um in die Freiheit zu entschlüpfen. „Vor drei Tagen!“ rief Ssing-tschö, „also vor drei Erdenjahren. Diese Zeit hat mir der Tou Di auch angegeben!“ Der Große Eine erließ dem Aufseher die wohlverdiente Strafe, denn er brauchte ihn, um das Ungeheuer zurückzuholen. Zu dritt glitten sie vor die Neunfach gewundene Höhle. Ssing-tschö forderte das Ungeheuer mit donnernder Stimme auf, den Kampf mit ihm aufzunehmen; der Große Eine hielt sich mit dem Aufseher im Hintergrund. In scheinbarer Flucht lockte Ssing-tschö den Gegner in die Höhe des Tai Ji und rief plötzlich: „Seht! Dort ist Euer Herr! Erweist ihm die schuldige Ehrerbietung, wenn Euch daran liegt, das Leben zu behalten!“ Der Neunköpfige Heilige warf sich, um Vergebung flehend, zu Boden. Der Aufseher packte ihn an der Mähne, schlug ihn derb auf die Tatzen und legte ihm dann einen bestickten Seidensattel auf. Tai Ji bestieg das Tier und entschwand in den Lüften. Ssing-tschö verneigte sich zum Ausdruck seines Dankes in der Richtung, die der Große Eine eingeschlagen hatte. Danach befreite er in der Neunfach gewundenen Höhle die Gefangenen und befahl Ba Djä, trockenes Holz um den Schlupfwinkel aufzuhäufen und es in Brand zu setzen. Im Palast harrten die Königin und die hundert Mandarine bereits der Zurückkehrenden ; sie empfingen sie voller Freude mit vielen tiefen Verneigungen. Nach einem Essen im Gartenpavillon legten sich alle nieder, um auszuschlafen. Am nächsten Morgen ließ Ssing-tschö die sechs Lö499
wenenkel töten und ihnen das Fell abziehen. Die königliche Familie und die Mandarine erhielten je einen Löwenkadaver als Festbraten; die übrigen vier sollten unter die Bevölkerung verteilt werden. Später am Tage meldeten sich die Schmiede. Die neuen Waffen für die Prinzen waren fertig. Der König seufzte tief auf und sagte: „Um dieser Waffen willen hätten wir beinahe unser Leben eingebüßt!“ Die Prinzen aber nahmen die Waffen mit den Worten in Empfang: „Wir schulden Euch Dank, ehrwürdige Brüder, daß unser Land von den Ungeheuern befreit ist und sich fortan des Friedens erfreuen wird.“ Nach einem Abschiedsessen gab die königliche Familie mit dem gesamten Hofstaat und vielem Volk den Pilgern das Geleit weit aus der Stadt hinaus.
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SSAN TSANG AUF DEM LATERNENFEST
91. Laternenfest in der Präfektur des Goldenen Friedens. Ssan Tsang erweist falschen Buddhas seine Ehrerbietung
Sechs Tage lang ereignete sich nichts. Am siebenten Tage gelangten die Pilger in eine befestigte Stadt, in deren Straßen viele Menschen unterwegs waren und viele Geschäfte ihre Waren anboten. Auf dem Marktplatz ragte ein hoher Klosterbau auf; die Inschrift über dem Portal besagte: Dse jün sse – Kloster der mütterlichen Güte. Ssan Tsang trat ein, machte sich mit einem herbeieilenden Bonzen bekannt und bat für sich und seine Schüler um Gastfreundschaft. Sie wurde bereitwillig gewährt; die Mönche überboten sich im Auftragen wohlschmeckender Fastenspeisen und duftenden Tees, denn alle wollten sie die merkwürdigen Fremdlinge sehen: den Meister mit dem hellen, klaren Gesicht, das einen Künstler verlocken mußte, zum Pinsel zu greifen; den einen Schüler mit der langen Nase und den unförmigen Ohren, den anderen mit dem rötlichen und den dritten mit dem schwarzen Gesicht. Vom Abt erfuhr Ssan Tsang, daß sie sich in der Präfektur des Goldenen Friedens befanden und noch etwa zweitausend Li vom Lingschan entfernt waren. Er wollte schon nach kurzer Rast wieder aufbrechen, aber die Mönche baten ihn so inständig, mit seinen Schülern zum Laternenfest, das in zwei Tagen gefeiert würde, ihre Gäste zu sein, daß er schließlich die Einladung annahm. Am übernächsten Tag gingen die Bonzen mit den vier Pilgern in die Stadt. Auf den Wällen leuchteten so dicht wie Sterne nebeneinander unzählige Lampions. Es war taghell auf den Stra501
ßen. Alt und jung, Männer und Frauen lustwandelten hin und her. Auf einer erhöhten Bühne wurde Theater gespielt, auf freien Plätzen getanzt, und viele wagten einen kurzen Ritt auf einem Elefantenrücken. Zum Spaß hatten sich manche Tierfelle umgehängt, andere Masken vor das Gesicht gebunden. Auf der Brücke der Goldenen Lampen brannten Riesenfackeln; sie wurden aus großen, von vergoldetem Gitterwerk umsponnenen Ölkrügen gespeist und tauchten die ganze Stadt in ihre Lichtfülle. Ssan Tsang war von dem angenehmen Geruch des Öls überrascht; die Bonzen erklärten ihm, daß für diese Fackeln nicht das gewöhnliche billige Öl, sondern das wertvolle Teeröl verwandt werde; die Bevölkerung müsse alljährlich achtundvierzigtausend Silbertael für dessen Ankauf aufbringen. Während dieses Gesprächs erhob sich ein heftiger Wind, und die Menschen verschwanden von der Brücke. „Ehrwürdiger Greis, entfernt Euch schleunigst!“ riefen die Bonzen, „die Buddhas sind im Begriff, auf die Erde herniederzusteigen, um die Festbeleuchtung zu besichtigen und das restliche Öl an sich zu nehmen.“ Aber Ssan Tsang verharrte auf seinem Platz. „Die Buddhas in unmittelbarer Nähe zu sehen, gehört zum Zweck meiner Reise“, erklärte er. Die Bonzen zogen sich zurück. Langsam näherte sich eine Wolke; drei Buddhas stiegen auf die Brücke hinab und nahmen auf dem vor den Goldenen Lampen errichteten, mit Opfergaben reich bestellten Altar Platz. „Meister!“ schrie Ssing-tschö, der den Gang der Dinge beobachtete, „kommt schnell zurück! Diese Buddhas sind in Wahrheit Ungeheuer!“ Im selben Augenblick verlöschten die Lampen; ein Schrei durchdrang die Stille, und Ssan Tsang war verschwunden. Ba Djä und Scha Ssöng wollten sofort loseilen, um ihren Herrn zu suchen. Ssing-tschö hielt sie zurück. „Unser Herr und Vater ist Ungeheuern in die Hände gefallen. Bleibt hier und bewacht Pferd und Gepäck, ich werde den Ungeheuern in der Richtung des Windes, der sie davongetragen hat, nachfliegen.“ Die Klo502
sterbrüder traten herzu, erschrocken, daß der Fremdling von den Buddhas als räuberischen Ungeheuern sprach. Lächelnd erwiderte Ssing-tschö: „Ihr seid Menschen und habt Euch Jahr um Jahr täuschen lassen. Ich habe mit einem einzigen Blick unter der Tarnung die Ungeheuer erkannt.“ Bei den letzten Worten sprang er bereits auf eine Wolke und glitt in nordöstlicher Richtung davon. Er mußte sich die Nase zuhalten, so übel roch der Wind, der die Wolke vor sich hertrieb. In der Morgendämmerung wurde ein jäh aufragendes Gebirge sichtbar. Vier Gestalten, die in einem fort riefen: „Laßt es Tag werden!“ gingen auf einem Grat entlang. Ssing-tschö erkannte in ihnen die vier himmlischen Regenten des Jahrs, des Monats, des Tags und der Stunde. Er hielt sie an und fragte, ob sich in dem Gebirge Ungeheuer versteckt hielten. Die Auskunft lautete: „Auf dem Tjing lung schan, dem Berg des Blauen Drachen, residieren seit über einem Jahrtausend in der Ssän jün düng, der Höhle der Schwarzen Blume, drei Rhinozeros-Ungeheuer: die Regenten der Kälte, der Wärme und des Staubes. Sie tun sich mit Vorliebe an Teeröl gütlich. In jedem Jahr eignen sie sich das restliche Öl aus den zum Laternenfest von der Bevölkerung aufgestellten Ölkrügen an, und beim letzten Mal“, schlossen die vier ihren Bericht, „haben sie sich außerdem noch Eures verehrungswürdigen Meisters bemächtigt und ihn in ihre Höhle geschleppt, um ihn zu verzehren.“ Ssing-tschö eilte in das Kloster der mütterlichen Güte zurück und beriet sich mit seinen Gefährten. Sie kamen zu dem Schluß, daß sie sofort zur Rettung ihres Meisters aufbrechen müßten und daß die Vernichtung der Ungeheuer zugleich die Bevölkerung der Präfektur des Goldenen Friedens von einer jährlich wiederkehrenden schweren Abgabenlast befreien würde. Mit wenigen aufklärenden Worten baten sie die Klosterbrüder, Pferd und Gepäck in ihre Obhut zu nehmen, und sprangen in die Lüfte. 503
92. Gewaltiges Ringen auf dem Berg des Blauen Drachens. Vier Sternengeister verhelfen Ssing-tschö zum Siege Auf dem Berg des Blauen Drachens angelangt, hieß Ssing-tschö seine Gefährten im Hintergrund warten. Er selbst drang in der Gestalt eines Glühwürmchens in die Höhle ein, um sich einen Überblick über die Örtlichkeiten zu verschaffen und Ausschau nach dem Meister zu halten. In dem schwachen Lichtschein, den ein Glühwürmchen zu erzeugen vermag, sah er die Umrisse schlafender Ungeheuer mit Büffelköpfen; im Hintergrund der Höhle fand er den Meister: er war an einen Pfosten gebunden und jammerte vor sich hin. Ssing-tschö nahm seine eigene Gestalt an, trat dicht vor Ssan Tsang und flüsterte: „Meister, wann werdet Ihr lernen, das Gute vom Betrug zu unterscheiden? Durch Euer unkluges Verhalten verzögert Ihr immer wieder von neuem unsere Reise. Durch Eure Schuld verlieren wir Zeit und Kraft in Kämpfen, die uns nichts einbringen. Ich werde Euch hinausführen, denn alle Ungeheuer liegen in tiefem Schlaf.“ Mittels einer Zauberformel löste er Ssan Tsangs Fesseln und führte ihn zum Ausgang. Der böse Zufall fügte es, daß just um diese Zeit eines der Rhinozeros-Ungeheuer aufwachte und sich über die Stille wunderte. „Ich höre Eure Klappern und Schellen nicht! Unterlaßt Ihr etwa die befohlenen Rundgänge?“ schrie es. Die Wachen schreckten aus ihrem tiefen Schlaf hoch und machten sich eiligst auf die überfällige Streife. Dabei stießen sie auf die beiden Flüchtenden. Der zitternde Ssan Tsang wurde sofort in Ketten gelegt; Ssing-tschö schlug alle Ungeheuer nieder, die sich ihm in den Weg stellten, und entwischte ins Freie zu seinen Gefährten. Während er ihnen noch erzählte, was sich zugetragen hatte, drängten Scharen büffelköpfiger Ungeheuer aus der Höhle her504
aus. Mit geschickt geworfenen langen Seilen schnürten sie Ba Djä und Scha Ssöng die Beine zusammen, daß sie zu Fall kamen, banden sie an Händen und Füßen und schleppten sie wie Schweine in die Höhle. Ssing-tschö hatte im letzten Augenblick entwischen können. Angesichts der Übermacht des Gegners, ging es ihm durch den Sinn, konnte er Meister und Gefährten nur mit Hilfe der Himmlischen befreien. Er glitt mit der größten Geschwindigkeit, die der Große Meister ihn gelehrt hatte, zum Östlichen Himmelstor. Dort stand der golden leuchtende Abendstern im Gespräch mit Göttern und Unsterblichen; er fragte Ssing-tschö nach dem Grunde seines Besuchs und entgegnete auf dessen Bescheid: „Diese Rhinozeros-Ungeheuer verfügen über gewaltige Kräfte und militärische Fähigkeiten. Sie kämpfen mit der gleichen Geschicklichkeit auf Wolken, auf der Erde und unter dem Wasser. Nur die vier Sternengeister Krebs und Krokodil, Löwe und Schakal des Tierkreises sind imstande, den Kampf gegen sie zu führen. Aber der Oberste Himmelsherr muß ihnen den Auftrag dazu erteilen.“ Ssing-tschö dankte und eilte weiter zum Palast der Himmlischen Höhen. Dshang Di empfing ihn sofort, und er wiederholte, was er dem Abendstern vorgetragen und was dieser ihm geraten hatte. Darauf ließ Dshang Di die vier Sternengeister bitten, dem Großen Heiligen ihre Hilfe zu gewähren. Sie waren sofort dazu bereit und begaben sich mit ihm zur Höhle der Schwarzen Blume. Ssing-tschö trat vor das Tor und rief mit weithin hallender Stimme: „Gemeine Öldiebe! Gebt sofort meinen Meister frei!“ Wütend erschienen die Rhinozeros-Ungeheuer an der Spitze eines zahlreichen Heeres. Sie hielten sich selbst vom Kampf zurück, während die Büffelungeheuer begannen, Ssing-tschö einzukreisen. Die vier Sternengeister stürzten vor und schrien, ihre Waffen schwingend: „Bestien, ihr sollt keine Verbrechen mehr begehen können!“ Im selben Augenblick nahmen die drei Unge505
heuer ihre wahre Gestalt an: drei Rhinozerosse suchten in rasendem Lauf das Weite. Ssing-tschö setzte ihnen mit den Sternengeistern Schakal und Krokodil nach. Die Sternengeister Krebs und Löwe erschlugen die büffelköpfigen Ungeheuer oder nahmen sie gefangen; keiner entging ihnen. Darauf befreiten sie den Meister und dessen beide Schüler und eilten ihren Gefährten nach. Ba Djä und Scha Ssöng füllten geschwind einen Kasten mit Perlen, Jade, Korallen und Gold, brachten Meister und Beute auf einen geschützten Platz und steckten die Höhle in Brand. Danach traten sie zu dritt den Weg zum Kloster der mütterlichen Güte an. Die Sternengeister Krebs und Löwe drangen bis zum Westmeer vor: dort erst fanden sie Ssing-tschö. Die Ungeheuer hatten sich ins Wasser gestürzt; Schakal und Krokodil waren ihnen nachgesprungen, er stand Wache, um den Gegnern die Flucht abzuschneiden. „Nehmt meinen Posten ein, ich will ihnen helfen!“ schloß er seinen Bericht. Er murmelte eine Formel, vollführte die magische Bewegung des Wasserteilens und tauchte in die Fluten, die vor ihm zur Seite wichen. Auf dem Meeresgrund wehrten sich die drei Rhinozerosse verzweifelt gegen die hartnäckig auf sie eindringenden Gegner; bei dem unerwarteten Anblick eines dritten ergriffen sie die Flucht. Mit ihren gewaltigen Hörnern durchschnitten sie die Fluten so schnell, daß sie den Blicken der Verfolger entschwanden. Ein Triton, der die Runde abging, erstattete dem Drachenkönig des Westmeeres Meldung von dem erbitterten Ringen. Auf Geheiß seines Vaters zog der Erbprinz mit einem großen Aufgebot von Krustentieren, Fischen, Krokodilen und Schildkröten dem Großen Heiligen zu Hilfe. Die Flüchtenden wurden von neuem zum Kampf gestellt. Zwei wurden lebend gefangengenommen; dem dritten biß der Sternengeist Schakal den Hals durch. Ssing-tschö ließ ihm die Hörner absägen; den Kadaver schenkte er dem Drachenkönig und dessen Sohn zum Dank für 506
die Unterstützung. Über die beiden Gefangenen sollte der Oberste Richter der Präfektur des Goldenen Friedens das Urteil fällen, weil sie, als Buddhas getarnt, das Volk schwer bedrückt hatten. Auf dem Wolkenwege flogen die Sternengeister und Ssingtschö zur Präfektur. Über dem Jamen hielten sie an, und Ssingtschö rief von der Höhe herunter: „Oberster Richter, Mandarine, Soldaten und Volk! Hört, was ich euch zu künden habe. Die Buddhas, denen ihr Jahr um Jahr kostbares Teeröl und viele Opfergaben darbrachtet, waren verkappte Ungeheuer. Wir haben sie mit Hilfe himmlischer Geister überwältigt und ihren Schlupfwinkel verbrannt. Ihr habt nichts mehr von ihnen zu fürchten und braucht keine Abgaben mehr für das Laternenfest aufzubringen.“ Jubel und Dank der Bevölkerung nahmen kein Ende. Tag für Tag lud eine Familie die Pilger zu einem Festmahl ein. Ba Djäs Bauch blähte sich auf von den vielen auserlesenen Genüssen. An die Weiterreise war nicht zu denken. Schließlich brachen sie in der Stille einer Nacht heimlich auf. Voller Bestürzung stellten die Klosterbrüder in der Morgenfrühe fest, daß ihre Gäste sie verlassen hatten. Von vielem Volk begleitet, brachten sie in dem zu Ehren der Pilger errichteten Tempel Dankopfer dar.
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EIN KÖNIGSPAAR ERHÄLT SEINE TOCHTER UND DIE MONDGÖTTIN DEN MONDHASEN ZURÜCK
93. Ein Bonze erzählt aus vergangenen Zeiten. Eine Prinzessin begehrt Ssan Tsang zum Gatten
Ohne von irgendwelchen Hindernissen aufgehalten zu werden, zogen die Pilger reichlich einen halben Monat lang ihres Weges dahin. Eines Tages gewahrten sie mitten in den Bergen einen Tempel; eine davor aufgestellte Tafel trug die Schriftzeichen: Bu Djin Tschan Sse – Tempel der Goldplatten. Ssan Tsang stieg vom Pferd; zu viert betraten sie das ausgedehnte Gelände. Ein Bonze von gewinnendem Äußern trat auf sie zu, die Begrüßungen nach den Riten wurden ausgetauscht, Ssan Tsang nannte den Zweck seiner Reise und bat für sich und seine Schüler um Gastfreundschaft. „Wir gewähren allen Reisenden Gastfreundschaft“, versetzte der Bonze in heiterem Ton, „und mit besonderem Vergnügen Euch, ehrwürdiger Bonze, der Ihr aus dem Reich der großen Tangkaiser kommt.“ Er ließ Tee und Fastenspeisen auftragen, und Ssan Tsang mußte den wißbegierigen Mönchen viele Fragen über seinen Auftrag und den bisherigen Verlauf seiner Pilgerfahrt beantworten. Die Bonzen erklärten ihm ihrerseits den Namen des Tempels: „Er gehörte zusammen mit einem weitläufigen Park einstmals einem tugendhaften Mann, der vielen Waisen, Knaben und Mädchen, und vielen alten Menschen ohne Familie darin Unterkunft gewährte. Das Volk gab ihm darum den Beinamen ‚Wohltäter der Waisen und Greise’. Dieser Mann bat einmal den Erhabenen Buddha, in dem Tempel zu predigen, und 509
um ihn in würdiger Pracht zu empfangen, ließ er den ganzen Park mit Goldplatten pflastern. Seitdem trägt der Tempel diesen Namen.“ Nach dem Abendessen ging Ssan Tsang, von Ssing-tschö begleitet, in den Park, um sich an dem silberhellen Mondschein zu erfreuen. Der Abt schloß sich ihnen an: ein hochbetagter Mann, der sich beim Gehen schwer auf seinen Stock stützte. Er war begierig, den Bonzen aus dem Tangreich kennenzulernen, und fragte ihn nach seinem Alter. „Ich habe mein fünfundvierzigstes Lebensjahr vollendet“, antwortete Ssan Tsang. „So bin ich sechzig Jahre älter als Ihr“, versetzte der Greis. Unter derlei leichtem Geplauder durchschritten sie ein hohes Portal und gelangten vor eine steil ansteigende Terrasse. Während Ssan Tsang die Treppe hinanstieg, drang jämmerliches Schluchzen an sein Ohr. „Wer weint so bitterlich und warum?“ fragte er, tiefbewegt von fremdem Leid, den Abt. „Euch ist vollkommene Reinheit eigen“, erwiderte dieser, „sonst würdet Ihr Klagen, die das Unglück eingibt, nicht vernehmen. Laßt mich erzählen. Im vergangenen Jahr war ich eines Tages in der Nähe der Terrasse in Meditation versunken. Seufzen und Wimmern ließen mich aufhorchen. Ich ging dem Klagen nach und fand ein junges Mädchen von großer Schönheit in bitteren Tränen. Auf meine teilnehmende Frage antwortete sie, daß sie die Tochter des Königs der Himmlischen Bambushaine sei. Ein Wirbelwind habe sie aus dem Park, in dem sie im Mondschein mit ihren Eltern lustwandelte, fortgetragen. Sie flehte mich an, ihr zu helfen, und ich schloß sie in eine nach hinten gelegene Kammer ein, um sie vor Nachstellungen durch die Klosterbrüder zu sichern. Durch ein Loch, das ich in die Mauer schlug, bekommt sie Speise und Trank. Wissentlich lügend, habe ich das Gerücht verbreitet, in der Kammer sei ein Ungeheuer eingeschlossen. Der König der Himmlischen Bambushaine hat zu meinem Erstaunen das Verschwinden seiner Tochter nicht be510
kanntgegeben, und darum habe ich bisher geschwiegen. Aber Eurer Weg, ehrwürdiger Bonze, führt Euch durch die Hauptstadt des Königreichs! Versucht, die Sache zu klären. Ihr werdet damit einem unglücklichen Mädchen helfen und die Guten von den Bösen scheiden!“ Ssan Tsang sagte zu, diesen Auftrag zu erfüllen; Ssing-tschö pflichtete seinem Meister bei. Ausgeruht und gestärkt, machten sich die Pilger um die fünfte Nachtwache wieder auf den Weg. Bereits nach wenigen Stunden erreichten sie die Hauptstadt und kehrten in der Poststation ein. Ssan Tsang fragte den Wirt nach der besten Zeit, dem König seine Geleitbriefe vorzulegen, und erfuhr dabei von den Wächtern, daß des Königs Tochter just an diesem Tage vorhatte, sich ihren Gemahl zu wählen, indem sie von einem Balkon einen Seidenball unter die Vorübergehenden werfen würde. Der Mann, den der Ball träfe, sei ausersehen, des Königs Schwiegersohn zu werden. „Es herrschen in diesem Königreich die gleichen Sitten wie im Reich der Tang“, sagte Ssan Tsang, der Vergangenheit gedenkend, „auch meine Mutter warf einen Brokatball, mit dem sie den soeben ernannten hohen Mandarin traf, und wurde dessen Frau.“ Des Auftrages eingedenk, den der alte Bonze ihnen gegeben hatte, machten sich Ssan Tsang und Ssing-tschö auf den Weg zum Palast; sie wollten die Prinzessin beim Ballwerfen beobachten, um dabei vielleicht einem Betrug auf die Spur zu kommen. Es sei an dieser Stelle eine Erklärung eingeschoben: Der König, der mit großer Freude alle Vorgänge in der Natur beobachtete, war im Jahr zuvor, wie bereits von dem ehrwürdigen Bonzen berichtet, mit seiner Gemahlin und seiner schönen jungen Tochter im Mondschein in den Gärten des Palastes spazieren gegangen. Plötzlich war ein Wirbelwind aufgekommen, in dem die Prinzessin fortgetragen wurde; ein Ungeheuer, das im Aussehen nicht von ihr zu unterscheiden war, nahm ihre Stelle ein. Diese falsche Prinzessin besaß die Gabe, in die Zukunft zu 511
schauen. So hatte sie den Besuch des Bonzen Ssan Tsang vorausgesehen und sich vorgenommen, ihn in ihre Gewalt zu bringen. Und es geschah dem Sohn, was dem Vater geschehen war: Als die Prinzessin, auf dem Balkon seiner harrend, ihn in der Menge erblickte, warf sie mit geschickter Hand das Seidenbällchen, daß es Ssan Tsang das Bonzenkäppchen vom Kopf riß, und als er den Arm hob, es zu erhaschen, glitt es ihm in den Ärmel seines Oberrocks. Das Gefolge der Prinzessin eilte auf die Straße, um den Auserwählten seiner Herrin zu begrüßen. „Ehrwürdiger Bonze“, sagte der erste Eunuch, „wollet mir in den Palast folgen, um Euch dem König vorzustellen.“ Ssan Tsang machte Ssing-tschö bittere Vorwürfe, daß er ihn falsch beraten habe. Der Getadelte erwiderte lächelnd: „Meister, bewahrt die Ruhe! Besteht die Prinzessin auf ihrer Wahl, so ersucht den König, Eure Schüler in den Palast holen zu lassen, damit Ihr ihnen die nötigen Befehle für die Fortsetzung der Pilgerfahrt geben könnt. Diese Bitte kann Euch nicht abgeschlagen werden, und wir werden alsdann den Betrug aufdecken können.“ Ssan Tsang nickte zustimmend und folgte dem Eunuchen in den Palast. Die würdevolle Haltung und das klare helle Gesicht des Bonzen erfüllte den König mit großer Freude. Da auch die Prinzessin erklärte, bei ihrer Wahl zu bleiben, wurde alsbald der Hofastrologe beauftragt, den für die Hochzeitszeremonien glücklichen Tag zu ermitteln. Vor Entsetzen drohten Ssan Tsang die Sinne zu schwinden. Unter wiederholten tiefen Verneigungen und mit in Brusthöhe aneinandergelegten Händen bat er den König, seinen Schülern die notwendigen Unterweisungen für den Abschluß der Pilgerfahrt geben zu dürfen, und es wurde unverzüglich ein Bote mit entsprechendem Auftrag in die Poststation geschickt. Dem Abgesandten zerriß fast die Leber vor Schreck, als er den drei Schülern gegenübertrat. Er senkte den Kopf und hielt sich das Einladungsdokument vor das Gesicht. „Meine Herrin bittet 512
Euch, an ihrer Hochzeitsfeier teilzunehmen …“ setzte er ein paar Mal stammelnd an. Scha Ssöng schnitt ihm lachend das Wort ab. „Gehen wir mit Reisesäcken und Pferd in den Palast, um zu erfahren, wie es um unseren Meister steht!“
94. Die vier Pilger nehmen an üppigen Festen teil. Die drei Schüler erhalten Geleitbriefe und Zehrgeld
Die drei Gefährten wurden in die Thronhalle geführt. Sie traten in aufrechter Haltung dicht vor den König, keiner von ihnen grüßte nach den Riten. Der König stellte ihnen in strengem Ton eine Reihe Fragen, ihre Namen, Herkunft, Mönchwerdung betreffend; die drei schwiegen. Schließlich griff Ssan Tsang, der neben dem König stand, ein: „Meine Schüler, warum antwortet Ihr Seiner Majestät nicht?“ In Ssing-tschö stieg die Wut auf, und er rief erregt: „Wer andere verachtet, verachtet sich selbst! Wer einen Untertan verachtet, verachtet den Staat! Mein Meister ist zum Schwiegersohn des Königs ausersehen. Warum muß der Schwiegersohn eines Königs stehen?“ Erschrocken ließ der König einen brokatbezogenen Schemel holen und lud Ssan Tsang ein, Platz zu nehmen. Als Ssing-tschö seinen Meister sitzen sah, beruhigte er sich und hub an zu sprechen. Weit ausholend und überheblich erzählte er seine Lebensgeschichte, bei der Herrschaft auf dem Berg der Blumen und Früchte beginnend, bis zu seiner Befreiung aus dem Berg der Fünf Elemente durch Ssan Tsang und dem Antritt der Pilgerfahrt. Als er geendet hatte, erhob sich der König und sagte, zu Ssan Tsang gewandt: „Teurer Schwiegersohn! Ein glückliches Geschick hat es gefügt, daß ein Unsterblicher Unsere Tochter ehelicht!“ Danach forderte der König Ba Djä zum Sprechen auf. Der stieß die Nase in die Höhe und berichtete mit hochfahrendem Ton und wilden Gesten, wie die 513
Göttin Guanjin ihn auf den Weg der rechten Lebensführung gewiesen und der Bonze Ssan Tsang ihn als Schüler angenommen habe. Der König hielt die Augen gesenkt, so sehr erschreckten ihn Ba Djäs Anmaßung und ungestümes Gebaren. Erst eine scharfe Rüge des Meisters veranlaßte ihn, sich zu mäßigen. Als letzter trug Scha Ssöng vor, wie auch ihn die Göttin Guanjin zum Guten zurückgeführt und ihn beauftragt habe, den Meister schützend auf der Pilgerfahrt zu begleiten. Er sprach ruhig und mit aneinandergelegten Händen. In dem König kämpfte die Freude über den tugendhaften und weisen Schwiegersohn mit der Furcht vor dessen Schülern. Die Reihe zu sprechen war nun an dem Hofastrologen. Er meldete, daß in vier Tagen, am zwölften Tage des laufenden Monats, die Gestirne ebenso günstig für die Prinzessin wie für den auserwählten Gemahl stehen würden, und somit dieser Tag der gegebene für die Hochzeit sei. Der König war über diesen günstigen Bescheid hocherfreut und beauftragte den Obereunuchen, alle Vorbereitungen für die Vermählungsfeierlichkeiten zu treffen. Drei volle Tage waren mit Festlichkeiten und, zur größten Freude Ba Djäs, mit üppigen Gelagen ausgefüllt. Er war nur so lange nicht mit Essen beschäftigt, wie die Tafel abgeräumt wurde. Dann war der zwölfte Tag des Monats herangekommen. In der Morgenfrühe meldete der Obereunuch dem König, daß alles zur Bewirtung und Unterhaltung der Gäste bereit sei; für das Festessen werde er fünfhundert gewürzte Fleischgerichte und Fastenspeisen auftragen lassen. Ihm folgte der Minister der öffentlichen Arbeiten mit der Meldung, daß die Residenz für das junge Paar eingerichtet sei. Schließlich baten die Eunuchen den König, sich zur Königin zu begeben, die ihn zusammen mit der Prinzessin erwarte. Als der König die Frauengemächer betrat, eilte ihm seine Tochter entgegen, warf sich ihm zu Füßen und flehte ihn an, die Schüler des Bonzen noch vor der Hochzeitszeremonie aus der 514
Stadt auszuweisen. „Ich erschrecke immer wieder aufs neue vor ihren grimmigen Gesichtern, und schon ihre Stimmen flößen mir Angst ein“, schloß sie. Der König beruhigte die Aufgeregte und versprach ihr, alle zur Erfüllung ihrer Bitte erforderlichen Anordnungen zu treffen. Ein Mandarin mußte unverzüglich Ssan Tsang und die Schüler vor ihn geleiten. Ssan Tsang wurde seit Tagesanbruch von entsetzlicher Unruhe gequält. „Wu-kung, was soll nur werden?“ wiederholte er in einem fort. Ssing-tschö bemühte sich, ihn zu beschwichtigen. „Das aschfahle Aussehen des Königs verrät, daß sich in seiner unmittelbaren Nähe ein Ungeheuer aufhält. Das Gesicht der Prinzessin habe ich noch nicht genau betrachten können; sie war stets zu weit von mir entfernt und trug einen Schleier vor dem Gesicht. Aber bewahrt die Ruhe! Ich werde über Euch wachen.“ Während der letzten Worte trat der königliche Bote ein und richtete seinen Auftrag aus. Ssing-tschö befahl Ba Djä, das Pferd zu führen, und Scha Ssöng, sich mit den Reisesäcken zu beladen. Darauf gingen sie alle vier mit dem Mandarin zum Palast. Der König ließ sie sofort eintreten und sich die Geleitbriefe vorlegen. Er setzte sein Siegel darunter und händigte Ssing-tschö zehn Gold- und zwanzig Silberbarren aus. „Ihr seid damit in der Lage, die Suche nach den Heiligen Schriften fortzusetzen“, sagte er abschließend. „Stattet uns auf der Rückreise einen Besuch ab, Ihr werdet mit allen Ehren empfangen werden.“ Ssing-tschö bedankte sich, zugleich für Ba Djä und Scha Ssöng, und alle drei wandten sich zum Gehen, nachdem sie ihren Meister zum Abschied mit einer Verneigung gegrüßt hatten. Ssan Tsang lief ihnen nach und packte Ssing-tschö am Arm. „Werdet Ihr wahrhaftig aufbrechen?“ flüsterte er angsterfüllt. Ssing-tschö drückte ihm die Hand und sagte gelassen mit lauter Stimme: „Meister, macht Euch keine Sorgen! Wenn wir unseren Auftrag erfolgreich erledigt haben, werden wir Euch einen Besuch abstatten.“ Dabei zwinkerte er bedeutungsvoll. Ssan Tsang ging wieder in den Palast. 515
Die drei Gefährten kehrten noch einmal in der Poststation ein. Der Wirt empfing sie und machte sich in ihrer Nähe zu schaffen. Ssing-tschö gab flüsternd Anweisungen: die Gefährten sollten das Haus nicht verlassen und mit niemandem auch nur ein einziges Wort sprechen. Er selbst wolle in anderer Gestalt zum Meister zurückkehren. Darauf riß er sich ein Haar aus und verwandelte es vor den Augen Ba DJ äs und Scha Ssöngs in seinen Doppelgänger. Er selbst flog als Biene in den Palast, wo er seinen Meister in tiefster Niedergeschlagenheit vorfand. „Ich bin bei Euch, sorgt Euch nicht!“ flüsterte er ihm ins Ohr. Ssan Tsang schaute auf und erkannte in dem Bienchen Ssing-tschö. Sogleich fühlte er sich beruhigt. Im selben Augenblick trat der freudig erregte König an ihn heran, nahm ihn bei der Hand und geleitete ihn in den Festsaal.
95. Ssing-tschö kämpft mit dem Mondhasen. Die Mondgöttin führt ihn in den Mondpalast zurück
Leise Musik tönte in wunderbaren Harmonien durch den Raum, liebliche Weihrauchdüfte erfüllten die Luft. In der Menge der vielen schönen Frauen, deren Körper die Frische durchsichtigen Jadegesteins ausströmte, war ein junges Mädchen, schöner als die schönste Blume, in seiner vollkommenen Schönheit nur den Unsterblichen vergleichbar. Ssan Tsang fühlte, wie ihm bei diesem Anblick das Blut aus dem Gesicht wich; er hatte nur den einen Gedanken: die Reinheit seiner Sinne zu wahren. Königin und Prinzessin traten vor und begrüßten überglücklich den König. Ssing-tschö bemerkte einen kaum wahrnehmbaren Dunstschleier über dem Kopf des jungen Mädchens. „Meister, wir haben eine getarnte Prinzessin vor uns. Ich werde mich sogleich ihrer bemächtigen!“ flüsterte er Ssan Tsang ins 516
Ohr. Und schon stand er in seiner wahren Gestalt vor der Prinzessin, packte sie an den Armen und schrie: „Ungeheuer, Ihr mögt Euch nach Belieben verwandeln, aber an meinem Meister sollt Ihr Euch nicht vergreifen!“ Der König erstarrte vor Entsetzen, die Königin stürzte wie gelähmt zu Boden, der Hofstaat flüchtete. Ssan Tsang legte schützend den Arm um den König und sagte: „Eure Majestät möge sich nicht beunruhigen. Mein Schüler wird die Wahrheit schnell ermitteln.“ Die falsche Prinzessin hatte begriffen, daß ihr Betrug durchschaut war. Sie entwand sich Ssing-tschös Umklammerung, warf Schmuck und Kleidung ab und rannte aus dem Saal. Ssing-tschö setzte ihr nach. Mit gewaltigem Ruck riß sie einen Pfosten aus dem Boden, schwang ihn wie eine Keule und sprang auf eine Wolke. Ssing-tschö folgte ihr auf der nächsten. Das zusammenströmende Volk und die Palastbewohner verfolgten staunend den Zweikampf, der voller Erbitterung in den Lüften ausgetragen wurde. Am Ende der ersten Tageshälfte gab es noch immer keinen Sieger und keinen Besiegten. Wutentbrannt schleuderte Ssing-tschö seine goldbereifte Eisenstange in die Luft mit dem Ruf: „Vervielfachung!“, und Hunderte goldbereifter Eisenstangen drangen auf das Ungeheuer ein. Erschrocken flüchtete es in einem Wirbelsturm in der Richtung zum westlichen Himmelstor. Ssing-tschö blieb ihm auf den Fersen und rief den Posten, welche die Zugänge zu den himmlischen Palästen bewachten, schon von weitem zu: „Verlegt dem Ungeheuer den Weg! Laßt es nicht entwischen!“ Am Weiterkommen in der eingeschlagenen Richtung verhindert, verwandelte sich das Ungeheuer in einen Strahlenkranz und verschwand südwärts. Ssing-tschö verlor die Spur und machte auf einem Gebirgszug halt. Drei Fuchsbauten fielen ihm auf. Die beiden ersten waren leer, der Zugang zum dritten mit einer Steinplatte versperrt. Ssing-tschö wälzte sie beiseite. Mit wütendem Gebrüll sprang ihm das Ungeheuer entgegen und 517
nahm den Zweikampf von neuem auf. Gegen Abend schienen ihm endlich die Kräfte zu versagen; aber als Ssing-tschö zum tödlichen Schlage ausholen wollte, gebot ihm eine Stimme aus der Höhe Einhalt. „Dieses Ungeheuer untersteht mir. Es ist der Jü du dse, der Jadehase aus dem Mondpalast; tötet ihn nicht!“ Ssing-tschö erkannte die Tai jin djün, die Mondgöttin. „Er wohnt im Mondpalast der Winterkälte und hat die Aufgabe, Pillen der Langlebigkeit herzustellen. Vor einem Jahr entfloh er. Ich erfuhr, in welcher Gefahr er schwebt, und ich machte mich auf, um ihn zu retten. Großer Heiliger, schenkt ihm das Leben! Um meinetwillen!“ Ssing-tschö erwiderte: „Hätte er sich an mir vergangen, gäbe ich ihn sofort frei. Aber er hat die Prinzessin aus dem Reich der Himmlischen Bambushaine verschleppt und ihre Gestalt angenommen, um in den Genuß von Reichtum und Ehren zu gelangen. Des weiteren will er meinen Meister ehelichen. Dieser zwei Vergehen wegen ist es meine Pflicht, ihn gebührend zu bestrafen.“ Die Göttin sprach weiter: „Großer Heiliger, Ihr wißt nicht, daß die Prinzessin aus dem Reich der Himmlischen Bambushaine kein irdisches Wesen ist. Seit zwanzig Jahren ist sie die fleischgewordene Ssu-o, die bis dahin ebenfalls im Mondpalast der Winterkälte lebte. Von dem Verlangen getrieben, die Vergnügungen des irdischen Lebens kennenzulernen, verließ sie die himmlischen Gefilde und kam als Prinzessin auf die Erde. Der Jadehase wollte sich an ihr rächen, weil sie ihn oft geohrfeigt hatte; darum entführte er sie und nahm ihre Gestalt an. Das ist kein Vergehen, auf das Todesstrafe steht. Das zweite Vergehen ist unverzeihlich, aber da verhütet wurde, daß es dem Meister Schaden zufügte, hindert es Euch nicht, den Jadehasen freizugeben.“ Diese Begründungen stimmten Ssing-tschö um; nur bat er die Tai jin djün, ihn mit dem Jadehasen zum König der Himmlischen Bambushaine zu begleiten und dort Zeugnis für ihn abzulegen, denn ihm fehle jeglicher Beweis für die Wahrheit dessen, was er 518
dem König vorzutragen habe. Damit war die Mondgöttin einverstanden; sie streckte die Hand gegen das Ungeheuer aus und fuhr es an: „Was säumst du, deine wahre Gestalt anzunehmen?“ Das Ungeheuer machte einen Satz in die Höhe und kam als Hase mit tauklarem Fell auf den Erdboden herunter. Die Göttin band ihm einen Strick um den Hals, dessen freies Ende sie in der Hand behielt, und trat mit Ssing-tschö den Weg zum Palast des Königs der Himmlischen Bambushaine an. Bangend und hoffend saßen der König und Ssan Tsang vor dem Palasttor. Schon erhob sich der Mond über dem Horizont. Plötzlich gewahrten sie eine purpurfarbene Wolke, die sich von Süden her näherte. Sie hielt über ihnen an, und die Stimme Ssing-tschös drang zu ihnen herunter: „Eure Majestät wolle die Königin rufen. Ich will berichten, wie sich alles in Wahrheit verhält.“ Der König ließ die Königin bitten, herauszukommen; sie erschien alsbald, von den Konkubinen begleitet. „Diese hohe Frau, die Ihr neben mir erblickt“, begann Ssingtschö, „ist die Tai jin djün. Der Hase gehört in den Mondpalast; ein ganzes Jahr hat er in der Gestalt Eurer Tochter neben Euch gelebt.“ Ehrerbietig verneigten sich die königlichen Eltern, alle Konkubinen und auch Ssan Tsang. Darauf entschwebte die Mondgöttin mit dem Jadehasen in der Richtung zum Mondpalast, und der König geleitete Ssing-tschö in den Palast. „Großer Heiliger“, sagte er, „Wir haben Euch für Unsere Befreiung zu danken, aber Wir möchten nun auch erfahren, wo Unsere eigene Tochter sich befindet!“ Da erzählte Ssing-tschö den Eltern die Geschichte der Tochter und verabredete mit ihnen, daß sie sie am folgenden Tage aus dem Kloster der Goldplatten abholen würden. Diese Aussicht tröstete den König, und er befahl dem Obereunuchen, ein reichliches Mahl auftragen zu lassen. Alle stärkten sich und legten sich schlafen. Nur die königlichen Eltern fanden keine Ruhe; heiße Tränen vergießend, gedachten sie unablässig der Tochter. Aber da das Ungeheuer nicht mehr in ihrer 519
Nähe war, nahm ihre Haut wieder eine frische Farbe an, und als sie sich in der Morgenfrühe erhoben, fühlten sie sich so wohl wie ehedem. In der Thronhalle waren die hundert Zivil- und Militärmandarine in Erwartung ihres Herrschers versammelt und begrüßten ihn mit freudigen Zurufen,. Auch Ssan Tsang erschien mit seinen Schülern in der Halle, sie nahmen auf bereitgestellten, rotbezogenen Stühlen Platz. Danach stieg der König vom Thron herunter und sagte, zu den Pilgern gewandt: „Verehrungswürdige Heilige, wollet Uns ausführlich erklären, wie Ihr erfahren habt, daß sich die wirkliche Prinzessin im Tempel der Goldplatten befindet.“ Ssan Tsang nahm das Wort. Er berichtete von seinem Spaziergang im Klosterpark, von der Unterhaltung mit dem Abt und dem Auftrag, den dieser ihm erteilt und den zu erfüllen er und sein Schüler sich bemüht hatten. Der König und alle Anwesenden hörten unter heftigem Schluchzen zu. Als Ssan Tsang geendet hatte, verkündete der König: „Wir, die Königin und alle Mandarine werden uns nun gemeinsam zum Tempel der Goldplatten begeben. Die vier Pilger bitten wir, uns zu geleiten.“ Alsbald stand die königliche Sänfte bereit, und der Zug setzte sich in Bewegung. Ssing-tschö eilte ihm auf einer Wolke voraus. Als er auf dem Klosterhof niederstieg, liefen die Bonzen voller Staunen zusammen. „Ehrwürdiger Bruder, wie ist es möglich, daß Ihr durch die Luft reist?“ Ssing-tschö lachte und erwiderte: „Den Weg zu Euch auf einer Wolke zurückzulegen, ist ein Kinderspiel für mich. Ich kann aber auch ohne Schwierigkeiten zu den himmlischen Gefilden aufsteigen.“ Darauf kündete er ihnen den Besuch des Königspaares an und ersuchte sie, die notwendigen Vorbereitungen zu treffen. Inzwischen war auch der Abt herausgekommen; Ssing-tschö unterrichtete ihn, wie sich die Entführung der Prinzessin aufgeklärt hatte. Mit feierlicher Würde wurde der hohe Besuch willkommen geheißen. Der König war verwundert, daß Ssing-tschö bereits 520
eingetroffen war. „Eine so kurze Strecke wie die sechzig Li hierher bedeutet für mich, mich einmal umzudrehen“, entgegnete dieser, „ich benötige dafür keinen halben Tag.“ Ssan Tsang führte den König zu den hinteren Kammern und deutete auf eine Tür. „Hier findet Ihr die Prinzessin“, sagte er und ließ die Tür aufschließen. Die Königin trat zuerst ein, laut aufschluchzend schlossen Mutter und Tochter einander in die Arme. Dann begrüßte der König die wiedergefundene Prinzessin und befahl, ihr warmes Wasser und neue Kleidung zu bringen, er wollte ohne Aufschub die Rückreise antreten. Aber Ssing-tschö vertrat ihm den Weg. Mit aneinandergelegten Händen bat er den König, dem Tempel und dessen Abt zum Dank für die der Prinzessin gewährte Aufnahme Ehrentitel zu verleihen. „Das ist ein sehr guter Vorschlag“, sagte der König lobend. „Der Tempel soll fortan den Namen ‚Wohltäter der Verwaisten’ tragen; sein Abt erhält für ewige Zeiten den Titel: ,Bau gue ssöng gwan – Buddhistischer Verteidiger des Reiches’ mit einem Jahresbezug von dreihundertsechzig Dan Reis.“ Hochbeglückt verneigten sich die Bonzen zum Ausdruck ihres Dankes und geleiteten den König in die Hauptstadt zurück. Auf einem Festmahl zu Ehren der Bonzen und der vier Pilger dankte die Prinzessin ihren Befreiern. Am folgenden Tage berief der König geschickte Künstler, um Bilder von den Pilgern malen zu lassen. Sechs Tage lang folgte ein Fest dem anderen; schließlich bestand Ssan Tsang auf der Abreise, und der König sah ein, daß er der Fortsetzung der Pilgerfahrt nicht länger hinderlich sein durfte. Nur betrübte ihn sehr, daß alle seine Geschenke, zweihundert Gold- und Silberbarren und eine große Schale voll kostbarer Juwelen, abgelehnt wurden. An der Spitze eines festlichen Zuges von Mandarinen und Bonzen geleitete er die Reisenden zu den Toren der Hauptstadt. Die Bonzen wollten sich der Pilgerfahrt anschließen. Aber Ssan Tsang befürchtete davon Verzögerungen, und Ssing-tschö erzeugte einen Sandsturm, vor dem 521
die Bonzen, aus Furcht zu erblinden, die Augen schlossen. Als sie sie wieder aufschlugen, mußten sie feststellen, daß die Pilger ihren Blicken entschwunden waren, und kehrten in ihr Kloster zurück.
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EIN WOHLTÄTER WANDERNDER BONZEN WIRD ERMORDET UND INS LEBEN ZURÜCKGERUFEN
96. Das Gelübde des Kou Jüan-wai. Ssan Tsang besteht auf schneller Fortsetzung der Pilgerfahrt
Wieder waren ein Frühling und ein Sommer vergangen; der Herbst näherte sich bereits seinem Ende. Meister wie Schüler nächtigten im Freien; befeuchteten die Lippen mit Tau, um ihren Durst zu stillen; kletterten bergauf, bergab. Ihre Kräfte waren dem Versagen nahe; das Pferd begann zu lahmen. Endlich näherten sie sich einer Stadt und wurden von zwei würdigen Herren zu einem gewissen Kou Jüan-wai gewiesen, bei dem sie gastfreundliche Aufnahme finden würden. Tatsächlich stand vor dem bezeichneten großen, von Wohlstand zeugenden Hause eine Tafel mit der Aufschrift: Wan ssöng bu dsu – zehntausend Bonzen sei Aufnahme gewährt. Ein Diener mit einer Waage und Gewichten in der Hand erschien im Eingang; beim Anblick der fremdländischen Gäste ließ er vor Schreck alles fallen und lief ins Haus zurück. „Gnädiger Herr, vier Pilger on sonderbarem Aussehen heischen Einlaß!“ meldete er. Kou Jüan-wai ging eilends vor das Tor, fragte die Fremden nach dem Woher und Wohin und bat sie, einzutreten. Die Diener mußten Tee und Fastengerichte vorbereiten und das Pferd versorgen. Bis das Essen aufgetragen wurde, erzählte er den Gästen aus seinem Leben: er war vierundsechzig Jahre alt, verehrte Buddha und hatte mit vierzig Jahren das Gelübde abgelegt, 523
zehntausend wandernde Bonzen in seinem Hause zu beherbergen. Neuntausendneunhundertsechsundneunzig Pilgern hatte er bisher Unterkunft gewährt; er pries sich glücklich, daß der Himmel ihm die vier letzten zugeführt hatte, um sein Gelübde zu erfüllen. Neugierig ob der Unruhe in Küche und Haus, trat Kou Jüanwais Gemahlin aus den Frauengemächern auf den Gang hinaus und erfuhr von den Dienern, daß der Herr Bonzen aus dem Reiche der Tangkaiser aufgenommen habe. Nur unter dem Schutz der Himmlischen könnten sie, nach Meinung des gnädigen Herrn, die endlos weite und beschwerliche Reise zurückgelegt haben. Es reizte die Frau, solche hohen Gäste zu begrüßen. Sie ließ dem Gatten ihr Kommen melden und begab sich in den Saal. Die edle Schönheit Ssan Tsangs fiel ihr sofort auf, das abstoßende Äußere der drei Schüler erschreckte sie. Mit niedergeschlagenen Augen kam sie den Riten nach. Auch die beiden jungen Söhne des Hausherrn fanden sich voller Wißbegier ein, um den fremden Meister und dessen Schüler zu begrüßen. Der Vater erklärte ihnen den wichtigen Auftrag, den der große Tangkaiser dem Meister erteilt habe, und Ssan Tsang erzählte einiges von dem Verlauf der Pilgerfahrt. „Vierzehn Jahre lang bin ich schon unterwegs“, sagte er niedergeschlagen, „in jedem Jahr bin ich vier Monate vorangekommen, in der übrigen Zeit galt es, Hindernisse zu überwinden und gegen Ungeheuer zu kämpfen.“ Die Jünglinge brachen in Rufe des Erstaunens und der Bewunderung aus: „Wahrlich, Ihr seid ein großer Heiliger und steht unter dem Schutz der Himmlischen!“ Währenddessen wurden Tee und Speisen aufgetragen; Mutter und Söhne zogen sich zurück. Der Hausherr bat die Gäste zuzulangen und setzte sich zu ihnen an den Tisch. Jede geleerte Platte wurde durch eine frisch gefüllte ersetzt. Ba Djä führte sich auf wie ein Kormoran, der gierig einen Fisch nach dem anderen in sich hineinschlingt. 524
Sieben volle Tage blieben Meister und Schüler auf Kous inständiges Bitten in dem gastlichen Hause, um an dem Fest zu Ehren des erfüllten Gelübdes teilzunehmen. Achtzig Bonzen aus dem Bezirk kamen zusammen, um die Bittschriften an die Himmlischen abzufassen und die vorgeschriebenen Opfer und Fastengerichte zuzubereiten. Mehrere aufeinanderfolgende Nächte verbrachten sie im Gebet. Am Tage nach dem Fest bestand Ssan Tsang darauf, sich zu verabschieden. Kou war betroffen; er machte sich Vorwürfe, daß er während des Festes es an der gebührenden Achtung dem Gaste gegenüber habe fehlen lassen. Ssan Tsang beruhigte ihn. „Mein Wunsch aufzubrechen“, sagte er, „hat andere Gründe. Beim Antritt der Pilgerfahrt fragte mich der Sohn des Himmels, wie lange Zeit ich fortzubleiben gedächte. Ich war zu Pferde und antwortete: ,Drei Jahre.’ Wie konnte ich ahnen, welche Schwierigkeiten sich unterwegs auftun, wie viele Ungeheuer mir entgegentreten würden! Vierzehn Jahre sind seit meinem Aufbruch vergangen, und noch immer habe ich mein Ziel nicht erreicht. Sollte es mir beschieden sein, in den Besitz der Heiligen Schriften zu gelangen, so werde ich abermals vierzehn Jahre für die Rückreise brauchen. Ich habe eine schwere Schuld auf mich geladen, indem ich meinen Herrn leichtfertig getäuscht und meinen Auftrag nicht rechtzeitig erfüllt habe. Ich bitte Euch also, sich meinem Fortgehen nicht zu widersetzen.“ Kou Jün-wai wagte nicht weiter, den Gast zu drängen. Er bat alle buddhistischen und dauistischen Priester, sich am folgenden Tag zur Verabschiedung des Bonzen aus dem Tangreich bereitzuhalten, bestellte Bannerträger und Musikanten und sorgte für reichlichen Reiseproviant. Am Abend, dem letzten, den die Gäste in seinem Hause zubrachten, ließ er ein ausgiebiges Festmahl auftragen, und bei den Klängen leiser Musik und heiterer Lieder vergnügten sich alle, gleich, ob sie auf den ersten oder letzten Plätzen an der Tafel saßen. In der Morgendämmerung setzte sich 525
ein langer Zug feierlich in Bewegung. Voran schritten die Bannerträger und Musikanten; ihnen folgen Buddhisten und Dauisten, in ihrer Mitte ritt Ssan Tsang, zu seinen Seiten schritten sein Gastgeber und seine Schüler. Jenseits des Stadttores kam der Zug zum Stehen. Kou Jün-wai flossen die Tränen übers Gesicht, als er zum Abschied sagte: „Meister, ich habe keinen größeren Wunsch als den, Euch wiederzusehen. Kehrt auf der Heimreise einige Tage bei mir ein.“ Ssan Tsang dankte für alle ihm erwiesenen Freundlichkeiten und schloß mit dem Versprechen, den Gastfreund wieder aufzusuchen. Bis zum Anbruch der Dämmerung legten die Pilger vierzig Li zurück. Ein Wolkenbruch durchnäßte sie und nötigte sie, in einem verfallenen Tempel über Nacht Unterschlupf zu suchen.
97. Die Pilger werden des Mordes bezichtigt. Die Seele des Ermordeten kehrt zurück und bezeugt die Unschuld der Pilger
Im Schutze dieser regendunklen Nacht drangen Räuber in das Haus des wohlhabenden Kou Jüan-wai ein. Familie und Dienerschaft brachten sich in Sicherheit, während die Kerle das Vordertor einschlugen. Ungestört durchwühlten sie alle Truhen und schleppten heraus, was leicht fortzuschaffen war, dazu ungezählte Gold- und Silberbarren, Juwelen und Edelsteine. Befriedigt ob der unerwartet reichen Beute zogen sie mit lautem Spektakel von dannen. Jammernd lief Kou Jüan-wai hinter ihnen her und flehte sie an, ihm wenigstens die notwendigsten Kleidungsstücke herauszugeben. Die Kerle wandten sich um und streckten den alten und gebrechlichen Mann mit einem Hieb zu Boden. Darauf suchten sie in westlicher Richtung das Weite. Verstört kehrte die Mutter mit den Söhnen und den Dienern 526
in das Haus zurück. Dicht davor entdeckten sie die Leiche des Hausherrn. Während alle in lautes Klagen ausbrachen und die Räuber verwünschten, hatte Frau Kou ihre eigenen Gedanken. „Wenn Euer Vater nicht immer fremde Bonzen in unser Haus aufgenommen hätte“, sagte sie zu den Söhnen, „lebte er noch. Ich habe von weitem im Schein der Fackeln die Gesichter der Räuber genau sehen können: ihre Anführer waren dieser Bonze Ssan Tsang und dessen Schüler. Gleich in der Morgenfrühe werdet Ihr beim Bezirksrichter die Klage gegen sie einreichen.“ Am nächsten Tage besorgte Frau Kou den Sarg und die Sterbekleider für den Toten; die Söhne begaben sich in den Jamen und überreichten dem Bezirksrichter unter vielen Tränen die Anklageschrift gegen die Bonzen. Der Mandarin setzte sofort einen Trupp von hundertfünfzig Bewaffneten, teils zu Pferd, teils zu Fuß, in Bewegung. Inzwischen gewahrten die flüchtenden Räuber auf der westwärts führenden Straße die vier Pilger, die bei Tagesanbruch aus der Tempelruine aufgebrochen waren, und einer aus der Bande sagte zu seinen Kumpanen: „Sind das nicht die Bonzen, die sich zuletzt im Hause des Kou aufhielten? Sicher haben sie reiche Gastgeschenke und ausreichend Lebensmittel mitbekommen!“ Sofort waren die Kerle bereit, die friedlich ihres Weges Dahinziehenden zu überfallen. Sie überholten sie, umzingelten sie und schrien sie an: „Geld und Gepäck her! Sonst schlagen wir Euch zu Brei!“ Ssan Tsang schlotterten die Knie, daß er sich kaum auf dem Sattel halten konnte. Ssing-tschö jedoch lachte und sagte: „Ihr sprecht, wie Räuber zu sprechen pflegen. Habe ich recht?“ – „Großmäuliger Bonze! Totschlagen werden wir dich!“ brüllten die Räuber und wollten auf Ssing-tschö eindringen. Aber sie konnten sich plötzlich nicht mehr von der Stelle rühren, kerzengerade und unbeweglich standen sie im Kreise um die Pilger herum, selbst die Zunge war ihnen gelähmt: Ssing-tschö hatte sie mit einer magischen Formel gebannt. Mit einer anderen Formel 527
zauberte er dreißig feste Stricke und befahl Ba Djä und Scha Ssöng, die Übeltäter zu fesseln. „Es gilt immer noch das Wort der Alten“, sagte er, „es sei besser, einen Mann zu Unrecht im Gefängnis zu belassen, als ihn ohne sichere Kenntnis der Wahrheit freizulassen.“ Als die dreißig Mann geknebelt auf dem Boden lagen, entzauberte er sie und befahl ihnen, ihre Verbrechen zu bekennen. So erfuhren die Pilger von der Ermordung des gütigen Kou Jüan-wai, und Ssing-tschö ließ das geraubte Gut auf dem Sattel des Pferdes verstauen, um der Witwe und den Söhnen wenigstens ihre Habe zuzustellen. Wäre es nach ihm gegangen, so hätte er die Räuber mit dem Tode bestraft, aber er fürchtete die erneuten Vorwürfe des Meisters, und deswegen löste er mit einem Zauberspruch die Fesseln, und die Bande ergriff zitternd vor Angst die Flucht. Die Pilger schlugen den Rückweg in die Stadt ein. Sie hatten kaum zwei Li zurückgelegt, da tauchte der vom Bezirksrichter ausgesandte Trupp Bewaffneter auf, und sie wurden zum zweiten Mal umzingelt. „Räuber im Mönchsgewand!“ schallte es ihnen entgegen. Sie wurden gefesselt in den Jamen geschafft. In einem scharfen Verhör beschuldigte sie der Richter des Mordes und hielt ihnen die Anklageschrift der Söhne Kous als Beweis vor. Darauf wurden sie in eine Kerkerzelle gezerrt, und die Wächter schickten sich an, die Prügelstrafe an ihnen zu vollziehen. Ssan Tsang wurde aschfahl bei dem Gedanken an die bevorstehende Schmach und Qual. Ssing-tschö dagegen sann auf einen Ausweg. ,Es gibt ein altes Sprichwort’, überlegte er: ,Die Tortur kann man durch Geschenke abwenden!’ und er bat die Wächter, aus dem Gepäck ein kleines Paket in Ölpapier herauszunehmen. Darin war das kostbare Obergewand enthalten, das der Kaiser Ssan Tsang bei Antritt der Pilgerfahrt überreicht hatte. „Das soll Euer Geschenk sein“, sagte er zu den Wächtern, „wenn Ihr unserem Meister die Prügelstrafe erlaßt. Es hat einen Wert von tausend Goldjüan.“ Die Wächter wendeten das glitzernde 528
und flimmernde Gewand bewundernd hin und her und entdeckten in einer Tasche die von vielen Siegeln bedeckten Geleitbriefe. Erstaunt brachten sie sie dem Gefängnisdirektor. Der sah sie prüfend durch und nahm sie sowie das Obergewand in Verwahrung. „Diese Bonzen sind keine Räuber“, erklärte er den Wächtern. „Rührt die Gefangenen nicht an! Morgen wird der Fall geklärt werden.“ Um die vierte Nachtwache entschlüpfte Ssing-tschö als kleine Grille und flog zum Hause des Kou Jüan-wai. In der Halle brannten die Lampen; die Witwe saß am offenen Sarg, und die Söhne ordneten die Opfergaben und sangen die vorgeschriebenen Klagelieder. Ssing-tschö ließ sich auf den Sargrand nieder und stieß einen Schrei aus. Die Witwe und die Söhne fuhren erschrocken zusammen. „Warum habt Ihr eine falsche Anklage gegen die Bonzen vorgebracht?“ hörten sie die Stimme des Vaters sagen. „Durch Eure Verleumdung sind vier heilige Männer eingekerkert und gefoltert worden. Dabei sind sie es gewesen, die den Räubern die Beute abgenommen haben, um sie Euch zurückzubringen! Und ich beauftrage Euch: tragt im Jamen die reine Wahrheit vor und tretet für die Freilassung der Bonzen ein. Gehorcht ihr meinem Befehl nicht, so bleibe ich einen vollen Monat im Hause! Ich werde alles zerstören, was Ihr besitzt, und Mensch und Tier töten.“ Die Söhne warfen sich vor dem Sarg nieder. „Wir bitten Euch, Vater, Eurer Witwe und Euren Söhnen kein Leid anzutun. Sobald es tagt, werden wir im Jamen die Wahrheit bekennen und bitten, die Bonzen freizulassen.“ Ssingtschö war erleichtert, da er endlich etwas für die Befreiung seines Meisters getan hatte, und kehrte in das Gefängnis zurück. Die beiden Söhne hielten ihr Versprechen. Sie ließen sich bei dem Bezirksrichter melden, berichteten ihm das seltsame Geschehnis der Nacht und baten, die gefangenen Bonzen freizugeben. Der Mandarin überlegte. Wären die Bonzen wirklich Räuber, so hätten sie nicht den Rückweg in die Stadt eingeschla529
gen, um das gestohlene Gut zurückzuschaffen. Sie waren aber auf dem Weg in die Stadt gefangengenommen worden. „Den Bonzen ist sicher Unrecht geschehen!“ sagte er und befahl, die Gefangenen vorzuführen. Er verkündete ihnen, daß ihre Unschuld erwiesen sei, und gab den Söhnen auf, ein Festessen zum Ausdruck des Dankes gegen die Bonzen zu veranstalten. Aber Ssan Tsang bestand darauf, seine Reise unverzüglich fortzusetzen. Kou Jüan-wais Söhne stellten abermals eine Tafel vor dem Hause auf, deren Inschrift besagte, daß alle vorüberziehenden Bonzen im Hause als Gäste willkommen seien.
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SSAN TSANG NIMMT EIN TSANG HEILIGER SCHRIFTEN IN EMPFANG
98. Der Fährmann der Seelen der Verstorbenen setzt die Pilger über. Sie gelangen vor das Angesicht des Erhabenen Buddha
In den folgenden Tagen kamen die Pilger bequem voran. Die Landschaft bot ein immer lieblicheres Bild; die Siedlungen folgten dicht aufeinander, die Herbergen für Bonzen wurden zahlreicher. Am siebenten Tag sahen sie eine vielstöckige Pagode vor sich aufragen. Ssan Tsang schätzte ihre Höhe auf über hundert Dji. Ssing-tschö sagte darauf verwundert: „Meister, bisher habt Ihr Euch vor jedem Tempel nach den Riten verneigt. Nun Ihr Euch diesem heiligen Ort nähert, bleibt Ihr im Sattel sitzen.“ Erschrocken stieg Ssan Tsang vom Pferd und ging zum Eingang der Pagode. Ein Bonze trat ihm entgegen und sprach ihn an: „Seid Ihr nicht der Bonze aus der Hauptstadt des Ostens? Vor vierzehn Jahren hat die Göttin Guanjin mir verkündet, daß Ihr in drei Jahren hier eintreffen würdet, und mich beauftragt, Euch würdig zu empfangen.“ Der Sprecher hatte edle Gesichtszüge, trug ein Obergewand aus bestickter Seide und hielt einen Fliegenwedel in der Hand. Ssing-tschö flüsterte Ssan Tsang zu: „Meister! Der mit Euch spricht, ist der Hohe Unsterbliche Djin Ding; er wohnt am Fuße des Lingschan und ist Euch entgegengekommen, um Euch willkommen zu heißen.“ Ssan Tsang legte die Hände in Brusthöhe aneinander und sagte mit tiefer Verneigung, wobei er den Erdboden mit der Stirn berührte: „Hoher Unsterblicher, ich danke Euch, daß Ihr mich die vielen Jahre hin531
durch erwartet habt.“ Mit freundlichem Lächeln bat Djin Ding den Meister, mit seinen Schülern einzutreten. Er ließ ihnen Tee vorsetzen und befahl jungen Priestern, Wasser für die religiösen Waschungen zu wärmen. Ssan Tsang wusch sich, und darüber wurde es Zeit zum Schlafengehen. Am nächsten Tage legte Ssan Tsang das kostbare Obergewand für hohe Festtage an und verabschiedete sich von Djin Ding. Der nahm ihn bei der Hand und führte ihn mit den Schülern durch eine Hinterpforte hinaus. Auf einen Strahlenkranz weisend, der in nicht allzu großer Höhe vor ihnen am Himmel schwebte, sagte er: „Geht diesem nur immer nach, so gelangt Ihr sicher auf den Lingschan in den Tempel des Erhabenen Buddha. Ihr habt fortan keine Hindernisse und Ungeheuer mehr zu befürchten, und so verabschiede ich mich von Euch.“ Die Pilger zogen in der ihnen gewiesenen Richtung westwärts. Wenige Li weiter wurden sie durch einen Fluß gehemmt, der gut acht bis neun Li breit war und mit seinen sich überstürzenden, hoch aufschäumenden Wogen einem Meer glich. Ssan Tsang gab sich sofort der Mutlosigkeit hin; Ssing-tschö dagegen hielt Umschau und erspähte in geringer Entfernung eine Brücke. Der Meister lenkte das Pferd dorthin. Am Ufer verkündete eine Tafel: Ling jün du – Wolkensteg. Bei näherem Zusehen stellte sich heraus, daß dieser Steg ein einzelner schlanker Baumstamm war, der sich wie ein Regenbogen von einem Ufer zum anderen wölbte. „Diese Brücke ist für Buddhas und Unsterbliche bestimmt; menschliche Wesen können sie nicht überqueren“, sagte Ssan Tsang. Auch Ba Djä und Scha Ssöng lehnten das lebensgefährliche Wagnis ab. „Bleibt hier! Ich werde Euch vormachen, daß man ungefährdet darauf ans jenseitige Ufer gelangt“, sagte Ssing-tschö. Leichtfüßig schritt er den Steg bis zum entgegengesetzten Ende entlang und rief den Zurückgebliebenen zu, ihm schnell zu folgen. Seine Ermunterung verhallte ungehört, er mußte zurückkehren. Aufgebracht beschuldigte er die Gefährten 532
der Feigheit und warnte sie, sich durch ein solches Verhalten der Aussicht auf die Buddhawerdung zu berauben. Mitten in dieses Wortgeplänkel hinein rief Ssan Tsang: „Hört auf, Euch zu streiten! Es kommt ein Kahn!“ Tatsächlich näherte sich ein Kahn; am Bug war zu lesen: „Wer den Fluß zu überschreiten wünscht, besteige diesen Kahn.“ Er hielt vor den Pilgern. Ssing-tschö erkannte den Fährmann: es war Djä jin ji dsu – der Fährmann der Seelen der Verstorbenen. Aber er behielt sein Wissen für sich. Ssan Tsang schickte sich an, einzusteigen. Aschfahl zog er den Fuß zurück. „Dieser Kahn hat keinen Boden!“ rief er entsetzt. Der Fährmann entgegnete: „Hört, was es mit diesem meinem Kahn für eine Bewandtnis hat: Mein Kahn hat wohl Seitenwände, doch keinen Boden, denn es ist ein übernatürlicher Kahn. Aber obwohl ohne Boden, mögen ihn betreten alle, die ein Leben der Vervollkommnung führen. Alle Menschen jedoch mit gleichgültigen Herzen mögen sich hüten, einzusteigen. Buddhas Tempel ragt, zum Betreten geöffnet, vor ihnen auf, doch vermögen sie nicht, ihr Maß guter Taten aufzufüllen.“ Mit aneinandergelegten Händen sagte Ssing-tschö: „Meister, nehmt zur Kenntnis, daß dieser Kahn, obschon ohne Boden, Euch sicher an das andere Ufer bringen wird.“ Und als Ssan Tsang trotzdem noch zögerte, stieß er ihn vorwärts. An allen Gliedern zitternd, hielt er sich mühsam auf der oberen Planke und überschüttete Ssing-tschö mit Vorwürfen. Aber der schob Ba Djä und Scha Ssöng mit Pferd und Reisesäcken hinterher und stieg als letzter dazu. Der Fährmann tauchte die Ruder ein. Im selben Augenblick wurde im Wasser eine Leiche sichtbar, sie trieb mit der Strömung dahin. Ssan Tsang erschrak über alle Maßen. Ssing-tschö sagte lächelnd: „Meister, ängstigt Euch nicht! Ihr seid es selbst!“ Auch 533
Ba Djä rief: „Wahrhaftig, Ihr seid es!“ und Scha Ssöng klatschte in die Hände und wiederholte: „Ihr seid es selbst! Ihr seid es selbst!“ Als letzter sagte der Fährmann: „Ihr seid es wirklich! Ihr habt es geschafft!“ Die Schüler beglückwünschten ihren Meister, daß er sich seines irdischen Leibes entledigt hatte. In einem Nichts von Zeit glitt der Kahn über den reißenden Fluß an das jenseitige Ufer. Der nun schwerelose Ssan Tsang sprang leichtfüßig an Land, die Schüler folgten ihm. Fährmann und Kahn entschwanden augenblicks. Beschwingt erklommen die Pilger den Lingschan, dessen Naturschönheiten die der Berge auf der Erde um ein Zehntausendfaches übertrafen. Ein himmlischer Posten gab die Nachricht von ihrem Kommen an den nächsten weiter; der letzte trat in den Palast ein und meldete: „Erhabener Buddha! Der vom Tangherrscher auf die Suche nach den Heiligen Schriften ausgesandte Bonze ist eingetroffen!“ Erfreut rief der Erhabene Buddha alle Buddhas, Geister und Schüler zusammen, hieß sie in zwei Reihen zu seiner Linken und Rechten Aufstellung nehmen und befahl, den Bonzen mit dessen Schülern hereinzuführen. Die vier Pilger traten ein und verneigten sich dreimal vor dem Antlitz des Erhabenen Buddha, dann ebenso oft nach rechts und nach links. Ssan Tsang überreichte seinen Geleitbrief und sagte: „Auf Befehl meines Herrschers, des großen Tangkaisers, habe ich die Pilgerfahrt zu diesem Heiligen Berg unternommen, um in den Besitz der Heiligen Schriften zu gelangen. Geruhet, Erhabener Buddha, sie mir zu geben. Ich will sie in mein Land schaffen.“ Der Erhabene Buddha entgegnete: „In dem Großen Reich, der Mitte trachten zahlreiche Menschen nach Reichtümern sind angefüllt mit Mordlust, bösen Begierden und Lügenhaftigkeit und denken nicht daran, Gutes zu vollbringen. Sie alle kommen in die Kerker der Hölle, wo sie auf die schrecklichste Weise gefol534
tert werden. Um die Lebenden vor solchem Geschick zu bewahren und die Toten davon zu erlösen, habe Ich drei Sammelbände Schriften verfaßt. Der erste handelt von den Gesetzen des Himmels, der zweite von den Gesetzen der Erde, der dritte von der Befreiung der verwaisten Seelen. In allen Schriften halte ich die Menschen an, das Gute zu tun, weise ihnen die Wege zur Erlösung, führe sie in die Geomantie und Astrologie ein und in viele Dinge, die Menschen, Pflanzen und Tiere betreffen. Einen Teil dieser meiner Werke sollt Ihr haben. In Eurem Lande gibt es nur wenige, die an meine Lehre glauben; aber nicht wenige, die sie verspotten. Wohlan! O-nan und Tjä-jä! Setzt diesen Pilgern Tee und Speisen vor und gebt ihnen aus den Sammelwerken eine Auswahl Schriften. Sie mögen sie in das Reich der Mitte mitnehmen und dort die Menschen ihrer Zeit danach unterweisen.“ Wie ihnen geheißen, gingen die beiden Ehrwürdigen mit den Pilgern in den Turm und bewirteten sie mit Tee und einer Fülle schmackhafter Gerichte. Meister und Schüler genossen sie, ohne zu erkennen, was sie zu sich nahmen, denn es gab auf der Erde nicht ihresgleichen. Selbst Ba Djä war wunschlos befriedigt. Nach der Mahlzeit ließen die Ehrwürdigen ihre Gäste in die Bibliothek eintreten und machten drei große Bücherpacken für sie zurecht. Einen davon lud Ssing-tschö dem Pferd auf, die beiden anderen sollten Ba Djä und Scha Ssöng tragen. Zum Schluß wurden die Pilger noch einmal vor den Lotosthron geführt, und der Erhabene Buddha ließ sich von O-nan und Tjä-jä die Bücher nennen, die sie für den Heiligen Bonzen ausgewählt hatten. Die beiden zählten die Sammelwerke und die darin enthaltenen Titel auf. „Im ganzen hat er ein Tsang, also fünftausendachtundvierzig Bände, erhalten“, schlossen sie den Bericht. Meister und Schüler verneigten sich zum Ausdruck ihres Dankes, und der Erhabene Buddha sagte: „Diese Bücher zu lesen, ist von großem Wert. Die nicht fasten und sich nicht der Tugendhaftigkeit befleißigen wollen, haben keinen Nutzen davon. Die nach den Vor535
schriften in den Büchern leben, werden den Strafen entgehen und des Glücks teilhaftig werden. Die sich bemühen, nach den gegebenen Regeln den Weg der rechten Lebensführung innezuhalten, werden Buddhas und Unsterbliche werden.“ Ssan Tsang warf sich dreimal nieder, dankte und verließ mit seinen Schülern den Palast. Nach dem Fortgang der Pilger nahm die Göttin Guanjin das Wort. „Erhabener Buddha! Eurem Auftrag gemäß habe ich den Bonzen Ssan Tsang auf die Pilgerfahrt zum Auffinden der Heiligen Schriften geschickt. Er hat seinen Auftrag in vierzehn Jahren, das heißt in fünftausendvierzig Tagen, ausgeführt. An dieser Zahl fehlen acht Tage, damit der Wert eines Tsang erreicht werde. Wollet veranlassen, daß er am fünftausendachtundvierzigsten Tage nach seinem Aufbruch aus Tschangan wieder hier eintrifft.“ Dieser Vorschlag gefiel dem Erhabenen Buddha. Er rief die Acht Torwächter zusammen und befahl ihnen: „Geleitet den Heiligen Bonzen in die Hauptstadt des Ostens zurück und tragt Sorge, daß er am fünftausendachtundvierzigsten Tage nach seinem Aufbruch aus der Hauptstadt wieder hier anlangt.“ Auf schnellen Wolken holten die Acht Wächter Ssan Tsang ein und riefen ihm aus der Höhe zu: „Djü djing di, gönwo lai! – Der Ihr die Heiligen Schriften erhalten habt, folgt uns!“ Und der schwerelose Ssan Tsang erhob sich in die Lüfte und flog auf einer Wolke hinter den Wächtern her. Ssing-tschö, Ba Djä, Scha Ssöng und das Drachenpferd folgten ihm.
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DIE PILGER ÜBERGEBEN DEM TANGKAISER DIE HEILIGEN SCHRIFTEN UND WERDEN INS PARADIES AUFGENOMMEN
99. Die Pilger haben unzählige Ungeheuer vernichtet. Neues Hindernis auf der Rückreise
Nach dem Gespräch mit dem Erhabenen Buddha wandte sich Guanjin an die Gottheiten, die dem Heiligen Bonzen während seiner Pilgerfahrt schützend zur Seite gestanden hatten, und fragte: „Mit was für Gefühlen haben Ssan Tsang und seine Schüler die Reise zurückgelegt?“ Die Gefragten antworteten: „Meister und Schüler bekundeten vom Beginn bis zum Schluß eine lautere Gesinnung. Die unzähligen Beweise ihrer Standhaftigkeit haben wir in diese Chronik eingetragen“, und dabei überreichten sie der Göttin ein Buch. Guanjin sah es durch: in achtzig Berichten waren die Gefahren und Hindernisse beschrieben, welche die Pilger hatten überwinden müssen. „Im Reiche Buddhas“, sagte die Göttin, „gibt es neun Arten des Lotosthrones, und jede Art wiederum in neun verschiedenen Farben; im ganzen gibt es also einundachtzig Arten des Lotosthrones. Der Heilige Bonze hat achtzig Prüfungen bestanden, er muß noch der einundachtzigsten unterworfen werden.“ Einen ganzen Tag und die folgende Nacht glitten die Gottheiten hinter den Wächtern her, bis sie sie eingeholt hatten, und übermittelten ihnen den Befehl der Göttin. Die Acht Wächter durften sich nicht weigern; sie stellten den Wind ab, der die Reisenden vor sich her trug; Ssan Tsang, Schüler und Pferd fielen jählings auf die Erde hinunter. 537
San Tsang war von diesem unerwarteten Sturz völlig benommen. Ba Djä brach in schallendes Gelächter aus. „Hau! Hau! Ausgezeichnet! Wer schnell vorwärts will, wird gebremst!“ Scha Ssöng meinte, sie seien wahrscheinlich zu schnell geflogen, die sie führenden Geister bedürften einer Pause. Ssan Tsang untersagte ihnen derlei törichtes Geschwätz; Ssing-tschö solle feststellen, wo sie sich befänden. Der aber hatte bereits an dem Tosen der Fluten, das in der Nähe zu hören war, erkannt, daß sie sich nicht weit vom Durchgangsfluß zum Himmel befanden, über den sie auf der Hinreise eine alte Schildkröte getragen hatte. Er hatte auch schon durchschaut, daß seinem Meister wiederum eine Prüfung bevorstand. Auf seinen Rat begaben sie sich an das Flußufer, und alsbald tönte eine Stimme an ihr Ohr: „Heiliger Bonze, seid Ihr zurückgekehrt?“ Mitten auf dem Fluß reckte die alte Schildkröte den Kopf aus dem Wasser hoch. „Ich warte schon seit Jahren auf Euch“, fuhr sie fort und schwamm auf das Ufer zu, bereit, die Pilger abermals an das andere Ufer zu tragen. Zuerst wurde das Pferd auf den breiten Rücken der Schildkröte geführt; der Meister und Scha Ssöng setzten sich rechts und links davon nieder, Ba Djä dahinter; Ssing-tschö stellte sich davor, den einen Fuß auf den Hals der Schildkröte gestemmt. Sicher glitt die massige Schildkröte durch die Fluten; etwa in der Mitte des Flusses sagte sie: „Meister, auf der ersten Überfahrt bat ich Euch, den Erhabenen Buddha nach der Dauer meiner Bewährung zu fragen. Welchen Bescheid hat er Euch gegeben?“ Diese Bitte hatte Ssan Tsang über seinen eigenen Angelegenheiten vergessen, und weil er die Schildkröte nicht belügen wollte, hielt er es für geraten, nicht zu antworten. Die Schildkröte deutete das Schweigen richtig. Sie tauchte plötzlich unter. Meister und Schüler trieben in der Strömung, die Bücherpacken wurden völlig durchnäßt. Ssing-tschö konnte den schwerelosen Ssan Tsang leichtlich ans Ufer schleppen; Ba Djä und Scha Ssöng, die sich sicher wie Fische im Wasser bewegten, gelangten mit Büchern 538
und Reisesäcken wohlbehalten ans Land. Das Pferd hatte keine Mühe, ihnen zu folgen. Alle vier breiteten Kleider und Bücher auf Steinen zum Trocknen aus. Dabei wurden sie von mehreren Fischern, die zur Arbeit gingen, freundlich begrüßt. „Woher kennt Ihr uns?“ fragte Ba Djä. „Wir kommen aus dem Dorf, in dem die Brüder Dshön wohnen. Es ist etwa zwanzig Li von hier entfernt.“ Ba Djä schlug sofort vor, die Gastfreundschaft der beiden Väter, deren Kinder sie vor dem Tode bewahrt hatten, zu erbitten. Ssan Tsang aber wollte jeden Zeitverlust vermeiden und die Heimreise schnellstens fortsetzen. Der Zufall wollte es, daß die Fischer nach einigen Li den älteren Bruder Dshön trafen. Sie erzählten ihm von der unerwarteten Begegnung, und der Greis eilte sofort zu dem Rastplatz, den die Männer ihm bezeichnet hatten. Er bat die Pilger so dringend, sich in seinem Hause auszuruhen, daß Ssan Tsang nachgab und die Schüler anwies, die Bücher zusammenzupacken. Dabei geschah es, daß das letzte Blatt des Buches, das den Titel trug: ,Fu bön ssin djing –Vom Werden der Buddhas’, sich nicht vom Stein lösen ließ. Darum ist dieses Buch bis zum heutigen Tag unvollständig, aber auf der Steinplatte haben sich die Schriftzeichen im Abdruck erhalten. Ssan Tsang jammerte laut, daß ein Buch eine Lücke aufweise; Ssing-tschö sagte daraufgelassen: „Selbst Himmel und Erde sind lückenhaft. Dahinter birgt sich eine uns unbekannte Absicht der Himmlischen, und die Menschen müssen sich dem fügen.“ Dshön Dshöng nahm die Pilger mit aller nur erdenklichen Gastfreundschaft auf und lauschte ehrfurchtsvoll ihren Berichten. Er führte sie in den Tempel, der zu ihren Ehren im Dorf errichtet worden war, und wies ihnen die vier Statuen, die große Künstler den Gestalten der Pilger nachgeschaffen hatten. Aus den davor aufgestellten Weihrauchschalen kräuselten sich würzig duftende Wölkchen empor. „Was ist mit dem Tempel des 539
Ling Gan?“ fragte Ssing-tschö. „Wir haben ihn zerstört“, erwiderte der Greis. „Seitdem haben wir in jedem Jahr reiche Ernten eingebracht.“ Darauf entgegnete Ssing-tschö: „Wir werden auch fernerhin alle bösen Geister von Eurem Dorf fernhalten. Ihr sollt Euch des Friedens, fruchttreibender Regenfälle und lauer Winde erfreuen. Als Gegenleistung werdet Ihr darauf verzichten, Tiere auf der Jagd zu erlegen, Fische zu fangen, irgendein Lebewesen hinzumorden.“ Dshön Dshöng gelobte es. Nach einem reichlichen Abendessen begaben sich außer Ssan Tsang alle zur Ruhe. Der Meister wollte selbst bei den Büchern wachen. Um Mitternacht weckte er Ssing-tschö. „Unsere Gastgeber werden uns drängen zu bleiben“, flüsterte er ihm zu, „aber wir dürfen keine Zeit versäumen. Richtet alles zum Aufbruch!“ Ssing-tschö pflichtete dem bei. Er rüttelte vorsichtig Ba Djä und Scha Ssöng wach und erklärte ihnen leise in wenigen Worten die Notwendigkeit, schnellstens aufzubrechen. Geräuschlos gelangten die vier aus dem Hause, nicht einmal die Hunde schlugen an. Sie hatten sich erst eine kleine Strecke entfernt, da ertönte über ihnen ein Stimme: „Meister, entfernt Euch in dieser Richtung! Wir fliegen Euch voran!“
100. Schnelle Rückkehr nach China. Fünf Heiligen wird die Unsterblichkeit zugesprochen
Ein leichter Wind hob die Pilger vom Boden aufwärts. Er war duftgeschwängert, und Ssan Tsang erkannte daran, daß ihr Aufsteigen in die Lüfte und ihr schnelles Dahingleiten von den Acht Wächtern ausging. In dem Dorf der beiden Brüder Dshön waren seit Tagesanbruch alle Familien damit beschäftigt, Fastengerichte zuzubereiten. Zu einem langen Zug geordnet, begaben sie sich mit 540
ihren Opfergaben zum Tempel. Dessen Tore standen weit offen, niemand war darin zu sehen. Mit lautem Wehklagen, daß die Buddhas sie verlassen hatten, stellten die Menschen ihre Opfer auf den Altar. Seit jenem Tage werden in diesem Tempel allmonatlich zweimal die üblichen Opfer und außerdem viermal im Jahr große Opfer dargebracht. An den Opfertagen suchen viele Kranke den Tempel auf, um Gesundung zu erflehen, und erhalten sie; kommen viele vom Unglück Gebeugte, um Trost zu heischen, und finden Frieden. Die Acht Wächter führten die Pilger auf ihnen vertrauten Wegen bis Tschangan. Der Leser wolle sich erinnern, daß der Tangkaiser Tai Tsong im dreizehnten Jahr seiner Regierung drei Tage vor dem Vollmond des neunten Monats Ssan Tsang aus der Hauptstadt Tschangan geleitet hatte. Im sechzehnten Jahr seiner Regierung ließ der Kaiser vor dem Westtor der Stadt eine Pagode errichten, der er den Namen ,Wang djing lou – Pagode der Hoffnung auf die Heiligen Schriften’ verlieh, und Jahr um Jahr hielt er an dem Tage, an dem der Bonze aufgebrochen war, von der Höhe der Pagode Ausschau nach ihm, aber immer vergebens. In jenem Jahr aber, von dem die Rede ist, gewahrte er am westlichen Himmel ein eigenartiges Leuchten, und ein leichter Westwind trug ihm angenehme Düfte zu. Zur gleichen Zeit verkündeten die Acht Wächter den Pilgern: „Wir haben Tschangan erreicht. Heiliger Bonze, eilt, dem Sohn des Himmels die Heiligen Schriften zu überreichen. Wir erwarten gemeinsam mit Euren Schülern Eure baldige Rückkehr.“ Ssing-tschö widersprach: „Der Meister bedarf unserer Hilfe, um die Bücher in den Kaiserlichen Palast zu schaffen. Wollet uns also beurlauben, daß wir unseren Meister begleiten können. Wir werden Euch eine möglichst kurze Zeit warten lassen.“ Die Wächter willigten ein, aber mit einer Mahnung: „Der Erhabene Buddha hat acht Tage für die Her- und Rückreise festgesetzt. Davon sind bereits fünf verstrichen. Versäumt Euch also nicht!“ 541
Die Schüler gelobten Pünktlichkeit, und alle vier Pilger sprangen vor der Pagode Wang djing lou auf die Erde. Von seinen hundert Mandarinen gefolgt, trat Kaiser Tai Tsong auf Ssan Tsang zu, der sich tief vor ihm verneigte. Er hob ihn mit huldvoller Begrüßung auf und fuhr in seinem Prachtwagen mit ihm in die Stadt. Ssing-tschö, unermüdlich seine goldbereifte Eisenstange schwingend, Scha Ssöng, mit den Büchern bepackt, und Ba Djä, das Pferd mit den Reisesäcken auf dem Sattel führend, schritten unmittelbar hinter dem Wagen her. Ihnen schlossen sich die Mandarine an. Eine Menge Volks strömte herbei, die Straße zu säumen; denn die Nachricht von der Rückkehr der Pilger verbreitete sich mit Windeseile. Zur selben Stunde sahen die Bonzen im Kloster der Unermeßlichen Glückseligkeit, daß die Wipfel der Fichten im Klostergarten tief nach Osten hinunterhingen. Verwirrte Rufe tönten durcheinander: „Wir hatten eine windstille Nacht. Wie konnten sich unsere Fichten so weit ostwärts neigen?“ Ein älterer Bruder aber, der einstmals Schüler Ssan Tsangs gewesen war, rief: „Legt Eure Tracht für die hohen Festtage an! Mein alter Lehrer kehrt zurück! Bei seinem Fortgang sagte er zu uns: Ich weiß nicht, ob ich in drei oder fünf Jahren wiederkommen werde. Vielleicht werden sechs oder sieben Jahre darüber hingehen. Achtet auf die Fichten im Klostergarten. Wenn ihr eines Morgens feststellt, daß sich ihre Wipfel nach Osten neigen, so ist das ein Zeichen für Euch, daß ich meine Reise beendet habe.“ In aller Eile wechselten die Bonzen das Gewand und machten sich auf den Weg zur Pagode der Hoffnung auf die Heiligen Schriften. In allen Gassen riefen die Menschen einander zu: „Der Bonze, der die Pilgerfahrt nach dem Westen unternommen hat, um die Heiligen Schriften aufzufinden, ist wieder da! Der Kaiser selbst fährt mit ihm vom Westtor in die Stadt.“ Es dauerte auch gar nicht lange, so wurde der Kaiserliche Wagen sichtbar, und die Bonzen schlossen sich dem Geleitzug an. 542
Ssan Tsang betrat mit seinen Schülern den Thronsaal. Auf die Aufforderung des Kaisers, Platz zu nehmen, setzte er sich auf einen der untersten Schemel. Dann ließ er sich von seinen Schülern die Heiligen Schriften geben und sie durch die Hand der Mandarine dem Kaiser überreichen. Dabei schilderte er, wie er die Bücher im Palast des Erhabenen Buddha erhalten, und welches Mißgeschick die kostbare Last gleich nach Antritt der Rückreise betroffen hatte. Auf den Wunsch des Kaisers, dem das fremdländische Aussehen und die Formlosigkeit der drei Schüler auffielen, nannte er deren Namen, berichtete über ihre Herkunft und verfehlte nicht, jedes einzelnen Mut und Geschicklichkeit bei der Überwindung der vielen Gefahren und bei der Vernichtung der zahlreichen Ungeheuer auf der Pilgerfahrt zu loben. Er schloß mit der Geschichte des weißen Drachenpferdes. Tai Tsong fand rühmende Worte der Anerkennung für Ssan Tsang und begehrte nur noch zu erfahren, welche Entfernung er bis zu den Ländern des Westens zurückgelegt habe. Darauf antwortete Ssan Tsang: „Nach den Worten der Göttin Guanjin waren es einhundertachttausend Li. Ich kann keinen Beweis für die Richtigkeit dieser Zahl erbringen. Mir schien es, als wolle die Reise kein Ende nehmen. Wir gelangten von einem fremden Land in das andere; jeder Herrscher setzte sein Siegel in meinen Geleitbrief …“ und er brachte das wichtige Dokument zum Vorschein. Der Kaiser sah es aufmerksam durch. Während er einzelne Namen, die ihm bekannt waren, laut vor sich hinsagte, trat Ssing-tschö an den Thron heran. Demütig bat er den Herrscher, das Paar Rhinozeroshörner, das er nach dem Laternenfest dem erschlagenen Rhinozeros-Ungeheuer hatte absägen lassen, als Geschenk anzunehmen. Der Kaiser willfahrte der Bitte und lud anschließend die vier Pilger zu einem Festmahl. Bei den Klängen lieblicher Musik taten sich alle Gäste nach Herzenslust an auserlesenen Speisen und Reiswein gütlich. Zur Nachtruhe suchte Ssan Tsang mit seinen Schülern das Kloster der Unermeßlichen 543
Glückseligkeit auf. Die Brüder hießen ihn voller Freude willkommen und berichteten ihm, wie sie an den ostwärts gesenkten Wipfeln der Fichten im Klostergarten seine Rückkehr erkannt hatten. In der Frühe des folgenden Tages rief Tai Tsong seinen Hofstaat zusammen und diktierte in dessen Gegenwart seinem Ersten Kanzlisten eine Lobeshymne zu Ehren seines Jüngeren Bruders. Ihre Abfassung hatte ihn die Nacht über wachgehalten. Sie lautete: Buddhas Lehre wendet sich an des Menschen Herz. Sie verlangt von ihm, das Gute zu tun, sich frei von Begierden zu halten. Wer nach ihr lebt, wird ein Buddha oder ein Heiliger. Doch sind Buddhas Schriften bei uns noch selten. Aber der Heilige Bonze Ssan Tsang, seit zarter Jugend nach der Vervollkommnung trachtend, in der Lehre Buddhas gründlich bewandert, überschritt in vierzehn Jahren Schrecken bergende Gebirge, erhielt fünfunddreißig Werke voll Heiliger Schriften und gibt damit uns und der Welt ein volles Tsang Bände. Fortan werden die verwaisten Seelen befreit, und die nach Vervollkommnung trachten, gerettet werden. Als der Kaiser das Diktat beendet hatte, ließ er Ssan Tsang in den Thronsaal führen und überreichte ihm die Dichtung. Ssan Tsang las sie ehrerbietig durch. „Diese Hymne ist kunstvoll aufgebaut und von hohem Geist getragen“, sagte er, und alle Mandarine stimmten seinem Urteil zu. Nun bat Tai Tsong seinen Jüngeren Bruder, ein Kapitel aus einer der Heiligen Schriften vorzutragen. Das wollte Ssan Tsang aber nur an geweihter Stätte tun, und so begaben sich alle in feierlichem Aufzug in den Jan ta sse, den Tempel der Wilden Gänse, und richteten ihre Gedanken auf das Zuhören. Vor dem Lesen sagte Ssan Tsang: „Diese Heili544
gen Schriften müssen überall in der Welt verbreitet werden. Eure Majestät wolle sie oftmals zu diesem Zweck abschreiben, die Urtexte aber in einem Tempel verwahren lassen.“ Der Kaiser ging freudig auf diesen Vorschlag ein. „Unsere Kaiserliche Kanzlei und die Hanlin-Akademie“, bestimmte er, „sollen die Verantwortung für die Abschriften übernehmen, und Wir wollen einen Tempel errichten, in dem sie angefertigt werden. Er wird den Namen ,Töng huang sse – Kaiserlicher Tempel der Abschreibekunst’ tragen.“ Nach dieser Einleitung begann Ssan Tsang vorzulesen. Schon nach wenigen Sätzen wurde er unterbrochen. Ein köstlicher Duft verbreitete sich durch die Tempelhalle, aus der Höhe erklang das Rufen der Acht Wächter: „Stellt das Lesen ein! Legt das Buch beiseite! Kommt sofort mit uns in den Westen!“ Ssingtschö, Ba Djä und Scha Ssöng erhoben sich in die Luft. Ssan Tsang glitt das Buch aus der Hand. Er warf sich vor dem Kaiser nieder und sagte: „Ich wünsche Eurer Majestät zehntausend Jahre eines Lebens in Frieden! Ich kehre zum Angesicht des Erhabenen Buddha zurück!“ Und schon stieg auch er auf eine Wolke. Der Kaiser und alle Mandarine knieten nieder und verharrten eine Weile im Schweigen. Als die vier Pilger ihren Blicken entschwunden waren, beauftragte der Kaiser einen erfahrenen Bonzen, den Tsang Heiliger Schriften zu studieren und die Gebete für die Befreiung der verwaisten Seelen zu sprechen. Von jenem Tage an wurden die Heiligen Schriften Buddhas immer aufs neue abgeschrieben und die Abschriften überall im Lande verteilt. Diebe, Lüstlinge und Mörder gelangten zu der Einsicht, daß sie die Strafen des Himmels ebenso zu fürchten hatten wie die des Kaisers. Zur festgesetzten Zeit gelangten die Acht Wächter mit dem Heiligen Bonzen, den Schülern und dem weißen Drachenpferd im Palast des Erhabenen Buddha an. Vor dem Lotosthron niederkniend, meldeten sie die Erfüllung ihres Auftrages. „Eurem 545
erlauchten Befehl gemäß, Erhabener Buddha, sind die Heiligen Schriften dem Tangkaiser in Tschangan übergeben worden. Den Bonzen und dessen Schüler haben wir zurückgeleitet.“ Buddha schaute auf und richtete das Wort an Ssan Tsang: „Vierzehn Jahre lang habt Ihr die schweren, Euch auferlegten Prüfungen bestanden. Ich verleihe Euch den Titel ‚Tugendhafter und Verdienstvoller Buddha’.“ Darauf wandte sich der Erhabene Buddha Ssing-tschö zu. „Ssun Wu-kung! Ihr habt Euch einstmals gegen die Himmlischen Mächte aufgelehnt. Zur Strafe sperrte ich Euch für fünfhundert Jahre in einen Berg ein. Danach aber habt Ihr Euch eines Lebens der Vervollkommnung beflissen. Ihr habt unzählige Ungeheuer vernichtet, habt mit Euren Kräften und Fähigkeiten dazu beigetragen, daß die Heiligen Schriften aufgefunden werden konnten. Ich verleihe Euch den Titel ,Der in allen Kämpfen siegreiche Buddha’.“ Nun war die Reihe an Ba Djä. „Ihr habt Eure früheren Fehler noch nicht endgültig abgelegt. Aber Ihr habt Euch bemüht, ein Leben der Vervollkommnung zu führen, und zum Gelingen der Pilgerfahrt beigetragen, indem Ihr das Reisegepäck schlepptet. Dafür ernenne ich Euch zum ‚Anwärter auf die zunehmende Lauterkeit’.“ Ba Djä murrte. „Warum werde ich nicht ein Buddha wie die beiden anderen?“ – „Ihr neigt zur Trägheit und habt einen Hang zu gutem Essen und Trinken“, wies ihn der Erhabene Buddha zurecht, „und darum kommt Ihr schlechter fort. Als Buddha würdet Ihr danach trachten, immer größere Opfergaben zu erhalten, und dabei Ungerechtigkeiten verüben.“ Sich Scha Ssöng zuwendend, fuhr der Erhabene Buddha fort: „Was Euch angeht, Scha Ssöng, so ist zu sagen, daß Ihr viele, viele Menschenleben vernichtet habt. Ihr habt Euch aber danach mit großem Ernst bemüht, den Weg der Vervollkommnung einzuhalten, und habt Euch bei der Suche nach den Heiligen Schriften redlich bemüht zu helfen. Dafür ernenne ich Euch zum Lo Han.“ Zum Schluß verkündete Buddha dem Drachenpferd: „Ihr habt gegen die Kindesliebe verstoßen 546
und damit das Leben verwirkt. Aber weil Ihr vierzehn Jahre lang den Heiligen Bonzen getragen habt, sei Euch der Titel ,Drache der Acht Himmlischen Gerichtsbarkeiten’ verliehen.“ Die fünf Titelträger verneigten sich zum Ausdruck ihres Dankes. Ssing-tschö bedrückte noch eine schwere Sorge. „Meister, nun ich gleich Euch ein Buddha geworden bin, bitte ich Euch, mir den Goldreif abzunehmen!“ Ssan Tsang antwortete: „Er ist von Euch abgefallen, als Ihr Buddha wurdet!“ Und Ssing-tschö stellte fest, daß der Reif tatsächlich verschwunden war. Alle Buddha-Schüler legten die Hände aneinander und sagten mit feierlicher Stimme die Litanei zu Ehren aller Buddhas auf. Zum ersten Mal wurden die neuen Buddhas darin genannt: „Gepriesen sei der Tugendhafte und Verdienstvolle Buddha! Gepriesen der in allen Kämpfen siegreiche Buddha!“ Als die Litanei beendet war, löste sich die Versammlung auf. Tiefer Friede und vollkommene Glückseligkeit wurde allen zuteil.
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DER GESCHICHTLICHE SSÜAN DSANG UND SEINE REISE NACH INDIEN China erhielt bereits vor Beginn unserer Zeitrechnung aus Nordindien über Ostturkestan die erste Kenntnis vom Buddhismus. Um die Mitte des 3. Jahrhunderts u. Z. spielte der Buddhismus schon eine Rolle in China, und zwischen dem 4. und 11. Jahrhundert pilgerten zahlreiche chinesische Buddhisten nach Indien, um die Stätten, wo Buddha gelebt und gewirkt hatte, zu besuchen und Texte seiner Schriften zu erlangen. Zwei von ihnen haben uns wertvolle Reiseberichte hinterlassen: der Mönch Fa Sjan, dessen Reise von 399 bis 414 dauerte, und der Mönch Ssüan Dsang, der von 627 bis 645 unterwegs war und 657 buddhistische Schriften nach China mitbrachte. Sein Tagebuch lieferte den Vorwurf zu dem weltberühmten klassischen Roman von der Pilgerfahrt nach dem Westen’, den wir unseren Lesern vorstehend in gekürzter Fassung vorgelegt haben, und darum bringen wir im folgenden einige geschichtliche Angaben über Ssüan Dsang und dessen kühnes Unternehmen. Ssüan Dsang lebte von 596 bis 664. Sein Vater war ein Literat, sein einer älterer Bruder Bonze; beides trug sicher viel dazu bei, daß er bereits als Dreizehnjähriger die Mönchsgelübde ablegte. Um jene Zeit war der Buddhismus in China schon weit verbreitet, seine Bekenner aber in viele Sekten gespalten, deren jede behauptete, die wahre Lehre zu vertreten. Ssüan Dsang, ein hochbefähigter, nach der reinen Wahrheit trachtender Gelehrter, durchwanderte die heutigen Provinzen Setschuan, Hupeh und Schensi, um mit berühmten Lehrern des Buddhismus zu diskutieren. Je mehr Ansichten er kennenlernte, desto mehr ver549
schwamm ihm die Wahrheit. Durch den Reisebericht des Mönchs Fa Sjän angeregt, beschloß er, ebenfalls den Buddhismus in Indien selbst zu studieren. Zur Vorbereitung dieses Unternehmens begab er sich für einige Zeit nach Tschangan (heute: Sian in der Provinz Schensi), der Hauptstadt der Tangdynastie, die Kaiser Tai Tsong wenige Jahre zuvor, 618, gegründet hatte. Von Ausländern, deren eine beachtliche Zahl in der Hauptstadt lebte, lernte er die Sprachen der ,westlichen Länder’, worunter das jetzige Sinkiang und Gebiete der Sowjetunion zu verstehen sind, sowie verschiedene Sprachen Indiens. Nach den Gesetzen der Tangdynastie bedurfte jeder Bürger für eine Auslandsreise einer Ausreiseerlaubnis und eines Reisepasses. Aus nicht überlieferten Gründen wurden Ssüan Dsang diese beiden Dokumente verweigert. Aber 627 brach in Tschangan und Umgegend eine Hungersnot aus, und der notleidenden Bevölkerung wurde durch kaiserlichen Erlaß freigestellt, auszuwandern, wohin sie wollte. Ssüan Dsang machte sich dieses Zugeständnis zunutze und trat über Landshou die Wanderung gen Westen an. Er mußte sich an die Handelsstraße halten, die Kaiser Wu Di aus der Han-dynastie im zweiten Jahrhundert v. d. Z. angelegt hatte, um China die Verbindung mit dem Westen zu erschließen. In Liangdshou (heute: Wuwee in der Provinz Kansu) gab ihm ein buddhistischer Mönch zwei Schüler mit, die ihn bis zum Jumenpaß geleiteten, wo die Wüste Gobi beginnt. Diese Wüste zu durchwandern, die sich zwischen Guadschou (heute: Ansi) und Igu (heute: Hami) über mehrere hundert Meilen erstreckte, war in jenen Tagen ein gefährliches Wagnis. Ssüan Dsang mußte darauf gefaßt sein, während der Durchquerung keinem Menschen zu begegnen; als leidlich zuverlässige Hilfe hatte er nur sein Pferd, einen alten Klepper, der die Strecke Guadschou–Igu und zurück schon an zwölfmal geschafft hatte. Nach zehn anstrengenden Tagen langte Ssüan Dsang am jenseitigen Ende der Wüste, in Igu, an. Damals waren die meisten 550
Menschen in den ,westlichen Ländern’ Buddhisten. So kam es, daß sich die Nachricht von der Ankunft des Pilgers aus der Hauptstadt des Ostens schnell verbreitete, der Beherrscher von Karakhoja (Turfan im heutigen Sinkiang) ihn an seinen Hof einlud und ihm beim Abschied einen wichtigen Empfehlungsbrief an den mächtigen Khan Jabgu der Westtürken mitgab. Die Türken spielten in jenen Zeiten die herrschende Rolle in den ,westlichen Ländern’, und dieser Einführungsbrief sicherte Ssüan Dsang bis Indien hin freies Geleit. Für den Weg von Karakhoja nach Tokmak (in der Kirgisenrepublik der UdSSR), wo der Khan Jabgu residierte, schloß sich Ssüan Dsang einer Karawane an. Sie überschritt, von schweren Stürmen arg behindert, in sieben Tagen den schnee- und eisbedeckten 8000 m hohen Tienschan. Ein großer Teil der Kamele und Pferde und zahlreiche Reisende kamen dabei ums Leben. Auch in Tokmak fand Ssüan Dsang gastfreundliche Aufnahme und erhielt Einführungsschreiben an die Herrscher der Staaten, durch die ihn die Weiterreise führen würde. Über Talas (heute: Aulie-ata), Dschöschi (heute: Taschkent) und Samarkand gelangte Ssüan Dsang nach Fanjenna in Afghanistan; im Sommer 628 betrat er den Boden Nordindiens. Fast ein Jahr war seit seinem Aufbruch aus Tschangan vergangen. Drei Jahre lang besuchte Ssüan Dsang Zentren der buddhistischen Lehre im Gebiet des Indus und Ganges. Überall wurde er von Königen und Fürsten, von Mönchen und Gelehrten und von der Bevölkerung mit großer Freude willkommen geheißen. Im Jahre 631 trat er in das Nalanda-Kloster ein und studierte fünf Jahre unter der Leitung des berühmten Gelehrten Silabhadra die buddhistischen Schriften, außerdem Sprachen, Logik und Medizin. Das Nalanda-Kloster war mit zehntausend Mönchen das größte buddhistische Kloster im Indien jener Zeit und zugleich die berühmteste Pflegestätte der Wissenschaften. Nach dem Abschluß seiner Studien reiste Ssüan Dsang volle 551
sechs Jahre kreuz und quer durch den Osten, Süden und Westen Indiens und gelangte dabei bis Kamarupa (heute: Assam), Madras und Langhala (im Südosten des heutigen Belutschistan). Er war auf diesen ausgedehnten Streifzügen nicht nur um die Erweiterung seiner buddhistischen Kenntnisse und das Sammeln buddhistischer Schriften bemüht, sondern beschäftigte sich auch eingehend mit anderen Religionssystemen sowie mit den politischen Einrichtungen und den Sitten und Gebräuchen in den verschiedenen Ländern. Im Jahre 641 kehrte er in das Kloster Nalanda zurück. Zu diesem Zeitpunkt hatte Ssüan Dsang fünfzehn Jahre in Indien zugebracht. Es verlangte ihn, nach China zurückzukehren. Sein Lehrer und seine Freunde verstanden diesen Wunsch; aber Indien war nicht gewillt, seinen Gast, der sich durch Gelehrsamkeit und Rednergabe weithin berühmt gemacht hatte, ohne feierliche Verabschiedung ziehen zu lassen. Im Winter 642 veranstaltete der König von Magadha (wozu Benares gehörte) ein großes Treffen, an dem die Könige und Fürsten von achtzehn indischen Staaten, zweitausend Angehörige nichtbuddhistischer Sekten, tausend Mönche des Klosters Nalanda und zweitausend buddhistische Gelehrte und Mönche aus anderen Klöstern teilnahmen. Die Versammlung tagte achtzehn Tage; Ssüan Dsang war der Hauptredner und wurde mit Ehren und Geschenken überhäuft. Er mußte auf inständiges Drängen auch noch an einer weit großartiger begangenen religiösen Zusammenkunft teilnehmen, die alle fünf Jahre stattfand und 643 gerade fällig war. Sie dauerte fünfundsiebzig Tage und vereinigte rund eine halbe Million Teilnehmer. Im Sommer 643 trat Ssüan Dsang endlich den Heimweg an. Der König von Magadha stattete ihn mit allem aus, was für die Reise nötig war. Eines der wertvollsten Geschenke war ein mächtiger Elefant; er trug auf seinem Rücken die 657 buddhistischen Schriften, die Ssüan Dsang im Laufe der Jahre gesammelt hatte, 552
und Kisten voll silberner und hölzerner Buddhastatuen. Eine königliche Geleitmannschaft führte den hochgeschätzten Mönch bis an die Grenze Chinas. Da Ssüan Dsang China ohne behördliche Genehmigung verlassen hatte, hielt er es für geraten, von Schadshou aus einen Reisebericht an den Kaiser zu schicken und die Antwort darauf in Schadshou abzuwarten. Nach acht Monaten traf eine kaiserliche Anordnung ein, in der seine Heimkehr begrüßt und ihm die Unterstützung aller Behörden zugesichert wurde. Im Februar 645 kam er in Tschangan an. Zeitgenössischen Berichten zufolge hielt er einen triumphalen Einzug in die Stadt. Die mitgebrachten Schriften und Statuen wurden ausgestellt; Kaiser Tai Tsong empfing ihn ehrenvoll und beauftragte ihn, seine Erlebnisse und Erfahrungen in einem Buch festzuhalten. In den folgenden neunzehn Jahren bis zu seinem Tode (664) beschäftigte sich Ssüan Dsang ausschließlich mit der Übersetzung der mitgebrachten buddhistischen Schriften ins Chinesische; zu seiner Unterstützung bildete er einen Stab von Übersetzern aus. Seine Übertragungen gelten in China noch heute wegen ihrer Genauigkeit und ihres flüssigen Stils als eine Höchstleistung literarischer Übersetzerkunst. Da ein großer Teil der buddhistischen Originaltexte verloren gegangen ist, kommt ihnen zugleich unschätzbare Bedeutung als Überlieferer der Lehre Buddhas zu. Zur Aufbewahrung der Hunderte von Schriftrollen und der vielen Reliquien ließ Ssüan Dsang die ,Pagode der Wilden Gans’ errichten; sie steht noch jetzt im Süden der Stadt Tschangan, des heutigen Sian. Ssüan Dsang starb 664 und wurde im Ssingdjau-Kloster in Sian beigesetzt. Noch heute werden Kränze auf seinem Grabe niedergelegt. Er ist eine legendäre Gestalt geworden, die in der Folklore, in Romanen und Bühnenstücken immer wieder dargestellt worden ist. Johanna Herzfeldt 553
WU TSCHÖNG-ÖN UND SEIN ROMAN „DIE PILGERFAHRT NACH DEM WESTEN“ Von den mannigfachen literarischen Gestaltungen, die der buddhistische Mönch Ssüan Dsang (596–664) und seine wagemutige Reise nach Indien zum Studium des Buddhismus erfahren haben, nimmt der Roman „Die Pilgerfahrt nach dem Westen“ von Wu Tschöng-ön die erste Stelle ein. Er gehört zu den Standardwerken der klassischen Literatur Chinas und der Weltliteratur. Es gibt nur drei chinesische klassische Romane, die vom Augenblick ihrer Vollendung an durch die Jahrhunderte einen unverändert starken Einfluß auf die breiten Massen ausgeübt haben und immer noch ausüben: „Die Geschichte der drei Reiche“ (Ssan Guo), „Die Moorfeste“ (Schui Hu1) und eben „Die Pilgerfahrt nach dem Westen“. Alle drei Werke gehen auf geschichtliche Personen und Ereignisse zurück, die im Laufe der Jahrhunderte von der Folklore übernommen, von Generationen Geschichtenerzählern im Volk lebendig erhalten und schließlich von dem Meisterpinsel eines Schriftstellers in feste literarische Form gebracht wurden, worauf sie unverzüglich ihren Weg zurück in das Volk nahmen. Sie sind einmalige Beispiele bestgelungener Zusammenarbeit von Volkserzählern und berufsmäßigen Schriftstellern. Wu Tschöng-ön, der Verfasser der „Pilgerfahrt nach dem Westen“, lebte von 1500 bis 1582. Der Vater war ein kleiner Händler Bei uns in der Übersetzung von Franz Kuhn mit dem unzutreffenden Titel „Die Räuber vom Liangschan-Moor“ bekannt geworden. 1
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in einem Städtchen am Nordufer des Jangtse; die Familie hatte um ihre Existenz zu kämpfen und zehrte von den Erinnerungen an verschiedene begüterte und angesehene Literaten und Mandarine unter ihren Vorfahren. Der junge Tschöng-ön lehnte sich gegen diesen engen Horizont ebenso auf wie gegen die drückenden Fesseln der Armseligkeit. Mit hervorragenden geistigen Fähigkeiten ausgestattet, eignete er sich ein umfassendes Wissen an und war sehr belesen. Besonders interessierte er sich für die vielfältige Mythen-, Legenden- und Sagenwelt seines Volkes. Außerdem hatte er viel Sinn für Humor und eine scharfe Beobachtungsgabe. Seinen Lebensunterhalt erwarb er schon frühzeitig als Schriftsteller: er schrieb mehrere Romane und zahlreiche Essays und Satiren und erfreute sich eines guten literarischen Namens. Aber bei den Staatsprüfungen schnitt er schlecht ab. Es reizte ihn auch nicht, eine Beamtenstellung zu erhalten. Erst als Sechziger übernahm er einen Verwaltungsposten, gab ihn aber schon wenige Jahre später auf, weil ihn die Korruptheit des Systems abstieß und es ihm widerstrebte, sich bei seinen Vorgesetzten einzuschmeicheln. Er kehrte in seine Heimat zurück, wo er bis zu seinem Tode lebte. In diesem letzten Lebensabschnitt schrieb er den umfangreichen Roman „Die Pilgerfahrt nach dem Westen“. Dem Leser des Romans wird in den kurzen Ausführungen zu dem geschichtlichen Ssüan Dsang und dessen Pilgerfahrt aufgefallen sein, daß der Bonze, der die Pilgerfahrt unternimmt, im Roman nicht die Hauptrolle spielt, vielmehr eine zweite Stelle einnimmt und recht oft Gegenstand des Spottes und scharfer Kritik ist. Der wahre Held des Romans ist der Affe Ssun Wukung. Von dem unbezwingbaren Drang nach Freiheit und selbständiger Entscheidung über sein Leben getrieben, lehnt er sich gegen jede Autorität auf: im Palast des Drachenkönigs ebenso wie im Himmel und in der Hölle. Er erringt auch tatsächlich eine Reihe bedeutender Erfolge, bis er eines Tages im Verlauf einer Auseinandersetzung mit dem Erhabenen Buddha den kürzeren 556
zieht. Er meint, mit einem einzigen Satz über hundertachttausend Li ans Ende des Himmels gesprungen zu sein, und muß bei der Rückkehr feststellen, daß er nicht über Buddhas Handfläche hinausgekommen ist. Buddha stülpt den Berg der Fünf Elemente über ihn und verurteilt ihn damit zur Untätigkeit, aus der er erst nach fünfhundert Jahren befreit wird, um dem Bonzen Ssan Tsang auf der Pilgerfahrt nach dem Westen schützend und helfend zur Seite zu stehen. Auf dieser abenteuerlichen Reise in das Paradies des Westens müssen die Reisenden einundachtzig Gefahren überwinden, die durch mancherlei Verknüpfungen und Zwischenspiele lose miteinander verbunden sind, so daß der Roman trotz der vielen Einzelgeschehnisse ein geschlossenes Ganzes bildet. Der Leser wird festgestellt haben, daß die Überwindung der Gefahren, mit dem Affen als der treibenden Kraft, die Veranlassung zu der Pilgerfahrt, nämlich die Beschaffung der Heiligen Schriften, in den Hintergrund drängt; im zwölften Kapitel wird Ssan Tsangs Aufbruch beschrieben; erst in den letzten Kapiteln wird sie mit dem Bericht, wie Buddha dem Bonzen einen Teil seiner Schriften überläßt, wieder aufgegriffen, und mit der Übergabe der Texte an den Tangkaiser im hundertsten Kapitel schließt der Roman. Diese Verschiebung des Schwerpunkts der Handlung erklärt sich aus dem Ziel, das sich der Verfasser bei der Abfassung seines Romans stellte. Er trug darin eine Fülle von Mythen, Legenden und Sagen zusammen, in denen sich der uralte Kampf des chinesischen Volkes gegen die ihm feindlichen Naturkräfte, seine Hoffnungen und Ziele in bezug auf Arbeit und Lebensgestaltung und sein Verlangen nach Beherrschung der Natur widerspiegeln. So stellt der Affe Wu-kung in seiner unbeugsamen Entschlossenheit, jeden Kampf aufzunehmen, und mit seinem Reichtum an übernatürlichen Kräften, an Zauber- und Verwandlungskünsten der Vielheit von Göttern, Heiligen und Ungeheuern feindlich gegenüber. 557
Aber mit dieser Ableitung aus der Mythologie allein werden wir der Bedeutung des Romans nicht gerecht. Er ist auch ein Spiegelbild des Klassenkampfes, den Wu Tschöng-ön miterlebte und dessen Gewalt und Bedeutung er dank seiner guten Beobachtungsgabe und eigenen Lebenserfahrungen in vollem Umfang erfaßte. Seit Jahrhunderten flackerten immer aufs neue die Revolten auf, in denen sich die Bauern gegen die brutale Unterdrückung durch die herrschende Schicht auflehnten. Wu Tschöng-ön wußte um den tiefen Haß, der in den Herzen der Massen schwelte, um die verbissene Zähigkeit, mit der sie gegen ihre Verelendung ankämpften. Diese Erkenntnisse lasteten wie ein Alp auf ihm, drängten ihn, sie auszusprechen. Der Druck der Tyrannen verbot ihm das offene Wort; seine Vertrautheit mit den Schätzen der Folklore erschloß ihm den Weg, anderen zu verkünden, was ihn bewegte. Er hob die Legenden, die sich um den geschichtlichen Süan Dsang gebildet hatten, auf ein höheres Niveau, indem er sie ihres überwiegend religiösen Charakters entkleidete und zahlreiche andere buddhistische und dauistische Legenden in sie hineinwebte. Dazu gestaltete seine reiche Phantasie eine Vielfalt von Szenen mit Göttern, Heiligen, Unsterblichen und Ungeheuern, in denen er geschichtliche Vorgänge mit geschichtlichen Personen ablaufen ließ. So schuf er den inhaltreichen mythologischen Roman, in dem er ein untrügliches Bild der Gesellschaft seiner Zeit gab. Der Affe Wu-kung steht in dem Roman für die Gesamtheit der Helden, die leidenschaftlich um ihre Freiheit, um ein menschenwürdiges Dasein ringen. Er erweist sich im Anfang als Rebell, der gegen jede Autorität über, auf und unter der Erde angeht, die sich anmaßt, aus eigener Machtvollkommenheit die Geschicke der Menschen zu lenken. „Ein altes Sprichwort sagt: ,Es gibt keinen Posten, der nicht den Inhaber wechselt.’ Wie sollten da die Könige beanspruchen können, unerschüttert ihren Thron innezuhaben? Dshang Di möge sich anschicken, die Himmlischen 558
Gefilde zu räumen, sonst sage ich ihm den Kampf an!“ formuliert er dem Erhabenen Buddha gegenüber seine Forderung nach einer neuen Gesellschaftsordnung. Aber wer eine alte Ordnung stürzen will, muß zu deren Ersatz eine neue bereithalten. Die gequälten Bauern rannten in blinder Verzweiflung gegen ihre Peiniger an; ausgemergelt und unwissend, vermochten sie nicht, politische und gesellschaftliche Ziele aufzustellen, mit deren Durchsetzung sie ihre Herrschaft hätten aufbauen können. Deswegen trug ihnen jeder Aufstand nur die abermalige Unterwerfung unter das althergebrachte, durch neue schärfere Bestimmungen noch mehr erschwerte politische und soziale Joch der Feudalherrenschicht ein. Wie die revoltierenden Bauern auf Erden, so muß der revoltierende Wu-kung im Himmel erleben, daß das Feudalsystem nicht zu durchbrechen ist: er gelangt mit einem Satz über hundertachttausend Li hinweg – das ist die gleiche Strecke, die er später auf der Pilgerfahrt zurücklegt! – bis an das Ende des Himmels und muß feststellen, daß er nicht von Buddhas Handfläche heruntergekommen ist, muß sich dem Eingekerkertwerden, der Verdammung zur Untätigkeit beugen. Als Wu-kung dem Bonzen folgt, sieht er ein Ziel vor sich: er will seinem Meister helfen, die Heiligen Schriften zu finden. Denn das ist ein Vorhaben, das er als gut anerkennt, wenngleich es ihn selbst nicht interessiert. Heldenmütig setzt er also seine Klugheit und Erfahrung, seine Aktivität und seine magischen Gaben zur Überwindung der Gefahren und der Ungeheuer ein, die den Bonzen an der Erreichung des gesteckten Zieles hindern. Das Bedürfnis, zur Verwirklichung des Guten beizutragen, ist in dem Rebellen, der in Himmel und Hölle Unruhe stiftete, ebenso stark wie in dem Schüler des Bonzen. Wu-kungs Kampf gegen die Ungeheuer, die in ihrem ruchlosen Treiben nicht von den Himmlischen behindert werden, die sogar oft in nahen Beziehungen zu Göttern und Heiligen stehen, ist die ins Mythologi559
sche zurückverlegte Auflehnung der Bauern gegen die Mandarine und Eunuchen, die das Volk in des Kaisers Namen aussaugten, und gegen die Feudalherren, die mit der kaiserlichen Regierung und deren örtlichen Organen unter einer Decke steckten. Seine unbeugsame Entschlossenheit, alle Kräfte des Bösen auszurotten, bringt Wu-kung oft in scharfen Gegensatz zu dem Bonzen, obwohl er durchaus gewillt ist, dessen Beschützer und Helfer zu sein. Ssan Tsang ist ein Schwächling, der beim Auftauchen einer Schwierigkeit sofort „vom Pferde fällt“, vor den Höheren beflissen einen Kotau vollzieht, aber Wu-kung beschuldigt, vom „Wege der rechten Lebensführung“ abzuweichen, ja, ihn aus seinen Diensten entläßt, weil er Ungeheuer und böse Geister vernichtet hat. Aufschlußreich ist auch das Verhältnis zwischen Wu-kung und Ba Djä. Dieser „Jüngere Bruder“ des Affen entbehrt der Entschlossenheit und Siegeszuversicht, die Wu-kung eigen sind. Entbrennt ein Kampf mit Ungeheuern, bleibt er feige im Hintergrund, bis Wu-kung die Oberhand erlangt hat, um in diesem Augenblick mit seiner neunzinkigen Forke noch vorzustürzen und sich seinen Anteil am Sieg zu sichern. Er kennt kein Maßhalten im Essen und Trinken; wenn sich die Gelegenheit bietet, die Nacht mit einer Frau zu verbringen, ist er bereit, von der Pilgerfahrt zurückzubleiben. Aber man muß anerkennen, daß er seine Fehler zugibt und sich Wu-kungs Anordnungen fügt; daß er gutwillig unbequeme Aufgaben auf sich nimmt, zu denen das Gepäcktragen und Wegebahnen gehört. In der Gesellschaft, die in dem Roman dargestellt wird, ist Ba Djä der kleine Bauer mit eigenem Acker, der, von Natur bescheiden und arbeitsam, nach Genuß und Gewinn trachtet, aber vor dem Kampf um ein hohes Ziel zurückweicht. Ba Djäs gute Eigenschaften machen ihn zu einem Mitkämpfer Wu-kungs, der sein Teil dazu beiträgt, daß die Pilgerfahrt erfolgreich durchgeführt werden kann. 560
Der dritte Begleiter des Bonzen, Scha Ssöng, greift nur selten und dann nicht entscheidend in die Handlung ein. Er ist immer bereit, das Reisegepäck zu schleppen oder zu bewachen; zu helfen, sobald er gebraucht wird; vermittelnd in eine Auseinandersetzung zwischen Wu-kung und Ba Djä einzugreifen: der Typ des gutwilligen kleinen Mannes, der sich in das Ganze einfügt und in der Vielheit entscheidend zum Gelingen eines Unternehmens beiträgt. Der Leser, der mir bis hierher gefolgt ist, soll natürlich nicht zu dem Schluß kommen, daß er jeden einzelnen Zug in den Gestalten und Geschehnissen des Romans auf seine historischgesellschaftliche Auslegung hin betrachten müsse. Er möge vielmehr, mit Inhalt und geschichtlich-sozialem Hintergrund des Romans vertraut, dieses literarische Kunstwerk, in dem „die Lust zu fabulieren“ eines Meisters Schreibpinsel geführt hat, noch einmal genießerisch durchblättern; möge sich ergötzen an der Mannigfaltigkeit der Abenteuer, dem köstlichen Humor, dem beißenden Spott, der Lebensweisheit, die in Sprichwörtern und klassischen Zitaten zum Ausdruck gebracht wird. Welcher Reichtum von Phantasie und Gestaltungskraft entfaltet sich z. B. in der Schilderung des Kampfes zwischen Örl-lang und Wu-kung, in dem die Gegner sich gegenseitig mit Verwandlungen foppen, bis Wu-kung schließlich zum Wasserhuhn wird, das der beleidigte Gott mit einem Pfeil erlegen will, worauf es in des Gottes Gestalt in dessen eigenem Tempel Zuflucht sucht. Eines der fesselndsten Abenteuer, das den Leser drei Kapitel hindurch, vom neunundfünfzigsten bis zum einundsechzigsten, in Spannung hält, ist Wukungs Kampf um die Erlangung des Bananenfächers, den er braucht, um seinem Meister das Überschreiten des Flammenberges zu ermöglichen. Zum ersten Mal bedient er sich nicht seiner Kraft und magischen Künste, sondern wendet Verschlagenheit an, indem er in den Bauch der Prinzessin schlüpft und sie so peinigt, daß sie ihm schließlich den Fächer überläßt. 561
Ein phantastischer Kniff, dem aber eine tiefe Bedeutung innewohnt: Wu-kung erweitert seine Kampfestaktik gegen den Gegner. Mitten in den dramatischen Ablauf hinein setzt der Verfasser eine komische Szene: der kleine Affe schleppt siegestrunken den großen Fächer, weil er die Schrumpfungsformel nicht weiß. Der Verfasser trägt überhaupt viele Einzelzüge für seine Lieblingsgestalt Wu-kung zusammen. Zwei Beispiele – das eine: „Da bin ich wieder, liebe Kinder!“ läßt er den Affen bei der Rückkehr auf den Berg der Blumen und Früchte ausrufen und aus den Höhlen und unter den Büschen hervor die großen und kleinen Affen herbeieilen und ihren „lieben Vater“ herzlich willkommen heißen. Das andere: Ba Djä ist als Schüler angenommen, und „von diesem Tage an trug Ssing-tschö nicht mehr das Reisegepäck, gab sich die Würde des älteren Bruders und sprach nur noch mit erhobener Stimme.“ Zum Schluß noch einige Bemerkungen zu der vorliegenden Übertragung ins Deutsche. Wir hielten eine Kürzung des umfangreichen Originals für zweckmäßig, um unsere Leser nicht durch Weitschweifigkeiten zu ermüden und mit vielen Erklärungen zu belasten. Dabei gab es zwei Möglichkeiten: aus den hundert Kapiteln eine Anzahl auszuwählen und diese im vollen Wortlaut zu übertragen, oder alle Kapitel in gekürzter Fassung zu bringen. Ich habe mich für die zweite Möglichkeit entschieden. Dem Leser bleibt dabei der Aufbau des Originals erhalten; die Länge ist beschnitten durch Kürzen oder Fortlassen der vielen wortreichen Dialoge und einzelner Episoden, die auf den Gang keinen Einfluß haben, der Vorsprüche zu den Kapiteln und der vielen Verse, deren klassische Sprüche und Form sich ohnehin einer Übertragung widersetzten. Natürlich machten es diese Streichungen vielfach notwendig, Übergänge zu schaffen; ich habe mich bemüht, sie in Wendungen und Stil des Originals zu formulieren, damit der Leser keinen Bruch im fortlaufenden Text spüre. Johanna Herzfeldt 562
ERKLÄRUNGEN Seite
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Vereinigung des männlichen und weiblichen Prinzips – In der Urreligion der Chinesen der vorkonfuzianischen Periode (Konfuzius wurde 551 v. u. Z. geboren) wurde der Ursprung aller Dinge auf die Vereinigung zweier Prinzipien zurückgeführt: Jang, das männliche kräftige Prinzip, dem die Sonne, und Jin, das weibliche schwache, dem der Mond entsprach.
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Panku – Der chinesische Adam, der erste Mensch in der Urreligion der Chinesen. Aus dem Chaos, das ihn gebar, formte er mittels Hammer und Meißel den Himmel und die Erde. Dabei entstanden die fünf Elemente: Feuer, Metall, Holz, Erde und Wasser.
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Kindespietät – Darunter verstand man im alten China die Ehrfurcht, Liebe und Hingebung der Kinder den Eltern gegenüber. Auf ihr beruhte das Wohlbefinden der Familie und damit die Gesellschaft und der Staat. Sie verlangte von den Kindern, daß sie den Eltern bei deren Lebzeiten dienten und sie nach deren Tode im Ahnenkult verehrten. Das „Klassische Buch der Kindespietät“ gab vierundzwanzig Beispiele für diese Tugend.
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Weg zur Langlebigkeit – Die Lehre von der Unsterblichkeit gehört zum Dauismus.
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Weg der rechten Lebensweise – Er wurde von den buddhistischen wie den dauistischen Mönchen erstrebt.
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Sutren – Die Lehrsätze des Buddhismus. Das Wort Sutra bedeutet: Faden, im übertragenen Sinne: Lehrsatz. Die Sutren mit den mündlichen Erklärungen ergeben das Gesetz der Lehre
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Kristallpalast des Drachenkönigs – Der Drache ist eine der am häufigsten vorkommenden symbolischen Gestalten in der chinesischen Überlieferung. Er war das nationale Sinnbild: der Kaiser war der Herr des Drachenthrons, in seine Kleidungsstücke und Hausgeräte war ein Drache eingestickt. Der Wagen, in dem 563
Dshang Di zum Besuch Buddhas fuhr, hatte Drachenform. Es gab den Drachen am Himmel: sein Odem verwandelte sich in Feuer oder Wasser; er erzeugte Wind und Regen und wurde in Zeiten der Dürre um Hilfe angefleht. Die Meerdrachen beherrschten die Meere und bewachten unterirdische Schätze, sie wurden als Drachenkönige verehrt. Die Sumpfdrachen, in denen man wohl den Alligator oder das Krokodil vermuten muß, lenkten den Lauf der Flüsse. 22
Der Große Jü – Der weise Berater des Kaisers Schun, der um 2200 v. u. Z. in der heutigen Provinz Schantung residierte. Jü gebot durch die „Regulierung der Ströme“ einer verheerenden, viele Jahre anhaltenden Überschwemmung Einhalt. Die von Jü durchgeführte Ent- und Bewässerung des Landes ist in einem gereimten epischen Bericht, dem „Jükung“, dargestellt. Die Überschwemmung hat wahrscheinlich im Gebiet des Gelben Flusses stattgefunden und wird als Chinas „Sintflut“ angesehen.
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Phönixflügel – Der Phönix wird als eine Art Fasan mit schillernd bunten Schwanzfedern (bei den alten Ägyptern als Adler) beschrieben und ist seit der Zeit des Konfuzius (551–479) nicht mehr gesehen worden. Er war der Beherrscher aller Vögel und der Vorbote glücklicher Zeiten, fraß keine Würmer und Insekten und zertrat keine Pflanzen. Die Himmlische Königin-Mutter fuhr in einem Phönixwagen zu Buddha. Die Kaiserinnen ließen ihre Gewänder mit Phönixen besticken, und die Schiffer malten einen Phönix als Talisman an das Heck ihrer Dschunke.
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Einhörner – Das Einhorn ist ein sagenhaftes Tier. Nach alten Beschreibungen hatte es den Körper eines Hirsches, war aber mit Schuppen bedeckt. Aus der Mitte der Stirn ragte ein Hörn hervor. Die Chinesen hielten es für ein den Menschen wohlgesinntes Tier.
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Zinnober – Im Dauismus die Bezeichnung für Pillen, deren Genuß Unsterblichkeit verleiht.
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Taischan – Der meistverehrte der Fünf Heiligen Berge des alten China, in der Provinz Schantung, der Heimat des Konfuzius, gelegen. 564
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Kormoran – ein zur Familie der Ruderfüßer gehörender Schwimmvogel. Er wird zum Fischfang abgerichtet, wobei ihm ein Ring um den Hals gelegt wird, damit er die gefangenen Fische nicht hinunterschlucken kann.
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Straße der Wiedergeburt – Der Buddhismus lehrt, daß beim Tode eines Wesens sofort ein neues entsteht, das Erbe der guten und bösen Werke des Dahingeschiedenen ist. Dieser Kreislauf der Wiedergeburten entspringt dem Verlangen des Menschen nach dem irdischen Leben, weil er wähnt, daß dieses Dasein ihm Lust bringe. Wenn er zu der Einsicht gelangt, daß das Dasein nur Leid für ihn birgt, und den Willen zum Leben in sich tötet, erreicht er, daß er nicht mehr wiedergeboren wird, sondern in das Nirwana eingeht.
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Guanjin schor ihm die Bonzentonsur – Die buddhistischen Mönche wurden Bonzen genannt. Bei der Aufnahme in den Mönchsorden wurden dem Kandidaten Haar und Bart geschoren. Die Rasur mußte laufend zweimal im Monat, zu Neumond und Vollmond, wiederholt werden.
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Mandarine – Bezeichnung für die Zivil- und Militärbeamten im alten China. Das Wort soll auf das portugiesische mandar = befehlen zurückgehen. Die Zivil- wie die Militärmandarine wurden in neun Klassen eingeteilt.
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Literaten – Im alten China Bezeichnung für die studierten Männer, die Intellektuellen. Ein Literat mußte wenigstens die erste der in dem staatlichen Prüfungssystem vorgesehenen Prüfungen bestanden haben. Durch dieses Prüfungssystem sollten für den Staatsdienst geeignete Männer herausgefunden werden. Die Literaten waren an dem viereckigen Literatenkäppchen kenntlich.
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Tuschreibestein – Ein Stückchen fester Tusche. Man feuchtet es an und fährt mit dem Schreibpinsel leicht darüber hin.
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Lebensgeister – Während des Schlafes verlassen die Lebensgeister den menschlichen Körper. Es sind ihrer sieben beim Mann, neun bei der Frau. 565
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Mahjong – Brettspiel mit knöchernen Marken.
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Elfenbeintäfelchen – Ausweis und Abzeichen der Würde, das die Mandarine in der Hand hielten, wenn sie bei Hofe – dem himmlischen wie dem irdischen – erschienen.
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Ohne Reis und Geld – Diese Verstorbenen haben keinen Sohn, der ihnen Reis opfert und auf dem Grabhügel nachgemachtes Geld – das Opfergeld – verbrennt, damit sie in der Unterwelt nicht mittellos sind. Diese Seelen müssen erlöst werden.
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Rosenkranz – Von den Brahmanen, den Angehörigen der altindischen Priesterkaste, übernommen. Er hat hundertacht Kugeln, an beiden Enden sind drei größere Kugeln, von denen die mittlere wiederum die größte ist. Sie bezeichnet Buddha, die beiden anderen das Gesetz und die Gemeinde, alle drei bilden die „drei Kleinodien“.
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Hirseschnaps – Wird aus Hirse bereitet. Die Hirse, chinesisch Gauliang = hohes Gras, wird mannshoch. Den kräftigsten Schnaps gewinnt man aus rotem Gauliang.
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Ginseng – Gehört zur Familie der Efeugewächse. Die Wurzel wird seit uralten Zeiten in China, Korea und Japan als Arzneiwurzel hoch geschätzt. In China gehörte alles Ginseng dem Kaiser; er beschenkte hohe Mandarine, wenn sie alt und krank waren, mit kleinen Mengen davon.
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Laternenfest – Der Buddhismus sah ursprünglich drei Feste im Jahr vor: das Laternenfest, am Ende der Regenperiode gefeiert und mit großer nächtlicher Illumination, Predigt und Verteilung von Almosen verbunden; das Fest des Frühlingsanfangs und das Geburtstagsfest Buddhas.
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Maßeinheiten Längenmaße Li: Dshang: Dji: Dsun: Fönn: Gewichte Djin: Tjän: Fönn:
etwa 0,6 km 3,5 m 0,35 m 3,5 cm 3,5 mm
Flächenmaß Mou: etwa 7 qm (der chinesische Morgen)
Hohlmaße etwa 0,6 kg (das Dan: Dou: chines. Pfund) Schöng: 3,7 g 0,37 g
etwa 180 Liter 9 Liter 1,8 Liter
Geldwerte Silbergeld a) Tael (das Wort ist aus dem Indischen übernommen) war das „Silber in Barren“. Gewichtseinheit war die Unze oder das Lot, etwa 37 bis 38 g. Tjän = 0,1 Tael b) Jüan Djau = 0,1 Jüan Fönn= 0,01 Jüan
Kupfergeld Käsch: Die niedrigste Münzeinheit. Ursprünglich durchlochte Kupferplättchen; je 1000 Käsch wurden an einer Reisstrohschnur zu einer Einheit aufgezogen.
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Zeiteinteilung Der Tag wurde im alten China in zwölf Doppelstunden eingeteilt, die man nach den Sternbildern des Tierkreises benannte. 23 bis 1 Uhr 1 bis 3 Uhr 3 bis 5 Uhr 5 bis 7 Uhr 7 bis 9 Uhr 9 bis 11 Uhr 11 bis 13 Uhr 13 bis 15 Uhr 15 bis 17 Uhr 17 bis 19 Uhr 19 bis 21 Uhr 21 bis 23 Uhr
= = = = = = = = = = = =
dse (Widder) tschou (Stier) jin (Tiger) mau (Hase) tschön (Drache) sse (Schlange) wu (Pferd) wee (Skorpion) schönn (Affe) ju (Hahn) ssü (Hund) hai (Schwein)
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3. Nachtwache 4. Nachtwache 5. Nachtwache
1. Nachtwache 2. Nachtwache
WICHTIGE SCHAUPLÄTZE UND GESTALTEN DES ROMANS
Der Himmel – die Obere Region Dshang Di: Nach der dauistischen Lehre der Oberste Himmelsherr. Er residiert im Palast der Himmlischen Höhen und lenkt das Universum. Sein Hofstaat und die Verwaltung seines Reiches sind das genaue Abbild der entsprechenden Einrichtungen im Reich der Mitte (China). Die Königin-Mutter des Westens: Ihre Dienerinnen sind die „Sieben Unsterblichen Maiden“. Zu ihren Besitzungen gehört der „Pfirsichgarten“, und einmal im Jahr lädt sie alle Himmlischen zum „ Pfirsichfest“ ein. Ein Enkel des Dshang Di: Örl-lang, Sohn der zweiten Tochter des Himmelsherrn aus deren Ehe mit einem Erdgeborenen. Er gebietet über 1200 Geister, die jeder Heldentat fähig sind. Die Göttin Guanjin: Die „Mutter der Barmherzigkeit“. Sie residiert im Südmeer auf der Heiligen Insel Putu (im Tschusan-Archipel zwischen Schanghai und Ningpo) und wird oft mit der „Schale der Lauterkeit“ dargestellt. Ssun Wu-kung, der Große Heilige und Ebenbürtige der Himmlischen: Der aus einem steinernen Ei geborene Affe. Li Dsing: Der „Pagodentragende Himmelskönig“ und Oberbefehlshaber der Himmlischen Heerscharen. Li Dsings zweiter Sohn, Mo Tscha: Kämpft unter dem Oberbefehl seines Vaters gegen den Affen Wu-kung und begleitet die Göttin Guanjin auf deren „Wanderung durch den irdischen Staub“. Li Dsings dritter Sohn, No Tscha: Bedient zusammen mit Vater und Bruder im Kampf gegen Wu-kung den Zauberspiegel. 569
Der golden leuchtende Abendstern: Der Fürsprecher des Affen Wukung. Da Li: Der Sendbote des Obersten Himmelsherrn. Der Erhabene Buddha: Residiert auf dem Heiligen Berg Lingschan, auf dem sich das „Paradies des Westens“ befindet, und kommt dem Dshang Di gegen den Affen Wu-kung zu Hilfe. Buddhas: Ihrer dreitausend sind um den Erhabenen Buddha versammelt. Lo Han: Die höchsten Würdenträger im Hofstaat des Erhabenen Buddha; fünfhundert an der Zahl. Laudse: Der als „Unsterblicher“ in den Himmel aufgenommene Verkünder des Dauismus.
Die Erde – die Mittlere Region Kaiser Tai Tsong: Der Begründer der Tangdynastie (618–907), residierte in der „Hauptstadt des Ostens“ Tschangan, dem heutigen Sian. Ssüan Dsang, vom Kaiser Tai Tsong mit dem Ehrentitel „ Jüngerer Bruder des Kaisers“ und dem Beinamen Ssan Tsang geehrt: Bonze im Kloster der Unendlichen Glückseligkeit in Tschangan. Er unternimmt im Auftrag des Kaisers Tai Tsong die Pilgerfahrt nach dem Westen (Indien). Ssan Tsangs vier Begleiter auf der Pilgerfahrt: 1. Ssun Wu-kung, von Ssan Tsang „Ssun Ssing-tschö“ genannt: Von Ssan Tsang aus der Gefangenschaft im Berg der Fünf Elemente befreit, wird er dessen Erster Schüler und Begleiter. Seine Waffe ist eine gewaltige, an beiden Seiten mit Gold beschlagene Eisenstange. 2. Ba Djä, der erste jüngere Bruder Ssing-tschös: War ursprünglich zum Wächter der „Milchstraße“ eingesetzt. Verging sich an der Mondgöttin und wurde zur Strafe dafür auf der Erde als Wild570
schwein wiedergeboren. Seine Waffe ist eine schwere neunzinkige Eisenforke. 3. Scha Ssöng, der zweite jüngere Bruder Ssing-tschös: Gehörte ursprünglich zum Hofstaat des Obersten Himmelsherrn. Zerbrach eine Kristallschale und wurde zur Strafe dafür auf der Erde als Flußungeheuer wiedergeboren. Seine Waffe ist ein Stock, dessen Kopf die Form einer Lotosknospe hat. 4. Das weiße Drachenpferd: Verurteilt, als Jadedrachen in einem Bergstrom zu leben, weil durch seine Schuld eine kostbare Perle an der Fassade des väterlichen Drachenpalastes verbrannte.
Die Hölle – die Untere Region Die Zehn Todesgötter: Residieren in der Unterwelt als „König des Ersten Palastes“ usw. bis zum „König des Zehnten Palastes“. Die Stadt der zu Unrecht Verurteilten: Beherbergt die Seelen all derer, die ohne männliche Nachkommen gestorben sind und darum des Ahnendienstes entbehren müssen.
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INHALT
Die Lebensgeschichte des Affen Wu-kung bis zu seiner Gefangensetzung im Berg der Fünf Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Des Bonzen Ssüan Tsang Lebensgeschichte bis zum Antritt der Pilgerfahrt nach dem Westen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ssan Tsang erhält ein schneeweißes Drachenpferd und nimmt drei Schüler an . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Versuchung der vier Pilger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwurzelung und Wiederbelebung des Ginsengbaumes . . . . . . Ssing-tschö bezwingt Goldhorn und Silberhorn und gibt Lau Djün seine Kostbarkeiten zurück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der König des Reiches der schwarzen Hähne wird von dem grünen Löwen in den Brunnen gestürzt und von Ssing-tschö ins Leben zurückgerufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Rote Knabe entführt Ssan Tsang in einem Sandsturm . . . . . Die Pilger überschreiten den Schwarzwasserfluß und siegen im Wettbewerb mit drei hohen Dauisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schwieriger Übergang über die Durchfahrtsstraße zum Himmel Die Untaten des Blauen Büffels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Reise durch das Westreich der Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwei Ssing-tschös verursachen in den drei Regionen großen Tumult . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Pilger überwinden den Flammenberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Staat Djissai erhält sein gestohlenes Wahrzeichen zurück . . Gefährlicher Dichterwettstreit auf dem Djingdjiberg . . . . . . . . . . Ssan Tsang begeht einen verhängnisvollen Irrtum . . . . . . . . . . . . Ssing-tschö befreit das Dorf Tolo von einem Ungeheuer . . . . . . . Ssing-tschö heilt einen König und befreit eine Königin . . . . . . . . Spinnen bringen die Pilger in Lebensgefahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . 572
5 57 93 151 163 201
219 237 253 275 291 309 327 345 363 375 385 393 401 417
Auf dem Berg der Löwen und Elefanten greift der Erhabene Buddha selbst ein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Kinder aus Bidju werden vor dem Tode bewahrt . . . . . . . . . Ssan Tsang droht eine Eheschließung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein König wird zur Gerechtigkeit bekehrt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . In der Höhle der verschlungenen Wege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine Provinz muß für den Frevel ihres Gouverneurs büßen . . . . Der Waffendiebstahl und seine Aufdeckung . . . . . . . . . . . . . . . . . Ssan Tsang auf dem Laternenfest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Königspaar erhält seine Tochter und die Mondgöttin den Mondhasen zurück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Wohltäter wandernder Bonzen wird ermordet und ins Leben zurückgerufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ssan Tsang nimmt ein Tsang Heiliger Schriften in Empfang . . . . Die Pilger übergeben dem Tangkaiser die Heiligen Schriften und werden in das Paradies aufgenommen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
425 443 453 469 477 485 489 501 509 523 531 537
Anhang: Der geschichtliche Ssüan Dsang und seine Reise nach Indien . . . Wu Tschöng-ön und sein Roman „Die Pilgerfahrt nach dem Westen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Maßeinheiten, Geldwerte, Zeiteinteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wichtige Schauplätze und Gestalten des Romans . . . . . . . . . . . . .
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549 555 563 567 569