Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Louis Martin Die Nacht vor dem Urlaub
Kriminalroman
M...
35 downloads
707 Views
3MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Louis Martin Die Nacht vor dem Urlaub
Kriminalroman
Manfred Berger hätte nie von sich gedacht, daß er – wenn auch in höchster Erregung – etwas Nichtwiedergutzumachendes tun könnte. Er will es einfach nicht wahrhaben und verfällt auf fragwürdige Mittel, seine Affekthandlung zu vertuschen und sich ein Alibi zu verschaffen. Aber da Hauptmann Ebner nicht nur ein guter Kriminalist, sondern auch ein erfahrener Ehemann und leidenschaftlicher Hobbymaler, Realist und Optimist, zudem ein sehr gründlicher Mensch ist, enthüllt er nach und nach eine höchst verzwickte und tragische Geschichte.
Louis Martin
Die Nacht vor dem Urlaub
Verlag Das Neue Berlin
1 Es war Freitag abend. Im zweiten Programm lief ein Film. Im ersten Programm begann eine Schlagersendung, übertragen aus einem der großen Säle, wo die Leute hingehen, um gesehen zu werden, falls ein glücklicher Kameraschwenk sie für die Zuhausegebliebenen ins Bild setzte. Manfred Berger hatte den Film sehen wollen, doch nun saß er neben seiner Frau und langweilte sich erbärmlich, denn aus Schlagersendungen machte er sich nichts. Sie hatte Unterhaltungssendungen gern, weil man nicht andauernd hinschauen mußte, denn sie konnte nicht einfach dasitzen und in die Röhre starren. Irgendwie mußte sie sich zu schaffen machen. Meistens strickte sie während des Fernsehens. Dabei war die Familie reichlich mit Gestricktem versorgt. Doch gab es jedes Jahr wieder Weihnachten, und in der nahen und weitläufigen Verwandtschaft fielen ständig wieder Geburtstage an. Wenn man Selbstgestricktes schenkt, spart man viel Geld, sagte sie, wenn ihr Mann sie fragte, ob es nicht genug sei mit dem ewigen Stricken und ob es ihr denn nicht selber auf die Nerven ginge. 6
Sie hatte es zwischendurch schon mit Makramee versucht, doch ließen sich die Knoten bei dieser Handarbeit nicht so beiläufig knüpfen wie Maschen abstricken, und es entging ihr zuviel vom Geschehen auf der Mattscheibe, das war ihr auch nicht recht, also griff sie wieder zu den Stricknadeln. Das liegt in unserer Familie, sagte sie, und behauptete, schon ihre Mutter habe nie müßig dasitzen können, einfach so, die Hände im Schoß. Die Großmutter sei berühmt gewesen wegen ihrer kunstvollen Stickereien. Handgestickte Tischdecken galten im Haushalt der Bergers auch heute noch als Devotionalien, die nur an hehren Feiertagen aufgelegt wurden. Selbstverständlich nur als Zierde. Es kam überhaupt nicht in Frage, von einem Tisch, auf dem eine handgestickte Tischdecke aufgelegt war, zu essen. Berger machte sich zwar darüber lustig, nahm es aber nicht tragisch. Von der Urgroßmutter gar ging die Sage, sie habe geklöppelt. Allerdings war kein einziges geklöppeltes Stück im Familienbesitz geblieben. Manchmal nahm Berger das Thema auf, um seine Frau damit zu frotzeln. „Ich sehe es kommen“, sagte er, „eines Tages fängst du auch mit dem Geklöppel an.“ „Das ist gar nicht so einfach“, sagte sie. „Du stellst dir das vielleicht einfach vor, aber so ist es nicht. Dazu gehören viele Jahre Übung. Viele Jahre. Du, dafür gibt es sogar Kurse. Sogar eine Schule gibt es dafür. Im Vogtland, glaube ich. Klöppeln ist genaugenommen eine Kunst.“ „Na, ich werde mir rechtzeitig Kopfhörer zulegen.“ „Wieso Kopfhörer?“ fragte sie. „Wozu?“ „Gegen den Krach.“ „Krach?“ sagte sie entrüstet. „Die kleinen Holzklöppel sollen Krach machen? Da siehst du wieder, wie wenig Ahnung du hast.“ „Weißt du, wie ein Acht-Loch-Flansch aussieht?“ 7
„Ein was?“ „Ein Acht-Loch-Flansch.“ „Muß ich das wissen?“ „Mußt du nicht“, sagte Berger. „Es ist nur, weil du mir vorwirfst, ich hätte keine Ahnung vom Klöppeln.“ „Ich rede ja über deinen Flansch nicht, aber du redest über das Klöppeln.“ „Meinetwegen kannst du klöppeln, bis du schwarz wirst.“ „Ich klöpple doch gar nicht.“ „Bei dir weiß man nie! Gehäkelt hast du schon, gestickt, geknüpft, gestrickt. Was bleibt denn da noch übrig? Ist doch bloß das Klöppeln – oder?“ „Andere Männer sind stolz, wenn sie eine arbeitsame Frau haben. Aber du …“ „Was hat denn das mit arbeitsam zu tun, wenn du nicht in der Lage bist, die Hände still zu halten. Das hat doch höchstens etwas mit Nervosität zu tun.“ „Sei mal still! Jetzt kommt der Dragan, den höre ich gern. Sieht er nicht gut aus?“ „Diese geleckten Ärsche!“ knurrte Berger und ging in die Küche und holte die dritte Flasche Bier aus dem Kühlschrank. Richtig erwachsen werden Frauen anscheinend nie, dachte er bei sich. Mit achtzehn darf man Schlager ja noch schön finden und für irgend so einen Idioten schwärmen, aber doch nicht, wenn man über vierzig ist. Wovon singen denn diese Typen alle miteinander? Von der Liebe. Liebe hinten und Liebe vorne. Ist doch lächerlich. Mit paarundvierzig weiß man doch, was Sache ist, da hat man Mühe, ihn noch hochzukriegen, weil man nicht mehr neugierig ist. Man weiß, wie es ablaufen wird, nämlich so wie immer. Absolut nichts Neues. Stets dasselbe Programm. Man macht natürlich mit. Man hat ja nichts gegen die Frauen, und manchmal überkommt’s einen auch selber. Über Liebe? 8
Jeder Ofen geht irgendwann einmal aus. Dagegen ist kein Kraut gewachsen. Und Gerda sitzt vor der Röhre und glotzt und freut sich, weil da einer sein Maul aufreißt und ewige Liebe und Treue schwört. Gerade die Schlagersänger haben es nötig. Außerdem, überhaupt kein Beruf für einen Mann. Mäuse bringt’s bestimmt jede Menge. Die gehen nicht mit achthundertundsechzig im Monat heim, wie unsereins. Wahrscheinlich nehmen die soviel für einmal Maulaufreißen. Berger hatte schlechte Laune, weil er den Film nicht sehen konnte, und es bereitete ihm Genugtuung, in Gedanken gegen die Schlagersänger loszuziehen. Gegen Sängerinnen hatte er weniger. Er fand, für Frauen war das ein guter Beruf, besonders wenn sie sich sehen lassen konnten. Wenn eine so halbnackt auf der Bühne stand, kamen ihm schon ganz angenehme Gedanken. Doch war ihm klar, daß er nichts zu bestellen hätte, falls er einmal einer begegnen würde. Mit einem armseligen Teilkonstrukteur von über vierzig gaben die sich bestimmt nicht ab. Haben die ja auch gar nicht nötig. Denen laufen doch alle möglichen Männer nach. Ein Manfred Berger hat da mit Sicherheit nichts zu bestellen. Und weil er das wußte, machte er sich nichts aus Schlagersendungen. Selbst dann nicht, wenn nur Frauen zu sehen und zu hören waren. Ein Krimi war tausendmal besser dagegen. Eine handfeste Sache. Und man vergaß dabei für anderthalb Stunden, daß einem nichts anderes mehr übriggeblieben war, als jeden Tag zur gleichen Zeit am selben Platz … Immer das gleiche. Immer noch mal. Bis zur Rente! Und danach kam auch nichts Neues. Mein Gott, ein bißchen anders hatte er sich das Leben denn doch vorgestellt! Eine Spur aufregender. Ein wenig mehr Abwechslung. Statt dessen Langeweile. Immer dasselbe. Immer nur Wiederholungen. 9
Daß heute die Schlagersendung lief und nicht der Film im zweiten Programm, lag an Gerda. Sie machte sich nichts aus Filmen, jedenfalls nichts aus spannenden Filmen. Sie mochte keine Krimis, weil sie sich dabei zu sehr aufregte, dabei das Stricken vergaß und später dann ewig nicht einschlafen konnte. Ohne ihre mindestens acht Stunden Schlaf war sie aber kein Mensch, wie sie sagte. Anderentags ging ihr nichts von der Hand. Fortwährend vertippte sie sich beim Eingeben der Preise in die Registrierkasse, was zur Folge hatte, daß die Schlange bei ihr immer länger wurde. Die Kunden murrten. Es hagelte verbiesterte Blicke. Manchmal böse Worte. Niemand hatte ja mehr Zeit. Und ihr fehlte das dicke Fell. Die meisten ihrer Kolleginnen machten sich kaum noch etwas daraus. Die störte es wenig, wenn die Warteschlange ein fast beängstigendes Ausmaß annahm. Sollen sich die Leute doch andere Zeiten für ihren Einkauf wählen, sagten sie, warum kommen sie immer dann, wenn Hochbetrieb herrscht. Gerda Berger fühlte sich bedroht, standen mehr als fünf Kunden bei ihr an. Sie bekam es regelrecht mit der Angst. Und die Angst schlug ihr auf den Magen, und dann ging gleich gar nichts mehr. Dabei war sie als flinke und freundliche Kassiererin bekannt. Die Stammkunden wählten mit Bedacht ihre Kasse. Und es gefiel ihr, daß es so war. Doch wenn ihr Schlaf fehlte, flutschte es nicht. An solchen Tagen kam es auch vor, daß sie bei der Abrechnung ein Manko hatte. Nicht gerade Unsummen, doch gehörte sie zu den Menschen, die sich schon über das Fehlen eines Pfennigs aufregten. Selbst wenn sie zuviel Geld in der Kasse hatte, fühlte sie sich schuldig. Manchmal war ihr diese dumme Ehrlichkeit, wie sie es nannte, selbst zuwider. Dennoch war sie ihr ausgeliefert. „Ich bin eben so erzogen, ich kann nicht aus meiner Haut“, sagte sie. 10
„Du willst nicht“, entgegnete Berger dann meist. „Nein, ich kann nicht. Meine Mutter war genauso.“ „Meinetwegen, wenn es dir Spaß macht.“ „Es macht mir keinen Spaß. Aber ich kann nicht dagegen an.“ Und weil sie das wußte, vermied sie es, sich am Abend einen Krimi anzuschauen. Sie ging gern früh zu Bett. Dafür stand sie dann auch früh auf. Der Morgen war ihr die beste Zeit des Tages. Vor der Arbeit erledigte sie all das im Haushalt, was andere Frauen in der Regel nach der Arbeit bewältigten. Berger fand das nicht gut. Er sah sich einen Film nicht gern allein an. Im Kino war das etwas anderes. Aber wann kamen sie schon mal ins Kino. Bei einem Film im Fernsehen wollte er mit jemandem reden können. Vor allem bei Krimis war es ihm ein Bedürfnis, sich über den mutmaßlichen Täter auszutauschen oder auch nur zusammen mit jemandem zu lachen, wenn eine komische Szene kam. Auch die Überlegungen, wie die Filmleute manche Dinge bewerkstelligten, wie sie Häuser einstürzen ließen, Autos in Brand setzten oder irrsinnige Sprünge vom Dach eines Hauses inszenierten, erörterte er gern beim Anschauen solcher Filme. Sich einen Krimi allein anschauen zu müssen war ihm nur das halbe Vergnügen. Sie wußte das und tat ihm manchmal den Gefallen und blieb neben ihm sitzen, doch nur, wenn sie am nächsten Tag nicht früh in die Kaufhalle mußte, wenn sie also ausschlafen konnte. Morgen mußte sie für den Vormittag hinter die Kasse, und am Samstag war besonders viel Betrieb. Aus diesem Grund hatte sie sich heute auf keinen Film eingelassen, hatte aber auch nicht auf die Schlagersendung verzichten wollen, denn allzuoft gab es die ja nicht zu sehen, jedenfalls nicht solche mit großer Aufmachung. Genau die waren es aber, die ihr gefielen. Die modernen 11
Gruppen oder Bands, wie sie heutzutage hießen, mochte sie nicht besonders. Dafür war sie zu alt, meinte sie. Manfred Berger hatte versucht, sich mit Bier und dem Blättern in Illustrierten über die Runden zu bringen. Trotzdem war ihm die Langeweile deutlich anzumerken. „Du bist mal wieder gnatzig heute“, sagte sie. „Scheißschlager!“ „Scheißkrimi!“ „Ist ja gar kein Krimi.“ „Ich dachte, es wäre einer.“ „Irgend etwas mit Mafia“, erklärte er ihr. „Noch schlimmer“, erwiderte sie. „Was weißt du denn von Mafia!“ „Suchst du schon wieder Streit?“ „Wenn wir nicht blank wären, würde ich mir einen Kofferfernseher kaufen“, sagte er, „und mich damit in die Küche setzen.“ „Dann kannst du dich auch gleich scheiden lassen.“ „Wieso denn scheiden? Bloß weil ich in der Küche einen Film gucke.“ „Wenn du in der Küche sitzt, und ich sitze im Wohnzimmer, dann ist das wie geschieden. Womöglich noch getrennte Schlafzimmer, damit du vom Bett aus fernsehen kannst!“ „Und wenn du strickst und ich vor Langeweile fast umkomme, was ist das denn?“ „Im Radio hörst du ja auch Schlager.“ „Nur früh“, sagte er. „Außerdem muß ich mir im Radio nicht dauernd diese dämlichen Visagen anschauen.“ „Na, so schlecht sehen die auch wieder nicht aus. Guck mal, die jetzt! Sieht die nicht gut aus. So was von langem Haar. Und so herrliches Blond. Ich dagegen mit meiner Naturkrause.“ „Blond und blöd.“ „Tu nur nicht so! Wenn wir auf der Straße gehen, drehst du dich wohl nach Blonden um.“ 12
„Ich?“ „Ja, du.“ „Die singen ja auch nicht.“ „Als ob das etwas damit zu tun hätte.“ „Ich habe jedenfalls nichts gegen deine Naturkrause.“ „Sei ehrlich, Manfred, du hast dir bestimmt schon mal eine Frau mit langem Haar gewünscht. Mit Haaren, die bis zum Po reichen.“ „Kannst mir ja mal eine ins Bett legen.“ „Siehst du, ich hab’s gewußt.“ „Nichts weißt du“, entgegnete er brummig. „Alles Spinne. Kommt doch alles auf dasselbe ’raus. Ob blond oder ob mit Naturkrause, und außerdem haben die Blonden zwischen den Beinen bestimmt auch Naturkrause.“ „Typisch Mann, an was anderes denkt ihr bei einer Frau nicht.“ „Denkt ihr denn bei uns Männern an etwas anderes?“ „Ich allemal.“ „Und an was denkst du, wenn du den Knaben da siehst“, fragte Berger, dabei auf einen Schlagersänger deutend, der sich eben abmühte, die rührende Treue irgendwelcher Schwäne zu preisen. „Sag ich dir nicht.“ Berger feixte. „Du immer mit deinen Hintergedanken“, sagte sie. „Du willst mir doch nicht erzählen, du hättest nicht auch schon mal von einem anderen Mann im Bett geträumt?“ „Immer wieder das Bett“, sagte sie ärgerlich, „vielleicht träume ich öfter von einem Mann, der mit mir tanzen geht.“ „Das mußte ja noch kommen.“ „Sicher, du weißt doch, wie gern ich tanze.“ „Wenn unser Junge von der Fahne zurückkommt, kann er dich ja mit zur Disco nehmen.“ 13
„Wieso bekommen wir eigentlich nie Karten für so eine Schlagersendung im Kulturpalast?“ fragte sie, ohne auf seine anzügliche Bemerkung einzugehen. „Das wäre doch mal etwas.“ „Weiß ich das“, antwortete er. „Bei uns im Betrieb haben sie noch keine angeboten.“ „Wir gehen nie irgendwohin!“ „Du mußt doch immer früh zu Bett.“ „Nicht am Sonnabend.“ „Das wird ja nun anders“, sagte er. „Mit dem neuen Wagen macht’s Spaß, einfach mal durch die Gegend zu jockeln.“ „Mit unserem Trabi sind wir nicht gerade oft weggefahren.“ „Ein Trabi ist kein LADA.“ „Mir hat unser Trabi gefallen.“ „Warte mal ab! Wenn du erst mal hinterm Steuer sitzt, wird dir der Unterschied schon aufgehen. Ein Anzugsvermögen, Mann-o-Mann, da drückt’s dich förmlich in die Polster. Und dann kann man sich da drin wenigstens normal unterhalten und braucht nicht zu schreien wie ein Verrückter.“ „Daß du immer übertreiben mußt“, sagte sie lächelnd, denn im Grunde freute sie sich auch über das neue Auto. Irgendeine Abwechslung sollte schließlich sein im Leben. „Am Sonntag früh schießen wir los“, verkündete Berger verheißungsvoll. „Am Sonntag, wohin denn? Davon hast du mir ja noch gar nichts gesagt. Ich habe überhaupt nichts anzuziehen.“ Berger erhob sich, um den Fernsehapparat auszuschalten, denn die Sendung war endlich am Schluß angelangt. „Laß dir etwas einfallen“, sagte er. „Es muß natürlich zum Auto passen, zu mandarinfarben, meine Liebe. Grün zum Beispiel paßt nicht“, witzelte er. 14
„Aber beige“, meinte sie. „Meinen beigefarbenen Rock und den rosa Pulli, der mit den kurzen Ärmeln, das paßt doch. Oder?“ „Vielleicht“, meinte Berger und ging mit einem fast weihnachtlichen Gefühl zum Fenster, wo er die Übergardine zur Seite zog. Bevor er sich zu Bett legte, wollte er noch einen Blick auf das Prachtstück da unten werfen, wollte die Augenweide noch mal genießen. Bar bezahlt war das Ganze. In dem schnellen Hirsch steckten jede Menge Überstunden. Sah man ihm natürlich nicht an, aber es war so. Keine einzige Mark Schulden. Und für Benzin war auch noch Geld übrig. Er öffnete das Fenster, um frische Luft einzulassen. Seine Frau hatte soeben das Strickzeug ordentlich zusammengelegt und wollte aus dem Zimmer gehen und sich für die Nacht fertigmachen. „Na, glaubst du denn …“, rief Berger. Und es klang, als könne er seinen Augen nicht trauen. „Was ist denn?“, fragte sie. „Was hast du denn?“ „Da ist doch tatsächlich jemand … na, dem werd ich …“ Und schon war er aus dem Zimmer. Sie hörte noch die Wohnungstür schlagen. Dann ging sie zum Fenster. Als er wieder nach oben kam, sah sie kalkweiß aus im Gesicht. Die Arme hingen ihr schlaff am Körper herunter. Es genügte ihm ein Blick, um zu erfahren, daß sie alles mit angesehen hatte. „Schnell“, sagte er heiser, „wir müssen ihn wegbringen.“ Sie rutschte an der Schrankwand, an der sie gelehnt hatte, nach unten und riß dabei eine der vier Sammeltassen aus Porzellan mit, die dumpf aufschlug auf der Auslegware und in drei Teile zersprang. Nun, auf dem Fußboden hockend, weinte sie, und während sie weinte, sagte sie in einem fort: „Nein, nein, nein.“ „Hör auf!“ fuhr er sie an. „Du hast doch gesehen, wie es war.“ Und weil sie mit dem Weinen nicht aufhören 15
konnte, setzte er noch hinzu: „Ich habe es nicht gewollt. Oder denkst du, ich hätte es absichtlich getan? Sag, denkst du das von mir?“ Er hielt sie bei den Schultern gepackt und war vor sie hingekniet und schüttelte sie jetzt, weil sie nicht sprach und nur vor sich hin weinte wie ein kleines Kind. Dann ließ er sie los und beugte sich zu der zerbrochenen Sammeltasse hin. „Die läßt sich kleben“, sagte er. Es war völlig unsinnig, daß er das sagte, denn Gerda weinte schließlich nicht wegen der zerbrochenen Tasse. „Was hätte ich denn machen sollen“, fragte er aufs neue. „Nun sag doch! Was?“ Jetzt erst sah er, daß sie immer noch das Strickzeug in der linken Hand hielt. Er stand auf und stellte die zerbrochene Sammeltasse auf den Couchtisch, dann nahm er ihr das Strickzeug aus der Hand und legte es daneben. „Was hat der denn an unserem Auto zu suchen?“ sagte er. „So ein Verrückter. Klaut Batterien aus den Autos. Sollte ich ihn das einfach so machen lassen?“ Sie weinte jetzt nicht mehr, antwortete aber auch nicht auf sein wiederholtes Fragen. Er beugte sich erneut zu ihr hinab und zog sie sachte hoch. Widerstandslos ließ sie es mit sich geschehen. „Komm“, sagte er, „du mußt dich anziehen.“ Sie blickte ihn fragend an, sie begriff nicht, wovon er sprach. „Wir müssen ihn wegbringen“, sagte er eindringlicher als vorhin. „Da hilft nichts, er muß weg“, fügte er noch hinzu. Schließlich ließ er sie los, und es sah aus, als ob er mit viel Mühe eine lebensgroße Puppe hingestellt hatte und nun gespannt wartete, ob sie auch wirklich ohne seine Hilfe auf dem Fleck stehen blieb, wo er sie hingestellt hatte. Und tatsächlich blieb sie stehen. Ihr Gesicht war naß von Tränen und Rotz. Er angelte sein Taschentuch aus der Hosentasche und wischte ihr Gesicht trocken. 16
„Wohin denn?“ fragte sie, und er atmete auf, weil sie endlich mit ihm sprach. Er wußte, daß er es nicht mehr lange ausgehalten hätte, und vielleicht hatte sie es auch gespürt. „Irgendwohin“, antwortete er, „das fällt mir schon noch ein. Erst müssen wir von hier weg.“ „Ist er denn wirklich …“ Sie wagte nicht, den Satz zu vollenden, aber er verstand auch so und nickte, und nach dem Nicken hielt er die Augen auf den Boden gerichtet. In dem nun entstandenen Schweigen war deutlich zu hören, wie unten ein Auto vorbeifuhr. Berger eilte zum Fenster und stellte sich so, daß er von unten nicht gesehen werden konnte. Das Auto fuhr vorbei, ohne anzuhalten, und es war auch kein Streifenwagen der Polizei gewesen. „Bloß gut, daß im Zweiten der Film läuft“, sagte er, „die hängen alle noch an der Röhre.“ „Wir müssen die Polizei rufen“, sagte sie leise. „Ich bin doch nicht verrückt“, fing er an zu schreien, dämpfte die Stimme aber sofort und zischte ihr zu: „Ich rufe doch nicht die Polizei, weil der Kerl sich an mein Auto rangemacht hat. Ich nicht, ich geh nicht für den in den Knast, niemals.“ „Ich kann bezeugen, daß du keine Schuld hast.“ „Darauf geben die was, wenn die Ehefrau für den eigenen Mann aussagt!“ „Vielleicht hat es noch jemand gesehen?“ „Bloß das nicht!“ „Ich rufe an“, sagte sie, „ich gehe nach unten und rufe an!“ „Bitte“, sagte er, „mach es. Ruf doch an. Endlich bist du mich los. Denn die buchten mich ein, da kannst du Gift drauf nehmen. Weißt du, wie man das nennt? Weißt du natürlich nicht, weil du ja kaum mal einen Krimi geguckt hast, geschweige denn einen gelesen. Das heißt 17
Totschlag bei denen, und dafür gibt’s mindestens zehn Jahre, wenn nicht mehr. Zehn Jahre, weißt du, was das bedeutet? Wenn ich da wieder rauskomme, bin ich ein alter Mann. Dann kann ich einpacken. Dann ist es schon besser, du nimmst den Leuchter da und ziehst ihn mir über den Schädel. Damit bist du mich dann auch los.“ Und er langte allen Ernstes nach dem schweren schmiedeeisernen Leuchter auf dem Couchtisch und hielt ihn ihr hin. „Hier, schlag zu. Na los, mach!“ „Hör auf!“, sagte sie. Sie wurde in dem Maße ruhiger, wie er sich erregte. „Du übertreibst wieder, Manfred, ich glaube nicht, daß sie dich einsperren.“ „Ja, was sollen sie denn sonst machen? Mir vor Freude um den Hals fallen?“ „Sie können doch nicht einfach …“ „Sie können, meine Liebe, sie können. Und jetzt ist Schluß mit dem Gequatsche. Wir haben keine Zeit mehr, keine einzige Minute.“ „Wenn du ihnen erzählst, wie es war“, sagte sie. „Schluß, habe ich gesagt; zieh dir Schuhe an und eine Jacke!“ „Warum muß ich mitkommen? Ich kann das nicht.“ „Du kannst!“ Er zog sie in den Flur. Und sie begann sich anzuziehen. Aus der Art, wie sie es machte, erkannte man, daß sie sich ihres Tuns nicht eigentlich bewußt war. Es sah aus, als habe sie der Mann aufgezogen. Berger ging ins Bad, putzte sich die Zähne und spülte mit Mundwasser nach. Er war sich darüber im klaren, daß das nichts half, wenn sie ihn tatsächlich anhielten, um eine Alkoholprobe zu machen. Doch manchmal halten sie die Autos auch nur an, um den technischen Zustand zu prüfen, Fahrzeugpapiere und so, und da war es schon wichtig, daß er nicht nach den drei Bier roch, die 18
er während der Scheißschlagersendung hintergekippt hatte. Die Frau kam ins Bad nach und trat vor den Spiegel. „Mach dich ein bißchen zurecht“, sagte er. „Du siehst immer noch verheult aus.“ Weil sie nichts dergleichen tat, sondern nur in den Spiegel starrte, fuhr er sie an: „Los, mach schon!“ Gehorsam kramte sie einen Lippenstift aus dem Schubfach der Spiegelkonsole und zog die Lippen nach. Sie mußte zu stark aufgedrückt oder den Stift zu weit herausgedreht haben, jedenfalls brach er ihr ab, und sie schaute nach unten auf das Bruchstück, als sei ihr eine Hand abgefallen oder etwas anderes, Entsetzen Auslösendes geschehen. „O Gott, laß den Scheiß liegen“, sagte er, „und komm! Nimm Handschuhe mit“, fügte er im Flur noch hinzu. „Handschuhe?“ fragte sie. „Ja, mach!“ fuhr er sie an und warf sich das Jackett über. Als er sich an der Tür nach ihr umwendete, entdeckte er, daß sie die Handschuhe bereits übergezogen hatte. „Jetzt noch nicht“, sagte er, „mein Gott, muß man dir denn alles sagen. Erst wenn wir unten im Auto sind, steck sie in die Jackentasche!“ Sie bereitete ihm Sorgen. Sie sah immer noch kreidebleich aus. Kurz entschlossen zog er sie ins Bad zurück und kramte aus ihrem Kosmetikschränkchen eine Dose Rouge und langte sich aus dem Plastbeutel einen blauen Wattebausch und wischte ihr ein wenig Leben ins Gesicht: Es wirkte verblüffend professionell, wie er das machte. Man hätte annehmen können, er mache das jeden Tag. Er war jetzt wieder ruhig, und es wunderte ihn, daß er so ruhig war. Vorhin, als er die Treppe hochgestiegen war, hätte er sich bei einem Haar übergeben. Hätte bei19
nahe in den Treppenflur gekotzt. Das wäre eine schöne Bescherung gewesen. Doch jetzt war er ruhig. Sein Kopf arbeitete wie eine Maschine. Ihm war klar, daß er sich keinen Fehler leisten durfte. Auch nicht die kleinste Nachlässigkeit durfte ihm unterlaufen. In den Krimis kamen die Täter immer durch irgend so etwas zu Fall, vergaßen an eine Sache zu denken, während sie alles andere einkalkulierten. Und diese eine Sache war es dann, aus der ihnen der Strick gedreht wurde. Wahrscheinlich war es nicht nur in den Krimis so, sondern auch im Leben. Aber ein Manfred Berger wird den Kriminalisten nicht ins Messer laufen, sagte er sich. Ein Manfred Berger nicht, darauf kann alle Welt Gift nehmen; der behält seine fünf Sinne beisammen. Denn Manfred Berger hat nicht die Absicht, für die Unverschämtheit eines anderen in den Knast zu wandern. Er hatte den Mann nicht ins Jenseits befördern wollen. Schließlich war er kein Schläger. Selbst dann, wenn Berger ein paar Bier und einige Schnäpse intus hat, schlägt er nicht zu. Das ist nicht seine Art. Er ist sich nicht etwa zu fein dazu, das nicht, aber es fehlt ihm die Lust. Er findet Schlägereien unter Männern schlichtweg albern. Und doch lag da unten im Kofferraum seines nagelneuen mandarinfarbenen LADA ein Mann, dem er einen Haken versetzt hatte und der dabei ins Stolpern geraten und ausgerechnet auf einen der fünf Feldsteine geknallt war, mit der Bergers Parkplatznachbar jeden Morgen vor der Abfahrt seinen Parkplatz sichert. Selbst wenn er das der Kriminalpolizei soweit klarmachen konnte – und es gab für solche Sachen heutzutage ja ganz irre Untersuchungsmethoden –, also selbst dann würden sie ihn zu Recht fragen, wieso er nicht auf der Stelle die Polizei angerufen hat. Wieso er statt dessen die Treppen ’runtergerannt ist und dem Mann mir nichts, dir nichts einen Haken angesetzt hat? Und dar20
auf, das wußte Manfred Berger, ließe sich schlecht etwas antworten. Deshalb hieß es jetzt handeln. Umsichtig und mit kühlem Kopf. Ruhe bewahren. Vor allem Ruhe. Wenn nur die Frau nicht noch durchdrehte. Besser wäre es natürlich, sie hier oben in der Wohnung zu lassen. Sie würde ihm im weiteren alles andere als eine Hilfe sein, das war ihm klar. Ihre Nähe würde ihn nur stören, aber er durfte sie jetzt nicht allein lassen. Um nichts in der Welt durfte er das. Sie war imstande, die Polizei doch noch anzurufen. Wahrscheinlich war sie zu noch weit mehr imstande, kam ihm in den Sinn, ohne daß er gleich hätte sagen können, wozu sie vielleicht noch imstande war. Nachdem er die Wohnungstür abgeschlossen hatte, hakte er seine Frau unter. Ein zufälliger Beobachter hätte bei ihrer beider Anblick mit Sicherheit gedacht, ein Ehepaar wolle in schöner Vertrautheit noch ein wenig frische Luft schnappen, ehe es sich in die Betten begibt. Während sie zum Auto gingen, sah sich Berger unauffällig um. Es wäre nicht gut, jetzt einem Bekannten zu begegnen, ganz besonders schlimm wäre es, wenn sie jetzt einem Bekannten begegnen würden, ohne ihn zu bemerken. Das könnte, dann genau der Fehler sein, der ihm später zum Verhängnis werden würde. Denn solange man überschaut, wie die Dinge laufen, läßt sich alles in Ordnung bringen. Zugegeben, das Unternehmen wird komplizierter mit jeder neuen Störung von außen, aber es bleibt trotzdem noch überschaubar. Am Auto angelangt, kramte er absichtlich lange in der Jackettasche nach dem Autoschlüssel, um so Zeit zu bekommen für einen langen, kritisch prüfenden Blick über die Fensterfront des Neubaublocks, der glücklicherweise nur fünf Etagen hoch war. Und es waren fast alles Wohnzimmer, die ihre Fenster zu dieser Seite hin hatten, und in den Wohnzimmern 21
standen die Fernsehapparate, wo sich jetzt gerade irgendwelche Mafiosi ein heißes Gefecht lieferten. Nein, sagte sich Berger, aus diesen Fenstern hat niemand gesehen, was sich vor wenigen Minuten hier abgespielt hatte. Und auch jetzt stand niemand am Fenster und schaute zu, wie das Ehepaar Berger sich nicht bremsen kann und mitten in der Nacht noch einen kleinen Rutsch mit der mandarinfarbenen Neuanschaffung machen muß, was allerdings jeder verstehen würde, denn schließlich haben sie, wie die anderen Autobesitzer auch, an die neun Jahre darauf warten müssen. Da pfeift man gern auf einen Mafiafilm und genießt statt dessen das Fahrgefühl des funkelnagelneuen LADA. Trotzdem war es besser, daß niemand sah, wie sie davonrollten. Nach wenigen Metern stoppte Berger das Auto. „Verdammt“, sagte er, „der Kerl muß ja irgendwie hergekommen sein.“ „Vielleicht ist er von hier“, meinte die Frau. „Niemals“, sagte Berger und fuhr den Wagen in eine Seitenstraße. „Setz dich ans Steuer“, wies er seine Frau an. „Ich?“ wehrte sie entsetzt ab. „Ja, du!“ „Ich kann jetzt nicht fahren.“ „Wer redet denn vom Fahren“, sagte er. „Du sollst dich lediglich hinter das Steuer setzen und warten, das wirst du wohl noch schaffen.“ „Wo willst du denn hin?“ fragte sie mit großer Angst in der Stimme. Um nichts in der Welt wollte sie allein sein mit diesem Mann dahinten im Kofferraum. Schon wenn sie sich vorstellte, wie er da drinlag, vermochte sie nur mit Mühe den Zwang zu unterdrücken, laut schreiend davonzulaufen. „Ich muß mich umsehen“, erklärte er ihr sein Vorhaben. „Ich muß herauskriegen, womit der Kerl hergekommen ist. Denn der ist nicht von hier aus der Ge22
gend. Wenn einer sich auf die Socken macht, um eine Autobatterie zu klauen, dann macht er das nicht da, wo er wohnt, wenn er nicht völlig bekloppt ist, und so sah der nicht aus.“ Berger wußte, daß die letzte Bemerkung unsinnig war. Für die Überprüfung des Geisteszustandes des Mannes hatte er nun wahrlich weder Zeit noch Gelegenheit gehabt. Aber er sagte es, um der Frau die Notwendigkeit seiner Suche plausibel zu machen, und sie rutschte tatsächlich folgsam vom Sitz des Beifahrers auf den Fahrersitz. Schade, daß sie nicht raucht, dachte er. Es sähe besser aus, wenn sie hinter dem Steuer sitzen und eine Zigarette rauchen würde. Im Film jedenfalls rauchen die Leute Zigaretten, wenn sie im Auto sitzen und warten. Doch waren sie beide Nichtraucher, und daran ließ sich auf die Schnelle nichts ändern. Und dann fiel ihm noch ein, daß sie nun doch die grüne Jacke angezogen hatte, die so gar nicht zur Mandarinfarbe des Autos paßte. Verwundert darüber, daß ihm ausgerechnet das jetzt in den Sinn kam, schüttelte er im Davongehen den Kopf. Sie schaute ihm mit angstgeweiteten Augen hinterher.
2 Nachdem sie alles erledigt hatten, waren sie nicht wieder auf den Parkplatz vor dem Haus gefahren, und Berger war sorgfältig darauf bedacht gewesen, von niemandem gesehen zu werden. Erleichtert atmete er auf, als sie endlich wieder im Flur ihrer Wohnung standen. Das Schwerste war geschafft, dachte er, was nun noch kam, war ein Kinderspiel dagegen. 23
Auch die Frau schien sich beruhigt zu haben, obwohl sie während der Rückfahrt kein einziges Wort gesprochen hatte. Doch konnte er das kaum verlangen. Ihm war auch nicht nach Reden zumute gewesen. Alles in allem hatte sie sich nicht schlecht gehalten. Keine hysterischen Anfälle und so, obwohl er damit eigentlich gerechnet hatte. Sie ließ sich im Wohnzimmer in einen Sessel fallen und starrte auf einen imaginären Punkt an der Wand. „Geh schlafen“, sagte er sanft. „Du mußt schlafen und vergessen. Du mußt denken, daß es ein Traum war, mußt denken, es war alles ein böser Traum, und mußt ihn auswischen im Kopf, ihn wie mit einem Schwamm von der Tafel wischen.“ Sie nickte leicht, blieb aber sitzen. Er ging zu ihr und wollte ihr aufhelfen. „Komm“, sagte er, doch sie wehrte ab und wollte sich von ihm nicht anfassen lassen. „Bitte, wenn du es allein schaffst“, sagte er gereizt. Es war ihm klar, daß seine Position die schwächere war, und das ließ ihn wütend werden. Er wollte nicht wütend werden, denn nichts konnte er jetzt weniger gebrauchen als Wut, und doch konnte er nicht verhindern, daß sie jetzt in ihm hochkam. Mit zusammengekniffenen Augen schaute er auf seine Frau. Da hing sie nun im Sessel wie ein Häufchen Elend, und ihm kam es wieder zu, sie zu trösten, sie zu beruhigen. Dabei wollte sie sich noch nicht einmal von ihm anfassen lassen. Tat so, als klebe Blut an seinen Händen, als wäre er irgendein Widerling; tat so, als ekele sie sich vor ihm. Mein Gott, dachte er, begreift denn die Frau nicht, daß ich derjenige bin, dem es dreckig geht. Warum kommt sie nicht und sagt: Manfred, das stehen wir miteinander durch. Du kannst dich auf mich verlassen. Ich halte zu dir. Warum macht sie mir nicht wenigstens einen Kaffee? 24
Warum muß ich ihr beistehen? Und nicht sie mir? Warum? Habe ich ihr etwa nicht beigestanden, damals, als sie noch in der kleinen Konsum-Verkaufsstelle vorn an der Ecke arbeitete, wo immer wieder Ware fehlte bei der Inventur und wo es die Verkaufsstellenleiterin verstand, den Verdacht auf Gerda zu lenken? Habe ich ihr da nicht den Rücken gestärkt, bis endlich herauskam, daß es die Verkaufsstellenleiterin selber war, die die Ware beiseite schaffte? Und wenn sie krank gewesen ist, und wenn der Junge krank war, habe ich da nicht immer alles getan, was nötig war? Und jetzt? Jetzt, da sie etwas für mich tun müßte, jetzt sitzt sie im Sessel, starrt die Wand an und läßt sich nicht einmal anfassen von mir. Die Ehe, hatte Berger bisher gedacht, wenn sie einen Sinn haben soll, muß Geben und Nehmen sein. Ganz selbstverständlich, ohne daß einer den anderen dazu auffordert. Jeder von beiden muß es wissen, muß sich sicher sein, daß der andere, wenn es an der Zeit war, genauso gab, wie ihm gegeben wurde. Und nun stellte sich heraus, daß es nichts war mit dem Geben. Fehlanzeige, Irrtum! Er stand allein da. Und ihm war elend. Und am liebsten hätte er sich vor ihr aufgebaut und sie angeschrien und ihr verkündet: Ich haue ab. Mach, was du willst. Sieh zu, wie du zu Rande kommst. Mich siehst du nicht wieder. Mich nicht. Doch er sagte nichts. Denn noch im selben Augen25
blick war ihm bewußt geworden, daß er dazu keine Möglichkeit mehr hatte. Jetzt nicht und überhaupt niemals mehr. Sense. Finis. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag. Vor diesem Abend war ihm nie der Gedanke gekommen, von seiner Frau wegzugehen. Natürlich hatte er sich manchmal vorgestellt, wie es wäre, mit einer anderen Frau zu leben, mit einer, die fröhlicher war, die nicht jedes Wort auf die Goldwaage legte, die nicht so oft unter Migräne litt, und vielleicht auch mit einer, die selber mehr Spaß im Bett hatte. Doch waren das alles nur Gedankenspielereien gewesen. Nichts Ernsthaftes, keine wirkliche Absicht. Wozu auch? Gerda war nicht verwöhnt. Von Hause aus arbeitsam, zuverlässig, treu, und sie liebte ihn. Jedenfalls behauptete sie es, und er hatte wenig Grund gehabt, je daran zu zweifeln. Was also konnte man von einer Frau nach zwanzig Jahren Ehe mehr erwarten? Was sich von ihr noch wünschen? Ihm fiel nichts ein, außer daß sie ihm zeigen sollte, daß sie zu ihm steht. Weshalb mußte sie ausgerechnet jetzt versagen, ausgerechnet jetzt, wo es darauf ankam? Vielleicht ist es nur der Schock, suchte er sie vor sich zu entschuldigen. Vielleicht hat sie sich morgen früh gefangen. War ja nicht leicht; war ja bißchen viel, bißchen reichlich viel, und so plötzlich, so mitten aus blauem Himmel. Bei Tage sieht alles ganz anders aus. Und wirklich, sie erhob sich und ging ins Bad. Berger atmete auf. Na also, sagte er sich und überlegte, was er jetzt zu tun hätte. Sicherheitshalber trat er noch mal ans Fenster und schaute hinunter auf den Parkplatz, auf die Lücke in der Reihe der geparkten Autos. Dann ging er gleichfalls ins Bad. 26
Gerda stand vor dem Spiegel und musterte ihr Gesicht, als sähe sie es zum ersten Mal. Im Licht der Neonröhre über dem Spiegel sah es wieder erschreckend fahl aus, obwohl sie doch Rouge aufgelegt bekommen hatte. „Nimm eine Schlaftablette“, sagte er besorgt. Sie hörte indessen nicht auf, sich im Spiegel zu betrachten. „Warum wir?“ sagte sie leise. „Warum ausgerechnet wir?“ „Ich weiß es nicht“, antwortete Berger. Sie hatte keine Antwort erwartet und schien sie auch nicht gehört zu haben. Im gleichen klagenden Ton sprach sie weiter. „Warum mußte er sich unser Auto aussuchen? Warum bist du ans Fenster gegangen? Hättest du nicht später ans Fenster gehen können oder überhaupt nicht? Sonst machst du doch auch nicht das Fenster auf nach dem Fernsehen, das mach ich doch sonst. Was haben wir denn verbrochen, daß ausgerechnet uns das passieren muß?“ Diesmal antwortete Berger nicht, und das Schweigen wirkte in der Enge des Bades besonders drückend. „Ich habe Angst“, sagte sie, „schreckliche Angst.“ „Fang keine Panik an“, sagte er. „Nicht jetzt noch eine Panik.“ Und mit einemmal hörte er, wie ihre Zähne aufeinanderschlugen. „Bitte“, sagte er, „bitte, reiß dich zusammen. Du brauchst keine Angst zu haben. Du weißt, daß ich es nicht getan habe. Du hast es selber gesehen. Also gibt es keinen Grund zur Angst, Gerda, überhaupt keinen einzigen Grund. Wir haben nur getan, was jeder andere vernünftige Mensch an unserer Stelle auch getan hätte.“ Mühsam suchte sie ihr Zähneklappern zu beherrschen und brachte stammelnd hervor: „Es wird nie mehr so sein wie vorher. Nie mehr, verstehst du?“ 27
Und sie drehte sich vom Spiegel weg, und ihm zugewandt, wiederholte sie: „Niemals mehr so wie vorher.“ Darauf ließ sich schwer antworten. Schließlich hatte Berger ja eben selbst etwas Ähnliches gedacht, wenn auch in anderem Zusammenhang. „Wofür werden wir bestraft?“ fing sie wieder an. „Wir haben doch anständig gelebt bisher.“ Berger hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. Dann ging er in die Küche an den kleinen Medikamentenschrank und holte zwei Schlaftabletten und hielt sie ihr hin. „Nimm!“ sagte er. „Grübeln macht es nicht besser. Es ist geschehen und läßt sich nicht ändern.“ Sie schluckte die Tabletten mit der Folgsamkeit eines Kindes. Das ließ ihn wieder hoffen. Langsam wurde es höchste Zeit für ihn. Er konnte sich unmöglich länger mit ihr beschäftigen. Er ging aus dem Bad, um einige Sachen zusammenzusuchen. Argwöhnisch kam sie an die Tür und schaute ihm zu und fragte: „Kommst du nicht schlafen?“ In dem Augenblick bereute er es, ihr nicht drei oder gar vier Schlaftabletten gereicht zu haben. Ausweichend antwortete er: „Noch nicht.“ „Was hast du vor?“ Eigentlich hatte er es ihr nicht sagen, sondern einen Zettel schreiben wollen und ihn so auf den Tisch legen, daß sie ihn morgen früh finden würde. Doch nun blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als es ihr zu sagen. „Ich fahre weg. Ich muß fort. Ich darf heute abend überhaupt nicht hiergewesen sein. Kapiert?“ Sie verstand nichts. Sie begriff nur, daß er sie allein lassen wollte, weshalb sie entschlossen verkündete: „Ich komme mit.“ „Du ziehst dich jetzt aus und gehst zu Bett, und morgen früh gehst du zur Arbeit, wie immer!“ befahl er. 28
„Ich bleibe nicht allein. Ich komme mit. Allein bleibe ich hier auf gar keinen Fall.“ „Nun fang nicht an durchzudrehen. Was ist denn dabei, wenn du allein in der Wohnung bleibst? Hier ist niemand außer dir. Keine Räuber, keine Gespenster und nichts. Du legst dich ins Bett und schläfst. Was ist daran so schwer?“ Sie schüttelte unentwegt den Kopf und stieg als erstes wieder in die Straßenschuhe, obwohl sie sich bereits die Bluse und den Rock ausgezogen hatte. Bei Berger reichte es nur noch zu einer müden Handbewegung. Angesichts ihrer Hysterie gab er auf. Er wußte nicht, was er dagegen tun sollte. Und er wollte auch nichts mehr tun. Ihm fiel ein, daß die Männer im Film ihre Frauen in solchen Augenblicken am Arm packten und schüttelten, bis sie wieder zur Vernunft kamen. Manchmal verabreichten sie auch Ohrfeigen. Sollten sie, er wollte nicht mehr. Es war alles sinnlos. Er ließ sich auf den Badhocker fallen, und ihm schien, als habe er statt ihrer die Schlaftabletten geschluckt, so müde und zerschlagen fühlte er sich. Er lehnte den Kopf an die Wand und schloß die Augen. Nichts mehr sehen und hören müssen, nur schlafen wollte er. Sollten sie doch kommen und ihn holen. Hauptsache, sie ließen ihn dann in der Zelle sich hinlegen und schlafen. Gerda Berger trat an die Badtür. Sie wunderte sich wegen seines plötzlichen Schweigens. Als sie ihn auf dem Hocker sitzen sah, erschrak sie. Sein Gesicht war grau wie Zement, und nie vorher hatte es so alt ausgesehen und war mit so vielen Falten bedeckt gewesen. „Soll ich dir einen Kaffee machen?“ fragte sie besorgt. Statt einer Antwort bewegte er den Kopf langsam hin und her. Ohne die Augen aufzumachen und ohne ihn von der Wand zu heben, rollte er ihn im Zeitlupentempo hin und her. Diese Bewegung konnte alles und nichts bedeuten. 29
„So kannst du unmöglich Auto fahren“, sagte sie. „Doch“, murmelte er. „Ich mach dir einen Kaffee.“ „Du gehst schlafen“, bekam sie zur Antwort. „Steig unter die Dusche, inzwischen koche ich Kaffee“, sagte sie. Es dauerte geraume Zeit, bis diese Information in seinem Gehirn ankam, und dann dauerte es noch eine Weile, bis es ihm gelang, die Augenlider zu heben. Dabei schien ihm, als habe er nie vorher das wahre Gewicht eines Augenlids gekannt. Beide klappten sie ihm wieder herunter wie zwei Helmvisiere. Mit geschlossenen Augen ließ er nun seine linke Hand nach dem Kaltwasserhahn tasten und ihn aufdrehen. Er spürte einen angenehmen Schmerz, als das kalte Wasser über sein Handgelenk zu laufen begann. Nun reichte die Kraft bereits, um auch den rechten Arm nachzuschieben. Langsam ließen sich auch die Augenlider heben. Schließlich stand er auf und wusch sich das Gesicht. Kaltes Wasser, dachte er. Kaltes Wasser auf das Handgelenk, das ist das ganze Geheimnis. Viel kaltes Wasser, und du weißt wieder, daß du es schaffst. Von der Küche her fand der Kaffeeduft den Weg ins Bad. So unzuverlässig war Gerda gar nicht. Wenn es darauf ankam, war sie ein Kumpel. Man mußte es nur darauf ankommen lassen. Ihn überkam die Lust, den ganzen Körper unter die Dusche zu bringen. Von Minute zu Minute wurde er munterer. Als er schließlich in die Küche kam, um seinen Kaffee zu trinken, fand er Gerda schlafend auf einem Stuhl, den Kopf neben der Kaffeekanne auf die Tischplatte gelegt. Na endlich, dachte er, die Tabletten haben gegriffen. Sachte nahm er sie auf und trug sie ins Schlafzimmer. Er zog sie nicht aus, weil er nicht wollte, daß sie wieder aufwachte. Sorglich drehte er sie auf ihre Einschlafseite und deckte sie zu. Dabei murmelte sie im Schlaf. Es war 30
nicht genau zu verstehen, was sie murmelte, aber daß sie dabei auch seinen Namen nannte, konnte er verstehen, ohne sich anstrengen zu müssen.
3 Gegen vier Uhr läutete in der Wohnung von Hauptmann Ebner das Telefon. Ohne Übergang war er wach. Selten, daß er einen tiefen und festen Schlaf hatte. Jedes unbekannte Geräusch in der Nacht konnte ihn wecken. Manchmal leistete er sich eine Schlaftablette, wollte sich aber nicht daran gewöhnen, denn sie machte es ihm schwer, im Falle eines Einsatzes mit dem nötigen Tempo zu reagieren. In dieser Nacht hatte er ohne Tablette in den Schlaf gefunden. Der Diensthabende teilte ihm nur kurz mit, daß der Wagen bereits unterwegs sei, ihn zum Einsatzort zu bringen, Auf der Straße nach Hellerau war ein bewußtloser Mann aufgefunden worden. Möglicherweise ein Unfall. Die Umstände berechtigten jedoch zu der Annahme, es handele sich um einen fingierten Unfall. Ebner legte den Hörer auf und erhob sich. Er ging in die Küche, um sich Tee zu brühen. Das war nach einem derartigen Anruf stets seine erste Amtshandlung. Ohne zwei, drei Tassen Tee war er kein Mensch, wie er zu sagen pflegte. Er hatte zu niedrigen Blutdruck, und obwohl die Ärzte Menschen mit zu niedrigem Blutdruck wegen deren angeblich besonders hoher Lebenserwartung nicht zu behandeln, sondern eher zu beglückwünschen suchen, lebt es sich damit ohne Tee oder Kaffee nicht gerade angenehm. Morgens gleich gar nicht. ‚Beginnen Sie jeden Tag mit einem Glas Sekt!‘, war ihm von einem Arzt empfohlen worden. Ganz abgesehen 31
von dem Vermögen, das dabei draufgehen würde, konnte ein Hauptmann des kriminalistischen Dienstes unmöglich mit einer Alkoholfahne am Tatort auftauchen und heiter und beschwingt die Angehörigen eines Ermordeten über die näheren Umstände des Geschehens befragen, vielleicht in der Hoffnung, von ihnen zu einem zweiten Glas Sekt eingeladen zu werden. Ebner hatte den Vorschlag nicht einmal witzig finden können und es seitdem unterlassen, mit Ärzten über zu niedrigen Blutdruck und Kreislaufbeschwerden zu reden. Er glaubte, die Ärzte wüßten um ihre Hilflosigkeit und gaben sich deshalb so naiv. In jedem Beruf, vorausgesetzt, man übt ihn lange genug aus, entdeckt man die Grenzen seiner Möglichkeiten und muß sich nach dieser Entdeckung entscheiden, ihn entweder an den Nagel zu hängen oder zu lernen, die Grenzen zu akzeptieren. Ihm ging es nicht anders. Zwar hatte sich die Kriminalistik in den letzten vier bis fünf Jahrzehnten zur Wissenschaft gemausert, war aber gegen Mißerfolge und Irrtümer ebensowenig gefeit wie andere Wissenschaften auch. Und gerade mit den Medizinern waren die Kriminalisten auf höchst unfreiwillige Weise verwandt; um beide Berufe hatte sich nämlich die Aura der Unfehlbarkeit gewoben. Literatur und Film hatten ihnen in den Augen der Nichtmediziner und Nichtkriminalisten zu einer Allmacht verholfen, die ihrer Arbeit alles andere als zuträglich war. Ebner schlürfte eben die erste Tasse des noch viel zu heißen Tees, als es läutete. Dreimal kurz. Willi stand also wartend vor der Haustür, das heißt, er saß wartend im Polster des LADA, wohin er sich nach dem Läuten mit Sicherheit wieder begeben hatte. Wie die meisten Berufskraftfahrer hielt er sich höchst ungern außerhalb des Autos auf. Körperliche Bewegung war ihm unsympathisch, sofern es sich dabei nicht um den Druck der Füße 32
auf das eine oder andere Pedal und um das Bewegen des Lenkrades handelte. Als ob dieses Land nicht schon genug Männer mit dicken Bäuchen aufzuweisen hätte. Ebner beeilte sich nicht sonderlich. Wozu auch? Ein Täter war nicht zu verfolgen, jedenfalls noch nicht. Falls es ihn überhaupt gab. Klang reichlich ominös die Meldung vorhin am Telefon. Und außerdem waren die Männer der Spurensicherung gewiß schon am Ort. Sie sahen es nicht gern, wenn die Leute von der MUK zu früh kamen und sie mit ihren Fragen bei der Arbeit störten. Sie brauchten ihre Zeit und ihre ganze Konzentration. Hoffentlich erwies sich die Angelegenheit als normaler Verkehrsunfall. Und nicht als Sache seiner Abteilung, sonst konnte er das Wochenende ruhig schon mal abschreiben. Es war nicht ungewöhnlich, daß ihm ein Wochenende in die Binsen ging, es war eher die Regel als die Ausnahme, nur hatte er sich auf diese zwei Tage die ganze Woche hindurch gefreut, weil er hatte endlich mal wieder malen wollen. Seine Frau machte Urlaub bei ihren Eltern am Bodden, und er liebte es, hin und wieder allein zu sein, und er liebte es vor allem, sich vor die Staffelei zu stellen und zu malen. Es war dies eine Liebe, die sich bei ihm erst sehr spät eingestellt hatte. Zum vierzigsten Geburtstag waren ihm von seiner Frau zu seiner höchsten Verblüffung eine Staffelei und Ölfarben geschenkt worden. Sie hatte gesehen, wie er hin und wieder ein kleines Aquarell gemalt hatte, wenn er Entspannung suchte. Mit einem simplen Schulmalkasten war er dabei ausgekommen. Und er hatte eigentlich nie so recht gewußt, was es für ein Bild werden würde, wenn er den Malkasten aufklappte. Und anfangs waren es meist irgendwelche hügeligen Landschaften geworden. Karge Landschaften. Genaugenommen kein Motiv für das heitere, leichte Aquarell. Im Schreibtisch seines Dienstzimmers lagen wohlverwahrt ein paar Zeichenfe33
dern, Tusche und ein Packen holzfreies Papier. Mit denen beschäftigte er sich, wenn er seine Gedanken davon abbringen wollte, zwanghaft um ein und denselben Punkt zu kreisen. Wenn er malte oder zeichnete, dachte er nicht, sondern ließ es denken, wie er sich ausdrückte. Ursprünglich nichts anderes als Lockerungsübungen, hatte sich dieser Flirt mit Feder, Pinsel und Papier allmählich zu einer tiefergehenden Liebe gewandelt, und nicht zuletzt hatte besagtes Geburtstagsgeschenk seiner Frau kräftig nachgeholfen. Ebner besaß weder einen Garten noch ein Auto, noch einen Hund oder gar ein Wochenendhäuschen. Weder ihn noch seine Frau, die als Bibliothekarin arbeitete, hatten diese Standardbesitztümer bislang sonderlich gereizt. Sie sahen an ihren Freunden, wie rasch und umfassend sich solche Art von Besitz der Gedanken, Gefühle und vor allem der freien Zeit der Besitzer bemächtigte, und sie wollten in dieses Spiel nicht einsteigen. Seine Frau hatte ihre Bücher, und er hatte zum einen wenig freie Zeit und zum anderen eben seine Staffelei. Bevor er aus der Wohnung ging, warf er ihr abschiednehmend noch einen wehmütigen Blick zu. Und doch war er nicht ganz ohne Hoffnung. „Guten Morgen, Genosse Hauptmann“, begrüßte ihn der Fahrer. „Du bist wieder unverschämt munter heute“, entgegnete Ebner. Willi grinste still in sich hinein und verzichtete auf den kleinen morgendlichen Plausch, den er eigentlich vorgehabt hatte. Ebner war ein umgänglicher Mann und keineswegs launisch, nur ließ er sich eben nicht gern in der Nacht um vier aus dem Bett klingeln. Er hatte ihm einmal gesagt, daß es nach seiner Auffassung zu den Menschenrechten gehörte, sich wenigstens am Wochenende ausschlafen zu dürfen, und er hatte nichts 34
für Täter übrig, die sich für ihr Treiben das Wochenende aussuchten. Nachdem sie das Industriegelände hinter sich gelassen hatten, sagte der Fahrer in tröstlichem Ton: „Na, einen schönen Tag bekommen wir heute jedenfalls.“ „Wenn er so aufhört, wie er angefangen hat, wäre es mir lieber, wir hätten ihn schon hinter uns“, kommentierte Ebner seine Bemerkung. Er tat sich noch immer schwer mit seinem Verzicht auf das Malen. Er hatte ein Selbstporträt vorgehabt. Das letzte war vor ungefähr zwei Jahren entstanden. Es war für ihn eine aufregende Sache, im eigenen Gesicht die Spuren zu entdecken, die beispielsweise zwei Jahre den schon vorhandenen hinzugefügt hatten. Außerdem ließen sich gerade am Selbstporträt Fortschritte in der Beherrschung des Handwerks registrieren, und möglicherweise bekam man auch eine geänderte Sicht auf das eigene Selbst. Alles in allem eine spannende Angelegenheit, der er nun für dieses Wochenende höchstwahrscheinlich verlustig gehen würde, weil auf der Hellerauer Straße ein Mann lag. Mit Blaulicht und Martinshorn kam ihnen ein Krankenwagen entgegen. „Da bringen sie ihn schon weg“, sagte Willi. „Sieht ganz so aus.“ „Hoffentlich hat es ihn nicht zu schlimm erwischt.“ Die Hellerauer Straße war zu beiden Seiten von Kiefernwald umsäumt, und eigentlich mochte Ebner Wald, aber beim Anblick der dicht an dicht stehenden mittelhohen Kiefern, die keineswegs grün, sondern staubgrau aussahen, packte ihn Mitleid mit diesen Kreaturen, und er wünschte ihnen einen lang anhaltenden Landregen und einen Revierförster mit mehr Erbarmen. Der Platz, den die einzelne Kiefer zur Verfügung hatte, reichte aus, sie nicht eingehen zu lassen, gestattete ihr aber auch keine weitere Entfaltung. 35
„Zum Sterben zuviel, zum Leben zuwenig“, sagte er mit einer Geste in Richtung Wald. „Was soll auf dem Sandboden groß wachsen?“ fragte Willi. Da sahen sie auch schon mehrere Polizeifahrzeuge stehen, und ein Streifenführer empfing Ebner, kaum daß er ausgestiegen war und machte Meldung. Ein Mann war mit dem Moped in eine Ölpfütze geraten und gestürzt. Der Krankenwagen hatte ihn bereits weggebracht. Auf dem Asphalt waren die Umrisse des Verletzten mit Kreide aufgezeichnet. „Was wollt ihr von mir“, fragte er die erwartungsvoll Dastehenden. Ein Verkehrspolizist meinte, das Ganze sähe nach einem fingierten Verkehrsunfall aus. „Fingierter Unfall“, wiederholte Ebner mißtrauisch. „Wohl zuviel Krimis gelesen?“ Der Verkehrspolizist verzog keine Miene, obwohl es natürlich nicht die Art des feinen Mannes war, die Ebner ihm gegenüber vorgelegt hatte. Es war die Forsche in dessen Auftreten, die Ebner störte. Vermutlich wäre er in der Armee niemals bis zum Hauptmann aufgestiegen. Militärisches Gehabe löste in ihm einen unfreiwilligen Widerwillen aus. Niemand mußte ihn über die Notwendigkeit von Disziplin aufklären, andererseits sah er sich nicht verpflichtet, mit übergroßer Sympathie darauf zu reagieren. Und der Verkehrspolizist tat seiner Meinung nach des Guten zuviel. Ebner schaute sich flüchtig um und tauchte einen Finger in die Ölpfütze. Noch ehe er sich das Öl anschauen konnte, sagte der Verkehrspolizist: „Frischöl, Genosse Hauptmann.“ „Danke für die Aufklärung“, entgegnete Ebner, „ich hätte sonst sicher angenommen, es sei Bienenhonig.“ Er wußte, daß er ungerecht war, aber der drängende Eifer 36
des jungen Verkehrspolizisten ging ihm um diese Uhrzeit auf die Nerven. Doch der war nicht zu bremsen.. „Eindeutig Frischöl, ganz eindeutig. Das ist es ja, weshalb ich nicht an einen Unfall glaube. Nirgendwo sonst Ölspuren. Kein Tröpfchen sonst. Nur hier diese Pfütze. Sieht aus wie hingegossen, ich meine, wie absichtlich hingegossen.“ „Vielleicht hat jemand Öl nachfüllen müssen, und es ist ihm etwas danebengelaufen“, sagte Ebner, der oft genug erlebt hatte, wie alberne Zufälle die Ermittlung in eine völlig falsche Richtung gelenkt hatten. Der Genosse Zufall, pflegte er in Abwandlung einer gängigen Losung zu sagen, ist allmächtig, weil keiner an ihn glaubt. Und er hatte sich angewöhnt, zuerst stets an einen Zufall zu glauben, an die Möglichkeit einer Kette von Zufällen, ehe er einen Verdacht aussprach. „Ich habe diese Möglichkeit auch in Erwägung gezogen“, sagte der Verkehrspolizist, sichtlich um korrekten Ausdruck bemüht. Damit wollte er zu erkennen geben, daß der Hauptmann es bei ihm nicht mit einem dummen Jungen zu tun hatte, auch wenn er aussah wie ein Junge. Er wußte, daß er so aussah, konnte aber daran nichts ändern, wollte er nicht zu einem Gesichtschirurgen gehen und sich Falten legen lassen. Es passierte ihm oft, daß er wegen seines pausbäckigen Aussehens nicht für voll genommen wurde, und gerade deshalb strengte er sich an, wenigstens im Auftreten männlich zu wirken. Männlich, forsch und überlegt. Ebner schaute ihm erst jetzt voll ins Gesicht und mußte wegen des Zweikampfes zwischen pflichteifrigem Ernst und rosiger Jungenhaftigkeit unwillkürlich lächeln. „Und?“ fragte er, schon eine Spur umgänglicher. „Es erhebt sich die Frage, weshalb ist der Mann ausgerechnet durch diese Öllache gefahren? Schließlich hatte er ausreichend Platz für ein Ausweichmanöver.“ 37
Ebners Grinsen hatte sich verstärkt. Irritiert fragte der Verkehrspolizist: „Sind Sie nicht meiner Meinung, Genosse Hauptmann?“ „Doch, doch“, sagte Ebner. „Ich habe mir nur eben vorgestellt, wie die Frage aussieht, wenn sie sich aus der Ölpfütze da erhebt.“ „Sagt man denn nicht so?“ „So sagt man, Sie abgebrochener Germanist. Und nun erhebt sich auf meiner Seite auch eine Frage, nämlich hätte den Fahrer nicht gerade in diesem Augenblick ein entgegenkommendes Fahrzeug blenden können? Zwei Halogenscheinwerfer gegen eine müde Mopedfunzel. Ein ungleicher Kampf, wie Sie mir sicher zugeben werden. Da ist es dann nichts mit Ausweichmanöver, da rutscht der Mopedfahrer voll ’rein.“ Doch der Verkehrspolizist gab sich so schnell nicht geschlagen. „Gegen diese Annahme spricht die Tatsache, daß der Mann kurz vor der Pfütze gebremst hat“, erwiderte er, „er sie also gesehen haben muß.“ „Er kann sie durchaus gesehen haben, doch der Gegenverkehr hat ihm die Möglichkeit des Ausweichmanövers genommen. Oder er hat sie zu spät gesehen, weil die Blendwirkung ja bekanntlich noch eine Zeitlang anhält, wenn das entgegenkommende Fahrzeug bereits vorbei ist.“ „Diese Variante kann nicht hundertprozentig ausgeschlossen werden“, räumte der Verkehrspolizist ein. „Mir ist ein solcher Unfall allerdings noch nicht vorgekommen.“ „Tja, man lernt nie aus“, meinte Ebner, während er sich die Kreidezeichnung auf dem Asphalt anschaute. „Lebt der Mann noch?“ „Ja, allerdings war er bewußtlos. Er schien schon ziemlich lange hier gelegen zu haben.“ Ebner ging auch noch um das Moped herum, das 38
noch genau an der Stelle lag, wo es die Funkstreife gefunden hatte. „Weit gerutscht ist er ja nicht“, sagte er nachdenklich. „Das sage ich ja“, hakte der Verkehrspolizist sofort nach. „Er hätte wesentlich weiter rutschen müssen.“ „Vielleicht ist er langsam gefahren.“ „Nachts, bei trockner Fahrbahn, fährt niemand langsam, noch dazu auf dieser Straße, wo kaum Verkehr ist.“ „Wie schnell war er denn?“ „Nach der Bremsspur zu urteilen, hat er nicht mehr als dreißig Kaemha draufgehabt.“ „Also ist er doch langsam gefahren.“ „Genau das ist es, was nicht in meinen Kopf will. Weshalb ist der Mann derart langsam gefahren. An der Stadtgrenze, links und rechts Wald. Glatte Straße. Trocken. Wer fährt da langsam?“ „Er könnte blau gewesen sein. Entgegen der allgemein vorherrschenden Meinung, wonach Leute mit Alkohol im Blut rasen, neige ich zu der Annahme, sie fahren im Gegenteil extrem vorsichtig, nämlich um nicht aufzufallen. Sie haben Angst vor euren hübschen Pusteröhrchen.“ Der Verkehrspolizist schwieg jetzt. Er hatte gesagt, was gesagt werden mußte, es war schließlich nicht seine Sache, den Mann von der MUK zu überzeugen, daß es sich hier nicht um einen gewöhnlichen Verkehrsunfall handelte. Sollte dieser mißlaunige Hauptmann doch selber dahintersteigen. „Können wir das Moped mal starten?“ fragte Ebner den Mann von der Spurensicherung. „Aber immer“, sagte der und machte sich sogleich am Fahrzeug zu schaffen. Nach drei Versuchen sprang das Moped an, und der Motor lief einwandfrei. „Wie ’ne Nähmaschine“, kommentierte der Spurensicherer. „Licht ist in Ordnung?“ fragte Ebner. 39
„Momang, haben wir gleich. Ja, alles in Butter, sogar die Hupe.“ „Sonst noch etwas von Belang hier?“ wollte Ebner wissen. „Nicht die Bohne.“ „Telefon, Genosse Hauptmann“, rief der Fahrer. Ebner ging zum Auto und bekam mitgeteilt, daß der Verunglückte noch auf dem Transport ins Krankenhaus verstorben war. „Alkohol?“ fragte Ebner. „Negativ.“ „Weitere Befunde?“ „Die Kopfwunde deutet darauf hin, daß der Mann auf einen harten Gegenstand gefallen sein muß, hart aber nicht kantig. Dazu kommt ein leichter Bluterguß am Kinn.“ „Ist das alles?“ „Zunächst ja, die Obduktion bringt vielleicht mehr.“ „Na schön“, sagte Ebner. „Wann kriege ich den Befund?“ „Montag.“ „Ich höre wohl nicht recht.“ „Keine Leute, keine Leute, Urlaubszeit!“ „Saftladen“, knurrte Ebner und legte auf. Wenn nur die lieben Täter im Juli und August auch Urlaub machen würden. Vielleicht, sagte er sich, muß man die Idee einfach unter die Leute bringen. Vielleicht kommt es dann zu einer Abmachung, einer Art Waffenstillstand, so nach dem Motto: Urlaub für alle. Wäre doch eine runde Sache. Auf dem Weg zurück zum Unfallort ließ er seine Blicke noch einmal prüfend über die Straße gleiten. Er ging auch die Ränder ab, konnte aber keinen harten Gegenstand entdecken. „Lag hier ’ne Klamotte?“, fragte er den Spurensicherer. „Wer lag hier?“ 40
„Ob der Mann auf einen Stein gefallen sein könnte, will ich wissen, oder vielleicht ist er auf das Moped geknallt mit dem Kopf?“ „Das gibt es doch gar nicht“, mischte sich der Verkehrspolizist gegen seinen Willen wieder ins Gespräch. „Sie waren nicht gefragt.“ „Hier liegt keine Klamotte“, antwortete der Spurensicherer. „Nicht mal ’n Schlagloch ist hier. Der Mann ist auf eine einwandfreie glatte Asphaltdecke mit Seltenheitswert gefallen. Bißchen hart zwar, aber sonst glatt wie nischt.“ „Wie weit lassen sich die Radspuren vom Moped zurückverfolgen?“ wollte Ebner wissen. „Lang ma eenem nackschen Mann in die Tasche“, antwortete der Spurensicherer in breitem Sächsisch. „Du glaubst doch nich im Ernst, du könntest hier ’ne Reifenspur ausmachen. Wenn nicht jemand grad mal scharf bremst, is das hier nich drinne.“ „Und mehr hast du mir nicht zu bieten, Paul?“ fragte Ebner den beleibten Spurensicherer. „Abwarten und Tee trinken. Wir fangen ja grad erst an. Niemand hat mehr Zeit heutzutage. Keene Zeit und keene Leute.“ Ebner lächelte. Er kannte den Mann schon eine halbe Ewigkeit und wußte, daß auf ihn Verlaß war. Ihm entging so leicht nichts. Er hatte so etwas wie einen siebten Sinn. Er behauptete von sich, in seinem ersten Leben ein Hund gewesen zu sein. Manchmal erzählte er auch, wie es war, als er mit einem Fäßlein Schnaps um den Hals die Leute aus den Lawinen gebuddelt oder wie er auf den großen Flughäfen nach Rauschgift geschnuppert hatte. Ebner arbeitete gern mit ihm. Anderen mißfiel seine Lässigkeit im Umgang mit Vorgesetzten, seine Respektlosigkeit, wie sie das nannten. Sie versuchten ihm die abzugewöhnen, hatten aber kein Glück damit, denn 41
wenn Paul sich Mühe gab, wenn er eine vorschriftsmäßige Meldung machte, konnte sich kaum jemand das Lachen verkneifen, weil er in solchen Augenblicken aussah wie Schwejk, der sich Mühe gibt, nicht wie Schwejk auszusehen. Ebner scherte sich einen Dreck um die äußere Form. Sie waren schließlich kein Wachbataillon, das Staatsgäste zu begrüßen hatte. In ihrer Arbeit zählte einzig und allein die Genauigkeit, die Umsicht und ein gewisses Kombinationsvermögen, gepaart natürlich mit Kenntnis aller nur denkbaren wissenschaftlichen Möglichkeiten, wenngleich man die seiner Meinung nach gern überschätzte. „Pack dir das Moped ein“, sagte er zu dem Spurensicherer. „Und befaß’ dich mal mit der Kopfwunde des Mannes.“ „Hoffentlich hat den der Säge-Emil nich schon in der Mache.“ „Sicher nicht. In der Gerichtsmedizin machen alle Urlaub.“ „Möchte mal wissen“, sagte Paul, „was so in dem Kopp von Säge-Emil vorgeht, wenn der im Urlaub am Strand liegt. Ich wette, der guckt den Frauen bloß hinterher, um rauszukriegen, wo er am besten die Säge ansetzen kann.“ „Deine Phantasie geht mit dir durch, Paul. Bleib lieber bei der Geschichte hier. Irgendwas ist faul dran, ich weiß zwar nicht was, aber sie gefällt mir nicht.“ „Sehen Sie“, sagte der Verkehrspolizist, „das habe ich von Anfang an gesagt.“ „So“, sagte Ebner gedehnt, „haben Sie das?“ Er mochte den Mann nicht. Ihm war klar, daß es dumm war, ihn nicht zu mögen. Er hatte haargenau das Richtige getan, und trotzdem mochte er ihn nicht, mochte das pausbäckige Gesicht nicht, die kindlich geröteten Wangen nicht, die leuchtend blauen Augen nicht und auch nicht 42
das leicht gelockte blonde Haar. Außerdem war es noch immer viel zu früh am Tag, um jemand zu mögen. Der Verkehrspolizist wollte irgend etwas sagen, sicher etwas sehr Wichtiges, doch Ebner schnitt ihm das Wort schon im Ansatz ab. „Ich brauche Sie hier nicht mehr. Schicken Sie mir Ihren Bericht. Aber heute noch, wenn ich bitten darf.“ Der Verkehrspolizist machte kehrt und ging zum Auto. „Hast du was gegen den Jungen?“ fragte Paul. „Nein“, sagte Ebner, „mir tut nur seine Frau leid. Sie wird die Geschichte so oft zu hören bekommen, bis sie ihr zum Halse raushängt. Wäre auch ein schönes Thema für einen Schulaufsatz: Wie ich klüger war, als ein Hauptmann von der K.“ „Von der Seite kenn ich dich noch gar nicht.“ „Das ist meine lieblichste, Paul, meine Frühaufstehseite.“ „Muß ein Vergnügen sein, mit dir zu frühstücken.“ „Deshalb frühstücke ich ja nicht“, meinte Ebner und rief dem Verkehrspolizisten hinterher: „War übrigens gute Arbeit!“ Der Verkehrspolizist mußte auf etwas in der Art gewartet haben, denn er war sofort stehengeblieben, hatte sich umgedreht, Haltung angenommen und antwortete nun forsch: „Danke, Genosse Hauptmann!“ Ebner verzog sein Gesicht, als hätte er mit einemmal Zahnschmerzen. „Ich mache heute aber auch alles falsch“, sagte er zu dem Spurensicherer, der grinste ihn an und verkniff sich den Kommentar, der ihm auf der Zunge lag. Im Auto sitzend, blätterte Ebner im Personalausweis des Verunglückten. „Der Mann wohnt in Bühlau“, teilte er dem Fahrer mit. „Wohnte.“ „Das ist auch wieder wahr, aber seine Frau wird ja noch dort wohnen.“ 43
„Also auf nach Bühlau.“ „Bißchen früh für so etwas“, meinte Ebner. „Wohin dann?“ „Zum Neustädter Bahnhof, Kaffee trinken.“ „MITROPA-Kaffee?“ „Gibt es irgendwo anderen?“ „Nicht, daß ich wüßte.“ „Na also!“ Während der Fahrt zum Bahnhof erkundigte sich Ebner telefonisch nach einer Vermißtenanzeige. Es lag jedoch keine vor. „Der Mann ist verheiratet“, sagte er, „fährt zu nachtschlafender Zeit mit dem Moped durch die Gegend, kommt nicht nach Hause, kommt überhaupt nirgendwo an, und keinen kümmert das. Ist doch merkwürdig. Irgendwo wird er doch hingewollt haben?“ „Vielleicht hat er Krach gehabt mit der Frau?“ mutmaßte der Fahrer. „Wäre eine Möglichkeit, würde auch erklären, wieso er in die Ölpfütze geraten ist. Hatte den Kopf voll, sah rot, aber nicht die Pfütze. So was kommt vor.“ „Tja“, sagte der Fahrer, „man soll eben nie im Krach auseinandergehen, sage ich immer, denn es kann das letzte Mal gewesen sein.“ „Das ist eine goldene Regel“, sagte Ebner, „nur verdammt schwer, sich dran zu halten.“ „Hinterher macht man sich Vorwürfe“, sagte der Fahrer, „hätteste bloß, ach hätteste.“ „Du hältst dich da konsequent dran?“ wollte Ebner wissen. „Immer“, sagte der Fahrer. „Da kann sonstwas gewesen sein. Ich meine, in jeder Ehe gibt’s mal Krach und so, aber wenn ich dann gehen muß, kriegt meine Frau ihren Kuß, eher geh ich nicht aus dem Haus. Weiß man denn, was einem passiert? Ich kann ja vor die Türe treten und tot umfallen, so was gibt’s ja.“ 44
„Manche Leute sterben mitten im Schlaf.“ „Na, das ist dann etwas anderes, aber auch vor dem Einschlafen kriegt meine Frau ihren Kuß, ihren Gutenachtkuß. Ich sag auch zu meinen Kindern, geht nie im Zank aus dem Haus, sage ich. Sie kennen doch den Seemann, den Fahrer von Major Kasel, na, Sie werden ihn vielleicht nicht kennen, das ist so ein Hänfling und sieht immer aus wie verkatert; ich meine, er ist es nicht, sieht aber immer so aus. Weiß der Teufel, woher das kommt bei dem! Ich habe ihn schon mal gefragt deswegen, aber er weiß es auch nicht. Also der Seemann geht eines schönen Tages aus der Wohnung und sagt zu seiner Frau: ‚Mich siehst du nicht wieder, mich nicht.‘ Angeblich soll sie fremdgegangen sein, und die beiden hatten deswegen einen furchtbaren Streit miteinander. Er muß ein richtiges Faß aufgemacht haben, und beschimpft hat er sie, und wie er nach dem Dienst nach Hause kommt, ist sie tot. Hat sich an der Türklinke erhängt, weil sie gedacht hat, er kommt nicht zurück. Und natürlich war sie gar nicht fremdgegangen. Aber die Leute tratschen ja in einem fort. Na, jedenfalls findet er sie mausetot, und wie steht der Mann jetzt da, Genosse Hauptmann? Wie lebt der denn weiter? Natürlich hat er es nicht so gemeint, aber das nützt ihm ja jetzt nun nichts mehr. Hätte er sich mit ihr versöhnt, bevor er aus der Wohnung weg ist, täte sie noch leben. Er wollte sich ja versöhnen, aber erst am Abend, er wollte, daß sie den Tag über zappeln sollte. Und dann hat sie am Strick gezappelt.“ „Ja, ja“, sagte Ebner. „Sachen gibt’s, die gibt’s gar nicht.“ Er kannte die Geschichte. Sie war vor etwa drei Jahren geschehen und hatte viel zuviel Aufsehen erregt, als daß er sie hätte nicht kennen können. Nur hatte er verdammt wenig Appetit auf solche Geschichten, weil sie für seinen Geschmack allesamt irgendwo verlogen waren, obwohl sie natürlich stattgefunden hatten. Das Leben zeigte in seinen Geschichten auffallend oft einen 45
fatalen Hang zum Kitsch, zum Hintertreppenroman. Und die Geschichte mit diesem Seemann gehörte eindeutig in die Kategorie der Kolportageromane für dreißig Pfennig, wie sie die Rentner aus dem Westen mitbrachten und wie sie dann hierzulande nicht nur bei Rentnern reihum gingen. Er mochte diese Geschichten nicht, weder sie erleben noch davon erzählen hören, vor allem aber mochte er Leute nicht, die sich wechselseitig des Fremdgehens bezichtigten. Schon das Wort verursachte ihm Brechreiz. Wie fremd ging die Mehrzahl der Ehen, die er kannte. Zwei Fremde gehen im Joch der Gewohnheit, und schüttelt einer von beiden das Joch oder die Fremdheit auch nur für ein paar Tage oder Wochen ab und nähert sich einem Menschen, dem gegenüber er sich ausnahmsweise einmal nicht fremd fühlt, dann wird daraus ein Krach zweier verheirateter Fremder über das Fremdgehen. Lächerlich und grotesk. Natürlich war dieser Seemann damals in die Knie gegangen. Nervenzusammenbruch nennt man das dann. Wie erzählt wurde, hatte er in einem fort verlangt, sich gleichfalls umbringen zu dürfen. Eine Forderung, die die Geschichte nur noch kitschiger machte. Denn wenn er es tatsächlich gewollt hätte, dann hätte er es ganz einfach gemacht und sein Maul gehalten. Vor kurzem erst hatte er ihn mit einer Frau am Arm gesehen, und da hatte er beileibe nicht mehr den Eindruck gemacht, als trage er irgendwie schwer an einer Schuld. Als Ebner aus dem Auto steigen wollte, fiepte das Autotelefon, und er bekam überraschenderweise die fällige Vermißtenanzeige durchgesagt. „Wer hat sie aufgegeben?“ wollte er wissen. „Die Frau des Vermißten.“ „Hat sie etwas über seine Absicht verlauten lassen? Weshalb er unterwegs war? Wohin er wollte?“ „In dem Punkt hat sie sich sehr ungenau ausgedrückt. 46
Der Mann hat noch mal nach dem Auto sehen wollen, hat sie gesagt. Sie wollten heute in den Urlaub fahren.“ „In den Urlaub?“ „Ja. Nach Ungarn. Mit dem Auto.“ „Ist ja ’n Ding!“ sagte Ebner. „Habt ihr der Frau gesagt, daß sie Besuch bekommt?“ „Ja, sie erwartet Sie, Genosse Hauptmann.“ „In Ordnung“, sagte Ebner und legte auf. Einen Augenblick lang überlegte er, ob er nicht auf den MITROPA-Kaffee verzichten sollte, aber dann entschied er sich doch dafür. Die Frau hatte sich schließlich auch gehörig Zeit genommen, ehe sie ihren Mann suchen ließ. Der Fahrer blieb im Wagen beim Telefon, während Ebner durch die ziemlich leere Halle des Neustädter Bahnhofs zur MITROPA-Gaststätte ging. Als er die Schwingtür öffnete, schlug ihm warmer Dunst entgegen. Die müde Serviererin nickte ihm freundlich zu. Es war nicht das erste Mal, daß er seinen Kaffee hier trank. Der Saal sah trostlos aus, wie immer. Obwohl er erst vor kurzem renoviert worden war, wirkte er trostlos. Ebner kannte ihn nur trostlos, er hatte sich schon manchmal gefragt, ob es am Warten liegt. Vielleicht, war ihm in den Sinn gekommen, haben Wartende eine säuerliche Ausdünstung, gegen die keine Malerbrigade ankann. Auch jetzt saßen wieder Wartende an Tischen. Sie saßen vereinzelt. Nur an wenigen Tischen saßen zwei Leute. Manche warteten tatsächlich auf einen Zug, waren als Reisende erkennbar. Andere wiederum saßen einfach da und warteten, daß die Nacht verging. Für die war das Warten in der MITROPA-Gaststätte nicht ganz einfach, denn jeder, der hier die Nacht zubringen wollte, mußte eine gültige Fahrkarte, einen Fahrausweis, wie es im Reichsbahnerdeutsch heißt, bei sich führen. Ebner hatte seine Zweifel, ob sich so ein Stück Papier tatsächlich bei jedem der Wartenden finden ließ. In allen Großstädten gab es Menschen, die das 47
Alleinsein nicht ertragen konnten, andererseits aber auch nicht wußten, was sie tun sollten, um das Alleinsein zu vermeiden, ihm zu entfliehen, außer eben in das MITROPA-Restaurant zu gehen. Auch dort setzten sie sich an einen freien Tisch, weil sie selbst im Restaurant nicht über den Mut verfügten, sich jemandem zu nähern. Doch es saßen ja andere in Blicknähe, und ab und zu kam die Serviererin, mit der man ein Wort wechseln konnte. Wirklich allein war man hier nicht mehr. Dann gab es auch noch jene, die eine unklare Sehnsucht in sich trugen, eine Hoffnung, und die versammelten sich in aller Welt auf den großen Bahnhöfen. Die Lautsprecherdurchsagen, das dumpfe Rollen der Züge, die Signale der Lokomotiven und das endlose Kommen und Gehen, all das entsprach ihrer Sehnsucht. Jeden Augenblick konnte etwas geschehen. Etwas unerhört Wesentliches. Da wollten sie dabeisein. Das dürften sie nicht verpassen, es konnte ihre Chance sein, ihre große, ihre einmalige Chance. Auch Ebner konnte sich der Bahnhofsatmosphäre nie gänzlich entziehen. Gedanken an Urlaub stiegen in ihm auf. An Begegnungen. Seine nie ermüdende Neugier auf andere Menschen versprach sich von Bahnhöfen stets etwas Besonderes. In seiner Blickrichtung saß eine junge Frau und las. Er hätte gern gewußt, was sie las, doch sie saß zu weit weg. Manchmal blickte sie vom Buch hoch und richtete den Blick in eine unbestimmte Ferne. Sie hatte langes dunkles Haar und hervorstehende Wangenknochen, genau die Mischung an Äußerlichkeiten, die geeignet war, ihn sentimental werden zu lassen. Wäre er nicht im Dienst gewesen, wäre er zu ihr gegangen und hätte ein Gespräch angefangen. Er wußte, daß es nicht schwer war, ins Gespräch zu kommen, wenn man den Anfang machte. Die meisten waren froh, wenn einer den Anfang machte. In dem Punkt verhielten sich Männer und Frauen gleich, alle wollten sie erzählen, suchten 48
Beichtväter, und da kam ihnen einer, den sie nicht kannten und dem sie wahrscheinlich auch nie wieder begegnen würden, gerade recht. Die Offenheit solcher Gespräche im Restaurant oder in der Eisenbahn verblüffte ihn stets aufs neue. Besonders bei Frauen stellte sich schon nach wenigen Sätzen eine aufregende Intimität her. Es war die Intimität des Beichtstuhls und zugleich die eines möglichen Abenteuers, ohne daß von einem Abenteuer auch nur andeutungsweise die Rede gewesen wäre, und es fand meist auch gar keins statt, wenn man nicht die Art des Gesprächs bereits als Abenteuer nahm, und Ebner gehörte zu jenen Männern, die es als eins nahmen. Die Serviererin setzte sich für einen Augenblick an seinen Tisch. „Müde?“ fragte er. „Zuwenig Schlaf im Moment“, sagte sie. „Der Junge ist krank. Wenn ich nach Hause komme, geht mein Mann zur Arbeit, da muß ich dann den Jungen versorgen.“ „Was fehlt ihm denn?“ „Bronchitis.“ „Nimmt immer mehr zu“, sagte Ebner. „War früher selten. Früher hatten die Kinder Masern und Windpocken.“ „Haben sie heute auch“, sagte die Serviererin. „Scharlach gibt’s wohl kaum noch?“ „Ist sehr selten.“ „Ich habe Scharlach gehabt.“ „Wie alt sind Sie denn?“ „Bißchen viel über die Vierzig.“ „Sehr viel?“ „Sehr viel“, sagte Ebner und lachte. „Summa summarum achtundvierzig.“ „Doch schon!“ staunte die Serviererin. „Hätte ich nicht gedacht. Na, da haben Sie ja wohl keine kleinen Kinder mehr?“ 49
Ebner schüttelte den Kopf. „Ist ja auch besser“, meinte sie. „Wenn ich mir die Welt so ansehe!“ „Heiter sieht sie nicht aus“, stimmte Ebner zu, „aber vielleicht ist das gerade ein Grund, immer aufs neue Leben auf diese Erde zu bringen.“ „Na, ich weiß nicht!“ „Ich gebe zu, ich weiß es auch nicht. Nur kommt mir manchmal der Gedanke, daß man gegen den Tod eben nur mit Leben ankommt.“ „Was arbeiten Sie eigentlich?“ wollte die Serviererin wissen. „Sie reden so gebildet.“ Ebner lächelte. „Müssen Sie das wissen?“ fragte er. „Nein, muß ich nicht. Ich dachte nur, ich meine, Sie haben mir immer schon gefallen. Unsereins hat ’nen Riecher für interessante Männer.“ „Danke“, sagte Ebner. „Ich kann mir auch nur schwer vorstellen, Sie hier mal irgendwann nicht mehr zu sehen.“ „Lieber heute als morgen würde ich hier verschwinden“, sagte sie, „oder glauben Sie im Ernst, mir macht das hier Spaß?“ „Ich weiß nicht“, sagte Ebner, „vielleicht nicht immer, nicht jeden Tag, aber öfter hatte ich das Gefühl, es würde Ihnen Spaß machen.“ „Wenn mein Mann nicht so faul wäre, ich würde ’n kleines Café aufmachen. Nicht zuviel Plätze. Aber gemütlich und sauber, und man hätte Zeit, mit den Gästen ein bißchen zu schwätzen.“ „Falls Sie eins aufmachen, lassen Sie es mich wissen“, sagte Ebner. „Ich möchte dann als Stammgast eingeschrieben werden.“ „Wird ja doch nichts draus!“ winkte sie ab. „Dazu bin ich nicht mit dem richtigen Mann verheiratet. Finden Sie nicht, daß die Männer in meinem Alter, die um die Dreißig, daß die alle irgendwie durchhängen?“ 50
„So“, sagte Ebner. „Tun sie das?“ „Wissen Sie, ich teile alle Männer in Söhne und Väter ein. Egal, wie alt sie sind. Denn das hat mit dem Alter gar nichts zu tun. Entweder ist einer Sohn oder Vater, und das bleibt er bis zum Schluß. Und die Dreißigjährigen, das sind alles Söhne. Durch die Bank Söhne. Wollen alle Mutters Rockzipfel und Mutters Brust.“ „Vielleicht haben sie Angst vor euch couragierten Frauenzimmern?“ „Angst? Schon möglich. Meistens sind sie auch treu und kümmern sich viel um die Kinder und machen mehr im Haushalt, als früher die Männer, aber wenn es darauf ankommt, wenn es heißt: und nun noch mal etwas ganz anderes! Dann haben sie keinen Mumm. Mit Ihnen zum Beispiel – verstehen Sie mich jetzt nicht falsch, das soll kein Anbändelungsversuch sein – würde ich das mit dem Café doch einszweidrei hinkriegen. Sie müßten nicht einmal mitmachen, es würde mir schon genügen, Sie als Sicherheit im Rücken zu wissen. Na und dann, wir Frauen wollen uns doch auch mal anlehnen dürfen. Das machen Sie mal bei diesen Söhnen!“ „Tja“, meinte Ebner, „das Problem ließe sich nur lösen, wenn sich die Ehepaare meiner Generation scheiden ließen. Die Männer gingen dann zu den Frauen, wie Sie eine sind, und unsere Frauen würden sich sicher liebend gern ihrer ‚Söhne‘ annehmen.“ „Könnte ich mir ganz gut vorstellen“, sagte die Serviererin und schob das Trinkgeld, das ihr Ebner hingelegt hatte, zurück. Erst an der Tür kam ihm die lesende junge Frau wieder in den Sinn. Er drehte sich nach ihr um und begegnete ihrem Blick. Bedauernd hob er die Schultern. Sie lächelte leise und nickte kaum merklich. Ein Abschied mehr, dachte Ebner und ging nach draußen zum Auto.
51
4 Ehe sich Berger zu seinem Auto begeben hatte, war er noch zur nächstliegenden Telefonzelle gegangen und hatte etwas getan, was er früher härtestens verurteilt, ja worüber er stets wütend geschimpft hatte. Mit einem einzigen Griff hatte er sich den Hörer gelangt, ihn abgerissen und auf den Boden gelegt. Sollte Gerda doch wieder wach werden, und sollte es ihr in den Sinn kommen, die Polizei verständigen zu wollen, was er nicht ausschließen konnte, dann sollte sie es wenigstens nicht ganz so einfach haben. Und wer weiß, wenn sie die einzige Telefonzelle in der Nähe außer Betrieb fand, vielleicht überlegte sie es sich dann und ließ den Unsinn und ging zurück in die Wohnung. Nachdem er sich schließlich in seinen nagelneuen mandarinfarbenen LADA gesetzt und ihn gestartet hatte, war ihm immer noch nicht recht klargewesen, wohin er fahren sollte. Er hatte nur gewußt, daß er weg mußte aus Dresden. Und dann war ihm Berlin eingefallen. Er kannte Berlin nicht besonders gut, aber er wußte, es war genau die Stadt, die er brauchte. Groß und unüberschaubar. Wer wollte in Berlin eine Aussage darüber machen, wann ein mandarinfarbener LADA mit einem Dresdner Kennzeichen angekommen war und wie lange der schon irgendwo geparkt hatte. Wer weiß, wie viele mandarinfarbene LADA es in dieser Riesenstadt gibt? Sicher über hundert. Mindestens hundert. Und außerdem wohnte Martin, sein Bruder, in Berlin. Ihm mußte er beibringen, daß er bereits am Freitagabend angekommen war und nicht erst in der zweiten Nachthälfte. Das war der springende Punkt. Mit dieser Aussage hätte er dann ein hieb- und stichfestes Alibi beisammen. Für alle Fälle. Wahrscheinlich würde ihm die Polizei überhaupt nicht auf die Spur kommen, denn er fand, er hatte gut gearbeitet. Besser konnten sie es in 52
den Krimis auch nicht. Keinen Augenblick hatte er den Kopf verloren. Müde war er zwar geworden, aber das war ja wohl gestattet. Müde durfte einer schon werden, nach so etwas. Wenn ihm einer das prophezeit hätte! Er schaute zur Uhr. Zehn vor zwei. Also schon Sonnabend. Gestern hätte er jeden ausgelacht, der ihm so eine Geschichte aufgetischt hätte. Das gibt es nicht, hätte er gesagt, das sind so Sachen, die sich die Leute ausdenken, die Krimis schreiben. Im Leben gibt’s so etwas nicht. Und Martin wird ihm auch nicht glauben. Jedenfalls nicht gleich. Es wird verdammt viel Mühe kosten, ihn zu überzeugen, daß er den Mann tatsächlich in den Kofferraum gepackt hatte, daß alles wirklich so passiert war, wie er erzählte. Irgendwann wird ihm dann aber doch aufgehen, daß es sich so abgespielt hatte, so und nicht anders. Was er dann für ein Gesicht machen wird, vermochte sich Berger nicht auszumalen. Wird er ihm wirklich mit einem Alibi aushelfen? Der Bruder dem Bruder helfen? Vielleicht. Ganz sicher war er sich jedoch nicht. Da war ja auch noch Marion, Martins Frau. Sie mußte einbezogen werden. Es sei denn, das Schicksal meinte es gut mit ihm und ließ sie verreist sein. Trotzdem konnte man mit Marion auskommen. Sie war eine gutgewachsene Frau, eine Schönheit, wie die Leute solche Frauen zu nennen pflegen, aber kühl. Berger hatte nie erlebt, daß sie irgendwann mal über die Stränge gehauen hätte. Sie saß zusammen mit den anderen am Tisch und war freundlich und aufmerksam. Sie nahm es auch nicht krumm, wenn er sich zusammen mit Martin einen antüterte. Selten genug, daß es vorkam, aber sie selber nippte nur an ihrem Glas und blieb immer die gleiche gepflegte Frau. Berger hatte schon manches Mal versucht, sich Marion im Bett vorzustellen oder auch einfach nur bei schwerer körperlicher Arbeit, und ob sie dann irgendwie in Rage käme und vielleicht nach Schweiß röche oder irgendein anderes Zeichen von wirklichem Le53
ben zeigen würde, doch jedesmal versagte seine Vorstellungskraft. Martin hatte er danach nie gefragt. Es gab Dinge, über die redeten sie beide nicht, und zu denen gehörte Marion und Martins Verhältnis zu ihr. Unglücklich schien er nicht zu sein mit ihr. Auf ihre Art liebten sie sich sicherlich. Wahrscheinlich mehr so auf geistige Art, dachte Berger, denn Martin war Lehrer, und Marion hatte sogar ihren Doktor gemacht. Sie war an der Universität; irgend etwas mit Sprachen trieb sie da. Berger kannte sich darin nicht aus, das war nicht seine Welt. Er hatte sie einmal gebeten, ihm das Leben an der Universität zu erklären, wie das langgeht mit dem Studium und so, aber es war genaugenommen nicht zu begreifen. Wieviel Zeit dort vertrödelt wurde! Und niemand konnte richtig sagen, was er eigentlich machte. Sollten sie, ihn ging es ja eigentlich nichts an. Nur, wie so eine studierte Frau reagieren würde, wenn er ihr erzählte, was ihm widerfahren war, konnte er noch weniger vorhersehen als die Reaktion seines Bruders. In den letzten Jahren waren sie sich nicht allzuoft begegnet. Nur bei den obligatorischen Familienfesten. Geburtstag der Mutter. Geburtstag des Vaters. Zum Vierzigsten von Martin. Zu seinem eigenen Vierzigsten. Mehr war nicht. Keiner besuchte den anderen einfach mal so, ohne konkreten Anlaß. Martin ist zwei Jahre jünger als er. Berger war manchmal wütend gewesen, wenn er auf ihn aufpassen mußte. Als Kindermädchen des Jüngeren verantwortlich gemacht werden für jede Beule, jeden Kratzer und später für jede Dummheit, die der Bengel machte, das hatte ihn genervt. Doch mit den Jahren waren sie unzertrennlich geworden und gefürchtet von den anderen, weil sie stets Rücken an Rücken standen. Auch die stärkeren Jungens aus dem Dorf trauten sich nur heran, wenn sie ihn oder Martin allein erwischen konnten, und darauf hatten sie es selten ankommen lassen. 54
Dabei waren sie in ihrem Wesen sehr verschieden. Martin war der ungeschickteste Mensch, wenn es darum ging, eine Hütte zu bauen, ein Floß, oder gar einen Drachen. Nie gelang es ihm, auch nur einen Nagel ohne Komplikationen in ein Brett zu schlagen. Man hätte meinen können, die Nägel hätten sich gegen ihn verschworen. Nach und nach versuchte er es gar nicht mehr, und Berger machte solche Arbeiten allein. Dafür hatte Martin wieder die verrücktesten Einfälle und verstand sich blendend auf das Organisieren von Indianerspielen. Er wußte damals so ziemlich alles über die Geschichte und die Sitten der Rothäute. Bei keinem der Mitspieler ließ er einen Verstoß gegen indianische Sitten zu, da war er unerbittlich. Berger hatte ihn einmal mit viel Mühe und Kraftaufwand davon abhalten können, einen der Jungen tatsächlich zu skalpieren. Wie lange war das alles her? Diesmal ging es nicht um einen Toten, der am Ende des Spiels quietschvergnügt nach Hause zum Abendbrot ging. Kippt der Bursche doch glatt um und knallt mit dem Kopf auf den blöden Stein! Hätte mir natürlich auch passieren können. Was hätte der andere dann gemacht? Der wäre klammheimlich auf und davon. Mit Sicherheit hätte der die Mücke gemacht. Wär ja sonst ganz mächtig verknackt worden. Versuchter Diebstahl und Totschlag. Da kommen ’n paar Jährchen zusammen. Und wenn sie mich kriegen? Wenn sie mir nachweisen können, daß ich dem Kerl einen linken Haken verabreicht habe? Notwehr? War ganz schön überrascht, wie ich da plötzlich vor ihm stand. Hat damit nicht gerechnet. Hätte ich mich nicht angeschlichen, wäre er mir durch die Lappen gegangen. Drauf aufs Moped und heidewitzka ab die Post! Na, nicht bei mir. Nicht bei Bergern! Andererseits läge ich dann jetzt längst in meinem Bett. Hätte die Polizei angerufen und würde schön einen einziehen. Scheiße verdammte! Mußte der sich ausgerechnet mein Auto aussuchen? War na55
türlich Notwehr. Hat ja nichts zu suchen an einem fremden Auto. Wo kämen wir denn hin, wenn sich jeder an irgendeinem Auto bediente, nur weil ihm eine Batterie fehlt oder ein Reifen. Am Ende schrauben sie noch die Auspuffanlage ab. Soll ja Burschen geben, die bocken den Wagen auf und montieren die Räder ab. Haben sie gleich Felgen und Reifen auf einem Hieb. Sind ja nicht leicht zu kriegen. Trotzdem, wir können uns doch nicht allesamt aufs Klauen verlegen. Jeder bei jedem. Da muß man doch zuschlagen. Was kann ich dafür, wenn so einer dann unglücklich hinfällt? Wer sich gegen einen Einbrecher zur Wehr setzt, handelt in Notwehr. Ist doch sonnenklar. Was weiß denn so einer, wie bei unsereinem das Geld zusammenkommt für einen LADA! Das läuft uns nicht nach. Nicht, wenn einer ein kleiner Teilkonstrukteur ist und die Frau Verkäuferin in ’ner HO-Kaufhalle. Nicht bei uns stecken die großen Geldhaufen. Bei uns nicht. Wir mußten ganz schön kratzen. Jede Menge Überstunden in der Lackiererei. Sozialistische Hilfe heißt das bei uns im Betrieb. Ist ja natürlich ein Witz, weil man für die zusätzliche Schicht fünfzig Mark bar auf die Hand bekommt, und was daran sozialistisch sein soll, wissen vielleicht nur die, die sich solche Namen ausdenken. Aber es hat eben noch nie ein Kind gegeben, das nicht noch seinen Namen gekriegt hätte. Zwanzig Mark Prämie und dreißig Mark Lohn ohne Abzüge, möchte nicht wissen, aus welchen Fonds die das nehmen. Ist allerdings ’ne Schinderei. Pure Knochenarbeit. Wenn ich nur an die Transportwege denke. Mittelalter, sage ich immer. Nichts als Mittelalter und nur angelernte Kräfte. Von nichts eine Ahnung. Vor ein paar Wochen die Geschichte mit dem Bundofen. Das hätte eine Bescherung werden können, wenn ich nicht zufällig wieder meine „Sozialistische Hilfe“ runtergeschrubbt hätte, dort. Ich dachte, ich höre nicht richtig. 56
Das Getriebe fängt an zu jaulen, und ich denke, da schmirgelt es doch schon die Zähne ’runter. War kein Tropfen Öl mehr drin. Verdammt, das ist doch das wenigste, daß einmal in der Woche der Ölstand geprüft wird. Aber der Meister von der Lackiererei kann eben nicht überall sein, und seine Leute sind ohne Ahnung und ohne Interesse. Deshalb arbeitet der ja viel lieber mit uns, denn wir sind ja im Grunde genommen nichts anderes als Werkzeugmacher, denen man einen weißen Kittel übergezogen hat, was anderes sind wir doch wirklich nicht, wollen wir ja auch gar nicht sein. Wir können uns wenigstens noch vorstellen, wie das in der Praxis aussieht, was wir auf dem Reißbrett entwerfen. Die nie Werkzeugmacher waren, die können das nicht. Und wenn ich den Bundofen jaulen höre, dann greife ich zur Ölkanne. Aber zwei zusätzliche Schichten in der Woche, die machen sich bemerkbar. Die steckt man nicht mehr einfach mit links weg. Ich werde ja auch nicht jünger. Und jetzt spielt sich so oft auch nichts mehr ab mit „Sozialistischer Hilfe“. Jetzt nicht mehr. Was will denn der Junge? Winkt. Hat wohl eine Panne mit seinem Trabi. Tut mir leid, ich bin sonst nicht so, mein Lieber, aber diesmal geht es nicht. Diesmal geht’s bei mir um mehr. Ja, nun droht er mir auch noch mit der Faust, weil ich nicht anhalte. Wenn du wüßtest! Außerdem hätte ich ihn sowieso nicht schleppen können. Mit einem Wagen, der noch nicht eingefahren ist, kann man kein Auto abschleppen. Wäre ja heller Wahnsinn. Bin gespannt, was mein LADA so Spitze machen wird, wenn er eingefahren ist. Autobahn ist nicht das Richtige zum Einfahren. Läßt sich nicht ändern. Wenn ich nun doch die Polizei angerufen hätte? Bei Notwehr kann mir nicht viel passieren. Aber ganz ohne Knast geht’s nicht ab. Glaube ich nicht. Knast? Mein Gott, man kann sich’s gar nicht vorstellen. Weiß überhaupt nicht, wie das heutzutage aussieht. In unseren Krimis zeigen sie nicht, 57
wie’s im Knast aussieht. Wahrscheinlich so wie überall. Knast bleibt Knast. Gitter vor der Luke. Pritsche tagsüber hochgeklappt. In der Ecke der Lokus. Blechnapf und Löffel. In nichts dein freier Mann. Zum Verrücktwerden. Sitzt abends in deiner Zelle und drehst Däumchen. Bücher gibt’s bestimmt. Ohne Bücher ist nichts bei uns. Aber sonst. Fernsehen? Vielleicht als Prämie für gute Arbeit und so. Und keine Frau. Und kein Bier. Und kein gar nichts. Ob sie ihn schon gefunden haben? Anzunehmen. Ein Unfall mehr. Nichts weiter. Der Mann ist durch die Ölpfütze gefahren und ins Schleudern geraten. Klare Sache. Unfallprotokoll mit Zeichnung und so und dann zu den Akten. Die Idee mit dem Öl war nicht ganz schlecht. Und das Moped! Mann, wenn ich das übersehen hätte, wäre alles für die Katz gewesen. Wir hätten den Mann weggeschafft und das Moped stehen lassen. Das sind die Fehler, die den Tätern im Krimi unterlaufen, damit die Polizei eine Chance hat, weil der Krimi ja mal zu Ende gehen muß. Nicht bei mir. Vielleicht hätte ich Kommissar werden sollen. Hab den richtigen Blick für so was. Bei uns heißen sie ja wohl Leutnant oder Hauptmann. Kommissar klingt besser. Oder Inspektor. Zünftiger irgendwie. Kommt natürlich aufs gleiche ’raus, klingt aber ganz anders. Ich müßte mal rechts ’ran. Der nächste Parkplatz gehört mir. Der Kaffee will ’raus. Hoffentlich schläft Gerda. Wenn sie nicht schläft, wird’s schlimm. Ausgeschlafen sieht alles ganz anders aus. Irgendwie müssen wir durch, da hilft nichts. Wir müssen … Ihr Gesicht, als ich den Mann aus dem Kofferraum gehievt habe. Schwer war der Bursche! Konnte ja nicht verlangen, daß Gerda mit anfaßt. Hätte sie nie im Leben fertiggebracht. War nicht groß, aber schwer. Wahrscheinlich werden wir alle schwer, wenn’s vorbei ist. Wie ’ne Gelenkpuppe. Eklige Sache, sah aus, als griente er. 58
Einen Augenblick lang dachte ich tatsächlich, der lacht, lacht mich aus. Am liebsten hätte ich ihm eine runtergehauen. Grinst mich an, weil er mir soviel Schererei macht. Lag wohl an seinem Bärtchen. Haben mir noch nie gefallen, die kleinen Bärtchen unter der Nase. Wie heißen denn die Dinger? Gibt’s doch ’nen Namen für … Menjou-Bärtchen! Klingt genauso albern, wie die Dinger aussehen. Französisch wahrscheinlich. Jedenfalls albern. Wieso leuchtet jetzt das rote Licht auf? Irgendwas kaputt? Zu wenig Öl? Wenn bloß die Karre jetzt nicht kaputtgeht! Alles, bloß das nicht. Der Motor läuft einwandfrei. Kann nichts dran sein. Ist ja auch nicht die Anzeige für den Öldruck, ist ja die Ladeanzeige. Lichtmaschine im Eimer, oder was? Muß doch etwas zu bedeuten haben. Ist schließlich ’ne Warnlampe. Was steht denn in der Betriebsanleitung? Rechts ’ran. Bei meinem Trabi brauchte ich keine Betriebsanleitung, bei dem kannte ich jede Schraube, und wenn der gehustet hat, wußte ich, woran es lag, aber beim LADA muß ich nachlesen. „Störung der Lichtmaschine … siehe Abschnitt Störungen!“ Ich will keine Störung der Lichtmaschine, gottverdammt, ich will nicht. Noch mal starten. Alles einwandfrei. Keine rote Warnlampe leuchtet mehr. Jetzt fällt’s mir auch wieder ein, hätte gleich daran denken können. Der LADA hat ’ne Drehstromlichtmaschine, da leuchtet manchmal die Ladeanzeige auf. Hat mich doch der Verkäufer bei der Probefahrt extra darauf hingewiesen! Irgendein Relais schaltet dann um. Zehn Pfund leichter! Ein kaputtes Auto wäre das Ende gewesen. Nun kann ich auch gleich noch den Kaffee … Und während Berger am Rande der Autobahn stand und sein Wasser abschlug, fiel ihm ein, daß er ja doch etwas Entscheidendes zu tun unterlassen hat. Der Stein! Den hatte er nicht weggebracht. Der Stein, auf den der Bursche aufgeschlagen war. Da müssen Spuren drauf sein. 59
Hastig lief er zurück zum Auto, startete und überfuhr nach einem kurzen sichernden Blick den Grünstreifen und nahm Kurs auf Dresden, wütend wegen seiner Unachtsamkeit. Der einsame Mann mit seinem defekten Trabi stand immer noch am Rande der Fahrbahn und winkte erneut, obwohl er nicht erwarten konnte, von einem Auto auf der Gegenfahrbahn wahrgenommen zu werden. Berger brauchte eine reichliche halbe Stunde, ehe er wieder in die Nähe seiner Wohnung gelangt war. Wieder ließ er das Auto einige Straßen entfernt stehen und ging eilig zu Fuß zum Parkplatz vor dem Neubaublock. Rundum Stille. Niemand zu sehen. Er atmete auf. Die schlafen um diese Zeit alle wie die Murmeltiere, dachte er. Doch er fand den Stein nicht. Es lagen nur vier Steine dort, wo sie der Nachbar stets hinlegte, wenn er seinen Dacia geparkt hatte, nämlich zwischen beiden Autos. Wo war der verdammte fünfte Stein hingekommen. Ob Gerda den vielleicht beiseite gebracht hatte? Aber bei zwei Schlaftabletten wird sie kaum noch einmal aufgewacht sein. Ist ihr allerdings schon passiert. Wenn sie sehr durcheinander ist, passiert ihr das schon, daß sie auch mit zwei Tabletten irgendwann in der Nacht wieder wach wird. Kann ja nur so sein, dachte er, niemand hat sonst ein Interesse an dem Stein. Die Frau ist besser, als du geglaubt hast, sagte er sich. Wecken wirst du sie nun nicht noch, das wäre ja wirklich Unsinn. Sie wird morgen ihre fünf Sinne beisammen haben müssen. Und du mußt jetzt schleunigst nach Berlin.
60
5 Obwohl Ebner seit immerhin einem knappen Vierteljahrhundert im Kriminaldienst stand und die letzten Jahre vornehmlich mit Geschichten zu tun hatte, in denen Menschen ganz oder beinahe ums Leben kamen, hatte er sich noch immer nicht daran gewöhnt, den Hinterbliebenen diesen zumeist schmerzlich empfundenen Tatbestand mitzuteilen. Wenn irgend möglich, drückte er sich davor und ließ es durch andere erledigen. Er war nicht rührselig, und es drückte ihm nicht das Herz ab, wie es in den Romanen so schön heißt, das war es nicht, was ihm daran unangenehm war. Nur kam er sich in solchen Augenblicken schrecklich unbeholfen vor, stand oder saß irgendwo im Raum herum und wußte nicht, was am besten tun. Dabei konnte es schon von Belang sein zu erleben, wie sich eine Ehefrau oder ein Ehemann, oder wen es auch immer betraf, wie sie sich in solchen Momenten verhielten, weil sie zunächst fast in jedem Fall in den Kreis der Verdächtigen einbezogen werden mußten. Nur gab es da keinerlei Faustregel. Nicht die, die sich ungewöhnlich beherrscht zeigten, machten sich in seinen Augen unbedingt verdächtig, denn schon wenig später, nämlich wenn die Kriminalisten ihnen den Rücken gekehrt hatten, brachen solche Leute mitunter völlig zusammen. Wieder andere wurden von ihrem Schmerz erst am Grabe des Partners erreicht. Und dann gab es noch die, die sich fast in Tränen auflösten, wenn man ihnen sagte, was geschehen war, die aber schon Tage später auffallend vergnügt durch die Straßen liefen. Sämtliche möglichen Verhaltensweisen konnten den Verdacht mehren oder mindern, als Test waren sie in jedem Fall fragwürdig. Werner Dietze, der verunglückte Mopedfahrer, wohnte nicht in einer der vielen Villen Bühlaus, sondern in 61
einem Zweifamilienhaus, allerdings in beneidenswert ruhiger Lage. Nun, davon hatte er jetzt nichts mehr. Ebner läutete, und es vergingen nur Sekunden, bis ihm geöffnet wurde. „Hauptmann Ebner“, sagte er. „Kommen Sie bitte herein“, sagte die Frau. „Sie sind Frau Dietze?“ fragte er. „Entschuldigen Sie, ich habe mich nicht vorgestellt. Ja, ich bin Frau Dietze.“ Er betrat einen geräumigen und hellen Flur. Es war alles sehr sauber. Hygienisch sauber, fand Ebner. Auch Frau Dietze machte so einen unerhört sauberen Eindruck. Sie war eine von den Frauen, die man landläufig als adrett bezeichnet, was immer das auch bedeuten mag. Blondes Haar, wenn auch nicht gänzlich hellblond, und bereits am frühen Morgen tadellos frisiert, auch das dezente Make-up fehlte nicht. Anerkennend registrierte er ihre Fähigkeit, stets nur bis an die untere Grenze des Möglichen zu gehen. Wer sie ansah, spürte sofort, daß sie sich noch längst nicht verausgabt hatte. Es machte nicht viel Mühe, sie sich in großer Aufmachung vorzustellen. Sie würde unerhört wirken, aber durch ihre betonte Zurückhaltung wirkte sie weit stärker. Schlank, dabei nicht mager, der mittellange helle Rock unterstrich unaufdringlich ihre gutgewachsenen Beine. Kräftige Waden und fast zierlich wirkende Fesseln. Ihr Schritt war energiegeladen wie alle ihre Bewegungen. „Bitte“, sagte sie, „nehmen Sie Platz! Möchten Sie Kaffee oder Tee?“ „Danke“, sagte Ebner, „ich habe bereits gefrühstückt.“ „Vielleicht möchten Sie einen Saft?“ „Wirklich nicht, Frau Dietze.“ „Es macht mir keine Mühe.“ „Ich glaube es Ihnen. Es wäre mir angenehm, wenn Sie sich auch setzten.“ 62
Sie lächelte, folgte aber seiner Aufforderung. „Rauchen Sie?“ fragte sie nun. „Nein“, sagte er, „aber wenn Sie möchten.“ „Im Augenblick nicht.“ „Sie wohnen schön hier“, sagte Ebner. „Ja“, antwortete sie, „obwohl ich lieber woanders wohnen möchte.“ „Wieso?“ „Ich finde diese Stadt so klein. Die Leute. Und überhaupt alles. Hoffentlich sind Sie nicht beleidigt, wenn ich sage, ich finde alles kleinkariert hier. Sind Sie Dresdner?“ „Ja.“ „Gebürtiger Dresdner?“ „Nicht ganz. Ein wenig außerhalb. Ich komme vom Dorf.“ „Das muß schon lange her sein.“ „Ist es auch.“ „Ich stamme von der Küste. Da möchte ich auch wieder hin.“ „Was arbeiten Sie, Frau Dietze?“ „MTA. Im Johannstädter Krankenhaus.“ „Aha, und Ihr Mann?“ „Filialleiter bei der Sparkasse.“ „Danke.“ „Haben Sie meinen Mann gefunden? Wir wollten schon längst unterwegs sein. Heute ist unser erster Urlaubstag. Wir wollten nach Ungarn, an den Balaton.“ „Tut mir leid, daß daraus nun nichts wird.“ „Wieso?“ „Ihr Mann wurde heute nacht auf der Straße nach Hellerau gefunden. Er ist gestürzt. Mit dem Moped.“ „Mit dem Moped? Wir haben kein Moped.“ „Sie haben kein Moped?“ „Nein, nie besessen.“ „Merkwürdig.“ 63
„Vielleicht war das gar nicht mein Mann? Wissen Sie denn genau, daß es mein Mann war?“ Ebner zog den Personalausweis des Verunglückten hervor und reichte ihn ihr. „Das ist doch der Personalausweis Ihres Mannes?“ „Ja, sicher, ja, das ist er. Und wie geht es ihm? Was ist mit ihm? Wieso haben Sie ihn nicht mitgebracht?“ „Ihr Mann ist auf dem Wege zum Krankenhaus gestorben.“ „Das glaube ich nicht“, sagte sie. „Es ist leider die Wahrheit, Frau Dietze“, sagte Ebner. Er erhob sich und ging zum Fenster und kehrte ihr absichtlich den Rücken zu. Sie sollte das Gefühl haben, mit sich allein zu sein, sie sollte sich nicht mühsam beherrschen müssen. Man hatte von hier oben einen schönen Ausblick auf ein Getreidefeld und angrenzenden Wald. Hier ließe sich vergessen, daß man in einer Stadt wohnt, dachte er. In seinem Rücken blieb es still. Er überlegte, ob er sich umwenden sollte, oder ob es besser wäre, damit noch zu warten. Sie enthob ihn der Entscheidung, indem sie sagte: „Das ergibt doch keinen Sinn.“ Ebner drehte sich um und stimmte ihr zu: „Bis jetzt nicht.“ „Er ist wirklich …“ Ihr Gesicht wurde mit einemmal merkwürdig starr, nur die Mundwinkel zuckten. Und irgendwo tief aus ihrem Inneren kam ein Wimmern. Es klang, als wimmere ein Kind, das sich verlaufen hatte und nicht wußte, wohin. Ebner verzichtete auf jeden Versuch einer Tröstung. Nichts war in solchen Momenten unangebrachter als Mitleid, fand er. „Wollen Sie mir ein paar Fragen beantworten, Frau Dietze?“ fragte er nach einer Weile. „Ich meine, fühlen Sie sich dazu in der Lage?“ 64
Sie nickte und langte nach der Zigarettenpackung auf dem kleinen Tisch neben ihr. Mit Mühe gelang es ihr, eine Zigarette aus der Packung zu fischen. Das Feuerzeug anzuzünden überstieg jedoch ihre augenblicklichen Fähigkeiten. Ebner ging zu ihr und reichte ihr Feuer für die Zigarette. Nach den ersten paar Zügen schien sie ruhiger zu werden, und er setzte sich wieder in den Sessel, den sie ihm beim Eintritt zugewiesen hatte. Was er nun zu tun hatte, bereitete auch keine reine Freude. Doch wußte er aus Erfahrung, daß es den Leuten in solchen Augenblicken meist darauf ankam, nicht allein gelassen zu werden. Selbst das Beantworten von Fragen dünkt sie dann eine Hilfe, den Schmerz zurückzudrängen. Ebner holte Notizbuch und Kugelschreiber aus der Jackettasche, trug Datum, Ort und Uhrzeit ein, und er fragte: „Wann hat Ihr Mann die Wohnung verlassen?“ „So gegen neun.“ „Also gestern, einundzwanzig Uhr?“ Sie nickte. „Wo wollte er hin?“ Sie biß sich auf die Unterlippe, dann sog sie wieder heftig an der Zigarette. „Er sagte, er wollte …“ Entschlossen drückte sie die kaum bis zur Hälfte gerauchte Zigarette aus und sagte: „Jetzt ist ja alles gleichgültig geworden. Ich meine, was ich sage, betrifft ihn ja nicht mehr. Es geht ihn nichts mehr an. Mein Gott!“ Sie schlug die Hände vor das Gesicht und schluchzte. Ebner wartete und schaute sich im Zimmer um. Die Einrichtung war so unpersönlich, wie meist bei Ehepaaren um die Vierzig, die über ein gesichertes Einkommen verfügten und bei denen die Kinder aus dem Haus waren. Mit einem Wort, die Art der Einrichtung verriet, daß sie es geschafft hatten, daß sie durch waren, daß sie erreicht hatten, was zu erreichen war. Da lag der teure Teppich, dort stand die Anbauwand, hochglänzend, da65
zu eine Sesselgruppe, ein Couchtisch. Natürlich der Farbfernseher, eine Hi-Fi-Anlage mit umfangreicher Plattensammlung. Und alles blitzsauber. Als sie die Hände vom Gesicht nahm, war ihre Wimperntusche ein wenig zerlaufen. Er registrierte aufatmend, daß ihre Perfektion durchbrochen war. „Das Moped“, sagte sie, „das Moped ergibt keinen Sinn. Wo soll er denn ein Moped herhaben? Er kann doch überhaupt nicht mit einem Moped umgehen.“ „Er ist in einer kleinen Öllache ins Rutschen gekommen.“ Sie schüttelte energisch den Kopf. „Mein Mann ist ein sehr unpraktischer Mensch“, sagte sie, „er weiß bestimmt nicht, wie man ein Moped in Betrieb setzt.“ „Und wo wollte er hin? Was hatte er vor, als er gestern gegen einundzwanzig Uhr die Wohnung verließ?“ „Wo er hin wollte, weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß er eine Batterie beschaffen wollte.“ „Eine Batterie?“ „Ja, eine Batterie für das Auto. Ich sagte Ihnen doch, wir wollten mit dem Auto in den Urlaub fahren. Zwei Tage vorher ging die Batterie kaputt. Schwach war sie schon eine Zeitlang gewesen, aber am Mittwoch sagte sie gar nichts mehr. Und wir wollten mit dem Auto zum Balaton. Er hat viel telefoniert, um eine neue Batterie zu bekommen, hatte aber kein Glück. Und da ist er gestern los und wollte eine aus einem anderen Auto ausbauen.“ „Er wollte eine Autobatterie stehlen?“ fragte Ebner fassungslos. Damit hatte er nicht gerechnet. „Ja“, sagte die Frau, „wir hatten alles gepackt. Sie sehen ja, dort stehen die Koffer. Wir wollten ganz früh abfahren, noch in der Nacht. Die Strecke nach Ungarn muß man sich gut einteilen. Und bei der Hitze ist es besser, man fährt ganz früh … Und nun …“ Wieder schlug sie die Hände vors Gesicht. 66
„Und er ist nicht mit einem Moped gefahren?“ „Nein, mit dem Fahrrad.“ „Wissen Sie, wo er … Ich meine, dachte er an ein bestimmtes Auto, aus dem er die Batterie ausbauen wollte?“ „Davon hat er mir nichts gesagt, er hat nur gesagt: Sei unbesorgt, Elisabeth, ich mach das schon. Ist nichts weiter dabei.“ „Hatte er Bekannte, Freunde oder Arbeitskollegen, von denen er sich vielleicht am Abend noch ein Moped ausgeliehen haben könnte?“ „Die haben doch alle Autos.“ „Alle?“ „Natürlich“, sagte sie, „in unserem Alter haben alle einen Wagen.“ „Überlegen Sie bitte genau, Frau Dietze.“ „Schon möglich, daß der eine oder andere dazu auch noch ein Moped besitzt. Nur, wie soll ich das wissen?“ „Was meinen Sie, könnte ihn zur Fahrt nach Hellerau veranlaßt haben?“ „Sie zuckte mit den Schultern. Ich weiß nicht.“ „Wohnt da niemand, den Sie kennen?“ „Nein.“ Die Geschichte wurde immer mysteriöser, fand Ebner. Es war auch kaum anzunehmen, daß der Mann auf dem Weg zu einer Freundin gewesen war, wenn er noch in der gleichen Nacht eine Fahrt mit dem Auto nach Ungarn hatte antreten wollen. Was aber wollte er in Hellerau? Hatte er vergeblich versucht, eine Batterie zu klauen, und wollte nun sein Glück in dem ruhigen Villenviertel von Hellerau versuchen? Da hätte ihm ja sein gesunder Menschenverstand sagen müssen, daß dort die Autos fast alle in wohlverschlossenen Garagen standen und daß er hätte noch zusätzlich einen Einbruch riskieren müssen. Und das Moped? Wie kam er zu dem Moped, wenn er mit dem Fahrrad losgefahren war? 67
„Was war das für ein Fahrrad, das Ihr Mann benutzt hat?“ „Ein Klappfahrrad. Wir wollten es mit in den Urlaub nehmen.“ „Farbe?“ „O Gott“, antwortete sie, „an die Farbe kann ich mich nicht erinnern. Das Rad war doch ganz neu.“ „Überlegen Sie in Ruhe, Frau Dietze! Sicher haben Sie das Fahrrad gesehen. Oder?“ „Doch, doch, Werner ist sogar eine kleine Runde gefahren. Unten vor dem Haus. Er hat es ja extra seinetwegen gekauft. Er wollte im Urlaub viel radfahren, gegen den Speck, hat er gesagt. Und nun …“ Ebner glaubte schon, sie würde wieder ins Weinen geraten, doch sie faßte sich und überlegte. „Ich weiß wirklich nicht, welche Farbe das Rad hatte“, sagte sie. „Vielleicht grün? Es war jedenfalls keine auffällige Farbe, kein schreiendes Rot oder so.“ „Der Garantieschein?“ fragte Ebner. „Ja, richtig“, sagte sie und erhob sich. Sie ging zur Anbauwand und kramte in einer Schublade. „Ich kann den Schein nicht finden“, murmelte sie und wurde zunehmend nervös. „Lassen Sie sich Zeit!“ suchte Ebner sie zu beruhigen. „Ja, ja, aber wir heben alle Garantiescheine und die Versicherungspolicen und alle Dokumente, die heben wir hier in dem Schubfach auf.“ „Im Küchenschrank kann der Garantieschein nicht liegen? Vielleicht war noch keine Zeit, ihn zu den anderen zu legen.“ „Das wäre möglich“, sagte sie und ging in die Küche, aus der sie nach kurzer Zeit mit dem Garantieschein zurückkam. „Hier ist er. Er lag tatsächlich im Küchenschrank.“ Ebner lächelte. „Es geht den Menschen wie den Leuten, Frau Dietze“, 68
sagte er, „das erlebe ich nicht das erste Mal. Und, unter uns gesagt, ich gehöre auch zu denen, die wichtige Papiere zunächst in den Küchenschrank packen, manchmal, weil die Zeit fehlt, und manchmal, weil ich zu faul bin, sie gleich an Ort und Stelle zu verwahren.“ „Wir waren ein bißchen durcheinander“, erklärte sie, „wegen der Reise, und dann der Ärger mit der Batterie.“ „Rot-weiß“, sagte Ebner, der den Garantieschein an sich genommen hatte. „Wirklich?“ fragte sie. „Zumindest steht es so auf dem Schein.“ „Merkwürdig. Wäre mir nie in den Sinn gekommen. Aber jetzt fällt es mir ein, der Gepäckträger war rot.“ Ebner notierte sich die Rahmen-Nummer und fragte sie danach unvermittelt: „Wo waren Sie in dieser Nacht, Frau Dietze?“ „Ich?“ fragte sie erstaunt zurück. „Ja“, sagte er, „das müssen Sie mir schon verraten.“ „Wollen Sie damit sagen, ich sei verdächtig? Ich hätte meinen Mann …“ „Ich will damit gar nichts sagen, Frau Dietze. Diese Art Fragen sind Teil meiner Arbeit. Sie sagten doch selbst, daß der Vorfall keinen Sinn ergibt. Also helfen Sie mir bitte, den Sinn zu finden.“ „Wie soll ich Ihnen dabei helfen?“ „Bitte, beantworten Sie meine Frage: Wo waren Sie von gestern abend neun Uhr bis jetzt?“ „Na hier, ich war in dieser Wohnung. Wo sonst?“ „Das weiß ich nicht, Frau Dietze.“ „Es ist absurd, mich zu verdächtigen.“ „Kann irgend jemand bestätigen, daß Sie die ganze Zeit in der Wohnung waren?“ „Wer denn? Es war doch niemand hier.“ „In dem Haus wohnt noch eine Familie?“ „Ja, schon, aber wir haben keinen Umgang mit den Leuten.“ 69
„Erzählen Sie mir bitte, was Sie gemacht haben, nachdem Ihr Mann aus der Wohnung gegangen war.“ „Was soll ich gemacht haben? Ich war nervös. Ich habe geraucht. Der Fernseher lief.“ „Was gab es denn im Fernsehen?“ „Erst war so eine Schlagersendung im Ersten, dann habe ich umgeschaltet, weil im Zweiten ein Film kam.“ „Was für ein Film?“ „Ich weiß nicht mehr, wie der hieß. Haben Sie denn nicht ferngesehen?“ „Nein“, sagte Ebner, „ich schalte den Fernsehapparat selten ein.“ „Irgend etwas mit Mafia war es.“ „Und weiter?“ „Was weiter?“ „Was haben Sie weiter gemacht?“ „Nachdem der Film zu Ende war, habe ich den Apparat ausgeschaltet und bin nach draußen gegangen, bin vor die Tür, um nachzuschauen, ob mein Mann käme. Er kam aber nicht. Also bin ich wieder hineingegangen. Eigentlich wollte ich mir einen Kognak eingießen, doch fiel mir dann ein, daß ich ja die erste Strecke mit dem Auto fahren wollte, also habe ich die Flasche zurück in die Bar gestellt und habe mich in den Sessel gesetzt und geraucht. Und gewartet. Gewartet, gewartet. Wieder vor die Tür. Ich bin mehrmals vor die Tür gegangen. Als er um zwei Uhr immer noch nicht zurück war, wußte ich, daß irgend etwas passiert sein mußte. Ich war auf einen Telefonanruf gefaßt. Ich dachte, man hat ihn erwischt, und die Polizei würde anrufen. Es rief aber niemand an. Irgendwann muß ich eingeschlafen sein. Im Sessel. Als ich aufwachte, war es kurz nach vier. Da habe ich dann angerufen und gefragt, ob mein Mann nicht irgendwo sei. In einem Krankenhaus vielleicht. Ich habe natürlich nicht gesagt, was er vorhatte.“ Weil Ebner schwieg, fragte sie: 70
„Genügt Ihnen das?“ „Vorerst ja“, sagte Ebner. „Mehr kann ich Ihnen auch später nicht sagen. Mehr war nicht. Höchstens noch, daß ich ihn nicht gehen lassen wollte.“ „Wie stellten Sie sich denn die Lösung des Problems vor? Ich meine, von wo wollten Sie eine Batterie beschaffen?“ Sie hob die Schultern. „Ich habe mir gar nichts vorgestellt“, sagte sie, „ich wußte nur, daß es nicht gut gehen konnte, wenn mein Mann sich so etwas vornahm. Mein Mann, müssen Sie wissen, ist nicht nur ungeschickt, er ist auch ohne Glück. Er kann anpacken, was er will, er hat kein Glück. So war es immer. Solange ich ihn kenne, hatte er kein Glück.“ „Sie leben allein.“ Sie nickte. „Unsere Ehe ist kinderlos.“ „Das war Ihr Wunsch?“ „Anfangs ja. Später konnten wir keine bekommen – er konnte nicht …“ Sie beendete den Satz nicht, und Ebner blieb es freigestellt, ihn nach Beheben zu ergänzen. „Wie lange sind Sie verheiratet?“ „Fast zwanzig Jahre.“ „Sind Sie in der Lage, mir zu sagen, weshalb Sie Ihren Mann geheiratet haben?“ „Weshalb? Er kam mir schutzbedürftig vor. Seine Hilflosigkeit war es, glaube ich … Ich weiß nicht … Weshalb heiratet man? Die große Liebe jedenfalls war es nicht, falls Sie das wissen wollten.“ Ebner ließ mit keiner Miene erkennen, wie er über das von ihr Gesagte dachte. Er war sehr um Sachlichkeit bemüht. „Als Ihr Mann gestern abend aus dem Hause ging, hatten Sie da nicht das Gefühl, er wolle Ihnen beweisen, 71
daß er durchaus in der Lage sei, ein Problem zu lösen, wenigstens einmal?“ „Er wollte mir vorführen, daß er kein Versager ist. Das war mir klar. Er war fest entschlossen, mir das zu beweisen.“ „Sie haben Ihren Mann einen unpraktischen Menschen genannt, Frau Dietze, nun ist zwar der Ausbau einer Autobatterie keine übermäßig schwierige Angelegenheit, aber gemacht haben muß man es schon einmal. Und außerdem war ja da auch noch die Motorhaube zu entriegeln, falls er überhaupt dazu gekommen ist, eine Batterie auszubauen.“ „Das mit der Motorhaube wußte er von unserem Wagen. Wir hatten in letzter Zeit zweimal Ärger mit dem Bowdenzug gehabt, und da hatte mir die Werkstatt gezeigt, wie man notfalls mit einem Schraubenzieher, den man durch die Entlüftungsschlitze steckt, den Verriegelungshebel zurückdrücken kann. Und ich habe es dann meinem Mann vorgeführt.“ „Was für einen Wagen fahren Sie?“ „Einen LADA.“ „Aha“, sagte Ebner, „demnach dürfte er einen Versuch mit großer Wahrscheinlichkeit nur an einem LADA gewagt haben.“ „Sicher“, sagte sie, „ich glaube nicht, daß er auch nur eine Sekunde daran gedacht hat, eine Batterie aus einem anderen Auto auszubauen. Nein, wenn er es getan hat, dann war es an einem LADA.“ „Danke“, sagte Ebner, „das wäre es zunächst. Wenn Sie mir nun bitte noch Ihr Auto zeigen würden?“ „Es steht in der Garage.“ „Ist sie offen?“ „Ja.“ „Dann müssen Sie nicht mitkommen. Nur den Zündschlüssel bräuchte ich noch …“ „Der steckt, ohne Batterie nutzt er ja keinem etwas.“ 72
„Sie richten sich bitte darauf ein, mich zu begleiten, Frau Dietze. Ich lasse Sie anschließend wieder nach Hause fahren.“ „Wohin wollen Sie mich mitnehmen?“ „Ich würde es Ihnen gern ersparen, doch es läßt sich nicht umgehen: Sie müssen Ihren Mann identifizieren.“ An dem weißen, auffallend gepflegten LADA in der blitzsauberen Garage mit Neonbeleuchtung ließ sich nichts feststellen, was gegen die Behauptung der Frau gesprochen hätte. Die Batterie war noch nicht ausgebaut. Der Schlüssel steckte im Zündschloß. Ebner schaltete die Zündung ein, doch auf dem Armaturenbrett war nichts zu sehen, was auf das Fließen eines auch noch so schwachen Gleichstroms hingedeutet hätte. Um ganz sicherzugehen, rief er den Fahrer in die Garage. „Schau doch mal“, sagte Ebner, „ob der Stromausfall nicht eine andere Ursache haben könnte!“ Der Fahrer nahm den Plastdeckel vom Sicherungsblock ab und prüfte die Sicherungen. „Die Sicherungen sind okay!“ sagte er. Nun ging er nach vorn, um die Batterie zu untersuchen. Die Motorhaube war schon hochgeklappt gewesen, als Ebner die Garage betreten hatte. Der Fahrer schraubte von jeder einzelnen Zelle die Verschlußkappen ab und schaute nach dem Stand der Flüssigkeit. „Säure ist auch genug drin“, sagte er. Er zog prüfend an den zwei Kabeln. Sie saßen fest, und nichts deutete darauf hin, daß die Polkappen zu stark oxydiert gewesen wären und den notwendigen Kontakt verhindert hätten. „Ich kann die Klemmen auch noch lösen“, sagte er zu Ebner, „sieht aber nicht so aus, als ob daran irgend etwas nicht in Ordnung wäre. Die Batterie wird einfach müde sein. Wahrscheinlich zu alt.“ „Die Mühe konnten Sie sich sparen“, erklang hinter 73
ihnen die Stimme Frau Dietzes. „Ich habe alles überprüft, was möglich war. Ich habe auch die Polkappen mit einer Feile gesäubert, obwohl kaum ein Belag drauf zu sehen war. Es änderte sich nichts. Die Batterie ist drei Jahre alt.“ „Haben Sie denn die Batterie mal an ein Ladegerät gehängt?“ fragte der Fahrer. „Auch das“, sagte Frau Dietze. „Vierundzwanzig Stunden lang. Null Komma nichts.“ „Dann ist sie hin“, sagte der Fahrer. „Ja“, sagte Frau Dietze, „sie ist hin.“ „Bau sie trotzdem aus“, sagte Ebner. „Wir nehmen sie mit und lassen sie prüfen.“ „Wozu soll das gut sein?“ fragte Frau Dietze. Der Fahrer zog den Schlüssel aus dem Zündschloß und ging nach hinten zum Kofferraum, um sich einen Schraubenschlüssel zu holen. „Sie erlauben doch“, fragte der Fahrer die Frau. „Meinetwegen. Nur, was haben Sie davon.“ „Gewißheit“, sagte Ebner. Der Fahrer hatte den passenden Schlüssel gefunden und begann die Muttern der Polklemmen und der Batteriehalterung zu lösen. „Besitzen Sie selbst ein Batterieladegerät?“ fragte Ebner. „Ja“, sagte die Frau, „da drüben in dem kleinen Schrank steht es.“ „Sie sind eine praktisch veranlagte Frau“, sagte er anerkennend. „Schauen Sie nach!“ forderte sie ihn auf, ohne auf seine Bemerkung zu reagieren. „Sie zweifeln doch ohnehin an allem.“ „Danke“, sagte Ebner, „ich bin überzeugt, daß Sie ein Batterieladegerät besitzen.“ Sie ging vor die Garage und wartete, bis die beiden Männer nach draußen kamen. Dann verschloß sie das Gartentor und zog den Schlüssel ab. 74
Der Fahrer war zum Wagen gegangen und stellte die Batterie in den Kofferraum. Ebner geleitete Frau Dietze schweigend zum Auto, öffnete ihr den Wagenschlag, ließ sie im Fond Platz nehmen, schloß die Tür und ging nach vorn zum Beifahrersitz. Ohne ein weiteres Wort fuhren sie ab. Es war nun deutlich zu erkennen, daß es ein schöner Sommertag werden würde.
6 Gegen halb vier Uhr morgens stand Manfred Berger vor dem Einfamilienhaus seines Bruders. Inmitten einer großen Zahl anderer, meist größerer und ansehnlicherer Häuser lag es an einer wenig befahrenen Seitenstraße. Der sorgfältig gepflegte Vorgarten mit dem akkurat geschnittenen Rasen erinnerte ihn sogleich wieder an seine Schwägerin. Mit einemmal hatte er es nicht mehr eilig, ins Haus zu kommen. Am liebsten hätte er das Auto gewendet und wäre zurück nach Dresden gefahren. Eine unerwartete Sehnsucht nach Gerda überkam ihn, und er fragte sich, ob er es richtig gemacht hatte, als er sie allein ließ. Gern hätte er jetzt bei ihr gelegen und hätte sich in der Wärme ihres schlafenden Körpers geborgen gefühlt. Er lehnte mit dem Rücken am Auto und genoß die Stille des frühen Morgens. Verschlafen zwitscherten ein paar Vögel. Keine Menschenseele weit und breit. Hier läßt es sich leben, dachte Berger. Keine Spur von Großstadt. Kaum ein Anwesen, in dem nicht wenigstens zwei Tannen standen, von den Obstbäumen gar nicht zu reden. Dazu der Rasen überall. Und dennoch war man im Handumdrehen am Alex. Zum ersten Mal beneidete er seinen Bruder. Unpraktisch, aber ein Lebenskünstler. 75
Ihm ging alles zum Guten aus. Das richtige Haus, die richtige Frau, der richtige Beruf. Nicht, daß Berger seinerseits den Beruf eines Lehrers für wünschenswert gehalten hätte, aber Martin hatte von klein auf Lehrer werden wollen und war natürlich Lehrer geworden. Ihm wäre die Geschichte nicht passiert, die ihm in dieser Nacht passiert war. Martin nicht. Solche Geschichten gingen an ihm vorbei. Und er wird auch nicht bereit sein, mir ein zweifelsfreies Alibi zu liefern, denn das würde ihn mit hineinziehen und würde seine Ruhe gefährden. Ich kann es also auch lassen. Ich muß jetzt nicht läuten und ihn aus dem Schlaf hochjagen, was sowieso ein mieser Ausgangspunkt für mein Anliegen ist. Wer hat schon gute Laune, wenn er aus dem Schlaf gerissen wird, sagte sich Berger. Er war nahe dran, sich wieder in den LADA zu setzen und zurückzufahren. Doch erneut kam ihm der Gedanke an das Gefängnis, und kurz entschlossen drückte er den Klingelknopf. Wie zu erwarten war, mußte er mehrmals läuten, bis im Haus das Licht anging. Endlich wurde die Haustür aufgetan, und eine Frau im Morgenrock trat heraus. Berger war wenig erfreut, als erstes seiner Schwägerin gegenüberzutreten, doch schickte er sich drein. Irgendwann mußte sie ja doch ins Bild gesetzt werden. Weshalb also nicht gleich. Er bemühte sich um eine freundliche Miene, die ihm jedoch rasch gefror, als er sich einer ihm unbekannten Frau gegenübersah und von ihr nach seinem Begehr gefragt wurde. „Tja“, sagte Berger, „ich bin Martins Bruder. Ist der denn nicht da?“ „Nein, Martin und seine Frau sind im Urlaub.“ „So ein Pech“, sagte Berger und war doch auch irgendwie froh, daß es nun nicht zu der Begegnung mit seinem Bruder kam. „Wenn Sie hereinkommen wollen? Ich hüte während des Urlaubs das Haus. Wir sind befreundet.“ 76
„Aha“, kommentierte Berger diese Information. Er war unschlüssig, wie er sich verhalten sollte. Mit der Variante hatte er nicht gerechnet. Diese Frau konnte er unmöglich in seine Misere einweihen. Andererseits war sie in jedem Fall eine Zeugin, denn irgendwohin mußte er ja gefahren sein, und es würde ihm verdammt schwerfallen, eine glaubwürdige Geschichte zu erfinden, um zu erklären, wieso es ihm in den Sinn gekommen war, mitten in der Nacht von Dresden nach Berlin zu fahren. Falls er je danach gefragt werden sollte. „Ich bin auf der Durchreise“, sagte er, „wollte nur Station machen.“ „Martin hat Sie mir gar nicht angekündigt.“ „Er wußte ja nichts davon. Genaugenommen wußte ich selber nichts davon, bis vorhin auf der Autobahn. Eigentlich wollte ich durchfahren, hoch an die Ostsee. Wissen Sie, ich fahre nicht gern am Tage bei der Hitze. Und da kam mir so die Idee, du könntest ja für einen Tag bei deinem Bruder Station machen. Man sieht sich viel zu selten.“ „Da wird er sicher traurig sein, wenn ich ihm sage, daß Sie hier waren.“ „Traurig? Meinen Sie? Na vielleicht!“ Sie fröstelte in der Morgenkühle und schloß mit einer Hand den Ausschnitt ihres Morgenmantels. „Meinetwegen müssen Sie Ihren Plan nicht ändern“, sagte sie. „Es ist das Haus Ihres Bruders, und das steht Ihnen in jedem Fall offen. Ich kann Ihnen zwar nicht Ihren Bruder ersetzen, aber einen Kaffee kann ich Ihnen kochen.“ „Das ist ein Angebot“, sagte Berger. Sie öffnete die niedrige Gartentür, und er folgte ihr ins Haus. Ihre Bewegungen waren langsam, fast ein wenig träge, so, als ob sie noch in einem Traum gefangen war. Im Wohnzimmer forderte sie ihn auf, es sich bequem 77
zu machen, während sie in der Küche den Kaffee bereiten würde, doch er blieb unschlüssig stehen und drehte seine Mütze in den Händen. „Ist was?“ fragte sie. „Na ja“, antwortete er zögernd, „ich wollte ja meinen Bruder besuchen.“ „Das sagten Sie schon.“ „Ich konnte ja nicht wissen, daß Sie hier Urlaub machen.“ „Nein, das konnten Sie nicht.“ „Ich meine, es ist sicher besser, wenn ich gleich weiterfahre. Sie können sich dann wieder schlafen legen. Im Urlaub will der Mensch sich ausschlafen.“ Sie lachte kurz auf. „Machen Sie sich deswegen keinen Kopf, Herr Berger, ich bin mutterseelenallein hier und kann so viel und so oft schlafen, wie ich will. Ich bin nicht böse über die Abwechslung.“ Berger wußte nicht recht, wie er seinen Rückzug in die Wege leiten sollte. Ihm war klargeworden, daß er mit dieser stockfremden Frau nicht wegen eines Alibis reden konnte, und also war es sinnlos geworden, sich hier weiter aufzuhalten. Er mußte weg. Wohin, fiel ihm im Augenblick nicht ein, er wußte nur, daß er weg mußte und sich irgendwo ein Alibi verschaffen, sonst war sein ganzer Plan, auf den er gerade noch stolz gewesen war, gefährdet. Wieder einer der verdammten Zufälle, mit denen keiner rechnet, ging es ihm durch den Sinn. „Was ist nun?“ fragte die Frau. „Kaffee oder keinen Kaffee? Oder möchten Sie lieber einen Tee?“ „Na gut“, sagte er schließlich, „ich trinke einen Kaffee und mache mich dann wieder auf die Socken.“
78
7 Als Gerda Berger am Samstagmorgen erwachte, war ihr zunächst nicht klar, weshalb der Wecker nicht geläutet hatte. Dabei war es schon Viertel nach sechs. Sie drehte sich zum Bett ihres Mannes um, weil sie ihn fragen wollte, ob er denn das Läuten nicht vernommen hatte, doch das Bett war leer. Und der Anblick des leeren Bettes brachte ihr schlagartig das Erleben der vergangenen Nacht ins Gedächtnis zurück. Sie fuhr hoch. „Manfred!“ rief sie. Und noch einmal wiederholte sie seinen Namen. Alles blieb still. Von nirgendwo eine Antwort. Er war weg. War auf und davon. Hatte sie allein in der Wohnung zurückgelassen. Und sie hatte ihn angefleht, dies auf gar keinen Fall zu tun. Sie ließ sich auf das Bett zurückfallen. Die Augen starrten zur Decke. Wie in einem Film liefen die Bilder der vergangenen Nacht noch einmal vor ihrem geistigen Auge ab. Danach verspürte sie zum Aufstehen keine Lust. Sie überlegte, ob sie sich nicht krank melden sollte. Sie konnte sich nicht vorstellen, ihren Kolleginnen gegenüberzutreten und mit ihnen so wie an jedem Tag über die unzähligen Nichtigkeiten zu schwätzen, über die sie vor dem Öffnen der Kaufhalle im allgemeinen zu schwätzen pflegen. Wie sollte sie die Preise der Waren in die Kasse tippen, wenn sie doch nur immer und immer wieder an die vergangene Nacht denken mußte? Wegwischen – wie einen Traum das Ganze, hatte Manfred zu ihr gesagt. Als ob das von ihrem Wollen abhinge. Ein solcher Schwamm war im Handel noch nicht zu haben. Das Gedächtnis macht, was es will. Mit Vorliebe bewahrt es die Vorgänge auf, die wir vergessen möchten, und es löscht jene Augenblicke, die wir bewahrt haben wollen. Wegwischen! Lachhaft, wenn es nicht zum Weinen wäre! Wie konnte Manfred sie allein lassen! Wohin mag er gefahren sein? 79
Wenn mich jemand fragt, ich muß doch antworten können. Ich muß doch wissen, wohin mein Mann gefahren ist. Als Ehefrau weiß man so etwas. Ich könnte höchstens sagen, wir haben Krach gehabt, und er ist im Zorn auf und davon. Soll es ja geben, wir hatten das zwar noch nicht, aber daß es das gibt, wird niemand bezweifeln. Und weshalb haben wir uns in die Haare gekriegt? Wegen einer anderen Frau? Und wegen welcher? Welche soll ich denn nennen? Ich müßte einen Verdacht haben. Komisch, daß ich keine Frau im Verdacht habe, auf meinen Mann scharf zu sein. Spricht das nun für oder gegen Manfred? Schwer zu sagen. Vielleicht hat er wirklich eine, und ich weiß es nicht? Vielleicht ist er zu ihr gefahren? Unsinn, ich darf mich nicht verrückt machen. Ich denke, wir hatten des Geldes wegen Krach. Ich war gegen den Autokauf, ich hätte lieber einiges in der Wohnung neu gehabt. Eine neue Polstergarnitur, neue Auslegware und neue Gardinen. Aber er mußte ja unbedingt das neue Auto … Das werde ich sagen, falls mich jemand fragt. Wahrscheinlich fragt mich gar niemand. Aber besser ist besser. Wohin mag er nur gefahren sein? Vielleicht liegt ein Zettel im Wohnzimmer oder auf dem Küchentisch. Der Wunsch, eine Nachricht von ihrem Mann zu finden, trieb sie unversehens hoch. Sie lief zunächst ins Wohnzimmer und konnte keinen Zettel finden. In der Küche schließlich fand sie seine kurze Mitteilung: „Bin seit gestern nachmittag bei Martin. Halte die Ohren steif! Dein Manfred.“ Nach Berlin also war er gefahren! Zu seinem Bruder. Vielleicht keine schlechte Idee. Wenn sich Martin darauf einläßt. Vielleicht wird doch alles noch irgendwie gut. Vielleicht gewöhnt man sich daran, mit so einer Erinnerung zu leben, vielleicht verblaßt sie allmählich, ver80
schwindet nach und nach und ist eines Tages höchstens noch als undeutlicher heller Fleck in der Erinnerung zu finden. Vielleicht gibt’s doch so einen Schwamm … In jedem Fall mußte erst einmal der heutige Tag mit Anstand über die Runden gebracht werden. Ich muß mich zusammennehmen, sagte sie sich, ich darf Manfred nicht in den Rücken fallen. Ich muß so arbeiten wie immer. Kurz entschlossen setzte sie den Wasserkessel auf den Gasherd. Kaffee war jetzt das Wichtigste. Die erste Stunde in der Kaufhalle lief dann auch gar nicht so schlecht. Es gab einen ziemlichen Andrang, und sie hatte keine Zeit für Grübeleien. Als sie jedoch plötzlich einen Mann aus ihrem Haus in der Schlange vor ihrer Kasse stehen sah, fingen ihr die Hände zu zittern an. Sie vertippte sieh, wußte mit einemmal keine Preise mehr, mußte die Kollegin zu ihrer Linken fragen, die gab ihr unwirsch die gewünschte Auskunft. Ihr wurde übel, sie mußte von der Kasse weg zur Toilette und mußte sich übergeben. Als sie wieder herauskam, stand die Leiterin der Halle schon besorgten Blickes bereit und fragte: „Ist dir nicht gut?“ „Nein, nein. Ich weiß auch nicht, wie das plötzlich kam.“ „Du siehst ganz weiß aus im Gesicht.“ „Ach, das vergeht wieder.“ „Bist du etwa schwanger?“ Gerda lachte kurz auf. Es war ein hektisches Lachen, verkrampft. „Bestimmt nicht.“ „Du, das mußt du mir rechtzeitig sagen, denn da muß ich mich ja nach Ersatz für dich umsehen.“ „Ich bin nicht schwanger, kannst du mir glauben. Vielleicht habe ich irgend etwas Verkehrtes gegessen. Ich weiß nur nicht, was.“ „Wenn du willst, kannst du nach Hause gehen, Gerda. Wir sind heute ausnahmsweise gut besetzt.“ 81
„Nein, nein, es wird schon wieder.“ „Wie du meinst.“ Gerda setzte sich erneut hinter die Kasse. Sie hielt sich jetzt wesentlich besser, denn sie war nun darauf gefaßt, daß sich Bewohner ihres Hauses zeigen würden. Vorhin war es überraschend gekommen, und sie hatte sich eingebildet, der Mann beobachtete sie die ganze Zeit. Dabei hatte er ihr nur freundlich zunicken wollen. Da sie seinem Blick jedoch ausgewichen war, hatte er versucht, ihre Aufmerksamkeit zu erlangen. Und sie hatte das als argwöhnisches Belauern angesehen. Hirngespinst! Unsinn. Die Leute waren wie immer zu ihr. Meistens freundlich. Überhaupt war es eine Dummheit von ihr, anzunehmen, irgendwer habe die Vorgänge der vergangenen Nacht gesehen und geschwiegen. Wer verhält sich denn so? Niemand. Wenn jemand so etwas sieht, mischt er sich ein oder ruft auf der Stelle die Polizei. Da sich niemand eingemischt und niemand die Polizei angerufen hatte, gab es auch keinen Grund, beim Auftauchen eines bekannten Gesichts weiche Knie zu bekommen. Nun hatte sie sich wieder im Griff, und es bereitete ihr Genugtuung, die Schlange vor ihrer Kasse binnen einer halben Stunde auf nunmehr drei Wartende abgebaut zu haben. Wie immer vertrauten ihr die Alten in ihrer Kurzsichtigkeit ihr abgegriffenes Portemonnaie an und überließen es ihr, die notwendige Summe Geldes herauszuklauben. Wie immer reichten ihr Kinder die in ihren Händen warm und feucht gewordenen Münzen hin, die ihnen zu Hause mit viel Ermahnungen zum Einkauf einer noch fehlenden Kleinigkeit übergeben worden waren. Und wie immer kam die bewußte rothaarige Kundin, nachdem sie am Packtisch die Brille aufgesetzt, einen Kugelschreiber aus der Tasche gekramt und den Kaufbetrag auf dem Kassenbon mehrfach durchgerechnet 82
hatte, nochmals zur Kasse zurück, weil ihrer Meinung nach die Summe nicht stimmte. Diese Frau war im Laufe der Zeit zu einer bei allen Kassiererinnen bekannten Erscheinung geworden, sie nannten sie nur noch die „Verrechnerin“. Und da alle wußten, was sie bei ihrem Erscheinen zu gewärtigen hatten, nahmen sie es mit Humor und wiesen der Frau geduldig ihren eigenen Rechenfehler nach. Sie entschuldigte sich jedesmal, vergaß aber nie hinzuzufügen, daß es ja schließlich ihr gutes Recht sei, die Kaufsumme zu prüfen. „Selbstverständlich“, antwortete Gerda, „doch nun müssen Sie hier Platz machen, die anderen Kunden wollen auch an die Reihe kommen und ihr Geld loswerden.“ Und wieder nickte ihr ein Bewohner ihres Hauses zu, noch ehe er mit dem Bezahlen dran war. Sie lächelte freundlich zurück, denn den alten Herrn Mager hatte sie von Anfang an gemocht. Er lebte allein und verbrachte die meiste Zeit des Tages am Fenster sitzend. Sie hätte es nicht erklären können, aber wenn sie ihn sah, hatte sie das Gefühl, er sei eine Art gütiger Gott. Möglicherweise war der Eindruck bei ihr deshalb entstanden, weil sie in der Regel zu ihm aufsehen mußte, wenn sie die Straße entlangkam. Stets grüßte er sie mit einem leichten Nicken des Kopfes, und auch darin schien ihr etwas Hoheitsvolles zu liegen. Sein Gesicht war rund, und wenn er am Fenster saß und las, trug er eine Nickelbrille, die ihm wiederum den Ausdruck eines Weisen verlieh. Die leuchtende Glatze wurde an den Schläfen von einem tonsurähnlichen Haarrand eindrucksvoll gerahmt. „Guten Morgen“, sagte er. „Na, kleine Frau, eine schöne Nacht gehabt?“ Sie wurde blaß, obwohl er nichts anderes gesagt hatte als sonst auch. Immer nannte er sie „kleine Frau“. Sie nickte und tippte hastig die Preise der Waren ein, die er in seinem Korb hatte. 83
„Sie sehen nicht gut aus“, sprach er weiter. Sie lächelte ziemlich verkrampft. „Ja, ja, jedem bekommt die Hitze nicht.“ „Neun Mark achtzig, Herr Mager.“ Auch er reichte ihr sein Portemonnaie hin und ließ sie den Betrag entnehmen. „Einen schönen Tag noch“, sagte er beim Gehen.
8 Ebner fand, Frau Dietze hatte sich bemerkenswert gut gehalten. Die Identifizierung einer Leiche war nie eine angenehme Sache, auch nicht für den, dem der Umgang mit dem Tode geläufig war. Um wieviel schwerer mußte sie einer Frau ankommen, die vor Stunden noch vorgehabt hatte, mit ihrem Mann, der jetzt mit einem weißen Laken bedeckt stumm und reglos auf der Bahre lag, vierzehn Tage Urlaub zu verbringen. Schließlich hatte sie mit diesem Mann viele Jahre ihres Lebens geteilt, kannte sein Lachen, wahrscheinlich auch sein Weinen, wußte, wie sich seine Haut anfaßt, war von ihm gestreichelt worden, kannte seinen Gang, seine Art, die Suppe zu essen, wußte um seinen Geruch, seinen Bartwuchs, seine Gebrechen und seine Müdigkeit. All das war ihr mit einem Schlag zur Erinnerung geronnen. Aber noch gab es die Hülle, in der es sich ein Mann namens Werner Dietze bislang mehr oder weniger bequem gemacht hatte. Frau Dietze hatte lediglich kurz genickt, als das Tuch vom Kopf des Toten zurückgezogen worden war. Ebner war aufgefallen, daß sie es mit einer merkwürdigen Heftigkeit getan hatte, so als müsse sie diese Feststellung mit Nachdruck bestätigen und als sei ihr die Notwendigkeit dieses Tuns lästig. Es war eben dieses kurze, heftige 84
Nicken, das in ihm den Gedanken aufkommen ließ, er sei mit dieser Frau noch nicht am Ende. „Sie müssen sich zu unserer Verfügung halten, Frau Dietze“, sagte er, nachdem sie vor dem Gebäude der Bezirksbehörde der Volkspolizei angelangt waren. „Was heißt das?“ wollte sie wissen. „Sie halten sich bitte in Ihrer Wohnung auf, damit wir Sie jederzeit telefonisch erreichen können.“ „Was wollen Sie noch von mir?“ „Das werden Sie rechtzeitig erfahren, Frau Dietze.“ „Glauben Sie immer noch, ich habe meinen Mann umgebracht?“ Das war die übliche Frage in solchen Fällen, und Ebner fiel auch nur die übliche Antwort ein: „In unserer Arbeit geht es nicht um das, was wir glauben. Wir sind zur Sachlichkeit verpflichtet und dürfen keine Möglichkeit ungeprüft ausschließen.“ „Demnach halten Sie es für möglich?“ „Ich muß es für möglich halten, Frau Dietze, ich habe keine Wahl.“ Sie schwieg und schaute nach links aus dem Autofenster. Ebner zögerte. Genaugenommen hatte er ihr gesagt, was zu sagen nötig gewesen war, aber er war mit sich nicht zufrieden. Es war die stolze und selbstbewußte Art des Auftretens dieser Frau, die in ihm Unzufriedenheit wachrief. Er wollte sich überzeugen und wußte zugleich, daß es ein Ding der Unmöglichkeit war. Falls sie sich tatsächlich ihres Mannes entledigt hatte, würde sie sich nicht aus freien Stücken als Verdächtige zu erkennen geben, und falls sie – was wahrscheinlicher war – von seinem Tode überrascht worden war, konnte sie sich beim besten Willen nicht als Tatverdächtige begreifen. „Ich könnte Ihnen jetzt gut zureden“, sagte Ebner ein wenig gegen seinen Willen. „Ich könnte Ihnen beispielsweise sagen, daß doch gerade Sie ein besonderes 85
Interesse an der Aufklärung des Vorganges haben müssen und uns deshalb nach besten Kräften unterstützen sollten, doch ich sage es Ihnen nicht, denn ich halte Sie für eine intelligente Frau, die aus eigenem Überlegen die Notwendigkeit eines solchen Vorgehens einsehen wird.“ Sie gab nicht zu erkennen, ob sie seine Worte überhaupt aufgenommen hatte. Ebner bereute jetzt, diesen Satz nachgeschickt zu haben. Ohne noch ein weiteres Wort stieg er aus dem Auto. Willy würde sie zuverlässig zu ihrer Wohnung zurückbringen. Hoffentlich wies er sie nicht auch auf den schönen Tag hin. Während Ebner die Treppen zu seinem Dienstzimmer hochstieg, sann er über diese Frau nach. Es gab etwas, das ihn an ihr störte. Es war in ihrem Erscheinungsbild ein Bruch, irgendein Fehler. Ihr blondes Haar allein war es wohl nicht, obwohl ihn Frauen mit blonden Haaren nie besonders interessiert hatten. Sie standen bei ihm im Verdacht einer umfassenden Frigidität. Seiner Ansicht nach empfanden solche Frauen ihre gering entwickelte Sinnlichkeit gleichfalls als Mangel und strengten sich deshalb besonders an, darüber hinwegzutäuschen. Das ließ sie übertrieben lebhaft und unternehmungslustig erscheinen, doch bei genauerem Hinsehen entpuppte sich ihr Gehabe als die blanke Angst, man könnte ihnen hinter die fehlende Sinnlichkeit kommen. Zugleich hatte diese Frau aber auch jene markanten Wangenknochen, die für ihn seit eh und je Blickfang bei Frauen waren, ohne daß er sich hätte erklären können, woher ihm dieses Faible zugewachsen war. Er erinnerte sich jedoch keiner Frau, bei der sich der slawische Zuschnitt des Gesichts mit blondem Haar verbunden hätte. Vielleicht war es diese ungewohnte Kombination, mit der er bei der Dietze nicht zu Rande kam. Und dann störte ihn ihre korrekte Aufmachung. Hüllte sich die Weiblichkeit in diesem heißen Sommer allgemein in abenteuerlich gebundene und gewickelte Stoffbahnen aus möglichst 86
leichtem Material, die dem Körper viel Spielraum ließen, saß bei ihr alles fest und stramm und gemahnte ihn an einen Panzer. Wogegen glaubte sie sich wappnen zu müssen? War sie sich ihrer selbst nicht sicher? Er wußte zuwenig von ihr, um sich diese Fragen zu beantworten. Im Dienstzimmer traf er die Sekretärin und den blutjungen Praktikanten beim gemeinsamen Kaffeetrinken. Der Praktikant fuhr hoch. „Guten Morgen, Genosse Hauptmann“, sagte er und errötete dabei. „Guten Morgen, ihr beiden Hübschen“, antwortete Ebner, dem die Zuneigung, die die beiden füreinander empfanden, nicht entgangen war. „Guten Morgen“, sagte nun auch die Sekretärin. „Möchten Sie Tee?“ „O ja“, sagte Ebner, „bei mir hat es vorhin nur zu einer Tasse gelangt. Und danach der Kaffee in der Mitropa war auch nicht das Wahre. Gibt’s irgend etwas Neues?“ „Nein“, antwortete die Sekretärin. „Ist Hegewald noch nicht hier?“ „Oberleutnant Hegewald hat sich krank gemeldet.“ „Krank? Was fehlt ihm denn?“ „Seitenstrangangina, Kehlkopfentzündung und ein grippaler Infekt.“ „Geht ganz schön in die vollen, der Junge. Angina allein hätte doch gereicht. Und das alles bei der Hitze. Wie warm soll’s denn heute werden?“ „Bis dreißig Grad“, sagte der Praktikant. „Na, hurra!“ „Ist der Fall schon geklärt?“ wollte der Praktikant wissen. „Welcher Fall?“ fragte Ebner. „Ich meine die Sache mit dem Mann auf der Hellerauer Straße.“ „Ach, den meinen Sie“, meinte Ebner. „Tja, ich habe 87
das verdammte Gefühl, der wird uns unser Wochenende verderben. Geklärt ist gar nichts. Nur Fragezeichen.“ Die Sekretärin stellte den Tee auf Ebners Schreibtisch. Er hätte ihn nicht besser brühen können. „Danke“, sagte Ebner. „Vorzüglich wie immer. Sollte es einmal keinen Tee zu kaufen geben, ich müßte meinen Beruf an den Nagel hängen. Ohne Tee bin ich kein Mensch.“ „Ich werde nach Tee immer müde“, sagte der Praktikant. „Dann lassen Sie sich nur von unserer Evelyn schnellstens ein Privatissimum über die fachmännische Zubereitung von schwarzem Tee lesen, mein lieber Schröder. Tee und Tee, das ist nicht dasselbe. Kaffee kochen kann jeder, Tee brühen können nur wenige. Und was die allergrößte Sünde wider den Teegenuß ist: Die meisten unserer braven deutschen Hausfrauen dulden nichts Braunes in der Teekanne und rücken dem mit FIT und ähnlichen scharfen Sachen zuleibe. Einen wirklichen Teetrinker treibt solches von Frau und Kindern.“ „Wenn die Spreequelle nicht so weit entfernt läge“, sagte die Sekretärin, „müßte ich für den Tee des Genossen Ebner auch noch das Wasser von dort holen. Leitungswasser hält er genaugenommen auch für einen Verstoß gegen die guten Sitten des Teetrinkens.“ „Ich sehe, ich kann hier viel lernen“, sagte Schröder und strahlte Evelyn an. „Und ob, mein Lieber, und ob“, bestätigte Ebner. „Heute werden Sie vor allem lernen, wie man eine Stecknadel im Heuhaufen findet. Und wehe, Sie treten mir unter die Augen ohne die Nadel, die in unserem Falle in die Verkleidung eines rotweißen Klappfahrrades geschlüpft ist. Irgendwo in unserem wunderschönen, wunderheißen Elbflorenz steht oder liegt dieses Klappfahrrad. Und wenn wir es gefunden haben, sind wir unter Umständen ein wenig klüger. Möglicherweise 88
erstehen dann auch neue Fragezeichen vor unseren hitzegeschädigten Augen. Weiß der Teufel!“ „Wissen Sie die Fahrgestell-Nummer?“ fragte Schröder. „Sie meinen die Rahmen-Nummer“, korrigierte Ebner, „ja, die habe ich zumindest einbringen können.“ Er zog sein Notizbuch hervor und nannte dem Praktikanten die Nummer. „Veranlassen Sie eine Fahndung!“ sagte er. „Evelyn wird Ihnen sagen, wie das bei uns läuft. Danach melden Sie sich wieder bei mir, und wir gehen die Chose gemeinsam durch.“ „Genosse Schröder wäre gern mit am Tatort gewesen“, sagte die Sekretärin. „Das kann ich verstehen“, erwiderte Ebner, „ich bin mir meiner Schuld bewußt, Genosse Schröder. Nur muß ich mich erst an Ihre Anwesenheit gewöhnen.“ „Bis dahin sind die drei Wochen um“, meinte die Sekretärin. „Sie haben sich da eine gute Fürsprecherin gechartert“, sagte Ebner lächelnd zu dem Praktikanten. „Ich kann nichts dafür“, entschuldigte sich Schröder. „Sie haben ja recht. Also Evelyn, veranlassen Sie in meinem Namen, daß der Genosse Schröder ab sofort auch aus dem Bett getrommelt wird, wenn man mir an den Schlaf geht.“ „Danke, Genosse Hauptmann“, sagte Schröder erfreut. „Die Freude darüber wird Ihnen im Verlaufe Ihrer Kriminalistenlaufbahn noch vergehen. Nun aber an die Arbeit, Kinder!“ Allein gelassen lehnte sich Ebner in seinem Stuhl zurück und gab sich ganz dem Genuß des Teetrinkens hin. Es war ihm nicht unangenehm, heute mit den beiden jungen Leuten allein zu sein. Gewiß würde Hegewald das 89
meiste an Arbeit selbständig erledigt haben, denn seine Erfahrungen und seine Gründlichkeit standen außer allem Zweifel. Sie arbeiteten zuverlässig zusammen. Jeder kannte den anderen und wußte, wie der entscheiden würde, aber in Ebners Augen hatte Hegewald einen empfindlichen Mangel, er besaß nämlich keinen Humor, hatte keinen Nerv für ironische Anspielungen, und außerdem gab es nichts, wofür er sich neben der Arbeit noch interessierte. Ebner hatte das Bedürfnis, über Bücher zu reden und, wenn möglich, auch ein wenig über Malerei. Bei Hegewald brauchte er dazu gar nicht erst den Mund aufzumachen. Außerdem hatte er seine heimliche Freude an der sich anbahnenden Liebe zwischen der Sekretärin und dem Praktikanten. Schröder war knapp eine Woche in seiner Abteilung. Er stand im letzten Jahr seiner Ausbildung. Ein gescheiter Bursche, fand Ebner, dabei locker und unaufdringlich. Er wollte ihm den Fall Dietze so selbständig wie möglich zur Abarbeitung überlassen. Evelyn, die Sekretärin, hatte vor reichlich zwei Jahren ihren Dienst in seiner Abteilung angetreten. Anfangs errötete sie bei jedem noch so unbedeutenden Anlaß und klagte oft über Kopfschmerzen. Hegewald hatte ihm mehrfach vorgeschlagen, sie gegen eine andere auszutauschen, denn es passierte ihr nicht selten, daß sie in Tränen ausbrach, wenn sie etwas vergessen hatte oder sich ungerecht behandelt fühlte. Diese Mimose ist bei uns fehl am Platz, hatte Hegewald gesagt. Doch Ebner ging die Methode des Abschiebens von Menschen, die einem nicht in den Kram passen, gegen den Strich. Hätte er nach der Empfehlung Hegewalds gehandelt, wäre das Mädchen nur noch stärker verunsichert worden. Wenn er mit ihr allein war, hatte er sie allmählich zum Erzählen gebracht. Und nach und nach faßte sie Vertrauen zu ihm und errötete seltener. Sie wohnte zusam90
men mit zwei Schwestern bei ihren Eltern in einer Dreizimmerwohnung. Der Vater war mit der Parkinsonschen Krankheit geschlagen und auf Rente gesetzt. Er hielt sich meist in seinem kleinen Schrebergarten auf und bemühte sich, die Haushaltskasse mit dem Anbau und Verkauf von Beerenobst und Gemüse aufzubessern, hielt auch eine Menge Kaninchen, war aber wohl doch ein gebrochener Mann und im Wesen nicht gerade zugänglich. Die Mutter arbeitete bei ROBOTRON am Band. Bei uns wird selten gelacht, hat ihm das Mädchen gestanden. Ebners gleichbleibende Freundlichkeit, das Lob, das er ihr für gute Arbeit spendete, und das Vertrauen, das er in sie setzte, indem er sie immer häufiger auch mit Aufgaben betraute, die eigentlich über die Tätigkeit einer Sekretärin hinausgingen, ließen sie sicherer und selbstbewußter werden. Sie war ein schlankes Wesen, von keiner auffallenden Schönheit. Auffallend waren nur ihre vollen Lippen und ihre überraschend tiefe Stimme, die man in ihrem schlanken Körper nicht vermutete. Ebner nahm sich vor, die beiden heute oder morgen zu einem abendlichen Essen einzuladen. In dieser seiner Absicht war ein gewisser kupplerischer Hintergedanke nicht zu übersehen. Er fand, der ungewöhnliche Sommer dieses Jahres war wie selten für die Liebe geschaffen. Und die beiden gehörten nicht zu der Sorte Mensch, die ohne einen langen Anlauf zueinanderfanden. Dabei hatten sie für solchen Luxus gar keine Zeit, denn drei Wochen sind keine Ewigkeit. Schröder klopfte und trat mit Block und Kugelschreiber bewaffnet ins Zimmer. Ebner ließ ihn Platz nehmen. „Da wollen wir mal“, sagte Ebner. „Ich werde Ihnen also jetzt eine Geschichte erzählen, und anschließend erzählen Sie mir, was Ihnen dazu einfällt.“ „Ich werde mir Mühe geben“, sagte Schröder. „Das will ich hoffen“, meinte Ebner. „Was treibt Sie eigentlich zur Kriminalistik?“ 91
„O Gott“, antwortete Schröder, „das bin ich schon so oft gefragt worden.“ Ebner lachte und sagte: „Das kann ich mir denken.“ „Vielleicht, weil ich so gern Schach spiele.“ „Aha.“ „Und weil ich neugierig auf Menschen bin.“ „Klingt nicht schlecht.“ „Und dann muß ich zugeben, daß mir kein anderer Beruf eingefallen ist. Alle anderen, die mir vorgeschlagen wurden, fand ich irgendwie langweilig. Chirurg hätte ich noch werden wollen, aber da hat mich der Kampf um einen Studienplatz abgeschreckt.“ „Verstehen Sie etwas von Malerei?“ „Nein“, antwortete Schröder irritiert, „ist das wichtig?“ „Wichtig vielleicht nicht, aber schaden kann es auch nicht. Verstehen Sie etwas von Frauen?“, fragte er lächelnd weiter. „Nicht sehr viel“, sagte Schröder und lachte verlegen. „Ja, das Studium der Weiber ist schwer“, sagte Ebner, „stammt zwar nicht von mir, ist aber trotzdem eine der großen Wahrheiten dieses Lebens.“ „Und das Studium der Männer?“ fragte Schröder. „Dafür genügt ein Semester.“ „Für uns Männer vielleicht.“ „Für die Frauen auch.“ „Und weshalb lassen sich dann so viele Frauen scheiden?“ „Ich bin kein Scheidungsrichter“, sagte Ebner, „doch bin ich mir ziemlich sicher, daß sie es nicht tun, weil sie den Mann nicht verstehen.“ „Sondern?“ „Wenn eine Frau sich scheiden läßt, gibt es immer nur zwei mögliche Gründe: Entweder hat der Mann die Hände erhoben und sich ergeben. Oder er hat sich geweigert, die Hände zu heben.“ „Sind Sie verheiratet?“ 92
„Ja, noch.“ „Leben Sie in Scheidung?“ Ebner lachte kurz auf. „Alle Ehepaare leben in Scheidung“, sagte er, „manche vollziehen sie, und manche meinen, der Aufwand lohne sich nicht, und wieder andere vergessen einfach, daß sie vorhatten, sich scheiden zu lassen.“ „Also kann man das Heiraten gleich lassen“, meinte Schröder. „Wieso?“ sagte Ebner. „Wollen Sie auf eine wesentliche Erfahrung verzichten?“ „Wenn man Sie so sprechen hört, vergeht einem die Lust.“ „Unsinn. Habe ich gesagt, wir könnten ohne Frauen leben?“ „Nein, aber …“ „Kein Aber“, schnitt ihm Ebner das Wort ab. „Wir können ohne Frauen nicht leben. Sie sind stärker als wir. Genaugenommen sind sie das Leben und wir lediglich eine Zutat. In ihnen steckt ein ungeheurer Veränderungswille. Leider verschwenden sie ihn in der übergroßen Mehrzahl darauf, den Angetrauten zu verändern. Glauben Sie mir, es gibt kaum eine Frau, die nicht mit der Absicht in die Ehe geht, ihrem Mann dies und jenes abzugewöhnen. Ein alberner Kleinkrieg, in dem sie sich sinnlos verplempern, wie wir Sachsen zu sagen pflegen.“ „Vielleicht rächen Sie sich damit an der Männerherrschaft.“ „Und ob“, stimmte Ebner zu, „eine zwar kleinliche, aber recht wirkungsvolle Rache. Oder sagen wir besser, es ist ihre Art, sich an der Macht zu beteiligen. Die Geschichtsschreibung hat sich damit noch kaum beschäftigt. In den Mythen der alten Griechen können Sie allerdings so ziemlich alles darüber nachlesen. Ich würde die Sagen des Olymp zur Pflichtlektüre jedes angehenden Kriminalisten machen.“ 93
„Wieso das?“ „Ganz einfach“, sagte Ebner, „weil von hundert Delikten neunundneunzig in irgendeinem Zusammenhang mit einer Frau stehen.“ „Im Westen würden Sie von den Frauen ein Macho genannt werden.“ „Quatsch“, sagte Ebner, „ich behaupte doch nicht, die Frauen bildeten eine Mafia und stifteten die Männer zu Verbrechen an. Meine Erfahrung hat mich indessen gelehrt, sich im Umfeld eines Deliktes besonders eingehend mit den darin auftauchenden Frauen zu beschäftigen, will man möglichst rasch hinter das Motiv kommen. Ich muß Ihnen hoffentlich nicht erst sagen, daß Sie mit einem brauchbaren Motiv der Aufklärung einer Tat ein gutes Stück näher sind als ohne.“ „Ich komme Ihnen wahrscheinlich sehr unerfahren vor“, sagte Schröder. „Das wird sich gleich herausstellen“, antwortete Ebner. „Unser Fall liegt also folgendermaßen: In der zweiten Nachthälfte, kurz nach drei Uhr, wurde auf der Hellerauer Straße ein fünfunddreißigjähriger Mann namens Werner Dietze gefunden. Zirka zwei Meter von ihm entfernt lag ein Moped. Der erste Anschein deutete darauf hin, daß der Mann mit dem Moped durch eine kleine Öllache gefahren und ins Rutschen gekommen ist. Merkwürdigerweise hat er beim Durchfahren plötzlich gebremst. Die Bremsspur weist eine Geschwindigkeit von ungefähr dreißig Stundenkilometern aus. Nach Meinung des Verkehrspolizisten von der Unfallbereitschaft fährt niemand so langsam, wenn er glatte und freie Straße vor sich hat. Die Straße nach Hellerau hat an der Stelle einen einwandfreien Asphaltbelag und dürfte in der zweiten Nachthälfte tatsächlich nur sehr selten befahren werden. Die Straße wird auf beiden Seiten von Kiefernwald besäumt. Mickrige, armselige, verstaubte graue Kiefern, und doch wohl Wald. Ein Stück 94
der Dresdner Heide, von der ohnehin nicht mehr viel übrig ist. Woher stammen Sie eigentlich?“ „Aus Neustrelitz.“ „Ein Nachkomme von Dorchläuchting also. Na, da wird Ihnen der hiesige Sandboden nicht zusagen.“ „Die Wälder um Neustrelitz sind auch nicht besonders.“ „Wir hatten mal herrliche Pilzwälder. Zwischen Ottendorf-Okrilla und Königsbrück. Ist nicht viel davon übrig. In der ersten Zeit nach dem Krieg waren die Pilze und vor allem die Heidelbeeren eine verdammt wichtige Sache für uns.“ Der Praktikant rutschte unruhig auf dem Stuhl umher. Ebner sah es und meinte: „Ich weiß, ich weiß, ich bin heute nicht in Form. Ein bißchen lustlos. Der Tee will auch nicht so richtig greifen. Na ja, hilft nichts, wir müssen. Wo war ich stehengeblieben? Bei den Kiefern. Der Mann ist übrigens auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben. Der Obduktionsbefund wird auf sich warten lassen. Die Herren in der Gerichtsmedizin machen zum größten Teil Urlaub. Der Mann weist nach erster Untersuchung eine Platzwunde am Kopf auf, die von einem harten, aber nicht kantigen Gegenstand herrührt. Dazu ein leichter Bluterguß am Kinn. Das Moped erwies sich bei erster Überprüfung als intakt und einwandfrei funktionierend. Der Mann stand nicht unter Alkoholeinfluß. Die Befragung der Frau des Verunglückten ergab folgendes: Dietze hatte sich gestern abend auf den Weg gemacht, eine Autobatterie für seinen LADA zu beschaffen.“ „Am Abend?“ fragte Schröder erstaunt. „Ganz recht, am Abend. Es war für ihn der letztmögliche Zeitpunkt, denn das Ehepaar wollte am frühen Morgen mit besagtem LADA nach Ungarn in den Urlaub fahren. Nur wollte die Batterie mit einemmal nicht mehr. Der Handel meldete Fehlanzeige. Dietze wußte 95
nicht, was tun, und verfiel auf die Idee, aus einem anderen, einem fremden LADA die Batterie auszubauen.“ „Ist ja sagenhaft, worauf die Leute so kommen!“ „Seine Frau nennt ihn einen unpraktischen Menschen. Vielleicht wollte er ihr beweisen, daß er das nicht ist. Ich weiß es nicht. Jedenfalls dürfte er irgendwo versucht haben, aus einem LADA eine Batterie auszubauen. Ein LADA deshalb, weil er sich nur bei diesem Wagentyp mit der Entriegelung der Motorhaube von außen auskennt, wie die Frau weiter mitteilte.“ „Und wie geht das vor sich?“ fragte Schröder. „Sie hat es mir erklärt, und unser Fahrer hat es bestätigt“, antwortete Ebner, „es ist tatsächlich nicht schwierig und auch von einem unpraktischen Menschen ohne große Mühe zu bewerkstelligen. Man steckt einen Schraubenzieher durch die Luftschlitze an der Oberkante der Motorhaube und drückt damit seitlich gegen den Verriegelungshebel. Das ist alles. Allerdings wissen wir nicht, ob Dietze überhaupt dazu gekommen ist, einen solchen Versuch zu starten. Die Geschichte klingt ziemlich nebulös, denn der Clou kommt erst noch: Dietze besitzt überhaupt kein Moped. Er hat sich mit einem nagelneuen, extra für den Urlaub gekauften rot-weißen Klappfahrrad auf den Weg gemacht. Tja, das wär’s wohl. Ich glaube, ich habe nichts vergessen. Nun sind Sie an der Reihe.“ Schröder antwortete nicht gleich. Ebner gefiel das, denn die wie aus der Pistole geschossenen Mutmaßungen waren meist nichts wert. Er lehnte sich wieder im Stuhl zurück und wartete geduldig auf die Meinung des Praktikanten. „Demnach müßte irgendwo ein Moped fehlen“, sagte Schröder. „Das müßte es. Hoffen wir auf den baldigen Eingang einer entsprechenden Anzeige. Mopeds und vor allem Fahrräder sind schöne Erfindungen, aber finden lassen 96
sie sich meist nur mit größter Mühe. Zu viele von ihnen werden entwendet. Vor allem in den Sommermonaten. Die unbefugte Nutzung eines Mopeds oder Fahrrades ist in den Augen vor allem junger Leute zu einer Art Kavaliersdelikt geworden, was heißen will, sie sehen darin keinen wirklichen kriminellen Akt, keinen tatsächlichen Diebstahl, denn sie behalten das Zweirad ja nicht auf Dauer, sondern benutzen es eben nur mal. Ein selbstverständlicher Ausleihdienst. Wenn der Tank leer ist, stellen sie es irgendwo ab, und in der Regel kann es dem Besitzer wieder zugeführt werden. Nur für unsere Jungens in den Streifenwagen ist es ein Ding der Unmöglichkeit, beispielsweise jeden Benutzer eines rot-weißen Klappfahrrades anzuhalten und die Nummer des Rahmens zu überprüfen. Bei dem gefundenen Moped sieht die Sache ein ganz klein wenig hoffnungsvoller aus, falls Dietze es entwendet hat. Genausogut kann er es sich von einem guten Freund geliehen haben. Wir wissen es nicht. Wie wir ja auch nur annehmen, daß er dieses Moped benutzt hat.“ „Es gibt demnach keinen Beweis dafür, daß er es war, der mit dem Moped in Richtung Hellerau gefahren ist?“ „Ganz recht“, sagte Ebner, „wir haben lediglich einen Mann von der Straße aufgelesen, neben dem ein Moped lag. Vielleicht hilft uns die Spurensicherung in dem Punkt weiter, vielleicht auch nicht.“ „Was wollte der Mann in Hellerau?“ „Das wüßte ich auch gar zu gern.“ „Hat er dort Bekannte?“ „Frau Dietze weiß von keinen Bekannten in Hellerau.“ „Vielleicht hat er dort eine Freundin?“ „Möglich wäre das“, sagte Ebner. „Nur frage ich mich, was will er in der Nacht vor dem Urlaub noch bei seiner Freundin. Er hat eine lange, anstrengende Autofahrt vor sich, und außerdem fehlte ihm ja noch die dazu nötige Autobatterie.“ 97
„Tja“, sagte Schröder, „mehr Fragen fallen mir zu der Geschichte nicht ein. Hat Frau Dietze für die Nacht ein Alibi?“ „Nein“, erwiderte Ebner. „Hätte sie eins, würde sie sich verdächtig gemacht haben.“ „Wieso?“ „Leute mit einem einwandfreien Alibi sind in meinen Augen immer verdächtig. Im allgemeinen achtet man nämlich nicht darauf, ob und wie man seine Anwesenheit und Nichtanwesenheit an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit nachweisen kann. Es würde das Leben ein wenig zu anstrengend gestalten, mein Lieber. Und wenn eine Frau darauf wartet, daß ihr Mann mit einer Autobatterie aus der Stadt zurückkommt, dann geht sie nicht extra auf der Straße auf und ab, um gesehen zu werden, weil sie nicht damit rechnet, ihn in Kürze als Leichnam identifizieren zu müssen.“ „Und sie kann ihn nicht umgebracht haben?“ „Doch“, sagte Ebner, „sie kann.“ „Haben Sie Gründe, die für diese Annahme sprechen?“ „Jede Frau hat dafür einen Grund.“ „Und umgekehrt?“ „Wie umgekehrt? Ach, Sie meinen, ob nicht auch jeder Mann dafür Gründe hätte? Irgendwann schon. Zwei Menschen können sich derart auf die Nerven fallen, daß sie, ohne auch nur mit einer Wimper zu zucken, sich an den Hals gehen.“ „Dann muß man es ja für ein Wunder ansehen, daß nicht viel mehr Morde geschehen.“ „Ein Wunder?“ sagte Ebner. „Ich weiß nicht, ich glaube vielmehr, der Wunsch, den anderen zu töten, währt nicht sehr lange. Er blitzt in uns auf und erlischt im gleichen Augenblick, denn selten ist es ein tiefgehender Wunsch, eine anhaltende Absicht. Meist erwächst er aus einem Gefühl der Ohnmacht, sich dem anderen verständlich zu machen. Man ist verzweifelt darüber, gera98
de von dem Menschen so unerhört mißverstanden zu werden, den man liebt. Handelte es sich dabei um einen, der einem gleichgültig ist, geriete man darüber kaum in Wut. Selbst Schizophrene richten ihre Aggressivitäten fast ausschließlich gegen Menschen, zu denen sie eine tiefe Zuneigung empfinden. Der Mechanismus funktioniert also sogar noch bei gespaltenem Bewußtsein. Die Liebe und der Haß sind ein munteres Pärchen, mein lieber Schröder, es hat den Kriminalisten aller Zeiten zu einer Menge aufregender Fälle verholfen. Von der vielzitierten Eifersucht habe ich in dem Zusammenhang gar nicht gesprochen, das wäre ein Thema, das uns über Wochen Stoff bieten könnte. Ich halte nämlich die Eifersucht für die schlimmste Krankheit, die uns Menschen befallen kann. Ja, in meinen Augen handelt es sich dabei um eine Krankheit. Sie reißt alle zivilisatorische Tünche herunter, jegliche Kultur, fegt alle Normen menschlichen Zusammenlebens zur Seite und läßt den von ihr Befallenen in seinen tierischen Urzustand zurückfallen. Nur, daß er eben dank seiner Vernunft in der Lage ist, die Umwelt über seine Absichten und Aktionen zu täuschen. Ein weites Feld, wie schon gesagt.“ „Ich sehe schon“, sagte Schröder, „nach diesem Praktikum werde ich für die Ehe nicht mehr brauchbar sein.“ Ebner lachte. „Seien Sie in dem Punkt ohne Sorge“, sagte er, „wir Menschen sind so beschaffen, daß wir um die Liebe nicht herumkommen. Und die Frauen wiederum sind zusätzlich so beschaffen, daß sie uns noch allemal von den Schönheiten eines dauernden Zusammenlebens überzeugen können. Außerdem muß es einem Ehemann ja nicht schaden, über bestimmte Mechanismen der Ehe Bescheid zu wissen.“ „Hm“, sagte Schröder, „ich lasse mich überraschen. Vorläufig kann ich mich für Ihre Theorie, nach der alle Ehepaare mit dem Hackebeilchen in der Tasche herumlaufen, noch nicht recht erwärmen.“ 99
„Müssen Sie auch nicht.“ „Also werde ich jetzt erst einmal feststellen, ob eine Anzeige wegen des Mopeds vorliegt.“ „Ja“, sagte Ebner, „das ist das Nächstliegende. Wir suchen ein gelbes Moped vom Typ ‚Schwalbe‘. Die Fahrgestell-Nummer habe ich Ihnen auf den Zettel geschrieben.“ „Ich muß noch einmal auf die Geschichte mit dem Öffnen der Motorhaube zurückkommen. Wenn man mit einem Schraubenzieher gegen den Verriegelungshebel drückt, muß das nicht auf dem Lack Spuren hinterlassen?“ „Möglicherweise“, sagte Ebner. „Es sei denn, man umwickelt den Schraubenzieher mit einem Lappen.“ „Das hätte Dietze nicht nötig gehabt, denn die Spuren mußten ihn ja nicht stören.“ „Stimmt.“ „Demnach müßte der Besitzer des PKW, bei dem Dietze eventuell den Versuch gestartet hat – falls er einen Versuch gestartet hat –, merken, daß sich jemand an seinem Auto zu schaffen gemacht hat.“ „Anzunehmen, zumal hierzulande die Autos mitunter besser gepflegt werden als der eigene Körper. Nur glaube ich kaum, daß jemand deswegen der Polizei Meldung macht.“ „Aber vielleicht der Versicherung?“ „Vielleicht“, sagte Ebner, „obwohl es sich doch nur um eine Lappalie handelt.“ „Manche Leute lassen sich auch noch den winzigsten Schaden von der Versicherung erstatten.“ „Da haben Sie allerdings recht. Und wenn er den Kratzer zusätzlich verstärkt und noch ein paar hinzufügt, kann er sogar eine Teillackierung verlangen.“ „Das dachte ich auch.“ „Womit Sie sich einen Haufen Rennerei aufgehalst hätten“, meinte Ebner, „denn Sie werden wohl alle Ver100
sicherungsfilialen der einzelnen Stadtbezirke abklappern müssen.“ „Zum Glück gibt es Telefon“, sagte Schröder. „Wir haben Urlaubszeit“, entgegnete Ebner, „die hohe Zeit der Vertretungen. Sie werden von einem Urlaubsvertreter zum anderen verwiesen werden, und am Ende wird man Sie auf den Tag vertrösten, wo der wirklich Zuständige aus dem Urlaub zurückkehrt. Viel Spaß.“ „Danke“, sagte Schröder und ging aus dem Zimmer.
9 Manfred Berger erwachte und fühlte sich fremd. Er war nur mit einer Decke zugedeckt und hatte lediglich das Jackett abgelegt und die Schuhe ausgezogen. Er wußte nicht gleich, wo er sich befand. Auf gar keinen Fall hatte er diese Nacht im ehelichen Schlafzimmer in Dresden zugebracht. Darüber belehrte ihn der erste Blick. Er lag auf einer Couch in einem Zimmer, dessen Wände rundum mit Regalen zugestellt waren, auf denen eine Unmenge Bücher stand. Unglaublich, daß jemand in seiner Wohnung derart viele Bücher aufbewahrte. Sie alle zu lesen reichte ein ganzes Leben nicht. Am Fenster war mit Mühe und Not ein Schreibtisch zwischen die Regale gezwängt worden, auf dem eine Schreibmaschine stand. Entweder lag er im Zimmer seines Bruders oder, was wahrscheinlicher war, im Zimmer von Martins Frau. Obwohl es ganz und gar nicht wie das Zimmer einer Frau ausschaute. Außer der Couch und dem Schreibtisch nichts als Bücher. Nur, fragte er sich, was macht eine mit so viel Büchern? Wie kann sie mit dem Lesen von Büchern ihr Geld verdienen? Ich schlafe beim Lesen nach spätestens einer Seite ein, wenn es sich nicht gerade um einen beson101
ders spannenden Krimi handelt, und Marion – Frau Doktor Marion – frißt Tag für Tag haufenweise bedrucktes Papier in sich hinein – gegen Geld. Die Vorhänge vor dem Fenster waren noch zugezogen, und doch war zu erkennen, daß es draußen bereits hellichter Tag sein mußte. Das Sonnenlicht schimmerte vielversprechend durch die Vorhänge. Berger blickte auf die Armbanduhr. Viertel nach zehn. Die Verblüffung über den vorgeschrittenen Tag ließ ihn sich ruckartig aufsetzen und brachte ihm zugleich auch das Geschehen der vergangenen Nacht ins Bewußtsein zurück. Und der Gedanke an seine verfahrene Situation ließ ihn wieder zurücksinken. Wie weiter? überlegte er angestrengt. Die Rechnung, die er während der Fahrt auf der Autobahn gemacht hatte, war nicht aufgegangen. Er lag zwar auf einer Couch im Haus seines Bruders, aber sein Bruder war nicht im Haus. Und auf ihn kam es an. Auf ihn allein. Er sollte das Alibi erbringen. Statt seiner hatte er es nun mit einer stockfremden Frau zu tun. Er vermochte sich nur ungenau an sie zu erinnern. Er war zu müde gewesen, zu geschafft. Hatte sie ihm nicht einen Kaffee kochen wollen? Wie war er überhaupt in dieses Zimmer, wie auf diese Couch geraten? Es war ihm nicht klar, er vermochte sich nicht zu entsinnen. Sie mußte ihm geholfen haben. Ein eigenartiges Gefühl, von einer fremden Frau zu Bett gebracht worden zu sein. Einigemale, im Verlaufe ihrer Ehe, hatte ihn auch Gerda ins Bett bugsieren müssen, wenn er nämlich zuviel getrunken hatte, aber erstens kam das selten vor, und dann ist es etwas gänzlich anderes, wenn es die eigene Frau macht. Übel kann sie jedenfalls nicht ausgesehen haben, die Unbekannte, das wüßte er. Das hätte er sich gemerkt. Wenn es eine unansehnliche kleine graue Maus gewesen wäre, hätte er das trotz seiner Müdigkeit mitbekommen. Was wird sie machen? Lauscht sie vielleicht an der Tür, um zu hören, ob er endlich wach ist? 102
Viertel nach zehn! So lange war er noch nie im Bett liegengeblieben. Nicht einmal am Sonntag hielt es ihn so lange in der Falle. Obwohl er neugierig auf die unbekannte Frau war und am liebsten auf der Stelle nach draußen gegangen wäre, um sie sich bei Tage anzuschauen, blieb er noch liegen. Bevor er ihr erneut gegenübertrat, mußte er sich erst über sein weiteres Vorgehen im klaren sein. Er war schließlich kein Urlauber, kein Mann auf einer Vergnügungsfahrt. Er hatte einen Menschen getötet. Nein, getötet nicht. Niemals würde er einen Menschen töten können. Nie im Leben. Der Mann war unglücklich gefallen. Manfred Berger ist kein Totschläger, verdammt. Und doch. Er hatte einen Mann geschlagen, und als er merkte, daß der Mann nicht mehr am Leben war, hat er ihn in den Kofferraum seines LADA gepackt und ihn abgefahren. Einfach abgefahren. Wie Müll! War ich das wirklich? fragte er sich. Es war ihm mit einemmal unvorstellbar, daß er so etwas getan haben könnte. Nicht zu glauben. Und wenn ich die Geschichte dieser Frau erzähle, die irgendwo im Hause darauf wartet, daß ich aufstehe, dann glaubt sie mir ebensowenig. Außerdem: Was wäre gewonnen, wenn sie mir glaubte? Ich kann sie doch unmöglich bitten, mir ein Alibi zu liefern. Sie macht sich strafbar. Weshalb sollte sie sich meinetwegen strafbar machen? Liegt doch überhaupt kein Grund vor. Und wenn ich ihr nichts davon erzähle, was sich heute nacht abgespielt hat? Wenn ich irgendeine Ausrede erfinde? Und welche? Schließlich brauche ich jemanden, der bezeugt, daß ich bereits gestern abend oder wenigstens in der ersten Nachthälfte hier in Berlin eingetrudelt bin. Bin ich aber nicht. Eine Autopanne unterwegs? Ist nicht das Maximale. Immerhin wäre es eine Möglichkeit. Es müßte ein Defekt sein, der nicht ohne weiteres in Ordnung zu bringen war. Zugleich müßte es aber auch eine Reparatur sein, die ich allein, 103
ohne fremde Hilfe, ohne Werkstatt habe ausführen können. Kompliziert. Zeitraubend. Und doch allein zu bewerkstelligen. Was fällt mir dazu ein? Gerissener Keilriemen, Reifenpanne und solche Lappalien kann ich streichen. Derartige Geschichten erklären niemals die vielen Stunden, die ich unterwegs gewesen sein muß. Tank leer und keinen Reservekanister im Kofferraum? Und wer hat mir am Ende Benzin gegeben? Den müßte ich ja nicht kennen. Irgendein Autofahrer hat angehalten und mir mit Sprit ausgeholfen. Viel Autos sind ohnehin nachts nicht unterwegs. Die wenigsten halten an. Und die, die anhalten, haben nicht unbedingt einen gefüllten Reservekanister im Auto. Da können schon allerhand Stunden zusammenkommen. Ich habe ja selber gesehen, wie der arme Kerl mit seinem Trabi warten mußte. Stand noch da, als ich zum zweiten Mal Richtung Berlin fuhr. Wieso hatte ich aber kein Benzin im Tank? Benzinuhr kaputt? Bißchen unwahrscheinlich. So etwas sieht man doch an der Benzinuhr. Als Trabifahrer, der ich vor kurzem noch war, muß ich das nicht unbedingt sehen. Trotzdem, überzeugend klingt es nicht. Ein Leck im Tank? Das müßte ich nachträglich hineinfabrizieren. Mit einem Dorn ein Loch in das Tankblech schlagen. Es dürfte nicht zu groß sein. Nur der Spritverbrauch müßte weit über das normale Maß ansteigen. Machen ließe sich so etwas. Oder die Benzinzuleitung zum Vergaser ist nicht völlig dicht gewesen? Nach Freienhufen gibt es auf der Autobahn Richtung Berlin keine weitere Tankstelle. Also blieb mir nichts übrig, als so lange zu warten, bis mir einer mit Benzin aushalf. Und gereicht hat es dann wieder nicht, weil der nur fünf Liter dabei hatte. Wer denkt denn schon, daß bei einem neuen Auto der Benzintank leck ist? Auf die Idee kommt doch so schnell niemand. Habe ich also wieder gestanden und wieder gewartet. Inzwischen war es noch später geworden, und es ka104
men noch seltener Autos. Schließlich half mir noch mal einer mit Sprit aus. Beim zweiten Mal Tank auffüllen habe ich dann das Leck entdeckt. Bin mit der Taschenlampe unters Auto und habe gesehen, wie das Benzin rauströpfelte. Natürlich habe ich mir zu helfen gewußt. Ich bin ein praktischer Mensch. Gewußt wo, ist schon die halbe Miete. Streichholz in das Loch gesteckt, und der Schaden war erst einmal behoben. Holz quillt und dichtet nach einiger Zeit zuverlässig ab. Uralter Trick! In unserer früheren Wohnung, wo wir noch einen Badeofen im Bad zu stehen hatten, habe ich das oft genug machen müssen. Immer wenn der Mantel zu rosten begann, und weil es ewig dauerte, bis man einen neuen Badeofen bekam. Badeöfen waren Mangelware. Manchmal sah der Ofen aus wie ein Stachelschwein. Rundum gespickt mit Streichhölzern, aber er blieb dicht. Einigermaßen. Wenn ich die Geschichte von dem Badeofen erzähle, glaubt man mir auch die Geschichte mit dem Benzintank. Nur hat er im Augenblick noch kein Loch. Nirgendwo im Tankblech steckt ein Streichholz. Frauen sind neugierig. Erzähle ich dieser Frau da draußen die Story, wird sie mit mir zum Auto kommen und sich bücken und sich den Trick mit dem Streichholz ansehen wollen. Muß ich ihr nicht gestatten. Nicht dran rühren, werde ich sagen, sonst fängt es womöglich wieder zu tröpfeln an. Ich muß eine Werkstatt finden, die mir das Leck schweißt. Ist ja ein Klacks, so ein winziges Loch zu schweißen. Nur das Benzin muß vorher abgelassen werden, und die Benzindämpfe müssen abziehen, sonst geht mein LADA noch in Flammen auf. Ich weiß nicht, wie lange man warten muß. Sicher läßt sich da mit Druckluft nachhelfen. Ob seines Einfalles erleichtert, schob Berger die Decke zurück und erhob sich. Er ging zum Fenster und zog die Vorhänge beiseite. Ein wunderschöner Sommertag begrüßte ihn. Ein Tag, um Urlaub zu machen. Ein Tag, 105
um an einen See zu fahren und zu baden. Ein Tag für Sonnenanbeter. Berger wollte seinen Augen nicht trauen. Das gibt’s nicht, entfuhr es ihm. Der gepflegte Rasen am Haus wurde durch eine fast mannshohe und dichte Buchenhecke vor neugierigen Blicken geschützt, und diese Tatsache mußte die Unbekannte ermutigt haben, sich ohne auch nur die geringste Hülle in einen Liegestuhl zu packen und bräunen zu lassen. Berger trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Er wollte von ihr nicht für einen Spanner gehalten werden, nicht für jemand, der heimlich nackte Frauen belauscht und sich dabei einen runterholt. Doch wendete er deswegen seinen Blick nicht von ihr ab. Und während er sie betrachtete, überlegte er, weshalb sie sich ausgerechnet in die Blickrichtung des Fensters gelegt hatte, von dem er beim Aufstehen die Vorhänge zurückziehen würde. Störte sie es nicht, von ihm gesehen zu werden, oder wollte sie sogar von ihm gesehen werden? Eine schwer zu beantwortende Frage. Fest stand nur, daß sie sich ihres Körpers nicht zu schämen brauchte. O nein, diese Frau brauchte sich nicht zu verbergen, die nicht! Daß ihm das nicht schon bei der Begrüßung aufgefallen war. Langbeinig, nicht dick, aber auch nicht zu mager. Die Brüste hätten vielleicht um eine Spur fülliger sein können, auch etwas straffer, aber dazu war sie wahrscheinlich nicht mehr jung genug. Offenbar hatte sie auch schon Kinder zur Welt gebracht, die leichten Narben auf der Bauchdecke, die selbst die Sonnenbräune nicht gänzlich verdecken konnte, sprachen für diese Annahme. Und sie hatte unwahrscheinlich langes, dunkelbraunes Haar. Die Augen hielt sie geschlossen. Auf der Nase – und das war die einzige Hülle – lag ein grünes Blatt gegen Sonnenbrand. Berger konnte und konnte sich nicht abwenden. Noch nie im Leben war es ihm vergönnt gewesen, eine derart schöne Frau so gemächlich, so in aller Ruhe anschauen zu dürfen. Ihn überkam ein eigenartiges Ge106
fühl. Er glaubte sich in eine völlig unwirkliche Geschichte versetzt. In ein Märchen oder noch eher in einen Film. Zu diesem Gefühl trugen neben der sonnenbadenden Frau das Unwirkliche des Geschehens der vergangenen Nacht, das Aufwachen in dem fremden, mit Büchern vollgestopften Zimmer und die idyllische Lage des Hauses am Rande der großen Stadt Berlin bei. Und das muß mir ausgerechnet in einem Augenblick passieren, wo ich metertief in der Patsche stecke. Allein sein in einem Hause mit einer fremden Frau, die offensichtlich nicht zu den schüchternen gehört, denn sonst läge sie schließlich nicht so ohne alles hier in der Sonne. Daß er irgendwann aufstehen und sie suchen würde, konnte sie sich schließlich an den fünf Fingern abzählen. Bestimmt wollte sie von ihm so vorgefunden werden, schoß es ihm durch den Kopf. Sie hat Urlaub, fühlt sich ausgeruht und hat keinen Mann dabei. Klare Sache! Mensch, Berger, mach was draus! Nie wieder bekommst du das geboten. Nie wieder! Manch einer erlebt so etwas nie. Träumt ewig davon, hat aber nie das Gefühl, seinen Traum zu erleben. Was willst du mit dem Tag Besseres anfangen? Eine Werkstatt suchen, die Wochenenddienst hat und das Loch im Tank deines LADA schweißt, kannst du auch morgen. Und Gerda? Sie muß davon nichts erfahren. Das läßt sich machen. In jeder Ehe läßt sich das machen. Es gibt bestimmt keine Ehe, wo so etwas nicht vorgekommen wäre. Nun, da er einen Plan hatte, ging er zur Couch und legte die Schlafdecke zusammen. Noch brauchte er Zeit, um sich schlüssig zu werden, wie er denn der Unbekannten gegenübertreten wollte. Es schien ihm unmöglich, einfach das Fenster zu öffnen und ihr einen guten Morgen zu wünschen. Die Begegnung mußte seiner Ansicht nach zufälliger aussehen. Er mußte sich irgendwie bemerkbar machen, damit sie Gelegenheit hatte, sich den Bademantel, der neben ihr im Grase lag, überzuwer107
fen. Außerdem fühlte er sich schmuddelig nach der Nacht, die er unausgekleidet auf der Couch zugebracht hatte. Unrasiert war er zusätzlich. Auf dem Weg ins Bad mußte er durch das Wohnzimmer und erblickte einen noch unangerührten, für zwei Personen gedeckten Frühstückstisch. Sie wartete sogar mit dem Frühstück auf ihn. Und sie hatte sich Mühe gegeben, den Tisch festlich zu gestalten. In der Mitte stand eine Vase mit drei Rosen; zwei rote und eine weiße. Neben jedem Gedeck lag eine Serviette. Der Aufwand gefiel ihm. Zugleich machte er ihn aber unsicher. Weiß der Teufel, wie man sich an so einem Frühstückstisch benehmen muß, dachte er. Vielleicht schnappe ich mir doch lieber meine Jacke, steige ins Auto und mache mich dünn. Soll sie von mir denken, was sie will! Neben der Frau blamiere ich mich doch. Wie die aussieht, hat die’s mit ganz anderen Männern zu tun. Sicher auch eine Studierte wie Martins Frau und sicher genauso unnahbar. Selbst wenn sie sich zehnmal nackt in den Garten legt, besagt das noch gar nichts. Sie pflegt einfach nur ihren kostbaren Körper und verschwendet nicht den kleinsten Gedanken an einen Mann wie dich. Manfred Berger, du existierst für sie überhaupt nicht, deshalb zieht sie sich splitternackt aus. Du bist Luft. Dann hätte sie aber nicht den Frühstückstisch decken und auch noch mit dem Frühstück auf dich warten müssen. Hätte sie wahrhaftig nicht nötig gehabt. Und plötzlich stand sie in der geöffneten Verandatür. Sie hatte den Bademantel über den Arm gelegt und lächelte ihm freundlich zu. Sie entschuldigte sich nicht wegen ihrer Nacktheit, kokettierte aber auch nicht damit. Sie stand da, als wäre es für sie die selbstverständlichste Sache der Welt, einem fremden Manne nackt gegenüberzutreten. „Guten Morgen“, sagte sie. „Schön, daß Sie wach sind. 108
Länger hätte ich mit dem Frühstück nun wirklich nicht warten können. Ich habe einen Bärenhunger.“ „Das war auch nicht nötig“, sagte Berger. „Frühstück zu zweit ist schöner“, erwiderte sie. „Ich bin nun schon eine reichliche Woche allein hier, da freut man sich, wenn plötzlich jemand ins Haus geschneit kommt.“ „Ich muß aber erst noch ins Bad“, sagte Berger. „Ich brühe inzwischen Kaffee. Oder möchten Sie lieber Tee?“ „Nein, ich trinke Kaffee.“ „Und wie lange soll das Ei kochen?“ „Wie meinen Sie das?“ „Die Geschmäcker sind verschieden“, sagte sie. „Drei Minuten? Vier? Oder fünf?“ „Ach, das ist mir egal.“ „Also einigen wir uns auf vier Minuten.“ Berger nickte und ging ins Bad. Es war wesentlich geräumiger als die „Naßzelle“ in seiner Dresdner Neubauwohnung. Obwohl er es von früheren Besuchen bei Martin bereits kannte, beeindruckte es ihn immer aufs neue. Mit einem verlegenen Grinsen schaute er auch diesmal zum Bidet, dessen Funktion er sich erst von Martin hatte erklären lassen müssen. Ursprünglich war er der Meinung gewesen, es sei für das bequeme Waschen der Füße bestimmt. Rasch zog er sich aus und warf seinem Konterfei in dem mannshohen Spiegel, der gegenüber der Dusche angebracht war, einen kritisch prüfenden Blick zu. Kopfschüttelnd gedachte er an die Frau, die jetzt in der Küche den Kaffee für das gemeinsame Frühstück brühte. Das gibt es nicht, sagte er sich, das kann ich auch keinem aus der Abteilung erzählen. Das nimmt mir wieder keiner ab. Seit gestern abend erlebe ich nur noch Geschichten, die mir keiner abnimmt. Tritt splitterfasernackt ins Zimmer und redet mit mir, als wäre nichts. 109
Fragt lediglich, ob ich ein weichgekochtes Frühstücksei haben möchte! Und wenn ich es mir recht überlege, ist ja auch nichts dabei. Man ist es nur nicht gewohnt. Ich bin doch kein kleiner Junge, der nicht wüßte, wie eine Frau ausschaut, wenn sie ihre Klamotten ablegt. Ist doch genaugenommen das Normalste von der Welt. Wieso laufen wir eigentlich im Sommer nicht nackend durch die Wohnung? Gerdas Gesicht möchte ich sehen, wenn ich anfange, ohne alles herumzulaufen! Er stellte sich unter die Dusche und prustete. Er fühlte sich unerwartet gut, und es machte sich in ihm die Überzeugung breit, die ganze verdammte Geschichte mit dem Mann, der da plötzlich aus den Latschen gekippt war, wäre bereits aus und vorbei. Strich drunter! Von Schuld konnte keine Rede sein. Das Leben ging weiter. Und heute würde es sicher besonders gut weitergehen. Denn ganz gleich, wie sich sein Verhältnis zu der Unbekannten entwickelte, er fühlte sich in ihrer Gegenwart wohl. Schon bei seiner Ankunft war das Gefühl dagewesen, nur hatte er es sich nicht klarmachen können, abgekämpft, wie er war. Aber seit sie ihm da vorhin so selbstverständlich gegenübergetreten war, wußte er, daß sie eine Freundliche war. Und er wußte auch, daß er sich in ihrer Nähe wegen seines Benehmens nicht würde sorgen müssen. In einem der vielen Schränkchen, mit denen die Wände des Bades vollgehängt waren, fand er zu seiner Freude auch einen Rasierapparat. Sorgfältig, wie sonst nie, schabte er sich den Bart. Schließlich bediente er sich ausgiebig mit Martins Rasierwasser und Eau de Cologne. Er war schon im Ankleiden begriffen, als ihm einfiel, daß er ja unmöglich komplett mit Anzug zum Frühstück kommen konnte, während sie ihm vielleicht nackt oder nur im Bademantel gegenüberstand. Nachdenklich kratzte er sich den Kopf. Das war nun tatsächlich kein ganz einfach zu lösendes Problem, denn 110
wenn er sich beispielsweise überwinden und gleichfalls nackt nach draußen kommen würde, hatte sie sich vielleicht indessen ein Kleid übergezogen, und er wäre der Gelackmeierte. Berger, Berger, sagte er sich, du hast keine Erfahrung. Du hast überhaupt gar nichts erlebt bisher. Nicht die Bohne. Ein braver und treuer Ehemann, mehr bist du nicht. Und das ist nicht viel, verdammt. Wenn wenigstens Martins Bademantel hier hängen würde. Er entschied sich zunächst für einen Kompromiß und ging barfuß, aber in Hose und Hemd, nach draußen. Das Hemd hatte er sich übergezogen, ohne es zuzuknöpfen und in den Hosenbund zu stecken. Für einen Test schien ihm das die geeignete Aufmachung. Dumm kann der Mensch sein, aber zu helfen muß er sich wissen! zitierte er beim Hinausgehen in Gedanken den Leitspruch seines Vaters. Auf dem Frühstückstisch standen jetzt zusätzlich zwei Frühstückseier, die Kaffeekanne und ein Körbchen mit Toast. Die Unbekannte lehnte an der Tür und schaute nach draußen. Sie drehte sich zu ihm um. „Ich bin gleich soweit“, sagte Berger und wollte in das Zimmer, in dem er geschlafen hatte. Es gab keinen Anlaß, aber nun mußte er sich wohl oder übel gleichfalls im Adamskostüm an den Tisch setzen, denn sie war noch immer so nackt wie vorhin. Und noch immer so schön. „Ich weiß gar nicht, ob es Ihnen angenehm ist“, fragte sie, „wenn ich hier so nackend herumlaufe. Mir ist erst in der Küche eingefallen, daß ich Ihnen allerhand zugemutet habe mit meinem Anblick. Sie müssen wissen, ich denke mir nichts dabei, weil ich meist so umherlaufe. Um ein Haar hätte ich mich vor zwei Tagen in einem öffentlichen Bad hier in Berlin nackt ausgezogen. Den BH hatte ich schon abgelegt, als mir plötzlich einfiel, daß ich ja nicht am FKK bin. Ich denke mir wirklich nichts dabei.“ 111
„Ist doch ganz normal“, sagte Berger. „Bleiben Sie ruhig so, wie Sie sind.“ „Danke“, sagte sie und setzte sich an den Frühstückstisch. Berger ging aus dem Wohnzimmer und war sich immer noch nicht im klaren, wie er es mit der Bekleidungsordnung halten sollte. Er war noch nie am FKK gewesen, und er war sich nicht sicher, wie sein Körper auf den Anblick einer nackten Frau reagieren würde. Und es wäre ihm doch verdammt peinlich, wenn der seine Erregung verriet. Die Frauen haben es da leichter. Bei denen verrät der Körper so schnell nicht, ob sie wollen oder ob nicht, Sicherheitshalber zog er nur das Hemd aus, bevor er zu ihr zurückging. Sie registrierte seine Bemühungen mit einem Lächeln. „Fühlen Sie sich bitte zu nichts verpflichtet“, sagte sie. „Ja“, gestand er, „es hat mir Kopfzerbrechen bereitet. Ich habe keine Übung in solchen Dingen. Sie dürfen mich nicht mit meinem Bruder vergleichen.“ „Ich vergleiche Sie nicht. Dabei sehen sie sich ähnlich.“ „Finden Sie?“ „Wenn Martin verlegen ist, faßt er sich wie Sie mit Daumen und Zeigefinger an die Nase.“ „Was Sie alles sehen.“ „Vielleicht soll ich mir doch lieber eine Bluse überziehen? Mein Busen ist keine reine Augenweide mehr, dessen bin ich mir bewußt.“ „Machen Sie, was Sie wollen“, sagte Berger, „mir gefallen Sie. Und meinem Appetit schadet der Anblick Ihres Busens nicht. Ich habe mit Sicherheit den gleichen Hunger wie Sie.“ „Da werde ich besser noch Schwarzbrot holen“, sagte sie. „Verkehrt wäre es nicht.“ „Wurst auch?“ fragte sie. „Nichts dagegen einzuwenden.“ Sie stand auf und ging in die Küche. Dann hörte er, 112
wie sie nach oben ging und wie sie wieder nach unten kam und erneut in die Küche ging. Schließlich kam sie mit einem Tablett zurück, auf dem Schwarzbrot, Wurst und Käse lagen. Sie hatte sich eine Bluse übergezogen und einen langen Wickelrock umgelegt. „Lachen Sie nicht“, sagte sie, obwohl Berger dazu keine Anstalten gemacht hatte. „Ich kam mir mit einemmal nackt vor.“ „Sie waren ja auch nackt“, sagte er. „Ja“, gab sie zu, „aber nicht so nackt, wie ich mir vorkam.“ „Hmm“, sagte Berger, „da kann ich nicht mitreden.“ Sie lachte und setzte sich ihm wieder gegenüber. „Weibliche Logik“, sagte sie, „für euch Männer nicht zu verstehen.“ „Kann ich auch nicht mitreden“, sagte Berger wieder. „Frauen sind wohl nicht Ihr Problem?“ fragte sie. „Sind Sie verheiratet?“ Berger nickte. Er hatte den Mund voll und wollte erst einmal seinen Hunger stillen. Frühstücksgespräche waren nicht seine Leidenschaft. Sie schien es zu spüren und schwieg nun ebenfalls. Der Toast krachte unter dem Anprall ihrer Zähne. Sie hatte einen auffallend großen Mund, scharf konturierte breite Lippen und ein prachtvolles Gebiß. „Dacht ich mir’s“, sagte sie. Berger schaute fragend auf. „Ich habe mich bekleckert“, sagte sie lachend, „ich bekleckere mich immer.“ Sie leckte sich einen Finger sauber und wischte damit einen Klecks Konfitüre vom Wickelrock. „Sie hätten sich nichts anziehen sollen“, sagte Berger. „Genau“, sagte sie, „sonst nehme ich mir zum Schluß den Waschlappen oder steige unter die Dusche.“ Und schon wieder lachte sie. Ihre Fröhlichkeit war die eines großen Kindes, und Berger hätte sie dafür am 113
liebsten umarmt. Er vergaß zu essen und schaute sie an und wünschte, es wäre ihm möglich, sie ein Leben lang anschauen zu dürfen. „Sie essen ja gar nicht“, sagte sie. „Genieren Sie sich nicht, und langen Sie zu. Sie sind mein Gast.“ „Und wer sind Sie?“ fragte Berger. „Das wird aber auch allerhöchste Zeit“, erwiderte sie lächelnd und mit vollem Munde. „So ein ganz richtiger DDR-Bürger sind Sie anscheinend nicht.“ „Wieso? Wie kommen Sie darauf, daß ich kein DDRBürger bin. Selbstverständlich bin ich einer. Ich habe es Ihnen doch gesagt, daß ich aus Dresden komme.“ „Ja, aber an der nötigen Wachsamkeit hapert es bei Ihnen, Herr Berger“, sagte sie mit unverhohlenem Spott. „Sie heißen doch sicher Berger? Oder sind Sie ein Stiefbruder von Martin?“ „Nein“, sagte er, „ich heiße Berger, Manfred Berger.“ „Und wieso haben Sie mir geglaubt, daß ich mit Ihrem Bruder und mit Marion befreundet bin? Ich hätte doch ebensogut eine Diebin sein können, eine Einbrecherin, die Sie dabei überrascht haben, wie sie gerade das Haus leerräumen will.“ „Wie Sie nach draußen gekommen sind …“ „Genau so wäre eine Diebin nach draußen gekommen, die sich überrascht sieht“, sagte sie. „Oder finden Sie nicht? Jedenfalls eine intelligente Diebin.“ „Schon möglich“, antwortete Berger einsilbig. Die Wendung des Gesprächs gefiel ihm nicht. „Und?“ fragte sie. „Stellen Sie mir immer noch keine Fragen?“ Berger schüttelte den Kopf. „Keine Lust“, sagte er. „Ich bin Ihnen gegenüber unfair“, sagte sie. „Sie haben sich mir vorgestellt, und ich albere herum. Also: Ich heiße Riccarda Müller. Paßt nicht zusammen, doch meine Eltern konnten schließlich nicht wissen, daß ich mich einem Manne namens Müller anheiraten würde. Ur114
sprünglich hieß ich nämlich Riccarda Ranke, und Sie müssen zugeben, das klingt nicht ganz schlecht. Und ich bin noch am Überlegen, ob ich mir nicht meinen Mädchennamen wieder zulege. Womit ich Ihnen auch gleich mitgeteilt habe, daß ich geschieden bin.“ „Macht nichts“, sagte er. Sie schaute ihn verblüfft an und prustete los. Berger wurde verlegen. Er hatte etwas Dummes gesagt, hatte sich ungeschickt ausgedrückt, und es gefiel ihm nicht, daß sie ihn deswegen auslachte. „Danke“, sagte sie, immer noch lachend. „Und ich nahm an, Sie würden sich nun vor mir ekeln.“ „Sie sind eine komische Type“, sagte er. „Ich rede zuviel, wie?“ „Finde ich nicht“, sagte er. „Wollen Sie auch Urlaub machen?“ fragte sie. „Urlaub? Nein.“ „Wollen Sie nicht an die See?“ „An die See? Ja, ja, na, nicht unbedingt. Ich wollte nur so … Ich wollte das Auto ein bißchen genießen. Ist nagelneu und noch nicht eingefahren. Nagelneuer LADA – Dreizehnhunderter …“ „Da fahren Sie allein? Ohne Ihre Frau?“ „Die muß arbeiten.“ „Aha!“ „Ich hatte Pech“, sagte er. „Das Benzin war alle. Mitten auf der Autobahn. Tankstelle ist ja nicht mehr, wenn man an Freienhufen vorbei ist. Und nachts hält doch kein Schwein an. Man steht und steht. Dann hielt endlich einer, hatte aber keinen Reservekanister bei sich. Trabi und Wartburg braucht man gar nicht erst anzuhalten, sind ja Zweitakter. Verstehen Sie etwas von Autos?“ „Nein, absolut nichts. Ich weiß lediglich, wo ich mich in einem Auto hinzusetzen habe und wie – selbstverständlich.“ „Na, also jedenfalls kam endlich einer mit einem vol115
len Kanister, und ich konnte weiter. Und nun stellen Sie sich vor: ungefähr fünfundzwanzig Kilometer vor Berlin das Benzin wieder fast alle. Ich angehalten und geguckt. Zuerst Motorhaube hoch. Im Motorraum waren alle Leitungen dicht. Das kann doch nicht sein, dachte ich mir, das geht doch nicht mit rechten Dingen zu. Ich also unter den Wagen gekrochen. Und tatsächlich: im Tank war ein Leck. Nicht sehr groß, aber es tropfte munter vor sich hin. Was hätten Sie in dem Fall gemacht?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Tja“, sagte er, „man muß sich zu helfen wissen. Ich habe ein Streichholz genommen und in das Löchlein gestopft. Ist ein alter Trick. Habe ich früher am Badeofen ausprobiert. Das hält.“ „Löst sich das Holz in Benzin nicht auf?“ fragte sie. „Ich habe zwar wirklich keine Ahnung von Autos, aber Benzin ist doch irgendwie ein Lösungsmittel. Jedenfalls kann man mit Benzin Flecke entfernen.“ „Hm“, sagte Berger, „daran habe ich noch gar nicht gedacht, könnte natürlich sein. Na, ich will sowieso zu einer Werkstatt, will das Leck schweißen lassen.“ „Am Sonnabend?“ „Wochenenddienst gibt es in jeder Bezirksstadt. Ich muß dann gleich anrufen und mich erkundigen, welche Werkstatt in Berlin heute geöffnet ist.“ „Und danach wollen Sie weiter? Hoch an die See?“ Berger bewegte den Kopf langsam von links nach rechts, um anzudeuten, daß er sich darüber noch gar nicht im klaren sei. „Sonst hätten wir nämlich an den Tonsee fahren können.“ „Wo gibt es denn in Berlin einen Tonsee?“ „In Berlin nicht, aber nahe bei.“ „Und wo?“ „Groß-Köris.“ „Also auf der Autobahn zurück Richtung Dresden?“ 116
„Nach Dresden ist aber noch ein ganzes Stückchen. In der Ecke gibt es allerhand Badeseen. In Motzen und in Kallinchen.“ „Sie kennen sich ganz gut aus. Sind Sie oft in Berlin?“ „Oft nicht, aber wenn ich hier bin, fahren wir meist in diese Drehe zum Baden. Mit Marion und mit Martin, meine ich.“ „Und wo sind Sie zu Hause?“ wollte er wissen. „In B.“, sagte sie, „das heißt, eigentlich in Magdeburg. In B. habe ich nur ein möbliertes Zimmer.“ „Arbeiten Sie in B.?“ fragte er. „Ja, am Theater.“ „Am Theater?“ fragte er. „Sind Sie etwa Schauspielerin?“ „Erraten“, sagte sie. „Du mein Gott“, sagte er, „noch nie in meinem Leben habe ich eine Schauspielerin aus der Nähe gesehen.“ „Gehen Sie nicht ins Theater?“ „Kaum“, sagte er, „man hat eben das Fernsehen, da geht man am Abend kaum noch aus dem Haus.“ „Was arbeiten Sie denn?“ „Ich bin Teilkonstrukteur.“ „Was ist denn das?“ fragte sie. „Klingt so bedeutend.“ „Ist es aber nicht. Wir konstruieren für den eigenen Betrieb Halbzeuge, Rationalisierungsmittel und so.“ „Dann sind Sie eine Art Erfinder.“ Berger lachte. „Erfinden Sie denn nicht Werkzeuge?“ „Das ist ein bißchen zu hoch gegriffen. Klar, erfindet man auch irgend etwas, irgendwelche Tricks, damit etwas einfacher funktioniert, aber richtige Erfinder sind wir nicht. Wir sind doch fast alle Mann gelernte Werkzeugmacher, haben einen Kursus absolviert und heißen nun Teilzeugkonstrukteure. Das hat den Vorteil, daß wir im allgemeinen weniger verdienen als die Kumpels, die Werkzeugmacher geblieben sind.“ 117
„Aber es macht Spaß?“ fragte sie. „Ja, das ist schon wahr. Mehr Spaß macht es.“ „Sind Sie denn nun auch wirklich satt geworden?“ fragte sie. „O ja, danke!“ Sie erhob sich und begann den Tisch abzuräumen. Er stand gleichfalls auf. „Ich muß erst einmal ans Auto“, sagte er, „muß mir den Schaden bei Tageslicht besehen.“ „Tun Sie das.“ Berger beeilte sich, um nach draußen zu seinem LADA zu kommen. Sie wird eine Zeitlang in der Küche beschäftigt sein, rechnete er sich aus. Und vielleicht reicht die Zeit, um dem Tank ein Loch zu verpassen. Danach würde er weitersehen. Der Gedanke, mit dieser Frau einen Tag an einem Badesee zu verbringen, reizte ihn mächtig. Es war eine Möglichkeit des Vergessens. Wenigstens für ein paar Stunden. Was sonst sollte er mit seiner Zeit anfangen? Etwas Besseres konnte ihm wirklich nicht begegnen. Eilig schloß er den Kofferraum auf und suchte nach einem schmalen Dorn oder einem ähnlichen spitzen Gegenstand, mit dem sich ohne großen Aufwand das Loch in den Tank schlagen ließ. Glücklicherweise hatte er das im Laufe der Jahre erworbene Werkzeug aus dem TRABANT nicht dem neuen Besitzer überlassen, sondern dem Standard-Werkzeugsatz des LADA einverleibt. Keine Autofirma dieser Erde schien auf die Idee zu kommen, ein PKW-Fahrer könne irgendwann auch einmal einen Hammer nötig haben. Ein Hammer war in keinem der Standard-Werkzeugkästen vorgesehen. Nun, er hatte sogar zwei in seinem kleinen Werkzeugkoffer. Er griff sich den größeren von den beiden und einen schmalen Dorn und sicherheitshalber auch noch den Schraubenzieher für die neumodischen Kreuzschrauben, die sich zwar mit den automatischen Schraubenziehern der Au118
tofabriken leicht eindrehen ließen, aber niemals anrosten durften, weil man sie dann unmöglich herausbekam, wenn man nicht mit der Eisensäge einen Schlitz hineinsägte, weil das in dem Kopf der Schraube eingestanzte Kreuz im Handumdrehen seine Konturen verlor. Wenn sich einer zu helfen wußte, war das alles nicht schlimm, aber es gab nicht sehr viele Autofahrer, die sich zu helfen wußten. Wer zum Beispiel führt denn in seinem Bordsatz das Blatt einer Metallsäge mit? Manfred Berger schon. Ein Manfred Berger hat auch einen Dorn im Gepäck und einen schönen kräftigen Hammer, lobte er sich in Gedanken. Er war bereits im Begriff, sich unter das Heckteil des LADA zu schieben, als ihm der Reservekanister einfiel. Eilig kam er wieder hoch. Das wäre ein Reinfall geworden, sagte er sich, erzählt der Mann, wie ihm das Benzin ausgegangen ist und hat einen vollen Zwanzigliterkanister im Kofferraum. Er hob den Kanister heraus, ängstlich bemüht, ihn mit dem Körper vor möglichen Blicken aus dem Haus zu verbergen, und schaute sich hastig nach einem geeigneten Versteck um. In die Mülltonne? Das war zu gewagt. Wenn sie nachher kam und vielleicht den Mülleimer entleerte, wäre er ja wieder der Angeschmierte. Blieb nur noch die dichte Hecke rund um das Grundstück. Es erwies sich als schwierig, den Kanister so zwischen die Hecke zu drücken, daß ihn niemand gleich entdeckte. Endlich hatte er es geschafft und konnte sich nun der eigentlich beabsichtigten Arbeit zuwenden. Er besah sich kurz den Unterboden seines LADA, und es jammerte ihn, das Blech des nagelneuen Tanks zu beschädigen, doch was half’s. Er schlug ein paarmal zu. Bedächtig erst, dann etwas kräftiger, bis ihm endlich das Benzin ins Gesicht spritzte. „Das Streichholz! Verdammt und zugenäht“, fluchte er, die Streichholzschachtel habe ich in der Jackentasche. Er schlug den Dorn ganz sachte nochmals in das 119
Loch zurück, damit nicht zuviel Benzin auslief, und schob sich dann unter dem Auto hervor. Wie er hochkam, sah er Riccarda neben sich stehen und ihm zulächeln. „Na“, fragte sie, „Reparatur beendet?“ „Nicht ganz“, sagte er und war bemüht, sein Erschrecken nicht zu zeigen. „Es tropft wieder ein bißchen. Werden wir gleich haben. Ich muß nur an mein Jackett.“ „Soll ich es Ihnen holen?“ fragte sie. „Ach ja“, antwortete er, „das wäre nett. Ich habe so schmutzige Pfoten.“ Sie ging zurück ins Haus. Berger beeilte sich, Hammer und Schraubenzieher wegzupacken. Er hatte sich Mühe gegeben, sie vor allem den Hammer nicht sehen zu lassen. Man braucht schließlich keinen Hammer, um ein Streichholz in den Tank zu drücken. Hoffentlich war ihm das Leck nicht zu groß geraten. Er schaute sich um und suchte ein Stück Holz, das er vielleicht statt eines Streichholzes zum Abdichten verwenden könnte. Er brach einen Zweig von der Hecke, nahm das Taschenmesser aus dem Werkzeugkoffer und schnitt ein Stück vom Zweig ab und befreite es von der Rinde. Dann kroch er erneut unter den LADA und zog den Dorn heraus und prüfte das Stück Holz auf seine Paßfähigkeit. Er hatte Glück, mit ein wenig Gewalt ließ es sich in das Loch drücken. Es dichtete zwar noch nicht völlig ab, aber das war nicht nötig. Die Menge Benzin, die jetzt noch aus dem Tank floß, war so minimal, daß sie ihn kaum arm machen würde. Außerdem mußte er sich sowieso eine Werkstatt suchen, die ihm das Leck schweißte, sonst wäre es für die Kriminalisten ein Kinderspiel nachzuweisen, daß das Löchlein noch keine paar Tage alt war. War es aber geschweißt, wäre das so einfach sicher nicht, nahm er an. Berger kam wieder hoch und sah, wie die Frau mit seinem Jackett aus dem Hause kam. Er packte das 120
Werkzeug nun endgültig weg und wischte sich die Hände an einem Putzlappen ab. Dann schloß er den Kofferraum und ging nach vorn, die Wagentür aufzuschließen. Er steckte den Schlüssel ins Zündschloß, drehte ihn so weit, bis die Armaturen anzeigten, und schaute auf die Benzinuhr. Der Tank war knapp halbvoll. Ein wenig reichlich, um seine erfundene Geschichte plausibel klingen zu lassen, aber sie hatte ja behauptet, von Autos nichts zu verstehen. Sie reichte ihm das Jackett. „Danke“, sagte er, „ist nun gar nicht mehr nötig. Ich habe mir anderweitig geholfen.“ „Wollten Sie denn Ihr Jackett in den Tank stopfen?“ „Das nicht gerade“, antwortete er, „aber ich suchte ein neues Streichholz. Mir war das alte abgebrochen, als ich mir die Geschichte mal genauer ansehen wollte.“ „Und nun?“ fragte sie. „Tja“, sagte er, „eigentlich müßte ich zu einer Werkstatt fahren.“ Sie ging um den LADA herum und schaute ihn sich an. „Ein schönes Stück“, sagte sie, „riecht auch noch ganz neu. Und der Lack tipptopp! Aber hier vorn haben Sie schon einen Kratzer weg.“ „Wo?“ fragte Berger entgeistert. „Da“, sagte sie und wies mit der Hand auf die Luftschlitze in der Motorhaube. Er schaute sich die Stelle an, und ihm war sofort klar, wer dem Wagen diesen Kratzer beigebracht hatte. Es war nicht einfach ein Kratzer. Ein kleiner Kratzer wäre nicht schlimm gewesen. Einer der schmalen Blechstege war eingebogen, und es hatten sich Lacksplitter gelöst. Mit dem Malheur hatte er nicht auch noch gerechnet. „Nimmt Sie das so mit?“ fragte sie. „Es ist immerhin ein neues Auto“, sagte er, „und es hat mich ’ne Menge Geld gekostet. Wer weiß, ob ich mir 121
noch jemals im Leben ein neues Auto werde leisten können. Ich verdiene nicht so wahnsinnig viel.“ „Das läßt sich doch aber sicher in Ordnung bringen? Sie sind ja ganz blaß geworden, Herr Berger. So toll sollte man sich aber nicht an ein Auto hängen. Ist doch kein Grund, blaß zu werden.“ „Ich bin nun mal so“, sagte er. „Das macht der Beruf. Wir sind alle so ’n bißchen etepetete. Werkzeugmacher sind so. Aber Sie haben natürlich recht, es ist blöd von mir, sich darüber aufzuregen. Möchte nur wissen, wer das fabriziert hat. Sicher Kinder. Wenn die spielen, vergessen die alles.“ „Fahren wir nun trotzdem baden“, wollte sie wissen, „oder hat das bißchen Lack Ihnen die Stimmung vermiest?“ „Erst brauche ich eine Werkstatt“, sagte er. „Na schön“, sagte sie, „werde ich mich wieder in den Garten packen.“ „Wir können doch heut nachmittag an den Tonsee fahren.“ „Ich lasse mich überraschen“, sagte sie kurz angebunden und ging ins Haus zurück. Berger schaute sich nochmals in Ruhe den Lackschaden auf der Motorhaube an. Wenn die Dame wüßte, was das für mich bedeutet, dachte er. Sollte rauskommen, was der Mann gewollt hat, den ich mit Mühe und Not auf die Straße nach Hellerau gepackt habe; sollte seine Frau oder irgend jemand von seiner Absicht gewußt haben, dann suchen die Polizisten jetzt doch sicher schon ein Auto mit so einem Kratzer. Obwohl, fiel ihm ein, es muß nicht so gewesen sein. Mach dich nicht verrückt, Junge! Manche Autos stehen auch über Nacht unverschlossen draußen, da braucht er nicht die Verriegelung von außen aufzudrücken. Oder er kennt den Trick, wie man mit einer Haarnadel ein Autotürschluß öffnet. Also, da gab es für die Kriminalisten schon noch ein paar 122
Möglichkeiten mehr. Mach nicht die Pferde scheu, suchte er sich zu beruhigen. Aber blöd ist es trotzdem. Wenn ich einen Autolackspray hätte! Einen Reparaturspray in mandarinfarben. Wie spät haben wir es denn? Halb elf. Im Zentrum hat doch am Samstag garantiert ein Warenhaus auf. Wenn ich ordentlich auf die Tube drücke, komme ich noch vor Ladenschluß hin und kaufe mir einen Lackspray. Und danach gleich in die Werkstatt. Für den Trip zum Tonsee bleibt dann bestimmt auch noch Zeit. Rasch ging er in das Haus, wusch sich die Hände und zog sich das Hemd über. Ein Blick aus dem Fenster belehrte ihn über die Tatsache, daß Frau Riccarda sich bereits wieder ihrem Sonnenbad widmete. Von so einer Frau läßt man sich doch nicht scheiden, ging es ihm durch den Kopf. Niemand gibt doch so eine Frau auf. Manche Männer sind zu blöd. Wissen nicht, was sie haben!
10 „Sind Sie Herr Neuberger?“ fragte Ebner. „Bin ich“, sagte der junge Mann, der nur mit seiner Badehose bekleidet an die Tür gekommen war. „Sie haben Anzeige erstattet? Man hat Ihnen ein Moped gestohlen?“ „Mir nicht“, sagte Neuberger, „mir nicht, aber meinem Kumpel.“ „Vielleicht dürfen wir eintreten“, fragte Ebner. „Warum nicht, immer ’rein in die gute Stube“, sagte Neuberger. „Trotzdem wär’s nicht ganz schlecht, wenn ich wüßte, um wen sich’s bei euch beiden handelt.“ „Kriminalpolizei“, sagte Ebner. „Ich bin Hauptmann Ebner und das ist mein Mitarbeiter, Genosse Schröder.“ 123
„Hotti!“ rief Neuberger nach innen, „mach Männchen, die Kripo kommt!“ Die Wohnung roch nach Farbe, Tapetenkleister und Kneipe. Außer einem alten Tisch, den die beiden zum Tapetenzuschneiden verwendeten, einem Hocker, auf dem ein Eimer mit Tapetenkleister stand, und einer Stehleiter, war sie noch gänzlich unmöbliert. In einer Ecke lagen zwei Schaumgummimatten. Daneben stand eine Batterie leerer Bierflaschen und ein Teller mit Zigarettenkippen und zusammengeknüllten KARO-Packungen. „Tach“, sagte Hotti. „Guten Tag. Gegen frische Luft seid ihr wohl empfindlich“, fragte Ebner. „Frischgeklebte Tapeten vertragen keine Zugluft, Herr Kommissar“, sagte Neuberger. „Sie haben wohl noch nie Tapeten geklebt?“ „Ich streiche meine Wände mit LATEX-Weiß“, antwortete Ebner. „Ich bin kein Freund von Tapeten.“ „Das sieht ja dann aus wie ein Stall“, sagte Neuberger, „wie getüncht. Wie bei den Russen, ehrlich, habe ich mal in einem Film gesehen. War ’n Film über ’nen Maler, glaub ich. Der tauchte einen Strohwisch in den Kalkeimer, und dann immer feste, gib ihm.“ „Und dann hat der die Wände bemalt“, sagte Ebner. „Stimmt“, sagte Neuberger, „fand ich echt stark. Sie haben den Film wohl auch gesehen?“ „Sogar zweimal.“ „Und deswegen tünchen Sie jetzt die Wände Ihrer Wohnung?“ „Ihre Auffassungsgabe liegt weit über der Norm, Herr Neuberger“, sagte Ebner mit unverhohlener Ironie, „sicher werden Sie mich als nächstes fragen, ob ich gleichfalls male. Und um Ihnen die Mühe abzunehmen, nehme ich die Antwort vorweg und sage: Ja, ich male ein wenig, und ich hänge meine Bilder sogar auf. Und Bilder 124
nehmen sich auf weißen Wänden besser aus als auf tapezierten. Genügt Ihnen das fürs erste?“ „Macht Vergnügen, mal gebildete Menschen bei sich zu haben“, antwortete Neuberger. „Findste nich auch, Hotti?“ Hotti fühlte sich offensichtlich bei der Art, mit der sein Kumpel mit einem Mann von der Kriminalpolizei redete, nicht recht wohl, denn er grinste nur verlegen und schwieg. „Ihnen ist demnach ein Moped gestohlen worden?“ fragte ihn Ebner. „Ja“, sagte Hotti. „Sie heißen?“ „Horst Mühlfenzel.“ „Wohnen Sie hier?“ „Nee, nee“, sagte Mühlfenzel, „ich helfe nur dem Jürgen. Wir sind Kumpel.“ „Ausweis, Fahrerlaubnis und Zulassung haben Sie gewiß bei sich?“ „Für ’n Moped braucht man doch keine Zulassung“, mischte sich Neuberger ein. „Ihre Bildung hat empfindliche Lücken, Verehrtester“, entgegnete Ebner. „Für Mopeds vom Typ Star wurden noch Zulassungen ausgeschrieben.“ „Hast du so was, Hotti?“ „Hab’ ich“, sagte Hotti und ging in die Ecke zu den Schaumstoffmatten, auf denen seine abgewetzte Lederjacke lag. „Machen Sie mal“, sagte Ebner zu dem Praktikanten und trat ans Fenster. Sollte der Junge zeigen, wie er so etwas anpackt. Mühlfenzel reichte dem Praktikanten die gewünschten Papiere, und Schröder notierte sich die Anschrift und die Nummer der Zulassung. „In Ordnung“, sagte er. „Sie können die Papiere wieder wegstecken.“ 125
Neuberger lehnte sich gegen die Stehleiter und beobachtete neugierig die Szene. Mühlfenzel verstaute die Ausweise wieder in seiner Lederjacke und wartete, was nun weiter von ihm verlangt würde. Obwohl er körperlich der weitaus kräftigere von beiden war, verfügte er nicht über die selbstbewußte schnoddrige Art seines Kumpels und vielleicht auch nicht über dessen Intelligenz. „Würden Sie mir bitte erzählen, wie es dazu gekommen ist, daß man Ihnen Ihr Moped gestohlen hat“, forderte Schröder ihn auf. „Wenn ich das wüßte“, sagte der. „Ich habe doch schon am Telefon gesagt, daß es verschwunden ist. Einfach weg, geklaut eben.“ „Wann haben Sie es wo abgestellt?“ „Gestern nachmittag. Wann war denn das, Jürgen?“ „Na, so gegen sechse.“ „Ja, so kurz vor oder kurz nach sechs muß es gewesen sein.“ „Und Sie haben es unten vor dem Haus abgestellt?“ „Genau neben der Haustür.“ „Zündschlüssel abgezogen.“ „Eben nicht“, gab Mühlfenzel zu. „Das war’s ja. Ich war zu spät dran, wir wollten doch schon um vier anfangen. Der Jürgen ist nämlich im Druck. Am Freitag kommt seine Kleine aus der Klinik, und bis dahin wollen wir hier alles picobello haben. Anschließend muß er nämlich zur Fahne.“ „Mach’s kurz, Hotti, das interessiert die Herren nicht. Außerdem muß ich nicht zur Fahne, sondern meinen Ehrendienst bei der Nationalen Volksarmee antreten.“ „Was ist denn los?“ fragte Mühlfenzel seinen Kumpel. „Tut dir doch keiner was. Die sind doch bloß hier wegen meinem Moped.“ „Ist ja schon gut“, beruhigte ihn Neuberger. „Erzähl weiter!“ 126
„Ja, also“, fuhr Mühlfenzel fort, „ich war so spät gekommen, weil wir plötzlich noch ’nen Waggon mit Kohle gekriegt hatten, und den mußten wir noch entladen. Ist immer so. Wenn ein Waggon mit Kohle kommt, müssen wir das Zeug ruckzuck runterschaufeln. Kostet ja Standgeld, und der Alte zahlt nicht gern. Außerdem machen Sie ihm Ärger deswegen. Die Waggons müssen rollen.“ „Sie arbeiten beim Kohlehandel?“ „Ja, aber privat. Bei der Firma Lödrich. Max Lödrich. Freiberger Straße. Ich bin da Fahrer. Ist zwar bloß ’n alter HADREIA, aber technisch voll okay. Können Sie prüfen. Ist tipptopp in Ordnung. Genau wie mein Moped! Technisch muß so ’n Ding okay sein. Ich hab immer Spundus, es könnte etwas passieren. Wenn Sie sich die Karren vom Kohlehandel mal ansehen, die anderen meine ich, Sie würden Ihr blaues Wunder erleben. Auf jedem Rad ’nen anderen Reifen. Und meistens nullkomma-null Profil. Und die Bremsen! Sie, da überkommt Sie das kalte Grausen. Und dann fährt ja kein Schwein mit dem vorgeschriebenen Gewicht. Alle haben paar Zentner mehr drauf. Ich habe mir schon manchmal gedacht, wenn die ‚Weißen Mäuse‘ mal mit einem Schlag sämtliche LKW vom Kohlehandel überprüfen würden, müßten die Dresdner im Winter erfrieren. Von hundert käme vielleicht einer durch.“ Ebner hatte sich umgewandt und amüsiert der Erzählung des unrasierten jungen Mannes gelauscht. Ihm kam dabei der tüchtige Verkehrspolizist von heut morgen in den Sinn. Dem werde ich bei Gelegenheit diesen heißen Tip zukommen lassen, dachte er und schmunzelte stillvergnügt vor sich hin. Daran beißt er sich die Zähne aus, sagte sich Ebner, denn es gab kaum Grund, dem Bericht dieses Burschen da keinen Glauben zu schenken. Er hatte oft genug die merkwürdigen Gefährte des Kohlehandels durch die Straßen rollen sehen und sich sein Teil dabei gedacht. Vor kurzem erst hatte der Fahrer 127
eines solchen mit Kohle überladenen Wagens mit nicht funktionierenden Bremsen beinahe den Tod von drei Menschen herbeigeführt. Nur ein Laternenmast hatte das Schlimmste verhindert. „Und wann haben Sie gemerkt, daß Ihr Moped fehlt“, fragte Schröder. „Wann war denn das nun wieder?“ wandte sich Mühlfenzel hilfesuchend an seinen Freund. „Das muß so gegen neun gewesen sein. Im Radio brachten sie gerade Nachrichten. Ich hab deswegen ’nen anderen Sender gesucht. Ich kann das Gequatsche nicht vertragen.“ „Ja“, ergänzte Mühlfenzel, „ich wollte die Stehleiter auf Vordermann bringen. Die Schrauben festziehen, und mir fehlte Werkzeug. Da bin ich nach unten und wollte mir vom Moped die Werkzeugtasche holen. Und da war es nicht mehr da.“ „Und gestern nacht haben Sie nichts gehört“, fragte Schröder. „Ich meine, so ein Moped ist doch ziemlich laut. Wenn jemand damit wegfährt, das hört man doch.“ „Aber nicht hier oben im fünften Stock“, mischte sich Neuberger ein. „Wir haben die Fenster zu und die Kofferheule an. Was soll man denn da hören von dort unten? Außerdem hatten wir einen mächtigen zur Brust genommen.“ „Denkt doch auch niemand dran“, sagte Mühlfenzel, „daß jemand ’n Star klaut. Ist zwar tadellos in Ordnung, und der Motor läuft wie Hanne, ist ja aber doch nicht mehr der letzte Schrei. Heutzutage will doch jeder eins von den neuen Mopeds. Eins von denen, die aussehen wie ’n Motorrad. S Fünfzig, das ist der Ofen, auf den die meisten scharf sind. Dagegen ist der Star doch ’n lahmer Gaul.“ „Demnach liegt Ihnen gar nicht viel daran, Ihr Moped wiederzubekommen?“ fragte Ebner. „Ich hätte nichts dagegen, wenn mir die Versicherung ’n S Fünfzig dafür anbietet“, gab der Befragte zu. „Müßte 128
ich nicht ’ne Ewigkeit warten. Angemeldet bin ich ja. Ein S Fünfzig wäre mir schon lieber. Würde ich auch ’n paar Hunderter zulegen.“ „Da muß ich Sie leider enttäuschen“, sagte Ebner, „wir haben Ihren entflogenen Star wieder eingefangen.“ „Ach nee!“ entfuhr es Mühlfenzel. „So ein Pech!“ „Wollen Sie gar nicht wissen, wo wir es gefunden haben?“ „Ist doch egal, oder?“ „Für uns nicht“, sagte Ebner. „Das ist nu aber Ihre Sache.“ „Nicht ganz, denn wir möchten gern wissen, wie Ihr Moped in die Elbe gekommen ist.“ Schröder blickte erstaunt auf Ebner. Begriff aber im selben Moment die Absicht, die der Hauptmann mit dieser Behauptung verfolgte. „Das ist ’n Ding“, sagte Mühlfenzel und machte große Augen. „Klatscht jemand mein Moped in die Elbe. Der hat se wohl nich alle beisammen gehabt?“ „Sie waren von gestern achtzehn Uhr bis heute gegen neun Uhr hier ständig in dieser Wohnung?“ fragte Schröder. „Was soll denn nun die Frage“, wollte Neuberger wissen. „ Ich habe gefragt“, erwiderte Schröder. „Habe ich gehört, bin ja nicht taub“, sagte Neuberger. „War bloß so ’ne komische Frage, und komische Fragen habe ich nicht gern. Sie wollen Hotti da was unterjubeln. Versicherungsbetrug. Ist aber nicht. Ich kann bezeugen, daß er die Wohnung in der Zeit nicht ein einziges Mal verlassen hat. Bockwurst, Bier, Zigaretten und ’n Brot hatte ich schon angefahren. Für heute habe ich sogar Schnitzel gekauft. Liegen draußen auf dem Balkon, falls Sie sich dafür interessieren. Mensch, Hotti, die müssen wir reinholen! Ist ja schon viel zu warm da draußen, die sollten doch bloß über Nacht …“ 129
Und er lief ohne weitere Erklärungen ins Nebenzimmer, wo sich wahrscheinlich der Zugang zum Balkon befand. „Sie denken also, ich hätte meinen Star absichtlich ins Wasser gefahren, damit ich ’n S Fünfzig kriege?“ fragte Mühlfenzel. „Solche Sachen kommen doch vor“, fragte Ebner. „Oder?“ „Klar kommen solche Sachen vor. Aber nicht bei mir. Bei mir nicht.“ „Und woher sollen wir das wissen?“ „Woher? Weiß ich doch nicht“, sagte Mühlfenzel. „Ich kann Ihnen nicht sagen, wer aus meinem Star ’n U-Boot gemacht hat. Das wird ein Spaß“, fiel ihm ein. „Den muß ich ja vollständig auseinandernehmen und trocknen. Nischt wie Ärger hat man. Aber das laß ich mir von der Versicherung bezahlen. Da können Sie Gift drauf nehmen.“ „Ist nicht nötig“, beruhigte ihn Ebner. „Ihr Moped hat keinerlei Schaden erlitten. Es ist auch nicht in der Elbe gefunden worden, sondern auf der Straße – oder besser: am Straßenrand.“ „Und warum erzählen Sie dann erst solche Märchen?“ fragte Neuberger, der mit vier Schnitzeln in der Hand wieder ins Zimmer gekommen war. „Das können Sie sich nicht selbst beantworten?“ fragte Ebner, „bei Ihrer hochentwickelten Intelligenz?“ „Ich würde ja jetzt etwas sagen“, sagte Neuberger, „aber ich sag’s lieber nicht.“ „Sagen Sie es ruhig“, ermunterte ihn Ebner. „Wir sind keine ausgesprochen empfindlichen Leute.“ „Da bin ich mir nicht so sicher“, sagte Neuberger. „Sie sind ja nicht hier als zwei Kumpels von der Straße, sondern als Staatsgewalt oder wie das heißt. Wären Sie einfach zwei Typen von der Straße, würden Sie jetzt hochkantig aus meinen vier Wänden fliegen. Würden Sie. 130
Sind nämlich meine vier Wände, meine mir vom Wohnungsamt ordnungsgemäß zugewiesenen vier Wände. Aber bei der Staatsgewalt, da bin ich höflich. Habe ich gelernt. Möchten die Herren vielleicht ein Bier? Oder soll ich die Schnitzel gleich braten?“ „Danke“, sagte Ebner, „vielleicht das nächste Mal. Sie bekommen Ihr Moped in den nächsten Tagen zugestellt, Herr Mühlfenzel. Wir benötigen es noch für einige Untersuchungen. Bis dahin müssen Sie sich leider irgendwie behelfen. Selbstverständlich haben Sie das Recht auf Schadenersatz, und außerdem, ich mache Sie darauf aufmerksam, obwohl es Ihnen im konkreten Fall wahrscheinlich wenig bringt, können Sie Anzeige wegen unbefugter Benutzung erheben.“ „Und wo?“ „Auf dem gleichen VP-Revier, auf dem Sie den Diebstahl gemeldet haben.“ Neuberger brachte sie zur Tür. „Also ’n Bier hätten wir übrig gehabt. Ehrlich, auf ’n Bier wär’s uns nicht angekommen. Wird ja ’n verdammt heißer Tag heute noch.“ „Ist schon gut“, wehrte Ebner ab. „Ich bin sonst nicht so“, sagte Neuberger, „geht nur alles durcheinander bei mir im Moment. Bin Vater geworden, meine Kleene liegt noch in der Klinik, und nun die Wohnung und nächste Woche Reserveübung. Kommt immer alles auf einmal.“ „So ist es“, sagte Ebner. „Meinen Glückwunsch noch.“ „Danke“, sagte Neuberger und streckte den beiden Kriminalisten zur Verabschiedung die Hand hin. „Wenigstens die Rennerei von einem Versicherungsfritzen zum nächsten haben Sie sich damit erspart“, sagte Ebner auf der Treppe zum Praktikanten. „Viel klüger sind wir allerdings nicht.“ „Versuchten Versicherungsbetrug streichen wir demnach?“ fragte Schröder. 131
„Voll und ganz“, antwortete Ebner. „Hotti ist nicht der Typ für so etwas.“ Sie traten vor die Tür des Altbauhauses, in dem die beiden jungen Männer eine Wohnung renovierten. „Würde ganz gern selber noch spielen wollen und ist nun schon Vater“, kommentierte Ebner seinen Eindruck von Neuberger. „Haben Sie Kinder?“ „Ich bin bereits ‚Zweifacher Opa des Volkes‘.“ „So sehen Sie gar nicht aus.“ „Es ändert sich eben alles“, sagte Ebner, „nicht einmal die Opas sehen heutzutage wie Opas aus.“ „Das habe ich nicht gesagt.“ „Möglicherweise sind meine Enkel von mir enttäuscht“ – Ebner blieb beim Thema –, „mein Großvater war noch ein richtiger Großvater. Ging am Stock und rauchte Pfeife. Hat nicht viel geredet, aber trotzdem bin ich gern mit ihm spazierengegangen. Vor allem wollte ich immer meine Hand in die seine schieben. Beim Gehen, meine ich. Und wann haben meine Enkel schon einmal Gelegenheit, ihre Hände in meine zu schieben? Und bis zur Rente ist es noch weithin.“ Inzwischen waren sie am Wagen angekommen. Willi legte eben den Telefonhörer auf. „Paul hat angerufen“, sagte er zu Ebner. „Er meint, der Mann hätte nie im Leben auch nur für einen Augenblick auf dem Moped gesessen. An der Kleidung keinerlei Spuren, auch an den Händen nicht.“ „Ich sag ja“, kommentiert Ebner, „Paul ist immer für eine Überraschung gut. Paul, das ist unser Spurensicherer“, wandte er sich erklärend an Schröder. „Ein As auf seinem Gebiet. Ein Wunder, daß sie uns den nicht schon lange nach Berlin weggelobt haben.“ „Für Berlin ist Paul viel zu sehr Sachse“, sagte Willi. „Wahrscheinlich“, gab ihm Ebner recht. „Soso, Herr Werner Dietze hat also nicht auf dem Moped gesessen. 132
Daß sich ein gelbes Moped aus freien Stücken zu einem Bewußtlosen legt, kann man kaum annehmen, obwohl ich ja ein ausgeprägtes Faible für Zufälle habe.“ „Also ein fingierter Unfall“, fragte Schröder. „Wohl oder übel“, sagte Ebner, „eine merkwürdige Geschichte, alles in allem.“ Er setzte sich auf den Beifahrersitz, ließ aber die Tür offen. Mit geschlossenen Augen lehnte er sich so weit zurück als möglich und versuchte sich zu konzentrieren. Es fiel ihm schwer. Immer wieder tauchte das Gesicht dieser Frau Dietze vor ihm auf. Und außerdem mußte er an die junge Frau im MITROPA-Restaurant denken. Er wußte nicht einmal, wie der Titel des Buches lautete, das sie gelesen hatte. „Blödsinnige Hitze“, sagte er. „Ganz in der Nähe ist ’ne Eisdiele“, sagte Willi. „Du bist schon dick genug“, sagte Ebner. „Eis macht doch nicht dick“, protestierte Willi. „Und wie!“ sagte Ebner. „Ich habe einen viel besseren Einfall: Wir machen einen kleinen Spaziergang.“ „Einer muß am Telefon bleiben“, sagte Willi. „Genau“, sagte Ebner, „und dieser eine bin ich. Ich habe ein paar Gespräche zu führen. Ihr schaut euch ein wenig um, ob hier nicht in nächster Nähe ein LADA steht, der an den Luftschlitzen der Motorhaube Kratzer hat.“ „Bei der Hitze in der Gegend rumlatschen“, stöhnte Willi, „kommt mir genaugenommen gar nicht zu. Ich bin Fahrer.“ „Ich weiß, Willi“, sagte Ebner, „ich weiß! Aber erstens bist du im Hauptberuf Mitarbeiter des kriminalistischen Dienstes, und zweitens siehst du mich außerordentlich um deine Gesundheit besorgt.“ „Immer ich“, sagte Willi und zog los. Schröder ging in die entgegengesetzte Richtung.
133
11 Manfred Berger hatte ohne viel Mühe im Gedränge des Kaufhauses am Ostbahnhof den Stand für Farben gefunden und dort einen Autolack-Reparatur-Farbspray in Mandarin erhalten. In der Stadt umherzufahren und nach einem Farbladen zu suchen, der gleichfalls am Samstagvormittag geöffnet hatte, wäre für ihn nicht drin gewesen, dafür war der Tag schon zu weit vorgeschritten. Er blickte auf die Armbanduhr: zehn nach zwölf. Nun noch die Werkstatt. Dazu brauchte er zunächst eine Telefonzelle mit einem Telefonbuch, und zwar mit einem, dem nicht die Mehrzahl der Seiten fehlte. Sogleich fiel ihm der Telefonhörer ein, den er abgerissen hatte. Daß man im Verlaufe von wenigen Stunden zu Dingen gezwungen werden kann, von denen man nie geglaubt hätte, daß man jemals fähig sein werde, sie zu tun, war für ihn immer noch das eigentlich Unfaßbare an dem Geschehen der vergangenen Nacht. Wer mag den Stein beiseite geräumt haben? War es wirklich Gerda? Wenn er sie anrufen, wenn er sie fragen könnte, wäre ihm wesentlich leichter. Es konnte doch aber nur Gerda gewesen sein. Wer denn sonst? Ein anderer hätte sich irgendwie bemerkbar gemacht, hätte sich eingemischt, hätte die Polizei verständigt. Es ist Gerda gewesen. Ohne Zweifel. Im Grunde war sie eben doch eine zuverlässige Frau. Wie eine warme Welle stieg in ihm ein Gefühl der Zuneigung zu ihr hoch. Schon lange war ihm das nicht mehr passiert. Er vermochte sich überhaupt nicht mehr zu entsinnen, wann er mit einem derart starken Gefühl an sie gedacht hatte. Das macht die plötzliche Trennung, sagte er sich, die Trennung und all das Ungewohnte, das Überraschende, das Schreckliche, das über sie hereingebrochen war. Vor den Telefonzellen am Ostbahnhof standen mehrere Leute und warteten. Er ging wieder nach draußen. 134
Auf der anderen Seite der Straße entdeckte er ein Postamt. Er ging hinüber. Am Schalter standen mindestens ein Dutzend Menschen. Ein einziger Schalter war geöffnet, obwohl es sechs oder sieben Schalter gab. In der Zelle für Ortsgespräche fand er kein Telefonbuch. Er ging nach vorn zu der diensttuenden Angestellten. Die Leute in der Schlange murrten. „Ich will nur das Telefonbuch“, sagte er erklärend. „Wir wollen alle nur …“, sagte eine ältere Frau. Die Angestellte schob ihm das Telefonbuch zu, und er begann nach der Nummer eines Kraftfahrzeuginstandsetzungsbetriebes zu suchen. Hoffentlich hatte die Post in Berlin nicht eine andere Bezeichnung als die Post in Dresden gewählt, unter der sie die Autoreparaturfirmen im Telefonbuch versteckt hielt. In Dresden hieß es Kraftfahrzeuginstandsetzungsbetrieb VEB. Glücklicherweise hatte sich auch die Berliner Post für den gleichen Namen entschieden. Er langte sich ein Telegrammformular und notierte darauf die Telefonnummer. Als er das Telefonbuch zurückgab, wies ihn die Angestellte darauf hin, daß ein Telegrammformular einen Pfennig kostet. Er holte sein Portemonnaie aus der Hosentasche und suchte nach einem Pfennig, fand aber nur Groschenstücke. „Stimmt so“, sagte er und gab ihr einen Groschen. Inzwischen hatte eine junge Frau die Telefonzelle besetzt. Daneben war eine zweite. Er ging hinein und nahm den Hörer ab. Es kam kein Freizeichen. Es tutete nur in einem fort. Er legte den Hörer wieder auf die Ablage, nahm ihn erneut ab und hörte wieder nur das monotone Tuten. Er trat aus der Zelle und konnte gerade noch sehen, wie die junge Frau gleichzeitig mit ihm aus der anderen Zelle trat und sie einem älteren Mann freigab. Berger blieb stehen und wartete. Er war es gewöhnt, warten zu müssen. Wo schon mußte man nicht warten? Der Mann schien mit dem Telefon nicht zu Rande zu kommen. Berger geriet in Sorge, es könne 135
nun auch der zweite Apparat unbenutzbar werden. Er öffnete die Tür der Telefonzelle. „Kann ich Ihnen behilflich sein?“ fragte er. „Die Münze fällt immer wieder durch“, sagte der Mann. Berger reichte ihm eine Fünfzigpfennigmünze. „Versuchen Sie es mal mit der.“ „Danke“, sagte der Mann und schob die Münze in den Schlitz des Telefonapparates. Ein rotes Lämpchen flammte auf und zeigte Gesprächsbereitschaft. Berger schloß die Tür und wartete. Es dauerte geraume Zeit. Der Mann sprach offensichtlich mit seinem Sohn. Die Frau war erkrankt, und er bat den Sohn, doch mit dem Auto zu kommen und die Frau, die ja immerhin seine Mutter war, ins Krankenhaus zu fahren. Der Sohn schien keine Zeit zu haben oder keine Lust oder beides. Dann redeten sie wegen eines Krankenwagens. So schlimm wäre es nicht, meinte der Mann. Es wäre nur notwendig, sie zu einer Poliklinik zu bringen. „Für alle Fälle“, sagte der Mann. „Du weißt doch, daß sie auf dem Herzen schwach ist. Sie verträgt die Hitze nicht. Es ist so feuchtwarm heute, und gerade feuchte Wärme verträgt sie nicht.“ Berger bekam nicht mit, welche Abmachung Vater und Sohn zum Schluß getroffen hatten. Der Mann machte aber keinen glücklichen Eindruck, als er aus der Telefonzelle herauskam. „Vielen Dank nochmals“, sagte er zu Berger und suchte nach Geld, um Berger seine fünfzig Pfennige zurückzuerstatten. „Lassen Sie stecken“, sagte Berger und betrat die Zelle. „Es ist gerade Mittagspause“, wurde er von einer Frauenstimme über die derzeitige Lage in der Reparaturwerkstatt informiert. „Dafür kann ich aber nicht“, entgegnete er. „Sie müßten auf gut Glück vorbeikommen“, sagte die Frau, „aber ohne Garantie.“ 136
Berger legte den Hörer auf. Das Hemd klebte ihm am Körper. Dabei hatte er das Jackett schon ausgezogen und im Auto gelassen. Er dachte an die Frau mit dem schwachen Herzen. Es war wirklich kein Wetter für Leute mit schwachem Herzen. Die Stadt kam ihm mit einemmal vor, als hätte ihr jemand eine Glocke übergestülpt. Jetzt am Tonsee liegen, dünkte ihn das Größte. Es gab nichts, was ihm im Augenblick darüber gegangen wäre. Riccarda, sagte er in Gedanken vor sich hin. Der Name gefiel ihm. Er ging wieder in die Vorhalle des Ostbahnhofs. Dort hatte er vorhin einen Zeitungsstand gesehen. „Einen Stadtplan, bitte“, sagte er. „Sechs Mark“, sagte der Verkäufer. „Haben Sie keinen billigeren?“ fragte Berger. „Wo kommen Sie denn her?“ fragte der Verkäufer. „Wird doch alles teurer.“ Berger bezahlte die verlangten sechs Mark, nahm den Stadtplan und machte sich daran, seinen LADA wiederzufinden. Es war zeitraubend gewesen, in der Nähe des CENTRUM-Warenhauses einen Parkplatz zu Finden. Er hatte den LADA schließlich mit Mühe und Not in eine Lücke am Rande einer Straße bugsiert, sich aber den Namen der Straße nicht gemerkt. Nach einigem Suchen fand er ihn. Unter dem rechten Wischerblatt steckte ein Zettel. Er zog ihn hervor und erfuhr, daß er im Parkverbot geparkt hatte. Man forderte ihn auf, sich im Volkspolizeirevier zu melden. „Ein Samstag, wie er im Buche steht“, fluchte Berger. „Ein Malheur nach dem anderen. Aber die standen doch alle im Parkverbot.“ Er schaute auf das Auto hinter ihm und sah, daß auch da ein Zettel unter dem Scheibenwischer klemmte. Zwei Volkspolizisten kamen auf ihn zu. „Vielleicht wollen Sie gleich zahlen“, fragte ihn der eine. Berger war erleichtert. 137
„Ja“, sagte er, „ich will!“ „Ihre Fahrerlaubnis bitte! Fahrzeugpapiere, Personalausweis.“ Berger händigte den beiden Polizisten die gewünschten Papiere aus. „Na schön, weil Sie noch keinen Stempel haben“, bekam er gesagt, „wollen wir es mit zehn Mark abmachen.“ „Zehn Mark?“ fragte Berger. „Zu wenig?“ „Bei uns in Dresden kostet so etwas nur fünf Mark.“ „Sie scheinen allerhand Erfahrungen zu haben“, antwortete man ihm. „Vielleicht drücken wir Ihnen doch noch einen Stempel ’rein. Als Zugabe.“ „Ich habe ja nicht gesagt, daß ich die zehn Mark nicht zahle. Aber wundern wird man sich doch dürfen.“ „Das dürfen Sie.“ Berger zahlte zehn Mark und bekam dafür eine Quittung. Er setzte sich ins Auto und fuhr aufs Gratewohl davon. Erst einmal weg, dachte er, weg, weg, weg. In einer ruhigen Seitenstraße hielt er an und suchte im Stadtplan die Straße, in der die Reparaturwerkstatt lag. Nachdem er sie gefunden hatte, überlegte er, ob er erst den Lackschaden beseitigen oder den Tank schweißen lassen sollte. Er entschied sich für die Fahrt zur Werkstatt. Er wollte zunächst die Sache hinter sich bringen, die nicht von ihm abhing. Immer waren ihm Angelegenheiten, bei deren Erledigung er vom guten Willen anderer abhing, die unangenehmsten. Und die wollte er vom Halse haben. Er war nicht der einzige, dessen Auto sich ausgerechnet am Wochenende bockig zeigte. Im Warteraum saßen drei Männer und zwei Ehepaare, Berger schaute sich ein wenig unsicher um, denn er wollte sich nicht vordrängen und wollte sich nicht wieder anöden lassen, wie vorhin 138
am Postschalter. Aber es stand niemand vor dem Schiebefenster, über dem das Schild REPARATURANNAHME prangte. Nur hinter dem Fenster saß eine Frau mittleren Alters und schrieb emsig Papier voll. Berger trat unsicher an das Fenster. Die Frau hatte noch immer zu tun. Die anderen Wartenden erhoben keinen Protest. Berger fühlte sich dadurch ermutigt, sich vorsichtig zu räuspern. „Ich wollte mal fragen“, hob er an. „Momentchen mal“, wurde er unterbrochen, „wir haben noch ’n bißken mehr zu tun, junger Mann.“ „Ich wollte ja nur …“ „Det hab ick ja nu schon jehört.“ Berger schwieg. Die Frau schrieb weiter. Irgendwann war sie dann damit fertig. Sie nahm den Telefonhörer ab, wählte eine Nummer und wartete, bis sich am anderen Ende jemand meldete. „Ick hab den Schrieb fertig“, sagte sie, „kannst’ dir abholen.“ Sie legte auf. „Wo brennt’s denn“, fragte sie. „Ich habe ein Loch im Tank.“ „Wat?“ fragte die Frau. „Loch im Tank? Det hatte noch keener. Is ja ’n Ding. Wohl noch ’n PESI, wie? Rostlaube? Damit brauchen Sie nämlich gar nich erst vorfahren. So wat fassen wir nich mehr an. So wat gehört off ’n Schrott, aber nich in ’ne Werkstatt.“ „Es ist ein fabrikneuer dreizehnhunderter LADA“, sagte Berger. „Genau dreihundertundzweiundfünfzig Kilometer gefahren.“ „Und wie haben Sie det anjestellt?“ fragte sie. „Ich?“ fragte Berger. „Wieso ich? Ich habe es bemerkt, als das Benzin alle war.“ „Det is ’n Ding“, sagte sie nochmals und verlangte dann von ihm die Personalien und das Kennzeichen des LADA. Kurze Zeit später betrat ein Mann im blauen Kittel 139
den Raum, und sogleich erzählte sie ihm von Bergers Anliegen. Auch der Mann im blauen Kittel schüttelte verwundert den Kopf, und Berger überlegte bereits, ob er sich mit seiner Idee von einem Leck im Tank nicht hatte das Dümmste einfallen lassen, was einem nur einfallen konnte. „Doch“, sagte der Mann im blauen Kittel, „ich kann mich entsinnen. So einen Fall hatten wir schon einmal. Liegt aber Jahre zurück. Jahre“, wiederholte er, dabei das „e“ dehnend. Berger hob die Schultern. „Ist mir ja auch noch nie passiert.“ „Und womit haben Sie es zugestopft?“ fragte der Mann im blauen Kittel. „Na, mit einem Streichholz.“ „Ja“, sagte der Mann im blauen Kittel, „war wohl das Klügste, was Sie tun konnten. Na, fahren Sie mal gleich auf den Hof, damit wir das Benzin ablassen können. Denn zuerst muß das Benzin ’raus. Wir wollen ja nicht in die Luft fliegen. Das dauert ein Weilchen, denn da dürfen auch keine Dämpfe mehr drin sein.“ „Vielleicht kann man ’n bißchen mit Preßluft nachhelfen“, sagte Berger. Der Mann im blauen Kittel zog die Augenbrauen hoch. Er liebte es nicht, wenn er Ratschläge bekam, die seine Arbeit betrafen. „Es war nur so eine Idee“, milderte Berger sogleich seinen Hinweis. „Sind Sie aus der Branche?“ „Nicht ganz“, antwortete Berger, „Werkzeugmacher bin ich.“ „Na ja, dann“, meinte der Mann im blauen Kittel besänftigend. „Preßluft ist gar keine dumme Idee. Also fahren Sie auf den Hof!“ Aufatmend ging Berger nach draußen und fuhr den Wagen auf den Hof. Endlich klappte wieder einmal eine Sache so, wie er sie geplant hatte. 140
12 Der Praktikant kam als erster zum Auto zurück, in dem Ebner saß und wartete. „Dahinten steht ein weißer LADA-Kombi“, sagte er, „der hat einen eingebeulten Steg in den Luftschlitzen.“ „Rechts oder links?“ fragte Ebner. „Links.“ „Wie links?“ „Nicht links“, korrigierte sich Schröder, „in Fahrtrichtung natürlich rechts.“ „Kennzeichen?“ „Ich habe schon herausbekommen, wo der Mann wohnt. Gleich um die Ecke.“ „Sie sind ja ein ganz fixes Kerlchen“, lobte Ebner. „Warten wir noch auf Willi, dann schauen wir uns den Mann mal aus der Nähe an. Wäre fast zu schön um wahr zu sein, wenn dem heute nacht jemand den Lack angekratzt hätte. Ich habe übrigens versucht, Frau Dietze per Telefon zu erreichen. Meldet sich aber niemand.“ „Vielleicht ist sie bei dem Wetter irgendwo draußen und hört das Telefon nicht.“ „Vielleicht“, sagte Ebner. „Da kommt ja unser lahmer Krieger. Wenn Autofahrer drei Meter laufen müssen, kann das für sie tödlich sein.“ „Ich habe nichts gefunden“, sagte Willi und ließ sich erlöst auf den Fahrersitz plumpsen. „Du warst zu müde“, sagte Ebner. „Hier, unser Jüngster, hat einen LADA entdeckt, der von Interesse für uns sein könnte. Wir schauen uns die Sache mal aus der Nähe an. Du darfst dich von deinem anstrengenden Ausflug erholen. Ich hoffe, er hat keinen Dauerschaden zur Folge.“ Schröder wollte den Hauptmann gleich zur Wohnung des LADA-Besitzers führen, doch Ebner wehrte ab und wollte erst das Auto in Augenschein nehmen. 141
„Na“, sagte er nach einem kurzen Blick auf die Motorhaube, „das wird kaum unser Mann sein.“ „Wieso?“ fragte Schröder. „Schauen Sie sich die Stelle doch mal genau an!“ Schröder sah genau hin und entdeckte den Fehler in seiner Beobachtung. „Schon zu sehr verrostet“, sagte er, „habe ich nicht gleich dran gedacht. In den wenigen Stunden kann die Stelle unmöglich derart stark rosten.“ „Genau“, stimmte ihm Ebner zu, „ist aber kein Beinbruch. So etwas übersieht man meist dann, wenn man vor lauter Suchen blind wird.“ „Ich hätte den Mann unnötig belästigt“, gab Schröder kleinlaut zu. „Ach, der hätte das bestimmt überlebt, vor allem, weil er Ihnen ja ohne viel Mühe hätte den Irrtum nachweisen können. Sie wären der Blamierte gewesen, und manchen Leuten gefällt das.“ „War wohl doch nichts?“ fragte Willi schadenfroh, als sie zurückkamen. „Fehlanzeige“, erwiderte Ebner. „Und wohin nun?“ wollte der Fahrer wissen. „Nach Bühlau“, sagte Ebner. Während der Fahrt schwiegen sie alle drei. Es war sehr heiß geworden. Selbst der Fahrtwind kühlte kaum. Die Luft blieb heiß und feucht. „Ich möchte zunächst allein mit Frau Dietze sprechen“, sagte Ebner. Schröder nickte. „Ich hole Sie später dazu.“ „Ist gut.“ Ebner stieg aus und ging zur Haustür. Er läutete. Es blieb alles still. Er läutete erneut, diesmal anhaltend, denn er hielt es für möglich, daß Frau Dietze schlief. Vielleicht hatte sie Schlaftabletten genommen. Doch trotz allen Läutens blieb es weiterhin still im Haus. 142
Ebner winkte Schröder herbei. „Kommen Sie“, sagte er, und sie gingen zur Garage. Das Garagentor war im Gegensatz zu heute morgen verschlossen. Ebner beugte sich zum Schlüsselloch und blickte ins Innere der Garage. Kein Auto zu sehen, die Garage war leer. „Die Dame ist weggefahren“, sagte Ebner. „Und ohne Batterie!“ „Sie könnte sich eine geliehen haben“, gab Schröder zu bedenken. „Sie hatte sich nicht aus dem Hause zu rühren, verdammt! Und wieso hat sie mit einemmal eine Batterie? Woher, bitte schön? Gestern abend noch war es das große Problem, eine Batterie zu bekommen. Gestern ging ihr Mann auf Klautour wegen der fehlenden Batterie. Und plötzlich fährt das Autochen wieder. Wie erklären Sie sich das?“ „Ein Auto fährt auch ohne Batterie“, sagte Schröder. „Das tut es allerdings. Nur muß man es anschieben. Oder anschleppen. Allein schafft man das kaum. Obwohl Frau Dietze ja bekanntlich eine sehr praktische Person ist. Aber allein einen LADA anschieben, ihn zum Anspringen zu bringen und dann auch noch irgendwie auf den Fahrersitz hopsen – wenn sie das schafft, hat sie einen Orden verdient. Ich weiß zwar nicht, welchen, aber verdient hätte sie einen. Diese Variante dürfen wir getrost streichen.“ „Was nun?“ wollte Schröder wissen. „Was schlagen Sie vor?“ fragte Ebner zurück. „Sie fragen immer mich, dabei sind doch Sie es, der sich auf dem neuesten Stand der kriminalistischen Wissenschaft befindet!“ „Wir müßten in die Wohnung“, sagte Schröder, ohne sich von der Gereiztheit des Hauptmanns irritiert zu zeigen. „Ja, das müßten wir“, stimmte Ebner ihm zu. „Ein 143
Königreich für einen Haussuchungsbefehl! Doch weiß ich zufällig, wer heute in der Staatsanwaltschaft Dienst hat, und daher weiß ich auch, daß ich mir den Anruf dort verkneifen kann. Also werde ich die Angelegenheit auf die eigene Kappe nehmen müssen.“ „Wie lautet er doch gleich, der berühmte Paragraph einhundertzehn der Strafprozeßordnung?“ „Ist die Durchsuchung zur Ergreifung einer auf frischer Tat betroffenen oder verdächtigen Person oder zur Feststellung oder Sicherung von Spuren und Beweisen, deren Verlust ansonsten zu befürchten ist, erforderlich, kann die Anordnung nachträglich vorgewiesen werden“, zitierte Schröder mühelos den gewünschten Paragraphen. „Eins ’rauf mit Mappe“, lobte Ebner. „Es ist dies aber auch einer der gefährlichsten Paragraphen für einen Kriminalisten. Er ist voller Versuchungen und voller Fallen. Beweisen Sie mal im nachhinein einem Staatsanwalt oder gar einem gewieften Strafverteidiger in der Hauptverhandlung – und glauben Sie ja nicht, wir hätten solche nicht! –, daß es die Sorge um den ‚drohenden Verlust‘ von Spuren war, der sie zu einer Hausdurchsuchung aus eigenem Ermessen veranlaßt hat. Mir hat schon einmal ein Staatsanwalt die nachträgliche Ausschreibung einer Haussuchungsanordnung verweigert. Was in so einem Fall auf Sie zukommt, ist nicht die reine Freude. Also, wie entscheiden Sie?“ Schröder überlegte angestrengt. „Viel Zeit zum Nachdenken ist nicht“, sagte Ebner. „Befragen wir doch erst mal die Familie nebenan“, schlug Schröder vor. „Einverstanden“, sagte Ebner, „tun Sie das! Ich gehe inzwischen zum Wagen und veranlasse, daß Frau Dietze am Grenzübergang Bad Schandau aufgehalten wird, falls es ihr in den Sinn gekommen sein sollte, die Urlaubsreise nach Ungarn allein anzutreten. Ein gültiges Visum 144
hat sie immerhin in der Tasche. Ich hätte es ihr unbedingt wegnehmen müssen.“ Das Haus war im engeren Sinne kein Doppelhaus, doch hatte man es zu einem solchen umgebaut. Die Haustür für die zweite Mietspartei lag auf der entgegengesetzten Seite. Schröder mußte geraume Zeit warten, bis ihm auf sein Läuten hin die Tür geöffnet wurde. Ein Mann kam heraus, dem man ansah, daß er in seinem Mittagsschlaf gestört worden war. „Ich möchte zu Frau Dietze“, sagte Schröder. „Da sind Sie hier falsch“, antwortete der Mann mürrisch, „die wohnt nebenan.“ „Das ist mir bekannt“, sagte Schröder. „Ich glaubte nur, Sie könnten mir vielleicht sagen, wo ich sie erreichen kann. Frau Dietze ist nicht zu Hause.“ „Ja“, sagte der Mann, „die ist vor einer Stunde weggefahren.“ „Allein?“ fragte Schröder. „Wer sind Sie denn eigentlich?“ „Kriminalpolizei“, sagte Schröder und zeigte seinen Ausweis. „Kripo?“ sagte der Mann. „Hat die Dietzen was ausgefressen? Zutrauen würde ich der das.“ „Wie kommen Sie zu der Annahme?“ fragte Schröder. „Ach, einfach nur so. Das ist so eine … Na, mein Fall ist sie nicht.“ „Und weil Sie Ihnen als Frau nicht zusagt“, mischte sich Ebner, der dazugekommen war, ein, „trauen Sie ihr irgendeine krumme Sache zu?“ „Also ich hab’ niemand verdächtigt“, wehrte sich der Mann. „Verdächtigt habe ich niemand, damit das klar ist. Ich habe nur gesagt, das sind so Leute, die tragen die Nase zu hoch. Mit meiner Frau und mit mir reden die kaum mal ein Wort. Ich meine, wir sind nicht wild darauf, aber wenn man zusammen in ein und demselben 145
Haus wohnt, gehört sich so was doch. Oder finden Sie nicht, daß sich so was gehört? Bloß weil meine Frau ’ne Reinemachefrau ist und ich bei der Stadtreinigung arbeite, reden die kaum mit uns. Bloß guten Tach und guten Abend und vielleicht mal: ‚Heiß heute, wie?‘ Ich weiß nicht, wo die Leute das hernehmen, ich meine die Hochnäsigkeit. Wenn unsereins nicht wäre, würden die schließlich im eigenen Drecke ersticken. Ist’s nich so?“ Schröder nickte. „Sicher ist es so“, sagte er, „vielleicht schätzen Sie Ihre Hausnachbarn nur falsch ein, vielleicht machen die sich nur nichts aus dem üblichen Gerede über Haushalt und Kinder und so.“ „Kinder?“ sagte der Mann. „Die haben doch gar keine Kinder. Und wenn unsre mal piep sagen, und das machen Kinder nun mal, da geht die Dietzen immer gleich in die Luft. Nee, mit der Frau könnten Sie mich jagen. Der Mann ist da ja anders. Aber der darf ja nicht. Wenn sie mal nicht da ist, wenn sie zur Messe muß, dann sitzen wir schon mal zusammen und genehmigen uns ’n Bierchen. Gegen den Mann läßt sich nichts sagen, bloß, der müßte eben die Frau jede Woche übers Knie legen und ihr den Arsch versohlen.“ „Machen Sie das mit Ihrer Frau?“ wollte Ebner wissen. „Nee“, gab der Mann zu, „habe ich bei meiner Frau nicht nötig, die spurt auch so.“ „Um noch mal auf Frau Dietze zurückzukommen“, sagte Schröder, „Sie wissen genau, daß sie vor etwa einer Stunde weggefahren ist? Mit ihrem eigenen Auto?“ „Ja“, antwortete der Mann, „ist ja meistens sie, die fährt. Die läßt den doch kaum ans Steuer.“ „War sie allein im Auto?“ „Ich habe niemand sonst gesehen!“ „Von wo aus haben Sie sie wegfahren sehen?“ „Dort“, sagte der Mann und zeigte auf ein Fenster im Parterre. „Von dort, vom Küchenfenster aus.“ 146
„Daß das Ehepaar Dietze in Urlaub fahren wollte, wußten Sie nicht?“ „Nee, so was sagen die uns nicht, da kommt dann immer die Alte, was die Mutter von ihr ist, und die macht dann den Aufpasser. Wir könnten ja was klauen oder so.“ „Wissen Sie zufällig, wo Frau Dietzes Mutter wohnt?“ „Wo die wohnt? Nee, weeß ich nich.“ „Und wie sie heißt?“ „Meta.“ „Das nützt uns nicht viel. Den Familiennamen brauchen wir.“ „Familiennamen? Familiennamen?“ überlegte der Mann. „Warten Sie mal. Schade, daß meine Frau nicht da ist, die weeß so was. Familiennamen? Gehört hab ich’n schon. Wie war der doch gleich?“ Ebner ärgerte sich über sein Versäumnis. Er hatte sich den Mädchennamen von Frau Dietze nicht notiert. In ihrer Wohnung würde sich aber bestimmt irgendein Dokument finden, das darüber Auskunft gab. „Lassen Sie’s gut sein“, sagte Ebner, der es jetzt eilig hatte. „Wenn wir noch Fragen haben, melden wir uns.“ „Da kommen Sie am besten nach vier, da is meine Frau wieder da, die kann Ihnen bestimmt mehr sagen.“ „Geht klar“, sagte Ebner. Sie verabschiedeten sich von dem Mann und gingen zum Auto. Ebner wollte den zuständigen Staatsanwalt zumindest von seinem Vorhaben unterrichten. Vor der Gartenpforte blieb er stehen, wandte sich noch einmal um und wies Schröder auf den Zustand der Fassade hin, deren linker Teil neu verputzt und mit den üblichen Thermofenstern versehen worden war, während die rechte Seite von abblätternden Putzfladen verunziert war und noch die alten viergeteilten Kastenfenster besaß. „Gäbe ein schönes Motiv für ein Bild“, bemerkte er. 147
to.
„Malen Sie tatsächlich?“ fragte Schröder. „Tatsächlich, doch leider sehr selten.“ Sie machten sich nun endgültig auf den Weg zum Au„Würde ich mir nicht zutrauen“, sagte Schröder. „Einfach anfangen. Es läßt sich alles lernen.“ Ebner ließ Willi den Telefonhörer aus dem Auto reichen und fragte zunächst im Labor an, was die Prüfung der Autobatterie erbracht hatte, die sie heute morgen aus Dietzens Auto ausgebaut hatten. Man teilte ihm mit, daß anstelle der üblichen Mischung von Säure und entsalztem Wasser die Flüssigkeit in der Batterie aus Leitungswasser bestanden habe. Nur ein ganz schwacher Säurerest sei noch nachweisbar gewesen. Die Batterie sei zwar zwei Jahre alt, aber jetzt im Sommer hätte sie noch einigermaßen funktionieren müssen, wenn sie eben nicht einfach nur mit Leitungswasser gefüllt gewesen wäre. Ebner legte auf und wiederholte den beiden anderen das Prüfungsergebnis des Labors. „Es wird immer märchenhafter“, fügte er hinzu. „Erst finden wir ein Moped zufällig neben einem Mann liegen, meinetwegen auch umgekehrt einen Mann neben einem Moped. Dann finden wir eine Batterie, die keinen Mucks mehr von sich gibt. Und nun bewegt sich ein Auto ohne Batterie aus der Garage. Die defekte Batterie war aber gar nicht defekt, sondern ist defekt gemacht worden. Von wem aber? Könnte der Mann tatsächlich so dumm sein? Hatte er das Leitungswasser in die Batterie gefüllt?“ „So blöd – das glaube ich nicht“, sagte Willi. „In dem Falle müßte ja trotzdem noch Säure in der Batterie sein“, stellte Schröder fest. „Natürlich“, stimmte ihm Ebner zu, „daran hatte ich gar nicht gedacht. Weshalb sollte der Mann die Säure ausgekippt haben?“ „Wieso wissen wir eigentlich, daß Dietze auf der Su148
che nach einer Autobatterie war?“ fragte der Praktikant. „Gibt es dafür irgendeinen Beweis?“ „Gibt es nicht“, antwortete Ebner. „Wir haben nur die Aussage seiner Frau, und die Frau hat sich merkwürdigerweise aus dem Staube gemacht.“ Der Mann aus der Nachbarwohnung kam angelaufen. „Ich hab’s“, sagte er, noch atemlos vom schnellen Laufen, „mir ist wieder eingefallen, wie die Mutter heißt. Menzel heißt sie, Meta Menzel. Läßt sich an und für sich leicht merken. Daß mir der Name nicht gleich eingefallen ist. Man wird eben alt, ’n Kopp wie ’n löchriger Käse.“ „Danke“, sagte Ebner. „Damit haben Sie uns sehr geholfen.“ „Was ich übrigens noch fragen wollte“, sagte der Mann: „Ist denn Herr Dietze nicht da? Der ist doch sonnabends immer da. Warum sollte der denn ausgerechnet heute nicht dasein? Haben Sie auch wirklich richtig lange geklingelt? Vielleicht macht er auch nur ein Nickerchen? Wenn die Frau weggefahren ist, hat er doch seine Ruhe.“ „Die hat er“, sagte Ebner, doch der Mann bekam den Unterton nicht mit. „Sag ich ja“, wiederholte er. „Soll ich mal klingeln?“ „Das ist nicht nötig. Herr Dietze ist nicht zu Hause. Das wissen wir hundertprozentig.“ „Ach so“, meinte der Mann, „ich dachte ja auch bloß.“ „Wie schon gesagt“, suchte Ebner den Mann abzuwimmeln, „wenn wir Sie noch einmal brauchen sollten, machen wir uns bemerkbar.“ „Ist gut“, sagte der Mann und trollte sich. „Moment“, rief ihm Ebner plötzlich nach, „kommen Sie doch bitte zurück!“ Der Mann folgte der Aufforderung nicht ungern, hatte er doch längst gewittert, daß es um irgend etwas Wichtiges, um irgend etwas Sensationelles ging, das er sich auf gar keinen Fall entgehen lassen durfte. 149
„Kennen Sie aus der nächsten Nachbarschaft noch jemand?“ „Aber sicher.“ „Dann holen Sie uns bitte irgendeine erwachsene Person. Wir brauchen außer Ihnen noch einen Zeugen.“ „Zeugen?“ fragte der Mann. „Aber da kann ich doch nicht irgend jemand holen. Das muß doch jemand Zuverlässiges sein.“ „Holen Sie jemand, der zu Hause ist, und zurechnungsfähig. Mehr ist nicht nötig. Wir brauchen lediglich zwei Zeugen, weil wir uns die Wohnung der Familie Dietze etwas genauer ansehen wollen.“ „Hab voll kapiert“, sagte der Mann und lief los. Ebner erläuterte nun dem Staatsanwalt telefonisch den Stand der Dinge. Er hatte Pech, daß an diesem Wochenende ausgerechnet Staatsanwalt Horst Dienst hatte. Sie mochten sich beide nicht besonders. Horst war ein eitler Mann, der sich gern forsch und draufgängerisch zeigte, tatsächlich aber nur darauf bedacht war, nichts zu tun, was ihm vom Bezirksstaatsanwalt als Fehler hätte angekreidet werden können. Übervorsichtig und pingelig, so empfand Ebner das Verhalten Horsts. Und so war auch dessen Reaktion. „Ihre Sache“, antwortete er Ebner, „Sie müssen es doch anschließend begründen.“ „Oder Sie setzen sich in ein Auto und kommen her“, entgegnete Ebnen „Bühlau ist eine schöne Gegend. Ein Ausflug lohnt sich.“ „Ich kann hier im Augenblick unmöglich weg“, sagte Horst. „Sie sind doch schon lange genug im kriminalistischen Dienst. Sie wissen doch, was im Rahmen der Gesetze machbar ist und was nicht.“ „Ja, ja“, sagte Ebner, „ich hatte nichts anderes erwartet.“ Nur weil Schröder daneben stand, verkniff er sich einen drastischen Kommentar, als er dem Fahrer den Hörer zurück ins Auto reichte. 150
„Der wird’s noch weit bringen“, nahm der ihm den Kommentar ab. Ebner sagte auch jetzt nichts. Der Staatsanwalt war um einiges jünger als er, und aus seinen Äußerungen und seinen Plädoyers vermeinte Ebner etwas herauszuhören, was er politisches Neureichtum nannte. Und er war sich keinesfalls sicher, ob er vor Jahren nicht auch so ein politisch Neureicher gewesen war. Aber er mochte es nicht, wenn Überzeugungen stets abrufbereit vorn auf der Zunge lagen. Er selber sprach selten von dem, was an Überzeugung in ihm war. Für ihn war Überzeugung nicht eine Sache von Worten. Die Biographie eines Menschen, pflegte er zu sagen, das ist seine Überzeugung. Er hätte statt dessen auch sagen können, der Stil, das ist der Mensch. Aber er hütete sich, es in dieser Form zu sagen, denn Leute vom Schlage eines Horst mißtrauten allen Formulierungen, die nicht abgegriffen genug waren. Vielleicht wäre Ebner dem Staatsanwalt weit weniger gram gewesen, wenn er wenigstens Courage gezeigt und Verantwortung auf sich genommen hätte, doch genau davor scheute er wie ein lahmer Gaul vor dem Graben. Zum Glück war er auch innerhalb der Staatsanwaltschaft nicht beliebt, so daß Ebner bis jetzt immer Mittel und Wege gefunden hatte, nicht mit ihm zusammenarbeiten zu müssen, wenn es sich um ein kompliziertes Ermittlungsverfahren gehandelt hätte. Diesmal könnte ich Pech haben, dachte er und griff erneut zum Telefon und fragte die Sekretärin nach der Meldung vom Grenzübergang. „Frau Dietze ist bis jetzt dort nicht aufgetaucht“, sagte die Sekretärin. „Sonst was Neues?“ „Nein“, antwortete die Sekretärin. „Ich hatte nur erwartet, jemand würde mich bei der Hitze zum Baden einladen oder wenigstens zum Eisessen.“ „Ich höre heute nur noch Eisessen“, sagte Ebner. 151
„Ist das ein Wunder?“ „Wenn es sehr heiß ist, soll man Heißes trinken, wissen Sie das nicht?“ „Und sich in lange weiße Gewänder hüllen und das Gesicht hinter einem Schleier verbergen.“ „Schau einer an“, sagte Ebner, „Sie sind ein kluges Kind.“ „Kunststück“, entgegnete die Sekretärin, „meine jüngste Schwester liest gerade Karl Mays ‚Kara Ben Nemsi‘.“ „Empfehlen Sie ihr auch die Lektüre des Koran, man kann nie wissen“, sagte Ebner und beendete das Gespräch, denn er sah den Mann aus Dietzes Nachbarwohnung mit einem zweiten Mann angelaufen kommen.
13 Es war vier Uhr am Nachmittag, als Berger wieder im Haus seines Bruders eintraf. Die Männer in der Werkstatt hatten sicherheitshalber lange gewartet, ehe sie sich mit dem Schweißgerät daranmachten, das winzige Loch zu schweißen, was dann Sache eines Augenblicks gewesen war. Er hatte dem Mann einen Zehnmarkschein in die Hand gedrückt, und es waren weder Auftrag noch Rechnung ausgeschrieben worden. Berger vermochte nicht zu entscheiden, ob ihm das im Fall der Fälle von Nutzen sein würde oder ob nicht. Er beruhigte sich jedoch mit der Annahme, daß sie ihn schon nicht vergessen würden, weil es sich eben um eine äußerst seltene Reparatur gehandelt hatte. Danach war er noch in das Waldstück zwischen Karlshorst und Köpenick gefahren und hatte mit dem Lackspray die angekratzte Stelle auf der Motorhaube übersprüht. Die neu gelackte Stelle war ihm aber zu auffällig vorgekom152
men, so daß er blutenden Herzens mit einem Nagel das Lieblingswort aller Lackzerkratzer auf die Motorhaube geritzt hatte, nämlich SAU. Danach war er darangegangen, die gesamte Motorhaube überzulacken. Riccarda schien ihn erwartet zu haben. Sie kam zur Gartenpforte und ließ ihn ein. Es war nicht zu übersehen, daß sie zum Badeausflug gerüstet war. Sie trug eine Badetasche über die Schulter gehängt und war mit einem T-Shirt, einem langen Rock und Sandalen bekleidet. „Sie lassen sich aber Zeit“, sagte sie. „Wenn Sie wollen, können wir auf der Stelle losfahren. Ich habe alles eingepackt. Für Sie etwas Eßbares und eine Badehose aus Martins Vorräten sowie Handtücher.“ Berger war überrascht. Es kam ihm zu plötzlich. Er hatte nicht gedacht, daß sie jetzt noch Lust auf einen Badeausflug verspüren würde. „Ja“, sagte er gedehnt, „wenn Sie meinen.“ „Ich meine“, antwortete sie. „Ihnen wird es auch guttun. Der Tag ist noch lang, und die Abende zur Zeit alles andere als kühl.“ „Dann steigen Sie ein.“ Berger gab sich geschlagen. „Ist denn alles repariert?“ fragte sie. „Alles in Ordnung.“ „Nanu“, sagte sie mit erstauntem Blick auf die frischlackierte Motorhaube. „Sie haben ja gleich das ganze Auto lackiert. So einen Aufwand wegen eines winzigen Kratzers?“ „Der war nicht mehr winzig“, erklärte Berger. „Während ich im CENTRUM-Warenhaus am Ostbahnhof einen Lackspray gekauft habe, hat irgendein Idiot mich als eine SAU bezeichnet und das auch gleich auf der Motorhaube verewigt. Mit einem Nagel oder einem Schlüssel. Jedenfalls bestens zu lesen.“ „Sie sind aber auch ein Pechvogel“, bedauerte sie ihn. „Um so mehr Grund, den Rest des Tages erfreulicher zu gestalten.“ 153
Berger zögerte und blieb untätig neben dem LADA stehen. Riccarda packte die Badetasche auf den Rücksitz und stieg ohne eine weitere Erklärung ins Auto. Berger setzte sich neben sie und steckte den Schlüssel in das Zündschloß, lehnte sich jedoch gleich darauf zurück und richtete den Blick in irgendeine unbestimmte Ferne. „Ich weiß nicht“, sagte er unschlüssig. „Sie sind immer so kompliziert“, sagte Riccarda. „Eigentlich machen Sie gar nicht so einen Eindruck.“ „Ich bin nicht kompliziert“, antwortete Berger. „Und weshalb fahren wir dann nicht los?“ Entschlossen beugte sich Berger nach vorn, startete den Motor und fuhr los. Wieder sagte er sich, daß es das beste war, was er im Augenblick tun konnte. Es war alles getan, was notwendig und möglich gewesen war. Nun hieß es, die Zeit für sich arbeiten lassen. Warten hieß es und hier in Berlin bleiben, um seine Fahrt nicht dem Verdacht auszusetzen, sie nur eines Alibis wegen angetreten zu haben. Sollte man ihn irgendwann einmal fragen, weshalb er sich denn das gesamte Wochenende in Berlin aufgehalten habe, durfte er mit Fug und Recht antworten, eine Frau sei der Grund gewesen. Er schaute zu ihr hinüber und lächelte. Sie bemerkte es nicht. Sie hatte es sich bequem gemacht und hielt das Gesicht geschlossenen Auges in den Fahrtwind, der ihr durch das Ausstellfenster entgegenkam. Weshalb war es mit dieser Frau so anders, überlegte Berger. Sie saß einfach da und hielt die Augen geschlossen und schwieg. Auch Gerda hätte so neben ihm sitzen können. Und oft hatte sie so neben ihm gesessen. Aber eben doch nicht so. Nicht ganz. Irgend etwas war anders. Er suchte nach einer Erklärung. Der Unterschied mußte doch zu finden sein, meinte er. Vielleicht saß Gerda so, wie Ehefrauen nun mal neben ihrem Mann im Auto zu sitzen pflegen. Irgendwie angestrengter. Das 154
traf es auch noch nicht ganz. Er konnte es sich nicht erklären. Und nachdem sie auf der Autobahn waren, wollte er es sich auch nicht mehr erklären. Zwischen ihnen war die ganze Zeit über kein Wort gefallen. Riccarda drückte das Ausstellfenster zu, weil der Fahrtwind sie jetzt zu heftig zauste. Sie schaute zu Berger hinüber und strich mit ihrer Linken ganz sachte über seine Hand, die er auf dem Schaltknüppel zu liegen hatte. Sie machte es nur ein einziges Mal, und es war in dieser Geste nichts von einem Anspruch. Sie drückte keine Erwartung aus. Nur Nähe. Einfach nur Nähe. „Sie gehören zu den wenigen Männern, die nichts fragen“, sagte sie. „Soll ich etwas fragen?“ Sie lachte. „Sollen sollen Sie gar nichts“, erwiderte sie. „Wahrscheinlich sind Sie von mir enttäuscht“, sagte er. „Wie kommen Sie darauf. Ich kannte Sie bis vor wenigen Stunden überhaupt nicht, wußte nicht einmal, daß es Sie gibt. Doch“, korrigierte sie sich, „daß es Sie gibt, wußte ich. Ihr Bruder hat Sie ein paarmal erwähnt, aber diese Tatsache allein, ich meine die Erwähnung Ihrer Existenz durch Ihren Bruder, hat doch bei mir keine Erwartung ausgelöst. Und wo keine Erwartung ist, kann auch keine Enttäuschung sein.“ „Lernt man das im Theater?“ wollte Berger wissen. „Was?“ „So zu reden? Sich so auszudrücken? Mir ist das nicht gegeben. Sie reden fast so wie Marion.“ „Im Theater lernt man das nicht“, sagte sie, „obwohl die meisten Schauspieler sehr darin geübt sind, in ihre Rede einfach Rollentexte hineinzumogeln. Stückweise. Immer da, wo es sich anbietet. Das ist nicht schwer. So etwas lernt man ganz schnell, und man kann damit mächtig Eindruck schinden. Allerdings ist es auch gefährlich.“ 155
„Sie meinen, wenn es einer merkt? Wenn es herauskommt?“ „Nein“, sagte sie gedankenverloren, „nein, das meine ich nicht. Es ist manchmal so unwirklich. Man weiß nicht mehr, wer man ist. Und man weiß auch nicht recht, wo man ist. Mein Tag vergeht, daß ich auf dich warte“, sagte sie, und Berger schaute sie erstaunt an, weil sie so unvermittelt zum Du wechselte. „Ich glaube dich tot“, sprach sie weiter, ohne ihn dabei anzusehen, und doch mit großem Ernst, „wenn du einen Augenblick zu spät kommst, vergehe ich vor Angst bei dem Gedanken und lebe erst wieder, wenn du endlich da bist, um fast vor Angst zu sterben, du könntest wieder fortgehen. Jetzt atme ich, denn du sprichst mit mir.“ Sie brach unvermittelt ab und blickte weiter geradeaus. Ihre Augen waren sehr groß und sehr dunkel. Um ihre Mundwinkel war ein schwaches, kaum merkliches Zucken. Berger wußte nicht, was er antworten sollte. Er war hilflos, wie er nie vorher in seinem Leben einer Frau gegenüber hilflos gewesen war. Das waren ungeheure Worte, die sie da ausgesprochen hatte. Wirklich ungeheuer. Daß eine Frau ihm so etwas sagte! Sie schaute ihn prüfend an und lächelte, als sie sah, wie sehr er aus dem Gleichgewicht geraten war. „So ganz schlecht kann ich also nicht gewesen sein“, sagte sie in ihrem ihm gewohnten Tonfall. „Es war nur eine kleine Passage aus einem Stück: ‚Die geliebte Stimme‘ von Jean Cocteau. Von einem Franzosen. Sie werden ihn sicher nicht kennen. In dem Stück gibt es nur eine Frau und ein Telefon. Sie spricht mit dem Mann, den sie liebt und der sich von ihr getrennt hat. Am Ende erdrosselt sie sich mit der Schnur des Telefons. ‚Trenne rasch!‘ ruft sie ihm zu. ‚Trenne! Ich habe dich lieb! Ich hab dich lieb! Ich hab dich lieb! … hab dich lieb … hab dich lieb!‘ Die letzte Re156
gieanmerkung lautet: Der Hörer fällt auf die Erde. Vorhang.“ Obwohl Riccarda ihn diesmal ausdrücklich darauf hingewiesen hatte, daß sie aus einem Stück zitiere, war Berger verunsicherter als eben, da er gedacht hatte, sie gestehe ihm ihre Sehnsucht. Es war unvermittelt ein Zittern in ihre Stimme gekommen, von dem er nicht mehr wußte, ob sie es gewollt hatte wegen der stärkeren Wirkung oder ob es sich ihr aufgezwungen hatte. Und nun rollten ihr tatsächlich Tränen über die Wangen. Sie langte nach der Badetasche auf dem Rücksitz und nahm sich ein Taschentuch heraus. „Scheiße“, sagte sie und heulte immer noch. „Mußte ich auch ausgerechnet aus diesem Stück zitieren. Dabei habe ich es noch nie gespielt. Aber ich kann es jederzeit hersagen. Wort für Wort. Ich habe es für mein erstes Vorspiel gelernt. Wahrscheinlich war es so eine Art Vorahnung. Ich hätte ja auch irgendein anderes Stück nehmen können: ‚Er geht! Auch das noch! Er verachtet mich … Da steh ich in fürchterlicher Einsamkeit – verstoßen – verworfen –‘ “ „Das klingt aber nicht so echt“, sagte Berger. „Dafür aber von Schiller“, sagte sie. „Ja“, bestätigte er, „man hört, daß es von früher ist.“ „Mag sein. Aber ich finde, es ist genauso von heute wie das andere. Immer geht es um die Angst vor der Einsamkeit. Und immer sind es die Frauen, die Angst davor haben.“ „Es sind doch aber immer die Frauen, die sich scheiden lassen. Sie haben sich doch auch scheiden lassen.“ Riccarda hatte sich die Tränen aus dem Gesicht gewischt und schob das Taschentuch wieder in die Badetasche. „Ach“, sagte sie, „ich habe völlig vergessen, Ihnen die belegten Brote anzubieten! Sie müssen doch einen mörderischen Hunger haben. Möchten Sie jetzt eins?“ 157
„Nein“, sagte Berger, „jetzt nicht. Später, wenn wir an Ort und Stelle sind. Sie machen mich bitte rechtzeitig auf die Abfahrt aufmerksam.“ „Mach ich“, sagte sie, „Groß-Köris steht meiner Meinung nach auf dem Wegweiser.“ „Kann ja nicht mehr weit sein“, sagte Berger. „Nein, wir müßten bald ankommen. Im übrigen habe nicht ich mich scheiden lassen.“ „Eine andere Frau?“ „Damals nicht“, antwortete sie. „Jetzt hat er eine andere.“ „Und warum dann?“ „Er wurde nicht fertig mit meiner Selbständigkeit. Er war es achtzehn Jahre lang gewohnt gewesen, für mich so etwas wie ein Vater zu sein. Und als ich ihn als Vater nicht mehr brauchte, wurde er damit nicht fertig.“ „Aha“, sagte Berger, obwohl er nicht völlig begriffen hatte, worauf das Ganze hinauslief. „Es stimmt nicht ganz, daß ich ihn nicht mehr gebraucht habe. Auch als Vater habe ich ihn noch gebraucht, aber eben nicht mehr so stark. Ich brauchte mehr den Partner, ich wollte gleich auf gleich mit ihm stehen. Und irgendwie ging das nicht. Ich rede reichlich abstrakt, wie?“ fragte sie, wartete aber seine Antwort nicht ab, sondern sprach gleich weiter. „Mein Mann, also mein gewesener Mann – es ist scheußlich, später für den eigenen Mann einen Namen finden zu müssen, einen Begriff – er ist Pfarrer.“ „Pfarrer?“ fragte Berger unwillkürlich. „Was erstaunt Sie so daran?“ „Weiß nicht“, sagte Berger, „ich gehe nicht in die Kirche. Vielleicht deshalb. Dürfen sich Pfarrer denn scheiden lassen? Ich dachte immer, die dürfen das nicht.“ „Er ist ein evangelischer Pfarrer“, erklärte sie ihm, „und die dürfen sowohl heiraten als auch sich scheiden lassen. Wenngleich die Kirchenoberen es nicht gern se158
hen. Es hat auch bei uns allerhand Versuche gegeben, die Scheidung zu verhindern. Aber, na ja, wenn es einer ernstlich will … Und für ihn war es wahrscheinlich besser so. Er litt ganz schlimm. In den letzten Wochen vor der Scheidung fiel er fast völlig vom Fleische. Ich war all die Jahre vorher die liebe und brave Frau Pfarrer gewesen. Es war mir nie besonders schwergefallen. Es galt ja vor allem, sich um die Alten zu kümmern. Und ich komme mit alten Leuten ganz gut zurecht. Außerdem waren da die beiden Kinder, dazu der Garten, das Haus. Es gab ausreichend zu tun. Aber ich hatte eben seit meiner Kindheit den Wunsch, Schauspielerin zu werden. Und in einem kleinen Hinterstübchen meines Kopfes ist der Wunsch immer dagewesen. Ich habe kaum noch davon gesprochen, aber der Wunsch war geblieben. Als die Kinder mich nicht mehr so brauchten, entschloß ich mich von einem Tag auf den anderen zu einer Ausbildung als Schauspielerin. Das ging natürlich nur privat und über fünf Ecken, denn ich war fünfunddreißig damals. Die Theater sind mit Frauen gerade dieser Altersgruppe voll bis zum Rand. Die meisten Leute, die sich in der Theaterszene auskannten, sagten: Das ist heller Wahnsinn, Riccarda! Mein Mann sagte das nicht. Er verstand, daß ich mir meinen Kinderwunsch erfüllen wollte. Schließlich hatte ich den auch seinetwegen so lange vor mir hergeschoben. Ich will Sie nicht mit Einzelheiten langweilen, jedenfalls habe ich es geschafft. Mir ist klar, daß ich nicht mehr die Sterne vom Himmel holen werde, dafür bin ich nun wirklich zu alt. Aber selbst in dem kleinen Theater in B., und noch in der kleinsten Rolle, bin ich glücklich. Ich bin schon high, wenn ich das Theater betrete und wenn ich es rieche. Schminke, Farbe, Holz, Leim, Staub. Dieses irrsinnig aufregende Gemisch, von dem jeder andere sagen würde, es stinkt.“ „Und das hat Ihr Mann nicht verkraftet?“ fragte Berger. 159
„Er hatte nicht damit gerechnet, daß ich mich mit dem neuen Beruf auch ändern würde, daß ich große Teile meiner alten Haut abstreifen würde.“ „Wenn meine Frau zum Theater ginge“, bemerkte Berger, „also ich wüßte nicht …“ „Ich weiß schon, was Sie sagen wollen: das Theater, der Hort der Sünde. Jede schläft mit jedem und so. Daß die Schauspielerei vor allem Arbeit ist, darauf kommt ganz selten jemand.“ „Man kennt sich eben in so etwas nicht aus“, sagte Berger. „Ich jedenfalls habe von der Schauspielerei keine Ahnung; und wie merkt man, wenn Sie etwas ehrlich meinen und wenn Sie eine Rolle spielen?“ „Das verrate ich nicht“, antwortete sie mit rätselhaftem Lächeln. „Das ist mein größtes Geheimnis.“ „Schwierig.“ „Gewiß. Und jetzt müssen wir rechts ab“, sagte Riccarda. Während Berger den Wagen von der Autobahn lenkte, kam ihm wieder Gerda in den Sinn, und er überlegte, womit sie wohl jetzt beschäftigt sein könnte. Hoffentlich hat sie sich nach der Arbeit ein bißchen aufs Ohr gelegt, dachte er. Schlaf war für sie das Allerwichtigste. Hatte sie ausreichend Schlaf, konnte sie durchaus auch heiter sein. Wenn sie sich nur nicht so viel im Haushalt zu schaffen machen würde. Ihre ewige Geschäftigkeit in der Wohnung regte ihn auf. Wozu? Seit der Sohn bei der Armee war, lebten sie zu zweit in zweieinhalb Zimmern. Was gab es da nur ewig zu wischen, zu putzen, zu waschen und auszubessern! Andererseits war es vielleicht gerade jetzt ganz gut, wenn sie sich zu schaffen machte und nicht einfach im Sessel saß und grübelte. Sie hatte schon immer eine Neigung zum Grübeln. Es war ihr nicht gegeben, die Dinge auch einmal leichtzunehmen. Außer beim Tanzen. Früher, wenn sie zum Tanz gegangen waren, da war es ihm öfter vorgekommen, als sei 160
das eine gänzlich andere Frau, die sich da auf dem Parkett bewegte. Nie war sie an solchen Abenden müde gewesen. Der nächste Tag war ihr dann schnuppe. Wie eine Verrückte, hatte er so manches liebe Mal zu ihr gesagt, wenn sie außer Atem zurück an den Tisch gekommen war, an dem er, sich langweilend, saß und darauf wartete, daß die Kapelle endlich die Instrumente einpackte. Tanzen wollte sie wieder mal, hatte sie erst gestern abend gesagt. Gestern abend erst. Gestern abend? Das konnte nicht stimmen. Das mußte viel länger her sein. Ihm kam es vor, als handele es sich um Jahre. Und nun saß diese andere Frau neben ihm. „Riccarda“, sagte er halblaut vor sich hin. Sie blickte ihn fragend an. „Ich wollte nur wissen, wie sich Ihr Name anhört“, erklärte er ihr die unwillkürliche Nennung ihres Namens. „Ist mir so rausgerutscht.“ „Und“, fragte sie, „wie hört er sich an?“ „Nicht schlecht.“ „Sie sind reichlich sparsam im Umgang mit Komplimenten.“ „Sie sind ganz andere Männer gewohnt.“ „Wie kommen Sie denn darauf?“ fragte sie. „Was glauben Sie wohl, was sich in einem Städtchen wie B. für besonders tolle Exemplare Ihrer Gattung herumtreiben? B. ist eine Wüste, jedenfalls was Männer anbelangt.“ „Und im Theater?“ fragte Berger. Sie lachte laut auf. „Die lieben Kollegen“, sagte sie. „Entweder handelt es sich bei ihnen um brave Ehemänner oder um dumme Gockel.“ „Man kennt das eben alles viel zuwenig.“ „Kommen Sie mich doch besuchen!“ forderte sie ihn auf. „Ich zeige Ihnen den Betrieb einmal von der Rückseite.“ 161
„Ist das Ihr Ernst?“ „Weshalb nicht?“ „Würde mich schon interessieren.“ „Aber?“ Er schwieg, weil er nicht wußte, wie er ihr beibringen sollte, daß es gestern für ihn vielleicht noch möglich gewesen wäre, eine solche Einladung anzunehmen, heute jedoch nicht mehr. Für ihn hatte mit dieser Nacht eine neue Zeitrechnung begonnen. Von nun an durfte es für ihn nichts anderes mehr geben, als zu Gerda zu halten. Riccarda zu besuchen – und wenn überhaupt, dann würde er sie allein besuchen wollen – war nun zu einem Luxus geworden, der ihm nicht mehr gestattet war. Dabei hatte noch gar nichts angefangen zwischen ihnen, ja, er war sich nicht einmal im klaren darüber, ob sie etwas anfangen wollte, ob sich hinter ihrer Einladung überhaupt ein anderer Grund verbarg als der, ihm das Theater vorzuführen. Und was wollte er? Einen Augenblick lang suchte er sich einzureden, daß er überhaupt nichts wollte, doch dann gab er es auf, sich etwas vorzumachen. Er wollte so leben, wie diese Frau lebte. Er wußte nicht genau, wie sie lebte, aber er spürte, daß es eine gänzlich andere Art zu leben war, als die, die er bisher kennengelernt hatte. Und der Verdacht kam ihm, er könnte falsch gelebt haben, und gleichzeitig mit diesem Verdacht stiegen ihm Verzweiflung und Wut in die Kehle, weil es das Schicksal so niederträchtig eingerichtet hatte, ihm diese Frau genau zu dem Zeitpunkt über den Weg zu schicken, wo es ihm nicht mehr möglich war, an seinem Leben etwas zu ändern. Er war Riccarda dankbar, daß sie schwieg. Er hätte jetzt kein Wort hervorgebracht, ohne zu heulen, und er konnte sich nicht entsinnen, jemals geheult zu haben, seit er die Schule beendet hatte.
162
14 Im Flur der Dietzeschen Wohnung standen noch immer die gepackten Koffer, die Frau Dietze am Morgen als Beweisstücke für die Reiseabsichten vorgezeigt hatte. Ebner registrierte ihr Vorhandensein mit einem gewissen Aufatmen, berechtigte es ihn doch zu der Annahme, Frau Dietze befinde sich nicht auf dem Weg nach Ungarn. Andererseits beantwortete ihre Existenz in keiner Weise die Frage nach dem Grund für ihr Verschwinden und gleich gar nicht die Frage nach dem plötzlichen Vorhandensein einer intakten Autobatterie. Bevor Ebner das Wohnzimmer betrat, blieb er einen Moment an der Tür stehen und suchte aus dieser Distanz seinen jetzigen Eindruck vom Zustand des Zimmers mit dem von heute morgen zu vergleichen. Dieses Vorgehen war ihm zur Gewohnheit geworden, denn er hatte im Verlaufe seiner Tätigkeit die Erfahrung machen müssen, daß die konzentrierte Prüfung des Gesamteindrucks eines Raumes oft mehr über den Menschen verriet, der ihn vor kurzem noch bewohnt hatte, als die hastige und emsige Suche nach Beweisstücken. Ein Kriminalist war schließlich kein Spürhund, der mit der Nase am Boden einer einzigen Spur nachläuft. Ein Kriminalist hatte Augen und dazu eine Art von Gespür, die mit der eines Hundes nicht zu vergleichen war, wenngleich es sich auch dabei um eine Fähigkeit handelte, die sich einer exakten Definition entzog und die neben seinem Verstand und seinen fünf Sinnen existierte. Es blieb dem Geschmack des einzelnen überlassen, welche Bezeichnung er dafür wählte, ob er sie den siebten Sinn nannte oder einfach das notwendige Bauchgefühl. Jedenfalls vermied Ebner in solchen Fällen jegliche Hast und verbat sie sich auch bei seinen Mitarbeitern. Doch diesmal zeitigte seine Methode keinen Erfolg. Das Wohnzimmer verriet ihm nichts von dem möglichen 163
Geschehen, zeigte keinerlei Spuren eines überhasteten Aufbruchs. Nur der Aschenbecher war nicht geleert. Ebner zählte acht Zigarettenkippen, und alle waren sie verschwenderisch früh ausgedrückt worden. Doch konnte man es einer Frau als Verdachtsmoment anrechnen, daß sie kurze Zeit nach dem überraschenden Tod ihres Mannes nervös eine Zigarette an der anderen anzündete, ohne darauf zu achten, daß sie auch ja bis zum letztmöglichen Ende aufgeraucht waren? Wohl kaum. Zur sichtlichen Enttäuschung der beiden Zeugen im Hintergrund unterließ es Ebner, das Wohnzimmer einer gründlichen Prüfung zu unterziehen. Ihren Gesichtern nach zu urteilen, hatten sie mit einem peinlich genauen Durchsuchen aller Schränke und Schubladen gerechnet, mit einem Ausstreuen von deren Inhalten auf dem Fußboden und einem neugierigen Darinherumwühlen. Statt dessen machte Ebner auf dem Absatz kehrt und besichtigte nacheinander die Küche, das Schlafzimmer und einen weiteren Raum, der anscheinend als Gästezimmer gedacht war, denn er enthielt nur eine Couch, einen Schrank und einen Tisch mit einem Stuhl. Auf dem Tisch allerdings stand eine Reiseschreibmaschine, sorgfältig abgedeckt. „Machen Sie eine Schriftprobe“, sagte Ebner zu Schröder. „Worauf?“ fragte Schröder. „Sie werden doch wohl in der Lage sein, einen Bogen Papier in diesem Hause aufzutreiben. Meinetwegen reißen Sie ein Stück Toilettenpapier ab.“ Der Praktikant verließ den Raum und machte sich auf die Suche nach Papier. „Wir brauchen ohnehin irgend etwas, worauf wir das Protokoll schreiben können!“ rief ihm Ebner nach. „Ich kann ja gleich eine ganze Rolle Toilettenpapier holen!“ antwortete Schröder. „Damit stopfe ich Ihnen dann Ihr vorlautes Mund164
werk“, sagte Ebner. Er trat zu einem kleinen Bücherregal, das an der Wand aufgehängt war und las die Titel der wenigen Bücher. Ein paar Krimis von Agatha Christie und Edgar Wallace, allesamt rotfarbene Taschenbücher. Es war genau die Art von Krimis, die Ebner nicht ausstehen konnte: „Das Geheimnis von Sittaford“. Als Anreißer auf der hinteren Umschlagseite ein paar Textauszüge: „Wie wäre es mit einer spiritistischen Sitzung?“ schlug jemand vor. „Heute ist der richtige Abend dafür: stürmisch und unheimlich.“ Plötzlich zitterte der Tisch in rhythmischen Stößen. „T … o … d.“ Laut sprach Ronald die Buchstaben nach. „M … o … r … d.“ Die englischen Krimiautoren haben es leichter als die unsrigen, dachte Ebner, England hat das bessere Wetter für Krimis: immer stürmisch und unheimlich. Und was ist bei uns: heiß und feucht. Und die Leute sehnen sich nach Eisessen statt nach spiritistischen Sitzungen. Neben den roten Krimiheften standen ein paar Bände Johannes Mario Simmel, einmal Kästner-Verse und zwei Bände mit dem Titel „Gewalt und Zärtlichkeit“ von einem Autor, den er nicht kannte. Schröder kam mit einem Packen Schreibmaschinenpapier zurück, deckte die Schreibmaschine ab und mühte sich mit zwei Fingern unbeholfen um die von ihm verlangte Schriftprobe. „Lassen Sie keine Type aus!“ sagte Ebner. „Die Lektion hatten wir schon“, meinte Schröder. „Wäre ja möglich, Sie haben sie versäumt wegen Masern oder irgendeiner anderen Kinderkrankheit“, frotzelte ihn Ebner. Schröder verkniff sich die Antwort, denn er spürte, daß Ebner schlechter Laune war. Wahrscheinlich konnte er sich nicht verzeihen, Frau Dietze ohne Beobachtung gelassen zu haben. 165
„Und dann fangen Sie schon mal an, das Protokoll aufzusetzen!“ wies ihn Ebner noch an, ehe er wieder nach unten ging. Die beiden Zeugen wußten nicht, wie sie sich verhalten sollten, und fragten Schröder, ob sie noch gebraucht würden. „Selbstverständlich“, antwortete er, „Sie müssen ja das Protokoll unterschreiben.“ Da rief Ebner auch schon, sie möchten sich doch nach unten bemühen. Eilig trabten sie die Treppe hinab, denn sie glaubten, der Hauptmann habe nun endlich einen aufregenden, den entscheidenden Fund gemacht. „Sie sehen hier neben dem Telefon das kleine rote Telefonbuch“, sagte Ebner. „Und dieses Telefonbuch werde ich mir in die Tasche stecken und mitnehmen.“ „Das ist alles?“ fragte der Mann aus der Nachbarwohnung. „Ja“, antwortete Ebner, „oder haben Sie mir noch etwas vorzuschlagen, was ich an mich nehmen sollte?“ „Nein, nein“, wehrte der Mann ab, „ich dachte nur, Sie würden gründlicher … Ich meine, in den Krimis sehen die Wohnungen nach solchen Durchsuchungen immer ganz anders aus.“ „Ja“, sagte Ebner, „in den Krimis sieht immer alles ganz anders aus.“ „Sie haben ja nicht einmal den Wäscheschrank durchsucht.“ „Und warum sollte ich das?“ „Alle Leute verstecken im Wäscheschrank, meistens unter der Bettwäsche, das, was keiner finden soll.“ „Sie meinen die Geldbündel?“ „Ja, meistens verstecken die Leute ihr Geld im Wäscheschrank.“ „Sie auch?“ fragte Ebner. Der Mann zögerte mit der Antwort. „Dachte ich mir’s doch“, meinte Ebner lächelnd. 166
„Na ja, nicht alles. Nicht etwa unser ganzes Geld, nur so ein paar hundert Mark.“ „Und eben die Wäscheschränke sind es, die jeder Einbrecher als erstes ansteuert.“ „Tatsächlich?“ „Tatsächlich.“ „Und wo soll man es denn sonst hinlegen?“ „Überallhin, nur nicht in den Wäscheschrank. Wenn Sie es schon nicht zur Sparkasse bringen wollen, dann verstauen Sie es meinetwegen in der Kuckucksuhr.“ „Wir haben keine Kuckucksuhr.“ „Himmelherrgottnochmal“, fluchte Ebner, „lassen Sie sich etwas einfallen. Vergraben Sie’s im Garten, oder packen Sie es unter die Badewanne.“ „Das ist eine Idee!“ stimmte der Mann hocherfreut zu. „Wenn meine Frau nachher kommt, werd ich ihr das gleich sagen. Unter die Badewanne, das ist überhaupt die Idee. Ach nee“, korrigierte er sich im selben Augenblick, „geht ja gar nicht, die ist ja mit Kacheln eingemauert.“ Ebner gab es auf und blätterte im Telefonbuch, bis er die Telefonnummer von Frau Dietzes Mutter fand. Er wählte sie an, und kaum ertönte das Freizeichen, meldete sich auch schon eine Frauenstimme. „Elisabeth“, fragte sie, „bist du es?“ „Nein“, sagte Ebner, „aber ich stehe an Herrn Dietzes Schreibtisch.“ „Wer sind Sie denn?“ „Hauptmann Ebner, Kriminalpolizei. Spreche ich mit Frau Menzel?“ „Wie kommen Sie in die Wohnung meiner Tochter?“ „Durch die Tür“, antwortete Ebner. „Was ist denn passiert? Elisabeth hat mich schon vor über einer Stunde angerufen. Und sie ist immer noch nicht da.“ „Wollte sie zu Ihnen?“ 167
„Ja, sie war sehr aufgeregt. Ist es etwas Schlimmes? Ich weiß gar nicht, wieso sie noch nicht weggefahren sind. Sie wollten doch in Urlaub fahren. Nach Ungarn. Warum sind sie denn nicht gefahren?“ „Das Auto war nicht in Ordnung.“ „Das Auto? Da ist Elisabeth wohl zur Werkstatt gefahren?“ „Das glaube ich nicht, Frau Menzel.“ „Ist denn Werner nicht zu Hause?“ „Nein“, antwortete Ebner. „Die Wohnung ist leer.“ „Und da sind Sie einfach hineingegangen? Man geht doch nicht einfach in eine leere Wohnung. Das gehört sich doch nicht.“ „Darüber können wir uns später noch unterhalten, Frau Menzel“, sagte Ebner ungeduldig. „Was ich jetzt von Ihnen wissen möchte ist: Wo könnte Ihre Tochter hingefahren sein?“ „Wie soll ich das denn wissen? Sie wollte zu mir kommen.“ „Denken Sie bitte in Ruhe nach! Hat sie vielleicht eine Freundin? Oder gibt es ein Ehepaar, mit dem sie auf vertrautem Fuße steht? Vielleicht ist ihr auf dem Weg zu Ihnen eingefallen, erst noch bei Freunden vorbeizufahren?“ „Da hätte Sie mich bestimmt angerufen. Sie weiß doch, wie nervös mich das macht, wenn sie nicht pünktlich ist. Unpünktlichkeit habe ich noch nie vertragen können, schon früher nicht, als mein Mann noch lebte. Wenn wir Streit hatten, dann immer nur wegen seiner Unpünktlichkeit.“ „Wenn Ihre Tochter bei Ihnen eintrifft“, sagte Ebner, „dann rufen Sie bitte folgende Nummer an. Oder besser, bitten Sie Ihre Tochter, diese Nummer anzurufen.“ Er gab ihr die Nummer seines Dienstanschlusses durch und legte auf. Dann suchte er noch ein Foto von Werner Dietze, was er auch fand. Er ging nach oben und sagte Schröder, daß er im Protokoll die Beschlagnahme 168
des Telefonbuches vermerken solle. Das Foto ließ er unerwähnt, um sich keine neugierigen Fragen der beiden Männer zuzuziehen. Nachdem Schröder das fertige Protokoll aus der Maschine gezogen hatte, wollte er es den beiden Zeugen zur Unterschrift vorlegen. „Augenblick noch“, sagte Ebner. „Die beiden Herren haben einen heißen Tip auf Lager. Wollen wir dem doch zur Beruhigung unseres Gewissens nachgehen.“ Und von Ebner geführt, begaben sie sich allesamt in das Schlafzimmer. „Nu bin ich aber ma gespannt“, sagte der Mann aus der Nachbarwohnung. Ebner öffnete die Tür des Wäscheschrankes und durchsuchte mit geübtem Griff die peinlich genau gelegte Bettwäsche. Wie er erwartet hatte, fand sich nichts dazwischen. „Dumm ist die nicht“, bemerkte der Mann, „die ist gewieft. Die weiß eben, daß alle Leute ihr Geld im Wäscheschrank verstecken.“ „Nun wissen Sie es ja auch“, entgegnete ihm Ebner mit leichtem Sarkasmus. „Ja, nu weeß ich das“, bestätigte der ihm. „Aber eens muß man der Frau lassen“, setzte er hinzu, „schlampig isse nich. Alles gewischt und gewienert und die Wäsche auf Kante, wie beim Militär.“ Die beiden Zeugen unterschrieben. Sie gingen alle vier nach unten und verließen das Haus. Ebner zog seinen Bund mit Spezialschlüsseln aus der Tasche und verschloß die Tür. „Wenn Sie nich bei der Kripo wären“, meinte der Mann, „könnten Sie auch als Einbrecher gehen. Mit der Ausrüstung wär das ’n Kinderspiel.“ Ebner lachte. „Vor allem, weil ich ja nun weiß, wo Sie Ihr Geld aufbewahren“, sagte er. 169
Am Auto wurde Ebner vom Fahrer mit der Nachricht empfangen, daß das rot-weiße Klappfahrrad gefunden worden sei. „Nicht zu fassen“, sagte Ebner, „wir haben mehr Glück, als uns zusteht. Gleich werde ich abergläubisch.“ „Ein ABV hat es zufällig entdeckt, weil Kinder sich darum stritten. Jedes wollte damit fahren“, erläuterte Willi. „Der Fundort war in nächster Nähe des Hauses, vor dessen Tür das Moped gestohlen wurde.“ „Eigenartiger Zufall“, meinte Ebner. „Wie reimt sich das denn?“ Schröder, der sich angesprochen fühlte, zuckte die Schultern. „Also fahren wir hin“, sagte Ebner, „das heißt, Sie, Genosse Schröder, bleiben so lange hier, bis Sie von einem Mann von der Fahndung abgelöst werden. Ich fordere ihn gleich an. Die Wohnung bleibt unter Beobachtung, bis wir wissen, wo Frau Dietze abgeblieben ist. Ein weißer LADA muß sich doch finden lassen“, fügte er hinzu. „Schließlich haben wir sein Kennzeichen. Anscheinend sind sämtliche Streifen anderweitig beschäftigt.“ „Mit Eisessen zum Beispiel“, meinte der Fahrer.
15 Gerda Berger war nach Ladenschluß erschöpft nach Hause gekommen und hatte sich, ohne vorher etwas zu essen, auf die Couch im Wohnzimmer gelegt und war sogleich eingeschlafen. Als es an der Wohnungstür klingelte, hielt sie das Geräusch zunächst für einen Teil ihres Traumes. Doch nach dem dritten Läuten wurde sie wach und merkte, daß es kein Traum war. Sie erhob sich, noch immer benommen von der Tiefe des Schlafes, in den sie gefallen war, und ging zur Tür und öffnete. 170
Sie war nicht überrascht, den alten Herrn Mager vor sich zu haben. Nicht selten fehlte ihm irgendeine Kleinigkeit, die er vergessen hatte einzukaufen, oder er fragte sie nach Einzelheiten der Zubereitung bestimmter Speisen, manchmal bat er sie auch auf einen Sprung nach oben, damit sie ihm bei der einen oder anderen Sache im Haushalt behilflich war, in der er sich nicht auskannte. Da sie ihn mochte und er stets freundlich war, er nannte sich selber halb ernst, halb spöttisch einen Kavalier der alten Schule, beriet und half sie ihm gern. „Hab ich Sie im Schlaf gestört?“ fragte er. „Nein, nein“, beruhigte sie ihn, „es war sowieso Zeit zum Aufstehen. Ich kann ja nicht den ganzen Nachmittag verschlafen.“ „Wenn Sie sich wieder hinlegen wollen“, sagte er trotzdem, „ich komme gern noch mal wieder.“ „Ach was“, sagte Frau Berger, „nun rücken Sie schon ’raus mit der Sprache! Wo brennt’s denn?“ „Ich wollte Sie bitten, einen Augenblick zu mir nach oben zu kommen. Ich möchte Ihnen etwas zeigen. Etwas, das Sie sicher interessieren wird.“ „Augenblickchen“, sagte sie. „Ich komme gleich hoch. Ich will mir nur noch ein bißchen Wasser ins Gesicht schütten. Ich sehe noch so verschlafen aus. Kämmen muß ich mich wohl auch.“ „Ist gut“, sagte er und ging. Nachdem sie sich das Gesicht mit kaltem Wasser gewaschen hatte, zog sie sich noch die Lippen nach und bürstete ihr Haar. Sie wußte, daß Mager es gern hatte, wenn sie so tat, als mache sie sich seinetwegen zurecht. Die alten Herren wollen sich eben nicht zum alten Eisen geworfen sehen. Sicher brauchen auch sie die Vorstellung, daß Frauen in ihnen noch den Mann sehen und nicht irgendein Neutrum. Und was bereitet es ihr schon für Mühe? Gar keine. Es machte ihr eher noch Spaß, mit 171
ihm ein wenig zu flirten. Er konnte ja wirklich reizend sein, und immerhin war er der einzige Mann in ihrem Leben, der ihr je einen Handkuß gegeben hatte. Sie war zwar im ersten Moment erschrocken gewesen, als er dazu ansetzte, und hatte die Hand wegziehen wollen, empfand den Handkuß dann aber doch als eine charmante Geste. Mager wohnte in der obersten Etage, und dort war es in diesen Tagen besonders heiß. Mit Ausnahme der Wohnungstür hatte er alle Fenster und Türen weit offenstehen, damit wenigstens die Andeutung eines frischen Luftzuges möglich wurde. Das Wohnzimmer war mit Möbeln recht unterschiedlichen Alters vollgestellt. In seiner Art war es ein Wohnzimmer, wie man es häufig bei alten Menschen antrifft, denen der Krieg die Einrichtung zerstört hatte. Danach war dann ein Stück zum anderen gekommen. Je nach Gelegenheit. Später fiel es schwer, sich wieder von einem Möbel zu trennen, und wenn es den Gesamteindruck noch so sehr störte, hing doch Geschichte an ihm, verbanden sich wesentliche und unwesentliche Erlebnisse mit seiner Existenz. Am Anfang ihrer Bekanntschaft hatte Mager manchmal noch die Absicht geäußert, das meiste von dem alten Plunder, wie er sich auszudrücken pflegte, auf den Sperrmüllplatz zu schaffen. Doch mit den Jahren sprach er immer seltener davon und seit neustem meinte er, der Aufwand lohne sich ganz einfach nicht mehr. Heute hatte er eine weiße Tischdecke aufgelegt und zwei Weingläser bereitgestellt. In der Mitte eine Flasche Weißwein, der man ansah, daß sie frisch aus dem Kühlschrank kam, so beschlagen war sie. Gerda Berger war verblüfft über diese unerwartete Festlichkeit. „Sie haben doch nicht etwa Geburtstag?“ fragte sie. Mager schüttelte den Kopf. „Das wissen Sie doch, daß ich im Dezember Ge172
burtstag habe“, sagte er. „Vergessen Sie doch nie. Sie treiben immer irgendwo Blumen auf im Dezember. Sie denken an unsereinen. Sie vergessen das nicht. Bitte, nehmen Sie doch Platz. Der Wein ist eiskalt. Wird Ihnen guttun, bei der Hitze.“ „Vielleicht kippe ich nach dem ersten Schluck vom Stuhl“, antwortete sie. „Wenn es so heiß ist, vertrage ich nicht viel.“ „Ein Gläschen“, ermunterte Mager sie, „ein einziges Gläschen wird Sie schon nicht gleich umwerfen.“ Sie setzte sich und wußte noch immer nicht, wozu sie gebeten worden war. Aber sie hatte nichts gegen die Abwechslung. Unten in ihrer Wohnung hätte sie sowieso nur dagesessen und gegrübelt und sich geängstigt. Nachher wollte sie zum Münzfernsprecher gehen und in Berlin anrufen. Es gab zwar nichts Neues zu berichten, aber sie wollte Manfreds Stimme hören, wollte sich von ihm beruhigt wissen. Mager schenkte ein. Er tat es vorschriftsmäßig, den linken Arm hinten auf dem Rücken haltend, und selbstverständlich goß er die obere Lage, die eventuell Korkenrückstände enthalten oder nach Korken schmecken könnte, zuerst in sein Glas. Ehe er sich zu ihr an den Tisch setzte, ging er auf den winzigen Balkon und kam zurück mit einem in einen alten Lappen gewickelten Gegenstand in der Hand. „Endlich habe ich auch einmal Gelegenheit, Ihnen einen Gefallen zu tun“, sagte er, „und obwohl es ja kein schöner Anlaß ist, bin ich doch fast froh darüber.“ Er entfernte den Lappen und hatte nun einen Feldstein in der Hand. Vielsagend schaute er auf die Frau. Gerda Berger begriff nicht gleich, was es mit dem Stein für eine Bewandtnis hatte. „Ich bin noch in der Nacht nach unten gegangen“, erklärte er ihr, „und habe den Stein nach oben geholt. Den hatte Ihr Mann vergessen. Das wäre das entscheidende 173
Indiz gewesen, wie man das vor Gericht nennt. Nun aber gibt es ihn nicht mehr. Verstehen Sie? Ich habe ihn sichergestellt.“ Gerda Berger war alles Blut aus dem Gesicht gewichen. Sie wollte etwas sagen, brachte aber nur ein Lallen hervor, weil ihre Lippen zitterten. Mager hatte den Stein wieder mit dem Lappen umwickelt und auf den Balkon gebracht. Nun setzte er sich zu ihr an den Tisch. „Bleiben Sie ganz ruhig“, sagte er. „Es kann Ihnen nichts mehr geschehen. Ich habe den Stein doch weggeräumt.“ „Da haben Sie also alles …“ Mager nickte. „Habe ich“, sagte er. Sie schlug die Hände vors Gesicht. „Trinken Sie einen Schluck“, sagte er. „Wein hilft vergessen.“ „Es ist alles so schrecklich“, sagte Gerda Berger. Mager schob das Glas näher zu ihr und hob das seine auffordernd hoch. Sie tranken beide schweigend. „Gut?“ fragte er. Sie nickte. „Es war ja nicht die Schuld Ihres Gatten“, suchte er beruhigend auf sie einzureden. „Ich habe alles mit angesehen. Es war nicht seine Schuld. Das Pech war der Stein da“, sagte er und wies mit der Hand in Richtung Balkon. „Wäre der Stein nicht gewesen, wäre sicher alles halb so schlimm. Aber wie eben die Zufälle im Leben manchmal sind.“ Gerda nickte erneut. Der Zuspruch tat ihr wohl, obwohl sie im ersten Moment durch die Mitwisserschaft des alten Mannes in Angst versetzt worden war. Glücklicherweise war es dieser sympathische und freundliche Herr Mager. Auf ihn war Verlaß. „Ich bin Ihnen ja so dankbar“, sagte sie, „daß Sie das für uns getan haben.“ 174
„Müssen Sie nicht“, entgegnete Mager, „müssen Sie wirklich nicht. Ich sagte Ihnen doch schon, daß ich mich freue, Ihnen endlich einmal helfen, zu dürfen.“ „Jeder handelt nicht so.“ „Bin ich denn jeder, Frau Berger?“ fragte der Alte. „Natürlich nicht, ich meinte ja nur, daß es selten ist.“ „Ich habe es für Sie getan“, sagte Mager. „Vor allem mein Mann wird Ihnen dankbar sein.“ „Was geht mich Ihr Mann an?“ fragte Mager. „Wieso?“ fragte sie zurück. „Wie meinen Sie das?“ „Na so, wie ich es gesagt habe. Ich habe es Ihretwegen getan.“ Gerda Berger war verunsichert. Das Verhalten des alten, immer so freundlichen Mannes hatte sich geändert. Er sprach mit einemmal anders. Selbstbewußter. Befehlend fast, obwohl er ja nichts befohlen hatte. „Dann danke ich Ihnen auch sehr“, sagte sie leise. Es klang schon fast unterwürfig. „Ja“, sagte Mager, „das dürfen Sie.“ Und wieder hob er sein Glas und forderte sie auf mitzutrinken. „Dankeschön“, sagte sie, als sie das Glas absetzte. Mager schaute sie an und schwieg. Ihr wurde unbehaglich unter seinem Blick. Sie hatte bei der Hitze ohnehin wenig an, aber der Blick zog sie vollends aus. Sie stand auf. „Nun muß ich aber gehen“, sagte sie, „ich habe noch zu tun. Sie wissen ja: Wochenendputz.“ Mager hatte sich gleichfalls erhoben, aber nur, um sie wieder auf den Stuhl zu drücken. „Wir haben viel Zeit heute“, sagte er. „Sie sind allein. Es ist so selten, daß Sie mal allein sind.“ „Ich habe wirklich zu tun, Herr Mager“, suchte sie zu protestieren. Mager schüttelte den Kopf. „Wir haben nicht einmal jeder ein Glas leergetrunken“, sagte er lächelnd, „und 175
Sie wollen mich schon wieder verlassen. Ich bin immer allein.“ „Ja“, sagte sie, „das ist sicher schwer.“ „Wie man es nimmt“, meinte er, „einesteils, anderenteils. Alles im Leben hat seine zwei Seiten.“ „Demnach sind Sie gern allein?“ „Wissen Sie, ich lese gern“, erläuterte er ihr, „und früher hat mich meine Frau dabei immer gestört. Ich lese auch gern beim Essen. Das durfte ich bei ihr nicht. Jetzt darf ich. Jetzt kann ich lesen, solange und soviel ich will. Ich bin einmal schon fast durch, durch die Bibliothek vorn an der Ecke. Nun muß ich mir entweder eine andere suchen oder wieder von vorn anfangen. Bei manchen Büchern lohnt es sich ja, wenn man sie zweimal liest, manche kann man auch dreimal lesen. Aber das sind nur wenige. Haben Sie Balzac gelesen?“ „Ich lese kaum“, gestand Gerda Berger. „Oh“, sagte Mager, „da versäumen Sie etwas im Leben. Glauben Sie mir! Balzac zum Beispiel, der wußte alles von uns Menschen. Alles. Wenn Sie Balzac gelesen haben, ist Ihnen nichts mehr fremd.“ Er trank sein Glas leer und hielt sie gleichfalls dazu an. Dann füllte er beide Gläser aufs neue. Gerda Berger erhob keinen Protest mehr. Es begann ihr im Gegenteil zu gefallen hier oben, und der alte Herr Mager war auch wieder so geworden, wie sie ihn kannte und mochte. Außerdem blieb der Wein nicht ohne Wirkung. Alles, was eben noch furchtbar schlimm gewesen war, war es jetzt weit weniger. Wir haben irgendwie Glück gehabt, sagte sie sich. Obwohl es ganz schlimm war, haben wir Glück gehabt. Sie griff nach ihrem Glas und hob es Mager entgegen. „Sie sind ein ganz Lieber“, sagte sie. „Danke“, erwiderte Mager und neigte leicht den Kopf. Nachdem sie getrunken und das Glas abgesetzt hatte, lachte sie leicht auf. 176
„Weshalb lachen Sie?“ wollte er wissen. „Mir fiel eben ein, daß es eigentlich schade ist, daß ich Ihnen nicht früher begegnet bin“, sagte sie. „Ich glaube, ich hätte mich in Sie verliebt. Die Männer heute sind nicht mehr so.“ Mager schwieg, und nur um seine Lippen spielte ein kaum merkbares vieldeutiges Lächeln. „Sie haben irgend etwas“, redete sie munter weiter, „was die anderen Männer nicht haben. Das ist mir vom ersten Tag an aufgefallen.“ „Und was ist das?“ wollte Mager wissen. Sie kicherte. „Was wollen Sie denn jetzt hören, Herr Mager? Soll ich Ihnen sagen, daß Sie sexy sind?“ „Warum nicht?“ Gegen ihren Willen lehnte sie sich zurück und lachte laut auf. Sogleich merkte sie aber, daß sie den Mann damit beleidigt hatte. „Entschuldigen Sie“, suchte sie die Wirkung ihres Lachens abzuschwächen, „natürlich sind Sie ein Mann. Ich wollte wirklich nicht sagen, daß ich Sie nicht für einen Mann halte und nur für einen Opa oder so.“ „Ich bin ein Mann“, sagte Mager. „Ja“, bestätigte sie, „sage ich doch. Sogar ein auffallend höflicher. Außerdem ist mir auch gleich am ersten Tag aufgefallen, daß Sie – ja, wie soll ich es sagen … Ich will ja bei Ihnen nicht wieder ins Fettnäpfchen treten –, ich meine, Sie riechen nicht wie ein alter Mann.“ „Danke“, sagte Mager. „Dafür müssen Sie mir doch nicht danken.“ „Doch“, antwortete er, „ich bin Ihnen dankbar, daß Sie sich nicht vor mir ekeln.“ „Habe ich doch wieder etwas Falsches gesagt. Aber ich habe Sie gewarnt, Herr Mager! Bei der Hitze steigt mir der Wein einszweidrei zu Kopfe!“ „Ich hab’s gern“, sagte Mager. 177
„Das kann ich mir denken“, rief sie, „Ihr Männer habt es alle gern, wenn wir Frauen ein bißchen beschwipst sind, weil Ihr denkt, beschwipst sind wir leichter rumzukriegen. Ich kenn euch! Ihr seid ganz Schlimme!“ „Ist es Ihnen nicht zu warm?“ fragte Mager. „O ja“, sagte sie. „Am liebsten würde ich nackt rumlaufen!“ „Warum tun Sie’s dann nicht?“ „Das würde Ihnen so gefallen, wie? Sie sind ja auch so ein ganz Schlimmer. Hätte ich gar nicht gedacht!“ Mager war aufgestanden und zu ihr gegangen und wollte ihr nur die Bluse aufknöpfen. Sie schlug ihm auf die Finger. „Na hören Sie mal!“ „Ich denke, es ist Ihnen zu heiß?“ Seine Stimme klang heiser und erregt. Ihr leichter Schwips verlor sich schlagartig. Mit beiden Händen hielt sie sich den alten Mann vom Leibe. „Was haben Sie vor“, fragte sie nun ohne jegliche Heiterkeit in der Stimme. „Haben Sie nicht eben erst gesagt: Ich bin Ihnen dankbar?“ fragte er. Ihre Augen weiteten sich, als sie begriff, worauf die Einladung hinauslief. Und sie drückte ihn noch energischer von sich weg. „Demnach haben Sie gelogen“, sagte er, „Sie sind überhaupt nicht dankbar.“ Er ging zurück zu seinem Stuhl und setzte sich. Beide schwiegen sie. „Herr Mager“, wagte Gerda Berger vorsichtig den Versuch einer Erklärung, „ich mag Sie, und ich habe nicht gelogen, ich bin Ihnen dankbar.“ „Aber?“ fragte er. „Ich weiß nicht, wie ich Ihnen das erklären soll. Ihr Männer stellt euch wahrscheinlich immer vor, bei uns Frauen geht das alles so einfach.“ 178
„Ist es denn nicht so?“ „Nein“, sagte sie, „es ist nicht so. Jedenfalls ist es bei mir nicht so.“ „Sie haben gesagt, Sie ekelten sich vor mir nicht.“ „Das stimmt ja auch.“ „Aber?“ fragte er wieder. „Es geht nicht. Stellen Sie sich das doch selber einmal vor.“ „Das habe ich oft getan“, sagte er. „Jeden Tag mindestens einmal habe ich es mir vorgestellt, seit ich Sie kenne.“ „Mein Gott“, entfuhr es ihr, „ist das wahr?“ Er nickte. „Und ich habe nichts davon gemerkt“, sagte sie, „ich dachte immer, Sie wären …“ „Ein höflicher alter Trottel“, unterbrach er sie. „Nein, nein, das habe ich nicht gedacht. Niemals. Ich wußte doch aber nicht, daß bei euch Männern … Ich meine, eine Frau, wenn sie über die Jahre hinaus ist …“ „Unsinn“, sagte er ruhig. „Alles dummes Gequatsche.“ „Sie könnten also noch mit einer Frau …“ „Nicht mit einer Frau, nicht mit irgendeiner. Wenn das so wäre, könnte ich mit der alten Tante, die ab und zu vorbeikommt und guckt, ob ich noch lebe, die von der Volkssolidarität, Sie kennen sie doch, mit der könnte ich wahrscheinlich jedesmal. Die redet immer drum herum, macht ihre dummen Witze, und wenn sie aufs Klo geht, schließt sie die Tür nicht zu. Aber mit der könnte ich bestimmt nicht. Sehen Sie, das ist der einzige Unterschied zwischen einem Manne von beispielsweise dreißig und einem von siebzig. Der mit dreißig kann mit jeder, der mit siebzig kann nur mit einer, die er wirklich mag.“ „Deshalb also der Wein“, sagte sie. „Sie wollten mich betrunken machen, damit ich auf Ihren Vorschlag eingehe.“ 179
„Ich wollte es Ihnen leicht machen“, korrigierte er sie, „denn es handelt sich ja nicht um einen Vorschlag.“ „Sondern?“ „Ja, wie soll ich sagen? Um etwas Selbstverständliches.“ „Für mich ist Ihr Vorschlag der reinste Irrtum.“ „Sie sprechen schon wieder von einem Vorschlag.“ „Wovon soll ich denn sonst sprechen?“ schrie sie. „Von Erpressung vielleicht?“ „Sie sollten leiser sprechen“, sagte er, „es stehen alle Fenster weit offen.“ „Ist mir doch egal. Sollen die Leute doch hören, was Sie mir für dreckige Anträge machen.“ „So kenne ich Sie ja gar nicht“, sagte Mager. „Und ich Sie auch nicht.“ Er lächelte. „Na, dann nutzen wir doch die Gelegenheit, uns endlich kennenzulernen“, sagte er und erhob sich erneut. „Ich schreie!“ drohte sie. „Kommen Sie mir nicht zu nahe! Ich schreie wirklich!“ „Das glaube ich nicht“, sagte Mager. „Lieben Sie Ihren Mann wirklich sowenig?“ „Sie Schwein“, flüsterte sie, „Sie geiles altes Erpresserschwein.“ Magers Augen verengten sich. Eine immer noch wachsende Röte zeichnete sein Gesicht. Und doch war es nicht Wut, die diese Veränderungen bewirkte. „Ich glaube nicht“, sagte er mit mühsam erzwungener Ruhe, „daß ich diese Worte aus Ihrem Munde verdient habe.“ „Ach, Sie hatten wohl erwartet, ich falle Ihnen um den Hals?“ entgegnete Gerda. „Nein, ich weiß, daß diese Zeiten für mich vorbei sind. Ich wundere mich nur, daß Ihnen nie vorher aufgefallen ist, daß ich Sie liebe. Nun können Sie mich wieder beschimpfen. Bitte, tun Sie sich keinen Zwang an. Machen 180
Sie aus Ihrem Herzen keine Mördergrube. Immer ’raus mit der Sprache! Nur ändert es nichts an meinen Gefühlen für Sie, und ich sehe beim besten Willen nichts Verbrecherisches darin, daß ich Sie einmal, ein einziges Mal nur, in meinen Armen halten möchte. Einmal. Ist das zuviel verlangt?“ „Und wieso haben Sie mit mir nicht früher darüber gesprochen? Warum mußten Sie es ausgerechnet jetzt tun?“ „Weil ich ein illusionsloser Mensch bin. Ich sagte Ihnen, ich habe Balzac gelesen. Danach hat man keine Illusionen mehr. Ich habe überhaupt viel über die Menschen nachgedacht. Ich habe viel Zeit, über die Menschen nachzudenken. Und je mehr man über sie nachdenkt, um so mehr verliert man die Illusionen über sie. Außerdem hatte ich ein Leben lang Zeit, meine Erfahrungen zu machen. Deshalb weiß ich, daß man keine Chance ungenutzt lassen darf. Der Zufall hat mich aus dem Fenster sehen lassen, gestern abend. Meinetwegen können wir den Zufall auch Schicksal nennen. Es ist ganz gleich, wie wir das nennen, was mir da in die Hände gespielt worden ist. Und ich will Ihnen auch noch verraten, daß ich möglicherweise einen schlechten Nachgeschmack haben werde, weil Sie es gezwungen tun werden. Ja, ich habe auch darüber nachgedacht. Und Sie können mir glauben, es wäre mir tausendmal lieber, Sie würden es von sich aus tun. Aber ich weiß, daß ich keine Wahl habe. Einmal noch in meinem Leben will ich eine Frau lieben. Eine, die ich begehre. Danach mag meinetwegen die Welt untergehen.“ Er wandte sich von ihr ab und ging zum Fenster. Er hatte Zeit. Und er hoffte immer noch, sie würde von sich aus dazu bereit sein. Er hoffte es, obwohl er eben behauptet hatte, er sei ohne Illusionen. Und es war dieser Augenblick, der ihn lehrte, daß auch das eine Illusion war, nämlich zu glauben, man habe keine Illusionen mehr. 181
„Und wenn ich es nicht tue“, fragte Gerda Berger, „wären Sie imstande, die Polizei zu rufen?“ „Ich halte das für möglich“, antwortete er. „Ich glaube, daß wir Menschen zu allem imstande sind. Und, sagen Sie doch selbst, weshalb sollte ich es denn nicht tun? Sie wissen so gut wie ich, daß ich mich mit dem Stein da auf dem Balkon strafbar mache. Und weshalb sollte ich mich am Ende meines Lebens strafbar machen?“ Wieder entstand eine lange Pause. An den Wein dachte nun keiner von beiden mehr. „Vor Jahren“, sprach er schließlich weiter, „vor vielen Jahren habe ich in Westdeutschland einen Film gesehen. Damals lebte meine Frau noch. Jetzt fahre ich kaum noch ’rüber. Und der Film handelte von einer jungen Frau … Aber ich weiß gar nicht, ob man das richtig erzählen kann“, unterbrach er sich, „einen Film kann man schwer jemandem erzählen, der ihn nicht gesehen hat. Und wenn ihn jemand gesehen hat, dann hat er ihn ganz anders gesehen. Ist Ihnen das auch schon aufgefallen?“ Er blickte sich fragend nach ihr um, doch sie gab nicht zu erkennen, ob sie ihm überhaupt zuhörte. „Also jedenfalls handelte der Film von einer jungen Frau, die sich zu jenen legt, zu denen sich niemand sonst legt. Zu Krüppeln, zu Säufern und zu den Alten. Sie macht das wie eine Heilige. Die Leute nennen sie natürlich eine Hure. Die Anständigen sind immer die Huren. Am Ende kommt sie in eine Anstalt. Es war ein guter Film. Ich weiß noch, wie meine Frau beim Hinausgehen sagte: So was gibt’s doch gar nicht, sowas gibt’s doch bloß im Film. Doch, habe ich geantwortet, so etwas gibt es. Aber damals wußte ich eben noch nicht alles.“ Plötzlich läutete es an der Tür. Mager drehte sich erstaunt um. Es war selten, daß es bei ihm an der Tür läutete. Gerda Berger atmete auf. Die Tatsache, daß jemand 182
draußen vor der Tür stand, entband sie zwar nicht von der Notwendigkeit, eine Entscheidung zu treffen, gewährte ihr aber wenigstens einen Aufschub, ließ ihr Zeit zum Nachdenken. Als Mager zur Tür ging, erhob sie sich und wollte gleichfalls zur Tür. „Sie bleiben“, sagte Mager. Zurück kam er mit Hauptmann Ebner und dem Praktikanten. „Frau Berger“, stellte er Gerda den Kriminalisten vor. „Das trifft sich ja gut“, sagte Ebner, „wir dachten schon, Sie seien nicht zu Hause. Dann hätten wir noch mal kommen müssen.“ „Die Herren sind von der Kriminalpolizei“, sagte Mager zu Gerda. „Wir hätten gern gewußt, ob Sie gestern diesen Mann hier in der Nähe irgendwo gesehen haben“, fragte Ebner und zeigte das Foto von Werner Dietze. Mager nahm absichtlich als erster das Bild in die Hand und hielt es sich in großem Abstand vor die Augen. „Ohne Brille wird’s wohl doch nichts“, sagte er schließlich. Er legte das Foto auf die Tischseite, wo er sein Glas zu stehen hatte, setzte sich umständlich die Brille auf und griff erneut nach dem Foto. „Nein“, sagte er, „der war nicht hier. Den hätte ich gesehen. Wenn der hier unten vor dem Hause gewesen wäre, hätte ich ihn gesehen, hundertprozentig. Ich sitze nämlich meistens am Fenster. Ist es nicht so, Frau Berger?“ Gerda nickte. Mager hielt ihr kurz das Foto hin. „Kennen Sie auch nicht“, legte er ihr die Antwort in den Mund, „nicht wahr? Nein, der Mann war nicht hier.“ „Hmm“, sagte Ebner, „merkwürdig ist das schon. Sind Sie Autobesitzer?“ fragte er Mager. 183
„Nein“, antwortete der, „Auto habe ich keins. Will auch gar keins haben. In meinem Alter nicht mehr.“ „Und Sie, Frau Berger?“ „Ja,“, sagte sie, „wir haben ein Auto.“ „Welcher Typ?“ „Ein LADA.“ „Steht er unten vorm Haus?“ „Nein“, sagte sie. Mager blickte aufmerksam zu ihr hin. Er sah, wie schwer ihr das Sprechen fiel. „Herr Berger ist gestern weggefahren“, sagte er. „Ein nagelneues Auto reizt eben. Bergers haben das Auto erst seit ein paar Tagen. Vorher hatten sie einen TRABI. Ein LADA ist eben doch etwas anderes.“ „Und wann ist er weggefahren?“ wollte Ebner wissen. „Na, wann wird denn das gewesen sein?“ Mager tat, als überlegte er. „War das nicht so gegen sieben, Frau Berger?“ Gerda Berger nickte. „Und wohin ist Ihr Mann gefahren?“ „Eigentlich nur so“, antwortete sie. „Ins Blaue. Zu seinem Bruder wahrscheinlich, nach Berlin.“ „Aber Sie wissen es nicht genau?“ „Nein“, sagte sie, „genau weiß ich es nicht.“ „Ist das üblich bei Ihnen“, fragte Ebner, „ich meine, daß Ihr Mann Ihnen nicht verrät, wohin er fährt?“ „Nein“, antwortete sie, „sonst ist das nicht so.“ „Und weshalb diesmal?“ „Ich mußte ja heut vormittag arbeiten. Ich bin Kassiererin in der Kaufhalle, und die hat Sonnabendvormittag geöffnet.“ „Deshalb mußte Ihnen doch aber Ihr Mann nicht sein Fahrtziel verheimlichen.“ Gerda zögerte mit ihrer Antwort. „Wir hatten Streit“, sagte sie schließlich. „Aha.“ 184
„Ja, und deswegen sitzt sie jetzt bei mir“, mischte sich Mager ins Gespräch. Er hatte gespannt auf die Erklärung gewartet, die Gerda Berger dem Kriminalisten für die Reise ihres Mannes geben würde. Da er sie nun vernommen hatte, konnte er ihr weiterhelfen. „Ich bin so ein bißchen ihr Vater“, sagte er zu Ebner, „na ja, mehr so Beichtvater. Wir kennen uns ja schon viele Jahre. Sind’s nicht bald acht Jahre, Frau Berger?“ „Ja“, sagte sie, „es müssen jetzt bald acht Jahre sein. Im September sind wir eingezogen. Im September werden es acht Jahre.“ „Frau Berger hilft mir oft“, sagte Mager. „Ich bin zwar nicht gerade unpraktisch, aber als Mann hat man eben doch nicht die Erfahrung im Haushalt wie eine Frau. Und will man etwas Besonderes kochen, da braucht man eben Rat. Heute ist es nun mal umgekehrt, heute kann ich ihr beistehen. Einen kleinen Seelentrost braucht ja jeder irgendwann einmal. Oder ist das bei Ihnen nicht so?“ „Doch“, sagte Ebner, „ohne geht es nicht.“ „Freut mich zu hören“, sagte Mager, „denn die harten Typen in den Krimis sind nicht mein Fall. Ich traue denen nicht. Wer sich nach außen so hart macht, den habe ich im Verdacht, daß er irgendwie unsicher ist. Manchmal kommen mir solche Männer wie kleine Jungens vor, die Erwachsene spielen. Ich meine, man sieht es ihnen förmlich an, wie sie sich anstrengen müssen.“ „Sie sind ein kluger Mensch“, sagte Ebner. „Sie durchschauen die Leute. Wollen Sie nicht bei uns anfangen?“ Mager lachte, und die anderen lachten auch. Er brachte die beiden Kriminalisten zur Tür, und Gerda Berger hörte, wie sie erneut in ein Lachen ausbrachen, aber sie hatte nicht verstehen können, was der Grund für die Heiterkeit gewesen war. Händereibend kam Mager ins Zimmer zurück. „Na“, sagte er, „wie habe ich das gemacht?“ 185
„Sie waren gut“, lobte ihn Frau Berger. „Es gab Zeiten, da habe ich mich geärgert, wenn die Leute, vor allem die jungen Männer, mich für ga-ga hielten, für verkalkt oder bekloppt, oder was weiß ich, jedenfalls machten sie sich nicht die Mühe, mich für voll zu nehmen. Doch inzwischen habe ich gelernt, meinen Nutzen daraus zu ziehen. Sollen sie doch, sage ich mir jetzt, desto besser für mich. Wer nicht für voll genommen wird, der muß sich nicht so viel Mühe geben, die Leute hinters Licht zu führen.“ Noch während er sprach, war er auf den Balkon getreten, hatte der Abfahrt der Kriminalisten zugesehen, und kam jetzt erneut mit dem eingewickelten Stein in der Hand zurück. „O wie gut, daß niemand weiß …“, sagte er grinsend. Und er fügte in verschwörerischem Tone hinzu: „Nur Sie und ich. Ist doch eine gute Sache. Finden Sie nicht auch? Nicht einmal Ihr Mann weiß, wo sich der Stein befindet. Auf die Idee, daß er bei mir liegen könnte, käme er sicher nicht. Mir altem Manne traut man so etwas nicht zu. Das ist genau der Punkt, den ich meinte. Weil man einem alten Manne kaum noch etwas zutraut, kann der sich so allerhand zutrauen. Darauf trinken wir jetzt!“ Er legte den Stein, den er ausgewickelt hatte, mitten auf den Tisch und goß in beiden Gläsern Wein nach. „Na“, fragte er die Frau, „was ist?“ Zögernd hob sie ihr Glas. „Wir haben den Besuch doch gut überstanden!“ ermunterte er sie. „Ist doch ein Grund zum Trinken. Na denn Prost!“ „Zum Wohl“, sagte Frau Berger. Beide tranken sie mit großem Durst. „So machen Sie es richtig“, lobte Mager. „Nein, danke“, wehrte Gerda ab, als er nachgießen wollte. „Jetzt nicht.“ „Bloß noch ein Schlückchen.“ 186
„Wirklich nicht, Herr Mager. Mir ist nicht nach Trinken. Ich bin völlig durcheinander. Ihnen geht das ja nicht nahe. Sie betrifft das ja nicht. Aber mich betrifft es. Verstehen Sie? Ich muß damit irgendwie weiterleben.“ „Das verstehe ich schon“, sagte Mager, „nur, mit vielem Grübeln machen Sie es sich nicht leichter.“ „Ich bin nun mal so.“ „Es ist doch aber geschehen. Sie können nichts mehr daran ändern. Und ich finde, man soll sich nur über die Dinge einen Kopf machen, die man noch ändern kann. Das andere muß man hinnehmen.“ Sie schwieg, aber er merkte, daß seine Worte nicht ganz ohne Eindruck geblieben waren. „Schade, daß ich kein Auto habe“, sagte er, „sonst würde ich Sie ins Auto packen und mit Ihnen irgendwohin fahren. In die Sächsische Schweiz. Oder ins Erzgebirge. Wir würden gut zu Abend essen.“ „Wo wollen Sie in der Saison gut zu Abend essen?“ fragte sie lächelnd. Seine Fürsorge rührte sie, und ihr erster jäher Widerwillen gegen den alten Mann verlor sich allmählich. Schließlich war er einer, der sich um sie sorgte; einer, bei dem sie sich geborgen fühlen konnte. Wahrscheinlich hatte er seine Absicht, mit ihr zu schlafen, längst wieder aufgegeben. In seinem Alter bekommt er manchmal noch solche Anwandlungen, aber so schnell, wie sie kommen, gehen sie sicher auch wieder. „Wenn man will“, antwortete Mager, „findet man schon Platz.“ „Aber Sie haben ja kein Auto“, sagte sie. „Stimmt“, gab er zu, „und es ist das erste Mal, daß ich es bedaure.“ „Ich fühle mich trotzdem ganz wohl bei Ihnen.“ „Das höre ich gern.“ „Obwohl ich mich natürlich überhaupt nicht wohl fühle. Es gibt Momente, wo ich einfach nicht glaube, 187
daß das alles passiert ist. Da glaube ich dann, ich träume. Wissen Sie, es kam alles so plötzlich. Aus heiterem Himmel.“ „So etwas kommt immer wie aus heiterem Himmel.“ „Ist Ihnen denn etwas Ähnliches auch schon passiert?“ „Das nicht gerade“, antwortete Mager, „aber das Leben hat allerhand Überraschungen in der Tasche. So gesehen bin ich ganz froh, daß ich es hinter mich gebracht habe.“ „Na, Herr Mager, Sie reden ja, als ob Sie schon im Sarge lägen! So dürfen Sie nicht reden. Das höre ich nicht gern.“ Mager lächelte. „Sie hören es aber auch nicht gern, wenn ich sage, daß ich mich noch sehr lebendig fühle“, sagte er. Gerda Berger schlug bei diesen Worten die Augen nieder. Er war im Recht mit dem, was er eben gesagt hatte. Und sie begann sich zu fragen, ob sie sich nicht dumm verhielt, wenn sie diesem freundlichen Mann nicht diese Freude machte, um die er sie gebeten hatte. Was war daran so kompliziert? Er war ihr schließlich nicht widerwärtig. Weshalb sollte sie ihm nicht ein wenig Wärme schenken? Niemand würde je davon erfahren. Niemand. Und wenn sie es tat, würde sie es ja vor allem für Manfred tun. „Woran denken Sie?“ fragte Mager. „Ich muß meinen Mann anrufen“, sagte sie. „Wollen Sie ihm mitteilen, daß Sie von einem alten Mann erpreßt werden?“ „Nein“, wehrte sie ab, „bestimmt nicht. Ich sehe es nicht so.“ „Nanu?“ „Nicht mehr“, suchte sie zu erklären. „Ich fange an, Sie zu verstehen. Vorhin habe ich böse reagiert, weil ich nicht gedacht habe, daß Sie noch an so etwas denken. Man weiß doch nicht, wie es einem ergeht im Alter.“ 188
„Meinetwegen können Sie Ihrem Mann alles erzählen. Es ändert sich ja deswegen nichts. Wenn es Sie erleichtert.“ „Nein“, wiederholte sie, „ich erzähle es ihm nicht.“
16 Berger und Riccarda waren in wohltuendem Schweigen vom Tonsee zurückgefahren. Beide wollten sie keine Worte. Wahrscheinlich hatten sie sogar Angst vor Worten. Ihre Gründe dafür waren verschieden. Doch das Schweigen war ihnen gemeinsam. Im Hause machten sie kein Licht. Damit ging es ihnen ähnlich wie mit den Worten. Das grelle Licht einer Lampe hätte so was zerstören können. Und sie wollten nicht, daß etwas zerstört wurde, was in den wenigen Stunden am Tonsee gewachsen war. Sie wollten nicht einmal darüber nachdenken. Außerdem war es hell genug für das wenige, was sie zu tun hatten. Es war kein Licht nötig. Die Sommernacht hatte genau die Menge an Licht parat, die nötig war. Riccarda legte eine Platte auf und setzte sich ihm gegenüber. Berger lebte weiter in dem Gefühl, er sei in ein Märchen eingestiegen. Es war so viel, was er zum ersten Mal erlebte. Es war auch zum ersten Mal, daß er so mit einer Frau saß und Musik hörte. Er kannte die Musik nicht, die Riccarda aufgelegt hatte. „Mögen Sie Mozart?“ fragte sie. „Ja“, sagte er und erschrak über den heiseren Klang seiner Stimme. Bislang hatte er weder Mozart noch Beethoven gemocht, und das waren auch ziemlich die beiden einzigen Komponisten, die er überhaupt beim Namen nennen konnte. Und doch hatte er nicht gelogen. Er mochte Mozart. In diesem Augenblick und mit dieser 189
Frau mochte er Mozart. Und er hatte nur einen Wunsch, nämlich die Musik sollte nie zu Ende gehen. „Es war schön mit Ihnen“, sagte Riccarda. „Ja“, bestätigte er, „es war schön.“ Gern hätte er weitergesprochen und ihr davon erzählt, wie ihm zumute war und wie sehr er den Zufall verfluchte, der ihn zwang, sich jedes Denken an irgendeine geänderte Zukunft zu verkneifen. Aber er schwieg. Es gab nichts weiter zu sagen. „Soll ich uns eine Flasche Wein holen?“ fragte Riccarda. „Ich habe mir einen kleinen Vorrat zugelegt.“ „Nein“, sagte Berger, „für mich jedenfalls nicht. Ich muß weg.“ „Wie?“ fragte sie erstaunt. „Sie wollen jetzt abfahren?“ Er nickte nur und stand auf. Ihm war eingefallen, daß er mit der Fahrt zum Tonsee nicht klug gehandelt hatte. Er hätte am Telefon bleiben und auf einen Anruf Gerdas warten müssen. Nun wußte er nicht, wie sich die Dinge in Dresden entwickelten, und das beunruhigte ihn. Ganz plötzlich war diese Unruhe in ihm aufgestiegen, und natürlich ausgerechnet in einem Augenblick, da er sie sich am wenigsten gewünscht hatte. Doch nun war die Stimmung zerstört, und er tat noch ein übriges, indem er zum Lichtschalter ging und die Deckenbeleuchtung einschaltete. Riccarda kniff die Augen zusammen. „Muß das sein?“ fragte sie. „Ja“, antwortete er, „es ist besser so.“ „Aus Ihnen werde einer schlau.“ „Vielleicht schreibe ich Ihnen später einmal“, sagte Berger. „Vielleicht“, wiederholte er aber sogleich, um das Ganze abzuschwächen, denn er ahnte, daß es ihm wohl nicht möglich sein würde, ihr zu schreiben. Nichts mehr würde möglich sein. Er mußte sich einrichten irgendwie mit seiner Frau, mit seinen vier Wänden, mit seinem LADA. Vielleicht, dachte er, vielleicht legen wir uns noch ein Wochenendhäuschen zu. Wird ganz gut 190
sein für uns. Vor allem ein Stück Garten. Man muß ja irgend etwas tun, sich ablenken, eine kleine Freude haben, eine Aufgabe. Obwohl er Riccarda die Hand hinstreckte, um sich zu verabschieden, machte sie keinerlei Anstalt, sie zu nehmen. „Was ist denn?“ fragte er. „Wollen Sie sich nicht von mir verabschieden?“ „Nein“, sagte sie, „das will ich nicht.“ „Bitte, wie Sie möchten.“ „Ich überlege die ganze Zeit, ob Sie ein Dummkopf oder ein Feigling sind.“ „Was wissen Sie schon von mir!“ „Was muß man voneinander wissen, um sich zusammen in ein Bett zu legen?“ fragte sie. „Auf dem Gebiet habe ich keine Übung.“ „Und nun denken Sie, ich bin eine Hure.“ „Habe ich das gesagt?“ „Nein, aber man sieht’s Ihnen an.“ „Sie glauben, daß Sie mir etwas ansehen, aber nichts sehen Sie. Nichts, nichts, nichts!“ Unversehens hatte er zu schreien angefangen. Sie stand auf und trat zu ihm. „Was haben Sie denn?“ fragte sie leise. Berger sagte nichts, aber es war zu sehen, wie sich seine Backenmuskeln bewegten und wie die Zähne aufeinandermahlten. Sie ahnte, daß in Berger etwas vorging, das schwerer wog als einfach nur ein Abschied. Behutsam legte sie ihre Arme um ihn und zog ihn langsam an sich. Berger wehrte sich nicht und vermochte noch immer nichts zu sagen. Die Backenmuskulatur kam nicht zur Ruhe. Riccarda küßte ihn auf die verkrampften Wangen, küßte seinen Hals und seine Augen. Es waren weit mehr Küsse einer Mutter als einer Frau, die den Mann in ihr Bett bekommen will. 191
Dann schlang auch er die Arme um sie und preßte sie an sich. Er drückte seinen Mund an ihr linkes Ohr und flüsterte immer nur das eine Wort: „Du.“ Riccarda ließ es sich gern gefallen, und mehr und mehr wandelten sich ihre Zärtlichkeiten zur absichtsvollen Liebkosung. Da schob er sie weg. „Nein“, sagte er, „es geht nicht. Es hat keinen Sinn.“ „Mein Gott, fängst du schon wieder an! Was ist denn los?“ „Ich kann es dir nicht sagen.“ „Unsinn! Mir kannst du alles sagen!“ „Alles vielleicht“, entgegnete er, „aber das nicht.“ „Na schön“, sagte sie, ging zum Fernsehapparat, stellte ihn mit demonstrativer Geste an und setzte sich mit Blick auf die flimmernde Röhre. Er blieb unbeholfen stehen. „Worauf wartest du noch? Hau ab!“ „Aus welchem Stück ist das?“ fragte er. „Wie bitte?“ fragte sie und schaute wieder zu ihm hin. „Aus welchem Stück die Rolle ist, die du gerade spielst?“ Sie lachte. „Du bist ein kluges Kerlchen“, sagte sie, „aber es war aus keinem Stück. Jedenfalls aus keinem Stück für die Bühne. Aber ich gebe zu, es war Schauspielerei dabei. Ich wollte dich zwingen zu bleiben. ‚Hau ab!‘ funktioniert für diesen Zweck meistens ausgesprochen zuverlässig. Und wie ich sehe, bist auch du immer noch da.“ „Miststück“, sagte Berger lächelnd. „Kein Einwand“, antwortete sie. „Was trinken wir?“ „Ich trinke nichts. Ich fahre.“ „Und aus welchem Stück ist das?“ fragte sie zunehmend böse. „Aus einem Scheißstück“, sagte er, „und ich fahre weg, weil ich dieses Scheißstück zu Ende spielen muß. So, nun weißt du’s!“ 192
„Willst du nicht endlich aufhören, in Rätseln zu reden? Warum mußt du weg? Los, spuck’s aus!“ Berger biß die Lippen zusammen und fing an, den Kopf hin und her zu bewegen, so daß es aussah, als stünde da ein Bär im Zoo hinter Gittern. Und wieder stand Riccarda auf und ging zu ihm. „Faß mich nicht an!“ sagte er. „Was haben sie mit dir gemacht?“ fragte sie ängstlich. „Was hast du? Rede doch!“ Statt zu antworten, packte Berger sie an den Oberarmen und zwang sie rückwärts zu gehen bis zu dem Sessel vor dem Fernsehapparat. Dort gab er ihr einen Stoß, der sie in den Sessel fallen ließ. Bevor er ging, drehte er noch den Ton am Fernsehapparat an. Im Auto dann schaltete er die Scheibenwischer ein, bis er merkte, daß er weinte. Kopfschüttelnd stellte er die Scheibenwischer wieder ab.
17 Bei der Rückkehr in sein Dienstzimmer hatte Hauptmann Ebner keine neuen Nachrichten vorgefunden. Von Frau Dietze nach wie vor keine Spur. Auch vor ihrem Haus tat sich nichts. „Tja“, sagte Ebner zu Schröder, „wir könnten natürlich noch dies und jenes tun. Zum Beispiel dieses Telefonbuch abarbeiten, aber morgen ist auch noch ein Tag, und außerdem sagt mir eine innere Stimme, daß Frau Dietze dieses Buch nicht liegengelassen hätte, wenn sie unter einer der Nummern tatsächlich zu erreichen wäre. Sie gehört zu der Sorte Frauen, die nicht so leicht den Kopf verlieren.“ „Dann könnte ich jetzt also nach Hause gehen?“ fragte die Sekretärin. 193
„Nein“, erwiderte Ebner, „das können Sie nicht, Evelyn.“ „Was liegt denn noch an?“ „Eisessen“, sagte Ebner lachend. „Ich lade euch zu einer Runde Eis ein! Haben wir uns doch verdient, oder?“ Den beiden jungen Leuten stand die Freude über die Einladung deutlich im Gesicht geschrieben, bot sie ihnen doch Gelegenheit, noch ein wenig länger beieinander zu sein. Sie waren im Begriff, den Raum zu verlassen, als das Telefon schrillte. „Hm“, fragte Ebner, „sind wir noch da, oder sind wir schon weg?“ Evelyn und der Praktikant sagten nichts. „Verdammt“, gab sich Ebner selber die Antwort, „ich glaube, wir sind noch da.“ Kurz entschlossen ging er ans Telefon und hob es ab. Es war Frau Meta Menzel, die ihm mitteilte, daß ihre Tochter bei ihr eingetroffen sei. „Kann ich sie sprechen?“ fragte Ebner. „Ich weiß nicht“, sagte die alte Frau zögernd, „das ist nichts fürs Telefon. Ich glaube nicht, daß meine Tochter mit Ihnen am Telefon sprechen kann. – Sie ist … Nein, nein, es hat gar keinen Sinn, daß ich sie ans Telefon hole. In der Verfassung, in der sie ist, hat das gar keinen Sinn. Ich habe schon den Arzt gerufen.“ „Den Arzt?“ fragte Ebner. „Ja“, antwortete die Frau, „sie hatte … sie wollte … Sie müssen herkommen, Herr Kommissar.“ „Ist gut“, sagte Ebner, „ich komme sofort.“ Er legte auf, wählte erneut, bestellte seinen Wagen und ging dann auf die beiden jungen Leute zu. „Frau Dietze hat sich eingefunden“, erläuterte er. „Sie ist bei ihrer Mutter.“ „Dann kann ich wohl doch nach Hause gehen?“ sagte die Sekretärin. 194
„Und mit wem soll Genosse Schröder sein Eis essen?“ fragte Ebner. „Paßt auf, ihr zwei Hübschen, wir machen es folgendermaßen: Ihr steigt mit ins Auto, und unterwegs setze ich euch an einer Stelle ab, wo es Eis gibt. Da macht ihr es euch gemütlich, bis ich zurück bin. Einverstanden?“ Sie nickten. Im Auto fragte Schröder dann noch, ob es nicht doch besser wäre, wenn er mitkäme. Ebner schüttelte den Kopf. „Nicht nötig“, sagte er. „Sie wird mir eine Geschichte erzählen, und ich werde ihr zuhören. Und das kann ich wirklich allein. Wenn ich zurück bin, erzähle ich sie dann Ihnen.“ Frau Dietze lag auf dem Sofa. Der Arzt war eben beschäftigt, ihr den Puls zu messen. Nachdem er ihn gemessen hatte, erhob er sich. „Sie braucht Ruhe“, sagte er, „das ist alles. Nur Ruhe. Viel Ruhe. Ich spritze ihr jetzt ein Beruhigungsmittel, dann wird sie schön schlafen. Und morgen sieht die Welt schon wieder ganz anders aus. Sie glauben ja nicht, was ein bißchen Schlaf ausmacht.“ „Vorher muß ich ihr aber noch ein paar Fragen stellen“, sagte Ebner. „Dazu ist schon noch Zeit“, sagte der Arzt, „ich will ja die liebe Frau Dietze nicht narkotisieren. Nur regen Sie sie nicht auf.“ „Ich werde mir Mühe geben“, sagte Ebner. Der Arzt spritzte das Beruhigungsmittel und verabschiedete sich. Die alte Frau Menzel setzte sich erwartungsvoll auf einen Stuhl am Tisch. „Würden Sie uns bitte allein lassen!“ sagte Ebner. „Ist das notwendig? Was haben Sie denn mit meiner Tochter vor, Herr Kommissar?“ „Ich bin Hauptmann“, korrigierte Ebner. 195
„Das spielt doch gar keine Rolle.“ „Da haben Sie recht.“ „Und was wollen Sie mit meiner Tochter anstellen?“ „Sie etwas fragen.“ „Und das können Sie nicht, wenn ich ganz ruhig hier am Tisch sitze?“ „Nein, Frau Menzel, das kann ich nicht.“ „Ja, dann muß ich wohl in die Küche gehen.“ Ebner schwieg. „Aber nur ganz kurz“, mahnte die alte Frau noch im Hinausgehen, „Sie haben gehört, was der Arzt gesagt hat.“ Nachdem sie endlich die Tür hinter sich geschlossen hatte, nahm sich Ebner einen Stuhl, stellte ihn neben das Sofa und setzte sich. „Wo waren Sie, Frau Dietze“, fragte er. „Im Wald“, antwortete sie leise. „Im Wald? Wo?“ „Weiß ich nicht. Irgendwo im Wald.“ „Und was wollten Sie da?“ Sie gab ihm keine Antwort. „Wieso fährt Ihr Auto plötzlich wieder, Frau Dietze?“ Sie schwieg. Ebner ließ ihr Zeit. Er wußte aus Erfahrung, daß sie anfangen würde zu reden. Wenn nicht jetzt, dann morgen. Der Drang, sich ein schreckliches Geschehen von der Seele zu reden, wächst unaufhaltsam, und nur ganz Hartgesottene vermögen ihm zu widerstehen Und selbst die nur für eine gewisse Zeit. Frau Dietze war keine Hartgesottene, das ließ sich jetzt deutlich erkennen. Es war fast nichts von ihrem Panzer übriggeblieben. Der Tag hatte sie schutzlos gemacht. „Ich wollte nicht nach Ungarn“, begann sie, „ich wollte nicht. Ich habe mir immer und immer wieder vorgestellt, wie das sein würde. Drei Wochen mit ihm allein. 196
Jeden Tag von früh bis abend. Vierundzwanzig Stunden. Und das drei Wochen lang. Sie können sich wahrscheinlich nicht vorstellen, wie es ist, wenn man einen Menschen nicht liebt, aber auch keinen Grund hat, ihn zu hassen. Ich hatte keinen Grund. Man hat mich um diesen Mann beneidet. Um seine Ruhe, um seine Gutmütigkeit, um seine Freundlichkeit, um seine Ausgeglichenheit. O mein Gott, genau das widerte mich an! Er hätte mich anschreien können, mir Szenen machen, mich prügeln. Alles, nur so, wie er war, so durfte er nicht sein. So nett, so freundlich, so lau. Und nicht so gehorsam. Er tat alles, was ich wollte. Das hat mich böse werden lassen – und ich wollte nicht böse werden. Aber wenn wir keinen Widerstand spüren, werden wir böse. Das ist so. Dagegen kann keine an.“ Sie verfiel wieder ins Schweigen und schloß die Augen. Ebner wollte nicht, daß sie gänzlich einschlief, ehe er nicht den Vorgang in seiner Gesamtheit erfahren hatte. „Und weil Sie nicht mit Ihrem Mann in Urlaub fahren wollten“, sagte er, „haben Sie die Batterie unbrauchbar gemacht?“ „Ja“, sagte sie, „es fiel mir plötzlich ein. Mitten in der Nacht. Ich bin aus dem Bett und ’runter in die Garage und habe die Batterie mit Leitungswasser aufgefüllt.“ „Wäre es nicht einfacher gewesen, mit Ihrem Mann über all das zu sprechen? Wäre nicht eine Trennung gerechter gewesen, fairer?“ „Fair. Gerecht. Worte, alles nur Worte. Leere Worte. Wie sollte ich ihm mit Worten begreiflich machen, was er in den vielen Jahren nie begriffen hat? Wie sollte ich ihm sagen, daß in mir ein Bedürfnis ist – ein Drang …“ Sie brach ab. „Wozu erzähle ich Ihnen das eigentlich?“ fragte sie mit einemmal. „Es geht Sie überhaupt nichts an.“ „Woher haben Sie die Batterie, die sich jetzt in Ihrem Auto befindet?“ 197
„Ich habe sie besorgt. Noch am gleichen Tag, an dem ich die alte untauglich gemacht hatte. Ich wollte während des Urlaubs ja nicht bei ihm bleiben. Ich wollte wegfahren.“ „Dem steht nun nichts mehr im Wege“, sagte Ebner sarkastisch. „Ich habe das nicht gewollt, ich habe sogar gehofft, er käme irgendwie anders zurück. Wenn es ihm gelingt, habe ich gedacht …“ „Was wollten Sie im Wald?“ fragte Ebner. „Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn ich nicht diesen Film gesehen hätte“, sagte sie. „Welchen Film?“ „Klute.“ „Aha.“ „Haben Sie ihn auch gesehen?“ „Ja“, antwortete Ebner, „aber ich erinnere mich nur schwach.“ „Weil Sie ein Mann sind.“ „Möglich.“ „Mich hat das Anschauen des Filmes total verändert. Während ich beobachtete, was auf der Leinwand geschah, war mir die ganze Zeit, als leuchte mich jemand aus. Zentimeter um Zentimeter. Noch die verborgenste Stelle. Es war nichts mehr zu verbergen danach. Ich hatte alles gesehen. Und dann kann man nicht mehr die Augen verschließen. Wenn man sich kennengelernt hat, geht das nicht mehr. Ich wußte mit einemmal, daß in mir die gleiche Frau war wie die, die Jane Fonda spielte. Und ich wollte einmal so von einem Mann angefaßt werden. Und ich wollte einmal so gemein sein dürfen. Ich wollte wenigstens einmal eine Hure sein. Und zugleich hatte ich Angst davor. Es sollte ein Mann kommen, der mir die Angst nähme, habe ich mir immer gewünscht. Einer, der alles freisetzt. Ich bin immer wieder in den Film gegangen, weil ich hoffte, es würde mich danach 198
ein Mann ansprechen. Es hat mich aber nie einer angesprochen. Warum seid Ihr Männer so beschissen?“ „Was wollten Sie im Wald“, wiederholte Ebner seine Frage von vorhin. „Was wohl?“ fragte sie. Ihre Stimme wurde immer leiser, und es war zu merken, daß ihr die Zunge kaum mehr gehorchte. „Ich wollte es tun. Das Abschleppseil hängt noch da. Aber ich war zu feige, ich war ganz einfach zu feige …“ Ebner sah, daß es sinnlos war, ihr weitere Fragen zu stellen. Sie schlief. Seltsamerweise hatte sie nicht wissen wollen, wie ihr Mann umgekommen ist, fragte sich Ebner. Er hätte ihr die Frage zwar nicht beantworten können, aber daß sie nicht gefragt hat … Er ließ sich zu dem Café fahren, auf dessen Terrasse Evelyn und der Praktikant indessen von Eis schon zu Wermut übergewechselt waren. Ebner sah, wie sie sich eifrig unterhielten und wie sie lachten und wie schön sie waren. „Fahr weiter“, sagte er. „Ich seh schon“, brummte Willi, „ich komme heute nicht mehr zu meinem Eis.“ Ebner ging nicht darauf ein. Er hatte keine Lust auf Unterhaltung. Eine melancholische Stimmung hatte ihn überfallen. Und er dachte an seine Frau, an die er den ganzen Tag nicht gedacht hatte, und er verspürte Sehnsucht. Ich werde alt, sagte er sich und lächelte. Er bereute es jetzt, dem jungen Praktikanten so viel über die Frauen erzählt zu haben, und er war froh, daß Schröder nicht mit bei Frau Dietze gewesen war. Er mußte ihm nicht alles sagen, was sie ihm gesagt hatte. Mußte er wirklich nicht. Das Leben, fiel ihm ein, ähnelt einer Geliebten, der man in dem Maße überdrüssig wird, wie man sie kennenlernt. Und man sollte sich Zeit lassen damit. Und man sollte auch dem anderen Zeit lassen. 199
Als er dann an seiner Staffelei stand und sich für das Selbstporträt im Spiegel ansah, kam ihm die Frage wieder in den Sinn. „Warum sind wir Männer so beschissen?“ fragte er sein Spiegelbild, blieb jedoch ohne Antwort. Danach ging er zum Telefon und rief seine Frau an. „Nanu?“ verwunderte sie sich, denn er verwöhnte sie im allgemeinen nicht mit Anrufen. Er begründete es mit seinem gestörten Verhältnis zum Telefon. „Ja“, sagte er, „es ist auch nur, weil ich eine Frage habe.“ „Eine Frage? Na, schieß los!“ „Es ist eine schwierige Frage.“ „Spann mich nicht auf die Folter.“ „Tja“, sagte er, „sie ist mir heute von einer Frau gestellt worden.“ „Und ich soll sie beantworten?“ fragte sie. „Das weiß ich nicht“, sagte Ebner, „ich wollte sie dir nur mitteilen. Vielleicht kannst du mit der Frage etwas anfangen.“ „Wenn du nicht augenblicklich sagst, was du auf dem Herzen hast, lege ich auf!“ „Warum sind wir Männer so beschissen?“ „Wie bitte?“ „Das ist die Frage.“ Sie lachte. „Ist das deine Antwort?“ fragte Ebner. „Ja“, sagte sie. „Klingt überzeugend.“ „Wärt ihr nicht so beschissen“, fügte sie noch hinzu, „könnten wir nicht so viel Schuld auf euch abladen.“ „Ein eindrucksvolles Argument, ich werde es weitergeben.“ „Was ist denn das für eine Frau?“ fragte sie mit leisem Argwohn. „Sie hat heut morgen ihren Mann identifizieren müssen.“ 200
„Und dann sagt sie solche Sachen?“ „Gegen Abend hat sie versucht, sich aufzuhängen. Es fehlte ihr aber dann doch die Courage.“ „Deine Geschichten immer“, sagte Frau Ebner nachdenklich. „Ja“, stimmte er ihr zu, „du hast den falschen Mann geheiratet. Frauen sollten Männer mit lustigen Geschichten heiraten. Meine Geschichten sind nicht einmal komisch. Von lustig kann gar keine Rede sein.“ Aus der Art, wie er sprach, bekam sie unschwer mit, daß er in einer melancholischen Stimmung war. Und manchmal gingen seine Melancholien sehr weit. Dann war es gut, wenn sie bei ihm war. Er hatte es in solchen Momenten gern, sich neben sie zu legen und mit ihr zusammen zu schweigen. Er wollte sie spüren, ohne daß davon gesprochen wurde. Sie brauchte ihn nur zu halten, das genügte. „Schlimm?“ fragte sie. „Mittel“, antwortete er. „Ich wäre jetzt gern bei dir.“ „Ich weiß.“ „Was machst du?“ „Ich male.“ „Das ist schön.“ „Ja“, sagte er, „vielleicht sollte ich nur noch malen.“ „Weißt du“, sagte sie, „mir ist gerade eingefallen: ihr Männer seid gar nicht beschissen, ihr seid nur arm dran.“ „Kommt das nicht auf dasselbe raus?“ „Euch fehlt ganz einfach Fettgewebe, deshalb friert ihr so oft.“ „Das hat der liebe Gott schlau eingerichtet. Sonst kämen wir seltener zu euch.“ „Ja“, sagte sie, „der liebe Gott war so dumm nicht.“ „Und dann wollte ich dir noch etwas Wichtiges sagen.“ 201
„Was denn?“ „Es ist noch wichtiger als die Frage vorhin.“ „Du machst mich gespannt.“ „Wirklich?“ „Ehrlich.“ „Schlaf schön!“ „Das ist wirklich wichtig. Du auch.“ „Ja, mach ich.“
18 Als Gerda Berger zur Telefonzelle ging, sah sie die schon aus einiger Entfernung besetzt, gottlob stand aber keine Schlange davor. Sie haßte es zu telefonieren, wenn ihr draußen jemand zusah oder auch nur ungeduldig hin und her lief. Näher gekommen, sah sie eine ältere Frau in der Telefonzelle damit beschäftigt, den abgerissenen Hörer mit der Schnur zu verbinden. Es war ein aussichtsloses Unterfangen, doch die Frau ließ nicht ab. Gerda Berger machte die Tür auf und sagte: „Das hat keinen Sinn.“ „Wie die Vandalen“, sagte die Frau. „Immer diese Halbstarken. Ich muß meine Tochter anrufen, ihr Kind ist krank, es hat Fieber. Was soll ich denn nun machen? Ich kann das Kind nicht solange allein in der Wohnung lassen. Das nächste Telefon ist doch jottwehdeh.“ „Hat denn im Haus niemand ein Telefon?“ fragte Gerda Berger. „Hat schon, aber die sind doch alle ’raus aus der Stadt. Bei dem Wetter ist doch keiner mehr hier. Ach ja, man sollte sich eben nicht die Enkelkinder auf den Hals laden. Wenn etwas passiert, macht man sich ewig Vorwürfe.“ „Wenn Sie mir die Telefonnummer Ihrer Tochter ge202
ben, rufe ich gern bei ihr an“, sagte Gerda Berger. „Ich muß in jedem Fall zum nächsten Telefon.“ „Das wäre aber nett von Ihnen. Hier auf dem Zettel steht alles drauf. Da meldet sich erst jemand anders, ein Herr Lascyk, und da müssen Sie dann meine Tochter verlangen.“ „Mache ich“, sagte Frau Berger. „Und wie kann ich Sie erreichen? Ich meine, falls ich kein Glück habe, falls Ihre Tochter gerade nicht da ist oder so.“ „Da drüben“, sagte die Frau mit ausgestrecktem Arm die Richtung weisend, „der Hauseingang mit der zerbrochenen Scheibe in der Haustür, da wohne ich. Dritter Stock. Mein Name ist Merzdorf. Klara Merzdorf. Können Sie das behalten oder soll ich’s Ihnen lieber aufschreiben? Ach, ich hab ja gar nichts zum Schreiben hier. Na, Sie werden es sich schon merken: dritter Stock links, Klara Merzdorf.“ „Das merke ich mir schon“, beruhigte Frau Berger die besorgte Frau. Nachdem sie ein Stück gegangen war, drehte sie sich noch einmal um und sah, wie die Frau im Hauseingang stand und winkte, um somit jegliche Verwechslung und auch ein mögliches Vergessen bei Gerda Berger auszuschließen. Sie mußte fast zehn Minuten laufen, bis sie an die nächste Telefonzelle kam. Glücklicherweise war sie leer, und der Hörer gab nach dem Abheben ein Freizeichen von sich. Genügend Münzen hatte sie bei sich. Zunächst wählte sie die Berliner Nummer. Es meldete sich aber niemand. Sie tröstete sich mit der Annahme, daß ihr Mann mit seinem Bruder und dessen Frau eine kleine Spazierfahrt machte. Dann wählte sie die Telefonnummer, die auf dem kleinen Zettel stand, den ihr die Frau in die Hand gedrückt hatte. Diesmal hatte sie Glück, es meldete sich ein Herr Lascyk und dann auch die Tochter der Frau, und sie konnte ausrichten, was ihr aufgetragen 203
worden war. Danach stand sie ein wenig unschlüssig vor der Telefonzelle. Sollte sie zurück in ihre Wohnung gehen? Da konnte es ihr jedoch passieren, daß sie von Herrn Mager abgepaßt wurde. Zum ersten Mal empfand sie sein ständiges Sitzen am Fenster als störend, ja als belästigend für die anderen Hausbewohner. Er hatte alle unter Kontrolle, wußte von jedem, wann er kam und mit wem er kam und wann er ging. Eine Zumutung, sagte sie sich, der alte Mann am Fenster ist eine Zumutung fürs ganze Haus. Und doch kann ihm niemand verbieten, am Fenster zu sitzen. Was hat er denn sonst? Wenn er liest, braucht er nicht auch noch am Fenster zu sitzen. Und wenn er Radio hört. Sogar wenn er Radio hört, sitzt er am Fenster. Hat einen Ohrhörer im Ohr und sitzt und guckt. Das muß doch wirklich nicht sein. Vielleicht wartet er immer nur, daß ich auftauche? Vielleicht ist das der einzige Grund für seinen ständigen Platz am Fenster? Ob er mich wirklich schon immer gemocht hat? Möglich wär’s. Freundlich war er. Besonders freundlich. Ja, zu mir war er stets freundlicher als zu anderen. Nur ist es mir nie aufgefallen. Na, aufgefallen ist es mir schon, aber ich habe nichts Tieferes dahinter vermutet. Daß er mich mag, das habe ich gewußt. Aber doch nicht so. Soviel sie auch über den Antrag des alten Herrn nachdachte, zu einem Entschluß kam sie nicht. In ihrem Nachdenken entging ihr völlig, daß es gar nicht in ihrer Macht stand, einen Entschluß zu fassen. Den Entschluß hatte Mager gefaßt, fiel ihr plötzlich ein, und sie hatte nur die Möglichkeit, sich zu fügen. Sie hatte angefangen, langsam durch die Straßen zu schlendern. Sie blieb vor den Schaufenstern stehen und schaute nach Schuhen, nach Handtaschen und nach Kleidern. Andere Auslagen interessierten sie kaum. Wenn ich mir ordentlich einen antrinke, redete sie sich ein, macht es mir vielleicht nichts aus. Der Mann ist 204
ja nicht grob, und er verlangt von mir auch keine Schweinereien, dachte sie, obwohl sie gar nicht wußte, wie solche Schweinereien überhaupt vor sich gingen. Sie hatte keine Ahnung davon, was Mann und Frau im Bett miteinander anstellen können außer dem Üblichen. Früher hatte Manfred schon mal Wünsche gehabt, die ihr nicht gefielen und die sie ihm deshalb nicht erfüllt hatte. Doch war das lange vorbei. Und jetzt geschah stets ein und dasselbe – wenn es geschah. Sie brauchte es nicht. Sie verstand nicht, wenn die Kolleginnen sich über ihre müden Männer aufregten. Sie hätte sich in dem Punkt einen müden Mann gewünscht. Früher hatte Manfred sie noch öfter bedrängt, doch allmählich war er seltener gekommen. Und sie war ihm dafür dankbar. Aber vielleicht war das ganz schlimm für ihn? Diese Frage traf sie so unvermittelt, daß sie stehenblieb. Wenn selbst ein alter Mann wie der Herr Mager noch überlegt, wie er eine Frau in sein Bett bekommt, dann muß das für Manfred ja eine ganz schlimme Sache sein! Ich habe ihn danach nie gefragt. Ich war froh, daß ich meine Ruhe hatte, und ich nahm an, den Männern geht es ähnlich. Er hat mit mir auch nicht darüber geredet. Nur Andeutungen und manchmal schlechte Laune, aber offen und ehrlich darüber gesprochen haben wir nicht. Worüber haben wir überhaupt miteinander gesprochen? Über den Jungen manchmal. Übers Geld. Über die Arbeit. Fernsehen. Mehr eigentlich nicht. Merkwürdig. Früher war das doch nicht so. Als hätten wir irgendwann vergessen, miteinander zu reden. Und ausgerechnet jetzt fällt es mir ein, ausgerechnet jetzt, wo mit einem Schlag alles so schwer, so kompliziert, so aussichtslos geworden ist. Beinahe hätte sie zu weinen angefangen. Sie weinte nur deshalb nicht, weil sie sich schämte. Auf der Straße weint man nicht, hatte ihr ihre Mutter beigebracht. Ich hätte guten Grund, Herrn Mager dankbar zu sein, 205
dachte sie. Gewiß hat er mich erschreckt, aber ohne seinen Antrag würde ich vielleicht nie über diesen Punkt zwischen Manfred und mir nachgedacht haben. In der Ferne sah sie ein Postamt und strebte sogleich drauf zu. In ihr war ein ganz starkes Bedürfnis aufgekommen, die Stimme ihres Mannes zu vernehmen, und vielleicht schaffte sie es sogar, ihm zu sagen, wie sehr sie ihn noch immer liebte. Sie war sich nicht völlig sicher, ob sie es schaffen würde, nahm es sich aber fest vor. Solche Sätze waren zwischen ihnen nicht üblich, und also hatte sie auch keine Übung im Aussprechen solcher Sätze. Und ihr fiel ein, daß es sehr dumm von ihnen gewesen war, sich nicht manchmal zu sagen, wie sehr man sich liebt. Das Leben ist viel zu kurz, dachte sie, als daß man es sich leisten kann, solche Sätze bei sich zu behalten. Erregt und auch irgendwo voll Freude nahm sie den Hörer auf, steckte eine Münze in den Schlitz, wählte und wartete gespannt darauf, daß sich jemand meldete. „Ja, hier bei Berger“, sagte eine Frauenstimme. Gerda Berger wußte im ersten Augenblick überhaupt nicht, was sie antworten sollte. Bei Berger? überlegte sie, was heißt denn das? „Hallo, ist da jemand?“ fragte die Frauenstimme erneut. „Ja“, antwortete Gerda Berger, „ich wollte meinen Mann sprechen. Sind denn Bergers nicht da?“ „Nein, Herr und Frau Berger sind im Urlaub. Ich hüte hier das Haus. Mit wem spreche ich denn?“ „War denn mein Mann nicht in Berlin?“ „Demnach sind Sie Frau Berger?“ „Ja, natürlich.“ „Ihr Mann ist nach Dresden zurückgefahren, Frau Berger.“ „Nach Dresden?“ „Ja, sagte ich doch. Ist etwas passiert? Sie klingen so besorgt.“ 206
„Natürlich. Na ja nicht direkt. Wir hatten Streit.“ „Ach so. Ihr Mann war auch unruhig.“ „Wann ist er denn abgefahren?“ „Vor etwa einer halben Stunde.“ „Aha. Danke.“ „Grüßen Sie ihn von mir.“ „Und wer sind Sie?“ „Ich heiße Riccarda.“ „Wie?“ „Riccarda.“ „Ja.“ „Möchten Sie noch etwas wissen?“ „Nein, danke.“ „Dann wünsche ich Ihnen einen schönen Abend. Auf Wiederhören.“ „Auf Wiederhören.“ Gerda Berger legte auf. Eine Frau, das war ihr erster Gedanke. Manfred war bei einer Frau. Er hat eine Nacht bei einer fremden Frau zugebracht. Nun stürzten ihr die Tränen aus den Augen. Sie suchte nach dem Taschentuch, fand aber keins. In der Eile hatte sie vergessen, eins mitzunehmen. Sie hatte ja auch nur bis zu dem nahe gelegenen Telefon gehen wollen. Sie schniefte und wischte die Nase mit dem Handrücken. Mit den Oberarmen wischte sie sich die Tränen von den Wangen. Auf dem Rückweg war von einem gemütlichen Schlendern keine Rede mehr. Ihre Schritte tackerten eilig hastend über das Pflaster. Sie war entschlossen, dem alten Mager zu Willen zu sein, noch ehe ihr Mann die Wohnung betrat. Das Telefonat mit jener Frau gab den Ausschlag. Jetzt konnte sie es tun, allerdings trinken würde sie in jedem Fall vorher etwas. Ohne Alkohol ging es nicht. Obwohl es schon dunkel war, blickte Mager aus dem Fenster und nickte ihr zu. Im Licht der Straßenlaternen 207
war sein leichtes Nicken unschwer zu erkennen. Sie blickte nur kurz hoch. Sonst hatte sie es nie verabsäumt, dem freundlichen Herrn Mager zuzunicken. Jetzt verspürte sie keine Lust dazu. Sie war ein zorniges Bündel Entschlossenheit geworden. Vor Magers Tür mußte sie nicht läuten, er hielt sie ihr bereits geöffnet, obwohl er nicht wissen konnte, daß sie schnurstracks zu ihm hochgestiegen kommen würde. Er hatte jedoch gespannt ihren Schritten im Treppenflur gelauscht und aufgeatmet, als sie nicht auf ihrer Etage verstummten. „Na, was hat Ihr Mann gesagt?“ wollte Mager wissen. Gerda Berger ging bis zum Wohnzimmer durch und setzte sich an den gleichen Platz, an dem sie am Nachmittag schon gesessen hatte. Mager wartete immer noch auf eine Antwort, statt dessen wollte sie etwas zu trinken. „Wein?“ fragte er. „Nein“, antwortete sie, „Wein nicht.“ „Was dann?“ „Irgend etwas anderes.“ „Schnaps? Likör?“ „Einen Schnaps“, sagte sie, „aber einen großen.“ Mager blickte sie fragend an. „Na, haben Sie keinen Schnaps?“ fragte Gerda Berger. „Doch“, antwortete er. „Was haben Sie vor? Wollen Sie sich betrinken?“ „Ja“, sagte sie, „ich will mich betrinken.“ „Wenn Sie meinen“, sagte Mager und holte eine Flasche Weinbrand Verschnitt und zwei Gläser. Er schenkte ein, und sie tranken. Gerda schüttelte sich. „Noch einen?“ fragte er. „Ja, noch einen.“ Sie hatte im ersten Augenblick nein sagen wollen, denn Schnaps hatte ihr noch nie geschmeckt, doch dann 208
bekam ihre Verzweiflung die Oberhand. Es war ohnehin alles kaputtgegangen. Was machte es da noch aus, ob sie sich mit Schnaps betrank oder mit Wein? „Reine Übungssache“, sagte Mager. „Sicher“, antwortete sie und leerte das zweite Glas Weinbrand Verschnitt. Obwohl sie sich erneut schütteln mußte, ging es ihr jetzt schon wesentlich besser. „Immer noch sehr heiß“, sagte sie und öffnete gleich zwei Knöpfe ihrer Bluse.
19 Hauptmann Ebner war mit seinem Selbstporträt noch nicht weit gekommen, als wieder das Telefon läutete. Und wieder wurde ihm mitgeteilt, daß der Wagen schon unterwegs wäre. Erwartet wurde er von zwei Polizisten vom Streifendienst, einer aufgeregten und ratlosen Frau, die er nicht kannte, und von Gerda Berger. Sie saß noch immer in der Wohnung des alten Herrn Mager. Ihn hatte man indessen schon ins Krankenhaus gebracht. Halbseitige Lähmung infolge Bluthochdrucks hatte der herbeigerufene Arzt diagnostiziert. „Sie wollte unbedingt, daß ich die Polizei rufe“, sagte die aufgeregte Frau aus der Nachbarwohnung. „Ich weiß nicht, warum. Und als dann die Polizei kam, verlangte sie, daß der Mann geholt würde, der heute schon einmal dagewesen war und ein Foto gezeigt hätte. Und ich weiß wirklich nicht, was das alles soll. Der alte Herr Mager hat seit langem Bluthochdruck. Er hätte keinen Wein trinken dürfen. Mit Bluthochdruck darf man keinen Alkohol zu sich nehmen. Aber dafür kann doch Frau Berger nicht. Sind Sie denn nun der Mann mit dem Foto?“ „Ja, der bin ich“, antwortete Ebner, „lassen Sie uns 209
bitte allein. Und Sie benötige ich auch nicht mehr“, fügte er, an die beiden Volkspolizisten gewandt, hinzu. Er wußte nicht, was er zu hören bekommen würde, aber ihm war klar, daß es des Rätsels Lösung sein würde. Die Lösung mußte sich irgendwo hier verbergen, soviel hatte ihn der nun fast vergangene Tag bereits gelehrt, und er wäre morgen hierher zurückgekommen, um es endgültig aufzuspüren. Aber nun würde er den Sonntag anscheinend für sein Selbstporträt verwenden können. Er setzte sich der Frau gegenüber und war verwundert, daß an ihrer Bluse zwei Knöpfe fehlten und sie außerdem an einer Stelle aufgerissen war. „Was ist geschehen?“ fragte er, als die Tür aufging und Schröder erschien. Diesmal hatte Ebner nicht vergessen, ihn holen zu lassen. Er hätte gern gefragt, ob Willi ihn im Café oder in seiner Unterkunft aufgegabelt hatte, verkniff sich aber die Frage, weil es wichtiger war, die Frau anzuhören. „Ich will sagen, wie es war“, sagte Gerda Berger, „ich kann so nicht weiterleben. Ich muß es sagen. Ich habe schon gestern abend gewußt, daß ich es sagen muß.“ „Schreiben Sie bitte mit!“ sagte Ebner zu dem Praktikanten. Manfred Berger waren während der Rückfahrt erhebliche Zweifel gekommen, ob seine Entscheidung nicht vielleicht eine Dummheit gewesen war. Nur weil er für kurze Zeit beunruhigt war, hatte er sich auf den Weg nach Dresden gemacht. Wäre etwas geschehen, was er hätte unbedingt erfahren müssen, würde Gerda ihn gewiß angerufen haben. Sie konnte sich doch denken, daß bei dem Wetter niemand in der Wohnung blieb. Nur weil sich beim ersten Anruf irgendwann am Nachmittag keiner meldet, gibt sie es doch nicht auf. Sie weiß schließlich, worum es geht. Es war idiotisch von ihm, auf die Nacht mit Riccarda zu verzichten. Nie wieder würde 210
er einer solchen Frau begegnen. So eine Gelegenheit kam nie wieder. Was bin ich nur für ein Trottel, beschimpfte er sich. Aber was wäre danach gewesen? Am nächsten Morgen? Jetzt war es schon ganz schön schlimm. Und erst nach einer Nacht? Einfach: Tschüs und Winkewinke? Das würde sich wohl nicht machen lassen. Die Frau war ihm bereits unter die Haut gegangen, ohne daß er ihr sehr nahe gekommen war. Laß ab! redete er sich zu. Du hast Gerda, und für sie hast du zu sein. Nur noch für sie. Die Würfel sind gefallen. Finde dich damit ab. Aber es war nicht einfach. Während der gesamten Fahrt begleitete ihn Riccardas Bild. Und er hörte nicht auf, mit ihr zu reden. Er hörte auch ihre Stimme. Ihre schöne, tiefe Stimme und ihr herrliches Lachen. In Dresden parkte er sein Auto weitab von seiner Wohnung. Er wußte nicht genau, weshalb er das machte, aber ein unbestimmtes Gefühl riet ihm dazu. Langsam ging er in Richtung der Straße, in der er wohnte. Es trieb ihn nichts. Er wußte auch nicht, wie er seiner Frau gegenübertreten sollte. Wieder stellte er fest, daß ihm die Übung ermangelt. Ich habe nichts erlebt bisher, sagte er sich, absolut nichts. Ein Leben lang nichts erlebt. Vor dem Haus blieb er stehen und schaute nach oben zu seiner Wohnung. Da war alles dunkel. Sollte Gerda bereits schlafen? Schon möglich. Sie tat gut daran. Und plötzlich kam ihm der Gedanke, sofort wieder nach Berlin zurück zu Riccarda zu fahren. Wenn hier alles ruhig war, gab es keinen Grund für ihn, es nicht zu tun. Trotz dieser Überlegung trat er durch die Haustür und stieg nach oben. Wenn er schon hier war, wollte er sich wenigstens umsehen. Er wollte leise die Wohnungstür öffnen und nach dem Rechten sehen. Als er auf der Etage, auf der seine Wohnung lag, angekommen war, hörte er Stimmen und Schritte von 211
oben. Er wollte rasch wieder nach unten, entschloß sich dann aber für den schnellen Eintritt in die Wohnung. Er suchte den Wohnungsschlüssel, fand ihn nicht gleich. Und dann sah er zwei Männer und Gerda. Blitzartig begriff er, daß etwas Schlimmes geschehen war. Er rannte die Treppe hinunter. Hinter ihm wurde gerufen. Er blieb nicht stehen. Er rannte weiter in Richtung seines Autos. Sein Kopf funktionierte trotz des Rennens einwandfrei. Ihm war klar, daß es kein Entkommen gab, aber bevor sie ihn hinter Gitter steckten, wollte er Riccarda noch einmal sehen. Keuchend erreichte er sein Auto und raste in Richtung Autobahnauffahrt davon. Auf der Fahrt nach Berlin kümmerte er sich nicht um die vorgeschriebene Geschwindigkeit während des Einfahrens eines neuen Autos. Das war ihm nun alles egal. Nur ein Wort hatte in seinem Kopf Platz: Riccarda. Als er endlich am Hause seines Bruders ankam, wurde er von mehreren Männern in Empfang genommen. Riccarda stand in einiger Entfernung. „Darf ich mich verabschieden?“ fragte er die Männer. „Das dürfen Sie“, bekam er zur Antwort. Sie kam zu ihm und küßte ihn.
212
2. Auflage © Verlag Das Neue Berlin, Berlin • 1985 (1984) Lizenz-Nr.: 409-160/207/85 • LSV 7004 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden Scan & Ebook by *MM* 09/2010 622 357 6 00200