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Die Autorin Alexandra Cordes, 1935 in Bonn geboren, arbeitete zunächst für verschiedene deutsche Tageszeitungen und Zeitschriften. Ihre 60 Romane begeisterten ein Millionenpublikum. Mit ihrem Mann Michael Horbach, ebenfalls Bestsellerautor, lebte sie lange Jahre in Südfrankreich. 1986 wurde sie von ihrem Ehemann erschossen.
Klappentext Es sah so aus, als hätte Helen alles Glück dieser Welt erfahren. Sie war schön, reich und verliebt in ihren Mann, dem sie gleich nach der Heirat die Führung ihrer ererbten Fabrik überlassen hatte. Da merkt Helen eines Tages, daß es in ihrem Haus nicht mit rechten Dingen zugeht. Immer häufiger wird sie von rätselhaften Ereignissen überrascht, die sie sich nicht erklären kann. Ist sie geisteskrank? Helen gerät in Panik. Mit aller Macht erwehrt sie sich dagegen, in eine geschlossene Anstalt gebracht zu werden. Sie hat nur eine Chance: Aufklärung dessen, was hinter den geheimnisvollen Vorkommnissen steckt. Wer hat Interesse daran, sie auf ewig in einer Anstalt verschwinden zu sehen? Etwa ihr Mann, der sich ihr Vermögen aneignen will? Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt.
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Dieses eBook ist nicht zum Verkauf bestimmt.
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Alexandra Cordes
Die Nacht der Katzen
LINGEN VERLAG KÖLN Sonderausgabe des Lingen Verlags, Köln mit Genehmigung des Schneekluth Verlags, München Gesamtherstellung Lingen Verlag Köln und Bercker Graph. Betrieb GmbH, Kevelaer Schutzumschlag: Roberto Patelli Printed in West-Germany
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1 Da war nur der Schrei. Nichts anderes. Das Schlafzimmer war von schwüler Sommerdunkelheit erfüllt. Die Fenstertüren standen weit offen, aber durch nichts zeichnete sich der Himmel in dem hohen Rechteck ab. Kein Rascheln des Windes in den Bäumen war zu hören, kein Laut von der Straße jenseits des Parks. Eine Stille, ebenso beklemmend wie die Schwüle. Helen Bertram lag reglos unter dem dünnen Laken. Sie hatte die Augen weit geöffnet. Sie wußte, dieser Schrei hatte sie geweckt. Sie spürte, wie ihr Schweiß auf die Stirn trat und über die Schläfen in den Nacken rann. Die Leere des einsamen Hauses, die Weite des nächtlichen Parks hauchten sie an wie unsichtbare Tiere. Ich habe geträumt, dachte Helen, ich muß geträumt haben. In diesem Augenblick begann es wieder, mit einem hohen Wimmern, das jäh lauter wurde, in einem qualvollen Schrei endete, schrill und tierisch. Die Katzen. Helen lächelte etwas erleichtert, und doch fiel die Angst nicht von ihr ab. Natürlich, Romeo und Julia, die beiden Siamkatzen, balgten sich irgendwo im Park. Helen drehte sich auf die Seite, richtete sich halb auf und tastete nach der Nachttischlampe. Dann sah sie die roten Flecken auf dem perlgrauen Teppichboden. Abdrücke von Katzenpfoten. Und sie sah, daß die Spur quer übers Bett, quer über das Laken führte, unter dem sie lag, und wieder über den Boden, zur offenen Terrassentür hin. Eine rote Spur, noch feucht. Eine Spur von Blut. Verständnislos starrte Helen auf die Fährte des Grauens; die Augen registrierten, was der Verstand nicht erfassen wollte. Das Telefon läutete.
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Helen saß unbeweglich da. Die Schwüle der Nacht schien von einem Eishauch weggefegt. Helen griff nach dem Hörer, fast ungewollt. Ihre Hand war voller Blut. »Helen? Helen, bist du’s?« fragte es am anderen Ende. »So antworte doch!« »Raoul, wo bist du?« »Was ist mit dir? Du redest so komisch?« »Du hast mich geweckt«, log sie und preßte den Hörer mit beiden Händen an ihr Ohr. »Wo bist du? Warum rufst du an?« »Ich bin früher als erwartet in Frankfurt fertig geworden«, sagte er fröhlich. »Ich bin gerade hier in Zürich gelandet.« »Nein!« »Aber Helen, was ist denn?« »Nichts, ich meine – ich freue mich.« »So klingt das aber gar nicht. Bist du etwa nicht allein?« fragte er mißtrauisch. »Doch, ja – ich bin allein. Ganz allein sogar. Das Mädchen hat Ausgang. Es ist doch Mittwoch. Kommst du jetzt sofort nach Hause?« »Aber natürlich. Helen, ist wieder – etwas passiert? Du weißt…« »Nein, nein«, unterbrach sie ihn hastig. »Es ist alles in Ordnung. Ich mach uns schnell noch was zu essen und stelle eine Flasche Sekt kalt. Ich bin froh, daß du wieder da bist.« Als sie den Hörer zurücklegen wollte, zitterten ihre Hände so stark, daß es ihr kaum gelang. Sie sprang auf. Sekundenlang erfaßte sie Schwindel. Dann riß sie das blutbesudelte Laken vom Bett, knüllte es zusammen, lief in das Ankleidezimmer und stopfte es in das Fach für schmutzige Wäsche. Sie rannte ins Bad, befeuchtete ein Handtuch mit kaltem Wasser, hastete ins Schlafzimmer zurück, kniete sich auf den Boden und rieb die Blutspuren weg. Blut. Blut von Katzenpfoten. Wo waren Romeo und Julia? Ihr Wimmern und Schreien war verstummt. In Haus und Park war es wieder so bedrückend still wie zuvor.
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Helen holte die Taschenlampe aus der Diele und schaltete von ihrem Schlafzimmer aus die Beleuchtung der Terrasse ein. Sie folgte den roten Spuren bis zur Weide am Rande des Swimming-pools. Neben den Umkleidekabinen unter dem Farngebüsch fand sie die Katzen. Mit durchschnittenen Kehlen. Sie trug einen seidigen, hellgrauen Hosenanzug und hatte eine grüne Schürze darüber gebunden, die sonst im Gerätehaus für den Gärtner hing, der den Park in Ordnung zu halten pflegte. Sie atmete keuchend, während sie den Spaten in die Erde stieß und mit ihrem schmalen, dünnbeschuhten Fuß nachhalf. Sie hatte die Taschenlampe neben sich auf den Boden gelegt. Im Widerschein des Lichts war ihr Gesicht kreideweiß; fast weiß schimmerte auch ihr schulterlanges, blondes Haar. Etwas weiter entfernt, halb im Schatten unter dem Farnkraut, lagen die toten Katzen. Er wartete, bis sie die Grube ausgehoben hatte, den Spaten aus der Hand legte und zu den Katzen hinüberging. Er sah, daß es wie ein Krampf durch ihren schlanken, beinahe mageren Körper lief, ehe sie sich hinabbeugte und die toten Tiere aufhob. »Helen, was tust du denn da?« fragte er sanft und trat aus dem Schatten des Badehauses. Ihr Kopf fuhr hoch, sie starrte ihn mit weiten, entsetzten Augen an. »Raoul – du?« »Was hast du denn da in der Hand?« fragte er und trat noch einen Schritt näher. »Romeo und Julia«, flüsterte sie. »Sie sind… jemand hat… sie haben geschrien, und da bin ich aufgewacht, und da hab’ ich sie gefunden. Sie sind tot.« Sie hielt ihm in ihren ausgestreckten Händen die Katzen hin. Er haßte den Geruch von Blut; ihm wurde übel davon. Er zog das Kavalierstuch aus der Brusttasche seines leichten Tweedjacketts und hielt es sich vor Mund und Nase. Helen wich zurück. Mit einer jähen, wilden Bewegung schleuderte sie die Kadaver von sich.
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Stand dann zitternd da, die Hände verschmiert von Blut und Erde, zu Fäusten geballt. »Raoul, sieh mich nicht so an«, flüsterte sie. »Raoul, glaubst du etwa, ich hätte es getan?« »Aber Helen«, sagte er sanft, »warum wolltest du sie denn mitten in der Nacht vergraben? Heimlich?« Sie begann zu weinen. Ihre Schultern zuckten wie im Krampf. Sie senkte den Kopf, als sollte ihr Haar die Tränen verbergen. »Geh ins Haus, Helen, ich erledige das hier.« Sie zögerte, wollte etwas sagen, konnte es nicht, wandte sich ab und lief davon. Raoul Bertram zog ein Paar Gummihandschuhe aus seiner Hosentasche und streifte sie über. Er nahm die Katzenkadaver auf, warf sie in die kleine Grube, die Helen geschaufelt hatte und scharrte mit dem Spaten Erde darüber. Als er ins Haus kam, hatte Helen die Gartenschürze abgelegt. Sie hatte ihr Haar gebürstet und die Wangen gepudert. Ihre Hände schimmerten glatt und makellos mit frisch lackierten Nägeln. Sie hatte ein Feuer im Kamin angezündet. Eis glitzerte im Kristallbecher auf dem Bartisch, die Gläser standen bereit, dazu eine Karaffe frischen Zitronen- und Apfelsinensaftes, wie er ihn zu einem Whisky sour liebte. Helen saß in einem der mit naturfarbenem Leder überzogenen Sessel vor dem offenen Kamin und nippte an einem Cognac. Sie sah ihm ruhig entgegen, und sekundenlang mußte Raoul ihre Beherrschung bewundern. »Ich habe die Katzen nicht umgebracht. Du weißt, wie sehr ich an Romeo und Julia hing. Sie waren das letzte Geschenk meines Vaters«, sagte sie mit Gelassenheit. Er erwiderte nichts und mischte sich einen Whisky sour. »Ich weiß nicht, wer es getan hat, aber es muß ein Verrückter sein, der sich hier herumtreibt«, sagte sie. »Aber Helen« – er blickte sie nachsichtig lächelnd an –, »du weißt nicht, was du sprichst.« »Ich weiß es sehr gut.« Sie hob den Kopf und reckte ihr kleines, rundes Kinn vor. »Ich weiß sehr gut, daß in diesem Haus sonderbare
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Dinge geschehen. Aber ich bin ebenso unschuldig daran wie du, Raoul, und ebensosehr betroffen, wenn…« »Das Mädchen hat doch Ausgang«, sagte er, »du warst ganz allein.« »Ja. ich war ganz allein. Aber jemand kann über die Gartenmauer geklettert sein.« »Die Mauer ist zwei Meter hoch, und dein Vater hat sie dazu noch mit einem elektrischen Sicherheitsdraht versehen lassen.« »Du sagst das, als sei es äußerst sonderbar.« »Ist es das nicht?« Er blickte sie fragend an. »Dein Vater muß ängstlich gewesen sein.« »Wir wohnen hier sehr einsam. Mitten im Wald. Bis zu den nächsten Häusern ist es mehr als ein Kilometer.« Raoul zuckte die Achseln und setzte sich ihr gegenüber. Eine Weile hielt Helen seinem Blick stand, dann senkten sich ihre Lider über die hellen, honigfarbenen Augen. »War das Tor offen? Dann kann jemand unbemerkt in den Park gekommen sein«, sagte sie. »Ich habe ja auch deinen Wagen nicht gehört.« »Das Tor war abgeschlossen«, sagte er und wußte, er mußte seine Worte jetzt mit Vorsicht wählen. »Erinnerst du dich an die Kleider, die vor wenigen Wochen für dich geschickt wurden? Die ganze Kollektion von St. Yves aus Genf? Und du hattest sie angeblich nicht bestellt.« »Ich hatte sie nicht bestellt! Ich habe es dir wieder und wieder gesagt. Und ich hab’ sie ja auch zurückgeschickt.« »Aber zwei der Kleider hast du behalten, und sie paßten dir wie angegossen. So passen nur Kleider, die einem auf den Leib geschneidert sind.« »Aber die Direktrice des Modesalons konnte beschwören, daß sie mich noch nie gesehen hatte. Die junge Frau, die unter meinem Namen die Kleider bestellte, war schwarzhaarig und hatte dunkle Augen.« »Du hast eine schwarze Perücke und besitzt dunkle Haftschalen.« »Die ich mir mal im Spaß zum Fasching gekauft habe.«
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»Helen, du hast vor drei Monaten unter dramatischen Umständen die Köchin entlassen.« »Sie stahl und ließ das Essen verderben.« »Aber sie war bereit, zu bezeugen, daß du sie tätlich angegriffen hast.« »Sie hat gelogen!« »Sie hatte Kratzwunden an den Armen.« »Warum ist sie dann nicht zur Polizei gegangen, warum hat sie mich nicht angezeigt?« »Ich habe es verhindert«, sagte Raoul sanft. Helen ballte die Hände zu Fäusten. »Ich verstehe das alles nicht. Ich kann es einfach nicht begreifen.« »Und wie war das mit den Petersens?« fragte er. »Wir haben mit ihnen auf unserer Mittelmeerreise vierzehn Tage Kabine an Kabine verbracht. Wir haben zusammen Landausflüge nach Alexandria und Beirut unternommen. Aber als sie uns vor drei Wochen besuchten, wolltest du sie noch nie in deinem Leben gesehen haben. Du hast es steif und fest behauptet. Es war ziemlich peinlich, wenn sie es auch mit typisch englischem Humor getragen haben.« »Raoul, ich habe diese Leute, die da zu uns kamen und sich als die Petersens ausgaben, noch nie in meinem Leben gesehen!« »Aber ich habe sie doch wiedererkannt«, sagte er in diesem sanften Tonfall, den man einem trotzigen Kind oder einer uneinsichtigen Kranken gegenüber anschlägt. »Helen«, er beugte sich vor, »du vertraust mir doch?« Sie nickte stumm, aber in ihren Augen flackerte Angst. »Wenn ich dir nun sage, daß du dich sehr verändert hast nach dem Tod deines Vaters und nach unserer Hochzeit? Helen, ich meine es doch gut mit dir, ich liebe dich, ich möchte doch, daß du wieder gesund wirst.« »Was soll ich tun?« flüsterte sie mit blutleeren Lippen. »Dich in Behandlung begeben.« »Willst du – willst du mich in eine Anstalt stecken?« »Natürlich nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Du sollst nur zu einem Psychiater gehen und dich einmal untersuchen lassen. Etwas bedrückt dich, Helen, es gibt da etwas, das dein Leben vergiftet.«
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Sie senkte den Kopf. Er sah, wie in dünnen Rinnsalen Schweiß über ihre Schläfen lief und in dem hellen Blond ihres Haares versikkerte. »Nun?« fragte er. »Ich werde es tun«, murmelte sie – und mit einem flehenden Lächeln: »Du meinst es doch gut mit mir?« Er stellte sein Glas weg und erhob sich. Dann ergriff er ihre Hand und zog sie aus dem Sessel hoch. »Du bist müde«, sagte er, »du solltest zu Bett gehen.« Sie nickte, lehnte sich an ihn und schmiegte ihr Gesicht in seine Halsbeuge. »Bleib bei mir, laß mich nicht allein«, flüsterte sie. »Ich muß noch arbeiten«, sagte er, »das verstehst du doch.« »Ja«, murmelte sie ergeben. Er schob sie sanft von sich. Sie ging mit staksigen Schritten zur Tür. »Helen?« »Ja?« »Du gehst sofort zu Bett, nicht wahr, und versuchst zu schlafen?« Aber sie konnte nicht schlafen; sie wälzte sich unruhig von einer Seite auf die andere. Sie vermeinte noch immer diesen stickigen Blutdunst zu riechen, und sie sah immer noch die Kadaver der Katzen vor sich. Ich habe es nicht getan, dachte sie wieder und wieder. Aber wer hat es getan? Es muß ein Verrückter sein, jemand der… Was will er nur damit erreichen? Ich verstehe es nicht, und es gibt auch keine Erklärung. Ich werde noch verrückt, wenn ich darüber nachgrüble. Wenn ich mir vorstelle, daß Raoul glaubt, ich hätte es getan – Und er glaubt es, ich habe es in seinen Augen gesehen. Ich habe es in seiner Stimme gehört. Er hat mich wie eine Kranke behandelt oder wie ein Kind, das nicht für seine Taten verantwortlich ist. Nicht verantwortlich, nicht bei Verstand und nicht bei Sinnen. Sie blieb reglos auf dem Rücken liegen.
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Ihre Hände und Füße waren plötzlich gefühllos und kalt. Woran ist eigentlich meine Mutter gestorben? Nach meiner Geburt war sie in einem Sanatorium. Ein Jahr später ist sie gestorben. Und Vater hat nie gesagt, woran. Vater hat nie von ihr gesprochen, weil er sie über alles geliebt hat. Ja, so muß es sein. Denn er hat nie wieder geheiratet, er hat das Leben eines Einsiedlers geführt, eines Mannes, der nur seine Arbeit, aber kein Privatleben, keine Freunde und keine Feste kannte. Sogar ich war ihm lästig, sogar mich wollte er nicht um sich haben, und er hat mich von einem Internat ins andere geschickt. Nur in den Ferien durfte ich nach Hause kommen, und dann hielt er mir Vorträge über das Geld und die Verantwortung, die auf mich wartete. »Eine der größten Glas- und Porzellanmanufakturen Europas habe ich aus dem Boden gestampft!« Das war der Satz, den ich am häufigsten von ihm zu hören bekam, und er sagte es stets wie im Zorn. Nur in den Werkstätten, nur wenn er eines der zerbrechlichen Gebilde seiner Fantasie, ein Glas, eine Karaffe, in seine großen, breiten Hände nahm, konnte sein Gesicht ein wenig weicher werden, konnten seine Augen ihre steinerne Härte verlieren. »Siehst du, Kind«, sagte er dann manchmal, »das ist Schönheit, das ist Vollkommenheit.« Aber sie wollte nicht die Schönheit der toten Dinge, sie wollte leben, lebendige Schönheit, lebendige Zärtlichkeiten erfahren. Natürlich reagierte er mit einem Wutausbruch, als sie sich nicht in die Tretmühle der Fabrik einspannen ließ, statt dessen nach England ging und dann nach Frankreich, um ihre Sprachkenntnisse zu vervollkommnen – und als sie aus Paris vor acht Monaten Raoul mitbrachte. Sie liebte diesen jungen, gutaussehenden Mann, dem Geld nur Mittel zum Zweck war, der so spielerisch vergnügt sein konnte, so zärtlich, und der sie behutsam die Liebe lehrte. »Dieser Nichtstuer, dieser Playboy! Er hat’s ja nur auf dein Geld abgesehen!« schrie ihr Vater an jenem Januarmorgen vor einem hal-
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ben Jahr. »Aber renn nur in dein Unglück, heirate ihn nur. Du wirst es noch bereuen!« Das waren seine letzten Worte. Eine Stunde später war er tot. Herzinfarkt. Zusammengebrochen hinter seinem Schreibtisch, an dem er dreißig Jahre lang täglich gesessen hatte. Helen hatte ihre Mutter nie gekannt. Sie hielt sich für schuldig am Tod ihres Vaters. Nur ein Mensch blieb ihr, der zu ihr gehörte; das war Raoul. Sie heiratete ihn acht Wochen später. Acht Wochen später, und das ist jetzt sechs Monate her. Helen starrte mit brennenden Augen in die Dunkelheit. Sechs Monate nur, und schon muß ich fürchten, ihn zu verlieren. Er verliert die Geduld mit mir. Er entfernt sich immer weiter von mir. Ich spüre es doch, er ist von Woche zu Woche seltener zu Hause. Wann haben wir die letzte Nacht miteinander verbracht? Helen hielt es nicht mehr aus, allein in diesem Zimmer, allein in ihrem Bett. Sie stand wieder auf und warf einen flauschigen, weißen Morgenmantel über. Licht schimmerte unter der Tür zum Wohnzimmer hervor, auch unter der Tür zu Raouls Studio. Sie hörte seine Stimme, als sie dort zögernd stehenblieb. »Sie hat es geschluckt«, sagte er, »ja, jetzt ist sie reif. Aber es war gräßlich.« Helen spürte, wie ihr Herz zu flattern begann, wie Übelkeit in ihrem Hals aufstieg. Sie preßte sich an die Wand neben dem Studio. Nur nicht zusammenklappen, nicht jetzt zusammenklappen! »Bis morgen also«, sagte Raoul. »Ja, wie immer. Ja, ich vergesse es nicht. Bonne nuit.« Helen tastete sich zur Türklinke und drückte sie herunter. Nur jetzt ganz ruhig bleiben, nur keine dramatische Szene! »Mit wem hast du telefoniert?« fragte sie kühl. Raoul saß an seinem Schreibtisch, den Rücken ihr zugewandt. Er drehte sich halb um und sah sie an.
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»Ich habe gelauscht«, sagte sie, »ich habe alles gehört. Wozu bin ich reif?« »Du?« Er zog die Augenbrauen hoch, fragend und verständnislos. »Du hast wörtlich gesagt: ›Sie hat es geschluckt, ja, jetzt ist sie reif, aber es war gräßlich.‹« »Ich habe von dem Prozeß gesprochen«, sagte er. »Ich habe mit der ehemaligen Teilhaberin deines Vaters einen Vergleich erzielt. Ich habe für dich einen Erfolg erzielt. Willst du mir das jetzt auch noch zum Vorwurf machen? Und wenn du wissen willst, mit wem ich telefoniert habe: mit dem Anwalt. – Helen«, er stand auf und kam auf sie zu. Sie sah die Sorge in seinen grauen Augen, nichts als Sorge um sie. »Jetzt mißtraust du auch schon mir. Merkst du nicht, wie krank du bist?« »Mein Vater hat nie eine Teilhaberin gehabt.« »Aber Helen, sie beansprucht die Lizenzerträge aus dem neuesten Reynold-Dessin. Soll ich dir die Papiere zeigen, die Prozeßunterlagen?« »Nein, nein!« Sie hob instinktiv abwehrend die Hände und wich vor ihm zurück. »Nein, ich will nichts mehr wissen, gar nichts mehr.« Sie begann zu schluchzen, sie konnte nichts dagegen tun. Sie stand da, preßte die Hand vor den Mund und starrte Raoul an, ihren Mann, den sie liebte. Und doch hatte sie eben auch ihm mißtraut. Sein schmales Gesicht war blaß, sein Mund, sonst eher weich, wirkte hart, und in seinen grauen Augen war ein zorniger Glanz. »Na, dann – gute Nacht«, sagte er, schob sie zur Seite und ging hinaus. Sie lief ihm nach und klammerte sich an ihn. »Raoul, laß mich nicht allein!« »Geh ins Bett, Helen.« »Raoul, bitte, ich werde wahnsinnig!« Er machte sich von ihren Händen los. »Ich fahre in die Stadt, ich übernachte in einem Hotel. Ich muß wenigstens ein paar Stunden Ruhe haben.« »Raoul, bitte«, flüsterte sie, »bleib bei mir.«
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Aber er ging zur Haustür und schlug sie hinter sich zu. Wenig später hörte sie das Anspringen des Wagens. Die Scheinwerfer wischten über die Fenster, blendend hell. Dann war es wieder dunkel und still. Die Visitenkarte des Psychiaters lag am anderen Morgen neben ihrem Frühstücksgedeck. Helen konnte sie gar nicht übersehen. »War mein Mann heute morgen hier?« fragte sie Renée, die ihr den Kaffee eingoß. »Ich weiß nicht, gnädige Frau.« Die Augen des Mädchens sahen sie stumpf und ohne Ausdruck an. »Das müßten gnädige Frau doch besser wissen. Ich bin erst vor einer halben Stunde mit dem Frühbus zurückgekommen.« »Es ist gut, Renée«, sagte Helen. »Bitte, bringen Sie mir das Telefon.« Renée holte das Telefon, druckste dann herum, rückte den Toaster zurecht und gab dem Servierwagen einen Schubs. »Was ist denn noch?« fragte Helen ungeduldig. »Ich möchte nur fragen, wo denn Romeo und Julia sind. Wegen der Leber, die…« »Ich weiß es nicht«, unterbrach sie Helen rasch. »Bitte, Renée, lassen Sie mich allein. Ich muß telefonieren.« Sie wählte die auf der Visitenkarte angegebene Nummer. Eine weiche, ein wenig heisere Mädchenstimme antwortete ihr: »Praxis Dr. Savant.« Helen bat um einen Termin für den Nachmittag. »Ja, gern, Madame, paßt es um fünf Uhr?« Um Punkt fünf Uhr betrat Helen die Praxis von Dr. Savant. In dem in gedämpftem Beige und Grün gehaltenen Empfangsraum saß ein schwarzhaariges junges Mädchen exotischer Herkunft. Mit geschlitzten Lackaugen blickte sie zu Helen auf. »Mein Name ist Bertram«, sagte Helen, »wir haben heute morgen miteinander telefoniert.« Das blasse, zarte Gesicht begann zu lächeln, die Augen glitzerten. »Aber ja«, sagte sie, »der Herr Doktor erwartet Madame schon.«
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Das Auffallendste an Pierre Savant waren seine Augen. Sie waren schmal, weit auseinanderstehend und von einem sehr hellen Blau. »Madame, bitte nehmen Sie Platz«, sagte er, und seine Augen prüften sie rasch und präzise und ließen gewiß kein Detail aus. Ich bin mager geworden, dachte Helen instinktiv, zu mager, und ich bin zu blaß. Ich hätte auch vorher noch zum Friseur gehen sollen. »Darf ich Ihnen eine Erfrischung anbieten, einen Tee vielleicht?« »Ja, danke – mit Zitrone«, sagte sie. Er drückte die Taste des Sprechgeräts, das neben dem Telefon, einem weißen, unbenutzten Block und einer Handvoll Bleistifte in einer Silberschale auf dem Schreibtisch stand. »Zwei Tee mit Zitrone, May-lin« – und wieder zu Helen gewandt: »Rauchen Sie?« »Nein, danke.« »Jetzt weiß ich schon ein bißchen mehr über Sie.« Savant lächelte zum erstenmal, und dieses Lächeln gab seinem Gesicht einen überraschend jungen, unbekümmerten Ausdruck. »Sie trinken Tee mit Zitrone und Sie rauchen nicht.« »Ich bin vierundzwanzig Jahre alt«, fügte Helen hinzu, »in Zürich geboren und in Internaten aufgewachsen. Meine Mutter starb ein Jahr nach meiner Geburt; mein Vater war Albert Reynold.« »Der große Reynold.« »Sie kannten ihn?« »Gesellschaftlich. Ich traf ihn einmal auf einem Empfang.« »Das muß der erste und letzte Empfang gewesen sein, zu dem er gegangen ist. Er war ein Einsiedler, er lebte nur für seine Arbeit.« »Und Sie? Führen Sie die Reynold-Manufaktur weiter?« »Nein, das tut Raoul, mein Mann. Ich bin seit einem halben Jahr verheiratet. Und seit einem halben Jahr…« Sie stockte. »Und seit einem halben Jahr…«, wiederholte Savant. »Geschehen sonderbare Dinge«, sagte sie, »das heißt, es sieht so aus, als wäre ich es, der diese sonderbaren Dinge tut. Ich soll zum Beispiel bei St. Yves in Genf Kleider bestellt haben, gleich eine ganze Sommerkollektion.« »Sie könnten es sich leisten.«
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»Aber eine ganze Kollektion, nein«, sie schüttelte den Kopf, »dazu bin ich zu sparsam erzogen worden. Und ich weiß, ich habe es nicht getan.« »Was geschah noch?« »Ich habe unsere Köchin entlassen. Sie stahl, und sie ließ die Lebensmittel verderben. Meinem Mann gegenüber behauptete sie, ich hätte sie tätlich angegriffen. Sie zeigte ihm Kratzwunden, und mein Mann brachte sie nur mit Mühe davon ab, zur Polizei zu gehen.« »Wo ist Ihr Mann geboren?« »Mein Mann? Raoul? Ja…« Helen verstummte, sie sah in die hellen, prüfenden Augen und dachte: Ich weiß es nicht. Aber wieso weiß ich es nicht? Er muß es mir doch gesagt haben. Raoul hat es mir auch gesagt! »Auf einem Schiff – ja, auf einem Schiff ist er geboren«, antwortete sie hastig. »Auf welchem Schiff?« »Ich – ich habe seinen Namen vergessen.« »Was geschah noch, Madame?« fragte der Arzt. »Da kamen diese Petersens zu uns. Oder zumindest gaben sie sich als Petersens aus. Sie – wir hatten sie auf unserer Kreuzfahrt durchs Mittelmeer kennengelernt. Aber sie waren es nicht wirklich, verstehen Sie, sie sprachen ja nicht einmal richtig englisch. Ich kann das beurteilen, ich habe ein Jahr lang in London gelebt.« »Hat Ihr Mann viele Freunde?« »Freunde? Ja – nein, ich kenne seine Freunde nicht. Wir sind ja auch erst seit einem halben Jahr verheiratet. Und wir haben uns in Paris kennengelernt.« »Wo dort?« »In einer Bar.« »Wie hieß die Bar?« »Paris 2000.« »Was trugen Sie an jenem Abend?« »Es war ein Nachmittag im Oktober. Es war auch nicht eigentlich eine Bar. Es war eine Diskothek. Es gab nur Soft-Drinks, ich meine keinen Alkohol.« »Was trugen Sie für ein Kleid?«
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»Ein weißes Jerseykleid und schwarze Lackstiefel.« »War Ihr Mann allein?« »Ja – nein, es war ein junger Mann bei ihm, aber der ging bald, ich weiß seinen Namen nicht.« »Wie sah er aus?« »Blond. Er trug eine Brille mit getönten Gläsern.« »Sie haben ihn nicht wiedergesehen?« »Nein. Aber warum fragen Sie mich das alles? Das liegt doch alles so weit zurück. Es hat nichts mit…« »Ja?« fragte der Arzt. »Mit den toten Katzen zu tun.« Helen hob den Kopf. Sie zwang sich, in die hellen, prüfenden Augen zu sehen. »Jemand hat in der vergangenen Nacht meine Siamkatzen getötet. Romeo und Julia. Jemand hat ihnen die Kehlen durchschnitten, und dieser Jemand wollte, daß es so aussah, als hätte ich es getan.« »Wo war Ihr Mann?« »Raoul war nicht da. Aber warum fragen Sie immer nach ihm? Er leidet doch genauso unter diesen Dingen wie ich. Er macht sich solche Sorgen…« Die Stimme versagte ihr. Wenn aber diese Drohung eines Unbekannten, diese unerklärlichen Dinge, die geschahen, nicht gegen sie gemünzt waren, sondern durch sie gegen Raoul? Wenn da jemand aus seiner Vergangenheit war, der nicht sie treffen wollte, sondern ihn?
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2 Die Augen des Psychiaters waren so seltsam hell, als könnte man durch sie hindurchschauen; als liege jenseits davon etwas, das Helen unbedingt ergründen müßte. Seine Gedanken – was dachte er? Dachte auch er, daß sie die Katzen getötet hatte? Helen spürte, wie ihre Hände zuckten, und legte sie flach auf ihre Knie. »Warum sagen Sie nichts?« fragte sie. Oder dachte er wie sie, daß der Tod der Katzen, die seltsamen Dinge, die sie angeblich getan hatte, das Werk eines Fremden waren, der durch sie Raoul treffen wollte? »Es könnte jemand aus Raouls Vergangenheit…«, begann sie, aber eine Handbewegung Dr. Savants ließ sie verstummen. »Ich werde Ihnen Beruhigungstabletten verschreiben«, sagte er. »Ein leichtes Präparat. Und ich glaube, es wäre gut, wenn Sie wieder zu mir kämen – am kommenden Dienstag?« »Ist das alles?« fragte Helen, kalt bis in ihre Fingerspitzen. Er sah sie an; nachdenklich und ein wenig spöttisch, wie es ihr schien. »Für den Augenblick ist das alles, Madame. Am Dienstag werden wir weitersehen.« Helen erhob sich. Er stand ebenfalls auf und kam um den Schreibtisch herum. »Ich möchte, daß Sie sich keine Sorgen machen«, sagte er ernst. »Ich möchte, daß Sie mir vertrauen.« Er nahm ihre Hand. Sie wußte, er würde das nervöse Zucken ihrer Finger bemerken. »Weiß Ihr Mann, daß Sie zu mir gekommen sind?« »Aber ja!« »Dann grüßen Sie ihn von mir.« Ehe sie noch antworten konnte, hatte Dr. Savant sie sanft zur Tür geschoben. Sie trat ins Vorzimmer. »Bitte, May-lin, tragen Sie den kommenden Dienstag um die gleiche Zeit als Termin für Madame ein«, sagte Dr. Savant. Ein leichtes Kopfnicken noch in Helens Richtung – und das Lächeln, das seine
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Augen nicht erreichte. Dann schloß sich die Tür seines Arbeitszimmers hinter ihm. Das Mädchen mit den Mandelaugen und dem exotischen Namen May-lin blickte zu Helen auf und gab ihr mit schlanker, gelblich getönter Hand einen Zettel. »Ihr Rezept, Madame.« Helen nahm das Rezept, steckte es unbesehen in ihre Handtasche, murmelte ein »Au revoir« und verließ das Empfangszimmer, als sei sie auf der Flucht. Sie verzichtete auf den Aufzug und hastete die Treppen hinunter. Wie sie mich alle ansehen, dachte sie. Erst Raoul und dann dieser Savant und jetzt auch noch diese May-lin. Ich bin doch nicht verrückt. Ich bin es einfach nicht! Halt! Sie blieb von dem eigenen stummen Kommando wie angewurzelt stehen. Du reagierst, wie sie es von dir erwarten, du reagierst wie jemand, dessen Geist verwirrt ist und dessen Handlungen nur von sprunghaften Gefühlen bestimmt sind. Du gibst ihnen recht. Mit deinem Mißtrauen gegen sie gibst du ihnen ja das Recht, dich für verrückt zu halten. Helen ging langsam durch die mit blaßgrauem Marmor getäfelte Halle. Sie trat auf die Straße und mußte sekundenlang geblendet die Augen schließen; jenseits des Sees ging messingfarben die Sonne unter. »Madame?« May-lin stand plötzlich atemlos neben ihr. »Sie haben etwas vergessen, Madame!« Und sie hielt Helen in der schmalen, geöffneten Hand ein mit grünem Samt überzogenes Halsband entgegen. Ehemals war es grün gewesen. Jetzt war es dunkel verkrustet – von Blut. Und es hatte Romeo gehört, dem Siamkater. »Wo haben Sie das her?« fragte Helen tonlos. »Ich, Madame?« »Ja, Sie!« Die bläulich-schwarzen Augen weiteten sich unter den straffgeschwungenen Lidern.
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»Aber Madame, es muß aus Ihrer Handtasche gefallen sein, als Sie das Rezept einsteckten.« »Sie lügen, und Sie wissen es! Wo haben Sie das Halsband her?« »Madame, ich verstehe wirklich nicht…« »Ich auch nicht!« Helen packte das Mädchen an der Schulter. »Was ist hier los? Was wird hier gespielt? Steckt ihr alle unter einer Dekke?« »Helen! Um Gottes willen!« Raoul war plötzlich da. Er nahm ihre Hand von der Schulter des Mädchens; der dünne, weiße Leinenkittel war unter dem Druck ihres Griffs zerknittert. Das kleine, herzförmige Gesicht war wächsern blaß. Tränen sammelten sich in den Augenwinkeln. »Aber Madame, Monsieur«, stammelte sie, »ich kann doch nichts dafür, wenn Madame…« »Halten Sie den Mund«, sagte Helen. Und zu Raoul gewandt: »Sie will mir weismachen, daß ich Romeos Halsband in meiner Handtasche gehabt habe. Aber du hast die Katzen gesehen, du hast gesehen, daß sie beide keine Halsbänder mehr trugen.« »Helen, bitte, mäßige deine Stimme. Wir erregen Aufsehen! Komm jetzt lieber zum Wagen.« Raoul packte ihren Arm mit hartem Druck. Er nahm das Halsband aus May-lins immer noch erhobener, halbgeöffneter Hand. »Entschuldigen Sie, Mademoiselle«, sagte er, »meine Frau ist ein wenig nervös.« »Ja, Monsieur, ja Madame.« May-lin senkte den Kopf, dann drehte sie sich abrupt um und lief ins Haus zurück. »Du hättest sie zur Rede stellen sollen! Sie hat gelogen! Ich hab’ das Hals…« »Helen, hör endlich auf«, befahl Raoul. »Bitte, steig ein.« Er öffnete ihr den Schlag seines silberblauen Thunderbird. Sie rutschte auf den Sitz und saß aufrecht da. Raoul kam um den Wagen herum, stieg ein, ließ den Motor an, setzte aus der Parklücke, gab Gas und preschte noch bei Gelb über die Kreuzung. Er fuhr rasch und zügig wie stets, ein wenig zu verwegen, was das Überholen anderer Fahrzeuge betraf. Seine Hände lagen locker auf dem Lenkrad, aber sein Gesicht war hart und abweisend.
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Wenn er doch wenigstens etwas gesagt, ihr wenigstens Vorwürfe gemacht oder – besser noch – eine Erklärung verlangt hätte! Aber er schwieg. Helen hielt es schließlich nicht mehr aus. »Raoul, es tut mir leid«, begann sie. »Wenn du dich wenigstens in der Öffentlichkeit zusammennehmen würdest«, sagte er mit klangloser Stimme. »Raoul, ich habe diesen Auftritt nicht provoziert, ich schwöre dir, ich bin unschuldig daran.« »Das mag ja sein, wir wollen nicht streiten. Aber wie soll das alles weitergehen?« »Ich schwöre dir…« Helen verstummte und dachte: Mein Gott, ich gebrauche einfach zu große Worte. Ich schwöre andauernd etwas; Raoul, dem Psychiater, May-lin. »Raoul, Doktor Savant hat mir eine Menge Fragen gestellt«, sagte sie und bemühte sich, ihre Stimme gleichmütig klingen zu lassen. »So?« fragte Raoul. »Wonach fragte er denn?« »Unter anderem nach dir.« »Das ist doch nur natürlich«, sagte er leichthin, »schließlich sind wir verheiratet.« »Er hat mich gefragt, wo du geboren bist, und das wußte ich nicht, wenigstens nicht genau.« »Aber Schäfchen, in Avignon natürlich. Du hast doch vor der Trauung meine Papiere gesehen!« Raoul lachte auf. »Ja, natürlich«, murmelte sie, aber sie spürte das nervöse Zucken ihrer Mundwinkel. Und sie dachte: Es ist nicht wahr. Raoul hat das Aufgebot ganz allein bestellt. Ich habe seinen Geburtsschein nie gesehen. »Komisch«, sie ließ es scherzhaft klingen, »ich meinte, du wärst auf einem Schiff geboren!« »Aber liebes Kind, welch eine Idee! Meine Mutter ist nie über die Stadtmauern von Avignon hinausgekommen.« »Wir sind jetzt schon ein halbes Jahr verheiratet, aber wir haben noch nie deine Eltern besucht – oder sie uns.« »Na ja, aber denk nur daran, was sich alles in diesem halben Jahr ereignet hat. Ich hatte weiß Gott genug zu tun, mich in die Firma
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einzuarbeiten und die Leitung zu übernehmen. Außerdem weißt du, daß Mama krank ist. Wegen ihrer Gicht hat sie nur noch sehr ungern Besuch.« »Wer war eigentlich damals der junge Mann bei dir, in Paris? Als wir uns kennenlernten, im Paris 2000.« »Also, daran kann ich mich beim besten Willen nicht mehr erinnern.« »Er war blond und trug eine Brille mit getönten Gläsern.« »Ach, du meinst Armand? Er ist übrigens zur Zeit in Zürich. Er kommt heute abend zu uns.« »Ist er ein Freund von dir?« »Ein Bekannter, wir haben ein paar Semester zusammen studiert.« »Ich wußte gar nicht, daß du studiert hast.« »Ich hab’ ja auch kein Examen gemacht. Ein paar Semester Jura, das war alles.« »So wenig weiß ich von dir«, sagte Helen. Raoul wandte den Kopf und lächelte sie rasch an. »Du hast ein ganzes Leben Zeit, mehr von mir zu erfahren.« Hab’ ich das, dachte sie, hab’ ich das wirklich? Sie dachte es jäh und eigentlich ohne Grund. Aber sie verspürte eine tiefe, dumpfe Angst, und sie wußte, es war die Angst vor dem Tod. Raoul lenkte den Wagen in die Einfahrt ihres Hauses. Die Pappeln standen unbewegt, erstes Silberrot auf den Blättern, Ahnung des Herbstes. »Danke übrigens, daß du mich abgeholt hast«, sagte Helen, als sie ausstieg. Und erst da fiel ihr wieder ein, daß sie ja mit dem Wagen in die Stadt gefahren war, mit ihrem kleinen, weißen Fiat-Cabriolet. Aber wo hatte sie es geparkt? Nicht vor dem Haus von Dr. Savant, nicht in der Straße. Sonst hätte sie es ja nicht vergessen können. Aber wo? »Raoul?« »Ja«, sagte er und blickte sie über das flache, silbrige Dach seines Wagens hinweg an.
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»Ich – ich habe vor lauter Aufregung vergessen, daß ich ja selbst mit dem Wagen in der Stadt war.« Sie sah genau, daß er sich zu einem Lächeln zwingen mußte. »Macht doch nichts, Schäfchen, ich schick Jean hin, ihn zu holen.« »Wer ist Jean?« »Mein Chauffeur.« »Du hast einen Chauffeur?« »Ja, manchmal ist es wirklich angenehmer, nicht selbst zu fahren, vor allem bei langen Strecken.« »Natürlich«, sagte sie, »du hast vollkommen recht.« Aber sie dachte: Warum hat er mir nichts davon erzählt? Schließlich ist es immer noch meine Firma, die er verwaltet, mein Geld, von dem er sich den amerikanischen Wagen leistet und den Chauffeur. Sie wandte sich um und wollte ins Haus gehen. In diesem Augenblick sah sie die beiden offenen Garagen. Und in der linken parkte ihr Wagen, das weiße Fiat-Cabriolet. Helen stand in ihrem Bad vor dem Spiegel, die Hände um den Bekkenrand geklammert, und starrte sich selbst in die Augen. Die Übelkeit war vorbei, aber sie spürte noch die Schwäche in den Beinen, das Zittern der Knie und auch die schmerzhafte Leere ihres Magens. »Ist dir nicht gut?« fragte Raoul hinter ihr. Sie sah ihn unter der Tür zum Schlafzimmer stehen, sah seine grauen Augen im Spiegel, sah die Sorge und das Unbehagen in ihnen. Ja, nicht nur Sorge – auch Unbehagen. »Ich komme sofort«, sagte sie. »Du mußt dich noch umziehen, es sei denn…« »Was?« »Ich kann mit unseren Gästen auch zum Essen ausgehen.« »Gästen?« »Ich sagte dir doch, daß Armand kommt. Und er bringt eine kleine Freundin mit, nehme ich an.« »Du kennst sie nicht?« »Woher sollte ich? Also, was ist nun?« »Ich komme. Ich bin in ein paar Minuten fertig.«
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»Gut, ich sage Renée schon Bescheid, daß sie ein paar Sandwiches richten soll.« »Nein, nein, das mach ich. Ich mache ein Käsesoufflé und einen Teufelssalat und…« »Aber das wird dir doch zuviel«, wandte Raoul ein. Helen war zu ihm gegangen, und er legte ihr den Arm um die Taille. »Weißt du, daß ich mir sehr große Sorgen um dich mache?« fragte er. Sie legte ihre Stirn gegen seine nackte Schulter, die noch feucht vom Duschen war. »Ich weiß. Und du ahnst nicht, wie weh mir das tut. Wir könnten doch so glücklich sein. Raoul.« »Wir werden es sein«, sagte er sanft, »eines Tages.« »Ja«, murmelte sie, »eines Tages.« Sie hätte es so gern geglaubt, aber sie konnte es nicht. Sie legte ihre Arme um ihn und verschränkte ihre Hände in seinem Rücken. »Ich wünschte, vielleicht, wenn wir…« aber sie verstummte, sie konnte es nicht sagen, nicht jetzt, nicht hier, nicht heute. Nein, sie konnte nicht von dem Kind sprechen, das sie sich wünschte. Denn wenn sie krank war, würde auch das Kind den Keim der Krankheit in sich tragen. »Was?« fragte Raoul. »Ich darf dich nie verlieren«, sagte Helen gegen ihren Willen. Sie legte ihren Kopf in den Nacken und sah ihn an. »Warum solltest du?« Raoul lächelte sie an, aber zum erstenmal, seit sie ihn kannte, wärmte sie sein Lächeln nicht. »Ich fahre jetzt in die Stadt, um unsere Gäste abzuholen«, fügte er hinzu und schob sie sanft, aber bestimmt von sich. Die Kerzen brannten in den schweren Silberleuchtern, das Wachs duftete süß und ein wenig fremdartig, als sei ihm Weihrauch beigemischt. Helen hatte Renée Anweisung gegeben, das beste Damasttuch aufzulegen und das Porzellan aus Limoges zu benützen; ein Erbteil ihrer Familie mütterlicherseits.
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Helen betrachtete sich nun ein zweites Mal an diesem Abend im Spiegel – und diesmal tat sie es mit Wohlgefallen. Ihre Haut war klar und hell, und die Lidschatten vertieften das gelbgefleckte Grün ihrer Augen. Du hast Katzenaugen, hatte Raoul in ihren ersten Nächten in Paris gesagt, in seinem Studio, dessen Dach der Himmel war, erhellt nur von den Sternen. Ich liebe Katzen, hatte er gesagt. Nicht daran denken, jetzt nicht mehr daran denken. Helen nahm ihr Glas vom Kaminsims, ging zu der kristallenen Kanne und goß sich noch einen Gin Fizz ein. Sie trank einen Schluck und ließ die bittere Süße auf der Zunge zergehen. Draußen fuhr der Wagen vor. Durch die offenen Türen zur Terrasse konnte sie Raouls Stimme hören. »Was für eine herrliche, warme Nacht!« Dann vernahm sie das Lachen eines anderen Mannes. Und sie hörte die Stimme des Mädchens: »In meinem Land ist die Nacht des halben Mondes die Nacht der Liebe.« May-lin. Helen wußte selbst nicht, woher dieser Stromstoß des Erschreckens kam, als die die Stimme des Mädchens erkannte. Sie setzte ihr Glas ab, wollte es tun, aber es glitt ihr aus den Fingern und zerschellte auf den Marmorfliesen. Sie schloß sekundenlang die Augen. Sie wußte nicht, wie sie es fertigbrachte, zur Terrassentür zu gehen, hinauszutreten, ihren Mund zu einem Lächeln zu zwingen und ihre Gäste willkommen zu heißen. »Das ist Armand, und das ist May-lin«, sagte Raoul fröhlich. »Ist das nicht ein ulkiger Zufall? Heute erst hast du bei Dr. Savant Maylin getroffen, und nun bringt Armand sie mit. Mademoiselle, Sie sind die Überraschung des Abends!« May-lin neigte den Kopf und deutete eine zeremonielle Verbeugung an. »Ich freue mich sehr, bei Ihnen zu Gast sein zu dürfen, Madame«, sagte sie in einem leichten, ein wenig heiseren Singsangton. »Ich freue mich auch«, erwiderte Helen, »und ich hoffe, Sie tragen mir meine Nervosität von heute nachmittag nicht nach.«
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»Aber natürlich nicht, Madame«, erwiderte May-lin ernsthaft und wiederholte dieses graziöse Neigen ihres Kopfes. »Aber kommt doch herein«, sagt Raoul. »Helen ist für ihre Gin Fizzes berühmt, und ich habe einen Durst – mein Gott, ich könnte den ganzen Lac leertrinken.« Sie tranken Gin Fizz als Aperitif und zum Käsesoufflé einen leichten Mosel. Dann alten Cognac Napoléon zum Mokka und Himbeerdessert. Armand wurde lebhaft, wurde laut, erzählte den neuesten Klatsch aus Paris, wer mit wem schlief und wer wen betrog, und daß der kleine Niko doch tatsächlich Selbstmord begangen habe, der kleine Tänzer – »ihr wißt doch, wen ich meine« – und ausgerechnet wegen der Mardis. May-lin machte große, blanke Tieraugen. Raoul schmunzelte und gab das Stichwort für immer gewagtere Schilderungen der Skandälchen und Skandale. Ich mag so etwas nicht, dachte Helen, ich mag diesen Armand nicht. Sie entschuldigte sich, was niemand beachtete, und ging hinaus. In der Küche war Renée damit beschäftigt, die Spülmaschine zu füllen. Sie gähnte unverhohlen und maulte, es sei ein langer Tag gewesen und sie habe schließlich heute Fenster geputzt. Helen schickte sie zu Bett. Dann nahm sie eine Flasche Selters aus dem Eisschrank, goß sich ein Glas ein und trank es in langen, durstigen Zügen leer. Nein, sie mochte diesen Armand nicht, und sie brachte es in ihrer augenblicklichen Verfassung einfach nicht fertig, Sympathie zu äußern, die sie nicht empfand. Aber er war Raouls Freund, und Raoul hatte ein Recht darauf, Freunde in seinem Haus zu sehen. Der Schrei zerriß Helens Gedanken, gellte und gellte durch das Haus und brach nicht ab. Helen war mit einem Schritt an der Tür und draußen im Flur.
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Die linke Hälfte lag im Halbdunkel, rechts sprang die Tür zu Renées Zimmer auf. Das Mädchen stürzte heraus, stieß Helen zur Seite und taumelte mehr, als sie ging, immer noch schreiend, in die Halle. Und der Anblick, der sich Helen im Zimmer des Mädchens bot, hätte auch sie zu Tode erschreckt, wenn sie ihn nicht schon fast erwartet hätte. Im aufgeschlagenen Bett des Mädchens lagen die blutverkrusteten Kadaver der Katzen. Helen griff sekundenlang haltsuchend nach dem Rahmen der Tür. Dann straffte sie ihre Schultern, drehte sich um und ging durch den Flur zurück in die Halle. Renée kauerte in einem der Gobelinstühle. Raoul, May-lin und Armand hatten sich mit blassen Gesichtern um sie geschart. »Was ist denn los, Renée, so reden Sie doch endlich!« befahl Raoul. »Jemand hat die toten Katzen in Renées Bett gelegt«, sagte Helen laut und deutlich. Raoul wandte sich langsam zu ihr um. May-lin hob das Gesicht und blickte sie mit großen, dunklen Augen an. Armand rückte verlegen seine rauchig getönte Brille zurecht. Renée stand langsam auf, mit schlaffen Armen und Beinen, die ihr kaum gehorchen wollten. Ihr Mund bewegte sich stumm, und die Muskeln an ihrem Hals zuckten. Es ist wie auf einer Bühne, dachte Helen, es ist wie auf einer Bühnenprobe, wenn der nächste Akt beginnt und die Schauspieler ihre Plätze einnehmen. Aber wo bleibt der Regisseur? Wer führt hier Regie? »Sie«, sagte Renée, »Sie haben es getan. Sie haben die toten Katzen in mein Bett gelegt. Sie sind ja verrückt! Gott und Monsieur sind meine Zeuge!« »Halten Sie Ihren Mund«, sagte Helen. »Sie wissen ja nicht, was Sie reden.« Aber aller Augen klagten sie des Irrsinns an. Auch Raoul starrte sie vorwurfsvoll an.
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Und plötzlich wußte Helen, daß alles andere sie überrascht hätte. Plötzlich war ihr, als werde ein Vorhang zur Seite gerissen, als könne sie alles sehen, alles erkennen, alles erklären. Ein schrecklicher, wahnsinniger Verdacht tauchte in ihr auf, so irrsinnig, daß sie es nicht wagte, die anderen anzusehen. Entweder bin ich wirklich wahnsinnig, oder sie alle, oder einer von ihnen will mich wahnsinnig machen! Sie zwang sich, zu lachen. Alles auf eine Karte setzen. »Es tut mir leid«, sagte sie, und sie hörte, wie gekonnt kalt ihre Stimme klang. »Es war ein sehr übler Scherz, Renée.« So. Nichts weiter. Und jetzt konnte sie die anderen anblicken. Fest, sicher, herausfordernd. Was sie sah, war keine Empörung, kein Betretensein, kein Mitleid mit einer Kranken, gewiß nicht. Was sie in den Augen der anderen sah, war blanke Angst. Angst, die selbst Raoul nicht verbergen konnte. Ihr geliebter Raoul.
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3 Das Zimmer war von einer sanften, wie aus violetten Seidenfäden gesponnenen Dämmerung gefüllt. Aber die Vorhänge schlossen nicht ganz, und Helen sah, daß es eine erzwungene Dämmerung war, nicht das natürliche Zurneigegehen eines Tages. Sie spürte eine Bewegung neben sich und wandte den Kopf. Raoul saß an ihrem Bett. Er beugte sich vor. »Hast du gut geschlafen?« fragte er. »Ja, aber wieso schlafe ich am Tag?« »Du hast ein Schlafmittel genommen.« »Aber ich kann mich nicht daran erinnern.« Raoul wandte wortlos den Kopf. Helen folgte seinem Blick und sah das Tablettenröhrchen neben einem halb mit Wasser gefüllten Glas auf dem Nachttisch liegen. »Du bist gestern abend sehr früh zu Bett gegangen«, sagte Raoul. »Aber wir hatten doch Gäste!« »Gäste?« Raoul schüttelte in deutlicher Verblüffung den Kopf. »Ja, deinen Freund Armand. Und May-lin, die Assistentin des Psychiaters.« »Helen, Armand ist in Paris.« »Aber gestern abend war er hier!« »Das hast du geträumt«, sagte Raoul. »Das ist nicht wahr, und du weißt es!« »Helen«, sagte Raoul geduldig, »wenn wir Gäste gehabt hätten, müßte Renée es ja auch wissen. Du kannst sie fragen.« »Renée ist doch weg!« »Aber Helen, was redest du da?« »Sie ist gestern abend Hals über Kopf weggelaufen. Nach dem – nach dem makabren Scherz, den ich mir mit den toten Katzen erlaubt hatte. Ihr Zimmer war leer, ihr Koffer fehlte, ich habe es doch mit meinen eigenen Augen gesehen. Und ich selbst habe die Katzen wieder im Garten vergraben. Und du hast May-lin und Armand in die Stadt zurückgebracht.«
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Raoul sagte nichts, er schüttelte nur langsam verneinend den Kopf. Seine grauen Augen waren ausdruckslos. »Ich habe nicht geträumt«, sagte Helen. »Verflucht noch mal, ich weiß doch schließlich noch den Unterschied…« Sie verstummte, denn im gleichen Augenblick hörte sie draußen im Flur die Schritte von Renée, hörte das Anknipsen und dann das Surren des Staubsaugers und dünn darüber die Stimme des Mädchens, das einen Schlager sang. »Gut«, sagte Helen hart, »gut, ich habe also mal wieder geträumt.« Sie schob Raoul mit einer jähen, fast zornigen Bewegung zur Seite, schwang die Füße aus dem Bett und stand auf. Und ebenso jäh erfaßte sie Schwindel, ließ sie taumeln und haltsuchend nach Raouls Schulter greifen. »Ja, Helen, du hast wirklich geträumt«, sagte Raoul sanft. Sie biß die Zähne zusammen, straffte ihren Rücken, zwang einen Fuß vor den anderen und ging ins Bad. Helen wusch ihr Gesicht und putzte ihre Zähne. Sie trat unter die Dusche und ließ das Wasser erst heiß, dann kalt über ihren Körper strömen. Dann ging sie zum Spiegel zurück, bürstete ihr Haar und legte Make-up auf. Der Lippenstift fiel ihr aus der zitternden Hand, und als sie sich danach bückte, sah sie die Haarnadel. Helen nahm sich auch jetzt zusammen. Kein Laut der Überraschung kam über ihre Lippen. Ihre Hand zitterte nicht mehr, als sie die Haarnadel aufhob. Hell leuchtete der schlanke Silberstab, matt glänzte der runde, aus grünem Jade geschnittene Buddhakopf. May-lin hatte zwei solcher Nadeln in ihrem Lackhaar getragen, um die Fülle des Knotens zu halten, der die Elfenbeinzartheit ihres Nakkens betonte. Ich habe also doch nicht geträumt, dachte Helen mit einem beinahe betäubenden Gefühl der Selbstbestätigung. Aber warum hat Raoul mich dann belogen? Er will mich schützen. Ja, so ist es!
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Denn er hat Angst wie ich. Ich habe es gestern in seinen Augen gesehen. Armer Raoul, dachte sie. Und doch verbarg sie rasch, ihrem Instinkt folgend, die Haarnadel in der Tasche ihres weißen Frotteemantels. Raoul stand am Fenster ihres Schlafzimmers und rauchte. Er blickte in den Garten hinaus, wandte aber jetzt den Kopf. Sie ging zu ihm und küßte ihn auf die Wange. »Ich bin wieder vollkommen in Ordnung«, sagte sie, »und bitte entschuldige, daß ich eben so heftig war. Du hast recht, ich hatte nur geträumt.« »Was tust du?« fragte er, als sie zum Kleiderschrank trat und ein weißes Wollkostüm auswählte, die passende Handtasche dazu und die kniehohen weißen Lackstiefel. »Ich fahre ein bißchen in die Stadt – einkaufen, bummeln«, sagte sie leichthin. »Na schön, dann fahr ich ins Werk«, sagte er zögernd. Sie lächelte ihm zu. »Wie wär’s, wenn wir uns zum Essen im Baur Au Lac träfen? So gegen halb sieben?« »Wenn du meinst – bis später dann.« Er verließ, als habe er es mit einemmal sehr eilig, ihr Schlafzimmer. Helen hielt einen Augenblick im Ankleiden inne, setzte sich erschöpft auf den Bettrand und dachte: Armer Raoul, wie soll das alles enden? Dann schlüpfte sie in die Stiefel und prüfte ihre Erscheinung noch einmal im Spiegel des Frisiertisches. Sie war fast zufrieden mit dem, was sie sah: eine junge, schöne, blonde Frau, vielleicht ein wenig zu mager, die Augen vielleicht ein wenig zu groß und auch ein bißchen zu sehr umschattet. Sie verließ ihr Schlafzimmer über die Terrasse, denn sie hatte jetzt nicht die Nerven, Renée im Haus zu begegnen. Helen parkte ihren Wagen hinter dem Rasthaus, damit er von der Straße her nicht zu sehen war. Sie betrat die Gaststube. Eine lärmende holländische Familie saß bei Kaffee und Kuchen an einem der weißgescheuerten Tische. Helen bestellte einen Tee und ging dann zu der Telefonzelle, die in dem kleinen Flur zu den hinteren Räumen lag.
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Sie wählte die Nummer von Dr. Savant. May-lin meldete sich mit ihrer samtenen und doch ein wenig rauhen Stimme. Helen drückte die Telefongabel herunter, wartete fünf Minuten und wählte erneut. Sie hörte wieder May-lins Stimme und unterbrach wieder die Verbindung. Sie ging in die Schankstube zurück, trank ihren Tee und aß ein Schinkensandwich dazu. Sie wartete, bis es halb zwei war. Irgendwann mußte May-lin ja zum Essen gehen. Dann versuchte sie es noch einmal. Diesmal hatte sie Glück. Dr. Savant war am Apparat. »Es ist wieder etwas geschehen«, sagte Helen. »Und ich muß mit Ihnen darüber sprechen, es ist sehr dringend. Aber bitte nicht in Ihrer Praxis. Ich möchte nicht, daß Ihre Assistentin davon erfährt.« Wenn Dr. Savant überrascht war, so war es seiner Stimme nach nicht anzumerken; sie blieb gleichmäßig ruhig und gelassen, als er fragte: »Hätten Sie Lust, einen Aperitif bei mir zu nehmen, um halb sechs?« »Ja, gern«, sagte Helen. »Ich wohne in der Rue Dijon, Nummer 12. Es ist das letzte Haus.« Es begann schon zu dämmern, als Helen um halb sechs in die Rue Dijon einbog. Sie parkte den Wagen vor dem letzten Haus. Es lag hinter einer hohen Tannenhecke. Honigfarbene Glaslampen beleuchteten den weißen Kiesweg. Das Haus war sehr modern, aus Glas und Beton, mit kühnen Linien – das Heim eines Mannes, der Erfolg hat und selbstsicher in diesem Erfolg lebt. Helen läutete an der gläsernen Eingangstür, die den Blick in eine Kaminhalle freigab. Sie war von Stehlampen und einem flackernden Feuer erleuchtet. Dr. Savant kam selbst, um zu öffnen. Er trug einen kamelhaarfarbenen Pullover und schmale Hosen in der gleichen Farbe, dazu bequeme Mokassins.
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Seine Augen waren heller als in Helens Erinnerung, und diesmal lächelten auch sie. »Willkommen, Madame«, sagte er, »setzen Sie sich ans Feuer. Es ist kühl heute abend, nicht wahr?« »Ja«, sagte sie, »es wird früh Herbst in diesem Jahr.« »Wie wär’s mit einem Martini?« fragte Dr. Savant. »Ja, gern.« Er bewegte sich mit einer gelassenen Geschmeidigkeit, die zu diesem Haus und diesem Raum paßte. Und Helen wußte, sie hatte sich nicht getäuscht. Zu diesem Mann konnte sie Vertrauen haben. Sie nippte an ihrem Glas. Es war ein leichter, sehr frisch und kühl schmeckender Martini. Sekundenlang wünschte sich Helen, sie wäre einfach als Gast hier – zu einem ruhigen Gespräch, oder vielleicht um ein wenig Musik zu hören. »Wir hatten gestern abend Gäste«, begann sie. »Den Freund meines Mannes aus Paris, von dem ich Ihnen schon erzählt habe, Armand. Und Ihre Assistentin May-lin. Dann fand Renée, unser Mädchen, die toten Katzen in ihrem Bett. Die Gäste blieben natürlich nicht mehr lange. Renée verließ in Panik unser Haus, aber heute morgen sagte mein Mann, ich hätte das alles nur geträumt. Da auch Renée wieder da war, glaubte ich ihm, bis ich das hier fand.« Helen öffnete ihre Handtasche und nahm die silberne Haarnadel mit dem Buddhakopf aus Jade heraus. Sie reichte sie Dr. Savant. »Das fand ich in meinem Bad«, sagte sie. »Sie kennen die Nadel, nicht wahr? May-lin trug diese und eine zweite in ihrem Haar.« »Wem haben Sie schon von diesem Fund erzählt?« fragte Savant scharf. »Niemandem. Nur Ihnen, jetzt.« »Auch Ihrem Mann nicht?« »Nein, auch meinem Mann nicht. Sehen Sie, er sagte mir doch, daß ich alles nur geträumt hätte. Ich bin sicher, er wollte mich schützen. Ich glaube, er hat Angst um mich und vor diesem unbekannten, unerklärbaren Bösen, das uns umgibt.«
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»Erzählen Sie niemandem von diesem Fund«, sagte Dr. Savant. Es klang wie ein Befehl. »Tun Sie, als hätten Sie den ganzen Abend überhaupt vergessen. Wollen Sie mir die Nadel hierlassen?« »Ja«, sagte Helen. Dr. Savant betrachtete die Schmucknadel lange und nachdenklich. »Madame«, sagte er ernst, »Sie haben sehr klug und sehr umsichtig gehandelt.« »Sie halten mich nicht für krank? Sie glauben nicht, daß ich dabei bin, wahnsinnig zu werden?« Helen mußte es fragen, sie mußte endlich eine Antwort darauf bekommen. Der Psychiater sah sie mit seinen hellen, klaren Augen an, aber lesen konnte sie nichts darin. »Ich möchte ein paar Erkundigungen einziehen«, sagte er langsam, als müßte er jedes seiner Worte wählen, »und ich möchte, daß Sie mir vertrauen. Ich brauche ein wenig Zeit, Sie dürfen die Geduld nicht verlieren. Aber fürchten Sie nichts, handeln Sie so, wie Sie es bisher getan haben. Lassen Sie sich durch nichts und niemanden in Panik treiben. Sie werden bald von mir hören.« »Ich vertraue Ihnen«, sagte Helen ruhig. »Ich danke Ihnen, Madame«, antwortete er ebenso ruhig. Helen wünschte, sie hätte es fertiggebracht, ihn zu bitten: Lassen Sie mich noch ein wenig hierbleiben, lassen Sie mich hier noch ein wenig ausruhen. Aber sie stand auf, zog die Handschuhe an und nahm ihre Handtasche. Dr. Savant brachte sie hinaus zu ihrem Wagen. »Au revoir«, sagte sie. »Au revoir, Madame«, sagte er und fügte noch einmal hinzu: »Haben Sie Geduld.« Helen fuhr zum Baur Au Lac. Raoul wartete schon in der Halle auf sie. Sie speisten zu Abend und gingen anschließend noch auf einen Drink in die Bar. Helen war gelöst und heiter, beinahe ausgelassen. Und sie sah das Begehren in Raouls Augen, das sie – dies wurde ihr erst jetzt bewußt – seit Wochen vermißt hatte.
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Sie fuhren nach Hause, und Helen wußte, daß Raoul sie in dieser Nacht umarmen würde. Es erfüllte sie mit einer seltsam stolzen Befriedigung, denn sie fühlte, es konnte ihnen nichts mehr geschehen. Sie hatte den ersten entscheidenden Schritt getan, Raoul und sich selbst zu schützen. Einige Tage lang hielt Helens Vertrauen in ihre Sicherheit, in ihre eigene Vernunft an. Raoul war wie üblich tagsüber im Werk, kam abends früh nach Hause, und sie verbrachten ruhige Abende vor dem offenen Kamin. Von Dr. Savant hörte Helen nichts. Sie wagte nicht, bei ihm anzurufen. Sie hatte ihr Versprechen gegeben, Geduld zu haben, und sie war gewillt, es zu halten. Nichts Absonderliches geschah, nur daß die Tage, die Helen allein in ihrem Haus verbrachte, endlos zu werden begannen, daß der Himmel wie mit Bleigewichten über Zürich hing. Keine Sonne schien mehr in diesem viel zu frühen kühlen Herbst. Und dann begannen die Anrufe, zuerst in Abständen von zwei, drei Stunden. Helen nahm den Hörer ab, hörte deutliches Atmen am anderen Ende und fragte: »Wer ist denn da, so reden Sie doch, so melden Sie sich doch!« Aber da war nur der Atem, tief und schwer, ein Keuchen wie von einem verwundeten Tier. Helen erzählte Raoul nichts davon, denn abends, wenn er nach Hause kam, hörten die Anrufe auf. Und Renée, das Mädchen, gab vor, niemals das Klingeln des Telefons zu hören, obwohl die Anrufe nun häufiger kamen, jede halbe Stunde beinah. Am Abend des siebten Tages hielt Helen die nervliche Spannung nicht mehr aus. Sie war allein im Haus, Renée hatte Ausgang, und Raoul war noch bei einer Besprechung im Werk. Sie rief privat bei Dr. Savant an, und es war May-lin, die sich mit ihrer Katzenstimme meldete. Helen warf den Hörer auf, als habe sie sich daran verbrannt. Ganz plötzlich entschloß sie sich, niemandem mehr zu vertrauen.
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Was immer auch an Bösem, Unerklärlichem in diesen düsteren Herbsttagen sie umlauerte, sie mußte aktiv dagegen ankämpfen. Sie mißtraute Renée und May-lin. Aber sie mißtraute nun auch Dr. Savant. Und sie mißtraute vor allem jenem Freund Raouls, Armand. Sie hatte ihn nur zweimal gesehen, aber ihn hielt sie für fähig, der Anrufer zu sein. Sie dachte an seine Augen hinter den getönten Brillengläsern; es waren kalte, grausame Augen. Sie dachte an seinen Mund, schmal und hart in das kantige Gesicht geschnitten. Sie dachte an die Gier seiner Hände, als er bei ihnen zu Gast gewesen war, und daß er mit der Gier eines Tieres gegessen und getrunken hatte. Armand kam aus Paris, wo sie Raoul kennengelernt hatte. Armand war ein Freund aus Raouls Vergangenheit, von der sie so gut wie nichts wußte. Helen entschloß sich von einer Sekunde zur anderen, noch am gleichen Abend nach Paris zu fliegen. Aber niemand durfte davon erfahren, und es mußte zudem so aussehen, als habe sie unter jenem Zwang gehandelt, der sie angeblich auch die anderen sonderbaren Dinge tun ließ. Es mußte so aussehen, als habe der Gegner – wer immer es auch war – endlich sein Ziel erreicht. Das Haus war sehr still. Es war so still, als sei es unbewohnt. Unwillkürlich dämpfte Raoul Bertram seine Schritte, als er zu Helens Schlafzimmer hinüberging. Er machte kein Licht im Flur und blieb lauschend vor der Tür des Zimmers stehen. Vorsichtig drückte er die Klinke herunter, bemüht, kein Geräusch zu machen. Nur die Nachttischlampe brannte, und das Bett war unberührt. Raoul hob den Blick in die Richtung des Fensters, und sekundenlang nahm es ihm den Atem, was er sah. Grüne Augen glitzerten im Halbdunkel des großen Raumes. Raoul durchquerte ihn mit wenigen Schritten. Er sah sich einer Katzengestalt gegenüber, so groß wie ein Kind. Aus Helens Nerzmantel war sie über den stummen Diener geformt.
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Die Ecken des Kragens bildeten die spitzen Ohren. Mit weißer Tusche waren die Schnauze und die Barthaare gemalt. Und Helens Smaragdklips bildeten die glitzernden Augen. Raoul begann zu lachen, leise zuerst, dann lauter, und es klang wie ein Triumph. »Helen«, rief er, »Helen, wo bist du denn?« Niemand antwortete ihm. Er riß die Tür zum Bad auf. Gleißende Helle. Helens Kosmetika auf den Kristallbords neben dem Waschbecken fehlten. Er ging ins Schlafzimmer zurück. Auch ihr Koffer aus hellem Straußenleder war fort, ebenso die Kosmetikbox. Raoul durchstöberte den Schrank. Der weiße Breitschwanzmantel fehlte, das Pucci-Kleid, die schwarzen Lackstiefel und das dazugehörige Regenensemble. Helen war fort. Eindeutig fort. Raoul lachte längst nicht mehr. Er mußte an sich halten, um nicht zu zerstören, zu zerreißen, was noch in den Schränken hing. Aus Wut, aus ohnmächtigem Zorn, denn das hatte er nicht erwartet. Nicht, daß Helen ihn so verlassen würde. Raoul ging in sein Studio hinüber und sah auf einen Blick, daß die mittlere Lade seines Schreibtisches erbrochen war. Er zerrte sie auf und fand sie durchwühlt. Das Bargeld fehlte, das er hier stets verwahrte. Aber das Notizbuch war da, dem Himmel sei Dank. Das Blut schoß ihm vor Erleichterung in den Kopf, pochte hinter seiner Stirn. Das Notizbuch hatte sie wenigstens nicht gefunden. Die Rue Caravelle liegt auf dem linken Seine-Ufer. Mit ihren alten Laternen, die ständig flackern, als könne der leiseste Windhauch sie zum Verlöschen bringen, und mit den schmalen Häusern, den schief verzogenen Fenstern und Türen wird sie diesem modernen Namen gewiß nicht gerecht. Es ist eine düstere Straße, selbst am Tag, um so mehr bei Nacht, wenn es schon auf zwei geht, und Regen alles mit einem schwarzglänzenden Film überzieht.
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Das Haus No. 14 liegt ein wenig im Hintergrund, als wolle es sich zwischen seinen beiden Nachbarn verstecken. Helen war schon zweimal an diesem Haus vorbeigegangen, dessen Fenster glanz- und lichtlos waren, blinde Löcher in der grauen Mauer. Helen ließ zum drittenmal den Strahl ihrer Taschenlampe über die Haustür gleiten und sah zum drittenmal, daß die Tür einen Spalt offenstand. Armand, Rue Caravelle 14, so hatte es in Raouls Notizbuch gestanden. An der Mauer neben der Tür befand sich ein unleserliches Namensschild. Helen knipste die Taschenlampe aus und steckte sie in die Tasche ihres schwarzen Lackmantels. Sie drückte vorsichtig die Haustür auf und glitt in den dunklen Flur. Modrige Luft schlug ihr entgegen, von Knoblauch und Rotweindunst durchsetzt. Dielen knarrten unter Helens leichtem Schritt. Sie hatte das Haus zwei Stunden lang beobachtet und war jetzt nahezu sicher, daß sich niemand darin befand. Aber auch wenn der Schein trog, sie würde gegen alles gewappnet sein. Helen lächelte in der Dunkelheit, während sie sich an einer glatten Wand entlang weitertastete. Eine Tür. Helen blieb stehen und zog ihre Taschenlampe hervor. Wieder kein Namensschild. Sie bewegte die Klinke. Die Tür war abgeschlossen. Ein paar Schritte weiter führte eine Treppe in das erste Stockwerk hinauf. Das weinerliche Miauen einer Katze ließ Helen zusammenzucken. Sekundenlang Angst. Dann war es vorbei. Helen glitt zur Treppe, schritt auf Zehenspitzen hinauf, hatte schon den oberen Absatz erreicht, als unten die Tür geöffnet wurde. »Qui est là?« fragte eine ärgerliche, verschlafene Stimme.
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Helen wandte sich um und sah eine alte Frau dort unten stehen, mit dem typisch zerfalteten Conciergen-Gesicht, gefärbtem Haar, das sich dünn und strähnig um die Stirn sträubte. »Ich möchte zu Monsieur Armand«, sagte Helen, als sei es auch jetzt mitten in der Nacht das Natürlichste von der Welt. »Er ist nicht da«, sagte die Concierge. »Kommen Sie herunter. Ich dulde nachts keine Fremden in meinem Haus.« »Aber ich habe den Schlüssel zu Monsieurs Wohnung. Ich will dort auf ihn warten.« »Der mit seinen ewigen Weibergeschichten!« Die Concierge kratzte sich den Kopf. »Bevor er hier einzog, war das ein anständiges Haus.« »Gehen Sie wieder schlafen, Madame«, sagte Helen. »Ich werde sehr leise sein und Sie nicht mehr stören.« Helen wartete keine Entgegnung ab und ging rasch weiter. Aber das Herz schlug ihr bis zum Hals. Denn sie hatte natürlich keinen Schlüssel zu Armands Wohnung, und sie konnte nur darauf vertrauen, daß es ihr gelang, die Tür möglichst rasch und leise aufzubrechen. Komisch, ich hätte nie geglaubt, daß ich Vaters altes Federmesser einmal so benutzen würde, dachte sie und verzog die Lippen zu einem bitteren Lächeln. Sie schob die schmale Stahlklinge in das altmodische Schloß, spürte den Widerstand, drückte dagegen, drehte vorsichtig die Klinge herum und hörte das Zurückschnappen der Metallzunge. Sekundenlang schloß sie die Augen und zwang sich, ruhig und gelassen durchzuatmen. Dann betrat sie das Apartment. Es war genau so, wie sie es erwartet hatte; ein einziger großer Raum, in dem man die Zwischenwände entfernt hatte. Zwei Fenster zum Hof, der jetzt in der Nacht ebensogut ein bodenloser Abgrund sein konnte. Zwei Türen zur Rechten. Die eine führte in eine kleine Küche, die andere in ein winziges Bad. Helen machte kein Licht, sondern prägte sich alles mit Hilfe der Taschenlampe ein.
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Es gab einen breiten Diwan, schwarzgelbgefleckte Felldecken darauf, einen Schrank, der halb offenstand, einen Tisch, zwei Sessel mit abgewetztem Plüsch überzogen, ein paar Bilder an der Wand, Farbkleckse auf weißem Karton. Helen wandte sich dem Kleiderschrank zu. Sie durchsuchte rasch die Taschen der Anzüge, fand ein paar zerknüllte Franc-Noten und eine Rechnung aus einer Bar, dem Paris 2000, wo sie auch Raoul getroffen hatte – vor knapp einem Jahr? Es kam ihr nun wie eine Ewigkeit vor. Nicht daran denken, an gar nichts denken. Nur suchen, nach einem Beweis suchen. Sie beugte sich zu den Schubladen hinunter und zog sie auf. Wäsche und Socken, in der zweiten ein paar zerfledderte Taschenbücher, Krimis, Abenteuergeschichten. Und dann eine kleine Schachtel aus Sandelholz, wie man sie in den Bazaren Nordafrikas kaufen kann. Helen spürte ihren Herzschlag plötzlich bis zum Hals. Der Deckel des Kastens war verschlossen. Sie nahm noch einmal das Federmesser zur Hilfe und sprengte ihn auf. Gleich das oberste Bild zeigte Armand und Raoul – ihre lachenden Gesichter unter windzerzausten, sonnengebleichtem Haar. Beide trugen die typischen Camouflage-Anzüge der Legion. Und zwischen ihnen an einem blattlosen, von der Sonne ausgedörrten Baum hing ein Erhenkter. Raoul hielt die im Krampf gekrümmten Beine des Toten wie die eines Hampelmanns. Helen drehte das Foto um. Algerien Okt. 1959, stand da in Raouls Schrift. Sie richtete sich langsam auf. Sie spürte, daß ihre Hände, ihre Arme, ihr ganzer Körper plötzlich gefühllos waren. Sie steckte das Bild in ihre Manteltasche. Und im gleichen Augenblick hörte sie die Schritte, die langsam und tastend die Treppe heraufkamen. Taschenlampe aus. Helen glitt durch den Raum in die Küche und schloß die Tür hinter sich.
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Sie hörte nichts mehr, sah nichts mehr. Und dann das Knarren der Tür, und wieder die Schritte und der unterdrückte Atem eines Mannes. Helen war es, als komme er geradewegs in der undurchdringlichen Dunkelheit auf sie zu.
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4 Helen preßte sich in den Winkel zwischen dem Schrank und dem zweiflammigen Herd. Sie hörte die Schritte des Mannes, der im Zimmer auf und ab ging, und hörte seinen Atem, wenn er sich der Tür näherte. Sie tastete in ihre Manteltasche, spürte die scharfen Kanten des Fotos, das sie aus dem Schrank entwendet hatte, spürte aber auch den kalten Stahl der flachen 6.35, die sie aus Raouls Schreibtisch genommen hatte. Ihre Hand legte sich wie von selbst um den Pistolengriff und ihr Daumen tastete nach der Sicherung. Wenn er die Tür aufmacht, werde ich es tun, dachte sie, ich werde es tun, und es wird Notwehr sein. Es ist Notwehr, denn er versucht unser Leben zu zerstören. Er ist es, der aus der Vergangenheit her Macht über Raoul hat. Er ist es, der all das Böse um uns entstehen läßt, mich in den Abgrund des Wahnsinns treiben will und Raoul in Verzweiflung. Sie hörte die Schritte des Mannes, und sie hörte das Öffnen der Schranktüren und das Rumpeln von Schubladen. Dann war es plötzlich unheimlich still. Helen hielt den Atem an. Lichtschein huschte jäh unter der Tür herein, glitt über ihre Füße, spiegelte sich im schwarzen Lack ihrer Stiefel. Und dann öffnete sich die Tür, Zentimeter um Zentimeter. Helen hob die Hand und entsicherte die Pistole. Der Lichtschein traf die Waffe. Die Hand des Mannes war schneller. Mit einem Hieb schlug er ihr die Pistole aus der Hand. »Helen«, sagte er, »um Gottes willen, Madame Bertram!« Überraschung, Verblüffung, all die aufgestaute Erregung der letzten Stunden brach in einem Aufschluchzen aus ihrer Kehle. Es war nicht Armand. Es war Doktor Savant. Sie spürte, wie ihre Knie nachgaben. Plötzlich hatte sie keine Kraft mehr, es war, als verlasse sie mit der Spannung auch alle Energie. Und es war plötzlich ganz natürlich, daß Dr. Savant sie in seine Arme nahm. Es war fast selbstverständlich, das Gesicht an das feuch-
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te, ein bißchen nach Tabak und herbem Eau de Cologne riechende Jackett dieses Mannes zu pressen. Seine Hände streichelten ihren Rücken. Es waren nicht die Hände eines Arztes in diesem Augenblick, sie spürte das genau. Aber sie ließ es geschehen wie ein müdes, heimgekehrtes Kind. »Kommen Sie«, sagte er viel zu rasch, »wir müssen hier fort.« Er legte den Arm um ihre Schulter und führte sie aus dem Apartment, die steile Treppe hinunter – am Zimmer der Concierge vorbei, aus dem Katzen miauten. »Kommen Sie«, wiederholte er draußen in der feuchtkühlen Nacht. Am Ende der Straße parkte ein Taxi, das er hatte warten lassen. Das Hotel des Deux Maries war nicht gerade das, was Helen normalerweise zu ihrem Domizil gewählt hätte. Aber die Nacht neigte sich schon einem grauen Morgen zu, viel zu kalt und regnerisch in diesem früh einsetzenden Herbst. In Zürich hatte es bei ihrem Abflug geschneit. Außerdem kannte Dr. Savant das Hotel aus seiner Studienzeit. Sie bekamen ein Zimmer mit einem breiten französischen Bett und einer schmalen, durchsessenen Couch. Der Lärm der Stadt, die so früh erwacht oder vielleicht auch nie zur Ruhe geht, brandete gegen hohe, graufleckige Fensterläden. Die Türen der Nebenzimmer schlugen, Wasser rauschte, und mehr als einmal wurde lautstark um den Preis gefeilscht. Savant ließ starken Kaffee heraufbringen und eine Flasche Cognac dazu. Das junge Mädchen vom Empfang mit den schwarzen Augen versprach, ein paar frische Croissants zu besorgen, sobald das Bistro an der Ecke aufmachte. Helen zog ihren Lackmantel aus und die Stiefel von den klammen, gefühllosen Füßen. Sie setzte sich auf die Couch und zog die Beine unter sich. Savant brachte ihr die gelblich-weiße, wollige Überdecke des Bettes und breitete sie mit einem Lächeln über sie. Er gab Helen die Pistole zurück, die sie in ihre Handtasche steckte. »Glück gehabt«, sagte er leichthin. »Wir haben beide viel Glück gehabt.«
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»Wie kommen Sie nach Paris?« fragte Helen. »Was suchten Sie in Armands Wohnung?« »Er kehrte in Ihren Berichten immer wieder. Ich wollte mir den Kerl einmal ansehen.« »Hat May-lin Ihnen auch von ihm erzählt?« »Haben Sie irgend etwas bei ihm gefunden?« fragte Dr. Savant statt einer Antwort. »Nein!« Helen hätte in diesem Augenblick selbst nicht zu sagen gewußt, warum sie log. »Wirklich nicht?« Die hellen Augen des Psychiaters waren voller Zweifel. Helen zwang sich zu einem Lachen. »Ich wußte ja nicht einmal, was ich suchte. Eigentlich habe ich nur die Bestätigung finden wollen, daß Armand an jenem Abend wirklich zu Gast bei uns in Zürich war. Daß ich also nicht geträumt hatte!« »Und deshalb sind Sie Hals über Kopf hierhergekommen?« »Woher wissen Sie das?« »Sie haben die Abendmaschine genommen. Sie haben Ihr Gepäck auf dem Flughafen deponiert und sind auf dem schnellsten Weg zur Rue Caravelle gefahren.« »Woher wissen Sie das alles?« »Ich errate es, weil Sie kein Vertrauen zu mir hatten«, sagte Dr. Savant. »Sie haben gestern nachmittag bei mir zu Hause angerufen.« »Woher wissen Sie auch das? Ich habe doch kein Wort gesprochen, weil May-lin am Apparat war.« »Ich lasse mein Telefon überwachen.« »Überwachen? Aber – ich verstehe nicht…« »Helen, nicht nur gegen Sie ist etwas im Gange, sondern auch gegen mich.« »Gegen Sie?« »Einer meiner Klienten wird erpreßt. Mit Informationen, die nur mir bekannt sind.« Helen schüttelte den Kopf. Sie strich sich das Haar hinter die Ohren zurück. »Ich begreife überhaupt nichts mehr«, murmelte sie tonlos. »Wirklich, ich verstehe das alles einfach nicht mehr.«
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»Ich bat Sie, Vertrauen zu mir zu haben«, sagte Dr. Savant. »Ich hoffte auch, daß Sie nicht mehr in meine Praxis kommen würden, um mir nicht mehr über sich zu erzählen, als unbedingt notwendig war.« »May-lin steckt dahinter!« sagte Helen. »Nein.« Dr. Savant machte eine abwehrende Handbewegung. »May-lin ist seit einem Jahr bei mir. Sie ist eine ergebene, verschwiegene Assistentin. Ich habe sie wieder und wieder auf die Probe gestellt.« »Aber die Haarnadel, denken Sie doch an die Haarnadel!« »Helen, May-lin war nie in Ihrem Haus. Jemand anderes, jemand, der sich für May-lin ausgegeben hat, war bei Ihnen.« »Ich glaube es nicht. So wie sie aussieht, so wie sie spricht, dieser sonderbare Akzent, all das ist doch unverwechselbar!« »Und dennoch war es nicht May-lin.« »Haben Sie ihr die Haarnadel gezeigt?« »Natürlich.« »Und?« »May-lin zeigte mir zwei Haarnadeln, die dieser dritten zum Verwechseln ähnlich sind. Man kann sie übrigens im Grand Magazin in Zürich kaufen.« »Und wo war May-lin wirklich an jenem bewußten Abend? Hat sie ein Alibi?« In den hellen Augen zuckte es, eine leichte Röte überzog die schmalen Wangen des Psychiaters. »Sie war bei mir«, sagte Dr. Savant. Helen wußte, sie hatte kein Recht, Enttäuschung zu empfinden, und doch war es genau das, was ihr in schmerzhaftem Krampf den Magen zusammenpreßte. Enttäuschung, gemischt mit einer jähen, fast zornigen Eifersucht. Also auch, dachte sie – und gleich darauf: Wieso auch? Und jetzt war es wieder einmal, als risse ein Vorhang: Sie sah May-lin und Raoul zusammen, wie sie an jenem Abend in ihrem Hause plauderten. Das Lächeln, das sie wechselten, May-lin, die ganz selbstverständlich zwei Stück Zucker in Raouls Mokka tat, die einmal »du« zu ihm sagte – und sie, Helen, hatte es noch für einen unbedeutenden Fehler von May-lins unsicherem Deutsch gehalten.
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Savant und May-lin. Raoul und May-lin? Das letztere konnte nicht wahr sein. Das mußte sie sich einbilden. Raoul liebte sie; wenn sie aufhörte, daran zu glauben, war sie verloren. »May-lin ist ganz allein«, sagte Dr. Savant. »Sie hat keine Eltern, keine Geschwister, keine Verwandten. Sie ist sehr hilflos und – als sie zu mir kam, schien sie eine große Enttäuschung hinter sich zu haben.« »Sie brauchen mir nichts zu erklären«, sagte Helen, und die Kälte ihrer Stimme überraschte sie selbst. »Ich muß es Ihnen erklären, damit Sie verstehen, daß man manchmal aus Mitleid…« »Bitte, das geht mich wirklich nichts an«, sagte Helen. »Mich interessierte nur, inwieweit May-lin log oder nicht. Sie haben mein Mißtrauen ja nun entkräftet, damit ist alles erledigt.« Sie blickte auf ihre Armbanduhr, aber die war stehengeblieben. »Es ist gleich sechs«, sagte Dr. Savant. »Ich möchte das erste Flugzeug nach Zürich nehmen«, sagte Helen. »Darf ich Sie wenigstens zum Flughafen bringen?« fragte Dr. Savant. Sein Lächeln war nicht ganz sicher. »Danke, ich werde ein Taxi nehmen.« »Sie mißtrauen jetzt auch mir, nicht wahr?« »Warum sollte ich? Es hat sich nur so vieles ereignet in der letzten Zeit. Ich brauche Zeit und Ruhe, um darüber nachzudenken.« »Ich habe Ihren Vater gekannt und sehr geschätzt«, sagte Savant. »Sie brauchen mich nicht als Arzt, aber wenn ich Ihnen jemals sonst behilflich sein kann…« Helen war aufgestanden und war wieder in ihre Stiefel geschlüpft. Vor dem halbblinden Spiegel strich sie ihr Haar zurück und band das kurze, schwarze Lackkopftuch darüber. Dr. Savant trat hinter sie und blickte sie im Spiegel an. »Hilft es Ihnen, wenn ich Ihnen sage, daß Ihre Mutter nicht in einer Heilanstalt gestorben ist?« »Ich weiß es nicht«, sagte Helen, »vielleicht. Aber ich habe eigentlich nie geglaubt, daß ich wahnsinnig würde.«
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Ja, sie brauchte Ruhe und Zeit, um zu überlegen. Und sie mußte mit Raoul sprechen, das war das allerwichtigste. Sie mußte ihm das Foto zeigen, das sie bei Armand gefunden hatte, und sie mußte ihn fragen, was es bedeutete. Savant hatte von Erpressung gesprochen – vielleicht wurde auch Raoul erpreßt? Mit diesem Foto – von Armand? Und wie kam May-lin ins Spiel – eine Eurasierin? Wie alt war sie? Konnten Raoul und Armand sie während ihrer Legionärszeit in Saigon oder sonstwo getroffen haben? Aber May-lin war höchstens Anfang Zwanzig. Beim Fall von DienBien-Phu war sie demnach noch ein kleines Kind gewesen. Fragen über Fragen und keine Antworten. Was wußte Doktor Savant, was verschwieg er? Warum hatte er gelogen, als er sagte, May-lin sei an jenem Abend bei ihm gewesen und nicht in Armands Begleitung? Helen war sicher, daß er gelogen hatte. Warum? Mein Gott, warum? Steckten sie womöglich alle unter einer Decke; Dr. Savant, Armand, May-lin – und Raoul? Mein Raoul, dachte sie, mein Mann, den ich liebe. Ich liebe ihn doch? Aber auch das wußte sie nicht mehr so genau. Sie rieb ihre Augen und die schmerzenden Schläfen. »Ist Ihnen nicht gut, Madame?« fragte die Stewardeß in der adretten Uniform der Swissair. »Doch, doch, danke. Aber wenn ich einen Martini haben könnte…« »Natürlich, Madame, sofort.« Aber der Alkohol erleichterte weder den Druck im Kopf noch im Magen. Ich wünschte, es gäbe irgendeinen Menschen, dem ich vertrauen könnte, dachte Helen. Ich wünschte, es gäbe irgend jemanden, der dieses Netz der Lügen und Halbwahrheiten zerteilen und mir endlich wieder Luft zum Atmen verschaffen würde.
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Aber da war niemand, nur der Bruder ihres Vaters in einem Altersheim am Bodensee, der sie womöglich nicht einmal wiedererkennen würde; so lange war sie nicht mehr bei ihm zu Besuch gewesen. Über Zürich hing der tiefe Regenhimmel des Septembers. Das Flugzeug schlingerte bei der Landung wie auf hochgehender See. Helen trank in der Bar des Flughafens noch einen Martini, aber auch das löste ihre verkrampften Nerven nicht. Sie fror und war am Rand der totalen Erschöpfung, als sie zu Hause ankam. Raoul erwartete sie in der Wohnhalle, ein Glas Whisky in der Hand. Seine Augen waren gerötet. »Wo warst du?« fuhr er sie scharf an. »In Paris.« Sie zuckte die Schultern und sah ihn an. »Was hast du da gemacht?« »Ich habe versucht, mehr über dich zu erfahren – und über Armand. Und ich habe das hier gefunden!« Sie zog das Foto aus der Tasche ihres Mantels und hielt es ihm hin. Raoul riß es ihr aus der Hand, starrte es an und begann schallend zu lachen. »Erpreßt er dich?« Ihre Frage verhallte in Raouls Gelächter. »Raoul, hör auf!« schrie sie ihn an. Er war still. »Erpreßt dich Armand?« fragte sie noch einmal. Raouls Augen wurden ganz weich; es war, als schiebe sich ein samtener Film über sie. »Aber nein«, sagte er mit sanfter, fast zärtlicher Stimme, »welch eine Idee!« »Raoul, sag mir die Wahrheit!« »Hast du das wirklich geglaubt?« Er kam zu ihr, stellte das Glas aus der Hand und ließ das Foto achtlos zu Boden fallen. Er nahm sie in seine Arme und begann ihren Rücken zu streicheln. Zum erstenmal seit Stunden, ja seit Tagen spürte Helen, wie sich die Spannung in ihr löste. Einfach die Augen schließen, sich einfach von diesen Armen halten lassen.
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»Sag mir die Wahrheit, Raoul, bitte, sag mir, gibt es irgend etwas aus deiner Vergangenheit, das dich verfolgt?« »Aber Helen.« »Dieses Foto…« unterbrach sie ihn. »Du bist jetzt ein erfolgreicher Mann, ein Mann mit Einfluß, ein Mann, der eine der größten Porzellanfabriken Europas leitet. Das Foto könnte dir doch schaden, wenn es in die falschen Hände geriete, oder nicht?« »Jetzt kann es mir nicht mehr schaden.« Raoul ließ sie los, hob das Foto vom Boden auf, zerriß es und warf es in die Flammen des Kamins. Und das Seltsame geschah: Es erfüllte Helen nicht mit Erleichterung, sondern mit einer panischen Angst. »Nicht!« schrie sie auf, aber da war das Foto schon verglüht. »Was ist denn, was ist denn?« fragte Raoul in diesem Ton, in dem man Kinder beruhigt. Sie wirbelte herum, warf sich in seine Arme und klammerte sich an ihn. »Ich habe Angst, solche Angst.« »Aber ich bin doch bei dir.« »Wie lange noch?« »Solange du willst. Immer.« »Ich kann dir nicht mehr glauben, ich kann niemandem mehr glauben. Weißt du, daß Savant auch in Paris war?« »Savant?« Raoul packte ihre Arme, schob sie von sich. »Wo hast du ihn getroffen?« »In Armands Apartment.« »Was tat er da?« »Er – er suchte Beweise, genau wie ich.« »Beweise wofür?« »Einer seiner Klienten wird erpreßt.« »Aber wieso glaubt er, durch Armand?« »Vielleicht weil Armand May-lins Geliebter ist.« »Unsinn!« »Raoul, was steckt hinter all dem? Hab doch Vertrauen zu mir, sag mir doch endlich, was los ist! Ihr alle wißt es, du auch, ja, sogar Renée, nur ich nicht!«
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»Hör auf!« »Nein, ich muß endlich Klarheit haben.« »Du bildest dir etwas ein.« »Das ist nicht wahr!« »Du glaubst an eine Verschwörung? Aber warum sollte sich jemand gegen dich verschwören?« »Das ist es ja, was ich wissen will!« »Aber du wirst es nie erfahren, weil du es dir einbildest. Du bist krank, Helen, du bist wirklich krank.« Er hatte sein Glas wieder aufgenommen, trank daraus und blickte sie über den Rand hinweg an. Kalt und prüfend war sein Blick, aber seine Worte straften den Blick Lügen. »Wenn du wüßtest, was ich mir für Sorgen um dich gemacht habe«, sagte er. »Wenn du wüßtest, was ich empfand, als ich die Katze im Schlafzimmer fand.« »Welche Katze?« »Die du über dem stummen Diener aus deinem Nerzmantel geformt hast.« »Aber das hab’ ich doch nur getan, um vorzutäuschen, ich sei endlich da angelangt, wo man mich haben will.« »Helen, du kannst von keinem vernünftigen Menschen erwarten, daß er das glaubt.« »Weißt du, was ich möchte, Raoul?« flüsterte sie und merkte erst jetzt, daß sie weinte, daß ihr die Tränen übers Gesicht liefen. »Ich ertrage das alles nicht mehr. Ich wünschte, ich wäre tot.« Du bist tot, sagte die Stimme in der Nacht. Helen lag wach. Sie wußte, daß sie hellwach war und daß sie sich die Stimme nicht einbildete, die monoton immer dieselben Worte wiederholte, körperlos und weder einem Mann noch einer Frau zuzuschreiben. Du bist tot. Raoul lag neben ihr, und an seinem Atem hörte sie, daß er schlief. Sie hatte nicht den Mut, ihn zu wecken, hatte nicht mehr die Kraft, sein Mitleid zu ertragen.
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Du bist tot, sagte die Stimme, und Helen stand wie unter einem Zwang auf, ging ins Bad und schloß die Tür hinter sich ab. Es schien ihr der einzige Ausweg.
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5 Der Tod sollte sanft sein. Er sollte nicht Finsternis, sondern Erlösung bringen. Ich will nicht mehr, dachte Helen, ich ertrage die Furcht nicht mehr, nicht mehr das Entsetzen vor dem, was als nächstes auf mich warten wird. Ich habe Angst vor jedem Schritt, den ich tun muß oder soll. Sie knipste die Lichter neben dem Spiegel im Bad an – venezianische Leuchten, zarte perlmuttfarbene Tulpen. Sie ließ Wasser ins Becken laufen, lauwarmes Wasser, genaue Körpertemperatur. Unter dem Spiegel lag Raouls Rasierapparat. Aber es würde häßlich sein, so zu sterben, während das Blut aus einem rann wie Wasser aus einem zerbrochenen Krug. Und wenn es weh tat, wenn der Tod zu langsam kam? Helen trat an den Medikamentenschrank. Sie fand die Schlaftabletten und hielt das Röhrchen gegen das Licht. Elf Stück waren noch darin; es würde gewiß nicht ausreichen, um den ewigen Schlaf herbeizuführen. Wie schwer es doch ist, sterben zu können, eine Art des Todes zu wählen, wenn man einmal darüber nachzudenken beginnt. Aber dann entdeckte sie das braune Fläschchen. Es trug kein Etikett. Es war mit einem kleinen, hellgelben Korken verschlossen. Sie nahm es in die Hand, entstöpselte es und roch daran. Ein scharfer Geruch. Sie war mit einemmal völlig nüchtern. Sah klaren Auges die halben Vorbereitungen, die sie schon für ihren Tod getroffen hatte. Wußte mit einemmal, wie sinnlos es sein würde, so zu sterben. Wie dumm. Und wie feige. Zugegeben, so viele Dinge waren geschehen, für die es keine Erklärung gab, aber war das eine Rechtfertigung dafür, ihr Leben fortzuwerfen? Sie nahm das Fläschchen mit dem Arsenik, goß es in das Becken, ließ es mit dem lauwarmen Wasser ablaufen, drehte beide Hähne weit auf und spülte nach.
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Sie spülte auch die Flasche aus, öffnete das Fenster weit, schleuderte sie hinaus auf die Terrasse und hörte, wie sie zerklirrte. Sie warf auch die Schlaftabletten weg und ging dann ins Schlafzimmer zurück. Während sie unter die Decke schlüpfte, wunderte sie sich, daß Raoul nicht erwacht war. Aber sie war fast dankbar dafür; es wäre so beschämend gewesen, gestehen zu müssen, wie mutlos sie gewesen war. Die Schmerzen begannen am Nachmittag des Tages darauf. Sie überfielen Helen jäh und unvorbereitet, krampfartig, mit schweißtreibenden, atemabschnürenden Schnitten zerteilten sie ihren Leib. Helen schob den Kaffee von sich, von dem sie gerade getrunken hatte. Ihre Hände suchten Halt an der Kante des Tischs. Sie wollte aufstehen, aber die Beine versagten ihr den Dienst. »Renée«, rief sie, »Renée!« Aber niemand antwortete. Und dann konnte sie nicht einmal mehr flüstern, ihr Hals war so trocken, da war kein Speichel mehr, und die Zunge schwoll an, schwoll so an, daß sie zu ersticken fürchtete. Was hatte sie gegessen? Ein Morchelomelett, ein Kalbssteak mit Salat – hinterher einen Kaffee getrunken. Die Morcheln – Pilze, die giftig waren. Helen schleppte sich in die Küche, zum Eisschrank, umklammerte den Griff und brauchte all ihre Kraft, um die Tür aufzuziehen. Sie griff nach einer der Milchflaschen. Trank, mußte jeden Schluck hinunterwürgen. Sie trank die ganze Flasche leer, eiskalte Milch. Sie kam gerade noch zum Ausguß, klammerte sich an die stählerne Kante. In die Schmerzen mischte sich jetzt würgendes Krampfen des Magens. Helen erbrach sich. Raoul war so blaß, wie sie ihn noch nie gesehen hatte. Er wanderte wie ein Tier, das man gefangen hält, vor ihrem Bett auf und ab. Sie hatte sich in ihrem Schlafzimmer eingeschlossen gehabt; er war gerade erst aus dem Werk gekommen.
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»Helen, weißt du, wie entsetzlich dieser Verdacht ist, den du da aussprichst?« fragte er mit schmalen Lippen. »Ich weiß es, aber ich bin fast vergiftet worden.« »Ein Zufall, nichts weiter. Warum sollte Renée – wie sollte Renée so etwas tun?« »Sie hat das Pilzomelett zubereitet.« »Es muß ein Zufall sein. Mein Gott, sei doch vernünftig!« »Ruf sie herein, Raoul, frag sie, woher sie die Pilze hatte.« »Helen, das Mädchen hat schon genug ausgestanden in letzter Zeit. Wir können froh sein, daß sie überhaupt bei uns geblieben ist.« »Ja, ich weiß es. Ich weiß es, mein Gott, aber ich bin doch nicht schuld daran.« »Helen…« »Ja, Raoul?« Er sagte nichts weiter, er sah sie nur an. Sie richtete sich auf. »Du hältst mich für verrückt, nicht wahr? Aber ich bin es nicht, und ich werde es dir beweisen. Wenn du Renée nicht hereinrufst, gehen wir eben zu ihr.« Sie stand auf und ging hinaus. Raoul folgte ihr widerwillig. Die Tür zur Küche stand offen. Die Küche war nicht aufgeräumt. »Renée!« rief Helen. Niemand antwortete. Helen öffnete die Tür zu Renées Zimmer. Es war leer. Das Mädchen hatte es in offensichtlicher Hast verlassen. »Glaubst du mir jetzt?« fragte Helen und wandte sich zu Raoul um. »Ja, was denn?« Er sah an ihr vorbei. Er hatte einen seltsam suchenden Ausdruck in den Augen. Er trat hastig einen Schritt vor und griff nach dem Brief, den sie erst jetzt entdeckte. Sie sah es in Raouls Gesicht zucken, undeutbar war sein Blick, während er den Brief las. »Was schreibst sie?« fragte Helen. »Nichts weiter, als daß sie fort ist.« Es klang irgendwie erleichtert. »Da, lies selbst!«
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»Vielleicht werden wir jetzt Ruhe haben«, sagte Helen. Eine Woche lang sah es so aus. Nichts geschah. Weder Raoul noch Helen sprachen von ihrem letzten ›Anfall‹, wie sie das Erlebte spöttisch nannte, obwohl sie es besser wußte. Es war eine Woche ruhiger Tage, die sie mit Arbeit in Haus und Garten verbrachte. Ruhige Abende – sie ging meist früh zu Bett und las noch, Raoul arbeitete bis spät in seinem Studio. Nichts Absonderliches geschah, bis zu jenem Tag, an dem sie die Schritte zu hören begann. Sie hatte im Garten gearbeitet. Die Blätter fielen jetzt rasch – braungoldenes Gefieder, das Rasen und Wege bedeckte. Helen duschte und legte sich eine Weile hin. Sie mußte eingeschlafen sein, denn als sie erwachte, war es dunkel im Zimmer bis auf das matte Licht der Nachttischlampe. Sie konnte sich nicht erinnern, sie angeknipst zu haben, aber auch die Vorhänge waren zugezogen. Es schmerzte dumpfpochend hinter Helens Schläfen. Ihr Hals war trocken, ihr Gaumen verklebt, von einem süßlich schalen Geschmack. Sie hob die Hand, um nach Renée zu läuten und spürte, wie kraftlos sie war. Aber Renée kam nicht, und erst da fiel ihr ein, daß sie ja ohne Mädchen war, daß Renée einfach verschwunden war. Wieder einmal. Aber wie kam sie ins Bett, wer hatte sie zu Bett gebracht? Raoul etwa? Helen griff nach dem Telefon und ließ es durch die Räume des Hauses läuten. Niemand meldete sich. Also bin ich allein zu Bett gegangen. Ich hatte Schmerzen, dachte sie, ja, nach dem Mittagessen. Und ich bin ohnmächtig geworden. Nein, das war vor einer Woche. Nicht heute. Heute habe ich – ja, was habe ich denn getan?
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Sie konnte sich nicht erinnern. Sie bewegte sich ruhelos und merkte, daß sie nackt unter der Decke war. Nackt und mit dem süßlichen Geschmack wie nach zuviel genossenem Alkohol im Mund. Sie spürte, wie ihr Hitze in die Wangen stieg. Früher, in Paris, hatten Raoul und sie manchmal die Nachmittage so verbracht. Vielleicht war Raoul doch inzwischen hier gewesen? Aber dann wäre er doch geblieben. Dann hätte er mich doch nicht allein gelassen. Die Stille um sie herum bekam plötzlich etwas Drohendes. Sie wurde hörbar; wie unterdrückter Atem, wie Schritte, die durchs Haus schlichen. Schritte. Sie hörte Schritte, dumpf, tastend wie von einem Blinden. Schritte – wie in jener Nacht in Armands Apartment in Paris. Helen glitt aus dem Bett, ehe sie wußte, was sie tat. Zum Schrank. Ein Hosenanzug vom Bügel gerissen, in Mokassins geschlüpft. Sie sah sich selbst flüchtig im Spiegel: ein dunkler, schmaler Schatten, schneeweiß darüber das Gesicht. Sie riß die Schublade des Frisiertischs auf, in der sie unter Schals und Handschuhen Raouls Pistole verwahrt hatte. Sie war nicht mehr da, natürlich nicht. Raoul mußte sie gesucht und gefunden und wieder an sich genommen haben. Sekundenlang preßte sie die Hand vor den Mund, von panischer Angst erfüllt. Die Schritte gingen durchs Haus, dumpf, tastend. Helens Gedanken kuppelten ein, kuppelten aus. Nichts wurde klar. Sie lief zum Telefon und drückte den Knopf für die Außenverbindungen. Stille in der Leitung, kein Freizeichen, nichts. Sie wählte dennoch Raouls Nummer im Werk und die von Dr. Savant. Die Leitung blieb tot.
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Helen lief zur Terrassentür und riß sie auf. Etwas sauste auf ihre linke Schulter herab. Wäre sie nicht instinktiv zurückgesprungen, es hätte ihren Kopf getroffen. So prallte es nur auf ihre Schulter, aber der schwarze Jersey ihrer Jacke war glatt durchgetrennt. Verständnislos starrte Helen auf den klaffenden Spalt im Stoff, spürte nichts, bis Blut in glitzernden Tropfen daraus hervorquoll. Dann sah sie, daß der Stahlrahmen mit dem feinmaschigen Draht herabgefallen war, der im Sommer, wenn wegen der Hitze nachts die Türen aufblieben, die Mücken abhalten sollte. Der Stahlrahmen saß normalerweise in einer festen Verankerung, die nur elektrisch zu lösen war. Helen hatte den entsprechenden Knopf nicht betätigt. Und doch war der Stahlrahmen herabgesaust wie eine Guillotine. Zufall oder Absicht, daß es gerade an der Terrassentür ihres Schlafzimmers geschah? Helen wagte nicht mehr, an Zufälle zu glauben. Sie bewegte sich, als sei sie es, die in ihr eigenes Haus eingebrochen sei, im Schatten der Mauer zur Garage. Sie hatte wie stets – sie konnte es sich einfach nicht abgewöhnen – den Zündschlüssel ihres Wagens stecken lassen. Sie fuhr nur bis zum Rasthaus unten an der Kreuzung nach Zürich, hielt auf dem Parkplatz. Sie saß minutenlang reglos hinter dem Steuer, die Stirn auf das Lenkrad gelehnt, die Angst noch in der Kehle wie eine Kralle, die ihr den Atem wegnahm. Man wollte sie umbringen. Man wollte, daß sie starb. Wenn schon nicht von eigener Hand, dann von fremder, gnadenloser Faust. Aber wer war man? Und warum? Was sollte damit erreicht werden? Sie dachte plötzlich zum erstenmal daran, wie reich sie war. Außer der Porzellanmanufaktur hatte sie von ihrem Vater ein Gut im Jura und Weinberge in Südfrankreich geerbt.
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Aber wem würde ihr Reichtum etwas nützen, wenn sie tot war? Niemandem, nicht einmal Raoul. So hatte ihr Vater es verfügt in seinem Testament, das rechtskräftig war. Nur falls sie Kinder bekäme, würde die Klausel nichtig werden. Aber bislang würde nach ihrem Tod das gesamte Vermögen in eine Stiftung für Waisen umgewandelt werden. Niemand weiß das, dachte sie. Wer immer mich auch umbringen will, muß glauben, er bringt eine reiche Erbin um. Auch Raoul. Der Gedanke ließ sie wie unter Frost erzittern. Raoul, der von der Hand in den Mund lebte, als ich ihn kennenlernte, von Gelegenheitsarbeiten. Raoul, der in der Fremdenlegion gewesen war. Kein wohlhabender Mann, kein Mann mit einer wohlfundierten Ausbildung ging in die Legion. Könnte es nicht sein, daß er hinter ihrem Geld her war? Aber er besaß es doch. Er besaß jede Vollmacht, die auch sie besaß, nämlich im Monat bis zu 15.000 Franken zu verbrauchen. Mehr allerdings nicht. Vielleicht war ihm das nicht genug? Ja, wer sonst als er? Ich muß Raoul mißtrauen, dachte sie, ich muß mich zwingen, meinem eigenen Mann zu mißtrauen, wenn ich nicht den Glauben an meinen Verstand verlieren will. Sie rief ihn aus dem Rasthaus an. »Du sprichst so sonderbar«, sagte Raoul, »du hörst dich so fremd an.« »Ich fahre für ein paar Tage weg«, sagte sie. »Wohin?« »Ich weiß es noch nicht. Ich rufe dich von unterwegs an.« »Helen, du mußt doch einen Grund dafür haben.« »Wirst du mich vermissen?« fragte sie. »Natürlich«, sagte er, »das weißt du doch.« »Adieu.« Sie legte rasch den Hörer auf und lehnte sich gegen die Wand des Rasthausflurs. Sie schloß die Augen und spürte Tränen hinter ihren Lidern brennen.
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Lieber Gott, gib, daß ich ihm unrecht tue, dachte sie, lieber Gott, gib, daß ich auf der falschen Spur bin, wenn ich mich nun gegen meinen eigenen Mann wende. Sie ging in die Gaststube zurück und setzte sich ans Fenster. Sie bestellte sich einen Tee und ein Schinkensandwich, wie schon einmal zuvor. Wie damals, vor ihrer Reise nach Paris, hatte sie auch den Wagen wieder im Schatten des Hauses geparkt, so daß er von der Straße her nicht sichtbar war. Sie brauchte nicht lange zu warten. Sie erkannte den Motor von Raouls Wagen schon von weitem. Der Wagen preschte den Hügel zu ihrem Haus hinauf. Raoul Bertram durchsuchte Helens Schlafzimmer und den angrenzenden Salon. Er sah, daß Helen nichts mitgenommen hatte, nicht einmal ihr Scheckbuch. Und er dachte mit einem flüchtigen Lächeln an ihre Angewohnheit, kaum jemals Bargeld bei sich zu tragen. Er ging in sein Studio und stellte das Tonband ab. Er ging in die Küche und schüttete den Rest des Vanilleflips in den Ausguß. Dann kehrte er in sein Studio zurück und rief Doktor Savant an. »Meine Frau muß wieder einen ihrer Anfälle gehabt haben«, berichtete er erregt. »Sie ist fort. Ich weiß nicht, wo ich sie suchen soll.« »Ist sie mit dem Wagen weg?« fragte Doktor Savant. »Ja, mit ihrem eigenen.« »Ich hoffe, daß der Wagen in Ordnung ist«, sagte Dr. Savant. »Natürlich! Was soll das heißen? Unsere Autos werden regelmäßig überprüft. Was soll ich jetzt tun, Doktor?« »Darauf warten, daß Madame zurückkommt«, sagte der Psychiater. Raoul wählte eine zweite Nummer. Diesmal sagte er nur: »Sie ist unterwegs.« Dann ging er in den großen Wohnraum und goß sich einen dreidaumenhohen Whisky ein. Er trank ihn langsam, während er nachdenklich auf und ab ging.
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Er spürte einen dumpfen Schmerz in seiner linken Seite und begann, die Herzgegend zu massieren. Es wird wahrhaftig Zeit, daß ich ein ruhigeres Leben führe, dachte er. Wenn jemand einen Menschen kennt, so sollte es die Mutter sein. Sie hat ihn geboren, aufwachsen sehen, erzogen. Sie kennt seine Anlagen, sie weiß, ob er gutherzig ist oder grausam; sie weiß, ob man sich auf ihn verlassen kann oder nicht; sie weiß, ob ein Lügner aus ihm wurde oder ein Mensch, der es mit der Wahrheit hält. Deswegen war Helen den Rest des Nachmittags und die ganze Nacht durchgefahren. Im Morgengrauen kam sie in Avignon an. Sie fuhr durch eines der hohen Tore in der weißlichgrauen Mauer, die – beschattet von Platanen – die ganze Stadt umgibt und stellte den Wagen in der Nähe der Markthallen ab. Die Stände hatten gerade geöffnet, und es roch nach den frischen Pâtes, mit knuspriger Kruste und noch ofenwarm, es roch säuerlich nach den Oliven in den hölzernen Bottichen und salzig-streng nach den meerfrischen Fischen, die silbrig auf weißen Kachelbänken aufgereiht lagen. Helen war hungrig und durstig und kaufte sich von ihrem letzten, nach zweimaligem Tanken noch verbliebenen Geld eine Stange Weißbrot, zwei kleine runde Ziegenkäse und eine halbe Flasche Rouge Ordinaire. Eine Zigeunerin, mit einem Kind auf der hervorstehenden eckigen Hüfte, streckte ihr bettelnd die Hand entgegen; die Nägel waren zu gelblichen Krallen gekrümmt. »Eine milde Gabe, Madame, nur eine kleine milde Gabe«, murmelte sie. Helen gab ihr die letzten Centimes. Sobald die Bank aufmachte, mußte sie nach Zürich telegrafieren. Aber sonderbar, es bedrückte sie nicht. Sie war von einer fast schwebenden Leichtigkeit erfüllt. Wenn es ein Geheimnis um Raoul gab – und sie war dessen nun fast sicher –, so war sie hier am richtigen Ort, in der Stadt, in der er geboren war.
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Die braune Tüte mit Brot, Käse und Wein im Arm, schlenderte Helen zur Place de la République und setzte sich auf eine Bank unter den Platanen. Sie aß von dem Brot und dem Käse und trank von dem Wein. Erster blasser Sonnenschein fiel durch die gelbgrünen Kronen der Bäume und streute Flittergold auf die grauen Steinplatten des Platzes. Helen aß und trank und beobachtete ein paar junge Burschen mit langen Haaren und ein paar Mädchen, die so plattbusig und kurzgeschoren wie die Jünglinge waren, die drüben auf den Stufen des Kriegerdenkmals lagerten – unter dem pathetisch in sich zusammengesunkenen bronzenen Löwen. Tauben kamen und pickten die Reste des Brotes auf. Eine flatterte auf Helens linke Schulter und krallte sich haltsuchend in die Wunde. Helen unterdrückte nur mit Mühe einen Schmerzensschrei. Im gleichen Augenblick sah sie jenseits des Platzes unter der blauweißen Markise des Grill Paris – Armand. Unverkennbar die etwas vornübergebeugte Haltung, der schmale, blonde Kopf und die getönte Brille. Helen zog langsam ihre Sonnenbrille aus der Jackentasche und setzte sie auf. Armand unterhielt sich mit einem Kellner des Paris Grill. Der Kellner gestikulierte, als zeige er ihm eine Richtung an. Armand lachte, drückte ihm etwas in die Hand und ging dann langsam schlendernd davon. Helen stand auf, um ihm zu folgen.
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6 Die Sonne warf breite Bahnen gelben Lichts in die alte Rhônestadt der Papstpaläste, der Platanen und der Tapenade; letzteres die typischste aller provenzalischen Spezialitäten, eine pikante Paste aus schwarzen Oliven. So hatte es im Reiseführer gestanden, so sah Helen es nun. Avignon am frühen Morgen, gerade erst erwachend. Licht und Schatten unter den breitästigen Bäumen, Tauben gurrend auf der Place de la République und der gedemütigte Bronzelöwe unter dem Kriegerdenkmal. Die ersten rasch vorbeirauschenden Autos, die ersten eiligen Radfahrer, Schulkinder in schwarzen Kitteln, ein paar Hausfrauen, die bloßen Füße in Sandalen, die Haare achtlos locker im Nacken zusammengenommen, das obligate Stangenbrot unterm Arm, ein paar Arbeiter mit flachen, schwarzen Lackmappen, die wohl ihr Frühstück enthielten. Helen folgte Armand in eine schmale, abschüssige Straße. Rechts war die blinde Fassade eines geschlossenen Hotels – Splendid Bar stand auf der staubigen Tür, die wohl lange niemand mehr geöffnet hatte. Weiter unten war ein Keramikgeschäft; blaues und rotes Geschirr, Sankt Martin lebensgroß auf orangefarbene Kacheln gemalt. Weiter vorn war wieder ein Platz. Armand blieb stehen und sah sich um. Helen huschte in einen Hauseingang. Er schien Zeit zu haben, dieser Armand, viel Zeit an diesem frühen Morgen in Avignon. Er betrachtete den weiten Platz, der auf dem Boden eines alten, abgerissenen Stadtviertels entstanden war. Zum Papstpalast hin war ein Apartmenthaus errichtet worden. Hellgelber Sandstein, fast weiß, glatt, modern – und doch war es dem Architekten gelungen, in diesem Bau die Grandeur der alten Paläste einzufangen. Armand zündete sich eine Zigarette an und schnippte das Streichholz achtlos fort; eine rotgelbgetigerte Katze scheute davor, buckelte und schoß quer über den Platz davon.
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Armand ging weiter und bog in eine Gasse. Helen folgte ihm. Graufassadige Häuser und blinde Fenster auch hier. Aber offenbar bewohnt, auch wenn die Haustüren kaum noch in ihren rostigen Angeln hielten. Armand blieb vor jedem Geschäft stehen und betrachtete die Auslagen. Helen spürte die Ungeduld wie kaltprickelnden Sprudel in ihrer Kehle. Endlich ging Armand weiter. Noch enger wurde die Gasse, noch ärmlicher, düsterer wurden die Häuser. Das Sonnenlicht blieb an den Dächern hängen. Hoch oben leuchtete blau der Herbsthimmel. Armand trat in eine Bar, die gerade erst geöffnet hatte. Der Holzperlenvorhang klapperte. Helen wartete wieder in einem Hauseingang. Um sie her war der Geruch nach Katzen, nach altem wurmzerfressenem Holz und nach jungvergorenem Wein. Armand trat aus der Bar, wischte sich den Mund und ging weiter, die Hände in den Hosentaschen. Schneller jetzt. Zielbewußter. Wo würde er sie hinführen? Er blieb vor einem Haus stehen, in dessen vergitterten Parterrefenstern tiefrote Geranien blühten. Helen sah Armand einen altmodischen Klingelzug betätigen. Es schepperte laut in die Stille der Gasse. Sekunden später verschwand Armand in dem Haus. Und was jetzt? Helen zögerte und wußte nicht weiter. Sie ging bis zu dem Haus und blieb vor der Tür stehen. Sauber lakkiert in dunklem Blau. Blanke Messingbeschläge an Schloß und Briefkasten. Ein Namensschild. Heugot. Es sagte ihr nichts. Und dann hörte sie die Stimmen. »Nun stell dich doch nicht so an!« rief Armand wütend. »Was ist denn schon dabei, wenn ich mal ’ne Nacht durchsumpfe? Ich kann doch nicht ewig zu Hause sitzen, außerdem schlaf ich schlecht. Was soll also der Quatsch?«
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»Wenn du arbeiten würdest, könntest du in der Nacht schlafen, wie es sich für normale Menschen gehört«, antwortete die ruhige Stimme einer Frau. »Und was, bitte, soll ich arbeiten?« fragte Armand voller Hohn. »Hast etwa du ’ne Stelle für mich?« »Du bist alt genug, um für dich selbst zu sorgen«, sagte die Frau. »Ich hatte gehofft, du seist wenigstens jetzt zur Vernunft gekommen.« »Ja, jetzt heul bloß schon wieder«, sagte Armand. »Du gehst mir wirklich auf die Nerven.« »Ich wünschte, du wärst nie zurückgekommen. Warum bist du nicht in Paris geblieben?« »Ach, laß mich in Ruhe!« Eine Tür schlug, Schritte stapften eine Treppe hinauf. Dann war es still. »Wenn mein Raoul das miterlebte«, rief die Frau hinter ihm her, »er würde dir schon den Kopf zurechtsetzen.« Raoul! Unwillkürlich preßte Helen die Hand vor den Mund. Raoul? Sie war also am Ziel. Sie war dort, wo sie hingewollt hatte, bei seiner Mutter. Aber der fremde Name an der Tür? Ach was, das konnte jemand anderes sein. Jemand, der auch in dem Haus wohnte. Oder Raouls Mutter konnte noch einmal geheiratet haben. »Suchen Sie jemanden, Mademoiselle?« Helen zuckte zusammen und sah auf. Durch das Gitter vor dem Geranienfenster blickte sie eine alte Frau an. Die Frau, deren Stimme sie eben in der Auseinandersetzung mit Armand gehört hatte. »Ja, Madame, ich – suche Sie«, sagte Helen. Die faltigen Lider der ernsten, grauen Augen zuckten – Augen, wie Raoul sie hatte. Der Mund verzog sich und schien mit der Antwort zu zögern. Auch das war Raoul eigen. »Worum handelt es sich, bitte?« fragte die Frau schließlich. »Um Raoul«, sagte Helen ruhig. Das Gesicht wurde sehr blaß.
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»Einen Moment«, flüsterte der fahle Mund. Das Gesicht verschwand aus dem Fenster. Wenige Sekunden später wurde die Tür geöffnet. »Kommen Sie!« Eine Hand umklammerte Helens Arm, zog sie in den Flur. »Kommen Sie herein.« Ein kleiner Raum, peinlich sauber, blankes Kupfergeschirr an der Wand. Auf dem Tisch eine dickbauchige Tasse mit Milchkaffee. Ein Stück Brot, eine Zeitung, der Avignon-Matin. Die alte Frau rückte Helen einen Stuhl zurecht. »Bitte, nehmen Sie doch Platz.« Das Gesicht der alten Frau hatte sich nun gerötet. Es wirkte in der Erregung fast mädchenhaft. Sie tastete über ihr weißes Haar und zupfte am Kragen ihres schlichten, graublauen Kleides. »Sie haben meinen Raoul gekannt?« Gekannt? »Ich – ich bin Helen. Ich bin seine Frau.« Es fiel wie ein Schleier über die grauen Augen. Sie wirkten nun so ausdruckslos und stumpf wie die Augen der Tauben draußen auf der Place de la République. »Mein Sohn Raoul ist seit zehn Jahren tot.« »Aber nein« – Helen schüttelte den Kopf – »wir leben zusammen in Zürich in meinem Haus. Wir haben uns im letzten Jahr in Paris kennengelernt, wir…« »Madame, mein Sohn starb vor zehn Jahren in Algerien.« »War Raoul mit Armand in Algerien?« »Natürlich.« Die alte Frau krampfte die Hände um die Lehne des alten provenzalischen Stuhls, hinter dem sie stand. »Raoul tat stets, was Armand tat – und umgekehrt. Die beiden Brüder waren unzertrennlich. Armand wollte in die Legion. Er war immer für das Abenteuer, er war immer für die Gefahr. Und Raoul sagte: Maman, ich muß mit ihm gehen, versteh das doch. Armand ist so mutig, so wagemutig, er braucht jemanden, der auf ihn aufpaßt. Und so starb mein kleiner Raoul. Er mußte sterben, und Armand kehrte zurück.« Die alte Frau bedeckte ihre Augen mit der Hand. »Excusez-moi«, murmelte sie, »ich habe es immer noch nicht verwunden.«
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Armand Raouls Bruder? Und diese Frau seine Mutter? Waren sie etwa alle drei in einem Komplott gegen sie, Helen, vereint? Helen wußte nicht mehr, was sie denken sollte. Sie wußte nicht mehr, was sie tun sollte. Sie sagte: »Bitte, rufen Sie Armand, ich muß mit ihm sprechen.« »Gern, Madame. Wie Sie wünschen. Aber ich weiß nicht, ob er kommen wird. Er tut nur, was er will. Wie heißen Sie, Madame?« »Bertram«, sagte Helen, »so, wie Sie einmal geheißen haben müssen.« »Ich habe nie einen anderen Namen getragen als Heugot.« Die alte Frau sagte es hastig und sah Helen fest an. »Madame Bertram, was immer Sie hier wollen, was immer Sie auch sagen; für mich sind es Rätsel.« »Bitte, rufen Sie Ihren Sohn«, wiederholte Helen ungeduldig. Die alte Frau ging hinaus. Laut hallte ihre Stimme durch das Haus: »Armand, komm herunter, Besuch ist da.« Er kam nach einer Weile die Treppe heruntergepoltert. Er trug jetzt Jeans. Sein Oberkörper war nackt. Ein breites, silbernes Amulett lag um den muskulösen Hals. Er blieb unter der Tür stehen, als er Helens ansichtig wurde, den Bruchteil einer Sekunde sichtlich verblüfft. Dann begann er zu lachen. »Das ist aber eine Überraschung! Madame Bertram! Was tun Sie denn hier in Avignon?« »Ich bin auf den Spuren von Raouls Vergangenheit.« Armand verstummte, trat ein und schloß die Tür hinter sich. Er warf seiner Mutter einen raschen, wachsamen Blick zu und sagte: »Warum bietest du Madame nichts an, ein Glas Wein, einen Kaffee?« »Nein, danke, ich möchte nichts«, sagte Helen rasch. Armand setzte sich Helen gegenüber an den Tisch und schlug die Beine übereinander. Er suchte vergeblich in seinen Hosentaschen nach einer Zigarette. »Na, was wollen Sie denn von mir wissen?« fragte er, klaubte einen Stummel aus dem Aschenbecher auf dem Fenstersims und steckte ihn zwischen seine Lippen, ohne ihn anzuzünden.
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»Ihre Mutter glaubt, Raoul sei tot.« »Wenn Sie meinen Bruder Raoul meinen, das ist er auch.« »Das Foto mit dem Erhenkten zeigte Ihren Bruder Raoul und Sie in Algerien?« »Ja, das stimmt. Sie haben es geklaut, wie?« Helen sparte sich die Antwort. Sie fragte statt dessen: »Wie kommt es dann, daß ich mit demselben Raoul des Fotos heute, zehn Jahre später, verheiratet bin?« Wieder dieser wachsame, jetzt aber etwas ängstliche Blick zu seiner Mutter hin, die reglos am Fenster stand. Dann aber zuckte ein zynisches Lächeln um Armands Lippen. »Die Auskunft kostet was«, sagte er. »Was soll das?« fragte seine Mutter. »Armand?« »Reg dich nicht auf, Maman, die Dame hier hat viel Geld, die kann ruhig etwas locker machen.« »Wieviel kostet die Wahrheit?« fragte Helen. »Die ganze?« fragte Armand. »Die ganze«, sagte Helen. »Fünftausend«, sagte Armand. »Armand!« »Was kümmert es dich, Maman? Wir Betrams sind doch stets eine gemeine Sippschaft gewesen, und wir haben immer verstanden, unsere Haut möglichst teuer zu Markte zu tragen.« »Also Madame«, wandte er sich mit einem spöttischen Lächeln an Helen, »wie sieht’s aus?« »Einverstanden«, sagte Helen. »Fünftausend.« »Wann kriege ich das Geld?« »Sie können gleich mit mir zur Bank gehen. Ich werde eine entsprechende Überweisung aus Zürich an Sie veranlassen.« »Gut«, sagte Armand, er spuckte die Zigarettenkippe aus. »Mit Ihnen kann man reden. Hätte ich eigentlich gar nicht gedacht, nach allem, was Raoul mir so über Sie erzählt hat.« »Wer ist Raoul?« fragte Helen. »Sie werden es fast schon erraten haben. Ein alter Kumpel von mir aus der Legion, der eine geradezu unwahrscheinliche Ähnlichkeit mit meinem Bruder Raoul hat. Man konnte die beiden kaum auseinan-
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derhalten, wirklich. Als mein Bruder starb, wußte ich zuerst nicht, ob es nicht Jean war.« »Jean?« fragte Helen. »So hieß Ihr Mann ursprünglich. Nachnamen« – Armand zuckte die Achseln – »weiß ich nicht mehr, tut ja auch nichts zur Sache. Also mein Bruder Raoul kam bei einer Patrouille um. Ich bekam natürlich seine Papiere ausgehändigt. Als dann das mit den Geiselerschießungen passierte und Jean vors Kriegsgericht sollte, da hab’ ich ihm die Papiere meines Bruders verkauft, und er ist auf und davon.« »Aber warum hat Ihre Mutter gesagt, sie habe niemals Bertram geheißen?« Wieder dieser wachsame, jetzt aber auch verächtliche Blick zu der alten Frau hin. »Sie hat sich geschämt. Es war nämlich ihr Mädchenname, und sie war noch eine süße Mademoiselle von siebzehn, als sie meinen Bruder Raoul und mich zur Welt brachte. Der ehrenrettende Ehemann Monsieur Heugot kam erst sehr viel später.« So ist das also, dachte Helen ganz gelassen, beinahe kühl. Ihr war wie einem Anwalt zumute, der zu nichts anderem da ist, als die Wahrheit herauszufinden. Gefühle konnte sie sich jetzt nicht leisten. Weder Überraschung noch Trauer und gewiß keinen Schmerz. Sie war also mit einem Mann verheiratet, der unter falscher Identität lebte. Sie war eine Zeitlang fast glücklich mit ihm gewesen, hatte ihm vertraut und hatte ihn geliebt. Sie sah den blonden Mann mit der getönten Brille an. »Armand, Sie waren doch bei uns in Zürich, nicht wahr? An einem Abend vor ein paar Wochen, zum Essen.« »Ja, natürlich war ich das, warum?« »Und May-lin war auch dabei?« »Na klar. Aber wieso fragen Sie das?« »Nur so.« Helen zuckte die Schultern. »Man hat mir weismachen wollen, ich hätte das alles nur geträumt.« »Ach nee.« Armand lachte laut und schallend auf. »Der gute Jean, er hat immer schon eine Vorliebe für makabre Scherze gehabt.« Helen ging mit Armand zur Banque du Midi. Sie veranlaßte, daß von ihrem Privatkonto in Zürich, auf dem sich ihr mütterliches Erbe be-
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fand, fünftausend Francs zur Verfügung von Monsieur Armand Bertram überwiesen wurden. »Wissen Sie«, sagte Armand, während er sie zu ihrem Wagen brachte, »eigentlich hab’ ich ein schlechtes Gewissen. Ich habe Ihnen gar nicht viel erzählt. Ich dachte, Sie wollten mehr hören, um eine Handhabe gegen Jean zu bekommen.« »Wozu? Das, was ich habe, reicht. Ich kann mich zu jeder Zeit von ihm scheiden lassen.« »Na, wenn Sie einen Ersatz brauchen, stehe ich jederzeit zur Verfügung.« Helen schauderte unter Armands nacktem, brutalem Blick. »Nein, danke«, sagte sie, »ich habe von allen Bertrams die Nase voll, ob es nun echte oder unechte sind.« Aus dem Radio kamen die weichen Töne eines Blues der zwanziger Jahre. Sie bewegte sich nackt durch das Zimmer, glatt und hell im matten Licht der Stehlampe. Ihr Haar war lackschwarz. Als er sie zu lieben begann, hatte er es mit Rabenflügeln verglichen. Es fiel über ihre Schultern bis tief in den Rücken hinab. Sie öffnete den Kleiderschrank, ließ ihre kleinen zarten Hände über den Samt und die Seide der Roben gleiten und krallte ihre Nägel in die weichen Pelze, die dort hingen. »Laß das«, sagte Raoul. »Warum?« May-lin wandte ihm das Gesicht über die Schulter hinweg zu. Sie lächelte. »Ich spiele gern mit schönen Dingen.« »Sie gehören dir nicht.« »Noch nicht.« Sie nahm den weißen Nerz vom Bügel und hüllte sich hinein. Er bedeckte die schmalen Schenkel bis knapp zu den Knien. Ihre Beine und die nackten Füße wirkten rührend wie die eines kleinen Mädchens, das sich verkleidet hat – und auch aufreizend. Raoul spürte, wie sich seine Kehle zusammenzog. »Laß das, Lin«, sagte er.
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Mit einem kleinen Laut des Unmuts und des Bedauerns ließ sie den Pelz von den Schultern gleichen und hängte ihn sorgfältig in den Schrank zurück. Sie ging zu dem mit gelbem Damast bezogenen Sessel, auf den Raoul achtlos seine Kleider geworfen hatte. Sie hüllte sich in sein Oberhemd. »Besser so?« fragte sie schmollend. Er mußte lachen. »Komm her«, sagte er zärtlich. »Nein, warte, ich mach uns noch etwas zu trinken. Ein Stück Eis oder zwei?« fragte sie und hantierte mit den Flaschen und Gläsern auf dem runden Silbertablett. Er liebte ihre Hände, er hätte sie stundenlang betrachten können. Sie berührten die Gläser wie Blumen aus kostbarem Glas. »Schön ist es hier«, sagte sie, »ich werde nicht viel ändern. Sie hat wirklich Geschmack.« »Sprich nicht dauernd von ihr«, sagte er. »Warum nicht? Macht es dich nervös?« »Wir müßten doch längst irgendeine Nachricht haben.« Er richtete sich halb auf und stützte das Kinn in die Hand. »Ich verstehe das nicht. Wenn sie einen Unfall gehabt hat – und sie muß einen Unfall gehabt haben…« »Wenn sie über die Grenze ist«, unterbrach ihn May-lin, »nach Frankreich, dann kann es unter Umständen lange dauern, bis du Nachricht bekommst.« »Was sollte sie in Frankreich tun?« »Vielleicht wieder Armand suchen?« May-lin lachte leise und amüsiert. »Armand ist nicht mehr in Paris.« »Die Ärmste. Alles was sie tut, tut sie vergebens.« »Du sollst dich nicht über sie lustig machen.« »Und warum nicht? Tut sie dir etwa leid?« »Nein, aber…« »Sie ist so langweilig, sie ist so blaß und blond und dünn und häßlich«, sagte May-lin heftig. »Es ist richtig gemein, daß immer die
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falschen Leute das viele Geld haben. Sag mir, was werden wir tun, wenn wir erst reich sind?« »Reisen«, sagte Raoul. »Wohin?« Sie kam langsam zu ihm herüber und trug die beiden Gläser mit dem Bourbon vorsichtig vor sich her. Ihre Lider und Brauen waren hoch geschwungen. Von der Mutter hatte sie dieses zarte Gesicht mit den nie zu ergründenden Augen geerbt, von ihrem Vater, einem Engländer, die glatte, seidige Haut. »Wohin wirst du mit mir reisen, Raoul?« fragte sie. »Wohin du willst«, antwortete er. Sie stellte die Gläser auf dem Nachttisch ab und drehte das Bild im schweren Silberrahmen, das ihn und Helen lachend, Hand in Hand zeigte, zur Wand. Dann erst beugte sie sich über ihn und küßte ihn auf den Mund. Sie glitt neben ihm aufs Bett, zog das Laken bis zur Taille hoch, reichte ihm sein Glas und blickte ihn mit ihren schwarzen Opalaugen aufmerksam an. »Gut«, sagte er, »sehr gut«, nach dem zweiten Schluck. Sie lachte vergnügt wie ein Kind. Ihre Lippen waren rosig und geschwungen und stets ein bißchen feucht. Wie bei den Siamkatzen. »Es war doch eine gute Idee, nicht wahr?« fragte sie. »Das mit den Katzen.« »Ja«, sagte er sarkastisch. »Ich wünschte nur, ich hätte es für dich tun können.« Sie zog ihr Haar über die Schultern nach vorn und begann es träge zu streicheln. »Als Kind hatte ich mal einen kleinen Hund. Ein teures Tier, irgend etwas Exotisches aus Südamerika. Aber er hatte einen häßlichen, langen Schwanz. Eines Tages habe ich ihm einen Knoten hineingemacht. Er schrie wie ein Kind und leckte mir die Hände, damit ich ihm helfen sollte, und…« »Hör auf«, sagte Raoul heiser. Diesmal war es Ekel, der ihm die Kehle verengte. »Ich bin grausam«, sagte May-lin und lächelte sanft, »das weißt du doch. Und es gefällt dir – oder nicht?«
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Sie begann seine Hüfte zu streicheln. Er zuckte unwillkürlich zusammen, denn er wußte nie, wann sie die Krallen in ihn schlagen würde. »Bald ist alles überstanden«, flüsterte sie, »bald ist alles vorbei. Sie ist tot. Sie muß tot sein. Diesmal muß es geklappt haben. Versprich es mir, versprich mir, daß du es nie bereuen wirst.« Er riß sie zu sich herab. Er tauchte seine Hände in die Flut des nach Jasmin duftenden, schwarzen Haars. »Ich verspreche es«, murmelte er, »ich verspreche dir, was du willst.« Sie biß ihn in die Lippen, sie krallte ihre Hände in seinen Rücken, und in dieser Sekunde des leidenschaftlichen Schmerzes öffnete er die Augen weit und sah Dr. Savant in der Tür des Schlafzimmers stehen.
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7 Die Augen waren sehr hell und kalt. Nichts war in ihnen zu lesen als diese Kälte. »Zieh dich an, May-lin«, sagte Dr. Savant. Sie zögerte eine Sekunde lang, glitt dann vom Bett, ging nackt, wie sie war, durch das Zimmer, wiegte sich in den schmalen Hüften und gab ihren Schritten dieses Schwebende, das an die Tempeltänzerinnen des Fernen Ostens erinnerte. Sie begann sich langsam anzuziehen. Erst jetzt gewann Raoul seine Fassung zurück, erst jetzt überkam ihn Wut, daß Savant es gewagt hatte, hier einzudringen, in sein Haus, in dieses Zimmer. »Was fällt Ihnen ein? Machen Sie, daß Sie hinauskommen! Maylin, du bleibst hier!« »Sie sind wohl taub!« schrie Raoul. »Reg dich nicht auf«, sagte May-lin, »und brüll nicht so.« Sie war jetzt angezogen und trug wieder den schwarzen JerseyAnzug mit der kurzen Jacke aus weißem Lammfell darüber. »Ich rufe dich an«, sagte sie noch. Dann lief sie an Savant vorbei aus dem Schlafzimmer. Der Psychiater wandte sich um, trat ebenfalls hinaus und schloß ruhig die Tür hinter sich. Raoul zog sich an. Dann folgte er ihnen. Draußen auf dem Vorplatz sprang gerade Savants Wagen an. Raoul riß die Tür auf und packte Savant bei den Jackettaufschlägen. »Los, raus, ich will eine Erklärung!« Savant schlug mit der Kante der rechten Hand zu und traf exakt Raouls Handgelenk. Raoul schrie auf, ließ los und taumelte zurück. Savant schlug die Wagentür zu und gab Gas. Der Wagen schoß mit quietschenden Reifen aus der Einfahrt. »War das wirklich nötig?« fragte May-lin leise und lachte amüsiert. Sie kuschelte sich in ihren Sitz und lehnte ihre Wange an Savants Schulter. Savant antwortete nicht.
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Die Sonne ging tiefrot hinter den Hügeln des Jura unter. Lange Schatten fielen in das Tal des Doubs. Das Gold und Silber des herbstlichen Laubes verblich im Nebel, der in blassen Schwaden vom Ufer des Flusses aufstieg. Helen saß im Garten des kleinen Gasthofs, der direkt am Ufer des Doubs lag. Kein Laut drang von dem nahen Besançon herüber, kaum Motorengeräusch von der nahen Hauptstraße. Es war auf eine sanfte, beruhigende Weise abendlich still. Helen griff nach ihrem Glas und trank einen Schluck von dem leichten, herben Rotwein. Sie hatte eine pâte à la Maison gegessen und einen Salat dazu. Eigentlich hatte sie nur eine kurze Rast beabsichtigt, da sie noch weiter nach Zürich fahren wollte. Aber warum? Sie zuckte unwillkürlich mit den Schultern. Jetzt, da sie alles wußte – oder beinahe alles wußte und sich den Rest zusammenreimen konnte, spielte der Zeitpunkt ihrer Rückkehr keine Rolle mehr. Sie würde Raoul hinauswerfen, sie würde einen Anwalt mit ihrer Scheidung beauftragen und selbst auf Reisen gehen. Irgendwohin, vielleicht nach Afrika, vielleicht nach Südamerika. Auch das war vorerst nicht wichtig. Sie blickte zu dem niedrigen, mit roten Schindeln bedachten Gasthof hinüber, der ehemals eine Mühle gewesen war. In der Gaststube brannte schon Licht. Zwei junge Männer standen an der Theke, der eine blond, der andere dunkelhaarig. Sie trugen hohe Gummistiefel. Sie hatten geangelt und tranken nun Pastis. Zum Abendessen würde es frische Forellen geben. Es war eine ländliche Idylle, wie man sie in Frankreich nur wenige Kilometer fernab der Durchgangsstraßen noch so häufig unverändert findet. Warum nicht einfach hierbleiben, ein paar Tage, ein paar Wochen, so wie ihr der Sinn danach stand? Weite Spaziergänge machen, viel schlafen, lesen, einfach abschalten. Helen stand auf und ging zum Wagen.
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Es war kühl geworden, und sie nahm den flauschigen, rotweiß gemusterten Poncho, den sie sich noch in Avignon gekauft hatte, vom Rücksitz. Eine schmale, graue Katze strich heran und rieb schnurrend ihren Kopf an Helens Beinen. Helen lachte, beugte sich hinunter und kraulte den kleinen runden Kopf mit den großen, eher gelben als grünen Augen. »Na Grisette«, murmelte sie, »wo kommst du denn her?« Sie hob das Tier auf den Arm und streichelte es. Die Katze miaute, riß weit den kleinen Rachen auf und ließ nadelspitze Zähne in rosigen Kiefern sehen. »Du hast wohl Hunger, was? Warte, ich werde sehen, was ich noch habe.« Helen beugte sich vor, öffnete das Handschuhfach und nahm die Tafel Schokolade heraus, die sie stets darin verwahrte. Sie ging zu ihrem Tisch zurück, die Katze kuschelte sich in ihren Arm. Helen brach einen Riegel der Schokolade ab. Die Katze schnupperte daran und begann mit spitzer, gieriger Zunge zu schlecken. »Na, da haben Sie was Schönes angefangen, Madame, jetzt werden Sie die kleine Grisette nicht mehr los«, sagte Monsieur Fauré, der Eigentümer des ländlichen Gasthofs. Er war gekommen, um Helens Gedeck abzuräumen. »Meine Frau hat die Kleine nämlich mit Milch und Schokolade großgezogen, hat nie etwas anderes angerührt, das kleine Biest.« In diesem Augenblick schlug das Tier seine Krallen in Helens Arm. Helen schrie auf vor Schmerz und schleuderte die Katze mit einer instinktiven Bewegung des Entsetzens von sich. »Na so was!« Ebenso verblüfft wie erschrocken starrte Monsieur Fauré sie an, dann die Katze. »Mon dieu, was hat sie denn? Grisette, was ist denn?« Der große, schwere Mann ging in die Knie und streckte seine Hände nach dem Tier aus. Hochgebuckelt, das graue Fell gesträubt, mit den Krallen den Boden aufscharrend, das Maul aufgerissen, begann die Katze jammernd
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zu miauen. Es waren fast Schreie, Schreie wie in jener Nacht von den Siam-Katzen Romeo und Julia. Helen war aufgesprungen und preßte unwillkürlich die Hände auf die Ohren. »Madame, was hat sie denn? Was haben Sie ihr da gegeben?« »Schokolade, Sie sehen es doch selbst!« Der Körper des Tieres spannte sich, das Fell färbte sich merklich dunkler und war plötzlich naß, als habe jemand einen Kübel Wasser darübergeschüttet. »Mein Gott, was hat sie denn?« murmelte der Mann. »Louise«, schrie er dann, »Louise, so komm doch her!« Seine Frau stürzte aus dem Haus. Die beiden jungen Männer in den hohen Anglerstiefeln folgten ihr neugierig. Sie alle umstanden verblüfft, dann entsetzt die Katze, deren Flanken zitterten. Die Katze hörte nicht auf, diese fast menschlichen Schreie der Agonie auszustoßen, machte zwei, drei unsichere Sätze und brach dann zusammen, Schaum vor der spitzen Schnauze. Die Augen zuckten, die Läufe streckten sich. Noch einmal fuhren die Krallen hervor, spreizten sich und scharrten den Boden auf. Und dann war alles vorbei. Grisette war tot. Noch immer starrten alle auf das Tier. Sie waren sprachlos, nicht fähig, etwas zu sagen oder zu tun. Helen spürte, wie sich ihr Magen zusammenkrampfte, wie sich Kälte und Leere in ihrer Brust ausbreitete. Sie empfand das Entsetzen als körperliche Qual. »Warum haben Sie das getan, Madame?« fragte schließlich die Frau. Tränen rannen über ihre Wangen, sie wischte sie mit zitternder Hand weg. »Was hat Ihnen das Tier denn Böses getan?« »Aber ich habe es doch nicht mit Absicht getan«, sagte Helen, »ich habe dem Tier doch nur von der Schokolade zu fressen gegeben.« Der eine der beiden jungen Männer – er war blond und rundschädelig, seine Augen waren blaßblau und hatten den etwas verschwommenen Ausdruck der Kurzsichtigkeit – streckte die Hand zögernd aus, nahm die Schokolade auf und roch daran.
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»Sie riecht bitter«, sagte er. »Es ist Mandelschokolade«, sagte Helen. »Sie muß verdorben sein.« »Ich hole den Tierarzt«, sagte die Frau. »Ich will wissen, woran meine Grisette gestorben ist.« Sie lief ins Haus. »Ich hätte selbst davon gegessen«, sagte Helen, »ich habe sie erst vor ein paar Tagen in Zürich gekauft. Ich habe immer Schokolade bei mir, wenn ich mit dem Wagen unterwegs bin. Ich…« Sie brach ab. »Gibt es ein Laboratorium in Besançon, wo ich die Schokolade untersuchen lassen kann?« »Nicht nötig, Madame«, sagte der junge, blonde Mann, »ich habe einen Freund, der studiert Chemie. Wenn Sie wollen…« »Ja«, sagte Helen, »bitte, lassen Sie ihn die Schokolade untersuchen.« Die Gesichter um sie verschwammen, sie konnte plötzlich nichts mehr richtig erkennen. Haltsuchend griff sie nach dem Tisch und ließ sich auf den Stuhl sinken. »Sie haben die Schokolade selbst gekauft, Madame?« fragte der andere junge Mann. Seine Augen waren sehr hell und sehr kühl. Augen, wie Doktor Savant sie hatte. »Ja«, murmelte Helen. »Und Sie sagen, Sie wollten sie selbst essen?« »Ja, natürlich.« »Madame, warum haben Sie die Schokolade erst in der Mitte durchgebrochen und der Katze dann von den mittleren Rippen zu fressen gegeben?« »Eine Angewohnheit von mir – nichts weiter.« Und im gleichen Augenblick sah sie nicht mehr die beiden jungen Männer, sah nicht mehr den schon älteren, großen, schweren Mann, dem der ländliche Gasthof gehörte, sah nicht mehr den im Tod erschlafften Katzenkörper, sondern einen lachenden Raoul, der sich darüber lustig machte, wie sie Schokolade aß. »Du bist wie ein mißtrauisches, neugieriges Kind, das erst genau wissen will, ob auch wirklich Mandeln drin sind.« Er hatte die Schokolade vertauscht. Er mußte sie vergiftet haben.
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»Madame, bitte, regen Sie sich nicht so sehr auf, bitte, es ist – ja nur ein Tier. Es hätte ja viel schlimmer kommen können.« Monsieur Fauré berührte beruhigend ihren Arm. Erst jetzt merkte Helen, daß sie am ganzen Körper bebte und ihre Zähne aufeinanderschlugen, wie im Schüttelfrost. »Die Katzen – die Nacht der Katzen…« »Was sagen Sie da, Madame?« »Nichts, nichts«, murmelte sie erstickt. Sie bekam kaum noch Atem. »Madame, Sie sollten ins Haus gehen«, sagte Monsieur Fauré. »Es wird kühl hier draußen, wir bekommen bestimmt noch Regen.« Er nahm ihren Arm und führte sie in den Gasthof. Hinter sich hörte sie die gedämpften Stimmen der beiden jungen Männer. Sie spürte ihre verwunderten oder auch skeptisch-prüfenden Blicke in ihrem Rücken. »Ich glaube, ich gehe auf mein Zimmer«, sagte Helen. »Sie können mich ja rufen, wenn der Arzt kommt.« »Beruhigen Sie sich, Madame«, sagte Monsieur Fauré, »es war ja nur ein Tier.« Nur ein Tier. Nur eine Katze. Aber sie selbst hätte es sein können. Hätte es sein sollen. So war es geplant gewesen. Der Tod von Romeo und Julia. Die sonderbaren Dinge, die danach geschehen waren, die sie in den Wahnsinn oder besser noch in den Selbstmord treiben sollten. Und warum? Nur um an ihr Geld zu kommen. Deswegen hatte Raoul sie geheiratet. Nur deswegen. Ihre Vernichtung, ihren Tod hatte er von Anfang an geplant. Und es sollte nach Möglichkeit auch noch wie Selbstmord aussehen, in geistiger Umnachtung begangen. Sogar einen Zeugen für ihre Verrücktheit gab es. Einen Zeugen, dem alle Welt Glauben schenken würde.
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Dr. Savant. Ein renommierter Psychiater, zu dem Raoul sie geschickt hatte. Auch das war nur ein Schachzug gewesen. Seit Avignon wußte sie all dies. Aber erst jetzt begriff sie das Ausmaß dessen, was man ihr hatte antun wollen. Erst jetzt wurde ihr bewußt, wie skrupellos, wie grausam Raoul sein mußte, um einen solchen Plan der Vernichtung eines Menschen in die Tat umzusetzen. Und ihn hatte sie geliebt. Es war nicht einmal einen Monat her, und sie hatte in seinen Armen gelegen und vor Glück kaum zu atmen gewagt. Sie hatte ihren Mörder geliebt. Jetzt haßte sie ihn, und sie wußte, daß sie sich an ihm rächen mußte. Ganz persönlich an ihm – nicht durch die Hand des Gesetzes, denn was bedeutete das schon? Nein, sie selbst würde ihn das Grauen lehren, die Furcht vor dem Tode. Sie mußte ihn so quälen, wie er sie gequält hatte. In dieser Nacht, in diesem stillen, so ländlich idyllisch gelegenen Gasthaus am Ufer des Doubs reifte ein makabrer Plan in Helen. Und sie war entschlossen, ihn in die Tat umzusetzen. Helen stand im Schatten der Mauer des Terrassenkamins. Sie konnte Raouls Studio in ihrem Haus voll überblicken. Er saß am Schreibtisch, das Gesicht ihr zugewandt. Er telefonierte, rauchte, und seine schöne, schmale Hand führte gelassen die Zigarette zum Mund. Sein Gesicht war ernst, die grauen Augen nachdenklich. Es war ein so klares, so offenes Gesicht, daß Helen unwillkürlich dachte: Wie kann man ihm nur mißtrauen? Wie kann er so schlecht sein, so grausam, wie ich ihn kennengelernt habe? Helen wartete, bis er den Hörer aufgelegt hatte und seinen Sessel ein wenig drehte. Er nahm eine Zeitschrift auf und begann zu lesen. Helen glitt lautlos vor und öffnete die Fenstertür. »Guten Abend, Raoul«, sagte sie. Sein Kopf fuhr hoch. Seine Wangen verloren alle Farbe.
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»Helen!« Es war ein erstickter Aufschrei. Aber sofort bekam Raoul sich auch schon wieder in die Gewalt. Er sprang auf, kam auf sie zu und umarmte sie. »Helen, wo warst du denn? Mein Gott, ich habe eben noch herumtelefoniert. Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht.« Wie gut du Komödie spielen kannst! Aber sie sagte es nicht, sie ertrug seinen Kuß, ertrug seine Umarmung und machte sich dann mit einer gelassenen, kaum unfreundlichen Bewegung frei. »Wo warst du? Nun sag doch schon!« verlangte er. »Irgendwo und nirgends. Bin ein bißchen durch die Gegend gefahren.« Sie legte das Kopftuch ab, schüttelte ihr Haar, ging zum Barschrank und nahm sich einen Cognac. »Und wie geht es dir?« fragte sie. »Gut, danke. Viel Arbeit. Wie es einem halt so geht.« Sie sah, wie Raoul unsicher wurde und sah die Verwirrung in seinem Blick. »Ich möchte eine Party geben«, sagte sie, »oder vielmehr ein kleines Essen.« »Für wen?« »Ach, nur für uns vier.« »Für wen? Ich verstehe nicht«, sagte Raoul. »Helen, ist das wieder eine von deinen Ver…« Er verstummte und biß sich auf die Lippen. »Sprich es nur aus«, sie sah ihn lächelnd an, »eine von meinen Verrücktheiten? Ach, Raoul, weißt du, ich leide vielleicht ein wenig unter Gedächtnisschwäche, das mag ja sein, wenn ich so an die letzten Wochen und Monate denke. Aber wir wollen es doch nicht dramatisieren, nicht wahr?« »Wen willst du einladen?« fragte er und zündete sich ungeschickt eine Zigarette an. Helen sah ihm spöttisch zu. »Warum bist du denn so nervös, mein Lieber?« »Ich bin nicht nervös«, fuhr er auf. »Mir scheint, du hast gar nicht mit meiner Rückkehr gerechnet.« »Natürlich hab’ ich das. Ich konnte mir nur nicht erklären, wo du hingefahren warst. Deshalb meine Nervosität. Das ist ja wohl nur natürlich, nicht wahr?«
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»Ich möchte May-lin und Doktor Savant morgen abend zum Essen hier sehen«, sagte Helen. »Unterrichte sie davon. Ich möchte, daß sie dabei sind, wenn ich dir etwas sehr Wichtiges mitzuteilen habe.« Sie wartete Raouls Reaktion nicht ab und ging hinaus in ihr Zimmer. Sie schloß die Tür hinter sich ab, ließ die Jalousien vor den Fenstertüren herunter, ging dann ins Bad und sicherte auch hier Tür und Fenster. Schließlich ging sie zu Bett und war wenige Minuten später fest eingeschlafen. Am nächsten Morgen wartete sie, bis Raoul das Haus verlassen hatte und ins Werk gefahren war. Erst dann stand sie auf. Sie rief ihn gegen Mittag an. Er sagte ihr lediglich, daß Savant und May-lin die Einladung dankend angenommen hätten. Sie lachte und sagte, sie finde das fabelhaft und schnitt ihm wieder jede Antwort ab, indem sie rasch den Hörer auflegte. Der Abend kam, und Helen hatte das Essen bereitet und festlich den runden Tisch im Speisezimmer gedeckt. Ebenso festlich wie an jenem Abend, als Raoul Armand und May-lin mitgebracht hatte, um später zu behaupten, sie habe deren Besuch nur geträumt. Es gab ein klares Steinpilzconsommé, danach Canard au Vin mit zarten grünen Bohnen und abschließend eine Schokoladen-Mousse. Auf die letztere verwandte Helen besondere Sorgfalt. Savant und May-lin erschienen zusammen um Punkt acht Uhr. Helen begrüßte sie wie lang vermißte Freunde. Sie reichte einen Gin Fizz als Aperitif und bat gleich zum Essen. Raoul war als einziger deutlich nervös. Sein Blick glitt unstet von einem zum anderen. Er machte ein wenig zu laute, zu gewollt fröhliche Konversation. Es wurde ein sehr schweigsames Mahl. »Ich hoffe, Sie werden das Dessert genießen«, sagte Helen, als die die hohen Kelchgläser auftrug, gefüllt mit dem Schokoladenschaum. »Mandelschokolade mit frischer Creme geschlagen. Es ist eine ganz besondere Spezialität von mir.« »Was für eine vorzügliche Köchin du doch bist«, lobte Raoul. »Wir haben seit einiger Zeit kein Mädchen mehr, müssen Sie wissen«,
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wandte er sich an Dr. Savant. »Meine Frau macht den ganzen Haushalt allein.« »Ich habe Renée vergrault«, ergänzte Helen lächelnd. May-lins schwarze Lackaugen glitzerten. »Vergrault?« fragte sie. »Wie macht man so was?« »Indem man tote Katzen in das Bett des zu Vergraulenden legt. Ach, wissen Sie, Renée war sowieso nichts wert; sie log und stahl.« »Helen, bitte«, murmelte Raoul. »Aber was ist denn, mein Lieber. Es stimmt doch. Oder glaubst du, auch das hätte ich mir eingebildet?« »Wissen Sie«, sagte sie in leichtem Plauderton, »man hat mir seit einiger Zeit ja eine Menge so seltsamer Dinge nachgesagt, daß ich mich nun entschlossen habe, diesem meinem schlechten Ruf endlich einmal gerecht zu werden.« Sie schwieg einen Moment lang. Die Becher mit der SchokoladenMousse waren geleert. Sie sah Raoul, May-lin und Dr. Savant an. »Und deshalb«, fügte sie sanft hinzu, »habe ich mir soeben erlaubt, euch alle zu vergiften.«
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8 Es war beklemmend still in dem kleinen, runden, mit dunkelgrünem Moiré und weißen, französischen Möbeln ausgestatteten Speisezimmer. Die Kerzen flackerten; nur das Zischen, mit dem das Wachs verbrannte, war zu hören. »Ja, ich habe die Schokoladencreme vergiftet«, sagte Helen. »Es ist ein Gift, dessen Wirkung ziemlich bald einsetzt. Ihr werdet ein Gefühl der Hitze empfinden, das vom Magen ausgeht. Eure Hände werden sich klamm anfühlen und schweißig und ihr werdet eine seltsame Taubheit in den Fingerkuppen spüren.« Sie sah Raoul an; er rieb seine Fingerspitzen gegeneinander, sein Gesicht war von Angst bis zur Unkenntlichkeit entstellt. »Spürst du schon etwas, mein Lieber?« fragte Helen lächelnd und wandte sich an May-lin: »Wie steht es mit Ihnen, meine Liebe? Spüren Sie schon die Hitze und die Kälte, und sehe ich recht?« Helen hob die Hand, berührte May-lins Schläfe, »das ist nicht nur Angstschweiß, meine Liebe.« Das Mädchen zuckte zurück, als habe sie ein giftiges Insekt gestochen. »Nicht nur Ihr hübsches Gesicht wird sich mit Schweiß bedecken«, fuhr Helen leichthin fort, »sondern Ihr ganzer Körper, dessen Freuden Raoul ohne Zweifel oft genossen hat. Schade eigentlich – wenn man so hübsch ist wie Sie –, daß Sie so jung sterben werden.« »Helen, geht das nicht zu weit?« fragte Dr. Savant. Er war aufgestanden. Er zündete sich eine Zigarette an, aber auch seine Hände waren nicht ganz ruhig. »Wieso?« fragte Helen in sanftem Ton. »Glauben Sie mir etwa nicht? Aber ich scherze nicht. Auch Sie werden bald die ersten Symptome spüren. Sie, der ohne Zweifel an dem Komplott gegen mich beteiligt ist, werden doch nicht verschont!« »Ich hatte keinen Anteil daran«, sagte Dr. Savant. »Wenn ich Schuld habe, dann ist es die, daß ich das Ganze nicht ernst genug genommen habe.«
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»Ich kam zu Ihnen in die Praxis, Doktor, um Hilfe zu finden. Aber was gaben Sie mir? Nur beruhigende Worte. ›Regen Sie sich nicht auf, sagten Sie, behalten Sie die Nerven, alles wird sich aufklären, vertrauen Sie mir.‹« Helen wandte sich an Raoul, der ebenso wie May-lin mit dem elenden Ausdruck der Angst in seinem fahlen, jetzt ganz und gar nicht mehr anziehenden Gesicht dasaß. »Ja, ich habe Dr. Savant vertraut, aber auch dir, Raoul. Am allermeisten dir. Ich habe erst in Avignon glauben können, daß du es vom ersten Tag unserer Ehe an nur auf mein Geld abgesehen hattest. Und zwar auf alles, auf mein ganzes Vermögen. Dabei hättest du nur ein einziges Mal das Testament meines Vaters zu lesen brauchen. Nach meinem Tod fällt das gesamte Vermögen an eine Stiftung. Warum nur genügte es dir nicht, im Wohlstand zu leben? Und Sie May-lin, Sie waren Raoul eine willige Komplizin, nicht wahr? Vielleicht sogar das Hirn seines Plans? Ihr wolltet mich in den Wahnsinn treiben. Aber ihr wußtet genau, daß ich so lange bei Verstand bleiben würde, um Schluß zu machen, wenn es keinen anderen Ausweg mehr gab. Und dann dauerte es euch zu lange, nicht wahr?« May-lin begann zu wimmern. Sie preßte die Hände auf ihren flachen Leib in dem weißseidenen Shiftkleid. »Schon einmal versuchtet ihr, mich zu vergiften, mit einem Pilzomelett, nicht wahr, Raoul? Aber ich brach alles wieder aus, ja, ich tat genau das, was man in solchen Fällen tut. Ich trank eiskalte Milch und steckte den Finger in den Hals.« »Hör auf!« schrie Raoul. Er war mit einem Satz aufgesprungen und um den Tisch herumgestürzt. Seine Hände umkrallten Helens Kehle und preßten ihr den Atem ab. »Hör auf, du Bestie, du gemeines…« Dr. Savant riß ihn zurück. Er gab Raoul einen Handkantenschlag gegen den Hals, der ihn durch das Zimmer schleuderte. Raoul prallte gegen die Wand, sackte langsam, beinahe lächerlich langsam, zu Boden und blieb regungslos auf dem Gesicht liegen. »Und wessen Idee war es, den Stahlrahmen vor meiner Schlafzimmertür zu lösen, so daß er wie eine Guillotine herabsauste und mich fast tötete?«
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»Nicht meine«, wimmerte May-lin, »meine nicht.« »Und ich fuhr sogar noch nach Avignon in dem Glauben, dort das Rätsel lösen zu können, warum man Raoul durch mich zu treffen versuchte. Ich glaubte immer noch daran, daß er durch mich das Opfer einer späten Rache werden sollte. In Avignon erfuhr ich, daß er nicht einmal Raoul heißt, sondern Jean, Nachname unbekannt, daß er in der Legion war, Geiselerschießungen vornahm und deswegen vors Kriegsgericht sollte. Auf der Rückfahrt fütterte ich eine kleine unschuldige Katze in einem Gasthof am Doubs bei Besançon mit der Schokolade, die ich wie immer in meinem Handschuhfach mitführte. Nur – diesmal hatte Raoul die Schokolade vergiftet, und die kleine unschuldige Katze starb an dem Gift, das für mich bestimmt war. An einem Nervengift, das, in winzigen Dosen genommen, heilend wirkt, in größeren Dosen zu Übelkeit, Angstzuständen, Erbrechen und langer Krankheit führt, in noch größeren Dosen zum Tod. Ein Gift, das aus Ihrer Heimat stammt, May-lin, und das heute zu Heilzwecken in der Psychiatrie verwandt wird.« »Du hast es genommen, du hast es getan?« Savant beugte sich über den Tisch, die Hände um die Kante gekrampft. Seine Gelenke wurden weiß. Auch ihm lief der Schweiß übers Gesicht. »Du hast das getan?« flüsterte er. »Womit habe ich das verdient, sag mir, May-lin, womit habe ich das verdient?« Er starrte May-lin an, deren Gesicht, seiner Schönheit beraubt, alt war. Ein gelblicher Schädel nur noch unter einem Wust schwarzen Haars, das seinen Glanz verloren hatte, schwarzglitzernde Augen, die der Verzweiflung, dem Nichtbegreifenkönnen Savants mit Verachtung begegneten. Dann waren die Augen wieder undurchdringlich. May-lins Gesicht wirkte wie eine gelbe Katzenmaske. »Warum hast du das getan?« flüsterte Savant, »warum? Habe ich dich nicht beschützt, habe ich dich nicht genug geliebt?« »Du warst bequem«, sagte sie, »du kamst gerade zur rechten Zeit. Das ist alles.« »Du hast mich erpreßt, und ich habe dir vergeben, du hast meine Klienten erpreßt, und ich habe es in Ordnung gebracht und dir verge-
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ben; du hast mir geschworen, daß du es bereutest, daß du es nie mehr tun wolltest.« »Ich hab’ es für ihn getan. Ich hab’ es doch nur für Raoul getan«, wimmerte May-lin. Sie krümmte sich jetzt unter Schmerzen. Helen sah es, wie sie alles andere sah. Sie sah, wie Savants Liebe zu diesem Geschöpf starb, sich in Haß verwandelte und in Abscheu gegen sich selbst. May-lin stand auf und schwankte. Mit eckigen Bewegungen, nicht mehr graziös, nicht mehr leicht und schwebend, schleppte sie sich zu Raoul. Sie kniete neben ihm nieder und hob seinen Kopf in ihren Schoß. »Raoul«, flüsterte sie, »Raoul, hör mich. Ich bin es doch, ich, deine kleine May-lin.« »Nun, Doktor, wie gefällt Ihnen dieses Melodrama?« fragte Helen. Auch er hatte jetzt Schmerzen. So sollte es ja auch sein. Auch er preßte die Hand gegen den schmerzenden Leib. Auch er bewegte sich mit einer Eckigkeit, die in krassem Gegensatz zu seiner sonstigen Geschmeidigkeit stand. Seine Augen verengten sich, während er Helen anblickte. »Ich habe Schmerzen«, sagte er. »Natürlich.« Helen zuckte die Achseln. »Sie wollen wirklich drei Menschen töten?« »Sie wissen, daß es kein Gegenmittel gibt, nicht für dieses Nervengift.« »Ich habe immer an Ihre Vernunft appelliert«, sagte Savant. »Ich hätte auch das mit Raoul für Sie in Ordnung gebracht. Ich war schon dabei. May-lin hatte mir versprochen, sich von ihm zu trennen. Unsere Flugtickets liegen zu Hause in meinem Schreibtisch. Es hätte noch alles gut werden können. Ich habe nur auf Ihre Rückkehr gewartet. Ich brauchte nur noch den einen Beweis, daß Raoul Bertram mit jenem Jean identisch ist, der heute noch von der französischen Sûreté gesucht wird, um ihn der Gerechtigkeit zu übergeben. Ich hätte Ihr Vertrauen nicht enttäuscht, Helen.« »Aber Sie hätten May-lin geschont, ausgerechnet sie, die an allem schuld ist.«
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Savant sagte nichts, er wandte sich ab. »Ich will nicht sterben«, wimmerte May-lin, »Raoul, ich will nicht sterben.« Plötzlich hatte Helen genug von ihnen, plötzlich mußte sie sich zwingen, nicht einfach hinauszulaufen, wegzulaufen, irgendwohin, nur fort. Aber sie blieb sitzen, blieb an diesem Tisch sitzen, den sie selbst mit Sorgfalt wie für gute Freunde zum Abendessen geschmückt hatte. Raoul bewegte sich drüben auf dem Boden. Seine Arme und Beine zuckten krampfhaft. May-lin schrie leise auf. »Er kommt zu sich«, sagte Savant mit deutlicher Verwunderung, und dann, noch ungläubiger: »Meine Schmerzen lassen nach!« »Natürlich«, sagte Helen kalt, »ich bin keine Mörderin. Ich wollte nichts weiter, als euch allen einen Schrecken einjagen. Ich wünsche, daß in fünf Minuten niemand mehr hier ist.« Sie stand auf und ging hinaus, ohne eine Antwort abzuwarten. Helen schloß sich in ihrem Schlafzimmer ein. Sie machte kein Licht, saß auf dem breiten Bett, plötzlich sehr müde, und empfand nichts. Keinen Triumph, keine Befriedigung. Sie saß einfach da, nur in dem Wissen, allein zu sein. Sie dachte an den kleinen Gasthof im Tal des Doubs, dachte an den jungen Chemiestudenten namens Frédéric, dachte an sein frisches, unbekümmertes Jungengesicht. »Sie wollen ein Gift, das kein Gift ist, Madame?« hatte er skeptisch und ernst gefragt. »So ist es.« Und sie hatte ihm erzählt, was geschehen war: von Romeo und Julia, den so grausam getöteten Siamkatzen, von Paris und Avignon und den Versuchen, sie in den Wahnsinn oder den Selbstmord zu treiben. Schließlich von dem Gift, an dem Grisette gestorben war, das ihr, Helen, gegolten hatte. So absurd dies alles war, es hatte dennoch den reinen Klang der Wahrheit. Und sie hatte Frédéric gesagt, daß sie deshalb die persönliche Rache wollte, die Rache der Angst, wie sie selbst sie in den vergangenen Monaten wieder und wieder hatte erdulden müssen.
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Aber es war eine Rache geworden, die jetzt nur schal und bitter schmeckte. Helen schlug die Hände vors Gesicht und begann leise und verloren zu weinen. »Raoul«, sagte May-lin zur gleichen Zeit. Sie stützte ihn und half ihm, sich aufzurichten, »Raoul, wir müssen nicht sterben. Es war nur ein Scherz.« Sie klammerte sich auf dem Weg zum Wagen an ihn. »Hörst du, es wird noch alles gut. Es ist doch egal, daß wir das Geld nicht bekommen haben, nicht wahr? Es ist doch egal!« Sie erreichten den Wagen. Raoul öffnete die Tür. »Laß mich zufrieden«, sagte er. »Geh zu deinem Gehirndoktor. Ich habe die Schnauze voll.« Er gab May-lin einen Stoß, so daß sie zurücktaumelte. Aber sie warf sich vor und umklammerte Raouls Schultern mit ihren Händen. »Raoul, nimm mich mit, du mußt mich mitnehmen. Du kannst mich doch nicht im Stich lassen.« Er stieß sie noch einmal von sich. Sie lief um den Wagen herum, riß die andere Tür auf und stieg ein. Raoul zögerte kurz, dann stieg auch er ein und schlug die Tür zu. Er ließ den Motor des Wagens aufröhren. Die Scheinwerfer erfaßten Dr. Savant, der aus dem Haus stürzte, während der Wagen zurücksetzte und dann aus der Einfahrt kurvte. Savant stand mit hängenden Schultern da und starrte dem Wagen nach. Ein Mann, von seiner eigenen Schwäche geschlagen. Dann ging auch er zu seinem Wagen und fuhr davon. Er hatte mehr als nur May-lin verloren. Er hatte auch die Achtung vor sich selbst verspielt. Dr. Savant fuhr nach Hause. Er trank sonst nie, aber an diesem Abend leerte er eine Flasche Cognac. Und doch war ihm, als werde er immer nüchterner. Er saß an seinem Schreibtisch. Vor ihm lagen die Haarnadeln aus grüner Jade, die May-lin so geliebt hatte. Er dachte an jene ersten
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Wochen mit May-lin. Sie war ein kleines, anschmiegsames Tier gewesen, voller Zärtlichkeit. Sie sagte, sie liebe ihn, sie sagte, es werde nie einen anderen Mann geben als ihn. Aber wenn er davon sprach, daß sie heiraten sollten, erstarrte sie in seinen Armen und ihre Augen wurden ausdruckslos. »Ich will dir kein Unglück bringen«, flüsterte sie dann, und er hielt es für eine Marotte, hielt es für eines dieser sprunghaften, abergläubischen Vorurteile ihrer Rasse. Dann begann er zu bemerken, daß sie ihm Geld stahl. Er tolerierte es und fragte nicht einmal, wofür. Zu sehr war er ihr verfallen, als daß er die Chance hätte eingehen wollen, May-lin zu verlieren. Und er tolerierte es sogar noch, als er erfuhr, daß sie ihn mit Raoul betrog. »Er ist ein alter Freund«, schluchzte May-lin, als Savant sie zur Rede stellte. »Ich liebe ihn nicht mehr. Es ist nur einmal geschehen. Bitte, glaube mir doch.« Und er glaubte ihr, weil er es wollte. Dann kam Helen in seine Praxis, jung, klug und schön, eine Frau, wie er sie sich gewünscht hatte, bevor es May-lin gab. Savant wollte ihr helfen. Er glaubte, daß er das Komplott um Helen zerreißen und May-lin trotzdem behalten könnte. Welch ein Narr er gewesen war! Er hob das Glas zum Mund und trank. Der Cognac brachte keine Erleichterung. Welch ein Narr… Das Telefon klingelte, er griff nach dem Hörer. Er wußte, daß es May-lin sein würde. »Komm«, sagte sie mit einer hohen, fremden Stimme, »bitte komm schnell!« Savant überfuhr eine Kreuzung bei Rot. Einmal, auf dem regennassen Asphalt vor dem Bahnhof, geriet sein Wagen ins Schleudern. Er fing ihn in letzter Sekunde ab. Er parkte den Wagen direkt unter einem Halteverbotszeichen. Dann rannte er quer über die Straße, zu dem Haus, in dem May-lin wohnte. Er besaß den Schlüssel zu ihrer Wohnung.
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Er nahm zwei Stufen auf einmal. Erster Stock. Die Tür des Apartments war nur angelehnt. Er wollte sie aufschieben, doch sie gab nur wenig nach. Er zwängte sich hindurch. Das erste, was er sah, waren May-lins Füße, hell, schmal, wie aus Elfenbein geschnitzt. Sie trug einen langen Samtmantel, so schwarz wie ihr Haar. Sie lag auf dem Boden, dicht hinter der Tür. Den einen Arm weggespreizt, die kindliche Hand in den purpurnen Teppich gekrallt. »May-lin!« Savant kniete neben ihr nieder und drehte sie behutsam auf den Rücken. Vorsichtig und so sanft, als berühre er eine Schlafende. Sie lebte noch. Ihre Augen waren weit, groß und voller verwundertem Schmerz. »Er hat mich verlassen. Er ist auf und davon. Werde ich ihn jetzt nie mehr wiedersehen?« Kaum hörbar die Stimme, ein Wispern nur. Kleine Bläschen traten in ihre Mundwinkel, auf die blassen Lippen und färbten sie hellrot. Ihre Hand hob sich tastend zu ihrer Brust und schon den schwarzen Samt zur Seite. Savant sah die häßliche Einschußwunde. »Raoul hat mich nie geliebt«, flüsterte sie. »Er hat niemanden geliebt, nur sich selbst.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Hilf mir doch«, flüsterte sie, »so hilf mir doch! Es ist so kalt, mir ist so kalt.« Ihre Hand hob sich wieder und krallte sich in seinen Arm. »Du verläßt mich nicht«, flüsterte sie, »du läßt mich nicht allein, nicht wahr?« »Nein, May-lin, ich bleibe bei dir.« »Muß ich sterben? Muß ich jetzt doch sterben?« Er strich ihr über die feuchte, wachsbleiche Stirn. »Ich habe so gern gelebt«, wisperte sie, »ich habe doch so gern gelebt.« Sie begann zu lächeln. Es war schon ein fernes, fremdes Lächeln, das nicht ihm und niemandem mehr galt.
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Ihre Augen erkannten ihn schon nicht mehr. Savant fand den Handschuh in May-lins Wohnzimmer. Er wußte, daß er nur Helen gehören konnte. Sie hatte ihn bei ihrem ersten Besuch bei ihm in der Praxis getragen; er war aus feinstem blauem Glacéleder, mit einem weißen Meandermuster am Rand verziert. Savant durchsuchte das ganze Apartment. Es war verwüstet. Maylin mußte sich bis zuletzt gewehrt haben – bis Raoul sie erschoß. Savant kehrte das unterste zu oberst, die Mordwaffe fand er nicht. Panik überkam ihn. Ein zweites Mal in dieser Nacht raste er wie ein Besessener durch Zürich. Und er, den die Wissenschaft gelehrt hatte, daß es keinen Gott geben könnte, er, der im Krieg und danach und beinahe täglich so viel Grausames und Häßliches erlebte, betete, daß er diesmal nicht zu spät kommen würde. Helens Haus lag dunkel und wie unbewohnt in dem weiten Park. Savant sprang aus dem Wagen, kaum, daß er ihn angehalten hatte. Er lief um das Haus herum. Die Jalousien vor Helens Schlafzimmer waren heruntergelassen. Er schlug mit beiden Fäusten dagegen. »Helen!« schrie er. »Helen, so öffnen Sie doch!« Aber sie antwortete nicht.
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9 Helen saß in ihrem Schlafzimmer auf dem Bett. Regungslos. Im Dunkel, an das sich ihre Augen schon gewöhnt hatten. Sie lauschte Savants Stimme, wie sie zuvor Raoul gelauscht hatte. Raoul, der geschworen hatte, daß alles nur ein Mißverständnis war. Raoul, der schwor, daß sie noch miteinander glücklich werden könnten, wenn sie es nur wollte. »Helen, May-lin ist tot«, sagte Savant draußen vor dem Fenster. »Raoul hat sie umgebracht. Helen, wenn Sie können, so antworten Sie doch!« Ich lebe, dachte sie, ich lebe. Aber er hätte auch mich getötet, ich weiß es, er hätte mich auch jetzt noch getötet, wenn es ihm gelungen wäre. »Helen!« rief Dr. Savant. Sie hörte die Verzweiflung in seiner Stimme. Soll er doch verzweifelt sein! Sollen sie doch alle vor Verzweiflung den Verstand verlieren! Mir ist es egal! »Helen, bitte, ich muß Ihnen etwas geben! Helen, ich weiß doch, daß Sie da sind. May-lin ist tot, Raoul hat sie ermordet. Helen, wenn Sie antworten können, bitte, tun Sie es!« »Gehen Sie fort«, sagte sie. »Ich muß Sie sprechen, bitte.« Seine Stimme klang mit einemmal wieder ruhig, fast gelassen. »Kommen Sie morgen wieder.« »Es muß jetzt sein.« »Bitte, lassen Sie mich ein. Ich fürchte, daß Raoul zurückkommt, ich fürchte…« »Er war schon hier.« »Helen, geht es Ihnen… ich meine, sind Sie unverletzt?« »Was interessiert es Sie?« »Ich muß mit Ihnen reden.« Warum eigentlich nicht.
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Es war im Grunde genommen so gleichgültig wie alles andere auch. Helen stand auf, ging zur Terrassentür und drückte den Knopf der Jalousie, die sich surrend hob. Savant trat rasch über die Schwelle. Er war blaß, aber vollkommen beherrscht. »Ich bringe Ihnen diesen Handschuh«, sagte er. »Er lag in May-lins Wohnung. Ich wollte nicht, daß Sie mit in die Untersuchungen hineingezogen werden.« »Kommen Sie«, sagte Helen, »gehen wir in die Bibliothek.« Er folgte ihr wortlos. »Etwas zu trinken?« fragte sie. »Nein, danke.« »Nehmen Sie doch Platz.« Er setzte sich in einen der Ledersessel. »Darf ich rauchen?« »Natürlich.« Seine Augen waren gerötet und seine Wangen fahl und eingefallen. »Raoul hat May-lin getötet?« fragte Helen. »Ja.« »Haben nicht vielleicht Sie es getan?« »Nein.« »Zu feige?« »Vielleicht.« »Genau wie ich.« Helen zuckte mit den Schultern. »Ja, Raoul kam noch einmal zurück. Ich hätte die Polizei rufen können, aber ich tat es nicht. Wie ähnlich wir uns doch sind – Sie und ich.« Sie sah Savant spöttisch an. »Ähnlich in unserer Schwäche. Und in unserer Dummheit. Wir wollten nicht wahrhaben, was um uns geschah, nicht einmal wahrhaben, was man uns antat, wie man uns betrog.« »Wo ist er hin?« fragte Savant. »Raoul?« Helen zuckte wieder mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Irgendeinen Schlupfwinkel wird er haben. Vielleicht bei seinem Freund Armand in Avignon, vielleicht in Paris. Es interessiert mich nicht.« Das Läuten des Telefons schnitt ihr die Worte ab.
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Sekundenlang sahen sie sich an, zweifelnd, verwundert, zu einer stärkeren Reaktion nicht mehr fähig. Dann ging Helen zum Schreibtisch und nahm den Hörer auf. »Hallo?« »Frau Bertram?« »Ja, am Apparat.« »Frau Bertram, ich habe leider eine schlechte Nachricht für Sie…« Helen wartete und sagte nichts. »Sind Sie noch da?« »Ja.« »Es handelt sich um Ihren Mann.« »Er ist verunglückt?« »Ja, mit dem Wagen.« »Ist er – tot?« »Ja«, sagte die fremde Männerstimme. »Er ist vor mir auf der Landstraße die Böschung hinunter…« Helen legte den Hörer auf. »Raoul ist tot«, sagte sie, »und wie wird es nun weitergehen?« Da waren Blumen aus Eis, immer mehr Blumen aus Eis. Sie rankten sich aus einer kohlschwarzen Erde, reckten blutrote, azurblaue und jadegrüne Köpfe in gleißendes Neonlicht. Da waren Berge aus Eis, gelbgezackt wie Drachenrücken, unbezwingbar. Sie irrte durch die Blumenwildnis, von dem unbezähmbaren Verlangen befallen, sie zu pflücken. Die Stiele brachen klirrend, zerschnitten ihre Hände, die Arme und rankten sich an ihr empor. Blumen aus Eis. Nein, es war Glas. Glas, das aus den Händen ihres Vaters zu bizarren Gestalten wuchs. Es waren riesige Hände, von tiefdunklen, wulstigen Adern durchzogen, und sie formten das zischend heiße Glas in Katzenköpfe und Schlangenköpfe und zu flachen Mäulern von Krokodilen. Sie hörte die Stimme ihres Vaters.
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Glas ist die reinste, klarste Materie, die es gibt. Glas ist für mich wie ein Schluck Quellwasser. Wie der erste Sonnenstrahl nach einem düsteren Regentag. Glas ist ein Wunder dieser Erde. Sie biß gierig in eine leuchtend rote Frucht aus Glas, und es knirschte zwischen ihren Zähnen. Es verbrannte ihr den Gaumen. Du wirst daran ersticken, sagte eine andere Stimme, du wirst an deinem Reichtum noch ersticken. Auch Raoul hatte jetzt ein Gesicht aus Glas, und seine Augen waren so kalt. Sie las nichts als ihren Tod darin. Ich möchte leben, sagte sie. Bitte, laß mich doch noch ein bißchen leben. Das Neonlicht verglühte, es wurde dunkel um sie her. Sie watete durch Schlamm aus geschmolzenem Glas, siedendheißem, geschmolzenem Glas. Nur die Berge sah sie noch, die gelbgezackten Drachenberge am Horizont. Sie wußte, sie mußte sie erreichen. Sie wußte, sie mußte dorthin gelangen. Nur warum, wußte sie nicht. Raoul, rief sie, Raoul, wo bist du? Aber nur ihre eigene Stimme hallte dumpf in ihrem Kopf wider. Dumpfer, dröhnender Klang. Wie von Glocken? Nein, Motorengeräusch. Ein Wagen kam auf sie zu, aus der Schwärze, aus dem Nichts. »Machen Sie doch das Fenster zu!« Das war eine ganz klare, aber fremde Stimme. »Das ist ja wieder mal ein Lärm heute morgen…« Und damit wurde Helen wach. Sie tauchte aus dem Alptraum auf, der sie umfangen hatte. Sie sah, daß sie in einem weißen, schmucklosen Raum lag, in einem Krankenhaus. Ein schmales, ernstes Gesicht war über sie geneigt. Schmale, ernste Augen sahen sie an. Eine warme, trockene Hand legte sich um ihr Handgelenk.
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»Können Sie mich erkennen, Madame?« fragte die klare, fremde Stimme. »Ich bin Dr. Herwig.« Dr. Herwig? Nie gehört. Sie wußte es ganz genau. »Ich kenne Sie nicht«, sagte sie und wunderte sich, wie normal ihre Stimme klang. Das junge, ernste Gesicht lächelte. »Natürlich nicht, Sie waren sehr krank.« »Seit wann?« »Seit ein paar Tagen.« Es war zu leicht dahingesprochen, um wahr zu sein. »Sie hatten einen Schock, eine leichte Gehirnerschütterung, aber jetzt geht’s Ihnen schon wieder viel besser, nicht wahr?« »Ich habe Durst«, sagte Helen, »und Hunger.« Dr. Herwig lachte leise, fast amüsiert. »Solche Patienten haben wir gern. Ich werde Ihnen gleich etwas zu essen bringen lassen.« Er richtete sich auf, tätschelte ihre Hand, beruhigend, Zuversicht gebend. »Wer hat mich hierhergebracht?« fragte Helen. »Dr. Savant«, sagte er. Helen drehte das Gesicht zur Wand und schloß die Augen. Savant. Kam sie denn nie von der Vergangenheit los? Sie hörte Schritte. Der junge Arzt kam noch einmal zu ihr zurück. Er legte etwas auf den Nachttisch neben die blaßrosa Nelken, die dort standen. »Er bat mich übrigens, Ihnen diesen Brief zu geben.« Helen antwortete nicht. Sie hörte den sich entfernenden Schritt und das Klappen der Tür. Dann war es still. Sie las den Brief drei Tage später. Ich kann Sie nicht um Verzeihung bitten, schrieb Savant. Ich wage es nicht. Ich habe auch nicht den Mut, Sie wiederzusehen. Noch nicht. Aber ich glaube, daß Sie wissen möchten, was an jenem Abend geschah. Als Sie die Nachricht von Raouls Tod erhielten, wurden Sie ohnmächtig. Sie stürzten. Ich war nicht rasch genug, Sie aufzufangen.
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Ich brachte Sie sofort in die Klinik. Man sagte mir, daß Sie nur eine leichte Gehirnerschütterung davongetragen hätten. Ich berichtete dem Arzt, Dr. Herwig, was sich zugetragen hatte. Ich wünsche Ihnen alles Gute, Helen, und ich hoffe, daß wir später einmal, wenn wir beide vergessen haben, einander wieder begegnen können. Ihr Robert Savant. Helen las den Brief viele Male. In Savants Schrift fand sie die Ruhe wieder, die Stärke, die sie für seine besten Eigenschaften gehalten hatte. Er hatte viele Fehler begangen – als Arzt und als Mensch. Aber sie auch. Sie hatten sich beide eine Zeitlang von Leidenschaft blenden lassen. Aber vielleicht konnten sie es eines Tages vergessen. Vielleicht.
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