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DAS BUCH Während Bhealfa immer mehr zwischen die Fronten der widerstreitenden Mächte Rintarah und Gath Tampor gerät, verlassen zahlreiche Rebellen das Land und verschanzen sich auf der Diamantinsel. Einst eine Ferienkolonie, bietet sie den Flüchtigen jedoch nur wenig Schutz, zumal in den Gewässern rund um die Insel der berüchtigte Pirat Vance lauert, der schon bald einen brutalen Angriff unternimmt. Allein der Kampfkraft Reeth Caldasons verdanken die Rebellen ihr Überleben. Vance zieht sich zurück - fürs Erste. Noch während der Siegesfeier erfahren sie, dass der tot geglaubte Sänger Kinsel ein Gefangener der Piraten ist. Eilig schmieden die Rebellen einen Plan, ihn zu befreien. Zur selben Zeit spüren die letzten Widerständler auf Bhealfa Kinsels Frau Tanalvah auf. Keiner von ihnen ahnt, dass sie die Verräterin ist, deren Tat Unzählige das Leben kostete. Sie schmuggeln die hochschwangere Tanalvah in die Totenstadt, wo die letzten Rebellen sich auf die Reise zur Diamantinsel vorbereiten. Reeth Caldason begibt sich inzwischen mit seiner Gefährtin Serrah auf die Suche nach der Quelle der Magie, die in einem Labyrinth auf einer mysteriösen Insel verborgen ist. Magisch angezogen bewegt er sich auf die Quelle zu - und erlebt eine ungeheure Überraschung. Doch ihm bleibt kaum Zeit, seinen Fund zu würdigen, denn Rintarah und Gath Tampor bieten eine gewaltige, magisch bewaffnete Flotte auf, um die Rebellen vernichtend zu schlagen. Als sich Vance auf die Seite der Unterdrücker schlägt, scheint der Untergang der Diamantinsel besiegelt ... »Die magische Insel« ist der Abschluss der atemberaubenden Fantasy-Trilogie von Bestseller-Autor Stan Nicholls, deren Bände »Der magische Bund« und »Das magische Zeichen« Millionen von Leser begeistert haben. DER AUTOR Stan Nicholls war viele Jahre in London als Lektor, Herausgeber, Journalist und Kritiker tätig, bevor er sich ganz dem Schreiben von Fantasy-Romanen widmete. Seit dem internationalen Bestseller-Erfolg von »Die Orks« gehört der Brite zur ersten Garde zeitgenössischer Fantasy-Autoren. Nicholls lebt mit seiner Frau in den West Midlands. Weitere Informationen zum Autor unter: www.stannicholls.com
STAN NICHOLLS
DIE MAGISCHE INSEL Roman Deutsche Erstausgabe WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN Titel der englischen Originalausgabe QUICKSILVER TWILIGHT Deutsche Übersetzung von Jürgen Langowski Das Umschlagbild malte Geoff Taylor Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100 Das für dieses Buch verwendete FSC-zertifizierte Papier München Super liefert Mochenwangen. Deutsche Erstausgabe 05/2006 Redaktion: Angela Kuepper Copyright © 2006 by S. J. Nicholls Copyright © 2006 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH Printed in Germany 2006 http://www.heyne.de Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN-10: 3-453-53025-X ISBN-13: 978-3-453-53025-6
DIE MAGISCHE INSEL ist in liebevollem Gedenken Eileen Costelloe, John Griffiths, Nick Reynolds, Barbara Shrestha, Annie Brich und
Daniel O'Grady gewidmet. Es wäre schön, wenn ihr damit aufhören würdet - mir gehen allmählich die Freunde aus.
WAS BISHER GESCHAH Vor langer Zeit wurde das magische System der bekannten Welt vom ausgestorbenen Volk der Gründer erschaffen, ursprünglich war die Macht ihrer Magie unermesslich groß. Gegenwärtig dient die Magie als eine Art Technologie, als Instrument der Unterdrückung und sogar als offizielles Zahlungsmittel. Sie zeigt auch den sozialen Status an. Zu ihren vielen Manifestationen, die allgemein als Zauber bezeichnet werden, gehören zugleich künstliche Lebensformen. Die verfeindeten Imperien von Gath Tampoor und Rintarah sind die dominierenden Zivilisationen der bekannten Welt. Beide wachen eifersüchtig über ihre weit verstreuten Protektorate. Der Inselstaat Bhealfa war in seiner Geschichte wechselweise beiden Reichen angegliedert und wird im Augenblick von Gath Tampoor beherrscht. Der Regent Prinz Melyobar, eine Marionette des Reichs, hält den Tod für ein Lebewesen und betrachtet ihn als seinen Erzfeind. Der Prinz hat einen von Magie angetriebenen Palast bauen lassen, der niemals stillsteht, um so dem Schnitter zu entgehen. Andar Talgorian, der kaiserliche Gesandte aus Gath Tampoor, hat die Aufgabe, sich mit Melyobars Verblendung auseinander zu setzen und dafür zu sorgen, dass den Wünschen der Kolonialherren Genüge getan wird. 7 Opposition wird gegen die beiden Imperien laut; als Reaktion auf deren Brutalität und Ungerechtigkeit hat sich eine Widerstandsbewegung gebildet. Die Regimegegner werden vor allem von den undurchschaubaren PaladinClans bekämpft, einer mächtigen militaristischen Organisation, in die nur eintreten darf, wer von den Paladinen abstammt. Die zynischen Clans sehen keinen Widerspruch darin, ihre Dienste sowohl Gath Tampoor als auch Rintarah anzubieten. Der Oberste Clanchef Ivak Bastorran ist ein besonders bösartiger Vertreter seiner Gattung. Allerdings verblassen seine Bemühungen neben der Grausamkeit seines Neffen, Konkurrenten und Nachfolgers Devlor Bastorran. Ein Dorn im Auge ist ihnen Reeth Caldason; er gehört dem verstreuten Volk der Qalochier an, die unter Heuchelei und Pogromen stark zu leiden hatten. Als einer der wenigen, die das Massaker an seinem Stamm überlebten, sinnt Caldason auf Rache. Auch sucht er seit Jahrzehnten Heilung für ein geheimnisvolles Leiden, das ihn in Tobsuchtsanfälle stürzt und ihm lebhafte, bizarre Visionen eingibt. Caldason freundet sich mit dem Waisenjungen Kutch Pirathon an, einem jungen Zauberlehrling, der Reeths Ablehnung der Magie, die in seiner Kultur etwas völlig Alltägliches ist, schockierend findet. Die beiden lernen den radikalen Politiker Dulian Karr kennen, eine der führenden Gestalten des Widerstands. Karr lässt durchblicken, der Bund, ein illegaler Orden von nicht lizenzierten Magiern, besitze möglicherweise das nötige Wissen, um Caldason von seinem Leiden zu befreien. Sein Angebot, für Reeth den Kontakt zum Bund herzustellen, führt letzten Endes dazu, dass Reeth und Kutch sich den Aufständischen anschließen. Serrah Ardacris, eine Agentin des berüchtigten Rates für Innere Sicherheit, befehligt eine Art Todesschwadron der Regierung, die gegen Banditengruppen in Rintarahs Hauptstadt eingesetzt wird. Als der tollkühne Sohn eines hohen Beamten während eines Einsatzes fällt, wird Serrah die 8 Schuld zugeschoben. Sie wird unter Druck gesetzt, ein Geständnis abzulegen; ihre Vorgesetzten schrecken nicht einmal davor zurück, Serrahs Schmerz über den Verlust ihrer Tochter Eithne auszunutzen, um zu bekommen, was sie wollen. Eithne starb mit gerade einmal fünfzehn Jahren an einer Überdosis Ramp, einer starken illegalen Droge. Kurz vor dem Zusammenbruch wird Serrah von einer Zelle des Widerstands gerettet und schafft es, nach Bhealfa zu fliehen. Trotz ihrer Macht beherrschen die Reiche nicht die ganze Welt. In den von Barbaren bewohnten Einöden im Norden haben sie praktisch keinen Einfluss. In diesem wilden, unwirtlichen Gebiet, wo noch Stammesfürsten herrschen, macht seit einiger Zeit ein mächtiger Kriegsherr von sich reden. Zerreiss, von seinen Leuten auch als der Mann bezeichnet, der von der Sonne fiel, besitzt eine geheimnisvolle Kraft, die ihm hilft, immer größere Landstriche zu erobern. Die Qalochierin Tanalvah Lahn, eine Prostituierte mit staatlicher Zulassung, hat ihr Leben lang in den Bordellen von Rintarah gearbeitet. Tanalvah verteidigt sich gegen einen Kunden, der ihre beste Freundin ermordet hat, und tötet den Mann unbeabsichtigt. Sie fürchtet Vergeltung, nimmt die beiden kleinen Kinder ihrer Freundin mit und flieht nach Bhealfa. Dort hilft ihr der Pazifist Kinsel Rukanis, ein berühmter klassischer Sänger, der den Widerstand unterstützt. Beide treffen auf Serrah, die sie gegen Agenten der Regierung verteidigt und dabei mehrere Männer tötet. Kinsel bringt Tanalvah und Serrah mit dem Widerstand in Kontakt. Reeth Caldason, Kutch Pirathon und Dulian Karr nehmen Verbindung mit Phönix auf dem Anführer des Bundes, der ein Bruchstück der Gründermagie benutzen kann, um sein Äußeres beliebig zu verändern. Dort begegnen sie auch Quinn Disgleirio, einem Angehörigen der Bruderschaft der Gerechten Klinge)' Dieser eigentlich längst untergegangene Kriegerorden wurde wieder ins Leben gerufen und kämpft nun für Bhealfas Unabhängigkeit. Der Widerstand, der
9 Bund und die Bruderschaft der Gerechten Klinge bilden den Vereinigten Revolutionsrat. Karr erklärt, der Rat habe das Ziel, einen Freistaat aufzubauen. Caldason ist nahezu unsterblich, sein Alterungsprozess ist stark verlangsamt. Er hat keine Ahnung, warum dies so ist. Der Bund glaubt, die Gründer hätten einen Hort des Wissens hinterlassen, den sie die Quelle nennen. Niemand weiß, welche Gestalt die Quelle annimmt, doch sie wird gewöhnlich mit der Legende der Clepsydra in Verbindung gebracht, bei der es sich um einen Artefakt handeln soll, der die Äonen bis zum Tag des Untergangs misst. Die Quelle könnte dem Widerstand eine mächtige Waffe gegen die Reiche in die Hand geben und vielleicht auch Caldason heilen. Er beschließt, sie zu finden, wird aber durch verschiedene Ereignisse immer wieder daran gehindert. Auch Kutch entwickelt eigenartige, unvermutete Fähigkeiten. Er besitzt die äußerst seltene Aufklärergabe. Aufklärer können die falschen Vorspiegelungen der Magie durchschauen und Illusion von Wirklichkeit unterscheiden. Phönix bietet an, den Jungen in der richtigen Anwendung dieser Fähigkeit zu unterrichten, doch Kutch stellt bald fest, dass er Caldasons schreckliche Visionen teilen muss. Kinsel und Tanalvah werden Geliebte und richten sich mit den Kindern in einem Haus ein. Doch Tanalvah macht sich Sorgen, weil Kinsel mit seiner Arbeit für den Widerstand ein großes Risiko eingeht. Ihre Befürchtungen bewahrheiten sich, als Devlor Bastorran sie beide als Angehörige des Widerstands identifiziert. Prinz Melyobar plant unterdessen, die gesamte Bevölkerung Bhealfas auszurotten. Er hat die Absicht, den Tod zu isolieren und ihm die Menschenmassen zu nehmen, in denen er sich verbergen kann. Heimgesucht von ihren Schuldgefühlen wegen des Todes ihrer Tochter und aufgewühlt durch eine Prophezeiung in einem Tempel, unternimmt Serrah einen Selbstmordversuch. 10 Derweil veranlassen die Aktivitäten des Widerstands die Behörden, ihrerseits den Druck zu verstärken. Die Paladine bekommen freie Hand und nutzen ihren Freiraum auf brutale Weise aus. Der Standort für den geplanten Rebellenstaat wird gefunden, zuerst wird die Idee aber von vielen als zu bizarr abgelehnt. Batariss, eher unter dem Namen Diamantinsel bekannt, ist eine heruntergekommene Ferieninsel. Sie gehört dem ehemaligen Piraten Zahgadiah Darrok, der auf einer magisch gesteuerten Scheibe fliegt, nachdem er in der Auseinandersetzung mit dem rivalisierenden Piraten Vance beide Beine verlor. Darrok willigt ein, die Insel gegen eine große Menge Gold der Regierung zu verkaufen, welches der Widerstand rauben will. Tanalvah überredet Kinsel, ein kostenloses Konzert für die Armen zu geben. Während dieses Ereignisses verhaftet Devlor Bastorran in Begleitung seines neuen Adjutanten Lahon Meakin den Sänger. Kinsel wird des Verrats angeklagt und vor Gericht gestellt. Im Laufe seines persönlichen Feldzugs gegen Caldason schaltet Devlor die Symbiontin und Meuchelmörderin Aphri Kordenza ein, die Caldason töten soll. Die Symbiontin, die auch als Verschmolzene bezeichnet wird, trägt ihren Zwillingsbruder, ein magisch erzeugtes Wesen namens Aphrim, in ihrem Körper. Aphrim ist fähig, sich aus Aphris Körper zu lösen und eigenständig zu handeln. Die Gewässer um die Diamantinsel werden von Piraten unsicher gemacht, zu denen auch der berüchtigte Kingdom Vance gehört. Er war dafür verantwortlich, dass Darrok seine Beine verlor, und nun muss der Widerstand gegen diese neue Bedrohung kämpfen. Als gegen\ Kinsel verhandelt wird, stellt Tanalvah fest, dass sie schwanger ist. Serrah erfährt zu ihrem Schrecken, dass Kommissar Laf fon, Leiter des Rates für Innere Sicherheit und der Mann, 11 der sie foltern ließ, nach Bhealfa kommt und am Verfahren gegen Kinsel teilnehmen will. Die Gerichtsverhandlung ist eine reine Propagandaveranstaltung, und Kinsel wird wie erwartet schuldig gesprochen. Er wird zur Sklavenarbeit auf einer Galeere verurteilt, was einem Todesurteil gleichkommt. Als der Kriegsherr Zerreiss seinen Einflussbereich vergrößert, werden beide Imperien auf ihn aufmerksam. Ihre gemeinsame Sorge ist, dass er sich mit dem Widerstand gegen die Reiche verbünden und seine geheimnisvollen Kräfte ins Spiel bringen könnte. Nachdem Devlor Bastorrans Plan, Caldason von der Verschmolzenen Aphri Kordenza töten zu lassen, gescheitert ist, versucht er etwas anderes. Auf seinen Befehl hin ermordet Kordenza seinen Onkel Ivak. Devlor erbt die Führungsposition der Clans, und Caldason wird als der Täter dargestellt, woraufhin die Fahndung nach ihm verstärkt wird. Unter Devlors Herrschaft greifen die Paladine noch härter durch als bisher. Caldason reist zur Diamantinsel, um das Gold abzuliefern, das Darrok verlangt hat. Auf dem Weg zur Insel bekommen seine Visionen eine neue (Qualität. Jetzt taucht Zerreiss in ihnen auf. Der Kriegsherr beginnt seinerseits von Caldason zu träumen. Serrah, die inzwischen viel für Reeth empfindet, beschließt, mit Kutch ebenfalls zur Diamantinsel zu reisen, um bei ihm zu sein. Der geheime Exodus des Widerstands soll ohnehin in wenigen Wochen beginnen. Als Kinsel die Qualen fast nicht mehr ertragen kann, wird seine Galeere von Piraten angegriffen, und er fällt Kingdom Vance in die Hände. Kinsels Leben wird nur verschont, weil Vance ihn erkennt und vom Sänger unterhalten werden will. Bastorran verfügt über einen hochrangigen Spion, der ihm Informationen über den Widerstand zuspielt. Auf der
12 Grundlage dieses Wissens führen die Behörden umfassende Razzien in den Verstecken des Widerstands durch. Blutvergießen und Chaos herrschen auf den Straßen. Serrah und Kutch können mit knapper Not auf ein Schiff fliehen. Der Widerstand musste einen Schlag hinnehmen, von dem er sich möglicherweise nicht mehr erholt. Niemand weiß, dass Tanalvah Lahn die Verräterin ist. Dulian Karr, Quinn Disgleirio, Phönix, Tanalvah und die Kinder bleiben in Bhealfa. Sie werden verstreut und müssen demoralisiert fliehen. Dies hinterlässt Spuren bei Karr, der zusammenbricht, schwer erkrankt und mit dem Tode ringt. Caldason, Serrah und Kutch sitzen mit Zahgadiah Darrok auf der Diamantinsel fest. Nur ein paar tausend Rebellen erreichen die Insel. Was ein bevölkerungsreiches, autarkes Land sein sollte, das sich verteidigen kann, ist kaum mehr als ein Trümmerhaufen. Serrah schwört, sich an dem Verräter zu rächen, wer auch immer es sei. Trotz des Chaos ist Caldason immer noch entschlossen, die Quelle zu finden. Als der Herbst in den Winter übergeht, scheint es, als müsse er seine Träume endgültig begraben ... 13 Die Sonne ging auf. Eiskalt und böig wehte der Wind, dichter Nebel hing über dem Meer und löste sich zögerlich auf. Gespenstisch kreisten Möwen über der Küste einer Insel, deren Umrisse sich langsam aus dem Dunst herausschälten. Das Schiff pflügte durch die Nebelschwaden. Es hatte drei Masten, war gepanzert und trug keinerlei Hoheitszeichen. Zwei Begleitschiffe stampften dahinter. Sie waren kleiner, aber nicht weniger gut bewaffnet. Auf den Decks der drei Schiffe drängten sich Menschen an der Reling. Eine armselige Flotte kam ihnen von der Insel entgegen, um die Angreifer zu stellen. Es waren nur einige Zweimaster in Begleitung kleinerer Schiffe. Sie trugen grüne Banner mit einem Skorpion darauf und stellten keine Gegner für die drei Piratengaleonen dar, die sich der Insel näherten. Als der Nebel sich lichtete, war heimliches Vorgehen nicht länger möglich. Die drei Kriegsschiffe und der bescheidene Konvoi der Verteidiger nahmen Fahrt auf. Weißer Schaum stand auf ihren Bugwellen, als sie aufeinander zuhielten. In Rufweite wurden die beiden Schiffsverbände langsamer und drehten bei. Pfeilsalven flogen zwischen den Schiffen hin und her und trafen Balken, Leinwand, Schilde und 15 die Körper der Unglücklichen oder Langsamen. Der Schusswechsel hielt an, bis die Pfeile verbraucht und alle Schiffe wie mit Stacheln übersät waren. Hunderte der hölzernen Schäfte trieben in der kabbeligen See. Dann wurde die magische Munition eingesetzt. Auf den Piratenschiffen wurden Reihen von Luken geöffnet, und dahinter kamen kräftige Eisenrohre zum Vorschein. Von Zaubersprüchen angetrieben, spuckten die Rohre magisch verstärkte Geschosse aus. Salven von Kreischnadeln und Prallstrahlen, Schwärme von Blendgranaten und Trickzündern. Es waren Ausgeburten der magischen Phantasie mit riesigen Reißzähnen und Klauen, kurzlebig, aber tödlich, die zwischen den Verteidigern erschienen und ihr Werk taten. Unmengen von Giftschlangen materialisierten. Donnerschläge zerschmetterten die Masten. Sturzbäche von Säure zerfetzten die Takelage. Die Inselbewohner griffen die Zauber mit neutralisierenden Stäben und magisch verstärkten Klingen an. Sie setzten auf Deck montierte Katapulte ein und feuerten ihre eigene Munition zurück. Zauberladungen ließen in der Luft Schwärme von Fleisch fressenden Vögeln entstehen, die über die feindlichen Schiffe herfielen. Betäubungswürfel explodierten mit ohrenbetäubendem Krachen. Dämonen mit ledrigen Flügeln spuckten Flammen auf die Köpfe der Feinde. Auf beiden Seiten beschworen die Magier fieberhaft schützende Energiefelder herauf - schimmernde, beinahe durchsichtige Blasen, auf denen die Farben spielten. Die Zauber prallten von ihnen ab, auftreffende Sprüche wurden gedämpft. Nach kurzer Zeit flaute das übersinnliche Trommelfeuer ab. Es war nicht weiter überraschend. Alle wussten, dass sich die Angelegenheit im Grunde nur von Angesicht zu Angesicht regeln ließ. 16 Trommeln wurden gerührt. Die Schiffe manövrierten und verkürzten die Distanz, und die bärbeißigen Kämpfer warteten voller Anspannung. Dann prallten die Schiffsrümpfe gegeneinander, die Balken knirschten, und die Matrosen brüllten. Ganze Wälder von Sturmleitern kamen zum Einsatz. Dutzende Enterhaken kreisten an Seilen wie Lassos und wurden geworfen. Wellen von Kämpfern mit Piken, Macheten, Schwertern und Äxten stürmten zur Reling, und das Gemetzel nahm seinen Lauf. Am heftigsten tobte der hektische Kampf auf dem größten Freibeuterschiff. Tapfere oder vielleicht auch sehr verzweifelte Verteidiger hatten sich den Weg an Bord erkämpft und zahlten nun einen hohen Preis dafür. Das blutige, brutale Handgemenge lichtete ihre Reihen sichtlich. Die Inselbewohner waren in der Unterzahl, sie wurden zurückgeworfen und drängten sich dicht zusammen. Wie ein einziges Untier mit vielen Gliedern und starrenden Stacheln aus Stahl standen sie da und erwarteten den tödlichen Angriff. Mordlust im Auge, drangen die Piraten auf sie ein.
Männer riefen. Es waren keine Kampfrufe oder Schmerzensschreie, sondern ein ungläubiges Gebrüll, das sich erhob. Einige deuteten nach oben. Eine Gestalt fiel vom Himmel. Es war ein Mann; er war schwarz gekleidet, und der wallende Mantel gab ihm das Aussehen einer riesigen Fledermaus. Das lange, wehende Haar ließ an einen Raben denken. Die Augen hätten Kohlestücke sein können. Als er auf Deck landete, mit sicherem Schritt wie eine Katze, dachten viele, er müsse eine magische Erscheinung oder ein Dämon sein. Sie irrten sich. Nur ein einziger Mann konnte mit einer so unbändigen Wut kämpfen. Er trug zwei Schwerter, die er sofort einsetzte. Die ersten beiden Freibeuter gingen zu Boden, ihr Bauch war im Nu aufgeschlitzt und die Brust durchstochen. Er griff be17 reits den Dritten an, als die Meute endlich begriff, wie ihr geschah, und sich gegen ihn wandte. Er zuckte mit keiner Wimper, sondern machte auch den nächsten Gegner mit einem bösen Hieb nieder und stellte sich den Feinden. Doch er schien kaum bemüht, Freund und Feind zu unterscheiden. Auch die Verbündeten mussten sich mit eiligen Schritten vor seinen tödlichen Klingen in Sicherheit bringen. Sein wilder Angriff schenkte der eingekesselten Gruppe der Inselbewohner neuen Mut, wenngleich viele, die ihn nicht erkannten, sich nicht völlig sicher waren, ob er wirklich auf ihrer Seite kämpfte. Oder auf überhaupt irgendeiner Seite, abgesehen von seiner eigenen. Er bot den Anblick eines Menschen, der von wilder Raserei getrieben war. Die Piraten gingen dazu über, ihre Beile nach ihm zu werfen. Er bewegte sich anmutig und wich mit beinahe verächtlicher Leichtigkeit aus. Zweimal lenkte er fliegende Beile mit der flachen Seite seiner Schwerter ab. Eines grub sich ins Deck, das zweite prallte ab, traf den Schenkel eines Piraten und spaltete den Knochen. Mit verdoppelter Wut setzte der schwarz gekleidete Krieger den Angriff fort. Brüllend und wild um sich hauend, griff er die überrumpelten Piraten an, die sich zur Flucht wandten. Nur ein kühneres Trio stellte sich ihm noch in den Weg. Er griff sie frontal an. Der Erste, der sterben sollte, trug ein schmieriges weißes Stirnband, das sich schnell blutrot färbte. Ein Stich ins Herz erledigte den Zweiten. Der Dritte starb an seiner aufgeschlitzten Luftröhre. Als der Kämpfer sich nach neuen Zielen umsah, ergriffen die eingekreisten Inselbewohner die Gelegenheit und brachen aus. Unter heftigem Schwerterklirren wurde der Kampf noch brutaler, als er ohnehin schon war. Ein Stück weiter auf dem rot gefärbten Meer erlebte ein anderes Piratenschiff eine ganz eigene Heimsuchung. Auch 18 diese kam von oben. Sie war ähnlich erschreckend, jedoch von ganz anderer Art. Die Mannschaft war in einen heftigen Kampf an zwei Fronten verwickelt. Die Hälfte versuchte, an Bord eines längsseits liegenden Schiffs von der Insel zu gelangen. Die anderen kämpften, um die Inselbewohner davon abzuhalten, das Gleiche mit ihrem Schiff zu tun. Wo die Gegner aufeinander trafen, folgte ein Blutbad. Eine donnernde Explosion ertönte, und eine indigofarbene Flamme blühte direkt vor dem Schiff auf. Splitter flogen durch die Luft, Seile rissen, zuckten wie Peitschen und verletzten die Matrosen. Brackwasser fiel als feiner Schauer aufs Deck. Oben, wo die Flammen aufgeblüht waren, schmorte ein Segel. Ein Objekt schwebte über ihnen und beschrieb unter den bleichen Wolken eine enge Kurve. Es hatte die Form einer Scheibe und schimmerte in den ersten schwachen Strahlen der Morgensonne. Die Klingen schwiegen, und die Kämpfer sahen zu, wie die fliegende Scheibe sich näherte. Bevor sie in Deckung rannten, konnten sie noch sehen, dass jemand rittlings daraufsaß. Die Scheibe schwebte knapp oberhalb der Masten, dann flog sie mit der Geschwindigkeit eines Speers vom Bug bis zum Heck. Als sie das Heck passierte, wo das Steuerruder auf dem erhöhten Ruderdeck vor der Kapitänskajüte stand, ließ der Reiter der Scheibe etwas fallen. Wieder gab es einen ohrenbetäubenden Knall und einen grellen Lichtblitz. Holz flog in alle Richtungen. Als der Staub sich setzte, lag die Brücke in Trümmern. Die Scheibe flog erneut eine scharfe Kurve und begann den Anflug für einen weiteren Angriff. Inzwischen hatten sich einige Piraten an Bord wieder gefasst. Sie schössen Pfeile ab und warfen Speere. Ein oder zwei Pfeile trafen, prallten aber harmlos von der Metallhülle der Scheibe ab. Ein Schiffsmagier setzte einen Energiestoß frei, eine helle 19 Lanze aus bösartigen Partikeln, die in den Augen schmerzte. Der Strahl erfasste den Rand der Scheibe, schlug blaue Funken und ließ sie schwanken wie ein Boot im Sturm. Doch der Fahrer fing sie rasch wieder ab und vollendete die Kehre. Am Bug des Schiffs war eine magische Galionsfigur angebracht. Sie war doppelt so groß wie ein Mann und stellte einen üppigen Frauenkörper dar, der in den einer Hydra überging. Ein halbes Dutzend pendelnde, spuckende Schlangenköpfe entsprangen dem gekrümmten Hals. Bei seinem nächsten Überflug nahm der Reiter auf der Scheibe ebendiese Figur aufs Korn. Wieder sah man ein Objekt fallen; es hätte ein kleiner Rupfensack sein können. Nach der Explosion war von der Figur nur mehr ein rauchender, verkohlter Stummel übrig. Ein einziger baumelnder Kopf war noch zu sehen; die gegabelte Zunge wackelte schwach, und die Magie erschöpfte sich schnell. Die Zerstörung ihrer Galionsfigur erzürnte die Freibeuter mehr als alles andere. Doch sie hatten keine Zeit mehr,
ihrer Wut Ausdruck zu verleihen, denn die Inselbewohner, die sie vernachlässigt hatten, schwärmten erneut auf ihr Schiff. Nicht weit entfernt, auf dem größten Piratenschiff, waren die Explosionen zwar gut zu hören, aber kaum jemand achtete darauf. Die Leute dort waren viel zu sehr mit ihrem eigenen Gemetzel beschäftigt. Auf dem ganzen Schiff kämpften kleine Gruppen gegeneinander, überall auf dem Deck lagen Leichen und Verwundete herum. Niemand hatte den schwarzen Krieger bezwingen können. Seine Wildheit und seine Kraft waren unvergleichlich. Er hatte sich bis zum Kern der Piratentruppe vorgekämpft und ihre Offiziere erreicht. Diese Versammlung trug feinere Kleidung, wenngleich ihre Zauber eher billig waren. Die magisch verstärkten Masken waren grotesk oder Furcht erregend und dämonisch, änderten sich ständig und nahmen immer grässlichere Formen an. Sie sollten die Gegner ein20 schüchtern, doch den schwarzen Kämpfer beeindruckten sie nicht, und er kannte keine Gnade. Ein Gegner war für ihn wie der andere. Er fuhr fort, Schädel zu spalten und Rippen zu zerhacken. Wo Schwerter gegen ihn erhoben wurden, reagierte er mit wilden Attacken, und dort, wo sie nicht erhoben wurden, hielt er es kaum anders. Keiner, der sich ihm in den Weg stellte, wurde verschont, ob er ihn herausforderte oder eigentlich kapitulieren wollte. Er hackte sich durch die Feinde wie ein tollwütiger Geist, in dem sich eine ureigene Art von Wahnsinn mit einer überragenden Meisterschaft im Schwertkampf paarte. Irgendwann gab es keine Klingen mehr, die man bekämpfen musste. Keine Schreie von Sterbenden mehr, kein Flehen um Gnade. Eine Totenstille, die ihren Namen verdiente, senkte sich übers Meer. Der Krieger sah sich mit wilden Augen um und fand keine neuen Gegner mehr. Trotz der Kälte glänzte auf seiner Stirn der Schweiß. Irgendwo ertönten Jubelrufe. Nachdem ihre Anführer geschlagen waren, streckten die noch lebenden Piraten die Waffen. Die Inselbewohner trieben die Gefangenen zusammen und versorgten die Verletzten. Doch obwohl er das Blatt zu ihren Gunsten gewendet hatte, mieden sie den Krieger und warfen ihm nur verstohlene Blicke zu. Er wirkte verloren. Wie betäubt, weil ihm das Ziel genommen worden war. Eines der beiden kleineren Piratenschiffe zog sich mit Schlagseite zurück. Das andere brannte. Die Flammen hatten die Segel erfasst und verwandelten die Leinwand in wehende Ascheflocken. Die Inselbewohner verließen das Schiff und seilten sich auf ihre wartenden Boote ab. Die noch lebenden Piraten sprangen über Bord. Öliger Rauch hüllte das Schiff ein. Die fliegende Scheibe entfernte sich sofort und hielt auf die eingenommene Galeone zu. Der Reiter flog niedrig, damit ihn die siegreichen 21 Inselbewohner drunten sehen konnten. Jubelnd grüßten sie ihn. Dann sah er sein Ziel und sank aufs Deck herunter. Die Scheibe schwebte vor dem schwarzen Kämpfer. Der Reiter glättete seinen Schopf blonden Haars. Auf seinen Wangen klebte Ruß. In seinem hübsch geschnittenen Gesicht fielen vor allem die gewitzten blauen Augen und der sauber getrimmte Schnurrbart auf. Er war athletisch gebaut und hatte breite Schultern und kräftige Arme. Doch seine Beine hingen lahm über der Kante der fliegenden Scheibe. Er wandte sich an den Krieger, der benommen ins Leere starrte und den Fahrer mit seiner Scheibe offenbar noch nicht bemerkt hatte. »Reeth.« Die knirschende Stimme passte nicht so recht zu dem guten Aussehen des Mannes auf der Scheibe. »Reeth!« Er bekam keine Antwort. »Reeth!«, rief er noch einmal. »Kommt zu Euch, Mann! Reeth!« Der Krieger hörte es nicht. Immer noch funkelte der Blutdurst in seinen Augen. Neben ihm hing ein Holzeimer an der Reling. Die Scheibe neigte sich etwas zur Seite, als der Fahrer nach der Kelle griff, die im Eimer hing. Er schöpfte eine Ladung Wasser, drehte sich um und schleuderte sie dem Krieger energisch ins Gesicht. Der eiskalte Guss riss den Mann aus seinem Tagtraum. Er schüttelte den Kopf, dass die Tropfen nur so flogen. Seine Augen funkelten zornig, seine Lebensgeister erwachten, und er machte einen drohenden Schritt nach vorn. »Reeth!«, rief der Fahrer. Seine Scheibe schwankte. »Es ist vorbei! Wir haben gesiegt!« Der Krieger zögerte. »Ruhig«, fuhr der Mann auf der Scheibe besänftigend fort. »Ich bin's, Zahgadiah.« Reeth Caldason hielt inne. Er blinzelte, dann stellte sich sein Blick auf den Mann ein. »Darrok?«, flüsterte er. 22 »Es ist vorbei, Reeth. Ihr könnt jetzt aufhören.« Langsam kam Caldason zu sich und ließ die Schwerter sinken. Er atmete mehrmals schaudernd ein. »Alles in Ordnung?«, fragte Darrok. Caldason nickte. Sein Gesicht verriet nicht, was in ihm vorging. »Ihr seht schrecklich aus. Aber ich will es Euch mal glauben.« Er beäugte den Qalochier. »Wenn jemand weiß, was ein Tobsuchtsanfall ist, dann seid Ihr es.« Caldason ging nicht auf die Bemerkung ein. »Ist es gut verlaufen?« »Seht Euch doch um.«
Erst jetzt schien Caldason die herumliegenden Leichen zu bemerken, von denen nicht wenige auf sein Konto gingen. Immer noch zeigte sein Gesicht keine Regung. »Vance?« »Der war anscheinend nicht dabei.« Caldason betrachtete das brennende Piratenschiff, das sich mit seinem Schwesterschiff entfernte. »Ob er dort drüben ist?« »Das glaube ich nicht. Der Mistkerl ist vorsichtig und bringt sich wenn möglich nicht in Gefahr. Er dürfte allerdings irgendwo in der Nähe sein.« »Wie schade.« Es war seltsam, dass ausgerechnet diese Bemerkung über seine Lippen kam. »Wir wollen dankbar sein für das, was wir haben. Es war eine gute Idee, sie schon auf See zu stellen, Reeth, statt abzuwarten, bis sie angelandet sind.« Der Qalochier ging nicht auf das Kompliment ein. Anscheinend war er in Gedanken schon wieder weit entfernt. »Wir haben dieses Schiff hier eingenommen und ein weiteres zerstört«, fuhr Darrok etwas unwirsch fort, »und wir haben eine Menge Piraten getötet. Das ist doch ein ansehnlicher Erfolg.« Dann sah er sich um und fuhr bedrückt fort: »Wir können es uns aber nicht mehr erlauben, auch 23 unsere eigenen Leute in diesem Ausmaß zu verlieren. Wir müssen einen Weg finden, um ...« »Hört Ihr das?« »Was denn?« »Hört doch hin.« Darrok brüllte, dass die Leute still sein sollten. Die jubelnden Inselbewohner beruhigten sich. Es dauerte einen Augenblick, bis ihnen klar wurde, dass sie jemanden singen hörten. Es kam aus der Ferne, der Wind trieb es heran. Sie hörten genug, um die melancholische Schönheit des Gesangs zu erkennen. Die Worte konnten sie zwar nicht verstehen, aber es war unverkennbar ein Klagelied. »Was, zum Teufel ...« Darrok sah sich um und versuchte, die Quelle des Gesangs ausfindig zu machen. Es war ein wundervoller, reiner, bittersüßer Gesang. Inselbewohner und Gefangene lauschten hingerissen und staunten über den eigenwilligen, berührenden Refrain. »Was ist das?«, fragte Darrok. Caldason schüttelte langsam den Kopf. Darrok deutete auf eine Nebelbank, die sich ein gutes Stück vor dem Strand gehalten hatte. »Es muss von dort kommen.« »Dann müsste Vance dort sein.« »Wollen wir ihn verfolgen?« Caldason überlegte. »Nein. Wie Ihr schon sagtet, es sind genug Leben für einen Tag vernichtet worden. Warum sollten wir riskieren, in einen Hinterhalt gelockt zu werden?« Darrok nickte. Sie lauschten noch eine Weile, dann erstarb der Gesang. Auf dem Schiff kamen die Menschen wieder in Bewegung. »Wir haben unsere Aufgabe hier erledigt«, verkündete Darrok. »Steigt auf, ich bringe uns nach Hause.« Er streckte eine Hand aus. Die Scheibe stieg auf und trug sie zur Diamantinsel. 24 Eine ganze Reihe von Befestigungen diente der Verteidigung der Insel. Schwer bewaffnete Schiffe ankerten in den Zufahrten der Buchten. Auf den Stränden waren Sperrwerke, Netze, Fußangeln und Pfahlgruben verteilt, außerdem gab es einige raffinierte magische Hindernisse. Hinter den Stränden durchkämmten Patrouillen das Unterholz, und auf den Klippen standen Wachtürme. Eine Hand voll Festungen war auf der ganzen Insel verteilt, einige neu gebaut, die meisten auf der Grundlage existierender Gebäude hergerichtet. Die größte Befestigung war zugleich die neueste. Der Bau dieser bislang noch nicht vollendeten Anlage nahm die Rebellen schon seit mehreren Monaten in Anspruch. Die Konstruktion glich der traditionellen Bauweise; im Grunde handelte es sich um mehrere konzentrische Erdwälle, die aufeinander aufbauten und jeweils die dreifache Mannshöhe hatten. Überall dort, wo ein Wall sich zu einem Plateau abflachte und bevor der nächste begann, waren ringsherum tiefe Gräben angelegt, in denen brennbares Material lagerte. Hinter den Gräben erhoben sich steile Wände aus den Stämmen ausgewachsener Bäume, die mit Stacheln bewehrt waren. Die Feste selbst lag oberhalb der Wälle und bestand aus einem mehrere Hektar weiten, ebenen Gebiet. Dort wurden Kasernen und Schlafsäle errichtet, auch wenn die Unterscheidung zwischen Soldaten und Zivilisten kaum sichtbar war, da ohnehin von jedem erwartet wurde, dass er kämpfte. Man hatte Steine hinaufgekarrt und zu Wehrgängen verbaut, die als letzte Verteidigungslinie dienen sollten. Auf einem Dutzend Masten flatterte die Skorpionflagge im böigen Wind. Tausend oder mehr Inselbewohner drängten sich auf den Befestigungen und beobachteten den Verlauf der Seeschlacht. Sie hatten zuerst gejubelt, inzwischen waren sie wieder verstummt. Zwei standen abseits der Menge. Eine war eine hübsche 25
Frau in den besten Jahren. Sie war anmutig und von kräftiger Statur, ohne dabei ihre Weiblichkeit einzubüßen. Das lange, goldblonde Haar war zurückgekämmt, und sie trug die praktische, locker fallende Kleidung einer Kämpferin. Bewaffnet war sie mit einem Schwert und einem passenden Messer mit langer Klinge. Da jederzeit ein Angriff von See her kommen konnte, hatte sie sich außerdem einen Langbogen über die Schulter gelegt und den Köcher umgeschnallt. Ihr Begleiter war höchstens halb so alt wie sie. Das bleiche, jugendliche Gesicht hatte noch nicht ganz die kräftigen Konturen eines Mannes angenommen, und es würde auch noch eine Weile dauern, bis es so weit war. Sein Haar war hellblond, was es seinem spärlichen Bart erheblich schwerer machte, irgendeinen Eindruck zu hinterlassen. Allerdings hatte er durch die ungewohnte körperliche Arbeit eine kräftige Statur bekommen, die sich freilich erst noch festigen musste. Er hielt sich ein magisch verstärktes Fernrohr ans Auge. »Komm schon«, drängte sie. »Du musst doch irgendetwas erkennen können.« »Es ist offensichtlich gut für unsere Seite verlaufen.« »Das war sowieso schon klar. Was ist mit diesem ... mit diesem Geräusch?« Kutch Pirathon reichte ihr das Fernrohr. »Da unten herrscht ein großes Durcheinander. Es kann wer weiß was gewesen sein.« »Nein.« Sie blickte durchs Fernrohr und betrachtete die Szene auf See. »Es war außergewöhnlich, es war unverwechselbar. Und es ... ich weiß nicht, es kam mir irgendwie bekannt vor.« »Vielleicht war es nur der Wind.« »Das glaubst du doch selbst nicht, Kutch.« Sie nickte zur Menge hin, die inzwischen stumm auf den Befestigungen stand. »Die anderen glauben es übrigens auch nicht.« 26 »Also ein magischer Trick der Piraten?« »Es ist schwer einzusehen, was sie mit so einem Trick erreichen wollen.« »Wir haben sie dieses Mal geschlagen. Vielleicht waren sie verzweifelt und ...« »Und was weiter? Und dann haben sie beschlossen, uns etwas vorzusingen?« Kutch gab sich angemessen zerknirscht. Zögernd fragte er: »Geht es vielleicht um etwas ganz anderes?« »Was meinst du?« Jetzt sprudelten die Worte förmlich aus ihm heraus. »Er wird schon zurechtkommen. Reeth kann auf sich aufpassen. Er hat ja reichlich Erfahrung mit Ärger.« Er sah sie schräg von der Seite an und war unsicher, wie sie reagieren würde. Serrah Ardacris musste lächeln. »Du wirst erwachsen, was? Natürlich mache ich mir Sorgen um Reeth. Aber das ist nicht alles. Es gefällt mir nicht, hier festzusitzen, und alles geht schief. Und dann die Überfälle und die Unsicherheit.« Der Bursche nickte energisch. »Aber ich glaube trotzdem, dass das, was wir gehört haben, wichtig war«, bekräftigte sie. »Tja, jetzt hören wir nichts mehr.« Etwas fing seinen Blick ein. Er drehte sich wieder dem Meer zu und zeigte es ihr. »Schau nur.« Darroks fliegende Scheibe kam ihnen entgegen. Aus der Ferne wirkte sie wie ein riesiger schwarzer Vogel, der im Aufwind trieb. Serrah hob das Fernrohr und holte das Bild näher heran. Sie sah Feuer, Wracks und smaragdgrüne Wellen. Dann konzentrierte sie sich auf die Scheibe, die im grellen Sonnenlicht metallisch schimmerte. Sie sah zwei Reiter darauf, einer mit wehendem Haar und einem Umhang, und gab sich keine Mühe, ihre Freude zu verbergen. 27 Auch die Leute auf den Befestigungen bemerkten die Scheibe und begannen wieder zu jubeln. »Lass mich auch mal«, verlangte Kutch. Sie drückte ihm die magisch verstärkte Röhre in die ausgestreckte Hand. Er betrachtete das Schlachtfeld. »Es sieht aus, als hätten wir eine Menge Schaden angerichtet. Es war eine gute Idee, das Drachenblut einzusetzen. Die werden es sich zweimal überlegen, ehe sie uns noch einmal angreifen. Serrah?« Sie hob einen Finger an die Lippen. »Sch-scht!« »Was ist?« »Hör doch.« Alle anderen lauschten schon. Ein Raunen ging durch die Menge, und wieder wurden sie still. Der Wind hatte sich gedreht. Noch einmal hörten sie, was sie schon vorher vernommen hatten, aber dieses Mal war es lauter. Zweifellos handelte es sich um eine menschliche Stimme. Makellos und klar und herzergreifend deutlich. Niemand sprach, und niemand rührte sich, so sehr schlug die Stimme sie in ihren Bann. Schließlich flüsterte Serrah: »Ich bin so dumm. Warum habe ich es nicht gleich erkannt?« Kutch sah sie verständnislos an. »Was denn?« »Erkennst du es nicht?« »Nein.« »Konzentriere dich. Klingt das nicht wie etwas, das du schon einmal gehört hast?«
»Da singt jemand.« »Offensichtlich. Erinnere dich, Kutch. Weißt du noch? Das Konzert in Bhealfa?« Jetzt dämmerte es ihm. »Du meinst doch nicht...« »Ja. Er ist es. Kinsel.« »Ach, hör doch auf.« »Du hast ihn singen gehört. Wie kannst du daran zweifeln?« 28 »Das kann doch nicht sein ...« »Aber wenn er es doch ist?« »Du hast bessere Ohren als ich, Serrah. Aus dieser Entfernung bin ich mir nicht so sicher.« »Vertrau mir, ich habe Recht.« »Aber was macht Kinsel hier? Vorausgesetzt, er ist es wirklich.« »Das weiß ich nicht. Spielt das denn eine Rolle? Er lebt noch, nur darauf kommt es an.« Sie lauschten schweigend und gedankenverloren. Die fliegende Scheibe kam näher und flog so niedrig, dass sie fast die Wellen berührte. »Wir müssen etwas tun«, sagte sie. »Was denn?« »Ihn finden, zum Beispiel. Und genauso wichtig ist es ...« »Ja?« »Wir müssen es Tanalvah sagen.« »Tanalvah?« »Sie hat das Recht, es zu erfahren. Ich weiß, dass es nicht leicht für sie wird, aber wir werden schon einen Weg finden.« »Du vergisst etwas.« Sie drehte sich zu ihm um. »Tanalvah ist mit ziemlicher Sicherheit tot, Serrah.« 29 Die Straßen von Valdarr waren gefährlicher geworden. Vor dem großen Verrat waren die Gesetzeshüter des Imperiums brutal gegen Abweichler vorgegangen, während sie auf das Leben der meisten Bürger, die sich angepasst hatten, kaum Einfluss genommen hatten. Jetzt aber hatten sie die Samthandschuhe ausgezogen und griffen gegen jeden hart durch. Oder vielmehr gegen fast jeden. In den wohlhabenden Vierteln, wo die mächtigen Bürger mit guten Beziehungen lebten, sahen sich die Sicherheitskräfte als Beschützer. In den ärmeren Gegenden neigten sie eher dazu, die Leute zu schikanieren. Notstandsgesetze, Sperrstunden, Razzien und Massenverhaftungen trafen vor allem die Machtlosen und berührten die angesehenen Bürger kaum. Das Ausmerzen des Widerstands und die andauernde Suche der Behörden nach überlebenden Rebellen versetzte die Stadt in Spannung. Es war jedoch ein eigenartiger Bestandteil der Atmosphäre in Valdarr - oder vielleicht der menschlichen Natur ganz allgemein -, dass auch schwierige Zeiten wenig an den Spielen änderten, die die Menschen spielten. Viele reiche Bürger stellten ihren Status zur Schau. Ihre 30 Kleider, ihre Kutschen, ihre schönen Häuser und all die anderen Zutaten spielten dabei eine gewisse Rolle, doch hauptsächlich bewiesen sie ihren Rang durch kostspielige Magie. Sagenhafte Untiere bedienten an ihren Festtafeln, gespenstische Gestalten führten auf den makellos gepflegten Rasenflächen epische Dramen auf, magische Wasserfälle ergossen sich über die prächtigen Fassaden ihrer Villen nach oben und nach unten. Die Armen blieben in ihrem Elend stecken. Wenn sie überhaupt Magie besaßen, dann war es eine sehr gewöhnliche. Vielleicht ein primitiver magischer Spaßmacher, gestohlen oder gefälscht, um ein Kind von seinem Hunger abzulenken. Vielleicht ein magisches Bild als Erinnerungsstück für das mittellose Weib eines Mannes, der von der Wache mitgenommen worden war. Oder, wie an diesem bitterkalten Abend, ein Zauber, der die Gestalt eines Feuers annahm. Die magischen Flammen beleuchteten eine schmutzige Gasse, die zwischen fensterlosen, windschiefen Gebäuden verlief. Sie wirkten durchaus real. Es gab sogar künstliche Funken und das Knacken brennender Scheite, dazu falscher Rauch und der stechende Geruch von brennendem Holz. Doch das Feuer spendete kaum Wärme. Der Zauber war lediglich für Schmuckzwecke gedacht und hielt nicht lange. Dennoch zog er eine Schar von zerlumpten Vagabunden an, die sich über die kleine Wohltat freuten. Sie drängten sich um die Täuschung, streckten zitternde Hände aus und starrten in die Flammen. Eine Frau war unter ihnen, die nicht hierher zu gehören schien. Sie war erst vor kurzem angekommen und hielt sich im Schatten. Sie war besser gekleidet als die anderen. Ihr Haar war pechschwarz und die glatte Haut olivbraun. Die lockere Kleidung konnte die Tatsache nicht verbergen, dass sie hochschwanger war. Sie atmete schwer und sah sich nervös um. Genauso, 31 wie ein gehetztes Tier das nahende Raubtier zu wittern versucht.
Eine Bewegung erregte ihre Aufmerksamkeit. Hinter dem Feuer, ein Stück die düstere Gasse hinunter, tauchten mehrere Gestalten auf. Sie schlurften nicht mit gebeugtem Rücken wie die Wanderarbeiter, sie gingen geordnet, und sie hatten ein Ziel. Die Frau zog sich tiefer in die Schatten zurück. Als die Gestalten den Feuerschein erreichten, konnte man sie erkennen, und die Ängste der Frau bestätigten sich. Die auffälligen roten Tuniken ließen keinen Raum für Zweifel. Die Frau schalt sich eine Närrin, weil sie zu glauben gewagt hatte, sie sei den Paladinen entkommen. Ein Aufruhr brach los. Zerlumpte Landstreicher wurden fortgestoßen. Einige der Männer mit den roten Jacken marschierten mitten durch das künstliche Feuer. Die Flammen spuckten, nahmen alle Regenbogenfarben an und erstarben. Jetzt war die aus vier oder fünf Kämpfern bestehende Patrouille deutlich zu sehen. Die Menschen brachten sich eilig vor ihnen in Sicherheit. Die Frau berührte ihre geweihte Perlenkette und murmelte ein rasches Gebet an ihre Göttin. Dann drehte sie sich um und setzte die Flucht fort. Hinter ihr nahm der Tumult sogar noch zu. Sie hörte Rufe und das schleifende Geräusch, mit dem Schwerter aus der Scheide gezogen wurden. Die Gasse, durch die sie eilte, endete an einer Kreuzung. Links und rechts führten schmale, gewundene Straßen weiter. Vor ihr lag eine größere Straße. In jener Richtung konnte sie Menschen erkennen, doch die Menge war nicht groß genug, um sich darin zu verbergen. Sie entschied sich für die rechte Abzweigung. Nach zwanzig Schritten erreichte sie einen Durchgang, der nicht breiter war als ihre ausgestreckten Arme. Die Gebäude zu beiden Seiten waren hoch und der Himmel voller bleierner Wolken. Sie konnte kaum 32 sehen, wohin sie ging. Bald tappte sie durch einen träge fließenden, eiskalten Bach, bei dem es sich dem Geruch nach um Abwasser handeln musste. Trotz der Kälte schwitzte sie. Die Knochen taten ihr weh, und jeder Schritt war eine Tortur. Doch der Lärm hinter ihr, der an eine Verfolgung gemahnte, hielt sie in Bewegung. Sie erreichte eine weitere Kreuzung. Die abzweigende Gasse führte zu einem winzigen, menschenleeren Platz. Sie hielt sich dicht an den Mauern und kam wenig später in einer etwas breiteren Straße heraus. Sie war von ärmlichen Häusern gesäumt, auf einer Seite stand ein verlassener, vernagelter Stall. Niemand war in der Nähe. Sie blieb stehen und lauschte. Abgesehen von den fernen Geräuschen der Stadt war es still. Ohne Orientierung und völlig erschöpft, wollte sie nur noch einen Platz finden, an dem sie sich ausruhen konnte. Sie hoffte, dass ihr niemand gefolgt sei. Alle Türen, die sie sehen konnte, waren geschlossen, die meisten Fenster mit Läden gesichert. Die beste Möglichkeit schien noch eine abzweigende Gasse zu bieten, die ihr direkt gegenüberlag. Dort stand ein Haus an der Ecke, vor dem sie einen niedrigen gemauerten Vorsprung sah. Er war eben und so hoch, dass man gut darauf sitzen konnte, und die Gasse war dunkel. Die Hände ins Kreuz gepresst, humpelte sie hinüber. Seufzend ließ sie sich auf ihrer notdürftigen Sitzgelegenheit nieder. Die Kälte des Steins drang rasch durch ihre Kleidung, und sie schauderte. Sie war unendlich müde und freute sich selbst über diese kleine Ruhepause. Doch wann immer sie auch nur kurz innehielt und über ihre Lage nachdachte, waren die Dämonen wieder da und marterten sie. Ihre Gedanken wanderten wie stets zu den Kindern und zu ihrem Mann, den sie verloren hatte. Sie fragte sich, was aus ihnen geworden sei. Dann dachte sie an das Leben, das sie in sich trug. Es belastete sie, was sie im Na33 men derjenigen getan hatte, die sie liebte. Ihr Gewissen ließ sie nicht mehr in Ruhe, Schuld und Furcht waren ihre ständigen Begleiter. Erschöpft schloss sie die Augen. Eine grobe Hand legte sich auf ihren Mund, ein starker Arm umschlang sie. Sie wollte schreien, bekam jedoch keinen Ton heraus. »Schon gut«, sagte der Mann. »Wehre dich nicht, ich werde dir nichts tun.« Die Stimme kam ihr bekannt vor, auch wenn sie nicht sagen konnte, wem sie gehörte. »Keine Angst«, sagte er noch einmal, um sie zu beruhigen. »Ich werde die Hand wegnehmen. Schrei bitte nicht. In Ordnung, Tan?« Als sie ihren Namen hörte, rauschte das Blut eiskalt durch ihre Adern. Sie nickte steif. Die Hand wurde weggenommen, und ihr Besitzer kam zum Vorschein. Sie hätte beinahe vor Schreck geschnauft. »Denk an mein Kind«, flüsterte sie. »Töte mich nicht.« Er sah sie erschrocken an. »Tan, ich bin es doch, Quinn. Ich würde dir doch nichts tun.« Er weiß es nicht. Sie starrte ihn an. Mit seinen knapp dreißig Jahren war er ungefähr in ihrem Alter und kräftig gebaut. Bis auf einen Schnurrbart war er glatt rasiert. Aus dunklen Augen sah er sie aufmerksam an. »Tan?« Sie blinzelte und sagte nur: »Quinn.« »Alles in Ordnung?« »Ja. Ich war ... ich bin nur überrascht, dich zu sehen.« »Wir suchen dich schon seit Monaten, Frau. Wir hielten dich für tot.« »Nein. Ich ... ich bin nicht tot.« »Offensichtlich.« Quinn Disgleirio lächelte. »Und glücklicherweise. Wo hast du nur gesteckt?«
34 Tanalvah Lahn fragte sich, ob er sich verstellte. Vielleicht wusste er es längst und spielte nur Katz und Maus mit ihr. »Hier und dort«, antwortete sie. »Wo immer ich gerade ...« »Ich verstehe. Es war für uns alle eine schwere Zeit. Was ist mit Teg und Lirrin? Wo sind sie?« »Die Kinder sind in Sicherheit. Bei jemandem, dem ich vertraue.« Er war der Mann, der einst darüber nachgedacht hatte, ihren Geliebten zu ermorden. Wie konnte sie ihm vertrauen? »Gut.« Er sah sich auf der Straße um. Es war niemand in der Nähe. »Wie kommt es überhaupt, dass du in dieser Gegend bist?« »Ich hatte Schwierigkeiten.« Es bereitete ihr Mühe, ihre zitternde Stimme zu beherrschen. »Eine Patrouille.« »Oh, ja.« »Die Paladine.« Disgleirio erschrak. »Da hast du dir aber starke Feinde ausgesucht, Tan.« Besorgt sah er sich wieder um. »Hast du sie abgeschüttelt?« »Ich glaube schon.« Tanalvah wünschte, er werde endlich aufhören, Fragen zu stellen. Sie konterte mit einer Gegenfrage. »Bist du allein hier?« »Ich war mit einigen anderen Mitgliedern der Gerechten Klinge zusammen, aber wir haben Schwierigkeiten bekommen und wurden getrennt. Hör mal, bald ist Sperrstunde. Ich bringe dich an einen sicheren Ort. Ich nehme doch an, du weißt nicht wohin?« »Nein.« Sie konnte nichts weiter sagen. »Dann wollen wir aufbrechen.« Er hielt noch einmal inne und sah ihr in die Augen. »Noch etwas.« »Was denn?« »Wie bist du nur auf die Idee gekommen, ich wollte dich töten?« Sie hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte, und war dankbar für die Unterbrechung. 35 Disgleirio packte unvermittelt ihren Arm und zog sie zur Seite. Tanalvah hätte beinahe aufgeschrien. Dann sah sie, was er bemerkt hatte. Auf der anderen Seite der Straße schritt eine Patrouille der Paladine aus der Gasse, durch die Tanalvah geflohen war. Disgleirio zog sie in den Schatten, doch es war zu spät, die Patrouille hatte sie bereits bemerkt. Sie schwärmten aus und kamen zu ihnen. »Geh weg«, sagte sie. »Lass mich hier.« »Du bist verrückt. Ich helfe dir hier heraus.« Er zog das Schwert und schob sich zwischen sie und die anrückenden Paladine. »Verschwinde. Bring dich in Sicherheit.« Tanalvah wich zurück, wie er es verlangte, doch nach ein paar Schritten blieb sie hinter ihm stehen. Sie konnte nicht einmal sagen, was sie daran hinderte zu fliehen. Der Offizier der Patrouille kam, mit der Klinge in der Hand, an der Spitze seiner Truppe heran. »Identifiziert Euch!«, schnauzte er. »Und werft die Waffe weg!« »Meine Waffe steht nicht zur Disposition«, gab Disgleirio gelassen zurück. »Und ich selbst übrigens auch nicht.« »Ihr schützt eine Verdächtige. Tretet zur Seite.« »Das kann ich nicht tun.« »Wir wollen die qalochische Hure«, fauchte der Mann, »und wir werden sie kriegen.« »Dazu müsst Ihr aber erst an mir vorbei.« Der Offizier verzog wütend das bärtige Gesicht. »Es stehen schwere Strafen auf die Behinderung der Gesetzeshüter. Seid Ihr bereit, sie auf Euch zu nehmen?« Disgleirio zuckte mit den Achseln. »Das werden wir dann ja sehen, oder?« Der Offizier verzichtete auf weitere Worte. Als Disgleirio sein Schwert gehoben hatte, stürzte der Paladin schon auf ihn zu. Ihre Klingen prallten gegeneinander, und das stählerne Geklapper von Schlag und Gegenschlag begann. Zuerst setzten beide Kämpfer alles auf eine Karte, und jeder 36 ließ schon in der ersten halben Minute ein Dutzend potenziell tödliche Schläge los. Der Paladin war ein geschickter Kämpfer, und er wusste es. Sein Umgang mit dem Schwert war beinahe makellos. Doch ihm fehlten Disgleirios Energie und Verzweiflung. Disgleirio blockte einen Hieb ab, parierte und versetzte dem Gegner einen Schnitt in den Oberarm. Ein Blutschwall ergoss sich aus der Wunde, und der Offizier taumelte und ließ sein Schwert fallen. Wut und Empörung verzerrten sein Gesicht. Er wich zurück. Seine Männer hatten auf die Fähigkeiten ihres Offiziers vertraut und sich bisher nicht gerührt. Jetzt griffen sie schlagartig ein. Disgleirio zog sich zurück und hätte beinahe Tanalvah über den Haufen gerannt. Etwas unsanft bugsierte er sie tiefer in die Gasse hinein. Ein anderer Paladin schloss zu ihnen auf und schwang wutentbrannt und heftig das Schwert. Ein hitziger Kampf entbrannte, der umso hektischer wurde, da sich auch der Rest der Streife näherte. Disgleirio verzichtete auf jede Eleganz und prügelte wild auf seinen Gegner ein. Einen Herzschlag lang herrschte ein Patt, dann drang einer seiner Schläge durch und verletzte den Paladin am Hals. Es war eine tödliche Wunde. Der Mann stürzte bewusstlos zu Boden und versperrte seinen Kumpanen den
Weg. Vorübergehend herrschte Verwirrung, und der verletzte Offizier stieß Verwünschungen aus. Disgleirio ergriff die Gelegenheit und packte Tanalvahs Handgelenk. »Nun komm schon!« Sie drehten sich um und rannten die Gasse hinunter. Nach zwanzig oder dreißig Schritten erreichten sie eine Ecke und sahen sich um. Alle vier Angehörigen der Patrouille einschließlich des verletzten Offiziers verfolgten sie, und jetzt waren sie voller Rachsucht. Disgleirio sah Tanalvah an. Es war klar, dass sie den Ver37 folgern nicht weglaufen konnten. Sie bogen um die Ecke und rannten weiter. »Was sollen wir jetzt tun?« Sie war schon außer Atem. Er antwortete nicht. »Rette dich. Ich meine es ernst, Quinn.« »Nein.« Sie erreichten das Ende der Gasse. Ein hohes Eisentor versperrte den Durchgang zur Straße auf der anderen Seite. Disgleirio rüttelte an den Stäben. Das Tor war verriegelt. »Ich kann nicht darüberklettern«, flüsterte sie. »Ich weiß.« Er nahm wieder ihre Hand und zog sie in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. Sie erreichten eine tief in einem Hauseingang liegende Tür, die er unterwegs bemerkt hatte. Er drückte dagegen, doch auch diese Tür war verschlossen. Die Streife kam um die Ecke gerannt. Er trat heftig gegen die Tür. Sie stöhnte und setzte Staubwolken frei, gab aber nicht nach. Er sah sich über die Schulter zu den rennenden Rotjacken um. Dann packte er auf beiden Seiten den Rahmen und bearbeitete die Tür mit der Hacke. Holz splitterte, und sie flog auf. Er schob Tanalvah hinein. Drinnen war gerade genug Licht, um zu erkennen, dass es ein baufälliges Haus war. Schutt und Trümmer knirschten unter ihren Füßen. Es roch nach Schimmel. Eine Tür ging vom Flur ab, doch der Boden des Raumes dahinter war eingebrochen. Der einzige andere Weg war eine wacklige Treppe. Disgleirio versuchte die Tür zu schließen, doch er hatte sich vorher zu viel Mühe gegeben, sie einzutreten. Sie hing schief in nur noch einem Scharnier. Ein Paladin kam mit gezücktem Schwert herein gerannt. Disgleirio knallte ihm die Tür entgegen. Der Schwertarm des Mannes wurde gegen den Türrahmen gequetscht. Der 38 Mann schrie schmerzvoll auf. Disgleirio hämmerte weiter gegen die Tür, bis die Waffe und der Besitzer am Boden lagen. »Die Treppe!« Tanalvah stieg hinauf, eine Hand auf den geschwollenen Bauch gelegt. Sie bewegte sich langsam und ungeschickt. Draußen war der Teufel los. Die Überreste der Tür bebten. Disgleirio stemmte sich dagegen und versuchte, die Paladine draußen zu halten. Es ging nicht lange gut. Holz splitterte, als die Verfolger die Tür einfach zerfetzten. Disgleirio sprang auf die erste Treppenstufe und stellte sich ihnen. Schulter an Schulter drangen zwei Paladine ein. Er sah ihren Kameraden hinter ihnen in der Gasse knien und sich den gebrochenen Arm halten. Der blutende Anführer brüllte immer noch. Tanalvah hatte das obere Ende der Treppe fast erreicht. Ihre Knöchel waren weiß vor Anstrengung, als sie das unebene Geländer packte. Noch ein paar Schritte, dann hatte sie einen kleinen Absatz erreicht, und dann musste sie um die Ecke und die nächste Treppe hoch. Falls sie überhaupt so weit kam. Disgleirio deckte ihren Rückzug. Der Flur war zu eng, um beiden Paladinen gleichzeitig Raum für einen Angriff zu bieten. Sie ruckten hin und her, bis einer die Führung übernahm, während sein Partner versuchte, übers Geländer zu springen. Disgleirio schlug nach dem Mann und versperrte ihm diesen Zugang, während er sich die Treppe hinauf zurückzog. Der erste Paladin blieb ihm auf Schwertlänge auf den Fersen, der andere ließ vom Geländer ab und folgte ihm. Der Offizier wartete in der zerstörten Tür und trieb seine Männer an. Weitere Gewalttaten lagen in der Luft und ließen nicht lange auf sich warten. Die erste Rotjacke rannte los und griff treppauf mit vorgestrecktem Schwert an. Disgleirio schlug die Waffe zur Seite und entging dem Stich. Ein Dut39 zend grimmiger Schläge folgten. Disgleirio war dank der Höhe im Vorteil und ritzte dem Paladin mit der Schwertspitze das Gesicht auf. Gleich darauf führte er einen wuchtigen Schlag von oben nach unten, der dem Mann den Schädel spaltete. Der Paladin stürzte gegen seinen Kumpan. Beide taumelten zurück und landeten in einem wirren Haufen am Fuß der Treppe. Der Offizier begann wieder zu toben. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, rannte Disgleirio die Treppe hoch und holte Tanalvah ein. »Weiter, weiter!«
Sie warf ihm einen schmerzerfüllten Blick zu. Er nahm ihren Arm und schob sie voran. Auf dieser Etage gab es zwei Zimmer, deren Türen offen standen. Sie waren ebenso baufällig wie das untere Zimmer, und die Fenster waren vernagelt. Disgleirio scheuchte Tanalvah zur zweiten Treppe. Der Offizier und der letzte kampffähige Paladin waren ihnen auf den Fersen. Ein grelles blaues Licht zuckte durch die Luft. Disgleirio stieß Tanalvah zur Seite und duckte sich. Direkt über ihren Köpfen begann ein Abschnitt der Wand lichterloh zu brennen. Im Putz erschien ein schmorendes Loch in der Größe einer Faust. Brandgeruch stieg ihnen in die Nase. Als der Offizier erneut den Zauberstab hob, hasteten Disgleirio und Tanalvah zur nächsten Treppe. Wieder zuckte ein kobaltblauer Strahl durchs Treppenhaus. Er schlug eine rauchende Furche in die Wand und ließ ein Stück des Geländers verglühen. Tanalvah kreischte. Disgleirio schob sie um die nächste Ecke. Sie stieg die Stufen empor. Nach ein paar Schritten drehte sie sich um und sah, dass er noch am Fuß der Treppe war und sich flach an die Wand drückte. Er hielt sich einen Finger vor die Lippen und winkte ihr, weiter hinaufzusteigen. Sie zögerte, dann ging sie weiter, während er den Verfolgern auflauerte. 40 Eine kleine Weile geschah nichts weiter. Dann wurde eine Schwertspitze vorsichtig vorgeschoben. Disgleirio spannte sich. Doch es war nicht der Offizier, der auftauchte. Der noch kampffähige Soldat war vorausgeschickt worden. Es war zu wenig Platz für einen Schwertkampf. Die Männer gingen aufeinander los, packten sich bei den Handgelenken und rangen miteinander. Da der Offizier in der Nähe lauerte und sich wahrscheinlich gleich einschalten würde, musste Disgleirio das Handgemenge schnell beenden. Er brachte einen bösen Kopfstoß an; der Griff des Gegners löste sich, und er taumelte rückwärts gegen die Wand. Disgleirio riss einen Dolch aus dem Gürtel und stach ihn dem Paladin in die Brust. Er wartete nicht, bis der tödlich verletzte Mann gestürzt war. Erleichtert stellte er fest, dass Tanalvah schon das oberste Stockwerk erreicht hatte und nicht mehr zu sehen war. Er folgte ihr eilig die Treppe hinauf. Beinahe hätte er es geschafft. Ein Ruck, als hätte ihn ein Esel getreten, warf ihn von den Beinen. Der Offizier hatte einen weiteren Energiestrahl abgeschossen. Disgleirio hatte Glück, denn der Strahl hatte seine Schwertklinge getroffen, die den größten Teil des Aufpralls abgefangen hatte. Doch die Waffe wurde unerträglich heiß, und er musste sie fallen lassen. Seine Handfläche war verbrannt. Es fühlte sich an, als hätte ein Schwärm brennender Nadeln seinen Arm durchbohrt. Er hielt das Messer fest und rannte die letzten paar Stufen hinauf. Tanalvah kauerte am Boden. Sie starrte seine verbrannte Hand an. »Bei den Göttern, du bist verletzt. Was ist...« »Nicht so schlimm«, log er. »Aber jetzt haben wir nur noch das Messer hier.« »Was sollen wir tun?« Er ließ die Frage unbeantwortet und sah sich um. Die41 ses Stockwerk ähnelte den anderen. Mehrere Räume, einer davon ohne Tür, die Fenster verbarrikadiert. Ein paar billige, beschädigte Möbelstücke standen herum. »Quinn.« Sie deutete zur Decke. Dort gab es eine Falltür, die mit einem einfachen Riegel gesichert war. »Ich glaube aber nicht, dass ...« »Warte mal.« Er sah zur Treppe. Bis jetzt war keine Spur vom letzten Paladin. Dann ging er in ein Zimmer und kam mit einem alten Holzstuhl zurück. »Kommst du damit zurecht?« »Vielleicht.« »Nun ja, wir werden es gleich herausfinden.« Er stellte sich auf den Stuhl, streckte sich, schob den Riegel weg und drückte die Luke auf. Droben war der Abendhimmel zu sehen. Die Sterne kamen gerade heraus. »Kannst du ...« Sie nickte. »Ich versuche es.« Sie nahm seine Hand, um sich abzustützen, und stieg mühsam auf den wackligen Stuhl. Wieder sah er zur Treppe. Dort regte sich nichts. »Setz den Fuß hier drauf«, sagte er. »Auf die Lehne. Keine Sorge, ich halte dich fest. Gut. Jetzt den anderen Fuß.« Es dauerte eine Ewigkeit, bis die schwangere Frau durch die Luke aufs Flachdach geklettert war. Keuchend folgte er ihr und knallte die Falltür zu. Es gab keine Möglichkeit, sie zu sichern. Es war kalt geworden, der Atem stand in Wolken vor ihren Mündern. Auf dem Dach bildete sich bereits Eis. Das Dach wurde von einer niedrigen Mauer begrenzt. Das Gebäude war höher war als die Nachbarhäuser zu beiden Seiten. Die anderen Dächer lagen zu tief, um zu springen, auch hinten war der Abstand zu groß. Nicht weit von der Falltür entfernt stand ein aus Ziegeln gemauerter Schornstein auf dem Flachdach. Tanalvah lehnte sich dagegen, während Disgleirio sich nach einem Fluchtweg umsah. 42 Als er die andere Seite des Dachs überprüfte, schrie sie auf.
Die Falltür hatte sich gehoben, und der Offizier war schon halb heraufgestiegen. Er zielte mit seinem Stab. Disgleirio ging sofort in Deckung und landete der Länge lang schmerzhaft auf dem körnigen Asphalt. Mit einem lauten Knall schlug der Strahl in die Wand, vor der er gerade noch gestanden hatte. Der grelle Lichtblitz ließ Mauerstücke in alle Richtungen fliegen. Er war sofort wieder auf den Beinen und rannte in Deckung. Der Offizier war inzwischen ganz aufs Dach gestiegen, zielte und richtete den Stab auf ihn aus. Disgleirio lief im Zickzack und versuchte, irgendwie zum Schornstein zu kommen. Er sah, dass Tanalvah auf der anderen Seite in Deckung gegangen war und sich eng an die Steine presste. Ein greller blauer Blitz fuhr dicht vor ihm über das Dach. Feurige Bahnen entstanden, und die Oberfläche warf Blasen. Teergestank stieg auf. Disgleirio war noch dreißig Schritt vom Offizier entfernt und sah nur eine Möglichkeit. So gut er es im Laufen konnte, warf er das Messer. Der Offizier duckte sich und entging einem Volltreffer, konnte aber nicht ganz und gar entkommen. Das Messer streifte seinen Handrücken und fügte ihm eine Schnittwunde zu. Vor Schmerz ließ er den Stab fallen, der sich überschlug und wegrollte. Er verzichtete darauf, den Stab zu holen, zog stattdessen sein Schwert und ging mit einem Kampfschrei auf Disgleirio los. Da er außer Fäusten und Füßen keine Waffen hatte, konnte Disgleirio nur auf Abstand bleiben. Diese Strategie war nicht sonderlich aussichtsreich. Der Paladin musste ihn nur irgendwo in die Enge treiben. Disgleirio zog sich vor dem angreifenden Mann zurück, der sich jetzt zusätzlich auch noch mit einem Messer bewaffnet hatte. Es gab nicht viel Platz zum Ausweichen, und bald stand Disgleirio mit dem Rücken zu einer niedrigen Wand. Er sah sich rasch in 43 eine Ecke gedrängt. Der Paladin rückte siegesgewiss weiter gegen ihn vor, und trotz seiner Verletzungen verzog sich sein Gesicht zu einem höhnischen Grinsen. »Na, seid Ihr jetzt bereit zu bezahlen?«, höhnte er. Er kam näher, bis er mit erhobenen Waffen direkt vor Disgleirio stand. »Ihr sollt im Bewusstsein sterben, dass ich mich nach Euch mit der Hure befassen werde«, versprach er und holte mit dem Schwert aus. Der Schlag kam nicht. Stattdessen schlug ein Blitz ein. So schien es jedenfalls. Das Schwert über die rechte Schulter gehoben, hielt der Paladin mit einem verwirrten Gesichtsausdruck mitten in der Bewegung inne. Seine rote Tunika schmorte. Ein Loch, so groß wie ein Krug, erschien auf dem Stoff. Orangefarbene Flammen züngelten aus der Brust. Er ließ die Klinge fallen, schrie und taumelte vorwärts. Disgleirio brachte sich in Sicherheit und konnte den ausgestreckten Armen des Paladins knapp entgehen. Dabei sah er die große Wunde im Rücken des Mannes. Der Geruch von brennendem Fleisch war unverkennbar. Der Offizier schwankte an der Mauer, die Flammen griffen auf seinen Oberkörper über. Dann kippte er und stürzte schreiend in die Gasse darunter. Mit gebrochenen, in unnatürlichen Winkeln abstehenden Gliedern blieb er, immer noch brennend, auf dem Pflaster liegen. Tanalvah stand in der Nähe, sie hielt den Stab mit ausgestrecktem Arm und schien benommen. Disgleirio rief sie, und sie erwachte aus dem Tagtraum und ließ den Stab fallen, als bemerke sie erst jetzt, dass sie ihn überhaupt aufgehoben hatte. »Wie ... wie konntest du das Ding benutzen?«, fragte er erschüttert. »Du weißt doch, wie die Magie ist«, sagte sie. »Das Begehren löst sie aus.« Ihre Worte kamen wie aus weiter Ferne. »Mehr braucht es nicht.« 44 Disgleirio atmete tief durch und nahm sich zusammen. Er blickte in die Gasse hinunter. Der Paladin, dem er den Arm gebrochen hatte, war nirgends zu sehen. »Es wird bald Alarm geben«, sagte er. »Wir müssen hier verschwinden.« »Ja.« Ihre Stimme war kaum zu verstehen. »Und vielen Dank, Tan.« Sie nickte nur. Wie sie es sah, hatte sie die Waagschalen der Erlösung höchstens um das Gewicht einer Feder zu ihren Gunsten ausgeglichen. 45 Wie weit ist es noch?«, fragte Tanalvah. »Nicht mehr weit«, sagte Disgleirio. »Verlassen wir die Stadt?« »Nicht ganz. Wir fahren nur bis zum Stadtrand.« Er schien nicht bereit, weitere Erklärungen zu geben. Wahrscheinlich ging er von der Regel aus, dass sie, falls etwas schief ging, auch unter Folter nicht mehr als das verraten konnte, was sie wusste. Sie saßen nebeneinander in einem kleinen Einspänner. Da Tanalvah kaum gehen oder reiten konnte, hatte Disgleirio den Wagen gestohlen, sobald sie den Paladinen entkommen waren. Die Schatten wurden länger, die Sperrstunde war nahe. Er fuhr so schnell, wie er es eben wagte. Das Zentrum Valdarrs lag hinter ihnen, und sie erreichten die Vororte der Stadt. Auch hier sah man überall die Spuren der beiden Reiche, die nacheinander Bhealfa besetzt hatten. Rintarah und Gath Tampoor hatten die Insel jeweils über mehrere Generationen hinweg unterworfen, und ihr am deutlichsten sichtbares Vermächtnis war das
Gemisch der Architektur. Wie es Eroberer eben halten, hatten die Reiche Monumente errichtet, die an ihre Siege und natürlich auch daran erinnerten, wer das Sagen hatte. Und wie es den Reichen entsprach, waren viele dieser Bauwer46 ke überladene Demonstrationen imperialer Macht, vor denen die bescheidenen Gebäude der Einheimischen zwergenhaft verblassten. Wann immer ein Reich das andere verdrängt hatte, waren die Gebäude der Verlierer abgerissen worden, um Platz für neue Konstruktionen zu schaffen, oder man hatte sie angepasst, wie es den Wünschen der neuen Herrscher entsprach. Es war ein Kreislauf, der sich wiederholt hatte, so weit man sich zurückerinnern konnte. Die Invasionen, Kriege und auch der jüngste Bürgerkrieg hatten ihre Spuren hinterlassen. Brandstiftung war in der letzten Zeit populär geworden, und die Nebenwirkungen der magischen Waffen trugen nicht dazu bei, die allgemeine Unordnung zu beheben. Wo die Behörden Widerstandsnester vermuteten, was namentlich für ärmere Bezirke galt, wurden ganze Wohnviertel dem Erdboden gleichgemacht. All dies erschwerte die Orientierung in der Stadt. Aber ob wohlhabend oder verarmt, allen Stadtteilen war eines gemein: Überall wurde Magie im Überfluss eingesetzt. Jetzt, da es dunkelte, kamen die Ausdrucksformen der Magie stärker und besonders spektakulär zum Vorschein. Viel heller als normale Lampen und Kerzen flackerten in der ganzen Stadt unzählige helle Punkte. Es gab grelle Lichter und bunte Kaskaden, es blinkte und funkelte, und gelegentlich kam es zu Ausbrüchen, die an Blitzschläge erinnerten. Die Zahl der magischen Entladungen war überall weitgehend gleich, die Qualität jedoch schwankte beträchtlich. Man konnte den Wohlstand eines Bezirks leicht an der Stärke oder Schwäche der magischen Schauspiele erkennen, und als Disgleirio und Tanalvah auf einen Hügel kamen, wurden sie Zeuge eines besonders bemerkenswerten Beispiels. Vor ihnen lagen zwei direkt benachbarte Bezirke, einer wohlhabend und einer verarmt. Die Magie des Ersteren schimmerte rein und hell, in Letzterem waren nur schwache Funken billiger und gefälschter Zauber zu sehen. 47 Disgleirio wählte die Straße, die zum weniger glücklichen Bezirk führte. Sie waren mehr oder weniger schweigend gefahren, was Tanalvah durchaus gelegen kam. Es gab Themen, über die sie lieber nicht reden wollte, und Fallgruben, in die sie nicht zu tappen hoffte. Jetzt aber beschloss Disgleirio, dass er lieber reden wollte, auch wenn er ganz unschuldig begann. »Wie geht es dir?«, sagte er. »Alles in Ordnung.« »Ist dir die Fahrt nicht zu ruckelig?« »Nein.« »Ich dachte, weil du ...« »Quinn, ich erwarte ein Kind, aber ich bin nicht krank.« Er grinste. »Natürlich.« Sie schwiegen eine Weile. Dann fragte er: »Was hast du eigentlich in den letzten Monaten gemacht, Tan?« Es war eine Frage, die ihr nicht behagte. »Ich bin herumgezogen und habe versucht, die Kinder in Sicherheit zu bringen.« »Wovon hast du gelebt?« »Es ging irgendwie. Eine Weile habe ich nicht lizenzierte Zauber verkauft. In einer Schänke bedient, Kräuter für einen Heiler gemahlen, Böden geschrubbt. In der letzten Zeit ist es natürlich etwas schwieriger geworden. Hin und wieder haben mir auch Leute geholfen.« Ein Teil davon entsprach sogar der Wahrheit. »Hast du nicht versucht, uns zu finden?« »Wie denn? Aus Angst vor Spionen habe ich nicht gewagt, mich den Häusern des Widerstands zu nähern. Außerdem habt ihr sie inzwischen sowieso geräumt.« »Ja, das kann ich verstehen. Aber wie gesagt, wir haben dich gesucht.« »Valdarr ist eine große Stadt.« »Ich meine ... ich wollte dir nur sagen, dass wir dich nicht abgeschrieben haben.« 48 Es war schwer, danach noch etwas zu sagen. »Ich ... ich habe versucht, mich unsichtbar zu machen.« »Bis heute Abend.« »Meine Glückssträhne ist wohl vorbei.« Vielleicht stimmt das sogar, dachte sie. »Warum waren sie eigentlich hinter dir her? Die Paladine, meine ich?« »Manchmal frage ich mich, ob sie überhaupt einen Grund brauchen.« »Das stimmt.« Er machte ein bedrücktes Gesicht. »Tan ... was Kinsel angeht...« Ihr Herz stockte für einen Moment, und ihre Knöchel liefen weiß an, so fest packte sie das Geländer der Sitzbank. »Es ist...«, stotterte er. »Es ist nur ... ich weiß nicht, ob du es schon gehört hast, aber ...« »Ich habe es gehört.« Er dachte nicht einmal daran, sie zu fragen, von wem sie es gehört hatte. »Es tut mir so Leid, Tan.«
»Nein, nicht. Wir wissen noch nicht, ob er wirklich ... verloren ist. Wir können nicht sicher sein. Offiziell gilt er einfach als vermisst.« Eiskalt durchfuhr es sie. »Es sei denn, du weißt mehr?« »Nein. Mehr als das haben wir auch nicht gehört. Du hast Recht, solange es noch eine Möglichkeit gibt, können wir noch hoffen.« Beinahe hätte Tanalvah ihm vorgehalten, dass er sich für Kinsels Ermordung eingesetzt hatte. Andererseits war sie kaum in der Position, jemandem Vorwürfe zu machen. Die Häuser, an denen sie jetzt vorbeikamen, standen in größeren Abständen, und die Straßen waren uneben und hatten Schlaglöcher. Zwischen den Gebäuden wuchsen Pflanzen. Hier draußen verlor sich das städtische Gepräge allmählich. Sie fuhren nach Osten. Die niedrige Bergkette, die Val49 darr auf dieser Seite begrenzte, ragte vor ihnen auf. In der frischen, mondlosen Nacht war sie schwarz wie die Seele eines Paladins. Es war kalt, es würde bald schneien. Sie zog den Mantel enger um sich. Disgleirio sah sie an. »Wir haben uns immer noch nicht richtig erholt. Von dem Verrat, meine ich.« Es klang wie ein Geständnis. »Es hat uns fast umgebracht, Tan.« Sie hatte gefürchtet, dass er früher oder später die Katastrophe zur Sprache bringen würde. Es war unvermeidlich. Sie konnte nur nicken. »Wir haben ... ich weiß nicht, wie viele wir verloren haben«, fuhr er fort. »Darunter sind auch ein paar, die du kennen müsstest.« Sie hatte Angst, er könne sich fragen, warum sie sich nicht schon von selbst danach erkundigt hatte. »Ich ... ich versuche, möglichst nicht darüber nachzudenken«, gab sie wahrheitsgemäß zurück. »Das kann ich gut verstehen.« »Was ist mit Serrah und Caldason? Und Kutch? Habt ihr etwas von ihnen gehört?« »Nach allem, was wir wissen, sind sie auf der Diamantinsel. Wir wissen nicht, wie es ihnen geht, aber wenigstens sind sie entkommen.« »Das ist gut. Oh, und was ist mit Phönix?« »Er konnte auch zur Diamantinsel fliehen. Jedenfalls glauben wir das. Die Überreste des Bundes haben ein paar Wochen nach dem Verrat wieder Verbindung mit uns aufgenommen.« Tanalvah hätte die nächste Frage nicht stellen sollen, aber sie konnte nicht anders. Sie musste es einfach wissen. »Hat jemand eine Ahnung, wer ...« »Wer uns verkauft hat? Es gibt viele Theorien, aber keine echten Beweise. Möglicherweise war es auch keine einzelne Person. Vielleicht haben wir eine unzufriedene Fraktion in unseren Reihen. Gut möglich, dass wir es nie heraus50 finden. Aber ob einer oder hundert, die Mentalität eines Verräters kann ich einfach nicht verstehen.« »Vielleicht sah sich der Betreffende auch ... gezwungen Zu reden.« »Denkst du an Folter?« »Ja.« Es war wirklich eine Art Folter, überlegte sie. »Ich will ja keine unangenehmen Erinnerungen heraufbeschwören, Tan, aber Kinsel wurde gefoltert, und er ist nicht zerbrochen.« Er warf ihr einen mitfühlenden Blick zu. »Das muss man ihm wirklich zugute halten. Aber wie ich schon sagte, wir werden vermutlich niemals erfahren, was geschehen ist.« »Sehen die anderen es genauso? Dass wir es nie erfahren werden? Finden sie sich einfach damit ab?« Kaum dass sie es gesagt hatte, wurde ihr bewusst, wie dumm die aus Verzweiflung geborene Frage eigentlich war. »Mit so etwas kann man sich nicht einfach abfinden, Tan.« »Ich weiß. Das war dumm. Entschuldige.« »Du musst dich nicht entschuldigen. Wir würden es alle gern vergessen, wenn wir könnten. Doch die Aussicht, dass wir vielleicht niemals erfahren werden, wer uns verraten hat, kann unserem Wunsch, es doch noch herauszufinden, keinen Abbruch tun. Es gibt kein Mitglied des Widerstands, das dem Schweinehund nicht liebend gern die Kehle durchschneiden würde, falls sich die Gelegenheit dazu ergäbe.« Das Gespräch wurde ihr entschieden zu ungemütlich. Sie versuchte, das Thema zu wechseln. »Ich habe mich noch gar nicht nach Karr erkundigt. Wie geht es ihm?« »Als es passiert ist, war er dem Tode verdammt nahe. Das Herz. Er ist durchgekommen, aber seine Gesundheit hat sehr gelitten. Da Karr aber nun einmal ist, wie er ist, hat er sich nicht darauf eingelassen, es etwas gemächlicher anzugehen. In diesem Fall glaube ich sogar, dass er 51 Recht hat. Wir arbeiten wie verrückt, nur um am Leben zu bleiben.« Sie wandte den Blick ab. Ihre Augen brannten. Die Schuld fühlte sich so an, als werde ihr ein heißes Messer im Bauch herumgedreht. »Wir sind fast da«, sagte er. »Bald kannst du dich ausruhen.« Wenn ich nur Ruhe finden könnte. Sie riss sich zusammen und tupfte ihre Augen mit einem Tuch ab. Er starrte sie an. »In der kalten Luft tränen mir die Augen«, erklärte sie lahm. »Gewiss«, sagte er und sah weg.
Endlich schien Tanalvah die Umgebung wahrzunehmen. Sie waren jetzt in einer beinahe ländlichen Gegend. Hier standen die Gebäude in weiten Abständen voneinander, und man sah Scheunen und kleine Höfe. Noch ein Stück weiter, und sie hatten auch die letzten Ausläufer der Stadt hinter sich gelassen. »Quinn«, sagte sie, »wohin fahren wir nun eigentlich? Das Einzige, das ich hier kenne ...« »Das Feld des Schlafs. Genau, Tan.« Sie konnte ein Schaudern nicht unterdrücken. War es am Ende doch nur ein raffinierter Plan? Eine List, um sie an einen Ort zu locken, an dem ihr eine entsetzliche Vergeltung drohte? Er bemerkte ihren Gesichtsausdruck. »Kein Grund, so grimmig dreinzuschauen. Ich weiß, dass es nicht unbedingt ein Ort ist, an dem sich viele Leute gern aufhalten, aber es ist ganz in Ordnung dort, glaube mir.« Ein paar Minuten später sahen sie ihr Ziel. Das Feld des Schlafs war Valdarrs älteste und größte Totenstadt. Sie hatte in bescheidener Form bereits existiert, als die Stadt gegründet worden war. Im Lauf der Jahrhunderte war sie gewachsen, und die Monumente und Grabmale waren prächtiger geworden. Bhealfas führende 52 Familien unterhielten hier große Mausoleen für ihre Dynastien. Den weniger Angesehenen und den Armen blieben die Massengräber vorbehalten, die sich über viele Hektar erstreckten. Der Friedhof war inzwischen voll belegt und aus der Mode gekommen; er wurde kaum noch benutzt. Eine hohe Mauer umgab das Gräberfeld, wurde jedoch von den geschmückten Turmspitzen vieler prunkvoller Monumente überragt. Auch die ausgewachsenen Bäume erhoben sich höher als die Mauer. Die kahlen Äste zitterten im böigen Wind. »Es wäre zu gefährlich, den ganzen Weg mit dem Wagen zu fahren«, erklärte Disgleirio. »Wir müssen ihn aufgeben und das letzte Stück laufen. Schaffst du das?« »Es wird schon gehen.« Er lenkte den Einspänner auf ein freies Stück Land, auf dem ein einziges, dunkles Haus stand. Nachdem er Tanalvah heruntergeholfen hatte, ging er nach vorn zum Pferd und klopfte ihm beruhigend auf die Schulter. »Keine Sorge«, sagte er, weil er annahm, ihr sei am Wohlergehen des Tiers gelegen. »Ich sorge dafür, dass man sich um ihn kümmert.« Dann brachen sie auf. Die Sperrstunde war bereits in Kraft, und die Straßen waren verlassen, doch Disgleirio war deshalb nicht weniger wachsam. Ihr kurzer Gang, wobei sie sich möglichst im Schatten hielten, verlief jedoch ohne Störung, und bald hatten sie das mächtige Eisentor des Friedhofs erreicht. Ein beeindruckender Eingang erforderte ein beeindruckendes Schloss, und das Tor des Friedhofs bildete keine Ausnahme. Der Riegel war breiter als eine Männerhand. »Es gibt einen Alarmzauber«, sagte Disgleirio und wühlte in der Tasche herum. Er zog einen Schlüssel in der Länge eines kleinen Dolchs heraus. Das Tor quietschte schrill, als er es gerade weit genug 53 öffnete, damit sie sich durchquetschen konnten. Dahinter zündete er eine magische Leuchtkugel an, um den Weg zu beleuchten. Auf dem Friedhof herrschte wortwörtlich eine Totenstille. Sie liefen den Hauptweg entlang, einen breiten Boulevard voller gespenstischer Grabstätten. Am hinteren Ende des Weges stand düster und brütend ein beeindruckender, inzwischen allerdings verfallener Tempel. Ein gutes Stück davor führte Disgleirio sie um eine Ecke und einen viel schmaleren Gang hinunter. Dieser Weg war nicht gepflegt; auf beiden Seiten standen schiefe Grabsteine inmitten ungezügelt wuchernder Pflanzen. Es blieb kaum noch genug Platz, um nebeneinander zu gehen. »Vergiss mich nicht!«, grollte eine Stimme. Tanalvah kreischte und hielt sich an Disgleirios Arm fest. »Ruhig, Tan.« Er nahm ihre Hand. »Du brauchst keine Angst zu haben. Das sind lebendige Mahnmale. Schau nur!« Mehrere Grabsteine in der Nähe hatten sich aktiviert und projizierten gespenstische Ebenbilder von den Besitzern der Gräber. Derjenige, der gesprochen hatte, war ein uralter Mann mit kahlem Kopf und einer Haut wie vergilbtes Pergament. »Wenn jemand vorbeikommt, werden sie angeregt«, fuhr Disgleirio fort. »Entschuldige, ich hätte dich warnen sollen.« Sie löste sich von ihm und kam sich dumm vor. »Wie albern von mir«, sagte sie. Sie gingen weiter. Alle paar Schritte lösten sie ein magisches Mahnmal aus und beschworen bewegte Bilder der Toten herauf. Männer, Frauen, alte und junge Menschen, offensichtlich leidend oder scheinbar kerngesund, lächelnd oder finster blickend. Doch nicht alle Gräber wurden aktiviert. »Sie funktionieren natürlich nur, wenn die Angehörigen die Magie wieder aufladen«, erzählte Disgleirio unbefangen. »Mit der Zeit verbraucht sich die Energie.« Viele Zauber der Verstorbenen meldeten sich zu Wort. Sie entboten Grüße und gaben weise Sprüche oder
düstere Warnungen von sich. Manche erzählten die Geschichte ihres Lebens oder rezitierten Gedichte. Andere murmelten Gebete oder formulierten Prophezeiungen. Die Stimmen waren flehend, fröhlich, einschüchternd oder unbeschwert. Ein paar sangen auch oder spielten Musikinstrumente. Tanalvah hasste den Friedhof. Sie musste unablässig daran denken, welche Botschaften wohl die Menschen hinterlassen würden, die sie ins Grab geschickt hatte. Als sie um eine neuerliche Ecke bogen und einen stilleren Bereich betraten, war sie sehr erleichtert. Sie gingen weiter und stießen nur noch hin und wieder auf geschwätzige Grüften. Vor ihnen lag eine dichte Baumgruppe, auf die sie nun zuhielten. »Gleich kommt etwas, vor dem ich dich warnen muss«, sagte Disgleirio. »Wir haben Wächter.« »Sind sie gefährlich?« »Sie sehen gefährlich aus, aber sie sind keine erstklassige Magie. Sie dienen vor allem der Abschreckung. Wenn unsere Feinde wüssten, wie schwach unsere Verteidigung im Grunde ist...« Ein gedehntes, langes Heulen war zu hören. Tanalvahs Nackenhaare sträubten sich. »Ah«, sagte er, »da sind sie schon.« Ein Wesen lief ihnen aus der Baumgruppe entgegen. Aus der Ferne sah es grau aus. Drei weitere, schlank und schnell, gesellten sich zu ihm. Als sie näher heran waren, konnte man sie besser erkennen. Sie hatten mächtige Reißzähne und rasiermesserscharfe Krallen. Der seidige Pelz war rein weiß, und die Augen glühten rosa. Tanalvah fragte sich, warum man Albinowölfe genom55 men hatte. Wahrscheinlich hatte der Widerstand einfach nichts Besseres bezahlen können. Die Wölfe schlichen näher, bildeten einen Halbkreis und taten so, als wollten sie gleich angreifen. Das Knurren und schnüffeln klang recht überzeugend. Disgleirio schnippte nacheinander vor allen Erscheinungen mit den Fingern. Die Wölfe zerfielen zu schwach leuchtendem grünem Dunst, der ein wenig nach Schwefel roch. »Die nächste Verteidigungslinie ist menschlich«, versprach er, »und es ist auch die Letzte. Komm, es ist nicht mehr weit.« Er schritt auf die Bäume zu. Sie musste sich beeilen, um nicht den Anschluss zu verlieren. Dann betraten sie ein Wäldchen. Die Bäume standen dicht, einen Weg gab es nicht. Hier und dort war das Laub zu beachtlichen Haufen aufgetürmt. Doch Disgleirio wusste genau, wohin er sich wenden musste. »Der Wald erstreckt sich bis zu den Vorbergen«, sagte er. »Und dorthin gehen wir?« »Ja. Wir sind fast da. Kommst du zurecht? Macht dir das Laufen keine Mühe?« »Ich sage es schon, wenn ich Hilfe brauche.« Zwei Bewaffnete tauchten vor ihnen aus dem Unterholz auf. Sie waren schwarz gekleidet und verstellten ihnen mit ernster Miene den Weg. Als sie Disgleirio erkannten, ließen sie die Waffen sinken. Sie sprachen kein Wort, sondern nickten nur und beäugten Tanalvah, die keinen der beiden erkannte. Disgleirio informierte sie über den aufgegebenen Einspänner und befahl den Männern, sich darum zu kümmern. Die Wächter nickten noch einmal und machten ihnen wortlos Platz. Es ging so schnell und reibungslos, dass es Tanalvah wie ein Traum vorkam. Doch sie war mit anderen Dingen beschäftigt, und ihre Befürchtungen wurden mit jedem Schritt stärker. 55 Bald darauf erreichten sie eine Felswand, die von Ranken und Schlingpflanzen überwuchert war. Zwei weitere Wächter tauchten auf, erkannten Disgleirio und begrüßten ihn. Einen Augenblick später hatten sie die Klippe erreicht und schoben einen geschickt mit den Büschen verflochtenen Vorhang beiseite. Dahinter lag der Eingang einer Höhle. Disgleirio produzierte eine weitere magische Kugel und gab sie ihr. Mit einem Knacken flammte sie auf. Als sie die Höhle betraten, sagte er: »Dies hier ist der älteste Teil des Friedhofs. Die Katakomben. Niemand kommt mehr hierher. Die Höhlen sind auf natürliche Weise entstanden, wurden aber in der Vergangenheit stark erweitert. Hier haben unsere primitiven Ahnen zuerst ihre Toten beerdigt.« Er blieb stehen und sah sie an. »Ich hätte vorher fragen sollen. Es macht dir doch nichts aus, eine Höhle zu betreten?« »Ich komme schon damit zurecht, Quinn.« Sie war viel eher wegen der Menschen besorgt, die sie verraten hatte. Doch es war jetzt ohnehin zu spät. »Gut. Ich glaube, Serrah hätte damit Schwierigkeiten gehabt.« »Was?« Sie sah ihn an. »Serrah. Sie mochte keine ...« »Oh, ja. Sicher. Ich glaube, das hätte ihr nicht gefallen.« Sie gingen weiter. Disgleirio erzählte ihr von der Umgebung, während sie tiefer in die Höhle eindrangen. »Das war nur einer von mehreren Eingängen.« Er deutete mit dem Daumen über die Schulter zurück. »So ist es leichter, im Notfall zu fliehen. Die Gänge selbst sind ebenfalls eine gute Verteidigung. Man kann sich leicht verlaufen, wenn man sich nicht auskennt, und es gibt auch überflutete Kammern.« Sie bogen öfter ab, als Tanalvah zählen konnte. Der abschüssige Tunnel, dem sie folgten, war mehr als kopfhoch
57 und unbeleuchtet. Boden und Wände waren glatt geschliffen vom Wasser, das eine Ewigkeit lang durch diese Gänge geflossen war. Es roch ein wenig muffig und nach Erde, was sie unangenehm fand. Schließlich wurde das Gehen leichter. Die Tunnel waren jetzt mit magischen Leuchtkugeln und Fackeln an den Wänden ausgestattet. Als Tanalvah und Disgleirio tiefer ins Tunnelsystem eindrangen, änderte sich auch die Natur ihrer Umgebung. Die gleichförmigen Erdtöne wichen einem Farbenspiel, mit dem man an diesem Ort nicht gerechnet hätte. Gelbe, rote, purpurne und grüne Adern durchzogen den Fels. Sie kamen durch weite und schmale Gänge, sie betraten und verließen Höhlen, von denen manche riesig waren und gespenstische Felsformationen beherbergten. Sie wanderten durch Wälder von Stalagmiten und Stalaktiten. Tanalvah konnte keine Spuren der Toten entdecken, die vor langer Zeit hier bestattet worden waren. Disgleirio versicherte ihr jedoch, dass es sehr viele waren. Bald hörten sie in der Ferne menschliche Geräusche und hallende Stimmen. An einer Tunnelkreuzung sah Tanalvah einige Leute am Ende der Seitengänge. Männer und Frauen waren mit irgendwelchen Arbeiten beschäftigt, überbrachten Botschaften und trugen Fässer und Kisten. Es herrschte ein geschäftiges Treiben. Endlich erreichten sie den Eingang eines gewaltigen unterirdischen Saals, dessen Decke so hoch war, dass sie im Schatten verborgen blieb. Eine Reihe von Gängen zweigte von der Höhle ab, und Dutzende Menschen eilten eifrig hin und her. Sie stapelten Berge von Vorräten auf oder polierten die Klingen in gut gefüllten Regalen. An einigen Dutzend Bänken wurden Waffen hergestellt und Kleider genäht. Kinder liefen mit Wassereimern umher, Hunde und Schweine rannten frei herum. Kohlenpfannen und Fackeln waren überall verteilt. Im Zentrum der Höhle 58 brannte in einer natürlichen Grube ein großes Feuer. Die Luft roch stechend nach dem Rauch von frischem Holz. Der Duft von bratendem Fleisch mischte sich in den Brandgeruch. »Du siehst nicht gerade glücklich aus, Tan«, sagte Disgleirio, als sie die Höhle betraten. »Was ist denn los?« »Tatsächlich? Nun, ich glaube, es war ein ziemlicher Schock für mich, dich zu treffen und hierher gebracht zu werden.« »Hier bist du sicher. Man wird sich um dich kümmern, und wenn du dir wegen Teg und Lirrin Sorgen machst, dann kann ich dich beruhigen. Wir werden uns auch um sie kümmern. Du bist wieder unter Freunden, Tan.« »Freunde«, wiederholte sie leise. »Ja. Freunde, die sich sehr freuen werden, dich zu sehen.« Sie schwieg. »Ich bin gleich wieder da«, sagte er lächelnd. Er entfernte sich und ließ sie am Rande des Treibens stehen. Tanalvah spürte, wie alle sie anstarrten. Einige taktvoll, andere mit offener Neugierde. Ein oder zwei Gesichter kamen ihr bekannt vor, die meisten waren ihr fremd. Sie fragte sich, wie viele von ihnen Angehörige verloren hatten. Es war schwer, das Gefühl abzuschütteln, dass diese Menschen wussten, was sie getan hatte. Dass die Leute ihr irgendwie in die Seele schauen und ihr böses Geheimnis erkennen konnten. Sie atmete schwer. In ihrem Kopf drehte sich alles. Sie wusste nicht, wohin sie sich wenden sollte, um den forschenden Blicken zu entgehen. »Tanalvah!« Disgleirio kam zurück, doch es war nicht er, der sie gerufen hatte. Ein älterer Mann begleitete ihn. Sie brauchte einen Augenblick, um ihn zu erkennen. Hinter den beiden 59 ging eine Frau in den besten Jahren, die Tanalvah sofort erkannte. »Tanalvah«, wiederholte der alte Mann und näherte sich ihr mit ausgebreiteten Armen. »Patrizier«, flüsterte sie. »Heute einfach nur noch Karr«, entgegnete er und umarmte sie. »Ich kann Euch gar nicht sagen, wie froh ich bin, dass Quinn Euch gefunden hat, meine Liebe. Wir dachten schon, wir würden Euch niemals wieder sehen.« »Das dachte ich auch.« Sie hatte Mühe, nicht stocksteif dazustehen, als er sie in die Arme nahm. Sie war schockiert. Er war dünner und abgehärmt, und die wenigen Haare auf seinem Kopf waren noch weißer geworden, wenn das überhaupt möglich war. Bei ihrer letzten Begegnung war er ein distinguierter, lebhafter Politiker gewesen. Jetzt war Dulian Karr nur mehr ein Schatten seiner selbst. Die Krankheit hatte einen schweren Tribut gefordert. Tanalvah korrigierte sich. Sie selbst hatte diesen Tribut gefordert. »Macht mal Platz für mich.« Die Frau, die den Männern gefolgt war, drängte sich nach vorn, und auch sie umarmte Tanalvah und pflanzte ihr einen Kuss auf die Wange. Für Karrs engste Mitarbeiterin war dies eine ungewöhnliche Demonstration von Zuneigung. »Goyter«, sagte Tanalvah. »Es ist schön, Euch zu sehen.« »Und ich freue mich auch, Euch zu sehen, Tan.« Die Frau hatte sich kaum verändert. Goyter war für ihr Alter immer noch sehr ansehnlich, und ihr Gesicht blieb auch dann sachlich, wenn sie lächelte. Sie trug das Haar zu einem Dutt hochgesteckt. Es war leicht ergraut, seit Tanalvah sie das letzte Mal gesehen hatte, und vielleicht hatte sie ein paar Sorgenfalten mehr auf der Stirn, aber
sonst war sie ganz die Alte. »Wir haben Euch so viel zu erzählen«, fuhr Goyter fort. »Und Ihr müsst ja auch eine Menge erlebt haben.« 60 »Ihr würdet es nicht glauben.« »Seht Euch nur an!«, rief Goyter und trat einen Schritt zurück, um Tans Bauch zu bewundern. »Es muss bald so weit sein.« »Es dauert nicht mehr lange.« »Ich hoffe, es geht Euch gut, Tan?«, wollte Karr wissen. »Keine Probleme mit der Schwangerschaft? Und die Kinder? Sind sie wohlauf und in Sicherheit?« »Ja, alles in Ordnung.« Er machte eine ausholende Bewegung. »Nun, was sagt Ihr dazu? Der Vereinigte Revolutionsrat oder das, was davon übrig ist, tagt jetzt in einer Höhle. Ein passendes Symbol für die Verfassung, in der sich der Widerstand heute befindet.« »Es ist... sehr ungewöhnlich.« »Es ist nicht viel, aber es ist unsere Heimat. Und ein Friedhof scheint ein passender Ort, um eine Auferstehung in Szene zu setzen.« »Eine Auferstehung?« »Das Mädchen will das doch gar nicht hören«, unterbrach Goyter. »Könnt Ihr nicht sehen, dass sie Ruhe braucht?« Karr schien erschüttert. »Verzeiht mir, Tan. Wir haben uns viel zu erzählen, aber das kann warten.« Lächelnd nahm er ihren Arm. »Kommt, wir haben ein Bett für Euch.« Disgleirio hatte sich während des Wortwechsels zurückgehalten. Jetzt sah Goyter ihn an. »Quinn, was ist mit Eurer Hand?« »Oh, nichts weiter.« Der schmutzige Verband, den er sich eilig angelegt hatte, wölbte sich, und darunter wuchsen böse Brandblasen. »Ich wäre nicht hier, wenn Tanalvah nicht gewesen wäre.« »Wirklich?«, fragte Karr. »Sie war sehr tapfer, Dulian. Sie hat mir das Leben gerettet.« 61 »Das ist ganz unsere Tan«, verkündete Goyter bewundernd. Lächelnd sahen sie alle an. Die Tränen strömten über Tanalvahs Wangen. Ihre Schultern bebten. Sie schlug sich die Hände vors Gesicht und begann zu schluchzen. »Das ist ganz natürlich-«, tröstete Goyter sie. »Ihr habt so viel durchgemacht und seid sicher völlig am Ende. Aber das ist jetzt vorbei. Ihr seid wieder daheim bei Eurer Familie.« Tanalvah weinte haltlos. Droben überzuckerten die ersten Schneeflocken die gefrorene Erde. 62 Es fing an zu schneien. »Wir hätten Pferde mitnehmen sollen«, knurrte Caldason. »Wir sind fast da. Außerdem willst du doch in Form bleiben, oder?« »Ich kann mir angenehmere Arten vorstellen, dies zu erreichen.« Serrah Ardacris lächelte. »Konzentriere dich lieber auf die Aufgabe, die vor dir liegt, Reeth. Und wechsele nicht dauernd das Thema. Wir haben über Kinsel geredet. Was wollen wir nun tun?« »Du hast über Kinsel geredet. Ich bin nicht überzeugt.« »Er ist irgendwo da draußen, Reeth.« »Wie kannst du da so sicher sein?« »Ich habe Kinsel singen gehört, du nicht. So etwas vergisst man nicht. Glaube mir, er war es.« »Du musst doch zugeben, dass das ziemlich abwegig klingt.« »Was ist so abwegig daran? Kinsels Galeere wurde als vermisst gemeldet. Warum sollen nicht Piraten dafür verantwortlich gewesen sein?« »Das war aber weit weg von hier.« »Na und? Dazu sind Schiffe doch da, oder? Sie werden 63 gebaut, damit die Menschen von einem Ort zu einem anderen reisen können.« »Aber warum sollte er singen?« »Hast du heute einen besonders beschränkten Tag? Ich weiß es nicht. Vielleicht hat jemand ihn gezwungen. Oder er wollte sich damit bemerkbar machen. Es spielt keine Rolle. Wichtig ist nur, was wir jetzt damit anfangen.« Er grinste. »Du glaubst wirklich, dass er es war, oder?« »Ja! Das sage ich doch die ganze Zeit, verdammt. Hör mal, Reeth, wenn auch nur eine winzige Möglichkeit besteht, dass ich Recht habe, dann müssen wir etwas unternehmen. Das sind wir ihm schuldig.« »Ja, natürlich. Ich werde mit Darrok und mit dem Rat darüber reden.« »Wir brauchen einen Plan.«
»Wir werden uns etwas überlegen.« Sie nahm seine Hand. »Danke, Liebster.« Zwielicht herrschte, und der Wind war schneidend kalt. Der Himmel war bleiern und versprach viel Schnee. Sie waren im Innern der Diamantinsel. Der Weg, auf dem sie liefen, war in schlechtem Zustand, wie die meisten Wege der heruntergekommenen einstigen Ferieninsel. Einige Gebäude, an denen sie vorbeikamen, waren nach Jahren der Vernachlässigung verfallen. Andere waren intakt und konnten genutzt werden, doch da die meisten als Ferienunterkünfte gedient hatten, waren sie für die Verteidigung der Insel nicht eben brauchbar. Serrah und Caldason hatten sie so oft gesehen, dass sie kaum noch darauf achteten. »Wir sollten Tan sagen, dass wir Kinsel gehört haben«, schlug Serrah vor und wich einem kleinen Gebirge aus gefrorenem Schlamm aus. »Das könnte schwierig werden. Wir sind hier praktisch rundherum blockiert. Die Piraten und die Reiche scheinen die meisten magischen Botschaften, die wir schicken, abzufangen. Ganz zu schweigen davon, dass unsere magi64 sehen Reserven sowieso schon sehr beschränkt sind. Es wäre nicht leicht, den Rat zu überzeugen, einen Teil davon für uns einzusetzen.« »Mir sind die Probleme bekannt, Reeth. Wir sollten es trotzdem versuchen.« »Wäre es nicht besser zu warten, bis wir ganz sicher sind? Bis wir mehr haben als nur deine Überzeugung?« »Lass uns nicht wieder davon anfangen.« »Ich meine es ernst, Serrah. Möglicherweise wecken wir Hoffnungen in Tanalvah, die wir dann doch nicht erfüllen können.« »Wenn ich an ihrer Stelle wäre und darauf wartete, etwas von dir zu hören, dann würde ich es wissen wollen. Wäre es denn so schlimm, ihr einen Strohhalm zu geben, an den sie sich klammern kann?« »Möglicherweise schon, falls die Hoffnung unbegründet ist. Wir sollten darüber nachdenken. Außerdem wissen wir nicht einmal, ob sie überhaupt noch lebt.« »Sie lebt, Reeth. Tan kann sich durchschlagen.« »Ich rede mit ein paar Leuten darüber. Wir sind übrigens gleich da.« Er nickte zu den Türmen hin, die ihr Ziel waren. Die Spitzen waren hinter dem Hügel, auf den sie stiegen, bereits zu sehen. Wenig später konnten sie das Gebäude überblicken, das die Rebellen großartig und nicht ohne Selbstironie als ihre letzte Zuflucht bezeichneten. Es war eine ursprünglich für reiche Gäste errichtete, sehr große und stabile Unterkunft und zugleich der größte Gebäudekomplex der Insel mit einem halben Dutzend Türmen, verwinkelten Mauern und einem weitläufigen, ummauerten Flachdach. Es gab sogar ein Fallgatter und einen Burggraben, der inzwischen aber trocken und mit Blättern verstopft war. Das Äußere täuschte freilich ein wenig über die wahre Beschaffenheit der Substanz hinweg. Die Außenmauern sahen robust aus, würden einem kon65 zentrierten Beschuss aber sicher nicht lange standhalten können. Auch die Türen und Fenster sahen stabiler aus, als sie es tatsächlich waren. Das Gebäude hatte dem Vergnügen gedient und war keine echte Redoute. Caldason hätte das Gebäude nie als Festung oder als letzte Zuflucht ausgewählt, und auch die Lage sagte ihm nicht zu. Doch es war alles, was sie hatten. Die andere Festung auf dem Hügel am Meer war von Grund auf neu gebaut worden. Ihre Errichtung verschlang so viel Zeit und Ressourcen, dass man nicht noch einmal das Gleiche für eine Zuflucht in der Mitte der Insel tun konnte. Die Rebellen hatten keine andere Möglichkeit, als diese falsche Bastion zu verstärken, so gut sie konnten. Scharen von Menschen schwärmten auf dem eingerüsteten Gebäude und davor herum. Sie hämmerten, sägten und fällten Bäume, um Bauholz zu bekommen, und erzeugten einen ungeheuren Lärm. Wagen lieferten Steine, mit denen die Wälle verstärkt wurden. Mörtel wurde in riesigen Bottichen gemischt. Serrah und Caldason liefen den Hügel hinunter und grüßten die Arbeiter, denen sie begegneten. »Da sind Zahgadiah und Pallidea«, sagte Serrah. Der frühere Besitzer der Insel war auf seiner magisch angetriebenen fliegenden Scheibe kaum zu übersehen. Er inspizierte ein Dutzend Schmiede, die auf einer Reihe von Ambossen Werkstücke bearbeiteten. Seine in Leder gekleidete Begleiterin - mit dem bis zur Hüfte reichenden roten Haar so auffällig wie er selbst - lief neben der Scheibe. Darrok begrüßte sie mit einem heiseren Ruf, Pallidea nickte nur. »Lasst uns aus dem Lärm hier verschwinden«, sagte er. Sie folgten der schwebenden Scheibe an der Mauer entlang, bis der Geräuschpegel halbwegs erträglich war. Der Himmel war noch dunkler geworden, und ein starkes Schneetreiben hatte eingesetzt. 66 »Wie läuft es?«, fragte Caldason. »Nicht schlecht.« Darrok blickte zur Baustelle. »Aber es ist noch eine Menge zu tun.« »Genau wie an allen anderen Plätzen auf der Insel. Was meint Ihr, wie lange es noch dauern wird?« »Ein paar Wochen. Vielleicht noch länger.« Er wandte sich an Serrah. »Wir haben keine Zeit mehr zum Reden
gefunden, seit wir den Überfall abgewehrt haben, nicht wahr?« »Wann hätten wir schon jemals Zeit gehabt?« »Ich wollte nur sagen, dass es eine großartige Idee war, Drachenblut gegen Vances Männer einzusetzen. Das hat das Ruder zu unseren Gunsten herumgeworfen.« »Ich kann das Lob eigentlich nicht für mich in Anspruch nehmen. Die Idee stammt vom Widerstand in Bhealfa.« »Ihr seid zu bescheiden, Serrah.« »Drachenblut?«, fragte Pallidea. Darroks Leibwächterin und Geliebte ergriff nur sehr selten das Wort. »Das Zeug, das die Explosionen verursacht hat«, erklärte Darrok. »Es ist ein Pulver, das explodiert, wenn es mit Wasser in Berührung kommt. Serrah hat etwas davon mitgebracht und eine Möglichkeit gefunden, es einzusetzen. Ein kleiner, mit Wasser gefüllter Beutel, in dem ein zerbrechlicher Behälter schwimmt, der das Pulver enthält. Und ehe du fragst, es wird zwar Drachenblut genannt, stammt aber nicht wirklich von Drachen.« »Sehr witzig«, bemerkte seine Geliebte trocken. »Ist noch etwas übrig?«, wollte Caldason wissen. Darrok schüttelte den Kopf. »Nicht viel. Ich habe unsere Magier angewiesen, Nachschub herzustellen.« »Zahgadiah«, sagte Serrah, »Ihr habt doch während des Überfalls auch den Gesang gehört, oder?« Caldason seufzte. Sie sah ihn scharf an. »Ja«, sagte Darrok. »Ich habe es gehört. Reeth meinte, Ihr dachtet, Ihr hättet Kinsel Rukanis gehört.« »Ja.« 67 »Ich habe irgendwann mal eines seiner Konzerte besucht. In Gath Tampoor, glaube ich.« Sie biss sofort an. »Dann glaubt Ihr also auch, dass er es war?« »Verdammt will ich sein, wenn ich das wüsste. Ich habe Blech im Ohr und Blech im Bein.« Er klopfte auf seinen künstlichen Schenkel, es klang gedämpft nach Metall. »Ich habe mir nie viel aus Musik gemacht.« »Warum habt Ihr dann sein Konzert besucht?« Serrah war einigermaßen gereizt. »Es war ein Anlass, bei dem man sich sehen lassen musste. Das ist wichtig für einen Mann in meiner Position. Oder es war wichtig, bis ich hier draußen bei euch zwielichtigen Rebellen hängen geblieben bin.« »Mir ist schon aufgefallen, dass Ihr immer noch nicht aufgebrochen seid«, bemerkte Caldason amüsiert. »Es ist noch nicht zu spät, einfach zu verschwinden.« »Ja, das habt Ihr schon öfter gesagt. Wollt Ihr mich loswerden?« »Nein, aber es ist nicht Euer Kampf. Ihr seid nicht verpflichtet, hier zu bleiben.« »Es ist verdammt schwer, mich zu etwas zu zwingen, das ich nicht will, Reeth. Soweit ich weiß, war es am Anfang auch nicht Euer Kampf. Nein, ich denke, ich werde bleiben. Vorläufig jedenfalls. Ich bin neugierig, wie die Dinge sich entwickeln werden, und ich hatte schon immer ein Herz für die Unterlegenen und für hoffnungslose Situationen.« Caldason lächelte. Seine früheren Ansichten über den Mann hatten sich in den letzten Monaten völlig gewandelt. »Das ist aber alles nebensächlich«, fuhr Darrok fort. »Ich muss Euch etwas erklären. Wie Ihr wisst, haben wir die erste Volkszählung auf der Insel durchgeführt. Nun ja, es war nicht mehr als eine erste schnelle Überschlagsrechnung, aber wir haben gerade die Ergebnisse bekommen, und ich denke, Ihr werdet sie interessant finden.« 68 »Und ob«, bestätigte Serrah. »Die Überlebenden des großen Verrats, die hierher gelangt sind - und dazu rechne ich neben Euch, Reeth und Kutch auch die Vorauskommandos des Widerstands, die schon hier waren, sowie meine eigenen Leute -, zählen alles in allem etwas weniger als zweieinhalbtausend Köpfe. Wir haben seitdem knapp einhundert Leute durch Piratenüberfälle und natürliche Ursachen verloren. Auf der anderen Seite gab es auch Zuwächse. In den Wochen nach Eurer Ankunft sind noch eine Reihe Nachzügler hier eingetroffen. Soweit wir es jetzt sagen können, sind wir etwas mehr als dreitausendsiebenhundert.« »Das ist mehr, als ich erwartet hätte«, sagte Caldason. »Es hat auch meine Erwartungen übertroffen. Gelegentlich kommen immer noch Boote an, aber da es hier so gefährlich geworden ist, sind es nicht mehr viele.« »Wie kann man diese Zahl unterteilen?«, fragte Serrah. »Es ist unausgeglichen, und das könnte in der Zukunft ein Problem darstellen. Immer vorausgesetzt, diese Insel hat überhaupt eine Zukunft. Es gibt etwa zweitausendsechshundert Männer, dagegen nur eintausend Frauen. Die übrigen einhundert Personen sind Kinder, darunter einige Kleinkinder. Die gute Nachricht ist, dass alle bis auf etwa sechzig Männer in den besten Jahren und fähig sind, Waffen zu tragen.« »Habt Ihr eine Vorstellung, wie viele Leute wir brauchen würden, um die Insel zu verteidigen?« »Gegen eine ausgewachsene Invasion von einem der beiden Reiche? Etwa zwanzig- bis dreißigtausend. Mindestens.« »Zur Hölle mit ihnen!«, fauchte Serrah. »Wen meint Ihr?« »Diejenigen, die den Widerstand verraten und uns in diese Lage gebracht haben.« »Ich denke, da würden wohl alle zustimmen.«
69 »Wenn wir überleben, und wenn ich je herausfinde, wer es war, dann werde ich ihnen eigenhändig die Kehle aufschlitzen«, schwor sie. »Und zwar ganz langsam.« »Da müsstet Ihr Euch möglicherweise in einer langen Schlange hinten anstellen«, entgegnete Darrok. Caldason kam auf die Frage der Verteidigung zurück. »Allerdings können wir mit den Kräften, die wir haben, die Piraten abhalten, oder? Vorausgesetzt, sie greifen nicht in größerer Zahl an als bisher.« »Wahrscheinlich.« »Und wir haben bisher aus Rintarah und Gath Tampoor keine Informationen, dass sie Invasionsflotten aufstellen?« »Danach sieht es bisher nicht aus. Wir können dies aber natürlich nur indirekt aus den Berichten von Nachzüglern schließen. Wirklich sicher können wir nicht sein.« Er sah Caldason fragend an. »Worauf wollt Ihr eigentlich hinaus?« »Wenn ich nicht bald etwas unternehme, dann werde ich mit dem, was ich begonnen habe, niemals fertig.« »Die Clepsydra«, sagte Serrah sofort. Er nickte. »Ist es denn der richtige Augenblick, Reeth?« »Es könnte der einzige Augenblick sein.« Er bemerkte ihren besorgten Blick. »Es ist mir wirklich wichtig, Serrah.« »Das musst du mir nicht erklären. Ich frage mich nur, ob es gerade jetzt sinnvoll ist. Eine Menge hat sich verändert, seit du etwas über die Quelle erfahren hast.« »Nicht für mich.« »Wie könnt Ihr sicher sein, dass die Clepsydra nicht nur ein Märchen ist?«, schaltete sich Darrok ein. »Ich bin nicht sicher. Aber es ist meine einzige Möglichkeit, geheilt zu werden.« »Weißt du denn, wo du sie finden kannst? Oder wie sie zu dem Zauberbuch führt, oder was es auch ist, das du suchst? Meines Wissens befindet sich die Clepsydra auf 70 einer Insel, die nicht mehr als ein Staubkörnchen im Meer zwischen vielen anderen ist.« »Phönix hat mir Karten gezeigt. Ich denke, ich kann sie finden. Und was die Quelle angeht... ich muss einfach ein gewisses Risiko eingehen.« »Natürlich kann dich niemand aufhalten, und ich will es dir ganz sicher nicht ausreden, aber du müsstest den Rat überreden, ein Schiff und eine Mannschaft abzuordnen, und das dürfte in der jetzigen Situation sehr schwierig werden.« »Ich kann sehr überzeugend sein.« »Ich fürchte, du wirst enttäuscht werden«, sagte Serrah. »Noch mehr als ohnehin schon?« Er lächelte. »Mit Ausnahme der letzten Zeit«, lenkte er ein. Sie strahlte und erwiderte sein Lächeln. »Wollt Ihr denn zusammen fahren?«, fragte Pallidea. Serrah sah ihren Mann an. »Reeth weiß genau, dass er es ohne mich lieber gar nicht erst versuchen sollte.« Darrok lachte knirschend. »Ich hätte nie gedacht, Euch einmal erröten zu sehen.« Serrah machte daraufhin eine Bemerkung, die sich darauf bezog, wo er sich seine schwebende Scheibe hinstecken könne, was Pallidea ein Grinsen entlockte. Ein seltener Anblick. Es schneite jetzt heftiger. Irgendjemand hatte auf einem Abraumberg in der Nähe ein Banner mit dem Skorpion aufgepflanzt. Die grüne Fahne knatterte laut im bitterkalten Wind. »Wie du dich auch entscheidest, Reeth«, erklärte Serrah, während sie den Mantel enger um sich zog, »du weißt, dass ich dich unterstütze. Aber ich hoffe, wir können vorher etwas wegen Kinsel unternehmen.« »Ich werde nicht aufbrechen, ehe das nicht erledigt ist.« »Gut. Weißt du, Tanalvah hat mir etwas über Kinsel erzählt, das du nicht weißt. Aus seiner Jugend. Sein Vater sei 71 von den Behörden verhaftet worden. Anscheinend eine aufgebauschte Beschuldigung. Sie haben ihn zur Sklavenarbeit gezwungen und dann zum Militärdienst. Es hat ihn umgebracht. Mir ist dabei aufgefallen, und ich denke, es ist auch Tan nicht entgangen, dass dies Kinsels Schicksal sehr ähnlich ist. Wie der Vater, so der Sohn. Nur, dass wir ihn nicht auf die gleiche Weise enden lassen dürfen, nicht wahr?« »Er hat es verdient, dass wir ihm helfen«, meinte Darrok entschieden. »Reeth, wir sollten uns darüber unterhalten.« »Das dachte ich auch. Sagt mir, wenn Kinsel dort draußen ist und Vance ihn gefangen hält, wie deutet Ihr dann den Gesang?« »Oh, es wird Euch vielleicht überraschen, aber für einen Mann, der sich wie ein Wilder aufführt, hat Vance ganz erstaunliche kulturelle Bedürfnisse.« »Meint Ihr wirklich, er geht ihnen während eines Überfalls nach?« »Ihr kennt ihn nicht, Reeth. Er ist durchaus zu so etwas fähig. Vielleicht, um den Ereignissen eine dramatische Kulisse zu geben, auch wenn es schon so dramatisch genug war, wenn Ihr mich fragt. Oder um sich über unseren
Sieg hinwegzutrösten. Er ist unberechenbar. Vielleicht wollte er uns auch einfach nur ärgern.« »Meint Ihr denn, er weiß um unsere Verbindung zu Kinsel?« »Wer kann das schon sagen? Nach einiger Zeit auf der Galeere und nach Vances Aufmerksamkeiten könnte Euer Freund ihm wer weiß was verraten.« »Die Folterknechte des RIS haben ihn nicht zum Reden gebracht und die Paladine auch nicht.« Darrok zog eine Augenbraue hoch. »Ich bin beeindruckt. Er ist ein tapferer Mann.« »Ich habe mich oft gefragt«, sagte Serrah, »warum sie Kinsel auf die Galeere geschickt haben, statt ihn einfach hinzurichten und fertig.« 72 »Ihr müsst die Denkart unserer Herrscher verstehen«, erklärte Darrok. »Möglicherweise war es eine Beruhigungspille für die Massen. Sie wollten zeigen, dass sie keine Rebellion dulden, ohne sich jedoch damit zu belasten, einen beliebten Mann umgebracht zu haben. Die Politik spielt bei solchen Entscheidungen eine große Rolle. Wenn ich mir den Charakter unserer selbsternannten Anführer anschaue, dann kann es allerdings auch reiner Sadismus gewesen sein. Sie wissen, dass sein Tod auf der Galeere langsam und quälend sein wird.« »Das sähe diesen Schweinehunden ähnlich«, bemerkte Serrah. Darrok wischte sich abwesend einige Schneeflocken vom Umhang und sah blinzelnd zum Himmel hinauf. »Das wird jetzt etwas zu ungemütlich. Wir müssen die Außenarbeiten unterbrechen, verdammt. Lasst uns nach drinnen gehen.« Serrah und Caldason gingen Arm in Arm, Pallidea hielt sich direkt neben der fliegenden Scheibe, als Darrok sie zum Haupteingang der falschen Redoute führte. Unterwegs winkte er den dankbaren Arbeitern zu, das Werkzeug wegzulegen und nach drinnen zu gehen. Das Schneetreiben erweckte den Eindruck, als fielen unzählige Heuschrecken über das Land her. Feuer wurden gelöscht, Pferde mit Decken geschützt. Ein kleines Mädchen, das weggeworfene Nägel in einem Eimer gesammelt hatte, stellte ihre Last ab und rannte in Deckung. »Wir sollten nicht zu lange zögern, was Rukanis angeht«, sagte Darrok. »Was er auf der Galeere erlitten hat, ist nichts gegen das, was Vance ihm antun könnte. Euer Freund tut mir Leid, falls er wirklich in der Hand dieses Teufels ist.« 73 Nun macht schon, nehmt Euch eine Weintraube.« »Danke, nein«, gab Kinsel Rukanis steif zurück. Den Blick hielt er niedergeschlagen, was seiner Ansicht nach das Sicherste war. Kingdom Vance stellte die kristallene Obstschale auf den polierten Eichentisch zurück. Er zupfte eine Weintraube ab, steckte sie sich in den Mund und tat übertrieben genießerisch. »Hmm. Ihr wisst gar nicht, was Euch da entgeht.« »Was mir wirklich abgeht«, gab Kinsel zurück und wagte es nun doch, den Blick zu heben, »ist meine Freiheit.« Der Pirat tat befremdet. »Lässt meine Gastfreundschaft irgendwie zu wünschen übrig? Ist Euch der Wein nicht gut genug? Sind die Seidenlaken in Eurem Bett...« »Ich störe ungern Euer Vergnügen, wenn Ihr mich verhöhnt, Vance, aber beleidigt bitte nicht meine Intelligenz.« »Haltet Ihr es für intelligent, meine Großzügigkeit zu beleidigen? Wenn jemand so mit mir spricht, dann ist das gewöhnlich das Vorspiel für seinen Tod.« »Dann ist mein Leben eben zu Ende. Sogar der Tod wäre Eurer Art von Gastfreundschaft vorzuziehen.« »Ihr könnt Eure Freiheit haben, wann immer Ihr wollt. Oder wenigstens die Gelegenheit, sie zu erringen. Ihr müsst 74 Euch mir lediglich im Kampf stellen. Wir können es jetzt gleich an Deck tun.« »Ich sagte Euch bereits, dass ich mich darauf nicht einlassen werde.« »Ich gebe Euch mein Wort, dass meine Mannschaft Euch freilässt, falls Ihr Euch deshalb Sorgen macht. Wenn es Euch aber darum geht, dass Eure Fähigkeiten nicht mit den meinen vergleichbar sind, dann können wir sicher einen Weg finden, um einen Ausgleich herzustellen. Ich könnte mir beispielsweise eine Hand festbinden.« »Ich werde weder gegen Euch noch gegen irgendjemanden sonst eine Waffe erheben.« Vance lachte. »Ihr seid faszinierend, Rukanis. Ihr seid kein Feigling, aber Ihr glaubt nicht an Gewalt. Ich dagegen habe die Gewalt als unschätzbares Werkzeug kennen gelernt, ganz zu schweigen davon, dass sie mir ein beständiger Quell der Unterhaltung war.« Es war keineswegs übertrieben. Kinsel hatte Vances willkürliche Brutalität gegenüber Feinden und Besatzungsmitgliedern oft genug beobachten können. Auf ihre Weise waren beide Männer beeindruckend. Vance war überdurchschnittlich groß und kräftig gebaut. Ein Urwald von schwarzem Lockenhaar umrahmte das runzlige, vernarbte Gesicht und den Vollbart. Er trug gern prächtige Kleidung, an diesem Tag etwa einen bodenlangen Gehrock mit goldenen Borten und Hosen, die er in schenkelhohe Lederstiefel gesteckt hatte. Außerdem hatte er sich mit Schmuck behängt - Armreifen und Ohrstecker, Ketten und Anhänger und Ringe an jedem Finger. Vance war prunkvoll, Rukanis eher bescheiden. Auch sein Leben vor der Versklavung war kaum verschwenderisch zu nennen. Er war nicht ganz mittelgroß und schwer gebaut, seine Brust war mächtig, um die großen Lungen des Sängers aufzunehmen. Die verschlissene Sträflingsuniform hing ihm inzwischen freilich recht lose am Leib. Sein
75 Haar und der Bart waren dunkel, und früher einmal waren sie kurz getrimmt gewesen. Jetzt wucherten beide. Vance biss in einen roten Apfel. »Wenn Ihr nicht für Eure Freiheit kämpfen wollt«, sagte er kauend, »dann werde ich sie Euch auch nicht gewähren.« Ein weiterer Bissen, und er warf den Apfel achtlos über die Schulter weg. Er landete auf einem Haufen halb gegessener Früchte auf dem Boden seiner prächtig eingerichteten Kabine. »Außerdem seid Ihr mir lebendig viel nützlicher.« »Warum?« »Da wäre zunächst einmal Eure Begabung, Eure Stimme. Trotz allem, was Ihr denken mögt, bin ich kein Wilder.« Er rülpste und wischte sich mit dem Ärmel den Saft aus dem Bart. »Und der zweite Grund?« »Ihr seid für Eure Beteiligung am Widerstand verurteilt worden. Wer wäre besser geeignet als Ihr, um die Bewohner der Insel zum Aufgeben zu bewegen?« »Ich würde mit Fremden reden. Warum sollten sie auf mich hören?« »Ihr unterschätzt Euren Einfluss. Die Diamantinsel wurde von den Rebellen übernommen, und es ist gut möglich, dass Ihr einige von ihnen kennt.« »Das ist eine gewagte Annahme. Aber selbst wenn es zutrifft, warum sollten sie meinetwegen aufgeben? Ihre Vision ist wichtiger als ein einzelner Mann.« »Ihre Vision«, entgegnete der Pirat verächtlich. »Sie haben so viel Vision wie ein Eunuch, der sich in einem Freudenhaus vergnügen will.« Er sah Rukanis scharf an. »Kennt Ihr Zahgadiah Darrok?« »Ich habe den Namen schon einmal gehört«, gab Kinsel vorsichtig zurück. »Darrok steckt hinter dieser Widerspenstigkeit. Er hat sich mit den verdammten Revolutionären verbündet, um mir vorzuenthalten, was mir von Rechts wegen gehört.« 76 »Meint Ihr die Insel? Ich dachte, sie gehört ihm.« Vance explodierte. Er schlug mit der Faust auf den Tisch, dass die Teller tanzten. »Sie gehört ihm nicht, verdammt noch mal! Er hat sie mir praktisch gestohlen!« Kinsel hielt dies für höchst unwahrscheinlich, zog es aber vor zu schweigen. »Ich kenne Darrok von früher«, fuhr Vance etwas ruhiger fort. »Wir haben zusammengearbeitet, um in diesen Gewässern ein Reich aufzubauen.« Er machte ein übertrieben verletztes Gesicht. »Ich dachte, wir wären Freunde. Dann ist er mir in den Rücken gefallen. Es war ein schrecklicher Verrat.« »Ich verstehe nicht, was das mit mir zu tun hat.« »Dann mangelt es Euch an Phantasie, Sänger. Die Insel gehört von Rechts wegen mir und dem Bündnis, das ich mit den anderen Kaufleuten und Abenteurern geschmiedet habe. Wir brauchen sie als Basis, und ich werde tun, was immer nötig ist, um sie zu bekommen. Wenn dies bedeutet, dass ich Euch auf irgendeine Weise benutzen muss, die ich für angebracht halte, dann werde ich es tun.« »Sie werden sich auf keinen Handel einlassen, falls Ihr das meint. Und ich würde es auch nicht wollen.« »Wie edelmütig von Euch«, höhnte Vance. »Seht es doch von ihrem Standpunkt aus. Mein Wohlergehen oder ihrer aller Zukunft. Das ist überhaupt keine Frage.« »Wir werden sehen.« »Das ist doch verrückt, Vance. Ihr verschwendet Menschenleben für - wozu denn eigentlich? Für ein Stück Fels inmitten des Meeres. Es gibt noch andere Inseln. Warum nehmt Ihr nicht eine von denen?« »Menschenleben sind in meiner Branche nichts weiter als ein Kostenfaktor. Die Männer, die sich auf die Seite meines Bündnisses geschlagen haben, haben es freiwillig getan, und sie kennen die Risiken. Menschenleben zählen nicht. Meine Ehre schon.« 77 »Eure Ehre erfordert ein derartiges Blutbad? Es wäre doch sicher besser, irgendeine Übereinkunft mit den Rebellen anzustreben. Vielleicht würden sie sogar ...« »Genug! Eure ... Eure Vernunft regt mich auf.« Kinsel machte sich auf einen Faustschlag gefasst. Oder auf Schlimmeres. Doch es geschah nichts. Vance lehnte sich zurück, legte geräuschvoll die Füße auf den Tisch und verschränkte die Hände hinter dem Nacken. »Singt für mich«, sagte er. »So, wie Ihr es neulich nach dem Überfall getan habt. Beruhigt mich.« »Und wenn ich mich weigere?« »Ihr seid doch so besorgt um Menschenleben. Das Schicksal der nächsten - sagen wir mal, zehn - Gefangenen, die mir in die Hände fallen, hängt davon ab, wie Ihr Euch jetzt entscheidet: vorsingen oder umbringen.« Er lachte über seinen müden Scherz. »Nun gut«, gab Rukanis leise zurück. Er stand auf und bereitete sich auf einen Auftritt vor, der eher einem Opfergang gleichen würde. »Etwas Ruhiges«, verlangte Vance. »Dieses Gerede setzt meinen Nerven zu.« Da sein Sklaventreiber das Gemüt eines verdorbenen Kindes hatte, entschied Kinsel sich für ein Wiegenlied. Er begann zu singen. Es war kein besonders kummervolles Lied, doch seine Interpretation gab ihm eine gewisse Melancholie. Unweigerlich dachte er an Tanalvah und die Kinder. Der Gedanke an sie war alles, was ihn noch
aufrecht hielt. Jetzt sang er ein Klagelied über ihren Verlust und fand eine Art Trost darin. Seine Gedanken richteten sich auf die normale Welt, die er hatte hinter sich lassen müssen. Die vertraute Umgebung, die Gewissheiten, all das schien so fern und unwirklich. Kinsel Rukanis sehnte sich nach seinem früheren Leben. Er sehnte sich nach der geordneten Welt von Bhealfa. 78 Irgendwo in den Weiten des westlichen Bhealfa versuchte Prinz Melyobar, ein rohes Huhn zu essen. Er saß am kleinen Esstisch auf der geräumigen Brücke seines Palastes und kaute mit einem angewiderten Gesichtsausdruck auf dem zähen, gummiartigen Fleisch herum. »Bäh!« Er spuckte es aus und verzog das Gesicht. »Das ist ja widerlich! Wessen Idee war es, mir so einen Dreck vorzusetzen?« Ein erschrockener Diener eilte herbei und verbeugte sich tief. »Ich bitte um Verzeihung, Hoheit, aber ... aber Ihr habt es selbst befohlen.« »Was?« Verdutzt blinzelte er den Mann an. »Ihr sagtet ... das heißt, Eure königliche Hoheit haben sogar ausdrücklich befohlen, dass Eure Speisen in Zukunft ungekocht serviert werden müssen. Um Anschläge von Giftmischern zu vereiteln.« »Wann?« »Ihr beliebtet, diesen Befehl erst gestern höchstpersönlich zu erteilen, Hoheit.« »Unsinn!« »Aber, Exzellenz ...« »Unfug, sage ich! Der Dummkopf hat mich falsch verstanden. Oder irgendjemand ist absichtlich aufsässig.« Teller und Besteck flogen durch den Raum. »Schaff das fort!« Der Diener bückte sich, um die Bescherung aufzuheben, und eilte hinaus, wobei er versuchte, gleichzeitig zu katzbuckeln und blitzschnell zu verschwinden. »Lass den Koch auspeitschen!«, rief Melyobar ihm hinterher. »Und lass dich selbst für deine Aufsässigkeit auspeitschen!« Als er den leeren Tisch sah, kam ihm ein schrecklicher Verdacht. »Bei den Göttern«, murmelte der Prinz. »Wache! Wache!« Zwei Wächter eilten mit gezogenen Schwertern herbei. »Hoheit?«, fragte der Hauptmann der Wache. 79 »Ich habe Grund zu der Annahme, dass er sich an Bord befinden könnte.« Sie mussten nicht erst fragen, wen der Monarch meinte. »Ich glaube, er hat seine gestaltwandlerischen Fähigkeiten benutzt, um sich einzuschleichen. Gebt Alarm. Durchkämmt den Palast nach jemandem, der so aussieht wie ich.« Die Wächter schienen verwirrt, dann sahen sie ihn fragend an. »Also jemand, der ich offensichtlich nicht bin. Idioten. Macht schon!« Die beiden Wächter zogen sich zurück. Weitere Instruktionen waren nicht notwendig. Sie bekamen mindestens einmal täglich den Befehl, den Tod zu suchen. Melyobar war schon unter normalen Bedingungen äußerst nervös, und der jüngste Vorfall trug nicht dazu bei, ihn zu beruhigen. Er war gerade erst in mittleren Jahren, sah aber erheblich älter aus, und sein schütteres Haar war vor der Zeit ergraut. Sein rasiertes Gesicht war fleischig und fahl, sein Körper schlaff und untersetzt. »Hoheit!«, rief der Steuermann vom Steuerruder herüber. »Wir nähern uns dem Tal!« Melyobar stand auf und ging zu ihm. Die Episode, die ihn gerade noch so aufgeregt hatte, war schon wieder vergessen. Die kurze Aufmerksamkeitsspanne des Prinzen war allgemein bekannt. Die obere Hälfte der Brücke bestand aus einer weiten Fläche von kostbarem, durchsichtigem Glas. Melyobar sah sich um. Vor ihnen lag die Mündung eines tief eingeschnittenen Tals, das im Schneetreiben allerdings kaum zu erkennen war. Mitten hindurch schlängelte sich ein Weg, der zwischen den mit Schnee beladenen Bäumen gerade eben auszumachen war. Für einen Beobachter auf den steilen Klippen, die das Tal begrenzten, wäre es ein Ehrfurcht gebietender Anblick gewesen. Der schwebende Palast des Prinzen war gewaltig. Er war mit seinen Verzierungen mehr als prunkvoll zu nennen, und 80 nun war die ganze Anlage mit einem blendend weißen Mantel bedeckt. Von einer Magie betrieben, die einen beachtlichen Teil von Bhealfas Bruttosozialprodukt verschlang, schwebte der Palast unter Anleitung einer Gruppe erstklassiger Magier dahin. Ähnlich beeindruckend war das Gefolge des Hofes. Mehrere Dutzend geringere Burgen und Herrenhäuser, die sich im Besitz von führenden Höflingen und mächtigen Bürgern befanden, folgten dem Palast. Geringer waren sie freilich nur im Vergleich zu Melyobars gigantischem Aberwitz zu nennen. Ohne diesen Vergleich wären sie immer noch beeindruckend gewesen. Während sie majestätisch schwebte, war die ganze Prozession in knisternde Entladungen von magischer Energie gebadet. Grelle Blitze sprangen von einem Gebäude zum nächsten über und bildeten ein funkelndes, sich ständig veränderndes Netz. Darunter, auf dem Erdboden, hielt ein Heer mit dem Palast Schritt. Eigentlich waren es sogar mehrere Heere. Zunächst einmal eine militärische Streitmacht, die diesen Namen tatsächlich verdiente, außerdem aber auch eine
bunte Truppe von zivilen Gefolgsleuten, deren Zahl in die Zehntausende ging. Sie reisten mit allen Transportmitteln, die man sich nur vorstellen konnte, oder sie ritten auf Pferden. Die Ärmsten gingen zu Fuß. Der schneidend kalte Wind trieb ihnen den Schnee entgegen. »Warum fahren wir so langsam?«, wollte Melyobar wissen, als er sich auf seinen Thron sinken ließ. »Das Wetter, Hoheit«, erklärte der Steuermann nervös. »Schneller können wir unter diesen Bedingungen nicht fahren.« Er deutete zur Scheibe. »Das Tal ist sehr eng, Hoheit. Wenn wir hindurchfahren, dann ist es, als wollte man eine Nadel durch eine Öse führen.« Melyobar schnaubte. Der Steuermann, seine Vorgesetzten und all ihre Unter81 gebenen wären lieber einen ganz anderen Weg geflogen. Doch der Prinz beharrte auf dieser Route, und über die Schlucht hinwegzufliegen, hätte eine ruinöse Menge an Magie verbraucht. Vorsichtig und ein gutes Stück über den Baumwipfeln fuhren sie in den Taleingang hinein. Auf beiden Seiten schienen die steilen Abhänge rasch näher zu rücken. Schweißperlen bildeten sich auf der Stirn des stämmigen Steuermanns, der das gewaltige Gefährt manövrierte. Die Navigation erforderte seine ganze Geschicklichkeit, nicht zuletzt weil er mit seinen Befehlen die schwerfälligen Bewegungen der gewaltigen Masse, die er steuerte, vorwegnehmen musste. Es war, als steuerte er ein mächtiges Schiff auf See. Es dauerte stets mehrere Sekunden, bis das enorme Gewicht träge reagierte. Sie verloren an Höhe, und die Unterseite des Palastes strich über die Wipfel einiger besonders hoher Bäume hinweg. Der abgestreifte Schnee stürzte auf die Gefolgsleute hinab, die darunter reisten, und verstärkte noch ihr Unbehagen und ihre Gereiztheit. Protestschreie waren von unten zu hören. Der Steuermann flog behutsam etwas höher. »Ach, nun macht doch schon!«, grollte Melyobar. »Wir haben keine Zeit zu verschwenden!« Die Konzentration des erschrockenen Steuermanns war gestört. Seine Hand ruckte am Steuerrad, leicht nur, aber doch stark genug, um den Leviathan ein Grad vom Kurs abzubringen. Er korrigierte sofort wieder. Unweigerlich streifte der Palast die Felswand auf der rechten Seite. Es gab ein lautes Krachen, dann ein schreckliches Knirschen, als der Palast an der Klippe entlangscheuerte. Alle Menschen auf der Brücke, mindestens zwanzig Funktionäre und Wächter, bissen die Zähne zusammen. Der ganze Raum bebte. Gläser und Porzellan zerschellten auf dem Boden. Der Prinz schien es überhaupt nicht zu bemerken, 82 oder er war bemerkenswert desinteressiert an den Vorgängen. Langsam korrigierte der Palast seinen Kurs und flog gemächlich geradeaus. Doch die Ruhe dauerte kaum länger als eine halbe Minute. Direkt vor ihnen begann eine scharfe Kurve im Tal. Um sicher herumzufahren, musste der Palast die Geschwindigkeit weiter drosseln. Es war ein kompliziertes Manöver. Wenn die Geschwindigkeit zu gering wurde, konnte der Zustrom der Magie abbrechen und damit der Auftrieb wegfallen. Es fühlte sich für die Zuschauer an, als verginge eine Ewigkeit, während Melyobar offensichtlich immer ungeduldiger wurde, als der Steuermann sie durch die Serpentine lenkte. Zwei Assistenten halfen ihm jetzt und arbeiteten an einer Reihe von Hebeln, mit denen ein kompliziertes System von Rudern betätigt wurde. Als sie endlich wieder geradeaus fuhren und hier und dort ein halb unterdrücktes Seufzen zu hören war, drängte Melyobar sofort wieder, das Tempo zu erhöhen. Der Schnee fiel unablässig. Hinter dem Palast folgte der Hofstaat wie eine Horde Drohnen, die der unförmigen Königin stets auf den Fersen blieb. Sie schwärmten nacheinander um die Kurve, und jeder bremste so weit ab, wie es nötig war, um durch die Windungen des Tals zu manövrieren. Einer der Letzten, ein mit Alabaster verkleidetes Ding, das zahlreiche Türme besaß, war zu schnell. Ein prächtiges Schloss war ihm im Weg. Das schnellere Gebäude bremste ab und wich gleichzeitig aus. Es streifte das Schloss, das schwankend zur Seite gedrückt wurde, und nahm selbst direkten Kurs auf eine Felswand. Eigentlich flogen die Gebäude nicht sehr schnell. Einem Zuschauer wäre es vorgekommen wie ein unbeholfenes Unterwasserballett. Der schnellere Palast prallte gegen die Klippe, wurde zusammengedrückt und verlor gut ein Drittel seiner Ausdeh83 nung. Teile des Gemäuers lösten sich und fielen herunter. Ein Schauer von Ziegelsteinen ging nieder. Einen langen Augenblick schwebte das Bauwerk noch in der Luft, und hellblaue Blitze wanderten über seine Außenflächen. Dann ging das Licht aus, und die Schwerkraft gewann die Oberhand. Es stürzte wie ein Stein. Der Teil der Horde, der das Pech hatte, direkt unter dem Gebäude zu reisen, war verloren. Der Palast löste sich im Fallen auf, kreischende Bewohner fielen heraus und stürzten wie ein menschlicher Wasserfall zu Boden. Der Aufschlag war gewaltig, riesige Staubwolken stiegen auf, die selbst der massive Schneefall nicht niederdrücken konnte. Melyobar stand auf, um einen besseren Überblick über das Chaos zu bekommen, das in der Schlucht ausgebrochen war. »Ich glaube, das war Graf Barazells Residenz«, bemerkte er, ohne sich an jemand
Bestimmtes zu wenden. »So ein Pech aber auch.« Seufzend ließ er sich wieder auf seinen Thron sinken. »Aber immerhin, das sollte den Tod für eine Weile ablenken.« Matt winkte er seiner Besatzung. »Volle Kraft voraus.« Der Palast wurde wieder schneller. Die Prozession hatte das Tal inzwischen fast verlassen. Man konnte bereits den Ausgang und dahinter die offenen, schneebedeckten Felder sehen. Melyobar befahl einen Adjutanten zu sich. Der Mann hatte, wie alle anderen im Raum, ein aschfahles Gesicht, das sich von dem des Prinzen lediglich darin unterschied, dass diese Farbe bei Melyobar der Normalfall war. »Schickt Suchtrupps zurück, sobald wir hier heraus sind«, befahl der Prinz. Der Adjutant verbeugte sich. »Selbstverständlich, mein Lord. Ich lasse Rettungstrupps aufstellen.« »Rettung? Oh. Nun gut, wenn man überlebende Adlige 84 findet, dann sollen sie herausgeholt werden. Aber sagt den Leuten, dass Leichen die höchste Priorität haben.« »Leichen, Hoheit.« Der Adjutant sah beinahe selbst aus wie eine Leiche. »Ein paar nur. Ich könnte ein paar Dutzend gebrauchen.« »Haben Eure Hoheit bestimmte Vorstellungen, welche ... welche Arten von Kadavern bevorzugt werden sollen?« »Ich bin nicht wählerisch. Aber wenn Ihr schon fragt, dann dürfte uns mit den Leichen von Gemeinem am ehesten gedient sein, denke ich.« »Sehr wohl, Sir. Wäre das dann alles, Hoheit?« »Ja doch, ja, nun macht schon.« Als der Beamte sich entfernt hatte, stand Melyobar auf, ging an einem Aufgebot dienernder Hofschranzen vorbei und verließ die Brücke. Draußen stieß eine Eskorte seiner persönlichen Leibwache zu ihm. Die vier Männer marschierten hinter ihm, als er durch einen Flur lief, der vor einer Eichentür endete. Der Magier, der daneben auf einem Stuhl lümmelte, sprang auf. Dienstbeflissen öffnete er dem Prinzen die Tür, ließ ihn und seine Leibwache ein und quetschte sich hinter ihnen durch den Zugang. Sie standen nun in einem quadratischen, mit Holz vertäfelten Zimmer, das nicht geräumiger war als ein großer Schrank. Die einzigen Einrichtungsgegenstände waren eine magische Lichtkugel an der Decke und ein mit Runen verziertes Stück braunes Porzellan, das neben der Tür in die Wand eingelassen war. Auf Melyobars knappen Befehl hin legte der Magier die Hand auf die Porzellanfläche. Der Raum begann zu sinken, langsam zuerst und dann immer schneller. Der prinzliche Magen schoss einen kleinen Purzelbaum. Es war ein Gefühl, das der Herrscher sehr genoss. Sein privater Aufzug war im Grunde nur eine große Holzkiste. Sie befand sich im Innern eines Schachtes, der 85 vom höchsten Punkt des Palastes bis zum tiefsten reichte; unterwegs gab es Zugänge zu verschiedenen Etagen. Magisch erzeugter Druck, gewonnen aus der gleichen Energie, die auch das Schloss antrieb, bewegte die Kammer auf Befehl des magischen Bedieners nach oben oder nach unten. Melyobar war stolz darauf, jederzeit über die neuesten Annehmlichkeiten zu verfügen. Die Kapazität der Kammer war auf sechs Personen begrenzt. Daher standen sie zwangsläufig eng beieinander, Melyobar natürlich in der Mitte des Gedränges. Seine Leibwächter bekamen so die einzigartige Gelegenheit, die exzentrischen Ansichten ihres Herrschers zu Fragen der persönlichen Hygiene aus erster Hand kennen zu lernen. Die Fahrt nach unten verlief in unbehaglichem Schweigen. Als sie schließlich ihr Ziel erreichten und in einem unterirdischen Gang herauskamen, war allenthalben erleichtertes Schnaufen zu hören. Der Zauberer blieb am Aufzug zurück, die anderen betraten ein Labyrinth von Gängen. Ein längerer Marsch, immer wieder unterbrochen durch Kontrollposten und verschlossene Tore, nahm seinen Lauf. Endlich erreichten sie eine gepanzerte Doppeltür, vor der einige Bewaffnete standen. Melyobar befahl seiner Eskorte zu warten und ging allein hinein. Er betrat ein großes, fensterloses Zimmer mit rohen Steinwänden, das einer Höhle ähnelte, auch wenn es mit Dutzenden von magischen Kugeln gut ausgeleuchtet war. Etwa zwanzig Menschen arbeiteten hier, die meisten waren Magier. Ein Zauberer begrüßte ihn. »Ihr werdet das hier brauchen, Hoheit«, sagte er und reichte ihm eine unförmige weiße Maske, die derjenigen glich, die er selbst und alle anderen im Raum trugen. Melyobar musste die Hilfe des Zauberers in Anspruch nehmen, um die Maske richtig über Nase und Mund zu 86 bekommen. Sie war mit einer Art Desinfektionsmittel getränkt und mit einem milden Parfüm versetzt. Der Prinz musste husten. »Wie geht die Arbeit voran?«, fragte er, als er zu husten aufgehört hatte. »Sehr gut, Hoheit. Wenn Ihr es ansehen möchtet?« »Warum sonst bin ich wohl hier?« Der Magier führte ihn zum hinteren Ende des Raumes. Dort standen vier große Metallbehälter, die jeweils ein Fenster besaßen. Melyobar ging zum vordersten und lugte hinein. Drinnen sah er nichts als eine milchige Flüssigkeit. Er wollte sich schon beklagen, als von innen ein rundes, tödliches weißes Objekt gegen das Glas prallte. Der Prinz fuhr erschrocken zurück und quiekte ängstlich. »Kein Grund zur Sorge, Hoheit«, beruhigte der Magier ihn. »Hier kann uns nichts geschehen, solange wir
vorsichtig sind.« Melyobar betrachtete in einer Art morbider Faszination den Kopf der schwebenden Leiche. Es war möglicherweise eine Männerleiche, doch da die Verwesung bereits eingesetzt hatte, konnte man es nicht mehr genau sagen. Ein Auge fehlte, das zweite war vorgewölbt. Das Fleisch war aufgedunsen und grünlich. »Ich bitte um Nachsicht, Hoheit«, fuhr der Zauberer fort, »aber wir benötigen wirklich mehr Versuchspersonen.« »Ich habe das geregelt. Habt Ihr die anderen schon verbraucht?« »Oh, ja, Hoheit. Aber wie Ihr wisst, müssen wir experimentieren, und so war die Ausschussquote sehr hoch.« Der reisende Hof lieferte regelmäßig Tote. Melyobar ließ vermeintliche Feinde in Käfigen an den Zinnen aufhängen, bis sie verhungerten. Andere ließ er willkürlich foltern, weil sie womöglich sein verkleideter gestaltwandlerischer Erzfeind waren. Manche ließ er einfach erstechen, während sie mit ihm zu Abend aßen. Offensichtlich reichten diese To87 desfälle aber nicht aus, um die Bedürfnisse der Magier zu befriedigen. »Was habt Ihr mir sonst noch zu zeigen?«, erkundigte sich der Prinz. »Wir haben unsere erste Destillation, Hoheit«, informierte ihn der Magier hocherfreut. »Dann habt Ihr die Essenz erzeugt?« »Noch nicht ganz, Hoheit. Aber wir sind ganz nahe daran. Kommt mit, Hoheit, und seht es Euch an.« Er führte seinen Herrn zu einem gesicherten Schrank, steckte einen magischen Schlüssel hinein und nahm ein winziges Glasfläschchen heraus. Er betete, dass Melyobar nicht verlangte, es in die Hand zu nehmen, und hielt es hoch, damit der Prinz es sehen konnte. Der Herrscher blinzelte kurzsichtig. »Es ist völlig durchsichtig«, beschwerte er sich. »Wasserklar.« »Lasst Euch dadurch nicht täuschen, mein Lord. Es gibt vieles, was man nicht sehen kann.« »Aber es wird seinen Zweck erfüllen?« »In ausreichender Stärke und Menge, gewiss, Hoheit. Wir haben bereits mit den Tests begonnen.« »Zeigt es mir.« Eine benachbarte Kammer, eine von vielen, beherbergte einen Schweinestall. Betreten konnte man ihn nicht, weil die Tür durch eine dicke Glasplatte ersetzt worden war. Doch Melyobar konnte genug sehen. Der Stall war dreckig. Zwei ausgewachsene Schweine lagen im Stroh. Krämpfe liefen durch ihre Körper, die Beine zuckten. Die Haut war gescheckt und irgendwie schmierig und die Augen glasig. »Wie kommt Ihr dort hinein?«, wollte der Prinz wissen. »Überhaupt nicht, Sir. Sobald die Versuchsobjekte dem Mittel ausgesetzt wurden, versiegeln wir die Kammer. Wir lassen ihnen genug Essen und Trinken darin, damit wir sicher sind, dass sie nicht durch Verhungern sterben. Dann 88 beobachten wir sie. Wir wagen es nicht, den Raum wieder zu öffnen, Hoheit.« »Hmm. Und wie sieht es mit höheren Lebensformen aus?« »Auch da hatten wir gewisse Erfolge zu verzeichnen, Hoheit.« Er führte ihn in einen weiteren, mit Glas abgesperrten Raum. Dieser war zusätzlich vergittert. Drinnen gab es grobe Pritschen. Zwei Männer und eine Frau lagen darauf. Alle sahen aus, als befänden sie sich im Koma, sie wurden von Krämpfen geschüttelt und waren mit Schweiß bedeckt. Die Frau hatte die Augen geöffnet. Sie starrte blicklos ins Leere wie die Schweine. »Ausgezeichnet«, befand Melyobar. Niemand hätte es dem Kriegsherrn übel genommen, wenn er in einem prunkvollen Schlitten gefahren oder auf einem prächtigen Streitross geritten wäre. Doch das war nicht Zerreiss' Art. Er zog es vor zu laufen, und seine Anhänger liebten ihn dafür. Er marschierte an der Spitze eines Heeres, das anders war als alles, was es im Barbarenland jemals gegeben hatte. Die Zahl seiner Kämpfer konnte man nur raten. Die bunt zusammengewürfelte Schar breitete sich auf der weiten Ebene aus, bis man den Schnee nicht mehr sehen konnte. Wie ein Schwärm gefräßiger Insekten bedeckten sie die Erde. So bemerkenswert wie die Größe war auch die Zusammensetzung der Horde. Viele ihrer Mitglieder stammten aus den Ländern, die Zerreiss erobert hatte, doch es war kein Zwang nötig gewesen. Auch gab es keine Söldner in seinem Heer, wie es oft der Fall war, wenn Truppen ausgehoben wurden. Sie marschierten keineswegs, weil ihnen die Peitsche drohte oder weil Belohnungen lockten. Vielmehr hatten sie das Gefühl, sich auf einem Kreuzzug zu befinden. Der Mann, dem sie folgten, hatte viele Beinamen bekommen - die Sichel, die Seidenkralle, der Mann, der von der Sonne fiel. Alle waren ihm verliehen worden, keinen 90 hatte er selbst angenommen. Und kaum ein Mann wurde seinen Titeln so wenig gerecht wie Zerreiss. Er hatte nichts Herausragendes an sich und war nicht einmal eine besonders beeindruckende Erscheinung. Gesicht und Körperbau waren durchschnittlich. Hätte er mit einem Dutzend anderer in einer Reihe gestanden, dann hätte man sich kurz darauf kaum noch an ihn erinnert. Doch sein Äußeres hatte nichts mit dem außerordentlichen Charisma zu tun, das er besaß. Worte konnten seine
Anziehungskraft nicht erklären. Er wusste genau, was die Truppe fühlte, und zeigte eine ansteckende Begeisterung für seine Sache, und die Leute dankten es ihm mit einer Loyalität, die echt und grenzenlos war. Er befand sich immer noch in einer Region, die man als nördliche Einöde bezeichnete, war inzwischen allerdings ein beträchtliches Stück nach Süden vorgedrungen. Bisher hatte keine Macht ihn aufhalten oder seinen Vorstoß auch nur merklich verlangsamen können. Doch obwohl Zerreiss seine Anhänger von ihren weit entfernten Geburtsorten im unwirtlichen Heimatland der Barbaren bis hierher geführt hatte, war das Wetter keine Spur milder als daheim. Die Temperaturen stiegen selten über den Gefrierpunkt, und es hatte mehrere Wochen pausenlos geschneit, bis sie endlich einmal einen seltenen Tag ohne Schneefälle genießen konnten, an dem sich sogar die Sonne blicken ließ und ihre betäubten Seelen erwärmte. Der Kriegsherr ging zwischen zweien seiner wichtigsten Adjutanten. Sephor war der Jüngere der beiden. Man hätte meinen können, dass er zu unerfahren war, um eine derart verantwortungsvolle Position zu bekleiden, doch er hatte seine Fähigkeiten mehr als einmal unter Beweis gestellt. Weilern war ein in Ehren ergrauter Kämpfer, der sich in vielen Schlachten bewährt hatte. Seine Erfahrungen und sein klarer Blick bildeten ein ideales Gegengewicht zu dem noch relativ ungeschliffenen jungen Mann. Beide hatten 91 die Erlaubnis, in Gegenwart ihres Herrschers frei zu sprechen. Zerreiss bestand sogar darauf. Als sie eine Hügelkuppe erreichten, auf der knietiefer Schnee lag, hielten sie inne, um Atem zu schöpfen und sich die Truppe anzuschauen, die ihnen folgte. Die Tundra war schwarz von der ungeheuren Zahl von Kriegern. Hunderte Belagerungstürme bewegten sich in der Menge, und ebenso viele mächtige Katapulte wurden geschleppt. Tausende Trommeln schlugen den Marschrhythmus. »Es muss Euch doch sehr erfreuen, wenn so viele Menschen Eurem Banner folgen«, sagte Weilern. »Wenn man ihnen die Wahrheit zeigt«, entgegnete Zerreiss, »dann folgen sie.« »Könnte es nicht auch sein, mein Lord, dass es die Macht ist, die sie anlockt?«, überlegte Sephor. »Für einen, der so jung ist, hast du durchaus zynische Ansichten über die menschliche Natur.« »Ich hoffe allerdings, dass es nicht wahr ist, Sir«, gab der jüngere Mann ernsthaft zurück. Zerreiss lächelte. »Natürlich ist es nicht wahr. Aber manchmal bist du so ernst, dass ich nicht anders kann, als an den Ketten der Vernunft zu rasseln, mit denen du dich selbst so gern fesselst.« »Unser Ziel ist doch wirklich etwas Ernstes.« »So ist es. Allerdings musst du lernen, mir zu vertrauen, und du musst wissen, dass wir durch mich siegen werden.« »Ich glaube an Euch, Sir. Ich traue aber denen nicht, gegen die wir antreten müssen.« »Damit sagst du jedoch auch, dass du an meiner Fähigkeit zweifelst, sie zu besiegen, Sephor. Hast du mich nicht oft genug siegen sehen, um solche Ängste abzustreifen?« »Oft genug, Sir. Aber dies hier ist etwas anderes. So kühn waren wir noch nie.« »Die Menschen sind immer gleich, ob sie nun die Bürger der beiden Reiche sind oder ob man sie Wilde nennt. 92 Das Geschenk, das ich ihnen bringe, werden sie so oder so zu schätzen wissen.« »Wir haben gewiss erlebt, dass dies bis jetzt der Wahrheit entsprochen hat«, schaltete Weilern sich ein. »Aber Sephor hat nicht ganz Unrecht, wenn ich das so sagen darf, mein Lord. Wir treten dieses Mal nicht gegen irgendeinen Häuptling und seinen Clan oder gegen einen Stadtstaat an. Dieses Mal haben wir mit den imperialen Streitkräften zu tun, und es ist nicht nur ein Reich, sondern es sind beide zugleich.« »Wenn wir die Protektorate von Rintarah und Gath Tampoor gleichzeitig angreifen, haben wir die Gelegenheit, ihren zerbrechlichen Waffenstillstand in dieser Gegend zu zerstören«, erinnerte Zerreiss ihn. »Wenn ihre Herrscher in den jeweiligen Hauptstädten einander gegenseitig die Schuld zuschieben, dann spielen sie uns damit in die Hände. Eine verstärkte Feindschaft zwischen den Reichen kann auf lange Sicht nur nützlich für uns sein.« »Ich sehe durchaus die Vorteile, wenn wir sie beide in den Schwanz zwicken, Sir, aber ich mache mir Sorgen, weil wir dazu unsere Truppen aufteilen müssen.« Zerreiss deutete mit ausholender Armbewegung auf sein Heer. »Glaubst du denn, wir zählten nicht genug Köpfe?« »Ich dachte dabei nicht an die Stärke unserer bewaffneten Streitkräfte. Ich mache mir Sorgen, weil Ihr nicht an zwei Orten gleichzeitig sein könnt.« Der Kriegsherr lachte. »Das übersteigt in der Tat sogar meine Fähigkeiten, Weilern.« »Mein Lord, nehmt es mit Humor, wenn Ihr wollt, aber das Problem schafft Ihr damit nicht aus der Welt.« »Welches Problem?« »Während Ihr hier seid und bei der Erstürmung des Vorpostens von Gath Tampoor mitwirkt, geht der Rest Eures Heeres ohne Euch gegen Rintarah vor. Wie soll es ihnen dabei wohl ergehen?« 93 »Du übersiehst die Tatsache, dass uns mein Ruf vorauseilt. Die Verteidiger dort wie hier wissen von den anderen, die uns unterlegen waren. Unterschätze diesen Vorteil nicht.« »Was ist mit der Moral des Heeres, das gegen die Siedlung von Rintarah marschiert?«, fragte Sephor. »Wenn Ihr nicht bei ihnen seid ...« »Sie sind durchaus fähig, ihre Aufgaben auch ohne mich zu erfüllen. Genau das ist sogar meine Absicht.«
»Sir?« »Weilern hat etwas sehr Wahres gesagt, als er meinte, ich könne nicht an zwei Orten gleichzeitig sein. Wenn unser Feldzug fortschreitet, werden wir jedoch immer öfter an mehreren Fronten zugleich kämpfen müssen. Das Heer soll sich darüber im Klaren sein, dass es auch ohne meine Gegenwart siegen kann. In gewisser Weise muss man ihnen abgewöhnen, sich zu sehr auf mich zu verlassen, denn sonst werden wir unsere Ziele nie erreichen.« »Das kann ich allerdings verstehen, Sir.« »Ich will auch für alle möglichen Fälle Vorsorge treffen.« »Wie meint Ihr das, mein Lord?« »Ich bin genauso verwundbar wie jeder andere auch. Wenn ich mir in dieser Schlacht einen Pfeil einfange oder bei einem Kavallerieangriff niedergestochen werde, dann werde ich sterben. Und ich will sicherstellen, dass mein Werk dann nicht mit mir stirbt.« Ihren Gesichtern war anzusehen, dass die Adjutanten bisher noch keine Sekunde an die Tatsache gedacht hatten, dass Zerreiss sterblich war. »Wie könnten wir ohne Euch weitermachen?«, fragte Weilern. »Wenn Ihr nicht mehr hier seid, die Götter mögen es verhüten, was sollte uns dann beflügeln?« »Es rührt mich, dass du so empfindest«, erwiderte der Kriegsherr mit echter Wärme. »Aber genau diese Einstellung muss sich ändern. Ich will, dass ihr von dem getragen 94 werdet, was ich begonnen habe. Das Schlimmste, was ihr mir antun könntet, wäre, unsere Sache einfach nur deshalb aufzugeben, weil ich sie nicht mit euch bis zum Ende durchstehen kann. Mein Wunsch ist, eine Bewegung ins Leben zu rufen, und nicht die Erhöhung meiner Person.« Sie wussten, dass dies der Wahrheit entsprach. »Ihr könnt aber sicher sein«, fügte er freundlich hinzu, »dass ich nach Osten zu unseren Truppen reisen werde, falls sich herausstellt, dass sie beim Angriff auf Rintarahs Vorposten auf erbitterten Widerstand stoßen. Beruhigt euch das ein wenig?« Seine Adjutanten zeigten sich erleichtert, auch wenn sie nicht verhehlen konnten, dass seine Worte sie getroffen hatten. Sephor wollte noch etwas klarstellen. »Ihr sagtet, unsere heutige Taktik könne dazu führen, dass die Reiche sich gegenseitig an die Kehle gehen. Mehr, als es ohnehin schon der Fall ist. Doch wenn die Nachrichten ihre Hauptstadt erreichen, dann werden sie doch die Wahrheit erfahren?« »Wenn wir Zwietracht zwischen den Reichen säen können, dann gereicht uns dies zum Vorteil. Unser Hauptziel ist es freilich nicht. Und was die Nachrichten angeht, so werden sie genau das hören, was sie hören sollen. Je mehr Eroberungen wir machen, desto besser können wir ihre Nachrichtenübermittlung kontrollieren.« »Dann müssten wir aber beizeiten den ganzen Ozean beherrschen, mein Lord«, wandte Weilern ein. »Die Reiche haben diese Gegend bisher vernachlässigt. Jetzt aber wagen sie sich jeden Tag ein Stück weiter vor, was vornehmlich auf unsere Siege zurückzuführen ist. Die Expeditionen, die Gath Tampoor und Rintarah in unsere Gewässer geschickt haben, sind Beispiele dafür.« »Im Augenblick müssen wir uns vorsichtig bewegen. Wir werden aber bald eine Machtfülle erlangt haben, bei der es keine Rolle mehr spielt, was sie tun. Ihr braucht euch 95 wegen dieser kleinen Flotten keine Sorgen zu machen. Ich habe bereits Schritte gegen sie eingeleitet.-« Er sagte nichts weiter dazu, und sie bedrängten ihn nicht. Nach der kleinen Verschnaufpause zogen sie weiter. Der Himmel verdüsterte sich bereits wieder und versprach neue Schneefälle. Sie zogen die Felle enger um sich. Die Landschaft veränderte sich allmählich. Hier waren Bäume gefällt worden, und in der weiten weißen Ebene sah man Spuren von niedrigen Steinmauern, die das Land in Felder unterteilten. Es waren deutliche Zeichen, dass sie sich ihrem Ziel näherten. »Ich hoffe, Ihr werdet mir verzeihen, wenn ich ein heikles Thema zur Sprache bringe, mein Lord«, sagte Sephor. »Du bist lange genug bei mir, um zu wissen, dass es bei mir kaum heikle Themen gibt. Worum geht es denn?« »Eure Träume, Sir ...« »Ah, das ist in gewisser Weise wirklich ein heikles Thema, weil die Träume meine Sicht der Welt infrage stellen. Allerdings denke ich immer noch, dass sie ein Teil der Natur und nichts außerhalb der Natur sind, auch wenn sie so unglaublich lebhaft sind. Ganz anders als andere Träume.« »Versteht Ihr sie denn?« »Verstehen kann ich sie nicht, nein. Aber sie haben ... sie üben eine Art Zwang aus. Zweifellos gibt es einen guten Grund dafür, dass ich sie habe. Und ich bin mir der Ironie sehr wohl bewusst, dass ausgerechnet ich unter allen Menschen etwas um flüchtige Träume geben sollte. Aber der Mann, den ich in ihnen sah, obwohl es mir eher wie eine Begegnung denn wie ein bloßer Anblick vorkam, dieser Mann spielt bei dem, was geschehen soll, eine wichtige Rolle. Deutlicher kann ich es leider nicht ausdrücken.« »Es ist seltsam, Euch auf diese Weise reden zu hören, Sir«, bemerkte Weilern. »Ich habe das spirituelle Reich nie verleugnet, ich bin 96
nur gegen den bösartigen Einfluss, den es auf die Menschen ausüben kann. Vielleicht werden wir wirklich aus willkürlichen Motiven von den Göttern gelenkt. Wer weiß das schon?« »Wollt Ihr diesen Mann suchen?«, fragte Sephor. »Vorausgesetzt, er existiert wirklich.« »Ich bin sicher, dass er existiert, und irgendwie habe ich das Gefühl, mich ihm zu nähern, wenn ich nach Süden gehe.« Er lächelte. »Fragt mich aber nicht nach dem Grund.« Sie stiegen auf den nächsten Hügel, der erheblich steiler war als der vorherige. Die Vorhut des Heeres war dicht hinter ihnen. »Habt ihr schon die Kraftlinien in dieser Gegend identifiziert?« »So gut wie möglich, Sir«, erwiderte Sephor. »In der Nähe gibt es allerdings etwas Ungewöhnliches. Wir müssten es gleich sehen können.« Sie stapften zum Hügelkamm hoch und schauten sich um. Direkt vor ihnen, etwa eine Meile entfernt, erstreckte sich eine recht große, von Mauern befestigte Stadt. Eine beeindruckende Festung mit pulsierenden magischen Verteidigungsanlagen erhob sich in ihrem Zentrum. Vor den Toren der Siedlung war ein Heer zusammengezogen, das auf den Angriff wartete. Es war ein faszinierender Anblick, doch bei weitem nicht der auffälligste, den die Männer zu sehen bekamen. Was sie anschauten, lag ihm Westen. Am Horizont spie ein Geysir magische Energie in den Himmel. Man hätte sagen können, dass der Anblick einem verankerten Wirbelsturm entsprach, nur dass er Eigenschaften aufwies, die man bei einem gewöhnlichen Sturm nicht vorgefunden hätte. Alle Farben des Regenbogens kämpften im Wirbel um die Vorherrschaft, und die ganze schwankende Säule schimmerte silbern. An ihrem Fuß entstanden dicke Wolken aus pulsierendem, funkelndem Staub, 97 der ständig seine Farbe änderte. Innerhalb der Wolken bewegten sich Umrisse. Schatten, die miteinander verschmolzen und waberten und sich weigerten, eine feste Gestalt anzunehmen. Die Spitze der Säule war unglaublich hoch. Darüber bildeten die mit Schnee beladenen Wolken eine riesige Leinwand für den Aufzug der Bilder, die von der entweichenden Magie gezeichnet wurden. Sie veränderten sich ständig und gerannen nie zu einer eindeutigen Form. Doch dem Zuschauer boten sich unzählige Deutungsmöglichkeiten dar. Existierende Geschöpfe und Ausgeburten der Phantasie ließen sich dort erblicken, und neben ihnen riesige Insekten, Vögel, Blüten, gespenstische Heere, lodernde Kometen, wunderschöne und groteske Gesichter und Meere, die gegen märchenhafte Küsten brandeten. Es war ein hypnotischer Anblick. »Ein Riss«, bemerkte Zerreiss. »Wie lange geht das schon so?« »Anscheinend mehrere Monate«, erklärte Sephor. »Wir wissen nicht genau, was ihn verursacht hat. Möglicherweise ein Erdrutsch.« »Schaut es an«, sagte der Kriegsherr. »Dort seht ihr das Wesen dessen, was wir angreifen. Ihr könnt kein besseres Bild von dem bekommen, was jene versklavt, die wir befreien wollen.« »Man kann nicht verleugnen, dass es eine gewisse Pracht hat, mein Lord.« »Faszinierend ist es in der Tat. So faszinierend wie eine blaue Grubenspinne, eine goldene Ringschlange oder ein Rudel Barbkatzen. Genauso schön und gefährlicher als alle zusammen.« »Einen Vorteil hat es aber, Sir. Es dürfte die Magie in dieser Gegend schwächen, weil es die Menge der Magie schmälert, die den Verteidigern zur Verfügung steht.« Sephor deutete mit der behandschuhten Rechten zur Siedlung. 98 »Du vergisst, wie unwichtig das für uns ist.« Der Adjutant grinste. »Aber natürlich, Sir. Wie dumm von mir.« »Wie ich schon sagte, Sephor, verliere nicht den Glauben.« »Wie lauten unsere Befehle, Sir?«, wollte Weilern wissen. »Ich sehe keinen Grund, von unserer erprobten Methode abzuweichen. Die Verteidiger sollen eine Gelegenheit bekommen, kampflos die Waffen zu strecken.« »Die Unterhändler wurden mit dem üblichen Angebot ausgesandt, mein Lord.« Er starrte auf die öde Gegend vor der Siedlung. Eine kleine Gruppe von Reitern kam ihnen entgegen. »Ich glaube, dort kehren sie gerade zurück. Sephor, du hast bessere Augen als ich.« Der junge Adjutant schirmte die Augen mit den Händen ab. »Ja, sie sind es. Der Anführer trägt ein Banner. Es ist... rot.« • Zerreiss seufzte. »Das hatte ich befürchtet. Wann werden sie endlich lernen, dass es kein Blutvergießen geben muss?« »Sie fürchten Euch, mein Lord«, sagte Weilern. »Sie haben gewiss gehört, dass Ihr gnädig seid, aber irgendwie glauben sie wohl nicht, dass es auch für sie gilt. Sie nehmen Euch ausschließlich als Eroberer wahr. So ging es ja schon öfter.« »Ja, und sie fürchten ihre Herren offenbar mehr als mich. Wieder einmal entscheidet man sich für den Teufel, den man kennt.« »Berufssoldaten verlassen ihren Posten nicht so ohne weiteres, Sir. Und gewiss nicht allein deshalb, weil es ein Kriegsherr verlangt, über den sie kaum etwas wissen. Es ist kein Wunder, dass sie Widerstand leisten wollen.« »Auf der anderen Seite«, bemerkte Sephor, »möchte ich wetten, dass binnen einer Woche die Hälfte von ihnen
mit uns reitet, ob sie nun Soldaten des Reichs sind oder nicht.« »Das ist eine Ironie, die mir keineswegs entgeht«, warf 99 Zerreiss ein. »Wenn es in meiner Macht stünde, etwas zu verändern, dann würde ich mir wünschen, dass unser Feldzug nicht so viele Menschenleben fordert.« »Wie gehen wir nun weiter vor, Sir?«, fragte Weilern. »Stellt unsere Truppe so auf, dass sie gesehen wird; auch die Belagerungswaffen sollen sichtbar sein. Zeigt ihnen, gegen wen sie antreten. Danach geben wir ihnen eine letzte Gelegenheit, in Ehren zu kapitulieren. Falls sie sich weigern ...« »Dann kämpfen wir.« »Aber erst, wenn ich die Waagschale zu unseren Gunsten verändert habe. Es besteht immer noch die Möglichkeit, ein Gemetzel zu verhindern.« »Wollt Ihr es gleich tun, Sir?« »Es gibt keinen Grund zu warten.« Aus Erfahrung wussten Weilern und Sephor, dass es nicht nötig war, ihren Herrn allein zu lassen, während er die Tat vollbrachte. Dennoch zogen sie sich zurück. Es schien freilich klug, sich zu entfernen, wenn etwas so Ehrfurcht gebietendes geschah. Ein Befehl lief vom Hügel herunter durch die Reihen von Zerreiss' Heer, und es wurde still. Auch die Trommeln verstummten. Sogar die Pferde und Ochsen wurden still, auch wenn sie störrisch bleiben mochten. Der Kriegsherr stand auf dem Hügel, konzentrierte sich auf die belagerte Stadt und hob die Arme. Und die Veränderung nahm ihren Lauf. 100 Im Westen war der Winter etwas milder. Das bedeutete freilich nicht, dass Merakasa, die weitläufige Hauptstadt des Reichs von Gath Tampoor, grundsätzlich von hässlichem Wetter verschont blieb. Nach den Maßstäben von Gath Tampoor erlebte die Stadt sogar einen harten Winter mit schneidend kaltem Wind und unablässigen Schneefällen. Es brauchte aber mehr als niedrige Temperaturen und Graupelschauer, um die Bevölkerung daran zu hindern, voller Leidenschaft ihren Status zur Schau zu stellen. In Merakasa war, wie in den meisten Teilen der so genannten zivilisierten Welt, gesellschaftlicher Status gleichbedeutend mit Reichtum. Und wer etwas besaß, verschwendete seinen Reichtum auf möglichst Aufsehen erregende magische Schauspiele. Wie bei vielen anderen Dingen gab es auch in der Magie gewisse Modeerscheinungen, die festlegten, was jeweils gerade als guter Stil galt. Eine Ausdrucksform war die jahreszeitlich angepasste Magie. Die Zauber, die im Winter beschworen wurden, nahmen Bezug auf die Jahreszeit oder wenigstens auf die Rituale und Gebräuche, die mit ihr verbunden waren. So flogen zu jener Zeit Dutzende Ebenbilder von Jex Rime über der Stadt herum. Jex Rime war ein sagenum101 wobener Geist, der um die Feierlichkeiten zur Wintersonnenwende Geschenke verteilte. Er fuhr in einer offenen Kutsche durch den Himmel, und sein Gefährt wurde von zwölf schneeweißen Eidechsen gezogen, deren Namen jedes Kind auswendig kannte. Hin und wieder verpufften die Eidechsengespanne, die Kutsche und der wohlwollende Insasse, wenn der jeweilige Zauber verbraucht war oder wenn die Besitzer genug davon hatten. Auf den Gehwegen der Straßen watschelten unförmige Männer herum, die angeblich aus Schnee bestanden, und lächelten freundlich mit pechschwarzen Mündern. Je nach Zauber konnte man sie sogar in einem festgelegten Maß schmelzen lassen. Gar nicht so selten sah man sie auf Stummelbeinen wandern und fröhlich mit Armen ohne Hände winken. Kritiker verwiesen auf die zunehmende Dekadenz des Reichs und merkten an, dass die meisten Menschen dies sogar sehr amüsant fanden. Auf makellos getrimmten Rasenflächen führten kleine Heere von puppengroßen Eiskobolden für warm eingepackte Partygäste Kriege mit Schwertern aus Eiszapfen. Wenn ein tödlicher Schlag sein Ziel gefunden hatte, zersprangen die Kobolde in tausend kristallene Eisbröckchen. Die Verwundeten weinten dagegen Tränen aus Eiskügelchen. Elegante Landauer, gezogen von purpurnen Rentieren, fuhren vorbei. Eiskatzen, die robusten Vettern der bekannteren Barbkatzen, ließen sich oft auf magisch begrünten Prachtstraßen blicken, doch ihr Pelz war gestreift oder gepunktet und nicht weiß wie bei den wilden Vorbildern. Blumensträuße, die nicht zur Jahreszeit passten, brachen aus den Mauern der Anwesen hervor. Magische Bogenschützen feuerten Zauberpfeile ab, die harmlos ihre lebenden Ziele durchbohrten. Gänse sangen, Riesen liefen übers Straßenpflaster, Sternschnuppen gingen auf bebenden Gehwegen nieder. Doch nicht jeder Stadtbezirk war voller Fröhlichkeit 102 und schöner Dinge. In den armen Gegenden diente die komplizierteste Magie dem Staat oft als Kontrollmittel oder Waffe gegenüber der Bevölkerung. Unruhen der jüngsten Zeit hatten das Klima der Unterdrückung noch verschärft. Da man inzwischen von der Existenz einer Widerstandsbewegung wusste, die man zuvor noch für bedeutungslos gehalten hatte, und nachdem man in der Kolonie Bhealfa ein Exempel statuiert hatte, waren die Behörden darauf aus, der Bewegung endgültig den Garaus zu machen. So waren bestimmte Gebiete in Merakasa
ein gefährliches Pflaster geworden. Im Zentrum der Stadt gab es eine großzügig bemessene Enklave, die den Herrschern des Reichs vorbehalten blieb. Auf den höchsten Türmen flatterten Banner mit GathTampoors Symbol, dem Feuer speienden Drachen. Die Tore und die hohen Wehrgänge wurden von konventionellen Truppen und magischen Einrichtungen stark bewacht. Es war ein Ort, den Außenstehende nur selten betreten durften, und ein Ruf dorthin verhieß meist nichts Gutes. Eine Frau stand auf einem hohen Balkon. Ihr genaues Alter war schwer zu erraten, man sah nur, dass sie offensichtlich schon sehr alt war. Sie versuchte, diese Tatsache mit Gesichtsbemalung, Haarfärbetinkturen und anderen künstlichen Hilfsmitteln zu übertünchen, erzeugte damit jedoch einen Eindruck, der beinahe als grotesk zu bezeichnen war. Kaiserin Bethmilno, die fünfundzwanzigste Herrscherin dieses alten Namens, besaß mehr Macht als sonst irgendjemand in ganz Gath Tampoor. Sie schauderte und kehrte ins Prunkzimmer zurück. »Mir ist kalt«, klagte sie, als sie zum großen, geschmückten Kamin trat. »Ich kann mich an eine Zeit erinnern, in der uns veränderliche Temperaturen nicht viel ausgemacht haben, ganz gleich, wie groß die Schwankungen waren.« »Die Dinge verändern sich eben, Großmutter«, sagte ihr 103 Gast. Wie alle Angehörigen des inneren Kreises war auch er ein Blutsverwandter. Ein unparteiischer Beobachter hätte allerdings bemerkt, dass er für ein Enkelkind bereits ungewöhnlich alt war. »Nicht immer zum Besseren«, gab sie gereizt zurück, während sie die Hände über den Flammen wärmte. »Sieh dir nur die Unordnung an, die in unseren Straßen um sich greift.« »Ist dies nicht einfach nur ein gegenwärtiger Ausdruck von Kümmernissen, mit denen wir uns schon immer herumschlagen mussten?« »Es ist eine Veränderung«, beharrte die Kaiserin, »und zwar eine Wendung zum Schlechteren. Vor gar nicht so langer Zeit hätten unsere Untertanen sich noch nicht erdreistet, die Waffen gegen uns zu erheben.« »Wir kommen damit zurecht. Sieh dir nur an, welche Erfolge Laffons RIS und die Paladine gegen die Leute in Bhealfa zu verzeichnen hatten.« »Wie erfolgreich war es, wenn eine Meute zu dieser verdammten Ferieninsel fliehen konnte? Wir haben ihnen erlaubt, eine Festung zu bauen, von der aus sie ihr Gift verbreiten können.« »Man könnte auch sagen, dass wir sie jetzt hübsch beisammen haben. Dadurch ist es leichter, sie völlig auszulöschen und auch den Teil ihrer Bewegung zu vernichten, den es bei uns noch gibt.« »Je eher wir es tun, desto glücklicher werde ich sein. Wir sind viel zu nachsichtig mit den Rebellen umgegangen. Das gibt ein schlechtes Beispiel.« Sie entfernte sich vom Kamin und setzte sich. »Aber das ist noch nicht alles, was sich verändert hat. Die Störungen im Energienetz werden häufiger und stärker. Das bereitet mir wirklich Sorgen. Die Rebellen können wir mit dem Schwert erledigen. Was jedoch mit der Matrix geschieht, lässt sich nicht so leicht korrigieren, selbst wenn wir wüssten, wo der Fehler liegt.« 104 »Ich muss zugeben, dass dies ein Problem von einer ganz anderen Größenordnung ist, Großmutter. Doch mit den Erfahrungen, die wir über so lange Zeit gesammelt haben ...« »Eigentlich sollte man meinen, dass wir eine Lösung finden könnten. Leider gibt es nicht viele Präzedenzfälle. Es ist nicht das erste Mal, dass die Matrix gestört wird. Der letzte Vorfall liegt allerdings schon viele Jahre zurück, und damals hatten wir eine Vorstellung, wie es dazu kam. Heute gibt es keinerlei Hinweise. Ich werde das Gefühl nicht los, dass die gegenwärtigen Unruhen die Vorboten von etwas Schlimmerem sind.« Es klopfte an der Tür. Ein Page erschien und kündigte einen Besucher an. Die Kaiserin entließ den Diener mit einem Winken. »Das müsste Talgorian sein. Du kannst den Zeitmesser einstellen, und dann lässt du uns allein.« Ein großes Stundenglas stand auf dem Kaminsims. Der Enkelsohn drehte es um. Feiner goldener Sand strömte hinab. Als er ging, wurde ein jüngerer Mann hereingebeten. Andar Talgorian war in mittleren Jahren, schlank und lebhaft und trug einen gestutzten Bart und die neueste höfische Mode. Entsprechend seiner Rolle als Kaiserlicher Gesandter in Bhealfa war ihm die diplomatische Gelassenheit zur zweiten Natur geworden. Es verdross ihn, dass er in den letzten Monaten so oft in die Hauptstadt zurückgerufen wurde, und seine Verärgerung wurde nicht geringer, als er erfahren musste, dass ihm auch noch eine Audienz bei Bethmilno drohte. In ihrer Gegenwart fürchtete er ständig um sein Leben. »War Eure Reise angenehm?«, begann sie. Er verneigte sich tief. »Erträglich, Euer Gnaden. Vielen Dank.« Sie winkte ihn auf einen niedrigen Stuhl. 105 »Ich hoffe doch, Euch bei guter Gesundheit zu finden, Euer Gnaden«, fügte Talgorian hinzu, als er in den Polstern versank. »Erträglich.« Die ironische Wiederholung seines Worts war ihm unangenehm. Er entschied sich für ein nichts sagendes
Lächeln. »Ich will direkt zur Sache kommen, Botschafter«, fuhr die Kaiserin fort. »Die jüngsten Entwicklungen in Bhealfa kommen uns teilweise sehr gelegen. Die Revolutionäre haben einen starken Schlag hinnehmen müssen, und wir machen Fortschritte dabei, den gehörigen Respekt für unsere Autorität wiederherzustellen.« »Vielen Dank, Hoheit.« Ihm war nicht wohl in seiner Haut. Die Erfahrung zeigte, dass auf ein Kompliment nicht selten der Absturz folgte. »Gewisse Aspekte der Geschehnisse in Bhealfa sind allerdings alles andere als erfreulich.« »Majestät?« »Eine Reihe von Verrätern konnte zu anderen Gestaden fliehen. Anscheinend gibt es in diesem Gebiet auch danach noch einen harten Kern von Rebellen. Beides ist unbefriedigend.« »Wenn Ihr erlaubt, Hoheit, für diese Fragen sind die Sicherheitskräfte, die einheimischen wie die des Reichs, zuständig.« »Ihr könnt sicher sein, dass ich auch ihnen deutlich meine Meinung sagen werde, Botschafter. Wir reden jetzt allerdings über den Anteil des diplomatischen Corps an dieser Angelegenheit. Es ist Eure Aufgabe, unsere Wünsche an die entsprechenden Behörden zu übermitteln. Es scheint mir in dieser Hinsicht an Zusammenhalt zu fehlen.« Er fand diese Bemerkung ungerecht, zog es aber vor, seine Meinung für sich zu behalten. »Wir müssen alle nur denkbaren Anstrengungen unter106 nehmen, um die Rebellen auszulöschen«, fuhr sie fort. »Ihr werdet in dieser Sache enger mit dem RIS und den Paladinen zusammenarbeiten. Und Ihr werdet jedem, der diese Richtlinie infrage stellt, deutlich machen, dass dies mein ausdrücklicher Wunsch ist. Habt Ihr verstanden?« »Ich verstehe, Majestät.« Wenn sie glaubte, dass die Sicherheitskräfte zu nachlässig vorgingen, dann war Talgorian keineswegs ihrer Meinung. Doch auch dieses Mal hielt er den Mund. Dazu war ihm sein Kopf einfach zu wichtig. »Gut. Und was die so genannte Diamantinsel angeht... nun, dieses Durcheinander müssten wir mal ordentlich aufräumen.« »Gewiss, Madame.« »Möglicherweise bleibt dies jedoch nicht an Gath Tampoor allein hängen.« »Wie meinen, Exzellenz?« »Wir wissen, dass Rintarah von ähnlichen Aufständen geplagt wurde wie wir, und auch von dort sind einige Unruhestifter zur Diamantinsel geflohen. Im Augenblick unterhalten sie in jener Region mehr Protektorate als wir und sehen sich womöglich gezwungen zu handeln. Wir wären zufrieden, wenn sie sich dazu entschlössen.« »Ich ... ich bin überrascht, Majestät. Wir dachten doch immer, vor allem Rintarah stehe im Verdacht, die Aufstände angezettelt zu haben.« »Inzwischen glaube ich jedoch, dass Rintarah nicht mehr als einen kleinen Prozentsatz zu verantworten hat. Umgekehrt gilt dies auch für unsere Rolle bei den Aufständen auf ihrem Gebiet. Es gibt Hinweise, dass der Widerstand weitgehend aus eigenem Antrieb handelt.« Talgorian war verwirrt. »Vor gar nicht so langer Zeit habt Ihr noch von einem möglichen Krieg gegen Rintarah gesprochen, während es jetzt...« »Nichts hat sich verändert«, gab die Kaiserin streng zurück. »Unsere Differenzen existieren nach wie vor. Ich stelle 107 einfach nur fest, dass unsere Ziele nicht immer völlig unvereinbar sind. Wir haben ein gemeinsames Interesse, dieses Krebsgeschwür auszurotten.« »Wollt Ihr damit andeuten, es könne eine gewisse Art von Zusammenarbeit erwogen werden, Majestät?« »Das habe ich nicht gesagt. Ich bin jedoch der Ansicht, dass wir uns in diesem Fall Rintarah nicht in den Weg stellen sollten. Wichtig ist, dass die Aufständischen eliminiert werden. Besonders da wir Grund zu der Annahme haben, sie könnten sich mit einer Macht verbündet haben, die ... die uns unangenehm zu werden droht.« Er wollte sich erkundigen, wen sie meinte, doch sie fuhr bereits fort. »Wir dürfen das Gesamtbild nicht aus den Augen verlieren. Beide Reiche haben gemeinsame Interessen, die über die Rebellen hinausgehen. Die Ereignisse müssen in diesem Zusammenhang betrachtet werden.« »Denkt Ihr dabei an etwas Bestimmtes, Madame?« »Uns erreichen Meldungen, dass unsere nördlichsten Vorposten angegriffen werden.« »Ich habe nichts dergleichen gehört, Madame.« »Wir haben unsere Quellen.« Sie meinte die Matrix. Wie alle, die dem inneren Kreis nicht angehörten, wusste er natürlich nichts darüber. »Im Augenblick sind die Meldungen noch unbestimmt, aber unser erster Gedanke war natürlich, dass Rintarah dahintersteckt. Wir haben jedoch erfahren, dass auch deren Siedlungen angegriffen werden. Dies und gewisse Einzelheiten der Angriffe werfen die Frage auf, ob nicht jemand anderes dafür verantwortlich ist.« »Zerreiss.« Er flüsterte den Namen nur. »Das muss man Euch lassen, Talgorian. Ihr wart einer der Ersten, die erkannt haben, welche Gefahr dieser
Kriegsherr darstellen könnte. Wir haben den Verdacht, dass er sein Herrschaftsgebiet ausdehnt, und indem er beide Reiche angreift, hofft er möglicherweise, uns zu stärkeren Feindseligkeiten gegeneinander anzustacheln. Falls er sich mit 108 den Rebellen verbündet, hätten wir es mit einer größeren Störung zu tun. Könnt Ihr erkennen, warum es nicht in unserem Interesse liegt, Rintarah zu behindern, falls man sich dort entscheidet, gegen ihn vorzugehen?« »Das kann ich verstehen, Hoheit. Allerdings ist diese Strategie nicht frei von Risiken. Falls Rintarah und Zerreiss zu einer Übereinkunft gelangen, könnte sie nichts davon abhalten, ein Bündnis gegen uns zu schmieden.« »Er wird schwerlich mit ihnen oder mit uns zu einer Übereinkunft gelangen. Der Mann hat die Instinkte eines Eroberers. Verhandlungen liegen ihm nicht. Er sieht die Reiche als seine natürlichen Feinde.« »Dann wäre also die Expedition, die wir in sein Gebiet geschickt und von der wir seitdem nichts mehr gehört haben ...« »Sie ist als verloren anzusehen, weil er sie vernichtet hat, allerdings. Das Gleiche gilt übrigens auch für die Expedition aus Rintarah.« »Das allein wäre doch schon ein kriegerischer Akt, Majestät.« »Ich bin mir der Spielregeln durchaus bewusst, Botschafter. Nicht, dass wir uns mit solchen Feinheiten überhaupt abgeben müssten.« Sie blickte zur Sanduhr auf dem Kaminsims. Die Zeit war fast abgelaufen. »Wir haben uns jetzt ausführlich genug über diese Dinge unterhalten. Andere Angelegenheiten erfordern nun meine Aufmerksamkeit.« »Selbstverständlich, Madame.« Er machte Anstalten, sich zu erheben. »Bleibt, wo Ihr seid. Die Audienz ist noch nicht vorbei.« Mit einem dümmlichen Gesichtsausdruck ließ Talgorian sich wieder auf dem Stuhl nieder. »Ich habe Euch noch etwas zu sagen. Es betrifft die Lage in Bhealfa und eine Aufgabe, die Ihr persönlich übernehmen sollt.« 109 »Wie kann ich Euch zu Diensten sein, Majestät?«, fragte er mit einem unguten Gefühl im Bauch. »Wir haben uns oft über Melyobars Benehmen unterhalten. Es ist kein Geheimnis, dass er die Ressourcen des Protektorats stark belastet, und er zieht Spott und Gelächter auf die Autoritäten.« »Seine Exzentrizität ist durchaus bekannt, Majestät, das ist wahr. Aber der Prinz ist im Grunde harmlos.« Bethmilno war überhaupt nicht amüsiert. »Woher wollt Ihr das wissen?« Sie wartete seine Antwort nicht ab. »Unser Geheimdienst berichtet, dass sich an seinem Hofe etwas Ungehöriges tut.« »In seiner Umgebung geschehen stets eigenartige Dinge, Madame.« »Genau. Er ist außer Kontrolle, und das können wir nicht länger hinnehmen. Es wird Zeit, seinen Schrullen Einhalt zu gebieten. Er wird von seiner Position abgelöst, und wir übernehmen die Herrschaft selbst. In der Praxis, wenngleich nicht dem Namen nach, üben wir sowieso schon die Herrschaft aus, aber jetzt werden wir sie auch öffentlich übernehmen.« Talgorian war wie vor den Kopf geschlagen. »Das ist eine gewaltige Veränderung, Madame. Eine Anpassung der Verfassung in diesem großen Ausmaß würde es erfordern ...« »Es erfordert nicht mehr als mein Wort. Ich habe Euch nicht hierher bestellt, um über rechtliche Spitzfindigkeiten zu diskutieren. Ich bin das Gesetz. Nehmt Euch die Kräfte, die Ihr braucht, und entfernt ihn aus dem Amt. Ich sorge dafür, dass die Miliztruppen ebenso mit Euch zusammenarbeiten wie die Paladine.« »Aber ... was tun wir mit ihm, wenn wir ihn abgesetzt haben, Madame?« »Wir sind in dieser Hinsicht nicht unversöhnlich. Immerhin ist er von königlichem Geblüt, wenngleich zum Glück nicht mit meiner Dynastie verwandt. Er wird hierher 110 geschafft und darf bis ans Ende seiner Tage komfortabel leben, allerdings nicht in dem außerordentlichen Luxus, an den er gewöhnt ist.« »Ich fühle mich verpflichtet zu erwähnen, dass eine solche Maßnahme die Bevölkerung noch mehr gegen uns aufbringen könnte, Majestät.« »Hat Melyobar noch ein Gefolge?« »Man kann nicht bestreiten, dass seine unmittelbare Anhängerschaft geschrumpft ist, Majestät.« »Da seht Ihr es.« »Aber was er repräsentiert...« »Er repräsentiert nichts als seinen eigenen unberechenbaren Geist. Er gibt als Oberhaupt ein Beispiel, das keinesfalls wünschenswert ist. Was Ihr in dieser Hinsicht auch empfinden mögt, ich erwarte, dass Ihr tut, was ich Euch sage.« »Exzellenz.« Er verneigte sich höflich. »Es war lediglich mein Wunsch, Eure Hoheit daran zu erinnern, dass der Prinz für unsere diplomatische Strategie in Bhealfa stets als unersetzlich galt.« Sie sah ihn scharf an. »Die Friedhöfe sind voller Gräber von unersetzlichen Menschen, Botschafter.« 111 Der Friedhof war verschneit. Ein eiskalter Wind pfiff um die kahlen Grabsteine und ließ die hageren Bäume schaudern.
Eine kleine Gruppe von Würdenträgern stand vor einem neu errichteten Monument, einem bombastischen Ding aus poliertem Stein von dreifacher Mannshöhe. Es hatte die Form eines Obelisken, eine schwarze Marmorspitze und trug eine Goldblattgravur in Schreibschrift. Über der Inschrift war ein Wappen abgebildet, das einen steigenden Schimmel zeigte, eins der Abzeichen der Paladin-Clans. Blumensträuße waren am Fuß des Obelisken aufgetürmt. Zwei in Mäntel gekleidete Uniformierte lösten sich aus der Trauergesellschaft und zogen sich diskret zurück. Sie schlugen den Weg ein, der zum Ausgang des Friedhofs führte. »Eine bewegende Ansprache, wenn ich so sagen darf, Sir«, meinte der Jüngere der beiden. »Du darfst, Meakin.« »Ich bin sicher, Euer Onkel hätte Eure Totenrede und die Gedenkfeier zu schätzen gewusst.« »Mag sein. Aber wie ich Ivak kannte, wäre er lieber auf dem alten Friedhof am Stadtrand bestattet worden.-« »Wo die Hohen Clanchefs traditionell zur letzten Ruhe gebettet werden.« 112 »Ja. Aber verdammt wollte ich sein, wenn ich ihn auf diesem heruntergekommenen Knochenfeld hätte begraben lassen. Da geht doch heute niemand mehr hin. Und ich habe gewiss nicht die Absicht, dort zu enden.« »Neue Führer, neue Traditionen, nicht wahr, Sir?« »Es wird Zeit, dass ein neuer Besen in den Clans aufkehrt«, erwiderte Devlor Bastorran. »Und ich werde ihn schwingen.« Bastorran, seit kurzem der Hohe Clanchef der Paladine, war makellos herausgeputzt, wie es ihm selbst und der Ehre der Clans entsprach. Sein schwarzes Haar war militärisch kurz geschnitten, seine Galauniform sah aus wie frisch aus der Heißmangel. Seine makellos sitzende Tunika trug die vielfältigen Abzeichen seines hohen Ranges und war rot gefärbt. Diese Farbe hob die Paladine von allen anderen kämpfenden Truppen ab. Er war ein Mann, der keine Reue zeigte. Ganz sicher nicht in Hinblick auf die Art und Weise, wie er seine gegenwärtige Position erlangt hatte. Wie er es sah, war es nicht weiter verwerflich, die Nachfolge im Amt zu beschleunigen, indem er heimlich die Ermordung seines Onkels arrangiert hatte. Bastorrans Adjutant war etwa zwanzig Jahre alt und damit mehr als ein Jahrzehnt jünger als sein Vorgesetzter. Lahon Meakin war blond und glatt rasiert und hauptsächlich in der Verwaltung tätig, hätte aber dank seines Körperbaus ohne weiteres als Kämpfer durchgehen können. Im Gegensatz zu Bastorran trug er jedoch eine schwarze Tunika. Die dreifachen roten Ringe auf dem Ärmel und ein runder roter Fleck auf der linken Brust verrieten, dass er den Clans diente, ohne als deren Angehöriger geboren zu sein. Die fehlenden Blutsbande setzten seinem Aufstieg gewisse Grenzen. Doch Meakin hatte ohnehin nicht die Absicht, weiter aufzusteigen. Sein Ehrgeiz richtete sich auf ganz andere Ziele. 113 Als sie über den Kiesweg schritten, war nicht zu übersehen, dass Bastorran ein wenig humpelte. Eine ständige Erinnerung an seine größte Demütigung. »Ich fühle mich, als sei mit diesem letzten Geleit ein Kapitel meines Lebens abgeschlossen«, sagte er und neigte den Kopf zum Monument hin, das sie verließen. »Das Ende einer Ära und der Beginn einer neuen.« Er schien mit einem Mal sehr nachdenklich. »Doch wenn man sich zu sehr auf die Toten konzentriert, dann vernachlässigt man die Angelegenheiten der Lebenden.« Seine gewohnte Zielstrebigkeit kehrte rasch wieder zurück. »Gibt es Neues von der Frau?« »Ich fürchte nein, Sir.« Die Zurechtweisung, die der Adjutant fürchtete, blieb aus. »Es sieht demnach so aus, als habe sie Hilfe vom Widerstand bekommen?« »Das ist sehr wahrscheinlich, Sir. Sie hätte sonst kaum fliehen können, zumal in ihrem Zustand.« »Nun ja, sie wird wenig Freude in jener Gesellschaft haben.« »Sollen wir die Suche verstärken?« »Nein. Sie soll einfach auf der Liste der meistgesuchten Personen bleiben. Ansonsten kann die Suche etwas zurückgefahren werden.« »Der Mann, der bei ihr war, hat praktisch eine ganze Streife ausgelöscht, Sir.« »Ich weiß, Meakin. Auch das wird auf der Liste erscheinen, wenn die große Abrechnung kommt. Im Augenblick ist es aber sinnlos, unsere Kräfte auf die Suche nach einem einzigen Mann zu verschwenden. Was die Frau angeht, so hat sie ihren Zweck erfüllt. Sie hat mir nichts Wichtiges mehr zu sagen. Im Grunde hatte ich sie bereits von der Leine gelassen. Nur deshalb konnte sie uns ja überhaupt entwischen.« Meakin war beeindruckt, weil sein Vorgesetzter offenbar Schuldgefühle zeigte, was nur äußerst selten vorkam. »Nor114 malerweise würde ich mir nicht anmaßen, mich weiter nach dieser Frau zu erkundigen, Sir ...« Bastorrans rascher, misstrauischer Blick entging ihm keineswegs. »... aber ich frage mich doch, warum jemand seine eigenen Leute verrät, wie sie es getan hat.« »Liebe.« »Sir?« »Liebe und die Anwendung von Druck, der auf ihre kindische Zuneigung zielte. Sie dachte, sie könne etwas
gewinnen, das ihr zu geben niemals in meiner Macht gestanden hat. Ich hätte es auch nicht getan, selbst wenn ich es gekonnt hätte. Die Menschen sind die Sklaven ihrer Gefühle. Das macht sie schwach. Wenn man sie an der richtigen Stelle packt, dann gibt es nichts, was sie nicht tun würden.« Sie hatten fast die Straße erreicht, auf der Kutschen warteten und Leibwächter herumstanden. »Gibt es sonst noch etwas, das ich wissen sollte?«, erkundigte sich Bastorran. »Überwiegend Routineangelegenheiten, Sir. Nichts wirklich Dringendes. Oh, Aphri Kordenza hat sich wieder gemeldet. Sie will Euch sprechen.« »Diese verdammte Frau geht mir auf die Nerven.« »Ich kann Euch entschuldigen, Sir, und dafür sorgen, dass sie Euch nicht in die Quere kommt.« »Nein, ich kümmere mich schon um die Verschmolzene. Sie könnte noch nützlich sein. Gib ihr irgendwann morgen einen Termin im Hauptquartier.« »Jawohl, Sir.« Sie hatten das Tor passiert. Als sie sich ihrer wartenden Kutsche näherten, bemerkte Meakin einen Mann, der ihnen mit wehenden Rockschößen entgegenkam. »Das sieht nach Kommissar Laffon aus, Sir.« »So ist es.« Sie warteten, bis der Leiter des Rates für Innere Sicher115 heit sie eingeholt hatte. Der etwa sechzig Jahre alte Laffon war groß und dürr wie ein Skelett, die Schultern waren ein wenig gebeugt. Er war kahlköpfig und hatte ein zerfurchtes Gesicht, dessen Hakennase an einen Geier erinnerte. Seine Lippen waren schmal und fast unsichtbar, die himmelblauen Augen verrieten seinen scharfen Verstand. »Ich bin froh, dass ich Euch eingeholt habe«, rief er, als er sie leicht keuchend erreicht hatte. »Kommissar«, begrüßte Bastorran ihn. »Eine ausgezeichnete Totenrede, Hoher Clanchef. Sehr bewegend.« »Vielen Dank. Wenn, äh, wenn das alles war, was Ihr zu sagen habt, dann werdet Ihr mir hoffentlich verzeihen, wenn ich nicht länger hier verweile. Es gibt dringende Angelegenheiten, die ...« »Ich würde mich freuen, wenn Ihr noch einen Augenblick erübrigen könntet. Es gibt ein oder zwei Dinge, die ich mit Euch erörtern möchte, und vielleicht sogar ein paar Neuigkeiten.« »Dann wollt Ihr vielleicht bei uns mitfahren?« Die drei Männer stiegen in die Kutsche, die sofort anfuhr. Zwei weitere Wagen begleiteten sie, einer vorneweg, der andere dahinter, in denen die bewaffnete Eskorte untergebracht war. Berittene Paladine übernahmen die Vorhut und sorgten dafür, dass die Straßen frei waren. »Es freut mich, Euch mitteilen zu können, Bastorran«, erklärte Laffon, »dass die Vorbereitungen für eine neue Serie von Razzien gegen die Aufständischen gute Fortschritte gemacht haben. Meine Leute stehen bereit, sobald Ihr sie braucht.« »Das ist erfreulich, Kommissar. Aber das ist doch nichts Neues.« Laffon lächelte. »Vielleicht habe ich nicht unbedingt Neuigkeiten im strengen Sinne für Euch, wenn man an harte Tatsachen denkt. Anbieten kann ich aber eine Schluss116 folgerung, die auf Geheimdienstberichten beruht, sowie ein Gerücht.« »Dann lasst mich zunächst die Schlussfolgerung hören.« »Ich glaube, Reeth Caldason hält sich auf der Diamantinsel auf.« Meakin war der Ansicht, dass es seinem Herrn und Meister ausgezeichnet gelang, seine Wut, als der Name des Qalochiers fiel, im Zaum zu halten. »Das dachte ich mir auch schon«, antwortete Bastorran. »Wirklich? Ich war der Ansicht, Ihr hättet eine Menge Ressourcen darauf verwendet, ihn hier in Bhealfa zu finden.« »Man muss stets allen Spuren nachgehen, Kommissar. Aber wie dem auch sei, wie kommt Ihr auf die Idee, dass Caldason sich dort aufhält?« »Wir haben Berichte über seine Abreise aus dieser Gegend erhalten und andere Berichte über seine Anwesenheit auf der Insel. Oder zumindest Hinweise auf jemanden, der ihm unglaublich ähnlich sehen muss.« »Es überrascht mich nicht, dass er weggelaufen ist. Ein Mann, der jemanden in den Rücken sticht, wie er es mit meinem geliebten Onkel getan hat, ist nichts anderes als ein Feigling. Mir ist allerdings schleierhaft, warum einer wie er auf besonderen Wunsch unserer Herrscher verschont werden soll.« »Ihr müsst wissen, dass er nicht völlig unantastbar ist. Vielmehr ist die Anweisung ergangen, besonders vorsichtig mit ihm umzugehen. Ich habe keine Ahnung, warum diese Regeln aufgestellt wurden, aber ich bin sicher, dass unsere Führer ihre Gründe haben.« Meakin wünschte, er könne fragen, wie diese Regeln überhaupt aussahen. »Nun, vielleicht ist es an der Zeit, diese Anweisungen im Hinblick auf Caldason aufzuheben.« »Angesichts ihres Ursprungs war ich stets der Ansicht, dass man sich an sie halten sollte. Die Ermordung einer be-
117 deutenden Persönlichkeit, wie es Euer Onkel war, könnte die Dinge freilich verändern. Ich wäre daher durchaus bereit, unsere Vorgesetzten zu bitten, diese Regelungen noch einmal zu überdenken.« »Ich bin Euch sehr verpflichtet, Kommissar. Die Aufhebung dieser Restriktionen wäre mehr als erfreulich für mich. Es ist allerdings bedauerlich, dass Caldason, falls Eure Informationen zutreffen, außerhalb unserer derzeitigen Reichweite ist.« »Vielleicht trifft dies gar nicht mehr zu.« »Was meint Ihr damit?« »Das Gerücht, das ich gehört habe, drehte sich um eine Flotte, die zur Diamantinsel geschickt werden soll.« »Seid Ihr sicher? Meine Informationen gehen eher dahin, dass Gath Tampoor sich zurückhält, weil man dort hofft, Rintarah werde die Angelegenheit beilegen.« »Meine Quelle ist zuverlässig. Ich kann mir nur vorstellen, dass Gath Tampoor besorgt ist, Rintarah könne in jenem Teil der Welt die Vorherrschaft erlangen, sodass man sich entschloss, ebenfalls präsent zu sein. Zweifellos werden wir bald auf die eine oder andere Weise offiziell informiert werden, obgleich ich sagen muss, dass es keine günstige Jahreszeit für ein solches Unternehmen ist.« »Wenn es zutrifft, dann werden die Paladine natürlich in der Invasionstruppe vertreten sein.« »Und ebenso der RIS. Wir nehmen an, dass sich dort eine Reihe von Straftätern aufhalten, für die wir uns interessieren. Nicht zuletzt die Frau, von der ich Euch erzählt habe. Sie steckt bekanntermaßen mit Caldason unter einer Decke. Wir haben beide auf dieser Insel noch einige Rechnungen zu begleichen.« Bastorran hatte angebissen. »Wenn es dort zu einer Abrechnung kommen sollte«, erklärte er, »dann will ich dabei sein.« »Wollt Ihr denn selbst mitfahren?« 118 »Unbedingt. Ich bin es meinem Onkel schuldig, seine Ermordung zu rächen. Das möchte ich niemand anderem überlassen.« »Ah, eine Frage der Familienehre.« »Der Familie und der Clans. Eine Blutschuld.« »Und eine gute Gelegenheit, Vergeltung für Eure eigenen ... Unannehmlichkeiten mit Caldason zu suchen.« Bastorran sah den Kommissar böse an. »Es geht um den Stolz der Clans, nicht um persönliche Rache.« »Aber selbstverständlich, Hoher Clanchef. Wir können im Augenblick allerdings noch nicht viel tun, um das Problem zu lösen. Vorerst werden wir nur unsere Aktionen gegen die Terroristen hier im Land fortsetzen.« »Wir haben sie bereits vernichtend geschlagen. Es ist lediglich eine Frage der Zeit, bis wir sie völlig ausgerottet haben.« »Mag sein. Die Rebellenbewegung ist vielleicht geschwächt, aber sie ist immer noch fähig zurückzuschlagen. In diesem Augenblick, während wir uns unterhalten, gibt es keine zehn Querstraßen weiter schon wieder Unruhen.« Irgendjemand in der Menge warf eine Ladung. Ob magische Munition oder konventioneller Sprengkörper, war nicht wichtig. Das Wurfgeschoss fiel kurz vor einer Reihe von Milizionären, die Schilde trugen, auf die Straße. Es gab einen grellen Blitz, dann eine laute Explosion und einen Ausbruch von giftigem Rauch. Als die Wolke sich auflöste, sah man mehrere Kämpfer in Flammen stehen. Ihre Uniformen waren von zähflüssigem, brennendem Öl bedeckt. Ihre Kameraden kamen herbeigerannt und schlugen die Flammen aus. Die Menge und die Miliz begannen, aufeinander zu feuern. Steine, Pfeile, Geschosse aus Schleudern und gelegentlich ein Speer. Auf beiden Seiten fielen Männer und Frauen. Dann ertönte eine Trompete. Wie ein Mann teilten 119 sich die Reihen der Miliz und ließen eine Abteilung Kavallerie durch, die den Angriff übernahm. Der kleine Krawall wuchs zu einem regelrechten Aufruhr heran. In einem Raum im oberen Stockwerk eines benachbarten Hauses, das halb verfallen und ausgebrannt war, standen zwei Menschen und beobachteten den Aufruhr. Einer von ihnen war Quinn Disgleirio. Er lugte durchs Fenster. »Das kann noch eine Weile dauern.« Dulian Karr setzte sich auf eine wackelige Holzkiste. »Wenigstens hatten wir das Glück, dieses Haus zu finden, in dem wir uns verstecken können. Ich habe noch nie gesehen, dass ein Konflikt so schnell eskaliert.« »Die Menschen sind reizbar. Und es wird noch schlimmer.« Die Kampfgeräusche nahmen zu. Schreie, Rufe und Explosionen waren zu hören, dazwischen das ständige Brüllen der Menge. »Können wir denn überhaupt nichts tun?«, fragte Karr. »Wir können nur herumsitzen und warten, bis es vorbei ist. Ich wünschte nur, ich hätte nicht eingewilligt, diese Erkundung mit Euch durchzuführen. Wir haben ja nicht einmal etwas Wichtiges herausgefunden.« »Ich bin noch lange nicht tot. Der Tag, an dem ich mich nicht mehr nach draußen wage, ist der Tag, an dem Ihr mich endgültig unter die Erde stecken könnt.« »Glaubt Ihr denn immer noch, wir sollten versuchen, weitere Leute zur Insel zu schaffen? Statt hier zu bleiben und das Beste aus der Situation zu machen?«
»Es war immer unser Plan, so viele Menschen wie möglich zur Insel zu bringen. Wenn es nicht so schrecklich schief gegangen wäre, dann wären wir jetzt auch selbst schon dort.« »Aber die Bedingungen haben sich geändert, nicht wahr? Die Götter mögen mir verzeihen, dass ich es ausspreche, 120 aber die Diamantinsel kommt mir kaum mehr so vor wie eine Zuflucht, sondern viel eher wie eine tödliche Falle. Trotz aller Einschränkungen, denen wir hier in Bhealfa unterliegen, haben wir wenigstens genügend Raum, um uns zu verstecken und die Besatzer anzugreifen.« »Das ist wahr. Wir wollen uns aber nichts vormachen. Wenn wir hier bleiben, werden wir ihnen bestenfalls das Leben schwer machen. Es scheint mir jedoch, als könnten wir dort etwas Neues aufbauen.« »Ihr seid ein alter Romantiker, Karr. Mein Ideal wäre es, hier zu bleiben. Aber ich bin Patriot. Das ist schließlich das Wesen der Bruderschaft der Gerechten Klinge.« »Dann seid Ihr selbst ein Romantiker, Quinn.« Disgleirio lächelte. »Mag sein. Ich will mich einfach nicht damit abfinden, mein Land einer fremden Macht zu überlassen und in einen heruntergekommenen Ferienort zu fliehen.« »Sagt mir nicht, dass Ihr ernsthaft daran denkt, nicht zur Insel zu fahren.« »Nein. Ich bin vielleicht ein Romantiker, aber den Verstand habe ich gewiss nicht verloren. Es gibt eine Möglichkeit, dass wir uns dort halten können. Und vielleicht ergibt sich auch noch etwas, das uns hilft. Fragt mich nur nicht, was es sein soll.« »Wenn wir keine Hoffnung mehr haben, dann haben wir überhaupt nichts mehr.« »Ich mache mir Sorgen, dass wir möglicherweise nicht alle Leute herausbekommen. Wir müssen auswählen, und das erscheint mir grausam und ungerecht.« »Ich weiß. Solche Entscheidungen sind niemals einfach. Das sollte aber nicht diejenigen aufhalten, die glücklich genug sind und eine Möglichkeit bekommen.« »Wir reden darüber, als sei es leicht, die Insel zu erreichen. Vielleicht ist dies aber nichts als eine rein theoretische Frage.« 121 »Das Meer ist groß, Quinn. Solange die Diamantinsel nicht komplett abgeriegelt wird, ist es unmöglich, jedes Schlupfloch zu verschließen.« »Aber das werden sie doch sicher tun, oder? Gath Tampoor oder Rintarah, meine ich. Sie werden die Insel völlig isolieren, und dann ...« »Mag sein. Wir müssen hoffen, dass wir einen Weg finden, es zu verhindern.« Unten auf der Straße nahm die Unruhe weiter zu. Karr stand auf, um sich umzuschauen. Die Sicherheitskräfte setzten jetzt magische Waffen ein. Konzentrierte Energiestrahlen schnitten durch die Menge. Die Miliz streckte Demonstranten mit magischen Betäubungsstäben nieder. Blendgranaten und Betäubungsladungen wurden abgefeuert. Karr setzte sich wieder und schüttelte traurig den Kopf. »So sollte diese edle Kunst nicht eingesetzt werden«, klagte er. »Sie entweihen alles.« »Ihr redet schon wie Phönix. Aber wir tun das Gleiche, wann immer wir können«, erinnerte Disgleirio ihn. »Zur Selbstverteidigung. Es gibt da einen gravierenden moralischen Unterschied.« »Ich wage zu behaupten, dass sie es genauso sehen.« »Dann sind sie Barbaren. Die Besatzer und auch die Kollaborateure. Unter dem Deckmäntelchen der Zivilisation sind sie barbarisch. Auch das ist ein Unterschied, Quinn. Der Unterschied zwischen dem, was sie sagen, und dem, was sie tun.« »Ihr solltet aber doch inzwischen daran gewöhnt sein, dass sie auch die Sprache als Waffe gegen uns einsetzen. Ein fremdes Land besetzen, das ist Befreiung. Das Recht auf freie Rede beschneiden, das heißt Freiheit. Einen Patrioten hinrichten, das dient der öffentlichen Ordnung. Und wer sich gegen sie stellt, ist ein Terrorist.« »Es deprimiert mich zu sehen, wie viele all das tatsächlich glauben. Nehmt noch die Tatsache hinzu, dass die Be122 völkerung dumm gehalten wird, und Ihr habt eine Situation, in der die meisten Bürger des Reichs jederzeit gern Truppen herschicken würden, obwohl sie Bhealfa nicht einmal auf der Landkarte finden könnten.« »Das müssen sie auch nicht. Sie sind auf den ältesten Propagandatrick der Welt hereingefallen. Ihr müsst den Leuten nur einreden, sie würden bedroht, und schon lassen sie die Herrscher alles tun, was sie wollen, wie drastisch es auch sei.« »Und sie nennen die Magie eine verbotene Kunst. Das ist noch gar nichts gegen die subtile Kunst der Täuschung.« »Als ehemaliger Politiker wisst Ihr darüber natürlich gut Bescheid. Wir sollten aber nicht in die Falle tappen, den Bürgern das Verhalten ihrer Reiche zum Vorwurf zu machen. Sie sind ebenso Opfer wie wir.« »Natürlich sind sie das. Wir können nur nicht viel tun, um sie zu retten. Wir können uns allerdings um uns selbst kümmern, so sehr unsere Reihen auch gelichtet wurden. Kleine Triumphe sind das, Quinn. Damit müssen wir uns jetzt zufrieden geben.« Disgleirio nickte. »Tanalvah ist ein gutes Beispiel. Es war reines Glück, dass wir sie gefunden haben.«
»Ah, ja. Falls es jemals jemanden gab, gegen den mehr gesündigt wurde, als er selbst gesündigt hat, dann ist es diese junge Frau. Es wäre schön, wenn wir etwas unternehmen könnten, um ihr tragisches Leben zu verbessern.« »So sehe ich das auch. Tan hat nichts getan, das irgendjemandem geschadet hätte. Sie verdient ein wenig Glück.« 123 In dieser Nacht dachte Tanalvah über den Tod nach. Sie dachte an all die Toten, für die sie, ohne es zu wollen, verantwortlich war, und an Kinsels wahrscheinlichen Tod. Sie dachte an ihren eigenen Tod und wie sie ihn bewerkstelligen könnte. Was in der Einsamkeit einer schlaflosen Nacht verlockend erschienen war, verlor im Morgengrauen an Bedeutung. Sie war schwanger, und zwei weitere Kinder waren von ihr abhängig. Kinsel war vielleicht noch am Leben. Und sie war der festen Überzeugung, dass ihre Göttin Iparrater sogar noch zorniger würde, wenn Tanalvah ihre Sünden durch die des Selbstmordes ergänzte. Die Waage schlug also dahingehend aus, Atem zu schöpfen und sich dem neuen Tag zu stellen. Dieser Tag sollte immerhin etwas bringen, für das aufzustehen sich lohnte. Karr hatte ihr versprochen, dass Teg und Lirrin vom Tempel abgeholt werden sollten, dem Tanalvah sie anvertraut hatte. Die Kinder sollten zu ihr ins Versteck des Widerstands kommen. Nicht gerade der beste Ort für zwei Kinder, aber wenigstens wären sie wieder beisammen. Sie stand von der Pritsche auf und stöhnte unwillkürlich, als die Schwerkraft sie schmerzhaft an ihren Zustand 124 erinnerte. Ihr war schwindlig und übel wie oft am Morgen. Sie musste einen Augenblick tief durchatmen, bis der Schwindel verflog. Dann streckte sie sich, bis sie wieder etwas Gefühl in den Gliedern hatte. Sie zog ein weites Kleid an und schlüpfte mit den Füßen in Lederpantoffeln, die jemand ihr gegeben hatte. Der Raum, den man ihr zugewiesen hatte, war eigentlich kein richtiges Zimmer. Im Grunde war es eine Nische, die man aus dem Fels der Höhle herausgeschlagen hatte. Das Loch war zwanzig Fuß tief und zwölf Fuß breit; eine behelfsmäßige Wand aus einem Holzrahmen und einem aufgespannten Segeltuch versperrte den Ausgang. In der Stoffbahn gab es eine Klappe, die der eines Zeltes nicht unähnlich war Tanalvah nahm an, dass es sich um eine alte Grabkammer handelte, aus der man die Gebeine entfernt hatte, zog es aber vor, nicht weiter darüber nachzudenken. Man hatte sich Mühe gegeben, es ihr bequem zu machen. Das Bett war mit einer dicken Strohmatratze ausgestattet, und mehrere große Felle sollten sie warm halten. Sie besaß einen Stuhl und ein paar einfache Regale für ihre wenigen Habseligkeiten. Eine geflochtene Matte bedeckte einen Teil des Bodens. Irgendjemand hatte sogar einen alten Wandteppich aufgetrieben und neben ihr Bett gehängt, auch wenn er zu verblichen war, um das Motiv noch erkennen zu können. Verglichen mit anderen Unterkünften in der Höhle war ihre Behausung geradezu luxuriös. Ihre Zelle, wie sie ihre Kammer inzwischen nannte, wurde von einer einsamen Leuchtkugel erhellt. Sie ließ den Leuchtkörper ständig eingeschaltet, was eine ungeheure Verschwendung war, und sie hatte außerdem Kerzen und Laternen in Reserve. Ohne die Kugel wäre es in der Kammer völlig dunkel gewesen, und das hätte sie nicht ertragen. Ein kleiner Steinvorsprung neben der Tür diente als Waschtisch, auf dem eine Waschschüssel und ein Krug 125 standen. Die Temperatur war hier unter der Erde überraschend mild, doch das Wasser war eiskalt, als sie es sich ins Gesicht spritzte. Als Nächstes nahm sie eine Bürste und fuhr sich durch das verfilzte Haar. Die Beschäftigung mit alltäglichen Dingen konnte sie allerdings nicht von den zwanghaften Ideen befreien, die ihren Magen zu einem Eisklumpen gefrieren ließen. Sie sah keine Möglichkeit, wieder gutzumachen, was sie dem Pazifisten Kinsel angetan hatte. Wie sollte er ihr jemals verzeihen, falls er überhaupt überlebt hatte? Insgeheim staunte sie, wie dumm sie gewesen war, Devlor Bastorrans Lügen geschluckt zu haben, als dieser behauptet hatte, den Leuten, die sie verraten hatte, werde nicht viel passieren. Sie erstickte fast an der Angst, was aus den ihr anvertrauten Kindern und dem Ungeborenen werden sollte, falls man es herausfand. Dabei war sie sicher, dass es unweigerlich herauskommen musste. Sie sah sich schon auf die Knie fallen, alles gestehen und um Vergebung bitten. Der Widerstand hatte ihr die Überfahrt zur Diamantinsel angeboten. Sie wollte nicht fahren. Es war schon schwer genug, mit den Leuten hier zurechtzukommen. Da drüben musste Tanalvah sich denen stellen, die ihr am nächsten gestanden hatten, die sich mit ihr angefreundet und die sie beschützt hatten. Namentlich Serrah, vor der sie besonders große Angst hatte. Doch ihre Furcht vor Bastorran und die Möglichkeit, dass sie ihm noch einmal in die Hände fallen könnte, wenn sie bliebe, jagten ihr fast ebenso große Angst ein. Jetzt verstand sie, warum Serrah den Tod damals so verlockend gefunden hatte. Tanalvah riss sich zusammen. Sie musste ihre kleine Höhle verlassen und sich zu den anderen gesellen. Dabei wusste sie jetzt schon, dass sie den Menschen nicht in die Augen sehen konnte. Für sie war es eine Qual, ihre Freundlichkeit, ihre mitfühlenden Blicke und das wissen126 de Lächeln zu sehen. Ein Wunder, dass die anderen nicht sofort erkannten, welche Schuld ihr ins Gesicht geschrieben stand ...
Sie richtete sich auf, zog die Klappe zurück und trat in ihre neue Welt hinaus. Wie üblich herrschte in der Höhle ein geschäftiges Treiben, und wie üblich starrten die Leute sie an, sobald sie bemerkt wurde. Sie fühlte sich nackt. Die Versuchung zu gestehen, was sie getan hatte, es hinauszuschreien und es hinter sich zu bringen, war beinahe übermächtig. Durch das Gedränge kamen einige Menschen auf sie zu. Zwei Erwachsene und zwei Kinder. Es waren Dulian Karr und Goyter, die sie anstrahlten. Sie hatten Teg und Lirrin an den Händen, und als die Kinder Tanalvah sahen, rissen sie sich los und stürmten in ihre ausgebreiteten Arme. In diesem Augenblick wurden all ihre Sorgen von Freudentränen fortgeschwemmt. Nicht weiter als eine Stunde zu Pferd vom Friedhof entfernt, im Herzen von Valdarr, fand ein ganz anderes Wiedersehen statt, das von einem deutlichen Mangel an menschlicher Wärme gekennzeichnet war. Hinter den abweisenden Mauern des Hauptquartiers der Paladin-Clans in Bhealfa, schwer zugänglich in einem Labyrinth voller Durchgänge und gesicherter Türen, befand sich ein Raum, den nur wenige Menschen je zu Gesicht bekamen. Dort gewährte Devlor Bastorran eine Audienz. Ein freundlicher Beobachter hätte seinen Gast als beeindruckend beschrieben. Auf den ersten Blick wirkte die Person asexuell, auf den zweiten Blick erkannte man, dass es sich um eine Frau handelte. Sie war athletisch und beinahe knochig, das Haar war hellblond und sehr kurz geschnitten. Die Haut war bleich wie Marmor, die Lippen waren schmal und fast farblos, die Augen verblüffend groß 127 und pechschwarz. Es wäre müßig gewesen, sich zu überlegen, ob sie hübsch oder hässlich war, denn ihr Aussehen sprengte die normalen Vorstellungen von Schönheit. Im Augenblick war ihr Gesicht jedenfalls vor Wut verzerrt. »Ich habe die Warterei satt«, zischte sie und zielte mit einem Finger auf seine Brust. »Wir haben eine Abmachung, und Ihr habt nie gesagt, dass es so lange dauern würde, bis Ihr Euren Teil erfüllt.« »Das ist richtig. Aber lasst mich ...« »Ich hätte gleich wissen sollen, dass man einem Paladin nicht trauen kann. Ihr seid verlogene Schweinehunde, Ihr alle, trotz Eures Geredes über Ehre und Loyalität.« »Das ist nicht...« »Vergesst nicht, mein allerhöchster Lord, dass wir aneinander gebunden sind, Ihr und ich. Aneinander gekettet durch das, was ich in Eurem Auftrag getan habe.« Ihre Augen blickten ebenso kalt wie leidenschaftlich. »Es gibt einen Preis für meine Verschwiegenheit in dieser Sache, Bastorran. Wann werdet Ihr ihn bezahlen?« »Ich dachte, heute wäre eine gute Gelegenheit.« »Was?« »Wenn Ihr mich ab und zu mal etwas sagen lassen würdet«, knirschte er, »dann könnte ich es Euch erklären. Wie Ihr schon sagtet, haben wir eine Abmachung getroffen. Ich bin bereit, meinen Teil zu erfüllen.« Aphri Kordenza beäugte ihn misstrauisch. »Ihr werdet tun, was Ihr zugesagt habt?« »Eure magische Symbiose mit ... mit Eurem Gefährten soll dauerhaft fixiert werden. Nun schaut nicht so überrascht drein. Dachtet Ihr denn wirklich, ich wollte mein Wort nicht halten?« »Wie werdet Ihr es tun?«, fragte die Verschmolzene, ohne seine Frage zu beantworten. »Auf die Art und Weise, die meine Magier für die beste halten. Hiermit.« Er schob eine Hand in die Tasche seiner 128 Tunika und zog ein flaches, hauchdünnes Objekt heraus. Es sah aus wie Terrakotta und passte bequem in eine Hand. Auf die Oberfläche waren hunderte winziger Runen geritzt. Er hielt es ihr hin. »Wie geht das vor sich?« Sie wog das Ding in der Hand. »Im Augenblick haltet Ihr Eure Symbiose aufrecht, indem Ihr regelmäßig die Magie auffrischt. Ich nehme an, Ihr müsst alle paar Wochen einen Magier aufsuchen, der die notwendigen Fähigkeiten besitzt, um den Spruch zu erneuern.« Sie nickte. »Und dafür zahlen wir ein hübsches Sümmchen.« »Ich kann mir auch vorstellen, dass es nicht immer einfach ist, einen Magier zu finden, der bereit ist, diese Arbeit zu tun, wenn man berücksichtigt, dass Ihr Euch in einer Art gesetzlicher Grauzone befindet.« »Das ist bedeutungslos. Es gibt so wenig Verschmolzene, dass die Gesetzgebung uns einfach ignoriert. Aber wir kommen vom Thema ab.« »Dieses Ding hier«, Bastorran deutete auf das Objekt, das sie festhielt, »ersetzt den Helfer. Ihr bleibt dadurch ständig mit dem magischen Netzwerk verbunden und bezieht von dort die notwendige Energie, um Euren jetzigen Zustand beizubehalten. Es ist nicht mehr nötig, die Sprüche zu erneuern, und Ihr werdet keine weiteren Ausgaben mehr haben.« »Was soll ich damit machen? Soll ich es herunterschlucken?« »Nur wenn Ihr ersticken wollt. Aber es muss sich in der Tat in Eurem Körper befinden. Es kommt an der linken Ferse direkt unter die Haut. Ein einfacher chirurgischer Eingriff, der nur wenige Minuten dauert. Die Ärzte stehen schon bereit, und sie sind die Besten. Es sind meine eigenen. Ihr seid besorgt? Es gibt keinen Grund zur Sorge. Ihr bekommt ein Betäubungsmittel und werdet überhaupt nichts spüren.« 129
»Ich brauche keins.« »Ich habe mir sagen lassen, dass es ohne Betäubung recht schmerzhaft werden kann.« »Ich bleibe lieber wach.« Er zog die Augenbrauen hoch. »Wie Ihr wollt. Aber ich denke wirklich ...« »Ich hoffe, Ihr seid ehrlich, Bastorran. Denn falls es ein Trick sein sollte, dann werden alle erfahren, dass Ihr ein Mörder seid. Ich habe die Einzelheiten über den Tod Eures Onkels bei einem Vertrauten hinterlegt, und falls mir etwas zustößt, dann ...« »Wir wissen beide, dass Ihr das nicht getan habt, Kordenza. Und falls Ihr wider Erwarten doch jemandem diese Informationen anvertraut habt, wem werden die Leute wohl glauben? Dem trauernden Anführer der PaladinClans oder einem zwielichtigen Ganoven? Außerdem ist es durchaus in meinem Sinn, dass Ihr bei Kräften seid.« »Warum?« »Ich habe einen neuen Auftrag für Euch. Einen Auftrag, der sich für Euch wirklich lohnen wird. Ihr könnt mir glauben. Euer Misstrauen ist unangebracht.« Sie dachte darüber nach. »Also gut. Ihr könnt mich eine Närrin nennen, aber ich will Euch beim Wort nehmen.« »Gut. Ich würde sagen, wir sollten es mit Handschlag besiegeln, aber irgendwie würde ich Euch lieber nicht berühren.« »Das Gefühl beruht auf Gegenseitigkeit.« Er deutete mit ausgestrecktem Arm zur Tür. »Wollen wir gehen?« »Gleich. Ich sagte, ich akzeptiere Euer Versprechen. Es gibt aber jemanden, mit dem ich mich beraten muss.« Bastorran war verblüfft, dann wurde ihm klar, was sie meinte. »Oh. Aphrim.« »Natürlich. Wir sind Partner, wie Ihr wisst. In jeder Hinsicht.« 130 »Nun gut«, seufzte er. Er lümmelte sich auf seinen Stuhl und verschränkte die Arme vor der Brust. Er fand das Schauspiel eigentlich nicht sehr erbaulich, auch wenn es eine perverse Faszination auf ihn ausübte. Aphri Kordenza spaltete sich auf. Sie trat rasch zur Seite und ließ ein Abbild ihrer selbst in der Luft schwebend zurück. Der Umriss ähnelte einer Frau, die mit einem glänzenden Seil in die Luft gezeichnet war, als wäre ein Lassotrick mitten in der Bewegung erstarrt. Dann bildeten sich in Aphris Spiegelbild Knochen, Sehnen, Blut und Fleisch heraus. Eine Sekunde lang schimmerte die Figur und war verschwommen, dann gerann sie und bekam eine feste Form. Der Neuankömmling in Bastorrans Büro sah seiner Partnerin zum Verwechseln ähnlich. Ein schärferer Blick offenbarte jedoch einige Unterschiede. Es war ein männliches Wesen, das Aphris Zwillingsbruder hätte sein können. Er war wie sie mit einem Lederwams, Kniehosen und hohen Stiefeln bekleidet. Doch er hatte eine Ausstrahlung, die nicht ganz menschlich war. Eine beinahe durchsichtige, fein geäderte und glänzende Membran verband Kordenza mit ihrem Zwillingsbruder. Dann ruckte sie, der feuchte Film löste sich und wurde sofort von ihrem Zwillingsbruder mit einem unangenehmen, schmatzenden Geräusch absorbiert, bis er in seinem Körper verschwunden war. Sie sahen einander hingerissen an. »Hast du alles gehört, mein Lieber?«, fragte Aphri. »Ja.« Die Stimme ihres Gefährten klang nicht ganz natürlich. Irgendwie wirkte sie etwas hohl und bestätigte, dass er ein Produkt der Magie war. »Was meinst du?« »Es ist das, was wir immer wollten. Aber können wir ihm vertrauen?« Bastorran wurde wütend, als man über ihn sprach, als sei er überhaupt nicht anwesend. Doch er hielt den Mund. 131 »Darüber haben wir uns schon unterhalten, Aphrim«, sagte Aphri. »Ich denke, das ist ein Risiko, das wir eingehen müssen. Stell dir nur vor, du hättest dann genügend Energie für all die schönen neuen Waffen, die du dir ausgedacht hast. Nun, sind wir uns einig?« »Wenn du es für das Beste hältst, Liebes, dann bin ich einverstanden.« Sie warf sich ihm in die Arme. »Ist das nicht wundervoll, Aphrim? Wir werden nie wieder getrennt sein.« Sie drängten sich aneinander und küssten sich. Ein ausgedehnter, leidenschaftlicher Kuss wie zwischen Liebenden. Bastorran fand es geschmacklos und sogar abstoßend. Als sie sich voneinander lösten, waren ihre Münder mit einem durchsichtigen, klebrigen Strang verbunden. Sie sahen aus wie zwei Hunde, die an einem grauen Seidentuch herumzerrten. Möglicherweise war es das gleiche Material wie die Membran, die sie vorher verbunden hatte. Als die Verbindung entzweiriss, atmeten beide ihre Hälfte schlürfend ein. Der Paladin wandte den Blick ab. Er schwieg, bis sie endlich wieder ansprechbar waren, und räusperte sich. Sie drehten sich gleichzeitig zu ihm um und sahen ihn an. »Können wir jetzt zur Sache kommen?«, fragte er. »Ja«, antworteten sie im Chor. »Aphrim wird dabei sein«, fügte Aphri hinzu, »und über mich wachen.« »Dann habt Ihr Euch die Sache mit dem Betäubungsmittel überlegt?« »Nein. Was einen von uns betrifft, das betrifft auch den anderen. Wie ich schon sagte, wir bleiben lieber wach.« »Wie Ihr wünscht.« Sie gingen zur Tür.
Aphri warf Bastorran einen neugierigen Blick zu. »Ihr habt einen neuen Auftrag erwähnt.« »Ah, ja. Es ist ein Auftrag, den Ihr vermutlich mehr als Vergnügen denn als Arbeit betrachten werdet.« 132 »Unsere Arbeit macht uns immer Freude«, versicherte Aphrim ihm. »Worum geht es denn?«, bohrte Aphri. »Ihr wollt Euch rächen«, erklärte Bastorran, »und das will ich auch. Ich will aber nicht die offiziellen Kanäle benutzen. Deshalb benötige ich Eure Dienste. Es wird allerdings damit verbunden sein, dass wir eine kleine Reise unternehmen.« »Wovon redet Ihr?« »Ich weiß, wo Caldason ist.« Er wusste nicht, wo er war. Er hatte ein Gefühl dafür, wer er war, eine Vorstellung von seinem Wesen und seiner Identität, und er besaß eine gewisse Folgerichtigkeit in seinen Gedanken, hatte aber keine Ahnung, welcher Ort ihm gezeigt wurde. Es gab dort viel Schnee, der es schwer machte, die Landschaft zu erkennen. Man sah nur, dass es ein zerklüftetes Land war. Ausgemergelte Bäume durchbrachen das Weiß, ihre knorrigen Aste zeigten wie dunkle Finger auf den finsteren Himmel. Schwarze Berge, deren Gipfel mit Schnee bedeckt waren, begrenzten an drei Seiten den Horizont. Ein beständiger Wind wehte und trieb die Schneeflocken vor sich her. Er wusste, dass es bitterkalt war, auch wenn er die Kälte nicht fühlen konnte. Das überraschte ihn. Sein Instinkt sagte ihm, dass in dieser Einöde etwas Wichtiges geschah. Ein Bild drang in sein Bewusstsein, ungerufen und bis eben noch vergessen. Vor sehr, sehr langer Zeit, als er noch ein Kind war, hatte man ihn zu einer weisen Frau gebracht. Er konnte sich nicht erinnern, wer sie war, und wusste auch nicht mehr, wie sie ausgesehen hatte. Auch konnte er nicht mehr sagen, wer ihn aus welchem Grund dorthin gebracht hatte. Erinnern konnte er sich allerdings an etwas, das sie ihn gelehrt hatte. Er hatte es in seinem ganzen Leben als 133 Krieger als gegeben genommen, in einem Leben, das jetzt so fern und unwirklich schien. Damals an jenem Tag hatte er das Prinzip des Nichtbewusstseins gelernt. Es war ein Zustand, den man viel leichter erleben als erklären konnte. Das Nichtbewusstsein drehte sich darum, ein Ziel zu erreichen, ohne es bewusst anzustreben. Die Betonung lag dabei auf »bewusst«. Es hatte nichts mit dem Wunsch zu tun, das Ziel zu erreichen, sondern ausschließlich mit dem Wie. Seine Lehrerin benutzte als Beispiel einen Mann, der einen Speer schleuderte oder einen Pfeil abschoss und das Ziel nicht traf. Sobald er es nicht mehr bewusst versuchte, hatte er Erfolg. Um zu triumphieren, musste der Wille ausgeschaltet werden. War das eine echte Erinnerung oder nur die Erinnerung an einen Traum? Er wusste es nicht. Dennoch hielt er sich daran. Er leerte seinen Geist und ließ die Entschlossenheit los. Sofort begann er aufzusteigen. Bald sah er die verwachsenen Bäume unter sich. Sie wirkten wie dunkle Ölspritzer auf der weißen Decke. Während er stieg, bewegte er sich nach vorn in Richtung der Gebirgskette, der er sich zugewandt hatte. Er wusste, dass hier sogar noch stärkere Winde wehten, die ihn bis auf die Knochen ausgekühlt hätten, wenn er für die Einflüsse der Umgebung empfänglich gewesen wäre. Er schwebte über Schwärmen widerstandsfähiger Vögel, deren kräftige Schwingen sie durch die eiskalte Luft nach Süden trieben. Dann waren die großen, mit Schnee bedeckten Gipfel unter ihm, und er konnte sehen, was hinter ihnen lag. Er blickte in ein weites Tal hinab, das auf der anderen Seite von einer weiteren Gebirgskette begrenzt wurde. Auch im Tal lag Schnee, und an den steilen Felswänden hatten sich hohe Schneewehen aufgetürmt. Ein überfrorener Fluss wand sich durchs Tal, der wie ein polierter Spiegel mit dünnen Rissen aussah. Was aber seinen Blick einfing und ihn anzog, 134 war eine Siedlung. In der Mitte des Tals war eine kleine Stadt entstanden, die sich zu beiden Seiten des Flusses erstreckte. Mitten durch die Gebäude verlief ein Dammweg, der den Hafen mit einer weitläufigen Festung in der Mitte der Stadt verband. An einem Ende öffnete sich das Tal in der Nähe des Passes, der den einzigen Eingang bildete, zu einer weiten Ebene hin. Als er rasch hinabsank, konnte er dort die Überbleibsel eines Gemetzels sehen. Viele tote Männer und Pferde lagen im aufgewühlten, schmutzigen Schnee. Scheiterhaufen brannten. Gefangene saßen eng beisammen, eingekreist von Speerträgern. Die Eroberer wanderten in Gruppen rasch übers Schlachtfeld und kümmerten sich um die Aufgaben, die ihnen der Sieg auferlegt hatte. Er bewegte sich schnell durch das Tal in Richtung der Stadt und der Burg, die von ihr lebte. Jetzt änderte er bewusst die Richtung und flog über den Hafen hinweg, in dem mehrere Schiffe brannten. Dann glitt ein Gewirr von Dächern unter ihm vorbei - mit Stroh oder Holz gedeckt oder sogar mit Dachpfannen. Es gab Straßen, Fahrwege und gewundene Gassen. Viele Menschen waren unterwegs; sie schlurften niedergeschlagen vorbei oder scheuchten die Besiegten vor sich her. Sie trugen Lasten, führten Vieh und schoben Karren. Viele wanderten wie benommen umher. Niemand sah ihn. Vor ihm erhob sich die Festung. Er bewegte sich so schnell, dass es schien, er werde gleich gegen die mächtigen Mauern prallen. Doch noch während ihm der Gedanke kam, wurde er langsamer. Die Redoute war eine ausgedehnte, mehrstöckige Anlage, an der viele Generationen gebaut hatten. Eine hoch
gelegene, lange Terrasse mit Brustwehr schloss sich vorne an. Dort stand eine einzelne Gestalt. Zuerst war sie kaum mehr als ein dunkler Fleck, doch aus der Nähe zeigte sich, dass es ein Mann war. Mit unergründlichem Gesichtsausdruck 135 betrachtete er, was sich vor ihm abspielte. Die Hände hatte er auf die Brustwehr gelegt. Körperlich war er wenig bemerkenswert, und er war eher unauffällig gekleidet. Dennoch hatte der Mann etwas Erstaunliches an sich. Er war jetzt nahe genug, um den Mann anspucken zu können, wenn er es gewollt hätte, und schwebte reglos vor ihm. Zuerst schien der Mann wie alle anderen seine Gegenwart nicht zu bemerken. Dann dämmerte etwas wie Erkennen in seinem Gesicht, und er drehte den Kopf herum und starrte ihn an. Die Augen des Mannes waren bodenlose Löcher. Er hatte keine Erinnerung daran, die eigenen Augen geschlossen zu haben. Als er sie wieder öffnete, war er an einem anderen Ort. Die Höhen, in die er vorher gestiegen war, waren nichts im Vergleich zu dem, was er jetzt sah. Er schwebte an einem Firmament voller Sterne. Die Welt lag weit unter ihm wie eine entrollte Landkarte, die so groß war, dass sich die Ecken weit in der Ferne verloren. Er sah alle Reiche, die es gab, und das weite, grünblaue Meer zwischen ihnen. Eine große Landmasse im Norden erregte seine Aufmerksamkeit. In ihrem Innern blinkte etwas, klein wie ein Stecknadelkopf Das Flackern eines Feuersteins, der angeschlagen wurde. Der Funke wuchs zu einem hellroten Fleck auf dem Rotbraun heran. Er breitete sich aus, ließ Fäden über das ganze Land und bis in andere Länder wachsen. Er bewegte sich und schien über das Land zufließen, bis er große Abschnitte gefärbt hatte - ganze Regionen, Länder, Kontinente. Es war eine rote Flut, die an Blut erinnerte. Oder vielleicht war es auch ein Licht. Es schien beide Qualitäten in sich zu vereinen. Seitenäste wuchsen und verbanden sich mit anderen, bis wieder ein Stück braunes oder grünes Land gefärbt war. Je weiter es sich ausbreitete, desto schneller und stärker schien es zu werden, als sei eine Säule unter einem 136 Tempeldach zusammengebrochen und reiße eine ganze Reihe von Säulen mit, die nacheinander umstürzten. Aber es war kein Tempel. Es war eine Welt. Eine Welt, die von Blut und Licht überflutet wurde. Vielleicht hätte er sich deshalb schlecht fühlen müssen. Erfühlte sich nicht schlecht. 137 Du hast die Welt in Blut getränkt gesehen und fandest es angenehm?« »So habe ich es nicht ausgedrückt.« »Aber beinahe, Reeth. Für mich klingt deine Beschreibung wahrhaftig nicht angenehm.« »Ich habe nicht behauptet zu verstehen, was ich gesehen habe. Du hast mich gefragt, wie ich mich dabei fühle, und ich habe es dir gesagt.« Serrah kuschelte sich tiefer ins warme Bett. Das Fenster stand einen Spalt offen, und draußen begann die fahle Dämmerung eines neuen Wintertages. »Es muss Zerreiss sein, oder?«, fragte sie schließlich. »Der Mann aus deinem Traum.« »Er hat kein Namensschild am Hals getragen.« »Aber es ist doch logisch, oder? Alles, was du beschrieben hast, deutet daraufhin, dass es der Kriegsherr war, den du gesehen hast.« »Man hätte ihn nicht als das erkennen können, was er ist. Ich habe noch nie einen so ... einen so durchschnittlichen Menschen gesehen. Nicht gut aussehend, aber auch nicht hässlich. Nicht klein und nicht groß, nicht dick und nicht dünn, weder alt noch jung. Er erinnerte mich an einen Topf, den man zu früh aus dem Brennofen genommen hat. Einfach nur ... völlig gewöhnlich.« 138 »Das klingt ja nicht gerade so, wie man sich einen Kriegsherrn vorstellt.« »Aber genauso ist es. Trotz seines Äußeren hat er etwas ... ich weiß nicht, er hat etwas an sich, das einem sofort verrät, dass er der Anführer ist. Erklären kann ich es nicht.« »Und er hat dich gesehen?« »So hat es sich angefühlt.« »Wie oft kommt es vor, dass Menschen dich im Traum erkennen, Reeth?« »Ich würde nicht sagen, dass er mich erkannt hat. Ich glaube, er war sich meiner Gegenwart bewusst, und so etwas ist mir bis auf diese jüngsten Träume oder Visionen, oder was es auch ist, noch nie passiert. Und diese neuen Träume werden immer häufiger. Die alten Visionen, in denen ich mich als Kind sehe, habe ich kaum noch.« »Mein armer Liebster. Etwas Neues, das dich quält.« Serrah legte den Kopf auf seine Brust, und er nahm sie in den Arm. »Ob er es auslöst? Zerreiss?«, überlegte sie. »Ist er dafür verantwortlich, dass dies mit dir geschieht?« Caldason zuckte mit den Achseln. »Wer weiß schon, wozu er fähig ist? Aber warum sollte er so etwas tun?« »Das können wir nur vermuten.« Sie richtete sich auf und tastete nach dem kleinen Tisch am Bett, auf dem ihre Utensilien lagen.
»Du bist so unruhig.« »Es wundert mich, dass du es nicht auch bist. Wenn ich solche Erfahrungen machen würde wie du, dann wäre ich völlig durch den Wind.« Sie fand die Wasserflasche und trank einen Schluck. »Willst du auch?« Er nahm die Flasche und stillte seinen Durst. »Ich bin daran gewöhnt. Die neuen Träume sind allerdings ein Rätsel, das ein Geheimnis überdeckt.« »Genau.« Serrah richtete sich auf und wurde ernst. »Lass es uns durchgehen.« 139 Er seufzte. »Glaubst du denn, ich hätte das nicht schon tausendmal gemacht?« »Zwei Köpfe können besser denken als einer. Tu mir den Gefallen. Du hast diese ... nennen wir sie einfach Visionen, weil wir kein besseres Wort dafür haben. Seit wann hast du sie?« »So lange ich mich zurückerinnern kann.« »Und wir sind uns einig über das, was sie dir zeigen? Szenen aus deiner Kindheit?« Er nickte. »Ich habe lange gebraucht, um es mir zusammenzureimen. Ehrlich gesagt, komme ich mir ziemlich dumm dabei vor.« »Du bist nicht dumm, Reeth.« Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »Jeden anderen hätte es umgehauen.« »Es war das Letzte, was mir dazu einfallen wollte. Dass sie sich um mich drehen, meine ich. Wahrscheinlich gerade weil es so nahe lag.« »Also gut. Ich glaube nicht, dass wir endgültig klären können, warum du die Visionen hast. Vielleicht können wir aber über einige Dinge nachdenken, die du in ihnen gesehen hast.« »Wie meinst du das?« »Wer war der alte Mann, den du so oft gesehen hast? Wer war es, der dich beinahe getötet hätte, als dein Volk abgeschlachtet wurde, und wie hat dies dazu geführt, dass du jetzt beinahe unsterblich bist?« »Hm, nun ja, auch darüber habe ich schon oft nachgedacht.« »Und deine Geburt, Reeth - die Vision, dass deine Mutter starb, als du auf die Welt kamst. Ich glaube, du bestrafst dich unnötig selbst dafür. Es ist nicht die Schuld des Kindes, wenn die Mutter bei der Geburt stirbt.« »Vielleicht ist es so.« »Es gibt da kein vielleicht, Liebster. Du kannst dir nicht etwas vorwerfen, das du nicht getan hast. Glaube mir, ich 140 weiß, wovon ich rede. Das ist eine Lektion, die ich im Zusammenhang mit Eithne gelernt habe, auch wenn ich sehr lange dafür gebraucht habe.« Caldason antwortete nicht, und so fuhr sie fort. »Der alte Mann war offensichtlich eine Art Hüter. Er hat sein Leben riskiert, um dich zu schützen. Aber warum?« »Diese Frage ist noch wichtiger als das Wie, nicht wahr? Warum werden mir diese Dinge gezeigt? Was ist der Grund?« »Muss es denn immer einen Grund geben? Gibt es einen Grund dafür, dass die Sonne jeden Tag aufgeht oder dass die Vögel singen? Vielleicht ist es einfach so.« »Viele Menschen glauben, dass diese Dinge geschehen, weil die Götter es so wollen. Das würde jedenfalls Tanalvah sagen.« »Aber was sagst du? Glaubst du wirklich, die Götter seien für das verantwortlich, was mit dir geschieht?« »Die ehrliche Antwort wäre, dass ich es nicht weiß. Ich bin nicht einmal sicher, was ich von der Idee halte, dass Götter existieren.« »Hmm. Dann gibt es also eine Serie von Visionen, die dich seit Jahren heimsuchen, und sie haben irgendwie mit Eindrücken aus deinem Leben zu tun. Und es besteht irgendeine Verbindung zu den Tobsuchtsanfällen, unter denen du leidest. Ist das bis hierhin richtig?« »Oft hängen sie zusammen, aber nicht immer. Der Ausbruch beim letzten Piratenüberfall ging beispielsweise nicht mit Visionen einher.« »Jetzt hast du neue Visionen, aber sie sind anders, und sie haben irgendwie mit Zerreiss zu tun.« »Das wissen wir nicht.« »Es ist eine nahe liegende Vermutung. Und du bekommst immer noch die Wutanfälle, obwohl du neue Visionen hast, und ...« »Wohin soll das führen?« 141 »Ich weiß es nicht. Vielleicht nirgendwohin. Aber es ist mir wichtig, alles klar zu durchdenken. Wie ich schon sagte, haben sich die Visionen verändert, aber du hast immer noch die Anfälle. Und jetzt ist jemand, den du in den Visionen siehst, auf dich aufmerksam geworden.« »Kannst du aus alledem irgendwelche Schlussfolgerungen ziehen?« »Nein. Jedenfalls nichts, was über die offensichtlichen Tatsachen hinausgeht.« »Und die wären?« »Magie. Die Magie muss die Verbindung sein.« »Ich habe schon immer angenommen, dass ich unter irgendeiner Art von Zauberbann stehe, das überrascht mich also nicht weiter.« »Es muss eine ziemlich mächtige Magie sein, meinst du nicht auch? Es ist anders als alles, was ich bisher erlebt
habe. Ganz zu schweigen davon, dass derjenige, der dafür verantwortlich ist, seit mehr als siebzig Jahren den Zauber nicht aufgehoben hat. Das scheint eine schrecklich lange Zeit zu sein, um einen Racheakt durchzuhalten, ohne irgendetwas davon zu haben.« »Der Fluch selbst, oder was es auch ist, scheint bereits das erwünschte Ergebnis zu sein. Wer auch immer für meinen Zustand verantwortlich ist, er hat die Befriedigung, dass ich sehr lange leiden muss.« »Das ist doch sinnlos, Reeth. Kein gewöhnlicher Mensch lebt lange genug, um sich an deinen Qualen weiden zu können. Es sei denn, du wurdest nacheinander von mehreren Generationen von Magiern verflucht. Oder ...« »Fahre fort.« »Oder es gibt noch andere, die sind wie du. Menschen mit einer unglaublich langen Lebensspanne, für die Jahrhunderte nichts bedeuten.« »Wir kennen mindestens einen. Phönix. Er ist jetzt im hundertsten Jahr.« 142 »Das ist etwas anderes. Ein Sonderfall. Er hatte Zugang zum Wissen der Gründer, und das hat es möglich gemacht.« »Vielleicht ist er nicht der Einzige. Wer weiß schon, ob nicht Teile ihres Wissens auch anderen in die Hände gefallen sind? Teufel, ich sehe ja selbst aus wie eine Schatzkiste voller Wissen der Gründer.« »Was natürlich die Frage aufwirft, ob jemand anders schon etwas gefunden hat.« »Du weißt genau, wie du meine Stimmung heben kannst, Serrah.« »Allerdings denke ich, dass dies nicht zutrifft.« »Wie kannst du so sicher sein?« »Völlige Sicherheit gibt es nicht. Aber erinnere dich an das, was Phönix und Karr gesagt haben. Wenn die Quelle entdeckt worden wäre, dann könnten wir die Auswirkungen überall beobachten. Wer Zugang zu ihr bekommt, wird sich nicht damit begnügen, sein Leben zu verlängern. Er würde die Welt regieren. Oder wir wären alle tot.« »Vielleicht können sie die Kräfte nur noch nicht beherrschen.« »Nach siebzig Jahren? Das glaube ich nicht. Ehrlich gesagt, glaube ich auch nicht, dass du verhext worden bist. Ich meine, was für eine Art Fluch soll das sein, der das Opfer fast unsterblich macht? Ja, ich weiß schon, das ist für dich ein zweischneidiges Schwert, aber du verstehst schon, was ich meine. Ich denke, wir haben es mit etwas ganz anderem zu tun als mit dem Zauber eines Feindes. Allerdings will ich verdammt sein, wenn ich wüsste, was es ist.« Caldason lächelte. »Du scheinst allmählich einzusehen, dass es kein Problem ist, für das man im Handumdrehen eine Lösung findet.« Auch Serrah musste lächeln. »Ich habe nicht erwartet, sie in fünf Minuten zu finden, du Trottel.« Er lachte. »Wirklich? Ich hätte nicht gedacht, dass 143 irgendein größeres Problem es wagt, dir länger zu widerstehen.« »Du verdammter ...« Sie schnappte sich ein Kissen und schlug ihn damit, bis es platzte und eine Wolke winziger Federn entließ. »Reeth«, sagte sie etwas ernster, während sie sich die Federn von den Lippen pflückte. »Hat Kutch die letzten Visionen wieder mit dir geteilt?« »Die erste oder die ersten beiden hat er mitbekommen. Das hat aber anscheinend aufgehört, seit er die Ausbildung zum Aufklärer abgebrochen hat.« »Da hast du es wieder - Magie. Es gibt da irgendwo einen Zusammenhang. Ich bin sicher, dass diese Dinge miteinander in Verbindung stehen.« »Ich konnte mir bisher allerdings nicht zusammenreimen, wie diese Verbindung aussehen sollte.« »Wir müssen mit Kutch reden. Man kann nie wissen, vielleicht fällt ihm ja etwas ein. Irgendein Hinweis oder ...« Er nahm sie in die Arme und knabberte zärtlich an ihrem Ohr. »In Ordnung. Aber das wollen wir erst einmal verschieben, ja?« Ihre Lippen fanden sich. In einem entlegenen Teil der Diamantinsel, genauer gesagt an der östlichen Spitze, wirkten Steilklippen als natürliche Barriere gegen den Ansturm der See. Oben auf der Klippe standen auf einem Stück Wiese mehrere Häuser, die noch aus der Zeit stammten, als die Insel ein Feriendomizil war. Hier versammelten sich die paar Magier des Bundes, die aus Bhealfa hatten fliehen können, und die wenigen Magier, die schon vorher auf der Insel gelebt hatten. Es war ein Ort des Rückzugs und der Meditation, dessen Privatsphäre von allen Menschen auf der Insel respektiert wurde. Die Häuschen waren verfallen. Ringsum war der Schnee zu Matsch zertreten. Eine kleine Gruppe von Bäumen dien144 te als Windschutz, doch kahl, wie sie im Winter waren, konnten sie nicht viel ausrichten. Insgesamt war der Eindruck eher trostlos. Eine Hütte stand abseits von den anderen. Der Schnee davor war fast unberührt, nur wenige Fußabdrücke waren zu sehen. Alle Fenster waren verrammelt.
Drinnen beendete Kutch Pirathon gerade eine Unterrichtsstunde bei seinem Ersatzlehrer, der an diesem Tag auf magische Verkleidungen verzichtet hatte. Er sah so aus, wie er war - alt, weißhaarig und mit faltigem Gesicht. »Und du bist sicher, dass du in der letzten Zeit keine Visionen von Reeth Caldason mehr übernommen hast?«, fragte Phönix. »Nein«, entgegnete Kutch gereizt, weil der alte Mann nachgebohrt hatte. Er knallte das dicke Buch zu, in dem er gelesen hatte. »Ich lüge nicht bei solchen Dingen. Darauf hat mein Meister immer bestanden.« »Dann hat er dich etwas Wichtiges gelehrt. Sei nicht beleidigt, mein Junge. Ich bin nur so nachdrücklich, weil es so wichtig ist.« »Wie ich schon sagte, wir haben seit einigen Monaten keine gemeinsamen Visionen mehr.« »Seit du aufgehört hast, das Aufklären zu lernen.« »Ja.« »Und deine Träume? Was ist mit den Träumen?« Kutch zierte sich. »Nun ja ...« »Was war es noch gleich, worauf dein Meister immer bestanden hat?« Der Bursche seufzte. »Manchmal ... ja, manchmal entsteht eine Verbindung in Träumen. Aber nicht oft, und die Bilder sind bei weitem nicht so mächtig wie die Visionen, die ich früher hatte. Es ist kein Problem, aber ... ich dachte, ich wäre frei, wenn ich die Ausbildung zum Aufklärer einstelle.« »Nun ja, größtenteils hat es ja aufgehört, wie du selbst 145 sagst. Ich vermute aber, zwischen dir und Caldason wird eine Verbindung bestehen bleiben, solange du auf irgendeine Weise die Magie praktizierst.« »Oh«, meinte der Bursche niedergeschlagen. »Das ist aber ein deprimierender Gedanke.« »Weil du glaubst, das zwinge dich, eine Entscheidung zu treffen? Zwischen deiner Freundschaft für Caldason und deiner Hingabe an die Magie?« Kutch sah ihn hoffnungsvoll an. »Bin ich denn nicht dazu gezwungen?« »Ich glaube, du missverstehst mich. Die Verbindung wird bestehen bleiben, solange du dich mit der Magie beschäftigst. Es ist sogar denkbar, dass wir die Auswirkungen auf dich dämpfen können, aber nichts, was du tust, einschließlich der völligen Aufgabe der magischen Kunst, wird für Caldason irgendetwas ändern, falls es das war, was du gehofft hast. Seine Verbindung zur Magie geht über alles hinaus, was du tun könntest.« »Aber das scheint so ungerecht. Reeth hasst die Magie.« »Ich hasse den Regen, aber das ändert nichts daran, dass ich nass werde.« Etwas ernster fügte er hinzu: »Gebrauch doch deinen Verstand, mein Junge. Caldasons Gefühle sind in dieser Sache so belanglos wie die Ansicht eines Verurteilten über das Seil, mit dem er gehenkt werden soll.« »Könnt Ihr nicht irgendetwas für ihn tun?« »Unsere Bemühungen haben zu nichts geführt. Jetzt setzt er seine ganze Hoffnung auf die Quelle, falls er sie finden kann, und darauf, dass die Angehörigen des Bundes, die noch leben, in der Lage sind, sie zu entziffern. Beides wird nicht leicht.« »Dann müssen wir alles tun, um ihm zu helfen.« »In der Tat. Denn wenn er scheitert, gibt es nur eine einzige andere Möglichkeit, diese Bindung aufzulösen.« »Welche ist das?« »Sein Tod.« 146 »Aber er kann doch nicht getötet werden.« »Du weißt, dass dies nicht ganz wahr ist. Er ist nahezu unsterblich, aber eben nur nahezu. Es wäre schwierig, seinem Leben ein Ende zu setzen, aber nicht unmöglich.« »Was Ihr da sagt, macht mich nicht gerade glücklich, Meister.« »Es ist nicht meine Aufgabe, dich glücklich zu machen. Aber an deinem Überleben liegt mir durchaus sehr viel. Deshalb muss ich auch genau wissen, wie deine Verbindung zu Caldason beschaffen ist.« »Mein Überleben? Wie könnte ein kleiner Einblick in Reeths Visionen denn ...« »Erkennst du trotz all deiner Studien nicht die potenziell zerstörerische Kraft der Magie? Caldason ist an irgendeinen Aspekt der mächtigen Kunst gekettet, den nicht einmal wir verstehen. Vergiss nicht, was ich dir über meine Brüder im Bund erzählt habe, die getötet wurden, als sie einen freigelegten Energiekanal untersuchten. Diese Sache mit Caldason könnte für dich nicht minder gefährlich werden.« »Wir werden sowieso alle auf dieser Insel sterben«, murmelte Kutch. »Mag sein.« »Wäre es dann nicht besser, etwas zu unternehmen, statt...« »Uns sind die Hände gebunden, wenn man davon absieht, unsere Verteidigung so stark wie möglich zu machen. Ich könnte vielleicht versuchen, dich von der Insel zu schmuggeln. Es könnte klappen.« »Nein! Ich würde ... ich will lieber das Risiko eingehen und hier bei den Leuten bleiben, die ich kenne.« Phönix' alte Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Wenn es das ist, was du willst, dann soll es so sein. Aber ich wollte dir eigentlich erklären, dass du Caldason nicht hilfst, indem du deine Studien vernachlässigst, und es hilft
147 ganz gewiss auch nicht dir selbst. Es ist eine Schande, dass du das Aufklären aufgegeben hast, wenn man bedenkt, wie selten diese Gabe ist. Davon abgesehen, besitzt du eine Begabung für die Kunst, und du bist klug genug, um den Status des Vollmagiers zu erlangen, wenn du daran arbeitest. Wirf das nicht einfach weg.« Der Bursche strahlte. »Meint Ihr das wirklich?« »Ich neige nicht zu hohler Schmeichelei.« »Es freut mich sehr, dass Ihr das sagt. In der letzten Zeit habe ich mir manchmal gewünscht, ich wäre Varees Weg gefolgt.« »Varee?« »Mein Bruder. Er ging fort und schloss sich dem Heer an, als ich noch ein Kind war.« »Ah, ja. Nun, ich bin froh, dass du es nicht getan hast. Es wäre ein Verlust für die Kunst gewesen.« »Danke.« »Und zweifellos wäre auch dein Meister sehr enttäuscht gewesen.« »Ja, ich glaube, Domex wäre wütend gewesen. Aber ich bin froh, dass Ihr so viel Vertrauen zu mir habt, Phönix. Es bedeutet mir viel, dass Ihr ...« »Sch-scht!« »Was ist?«, flüsterte Kutch. »Jemand kommt«, warnte der Magier. »Ich kann aber nichts ...« Phönix brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen. Kutch strengte die Ohren an und lauschte. Zuerst hörte er nichts und zweifelte an den Sinnen des Magiers. Dann bewunderte er sie. Ganz schwach waren in der Ferne Hufschläge zu hören. Als sie lauter wurden, trat der Magier ans Fenster und spähte durch einen Riss im Fensterladen hinaus. »Kein Grund zur Sorge«, sagte er. »Es sind Freunde.« Er ging zur Tür und öffnete sie; Kutch folgte ihm. Eine kalte Bö schlug ihnen entgegen. 148 Zwei Reiter kamen. Sie ritten schnell und trieben die Pferde mit Schlägen der Zügel an. Einer war Caldason, der sich im schneidenden Wind weit vorgebeugt hatte. Sein Mantel flatterte hinter ihm. Serrah ritt neben ihm, das blonde Haar wehte frei im Wind. Wenige Sekunden später waren sie da, und ihre dampfenden Pferde warfen gefrorene Erdbrocken hoch, als sie angehalten wurden. Caldason und Serrah stiegen rasch ab. »Reeth, Serrah«, grüßte Kutch sie. »Was wollt ihr denn hier?« »Wir wollten eigentlich etwas mit dir besprechen«, erklärte Serrah, »aber die Ereignisse haben uns überrollt.« »Was meint Ihr?«, wollte Phönix wissen. Er war offensichtlich ungehalten über die Störung. »Kommt und seht es selbst«, forderte Caldason ihn auf. Sie zogen Mäntel an und folgten ihm. Er führte sie von den Hütten weg bis zum Rand der Klippe. »Da unten.« Er deutete zum Meer. Zwei Schiffe näherten sich der Insel mit prallen purpurnen Segeln. »Schon wieder ein Angriff!«, rief Kutch. Die Piratengaleonen hissten die schwarzen Flaggen und schlugen den Kurs zu einem weniger abweisenden Strand der Insel ein. Serrah seufzte müde. »Es geht schon wieder los.« 149 Ein kleiner Krieg tobte zwischen unzähligen Quecksilbertropfen. Jede schimmernde Perle reflektierte ein Teilstück des Ereignisses. Sie zeigten Meuten, die durch zerstörte Straßen zogen. Steine werfend, kämpfend, Brände legend. Magische Entladungen schössen wie feurige Lanzen umher und setzten die Menschen in Brand. Die Zinnkügelchen gerannen und verdichteten sich zu einer glänzenden Flüssigkeit. Dann spalteten sie sich wieder auf, und andere, ähnliche Ereignisse wurden dargestellt. Ausgebrannte Gebäude, brandschatzende Horden. Kavallerieangriffe und Verhaftungen. Mehrmals durchlief die Flüssigkeit diesen Zyklus und strömte, formte sich neu, um Szenen von zivilem Ungehorsam zu zeigen. Leichen lagen auf den Plätzen der Stadt. Gefangene wurden mit Schwertern in Wagen getrieben. Exekutionen am Straßenrand. Die graue Substanz, durch die das Drama dargestellt wurde, brodelte und wallte am Boden einer Grube mit glatten Wänden. Zwei Männer standen am polierten Geländer, das den Schacht umgab, und blickten auf das sich ständig verändernde Schauspiel hinab. Sie trugen schöne Kleider aus magisch verstärkten Stoffen, über die Farben und feine Muster liefen. 150 Beide Männer waren alt. Schminke und Gesichtszauber konnten ihr Äußeres in gewissen Grenzen verbessern, doch überzeugend war es nicht. Die glatte Haut und das volle Haar waren bei näherem Hinschauen leicht als Fälschung zu erkennen. Der Älteste, Felderth Jacinth, der am meisten gefürchtete Mann im ganzen Reich, war geringfügig älter als der andere. Doch es war schwer zu entscheiden, wer von ihnen grimmiger dreinschaute.
»Genug«, entschied er und zog die Hand quer durch die Luft. Die Bilder in der Grube lösten sich auf, und die ewig unruhige Flüssigkeit fiel zusammen und brodelte etwas leiser weiter. »Glaubst du immer noch, diese Tumulte seien unwichtig, Rhylan?«, fragte der Älteste. Sein Bruder schien nicht sonderlich beunruhigt. »Wir wollen es doch nicht überbewerten. Es ist nicht so schlimm, wie die Visualisierungen zu zeigen scheinen. Die Störungen sind auf einzelne Orte begrenzt.« »Aber sie sollten eigentlich überhaupt nicht da sein.« »Unser System ist zu gut geordnet, als dass sich solcher Ungehorsam lange halten könnte. Außerdem ...« »Was?« »Außerdem wird der größere Teil der Massen durch ihre Verehrung für uns zurückgehalten.« »Bitte, Rhylan, wir wollen die Gutgläubigkeit nicht zu weit treiben.« Er wandte sich von der Grube und den schwefelartigen Dämpfen ab. Sein Bruder folgte ihm. Sie gingen in die Mitte einer gewaltigen, fensterlosen Kammer. Das Gewölbe war aus kostbarem Marmor gebaut, zwanzig Säulen erhoben sich anmutig zur hohen Decke. Eine Unzahl magischer Kugeln erfüllte den Raum mit einem weichen Licht. Den alten Überlieferungen entspre151 chend, war der Verlauf der unterirdischen Kraftlinien mit farbigen Pigmenten gekennzeichnet. Rot, blau, grün, golden. Ein Netzwerk von Linien überzog den Boden der Kammer. Ein Tisch, wie ein Schild geformt und groß wie eine Kutsche samt Gespann, nahm die Mitte des Raumes ein. Die gebündelten Kraftlinien liefen zu seinen kräftigen Beinen und erfüllten die Eiche mit magischer Essenz, um all die zu stärken, die sich am Tisch beraten wollten, und um das Motiv zu speisen, das in die Oberfläche des Tischs eingelassen war. Dem Abzeichen des Reichs - ein fliegender Adler vor zuckenden Blitzen - wurde so ein Scheinleben eingehaucht. Der Adler bewegte die mächtigen Schwingen wie im Flug, während rings um ihn die Blitze krachten. Mehr als zwanzig Mitglieder des Zentralrats von Rintarah saßen am Tisch. Wäre ein gewöhnlicher Bürger eingelassen worden, was jedoch niemals geschah, dann hätte er bemerkt, dass die anwesenden Männer und Frauen offensichtlich miteinander verwandt waren. Blutsverwandtschaft und nicht etwa gleichberechtigte Wahlen bestimmten die Zusammensetzung des Rates. Felderth Jacinth nahm seinen Platz am Kopfende des Tisches ein. Rhylan setzte sich auf den letzten freien Stuhl. »Einige von euch, darunter auch mein Bruder hier, sind der Ansicht, die gegenwärtige Störung der öffentlichen Ordnung sei nicht mehr als ein vorübergehendes Ärgernis«, begann der Älteste ohne Einleitung. »Ich bin anderer Ansicht. Was wir in den Straßen von Jecellam und in ganz Rintarah sehen, ist vielleicht nicht weit verbreitet, aber es ist bemerkenswert.« »Wichtiger als die Unruhen, die wir in der Vergangenheit überstanden haben?«, warf ein skeptischer Verwandter ein. »Ja, und zwar aus zwei Gründen. Zuerst einmal haben wir eine neue Wendung zu berücksichtigen: die Diamantinsel. Als man es den Dissidenten hier und in Gath Tam152 poor erlaubte, die Insel zu erreichen, wurden in der Brust eines jeden Radikalen Hoffnungen geweckt. Dieser verdammte Ort ist ein Leuchtfeuer für jeden Unzufriedenen, Unruhestifter und Revolutionär.« »Aber wir reden jetzt über eine verhältnismäßig kleine Zahl von Leuten«, wandte Rhylan ein. »Normalerweise würde uns dies in der Tat nicht weiter stören. Ich muss jetzt jedoch auf den zweiten Faktor zu sprechen kommen, den ich eigentlich nicht einmal zu nennen brauchte. Der Qalochier.« »Ah, ja. Ein Problem, mit dem man sich schon vor langer Zeit hätte befassen sollen.« »Wären wir imstande gewesen, unsere Differenzen über ihn beizulegen, dann wäre das Problem längst gelöst. Jetzt aber hat er sich mit den Abweichlern eingelassen, und das Ergebnis ist das Gleiche, als hätte man Öl auf glühende Scheite gegossen.« »Laufen wir nicht Gefahr, Caldasons Bedeutung zu überschätzen?«, warf ein weiterer Skeptiker ein. »Dieses Argument hat uns schon zu lange in die Irre geführt«, erwiderte der Älteste. »Wenn wir seine Herkunft und seine Möglichkeiten, Schaden anzurichten, außer Acht lassen, dann gereicht uns dies nur zum Nachteil.« »Ich stimme zu«, warf eine Teilnehmerin ein. »Caldason und die Abtrünnigen ergeben eine gefährliche Mischung. Es ist keine Frage, dass man dringend handeln muss.« »Aber wir wissen nicht einmal, ob er sich seiner latenten Fähigkeiten bewusst ist«, entgegnete Rhylan. »Ganz zu schweigen davon, sie auch einzusetzen.« »Da haben wir es. Wir wissen es nicht«, entgegnete Felderth Jacinth. »Sind wir bereit, dieses Risiko einzugehen?« »Wir müssen nicht von der möglichen Gefährlichkeit dieses Mannes überzeugt werden«, versicherte ihm jemand anderer. »Es sind die anzuwendenden Methoden, die viele von uns mit Besorgnis erfüllen.« 153 Zustimmendes Gemurmel erhob sich. Beinahe die Hälfte der Anwesenden am Tisch nickte beifällig. »Da wir zugelassen haben, dass die Situation sich bis zu dieser Krise zuspitzt«, erklärte der Älteste ihm, »bleiben uns nicht viele Möglichkeiten.«
Rhylan sprach für die Zweifler. »Aber sollen wir uns wirklich mit unseren Todfeinden zusammentun? Das erscheint vielen von uns als sehr außergewöhnliche Maßnahme, Bruder.« »Wir tun uns nicht mit ihnen zusammen. Wir wollen ein gemeinsames Ziel erreichen, das trifft es wohl besser.« »Wie du es auch nennst, es ist beispiellos.« »Besondere Situationen erfordern besondere Maßnahmen.« »Mag sein. Aber willst du wirklich sagen, dass die Situation auf der Diamantinsel die Kräfte von Rintarahs bewaffneten Streitkräften übersteigt? Wozu brauchen wir Gath Tampoor?« »Wir brauchen es nicht. In militärischer Hinsicht gibt es keine Probleme.« »Warum dann dieses ... dieses Bündnis?« »Gath Tampoor wird ohnehin handeln, ganz egal, was wir tun, und politisch ist dies aus ihrer Sicht auch sinnvoll. Sie müssen ihren Untertanen zeigen, dass Abweichler bestraft werden. Wenn wir unsererseits darauf verzichten zu handeln, dann könnte man das als Schwäche deuten, was unsere eigenen Unruhestifter nur noch weiter ermuntern würde.« »Das Argument hat einiges für sich«, murmelte ein Unterstützer. »Ich betone noch einmal, dass es sich nicht um ein Bündnis handelt«, fuhr der Älteste fort. »Es ist eine Frage des Eigeninteresses beider Reiche. Die Notwendigkeit erzeugt seltsame Gemeinsamkeiten, und ganz gleich, wie tief greifend unsere sonstigen Differenzen sind, die einzige Frage, auf die es wirklich ankommt, ist das Überleben.« 154 Das brachte die Versammlung wirkungsvoll zum Schweigen. Der Älteste wartete einen Augenblick, ehe er die Erklärung fortsetzte. »Es sollte keine Befürchtungen geben, dass unsere stille Übereinkunft mit Gath Tampoor uns in irgendeiner Weise kompromittiert. Ein Gedankenaustausch auf allerhöchster Ebene hat stattgefunden, und unsere Position wurde verdeutlicht. Es kann dort keinerlei falsche Vorstellungen etwa in der Hinsicht geben, dass wir zu Zugeständnissen irgendeiner Art bereit wären.« »Das ist beruhigend«, gab ein Kritiker zurück, der offenbar noch nicht ganz überzeugt war. »Wie gut sind denn eigentlich unsere Informationen über die Sicherheitslage in Gath Tampoors Einflussbereich?« »Anscheinend sind ihre Schwierigkeiten noch größer als unsere. Sie haben allerdings auch einige notorisch aufsässige Kolonien, namentlich Bhealfa. Wo im Übrigen Caldason geboren wurde.« »Hmm. Und die Rebellen? Wissen wir, wie es um sie steht?« »Unsere Informationen sind nicht mehr so gut wie früher. Sie wurden dezimiert, und viele Überlebende wurden verstreut. So wird es schwieriger, Erkenntnisse zu sammeln. Nicht, dass es jemals leicht gewesen wäre, Spione in ihren Reihen zu platzieren.« »Aber wir hatten doch einen Informanten, der sogar Zugang zum innersten Führungskreis hatte.« »Ja, und es war eine nützliche Quelle. Aber der Kontakt ist abgebrochen, gerade als einige sehr wichtige Informationen durchkamen. Wir wissen nicht, was aus diesem Informanten geworden ist. Wir vermuten, dass er während der Säuberungen von den Sicherheitskräften von Gath Tampoor getötet wurde.« »Welche Ironie«, bemerkte Rhylan. Sein Bruder nickte. »In der Tat.« 155 »Andererseits könnte der Informant auch einfach die Seiten gewechselt haben.« »Was meinst du damit?«, fragte der Älteste. »Es liegt doch nahe, dass auch Gath Tampoor hochrangige Quellen im so genannten Widerstand hatte, denn sonst hätten sie nicht so hart zuschlagen können. Vielleicht war es ein und dieselbe Person.« »Das ist möglich. Es spielt jetzt allerdings keine Rolle mehr. Unsere einzige Sorge ist Rintarahs innere Sicherheit, und wir wissen, dass die Rebellen zwar dezimiert sind, aber immer noch eine Gefahr darstellen. Damit kommen wir wieder auf die Maßnahmen zurück, die ich zu ergreifen gedenke.« Unruhe brach aus. Er bat mit erhobener Hand um Schweigen. »Für diejenigen, die hier nicht mitspielen wollen, möchte ich noch einen weiteren Faktor nennen.« Er drehte sich um und deutete zur Grube. Es war eine absichtlich dramatische Geste. »Wir wissen alle, dass im Energienetz seltsame Dinge geschehen. Ich fürchte, die Störungen werden noch zunehmen, wenn wir nicht sehr schnell etwas unternehmen, um deren Ursprung zu finden.« »Du willst doch nicht andeuten, dass eine Verbindung besteht?«, rief Rhylan aufgeregt. »Welche Beziehung könnte es zwischen den Rebellen und der Matrix geben?« »Ich weiß es nicht. Aber man kann sich leicht vorstellen, dass möglicherweise eine Verbindung zu Caldason existiert. Und auch Zerreiss dürfen wir nicht außer Acht lassen.« »Den Kriegsherrn? Es ist sicher angeraten, vorsichtig zu sein, mein Bruder, aber gehst du jetzt nicht etwas zu weit? Was hat er mit dem Bild zu tun, das du für uns gezeichnet hast?« »Vielleicht überhaupt nichts. Er könnte aber auch der Dreh- und Angelpunkt dieser Angelegenheit sein.« »Ach, nun hör schon auf, Felderth ...« 156 »Lass mich ausreden. Wir wissen, dass er in den Einöden im Norden ein Reich aufbaut, und allein deshalb ist er schon eine Bedrohung. Dann ist da noch die Expedition, die wir ausgeschickt haben, um seine Aktivitäten zu erkunden, und ebenso die von Gath Tampoor ausgesandte Expedition. Es gibt wohl keinen großen Zweifel mehr,
dass beide verloren sind, und es spricht vieles dafür, dass Zerreiss dafür verantwortlich ist. Falls sich Caldason, die Rebellen und Zerreiss zusammentun, dann sehen wir uns einer Bedrohung gegenüber, die viel gefährlicher ist als ein paar Verräter.« »Falls es so kommt, ja. Wir wollen aber doch nicht wegen rein hypothetischer Möglichkeiten in Panik geraten. Welche gemeinsamen Interessen haben sie denn schon?« »Der Hass auf die Imperien scheint mir ein recht gutes Motiv zu sein. Zerreiss empfindet für uns oder Gath Tampoor keinerlei Achtung. Er hat unsere und ihre Kolonien mit der gleichen Entschlossenheit angegriffen. Vielleicht sieht er einen Vorteil darin, sich mit unseren Feinden zu verbünden. Und ich vermute, so sieht es auch Gath Tampoor.« »Das sind doch alles nur Mutmaßungen. Wo sind die Beweise?« »Eindeutige Beweise habe ich keine. Ich habe allerdings einige eher indirekte Hinweise.« Er zog eine Pergamentrolle aus dem Gewand und legte sie auf den Tisch. »Ich habe in der letzten Zeit eine Anomalie beobachtet. Die letzten drei oder vier Gelegenheiten, als die Matrix gestört wurde, fielen mit bedeutsamen Daten zusammen. Ich habe es überprüft und herausgefunden, dass die Störungen mit Zerreiss' Eroberungen zusammenfielen. Daraufhin habe ich unsere Beamten angewiesen, eine Liste mit den Daten seiner Siege und wichtiger Schlachten anzufertigen. Alle fallen mit Störungen der Matrix zusammen. Es steht alles hier drin.« Er nickte zur Schriftrolle hin. 157 Rhylan nahm sie in die Hand. »Und was genau soll das nun belegen?« Seine Stimme verriet eine Unsicherheit, die vorher nicht da gewesen war. »Ich muss abermals gestehen, dass ich es nicht weiß. Es gibt aber einen eindeutigen Zusammenhang. Bei jeder seiner Eroberungen und bei jedem Schritt, mit dem er sich unserem Einflussbereich nähert, werden die Störungen stärker.« »Es gibt keinen Zweifel?« Sein Bruder studierte aufmerksam die Schriftrolle. »Nein.« Der Älteste wandte sich wieder an die Versammlung. »Könnt ihr es erkennen? Wir haben es hier mit einer beispiellosen Entwicklung zu tun. Wenn auch nur die geringste Gefahr besteht, dass dies unsere Position berührt, dann müssen wir handeln. Wir haben so lange überlebt, weil wir stets Bedrohungen früh genug erkannt und beim ersten Anzeichen einer Auflehnung gegen unsere Macht schonungslos durchgegriffen haben. Ihr solltet euch eine Frage stellen: Was haben wir zu verlieren, wenn wir handeln, abgesehen vom Leben einiger Untertanen? Stillhalten könnte hingegen verhängnisvoll sein.« Zustimmendes Gemurmel erhob sich am Konferenztisch. »Ich schlage vor, dass wir darüber abstimmen«, sagte ein Unterstützer. »Wer für militärische Maßnahmen in der umrissenen Form ist«, sagte Jacinth, »der möge die Hand heben.« Er musterte die Runde. »Gegenstimmen?« Eine rasche Zählung folgte. »Angenommen.« Aber nur knapp. Rhylan erhob sich. »Ein Wort im Namen der Antragsgegner, mein Bruder?« Der Älteste nickte. »Wie üblich liegt Weisheit in dem, was du hier gesagt hast. Aber ich weiß, dass du die Vorbehalte, die einige von 158 uns haben, achtest. Vor diesem Hintergrund möchte ich die Entscheidung des Rates ergänzen.« »Selbstverständlich.« »Wir sollten über alle Schritte der Operation vollständig informiert werden.« »Das bedarf keiner Erörterung.« »Und im Falle eines ungünstigen Verlaufs, falls wir also Hinweise bekommen, dass die Unternehmung scheitern könnte, soll eine weitere Abstimmung darüber stattfinden, ob unsere Kräfte sofort zurückbeordert werden. Der Ausgang dieser Abstimmung wäre dann auf jeden Fall bindend.« »Du bittest um nicht mehr als das, was ohnehin freiwillig gewährt worden wäre, Rhylan. So sei es.« Er stand auf. »Wir haben viel zu tun, und jeder kennt seine Aufgaben. Wenn niemand mehr das Wort ergreifen will... gut. Dann schlage ich vor, dass wir uns vertagen und unsere jeweiligen Aufgaben erledigen.« Der Rat löste sich zu tuschelnden Gruppen auf. Die Brüder blieben noch und kehrten gemeinsam zur Grube zurück. Dort machte der Älteste eine Geste und reaktivierte die silberne Flüssigkeit. Wieder erschienen Visionen. Anblicke der Straßen, Plätze und Parks von Jecellam, der einst ruhigsten aller Hauptstädte, in der jetzt allenthalben das Chaos losbrach. Es hatte wieder zu schneien begonnen, die Schultern von Abweichlern und Gesetzeshütern wurden bestäubt und die ungesetzlichen Feuer gelöscht. Doch die Sehnsucht nach Gerechtigkeit konnte der Schnee nicht ersticken. Auf einen stummen Befehl vom Ältesten erschien der größte Hafen des Reichs. Eine gewaltige Invasionsflotte lag dort vor Anker. Lange Ketten von Schauerleuten luden Vorräte von hunderten von Wagen, die sich auf der Mole 159 drängten, auf die Schiffe. Trupps von Hafenpolizisten wanderten in der Menge umher und bereiteten die
Einschiffung des wartenden Heeres vor. Die Schiffe waren so zahlreich, dass sie bis in die Bucht hinaus hintereinander warten mussten. Es war eine endlose Reihe von nickenden Masten und flatternden Segeln. Dahinter lag das weite, unruhige Meer. 160 In Sichtweite der Diamantinsel lagen ein Dutzend Schiffe mit den Farben des Freibeuterbündnisses vor Anker. Die kleine Flotte war unlängst reduziert worden. Nicht durch Verluste im Kampf, sondern durch eine weniger vorhersehbare Ursache, die eine gewisse Wut erzeugte. Auf dem Deck des größten Schiffs machte Kingdom Vance seinem Ärger Luft. »Drei Schiffe! Drei verdammte Schiffe und vierzig Männer!« »Das sagtet Ihr schon«, gab Kinsel Rukanis zurück. Vance drehte sich von der Reling zum Sänger um. »Findet Ihr das etwa komisch?« »Aufschlussreich wäre das bessere Wort.« Er schauderte in der Kälte. Seine verschlissene Kleidung bot ihm wenig Schutz. »Aufschlussreich? Das Einzige, was ich hier sehe, sind einige Verräter, die sich auf die andere Seite geschlagen haben.« »Habt Ihr denn schon über den Grund nachgedacht?« »Der Grund?« Seine Stimme klang drohend. »Sie sind Feiglinge, das ist der Grund!« »Ist es nicht denkbar, dass sie desertiert sind, weil sie eingesehen haben, dass Ihr etwas Unmögliches versucht?« 161 »Das ist nur eine andere Art zu sagen, dass sie kein Rückgrat haben. Ich bin ohne diesen Abschaum besser dran.« »Oder könnte es sein, dass sie die Position der Rebellen als eine gerechte Sache angesehen haben?« Vance lachte höhnisch. »Sie sind Narren, wenn sie das denken, und Feiglinge sind sie sowieso. Die haben einander verdient.« »Ihr überrascht mich, Kapitän. Ich dachte, Ihr fühlt Euch den Rebellen verbunden, da sie wie Ihr selbst gegen die Großmächte antreten.« »Da seid Ihr aber im Irrtum, Sänger. Ich empfinde keine Liebe für die Reiche, aber bei denen weiß man wenigstens, woran man ist. Sie haben die Macht und keine Skrupel, diese Macht auch einzusetzen. Das kann ich respektieren. Das Einzige, was in dieser Welt zählt, ist das, was man mit beiden Händen packen kann.« »Wenn Ihr das wirklich glaubt, dann tut Ihr mir Leid.« »Hebt Euch das Mitleid für Euch selbst auf, Rukanis. Und denkt über Folgendes nach: Die Menschen auf dieser Insel haben sich entschieden, ihre Heimat zu verlassen und hierher zu kommen. Dadurch haben sie uns das Land genommen, das wir für uns selbst haben wollten. Damit sind sie meine Feinde.« »Wer bedauert sich jetzt selbst? Ihr habt Euch für Eure Lebensart entschieden. Hat man Euch gezwungen, ein Pirat zu werden? Hat Euch jemand eine Klinge an den Hals gesetzt? Nein. Trefft eine Übereinkunft mit den Inselbewohnern, Vance, wie es die Deserteure getan haben. Beendet diesen Wahnsinn.« »Das bekomme ich von Euch öfter zu hören als irgendeine andere Eurer Arien, und ich bin es allmählich leid. Es gibt keinen Waffenstillstand und kein Entgegenkommen. Und diejenigen, die weggelaufen sind, werden dafür zahlen, wenn ich die Insel einnehme.« »Falls Ihr sie einnehmt.« 162 Blitzschnell schlug Vance mit der Faust zu und traf Rukanis seitlich am Kopf. Es war ein unbeherrschter Schlag, der den Sänger umgeworfen hätte, wenn er nicht mit dem Rücken am Mast gelehnt hätte. Seine Wange rötete sich sofort, ein Blutfaden rann aus der angeschwollenen Lippe. »Ihr vergesst die Natur unserer Beziehung«, zischte Vance und beugte sich drohend über den Sänger. »Wir sind Gefangener und Herr, keine Gleichgestellten. Und erst recht seid Ihr niemand, von dem ich einen Rat annehmen würde.« Rukanis spuckte Blut aufs Deck und erwiderte den Blick des Mannes. »Ist die Wahrheit für Euch wirklich eine so unvertraute Erfahrung?« Der Pirat machte Anstalten, Rukanis noch einmal zu schlagen, dann hielt er inne und beruhigte sich etwas. »Zum Teufel damit.« Er wandte sich ab und ließ Rukanis stehen, der sich den Mund mit einem Hemdsärmel abtupfte. »Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ich bekomme, was ich will«, versprach Vance. »Und Ihr werdet mir dabei helfen.« »Tut sich etwas?« Serrah blickte zu den Schiffen hinaus, die ein Stück vor der Küste vor Anker lagen. »Nein.« Caldason bot ihr das Fernrohr an. »Sieh selbst.« »Es ist ziemlich sinnlos, überhaupt nichts zu beobachten, was? Komm, wir können hier sowieso nichts tun. Es sind genügend Späher aufgestellt.« Sie liefen weiter über die Sandbank. Ein steifer Wind wehte, der sie trotz der Pelzmäntel und der dicken Handschuhe und Kapuzen auskühlte. »Irgendwie kann ich das kaum glauben«, sagte sie. »Meinst du die Piraten?« »Ja. Als sie mit weißen Flaggen kamen, dachte ich, es sei wieder nur ein Trick.«
»Darrok war überzeugt davon.« 163 »Vielleicht hat er sogar Recht.« »Meinst du, sie setzen uns eine Natter an die Brust? Ich glaube es nicht. Das wäre zu plump. Aber die Überläufer werden unter Beobachtung bleiben, bis wir sicher sind.« »Es verrät uns etwas über die Moral unter Vances Kommando, wenn so viele die Seiten wechseln, was?« »Es verrät uns nur, dass dreiundvierzig seiner Kumpane entmutigt genug waren, um zu desertieren. Das ist nicht unbedingt eine Schwächung für Vance. Möglicherweise macht es ihn sogar noch gefährlicher.« »Wieso das?« »Er wird noch erbitterter sein, er hat noch mehr Grund, uns zu hassen und die Insel zu erobern. Außerdem gibt es jetzt keine unsicheren Kandidaten mehr in seinen Reihen, und die Streitmacht, die er gegen uns ausschickt, ist in sich gefestigt.« »Nun ja, wenigstens haben wir dadurch drei Schiffe mehr. Da wir gerade davon reden ...« Sie deutete nach vorn. Sie konnten eine kleine Bucht überblicken, die von den Inselbewohnern als Hafen benutzt wurde. Ein Zweimaster mit Rahsegeln ankerte im Flachwasser. Ein halbes Dutzend kleinerer Schiffe bildete eine behelfsmäßige Mole. »Das ist eine Brigg«, verkündete Caldason. »Bist du auf einmal ein Experte für Schiffstypen?« Er lächelte. »Nein. Das ist das Schiff, das mich hergebracht hat.« »Es kam mir doch gleich bekannt vor. Ist es groß genug für die Reise, die du vor dir hast?« »Darrok behauptet es. Es muss reichen, weil wir nicht gerade viele Schiffe übrig haben.« »Was ist mit den Galeonen, mit denen die Piraten gekommen sind?« »Das sind Kriegsschiffe, die wir hier brauchen. Die Brigg ist auf Schnelligkeit gebaut, nicht für Seeschlachten.« 164 »Aber du weißt nicht, wie die Clepsydra verteidigt wird. Ein Kriegsschiff könnte ...« »Wir können nur das einsetzen, was wir haben, Serrah. Außerdem, je schneller das Schiff, desto schneller die Reise. Es ist wichtig, so schnell wie möglich zurückzukommen, falls die Insel tatsächlich blockiert werden sollte.« »Glaubst du, es kommt so weit?« »Das würde ich an Stelle der Reiche jedenfalls tun. Das Geschwür isolieren.« »Vielleicht sollten wir die Schiffe nehmen und einfach von hier verschwinden.« »Wohin? Wir haben nicht viele Möglichkeiten, und das ist noch vorsichtig ausgedrückt. Nein, es muss die Insel sein oder gar nichts.« »Aber natürlich.« Sie nahm seine Hand. »Was auch immer geschieht, wenigstens sind wir zusammen. Verdammt, jetzt werde ich noch ganz gefühlsduselig. Warum bringst du mich auch in so eine Verfassung?« »Ich? Ich habe doch nicht...« »Schau mal! Sind das nicht Zahgadiah und Pallidea? Da drüben an der Landungsbrücke? Lass uns runtergehen.« Sie begannen den Abstieg. Nachdem sie einander knapp begrüßt hatten, verkündete Darrok die Neuigkeiten. »Wir haben von den Deserteuren etwas Interessantes erfahren«, erklärte er, »und ich denke, es dürfte Euch ein wenig Mut machen.« »Dann spuckt es aus«, sagte Caldason. »Vance hält tatsächlich Euren Freund Rukanis gefangen.« »Ich wusste es!«, rief Serrah. »Wie geht es ihm? Konnten sie das auch sagen?« »Es ist gewiss keine angenehme Erfahrung, Vances Gefangener zu sein. Er hat natürlich einiges einstecken müssen. Aber er ist am Leben.« 165 »Ihr wisst gar nicht, welche Erleichterung das ist.« Pallidea, die eine Hand auf den Rand der schwebenden Scheibe gelegt hatte, mahnte zur Vorsicht. »Vielleicht solltet Ihr Euch nicht zu früh freuen. Das ist noch nicht alles.« »Nun erzählt schon.« »Ich sagte ja, dass es Euch ein wenig Mut machen würde«, fuhr Darrok fort. »Die weniger gute Nachricht ist, dass Vance und sein Bündnis glauben, sie könnten Rukanis als Verhandlungsmasse einsetzen, um uns zu bewegen, die Insel aufzugeben.« »So ein Handel kommt nicht infrage«, sagte Caldason. »Das müssten sie eigentlich wissen.« Er bemerkte Serrahs Gesichtsausdruck. »Das geht auf keinen Fall. Wie könnten wir es tun? Und Kinsel wäre der Erste, der sagt, dass dieses Unternehmen wichtiger ist als das Leben eines einzigen Menschen.« »Vance sieht es ähnlich«, stimmte Darrok zu. »Aber gerade weil ihm das Leben eines Mannes nicht viel bedeutet, könnte er denken, dass es einen Versuch wert ist.« »Was hat er vor?«, fragte Serrah. »Nun, wir wissen keine Einzelheiten, aber Ihr könnt darauf wetten, dass es eindrucksvoll und brutal sein wird. Übergebt mir die Insel oder seht zu, wie euer Freund an der Rah in einem Käfig langsam verbrannt wird. So
ungefähr würde Vance vorgehen.« »Wir müssen Kinsel da rausholen, Reeth.« »Ja.« »Und zwar bald. Sofort. Bevor wir uns auf die Reise begeben, die du planst.« »Natürlich, Serrah. Auch wenn ich, was das >wir< angeht, noch nicht sicher bin.« »Darüber haben wir doch schon geredet. Ich komme mit, und Kutch kommt auch mit. Du hast es versprochen.« »Es kann gefährlich werden.« »Warum fährst du dann damit?« Sie deutete mit dem 166 Daumen zur Brigg. »Wenn die Reise gefährlich wird, solltest du dir ein Kriegsschiff und eine größere Mannschaft nehmen.« »Ich habe es dir doch schon erklärt, es ist...« »Schön. Dann wäre das ja geregelt.« »Serrah, wenn du vielleicht einen Augenblick darüber nachdenken würdest, dann würdest du einsehen ...« Darrok räusperte sich. »Ich will mich ja nicht einmischen, aber glaubt Ihr nicht, es sei sinnvoll, dies auf eine andere Gelegenheit zu verschieben? Außerdem bekommen wir Gesellschaft.« An der Landungsbrücke traf ein Wagen ein. Phönix lenkte ihn, Kutch saß neben ihm. Der Bursche kletterte herunter und kam zu den anderen gerannt, während der Magier das Pferd festband. »Rate mal, was ich gerade gehört habe, Kutch«, sagte Serrah statt einer Begrüßung. »Kinsel ist am Leben.« »Das haben wir auch schon gehört. Wundervoll, nicht wahr?« »Es wäre wundervoll, wenn wir ihn aus Vances Klauen befreien könnten«, sagte Caldason. »Können wir das?« Phönix kam ein wenig keuchend zu ihnen. »Das ist eine gute Frage. Haben wir schon einen Plan?« »Wir haben es doch gerade erst erfahren«, informierte Caldason ihn. »Ich berufe für heute Nachmittag eine Sondersitzung des Rates ein«, schlug Darrok vor. »Uns wird schon etwas einfallen.« Caldason nickte. »In Ordnung. Aber wir wollen nicht zu lange herumreden. Wir müssen schnell handeln.« »Ich garantiere, dass heute noch eine Entscheidung fallen wird. Unternehmt aber unterdessen nichts auf eigene Faust, habt Ihr verstanden?« »Als ob ich das jemals getan hätte.« 167 »Er meint es ernst, Reeth«, schärfte Serrah ihm ein. »Ich bin sehr dafür, Kinsel so schnell wie möglich zu retten, aber es ist wenig sinnvoll, unüberlegt loszuschlagen.« »Ich unternehme nichts auf eigene Faust. Es gibt aber eine Grenze, wie lange ich mich hinhalten lasse. Um Kinsels und um meiner selbst willen. Ich werde nicht ewig warten, wenn damit verbunden ist, meine Reise noch viel länger aufzuschieben.« »Da wir erst in ein paar Stunden über Rukanis entscheiden werden«, sagte Phönix, »können wir natürlich die Zeit nutzen und Eure Expedition vorbereiten.« »Deshalb sind wir hier«, erinnerte Darrok ihn. »Ich für meinen Teil habe genügend Vorräte zusammengebettelt, um Euch etwa zwei Wochen Zeit zu geben, Reeth. Es war allerdings eine höllische Aufgabe, den Rat zu bewegen, sich davon zu trennen. Und es sind keine luxuriösen Esswaren. Eiserne Rationen, die Ihr streng einteilen müsst. Ihr braucht auch warme Kleidung, da Ihr nach Norden fahrt.« »Wer ist der Kapitän?« »Rad Cheross, mit dem Ihr schon aus Bhealfa hierher gekommen seid.« »Gut. Und die Besatzung?« »Überwiegend seine eigenen Leute, ausnahmslos Freiwillige. Etwas mehr als ein Dutzend, was meines Wissens ein wenig knapp ist, aber ausreichen sollte, um ein Schiff dieser Größe zu führen.« »Gibt es sonst noch etwas, das ich wissen sollte?« »Ihr werdet eine kleine Menge Gold an Bord haben. Nicht gerade ein Vermögen, aber es könnte nützlich sein, falls Ihr etwas bezahlen müsst... für welche Gegenleistung auch immer.« »Gold? Ich dachte, die Schatzkammer des Widerstands sei leer.« »Ist sie auch.« »Ist es Euer eigenes Geld?« 168 »Ich habe Euch noch nie so verlegen gesehen, Zahgadiah«, mischte sich Serrah ein. »Seid doch still«, gab Darrok zurück. Seine Wangen verfärbten sich sichtlich. »Es scheint, als wüchsen Eure Sympathien für die Sache der Rebellen mit jedem Tag«, hakte Caldason nach. »Das ist ein Darlehen. Ich will es zurückhaben, wenn Ihr es nicht braucht.« »Das ist großzügig, vielen Dank.« »Tut nicht so freundlich, Reeth, das halte ich nicht aus. Passt nur auf mein verdammtes Gold auf.« »Was die Bruderschaft der Magier angeht«, schaltete sich Phönix ein, »so werden wir Euch einen gewissen magischen Schutz und einen kleinen Vorrat an Munition geben. Nicht viel, aber eben so viel, wie wir entbehren
können.« »Ich weiß es zu schätzen«, sagte Caldason, »auch wenn ich mich mit einem ordentlichen Stück gehärtetem Stahl in der Hand meist erheblich besser fühle.« »Ihr wisst nicht, worauf Ihr da draußen trefft. Vergesst nicht, dass Ihr nach Artefakten der Gründer sucht. Wir haben keine Ahnung, wie sie verteidigt werden. Ihr braucht alle Unterstützung, die Ihr nur bekommen könnt.« »Wer wird an Bord sein, um mit der Magie umzugehen?« »Das wäre ich am liebsten selbst, aber leider war das dem Rat nicht zuzumuten. Man war der Meinung, ich müsse hier bleiben und die magische Verteidigung der Insel überwachen. Das Gleiche gilt für die anderen Magier, die wir haben, da ihre Zahl so bedauernswert klein ist.« »Wer ist es dann?« »Kutch.« »Mann, das ist aber eine höllische Verantwortung für den Burschen. Ist nicht persönlich gemeint, Kutch.« »Ich schaffe das schon, Reeth«, protestierte er. »Phönix hat mich ausgebildet. Du hast sowieso gesagt, ich dürfe 169 mitkommen, also kann ich mich auch nützlich machen. Ich werde dafür sorgen, dass wir keinen Ärger bekommen.« »Und wer sorgt dafür, dass du keinen bekommst?« »Ich«, bemerkte Serrah. »Ich behalte Kutch im Auge. Du konzentrierst dich auf die Suche.« »Ihr habt Euch alles schon ausgedacht, was?« »Ja. Ihr wisst ja, wie knapp wir mit allem sind. Es ist ein Wunder, dass wir den Rat überzeugen konnten, diesem Unternehmen überhaupt zuzustimmen. Der Nachteil ist, dass Ihr nehmen müsst, was Ihr bekommt. Wie dieses Schiff dort.« Caldason grinste. »Es sieht aus, als hätte ich keine andere Wahl.« »So ist es. Damit müsst Ihr leben.« »Ich bringe Euch ja nicht gern auf den Boden der Tatsachen zurück«, unterbrach Phönix, »aber Euch ist doch klar, dass dies alles möglicherweise rein akademische Fragen sind, oder?« »Ich weiß, dass es nicht leicht wird«, meinte Caldason ernst. »Wir wollen uns einmal genau überlegen, was das bedeutet, ja? Der Bund und einige andere Gelehrte der edlen Kunst glauben, dass die Alten einen Fundus von Wissen hinterlassen haben, den wir die Quelle nennen, auch wenn dies nicht der Begriff sein dürfte, den die Gründer selbst verwendet haben. Selbst wenn wir annehmen, dies sei eine Realität und kein bloßes Wunschdenken, wissen wir noch nicht, was es ist und ob es überhaupt überlebt hat.« »Das habe ich alles schon einmal gehört.« »Es ist wichtig, es zu wiederholen. Wir glauben, dass die Quelle auf irgendeine Weise mit der Clepsydra in Verbindung steht. Wir wissen aber nicht einmal, was dieses Ding überhaupt ist. Wir haben eine Ahnung, die wir großzügig in den Rang einer Theorie erheben. Sie beruht auf winzi170 gen Bruchstücken der Überlieferung der Gründer, die Raum für vielfältige Deutungsmöglichkeiten lässt, und wir haben eine Vorstellung, wo diese Geheimnisse versteckt sein könnten. Wir haben dagegen überhaupt keine Ahnung, wie sie gegebenenfalls verteidigt werden. Und falls die Quelle jemals entdeckt wird, sind wir weit davon entfernt, sie zu verstehen, ganz zu schweigen davon, sie sinnvoll einzusetzen.« »Das klingt ganz nach den Realitäten, mit denen ich mich täglich abfinden muss.« »Es gibt überhaupt keinen Grund, so schnodderig damit umzugehen, Caldason.« »Ich meine es völlig ernst. So gering die Möglichkeit für mich und für das, was vom Widerstand noch übrig ist, auch sein mag, ich will sie ergreifen.« »Sehr gut. In diesem Fall kann ich vielleicht ein wenig dabei helfen, die Gegend einzugrenzen, in der Ihr suchen müsst.« Er zeichnete mit dem Zeigefinger ein schimmerndes Rechteck in die Luft und machte eine Geste. Die Figur füllte sich mit Farben und Formen und zeigte schließlich eine blaugrüne Fläche mit zahllosen kleinen Punkten. »Dies ist das Seegebiet, in dem wir die Insel der Clepsydra vermuten«, erklärte Phönix. »In den letzten Monaten haben meine Kollegen und ich intensiv alle entsprechenden Aufzeichnungen untersucht, um den Standort näher einzugrenzen. Wir waren nicht völlig erfolgreich, ganz und gar nicht. Ich will Euch auch warnen, dass dies eine rein theoretische Überlegung ist, die völlig falsch sein kann. Wir glauben aber, dass wir das Gebiet folgendermaßen eingrenzen können.« Er berührte die obere rechte Ecke der magischen Karte, wo besonders viele Pünktchen konzentriert waren. Sofort löste sich die Karte auf und wurde durch eine Vergrößerung des Ausschnitts ersetzt. Die Punkte wuchsen zu Flächen mit unregelmäßigen, aber klar erkennbaren 171 Rändern heran. »Wir vermuten, dass Euer Ziel in dieser Inselgruppe liegt.« »Wie viele sind es? Vierzig oder fünfzig?«, schätzte Caldason. »So ungefähr, ja. Immer noch eine große Zahl, aber erheblich weniger als die hunderte von Inseln, die im gesamten Gebiet verteilt sind.« »Wie groß sind sie?«, wollte Pallidea wissen. Sie starrte neugierig die schwebende Karte an.
»Die größten Inseln erreichen etwa ein Zehntel der Größe der Diamantinsel. Die meisten sind viel kleiner, einige sind kaum mehr als Felsblöcke. Das könnte Auswirkungen auf Eure Suche haben, Reeth, wenn man annimmt, dass die kleinsten auch die unwahrscheinlichsten sind. Aber da wir nicht wissen, welche Form die Quelle hat und wie die Clepsydra beschaffen ist, haben wir nicht mehr als vage Vermutungen.« »Tja, das ist immerhin besser als nichts«, meinte Caldason. »Ich sorge dafür, dass Euer Kapitän eine Kopie bekommt«, versprach Phönix. Er winkte, und die Karte zerstob zu goldenen Funken, die langsam verglühten. Ein Hauch von Schwefel blieb in der kalten Luft zurück. »Anscheinend geht es gut voran«, meinte Darrok. »Es sieht so aus, als solltet Ihr bald aufbrechen können, Reeth. Jedenfalls, wenn wir umgehend etwas wegen Rukanis unternehmen.« »Ich hätte wohl vorher fragen sollen, aber ich hoffe, meine Abwesenheit hindert Euch nicht daran, die Piraten abzuwehren.« »Ich glaube, wir kommen eine Weile ohne Euch zurecht«, meinte Darrok trocken. »Schließlich habe ich die Insel jahrelang ohne irgendwelche Hilfe von außen verteidigt.« »Autsch«, machte Serrah. 172 »Außerdem«, fuhr Darrok fort, »habe ich, wie Ihr wisst, mit Vance noch ein Hühnchen zu rupfen, und das würde ich gern persönlich tun.« »Das kann ich verstehen«, räumte Caldason ein. »Ich denke also, es wäre im Augenblick das Beste, wenn wir ...« »Was, zum Teufel, ist das da?« Serrah deutete ins Landesinnere. Sie blickten alle zu einem Stück ebenem Grasland hinter dem Strand. Ein seltsames Gerät bewegte sich dort langsam über das Grün. Es war ein offener Wagen, der für sich genommen noch nicht bemerkenswert war. Allerdings besaß er weder Deichsel noch ein Pferd, das ihn zog. Ein blau gekleideter Mann saß auf dem Kutschbock, aber er hatte die Hände in den Schoß gelegt, weil es keine Zügel gab. »Ach«, sagte Phönix. »Das ist Frakk, ein Magier, der aus Bhealfa hierher geflohen ist. Er ist unabhängig, kein Mitglied des Bundes oder so.« »Aber was macht er da?«, wollte Serrah wissen. »Er probiert eine geniale Idee aus. Eine Kutsche, die von der magischen Essenz angetrieben wird. Möglicherweise ist er der Einzige, der nicht aus Überzeugung, sondern aus persönlicher Verärgerung hierher gekommen ist.« »Was meint Ihr damit?« »Er hat in Bhealfa versucht, verschiedene Leute für seine Erfindung zu interessieren. Anscheinend hat er sie sogar den Bastorrans vorgeführt. Sie haben es für einen Witz gehalten und ihn öffentlich gedemütigt, und beinahe wäre er sogar ausgepeitscht worden. Er war so wütend, dass er sich auf die Seite des Widerstands geschlagen hat und mit der Idee zu uns gekommen ist.« »Das ist doch verrückt.« »Aber klug«, meinte Darrok. »Eine dieser Ideen, die so einfach sind, dass man sich fragt, warum noch niemand 173 vorher darauf gekommen ist. Phönix hat ihm bei der Weiterentwicklung geholfen.« »Ja«, bestätigte der Magier. »Vorher ist der Apparat mit einem Vorrat an magischer Energie gelaufen, die an Bord mitgeführt wurde. Jetzt versuchen wir, die Antriebskraft direkt aus dem magischen Netz zu gewinnen.« »Ich dachte, es sei interessant genug, um einige Mittel darauf zu verwenden«, erklärte Darrok. »Einfallsreich ist es gewiss«, stimmte Caldason zu, während er den Wagen über die schlammige Wiese holpern sah. »Aber wozu soll es gut sein?« Darrok zuckte mit den Achseln. »Verdammt will ich sein, wenn ich das wüsste.« 174 Der östliche Teil Bhealfas bestand überwiegend aus mäandernden Flüssen und Buschwerk. Für Prinz Melyobars Hofstaat, der über der Erde schwebte, spielte das Gelände keine Rolle. Es stellte allerdings das zahlreiche Gefolge, das den fliegenden Palästen folgte, vor große Probleme. So musste schließlich auch der Hof sein Tempo drosseln. Jede Verminderung der Geschwindigkeit machte den Prinzen nervös, Devlor Bastorran und Lahon Meakin empfanden dies dagegen als kleine Erleichterung. Sie saßen in einer Kutsche, die mit hoher Geschwindigkeit durch die unwirtliche Landschaft rollte. Der mit Schlamm bespritzte Wagen holperte und bockte, warf sie auf ihren Plätzen hin und her und schüttelte ihre Knochen durch. »Zum Teufel mit dem Mann!«, fluchte Bastorran. »Sir?« »Melyobar. Ich muss dieses Elend jedes Mal über mich ergehen lassen, wenn ich gezwungen bin, ihm meine Aufwartung zu machen.« »Dann wurde Euch schon früher einmal eine Audienz gewährt, Sir?« »Mehrmals sogar, als ich meinen Onkel begleitet habe. Es war stets eine Posse.« 175
»Aber dieses Mal ist es doch etwas anderes, nicht wahr? Euer erstes Treffen mit Seiner Hoheit, seit Ihr zum Hohen Clanchef ernannt wurdet.« »Ich mache es nur, weil ich es nicht länger aufschieben konnte. Wenn es das Protokoll nicht von mir verlangen würde, dann wäre ich überhaupt nicht hier. Du siehst so schockiert drein, Meakin. Findest du meine Haltung etwa gewissenlos?« »Äh, aber nein, Sir. Es ist nur ... nun ja, ein wenig überraschend vielleicht.« »Ich bin der Monarchie als Institution ebenso verpflichtet wie jeder andere, jedoch gilt dies eher für die Institution als für den Amtsinhaber selbst. Sei doch ehrlich, du kannst nicht vorgeben, dir seien die Geschichten über ihn nicht bekannt.« »Es gibt immer Gerüchte, Sir, und zugegebenermaßen klingen die meisten recht eigenartig.« »Alles, was du über Melyobar gehört hast, entspricht der Wahrheit, und es war noch längst nicht alles. Er ist kein würdiger Nachfolger des alten Königs Narbetton. Man kann die beiden überhaupt nicht vergleichen. Und sei gewarnt. Du wirst keinesfalls den Prinzen aus eigenem Antrieb ansprechen. Sollte er seinerseits mit dir reden, dann sei in deinen Antworten kurz und ausweichend. Du lächelst, aber dies ist eine ernste Angelegenheit.« »Sir.« Meakin wurde sofort wieder ernst. »Der Mann hat... sagen wir einmal, er hat einige recht ungewöhnliche Ansichten. Wenn du sie missachtest, oder, die Götter mögen es verhüten, sie sogar infrage stellst, dann ist das mehr als ein leichtes Vergehen. Es ist ausgesprochen gefährlich. Also halte den Mund und richte dich nach mir.« »Jawohl, Sir.« Sie rumpelten durch ein besonders tiefes Schlagloch. Bastorran stieß einen halblauten, heftigen Fluch aus. Mea176 kin beugte sich zum Fenster und blickte zum schwebenden Palast. Es war eine riesige, erstaunliche Anlage, die eine Prozession von kleineren, aber immer noch unförmigen schwebenden Gebäuden anführte, welche beinahe den ganzen Himmel einnahmen. »Hast du das schon einmal gesehen?«, fragte Bastorran. »Einmal, als ich ein kleiner Junge war. Zusammen mit meiner Mutter und meinem Bruder, und aus großer Entfernung. Ich habe es nie vergessen.« Sein Herr und Meister grunzte abfällig und gelangweilt. »Du wirst es bald aus nächster Nähe sehen können.« Wenn der fliegende Konvoi Erstaunen hervorrief, dann war das, was sich unter ihm abspielte, geeignet, eine ganz andere Art von Ehrfurcht zu wecken. Ihr Wagen holperte in einem Zug verschiedenartiger Gefolgsleute einher. Ringsherum war, so weit das Auge reichte, die Narrheit in jeder nur denkbaren Erscheinungsform unterwegs. Unzählige Mengen von Wagen, Kutschen, Fiakern, Landauern und Karren rumpelten durchs Land. Wie seetüchtige Schiffe schnitten sie durch ein Meer von uniformierten und zivilen Berittenen. Weit hinter den Fahrzeugen und den Pferden bemühte sich eine Vielzahl von Menschen, zu Fuß Schritt zu halten. Es erinnerte an einen Goldrausch, bei dem jeder sich beeilte, um sich seinen Anteil möglichst schnell zu schnappen. In diesem Fall war das Ziel allerdings, mit dem Spektakel mitzuhalten, das sich ein ganzes Stück oberhalb abspielte. »Ah«, machte Bastorran. »Da ist unsere Eskorte. Festhalten. Die Fahrt wird sogar noch ungemütlicher.« Meakin blickte zum Chaos auf der Seite seines Herrn hinaus, konnte aber nicht verstehen, was dort vor sich ging, und eine Eskorte konnte er auch nicht erkennen. Dann fiel ihm eine seltsame gegenläufige Bewegung auf. Eine Kutsche, die ihrer eigenen nicht unähnlich war, schob sich seitwärts durch die Flut der Menschen. Meakin konn177 te das königliche Wappen auf der Seite erkennen, und der Kutscher trug die Uniform der Palastwache. »Sie verstehen sich wirklich darauf, eine Kutsche durch dieses Durcheinander zu steuern«, erklärte Bastorran. »Ich hoffe, du bist gut in Form, Meakin.« »Ich denke schon, Sir.« »Es wird auch nötig sein. Mach dich bereit.« Die königliche Kutsche fuhr jetzt neben ihrer eigenen. Ihr Fahrer und Bastorrans Kutscher riefen sich etwas zu, das im allgemeinen Lärm nicht zu verstehen war. Dann öffnete sich die Tür der Kutsche. Drinnen winkte ein weiterer Uniformierter. Bastorran öffnete seine Tür. Ein Schwall kalter Luft wehte herein. »Komm jetzt«, sagte er. »Und zögere nicht, wenn du dir nicht den Hals brechen willst.« Der Paladin packte die Hand, die ihm von der anderen Kutsche entgegengestreckt wurde, und sprang. Meakin rutschte zur offenen Tür hinüber. Er schaute hinaus und versuchte, ihre Geschwindigkeit und das Tollhaus ringsum zu ignorieren. Bastorran rief ihm aus der anderen Kutsche etwas zu und winkte. Eine Hand wurde ausgestreckt. Meakin griff danach und sprang. Einen Herzschlag später war er auf der anderen Seite und saß benommen auf einem Sitz, beobachtet von einem grimmigen Hauptmann der Wache. »Gut gemacht«, beglückwünschte Bastorran ihn kühl. »Aber wir können uns noch nicht ausruhen. Wir müssen immer noch an Bord des Palastes selbst kommen.« Sie entfernten sich von der Kutsche der Paladine und verloren sie im galoppierenden Wirrwarr rasch aus den Augen. Ihre neue Kutsche bewegte sich abermals quer zur allgemeinen Strömung. Sie wurde zwar geschickt, aber völlig ohne Rücksicht auf die Sicherheit der anderen gelenkt. Reiter, die ihr in die Quere kamen, wurden aus dem Sattel geworfen und niedergetrampelt. Wagen, die der Kutsche
178 ausweichen wollten, krachten gegeneinander, dass die Achsen brachen und die Fahrgäste durch die Gegend flogen. Überall gab es Kollisionen, und herrenlose Pferde rannten panisch umher. »Ich muss sagen, es ist doch immer wieder aufregend, nicht wahr, Meakin?«, meinte Bastorran. »Äh, jawohl, Sir.« Der Adjutant musste sich festhalten, um nicht vom Sitz geschleudert zu werden. Nach einer halben Ewigkeit fuhren sie im Schatten des königlichen Palasts. Die Unterseite schwebte, dreimal oder viermal so hoch wie ihr Wagen, direkt über ihnen. »Was nun, Sir?«, erkundigte sich Meakin. »Es kommen nicht mehr allzu viele Zumutungen«, erwiderte Bastorran bissig. Der Offizier, der ihnen schweigend gegenübergesessen hatte, öffnete die Tür, die dem Palast am nächsten war. Die Kutsche machte eine Reihe komplizierter Manöver. Wenige Minuten später fuhren sie neben einer hölzernen Plattform, die an zahlreichen starken Seilen vom Palast herunterhing. »Da müssen wir rüber«, erklärte Bastorran. Sie wechselten zur wackligen Plattform hinüber und packten das Geländer, um sich festzuhalten. Sofort entfernte sich die Kutsche. Die Plattform hing einen Augenblick schwankend in der Luft, dann wurde sie hochgezogen. Meakin hielt sich am Geländer fest, bis die Knöchel weiß wurden, ließ sich den Wind um die Nase wehen und blickte zur Szenerie unter sich. Doch selbst von seiner erhöhten Position aus konnte er das Ende des Zuges nicht sehen. Etwa hundert Fuß höher erreichten sie eine weite Terrasse. Hier wurden sie von einer Abteilung der Wache in Empfang genommen und zu einem geschmückten Eingang begleitet, durch den sie den eigentlichen Palast betreten konnten. Sie wurden oberflächlich durchsucht. Bastorran ließ die Demütigung in finsterem Schweigen über sich er179 gehen. Danach wurden sie durch ein Gewirr von exzentrisch dekorierten Gängen geleitet und mussten eine anscheinend endlose Serie von Treppen hinaufsteigen. Schließlich liefen sie durch weitläufige Flure, die mit grotesken Statuen gesäumt waren. In gebührendem Abstand von ihrer Eskorte flüsterte Bastorran: »Na, was sagst du? Du kannst frei sprechen, aber sprich leise.« »Es ... es ist...« »Der helle Wahnsinn?« »Ich wollte sagen, dass es riesig ist, Sir.« »Das ist ein Teil des Wahnsinns.« Sie liefen durch eine armierte Doppeltür und betraten einen breiten Wehrgang. »Dabei haben wir erst ein Viertel des Weges hinter uns.« Bastorran deutete zu dem Ungetüm, das sich über ihnen erhob. »Deshalb habe ich nach deiner körperlichen Verfassung gefragt.« »Ich verstehe, Sir.« Über den Wehrgang erreichten sie den nächsten Abschnitt des Palasts. Hier standen ein Dutzend große Katapulte nebeneinander in einer Reihe. »Die sind neu«, bemerkte der Paladin. »Anscheinend legt man hier Wert auf gute Verteidigung, Sir.« »Ja«, entgegnete Bastorran nachdenklich. »Aber warum Katapulte? Das sind Belagerungswaffen, die nicht sehr gut zur Verteidigung geeignet sind.« »Vielleicht ist das eine weitere ... Absonderlichkeit Seiner Hoheit«, meinte Meakin leise. »Wahrscheinlich. Eigentlich sollte ich mich über nichts mehr wundern, was er tut.« Sie wurden wieder ins Gebäude geführt, und es ging durch weitere Flure und weitere Treppen hinauf. Endlich wurden sie in einen Vorraum gebeten, in dem sie warten sollten. 180 Bastorran setzte sich und bedeutete seinem Adjutanten, seinem Beispiel zu folgen. Meakin räusperte sich. »Ich frage mich nur ...« Bastorran versetzte ihm einen Rippenstoß und deutete zur Decke. Dort schwebte ein messingfarbener Spionzauber. »... wie lange es dauern mag, bis seine Hoheit die Güte hat, uns zu empfangen«, beendete Meakin den Satz etwas lahm. »Das kann man nie vorher sagen.« Sie blieben in unbehaglichem Schweigen sitzen, bis ein Lakai eintrat und sie in den Audienzsaal des Prinzen führte. Es war ein langer, elegant möblierter Raum. Am hinteren Ende saß Melyobar auf einem Thron, der auf ein Podium montiert war. Er trug einen roten Umhang mit Hermelinbesatz, dessen Wirkung durch das schmuddelige Hemd, die staubigen Hosen und die angestoßenen, mit Schlamm bespritzten Stiefel etwas litt. Bastorran verneigte sich. Meakin folgte seinem Beispiel und grüßte ebenfalls mit einer tiefen Verbeugung. Der Prinz hob müde eine Hand und winkte sie zu sich. »Eure königliche Hoheit«, begann Bastorran. »Vielen Dank, dass Ihr mich empfangt.« Der Prinz nickte abwesend, sein Blick irrte zum Begleiter des Paladins. »Wer ist...«
»Mein Adjutant, Hoheit. Lahon Meakin.« »Lahon?«, wiederholte Melyobar offensichtlich verwirrt. »Ich dachte, sein Name sei Devlor? Und er ist jetzt Euer Adjutant, Hoher Clanchef?« »Hoheit?« »Ich dachte, Euer Neffe solle Eure Nachfolge antreten«, erklärte der Prinz ein wenig gereizt. »Somit ist er doch gewiss mehr als ein bloßer Adjutant?« Jetzt dämmerte es Bastorran. »Ich fürchte, hier liegt ein 181 Missverständnis vor, Hoheit. Es ist allein mein Fehler. Ich bin Devlor, der Hohe Clanchef der Paladine. Ihr denkt gewiss an meinen verstorbenen Onkel Ivak.« Melyobar blinzelte sie an und versuchte, mit seinen kurzsichtigen Augen etwas zu erkennen. »Verstorben?« »Leider ja, Hoheit. Mein Onkel ist vor einigen Monaten verstorben. Er fiel einem berüchtigten Radikalen zum Opfer. Ihr wurdet damals entsprechend unterrichtet, Majestät.« Der Prinz seufzte. »Wieder ein Triumph für ihn.« »Bei allem Respekt, Hoheit, ich glaube nicht, dass man den Anschlag des Meuchelmörders als Triumph bezeichnen sollte.« »Ein Meuchelmörder? Ja, das ist er in gewisser Weise. Der große Schnitter ist eine Art vollkommener Meuchelmörder. Ja, das gefällt mir.« Bastorran und Meakin wechselten einen Blick. Ersterer war entnervt, Letzterer völlig durcheinander. »Ich bitte um Verzeihung, Sir«, entgegnete Bastorran. »Ich habe Euch missverstanden. Ihr sprecht natürlich vom Tod.« »Aber selbstverständlich. Von wem denn sonst? Der Kummer über den Verlust Eures Onkels hat anscheinend Euren Scharfsinn getrübt.« »Gewiss«, wiederholte der Paladin mit zusammengebissenen Zähnen. »Das muss die Erklärung sein.« »Wie schade, dass Euer Onkel nicht dem Beispiel meines eigenen lieben Vaters folgen konnte«, überlegte Melyobar. »Meines Wissens ist er der einzige Mensch in der Geschichte, dem es gelang, der Herrschaft des Schnitters zu trotzen. Wahrlich ein leuchtendes Beispiel für uns alle.« »Gewiss, Hoheit.« »Nun denn, warum seid Ihr hier?«, fragte der Prinz fröhlich. Der abrupte Wechsel von Thema und Laune überrum182 pelte Bastorran. »Ich bin gekommen, um offiziell als neuer Hoher Clanchef anerkannt zu werden, Majestät.« »Um meinen Segen zu bekommen.« »Äh, ja. In gewisser Weise. Es ist natürlich nur eine Formalität, aber ...« »Und was für eine Art von Anführer wollt Ihr sein?« »Was für eine Art von Anführer, Majestät?« »Im Vergleich zu Eurem Onkel.« »Ich werde mich bemühen, allen seinen Qualitäten nachzueifern, Hoheit. Auch wenn ich in gewisser Weise von seiner Art der Führerschaft abweichen werde.« »Inwiefern?« »Eine der vielen Tugenden meines Onkels war, dass er zu viel Herz hatte, Majestät.« Dies überraschte Meakin sehr, doch er war klug genug, den Mund zu halten. »So vorbildhaft diese Eigenschaft auch war«, fuhr Bastorran vorsichtig fort, »sie hatte doch die bedauerliche Folge, die Feinde Eurer Hoheit zu ermutigen.« »Ist er etwa zu nachsichtig mit den Terroristen umgegangen?« »Ich glaube nicht, dass dies seine Absicht war, Hoheit, aber so wurden seine Handlungen wahrgenommen.« »Wohingegen Eure Politik entschiedener sein wird.« »Beträchtlich entschiedener. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass die jüngsten Ereignisse unter meiner Führung einen anderen Ausgang genommen hätten.« »Dann hättet Ihr diesen Auszug der Rebellen verhindert, von dem ich gehört habe?« »Ich nehme an, Eure Königliche Hoheit beziehen sich auf gewisse verräterische Elemente, die sich dem Zugriff der Justiz durch die Flucht auf die Diamantinsel entzogen haben. Das war kaum ein Auszug.« »Aber wie hättet Ihr sie aufgehalten?« »Einfach, indem ich dafür gesorgt hätte, dass es keine 183 Rebellen mehr gibt, die fliehen können, Majestät. Im Gegensatz zu meinem Onkel, und wenn ich so sagen darf, auch im Gegensatz zu gewissen anderen Entscheidungsträgern in den Sicherheitsbehörden, hätte ich niemals zugelassen, dass Verräter dieser Art überhaupt existieren konnten.« »Es scheint, als seien wir in dieser Hinsicht ähnlicher Ansicht, Hoher Clanchef.« »Es freut mich, Eure Billigung zu finden, Hoheit.« »Oh, aber sicher. Wenn ein Feuer wütet, dann muss man die Bäume abschlagen, von denen es zehrt.« »Ganz genau, Sir.«
»Mein Vater sagt oft, die beste Möglichkeit, einen Fisch zu fangen, bestehe darin, das Gewässer trockenzulegen.« Bastorran und Meakin fanden das Bild, ohne sich darüber austauschen zu müssen, mehr als eigenartig. Ganz zu schweigen davon, dass Melyobar in der Gegenwartsform über seinen Vater gesprochen hatte. Beide nickten pflichtschuldigst. »Ich frage mich nur, wie sie mit ihm während der Traumzeit umgegangen sind«, sagte der Prinz. »Wie bitte, Majestät?«, gab Bastorran zurück. »Mit dem Tod. Ob er auch damals schon durchs Land gezogen ist?« Offenbar irrte er wieder ab. »Ich habe keine Ahnung, Majestät«, meinte der Paladin. »Geht der Tod nicht schon immer in der Welt um?« »So muss es sein, nicht wahr? Ich meine, wenn er nicht hier umgegangen wäre, dann wären ja die Gründer noch da, oder?« »Ja, man kann wohl annehmen, dass dies ...« »Es ist ein ernüchternder Gedanke, nicht wahr? Selbst die mächtigen Gründer waren seinen Launen unterworfen. Das zeigt, dass er wahrlich ein fast unbezwingbarer Gegner ist, findet Ihr nicht auch?« 184 »Wie Ihr meint, Hoheit.« Der Prinz kam wieder zu sich. »Aber das ist jetzt natürlich alles nebensächlich. Oder es sollte nebensächlich sein.« »Hoheit?« Er lächelte beinahe schalkhaft. »Ihr werdet es schon sehen.« 185 In den nördlichen Einöden hatten schwere Schneefälle eingesetzt. Zerreiss' Heer hatte angehalten, und sogar der Kriegsherr selbst, gewöhnlich ein geduldiger Mann, wurde unruhig. Doch am Abend des dritten Tages beruhigte sich das Wetter langsam. Der Kriegsherr stand in seinem Zelt im weichen Schein von Öllampen und Kerzen vor einer Staffelei mit einer aufgespannten, auf Leder gemalten Karte. »Was Ihr vorschlagt, macht allerdings nicht die Zeit wett, die wir verloren haben, Sir«, bemerkte Sephor, der jüngere seiner beiden Adjutanten. »Es verzögert den ursprünglichen Plan sogar erheblich.« »Das ist mir bewusst. Aber ist es logistisch zu schaffen? Weilern?« »Unmöglich ist es nicht, es erfordert jedoch große Anstrengungen und umfangreiche Vorbereitungen. Ihr wollt immerhin den größten Teil des Heeres zum ersten Mal überhaupt verschiffen, und das ist ein sehr kompliziertes Unternehmen.« »Aber es war doch schon immer unsere Absicht.« »Ja, mein Lord, aber noch nicht so früh in diesem Feldzug. Die Zahl der Schiffe, die wir brauchen ...« »Deshalb schlage ich vor, hier, hier und ... und hier die 186 Hafenstädte einzunehmen«, sagte Zerreiss, während er auf die entsprechenden Stellen der Karte deutete. »Selbst wenn wir in allen drei Hafenstädten alle Schiffe einnehmen«, bemerkte Sephor, »was voraussetzt, dass die Verteidiger sie nicht abziehen oder verbrennen, hätten wir immer noch nicht genug Schiffe.« »Dann bauen wir neue. Wir haben genügend Arbeiter, und die Kenntnisse haben wir auch.« »Aber das Material?«, wandte Weilern ein. Der Kriegsherr blickte wieder auf die Karte. »Hier und hier sind Wälder. Sie sind nicht zu weit entfernt, um von dort Holz zu beschaffen, falls uns das Wetter gewogen ist.« »Ihr habt den Einwand sicher schon einmal gehört, mein Lord, aber ich frage mich, ob wir uns nicht zu sehr zersplittern. Ihr schlagt vor, drei Belagerungen mehr oder weniger gleichzeitig durchzuführen und außerdem noch ein möglicherweise sehr umfangreiches Schiffsbauprogramm in Gang zu setzen. Dies einmal ganz abgesehen von den Kräften, die wir brauchen, um die bereits eroberten Orte zu halten.« »Die Rekrutierungen gehen recht schnell vonstatten«, erklärte Zerreiss. »Es bleibt immer ein Überschuss. Wohin wir auch kommen, die Leute strömen zu uns.« »Schneller, als wir sie ausbilden und ausrüsten können.« »Die beste Ausbildung, die sie bekommen können, ist die auf dem Schlachtfeld. Dort habe auch ich die meine bekommen. Und vergiss nicht, dass die meisten Männer, die wir überzeugen, für unsere Sache zu kämpfen, ohnehin schon militärisch ausgebildet sind. Es sind keine Anfänger.« »Sir«, meldete sich Sephor verunsichert zu Wort, »Ihr habt uns gesagt, was wir tun sollen, aber Ihr habt uns nicht den Grund verraten.« Ein Augenblick verstrich, ehe Zerreiss ihm antwortete. »Ich hatte wieder einen Traum«, erklärte er schließlich. »Ich stand auf der Terrasse einer Festung. Es war jene Festung, 187 die wir vor kaum einer Woche erobert haben. Im Traum sah ich mich, wie ich nach der Eroberung dort gestanden habe, um das besiegte Land in Augenschein zu nehmen. Da habe ich ihn wieder gesehen.« »Den Mann, von dem Ihr schon einmal geträumt habt?«
»Ja. Falls man überhaupt von Träumen reden kann.« »Was ist geschehen?« »Was geschehen ist? Eigentlich nichts. Oder nichts und doch sehr viel. Ihr seht mich fragend an, meine Freunde, aber das ist die einzige Möglichkeit, wie ich es ausdrücken kann.« »Habt Ihr irgendeine Vorstellung, wer dieser Mann ist?«, fragte Weilern. »Ich bin dieser Frage noch nicht näher gekommen als bei seinem ersten Eindringen in meinen Schlaf.« »Seid Ihr immer noch sicher, dass es sich um eine lebende Person handelt? Und nicht um ... verzeiht mir, mein Lord, nicht um eine Fabrikation Eures Geistes?« »Ich habe keinen Zweifel, dass dieser Mann existiert.« »Dann solltet Ihr vielleicht in Erwägung ziehen, dass Ihr das Opfer eines magischen Angriffs seid«, wandte der alte Krieger ruhig ein. »Ich denke nicht, dass du dich deshalb sorgen musst. Wer dieser Mann auch sein mag, ich glaube nicht, dass er ein Zauberer ist. Allerdings spüre ich, dass es in gewisser Weise eine magische Verbindung gibt.« »Ist das nicht ein Widerspruch, Sir?« »Bin ich nicht selbst ein wandelnder Widerspruch, Weilern? Warum sollte dieser Mann weniger rätselhaft sein als alles andere?« »Aber was hat er nun mit unseren neuen Befehlen zu tun, Sir?«, wollte der jüngere Adjutant wissen. Zerreiss lächelte. »Ich kann mich doch immer darauf verlassen, dass du mich auf den Boden zurückholst, Sephor. Nein, sei nicht verlegen. Es ist manchmal nötig, dass ich an 188 das Wesentliche erinnert werde. Einfach ausgedrückt, ist er der Grund für meine neuen Befehle.« »Ihr habt Eure Pläne und die ganze Richtung des Feldzuges geändert, nur weil Ihr von jemandem geträumt habt?« »Nicht so sehr verändert, sondern eher beschleunigt.« »Aber warum, mein Lord?« »Ich spüre, dass er jetzt näher ist als noch vor einiger Zeit. Frage mich nicht, woher ich es weiß oder warum ausgerechnet ich auf einmal an solch unerklärliche Eingebungen glaube. Ich weiß nur, dass ich, falls sich eine Gelegenheit ergeben sollte, in die Nähe jenes Mannes zu gelangen, diese auch ergreifen sollte.« »Was glaubt Ihr dadurch zu gewinnen?« »Habe ich euch je auf einen Irrweg geführt?« »Nein, Lord«, antworteten die beiden wie aus einem Munde. »Dann vertraut mir weiter, wie ihr mir bisher vertraut habt.« »Das ist keine Frage«, versicherte Sephor ihm. »Wir wollen es nur verstehen.« »Ich auch. Das versuche ich ja zum Ausdruck zu bringen.« Er seufzte. »Ich kann nur sagen, dass er ... dass er irgendeine Bedeutung für mich hat. Und ich werde das Gefühl nicht los, dass es eine Verbindung zu einem bestimmten Gedanken gibt, der mich schon seit längerer Zeit nicht mehr loslässt.« »Mein Lord?« »Es ist der Gedanke, ob es noch jemanden wie mich geben könnte.« Offensichtlich war seinen Adjutanten dieser Gedanke noch nicht gekommen. Sephor fing sich als Erster wieder. »Wir haben Euch immer für einzigartig gehalten, Herr.« »Ich mich auch. Oder vielmehr, ich habe es stets befürchtet. Mein ganzes Leben lang habe ich mich gefragt, ob 189 ich der Einzige bin, der die Gabe besitzt. Und wenn ich der Einzige bin, warum ist dies so? Warum gerade ich? Ich habe gehofft, dass es noch andere gäbe, aber im Lauf der Jahre schwand alle Hoffnung dahin. Doch angenommen, ich bin gar nichts Besonderes. Könnt ihr erkennen, was dies bedeuten würde?« »Verbündete?«, fragte Weilern. »Mehr als das. Ich habe mich nicht bewusst für diese meine Gabe entschieden, und manchmal wird mir die Bürde sogar etwas schwer. Wie viel leichter wäre es doch, wenn es noch andere gäbe, auf die sich die Last verteilen könnte.« »Ich habe nie an Euren Fähigkeiten gezweifelt, mein Lord.« »Ich weiß. Aber aus meiner Sicht stellt sich die Sache etwas anders dar.« »Ihr habt doch uns«, versicherte Sephor ihm. »Und nicht nur uns. Es gibt tausende, die inzwischen an Euch glauben und Euch unterstützen wollen.« Der Kriegsherr legte dem jungen Mann eine Hand auf die Schulter. »Meine Dankbarkeit dafür ist größer, als ich es mit Worten ausdrücken kann. Es gibt jedoch etwas, das ihr mir nicht geben könnt. Trotz eurer Loyalität und eures Vertrauens könnt ihr nicht wirklich mitfühlen, was in mir vorgeht. Nicht in vollem Umfang. Ihr wisst nicht, wie es ist, auf die Art und Weise allein zu sein, wie ich es bin. Wenn ihr es wüsstet, dann könntet ihr verstehen, warum ich ihn finden muss.« Auch in Bhealfa setzte der Schneefall vorübergehend aus. Nicht, dass die Witterung irgendeinen Einfluss auf die Zahl der Menschen, die sich in den Straßen von Valdarr drängten, oder auf die zugehörigen magischen Ausbrüche hatte. Doch den Bürgern wurden die Alltagsverrichtungen ein wenig schwerer, wenn sie missmutig durch den Matsch
190 marschierten und auf vereisten Gehwegen ausrutschten, und auch der Verkehr wurde stark behindert. Andar Talgorians Kutsche brauchte für die Fahrt zum Hauptquartier der Paladine, die sonst nur wenige Minuten gedauert hätte, fast eine Stunde. Kein Wunder, dass er in recht missmutiger Stimmung dort eintraf. Bastorran wies dem Diplomaten mit einem Nicken einen Stuhl zu. »Nun, wie war es in Merakasa?«, fragte er. Da auch Kommissar Laffon zugegen war, der augenblicklich die Gunst der Kaiserin genoss, wählte Talgorian seine Worte mit Bedacht. »Es war wie immer eine Freude, mit ihrer kaiserlichen Hoheit zusammenzutreffen. Ich muss allerdings gestehen, dass ich die Aussicht, es könnte sehr bald schon zu einem militärischen Schlag kommen, etwas deprimierend finde.« »Unsinn«, schnaubte Bastorran. »Das ist genau die richtige Reaktion auf die Lage auf der Diamantinsel. Ich bedauere nur, dass es nicht schon viel früher dazu gekommen ist.« »Der Krieg sollte immer das letzte Mittel sein.« »Diesen Punkt haben wir längst erreicht.« Er reichte Talgorian einen Kelch mit Wein. »Was hättet Ihr denn getan? Sie zu Tode geschwatzt?« »Falls Ihr damit fragen wollt, ob ich der Ansicht bin, es sei immer noch Zeit, zu einer Verhandlungslösung zu kommen, dann läutet meine Antwort >jaStachelschwein