Buch Victor Lazarus ist ein Armeeveteran, der den Auftrag annimmt, ein abgelegenes und verfallenes Haus zu renovieren. ...
11 downloads
661 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Buch Victor Lazarus ist ein Armeeveteran, der den Auftrag annimmt, ein abgelegenes und verfallenes Haus zu renovieren. Doch die Arbeit erweist sich als gefährlich, denn etwas Unheimliches und Böses geht in dem mysteriösen alten Gemäuer um und hintertreibt Victors Bemühungen. Gleichzeitig trifft der Dorfjunge Rusty Brown ein Mädchen, das ihm ein Geheimnis verrät, an das er sich später verzweifelt zu erinnern versucht. Etwas spukt in seinen Träumen herum und lockt ihn in die düstere Unterwelt der großen Stadt. Inzwischen arbeitet der Hofmagier Leonardo Pegasus an einer Maschine, mit der man aus der Ferne die ganze Welt erfühlen kann, während er sich in seine junge Assistentin Alice verliebt. Ein alter Mann, ein Junge und ein Magier - drei Menschen, die in völlig unterschiedlichen Verhältnissen leben und voneinander nichts wissen. Doch ihre Wege werden sich auf wundersame Weise kreuzen und verschlingen, denn sie sind ausersehen, die Geschicke ihrer Welt für immer zu verändern. Autor Nachdem Steve Cockayne über zwanzig Jahre lang für die BBC gearbeitet hat, unterrichtet er nun als Dozent für Medienkunde. In seiner Freizeit restauriert er ein altes Marionettentheater, das seine Familie lange betrieben hat und das er wiederbeleben möchte. Er lebt in Leicestershire. Demnächst erscheint: DIE GLÜCKSSUCHER: 2. Die eiserne Kette. Roman (24329) Weitere Bände sind in Vorbereitung.
Steve Cockayne
Die magische Münze Die Glückssucher 1 Roman Ins Deutsche übertragen von Andreas Heckmann BLANVALET Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Wanderers and Islanders, Legends of the Land: Book one« bei Orbit/Time Warner Books, London. Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend. Der Blanvalet Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Random House. 1. Auflage Deutsche Erstveröffentlichung 7/2005 Copyright © der Originalausgabe 2002 by Meta Ventures Published by arrangement wirb Steve Cockayne. Copyright © der deutschsprachigen Ausgaben 2005 by Verlagsgruppe Random House GmbH, München Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schluck GmbH, 30827 Garbsen. Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustration: Agt. Schlück/Crabb und Clark (Collage) Satz: Uhl + Massopust, Aalen Druck: GGP Media GmbH, Pößneck Titelnummer: 24328 Redaktion: Alexander Groß V. B. • Herstellung: Heidrun Nawrot Printed in Germany ISBN 3-442-24328-9 www.blanvalet-verlag. De ERSTES KAPITEL Erwartung Ich heiße Lee, und das ist mein Haus. Hier erwarte ich dich. Du warst viele Jahre fort, und ich habe lange gewartet. Aber ich habe Geduld, denn ich weiß, dass du zurückkehren musst. Vielleicht kennst du mich nicht, aber ich kenne dich besser als jeder andere. Denn an dem Tag, da du geboren wurdest, bin auch ich zur Welt gekommen und habe dich bis heute beobachtet. Und gewartet. Ich habe beobachtet, wie ungern du zur Welt gekommen bist und um all das getrauert hast, was du zurücklassen
musstest. Deine Trauer war dein erstes Geschenk, und ich habe mich um sie gekümmert. Wie du gewachsen bist, so bin auch ich gewachsen und stets in deiner Nähe gewesen. Ich habe die ersten, stockenden Schritte deiner Lebensreise beobachtet, deine ersten Freuden, deine erste Begeisterung. Aber auch deine ersten Sorgen, den ersten Zorn, das erste Leid. Und du hast dich an mich gewandt und mir deine Sorgen angeboten, deinen Zorn und dein Leid und mich gebeten, mich darum zu kümmern. Und auch diese Geschenke habe ich angenommen, und auch um sie habe ich mich gekümmert. An jedem Scheideweg habe ich beobachtet, welchen 5 Pfad du einschlägst, und dir auf der Weiterreise zugesehen. Doch die Entscheidung für den einen Weg ist immer auch die gegen den anderen, und die Wege, die du verschmähtest, haben dich Reue gelehrt - du bereust, was du nicht mehr erreichen kannst, und das, was hätte sein können, aber nicht mehr sein kann. Und du hast mir deine Reue angeboten, und auch um sie habe ich mich gekümmert. Deine Reue hat mich stark, dein Zorn mich geschmeidig gemacht; deine Trauer hat mich schnell und deine Sorge mich dreist werden lassen. So warte ich in meinem Haus - auf dem Dachboden, im Keller oder in einem vergessenen Winkel. Viele Jahre gab es für mich kaum etwas zu tun. Manchmal, wenn nur die Sterne mich sehen, laufe ich in den herrlich verwunschenen Garten. Manchmal bei Morgengrauen gehe ich zum Strand und stürze mich in die anrollenden Wellen. Und manchmal im Abendlicht stehe ich vor dem Spiegel, werfe mich in immer schönere Traumposituren und bewundere das Spiel des Lichts auf dem Profil meines geschmeidigen Körpers, die Vollkommenheit meiner Glieder und die sanften Linien meiner Wangenknochen. Doch am liebsten tanze ich - zu meiner verborgenen, dunklen Musik. Still beschreibe ich endlose Tanzfiguren und spinne ein Netz aus Arabesken. Balancieren, am Trapez hängen, Purzelbäume schlagen, springen, in die Tiefe tauchen, auf den Händen gehen und die Erde über sich haben - ich tanze den Schattentanz. Bald ist es so weit - dann musst du mir begegnen und die Tür einen Spalt aufdrücken, die dich vor allem schützt, was du so gern vergessen würdest. Bald musst 6 du die Tür zu meinem Haus aufdrücken und mir gegenübertreten. Denn ich bin der, der dich bedroht, aber ich bin auch dein Beschützer. Du fürchtest mich und brauchst mich doch, denn deine Furcht ist dein Schutz und dein Schild. Ja, die Mauern dieses Hauses bestehen aus Furcht, und es sind dicke Mauern - um dich vor dem zu schützen, was du brauchst, aber nicht zu nennen wagst; wonach du strebst, was du aber nicht zu finden hoffst; was du begehrst, wonach du dich aber nicht zu greifen traust. Denn dieses Haus ist mein Reich, und hier - allein mit deiner Trauer und Sorge, deinem Leid und Zorn -werde ich stark. Stark und schnell, dreist und geschmeidig, bereit für das, was kommen wird. Aus dem Tagebuch des Victor Lazarus Freitag, 23. Januar Der Winter ist ungewöhnlich hart, und mein elendes Dasein in diesem erbärmlichen kleinen Zimmer treibt mich allmählich zur Verzweiflung. Inzwischen habe ich so gut wie kein Geld mehr, kann mir nicht das geringste Vergnügen leisten und muss mich von den billigsten Lebensmitteln ernähren. Ich kann mir nicht mal erlauben, tagsüber einzuheizen, und mache deshalb um die Mittagszeit gewöhnlich einen flotten Spaziergang. Wenn es zum Marschieren zu nass ist, bleibt mir nichts anderes übrig, als mich den ganzen Nachmittag 7 hinzulegen, mit Decken und Federbett gegen die Kälte gewappnet. Beim Ausscheiden aus den Diensten des Königs bin ich davon ausgegangen, meine Abfindung werde etwa fünf Monate vorhalten, aber leider habe ich mich mit der Zeit verschätzt, die es dauern würde, eine bezahlte Arbeit zu finden. Weil Monat für Monat verging und mir eine Enttäuschung nach der anderen bereitete, sah ich mich gezwungen, in immer schäbigere Unterkünfte zu ziehen. Jedes Zimmer war kleiner und heruntergekommener als das vorige. Manchmal ertappe ich mich bei dem Wunsch, bei der Fahne geblieben zu sein, aber ich muss gestehen, dass ein Mann in meinem Alter bei der Armee nichts mehr zu suchen hat. Doch man darf sich nicht gehen lassen. Deshalb habe ich mir bestimmte Regeln auferlegt, an die ich mich strikt halte. Unter allen Umständen studiere ich morgens die Stellenanzeigen, schreibe mir jedes irgend aussichtsreiche Angebot sorgfältig auf - egal, wie weit es entfernt ist - und verfasse Bewerbungsschreiben. Dann lese ich, was die Morgenpost an Antworten gebracht hat, und hefte sie ab. Leider habe ich bisher kaum Rückschreiben bekommen. Und ehrlich gesagt habe ich als Unteroffizier so viele Jahre anspruchslose Tätigkeiten verrichtet, dass ich der Welt außerhalb der Garnisonsmauern kaum mehr gewachsen bin. Heute etwa habe ich sieben Briefe geschrieben, aber nur zwei Antworten bekommen. Eine enthält die Versicherung, man nehme meine Personalien zu den Akten, bis meine Dienste eines Tages vielleicht benötigt werden (wie oft habe ich das schon gelesen); das andere Schreiben ist eine unverblümte Absage. Die 8 meisten Bewerbungen allerdings bleiben unbeantwortet. Wenigstens ist es heute trocken. Wenn ich mit diesem Eintrag fertig bin, mache ich mich auf meinen üblichen Gang zum Kurierbüro am Ende der Straße und gehe dann auf den Markt. Gegenwärtig ernähre ich mich hauptsächlich von gedünstetem Wurzelgemüse, aber um die einsamen Wochenenden etwas erträglicher zu
machen, gönne ich mir noch immer ab und an ein günstiges Stück Fleisch. Montag, 26. Januar Der Bote hatte heute Morgen nichts für mich, später aber pochte es unerwartet, und zu meiner Überraschung stand die Pensionswirtin vor der Tür, eine untersetzte Frau, die nur ungern die Treppe heraufkommt und lieber bei ihren Hunden in der Küche bleibt. Diesmal aber war sie hochgestiegen und hielt einen langen weißen Briefumschlag in der Hand, der mit knallrotem Wachs versiegelt war und meinen Namen trug - in nachlässiger, fast unleserlicher Schrift. Dieses Schreiben sei vor ein paar Stunden abgegeben worden, erklärte sie. Die Überbringerin war anscheinend eine ältere Dame in einem langen, altmodischen Kleid. Das kann niemand vom Kurierdienst gewesen sein! Ich sprang sofort zum Fenster, doch von der älteren Dame war nichts mehr zu sehen. Kaum war meine Wirtin wieder in die Küche verschwunden, brach ich mit zitternden Händen das Siegel auf. Der Umschlag enthielt nur ein Blatt. Ich faltete es auseinander und las mit wachsendem Erstaunen, 9 was nur als Stellenangebot zu begreifen war. Ich konnte mich nicht gleich daran erinnern, worauf der Brief sich bezog, aber als ich meine Unterlagen durchging, stieß ich auf folgende Anzeige: Hilfe bei Restaurierung gesucht Mein Anwesen ist ziemlich heruntergekommen, und es gibt viel zu tun, um es wieder bewohnbar zu machen. Dafür sind mir zuverlässige und fleißige Helfer willkommen. Wenn Sie sich für entsprechend qualifiziert halten, schreiben Sie bitte an... Die Unterschrift war unleserlich. In den letzten Monaten habe ich auf viele solcher Anzeigen geantwortet. Deshalb ist es vielleicht nicht ungewöhnlich, dass ich mich an diesen kurzen Text nicht erinnern konnte. Ich nehme an, er ist mir bei den vielen ähnlichen Anzeigen einfach entfallen. Ich habe mir vorgestellt, was für eine Bewerbung ich auf dieses Angebot geschrieben habe. Bestimmt habe ich darauf geachtet, meinen Ordnungssinn und meine Führungsqualitäten zu betonen, mein Händchen für die Buchhaltung und meine langjährige Erfahrung darin, komplizierte Aufgaben schnell und effektiv zu bewältigen. Dann habe ich mich wieder auf den Brief konzentriert. Der Verfasser fordert mich auf, mich möglichst bald bei einer Adresse am Stadtrand zu melden. Die Straße kenne ich, erinnere mich aber beim besten Willen nicht daran, dass dort Wohnhäuser stehen, ob heruntergekommen oder nicht. Wie auch immer - bevor ich mich auf den Weg ma10 che, muss ich mir die Schuhe putzen, den Schnurrbart trimmen und meine Ausgehuniform bürsten. Keine Frage, dass ich mich meinem künftigen Arbeitgeber von der besten Seite präsentieren werde. Rusty Brown und seine Mutter »Zieh deine Strümpfe hoch, Michael. So gehst du mir nicht in die Schule.« Rusty Brown blieb am Gartentor stehen. An den Pfosten gelehnt und mit lässig herabhängender Schultasche, suchte er erst auf dem einen, dann auf dem anderen Bein das Gleichgewicht, um seine kratzigen grauen Strümpfe bis unter die Knie zu ziehen. Doch seine Mutter war noch nicht fertig, sondern rief von drinnen: »Und mach das Tor hinter dir zu, damit wir nicht immer Laub im Blumenbeet haben.« Sie klang ärgerlich. »Und nach der Schule kommst du sofort nach Hause. Ich will nicht, dass du dich mit den Hopkins-Jungen rumtreibst.« Seufzend zog Rusty das Tor zu und schob seine Schultasche zurecht. Dann stiefelte er zur Hauptstraße des Dorfes. Der Junge lebte allein bei seiner Mutter. Getauft war er auf den Namen Michael, doch wegen seines mit Sommersprossen übersäten Gesichts und des widerspenstigen roten Haarschopfs nannten alle im Dorf ihn Rusty. Alle außer seiner Mutter, um genau zu sein. Und außer Oma Hopkins natürlich. Seine Mutter mochte keine 11 Spitznamen. Überhaupt gab es eine ganze Menge Dinge, die Rustys Mutter nicht mochte. Beispielsweise wusch sie ungern Bettlaken und Kissenbezüge. Das war seltsam, denn sie schien fast all ihre Zeit damit zu verbringen, genau diese Sachen zu waschen - wenn sie nicht gerade ihre Arbeit in der Dorfkirche erledigte. Sie hatte Rusty erklärt, sie müsse für andere waschen, um den Lebensunterhalt zu verdienen, und manchmal müsse man eben Dinge tun, zu denen man keine Lust habe. Im Haus roch es ständig nach Seife, Stärke und sehr heiß gebügelter Wäsche. Manchmal klopften die Frauen aus den großen Häusern an die Hintertür, um ihre Wäsche abzuholen, meist aber musste Rustys Mutter zur Hauptstraße gehen und ausliefern. Was Mrs Brown auch nicht mochte, waren Rustys Fragen nach seinem Vater. Dann sagte sie nur, er habe vor vielen Jahren weggehen müssen und werde nicht zurückkehren. Wenn Rusty mehr erfahren wollte, wurde sie jedes Mal sauer, und nach einiger Zeit brachte der Junge einfach nicht mehr den Mut auf, weiter zu fragen. In der Hütte der beiden gab es nur wenige neue Sachen. Der Tisch war alt und zerkratzt, die Kochtöpfe waren verbeult, und aus den Sesseln quoll das Polster. Wenn Mrs Brown nicht mit der Wäsche kämpfte, saß sie meist in ihrem kleinen Wohnzimmer am Ofen und strickte, stopfte oder flickte. »Der Schulmeister hat heute mit mir gesprochen«, sagte sie eines Abends. Sie saß an ihrem Platz beim Ofen und nähte einen Flicken auf Rustys zweitbeste Hose. »Er sagt, du bist ein sehr guter Schüler.« Rusty wurde zappelig. »Lass das und hör zu. Er hat gemeint, 12 wenn du fleißig bist, kann du später möglicherweise auf die höhere Schule wechseln. Und danach vielleicht
sogar einen Platz auf einer Akademie bekommen. Was meinst du - würde dir das gefallen?« Rusty nickte. Er ging gern zur Schule, hatte aber noch nie ernsthaft darüber nachgedacht, was danach kommen würde. »Dann ziehst du vielleicht in die Stadt und studierst eine Kunst oder eine Wissenschaft.« Rusty fiel auf, dass seine Mutter beim Reden in einen Winkel der Zimmerdecke sah. Es schien beinahe, als spreche sie mit sich selbst. »Du könntest mich versorgen, wenn ich alt bin - schließlich will ich nicht mein ganzes Leben lang Bettzeug waschen.« Nun blickte sie ihn wieder an. »Du müsstest natürlich sehr fleißig sein. Aber dagegen hast du wohl nichts, oder?« Das Dorf, in dem die beiden lebten, war klein und lag in einem so abgelegenen Landstrich, dass er in keiner Karte auftauchte. In der weiteren Umgebung gab es nur eine Kleinstadt, und die königlichen Landstraßen und die Hauptstadt waren noch viel weiter entfernt. Nur wenige Leute kamen durchs Dorf. Jeder kannte jeden und wusste anscheinend auch über jeden Bescheid. Das Dorf war gerade groß genug für eine eigene Schule, doch es gab nur einen Klassenraum und einen Lehrer, dessen altes Tweedjackett immer nach Rauch roch. Der einzige andere Erwachsene, der noch in die Schule kam, war Oma Hopkins. Sie war bestimmt schon weit über achtzig, hatte immer schlechte Laune, fegte jeden Morgen das Klassenzimmer und heizte dann den großen gusseisernen Ofen in der Ecke ein. 13 Als Rusty am Schultor anlangte, kam Oma Hopkins gerade heraus, sah ihm kurz in die Augen und brummte: »Beeil dich, Michael. Zu spät zu kommen, gehört sich nicht.« Rusty stand am Eingang zum Schulhof und sah sich um. Eileen Gilbert und ein paar andere Mädchen sangen Abzählverse, einige Jungen spielten Fußball, und hinten in der Ecke des Hofs hangelten Colin Hopkins und sein Bruder Sammy sich unbeholfen bis in die Spitze des Klettergerüsts. Rusty beobachtete das alles, schloss sich aber niemandem an. Er spielte gern für sich allein. Oder jedenfalls nicht ungern. An jenem Morgen war es heiß im Klassenraum, und Rustys Strümpfe begannen, an den Waden zu kratzen. Heimlich schob er sie mit den Füßen bis zu den Knöcheln runter. Klar, dass er nicht vergessen durfte, sie wieder hochzuziehen, ehe er nach Hause kam, doch dem Lehrer war das ziemlich egal. Rusty betrachtete seine Klassenkameraden. Alle saßen paarweise zusammen, nur er saß allein. Alle hatten neuere Sachen, und alle - das wusste er - hatten einen Vater. Einen Moment fühlte er sich einsam. Dann aber fing der Lehrer seinen schweifenden Blick auf, und Rusty konzentrierte sich rasch wieder auf die Zahlen in seinem Heft. Es ging nicht mehr ums Malnehmen, sondern ums Teilen. Die erste Aufgabe fiel Rusty leicht, und er spürte, wie ihn die angenehme Welt der Zahlen mehr und mehr in Bann schlug. Er merkte nicht einmal, dass der Lehrer den Klassenraum verließ, und es fiel ihm kaum auf, dass die anderen Kinder immer lauter wurden. Als eine Papierschwalbe 14 auf seinem Heft landete, fegte er sie einfach beiseite, so vertieft war er in seine Arbeit. Und er blieb es, bis er eine leichte Berührung an der Schulter spürte. Der Lehrer war zurückgekommen und stand nun bei Rustys Pult. Und neben ihm stand ein fremdes Mädchen. »Das ist Laurel«, sagte der Lehrer. »Laurel; setz dich am besten hierher, zu Michael Brown. Die meisten nennen ihn Rusty - du kannst dir wohl denken, warum. Brown, Laurels Familie ist gerade ins Dorf gekommen. Ich möchte, dass du dich ein wenig um deine Banknachbarin kümmerst und dafür sorgst, dass sie sich zurechtfindet.« Das Erste, was Rusty an Laurel auffiel, waren ihre Sachen: Sie waren genauso alt, ausgefranst und geflickt wie seine. Das Mädchen trug ihr langes, fülliges schwarzes Haar offen, also weder zu Zöpfen geflochten noch zum Pferdeschwanz gebunden. Sie hatte leicht bronzefarbene Wangen, und in ihren großen dunklen Augen, die ihn direkt ansahen, schien ein ganz eigenes Leben zu leuchten. Sie hatte etwas Rastloses an sich, und ihre Bewegungen waren schnell und lebhaft. In ihrer Nähe wirkten die anderen Kinder plötzlich langsam und dumpf. Rusty konnte nicht anders - er musste Laurel einfach anstarren, als sie neben ihm Platz nahm. »Rusty hat 'ne Freundin!« Was da von der letzten Bank tönte, war die raue Stimme von einem der Hopkins-Brüder. Manche lachten, doch der Lehrer unterband die ausbrechende Unruhe mit einem strengen Blick. Zunächst war Rusty Laurel gegenüber sehr schüchtern. Da aber die anderen Kinder, denen jeder Neue, jeder 15 Fremde verdächtig war, misstrauisch Abstand hielten, fanden die beiden - ob aus Zufall oder mit Absicht - bald zueinander. In der großen Pause führte Rusty das Mädchen durch alle Schulgebäude und zeigte ihr den Hof und das angrenzende Feld des kleinen, matschigen Schulgartens. Er merkte bald, dass Laurel bei den Hausaufgaben Hilfe brauchte, und nahm an, dass sie in der Schule, auf die sie zuvor gegangen war, andere Dinge gelernt hatte. In den folgenden Wochen befreundeten die zwei sich allmählich. Bei gutem Wetter saßen sie manchmal auf dem Klettergerüst und ließen die Beine von der zweitobersten Plattform baumeln. Laurel konnte sich wie eine Katze das Gerüst hinaufschlängeln und grinste auf Rusty hinunter, wenn er sich mühsam und schwerfällig hinterher schwang. Bei Regen saßen sie oft im kleinen Unterstand am anderen Ende des Schulgartens, und das splitterige Holz der Sitzbank zwickte in ihre Oberschenkel. »Deine Strümpfe sitzen auf Halbmast«, neckte Laurel ihn einmal.
»Ist mir egal«, erwiderte Rusty. »Nur meine Mutter meckert ständig daran rum.« »Mir ist es auch egal.« Laurel beugte sich plötzlich vor und flüsterte ihm ins Ohr: »Jedenfalls hast du schöne Beine.« Rusty spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss. Doch in diesem Moment begann der Lehrer hinten auf dem Schulhof seine Glocke zu läuten und ersparte dem Jungen die Peinlichkeit einer Antwort. 16 »Hallo, Laurel«, sagte Mrs Brown, als sie mit einem Tablett voller Marmeladentörtchen und zwei Gläsern Milch aus ihrer winzigen Küche kam. »Michael hat mir viel von dir erzählt. Offen gesagt hat er seit Tagen von nichts anderem geredet. Setz dich doch zu Tisch.« Rustys Mutter war sehr darauf aus gewesen, seine neue Freundin kennen zu lernen, und hatte ihn schließlich überredet, sie nach Hause einzuladen. Jetzt stand sie an der Küchentür und beobachtete, wie die beiden Kinder zulangten. »Sieh mal, was ich hier habe«, sagte Laurel, als sie mit dem Essen fertig waren. Sie zog eine seltsame kleine Lederbörse aus ihrem Kittelkleid und schüttete den Inhalt aufs Tischtuch. Rusty blickte gebannt auf den Haufen staubiger Geldstücke. »Die kleinste Münze aus jedem Land der Welt«, erklärte sie. »Urgroßmutter hat sie mir gegeben. Sie hat sie überall gesammelt, wo sie hingekommen ist.« Wie verzaubert schob Rusty die Münzen auseinander, deren sonderbare Prägungen und vielerlei Farben ihn faszinierten. Einige hatten ein Loch in der Mitte, eine war aus Knochen, eine sternförmig... Schließlich nahm er ein winziges sechseckiges Silberstück in die Hand und drehte es um. Die eine Seite zeigte einen Frauenkopf, vielleicht die Königin eines fremden Landes, die andere ein kleines Tier, möglicherweise einen Hund. »Wo die wohl herkommt?«, überlegte Laurel. »Urgroßmutter hat es mir bestimmt erzählt, doch ich hab's vergessen. Aber wir haben allen Münzen Namen gegeben. Die hier haben wir Welpenpfennig genannt. Gefällt sie dir?« Rusty nickte schweigend. 17 »Behalt sie, wenn du magst«, sagte Laurel leichthin. »Ich hab noch jede Menge.« Noch immer schweigend schob Rusty die Münze in seine Tasche. Und in diesem Moment glaubte er, auf dem Grund von Laurels dunklen Augen eine unruhige Bewegung zu sehen. Doch im nächsten Moment war dieser Eindruck verschwunden. Als Laurel das übrige Geld wieder einsammelte, kam Mrs Brown aus der Küche und warf einen kurzen Blick auf den Tisch. Rusty konnte den strengen Ausdruck, der für ein paar Sekunden in ihr Gesicht trat, nicht übersehen. Nachdem Laurel gegangen war, redete Mrs Brown eine Zeit lang über die Frauen in der Kirche und den alten König in seinem Palast in der Hauptstadt. Sie stopfte ein bisschen, faltete einige Bettlaken und polierte ihre silbernen Kerzenhalter. Über Laurel sagte sie kein Wort und schlug auch nicht vor, sie wieder einzuladen. Rusty spürte, dass ihr Besuch irgendwie kein Erfolg gewesen war. Deshalb schwieg auch er darüber. »Schau mal«, sagte Laurel. Das war am nächsten Morgen in einer Ecke des Schulhofs. Sie stand mit dem Gesicht zur Wand und streckte langsam die Arme in die Höhe und ein Bein vor. Rusty sah ihr verdutzt zu und fragte sich, was jetzt passieren würde. Eine Weile stand Laurel einfach so da. Dann hüpfte sie kurz hoch, und bevor Rusty begriff, was geschah, schwang sie die Arme auf den Boden, schnellte mit den Beinen durch die Luft und stand plötzlich kopfüber an der Wand. Ihre schwarzen Locken pendelten zwischen den gestreckten Armen, ihr zerlumpter Rock hing ihr übers Gesicht, und ihre hellbraunen Bei18 ne zeigten kerzengerade aufwärts, wobei die Absätze ihrer ramponierten Sandalen die Mauer kaum berührten. Rusty war sprachlos. So was hatte er noch nie gesehen. Er spürte, wie sich ihm der Magen umdrehen wollte und sein Herz im Halse schlug. Dann wurden Laurels Arme und Beine plötzlich aufs Neue zu einer Windmühle, und sie stand wieder aufrecht da, war knallrot im Gesicht, kicherte, klatschte sich den Staub des Pausenhofs von den Händen und strich sich die langen Haare aus dem Gesicht. »Das kannst du bestimmt nicht - wetten?!« Rusty hatte das Gefühl, außer Atem zu sein, und seine Sachen schienen ihm zu eng. »Aber ich würde es gern können«, brachte er schließlich hervor. »Zeigst du mir, wie man das macht?« Laurel musterte ihn und zog die Brauen langsam hoch. Dann begann sie zu lächeln. »Einverstanden.« Jetzt lachte sie. »Aber erst musst du mich fangen.« Mit diesen Worten flitzte sie über den Hof davon. Das Magische Theater Kaum tönte das morgendliche Glockenspiel des Instituts für Kalibrierung durch die Stadt, da kam ein Mann mit breitkrempigem Hut durchs Westtor geschritten und ging entschlossen die Allee hinunter, die schnurgerade durchs Geschäftsviertel führte. Seine Magierrobe mit dem in Gold und Scharlachrot gehaltenen Emblem blähte sich im Wind, und der schwere Tritt 19 seiner festen Stiefel warnte die Leute ringsum, ihm nicht in die Quere zu kommen. Seit zwanzig Jahren nahm er
jeden Morgen diesen Weg von seiner Wohnung in der Westvorstadt durchs Zentrum zu seiner Werkstatt im Königspalast, und was es auf dieser Strecke zu sehen und zu hören gab, fiel ihm längst nicht mehr auf. Ob er rasch über den belebten Marktplatz schritt oder sich unbeirrbar seinen Weg durchs Verkehrsgewühl der Hauptstraßen bahnte, ohne aufs Gebimmel der Kutschglocken zu achten - stets war sein Blick auf den Boden gerichtet, und es schien, als nehme er seine Umgebung gar nicht wahr. Erst wenn der Palast in Sicht kam, sah er auf, um rasch die im Wind flatternden Signalflaggen zu deuten, die an einer am Pförtnerhaus verankerten Leine aufgezogen waren. Die Kämpfe an der Grenze hielten an... der König würde die ganze Woche über im Palast sein... die Miliz hatte sechzehn Verbrecher verhaftet... die Wolfsjungen hatten schon wieder jemanden auf brutale Weise getötet... Nichts Besonderes also, alles wie gehabt. Er nickte kurz vor sich hin, betrat den Palastbezirk durchs Haupttor, nahm flüchtig den betagten Wächter zur Kenntnis, der seinen Posten schon ewig innezuhaben schien, verschwand auf der gegenüberliegenden Seite des Hofs in einem unauffälligen Eingang, über dem sich eine große Steinmauer erhob, stieg rasch eine schmale Treppe empor, bog erst links, dann rechts ab und kam in einen langen Korridor. Mit noch immer gesenktem Blick setzte er seinen Weg forschen Schritts fort, und seine Stiefel hallten auf den Steinplatten. Schließlich hielt er vor einer schweren Eichentür, auf der zu lesen stand: 20 MAGISCHES THEATER LEONARDO PEGASUS OBERSTER MAGIER DES KÖNIGS Bitte klingeln Er murmelte etwas in sich hinein, tastete die Taschen seiner Robe ab, zog einen großen Eisenschlüssel hervor und steckte ihn ins Schloss. Nach einigem Herumhantieren, mehrfachem lautem Protest des Schlosses und viel weiterem Gemurmel gelang es ihm, den Schlüssel zu drehen. Er stieß die quietschende Tür auf, putzte seine Schuhe sorgfältig auf dem ausgefransten Fußabtreter ab, bückte sich und hob die Post auf. Dann ließ er den Blick flüchtig durchs Vorzimmer schweifen, registrierte das vertraute staubige Durcheinander ramponierter Möbel, windschiefer Papierstapel, unordentlicher Bücherregale und ausrangierter Maschinenteile. Nur durch ein kleines Gitterfenster fiel schwaches Licht ins Zimmer, doch das reichte, damit er sich zurechtfand. Geistesabwesend betrachtete er die Briefe in seiner Hand und warf die meisten geringschätzig auf ein kleines Schreibpult, was eine mittelgroße Staubwolke aufsteigen ließ. Ein Brief jedoch trug das königliche Siegel, und der - das war ihm klar - durfte nicht warten. Er brach das Siegel auf, entrollte das Pergament, überflog die aufgelisteten Mitteilungen und machte sich da und dort Notizen mit einem Bleistiftstummel, den er aus der Westentasche gezogen hatte. Plötzlich schrillte die Türklingel und riss ihn aus seiner Konzentration. Er verbrachte ein paar gereizte Minuten damit, zwei Transportarbeitern zu erklären, dass sie sich in der Adresse geirrt haben mussten. Dann 21 dachte er erleichtert daran, dass sein neuer Assistent in Kürze anfing. Gewiss war es hilfreich, wieder jemanden zu haben, der ihm zur Hand ging, andererseits aber... Rasch ließ er die üblichen Argumente für und wider einen Assistenten Revue passieren, verbannte sie dann aus seinem Bewusstsein und nahm sich vor, später weiter darüber nachzudenken. Nachdem er die Robe ausgezogen, den Hut abgenommen und beides nachlässig auf einen Beistelltisch geworfen hatte, arbeitete er sich durch das Durcheinander auf zwei alte, stark verblichene Samtvorhänge zu, die einmal tiefrot gewesen waren. Er schob sie beiseite, und dahinter kam eine niedrige Tür zum Vorschein, die er mit einem kleinen, blitzenden Schlüssel im Handumdrehen öffnete. Leicht vorgebeugt trat er über die Schwelle und gelangte über drei Treppenstufen hinab in sein Reich. Nach kurzem Suchen ertastete er im Dunkeln ein Brett mit zahlreichen Schaltern (damals waren nur einige Bereiche des Palastes ans Stromnetz angeschlossen, doch der Magier brauchte für seine besonderen Projekte die modernste Technologie). Er legte einen Schalter um, und das riesige Gewölbe des Magischen Theaters erstrahlte. Leonardo Pegasus hielt inne, genoss die vertraute Geruchsmischung aus glühend heißem Staub, Farbe, Leim und Ozon und atmete tief durch. Dann betrat er die Hauptbühne seines Theaters und machte sich an die Arbeit. Das riesige Modell der südlichen Grenzlandschaft des Königreichs nahm die gesamte Hauptbühne ein. Der König führte im Süden schon seit anderthalb Jahren Krieg, und das Modell des Magiers bildete den jeweili22 gen Stand der Dinge aufs Genaueste ab. Jeder markante Zug des Geländes war bis ins Detail dargestellt. Winzige, maßstabsgetreu verkleinerte Modelle von Kampfeinheiten und Kriegsgerät waren über die Landschaft verteilt und wirkten teils mickrig und schwach, teils robust und voller Energie. Jede Einheit war hinsichtlich ihres Ausbildungsstands, ihrer Ausrüstung und der Führungsqualität ihrer Offiziere genau erfasst. Da und dort waren die sich gegenüberstehenden Heere von durchsichtigen, unterschiedlich großen Plättchen teilweise verdeckt, deren verschiedene Farben die Wirkungen von Licht und Dunkelheit, Wolken und Regen simulierten. Der Magier studierte die Notizen auf dem Pergament, das er noch immer in der Hand hielt, und nahm ein paar Änderungen vor, um das Modell auf den neuesten Stand zu bringen. Als er schließlich zufrieden war, ging er in die hinterste Ecke des Theaters - einen abgesperrten Winkel, in dem sein Spezialgerät stand - und rollte die Empathiemaschine vorsichtig in Position.
Dieser Apparat befand sich in einer Truhe aus Mahagoni, die etwa die Maße einer großen Kommode hatte. Mit gusseisernen Winkelträgern war daran ein gepolsterter Ledersitz befestigt, von dem aus der Magier alle Schalter der Maschine erreichen konnte. Eine schräg gestellte Schalttafel auf dem Deckel der Truhe wies mehrere Reihen Skalen und Knöpfe auf, während sich vorn und seitlich am Gerät diverse Messinghebel, Griffe, Kurbeln und Pedale befanden. Auf der Rückseite der Truhe war ein Paneel eingelassen, das sich öffnen ließ und den Blick auf vielfarbige Kabelspulen freigab, die mit mancherlei mechanischem Zubehör versehen waren. Leonardo rollte zwei dieser Spulen ab und be23 festigte die Kabel behutsam an der kleinen Figur des Mannes, der die vorderste Front der feindlichen Truppen kommandierte, verband ein zweites Paar Kabel mit dem Kommandeur der königlichen Vorhut, zog einen Kopfhörer aus Bakelit hervor und setzte ihn auf. Dann ließ er sich ächzend nieder, langte dabei in eine Ecke der Schalttafel und zog ein getöntes Okular hervor, das ebenfalls zwei Kabel hatte, die mit Klemmen an der Maschine befestigt waren. Leonardo spähte mal mit dem rechten, mal mit dem linken, mal mit beiden Augen durchs Okular und veränderte dabei die Stellung der Schalter und Hebel. Seine Konzentration ließ nicht nach, und er gab keinen Laut von sich. Schon in ein paar Stunden würde der König wieder bei ihm vorbeikommen. Neben der Hauptbühne, auf der Leonardo arbeitete, gab es im Magischen Theater eine Reihe Nebenbühnen, die weitere Projekte in verschiedenen Entwicklungsstadien beherbergten. Ein Projekt befasste sich mit der anstehenden Neuordnung des Staatsanzeigers und zeigte ein Modell der Büros dieser Zeitung. Kleine Figuren ließen sich von Pult zu Pult bewegen, um eine Lösung zu finden, die für alle akzeptabel war. Auf einer weiteren Bühne befanden sich die vorläufigen Entwürfe eines ehrgeizigen Projekts, das die Auswirkungen einer neuen Steuergesetzgebung vorhersagen sollte, die im Herbst vor dem Königlichen Rat verhandelt würde. In einem anderen Winkel des Gewölbes stand ein großer Tisch voll wild durcheinander liegender Schriftrollen, Bücher, Notizen, Schaubilder und Skizzenbündel, auf denen sich eine dicke Staubschicht gebildet hatte. 24 Und in einer dunklen Ecke - durch einen Vorhang vor neugierigen Augen geschützt - hätte ein unermüdlich stöbernder Besucher zu seiner Überraschung noch eine weitere kleine Bühne entdeckt, auf der sich ein Modell von Leonardos Werkstatt befand. In der Mitte dieses Modells stand die winzige Figur des Magiers. Und daneben eine zweite - die einer jungen Frau, dünn, blass und blond. Laurels Geheimnis Es hatte einige Tage stark geregnet. Deshalb hatten die Kinder drin bleiben müssen und sehnten sich nun schon unruhig aus dem engen Klassenzimmer. Kaum begannen die Wolken aufzureißen, schickte der Lehrer sie nach draußen, damit sie sich austoben konnten. Rusty wühlte in der Spielkiste herum, kämpfte sich durch jede Menge muffige Bohnensäckchen und Sprungseile und fand schließlich seine Lieblingswurfringe. Er war nicht gut im Ringe werfen. So sehr er sich auch bemühte, seine abblätternden Gummiringe wollten einfach nicht im Ziel landen. Doch er versuchte es weiterhin gern. Manchmal probierte er eine neue Wurftechnik aus, um eines Tages vielleicht zufällig doch die richtige Methode zu finden, doch heute warf er noch schlechter als sonst. Gerade sammelte er seine Ringe aus den Pfützen, in denen sie jedes Mal landeten, da sah er erstaunt, wie drei Ringe rasch nacheinander an ihm vorbeiflogen, die Zielstange akkurat trafen, spiral25 förmig daran herabglitten und sich am Boden stapelten. Als er sich umdrehte, sah er Laurel direkt hinter sich stehen. »Mach den Mund zu«, kicherte sie. »Du siehst belämmert aus.« »Wie hast du das gemacht?«, fragte Rusty. »Keine Ahnung. Ich hab einfach gedacht, ich kann das. Ich... na ja, ich stell mir vor, sie sind im Ziel, und dann landen sie da auch. Los, probier's mal. Ich helf dir.« Rusty wusste nicht, wie Laurel ihm eigentlich half, doch als er sich auf das Ziel konzentrierte, wurden seine Würfe überraschenderweise besser. »Ich hab letzte Nacht von dir geträumt«, sagte Laurel und warf einen Ring. »Du warst in einem großen, alten Haus. Ich glaube, du hast auf jemanden gewartet.« »Ich hatte auch einen seltsamen Traum. Ich saß mit einem alten Mann in einem Ruderboot. Er hatte einen Schnurrbart und trug Uniform. Dann lief das Boot auf einen Felsen, und ich bin ins Wasser gesprungen und zu einer Insel geschwommen. Und -« »Kann du denn schwimmen?«, unterbrach ihn Laurel. »Ein bisschen. Meine Mutter erlaubt mir manchmal, am Fluss zu spielen. Und du?« »Wie ein Otter«, gab sie zur Antwort. »Und tauchen kann ich auch. Bist du schon mal im Meer geschwommen?« In diesem Moment begann es erneut, heftig zu regnen. Die beiden sammelten ihre Ringe ein und rannten durch den Schulgarten zum Unterstand. Dabei sprangen sie in Pfützen, bespritzten sich gegenseitig und jauchzten begeistert. 26 Dann ließen sie sich erschöpft auf die Bank fallen und kicherten hemmungslos in ihren klitschnassen Regenjacken vor sich hin. Der Unterstand roch nach feuchter Gabardine. »Ich kenn ein Geheimnis«, sagte Laurel.
»Ich kenn jede Menge Geheimnisse«, entgegnete Rusty. »Mehr als du - jede Wette.« »Kann sein, aber mein Geheimnis ist garantiert das tollste.« Laurel machte eine Pause, sah auf den Boden und blickte wieder auf. »Das tollste und gefährlichste. Ich verrate es dir, wenn du magst. Aber du darfst es niemandem weitersagen.« Plötzlich war es vorbei mit dem Gelächter. Rusty spürte Laurels Hand auf der Schulter, spürte ihre dunklen Augen locken, spürte etwas am Grund dieser Augen nach ihm greifen. Einen langen Moment schien die Zeit stehen geblieben, und er hatte beinahe das Gefühl, sein Herz habe aufgehört zu schlagen. Er merkte, wie er langsam und widerstrebend den Kopf wandte und Laurel ansah. Weit entfernt, am tiefsten Grund ihrer Augen, sah er einen Moment lang kalte Flammen brennen. Dann beugte das Mädchen sich zu ihm vor, und er spürte ihren warmen Atem auf der Wange, als sie ihm ins Ohr flüsterte. Am nächsten Morgen kam Laurel nicht zur Schule. In der großen Pause war sie noch immer nicht aufgetaucht, und Rusty fiel auf, dass auch einige andere Plätze in der Klasse leer waren. Auf dem Schulhof hörte er zufällig ein Mädchen sagen: »Janets Mutter meint, sie hat Scharlach, und ihr Bruder Tommy bleibt auch zu Hause.« 27 Diese Neuigkeit machte Rusty Angst, doch dann raffte er seinen Mut zusammen und fragte den Lehrer. Der nahm die Pfeife aus dem Mund und spielte damit herum, ehe er antwortete. »Ja, junger Mann, eine ansteckende Krankheit geht um«, sagte er schließlich. »Aber keine Sorge - das passiert alle paar Jahre; den Kranken geht es meist nach einigen Wochen wieder besser.« »Und Laurel?« »Die kommt bestimmt wieder.« Der Schulmeister wirkte einen Moment abwesend. »Du scheinst dich gut mit ihr zu verstehen.« »Laurel ist nett. Aber auch ein bisschen... sonderbar.« »Das ist doch gut, oder?«, erwiderte der Lehrer und sah Rusty seltsam an. »Von sonderbaren Leuten lässt sich oft was lernen. Vielleicht lernst du ja auch etwas von ihr. Denn leider habe ich den Eindruck, dass mein Unterricht dich zu langweilen beginnt.« »Manchmal ist der Stoff für mich zu leicht«, gab Rusty zu. »Aber ich bin immer gespannt, was als Nächstes kommt.« Der Schulmeister sah ihn nachdenklich an und hantierte weiter mit seiner Pfeife. »Zeit für die nächste Stunde«, sagte er schließlich. »Wo ist meine Glocke?« Auf dem Schulhof hatten die Kinder sich bereits paarweise aufgestellt. 28 Ein Besuch beim Anzeiger Am späten Vormittag machte der Magier eine Pause, ging ins Vorzimmer und setzte den Kessel auf den Herd. Er schauderte, so bitter war der Instantkaffee. Dann fiel ihm ein, dass Alice nächsten Montag bei ihm anfangen würde. Alice war die junge Frau, deren Miniaturausgabe Leonardo vor seinen Besuchern so sorgfältig verbarg. Ob sie wohl anständigen Kaffee kochen konnte? Er hatte sie bei einem seiner wöchentlichen Besuche im Gebäude des Anzeigers kennen gelernt, der Institution also, die für die Verkündung königlicher Verordnungen zuständig war, für den Abdruck der Protokolle der Ratsversammlungen und dafür, die Öffentlichkeit über all die Dinge zu informieren, die vermutlich von Interesse waren. Der Anzeiger residierte in einem baufälligen Fachwerkhaus in einer Gasse, die parallel zur Hauptdurchgangsstraße vom Palasthügel herabführte. Damals gab es noch viele Menschen, die nicht lesen konnten. Deshalb übernahmen Ausrufer das Verkünden von Gesetzen, Beschlüssen und Verordnungen. Diese Leute hatten Kehlen aus Stahl und mussten die Neuigkeiten von Podesten herabrufen, die strategisch günstig auf den Märkten und Plätzen sowie in den Parks der Stadt aufgestellt waren. Wer wollte, dass eine Neuigkeit in die wöchentlichen Bekanntmachungen kam, musste die einschlägigen Unterlagen ins Büro bringen, wo die Nachricht - gegen Zahlung der anfallenden Gebühr - von einem der dafür zuständigen Sachbearbeiter entgegengenommen wurde. Später wurde das gesamte Material thematisch gegliedert, abgeschrieben und schließ29 lieh auf unhandlich lange Pergamente - die so genannten Originalrollen - geklebt. Von denen zogen die Sachbearbeiter Kopien, die jeder Ausrufer mit auf sein Podium nahm. Dort schlug er die Trommel, bis sich ein Menschenauflauf bildete, brach feierlich das Siegel seiner Rolle auf und begann, die Neuigkeiten zu verkünden. Ein guter Ausrufer las nicht einfach ab, sondern hatte die Gabe, die Fakten zu einer echten Geschichte zu verarbeiten, einer anschaulichen, faszinierenden Erzählung, die die Zuhörer in hellen Scharen anlockte, ihre Fantasie entflammte und sie bis zum Schluss in Bann schlug. Danach gab es begeisterten Applaus, und manchmal, wenn der Ausrufer groß in Form gewesen war, regneten Münzen aufs Podium. Dann wurde noch mal die Trommel gerührt, und die Zuhörer zerstreuten sich und machten sich fast verzückt wieder an die Arbeit. Ein guter Ausrufer in einem prestigeträchtigen Bezirk konnte es zu einer gewissen Berühmtheit bringen, und einige beschäftigten sogar eigene Musiker, die die Trommeln für sie schlugen. Nachrichten zu verkünden, war für manche wirklich einträglich. Leonardo war Alice an einem Freitag begegnet. Der Großteil der Kopierarbeit für die Ausrufer wurde übers Wochenende erledigt - deshalb galt der Anzeiger gemeinhin als ein Ort, wo man am Freitagvormittag
einflussreiche Leute treffen konnte, die eine Geschichte zu erzählen hatten. Der Saal, in dem diese Geschichten abgegeben wurden, war lang und schmal und hatte einen alten, angenehm unebenen Steinboden. In unregelmäßigen Abständen standen wackelige Säulen, die die vergilbte De30 cke, wie es schien, kaum tragen konnten. Dieses Foyer war völlig ungeeignet, die vielen Leute aufzunehmen, die an die Schalter drängten, aber das ging nun schon seit Generationen so, und niemand hätte auch nur im Traum daran gedacht, eine Veränderung vorzuschlagen. Das angeregte Geplauder, die verärgerten Rufe der Sachbearbeiter, wer denn, bitte, als Nächster dran sei, und das gelegentliche Hohngelächter, wenn jemand, der es besser hätte wissen müssen, in der falschen Schlange stand - all das verband sich zu einer ununterbrochenen, fast unerträglichen Folge von Missklängen. Und da die meisten Amtsinhaber damals noch das traditionelle Prachtgewand ihrer Bruderschaft (inklusive Wappenschmuck) trugen, bot sich hier auch ein Schauspiel nicht zusammenpassender Farben, das die Augen ebenso schmerzte, wie der Krach den Ohren zusetzte. An dem Freitag, um den es hier geht, hatte die farbenprächtige Erscheinung des Magiers demnach kein besonderes Aufsehen erregt. Er warf sich ins Getümmel und beteiligte sich an dem gut gelaunten und lautstarken Kampf um die Plätze in den Schlangen vor den verschiedenen Schaltern. Nachdem er endlich die hoffentlich richtige Schlange gefunden hatte, war Leonardo einen Moment erstaunt, als er eine strenge und schrille Stimme etwa von der Höhe seiner Taille zu sich hochdringen hörte. »Wenn das nicht unser Magier Superhirn ist! Wir sollten uns nicht immer auf diese Weise treffen.« Leonardo zuckte bei dem respektlosen Spitznamen zusammen. Die barsche Stimme gehörte Veronique, einer alten Bekannten, die als einer der Leitenden Clowns im Amt für Narren und Spaßvögel arbeitete. 31 »Wie läuft das Geschäft, Vero?« »Gut wie nie zuvor, Süßer«, prahlte Veronique. »Bei uns gibt's viel zu tun, und daran wird sich nichts ändern. Das hab ich ja schon oft gesagt. Lachen ist gut für jedermann, vor allem in Zeiten wie diesen. Was hab ich dir all die Jahre gepredigt? In harten Zeiten müssen die Magier abspecken, aber die Clowns bleiben gut im Futter.« Sie schlug auf ihren runden Bauch und stieß Leonardo zum Vergleich in die Rippen. Der sah verärgert auf die kleine, mollige Gestalt herab, die grell geschminkt im Narrenkostüm vor ihm stand. Er fand Veronique taktlos, und sie konnte ihn manchmal rasend machen, doch er würde ihr die spitzen Bemerkungen immer vergeben, weil sie sich in schwierigen Zeiten als gute Freundin erwiesen hatte. »Die Schlangen hier scheinen jede Woche länger zu werden«, stellte Leonardo fest. »Vor den Schaltern für Unterhaltung auf jeden Fall - vor denen für Magie nicht so sehr«, gab sie bissig zurück. »Hoppla, das Mädchen an deinem Schalter sieht ja seltsam aus. Die hab ich hier noch nie gesehen. Etwas ausgemergelt ist sie, für meinen Geschmack.« Leonardo erhaschte einen kurzen Blick auf eine dünne, ernst wirkende junge Frau mit blassen, asketischen Zügen und glatten blonden Haaren. Doch bevor er sie genauer betrachten konnte, drängte die Schlange am Schalter für Unterhaltung vorwärts, weil ein zweiter Sachbearbeiter am Tresen aufgetaucht war, und Leonardo sah sich vorübergehend hinter eine Säule geschoben, die ihm die Sicht nahm. Einmal mehr dachte er daran, wie nachteilig es war, immer alles selbst zu erledigen. 32 Endlich kam er an die Reihe. Die junge Frau lächelte kurz, als er seine Unterlagen über den Tresen reichte. Anerkennend nahm er die Ruhe und Konzentration wahr, mit der sie den Text überflog, bevor sie ihn mit einem amtlichen Deckblatt versah und die üblichen Fragen mit ihm durchging, die sich auf Inhalt, Dringlichkeit und das zu erwartende öffentliche Interesse an der Meldung bezogen. Dann sah sie mit höflicher Erwartung zu, wie er in seinen Taschen nach der Gebühr kramte. Das Blau ihrer Augen war ungewöhnlich. »Hab ich Euch nicht schon mal gesehen?«, fragte Leonardo kühn. »Ich hab gerade erst angefangen«, erwiderte sie. Etwas in ihrer angenehmen Stimme verriet ihm, dass sie nicht aus der Stadt kam. Er hielt kurz im Kramen inne. »Seid Ihr von weit her?« »Von ziemlich weit, ja.« Offensichtlich eine wortkarge Frau. Ihr Akzent ließ Leonardo vermuten, dass sie aus dem Nordosten des Königreichs kam, vielleicht von einer der weiter draußen gelegenen Inseln. »Na bitte.« Er hatte endlich den passenden Betrag zusammengesucht. »Ich hoffe, Ihr lebt Euch gut ein.« »Ich denke ja, vielen Dank.« Sie begann, die Quittung auszustellen. »Aber anders ist es hier schon.« »Danke, behaltet die Quittung. Ich weiß nie, was ich mit all den Zetteln anfangen soll.« Wieder hellte ein kurzes Lächeln ihre Miene auf. »Na ja, ich geh dann besser mal - schließlich wollen noch andere drankommen. Bestimmt sehe ich Euch wieder. Wie heißt Ihr übrigens?« 33 »Alice.« »Also auf Wiedersehen, Alice. Die Stadt wird Euch bestimmt gefallen, wenn Ihr Euch erst ein wenig eingelebt habt. Ach, übrigens - manche Leute verpassen mir Spitznamen, aber eigentlich heiße ich Leonardo Pegasus. Und die offizielle Anrede ist Meister Pegasus.«
»Ah ja.« Das Mädchen hielt inne. »Meister Pegasus. Ich glaube, ich habe schon von Euch gehört. Also dann -auf Wiedersehen.« »Wiedersehen.« Sie schenkte ihm noch ein kurzes Lächeln, als er sich zum Ausgang durcharbeitete. Dann war sie außer Sicht. Nach dieser zufälligen Begegnung hatte der Magier ernsthaft darüber nachzudenken begonnen, wieder einen Assistenten einzustellen. Er stürzte den letzten, schauerlichen Schluck Kaffee hinunter und fragte sich einmal mehr, wie der von Alice schmecken würde. Dusty Der Jahrmarkt rückte näher und mit ihm vierzehn Tage Ferien. Im Dorf war die Aufregung immer stärker zu spüren. Alle erwarteten den Markt das ganze Jahr über sehnsüchtig und redeten hinterher noch Monate davon, denn dort gab es Waren, die für den Wochenmarkt zu ausgefallen waren, und anderes wurde in einer Auswahl angeboten, mit der die Hausierer unmöglich aufwarten konnten. Auf dem Jahrmarkt gab es Dinge 34 aus jeder Ecke der Welt: Stoffballen in allen erdenklichen Farben, Wein und Spirituosen in gewaltigen Fässern, kompliziert aussehende Haushaltsgeräte, Packpferde, Rennpferde, Zuchthengste. Und mit den Händlern kamen Unterhaltungskünstler verschiedenster Art: Schauspieler, Tänzer, Jongleure, Puppenspieler, umherziehende Ausrufer, die Neuigkeiten aus der Hauptstadt und der nächsten Kleinstadt brachten, aber auch mysteriöse Gestalten, die in geschlossenen Zelten Vorstellungen gaben, zu denen Kinder keinen Zutritt hatten. Kein Wunder, dass die Menschen in der Beschaulichkeit der tiefsten Provinz dem vierzehntägigen Jahrmarkt schon Monate im Voraus sehnsüchtig entgegenfieberten. Irgendwie aber war Rusty Brown dieses Jahr außerstande, dem heraufziehenden Ereignis etwas abzugewinnen. Immer wieder dachte er an das Scharlachfieber, machte sich Sorgen um Laurel und spürte, dass ihn nichts würde aufheitern können, solange er nicht wusste, dass sie wieder gesund war. Er überlegte, sie daheim zu besuchen, doch dann wurde ihm klar, dass er keine Ahnung hatte, wo sie wohnte, und irgendwie brachte er es nicht fertig, jemanden danach zu fragen. In der großen Pause drückte er sich mit wahrer Jammermiene allein auf dem Schulhof herum. Ein- oder zweimal versuchte er sich an dem Handstand, den Laurel ihm vorgemacht hatte, brachte es aber nur zu einem aufgeschürften Knie und einer Beule am Kopf. Im Lauf der Zeit kamen die erkrankten Kinder nach und nach wieder in die Schule, und als die Ferien begannen, waren auch die Letzten schon seit mehr als einer Woche wieder da - mit einer Ausnahme: Laurel. 35 Rusty wurde fast krank vor Sorge. Er konnte kaum etwas essen, doch irgendwie war ihm klar, dass er seinen Kummer vor seiner Mutter verbergen musste. Schließlich begannen die Ferien. Rusty ging langsam die Gasse hoch, folgte der Hauptstraße und kam an der Kirche vorbei zum Festplatz. Der Tag war heiß und trocken. Der Junge schlurfte in seinen ramponierten Sandalen durch den Staub und wischte sie von Zeit zu Zeit an den Strümpfen ab, die ihm wie üblich unordentlich um die Knöchel schlotterten. Im Vergleich zu früher kam ihm der Jahrmarkt diesmal irgendwie trüb und fad vor. Es war windstill, und die Fahnen hingen schlaff herab, die Waren an den Ständen wirkten bleich und traurig, und die Tiere saßen müde in ihren Käfigen und kratzten sich. Die Musik, die an sein Ohr drang, mochte zu einer Beerdigung passen, und die Schwert- und Feuerschlucker schienen allesamt Verdauungsbeschwerden zu haben. Rusty ging von Stand zu Stand, ohne sich um die Sprüche der Marktschreier zu kümmern, bis er ein wenig abseits der größten Budengasse plötzlich einen schäbigen, unauffälligen Stand entdeckte, wo man Ringe werfen konnte. »Werft und gewinnt, junger Mann! Für jeden Treffer gibt's einen Preis! Und für drei gibt's einen besonderen Preis! Tretet näher und versucht Euer Glück, Rusty!« Bei seinem Namen schrak Rusty zusammen, denn er hatte den Mann, der mit bleichem Gesicht in seiner Bude stand, noch nie gesehen. Aber wahrscheinlich hatte er einfach nur geraten - so schwer war das ja wirklich nicht... Ehe er sich dessen bewusst wurde, suchte er in sei36 ner Tasche schon nach einer Münze, ertastete aber nur Fusseln, ein Stück Schnur mit Angelhaken, ein unangenehm weiches Karamellbonbon... doch dann spürte er etwas Kleines, Flaches, Sechseckiges, das sich aus seinem Versteck im Taschenzipfel herauszuwinden und ihm beinahe in die Finger zu springen schien - Laurels Welpenpfennig. Unsicher, was er wert sein mochte, hielt Rusty ihn dem Mann hin. Der sah sich die Münze genau an, nickte dann, steckte sie rasch ein und gab dem Jungen drei übel zugerichtete Holzringe. Einen Moment lang glaubte Rusty, in den Augen des Mannes ein fernes Flimmern zu bemerken. Doch im nächsten Moment war dieser Eindruck zugunsten einer gestochen scharfen, ganz plastischen Bilderfolge vergessen, die die drei Wurfringe zeigte, wie sie zuerst nacheinander die Stange herabrutschten, dann genau im Ziel landeten und schließlich rasch durch die Luft flogen. Und dann schien es, als sei es nicht er selbst, sondern sein Handgelenk, das die Ringe mit schneller Drehung einen nach dem anderen genau ins Ziel warf. Die Leute ringsum klatschten. »Gut gemacht, junger Mann, wirklich gut!«, rief der Budenbesitzer. »Damit habt Ihr einen ganz besonderen Preis gewonnen!« Er langte unter den Tresen und zog einen hellbraunen, aufgeweckt wirkenden Welpen mit gespitzten Ohren,
einem schwarzen Fleck im Gesicht und einem dünnen, energisch wedelnden Schwanz hervor. »Jeder Junge braucht einen Hund, kleiner Mann. Der hier heißt Dusty. Kümmert Euch gut um ihn.« 37 Rusty lief ziellos und benommen über den Jahrmarkt und zog den kleinen Hund an der rauen Schnur hinter sich her, die der Mann ihm gegeben hatte. Er wusste nicht recht, ob er einen Hund haben wollte, aber er war ziemlich sicher, dass seine Mutter sauer auf ihn wäre, wenn er ihn nach Hause brächte. Schließlich entschloss er sich, das Tier zurückzugeben, doch so sehr er sich auch bemühte, er konnte die Bude des Mannes nicht mehr finden. So machte er sich denn auf den Heimweg, und die Schnur scheuerte ihm die Handflächen wund, während der Hund immerfort Umwege machte, um unsichtbare Gegenstände am Straßenrand zu untersuchen. Als Rusty schließlich nach Hause kam, war er über die Reaktion seiner Mutter angenehm überrascht. »Ich weiß nicht, wie wir es uns leisten sollen, ihn durchzufüttern«, sagte sie. »Aber sieh mal unter der Treppe nach, ich glaube, da steht noch ein alter Korb. Der dürfte zum Schlafen reichen. Aber wir müssen ihn nach oben in dein Zimmer stellen - hier unten macht mir der Hund nur die Wäsche dreckig.« »Heißt das, ich darf ihn behalten?« Sie schwieg einen Moment und antwortete dann: »Ich denke schon.« Ihre Stimme klang netter als sonst. »Vielleicht heitert er dich etwas auf. Ich glaube, du bist ganz schön niedergeschlagen, seit...« Sie hielt erneut inne, überlegte und fragte dann: »Hat es mit Laurel zu tun?« »Ja - wo ist sie?« Plötzlich spürte Rusty, dass ihm gleich die Tränen kommen würden. »Es tut mir Leid, Michael«, sagte Mrs Brown langsam. »Eines Tages musst du dich damit abfinden. Weißt du... Laurel kommt nicht mehr zurück.« 38 »Was? Nie mehr?« »Nein, nie mehr.« Jetzt rannen Tränen über Rustys sommersprossige Wangen. Er drückte den Hund fest an sich und spürte sein kleines Herz an der Brust schlagen. Alice Gegen Ende seiner Regierungszeit hatte der König sich viele persönliche Berater zugelegt, unter denen Leonardo Pegasus der unumstrittene Fachmann für all die Techniken des Willens war, die man damals üblicherweise als Magie bezeichnete. Diese Stellung brachte für Leonardo eine ganze Reihe Privilegien mit sich. Seine Wohnung lag außerhalb der Stadtmauer an den vornehmen Hängen der Westvorstadt, er bezog ein großzügiges Gehalt, und seine Arbeit war sehr anregend, überforderte ihn aber selten. Außerdem stand ihm ein Assistent zu. Die meisten königlichen Berater hatten einen oder mehrere. Jedes Jahr legten Heerscharen ehrgeiziger Studentinnen und Studenten ihre Abschlussprüfung an den verschiedenen Akademien ab, und noch mehr kamen aus allen Gegenden des Königreichs in die Hauptstadt gezogen. Sie alle hofften, eine Anstellung zu finden, in der sie die wesentlichen Voraussetzungen einer Kunst, eines Handwerks oder Gewerbes erlernen und dann schrittweise die Grundlagen für eine erfolgreiche Karriere legen konnten. Zunächst wurde natürlich von ihnen erwartet, die alltäglichen und 39 eher langweiligen Aufgaben zu erfüllen, die für den effizienten Betrieb vielbeschäftigter Einrichtungen oder Behörden notwendig waren, doch das war ein kleines Opfer angesichts der Perspektiven, die sich später bieten mochten. Bei einem Berater des Königs beschäftigt zu sein, war selbstverständlich eine der begehrtesten Tätigkeiten, und entsprechend wählerisch konnten die Berater bei der Auswahl ihrer Helfer sein. Stets herrschte ein inoffizieller Wettstreit, wer den angenehmsten, begabtesten und attraktivsten Assistenten gewinnen konnte, und dennoch hatte Leonardo sich lange - und fast als Einziger - gesträubt, das Recht auf einen Helfer in Anspruch zu nehmen. Seine wenigen Erfahrungen mit Teamarbeit hatten ihn gelehrt, dass er nur ungern Aufgaben an andere abtrat, da es ihm stets länger zu dauern schien, sie jemandem zu erklären, als sie selbst zu erledigen. Außerdem hatte er bei einigen glückloseren oder unvorsichtigeren Kollegen beobachtet, dass die Beschäftigung eines Assistenten - zumal, wenn er jung und attraktiv war - ganz eigene Gefahren barg. Denn damals waren mit gesellschaftlichen Privilegien noch gewisse Beschränkungen verbunden. Die Berater des Königs durften weder heiraten noch Affären haben. Nur Alleinstehende mit untadeligem Ruf konnten Berater werden, und jeder hatte - unter anderem - feierlich zu schwören, während der Amtszeit enthaltsam zu bleiben. Natürlich wurden die königlichen Berater von den gleichen Bedürfnissen gequält wie andere Männer und Frauen, und obwohl darüber selten öffentlich geredet wurde, nahm man allgemein an, dass viele Beziehungen zwischen Beratern und As40 sistenten ein ganzes Stück über das hinausgingen, was beruflich erforderlich war. Solche Liebschaften wurden selbstverständlich mit größter Diskretion gehandhabt. Nur durch zufällige Entdeckung - vielleicht kombiniert mit versuchter Erpressung - kamen sie der Öffentlichkeit zu Ohren. Doch der eine oder andere unglückliche Zufall hatte einige von Leonardos Kollegen in letzter Zeit zu Fall kommen lassen. Der Leitende Aktuar zum Beispiel, der seiner Schwäche für dunkelhäutige Jungen schon lange nachgegeben hatte, war so ungeschickt, die Jalousien seines Büros im obersten Stockwerk ausgerechnet an dem Tag offen zu lassen, an dem die Fensterputzer kamen. Und wer könnte den peinlichen Abweg vom schmalen Pfad der Tugend
vergessen, den der stellvertretende Kommandeur der Palastwache mit den langbeinigen und trittsicheren Zwillingen aus dem Hochgebirge eingeschlagen hatte? Die beiden ehrenwerten Herren waren Hals über Kopf auf entlegene Außenposten abgeschoben worden und würden nicht wieder in der Hauptstadt auftauchen - jedenfalls nicht, solange der gegenwärtige König regierte. Als Leonardo vom Staatsanzeiger zurückgekommen war und in seine Werkstatt trat, schauderte ihn bei diesen Aussichten. Aber dann erinnerte er sich wieder an den Kaffee, und ein zuversichtlicherer Gedanke stellte sich ein. Der Magier griff nach seinem Abakus und begann auszurechnen, wie viel Zeit er damit verschwendete, die vielen Alltagsaufgaben, die sein Amt mit sich brachte, selbst zu erledigen. Er nahm Tinte und Feder zur Hand und kramte ein Pergament hervor, um eine 41 Liste zu machen. Er überschlug, wie viele Stunden er jede Woche damit verbrachte, die Post zu öffnen, an die Tür zu gehen, wenn es klingelte, Nachrichten zu überbringen und - nicht zu vergessen - Kaffee zu kochen. Es wäre sicher nützlich, hier ein zweites Paar Hände zu haben und einen vernünftigen, effektiv arbeitenden Menschen zu beschäftigen, einen mit schicklichem Auftreten und professioneller Einstellung. Dann könnte er sich auf die wichtigeren Dinge konzentrieren, und außerdem hätte er dann mehr Zeit, ein bestimmtes Vorhaben zu entwickeln, das er seit vielen Jahren im Sinn hatte... Auf dem leeren Pergament, das Leonardo noch immer betrachtete, nahm das blasse, ernste Gesicht des Mädchens Gestalt an, das ihn am Schalter des Anzeigers bedient hatte. Im Laufe der nächsten Monate freute Leonardo sich mehr und mehr auf seine Besuche dort. Seine Unterhaltungen mit Alice waren stets kurz, und sie gab wenig von sich preis, doch Leonardo sah sich gerade von der Kürze ihrer Begegnungen in Bann geschlagen - Begegnungen, die von Alices warmem Lächeln und dem gelassenen Blick ihrer ungewöhnlich blauen Augen begleitet wurden. Allmählich glaubte er, eine undefinierbare Harmonie zwischen ihnen zu entdecken, und seine Besuche wurden langsam immer häufiger. Einmal vergaß er sogar, die Unterlagen mitzunehmen, die der Vorwand seines Ausflugs waren. Das Mädchen ging ihm nicht mehr aus dem Kopf und tauchte schließlich sogar in seinen Träumen auf. Er begriff, dass er dringend etwas unternehmen musste. So kam es, dass Leonardo Pegasus in seiner Freizeit 42 auf einer kleinen Bühne seiner Werkstatt jenes Modell zu bauen begann, das er dann stets hinter einem Vorhang verborgen hielt. Er bildete Gesicht und Gestalt des Mädchens so detailgetreu nach, wie es ihm nur gelingen wollte, kleidete die kleine Figur in die Livree der Bruderschaft der Magier und setzte sie zusammen mit einer Miniaturgestalt seiner selbst auf die Modellbühne. Dann koppelte er die Figuren an die Empathiemaschine und untersuchte die beiden kleinen Leutchen aufs Genaueste, indem er sie durch ihre eigenen Augen sah und erfuhr, was sie dachten und fühlten. So konnte er sich davon überzeugen, dass die Zukunft, die er simulierte, nur Gutes für ihn bereithielt. Er untersuchte jede Einzelheit seines Modells und fand auf jeden kritischen Einwand eine überzeugende Antwort. Oder besser: Er fand auf alles eine überzeugende Antwort - nur nicht auf den Einwand, den er zu formulieren vergaß. Denn trotz all seiner Lehr- und Berufsjahre und trotz seiner Stellung als Leitender Magier des Königreichs hatte Leonardo - wohl, weil es so praktisch war - eine entscheidende Klausel im Verhaltenskodex der Bruderschaft der Magier vergessen, jenes Kodex, den er so viele Nächte lang für seine Abschlussprüfung an der Akademie der Magier auswendig gelernt hatte. Diese Klausel lautete: 8.14: Einsatz des Gutachters Ist auch der Magier Bestandteil seines Zukunftsmodells, so gilt dieses Modell erst dann als tauglich, wenn es von einem unabhängigen Gutachter gründlich untersucht worden ist. 43 Ein Verstoß gegen diese Bestimmung zieht zwingend die Verbannung auf einen Außenposten nach sich. Natürlich kümmerte sich kaum einer aus der Bruderschaft um diese Regel. Es war so bequem, die eigenen magischen Fertigkeiten dann und wann dafür zu nutzen, die Erfüllung ganz gewöhnlicher privater Wünsche herbeizuführen, dass kaum einer dieser Versuchung widerstehen konnte. Und bestimmt hatte der Kodex nur den Zweck, groben und gefährlichen Missbrauch der Zauberkraft zu verhüten, nicht aber den, dem Abkürzen kleiner, belangloser Verfahren sinnlose Hindernisse in den Weg zu legen. Außerdem war das Risiko, entdeckt zu werden, wirklich sehr gering. Mit einer Überheblichkeit, die für viele Menschen seines Alters und seiner Position typisch ist, hatte Leonardo sich inzwischen davon überzeugt, er könne sein eigenes Zukunftsmodell vollkommen objektiv begutachten, und deshalb entschieden, es sei völlig in Ordnung, die Zukunft, die er simuliert hatte, rasch Wirklichkeit werden zu lassen. Und durch einen glücklichen Zufall fand sich die Umstrukturierung des Anzeigers auf der Liste von Leonardos nächsten Vorhaben. Er wusste, dass die meisten von denen, die dort eine untergeordnete Stelle bekleideten, einen Vertrag unterschrieben hatten, der sie auf mindestens drei Jahre band, doch er wusste auch, dass solche Verträge von Vorgesetzten regelmäßig gebrochen wurden, wenn ihnen das in den Kram passte. Mit gerunzelter Stirn betrachtete er das Modell, dachte einen Moment nach, krempelte dann die weiten Ärmel seines Mantels hoch, langte in die Ecke des Modells, 44
wo der Klebeumbruch der Nachrichten stattfand, nahm zwei nebeneinander stehende Tische in die Hand, musterte sie durch seine Brille, drehte sie mal nach rechts, mal nach links, stellte sie wieder auf ihren angestammten Platz, schob sie dann aber zusammen, sodass sie einen größeren Tisch bildeten... Vielleicht könnten drei Personen so die Arbeit von vieren erledigen... Allerdings war es dem Leiter des Klebeumbruchs unter keinen Umständen zuzumuten, mit einfachen Kopistinnen in einem Zimmer zu arbeiten... aber hier gab es eine Stelle im Vervielfältigungsstudio, das in den Händen eines begabten Mitarbeiters doch sicher geradezu aufblühen würde... Er arbeitete bis in die Nacht, nahm immer feinere Korrekturen vor und koppelte das Modell von Zeit zu Zeit an die Empathiemaschine, um den jeweiligen Stand der Dinge zu erleben. Und allmählich begriff er, was zu tun war. Zu gegebener Zeit ging Leonardos Plan auf. Die Umstrukturierung des Anzeigers wurde öffentlich gemacht, und die Chefredakteurin gratulierte ihm persönlich zu seiner Findigkeit. Sie erklärte sich überaus zufrieden mit der neuen Organisationsstruktur und beschönigte zugleich die unangenehme Tatsache, dass im Zuge der Umsetzung seines Plans eine Reihe bedauernswerter Individuen ihre Stelle verlieren würden. Zufällig gehörte auch eine junge Schalterbeamtin namens Alice zu den arbeitslos Gewordenen. Obwohl sie viel kürzer für den Anzeiger gearbeitet hatte als all ihre entlassenen Kollegen, freute sich die Chefredakteurin, ihr mitteilen zu können, dass eine neue Stelle als per45 sönliche Assistentin eines der wichtigsten königlichen Berater sie erwartete. An dem Tag, an dem Alice ihre neue Arbeit antrat, kam es auf dem Fischmarkt zu einer Massenflucht von Hummern, was Leonardo auf seinem morgendlichen Weg zur Werkstatt aufhielt. Mit vielen verärgerten Fußgängern musste er warten, bis die Fischhändler ihre Leckerbissen wieder zusammengesucht hatten. Als er endlich weitergehen durfte, legte er den Weg zum Palast noch schnelleren Schrittes als gewöhnlich zurück. Kaum bog er ein paar Minuten verspätet um die letzte Ecke des Korridors, war er erleichtert, die zierliche Alice geduldig vor seiner Tür warten zu sehen. Beim Geräusch seiner Stiefel auf den Fliesen drehte sie sich zu ihm um. Leonardo musterte sie beifällig von oben bis unten. Alice steckte bereits im angemessenen Kostüm. Sie trug eine neue, feierlich wirkende Tunika mit entsprechendem Barett. Beide Kleidungsstücke wiesen das verschlungene, in den Farben Scharlachrot und Gold gehaltene Emblem der Bruderschaft der Magier auf. Mit ihrer adretten Kniehose und den spitzen schwarzen Schuhen, ihrem blassen Gesicht und den blonden Haaren erinnerte sie an Gestalten auf Spielkarten. Positiv beeindruckt geleitete Leonardo sie ins Vorzimmer seiner Werkstatt und begann zu erklären, was sich wo befand. Sie wollte das eine oder andere wissen, doch er merkte bald, dass sie alles begriff, was er sagte, und ihre Nachfragen auf das Nötige beschränkte. Das beruhigte ihn, und er spürte, dass ihre Zusammenarbeit auf gedeihlichem Wege war. 46 Alice fand sich schnell in ihre Aufgaben und kümmerte sich schon nach wenigen Tagen mühelos um Leonardos Korrespondenz, wimmelte Besucher ab und ordnete den wild durcheinander gestapelten Kram, der das Vorzimmer unter sich zu begraben drohte. Sie erledigte alle Arbeiten mit ruhiger Effizienz, und Leonardo musste nie eine Anweisung wiederholen. Dennoch schien es, als hinterlasse Alices Persönlichkeit in der Werkstatt keinerlei Spuren. Jeden Morgen war sie zur verabredeten Zeit auf ihrem Posten. Während der Arbeit konzentrierte sie sich ganz und gar auf die anstehende Aufgabe. Und kaum war Feierabend, war sie verschwunden. Sonderbarerweise erinnerte Leonardo sich nicht, sie je kommen oder gehen gesehen zu haben. Er empfand allmählich, sie habe etwas Unkörperliches, fast Schwereloses. Sie machte keinen Lärm und keinerlei Aufhebens, brachte nicht einen persönlichen Gegenstand an ihren Arbeitsplatz mit und kam nur in seine Werkstatt, wenn es notwendig war - und selbst dann war davon kaum ein Luftzug zu spüren. Manchmal hatte Leonardo das Gefühl, er habe Alice nur erträumt. Und doch ertappte er sich schon nach kurzer Zeit bei der Frage, wie er je ohne sie zurechtgekommen sein mochte. 47 Aus dem Tagebuch des Victor Lazarus Montag, 26. Januar (Fortsetzung) Obwohl ich die Straße kannte, fand ich die Adresse nicht gleich. Ich lief ein paar Mal auf und ab, bis ich entdeckte, was früher eine herrschaftliche Einfahrt gewesen sein musste. Die schmiedeeisernen Torflügel waren völlig verrostet und unter einer großen, mächtig wuchernden Hecke aus Dornbüschen kaum mehr auszumachen. Ein Flügel hing nur noch schief an der letzten, verbogenen Angel, doch zwischen den Flügeln war Platz genug, um durchzuschlüpfen. Nach einem überraschenden Moment der Beklommenheit quetschte ich mich in den Garten, machte Halt, um meine Uniform abzubürsten, und wandte mich dann dem zu, was sich auf dem Gelände befand. Einen Augenblick stand ich starr vor Ergriffenheit da. Hoch über mir thronte das Haus auf dem Hügel - ein stattliches Gebäude, das fast ausschließlich im neugotischen Stil errichtet war und viele mit Maßwerk geschmückte Fenster hatte, dazu Giebel, Türme, Schornsteinköpfe, Wetterfahnen und Wasserspeier. Die unteren
Stockwerke umgab ein wahrer Dschungel verwilderten Gestrüpps und hielt alles Licht von den Fenstern fern. Aus dem Gewucher rankten Kletterpflanzen empor, schlängelten sich die Fallrohre hinauf und verstopften die Regenrinnen. Doch damit nicht genug: Der ganze Garten war so zugewuchert, dass kaum noch ein Weg zu erkennen war, und es schien sogar, als ginge das Gestrüpp fließend in die hohe Hecke und selbst in das Tor 48 über, durch das ich gerade gekommen war. Über mir ragten riesige Bäume in den Himmel, deren Schatten noch das letzte Sonnenlicht aussperrte. Ich fand keinen Anhalt, wie weit der Garten sich hinter dem Haus erstrecken und was unter dem unangenehm feuchten Gestrüpp verborgen sein mochte. Vielleicht habe ich es mir nur eingebildet, doch die Luft innerhalb der Umzäunung schien kühler und feuchter als auf der Straße. Benommen bewegte ich mich voran. Der Pfad stieg viele unebene Steinstufen an. Vorsichtig schob ich mich zwischen den enormen Disteln hindurch, die in den Ritzen zwischen den Platten aufgeschossen waren, und kam schließlich an eine steilere Treppe, deren rissige Stufen mich zwischen bröckelnden Säulen zum beeindruckenden Portal führten. Nun stand ich vor den Flügeln einer hohen Eingangstür, deren Farbe lange abgeblättert und deren Eichenholz schon grau verwittert war. Ich zerrte an dem rostigen Klingelzug, hörte drinnen aber keinen Laut. Dann wartete ich etwa eine Minute, doch es regte sich nichts. Also drückte ich vorsichtig gegen den rechten Torflügel. Zu meiner Überraschung öffnete er sich quietschend. Ich trat in eine Halle. Über mir schwebten die Reste eines wuchtigen Kronleuchters, der voller Staub und Spinnweben hing. Rechts stieg eine mächtige Treppe aus Mahagoni auf, die den Blick ins Halbdunkel der oberen Stockwerke lenkte. Vor mir befand sich eine weitere Flügeltür mit schmalen, trüben Glasscheiben. Auf Zehenspitzen spähte ich hindurch und konnte einen langen, staubigen Flur erkennen, dessen getäfelte Wände in regelmäßigem Abstand von geschlossenen Türen unter49 brochen waren. Schließlich entdeckte ich zu meiner Linken eine Art Wartebereich, der deutlich von dem Versuch zeugte, ein wenig Wohnlichkeit zu verbreiten: Der Boden war gefegt, die Simse abgestaubt. Auf dem niedrigen Tisch in der Mitte des Zimmers war ein ramponiertes Schachspiel aufgebaut. An den Wänden standen lange Holzbänke, die früher in eine Kirche gehört haben mochten. Und auf den Bänken saßen zwei Männer. Ich nickte ihnen zu, setzte mich und zog dabei meine Bundhose an den Knien vorsichtig hoch, um die Bügelfalten nicht zu ruinieren. Dem folgte eine kurze Stille, in der ich meine Gefährten zu mustern begann. Der eine war ein dünner, älterer Mann mit schütterem Haar und einer kleinen Brille mit Goldrand. Er saß vorgebeugt da und war altmodisch formell gekleidet: Zu schwarzem Jackett und schwarzer Weste trug er blitzblank polierte schwarze Schuhe und eine grau gestreifte Hose mit Aufschlägen; in seinem hohen steifen Kragen steckte ein Halstuch. In regelmäßigen Abständen zog er eine schwere goldene Taschenuhr aus der Weste, sah nach, wie spät es war, und rümpfte immer missbilligender die Nase. Der andere Mann war jünger und kräftiger gebaut. Er trug den groben Arbeitsanzug und die klobigen Stiefel eines Schwerarbeiters. Die Ärmel seines dicken, kragenlosen Hemds waren bis über die Ellbogen aufgekrempelt und enthüllten muskulöse Arme, die er dauernd mal so, mal anders vor der Brust verschränkte. Ich hatte den Eindruck, dass wir drei um die gleiche Stelle konkurrierten. Schließlich entschloss ich mich, das Schweigen zu brechen und die beiden zu fragen, wieso sie hier 50 waren. Der ältere Mann namens Harold erzählte mir, er sei bis zu seiner Pensionierung Bibliothekar gewesen, suche eine kleine Teilzeitbeschäftigung, um sein Ruhegehalt aufzubessern, und habe auf eine Anzeige geantwortet, die er am schwarzen Brett seines Seniorenzentrums gefunden habe. Der jüngere Mann hieß Sam und berichtete, er habe sich bisher mit wechselnden Hilfsarbeiten durchgeschlagen und sei erst kürzlich vom Land in die Stadt gekommen. Er sei mit einem Mädchen aus seinem Dorf verlobt und suche nun eine feste Arbeit, um einiges auf die hohe Kante zu legen und mit einem finanziellen Polster ins gemeinsame Leben zu starten. Von der Stelle hier habe ihm jemand in der Kneipe erzählt. Harold und Sam hatten sich schriftlich beworben und eine Antwort erhalten, die der meinen aufs Haar glich. Seit Betreten des Grundstücks aber hatten sie niemanden gesehen. Keiner von uns war besonders gut darin, das Gespräch in Gang zu halten, und so breitete sich erneut Schweigen aus. Ich musterte den niedrigen Tisch vor mir. Nach kurzer Zeit begann mich das Schachbrett zu fesseln, und beim Betrachten wurde mir langsam klar, dass es recht ungewöhnlich war. Statt der üblichen Felder bestand das Brett aus einer labyrinthischen Ansammlung von Strahlen und konzentrischen Kreisen, die einander überlagerten. Und die Schachfiguren standen sich nicht in den bei uns üblichen Farben Rot und Weiß gegenüber, sondern waren schwarz, weiß oder grau. Gerade als ich merkte, dass sie auch ganz anders geformt waren als gewöhnlich, sah ich etwas unter dem Schachbrett stecken, das wie ein Brief aussah. Ich griff danach und zog ihn heraus. Auf dem Um51 schlag standen zwei handschriftliche Zeilen in vertraut anmutendem Gekrakel: An meine Gäste. Bitte öffnen und lesen. Die anderen mussten den Umschlag im selben Moment bemerkt haben wie ich, denn als ich aufsah, stand beiden die gleiche unausgesprochene Frage in den Augen. Ich erwiderte ihren Blick mit hochgezogenen Brauen. Der junge Mann antwortete mit einem sofortigen Nicken, und nach einer kurzen Pause des Nachdenkens nickte auch
der ältere. Ich brach das Siegel des Umschlags auf und las den beiden das Folgende vor: Liebe Freunde und Helfer, ich lebe zur Zeit in einem Provisorium, hoffe aber, eines Tages in mein Haus zurückkehren zu können. Deshalb wäre ich euch dankbar, wenn ihr Haus und Garten wieder in Stand setzen würdet. Tut, was immer ihr dazu für nötig erachtet. Das beiliegende Scheckbuch dürfte euch mit ausreichenden Geldmitteln versorgen. Reicht euch ein fahr, um alles vorzubereiten? Falls nicht, lasst es mich wissen. Ich freue mich, euch bei meiner Rückkehr kennen zu lernen. Alles Gute. Die Unterschrift war einmal mehr unleserlich. Ich sah meine Gefährten an und sie mich. Dann erhoben wir uns wie auf Kommando und gingen durch die Flügeltür tiefer ins Haus. 52 ZWEITES KAPITEL Das Geheimnis der Tänzerin Am höchsten Punkt meines Hauses befindet sich einer meiner Lieblingsplätze. Von dort beobachte ich - und warte. Am Ende einer schmalen Wendeltreppe ragt ein schlankes Türmchen auf, in dessen Spitze sich nur ein einziges, sechseckiges Zimmer befindet, in dem keine Möbel stehen, das aber in jede Richtung ein großes Fenster hat. Oberhalb der Fenster, doch unterhalb des Dachstuhls verläuft ein Balken durchs Zimmer. Von ihm lasse ich mich stundenlang im Kniehang baumeln und betrachte die Landschaft unter mir. Wenn ich mich etwas konzentriere, kann ich mir von hier oben alles anschauen, was ich möchte. In einem Dorf am Fuß der Hügel sehe ich einen Jungen mit seinem Hund durch die Abenteuer der Kindheit reisen. Heute sind die beiden durch den Bach auf die kleine Insel gewatet, wo sie so gern endlose Stunden spielen. Ich beobachte, wie sie zwischen Bäumen herumtollen, Stichlinge fangen oder schwimmen, Räuber, Pirat oder Schmuggler spielen. Ich weiß, dass der Junge unter seinesgleichen kaum Freunde hat und dass die Liebe zu seinem Hund ein großes Leid verbirgt. Ich beobachte ihn, und seine Einsamkeit macht mich stark. 53 Durch ein anderes Fenster, das auf die Hauptstadt im Herzen des Landes weist, sehe ich einen Mann von beeindruckenden Fähigkeiten, einen Magier und Berater des Königs. Mich schaudert, weil ich ihn verborgene Kräfte zur Hilfe nehmen sehe, um ein Mädchen zu umgarnen, dessen Anmut ihn verzaubert hat. Vielleicht begreift er noch nicht, welchen Weg er eingeschlagen hat, vielleicht hat er seine wahren Absichten noch nicht voll durchschaut, doch ich weiß, dass auch er einmal tief verletzt worden ist und diese Wunde mit allen Mitteln zu heilen sucht. Ihn zu beobachten, macht mich stark. Seine Qualen, sein Leid und seine Sehnsucht lassen mich aufblühen. Indem ich die Landschaft unter mir betrachte, kann ich jedem von euch bei seiner Reise zuschauen. Ich sehe euch an jedem Scheideweg zögern und euch den Kopf zerbrechen, welchem Schild ihr folgen sollt; ich beobachte euch bei den ersten Schritten auf dem einen oder anderen Pfad und sehe euch all die sich überschneidenden Wege einschlagen, sehe euch manchmal umkehren, um einander zu treffen, um euch glücklich und froh zu vereinen, öfter aber den Weg des anderen verschmähen, sehe, wie ihr alle Hoffnung auf Vereinigung fahren lasst und diesen Verlust später betrauert. Neugierig untersuche ich, welche Wege ihr einschlagt, doch meine innigste Liebe, meine abgründigste Leidenschaft gilt denen, die ihr verschmäht, denn auf ihnen kehre ich eines Tages zurück, um von euch Besitz zu ergreifen. Ich könnte für immer hier bleiben, denn ich beobachte euch liebend gern beim Weben eurer Lebensmuster, doch heute bin ich in der Gewissheit aufgewacht, 54 dass Besuch unterwegs ist. Also bekomme ich bald etwas zu tun. Denn ich weiß, dass du demnächst in mein Haus zurückkehrst. Jahrelang hast du mich verschmäht und dir eingeredet, ganz allein deines Glückes Schmied zu sein, doch bald wirst du zurückkehren. Denn du hast mich vernachlässigt, Lazarus, und bist meinem Haus zu lange ferngeblieben. Dafür musst du jetzt Buße tun und auf mich Acht geben - bevor es zu spät ist. Von meinem Ausguck beobachte ich geduldig, wie du mit deinen Gefährten über die Schwelle meines Hauses trittst, um dem Reich in seinen Mauern tapfer zu begegnen. Aus dem Tagebuch des Victor Lazarus Montag,26. Januar (Fortsetzung) Wir durchschritten nacheinander die Flügeltür und wagten dabei kaum zu atmen. Der Staub von Jahren dämpfte jedes Geräusch, und Stille und Düsternis des Hauses hüllten uns völlig ein. Ringsum zeichneten sich im Dämmerlicht massige, hoch aufgetürmte Möbelstücke und eingerollte Teppiche ab, deren Umrisse unter Abdecktüchern und Spinnweben verschwammen. Kronleuchter und gusseiserne Heizkörper waren unter einer dicken Staubschicht begraben, und unzählige Staubpartikel, die unsere Schritte aufgewirbelt hatten, schwebten im Halbdunkel. Sogar die Dielen, auf die wir traten, lagen unter einer dicken Staubschicht. 55 Die Spuren unserer vorsichtig gesetzten Tritte zeigten unser sachtes Voranschreiten von Raum zu Raum. Die Stille des Hauses schien undurchdringlich, bis Harold einen Hustenanfall bekam. Er entschuldigte sich vielmals und musste sich schließlich ein Taschentuch vor Mund und Nase halten. Sam und ich folgten seinem
Beispiel. Wir öffneten eine Tür nach der anderen und entdeckten Zimmer voll abgeschlossener Schränke oder voll sorgsam verpackter, sauber gestapelter Pakete, aber auch Räume, in denen alles Mögliche leichthin und gedankenlos verstreut lag. Als wir in die oberen Stockwerke stiegen, kamen wir durch eine weitere Zimmerflucht, die als Lager gedient zu haben schien: Überall standen wacklige Stapel aus Büchern, Alben und Unterlagen auf dem Fußboden und ragten mehr als mannshoch auf. Schließlich gelangten wir über eine schmale Wendeltreppe unters Dach des Hauses und kamen in ein winziges sechseckiges Turmzimmer, das völlig leer wirkte. Ich habe mich dort nicht lang aufgehalten, weil mich die Luft irgendwie unangenehm frösteln ließ. Nachdem wir jedes Zimmer inspiziert hatten, kehrten wir um und gingen wieder hinunter. Als wir ins Erdgeschoss kamen, dämmerte es bereits. Also beschlossen wir, nach Hause zu gehen und uns am nächsten Morgen wieder zu treffen. Kaum war ich wohlbehalten in meinem bitterkalten Zimmer angelangt, versuchte ich, meine Gedanken zu ordnen. Ich habe bestimmt keine allzu blühende Fantasie, doch während der Erkundung des Hauses hatte ich 56 mich mehr als einmal deutlich beklommen, fast ängstlich gefühlt. Als ich in einem der Räume einen Moment allein gewesen war, hatte ich aus dem Augenwinkel eine rasche Bewegung bemerkt - vielleicht das Wehen eines Vorhangs oder ein flüchtiger Schatten. Doch als ich mich danach umdrehte, war nichts zu sehen. Ich wollte mich nicht lächerlich machen und beschloss deshalb, Harold und Sam nichts davon zu sagen. Doch die beunruhigendste Entdeckung machte ich im letzten Flur auf dem Weg ins Turmzimmer. Als ich ihn betrat, war ich den anderen ein Stück voraus und gab mir bis zur Wendeltreppe alle Mühe, die Staubschicht gänzlich beiseite zu schieben - denn ich hatte darin eine schwankende Fußspur gesehen, die aus dem Nichts auftauchte, im Nichts verschwand und von einem Menschen, einem Tier oder einem Dämon herrühren mochte. Einige Abdrücke schienen von nackten Füßen zu stammen, andere dagegen konnten nur von Händen sein. Ich kann mir kein Wesen denken, das eine solche Spur hinterlassen haben könnte. Hexen? Gibt's nicht! Rusty Brown atmete schwer und stoßweise, als er die letzten Meter den Hügel hinaufradelte. Kaum bot sich ihm von dort der Blick ins vertraute Tal, schaltete er zurück und setzte sich entspannt auf den Sattel, um das sanfte Gefälle bis ins Dorf hinunterzugleiten. Die 57 lange Fahrt hatte ihn ermüdet, und der Schlamm des Fußballfelds hatte an seinen Beinen allmählich unangenehme Krusten angesetzt. Er dachte an den Kessel, der bestimmt köchelnd auf dem Herd stand, und freute sich darauf, nach Hause zu kommen und sich zu waschen. Seit fast zwei Jahren ging er nun auf die höhere Schule in der nächsten Kleinstadt. Wenn die Straßen trocken waren, fuhr er die acht Meilen gern mit dem Rad, doch im Winter ließ sich der mal tief gefurchte, mal im Matsch versunkene Weg nur in holpriger Fahrt im Fuhrwerk des Spediteurs zurücklegen. Rusty war sehr froh, dass der Frühling gekommen war. Die Brise zauste ihm das rotbraune Haar, als er am alten Schulhaus vorbeikam, spritzend durch die Furt radelte und die Enten wild schnatternd in alle Richtungen stieben ließ. Gegenüber dem Wirtshaus »Pflug« bog er scharf nach rechts, um den Pfad quer über die Dorfwiese zu nehmen, und kam Augenblicke später auf den kleinen Feldweg, der zu seinem Zuhause führte. Er raste die Buckelbrücke hoch, hob einen herrlichen Moment lang ab, landete wieder auf der Straße, bog erneut scharf nach rechts und kam im Hof hinter den Hütten schlitternd zum Stehen. Vom Geräusch der Bremsen alarmiert, kam Dusty die Treppe herunter gesprungen und stürmte durch die Hintertür, um sein Herrchen zu begrüßen. Mrs Brown sah durchs Küchenfenster zu, wie ihr Sohn sein Fahrrad im kleinen Anbau hinterm Haus an die Wand lehnte, wobei der Hund ihn aufgeregt umkreiste, bellte und mit dem Schwanz wedelte. Sie blickte kurz zum Herd. Das Wasser begann gerade zu 58 kochen, und während Rusty seine Turnschuhe von den Füßen schleuderte und Blazer und Rucksack an den Haken neben der Hintertür hängte, nahm sie den Kessel vom Herd, goss das Wasser vorsichtig in die angeschlagene Emailleschüssel, die in der Spüle stand, gab genau die richtige Menge kaltes Wasser aus dem Hahn dazu und legte Schwamm und Seife auf den Ablauf. Als Rusty in der Tür stand und sein bunt gestreiftes Trikot mit Schwung über den Kopf und auf links zog, konnte sie einen bekümmerten Blick auf seine Fußballstrümpfe nicht unterdrücken, die ihm wie üblich um die Knöchel schlotterten. Im Lauf der Jahre allerdings hatten Mutter und Sohn gelernt, über seine fast immer abgesackten Socken zu lachen, und auch diesmal fing er ihren Blick auf und grinste. Sie konterte mit der üblichen Frage: »Gutes Spiel?« »Ach, na ja - wie immer.« Mrs Brown lächelte in sich hinein. Ihr Sohn würde nie ein großer Sportler werden. Er hatte so gut wie keinen Ehrgeiz, dafür aber jede Menge jugendliche Energie, und schien das Spiel rein als körperliche Anstrengung zu genießen. Sie drückte sich an ihm vorbei ins Wohnzimmer, damit er sich in Ruhe waschen konnte, während Dusty das in die Ecke gefeuerte Trikot mit Inbrunst über den Küchenboden jagte. Als Mrs Brown vor dem kleinen Ofen kniete, um Feuer zu machen, ertappte sie sich dabei, ihren Jungen durch
die offene Küchentür zu betrachten. Er stand in verblichenen blauen Shorts an der Spüle, hatte einen Fuß auf dem Ablauf und wusch sich mit konzentrierter Miene den Dreck vom Knie. Die Anmut und Unbefan59 genheit, die er dabei an den Tag legte, rührten sie. Er war inzwischen fast so groß wie sie, und seine hagere Gestalt wurde allmählich kräftiger. Jetzt hielt er kurz inne und wandte sich ins Profil, denn etwas auf den Feldern vor dem Fenster hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Angesichts seiner Silhouette im Abendlicht fiel Mrs Brown zum ersten Mal auf, dass seine Gesichtszüge langsam markanter wurden, wie das für Heranwachsende typisch ist. Der Junge strich sich den Pony aus der Stirn, und diese Geste erinnerte sie kurz an seinen Vater. Dann kam ihr zu Bewusstsein, dass Rusty sehr bald kein Kind mehr wäre. Es gab Dinge, die sie ihm demnächst würde sagen müssen - aber noch nicht, jetzt noch nicht. Unvermittelt traten ihr Tränen in die Augen. Einen Moment wurde sie schwach, genoss das aber und unterdrückte es nicht. Dann holte plötzlicher Lärm sie mit einem Ruck in die Gegenwart zurück. »Dusty nagt schon wieder an meinem Trikot!« Sie lief herbei, um das gute Stück zu retten, ehe der Hund es in Fetzen riss. »Tut mir Leid, Mama. Ich glaube, er mag einfach den Geruch.« Sie schnüffelte kurz am Trikot und rümpfte die Nase. »Das kann ich mir wirklich nicht vorstellen.« Etwas später saßen sie - Teetassen in Händen - in den verschossenen Sesseln rechts und links vom Ofen. Dusty war kurzzeitig in Ungnade gefallen und in den Hof verbannt worden, wo er seiner Lieblingsbeschäftigung nachging und Sachen vergrub, um sie gleich wieder auszubuddeln. Rusty, erschöpft von dem anstrengenden Nachmittag, spürte die Wirkung des Feuers 60 und des heißen, süßen Tees. Er wurde schläfrig und achtete nicht genau auf das, was seine Mutter sagte, sondern schnappte nur auf, dass sie am Vormittag ihre wöchentliche Arbeit in der Kirche erledigt und dort entweder geputzt oder sich um die Blumen gekümmert hatte. Rusty war ein wenig irritiert darüber, dass seine Mutter so kirchentreu war. Ihre Arbeit für die Gemeinde nahm den Großteil ihrer Freizeit in Beschlag, obwohl ihre Ergebenheit für die Kirche keine religiöse Überzeugung, geschweige denn Begeisterung erkennen ließ. Als er jünger gewesen war, hatte sie ihn sonntags mit in den Gottesdienst genommen, doch da er kein Interesse daran gezeigt hatte, hatte sie nicht darauf bestanden, dass er sie weiter begleite. Er fragte sich, was seine Mutter in der Kirche finden mochte - wenn sie dort überhaupt etwas fand. Auf jeden Fall waren ihre Putzvormittage eine ergiebige Quelle für Neuigkeiten und Gerüchte. Durch den Strom ihrer Worte eingelullt, war Rusty kurz vorm Einschlafen, als eine Bemerkung ihn abrupt zurück ins Hier und Jetzt versetzte. »... und ich hätte dieser dummen, alten Mrs Hopkins wirklich eine runterhauen mögen. Die erwartet von uns doch tatsächlich zu glauben, dass jemand das Dorf verflucht hat!« »Dass jemand was getan hat?« Diese Wendung war ungewöhnlich genug, um Rustys Aufmerksamkeit zu wecken. »Warum hörst du mir eigentlich nie zu? Ich hab gesagt, einige Frauen in der Kirche - alle mit Kleinbauern verheiratet - behaupten seit einiger Zeit, auf dem Dorf 61 liege ein Fluch. Die Leute haben die Missernte letztes Jahr nicht vergessen, und dieses Jahr, tja, niemand scheint was auf den Feldern ziehen zu können, allenfalls ein paar Krokusse. Dann hat Mrs Evans erzählt, fast alle ihre Lämmer wären Totgeburten und... Na ja, das hat die Leute wohl ziemlich verängstigt. Ein paar Frauen murmeln was von Hexerei, und die Männer... Na, die meisten sitzen einfach den ganzen Tag vorm Wirtshaus und machen einen Bogen um die Felder... Und jetzt behaupten die Leute sogar, alles habe damit begonnen, dass die Glocke in den Fluss gefallen ist.« Rusty konnte sich gut an die seltsamen Ereignisse des letzten Sommers erinnern. Der Kirchturm war repariert worden, und die Männer hatten die Glocke abhängen müssen. Als sie sie abließen, brach ein Teil des Gerüsts ein, und sie krachte auf den Boden, rollte und kugelte den Abhang hinunter, landete im Fluss, blieb zwischen zwei Felsen stecken und ließ sich nicht mehr bewegen. Bisher hatte es niemand geschafft, sie zu bergen, und seit fast einem Jahr gab es keine Glocke mehr, die die Gläubigen zum Gebet rief. »Was soll das denn mit der Glocke zu tun haben?«, fragte Rusty und runzelte verblüfft die Stirn. »Ach, das ist bloß dummer Aberglaube«, entgegnete seine Mutter rasch. »Doch einige Leute in unserer Gegend glauben noch an die alten Geschichten. Weißt du, die alte Mrs Hopkins - die Oma von Colin und Sammy - ist inzwischen bestimmt schon fast neunzig. Und die meint, das sei ein Hexenfluch, und das Dorf bleibe im Unglück, bis die Glocke wieder an Ort und Stelle ist. Also wirklich - so ein Unsinn. Die Dinge haben sich geändert. Wir haben große Städte, Land62 Straßen, Maschinen. Es gibt keine Hexen mehr. Das ist einfach nur dummer Aberglaube, sonst nichts.« Rusty trank seinen Tee aus, der nur noch lauwarm war. »Hat es dann also früher Hexen gegeben? Sind...« Seine Mutter unterbrach ihn rasch. »Nein, natürlich nicht. Ich hab's dir doch gesagt: Das sind alles nur
Geschichten. Ich dachte wirklich, du hättest wichtigere Dinge im Kopf, wo du doch bald Prüfung hast. Apropos es ist Zeit für deine Hausaufgaben.« »Aber Mama...« »Kein Aber. Ab mit dir in dein Zimmer.« Der Magier und der Prinz Auf Anregung von Alice hatte der Magier eine kleine Maschine zum Mahlen und Aufbrühen von Kaffee gekauft und im Vorzimmer aufgestellt und war - gleichfalls auf ihren Vorschlag hin - dazu übergegangen, täglich frischen Kaffee zu trinken, meist am späten Vormittag. Wenn das Gebräu fertig war, füllte Alice es in die beiden blauweiß gestreiften Porzellanbecher, aus denen niemand sonst trinken durfte, und rief Leonardo von der Arbeit im Magischen Theater herüber. Dann setzten sie sich ins Vorzimmer, tranken Kaffee und besprachen die laufenden Angelegenheiten. In den letzten Monaten hatte Alice das Vorzimmer zu einem ziemlich eleganten Empfangsbereich umgestaltet. Der Krimskrams des Magiers war in einem Lagerraum gelandet, und der Besucher sah sich nun einem 63 gewaltig gewachsenen Raum gegenüber, der mit kantigen Sesseln, einem niedrigen Couchtisch und ein paar mittelgroßen Sträuchern in ornamentierten Töpfen nur spärlich möbliert war. Außerdem gab es ein mit der Laubsäge gefertigtes Regal, auf dem einige Pergamentrollen der seit kurzem monatlich erscheinenden Gesetzessammlung des Anzeigers lagen. Leonardo hatte Wert darauf gelegt, die Rollen gut sichtbar zu platzieren, konnte aber mit den Sträuchern nicht viel anfangen. Alice jedoch schien sich gern um die Pflanzen zu kümmern, und ihn freute es, wenn sie unbeschäftigte Augenblicke sinnvoll nutzte. In der heutigen Kaffeepause gab es für Leonardo und Alice nur ein Thema. In ein paar Stunden sollte der junge Kronprinz die Werkstatt besuchen kommen. Leonardo fingerte nervös an einer Nachricht herum, die letzte Woche eingetroffen und in der prächtig geschwungenen Handschrift des obersten Schreibers des Königs auf dessen persönlichem Pergament verfasst war: Lieber Pegasus, ich wünsche, dass mein Sohn und Kronprinz im Rahmen seines Erziehungsplans über Themen unterrichtet wird, die das Regieren betreffen. Dazu gehören Staatskunst, Kriegskunst, politische Aktivitäten, Wappenkunde, Hofnarrentum, Turniere und Zauberei. In Hinsicht auf den letzten Punkt wünsche ich, dass Ihr Euch ein wenig Zeit nehmt, um ihm eine kurze Einführung in die Grundprinzipien der Magie zu geben. Ich denke, er wird keine Einwände dagegen haben, Euch nächsten Donnerstag gleich nach der Mittagspause in Eurer Werkstatt zu besuchen. 64 Für Euer Entgegenkommen in dieser kleinen Angelegenheit bin ich Euch sehr dankbar. Darunter prangte das königliche Siegel, neben dem eine eigenhändige, hastig geschriebene Bleistiftnotiz des Königs verkündete: PS: Nur die Grundprinzipien; erspart ihm die Details. Ich nehme nicht an, dass er je selbst zaubern wird, aber er muss natürlich Leute dafür beschäftigen. Vielleicht sogar Euch, wenn Ihr dann noch bei Hofe seid! Es ist wirklich Zeit, dass er all den öden Erwachsenenkram verstehen lernt - er muss ihn eines Tages bestimmt anwenden. PPS: Er isst gern Eistörtchen. Macht ihm bitte die Freude. Leonardo ging Alices Liste der Dinge durch, die für den Besuch noch vorzubereiten waren. »Wir werden uns irgendwo hinsetzen müssen«, sagte er grübelnd. »Ich habe im Theater eine Seitenbühne leer geräumt und mit zwei Sesseln, Tisch und Teppich ausstaffiert. Leg besser auch Pergament und Tinte bereit, falls er sich Notizen machen will.« »Schon geschehen.« »Und ich hab Tafel und Kreide, falls ich ein Diagramm zeichnen will. Wie man ihn korrekt anspricht, haben wir ja geübt...« »Das können wir im Tiefschlaf«, sagte sie und überraschte ihn mit einem seltenen Lachen, doch Leonardo war zu nervös, um darauf einzugehen. »Stimmt. Hast du den roten Teppich fürs Vorzimmer rausgesucht?« 65 »Steht aufgerollt in der Ecke. Es reicht, wenn wir ihn im letzten Moment auslegen.« »Gute Idee. Dann fehlen uns noch die Eistörtchen.« »Sind bestellt. Ich muss nur in der Mittagspause zum Bäcker sausen.« Leonardo war beeindruckt. Normalerweise bestand Alice darauf, mittags eine volle Stunde Ruhe zu haben - so jedenfalls hatte es sich zwischen den beiden stillschweigend eingependelt. Leonardo verbrachte dann meist längere Zeit in einer der vielen Tavernen an der Durchgangsstraße, nahm dort allein einen Drink oder trank mit dem Clown Veronique oder einem anderen Bekannten, den er zufällig traf, ein Bier. Soweit er wusste, blieb Alice derweil in ihrem Zimmer. Manchmal fragte er sich, was sie dort tun mochte. »Ja, die Eistörtchen.« Er sammelte sich. »Vom Bäcker. Sehr gut. Ich glaube, das ist alles. Bist du nervös?« Sie lachte erneut. »Nein, natürlich nicht - das ist doch ein Besuch wie jeder andere, oder?« Auf ihrer blassen Stirn erschienen einen Moment lang Sorgenfalten. »Seid Ihr etwa nervös?« Ihre Miene hatte Leonardo gerührt, und er musste dem Drang widerstehen, die Hand auf ihren Unterarm zu
legen. »Ja, ein bisschen, schätze ich. Immerhin wird er eines Tages König. Da ist es wichtig, einen guten Eindruck zu machen.« Sie lächelte, und ihre Herzlichkeit machte ihm Mut. »Das gelingt Euch bestimmt. Und jetzt Schluss mit den Sorgen.« »Na ja, ich hab wohl schon Schlimmeres überstanden. Jedenfalls leg ich im Theater besser noch letzte 66 Hand an.« Er hielt inne, scheinbar tief in Gedanken. »Und dann mach ich früher Mittag als sonst.« »Wie Ihr wollt - solange Ihr nur rechtzeitig zurück seid.« »Seine Königliche Hoheit Prinz Matthew.« Alice verzog keine Miene, als sie ihren Besucher mit angenehmer Stimme förmlich ankündigte und sich mit einer höflichen Verbeugung zurückzog, während der Prinz die wenigen Stufen zum Magischen Theater hinunterstieg. Leonardo verneigte sich so tief, wie es sein steifer Rücken erlaubte, richtete sich vorsichtig wieder auf und fasste den Gast genauer ins Auge. Seine letzte Begegnung mit dem Kronprinzen lag schon ein paar Jahre zurück, und ihm wurde klar, dass er irgendwie den zwölfjährigen Jungen von damals erwartet hatte. Deshalb war er nicht wenig erstaunt, einem stämmigen, selbstsicheren Jüngling mit Bartflaum gegenüberzustehen. Und er merkte, dass der Prinz überraschend leger in Hut, Kniehose und Tunika gekleidet war, während Leonardo bei diesem offiziellen Besuch das traditionell übliche volle Ornat erwartet hatte. »Der Besuch Eurer Hoheit ist mir eine große Ehre.« Die Übungsstunden mit Alice waren an Leonardo offensichtlich nicht spurlos vorbeigegangen. Der Prinz blickte kurz über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass Alice die Tür hinter sich geschlossen hatte. Dann nahm er den Hut ab und stopfte ihn in die Tasche. »Schenken wir uns das mittelalterliche Geschwafel - wir sind ja jetzt unter uns.« Sein Auftreten hatte sich im Handumdrehen gewandelt und war nicht mehr steif 67 und förmlich, sondern forsch und geschäftsmäßig. »Dieser ganze Hokuspokus wird abserviert, sobald ich den Thron besteige.« »Wie Eurer Hoheit belieben«, hob Leonardo verunsichert an. Der Prinz verzog das Gesicht. »Ich meine -klar, kein Problem. Was wünschen Eure... ich meine: Was möchtet Ihr zuerst sehen?« »In den letzten Wochen hab ich viele Berater meines Vaters besucht - all diese Geomanten, Wahrsager, Kaffeesatzleser, Hypnotiseure, Kartografen, Hellseher und noch so einen Haufen, dessen Namen ich immer vergesse. Erklär mir doch einfach nur, was deine Arbeit von der aller anderen unterscheidet.« Der Prinz hatte ein wenig auf den Seitenbühnen herumgestöbert und stand jetzt vor dem Tisch, an dem Leonardo maschinelle Zukunftsplanung betrieb. Alice hatte alles tadellos abgestaubt und blank geputzt. Nun nahm er ein Bündel zerfledderter Unterlagen in die Hand. »Was ist das?« »Das, Eure... äh... das ist ein Vorhaben, an dem ich gerade arbeite. Ich nenne das Gerät Empathiemaschine.« Leonardo beschloss, es sei höchste Zeit, den Prinzen Richtung Sitzecke zu komplimentieren. »Aber jetzt kommt doch und setzt Euch, Eure... äh...« »Nenn mich lieber Matt. Also - was ist das Besondere an deiner Magie?« Kaum saßen sie, räusperte sich Leonardo und erklärte: »Nun, all die anderen Arten von Hexern, Zauberern und Magiern versuchen auf unterschiedliche Weise, in die Zukunft zu sehen, um Eurem königlichen Vater zu helfen, herauszufinden, was in den nächsten Jahren bevorsteht. Die Geomanten untersuchen dazu die Kraftli68 nien der Erde, die Hypnotiseure und Hellseher blicken in den Geist oder in die Seele ihrer Medien, und die Wahrsager - na ja, ich bin mir nicht ganz sicher, was die sich eigentlich ansehen, aber natürlich -« »Jaja«, unterbrach der Prinz etwas ungeduldig. »Die hab ich alle kennen gelernt. Heute will ich wissen, was du machst.« Leonardo hielt inne, um nachzudenken. Er wurde nicht eben oft aufgefordert, seine Kunst Uneingeweihten zu erklären. Als er sich gesammelt hatte, sagte er zögernd: »Eigentlich helfe ich mit, die Zukunft Gestalt annehmen zu lassen. Nachdem Euer königlicher Vater sich mit allen anderen Beratern unterhalten und alle Möglichkeiten, die sie ihm dargelegt haben, geprüft hat... entscheidet er langsam, welche Zukunft er haben will. Eines Tages wählt er eine aus, und... bevor er sie in die Tat umsetzt, ruft er mich, und ich, na ja, ich helfe ihm, sie zu testen.« »Und wie machst du das genau?« »Na ja, Matt...« - Leonardo hatte Schwierigkeiten, sich zu dieser zwanglosen Anrede zu überwinden -»...indem ich sie realisiere. Natürlich nur en miniature.« Mit einer vagen Armbewegung zeigte er auf die verschiedenen Modellbühnen, die über das Theater verteilt waren. »Wenn Euer königlicher Vater seine Ideen ausformuliert hat, gewährt er mir eine Audienz und gibt mir bekannt, was er im Sinn hat. Und es ist mir erlaubt, ihm einige Fragen zu stellen.« »Du darfst Fragen an den König richten?« Der junge Mann schien aufrichtig überrascht. »Allerdings, Eure... äh, Matt... Diese Fragen sollen Eurem königlichen Vater ermöglichen, seine Zukunfts69 Vorstellungen noch klarer zu entwickeln. Oder, um es anders zu sagen...«, fuhr Leonardo fort und bemerkte den
zweifelnden Blick des Prinzen, »...meine Fragen sollen dafür sorgen, dass jeder seiner Vorschläge in der Praxis wirklich funktioniert.« Der Prinz dachte darüber einen Moment nach und entsann sich dabei womöglich einiger eher maßloser Fantasien, die sein Vater weinselig beim Abendessen entwickelt hatte. »Das hört sich sehr vernünftig an«, sagte er schließlich nüchtern. »Und welche Fragen stellst du da genau?« Leonardo setzte eine hochmütige Miene auf. »Das, Eure Hoheit, ist das erste Geheimnis meiner Kunst.« Der Prinz notierte sich etwas auf dem Pergament, das Alice aufmerksamerweise bereitgelegt hatte. »Und was haben deine ganzen Spielsachen und Puppen damit zu tun?« Leonardo war innerlich zutiefst beleidigt, die so geschickt konstruierten Werkzeuge seiner Zunft derart schnodderig beschrieben zu hören, gab sich aber alle Mühe, sich das nicht anmerken zu lassen. Doch weil er spürte, dass die Unterhaltung keinen guten Verlauf nahm, war er unbewusst schon wieder auf dem Rückzug in die altmodische Förmlichkeit. »Vielleicht habe ich mich Eurer Hoheit gegenüber nicht klar genug ausgedrückt. Euer königlicher Vater legt mir bis ins kleinste Detail dar, wie er sich die Zukunft wünscht, und erklärt mir, wie sie in der Praxis herbeigeführt werden kann. Danach baue ich sie für ihn im Kleinen.« »Und wie hilft das meinem Vater bei der Zukunftsgestaltung?« 70 »Durch den Einsatz...« - Leonardo machte eine theatralische Pause - »... meiner Empathiemaschine, Eure Hoheit, dem zweiten Geheimnis meiner Kunst. Vermittels dieser Maschine kann Euer königlicher Vater die Zukunft, die ihm vorschwebt, genau sehen, hören, erleben und schmecken. Und das nicht nur mit seinen eigenen Augen und Ohren.« Leonardo hatte sich für sein Thema zu erwärmen begonnen. »Er kann die von ihm angestrebte Zukunft auch... mit den Augen und Ohren anderer erfahren. Durch die Sinne eines jeden, der darin verstrickt ist, um genau zu sein. Kommt einmal hierher.« Er ging zur Hauptbühne und schlug das fadenscheinige Samttuch zurück, das darüber gebreitet war. »Dieses Modell stellt den gegenwärtigen Feldzug im Süden dar. Ohne den Platz hier verlassen zu müssen, kann Euer königlicher Vater jeden möglichen Kriegsverlauf so simulieren, als wäre er selbst dabei. Wenn er es wünscht, schalte ich die Maschine ein...« - er verband die Kabel rasch miteinander - »...und er kann die Schlacht von der Warte des feindlichen Befehlshabers aus verfolgen, aus der Perspektive des einfachen Soldaten oder vom Standpunkt der Bauern dieses Dorfes. So kann er sicher sein, dass seine Entscheidungen für alle Beteiligten genau die Folgen zeitigen, die er wünscht.« Leonardo merkte, dass er sich in immer größere Begeisterung hineinsteigerte, und legte sich Zurückhaltung auf. Der Prinz schien unterdessen tief in Gedanken versunken. Nach einer langen Pause formulierte er langsam eine Frage. »Aber wo endet das? Ein so großer Feldzug hat doch 71 sicher auf jeden im Königreich Auswirkungen. Nicht nur auf meinen Vater und sein Heer, sondern auch auf die Berater, die Beamten, die Kaufleute - sogar auf die Bauern auf den Feldern und das fahrende Volk auf den Landstraßen... Jede mögliche Zukunft aus der Perspektive eines jeden Bewohners des Königreichs zu erleben das dauert doch ewig. Und wer wollte entscheiden, wo die Grenze zwischen denen, die zählen, und denen, auf die es nicht ankommt, verläuft?« »Das, Eure Hoheit...« - der Prinz zuckte zusammen -»...ist das dritte und größte Geheimnis meiner Kunst.« Leonardo breitete das Tuch wieder über das Modell. »Wenn Eure Hoheit mir nun erlauben würden, meine Darlegungen zum Abschluss zu bringen?« Sie gingen zur Sitzecke zurück. »Wenn Euer königlicher Vater die von ihm entworfene Zukunft von jedem geeigneten Standpunkt aus gesehen, gehört und geschmeckt hat...« - der Prinz hob eine Braue - »... hat er eine Vorstellung davon gewonnen, ob seine Pläne wirklich gut sind. Wenn nicht, verfügt er die nötigen Änderungen und kehrt zu gegebener Zeit wieder an die Empathiemaschine zurück, um die Zukunft aufs Neue zu erleben. Das wiederholt er so lange, bis er zufrieden ist. Und wenn er von seinen Zukunftsplänen überzeugt ist...« - Leonardo hielt erneut inne, ehe er seinen Vortrag theatralisch zu Ende brachte - »... dann bietet ihm die Empathiemaschine eine Zukunftsvision von so bezwingender Intensität, dass jede Einzelheit ihm für immer im Herzen bleibt und sein Wollen prägt. Die Macht dieser Vision ist so stark, dass die vom König gewünschte Zukunft einfach Wirklichkeit wird. Er braucht sich dafür nicht weiter anzustrengen.« 72 »Ach?«, fragte der Prinz verblüfft. »Und wie werden die Pläne in die Tat umgesetzt?« »Nun, Euer Vater erteilt seinen Soldaten, seinen Beamten oder wem auch immer Anweisungen, und die gehen los und führen sie aus.« Der Prinz zeichnete gerade ein Diagramm auf sein Pergament, blickte nun aber nachdenklich auf. »Kurz gesagt: Mein Vater hat eine Idee, probiert sie aus - mit deiner Hilfe natürlich -, korrigiert sie und setzt sie dann in die Tat um. Stimmt das so?« Leonardo hatte nicht erwartet, die Vielschichtigkeit seiner Kunst auf eine so knappe Formel vereinfacht zu bekommen. »Na ja, ich schätze, kurz und bündig... und wenn man die Feinheiten der drei Geheimnisgrade außer Acht lässt...
und die von Menschen meiner Berufung zusammengetragene, durch Generationen überlieferte Weisheit selbstverständlich findet - ja, ich schätze, dann stimmt das so.« »Verstehe.« Der Prinz schien wieder in Gedanken versunken. »Und wie viele Berater beschäftigt mein Vater?« »Das weiß ich nicht genau, Eure... Matt. Ein paar hundert auf jeden Fall.« Für Augenblicke war es erneut still. Dann ging die Tür mit einem durchdringenden Geräusch auf, und Alice - ein Tablett mit Kaffee und Eistörtchen in Händen - trat mit tiefer Verbeugung ein. »Wollen Eure Königliche Hoheit zu bemerken geruhen, dass nun Erfrischungen gereicht werden?«, intonierte sie so pompös wie untadelig. Der Prinz inspizierte die farbenfroh verzierten Eistörtchen und verzog erneut das Gesicht. 73 Das Buch des Schulmeisters Donnerstags machte Rusty auf dem Heimweg gewöhnlich beim Lehrer Halt, um eine Tasse Tee mit ihm zu trinken. Der Junge war der Einzige, der von der Dorfschule je auf die höhere Schule gewechselt war, und der Lehrer war immer darauf aus, über das, was in den kleinen und großen Städten geschah, auf dem Laufenden zu bleiben. Die meisten Mitschüler, die Rusty auf dem Dorf gehabt hatte, lernten inzwischen das in der Familie überkommene Handwerk oder arbeiteten als Knecht oder Magd in der Landwirtschaft. Im Vorgarten hielt Rusty kurz inne, um der eigenartigen Musik zu lauschen, die der Schulmeister auf dem ramponierten alten Klavier im Arbeitszimmer erzeugte. Mit der Linken spielte er einen gleichmäßigen Rhythmus, während die Finger der rechten Hand flink über die Tasten tanzten und fantastische melodische Figuren um den Takt schlangen. Rusty wartete auf eine kleine Unterbrechung des Stücks und klopfte dann ans Fenster. »Willkommen in meinen vier Wänden, Michael Brown«, erklang die übliche Begrüßung. »Komm rein, der Kessel steht schon auf dem Herd.« Bald saßen sie im nach Tabak riechenden Arbeitszimmer am Kamin und rösteten Rosinenbrötchen auf Messinggabeln am Feuer. »Na, was hast du diese Woche erlebt?« »Eigentlich nichts Besonderes, Sir. Oder doch - meine Mutter hat etwas Seltsames erzählt. Sie hat gesagt, einige alte Leute glauben, das Dorf sei verflucht worden. Von einer Hexe.« 74 »Von einer Hexe?«, fragte der Schulmeister schroff. »Glauben die Leute wirklich noch immer an Hexen?« »Na ja - Mama sagt, das ist alles Quatsch.« Der Junge unterbrach sich und biss herzhaft in sein Rosinenbrötchen. Ein Tröpfchen Butter rann ihm übers Kinn, und er wischte es hastig mit dem Handrücken ab. »Glauben Sie an Hexen, Sir?« Der Schulmeister antwortete nicht sofort. Er hatte begonnen, seine Pfeife zu stopfen, und machte in aller Ruhe weiter, bis er mit dem Ergebnis zufrieden war. Dann legte er sie unangezündet weg. »Nun, diese ganzen alten Geschichten müssen irgendwoher stammen«, fing er nachdenklich an. »Gut möglich, dass hier vor langer Zeit - ehe unsere Vorfahren das Land besiedelt haben - Menschen lebten, die andere Sitten und Gebräuche hatten und andere, ältere Götter verehrten als den, zu dem wir beten.« Er sprach langsam und schien seine Worte sorgfältig zu wählen. »Als unsere Vorfahren kamen, haben sich die Anhänger der alten Götter vermutlich in die entlegenen Winkel des Landes zurückgezogen, an schwer zugängliche Orte, wo sie ihre Religion weiter ausüben konnten. Und vielleicht haben die neuen Bewohner des Landes diese Versprengten gefürchtet. Es scheint ja, als würden sich die Leute stets vor dem ängstigen, was anders ist.« Er schwieg einen Augenblick. »Möglicherweise haben sie sogar gefährlich klingende Namen für sie erfunden, um ihren Enkeln Furcht einzujagen.« »Hexen?«, fragte der Junge nachdenklich. »Ich kann mich nicht erinnern, dass Ihr dieses Thema im Unterricht je angesprochen habt.« »In den Geschichtsbüchern steht davon ja auch nichts. 75 Aber ich habe mich ein bisschen mit den alten Legenden beschäftigt. Ich besitze ein, zwei Bücher darüber, wenn dich das interessiert. Aber sie sind nicht in diesem Zimmer.« Er stand plötzlich auf. »Lass deinen Tee hier.« Das Gesicht des Schulmeisters hatte einen seltsamen Ausdruck angenommen und wirkte so eindringlich, wie Rusty es bei seinem Lehrer noch nie gesehen hatte. Gebückt zog er einen Vorhang beiseite und ging dem Jungen durch eine niedrige Tür voraus. Nun standen sie in einem kleinen, dunklen, voll gestopften Hinterzimmer. Der Schulmeister zündete eine Kerze an. In ihrem kleinen Lichtkreis fiel Rustys Blick gleich auf einen niedrigen Bücherschrank mit Glastüren, den der Lehrer mit einem Schlüssel öffnete, den er aus der Westentasche gezogen hatte. Ein muffiger Geruch strömte ihnen entgegen. Rusty kniff im schwachen Licht die Augen zusammen und konnte ein paar schiefe Reihen alter Bücher erkennen. Viele Autoren hatten fremd anmutende Namen, und einige Bände trugen Titel in Rusty unbekannten Sprachen. Schnell ortete der Schulmeister einen kleinen Lederband mit dem Titel Legenden des Vergessenen Zeitalters. »Den kannst du dir ausleihen, wenn du magst«, sagte er. Rusty fiel auf, dass der Lehrer die Stimme auf Flüsterlautstärke gesenkt hatte. »Gut möglich, dass du darin ein paar interessante Dinge findest. Bring mir das Buch beim nächsten Besuch zurück. Und...« - er wirkte einen Moment beklommen - »...zeig es besser nicht
deiner Mutter.« In dieser Nacht schmuggelte Rusty einen Kerzenstumpen und Streichhölzer in sein kleines Zimmer hinauf. 76 Als seine Mutter schlafen gegangen war, zog er das Buch des Schulmeisters unterm Kissen vor, blätterte es schnell durch und suchte nach einer fesselnden Geschichte. Dusty lenkte ihn einen Moment ab, denn er spürte, dass etwas Ungewöhnliches geschah, und schnüffelte neugierig ums Bett herum. »Ruhig, Dusty. Ich lese doch nur. Leg dich schlafen.« Also schlief Dusty, und Rusty schmökerte. Dabei stieß er auf folgende Geschichte: Die Legende von den Fahrenden und den Inselbewohnern Im Anfang hauchte das Große Wesen dem Land und seinen Bergen, Flüssen und Bäumen Leben ein, später auch den Bewohnern des Landes, und eine Spur des Großen Wesens blieb für immer im Herzen jeder Frau und jedes Mannes zurück. In jener Zeit aber war das Land rau und unwirtlich, voll undurchdringlicher Wälder und wilder Tiere. Nur ein einziger Ort bot den Männern und Frauen Sicherheit - eine Insel, die tückische Strömungen vom Festland trennten und die durch zerklüftete Felsenklippen vor Plünderern geschützt war. Hinter der steinigen Küstenlinie aber lagen sanftes Grasland und sachte Hügel, und in der Mitte der Insel befand sich ein Heiligtum, dem Großen Wesen geweiht. Doch so schön die Insel auch war: Sie war zu klein, um alle zu ernähren. Darum befahl das Große Wesen, zwei Gruppen - Fahrende und Inselbewohner - zu bilden, und verpflichtete sie feierlich darauf, gemeinsam für die Belange des Landes zu sorgen. Ihre Aufgaben aber sollten sie so aufteilen: 77 Die Fahrenden sollten auf dem Festland Lebensmittel, Brennstoffe und Nachrichten beschaffen, all dies mit den Inselbewohnern teilen und ihnen die Neuigkeiten berichten, die sie auf ihren Wanderungen gesammelt hatten. Die Insulaner dagegen sollten auf dem Eiland bleiben, kochen, weben und den Haushalt führen. Außerdem sollten sie die Pflege des Heiligtums übernehmen, den Willen des Großen Wesens erfüllen, die Fahrenden bei ihrer Rückkehr willkommen heißen und ihnen die Wünsche des Großen Wesens mitteilen. So lernten die Fahrenden im Laufe der fahre jeden Pfad, jede Hecke und jeden Bach des Landes kennen, während die Inselbewohner den Haushalt führten, das Heiligtum hüteten und in täglicher Zwiesprache mit dem Großen Wesen blieben. Und die Geheimnisse der Fahrenden und der Inselbewohner wurden von Generation zu Generation weitergereicht. Und das Große Wesen war zufrieden und hielt es deshalb für angebracht, den Bewohnern des Landes eine besondere Fähigkeit zu schenken. So kam es, dass jeder Fahrende im Auge seines Gegenübers dessen gesamten Lebensweg mit all seinen Kurven und Kehren zu erkennen vermochte, und zwar sowohl rückwärts bis zum Tag der Geburt, als auch vorwärts bis zur Todesstunde. Und wer diese Fähigkeit besaß, von dem hieß es, er habe die Gabe. Und so kam es weiterhin, dass jeder Inselbewohner das ganze Land auf einen Blick wie mit den Augen eines hoch in den Lüften kreisenden Raubvogels zu sehen vermochte und begriff, wie das Leben aller Männer und Frauen zu einem naht78 losen, unendlichen Gewebe verbunden war. Und wer diese Fähigkeit besaß, von dem hieß es, er sehe das Land durch das Auge des Turmfalken. Doch im Lauf der Zeit begann sich der Bund zwischen den Gruppen zu lösen. Die Fahrenden fingen an, durch immer weiter entfernte Gegenden zu ziehen, und besuchten die daheim Gebliebenen immer seltener. Die Inselbewohner ihrerseits blieben auf ihr Eiland gebannt und an ihr Heiligtum gebunden. So kam es, dass die Fahrenden die Insulaner zu beneiden begannen, weil sie ein bequemes Leben führten und sich weder Gefahren noch Schwierigkeiten stellen mussten. Und umgekehrt begannen die Inselbewohner die Fahrenden zu beneiden, weil sie täglich neue Gegenden sehen und das ganze Land mit all seinen Reizen und Überraschungen erkunden konnten. So besuchten die Fahrenden die Insel noch seltener und wurden misstrauisch und immer verschwiegener, was die Neuigkeiten betraf, die sie gesammelt hatten. Die Insulaner ihrerseits hatten immer weniger Lust, sich um die Häuser der Fahrenden zu kümmern, und fühlten sich dazu auch immer weniger verpflichtet. Schließlich verheimlichten sie ihnen sogar die Wünsche des Großen Wesens. Deshalb beruhten bald alle Pläne der Inselbewohner auf veralteten Informationen, während alle Reisen, zu denen die Fahrenden sich aufmachten, in die falsche Richtung gingen, schlecht geplant waren und chaotisch endeten. Mit der Zeit klaffte ein tiefer Riss zwischen beiden Gruppen. Schließlich besuchten die Fahrenden das Eiland gar nicht mehr, und der Kontakt zu den Insulanern erlosch. 79 So ging die Verbindung der Fahrenden mit dem Großen Wesen verloren, und sie wandten sich anderen Göttern zu, Naturgeistern, die in den Hecken und Flüssen des Landes und auf seinen Bergen lebten. Unterdessen blieben die Insulaner — von fast aller Welt vergessen - auf ihrem Eiland. Aber das konnte so natürlich nicht weitergehen, weil keine Gruppe ohne die andere etwas erreichen konnte. Doch zu dieser Zeit begannen die Verwundeten ins Land zu kommen, schlaue Leute, die mehrere Sprachen beherrschten, sich in mancher Kunst, manchem Handwerk und Gewerbe auskannten, beredsam und leichtfüßig waren. Rasch gründeten sie eigene Dörfer und Städte, bauten eigene Straßen, errichteten ihr eigenes System aus
Handel, Gewerbe und Dienstleistungen, lehnten die Traditionen ab und beteten dafür ihren eigenen, farblosen Gott an. So wurden die Fahrenden in die Randzonen des Landes gedrängt, während die Insulaner von der Außenwelt abgeschnitten blieben. Die Verwundeten hingegen übernahmen das Land und wurden mächtig, reich und selbstgefällig. Das Große Wesen beobachtete all dies und weinte, denn die Fahrenden zogen weiter endlose Kreise und Schleifen, ohne das Ziel ihrer Reise zu kennen, während die Inselbewohner weiter in einsamer Zwiesprache mit dem Großen Geist lebten, dabei aber noch das letzte Wissen um die Welt jenseits ihrer Insel verloren. Und die Verwundeten verwalteten das Land derweil mit trostloser Effizienz. 80 »Diese Geschichte hat mir ziemlich gefallen«, sagte Rusty, als er den Schulmeister das nächste Mal besuchte. »Nur der Schluss war ein bisschen seltsam.« Der Lehrer beschäftigte sich gerade mit einem Plumpudding und antwortete nicht sofort. »Inwiefern seltsam?«, fragte er schließlich. »Na ja - das Große Wesen hat nichts unternommen, die Dinge wieder ins Lot zu bringen.« »Ich schätze, da ließ sich auch kaum etwas machen«, erwiderte der Schulmeister nachdenklich und maß ein Kuchenstück mit dem Winkelmesser aus. »Genau genommen ist das heutzutage auch nicht viel anders.« »Da ist noch etwas«, sagte der Junge. »Mir ist nicht klar, was die Geschichte mit den Hexen zu tun haben soll.« Endlich war der Lehrer mit der Teilung des Kuchens zufrieden und sah Rusty an. »Na ja, wenn du zwischen den Zeilen liest, erfährst du aus dieser Legende eine Menge über die Hexen. Es ist noch immer viel fahrendes Volk unterwegs. Hausierer, Kesselflicker, Fuhrleute, Scherenschleifer, Gaukler - sie alle ziehen auf Nebenstraßen durchs Land, und viele haben wahrscheinlich gemeinsame Vorfahren. Und gewiss haben sie ein paar recht seltsame Begabungen. Von den wenigen Reinblütigen heißt es sogar, sie verfügten noch heute über die Gabe, von der in der Geschichte die Rede ist. Wie heißt es da noch mal? Wer die Gabe hat, erblickt in den Augen seines Gegenübers dessen ganzen Lebensweg mit all seinen Kurven und Kehren. Oder so ähnlich jedenfalls.« 81 Der Schulmeister sah in eine unbestimmte Ferne. Nach einer Weile senkte er den Blick und erinnerte sich des Jungen wieder. »Deshalb ist es ziemlich wahrscheinlich, dass die Leute in ihrer Unwissenheit die Fahrenden für Hexen gehalten haben. Trauen tun sie ihnen ohnehin nicht, sondern nennen sie Diebe, Lügner oder noch Schlimmeres. Und wer als ehrbar gelten will...« - überrascht hörte Rusty bei dem Wort ehrbar einen deutlich verächtlichen Unterton »... zieht es vor, sie mit keiner Silbe zu erwähnen.« Rusty dachte an seine Mutter und warf einen Pflaumenkern ins Feuer. »Und die Inselbewohner?« Der Schulmeister sah ihn merkwürdig an. »Vielleicht leben sie noch immer auf ihrem Eiland, obwohl anscheinend niemand weiß, wo es genau liegt. Ich halte es für möglich, dass der eine oder andere sogar ab und zu das Festland besucht. Aber es sind wirklich nur wenige Insulaner unterwegs, nur sehr wenige.« Er schien das Thema wechseln zu wollen. »Während die Fahrenden ja ständig hier durchkommen. Du erinnerst dich bestimmt noch an das seltsame kleine Mädchen, das neben dir gesessen hat. Wie hieß sie noch mal - Laurel?« Rusty blieb fast das Herz stehen. »Laurel hat zu den Fahrenden gehört?« Die Wände des Arbeitszimmers schienen vor seinen Augen zu verschwimmen. »Aber sicher. Ihre Familie hat ein paar Wochen in der Nähe des Dorfes kampiert, lange genug jedenfalls, um das Mädchen in die Schule zu schicken. Ich glau82 be, sie waren Kesselflicker. Oder Straßenarbeiter? Ja, doch - Straßenarbeiter. Und eines Tages sind sie in aller Eile abgereist. Als der Scharlach grassierte, glaube ich.« »Aber ich dachte...« Rusty musste sich zwingen, weiterzusprechen. »Ist Laurel denn nicht an dieser Krankheit gestorben?« »Nein, das glaube ich nicht. Ich bin sogar sicher, dass sie gesund war, als sie weiterzogen.« »Dann könnte sie ja noch leben?« »Zweifellos. Aber du wirst alle Hände voll zu tun haben, sie aufzuspüren. Die Fahrenden nehmen nie zweimal denselben Weg.« Aus dem Tagebuch des Victor Lazarus Dienstag, 3. Februar Meine Kollegen und ich haben inzwischen begonnen, das Haus unseres Arbeitgebers in Stand zu setzen. Deshalb war ich letzte Woche zu beschäftigt, um täglich Notizen zu machen. Doch jetzt habe ich ein wenig Zeit und will versuchen zu berichten, was sich bisher ereignet hat. Wie verabredet, haben wir uns am Morgen des zweiten Tages wieder getroffen. Zunächst haben wir auf meine Anregung hin folgende Liste der zu erledigenden Aufgaben erstellt: 83
A) Drinnen: 1. Putzen 2. Erforderliche Innenreparaturen auflisten 3. Inventar auflisten 4. Handwerker für Reparaturen u. Verschönerungen kommen lassen 5. Mobiliar umstellen; Bücher, Alben und Dokumente einräumen B) Draußen: 1. Unterholz im Garten beseitigen 2. Erforderliche Außenreparaturen auflisten 3. Handwerker für Reparaturen kommen lassen 4. Garten neu bepflanzen In den Tagen darauf hat sich rasch eine passable Arbeitsteilung eingespielt. Meine lange Erfahrung, Anweisungen zu erteilen, hat mich zum Anführer und Organisator unserer Einheit werden lassen. In seinen vielen Berufsjahren als Bibliothekar hat Harold klare Vorstellungen davon entwickelt, wie Gegenstände zu klassifizieren und zu ordnen sind, und wendet diese Vorstellungen nun auf die vielen Dinge im Haus an. Sam ist eher praktisch veranlagt und obendrein geschickt und stark. Deshalb scheint er für die schweren Arbeiten am besten geeignet. Als wir uns Haus und Garten näher ansahen, holte Harold aus seinem Handkoffer ein schweres Hauptbuch und machte sich in kleiner, gestochen scharfer Kurzschrift Notizen. Sam inspizierte derweil den Keller und entdeckte Kesselraum und Generatoren, sodass wir bei unserer Arbeit bald Licht und Heizung hat84 ten. Während Harold und ich uns die Dinge im Haus ansahen, machte Sam einen Abstecher in die Stadt und heuerte einen Trupp Arbeiter an, deren erste Aufgabe es war, das überall wuchernde Gestrüpp, das den Garten zu ersticken drohte, auszulichten und zu verbrennen. Als der Abend zu dämmern begann, gingen Harold und ich weiter von Zimmer zu Zimmer, denn wir konnten unsere Untersuchung nun bei elektrischem Licht, das in schwachen gelben Kegeln von der Decke fiel, und im flackernden Rot der überall im Garten brennenden Feuer fortsetzen. Auf blanken Dielen mal stehend, mal kauernd, erweiterte Harold seine Liste ins Unendliche, während ich alles erstaunt betrachtete und von der ungeheuren Vielfalt der Dinge ringsum fasziniert war. Wir fanden eine umfangreiche Bibliothek zu den verschiedensten Themen praktischer wie theoretischer Natur. Wir entdeckten umfangreiche persönliche Tagebücher, aus deren vielen Bänden uns das Leben eines Gelehrten, Reisenden, Geschäftsmanns und Sportlers entgegentrat. Es gab Schaukästen voller Fossilien, Vitrinen voller Schmetterlinge, ein Depot mit Ölgemälden, albenweise Aquarelle und Fotos, Truhen voll Musikinstrumente, stapelweise Notenhandschriften, wissenschaftliches Gerät, Kochgeschirr, Jagdtrophäen, Sportpokale und unzählige andere Dinge, die wir noch nicht katalogisiert haben. Anscheinend hat der Eigentümer nur in ein paar Zimmern gewohnt. Der Rest des Hauses wirkt eher wie ein Museum. 85 Rusty und Dusty gehen in den Zirkus Rusty konnte nicht begreifen, warum seine Mutter ihm über Laurel nicht die Wahrheit gesagt hatte, sah sich nach der Warnung des Schulmeisters aber nicht in der Lage, sie danach zu fragen. Nach dem Gespräch mit dem Lehrer fühlte er sich in ihrer Gegenwart eine Zeit lang nervös und unsicher, und Dusty, dem das nicht entgangen war, verbrachte nun viel Zeit in Rustys Zimmer und frönte seiner Lieblingsbeschäftigung: dem Nagen an Fußballtrikots. Dann trat eine willkommene Abwechslung ein. Es war ein Samstag im Frühsommer. Um überschüssige Energie loszuwerden, hatten Rusty und Dusty das Haus am frühen Morgen verlassen, um auf der Dorfwiese ein paar Runden zu laufen. Beim Überqueren der Buckelbrücke spitzte Dusty die Ohren, und kurz darauf merkte auch Rusty, dass etwas Ungewöhnliches passierte. Aus der Ferne erklang Musik. Im dörflichen Alltag war nicht viel Musik zu hören. Alle, die die Schule besucht hatten, kannten das exzentrische Klavierspiel des Lehrers, und die Kirchgänger hatten gelernt, die wehmütigen Akkorde, die der hoch gewachsene, stets verdrossene Dr. Gilbert seinem pfeifenden Harmonium entlockte, zu ertragen - vielleicht, weil sie das Gefühl hatten, sie passten zur Natur des menschenfeindlichen Gottes, den sie dort anbeteten. Und zur Jahrmarktszeit kamen immer mal wieder umherziehende Tanzkapellen in den Ort, die die Dorfbewohner mit einfachen, bodenständigen Melodien erfreuten, bei denen Mandoline oder Akkordeon den 86 Ton angaben. Aber nichts von alledem war mit den vollen, dunklen Klängen zu vergleichen, die ihnen nun von der Wiese entgegenwehten. Als Rusty und Dusty um die Wegbiegung kamen und die Dorfmitte in Sicht war, bot sich ihnen ein ungewöhnlicher Anblick. Sechs oder sieben Musiker in roter und goldener Uniform marschierten mit Trompeten, Trommeln und anderen Instrumenten, die Rusty nicht kannte, die Hauptstraße entlang. Direkt hinter ihnen kamen zwei riesige, schwerfällige Tiere, die der Junge zögernd als Elefanten identifizierte, und rechts und links davon zog eine kunterbunte Gesellschaft, deren Mitglieder farbenfrohe Kostüme und absonderliche Perücken trugen und seltsam bemalte Gesichter hatten. Um die Dorfwiese standen Fuhrwerke und Wohnwagen
ungeordnet herum, und in der Mitte errichteten einige verwegen aussehende Männer ein gewaltiges Zelt. Rusty hatte schon von manchem Zirkus gelesen, aber noch nie einen gesehen. Die ersten Plakate waren eine Woche zuvor im Dorf aufgetaucht, und er hatte seine Aufregung kaum beherrschen können. Und jetzt war der Zirkus endlich gekommen! Der Junge stand mit offenem Mund da, bis einer der Clowns ihn ansprach. Obwohl er grell geschminkt war und eine auffällige Perücke trug, redete er mit ganz normaler Stimme. »Willst du in die Vorstellung, Junge?« Rusty nickte stumm. »Wie wär's, wenn du für uns Handzettel austrägst einen pro Haus? Dafür geb ich dir diese Freikarte hier. Der Hund kommt natürlich kostenlos rein, sofern er sich anständig benimmt.« Damit war der Clown verschwunden, und Rusty stand mit einem Schwung farbiger Handzettel und ei87 ner blassgrünen, unsauber gedruckten Eintrittskarte da, die in der Mitte perforiert war. Sofort zog er los, und Dusty sprang ihm aufgeregt nach. Auf seinem Weg von Haus zu Haus merkte Rusty, dass viele Dorfkinder von den Besuchern eingespannt worden waren: Einige verteilten weitere Handzettel auf der Straße, während zwei seiner früheren Schulkameraden einen Eimer mit Kleister bekommen hatten und nun an jede Mauer und jeden Baum Plakate klebten; auf der Wiese halfen einige Mädchen, aus einem Fuhrwerk ganze Arme voller Kostüme auszuladen, und Colin Hopkins und sein Bruder Sammy waren auf einen Baum gestiegen, um eine Schnur mit zerschlissenen Flaggen darin zu befestigen. Als Rusty um einiges später als beabsichtigt nach Hause kam, war seine Mutter wie gewöhnlich damit beschäftigt, Bettlaken im Hof aufzuhängen. Erwartungsgemäß teilte sie seine Begeisterung für das bevorstehende Schauspiel nicht und musterte den Handzettel verdrossen, während Rusty und Dusty sie ängstlich ansahen. »Meinetwegen - von mir aus kannst du hingehen«, sagte sie schließlich. »Aber hinterher kommst du sofort nach Hause. Ich will nicht, dass du noch auf der Wiese rumlungerst. Mit Wanderzirkussen ziehen immer üble Gestalten herum. Darum darfst du mit niemandem reden, den du nicht kennst.« »Nein, Mama. Darf ich heute Abend hingehen?« Mrs Brown war noch immer misstrauisch und musterte den Handzettel aufs Neue. »Ich will nicht, dass du im Dunkeln noch draußen 88 bist. Du kannst am Nachmittag gehen; die Abendvorstellung ist zu spät. Übrigens...« Rusty war dabei, sich zu verdrücken. »Nein, warte, ich bin noch nicht fertig. Was hast du dir eigentlich dabei gedacht, die Handzettel auszutragen? Diese Leute sollten keine Kinder für sich arbeiten lassen. Und jetzt hör endlich auf zu zappeln, und hilf mir bei den Laken!« »Aber Mama -« »Nimm dir ein Laken, los.« Also stellten sich Rusty und Dusty am Nachmittag in die Schlange vor dem Zirkuszelt, passierten den Eingang und nahmen auf einer der Holzbänke Platz, die die Manege stufenförmig umgaben. Erwartungsvolles Murmeln erfüllte das Zelt, während aus dem Hintergrund ein leises Summen zu hören war, das - wie Rusty bald klar wurde - vom Generator kam, der die Glühlampen mit Strom versorgte. Hoch oben in der Zirkuskuppel konnte er ein geheimnisvolles und kompliziertes Netz aus Seilen, Drähten und Flaschenzügen erkennen, das im blendenden Licht fast unsichtbar war. Mit zusammengekniffenen Augen folgte er dem Liniengewirr, um herauszufinden, wie alles miteinander verbunden war. Derweil hatte Dustys feine Nase den Geruch fremder Tiere aufgenommen, den das stechende Aroma von Apfelsinen überlagerte, die ein paar Clowns der wartenden Menge anboten. In diesem Augenblick fiel das Licht eines Scheinwerfers auf die Kapelle, die anderen Lampen gingen aus, der Dirigent klopfte mit dem Stab an seinen Notenständer, die Menge verstummte, und die ungestümen, erregenden Akkorde der Eröffnungsfanfare stell89 ten alle Geräusche in den Schatten. Rustys Puls schlug schneller, und er griff Dusty fester am Halsband. Die Vorstellung hatte begonnen. Die Zuschauer waren von dem Schauspiel, das sich ihnen nun bot, fasziniert, doch Rusty hatte hinterher das Gefühl, es sei irgendwie nicht das gewesen, was er erwartet hatte. Später, als seine Mutter ihn ermutigte, seine Gedanken in Worte zu fassen, brachte er schließlich hervor, er habe alles ziemlich beängstigend gefunden. Natürlich war er die Vorstellung über gebannt gewesen, aber die Aufführung hatte etwas Grausames gehabt, das ihn aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Die Tiere hatten die Peitsche ertragen müssen und bösartig geknurrt, als die Dompteure sie reizten. Dann waren da Akrobaten gewesen, zwei Männer und ein junges Mädchen in engen schwarzen Trikots, die noch die letzte Sehne betonten, während unheimliche schwarze Masken ihre Gesichter verbargen. Die drei hatten jede Figur, jede atemberaubende Drehung mit eisiger Gleichgültigkeit vorgeführt. Einmal, als das Mädchen an Rustys Platz vorbeigekommen war, hatte sie dem Jungen zufällig in die Augen gesehen und ihm einen so hasserfüllten Blick zugeworfen, dass ihm fast das Blut in den Adern gefroren war und er es kaum hatte ertragen können, sich den Rest des Auftritts anzusehen. Die Begleitmusik der Vorstellung war voller Missklänge gewesen und ständig aus dem Takt geraten und hatte einen säuerlichen
Beigeschmack gehabt. Die Jongleure hatten mit hässlich gekrümmten Messern jongliert, und die Clowns schienen nur daran Vergnügen zu haben, einander immer erfinderischer zu kränken. Beim Finale, als die Musik ihren Höhepunkt er90 reicht hatte, war die ganze Truppe zu einem großen Schlussbild zusammengekommen, mit dem letzten Akkord aber hatte sich in ihrer Mitte eine ohrenbetäubende Explosion ereignet. Als der Rauch sich verzog, stellte Rusty entsetzt fest, dass die Mitwirkenden reglos und mit blutgetränkten Kostümen dalagen. Dann waren die Lichter plötzlich aus, und als sie wieder angingen, war die Manege leer - nur ein paar unheimliche rote Flecken im Sägemehl waren noch zu sehen. Es herrschte erschrockene Stille, ehe die Zuschauer zaghaft klatschten. Verwirrt waren die Leute einzeln oder in kleinen Gruppen aus dem Zelt in die Abenddämmerung getreten. Sprühregen und der Matsch auf dem Platz waren ihnen willkommene Zeichen für die Rückkehr in die Normalität. Am anderen Ende der Wiese hatte Rusty die gebeugte Gestalt von Oma Hopkins erkannt, die langsam angeschlurft kam und dabei Müll sammelte. »Ab nach Hause, Michael!«, hatte sie mit ihrer alten, brüchigen Stimme gerufen. »Damit du keinen Ärger bekommst. « Und mit einem still hinter ihm hertrottenden Dusty hatte Rusty sich auf den Heimweg gemacht. Aus dem Tagebuch des Victor Lazarus Mittwoch, 4. März Ich bin froh, dass unsere Arbeit ordentlich und stetig voranschreitet und wir keine größeren Schwierigkeiten 91 haben. Harold hat ein paar Schreibkräfte eingestellt, die ihm beim Sortieren und Katalogisieren der vielen Gegenstände im Haus helfen. Sam hat weitere Arbeitertrupps angeheuert, die sich um die notwendigen Reparaturen der Bausubstanz kümmern. Auf den Fluren wurden die Dielenbretter herausgerissen, um die elektrischen Leitungen zu überprüfen. Frisch angefertigte Zeichnungen zeigen, wo neue Regale, Truhen und Vitrinen hinkommen sollen. Überall im Haus werden Galerien, Emporen und Balkone hergerichtet, um die vielen Gemälde und Plastiken aufzunehmen. Für das Grundstück schließlich beschäftigen wir ein paar Landschaftsgärtner. Es freut mich, dass die Männer unter meiner Führung eine hoch effektive Arbeitseinheit geworden sind. Im Lauf der Zeit erkenne ich die Stärken und Schwächen meiner Kollegen immer besser. Harold hat eine bewundernswert genaue Vorstellung davon, wie Dinge zu ordnen sind, ist mitunter aber etwas stur. So hat er beispielsweise darauf bestanden, alle Biografien als Romane zu klassifizieren! Sam hat sich als überaus hart arbeitender und gutherziger Mensch erwiesen, ist bisweilen allerdings vielleicht ein wenig nachlässig. Das eine oder andere Mal haben seine Arbeiter Porzellan in Scherben gehen lassen, und einmal hätte eine Zigarettenkippe fast einen Stapel Manuskripte in Brand gesetzt. Aber bei insgesamt hervorragenden Fortschritten fallen diese kleinen Verfehlungen kaum ins Gewicht. Was mich anlangt, so habe ich in strategisch günstiger Lage im ersten Stock des Hauses einen Kommandoposten mit Schreibstube eingerichtet. Von dort kann ich alle Arbeitsgänge überwachen und mich zugleich 92 um Buchhaltung und Organisation kümmern. Harolds saubere Zahlenreihen zeigen mir, dass alles bestens unter Kontrolle ist, und bestimmt haben wir das Haus längst wieder in seinen alten Zustand gebracht, wenn der Eigentümer zurückkehrt. Nur eines bleibt mir noch zu bemerken: Zum Glück hat es keine weiteren Fußspuren - oder eigentlich Handspuren - mehr gegeben, aber da die Flure nun häufig gefegt werden, sollte mich das vielleicht nicht allzu sehr überraschen. Ich muss allerdings zugeben, dass ich von Zeit zu Zeit weiter das unangenehme Gefühl habe, beobachtet zu werden. Doch ich mache mir immer wieder klar, dass es keinen Grund zur Beunruhigung gibt, da doch viele Leute ständig überall im Haus an der Arbeit sind. Heutzutage bin ich sehr selten allein. Der Zirkus bei Nacht Mrs Brown merkte, dass der Besuch im Zirkus Rusty durcheinander gebracht hatte, und als sie ihn früh zu Bett schickte, erhob er ausnahmsweise keinen Widerspruch. Es war ein paar Jahre her, seit sie ihm zur Schlafenszeit das letzte Mal heiße Milch und Kekse ans Bett gebracht hatte, doch kaum hatten wiedererwachte Bedürfnisse dieses lang vernachlässigte Ritual erneut auf den Plan gerufen, machte es seine Autorität auf leisen Sohlen prompt geltend. Der Junge trank die Milch schnell aus und war bald eingeschlafen. 93 Rusty schlief schlecht, träumte unruhig und wälzte sich in seinem schmalen Bett hin und her. Wie so oft begannen seine Träume mit einer Reise übers Wasser, bei der Wellen ans Boot schlugen und der sture alte Fährmann gleichmäßig ruderte. Dann kam der plötzliche Ruck, mit dem das Boot auf Grund lief. »Sieht schlecht aus, Junge«, sagte der Fährmann schließlich. »Ich kann dich nicht weiterbringen. Von jetzt an bist du auf dich allein gestellt.« Dann der Sturz ins schwarze Wasser. Einen Moment umgab ihn tiefste Nacht. Dann stiegen nacheinander Bilder vom Zirkus aus dem Dunkel auf und verharrten sekundenlang vor seinen Augen: die mit Narben übersäten, knurrenden Tiere; die spöttischen Mienen der Clowns unter ihren grotesk geschminkten Gesichtern; das verächtliche Lächeln auf den Lippen der Akrobaten. Ein Jongleur fing ein langes Messer im Flug, drehte sich
abrupt zu Rusty um und schleuderte es ihm mit einer schnellen, tödlich präzisen Bewegung mitten ins Herz. Der Junge fuhr mit einem Angstschrei hoch und spürte zwei schwere Pfoten auf der Brust. Dustys besorgtes Gesicht schwebte kaum eine Handbreit vor seinen Augen. »Das war nur ein Traum, Dusty, nur ein Alptraum. Leg dich wieder schlafen.« Meine Mutter ist schon eingeschlafen - sonst wäre sie bestimmt zu mir gerannt, dachte Rusty. Er lag eine ganze Weile wach, wälzte sich hin und her und fand einfach keine bequeme Schlafstellung. Aus der Ferne hörte er erst ganz leise die Zirkuskapelle, dann gedämpften Applaus. Die Abendvorstellung musste gerade zu 94 Ende gegangen sein. Als ihm die Bilder der Artisten wieder vor Augen traten, geriet er in ein Wechselbad der Gefühle. Einen Moment lang durchlebte er erneut die Angst und den Schauder, die er im Zirkus gespürt hatte, und wollte nur einen sicheren Ort finden, möglichst weit weg. Im nächsten Augenblick dagegen spürte er, wie es ihn wieder zum großen Zelt zog, als habe dessen Geheimnis ihn verhext. Der Zirkus lockte, und Rusty spürte, dass sich etwas in ihm regte. Etwas fest Verschnürtes, Eingeschlossenes, gut Verpacktes; etwas, das hinter dunklen Schutzwänden der Angst kauerte. Doch hinter diesen Wänden vernahm er eine kleine Stimme - die Stimme von etwas, das sich danach sehnte, sich zu öffnen und zu leben. So fluteten, als er im Bett lag, Angst und Verheißung in ihm auf und ab und schlugen jeweils in ihr Gegenteil um. Auf die Dauer aber zogen sich die Wogen der Angst ganz allmählich zurück, und als die Wellen der Verheißung ihn immer mächtiger in Beschlag nahmen, hätte man beobachten können, wie er vorsichtig aus dem Bett glitt, sich rasch im Dunkeln anzog, auf Zehenspitzen die Treppe hinunterschlich und die Riegel der Küchentür verstohlen zurückschob. Als er sich - die Freifläche des Hofes meidend - intuitiv im Schatten der umstehenden Gebäude vorwärts tastete, verriet ihm ein schwaches Getrappel im Rücken, dass Dusty ihn auf seiner mitternächtlichen Expedition begleiten würde. Der Mond warf zwei lange, scharf umrissene Schatten, als die beiden hinaus auf den Feldweg schlüpften. Auf der Wiese war es ganz still. Die Vorstellung war vorbei, die Zuschauer gegangen, und die Zirkusleute 95 hatten sich für die Nacht in ihre Wohnwagen begeben. Magisch angezogen, schlichen der Junge und sein Hund lautlos um das große Zelt herum, um das Fuhrwerk mit dem noch warmen Generator, an den Wohnwagen entlang. Aber nicht überall war es still. Durch die Vorhänge eines Wagens war ein flackerndes Licht zu sehen, und als Rusty näher kam, hörte er Stimmen. Jetzt trieb ihn die Neugier, und so kletterte er auf ein Fass, um hineinzuspähen. Im Wagen waren zwei Personen zu sehen -ein junges Mädchen und eine runzlige Alte. Beide rauchten Tonpfeife, was verführerisch duftete. Durchs gekippte Fenster schnappte Rusty einen Fetzen ihres Gesprächs auf. »Warum lasst Ihr mich keine Messer werfen, Madame?«, bat das Mädchen. »Ich hasse alles andere. Mich interessieren nur die Messer.« »Du bist noch zu jung«, brummte die Alte böse. »Außerdem ist Messerwerfen in diesem Zirkus Männersache. Jetzt halt den Mund. Ich will nichts mehr davon hören.« Obwohl Rusty das Mädchen von seinem wackligen Standort aus nicht genau erkennen konnte, war er sicher, dass es sich um die Artistin handelte, die ihm aus der Manege einen so hasserfüllten Blick zugeworfen hatte. Sie hatte die Nase vom Akrobatendasein also gestrichen voll... Er fragte sich, ob die Alte ihre Großmutter war. Gebannt von dem Drama, das sich vor seinen Augen abspielte, reckte er den Kopf vor, um besser sehen zu können, und brachte das Fass dabei in einen gefährlichen Winkel. Dann bellte Dusty kurz auf und warnte sein Herrchen etwas zu spät, die Gastfreund96 schaft seiner Umgebung zu lange in Anspruch genommen zu haben. Danach schien alles gleichzeitig zu passieren: Der Junge verlor die Balance; das Fass fiel um; Herr und Hund stürzten zu Boden und knallten dabei gegen den Wohnwagen; von drin ertönten helle Schreie; zwei junge Männer kamen um die Ecke und hielten unvermittelt inne, als sie Rusty sahen. Dem schoss durch den Kopf, das könnten die beiden anderen Mitglieder der Akrobatennummer sein, vielleicht die Brüder des Mädchens. Dann waren sie schon über ihm. »Du spionierst unseren Frauen nach, stimmt's? Das mögen wir ganz und gar nicht, was, Charlie?« Wütende Hände packten Rusty an den Ellbogen, doch er konnte sich irgendwie befreien. Bevor er wusste, was er tat, hatte er sich schon unter dem Wagen durchgerollt und auf der anderen Seite aufgerappelt und war losgerannt. Hinter sich hörte er Dusty bellen und wütend nach den Männern schnappen. Als er an den Wohnwagen entlanghastete, spürte er die schweren Schritte seiner Verfolger, die ihm dicht auf den Fersen waren und immer näher kamen. Sie waren größer als er, stärker und schneller. Er hatte nur einen Vorteil: Er kannte die Gegend wie seine Westentasche. Ohne nachzudenken, hetzte er Haken schlagend links und rechts an den Wohnwagen vorbei und schaffte es bis auf die andere Seite der Wiese, wo der Fluss silbern im Mondlicht dahinströmte. Er sprang die Uferböschung hinunter, duckte sich so tief, dass man ihn nicht sehen konnte, und lief den Treidelpfad entlang. Inzwischen hatte er Seitenstechen, und im Weiterstolpern wurde ihm klar, dass er nicht mehr weit kommen 97
würde. Doch er hatte Glück: Unter der Buckelbrücke kannte er ein Versteck. Im Dunkeln kauernd und nach Luft ringend, hoffte er verzweifelt, dass seine Verfolger die Jagd aufgegeben hatten. Allmählich kam er wieder zu Atem und entspannte sich ein wenig. Die Nacht war warm, und unter der Brücke war es trocken und gemütlich. Er machte es sich auf einem Fleck Gras bequem, lehnte sich ans Backsteinmauerwerk und schloss für einen Moment die Augen... Wenn er Glück hatte, würde er sich in ein paar Minuten verdrücken können. Gerade begann er sich zu fragen, wie er wieder in sein Zimmer käme, ohne seine Mutter zu wecken, da drangen Schritte durch die Stille. Schritte, die näher kamen. Das Herz rutschte ihm in die Hose, als er begriff, dass die Männer dem Ufer folgten, und er fühlte neue Panik in sich aufsteigen, als ihm einfiel, dass der Pfad unter der Brücke nicht weiterging. Er würde nicht ungesehen aus seinem Versteck auf die Straße kommen. Es sei denn... Hastig riss er sich Pullover und Hose vom Leib und stopfte sie hinter einen Brombeerstrauch. Dann glitt er leise in den Fluss. Das Wasser war nicht kalt, die Strömung nicht stark, doch erschöpft wie er war, hatte er ziemliche Mühe, flussaufwärts voranzukommen. Der Gedanke, die beiden Männer würden die Jagd jetzt sicher aufgeben, beruhigte ihn etwas. Seine matten Schwimmzüge kräuselten kaum die Wasseroberfläche. Es war seltsam - der Fluss schien tiefer, als er ihn in Erinnerung hatte. Dann sah er an seinem Grund im hellen Mondlicht die Glocke. Kein Zweifel - die musste aus dem Kirchturm sein. Sie war fast aufrecht zwischen den Steinen verkeilt, ge98 nau, wie seine Mutter es beschrieben hatte. Als er sie sah, durchströmte ihn eine unerwartete Gelassenheit. Er holte tief Luft, tauchte mit langen, ruhigen Zügen, erreichte sein Ziel und streckte die Hand aus. Seine Fingerspitzen kribbelten, als er die Glocke berührte. Dann kribbelte sein Arm und schließlich sein ganzer Körper, als werde er elektrisch geladen. Es schien, als veränderte die Glocke ihre Lage ein wenig. Er drückte mit beiden Händen dagegen und trat mit den Füßen nach ihr, und sie bewegte sich wieder. Mit nur ein wenig mehr Anstrengung - das spürte er -könnte er sie aus ihrem Gefängnis befreien. Doch dann merkte er, wie dringend er atmen musste, stieß sich rasch von der Glocke ab, kam an die Oberfläche und rang mit klatschnassem Pony nach Luft. Als er erneut tauchen wollte, verschwand der Mond hinter einer Wolke, und die Glocke war nicht mehr zu sehen. Er steuerte flacheres Wasser an und kam - nun ganz verfroren ans Ufer. Er hatte die Orientierung verloren und war einen Moment verwirrt, ehe er merkte, dass er auf der steinigen Insel gelandet war, auf der er vor Jahren gespielt hatte. Irritiert drehte er sich mal hierhin, mal dorthin und fragte sich, in welcher Richtung sein Zuhause lag. Dann hörte er aus einem dunklen Spalt zwischen zwei Felsen eine Stimme rufen. »Komm in die Höhle, Rusty Brown!« Das klang sanft und melodisch... Aber wenn es auf der Insel eine Höhle gäbe, dachte er, dann wüsste ich doch davon... Das muss die Hexe sein, die das Dorf verflucht hat... Jetzt ist sie bestimmt böse auf mich, weil ich die Glocke bewegt habe... 99 Er merkte, dass er sich - gebannt und wie von unsichtbaren Kräften gezogen - langsam zum Spalt drehte und zwischen die Felsen glitt... »Komm weiter herein, Rusty Brown!« In der Höhle war es feucht, aber unerwartet warm. Die Wände waren nass und glitschig. Erst dachte er, es sei vollkommen dunkel, doch dann konnte er vor sich allmählich einen schwachen Lichtschimmer erkennen. »Komm weiter, Rusty!« Von Furcht gepackt, zugleich aber angezogen von einer ihm unbegreiflichen Kraft, wurde er unerbittlich vorwärts gesogen. Jetzt sah er sie ihren Zauber singen. Das war doch das Mädchen aus dem Zirkus! Ihre gelenkige Gestalt tanzte vor ihm, wobei das geschmeidige schwarze Trikot alle Konturen ihres Körpers verriet, während die schmale schwarze Maske ihre Augen verbarg. Als sie näher kam, merkte er, dass sie jünger war, als er gedacht hatte, fast noch jung genug, um in die Schule zu gehen und neben ihm in der Bank zu sitzen. »Laurel?«, keuchte er. »Laurel, bist du das?« Noch immer konnte er ihre Augen nicht erkennen, doch jetzt lächelte sie. Schmale Hüften kreisten vor ihm, geschmeidige Arme streckten sich ihm entgegen. Entsetzt schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf. »Ich bin noch nicht so weit.« Er versuchte, sich zu wehren, hatte seine Bewegungen aber nicht mehr unter Kontrolle. Die geschmeidigen Glieder schienen ihn wie Tentakel zu umfassen, und dann begegneten die brennenden Augen hinter der Maske seinem Blick, diese dunklen, wütenden Augen, an deren Grund ein kaltes Feuer loderte... Dann spritzte und bellte es plötzlich, und Dusty 100 tauchte auf. Mit einem grellen Schrei schrak das Mädchen vor seiner Attacke zurück, und Rusty erkannte einen Moment lang ihre wahre Gestalt: verwachsen, hässlich und bösartig. Da war der Zauber gebrochen, und er konnte sich befreien, stolperte über die Steine davon und schlitterte zum Ufer hinunter. Dann verlor er das Gleichgewicht, stürzte der Länge nach hin, schlug hart mit dem Kopf auf, und schwarze Wasser schlössen sich über ihm. Alices Geheimnis
Als der alte König noch herrschte, trat das Ratgeberplenum jeden zweiten Donnerstagnachmittag im Monat zusammen, damit die diversen Beraterstäbe die Marschrichtung koordinierten und die Delegierten Gelegenheit hatten, sich in Angelegenheiten von allgemeinem Interesse auszutauschen. Bei straffer Leitung der Sitzung hätte dieser wöchentliche Pflichttermin vermutlich in einer Viertelstunde durchgezogen werden können, tatsächlich aber verwandelten die Mitglieder des Gremiums - Privilegierte, die selten unter Zeitdruck litten - diese Versammlung nur zu gern in ein gesellschaftliches Ereignis und verbrachten ein paar angenehme Stunden damit, Klatsch auszutauschen, anderen Schuld zuzuweisen, Rivalitäten zu pflegen, alte Rechnungen zu begleichen, abwesende Kollegen zu beschimpfen, den Nachwuchs bloßzustellen und die Kaffeepreise eingehend zu diskutieren. Darum dauerten diese Treffen meist bis in den frühen 101 Abend, und Leonardo, der zwar regelmäßig, aber nicht sonderlich begeistert daran teilnahm, hatte sich angewöhnt, danach gleich nach Hause zu gehen, ohne noch mal in der Werkstatt vorbeizuschauen. Er war zwar stolz darauf, seine Verabredungen im Kopf zu haben und kein Notizbuch zu brauchen, doch dieser Stolz war völlig unbegründet, denn er brachte seine Termine ständig durcheinander oder vergaß sie gleich ganz. Dennoch hatte er bisher jeden Versuch von Alice, seine Terminplanung zu übernehmen, abgebügelt. Zum Glück wurde das Ratgeberplenum schon drei Tage vorher per Signalflagge angezeigt. Deshalb konnte Leonardo immerhin sicher sein, am frühen Morgen auf seinem Weg zum Palast daran erinnert zu werden. »Heute mach ich früher Mittag«, sagte er kurz nach zwölf zu Alice. »Und danach geh ich gleich zum Beraterplenum. Ich bin sicher, du kommst allein klar.« Alice sah kurz von der Denkschrift auf, die sie gerade konzipierte. »Bestimmt. Aber achtet darauf, die Taverne rechtzeitig zu verlassen«, erwiderte sie mit einem kurzen Lächeln und war schon wieder in ihre Arbeit vertieft. »Und danach gehe ich gleich nach Hause. Also bis morgen.« Alice nickte geistesabwesend und sah nicht auf. Leonardo hielt am Palasttor inne und genoss den Panoramablick auf die Südstadt. Der Tag war klar, und es wehte ein steter Wind. Links von ihm befanden sich die tristen rechtwinkligen Gebäude des Verwaltungsviertels, denen bald die zerklüfteten Ruinen und bröckelnden Mietshäuser der Unterstadt folgten, die gera102 de wieder von den mörderischen Wolfsjungen heimgesucht wurde. Da und dort stiegen auf verlassenen Grundstücken Rauchsäulen auf. Leonardo fragte sich, ob diese Feuer absichtlich gelegt worden waren. Jedenfalls stand der Wind heute günstig. Wenn er von Osten kam, war der Gestank der Unterstadt unerträglich. Rechts von Leonardo erstreckten sich die gepflegten Straßen des Geschäftsviertels, und jedes dort ansässige Unternehmen ließ seine eigenen Flaggen wehen. Auf dem Markt konnte man vor lauter bunten Fahnen den Himmel kaum noch sehen. Ineinander verknäulte Flaggenkombinationen, verhedderte Seile und Streitereien um den Luftraum lieferten den Ausrufern ständigen Nachschub an Kurznachrichten und waren für die Anwälte am Untergericht eine regelmäßige und einträgliche Einnahmequelle. Mit dem müßigen Gedanken, wann wohl im Zusammenhang mit den Flaggen der nächste Mord begangen würde, blickte Leonardo wieder auf die Durchgangsstraße, die einige Kilometer den Hügel hinab und zum Haupttor der Stadtmauer führte, neben dem die Kaserne des Wachregiments stand, die aufgrund ihrer Zinnen wie ein Spielzeugfort aussah. Von der Kaserne flatterte eine Reihe von Signalflaggen und teilte Besuchern von auswärts die Tageslosung mit, doch Leonardos Aussichtspunkt am Palasttor war zu weit weg, als dass er sie hätte entschlüsseln können. Hinter der Kaserne schimmerte das breite Silberband des Flusses, auf dem reger Verkehr vom und zum Hafen herrschte. Hinterm Fluss konnte er nichts mehr erkennen - was immer sich dort befand, lag unter einem Dunstschleier. Kaum hatte Leonardo die übernächste Querstraße ge103 kreuzt und war dabei einigen kleinen Motorfahrzeugen ausgewichen, steuerte er durch zwei vertraute Flügeltüren in die laute, verrauchte, aber gemütliche Kneipe »Ausrufers Ruh«. Trotz der frühen Stunde waren schon alle Nischen voller Leute, die hier zu Mittag aßen. Leonardo musterte das Getümmel missmutig und sah schließlich Veronique ganz hinten auf einer der beiden langen Bänke am Gemeinschaftstisch sitzen. Er holte sich am Tresen ein Bier und setzte sich zu seiner Bekannten. »Na, Superhirnchen!«, krächzte sie freundschaftlich. »Sieht ganz so aus, als wärst du inzwischen viel zu beschäftigt, um freitags noch beim Anzeiger vorbeizugehen!« »Schön wär's«, sagte Leonardo lächelnd und setzte sich. »Meistens bringt Alice meine Meldung hin. Das erleichtert mir das Leben.« »Ach ja, die sagenhafte Alice. Viel versprechend, was?« Veronique schaffte es, diesem unschuldigen Wort jeden nur möglichen Unterton von Anzüglichkeit zu geben. Leonardo fuhr zusammen. »Sie stellt sich sehr gut auf den Alltag in der Werkstatt ein, wenn du das meinst. Genau genommen hat sie ihn total umgekrempelt. Ich weiß nicht, wie ich früher zurechtgekommen bin. Sie kümmert sich um den gesamten Verwaltungskram und den Schriftverkehr, und ich kann mich ganz auf die Magie konzentrieren. Allerdings herrscht bei mir zur Zeit nicht gerade Vollbeschäftigung.« Veronique nickte bedrückt. Der König war in letzter Zeit nicht ganz auf der Höhe gewesen und hatte seine Berater seltener in Anspruch genommen als sonst. Ma104
gier und Clown nahmen jeder einen tiefen Zug Bier und grübelten still vor sich hin, bis ein neuer Ansturm Mittagstrinker sie zwang, zusammenzurücken und Platz zu schaffen. »Beim Anzeiger hat sich jede Menge verändert«, sagte Veronique schließlich. »Am Schalter geht jetzt alles viel schneller. Und den Papierkram haben sie auch vereinfacht. Früher ist damit ja jede Menge Zeit und Energie verschwendet worden. Und dann gibt's eine Neue in der Abteilung Hexerei. Sieht ein bisschen aus wie ein Drache.« Veronique schien einen Augenblick in Gedanken verloren. »Aber eine gute Figur hat sie«, fuhr sie fort. »Eine richtige Frau eben, würde ich sagen. Warum setzt du dir die nicht ins Vorzimmer? Die würde da wirklich gut hinpassen.« Sie hielt inne, um sich eine ihrer kleinen, stinkenden Zigarren anzuzünden, und wechselte dann unvermittelt das Thema. »Hast du schon gehört, dass die Wolfsjungen wieder unterwegs sind?« Unangefochten von dem dichten Rauch und dem sauren Gestank des Biers, horchte Leonardo durch das ungehobelte Gerede seiner Nachbarin hindurch mit halbem Ohr auf das ferne Läuten der Glocken des Instituts für Kalibrierung, denn er wollte auf keinen Fall zu spät zum Plenum kommen. Kaum hatte die Uhr drei Viertelstunden geschlagen, rückte er seine Robe zurecht, um aufzubrechen. »Bleib doch noch - du hast Zeit genug für ein zweites Bier«, sagte Veronique. »Na los, das geht auf mich.« Leonardo wollte ihrem Drängen schon nachgeben, 105 da griff er in die Innentasche seiner Robe und merkte erschrocken, dass etwas fehlte. »Wie dumm von mir. Ich bin ohne meine Notizen losgegangen.« Er begann, nervös zu werden. »Ich muss zurück in die Werkstatt und sie holen. Tut mir Leid, Vero, ich breche besser sofort auf.« Er erhob sich hastig, verabschiedete sich und ging mit großen Schritten den Hügel hinauf zum Palast. Als Leonardo mit seinem Schlüssel in der Tür zur Werkstatt herumfummelte, war ihm nicht gegenwärtig, dass Alice gerade Pause machte. Deshalb war er beim Eintreten erstaunt, dass ihre Tunika säuberlich gefaltet auf dem Stuhl neben der Tür lag und ihre hohen, spitzen Stiefel brav Seit an Seit unterm Sitz standen. Dann sah er Alice. Sie hatte nur noch ihre schwarze Kniehose und ein ärmelloses Trikot an und tanzte. Sie tanzte lautlos, doch Leonardos Unterbewusstsein ließ ihn beim Zusehen den Rhythmus und die Harmonie spüren, die sie erschuf. Mit ihren Bewegungen füllte sie die ganze große Steinfläche in der Mitte des Vorzimmers, bog sich, sprang, hüpfte, schrieb der Fläche präzise geometrische Figuren ein und spann mit den Finger- und Zehenspitzen ein ineinander greifendes Gewebe aus weiten Kreisen, schlanken Ellipsen und schwungvollen Hyperbeln. Mal zusammengekrümmt, mal mit raumgreifender Gebärde, stets aber im fließenden Übergang von einer Tanzfigur zur anderen, schuf sie eine unsichtbare Bewegungsplastik und entwarf mit ihrer hageren Gestalt eine harmonische Abfolge von Arabesken, Volten und Fialen, die den Magier mit entsetzlicher Deutlichkeit in einer Sprache an106 redete, die er nicht einmal im Ansatz verstand. In Sekundenschnelle schien sie ein springender Tiger, dann ein vom Himmel stoßender Kranich, dann ein zum Zustechen bereiter Skorpion zu sein. Zum Schluss kam sie nach einer spiralförmig aufsteigenden Folge von Drehungen, die Leonardo den Atem raubte, mit dramatischer Plötzlichkeit in ein regloses Gleichgewicht. Das zarte Maßwerk ihrer unsichtbaren Architektur umgab sie noch einen Moment und zerfiel dann langsam in eine Vielzahl von Einzelpunkten, kam in komplizierten Mosaiken allmählich zur Ruhe und verlor sich sacht im Dunkeln. Ein seitlich durchs Fenster fallender Lichtstrahl hob die anmutige Linie ihres Schlüsselbeins, ihrer Schulter, ihres Knies hervor. Gleichmäßig atmend und mit ruhiger Miene stand sie dem Magier leise und reglos wie ein Baum gegenüber. Die Hand noch immer am Türknauf, empfand Leonardo sich plötzlich als plump und unverschämt und hatte das Gefühl, in etwas Privates und Vertrauliches eingedrungen zu sein. Er hüstelte so dezent wie möglich. »Es... es tut mir Leid... ich...« Alice schien ihn erst jetzt zu bemerken und sah ihn gelassen und ohne jede Verlegenheit an. »Schon gut, macht Euch keine Sorgen.« Der sanfte Klang ihrer Stimme beruhigte ihn. Es war einen Augenblick still; dann wurde sich Alice der Situation bewusst. »Ich muss mich jetzt anziehen.« Mit einer raschen Bewegung hob sie ihre Sachen auf, verschwand im Waschraum und ließ einen perplexen Leonardo auf die Jagd nach seinen verschwundenen Notizen gehen. Vom Institut für Kalibrierung läutete eine ferne Glocke die volle Stunde. 107 Ein besonderes Versteck Mrs Brown erwachte von Rustys fernen Schreien und Dustys entsetztem Gebell. Sie sprang aus dem Bett, warf rasch einen Blick ins Zimmer ihres Sohnes und sah, dass es leer war. Als sie die Treppe hinunter eilte, um unten nach ihm zu sehen, waren Junge und Hund gerade an der Hintertür angelangt. »Du bist ja klitschnass!«, rief Mrs Brown. »Schau dir an, wie du aussiehst! Du tropfst mir ja den ganzen Boden voll! Was hast du bloß angestellt?« Er sah sie einen Moment verständnislos an. Dann fasste er sich. »Das muss ein Traum gewesen sein. Ich schätze, ich bin geschlafwandelt, denn als ich aufgewacht bin, lag ich im Wasser. Und Dusty hat versucht, mich rauszuziehen. Ich hab Angst, Mama.«
Er brach in Tränen aus. Seine Mutter nahm ihn in die Arme, rieb seine knochigen Schulterblätter und strich ihm durchs tropfende Haar. »Das hast du seit Jahren nicht mehr getan. Aber als du klein warst, bist du ständig im Schlaf unterwegs gewesen.« Rustys wild klopfendes Herz beruhigte sich allmählich, und er hörte auf zu schluchzen. Seine Mutter wischte ihm das Gesicht ab. »Was hast du denn geträumt?« »Alles drehte sich... um den Zirkus«, erinnerte er sich stockend. »Es wirkte unglaublich echt. Und die Hexe, die die Glocke gestohlen hat, war auch dabei. Oder war es die junge Akrobatin aus dem Zirkus? Die tauchte jedenfalls auch auf. Und, Mama...«, begann er 108 und zögerte dann ängstlich, »...sie hatte Laurels Augen. Könnte die Frau im Zirkus wirklich Laurel gewesen sein?« Seine Mutter antwortete nicht sofort. »Armer Junge«, sagte sie schließlich. Ihr Gesicht war voll Sorge. Es war lange still, ehe sie das nächste Wort sprach. »Laurel.« Der Name hing lastend zwischen ihnen - dieser Name, den seit Jahren keiner von beiden ausgesprochen hatte und hinter dem ein großes, kompliziertes Problem steckte, das darauf wartete, gelöst zu werden. Als Mrs Brown fortfuhr, lag Kummer in ihrer Stimme. »Wenn dieses Mädchen bloß nie hergekommen wäre! Und wenn du sie doch einfach vergessen hättest! Anfangs hatte ich das ja geglaubt. Wirklich - ich dachte, du würdest dich nicht mehr an sie erinnern. Aber dann hast du Alpträume bekommen und angefangen zu schlafwandeln. Ich weiß nicht, was du geträumt hast, aber du bist immer wieder laut schreiend aufgewacht. Manchmal habe ich dich im Hof gefunden. Einmal bist du sogar bis zur Dorfwiese gekommen. Aber das war schon vor Jahren ausgestanden. Ich hab wirklich gedacht, du bist darüber weg, doch ich hätte wissen sollen, dass sie zurückkehren würde.« Sie sammelte sich ein wenig. »Wie viel weißt du eigentlich noch von ihr?« Rusty runzelte die Stirn, so sehr konzentrierte er sich, seine verstreuten Erinnerungen zusammenzusuchen. »Na ja, ich weiß noch, dass wir zusammen hinten im Schulgarten im Unterstand gesessen haben. Und ich er109 innere mich, dass sie einmal hier gewesen ist. Du hast sie anscheinend nicht gemocht - ich hab nie verstanden, warum. Und dann dachte ich, sie wäre gestorben, als der Scharlach grassierte. Aber inzwischen bin ich mir da nicht mehr sicher. Ich hab mit dem Schulmeister gesprochen, und er hat mir erzählt, ihre Familie habe zum fahrenden Volk gehört und sie mitgenommen. Deshalb weiß ich jetzt nicht, was ich glauben soll. Was ist tatsächlich passiert, Mama?« In seiner Stimme lagen verzweifelte Untertöne, und Mrs Brown wusste, dass nun unabweislich die Zeit gekommen war, ihrem Sohn die Wahrheit über die Ereignisse zu sagen, die sich vor so vielen Jahren zugetragen hatten. »Geh nach oben, und hol deinen Bademantel. Ich mach Feuer im Kamin. Wir müssen dich trocken kriegen.« Kurz darauf kuschelte Rusty sich zu Füßen seiner Mutter auf den Kaminvorleger und schmiegte den Kopf an ihre Knie - genau wie damals, als er noch ein kleiner Junge gewesen war. Auch Dusty hatte sich eingekuschelt, legte den Kopf an Rustys Beine und sah ihn besorgt an. Mrs Brown begann zögernd zu erzählen. »Ja, Laurels Familie gehörte zum fahrenden Volk - das ist wahr. Und das Mädchen hat das Fieber überlebt - das stimmt auch. Sie war wirklich zäh. Hinterher sind sie weitergezogen, und - na ja, ich schätze, das war ein Fehler, aber ich hab dich einfach glauben lassen, sie sei gestorben. Ach, ich weiß nicht... Ich wollte dich eigentlich gar nicht täuschen, aber ich wollte unbedingt, dass du sie vergisst, und, na ja, es schien einfach 110 am besten so. Da ist nämlich noch was passiert. Etwas, das du vergessen hast.« Sie sprach jetzt schneller. Die Worte drängten aus ihr heraus, als könnte sie sie nicht länger aufhalten. »An dem Tag, da sie weitergezogen sind, ist Laurels Großmutter zu mir gekommen. Ich hab die Tür aufgemacht, und sie ist einfach ins Haus gegangen...« Anscheinend unvermittelt wechselte sie das Thema. »Kannst du dich an Dinge erinnern, die Laurel dir erzählt hat? An Geheimnisse vielleicht?« Rusty schüttelte den Kopf. Er hatte den verregneten Nachmittag, den er mit Laurel im kleinen Unterstand hinten im Schulgarten verbracht hatte, vage vor Augen und konnte sich an Pfützen auf dem Boden und den Geruch nasser Regenjacken erinnern, aber an kein einziges Wort, das sie miteinander gesprochen hatten. Langsam spürte er einen dumpfen Schmerz aufsteigen, als ob er etwas Unersetzliches verloren hätte. »Na ja, ihre Großmutter hat gesagt... Laurel habe dir ein Geheimnis erzählt, eins der schrecklichsten Geheimnisse des fahrendes Volks.« Rusty begann, hinter der Stimme seiner Mutter ganz leise eine andere Stimme zu vernehmen, die über all die Jahre hinweg zu ihm sprach, und er wusste sofort, dass er diese Worte schon mal gehört hatte. Seine Mutter erzählte noch immer, denn die Geschichte hatte sie in Fahrt gebracht. »Anscheinend haben sie ein Gesetz, wonach sie keinem Fremden, sondern nur Leuten ihres Schlags solche Dinge anvertrauen dürfen. Und sie hat gesagt, wenn man dir dieses Geheimnis ließe - ich höre ihre Worte noch
immer, als habe sie sie erst heute gesprochen -, dann wären die Konsequenzen für dich und 111 uns alle zu schrecklich, um auch nur darüber nachzudenken.« Sie hielt inne, um Atem zu holen. »Dann hat sie gemeint, sie habe einen Zauberspruch, eine Formel, die dir helfen würde, das Geheimnis zu vergessen. Ich hab wirklich nicht gewusst, was ich davon halten sollte. Es schien so weit hergeholt - aber sie hat mich dabei so eigenartig angesehen, und ich hatte solche Angst und wusste mir nicht zu helfen... Also hab ich ihr erlaubt, ihren Zauber anzuwenden.« Rusty sah gebannt zu seiner Mutter hoch. »Dann hat sie dich an einen abgeschirmten Ort gebracht und getan, was sie tun musste.« Bei diesen Worten schien sich die Szene vor Rustys Augen erneut abzuspielen - aber en miniature, als werde sie von winzigen Puppen auf einer Marionettenbühne aufgeführt. Er beobachtete, wie die alte Frau den Jungen durch die Hintertür und über den Hof zum verfallenen Abtritt führte, während seine Mutter besorgt im Haus auf und ab ging. Er sah, wie die Alte begann, hinter der grob gehobelten Tür, an deren Riegel die Farbe abgeblättert war, ein Labyrinth aus Unverständnis und Vergessen um ihn zu weben, und er beobachtete, dass sie Laurels Geheimnis an sich brachte und es wie einen Schneeball durch die verstaubten Flure dieses Labyrinths rollte, wobei immer mehr Schichten aus Schweigen das Geheimnis umhüllten und es dadurch stets größer wurde. Er sah den Ball um eine Ecke nach der anderen rollen, bis das Geheimnis endgültig zwischen den vorspringenden Wänden des Labyrinths verschwunden und an einem sicheren Ort weggeschlossen war und er es ganz und gar verloren hatte. 112 Seine Mutter redete noch immer. »Sie hat gesagt, das Geheimnis werde an einem besonderen Ort hinter Schloss und Riegel verwahrt und sei dort sicher, bis...« »Bis?« »Bis zu dem Tag, an dem dein Leben von ihm abhängt. Sie wusste, dass dir der Verlust des Mädchens großen Kummer bereiten würde, deshalb hat sie dir im Gegenzug eine Gefälligkeit zugestanden: Sie hat gesagt, das Geheimnis sei bis zu dem Tag sicher versteckt, an dem dein Leben von ihm abhänge.« Einen Moment saß sie gedankenverloren da. »Ich weiß noch immer nicht, ob ich damals richtig gehandelt habe.« Ihre Stimme klang verbittert. »Und selbst jetzt habe ich keine Ahnung, ob sie die Wahrheit gesagt hat. Ich wünschte nur, dass nichts von all dem je passiert wäre. Ach, diese Fahrenden - die bringen nur Kummer. Wenn das alles doch bloß nicht wieder aufgerührt worden wäre! Ich möchte es einfach für immer vergessen.« Rusty war nun ruhiger. »Mama?« »Ja?« »Haben alle Fahrenden Augen wie Laurel?« »Augen? Ich glaube, Laurels Augen sind mir nie aufgefallen.« Sie strich ihm über den Kopf. »Aber ich erinnere mich an ihre Haare. Sie waren schwarz, sehr lang und sehr dicht... Und an all die fremden Münzen, die sie in ihrem seltsamen kleinen Geldbeutel hatte... Und daran, wie sie meine Kerzenhalter betrachtet hat... Bist du jetzt so weit, dass du wieder ins Bett gehen kannst?« 113 Aber der Junge war schon auf ihren Knien eingeschlafen. Am nächsten Morgen war der Zirkus aus dem Dorf verschwunden, und in der Nacht darauf schlief Rusty Brown wieder tief und fest. Ein paar Tage später hörte er zu seiner Überraschung auf dem Heimweg von der Schule die Kirchenglocke läuten. »Wann haben sie die denn wieder aufgehängt?«, fragte er seine Mutter. »Ach, hast du davon nichts mitgekriegt? Jemand hat mit den Zirkusleuten geredet. Die haben sich um die Glocke gekümmert, bevor sie aufgebrochen sind. Du kommst garantiert nicht drauf, wie sie das angestellt haben. Ich hätte es zu gern gesehen. Sie haben sie mit einem Elefanten aus dem Fluss gezogen, und heute haben die Männer aus dem Dorf sie wieder in den Turm gehängt. Hast du neulich eigentlich auch von Elefanten geträumt?« 114 DRITTES KAPITEL Orientierung und Desorientierung Ich habe mich zwischen den Dachbalken versteckt, damit du mich nicht siehst, wenn du an meinen Aussichtspunkt stürmst. Du wirst mich früh genug bemerken, Lazarus. Bis dahin mache ich mir den Spaß, Hinweise auszustreuen und Spuren zu legen, um deine Neugier zu wecken und dich zu verblüffen. Im Moment liefere ich dir nur schwache Anhaltspunkte, die auch Zufälle sein könnten, unbeabsichtigt, belanglos, reine Nachlässigkeit. Wenn du die Botschaft dieser Hinweise nicht erkennst, muss ich allerdings deutlichere Spuren legen, bis du mich nicht länger übergehen kannst. Und ich werde alles tun, damit du auf mich Acht gibst - da kannst du sicher sein, Lazarus. Doch solange du und deine Leute draußen den Wildwuchs lichten und Gartenabfälle verbrennen und drin zählen, inventarisieren und ordnen, reicht es mir, hier, am höchsten Punkt des Hauses, von meinem Balken zu
hängen und zu beobachten, was es zwischen den fernen Hügeln und in der Hauptstadt zu sehen gibt. Um den Magier sammeln sich düstere Wolken, die er nicht wahrnehmen und darum auch nicht benennen oder verstehen kann. In Gesicht und Gestalt des Mädchens Alice erkennt er dunkel etwas wieder, das ihn be115 unruhigt und in einer Weise berührt, der sein Intellekt nicht gewachsen ist. Ich weiß, was er wieder erkennt. Etwas, das ihm einmal flüchtig begegnet und seither verschüttet ist. Und er erkennt in dem Mädchen auch mich wieder. Denn in so einer Begegnung ist meine Berührung spürbar und meine Anwesenheit zu erahnen. Der Magier aber hat nur eine dunkle Vorstellung davon, die ihm seine stumpfsten Sinne vermitteln. Fühlt er sich angezogen, oder spürt er, wie ihn die Angst packt? Er weiß es nicht. Vielleicht empfindet er beides zugleich. Er kämpft um seine Beherrschung, doch er wird sie verlieren. Der Junge hat sich indessen von seinen Alpträumen erholt und erlebt eine glückliche Zeit, in der er die Geheimnisse und Schrecken der Dunkelheit eine Weile vergisst. Wie das Dorf die Fesseln des Fluchs abschüttelt, so scheint sich auch der Junge wieder gut zu entwickeln. Im Frühsommer seines sechzehnten Lebensjahrs lernt er ein Mädchen aus seinem Dorf kennen, und zusammen machen sie all das, was junge Leute gern tun. Ich sehe sie aus weiter Ferne durch Wälder und über Hügel ziehen, im Fluss schwimmen, im hohen Gras liegen und einen einsamen Raubvogel betrachten, der hoch über ihnen in der Luft steht. Und ich sehe Dusty, den Wächter, dessen besorgte Gegenwart die beiden mit einem zerbrechlichen Schutzschild umgibt. Manchmal wechseln sie auf ihren Streifzügen ein paar Worte mit Kesselflickern oder Scherenschleifern, die sie auf den Feldwegen treffen. Manchmal setzen sie sich zu ihnen und rauchen eine Pfeife mit oder teilen ein schlichtes Mahl. Dann scheint es beinahe, als suche 116 der Junge etwas. Aber vielleicht bilde ich mir das nur ein. Vermutlich genießt er einfach bloß die harmlosen Vergnügungen dieses flüchtigen Zwischenspiels - denn mehr ist es nicht, weil die Dörfler weder tolerant noch großzügig sind und nicht viel vom fahrenden Volk halten. Nun widme ich mich dem Geschehen in meinem Haus. Die Arbeit geht rasch voran, und bald wird wieder Leben in dem alten Kasten sein. Gute Arbeit, Lazarus! Wie methodisch ihr bei allem vorgeht, du und deine beiden Statthalter! Ich beobachte sie kurz. Der Ältere, Harold, ist stur, in seinen Gewohnheiten festgefahren und mir zu kaum etwas nütze, doch der Jüngere, Sam, ist offener und fügsamer, gutherzig und gläubig, aber nicht zu intelligent. Wie bereitwillig er seine Pflichten erfüllt - ob nun du sie ihm auferlegt hast oder ich! Ja, Sam ist mir sehr nützlich, denn manchmal ist er ungeschickt, und inzwischen beginnst auch du das zu merken. Ein belangloses Missgeschick hier, ein bisschen Glasbruch dort, vielleicht nicht immer von Sam verursacht, aber stets, wenn er in der Nähe ist. Bald musst du ihn zur Rede stellen, und wenn du das tust, begegnest du auch mir. Ach, Lazarus, diese Streiche ermüden mich langsam. Bald beginnt unsere wirkliche Aufgabe. Und dann musst du auf mich Acht geben. Ich brauche nur noch ein wenig Geduld. 117 Aus dem Tagebuch des Victor Lazarus Mittwoch, 18. März In den letzten Tagen ist der Garten vor dem Haus endlich fertig ausgelichtet worden. Nun ist das Anwesen von der Straße gut zu sehen, und mir fallen ab und an schon Passanten auf, die neugierig durch den Zaun spähen. Das hat unsere Arbeit bis heute Nachmittag nicht behindert, nun aber hat sich etwas Neues ergeben. Ich war gerade mit Harold in der Skulpturengalerie, um die endgültige Aufstellung der Plastiken zu besprechen, da hörte ich zu meiner Überraschung jemanden an die Haustür klopfen. Ich ging nachsehen, wer gekommen war. Vor der Tür stand eine untersetzte Dame reiferen Alters. Sie trug einen kunstvoll gearbeiteten Federhut und eine unförmige Handtasche, stellte sich als Vorsitzende des hiesigen Geschichtsvereins vor und erkundigte sich zu meinem Erstaunen, ob sie Einrichtung und Bestände des Hauses inspizieren dürfe. Ich wollte diese Angelegenheit lieber erst mit meinen Kollegen besprechen, vermied es deshalb, ihr gleich eine Antwort zu geben, und schlug ihr vor, am nächsten Tag wiederzukommen. Donnerstag, 19. März Heute Morgen ist schon wieder etwas zu Bruch gegangen. Sam und einer seiner Leute waren dabei, ein Bild aufzuhängen - ein wirklich hübsches, kleines Land118 Schaftsaquarell in prunkvollem Goldrahmen. Als sie es an die Wand hielten, um den richtigen Platz zu finden, rutschte es ihnen aus den Händen und fiel zu Boden. Nun ist der Rahmen stark beschädigt und das Glas zersprungen, vor allem aber hat eine Scherbe ein Loch ins Bild gebohrt. Wenn diese Nachlässigkeiten weitergehen, werde ich mit Sam ein ernstes Wort reden müssen - das habe ich mir fest vorgenommen. Die untersetzte Dame ist heute Nachmittag wiedergekommen. (Ich hatte ihre Bitte zwischenzeitlich mit meinen Kollegen besprochen, und wir wollten ihr die Inspektion von Einrichtung und Beständen gestatten - unter strenger Aufsicht natürlich.) Ich habe sie persönlich durchs Haus geführt und sie anschließend auf eine Erfrischung in die Küche eingeladen, bevor sie wieder in die Stadt aufgebrochen ist. Sie war beeindruckt und erkundigte sich, ob auch einfache Mitglieder ihres Vereins das Haus besichtigen könnten. Anscheinend war einer der früheren Eigentümer ein angesehener Bürger dieser Stadt und hat später in der großen Welt eine glänzende Karriere gemacht. Die Dame hat seinen Namen erwähnt, aber er war mir nicht geläufig. Ich habe ihrer Bitte -
wenn auch mit Bedenken - zugestimmt, und wir haben einen Termin vereinbart. Freitag, 3. April Entgegen meinen Befürchtungen ist der Besuch des Geschichtsvereins ohne Zwischenfall verlaufen. Dennoch bedauere ich bereits, so entgegenkommend gewesen zu sein, da sich inzwischen eine Reihe weiterer Ein119 zelpersonen und Organisationen wegen Führungen an mich gewandt haben. Da ich der Bitte einmal zugestimmt habe, fällt es mir nun schwer, diese Anfragen abzulehnen. Die hiesige Künstlervereinigung möchte sich beispielsweise die Gemäldesammlung ansehen. Verschiedene Musiker und Komponisten haben Interesse bekundet, die Räume mit den Instrumenten und Notenmanuskripten zu besichtigen. Ein steinalter Mann, der schon sehr gebeugt geht, möchte den Garten auf seltene Kräuter hin untersuchen, von denen er glaubt, sie seien früher hier angebaut worden. Es sieht stark danach aus, als werde sich diese Liste endlos verlängern. Natürlich versuche ich, der Begeisterung eines jeden so weit wie möglich gerecht zu werden, habe inzwischen aber den Eindruck, dass das Erfüllen dieser Bitten einen erheblichen Teil meiner Zeit beanspruchen wird. Heute ist wieder ein Missgeschick passiert. Diesmal wurde eine Plastik vom Sockel gestoßen, und der Schaden war beträchtlich. Noch immer widerstrebt es mir merkwürdig, Sam wegen dieser Zwischenfälle ins Gebet zu nehmen. Ich muss mich jetzt wirklich dazu aufraffen. Mittwoch, 8. April Die Arbeit schreitet weiter zügig voran. Der Vorgarten wird gerade neu bepflanzt, doch hinterm Haus ist noch viel zu tun. Die meisten Zimmer im Erdgeschoss sind inzwischen in einem hübsch dekorativen Zustand, der Großteil der Bücher ist katalogisiert und aufgestellt, die Gemäldegalerie ist so gut wie restauriert, und ein Kla120 vierstimmer kümmert sich um die Instrumentensammlung. Er war zufällig gerade nebenan, als ich Harold und Sam in meine Schreibstube bat, um das Problem der vielen Besucher und die Frage, wie man ihren Wünschen am besten entsprechen könne, zu erörtern. Unsere Beratung fand bei ständigem Poltern und Klimpern statt. Die einzige Frage, die wir uns stellten, war grundsätzlicher Natur: Sollten überhaupt noch Besucher ins Haus dürfen? Harold war der Ansicht, durch den Besuch des Geschichtsvereins sei ein Präzedenzfall geschaffen worden und die Einwohnerschaft der Stadt habe auf jeden Fall einen moralischen Anspruch, die Sammlung zu sehen, der offensichtlich große historische Bedeutung und ein erheblicher künstlerischer Wert zugesprochen werde. Sam war noch direkter. Er betonte, der Bau habe eher den Charakter eines Museums als den eines Wohnhauses und solle deshalb auch als Museum betrieben werden, für dessen Besuch Eintritt zu zahlen sei. Mir hingegen war nicht wohl dabei, denn ich war ziemlich sicher, dass der Eigentümer in den Briefen, in denen er uns zu Hausverwaltern bestellte, den Zutritt der Öffentlichkeit mit keinem Wort erwähnte. Als ich das zu bedenken gab, zeigte sich jedoch, dass meine Kollegen ihre Briefe ganz anders in Erinnerung hatten. Meiner Sache sicher, verpflichtete ich uns, zunächst nach den Briefen zu suchen, doch überraschenderweise waren sie unauffindbar. Da die entscheidenden Beweismittel nicht zu entdecken waren, musste ich mich - wenn auch widerstrebend - der Mehrheit fügen. Es wurde beschlossen, Besucher willkommen zu heißen. Harold wird sich um eine Tafel 121 mit den Öffnungszeiten kümmern, die Sam am Gartentor anbringen lassen soll. Als das Treffen zu Ende war und wir wieder an die Arbeit gehen wollten, fuhr uns jäh der Missklang einer reißenden Klaviersaite ins Ohr. Donnerstag, 21. Mai Die Dinge entwickeln sich weiter unvorhergesehen. Wir haben so viele Besucher, dass ich mehrere Leute als Aufsicht einstellen musste. Harold kümmerte sich um Druck und Verkauf von Eintrittskarten und schreibt nun an einem Museumsführer. Sams Männer haben neben dem Einlass eine Garderobe gebaut, und neueste Pläne sehen einen Erfrischungsraum neben der Küche vor. Mrs Proudfoot vom Geschichtsverein hat Interesse am Catering bekundet, und zu meiner großen Überraschung habe ich selbst - in Ermangelung weiterer Bewerber die Rolle des Kurators unserer Einrichtung übernommen, die inzwischen zum Kulturzentrum der Stadt geworden ist und Bibliothek, Museum, Konzertsaal und Kunstgalerie unter einem Dach vereint. Mich beschleicht das unbehagliche Gefühl, das ganze Unternehmen nicht mehr voll im Griff zu haben. Unter den Besuchern sind mir einige regelmäßige Gäste aufgefallen. Eine ältere Dame zum Beispiel, die lange, altmodische Kostüme trägt. In einem der oberen Räume, wo die Fossilien lagern, hat sie einen bequemen Sessel gefunden, in dem sie nachmittags gewöhnlich ein Nickerchen hält. Irgendwann vergessen wir sie bestimmt mal und schließen sie über Nacht ein. Dann gibt es ein paar Musiker, die den ganzen Tag zusammen 122 auf den Tasteninstrumenten improvisieren. Sie bringen Klänge hervor, die völlig anders sind als alle Musik, die ich je gehört habe, doch viele Gäste scheinen das zu schätzen. Unter den Besuchern waren auch ein paar Kinder, und es wurde im Interesse der Bildung beschlossen, ihnen freien Eintritt zu gewähren. Einige vergnügen sich regelmäßig in den Zimmern, wo die Spielsachen sind, und ein kleiner rothaariger Junge hat unter den Zeitschriften eine Sammlung Comics entdeckt. Jeden Tag liegt er nun inmitten von Bildergeschichten auf dem Fußboden und ist in Wunder und Abenteuer vertieft, während sein Hund zu langen Expeditionen im Garten verschwindet.
Ich habe den Eindruck, ein Grund für meine anfängliche Abneigung gegen Besucher war meine Überzeugung, es würden noch mehr Dinge zu Bruch gehen und noch mehr Missgeschicke passieren. Zu meiner großen Erleichterung ist das nicht der Fall. Die wenigen Pannen aber scheinen irgendwie alle mit Sam verbunden. Doch noch immer zögere ich es hinaus, mit ihm zu sprechen. Ich muss mir wirklich so bald wie möglich dafür Zeit nehmen. Eine Nacht bei den Fahrenden »Das kitzelt!« Rusty riss Eileen den Grashalm aus den Fingern und warf ihn weg. Sie sah ihn mit gespieltem Bedauern an und lachte dann los. 123 »Das nützt dir gar nichts. Hier gibt's jede Menge Nachschub!« Sie lagen auf einem Hügel hinterm Dorf im hohen Gras und sonnten sich faul in der Frühsommerhitze. Ein wenig abseits jagte Dusty einem Schmetterling nach und schlug mit den Pfoten nach seinen Flügeln. Hoch über ihnen stand ein einsamer Turmfalke in der Luft, und aus dem Tal war das schwache Stundenläuten der Kirchenglocke zu hören. »Ist es jetzt drei Uhr oder schon vier?«, murmelte Rusty mehr zu sich als zu Eileen. »Weiß ich nicht, aber wir haben jede Menge Zeit. Komm!« Der Turmfalke drehte ab, und ein paar Minuten war es wieder still, bis Dusty plötzlich mit abgehacktem, neugierigem Gebell angesprungen kam. Widerwillig setzten Rusty und Eileen sich auf. »Blöder Hund.« Eileen brachte ihre zerzausten braunen Locken in Ordnung. »Merkt der nicht, dass wir beschäftigt sind?« Doch Rusty konzentrierte sich bereits auf eine dünne Rauchsäule, die in einiger Entfernung aus einer Baumgruppe am Feldweg aufstieg. »Siehst du das? Was mag das sein?« »Bestimmt Fahrende«, sagte Eileen. Sie stand rasch auf und rückte ihr Kleid zurecht. »Komm, gehen wir doch mal nachsehen.« Schon war sie hangabwärts verschwunden. Dusty sprang ihr hinterher und bellte aufgeregt. Rusty folgte den beiden achselzuckend in seinem eigenen Tempo. Hinter einer Kurve stießen sie auf das Lager der Fahrenden, das am Wegesrand auf einer kleinen Lichtung 124 aufgeschlagen war. Der einzige Wohnwagen war in schlichtem Dunkelgrün gestrichen und wirkte unerwartet zweckmäßig. Direkt vor ihnen saß ein zerlumpter junger Mann am Feuer und wetzte ein Messer mit langer, seltsam geformter Schneide. Ein mageres graues Pferd graste ein wenig abseits, und irgendwo weinte ein Baby. Beim Geräusch ihrer Schritte blickte der Mann auf. Er war blass und dunkelhaarig, und seine schwarzen Augen leuchteten. Glatte Haut und dünner Schnurrbart deuteten darauf hin, dass er nur wenige Jahre älter war als Rusty. »Willkommen, Fremde«, sagte er überraschend förmlich. »Mein Name ist Gideon Blackwood, und ich bin Heckengärtner. Fühlt euch bei mir wie zu Hause.« Er streckte ihnen grüßend die Hände entgegen. Rusty zögerte einen Augenblick, doch Eileen hatte weniger Hemmungen, trat näher und zog Rusty dabei am Unterarm mit. »Hallo Gideon«, sagte sie. »Ich bin Eileen, und das ist Rusty. Und dann springt hier noch irgendwo ein Hund namens Dusty herum. Dusty, hierher!« Unterdessen war eine Frau aus dem Wohnwagen gekommen, auch sie sehr jung, dunkelhaarig und dunkeläugig. Sie trug das Baby im Arm, das inzwischen fest eingeschlafen war, und lächelte, als sie näher kam. »Ich bin Peg. Wollt ihr bleiben und mit uns essen?« Rusty war unsicher. »Ich glaube, meine Mutter -«, begann er. »Sehr gern«, unterbrach ihn Eileen. »Was für ein süßes Kind. Wie heißt es denn?« »Es hat noch keinen Namen«, antwortete Peg. »Bei uns bekommen die Babys ihn erst, wenn sie ein Jahr alt 125 werden. Man braucht schließlich eine gewisse Zeit, um herauszufinden, was für ein Kind es ist.« »Darf ich es kurz halten?« »Aber gern. Komm doch mit rein. Dann kannst du dich um das Baby kümmern, während ich weiter Abendessen mache.« Eine Stunde später lagen Gideon und Rusty am Feuer und teilten sich eine Flasche schweren Rotwein. Gideons Heckenwerkzeug lag auf dem Boden ausgebreitet, und Rusty, der seine Schüchternheit überwunden hatte, bombardierte ihn mit Fragen nach seinem Gewerbe und den Details des Wanderlebens. »Wie findet ihr eigentlich euren Weg von Ort zu Ort?«, fragte der Junge, und Gideon blickte verdutzt drein. »Den müssen wir nicht finden«, antwortete er nach kurzer Pause. »Der Weg findet uns.« Nun war die Verblüffung an Rusty, doch ehe er weitere Fragen stellen konnte, verkündete Peg, das Essen sei fertig. Rusty hatte ein exotisches Durcheinander aus Heckenfrüchten und Wild erwartet und war deshalb etwas enttäuscht, als er ein ziemlich gewöhnliches Gericht vorgesetzt bekam, das offenbar überwiegend aus Konserven stammte. Doch am Ende eines langen Tages war ihm jedes Essen recht, vor allem, weil es dazu noch eine
Flasche Wein gab. Hinterher stopfte Gideon eine Pfeife mit würzigen Kräutern, zündete sie mit einem Kienspan an, nahm ein paar tiefe Züge und gab sie an Rusty weiter. »Manchmal erzählen wir uns abends Geschichten«, sagte er nach einer Weile. »Kennst du eine gute?« 126 »Habt ihr die Legende von den Inselbewohnern schon mal gehört?«, fragte Rusty. Es wurde spät. Peg zündete ein paar Lampen an, Gideon holte eine Mandoline aus dem Wohnwagen, und in der Dämmerung begannen Musik, Wein und Pfeife langsam ein Zaubergespinst um sie zu weben. Eileen machte es sich rechts von Rusty gemütlich und ließ den Kopf auf seine Schulter sinken, während Dusty sich links neben den Jungen legte und beim Eindösen ab und an mit dem Schwanz wedelte. Langsam verschmolzen die Geräusche des Feuers mit der Musik und den Stimmen zu einem wohltuenden Hintergrundsummen, bis allen die Lider schwer wurden. »Wir sollten demnächst nach Hause gehen«, murmelte Eileen. »Es ist dunkel«, gähnte Peg. »Da verlauft ihr euch bestimmt. Schlaft jetzt. Wir zeigen euch morgen früh den Heimweg.« Und nacheinander schliefen sie am Feuer ein. Früh am nächsten Morgen ging Oma Hopkins über die Dorfwiese und bückte sich dann und wann, um Abfälle aufzusammeln. Sie war auf dem Weg in den »Pflug«, wo sie jeden Vormittag ein, zwei Stunden arbeitete, ausfegte, den Geschirrberg abwusch und das Lokal herrichtete. Oma Hopkins musste schon mindestens neunzig sein, doch sie hatte noch immer scharfe Augen und bemerkte die drei zerzausten Gestalten sofort, die da -zwei Menschen und ein Hund - knapp oberhalb der Kirche auf die Straße traten. Und sie erkannte gleich, dass es sich um Margaret Browns Sohn Michael und 127 seinen widerlichen kleinen Hund handelte. Und das Mädchen war doch tatsächlich Eileen Gilbert, die Tochter des Arztes! Die hätte es nun wirklich besser wissen sollen! Oma Hopkins rümpfte in vernehmlicher Missbilligung die Nase und ging weiter. Ob die wohl die ganze Nacht zusammen in den Hügeln verbracht hatten? Zu ihrer Zeit wäre den jungen Leuten so etwas nicht einmal im Traum eingefallen... Tatsächlich sahen alle drei ziemlich mitgenommen aus. Rustys roten Haarschopf zierte ein gemischter Salat aus Blättern, Grashalmen, Beeren, Moos und Zweigen, und seine Hemdknöpfe steckten nicht alle im richtigen Loch. Eileen hatte eine Sandalenschnalle verloren, ihr Sommerkleid war zerrissen, und ihre Schienbeine waren ganz zerkratzt vom vielen Kriechen unter Stacheldraht hindurch. Selbst Dusty, der neben ihnen hertrottete, verbreitete den Eindruck von Ausschweifung, denn er hatte Matsch an den Pfoten, und sein Fell stand in alle Richtungen ab. Eileen fummelte beim Gehen an ihren Haaren herum und versuchte vergeblich, sie in Ordnung zu bringen. »Warum hast du mich gestern Abend bloß nicht nach Hause gebracht?«, jammerte sie. »Daddy wird toben. Was soll ich ihm nur sagen?« »Vielleicht ist er noch gar nicht aufgestanden«, wollte Rusty sie beruhigen. »Er denkt womöglich, du liegst im Bett«, fügte er hinzu und drückte ihr aufmunternd die Hand. Eileen hielt an und drehte sich zu ihm. »Du kennst ihn nicht, Rusty. Du weißt nicht, wie er ist. Er hat garantiert die ganze Nacht auf mich gewartet.« Sie begann zu weinen. Tatsächlich sahen sie Doktor Gilberts knochige Gestalt kurz darauf in der offenen Tür seines Hauses stehen. Er trug Schlafanzug und Morgenmantel, und sein Gesicht war puterrot. Er beachtete Rusty nicht im mindesten und richtete seinen Zorn allein auf seine Tochter. Seine Stimme klang drohend. »Sofort rein hier!« Mit gesenktem Kopf ging Eileen schweigend ins Haus. Der Doktor schloss wortlos die Tür und ließ Rusty und Dusty belämmert am Gartentor stehen. Dusty spitzte die Ohren. Durchs offene Fenster des Arbeitszimmers im Erdgeschoss drang die Stimme des Arztes. »Was deine Mutter dazu wohl gesagt hätte!«, rief er mit mühsam unterdrücktem Zorn. »Ich habe wirklich versucht, dich anständig zu erziehen. Und jetzt erzählst du mir, du verbringst deine Nächte mit dem Sohn der Waschfrau. Unter Kesselflickern! So wie du stinkst, rauchst du wahrscheinlich auch noch ihre widerlichen Kräuter. Hast du mir sonst noch was zu sagen?« Die von Schluchzen und Schniefen unterbrochene Antwort des Mädchens war nicht zu verstehen. Als der Doktor in seiner Tirade fortfuhr, entschied Rusty, dass er hier im Moment nichts mehr verloren hatte, nahm Dusty an die Leine, schlich mit ihm davon und bemühte sich inständig, nicht an den Empfang zu denken, den seine Mutter ihm bereiten würde. 128 129 Das Beraterplenum Von der monotonen Stimme des Obersten Beraters in eine Art Trance versetzt, saß Leonardo Pegasus auf seinem Stammplatz am langen Mahagonitisch und musterte die Gesichter der Kollegen. Sein Gegenüber wirkte unerträglich selbstgefällig, der Mann daneben aufreizend wichtigtuerisch, und die Frau am anderen Ende des Tisches schien nicht nur ängstlich, sondern schon paranoid zu sein. Leonardo seufzte vernehmlich. Er hatte diese
Leute wirklich satt und sehnte sich in seine Werkstatt und zu Alice zurück. So stierte er denn auf die leere Wand, ließ seine Gedanken treiben und glaubte schon Sekunden später, ihre schlanke Gestalt vor' dem farblosen Hintergrund tanzen zu sehen. Tanzen hatte in Leonardos Welt bisher nicht die geringste Rolle gespielt, doch Alices anmutige Darbietung hatte etwas in ihm wach gerührt. Ihm schien, als habe ihr Tanz ganz unbestimmbar zu ihm gesprochen, vielleicht nicht mit Worten, sondern in der Sprache eines unbekannten Kodes aus merkwürdig strukturierten, seltsamen Formen, die er weder benennen noch verstehen konnte. Sie umkreisten ihn langsam, schwebten dabei auf und ab und ergaben ein dichtes Geflecht seltsamer und unvertrauter Gedanken, das ihn bestrickte, verwirrte und verblüffte. Als Mann der Wissenschaft lebte Leonardo in einer Welt aus Worten, Zahlen und genau definierten Begriffen. Er hatte wenig Erfahrung mit den eigenartigen Dingen, die diese merkwürdige neue Welt bevölkerten, und fragte sich, ob es sich dabei um Gefühle handeln 130 mochte. Ja - das waren bestimmt Gefühle. Er fand nicht heraus, wie er sie verschwinden lassen konnte, und bekam den Eindruck, er sollte vielleicht versuchen, eine gewisse Kontrolle über sie zu erlangen. Am besten, indem er sie voneinander abgrenzte und ihnen Namen gab. Denn das Benannte konnte verstanden und damit manipuliert werden. Leonardo griff nach Tinte und Feder und begann, auf dem Pergament, das vor ihm lag, eine Liste zu machen. Bewunderung war leicht zu erkennen, womöglich sogar Neid. Und Staunen. Und... ja, das musste Schuld sein. Als ob er ungebeten in etwas Empfindliches und Vertrauliches eingedrungen wäre. Und dann gab es da, wie er zugeben musste, eine kleine Spur von, ja, von ästhetischer Erkenntnis vielleicht. Welcher Mann könnte auch gleichgültig bleiben angesichts der prägnanten Bewegungen dieser schlanken Gestalt? Doch selbst das war nicht alles. Da war noch etwas, für das er aber keinen Namen fand. Er mühte sich, den Rest des Knotens zu entwirren, rang die Hände auf der Tischplatte und presste sie unbewusst fest aneinander. Ja. Jetzt hatte er es. Es war etwas wie Demut... und auch wie Angst. Den Magier schauderte. In diesem Moment erreichte ihn die Stimme des Obersten Beraters. »Und was meint der Leitende Magier des Königs dazu?« Leonardo sah langsam auf. Er antwortete nicht sofort, sondern runzelte die Brauen, als denke er über ernste und gewichtige Dinge nach. Dabei ließ er den Blick kurz über die Gesichter schweifen, die ihn erwartungsvoll ansahen, und antwortete dann mit routi131 nierter Lässigkeit: »Ich bin mehr als zufrieden darüber, mich meinen geehrten Kolleginnen und Kollegen anschließen zu können.« Als Leonardo an diesem Abend endlich ins Bett kam, spürte er eine lastende Müdigkeit. Das Plenum hatte sehr lange getagt. Zwar hatte der Kaffee - wie immer - nach Desinfektionsmittel geschmeckt, die übrigen Erfrischungen aber waren annehmbar gewesen, und er hatte genug belegte Brote verspeist, um sich nicht lästigerweise noch etwas zu essen machen zu müssen. Als er jedoch in seinem Wohnblock ankam, lahmte eins der Aufzug-Ponys. »Tut mir Leid, Chef«, erklärte der Fahrstuhlführer. »Wenn nicht alle Pferde fit sind, kann ich Euch höchstens bis in den dritten Stock bringen. Aber vielleicht bekommt Euch die Treppe ganz gut.« Mit einem gereizten Schnauben lehnte Leonardo die Fahrt in die dritte Etage ab und stieg alle acht Stockwerke zu seiner Wohnung hinauf. In der Werkstatt erwähnte am nächsten Morgen weder Leonardo noch Alice, was sich am Vortag zugetragen hatte. Im Lauf der Zeit empfand der Magier jedoch eine Verlegenheit, die sich nicht mehr vertreiben ließ. Kaum hatte er einen Moment Muße, ertappte er sich dabei, zu beobachten, wie Alice ihre Aufgaben erledigte. Inzwischen sah er sie mit anderen Augen und erkannte, dass die Grazie und Selbstbeherrschung, die sie beim Tanzen ausstrahlte, noch in ihren alltäglichsten Bewegungen zugegen waren. Ob sie arbeitete oder tanzte - sie tat es vollkommen konzentriert. Ihr unbe132 fangenes, dabei aber stets gefasstes und gesammeltes Auftreten ließ Leonardo vermuten, eine unbekannte Kraft leite sie, eine rätselhafte Übereinstimmung mit sich selbst, die ihr Leben merkwürdig, ausgefallen, unvorhersehbar formte. Und ihre Rätselhaftigkeit ließ nicht nach. Alice verriet nur das absolute Minimum über sich und ihr Leben außerhalb des Palasts und schien einen Teil ihrer selbst versiegelt an einem geheimen Ort aufzubewahren, hinter einer unsichtbaren, aber streng bewachten Grenze. Leonardo hatte langsam den Eindruck, sie könnte von einem anderen Planeten sein. Und er stellte fest, dass er sich verzweifelt wünschte, mehr über sie zu wissen. Doch sollte Alice etwas Ähnliches fühlen, gab sie es in keiner Weise preis. Deshalb blieb das Verhältnis zwischen den beiden mehr oder weniger normal, oberflächlich betrachtet. Zu Beginn des Sommers erbat Alice Urlaub, um ihre Familie zu besuchen, die - wie sie Leonardo berichtete - auf einer der Inseln vor der Nordostküste des Königreichs lebte. Diese Bitte konnte Leonardo ihr schlecht abschlagen und musste darum ein paar Wochen mit sich selbst vorlieb nehmen. Eines Freitagmorgens fand er sich zum ersten Mal seit Monaten wieder persönlich im Gebäude des Anzeigers ein. Wie Veronique ihm erzählt hatte, rückten die Schlangen nun sehr viel schneller voran, und vor den
Schaltern, an denen die Nachrichten angenommen wurden, war deshalb ziemlich wenig los. Ein paar Maler strichen die Wände, und Leonardo fiel auf, dass der Boden inzwischen schwarzweiß gefliest und beun133 ruhigend eben war. Kurz darauf war er bereits an der Reihe. »Ja, bitte?« Diese forsche Frage kam von einer gut gebauten Frau beinahe schon mittleren Alters. Die wappengeschmückte Uniform war beim Anzeiger offensichtlich nicht mehr Vorschrift, denn sie trug eine schwarze Lederjacke, die ihr bis zur Taille reichte, verblüffend viele Taschen hatte und mit einem komplizierten Muster aus Messingnoppen beschlagen war. Die Frau hatte kurz geschnittenes Haar - nur ein zerzauster Pony hing ihr bis über die Augen. Sie trug einen offiziell wirkenden Button, der Leonardo mitteilte, sie heiße Nina, und wohl eine Aufforderung war, sich seinerseits vorzustellen. »Leonardo Pegasus, Magier.« Sie hob eine Braue. »Pegasus? Ach ja. Ja, ich hab von Ihnen gehört. Sie sind doch der neue Boss von Alice, nicht? Mitten in der Umstrukturierung einfach hier aufzuhören, das hat wirklich alles total über den Haufen geworfen. Und natürlich bin gerade ich die Dumme und lande hier am Schalter. Da hab ich mich nie drum gerissen. Der ständige Publikumsverkehr - gräulich! Aber egal - was wollen Sie?« Leonardo war erstaunt über diesen Ausbruch, tastete jedoch unverdrossen die Taschen nach seinem Zettel ab. Sie seufzte. »Nun machen Sie schon. Heutzutage ist die Zeit knapp genug - es werden ja überall Stellen gestrichen. Und die ganzen Formulare! Ich darf die alten nicht mehr benutzen, ich muss die hier nehmen, alle fünf -das dauert ewig! Außerdem sind nie genug da. Ich würde dem Erfinder dieses Systems am liebsten den Hals 134 umdrehen. Ach, haben Sie Ihren Zettel endlich gefunden, ja?« Leonardo verließ den Anzeiger mit dem deutlichen Gefühl, dort unwillkommen zu sein - ein Eindringling. Warum war diese Frau nicht wie Alice gewesen? Er merkte, wie sehr er seine Assistentin vermisste, und fragte sich, ob sie ihm wohl eine Ansichtskarte schreiben würde. Im »Ausrufers Ruh« versuchte Leonardo am Abend, Veronique wenigstens im Ansatz zu erklären, welch komplizierte Gefühle ihn plagten. Er hielt große Stücke auf die Ratschläge des Clowns, denn Veronique hatte die einzigartige und erfrischende Fähigkeit, hinter schwierigen Sachverhalten einfache Zusammenhänge zu erkennen. »Bist du scharf auf sie?«, fragte sie mit ihrem heiseren Lachen. »Klar bist du das. Was meinst du also - wie ist sie im Bett?« Die Bruderschaft der Kartografen Eines Nachmittags gelangten Rusty und Dusty nach schwerem Anstieg an einen ihrer Lieblingsplätze, einen grasbewachsenen Felsvorsprung mit Blick aufs Dorf. Mrs Brown hatte Wochen gebraucht, um sich nach Rustys und Eileens Nacht bei den Fahrenden wieder zu beruhigen, und in dieser Zeit war Rusty gezwungen gewesen, Trost in den stillen Hügeln und der Gesellschaft seines Hundes zu suchen, der keine An135 Sprüche an ihn stellte. Als er nun schläfrig auf dem Rücken lag, spürte er das beruhigende Gewicht von Dustys Kopf auf der Brust. Er zauste das borstige Nackenfell des Hundes, blickte in die Wolken und grübelte über die Engstirnigkeit der Erwachsenen nach. Kaum war er an jenem Morgen zerknirscht nach Hause gekommen, hatte seine Mutter ihn sofort regelrecht abgeführt und in das wenig einladende Haus des Dorfpfarrers gebracht, der ihm eine lange Strafpredigt über die Verderbtheit der Jugend und die schreckliche Vergeltung der Sünden gehalten hatte. Und Eileen hatte von ihrem Vater äußerst strenge Worte gehört und bis auf weiteres Stubenarrest bekommen. Als Rusty einmal an ihrem Haus vorbeigeschlendert war, hatte er sie trostlos am Fenster stehen sehen, doch kaum hatte er zu ihr hochgerufen, hatte sie hastig die Vorhänge geschlossen. Er seufzte verwundert über die Ungerechtigkeit des Ganzen und versank dann in Erinnerungen an Abenteuer ihres gemeinsamen Sommers. Er dachte an einen Nachmittag in den Hügeln zurück, als sie im Gras gelegen und einen Turmfalken betrachtet hatten, der hoch über ihnen stand. Ein Fetzen ihrer damaligen Unterhaltung fiel ihm wieder ein. »Wie wohl die Welt in ihren Augen aussieht?«, hatte Eileen nachdenklich gefragt. »Woher weißt du, dass es ein Weibchen ist?«, hatte er sie geneckt, und sie hatte ihn spielerisch in die Rippen gestoßen. »Das weiß ich eben. Und jetzt knöpf dein Hemd zu -es wird kalt.« Rusty bemühte sich, seine Erinnerungen an das Mäd136 chen beiseite zu schieben, konzentrierte sich stattdessen auf den Turmfalken und versuchte, sich vorzustellen, wie die Landschaft aus der Luft aussehen mochte. Bestimmt sah der Vogel, wie alle Wege, Bäche und Hügelzüge miteinander verbunden waren. Und könnte er sprechen, dann könnte er erklären, wie man von einem Ort zum anderen fand. Vielleicht, dachte er plötzlich, kann er sogar den Fahrenden den Weg ins nächste Dorf zeigen.
Denn in seiner Unterhaltung mit Gideon Blackwood war Rusty über etwas gestolpert, das ihn sehr verblüffte. Er hatte herausfinden wollen, wie die Fahrenden von Ort zu Ort durchs Land fanden und es schafften, stets rechtzeitig auf Jahrmärkte und zu anderen Zusammenkünften zu kommen. Doch obwohl Gideon bereit gewesen war, über alles andere offen zu reden, hatte er bei diesem Thema erstaunlich ausweichend reagiert. Aus seinen einsilbigen Antworten hatte sich Rusty immerhin zusammengereimt, dass die Fahrenden einander nicht erzählten, welchen Weg sie nehmen sollten, um an einen bestimmten Ort zu gelangen, aber auch keine schriftlichen Aufzeichnungen besaßen und keinerlei Karten benutzten. Dieser letzte Punkt faszinierte Rusty besonders. Er hatte auf der höheren Schule im Erdkundeunterricht von der Arbeit der Bruderschaft der Kartografen erfahren, und sein Lehrer hatte beiläufig die außerordentlichen Zeichnungen erwähnt, die die Mitglieder dieser Bruderschaft angeblich herstellten und die sie Landkarten nannten. Rusty war sofort von der Vorstellung begeistert gewesen, dass diese Karten den Eingeweihten, die sie zu lesen vermochten, zeigten, wie die verschiedenen Tei137 le des Landes miteinander verbunden waren, wie die Großstadt mit der Kleinstadt, die Kleinstadt mit dem Dorf über Wege und Flüsse, Trassen und Landstraßen verknüpft war. Doch als er den Erdkundelehrer gefragt hatte, ob er einige dieser Landkarten ausleihen dürfe, um sie sich genauer anzusehen, hatte er erfahren, dass die Arbeiten der Bruderschaft unter Schloss und Riegel gehalten wurden und nur für wenige Privilegierte überhaupt erreichbar waren. Zwar hatte der Lehrer den Jungen nicht entmutigen wollen, weiterhelfen hatte er ihm aber auch nicht können. Als Rusty an jenem Nachmittag nach Hause radelte, kam ihm in den Sinn, dieser Lehrer habe ihm zwar nicht helfen können, womöglich aber könnte es ein anderer. Also beschloss er, bei seinem alten Schulmeister vorbeizusehen. Kurz vor der Furt kam er schlitternd zum Stehen, lehnte sein Rad ans Vorgartentor des Lehrers und ging auf das Haus zu. Musik hörte er keine, doch die Eingangstür war wie üblich angelehnt. Rusty fand den Schulmeister im Wohnzimmer am Couchtisch. Er hatte mindestens fünfzig Einzelteile vor sich ausgebreitet, die alle aus seinem Klavier stammten. »Es funktioniert nicht richtig«, erklärte er und blickte dabei nicht auf. »Ich nehme es einfach auseinander und setze es wieder zusammen. Das haut meistens hin.« Rusty fragte ohne Umschweife: »Sir, wisst Ihr etwas über die Bruderschaft der Kartografen?« Der alte Mann sah ihn mit leicht belustigter, zugleich aber auch etwas vorwurfsvoller Miene an. »Ich habe den Eindruck, Michael Brown interessiert sich allmählich zu sehr für Geheimnisse«, sagte er nach 138 einer langen Pause. »Vielleicht etwas mehr, als ihm gut tut. Ich denke, wir sollten unbedingt eine Tasse Tee trinken, bevor wir über Kartografie sprechen. Lass mich mal eben den Kessel aufsetzen.« Seine Stimme wurde leiser, als er in die Küche ging. »Ach, übrigens, ich glaube, ich hab noch einen Rest Kuchen in der Speisekammer. Ich weiß gar nicht, warum ich den noch nicht gegessen habe - schließlich halte ich Marzipan in meiner Nähe eigentlich nie lange aus.« Nach ein paar Tassen Tee statteten sie dem Bücherschrank im Hinterzimmer endlich einen Besuch ab, und der Junge verließ das Haus mit einem Arm voll verstaubter Bücher und Papiere, die er in sein Zimmer hochschmuggelte, als seine Mutter Wäsche auslieferte. In der Nacht breitete er beim Licht einer flackernden Kerze die Bücher auf dem Bett aus und entdeckte bald, dass die Bruderschaft bereits sehr detaillierte Landkarten von den wichtigsten Städten im Land und von einem Großteil der Küste angefertigt hatte. Sie lagerten alle - so las er - in ihren Tresoren. Dann erfuhr er, gegenwärtig würden die königlichen Landstraßen und deren Umgebung kartografisch erfasst, doch wirklich fasziniert war er davon, dass die seltener besuchten ländlichen Gebiete noch überhaupt nicht vermessen waren - genauso wenig wie die unwirtlichen Gebirgsgegenden und die Inseln vor der Küste. Und er fand heraus, dass die Prinzipien der Kartografie durch die Alte und unverbrüchliche Satzung geschützt waren und keinem außerhalb der Bruderschaft eine Karte zugänglich gemacht werden durfte. Währenddessen schlummerte Dusty, dem Rustys nächtliche Gewohnheiten schon vertraut waren, friedlich in seinem Körbchen. 139 Am nächsten Morgen durchsuchte Rusty die Kommode in seinem Zimmer und wühlte so lange zwischen alten Puppen und Knetgummiklumpen, Drachenresten und Bleisoldaten herum, bis er die flache Blechschachtel mit dem Tuschkasten ausgegraben hatte, den er vor vielen Jahren zum Geburtstag bekommen, einmal kurz ausprobiert und dann vergessen hatte. Unten setzte er sich mit einem sauberen Blatt Kaschierpapier und einer angeschlagenen, halb mit Wasser gefüllten Tasse an den Tisch. Der offene Malkasten lag vor ihm, und der Pinsel ruhte erwartungsvoll zwischen den beiden Farbreihen. Dusty war ganz in der Nähe und schnüffelte neugierig herum. »Was hast du vor?«, rief Mrs Brown - die Arme bis zu den Ellbogen in nassen Laken - aus der Küche herüber. »Ich will versuchen, das Dorf zu malen, wie ein Turmfalke es sieht.« Diese Worte waren eher an sich selbst als an seine Mutter gerichtet. Er runzelte konzentriert die Stirn, tunkte den Pinsel ein, streifte ihn am Tassenrand ab, um das überflüssige Wasser loszuwerden, ließ ihn schäumend im noch unberührten Kästchen mit aquamarinfarbener Tusche kreisen und hielt dann kurz inne, um sich den Verlauf des
Flusses vorzustellen. »Aber denk dran, wir essen in einer Stunde Mittag - dann muss der Tisch geräumt sein.« Rusty war ganz in seine Aufgabe vertieft und antwortete nicht. Mrs Brown schleppte den Waschzuber über den Hof zur Mangel. Inzwischen wusste sie oft nicht mehr, was Rusty eigentlich trieb, doch was immer es war - sie hoffte, es brächte ihn wenigstens nicht auf 140 dumme Gedanken. Wegen des Mädchens jedenfalls hatte er lange genug Trübsal geblasen. Nach diesem ersten, vorsichtigen Versuch verbrachte Rusty einen Großteil seiner Freizeit damit, Landkarten zu malen. Er stellte das Dorf auf verschiedene Weise dar, und als er mit seinen Zeichnungen zufrieden war, wandte er sich der Landschaft ringsum zu. Manchmal verbrachte er ganze Tage in den Hügeln, stellte sich vor, wie ein Turmfalke hoch in der Luft zu schweben und zu entdecken, wie die Feldwege, die Bäche und Wälder miteinander verbunden waren, und übertrug seine Vorstellungen dann mit Tusche auf einen dicken Block Zeichenpapier, der sich allmählich immer stärker wellte. Manchmal bat er Dusty, ihm den Malkasten zu tragen, doch der Hund schien eher daran interessiert, die zu Papierknäueln geballten Fehlversuche seines Herrchens zu apportieren. Im Lauf der Zeit gewöhnte sich Mrs Brown daran, die farbenfrohen Landkarten reihenweise an den Schlafzimmerwänden ihres Sohnes anwachsen zu sehen, und als er ihr ein Jahr später mitteilte, er wolle an der Akademie für Kartografie studieren, stimmte sie dem gern zu. Sie verstand zwar nicht das Geringste von all den merkwürdigen neuen Wissenschaften, aber sie spürte dunkel, dass seine Beschäftigung irgendeinen Nutzen haben könnte. Und sie wusste, dass es in den großen Städten Bedarf für junge Leute mit so einer Ausbildung gab. Sie stellte sich vor, wie ihr Sohn sein Examen ablegen, eine glänzende Karriere machen und sich um sie kümmern würde, wenn sie alt wäre. 141 Laurels letzte Vorstellung »Noch fünf Minuten, Laurel. Die Clowns sind schon dran.« »Bin fast fertig, Madame.« Laurel reckte im trüben Licht des Wohnwagens den Hals, blinzelte sich im angelaufenen Spiegel zu und zog den schwarzen Lippenstift noch mal nach. Schließlich war sie zufrieden, schob sich die Maske über die Augen, zog eine Falte in der Strumpfhose glatt und legte sich ihren Umhang sorgsam um die Schultern. Sie drehte sich nicht um, spürte aber genau, dass Madame Constanzes' runzliges altes Gesicht aus der Tür verschwunden war. Kaum war Laurel allein, beruhigte sie sich wieder ein wenig. Das beengte Gefühl im Unterleib stellte sich vor jedem Auftritt ein, doch heute trug sie an einer weiteren Last, die sie mit niemandem teilen konnte. Diese Vorstellung sollte ihre letzte sein. Es war der Vorabend ihres siebzehnten Geburtstags. Nach dieser Show würde sie die Manege verlassen, und keiner würde sie je wieder ins Zirkusrund bringen können. Obwohl Laurel fast zehn Jahre nur für den Zirkus gelebt hatte, besaß sie noch deutliche Erinnerungen an die Zeit davor. Wie alle Zirkusleute gehörte sie von Geburt an zu den Fahrenden, doch anders als die meisten aus ihrer Truppe war sie nicht in einer Zirkusfamilie zur Welt gekommen. Die Verwandten ihres Vaters waren Straßenarbeiter gewesen, und ihre Mutter hatte ihr erklärt, die Familie müsse herumziehen, um ständig im 142 ganzen Land Straßen auszubessern. Solange Laurel zurückdenken konnte, hatte die Landschaft vor dem Wohnwagenfenster mindestens einmal im Monat gewechselt. Doch ob Straßenarbeiter oder nicht - ihr Vater war der Überzeugung gewesen, Ausbildung sei wichtig, und wenn sie irgendwo länger als ein paar Tage blieben, schickte er seine Tochter stets in die nächste Schule, wo sie immer aufs Neue versuchte, die Fäden des Unterrichts aufzunehmen. Klar, dass Laurels Mutter und Großmutter ihr stets eingeschärft hatten, sich von den Dorfkindern fern zu halten und ihnen nie, niemals ein Geheimnis des fahrenden Volks zu verraten. Und Laurel hatte sich an dieses Versprechen treu gehalten - jedenfalls, bis sie den kleinen rothaarigen Jungen getroffen hatte. Denn er war der Grund für all den Ärger. Es war Frühherbst gewesen, und Laurels Familie hatte vor einem Dorf am Fuße des Hügellands ihr Lager aufgeschlagen. Ihr Vater hatte dort einige Wochen regelmäßiger Arbeit vor sich. Deshalb wurde das Mädchen in die Dorfschule geschickt. Die schien zunächst wie all die anderen zu sein, die sie besucht hatte, doch dann lernte sie noch am ersten Tag einen Jungen namens Michael Brown kennen, der sich irgendwie von den übrigen Dorfkindern unterschied. Sie hatte den Eindruck, auch er halte sich von den anderen fern, und auch er trug - wie Laurel - alte, geflickte und ausgefranste Sachen. Zuerst waren beide misstrauisch gewesen, hatten dann aber schrittweise Vertrauen zueinander gefasst, hatten langsam begonnen, sich Geheimnisse zuzuflüstern, und waren allmählich Freunde 143 geworden. Dann hatte die Mutter des Jungen Laurel sogar eingeladen und ihr zu essen und zu trinken gegeben, doch trotz dieser großzügigen Geste hatte das Mädchen sie als kalt und unglücklich empfunden. Michaels Mutter hatte sie argwöhnisch beobachtet und kein zweites Mal eingeladen. Doch Laurel hatte sich zu dem Jungen weiter auf schwer durchschaubare Weise hingezogen gefühlt und bald darauf an einem nassen Nachmittag auf dem Schulhof plötzlich den Impuls verspürt, zu tun, was ihre Großmutter ihr strengstens verboten hatte. Im ersten Moment schien der Verrat des Geheimnisses keine große
Sache zu sein, aber als ihre Familie herausbekam, was geschehen war, wurde Laurel sofort aus der Schule genommen und musste bis zur Weiterreise im Wohnwagen bleiben. Es schauderte sie, als sie an die Tracht Prügel dachte, die sie von ihrem Vater bezogen hatte, an die Tränen ihrer Mutter, an den Zorn und die Verblüffung im Gesicht ihrer Großmutter. Bald darauf begann Laurels Zeit im Zirkus. Dort wurde sie sofort unter die Vormundschaft von Madame Constanzas gestellt, einer sehr kleinen, runzligen alten Dame, die nur unter großen Anstrengungen und mit Hilfe eines dicken, knorrigen Stocks umherhumpeln konnte. Mit einem ihrer Söhne leitete Madame den Zirkus und saß nicht nur an der Kasse, sondern war auch für artistisches Training und schulische Ausbildung der Zirkuskinder zuständig. »Ich hab nicht immer ausgesehen wie jetzt«, sagte Madame an Laurels erstem Tag. »Zu meiner Zeit war ich eine große Seiltänzerin. Die Welt lag mir zu Füßen. 144 Bis das passiert ist.« Bei diesen Worten klopfte sie zweimal mit dem Stock auf den Boden ihres Wohnwagens. Jeden Morgen war Training. Zunächst hatte Laurel großen Spaß daran - das war mal etwas Neues! Sie zeigte eine natürliche artistische Begabung und lernte rasch die Grundlagen von Jonglieren, Bodenakrobatik und Seiltanz. Sie war noch keine drei Monate im Zirkus, da war sie schon das erste Mal in der Manege aufgetreten. Doch als sie den Furcht erregenden Radau der Menge hörte, all das Brüllen, Stampfen und Pfeifen, bekam sie bald eine Angst, die sie nicht mehr loswurde. Es dauerte nicht lange, und sie hatte ihre anfängliche Begeisterung verloren und nur noch Angst vor der Manege und Hass und Verachtung für die Zuschauer, die sie angafften. Obwohl sie eine immer bessere Akrobatin wurde, trat sie stets mürrischer und gleichgültiger auf, was Madame Constanzas zur Verzweiflung trieb. »Warum musst du bloß so sein?«, wollte die alte Dame eines Morgens wissen. »Ich hasse die Manege«, schluchzte Laurel. »Ich will zu meiner Mutter zurück.« »Das geht nicht, und das weißt du«, knurrte Madame. »Dein Vater hat deinen Lehrvertrag unterschrieben. Du bist an dieses Leben gebunden, bis du volljährig wirst. Jetzt hör auf zu weinen und zeig mir noch mal deinen Salto.« Ohne die Zusammenhänge klar zu durchschauen, verband Laurel ihr Unglück irgendwie mit dem rothaarigen Jungen, dem sie das Geheimnis zugeflüstert hatte. Nachdem sie darüber einige Zeit nachgegrübelt hatte, nahm sie eines Tages ihren Mut zusammen und 145 fragte Madame Constanzas, ob an diesem Eindruck etwas dran sei. Die alte Dame hörte aufmerksam zu. »Zerbrich dir darüber nicht den Kopf, Kind«, sagte sie schließlich. »Alles klärt sich im Lauf der Zeit. Aber erst mal musst du hart arbeiten und Geduld haben.« Laurel war mit dieser Antwort nicht zufrieden, neigte aber nicht dazu, ihr Seelenleben zu beobachten, und fand bald andere Dinge, um sich zu beschäftigen. Denn als sie älter wurde, merkte sie, dass einige Jungen in den Dörfern sich auf ganz neue Weise für sie interessierten. Merkwürdige und unbeholfene Wesen waren das, die sie heimlich aus den Augenwinkeln beobachteten und etwas vor sich hin nuschelten, weil sie anscheinend unfähig waren, klar zu sagen, was sie meinten. Dieses Verhalten brachte Laurel durcheinander, und sie war zunächst unsicher, wie sie damit umgehen sollte. Schließlich gelangte sie zu der Überzeugung, ihre ganzen Schwierigkeiten rührten nur daher, dass sie sich einst mit dem rothaarigen Jungen befreundet hatte. Also beschloss sie, so etwas nie wieder zuzulassen. Egal, was all die Jungen wollten - von ihr würden sie es nicht bekommen. Mit der Zeit lernte sie von den anderen Mädchen im Zirkus, sich unter den vielen Zuschauern einen Jungen auszusuchen, ihn mit Blicken und Versprechungen zu verführen und ihn in einen wahren Taumel der Vorlust zu stürzen. Und dann lernte sie, ihn zu täuschen, zu bestehlen und auf hundert Arten zu erniedrigen. Dabei wusste sie stets, dass der Zirkus am nächsten Tag weiterzog und sie ihren Verehrer vom Vorabend nie mehr zu Gesicht bekäme. Auch wenn sie dem Rotschopf also nicht wieder begegnen würde, konnte sie sich so an seinesgleichen rächen. 146 Doch erst als Laurel lernte, Messer zu werfen, vermochte sie ihrer geballten Wut wirklich Ausdruck zu verleihen. Sie trat mit zwei jungen Männern in einer Trapeznummer auf, als ein Elefant den alten Messerwerfer niedertrampelte, sodass der sich aus der Manege verabschieden musste. Laurel hatte schon lange bewundert, wie kunstfertig der Mann mit den Messern umging, und bat Madame nun, seine Nummer übernehmen zu dürfen. Zunächst war die alte Dame davon gar nicht begeistert, willigte aber schließlich ein. Nach ein paar Wochen Arbeit verwandelte Laurel den langweiligen Auftritt allmählich in ihre ganz persönliche Nummer. Im Lauf der Zeit stellte sie fest, dass sie immer mehr von ihrer Wut, ihrem Ärger und ihrem Hass in den Auftritt einbauen konnte, und während sie zur Frau heranwuchs, entwickelte sie einen Wurfstil, dessen Aggressivität jeden Mann im Zuschauerraum ergriff und fesselte. Sie genoss die neu entdeckte Macht über ihr Publikum in vollen Zügen und glaubte manchmal sogar, in die Träume der männlichen Zirkusbesucher schlüpfen zu können, um sie zu verhöhnen, während ihre Frauen ahnungslos neben ihnen schnarchten. Und wann immer ein Mann oder ein Junge es wagte, die Grenze zwischen Artist und Zuschauer zu überschreiten, schleuderte sie ihm eine solche Feindseligkeit und Verachtung entgegen, dass ihm seine Sünde quälend bewusst wurde.
Madame Constanzas und ihr Sohn waren über diese offen zur Schau getragene Gehässigkeit erst sehr beunruhigt, stellten aber bald überrascht und erfreut fest, dass die Einnahmen steil anstiegen. Sie boten Laurel 147 an, sie auf Plakaten groß herauszubringen, und stellten ihr ein stattliches Gehalt in Aussicht, doch daran hatte sie kein Interesse, denn der Groll schwelte in ihrem Herzen so wütend weiter wie bisher. Und ihr war klar, dass sie nur bis zur Volljährigkeit an den Zirkus gebunden war - danach war sie frei und konnte gehen, wohin sie mochte. An ihrem siebzehnten Geburtstag würde ihre Haft zu Ende sein. Nach einer flüchtigen Verbeugung vor dem Publikum schnappte Laurel sich ihren Umhang, hatte Manege und Zelt schon verlassen, ehe der Applaus verebbte, und suchte sich zwischen all den Pfützen rasch einen Weg zu ihrem Wohnwagen, den sie mit Madame teilte. Sie wusste, dass ihre Chefin an der Kasse saß und die Tageseinnahmen zählte, und konnte sich darauf verlassen, noch ein paar Minuten allein zu sein. Sie vergewisserte sich, dass die Vorhänge fest zugezogen waren, schälte sich ein letztes Mal aus ihrem Trikot und warf es wie immer auf den Boden des Wagens, damit Madame es wegräumte. Dann zog sie ihre Reisekleider an, ohne sich vorher zu waschen oder abzuschminken, langte unter die Frisierkommode und holte die Tasche hervor, die sie vor der Vorstellung dort versteckt hatte, legte ihren Satz Wurfmesser hinein und machte sich rasch auf den Weg zum Hintereingang des Zirkuslagers. Sie schlich an den Wohnwagen entlang und hielt sich dabei stets im Dunkeln. Als sie um die Ecke des letzten Wagens kam und schon fast am Ausgang des Lagers war, trat ihr die kleine Gestalt von Madame Constanzas unvermittelt in den Weg. 148 »Madame, ich war gerade...«, begann sie zu stammeln, doch die alte Dame unterbrach sie. »Ich weiß, Kind, ich weiß. Sag nichts mehr. Morgen bist du siebzehn, und der Zirkus kann dich nicht länger halten. Ich hatte inständig gehofft, du würdest bei uns bleiben, denn du bist für die Manege ungemein begabt, aber in Wahrheit hast du stets deinen eigenen Kopf gehabt.« Sie musterte das Mädchen unerschrocken. Plötzlich spürte Laurel sich den Tränen nah. »Ach, Madame, ich wollte nicht, dass es so endet. Aber ich bin hier nie glücklich gewesen und habe Euch das auch manches Mal gesagt, und -« »Schon gut, Kind, schon gut. Du musst tun, was für dich richtig ist. Und du weißt ja, dass du hier immer ein Zuhause hast, wenn du zurückkehren willst. Aber heute Nacht und in vielen kommenden Nächten hast du einen langen Weg vor dir. Also geh jetzt, rasch, bevor du es dir anders überlegst. Möge das Glück dir hold sein!« Damit drehte die alte Dame sich um und humpelte wieder ins Zelt. Laurel zögerte einen Moment. Sie warf einen Blick zurück auf die vertrauten Lichter des Zirkus und sah dann nach vorn auf die Straße, die steil in die Hügel anstieg. Vielleicht gab es dort wilde Tiere. Oder Banditen. Sie langte in die Reisetasche und ertastete eine geschwungene Messerklinge. Ein warmes Gefühl lief durch ihren Bauch. Die Messer würden in Zukunft ihre Freunde sein - andere Freunde brauchte sie nicht. Dann zog Laurel sich den Umhang fester um die 149 Schultern, schniefte die Tränen weg und verschwand mit großen Schritten in die Nacht. Die schwarzen Flaggen Auf seinem morgendlichen Weg zur Arbeit war Leonardo einmal mehr in Gedanken versunken. Natürlich dachte er nicht über seine unmittelbare Umgebung nach, sondern konzentrierte sich diesmal auf die schwierige Aufgabe, sich Alices linke Kniescheibe zu vergegenwärtigen. Die hatte tags zuvor in der Kaffeepause seine Aufmerksamkeit erregt, als Alice im Sitzen einen Fuß auf die Stuhlfläche gestellt und das Knie an die Schulter gedrückt hatte. Doch obwohl Leonardo derart schwer wiegenden Problemen nachhing, konnte er nicht umhin zu bemerken, dass das Leben ringsum merkwürdig gedämpft verlief. Auf den Straßen gab es wenig Verkehr, auf dem Bürgersteig kaum Leute, und auf dem Markt waren alle Stände geschlossen. Eine Befürchtung stieg in ihm auf, und als er auf die Durchgangsstraße kam, sah er, dass er Recht gehabt hatte: Vom Dach der Palastpforte wehten schwarze Flaggen - der König war gestorben. Eine kurze Unterhaltung mit dem Wachposten bestätigte das. »Ich glaube, jetzt nehme ich meinen Abschied«, sagte der alte Soldat nachdenklich. »Mit diesen ganzen Veränderungen komm ich nicht mehr zurecht. Ich hoffe bloß, Bessie und ich können von meiner Abfindung leben.« 150 Als Leonardo in die Werkstatt kam, öffnete Alice gerade die Morgenpost. »Der junge Prinz Matt scheint ein recht kluger Kopf zu sein«, erklärte sie munter. »Es schadet gewiss nicht, dass er den Thron besteigt.« Leonardo war da nicht so sicher. Er trieb sich ziellos im Magischen Theater herum, stierte niedergeschlagen auf die Modellbühnen, deren Figuren reglos und verlassen dastanden, und dachte daran, wie abfällig der Prinz sich über das Drum und Dran seiner Kunst geäußert und von »Spielsachen und Puppen« gesprochen hatte. Leonardo nahm einen Miniatur-Kavalleristen vom Modell auf der Hauptbühne und drehte ihn hin und her. Die stecknadelkopfgroßen Augen des Soldaten starrten ihn dumm an. Der Magier fragte sich zuerst nur, ob der neue König den Feldzug im Süden fortsetzen würde, dann aber, ob er auch nur einige der alten Traditionen
beibehielte. Er erwog, sich auf einen Kaffee mit Alice zusammenzusetzen, entschied dann aber, dass er ihren naiven Optimismus im Moment nicht brauchen konnte - wohl aber eine frühe Mittagspause. Also stürzte er Richtung Taverne davon und ließ seine Assistentin, die ihm verblüfft nachsah, einfach stehen. Das »Ausrufers Ruh« schien der einzige Ort in der Stadt zu sein, wo an diesem Tag etwas los war. Das schmale Lokal wimmelte bereits von Gästen, und jeder wollte seine Ansichten darüber loswerden, welche Veränderungen der neue König vornehmen würde. Leonardo schnappte manchen Gesprächsfetzen auf, als er sich durch die Menge drängte. 151 »Egal, was passiert, die Leute müssen erfahren, welche Neuerungen im Königreich anstehen...« »Er schien sehr an meinen Kristallen interessiert, als er das Laboratorium besucht hat...« »Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihm an wappengeschmückten Gewändern viel liegt. Du solltest mal die Entwürfe für die neue Hoftracht sehen...« »Es heißt, er will die Unterstadt in Schutt und Asche legen lassen...« Aus dem wilden Durcheinander der Gespräche konnte Leonardo manches heraushören: Sorge, Selbstgefälligkeit, Paranoia, Draufgängertum und - panische Angst. »Du jedenfalls bist fein raus, Supermagier«, krächzte eine vertraute Stimme neben seinem Ellbogen. »Denn eins wird er bestimmt tun...« Leonardo blickte verdutzt drein. »... Zukunftspläne machen!« Zwei Stunden später saßen Leonardo und Veronique sich am langen Tisch im Hinterzimmer gegenüber und steckten betrunken die Köpfe zusammen. »Was ich dir schon die ganze Zeit zu erklären versuche...«, sagte Veronique ziemlich undeutlich, »...dieser neue Prinz, nein, König, schätz ich mal, jetzt jedenfalls... dieser neue König also... ist ein elender kleiner Miesepeter.« Sie betonte jedes Wort, indem sie ihr Bier auf den Tisch knallte und dabei jede Menge verschüttete. »Alles, was lustig ist... oder albern... oder lustig... oder...« »...keinem praktischen Zweck dient?«, schlug Leonardo vor, der im betrunkenen Zustand besser darin 152 war, die Gedanken anderer zusammenzufassen, als selbst welche zu entwickeln. »Genau, mein alter Hexenmeister, genau - keinem praktischen Zweck dient! Das hast du schön gesagt. Das hätte selbst ich nicht schöner sagen können... ja - keinem praktischen Zweck dient. Ja... genau... Was wollte ich gerade sagen?« »Dass der neue König einen unterentwickelten Sinn für Humor hat.« »Genau so ist das, haargenau so. Er ist ein elender kleiner Miesepeter.« Veronique knallte wieder mit ihrem Bier herum und wurde so auch den letzten Rest los. »Der wird keine Narren haben wollen und keine Clowns. Demnächst wird unsere ganze Abteilung geschlossen - einfach so. Du wirst schon sehen.« »Magst du noch ein Bier?«, fragte Leonardo. »Warte mal. Wo war ich stehen geblieben?« »Dabei, dass eure Abteilung geschlossen wird.« »Geschlossen, dichtgemacht, stillgelegt, aus und vorbei. Genau. Aber euch Magiern, euch wird nichts passieren. Er ist so furchtbar ernst, weißt du - das ist mit ihm los. Die Zukunft, die ist ihm wichtig. Er wird viele Leute von deinem Schlag brauchen. Euch wird es prima ergehen. Aber außer euch vermutlich kaum jemandem.« Das schien Veronique sehr witzig zu finden und wiederholte es mehrmals zwischen heiseren Lachanfällen, bei denen ihr Tränen über die weiß geschminkten Wangen liefen. »Ich bin mir da nicht so sicher«, sagte Leonardo schließlich. »Als er mich besucht hat, schien er von meinen Gerätschaften nicht besonders beeindruckt.« 153 »Das ist bloß seine Art.« Veronique wischte sich die Tränen aus den Augen. »Dieser elende Miesepeter. Lässt sich kaum was anmerken und macht aus seinem Herzen eine Mördergrube.« »Allerdings«, pflichtete Leonardo ihr bei. »Ich zahl dann mal für uns, was?« Kaum war der alte König begraben und eine angemessene Trauerfrist verstrichen, ließ König Matt durch die Ausrufer bekannt geben, demnächst seien wichtige Veränderungen in der Verwaltung der Hauptstadt zu erwarten. Neue Behörden würden eingerichtet und alte geschlossen. Für manche der älteren Leute werde es neue Aufgaben geben, manch andere dagegen würden keine Aufgabe mehr haben. In alphabetischer Reihenfolge wurde ein Berater nach dem anderen vor den König zitiert, um sein berufliches Schicksal zu erfahren. Einige verließen den Thronsaal mit triumphierendem Lächeln, doch diese wenigen blieben unter sich und wollten offenbar nicht verraten, was sie gesagt bekommen hatten. Weitaus mehr Berater allerdings verließen den Saal unglücklich, wütend oder verwirrt. Deshalb war auch das monatliche Beraterplenum diesmal eine düstere Veranstaltung. Viele Anwesende hielten Abschiedsreden, einige wenige wichen heiklen Themen geschickt aus, und die, deren Name - wie der Leonardos - eher am Ende des Alphabets stand, äußerten sich nicht, da sie noch nicht wussten, was sie erwartete. Der traditionelle Umtrunk nach der Sitzung dauerte diesmal bis tief in die Nacht und verlief ungewöhnlich
gefühlsbetont. Als Leonardo schließlich nach Hause kam, stellte er 154 fest, dass die Aufzug-Ponys noch immer um den alten König trauerten und er einmal mehr die Treppe nehmen musste. »Respekt muss sein, Chef«, sagte der Fahrstuhlführer trübselig. »Alles andere wäre unanständig.« Die Forschungsreise in die Berge Nach den Vorschriften der Akademie für Kartografie war es den Studenten streng verboten, in ihrem Gebäudetrakt Tiere zu halten. Als Rusty seinen Schrankkoffer in jenem Herbst vom Wagen des Spediteurs gewuchtet hatte, war es deshalb seine erste Aufgabe, in der Stadt einen entgegenkommenden Vermieter zu finden, der sich an Dustys Gegenwart nicht störte. Das war lästig für Rusty, der seinen schweren Koffer von Tür zu Tür schleppen musste, aber auch für Dusty, der kein junger Hund mehr war und den lange Spaziergänge nicht mehr so begeisterten wie früher. Doch schließlich konnten sie Mrs Roberts ausfindig machen, eine große, gutmütige Frau, die ständig einen Staubwedel in der Hand hielt. Sie hatte das Haus voller Hunde und war froh, noch einen dazuzubekommen. Leider lebte sie ziemlich weit von den Hörsälen der Akademie entfernt, und obwohl Rusty ganz froh war, jeden Tag mit einem langen Spaziergang zu beginnen, wünschte Dusty sich schnell, sein Herrchen musste nicht ganz so viele Vorlesungen besuchen. Rusty genoss sein neues Leben, arbeitete hart und hatte bald eine Reihe gleich gesinnter junger Männer 155 und Frauen kennen gelernt. Weil sein Hund ihn überallhin begleitete, war Rusty unter den Studenten rasch bekannt. Seiner Mutter schrieb er jede Woche und vertraute die Briefe einem komplizierten Netzwerk aus Spediteuren und Fahrenden an - der damals einzigen Nachrichtenverbindung zwischen der Hauptstadt und den abgelegenen Kleinstädten sowie deren Hinterland. Am Ende des ersten Studienjahrs bekamen die Studenten eine Ferienaufgabe gestellt. Sie sollten in Kleingruppen in eine Gegend des Landes reisen, von der es noch keine Karten gab, dort ein bestimmtes Gebiet erforschen und eine Landkarte davon anfertigen, die Wege, Hügel, Dörfer und Flüsse verzeichnete. Die meisten Studenten wollten mit ihren Freunden eine Arbeitsgruppe bilden, um ihrer Forschungsreise obendrein ein wenig Urlaubscharakter zu verleihen. Auch Rusty fand schließlich passende Begleiter und erfuhr kurz darauf, dass seine Gruppe in die Ausläufer eines entlegenen Gebirges reisen und dort die südlichen Hänge eines kleineren Gipfels erkunden und kartieren sollte. Rusty fragte die anderen, ob Dusty sie auf der Reise begleiten dürfe, und sie hatten nichts dagegen. »Du hast dich gestern Abend ganz schön aufgeregt!« Wie üblich saß Tom Slater als Erster unten am Frühstückstisch. Rusty sah ihn einen großen Teller Gebratenes entschlossen in sich hineinstopfen, wobei seine langen Beine merkwürdig unter dem kleinen Tisch hervorsahen. Mit vom Schlaf zerzaustem Haar musterte Rusty skeptisch das Büffet und fragte sich, ob Dusty scharf gewürztes Grillfleisch mögen würde. In den letzten Tagen hatten die vier Studenten der Güte und Stär156 ke des hiesigen Biers abends stets umfangreiche und gründliche Untersuchungen gewidmet, und gestern hatte sich gegen Ende des Gelages ein von Konkurrenzdenken geprägter Ton ins Gespräch geschlichen. »Ich hab eben nicht gleich klein beigegeben - anders als manch anderer«, gab Rusty zurück, entschied sich nach einigem Zögern für Haferbrei, gabelte für Dusty durchwachsenen Speck auf einen Teller und setzte sich zu seinem Freund. »Gibt's ein Lebenszeichen von Charles und Sally?« Tom warf einen Seitenblick in Richtung der Schlafzimmer. »Ich schätze, die werden wir erst in ein paar Stunden zu sehen kriegen. Hast du sie in der Nacht gehört? Gut, dass wenigstens du mir nicht den Schlaf raubst.« Die Aussicht, wieder erst spät in die Berge zu kommen, ärgerte Rusty etwas, doch er sagte nichts. Vielleicht nahm er die Arbeit ernster als seine Kommilitonen. Wie dem auch sei - die Aufgabe war ziemlich einfach, und sie hatten noch jede Menge Zeit. Er schenkte sich Kaffee nach. Von der Theke aus beobachtete der Gastwirt die jungen Männer, die in einer Ecke des Lokals frühstückten, mit gleichmütiger Neugier. Die Berge schienen alle möglichen Leute anzuziehen. Im Laufe seines Lebens hatte er Milizsoldaten beherbergt, die Banditen auf der Spur waren, aber auch Banditen auf der Flucht vor der Miliz, daneben Gesundheitsapostel, die in der dünnen Bergluft mit großen Augen Erleuchtung suchten, und ernsthafte Wissenschaftler, die Kräuter sammelten und studierten, dann Leute mit scharfen Gesichtszügen, 157 die Schädlinge untersuchten, aber auch Menschen, die ohne nachvollziehbaren Grund einfach einen Gipfel nach dem anderen erkletterten... und jetzt diese vier Halbwüchsigen, die Tag für Tag loszogen und mit seltsamen Grafiken zurückkehrten, die sie auffällig unauffällig versteckt hielten. Landkarten nannten sie die. Er zuckte die Achseln. Ich versteh einfach nicht, was die Leute an den Bergen finden, dachte er. Da oben ist es doch bloß kalt, unwirtlich und gefährlich. Was haben die nur alle dagegen, gemütlich am Kamin zu sitzen? Später döste Dusty in der Morgensonne, während Rusty auf der Veranda des Gasthauses saß und die Träger seines Rucksacks einstellte. Heute war er dran, die Ausrüstung zu schleppen, und hatte schon einige Zeit damit verbracht, die schweren Oktanten und die Geräte für die trigonometrische Vermessung des Geländes in den
Leinensack zu zwängen. Schließlich war er mit dem Ergebnis zufrieden, schob die Füße in seine klobigen Wanderstiefel und rollte die dicken grauen Socken bis in Knöchelhöhe ab. Dabei dachte er an seine Mutter und lächelte bei der Erinnerung daran, wie oft sie wegen seiner Socken geschimpft hatte. Schließlich war er fertig und blickte auf. Fächerförmig breitete sich das Gebirgspanorama vor ihm aus. Im Vordergrund lag ein sanft gewelltes Hochland, das den grünen Hügeln seiner Heimat ähnelte. Dahinter erhoben sich zerklüftete Berge, deren Spitzen im Dunst lagen. Nur der niedrige Gipfel, den sie diese Woche kartografisch erfassen sollten, war gerade eben zu erkennen. Die würzige, ungewohnte Bergluft kitzelte ihn in der Nase. 158 Am späten Vormittag waren sie endlich unterwegs. Bevor sie mit der Arbeit beginnen konnten, hatten sie eine lange Steigung vor sich. Tom eilte mit großen, federnden Schritten den steilen Pfad voraus. Charles und Sally, die selbst nach den Anstrengungen der letzten Nacht vor Energie geradezu platzten, folgten ihm dichtauf und Seit an Seit. Rusty bildete die Nachhut, weil Dusty, der bereits bereute, mit auf die Reise gekommen zu sein, ihn ziemlich bremste. Als die anderen die erste Biegung erreichten, drehte Sally sich um und rief: »Wir warten an der Brücke gleich hinter der Abzweigung auf dich.« Sie stiegen eine Stunde ununterbrochen bergan, bis das grasige Hochland in felsigeres Gelände überging. Dusty musste immer häufiger Rast machen, und Rusty hatte seine Kameraden deshalb längst aus dem Blick verloren. Als er die Abzweigung erreichte, nahm er den Rucksack von den Schultern, setzte sich darauf und fragte sich, welchen Weg er einschlagen musste. Er versuchte, sich an die Unterhaltung vom Vorabend zu erinnern und war sicher, dass Sally gesagt hatte, er müsse nach rechts gehen, doch der rechte Pfad schien abwärts zu führen und konnte darum nur der falsche sein. Er zögerte, bis Dusty, der seinen toten Punkt überwunden hatte, frohgemut den linken Pfad einschlug. Rusty wusste, dass sein Hund einen guten Orientierungssinn besaß, und hatte ihm zu vertrauen gelernt. Also setzte er seinen Rucksack wieder auf und folgte ihm. Beim Anstieg wurde die Luft immer feuchter und kühler. Rusty hielt einen Moment inne und knöpfte seine 159 Windjacke zu. Vor ihm wurde es langsam neblig, doch solange er auf dem Pfad bliebe, wäre er in Sicherheit. Die anderen würden an der Brücke auf ihn warten... Der Nebel wurde immer dichter, und er konnte die Umrisse der Hügel rechts und links nicht mehr erkennen. Er merkte, dass er schon zu lange auf diesem Pfad unterwegs war. Er hätte die Brücke etwa fünf Minuten nach der Abzweigung erreichen sollen. Dusty musste ihm den falschen Weg gewiesen haben. Ängstlich geworden, drehte er sich langsam um. Vor ihm tauchte bedrohlich eine hoch gewachsene Gestalt auf, die er im Nebel nur schemenhaft erkennen konnte. »Tom?« Keine Antwort. Er fuhr erneut herum und sah eine weitere Gestalt hinter sich, dann andere links und rechts. Umzingelt! Er wollte schlucken, doch seine Kehle war ganz trocken. Dann langte er nach Dustys Halsband. Der Hund zitterte, und sein Fell sträubte sich heftig. »Sally? Charles?« Der Kreis zog sich enger. Sein Herz begann zu rasen, als die Gestalten schweigend auf ihn zukamen. Jetzt sah er, dass ihre Gesichter hinter Schal oder Halstuch verborgen waren. Eine geschwungene Bronzeschneide fiel ihm glitzernd ins Auge, und er begriff erschrocken, dass sie ihre Messer gezogen hatten. Banditen! Er begann zu zittern. Er hatte Geschichten über die Banditen gehört, über diese Scharen verzweifelter Gestalten, die durch die Berge streiften und ihre Opfer erst töteten und dann ausraubten. Der Junge und sein Hund erstarrten vor Angst, als der Räuberhauptmann drohend auf sie zukam. Eine geschwungene Schneide funkelte 160 auf, und hinter einer schwarzen Maske glitzerten kalte Augen. Und dann machte Dusty einen Schritt voran in die Stille, hob den Kopf und heulte. Der Räuberhauptmann blickte erschrocken auf den kleinen Hund, dann zu Rusty und wieder hinunter auf den Hund. In diesem Moment ging etwas zwischen den dreien hindurch -etwas, das Rusty nicht begreifen, benennen oder beherrschen konnte. Doch es ging zwischen ihnen hindurch ... Und dann machte die ganze Bande - auf einen knappen, scharfen Befehl ihres Anführers hin - auf dem Absatz kehrt und verschwand im Nebel. Und Rusty begriff verwirrt und benommen, dass er mit dem Leben davongekommen war. Und er wusste auch, dass der Anführer der Banditen kein Mann, sondern eine Frau gewesen war, eine junge Frau in seinem Alter und mit großen dunklen Augen, auf deren Grund ein kaltes Feuer brannte. Dustys Heulen hatte Rustys Gefährten alarmiert, die nicht weit entfernt gewesen waren. Nun rannten sie ihnen zu Hilfe. Mit seinen langen Beinen kam Tom als Erster an und sah Rusty sprachlos und wie angewurzelt dastehen. Und zu seinen Füßen lag Dusty, reglos und schlaff. Der Gastwirt hatte viele Leute in die Berge ziehen sehen, und nicht wenige waren verändert zurückgekehrt. Deshalb war er nicht allzu überrascht, als die vier Studenten der Kartografie an diesem Tag früher zurückkamen als erwartet und verwirrt und ängstlich wirkten. Den rothaarigen Jungen mit dem Hund schien es am schlimmsten erwischt zu haben, denn er blickte 161 wild um sich, und seine Kleider waren in unordentlichem Zustand. Er hielt den Hund in den Armen und drückte
ihn fest an die Brust, schien ansonsten aber keinerlei Kraft mehr zu haben. Die beiden anderen Jungen hatten Mühe, ihn aufrecht zu halten, während das Mädchen einen unklaren Bericht des Geschehens herunterrasselte. Den Gastwirt ließ das kalt. Er würde ihnen Suppe aufs Zimmer und dann nach dem Landarzt schicken. Mochte der Junge sich ruhig ausgiebig im Bett erholen, solange er nur dafür bezahlte. Der Wirt hatte schon Leute in schlimmerem Zustand aus den Bergen zurückkehren sehen. Rusty lag drei Tage fiebernd im Bett. Er aß nichts, schlief unruhig, fantasierte unzusammenhängend und schien nichts von dem zu verstehen, was man ihm sagte. Der Arzt riet seinen Freunden, ihm Zeit zu lassen und ihn erst nach Hause zu bringen, wenn es ihm wieder einigermaßen gut ginge. Also ließen sie ihm Zeit. Und Rusty träumte. Wellen schlugen gegen das Boot. »Sieht schlecht aus, Junge«, sagte der Fährmann schließlich. »Ich kann dich nicht weiterbringen. Von jetzt an bist du auf dich allein gestellt.« Dann der Sturz ins schwarze Wasser. Einen Moment umgab ihn tiefste Nacht, dann aber kam etwas durch die Dunkelheit auf ihn zu... zwei Dinge offenbar, die nebeneinander lagen... Sie sahen aus wie... Augen. Die Augen hinter der Maske. Etwas war aus diesen Augen aufgestiegen und erst durch seinen Hund, dann durch ihn hindurchgegangen und wieder in die Augen zurückgekehrt, um im kalten Feuer auf ihrem Grund zu 162 verschwinden. Die Augen hinter der Maske. Laurels Augen. Etwas war durch sie drei hindurchgegangen und hatte sie verbunden. Etwas wie ein Pfad, ein Geflecht, vielleicht ein Netz... Und mitten in diesem Netz lag etwas vor ihm verborgen, ein leerer Raum, ein schwarzes Loch, ein Rätsel... oder eher ein Geheimnis. Das Geheimnis im Zentrum des Labyrinths. Laurels Geheimnis, das im Mittelpunkt dieses dunklen, verborgenen Orts wohnte und im Netz der Pfade gefangen war, in diesem Netz, das den Hund, das Mädchen und ihn selbst verband. Er spürte die Last des dunklen Orts um sich herum, dunkle Falten eines schweren Stoffs, ein Umhang vielleicht oder Vorhänge, ja, Vorhänge, die ein Puppentheater verbargen, auf dem eine Marionettenaufführung stattfand... Wenn er nur diese Vorhänge beiseite schieben könnte... Er tastete sich durch die Schwärze vorwärts, erkundete den Boden, die Decke und die Wände des dunklen Orts und konnte so den Umriss des Geheimnisses erspüren, das Rascheln seiner Falten hören, seinen muffigen Geruch einatmen, den Geruch von etwas längst Begrabenem - begraben wie ein Knochen, den Dusty irgendwo verscharrt haben mochte... Dusty, der Wächter des Knochens in all den Jahren... und das Geheimnis, wie nur Dusty es kennen konnte, seine Gestalt, seinen Geruch... Nichts, was er deutlich vor sich sah oder in Worte fassen konnte... Wenn nur diese Vorhänge aufgingen... Das Labyrinth geheimer Pfade erstreckte sich in jede Richtung, verband Dusty, das Mädchen und ihn selbst unsichtbar miteinander, reichte über sie hinaus, ver163 band sie mit anderen Wesen in der Nähe, wuchs weiter, verzweigte sich und umspannte immer mehr Geschöpfe, und diese unsichtbare Menge im Hintergrund war durch das unendliche und filigrane Fadenwerk verbunden... Er konnte die Fäden fühlen, eine Hand voll von ihnen greifen und daran ziehen... Und als er zog, teilten sich die Vorhänge der Puppenbühne einen Moment, und er sah ganz kurz zwei Gestalten: einen dunkelhaarigen Mann, der den Arm um die Schultern eines blonden Mädchens gelegt hatte... Der Mann war ihm unbekannt, doch das Gesicht des Mädchens kannte er, und sie hatte eine sanfte Stimme, die er schon sein Leben lang zu kennen glaubte, eine beruhigende, Sicherheit gebende Stimme, eine Stimme, die... Dann ging der Vorhang wieder zu, und er war erneut im Dunkeln, in einem heißen, hämmernden Dunkel, wo das Weberschiffchen hin und her jagte und Kettfäden und Schussfaden ineinander griffen und ein Gewebe aus harten, pulsierenden Fäden bildeten, die kratzten und zerrten und wie kaltes Feuer brannten... wie das kalte Feuer am Grund der dunklen Augen eines schwarzhaarigen Mädchens, das ein Geheimnis zu verraten hatte, ein Geheimnis, das so lange im Herzen eines kleinen Hundes geschlummert hatte und nun endlich Rusty Brown allein gehörte. Und er erinnerte sich an eine Frage, die er einmal seiner Mutter gestellt hatte: »Haben alle Fahrenden Augen wie Laurel?« Und seine Mutter hatte geantwortet: »Ich glaube, ihre Augen sind mir nie aufgefallen.« 164 Tage der Verwirrung Schließlich erhielt auch Leonardo Pegasus die Vorladung in König Matts Thronsaal und beschloss, sich angesichts der Bedeutung des Anlasses ins volle Ornat der Bruderschaft der Magier zu werfen, also den bodenlangen, wattierten, sehr feierlich wirkenden Talar, die Spitzenstiefel und den Hut mit der besonders breiten Krempe anzuziehen. Er hatte erwogen, Alice zu bitten, ihn als Schleppenträgerin zu begleiten, dann aber entschieden, es sei angebrachter, allein zu erscheinen. Erst als er in all seiner funkelnden Pracht in den Thronsaal geführt wurde, erkannte er, dass er die Situation falsch eingeschätzt hatte. Der junge König trug keine Hoftracht und war noch nicht einmal halbwegs formell gekleidet. Er hatte ein schlichtes, dunkelgraues Jackett und eine entsprechende Hose an, eine weiße Bluse mit Stehkragen und eine
dezent gemusterte Krawatte. Haupthaar und Bart waren kurz geschoren, und er trug keine Kopfbedeckung. Leonardo sah sich verwirrt um und merkte, dass der Saal neu möbliert war. Die schweren, reich geschmückten Vorhänge waren durch einfache Jalousien ersetzt worden. Die alten Wandgemälde mit Szenen aus dem Leben ganzer Generationen von Königen waren unter einer trüben, mehr grauen als weißen Farbschicht verschwunden. Kronleuchter von unschätzbarem Wert waren kurzerhand abgehängt worden, um Platz für eine nackte Reihe hässlicher, mit Strom betriebener Beleuchtungsapparate zu schaffen, die ein unvorteilhaftes Licht gaben. Selbst der Thron und sein Podium waren entfernt 165 worden. Der König saß stattdessen auf einem zeitgenössischen Stuhl mit hoher Rückenlehne hinter einem großen, modernen, sehr aufgeräumten Schreibtisch und blickte nicht von seinem Memorandum auf. »Guten Morgen, Meister Pegasus. Ich will Euch nicht lange aufhalten. Setzt Euch bitte.« Leonardo hatte nicht erwartet, sich in Gegenwart des Königs setzen zu dürfen, und es machte ihm einige Mühe, sich in seiner unförmigen Festtracht in den engen Stuhl zu zwängen. Er versuchte, sich zu beruhigen, fühlte sich aber unwohl und schwitzte. »Wie Ihr wisst, hat mein verstorbener Vater sehr viele hoch spezialisierte Berater beschäftigt.« Der König sprach schnell und so, als spule er eine sorgfältig vorbereitete Rede zum hundertsten Mal ab. »Ich habe beschlossen, mich beim Regieren auf andere Weise zu orientieren.« Bei diesen Worten sah er Leonardo erstmals an. »Vor allem werde ich mir über die Zukunft in ganz anderer Form Rat holen.« Als Antwort auf Leonardos unausgesprochene Frage wandte der König den Kopf zur Seite und rief: »Kevin?« Mit kurzer Verzögerung tauchte ein junger Mann mit bleichem Gesicht und dunklen Locken auf. Er war sehr ähnlich wie der König gekleidet, und auf seinem schmalen Gesicht lag eine selbstgefällige Miene. Unterm Arm trug er etwas, das wie ein kleiner, flacher Aktenkoffer aussah. Den legte er nun auf den Schreibtisch und öffnete den Deckel. Im unteren Teil des Koffers befanden sich mehrere Reihen bunter Perlen, die sich verschieben ließen und an einen Abakus erinnerten, wie ihn die Händler auf dem Markt benutzten. Im Deckel des Koffers befand sich eine gläserne Oberfläche, die in der Mitte 166 ein wenig vorgewölbt war. Mit leicht zitternden Fingern schob der junge Mann ein paar Perlen von einer Seite auf die andere, und sofort leuchtete hinter dem Glas ein abstraktes Muster auf. Während Leonardo zusah, verschob der junge Mann eine weitere Perle, und das Muster veränderte sich. Der Zauberer starrte perplex auf die Abfolge geometrischer Figuren, die nun erschienen, ihre Lage veränderten, sich gegenseitig schubsten und abdrängten und dabei Farbe und Form wechselten. Leonardos Herz begann zu rasen, und seine Kehle war wie ausgetrocknet. Ehe er Worte finden konnte, fuhr der König bereits fort. »Dieses Gerät heißt Beratungsmaschine und wird mein Wahrsager und mein Buchhalter sein, mein Zauberer und mein Bote... sogar mein Narr - wenn ich eines solchen je bedürfen sollte. Kevin und seine Kollegen haben dieses Instrument vor einiger Zeit entwickelt. Danke, Kevin.« Mit kaum wahrnehmbarem Senken der Lider schloss der junge Mann den Deckel der Maschine, klemmte sie wieder unter den Arm und zog sich zurück. Der König wartete, bis die Tür geschlossen war. Beim Reden blieb sein Blick auf den Schreibtisch gerichtet. »Wie Ihr sicher begreifen werdet, brauche ich Eure Hilfe nicht länger. Mehr noch: Da der Übergang zur neuen Regierungsmethode wohl für uns alle eine Testphase wird, bin ich überzeugt, dass schon Eure Anwesenheit in der Stadt dabei nicht hilfreich ist. Ihr werdet deshalb zusammenpacken, was Ihr braucht, und Werkstatt und Wohnung innerhalb eines Monats räumen. Zur Unterstützung Eures Umzugs erhaltet Ihr eine Abfindung. Habt Ihr noch Fragen?« Es gab viele Fragen, die Leonardo wahrscheinlich 167 hätte stellen sollen, doch schockiert und verwirrt wie er war, kam ihm nur eins in den Sinn. »Was passiert mit Alice?« »Alice? Eure Assistentin?« Der König wirkte einen Moment lang peinlich berührt. »Alice ist eine begabte junge Frau. Menschen ihres Schlags werde ich brauchen und habe vor, ihr eine Stelle in der neuen Verwaltung anzubieten. Sie hat eine sehr einträgliche Zukunft vor sich. Also - habt Ihr sonst noch was zu fragen?« Leonardo fiel nichts ein. In seiner aufwändigen Tracht fühlte er sich schwerfällig, altmodisch und lächerlich und schüttelte sprachlos den Kopf. Er war ganz benommen, als er langsam in sein Laboratorium zurückging und sich dabei fragte, wie er Alice die Neuigkeiten mitteilen sollte. Als er ins Vorzimmer kam, sah er ihre Tunika auf dem Stuhl neben der Tür liegen und begriff, dass er sie schon wieder in der Mittagspause störte. Er blickte auf. Diesmal tanzte Alice nicht. Genau in der Mitte des Zimmers stand sie mit kerzengerade zur Decke weisenden Zehen Kopf, und ihre umgedrehten Gesichtszüge starrten ihn ausdruckslos an. Leonardo spürte eine plötzliche Beklemmung, die ihn schwindeln machte, und merkte, dass er sich an den Türpfosten klammerte. Alice blieb reglos; selbst ihr Atmen war kaum wahrnehmbar. »Alice?«, keuchte der Magier. »Alice?« Doch die für ihr Kunststück erforderliche Konzentration war so groß, dass sie ihn nicht zu hören schien. Entsetzt und verwirrt fuhr Leonardo auf der Schwelle
168 herum, flüchtete und hörte erst auf zu laufen, als er »Ausrufers Ruh« erreichte. Als Leonardo am nächsten Morgen ziemlich spät in die Werkstatt kam, fand er eine Notiz in Alices vertrauter, deutlicher Handschrift vor: Bin in den Palastflügel des Königs gerufen worden, um die neuen Büros einrichten zu helfen. Hoffe, das ist okay. Bin morgen wieder da und öffne die Post. A. Am Pergament haftete noch eine schwache Spur ihres Parfüms. Leonardo schnupperte erst vorsichtig und sog es dann tief ein. Er schloss die Augen und trieb einen Moment durch ein Idyll aus hohem Gras und saftigem Klee, an dessen Horizont das Meer lag. Dann verblasste diese Vorstellung, und er öffnete die Augen wieder und sah sich im Vorzimmer um. Ihm fiel auf, dass sich auf den Möbeln bereits erste Staubspuren zeigten. Außerdem brauchten einige Pflanzen Wasser, und die ungeöffnete Post lag verstreut auf dem Fußabtreter. Im Magischen Theater stand die Empathiemaschine vernachlässigt unter einer schief hängenden Plane in der Ecke. Leonardo fiel ein, dass sie außer Betrieb war, bis ein bestelltes Ersatzteil eintraf. Einen Augenblick erschien sie ihm nur als schlecht durchdachter Haufen Schrott, und er gab dem plötzlichen Verlangen nach, ihr einen Tritt zu verpassen. Dabei fiel ein Messinggriff herunter und klirrte höhnisch über den Boden. 169 In den folgenden Tagen tauchte Alice immer seltener in der Werkstatt auf, und Leonardo zog es immer öfter in »Ausrufers Ruh«. Als er eines Tages gedankenverloren die immer dicker werdende Staubschicht auf den Tischen im Vorzimmer betrachtete, wunderte er sich plötzlich über einen kreisrunden staubfreien Fleck, blickte sich um und bemerkte da und dort weitere derartige Flecke. Einen Moment begriff er nicht - aber dann: Die Topfpflanzen waren verschwunden. Alice würde nicht zurückkehren. »Wenn sie doch noch da wäre, wenn sie bloß noch da wäre...« Leonardo und Veronique saßen auf ihrem Stammplatz in der Taverne. Der König hatte verfügt, dass das Amt für Narren und Spaßvögel - wenn auch verkleinert - erhalten blieb. Veronique wusste noch immer nicht, ob sie zu denen gehörte, die sich eine neue Arbeit würden suchen müssen, schien sich aber über ihre unmittelbare Zukunft keine Sorgen zu machen. Es war spät, und auf dem Tisch standen überall leere Bierflaschen. Leonardo war ganz redseliges Selbstmitleid. »Wenn sie doch noch da wäre, dann wäre es nicht so schlimm. Die Werkstatt mit ihrem ganzen Müll ist mir völlig egal, so egal wie meine winzige Wohnung und die nutzlosen Fahrstuhl-Ponys, so egal wie meine Stellung und mein Gehalt... Ich schätze, ich werde irgendwo etwas Neues finden... Aber warum hat er mir Alice nehmen müssen?« »Ach, hör doch auf! Was soll das Mädchen dir jetzt noch nützen? Ich hab sowieso nie verstanden, was du in ihr gesehen hast. Ein magerer kleiner Rotzlöffel aus 170 der Gosse ist das gewesen.« Veronique zog geräuschvoll an ihrer kurzen Zigarre. Dann zeigte sich ein verschmitzter Ausdruck auf ihrem Gesicht. »Glaubst du eigentlich, sie hat dich gemocht?« »Das nehme ich an. Keine Ahnung. Woher soll ich das wissen?« Leonardo trank sein Bier aus. »Ganz einfach - geh sie besuchen. Frag sie, ob sie mit dir zu Abend essen mag. Mehr als Nein kann sie nicht sagen. Und wer weiß...« - Veronique zwinkerte anzüglich - »... vielleicht kannst du ja bei ihr landen.« Leonardo stöhnte laut auf. »Vero, manchmal kann ich kaum glauben, was ich von dir zu hören bekomme. Du verstehst rein gar nichts. Ich will nicht... >bei ihr landenFunken, Senden, Schickem gemacht, aber im letzten Studienjahr konnte man noch ein paar - wie heißen sie gleich? - Zusatzqualifikationen wählen. Also hab ich mal den Kurs >Magie in zwölf Wochen< probiert.« Ihre Brauen rückten einen Moment zusammen. »Ich nehme an, die Ausbildung hat sich seit deiner Zeit etwas verändert.« »Sieht so aus. Dann weißt du also, was Zukunftskonstruktion ist?« Sie nickte ungeduldig. »Und Empathie?« Sie nickte erneut. »Dann ist dir, schätze ich, die Empathiemaschine schon mal begegnet - oder jedenfalls etwas Ähnliches. Ich hab sie bereits als junger Magier benutzt und arbei231 te heute eigentlich noch genauso.« Leonardo setzte sich. »Du weißt ja, dass jeder Zukunftsentwurf getestet werden muss, ehe er verwirklicht werden kann, und dass die Empathiemaschine als Testgerät entwickelt wurde. Erst wenn ich einen Entwurf von allen Standpunkten aus getestet habe, kann ich sicher sein, dass er gut durchdacht ist.« Nina nickte. »Ja, und nachdem ich das ein paar Jahre lang getan hatte, fand ich das ganze Verfahren allmählich extrem zeitaufwendig. Ich musste jeden möglichen Zukunftsentwurf von jedem Standpunkt aus testen. Das war - wie du vielleicht sagen würdest - ein linearer Prozess, und der schien ewig zu dauern. Also begann ich mich zu fragen, ob ich das Verfahren nicht ein bisschen abkürzen könnte. Apropos fragen: Magst du einen Kaffee?« Nina schüttelte den Kopf. »Vielleicht später? Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, bei der Komplexen Empathiemaschine. Na ja, ich hab ausgerechnet, dass es viel schneller ginge, wenn ich all die verschiedenen Standpunkte nicht mehr nacheinander, sondern gleichzeitig ausprobieren könnte. Um alle in einem einzigen Arbeitsschritt abzuhaken, wenn du so willst. Das ist die Grundidee der Komplexen Empathie. Ich glaube, ich habe sogar ein paar Pläne für die Maschine gezeichnet, aber ich hab nie die Zeit gefunden, sie zu bauen.« Nina sagte minutenlang kein Wort. Als Leonardo fortfahren wollte, hieß sie ihn mit einer ungeduldigen Handbewegung schweigen. Schließlich schüttelte sie langsam den Kopf. »Wirklich faszinierend«, sagte sie dann. »Ich hab mich gerade gefragt, woran deine Maschine mich er232 innert, und jetzt weiß ich's. An eine alte Geschichte, die mir meine Oma oft erzählt hat, als ich ein kleines Mädchen war. Du kennst die Geschichte vermutlich -es geht um das Große Wesen, das die Welt erschaffen hat. Eine Spur des Großen Wesens blieb im Herzen jeder Frau und jedes Mannes zurück... Ich glaube, so lautete die Formulierung. Das ist natürlich nur eine Geschichte. Aber deine Komplexe Empathiemaschine zu besitzen, wäre wie... wie... das Große Wesen zu sein und sich als Spurenelement in jeder Frau und jedem Mann zu befinden. Irgendwie jeder auf Erden zu sein, wenn auch nur ein bisschen - dafür aber gleichzeitig.« Sie lachte beklommen. »Ist dir eigentlich klar, was das heißt?« »Ich schätze, man kann das so sehen«, sagte Leonardo unsicher. »Aber für meinen Geschmack ist das eine ziemlich verstiegene Deutung.« »Es ist dir offenbar nicht klar! Begreifst du nicht, dass du auf einer Goldmine sitzt?«, rief Nina und gestikulierte aufgeregt mit den Armen. »Es gibt Leute, die händeringend nach so einer Maschine suchen! Du könntest den Apparat vermarkten und viel Geld damit verdienen. Gib dem Gerät einen schicken Namen... vielleicht Spontane Erleuchtung... oder Spiritueller Tiefenrausch... oder tatsächlich Komplexe Empathie, obwohl das vielleicht ein bisschen zu wissenschaftlich klingt. Du musst nur den Markt erkennen.« »Ich schätze, das könnte eine ziemlich aufregende Erfahrung werden«, sagte Leonardo nachdenklich. »Aber die Sache hat einen Haken. Ich hab keine Ahnung von Marketing, von einzigartigen Verkaufsanreizen, von Kundenprofilen und von dem, was hinter 233 all den anderen seltsamen Worten steckt, die die Leute heutzutage ständig benutzen. Ich denke, ich beherrsche mein Gewerbe, und ich bin ein guter Magier - jedenfalls halte ich mich dafür. Was ich allerdings brauchen würde, wäre... Wie nennt man das?« »Einen Agenten?«, schlug Nina vor. »Einen Agenten, genau«, pflichtete Leonardo bei. »Und wo finde ich einen?« Nina schien etwas abzuwägen. »Schatz, lass mich dir einen Vorschlag machen«, sagte sie schließlich. »Ich werde deine Agentin. Du hast das technische Know-how, ich liefere die Kontakte und kümmere mich um die Vermarktung. Wir werden Partner und gehen mit der Komplexen Empathie auf Achse. Das ist narrensicher. Was hältst du davon?« Leonardo war klar, dass ihm die Zeit davonlief. Vermutlich würde er kein annähernd so gutes Angebot mehr bekommen. »Womit fangen wir an?«, fragte er schnell. Nina ließ den Blick durch die Werkstatt schweifen. »Damit, hier auszumisten.«
Nina hatte für Leonardos Gewohnheit, Listen zu machen, nur eine verächtliche Bemerkung übrig und schlug ihm vor, seine Aufgabe direkter anzugehen. »Sieh dir den ganzen Kram an«, sagte sie mit einer vagen Armbewegung. »Einiges musst du natürlich mitnehmen, aber das meiste schaust du dir vermutlich nie wieder an. Beginnen wir also am besten gleich hier neben der Tür. Nimm einfach immer nur eine Sache in die Hand, guck sie dir an und entscheide. Wenn du sie behalten willst, bleibt sie im Vorzimmer - wenn nicht, 234 kommt sie nach nebenan in die Werkstatt.« Sie hielt inne und war anscheinend am Kopfrechnen. »Ich schätze, wir brauchen vier Tage, um alles durchzuforsten. Danach packen wir einfach ein, was im Vorzimmer geblieben ist.« Leonardo war unschlüssig. »Und was wird aus den Dingen, bei denen ich mich nicht entscheiden kann?«, fragte er besorgt. »Früher oder später müssen wir uns einfach entscheiden. Klar, vielleicht machen wir dabei ein paar Fehler, aber so ist das eben. Auch wenn wir bis ans Lebensende darüber nachgrübelten, würden wir Fehler machen. Bringen wir's einfach hinter uns!« Also legten sie los. Leonardo hätte gern ab und zu eine Kaffeepause eingelegt, aber anscheinend war die Kaffeemaschine schon ganz am Anfang begutachtet und aussortiert worden, und Nina erlaubte ihm nicht, sie zu suchen und damit kostbare Zeit zu verschwenden. In den nächsten Tagen waren sie von morgens bis tief in die Nacht fast nur mit Sortieren beschäftigt, doch schließlich hatten sie es geschafft. Erschöpft sanken sie zu Boden und sahen zu, wie der Staub ringsum sich langsam wieder setzte. Im Vorzimmer war ein solide geschichteter Stapel nützlicher Dinge aufgetürmt: sauber etikettierte Kisten voller Schriftrollen, magische Gerätschaften in verschiedenen Größen, einige kleine Möbelstücke und vermutlich sogar die Kaffeemaschine. In der Werkstatt lag ein viel größerer Haufen aus zerfleddernden Schriftrollen, kaputten Maschinen, verschlissenen Möbeln, halb leeren Farbdosen, zu zwei Dritteln leeren Siruptöpfen und angeschlagenen Bechern - und obendrein viele Sachen, deren Zweck Le235 onardo schleierhaft war und die er sich nicht entsinnen konnte, je gesehen zu haben. Er hob etwas auf, das vielleicht der Rest des unglückseligen Gleichgewichts-Abakus war, vielleicht aber auch ein Spielzeug, das der neue König noch als kleiner Prinz in der Werkstatt vergessen hatte. Leonardo schüttelte den Kopf und warf den rätselhaften Gegenstand wieder auf den Haufen. »Was machen wir mit dem ganzen Zeug?«, fragte er und wies auf den Müllberg, den er in seinem Arbeitsleben angehäuft hatte. Nina dachte nach und fand - pragmatisch wie stets -eine effektive Lösung. »Tja, anzünden können wir das Zeug schlecht, wenn wir nicht den Palast abfackeln wollen. Also lassen wir es einfach liegen und machen die Tür zu. Soll jemand anders den Kram entsorgen.« Sie ging um den Haufen herum und warf noch einen Blick darauf. Dabei fiel ihr ein altes Pergamentbündel ins Auge, das aus dem Müll unter der Hauptbühne hervorsah. »Was ist denn das?« Leonardo zog die Papiere heraus und schlug sie auf. Beide bekamen große Augen: der Plan der Komplexen Empathiemaschine. Es war nicht das erste Mal in dieser Woche, dass Nina die Beherrschung verlor. »Hast du das hierhin gelegt?«, wetterte sie los. »Was hast du dir bloß dabei gedacht?« »Tut mir Leid, Nina«, antwortete Leonardo verlegen. »Ich hab keine Ahnung, wie das passieren konnte.« Nach einer gespannten Pause machte er einen Versuch, sich zu rechtfertigen. »Du hast doch gesagt, wir würden vielleicht ein paar Fehler machen.« 236 Nina streckte die Hand aus. »Besser, ich pass jetzt darauf auf«, sagte sie resolut. »Gute Idee«, pflichtete Leonardo ihr lammfromm bei. Nina verschwand mit großen Schritten ins Vorzimmer und stopfte die Pläne in die Innentasche ihrer Jacke. »Was ist mit der Farbe?«, maulte der Magier und stierte noch immer auf den Haufen. »Vielleicht brauchen wir die irgendwann noch mal.« Sie verdrehte die Augen. »Komm her und mach die Tür zu. Aber sofort.« An diesem Abend hatten sie endlich Zeit, sich im »Ausrufers Ruh« etwas zu entspannen. Sie saßen in einer separaten Nische, und Nina war sehr erpicht darauf, zu besprechen, wie es weitergehen sollte. »Als Nächstes brauchen wir einen Wagen«, sagte sie gerade. »Keinen mit Motor - dafür gibt's zu wenig Tankstellen. Ein altmodisches Fuhrwerk mit Pferden wäre genau richtig. Da packen wir das ganze Zeug rein, fahren, wohin wir wollen, und sondieren den Markt für unser Produkt.« »Haben wir denn genug Geld für ein Fuhrwerk?« »Ja - ich hab's durchgerechnet, und es reicht gerade. Wir haben deine Abfindung und meine Ersparnisse, und wenn wir beides zusammenwerfen, kommt's knapp hin. Das ist eine gute Investition. Ach ja, noch was: Ich kenne jemanden aus den Kutscherhäusern und kann für ein paar Tage eine Remise bekommen. Dort können wir
das Fuhrwerk unterstellen.« Leonardo, der nach mehreren Tagen harter Arbeit 237 und ein paar Bieren ziemlich schläfrig war, achtete kaum auf das, was Nina ihm begeistert und ohne Unterbrechung erzählte, sondern ließ den Blick durch das laute, verrauchte Lokal wandern. Eine lebhafte Gruppe junger Palastangestellter, die alle grau und funktional gekleidet waren, hatte eine der Nischen am anderen Ende des Raums in Beschlag genommen. Erschrocken erkannte der Magier unter ihnen Alice. Sie blickten sich einen Moment in die Augen, dann sah das Mädchen rasch weg. Leonardo hatte kurz ein gehässiges Triumphgefühl. Er freute sich, dass Alice ihn mit Nina gesehen hatte, und dachte über seine Erfahrungen mit diesen so unterschiedlichen Frauen nach. Obwohl Nina manchmal gereizt war, hatte sie sich als warmherzig, freundlich, hilfsbereit erwiesen... Alice dagegen, die während der Arbeit stets eine heitere Maske aufgesetzt hatte, hatte sich letztlich als kalt, rücksichtslos und ganz mit sich selbst beschäftigt zu erkennen gegeben. Er fragte sich, wie er einmal so begeistert von ihr hatte sein können. Vielleicht war sie zu jung gewesen, seine Bedürfnisse zu verstehen, und auch zu unreif, darauf einzugehen. Er betrachtete ihre kantige Gestalt und verglich sie im Geiste mit Ninas weiblicheren Formen. Dann spürte er, dass ihn jemand am Unterarm stupste. »Du hast nicht zugehört, stimmt's?«, unterbrach Nina seinen Gedankenfluss. »Hör auf, sie anzustarren - die ist inzwischen Geschichte. Ich hab gerade gesagt, wir müssen alles über die Hintertreppe zum Dienstbotentor schaffen. Deshalb dauert es wohl zwei Tage, das Fuhrwerk zu beladen. Aber ich schätze, wir können dennoch Freitagmorgen aufbrechen - genau im Zeitplan.« 238 Leonardo dachte darüber nach. »Könnten wir auch erst am späten Vormittag fahren?«, schlug er vorsichtig vor. »Vielleicht sollte ich noch ein paar Leute im Palast aufsuchen, mich offiziell verabschieden und all solche Sachen.« Nina wirkte einen Moment verärgert, änderte dann aber ihre Meinung. »Warum nicht?«, sagte sie rasch. »Ich brauche etwas Zeit, die Ladung festzuzurren, Malkin ins Körbchen zu setzen, die Pferde anzuschirren und aufzuzäumen und so weiter - ich schätze, bei all dem wärst du mir kaum von Nutzen. Ich kann dich ja kurz vor der Mittagspause am Dienstbotentor abholen.« »Wunderbar«, erwiderte Leonardo. »Du denkst wirklich an alles.« Er gähnte. »Gehen wir bald ins Bett?« Sie lachte. »Na, dann los. Trink aus.« Bis Freitag war das Wetter besser geworden, und als Leonardo ans untere Ende der Straße der Bettler kam, um dort auf Nina zu warten, schien die Sonne. Selbst die Bettler wirkten sauberer und fröhlicher als gewöhnlich. Leonardo lehnte sich an die Mauer, blickte über die Stadt und betrachtete erst die Flaggen, die heiter von den Schiffen im Hafen wehten, dann die Unterstadt, aus der ausnahmsweise mal kein Rauch aufstieg und die friedlich im mittäglichen Sonnenlicht lag. Gleich rechts sah er auf der anderen Seite der Ringstraße den schmalen Weg, der zu den Kutscherhäuschen des Palasts hinunterführte. Dort - so wusste er -legte Nina gerade letzte Hand an ihrer beider sorgsam beladenes Fuhrwerk. Die Glocken des Instituts für Kalibrierung läuteten 239 die Mittagspause ein. Ein paar Angestellte, die der Sonnenschein nach draußen gelockt hatte, kamen durchs Dienstbotentor. Leonardo beobachtete sie und lächelte nachsichtig. Eine Stunde später sah er - nun etwas besorgter - dieselben Leute für den Nachmittag in den Palast zurückkehren. Allmählich fragte er sich, was Nina passiert sein mochte. Eine andere Glocke läutete. Er wartete eine weitere Stunde. Sie tauchte noch immer nicht auf. Nun begann Leonardo wirklich, sich Sorgen zu machen. Ob Nina etwas zugestoßen war? Er stellte sich vor, sie liege mit gebrochenem Bein im Krankenhaus, sei von einstürzendem Mauerwerk begraben oder von den Wolfsjungen überfallen worden. Die Sonne schien noch immer, doch Leonardo war nicht mehr warm ums Herz. Ein furchtbarer Verdacht stieg in ihm auf: Nina würde nicht kommen. Er zitterte und versuchte vergeblich, diesen Gedanken zu verscheuchen, doch er kehrte stets wieder - mächtiger und hartnäckiger als zuvor. Leonardo seufzte matt. Er wollte sich einen Plan überlegen, doch ihm fiel nichts ein. Endlich kam er zu dem Schluss, das einzig Vernünftige sei, bis zum Spätnachmittag an Ort und Stelle zu warten. Wenn Nina doch noch käme, wollte er sie nicht verpassen. Also wartete er. Schließlich kamen wieder kleine Gruppen durch den Hinterausgang des Palasts. Die Leute schmunzelten, lachten und freuten sich auf ein angenehmes Wochenende. Leonardo sackte gegen die Mauer und schloss die Augen. 240 »Meister Pegasus? Alles in Ordnung?« Der weiche, vertraute Akzent brachte ihn zur Besinnung. Er öffnete die Augen und sah Alices schlanke Gestalt vor sich. In ihrem blassen Gesicht standen Sorgenfalten. »Ja, es geht schon, danke, Alice. Ich hab nur auf jemanden gewartet. Vielleicht hast du sie ja gesehen - Nina vom Anzeiger?« Alice neigte den Kopf zur Seite und blickte ihn seltsam an. »Die hab ich allerdings gesehen. Aber das war ganz
früh heute Morgen auf dem Weg zur Arbeit. Sie war mit einem Pferdefuhrwerk auf der Nordstraße unterwegs und hatte es ziemlich eilig. Offen gesagt hat sie mich fast überfahren.« Alice hatte wohl Leonardos trostlosen Blick bemerkt, denn ihre Miene wurde sanfter. »Tut mir Leid. Soll ich ihr vielleicht was ausrichten, wenn ich sie sehe?« »Nein«, stöhnte Leonardo. »Es gibt nichts auszurichten.« Alice musterte ihn einen langen Moment. »Tja, ich geh dann besser mal. Seid Ihr sicher, dass Euch nichts fehlt? Ich hab heute Abend Gymnastik. Da darf ich nicht zu spät kommen.« »Na, dann los«, sagte Leonardo. »Und schönes Wochenende.« »Gleichfalls.« Sie lächelte, berührte ihn leicht am Arm, wandte sich ab und sprang davon. Leonardo starrte Alice nach, bis sie verschwunden war. Dann machte er sich mit schweren Schritten auf und ging im Uhrzeigersinn die Ringstraße entlang, ohne die leiseste Idee zu haben, was er tun sollte. Nina hatte ihn 241 um alles betrogen. Er war so gut wie mittellos und hatte noch nicht einmal mehr die Pläne für die Komplexe Empathiemaschine, auf die er so viele Hoffnungen gesetzt hatte. Als er zum Haupteingang des Palasts kam, hielt er inne. Die Zugangsschleuse funktionierte inzwischen tadellos. Er sah Leute kommen, ihre Magnetkarte in den Schlitz schieben und durch die Schranke gehen. Ohne Magnetkarte war der Palast nun eine Welt, die ihm versperrt war. Er blieb einen Moment stehen, um seine restlichen Kräfte zu sammeln, rückte die Robe zurecht und nahm ein letztes Mal das Bild in sich auf, das er so gut kannte - das Geschäfts- und Verwaltungsviertel, den Abhang mit der Durchgangsstraße, das Haupttor der Stadtmauer mit der Kaserne des Wachregiments, schließlich den Fluss. Dann sah er zum ersten Mal über die Stadt hinaus und fasste die ferne Landschaft hinterm Fluss ins Auge. Er fragte sich, was er dort finden mochte, und ging mit großen Schritten den Hügel hinab, ohne sich noch einmal umzublicken. Aus dem Tagebuch des Victor Lazarus (undatiert) Mitten in der Nacht hat mich ein schwaches, periodisch auftretendes Geräusch geweckt, das aus einem entfernteren Teil des Hauses zu kommen schien. Zuerst hörte es sich wie das dämonische Gelächter aus mei242 nen Träumen an, doch als ich kurze Zeit aufmerksam lauschte, bekam ich den Eindruck, es klinge eher wie das Schluchzen eines Kindes. Neugierig stand ich auf und trat vorsichtig (und noch immer im Nachthemd) aus meiner Kammer in den Flur. Zufällig war Vollmond, und der Korridor lag im bleichen Streulicht, das schräg durch die großen Gitterfenster fiel. Außerhalb meines Zimmers hörte ich das Schluchzen deutlicher, konnte aber noch immer nicht erkennen, aus welcher Richtung es kam. Vorsichtig machte ich mich auf die Suche, öffnete Tür für Tür und inspizierte ein Zimmer nach dem anderen. Als ich die Statue am oberen Treppenabsatz der Halle passierte, glaubte ich, leise Schritte zu hören, und fuhr herum, doch niemand war zu sehen. Danach schluchzte es noch deutlicher als zuvor. Zuletzt erreichte ich auf meinem Kontrollgang das Fossilienkabinett. Mir fiel auf, dass das Geräusch hier zwar nicht lauter, aber klarer war. Ich öffnete die Tür. Die Sessel standen wie üblich mit der Lehne zu mir. Geräuschlos langte ich nach dem Lichtschalter und knipste ihn an, doch es blieb dunkel. Mir fiel ein, dass Sam seit ein paar Tagen in diesem Teil des Hauses an der Installation arbeitete. Auf Zehenspitzen stahl ich mich auf die gegenüberliegende Seite des Zimmers. Als sich meine Augen etwas an das Dunkel gewöhnt hatten, sah ich in einem Sessel eine kleine Gestalt sitzen. Ich schob mich näher heran, bis ich ihre Gesichtszüge ausmachen konnte. Zu meinem großen Erstaunen saß nicht etwa der akrobatische Dämon meiner Alpträume vor mir, sondern eine alte Dame - die nämlich, die diesen Platz gewöhnlich 243 tagsüber in Beschlag nimmt. Und wie üblich schlief sie fest. Daraus konnte ich nur schließen, dass Harold am Abend zuvor vergessen hatte, sie auf seinem letzten Kontrollgang zu wecken. Ich war unschlüssig, was ich tun sollte. Während ich noch zögerte, fiel mir auf, dass das Schluchzen ununterbrochen weiterging, und langsam dämmerte mir, dass es nicht von der alten Dame herrührte. Ich wollte mich schon umdrehen, da schlug sie die Augen auf. Ich muss eine groteske Figur abgegeben haben - unrasiert, der Schnurrbart zweifellos schief, nur mit flatterndem Nachthemd und Pantoffeln bekleidet. Sollte die Dame aber beunruhigt gewesen sein, ließ sie sich das nicht anmerken, sondern musterte mich aus ruhigen, alten Augen. Ihr kleines Gesicht erschien im Halblicht weich wie das eines Kindes. »Dein Schatten weint, Victor. Gib jetzt Acht und tu, was du tun musst.« Nach diesen Worten betrachtete sie mich einige Zeit. Dann legten sich Müdigkeit und Alter erneut auf ihr Gesicht, und schon hatte sie die Augen geschlossen und war wieder eingeschlafen. Mir fiel auf, dass das Schluchzen aufgehört hatte und nun eine fast körperlich gegenwärtige Stille im Zimmer lastete. Ich langte misstrauisch nach meinem Revolver und merkte erschrocken, dass ich ihn unterm Kissen vergessen hatte. Als ich mich langsam umdrehte, kribbelte es mich am ganzen Körper. Da - mitten im Zimmer und im Gegenlicht des Mondes schwankte eine dünne, dunkle Gestalt und starrte mich aus leuchtenden Augen
an. Endlich stand ich 244 meinem Schatten von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Ich ballte die Fäuste und trat vorsichtig einen Schritt näher, und im selben Moment trat auch der Schatten vor. So näherten wir uns einander Schritt für Schritt, bis ich die Gestalt genau erkennen konnte. Zuerst mochte ich kaum glauben, was ich sah. Der Schatten hatte nicht das große, bedrohliche Ausmaß aus meinen Alpträumen. Vor mir stand eine gebeugte, dünne, Mitleid erregende Gestalt in einer zerlumpten, schlecht sitzenden Jacke und einer abgewetzten Hose, die an den Knien klaffende Löcher hatte. Zottiges Haar hing ihr ins Gesicht, und die schmutzigen Wangen waren tränenüberströmt. Die Gestalt schien sehr jung - nicht älter als dreizehn, vierzehn - und ziemlich schutzlos zu sein. Hatte etwa dies weinende Kind mich so viele Monate in Angst und Schrecken versetzt? Meine Erleichterung war so groß, dass ich mich zwingen musste, nicht loszulachen. In diesem Moment kam das Geschöpf wieder einen zögernden Schritt auf mich zu, stolperte dabei über eins von Sams losen Dielenbrettern und fiel vornüber. Es machte einen schwachen Versuch aufzustehen, hatte aber nicht einmal dazu die nötige Kraft. Dann schniefte es laut und begann aufs Neue zu weinen. Ausnahmsweise wusste ich absolut nicht weiter. Schließlich entschied ich, das einzig Vernünftige sei, das Geschöpf für den Rest der Nacht hinter Schloss und Riegel zu setzen und am nächsten Morgen weiter über die Angelegenheit nachzudenken. 245 Die besondere Aufgabe Als die Glocken den Feierabend einläuteten, stöpselte Alice die Verwaltungsmaschine auf dem Schreibtisch aus, schloss ihren Schrank sorgfältig ab, schob ihre Habseligkeiten in einen kleinen Ranzen und steuerte dann direkt auf den Ausgang zu. Sie hatte gelernt, ihre Pflichten heiter und effektiv zu erfüllen, ihr Diensteifer aber beschränkte sich auf die tägliche Arbeitszeit. Ihre Aufgaben in König Matts Kanzlei waren recht interessant und ihre Kollegen durchaus nett, doch heute Abend hatte sie wieder ihre Übungsstunde und deshalb keine Lust, sich lange aufzuhalten. Es dämmerte bereits, als sie den Palast auf dem üblichen Weg durchs Dienstbotentor verließ und mit schnellen Schritten die Straße der Bettler hinunterging. Die Gestalten dort taten ihr Leid, und manchmal warf sie ihnen eine kleine Münze hin, doch heute dachte sie an andere Dinge. Am Vormittag hatte einer ihrer Kollegen sich beim Abteilungsleiter über den neuen Kaffeeautomaten beklagt. Alice hatte das zufällig mitbekommen und die Anschaffung einer ganz anderen Kaffeemaschine vorgeschlagen. Der Gedanke an diesen anderen Kaffee hatte sie auf ihren früheren Chef gebracht, den exzentrischen Magier Leonardo Pegasus. Schon seit Monaten hatte sie ihn nicht mehr gesehen, und nun wurde ihr bewusst, dass er die Stadt inzwischen vermutlich für immer verlassen hatte. Sie bedauerte, keine Möglichkeit gehabt zu haben, ihm richtig auf Wiedersehen zu sagen, denn sie war entschieden dafür, alles korrekt 246 und anständig zu tun, und hatte den Magier trotz seiner schrulligen Art sehr gemocht. Doch seit sie nicht mehr für ihn arbeitete, hatte sie ihn selten gesehen, und er hatte sich bei jeder Begegnung wirklich merkwürdig verhalten. Er schien etwas von ihr zu wollen, doch jedes Mal war es ihr schwerer gefallen, ihn zu verstehen, bis sie sein wütendes Gerede und seine unkontrollierten Gesten zu fürchten begonnen hatte. Sie schüttelte ratlos den Kopf. Weil der abendliche Verkehr schon nachließ, musste Alice nicht warten, sondern konnte die Ringstraße gleich überqueren. Als sie in der Nordstraße an der Kaffeebude vorbeilief, erinnerte sie sich an den Abend der Einweihungsfeier. Meister Pegasus hatte sie an der Bude angesprochen und war ihr dann unberechenbar schwankend durch die Unterstadt gefolgt, wobei er zusammenhangloses Zeug vor sich hin gemurmelt hatte. Bei dieser Erinnerung schauderte es sie. Was mochte da mit ihm los gewesen sein? Sie wünschte, die Dinge hätten sich anders entwickelt, hatte aber keine Ahnung, wie sie ihm hätte helfen sollen. Alice ging weiter die endlose, schäbige Nordstraße entlang. Sie verabscheute die Stadt und ihren Dreck, ihre Verkommenheit und ihre gleichgültigen Einwohner und wünschte sich wie jeden Tag, sie wäre nicht hierher geschickt worden. Sie dachte an die Insel, auf der sie geboren worden war, an ihre Grashänge und zerklüfteten Küsten und an ihren gewaltigen Himmel, diesen Resonanzraum der Seele. Und an das Heiligtum im stillen Zentrum der Insel, das die Bewohner seit Menschengedenken hüteten. Sie dachte an die ausgeglichenen, freundlichen Insulaner, an ihre beiden Schwes247 tern, an Mutter und Vater und an den ruhigen, ernsthaften Mann, den sie gehofft hatte, eines Tages zu heiraten. Die Insel lag in einer fernen Nordprovinz des Königreichs, und die See ringsum war grau. Das Leben dort war hart, doch die Leute ertrugen es mit Körperkraft, Anmut und Willensstärke. Als Kind hatte Alice die Geschichte ihres Volkes gelernt und erfahren, dass diese Eigenschaften im Laufe zahlloser Generationen durch gewisse Übungen und durch die Anwendung komplexer Beschwörungsformeln entwickelt worden waren, Übungen und Formeln, die die Inselbewohner in Krieg und Frieden aufs Gewissenhafteste befolgt hatten. Als Alice erwachsen wurde, bekam auch sie diese Übungen und Regeln beigebracht. Genau wie viele andere hatte sie sie zunächst nur zögernd und schwankend befolgt, im Lauf der
Zeit aber Ausdauer gewonnen, und allmählich waren sie zur festen Grundlage ihres Wesens geworden. Unter den Insulanern gab es weise Leute, die überzeugt waren, die Übungen und Regeln seien vom Großen Wesen selbst am Beginn aller Zeiten verfügt worden, doch die Mehrheit der Inselbewohner - auch Alice - befolgte sie einfach, weil sie dazu eben geheißen waren. Leider war die Insel klein und konnte nur eine begrenzte Zahl von Menschen ernähren. Nicht alle dort Geborenen durften bleiben. Am Vorabend ihres siebzehnten Geburtstags war Alice vor den Rat der Weisen geladen worden, wo man ihr freundlich, aber bestimmt mitgeteilt hatte, sie habe eine besondere Aufgabe in der Hauptstadt des Königreichs zu erfüllen, müsse sofort dorthin reisen und sich ein möbliertes Zimmer und 248 einen festen Arbeitsplatz suchen und habe weitere Anweisungen abzuwarten. »Ich soll unter den Verwundeten leben?«, hatte sie ängstlich gefragt. »Du sollst unter den Verwundeten leben«, hatten die Weisen ihr bestätigt. Als sie sich näher nach ihrer Aufgabe erkundigen wollte, hatten sie ihr Geduld angeraten - alles werde sich zu gegebener Zeit klären. Damit hatte Alice sich zufrieden geben müssen. Die tristen Geschäftsfassaden an der Nordstraße mit ihren geschlossenen Fensterläden ließen sie wieder an das elende Stadtleben denken. In der ersten Zeit nach ihrer Versetzung, als sie allein in ihrem kleinen Zimmer saß, hatte nur eines ihr die Kraft gegeben, ihre Einsamkeit zu ertragen: die Übungen, die sie als kleines Kind gelernt hatte und in denen sie nun neuen Trost fand. Sobald sie sich in ihre Bewegungsfolge verlor, stellten sich langsam die Gerüche und Geräusche ihrer Inselheimat ein und gaben ihr die Körperkraft, Anmut und Willensstärke zurück, die sie jetzt mehr denn je brauchte. Als sie Arbeit gefunden hatte, gewöhnte sie sich an, ihre Übungen in der Mittagspause zu machen, und seit einiger Zeit besuchte sie - zunächst nur einen Abend pro Woche - eine Übungsstunde im Nordviertel, also dort, wo sie zur Untermiete wohnte. In letzter Zeit allerdings hatte sie festgestellt, dass sie den Kurs öfter besuchen sollte. Eine Erinnerung stieg in ihr auf. Vor ein paar Monaten hatte sie während der Mittagspause wie gewöhnlich ihre Übungen gemacht, als Meister Pegasus unerwartet ins Zimmer gekommen war. Eine Zeit lang hatte 249 er neben der Tür gestanden und ihr zugesehen, ohne ein Wort zu sagen, doch sie hatte seine seltsame Miene und seinen Blick bemerkt, in dem Begehren und Angst eigenartig verschwistert schienen. Er war später nicht mehr auf den Vorfall eingegangen - was, genauer betrachtet, schon ziemlich seltsam gewesen war —, und Alice fragte sich nun, ob er mit seinen geheimen Fähigkeiten etwas in ihren persönlichen Übungen entdeckt haben mochte vielleicht etwas, das er brauchte und das ihm hätte helfen können, den Riss in seiner Seele zu heilen. Traurig begriff sie, dass es dazu vermutlich zu spät war. Er wittert ihn wieder, diesen besonderen Geruch, diese berauschende Mischung aus Meer und Gras, Wind und Klee, umgeben von einem Fluidum der Ruhe. Diesen magischen Duft, der ihn so viel mehr erregt als Schweißgestank oder der scharfe Geruch der Angst. Und diesmal werden die anderen ihm folgen, denn er ist jetzt der Anführer, und wenn ihm eine Witterung in die Nase steigt, nimmt erst Fang, dann Gash sie auf, und dann zieht die übrige Meute mit. Er mustert den Kreis erwartungsvoller Gesichter und nickt fast unmerklich. Innerhalb von Sekunden sind sie unterwegs - seine beiden Flügeladjutanten auf den Außenpositionen, der Rest dazwischen aufgefächert. Unabhängig von der Meute schlängelt er sich lautlos vorwärts. Diese Beute ist nur für ihn allein. Alice bog in die Seitenstraße ein, die zu ihrer üblichen Abkürzung durch die Unterstadt führte. Als sie ihren 250 Kollegen anfangs erzählt hatte, sie komme täglich durch diese Gegend, waren sie überrascht oder schockiert gewesen; deshalb hatte sie es nicht mehr erwähnt. Doch Alice schrak vor der Unterstadt nicht zurück. Ihr taten die unglücklichen Gestalten Leid, die dort herumstreunten und nach Nahrung suchten, und sie fragte sich manchmal, wie sie in einen so traurigen Zustand geraten sein mochten, doch keiner von ihnen hatte sie je belästigt oder bedroht. Als sie um eine Ecke bog und sich einer Gruppe zerlumpter Jungen mit scharfen Gesichtszügen gegenübersah, dachte sie sich deshalb kaum etwas. Sie lächelte ihnen zu, wie es ihre Art war, ging weiter und erwartete, sie würden zur Seite treten. Doch diesmal wichen sie nicht aus, sondern betrachteten sie schweigend und rührten sich nicht von der Stelle. Noch immer arglos, trat Alice leichthin in den Rinnstein, umging die Jungen und setzte ihren Weg fort. Im nächsten Moment merkte sie erschrocken, dass sie ihr folgten. Sofort fielen ihr einige beunruhigende Geschichten ein, mit denen die Kollegen ihr hatten Angst machen wollen. Sie beschleunigte ihre Schritte und bog spontan in eine unvertraute Gasse, um die Jungen abzuschütteln. Doch die leisen Schritte näherten sich mehr und mehr. Es war nun schon fast dunkel, und sie wusste nicht, in welcher Straße sie sich befand. Als ihr klar wurde, dass sie sich verlaufen hatte, stieg Panik in ihr auf. Mit klopfendem Herzen hetzte sie eine weitere Gasse hinunter, umrundete eilig einen Müllhaufen und stand vor einer hohen Ziegelmauer. Schockiert begriff Alice, dass sie in einer Sackgasse gefangen war. Langsam drehte sie sich um und sah sich drei hageren, 251 barfüßigen Gestalten gegenüber, die ihr den Fluchtweg versperrten. Im Hintergrund konnte sie die undeutlichen Umrisse weiterer Jungen ausmachen, die verstreut herumstanden, beobachteten und warteten. Dann kam der
mittlere der drei Jungen - der Anführer, wie sie vermutete - so nah auf sie zu, dass sie die anderen kaum noch sehen konnte. Er war mager und zerlumpt und hatte einen roten Schopf, der ihm schmutzig und wirr vom Kopf abstand, ein spitzes, rastloses Gesicht voller Sommersprossen und eine Miene, die ständig unberechenbar wechselte. Seine Sachen (oder deren Überreste) waren schmutzig und zerrissen und ließen ein Knie, eine Schulter und ein paar Rippen sehen. Um den Hals hatte er eine Kette aus Knochen, die von einem kleinen Tier zu stammen schienen und an denen teilweise noch Fetzen verfaulenden Fleisches hingen. Wie auf ein unsichtbares Zeichen hin sprangen seine beiden Kameraden unvermittelt vor und griffen Alice bei den Armen, während die übrige Bande Abstand hielt und anscheinend wusste, dass diese Beute nicht für sie bestimmt war. Der rothaarige Junge kam noch einen vorsichtigen Schritt auf sie zu. Sein Mund stand leicht offen, zwischen den Lippen waren zwei Reihen gezackte und verfärbte Zähne zu sehen, und ein wenig Speichel tropfte zu Boden. Widerstreitende Gefühle jagten ihm wie Sturmwolken übers Gesicht, und seine Augen schössen wild hin und her. Plötzlich schnellte ein dürrer Arm vor, und eine Hand schloss sich wie ein Schraubstock um ihre Kehle und schob Alice unsanft gegen die Mauer. Mit abgewandten Augen spürte sie, wie er sich gegen sie drückte und ihr ins Gesicht 252 atmete. Sein Mundgeruch schlug ihr wie ein Pesthauch entgegen. Ihr Herz klopfte wild, und sie versuchte zu schreien, brachte aber nur ein ersticktes Keuchen hervor. Der Griff um ihren Hals wurde noch fester. Dann gelang es ihr mit äußerster Anstrengung, eine Hand zu befreien und seine Wange mit den Fingernägeln zu zerkratzen. Sie hörte einen halb unterdrückten Schrei und spürte, wie sein Griff sich lockerte. Flehend sah sie zu ihm auf. Sein Gesicht war jetzt nicht nur schmutzig und eingespeichelt, sondern auch blutverschmiert, doch plötzlich sprang sein Blick nicht mehr wild umher. Mit weit aufgerissenen Lidern starrte er ihr in die Augen, und Alice erkannte in seinem Blick überrascht etwas, das sie in dieser schrecklichen Stadt nie erwartet hätte -etwas, das sie schwach, aber eindeutig an das Land ihrer Geburt erinnerte. Und im selben Moment erkennt auch er etwas in ihren Augen, ihren großen, blauen Augen. Furcht und Schrecken stehen darin, doch dahinter befindet sich etwas anderes, das ihm große Angst macht und wovor er sich doch nicht schützen kann. Denn am Grund ihrer Augen und damit knapp außerhalb seiner Reichweite liegt ein grenzenloses Meer ewiger Ruhe. Und dann verändert sich für einen Moment seine Perspektive, und es scheint, als betrachte er die ganze Szene die Stadt, die Gasse, die Jungen, das Mädchen - von hoch oben wie durch das Auge eines Turmfalken. Er begann, sich zu entspannen. Wie hypnotisiert ließ er ihre Kehle los und sah argwöhnisch zu, wie Alice 253 zitternd einen tiefen Atemzug tat, vorsichtig den mit Druckstellen übersäten Hals kreisen ließ und ihr Gegenüber wie ein verletztes Tier anblickte. Langsam begann er zu begreifen, was er getan hatte. Verwirrt, nervös und mit im Hals klopfendem Herzen trat er unsicher ein, zwei Schritte zurück. Die anderen sahen ihn verwundert an. Er wollte sprechen, hatte aber zunächst keine Stimme. »Die nicht«, keuchte er schließlich. »Jetzt nicht. Lasst sie in Ruhe.« Dann löste sich seine Miene in Kummer auf, und mit einem Schmerzensschrei fuhr er herum und verschwand. Einen Moment später machten auch die anderen, die nun keinen Anführer mehr hatten, kehrt und folgten ihm. Alice sackte erschöpft gegen die Mauer. Ihr Hals pochte, ihr Atmen war ein hartes, schmerzhaftes Keuchen, und Tränen der Erleichterung strömten ihr über die Wangen. Sie sah den Jungen staunend nach und begriff langsam, welche Art von Aufgabe auf sie wartete. Aus dem Tagebuch des Victor Lazarus Nachts (Fortsetzung) Die Tür zu meiner Schreibstube hat ein Sicherheitsschloss, deshalb wollte ich den Gefangenen dort über Nacht einsperren. Ich kniete mich hin, um den kleinen, reglosen Körper hochzuheben, und stellte fest, dass er fast nichts wog. Ich trug ihn die Treppe hinunter, legte 254 ihn - nachdem ich den Revolver wohlweislich von seinem Platz unterm Kissen entfernt hatte - vorsichtig auf mein Feldbett und hielt inne, um die kleine, zusammengekauerte Gestalt aufs Neue zu betrachten. Plötzlich überkam mich ein Gefühl, das ich zunächst nicht einordnen konnte. Vielleicht hatte ich erwartet, zornig zu werden oder rechtschaffen entrüstet zu sein, doch das war es nicht. Rasch ging mir auf, dass ich mir hatte durchgehen lassen, etwas wie Mitleid für meinen Gefangenen zu empfinden! Ich erteilte mir einen strengen Verweis und rückte mir klar vor Augen, dass ich es mit einem Unruhestifter zu tun hatte, der in Haft gehörte und äußerst streng zu behandeln war. Ich sperrte zweimal ab und spähte dann durchs Schlüsselloch. Die kleine Gestalt lag reglos da, und ein schwaches Schnarchen war zu hören. Mit einem geflüsterten »Gute Nacht« stahl ich mich davon und war erneut über mein Verhalten verblüfft. Ich sah mich gezwungen, den Rest der Nacht in einem Sessel im Fossilienkabinett zu verbringen. Zu meinem weiteren Erstaunen stellte ich beim Betreten des Zimmers fest, dass die alte Dame nirgends zu sehen war. Noch ein beunruhigender Vorfall in einer überaus beunruhigenden Nacht! 255 FÜNFTES KAPITEL
Das Auge des Turmfalken Jetzt hast du mich in meinem Elend gesehen und endlich Mitleid verspürt. Du hast mich in die Arme genommen, wie ein Kind an einen sicheren Ort getragen und in ein weiches Bett gelegt, wo ich eingeschlafen bin -und träume. Ich träume von dem Jungen, der den Verlockungen der Unterstadt gefolgt ist. Mit der fehlgeleiteten Energie der Jugend hat er eine Zeit bei den wilden Wesen dort verbracht, mit ihnen gejagt und getötet. Nacht für Nacht hat er Raubbau an seiner Gesundheit betrieben, gegen jede Vernunft verstoßen und sich beinahe die Seele aus dem Leib gewütet. Und ab und an - ich muss es zugeben - konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, mit seiner Meute unterwegs zu sein. Doch obwohl es ihm noch nicht wirklich klar ist, begreift er allmählich, was er sucht, und spürt, dass es Zeit ist, sich dorthin aufzumachen. Ich träume von dem Magier, der die Stadt mit großen Schritten verlässt und nur noch besitzt, was er auf dem Leib trägt. Er ist Jäger gewesen und gejagt worden, und schließlich hat ihn Nina um alles gebracht, und doch schreitet er lebhaft aus. Denn die Stadt war sein Gefängnis und der Palast seine Fessel, und nur weil er 257 beides abgeworfen hat, kann auch er nun nach dem suchen, was er wirklich braucht. Und ich träume von der Frau, die mit dem, was sie gestohlen hat, im Königreich unterwegs ist und glaubt, sie könne ihr Glück damit machen. Einen Moment lang bin ich traurig, denn ich weiß, dass das Gestohlene zu schrecklich ist, als dass sie es begreifen könnte, zu gefährlich, als dass sie es zu handhaben wüsste, und so stark, dass selbst ihr habgieriger Charakter davon überfordert ist. Doch schon bin ich wieder froh, denn letztlich wird sie verstehen, was für einen gefährlichen Weg sie eingeschlagen hat. Meist aber träume ich von Wachstum, Erneuerung und Hoffnung. Ich bin froh, Victor, dass du mich gefunden und dich um mich gekümmert hast. Denn jetzt, da ich in deinem Bett schlafe, können wir zwei endlich unsere Arbeit beginnen. Darauf habe ich lange gewartet. Ich werde deine Freundlichkeit belohnen, Victor. Du bist sehr gütig zu mir gewesen, und von nun an bin ich dein Freund, fetzt können wir einander kennen lernen. Auf der Flucht Kaum hatte er zu rennen begonnen, wollte er nicht mehr anhalten. Hinter sich hörte er die schwächer werdenden Rufe seiner Kameraden, die wütenden Schreie und schweren Stiefel der Miliz und ab und an einen Pistolenschuss. Seine Füße trugen ihn erst durch die Gassen und Gänge der Unterstadt, dann auf die beleb258 te Nordstraße, wo er sich durch Trauben erschrockener Passanten kämpfte, ohne sich um schimpfende Ladenbesitzer zu kümmern, und vor Planwagen und Kutschen auf die Seite sprang. Als er das verfallene Torhaus der alten Stadtmauer erreichte, drosselte er sein Tempo etwas, durchquerte im Trab das ausgedehnte, aber gesichtslose Nordviertel und kam schließlich ans Südufer des Flusses, wo er bei den alten, windschiefen Gebäuden am Fähranleger einen trockenen Schlafplatz fand. Er hatte kein Geld für die Überfahrt, und der Fluss war zu breit und seine Strömung zu stark, um ihn zu durchschwimmen. Also klammerte er sich am nächsten Morgen in aller Frühe an einen der schweren Fender, die von der Bordwand der Fähre hingen, und kam so - bis zur Brust im kalten, schmutzigen Wasser - mit knapper Not ans andere Ufer. Gegen Mittag erreichte er die letzte Vorstadtsiedlung und konnte in der Ferne die ersten Hügel erkennen. Er wanderte eine Zeit lang auf der königlichen Landstraße, hatte aber bald genug von ihrem harten Belag und den gewaltigen, bedrohlich wirkenden Kraftfahrzeugen, die mit betäubendem Lärm an ihm vorbeischössen und erstickende Rußwolken ausstießen. Also nahm er die nächste Abzweigung und verschwand im verwirrenden Netz der Nebenstraßen, das sich übers ganze Land erstreckte und ihn - dessen war er sicher - an sein Ziel führen würde. Später regnete es, und er musste in einem leeren Haus Schutz suchen, das abgelegen und fast völlig zugewachsen in einem überwucherten Garten stand. In einem der ausgeräumten Zimmer hing noch ein ge259 sprungener Spiegel an der Wand. Er betrachtete sich darin - diese elende Kreatur, zu der er sich hatte verwahrlosen lassen. Er war schmutzig und barfuss, und seine Lumpen bedeckten ihn kaum. Sein Haar war lang und verfilzt, seine Wange von den Fingernägeln des Mädchens schlimm zerkratzt. Ein Auge war zugeschwollen, und eine Schulter hing tiefer als die andere, als habe er sich eine krumme Haltung angewöhnt. Sein Blick verweilte auf der makabren Knochenkette, die ihm vor der Brust baumelte. Schaudernd riss er sie sich vom Hals und warf sie an die Mauer, wo sie kaputtging und die Einzelteile mit trockenem, höhnischem Klappern auf dem Boden landeten. In der Nacht schlief er in einer kleinen Kammer unterm Dach und träumte, ein Milizionär pirsche sich von Zimmer zu Zimmer mit einem Revolver an. Am nächsten Morgen sah er wieder in den Spiegel, errötete bis unter die Haarwurzeln und begriff, dass er sich so bei Tageslicht nicht sehen lassen konnte. Also blieb er im Haus, bis es dunkel geworden war, und stahl sich erst dann wieder ins schlummernde Land hinaus. Von nun an schlief er tagsüber in verfallenen Häusern, in Hecken oder Wäldern und zog bei Nacht weiter. Ständig nagte Hunger an ihm, und er musste von dem leben, was er auf Feldern oder Höfen erbeutete. Manchmal traf er andere nächtliche Wanderer. Die meisten wechselten rasch die Straßenseite, und eine alte Frau murmelte ihm sogar eine Art Fluch zu und wehrte ihn mit böser Handbewegung ab. Eines Abends ertappten ihn ein paar Dorfburschen, als er sich hinter einem
260 Gasthaus rumdrückte, und jagten ihn mit Steinen, Messern und Flüchen davon. Ein paar Tage später ließen ihn Kälte, Hunger und Verzweiflung am Rand des Hügellands in einem Stall Schutz suchen, wo ihn eine geduldige Kuh ihre volle, süße Milch direkt aus dem Euter trinken ließ. Satt und zufrieden warf er sich dann ins Stroh und schlief sofort ein. Ein metallisches Klappern weckte ihn. Vorsichtig schlug er die Augen auf. Im Schein der Abendsonne, die durch die halb offene Stalltür fiel, sah er ein unscheinbares junges Mädchen mit einem dreibeinigen Schemel und einem Tragjoch hereinkommen, an dem zwei Milcheimer hingen. Halb im Stroh verborgen, sah er zu, wie sie die Kühe nacheinander molk, ihnen in beruhigendem Ton blanken Unsinn erzählte und leise die eine oder andere Melodie vor sich hin sang. Vorsichtig setzte Rusty sich auf. Er staunte, wie sehr das Mädchen in ihrer Aufgabe aufging, und fragte sich niedergeschlagen, ob er je wieder zur normalen Welt gehören würde. Er hätte alles gegeben, um mit dem Mädchen zu tauschen, und schnaufte unwillkürlich auf. Bei diesem unerwarteten Geräusch drehte sich das Mädchen um. Es war zu spät, sich zu verstecken, und sie sah ihn sofort. Sie riss den Mund auf, stieß einen Angstschrei aus und rannte mit klappernden Eimern, aus denen die Milch schwappte, aus dem Stall, während das Vieh verwundert muhte. Rusty taumelte zur Tür und blieb dort schwankend und von der roten Scheibe der Abendsonne geblendet stehen. »Keine Angst«, rief er ihr kläglich nach. »Ich hab nur...« 261 Doch das Mädchen hatte wohl Alarm geschlagen, denn im nächsten Moment kamen aus allen Ecken des Hofs kräftige Gestalten schreiend und Sensen und Heugabeln schwingend auf ihn zugerannt. Er sah sich hektisch nach einem unbewachten Ausgang um, entdeckte einen und spurtete los. Der Feldweg, auf dem er vom Hof floh, führte mitten ins Dorf. Als er - von den Knechten des Bauern verfolgt an den Häusern vorbei rannte, sahen neugierige Köpfe aus Fenstern und Türen, und ehe er das Ende des Dorfs erreicht hatte, waren ihm die Einwohner bereits auf den Fersen. Aber wenigstens wusste er, wie man davonlief. Das hatte er von den Wolfsjungen gelernt. Er raste vor der Meute her, setzte über ein Gatter und landete in einem Feld, sprang durch eine Herde aufgeschreckter Schafe, tauchte durch eine Hecke, entdeckte einen Wald, in dem er Schutz suchen konnte, und hetzte auf einem schmalen Pfad hügelan, wobei er mit seinen nackten Füßen auf dem steinigen Boden schnell und sicher vorankam. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, und sein Atem ging schmerzend und stoßweise, doch er wusste, dass er seine Verfolger abhängen würde. Als er den Wald erreicht hatte, waren sie schon weit hinter ihm. Er schlängelte sich zwischen den Bäumen hindurch, schwang sich in die Äste einer gewaltigen Eiche hinauf und beobachtete erleichtert, wie die Jagd abgebrochen wurde und ein Dörfler nach dem anderen nach Hause ging. Es wurde jetzt kälter und dämmerte bereits. Erschöpft lehnte er sich in eine Astgabel, schlug die Lumpen fest um sich und schlief sofort ein. 262 Als er erwachte, war es stockdunkel. Noch ganz verschlafen, stieg ihm ein seltsamer Geruch in die Nase -süß, stickig, rauchig. Dann hörte er Rufe und Gebell. Rasch schwang er sich auf einen höheren Ast und sah sich um. Auf dem Pfad, der in den Wald führte, näherte sich eine lange Reihe schwankender Lichtpunkte, und von den Seiten krochen weitere Lichter heran. Die Dorfbewohner waren in großer Zahl zurückgekehrt. Er verwünschte sich dafür, eingeschlafen zu sein, und versuchte hektisch, die steifen Glieder zu lockern. Dabei musterte er die Gegend ringsum. Er war noch nicht vollständig umzingelt. Wenn er sich zum oberen Waldrand durchschlug, konnte er vielleicht noch entkommen. Er wollte schon von seinem Ast springen, da hörte er von unten Stimmen, konnte sich gerade noch abfangen und begriff, dass bereits Leute im Wald sein mussten. Im schwankenden Licht ihrer Laterne erkannte er zwei Gestalten. Der Laternenträger hielt mühsam einen großen, gefährlich aussehenden Hund zurück, der knurrte und an seiner Leine zerrte. Der andere Mann trug eine Priesterrobe und las laut in einem großen Buch, dessen Sprache Rusty unbekannt war. Er durfte keine Zeit verlieren und stürzte sich mit einem wilden Schrei - die Füße voran - durchs Geäst. Einen Moment sahen zwei erschrockene Gesichter zu ihm auf, dann sprang er dem Priester schon auf die Schultern, stieß ihn dabei seitwärts gegen den anderen Mann und ließ die beiden mit Wucht zu Boden gehen, wobei sie in einem Brombeerdickicht landeten. Die Laterne flog ins Unterholz. Er hörte ihr Glas entzweigehen und sah Flammen aufschlagen. Als er sich aufrappelte, kam der Hund mit gesträubtem Fell und ent263 blößten Zähnen knurrend auf ihn zu. Rusty wich nicht vom Fleck, blickte dem Tier in die Augen und streckte die Hand aus. Einen Moment lang dachte er an die Wolfsjungen. Dann erinnerte er sich an Dusty. »Guter Junge. Feiner Hund.« Und der Hund hörte auf, ihn anzuknurren, und begann, seine Hand zu lecken. Dabei bekam Rusty die herabhängende Leine zu fassen, wickelte sie rasch um einen Ast, versetzte einem der Männer einen Tritt, weil der ihn am Knöchel hatte packen wollen, fuhr herum und stürzte aus dem Wald. Dabei ritzte er sich im Dunkeln die Schultern an Brombeersträuchern, stieß sich die Knöchel böse an ein paar Baumwurzeln und hörte die Männer fluchen und den Hund wie wild heulen, während die Flammen sich im Wald ausbreiteten. So flüchtete er in die Hügel. Auf der nächstgelegenen Kuppe machte er eine Pause, um sich den lodernden Wald anzusehen. Er war erleichtert, nirgendwo Laternenträger auf seiner Spur zu finden, und nahm an, dass die
Dörfler nun viel zu sehr mit der Bekämpfung des Feuers beschäftigt waren, als dass sie sich noch um einen einsamen Wolfsjungen kümmern konnten. Dennoch beschloss er, die Nacht durchzuwandern. Er humpelte inzwischen wegen all seiner Verletzungen und blutete aus den Wunden, die die Brombeersträucher ihm geschlagen hatten. Wenn er nicht länger aufrecht gehen konnte, ließ er sich auf alle viere fallen. Er heulte vor Schmerz den Mond an, kroch aber doch weiter durch schlammige Gräben, über zerklüftete Felsen und durch Distelfelder. Schließlich konnte er nicht mehr weiter und sank zu Boden. Er wusste nicht mehr, 264 wo oben und unten war, verlor den Halt, kugelte und schlitterte einen Abhang hinunter, stieß mit den Rippen gegen Steine und schlug mit dem Kopf so stark gegen ein Hindernis, dass er nur noch einen furchtbaren Schmerz spürte. Dann wusste er nichts mehr. Aus dem Tagebuch des Victor Lazarus (undatiert) Kaum wurde es hell, ging ich in meine Schreibstube zurück. Unter den Falten der Bettdecke konnte ich den Umriss des Geschöpfs erkennen. Es lag reglos da, doch die Art, wie es atmete, zeigte mir, dass es nicht mehr schlief. Während ich es noch beobachtete, zuckte die Decke einen Spalt auf, und ein waches Auge betrachtete mich durch einen zerzausten Pony. Unter der Decke stieß eine dünne, heisere Stimme ein paar kaum hörbare Silben aus. Zuerst verstand ich nicht, was das Geschöpf sagen wollte, doch nachdem es seine Worte mehrmals wiederholt und mit Gesten untermalt hatte, wurde mir klar, dass es gefüttert werden wollte! Zu erstaunt, um zu widersprechen, ging ich in den Hof hinterm Haus, wo Mrs Proudfoot in einem alten Planwagen eine provisorische Küche eingerichtet hat. Es war sehr früh und die gute Frau noch nicht da. Also zündete ich meinen ramponierten Campingkocher an, wärmte einen Topf Milch auf, füllte sie in eine Schüssel, brockte ein paar Scheiben Weißbrot hinein und tat Zimt und Zucker dazu. Ehe ich über mein merkwürdi265 ges Verhalten hätte nachdenken können, war ich schon wieder auf dem Weg in die Schreibstube und trug dabei die Schüssel vor mir her. Als ich um die letzte Ecke kam, sah ich entsetzt, dass ich die Tür zur Stube weit offen hatte stehen lassen. Ich stürzte hinein und merkte gar nicht, wie die heiße Milch überschwappte und an meinem Nachthemd herunterlief. Das Bett war leer. Ich blickte mich wütend um, bis ich ein zögerndes Räuspern hörte: Das Geschöpf saß auf dem Fensterbrett und ließ die dünnen Beine baumeln. Dann sprang es auf den Boden, kam zu mir gehüpft und rümpfte die Nase, als es das Essen roch. »Hallo Victor«, sagte das Geschöpf. »Ich heiße Lee.« Und Lee griff sich die Schüssel und begann, die Milch gierig in sich hineinzulöffeln. Der Magier unterwegs Leonardo Pegasus hatte sich viele Jahre nicht aus der Stadt gewagt. In den ersten Tagen seiner Freiheit schlug er nun mehr oder weniger zufällig mal diesen, mal jenen Weg ein, da er kein eigentliches Ziel im Kopf hatte. Er war hochzufrieden, einfach nur die neuen Geräusche und Empfindungen zu genießen, die Landschaft mit ihren Hügeln und Flüssen in sich aufzunehmen, ganz andere Gerüche zu atmen und zu erleben, dass die Straße ihn willkommen hieß. Manchmal wanderte er, und manchmal nahm er das Angebot an, auf einem Karren oder in einem Wagen mitzufahren. 266 Von Zeit zu Zeit schloss er sich anderen Reisenden an. Viele gehörten zum fahrenden Volk und betrieben Wanderhandel verschiedener Art, doch einige waren - wie er - mittellos und auf der Suche nach einem Neuanfang. Manchmal fand er für ein, zwei Tage einen Begleiter, mit dem er tagsüber wandern und nachts eine Kammer teilen konnte. Er stellte fest, dass Kost und Logis billig waren, wenn man sich nur ein Stück von der Hauptstadt entfernte. Die Münzen in seiner Börse würden also leicht reichen, bis er eine geeignete Arbeit gefunden hätte. Als es wärmer wurde, schloss er sich einigen Wandervögeln an, die im Freien lebten, gemeinsam über Land zogen, zusammen kochten und am Lagerfeuer Geschichten erzählten, von denen einige die alten Legenden wiedergaben, andere dagegen eigene Erlebnisse behandelten. Manchmal schien es ihm schwer, beides auseinander zu halten. Eines Nachts fiel Leonardo auf, dass dieses Erzählen gewisse Möglichkeiten für den Einsatz seiner beruflichen Fähigkeiten als Zukunftsentwickler barg. Er schlug seinen Begleitern vor, nicht immer nur Ereignisse aus der Vergangenheit zu berichten, sondern sich doch auch mal ein paar Geschichten auszudenken, die um Zukünftiges kreisen. Diese Idee stieß im Zeltlager auf große Begeisterung. Es dauerte nicht lange, da hatten seine Kameraden unter Leonardos Anleitung gelernt, ihre geheimsten Träume zu offenbaren und fantastische Geschichten über die verschiedensten Entwicklungen zu ersinnen, die ihr Leben künftig nehmen mochte. Schließlich war natürlich auch Leonardo an der Reihe. 267 »Erzähl uns, wie deine Zukunft aussehen soll, Leo«, forderten seine Gefährten. Der Magier blickte lange in die Flammen. »Ich wandere auf einer staubigen Straße«, begann er. »Es ist Mittag. Ich suche etwas, aber ich weiß noch nicht,
was.« Er schwieg. Die anderen warteten geduldig. »An der Straße wächst eine hohe Hecke«, fuhr er schließlich fort. »Eine verwucherte Hecke aus Dornbüschen. Ich komme an die Stelle, wo einmal der Eingang gewesen sein muss. Zwei große, völlig verrostete Torflügel sind unter den Dornen kaum mehr zu sehen. Das Tor ist mit Kette, Vorhängeschloss und Gitter gesichert, und ich kann es nicht öffnen.« Plötzlich sank er erschöpft zurück. »Kannst du durch das Gitter etwas erkennen?«, fragte jemand hilfsbereit. »Nur Geduld«, sagte der Magier. »Lass mich zu Atem kommen, dann schau ich noch mal.« Und er sah erneut in die Flammen. Leonardo spähte durch den Spalt zwischen den Torflügeln. Zuerst schien alles düster, doch als sich seine Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, begriff er, dass er nicht ins Dunkle sah, sondern in eine gestaltlose graue Leere, an deren Rändern sich etwas zu bewegen begann. Schwarze Fetzen schlängelten sich in den Ecken, als würden sie tanzen, strömten von allen Seiten zusammen, trennten sich wieder und verbanden sich dann zögernd zu einem vorläufigen Bild, das unvermittelt feste Formen annahm, ihn ansprang und ihm einen Schlag in den Unterleib zu verpassen schien - das 268 Bild eines blassen, dünnen, blonden Mädchens, das von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet war und schwerelos im Leeren tanzte. Leonardo seufzte. Er dachte kurz an das wirkliche Mädchen, das fern und isoliert in der grauen Stadt am Arbeitsplatz saß und so unerreichbar für ihn war wie das geträumte Mädchen, das da vor ihm tanzte. Alice. Er wollte ihr Gesicht heraufbeschwören, musste aber feststellen, dass der blonde Haarschopf der Tänzerin nur ein konturloses Oval umgab. »Was ist hinter dem Tor?«, fragten die Gefährten und rissen ihn aus seinen Gedanken. »Nichts. Ich kann jetzt nicht weitermachen.« Leonardo erhob sich unsicher und stolzierte in die Dunkelheit, während die anderen schlafen gingen. Wohin er in den nächsten Tagen auch sah, stets schwebte ihm die Erscheinung tanzend vor Augen, verspottete und verfolgte ihn und ließ ihn nicht los. Eine Choreografie wirbelnder Spiralen umgab ihn, und einander überschneidende Linien traten zu komplexen Mustern zusammen, die ihn umgarnten, bestrickten, verwirrten. Wohin er sich auch wandte, stets versperrte ihm das gelenkige, blasse, Angst erregende Geschöpf den Weg. Und selbst wenn er aus seinen Träumen erwachte, schien ihn noch Gelächter zu umgeben. 269 Aus dem Tagebuch des Victor Lazarus Donnerstag, 15. Oktober Durch massive Willensanstrengung habe ich mich endlich gezwungen, mich wieder auf die anstehenden Aufgaben zu konzentrieren. Die Manie, die mich so viele Wochen beherrscht hat, lockert endlich ihren Griff, und ich erkenne allmählich, wie entsetzlich ich meine Pflichten vernachlässigt habe. Während ich meine Zeit mit der Verfolgung von Dämonen und Schemen verschwendete, haben Sam und Harold ganz allein die immense Last unserer Aufgabe geschultert. In genau drei Monaten soll der Eigentümer des Hauses zurückkommen, und bis dahin bleibt noch sehr viel zu tun. Ich habe mich deshalb entschlossen, einen Neuanfang zu machen. Heute Morgen habe ich meinen Schreibtisch aufgeräumt, meine Post durchgesehen und meinen Kalender studiert und bin zu dem Schluss gekommen, dass eine gründliche Inspektion des gesamten Anwesens längst überfällig ist. Einige Stunden später Zu meiner ungeheuren Erleichterung hat es seit meiner letzten Inspektion erhebliche Fortschritte gegeben. Der Großteil der Maurerarbeiten ist beendet, fast die gesamte Elektroinstallation verlegt, und die Innenausstattung ist überwiegend in gutem Zustand. Die Dielen im Erdgeschoss sind ausgetauscht und da und dort 270 schon geschliffen und poliert. Die beim Brand verkohlten Holzverschalungen sind aus der Küche entfernt, der zerstörte Putz an den Wänden erneuert worden, und die Klempner sollen demnächst mit der Arbeit beginnen. Mrs Proudfoot hat die Bestellung neuer, hochmoderner Geräte für die Küche gefordert und dabei sehr feste Vorstellungen (genau wie bei der Auswahl der Fliesen und Tapeten). Ich fürchte, mir bleibt nichts anderes übrig, als ihren Forderungen zuzustimmen. Der Garten vor dem Haus sieht prächtig aus. Der Rasen ist akkurat gemäht, die Sträucher sind penibel gestutzt und die Geländer frisch gestrichen. Hinterm Haus sind noch ein paar größere Aufgaben zu erledigen, doch ich vermute, dass wir das erst im Frühling schaffen werden. Harold verkauft weiter Eintrittskarten an einen gleichmäßigen Besucherstrom und hat noch einige Leute für Führungen und Garderobe eingestellt. Was meinen Gefangenen angeht, bin ich weiter in einer gewissen Verlegenheit. Es widerstrebt mir aus mancherlei Gründen, meinen Kollegen die bizarren Ereignisse anzuvertrauen, die damals bei Vollmond stattgefunden haben. Nur die alte Dame kennt mein Geheimnis, doch die schlummert glücklicherweise ungestört weiter. Im kleinen Turmzimmer unterm Dach habe ich für den Gefangenen Feldbett, Tisch und Stuhl aufgestellt. Zwar hat die Tür ein Schloss, doch ich vergesse offenbar immer wieder abzusperren. Dennoch hat Lee keine Neigung
zum Weglaufen gezeigt. Ich bringe regelmäßig Essen ins Turmzimmer, doch ansonsten bin ich zu beschäftigt, um über diese Sache nachzudenken. Die 271 Arbeit geht rasend schnell voran, und wenn ich eine Runde über das Gelände mache, spüre ich eine Aufregung, eine Geschäftigkeit und einen Schwung, die früher nicht zu bemerken waren. Die Hüterin des Platzes Es war bitterkalt und sehr feucht, als der Junge erwachte. Er lag zusammengerollt auf nacktem Gestein. Vorsichtig setzte er sich auf, schlug die klitschnassen Lumpen enger um sich und massierte seine schmerzenden Glieder, um die Durchblutung anzuregen. Dann sah er sich um. Eben begann der Morgen zu dämmern, doch er konnte nichts erkennen und wartete, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Allmählich nahm er die Umgebung im grauen Frühlicht wahr. Und da - direkt vor ihm und von Nebel umwallt - ragte bedrohlich ein großer, dunkler Umriss auf. Geräuschlos sprang er hoch. Unerbittlich versperrte ihm die Gestalt den Weg. Rasch fuhr er herum und entdeckte eine zweite Figur, die groß, ernst und reglos dastand. Jetzt konnte er links und rechts noch mehr davon erkennen. Alle warteten lautlos. Einige waren so nah, dass er sie mit ausgestrecktem Arm fast hätte berühren können, andere dagegen waren in der Ferne kaum auszumachen. Er war umzingelt und hatte keine Chance zu entkommen. Sein Puls raste, und seine Kehle war wie zugeschnürt. »Was wollt ihr?«, stieß er keuchend hervor. Keine Antwort. Wie angewurzelt wartete er, dass 272 sein Gegner sich bewegte. Doch eine schier endlose Zeit geschah nichts. Dann riss die Bewölkung auf, und ein schwacher Sonnenstrahl drang durch den Dunst. Der Nebel verzog sich ein wenig, und mit einer Woge der Erleichterung erkannte er, dass er nicht von menschlichen Widersachern umgeben war, sondern von einer wahllos aufgestellten Gruppe großer, behauener Steinfiguren. Manche waren von geometrischer Präzision, andere hatten einen eher unregelmäßigen Umriss. Einige waren glatt und nackt, andere mit komplizierten Mustern geschmückt, doch in der Dämmerung hatten sie alle für kurze Zeit wie Menschen gewirkt. Er atmete langsam aus. Im Tageslicht sah er, dass die Steine auf einem mit Mosaiktafeln gepflasterten Platz aufgestellt waren, in den ein Labyrinth sternförmig ausstrahlender Linien und konzentrischer Kreise gemeißelt war, die einander überschnitten. Unter seinen Füßen - und offenbar im Zentrum der Struktur - lag eine sechseckige Platte. Sie war größer als die anderen Tafeln und ein wenig erhöht. Auf ihr musste er die Nacht verbracht haben. In der Ferne herrschte noch immer Nebel, und er konnte dort nichts erkennen. Mit der Sonne war es etwas wärmer geworden. Er gähnte, streckte sich und überlegte, wo er nach Nahrung suchen und wohin er nun wandern sollte. Seine Verkrampfung löste sich, und mit ihr verflogen auch die Schrecken der nächtlichen Verfolgung. Deshalb zuckte er nicht zusammen, sondern war angenehm überrascht, als eine Hand ihn leicht an der Schulter berührte. Er drehte sich um und sah sich einer alten Frau 273 gegenüber. Sie war groß, schien ziemlich geistesabwesend und trug eine lange Robe, die sie recht klösterlich wirken ließ. Ihre grauen Zöpfe waren am Hinterkopf zu einem lockeren Knoten zusammengesteckt, aus dem sich schon manche Strähne gelöst hatte. Die Frau musterte ihn neugierig durch ihre Nickelbrille. »Hallo«, sagte sie schließlich. »Du hast es also geschafft, zu uns zu finden.« Ihre Stimme klang weich, vertraut und beruhigend und hatte einen freundlichen Ton. Der Junge konnte nur stumm nicken. »Nun, du bist hier sehr willkommen. Du bist nicht der Erste, und ich könnte mir denken, dass du nicht der Letzte bleibst. Nein, nein - versuch jetzt nicht zu reden. Du musst mir nicht erzählen, wer du bist oder was du getan hast oder dergleichen. Ich bin sicher, das erfahren wir zu geeigneter Zeit - so ist es jedenfalls normalerweise. Und ich könnte mir auch denken, dass du ein Weilchen brauchst, um zur Ruhe zu kommen und dir über dich klar zu werden - wie die meisten unserer Gäste. Ich schätze, wir finden ein Zimmer für dich, damit du bleiben kannst, solange du willst. Übrigens nennt man mich die Hüterin des Platzes. Das ist wohl mein offizieller Titel. Hört sich etwas pompös an, was?« Es war sehr lange her, dass jemand zu Rusty etwas Nettes gesagt hatte. Für einen Moment war er zu Tränen gerührt, und seine Stimme versagte. Als er endlich wieder sprechen konnte, schaffte er nur drei Worte: »Bitte helft mir.« Obwohl es wärmer geworden war, zitterte er hemmungslos. »Dann komm mit rein.« Sie legte ihm den Arm um die Schultern, hüllte den 274 Jungen in ihre Robe, führte ihn zwischen den hohen Figuren vom gepflasterten Platz weg auf den kurzen, federnden Rasen und drehte ihren Gast um, damit er die Gegend betrachtete. Nun konnte er die sanften grünen Hügel, den leicht gewundenen Pfad, das große, einladende Haus und die kurze Steintreppe zur Tür hinauf erkennen. Dann schwangen deren Flügel leise auf, und die Frau führte ihn hinein. Aus dem Tagebuch des Victor Lazarus
Montag, 26. Oktober Als ich heute Morgen mit der üblichen Schüssel Brot und Milch zum Turmzimmer hinaufstieg, hörte ich zu meiner Überraschung etwas wie Musik. Zunächst vernahm ich einen schnellen, treibenden Rhythmus, der von einer kleinen, mit Besen gespielten Trommel zu kommen schien, wie sie in Tanzorchestern üblich ist. Als ich näher kam, hörte ich zudem eine geschmeidige Melodie, die mal mit dem Rhythmus lief, mal gegen ihn und mich an eine Schlange in einem Bambusdickicht denken ließ. Als ich um die Ecke kam, entdeckte ich zu meinem Erstaunen, dass Lee den Boden mit rhythmischen Bewegungen fegte und dabei einen fröhlichen Refrain summte. Ich stand schweigend und reglos da, wahrte meine Distanz, sah aber doch fasziniert zu. Ruhe und regelmäßiges Essen hatten meinem Gefangenen zweifellos gut getan. Lee hatte ein wenig zugenommen, schien größer als früher und sprang 275 zwar leichtfüßig herum, erledigte seine Aufgabe dabei aber mit Selbstvertrauen und Anmut. Als ich ihn beobachtete, beschlich mich ein ungewohntes Gefühl, das ich nicht sofort benennen konnte. Doch schon ein paar Sekunden später erkannte ich es plötzlich als das schwache Ziehen der Sehnsucht! Überflüssig zu sagen, dass ich über diese Entdeckung sehr erschrocken und verlegen war, was dazu führte, dass mich unvermittelt ein heftiger Niesanfall packte. Auf mich aufmerksam geworden, drehte sich mein junger Gefangener nach mir um und ließ ein geheimnisvolles Lächeln aufblitzen. Ich stellte schnell die Milch ab und hetzte verwirrt davon. Du hast gut für mich gesorgt, Victor. Wunderbar, was sich mit ein wenig Nahrung, etwas Ruhe und ein bisschen Freundlichkeit erreichen lässt. Inzwischen weiß ich, dass ich dir viel Kummer und Angst bereitet habe. Du aber hast Kummer und Angst allein mit Liebe vergolten, und nach einiger Zeit ist mir klar geworden, dass ich diese Liebe erwidern und ein wenig für das Haus tun sollte, das ich so unbedingt und töricht hatte zerstören wollen. Also habe ich mir einen Besen genommen und zu fegen begonnen. Das hat mich zuerst erschöpft, und ich habe kaum mehr als die paar Dielen meines kleinen Zimmers geschafft, doch bald habe ich mich auf die Flure des Hauses gewagt und im Lauf der Zeit festgestellt, dass mir langsam immer mehr gelingt. Die Arbeit und die Anstrengung haben mir Spaß gemacht, und jetzt kehrt meine Kraft allmählich zurück, meine Glieder sind stärker, meine Erscheinung ist gepflegter, und ich halte 276 mich aufrechter. Und heute habe ich beim Fegen wieder begonnen, meine Musik zu machen. Deshalb habe ich dich nicht kommen hören und bin nicht weggerannt, um mich im Bett zu verstecken, wie ich es früher vielleicht getan hätte. Doch der Geruch des Essens hat mir verraten, dass du hinter mir gestanden und mich beobachtet hast. Du bist ziemlich lange still gewesen, aber ich habe gewusst, dass du zuschaust, und mir war klar, dass dir gefällt, was du siehst. Ich möchte gutmachen, was ich dir zuleide getan habe, Victor. Ich möchte dich glücklich machen. Der Magier träumt wieder Schließlich ging der Sommer zu Ende, und Leonardo beschloss, das Leben im Freien vorübergehend mit der Annehmlichkeit eines warmen Betts zu vertauschen. Er nahm von seinen neuen Freunden Abschied und zog los, bis er zufällig auf eine der königlichen Landstraßen stieß, deren rasch wachsendes Netzwerk inzwischen viele größere Städte miteinander verband. So erreichte er bald ein viel besuchtes Rasthaus, wo ihn schlechtes Wetter einige Tage am Weiterwandern hinderte. Die Besucher des Gasthofs waren nicht gerade sympathisch, und so fand sich Leonardo erstmals seit vielen Wochen mit seinen Gedanken allein. Er saß an seinem abseits stehenden Tisch und blickte durchs Fenster in den Regen, der in Strömen vom grauen Himmel kam. Ihm fiel auf, dass er sein Leben in 277 letzter Zeit genossen und deshalb kaum Gelegenheit zum Nachdenken gehabt hatte, dass es aber nun, da er allein war, für ihn plötzlich kaum etwas anderes zu tun gab als zu grübeln. Er dachte an die Wochen in Gesellschaft der Fahrenden, an die Erzählungen am Lagerfeuer, an seine Idee, Geschichten über die Zukunft zu erfinden, und an sein Scheitern, die Hindernisse zu überwinden, auf die er bei seiner eigenen Geschichte getroffen war. Ihm kam die furchtbare Nacht wieder in den Sinn, in der er an der Reihe gewesen war, eine Geschichte zu erzählen, sich aber keinerlei Zukunft hatte vorstellen können und nur entsetzliche Bilder von einem verrosteten Tor vor Augen hatte (Bilder, von denen er seinen Kameraden erzählt hatte) - und die dämonische Figur von Alice (über die er geschwiegen hatte). Seither hatte er den Blick ins Feuer vermieden. Jetzt aber schien ihm die Zeit reif, es wieder zu versuchen. In der anderen Ecke des Zimmers gab es einen freien Platz am Kamin. Dorthin wechselte Leonardo nun, nahm einen tiefen Schluck Bier, ließ sich in den Sessel sinken, machte es sich gemütlich und sah nachdenklich in die Flammen. Und langsam spürte er, wie seine Vorstellungskraft zu arbeiten begann... Er stand wieder vor dem Tor, doch diesmal gab es keine Kette. Diesmal hing vielmehr ein Torflügel schief an der letzten Angel, und es war gerade Platz genug, um zwischen den Flügeln durchzuschlüpfen. Ehe ihm bewusst wurde, was er tat, hatte er sich schon durch den Spalt gezwängt und stand nun auf grob gepflastertem Boden. Links und rechts wuchsen gewaltige Sträucher 278 und Pflanzen. Dann sah er auf der Anhöhe vor ihm das Haus. Es war ein großes, beeindruckendes Haus mit vielen Fenstern. Der Garten ringsum war überwuchert, verdeckte
die unteren Stockwerke und verstopfte Dachrinnen und Abflussrohre; weiter oben aber konnte Leonardo Ecktürme, Giebel, Schornsteinköpfe und Wasserspeier erkennen, die alle spitz zum Himmel wiesen. Vor ihm begann ein Pfad. Vorsichtig schob er sich an hohen Disteln vorbei, die zwischen den grauen Steinplatten aufgeschossen waren, und kam schließlich an eine steilere Treppe, deren rissige Stufen ihn zwischen bröckelnden Säulen zum beeindruckenden Portal führten. Jetzt sah er die Flügel einer Eingangstür vor sich, deren Farbe lange abgeblättert und deren Eichenholz schon grau verwittert war. Unsicher, was er tun sollte, hielt er inne. Dann brach die Stille, und aus dem Haus drang ein schwaches Geräusch. Ja, da drin bewegte sich etwas. Und nun schwangen die Türen auf eine ganz leise Berührung hin auf. Ohne zu zögern, trat der Magier in die Eingangshalle. Über ihm schwebten die Reste eines schweren Kronleuchters, der voller Staub und Spinnweben hing. Rechts stieg eine mächtige Treppe aus Mahagoni auf, die den Blick ins Halbdunkel der oberen Stockwerke lenkte. Vor ihm befand sich eine weitere Flügeltür. Er spähte durch ihr trübes Glas und konnte einen langen, staubigen Flur erkennen, dessen getäfelte Wände von geschlossenen Türen unterbrochen waren. Kaum hatte er die Tür zum Flur berührt, schwang sie auch schon auf. Leise schlich er durch den Korridor, öffnete eine Tür 279 nach der anderen und entdeckte Zimmer voll abgeschlossener Schränke oder sorgsam verpackter, sauber gestapelter Pakete, aber auch Räume, in denen alles Mögliche leichthin und gedankenlos verstreut lag. Er stieg in die oberen Stockwerke hinauf, fand aber auch dort nur Zimmer vor, die einzig als Lager gedient zu haben schienen. Überall standen wacklige Stapel aus Büchern, Alben und Unterlagen auf dem Fußboden und ragten mehr als mannshoch auf. Alles lag unter einer dicken Staubschicht. Schließlich gelangte er über eine schmale Wendeltreppe unters Dach des Hauses und befand sich bald vor einer niedrigen Tür. Sie klemmte, und er musste sich anstrengen, sie zu öffnen. Dann stand er in einem winzigen, sechseckigen Zimmer. Es schien leer zu sein, doch Leonardo spürte, dass er nicht allein war. Schwer zu entscheiden, ob das, was hier gegenwärtig schien, ihm freundlich gesonnen war. Ihn schauderte, und er stieg rasch wieder hinunter. Kaum war der Magier wieder in der Eingangshalle, dachte er über seine Lage nach. Wenn dieses Haus wirklich seine Zukunft bedeutete, musste es jedenfalls stark renoviert werden, ehe er darin würde leben können. Er bedauerte nun, dass er trotz seiner umfassenden Gelehrsamkeit und seiner großen Erfahrung in der Magie nie ernsthaft versucht hatte, für sich selbst eine Zukunft zu entwerfen. In der geschützten Atmosphäre des Palasts schien das nicht notwendig, jetzt aber wünschte er, er hätte früher daran gedacht. Doch ohne seine Empathiemaschinen, Modellbühnen und kleinen Figürchen würden die Schwierigkeiten vermutlich unüberwindbar sein. Plötzlich kam ihm in den Sinn, er könnte Hilfe in 280 Anspruch nehmen. Vielleicht sollte er eine Anzeige aufgeben? Schließlich war in seiner Traumwelt gewiss alles möglich. Er öffnete ein paar Türen und entdeckte schließlich ein kleines Büro, dessen Schreibtisch nicht allzu verstaubt war und auf dem sich auch Pergament und Tinte fanden. Nachdem er ein Weilchen nachgedacht hatte, schrieb er: Hilfe bei Restaurierung gesucht Mein Anwesen ist ziemlich heruntergekommen, und es gibt viel zu tun, um es wieder bewohnbar zu machen. Dafür sind mir zuverlässige und fleißige Helfer willkommen. Wenn Sie sich für entsprechend qualifiziert halten, schreiben Sie bitte an... In diesem Moment merkte Leonardo, dass sein Bier leer war. Mit seinem Tagträumen, so begriff er verärgert, würde er nicht das Geringste ausrichten. Andererseits konnte er in dieser Gegend vielleicht eine bezahlte Arbeit finden, dachte er dann. Er beschloss, die Initiative zu ergreifen. Er würde etwas ausprobieren, was Nina Verkaufsmasche genannt hätte. Der Gastwirt kam ihm als Zielperson für seinen ersten Versuch gerade recht. Leonardo probte im Stillen, was er sagen wollte, ging an die Theke, bestellte noch ein Bier und zahlte gleich. Als er sicher war, dass der Gastwirt ihm zuhörte, räusperte er sich und spulte seinen sorgfältig vorbereiteten Spruch ab. »Kennt Ihr vielleicht zufällig jemanden in dieser Gegend, der die Dienste eines erfahrenen Magiers benötigen könnte?« 281 Der Wirt musterte seinen ungepflegt aussehenden Gast mit höflicher Skepsis. Noch ein Irrer, dachte er sich. Aber wenigstens zahlt er seine Getränke. »Nein, Sir«, antwortete er ernsthaft, »im Moment nicht. Aber wenn ich etwas dergleichen hören sollte, werdet Ihr der Erste sein, der es erfährt - das verspreche ich Euch.« Mit dieser Antwort zufrieden, kehrte Leonardo an seinen Tisch zurück. Erste Pläne hatten in seinem Kopf Gestalt angenommen, und in dieser Nacht schlief er gut. Am nächsten Tag war das Wetter endlich besser, und er konnte seine Reise fortsetzen. Das Haus der Ruhe Er war sich der sanften Hände, die ihn führten, dunkel bewusst - genau wie der freundlichen Stimmen, die ihn willkommen hießen, der Wärme, des Lichts und der Gesellschaft. Dankbar fuhr er aus seinen schmutzigen
Lumpen und sank in ein heißes, duftendes Bad. Als er sah, dass das Wasser um ihn herum schwarz wurde, lachte er zum ersten Mal seit langer Zeit. Schließlich war er sauber, und sie wickelten ihn in flauschige Handtücher und brachten ihn an einen ruhigen Ort, wo er selig auf ein lang entbehrtes Bett sank und sofort einschlief. Einige Tage schlief er fast ununterbrochen. Gelegentlich drangen gedämpfte Glocken in seinen tiefen Schlummer, und manchmal fand er beim Aufwachen etwas zu 282 essen am Bett, aß ein wenig und schlief weiter. Eines Tages aber wachte er auf und war neugierig. Er stellte fest, dass er mit Blick auf eine rau verputzte Wand auf der Seite lag. Eine Zeit lang betrachtete er die Wand, verfolgte die dünnen Linien der Maurerkelle und bemerkte, dass sie mal ein längeres Stück parallel verliefen, mal sich kurvig überlagerten und kreuzten. Nach einer Weile drehte er sich auf den Rücken, blickte ein paar Minuten an die Zimmerdecke, setzte sich dann auf und sah sich um. Er stellte fest, dass er auf einem Eisenbett unter vier kratzigen grauen Decken mit verblichenem rotem Saum lag. Das Bett stand in einem kleinen weißen Zimmer an der Wand. Daneben stand ein Holzstuhl, und hoch über dem Stuhl war ein Fenster. An der Wand gegenüber befand sich eine getäfelte Eichentür. Sie war offen, und jemand stand auf der Schwelle. »Hallo Fremder.« Das war eine Frauenstimme, forsch, aber nicht unfreundlich. »Mir ist noch niemand untergekommen, der so lange geschlafen hat. Bist du allmählich in der Lage, ins Land der Lebenden zurückzukehren?« »Ja, schätz ich...« Sie trat ins Zimmer, ließ die Tür angelehnt und setzte sich an den Fuß des Bettes. Rusty musterte sie aufmerksam. Das war nicht die alte Frau, die zwischen den Steinen mit ihm gesprochen hatte. Die hier war jünger. Nicht so jung wie er, aber vermutlich jünger als zum Beispiel seine Mutter. Sie war stämmig, hatte kurzes, strubbeliges Haar und trug einen verschossenen blauen Arbeitsanzug. Und sie lächelte. 283 »Ich heiße Helen«, sagte sie. »Na ja, vermutlich ist das nicht mein richtiger Name, aber ich habe ihn bekommen, als ich hier angelangt bin. Ich soll deine Tutorin sein, dich in alles einweihen, dir helfen, dich einzuleben, und so. Vorausgesetzt natürlich, du willst bleiben.« »Wo bin ich hier? Und wo ist die alte Frau? Die, die mich gefunden hat?« »Langsam, langsam! Du meinst bestimmt die Hüterin. Sie ist sehr beschäftigt, aber ich nehme an, du wirst ihr dann und wann begegnen. Doch zunächst werde ich es sein, die sich um dich kümmert.« In diesem Moment unterbrach draußen auf dem Flur der helle Klang einer Handglocke die Ruhe. »Glocken!«, rief Helen. »Hier läuft alles über Glocken - aufstehen, schlafen gehen, essen, alles. Die haben mich früher wahnsinnig gemacht, aber inzwischen würde ich mich ohne sie ganz verloren fühlen.« Das Läuten hielt an, wurde aber leiser. Rusty vermutete den Glöckner nun in einem anderen Flügel des Hauses. »Wie lange bist du schon hier?«, fragte er. »Nur nichts überstürzen. Meine Geschichte wirst du früh genug erfahren. Jetzt geht's erst mal darum, dass du dich zurechtfindest. Das vorhin war übrigens das Signal zum Aufstehen - also zieh deine Klamotten an, damit wir losgehen und frühstücken können.« Sie zeigte auf den Stuhl am Bett und verließ taktvoll das Zimmer. Rusty faltete auseinander, was sich als Trainingsanzug erwies - verschossen und geflickt zwar, aber sauber und gebügelt. Unter dem Stuhl lag ein Paar vielfach gestopfter Wollsocken. Daneben standen ram284 ponierte Turnschuhe mit ausgefransten Schnürsenkeln. Er war unsicher auf den Beinen und nicht mehr gewöhnt, sich anzuziehen, und es dauerte etwas, bis er sich die Senkel gebunden hatte, doch schließlich war er fertig. Er trat auf den Flur, wo Helen an der Wand lehnte, die Hände in die Seitentaschen ihres Arbeitsanzugs geschoben. Aus einem fernen Zimmer des Hauses hörte er viele Stimmen und das Klappern von Besteck. Der verheißungsvolle Geruch von gebratenem Speck stieg ihm in die Nase. Als Rusty in den hallenden, überfüllten Speisesaal kam, schüchterte ihn die schiere Menge an Leuten, ihr lautes Reden und ihre offensichtliche Vertrautheit zunächst ein. Helen fand für sich und ihn Platz an einem der langen Tische aus Kiefernholz und stellte Rusty Freunden vor, einem Jungen und einem Mädchen, die etwa in seinem Alter waren. Er erkannte erschrocken, dass er sich ihre Namen nicht merken konnte. Helen, die sein Unbehagen schnell gespürt hatte, klopfte ihm tröstend auf die Schulter, beugte sich vor und flüsterte ihm etwas ins Ohr. »Schon gut, Schatz. Am Anfang fühlt sich hier jeder ein bisschen überfordert. Und ich erst - das hättest du sehen sollen! Aber inzwischen hab ich das Gefühl, schon mein ganzes Leben hier zu sein. In ein paar Tagen geht es dir genauso. Nun iss deinen Haferbrei. Nein, keine Widerrede. Nimmst du braunen Zucker dazu?« Später saßen sie in zwei alten Sesseln im gemütlichen Gemeinschaftszimmer, das tagsüber verlassen war. An den Wänden befanden sich Regale voll ramponierter 285 Bücher und große farbenfrohe Gemälde, und es gab ein altes Klavier und niedrige Tische, an denen man Dame, Backgammon und ein paar andere, nicht so leicht erkennbare Spiele spielen konnte. Eine Verandatür führte auf die Terrasse. »Was passiert hier den ganzen Tag?«, fragte Rusty. »Ich meine, was tun die Leute so?« »Das hängt sehr davon ab, in welchem Zustand sie sind, wenn sie hier auftauchen. Manche wollen etwas
herstellen oder etwas pflanzen oder Musik machen. Andere wollen sich um Tiere kümmern - es gibt hier eine Farm, die ich dir später zeigen kann, wenn du magst. Manche dagegen wollen reden und Geschichten erzählen, andere vielleicht Sport treiben und zum Wandern in die Berge gehen. Ich möchte dir nicht zu nahe treten, aber ich schätze, die Hüterin würde dir für den Anfang etwas Sport empfehlen. Und vielleicht Geschichten. Möchtest du mir etwas von dir erzählen? Du hast mir noch nicht mal deinen Namen gesagt.« Er brauchte einen Moment, sich auf ihn zu besinnen. »Michael«, sagte er schließlich. »Michael Brown. Die meisten nennen mich Rusty. Eigentlich alle, nur meine Mutter nicht.« Er hielt inne. Eine Erinnerung tauchte auf. »Und Oma Hopkins natürlich auch nicht. Die muss inzwischen über neunzig sein. Wenn sie überhaupt noch lebt.« Er runzelte die Stirn. Helen lächelte ermutigend. »Das klappt ja schon prima. Und wie ist Rusty Brown hier gelandet?« Einen Augenblick war der Junge verblüfft. Helen stand auf und wies auf die Verandatür. »Komm, wir machen einen Spaziergang.« 286 Er folgte ihr nach draußen, und sie gingen langsam über die Terrasse und den hoch aufgeschossenen Rasen des vernachlässigten Gartens. Von Zeit zu Zeit konnte der Junge durchs Blattwerk kurz in die Ferne sehen, wo Hügel, ein Fluss und ein See zu erkennen waren. »Früher hatte ich einen Hund«, sagte Rusty schließlich. »Er hieß Dusty und gehörte mir, seit ich klein war. Wir sind ständig zusammen gewesen. Und als ich gerade erwachsen wurde, ist er gestorben. Wir hatten Ferien in den Bergen gemacht. Dann sind viele schlimme Sachen passiert. Ich hab ein paar schreckliche Dinge getan.« Sie hatten angehalten, um auf einer flechtenbewachsenen Granitbank auszuruhen, von der man den gepflasterten Platz überblickte, auf dem die Hüterin ihn gefunden hatte. Jetzt sah er, dass er in einer natürlichen Arena inmitten sanft ansteigender Rasenhänge lag. In der Ferne bemühten sich ein paar Leute mit Seilen und Hebeln, eine große Steinfigur auf einen anderen Platz in der weit ausgreifenden geometrischen Anordnung von Strahlen und Kreisen zu rücken. Rusty fragte sich, wozu das alles gut sein mochte, und war einige Minuten in Gedanken verloren. Helen störte ihn nicht. »Ich weiß wirklich nicht, was damals in mich gefahren ist«, fuhr er schließlich fort. »Aber ich schätze, ich bin in richtig schlechte Gesellschaft geraten. Das hat mir zunächst offenbar gefallen, doch irgendwann bin ich weggelaufen. Leute waren hinter mir her, aber ich konnte schneller rennen als sie.« Sein Erzählen hatte Fahrt aufgenommen, kam nun aber unvermittelt zum Halten. »Dann bin ich hier aufgewacht. Und ich weiß absolut nicht, wie ich hergekommen bin.« 287 »Seltsam, nicht?«, erwiderte Helen. »Die Leute scheinen immer irgendwie herzufinden. Dir ist es so gegangen und mir auch. Erzählst du mir noch mehr über Dusty?« Während er redete, spazierten sie über das ganze Gelände, und Helen machte ihn ab und an auf interessante Dinge aufmerksam. »Dort geht's zur Farm...« »Wenn du mal weben magst, können wir hier vorbeisehen...« Überall grüßten ihn freundliche Gesichter - da ein bärtiger Mann in ausgefranstem Pullover, dort eine Frau mittleren Alters, die einen mit Farbe bekleckerten Kittel trug und Lehmspuren im Haar hatte. Schließlich kamen sie in die große Eingangshalle des Hauses. Auf einem Tisch in der Ecke lagen rechteckige Päckchen, die säuberlich in knisterndes Pergamentpapier eingewickelt waren. »Butterbrote«, erklärte Helen. »Für die, die gern wandern.« Rusty blickte zu den vielen Hügeln hinüber, die sich in der blauen Ferne verloren. Plötzlich fühlte er sich müde. »Bald«, sagte er. »Aber noch nicht.« 288 Ein fahrender Hexenmeister Leonardo keuchte ein wenig, als er die Hügelkuppe erreicht hatte und anhielt, um die Landschaft unter sich zu betrachten. Zufrieden seufzte er auf - seine Wegbeschreibung war offenbar tadellos. Die Straße führte fast schnurgerade ins Dorf unten im Tal. Vormittags hatte es stark geregnet, und die Schöße seiner Robe waren noch feucht, doch sein breitkrempiger Hut hatte den meisten Regen abgehalten, und seine robusten Stiefel bewährten sich auf der Straße gut. Erstmals kam ihm in den Sinn, das traditionelle Gewand seiner Bruderschaft könnte ursprünglich praktische Kleidung für unterwegs gewesen sein, für fahrende Hexenmeister also. Denn ein solcher war Leonardo Pegasus nun. Zunächst hatte er das ganze Königreich mit hoch gesteckten Zielen durchwandert und bei den mächtigen Männern und Frauen um Audienz in deren Büros, Fabriken und Festungen gebeten. Die meisten hatten ihn, von seinem imposanten Titel beeindruckt, mit dem schuldigen Respekt, wenn nicht sogar freundlich empfangen und geduldig dem zugehört, was er für eine attraktive Präsentation seiner Fähigkeiten hielt. Dann jedoch hatten sie ihm höflich, aber bedauernd erklärt, sie hätten schon ihre Berater. Leonardo hatte einige dieser Berater kennen lernen dürfen. Die meisten waren sehr jung und hatten wohl erst kürzlich ihren Hochschulabschluss gemacht. Und alle benutzten die neuen kleinen Beratungsmaschinen und andere, noch winzigere Geräte, die Leonardo zutiefst verblüfften. Mit dieser Ausrüstung konnten sie 289
die neuesten, raffiniertesten, wirksamsten Spielarten von Magie ausüben. Leonardo hatte allmählich traurig begreifen müssen, dass seine Magie veraltet war. Eine Zeit lang hatte er erwogen, in der Schule zu unterrichten, aber schockiert feststellen müssen, dass seine Zauberkunst sogar für den Kindergarten als zu altmodisch galt. Wenn er sich in abgelegenere Gegenden des Königreichs gewagt hatte, war er nicht selten Baronen, Gutsherrn und Dorfältesten begegnet, die keinen einzigen Berater beschäftigten. Einige hatten von der Kunst der Magie noch nicht einmal gehört. Bei solchen Leuten wusste Leonardo einfach nicht mehr weiter. Er hatte versucht, ihnen die Vorteile der Erzeugung von Empathie, der Konstruktion einer Palette von Zukunftsentwürfen und des Ausgleichs gegenläufiger Interessen zu erklären, war aber nur auf Glotzaugen gestoßen und aufgefordert worden weiterzuziehen - und das nicht immer allzu höflich. Einmal warfen ihn vier kräftige Soldaten sehr unsanft aus einer kleinen Burg. Nach diesem Vorfall hatte Leonardo endgültig beschlossen, sein Auskommen nicht mehr bei den Machthabern zu suchen. Allerdings stellte er fest, dass es auf wirklich abgelegenen Höfen und Dörfern mitunter noch einen Bedarf für sein Talent gab. Er konnte sich ein kleines Einkommen verschaffen, indem er sich um den Bauern kümmerte, den gelegentlich die Schwermut überkam, um das liebeskranke Dienstmädchen, um die aufsässige Kuh, die sich nicht melken lassen wollte, um den widerspenstigen Holzhaufen, der seinen Besitzer verzweifeln ließ. Manchmal kam ihm in den Sinn, nichts 290 davon erfordere subtilere magische Fähigkeiten, doch er beschloss, das sei vielleicht nicht so wichtig, solange er den Menschen das Leben ein wenig erleichtern und auf diese Weise etwas Geld verdienen konnte. Aber dennoch gab es nicht viel zu tun, und er sah seine Mittel schwinden. Selbst der Aufenthalt in einfachen Landgasthöfen würde ihn bald zu teuer kommen. Ein Windstoß fegte dem Magier ins Gesicht und zerrte an seiner Robe. Leonardo zog sich den Hut fest über die Ohren, streckte die Hand aus und spürte, dass es wieder zu regnen begonnen hatte. Inzwischen hatte er sich daran gewöhnt, in Heuhaufen und Scheunen zu schlafen, aber eine trockene Unterkunft war ihm für die Nacht dennoch sehr recht. Ein ziemlich verstimmtes Klavier riss ihn aus seinen Gedanken. Im Haus gleich rechts von ihm stand im Erdgeschoss ein Fenster offen, und von dort kamen die Töne. »Hallo?«, rief Leonardo. Die Musik brach unvermittelt ab, und ein älterer Mann erschien am Fenster. Zwischen den Zähnen hatte er eine große Pfeife, die recht kompliziert zu handhaben schien. »Kann ich Euch helfen?« »Das hoffe ich«, erwiderte Leonardo. »Ich suche eine Unterkunft und habe gehört, im Dorf gibt es ein Gasthaus.« »Stimmt«, gab der Mann zurück. »Geradeaus über die Trittsteine, dann taucht es linker Hand auf. Ihr könnt es nicht verfehlen. Es heißt >PflugWirklichkeit< nennen. Ich muss zugeben, dass ich Euch beneide. Manchmal kommt es mir vor, als hätte ich alles nur aus zweiter Hand.« »Aber genau damit, die Dinge aus zweiter Hand zu erleben, habe ich mein Geld verdient«, widersprach der Magier. »Ich habe sogar ein Gerät dafür entwickelt. Bestimmt hab ich Euch schon von den Versuchen mit der Empathiemaschine erzählt.« »Ich glaube schon«, unterbrach der Lehrer ihn hastig, um eine weitere Wiederholung dieser Geschichte zu verhindern. »Wie wär's mit noch einem Bier?« »Das hört sich gut an.« Rusty kehrt heim Als Rusty Brown die Hügelkuppe erreichte, lag der vertraute Blick ins Dorf vor ihm, und er machte sich müde auf die letzte Meile seiner langen Reise. Bei der Furt setzte er die Füße akkurat auf die fünf Trittsteine und stellte fest, dass der dritte und vierte Stein inzwischen ein wenig anders lagen. Beim »Pflug« nahm er die übliche Abkürzung über die Wiese und kam kurz vor der Buckelbrücke auf den Feldweg. Und dann, als er über die Brücke ging, sah er das schwarze Fuhrwerk vor seinem Zuhause am Straßenrand stehen. Mit wachsender Besorgnis stellte er fest, dass die Vorhänge im Wohnzimmer zugezogen waren. An der Haustür klopfte ihm das Herz vor Angst im Hals. 329
»Michael, es tut mir so Leid.« Oma Hopkins trat aus dem Haus und rang verzweifelt die faltigen Hände. »Keiner wusste, wo du gesteckt hast. Wir haben alles ohne dich regeln müssen. Ich nehme an, du willst jetzt hochgehen.« Drinnen schien alles geschrumpft. Rusty fiel erstmals auf, wie niedrig die Decken waren, wie beengt die Zimmer, wie schmal die Treppe. Und als er die Tür zum Schlafzimmer seiner Mutter ängstlich aufstieß, schien auch die steife Gestalt auf dem Bett klein und geschrumpft. Er starrte wie betäubt auf den drapierten Leichnam und wusste nicht, was er empfinden sollte. Eine leichte Berührung am Ellbogen riss ihn aus seinen Gedanken. Erschrocken fuhr er herum und sah zwei spindeldürre, schwarz gekleidete Gestalten auf dem Treppenabsatz stehen. Im ersten Moment begriff er nicht, um wen es sich handelte. Der Schrecken musste ihm im Gesicht gestanden haben. »Verzeihung, Sir, wir wollten Euch nicht aufstören. Können wir sie jetzt mitnehmen?« Später saß er lange auf dem schmalen Bett in seinem alten Zimmer, das offensichtlich die ganze Zeit nicht mehr benutzt worden war. All seine Kindersachen lagen noch an Ort und Stelle. Ein paar Landkarten, die er gezeichnet hatte, hingen noch immer da und dort an den Wänden. Ein Tuschkasten lag achtlos auf der Kommode, als sei er erst vor ein paar Minuten dort gelandet. Er griff danach, drehte ihn in den Händen, betrachtete ihn verständnislos und erinnerte sich langsam an die Abende, die er unten am Tisch mit dem 330 Zeichnen seiner Karten verbracht hatte. Er blieb auf dem Bett sitzen, während andere, schwächere Stimmen aus ferneren Regionen seiner Vergangenheit nach ihm riefen. Der Drachen... die Kegel... die Puppe... Und am angestammten Platz unter dem kleinen Tisch stand Dustys Körbchen. Noch immer lag die verschossene karierte Decke darin. Anblick und Geruch dieser Decke ließen Rusty schließlich in Tränen ausbrechen. Jeder braucht ein Hobby Ein besonderer Reiz an Leonardos Arbeit im »Pflug« war die viele Freizeit zwischen den Schichten, in der sich wunderbar einem Hobby nachgehen ließ. Und zufällig hatte Leonardo Interesse an einem Hobby entwickelt. Der Heuboden, auf dem er schlief, war groß, geräumig und wegen vieler Dachfenster sehr hell, und die Gerüche, die vom Stall aufstiegen, würzten die Luft aufs Angenehmste. Es war der ideale Platz, um zum Beispiel ein großes, kompliziertes Gerät zu konstruieren, und Schritt für Schritt hatte Leonardo tatsächlich mit der Konstruktion eines großen, komplizierten Geräts begonnen, eines Geräts, das er schon seit Jahren hatte bauen wollen, wofür er aber irgendwie nie Zeit gefunden hatte. Natürlich besaß er die Originalpläne längst nicht mehr und musste darum auf sein Gedächtnis zurückgreifen, doch er war zuversichtlich, dass er sich bis ins Detail auf das würde besinnen können, was ihn so lange nebenher beschäftigt hatte. 331 Erst hatte er nicht gewusst, woher er geeignete Materialien nehmen sollte, doch seine Erfindungskraft hatte nicht nachgelassen, und bald stellte er fest, dass die Gossen, Mülltonnen und Schutthalden des Dorfs ihm viel Brauchbares lieferten. Das Gerüst des Geräts errichtete er aus Zaunpfählen und Bauholzresten, das Gehäuse aus Wellblechverschnitt und Asbestplatten. Kaputte Wecker, rostige Fahrräder, stehen gelassene Landmaschinen, alte Ledergürtel und Schnürsenkel lieferten die mechanischen Teile, während die Reste alter Fernrohre und Brillen für die optische Apparatur von unschätzbarem Wert waren. Und in den dunkleren Ecken der Schränke im Wirtshaus, wo mancherlei lagerte, fanden sich unzählige geheimnisvolle Flaschen und Konservengläser, die die notwendigen Chemikalien enthielten, um Batterien zu betreiben, bewegliche Teile zu schmieren und Motoren zum Laufen zu bringen. Und wenn er mal etwas Spezielleres brauchte, machte er eben im Wagen des Fuhrunternehmers einen Nachmittagsausflug in die Stadt. Die war recht klein, und er konnte von seinem Lohn kaum etwas sparen, doch es war erstaunlich, was sich von den gewiefteren Händlern in den Nebenstraßen so alles erwerben ließ. Leonardo hatte wirklich ein dankbares Hobby. Natürlich sagte er sich von Zeit zu Zeit, dass viele Bewohner dieses engstirnigen und rückständigen Nests seine Ideen gewiss mit großer Skepsis aufnehmen würden. Deshalb behielt er seine Gedanken meist für sich. Ab und an aber, vor allem bei der wöchentlichen Kneipsitzung mit dem Schulmeister, konnte er nicht widerstehen, dem Kameraden die eine oder andere Andeutung zu machen. 332 »Komplexe Empathie?«, fragte der Lehrer nachdenklich. »Da müsste, wer diese Maschine bedient, aber ganz außergewöhnliche geistige Fähigkeiten haben, um all den Reizen, die der Apparat ihm parallel liefert, standzuhalten. Wäre das nicht, als wollte man... gleichzeitig ins Bewusstsein eines jeden Erdenbürgers schlüpfen?« Er sog grübelnd an seiner Pfeife. »Mehr oder weniger«, pflichtete der Magier ihm bei und blickte einen Moment in die Rauchwolke, die seinen Freund umgab. »Ja, ich habe in letzter Zeit viel darüber nachgedacht, welchen Geist der Apparat erfordert. Die Schwierigkeit liegt darin, all die verschiedenen Standpunkte miteinander in Einklang zu bringen. Es gibt so viele... so viele Widersprüche, Ungereimtheiten, Konflikte unterschiedlicher Sichtweisen. Das allein schon würde einen Geist von einzigartiger Biegsamkeit erfordern. Obendrein aber brauchte man noch die Fähigkeit, gewissermaßen... das ganze Bild auf einen Blick wie ein Panorama vor sich zu sehen - versteht Ihr?« Er gestikulierte ausgreifend und warf dabei ein paar leere Flaschen um. »Zugleich aber müsste man das Ganze natürlich aus vollkommen objektiver Perspektive betrachten.« Er hielt inne, um Luft zu holen. »Wenn dieses Gerät in die falschen Hände käme, ließe sich damit immenser Schaden anrichten. Immenser Schaden! Und zwar
- wenn ich's mir recht überlege - sowohl bei anderen als auch bei dem, der das Gerät in Betrieb nimmt.« Die beiden schwiegen eine Weile und hingen ihren Gedanken nach. »Irgendwie erinnert mich das an etwas«, sagte der Schulmeister schließlich. »Im Augenblick weiß ich 333 zwar noch nicht genau, woran, doch ich glaube, ich hab ein, zwei Bücher in meiner Bibliothek, die mich weiterbringen können. Ich werd mal ein bisschen stöbern. Wenn ich was finde, bring ich's nächste Woche mit.« »Hört sich interessant an«, erwiderte der Magier. »Noch ein Bier?« In und nach der Kirche Helens noppenbesetzte Lederjacke war für die Beerdigung kaum angemessen. Also stöberte Rusty im wackligen, nach Kampfer riechenden Kleiderschrank seiner Mutter nach Alternativen. Der Anzug, den er in den letzten Ober Schuljahren getragen hatte, hing noch da, und obwohl er an den Schultern arg spannte und in den Beinen recht kurz war, entschied Rusty, er müsse reichen. Zwischen all den Gürteln und Schals, die an einer schmalen Metallstange hingen, entdeckte er eine schlichte schwarze Krawatte, an die er sich nicht erinnerte. Er nahm an, sie habe seinem Vater gehört. Schuhe fand er keine und war gezwungen, sich mit Helens Turnschuhen zu begnügen. Wenige Minuten vor dem Gottesdienst klang die Glocke durchs Dorf. Rusty kam in den Sinn, dass sie vor vielen Jahren im Fluss verloren gegangen war und er sie beim Tauchen zufällig gefunden hatte. Und dass sie an dem Tag, da er den Turmfalken am Himmel beobachtete, weit übers Land geläutet hatte. 334 Kaum hatte er die Kirche in seinem zu kleinen Anzug betreten, fühlte er sich schon eingeengt, unbehaglich und schlecht auf seine Rolle als Hauptleidtragender vorbereitet. Dennoch überstand er die vielen Beileidsbekundungen und das ganze Händeschütteln ohne Missgeschick und ließ sich willig auf den Ehrenplatz in der ersten Kirchenbank geleiten. Dort drehte er sich verstohlen um und musterte die kleine Trauergemeinde, obwohl er annahm, das gehöre sich nicht. Er erkannte den alten Schulmeister, bei dessen freundlicher Gegenwart ihm warm ums Herz wurde. Oma Hopkins saß hinten auf ihrem Stammplatz und wirkte mit ihrem schwarzen, verschleierten Hut besonders grimmig. Unter den Trauergästen entdeckte Rusty auch seine alten Schulkameraden Colin und Sammy Hopkins. Sie hoben gleichzeitig die Hand und winkten ihm zu. Doktor Gilbert, der sehr gealtert schien, presste dem Harmonium die üblichen verdrossenen Klänge ab. In Rustys Nähe saß eine müde wirkende junge Frau und beobachtete ihn besorgt. Er brauchte einen Moment, ehe er in ihr seine Jugendliebe Eileen erkannte. Sie bemerkte seinen Blick, antwortete mit einem knappen, förmlichen Nicken und wandte sich schnell ab. In diesem Moment unterbrach die Ankunft des Sargs unvermittelt Rustys innere Bestandsaufnahme, und er drehte sich rasch zum Altarraum, um die Zeremonie in möglichst respektvoller Haltung zu absolvieren. Kurz darauf erschien der Priester und wollte gerade mit seiner Ansprache beginnen, als es an der Kirchentür plötzlich unruhig wurde. Anstand hin oder her - alle wandten den Kopf, um zu sehen, wer da zu spät kam. Acht zerlumpte, dunkelhaarige, blasse Gestalten 335 drückten sich in die letzte Kirchenbank. Die Männer hatten kapitale Schnurrbarte und trugen Messer am Gürtel. Rusty klopfte das Herz. Er wusste sofort, dass sie fahrendes Volk waren und etwas mit seinem Vater zu tun haben mussten. Nach Gottesdienst und Begräbnis begab sich die Trauergemeinde in die Schulaula, wo die kirchlich engagierten Frauen des Dorfs ein paar Erfrischungen vorbereitet hatten. Wie üblich war der Ofen in der Ecke glühend heiß. Rusty fühlte sich noch unbehaglicher als zuvor, wusste aber, dass er als Gastgeber und Hauptleidtragender eine tapfere Miene aufzusetzen hatte, und ermahnte sich, mit jedem der Anwesenden wenigstens ein paar Worte zu wechseln. »Sie war unglaublich fleißig«, sagte der Priester. »Sie hat wirklich ungeheuer viel für die Kirche getan. Ich weiß gar nicht, wie wir ohne sie zurechtkommen sollen. « »Aber eins ist seltsam«, erwiderte Rusty. »Ich weiß, dass sie sich sehr um die Kirche gekümmert hat, doch ich hatte immer den Eindruck, sie tat es nicht aus freien Stücken, sondern gezwungenermaßen.« Mit dieser unerwarteten Offenheit hatte Rusty den Priester auf dem falschen Fuß erwischt. Er brauchte einen Moment, um sich eine Antwort zurechtzulegen. »Sie ist als Fremde ins Dorf gekommen«, erklärte er schließlich. »Sie wurde anderswo geboren — auf einer der äußeren Inseln, glaube ich. Vielleicht hat sie sich deshalb so eifrig bemüht, von unserer kleinen Gemein336 schaft akzeptiert zu werden. Das ist ja oft so. Dazuzugehören ist ungemein wichtig, findest du nicht?« »Von den Inseln? Das hat sie mir nie erzählt.« Rusty war einen Moment lang in Gedanken versunken, sammelte sich dann und fuhr fort. »Ich habe übrigens auch in einer Art Gemeinschaft gelebt. Es war tatsächlich gut, dazuzugehören, doch nach einiger Zeit war mir klar, dass ich weiterziehen wollte.« »Nun, es ist sehr schön, dass du zurückgekommen bist«, sagte der Priester. »Die Sandwiches sind übrigens erstklassig.« Der Anführer der Fahrenden trat auf Rusty zu. »Mein Name ist Luke Greening.« Er sprach steif, als trage er eine einstudierte Rede vor. »Ich bin der Bruder
Eures Vaters. Ich weiß schon lange, dass er in diesem Dorf Frau und Kind verlassen hat, und obwohl mein Clan seit vielen Jahren nicht mehr hier durchgekommen ist, habe ich immer dafür gesorgt, über das, was Ihr tut, auf dem Laufenden zu sein. Als ich die Nachricht vom Tod Eurer Mutter bekam, fiel darum mir die Aufgabe zu, mit meinen Leuten zu kommen und ihr die letzte Ehre zu erweisen. Denn ob Ihr es nun gewusst habt oder nicht, Michael Brown - in Euren Adern fließt das Blut der Fahrenden. Und egal, ob es Euch gefällt oder nicht: Ihr gehört zu meinen Leuten.« »Dank Euch. Ich glaube, es gefällt mir recht gut.« Rusty hatte sich der gespreizten Redeweise des älteren Mannes angepasst. »Ist mein Vater am Leben?« »Das weiß ich nicht genau.« Luke Greening sah einen Moment zu Boden. »Unsere Wege haben sich seit vielen Jahren nicht gekreuzt, und ich habe keinerlei 337 Nachricht von ihm. Doch erlaubt mir, Euch Eure übrigen Verwandten vorzustellen: Das ist meine Frau Alexandra ...« - Rusty tauschte mit der großen, vornehm wirkenden Frau ein höfliches Nicken - »...und das sind meine Söhne Gareth und Martin.« Zwei stramme junge Männer reichten Rusty die Hand. »Und das ist meine Kusine Julia mit ihren Söhnen, die leider zufällig auch Martin und Gareth heißen.« Er lächelte erstmals, bedauerte dieses Durcheinander und zählte seine Sippe dann an den Fingern ab. »Fehlt noch jemand? Ach ja, meine Nichte. Sie heißt Laurel.« Vor Rusty stand eine dunkle, kerzengerade, selbstbewusste junge Frau, die erschreckend ernst und erwachsen wirkte. »Hallo Rusty«, sagte Laurel, trat auf ihn zu und gab ihm einen förmlichen Kuss. »Es ist lange her.« »Hallo Laurel«, erwiderte Rusty. »Was hast du so getrieben?« »Ach, so dies und das. Eigentlich hab ich dir eine Menge zu erzählen.« Plötzlich verschwand ihre förmliche Maske, und ein verschmitztes Lächeln trat in ihr Gesicht. Rusty spürte aufs Neue den alten Zauber. Kaum hatte Laurel das bemerkt, wurde sie wieder ernst. »Aber jetzt solltest du dich erst mal um die übrigen Gäste kümmern. Wir reden später miteinander versprochen!« Rusty hatte seine Aufregung noch nicht ganz unter Kontrolle, als er mit dem Schulmeister sprach. »Und, Michael Brown, wie fühlt Ihr Euch?«, fragte der alte Mann und paffte wie üblich seine Pfeife. 338 »Schwer zu sagen. Irgendwie älter.« »Älter?« »Ja. Aber auch jünger. Verwirrt, schätze ich.« »Was habt Ihr vor?« »Darüber hab ich noch nicht nachgedacht. Ich nehme an, ich verkaufe das Haus und ziehe wieder fort.« »Das wäre schade. Wisst Ihr, seit meiner Pensionierung gibt es hier im Dorf keinen Lehrer mehr. Die Kinder bekommen keine Schulbildung, das Wissen verfällt galoppierend, und die neue Generation wächst praktisch auf der Straße auf. Das ist furchtbar, ganz furchtbar.« Er schien einen Moment von seinen Gefühlen überwältigt. »Die Schule braucht einen neuen Lehrer«, stellte er dann fest und sah Rusty vielsagend an. »Vielleicht einen jungen Mann, der nicht ungebildet ist? Oder etwas von der Welt gesehen hat?« Der Schulmeister musterte Rusty weiter vielsagend, und der suchte nach einer taktvollen Antwort. »Ich denk bestimmt drüber nach«, sagte er schließlich. Ihm war nun nicht mehr nur heiß und unbehaglich zumute, sondern er war auch nervös und durcheinander. Das waren zu viele Leute, zu viele Überraschungen, zu viel zum Nachdenken. »Aber denkt bitte wirklich darüber nach. Die Schule könnte einen jungen Mann wie Euch sehr gut brauchen.« In diesem Augenblick schreckte ein schroffer Akkord Rusty unvermittelt aus der Unterhaltung. Er drehte sich um. Die Fahrenden hatten von irgendwo Ziehharmonika, Flöte und Geige hervorgezaubert und begannen zu spielen. 339 Der Schulmeister flüsterte ihm ehrfürchtig zu: »Das muss ihre Trauermusik sein. Darüber hab ich unheimlich viel gelesen, hätte mir aber nie träumen lassen, sie je zu hören.« Sie lauschten gebannt. Dem Anlass gemäß, begann die Musik feierlich mit einigen lang gehaltenen, klagenden Akkorden, wurde dann jedoch allmählich schneller, und ein Rhythmus bildete sich heraus. Plötzlich stießen die vier jungen Männer - Gareth, Martin, Martin und Gareth - einen Schrei aus, sprangen vor und begannen zu tanzen. Eine kleine Welle des Erschreckens ging durch die Aula, und ein, zwei ältere Leute verließen ostentativ den Saal. Die Musik wurde immer schneller und wilder, und die jungen Männer wirbelten in akrobatischen Figuren durch die Luft, während die zerklüfteten Rhythmen und kantigen Melodien immer komplexere Muster bildeten. Als Rusty mit staunend aufgesperrtem Mund dastand, spürte er eine leichte Hand auf der Schulter und einen schwachen Atem an der Wange. »Das ist der Begräbnistanz«, flüsterte ihm Laurel mit samtiger Stimme zu. »Hast du den noch nie gesehen? Da dreht sich alles um die Reise in die nächste Welt und um die Gefahren, die auf diesem Weg lauern. Es gilt als große Ehre, wenn dieser Tanz aufgeführt wird. Und wenn es dabei korrekt zugehen soll, müssen alle Gäste
mitmachen.« Plötzlich lächelte sie wieder. »Aber natürlich erwartet man vom Hauptleidtragenden, mit gutem Beispiel voranzugehen.« Rusty dachte kurz darüber nach. »Gut. Warum nicht? Aber ich möchte...« - er schluckte - »... dich als Partnerin. « 340 Sie drückte seinen Arm mit plötzlicher Vertrautheit. »Dummer Junge. Natürlich tanze ich mit dir. Aber nichts überstürzen - wahrscheinlich spielen sie gleich einen Walzer.« Aus dem Tagebuch des Victor Lazarus Dienstag, 26. Januar (Fortsetzung) In höchster Erregung wartete ich - das Hauptbuch in Händen - am Gartentor. Nur mit größter Mühe konnte ich der Versuchung widerstehen, auf und ab zu gehen. Eine Stunde verging und dann noch eine. Ich hörte die Kapelle im Garten spielen, vernahm ab und zu Freudenschreie, Lachsalven und begeistertes Klatschen, wartete aber entschlossen weiter. Schlag zwölf Uhr mittags bog schließlich eine Gestalt um die Kurve. Zunächst erkannte ich keine Einzelheiten, doch beim Näherkommen sah ich, dass es ein Mann mittleren Alters war, der einen ziemlich unsicheren, schlurfenden Gang hatte. Er trug eine lange, ramponierte Robe, schwere Stiefel und einen schiefen Hut mit breiter Krempe. Am Tor hielt er an, um zu verschnaufen und sich den Staub von den Kleidern zu wischen. Sofort war mir klar (man frage mich bitte nicht, warum!), dass dies der Eigentümer war. Endlich standen wir uns gegenüber. Schüchtern stellte ich mich ihm vor und hielt ihm vorsichtig mein Hauptbuch zur Prüfung hin. Der Eigentümer sah mich fragend an. »Ach so, das Buch«, sagte er schließlich. »Großartig, 341 Lazarus, großartig. Ich schätze, damit müssen wir bis später warten. Wenn du nichts dagegen hast, würde ich jetzt gern einen Gang durchs Haus machen, mir ansehen, was ihr geleistet habt, die Qualität eurer Arbeit beurteilen und so weiter.« Damit schritt er unvermittelt durchs Tor und verschwand in der Menge. Stundenlang bemühte ich mich, ihn zu stellen, doch immer wenn ich glaubte, ich würde ihn schnappen, konnte er mir entwischen. Einmal sah ich flüchtig, wie er mit Sam aus dem Keller kam - wohl ins Gespräch über den defekten Kessel vertieft. Später entdeckte ich ihn kurz im Comic-Zimmer, wo er mit dem kleinen rothaarigen Jungen kichernd über einer Ausgabe von Der geniale Hexenmeister saß. Noch später sah ich, dass er sich in eine ruhige Ecke des Fossilienkabinetts gesetzt hatte und mit der alten Dame, die offenbar eigens zu diesem Anlass aufgewacht war, Tee trank. Doch jedes Mal, wenn ich mich ihm näherte, gelang es ihm irgendwie zu entwischen. Gegen Abend war ich fast verzweifelt. Da ergab sich eine unerwartete Ablenkung. Ich ging gerade durch die Eingangshalle, als plötzlich eine vertraute heisere Stimme von oben kam, durchs ganze Haus schallte und sofort die Aufmerksamkeit aller erregte. »Meine sehr geschätzten Damen, Herren und Majestäten!«, rief die Stimme. »Der Schattentanz!« Alle blickten dorthin, von wo die Ankündigung gekommen war - und vergaßen zu atmen: Am oberen Treppenabsatz stand eine große, blendend schöne Gestalt von berückender Anmut und Eleganz, gelenkig und gepflegt, tadellos in den karierten Anzug eines 342 Harlekins gekleidet. Das Wesen war barfuss und hatte die Lippen zu einem zweideutigen Lächeln geöffnet und die Augen hinter einer schwarzen Maske verborgen. Ich merkte, dass mein Herz ängstlich pochte. Dann sprang Lee mit zierlichen Schritten die Treppe herab. Der Schattentanz hatte begonnen. Rusty und Laurel Ein Trauergast nach dem anderen verabschiedete sich. Was zu essen übrig geblieben war, wurde abgeräumt, die Möbel wieder zurechtgerückt. Nachdem Rusty sich bei den Damen von der Kirchengemeinde für ihre Hilfe bedankt hatte, fand er sich - kaum dass er aus der Küche gekommen war - Laurel direkt gegenüber. Sie schien sich unbehaglich zu fühlen. »Ich brauche ein paar Stunden Ruhe vor meinen Leuten«, sagte sie leise. »Können wir uns vielleicht zu dir absetzen?« So saßen Rusty und Laurel in der Abenddämmerung in Mrs Browns Wohnzimmer am Kamin und tranken die letzte Flasche von ihrem Holunderwein. Laurel zog eine kleine Tonpfeife aus der Tasche, stopfte sie mit der wohlriechenden Kräutermischung, die die Fahrenden so gern rauchten, und nahm ein paar tiefe Züge. »Hier«, sagte sie. »Probier mal. Damit du ruhiger wirst.« Einige Zeit später lagen sie zusammen auf dem Teppich vor dem Kamin und genossen die stille Vertraut343 heit. Rusty spielte mit einer von Laurels schwarzen Locken und atmete den schweren, intensiven Duft des Mädchens bis in die Lungenspitzen ein. Schließlich brach er die Stille. »Erinnerst du dich noch an den kleinen Unterstand hinterm Schulgarten? Und daran, was du mir alles ins Ohr geflüstert hast?« »Natürlich.« Sie sah ihn mit dunkel schimmernden Augen an. »Danach ist für mich alles anders gewesen. Mein ganzes Leben hat sich von Grund auf geändert.« »Alles hat sich geändert? Warum? Was ist passiert?«
»Das weißt du nicht? Erinnerst du dich denn nicht mehr, was ich dir erzählt habe?« Rusty schüttelte langsam den Kopf. »Du hast mir etwas zugeflüstert... ja... ich hab deinen Atem gespürt ... zum ersten Mal... und da war dieser Geruch... nach nassen Regenjacken...« Allmählich kehrte er in die Gegenwart zurück und merkte, dass Laurel ihn aus dunklen Augen fixierte. »Was hast du mir denn nun erzählt?« »Hast du das nie herausgefunden?« Sie kicherte. »Ich hab die Gabe an dich weitergereicht.« »Die was?« In einem entlegenen Winkel seines Bewusstseins hörte er es schwach läuten, verband aber mit dem Begriff der Gabe noch immer keine besondere Bedeutung. »Die Gabe«, wiederholte Laurel und rutschte unbehaglich hin und her. »Es ist kompliziert. Ich kann das jetzt nicht alles erklären. Vielleicht morgen. Weißt du, ich hab damals gedacht, ich könnte dir ruhig davon erzählen... aber dann haben meine Leute gesagt, das hätte ich nicht tun dürfen. Sie meinten, ich hätte eins 344 unserer Gesetze gebrochen und müsste bestraft werden. Damit hat sich alles verändert.« »Und das nur, weil du mir etwas verraten hast, woran ich mich nicht mal erinnere. Ich hab noch immer keinen Schimmer, worum es sich gehandelt hat. Wie bist du eigentlich bestraft worden? Mit Schlägen?« »Schön war's gewesen. Nein, es war schlimmer. Sie haben mich in den Zirkus gesteckt.« »In den Zirkus? Dann bist du es damals tatsächlich gewesen! Aber das hört sich doch kaum...« - er küsste ihren Hals - »... nach einer Strafe an.« »Das verstehst du nicht, was? Ich anfangs auch nicht, aber ich hab's schnell genug begriffen. Für meine Leute ist Zirkus die mieseste Arbeit, die es gibt - das Erniedrigendste, was einem passieren kann. Ich musste Akrobatik machen, jonglieren und all das Zeug... Ich schätze, das hört sich eher vergnüglich an, aber nach kurzer Zeit hab ich's richtig gehasst. Und es wurde noch schlimmer, als ich langsam erwachsen wurde und kein kleines Mädchen mehr war. Diese Kostüme!« Sie kicherte wieder. »Die waren so... so indezent.« Jetzt lachte sie laut. »Und diese glotzenden Leute. Diese Männer, die schlüpfrige Dinge schrien... Erst hab ich sie gar nicht verstanden. Aber später...« Sie steckte Rusty mit ihrem Lachen an, und ein paar Minuten wurden sie immer alberner. »Und wie lange bist du beim Zirkus geblieben?«, fragte Rusty schließlich. Laurel konnte sich nur mühsam beruhigen. »Na ja, es war eine schwere Strafe. Meine Leute nehmen solche Sachen sehr ernst. Also musste ich bis zur Volljährigkeit bleiben. Und...« Sie zögerte. »Ich hab mich dafür 345 gehasst, mir das gefallen zu lassen. Und ich hab einen Schuldigen gebraucht. Also hab ich dir die Verantwortung gegeben, Rusty, dir. Denn ich habe geglaubt, alles sei deine Schuld. Ich wollte Rache. Ich war ganz versessen darauf.« Rusty klopfte das Herz im Hals. Laurel spürte seine Beklemmung sofort. »Keine Angst. Inzwischen droht dir keine Gefahr mehr.« Sie drückte ihm einen Finger auf die Nasenspitze. »Meine Laune besserte sich sehr, als ich Messer werfen durfte.« »Messer werfen?« »Ja. Das war das Einzige im Zirkus, was ich je wirklich wollte. Madame Constanzas, meine Trainerin, hat gesagt, eine Frau könne mit dieser Nummer nicht auftreten, aber ich hab sie bearbeitet, bis sie schließlich einverstanden war. Und die Zuschauer haben die Nummer geliebt - vor allem die Männer.« Sie fuhr mit dem Zeigefinger nachdenklich Rustys Brustbein hinunter und umrundete ein paar Mal seinen Nabel. »Natürlich war ich da schon etwas älter und kein kleines Mädchen mehr. Und als ich Messer warf, bin ich mit mir langsam ins Reine gekommen.« Sie sah einen Moment ins Feuer und blickte dann wieder zu Rusty. »Aber den Zirkus hab ich noch immer gehasst - du ahnst ja nicht, wie sehr! Ich wollte einfach nur raus. Deshalb bin ich fortgegangen, kaum dass ich volljährig war. Und dann hab ich ein bisschen gegen die Ordnung der Dinge revoltiert.« Plötzlich lachte sie wehmütig auf. »Genauer gesagt hab ich mich den Räubern angeschlossen. Da kam mir das Messerwerfen ganz gelegen.« 346 Rusty fiel die Kinnlade runter, und Laurel prustete vor Lachen. »Auf jeden Fall war es spannender als im Zirkus. Aber damals hast du mich doch gesehen, oder?« »Stimmt, da hab ich dich gesehen. In den Bergen. Und du hast mich verschont.« Rusty hielt nachdenklich inne. Laurel nahm einen tiefen Zug aus ihrer Pfeife und reichte sie ihm. Er blinzelte skeptisch, zog vorsichtig daran, bekam jede Menge Asche in die Lunge und erlitt einen ausgedehnten Hustenanfall. »Keine Panik«, lachte Laurel. »Ich stopf uns gleich eine neue. Wo war ich stehen geblieben?« »Bei den Bergen.« »Ja - da hätte ich meine Rache haben können, oder? Aber als es so weit war, hatte ich irgendwie das Gefühl, ich wollte mich gar nicht mehr rächen. Ich hab zu Boden gesehen, und da war der kleine Hund und hat mich angeschaut, und dann war es, als ob... als habe etwas nach mir gegriffen und mich innehalten lassen. Vielleicht hatte das ja mit dem Hund zu tun?« Plötzlich lachte Laurel nicht mehr. Ihr Gesicht war bleich, und sie hatte große Augen. »Du bist der Einzige, den ich verschont habe, Rusty. An meinen Händen klebt Blut, und zwar jede Menge.« Sie blickten sich schweigend an, und einen Moment schien es, als könnten sie einander auf den dunklen Grund ihrer Augen schauen, dorthin, wo in tiefer Einsamkeit ein kaltes Feuer brannte.
»Auch an meinen Händen klebt Blut«, erwiderte Rusty schließlich und erzählte ihr seine Geschichte. 347 So unterhielten sie sich bis in die Nacht und vertrauten einander ihre Geheimnisse, Ängste und Träume an. Es wurde spät, und das Feuer war heruntergebrannt. Rusty harkte die letzte Glut beiseite, fegte die Asche vom Rost und schloss sorgfältig die Schornsteinklappen. Während er das tat, spürte er undeutlich und sah allenfalls aus den Augenwinkeln, dass Laurel aufstand, sich nach einer Weile umdrehte und ganz leise die Treppe hochging. Das Herz schlug ihm im Halse, als er die Türen verriegelte, die Lampen löschte und ihr folgte. Auf dem oberen Treppenabsatz angekommen, öffnete er den Wäscheschrank, nahm eins von Mutters Nachthemden heraus, zögerte noch einen Moment und klopfte dann leise an ihr Schlafzimmer. Die Tür ging auf. Laurel stand halb entkleidet am Bett. Die Störung war ihr offenbar nicht peinlich, denn sie tat nichts, um sich seinem Blick zu entziehen. Plötzlich hatte Rusty den Eindruck, seine Sachen säßen enger denn je. Er hielt ihr das Nachthemd hin. »Verzeihung, ich dachte, du möchtest vielleicht...« Verlegen brach er ab. Laurel sah ihn vorwurfsvoll an. »Das werden wir hoffentlich nicht brauchen, oder? Ich helf dir besser mal bei den Manschettenknöpfen.« Stumm nahm er ihre Hilfe an. Kurz darauf sah Laurel mit gespielter Besorgnis zu ihm hoch. »Dem armen Rusty rutschen die Strümpfe noch immer runter. Mal sehen, wie sich der Rest hält.« Sie zog ihn aufs Bett, doch im letzten Moment erstarrte er. Auf der Tagesdecke zeichnete sich noch immer der Umriss seiner Mutter ab. »Können wir...«, stammelte er. 348 »Können wir was, Rusty?«, fragte sie mit flehenden Augen. »Ach, nichts. Es spielt keine Rolle.« Ich tanze still, und ihr, die ihr mir zuseht, erschafft dabei euren eigenen Rhythmus und eure eigene Harmonie. Nun erfüllt mein Tanz schon das ganze Haus, dann das Grundstück rundum und schließlich alle Wälder, Berge und Meere. Mich biegend und wiegend, springend und schwingend spinne ich mit Finger- und Zehenspitzen ein Gewebe aus Kreisen, Ellipsen und Hyperbeln, die mein Reich rätselhaft umreißen. Mit raumgreifendem Sprung und gleitender Bewegung erschaffe ich eine flüchtige Plastik, deren Farbenspiel jeden von euch auf ganz eigene Weise anspricht und die euer Verstand nicht deuten kann. Mal seht ihr mich als Harlekin im Paillettenkostüm, mal als Engel der Barmherzigkeit, der auf die Erde niedergefahren ist, mal als wildes Tier, das sich auf euch stürzen will. Und nach einer Serie spiralförmiger Drehungen, Überschläge und Pirouetten, die euch den Atem rauben, löst sich das Muster meines Tanzes über unmerkliche Abstufungen allmählich auf, und das zarte Maßwerk meiner unsichtbaren Architektur zerfällt in eine Vielzahl von Punkten, deren kompliziertes Mosaik sanft zu euch absinkt und sich bruchstückhaft in euer Herz einnistet, auf dass ihr es noch in euch tragt, wenn ihr diesen Tag schon lange vergessen habt. Und vielleicht beginnt ihr bereits jetzt, da mein Bild noch nicht einmal ganz verschwunden ist, zu vergessen ... 349 Nachts »Soll ich dir ein Geheimnis verraten?«, murmelte Laurel schläfrig. Rusty lächelte. »Noch eins? Ob das eine gute Idee ist?«, fragte er und streichelte dabei ihre Schulter mit den Fingerspitzen. Sie küsste ihn auf die Wange. »Es geht noch mal um die Gabe. Da gibt es Regeln.« Sie war plötzlich wieder wach und setzte sich auf. »Eine davon besagt, dass man die Gabe verliert, wenn man sie weitergibt. Also hab ich sie damals verloren - für immer. Und das werde ich bis an mein Lebensende bereuen.« Plötzlich lag tiefer Kummer in ihrer Stimme. »Ich glaube, auch deshalb hab ich Rache nehmen wollen.« Sie wandte sich ihm zu und sah ihn direkt an. Auf dem Grund ihrer Pupillen leuchtete nun kein Feuer mehr. Stattdessen hatte sie die Augen eines ängstlichen Kindes. »Jetzt trägst du die Gabe, Rusty. Lerne, sie anzuwenden. Du kannst damit wunderbare Dinge tun.« Sie begann zu weinen, und Rusty zog sie an sich. »Schon gut«, flüsterte er. »Erzähl morgen weiter. Schlaf jetzt.« Und zusammen sanken sie in Tiefschlaf. 350 Aus dem Tagebuch des Victor Lazarus Dienstag, 26. Januar (Fortsetzung) Mit allen anderen stand ich wie angewurzelt da und war vom Schattentanz gebannt, bis Lee in einen anderen Teil des Hauses wechselte. Verwundert schüttelte ich den Kopf und erwachte allmählich aus meiner Verzauberung. Dann fiel mir auf einen Schlag wieder ein, dass ich noch immer eine äußerst wichtige Aufgabe zu erledigen hatte. Ich blickte mich um und versuchte vergeblich, den Eigentümer in der Halle zu entdecken. Schon wollte ich in ein anderes Zimmer gehen, da sah ich zu meinem Schrecken den zerfetzten Saum seines Gewandes durchs Hauptportal verschwinden. Alle Würde hintansetzend, nahm ich die Beine in die Hand und rannte ihm nach. Vor dem Portal sah ich seine gebeugte Gestalt ruhigen Schrittes den Pfad hinab gehen. Verzweifelt rief ich ihm nach und flehte ihn an, doch
wenigstens das Hauptbuch zu prüfen. Als er mich hörte, hielt er an, drehte sich um und kam einen Schritt auf mich zu. Ich eilte die Treppe hinunter. Er wirkte peinlich berührt, so abgefangen zu werden, und erklärte verlegen, er könne nicht länger bleiben, da er am nächsten Tag in aller Frühe an einen entfernten Ort aufbrechen müsse. Schon während er sprach, begann er sich von mir zu lösen. Da verlor ich die Beherrschung, packte ihn am Arm und bat ihn, mir wenigstens zu sagen, ob er mit allem zufrieden sei. Er war über meine starke Erregung über351 rascht, bejahte meine Frage aber dennoch höflich und ermahnte mich sanft, mich auch um die anderen Gäste zu kümmern. Währenddessen brachte er es irgendwie fertig, sich aus meinem Griff zu befreien, und ehe ich mich's versah, entfernte er sich schon wieder eilig. Ich wollte ihm nachsetzen, blieb aber wie angewurzelt stehen. Anscheinend hatte mich die letzte Energie verlassen. Verzweifelt schrie ich dem Entschwindenden nach, um wenigstens herauszubekommen, wann er zurückkehren werde, doch er war bereits durchs Tor auf die Straße gelaufen, und seine Stimme war kaum mehr zu hören. Schließlich brachte ich doch noch die Kraft auf, mich zum Gartentor zu schleppen. Einsam und verlassen sah ich die Straße auf und ab, doch er war schon verschwunden. Nur der Wind wehte mir seine letzten Worte zu: »Ich kehre zurück, wenn mein Haus fertig ist.« Langsam ging ich den Pfad wieder hinauf, wunderte mich über das Verhalten des Eigentümers, schämte mich, die Beherrschung verloren zu haben, und hatte keine Ahnung, ob der Tag nun ein Fehlschlag oder ein Erfolg gewesen war. Unsere Unterhaltung schien überraschend lange gedauert zu haben, denn es begann bereits zu dämmern, und das Fest ging zu Ende. Vor dem Haus packte die Kapelle ihre Instrumente ein, hinterm Haus lag das Zirkuszelt flach auf dem Rasen, und die Schaukeln und Karussells waren zerlegt. Am Eingang komplimentierte Harold gerade die letzten Besucher hinaus, und ich hörte, dass Sam im Keller die Hähne absperrte und die Kessel herunterfuhr. Langsam ging 352 ich durch die leeren Zimmer, in denen nun nur noch der Hall meiner Schritte zu vernehmen war. Auf dem Dachboden stieß ich zufällig auf Lee, der gerade das Harlekinkostüm wegpackte. Er hatte, wie sich herausstellte, ein ziemlich langes Gespräch mit dem Eigentümer geführt, der anscheinend recht erfreut über unsere Fortschritte gewesen war. Mich durchlief eine Welle der Erleichterung. Zu meiner Überraschung ergriff ich Lees zarte Hände und bedankte mich überschwänglich. Lee lächelte rätselhaft, beugte sich zu meiner Verblüffung schnell vor und gab mir einen Kuss auf die Wange. »Danke, Victor«, sagte er. »Das war ein harter Tag. Es ist Zeit, schlafen zu gehen.« Als ich Lee gegenüberstand, fiel mir auf, dass er gewachsen war. Inzwischen sind wir etwa gleich groß. Der Tag danach Rusty erwachte erst am Nachmittag. Als er nach Laurel tastete, merkte er, dass die andere Seite des Betts leer und kalt war. »Laurel?« Er sah in jedes Zimmer, fand aber keine Spur von ihr. Als er ins Wohnzimmer schaute, stellte er fest, dass die silbernen Kerzenleuchter seiner Mutter vom Kaminsims verschwunden waren. Er blickte noch mal in jedes Zimmer, in den Hof und sogar in die Seitengebäude, wusste aber im Innersten seines Herzens schon, dass Laurel nicht zurückkehren würde. 353 Im Gasthof »Ich hab's gefunden.« Der Schulmeister zündete seine Pfeife an, als der Magier sich zu ihm setzte. »Hier.« Er gab seinem Kameraden ein kleines, in Leder gebundenes Buch mit dem Titel Legenden des Vergessenen Zeitalters. »Das ist eine Sammlung alter Geschichten«, erklärte er. »Mit denen hab ich mich ein wenig beschäftigt. An der Stelle, die Euch interessieren dürfte, steckt ein Lesezeichen.« Der Magier hatte die Passage bereits aufgeschlagen. »Die Legende von den Fahrenden und den Inselbewohnern«, las er vor. »Worum geht's denn da? Im Anfang hauchte das Große Wesen dem Land und seinen Bergen, Flüssen und Bäumen Leben ein...« »Das erste Stück könnt Ihr überspringen«, unterbrach ihn sein Freund. »Fangt etwa auf der Mitte der zweiten Seite an.« Der Magier seufzte auf. »Also gut, dann mach ich hier weiter... Und die Geheimnisse der Fahrenden und der Inselbewohner wurden von Generation zu Generation weitergereicht. Und das Große Wesen war zufrieden und hielt es deshalb für angebracht, den Bewohnern des Landes eine besondere Fähigkeit zu schenken. Das klingt schon verheißungsvoller.« Er las langsamer weiter. »So kam es, dass jeder Fahrende im Auge seines Gegenübers dessen gesamten Lebensweg mit all seinen Kurven und Kehren zu erkennen vermochte, und zwar sowohl rückwärts bis zum Tag der Geburt, als auch vorwärts bis zur Todesstunde. Und wer diese Fähigkeit besaß, von dem hieß es, er habe die 354 Gabe.« Er seufzte erneut. »Das könnte nützlich sein, schätze ich. Und so kam es weiterhin, dass jeder Inselbewohner das ganze Land auf einen Blick wie mit den Augen eines hoch in den Lüften kreisenden Raubvogels zu sehen vermochte und begriff, wie das Leben aller Männer und Frauen zu einem nahtlosen,
unendlichen Gewebe verbunden war. Und wer diese Fähigkeit besaß, von dem hieß es, er sehe das Land durch das Auge des Turmfalken. Hübsche Ausdrucksweise, oder?« Er las die Passage noch einmal, diesmal im Stillen. Schließlich blickte er auf und lächelte leicht. »Ich verstehe, worum es Euch geht«, sagte er dann. »In dieser Geschichte sehen die Fahrenden die Welt durch die Augen anderer, und die Insulaner betrachten sie aus großer Höhe. Also sind Fahrende und Inselbewohner mit genau den Fähigkeiten gesegnet, die man brauchte, um die Welt durch meine Komplexe Empathiemaschine zu deuten.« Er lachte leise in sich hinein. »Ideal wäre jemand, der zur Hälfte Fahrender und zur Hälfte Insulaner ist - mal angenommen, es gäbe ihn.« »Sieht ganz so aus.« Der Schulmeister ließ eine mächtige Rauchwolke aufsteigen. »In anderen Büchern stehen weitere Einzelheiten. Wenn Ihr wollt, suche ich sie Euch raus.« »Nicht nötig«, erwiderte der Magier. »Die Idee ist nett, aber das ist doch nur eine Geschichte...« Er bemerkte, dass der Schulmeister die Stirn runzelte. »Oder nicht?« »Gute Frage«, sagte der Lehrer. »Ich glaube, ich erwähnte bereits, dass ich mich mit den alten Legenden beschäftigt habe. Inzwischen bin ich überzeugt, 355 dass sie alle - mehr oder weniger - auf historischen Fakten beruhen.« Der Magier lachte. »Langsam, langsam. Hier geht's um Märchen, nicht um Magie! Technik, schlicht und einfach Technik - das ist die einzige Magie, die ich kenne.« Der Schulmeister wollte ihn unterbrechen, doch der Redefluss des Magiers war nicht zu bremsen. »Ich weiß, was Ihr sagen wollt. Natürlich bezeichnen wir die Technik als Magie, aber das ist sie nicht, jedenfalls nicht im märchenhaften Sinn. Es geht um Technik. Um Schrauben und Muttern, um nichts sonst.« Er trank einen Schluck Bier. Der Lehrer zog eine Zeit lang schweigend an seiner Pfeife. »Wirklich?«, fragte er dann. »Ich bin ziemlich sicher, dass die Nachkommen der beiden Gruppen, von denen in der Legende die Rede ist, bis heute unterwegs sind.« Abwartend musterten sie einander eine Weile. Schließlich unterbrach die Ankunft eines neuen Gastes ihr Blickduell. Der junge Mann hatte einen ungekämmten Rotschopf. Seine graue Hose war etwas zu eng und zu kurz, doch seine schwarze Lederjacke, die mit einem komplizierten Muster aus Messingnoppen beschlagen war, sah hübsch verwegen aus. Seine Turnschuhe waren arg ramponiert. »Ach«, rief der Schulmeister. »Kommt und begrüßt meinen Freund Leonardo Pegasus.« »Hallo«, sagte der junge Mann. »Ich heiße Michael Brown.« »Eure Jacke gefällt mir«, erklärte der Magier. »Ich kannte mal jemanden, der eine sehr ähnliche besaß.« 356 Aus dem Tagebuch des Victor Lazarus Montag, 17. Mai Seit dem Besuch des Eigentümers sind drei Monate vergangen, doch bis heute sah ich mich nicht genötigt, etwas ins Tagebuch einzutragen. Mitunter habe ich über seine merkwürdigen letzten Worte nachgedacht, aber noch immer keine Ahnung, was er gemeint haben mag, als er sagte, er kehre zurück, wenn ich fertig geworden sei. Der Ordnung halber halte ich aber hier gern fest, dass alles im Haus endlich wie am Schnürchen klappt. Der Anregung von Lee und der engagierten Arbeit von Sam und Harold ist es zu danken, dass wir uns sogar einen Ruf als Zuflucht von Künstlern, Musikern und anderen Kreativen erworben haben. Stets halten sich einige von ihnen mal kürzer, mal länger bei uns auf, um sich zu erholen oder ungestört an ihren Werken zu arbeiten. Harold entwickelt Kaufmannssinn und konzipiert ein langfristiges Veranstaltungsprogramm, das dem steten Besucherstrom Abwechslung bieten soll. Inzwischen trägt er den Titel eines Künstlerischen Direktors, verwaltet weiterhin die Sammlungen und befasst sich darüber hinaus mit den Wechselausstellungen und deren Beiprogramm. Sam nennt sich nun Technischer Direktor und kümmert sich sowohl um die Wartung der Haustechnik und die Pflege des Gartens als auch um den mittelfristigen Ausbau des Anwesens. Was mich angeht, muss ich einräumen, dass ich in letzter Zeit nichts Rechtes mit mir anzufangen wusste, 357 obwohl ich das kaum offen zugeben würde. Daher war ich insgeheim erleichtert, als Lee, der meine Lustlosigkeit bemerkt hatte, meinte, ein kurzer Urlaub wäre wohl eine willkommene Abwechslung für mich. Ich sah von dem Marmeladenglas auf, das ich gerade auskratzte (wir frühstückten nämlich), und befand die Idee nach kurzem Nachdenken für gut, da sie mir nicht nur einen willkommenen Tapetenwechsel böte, sondern auch die Möglichkeit, mir manches durch den Kopf gehen zu lassen und vielleicht sogar die geheimnisvollen Absichten des Eigentümers zu ergründen. Ich fragte Lee, ob ihm etwas Bestimmtes vorschwebe. Das war eine reine Formalität, denn ich weiß inzwischen, dass ihm stets etwas Bestimmtes vorschwebt. Er schlug vor, wir sollten eine Forschungsreise in den verwilderten Garten hinterm Haus unternehmen, um den sich den Winter über niemand gekümmert hatte und der nun dringender Pflege bedurfte. Meine erste Reaktion war alles andere als begeistert, da diese Aufgabe doch wohl in den Pflichtenkreis des Technischen Direktors fiel, doch Lee blieb hartnäckig. Schließlich gab ich nach, denn ich traue Lees Intuition in solchen Angelegenheiten inzwischen weitgehend. Immerhin wohnt er in diesem Haus länger als wir. Und natürlich weiß niemand genau, bis wohin sich der Garten erstreckt.
So ziehen wir zwei mit unseren Rucksäcken unter den guten Wünschen unserer Freunde davon. Anfangs führt der Weg über Wiesen und durchs vertraute Gewirr wuchernden Buschwerks, doch bald wird das Gelände wilder, und wir durchqueren tückische Wälder und un358 wirtliches Heideland, bis wir schließlich ins zerklüftete Gebirge kommen. Dort springe ich leichtfüßig von Fels zu Fels und führe dich jeden Tag an Schwindel erregenden Abgründen entlang, steile Bergwände hinauf, durch tiefe Schluchten und über donnernde Stromschnellen. Und jeden Abend singe ich dich am Lagerfeuer zärtlich in den Schlaf und erscheine dir im Traum - mal in strahlender, mal in düsterer Gestalt, mal in düster strahlender, zu überirdischer Harmonie verdoppelter Mischgestalt, deren Stimme durch eine Dunkelheit irrt, in die kein Feuer reicht. Und irgendwann gelangen wir zwischen nie bezwungenen Gipfeln hindurch ins stille Land auf der anderen Seite der Berge und schließlich an die Küste des Meeres, das dahinter liegt. Aus dem Tagebuch des Victor Lazarus Sonntag, 13. Juni Wochenlang sind wir durch zerklüftetes, unwirtliches Gelände gezogen. Manchmal hat fahrendes Volk Straßenarbeiter, Scherenschleifer, einmal sogar ein kleiner Zirkus - unseren Weg gekreuzt, bis wir einen ruhigen, abgeschiedenen Platz im Schutz hoher Berge gefunden haben, der einen herrlichen Blick aufs Meer bietet. Wenn ich den Feldstecher ansetze, bekomme ich viele Inseln ins Visier. Manche liegen so nah, dass ich ihre Bewohner erkenne, andere dagegen verschwimmen in der Ferne. 359 Auf einer Insel liegt ein Heiligtum, vor dem eine Gruppe von Menschen eine feierliche Zeremonie begeht und dabei im Chor singt und ungewöhnliche Verhaltensweisen an den Tag legt. Auf einer zweiten Insel sitzt eine alte Dame im Sessel und schläft tief und fest. Irgendwie kommt sie mir bekannt vor - ob es die Dame aus dem Fossilienkabinett ist? Auf einer dritten Insel tanzt ein anmutiges Mädchen, während ungeschicktere Tänzer stümperhaft um sie herumspringen. Auf einer vierten Insel sehe ich einen energischen Mann mit Schnurrbart eine Gymnastikgruppe trainieren, deren Mitglieder - unterschiedlich gebaut und verschieden alt - sich mit ruhiger Entschlossenheit beugen und strecken. Und über einer fünften Insel steht ein Turmfalke am Himmel. Doch die größte und der Küste am nächsten befindliche Insel liegt im Dunst. Dennoch ist mir klar, dass wir morgen früh dorthin übersetzen müssen. Was immer im Dunst verborgen liegt - es ist das Ziel unserer Reise. Morgen werden wir die Überfahrt versuchen. Und ich habe den Eindruck, unsere Ferien sind nach dem heutigen Abend vorbei. Heute Abend, Victor, wirst du endlich mein wahres Gesicht sehen, denn du hast dich sehr geplagt und dir deine Belohnung verdient. Wenn du am Feuer einschläfst, erscheine ich dir ein letztes Mal im Traum und zeige dir mein wahres Wesen, denn allmählich hast du gelernt, dass ich nicht ein Gesicht habe, sondern zwei. Das eine ist dunkel, und du hast es früher gefürchtet - das Gesicht des vernarbten, knurrenden Tiers mit bren360 nenden Augen und tödlichen Fängen. Aber vielleicht beginnst du nun zu begreifen, dass dies nicht die Fratze des Raubtiers ist, sondern das Antlitz des Beschützers. Denn hinter dem dunklen Gesicht liegt ein zweites: das bleiche Antlitz des großen, fernen, strahlenden Wesens, von dem du - wie jeder deiner Artgenossen - ein winziges Bruchstück in dir trägst. Nach diesem Wesen sehnst du dich, und dennoch suchst du in deiner Angst Schutz vor dem wilden Tier. Doch jedes der beiden Gesichter ist mein wahres Gesicht, denn ich bin düster und strahlend zugleich, bin wildes Tier und lauteres Wesen, Wächter der Gabe und die Gabe selbst. Ja, Victor - ich, Lee, bin der Hüter deiner Gabe. Heute Nacht wirst du mir begegnen. Und morgen muss ich Lebewohl sagen. Die Innentasche »Die Jacke ist praktisch«, erklärte Rusty. »Viele Taschen.« »Solche Jacken haben im Futter oft ein Geheimfach«, sagte Leonardo und gab sich alle Mühe, ungezwungen zu wirken. »Wie bist du zu dem guten Stück gekommen?« »Die hat mir jemand gegeben«, antwortete Rusty vage. »Eine Frau.« Er tastete die Jacke sorgfältig von innen ab. »Seltsam, das Futter hab ich mir nie genauer angesehen. Aber hier ist tatsächlich was.« Er fummelte ein wenig herum und zog dann langsam etwas hervor, das wie ein fest verschnürtes Bündel Do361 kumente aussah. Der Magier konnte seine Aufregung nicht länger verbergen. »Pack sie aus«, keuchte er. »Aber vorsichtig! Und falte sie auseinander.« Der Schulmeister schob die leeren Flaschen beiseite, wobei zwei, drei auf den Boden fielen. Leonardo achtete nicht darauf. Gebannt sahen die beiden älteren Männer zu, wie der Junge das alte Pergament ausbreitete. Rusty musterte das Gewirr der Linien. Er befand sich im Zentrum eines Labyrinths von Strahlen und konzentrischen Kreisen, die einander vielfach überschnitten. In diese geometrische Ordnung war ein wirrer Teppich verschlungener und verknoteter Fäden gewoben, ein Netz, das vom Mittelpunkt ausging und ihn mit allen anderen Punkten verband, jede Kluft überspannte, als unsichtbare Architektur ins Unendliche ausgriff, aus der Zweidimensionalität aufstieg und sich in jede Richtung erstreckte - ob vorwärts, rückwärts, seitwärts, ob im Raum oder in der Zeit.
Und irgendwo - womöglich nur knapp außerhalb seiner Reichweite - wartete schweigend ein Ring steinerner Skulpturen, die vielleicht Figuren in einem unergründlichen Spiel waren und den Kopf stolz in der Luft, den Fuß fest auf dem Boden hatten. Hier waren der Stein der Vergangenheit und der der Zukunft versammelt, der Stein der Spontaneität und der der Vernunft, der Stein der Erde und der des Himmels. Und leise öffnete sich sein Inneres der Anziehungskraft der Steine und brachte sich behutsam in ein fein austariertes Gleichgewicht, während das komplizierte Wider362 spiel einander entgegengesetzter Kräfte mal stärker, mal schwächer durch ihn hindurchfloss und um ihn herumtanzte, bis Intuition und Vernunft, Vergangenheit und Zukunft, Himmel und Erde zu verschmelzen schienen und er schwerelos im unendlichen Meer der Ruhe trieb. Er blieb sehr lange in diesem Zustand, bis die gewaltige Masse des Erdsteins ihre Autorität langsam wieder geltend machte und ihn zur Quelle hinunterzog, zum verborgenen Mittelpunkt der Welt, wo der tiefe, schmerzende Puls der Lebenskraft schlägt, und ihn erneut einen kurzen Blick ins dunkle Reich dieser Kraft und auf das kalte Feuer, das dort brannte, werfen ließ. Schließlich sah er auf und schüttelte dabei langsam den Kopf. »Ach«, sagte er leise. »Das.« »Was ist das?«, fragte der Schulmeister. »Meine Herren«, erklärte der Magier, »was Sie hier sehen, sind die Originalpläne meiner Komplexen Empathiemaschine.« Rusty war sehr bleich geworden und fasste offenbar etwas weit Entferntes ins Auge. Nach einiger Zeit schien er zögernd wieder auf die Erde herunterzukommen. »Was haben denn Maschinen damit zu tun?«, brachte er schließlich mühsam heraus. Der Magier sah ihn lange verblüfft an. »Trinken wir noch einen«, sagte er dann. »Ich will versuchen, es zu erklären.« Sie unterhielten sich bis tief in die Nacht. Leonardo erzählte von der Stadt und dem Magischen Theater, von der Empathie- und der Komplexen Empathiemaschine. 363 Der junge Mann berichtete von den Fahrenden und den Wolfsjungen, vom Auge des Turmfalken und der Hüterin des Platzes. Der Schulmeister sagte kaum etwas, hörte den beiden aber gebannt zu, blickte lange ins Feuer und träumte vom Vergessenen Zeitalter. Schließlich musste der Wirt seine drei letzten Gäste vor die Tür setzen. Während die Lampen im Gasthof eine nach der anderen erloschen, führte der Magier seine Begleiter leicht schwankend zum Heuboden auf der Rückseite der Wirtschaft. Am Fuße der Leiter hielt er inne. »Ich mach euch einen Kaffee«, schlug er vor. »Den bekomme ich inzwischen prima hin - falls ich die Kaffeemaschine finde. Und ich hab da noch etwas, das euch interessieren dürfte.« »Der Abend war für mich aufregend genug«, lachte der Schulmeister. »Wir Alten gehen gern früh schlafen. Lasst es für heute gut sein.« Doch Rusty war die Leiter bereits halb hochgestiegen. Kaum hatte er sich auf den düsteren Heuboden geschwungen, sah er die Umrisse einer schweren, massiven Konstruktion, konnte aber noch keine Einzelheiten erkennen. »Moment«, rief der Magier. »Ich mach Licht.« Mitten unterm Dach war nun eine breite, hüfthohe Tribüne zu sehen, die wohl aus alten Kisten und Wellblechresten erbaut war. Rusty konnte nicht erkennen, was sich (wenn überhaupt) darauf befand, denn auf dem Tribünenrand standen überall seltsame Maschinen und schirmten das Innere ab. Gewundene Kabel, spinnenartige Verteilerkästen, Lampen auf wackligen und aus alten Kleiderbügeln gebauten Stativen, gesprungene Lin364 sen, schwankend übereinander geschichtete Reihen von Messgeräten in verbeulten Sardinenbüchsen, unförmige Armaturen auf alten Keksdosen - all das schien durch miteinander verknotete Bänder und alte Schnürsenkel zusammengehalten und wirkte, als würde es bei der leichtesten Berührung zusammenbrechen. Außerdem roch es penetrant nach Ozon, Klebstoff, Farbe und verbranntem Staub. »Die Komplexe Empathiemaschine«, erklärte der Magier mit leicht entschuldigendem Unterton. Er zog ein paar wacklige Hebel, und der Apparat sprang mit ungesundem Fauchen an. »Was steht da ganz in der Mitte?«, fragte Rusty und reckte sich, um Einblick zu bekommen. »Einen Moment«, murmelte der Magier und blieb kurz verschwunden. »Die Kaffeemaschine muss hier irgendwo sein, da bin ich mir sicher«, sagte er, als er wieder auftauchte. »Nein, rühr das nicht an! Sieh besser mal hier durch.« Mit geübter Leichtigkeit schlängelte er sich zwischen den Gerätestapeln hindurch, hielt dem Jungen ein ramponiertes Messingokular hin, das an einer ausziehbaren Aufhängung befestigt war, und setzte ihm vorsichtig einen schweren Kopfhörer auf. Einen Augenblick befand Rusty sich unter einer Glocke aus Stille und Dunkelheit. Dann nahm er allmählich gedämpfte Geräusche, verschwommene Umrisse und unklare Farben wahr. Erst begriff er nicht, was er da hörte und sah. Dann stellte sich die Szenerie langsam scharf, und es war, als schwebe er am Himmel und schaue herab...
Unter ihm lag ein großes Haus auf einem Hügel. Das 365 ringsum abfallende Grundstück war von einem schick gestrichenen Eisenzaun umgeben, in dessen Schutz sich tadellos gepflegte Rasenstücke und Blumenrabatten befanden. Das beeindruckende Haus mit seinen vielen Fenstern, Giebeln, Schornsteinköpfen, Wetterfahnen und Wasserspeiern schien den gotisch inspirierten Architekturfantasien der Schauerromantik entsprungen. Aus den Fenstern drangen Licht, Musik und Stimmen. Und am höchsten Punkt des Hauses, der das Zentrum all des Lichts, all der Musik und Energie zu bilden schien, befand sich ein sechseckiger Turm, der an jeder Seite ein Fenster hatte. »Das Ding sieht aus wie Mamas alte Teedose«, murmelte Rusty vor sich hin. »Gut möglich, dass sie das ist«, drang die Stimme des Magiers schwach an sein Ohr. »Aber kümmere dich nicht um das Haus. Schau dir lieber den Park an. Mit dem Haus hab ich angefangen, aber dann hatte ich den Eindruck, ich brauchte auch ein Grundstück, und schließlich musste ich eine ganze Landschaft erschaffen. Sieh dir das mal an.« Der Magier zeigte auf die Rückseite des Hauses. Rusty hatte den Eindruck, dort bewege sich etwas, und fummelte am Okular, um besser zu sehen. Jetzt konnte er es erkennen... Zwei winzige Gestalten kamen auf die Veranda. Die eine war stämmig und schwerfällig und trug eine Art Militäruniform, die andere - jünger und flinker - tanzte und sprang um ihren Begleiter herum und schlug obendrein Purzelbäume. Rusty sah die beiden über den Rasen gehen und sich durch überwuchertes Strauchwerk 366 kämpfen. Bald wurde die Landschaft wilder, und sie zogen durch Wald und Heide, wanderten durch eine hügelige Gegend, kamen durch immer gefährlichere Landstriche und erreichten schließlich ein zerklüftetes Gebirge. Dort gingen sie an Schwindel erregenden Abgründen entlang, steile Bergwände hinauf, durch tiefe 'Schluchten und über donnernde Stromschnellen... »Hübsch, diese Stromschnellen, was?« Erneut drang die Stimme des Magiers in Rustys Welt. »Ich bin ziemlich stolz darauf, offen gesagt.« Der Junge nickte abwesend und blieb auf die beiden Figuren und ihre Abenteuer konzentriert. Inzwischen wirkten sie größer, fast schon lebensgroß, und er konnte ihr Mienenspiel deutlich erkennen. Ja, es schien beinahe, als schleppe er sich mit ihnen über die Berge. Ohne zu begreifen, was ihm widerfuhr, war er zu einem Bestandteil ihrer Geschichte geworden und musste wortlos mit ihnen über den anstrengenden Gebirgspfad ziehen. Als sie schließlich ins ruhige Land auf der anderen Seite der Berge kamen, war der Junge sich seiner wirklichen Umgebung schon nicht mehr bewusst. Sie wanderten über sanft abfallendes Gelände auf die Meeresküste zu und hatten die vielen Inseln im Blick, die mal näher, mal ferner aus dem Wasser sahen. Am Abend schlugen sie ihr Lager auf, und der jüngere Wanderer sang dem älteren am Feuer fremd anmutende, aber überirdisch schöne Lieder vom Vergessenen Zeitalter vor. Die Melodien, die Texte und das Feuer schlugen langsam einen Zauberkreis um sie, bis sie sich schließlich hinlegten und einnickten. Bald schliefen sie fest und hatten abgründige, geheimnisvolle Träume. 367 Bei Sonnenaufgang erwachten sie und gingen ans Ufer hinunter. Dort war an einem wackligen Steg ein kleines Boot vertäut. Ohne sich auch nur einmal umzublicken, stiegen sie ein und lösten die Fangleine. Der Altere legte sich in die Riemen und ruderte gleichmäßig auf die nächste Insel zu, während die andere Gestalt am Steuer saß und das Boot mühelos zwischen den Untiefen hindurchmanövrierte. Langsam kam die Insel näher, doch ehe sie ihr Ziel erreichten, spürten sie einen beunruhigenden Stoß. Das Boot neigte sich unvermittelt nach Steuerbord, und sie merkten, dass sie auf einen Fels aufgelaufen waren. Sie versuchten, das Boot frei zu bekommen, aber alle Bemühungen waren vergeblich. »Sieht schlecht aus«, sagte der Ältere schließlich. »Ich kann dich nicht weiterbringen. Von jetzt an bist du auf dich allein gestellt.« In diesem Moment verstummte der Dialog, und die ganze Szene schrumpfte jäh auf Punktgröße und verschwand. Verwirrt und unbeholfen nahm Rusty Okular und Kopfhörer ab und gewöhnte sich nur mühsam wieder an Anblick und Gerüche des Heubodens. »Weiter komm ich nicht«, erklärte der Magier. »Sie rudern los, dann bleibt das Boot stecken, läuft auf Grund oder so, und damit bleibt auch die Geschichte stecken - es ist jedes Mal dasselbe.« Doch Rusty begriff bereits, was los war. »Vermutlich kann ich Euch helfen«, sagte er nach längerem Schweigen. »Ich glaube, diesen Teil der Geschichte kenne ich. Der ist früher ständig in meinen Träumen aufgetaucht und meldet sich noch immer dann und wann.« 368 Der Magier hörte aufmerksam zu. Rusty versank erneut quälend lange in Gedanken. »Ich hab da eine Idee«, sagte er schließlich. »Womöglich können wir die Geschichte voranbringen, aber dazu müssen wir beide etwas beitragen. Habt Ihr noch ein Okular?« »Ich glaube schon.« Der Magier kramte kurz in einer Holzkiste und rief plötzlich triumphierend: »Meine Kaffeemaschine! Wie ist die bloß in diese Kiste geraten?« Also probierten sie es nach einer willkommenen Pause erneut. Wieder saßen sie im Boot, und der ältere Mann ruderte, während die jüngere Gestalt steuerte. Langsam kam die
Insel näher, doch ehe sie ihr Ziel erreichten, spürten sie einen beunruhigenden Stoß. Das Boot neigte sich unvermittelt nach Steuerbord, und sie merkten, dass sie auf einen Fels aufgelaufen waren. Sie versuchten, das Boot frei zu bekommen, aber alle Bemühungen waren vergeblich. »Sieht schlecht aus«, sagte der Fährmann schließlich. »Ich kann dich nicht weiterbringen. Von jetzt an bist du auf dich allein gestellt.« Er hielt das Boot so ruhig wie möglich, während die jüngere Gestalt sich rasch auszog, sich ins Wasser gleiten ließ und mit gleichmäßigen Zügen zur Insel schwamm. Der Fährmann nahm die zurückgebliebene Jacke aus dem Kielraum, faltete sie sorgsam und legte sie zu sich auf die Ruderbank. Durch den Feldstecher beobachtete 369 er, wie die Gestalt im Wasser rasch Abstand vom Boot gewann, und nahm dann die dunstige Küste der Insel ins Visier. Nach kurzer Zeit tauchte die Gestalt aus den Wellen auf und betrat den Kieselstrand ohne ein Zeichen der Erschöpfung. Schließlich klarte es auf, und der Fährmann konnte sehen, was sich auf der Insel befand. Oberhalb einer langen Steintreppe erhob sich ein beeindruckend großer, sechseckiger Turm aus grauem Fels, der auf jeder Seite ein Fenster hatte. Hinter den Fenstern lag ein Zimmer mit Balken an der Decke, in dem der Eigentümer des Turms am Kontrollpult einer Maschine saß und mit der Feineinstellung des Apparats beschäftigt war. So vertieft war er in seine Arbeit, dass er die Ankunft seines Besuchs nicht bemerkte. Der Fährmann beobachtete durch den Feldstecher, wie der Ankömmling, der auf diese Entfernung winzig wirkte, sich halb zu ihm umwandte, zum Abschied die Hand hob, tropfnass die Treppe hochstieg und am Glockenstrang zog. Mit ein paar Sekunden Verzögerung hörte er das Läuten übers Wasser schallen. Es dauerte einen Moment, dann ging die Tür auf, und der Besuch trat ein. »Wer da?« Der Eigentümer hielt in der Arbeit inne. Dann sah er seinen jugendlichen Besuch in strahlender Anmut auf der Schwelle stehen. »Wer seid Ihr?« In einer Welle aus Wärme, Energie und Licht kam der Besuch leise auf ihn zu. Der Eigentümer stand auf. »Euch kenne ich doch?« Und nun stand sein Besuch direkt vor ihm - reglos wie ein Baum, aufrechten Hauptes, blass, blond und mit asketischen Gesichtszügen. 370 »Meister Pegasus?« Diese Stimme hatte er sehr lange nicht mehr gehört. Sie hatte den weichen Akzent der am weitesten draußen gelegenen Inseln des Königreichs. Der Besuch trat vor und nahm seine Hände. »Hallo Alice«, sagte Leonardo. Nun hätte er mancherlei fragen können, doch überrascht und verwirrt wie er war, fiel ihm nur eines ein: »Bekommst du diese Kopfstand-Sache noch hin?« »Euch ist wirklich nicht zu helfen«, lachte Alice verzweifelt. Der Magier betrachtete sie ernst. »Du hast mal versprochen, mich tanzen zu lehren.« »Ich hab's gerade den Wolfsjungen beigebracht«, sagte sie. »Die lernen schnell. Euch kann ich es bestimmt auch zeigen.« »Gern. Ich glaube, ich bin jetzt so weit.« Sie nickte knapp. Dann ließ sie nachdenklich seine Hände los, trat einen Schritt zurück, drehte eine Pirouette, schlug elegant ein Rad und stand wieder vor ihm. »Und wann wollt Ihr anfangen?« »Heute?«, schlug Leonardo vor. »Wie wär's mit morgen? Es fängt gerade an zu regnen - da sollten wir besser reingehen.« Der Magier blickte sich um. Tatsächlich hatte es zu regnen begonnen. Er sah auf, doch die Decke des Zimmers war verschwunden. Irgendwie musste er nach draußen geraten sein. Er schaute auf den Boden und stellte fest, dass in die Fliesen ein Labyrinth sich überschneidender strahlenförmiger Linien und konzentrischer Kreise graviert war, das an die Zahnräder einer riesigen Maschine erinnerte. Dann suchte er den Hori371 zont ab und hatte dabei den Eindruck, die Fensterrahmen seines Turmzimmers würden noch immer wie Nachbilder über seine Netzhaut flimmern, doch die Mauersegmente zwischen den Fenstern schienen ihm nun zerklüftet und unregelmäßig. Dann nahmen sie wieder feste, ja wuchtige Form an und wirkten bald wie massive Steinskulpturen, die auf dem Fliesenboden an Figuren eines unergründlichen Spiels erinnerten. Der Magier betrachtete die Steine. Ihre glatt gemeißelten Flächen und komplizierten Muster glitzerten im Regen. Er spürte, wie sich kräftige Energieströme um sie sammelten. Und bildete er sich das nur ein, oder hatten ihm die Steine tatsächlich kurz zugenickt? Vielleicht wollten sie ihm etwas sagen? Nicht doch. Jetzt nicht. Nicht ausgerechnet jetzt. Er spürte eine sanfte Berührung am Ellbogen, merkte, dass er Alice vorübergehend ganz vergessen hatte, und ließ sich von ihr mit federleichtem Druck zu einem Unterschlupf am Rand des Platzes führen, wo sie im Trockenen sitzen und lauschen konnten, wie der Regen vom Himmel rauschte. Hier, wo es schwach nach nasser Gabardine roch, konnten sie einander all ihre Geheimnisse erzählen, ihre Ängste und Träume. Weil der Junge nun nicht mehr zur Geschichte des Magiers gehörte, zog er sich zurück, blickte zum Himmel und
suchte sich dort einen Punkt, um die Welt schwebend wie mit den Augen eines Turmfalken zu betrachten. Nun sah er das Haus und die Stadt, die Berge und das ruhige Land hinter dem Gebirge und begriff, wie all diese Orte durch ein Netz von Straßen, Pfaden und 372 Flüssen verbunden waren. Er sah die fernen Inseln und ihre Beziehung zur Küste. Und zum Schluss, als er hoch überm Meer kreiste, konnte er sogar einen Moment das Muster erkennen, das sie bildeten. Und auf der entferntesten Insel wartete an einem windgeschützten Ort, wo es üppig nach Klee, hohen Gräsern und Meer duftete, jemand auf ihn. Jemand, den er schon lange kannte... Vorsichtig nahm Rusty Okular und Kopfhörer ab und atmete dabei langsam aus. Unvermittelt stellte er fest, dass er völlig erschöpft war. Er berührte den Magier leicht am Arm. »Ich bin fix und fertig und muss jetzt nach Hause. Vielleicht sehen wir uns morgen.« »Alles klar«, brummte Leonardo, der noch immer in seine Geschichte vertieft war. »Ich mach hier noch etwas weiter, wenn's recht ist. Mir gefällt es gerade sehr. Danke für deine Hilfe, übrigens.« Er rückte gedankenverloren sein Okular zurecht und stellte es schärfer. Müde kletterte Rusty die Leiter hinunter. Als er aus dem Stall trat, graute der Morgen. Er rechnete nicht damit, zu so früher Stunde jemandem zu begegnen, doch als er auf die Hauptstraße bog, sah er sich zu seinem Erstaunen Oma Hopkins gegenüber. Die alte Frau musterte ihn misstrauisch. »Guten Morgen, Michael. Ich geh den Gasthof putzen, aber was treibst du zu dieser frühen Stunde draußen? Du solltest noch im Bett sein - junge Leute brauchen ihren Schlaf. Der Himmel mag wissen, was deine Mutter dazu gesagt hätte.« Damit ging sie brummelnd weiter. 373 Aus dem Tagebuch des Victor Lazarus Montag, 14. Juni Schließlich war die Flut hoch genug, das Boot freizubekommen und ans Festland zurückzurudern. Ich vertäute es am Steg, setzte mich mit auf den Turm gerichtetem Feldstecher hin und wartete stundenlang auf ein Zeichen von Aktivität, bis es zu dämmern begann und ich die Beobachtung aufgeben musste. Ich merkte, dass es kühl geworden war, legte mir Lees Jacke um, lehnte mich gemütlich zurück und sah zu den ersten Sternen hinauf. Während ich so in den Himmel schaute, überkam mich langsam ein schönes Gefühl der Ruhe und Zufriedenheit. Und allmählich wurde mir klar, dass meine Pflicht erfüllt, meine Arbeit am Haus beendet war. Ich begriff, dass es meine Aufgabe gewesen war, den Eigentümer wieder mit dem rätselhaften Geist des Hauses zu vereinen. Und das hatte ich geschafft. Dann fiel mir ein, dass meine Anwesenheit im Haus nun nicht mehr erforderlich war. Sam und Harold würden die täglichen Pflichten sicher gut bewältigen, und wenn ich mich zum Bleiben entschlösse, wäre ich den beiden nur im Weg. Mit meiner Abreise ist das Haus endlich für die Rückkehr des Eigentümers bereit. Heute Nacht schlafe ich sicher gut, und morgen mache ich mich auf den Rückweg in die Stadt. Es ist Zeit, mir ein neues Abenteuer zu suchen. 374 Aufräumen Oma Hopkins, die inzwischen sicher weit über neunzig war, humpelte im dämmrigen Lokal herum, wienerte die Tische, stellte die Stühle richtig hin und fand wie üblich mancherlei in den Nischen und am Boden. Eine hässliche, noppenbesetzte Jacke zum Beispiel, die sie an einen Haken neben dem Eingang hängte und dabei schauderte, weil sie sich so klebrig anfühlte; und ein altes, in Leder gebundenes Buch, das vermutlich der Schulmeister vergessen hatte und das nun auf dem Regal hinter der Theke landete. Dann fand sie hinter einem umgekippten Tisch ein Bündel alter Pergamente, das einen Wust komplizierter und sinnloser Kritzeleien enthielt. Als sie es aufhob, fiel es auseinander. Oma Hopkins zuckte die Achseln. Damit konnte sicher niemand mehr etwas anfangen. Sie warf es in den Kamin. Die Glut musste noch heiß gewesen sein, denn es loderte sofort hell auf. Die alte Frau sah einen Moment in die Flammen. Dann wandte sie sich zufrieden ab und arbeitete weiter. Wie hübsch das Lokal frisch geputzt doch aussah! 375 Aus dem Tagebuch des Victor Lazarus Dienstag, 10. August Als ich in meine alte Unterkunft zurückkam, war ich angenehm überrascht, dass mein Zimmer noch frei war. Meine Vermieterin berichtete mir, sie habe es in meiner Abwesenheit kurzzeitig an einen jungen Studenten vermietet, der seine Ausbildung aber plötzlich abgebrochen habe und ohne Ankündigung verschwunden sei. Schließlich sei seine Mutter aufgetaucht, um seine Sachen zu holen, und habe alles bis auf einige merkwürdige Landkarten mitgenommen. Diese Karten steckten noch immer da und dort an den Wänden. Ich studierte sie eine Zeit lang, konnte mir aber keinen Reim darauf machen. Schließlich nahm ich sie mit der Vermieterin ab, und die gute Frau verwahrt sie nun in der Hoffnung, dass ihr Eigentümer einmal zurückkehrt. Nicht nur mein Zimmer erwartete mich, sondern auch ein Brief, dessen Handschrift mir vertraut war. Meine Vermieterin sagte, er sei nicht mit der normalen Post gekommen, sondern von einer alten Dame in langem, altmodischem Kleid
abgegeben worden. Ich brach das Siegel auf. Es erwies sich, dass der Umschlag einen Scheck über eine erstaunlich hohe Summe und diesen kurzen Brief enthielt: Lieber Lazarus, vielen herzlichen Dank für all die schwere Arbeit und all die Zeit, die Ihr der Renovierung meines Hauses gewidmet habt. Bitte entschuldigt meine hastige Abreise 376 bei unserer letzten Begegnung und lasst mich Euch versichern, dass ich mehr als zufrieden mit dem Ergebnis Eurer Bemühungen bin. Ich hoffe, die beigefügte Vergütung stellt eine gewisse Entschädigung für eventuelle Probleme und Unannehmlichkeiten dar, die Ihr bei der Renovierung womöglich zu bestehen hattet. Ich möchte Euch nochmals danken und wünsche Euch viel Glück bei Euren künftigen Vorhaben. Mit freundlichen Grüßen L. Pegasus Auf jeden Fall war die Handschrift inzwischen leserlicher. Der Name des Eigentümers kam mir vage bekannt vor, doch ich konnte mich damals noch nicht daran erinnern, unter welchen Umständen ich ihm begegnet war. Als ich den Brief ein paar Mal gelesen hatte, fiel mir auf, dass Lee nicht erwähnt wurde, und ich grübelte einmal mehr über die Natur dieses außergewöhnlichen Wesens nach, fragte mich, ob er noch immer das kleine Turmzimmer über dem Dach des Hauses bewohnte, und überlegte, ob der Eigentümer wohl etwas von seinem geheimnisvollen Mieter wusste - und wenn ja, was. Mir fiel auf, dass ich die beiden nie zusammen gesehen hatte. Vielleicht sind sie einander tatsächlich nicht begegnet, obwohl Lee mir doch am Abend des Eröffnungsfests berichtet hatte, der Eigentümer habe sich ihm gegenüber so positiv über die Fortschritte bei der Renovierung des Hauses geäußert. Ob er mir da etwas vorgeflunkert hat? Aber das sind Fragen, mit denen ich mich nicht zu befassen habe. Ich lebe seit ein paar Wochen wieder in meinem 377 alten Zimmer und bin zu meinen lieb gewordenen Gewohnheiten zurückgekehrt. Auf meinen Spaziergängen durch die Stadt komme ich manchmal am Tor des Anwesens vorbei. Vielleicht besuche ich Harold und Sam bei passender Gelegenheit mal und schaue mir an, was sich seit meinem Weggang getan hat. Aber im Moment ist herrliches Wetter, und es zieht mich nichts an meine alte Wirkungsstätte. Es ist schwierig, den Magier von hier aus klar zu erkennen, da mir ein großes, wirr anmutendes Gebilde aus Holz und Wellblech den Blick auf den Heuboden erschwert, doch soweit ich sehen kann, liegt er friedlich schlafend im Bett. Er wirkt mit seiner Brotarbeit zufrieden, mit seinem Hobby glücklich und im Schlaf sehr ausgeglichen. Und eines nicht so fernen Tages wird er bereit sein, zu mir zurückzukehren. Ein ganzes Stück näher und gut sichtbar steht der junge Mann auf einem Hügel über seinem Geburtsort. Er hat eine Landkarte in Händen, blickt dahin und dorthin und prüft die Wege, die sich überallhin verzweigen. Der eine Pfad führt ihn zurück in sein Dorf, zu Gasthof, Kirche und Schule und vielleicht ins bequeme Leben eines Schulmeisters. Ein anderer Weg hingegen trägt ihn hinein in die große Stadt mit ihrem Reichtum und ihren Versuchungen, ihrer weltlichen Macht und ihren magischen Künsten. Und da drüben lockt ein dritter Pfad ins Gebirge und weiter ans Meer und auf die Inseln ganz hinten am Horizont, wo der Schweigestill auf ihn wartet. Ich frage mich, welchen Weg er einschlagen wird, doch jeder wird ihn irgendwann zu mir zurückführen. 378 Ehe der junge sich entschieden hat, ist meine Aufmerksamkeit schon woanders. Es ist angenehm, wieder in meinem kleinen sechseckigen Zimmer zu sein, kopfüber vom Balken zu hängen und der Musik von unten zu lauschen. In letzter Zeit habe ich viel arbeiten müssen und Ruhe verdient. Ich spüre, wie sich mein Rückgrat streckt, wie meine Schultern sich entspannen und meine Augen sich langsam schließen. Meine Kraft wird rechtzeitig zurückkehren, um den nächsten Besucher zu empfangen. Bis dahin bin ich froh, etwas Ruhe zu haben. Und du, Lazarus? Du hast am Ende kurz meine wahre Gestalt erblickt und viel gelernt, hast aber noch immer viel zu lernen. Und ich weiß, dass auch du rechtzeitig zu mir zurückkommst. Du wirst zurückkehren, und ich werde warten. Denn ich heiße Lee, und das ist mein Haus.